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German Pages 306 [314] Year 2016
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Sattelzeit Historiographiegeschichtliche Revisionen
Herausgegeben von Elisabeth De´cultot und Daniel Fulda
De Gruyter
Herausgeber: Thomas Bremer, Daniel Cyranka, Elisabeth De´cultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Daniel Fulda, Wolfgang Hirschmann, Yvonne Kleinmann, Heiner F. Klemme, Andreas Pecˇar, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Laurenz Lütteken, Jean Mondot, Alberto Postigliola, Peter Hanns Reill Redaktion: Ricarda Matheus
ISBN 978-3-11-044968-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045101-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045015-6 ISSN 0948-6070 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Vorwort der Herausgeber ..................................................................................... VII DANIEL FULDA Sattelzeit. Karriere und Problematik eines kulturwissenschaftlichen Zentralbegriffs ..........................................................................................................1
Aufbrüche zu einer neuen Geschichtsschreibung im Spannungsfeld von Gelehrsamkeit, Philosophie und Kunst DANIEL FULDA Geschichte für Leser: Warum ein deutscher Verlag um 1750 vornehmlich französische Historiographie publizierte ................................................................19 VANESSA DE SENARCLENS Zwischen Gelehrsamkeit und Philosophie. Montesquieus Geschichtsschreibung .............................................................................................39 MORITZ BAUMSTARK Vom „Esprit des Lois“ zum „Geist der Zeiten“. Herders Auseinandersetzung mit Montesquieu als Grundlegung seiner Geschichtsphilosophie ..........................54 MARKUS HIEN Mascovisch richtig oder voltairisch schön? Herders ‚idiotistische Geschichtsschreibung‘ im Wettkampf der Nationen ...............................................................83 ELISABETH DÉCULTOT Zwischen Kunst und Geschichte. Zur Ausbildung von Winckelmanns Geschichtsbegriff und seinen europäischen Quellen ............................................102
Geschichtsschreibung in politischer Absicht JOHANNES SÜßMANN Revolution der Geschichtsdarstellung durch Politisierung? Johannes Müllers Schweizer Geschichte ...........................................................................................127
VI PAULINE PUJO Jean-Jacques Fillassiers Dictionnaire historique d’éducation und seine Berliner Übersetzung durch Friedrich Leopold Brunn: Politisierung der Geschichtsvermittlung und Aktualität des Kulturmusters historia magistra vitae in der Revolutionszeit ..................................................................................142 DAMIEN TRICOIRE Raynals Geschichte beider Indien als erzählerisches Werk..................................159 IWAN-MICHELANGELO D’APRILE Verflochtene Sattelzeitgeschichten. Journalistische Zeitgeschichtsschreibung um 1800................................................................................................................178 ANNA KARLA Die verschlafene Revolution von 1789. Französisch-deutsches Revolutionserzählen im Modus der Zeitgenossenschaft..........................................................198
Varianten der Historisierung CHANTAL GRELL L’histoire des origines en France, 1780–1820......................................................221 CHRISTOPHE CORBIER L’historiographie de la musique grecque antique de Jean-Jacques Rousseau à August Böckh: Aspects d’un problème européen..............................................252 AYşE YUVA L’histoire permet-elle de résoudre les questions philosophiques? Les histoires de la philosophie de Tennemann et Degérando ....................................................272 CHRISTIAN HELMREICH Alexander von Humboldts Wissenschaftsgeschichte. Über das Fortleben der „histoire philosophique“ im 19. Jahrhundert ........................................................288
Vorwort Das Centre d’études et de recherche sur l’Allemagne (CIERA, Paris) hat 2013/14 das Programm „Poétique du récit historique“ mit drei Tagungen an den Universitäten Halle und Paderborn sowie am Deutschen Historischen Institut Paris und mit einer Vortragsreihe an der École Pratique des Hautes Études (EPHE, Paris) finanziert. Die Programmverantwortlichen waren Elisabeth Décultot (damals Centre Georg Simmel, Centre national de la recherche scientifique–École des hautes études en sciences sociales/CNRS–EHESS, Paris), Daniel Fulda (Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung/IZEA, Halle), Christian Helmreich (damals Universität Paris 8), Jacques Le Rider (EPHE, Paris) sowie Johannes Süßmann (Universität Paderborn). Der vorliegende Band ist aus den Vorträgen hervorgegangen, die im Mai 2013 auf dem Workshop „Die Vielfalt der Sattelzeit. Strukturen und Tendenzen des historischen Erzählens um 1800 im deutsch-französischen Vergleich / Diversité du récit historique. Poétique et épistémologie de l’histoire en France et en Allemagne à la fin du XVIIIe et au début du XIXe siècle“ am IZEA gehalten wurden. Die Beiträge zur Pariser Tagung „Poétique et politique du récit historique en Allemagne et en France (1789–1914) / Poetik und Politik der Geschichtsschreibung in Deutschland und Frankreich“ im Oktober 2014 werden in einem weiteren Band publiziert, der als Beiheft zur Romanisch-Germanischen Monatsschrift im Heidelberger Winter-Verlag erscheint, herausgegeben von E. Décultot, D. Fulda und Ch. Helmreich. Dem CIERA danken wir für die Finanzierung der Hallenser Tagung im Rahmen des o.g. Programms, ebenso der Deutsch-Französischen Hochschule für einen großzügigen Zuschuss. Bei den Redaktionsarbeiten leistete Aleksandra Ambrozy in beiden Sprachen wertvolle Hilfe; ihr danken wir ebenso herzlich wie Dr. Ricarda Matheus, der Redakteurin der Halleschen Beiträge. Die Herausgeber
DANIEL FULDA
Sattelzeit. Karriere und Problematik eines kulturwissenschaftlichen Zentralbegriffs I.
Welcher Sattel? Unschärfe als Erfolgsfaktor
Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch sollen Begriffe die Präzision fördern. Fachbegriffe (Termini) zeichnen sich durch die explizite Definition ihres Bedeutungsgehalts aus. Semantische Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten sollen dadurch möglichst vermieden werden. Ob solche idealen Begriffe aber auch die erfolgreichsten sind, die von den Teilnehmern an der wissenschaftlichen Kommunikation am liebsten aufgegriffen werden – das dürfte sehr in Frage stehen. Breiter Aneignung und vielfachen Gebrauchs scheinen sich eher die Begriffe zu erfreuen, denen es an Bestimmtheit mangelt. Suggestivität und ein hohes Assoziationspotential können – auch in der Wissenschaft – einen Begriff attraktiver machen, als eine präzise Explikation es vermöchte. Der Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking hält vage Begriffe sogar für nützlicher, weil sie Spielräume für Innovation und neue Erkenntnis schaffen: „Die Begriffe einer lebendigen Wissenschaft sind nicht sonderlich präzise.“1 Ein ebenso erfolgreicher wie vager Begriff ist ‚Sattelzeit‘. Von Reinhart Koselleck in Umlauf gebracht, hat er sich nicht allein in der Geschichtswissenschaft durchgesetzt, sondern wird auch in anderen Geisteswissenschaften verwandt,2 wenn die Zeit zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts – „ungefähr zwischen 1750 und 1850“3 – angesprochen werden soll. Konkretere Daten, die Anfang und Ende der Sattelzeit markieren würden, werden kaum je genannt. Seinen guten Grund hat diese Unschärfe darin, dass der Begriff ursprünglich nicht auf die politische Geschichte zielte, in der die Daten ‚großer‘, soll heißen: weitreichender Ereignisse (der Westfälische Friede, die Französische Revolution, die nationalsozialistische Machtergreifung) nach wie vor eine zentrale Rolle für die Epochengliederung spielen. Als Sattelzeit bezeichnete Koselleck vielmehr eine – seines Erachtens die entscheidende – Phase der deutschen und europäischen 1
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Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. A. d. Engl. übers. v. Joachim Schulte. Stuttgart 1996, S. 22, zit. nach Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg 2007, S. 119. Vgl. Stefan Jordan: Die Sattelzeit. Transformation des Denkens oder revolutionärer Paradigmenwechsel? In: Achim Landwehr (Hg.): Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution. Bielefeld 2012, S. 373–388, S. 373 mit Nachweisen. Reinhart Koselleck u. Christoph Dipper: Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christoph Dipper. In: Neue Politische Literatur 51 (1998), S. 187–205, hier S. 195.
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Begriffsgeschichte. Etwa zwischen 1750 und 1850 habe sich die Begriffswelt Alteuropas (mit Kontinuitäten seit Antike und Mittelalter) in die großenteils neuformierte Begriffswelt der Moderne transformiert.4 Da Koselleck in Begriffen den Ausdruck und das Vehikel des menschlichen bzw. gesellschaftlichen Selbstverständnisses sah, konnte, ja musste er in der Sattelzeit nichts Geringeres als die sprachliche wie mentale Grundlegung der Moderne erkennen. Eine Grundlegung, die wiederum auf ihre Interdependenzen mit politisch-sozialen Veränderungen untersucht werden sollte, was in dem von Koselleck initiierten und vorangetriebenen Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe allerdings kaum geschehen ist.5 In der Sattelzeit berühren sich Alteuropa und Moderne und scheiden voneinander, so die These Kosellecks, die den „Beginn der ‚Neuzeit‘“6 von der Zeit um 1500 auf das Jahrhundert ‚um 1800‘ verschob. Die von ihm und den Beiträgern zu seinem Lexikon untersuchten Begriffe verlieren, so die Heuristik der Geschichtlichen Grundbegriffe, in der Sattelzeit regelmäßig ihre traditionellen Bedeutungen und gewinnen neue, die sich dadurch als modern ausweisen, dass sie unseren Begriffen im Grundsatz entsprechen. Warum er diese Übergangsphase Sattelzeit nannte, hat Koselleck nie begründet;7 ebenso wenig hat er erläutert, an welche Art Sattel er dachte. Passend ist die Sattelmetapher, wenn man sich einen Einschnitt im Gebirge vorstellt, wo der Wanderer vergleichsweise bequem aus dem einen Tal ins andere wechselt, analog zum Übergang von alteuropäischen Begriffsbedeutungen zu modernen. Freilich akzentuiert Koselleck die Änderung von Bedeutungen – das Bruchmoment – mindestens ebenso stark wie das Kontinuitätsmoment des Übergangs. Die zu seiner Vorstellung vom begriffs- und denkgeschichtlichen Umbruch passendere montan-topographische Metapher wäre also der Gebirgskamm, der mehr trennt als verbindet. Dort ist kein Blick aus dem einen ins andere Tal möglich; wer dort voraus und zurück schauen wollte, bräuchte ein „Janusgesicht“, also genau das, was Koselleck den Begriffen der Sattelzeit zuschreibt: „rückwärtsgewandt meinen sie soziale und politische Sachverhalte, die uns ohne kritischen Kommentar nicht mehr verständlich sind, vorwärts und uns zugewandt haben sie 4
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Vgl. Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1–8 (in 9). Stuttgart 1972–1997, Bd. 1, S. XIII–XXVII, hier S. XIV. Zu dieser Aufgabenstellung und den Schwierigkeiten ihrer Einlösung vgl. Koselleck u. Dipper: Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte (wie Anm. 3), S. 188f. sowie Carsten Dutt: Begriffsgeschichte als Historie der Moderne. Semantik und Pragmatik nach Koselleck. In: Carsten Dutt u. Reinhard Laube (Hg.): Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks. Göttingen 2013, S. 65–80. Carsten Dutt danke ich herzlich für erhellende Diskussionen über Kosellecks Verständnis von Geschichte und besonders der ‚Sattelzeit‘. Koselleck: Einleitung (wie Anm. 4), S. XV. Im Interview hat er die Gründe für die Begriffswahl mit der Erklärung bagatellisiert, es handle sich lediglich um einen „Kunstbegriff, den ich benutzt habe, um Geld zu bekommen!“ (Koselleck u. Dipper: Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte, wie Anm. 3, S. 195)
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Bedeutungen gewonnen, die zwar erläutert werden können, die aber auch unmittelbar verständlich zu sein scheinen.“8 Andere Deutungen der Sattelmetapher sind möglich, haken aber noch mehr: Stellt man sich den Gebirgssattel als Tiefpunkt zwischen zwei Bergen vor, funktioniert die Metapher nicht mehr, denn Koselleck sah in der „deutschen Klassik“ sowie im „Idealismus“ (als den begriffsprägenden Kräften um 1800) gewiss keinen Tiefpunkt. Vollends keinen Sinn macht die Vorstellung eines Reitsattels – nicht nur, weil man dann die Frage beantworten müsste, wer der Reiter ist. Ein Begriff, dessen Semantik indirekt ausgedrückt wird durch eine mehrdeutige Metapher, die mit einigem Recht als „nicht gut pass[end]“9 charakterisiert wurde, erfüllt eigentlich nicht die Anforderungen, die an Fachbegriffe gestellt werden. Ebenfalls metaphorisch, aber klarer ist der Begriff der „Schwellenzeit“, den Koselleck nicht selten synonym mit ‚Sattelzeit‘ verwendet.9 Eine Schwelle stellt den Übergang zwischen zwei distinkten Räumen dar – hier zwischen den unterschiedlichen Sprachräumen Alteuropas und der Moderne –, und zwar einen leicht erhöhten Übergang, worin man die herausragende Bedeutung der Zeit um 1800 für die Semantik der Moderne angedeutet sehen kann. Es ist keine gewagte These, dass ‚Schwellenzeit‘ nicht nur klarer, sondern auch die passendere Bezeichnung für das ist, was Koselleck meint.10 Umso auffälliger ist der kommunikative Erfolg des anderen Begriffs, den Koselleck selbst als „semantisch […] etwas schwaches oder metaphorisch arg anreicherbares Etwas“ charakterisiert hat.11 Vermutet werden darf, dass die Unschärfe des Sattelzeit-‚Begriffs‘ seinem Durchsetzungserfolg keineswegs hinderlich, sondern förderlich war. Wer von ‚der Sattelzeit‘ spricht, schließt sich an einen hochrenommierten Wissenschaftler an, ohne dass der gewählte Begriff ihm abverlangt, darüber nachzudenken, wie scharf und in welcher Weise er ‚Alteuropa‘ und ‚Moderne‘ unterschieden sieht. Er profitiert von der besonderen Bedeutsamkeitssuggestion dieses Begriffs – denn „Schwellenzeiten“ gibt es viele,12 aber nur eine ‚Sattelzeit‘. Ob aber jeder, der von der Sattelzeit spricht, die Koselleck’sche These teilt, dass um 1800 „alles anders wurde“?13 8 9 10
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Koselleck: Einleitung (wie Anm. 4), S. XV. Die folgenden Zitate ebd. Koselleck u. Dipper: Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte (wie Anm. 3), S. 195. Koselleck selbst äußerte dies in einer Antwort auf kritische Einwände von John Pocock, vgl. Reinhart Koselleck: A Response tot he Comments on the Geschichtliche Grundbegriffe. In: Hartmut Lehmann u. Melvin Richter (Hg.): The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on „Begriffsgeschichte“. Washington 1996, S. 59–70, hier S. 69. Koselleck u. Dipper: Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte (wie Anm. 3), S. 195. Vgl. Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987. Koselleck u. Dipper: Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte (wie Anm. 3), S. 195. Zur Auseinandersetzung mit der „Sattelzeitthese“ vgl. auch die Beiträge im vierten Teil des von Hans Joas und Peter Vogt herausgegebenen Bandes: Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks. Berlin 2011.
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II.
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Von der Pluralität exemplarischer Geschichten zur einen, autonomisierten Geschichte
Eine zweite Funktion von Begriffen im wissenschaftlichen Diskurs ist die Aufwandsersparnis. Sie sollen Bereiche relativ gesicherten und konsensuellen Wissens umreißen, das nicht bei jedem Gebrauch des Begriffs wieder neu expliziert und problematisiert werden muss. Begriffe ohne großen Reflexionsaufwand zu gebrauchen ist daher eine normale und arbeitsökonomisch sinnvolle Verfahrensweise. Doch kann die weithin anerkannte Selbstverständlichkeit von Begriffen auch trügerisch sein. Den Sattelzeit-Begriff sehen wir in dieser Gefahr, wobei wir uns an dieser Stelle nur auf seinen Einsatz im Feld von Geschichtsdenken, Geschichtsschreibung, Geschichtsphilosophie, Geschichtsdichtung, Geschichtspolitik usw. beziehen. Kosellecks These lautete, dass sich die gesamte politisch-soziale Sprache (jedenfalls in Deutschland) und damit die Wahrnehmung und Deutung von Welt und Gesellschaft um 1800 grundlegend gewandelt habe. Besonders engagiert und besonders erfolgreich hat er seine These aber mit Blick auf das eben genannte Feld vertreten. Koselleck zufolge wird seit dem 18. Jahrhundert alles Kulturelle und Gesellschaftliche und z.T. auch die Natur ‚historisiert‘, d.h. es wird in den zeitlichen und räumlichen Zusammenhang gestellt, in dem es entstanden ist, und soll daraus verstanden werden. Alles Sein kann nun durch sein Gewordensein in einer bestimmten Konstellation des historischen Prozesses bestimmt werden. Geschichte wird nicht mehr nur als Reservoir vieler einzelner Geschichten begriffen, sondern als Kontinuum mit Vorwärtsdrang und dadurch als eigenständige Macht, die alles Menschliche bedingt und prägt.14 In diesem neuen, spezifisch modernen Paradigma vermittelt die Historie nicht mehr anhand dieser oder jener Begebenheit eine moralische oder politische Lehre, die überzeitliche Geltung hat – so das herkömmliche Konzept der „historia magistra vitae“, also des Ciceronischen Topos (De oratore 2,2,36), den Koselleck mit seinem gleichlautend betitelten, initialen Aufsatz von 1967 wieder bekannt gemacht hat.15 Ein solches exemplarisches Lernen aus dem Geschichten-Schatz der Vergangenheit ist nach moderner Auffassung nicht möglich, weil ‚die Geschichte‘ substantielle Veränderungen mit sich bringt, ja aus ihnen besteht, sodass sich Vergangenes niemals so wiederholt, dass die Betrachtung einer historischen Situation umstandslos in eine Erklärung der Gegenwart münden kann. Aus der Geschichte
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Vgl. Reinhart Koselleck: Geschichte, Historie. In: Brunner, Conze u. Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 4), Bd. 2 (1975), S. 593–718 (die Seiten 595–647 wurden von Christian Meier, Odilo Engels u. Horst Günther verfasst), hier S. 650f. Vgl. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 38–66.
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zu lernen heißt unter modernen Vorzeichen vielmehr, so Koselleck, ihren Verlauf zu verstehen und ihre Entwicklungsrichtung zu erkennen. Das begriffliche Äquivalent dieser neuen Auffassung fand Koselleck bekanntlich im Kollektivsingular ‚die Geschichte‘, der um 1750 erstmals auftrete und sich um 1775 durchsetze.16 Zuvor gab es im Deutschen keinen zusammenfassenden Begriff im Singular für die Gesamtheit des Vergangenheitsgeschehens oder sogar für alles historische Geschehen in den drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Gesamtheit der vielen einzelnen Geschichten ließ sich lediglich im Plural ansprechen, also als ‚Geschichten‘ oder auch als ‚die Geschichte‘, was in älteren Belegen stets eine Pluralform darstellt.17 Die Entstehung des neuen Kollektivsingulars ‚die Geschichte‘ bildet in Kosellecks begriffsgeschichtlichem Ansatz das Paradebeispiel für die Entsprechung von Begriffs- und Bewusstseinswandel: Mit ‚Geschichte‘ im Singular war vor 1750 kein allumfassender historischer Prozess gemeint, sondern ein partikularer Ereigniszusammenhang, der als exemplarische Realisierung bzw. Veranschaulichung ahistorischer Regeln verstanden wird; was seit der Sattelzeit summarisch ‚die Geschichte‘ heißt, wurde davor als „Mehrzahl additiver Einzelgeschichten“ gedacht.18 Nach 1750 beobachtet Koselleck hingegen eine gedankliche Integration der vielen Geschichten zur einen Geschichte von autonomer Dynamik, die mit der Ausbildung und Durchsetzung des Kollektivsingulars ‚die Geschichte‘ Hand in Hand ging. Am Ende der Sattelzeit habe Johann Gustav Droysen den neuen Sprachgebrauch prägnant resümiert: „Über den Geschichten ist die Geschichte.“19 Hinzu kam, dass der neue Kollektivsingular nicht nur das historische Geschehen synthetisierte, sondern auch rasch an die Stelle von ‚Historie‘ (als Ausdruck für die Erforschung und Darstellung von Geschichte) trat.20 Die ‚objektive‘ und rekonstruktive Seite der Geschichte wurden dadurch begrifflich zusammengeführt. Man kann darin eine Entsprechung zur eben genannten Veränderung, was die Erwartungen an das Lernen aus der Geschichte betrifft, sehen: Geschichte zu treiben meint in der Moderne nicht ihre punktuelle didaktische Ausbeutung, sondern stellt den Anspruch, sich um das Verstehen ihres Verlaufs im Großen zu bemühen. Als Zeugen dafür hat Koselleck Johannes von Müller zitiert, der 1796 schrieb: „Man findet in der Geschichte nicht sowohl, was in einzelnen Fällen zu tun sei (die
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Vgl. Koselleck: Geschichte, Historie (wie Anm. 14), S. 648f. Vgl. Koselleck: Historia Magistra Vitae (wie Anm. 15), S. 46f. Ebd., S. 46. Johann Gustav Droysen: Grundriß der Historik [1857/58]. In: Ders.: Historik. Rekonstruktion der ersten vollständ. Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftl. (1857/58) und in der letzten gedr. Fassung (1882). Textausg. v. Peter Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 395–411, hier S. 409. Vgl. Koselleck: Geschichte, Historie (wie Anm. 14), S. 653–658.
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Umstände ändern alles unendlich) als das Generalresultat der Zeiten und Nationen.“21 Kosellecks These eines ‚um 1800‘ stattfindenden entscheidenden Umbruchs im europäischen Geschichtsverständnis hat sich weithin durchgesetzt, und dies mitunter selbst bei Autoren, die in ihrer Muttersprache keinen gleichzeitigen Wechsel im Sprachgebrauch kennen, wie er im Deutschen ein so schlagender Beweis für jene These zu sein scheint.22 Der französische Historiker François Hartog argumentiert in seinem vieldiskutierten Buch über die wechselnden „régimes d’historicité“ von der Antike bis zur Gegenwart ganz auf der von Koselleck vorgezeichneten Bahn: Das „régime moderne“ zeichne sich durch den neuen Begriff der Geschichte als solcher aus, der ohne spezifizierenden Genetiv auskommt: Surtout, elle est désormais conçue comme processus, avec l’idée que les événements n’adviennent plus seulement dans le temps, mais à travers lui: le temps devient acteur, sinon l’Acteur. Aux leçons de l’histoire se substitute alors l’exigence de prévisions, puisque le passé n’éclaire plus l’avenir. L’historien n’élabore plus de l’exemplaire, mais il est en quête de l’unique. Dans l’historia magistra, l’exemplaire reliait le passé au future, à travers la figure du modèle à imiter. […] Avec le régime moderne, l’exemplaire, comme tel, disparaît pour faire place à ce qui ne se répète pas.23
Der Umbruch vom exemplarischen Geschichtsverständnis der Vormoderne zum genetischen der Moderne stellt sich bei Hartog sogar noch etwas dramatischer dar als bei Koselleck, denn der Franzose bringt ihn mit einem bestimmten, einschneidenden Ereignis – der Revolution von 1789 – in Verbindung.24 Im Französischen hat sich für ‚Sattelzeit‘ übrigens die Übersetzung période oder époque charnière eingebürgert; die Bildlichkeit dieses Terminus passt besser zum Gemeinten als die Sattel-Metapher. In den U.S.A. hat Zachary S. Schiffman unlängst eine weit ausgreifende Entstehungsgeschichte des modernen Geschichtsbewusstseins erarbeitet, die Koselleck zutiefst verpflichtet ist, obwohl sie sich in manchen Punkten gegen ihn wendet.25 Schiffman rekonstruiert die ‚Geburt der Vergangenheit‘ als einer nicht nur chronologisch, sondern auch qualitativ von der Gegenwart unterschiedenen Sphäre. Von Koselleck setzt er sich teilweise ab, indem er Autoren vor 1750, den Humanisten und insbesondere Montesquieu, eine wichtige Rolle bei der Distanzie21
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Koselleck: Historia Magistra Vitae (wie Anm. 15), S. 54; zitiert wird hier Johannes von Müller: Vier und zwanzig Bücher allgemeiner Geschichten besonders der europäischen Menschheit. Stuttgart, Tübingen 1830, Bd. 6, S. 351. Kritik an der Engführung von Begriffs- und (empirisch nicht immer zuverlässiger) Wortgeschichte bei Koselleck hat Jan Marco Sawilla geübt: ‚Geschichte‘: Ein Produkt der deutschen Aufklärung? Eine Kritik an Reinhart Kosellecks Begriff des ‚Kollektivsingulars Geschichte‘. In: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 381–428. François Hartog: Régimes d’historicité. Présentisme et experiences du temps. Paris 2003, 2. Aufl. 2012, S. 145. Vgl. ebd., S. 146. Vgl. Zachary Sayre Schiffman: The Birth of the Past. Foreword by Anthony Grafton. Baltimore 2011.
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rung der Vergangenheit und der Herausbildung eines Verständnisses von Geschichte als autodynamisch produktivem Prozess zumisst. Der fundamentale Wandel im Geschichtsverständnis, den Schiffman verfolgt, ist jedoch derselbe, den Koselleck zuerst ins Licht gerückt hat: von vielen einzelnen Geschichten zur einzigen, allumfassenden Geschichte.
III. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigkeiten oder Koexistenz des Differenten? Es hieße, das Koselleck’sche Modell zu unterschätzen, sähe man darin allein das Ergebnis begriffsgeschichtlicher Befunde. Denn im Grunde handelt es sich um nicht weniger als um eine Geschichtsphilosophie der „modernen Welt“.26 Danach unterscheiden sich Alteuropa und die Moderne zuvörderst durch ihre Geschichtsauffassung: Während die Vormoderne nur viele einzelne Geschichten kenne, die sie als Beispiele für übergeschichtliche Lehrsätze betrachte – historia magistra vitae –, zeichne sich die säkular-immanente Moderne durch ihren Begriff einer alles integrierenden Geschichte aus, die alles bedingt und ihrerseits keinen anderen als natürlichen und menschlichen Einwirkungen unterliegt. Und während nach vormoderner Weltauffassung alles Wesentliche gleichbleibe, sodass die Abfolge der Ereignisse im Grunde lauter Wiederholungen von Grundmustern bedeutet, werde Geschichte in der Moderne als fortlaufende Zeitigung von wesentlich Neuem begriffen. Der Nutzen des Sattelzeit-Modells liegt unseres Erachtens darin, dass es ein klares, da binär strukturiertes Kategoriengerüst für die Analyse nicht allein von Geschichtsauffassungen bereitstellt. Nutzen bringt es darüber hinaus als idealtypische – zu betonen ist: als idealtypische – Beschreibung des Übergangs von der alteuropäischen zur modernen Geschichtsauffassung. Schaden schafft es hingegen dann, wenn es in seiner empirischen Aussagekraft überschätzt wird und wenn Quellenbefunde nur dann akzeptiert werden, wenn sie das Modell bestätigen, oder wenn sie leichthin so interpretiert werden, dass sie passen. Schaut man genauer hin, so sind selbst zentrale Zitate des „Geschichte“-Artikels in den Geschichtlichen Grundbegriffen nicht immer geeignet, den postulierten Umbruch ab 1750 zu belegen. Die Herausbildung des Kollektivsingulars Geschichte illustriert Koselleck mit einem Zitat aus Johann Martin Chladenius’ Allgemeiner Geschichtswissenschaft: „‚Eine Reihe von Begebenheiten wird eine Geschichte genannt‘, definierte CHLADENIUS 1752. Aber ‚das Wort Reihe bedeutet allhier … nicht bloß eine Vielheit oder Menge; sondern zeigt auch die Verbindung derselben untereinander, und
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Vgl. Koselleck: Einleitung (wie Anm. 4), hier. S. XIV–XVII, das Zitat S. XIV.
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ihren Zusammenhang an‘.“27 Das Stichwort ‚Zusammenhang‘ scheint in diesem Chladenius-Zitat die Integrationsleistung des neuen singularischen Geschichtsbegriffs zu belegen. Die Geschichte, von der Chladenius spricht, ist jedoch gar nicht die ‚eine, ganze Geschichte‘, sondern eine partikulare unter lauter partikularen Geschichten: „Was eine Geschichte sey?“, lautet die Überschrift des Paragraphen. Es geht bei Chladenius um den Zusammenhang, den jede (einzelne) Geschichte braucht: um die „Zusammenfügung der Geschehnisse“ (pragmaton syntasis), die Aristoteles zum „wichtigsten Teil“ der Tragödie (und übertragen: jeder sinntragenden Geschehensdarstellung) erklärte.28 Dieses Kohärenzprinzip gilt bei Chladenius für alle Geschichten; es wird von ihm aber nicht auf das Gesamt des historischen Geschehens übertragen, das damit als Einheit gesehen würde. Das Gesamt der vielen einzelnen Geschichten bleibt für ihn etwas Plurales. Grammatisch ist dieser Befund eindeutig,29 und Chladenius’ Argumentation lässt nicht erkennen, dass ihm eventuell nur das neue Wort für den bereits gedachten Zusammenhang der einen, totalen Geschichte gefehlt hätte. Die Stelle, die Koselleck als weiteren Beleg für das neue Geschichtsverständnis bei Chladenius anführt, muss ebenfalls als massiv, wenn nicht verfälschend überinterpretiert bezeichnet werden. Aus Chladenius’ Feststellung „Die Geschichte an und vor sich hat kein Ende“30 schließt er, dass die (modern aufgefasste) Geschichte „bei Chladenius einen grundsätzlich unbegrenzten Horizont“ gewinnt.31 Doch bezieht sich Kosellecks Zeuge nicht auf ‚die Geschichte‘ insgesamt, sondern auf einzelne zu erzählende Geschichten – der Singular steht in jenem Chladenius-Zitat, weil von einer beliebigen partikularen Geschichte die Rede ist.32 Chladenius’ Gedanke ist der, dass jede Abgrenzung einzelner Geschichten künstlich ist, weil das Geschehen in der Welt weitergeht. Dieser Gedanke lässt sich prinzipiell wohl auf
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Koselleck: Geschichte, Historie (wie Anm. 14), S. 649. Das (in der Schreibweise normalisierte) Zitat stammt aus Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Mit e. Einl. v. Christoph Friederich u. e. Nachw. v. Reinhart Koselleck. Neudr. d. Ausg. Leipzig 1752. Wien, Köln u. Graz 1985, S. 7. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1986, S. 21, Kap. 6. Da der Plural „Geschichte“ („Geschichte können“; Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, wie Anm. 27, S. 9) bei Chladenius keine morphologische Markierung hat, kann sich allerdings, wenn man von den heutigen Flexionsformen herkommt, das Missverständnis einstellen, es handle sich um einen Singular. Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft (wie Anm. 27), S. 147. Koselleck: Geschichte, Historie (wie Anm. 14), S. 652. Der Kontext macht das ganz klar: „Die Geschichte an und vor sich hat kein Ende; sie ziehet allemahl Folgen nach sich: sie werden aber nicht mehr zu der Geschichte gerechnet [hier kann nur die jeweilige partikulare Geschichte gemeint sein, denn beim Kollektivsingular der ‚einen, ganzen Geschichte‘ gibt es keine Folgen (höchstens das Weltgericht), die als danach kommend gedacht werden; D.F.], wenn sie mit dem allgemeinen Begriffe, unter welchem sie [die partikulare kohärente Geschichte; D.F.] als ein indiuiduum enthalten ist, keinen Zusammenhang haben.“ (Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, wie Anm. 27, S. 147)
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‚die Geschichte‘ im modernen Sinn übertragen, wird von Chladenius aber nicht in dieser Weise transponiert. Genaueres Nachsehen verdient auch die oben zitierte Müller-Stelle, aus der Koselleck die Ablösung des Magistra-vitae-Topos herausliest. Das Zitat setzt sich wie folgt fort: „erfülle trefflich die vom Schicksal dir angewiesene Stelle; hierin scheine dir nichts zu hoch, daß du es nicht erreichen könntest, nichts so gering, daß du es vernachlässigen dürftest. Dadurch werden Könige groß, dadurch erwirbt der Mann von Geist ewige Lorbeeren; dadurch erhebt der Hausvater seine Familie über Armuth und Niedrigkeit.“33 Und ihm geht voraus der Satz: „Das sehen wir, daß Glück und Macht, bei Staaten und Particularen, das Werk festen Willens, großer Thätigkeit und richtigen Urtheils sind, wo hingegen Schwäche, Furchtsamkeit und alles, was die Entwickelung innewohnender Fähigkeiten hindert, Staaten und Einzelne stürzt.“ Die Historie bleibt bei Müller also eine Schule der Moral und der mentalen Stärke. Dass sich, nach Müller, nicht einzelne Handlungsanweisungen aus der Geschichte ziehen lassen, sondern ‚nur‘ situationsungebundene Kompetenzen durch sie geschult werden können, ändert daran nichts. Von einer autonomem Dynamik des geschichtlichen Prozesses, dessen Richtung der Historiker und sein Publikum einzusehen hätten, ist bei Müller nichts zu lesen. Vielmehr schreibt er im selben Absatz: „So unvollständig das Geheimniß und die Natur der größten Revolutionen und ihrer Verkettung in diesem Geschichtbuch dargestellt worden, so sichtbar leuchtet höhere Leitung hervor. Unbekannt ist ihr Plan, unerforschlich ihr Gang.“ Der Sinn der Geschichte ist hier nicht säkularisiert, sondern leitet sich von der „Weltregierung“ des „Unsichtbaren“ ab;34 er geht nicht im mundanen Geschehen auf und ist deshalb für den Menschen nicht einsehbar. Konsequenterweise besteht die im Studium der Geschichte zu erwerbende Kompetenz nicht im Erkennen historischer Dynamiken sowie im angemessenen, womöglich aktivistischen Reagieren darauf, etwa dadurch, dass man die jeweiligen historischen Tendenzen voranzutreiben sucht, ‚im Dienst des Fortschritts‘. Auf die bestehende Ordnung der Gesellschaft bezieht sich Müller nicht als Gegenstand eines historisch informierten Urteils, sondern als zu akzeptierende Voraussetzung historischen Lernens: Die Lehren der Historie sind für jeden Stand andere und sollen das persönliche Verhalten unter den Vorgaben des jeweiligen Standes leiten. Lebt das Denkmuster der historia magistra vitae in Müllers Weltgeschichte fort, so ist es schließlich kaum verwunderlich, dass sich dort auch das Wort ‚Geschichte‘ nicht zum ‚Kollektivsingular‘ modernisiert hat. Wenn Müller „Geschichte“ schreibt, meint er ‚Historie‘, also die dargestellte, nicht die sich
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Johannes von Müller: Vierundzwanzig Bücher Allgemeiner Geschichten besonders der europäischen Menschheit. Bd. 1–4. Stuttgart, Tübingen 1861 [EA 1811], Bd. 4, S. 255. Die folgenden Zitate ebd. Ebd., S. 256.
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vollziehende Geschichte. Für das historische Geschehen hat er Plurale: „Zeiten und Nationen“ oder „Ozean der Zeiten“.35 Was folgt aus diesen Einwänden gegen einige Deutungen, die Koselleck seinen Quellen im Sinne seiner Kollektivsingular-These angedeihen lässt? Obwohl es sich um zentrale Stellen in seiner Argumentation handelt, hebelt interpretatorische Fragwürdigkeit an einzelnen Stellen keinesfalls gleich die ganze These aus. Wie allgemein diese These gültig ist, sollte immerhin aber als offene Frage behandelt werden. Nun konzipierte auch Koselleck die Sattelzeit als ein weiträumiges Nebeneinander von Traditionellem und Modernem, sei es in Bezug auf den Geschichtsbegriff oder auf andere grundlegende Begriffe. Die Veränderungen, die sich in der Sattelzeit vollzogen, haben in seiner Deutung indes eine klare Richtung. Die untersuchten Begriffe und ihre jeweiligen Verwendungen sind ‚noch alteuropäisch‘ oder ‚schon modern‘. Ein traditioneller Begriffsgebrauch, der sich vergleichsweise lange hält wie Müllers (in meiner, nicht in Kosellecks Lektüre), ist dann konsequenterweise als veraltet oder zumindest veraltend zu qualifizieren. Mit anderen Worten: Die Dynamisierung der Geschichte und das Fortschrittsmodell, deren Entstehung in der Sattelzeit Koselleck beschreibt, liegen auch seiner Begriffsgeschichtsschreibung zugrunde. Als Historiograph zeigt sich Koselleck dem in der Sattelzeit ausgebildeten Geschichtsverständnis verpflichtet, obwohl er dessen inhärente Abwertung des Traditionellen in seinem Aufklärungsbuch kritisiert hatte.36 Die Ablösung der „Historia Magistra Vitae-Idee“ betont er über empirische Gebühr als Charakteristikum des Übergangs zur modernen Geschichtsauffassung, obwohl er mit dieser Idee sympathisierte und sie insofern wieder zur Geltung bringen wollte, dass man durch das Studium der Geschichte sich wiederholende Strukturen erfassen sollte.37 Wenn wir ‚Altes‘ und ‚Neues‘ nebeneinander, zur gleichen Zeit vorfinden: haben wir es dann mit einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigkeiten“ zu tun, wie eine weitere berühmte Formulierung Kosellecks lautet, die eine „Grunderfahrung aller Geschichte“ (genauer: der modernen Geschichte) bezeichnen soll?38 ‚Ungleichzeitig‘ ist Gleichzeitiges, wenn bestimmte Phänomene als ‚in die Zukunft weisend‘ oder eben fortgeschrittener identifiziert werden können, während andere 35 36 37 38
Ebd., S. 255 u. 256. Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. 13. Aufl. Frankfurt a.M. 2013 [EA 1959]. Reinhard Koselleck u. Carsten Dutt: Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche. Heidelberg 2013, S. 66. Reinhart Koselleck: ‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft (wie Anm. 15), S. 300–348, hier S. 325. Die Formulierung „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ hat der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder bereits 1926 geprägt. Vgl. Martin H. Geyer: „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Zeitsemantik und die Suche nach Gegenwart in der Weimarer Republik. In: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. München 2007, S. 165–187, hier S. 177.
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als traditionell oder ‚aus der Vergangenheit kommend‘ wahrgenommen werden. Würde man auf die Linearisierung historischen Geschehens als Fortschrittsprozess verzichten, so wäre stattdessen bloß von einer Koexistenz des Differenten zu sprechen.
IV. Historisierung gleich Verwissenschaftlichung? Die in der Sattelzeit diagnostizierte und (keineswegs allein von Koselleck) zugleich zur Interpretation der Sattelzeit verwandte Dynamisierung der Geschichte hat ihren geläufigen begrifflichen Ausdruck in einer Reihe von Prozessnomen gefunden. „Historisierung“ bildet dabei den Überbegriff; näher bestimmt wird die Historisierung der Sattelzeit meist als Säkularisierung, Verwissenschaftlichung und Professionalisierung. In seiner monumentalen Studie über den Göttinger Universalhistoriker Johann Christoph Gatterer (1727–1799) expliziert Martin Gierl diese Begriffe wie folgt: Die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts säkularisierte, verwissenschaftlichte und professionalisierte Geschichte. Im Lauf der Trennung von Gottes Zugriff wurde Geschichte ein autonomer Prozess. Die Religionsgeschichte wurde Teil der säkularen Geschichte. Die Bestandsaufnahme der Literatur, Quellenkritik und -edition, Belegstandards, selbstreflexives Verfahren wie ein systematisches Rezensionswesen, die Entwicklung einer Geschichtstheorie jenseits der Ars historica und einer eigenen Fachgeschichte verwissenschaftlichten die Historiographie. Wesentliche Kristallisationspunkte der Fachprofessionalisierung entwickelten sich dabei. Der Medienapparat des Fachs installierte sich mit Lexika, Tafelwerken, Journalen, Kompendien und einer verstetigten wie kräftig wachsenden Produktion allgemeiner wie spezieller Geschichtspublikationen.39
Wie es in Historiographieforschung häufig geschieht, vermischt sich im zitierten Text die Beschreibung eines historischen Vorgangs mit der Artikulation des eigenen Selbstverständnisses als ‚wissenschaftlicher Historiker‘. Die Entwicklung, die auf die eben genannten Begriffe gebracht wird, ist nichts anderes als eine Annäherung an das, was denjenigen, die sich mit ihr beschäftigen – Historiographie- und Wissenschaftshistorikern –, aus der eigenen Berufstätigkeit bekannt ist. Ebenso wie die von Koselleck definierte Sattelzeit führt sie auf Verhältnisse, die „unmittelbar verständlich zu sein scheinen“.40 Bei Gierl folgt denn auch gleich im nächsten Abschnitt eine kurze, aber dichte Erinnerung an das Koselleck’sche SattelzeitModell und die Kollektivsingular-These.41 39
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Martin Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfange. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 280. Systematisch ausformuliert wurde das Verwissenschaftlichungsparadigma vor allem von Jörn Rüsen: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur. Frankfurt a.M. 1993, S. 34–38: „Verwissenschaftlichung als historischer Prozeß – eine idealtypische Perspektivierung“. Koselleck: Einleitung (wie Anm. 4), S. XV. Vgl. Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft (wie Anm. 39), S. 281.
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Für problematisch halten wir die Kombination der genannten und ähnlicher Prozessnomen mit dem Sattelzeit-Modell, wenn der Eindruck entsteht, seit ca. 1750 werde es die Norm oder zumindest der Normalfall, dass die Beschäftigung mit Geschichte säkularisiert, szientifisch und professionell-disziplinär erfolgt. Sodass gegenteilige Optionen – wie transzendente Überwölbungen von Geschichte, ästhetische Sicht- und Schreibweisen, Geschichtsschreibung von ‚Laien‘ (Literaten, Politikern, historischen Akteuren, Journalisten usw.) – als Relikte eines vormodernen Geschichtsverständnisses erscheinen oder ganz ausgeblendet werden. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes wenden sich gegen diese verengende Sicht, die auch dort in der Konsequenz des Sattelzeit-Modells liegt, wo sie so entschieden gar nicht vertreten wird. Sie plädieren dafür, den sattelzeitlichen Geschichtsdiskurs nicht auf dessen professionellen, akademischen Teil zu zentrieren oder die Untersuchung gar darauf zu beschränken. Neben Professionalisierung und Verwissenschaftlichung möchten sie auch Popularisierungs-, Ästhetisierungs-, Politisierungs-, Didaktisierungs- und andere Aktualisierungstendenzen einbezogen sehen, unabhängig davon, ob es sich um zur Professionalisierung/Verwissenschaftlichung gegenläufige (aber deswegen nicht ‚reaktionäre‘) oder um damit interdependente Tendenzen handelt.42 Neben der „Empirisierung“, die als Kennzeichen des mittleren 18. Jahrhunderts gilt,43 sollen ebenso Momente der Fiktionalisierung in den Blick genommen werden, die sich keineswegs nur in künstlerischen Gestaltungen von Geschichte finden, sondern auch in den Wissenschaften, sei es in der Form hypothetischer Ursprungs- und Frühgeschichten, sei es als Sichbewusst-machen der konstruktiven Leistung, die das Verstehen und Darstellen von Geschichte(n) voraussetzt. Den Begriff der ‚Wissenschaft‘ im modernen Sinne gab es zu Beginn der Sattelzeit noch nicht. Das Wort ‚Wissenschaft‘ bedeutete die mehr oder weniger sichere Erkenntnis,44 mitunter auch nicht mehr als ‚Kenntnisse‘; erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts etabliert sich die Bedeutung ‚Zusammenhang von Aussagen mit begründetem Wahrheitsanspruch‘, die in die Richtung unseres disziplinären Wissenschaftsbegriffs weist.45 Der Universitätsbetrieb, mit dem das moderne Verständnis von Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert verbunden ist, folgte noch vor allem ‚gelehrten‘ Prinzipien, die ebenso einem großen Teil der belletristischen 42
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Die These einer Abhängigkeit der modernen Verwissenschaftlichung der Historie von einer um 1800 sich vollziehenden Ästhetisierung der Wahrnehmung, Auffassung, Erzählung und Deutung der Geschichte expliziert Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996. Die z.B. Jens Brachmann: Der pädagogische Diskurs der Sattelzeit. Eine Kommunikationsgeschichte. Bad Heilbrunn 2008, S. 121 konstatiert. Vgl. Art. Wissenschafft, Lat. Scientio. In: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste [...]. Bd. 1–64. Halle u. Leipzig 1732– 54, Bd. 57, Sp. 1346–59. Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. 2., verm. u. verb. Aufl. Bd. 1–4. Leipzig 1793–1801, Bd. 4, S. 1582.
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Literaturproduktion zugrunde lagen. Wissenstradierung und -ordnung rangierte im Gelehrsamkeitsparadigma vor der Gewinnung neuer Erkenntnisse, die umfassende Kenntnis der Tradition vor der Vorstellung, durch Erkenntnis (oder künstlerische Originalität) etwas ganz Neues schaffen zu können, und zwar Neues von kulturund gesellschaftsprägender Relevanz. Das Bezugsfeld der Historiographie des mittleren und späten 18. Jahrhunderts war dementsprechend nicht die ‚Wissenschaft‘ (als arbeitsteilige Institution, die eine nie zum Ende kommende ‚Forschung‘ betreibt),46 sondern kann als Spannungsfeld mit den Polen Gelehrsamkeit, Philosophie und Kunst charakterisiert werden – Kunst verstanden zunächst als Erkenntnis- und Schreib-‚Technik‘, wie griech. techné, zunehmend aber auch im modernen Sinne der ästhetisch ansprechenden und semantisch relevanten Formung durch einen Künstler.
V. Die Sattelzeit als Konkurrenz- und Interdependenzfeld divergierender Tendenzen In diesem Spannungsfeld erfolgten die Aufbrüche zu einer neuen Geschichtsschreibung, welche die erste Sektion unseres Bandes thematisiert. Der Beitrag von DANIEL FULDA analysiert drei Jahrzehnte historiographischer Buchproduktion des auf diesem Feld führenden Verlags Johann Justinus Gebauer (1710–1772), um Einblick in die um 1750 tatsächlich verkaufte Historiographie zu gewinnen. Sichtbar wird dabei ein signifikant hoher Anteil von Übersetzungen aus dem Französischen, der offensichtlich dazu diente, das wachsende Geschichtsinteresse nichtgelehrter Leser zu befriedigen. Ganz zur französischen Geschichtsschreibung wechselt der Beitrag von VANESSA DE SENARCLENS, die Montesquieus historiographische Innovationen (die Frage nach strukturellen Bedingungen des historischen Soseins und historiographische Standpunktreflexion) im Spannungsfeld zwischen Gelehrsamkeit und Philosophie rekonstruiert. Montesquieu (1689–1755) bildete wiederum, wie MORITZ BAUMSTARK argumentiert, einen zentralen Bezugspunkt für Herder (1744–1803): Obwohl Herder heftige Kritik an der französischen Aufklärung übte, ist seine für die Geschichtsphilosophie ebenso wie für den künftigen deutschen Historismus maßgebliche Frage nach dem „Geist“, der in Geschichte waltet, nicht denkbar ohne die Montesquieu’sche Suche nach dem „esprit des lois“. MARKUS HIEN hingegen akzentuiert die andere, polemische Seite von Herders Frankreich-Bezügen: die – auch bei anderen deutschen Autoren gängige – Kritik an der Oberflächlichkeit, die den Franzosen im gelehrten Diskurs ebenso 46
Sehr instruktiv dazu, trotz der verengenden Fokussierung auf „Verwissenschaftlichung“: Wolfgang Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus. In: Ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft. München 1990, S. 58–91.
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wie in ihrer Lebensart eigentümlich sei. Solcher um Empirie unbekümmerten philosophischen Behandlung der Geschichte stellte man von deutscher Seite gerne die Gründlichkeit des Gelehrten gegenüber, der nicht auf den Beifall des Publikums schiele. Bei Herder verkörpert die sogenannte Reichshistorie diese Gründlichkeit. Die erste Sektion abschließend, führt ELISABETH DÉCULTOT vor, wie Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) von seinen reichshistorischen Studien geprägt war. In seiner epochemachenden Geschichte der Kunst des Altertums entwickelte Winckelmann gleichwohl eine künstlerisch-narrative Geschichtsschreibung, die von Voltaires Vorbild einer ‚philosophischen‘ Historie als umfassender Kulturgeschichte entscheidend profitierte. Die zweite Sektion Geschichtsschreibung in politischer Absicht versammelt Beiträge, die den Abschied von der historia magistra vitae, der die Sattelzeit nach der von Koselleck etablierten Ansicht kennzeichnet, in Frage stellen. JOHANNES SÜßMANN stellt die politische Funktionalisierung der Geschichtsschreibung bei einem Autor, Johannes von Müller (1752–1809), dar, der durchaus auch in ‚fortschrittsorientierten‘ Historiographiegeschichten seinen prominenten Platz hat, nämlich als Mitbegründer einer erzählerischen deutschen Geschichtsschreibung. Süßmann zeigt, wie stark sich Müller an antiken Mustern orientierte; das gilt sowohl für den rhetorischen Stil seiner Historiographie und sein Verständnis von Kunst (nämlich als ars) als auch für seine politischen Ideale und die Vorstellung eines Lernens aus vorbildlichen Beispielen. Zwei vergessenen Autoren, JeanJacques Fillassier (1745–1799) und seinem deutschen Übersetzer Friedrich Leopold Brunn (1758–1831), die in ihrer Zeit jedoch einflussreich waren, weil sie wichtige Schulbücher verfassten, widmet sich PAULINE PUJO. Sie kann dabei zwei Varianten einer modernisierten historia magistra vitae unterscheiden, eine eher auf moralische und eine eher auf staatsbürgerliche Schulung zielende. Die Revolution und ihre Brüche ließen die historia magistra vitae-Tradition demnach nicht notwendig abbrechen, sondern konnten deren neue Funktionalisierung bewirken. Eine explizite Kritik des Forschungsparadigmas, das in der Geschichtsschreibung des ausgehenden 18. Jahrhunderts vor allem moderne Momente sucht, übt der Beitrag DAMIEN TRICOIREs über Raynals Histoire des deux Indes (1. Aufl. 1770). Tricoire kennzeichnet dieses aufsehenerregende Werk als Versuch einer philosophischen Politikberatung, der sich schwerlich in eine Entstehungsgeschichte wissenschaftlicher Geschichtsschreibung integrieren lasse. Eine weitere, mit der Französischen Revolution in Kurs kommende Gattung engagierter Historiographie – die Zeitgeschichtsschreibung Friedrich Buchholz’ (1768–1843) mit nicht nur zeitlich geringer Distanz zu ihrem Gegenstand –, stellt IWAN-MICHELANGELO D’APRILE vor. Gleichfalls eine populäre, von der Historiographiegeschichtsschreibung jedoch kaum beachtete Gattung war die Memorialistik, die keineswegs nur in der Frühen Neuzeit, im ‚vorwissenschaftlichen Zeitalter‘ blühte, sondern ebenso im 19. Jahrhundert, wie ANNA KARLA zeigt.
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Der Band schließt mit einer Sektion zu weiteren Varianten der Historisierung. Die Beiträge von CHANTAL GRELL und CHRISTOPHE CORBIER diskutieren unterschiedliche Lösungen für das Problem des Umgangs mit einer unzureichenden Quellenüberlieferung, Grell mit Blick auf die um 1800 bemerkenswert beliebten Entwürfe von Ursprungsgeschichten der Menschheit, welche die Lücke füllen sollten, die durch die Entwertung des biblischen Schöpfungsberichts durch die mit mehr als 6000 Jahren Erdgeschichte rechnende Geologie entstanden war, Corbier anhand der Rekonstruktionsversuche von Rousseau (1712–1778) und August Boeckh (1785–1867) zur altgriechischen Musik. Historisierung kann sich, wie die beiden Fallstudien zeigen, ebenso als Spekulation wie als hermeneutische Reflexion der Rekonstruktionsproblematik vollziehen. Generell ergibt sich aus den Beiträgen des vorliegenden Bandes: Historisierung als ein variantenreiches Verfahren zu denken bedeutet, ganz unterschiedliche Formen und Grade der vergangenheitsbezogenen Empirie (oder Konjektur), der Relationierung von Vergangenheit und Gegenwart sowie des Rekurses auf Historisches aus gegenwärtigen Interessen (bzw. auf der Grundlage als ahistorisch gesetzter Gegebenheiten oder Normen) zuzulassen.47 In der Sattelzeit konnte das nach wie vor auch bedeuten, sich zur traditionellen, tendenziell ahistorischen Normativität der Antike verhalten zu müssen, wie Beiträge in allen drei Sektionen (Décultot, Süßmann, Grell und Corbier) zeigen. Am Ende des 18. – des philosophischen – Jahrhunderts und in der Epoche der idealistischen Systemphilosophie stellte sich überdies die Frage: Wie steht Historisierung zur systematischen Ordnung des jeweiligen Gegenstandsbereichs? Sie stellte sich insbesondere für die Philosophiegeschichtsschreibung, wie AYŞE YUVA an der Darstellung des französischen Ideologue Joseph Marie Degérando (1772– 1842) und deren deutscher Übersetzung durch Wilhelm Gottlieb Tennemann (1761–1819) aufweist, die eigentlich eine Bearbeitung ist, weil sie stärker historisiert und weniger den systematischen Sinn des historischen Wandels forciert. Ans Ende der Sattelzeit führt der abschließende Beitrag über das Periodisierungsproblem in der Wissenschaftsgeschichte Alexander von Humboldts (1769–1859). Das in Humboldts Werk zum Ausdruck kommende (und auch schon im Beitrag von Ch. Grell thematisierte) Vordringen der Naturwissenschaften vertrug sich durchaus, wie CHRISTIAN HELMREICH zeigt, mit einem historisierenden Blick. Indem es Humboldt um den Aufweis eines weltgeschichtlichen Fortschritts zu tun war, bewahrte er überdies das philosophische Erbe des Aufklärungsjahrhunderts. Deutlich wird hier erneut, dass die ‚Sattelzeit‘ nicht unbedingt von der Ablösung älterer durch neuere Paradigmata geprägt war, sondern ebenso durch deren Summierung und Amalgamierung.
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Zur weiteren Explikation des Historisierungsbegriffs wird derzeit in Halle ein Sammelband zusammengestellt, vgl. Moritz Baumstark u. Robert Forkel (Hg.): Historisierung. Begriff – Methode – Praxis. Vorauss. Stuttgart u. Weimar 2016.
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Über das thematische Interesse hinaus zielte der Workshop, auf den alle Beiträge zu diesem Band zurückgehen, auf ein doppeltes Zusammentreffen – von deutschen und französischen sowie von erfahrenen und Nachwuchswissenschaftlern –, das sich als außerordentlich perspektiventrächtig erwies. Die deutsch-französische Zusammenarbeit begünstigte es, ein besonderes Augenmerk auf Beziehungen zwischen den beiden Sprach- und Kulturräumen zu legen, seien es Beziehungen durch Rezeption und Adaption, in Form von Kritik und Transformation, als Konkurrenz oder als Kooperation.48 Deutlich wurden dabei eine Reihe von Differenzen zwischen den jeweils behandelten deutschen und französischen Autoren, teils auf der Ebene mehr oder weniger klischeehafter Fremd- und Selbstbilder, teils als tatsächlich unterschiedliche Verfahrensweisen. Inwieweit sich die Beobachtungen der vorliegenden Fallstudien hochrechnen lassen auf typisch deutsche oder französische, ‚nationalkulturell‘ bedingte Varianten der Historisierung und wie sie zusammenhängen mit unterschiedlichen intellektuellen Traditionen, politischen Rahmenbedingungen und Ereignissen, sozialen Strukturen sowie Medienmärkten, muss vorerst offenbleiben, und dies nicht nur, weil die Quellenbasis zu schmal ist für solche Verallgemeinerungen. Konzeptionell fragwürdig wäre darüber hinaus die implizierte Voraussetzung von ‚Nationalkulturen‘, vor allem dann, wenn nicht ebenso berücksichtigt würde, welche Differenzlinien innerhalb der beiden Sprachgemeinschaften verlaufen. Gleichwohl stellen die Internationalität bzw., im Wechselspiel damit, die nationale Dimension der sattelzeitlichen Historisierung Forschungsdesiderate dar – die einen eigenen Angang verdienten.
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Als weitere aktuelle Publikationen zu diesem Themenkomplex seien genannt: Anne Baillot u. Ayşe Yuva (Hg.): France–Allemagne. Figures de l’intellectuel entre révolution et réaction. 1780–1848. Villeneuve d’Ascq 2014; Anna Busch, Nana Hengelhaupt u. Alix Winter (Hg.): Französisch-deutsche Kulturräume um 1800. Bildungsnetzwerke, Vermittlerpersönlichkeiten, Wissenstransfer. Berlin 2012.
Aufbrüche zu einer neuen Geschichtsschreibung im Spannungsfeld von Gelehrsamkeit, Philosophie und Kunst
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Geschichte für Leser: Warum ein deutscher Verlag um 1750 vornehmlich französische Historiographie publizierte I.
Vier blinde Flecken der Historiographieforschung
Die Erforschung der deutschsprachigen Historiographiegeschichte des 18. Jahrhunderts stützt sich nach wie vor auf wenige große Namen: Johann Christoph Gatterer (1727–1799), Ludwig August von Schlözer (1735–1809), Johann Stephan Pütter (1727–1807), Ludwig Timotheus Spittler (1752–1810) und Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760–1842) als Universitätsgelehrte, Isaak Iselin (1728– 1782) und Johann Gottfried Herder (1744–1803) als publizistisch erfolgreiche Geschichtsphilosophen, Johann Jacob Mascov (1689–1761), Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), Justus Möser (1720–1794), Michael Ignaz Schmidt (1736–1794), Johannes von Müller (1752–1809) und Friedrich Schiller (1759– 1805) als Außenseiter unterschiedlicher Art, die in ihren jeweiligen historiographischen Gattungen neue Maßstäbe setzten.1 Neu besetzt wurden in gut 100 Jahren Historiographieforschung fast nur die Plätze in der ersten Reihe: Plazierten Eduard Fueter und Friedrich Meinecke einst dort Winckelmann, Möser und Herder, so stehen heute Gatterer und Schlözer im Vordergrund.2 Bis auf Mascov, dessen Geschichte der Teutschen bereits 1726/37 erschien, wirkten alle Genannten erst ab den 1760er Jahren. Im letzten Jahrhundertdrittel ist die Zahl der immer wieder behandelten Autoren demnach gar nicht so klein – während die Zeit davor fast keine Berücksichtigung findet.3 Daran hat das mit der 1
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Diese Reihe kanonischer Autoren ist aus zwei älteren und zwei neueren Überblicksdarstellungen gezogen: Eduard Fueter: Geschichte der neueren Historiographie. München u. Berlin 1911; Friedrich Meinecke: Werke. Bd. 3: Die Entstehung des Historismus. Hg. u. eingel. v. Carl Hinrichs. München 1959 [ND der Ausg. 1936]; Christian Simon: Historiographie. Eine Einführung. Stuttgart 1996; Michael Maurer: Neuzeitliche Geschichtsschreibung. In: Ders. (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften in sieben Bänden. Bd. 5: Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung. Stuttgart 2003, S. 281–499. Vgl. dazu auch Horst Walter Blanke u. Dirk Fleischer (Hg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Bd. 1–2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. Gatterer kommt bei Maurer erstaunlicherweise nicht vor; ihm ist aber die gründlichste Monographie gewidmet, die bisher über einen deutschen Historiker des 18. Jahrhunderts verfasst wurde. Vgl. Martin Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012. Wohlgemerkt beziehen sich meine Beobachtungen auf den Rang, der den Autoren im Zusammenhang der Historiographiegeschichte zugemessen wird. Autoren wie Winckelmann, Herder oder Schiller finden in anderen disziplinären Kontexten durchaus viel Beachtung. Die Pionierarbeit leistende Studie von Notker Hammerstein über die um 1700 an der neuen Universität Halle entstehende Reichs-Historie ist isoliert geblieben und hat kaum auf die
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Historismus-Kritik der 1970er Jahre deutlich verstärkte Interesse für die Aufklärungshistorie kaum etwas geändert: Den Einsatz der deutschen ‚Aufklärungshistorie‘, mit der man sich beschäftigt, verkörpern Gatterer und Schlözer, die seit 1759 bzw. 1769 den Ruhm der Göttinger Universität vermehrten.4 Mit einem gewissen Zynismus könnte man fragen, ob doch etwas dran sei an der alten These, die Aufklärung habe keinen rechten historischen Sinn gehabt,5 wenn es nach der Aufforderung von Christian Thomasius (1655–1728), es gelte, mit der Historie den Verstand sehend zu machen,6 wirklich ein halbes Jahrhundert gedauert haben soll, bis in Deutschland eine intensive Beschäftigung mit Geschichte einsetzte. Nicht allein wegen der höchst ungleichmäßigen Verteilung ihrer Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Phasen des 18. Jahrhunderts ist der deutschen Historiographieforschung ein limitiertes Gesichtsfeld zu attestieren. Hinzu kommt, dass sie sich allermeist auf den Höhenkamm von Geschichtsschreibung und -denken beschränkt.7 Ein Nachteil dieses Ansatzes ist, dass der historiographische ‚Normalbetrieb‘ ausgeblendet bleibt, soll heißen: was den Markt beherrschte, was massenhaft übersetzt und verlegt wurde, was in den Gymnasien oder Universitäten gelesen und gelehrt wurde,8 was den größten Teil der Rezensionen in den Zeitschriften ausmachte. Ebenfalls ausgeblendet wird, was die Kunden außerhalb der Universitäten lesen wollten, und das heißt auch: wovon sie sich gut unterhalten fühlten. Die neuere Forschung hat die Frage nach der ‚Verwissenschaftlichung‘ der Historiographie im 18. Jahrhundert in den Vordergrund gerückt.9 Damit orientiert sie sich weit mehr am eigenen Selbstverständnis als an den Erwartungen des größ-
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allgemeine Historiographiegeschichtsschreibung gewirkt. Die von Hammerstein behandelten Haupt-Autoren (Christian Thomasius, Johann Peter von Ludewig, Nicolaus Hieronymus Gundling) werden von Maurer und Simon nicht einmal erwähnt. Besonders ausgeprägt ist die Konzentration auf die Göttinger und die Ausblendung alles Vorhergehenden in Ulrich Muhlacks Beitrag zu einer neuen Gesamtdarstellung der europäischen Historiographie des 18. Jahrhunderts; vgl. Ulrich Muhlack: German Enlightenment Historiography and the Rise of Historicism. In: Sophie Bourgault u. Robert Sparling (Hg.): A Companion to Enlightenment Historiography. Leiden u. Boston 2013, S. 249–305. Diese These weisen bereits Wilhelm Dilthey: Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt [1901]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Leipzig u. Berlin 1927, S. 207–268 und Fueter: Geschichte der neueren Historiographie (wie Anm. 1), S. 338–344 zurück. Vgl. Christian Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit. Hg. u. mit einem Vorwort versehen v. Friedrich Vollhardt. Personen- und Sachregister v. Stephanie Kießling. Hildesheim u.a. 2006 [ND der Ausg. Halle 1713], S. 93 (Kap. V, § 53). Meine eigene Studie, Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996, beziehe ich in diese Kritik mit ein. Als ziemlich singuläre Fallstudie dazu vgl. Markus Huttner: Geschichte als akademische Disziplin. Historische Studien und historisches Studium an der Universität Leipzig vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Aus d. Nachlaß hg. v. Ulrich von Hehl. Leipzig 2007. Vgl. Horst Walter Blanke u. Dirk Fleischer: Artikulation bürgerlichen Emanzipationsstrebens und der Verwissenschaftlichungsprozeß der Historie. Grundzüge der deutschen Aufklärungshistorie und die Aufklärungshistorik. In: Dies. (Hg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie (wie Anm. 2), S. 19–102; Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft (wie Anm. 2).
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ten Teils des seinerzeitigen Publikums. Mit dem damals ebenso oft verheißenen wie eingeforderten „Vergnügen“ an der Historie10 ist daher ein dritter blinder Fleck der deutschen Historiographieforschung benannt. Den Normalbetrieb nicht zu übergehen ist wichtig, weil die großen Autoren nicht die Spitze eines Eisberges waren, der unter der Wasserlinie (soll heißen: unterhalb unserer Aufmerksamkeitsschwelle) von gleicher Beschaffenheit wäre wie oberhalb. Vielmehr schrieben und dachten sie anders als der Großteil ihrer Zeitgenossen. Schaut man nicht allein auf die wenigen Großen, die der Nachwelt im Gedächtnis geblieben sind, so ergibt sich ein doppelt reicheres Bild, denn man gewinnt dann nicht nur einen zutreffenderen Eindruck von der historischen (Normal-)Situation, sondern es tritt auch das Außergewöhnliche der ‚Großen‘, also ihre Größe erst richtig hervor. Den historiographischen Normalbetrieb kann man z.B. studieren, wenn man sich die einschlägige Produktion eines hinreichend großen Verlages ansieht. Natürlich gibt es nicht den ‚normalen‘ Verlag. Doch kann die Betrachtung der historiographischen Gesamtproduktion eines über längere Zeit hinweg erfolgreichen Verlages einen Eindruck davon vermitteln, wie unterschiedlich die Texte ebenso wie die Produzenten der Historiographie im 18. Jahrhundert waren. Nicht nur, weil dann die Vorlesungskompendien unübersehbar werden, die einen beträchtlichen Teil der publizierten Historiographie ausmachten. Ebenfalls sichtbarer werden die Unentbehrlichkeit der Übersetzungen aus anderen Sprachen, und zwar vor allem aus dem Französischen, sowie die wichtige Rolle der Herausgeber der vielen übersetzten Werke, von denen häufig die Publikationsinitiative ausgegangen zu sein scheint. In der Forschung haben die Übersetzungen fremdsprachiger Historiographie, ohne die der deutsche Geschichtsmarkt erheblich ärmer gewesen wäre, bisher kaum Beachtung gefunden;11 noch mehr gilt das für die von deutschen Verlagen in fremden Sprachen – und zwar nicht nur in Latein – publizierte Historiographie. Hier wirkt die romantische Engführung von Land, Nation und Muttersprache immer noch nach und reduziert die zu erforschende Historiographie der Aufklärung in Deutschland auf die Geschichtsschreibung deutsch schreibender Autoren.12 Das 10
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Siegmund Jacob Baumgarten [ab Bd. 5: Johann Salomo Semler] (Hg.): Samlung von merkwürdigen Lebensbeschreibungen grösten Theils aus der britannischen Biographie übersetzet, und unter der Aufsicht und mit einer Vorrede. Bd. 1–10. Halle: Johann Justinus Gebauer 1754–1770, Bd. 5, S. )(3r (Vorrede Semlers). Eine Ausnahme bildet die ab 1744 erscheinende Übersetzung der Universal History, die das größte Unternehmen der deutschen Aufklärungshistorie überhaupt war. Vgl. die Hallenser Dissertation von Marcus Conrad: Geschichte(n) und Geschäfte. Die Publikation der „Allgemeinen Welthistorie“ im Verlag Gebauer in Halle (1744–1814). Wiesbaden 2010. Bezeichnend ist, dass üblicherweise nicht die umfangreiche Übersetzung aus dem Englischen, sondern die Umstellung auf ein ‚originaldeutsches‘ Werk ab Band 31 herausgestellt wird. Vgl. Jochen A. Bär: Nation und Sprache in der Sicht romantischer Schriftsteller und Sprachtheoretiker. In: Andreas Gardt (Hg.): Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin u. New York 2000, S. 199–229.
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Daniel Fulda
ist die vierte in der deutschen Historiographieforschung zum 18. Jahrhundert übliche Selbstlimitierung, an die sich der vorliegende Beitrag nicht halten möchte. Der Verlag, mit dem ich mich im Rahmen eines DFG-geförderten Erschließungsprojektes näher beschäftigt habe,13 wurde 1734 von Johann Justinus Gebauer (1710–1772) in Halle gegründet; 1744 erschienen die ersten historischen Werke.14 In den 28 folgenden Jahren bis zum Tod des Verlagsgründers erschienen 734 Bände, von denen etwa 180 ins historische Fach zu rechnen sind, also fast ein Viertel. Mitgezählt ist, was im kurzlebigen Verlag des Sohnes Johann Immanuel (1736– 1774) erschien. Die Historie bildete neben der Theologie das Hauptstandbein des Gebauer-Verlags, und der Verlag kann seinerseits als zentral gelten für die Publikation von historischen Büchern in der mittleren deutschen Aufklärung.
II.
Ein historiographisches Verlagsprogramm vorwiegend aus Übersetzungen
Den wichtigsten Titel stellte die Algemeine Welthistorie [AWH] dar, auch „Hallische Welthistorie“ genannt (nach dem Verlagsort) oder „Englische Welthistorie“, weil es sich bei den ersten 30 Bänden (von 1744 bis 1766) um eine Übersetzung der seit 1730 erscheinenden Universal History handelte, die – so der deutsche Titel – in Engeland durch eine Geselschaft von Gelehrten ausgefertiget worden. Die AWH hatte zeitweise eine höhere Auflage als die Encyclopédie in der ursprünglichen Folio-Ausgabe15 und genoss im Publikum das Ansehen eines Referenzwerkes. Als Herausgeber fungierte Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757), der angesehenste deutsche Theologe seiner Zeit, den Voltaire die „Krone der deutschen Gelehrten“ genannt haben soll.16 Bei Gebauer verantwortete Baumgarten insgesamt fast 50 Titel und noch weit mehr Bände, sei es als Verfasser, sei es als 13
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Erschlossen und digitalisiert (bis zu den Beständen des Jahres 1819) wurde das umfangreich überlieferte Archiv der Verlage Gebauer, Hemmerde und Schwetschke, das im Stadtarchiv Halle verwahrt wird; es ist nutzbar über die Webseite www.gebauer-schwetschke.halle.de [27.03.2015]. Eine Gesamtbibliographie der Gebauer-Verlage von 1734 bis 1819 enthält Daniel Fulda u. Christine Haug (Hg.): Merkur und Minerva. Der Hallesche Verlag Gebauer im Europa der Aufklärung. Wiesbaden 2014. Gebauer-Titel sind in den Fußnoten des vorliegenden Beitrags mit Verlagsangabe verzeichnet, damit die Verteilung auf die Verlage von Vater und Sohn nachvollzogen werden kann. Vgl. die Rechnung der Gebauer’schen Drucker Beth und Böhme vom April 1767 (Nr. 7029 im Verlagsarchiv Gebauer); sie belegt für die Bände 23 und 24 (1761/62) eine Auflage von 5.000 Exemplaren. Vgl. auch Robert Darnton: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopédie. Oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? Aus d. Engl. u. Frz. v. Horst Günther. Berlin 1993, S. 40: Die 30 Bände der Pariser Folio-Ausgabe wurden für insgesamt 980 Livres verkauft (S. 9), was fast 7 Reichstaler pro Band wären. Die Gesamtauflage aller Ausgaben der Encyclopédie liegt freilich viel höher; Darnton rechnet mit 23.400 Stück (S. 43). Vgl. Martin Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus. Göttingen 1974, S. 22f.
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Geschichte für Leser
Herausgeber; für den Verleger war er bis zu seinem frühen Tod der wichtigste wissenschaftliche Berater, dem der Verlag einen beträchtlichen Teil seines Renommees verdankte. Noch zahlreicher als die Übersetzungsbände aus dem Englischen sind in der historiographischen Produktion des Gebauer-Verlags die französischen Bände (Übersetzungen oder Originale).17 51 ‚originaldeutschen‘ Bänden stehen insgesamt 79 übersetzte gegenüber: ‚originaldeutsch‘
übersetzt
fremdsprachlich
51
79
14
AWH
andere
AWH
andere
außerhalb der
(engl.) 26
25 Kom-
30 andere
pendien 13
AWH
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aus dem Frz. 33
14 aus dem Lat. 4
frz.
lat.
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Tab. 1: Historiographische Bände bei Gebauer 1744–177118
Sechs Bände enthalten eine Mischung aus Übersetzungen und Originaltexten. Die Übersetzungen haben demnach ein Übergewicht von gut drei zu zwei, wenn man die 22 Zeitschriftenbände außer Betracht lässt, in denen sich ebenfalls Übersetzungen finden, aber zu einem geringeren Anteil. Hinzu kommen 14 originär fremdsprachige Bände, zwölf auf Französisch und zwei auf Latein.19 Partiell ist der hohe Anteil dadurch zu erklären, dass die Algemeine Welthistorie anfangs aus dem Englischen übersetzt wurde.20 Ihre 30 englischen Bände sind freilich nur ein gutes Drittel aller Übersetzungsbände. Noch wichtiger waren diese für das übrige Verlagsprogramm, das zu fast zwei Dritteln (49 zu 25) daraus besteht. Wie schlecht der Stand der einheimischen Historiographie war, erhellt sich daraus, dass unter den originär deutschsprachigen Bänden mehrheitlich Vorle17
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Ausführlich und nach Gattungen gegliedert untersuche ich die historiographische Produktion des Verlages zu Lebzeiten des Gründers Johann Justinus Gebauer in Daniel Fulda: Überwiegend Übersetzungen – Historische Publikationen im Gebauer-Verlag (1744–1771) – zugleich eine Fallstudie zu einigen Strukturproblemen der deutschen Aufklärungshistoriographie. In: Ders. u. Haug (Hg.): Merkur und Minerva (wie Anm. 14), S. 83–138. Ohne Zeitschriften (22) und gemischte Bände mit Übersetzungen und Originaltexten (6). Das macht insgesamt 172 Bände. Auf die oben genannten 180 historiographischen Bände kommt man, wenn man die 2. Auflagen sowie zwei Anti-Kritiken zur AWH hinzunimmt. Vgl. Siegmund Jacob Baumgarten [Bd. 18–30: Johann Salomo Semler] (Hg.): Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie die in Engeland durch eine Geselschaft von Gelehrten ausgefertiget worden. Bd. 1–30. Halle: Johann Justinus Gebauer 1744–1766.
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sungskompendien sind. Dieser Textsorte dürfte die Mehrzahl der historiographischen Titel deutscher Autoren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts angehört haben, da sie die Grundlage des akademischen Unterrichts bildeten: Vorlesungen wurden nach einem Lehrbuch aus eigener Feder oder von einem berühmteren Kollegen gehalten; knappe ‚Entwürfe‘ oder ‚Grundrisse‘ wurden dabei mündlich ausgeführt. Neben solchen Kompendien hat Gebauer lediglich ein Dutzend deutschsprachige Bände publiziert: davon fünf Bände Biographien (worauf Abschnitt IV noch zurückkommen wird). Der Rest hat eher zufälligen Charakter, während die von Gebauer herausgebrachten Übersetzungen offensichtlich planvoll aufeinanderfolgten – planvoll im Sinne zeitlicher Abfolge, aber auch des Bedienens von Publikumsbedürfnissen.
Grafik 1: Wechselnde Anteile der Übersetzungen, der originaldeutschen sowie der fremdsprachigen Bände an der historiographischen Produktion der Gebauer-Verlage 1744–1771
Wie der Grafik zu entnehmen ist, gibt es 1753 einen lange Zeit einsamen Spitzenwert von deutschen Originalschriften; er kam dadurch zustande, dass Gebauer damals energisch in das Kompendiengeschäft einstieg.21 Erst in der zweiten Hälfte der 1760er Jahre überwiegen die originaldeutschen Publikationen, denn nun wurde
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Siegmund Jacob Baumgarten: Auszug der Kirchengeschichte von der Geburt JEsu an. 2. Aufl. Bd. 1–3. Halle: Johann Justinus Gebauer 1743 [recte 1753], 1748 [recte 1753], 1753; Christian Wilhelm Franz Walch: Deutsche Reichshistorie. Halle: Johann Justinus Gebauer 1753; Carl Friedrich Pauli: Einleitung in die Kenntniß des Deutschen Hohen und Niedern Adels. Halle: Johann Justinus Gebauer 1753.
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die AWH grundsätzlich umgestellt von Übersetzungen auf sogenannte Originalwerke. Baumgarten interessierte sich stark für englisches Schrifttum,22 während eine Orientierung an Französischem nicht nahelag für einen Verlag und Autoren, die gedanklich ebenso wie geschäftlich tief in der lutherischen Theologie verwurzelt waren. Dementsprechend kommen zu den Übersetzungen aus der Universal History zwölf weitere aus dem Englischen übersetzte Bände.23 Diese insgesamt 42 ‚englischen‘ Bände sind gleichwohl knapp im Hintertreffen, wenn man Gebauers französische oder aus dem Französischen übersetzte Bände zusammenzählt – das sind nämlich 45. Zum Teil handelt es sich um Werke, die ursprünglich in einer anderen romanischen Sprache verfasst wurden, in der europäischen Öffentlichkeit aber im geläufigeren Französisch präsent waren.24 Eine zweite Gruppe bilden originär französische Titel. Beide Gruppen umfassen fast dieselbe Bandzahl (16 und 17), doch verteilt sich die originäre auf weit mehr verschiedene Titel. Meist ließ Gebauer seinerzeit sehr bekannte französische Autoren übersetzen. Ansehen in der akademischen Historie genoss insbesondere Lenglet du Fresnoy (1674–1755); mit seinen Chronologischen Tafeln der Algemeinen Historie setzte 1752 die lange Reihe von Übersetzungen aus dem Französischen bei Gebauer ein.25 Breiten schriftstellerischen Erfolg hatte der Jesuit Guillaume-Hyacinthe Bougeant (1690–1743).26 Durch religionspolitisches Engagement, zunächst auf 22
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Zu Baumgarten als Pionier der frühen deutschen Rezeption englischer Autoren vgl. Bernhard Fabian: The English Book in Eighteenth-Century Germany. London 1992, S. 89–91 sowie 102f. Baumgarten [ab Bd. 5: Semler] (Hg.): Samlung von merkwürdigen Lebensbeschreibungen (wie Anm. 10); Daniel Neal: Geschichte der Puritaner oder protestantischen Nonconformisten nebst einer Nachricht von ihren Lehren, Versuchen der Kirchenverbesserung, ihren Leiden und dem Leben und Character ihrer vornemsten Gottesgelehrten. Erster Theil: Von ihrem Ursprung bis an den Tod der Königin Elisabet 1602. Aus d. Engl. übers. mit einer Vorrede Siegmund Jacob Baumgartens. Halle: Johann Justinus Gebauer 1754; Schicksal der Protestanten in England. Aus engländischen Geschichtschreibern zusammengetragen u. mit einer Vorrede begl. v. Friedrich Eberhard Rambach. Erster Theil. Halle: Johann Immanuel Gebauer 1762. Juan de Ferreras: Algemeine Historie von Spanien, mit den Zusätzen der französischen Uebersetzung nebst der Fortsetzung bis auf gegenwärtige Zeit [ab Bd. 11: bis auf gegenwärtige Zeit fortgesetzt von Philipp Ernst Bertram]. Unter der Aufsicht u. mit einer Vorrede v. Siegmund Jacob Baumgarten [ab Bd. 8: von Johann Salomo Semler]. 13 Bde. Halle: Johann Justinus Gebauer 1754–1772 [span. 1700–1727, frz. 1742–1751]; Paul Sarpius: Historie des Tridentinischen Concilii mit des Courayer Anmerkungen. Hg. u. mit einer Vorrede begl. v. Friedrich Eberhard Rambach. Bd. 1–6. Halle: Gebauer u. Stettin [ab Bd. 3: Johann Immanuel Gebauer] 1761–1765 [ital. 1619, frz. 1736]. Nicolas Lenglet du Fresnoy: Chronologische Tafeln der Algemeinen Historie mit Betrachtungen über die nötige Ordnung und Bücher die Historie zu erlernen. Mit einer Vorrede v. Siegmund Jacob Baumgarten. Bd. 1–2. Halle: Johann Justinus Gebauer 1752 [frz. 1744]. Vgl. Geraldine Sheridan: Nicolas Lenglet Dufresnoy and the Literary Underworld of the ancien régime. Oxford 1989. Guillaume-Hyacinthe Bougeant: Historie des dreyßigjährigen Krieges und des darauf erfolgten Westphälischen Friedens. Aus d. Frz. übers. Mit Anm. u. einer Vorrede begl. v. Friedrich Eberhard Rambach. Bd. 1–4. Halle: Johann Justinus Gebauer 1758–1760 [frz. 1727/51].
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katholischer, dann auf protestantischer Seite, hatte Michel le Vassor (ca. 1648– 1718) sich bekannt gemacht.27 Als Autor, der seinerzeit umstritten war und bei Gebauer nicht auf dem Titelblatt genannt wurde, heute hingegen großes wissenschaftliches Interesse auf sich zieht, ist Joseph François Lafitau (1681–1746) herauszuheben. Die Moeurs des sauvages americains (1723) dieses – ebenfalls jesuitischen – Missionars gelten als Anfang einer streng empirischen Ethnographie Nordamerikas.28 Zur historiographiegeschichtlichen Orientierung: Die bei Gebauer erschienenen französischen Autoren sind meist älter als Montesquieu (1689–1755) und nicht von seiner Geschichtsschreibung beeinflusst.29 Eine Ausnahme von Gewicht bildet nur Charles de Brosses (1709–1777), der Parlamentspräsident von Dijon und Ethnograph.30 Neben den Werken bekannter Autoren brachte der Verleger auch eine Reihe von Kompilationen heraus.31 Einen der Spitzen-Historiographen des 18. Jahrhunderts publizierte Gebauer sogar im französischen Original: Charles Rollin (1661–1741), der zwei Mal zum Rektor der Sorbonne gewählt, wegen seines Jansenismus aber auch angegriffen wurde. Seine beiden Monumentalwerke zur antiken Geschichte bilden, zusammen mit einem Auszug für den Sprachunterricht, die dritte Gruppe französischer Werke
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Michael le Vassor: Algemeine Geschichte von Europa unter der Regierung Ludwig des dreyzehnten. Erster Theil. Aus d. Frz. übers. Halle: Johann Immanuel Gebauer 1762. [Joseph François Lafitau (Bd. 1)]: Algemeine Geschichte der Länder und Völcker von America. Nebst einer Vorrede Siegmund Jacob Baumgartens. Bd. 1–2. Halle: Johann Justinus Gebauer 1752–1753 [frz. 1723]. Die verhaltene Rezeption Lafitaus in Frankreich und die Gebauer’sche Übersetzung werden kontrastiert bei Andreas Motsch: La réception des Mœurs de Joseph-François Lafitau en France et en Allemagne au XVIIIe siècle ou Comment faire de Lafitau un éclaireur allemand. In: Alain Beaulieu u. Stéphanie Chaffray (Hg.): Représentation, métissage et pouvoir. La dynamique coloniale des échanges entre Autochtones, Européens et Canadiens (XVIe–XXe siècle). Québec 2012, S. 175–202. Zu Montesquieus De l’Esprit des Lois und dessen Rezeption bei Herder vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Vanessa de Senarclens bzw. Moritz Baumstark. Charles de Brosses: Vollständige Geschichte der Schiffahrten nach den gröstentheils unbekannten Südländern aus d. Frz. […] übers. Mit Anm. begl. u. mit verschiedenen Zusätzen versehen v. Johann Christoph Adelung. Halle: Johann Justinus Gebauer 1767 [frz. 1756]. Johann Christoph Adelung [Übers.]: Geschichte der Schiffahrten und Versuche welche zur Entdeckung des nordöstlichen Weges nach Japan und China von verschiedenen Nationen unternommen worden. Zum Behufe der Erdbeschreibung und Naturgeschichte dieser Gegenden entworfen. Halle: Johann Justinus Gebauer 1768; Schicksal der Protestanten in Frankreich. Aus der französischen Sprache übersetzet, mit einigen Anmerkungen und Vorrede begleitet von Friedrich Eberhard Rambach. Bd. 1‒2. 1. u. 2. Aufl. Halle: Johann Immanuel Gebauer 1759/60; Johann Georg Meusel (Hg.): Französische Biographie. Bd. 1. Halle: Johann Justinus Gebauer 1771. Zwei Biographien-Sammlungen sind zudem schon im französischen Original Kompilationen: J[ohann] A[ugust] Wohlfahrt [Hg. u. Übers.]: Biographien Griechischer Aerzte. Zusammengetragen aus der Geschichte der Medicin des [Daniel] Le Clerc. Halle: Johann Justinus Gebauer 1770 [frz. Histoire de la médecine, 1696]; Des Herrn Abt Longchamp[s] chronologischer und critischer Entwurf einer Gelehrten Geschichte Frankreichs von den ältesten Zeiten bis auf das 18te Jahrhundert. Aus d. Frz. übers. [v. Gottlob Benedikt Schirach]. Unter der Aufsicht und mit einer Vorr. des Herrn Geh. Rath Klotz. Bd. 1. Halle: Johann Justinus Gebauer 1770 [frz. 1767–1770].
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bei Gebauer.32 Deutsche Übersetzungen der Rollin’schen Antike-Geschichten lagen damals schon vor oder befanden sich im Erscheinen,33 doch konnte Gebauer offenbar mit hinreichend Käufer-Interesse am französischen Original rechnen. In der Wolfenbütteler Bibliothek ist Rollin im 18. Jahrhundert der am meisten ausgeliehene Geschichtsschreiber, wenngleich die weit umfangreichere AWH noch etwas häufiger nachgefragt wurde. Mit 91 Ausleihen liegt er unter allen Autoren an sechster Stelle (an der Spitze steht der Braunschweiger Herzog Anton Ulrich), und zwar allermeist mit den französischen Originalen. Zum Vergleich: Voltaire kommt auf 49 Entleihungen und liegt damit an 23. Stelle.34 Mit einem von Wolfgang Adam und Jean Mondot neu eingeführten Begriff kann man Gebauers immer wieder neuen Rückgriff auf französische Titel, sei es in Übersetzung oder als fremdsprachiges Original, als Gallotropismus charakterisieren.35 Der Begriff bezeichnet eine Orientierung an Französischem, das deshalb als attraktiv wahrgenommen wird, weil es zur Befriedigung eines bestimmten Bedarfs auf der sich so orientierenden Seite geeignet scheint. Eine wertende Zuneigung zu französischer Lebensweise, Literatur, Wissenschaft oder Politik, wie der etablierte Begriff der Gallophilie sie bezeichnet, kann damit einhergehen – wie übrigens auch Abneigung oder Abwertung (Gallophobie). Eine prinzipielle, mehr oder weniger affektiv aufgeladene Zuneigung setzt Gallotropismus jedoch nicht voraus. Bei Gebauers gut protestantischen Autoren ist eine solche Affinität schon deshalb nicht gegeben, weil sie dem offiziellen, katholischen Frankreich misstrauen – alle eben genannten Autoren waren katholische Geistliche!36 Motiviert ist die 32
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Charles Rollin: Histoire Romaine depuis la fondation de Rome jusqu’à la bataille d’Actium, c’est-à-dire jusqu’à la fin de la République. Bd. 1–6. Halle: Johann Justinus Gebauer 1753– 1755 [zuerst 1738–1748, nach 1741 fortges. v. Jean-Baptiste-Louis Crevier]; ders.: Histoire ancienne des Égyptiens, des Carthaginois, des Assyriens, des Babyloniens, des Mèdes et des Perses, des Macédoniens, des Grecs. Bd. 1–5. Halle: Johann Justinus Gebauer 1756–1758 [zuerst 1730–1738]; David Etienne Choffin: Nouvel Abrégé de la vie de divers princes illustres et des grands capitaines avec des réflexions sur leur conduite et sur leurs actions. Tiré des ouvrages de Rollin, Crevier et d’autres. Halle: Johann Immanuel Gebauer 1763. Ein weiteres fremdsprachiges Bändchen für den Schulgebrauch wurde aus dem Französischen ins Italienische übersetzt; vgl. [Antoine Teissier]: La Vita d’Ernesto Il Pio Duca di Sassonia. Tradotta da Giovanni Baldassare Groepler. Halle: Johann Justinus Gebauer 1756 [frz. 1707]. Vgl. Charles Rollin: Historie alter Zeiten und Völcker, der Aegyptier, Carthaginenser, Assyrer, Babylonier, Meder, Perser, Macedonier und Griechen. Aus d. Frz. […] übers. v. M. Gottfried Ephraim Müller. Bd. 1–13. Dresden [ab Bd. 2: Dresden u. Leipzig] 1738–1749; ders.: Römische Historie von Erbauung der Stadt Rom, bis auf die Schlacht bey Actium oder das Ende der Republic. Aus d. Frz. […] übers. [Bd. 4–6 v. Gotthold Ephraim Lessing]. Bd. 1–16. Leipzig [ab Bd. 7: Breslau] 1739–1763. Vgl. Mechthild Raabe: Leser und Lektüre vom 17. zum 19. Jahrhundert. Teil B: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Bd. 3: Alphabetisches Verzeichnis der entliehenen Bücher. München u.a. 1989, S. 605f. Vgl. die Vorstellung des von Adam und Mondot geleiteten deutsch-französischen Forschungsprojektes „Gallotropisme et modèles civilisationnels dans l’espace germanophone (1660–1789)“ unter www.gallocivi.eu [27.03.2015]. Vgl. die Vorbehalte, die Baumgarten in seiner Vorrede zu Lenglet: Chronologische Tafeln (wie Anm. 24), Bd. 1, S. )( )(2 gegen den „päpstlichen und französischen“ Autor äußert.
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gallotropische Hinwendung vielmehr durch einen Bedarf, den die ‚an Frankreich‘ sich orientierende Seite an etwas hat, das sie dort wahrnimmt. Im vorliegenden Fall ist das eine Historiographie, die idealerweise auch gelehrten Ansprüchen genügt, vor allem aber durch ihre Schreibweise anzieht. Damit sind wir bei einem zweiten, nicht an der schieren Titelzahl zu bemessenden Grund, warum die historiographische Produktion des Gebauer-Verlags als gallotropisch zu charakterisieren ist. Die französische Historiographie galt im 18. Jahrhundert in Deutschland als besser lesbar, als weit mehr von einer entwickelten Sprachkultur getragen als die deutsche, als gesellschaftlicher und weniger von Gelehrsamkeit beschwert, wie es der deutschen Historiographie teils kritisch zugeschrieben, teils apologetisch von ihr beansprucht wurde. Insbesondere wenn ein Verleger mehr und andere Käufer finden wollte als Universitätsgelehrte und deren Studenten – die sich die Kompendien anschafften, über die ihre Professoren Vorlesung hielten –, musste sich sein Blick geradezu zwangsläufig auf die Historiographie des Nachbarlandes richten, die weit weniger von akademischem Schrifttum dominiert war.37
III. Historiographie, die lesbar sein und sogar Unterhaltungswünsche befriedigen soll Dieser Bedarf an französischen Texten ergab sich aus der deutschen Situation bzw. ihrer zeitgenössischen Wahrnehmung. Im ganzen 18. Jahrhundert stufte man in Deutschland die eigenen historiographischen Leistungen als nachrangig ein: „Teutschland geniesset hier keinen Vorzug, sondern ist vielmehr unterschiedlichen Völckern nachzusetzen“, heißt es schon 1717 in der Einleitung der Reichs-Historie von Friedrich Gladov (ca. 1685–1715).38 Stolz ist man auf die kritische und rhetorisch unverführte Gründlichkeit, die die deutschen Gelehrten pflegten,39 doch weiß man auch, dass ihre Texte vergleichsweise wenig angenehm zu lesen sind, weil sie weder anschaulich noch dramaturgisch geschickt erzählt und ohne stilistischen Glanz sind. Vielmehr seien sie, so die gängige (Selbst-)Kritik, mit bibliographischen Anmerkungen überladen und verlören sich in Details, wie nicht zuletzt eini37
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Zum Widerstreit von Gelehrsamkeit und literarischer Ambition in der französischen Historiographie des 18. Jahrhunderts vgl. Chantal Grell: L’histoire entre érudition et philosophie. Étude sur la connaissance historique à l’âge des lumières. Paris 1993. Friedrich Gladov: Versuch Einer vollständigen und accuraten Reichs-Historie von Teutschland, Darinnen die Geschichte der Teutschen von den Zeiten der Römer an biß auf den Badischen Frieden, Nebst deutlicher Anzeigung der vornehmsten Veränderungen im Reiche und deren wahren Ursachen pragmatisch beschrieben, Als eine richtige Einleitung in ein gründliches Teutsches Staats-Recht vorgestellet. Leipzig u. Halle 1717, S. 3 (erste Paginierung). Typisch ist Gatterers Lob für „die critisch-fleissigen und wahrheitsliebenden Teutschen“ (J[ohann] C[hristoph] Gatterer: Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen. In: AHB 1 (1767), S. 15–89, hier S. 65).
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ge bei Gebauer erschienenen Schriften monieren: „eine finstere Vermischung der Begebenheiten ohne Auswahl, ohne allen Geist der Beobachtung auf das Interessante.“40 Dagegen zu arbeiten, fordert der Halle’sche ‚Reichspublicist‘ Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729) bereits im ersten Jahrhundertdrittel: „[M]an muß denen Leuten eine Lust machen, ut legant.“41 Weil die „teutschen Scribenten“ das nicht tun, würden sie „negligiret“, und man lese lieber Romane. Für Lessing ist es 1759 dann ein Gemeinplatz, „daß es um das Feld der Geschichte in dem ganzen Umfange der deutschen Literatur, noch am schlechtesten bestellt aussehe“, weil die Autoren „überall den dozierenden Professor so sehr hören ließe[n].“42 Verbreitet ist diese Einschätzung keineswegs nur in der fachunspezifischen Publizistik, sondern ebenso unter akademischen Historikern: Je entschlossener die Historie als selbständige Wissenschaft begriffen wird, desto unerträglicher erscheinen der „schlechte Geschmack der meisten Teutschen in der Historie, ihr Hang zu Kleinigkeiten, […] ihre übertriebene Liebe zur Litteratur, ihre Fertigkeit nur Gelehrsamkeit da zu zeigen, wo man Gelehrsamkeit verläugnen soll, ihre Citationssucht“.43 In der bei Gebauer erscheinenden Allgemeinen Historischen Bibliothek ist diese Kritik geradezu topisch. Als vorbildlich werden dagegen die Franzosen wahrgenommen, und dies schon im frühen 18. Jahrhundert. „Die Frantzosen sind geschickt ein Ding kurtz und gut, und deutlich vorzustellen“, lobt Gundling, wenngleich nicht ohne Einschränkung: „Gleichwie aber die Frantzosen so viel schöne Schrifften haben, so fingiren sie auch viel, und sind also impostores docti, sonderlich in memoires.“44 Dieser gängigen Einschätzung folgt Gebauer, unbekümmert um ihre kritische Seite, als er Anfang der 1750er Jahre sein historiographisches Programm ausbaut und den gelehrten Kompilationen der AWH solche Titel an die Seite stellt, die nicht allein informieren, sondern auch Lesevergnügen bereiten sollen. Die Vorrede zur Lafitau-Übersetzung formuliert explizit das Programm, „daß nicht nur Kenner und Liebhaber der Altertümer manche unerwartete Gelegenheit und Reizung zum Nachdenken und zur Erweiterung der Gelersamkeit finden; sondern auch jedermann durch häufige Mannigfaltigkeit unbekant gewesener Dinge in einer angenemen Aufmerksamkeit und vergnügenden Beschäftigung unterhalten wird.“45 40 41 42
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Gottlob Benedikt Schirach: Biographie der Deutschen. T. 1. Halle: Johann Justinus Gebauer 1770, S. 29. Nicolaus Hieronymus Gundling: Ausführlicher und vollständiger Discovrs über dessen Abriß einer rechten Reichs-Historie. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1732, S. 3. Das folgende Zitat ebd. Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend, 52. Brief. In: Ders.: Werke in 8 Bänden. Hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 5: Literaturkritik. Poetik und Philologie. Bearb. v. Jörg Schönert. Darmstadt 1996 [ND der Ausg. München 1973], S. 185, 193. [Johann Christoph Gatterer?]: [Rez. v.] Carl Renatus Hausen: Versuch einer pragmatischen Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts. In: AHB 1 (1767), S. 311–336, hier S. 311. Gundling: Ausführlicher und vollständiger Discovrs (wie Anm. 40), S. 38. [Lafitau]: Algemeine Geschichte der Länder und Völcker von America (wie Anm. 27), S. (b 3r).
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Noch deutlicher auf ein belletristisches Leseinteresse ist die große Rollin-Ausgabe berechnet, die ein Jahr (1753) später startete. Der gelehrte Anspruch des Verlags war damit zwar nicht aufgegeben, denn bei Rollin stellte sich beides als verbindbar dar: umfassende Kenntnis der (Traditions-)Quellen und elegante Darstellung, wenngleich Rollin seine Gelehrsamkeit nicht im akademischen Sinne philologischer Quellenkritik einsetzte und die Anerkennung, die Voltaire ihm zollte, nicht unzweideutig war, wenn er im Siècle de Louis XIV (1751) die Histoire ancienne lobte als „la meilleure compilation qu’on ait en aucune langue, parce que les compilateurs sont rarement éloquents, et que Rollin l’était.“46 Gestützt vor allem auf die antiken Klassiker der Historiographie und in ausdrücklichem Anschluss an deren Erzähltechniken,47 verstand er es, die großen Männer der Geschichte verstehbar und ihre Aktionen durchsichtig zu machen, Ereigniskomplexe dramatisch zuzuspitzen und vergangenes Geschehen anschaulich zu vergegenwärtigen. Aus der historischen Erzählung wusste er zudem auf zwanglose Weise moralische Belehrung abzuleiten. Kurzum: Für das mittlere 18. Jahrhundert war Rollin ein idealer Historiograph, den die Gelehrten anerkannten48 und den das breitere Publikum lesen mochte. Aus der bayrischen Provinz ist für etwa 1780 bezeugt, dass die (übersetzte) Römische Geschichte „an Winterabenden im Hause eines Goldschmieds vor[gelesen]“ wurde und auf reichlich Empathie stieß.49 Ein weit berühmteres Rezeptionszeugnis desselben Sinnes haben wir zu Bougeants Historie des Dreyßigjährigen Krieges und des darauf erfolgten Westphälischen Friedens, die Gebauer im Anschluss an Rollin herausbrachte (ab 1758). Keinen Geringeren als Schiller hat sie auf den rechten Geschmack an der Geschichte gebracht, wie dieser an seinen Freund Körner schrieb: „Täglich wird mir die Geschichte theurer. Ich habe diese Woche eine Geschichte des dreißigjährigen Kriegs gelesen, und mein Kopf ist mir noch ganz warm davon. […] Ich wollte daß ich zehen Jahre hintereinander nichts als Geschichte studiert hätte.“50 Auf solche Begeisterung ist Bougeants Werk in der Tat berechnet. Der Übersetzer 46 47
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Voltaire: Œuvres complètes. Bd. 14. Paris 1878, S. 123. Vgl. Rollins Eloge auf Livius in: Rollin: Histoire Romaine (wie Anm. 31), Bd. 2, S. III: „Il rend présente l’action qu’il décrit, il la met sous les yeux; il ne la raconte pas, il la montre. Il peint d’après nature le génie et le caractére des Personnages qu’il fait paroître sur la scéne et leur met dans la bouche les paroles toujours conformes à leur différentes situations. Sur tout, il a l’art merveilleux de tenir tellement les lecteurs en suspens par la variété des événemens, et d’interesser si vivement leur curiosité qu’ils ne peuvent quitter le récit d’une histoire, avant qu’elle soit entiérement terminée.“ Vgl. J[ohann] C[hristoph] Gatterer: Zufällige Gedanken über die Verdienste der Teutschen um die Historie. In: AHB 9 (1769), S. 33–64, hier S. 52: „An einem Rollin fehlt es uns allerdings in der alten und neuen Zeit.“ Von solchem Vorlesen berichtet Karl Heinrich Ritter von Lang (1764–1835) in ders.: Memoiren. Skizzen aus meinem Leben und Wirken, meinen Reisen und meiner Zeit. In zwei Theilen. Bd. 1. Braunschweig 1841, S. 51. Friedrich Schiller: Brief an Körner, 15.4.1786. In: Ders.: Werke (Nationalausg.). Hg. v. Norbert Oellers. Bd. 24: Schillers Briefe 17.4.1785–31.12.1787. Hg. v. Karl Jürgen Skrodzki. Weimar 1989, S. 45.
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Friedrich Eberhard Rambach (1708–1775), damals Pastor der Marktkirche in Halle und Superintendent, preist es in seiner Vorrede so an: „Göttliche Verhängnisse, menschliche Bosheiten und Ungerechtigkeiten, unerwartete Zwischenfälle, stossen in demselben [Buch] dergestalt zusammen, daß ein Feuer entstehet, welches eine Provinz nach der andern ergreiffet, und das durch Blutströme nicht ausgelöschet werden können [!]“51 Bougeant wisse von den Akteuren ein plastisches Bild zu geben und zeige „in der Verbindung der mannigfaltigen Begebenheiten […] eine besondere Geschicklichkeit“, die „auf eine angenehme Art unterhält“; er werde daher „ohne Zweifel Lesern von Geschmack und Einsicht gefallen“. Ziehen wir ein erstes Resümee: Im historiographischen Programm der Gebauer-Verlage finden sich überwiegend Übersetzungen, weil sich der deutsche Bedarf an Geschichtsschreibung allein auf diesem Wege befriedigen ließ. Das gilt schon für das große Sammelwerk der Algemeinen Welthistorie, noch mehr aber für eine Historiographie, die sowohl Informations- als auch Unterhaltungswünsche bedienen sollte. Der Bedarf danach wuchs im deutschen Publikum der Jahrhundertmitte massiv und konnte aus der einheimischen Produktion nicht gestillt werden. Abgesehen von akademischen Kompendien und den ab 1767 ‚originaldeutschen‘ Bänden der AWH publizierte Gebauer daher fast ausschließlich Übersetzungen aus dem Französischen sowie originalfranzösische Werke; beide Gruppen zusammen überwiegen sogar die Übersetzungen aus dem Englischen, die wegen der AWH eine für das mittlere 18. Jahrhundert ungewöhnlich große Rolle spielen. Der Gallotropismus der Gebauer-Verlage resultierte nicht aus der Absicht, intellektuelle Neuerungen aus Frankreich aufzunehmen und in Deutschland bekannt zu machen. Rezipiert wurden nicht spezifisch aufklärerische Intentionen; solche Intentionen in historicis wurden von Johann Justinus Gebauer nur (oder immerhin) insofern befördert, als er der von Baumgarten und dessen Nachfolger Semler betriebenen Historisierung52 – Historisierung der Weltzustände allgemein wie der Theologie im Besonderen – in seinem Verlagsprogramm breiten Raum gab. Aus dem Französischen übersetzt wurden vielmehr Klassiker der frühneuzeitlichen Historiographie (Le Vassor sowie der Italiener Sarpi und der Spanier Ferreras) ebenso wie rezente Berühmtheiten und Erfolgswerke in erzählendem Stil (Rollin, Bougeant, Brosses). Mit einem Interesse an ‚philosophischer‘ Geschichtsbetrachtung im Gefolge Montesquieus oder Voltaires darf der Gebauer’sche Gallotropismus nicht verwechselt werden. Ebenso wenig hat der Anglotropismus 51 52
Bougeant: Historie des dreyßigjährigen Krieges (wie Anm. 25), Bd. 1, S. 4. Die folgenden Zitate ebd., S. 52f. Vgl. Walter Sparn: Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jakob Baumgarten. In: Zentren der Aufklärung. Bd. I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Hg. v. Norbert Hinske. Heidelberg 1989, S. 71–90; Marianne Schröter: Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums. Berlin u. Boston 2012.
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des Verlags mit dem historiographischen Fortschritt zu tun, den der strukturanalytische Ansatz der schottischen philosophical history bedeutete;53 diesen Innovationen liegt er zwei Jahrzehnte voraus. Horst Walter Blanke schreibt in seiner monumentalen Historiographiegeschichte: „Die deutsche Aufklärungshistorie ist ohne Bezug auf Voltaires Essai sur les moeurs (1756) und seinen Versuch einer Philosophie de lʼhistoire (1765), Montesquieus Esprit des lois (1748), Humes historische und religionsphilosophische Schriften sowie Smiths Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) undenkbar.“54 Ein schöner, weil kosmopolitisch klingender Satz, der jedoch mehr Irreführendes als Zutreffendes enthält. Denn der Einfluss der genannten Autoren setzte spät ein, während sich die deutsche Aufklärungshistorie mit „Bezug“ (Blanke) auf ganz andere Autoren und Texte aus Frankreich und Großbritannien konstituierte. Ihr erstes Problem war es nicht, wie die Geschichte zu denken sei, sondern wie man zu lesbar geschriebenen Geschichtsbüchern gelangen könne.
IV. Leserorientierter Gallotropismus nach der patriotischen Wende der 1760er Jahre In dem Maße, in dem die deutsche Aufklärung Selbstbewusstsein gewann und ihre ausländischen Vorbilder zu jenen Autoritäten rechnete, von denen man sich emanzipieren müsse, konnten Übersetzungen allerdings keine Lösung mehr sein, ebenso wenig der Nachdruck anerkannter Werke der kultivierteren französischen Historiographie. Den ereignisgeschichtlichen Wendepunkt bildete der preußische Sieg über Frankreich im Siebenjährigen Krieg, denn er bewirkte einen Politisierungsund Nationalisierungsschub in der gebildeten Öffentlichkeit des protestantischen Nord- und Mitteldeutschland.55 Seitdem verstärkte sich die Forderung nach originär deutschen Geschichtswerken, die Gründlichkeit und ‚guten Geschmack‘ verbänden, „würdig und unterhaltend“ zugleich geschrieben wären.56 „Die Geschichtskundigen Teutschlands“ sollten, so Gatterer in seiner bei Gebauer erscheinenden Zeitschrift, „mehr Fleiß auf die Bearbeitung der Geschichte in der Muttersprache“ wenden.57 In seiner Vorrede zum ersten Band der AHB nennt 53
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Vgl. Moritz Baumstark: David Hume. The Making of a Philosophical Historian. A Reconsideration. Ph.D. Edinburgh 2007. URL: https://www.era.lib.ed.ac.uk/bitstream/1842/3265/1/M%20Baumstark%20PhD%20thesis%20 2008.pdf [14.12.2014]. Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 114. Vgl. Guido Braun: Von der politischen zur kulturellen Hegemonie Frankreichs. 1648–1789. Darmstadt 2008, S. 174. Gatterer: Zufällige Gedanken (wie Anm. 47), S. 36. Ebd., S. 33.
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Gatterer es eine Frage des „Patriotismus für die Ehre der Nation“, dass er nach „teutschen Originalgeschichtschreibern“ ruft.58 In Deutschland werde generell „mehr überseze[t], als uns gut und rühmlich ist.“59 Denn von jeder Übersetzung gehe das Signal aus, dass kein deutscher Historiker in der Lage gewesen sei, ein mindestens gleichwertiges Originalwerk zu verfassen. Und damit nicht genug der Kritik: Jede Übersetzung sei geeignet, „die Geburt eines bessern Teutschen Originals zu verhindern.“60 Das „Entlehnen von Fremden“ galt nun bloß dann als gerechtfertigt, wenn ihre Geschichtsschreibung besser ist, d.h. sachhaltiger und besser erklärend, was meist aber nicht der Fall sei.61 Nun ist die Überzeugung, gründlicher zu arbeiten als die Autoren anderer, vor allem der romanischen Länder, bei den deutschen Gelehrten im ganzen 18. Jahrhundert Gemeingut und war in den 1760er Jahren zunächst einmal gar nichts Neues.62 Selbst bei einem kosmopolitisch gesinnten Historiker wie Gatterer finden wir die Topoi des frühneuzeitlichen Gelehrtennationalismus mit manchmal bizarren Argumentkombinationen für die Gleichrangigkeit, wenn nicht Überlegenheit der Deutschen im Wettstreit der Nationen: Die „unsterblichen Thaten so vieler Helden“ führt Gatterer dann neben den „allgemein nützlichen Erfindungen der Teutschen“ ins Feld, wozu er, ganz in der Tradition des Gelehrtennationalismus, nicht nur die „Buchdruckerkunst“, sondern auch die Erfindung des Schießpulvers rechnet.63 58
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Johann Christoph Gatterer: Vorrede. In: AHB 1 (1767), S. )(2r-[)(6r], hier S. )(2r; ders.: Eine Anecdote aus Frankreich, im Jahr 1764. In: Ebd., S. 1–14, hier S. 12; vgl. ders.: Räsonnement über die jezige Verfassung der Geschichtkunde in Teutschland. In: Historisches Journal 1 (1772), S. 255–266, hier S. 258. Martin Gierls neue Gatterer-Monographie stellt in diesem Sinne treffend fest: „[D]ie Konkurrenz mit Frankreich und das Streben nach nationaler Reputation und Identität waren wesentlicher Anlass“ für Gatterers historiographische Anstrengungen (Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft, wie Anm. 2, S. 353). Johann Christoph Gatterer: Allgemeine Uebersicht der ganzen teutschen Litteratur in den letzten 3 Jahren: zu mehrerer Erläuterung der am Ende beygefügten 12 Tafeln. In: Historisches Journal 1 (1772), S. 266–301, hier S. 274. Gatterer: Zufällige Gedanken (wie Anm. 47), S. 57. Dasselbe Argument in ders.: Vom historischen Plan (wie Anm. 38), S. 69. Im Grundsatz zeigte bereits Leibniz diese Haltung: „Besser ist: ein Original von einem Deutschen als eine Kopie von einem Franzosen zu sein“ (Gottfried Wilhelm Leibniz: Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben, samt beigefügtem Vorschlag einer deutschgesinnten Gesellschaft [ca. 1682/83]. In: Ders.: Unvergreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache. Zwei Aufsätze. Hg. v. Uwe Pörksen. Komm. v. dems. u. Jürgen Schiewe. Stuttgart 1983, S. 47–78, hier S. 75). [Thomas Abbt]: Beschluß des zwey hundert und sechs und neunzigsten Briefes, 20.09.1764. In: Briefe, die neueste Litteratur betreffend 20 (1764), S. 17–24, hier S. 24. So attestiert Gatterer den Deutschen „ein arbeitsames, kritisches, ehrliches und ernsthaftes Wesen“ (Gatterer: Zufällige Gedanken, wie Anm. 47, S. 35). Die deutsche Gründlichkeit setzt Gatterer über die französische Schönheit des Stils; vgl. ebd., S. 45. Zu diesen Völkerstereotypen vgl. im vorliegenden Band auch den Beitrag von Markus Hien. Ebd., S. 35f. Auf „Schießpulver, Buchdruckerkunst, Luthers Reformation, preussische Kriegsübungen“ rekurriert Johann Christoph Gatterer: Kurzer Begriff der Geographie. Bd. 1. Göttingen 1789, S. 194. Zum frühneuzeitlichen Gelehrtennationalismus vgl. Caspar Hirschi:
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Im Gefolge des Siebenjährigen Kriegs weicht dieser herkömmliche Gelehrtennationalismus, der topischen Charakter hat und nicht immer ganz ernst gemeint ist,64 einer neuartigen Präferenz fürs ‚Eigene‘, die axiomatisch ist und durchaus ohne Qualitäts- oder wenigstens Quantitätsvergleiche auskommt, wie Gatterer sie noch eifrig unternimmt. Aus anderen Sprachen übersetzte Werke können jetzt ohne großen Argumentationsaufwand abgewiesen werden, weil sie dem „eigenen National-Geschmack“65 nicht entsprechen und – so die Kritik der Allgemeinen deutschen Bibliothek an der 1770 publizierten Gelehrten Geschichte Frankreichs – „kein Buch für Deutschland, für das protestantische Deutschland“ seien: „Warum schrieb der patriotische Vorredner nicht von deutschen Gelehrten zur Bildung deutscher Jugend, ein eigenes Buch?“66 Dementsprechend wurde die ein Jahr später, ebenfalls bei Gebauer erscheinende Französische Biographie von ihrem Herausgeber geradezu entschuldigend eingeleitet: „Er hoffet nicht, daß man ihm einen Vorwurf darüber machen wird, weil er nur Uebersetzungen, nicht Originale liefert“.67 Auf diesen öffentlichen Stimmungsumschwung hat Gebauer rasch reagiert, indem er den Anteil der Übersetzungen an seinem Programm radikal zurückfuhr. Einem regelrechten Konzeptionswechsel wurde die AWH unterzogen; sie hat ab dem 31. Band deutsche Verfasser und wurde dafür als patriotisch gerühmt.68 Unter den 45 Bänden Historiographie, die zwischen 1767 und 1771 erschienen, sind nur noch acht Übersetzungen. Zwar begann Gebauer noch die beiden eben genannten französischen Werke, doch brach er sie nach dem ersten Band ab, gegen den Wunsch des Herausgebers bzw. Übersetzers.69
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Das humanistische Nationskonstrukt vor dem Hintergrund modernistischer Nationalismustheorien. In: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 355–396; zu dessen Fortschreibung bei Gottsched siehe Daniel Fulda: Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus. Die „deutsche Nation“ in der literaturpolitischen Publizistik Johann Christoph Gottscheds: In: Georg Schmidt (Hg.): Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität? München 2010, S. 267–291. Vgl. dazu Fulda: Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus (wie Anm. 62), S. 286–288. J[ohann] C[hristoph] Gatterer: Schreiben an den Herrn Professor Le Bret zu Stuttgard über den jezigen Zustand der französischen Geschichtkunde. In: Historisches Journal 1 (1772), S. 45– 66, hier S. 57. Allgemeine deutsche Biographie 16 (1772), S. 80–85, hier S. 81. Meusel: Französische Biographie (wie Anm. 30), unpag. Vorrede (a verso). In der Gedächtnisschrift auf Gebauer heißt es: „[K]aum hatte er einige gegründete Erinnerungen der Gelehrten über die merkliche Abnahme der Güte in der neueren Geschichte gelesen, als er diejenige höchst vortheilhaft ausgefallene Veränderung veranstaltete, welche die Geschichtserzählung der jetzigen berühmten Völker zu einem Originalwerke einiger der berühmtesten Geschichtschreiber unter uns mach[t]“, sodass die neuen Bände das englische Original „an innrer Güte bey weitem übertreffen“ (anon.: Die vornehmsten Lebensumstände und der persönliche Karakter des seligen Herrn Johann Justinus Gebauers […]. Halle 1772, S. 15f.). Zur Französischen Biographie vgl. Meusels Brief an Gebauer vom 15.04.1772 (Nr. 12486 im Verlagsarchiv Gebauer); als Übersetzer der Gelehrten Geschichte Frankreichs drängte Schirach
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Grafik 2: Relative Anteile ‚originaldeutscher‘, übersetzter und fremdsprachiger Bände an den Neuerscheinungen eines Jahres
Nur ein einziges mehrbändiges Übersetzungswerk, das nach der ‚Wende‘ von 1766 begonnen wurde, brachte Gebauer zum Abschluss: die Reformationsgeschichte von Johannes Sleidan (1506–1556), ein zwar ursprünglich fremdsprachiges, nämlich lateinisches Werk, jedoch aus der Feder eines deutschen Autors.70 Nicht mehr als ein Band erschien dagegen von Longchamps’ Tableau historique des gens de lettres sowie von Meusels Französischer Biographie; zuvor schon war die Le Vassor-Übersetzung nicht über den ersten Band hinausgekommen. Der von uns beobachtete Gallotropismus war mit dem Umschwenken auf ‚Originialwerke‘ aber noch nicht tot, jedenfalls nicht in seinem Kern als Streben nach einer lesbaren Geschichtsschreibung. Eine neue Biographien-Sammlung – nun, bezeichnenderweise, eine Biographie der Deutschen und ein ‚originaldeutsches‘ Werk – begann 1770 zu erscheinen und brachte es auf insgesamt sechs Bände. Der Autor Gottlob Benedikt Schirach (1743–1804) war damals Professor
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am 03.03.1771 darauf, das Werk fortzusetzen (Nr. 12140 ebd.), doch Gebauer folgte ihm nicht. Johann Sleidan: Reformations-Geschichte aus dem Lateinischen übersetzt. Genau durchgesehen, mit Courayers und einigen andern Anmerkungen, wie auch verschiedenen Urkunden und einer Vorrede. Hg. v. Johann Salomon Semler. Bd. 1–4. Halle: Johann Justinus Gebauer 1771–1773.
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in Helmstedt, schrieb jedoch ausdrücklich für ein nicht-akademisches Publikum.71 Den gelehrten Apparat lässt er entfallen; Gründlichkeit assoziiert er mit „steifer Kälte“ und fordert stattdessen „etwas mehr Wärme fürs Vaterland“.72 In den Vordergrund stellt er Herz und Seele seiner Helden; sein emphatischer Stil bietet sie den Lesern offen zur Einfühlung dar. In Gebauers Programm war das kein neuer Ansatz; neu war jedoch, dass ein deutscher Autor so zu schreiben versuchte. Das entsprechende Leserinteresse – eine Anteilnahme an historischem Geschehen durch ‚psychologische‘ Introspektion und gespanntes Mitfiebern, ähnlich der Romanlektüre73 – musste zuvor durch Übersetzungen oder Fremdsprachiges befriedigt werden. Schirach war für Gebauer zunächst als Übersetzer der ebenfalls biographisch angelegten, aber wenig erfolgreichen Gelehrten Geschichte Frankreichs tätig. „Eine ‚Biographie der Deutschen‘“ bot er dem Verleger als eine dreifache Neuheit an: „da ich 1) bloß deutsche Fürsten schildere 2) aus den Quellen ihre Lebensbeschreibung 3) in dem geschmackvollsten angenehmen Stile vorzutragen gedenke.“74 Mit strategischer Überlegung zielt Schirach auf einen unbefriedigten Bedarf des historiographischen Marktes. Tatsächlich wurde seine auf das Vergnügen der Leser zielende Geschichtsschreibung in der literarischen Öffentlichkeit positiv aufgenommen: Ein Artikel im Teutschen Merkur von 1773, der nach wie vor das „träge Fortrücken der teutschen Historiker“ beklagt, rühmt ihn als den besten deutschen Biographen, und zwar wegen seiner „lebhaften“ Schreibart.75 Gatterers Historisches Journal nennt die Biographie der Deutschen hingegen eine „Modeschrift“ nach „neufranzösischen Mustern“.76 Zieht man die damit verbundene Pejorisierung ab, so ist diese Einschätzung zu bestätigen. Ihrer Schreibart nach stellt Schirachs Biographie der Deutschen einen gallotropischen Text dar. In einem späteren Geschichtswerk bekennt sich der Autor explizit zu Voltaire als Vorbild für einen „guten Vortrag“, der nicht für das „Catheder“, sondern für die „Gesellschaft vom guten Tone“ berechnet sei.77 So patriotisch Schirach sich präsentiert, sein Konzept von Geschichtsschreibung ist gallotropisch fundiert. Wie wichtig ein solcher Gallotropismus für die deutsche Geschichtspublizistik der 71
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Schirach: Biographie der Deutschen (wie Anm. 39), S. 36 (Vorrede). Schirachs spätere Tätigkeit als politischer Journalist und Zeitschriftsteller kommt in Iwan-Michelangelo D’Apriles Beitrag zum vorliegenden Band kurz zur Sprache. Ebd., S. 8f. Ebd., S. 25, 35 („Meine Absicht war es beständig, den Gang der Neugierde, welche ließt, in der Erzehlung nachzuahmen.“) u. 21. „Schlechten Absaz“ vermerkt sein Brief vom 20.06.1770 an Gebauer (Nr. 11108 im Verlagsarchiv Gebauer). H.J.U. [d. i. Johann Georg Meusel]: Schreiben aus D... an einen Freund in London über den gegenwärtigen Zustand der historischen Litteratur in Teutschland. In: Der Teutsche Merkur 2 (1773), S. 247–266, hier S. 248, 257. Historisches Journal 2 (1773), S. 1–19, hier S. 1, 5. Verf.: Schl[özer]. Gottlob Benedikt Schirach: Biographie Kaisers Carls des Sechsten. Halle: Gebauers Witwe u. Joh. Jacob Gebauer 1776, S. [a3rf.].
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mittleren Aufklärung war, sollte über den nahezu rituellen Schmähungen Voltaires und der „witzigen Franzosen“ durch die Göttinger Historiker nicht übersehen werden.78 Als Ziel einer historiographiegeschichtlichen Rekonstruktion macht ein Schirach allerdings wenig her. Doch noch zum Höhenkamm gelangen wir, wenn wir ein paar Jahre weiter gehen. Die Unlesbarkeit der deutschen Historiographie blieb auf der Tagesordnung. „Wir haben viele gute Forscher, Untersucher, Lehrer, Sammler, viele Zusammenträger der Geschichte, wenn mir dieses Wort erlaubt ist, aber keinen einzigen Geschichtschreiber“, konstatierte Johann Karl Wezel 1781 in der Debatte um Friedrichs II. Essay De la littérature allemande.79 Als Lösungen dieses wahren Jahrhundertproblems wurden erst Müllers Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft (1786–1808)80 und Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande (1788) wahrgenommen. In Schillers Vorrede heißt es, ganz im Sinne des hier beschriebenen Gallotropismus: Meine Absicht bei diesem Versuch ist mehr als erreicht, wenn er einen Theil des lesenden Publikums von der Möglichkeit überführt, daß eine Geschichte historisch treu geschrieben seyn kann, ohne darum eine Geduldprobe für den Leser zu sein, und wenn er einem andern das Geständniß abgewinnt, daß die Geschichte von einer verwandten Kunst etwas borgen kann, ohne deswegen nothwendig zum Roman zu werden.81
Als ‚gallotropisch‘ kann Schillers leserfreundliche Art der Geschichtsschreibung nicht nur dem Historiographiehistoriker auffallen. Vielmehr gab es diese Wahrnehmung – zwar nicht dem Begriff, aber der Sache nach – bereits bei seinerzeitigen Geschichtsschreiber-Kollegen bzw. -Konkurrenten. Der Gothaer Gymnasialprofessor Johann Georg August Galetti (1750–1828), der für Johann Jacob Gebauer zehn Bände Deutsche Geschichte im Rahmen der Algemeinen Welthistorie verfasste (1787–1796),82 schmähte Schillers nächstes historisches Werk, die Geschichte des dreyßigjährigen Kriegs, in einem Brief an den Verleger als „Toilet-
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Vgl. H[ermann] A[ugust] Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des XVIII. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe. Heidelberg 1918, S. 508–512. Das Zitat steht in der Rezension von Voltaires Philosophie de l’histoire. In: AHB 1 (1767), S. 215–232, hier S. 216. Johann Karl Wezel: Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen [1781]. In: Ders.: Gesamtausgabe in acht Bänden (Jenaer Ausg.). Hg. v. Klaus Manger in Zusammenarbeit mit Bernd Auerochs u.a. Bd. 6: Epistel an die deutschen Dichter. Hg. v. Hans-Peter Nowitzki. Heidelberg 2006, S. 49–198, hier S. 163. Zu Johannes von Müller vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Johannes Süßmann. Friedrich Schiller: Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande (1788). In: Ders.: Werke (wie Anm. 49), Bd. 17: Historische Schriften I. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. Weimar 1970, S. 9. Einige Bände davon erschienen auch mit eigenem Titelblatt; vgl. Johann Georg August Galletti: Geschichte des dreyßigjährigen Kriegs und des Westphälischen Friedens. Bd. 1–3. Halle: Johann Jacob Gebauer 1791/92.
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tengeschichte“.83 Sollte heißen: geeignet als Zeitvertreib für Damen, während sie sich frisieren und schminken lassen – denn Schillers Text füllte den Historischen Calender für Damen der Jahre 1791 bis 1793 –, was doppelt ‚gallotropisch‘ konnotiert war: weil dafür nur leichte, das Vergnügungsinteresse des Lesers bzw. der Leserin bedienende Lektüre in Frage komme, und ebenso weil es eine Vorrangigkeit des Gefallenwollens und mit der Mode Gehens ‚wie bei den Franzosen‘ unterstellt, und zwar nicht nur bei einer solchen Leserin, sondern auch bei dem an ein solches Publikum sich wendenden Geschichtsschreiber. Trotz solcher Abwehrreaktionen seitens der deutschen Gelehrten, die sich im 19. Jahrhundert unvermindert fortsetzten, zählt Schillers Historiographie zu den Gipfeln, die auch bisher nicht übersehen wurden. Seine Größe als Geschichtsschreiber können wir jetzt aber genauer dadurch bestimmen, dass ihm gelang, was ein Jahrhundert gallotropischer Historiographie in Deutschland immer nur (und immer wieder neu) erstrebt hatte: eine stilistisch gewinnende, ihren Lesern auch sprachliches Vergnügen bereitende und sie dadurch für die dargestellte Geschichte interessierende Historiographie.84
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Brief Gallettis an Johann Jacob Gebauer vom 07.11.1790 (Nr. 27315 im Verlagsarchiv Gebauer). Zu Schillers Geschichtsschreibung als Erfüllung (und zugleich Transzendierung) eines gut ein Jahrhundert alten historiographischen Programms vgl. auch meinen Beitrag: Daniel Fulda: „Sçavoir l’Histoire; c’est connoitre les hommes“. Figurenwissen und Historiographie vom späten 17. Jahrhundert bis Schiller. In: Lilith Jappe, Olav Krämer u. Fabian Lampart (Hg.): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. Berlin u. Boston 2012, S. 75–113.
VANESSA DE SENARCLENS
Zwischen Gelehrsamkeit und Philosophie. Montesquieus Geschichtsschreibung Montesquieus Herangehensweise an die Geschichte ist modern – so jedenfalls die deutsche Rezeption von Herder bis hin zu Hegel wie auch die von Savigny.1 Montesquieus Betonung des Spezifischen, das jede Gesellschaft und jedes Rechtssystem ausmacht, wurde als Kontrast zum Denken der Aufklärung wahrgenommen, das zu universellen Hypothesen geneigt habe. Friedrich Meinecke sah in Montesquieus Geschichtsauffassung sogar eine Vorstufe des Historismus, den er als eine spezifisch deutsche Reaktion auf den französischen Rationalismus und Universalismus deutete.2 In Frankreich hingegen haftete Montesquieu lange Zeit der Ruf eines „Denkers der etablierten Ordnung“ an, ein Ruf also, der sich nicht mit dem Modernitätsbegriff vereinbaren ließ. Vor allem zur Zeit der Revolution wurde er wegen seines Adelstitels und seines feudalen Landsitzes als typischer Vertreter des Ancien Régime angesehen, dem man misstraute.3 In den seltenen Passagen, in denen Montesquieu sein eigenes Werk kommentiert, stellt er sich mal als Rechtsgelehrten („jurisconsulte“),4 mal als Historiker dar.5 Sein Interesse für die Sitten, den Geist einer Nation6 und die verschiedenen kulturellen Prägungen jeder einzelnen Gesellschaft und Epoche bildet die Grundlage seines historischen wie seines juristischen Werkes. Im ersten Kapitel des ersten Buches von De l’Esprit des Lois von 1748 definiert er die Gesetze als Be-
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Frank Herdmann: Montesquieurezeption in Deutschland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Hildesheim, Zürich u. New York 1990. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus. München u. Berlin 1936. „Il est vrai que Montesquieu se trouve, en grande partie, disqualifié dès le début de la Révolution parce qu’il apparaît comme un auteur qui a tout justifié“ (Bernard Manin: Art. Montesquieu. In: Mona Ozouf u. François Furet (Hg.): Dictionnaire critique de la Révolution française. Paris 1988, S. 786‒799). In der Défense de l’Esprit des Lois verteidigt Montesquieu seine Herangehensweise gegen die religiöse Kritik und grenzt seine Art der Interpretation gegenüber den Theologen ab: „Il en résulte encore qu’ils sont théologiens et que l’auteur est jurisconsulte; qu’ils se croient en état de faire son métier, et que lui ne se sent pas propre à faire le leur“ (Montesquieu: Défense de l’Esprit des Lois [1749]. In: Ders.: Œuvres complètes. 2 Bde. Bd. 2. Hg. v. Roger Caillois. Paris 1951, S. 1121‒1166, hier S. 1160). Montesquieu: Pensées [postum 1899]. In: Ders.: Œuvres complètes. 3 Bde. Bd. 2. Hg. v. André Masson. Paris 1950, Nr. 1183, S. 1‒677, hier S. 312. „Plusieurs choses gouvernent les hommes: le climat, la religion, les lois, les maximes du gouvernement, les exemples des choses passées, les mœurs, les manières; d’où il se forme un esprit général qui en résulte. À mesure que, dans chaque nation, une de ces causes agit avec plus de force, les autres lui cèdent d’autan“ (Montesquieu: De l’Esprit des Lois [1748]. In: Ders.: Œuvres complètes, wie Anm. 4, Bd. 2, S. 227‒996, hier S. 558).
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ziehungen,7 d.h. nicht als abstrakte und universell geltende Wahrheiten, sondern als Ausdruck und Erzeugnis eines jeweiligen Kontextes. Montesquieus Beitrag zu einer modernen Geschichtsschreibung geht einher mit seiner Rechtsphilosophie. Von den Lettres Persanes bis hin zu De l’Esprit des Lois spielt die Geschichte der Nationen, wie sie Denkart und Vorurteile der Gesellschaften prägt, eine entscheidende Rolle. Die Arbeitsnotizen, die Montesquieu ab 1727 in dem Heft Pensées niederschreibt,8 machen manches aus seiner sonst sehr impliziten Vorgehensweise deutlich, zumal er darin die Werke seiner Historikerkollegen wie Voltaire, JeanBaptiste Dubos, Henri de Boulainvilliers und Pietro Giannone kommentiert und hier und da explizit angreift. Montesquieus eigenes Verständnis von Geschichtsschreibung dringt dabei in seinen Kritiken durch.9 Position bezieht er vor allem in seinem Essay Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence von 1734.10 Er grenzt sich darin von den Deutungen verschiedener Autoren ab wie Nicolas Coëffeteau,11 Scipion Dupleix,12 Charles de SaintÉvremond,13 Jacques-Bénigne Bossuet,14 Louis-Sébastien Le Nain de Tillemont,15 François Catrou und Julien Rouillé16 sowie René Aubert de Vertot17 und Charles Rollin, deren Werke er gut kannte, befanden sich doch fast alle in seiner Bibliothek.18 Welche neuen Erkenntnisse hat er zu einem derart altbekannten Thema wie dem Verfall Roms zu bieten? Sein Essay wird als Beitrag eines politischen Theore-
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Montesquieu spricht von „rapports“: „Les lois, dans la signification la plus étendue, sont les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses“ (ebd., S. 232). Siehe hierzu Catherine Volpilhac-Auger: Art. Pensées. In: Dictionnaire Montesquieu. URL: http://dictionnaire-montesquieu.ens-lyon.fr/fr/article/1376399996/fr [01.09.2013]. Siehe Vanessa de Senarclens: Montesquieu et la démarche de l’historien. In: Muriel Brot (Hg.): Les Philosophes et l’histoire au dix-huitième siècle. Paris 2011, S. 43‒59. Vanessa de Senarclens: Montesquieu, historien de Rome. Un tournant pour la réflexion sur le statut de l’histoire au XVIIIe siècle. Genève 2003. Nicolas Coëffeteau: Histoire romaine contenant tout ce qui s’est passé de plus mémorable depuis le commencement de l’empire d’Auguste jusqu’à celui de Constantin le Grand. Avec l’Épit. de Florus. 2. Aufl. Paris 1623. Scipion Dupleix: Histoire romaine depuis la fondation de Rome. Paris 1638–1644. Charles de Saint-Denys de Saint-Évremond: Des Réflexions sur les divers génies du peuple romain dans les différens temps de la République. Paris 1663. Jacques-Bénigne Bossuet: Discours sur l’Histoire Universelle. Paris 1681. Louis-Sébastien Le Nain de Tillemont: L’Histoire des Empereurs et des autres Princes qui ont régné pendant les six premiers siècles de l’Église, des persécutions qu’ils ont faites aux Chrétiens, de leurs guerres contre les Juifs, des écrivains profanes & des personnes les plus illustres de leur temps. 6 Bde. Paris 1739. RR. PP. François Catrou & Julien Rouillé: Histoire romaine. 10 Bde. Paris 1725. René Auber, abbé de Vertot: Histoires des révolutions arrivées dans le gouvernement de la république romaine. La Haye 1720. Charles Rollin: De la manière d’étudier les Belles-Lettres par rapport à l’esprit et au cœur. 4 Bde. Paris 1731 u. ders.: Histoire romaine depuis la fondation de Rome jusqu’à la bataille d’Actium, c’est-à-dire jusqu’à la fin de la République. In: Ders.: Œuvres complètes. 30 Bde. Bde. 13‒24. Paris 1821–1825.
Zwischen Gelehrsamkeit und Philosophie
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tikers angesehen.19 Roger Caillois, Herausgeber der Œuvres complètes für die Pléiade, behandelt das Werk stiefmütterlich als „préparation“ zu De l’Esprit des Lois. Zahlreiche Historiker lesen den Essay als Illustrierung einer politischen Theorie über Form und Balance von Regierungen, die erst in dem opus magnum ihre wahre Ausformulierung finden würde.20 Man hat den Essay auch als eine kaum verschleierte anti-absolutistische Kritik an der politischen Gegenwart aufgefasst.21 In der neuesten Edition der Romains hebt Catherine Volpilhac-Auger deren politischen und eben nicht historischen Gehalt hervor: „Est-il besoin de dire que les Romains ne sont pas un livre d’histoire?“22 Im Gegensatz hierzu deute ich Montesquieus Essay als historischen Beitrag und kann mich hierbei auf dessen erste prominente Leser nach seinem Erscheinen im 18. Jahrhundert berufen.
I.
Edward Gibbons Rückblick
In seinem in französischer Sprache verfassten Essai sur l’Etude de la Littérature von 1761 hat Edward Gibbon, der später die History of the Rise and Fall of the Roman Empire (1776‒1788) vorlegen wird, versucht, eine Antwort auf die Frage nach Montesquieus Beitrag zur Geschichtsschreibung zu geben.23 Unter dem Begriff „Littérature“ im Titel des Essays werden sowohl Fragen der Literaturkritik als auch der Geschichtsschreibung aufgeworfen. Gibbons Anliegen besteht darin, die zwei Haupttendenzen der Geschichtsschreibung seines Jahrhunderts – die Gelehrsamkeit („l’érudition“) und die Philosophie – miteinander in Einklang zu bringen.24 In dieser Vorstudie zu seinem eigenen Geschichtswerk wendet er sich vor allem an die Philosophen seiner Zeit und verteidigt die Arbeit der Gelehrten. Als 19 20
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Montesquieu: Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence [1734]. In: Ders.: Œuvres (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 69‒209. Im Folgenden zitiert als: Romains. Zum Beispiel Georges Benrekassa: La Politique et sa mémoire. Paris 1983 oder ders.: Montesquieu, la liberté et l’histoire. Paris 1987; aber auch Richard Myers: Montesquieu on the Causes of Roman Greatness. In: History of Political Thought 16/1 (Spring 1995), S. 37‒47. Zum Beispiel Jean Ehrard: Rome enfin que je hais. In: Albert Postigliola (Hg.): Storia e Ragione, Atti des Convegno Internationale Organizzato dall’istituto universitario orientale e dalla Sociatà italiana di studi sul secolo XVIII. Neapel 1987, S. 23–32; Roger B. Oake: Montesquieu’s analysis of Roman history. In: Journal of the History of Ideas 16/1 (1955), S. 44–59; David Lowenthal: Le dessein des Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence de Montesquieu. In: Cahiers de Philosophie Politique du Centre de philosophie politique de l’Université de Reims 2–3 (1985), S. 113‒156. Catherine Volpilhac-Auger in ihrer Einführung zu: Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence. In: Œuvres complètes de Montesquieu. Hg. v. Patrick Andrivet u.a. Bd. 2. Oxford 2000, S. 3‒23, hier S. 14. Edward Gibbon: Essai sur l’étude de la Littérature. In: Miscellaneous Works of Edward Gibbon, Esq. With memoirs of his life and writings, composed by himself. Hg. v. John Lord Sheffield. Bd. 2. London 1796. Siehe u.a. Chantal Grell: Le Dix-huitième siècle et l’Antiquité en France, 1680‒1789. 2 Bde. Oxford 1995; dies.: L’histoire entre érudition et philosophie. Etude sur la connaissance historique à l’âge des Lumières. Paris 1993.
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Vorbild einer solchen Versöhnung beruft er sich auf Montesquieu und hebt dessen Herangehensweise als Historiker Roms lobend hervor. Besonders schätzt er dessen Fähigkeit, einen Mittelweg zwischen einem genauen Studium der Ereignisse und einem ambitionierten Diskurs zu finden. Montesquieu verbinde in seiner Auffassung von Geschichte eine umsichtige Arbeit an den Quellen und breiten Spektrums, das a priori kein Dokument ausschließt, mit einem philosophischen Diskurs. Gibbons Bemühungen, einen Kompromiss zwischen den zwei Historikerlagern zu finden, müssen im Kontext der jeweils radikalen Ansichten im Umgang mit den Quellen gesehen werden. Jean le Rond d’Alembert, der Herausgeber der Encyclopédie, schlug beispielsweise vor, die Dokumente der Geschichte auf einige wertvolle zu reduzieren und den Rest zu beseitigen. Im Discours Préliminaire der Encyclopédie von 1751, aber auch in seinem Essai sur les éléments de philosophie vertritt er die These, dass die Geschichte als Wissensform nur eine untergeordnete Rolle spiele. Anstatt alles zu archivieren und zu bewahren, fordert d’Alembert, sich allein auf „wahre und nützliche“ Erkenntnisse zu besinnen: „Rien ne serait plus utile qu’un ouvrage qui contiendrait non ce qu’on a pensé dans tous les siècles, mais seulement ce qu’on a pensé de vrai“.25 In einem anderen Aufsatz spricht er sich sogar dafür aus, sämtliche Archive für das Gemeinwohl zu verbrennen.26 Gibbon preist in Montesquieu den „wahren Kritiker“ und beschreibt damit einen Denker,27 der die Vielfalt und den unerschöpflichen Charakter der Quellen akzeptiert und nicht davor zurückschreckt, auch die Aufgabe der Interpretation zu übernehmen. So beschränke Montesquieu sich nicht auf die Aufzählung von Fakten, wie so mancher Akademiegelehrter mit einer Vorliebe für obskure Pergamentinschriften oder Besonderheiten eines vergessenen antiken Volkes. Sämtliche Details, die unzähligen Ereignisse und Dokumente, die Philosophen wie Voltaire gern verächtlich als „chaotischen Krempel“ abtun,28 fänden bei „wahren Kritikern“ wie Montesquieu Beachtung. Die Herangehensweise Montesquieus sei, so Gibbon weiter, geradezu durch eine respektvolle Haltung gegenüber den Fakten charakterisiert, gepaart mit der Suche nach den Antriebskräften des historischen Prozesses. Anstatt Größe und Niedergang der Gesellschaften in einer einzigen Ursache zu suchen, anstatt sich als Interpret der Geschichte auf die Rolle der großen Akteure – der Könige, Prinzen und Kapitäne – zu konzentrieren, liege Montesquieus Auf25 26
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Jean le Rond dʼAlembert: Essai sur les éléments de philosophie ou sur les principes des connaissances humaines. Paris 1986 [ND der Ausg. Paris 1759], S. 16 [Hervorh. V.S]. „Il serait à souhaiter que tous les cent ans on fit un extrait des faits historiques réellement utiles, et qu’on brûlât le reste“ (Jean le Rond d’Alembert: Mémoires et Réflexions sur Christine, reine de Suède [1760]. In: Oeuvres de d’Alembert. Bd. 2. Paris 1821, S. 119‒148, hier S. 119). Gibbon: Essai sur l’étude de la Littérature (wie Anm. 24), S. 463. Siehe die Essays zur Geschichtsschreibung von Voltaire: Remarques sur l’histoire [1742]. In: Ders.: Œuvres historiques. Hg. v. Jean Pomeau. Paris 1957, S. 41‒45 und ders.: Nouvelles considérations sur l’Histoire [1744]. In: Ebd., S. 46‒69.
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merksamkeit auf den „generellen Ursachen“ und ihrer sukzessiven Wirkung. Am Ende seines Essays deutet Gibbon an, dass man auf der Grundlage von Montesquieus historiographischem Verfahren eine Theorie des historischen Prozesses entwerfen könne: La théorie de ces causes générales seroit entre les mains d’un Montesquieu, une histoire philosophique de l’homme [...]. Supérieur à l’amour de ses propres systêmes, dernière passion du sage, il auroit su reconnoître que, malgré l’étendue de ces causes, l’effet ne cesse pas d’être borné, et qu’il se montre principalement dans ces évènements généraux, dont l’influence lente mais sûre change la face de la terre, sans qu’on puisse s’appercevoir de l’époque de ce changement, et surtout dans les mœurs les religions, et tout ce qui est soumis au joug de l’opinion.29 Fern von jedem „System“ skizziert Gibbon hier eine Theorie der „generellen Ursachen“ der Geschichte, die den Mentalitäten und Traditionen einen großen Platz einräumt. Die „Systeme“ definieren hier kühne Vermutungen über die Geschichte, globale Hypothesen, die einer Studie der Fakten und Quellen nicht standhalten. Wie Montesquieu postuliert also auch Gibbon eine Kohärenz zwischen den Ereignissen und ihrem Kontext.30 Und diese Kohärenz sucht er in Begriffen, die schwer zu definieren, jedoch für das Verständnis der Geschichte entscheidend seien wie den Sitten („les mœurs“) oder dem Geist („l’esprit“). Gibbons Lesart stimmt mit der Lobrede auf Montesquieu überein, die kurz nach dessen Tod in Band V der Encyclopédie erscheint: M. de Montesquieu, sans s’appesantir, à l’exemple de ceux qui l’ont précédé, sur des discussions métaphysiques relatives à l’homme supposé dans un état d’abstraction […] envisage les habitants de l’univers dans l’état réel où ils sont […].31
Hier bildet das Adjektiv „metaphysisch“ ein Gegenstück zur Formulierung „realer Zustand“; dem Menschen als Abstraktion werden die Einwohner des Universums gegenübergestellt. Montesquieus Skepsis in Bezug auf abstrakte Theorien und sein Versuch, den Menschen in seinen zahlreichen verschiedenen Kontexten zu interpretieren, kommen sowohl in der Encyclopédie als auch in Gibbons Essay zum Ausdruck.
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Gibbon: Essai sur l’étude de la Littérature (wie Anm. 24), S. 481. Ebd., S. 492. Jean le Rond d’Alembert: Eloge de Monsieur le Président de Montesquieu. In: Ders. u. Denis Diderot (Hg.): Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 5. Paris 1755 oder in: Montesquieu: Eloge de Monsieur le Président de Montesquieu, mis à la tête du cinquième volume de l’Encyclopédie, par M. d’Alembert. In: Montesquieu: Œuvres (wie Anm. 5), Bd. 1, S. I‒XXXIII, hier S. XVI [Hervorh. V.S].
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II.
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Eine skeptische Herangehensweise
Angefangen bei den Lettres Persanes bis hin zu De l’Esprit des Lois zeigt sich Montesquieu skeptisch gegenüber universell geltenden Wahrheiten und Gewissheiten. Diese Skepsis führt zu einer demütigen Haltung im Hinblick auf seinen Forschungsgegenstand. Eine Notiz aus den Pensées bringt dies zum Ausdruck: „Quand on dit qu’il n’y a point de qualité absolue, cela ne veut point dire qu’il n’y en a point, mais qu’il n’y en a point pour nous & que notre esprit ne peut pas les déterminer“.32 Der Gelehrte und der Wissenschaftler können die Grenzen des Wissens und des Bekannten verschieben, beides bleibt dennoch begrenzt. So zählt seit dem ersten Brief der Lettres Persanes von 1721 „bornés“ zu den wiederkehrenden Worten in Montesquieus Wortschatz.33 Der Philosoph weist auf die Grenzen hin, innerhalb derer er interpretiert, und versucht, diese auszuweiten. Aber im historischen Bereich ist der Forscher bei seiner Suche nach Erkenntnis über den Ursprung der Welt, die Entstehung der Gesellschaften und die Finalität des Universums stets eingeschränkt. Er bestaunt die Vielfalt der Kulturen und Traditionen und postuliert, es sei hinzunehmen, dass es ihretwegen schwerer sei, zu „veritablen“ und „nützlichen“ Geschichtserkenntnissen zu kommen. Der Montesquieu’schen Geschichtsschreibung ‚fehlt‘ charakteristischerweise eine „philosophie de l’histoire“ im Sinne Voltaires, d.h. eine globale und kritische Vision des Verlaufs der Ereignisse und der Chronologie. Der Bereich der Geschichte lässt sich in seinem Werk nicht auf eine Formel herunterbrechen wie bei Voltaire, der die Geschichte als einen Prozess der Emanzipation durch Vernunft und zivilisatorische Fortschritte versteht. Ebenso wenig entspricht sein Verständnis von Geschichte dem Jean-Jacques Rousseaus, der sie in seinen beiden Discours (Discours sur les Sciences et les Arts, 1750; Discours sur l’origine de l’Inégalité, 1755) als natürlichen Prozess der Entfremdung beschreibt. Bei Montesquieu ist eine derartige Formel nicht zu finden, die auf eine globale Entwicklung verwiese. In seinen Notizen distanziert er sich vielmehr ganz ausdrücklich von der Geschichtsschreibung Voltaires. Er wirft ihm seine Neigung zu scharfen Urteilen vor und enthüllt die Ironie in seinem Ton, die er als „Voltairomanie“ bezeichnet.34 Voltaire erscheint ihm eher als Kämpfer denn als ein Forscher, der sich mit komplexen Themen wahrhaftig auseinandersetzt: „Voltaire n’écrira jamais une bonne histoire: il est comme les moines qui n’écrivent pas pour les sujets qu’ils traitent,
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Montesquieu: Pensées (wie Anm. 5), Nr. 1154, S. 309. In Usbeks erstem Brief an Rustan lautet es: „Nous sommes nés dans un royaume florissant; mais nous n’avons pas cru que ses bornes fussent celles de nos connaissances, et que la lumières orientale dût seule nous éclairer“ (Montesquieu: Lettres Persanes [1721]. In: Ders.: Œuvres, wie Anm. 5, Bd. 1, S. 7‒324, hier S. 10). Montesquieu: Pensées (wie Anm. 5), Nr. 1363, S. 406.
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mais pour la gloire de leur ordre; Voltaire écrit pour son couvent“.35 In Bezug auf die Geschichtsschreibung betont Montesquieu die Unsicherheiten, mit denen der Interpret ununterbrochen konfrontiert ist.36 Vor allem in den Pensées hebt er die „obscurités“ hervor, mit denen sich ein Historiker der alten Geschichte auseinandersetzen müsse.37 Er unterstreicht aber auch das politische Interesse, das die römischen Historiker damals bewog, die Gefechte mit den Galliern in ihren Berichten zu verzerren. Ihre siegessicheren Schilderungen seien jedoch von den Verträgen dementiert worden, die sie nach einer Schlacht unterschreiben mussten.38 Die Kirchengeschichte mit ihren zahlreichen Dokumenten ist Montesquieu suspekt,39 wurde sie doch aus der Perspektive einer christlichen Minderheit geschrieben, die den erlittenen Verfolgungen einen überproportionalen Raum gewidmet habe.40 Die antike Geschichte ist ganz lückenhaft, und um die moderne Geschichte ist es nicht besser bestellt, betont er.41 Seit der Erfindung des Buchdruckes sei die Geschichtsschreibung ein heikles Unterfangen, weil sie hohem politischem Druck ausgesetzt sei.42 Montesquieu hebt hervor, wie sehr die Historiker im Dienste der Gedächtnispolitik der jeweiligen Herrscher stünden. Die Mächtigen trachten danach, ihren Nachruhm durch eine autorisierte Geschichtsschreibung zu gestalten.43 In den Pensées kommt Montesquieu sehr oft auf Historiker zu sprechen, die die „Vergehen“ der Vergangenheit beschönigen. Die Geschichte erscheint dadurch als Gegenstand von Verzerrung, Idealisierung und Vertuschung und immer an politische Interessen gekoppelt.
III. Über Rom: Neues wagen Montesquieu wollte das Thema Rom erneuern. Dabei handelte es sich nicht nur um ein sehr bekanntes historisches Feld, sondern auch um ein hochpolitisches. Oftmals stritten die Historiker in ihren Aufsätzen über die Geschichte Roms eigentlich 35 36
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Ebd., Nr. 1446, S. 419 [Hervorh. V.S.]. „Que savons-nous de ce qui nous est réservé? Peut-être y a-t-il encore mille secrets cachés“ (Montesquieu: Discours prononcé à l’Académie de Bordeaux le 15 novembre 1717. In: Ders.: Oeuvres, wie Anm. 5, Bd. 3, S. 51‒57, hier S. 54). „Nous ne connoissons rien avant les Olympiades, c'est-à-dire avant deux mille cinq ou six cens ans. Tout le reste est fable et obscurité“ (Montesquieu: Pensées, wie Anm. 5, Nr. 206, S. 77). „De quelque façon qu’il ait plu aux Romains de nous raconter leur guerre avec les Gaulois, ils n’en firent pas moins ce traité honteux“ (ebd., Nr. 572, S. 191). Ebd., Nr. 206, S. 77. „Tant de gens qui ont pris à la lettre les déclamation des Pères se sont imaginé que toute l’attention des Empereurs avait été occupée à empêcher les progrès de la religion chrétienne. C’étoit la moindre de leurs affaires; à peine y pensoient-ils“ (ebd., Nr. 450, S. 450). Ebd., Nr. 1887, S. 564. „C’est un problème si l’imprimerie a servi ou non à la vérité de l’histoire“ (ebd., Nr. 1525, S. 436). „Les princes ont fait le principal objet de leur police; les censeurs qu'ils ont établis dirigent toutes les plumes“ (ebd., Nr. 1525, S. 436).
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über die Politik der Gegenwart. In dieser Hinsicht ist der Essay Parallèle des Français et les Romains von Gabriel Bonnot de Mably repräsentativ dafür, wie die französische Gegenwart durch eine römische Brille gesehen wurde.44 Nach der glorreichen Regentschaft Ludwig XIV. meinte man aus der Geschichte der Römer die Vorboten von Frankreichs sich anbahnendem Verfall herauslesen zu können. Vor allem war Rom in der politischen Auslegung des Absolutismus stets präsent. Die historische Debatte vom Anfang des 18. Jahrhunderts über die eigentlichen Ursprünge der Frankenmonarchie zeigt dies besonders gut. Dabei gehört Boulainvilliers zu denjenigen, die auf die germanischen Wurzeln hinweisen und sich nach einem weniger zentralistischen System sehnen, andere wie Dubos betonen wiederum das römische Erbe. Vor allem aber verbergen diese Dissertationen nicht die Bewunderung für die zeitgenössische absolutistische Monarchie bzw. die Kritik an ihr.45 Rom war also kein ungefährliches Thema. In seinem „Project de préface“ zu den Romains, das unlängst in einem unveröffentlichten Schriftstück seiner Bibliothek auf La Brède gefunden wurde,46 erläutert Montesquieu seinen Ansatz, der sowohl seine Bedenken, ein weiteres der zahlreichen Bücher über Rom zu schreiben, als auch seinen Ehrgeiz, etwas substantiell Neues darüber auszusagen, verrät. Genau daran wolle er sich messen lassen, so das Vorwort: „On aura d’abort de la repugnance a lire un ouvrage sur un sujet qui a esté traité par mille autheurs mais si j’ay dit des choses nouvelles l’ouvrage deviendra par cela meme plus interessant“.47 Von welchen „choses nouvelles“ ist an dieser Stelle die Rede? Montesquieu sucht in der Geschichte Roms deren spezifischen Merkmale48 und betont, dass sie einmalig sei: Sie habe „point d’exemple dans les histoires et [...] selon toutes les apparances n’en aura jamais“.49 In einem anderen Text beschreibt er diese Einmaligkeit sogar als ein „Wunder“: „L’empire romain a été un miracle de l’univers, dans lequel il a fallu que tant de circonstances aient concouru, que pareille chose n’arrivera peut-être jamais“.50 Aber dieses „Wunder“ hat nichts gemein mit dem Fabelhaften und noch weniger mit einer religiösen Vorsehung, wie man sie aus Bossuets Discours sur l’histoire universelle (1681) kennt. Das Wunder ist hier das Ergebnis vieler einzelner Umstände, mit
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Gabriel Bonnot de Mably: Parallèle des Romains et des Français. 2 Bde. La Haye 1741. Zur Position Montesquieus in dieser Debatte siehe Elie Carcassonne: Montesquieu et le problème de la constitution française au 18e siècle. Paris 1927. Montesquieu: Projet de préface. In: Ders.: Considérations (wie Anm. 22), S. 315‒318. Ebd., S. 316. Er sucht sie „dans leurs loix dans leurs coutumes dans leur police dans les lettres des particuliers dans leurs traités avec leurs voisins dans les mœurs des peuples avec qui ils ont eu à faire“ (ebd.). Ebd., S. 315 [Hervorh. V.S.]. Montesquieu: Le Spicilège [posthum 1899]. In: Ders.: Œuvres (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 681‒919, hier S. 799 [Hervorh. V.S.].
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denen sich der Historiker befassen muss.51 Was macht also die Einmaligkeit der Geschichte Roms aus? Was ist so beispiellos? Roms tugendhafte Patrioten, das breite Imperium, die Kaiserzeit? Bei Montesquieu ist das „Wunder“ viel eher mit etwas gleichzusetzen, das er in seinem Vorwort sukzessiv beschreibt: die Arbeit, die Konstanz der Politik, das Gesellschaftsprojekt, der Wille der Römer: „On a cherché dans cet ouvrage à rendre raison de cette fameuse usurpation du monde que les Romains firent par un travail de sept cents années par une force et par une politique qui se sont toujours prêtées à ce dessein“.52 Gleich der erste Satz der Romains enthält einen Hinweis für den Leser. Der Historiker warnt ihn vor Missverständnissen und ermutigt ihn, seinen eigenen Erwartungshorizont zu überprüfen und das alte Rom nicht mit einer modernen Stadt zu verwechseln. Das antike Rom soll ihm nicht allzu vertraut erscheinen: „Il ne faut pas prendre, de la ville de Rome, dans ses commencements, l’idée que nous donnent les villes que nous voyons aujourd’hui“.53 Nimmt der Leser im Titel des Essays noch den bekannten Topos von Größe und Niedergang wahr, so bringt der erste Satz diese vermeintliche Vertrautheit sogleich ins Wanken.54 Dieser erste Überraschungseffekt wird im ersten Absatz noch weitergeführt. Es ist von Tieren, sonderbaren Früchten und einer obskuren Randgegend des römischen Imperiums die Rede.55 Vergeblich ist der Leser auf der Suche nach einer typischen Synthese wie bei Bossuet, der in seiner römischen Geschichte die großen Taten der Bürger Roms und die Nähe zwischen Römern und Franzosen im 17. Jahrhundert mit einem Loblied preist. In Montesquieus Analyse über die Größe der Römer und ihren Verfall unterscheidet er bewusst zwischen „ihnen“ – den Römern – und „uns“ – den modernen Lesern. In dieser Hinsicht ist der erste Satz des Essays geradezu bezeichnend für den gesamten Ansatz des Werks. Von der Einmaligkeit und Spezifizität der Geschichte Roms überzeugt, versucht der Autor sich von zeitgenössischen Anhaltspunkten zu befreien, um die alte Geschichte zu verstehen. Er nähert sich dem Thema, indem er sich bemüht, Rom als eine andere Epoche zu begreifen. Die „Ewige Stadt“ seiner Vorgänger ist schon auf der ersten Seite der Romains als menschliches Konstrukt, oder – wie es im Vorwort heißt – als „ouvrage“56 und 51
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„Il y a peu de faits dans le monde qui ne dépendent de tant de circonstances qu’il faudrait l’éternité du monde pour qu’elles arrivassent une seconde fois“ (Montesquieu: Pensées, wie Anm. 5, Nr. 10, S. 2). Montesquieu: Projet de préface (wie Anm. 46), S. 315 [Hervorh. V.S.]. Montesquieu: Romains (wie Anm. 19), S. 69. Voltaire wirft ihm seinen seltsamen Stil („odd style“) vor, siehe seinen Brief an Nicolas Claude Thieriot (D 806/November 1734). In: The Complete Works of Voltaire. Hg. v. Theodore Besterman u.a. Bd. 87: Correspondence and related documents III: May 1734‒June 1736. Genf 1969, S. 80. Montesquieu: Romains (wie Anm. 19), S. 69. „Les ouvrages qui ont donné, et qui donnent encore aujourd’hui la plus haute idée de sa puissance, ont été faits sous les rois. On commençait déjà à bâtir la ville éternelle“ (ebd., S. 69).
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als „un travail de sept cens années“57 entlarvt. Größe und Niedergang Roms werden bei Montesquieu nicht durch die Vorsehung erklärt, auch nicht durch den Zufall, sondern durch die Geschichte selbst. Die Neuartigkeit dieses Ansatzes wird schon von den Kritikern des 18. Jahrhunderts wahrgenommen. D’Alembert fasst etwa das erstaunliche Ergebnis der Interpretation Montesquieus mit einem Ton der Verblüffung zusammen: „Les causes de la grandeur romaine se trouvent donc dans l’histoire“.58 Denn Montesquieu interessiert sich für die Gesellschaftsordnung, die den Bestand des römischen Reiches so lange, über viele Krisen hinweg, gesichert hat. Anstatt, wie Generationen von Historikern vor ihm, das Beispielhafte in Roms Geschichte zu analysieren und in den Prozessen der langen Geschichte politische Paradigmen oder moralische Tugenden zu suchen, studiert Montesquieu Roms soziales und politisches Gleichgewicht und fragt, wie sich dieses mit der Zeit modifiziert hat. Anders als Voltaire, der, deprimiert über den Verfall der römischen Zivilisation, in seinem Essai sur les moeurs wissen will, warum dieser „grand colosse“ zusammenbrach,59 hat Montesquieu keine Vorsorgestrategien im Sinn. Ihn beschäftigt vielmehr jenes „Wunder“, dass das römische Reich so lange Bestand hatte.60 Das ganze Spektrum der Geschichte Roms wird untersucht: Von seinen bescheidenen Anfängen entlang des Tibers über die Blütezeit, in der es die Welt beherrschte, bis hin zu seinem Verfall. Dabei postuliert Montesquieu eine Art innere Logik der Größe und des Niedergangs. In einem Absatz der Romains wird Rom sogar als „système total“ beschrieben.61 Dieser Ausdruck ist zugleich Indikator für eine bestimmte Lesart der Geschichte. Die römische Entität wird hier als großer Körper mit aufeinander abgestimmten Teilen aufgefasst. Von der eroberbaren Republik bis hin zum konservativen Imperium gibt es für Montesquieu eine inhärente Logik Roms, die Aufstieg und späteren Verfall erklärt. Die Syntax des Titels Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence verstärkt diesen Eindruck noch, da dieselbe Kausalität sowohl Größe als auch Niedergang wie zwei Facetten eines gleichen Phänomens erklärt. Bereits in den ersten Kapiteln der Romains wird das Ende des Imperiums angekündigt: Eine nicht aufzuhaltende Logik führt die kleinen, tugendhaften Bürger 57
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Montesquieu: Projet de préface (wie Anm. 46), S. 315. Montesquieu schreibt auch: „C’étoit par un travail immense que les Romains se conservoient“ (ders.: Romains, wie Anm. 19, S. 76). D’Alembert: Eloge (wie Anm. 32), S. XIII. Voltaire: Essai sur les mœurs et l’esprit des nations. Kap. XI: Causes de la chute de l’Empire romain. Paris 1990 [ND der Ausg. Paris 1756]. Montesquieu: Romains (wie Anm. 19), S. 89. „Lorsque le gouvernement a une forme depuis longtemps établie, et que les choses se sont mises dans une certaine situation, il est presque toujours de la prudence de les y laisser, parce que les raisons, souvent compliquées et inconnues, qui font qu’un pareil état a subsisté, font qu’il se maintiendra encore; mais, quand on change le système total, on ne peut remédier qu’aux inconvénients qui se présentent dans la théorie, et on en laisse d’autres que la pratique seule peut faire découvrir“ (ebd., S. 168).
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einer Republik zu Beutekriegen und von den zahlreichen militärischen Siegen hin zum Ruhm eines großen Reiches, das losgelöst von den ursprünglichen republikanischen Prinzipien von einer autokratischen Regierung verwaltet wird: Voici en un mot l’histoire des Romains. Ils vainquirent tous les peuples par leurs maximes: mais lorsqu’ils y furent parvenus, leur république ne pût subsister, il fallut changer de gouvernement: et des maximes contraires aux premières, employées dans ce gouvernement nouveau, firent tomber leur grandeur.62
Montesquieu beschreibt die progressive Dysfunktion Roms. Er ersetzt Voltaires Frage aus dem Essai sur les mœurs, wie einfache Barbaren eine hohe Zivilisation besiegen konnten, durch eine andere: Wie konnten die Römer das institutionelle Fundament, das lange Zeit ihre Stärke war, verlieren? Wie konnte dieses Wunder der Beständigkeit – er spricht von einem „prodige de constance“63 – aus dem Gleichgewicht geraten? Die Horden von „Goths, Ostrogoths et Visigoths“, die Voltaire zu seinem Bedauern über die römische Zivilisation herfallen sieht und die aus seiner Sicht die Ursachen für den Verfall darstellen, verschulden in den Romains nur die konstitutionelle Schwäche des Imperiums. Montesquieu sucht die Antwort in der Identität Roms, auch ist die Rede von dessen „Seele“, „Geist“ oder sogar „Nerv“. Er betont, dass Roms wahre Natur kriegerisch gewesen sei. Von dieser Stadt sei trotz der widrigen Umstände und der Unvollkommenheit ihrer imperialistischen Projekte eine unwahrscheinliche Kraft ausgegangen. So schreibt er gleich zu Beginn des Essays: „Rome étoit faite pour s’agrandir, et ses lois étoient faite pour cela“.64 In Bezug auf die politische Moral der Römer bleibt er indes zurückhaltend. Nicht Rom, sondern Sparta ist für ihn die Stadt, die wahrhaft der republikanischen Tugend verpflichtet sei.65 Anders als Sparta wurde Rom nicht vom Wunsch nach politischer Stabilität angetrieben, der Zusammenhalt ergab sich dort vielmehr durch das Ziel, Krieg zu führen. Im zweiten Kapitel des Essays beschreibt Montesquieu den Krieg als „Kunst“ und bedient sich dafür eines Zitats des römischen Historikers Flavius Josephus: „La guerre était pour eux une méditation; la paix, un exercice“.66 In Montesquieus Analyse kommt der Verfall Roms zunächst schleichend und bleibt lange unbemerkt. Auf Dauer aber verändern die militärischen Siege das politische Gleichgewicht Roms. Die republikanischen Institutionen, die an einen kleinen Staat angepasst waren, werden im Kontext eines immer größer werdenden Territoriums und neuer Machtstrukturen nicht mehr respektiert. „Auguste établit l’ordre, c’est-à-dire la servitude plus durable: car dans un état libre où l’on vient 62 63 64 65
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Ebd., S. 173. Ebd., S. 89. Ebd., S. 120. „Une république sage ne doit rien hasarder qui l’expose à la bonne ou la mauvaise fortune: le seul bien auquel elle doit aspirer, c’est la perpétuité de son état“ (Montesquieu: De l’Esprit des Lois, wie Anm. 6, S. 350). Montesquieu: Romains (wie Anm. 19), S. 80.
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d’usurper la souveraineté, on appelle règle tout ce qui peut fonder l’autorité sans bornes d’un seul“.67 Die neue imperiale Ordnung ist Sklaverei, eine Ordnung, die den republikanischen Geist und die Souveränität des Volkes unterdrückt. Das erste Anliegen der republikanischen Elite bestand in der Erweiterung des Territoriums. Unter der Herrschaft des Kaisers musste das Erreichte dann nur noch erhalten werden. Diese konservative Haltung macht sich bei den großen militärischen Anführern bemerkbar: „Ceux qui eurent quelque commandement craignirent d’entreprendre de trop grandes choses“.68 Nun geht es ausschließlich darum, die pax romana zu verwalten. Nach dem Tod von Augustus ist Tiberius alleiniger Herrscher und spricht dem Volk jedes politische Recht ab. Diese Unterdrückung des römischen Freiheitsdrangs schadet Rom. Im Gegensatz zu Voltaire, der ein Loblied auf das Imperium als eines der wenigen „âges heureux [...] exemple de la postérité“ singt,69 sieht Montesquieu in dieser Regierung das offenkundige Zeichen für den Verfall Roms. In den Romains stellen der Prinzipat und das Reich die ersten Etappen des Niedergangs dar, denn die imperiale Ordnung hat sich von den Werten und Tugenden, die zur Größe Roms geführt haben, losgelöst. Hinzu kommt, dass Montesquieu zufolge jedes despotische Projekt früher oder später zum Scheitern verurteilt ist.70
IV. Selbstreflexion Ein anderer Aspekt von Montesquieus Herangehensweise als Historiker wurde schon im ersten Satz des Essays über die Römer deutlich: das Bewusstsein nämlich, als Historiker selbst Teil der Geschichte zu sein. Er ist sich im Klaren darüber, dass seine Interpretation moderne Fragestellungen und Standpunkte betrifft. Sein erster Satz an den modernen Leser, den er auffordert, die eigenen Erwartungen in Bezug auf Rom zu überprüfen, ist in dieser Hinsicht einmal mehr bezeichnend. In den Romains findet man noch weitere Passagen, in denen diese Selbstanalyse deutlich wird; noch stärker tritt sie jedoch in den Pensées hervor. Darin behandelt er die Geschichte wie ein dichtes Gewebe von Fakten. Er bezieht sich auf die unterschiedliche Art und Weise, wie Historiker ihre Quellen verwenden, um Geschichte zu schreiben.71 Die Pensées enthalten auch eine der seltenen autobiographischen Passagen seines Werkes, das ansonsten nicht viel über den Autor verrät. 67 68 69 70
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Ebd., S. 138. Ebd., S. 141. Voltaire: Le Siècle de Louis XIV [1753]. In: Ders.: Œuvres historiques (wie Anm. 29), S. 603‒1571, hier S. 616. Er schreibt dazu: „C’est une erreur de croire qu’il y ait dans le monde une autorité humaine à tous les égards despotique; il n’y en a jamais eu, et il n’y en aura jamais; le pouvoir le plus immense est toujours borné par quelque coin“ (Montesquieu: Romains, wie Anm. 19, S. 202). „Je ne suis pas attentif à lʼhistoire, mais à la manière de la faire“ (Montesquieu: Pensées, wie Anm. 5, Nr. 213, S. 86).
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Es handelt sich um eine Textstelle aus einem Vorwortentwurf für einen Essay über das Leben des Königs Ludwig XIV. aus dem Jahr 1730, in dem Montesquieu seine Arbeit als die eines Historikers beschreibt: Je suis né dans des circonstances les plus propres du Monde pour écrire l’histoire. Je n’ai aucune vue de fortune: j’ai un tel bien, et ma naissance est telle, que je n’ai ni à rougir de l’une, ni à envier ou admirer l’autre. Je n’ai point été employé dans les affaires, & je n’ai à parler ni pour ma vanité, ni pour ma justification. J’ai vécu dans le monde, & j’ai eu des liaisons, & même d’amitié, avec des gens qui avaient vécu à la cour du prince dont je décris la vie. J’ai su quantité d'anecdotes dans le monde où j’ai vécu une partie de ma vie. Je ne suis ni trop éloigné du temps où ce monarque a vécu pour ignorer bien des circonstances, ni trop près pour en être ébloui. Je suis dans un temps où l’on est beaucoup revenu de l’admiration du héroïsme. J’ai voyagé dans les pays étrangers, où j’ai recueilli de bons mémoires. Enfin, le temps a fait sortir des cabinets tous les divers mémoires que ceux de notre nation, où l’on aime à parler de soi, ont écrit en foule; &, de ces différents mémoires, on tire la vérité, lorsqu’on n’en suit aucun, & qu’on les suit tous ensemble; lorsqu’on les compare avec des monumens plus authentiques, tels que sont les lettres des ministres, des généraux, les instructions des ambassadeurs & les monumens qui sont comme les pierres principales de l’édifice entre lesquelles tout le reste s’enchâsse. Enfin, j’ai été d’une profession où j’ai acquis des connaissances du droit de mon pays, & surtout du droit public ... Dans un siècle où l’on donne tout à l’amusement & rien à l’instruction, il y a eu des écrivains qui ont cherché à rendre leurs histoires uniquement agréables. Pour cela, ils ont choisi un seul point d’histoire à traiter, comme quelque révolution, & ils ont écrit l’histoire comme on écrit une tragédie, avec une unité d’action qui plaît au lecteur […].72
Diese Beschreibung listet die Facetten einer Persönlichkeit auf, der ein Historiker entsprechen muss. Beim Versuch, das Leben Ludwig XIV. aufzuarbeiten, markiert Montesquieu zunächst einige Schlüsselelemente seiner eigenen Biographie. An erster Stelle betont er seine Unabhängigkeit, sowohl die materielle – auf seinem Landgut fußend – als auch die geistige, die ihm der adlige Stand mitgegeben habe. Er spricht von sich selbst als einem Beobachter, der aus der zeitlichen Distanz zu seinem Forschungsgegenstand heraus um Unbefangenheit bemüht ist. Darüber hinaus schildert Montesquieu eine Methode, die ihn antreibt, verschiedenartige Quellen zu betrachten. Er zitiert aus zeitgenössischen Erzählungen, Briefwechseln und offiziellen Dokumenten. Er befasst sich aber auch mit den „monumens“, d.h. mit den Denkmälern, in denen er Spuren einer Gedächtnispolitik der absolutistischen Monarchie ausmacht. Da diese Quellen verschiedenen Registern angehören, sind sie im Stande, mehrere Facetten des Charakters Ludwig XIV. zu beleuchten. So zeichnet sich der Historiker in diesem Auszug dadurch aus, dass er verschiedene Spuren verfolgt, sie einander gegenüberstellt und die jeweiligen Erkenntnisse vergleicht. Der Textauszug endet schließlich mit einem Absatz über das konkrete Schreiben von Geschichte. Der Autor schlägt kein besonderes Modell für die Geschichtsschreibung vor, sondern setzt die historische Erzählung der Theaterpoetik entgegen. Deren Ziel sei der Genuss des Lesers, deshalb ordne sie die Komplexität 72
Ebd., Nr. 1183, S. 312 [Hervorh. V.S.]. Zu Montesquieus Biographie siehe Robert Shackleton: Montesquieu, a critical biography. Oxford 1961 und Louis Desgraves: Montesquieu, lʼœuvre et la vie. Mayenne 1994.
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der Vergangenheit und die Vielfalt der Dokumente einem Hauptereignis oder einer Haupthandlung unter. Die Geschichtsschreibung soll dagegen keiner „unité d’action“ unterstellt werden – ein Begriff aus der klassischen dramatischen Poetik des 17. Jahrhunderts –, da sie eine Vielzahl an komplexen Ursachen habe, die der Historiker entflechten müsse. Dabei gehe es nicht darum, die Zustimmung des Lesers zu erlangen und für sein Vergnügen zu sorgen. In diesem autobiographischen Text, in dem Montesquieu als Historiker auftritt, werden zusammenfassend einige wichtige Kriterien seiner Herangehensweise deutlich: seine politische Unabhängigkeit, seine induktive Methode auf der Grundlage verschiedenartiger Quellen und schließlich seine Ernsthaftigkeit. Der Historiker soll sich der Komplexität und der Vielfalt der Quellen stellen und verschiedenen Spuren folgen. Zur Zeit der Nationalversammlung im Jahr 1789 wurde Montesquieu vom revolutionären Mirabeau vorgeworfen, er habe sich lieber mit dem „was ist“ beschäftigt anstatt mit dem, was hätte sein sollen: Er sei ein Autor „qui a pensé ce qui est, plutôt que ce qui doit être“.73 Zur gleichen Zeit distanzierte sich auch Condorcet von Montesquieus intellektuellem Erbe und warf mit Blick auf den Esprit des Lois die Frage auf, ob es sich bei der politischen Genügsamkeit nicht um eine Art Unsicherheit handle: „Par esprit de modération, Montesquieu n’entendrait-il pas cet esprit d’incertitude qui altère par cent mille motifs particuliers les principes invariables de la justice?“74 Ein Gesetz müsse für jeden einzelnen und an jedem Ort gut sein, dann könne man von einem guten Gesetz sprechen. Der Gesetzgeber müsse sich nur an der „Wahrheit“ orientieren.75 Als Erbe des aufklärerischen Rationalismus ist Condorcet vom Fortschritt des menschlichen Geistes überzeugt. Er fragt sich, weshalb sich Montesquieu in seinem opus magnum mit der Vielfalt der verschiedenen Gesetze auseinandergesetzt, warum er den „Geist der Gesetze“ gesucht hat und nicht die „wahren Gesetze“. Dieser Geist der Unsicherheit, den er bei Montesquieu feststellt, hängt mit dessen Herangehensweise als Historiker zusammen. Aber ein solches Interesse ist nicht mit Condorcets „véritable esprit de justice“ kompatibel.76 Für die Akteure der Französischen Revolution ist Montesquieu nicht eindeutig genug und daher irreführend. Denn seine politische Philosophie sucht nicht so sehr nach dem, was „sein sollte“, sondern nach dem, was „ist“. Sie befasst sich, so wendet Condorcet gegen ihn ein, weniger mit den universalen 73
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Den Vorwurf liest man bei Jean-Joseph Mounier: Considérations sur le gouvernement, et principalement sur celui qui convient à la France. Paris 1789. Zit. nach Manin: Art. Montesquieu (wie Anm. 3), S. 786. Jean Antoine Nicolas de Caritat Marquis de Condorcet: Observations de Condorcet sur le vingt-neuvième livre de L’esprit des lois. In: Ders.: Œuvres. Hg. v. Arthur Condorcet O’Connor u. François Arago. Bd. 1. Paris 1847, S. 437‒471, hier S. 464. Ebd., S. 363. „Dans De l’esprit des lois, Montesquieu n’a jamais parlé de la justice ou de l’injustice des lois qu’il cite mais seulement des motifs qu’il attribue à ces lois […] une bonne loi doit être bonne pour tous, comme une proposition vraie est vraie pour tous“ (ebd.).
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Prinzipien des Rechts als mit seinen einzelnen Ursachen („motifs particuliers“). Montesquieus Modernität und die Relevanz seiner Herangehensweise als Historiker liegen indes genau in diesem Geist der Unsicherheit, der beim Studium der Vergangenheit Anwendung findet.
MORITZ BAUMSTARK
Vom „Esprit des Lois“ zum „Geist der Zeiten“. Herders Auseinandersetzung mit Montesquieu als Grundlegung seiner Geschichtsphilosophie1 Johann Gottfried Herder nimmt eine zentrale Stellung innerhalb der Herausbildung des modernen Geschichtsdenkens sowie der Vorgeschichte des Historismus, der Romantik und des um 1800 entstehenden modernen deutschen Nationalbewusstseins ein.2 Die von ihm maßgeblich mitgeprägten Begriffe „Geist“, „Kulturen“, „Sitten“, „Volk“ und „Nation“ sind in unterschiedlicher Form in die Geschichtsphilosophie der deutschen Aufklärung, die Philosophie Hegels und den Historismus Rankescher Prägung eingegangen. Die Interpretation Herders als „Vater des Historismus“ zieht sich durch eine Reihe mittlerweile klassischer Studien von Wilhelm Dilthey, Rudolf Stadelmann, Friedrich Meinecke, R. G. Collingwood und Georg Iggers bis zur neuesten Gesamtdarstellung von Frederick Beiser.3 Auch wenn die Herder-Interpretationen der genannten Autoren keineswegs unwidersprochen blieben, ist die zentrale Rolle Herders in der Geschichte der Geschichtsschreibung inzwischen von der Forschung weitgehend anerkannt. Anders sieht es im Falle Montesquieus aus, den Meinecke noch als einen derjenigen französischen und britischen Autoren untersucht hat, denen er eine besondere Vordenkerrolle im Hinblick auf den Historismus zuweist.4 Auch wenn Montesquieu in den nach Meinecke entstandenen Entstehungsgeschichten des Historismus weitgehend ausgeklammert wurde, wird seine Rolle für die gesamteuropäische Entwicklung des
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Für hilfreiche Hinweise danken möchte ich Daniel Fulda, Frederick Beiser, Aleksandra Ambrozy und Stefan Kühnen. Bei der Vorstellung früherer Fassungen dieses Beitrags erhielt ich Feedback von den Teilnehmern der Tagung „Die Vielfalt der Sattelzeit“ und des Kolloquiums von Jörg Dierken. Zudem habe ich profitiert von anregenden Diskussionen über Herder mit Rainer Godel und Sebastian Böhmer sowie von dem intensiven Austausch mit Robert Forkel, Stefan Kühnen, Marc Weiland und Jens Nagel innerhalb der von mir koordinierten Nachwuchsforschergruppe „Historisierung und Subjektivität“ im Rahmen des an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg angesiedelten Landesforschungsschwerpunkts „Aufklärung – Religion – Wissen“. Herders Werke werden im Folgenden zitiert aus der im Deutschen Klassiker Verlag erschienenen Frankfurter Herder-Ausgabe: Johann Gottfried Herder: Werke. 10 Bde. Hg. v. Günter Arnold. Frankfurt a.M. 1985‒2000. Die bibliographischen Angaben der Einzelbände werden bei der Erstnennung angegeben und danach abgekürzt. Die Bezeichnung „Vater des Historismus“ wird von Meinecke und Stadelmann gebracht. Zu dieser Interpretationstradition siehe Frederick C. Beiser: The German Historicist Tradition. Oxford 2011, S. 98‒99. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus [1936]. In: Ders.: Werke. Bd. 3. Hg. u. eingel. v. Carl Hinrichs. München 1959, S. 116‒179 (zu Montesquieu) u. S. 355‒444 (zu Herder).
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geschichtlichen Denkens neuerdings wieder verstärkt betont.5 Inzwischen werden beide Autoren nach einiger Zeit der Vernachlässigung als zentrale Figuren innerhalb der Geschichte des historischen und politischen Denkens angesehen und entsprechend intensiv erforscht. Kaum erforscht ist allerdings die Frage nach den Bezügen und Beziehungslinien zwischen Montesquieu und Herder. Betrachten wir auf der einen Seite die Rezeptionsgeschichte Montesquieus, so erscheint Herder als einer derjenigen Leser im deutschsprachigen Raum, der sich am intensivsten mit den Thesen des Esprit des Lois auseinandergesetzt hat. Seine Auseinandersetzung mit diesem Werk ist entsprechend von den Kommentatoren als die wohl bedeutendste deutsche Montesquieu-Rezeption des 18. Jahrhunderts gewürdigt worden.6 Wenn nun auf der anderen Seite nach den wichtigsten Einflüssen auf Herders Denken gefragt wird, so erscheint seine Auseinandersetzung mit dem Esprit des Lois als ein besonders wichtiger und weitreichender Aspekt seiner intellektuellen Biographie und der Genese seiner Geschichtsphilosophie. So findet sich etwa die allgemeine Behauptung, Montesquieu sei „von größter Wirkung auf Herders politisch-historisches Denken“.7 Während allerdings zu Herders Geschichtsphilosophie inzwischen eine Fülle von zum Teil hervorragenden Studien vorliegt und sein Verhältnis zur Aufklärung im Ganzen bereits recht gut erforscht ist,8 existiert bislang nur eine kürzere 5 6
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So etwa bei Daniel Woolf: A Global History of History. Cambridge 2011, S. 298 und Zachary Schiffman: The Birth of the Past. Baltimore 2011, S. 234‒244. „Wohl kein anderer unter den großen deutschen Schriftstellern des späteren 18. Jahrhunderts ist – keineswegs allein in seinen politischen Vorstellungen – so nachhaltig von Montesquieu beeindruckt worden wie Herder“ (Rudolf Vierhaus: Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert. In: Ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1987, S. 9‒32, hier S. 30, vgl. auch S. 262‒267). Vgl. Catherine Larrère: Art. Montesquieu. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 2: Frankreich. Hg. v. Johannes Rohbeck u. Helmut Holzhey. Basel 2008, S. 144‒167, hier S. 161, vgl. auch S. 205‒209. So der kenntnisreiche Kommentar des Herausgebers in Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Ders.: Werke (wie Anm. 2). Bd. 9/2: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften. Hg. v. Rainer Wisbert unter Mitarb. v. Klaus Pradel. Frankfurt 1997, S. 6‒126. Siehe den Kommentar des Herausgebers, ebd., S. 1450 und dessen konzise Zusammenfassung von Montesquieus Wirken auf Herder, ebd., S. 1062‒1063. Vgl. Wolfgang Pross: Nachwort. In: Johann Gottfried Herder: Werke. 3 Bde. Hg. v. Wolfgang Pross. Bd. III/1: Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. München 2002, S. 837‒1041, hier S. 849‒856. Michael Maurer: Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder in ihrem Verhältnis zur Aufklärung. In: Johann Gottfried Herder 1744‒1803. Hg. v. Gerhard Sauder. Hamburg 1987 (Studien zum 18. Jahrhundert 9), S. 141‒155 und Jürgen Brummack: Herders Polemik gegen die „Aufklärung“. In: Jochen Schmidt (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik. Von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, S. 277‒293. Vgl. als knappe Überblicksdarstellung zu Herders Geschichtsphilosophie John Zammito: Herder and Historical Metanarrative. What’s Philosophical about History? In: Hans Adler u. Wulf Koepke (Hg.): A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder. Rochester u. New York 2009, S. 65‒91.
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Moritz Baumstark
Detailstudie zu seiner Montesquieu-Lektüre.9 Ausgehend von dieser Forschungslücke will der vorliegende Beitrag Herders Aufnahme des Esprit des Lois detaillierter vorstellen und die weitreichende Bedeutung seiner Auseinandersetzung mit dem Werk für die Grundlegung seiner Geschichtsphilosophie aufzeigen. Die Vorbedingungen für ein solches Unterfangen sind günstig, da eine ungewöhnliche Fülle von Zeugnissen und direkten Aussagen es ermöglicht, Herders kritische Auseinandersetzung mit dem Werk und dessen nachweisbar entscheidenden Einfluss auf sein Geschichtsdenken zu rekonstruieren. Entsprechend wird im folgenden Abschnitt die Rezeption Montesquieus in Deutschland in ihren Grundstrukturen vorgestellt. Diese dient als Kontext für Herders Lektüre des Esprit des Lois, die im zweiten Abschnitt detaillierter als bislang rekonstruiert wird. Anschließend wird Herders Kritik an Montesquieus Methode und seiner Verfassungslehre im dritten und vierten Abschnitt in ihren argumentativen Schritten nachvollzogen. Daraufhin wird Herders eigene, in Auseinandersetzung mit Montesquieu entwickelte Betonung von Individualität und Zeitlichkeit im fünften Abschnitt untersucht. Schließlich werden im abschließenden sechsten Abschnitt einige Implikationen von Herders Auseinandersetzung mit Montesquieu für die nachfolgende Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung aufgezeigt. Durch eine solche eingehende Untersuchung will der vorliegende Beitrag die Grundlage für eine Neubewertung der Bedeutung von Montesquieus Werk für Herders Geschichtsphilosophie legen.
I.
„[E]in bloßer politischer Roman“ – die deutsche Rezeption des Esprit des Lois
Der Name Montesquieu war Lesern in Frankreich seit dem Erscheinen seiner Lettres Persanes (1721) und Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734) ein Begriff. Der Erfolg beider Schriften bereitete den Boden für die außerordentliche Wirkung des Werks, das 1748 anonym unter dem Titel De lʼEsprit des Loix – so die ursprüngliche Schreibweise des Obertitels – in Genf erschien und sich rasch zum Beststeller entwickelte.10 In Frankreich wurde das Werk bald nach seinem Erscheinen zum Gegenstand einer intensiv geführten Kontroverse.11 Von D’Alembert noch als eines der wichtigsten Werke des Jahrhunderts gefeiert,12 provozierte es von Anfang an und in den fol9 10 11 12
Jean Mondot: Un lecteur allemand de Montesquieu, J. G. Herder. In: Daniel Minary (Hg.): Émancipation, réforme, révolution. Hommage à Marita Gilli. Paris 2000, S. 127‒139. Wie die früheren Werke Montesquieus erschien auch der Esprit des Lois zunächst anonym, allerdings war der Autor in der Gelehrten- und Leserwelt umgehend bekannt. Zur sogenannten „querelle de l’Esprit des Lois“ siehe Jonathan Israel: Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670‒1752. Oxford 2006. Siehe seine Éloge de M. le président de Montesquieu, par M. d’Alembert, die zusammen mit dessen Analyse de L’Esprit des Lois den Auftakt zum fünften Band der Encyclopédie von
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genden Jahrzehnten verstärkt kritische Stimmen, zu denen nicht zuletzt Voltaire, Rousseau und Condorcet gehörten.13 Der Erfolg des Werks hielt jedoch ungebrochen an und wurde bald ein europäischer: Es folgten englische, deutsche, dänische, polnische und russische Übersetzungen.14 In Schottland wurde Montesquieu von David Hume, Adam Smith und Adam Ferguson kritisch gelesen und stellte den wichtigsten Einfluss auf die schottischen Geschichts- und Gesellschaftstheorien dar.15 Auch im deutschsprachigen Raum erfreute sich der Esprit des Lois einer nachweislich breiten und lang anhaltenden Rezeption.16 Montesquieus Werke – neben dem Esprit des Lois und den bereits erwähnten Lettres Persanes und Considérations sur les […] Romains sind hier der Temple de Gnide (1724) und der als Beitrag zur Encyclopédie verfasste und postum veröffentlichte Essai sur le goût (1757) zu nennen – wurden in Deutschland bald nach ihrem Erscheinen und verstärkt ab der Jahrhundertmitte gelesen. An erster Stelle aber stand der seit seinem Erscheinen 1748 in Genf als Montesquieus magnum opus betrachtete De l’Esprit des Loix, der in Deutschland alsbald – und seit der Französischen Revolution vollends – die anderen Werke verdrängte, sodass man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur noch von „dem Montesquieu“ sprechen musste, um dieses Werk zu bezeichnen. Nicht nur der Bekanntheit, auch dem Rang nach wurden der Esprit des Lois bald als „unsterbliches Werk“ und sein Autor als der „unsterbliche Montesquieu“ gefeiert, und zwar sowohl von der Gelehrtenwelt als auch von einem breiteren Lesepublikum.17 Es wurde 1753 von dem Göttinger Professor Abraham Gotthelf Kästner ins Deutsche übertragen und erfuhr in den Jahren 1782 und
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1755 bildet. Beide sind abgedruckt in Montesquieu: De l’Esprit des Lois. Hg. v. Victor Goldschmidt. Paris 1979, S. 65‒106. Larrère: Art. Montesquieu (wie Anm. 6), S. 159‒160. Zur Kritik Condorcets, der Montesquieus Denken durch einen „esprit d’incertitude“ charakterisiert sieht, vgl. den Beitrag von Vanessa de Senarclens in diesem Band. Das Werk erlebte in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zahlreiche Neuauflagen und illegale Nachdrucke und hatte mit 31 Ausgaben besonderen Erfolg in Großbritannien. Siehe Larrère: Art. Montesquieu (wie Anm. 6), S. 160. Vgl. Fania Oz-Salzberger: The political theory of the Scottish Enlightenment. In: Alexander Broadie (Hg.): The Cambridge Companion to the Scottish Enlightenment. Cambridge 2003, S. 157‒177, hier S. 170‒172. Aus der Literatur zur deutschen Montesquieu-Rezeption sticht vor allem Vierhaus: Montesquieu in Deutschland (wie Anm. 6), S. 9‒32 heraus. Siehe auch Horst Möller: Montesquieu im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte. In: Sven Externbrink u. Jörg Ulbert (Hg.): Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Frankreich und das Alte Reich im europäischen Staatensystem. Festschrift für Klaus Malettke zum 65. Geburtstag. Berlin 2001, S. 69‒76. Eine breit angelegte, allerdings weitgehend oberflächliche Übersicht bietet Frank Herdmann: Montesquieurezeption in Deutschland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Hildesheim 1990. Zitiert in Vierhaus: Montesquieu in Deutschland (wie Anm. 6), S. 13‒14. Von der Verbreitung des Werks zeugen zahlreiche Ausgaben, sieben zwischen 1750 und 1800; vgl. Larrère: Art. Montesquieu (wie Anm. 6), S. 160.
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1785–1787 zwei weitere Übersetzungen.18 Kästner setzt sich in seinem Vorwort mit der Schwierigkeit auseinander, den Titel- und Zentralbegriff „esprit“ ins Deutsche zu übertragen und entscheidet sich dafür, dies nicht mit „Geist“ oder einem anderen durchgehend verwendeten Begriff zu tun.19 Seine und die nachfolgende Übersetzung trugen sicherlich erheblich zur Verbreitung des Werks bei, doch hätte es ihrer nicht notwendigerweise bedurft, denn das gebildete Lesepublikum war des Französischen mächtig und das Werk war in einer Reihe von französischen Ausgaben verfügbar. Soviel sei zur Verbreitung – man sollte eher sagen Ubiquität – des Esprit des Lois in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gesagt. Diese weite Verbreitung darf natürlich im Falle eines solch umfangreichen und anspruchsvollen Werks nicht missverstanden werden als Zeichen, dass jeder es in seiner Gesamtheit gelesen hätte. Das Werk war in der öffentlichen Debatte nicht zuletzt in Form einer Reihe damit assoziierter Schlagwörter präsent.20 Der Erfolg des Esprit des Lois in Deutschland muss näher erklärt werden, zumal bereits damals erkannt wurde, dass das Werk ungeachtet seiner thematischen Breite, die Antike und Moderne, Europäisches und Außereuropäisches gleichermaßen miteinschloss, letztlich in klarem Bezug zur politischen Situation in Frankreich stand. Gerade an diesem offensichtlichen Bezug, etwa in den Aussagen zum Verhältnis von Monarchie und parlements, entzündete sich eine Debatte darüber, ob die allgemein formulierten Grundsätze der Verfassungstypologie Montesquieus auch für das Heilige Römische Reich deutscher Nation Gültigkeit beanspruchen durften. Das Werk bot in dieser Hinsicht eine Reihe von konkreten Ansatzpunkten 18
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Des Herrn von Montesquiou [sic] Werk von den Gesetzen, oder von der Verhältniß, welche die Gesetze zu jeder Regimentsverfassung, den Sitten, dem Landstriche, der Religion, der Handlung u.s.f. haben sollen […] Aus dem Französischen übers. [von Abraham Gotthelf Kästner]. 3 Bde. Frankfurt u. Leipzig 1753. Vgl. dazu Heinz Mohnhaupt: Deutsche Übersetzungen von Montesquieus „De l’esprit des lois“. In: Paul-Ludwig Weinacht (Hg.): Montesquieu – 250 Jahre „Geist der Gesetze“. Beiträge aus politischer Wissenschaft, Jurisprudenz und Romanistik. Baden-Baden 1999, S. 135‒151, hier S. 142‒147. Kästner hat den Esprit-Begriff auch im Titel vermieden und rechtfertigt sich folgendermaßen: „So war denn kein deutsches Wort vorhanden, das französische Esprit auszudrücken? Nein, wenn sich die Franzosen die Freyheit nehmen, dem Worte Esprit die willkührliche Bedeutung eines sehr zusammengesetzten Begriffs beyzulegen, die man ohne beygefügte Erklärung nicht errathen kann […]. Ich für meine Person hätte Herz genug gehabt, den Geist der Gesetze in eben der Bedeutung zu gebrauchen, wenn ich nicht hätte befürchten müssen, einer großen Menge deutscher Leser dadurch unverständlich zu werden“ (Kästner: Vorrede zu der Übersetzung. In: Werk von den Gesetzen, wie Anm. 18, o.S.). „Man findet Montesquieu unmittelbar nach seinem Erscheinen und fortan dauernd, ich möchte sagen: überall und nirgends. […] Die allzu weite Wirkung entkleidet sich des Persönlichen. Montesquieus Werk baut sich auf dem ganzen Kultur- und Ideengehalt seines Zeitalters auf. Er umfaßt ihn ganz, verarbeitet ihn, prägt ihn zu seinem Eigentum um […] da ist nach einiger Zeit, in einiger Entfernung nicht immer mehr mit Bestimmtheit zu sagen, ob man die Wirkung eines Stückes Montesquieu oder nur eines Stückes des von ihm ererbten und weitergegebenen Stoffes vor Augen habe. Montesquieus Wirkung zeigen, heißt die Entwicklungsgeschichte der Kultur nach ihm schreiben“ (Victor Klemperer: Montesquieu. 2 Bde. Bd. 1. Heidelberg 1914, S. XII).
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für die im deutschen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geführten Debatten: Im Zuge des entstehenden Reichspatriotismus wurde etwa diskutiert, ob das Reich ungeachtet seiner monarchischen Verfassungselemente nicht Anspruch auf das von Montesquieu im Anschluss an Machiavelli für Republiken reservierte Grundprinzip der „Tugend“ habe. Montesquieus Ideal der eingeschränkten Monarchie wurde zudem mit der Stellung des Kaisers innerhalb des Reichsgefüges in Verbindung gebracht. Mit Verweis auf die unsichere Stellung der Landstände innerhalb der Territorien des Reiches wurde auf die Rolle der Zwischengewalten bei Montesquieu verwiesen.21 Das heute mit Montesquieu assoziierte Prinzip der Gewaltenteilung – das im Esprit des Lois selbst allerdings nicht strikt eingefordert wurde und für Montesquieu eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielte – wurde im deutschen Kontext ebenfalls kontrovers diskutiert. So wurde die Trennung zwischen exekutiver und legislativer Gewalt vor dem Hintergrund der Debatten über die verfassungsmäßige Rolle des Herrschers im entstehenden Reformabsolutismus von Christian Wilhelm von Dohm hochgehalten und von Johann Heinrich Gottlob von Justi verworfen. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie der Esprit des Lois in den politischen und juristischen Debatten der zweiten Jahrhunderthälfte zugleich als Bezugs- und Reibungspunkt fungierte.22 Zusammenfassend kann man sagen, dass Montesquieus als gemäßigt verstandene Verfassungslehre eine insgesamt wohlwollende, wenn auch in Teilen kritische und sich mit den Jahrzehnten abkühlende Rezeption in Deutschland erfuhr. Dem Werk kam so eine zentrale und vielschichtige Rolle als Anreger, Katalysator und Stichwortgeber für das sich in der zweiten Jahrhunderthälfte und verstärkt um 1800 ausprägende politische Denken in Deutschland zu. Auch der prominente Stellenwert des Klimas innerhalb des Werks und Montesquieus scheinbarer klimatischer Determinismus spielten eine Rolle in der deutschen Rezeption.23 Konstitutiv und charakteristisch für den Esprit des Lois ist bekanntermaßen das breit aufgefächerte Bündel von Faktoren, auf die Gesetze und Verfassungen laut Montesquieu bezogen sind und auch bezogen sein sollten. Diese bestehen aus den im Titel genannten Faktoren Regierung, Sitten, Klima, Handel und Religion, die in den einzelnen Büchern des umfangreichen Werks detailliert behandelt werden. Zusammengenommen bilden diese Faktoren den „esprit“ bzw. „esprit général“ einer politischen Gesellschaft (Montesquieu spricht in diesem Kontext sowohl von „peuple“ als auch von „nation“). Aus diesem allgemeinen „esprit“ eines Volkes 21 22 23
Vierhaus: Montesquieu in Deutschland (wie Anm. 6), S. 19‒22; Möller: Montesquieu im Deutschland des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 16), S. 69‒76. Vierhaus: Montesquieu in Deutschland (wie Anm. 6), S. 22‒26. Ebd., S. 17f. Auf diesen Aspekt soll hier nicht gesondert eingegangen werden, da er in Herders hier behandelter früher Auseinandersetzung mit Montesquieu nicht vorkommt. Siehe allerdings Herder: Werke (wie Anm. 2). Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1989, hier S. 265.
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oder einer Nation kann wiederum der titelgebende „esprit des lois“ abgeleitet werden, der den Maßstab bildet, nach dem die Entstehung der Gesetze verstanden und deren Reform vollzogen werden soll. Der Schlüsselbegriff „esprit“ steht – vereinfacht gesprochen – dafür, dass die Vielzahl der Einzelphänomene induktiv zu einem Zentralkonzept zusammengeführt wird. Vom „esprit“ einer Gesellschaft aus können deren einzelne Charakteristika dann auch deduktiv abgeleitet werden. Mit der Verbindung von induktiven und deduktiven Herangehensweisen eröffnet sich ein scheinbar unauflösliches, von Montesquieu jedenfalls nicht explizit aufgelöstes Spannungsverhältnis zwischen konkretem Phänomen und allgemeinem Begriff, das die gesamte Konzeption des Werks durchzieht. Die konzeptuellen Spannungen in Montesquieus Argumentation beschäftigte bereits die ersten Leser des Esprit des Lois und führte zu Bewunderung und Kritik, oftmals auf Seiten ein und desselben Kommentators. Ein häufiger Ansatzpunkt solcher Kritik lag in der scheinbaren Diskrepanz zwischen Montesquieus Gesamtkonzeption und dem von ihm angeführten Faktengerüst. Letzteres wurde zwar in seiner Menge und Vielfalt bewundert, zugleich aber als unzureichender Beleg für die vom Autor angeführten Großthesen angesehen. Schnell war der Vorwurf der Oberflächlichkeit zu Hand. „Montesquieu gleicht der schönsten Blume, die ich kenne; wenn man sie aber durchs Vergrößerungsglas betrachtet, so verliert sie ihre Schönheit. Er leidet keine Anatomie.“ So urteilt der Jurist und Historiker Justus Möser und der Staatswissenschaftler und Publizist Carl Friedrich Moser pflichtet ihm bei: „Das schönste Werk unserer Tage bleibt mir in der wirklichen Anwendung der Sätze nur allzu oft ein bloßer politischer Roman.“24 Diese Urteile bilden einen Teil des Hintergrundes, vor dem Herders Lektüre von und Auseinandersetzung mit dem Esprit des Lois im Folgenden eingehender zu betrachten ist.
II.
Herders Lektüren des Esprit des Lois
Herder kannte die Lettres persanes, Considérations sur les […] Romains und den Esprit des Lois, wobei letzteres Werk für ihn eindeutig die wichtigste Rolle einnahm.25 Er war sogar mit Montesquieus kleineren literarischen Werken vertraut
24 25
Beide Zitate in Vierhaus: Montesquieu in Deutschland (wie Anm. 6), S. 16. Herders eigenhändige Lektürenotizen sind in dem in der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz (=SBB, PK) aufbewahrten Teil seines Nachlasses erhalten: Herder Nachlass (=HN) XXIX 2, 59r („Lettres Persanes angefangen zu lesen den 16. März“, 1767). Die Exzerpte beziehen sich auf eine deutsche Übersetzung der Lettres Persanes. Diese und die im Folgenden genannten Lektürenotizen sind bislang unpubliziert. Siehe dazu Hans Dietrich Irmscher u. Emil Adler: Der handschriftliche Nachlass Johann Gottfried Herders. Wiesbaden 1979. Die Considérations sur les […] Romains werden erwähnt in Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), hier S. 84; vgl. ders.: Ideen zur Philosophie (wie Anm. 23), S. 584, Anm. 56.
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und betrachtete und bewertete deren Autor nicht zuletzt als Schriftsteller.26 Zunächst ist zu erwähnen, dass Herder diese Schriften vornehmlich nicht im Original, sondern in deutschen Übersetzungen las. In seinem Reisejournal von 1769 äußert er sein Bedauern, Montesquieu und andere Autoren bislang nicht auf Französisch gelesen zu haben, und kommentiert die generelle Schwierigkeit einer Übersetzung Montesquieus ins Deutsche.27 Die überlieferten Lektürenotizen legen nahe, dass Herder vor, während und nach seinem Frankreichaufenthalt den Esprit des Lois vornehmlich auf Deutsch las, zumindest jedoch eine Übersetzung als Basis für seine Exzerpte benutzte.28 Dabei handelt es sich, zumindest bei der Lektüre der 1760er Jahre, um die bis dahin einzige verfügbare Übersetzung von Kästner.29 Damit soll keineswegs ausgeschlossen werden, dass Herder nicht auch eine französische Ausgabe zur Hand hatte, seine Bemerkungen im Reisejournal zur Übersetzungsproblematik legen dies vielmehr nahe. Festzuhalten bleibt allerdings, dass die wohl bedeutendste deutsche Montesquieu-Rezeption des 18. Jahrhunderts zu einem großen Teil durch das Medium der Übersetzung eines Göttinger Professors zustande kam, der Montesquieus Zentralbegriff „esprit“ zu umgehen versuchte. In Herders Lektüre des Esprit des Lois lassen sich mindestens vier Phasen nachweisen: die Studienzeit (1762–1764), die Rigaer Zeit (1764‒1769), der Aufenthalt in Frankreich (1769) und schließlich die spätere Beschäftigung mit dem Text. Der Beginn von Herders Auseinandersetzung mit Montesquieu fällt, soweit wir wissen, in seine Königsberger Studienzeit.30 Eine eingehendere Auseinandersetzung mit den Lettres Persanes und dem Esprit des Lois lässt sich allerdings erst in der Rigaer Zeit, genauer im Frühjahr 1767, anhand von Exzerpten aus beiden Werken nachweisen. Im Falle des Esprit des Lois ist es dabei offenbar zu einer vertieften Lektüre gekommen.31 Zwei Jahre später fasst Herder auf jener berühmten Schiffsreise dann den Vorsatz, eine Reihe von Autoren, darunter Montesquieu, künftig noch intensiver zu lesen. Diesen Vorsatz setzte er offensichtlich um, denn während seines Frankreichaufenthalts fertigt er einen ausführlichen „Auszug aus 26
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Herder gibt sogar einen Hinweis auf Montesquieus erst 1783 postum veröffentlichte Erzählung Arsace et Isménie: „Wie viel verliert man daß sein Arsaces nicht erscheint!“ (Herder: Journal meiner Reise, wie Anm. 7, S. 95 u. Kommentar des Herausgebers, ebd., S. 953). Ebd., S. 12, 83. Die Exzerpte belegen, dass Herder den Esprit des Lois in deutscher Übersetzung gelesen hat. Siehe SBB, PK, HN XXIX 2, 61r‒66r („Montesquieu Geist der Gesetze“, 1767) u. XXV 151 („Auszug aus Montesquieu Geist der Gesetze“, 1769 in Nantes). Dieser Befund wird gestützt durch das nach Herders Tod angelegte und publizierte Bibliotheksverzeichnis: Bibliotheca Herderiana. Leipzig 1980 [ND der Ausg. Weimar 1804], S. 186: „Montesquiou’s [sic] Werk von den Gesetzen. 1‒3 Bd. Frkf. [1]753. Pergbd.“ (BH 3724). Dies entspricht Herders eigenem Bücherverzeichnis von 1776. Siehe dazu Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995, S. 209, Anm. 201. Siehe den Kommentar des Herausgebers zu Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 1062. SBB, PK, HN XXIX 2, 61r‒66r („Montesquieu Geist der Gesetze“, 1767).
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Montesquieu [sic] Geist der Gesetze“ an, der auf zehn eng beschriebenen Blättern systematisch und detailliert die Argumente des Werks auflistet.32 Nahezu zwanzig Jahre später finden sich Anzeichen einer erneuten, wenn auch scheinbar punktuellen Beschäftigung mit der Schrift.33 Von diesen vier aus Herders erhaltenen Studienbüchern und seiner Korrespondenz nachweisbaren Lektüren des Esprit des Lois ist die 1769 in Nantes und Paris erfolgte allen Anzeichen nach die umfassendste, eingehendste und vor allem folgenreichste für die Entwicklung seines historischen und politischen Denkens. Damit fällt Herders intensivste Auseinandersetzung mit Montesquieu in eine außergewöhnliche Phase seines Lebens. Im Sommer des Jahres 1769 brach der fünfundzwanzigjährige Herder von Riga zu jener Reise auf, die ihn zu einem längeren Aufenthalt in Nantes und schließlich über Paris nach Straßburg führen sollte. Herders Reflexionen auf dieser Reise sind festgehalten im Journal meiner Reise im Jahr 1769, das er hauptsächlich in Nantes niederschrieb und in Paris beendete.34 Dieses erst postum veröffentlichte Reisejournal stellt ein eindringliches Dokument zu Herders intellektueller Biographie dar und erlaubt uns, die Anfänge seiner Geschichtsphilosophie in dieser Zeit nachzuvollziehen. Nicht zuletzt spiegelt es die außergewöhnliche Fülle und Intensität seiner Lektüre zu dieser Zeit wider.35 Zudem haben wir ein etwa im gleichen Zeitraum in Nantes entstandenes Zeugnis seiner intensiven Beschäftigung mit dem Esprit des Lois: einen kurzen, von Herder selbst nicht publizierten Text mit dem Titel Gedanken bei Lesung Montesquieus, in denen eine grundlegende Auseinandersetzung mit den zentralen Prinzipien von Montesquieus Werk stattfindet.36 Diese Gedanken und auch die zeitgleichen Be32 33 34
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Ebd., XXV 151 („Auszug aus Montesquieu Geist der Gesetze“, 1769). Ebd., XXVIII 1, 93r‒94r („B. 12. Montesquieu“, ca. 1795). Zur Entstehungsgeschichte des Journals siehe Katharina Mommsen: Nachwort. In: Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. v. Katharina Mommsen unter Mitarb. v. Momme Mommsen u. Georg Wackerl. Stuttgart 2008, S. 187‒268, hier S. 187‒193. „Von Voltaire bis zu Freron u. von Fontenelle zu Montesquieu, u. von d’Alembert bis zu Roußeau, unter Encyklopädisten und Journalisten […] unter Theaterstücken u. Kunstwerken, u. Politischen Schriften u. alles was Geist der Zeit, habe ich mich herumgeworfen und umhergewälzt. Darum wird mein Tagebuch auch so groß u. es wird dies einmal ein sonderbares Ding seyn, für mich u. Artikelweise für meine Freunde zu lesen“ (Johann Gottfried Herder an Johann Friedrich Hartknoch, Nantes, Ende Oktober 1769. In: Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763‒1803. 10 Bde. Begründet unter Leitung v. Karl-Heinz Hahn. Bd. 1: April 1763‒April 1771. Bearb. v. Wilhelm Dobbek u. Günter Arnold. Weimar 1977, S. 166‒171, hier S. 170). Vgl. Robert Stockhammer: Zwischen zwei Bibliotheken: J. G. Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769 als Beitrag zur Diätetik der Lektüre. In: Literatur für Leser 3 (1991), S. 167‒184. Johann Gottfried Herder: Gedanken bei Lesung Montesquieus [Nantes 1769]. In: Ders.: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 204‒208. Diese werden gemeinhin auf Herders Aufenthalt in Nantes datiert, was m.E. insofern überzeugt, als die Gedanken Parallelen mit den früheren, in Nantes entstandenen Partien des Reisejournals aufweisen, allerdings noch keine Hinweise auf Herders negativere Urteile über die französische Kultur enthalten, die für die späteren, wohl in Paris entstandenen Teile des Journals kennzeichnend sind.
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merkungen im Reisejournal sind wohl auf Basis der gleichen Lektüre entstanden, die sich auch in dem im Nachlass erhaltenen „Auszug aus Montesquieu Geist der Gesetze“ niedergeschlagen hat. Herders Auseinandersetzung mit dem Esprit des Lois wird in der Sache ähnlich, wenn auch im Ton verschärft in seiner ersten, während seiner Zeit in Bückeburg (1771‒1776) entstandenen geschichtsphilosophischen Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) fortgesetzt und vertieft. Als drittes Werk sind die in Weimar verfassten Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784‒1791) zu nennen, Herders magnum opus, das ebenfalls der Auseinandersetzung mit Montesquieu verpflichtet ist. Zudem gibt es weitere zu Herders Lebzeiten unveröffentlichte Texte, etwa über den „Geist der Litteratur [sic]“, wo das Montesquieusche Vokabular auf Herders Kulturphilosophie angewandt wird.37 Man kann daher verallgemeinernd feststellen, dass die Auseinandersetzung mit Montesquieu am stärksten und deutlichsten auf seine Geschichtsphilosophie und weniger stark auf andere Bereiche seines Denkens eingewirkt hat. Aus diesem Grund liegt der weitere Fokus dieses Beitrags auf der intensiven Lektüre von 1769, ihrem unmittelbaren Niederschlag in den Gedanken und im Reisejournal sowie ihren mittelbaren Auswirkungen auf Herders geschichtsphilosophische Hauptwerke.
III. „Ist ein Einziges dem Andern völlig gleich?“ – Herders Kritik an Montesquieus Gesetzesbegriff In den Gedanken und im Reisejournal finden sich sowohl anerkennende Aussagen als auch negative Urteile über Montesquieu, folgt auf hohe Wertschätzung harsche Kritik. Zunächst lassen sich zeittypische Ausdrücke wie „der große Montesquieu“ und „der unvergleichliche Montesquieu“ identifizieren.38 Daneben stehen Bestrebungen Herders, den Stoff der Geschichte „nach dem Genie des Montesquieu“ ordnen und „mit dem Geist eines Montesquieu sehen“ zu wollen. Dies kulminiert in einem Verweis auf „Montesquieu nach dem ich denke und wenigstens spreche“.39 Bezeichnend ist, dass all diese positiven Urteile in der ersten Hälfte des Textes vorkommen. Zur Textmitte wird bereits verhaltene Kritik vernehmbar. So spricht Herder davon, „[w]ie Montesquieu Muster sein kann“, qualifiziert dies allerdings einige Zeilen weiter mit der Aussage: „[a]lles nach Montesquieus Me-
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Der Nachlass enthält ein auf ca. 1769 datiertes Blatt mit dem Titel „Geist der Litteratur“, SBB, PK, HN XXVIII 12, 67v, das im Verzeichnis als eine Entwicklung zu einer Literaturgeschichte im Anschluss an Montesquieu beschrieben wird. Siehe Irmscher u. Adler: Der handschriftliche Nachlass (wie Anm. 25), S. 261. Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 37, 78. Ebd., S. 48, 68f.
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thode […] aber ohne sein System“.40 Die deutliche Kritik an Montesquieu wird in der zweiten Texthälfte nur an einer Stelle ein wenig gemildert.41 Im Verlauf seines Reisejournals kann man daher eine gewisse Entwicklung in der Haltung zu Montesquieu feststellen, woraus zweifelsohne ein Prozess abzulesen ist, den Herder im Verlauf seines Frankreichaufenthaltes durchläuft, um am Ende sein ganz eigenes Urteil über Montesquieu zu fällen. Entsprechend scheint noch zu Beginn seiner Frankreichreise eine positive Haltung zu überwiegen. Herder liest den Esprit des Lois intensiv in Nantes und auf dem Weg nach Paris.42 In Paris selbst, wo der letzte Teil des Reisejournals entstand, hat dann bereits eine Skepsis Überhand gewonnen. Diese erklärt sich auch aus Herders negativer Sicht auf die französische Kultur und seiner harschen Kritik an der französischen Literatur im Reisejournal.43 Die Gedanken, die gemeinhin auf die Zeit in Nantes datiert werden, bündeln bereits eine Reihe der Kritikpunkte an Montesquieu in einer systematischen Form.44 Inhaltlich können sie unterteilt werden in solche an Montesquieus Methode, die in diesem Abschnitt untersucht werden, und solche an der Systematik und insbesondere der Verfassungstypologie des Esprit des Lois, die im darauffolgenden Abschnitt analysiert werden. Um Herders methodische Kritikpunkte in ihrer argumentativen Reihenfolge zu verstehen, muss ein kurzer Blick auf Montesquieus programmatische Beschreibung seiner Methode zu Beginn des Esprit des Lois geworfen werden. Im Vorwort formuliert er seinen Anspruch folgendermaßen: Jʼai dʼabord examiné les hommes; et jʼai cru que, dans cette infinie diversité de lois et de mœurs, ils nʼétaient pas uniquement conduits par leurs fantaisies.
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Ebd., S. 70. Ebd., S. 94f. Interessanterweise betrifft diese positive Aussage Montesquieus Stil als Schriftsteller, der mit demjenigen des von Herder besonders geschätzten Winckelmann verglichen wird. Zu Herder und Winckelmann siehe Elisabeth Décultot: „Voll volltrefflicher Grundsätze …; aber …“. Herders Auseinandersetzung mit Winckelmanns Schriften zur Kunst. In: Dies. u. Gerhard Lauer (Hg.): Herder und die Künste. Ästhetik, Kunsttheorie, Kunstgeschichte. Heidelberg 2013, S. 81‒99. Selbst auf der Fahrt von Nantes nach Paris las Herder Montesquieu, wie aus einem Brief vom 4.11.1769 deutlich wird: „Eben werfe ich mich in den Reisewagen nach Paris, und lese nichts als Montesquieu unterwegens“ (Herder an Zollkontrolleur Begrow, Nantes, 4. November 1769. In: Herder: Briefe, wie Anm. 35, S. 172‒174, hier S. 173). Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 79‒83. Vgl. K. Mommsen: Nachwort (wie Anm. 34), S. 231‒242. Für eine solche Datierung spricht, dass Herder in Nantes sehr viel mehr Muße hatte, um ein Blatt in Reinschrift zu schreiben, und dass die Kritikpunkte der zweiten Hälfte des Journals – Montesquieus Fehler würden letztlich der angeblich unphilosophischen französischen Sprache entspringen – in den Gedanken nicht angesprochen werden.
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Jʼai posé les principes; et jʼai vu les cas particuliers sʼy plier comme dʼeux-mêmes, les histoires de toutes les nations nʼen être que les suites, et chaque loi particulière liée avec une autre loi, ou dépendre dʼune autre plus générale.45
Montesquieu beginnt sein Werk also mit der Feststellung einer „infinie diversité“, einer schier unüberschaubaren Vielfalt politischer und sozialer Gegebenheiten, unterschiedlicher Zeiten und Kulturen, die bereits ein Hauptthema seiner Lettres Persanes bildete. Diese scheinbar wahllose Vielfalt wird allerdings im Esprit des Lois keineswegs als zufällig aufgefasst, was zu einer Relativität kultureller und politischer Standards führen könnte. Vielmehr wird sie als in sich strukturiert und daher als prinzipiell strukturierbar verstanden. Die „Geschichte jeder Nation“ ergibt sich laut Montesquieu auf der Grundlage von und als Folge aus den einmal erkannten Gesetzmäßigkeiten. In anderen Teilen des Esprit des Lois geht Montesquieu allerdings auch induktiv von den Einzelfällen selbst aus, was zu dem oben erwähnten Spannungsverhältnis zwischen konkreten Phänomenen und allgemeinen Begriffen führt. Die erste Hälfte der Gedanken beschäftigt sich just mit dieser Methode und ihrer Anwendung durch den Autor des Esprit des Lois. Herder hinterfragt Montesquieus Gesetzesbegriff und damit seine Methodologie. Er äußert sich zustimmend zu der Aussage des Franzosen, alles in der Natur habe sein Gesetz.46 Zugleich fragt er, worin diese Gesetze letztlich bestünden, und bestimmt sie als „[a]bgezogne Teilbegriffe, bemerkte einzelne Eigenschaften, die wir in Sätze, in Grundsätze, in Maximen verwandeln, und das wird ein Gesetz“.47 Herder verweist hierbei explizit auf die Analogie zwischen dieser Vorgehensweise und der Newtonschen Physik.48 Er beschreibt seine Vorgehensweise folgendermaßen: Alle Gesetze und Regeln, wornach Gott, die Welt, die Seele würken soll, sind Bemerkungen, wie sie würkt, oder würken könnte; es sind abgezogne Bemerkungen von Eigenschaften ihres Wesens. Je mehr wir diese unter einander ordnen können, desto weniger und einfacher werden die Gesetze, desto näher kommen wir Einem Begriff, dem Hauptbegriff des Wesens. Der Geist der Gesetze ist also nichts als das Wesen der Sache, das ist, das Ding selbst. Je mehr wir dies kennen, je inniger wirs einsehen, desto mehr haben wir in diesem Einen Blick den Geist seiner Gesetze; je weniger wirs kennen, desto reicher und noch ungeordneter werden sich die Gesetze 45
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„Zunächst habe ich die Menschen erforscht. Ich ging davon aus, daß sie sich bei der Einführung der endlosen Vielfalt von Gesetzen und Sitten nicht einzig und allein von ihren Launen leiten ließen. Ich habe Prinzipien aufgestellt, und die Einzelfälle ordneten sich mir wie von selbst darunter ein. Die Geschichte jeder Nation ergibt sich lediglich als eine Folge daraus. Jedes einzelne Gesetz erweist sich als verknüpft mit einem anderen oder als abhängig von einem weiteren, allgemeineren“ (Montesquieu: De l’Esprit des Lois, wie Anm. 12, S. 115; ders.: Vom Geist der Gesetze. Auswahl, Übersetzung u. Einleitung v. Kurt Weigand. Stuttgart 2011, S. 91). Herder: Gedanken bei Lesung Montesquieus (wie Anm. 36), S. 204. Vgl. Montesquieu: De l’Esprit des Lois (wie Anm. 12), S. 123; ders.: Vom Geist der Gesetze (wie Anm. 45), S. 97. Herder: Gedanken bei Lesung Montesquieus (wie Anm. 36), S. 204. Diese Analogie kann im Kontext der von den Grundsätzen Newtonscher Physik inspirierten Anthropologie des 18. Jahrhunderts verstanden werden. Vgl. die Anmerkung des Herausgebers in Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 1076.
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Moritz Baumstark zeigen: eine Menge kleiner detaillierter Bemerkungen, abgerißner Eigenschaften ohne Kopf und Hand.49
Die Gesetze sind also die Summe der Beobachtungen, die aus den von uns erkannten Wesensmerkmalen der Dinge selbst abgeleitet sind. Dies geschieht im Abstraktionsprozess, in dem wir durch das schrittweise Sammeln und Ordnen konkreter, individueller Eigenschaften zu höheren und schließlich zu metaphysischen Begriffen gelangen können. Herder fährt fort: Diese sammlen [sic], unter einander ordnen gibt einen abgezognen Metaphysischen Begriff, und das Buch vom Geist der Gesetze sagt nichts, als eine Metaphysik der Gesetze, das ist ein Philosophischer Versuch, Alle Regierungsarten zu bemerken, ihre Unterschiede, und die Quellen ihres Unterschiedes zu erwägen, die Gründe auf ihre Gründe zu führen, um endlich auf einen Hauptbegriff zu kommen, der das Wesen der ganzen Regierungsart sei[.]50
Soweit steht Herder nicht im Widerspruch zur Gesetzesdefinition, die Montesquieu im ersten Buch des Esprit des Lois dargelegt hatte, auch wenn er nicht explizit auf den für Montesquieu zentralen und in den Augen vieler Kritiker problematischen Begriff der rapports, der Bezüge zwischen den Gesetzen und den Gegebenheiten, eingeht. Das Ziel, das Montesquieu mithilfe seiner Methode zu erreichen sucht, das Erfassen von Begriffen und Gesetzen, übersetzt Herder in seine eigene Terminologie. Er zweifelt nicht an der prinzipiellen Legitimität der Montesquieu’schen Methode, sondern an den hohen Voraussetzungen und Anforderungen, die sich bei ihrer konkreten Anwendung stellen. Herder führt dies in den Gedanken aus: So viel Regierungsarten es also gibt, so viel Sachen, oder Data zu abstrahieren, und wenn keine zwei Regierungsarten, Länder und Völker sich in der Welt gleich sind: so gehört ein Universalismus dazu, sie alle zu übersehen: zu kennen, zu ordnen. Montesquieu hat nur wenige gekannt, und unter den wenigen noch wenigere recht zum Gegenstande gemacht: daher ist sein Buch so unvollkommen und seine Grundsätze so unapplikabel.51
Die Methode der induktiven Abstraktion von den Sachen zu den Grundsätzen sieht Herder als in hohem Maße voraussetzungsreich an. Aus seiner Sicht konnte Montesquieu die zu ihrer Anwendung notwendige Voraussetzung nicht erfüllen, da das im Esprit des Lois untersuchte Datenmaterial dazu bei Weitem nicht ausreichte. Die im Werk angewandte Methode sei daher gekennzeichnet durch einen unzulässig verkürzten Abstraktionsprozess. Das eigentlich anzustrebende Ideal eines „Universalismus“ bzw. einer „Universalität“, also einer Gesamtschau auf die Fülle der individuellen Phänomene, werde daher im Esprit des Lois notwendigerweise verfehlt. So kritisiert Herder in zunehmend schärferem Ton Montesquieus Umsetzung dieser Methode und das daraus folgende Resultat eines verzerrten und daher 49 50 51
Herder: Gedanken bei Lesung Montesquieus (wie Anm. 36), S. 204. Ebd. Ebd., S. 205.
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unanwendbaren Gesetzesbegriffs. Dabei war der Kritisierte sich dieses prinzipiellen Problems durchaus bewusst, wenn auch wohl nicht in dem von Herder eingeforderten Maße. Im Vorwort des Esprit des Lois verweist er explizit auf die mit seiner Vorgehensweise verbundene Gefahr der unzulässigen Verallgemeinerung und behauptet, diese erfolgreich vermieden zu haben: Quand jʼai été rappelé à lʼantiquité, jʼai cherché à en prendre lʼesprit, pour ne pas regarder comme semblables des cas réellement différents, et ne pas manquer les différences de ceux qui paraissent semblabes. Je n’ai point tiré mes principes de mes préjugés, mais de la nature des choses.52
Herder bestreitet indes explizit, dass es Montesquieu gelungen sei, seine Grundsätze direkt aus der Natur der Dinge abzuleiten und bezichtigt ihn gerade der Subsumierung unterschiedlicher Fälle unter ein Gesetz sowie der unzulässigen Gleichsetzung ähnlich erscheinender Fälle. In Abgrenzung von Montesquieu plädiert Herder seinerseits für eine noch stärkere Berücksichtigung und Gewichtung der Besonderheit einer jeden Zeit und Kultur. Der Angelpunkt seiner Kritik liegt in der Eigenheit jedes Landes. Entsprechend fragt er rhetorisch: Ist ein Einziges dem Andern völlig gleich? Ist nicht jedes ein so eignes Datum nach Land, Volk, Einrichtung und Allem, daß seine Grundsätze nie anzuwenden sind, ohne unendliche Ausnahmen. […] Montesquieu hat also lange nicht gnug [sic] Data gehabt, gekannt und studiert, um zu Ersten Begriffen zu gelangen und seinem Werk Universalität zu geben.53
Hier zeichnet sich eine Grundeinsicht ab, die für Herders spätere Geschichtsphilosophie kennzeichnend werden sollte: Der Weg zum wahren Universalismus führt durch die Anerkennung der Individualität.54 In der Frage „Ist ein Einziges dem Andern völlig gleich?“ scheint dieser Individualitätsgedanke bereits auf.55 Er wird 52
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„Wo ich auf das Altertum zurückgeführt worden bin, habe ich versucht, seinen Geist zu verstehen, damit nicht sachlich unterschiedliche Fälle als ähnliche angesehen werden und die Unterschiede in den scheinbar ähnlichen Fällen nicht übersehen werden. Ich habe meine Prinzipien nicht aus meinen Vorurteilen, sondern aus der Natur der Dinge abgeleitet“ (Montesquieu: De l’Esprit des Lois, wie Anm. 12, S. 115; ders.: Vom Geist der Gesetze, wie Anm. 45, S. 91). Herder: Gedanken bei Lesung Montesquieus (wie Anm. 36), S. 205. Vgl. dazu Horst Turk: Am Ort des Anderen. Natur und Geschichte in Herders Nationenkonzept. In: Gesa von Essen u. Host Turk (Hg.): Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität. Göttingen 2000, S. 415‒498, insb. S. 457‒460. Friedrich Meinecke betont das Prinzip der Individualität (zusammen mit demjenigen der Entwicklung) als die „beiden neuen Grundgedanken des Historismus“ und zeichnet deren Ausprägung in Herders Denken und Werk nach (Meinecke: Die Entstehung des Historismus, wie Anm. 4, S. 369; siehe auch S. 371‒375 u. 385‒387). Vgl. dagegen Hans-Georg Gadamer: Herder und die Geschichtliche Welt [1967]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4: Neuere Philosophie II: Probleme, Gestalten. Tübingen 1987, S. 318‒335. Vgl. Beiser: The German Historicist Tradition (wie Anm. 3), S. 106, aber auch S. 135‒141, der das Individualitätsprinzip als ein „fundamental principle of Herderʼs historicism“ ansieht.
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allerdings in den Gedanken noch nicht zu einem allumfassenden Prinzip entwickelt, sondern ist zunächst formuliert als Antwort auf die von Herder als unanwendbar kritisierte Verfassungstypologie Montesquieus. Herders Kritik an Montesquieus Methode ist insgesamt gekennzeichnet durch eine scheinbare Widersprüchlichkeit, die zwei unterschiedliche Interpretationen nahelegt.56 Auf der einen Seite erscheint die Kritik im Journal als eine, die sich an Montesquieus Anwendung von dessen Methode richtet. Dies drückt sich in Herders Vorsatz aus, „[a]lles nach Montesquieu’s Methode kurz, mit Beispielen, aber ohne sein System“ machen zu wollen.57 Die Kritik bezieht sich zunächst auf die unzureichende Faktenbasis und das darauf aufgebaute, unzulässig vereinfachte Klassifizierungssystem. Sie impliziert im Gegenzug, dass ein auf ausreichend „Data“ aufgebautes System der gegebenen Vielfalt gerecht werden könnte. In einem solchen System könnten induktiv gebildete Grundsätze ihrerseits deduktiv zur Einordnung der Vielfalt der Dinge angewandt werden. Auf diese Weise wäre das Ideal einer „Universalität“ oder Gesamtschau prinzipiell realisierbar. Herder deutet dabei an, dass er eine solche Vorgehensweise nicht nur für möglich hält, sondern sich deren Verwirklichung selbst als Ziel setzt. Auf der anderen Seite wird in den Gedanken deutlich, dass gerade dem Einzelnen eine irreduzible Qualität innewohnt und es damit nicht oder zumindest nicht vollkommen unter allgemeine Grundsätze subsumiert werden kann. Wenn Herder behauptet, Montesquieus Grundsätze seien „nie“ ohne „unendliche“ Ausnahmen anzuwenden, scheint es, als ob er dessen Methode ad absurdum führen wollte, um die prinzipielle Unmöglichkeit von deren Anwendung aufzuzeigen. Herders rhetorische Frage „Ist ein Einziges dem Andern völlig gleich?“ deutet dabei auf das sinngemäß bereits in der Antike formulierte philosophische Prinzip individuum est ineffabile hin.58 Ein Individuelles, das als prinzipiell irreduzibel aufgefasst wird, ließe sich allerdings überhaupt nicht mehr in ein System einfügen, wie die scholastische Sentenz de singularibus non est scientia besagt. Die zitierte Passage legt eine solche Implikation nahe, auch wenn Herder an dieser Stelle nicht so weit geht, dies explizit zu behaupten. Seine Montesquieu-Kritik ist mithin gekennzeichnet durch eine scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen einem Individuellen, das als irreduzibel angesehen wird, und einem Allgemeinen, dessen Erklärungsanspruch sich auf das Individuelle erstreckt. 56 57 58
Für die folgende Argumentation bis zum Ende dieses Abschnitts habe ich von Feedback und Anregungen aus Gesprächen mit Frederick Beiser profitiert. Zitat wie Anm. 40. Dieses findet sich später als ein Lebensmotto des von Herder stark beeindruckten Goethe: „Hab ich Dir das Wort/ Individuum est ineffabile/ woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?“ (Goethe an Johann Caspar Lavater, Ostheim vor d[er] Rhön, 20. September 1780. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausg.). 40 Bde. Hg. v. Hendrik Birus u.a. Bd. II/2 (29): Das erste Weimarer Jahrzehnt (1775‒1786). Hg. v. Hartmut Reinhardt. Frankfurt a.M. 1997, S. 299‒300, hier S. 300).
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Herders kritische Montesquieu-Lektüre kann somit entweder verstanden werden als Kritik an der Anwendung einer an sich als legitim erachteten Methode oder aber als Grundsatzkritik, in der diese Methode selbst prinzipiell in Frage gestellt wird. Diese zwei Lesarten lassen sich in unterschiedlichen Passagen ausmachen, deren konzeptuelle Spannung Herder, zumindest in den hier untersuchten Texten, nicht eindeutig auflöst. Dies wirft die Frage nach den logischen Implikationen seiner Montesquieu-Kritik und deren Konsistenz auf. Eine Erklärungsmöglichkeit für dieses Nebeneinander zweier unterschiedlicher Kritikebenen liegt in der Entwicklung von Herders Denken. Während der Abfassung des Reisejournals und der Gedanken ist dieses Denken gewissermaßen selbst in Bewegung, das Reisejournal dokumentiert Herders Suche nach einer gültigen Methode. In den darauffolgenden Jahren entwickelt sich sein Geschichtsdenken in einer Reihe aufeinanderfolgender Phasen.59 Dabei erfährt die Verhältnisbestimmung von Individuellem und Allgemeinem unterschiedliche Ausprägungen, deren Vermittlung allerdings spannungsreich bleibt.
IV. Herders Kritik an Montesquieus Verfassungstypologie In den Gedanken und im Reisejournal tritt am ausführlichsten und deutlichsten Herders Kritik an Montesquieus Verfassungslehre hervor, an der sich viele seiner oben zitierten methodologischen Einwände entzünden. An dieser Stelle muss der Hinweis auf zwei Kernelemente von Montesquieus Verfassungstypologie genügen: Erstens ist diese gekennzeichnet durch eine eigentümliche Klassifizierung der Regierungsformen mit ihren zwei Abwandlungen gegenüber dem traditionellen aristotelischen Schema. Dabei werden zum einen Demokratie und Aristokratie als Unterformen der Republik behandelt, zum anderen die Despotie bzw. der Despotismus nicht als Verfallsform der Monarchie, sondern vielmehr als eigenständige Verfassungsform klassifiziert und beschrieben.60 Der Despotismus ähnelt der Monarchie allein im Prinzip der Alleinherrschaft und ist ansonsten durch Willkürherrschaft und das vollkomme Fehlen der Gesetzlichkeit wesensmäßig von der gemäßigten Monarchie geschieden. Zweitens besteht das entscheidende Novum der Montesquieu’schen Verfassungslehre darin, dass den drei Regierungsarten Prinzipien oder „Triebkräfte“ (principes) zugeordnet werden, um die mit der Regierungsform notwendigerweise einhergehenden Wesensmerkmale des politischen Lebens zu erfassen. Diese bestehen aus den menschlichen Leidenschaften Tugend, Ehre und Furcht. Während politische Tugend (vertu politique) als „Triebkraft“ der 59
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Siehe dazu Tino Markworth: Unterwegs zum Historismus. Der Wandel des geschichtsphilosophischen Denkens Herders von 1771 bis 1773. In: Martin Bollacher (Hg.): Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Würzburg 1994, S. 51‒59. Im II. Buch des De l’Esprit des Lois (wie Anm. 12), S. 131‒133; Vom Geist der Gesetze (wie Anm. 45), S. 106‒118.
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Republik und ihrer Unterformen Demokratie und Aristokratie benannt wird, ist die Monarchie durch den Ehrbegriff (honneur) und der Despotismus durch Furcht (crainte) sowie Terror (terreur) gekennzeichnet.61 Diese Verfassungslehre bildet, neben dem umstrittenen Gesetzesbegriff, einen Hauptansatzpunkt für Montesquieus Kritiker und ist auch für Herder Stein des Anstoßes. Er hinterfragt die Art und Weise, durch die Montesquieu zu dieser Klassifizierung gelangte und die damit zusammenhängende Anwendbarkeit seines Verfassungsschemas. In den Gedanken stellt er fest, Montesquieu habe die Regierungsformen Republik, Aristokratie, Monarchie und „Despotism“ aufgrund einer unzureichenden Anzahl von Fällen, namentlich der antiken Republiken, Venedig, Frankreichs und des Osmanischen Reichs, gewonnen. Empört ruft er aus: Ist das Alles? gibts keine Nuancen dazwischen? Ist der Despotism in der Türkei und in Rußland, die Monarchie in Frankreich[,] Spanien, Portugall, Dännemark, Preußen einerlei? […] Zum E[inen] die französische Ehre in Preußen, in Spanien suchen? – – So auch Republiken? Polen, Schweden, England sind Aristokratien, richten sie sich nach Venedig? […] In Frankreich, in Venedig, in der Türkei mag es gut sei[n], nirgends anders.62
Die Montesquieu’sche Verfassungslehre stellt für Herder somit eine unzulässige Vereinfachung und Schematisierung dar, mit der die historische und zeitgenössische Verfassungsvielfalt keineswegs zu erfassen sei. Sie sei allein auf die jeweiligen Länder anwendbar, auf deren Beschreibung sie ursprünglich zurückgehe. Anstelle von Einheitlichkeit betont Herder die unterschiedlichen Grade der Mischung zwischen den einfachen Verfassungsformen und die daraus resultierende Vielfalt. So schreibt er im Reisejournal über Montesquieu: [S]eine Grundsätze sind wahr, fein, schön; aber nicht vollständig und einer unendlichen Mischung unterworfen: Es gibt Demokratische Aristokratien und v[ice] v[ersa] Aristokratien und Demokratien in verschiedner Stufe der Kultur diese, der Macht und des Ansehens jene. […] wer kann alle Kleinere Republ[iken] und Staatsverfassungen durchgehen? in allen Zeiten? Ländern, Veränderungen? Das einzige Rom wie viel hats gehabt? wenn war es sich gleich? Nie! welch ein feines Werk ist da noch aus Montesquieu (Geist der Ges[etze]) über Montesquieu (Geist der Römer) zu schreiben, was er und Mably nicht geschrieben!63
Die Idee der Mischverfassung und des Verfassungswandels war bereits Bestandteil der antiken Verfassungslehre gewesen, und auch Montesquieu hatte am Beispiel Englands durchaus nuanciert eine aus demokratischen, aristokratischen und monarchischen Elementen gemischte „republikanische“ Verfassung beschrieben. Herder geht in der oben zitierten Stelle allerdings noch einen zweiten und entscheidenderen Schritt weiter: Über die gegebene Vielfalt und graduelle Abstufung der möglichen Verfassungsformen hinaus betont er die essentielle Zeitlichkeit aller 61 62 63
Im III. Buch des De l’Esprit des Lois (wie Anm. 12), S. 143‒153; Vom Geist der Gesetze (wie Anm. 45), S. 119‒131. Herder: Gedanken bei Lesung Montesquieus (wie Anm. 36), S. 205. Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 84.
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Verfassungen. Es handelt sich hierbei nicht um die ebenfalls antike Lehre vom Verfassungskreislauf mit der Idee der Rückführung der Verfassung auf den ursprünglichen Zustand. Im Gegensatz zu dieser Auffassung betont Herder, dass kein Verfassungszustand jemals als mit einem anderen identisch angesehen werden könne. Hier scheint eine andere Grundposition von Herders Geschichtsphilosophie durch: die Überzeugung von der entscheidenden Bedeutung der zeitlichen Dimension. Gegenüber der Statik des Esprit des Lois, der die Verfassungen synchron erfasst, betont er die Dynamik der diachronen Verfassungsentwicklung. Diese zwei Herangehensweisen erfasst Herder in seiner Unterscheidung zwischen einer als unzulänglich empfundenen „Politische[n] Geographie“ und einer von ihm selbst entworfenen „Geschichte der Völker“.64 Hierauf bezieht sich auch seine Idee, ein „feines Werk […] aus Montesquieu (Geist der Ges[etze]) über Montesquieu (Geist der Römer) zu schreiben“, nämlich die Einsichten der Verfassungslehre des Esprit des Lois auf die zentrale Frage der Considérations sur les […] Romains nach der Entwicklungsgeschichte Roms und seinen Verfassungen zu projizieren.65 In seinen 1734 erschienenen Considérations sur les […] Romains hatte Montesquieu zwar die Einmaligkeit und Einzigartigkeit Roms gegenüber anderen Staatsgebilden betont, war allerdings zugleich davon ausgegangen, dass Rom als „système total“ seine als „Seele“ oder „Geist“ beschriebene spezifische Identität über alle Verfassungswechsel hinweg bewahrt hatte.66 An dieser Stelle setzt Herders vehemente Kritik an, die auf seiner Überzeugung basiert, dass die Veränderungen in der Verfassungsstruktur eine Identität eines Staatsgebildes über die Zeiten hinweg schlichtweg unmöglich machen. Im Journal geht Herder auch auf die Idee der Triebfeder der unterschiedlichen Verfassungsformen ein und äußert sich dabei zunächst zustimmend. Im Hinblick auf die politische Ehre gebe Montesquieu als „große[r] Mann […] auch hierin eine Bahn zur Aussicht“, denn in Frankreich sei diese „Triebfeder in Allem“ geworden.67 Herder kritisiert allerdings Montesquieus einflussreiche und aus seiner Sicht irreführende Interpretation des orientalischen Despotismus.68 Am entschiedensten
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Herder: Gedanken bei Lesung Montesquieus (wie Anm. 36), S. 206. In den Ideen urteilt Herder, Montesquieu habe „in seiner schönen Schrift: sur la grandeur et sur la décadence des Romains [die Entstehungsgeschichte Roms] beinah schon zu einem politischen Roman erhoben“ (Herder: Ideen zur Philosophie, wie Anm. 23, S. 584, Anm. 56). Vgl. hierzu den Beitrag von Vanessa de Senarclens in diesem Band. Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 81. In Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) bezieht er diese Kritik auf die vermeintliche Triebfeder des Despotismus ‒ Furcht ‒ und schreibt dazu: „Mags sein, daß im Zelte des Patriarchen allein Ansehen, Vorbild, Autorität herrschte, und daß also, nach der aufgefädelten Sprache unsrer Politik, Furcht, die Triebfeder dieses Regiments war – laß dich doch, o Mensch, vom Worte des Fachphilosophen [Fußnote: „Montesquieu’s Scharen Nachfolger und imitatorum servum“] nicht irren, sondern siehe erst, was es denn für ein Ansehen, was für eine Furcht sei?“ (Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Ders.: Werke, wie Anm. 2, Bd. 4: Schriften zu Philosophie,
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spricht er sich gegen eine Anwendung von Montesquieus Begriff des Despotismus auf Preußen und vor allem Russland aus. Letzteres spielt eine entscheidende Rolle in den „politischen Seeträumen“ des Reisejournals.69 Zwei Jahre zuvor hatte Katharina II. mit ihrem Nakaz („Instruktion“) ein Werk vorgelegt, das die Grundprinzipien eines neuen Gesetzeswerks für Russland vorstellen sollte und zu einem beträchtlichen Teil aus direkten, mitunter wörtlichen Übernahmen von Argumentationsbausteinen aus dem Esprit des Lois bestand. Herder erklärt, „[w]ir erkühnten uns, Montesquieu’s Grundsätze zu prüfen, selbst da eine grosse Kaiserin sie zur Grundlage ihres Gesetzbuchs auszeichnete“.70 Im Reisejournal ruft er im Anschluss an die oben zitierte Stelle in Bezug auf Montesquieu aus: Wie muß er also verstanden, vermehrt, ausgefüllt, recht angewandt werden! wie schwer ist das letzte insonderheit? Das zeigt das größeste Beispiel, die Gesetzgebung Rußlands! Wie groß für Montesquieu, wenn er so geschrieben hätte, um nach seinem Tode ein Gesetzgeber des größesten Reichs der Welt sein zu können? Jetzt ist ers, der Ehre nach; aber ob auch der Würde, dem würklichen Nutzen nach? Das weiß ich nicht.
Die Monarchin Rußlands setzt eine Triebfeder zum Grunde, die ihre Sprache, Nation, und Reich nicht hat, Ehre. Man lese Montesquieu über diesen Punkt, und Zug für Zug ist die Rußische Nation, und Verfassung das Gegenbild: man lese ihn über Despotism und Crainte, und Zug für Zug sind beide da. Nun höre man ihn selbst, ob beide zu einer Zeit da sein können.71 Herder versucht also, die dem Esprit des Lois inhärenten Widersprüche anhand der widersprüchlichen Anwendung des darin prominent entwickelten Despotismus-begriffs auf die Staats- und Regierungsform Russlands unter Katharina II. aufzuzeigen. Bezeichnend ist dabei Herders Hoffnung, im Falle Liflands selbst als eine Art Gesetzesinitiator aufzutreten.72 Zeitgleich mit seiner Montesquieu-Lektüre geht er der Frage nach, wie er Katharina seine Überlegungen zu einem solchen Gesetzesprojekt zukommen lassen könne.73 Man müsse „das, was der große Montesquieu für den Geist der Gesetze ausdachte, auf den Geist einer Nationalerzie-
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Literatur, Kunst und Altertum 1774‒1787. Hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1994, S. 9‒107, hier S. 15). Siehe dazu K. Mommsen: Nachwort (wie Anm. 34), S. 215‒221. Zitiert im Kommentar des Herausgebers in Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 947. Ebda., S. 84f. Reto Speck: Johann Gottfried Herder and Enlightenment Political Thought. From the Reform of Russia to the Anthropology of Bildung. In: Modern Intellectual History 11 (2014), S. 31‒58, insb. S. 42. Diese Hoffnung und auch die unterschiedliche Konnotation des Despotismusbegriffs bei Montesquieu und Herder sind im Kontext des sogenannten aufgeklärten Absolutismus oder Reformabsolutismus zu sehen. Siehe dazu Derek Beales: Philosophical Kingship and Enlightened Despotism. In: Mark Goldie u. Robert Wokler (Hg.): Cambridge History of Eighteenth-Century Political Thought. Cambridge 2006, S. 495–524. Herder an Zollkontrolleur Begrow, Nantes, 4. November 1769. In: Ders.: Briefe (wie Anm. 35), S. 172‒174, hier S. 173.
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hung anwenden und was er in dem Geist eines kriegerischen Volks fand, auf eine friedliche Provinz umbilden“.74 Herders Kritik an Montesquieus Verfassungslehre geht allerdings über die Beurteilung der Zulässigkeit des Klassifizierungsschemas und der Prinzipienlehre und deren Anwendbarkeit auf Russland und andere Staaten hinaus. Sie stellt zugleich eine grundlegende Kritik an einer bestimmten Art von Systematisierung dar, die Herder prinzipiell unzulässig und irreführend erscheint.75 In der fünf Jahre nach dem Reisejournal und den Gedanken entstandenen Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte werden die obengenannten spezifischen Kritikpunkte noch weiter verallgemeinert. Der Zug zur Systematisierung erscheint nun als kennzeichnend für „die leichte, die schöne“ Philosophie des Jahrhunderts.76 Herder zufolge besteht das Charakteristikum dieser Philosophie darin, über das Individuelle, worin allein Species facti besteht, hinüber, sich am hellen, vortrefflichen Allgemeinen zu halten – statt Richter – (Blüte des Jahrhunderts!) – Philosoph zu sein. Hat in unsre Staatswirtschaft und Regierungskunde, statt mühsam erlangter Kenntnisse von Bedürfnissen und wahrer Beschaffenheit des Landes, welchen Adlersblick! welche Ansicht des Ganzen gebracht, wie auf einer Landcharte und philosophischen Tabelle! Grundsätze durch den Mund Montesquieus entwickelt, aus und nach welchen hundert verschiedene Völker und Erdstriche, aus dem Stegreif nach dem Ein mal Eins der Politik in zwei Augenblicken berechnet werden.77 Dieses Zitat verdeutlicht Herders kritische Einstellung gegenüber dem Einfluss einer von Montesquieu repräsentierten Aufklärungsphilosophie auf die Jurisprudenz und die politische Wissenschaft seiner Zeit. Zum einen beschreibt er in offensichtlich polemischer Absicht die Errungenschaften, die in einer „Ansicht des Ganzen“ und damit in einer scheinbaren Übersichtlichkeit einer Landkarte oder Tabelle münden. Eine solche Betrachtungsweise werde der tatsächlich gegebenen Vielfalt der Gegenstände nicht gerecht, da das Faktische allein im Individuellen bestehe. In Auch eine Philosophie der Geschichte weitet sich damit die frühere Kritik des Reisejournals an Montesquieu und anderen Denkern aus. Dieses Werk ist geprägt von einer vehement vorgetragenen Grundsatzkritik an der Geschichtsphilosophie einer bestimmten Art von Aufklärung.78 Herder sieht Montesquieu als einen
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Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 37. Vgl. dazu den Kommentar des Herausgebers in: Ebd., S. 922: „Montesquieus Esprit des lois ist neben Rousseaus Emile die wichtigste Quelle für Herders politisch-pädagogisches Reformprogramm im Journal.“ Am deutlichsten wird dies in Herders eigenem Vorsatz, „[a]lles nach Montesquieus Methode kurz, mit Beispielen, aber ohne sein System“ (siehe Anm. 40) machen zu wollen. Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte (wie Anm. 68), S. 62f. Ebd. S. 62. Vgl. hierzu Bertrand Binoche: L’alternative herderienne aux philosophies de l’histoire. In: Décultot u. Lauer (Hg.): Herder und die Künste (wie Anm. 41), S. 101‒119, hier S. 114f. Vgl. dazu Maurer: Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder (wie Anm. 8), S. 141‒155.
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prominenter Vertreter dieser aufgeklärten Geschichtsphilosophie, was zu dem folgenden vernichtenden Urteil über den Esprit des Lois führt: Montesquieus edles Riesenwerk hat nicht durch eines Mannes Hand werden können, was es sein sollte. Ein gothisches Gebäude im philosophischen Geschmack seines Jahrhunderts, Esprit! oft nichts weiter! Aus Stelle und Ort gerissen und auf drei oder vier Marktplätze, unter das Panier drei elender Allgemeinörter – Worte! – dazu leerer, unnützer, unbestimmter, allverwirrender Espritworte! hingetrümmert. Durchs Werk also ein Taumel aller Zeiten, Nationen und Sprachen, wie um den Turm der Verwirrung, daß jedweder seinen Bettel, Reichtum und Ranzen, an drei schwache Nägel hange – Geschichte aller Völker und Zeiten, dies große lebendige Werk Gottes auch in seiner Folge, ein Ruinenhaufen von drei Spitzen und Kapseln – aber freilich auch sehr edeler, würdiger Materialien – Montesquieu!79
Hier werden noch einmal die bereits behandelten Kritikpunkte an der Verfassungstypologie angesprochen und in einem Bild zusammengefasst. Im Zentrum der Kritik steht nun allerdings Montesquieus Begriff des „esprit“, dessen zentrale Bedeutung für Herders eigene, während und nach seiner Frankreichreise entstandene Geschichtsphilosophie im Folgenden untersucht wird.
V. Vom „Geist der Nationen“ zum „Geist der Zeit“ In seinen Schriften von und seit 1769 beschränkt sich Herder nicht auf eine grundlegende Kritik des Esprit des Lois. In der jeweils zweiten Hälfte des Reisejournals und der Gedanken wendet er sich den eigenen Absichten und Vorsätzen zu und entwickelt eine ganze Reihe ambitionierter, wenn auch nur grob umrissener Pläne. Einige dieser großangelegten politischen, pädagogischen und literarischen Projekte gehören unmittelbar zu seiner Auseinandersetzung mit Montesquieu, da sie in direkter Abgrenzung zu dessen Werk ausgeführt und zugleich als dessen Weiterentwicklung entfaltet werden. Zu dieser gehört „eine Geschichte des Menschlichen Geschlechts“, die Herder folgendermaßen skizziert: [I]ch will nichts als eine bildende, Materielle Geschichte des Menschlichen Geschlechts suchen, voll Phänomena und Data. Montesquieus Geist der Gesetze, und Römer, Hume über England, Voltaire, Mably, Goguet, Winkelmann u. s. w. sind hiezu große Leute!80
Im Reisejournal wird dieser Plan weiter ausgeführt: Die Werke der hier genannten Autoren und eine ganze Reihe weiterer begreift Herder als Vorarbeiten, deren Erkenntnisse er zu sammeln gedenkt, um „mir daraus eine Geschichte des Menschlichen Geschlechts“ zu machen.81 Welche Faktoren müsste eine solche Geschichte berücksichtigen? Laut Herder sind es vor allem die bei Montesquieu zu wenig in die Systematik einbezogenen außereuropäischen Völker: 79 80 81
Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte (wie Anm. 68), S. 88. Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 45. Vgl. S. 30: „Hiezu will ich in der Geschichte aller Zeiten Data sammlen“. Ebd., S. 45.
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Und in Asien, Africa, Amerika? O die Völker sind wild, und die wilden Völker sind denke ich, was Sitten, Gewohnheiten und Eigenschaften sind, am meisten zu studieren. Geschriebnes Gesetz ist ein Schatten, lebende Sitte und Gewohnheit ist ein Körper: diese das Bild, jene die Überschrift. Und diese lebendigen Bilder hat Montesquieu zu wenig studiert zu wenig gekannt. Er war zu wenig Mensch, und zu sehr Bürger eines Monarchischen Staats, zu wenig nat[ürlicher] Philosoph und zu sehr Präsident, als sie in rechter Kraft studieren zu können. Sein Buch mag also Metaphysik für ein totes Gesetzbuch sein, Metaphysik zur Bildung der Völker ists nicht.82
Hier findet sich der für Herders Geschichtsphilosophie entscheidende Gedanke, dass nicht die Gesetze, sondern die Sitten – und damit ein Teilkomplex dessen, was er später selbst Kultur nennen wird – ausschlaggebend für das Studium politischer und gesellschaftlicher Einheiten sei. Neben den lois werden im XIX. Buch des Esprit des Lois die mœurs und manières als Komponenten des esprit général beschrieben. Montesquieu geht nur bei einigen Gesellschaften, etwa denjenigen der Römer, von einer Vorrangstellung der Gesetze aus, während er im Falle Chinas eine Herrschaft der Sitten konstatiert. Diese Differenzierung geht Herder offenbar nicht weit genug, denn seiner Ansicht nach folgen die Gesetze stets den Sitten. Er fordert zudem ein intensiveres Studium der außereuropäischen Völker. In Abgrenzung zu Montesquieus Fokussierung auf die Gesetze und den Geist der Gesetze entwickelt Herder in den Gedanken ein weiteres Projekt: Ein Buch zur Bildung der Völker fängt bei lebendigen Beispielen, Gewohnheiten, Erziehung an, und hört bei dem Schattenbilde trockner Gesetze auf. Es studiert alle Völker […]. Da wird Geist der Nationen, der Erziehung, der Mittel der Bildung sein Zweck, sein Hauptzweck: alsdenn kommen erst Gesetze, Regierungsform, Zeit […].83
Das hier in nuce entworfene „Buch zur Bildung der Völker“ soll nicht den Geist der Gesetze, sondern vielmehr den „Geist der Nationen“ – Herder spricht an anderer Stelle auch vom „Nationalgeist“84 – zum Gegenstand haben. In welchem Verhältnis steht nun der Begriff des „esprit des lois“ zu demjenigen der „Geist der Nationen“? Zur Beantwortung dieser Frage muss zunächst kurz auf die Begriffe „esprit“ und „esprit général“ in Montesquieus Hauptwerk eingegangen werden. Der Schlüsselbegriff „esprit des lois“ bezeichnet die Gesamtheit der Bezüge (relations), die die Gesetze zu den Dingen haben. Dies ist eine voraussetzungsreiche Definition, die nicht alle zeitgenössischen Kommentatoren überzeugt hat. Wie oben erwähnt, hatte der Übersetzer der von Herder verwendeten ersten deutschen Ausgabe des Werks Schwierigkeiten mit dem Begriff „esprit“ und vermied ihn deshalb im Titel. Herder selbst führte solche Übersetzungsschwierigkeiten auf die
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Herder: Gedanken bei Lesung Montesquieus (wie Anm. 36), S. 205f. Die Ausdrücke „lebende Sitte“ und „lebendige Bilder“ verweisen auf die Bedeutung des Lebens als Schlüsselbegriff des Reisejournals. Siehe dazu K. Mommsen: Nachwort (wie Anm. 34), S. 206‒210. Herder: Gedanken bei Lesung Montesquieus (wie Anm. 36), S. 206. Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 46.
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Unklarheit des Originals zurück.85 Im Reisejournal erklärt er seinen Verzicht auf den „Esprit der Franzosen, der Montesquieu so verunziert“.86 In der oben zitierten Passage aus seiner ersten Geschichtsphilosophie geißelt er dann Montesquieus Benutzung „leerer, unnützer, unbestimmter, allverwirrender Espritworte“.87 Herders vehemente Abgrenzung vom esprit-Begriff darf uns allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine eigene Begrifflichkeit eine nicht unbeträchtliche Affinität zu derjenigen Montesquieus aufweist. Herders „Geist der Nationen“ kann in mehrerer Hinsicht mit Montesquieus Begriff des „esprit général“ verglichen werden, der im XIX. Buch des Esprit des Lois eingeführt wird. Gegenüber dem „esprit des lois“ ist der Begriff des „esprit général“ deutlich erweitert und konzeptuell angereichert. Das vierte Kapitel des XIX. Buchs liefert eine Definition dieses Begriffs: Plusieurs choses gouvernent les hommes, le climat, la religion, les lois, les maximes du gouvernement, les exemples des choses passées, les mœurs, les manières, d’où il se forme un esprit général qui en résulte. A mesure que, dans chaque nation, une de ces causes agit avec plus de force, les autres lui cèdent d’autant.88
Der „esprit général“ bündelt somit die in einer Gesellschaft wirkenden Faktoren und fasst sie zu einem Zentralkonzept zusammen. Vom letzterem können die einzelnen Charakteristika einer Gesellschaft dann wieder abgeleitet werden. Dem Begriff „esprit“ wohnt, ähnlich wie demjenigen des „Geistes“, die alchemistische Bedeutung einer aus einem Destillationsprozess resultierenden Essenz inne.89 Seine Ähnlichkeit mit Herders „Geist der Nationen“ besteht vor allem darin, dass in beiden Begriffen die unterschiedlichen in einer Gesellschaft wirkenden Faktoren auf einen Begriff gebracht werden.90 Der entscheidende Unterschied zwischen Montesquieu und Herder liegt in der jeweiligen Zusammensetzung dieser Faktoren und in der verschiedenen Akzentsetzung innerhalb des Faktorenbündels. Der Begriff „Geist der Nation“ kann damit als eine Erweiterung und Neubestimmung des „esprit général“ interpretiert werden, auch wenn Herder selbst den Einfluss des „esprit“-Konzepts auf sein Denken nicht explizit thematisiert. 85 86 87 88
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Ebd., S. 83. Ebd., S. 108. Zitat wie Anm. 79. Montesquieu: De l’Esprit des Lois (wie Anm. 12), S. 461. „Mehrere Dinge regieren die Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Staatsmaximen, Beispiele aus der Geschichte, Sitten, Lebensstil. Aus all dem bildet sich als ihr Ergebnis ein Gemeingeist. In dem Maße, wie bei jeder Nation eine dieser Ursachen mit größerer Stärke einwirkt, werden die anderen dementsprechend zurückgedrängt“ (Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, wie Anm. 45, S. 295). Céline Spector: Le vocabulaire de Montesquieu. Paris 2001, S. 27. Herders Geistbegriff hat zudem tiefgehende theologische Implikationen. Siehe dazu den Kommentar des Herausgebers in Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 1352f. Vgl. Odo Marquard: Art. Geist. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter. Bd 3. Basel u. Stuttgart 1974, Sp. 154‒204, insb. Sp. 182.
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Der „Geist der Nationen“ ist allerdings nur einer von mehreren Begriffen, die Herder als Gegenkonzepte zu Montesquieus „esprit“-Begriff formuliert. Ein weiterer, ebenfalls einflussreicher ist der „Geist der Zeit“. Die Entwicklung und Entfaltung der politischen Entitäten innerhalb der Zeit ist ein entscheidender Aspekt von Herders oben zitierter Antwort auf die von ihm als statisch empfundene Verfassungslehre Montesquieus. Die Dimension der Zeit muss daher notwendigerweise mitgedacht werden, um den „Geist der Nationen“ erfassen zu können, wie Herder in den Gedanken betont: [K]eine Regierungsform dauret: die Zeit ändert mit jeder Minute – eine andre Unvollkommenheit des Montesqu. Buchs. Seine Französische Monarchie, auf wenn gilt sie? wie haben sich die Sitten geändert? wie ändern sie sich? Die Politische Geographie also die er entwirft ist nichts: sie ist so wandelbar, wie die Geschichte der Völker selbst: die ein schwebendes Bild ist: das sich über Völker und Zeiten fortwälzt.91
Die essentielle Zeitlichkeit einer jeden Verfassung nicht erkannt zu haben, stellt Herder zufolge eine weitere Unzulänglichkeit des Montesquieu’schen Ansatz dar. Montesquieus Bild von Völkern und Verfassungen ist ihm zu statisch, er sieht darin einen gescheiterten Versuch einer „Politische[n] Geographie“, in welcher die Dimension der Entwicklungen innerhalb der Geschichte der Völker nicht genügend berücksichtigt wird. Wir haben bereits gesehen, dass Herder die Abfolge der römischen Staatsverfassungen als eine Reihe nie mit sich selbst identischer Verfassungen betrachtete. Diese Grundeinsicht gilt es zu berücksichtigen, wenn man die Prinzipien des Esprit des Lois auf ein anderes Montesquieu’schen Thema, den „Geist der Römer“, anzuwenden anstrebt.92 Den Kategorien Raum und Zeit entspricht Herders Unterscheidung zwischen einer „Politische[n] Geographie“ und einer „Geschichte der Völker“. Während Montesquieu den Raum abschreitet, besteht Herder auf der Kategorie der Zeit. Sein „Geist der Nation“ steht damit in direktem und notwendigem Zusammenhang mit dem „Geist der Zeit“ oder „Zeiten“ (Herder verwendet sowohl den Singular als auch den Plural).93 „Von diesem Geist der Zeit hängen Sprachen, wie Regierungen ab“, schreibt Herder im Reisejournal.94 Aus diesem wird bekanntlich in Herders Wortschöpfung der „Zeitgeist“.95 Überdies verwendet Herder im Reisejournal Begriffe wie „der Geist der 91 92 93 94 95
Herder: Gedanken bei Lesung Montesquieus (wie Anm. 36), S. 206. Siehe Anm. 63. Herder verwendet auch den Begriff „Geist ihres Zeitalters“, vgl. Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 31 und den Kommentar des Herausgebers in ebd., S. 1152. Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 90. Vgl. „Geist der Gesetze, Zeiten, Sitten und Künste“ in ders.: Auch eine Philosophie der Geschichte (wie Anm. 68), S. 88. Zur Begriffsgeschichte von „Zeitgeist“ siehe die Beiträge von Markus Meumann: Der Zeitgeist vor dem Zeitgeist. Genius saeculi als historiographisches, mnemonisches und gegenwartsdiagnostisches Konzept im 17. und 18. Jahrhundert und Theo Jung: Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert. Dimensionen eines umstrittenen Begriffs. In: Achim Landwehr (Hg.): Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution. Bielefeld 2012, S. 283‒318, 319‒355.
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Kultur“, „der Kriegerische und Religionsgeist“ sowie „der Kommerz- Finanzenund Bildungsgeist“.96 Das Journal und die Gedanken legen folglich nahe, dass trotz aller Kritik am Esprit des Lois die Herderʼschen Konzeptionen vom „Geist der Nation“ und dem „Geist der Zeit“ in einem nicht unbeträchtlichen Maß vom Montesquieu’schen „esprit“ beeinflusst wurden.97 Die Beziehung zwischen Montesquieus „esprit“-Begriff und den verschiedenen Varianten des Geistbegriffs verdeutlicht noch einmal, wie sich Herders Denken zugleich in Abgrenzung von und aufbauend auf den Esprit des Lois entwickelte. Zusammenfassend kann man sagen, dass Montesquieu für Herder einen Vorläufer darstellt, dessen Denken er sich bis zu einem gewissen Grad aneignet, von dem er sich aber auch bewusst und zum Teil vehement abgrenzt. Dabei stellt er sein eigenes projektiertes Werk als Fortsetzung und als Gegenprogramm zu demjenigen Montesquieus dar. Der zentrale Prüfstein bestand dabei in der Frage, wie Montesquieus Prinzipien „verstanden, vermehrt, ausgefüllt, recht angewandt“ werden müssen.98 Herders Kritikpunkte an Montesquieu werden entsprechend gefolgt von eigenen Plänen, die im Reisejournal und in den Gedanken mindestens ebenso viel Platz und Bedeutung einnehmen. Diese Pläne kulminieren in seiner Aussage, „[e]in zweiter Montesquieu“ sei vonnöten, um dessen Einsichten – in abgewandelter Form – anwenden zu können.99 Diesen Anspruch erhebt Herder implizit an sich selbst. Ein höheres Ziel ist kaum denkbar, und entsprechend sind Herders Ausführungen seiner diesbezüglichen Pläne voller Pathos.100 Dieser Anspruch bleibt nicht auf den unmittelbaren Hintergrund, den Frankreichaufenthalt und die Überlegungen zur Gesetzgebung Russlands, beschränkt, sondern taucht viele Jahre später in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit wieder auf: O daß ein andrer Montesquieu uns den Geist der Gesetze und Regierungen auf unsrer runden Erde nur durch die bekanntesten Jahrhunderte zu kosten gäbe! Nicht nach leeren Namen dreier oder vier Regierungsformen, die doch nirgend und niemals dieselben sind oder bleiben; auch nicht nach witzigen Prinzipien des Staats: denn kein Staat ist auf Ein Wortprincipium gebauet, geschweige daß er dasselbe in allen seinen Ständen und Zeiten unwandelbar erhielte; auch nicht durch zerschnittene Beispiele, aus allen Nationen, Zeiten und Weltgegenden, aus denen in dieser Verwirrung, der Genius unsrer Erde selbst kein Ganzes bilden würde: sondern allein durch die philosophische, lebendige Darstellung der bürgerlichen Geschichte, in der, so einförmig sie scheinet, keine Szene zweimal vorkommt und die das Gemälde der Laster und Tu-
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Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 44, 48. Vgl. dazu den Kommentar des Herausgebers in ebd., S. 950f.: „Montesquieus Lehre vom esprit général wurde in Herders historischem Denken zur Idee des Zeitgeistes weiterentwickelt“. 98 Herder: Journal meiner Reise (wie Anm. 7), S. 84. 99 Ebd., S. 87: „[...] und nun wo ist Montesquieu an seiner Stelle. – – Ein zweiter Montesquieu, um ihn anzuwenden!“ 100 Ebd., S. 108.
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genden unsres Geschlechts und seiner Regenten, nach Ort und Zeiten immer verändert und immer dasselbe, fürchterlich-lehrreich vollendet.101
Hier wird noch einmal die Kritik an Montesquieus Verfassungslehre und seiner unzureichenden Faktenbasis rekapituliert und als Gegenentwurf eine „philosophische, lebendige Darstellung der bürgerlichen Geschichte“ gefordert, die sowohl den steten Veränderungen als auch den Kontinuitäten des menschlichen Geschlechts gerecht wird.
VI. „Ein zweiter Montesquieu“ Herders Auseinandersetzung mit Montesquieu ist von zentraler Bedeutung für die Ausprägung seiner eigenen Geschichtsphilosophie. Seine frühen Schriften legen nahe, dass er seine geschichtsphilosophischen Überzeugungen in direkter Auseinandersetzung mit Montesquieu entwickelt hat. Die Lektüre und Kritik des Esprit des Lois erscheinen somit als ein Prozess, in dem Herder sich trotz aller Absetzung von Montesquieus System dessen Methode und „esprit“-Begriff zu eigen machte und sie durch Neuakzentuierung und Verbindung mit anderen Elementen in ein komplexeres und reicheres konzeptuelles Vokabular zu übersetzen suchte. Kennzeichnend ist dabei sein Bemühen, in mehreren entscheidenden Punkten über das Denken Montesquieus hinauszugehen, etwa durch die stärkere Einbeziehung der Dimensionen der Zeit und der Sprache. Da Herder den Esprit des Lois als herausragendes aber auch zeittypisches Produkt der Aufklärung – als „gothisches Gebäude im philosophischen Geschmack seines Jahrhunderts“ – auffasste, kann seine Auseinandersetzung mit diesem Werk zugleich auch als eine mit der französischen Aufklärung verstanden werden.102 In dieser Hinsicht kann Herders polemischer Bezug auf Montesquieu mit demjenigen auf Voltaire verglichen werden.103 Die kritische Haltung, die Herder im Reisejournal und in seiner fünf Jahre später veröffentlichten Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte gegenüber der französischen Aufklärungsphilosophie insgesamt zeigt, ist auch für seine Auseinandersetzung mit Montesquieu kennzeichnend. Jenseits des französischen Kontexts wäre eine Reihe weiterer Denker zu nennen – insbesondere David Hume, Isaak Iselin oder Johann Joachim Winckelmann –, deren Einfluss auf Herders Geschichtsphilosophie ebenfalls nachweislich bedeutsam gewesen ist.104 Damit ist die Lektüre des Esprit des Lois ein integraler und bedeutender Bestandteil von Herders ambivalen101 102 103 104
Herder: Ideen zur Philosophie (wie Anm. 23), S. 371f. Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte (wie Anm. 68), S. 88. Vgl. dazu Maurer: Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder (wie Anm. 8), S. 141‒155. Zu Herders Auseinandersetzung mit Winckelmann siehe Décultot: „Voll volltrefflicher Grundsätze“ (wie Anm. 41) und dies.: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Übers. v. Wolfgang von Wangenheim u. René Mathias Hofer. Ruhpolding 2004, S. 104f.
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tem Verhältnis zu dem vom ihm durchaus als Einheit aufgefassten aufgeklärten Geschichtsdenken.105 Fragt man nun abschließend nach dem Kern seiner Auseinandersetzung mit Montesquieu, so kann dieser in der komplexen Verhältnisbestimmung von Individuellem und Allgemeinem verortet werden. Damit deutet sich in Herders Denken eine Spannung an, welche die geschichtsphilosophischen Grundsatzdebatten des 18. Jahrhunderts insgesamt kennzeichnet. In den Worten von Hans Adler besteht die Aufgabe der Geschichtsphilosophie darin, das irreduzible Individuelle mit den allgemeingültigen Prinzipien der Geschichtsphilosophie zu vermitteln. Gerade das aber, die Vermittlung des irreduziblen Individuellen mit dem Allgemeinen ist ein Problem der Geschichtsphilosophie. Denn in dieser Konfrontation realisiert sich der Widerspruch von Verzeitlichung und Entzeitlichung. Während das Individuelle der vorherrschenden Erkenntnislehre des 18. Jahrhunderts nur als Gegenwärtiges, als hic et nunc erfahren werden kann, also in der radikalen Verzeitlichung der Phänomena, ist das Prinzipielle in seinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit entzeitlicht auf panchronistische Gültigkeit angelegt.106 Wenn die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts mithin durch einen Widerspruch innerhalb der Verhältnisbestimmung von Individuellem und Allgemeinem gekennzeichnet ist, so kristallisiert sich dieser Widerspruch in exemplarischer Weise in der hier untersuchten Auseinandersetzung mit Montesquieu heraus. Herder fordert nicht allein eine größere Berücksichtigung des Individuellen, sondern darüber hinaus eine stärkere Anerkennung des zeitlichen Wandels, dem die individuellen Phänomene unterliegen. Die hier von Adler beschriebene radikale Historisierungstendenz innerhalb der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts findet sich mithin beim frühen Herder in besonderer Ausprägung. Herder war keineswegs der erste, der Individualität und Zeitlichkeit betonte, allerdings setzte seine besonders nachdrückliche Betonung und konsequente Berücksichtigung des Individuellen die Agenda für die nachfolgende Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung.107 Das Individuelle und Besondere dient in der Geschichtsschreibung der Spätaufklärung oft als Korrektiv des Allgemeinen und Universellen. Im Zuge der Neubestimmung des Verhältnisses von Individuellem und Allgemeinem kommt den von Herder eingeforderten „Data“ eine besondere Korrektivfunktion zu, da mit ihrer Hilfe auf ungenügender Faktenbasis getroffene
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Vgl. Brummack: Herders Polemik gegen die „Aufklärung“ (wie Anm. 8), S. 277–293. Hans Adler: Grenzen des historischen Denkens oder: Wie historisch ist J.G. Herders Geschichtsphilosophie? In: Peter Andraschke u. Helmut Loos (Hg.): Ideen und Ideale. Johann Gottfried Herder in Ost und West. Freiburg i.Br. 2002, S. 33‒43, hier S. 40. 107 Siehe dazu Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760‒1860. Berlin u. New York 1996, S. 183‒227 und Stefan Jaeger: Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel. Berlin u. Boston 2011, S. 123‒180.
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Verallgemeinerungen korrigiert werden können.108 Dass Herder eine weitgehendere Berücksichtigung von Daten und Fakten auf die Agenda der Geschichtsschreiber setzen möchte, wird in seiner kritischen Auseinandersetzung mit zwei der führenden Geschichtstheoretikern seiner Zeit, den Göttinger Historikern Johann Christoph Gatterer und August Ludwig Schlözer deutlich.109 Die angemessene Berücksichtigung, ja sogar Würdigung des Individuellen und Spezifischen sowie die Neubestimmung von dessen Verhältnis zum Allgemeinen und Universellen werden in der Folge zu zentralen Aufgabe der Geschichtsphilosophie und der Geschichtsschreibung des frühen Historismus. Herders Konzeptionen sind in verschiedener Form und Bedeutung in die Geschichtsphilosophie der deutschen Spätaufklärung, der Weimarer Klassik, der Romantik und nicht zuletzt Hegels eingegangen.110 In gewisser Hinsicht ist Herder somit tatsächlich „[e]in zweiter Montesquieu“ geworden, wenn auch nicht in der von ihm intendierten Weise. Wenn wir überdies die zentrale Stellung bedenken, die Herders Geschichtsdenken innerhalb der Vor- und Entstehungsgeschichte des Historismus zugewiesen wurde, wird die weitreichende Bedeutung und Nachwirkung seiner Auseinandersetzung mit Montesquieu noch augenfälliger. Die Verbindung zwischen Herders Lektüre Montesquieus und der Entstehung seiner Geschichtsphilosophie bildet damit eine Grundlage für die indirekte Einwirkung des Esprit des Lois auf die von Herder beeinflussten geistigen Strömungen der Sattelzeit. Insofern kann Montesquieus Esprit des Lois als ein entscheidender Katalysator sowohl für Herders eigenes Geschichtsdenken als auch für die Entwicklung der 108
Jaeger hat in dieser Hinsicht auf eine erhellende Parallele zwischen Herders geschichtsphilosophischen Werken und die als Zivilisationsgeschichtsschreibung konzipierte Reise um die Welt (1778/80) seines Zeitgenossen Georg Forster hingewiesen: „Zugleich haben Forster und Herder mit einem Widerspruch zwischen allgemeinen Gesetzen und der Erfahrung von Individualität zu kämpfen, sodass der Geschichtsprozess […] das Notwendige einer Entwicklung ausdrücken muss, ohne das Besondere zu stark zu abstrahieren oder zu verallgemeinern. Bei Forster dient die konkrete Erfahrung und Beobachtung des Reisenden als Korrektiv des Allgemeinen durch das Besondere; bei Herder erfüllen die kontingenten Daten und Ereignisse der Geschichte diese Funktion“ (Jaeger, Performative Geschichtsschreibung, wie Anm. 107, S. 123). 109 In seiner Rezension von Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772 fordert Herder von Schlözer mehr „Fakta“. Siehe hierzu den Beitrag von Markus Hien in diesem Band und vgl. Fulda: Wissenschaft aus Kunst (wie Anm. 107), S. 191‒227, hier S. 200. Zum Streit zwischen Herder, Schlözer und Gatterer siehe auch Martin Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang. Stuttgart 2012, S. 365‒386. 110 Hierzu gehört auch Herders kaum zu überschätzende Wirkung auf Goethe und Hegel. Vgl. dazu Michael N. Forster: After Herder. Philosophy of Language in the German Tradition. Oxford 2010, S. 9. Goethe nennt seine Begegnung mit Herder in September 1770 „das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich haben sollte“ (Goethe: Sämtliche Werke, wie Anm. 58, Bd. 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. KlausDetlef Müller. Frankfurt a.M. 1986, S. 438). Siehe dort auch Goethes Charakterskizze Herders (ebd., S. 438‒451), den er als „mehr von dialektischem als konstruktiven Geiste“ beschreibt (ebd., S. 971).
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späteren Geschichtsphilosophie im deutschen Sprachraum angesehen werden. Bezogen auf die europäische Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts lässt sich dieser Sachverhalt daher mit einigem Recht auf die Formel zuspitzen: ohne „esprit“ kein Geist.
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Mascovisch richtig oder voltairisch schön? Herders ‚idiotistische Geschichtsschreibung‘ im Wettkampf der Nationen Der Göttinger Staatswissenschaftler und Historiker August Ludwig Schlözer reagierte reichlich verschnupft auf Johann Gottfried Herders kurze, aber scharfe Rezension der Vorstellung seiner Universal=Historie (1773). Dass ausgerechnet der Geschichtsphilosoph von dem ‚Berufshistoriker‘ mehr Fakten einforderte, da dieser nur leere Deklamationen ohne Belege präsentiert habe, eben lediglich ‚Vorstellungen’, aber keine wahrhafte Geschichte, verwundert auf den ersten Blick. Schlözer antwortete Herder als angesehener Vertreter der historischen Disziplin und verwies den Konsistorialrat ex cathedra des Platzes. Und doch schien ihm eine Antwort nicht nur nötig, sie wuchs sogar zu einem bemerkenswerten Umfang von beinahe 200 Seiten an. Herder wolle offenbar, heißt es dort, „daß ein Historiker [nicht] anders als im Annalen= und Compendienstyl schreibe. […]. Der Historiker schleppe Facta zusammen, ganze Capitel voll Facta, und Hr. Herder verarbeite sie zu schönen Geschichten“.1 Mit dieser Herder unterstellten Arbeitsteilung war der Professor natürlich nicht zufrieden: Ein bloßes „Aschenbüdel“ im „Mönchsstyl“ sei zwar „ein ganz nützliches züchtiges Ding“, aber wie ein Lehrbuch im „Compendienstyl“ – nach Schlözer immerhin eine „ehrbare Matrone“ – nicht das eigentliche Ideal der Historie. „Eine Geschichte in wirklich schönem Styl, Voltairisch=schön und Mascouisch=richtig, ist das Schnittermädchen des Himmels“,2 so Schlözer, der mit dem Bild des ‚Schnittermädchens Persephone‘ auf die Verbindung von gründlicher Quellenarbeit in den Untiefen des Archivs und des Fußnotenapparats – dem Hades – mit der schönen Schreibkunst – dem luftigen Olymp – anspielt. Auf den Dissens zwischen Schlözer und Herder wird zurückzukommen sein.3 Er illustriert zunächst allein die Grundspannung in der deutschen Aufklärungshistorie, wie sie in der Forschung mit ganz unterschiedlichen Akzenten beschrieben 1 2
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August Ludwig Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie. Bd. 2. Göttingen u. Gotha 1773, S. 384. Ebd., S. 383. Der Wunsch nach einer Zusammenführung von schöner und gelehrter Schreibart ist im 18. Jahrhundert geradezu topisch; vgl. dazu Gotthold Ephraim Lessing: 52. Literaturbrief, 23. August 1759. In: Ders.: Werke. 8 Bde. Hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 5. München 1973, S. 185‒191, hier S. 185. Vgl. Robert S. Leventhal: Progression and Particularity. Herder’s Critique of Schlözer’s Universal History in the Context of his Early Writings. In: Wulf Koepke (Hg.): Johann Gottfried Herder. Language, History and the Enlightenment. Columbia S.C. 1990, S. 25–46; Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996, S. 191–227.
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wurde.4 Im Folgenden steht jedoch nicht die Konstituierung des historischen Denkens im Laufe der Sattelzeit zur Rede,5 sondern die nationale Opposition, die im deutschen Diskurs des 18. Jahrhunderts immer mitschwang, wenn es um die Frage nach einer vollkommenen Geschichtsschreibung ging. Hier herrschte eine klare Rollenverteilung: die romanhafte Geschichtsdarstellung der Franzosen (‚voltairisch=schön‘) auf der einen und die wissenschaftliche Verlässlichkeit und Gründlichkeit der deutschen Geschichtsforschung (‚mascouisch=richtig‘) auf der anderen Seite. Wie bei jedem Nationalstereotyp handelte es sich dabei um eine gleich mehrfach schiefe, ja unzutreffende Vereinfachung – und doch prägte sie die Rhetorik und Wahrnehmung sowohl der Fachgelehrten als auch der breiteren Öffentlichkeit. Ohne die sozialen und politischen Rahmenbedingungen – und das heißt nicht zuletzt ohne das vielstaatliche Gebilde des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation – ist diese nationale Diktion der deutschen Aufklärungshistorie kaum zu erklären. Dass das Reich nicht einfach eine quantité négligeable war und die politische Geschichte Deutschlands im 18. Jahrhundert mit dem Stereotyp des kleinstaatlichen Absolutismus falsch, jedenfalls unzureichend beschrieben ist, hat die Reichsforschung der letzten Jahrzehnte von Karl Ottmar Freiherr von Aretin bis zu Georg Schmidt gründlich herausgestellt.6 Auch für die Frage nach der deutschen Geschichtsschreibung im Aufklärungszeitalter ist das von Bedeutung. In zweifacher Art und Weise lieferte das Reich hier wesentliche Koordinaten:7 zum einen für die Entstehung einer spezifischen Wissenschaftsdisziplin, die an Bedeutung für das 18. Jahrhundert meist unterschätzt oder schlicht ignoriert wird – die ‚Reichspublicistik‘ –, zum anderen aber als strukturgeschichtliche Hypothek für die Ausbildung einer nationalen Öffentlichkeit und für die Forderung nach einer publikumswirksamen Geschichtsschreibung zur deutschen Geschichte. Beide Aspekte sollen mit Blick auf Herder herausgearbeitet werden, um auf diese Art zeigen zu können, wie sehr der Reichskontext von Bedeutung war – selbst, vielleicht sogar besonders für Schwellenfiguren auf dem Weg zur narrativen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts.8
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Fulda: Wissenschaft aus Kunst (wie Anm. 3); Johannes Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstruktionslogik von Geschichtserzählung zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). Stuttgart 2000. Vgl. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979, S. 38–66. Karl Otmar v. Aretin: Das Alte Reich 1648–1806. 4 Bde. Stuttgart 1993–2000; Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert. München 2009. Weitere Punkte wie die besondere Rolle der Universitäten ließen sich natürlich ergänzen. Vgl. dazu Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? (wie Anm. 4), S. 57. Für den folgenden Aufsatz konnte ich auf Teile meiner jüngst erschienenen Dissertation zurückgreifen: Markus Hien: Altes Reich und Neue Dichtung. Literarisch-politisches Reichsdenken zwischen 1740 und 1830. Berlin u. Boston 2015, S. 151–186.
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Die ‚Reichspublicistik‘ und die (erste) Germanisierung der Fußnote9
Vieles von dem, was zur ‚Reichspublicistik‘ als wissenschaftlicher Disziplin der deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts zu sagen ist, erklärt sich aus der Wechselwirkung mit Kirchengeschichte, klassischer Philologie und Gelehrtenhistorie.10 In bewusster Engführung soll jedoch nur nach dem spezifisch nationalen Duktus der historisch arbeitenden Rechtswissenschaft gefragt werden. Die ‚Reichspublicistik‘, das ius publicum romano-germanicum, war eine Geburt der europäischen Krise des 17. Jahrhunderts.11 Entstanden aus der politischkonfessionellen Reichskrise um 1600 erhielt sie bis um 1700 eine relativ stabile disziplinäre Ausprägung.12 Die Hochburgen dieser zur „Königsdispziplin“13 der Universitäten des Reichs aufgestiegenen Rechtswissenschaft waren im 18. Jahrhundert unbestritten Halle und Göttingen.14 In den Händen der Reichsstaatsrechtsprofessoren lag die Ausbildung zahlreicher Juristen und Beamten nicht nur für die Reichsebene, sondern als paradigmatisches Studium auch für die kleineren Territorien.15 Ihre Methode verdankte sie zu großen Teilen den philologischhumanistischen Rechtsschulen aus Frankreich und den Niederlanden. Der Rechtsvielfalt des Alten Reichs schien man nur durch die historisch-pragmatische Beschreibung des Reichsherkommens und seiner unterschiedlichen Rechtsquellen entsprechen zu können: „Quod in caeteris Juris disciplinis ratio praestat, id in jure publico Germaniae historia“, schrieb der Jurist Heinrich von Cocceij 1695.16 9
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Grafton zeigt in seinem Essay „Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote“, wie sehr die spätere Stilisierung Rankes zum Erfinder der historisch-kritischen Arbeitsweise im Widerspruch zur historischen Genese der Fußnoten- und Zitatpraxis in den geisteswissenschaftlichen Forschungen und auch zu Rankes historiographischen Anfängen steht. Daher wird hier für das 18. Jahrhundert polemisch von einer ersten Germanisierung gesprochen. Vgl. Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Berlin 1995. Notker Hammerstein: Der Anteil des 18. Jahrhunderts an der Ausbildung der historischen Schulen des 19. Jahrhunderts. In: Karl Hammer u. Jürgen Voss (Hg.): Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Bonn 1976, S. 432–450. Grundsätzlich dazu Paul Hazard: Die Krise des europäischen Geistes. Hamburg 1939; vgl. daran anschließend Peter Hanns Reill: The German Enlightenment and the Rise of Historicism. Berkeley, Los Angeles u. London 1975. Vgl. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 6 Bde. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988. So z.B. Wolfgang Burgdorf: Der Hauptschluss der außerordentlichen Reichsdeputation. In: Peter Schmidt u. Klemens Unger (Hg.): 1803. Wende in Europas Mitte. Vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter. Regensburg 2003, S. 425–427, hier S. 427. Vgl. Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Göttingen 1972. Vgl. Wolfgang Burgdorf: Die reichsrechtliche Peregrinatio academica im 18. Jahrhundert. In: Anette Baumann u.a. (Hg.): Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich. Köln 2003, S. 21–57, hier S. 24. Heinrich von Cocceji: Juris publici prudentia compendio ehibita. Frankfurt a.O. 1695, zit. nach Michael Stolleis: Die Historische Schule und das öffentliche Recht. In: Ders. (Hg.):
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Mit der Reichshistorik bildete sich – zusammen mit Staatenkunde, Litterärgeschichte und anderen Subdisziplinen – im Rückgriff auf humanistische Traditionen und Methoden die geeignete historische Hilfsdisziplin der Staatsrechtler aus.17 „Die Teutsche Reichs-Historie“, erläutert Johann Stephan Pütter, „hat zu ihrem eigentlichen Gegenstande, daß man diejenigen Begebenheiten in ihrem Zusammenhange kennlerne, welche dazu dienen, den heutigen Zustand des Teutschen Reichs aus seinen Gründen einzusehen“ [Hervorh. M.H.].18 Ihre Aufgabe könne es nicht allein sein, „Ordnung unter den Kaysern zuhalten / und ohngefehr ihre Lebens und Sterbens=Jahre / ihre Kriege / und andere geringe Dinge abzubilden“.19 Vielmehr müsse es sich um eine Geschichte der Institutionen, des Rechts und des Herkommens handeln. Die Reichgeschichte galt den pragmatischen Juristen und Historikern von Gundling über Schmauß bis Pütter als ein großes Netz kausaler Beziehungen.20 Deduktive Systeme lehnten sie als scholastische Verzerrung der Realität ab, suchten dem rationalen Systemgedanken des Aufklärungszeitalters aber auf induktivem Weg zu entsprechen.21 Das Plädoyer für eine pragmatische Ordnung, die nicht einfach alle Daten und Fakten anhäuft, sondern nur die ‚merkwürdigen‘ Tatsachen der Geschichte logisch verknüpft, ist allerdings meist mehr als Ermahnung denn als Zustandsbeschreibung zu lesen.22 Ein Mann wie Pütter erlangte freilich für seine luziden, systematischen und problem-
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Konstitution und Intervention. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt a.M. 2001, S. 33–46, hier S. 35. Notker Hammerstein: Reichshistorie. In: Hans Erich Bödeker u.a. (Hg.): Aufklärung und Geschichte. Göttingen 1986, S. 82–104. Johann Stephan Pütter: Vollständiges Handbuch der Teutschen Reichs-Historie. Bd. 1. Göttingen 1762, S. 1, § 1; ebenso Johann Jacob Schmauß: „Soll nun auch eine teutsche Historie pragmatisch seyn, so muß vornehmlich auf die heut zu Tage in Teutschland festgesetzte Verfassung und alle derselben Theile gesehen, derselben Ursprung und Abwechselungen von einer Zeit zur andern angemerckt, und allemahl aus den vorgefallenen Begebenheiten Schlüsse auf das Jus publicum gemacht werden“ (Johann Jacob Schmauß: Kurzer Begriff der Reichs=Historie […]. 3. Aufl. Leipzig 1740, S. 2, § VIII). Nicolaus Hieronymus Gundling: Abriß zu einer rechten Reichs=Historie / Welche er in einem Collegio Priuato seinen Zuhörern deutlicher erklären wird. Magdeburg 1707, Vorrede, o.S. Vgl. Pütter: Vollständiges Handbuch der Teutschen Reichs-Historie (wie Anm. 18), Abschnitt „Vorbereitung“; Schmauß: Kurzer Begriff der Reichs=Historie (wie Anm. 18), hier insb. die Prinzipien auf S. 1–3 in zehn Paragraphen. Vgl. dazu Reill: The German Enlightenment (wie Anm. 11), S. 35f., 57. Vgl. den Unterschied zwischen „esprit de système“ und „esprit systématique“ im Kapitel über die Denkform des Zeitalters der Aufklärung bei Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 2007, S. 1–36, insb. S. 5–8. „Wenn man die historischen Schrifften von unserm Vaterland durchgehet, so findet man, daß sie nicht so wohl rechten wohnbaren Gebäuden, die fest zusammen halten, ähnlich sind, als vielmehr einem grossen Hauffen zusammen getragener Materialien, der etwan wiederum in einige kleine Hauffen abgetheilet auf dem Platze lieget, wo das Gebäude erst noch aufgerichtet werden soll“ (Schmauß: Kurzer Begriff der Reichs=Historie, wie Anm. 18, S. 15, Vorrede).
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geschichtlichen Überblicksdarstellungen zur Reichsgeschichte, die natürlich nicht minder auf eigener Quellenforschung ruhten, weithin Berühmtheit.23 Der ‚reichspublicistische‘ Arbeitsschwerpunkt lag in einem empirischen Verfahren, im methodisch kompetenten Sammeln und Kommentieren unterschiedlicher Rechtsquellen, in Spezialstudien zu Rechtsfragen und in Kompendien, die den Stoff systematisierend für das Studium darlegten. An die Stelle des überkommenen universalistischen Ordnungsschemas der Translatio-Imperii-Lehre war dank Hermann Conring und anderer die Historisierung und Positivierung der Reichsverfassung – des ‚Reichskörpers‘, wie es immer wieder heißt – getreten.24 Johann Jacob Moser sammelte und kommentierte eine Unzahl an Reichsgesetzen, die für die Rechtspraxis von unmittelbarer Relevanz waren.25 Für sämtliche ‚Dichterjuristen‘ der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörte die historisch-kritische Arbeitsweise der ‚Reichspublicisten‘ mit voluminösen Quellensammlungen, unzähligen Zitaten, Literaturangaben und Fußnoten zur akademischen Sozialisationserfahrung – man denke an die zahlreichen Sturm und Dränger, die in Göttingen und anderswo ihr Jurastudium absolvierten.26 Der damit gefestigte Wertmaßstab, das empirische Ideal eines ‚gereinigten Grundes‘, charakterisiert, verkürzt gesprochen, eine ganz praktische Seite der aufgeklärten Narrativitätsblockade im Deutschland des 18. Jahrhunderts.27 Nicht nur mussten alle ‚merkwürdigen‘ Tatsachen dem pragmatischen Systemgedanken entsprechend in den nexus rerum universalis integriert werden.28 Die Frage nach einer deutschen Geschichtsschreibung verkomplizierte sich zugleich durch die nationale Konnotation der Bereitstellung gesicherter Fakten auf der einen und der Präsentation eines narrativen Ganzen auf der anderen Seite. In den vielzitierten Klagen über das Manko einer deutschen Geschichtsschreibung von Rang ist beina23
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Das berühmteste Werk Pütters ist allerdings keine Darstellung für den Unterricht, sondern eine Auftragsarbeit für die englische Königin Sophie Charlotte, geborene Herzogin zu Mecklenburg: Johann Stephan Pütter: Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reiches. 3 Bde. Göttingen 1786/87. Zur Translatio-Imperii-Lehre vgl. Werner Goez: Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958. Zum ‚Reichskörper‘ vgl. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 12), Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914. München 1992, S. 123–126. Erwin Schömbs: Das Staatsrecht Johann Jacob Mosers (1701–1785). Zur Entstehung des historischen Positivismus in der deutschen Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts. Berlin 1968. Gerrit Walther: „... uns, denen der Name ,politische Freiheit‘ so süße schallt“: die politischen Erfahrungen und Erwartungen der Sturm und Drang-Generation. In: Christoph Perels (Hg.): Sturm und Drang. Frankfurt a.M. 1988, S. 307–327. Zu den Dichterjuristen vgl. Eugen Wohlhaupter: Dichterjuristen. Bd. 1. Tübingen 1953. Vgl. Fulda: Wissenschaft aus Kunst (wie Anm. 3), S. 49–261; Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? (wie Anm. 4), S. 11–31. Vgl. Johann Christoph Gatterer: Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählung. In: Allgemeine historische Bibliothek 1 (1767), S. 15–89, hier S. 85.
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he nie von der Unmöglichkeit die Rede, ein abstraktes System in ein erzählendes Werk umzuarbeiten, umso häufiger dafür von den Schwierigkeiten, die aus der pedantischen Gelehrsamkeit herrührten.29 Man könne im Wettkampf der Nationen nur Faktensammler und Kompendienschreiber vorweisen, aber keine wirkliche Geschichtsschreibung, referiert die Forschung zutreffend die Mehrheitsmeinung der Aufklärer.30 Auch Johann Joachim Winckelmann litt vor dem Sprung in seine ästhetisch-philosophische Kunstgeschichtsschreibung unter eben dieser urkundensammelnden Polyhistorik, die er in der Bibliothek des Reichshistorikers Johann Peter Ludewig und später bei Heinrich von Bünau als verbindlichen Wertmaßstab kennengelernt hatte. Erst die bewusste Überschreitung der Tyrannei der Daten und Fakten brachte ihn nach Hinrich C. Seeba zu einer am Gedanken der Originalität orientierten literarisch-anschaulichen Geschichtsschreibung: Die „Reichsgeschichte [wurde] durch die Kunstgeschichte“ ersetzt.31 Mag das dem Wandel vom Ideal der Gelehrsamkeit zum Ideal der Bildung entsprechen, so wäre es doch verkehrt, daraus zu folgern, dass es sich bei dem oft diagnostizierten gelehrten Quellenfanatismus aus Sicht der Zeitgenossen um eine reine Mängeldiagnose handelte. Gelehrsamkeit und Richtigkeit der historischen Forschung galten zugleich als die gelegentlich mit gehörigem Stolz betrachteten ‚deutschen‘ Eigentümlichkeiten schlechthin – ein Stolz, den man bei zu großer Orientierung an den diversen universalhistorischen Entwürfen und Versuchen der Aufklärungszeit gerne übersieht. Die Mehrheit der historischen Publikationen in Deutschland war, so betont Notker Hammerstein mit Blick auf die ‚publicistischen‘ Editionen und das antiquarische Interesse der Öffentlichkeit, keineswegs Teil der Universalhistorie.32 In einer Rezension zur Geschichte des Ostindischen Handels (1775) von Johann Gottfried Eichhorn heißt es nüchtern: 29
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Vgl. z.B. Johann Carl Wezel: „Wir haben viele gute Forscher, Untersucher, Lehrer, Sammler, viele Zusammenträger der Geschichte, aber keinen einzigen Geschichtsschreiber“ (Johann Carl Wezel: Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen [1781]. In: Ders.: Gesamtausgabe in acht Bänden. Hg. v. Klaus Manger. Bd. 6. Heidelberg 2006, S. 49–199, hier S. 163). Stephan Jaeger: Die Beredsamkeit des Prinzen von Oranien oder Friedrich Schillers ästhetische Inszenierung modernen Geschichtsdenkens in Historiographie. In: Britta Herrmann u. Barbara Thums (Hg.): Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750–1850. Würzburg 2003, S. 95–114, hier S. 95; zum nationalen Unterschied vgl. Rudolf Vierhaus: Geschichtsschreibung als Literatur im 18. Jahrhundert. In: Karl Hammer u. Jürgen Voss (Hg.): Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation – Zielsetzung – Ergebnisse. Bonn 1976, S. 416–431. Hinrich C. Seeba: Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte. Zur Geschichte eines Paradigmawechsels in der Geschichtsschreibung. In: Bödeker u.a. (Hg.): Aufklärung und Geschichte (wie Anm. 17), S. 299–323, hier S. 311. Im vorliegenden Band dazu, auf breiterer Quellengrundlage, Décultot. Hammerstein: Der Anteil des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 9), S. 439, Anm. 15. Auch Johann Georg Meusel kritisiert die fehlende populäre Geschichtsschreibung in Deutschland, lobt aber den wissenschaftlichen Fortschritt in der Geschichtskunde. Vgl. Johann Georg Meusel: Schreiben aus D... an einen Freund in London über den gegenwärtigen Zustand der historischen Litteratur in Teutschland. In: Der Teutsche Merkur 2 (1773), S. 247–266.
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Im Text raisonnirt ein muntrer denkender Franzos, in den Noten beweißt ein schwerfälliger denkender Deutscher. Die Vereinigung dieser beyden Personen in eine ist bey uns, wie bey unsern Nachbarn, eine seltene historische Erscheinung: zum Nutz und Frommen der Geschichtkunde möchten wir sie wol öfter haben.33
Wenn Schlözer in der oben zitierten Replik auf Herder von ‚mascouisch=richtig‘ spricht, meint er denselben Sachverhalt und verbindet das mit dem Verweis auf den prominenten Historiker Johann Jacob Mascov, dessen Geschichte der Teutschen (1726) schon vom Gottsched-Kreis sowohl sprachlich wie inhaltlich zum Meisterwerk seiner Art erklärt worden war.34 Das ‚publicistische‘ Hauptmerkmal war freilich auch hier die Verlässlichkeit und Genauigkeit, die bei allem Spott über die trockenen Bibliothekswächter und die unsägliche Pedanterie – vielfach nicht mehr als topische Juristenschelte – zu Qualitätsmerkmalen ersten Ranges erhoben wurden. Nicht von ungefähr konnte Friedrich Carl Moser das 18. zu einem „diplomatischen Jahrhundert“ erklären, in dem „Teutschland sich selbst erst recht zu kennen angefangen hat“.35 Johann Christoph Gatterer schildert die nationale Achsendrehung, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ereignet habe: Ende des 17. Jahrhunderts galten, so Gatterer, die französischen Gelehrten mit ihrer Kritik an der Glaubwürdigkeit älterer Schriftsteller und der historischen Überlieferung – man denke an Pierre Bayle –, mit ihren Sammlungen „von Urkunden, Chroniken und Annalen“ als die Vertreter der historisch-kritischen Schule schlechthin. Ihre Nachkommen hätten jedoch die „Archive und Bibliotheken“ für erschöpft gehalten und sich „mehr auf die Schönheit des Ausdrucks, als auf die Richtigkeit der Erzählung“ konzentriert. „Der Geschmack an gründlichen Geschichtsbüchern und an Sammlungen erhielt sich in Teutschland und Englland weit länger, als in Frankreich“ – ja, dank der reichsjuristischen Schule, so kann man hinzufügen, gelten die ursprünglich französischen Errungenschaften nun als „teutsche[r] Fleiß“ und würden, so Gatterer, von den französischen Enkeln verachtet.36 Der Göttinger Ordinarius rechnet den Deutschen trotz der Klage über eine fehlende deutsche Geschichtsschreibung mit patriotisch geschwellter Brust gegenüber Frankreich und auch England wesentliche wissenschaftliche Qualitäten zu. So vergisst er bei aller Bewunderung der soge-
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Anonym: Geschichte des Ostindischen Handels vor Mohämmed von Joh. Gott. Eichhorn. In: Deutsche Bibliothek 28, St. 1 (1776), S. 226–229, hier S. 226. Johann Jacob Mascov: Geschichte der Teutschen bis zu Anfang der fränkischen Monarchie. Leipzig 1726; Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hg. v. einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Bd. 5. Leipzig 1737/38, S. 287–309. Friedrich Carl Moser (Hg.): Diplomatische und historische Belustigungen. Bd. 1. Frankfurt u. Leipzig 1753, Vorbericht. Johann Christoph Gatterer: Gerhards Schönigs Norges Riiges Historie […]. In: Historisches Journal 2 (1773), S. 119–133, hier S. 120f. Vgl. dazu Reill: The German Enlightenment (wie Anm. 11), S. 36f.
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nannten ‚englischen Welthistorie‘, der Algemeinen Welthistorie (1744‒1814),37 nicht zu erwähnen, dass die kritischen Deutschen das britische Mammutwerk nicht nur übersetzt, sondern zugleich korrigiert und erweitert hätten.38 Und er war mit dieser Perspektive keineswegs allein. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verwandelten zahlreiche deutsche Schriftsteller mehr denn je die wissenschaftlichen Prinzipien Parteilosigkeit, Objektivität, Zuverlässigkeit und Genauigkeit im Anschluss an die überkommenen Nationalcharakteristika zu germanischen Tugendidealen. Während die rhetorische Einkleidung dem auf Schmuck und Zierlichkeit erpichten Geschmack der Franzosen entspreche, schreibt Johann Christoph Fuchs, sei die „Wahrheitsliebe“, das erste Gesetz der Geschichtsschreibung, ganz „für das deutsche Klima und Temperament“ gemacht.39 Auch Gatterer spricht davon, dass „den Teutschen“ „gleich zuerst bey diesen Geschäften ihr nordliches Clima zu statten“ käme, welches ihnen ein arbeitsames, kritisches, ehrliches und ernsthaftes Wesen gibt, und sie vor dem Ekel an mühsamen Arbeiten, dem flüchtigen Leichtsinne, den wahrheitswidrigen Einfällen und listigen Tücken der Leute in den wärmern und wollüstigern Climaten verwahret.40 Überlieferte Stereotype von der deutschen Biederkeit, den rauen Sitten der alten Germanen und der mit ihr korrespondierenden Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Tapferkeit und Treue auf der einen Seite sowie der französischen Künstlichkeit, unsittlichen Frivolität und höfischen Unehrlichkeit auf der anderen finden sich unumwunden in der nationalen Historiographiezuschreibung wieder.41 Die Rolle, die ausländische, besonders französische Historiker darin spielen, zeigt die spezifische Ambivalenz der zwischen Gallophobie und Gallophilie hin und her gerissen deutschen Kultur des 18. Jahrhunderts, eiferte man den französischen Geschichtswerken doch meist ebenso sehr nach, wie man sie bekämpfte.42 Der zweite und dritte von eben zitiertem Fuchs angeführte Grundsatz – auf die Reihenfolge kommt es dabei an –, besagt wiederum, dass es sich bei einem Ge37
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Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten angefertigt worden. Bde. 1–17. Hg. v. Sigmund Jacob Baumgarten. Halle 1744– 1758, Bde. 18–30. Hg. v. Johann Salomon Semler. Halle 1760–1766. Bis 1814 weitere Bände, Fortsetzungen, Ergänzungen und Kommentierungen durch zahlreiche deutsche Gelehrte. Gatterer: Vom historischen Plan (wie Anm. 28), S. 68. Johann Christoph Fuchs: Zeugenverhör über Voltairs moralischen Charakter und gelehrte Verdienste. Fortsetzung. In: Allerneuste Mannigfaltigkeiten. Eine gemeinnützige Wochenschrift 3 (1784), S. 599–614, hier S. 603. Johann Christoph Gatterer: Zufällige Gedanken über die Verdienste der Teutschen. In: Allgemeine historische Bibliothek 9 (1769), S. 33–64, hier S. 35. Zu diesen Stereotypen und ihrer Geschichte siehe Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen – Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur. Stuttgart u. Weimar 2001. Vgl. dazu den aktuellen Sammelband: Raymond Heitz u.a. (Hg.): Gallophilie und Gallophobie in der Literatur und den Medien in Deutschland und in Italien im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2011.
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schichtswerk um „nützliche Wahrheiten“ handeln solle und diese schön eingekleidet werden müssten. Man dürfe sich aber bei allen diesbezüglichen Defiziten nicht an dem „verführerischen Beyspiel eines Voltairs und so mancher anderer Franzosen“ berauschen, sondern müsse das „angebohrne[…] Vorrecht, die Liebe zur lautern Wahrheit in der Geschichte“ mit dem „guten Geschmacke und der natürlich schönen Schreibart der alten und einiger wenigen neuen Geschichtsschreiber“ zu verbinden wissen.43 Eine vergleichbare nationale Diktion durchzieht, so Hammerstein, das ‚reichspublicistische‘ Schriftgut dieser Zeit in toto: Teutscher Biedersinn, teutsche Freiheit, historischer Wahrheitsfanatismus, gelehrte Zuverlässigkeit standen als unvereinbare, lang tradierte Werte gegen französischen Witz, despotischen Absolutismus, uniforme Vernunft, elegante Kunstfertigkeit, höfische Brillanz.44
Mit den Worten Gatterers: „Affektierte Humechen oder Robertsonchen, teutsche Voltärchen. Diese Insekten wollen wir ohne Schonung aller Orten, wo wir sie antreffen, verfolgen […].“45 Gatterer teilt die Geschichtswissenschaft in vier Klassen ein, erstens, die ästhetische, d.h. die rhetorisch-literarische, zweitens, die „gründliche oder kritische“, drittens, die „pragmatische“ und viertens, die Synthese aus den vorangehenden. Während die erste Klasse beinahe ausschließlich von schön schreibenden, aber wissenschaftlich nicht satisfaktionsfähigen französischen Werken besetzt sei, werde die kritische Klasse, die „das Wesentliche der Geschichte“ traktiere, wie auch die pragmatische Klasse von den Deutschen dominiert. Gatterer zählt zahlreiche Quellensammlungen, „Specialgeschichten und kleine[…] Abhandlungen in allen Theilen der Historie des Vaterlandes“ auf. Er zitiert Mascov, Pütter und Häberlin, beklagt aber anschließend das Fehlen einer literarisch hochstehenden deutschen Geschichte, die über den akademischen Betrieb hinaus Wirkung entfalten könnte.46 Die frühen Äußerungen Herders zur Geschichtsschreibung sind, das wurde bisher übersehen, von diesem Diskurszusammenhang geprägt. Im Älteren kritischen Wäldchen (1767) führt er eine ähnliche Einteilung an – mit klarer Wertung zugunsten der quellenkritischen Pedanten. Die dichtenden Franzosen würden „prächtige Charaktere, Porträte, und Schilderungen machen, die vielleicht bloß in ihrem Gehirn leben“ und die Engländer und Schotten würden allein philosophische Lehrgebäude hervorbringen, die aber keine Geschichte seien.47 Aus den Ex43 44
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Fuchs: Zeugenverhör über Voltairs moralischen Charakter und gelehrte Verdienste (wie Anm. 39), S. 603f. Notker Hammerstein: Voltaire und die Reichspublicistik. In: Peter Brockmeier, Roland Desné u. Jürgen Voss (Hg.): Voltaire und Deutschland, Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der französischen Aufklärung. Stuttgart 1979, S. 327–342, hier S. 338. Johann Christoph Gatterer: Vorrede. In: Historisches Journal 1 (1772), o.S. Gatterer: Zufällige Gedanken über die Verdienste der Teutschen (wie Anm. 40), S. 55. Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Älteres kritisches Wäldchen [1767]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold u.a. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur,
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zerptheften, der Bibliotheca Herdriana sowie den Weimarer Entleihungen des Konsistorialrates geht deutlich hervor: Herder kannte zahlreiche ‚reichspublicistische‘ Arbeiten von Pufendorf bis Pütter nicht nur gut, eine deutsche Geschichtsschreibung musste für ihn von hier ihren Ausgang nehmen, nicht allein von französischen oder englischen Vorbildern.48 „In der Juristerei und Historie – da sind wir als Sammler, einzig“, ruft Herder in voller Begeisterung schon in seinem Reisejournal von 1769 aus. Eine Geschichte „ohne System, als bloß im Gange der Wahrheit! Ohne übertriebenen Schmuck, als bloß Data, nach Datis!“,49 erscheint ihm als großes Ziel, zu dem er im „juristisch-diplomatisch-historischen Fache“ der Deutschen große Vorarbeiten sieht.50 Aufgabe eines Historikers sei es, dem Leser die Grenze zu bezeichnen, wo Geschichte aufhört und Vermutung anfängt, ja genau den Grad der Gewissheit bei jedem Tritte. Gehört dies nun der ganzen Geschichtskunde als Eigentum zu: viel mehr unsrer strengen trocknen deutschen.51
Noch im zweiten Entwurf seines Shakespeare-Aufsatzes scheidet Herder klar zwischen der „historischen Wahrheit“ und der „Theatralische[n] Täuschung“ und betont die Unabhängigkeit der Dichtung von der „Historische[n] und Philologische[n] Richtigkeit“.52 Geschichte und Dichtung sind für ihn, anders als oft suggeriert wird, aus eben dieser Tradition heraus durchaus klar unterschieden. Wen er mit den ‚trocknen Deutschen‘ meint, zeigt sich in der polemisch geführten Kontroverse mit dem Halleschen Philosophie- und Rhetorikprofessor Christian Adolph Klotz, der vielen Zeitgenossen als Paradebeispiel einer ‚zierlichen Gelehrsamkeit‘ in französisch-lateinischem Stile galt: Während Klotz in
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1767‒1781. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a.M. 1993, S. 11‒55, hier S. 21. Gesamtausgabe im Folgenden zitiert als FA. Im Nachlass finden sich Exzerpte von Nicolaus Hieronymus Gundling, Johann Jacob Moser, Johann Georg Estor u.a.; vgl.: Der handschriftliche Nachlass Johann Gottfried Herders: Katalog. Im Auftrag u. mit Unterstützung der Akademie. d. Wissenschaften zu Göttingen. Bearb. v. Hans Dietrich Irmscher. Wiesbaden 1979, S. 104, 241 u.a. Zu den Entleihungen siehe Bärbel Schneider: Herders Entleihungen aus der Weimarer Bibliothek. Eine Bibliographie. Wien 1999. Die Einträge umfassen eine große Anzahl juristischer und reichhistorischer Werke von Olenschlager bis Pütter, Abhandlungen über Lehensrecht, Rechtsaltertümer aber auch die Publizistik F. C. Mosers. Zur Bibliotheca Herdriana lässt sich Ähnliches sagen. Hier werden zur Illustration lediglich die Nummern aus dem Katalog von 1804 [ND Köln 1980] angegeben. S. Pufendorf (Nr. 3883, 4703), H. Lapide (Nr. 3884, 4705); J. J. Moser (Nr. 3903, 3904, 3905, 4983, 4983), F. C. Moser (Nr. 3449, 3450, 3451, 3751, 3756, 4948), J. S. Pütter (Nr. 3885, 3886, 4288, 4836). Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Ders.: FA (wie Anm. 47), Bd. 9/2: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften. Hg. v. Rainer Wisbert unter Mitarb. v. Klaus Pradel. Frankfurt a.M. 1997, S. 108. Johann Gottfried Herder: Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst [1777]. In: Ders.: FA (wie Anm. 47), Bd. 2, S. 550‒562, hier S. 551. Johann Gottfried Herder: Über die Reichsgeschichte: ein historischer Spaziergang [1769]. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Regine Otto. Bd. 2. Berlin u. Weimar 1985, S. 431‒441, hier S. 438. Gesamtausgabe im Folgenden zitiert als SL. Johann Gottfried Herder: Shakespeare [2. Entwurf 1771]. In: Ders.: FA (wie Anm. 47), Bd. 2, S. 530‒549, hier S. 536f.
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seinem „Buch vom Münzengeschmacke“ unter Beweis stelle, dass er von der Verfassung Deutschlands keine Kenntnisse besitze, die Geschichte vielmehr normativ verzerre, sei er, Herder, hier gerne ein „Schüler der Reichsgeschichte“. „Der Rechtsgelehrte, der Diplomatikus, der Geschichtsschreiber, der Altertumskenner Deutschlands und so viele fleißige Beispiele reden“,53 nicht aber, so lässt sich ergänzen, das auf einer normativ-deduzierenden Basis geschriebene Werk Klotzens. In einer Rezension zu Carl Renatus Hausens Geschichte des 18. Jahrhunderts (1766) – einem Kollegen des befehdeten Klotz’, der hier für seinen Freund büßen muss – schreibt er ironisch: Was alle gelehrte Männer bisher gewünscht, was die Mascovs und Bünaus und Strube und Köhlers und Häberline und Pütters nicht haben leisten können: sehet! Das hat endlich erfüllet Clarus Hausenius.54
Hausen wird an dem wissenschaftlichen Maßstab dieser wichtigen Reichshistoriker und -Juristen gemessen und als „Romanschreiber“ abqualifiziert. Er sei nur ein „williger Nachahmer der Franzosen“, der mit „voltairischem“ Auge die geschichtlichen Tatsachen ignoriere.55 Herder zitiert hier die fachlichen Autoritäten in rhetorisch-polemischem Kontext, und doch geht es um weit mehr als nur um Polemik. Für eine „idiotistische Nationalgeschichte“56 – das heißt: eine dem Idiom, der Eigentümlichkeit entsprechende Geschichte – sucht er nach einer genuin deutschen Tradition und findet in der humanistischen Quellenorientierung der ‚Publicisten‘ mit ihrer patriotischen Grundierung eine Brücke zu seinem eigenen Denken.
II.
Das Alte Reich und Herders Plädoyer für eine ‚idiotistische‘ Nationalgeschichte
Das Reich förderte durch seine komplexe Rechtsvielfalt und seine lange historische Tradition nicht nur eine positivistisch-gelehrte Geschichtsforschung, die seit Mitte des Jahrhunderts aller Kritik zum Trotz mit durchaus nationalem Stolz als typisch deutsch ausgegeben wurde, es brachte zugleich einen erhöhten Bedarf an einer nationalen Öffentlichkeit mit sich, um trotz der Vielstaatlichkeit eine gemeinsame Identität zu wahren und ins Gedächtnis zu rufen.
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Johann Gottfried Herder: Ueber Klotzens Schrift vom Münzengeschmacke von 1769. In: Ders.: SL (wie Anm. 51), Bd. 2, S. 358. Herders Rezension bezieht sich auf folgendes Werk: Christian Adolph Klotz: Beytrag zur Geschichte des Geschmacks und der Kunst aus Münzen. Altenburg 1767. Johann Gottfried Herder: Hausens ‚Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts‘ [1769]. In: Ders.: SL (wie Anm. 51), Bd. 2, S. 420f. Johann Gottfried Herder: Hausens ‚Geschichte des menschlichen Geschlechts‘ [1769]. In: Ders.: SL (wie Anm. 51), Bd. 2, S. 425. Ebd., S. 437.
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Das Verhältnis von ‚Reich‘ und ‚Nation‘ war seit dem Humanismus vielschichtig, und es wäre ein Trugschluss, die Öffentlichkeit, die sich aus dem Reichsverband entwickelte, mit der nationalisierten Gelehrtenrepublik der deutsch-lateinischen Humanisten oder der literarisch-kulturellen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts in Eins zu setzen. Beide waren naturgemäß an keine geographisch-politischen Grenzen gebunden. Johannes Müller wurde in Deutschland ganz selbstverständlich als ‚deutscher‘ Schriftsteller gepriesen – dass die Schweiz nicht mehr zum Reich gehörte, spielte dabei keine Rolle.57 Gleichwohl gab es innerhalb dieser weiteren nationalen Öffentlichkeit ein fortbestehendes Bewusstsein der Reichszugehörigkeit, das sich an den Grenzen des engeren Reichsverbandes bemaß.58 Die „Nationalisierung der Reichsidee“ begann im 16. und setzte sich bis in das 18. Jahrhundert immer weiter fort.59 Auch in der – mit Ute Planert zu sprechen – „nationalen Sattelzeit“ blieb das Reich vielfach Teil der zunehmend naturalisierten, emotionalisierten, aber auch demokratisierten Nationskonzepte.60 Nicht mehr allerdings im Sinne des universalistischen ‚Imperiums‘, das die Deutschen ‚besaßen‘ und als Argument im Kampf um ihren Würdevorrang instrumentalisieren konnten; vielmehr galt es nun im Schlechten wie im Guten als integraler Bestandteil der Nationalgeschichte. An der Frage nach Rolle und Funktion des Reichs für den Begriff der deutschen Nation entzündete sich die in der Geschichte des deutschen Nationalismus so bedeutende „Nationalgeistdebatte“ der 1760er-Jahre.61 F.C. Mosers Versuch, die Nation über die Gesetze und Institutionen des Reichsverbandes zu definieren,62 widersprachen jene Autoren vehement, die Sprache und Kultur als das wesentliche Bindeglied ansahen oder die Existenz einer politischen
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Vgl. dazu den Beitrag von Johannes Süßmann in diesem Band. Vgl. hierzu Georg Schmidt: Das Frühneuzeitliche Reich. Sonderweg und Modell für Europa oder Staat der deutschen Nation. In: Matthias Schnettger (Hg.): Imperium Romanum – irregulare corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie. Mainz 2002, S. 246–277. Georg Schmidt: Reich/Reichsidee II. Reformation und Neuzeit. In: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), S. 450–457, hier S. 452; Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktion einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zu Neuzeit. Göttingen 2005. Vgl. Ute Planert: Wann beginnt der ‚moderne‘ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit. In: Jörg Echternkamp u. Sven O. Müller (Hg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, 1760–1960. München 2002, S. 25–59; Hans Peter Herrmann, Hans-Martin Blitz u. Susanna Moßmann (Hg.): Machtphantasie Deutschland. Frankfurt a.M. 1996; Markus Hien: Natur und Nation. Zur literarischen Karriere einer Fiktion in der deutschen Aufklärung. In: Aufklärung 25 (2013), S. 219–246. Zur Nationalgeistdebatte vgl. Wolfgang Burgdorf: Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806. Mainz 1998, S. 191–226; Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg 2000, S. 283–302; Nicholas Vazsonyi: Montesquieu, Friedrich Carl von Moser, and the ‚National Spirit Debate‘. In: German Studies Review 22/2 (1999), S. 225–246. Friedrich Carl Moser: Von dem Deutschen national=Geist, o.O. 1765.
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Nation der Deutschen ganz in Zweifel zogen.63 Das Reich als politischgeographischen Bezugsrahmen blendeten sie bei aller Kritik an den Defiziten seiner Verfassung jedoch in der Regel nicht aus, sie bewerteten lediglich seine Bedeutung im Blick auf die Nation und die Rolle der einzelnen Territorien als ‚wahre Vaterländer‘ fundamental anders.64 Ein Geschichtswerk, das die ‚deutsche Geschichte‘ in toto behandeln sollte, darin bestand jedoch kein Zweifel, musste die Reichsgeschichte integrieren. Reichshistoriker wie z.B. Johann David Köhler unterschieden zwischen der „Teutschen Reichs-Historie“, die Daten und Fakten für die Juristen aufbereitete, und einer umfassenden „Historie von Teutschland“, die auch die Früh- bzw. Kulturgeschichte umspannte.65 Den Diskurs eines Jahrhunderts resümierend sprach Joseph Milbiller 1799 von der „deutschen Reichsgeschichte“ und der „Geschichte der deutschen Nation“. Während Erstere die Verfassungsfragen und politischen Ereignisse traktiere, müsse Zweitere als „Menschen-“ bzw. „Kulturgeschichte“, den Fortschritt der „Denkungsart“ und „Sitten“ untersuchen. Zwar wisse jeder, „wie enge Kultur und Staatsverfassung zusammenhängen“, doch sei für eine philosophische Kulturgeschichte ein größeres Spektrum an Tatsachen von Bedeutung, ist doch für diese der „Kurverein in Rhense“ unter Umständen genauso wichtig „wie die Ankunft der Kinderpocken in Deutschland“ oder die „Errichtung des ersten Kaffeehauses daselbst“.66 Eine allgemeine deutsche Geschichte der jüngeren Zeit galt der gemeinnützig-patriotischen Aufklärung als nationales Desiderat schlechthin. Popularität war mit den Produkten aus dem Geist der ‚Publicisten‘, 63
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Johann Jakob Bülau: Noch etwas zum Deutschen Nationalgeiste. Lindau am Bodensee 1766; Friedrich Karl Kasimir Creutz: Versuch einer pragmatischen Geschichte von der merkwürdigen Zusammenkunft des teutschen Nationalgeistes und der politischen Kleinigkeiten […]. Frankfurt a.M. 1766; Justus Möser [Rez.]: ‚Von dem deutschen Nationalgeiste‘ [1768]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. 14 Bde. in 16 Teilen. Hg. v. der Akademie d. Wissenschaften zu Göttingen. Abt. 1. Bd. 3. Osnabrück 1986, S. 247–249. Das gilt besonders für Creutz, der an der „Unit[as] Territorii“ unbedingt festhalten wollte, die Nation aber über die Sprachgemeinschaft definierte; vgl. Friedrich K. K. Creutz: Neue politische Kleinigkeiten, Frankfurt a.M. 1767, S. 8, 14, 48 u. 60. Bülau wollte die defizitäre Reichsverfassung bewahren, weil ihre Vielfalt Schutz vor Despotismus biete. Vgl. Bülau: Noch etwas zum Deutschen Nationalgeiste (wie Anm. 63), S. 198f. Vgl. auch den Reichsbegriff Mösers in ders.: Vorschlag zu einem neuen Plan der deutschen Reichsgeschichte [1780]. In: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 63), Abt. 2. Bd. 7, 1954, S. 130–133; dazu Karl H. L. Welker: Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Justus Möser als Jurist und Staatsmann. 2 Bde. Bd. 1. Osnabrück 1996, S. 198–211 u. 222–251. Zur unvereinbaren Diversifizierung der ‚Vaterländer‘ im Kontext des Siebenjährigen Krieges vgl. Blitz: Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 60), S. 145–280. Johann David Köhler: Kurtzgefaste und gründliche Teutsche Reichs-Historie vom Anfang des Teutschen Reichs mit König Ludwigen dem Teutschen biß auf den Badenschen Frieden […]. Frankfurt u. Leipzig 1737, S. 21. Vgl. dazu Hammerstein: Reichshistorie (wie Anm. 17), S. 98f.; ders.: Jus und Historie (wie Anm. 14), S. 356. Joseph Milbiller: Ideal einer Geschichte der deutschen Nation in philosophischer Hinsicht. Eine feierliche akademische Antrittsrede abgelesen am 11. Dec. 1799. Ingolstadt 1800, S. 34f., 40f.
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ihren „ungeheure[n] Citationen“ und der „pedantisch affektirte[n] Gelehrsamkeit“, wie ein anonymer Autor vermerkt, schwerlich zu erreichen.67 Die Aversion der Fachgelehrten gegen die „neuerlich beliebte[…] Zwittermanier, halb Roman, halb Historie“ zu schreiben,68 erschwerte dergleichen Versuche. Das Aufklärungsdilemma zwischen Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung erhielt über den Reichskontext eine spezifisch nationale Dimension, die sich auch in den Kommentaren zu Schillers Geschichte des dreißigjährigen Kriegs (1791‒1793) widerspiegelt: Die meisten Rezensenten lobten das Werk als patriotische und gemeinnützige Tat, als Erfüllung der seit langem verlangten deutschen Geschichte in literarisch ansprechender Form, die sich im Historischen Calendar für Damen nicht nur an Fachgelehrte, sondern ganz explizit an ein weiteres Publikum richtete.69 Andere Rezensenten kritisierten bei allem Lob der Darstellungsweise, dass Schillers Geschichtsschreibung „nicht nach der methodischen historischen Kunst ausgeführt“ worden sei.70 Dieser Widerspruch zwischen beiden Wertmaßstäben, der die Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit durchzog, lässt sich in seiner nationalen Konturierung bis in Herders Konzept einer noch zu schreibenden deutschen Geschichte verfolgen. Herders Kulturpolitik ignorierte den Reichskontext keineswegs. Das allein ist bereits eine alles andere als selbstverständliche Feststellung. In der Tat fehlt es nicht an Beteuerungen, dass dieser Vordenker eines sprachlich-kulturellen Volksbzw. Nationsbegriffs in seiner Gegenwart politisch und geographisch nichts habe finden können, das er ‚Deutschland‘ nennen konnte.71 Dem widersprechen allerdings zahlreiche Textstellen. Besonders Herders Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands – das Projekt entstand 1787 im Kontext des Fürstenbundes – ist ganz auf die dezentrale Struktur der Reichsverfassung eingerichtet. Indem er ein „Jahrbuch des deutschen Nationalgeistes“ gründen will, nimmt er deutlich auf F.C. Moser Bezug.72 Herders Nations- und Volksbegriff 67
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Zit. nach Holger Böning: Das ‚Volk‘ im Patriotismus der deutschen Aufklärung. In: Otto Dann, Miroslav Hroch u. Johannes Koll (Hg.): Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches. Köln 2003, S. 63–98, hier S. 82. Johannes Müller: Prag, bei Albrecht. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. Georg Müller. Zehnter Teil: Historische Kritik. Tübingen 1811, S. 251–253, hier S. 251. Müller stellt es an die Spitze der „gemeinnützigsten und berühmtesten Bücher“, die sich wie z.B. Pütters „Entwicklung der Geschichte unserer Staatsverfassung“ „in den Händen aller aufgeklärten teutschen Bürger“ befinden sollten (Johannes Müller: [Rez. zu] Historischer Kalender für Damen für das Jahr 1791. In: Ebd., S. 213–228, hier S. 215). Neue Nürnberger gelehrte Zeitung, 30.11.1792, zit. nach Holger Reinitzhuber: Schillers ‚Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‘ als schriftstellerische Leistung. Ein Beitrag zur Ästhetik der historischen Belletristik. Kiel 1970, S. 90. Vgl. etwa Wulf Koepke: Das Wort ‚Volk‘ im Sprachgebrauch Johann Gottfried Herders. In: Lessing Yearbook XIX (1987), S. 209–221. Johann Gottfried Herder: Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands [1787]. In: Ders.: Sämtliche Werke. 33 Bde. Bd. 16. Hg. v. Bernhard Suphan. Hildesheim 1994 [3. ND der Ausg. Berlin 1887], S. 600–616, hier S. 612. Die in Hildesheim neu gedruckte Gesamtausgabe im Folgenden zitiert als SW.
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ruhte in der Tat auf der Sprachgemeinschaft, nicht auf dem politischen Reich. Die Institutsschrift bemüht sich jedoch ausdrücklich um Sprache und Kultur innerhalb der Reichsverfassung, nicht zuletzt durch die Förderung einer populären Geschichtsschreibung, die sich „Deutschlands Geschichte“ annehmen solle.73 Dass Herder als Vorarbeiten auf dem Weg zu einer „patriotische[n] Geschichte des gesamten Vaterlandes“ auch „Hülfwissenschaften“ und Arbeiten zu „Gesetzgebung und Staatsverfassung in verschiedenen Zeiten“ nennt, offenbar an Reichshistoriker und Reichsjuristen denkend, verwundert mit Blick auf die oben referierten historiographiegeschichtlichen Nationalstereotypen wenig.74 „Wir erscheinen später, gegen andere Nationen betrachtet“, schreibt er, „aber wir kommen desto bereiteter und geprüfter.“75 Schon zuvor lehnte Herder in vergleichbarer Manier eine französische Bühne, die von einer Hauptstadt aus den Nationalgeschmack dominieren würde, ab, und forderte ein Theater, das dem vielstaatlichen Charakter Deutschlands entspräche und nicht der französischen Uniformität. „[W]ie die Staatsverfaßung Deutschlands die einzige von ihrer Art in der Welt ist“, schreibt er, solle es ein eigentümlichdeutsches Theater geben.76 Exakt dieses Eigentümliche müsse auch ein deutsches Geschichtswerk auszeichnen: Die Geschichte von Deutschland muß so ein Original sein als Deutschlands Verfassung. Und ist diese werdende Verfassung Hauptgesichtspunkt, wo kommen wir hin, wenn wir Urkunden und Diplome usw. verachten und schön französisch dichten?77
Herders Aufsatz Über die Reichsgeschichte: ein historischer Spaziergang (1769), aus dem das letzte Zitat stammt, bündelt nicht nur die Kritik an Klotz und Hausen, sondern erweitert diese zu allgemeinen Prinzipien, nach denen eine deutsche Geschichte zu schreiben sei. Der Zusammenhang mit seinem ästhetischen Denken liegt auf der Hand: Das Konzept der produktiven Anverwandlung tritt an die Stelle der sklavischen Nachahmung, das Vorbild der antiken und der französischen Historiker wird durch eine eigene Traditionsbildung ersetzt, die zur Ausbildung des Nationaleigentümlichen beitragen soll. Nachahmung sei der falsche Weg, um einen Thukydides, einen Xenophon oder Livius der deutschen Geschichte hervorzubringen.78 Man dürfe nicht, „wie unsre gräzisierenden und französierenden Schönsprecher wollen“, „die deutsche Geschichte […] schlechtweg à la grecque oder à la francoise“ behandeln.79 Herder hält es „für Fehler und Verderbnis aller Geschichte“, wenn nur auf die „historische Kunst, epische Anordnung, pragmati73 74 75 76 77 78 79
Ebd., S. 608f. Ebd., S. 609. Ebd., S. 608f. Herder: Haben wir eine Französische Bühne? [1766] In: Ders.: SW (wie Anm. 72), Bd. 2, S. 207–227, hier S. 213. Herder: Über die Reichsgeschichte (wie Anm. 51), S. 437. Ebd., S. 432. Ebd.
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sche Bemerkungen, philosophische Einlenkungen“ gedrungen werde, und der „nackte[…] wahre[…] Körper der Geschichte“ nicht mehr kenntlich sei.80 Eine Geschichte Deutschlands geht keineswegs in einer Geschichte des Heiligen Römischen Reichs auf. Herders Interesse richtet sich auf die Kultur- und Menschheitsgeschichte, die „Physiologie des ganzen Nationalkörpers“, wie es bei ihm heißt.81 Die Geschichte des Reichs gehört aber selbstverständlich zur Geschichte der deutschen Nation, die für Herder mit dem Reich einen klaren geographischen und politischen Referenten erhält: Deutschland im Verfolg seiner Jahrhunderte ist weder Athen noch Rom, weder eine Monarchie noch eine Republik, die der ganzen Welt […] Ton gäbe, weder ein Schauplatz griechischer Kultur und Freiheit noch des römischen Eroberungsgeistes. Es ist in sich eingezogen ein werdendes Heiliges Römisches Reich, das noch heute in seiner Einrichtung das sonderbarste von Europa ist. […] Wie also eine Geschichte Deutschlandes, die keine Staats- oder Reichsgeschichte sei?“82
Für Herder steht fest, dass der „Hauptgesichtspunkt“ „nicht bloß der Reichs-, sondern der deutschen Geschichte überhaupt“, die „allmähliche Schöpfung zum heuten Staatskörper“ sei, die es „genau aus Urkunden“ anzumerken gelte.83 Der Weg zu einer ‚idiotistischen Nationalgeschichte‘ kann daher nur über die, „trockne Pünktlichkeit“ und „reichsurkundliche Trockenheit“ beschritten werden.84 Dieser Ansicht war nicht nur Herder. Johann Georg Meusel antwortete in seinen Betrachtungen über die neusten historischen Schriften85 (1771) gleichsam im Namen des Klotz-Clans mit einer schneidenden Replik. Der Rezensent sprach von einer „räthselhafte[n], mystische[n], gekräuselte[n] und gezwungene[n] Schreibart“, einem „nonsensicalischen Tone“ und nannte den derart diskreditierten Autor eine „mit fremden Federn geschmückte Krähe“.86 An unzähligen Stellen wies Meusel mit Verweis auf prominente Reichshistoriker nach, dass alle wichtigen Thesen in der Fachliteratur bereits von berufenerem Munde ausgesprochen worden seien.87 Herder selbst wird nun mit den eigenen Worten zu einem jener „süssen 80 81 82 83 84 85 86
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Ebd., S. 438. Herder: Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst 1777. In: Ders.: FA (wie Anm. 47), Bd. 2, 1993, S. 550‒562, hier S. 551. Herder: Über die Reichsgeschichte (wie Anm. 51), S. 436. Ebd., S. 435. Ebd., S. 437f. Vgl. Elias von Steinmeyer: Meusel, Johann Georg. In: ADB. Bd. 21. Leipzig 1885, S. 541– 544. Anon.: Kritische Wälder: Oder einige Betrachtungen die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maasgabe neuerer Schriften. 3tes Wäldchen, Riga 1769. In: Johann Georg Meusel (Hg.): Betrachtungen über die neuesten historischen Schriften. Zweiter Teil, dritter Abschnitt. Altenburg 1771, S. 385–401, hier S. 387, 390f. Die Rezension stammt mit großer Wahrscheinlichkeit von Meusel selbst. Für das Problem der spärlichen Urkunden und fehlenden Dichtungen der deutschen Frühzeit verweist er auf Bünau, der zum selben Ergebnis käme wie Herder. Die Schwierigkeiten, ein historisches Portrait korrekt zu fassen, habe Mascov bereits thematisiert, und der urkundliche Charakter der mittelalterlichen Geschichte wäre bei Häberlin zu finden. Mit Verweis auf
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Herren“ erklärt, die wie Hausen die Reichshistoriker verachteten und die Leistung der deutschen Geschichtsforschung ignorierten, indem sie lieber ausländischen Vorbildern nacheiferten.88 Vielmehr solle man, empfahl der Rezensent, auf die „Schultern unserer Bünaus, Mascous, und Häberlins“ steigen.89 „Uns Teutschen ist mehr an Richtigkeit der Begebenheiten als an der schönen Einkleidung derselben gelegen, es muß uns mehr daran gelegen seyn. Wahrheit gehe voran; der Schmuck wird schon folgen.“90 Eine deutsche Geschichte solle in der Tat ein Original werden wie Teutschlands Verfassung, man dürfe daher nicht „Affen der Griechen und Römer“ sein.91 Dass Herder genau dasselbe einforderte, entging dem Rezensenten natürlich nicht, doch verwehrte er sich einem tieferen Verständnis des Texts in polemischer Absicht und kürzte rhetorisch ab: „Welcher Widerspruch! Der Verfasser ist mit sich selbst uneins. […] Hab ich allenfalls die Orakel des Verfassers nicht recht verstanden, so ist er selbst Schuld daran.“92 Herder beschäftigte sich noch einmal ausführlich mit ‚reichspublicistischem‘ Schriftgut, ja seine Preisschrift Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden aus dem Jahr 1774 kann selbst als eine ‚reichspublicistische‘ Abhandlung verstanden werden.93 Er wusste aber, dass die Reichshistoriker nur sehr bedingt seinen Auffassungen zuarbeiteten. Für ihn waren Urkunden nicht bloße gesicherte Fakten, sondern Ur-kunden, Teil der göttlichen Offenbarung.94 „Wirkliche Geschichte“ anstelle des „Raisonnements“, so Herder, „beurkundet und commentirt die Offenbarung.“95 Das Partikulare stand in seiner „Philosophie über facta“ in direktem Verweisungszusammenhang mit dem Ganzen, das sich als solches der menschlichen Einsicht verbirgt.96 Zu einer tieferen Verbindung der kritisch-fakto-
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Gatterer beweist der Rezensent, dass Herders Vorstoß, die deutsche Geschichte müsse endlich mehr als Fürsten- und Kaiserhistorie sein, in der wissenschaftlichen Reichshistorie längst ein Allgemeinplatz sei. Noch viel mehr als über Herders Epigonalität erregt sich der Rezensent aber über die Verleumdung des deutschen Geists innerhalb der Reichsgeschichte. Die Rechtsstreitigkeiten seien ein gemeineuropäisches Phänomen und die deutsche Geschichte mehr als Kämpfe um Rang und Würde (ebd., S. 392‒397). „Die süssen Herren […], die unsre Mascou’s, Bünau’s und Hahne veraltete Bibliothekenwächter nennen, kenne ich nicht; unser Verfasser müßte denn selbst ein solcher süsser Herr seyn; denn würklich er gebährdet sich so, als wenn diese Männer gar keine Verdienste um die teutsche Geschichte hätten, als hätten sie seine altklugen Vorschläge nicht gewußt“ (ebd., S. 395). Ebd., S. 388. Ebd., S. 389. Ebd., S. 396. Ebd., S. 397f. Vgl. dazu ausführlich: Hien: Altes Reich und Neue Dichtung (wie Anm. 8), S. 172–178. Regine Otto: Sind Urkunden Urkunden? Ambivalenzen und Konstanten in Herders Sicht auf historische Überlieferungen. In: Karl Menges (Hg.): Literatur und Geschichte. Festschrift für Wulf Koepke zum 70. Geburtstag. Amsterdam u. Atlanta 1998, S. 65–82. Johann Gottfried Herder: Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 32. Brief [1786]. In: Ders.: SW (wie Anm. 72), Bd. 10, 1994, S. 342‒349, hier S. 346f. Zit. nach Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1990, insb. S. 150‒172, hier S. 164.
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graphischen Methode ‚reichpublicistischer‘ Provenienz mit Herders „HistorioPoetik“ in einer idealen „deutschen Geschichte“, wie sie von ihm gewünscht wurde, kam es im 18. Jahrhundert aus seiner Sicht nicht. Sein Aufsatz über die Reichshistorie warf letztlich auch mehr offene Fragen und Probleme auf, als dass er konkrete Lösungswege angeboten hätte. Zu weit lagen der Geschichtsbegriff der ‚publicistischen‘ Tradition und sein eigener auseinander. Herder sprach vom ‚werdenden heiligen römischen Reich‘ und konnte sich dabei durchaus auf die Reichshistoriker stützen, untersuchten diese doch „die Veränderung unseres Teutschen Staats“, um einzusehen, was heute noch Recht sei und auf welche Art und Weise.97 Sie bewiesen aber zugleich, dass sich das Reich bei allen Wandlungen und Anpassungen dem Wesen nach nicht verändert habe, dass das gemeine Wesen unseres Vaterlandes fast in allen und jeden Stücken und Kleinigkeiten noch eben den Stand hält, den es fast vor eintausend Jahren von 912 an gehabt hat. Dergestalt, daß wenn wir von demselben dann und wann abgewichen, solches mehr aus einem Irrthum und Unwissenheit voriger Zeiten, als einem Vorsatz, etwas zu ändern, geschehen ist.98
Aus der Anciennität erwuchs die Würde des Reiches, nicht aus seiner Veränderung. Insofern war das System der Reichsgeschichte ein ahistorisches System, das die Präsenz des Ewigen, seinem Kern nach Unveränderlichen belegte. Herders ‚werdendes heiliges Römische Reich‘ betonte hingegen die Entwicklung, die Entelechie der nationalen Geschichte. Das ‚Werden‘ zielte über das Bestehende hinaus. Kein Zweifel, ideengeschichtlich ist Herders Rezeption der Reichs-Historie von geringer Relevanz für sein Geschichtsdenken. Wohl aber zeigt sie, wie sehr sein sprachlich-kulturelles Nationsdenken nach originären Anschlussmöglichkeiten in der Gegenwart suchte und dabei das Reich und seine politische Geschichte keineswegs ausblendete, sondern ausdrücklich miteinbezog. Freilich ohne Erfolg: Noch 1795 beklagte Herder desillusioniert, Deutschland habe trotz zahlreicher Vorstöße, trotz Mascov, trotz Möser und Schmidt keine vollkommene Geschichte der Deutschen hervorgebracht.99 Durch den beschriebenen Diskurszusammenhang sollte jedoch deutlich geworden sein: Es ist nicht zuletzt die ‚reichspublicistische‘ Tradition und Diktion, die in vielen Sätzen auch der eingangs zitierten Schlözer-Rezension mitklingt. Gewiss, hier deutet sich ein ganz neues Konzept der Geschichte an, das von dem pragmati-
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Gundling: Abriß zu einer rechten Reichs=Historie (wie Anm. 18), Vorrede, o.S. Johann Peter Ludewig: Vollständige Erläuterung der Güldenen Bulle: In welcher Viele Dinge aus dem alten Teutschen Staat entdecket, verschiedene wichtige Meynungen mit andern Gründen besetzet, und eine ziemliche Anzahl von bishero unbekannten Wahrheiten an das Licht gegeben werden. Bd. 2. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1752 [ND. Hildesheim 2005], S. 1468. Johann Gottfried Herder: Warum wir noch keine Geschichte der Deutschen haben? In: Neue Deutsche Monatsschrift (1795), S. 326‒330, hier S. 329f., ND in Ders.: SW (wie Anm. 71), Bd. 18, 1994, S. 380–384.
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schen Systemgedanken Schlözers, dieser „Linneische[n] Nachäffung“,100 weit entfernt ist. Und doch spielte Herder gegen den Professor polemisch und mit der entsprechenden nationalen Konnotation den Wertmaßstab jener historischkritischen Wissenschaft aus, der dieser selbst entstammte. „Und nun, wie anders, wenn aus diesen Kapiteln Deklamation, Kapitel voll Fakta und Geschichte [...] geworden wären = = wie anders! Aber auch wie schwerer!“101 Wie sollen, heißt es weiter Schlözer selbst zitierend, derartige „Schaumblasen“ „‚Grundriß zu einem akademischen Kollegio, und Grundriß zur strengen Wissenschaft, der Historie‘ seyn“?102 Er lobt die Göttinger Historikerzunft, dass sie die besten Lehrbücher „ihrer Art“ besitze.103 Schlözer aber vergleicht er mit einem „Schwimmer“ ohne Boden, der Voltaires „süße Fehler“ wiederhole, da die „Reinigung des Grundes“, die „Vorarbeiten“ fehlen: „Ist Französische Deklamation nach diesem Schnitte eine nützliche Neuigkeit?“, fragt er rhetorisch, „[g]ewinnen oder verlieren unsre Lehrstühle, wann sie statt Vorlesungen, Reden, und statt Lehrbücher zierliche Feuerwerke von Luftschwärmern bekommen?“104 Kurz: Herder nahm die Perspektive der strengen historischen Wissenschaft im Stile der patriotischen ‚Publicisten‘ ein und charakterisierte von dieser Warte aus das Projekt des Universitätsprofessors als unhistorische und französische Luftnummer. Dass es sich dabei nicht um eine rhetorisch-polemische Nebensächlichkeit, sondern um eine grundsätzliche Dimension der Wissenschaftskultur im Deutschland des 18. Jahrhunderts handelt, sollte hier gezeigt werden.
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Johann Gottfried Herder: Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie. In: Frankfurter Gelehrten Anzeigen 60 (1772), S. 473‒478, ND in ders.: SW (wie Anm. 72), Bd. 5, 1994, S. 436‒440, hier S. 440. 101 Ebd., S. 437. 102 Ebd., S. 436. 103 Ebd., S. 437. 104 Ebd. Vgl. auch ebd., S. 436: „Wir Deutsche haben bisher den Vorzug gehabt, daß unsre Lehrbücher, bei aller Magerheit und Dürre, wenigstens Richtigkeit, Bestimmtheit gehabt haben, an der dem Lehrlinge auch gewiß am meisten gelegen ist“, sowie ebd., S. 437: „Der Verf. hat Voltaires Namen so gern als Spottname auf der Zunge, und wer folgt in süßen Fehlern der Geschichte ihm mehr nach, als er?“
ELISABETH DÉCULTOT
Zwischen Kunst und Geschichte. Zur Ausbildung von Winckelmanns Geschichtsbegriff und seinen europäischen Quellen In der Geschichte der Geschichtsschreibung nimmt Johann Joachim Winckelmanns Werk eine ambivalente Stelle ein. Seine Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) wird zwar regelmäßig als Gründungsdokument der Kunstgeschichte angeführt, jedoch nie ohne den obligaten Hinweis auf ihr eigentlich unhistorisches Verfahren.1 Von Christian Gottlob Heyne bis zu Friedrich Nietzsche bricht kaum jemand mit dieser Regel. So tadelt Heyne, dass Winckelmanns Geschichtswerk von der antiken Kunst mehr ein imaginiertes als ein eigentlich historisches Bild gebe und zahlreiche „Fehler wider die Zeitrechnung, die Geschichtfolge und den wahren Verlauf der Geschichte“ aufweise.2 Für Friedrich August Wolf besaß Winckelmann zwar einen Sinn für das System, jedoch habe ihm „jenes gemeinere Talent“ zum Blick auf die Geschichte, jene Übung gefehlt, die „eine seltene Mischung von Geistes-Kälte und kleinlicher, unruhiger Sorge um hundert an sich geringfügige Dinge“ erfordere.3 In Nietzsches Augen schließlich waren Winckelmanns Griechen „über alle Maaßen historisch falsch“ – dafür aber höchst „modern, wahr“.4 Am weitesten hat zweifellos Herder die Analyse der widersprüchlichen Beziehung von Lehrgebäude und Geschichte bei Winckelmann getrieben.5 Die Vorstel1
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Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums [Text der 1. Aufl. Dresden 1764 und der 2. Aufl. Wien 1776]. In: Ders.: Schriften und Nachlaß. 6 Bde. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, der Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt u. der Winckelmann-Gesellschaft. Bd. 4/1. Hg. v. Adolf H. Borbein u.a. Mainz 2002. Christian Gottlob Heyne: Lobschrift auf Winckelmann [1778]. In: Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann. Hg. v. Arthur Schulz. Berlin 1963, S. 17–27, hier S. 24f. Zu Heynes scharfer Kritik an Winckelmann vgl. auch ders.: Über die Künstlerepochen beym Plinius. In: Ders.: Sammlung antiquarischer Aufsätze. 2 Bde. Bd. 1. Leipzig 1778, S. 165–235, hier S. 165f. Friedrich August Wolf: [Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns III]. In: Johann Wolfgang Goethe (Hg.): Winckelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen [1805]. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. 20 Bde. u. 1 Registerbd. Hg. v. Karl Richter u.a. Bd. 6/2. Hg. v. Victor Lange u.a. München u. Wien 1988, S. 389–400, hier S. 397. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889. 2. Teil: November 1887 bis Anfang Januar 1889. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bde. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 2. durchges. Aufl. Bd. 13. Berlin 1988, S. 140 (Nr. 11 [330]). Zu der Beziehung Herders zu Winckelmann und besonders zu Winckelmanns Einfluss auf ihn vgl. u.a. Arnold E. Berger: Der junge Herder und Winckelmann. In: Philipp Strauch u. Franz Saran (Hg.): Studien zur deutschen Philologie. Halle 1903, S. 83–168; Walther Rehm:
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lung, die geschichtliche Erzählung unter einem systematischen Blickwinkel zu erfassen, also Philosophie und Geschichte zu vereinigen, missfällt Herder zwar keineswegs. Der ideale Historiker muss für ihn ein „pragmatischer Systematikus“ sein.6 In dieser Paarung von Geschichte und Philosophie stecke aber eine Schwierigkeit, die Winckelmann nicht ganz überwunden habe. Seine Kunstlehre tue der Geschichte Gewalt an und drohe sie zu ruinieren. Für Herder war Winckelmann zu sehr Systematiker und zu wenig Pragmatiker, seine Geschichte zu sehr „Lehrgebäude“ und zu wenig „Geschichte“. Ja, sie sei geradezu „willkürlich und unhistorisch“, so das Fazit des Älteren kritischen Wäldchens.7 Solche Einschätzungen sind in der wissenschaftlichen Literatur zur Geschichte der Geschichtsschreibung nicht wirkungslos geblieben. In vielen Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung der Historiographie seit der Aufklärung wird Winckelmann als Historiker eine eher beschränkte Rolle zugewiesen.8 Von Friedrich Meinecke wird Winckelmann aus der Ahnenreihe des Historismus und damit des historischen Denkens selbst ausgeschlossen, weil er zu sehr Theorie und Geschichte vermische und die Lehre des Schönen mit der historischen Darstellung der Kunstentwicklung verwechselt habe.9 In Friedrich Jaegers und Jörn Rüsens, Reinhart Kosellecks oder Lutz Raphaels Arbeiten zur Geschichtsschreibung wird er
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Kommentar. In: Johann Joachim Winckelmann: Briefe. 4 Bde. Hg. v. dems. unter Mitwirkung v. Hans Diepolder. Bd. 3. Berlin 1956, S. 561–562; Henry Caraway Hatfield: Winckelmann and his German Critics, 1755‒1781. A Prelude to the Classical Age. New York 1943, S. 87– 98; Elisabeth Décultot: „Voll vortrefflicher Grundsätze...; aber...“. Herders Auseinandersetzung mit Winckelmanns Schriften zur Kunst. In: Dies. u. Gerhard Lauer (Hg.): Herder und die Künste. Ästhetik, Kunsttheorie, Kunstgeschichte. Heidelberg 2013, S. 81–99. Johann Gottfried Herder: Älteres kritisches Wäldchen. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold u.a. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur, 1767‒1781. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a.M. 1993, S. 11–62, hier S. 12. Ebd., S. 13f., 25. In Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums unterstreicht Ulrich Muhlack den „Widerspruch zwischen den Doktrinen von der autonomen Herkunft der Kunst und von den äußeren Einflüssen, die auf die Entstehung und Entwicklung der Kunst einwirken“ (Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, insb. S. 250–254, hier S. 253). Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus [nach der 2. Aufl. v. 1946; zuerst 1936]. In: Ders.: Werke. 8 Bde. Hg. v. Hans Herzfeld, Carl Hinrichs u. Walther Hofer. Bd. 3. Hg. v. Carl Hinrichs. München 1959, S. 295–302. Meinecke hebt den theoretischen und dogmatischen Aspekt von Winckelmanns Geschichtsschreibung hervor. Das einzige, was Winckelmann mit dem Historismus von weitem verbinde, sei hermeneutischer Art, nämlich seine Fähigkeit, eine Epoche mit Einfühlung zu beschreiben. Zum Topos des „unhistorischen Historikers“, vgl. Hinrich C. Seeba: Johann Joachim Winckelmann. Zur Wirkungsgeschichte eines „unhistorischen Historikers“ zwischen Ästhetik und Geschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56/3 (1982), S. 168–201. Infolgedessen gibt es nur wenige Untersuchungen zu Winckelmanns historiographischer Methode. Vgl. dazu vor allem ders.: Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte. Zur Geschichte eines Paradigmawechsels in der Geschichtsschreibung. In: Hans Erich Bödeker u.a. (Hg.): Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen 1986, S. 299–323.
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Elisabeth Décultot
nicht oder nur am Rande erwähnt.10 Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, Winckelmanns Position in der Geschichte der europäischen Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts auf den Prüfstand zu stellen. Dazu soll im Rahmen dieser Untersuchung die Frühphase von Winckelmanns Weg als Historiker analysiert werden. Gemeint ist damit die entscheidende Periode zwischen seinem Studium in Halle und seinem Aufenthalt in Nöthnitz, in der er anfängt, historiographische Werke gründlich zu lesen und zu exzerpieren.
I.
Erste Etappe. Das Vorbild der Reichshistorie
Es sieht so aus, als habe Winckelmann schon früh in der Geschichtsschreibung seine Hauptberufung gesehen. Bereits 1746 – also lange vor seinen ersten Überlegungen zu Kunst und Kunstgeschichte – stellt er in Seehausen mit Bestimmtheit fest: „Mein Hauptwerck muß die Geschichte sein.“11 Einer alten gelehrten Tradition nach pflegte er von Jugend auf lange Textpassagen aus von ihm gelesenen Büchern zu notieren. Diese Lesefrüchte sammelte er sein ganzes Leben lang in verschiedenen Heften, welche sich recht schnell zu einer stattlichen, stets jedoch tragbaren, handgeschriebenen Bibliothek autonomisierten. Das Ergebnis dieser langwierigen Exzerpiertätigkeit bildet einen Korpus von ungefähr 7.500 Seiten, der seit 1801 zum größten Teil in der Handschriftenabteilung der französischen Bibliothèque Nationale in Paris aufbewahrt wird, zu einem kleinen Teil in verschiedenen deutschen, französischen und italienischen Bibliotheken verstreut ist.12 10
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In Reinhart Kosellecks Werk Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (zuerst Frankfurt a.M. 1979) wird Winckelmann nicht erwähnt. In den Geschichtlichen Grundbegriffen (Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhard Koselleck. 7 Bde. Stuttgart 1972–1992) findet er nur an fünf Stellen Erwähnung. In Friedrich Jaegers und Jörn Rüsens Geschichte des Historismus (München 1992) sowie in Rüsens Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft (Stuttgart 1976) taucht sein Name gar nicht auf. Gleiches gilt für den von Lutz Raphael herausgegebenen Band Klassiker der Geschichtswissenschaft (Bd. 1: Von Edward Gibbon bis Marc Bloch. München 2006). Johann Joachim Winckelmann [an Unbekannt], August 1746 [Entwurf]. In: Winckelmann: Briefe (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 64. Paris, Bibliothèque Nationale de France (=BnF), Département des manuscrits, Fonds allemand (=DM, FA), Bde. 56‒76; Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek (=SUB), Cod. hist. art. 1, 1 (2°) u. Cod. hist. art. 1, 2 (4°); Savignano sul Rubicone, Rubiconia Accademia dei Filopatridi, Nachlass Giovanni Critofano Amaduzzi; Montpellier, Bibliothèque Universitaire de Médecine (=BU médecine), H 356 u. H 433. Zum Inventar des Pariser Nachlasses vgl. André Tibal: Inventaire des manuscrits de Winckelmann déposés à la Bibliothèque Nationale. Paris 1911. Zu Winckelmanns Exzerpierkunst und ihrer Auswirkung auf sein Werk vgl. Elisabeth Décultot: Johann Joachim Winckelmann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art. Paris 2000 [dt. Übersetzung: Dies.: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Übers. v. Wolfgang von Wangenheim u. René Mathias Hofter. Ruhpolding 2004]. Zur Geschichte des WinckelmannNachlasses in Frankreich (Paris und Montpellier) vgl. dies.: Wie gelangte Winckelmanns
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Alles in dieser handgeschriebenen Bibliothek bezeugt Winckelmanns frühes Interesse an der Geschichtsschreibung. Von Halle bis nach Nöthnitz bleibt kein Gebiet der Historiographie – ob antik oder modern – von seinen Nachforschungen unberührt. Es ist nicht leicht, wissenschaftliche Einteilungen für die ausufernde historiographische Produktion des 18. Jahrhunderts zu finden. Polyhistorie, Weltgeschichte, Reichshistorie, Chronik: Die gesamte Bandbreite dieser Gattungen ist in der Geschichtsschreibung dieses Zeitalters vertreten. Will man diese historischen Werke nach Umfang und Zielsetzung klassifizieren, so lässt sich zwischen „Spezialhistorie“ und „Universalgeschichte“ unterscheiden.13 Fragt man nach der Erzählmethodik, so kann man sie in die Tradition entweder der pragmatistischen oder der ästhetischen (bzw. poetischen) Geschichtsschreibung einordnen.14 Es darf angenommen werden, dass sich Winckelmann auf seinem intellektuellen Werdegang in viele dieser historiographischen Gebiete des 18. Jahrhunderts eingearbeitet hat. Als Student scheint er sich zuerst mit der Reichshistorie vertraut gemacht zu haben. Die Universität Halle, wo er von 1738 bis 1740 Theologie studierte, hatte einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung dieser historiographischen Gattung geleistet. Ihre Bedeutung schuldete diese Disziplin Christian Thomasius, der als Gründungsmitglied der juristischen Fakultät die Reichshistorie als bevorzugte Hilfswissenschaft des Jurastudiums mit der Überzeugung eingerichtet hatte, dass der Jurist die Gesetze nicht nur anwenden, sondern auch ihren historischen Hintergrund kennen sollte. Diese Forderung hatte einer reichen Tradition den Weg geöffnet. So zählten etwa Simon Friedrich Hahn, der Autor einer Vollständige[n] Einleitung zu der Teutschen Staats-, Reichs- und Kayser-Historie, unter Nikolaus Hieronymus Gundling und Johann Peter von Ludewig zu Halles Studenten.15 Während seiner Studienzeit in Halle hatte Winckelmann mehrfach Gelegenheit, in diese Tradition eingeführt zu werden. 1740 arbeitete er dort als Hilfsbibliothekar Ludewigs, der selbst als Autor eines Entwurffs der Reichs-Historie bekannt war.16 In dessen Bibliothek, einer der reichsten der Stadt, durfte er zweifelsohne zahlreiche Materialien zu dieser historiographischen Gattung gefunden haben, auch wenn sich in der Exzerptsammlung, die er schon in diesen Jahren zu konstituieren an-
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Nachlaß nach Frankreich? Rekonstruktion und Analyse eines Kulturtransfers besonderer Art. In: Max Kunze u.a. (Hg.): Rom – Paris – Stendal. Der Winckelmann-Nachlaß in Paris. Zur Geschichte der Handschriften Winckelmanns. Stendal 2001, S. 7–33. Vgl. Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 8), insb. S. 97–150. Vgl. Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung. 1760‒1860. Berlin u. New York 1996, u.a. S. 55–58. Simon Friedrich Hahn: Vollständige Einleitung zu der Teutschen Staats-, Reichs- und KayserHistorie und dem daraus fliessenden Jure Publico. 4 Bde. Halle u. Leipzig 1721–1724. Johann Peter Ludewig: Entwurff der Reichs-Historie. Halle 1710. Zu Winckelmanns Beschäftigung als Hilfsbibliothekar in Ludewigs Bibliothek, vgl. Johann Joachim Winckelmann an Abt Steinmetz, [2. April 1747]. In: Winckelmann: Briefe (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 69; ders. an Heinrich von Bünau, 10. Juli 1748. In: Ebd., S. 79.
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Elisabeth Décultot
fing, keine direkten Spuren von Ludewigs Werk finden lassen. Erst mit der Übersiedlung nach Sachsen im Jahre 1748 begann Winckelmann, sich intensiv ‒ und dies bis zum Überdruss, wie wir noch sehen werden ‒ mit der Reichshistorie auseinanderzusetzen. In die Dienste des Grafen Bünau trat er als Sekretär für die Abfassung von dessen Teutscher Kayser- und Reichs-Historie ein.17 Für gewöhnlich fertigte Bünau zunächst eine erste Skizze an, zu der Winckelmann im Anschluss die genauen Verweise auf die benutzten Quellen beisteuern musste. Der so mit historischen Verweisen gespickte Text wurde dann aufs Neue vom Grafen gelesen und korrigiert, bevor er schließlich seine endgültige Fassung erhielt. Gelegentlich wurde aber auch sein Sekretär mit der direkten Abfassung eines Entwurfs beauftragt, den Bünau anschließend korrigierte. Für den Grafen verfasste Winckelmann Exzerpthefte zu Otto II., Otto III., Heinrich II. und allegata zu Chlodwig.18 Wohl auf diese Periode sind etwa die auf zwanzig dicht beschriebenen Seiten ausgebreiteten Notizen ‒ von Karl dem Großen bis zu Heinrich IV. ‒ zu datieren, die er aus seiner Lektüre der schon erwähnten Teutschen Staats-, Reichs- und Kayser-Historie von Simon Friedrich Hahn gewonnen hatte (Abb. 1).19
II.
Die Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen Geschichte
Dass Winckelmann dieser eingehenden Auseinandersetzung mit dem Modell der Reichshistorie nicht nur eine Fülle von historischen Informationen, sondern auch epistemologische Reflexionen entnommen hat, beweist eine seiner frühesten Schriften, die Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen Geschichte, die er Ende 1754 oder Anfang 1755 als Vortrag für einen Dresdner Gelehrtenkreis verfasste. In diesem bündigen Aufsatz zieht er eine kritische Bilanz seiner ersten historiographischen Erfahrungen und fasst lange vor der Arbeit an der Geschichte der Kunst des Alterthums einige seiner wichtigsten methodologischen
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Heinrich von Bünau: Genaue und umständliche Teutsche Kayser- und Reichs-Historie. Aus den bewehrtesten Geschicht-Schreibern und Uhrkunden zusammen getragen. 4 Bde. Leipzig 1728–1743. Das Werk wurde nicht vollendet. Das letzte Buch endet mit dem Tod Konrads I. im Jahre 918. 16 Bände mit Manuskripten befinden sich in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Vgl. dazu Gerald Heres: Winckelmann in Sachsen. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Dresdens und zur Biographie Winckelmanns. Berlin u. Leipzig 1991. Diese Manuskripte befinden sich in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Heres bildet ein Beispiel dieser Zusammenarbeit von Winckelmann und Bünau ab. Heres: Winckelmann in Sachsen (wie Anm. 17), S. 39‒40; Dresden, Sächsische Landesbibliothek (=SLUB), Msc. Dresd. R 121, Abt. XII, Bl. 12r. Zur Zusammenarbeit mit Bünau vgl. auch Max Schurig: Die Geschichtsschreibung des Grafen Heinrich von Bünau. Diss. Leipzig 1910, S. 10‒12, 87‒90. Exzerpt aus Hahn: Vollständige Einleitung (wie Anm. 15); SUB, Cod. hist, art. 1, 2 (4°), Bl. 99v‒111r.
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Überzeugungen in Bezug auf die Geschichtsschreibung zusammen.20 Dazu gehört in erster Linie das Bemühen um einen makrohistorischen Maßstab. Gegen die Historiker, die zu den beschränktesten Gegenständen die ausführlichsten Auskünfte liefern, verteidigt Winckelmann den Grundsatz einer Geschichte der langen Zeiträume, die mehrere Nationen und Zeitalter umfasse und von dem „wunderbaren Wechsel in den Reichen“ und ihren vielfältigen Geschicken Zeugnis ablege – eine „allgemeine“ Geschichte also, die in großen Strichen „Aufnahme, Wachsthum, Flor und Fall“ der Reiche nachzeichne. Als Gegensatz zu dieser „allgemeinen“ Geschichte nennt er die „Special-Geschichte“, in die „alles Subalterne“ gehöre.21 Hinter der positiven Bezeichnung der Gattung „allgemeine Geschichte“ zeichnen sich im Negativrelief keimende Bedenken gegenüber der Reichshistorie ab. Zwar umfasste Bünaus Reichs-Historie einen Zeitraum von etwa tausend Jahren, der sich von dem Krieg der Kimbern gegen die römischen Legionen im 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum Anfang des 10. Jahrhunderts erstreckte. Doch blieb der historiographische Blickwinkel auf ein engeres nationales Gebiet – nämlich die „Teutsche Geschichte“ – begrenzt. Schon in der Vorrede seiner Teutschen Kayserund Reichs-Historie hatte Bünau auf die Vorteile einer „Historie“ hingewiesen, „woraus man den Ursprung, Wachsthum und vornehmsten Thaten eines berühmten Volckes erlernen kann, und wodurch man von den Sitten, Veränderung und Verfassungen eines Landes Nachricht zu erlangen, Gelegenheit bekommet.“ Deshalb habe er sich für eine auf Deutsch geschriebene Reichshistorie entschieden, die „den wahren Zusammenhang der Teutschen Geschichte [zeigen würde], nebst den von Zeiten zu Zeiten fürgefallenen Veränderungen, und dem daraus fliessenden auf des Reichs Herkommen sich gründenden Staats-Rechte, in einer an einander
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Die im kurzem Vortrag von 1754–1755 angedeutete Abkehr vom Modell der Reichshistorie hatte sich in den Briefen der vorangehenden Jahre schon abgezeichnet. Bereits 1750, kaum zwei Jahre nach seiner Ankunft in Nöthnitz, hatte sich Winckelmanns Unbehagen an Bünaus Geschichtswerk bemerkbar gemacht. Neben den körperlichen Beeinträchtigungen, die die Arbeit des Abschreibens mit sich brachte ‒ Krämpfe in der Hand und Deformation der Handschrift ‒, beschrieb er mit wachsender Ungeduld die Sinnlosigkeit seiner Untersuchungen. Vgl. Johann Joachim Winckelmann an Konrad Friedrich Uden, 23. Februar 1750. In: Winckelmann: Briefe (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 98. 1754 beauftragte ihn Bünau für seinen Schweizer Freund Samuel Engel (1702–1784), einen Neffen von Albrecht von Haller, mit einer Nachforschung über die Kleinstadt Biel. Nach ergebnisloser Suche richtete Winckelmann die lakonische Antwort an Bünau: „Außer den Scribenten von der Schweiz findet sich kaum Meldung dieses Orts“ (Johann Joachim Winckelmann an Heinrich von Bünau, 22. Januar 1754. In: Ebd., S. 138). Johann Joachim Winckelmann: Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen Geschichte [1754?/55?]. In: Ders.: Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Hg. v. Walther Rehm. Berlin 1968, S. 17–25, hier S. 21. Zur Entstehung und Bedeutung dieser Schrift vgl. Rehm: Kommentar. In: Ebd., S. 318f.; Seeba: Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte (wie Anm. 9), S. 299–323.
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hangenden und weder durch unnöthige Ausschweifungen, noch durch weitläufftige Anmerckungen unterbrochenen Schreibart“.22 In Winckelmanns Schrift über die neuere allgemeine Geschichte sind Bedenken zu vernehmen, die weit über die nationale Beschränkung der Reichshistorie hinaus ihren Gegenstand und ihre Methode betreffen. Kritisiert werden in diesem frühen Text die geschichtlichen Werke, die sich nur mit dem politischen und militärischen Geschehen beschäftigen. Dieser verstümmelten Geschichte setzt Winckelmann den Aufruf entgegen: „Man zeige zugleich die großen Mittel an, wodurch Staaten glücklich und mächtig geworden“ – und zu diesen „großen Begebenheiten in den Reichen gehören die berühmten Entdeckungen in der Natur und Kunst: auf beyde sollen Lehrer der Geschichte nicht weniger als Staaten aufmerksam seyn.“23 Mit anderen Worten: Der Fortschritt der Künste und Wissenschaften im Athen des Perikles oder im England von Elisabeth I. ist, historisch gesehen, genauso bedeutend wie die Chronik der Herrschaft und der Kriege. Einer solchen Kritik ließ sich die Reichs-Historie des Grafen Bünau leicht unterziehen, die zwar einige Ausführungen über die „Sitten und Gewohnheiten“ der „Teutschen“ enthielt,24 sich aber zuerst als eine Geschichte der Kriege, Eroberungen und Allianzen der Regierenden verstand. Hervorzuheben ist dabei, dass die Kritik an der bloß auf die Person und die Heldentaten der Herrscher zentrierten Geschichtsschreibung eine kaum überhörbare politische Dimension besaß. Tatsächlich ist der Wunsch nach einer vielfältigen Geschichte, die ein umfangreiches Bild aller kulturellen Bestandteile einer Zivilisation beschreibt, eng mit dem aufklärerischen Motiv der Herrscher- und Tyrannenkritik verbunden. Damit deutet Winckelmann schon in Sachsen auf die enge Verbindung von Kunstgeschichtsschreibung und Lob der antiken Demokratie, von künstlerischer Produktion und politischer Freiheit hin, die er später in der Geschichte der Kunst des Alterthums eingehender ausführt.25 Die frühe Auseinandersetzung mit dem Modell der Reichshistorie kann als Schlüssel für Winckelmanns spätere geschichtliche Arbeiten betrachtet werden. Eine kritische Erinnerung an die historiographische Erfahrung von Nöthnitz ist schon den ersten Zeilen der Geschichte der Kunst des Alterthums zu entnehmen: Die Geschichte der Kunst des Alterthums, welche ich zu schreiben unternommen habe, ist keine bloße Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben, sondern ich nehme das
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Bünau: Genaue und umständliche Teutsche Kayser- und Reichs-Historie (wie Anm. 17), Bd. 1, Vorrede, o.S., [S. 3, 7]. Winckelmann: Gedanken vom mündlichen Vortrag (wie Anm. 21), S. 22f. Bünau: Genaue und umständliche Teutsche Kayser- und Reichs-Historie (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 3f. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums (wie Anm. 1), S. 135 (nach der 1. Aufl. 1764). Zu Winckelmanns Freiheitsbegriff vgl. Elisabeth Décultot: Freiheit. Zur Entwicklung einer Schlüsselkategorie von Winckelmanns Kunstverständnis. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 37/2 (2013), S. 219–233.
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Wort Geschichte in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der Griechischen Sprache hat, und meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern.26
Die Geschichte, die sich Winckelmann zu schreiben vornimmt, soll also keine einfache Chronik der Zeitabläufe, kein Katalog der res gestae sein, wie er sie in Bünaus Reichs-Historie hatte beobachten können, sondern ein „Lehrgebäude“, das anhand des makrohistorischen Maßstabs der „allgemeinen Geschichte“ den Leser über Wesen und Werden der Künste unterrichte.27
III. Die Wahl der Wörter: ‚Geschichte‘ gegen ‚Historie‘ Dass Winckelmann das Wort ‚Geschichte‘ und nicht den Terminus ‚Historie‘ zur Bezeichnung seines Werkes wählte, ist in diesem Zusammenhang alles andere als bedeutungslos. ‚Historie‘ war nicht nur seit langem in der deutschen Sprache zur Betitelung historischer Werke üblich, wie er es bei Hahn und Bünau vorgeführt sah, sie hatte darüber hinaus den Vorteil, sich etymologisch direkt aus der griechischen ‚Historia‘ abzuleiten – eine Verbindung mit der griechischen Tradition, die Winckelmann in dem vorhin zitierten Passus aus der Vorrede seiner Geschichte der Kunst des Alterthums ausdrücklich beanspruchte. Warum nannte er also in Abwendung von Etymologie und Tradition sein Werk ‚Geschichte‘ und nicht ‚Historie‘? Dazu soll die Wortgeschichte dieser beiden Termini kurz geschildert werden. Wie Kosellek zeigte, werden die Wörter ‚Geschichte‘ und ‚Historie‘ bei ihrem ersten Auftauchen im 13. Jahrhundert in unterschiedlichem Sinne verwendet.28 ‚Geschichte‘ bezeichnet ursprünglich die res gestae, die facta, also die Ereignisse, die vorgefallenen Dinge, ‚Historie‘ dagegen verweist auf ihre Erzählung, ihre Überführung in eine narrative Form. Bereits im 15. Jahrhundert aber überlagern sich die Bedeutungsfelder beider Termini: Mit ‚Geschichte‘ sind dann nicht mehr allein die Tatsachen selbst, sondern ihre Erzählung gemeint. Am Ende des 18. Jahrhunderts wird die Bezeichnung ‚Historie‘ durch den Terminus ‚Geschichte‘ verdrängt – eine Entwicklung, die etwa Johann Christoph Adelung 1775 in seinem Lexikon verzeichnet: In allen diesen Bedeutungen ist nunmehr, wenigstens in der anständigen Schreibart, dafür das Deutsche Geschichte gangbarer, daher man für Historien-Buch, Historien-Mahler, HistorienSchreiber u.s.f. auch lieber Geschichtbuch, Geschichtmahler, Geschichtschreiber sagt. Nur das Bey- und Nebenwort historisch, auf eine erzählende Art, der Geschichte ähnlich, in der Ge-
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Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums (wie Anm. 1), S. IX (nach der 1. Aufl. 1764). Ebd., S. X. Reinhart Koselleck: Geschichte. In: Brunner, Conze u. ders. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 647–717.
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schichte gegründet, hat noch keinen schicklichen Deutschen Ausdruck gefunden, indem das von einigen versuchte geschichtlich sich nicht in allen Fällen gebrauchen lässet.29
Das Aufkommen des Wortes ‚Geschichte‘ vollzieht sich jedoch langsam. Zwar wird es in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts häufiger benutzt. Regelmäßig taucht es aber erst in den Titeln ab ca. 1760 auf und erlebt dann einen wahrhaften Aufschwung. Die Göttinger Historiker liefern dafür zahlreiche Zeugnisse: 1771 veröffentlicht Johann Christoph Gatterer eine Einleitung in die synchronistische Universalhistorie und 1792 den Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte.30 Dieser terminologische Wandel ist kein Zufall, sondern geht mit einer wichtigen semantischen Umwälzung einher. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird das Wort ‚Historie‘ immer mehr zur Bezeichnung von bloßen Chroniken verwendet, während der Terminus ‚Geschichte‘ auf eine Gattung des historischen Erzählens hinweist, die Anspruch auf eine synthetische und reflexive Dimension erhebt. Mit seiner Geschichte der Kunst des Alterthums nahm Winckelmann aktiv an dieser Umwandlung teil. 1761, als die Abfassung der Geschichte der Kunst fast beendet war, waren zwar bereits einige Werke unter dem Titel ‚Geschichte‘ erschienen, aber erst einige Jahre später setzte mit Isaak Iselin, Carl Friedrich Flögel und vielen anderen der neue Trend auf dem Büchermarkt ein.31 Mit dem Rückgriff auf das Wort ‚Geschichte‘ kündigte Winckelmann seinen Vorsatz deutlich an, sich von dem Modell der Historie, wie er es bei der Arbeit an Bünaus Reichs-Historie hatte beobachten können, zu verabschieden.
IV. Das Vorbild Voltaire Winckelmanns Auseinandersetzung mit dem Modell der Reichshistorie fiel zeitlich mit seiner eingehenden Lektüre der Schriften Voltaires zusammen, wie sein Exzerptmagazin zeigt. In Voltaires üppigem Werk las und exzerpierte Winckel29
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Johann Christoph Adelung: Art. Historie. In: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 4 Bde. Hg. v. dems., Dietrich Wilhelm Soltau u. Franz Xaver Schönberger. Bd. 2. Wien 1811, S. 1213f. [zuerst: 5 Bde., Leipzig 1774–1786, unter dem Titel: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart]. Johann Christoph Gatterer: Einleitung in die synchronistische Universalhistorie zur Erläuterung seiner synchronistischen Tabellen. Göttingen 1771; ders.: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte bis zur Entdeckung Amerikens. Göttingen 1792. Auch August Ludwig von Schlözer veröffentlicht 1772 eine Vorstellung seiner Universal-Historie bei Dieterich in Göttingen, der er kurz darauf eine Fortsetzung unter dem Titel Weltgeschichte in einer merklich erweiterten Auflage bei Vandenhoeck folgen lässt. Vgl. August Ludwig von Schlözer: Weltgeschichte nach ihren Haupt-Theilen im Auszuge und Zusammenhange. 2 Bde. Göttingen 1785–1789. Zur gleichen Zeit wie die Geschichte der Kunst erschienen Isaak Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. 2 Bde. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1764 (mehrere Auflagen) und Carl Friedrich Flögel: Geschichte des menschlichen Verstandes. Breslau 1765.
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mann in Nöthnitz – wie die Analyse der Wasserzeichen und der Papierqualität seiner handschriftlichen Lesenotizen ergeben hat32 – so verschiedene Schriften wie die Lettres philosophiques, den Essay sur la poésie épique, die Eléments de la philosophie de Newton oder die in Prosa und Versen verfasste Erzählung Dans le temple du goût.33 Ganz entscheidend scheint dabei die Lektüre der historischen Schriften Voltaires gewesen zu sein, vor allem dessen 1751 erschienenes Werk Le Siècle de Louis XIV, dem er etwa zehn Exzerptseiten entnahm (Abb. 2).34 Dass Winckelmann auf die Werke des Franzosen sehr großen Wert legte, beweist die Tatsache, dass er – gegen seine Gewohnheit – dessen Bücher auch in gedruckter Form besaß. Diese Bände nahm er sogar mit nach Italien; da sie aber von der katholischen Kirche verboten waren, wurden sie ihm bei der Einreise vom Zollamt in Rom konfisziert, drei Wochen später jedoch zurückgegeben.35 Ziel von Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations war es, eine weitgespannte „Geschichte des menschlichen Geistes“ („histoire de l’esprit humain“) zu entwerfen, die mit der Tradition der Chroniken und Annalen brechen sollte.36 Vorzüglicher Gegenstand dieser Geschichte sollten die „Sitten“ („mœurs“) werden, d.h. die vielfältigen Kulturerscheinungen der Menschheit, an deren Entwicklung der Gang des menschlichen Geistes und seine „Revolutionen“ zwischen 32
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Die genaue Datierung der Exzerpte von Winckelmann bereitet vielfach Probleme. Äußerst selten notiert Winckelmann ein präzises Datum in seinen Heften. Dennoch ist es meistens möglich, aufgrund der Papierqualität und der Wasserzeichen die in Deutschland verfassten Exzerpte von denen des italienischen Aufenthalts zu unterscheiden. In Nöthnitz benutzte Winckelmann in der Tat ein ziemlich grobes, graues Papier mit holländischem Wasserzeichen, das sich gut erkennen lässt (Gegenmarke: I Villandry). Vgl. dazu Marianne Bockelkamp: Was lehren uns die Wasserzeichen der Pariser Winckelmann-Handschriften. In: Philobiblon 40/1 (März 1996), S. 40–48. Aus dem Vergleich mit Briefen, in denen er seine Lektüren erwähnt, lassen sich weitere Exzerpte datieren. Hierbei muss hervorgehoben werden, dass einige der von Tibal im Nachlass-Inventar vorgeschlagenen Datierungen der Exzerpthefte fehlerhaft zu sein scheinen. Vgl. Tibal: Inventaire (wie Anm. 12). Aus den Werken Voltaires fertigte Winckelmann folgende Exzerpte an: Le siècle de Louis XIV (ohne Angabe zur benutzten Ausgabe; vielleicht handelte es sich dabei um die von Georg Conrad Walther 1752 in Dresden verlegte Ausgabe [zuerst Berlin 1751]). BnF, DM, FA, Bd. 72, Bl. 1r‒5r; Les Lettres philosophiques (ohne Angabe zur benutzten Ausgabe [zuerst Amsterdam 1734]). Ebd., Bd. 72, Bl. 59v; Essay sur la poésie épique, traduit de l’anglois (ohne Angabe zur benutzten Ausgabe [zuerst Paris 1728]). Ebd., Bd. 72, Bl. 63v; BU médecine, H 356, Bl. 120r‒122v; Eléments de la philosophie de Newton (ohne Angabe zur benutzten Ausgabe [zuerst Amsterdam 1738]). BnF, DM, FA, Bd. 72, Bl. 107r; Dans le temple du goût (ohne Angabe zur benutzten Ausgabe [zuerst: Amsterdam 1733]). BU médecine, H 356, Bl. 126v‒127r; Kleinere historische Schriften. Übers. v. G. E. Lessing. Rostock 1752. BnF, DM, FA, Bd. 72, Bl. 38v. Vgl. Anm. 33. Johann Joachim Winckelmann an Johann Michael Francke, 7. Dezember 1755. In: Winckelmann: Briefe (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 190; ders. an Hieronymus Dieterich Berendis, 20. Dezember 1755. In: Ebd., S. 194. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um die Ausgabe von Voltaires Œuvres, die 1748–1750 in acht Bänden von Walther in Dresden publiziert worden war. Voltaire: Nouveau plan d’une histoire de l’esprit humain [1745]. In: Ders.: Essai sur les mœurs et l’esprit des nations. Hg. v. René Pomeau. 2 Bde. Bd. 2. Paris 1990, S. 815–817, hier S. 816.
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„Vernichtung“ und „Wiedergeburt“ aufgezeigt werden könnten.37 In dieser Geschichte sollte die Kunst eine Hauptrolle spielen. „Hat es denn auf Erden nur Könige gegeben“, fragt Voltaire 1745 in einer Ankündigung seines Essai sur les mœurs, „und müssen fast alle Erfinder der Künste unbekannt bleiben, während uns chronologische Abfolgen von so vielen Menschen vorliegen, die nichts Gutes oder gar viel Böses getan haben?“38 „Die Geschichte der Künste [ist] vielleicht die nützlichste von allen, wenn sie mit der Kenntnis der Erfindung und des Fortschritts der Künste die Beschreibung ihrer Mechanismen verbindet“, schreibt er 1765 gleich am Anfang seines Artikels „Histoire“ in der Encyclopédie.39 In Winckelmanns Exzerptmagazin finden sich zwar keine Spuren des Essai sur les mœurs oder der Encyclopédie. Dafür liest Winckelmann Le Siècle de Louis XIV, eine der prägnantesten Illustrationen der Bedeutung der Künste für die geschichtliche Darstellung eines Zeitalters. Sein Interesse als Leser und Exzerpierer gilt bezeichnenderweise exakt dem 32. Kapitel, in dem Voltaire die Grundsätze seiner Kulturgeschichte ausbreitet. Dort wird dargelegt, dass die höchste Ausdrucksform der Blüte des Zeitalters Ludwigs XIV. weder im Regierungsstil noch in den militärischen Feldzügen des Herrschers zu suchen sei, sondern in den Werken der Dichter, Dramatiker und Historiker der Zeit. Erst der Glanz von Molière, Racine, Madame de Sévigné und Boileau zeige das Zeitalter auf seinem Höhepunkt. In seinen Exzerpten verfolgt Winckelmann die Stufen dieser Teleologie Voltaireʼscher Prägung nach. So notiert er Voltaires Lob auf Jean de Lingendes, den „ersten Redner, der nach dem großen Geschmack redete“, oder auf Vaugelas, dessen „Übersetzung des Quintus Curtius von 1646 [...] das erste in reinem Stil geschriebene Buch war“, bevor sein Werk wiederum von La Rochefoucaulds Maximes eingeholt wurde, „eines der Werke, die am meisten dazu beitrugen, den Geschmack der Nation zu bilden.“40 Damit bot Voltaires Schrift Winckelmann das Vorbild einer umfassenden Kulturgeschichte, einer „philosophischen“ Geschichte vom Fortschritt des guten Geschmacks und des Geistes im Zeitalter der Aufklärung.
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Ebd. Ebd.: „N’y a-t-il donc eu sur la terre que des rois; et faut-il que presque tous les inventeurs des arts soient inconnus tandis qu’on a des suites chronologiques de tant d’hommes qui n’ont fait aucun bien, ou qui ont fait beaucoup de mal?“ [Übers. E.D.] Voltaire: Art. Histoire. In: Denis Diderot u. Jean le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 8. Neufchastel 1765, S. 220– 225, hier S. 220: „L’histoire des arts [est] peut-être la plus utile de toutes, quand elle joint à la connaissance de l’invention et du progrès des arts, la description de leur mécanisme.“ Winckelmann: Exzerpt aus: Voltaire: Le siècle de Louis XIV. BnF, DM, FA, Bd. 72, Bl. 3r: „Jean de Lingendes [...] fut le premier orateur qui parla dans le grand goût. [...]. La langue commençait à s’épurer [...]. La traduction de Quinte Curce par Vaugelas, qui parut en 1646, fut le premier bon livre écrit purement [...]. Un des ouvrages qui contribua le plus à former le goût de la nation, & à lui donner un esprit de justesse et de précision, fut le petit recueil des Maximes de François duc de la Rochefoucault.“
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Vom Modell des Siècle de Louis XIV distanzierte sich Winckelmann zwar in entscheidenden Punkten: Während Voltaire der Dichtung und dem französischen 17. Jahrhundert die höchsten Ränge in seiner Hierarchie der Künste und Epochen zuweist, sind es bei Winckelmann die Skulptur und das Perikleische Zeitalter, die in dessen Geschichte der Kunst diese Stelle einnehmen. Doch scheint Winckelmann bei seiner Entscheidung, die Kunst zum Hauptgegenstand eines einzelnen Geschichtswerks zu machen, bei Voltaire zumindest einen Wegbereiter gefunden zu haben. Bereits 1754–1755 findet im schon erwähnten Vortrag zur allgemeinen Geschichte der Voltaireʼsche Grundgedanke Eingang, dass die Geschichte der Künste die höhere Form der Geschichte des menschlichen Geistes sei und die traditionelle, am Tun und Lassen der Herrscher orientierte Historie nun ablösen müsse.41
V. Wie schreibt man Geschichte? Seiner Auseinandersetzung mit dem Modell der Reichshistorie sowie mit Voltaires historischen Schriften entnahm Winckelmann Überlegungen nicht nur darüber, welche Gegenstände die „neuere allgemeine Geschichte“ zu behandeln habe, sondern auch, wie, d.h. anhand welcher erzählerischen und stilistischen Mittel diese Gegenstände am besten behandelt werden könnten. Mit anderen Worten: Winckelmanns Auseinandersetzung mit historischen Gegenständen gilt von vornherein auch der Frage, wie man Geschichte schreiben soll. Chronologisch gesehen bildet die Frage nach der Poetik oder Rhetorik der Geschichtsschreibung sogar eine der allerersten Fragestellungen des Historikers Winckelmann. Über Xenophon – eine Schrift, die neben den schon erwähnten Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen Geschichte zu seinen allerersten historiographischen Arbeiten gehört42 – besteht in einem genauen Vergleich der Einleitungen, mit denen die großen griechischen Geschichtsschreiber ihre Erzählung beginnen ließen. Dort lobt Winckelmann die „edle Einfalt“ Xenophons, der ohne Vorspann die Erzählung seiner Anabasis mit einer Formulierung eröffnet, wie sie aus einem Märchen stammen könnte („Darius und Parysatis hatten zween Prinzen“), und stellt sie den ausgedehnten kritischen Reflexionen gegenüber, mit denen wiederum Herodot und Thukydides ihre Erzählung einsetzen lassen.43 Damit wird deutlich genug, welche Bedeutung Winckelmann – noch vor 41 42
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Winckelmann: Gedanken vom mündlichen Vortrag (wie Anm. 21), S. 21–23. Johann Joachim Winckelmann: Über Xenophon. In: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 21), S. 13–16. Tibal datiert diese Schrift auf das Jahr 1754. Tibal: Inventaire (wie Anm. 12), S. 138. Für Rehm kann sie schon früher entstanden sein. Rehm: Kommentar. In: Winckelmann: Kleine Schriften (wie Anm. 21), S. 317. Der Text blieb ein zu Winckelmanns Lebzeiten unveröffentlichtes Fragment. Winckelmann: Über Xenophon (wie Anm. 42), S. 13.
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jeglicher Beschäftigung mit dem eigenen Werk als Kunsthistoriker – der Frage der Erzähltechnik in der Geschichtsschreibung beimaß. Dafür standen ihm verschiedene Stilmodelle zur Verfügung. Für seine ReichsHistorie hatte Bünau das Kriterium der historischen Wahrheit und quellenkritischen Sicherheit als oberstes Gesetz der richtigen historischen Schreibweise definiert. In der Vorrede zum ersten Band hatte er nachdrücklich betont, dass der Historiker „alles getreulich“ vorzutragen habe.44 Seine erste Aufgabe sei es, die Quellen selbst sprechen zu lassen und den Diskurs der Urkunden getreu wiederherzustellen. Ein solches Vorgehen erfordere eine möglichst genaue und neutrale Schreibweise. An manchen Heften des Exzerptmagazins lässt sich aber zeigen, dass Winckelmann wahrscheinlich gerade in der Zeit seiner Mitarbeit an Bünaus Reichs-Historie bemüht war, Materialien zu anderen Regeln des historischen Erzählens zu sammeln. Dazu waren ihm die antiken Quellen von großer Ergiebigkeit. Er machte z.B. ausführliche Notizen aus Lukians De conscribenda historia und Ciceros Brutus und De oratore, drei grundlegenden Werken für den Zusammenhang von Beredsamkeit und Geschichte.45 Aber auch aus Werken der modernen Literatur zog er Leitsätze des historischen Schreibens. Französischen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts entlehnte er Regeln der historischen elocutio, die in erster Linie auf Bündigkeit zielten. „Nihil est in historia pura et illustri brevitate dulcius“, exzerpierte er z.B. aus Ciceros Brutus – eine Formel, die er in den Gedanken vom mündlichen Vortrag ins Deutsche übersetzte: „Nichts ist in einer Geschichte angenehmer als eine erleuchtete Kürze“.46 Aus Voltaires Siècle de Louis XIV zog er ein nachdrückliches Lob auf die Bündigkeit des französischen Historikers CharlesJean-François Hainault heraus, dem man die „kürzeste und beste Geschichte Frankreichs schuldig“ sei, und „vielleicht die einzige Art und Weise, wie man von nun an all die großen Geschichten schreiben“ müsse. „Es wird aber schwierig sein, den Autor des Abrégé chronologique nachzuahmen [gemeint ist das Abrégé chronologique de l’histoire de France jusqu’à la mort de Louis XIV von 1744, E.D.], so vielen Dingen auf den Grund zu gehen, indem man sie nur zu berühren scheint.“47 Der Historiker muss also mit wenigen Federstrichen möglichst weit
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Bünau: Genaue und umständliche Teutsche Kayser- und Reichs-Historie (wie Anm. 17), Bd. 1, Vorrede, o.S., [S. 4]. Winckelmann: Exzerpt aus: Lukian: De conscribenda historia. BnF, DM, FA, Bd. 59, Bl. 222v; ders.: Exzerpt aus: Cicero: Brutus. Ebd., Bd. 65, Bl. 75v, 76v‒77r; ders.: Exzerpt aus: Cicero: De oratore. Ebd., Bd. 65, Bl. 74r‒75v. Winckelmann: Exzerpt aus: Cicero: Brutus. Ebd., Bd. 65, Bl. 77r. Winckelmann zitiert diese lateinische Formel in deutscher Fassung in ders.: Gedanken vom mündlichen Vortrag (wie Anm. 20), S. 24 sowie in ders.: Über Xenophon (wie Anm. 42), S. 15. Winckelmann: Exzerpt aus: Voltaire: Le siècle de Louis XIV. BnF, DM, FA, Bd. 72, Bl. 4v: „Au reste la postérité ne le [Jean de Hénault (1611?–1682?), E.D.] confondra pas avec un homme du même nom & d’un mérite supérieur [Charles-Jean-François Hainault (1685–1770) E.D.], à qui nous devons la plus courte et la meilleure histoire de France, & peut-être la seule manière dont il faudra désormais écrire toutes les grandes histoires. Mais il sera difficile
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gespannte historische Panoramen entwerfen können. Er muss dem erschöpfenden Katalog von Tatbeständen die synthetische Übersicht vorziehen, der Überfülle wahrheitsgetreuer Details die Kürze und Lebhaftigkeit des Überblicks. Seiner eingehenden Lektüre der französischen Literatur des ausgehenden 17. Jahrhunderts konnte Winckelmann darüber hinaus entnehmen, dass solche stilistischen Entscheidungen mit entscheidenden epistemologischen und soziologischen Ausdifferenzierungen einhergingen. Mit besonderem Interesse registriert er die für das französische literarische Feld dieser Epoche kennzeichnende Trennung zwischen „honnête homme“ und „érudit“, Eleganz und Pedanterie, Beredsamkeit und Wissenschaft, wie etwa folgendes Exzerpt aus La Bruyères Caractères zeigt (Abb. 3): Es gibt, wenn ich so sagen darf, mindere und untergeordnete Geister, die nur zum Sammeln, Verzeichnen oder Aufbewahren aller Leistungen [schöpferischer Menschen geschaffen zu sein scheinen: sie sind Nachschreiber, Übersetzer, Kompilatoren; sie denken nicht, sie sprechen nach, was andere gedacht haben; und da schon die Wahl der Gedanken Erfindung ist, so ist ihre Wahl schlecht, wenig richtig und lässt sie eher Vielerlei als Vortreffliches vorbringen: sie haben nichts Ursprüngliches und Eigenes; sie wissen nur das, was sie gelernt haben, und eignen sich an, worauf jedermann gern verzichtet], ein eitles, trockenes, ungefälliges und nutzloses Wissen, das nicht zur Unterhaltung taugt, außer Verkehr, wie eine Münze, die nicht gilt: man ist gleichzeitig erstaunt über ihre Belesenheit und gelangweilt von ihrem Gespräch [oder ihren Werken. Das sind die Leute, die von den hohen Herren und dem Volk mit den Gelehrten verwechselt, von den Einsichtigen aber als Pedanten angesehen werden].48
Für die französische Geschichtsschreibung sollte die hier beschriebene Spaltung zwischen Beredsamkeit und Wissenschaft von großer Bedeutung werden. In seiner
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d’imiter l’auteur de l’abrégé chronologique, d’approfondir tant de choses en paraissant les effleurer.“ Johann Joachim Winckelmann: Exzerpt aus: La Bruyère: Les Caractères ou les Mœurs de ce siècle (ohne Angabe zur benutzten Ausgabe [zuerst Paris 1688]), „Des ouvrages de l’esprit“, §62. BNF, DM, FA, Bd. 70, Bl. 20r: „Il y a des esprits, si je l’ose dire, inférieurs et subalternes qui ne semblent faits que pour être le recueil, le registre ou le magasin de toutes les productions des autres [génies; ils sont plagiaires, traducteurs, compilateurs; ils ne pensent point, ils disent ce que les autres ont pensé; et comme le choix des pensées est invention, ils l’ont mauvais, peu juste, et qui les détermine plutôt à rapporter beaucoup de choses que d’excellentes choses; ils n’ont rien d’original et qui soit à eux; ils ne savent que ce qu’ils ont appris; et ils n’apprennent que ce que tout le monde veut bien ignorer]: une science vaine, aride, dénuée d’agrément et d’utilité, qui ne tombe point dans la conversation, qui est hors de commerce, semblable à une monnaie qui n’a point de cours; on est tout à la fois étonné de leurs lectures et ennuyé de leur entretien [ou de leurs ouvrages. Ce sont eux que les grands et le vulgaire confondent avec les savants et que les sages renvoient au pédantisme].“ Dt. Übersetzung: La Bruyère: Die Charaktere. Übers. v. Gerhard Hess. Wiesbaden 1947, S. 30. Die Teile in eckigen Klammern befinden sich nicht in Winckelmanns Exzerpten. Im selben Heft (Bl. 18v) notiert er vergleichbare Angriffe gegen die Gelehrsamkeit aus dem Essai sur la critique von Alexander Pope in französischer Übersetzung: „Dois-je charger mon faible sens du poids d’un faux savoir/Etouffer ma raison, m’aveugler pour mieux voir?“; „Tel est devenu fat à force de lecture/Qui n’eût été que sot en suivant la nature.“ („Muß ich meinen schwachen Sinn mit dem Gewicht eines falschen Wissens beladen/Meine Vernunft ersticken, mich blenden, um besser zu sehen?“; „So ist durch das Lesen ein Geck geworden/Der von Natur aus nur ein Narr sein sollte“ [Übers. E.D.]).
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Digression des Anciens et des Modernes (1788) ordnete Fontenelle, nachdem er eine klare Trennlinie zwischen den Künsten und den Wissenschaften gezogen hatte, die Geschichte den Künsten zu, indem er sie zur Gattung der Beredsamkeit erhob.49 Wenn Winckelmann zwar Fontenelle – wie übrigens auch dessen Nachfolger Fénelon – nicht exzerpiert hat, so kennt er Voltaire dafür umso besser, der ein prominenter Vertreter der Verbindung von Geschichte und Beredsamkeit war und nicht davor zurückscheute, einzelne Fakten der Überzeugungskraft seines historischen Gemäldes zu opfern. Die hier geschilderte Nähe der Geschichtsschreibung zur Kunst der Beredsamkeit und ihre damit einhergehende Verbindung mit dem Schönen wurde von Winckelmann schon früh in den Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen Geschichte thematisiert: Dasjenige, was man artige Nachrichten nennen könte, weiß derselbe [der mündliche Vortrag der Geschichte, E.D.], so wie der Mahler Architectur, Paisagen und dergleichen zufällige Dinge in Historien anzuwenden, um eine schönere Mannigfaltigkeit zu erhalten.50
Diese Passage weist einen aufschlussreichen Vergleich zwischen den Begriffen ‚Historie‘ und ‚Geschichte‘ auf. So wie der Historienmaler interessante Versatzstücke oder landschaftliche Motive in sein Historienbild einführt, soll auch der Geschichtsschreiber Winckelmann zufolge „artige Nachrichten“ in seine historische Darstellung einführen, um die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu fesseln. Damit wird die Trennungslinie zwischen der künstlerischen Gattung der Historienmalerei und der gelehrten Gattung der Geschichtsschreibung aufgehoben und die Geschichtsschreibung zu einer Historie im Sinne eines malerischen Gemäldes gemacht – eine Verbindung, die für die spätere Gestaltung der Geschichte der Kunst des Alterthums von ausschlaggebender Bedeutung ist.
VI. Mutmaßung und Erfindung. Konjekturen in der Geschichtsschreibung Dass die hier beschriebene Einordnung der Geschichte in die Beredsamkeit von entscheidender epistemologischer Tragweite für die Geschichtsschreibung ist, entgeht dem jungen Exzerpierer Winckelmann freilich nicht. Mit besonderer Aufmerksamkeit interessiert er sich um 1750 für die Frage nach der Zulässigkeit der Mutmaßung und Erfindung in historischen Texten. In einem Exzerptheft, das wahrscheinlich in Nöthnitz verfasst wurde, notiert er die folgenden lobenden Wor-
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Vgl. dazu u.a. Blandine Kriegel: L’histoire à l’Âge classique. 4 Bde. Bd. 2: La défaite de l’érudition. Paris 1996, S. 275‒280 [zuerst: Les historiens et la monarchie. Paris 1988]. Winckelmann: Gedanken vom mündlichen Vortrag (wie Anm. 21), S. 23.
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te, die Jonathan Richardson der Ältere für die Praxis der historischen Erfindung bei Thukydides und Livius fand (Abb. 4): Niemand wird sich einbilden, daß Titus Livius oder Thukydides eine echte Erinnerung an alle Ansprachen hatten, die sie uns so detailreich wiedergeben, noch an alle Vorfälle, die sie uns als Tatsachen berichten. Sie gaben ihren Geschichten soviel Reiz und Schmuck, wie sie konnten. Sie hatten damit recht, denn von daher machten sie die Lektüre nicht nur angenehmer, sondern ihre Hinzufügungen machen auch bisweilen die Wahrheit wahrscheinlicher, als wenn sie nur absolut gesicherte Vorfälle vorgebracht hätten.51
Diese von Winckelmann in die eigenen Notizen übertragene Würdigung der historischen Erfindung erscheint als genauer Gegensatz zu den gelehrten Prinzipien Bünaus, der doch darauf bestand, in seiner Reichs-Historie nur von zuverlässigen Quellen bezeugte Tatbestände anzuführen. Es ist, als hätte der Exzerpierer Winckelmann nach Argumenten gesucht, die – anders als die Reichs-Historie, an der er im Auftrag seines Herrn gerade arbeitete – eine epistemologische Begründung der Mutmaßung ermöglichen würden. Solche Exzerpte sind in Winckelmanns späterem Geschichtswerk nicht ohne Widerhall geblieben. So ist in der Vorrede der Geschichte der Kunst im Alterthum folgendes Lob der „Muthmaßung“ als Werkzeug des Geschichtsschreibers zu lesen: Ich habe mich mit einigen Gedancken gewaget, welche nicht genug erwiesen scheinen können: vielleicht aber können sie andern, die in der Kunst der Alten forschen wollen, dienen, weiter zu gehen; und wie oft ist durch eine spätere Entdeckung eine Muthmaßung zur Wahrheit geworden. Muthmaßungen, aber solche, die sich wenigstens durch einen Faden an etwas Festen halten, sind aus einer Schrift dieser Art eben so wenig, als die Hypotheses aus der Naturlehre zu verbannen; sie sind wie das Gerüste zu einem Gebäude, ja sie werden unentbehrlich, wenn man, bey dem Mangel der Kenntniße von der Kunst der Alten, nicht große Sprünge über viel leere Plätze machen will. Unter einigen Gründen, welche ich von Dingen, die nicht klar wie die Sonne sind, angebracht habe, geben sie einzeln genommen, nur Wahrscheinlichkeit, aber gesammelt und einer mit dem andern verbunden, einen Beweis.52
Dem strikten Beweis-Empirismus der Reichshistorie setzt Winckelmann das Modell einer Geschichtsschreibung entgegen, die Spekulationen und Konjekturen nicht prinzipiell ablehnt. In der Geschichte der Kunst des Alterthums wird er sich in der Tat nicht selten das Recht nehmen, die gelegentlichen Lücken der historischen Bestände durch Konjekturen aufzufüllen, die es ermöglichen, das Schwei51
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Johann Joachim Winckelmann: Exzerpt aus: Jonathan Richardson [dem Älteren]: Essai sur la théorie de la peinture (ohne Angabe zur benutzten Ausgabe [zuerst Amsterdam 1728]). BNF, DM, FA, Bd. 61, Bl. 12r. „Il n’y a personne qui s’imagine que ni Tite Live ni Thucydide aient eu les mémoires authentiques de toutes les harangues dont ils nous font un ample détail, ni même de tous les incidents qu’ils nous rapportent comme des faits. Ils ont donné à leurs histoires toute la grâce et tout l’ornement qu’ils ont pu: ils ont eu raison de le faire, puisque par là non seulement ils en ont rendu la lecture plus agréable, mais aussi que les additions qu’ils y ont faites en rendent quelquefois la vérité plus probable que s’ils ne supposaient aucun incident que ceux dont ils ont eu des garants assurés.“ Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums (wie Anm. 1), S. XXIV (nach der 1. Aufl. 1764).
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gen der Quellen zu überbrücken und eine zusammenhängende Erzählung zu entwickeln.
VII. Ästhetisierung der Geschichtsschreibung All diese frühen Belege von Winckelmanns Beschäftigung mit der grundlegenden Frage, wie die Geschichtsschreibung sich zur Beredsamkeit verhält und ob Konjekturen im geschichtlichen Erzählen zulässig sind, zeigen – noch lange vor der Arbeit am eigenen Geschichtswerk – sein wachsendes Interesse für einen Geschichtsbegriff, der zwischen Kunst und Geschichtsschreibung keine scharfe Trennlinie zieht. Vielleicht ist es nicht ganz abwegig, aus dieser Entwicklung, die man als keimende Hinwendung zu einer ästhetischen Auffassung der Geschichtsschreibung bezeichnen könnte, die Resonanz einer biographischen Entwicklung herauszuhören. Wie er selbst mehrmals vermerkt hat, wäre Winckelmann gerne Maler geworden. In einem autobiographischen Brief, den er kurz nach seiner Ankunft in Rom im Januar 1756 schrieb, evoziert er die unerfüllte Berufung: Ich habe etwas gezeichnet aber wenig [...]. Die Natur hatte wollen einen Mahler aus mir machen, der Unverstand der Eltern aber trieb mich von dieser Bahn mit Gewalt ab; unterdeßen ist alles was ich gelesen habe gleichsam zur Mahlerey geworden.53
Seiner Lebensgeschichte entnimmt Winckelmann eine Analogie zwischen Lesen, Schreiben und Malen, die sich leitmotivisch durch sein ganzes Werk hindurch zieht.54 Beim Verfassen seiner Werke sieht er sich gerne als Maler. 53 54
Johann Joachim Winckelmann an Johann Georg Wille, 27. Januar 1756. In: Winckelmann: Briefe (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 199f. So vergleicht er das geistlose Abschreiben des Gelehrten mit dem pedantischen Kopieren des schlechten Malers: „Ein sehr mühsam gemachtes Bild vom Mahler oder Bildhauer ist, bloß als dieses, mit einem mühsam gearbeiteten Buche zu vergleichen. Denn so wie gelehrt zu schreiben nicht die größte Kunst ist, so ist ein sehr fein und glatt ausgepinseltes Bild allein kein Beweis von einem großen Künstler. Was die ohne Noth gehäuften Stellen vielmals nie gelesener Bücher in einer Schrift sind, das ist in einem Bilde die Andeutung aller Kleinigkeiten. [...] Es können Bücher und Werke der Kunst gemacht werden, ohne viel zu denken; ich schließe von dem, was wirklich ist: ein Mahler kann auf diese mechanische Art eine Madonna bilden, die sich sehen läßt, und ein Professor so gar eine Metaphysik schreiben, die tausend jungen Leuten gefällt“ (Johann Joachim Winckelmann: Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst [1759]. In: Ders.: Kleine Schriften, wie Anm. 21, S. 149– 156, hier S. 149). In der Geschichte der Kunst vergleicht er das Schreiben mit dem Zeichnen: „Denn es ist mit dem Zeichnen, wie mit dem Schreiben: wenig Knaben, welche schreiben lernen, werden mit Gründen von Beschaffenheit der Züge, und des Lichts und Schattens an denselben, worinn die Schönheit der Buchstaben bestehet, angeführet, sondern man giebt ihnen die Vorschrift ohne weiteren Unterricht nachzumachen, und die Hand bildet sich im schreiben, ehe der Knabe auf die Gründe von der Schönheit der Buchstaben achten würde. Eben so lernen die mehresten jungen Leute zeichnen, und so wie die Züge im schreiben in vernünftigen Jahren bleiben, wie sie sich in der Jugend geformet haben, so malen sich insgemein die Begriffe der Zeichner von der Schönheit in ihrem Verstande, wie das Auge gewöhnet worden, dieselbe zu betrachten und nachzuahmen, welche unrichtig werden, da die
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Für sein keimendes Selbstverständnis als Geschichtsschreiber ist diese Analogie von grundlegender Bedeutung. In den Jahren, die Winckelmann zwischen Halle und Nöthnitz vor allem dem Lesen und Exzerpieren widmete, scheint sich der Gedanke allmählich durchzusetzen, dass der Geschichtsschreiber sich auch als Maler verstehen darf und dies vielleicht umso mehr, als er gerade die Kunst – wie im Falle Voltaires – zum Gegenstand seiner geschichtlichen Darstellung macht. Schon in diesen Jahren der intensiven Auseinandersetzung mit Fragen des historischen Schreibens mag sich also die Überzeugung gebildet haben, dass die Kunstgeschichte in einem gewissen Sinne auch eine ,künstlerische‘ Geschichte sein soll, d.h. eine Konstruktion, in der – ähnlich wie in einem Historiengemälde – Erfindung, Einbildungskraft und Komposition zur Gestaltung und Vermittlung des historiographischen Stoffes unentbehrlich sind. Was die Singularität und Novität der Geschichte der Kunst des Alterthums ausmacht, scheint nun aber jene eingangs erwähnten Vorwürfe gegen Winckelmann als „unhistorischen“ Historiker unterschwellig genährt zu haben. Noch bevor Herder, Heyne und Wolf sich mit Winckelmanns „Fehlern“ als Historiker kritisch auseinandersetzten, hatte bereits Caylus deutliche Vorbehalte gegen diese poetisch-ästhetische Tendenz vorgebracht. „Ich bin zufrieden mit ihm wegen Herculaneum“, räumt Caylus 1764 ein, „aber ich bin es weiterhin nicht wegen seiner Art, mit der Kunst umzugehen.“ Winckelmann wird beschuldigt, sich mehr an der Kunst zu „erhitzen“ als sie zu verstehen. Aus Sicht des französischen Antiquars eifere er geradezu danach, „Vergleiche über das Wesen der Antike zu erkünsteln“. Mit anderen Worten verlasse er zu schnell den Bereich der Erfahrung, um eine allgemeine, poetische Theorie der Kunstentwicklung aufzustellen.55 Schon an der Form des Recueil d’antiquités von Caylus lässt sich dieser epistemologische Unterschied im Geschichtsbegriff erkennen. Gebrochene Vasen, Scherben von Amphoren, Fragmente von Wandmalereien: In seinem Recueil unterstreicht Caylus gerne den wesenhaft fragmentarischen Charakter der antiken Überreste, die wiederum am besten in der fragmentarischen Form der Auslese („Recueil“) ihren adäquaten Ausdruck finden sollen. Nur die unsystematische, kumulative, zersplitterte Zusammenstellung solcher Thesauren vermöge es, den in seinen Augen zentralen Wesenszug des Wissens über die Antike wiederzugeben: seine Unvollständigkeit.
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mehresten nach unvollkommenen Mustern zeichnen“ (ders: Geschichte der Kunst des Alterthums, wie Anm. 1, S. 143f. [nach der 1. Aufl. 1764]). Anne Claude Philippe de Tubières, comte de Caylus an Paolo Maria Paciaudi, 23. Januar 1764. In: Charles Nisard (Hg.): Correspondance inédite du comte de Caylus avec le Père Paciaudi, théatin (1757‒1765). 2 Bde. Bd. 1. Paris 1877, S. 410: „L’auteur [Winckelmann, Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen, E.D.] est léger [...] et me fait dire ce que je n’ai pas dit. Je suis content de lui par rapport à Herculanum, mais je continue à ne pas l’être de la façon dont il traite les arts et je soutiens, entre nous deux au moins, qu’il s’en échauffe, mais ne les entend pas véritablement“; Caylus an P. M. Paciaudi, 5. Februar 1765. In: Ebd., Bd. 1, S. 415: „[Winckelmann, E.D.] se bat les flancs pour exprimer son prétendu enthousiasme et pour élever des comparaisons de la nature de l’antique.“
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Diese Vorstellung lässt sich mit Winckelmanns historiographischem Vorhaben freilich nur schwer vereinbaren, das vielmehr vermittels eines breit angelegten Narrativs Anspruch auf Integrität der Darstellung, Vollständigkeit der Übersicht und lückenlose Schilderung des zyklischen Ablaufs erhebt. Wo Winckelmann auf eine umfassende historische Erzählung abzielt, also auf Verbindung und Synthese, wählt Caylus für sich die Position des Sammlers, der sich in der Welt des Fragments, des Lückenhaften oder Fehlenden bewegt. An den strukturellen Unterschieden, die ihre jeweiligen Hauptwerke voneinander trennen, lässt sich somit eine epistemologische Divergenz erkennen, die die damals auftretende Abtrennung der Kunstgeschichte von der antiquarischen Wissenschaft modellhaft widerspiegelt.
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Abb. 1.: Johann Joachim Winckelmann: Exzerpt aus: Simon Friedrich Hahn: Vollständige Einleitung zu der Teutschen Staats-, Reichs- und Kayser-Historie und dem daraus fliessenden Jure Publico. 4 Bde. Halle u. Leipzig 1721‒1724. Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. hist, art. 1, 2 (4°), Bl. 104v.
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Abb. 2: Johann Joachim Winckelmann: Exzerpt aus: Voltaire: Le siècle de Louis XIV. Paris, Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 72, Bl. 1r.
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Abb. 3: Johann Joachim Winckelmann: Exzerpt aus: La Bruyère: Les Caractères ou les Mœurs de ce siècle. Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 70, Bl. 20r.
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Elisabeth Décultot
Abb. 4: Johann Joachim Winckelmann: Exzerpt aus: Jonathan Richardson [dem Älteren]: Essai sur la théorie de la peinture. Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 61, Bl. 12r.
Geschichtsschreibung in politischer Absicht
JOHANNES SÜßMANN
Revolution der Geschichtsdarstellung durch Politisierung? Johannes Müllers Schweizer Geschichte Gleich beim Erscheinen der ersten Fassung im Jahr 1780 machte Johannes Müllers Schweizer Geschichte Epoche.1 „Mit mehr Würde, mit mehr Adel und mit mehr Kraft (Energie) hat kaum ein neuerer, und mit so viel Einsicht und Muth haben wenige Deutsche Geschichten beschrieben“, befand Isaak Iselin in seiner fünfunddreißig Seiten umfassenden Rezension.2 Und schon er begründete sein Lob, indem er die Darstellung als literarisches Kunstwerk charakterisierte: „Es besteht, wie eine wahre Epopee, aus einer Reihe von Gemählden, oder es ist vielmehr ein einziges großes Gemählde [...].“3 Damit war der Ton gesetzt, der die Aufnahme bestimmte. Nachdem man nach langem Warten, der deutschen Litteratur beynahe alle Hoffnung zu einer Geschichte abgesprochen, die sie den besten Alten und neuern Ausländern an die Seite stellen könnte, erscheint ein Werk, das auf einmal wieder die Hoffnung des deutschen Patrioten belebt.4
So feierte Johann August Eberhard das Werk in der Allgemeine[n] deutsche[n] Bibliothek. „Zehn Jahre später galt der Verfasser der Schweizergeschichte als der einzige deutsche Historiker von Rang [...].“5 Friedrich Gentz adressierte ihn als „ein hervorragendes Genie, einer der wenigen Meister, die Deutschland aufzuweisen hat“.6 In der Allgemeine[n] Literatur-Zeitung hieß es 1786, „im Fall die Neuern noch keine klassischen Geschichtschreiber hätten“, müsse Müller „als der 1
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Vgl. allgemein Franz Xaver Wegele: Art. Müller, Johannes von. In: Allgemeine deutsche Biographie. Bd. 22. Berlin 1970 [ND der Ausg. Leipzig u. Berlin 1885], S. 587–610, hier S. 595, 597 sowie Heinz Ryser: Johannes von Müller im Urteil seiner schweizerischen und deutschen Zeitgenossen. Basel u. Stuttgart 1964, S. 16–61, 78–105. Isaak Iselin: [Rez. zu] Die Geschichte der Schweizer, durch Johannes Müller. Das erste Buch. Boston, bei der neuen typographischen Gesellschaft [1780]. In: Ephemeriden der Menschheit Bd. 2 (1781), S. 146–181, hier S. 146. Ebd., S. 147. Gw: [Rez. zu] Die Geschichten der Schweizer durch Johannes Müller. Das erste Buch. Boston bey der typographischen Gesellschaft [1780]. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 44/1 (1780), S. 191–202, hier S. 191. Bei den Erschließungsarbeiten für den „Index deutschsprachiger Zeitschriften des 18. Jahrhunderts“ der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen wurde als Verfasser dieser Rezension Johann August Eberhard ermittelt, vgl. URL: http://www.ub.unibielefeld.de/diglib/aufkl/adb/adb.htm [03.05.13]. Ryser: Müller im Urteil (wie Anm. 1), S. 78. Friedrich Gentz: Brief an Johannes von Müller. Berlin, 4. März 1799. In: Ders.: Gesammelte Schriften. 12 Bde. in 24 Teilbden. Hg. v. Günther Kronenbitter. Bd. 08/4: Schriften. Ein Denkmal. Vierter Theil. Briefwechsel zwischen Gentz und Johannes v. Müller. Mit einem Anhang vermischter Briefe. Hildesheim 2002 [ND der Ausg. Mannheim 1840], S. 3–5, hier S. 3.
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erste“ angesehen werden,7 und elf Jahre später, er sei „das einzige historische Genie unter den Neuern.“8 In der Schweiz avancierte Müllers Werk zu einem Schlüsseltext nationaler Selbstverständigung. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts diente es als eine Art Nationalepos. Doch die Begeisterung reichte weit darüber hinaus. Das zeigt sich an der Anerkennung durch die führenden Köpfe auch in Deutschland und Frankreich. Wieland sprach von „unserm Tacitus-Müller, dem einzigen unter den deutschen Geschichtsschreibern, wie Friedrich II. der einzige unter den Königen war“.9 Herder erschien Müller als „ein Mann von alter Art und Kunst, ein Sohn Montesquieus und Tacitus’“.10 Goethe bemühte sich um seine Mitarbeit für eine Zeitschrift, Schiller setzte ihm im Wilhelm Tell ein Denkmal.11 Die gleiche Einstellung findet man bei den Romantikern. Für August Wilhelm Schlegel war Müller „der erste Geschichtschreiber unter den Neueren, oder vielmehr der letzte der Alten, wie Brutus der letzte Römer war.“12 Madame de Staël bezeichnete ihn schon im Jahr 1800 als den bedeutendsten deutschen Historiker neben Schiller;13 in De l’Allemagne figuriert er als „le véritable historien classique d’Allemagne“.14
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[Rez. zu] Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich: Allgemeine Weltgeschichte.— Des siebzehnten Bandes erste Abtheilung, welche die Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft von dem Anbau des Landes an enthält, nach dem Plan W. Guthrie, J. Gray — ausgearbeitet von Johannes Müller [...] 1786. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 185 (4. August 1786), Sp. 233–240, hier Sp. 233. [Rez. zu] Leipzig, in d. Weidmannisch. Buchh.: Der Geschichte schweizerischer Eidgenossenschaft. Drittes Buch durch Johannes Müller. Dritten Theils erste Abtheilung. 1788. Zweyte Abtheilung. 1795. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 1/15 (14. Januar 1797), Sp. 113–120 u. 1/16 (14. Januar 1797), Sp. 121–127, hier Sp. 126. Christoph Martin Wieland: Brief an Heinrich Gessner [Frühjahr 1797]. In: Neue Zürcher Zeitung 126 (1883), zit. nach Ryser: Müller im Urteil (wie Anm. 1), S. 79. Johann Gottfried Herder: Brief an Gleim aus Weimar, 26. November 1781. In: Von und an Joh. Gottfried von Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß. 3 Bde. Bd. 1. Hg. v. Heinrich Düntzer u. Ferdinand Gottfried von Herder. Leipzig 1862, S. 75. Friedrich Gundolf: Johannes von Müllers Schweizer Geschichte als deutsches Sprachdenkmal. In: Wissen und Leben 16/1 u. 2 (1922), S. 1–10, 53–63. Überarbeitet als Einleitung zu: Johannes von Müller: Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft. Ausgewählt u. eingel. v. Friedrich Gundolf. Frauenfeld u. Leipzig 1923. Wieder in: Friedrich Gundolf: Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte. Ausgewählt u. hg. v. Victor A. Schmitz u. Fritz Martini. Heidelberg 1980, S. 176–195, hier S. 177. August Wilhelm Schlegel: [Rez. zu] Joh. Müllers Briefe an Bonstetten. In: Athenäum 2/2 (1799), S. 313–316. Wieder in: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. Eduard Böcking. Bd. XII: Vermischte und kritische Schriften. Bd. 6. Hildesheim u. New York 1971 [ND der 3. Ausg. Leipzig 1847], S. 46–48, hier S. 46. Anne Louise Germaine de Staël: De la Littérature, considérée dans ses rapports avec les institutions sociales. 2 Bde. Bd. 2. Hg. v. Paul van Tieghem. Genf 1959, S. 257. Anne Louise Germaine de Staël: De l’Allemagne. Nouvelle édition. Publiée d’après les manuscrits et les éditions originales avec des variantes, une introduction, des notices et des notes par Pauline de Pange avec le concours de Simone Balayé. 5 Bde. Bd. 3. Paris 1959, S. 302.
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Kein deutschsprachiger Geschichtsschreiber hat jemals wieder solche Wertschätzung erfahren. Den Grund dafür hat Friedrich Gundolf auf den Punkt gebracht: Als Schriftsteller, nicht als Gelehrter hat Müller auf seine Zeitgenossen gewirkt. Den Schriftsteller hat Napoleon umworben, dem Schriftsteller haben unsere Klassiker und Romantiker gehuldigt.15
Offenbar beruht der Erfolg der Schweizer Geschichte darauf, daß sie als Geschichtswerk neuen Typs begrüßt wurde. Sie verschaffte den Deutschen, wonach die Schriftsteller und Kritiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts lange vergeblich verlangt hatten: eine an die Allgemeinheit adressierte Geschichtsschreibung von literarischem Rang. Das war neu. Mit Ausnahme der wenigen deutsch schreibenden Humanisten gab es dafür keine Vorbilder. Darin besteht die erste Bedeutung von Müllers Schweizer Geschichte: daß sie die Ordnung des historiographischen Diskurses in Deutschland veränderte. Ihre zweite Bedeutung liegt darin begründet, daß sie bahnbrechend wirkte. Müllers Innovationen wurden sogleich von anderen Autoren aufgegriffen, teils nachgeahmt, teils weiterentwickelt. Die Zeitgenossen sprachen von einer regelrechten Schule, die da entstand,16 obwohl Müller niemals von einer akademischen Position aus Schulbildung betrieben hatte. In Deutschland sind Ludwig Woltmann und Friedrich von Raumer17 als Beispiele zu nennen, in Österreich Joseph Hammer von Purgstall und Joseph von Hormayr.18 Schillers Geschichtsschreibung hat nicht nur Madame de Staël als verwandte Erscheinung begriffen. Noch der junge Ranke beschäftigte sich intensiv mit Müllers Werken und griff Innovationen der Schweizer Geschichte auf, ehe er sich methodisch und darstellerisch davon emanzipierte.19 Insofern kann man sagen, daß Müllers Schweizer Geschichte der Darstellungsrevolution den Weg gebahnt hat, die sich in der deutschen Geschichtsschreibung um 1800 vollzog.20 15 16
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Gundolf: Müllers Schweizer Geschichte (wie Anm. 11), S. 177. Zum Beispiel Adam Heinrich Müller: Die Schule Johann von Müllers. In: Phöbus. Ein Journal für die Kunst 8 (1808), S. 39–44, insb. S. 44, oder Heinrich Luden: [Rez. zu] Leipzig, b. Göschen: Johann von Müller, der Historiker. Von A.H.L. Heeren. 1809 [und] Berlin, b. Hitzig: Johann von Müller, von Karl Ludwig von Woltmann. 1810. In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 4/283 (11. Dezember 1811), Sp. 473–480; 4/284 (12. Dezember 1811), Sp. 481–488; 4/285 (13. Dezember 1811), Sp. 489–493, hier Sp. 481. Noch in der viel späteren Rückschau rühmte Raumer Müllers „Adel der Gesinnung“ sowie „eine seltene Milde und Liebenswürdigkeit des Charakters, wodurch er junge Männer (und auch mich) veranlaßte, sich ihm anzuschließen“ (Friedrich von Raumer: Handbuch der Geschichte der Litteratur. 4 Bde. Bd. 4. Leipzig 1866, S. 230). Vor allem die Briefe an Bonstetten mit ihrer Inszenierung einer zur Begeisterung entflammenden Jünglingsfreundschaft verschafften Müller zahlreiche Verehrer, vgl. Ryser: Schweizer Geschichte im Urteil (wie Anm. 1), S. 66f. Ryser: Schweizer Geschichte im Urteil (wie Anm. 1), S. 92f. Vgl. Paul Requadt: Johannes von Müller und der Frühhistorismus. München u. Berlin 1929. Dieser Ansicht waren schon die Zeitgenossen. Eichhorn beispielsweise sah in Johannes von Müller den „Anfang einer classischen Historiographie“ (vgl. Johann Gottfried Eichhorn:
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Wie ist diese Pionierleistung zu erklären? Von Müller als Geschichtsforscher oder Geschichtsdenker ist in den Rezensionen nur am Rande die Rede.21 Wer auf diese Seite einging, pries Müllers vermeintlich enzyklopädische Kenntnis der Quellen und Sachverhalte, die man den umfangreichen Quellenverzeichnissen und sprechenden Details entnehmen zu können glaubte. Nur einige Experten in der Schweiz und der Landeshistoriker Ludwig Timotheus Spittler in Göttingen bemerkten, daß entscheidende Episoden in Müllers Darstellung auf ganz wenigen, dazu noch unzuverlässigen Traditionsquellen beruhten. Beide Reaktionen stimmen darin überein, daß sie Müllers Pionierleistung jedenfalls nicht auf Innovationen in der Geschichtswissenschaft oder der Geschichtsphilosophie zurückführten. Vielmehr schien schon den Zeitgenossen seine Leistung in der Darstellung denen in der Forschung und der Heuristik vorauszueilen.22 Das ist der Grund, warum Müllers Vorreiterschaft auch in diesem Beitrag aus einem literarischen Kontext hergeleitet wird. Daß sie sich auch auf das Geschichtsverständnis auswirkte, bleibt dabei unbenommen, kommt aber erst am Schluß in den Blick. Um Müllers Darstellungsinnovationen zu erklären, wird auf zwei Ebenen argumentiert. Im ersten Teil soll es um die Erwartungshaltung gehen, die von Literaten und Publizisten an die Geschichtsschreibung in Deutschland gerichtet wurde – nämlich daß diese für ein breites Publikum lesbar werden solle. In der Forschung findet man dies gewöhnlich unter dem Stichwort „Literarisierung“ der deutschsprachigen Geschichtsschreibung verhandelt. Hier ist zunächst zu erläutern, was damit konkret gemeint und wie diese Literarisierung zu erklären ist. Ein Teil der Forschung führt sie auf die Ausweitung und Politisierung der literarischen Öffentlichkeit in der Spätaufklärung zurück. Für diese sehr suggestive, aber möglicherweise zu pauschale These soll Müllers Literarisierung der Historie hier als Testfall dienen. War sie ein Symptom der vermeintlichen Politisierung und wurde von ihr erst ermöglicht? Um dies zu entscheiden, rückt ab dem zweiten Teil Müllers Schweizer Geschichte selbst ins Zentrum. An ihr ist zunächst Quellenkritik zu üben, d.h., es muß dargelegt werden, wovon eigentlich die Rede ist, wenn man von Müllers Schweizer Geschichte spricht. Im dritten Teil sollen schließlich deren literarische Prinzipien vorgestellt und auf ihre Bedeutung befragt werden. Dabei wird es darum gehen, wie Literarisierung und Politisierung sich an dem konkreten Beispiel von Müllers Schweizer Geschichte zueinander verhalten.
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Geschichte der Litteratur von ihrem Anfang bis auf die neuesten Zeiten. Bd. 4/2: Geschichte der schönen Redekünste in den neuern Landessprachen. Zweyte Abtheilung. Göttingen 1808, hier S. 1063f.). Ähnlich Arnold Herrman Ludwig Heeren: Johann von Müller. In: Ders.: Biographische und Litterarische Denckschriften. Frankfurt a.M. 1987 [ND der Ausg. Göttingen 1823], S. 469–497. Das Folgende nach Ryser: Schweizer Geschichte im Urteil (wie Anm. 1), S. 22–24, 80–84. Spätere Historiographiehistoriker haben dieses Urteil übernommen und kritisch gegen Müller gekehrt: Nur historiographischer Schriftsteller sei er gewesen, kein Geschichtsforscher.
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I. Beginnen wir mit der Erwartungshaltung des Publikums. Wer immer sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über die Geschichtsschreibung in Deutschland äußerte, sein Urteil fügte sich in einen ganzen Chor ähnlicher Stimmen ein. Egal ob mit Lessing, Wieland oder Herder die Spitzen der deutschen Literaturkritik wirkmächtig Stellung bezogen23 oder mit Friedrich II. von Preußen ein Außenseiter sein Gewicht in die Waagschale warf,24 ob zahllose Publizisten das Thema auf topische Weise streiften25 oder die ersten hauptamtlich bestellten Geschichtsprofessoren es ausführlich erörterten,26 alle gelangten zu dem gleichen Ergebnis: Die Deutschen verfügten zwar über eine schätzenswerte Gebrauchshistorie, aber nicht über eine lesbare Geschichtsschreibung. Ihre Geschichtswerke würden von Gelehrten für Gelehrte verfaßt; eine literarisch anspruchsvolle Geschichtsdarstellung für die Allgemeinheit finde man nicht. Mit dieser zum Gemeinplatz gewordenen Klage sind Müller, Schiller und ihre Mitkämpfer aufgewachsen. Gleich von ihren ersten historiographischen Versuchen an finden wir Belege, daß sie bewußt danach strebten, dem Mangel durch Geschichtswerke neuen Typs abzuhelfen.27 Wem es gelänge, die allgemeinen Erwartungen zu erfüllen, würde reüssieren – soviel war ihnen und aller Welt klar. 23
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Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend 1759–1765. 52. Brief. In: Ders.: Werke. 8 Bde. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl u.a. hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 5: Literaturkritik, Poetik und Philologie. Bearb. v. Jörg Schönert. München 1973, S. 185; Wieland: Brief an Heinrich Gessner (wie Anm. 9); Johann Gottfried Herder: Ueber die Reichsgeschichte. Ein historischer Spaziergang. In: Ders.: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maasgabe neuerer Schriften. Drittes Wäldchen: Noch über einige Klotzische Schriften. Riga 1769, S. 156–171. Wieder in: Johann Gottfried Herders sämmtliche Werke. Bd. 3. Hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1878, S. 462–471; ders.: Warum wir noch keine Geschichte der Deutschen haben? In: Neue Deutsche Monatsschrift 1 (1795), S. 326–329. Wieder in: Johann Gottfried Herders sämmtliche Werke. Bd. 18. Hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1883, S. 380–384. Friedrich II. von Preußen: De la Littérature allemande [1780] […]. Hg. v. Ludwig Geiger. 2., verm. Aufl. nebst Chr. W. v. Dohms deutscher Übersetzung. Darmstadt 1969 [ND der Ausg. Berlin 1902], S. 66. Beispiele bei Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996, S. 50–53 u.ö. und Johannes Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). Stuttgart 2000, S. 33–40. Etwa Johann Christoph Gatterer: Historische Kunst. Eine Anecdote aus Frankreich, im Jahr 1764 vorgelesen von J.C. Gatterer. In: Allgemeine historische Bibliothek 1 (1767), S. 1–14; ders.: Zufällige Gedanken über die Verdienste der Teutschen um die Historie. In: Allgemeine Historische Bibliothek 9 (1769), S. 33–64; ders.: Räsonnement über die jezige Verfassung der Geschichtskunde in Teutschland. In: Historisches Journal von Mitgliedern des Kgl. historischen Instituts zu Göttingen 1 (1772), S. 255–266; Arnold H. L. Heeren: Vorwort. Etwas über die Seltenheit classischer Geschichtschreiber, besonders in Deutschland. In: Ders.: Biographische und Litterarische Denckschriften. Göttingen 1823, S. 432–449. Zu Müller siehe Johannes Süßmann: Darstellungsprinzipien in Johannes von Müllers erstem Geschichtswerk. In: Geschichtsschreibung zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Umkreis Johannes von Müllers und des Groupe de Coppet = L’historiographie à l’aube du XIXe siècle
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Wie die eingangs zitierten Urteile der Rezensenten zeigen, beruhte Müllers durchschlagender Erfolg darauf, daß seine Schweizer Geschichte der deutschen Literatur erstmals die ersehnte Geschichtsschreibung zu geben schien. Insofern ‒ läßt sich als erster Befund festhalten ‒ hat die Literaturkritik Müllers Erfolg den Boden bereitet, hat sie die Literarisierung der Geschichtsdarstellung förmlich herbeigeschrieben. Dieser Zusammenhang ist bekannt. In den historiographiegeschichtlichen Arbeiten der letzten Jahrzehnte wird er mehrfach erwähnt.28 Allerdings gilt es, genau hinzusehen. Denn die Gefahr ist groß, daß wir vorschnell unsere eigenen Vorstellungen über den linguistic turn der Geschichtstheorie oder den narrative turn der Kulturwissenschaften mit den Literarisierungsbestrebungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts gleichsetzen. Damit aber würden wir nicht nur Anachronismen produzieren, sondern uns auch der Möglichkeit berauben, die spezifische Diskurslage der deutschen Spätaufklärung zu verstehen. Hier wird dafür plädiert, die postmodernen Anliegen als erkenntnisleitenden Impuls zu nutzen, aber von der Konstellation des 18. Jahrhunderts grundsätzlich zu unterscheiden, also diese strikt zu historisieren. Daraus ergibt sich die Frage: Worin besteht eigentlich konkret die Veränderung, wenn wir in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Streben nach Literarisierung der Geschichtsdarstellung konstatieren? Welche Implikationen und Voraussetzungen sind damit verbunden? Der Leitbegriff in den Quellen heißt „Classizität“. Die geforderte deutsche Geschichtsschreibung sollte eine klassische sein. Damit war gemeint, sie sollte sich messen können an den Meisterwerken der Gattung, nämlich zum einen an den bewunderten Vorbildern aus der Antike (genannt werden allen voran immer wieder die Werke des Tacitus; nicht zufällig wurde Müller von Anfang an als „helvetischer Tacitus“ apostrophiert),29 zum andern an der Historiographie der europäischen Nachbarliteraturen Frankreichs und Englands (Müllers Bewunderer haben die Schweizer Geschichte sofort in eine Reihe mit Werken von Voltaire, David Hume und William Robertson gestellt).30 Daran zeigt sich erstens, daß Geschichtsschreibung hier als Kanon von zeitlosen Texten verstanden wurde. Sie galten als Vorbild, das man unabhängig von historischen oder kulturellen Voraussetzungen nachzuahmen habe; als allgemein-
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autour de Jean de Müller et du Groupe de Coppet. Hg. v. Doris Walser-Wilhelm, Peter WalserWilhelm u. Marianne Berlinger Konqui. Paris 2004, S. 79–109; zu Schiller siehe Süßmann: Geschichtsschreibung (wie Anm. 25), S. 90f. Neben den oben, S. 125 und in Anm. 25 genannten Arbeiten vgl. z.B. Rudolf Vierhaus: Geschichtsschreibung als Literatur im 18. Jahrhundert. In: Karl Hammer u. Jürgen Voss (Hg.): Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation – Zielsetzung – Ergebnisse. Bonn 1976, S. 416–431. Vgl. Ryser: Schweizer Geschichte im Urteil (wie Anm. 1), S. 18, 79; Gundolf: Müllers Schweizer Geschichte (wie Anm. 11), S. 185–187. Diese Apostrophierung wurde rasch zu einem Topos. Beispiele dafür bei Ryser: Schweizer Geschichte im Urteil (wie Anm. 1), S. 17.
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gültige Meßlatte, auch für die eigene Gegenwart; als Ansporn, um die vorhandenen Meisterwerke zu überbieten. In andern Worten: Wir haben es mit einem Verständnis von Historiographie als literarischer Kunst zu tun, geleitet von zeit- und kulturübergreifenden Schreibregeln. Zweitens hat man die Geschichtsschreibung offenbar als Ast am Baum einer Nationalliteratur aufgefaßt. Jede Sprachgemeinschaft beweist diesem Denken zufolge ihren Geist in den literarischen Denkmälern, die sie hervorbringt, wobei sie über die Zeiten und Kulturen hinweg mit den anderen Sprachgemeinschaften konkurriert. In diesem literarischen Wettbewerb gereichte es den Deutschen zur Schande, daß sie in der Klasse der Geschichtsschreibung bislang nicht hatten mit den alten und neuen Literaturen mithalten können. Seine Lorbeerkränze erhielt Müller dafür, daß er wie ein Olympionike stellvertretend für alle deutsch Schreibenden die deutsche Literatur in den Kanon der Geschichtswerke eingetragen hat. Es ist die seit dem Humanismus gängige Vorstellung vom „Wettkampf der Nationen“, die diesem Literaturverständnis zugrunde liegt.31 Auf die Humanisten geht auch zurück, daß die Nationen, die in diesem Wettbewerb gegeneinander antreten sollten, als Schreibgemeinschaften konzipiert wurden. Zwar waren im 18. Jahrhundert an die Stelle der Gelehrten, die sich über ihre Varietäten des Lateins und ihre unterschiedlichen Antikenbezüge aneinander maßen, die Schriftsteller der volkssprachlichen Literaturen getreten, doch noch immer (oder sollte man besser sagen: neuerdings wieder?) faßte man alle in einer Sprache Schreibenden als Gemeinschaft auf: bestimmt durch denselben, in der Sprache wirkenden Volksgeist; verbunden durch den Ehrgeiz an der Vervollkommnung der eigenen Literatur; zusammengehalten durch den Wettstreit mit den anderen Nationen. Aus diesem Montesquieu’schen Literatur-Konzept ergab sich drittens die Vorstellung, daß die Geschichtsschreibung an die gesamte literarische Öffentlichkeit adressiert sein sollte statt nur an Eingeweihte. Eben darin bestand nach diesem Verständnis die Vorzüglichkeit der kanonisierten Geschichtswerke: daß sie ihr Publikum als Allgemeinheit ansprachen statt als exklusiven Kreis von Experten; daß sie die historischen Sachverhalte als Angelegenheit verhandelten, die alle Mitglieder der Allgemeinheit anging; kurzum, daß sie die Geschichte zu einer öffentlichen Sache machten und die Öffentlichkeit zu einer historischen. Spätestens an dieser dritten Bestimmung wird deutlich, daß „Literarisierung“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehr bedeutete als die Übernahme von literarischen Regeln und die Überbietung von literarischen Vorbildern. Offenbar beruhte der Literaturbegriff dieser Epoche auf einer Vorstellung von Gemeinschaft, die der Literatur – und als deren Bestandteil auch der Geschichtsschreibung – eine, wir würden sagen: soziale Funktion zuschrieben. Der Wettbewerb nach außen, mit den anderen Nationalliteraturen, war nur zu bestehen, wenn die Ge31
Vgl. Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005.
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schichtsschreibung nach innen, in der Öffentlichkeit aller in einer Sprache Schreibenden, zum Gemeingut wurde. Die gewünschten literarischen Merkmale der Geschichtsschreibung (ihr Adressatenbezug, ihr Stil, ihre Themen) waren rückgebunden an zwei Aufgaben, die dem Schreiben über Geschichte nun zuwuchsen. Einerseits verhandelte es historische Themen und Sachverhalte als Sache einer Allgemeinheit, d.h. es machte die historischen Themen und Sachverhalte zugänglich, verdeutlichte, welche Bedeutung sie für die Allgemeinheit besaßen, setzte sie deren Räsonnement und Kritik aus. Andererseits zeigte es seinem Anspruch nach der Allgemeinheit ihre eigene Geschichte, verschaffte es ihr eine historische Herleitung und Bestimmung, stellte es die Allgemeinheit als Gedenkgemeinschaft überhaupt erst her. Die Historie zu literarisieren hieß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts also auch, sie auf die Popularisierung von historischen Inhalten und Gemeinschaftsstiftung zu verpflichten. Aus dieser Perspektive – wir können sie als eine auf den Gebrauchszweck oder die Pragmatik gerichtete charakterisieren – ergibt sich eine suggestive Sicht auf die Geschichte der Geschichtsschreibung. Wenn man für „Allgemeinheit“ das griechische Analogon „Politik“ einsetzt, erweist die „Literarisierung der Historie“ sich nämlich als eine Politisierung. Für den Gegenstand der Historie bedeutet dies, daß die Geschichte nun als Möglichkeits- und Handlungsraum betrachtet wurde, für die soziale Funktion der Historie, daß dieses Handeln die Allgemeinheit anging, daher auch ihr vorgestellt, letztlich von ihr getragen und zu eigen gemacht werden sollte. Die Veränderung, die darin steckte, zeigt sich vor allem durch einen Vergleich mit der bis dahin bestehenden Historie. Trotz aller Bemühungen der Aufklärer war die Historie in deutscher Sprache bis dahin im Hinblick auf ihre Verwendung ein Arkanum geblieben: eine Angelegenheit der politisch Verantwortlichen und der Gelehrten, die künftige Amtsträger ausbildeten und berieten – Materialsammlung für Bevollmächtigte. Daß die Geschichtswerke schwer zugänglich waren, lag nicht am literarischen Unvermögen der Verfasser, sondern am Zweck der Werke als Hilfsmittel für den kleinen Kreis der Berater und Entscheider. Daß diese Historien überwiegend juristische, diplomatische und kirchliche Sachverhalte zum Thema machten, entsprach den Vorzeichen, die das Handeln der Magistrate im alten Reich und der alten Eidgenossenschaft bestimmten. Politisierung hieß demgegenüber, daß andere Arten von Handlungen (Sitten, Aufstände, Kriege) und andere Handelnde in den Blick kamen (das Volk und die daraus hervorgehenden Helden). Insofern hätte sich aus der veränderten Pragmatik des Gemeinschaftsbezugs zugleich ein neuer inhaltlicher und thematischer Zuschnitt der Historie ergeben. Suggestiv ist diese Forschungsthese, weil die neue Gegenstands- und Funktionsbestimmung der Historie gut zu den Zeitumständen zu passen scheint. „Politisiert“ zu haben scheint sich nicht nur die Historie, eine Verschärfung politischer Konflikte kann man in den 1780er-Jahren auch im alten Reich ausmachen – man denke nur an die Konflikte um die Bayerische Erbfolge, an den mit viel publizistischem Getöse (zu dem auch Müller Einiges beitrug) gegründeten Fürstenbund, an
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die Opposition gegen die josephinischen Reformen, schließlich an die Französische Revolution.32 Vor diesem Hintergrund erscheint „Politisierung“ als ein Begriff, der eine Veränderung auf dem Gebiet der Literatur mit einer politischen Entwicklung zu verklammern vermag. Umso mehr scheint es geboten, genauer hinzusehen und nach der Reichweite dieser Politisierung zu fragen, d.h. auch nach ihren Grenzen.
II. Wenden wir uns dafür nun Müllers Schweizer Geschichte zu. Als erstes müssen wir uns klarmachen, daß dieser Werktitel trügt. Denn er stellt eine Sammelbezeichnung dar für eine Reihe von ganz unterschiedlichen Texten. Mehrfach setzte Müller neu an, mehrfach wechselte er die Konzeption.33 1770 erhielt der achtzehnjährige Geschichtsstudent auf Empfehlung von August Wilhelm Schlözer das Angebot, für die Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie den Band über die Schweiz zu schreiben. Erwartet wurde eine statistische Landeskunde, die darstellte, welche geographisch-klimatischen, wirtschaftlichen und historischen Faktoren den „Volksgeist“ ausmachten, der sich nach Meinung der Herausgeber in der Verfassung der Eidgenossenschaft manifestierte. 1776/77 begann Müller als Hauslehrer in Genf, sein Material zu einem Essay auszuarbeiten.34 Nicht mehr nur Erklärung, Besserung der politischen Verhältnisse setzte er seiner historischen Betrachtung jetzt zum Ziel. Die Allgemeine Aussicht über die Bundesrepublik im Schweizerland sollte die Frage beantworten, wie die Eidgenossen in früheren Krisen Freiheit und Einheit zum Ausgleich gebracht hatten. Der Text setzt mit dem Kampf gegen Rudolf von Habsburg ein und reicht bis zum ersten Zürcher Krieg 1444. Als absehbar wurde, daß er die Zensur nicht passieren würde, gab Müller ihn auf.
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Ausführlich dazu mit weiterer Literatur Johannes Süßmann: Vom Alten Reich zum Deutschen Bund 1789‒1815. Paderborn 2015, S. 26–28, 38f. Zu Müllers Beteiligung vgl. Werner Kirchner: Johannes von Müller über den Fürstenbund. Aus dem Nachlaß mit einer Einl. v. Otto Pöggeler hg. v. Christoph Jamme. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 419–456; Marita Haller-Dirr: Johannes von Müller und das Reich. Studien zur Kurmainzer Fürstenbundspolitik. In: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 77/78 (1982/83), S. 1–86 u. 79/80 (1984/85), S. 87–154. Das Folgende nach Johannes Süßmann: Art. Johannes von Müller. Der Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft erster bis fünfter Theil. In: Kindlers Literatur Lexikon. 18 Bde. 3., völlig neu bearb. Aufl. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Bd. 11. Stuttgart u. Weimar 2009, S. 601f. Mustergültig zweisprachig ediert als Johannes Müller: Vue Générale de la République Fédérative des Suisses. Version Française 1776–1777. Première Edition/Allgemeine Aussicht über die Bundesrepublik im Schweizerland. Deutsche Fassung 1776–1777. Erstausgabe, 2 Bde. Nach den Handschriften hg. u. eingel. v. Doris u. Peter Walser-Wilhelm. Zürich 1991.
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1780 veröffentlichte er Die Geschichten der Schweizer.35 Aus räsonierender Geschichtsbetrachtung war anschauliche Darstellung geworden. In der Erzählstruktur versteckte Müller jetzt seine Wirkungsabsicht: Das Docere tritt hinter ein Emovere zurück, das im Geiste Rousseaus die sittlichen Grundlagen neu hervorbringen sollte, aus denen die Freiheit der Vorväter erwuchs. Auch weil Müller sich für ein politisches Amt in der Schweiz empfehlen wollte, schrieb er nur über die Selbstbehauptung nach außen: Am Leitfaden der Kriege wird die Schweizer Geschichte erzählt, von den Niederlagen gegen die Römer bis zu den Erfolgen gegen die Habsburger 1388. 1786 erschien Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft Erstes Buch.36 Inzwischen hatte Müller eine Karriere im Reich begonnen. Das verschaffte ihm die Unabhängigkeit, um zu dem umfassenderen Vorhaben von 1770 zurückzukehren. Doch realisierte er es nun als Geschichtsevokation. In einer wuchtigen Beschreibung stellt das Werk eingangs das Gotthard-Massiv als Prägestock Schweizer Geschichte vor Augen. Es folgt eine Ethnographie der „Hirtenvölker“, die in den Alpentälern leben, und ihrer je eigenen lokalen Sitten, von denen ihr Handeln untereinander, im Kampf gegen Fremdherrscher, bei der politischen Ordnung hergeleitet wird. Die Geschichtserzählung beginnt mit den Kriegen gegen die Römer und reicht bis zum Freiheitskampf Wilhelm Tells. Sie wird in den folgenden Teilen bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts fortgeführt. Der Untergang der alten Eidgenossenschaft 1798 enthob das Werk seines Zielpunkts. Gerade bis zur Hälfte gediehen, mußte es abermals revidiert werden. 1806 legte Müller den Ersten Theil in einer neuen Fassung vor,37 dann brach sein Tod die Arbeit ab. Eine historisch-kritische Edition, die diese Textgeschichte verdeutlichen würde, fehlt bis heute. Was gewöhnlich als Müllers Schweizer Geschichte bezeichnet wird, ist also ein Werk im Werden. Daß es unvollendet blieb, teilt es mit allen großangelegten historiographischen Arbeiten der Revolutionsära.38 Zu rasch kamen den Historikern damals die Gegenwartsbezüge abhanden, als daß eine Konzeption über längere Zeit durchzuhalten gewesen wäre. Zu rasch wechselten damit auch die Gemeinschaftsbezüge, die der neuartigen Geschichtsdarstellung doch ihren Halt geben 35 36
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Johannes Müller: Die Geschichten der Schweizer. Boston [=Bern] 1780. Johannes Müller: Der Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft. Erstes Buch: Von dem Anbau des Landes. Leipzig 1786. Anderes Buch: Von dem Aufblühen der ewigen Bünde. Leipzig 1786. Drittes Buch; die beyden ersten Capitel. Leipzig 1788. Drittes Buch. Zweyte Abtheilung. Leipzig 1795. Vierter Theil: Bis auf die Zeiten des burgundischen Kriegs. Leipzig 1805. Fünften Theils erste Abtheilung. Leipzig 1808 [unvollendet]. Johannes Müller: Der Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft. Erster Theil: Von dem Anbau des Landes. Neue verbesserte u. vermehrte Aufl. Leipzig 1806. Vgl. Ernst Schulin: ‚Historiker, seid der Epoche würdig!‘ Geschichtsschreibung im Zeitalter der Französischen Revolution – zwischen Aufklärung und Historismus. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 18 (1989), S. 1–28. Wieder in ders.: Arbeit an der Ge-schichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne. Frankfurt a.M. u. New York 1997, S. 81–113.
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sollten. Auch diese Werkgeschichte erklärt, warum bei Müller immer wieder die Rhetorik regiert. Wie schon gegenüber den Erwartungshaltungen der Öffentlichkeit bleibt auch gegenüber diesem Textbefund nur strenge Historisierung. Statt die verschiedenen Fassungen und Konzeptionen ineinander zu schieben, wird man jeden Text für sich zu betrachten haben und in seiner Eigenart sorgfältig kontextualisieren. Nur für einen von Müllers vielen Anläufen kann hier exemplarisch damit begonnen werden. Und zwar wurde dafür Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft Erstes Buch in der Fassung von 1786 ausgewählt,39 weil dieser Text Müllers Durchbruch als Geschichtsschreiber in Deutschland brachte. Durch seine Wirkungsgeschichte scheint er für die hier verfolgte Frage besonders aufschlußreich.
III. Gleich der Titel konfrontiert uns mit Müllers auffälligstem Darstellungsmittel: seiner Sprache. Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft Erstes Buch ist ein sperriger Einstieg. Denn beim Lesen erscheint die Verbindung „der Geschichten“ zunächst falsch. Am Anfang eines Titels erwartet man einen Nominativ: „Die Geschichten“. Auch die beiden folgenden Worte „schweizerischer Eidgenossenschaft“ lösen die Irritation nicht auf. Immerhin sind sie als Genitiv-Attribut zu erkennen, aber ob sie die rätselhaften „Geschichten“ näher bestimmen oder ein anderes, noch folgendes Substantiv, ist nicht klar. Man muß bis zum sechsten Wort vordringen, ehe die grammatische Konstruktion sich erschließt: ein vorangestelltes Genitiv-Attribut, das erst selbst durch ein weiteres Genitiv-Attribut erläutert wird, ehe das zentrale Substantiv folgt. Das ist eine komplizierte und verschachtelte Konstruktion: drei Substantive mit je einem begleitenden Artikel oder Adjektiv, hypotaktisch verknüpft und zwar so, daß die mittlere Ebene voransteht, dann die unterste folgt und zuletzt erst die obere, erste. Von der normalen Reihenfolge im Deutschen (Erstes Buch der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft) weicht das ab. Es ist eine Umstellung – damit wirkt sie als starke Markierung. Betont wird durch sie das vorangestellte „der Geschichten“ und das nachgestellte „erstes Buch“. Das aber sind inhaltlich die uninteressantesten Teile des Titels. Müller sagt uns damit nur, daß er „Geschichten“ (Ereignisberichte im Plural!) bieten wird und daß auf das vorliegende Buch noch weitere folgen sollen. Wovon das Buch und die Geschichten handeln, steht in dem doppelten Genitiv „schweizerischer Eidgenossenschaft“, also auf der untersten Ebene der Hypotaxe, und an der grammatisch am wenigsten markierten Stelle. Das ist paradox und erschwert das Verständnis erheblich, weil es dem Sprachempfinden widerspricht. 39
Müller: Der Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft. Erstes Buch (wie Anm. 36).
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Immerhin läßt sich argumentieren, daß auf diese Weise das sinnbestimmende Element des Titels ins Zentrum rückt. Da dies jedoch auf Kosten der Grammatik und Verständlichkeit geschieht, müßte es als Sprachspielerei oder Manierismus erscheinen. Aber die Umstellung läßt sich noch anders erklären. Sie erscheint sinnvoll, wenn man sie nicht als Markierung des Inhalts interpretiert, sondern als Markierung einer sprachlichen Varietät. Ein doppelter Genitiv, der seinem Substantiv vorangestellt ist, kommt im Deutschen ausschließlich in Übersetzungen vor, die möglichst eng die grammatischen Konstruktionen der Vorlagen aus den alten Sprachen nachzeichnen. Historiarum helveticae coniurationis liber primus – so könnte ein lateinischer Titel lauten. Dort wäre die Abfolge der Attribute normal und korrekt. Mit anderen Worten: Müller gestaltet seinen Titel so, daß dieser wie eine Übersetzung aus dem Lateinischen wirkt. Aber es gibt kein lateinisches Werk, das hier als Vorlage gedient hätte. Das Latinistendeutsch verweist auf ein Original, das nicht existiert. Es ist selbst das Original; im Duktus einer Übersetzung tritt es an die Stelle eines nichtexistierenden lateinischen Werks. Damit bekundet Müller seinen Anspruch: Sein Buch soll so beschaffen sein, daß es als Übersetzung eines antiken Geschichtswerks durchgehen könnte. Syntax, Aufbau (in Büchern), Redehaltung – alles soll den antiken Vorbildern entsprechen. Diesen Anspruch zu signalisieren muß Müller wichtig sein. Denn mit der Varietät des Latinistendeutschs handelt er sich hohe Verständnishürden ein. Das sagt uns zugleich, welches Publikum er adressiert. Die breite Leserschaft ist es offenkundig nicht. Goutieren kann ein solches Latinistendeutsch nur, wer antike Texte so schätzt, daß er sie in allen Feinheiten nachgezeichnet sehen möchte – selbst wenn das heißt, das Deutsche gegen den Strich bürsten zu müssen. Es sind antikenbegeisterte Latinisten, für die Müller schreibt, eine Bildungsschicht, Enthusiasten mit einem emotionalen Verhältnis zum Gegenstand. Nüchterne Wissenschaftler wie Spittler fühlten sich davon abgestoßen. Eingebettet in die antikisierende Syntax finden wir die Wörter „schweizerische Eidgenossenschaft“. Beide sind altehrwürdig, so gravitätisch, daß sie auch im 18. Jahrhundert schon altertümlich wirkten. Statt des behäbigen „schweizerisch“ hätte man einfach „schweizer“ sagen können. Daß Müller dies nicht tut, zeigt: Auch die altertümelnde Wortwahl hat eine Verweisfunktion. Offenbar spielt sie auf die Sprache der Quellen an. Müllers Geschichtsschreibung übernimmt Signalwörter aus den mittelalterlichen Quellen, baut sie als Sprachdenkmäler in den eigenen Text ein und nähert diesen dadurch den altehrwürdigen vaterländischen Zeugnissen an. Auch dies ist ein emotionalisierendes Vorgehen. Es setzt patriotische Verehrung für eigenen Sprachaltertümer voraus. Die antikisierende Syntax verweist auf die antike Geschichtsschreibung, die altertümelnde Wortwahl auf die Gegenstände aus dem Mittelalter, die Müller zum Thema macht. Beides zusammenzuführen ist synkretistisch. Es ergibt eine neugeschaffene, künstliche Sprache. Diese Sprache zeigt an, worum es Müller in seiner
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Geschichtsschreibung geht. Weit radikaler als für den Ausdruck eines Gegenstands angemessen, wird sie selbst zum Gegenstand. Nicht zuletzt dies hat die Schriftsteller fasziniert. Insofern handelt es sich bei Müllers Geschichtsschreibung tatsächlich, wie Gundolf bemerkt hat, primär um ein Sprachkunstwerk. Auf der Titelseite des Buchs folgen der Autorname, gestützt durch ein Gelehrtenamt und die aufgezählten Mitgliedschaften in zahlreichen gelehrten Gesellschaften, danach ein Motto: „Per varios casus, per tot discrimina rerum!“ Übersetzt etwa: ‚Durch verschiedene Schicksalsschläge, durch so viele kritische Lagen‘. Es handelt sich um ein Zitat aus der Aeneis. Als seine Gefährten auf der Irrfahrt nach der Flucht aus Troja verzagen wollen, ermahnt Aeneas sie durchzuhalten. Im Original folgt auf den zitierten Vers: „tendimus in Latium“ (‚streben wir nach Latium‘). Damit finden wir nicht nur bestätigt, daß Müller für ein gebildetes Publikum schreibt, wir bekommen auch Thema und Narrativ des Buchs mitgeteilt: Es wird um eine Staatsgründung gehen. Wir dürfen kombinieren: Die „Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft“ werden aus Schicksalsschlägen und vielen kritischen Lagen bestehen. Aber sie haben einen Sinn. Denn es handelt sich um Bewährungsproben, die durch die Ankunft im gelobten Land belohnt werden. Darunter tat Müller es offenbar nicht: Die Schweizer werden mit den Römern auf eine Stufe gestellt, Müllers Schweizer Geschichte mit dem Nationalepos der Römer, er selbst mit Virgil. Gewidmet ist das Werk „Allen Eidgenossen“. Der Einleitung hat Müller die Form einer Ansprache gegeben. Mehr als Einmal, Eidgenossen, habe ich am Eingange dieser Historie zu dem oder diesem Ort reden wollen: — Zu meiner Vaterstadt; in Erwägung der natürlichen Pflicht gegen die, bey welchen seit mehr als zwey Jahrhunderten meine Väter, und lang ich selbst gelebt; und in dankbarem Andenken, wie früh der Senat mich durch ein Amt [...] geehrt [...]; — Zu der Stadt Bern, welche als die meinige zu lieben in so vielen Jahren unverbrüchlicher Freundschaft Carl Victor von Bonstetten mir gleichsam zur Natur gemacht hat [...]; — Zu euch, Waldstette des Gebürges, wenn ich über der von euch ausgegangenen Eidgenossenschaft meiner Privatangelegenheiten vergaß, und erwog, daß ohne die durch euren Bund befestigte Freyheit ich mich weder meiner Vaterstadt besonders freuen könnte, noch die vaterländischen lieber als andere Geschichten beschreiben würde. Aber die Betrachtung, daß diese Historie nicht sowol mein Werk, als die Stimme der verflossenen Geschlechtalter ist, hat meinen Privatgefühlen Stillschweigen geboten, um den Geist eurer Altvordern, dessen Dollmetsch ich bin, schon hier allein reden zu lassen.40
Die gewählte Textsorte nimmt eine dreifache Verwandlung vor: Anstelle der Einleitung zu einem Geschichtswerk erscheint eine Rede. Die Leserschaft findet sich auf eine Tagsatzung der Schweizer Kantone versetzt, als eine Volksversammlung adressiert. Dadurch wird die sprechende Instanz zu einer Mischung aus Politiker und Propheten: Als „Dollmetsch“ der Altvordern tritt sie auf, als „die Stimme der
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verflossenen Geschlechtalter“. Sie erklärt sich zum Medium der Gemeinschaftsbildung. Politischer kann Geschichtsschreibung sich nicht geben. Allerdings machen die bisherigen Überlegungen auch die Grenzen dieser Politisierung klar. Sowenig die Literarisierung der Historie im 18. Jahrhundert den postmodernen narrative turn vorwegnahm, sowenig ist ihre Politisierung als Durchbruch in die Moderne zu verstehen. Weder der zugrundeliegende Begriff von Literatur als ars war modern, noch darf die vorgestellte Allgemeinheit mit der modernen Öffentlichkeit verwechselt werden. Als Schreibgemeinschaft blieb sie durchaus auf den Kreis der Literaten und der wenigen Gebildeten beschränkt, die von der Literatur aktiven Gebrauch machten. Ein Massenpublikum lag außerhalb dieser Vorstellungswelt, geschweige denn daß die république des lettres mit den politischen Gemeinwesen gleichgesetzt und die Zugehörigkeit zu jener als Partizipation aller in dieser aufgefaßt worden wäre. Vielmehr muß das Streben nach Literarisierung der Historie durchaus auf die historischen Bedingungen in der deutschsprachigen Welt des späten 18. Jahrhunderts bezogen werden. Und diese waren auch im Zeitalter der Französischen Revolution durch die sehr engen Spielräume gekennzeichnet, die sich aus dem Bündnis der zahlreichen, in sich disparaten, reformorientierten Obrigkeiten mit der aufklärerischen Intelligenz ergaben: Politische Selbstbestimmung gehörte nirgendwo dazu. Weder die föderative alte Eidgenossenschaft, noch das alte Reich stellten politische Einheiten dar. Erst recht fehlte der durch die Revolutionskriege aufgebrochenen, ständig in Veränderung begriffenen Gemengelage von deutschsprachigen Gebieten, die teils direkt an Frankreich angeschlossen, teils über den Rheinbund mit ihm assoziiert waren, teils ihm abwartend-neutral, teils feindlich gegenüberstanden, Zusammenhalt. Ebensowenig gab es in allen diesen weiterhin von oben reformierten und regierten deutschen Staaten wirkliche politische Handlungsgemeinschaften. Das setzte dem Gemeinschaftsbezug, auf den man die Geschichtsschreibung verpflichtete, harte politische Grenzen. Gemessen an der politischen Realität waren die beschworenen Gemeinschaften kontrafaktisch – also fiktiv. Sie sollten durch die Geschichtsschreibung allererst hergestellt werden. Die Herrschaftsverhältnisse in den autoritären Reformstaaten zwangen die ehrgeizigen Geschichtsschreiber zu einer Haltung, die nur so tun konnte, als ob sie mit der Allgemeinheit zugleich die relevanten Entscheidungsträger adressierte. Insofern mußte diese Haltung zur Pose werden, die Wendung an die Allgemeinheit zu einer Stilübung. Die Diskrepanz zwischen den impliziten Gemeinschaftsbezug und dem realen Publikum erklärt, warum die angestrebte Politisierung in vieler Hinsicht kulturnational unbestimmt und rhetorisch blieb.41
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Ähnlich, wenn auch stärker auf die Diskrepanz zwischen Müllers Ehrgeiz und seinen praktischen Möglichkeiten bezogen Gundolf: Müllers Schweizer Geschichte (wie Anm. 11), S. 180f.
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Was ergibt sich aus diesem Beispiel über den Einzelfall hinaus für die allgemeine Diskussion über Historiographiegeschichte? Zunächst ergibt sich der beschriebene Befund: das Streben nach Politisierung der Historie in der Spätaufklärung und die Grenzen ihrer Politisierbarkeit im deutschsprachigen Raum um 1800. Das ist ein Befund mit dem Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit, der durch weitere Fallanalysen auf die Probe gestellt, erhärtet, modifiziert oder auch falsifiziert werden kann. Darüber hinaus sucht der Beitrag eine Methode vorzuführen. Er möchte zeigen, wie man die formalen Eigenschaften eines Geschichtswerks rückbinden kann an den ihm eingeschriebenen sozialen Gebrauch. Es geht um eine Historiographiegeschichte, die auf der Analyse der Textpragmatik beruht.
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Jean-Jacques Fillassiers Dictionnaire historique d’éducation und seine Berliner Übersetzung durch Friedrich Leopold Brunn: Politisierung der Geschichtsvermittlung und Aktualität des Kulturmusters historia magistra vitae in der Revolutionszeit* I.
Für eine kontextualisierte Untersuchung der populären Geschichtsschreibung
Die spezifischen Formen der historischen Narration, vor allem das historische Fakten gestaltende, konstruierende mise en récit, wurden in den vergangenen vier Jahrzehnten von narrativistisch geprägten Studien als maßgebende Bestandteile einer modernen Geschichtsschreibung aufgefasst, die um 1800 zu entstehen begann.1 Für die Untersuchung populärer Geschichtsschreibung und geschichtsdidaktischer Schriften erweist sich dieser fruchtbare Ansatz gleichwohl als nur bedingt weiterführend. Populäre Geschichtsschreiber und -didaktiker, vom verarmten Vielschreiber bis hin zum genialen Kompilator, produzierten um 1800 eine stark an formaler Reproduktion orientierte Literatur. Zur besseren Erschließung der darin zahlreichen, meist aus dem Humanismus geerbten Topoi ist eine stärkere Binnendifferenzierung in einem kürzeren Zeitraum ebenso erforderlich wie der Verzicht auf eine apriorische Gegenüberstellung von traditionell-didaktischer und modern-narrativer Geschichtsschreibung. Aus dem Fortbestehen älterer Formen allein lässt sich noch nicht auf traditionelle Rückstände der nicht-gelehrten Geschichtsschreibung schließen, die gewissermaßen nur ein paar Jahrzehnte „mehr“ gebraucht hätte, um die Innovationen der Historiker didaktisch umzusetzen. Prinzipiell zog die Aufklärungshistorie keine Grenze zwischen wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Geschichtsschreibung, sondern war per se an Wissensvermittlung und konkreter Rückbindung an die Lebenswelt orientiert. Der starke Adressaten- und Anwendungsbezug populärer und didaktischer Schriften und die Verlegerinteressen, die hinter der pädagogischen Gebrauchsliteratur im Kontext eines sich erweiternden Lesepublikums standen, erfordern daher eine neue Herangehensweise sowie neue Untersu* Anna Karla danke ich sehr für die gründliche Korrektur des deutschen Manuskripts. Hayden V. White: Metahistory. The historical imagination in 19th century Europe. Baltimore u. London 1973; Paul Ricoeur: Temps et récit. Paris 1983; Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996.
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chungskategorien für die Historiographieforschung. Durch einen um den Aspekt des Adressaten- und Verwendungsbezugs pragmatisch erweiterten Poetikbegriff, von dem in der Abschlussdiskussion zu dieser Tagung die Rede war,2 können Veränderungen dargelegt werden, die bei einer rein formalen Analyse unbemerkt bleiben. Nachvollziehbar werden dann aber auch die Sinnverlagerungen traditioneller historiographischer Formen in sich erheblich wandelnden pädagogischen und politischen Kontexten. Die folgende Studie untersucht im Sinne einer deutsch-französischen histoire croisée,3 wie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ältere historische Narrative in neuen Kontexten aktualisiert wurden und inwieweit neuartige pädagogischpolitische Zielsetzungen die Poetik historischer Texte nachhaltig beeinflussten. Die zu betrachtenden Texte zirkulierten zwischen verschiedenen pädagogischen und politischen Kontexten und ihre Adressatenkreise waren dementsprechend vielfältig. Das Folgende fokussiert daher nicht auf Texte für eine bestimmte Gesellschaftsschicht oder Altersgruppe, sondern nimmt gerade die von Auflage zu Auflage variierende Gestaltung historischer Texte in den Blick und fragt nach den politischen Implikationen des wechselnden Adressatenbezugs. Die hier untersuchten Quellen bilden ein dichtes Korpus von wiederaufgenommenen, überarbeiteten und übersetzten Texten. Schon die komplexe Geschichte ihrer verschiedenen Auflagen zeigt an, wie stark die pädagogischen und politischen Kontexte die Zirkulation historischer Texte geprägt haben. Das Dictionnaire historique d’éducation von Jean-Jacques Fillassier (1745–1799) wurde 17714 und in überarbeiteter Fassung 17845 in der krisengeschüttelten Monarchie im Kontext der französischen Provinzakademien veröffentlicht, die sich auch als pädagogische Institutionen verstanden. Es wurde von Friedrich Leopold Brunn (1758–1831)6 im Schuljahr 1785–1786 in der Militärakademie zu Colmar weiterverwendet, einer Schule, die 1773 nach dem Vorbild der sich stark vom humanistischen Unterricht
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Vgl. auch die Beiträge von Daniel Fulda, Anna Karla und Johannes Süßmann in diesem Band. Zum Ansatz der histoire croisée siehe Michael Werner u. Bénédicte Zimmermann: Penser l’histoire croisée entre empirie et réflexivité. Paris 2004 sowie Claire Gantet u. Bernhard Struck: Pour une histoire transnationale vers 1800. Quelques choix méthodologiques. In: Dies.: Révolution, guerre, interférences 1789–1815. Übers. v. Claire Gantet. Villeneuve d’Ascq 2013, S. 197–230. Jean-Jacques Fillassier: Dictionnaire historique d’éducation, où sans donner de préceptes, on se propose d’exercer et d’enrichir toutes les facultés de l’ame et de l’esprit, en substituant les exemples aux leçons. 2 Bde. Paris 1771. Ders.: Dictionnaire historique d’éducation, où, sans donner de préceptes, on se propose d’exercer & d’enrichir toutes les facultés de l’ame & de l’esprit, en substituant les exemples aux maximes, les faits aux raisonnemens, la pratique à la théorie. Nouvelle édition, qui a été revue, corrigée & augmentée d’un grand nombre d’articles, & sur-tout d’une table historique des personnages, plus ample, plus exacte & plus intéressante que celle qui accompagnoit les précédentes éditions de ce dictionnaire. 2 Bde. Paris 1784. Anonym: Art. Brunn, Friedrich Leopold. In: Neuer Nekrolog der Deutschen. Hg. v. Friedrich August Schmidt. Bd. 9. Ilmenau 1833, Sp. 413–415.
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der collèges abgrenzenden Pariser École Royale Militaire gegründet wurde.7 Als Brunn 1788 als Lehrer ans Joachimsthaler Gymnasium nach Berlin berufen wurde, veröffentlichte er eine überarbeitete Übersetzung des Dictionnaire mit dem Titel Interessante Züge und Anekdoten aus der Geschichte alter und neuer Zeiten. Sie entstand im Kontext einer pädagogischen Institution, deren Mitglieder zur Bildung eines neuen Modells von Bürgerschulen beitrugen,8 sowie im Kontext der politischen Spannungen zwischen der friederizianischen Beamtenschaft und der konservativen Politik Friedrich Wilhelms II. Die sechs Bände der ersten deutschen Ausgabe entstanden somit im Jahrzehnt 1788–1798; 1796 und 1799 erschienen darüber hinaus die ersten zwei Bände in einer weiteren überarbeiteten Fassung.9 Reinhart Kosellecks Aufsatz „Historia magistra vitae. über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“ bleibt bis heute ein unumgänglicher Bezugspunkt der Historiographieforschung,10 und zwar unter anderem deshalb, weil er die Rolle der Aufklärung als Schlüsselphase in der Entwicklung einer historischen Wissenschaft und in der Entstehung eines modernen, zukunftsorientierten Geschichtsbegriffs betont. Wenn man andere Quellen heranzieht, nämlich Geschichten für Nicht-Gelehrte, liegt jedoch eine andere Chronologie nahe. Sie soll die Chronologie der auf Erschließung klassischer Texte und Autoren basierenden Begriffsgeschichte und der auf akademische Geschichtsschreibung fokussierten Historiographieforschung ergänzen.11 Koselleck bezeichnet die Vorstellung von der Geschichte als der Lehrmeisterin des Lebens als „Topos“, „Formel“, ja sogar als „Blindformel“ und „Gemeinplatz“ und stellt sie dem modernen Geschichtsbegriff gegenüber: Es fehlt bisher eine Darstellung all der Umschreibungen, die dem Ausdruck der Historie seine jeweilige Begrifflichkeit verliehen haben. So fehlt eine Geschichte 7
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Jean Baptiste Pâris de Meyzieu: Art. École militaire. In: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. 20 Bde. Hg. v. Robert Morrissey. Bd. 5. Chicago 2011, S. 307–313. URL: http://encyclopedie.uchicago.edu [20.10.2013]. Zur Militärakademie in Colmar siehe u.a. Gottlieb Konrad Pfeffel. Satiriker und Philanthrop (1736–1809). Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe in Zusammenarbeit mit der Stadt Colmar. Ausstellungskatalog hg. v. der Badischen Landesbibliothek. Karlsruhe 1986; Gabriel Braeuner (Hg.): Pfeffel l’Européen. Esprit français et culture allemande en Alsace au XVIIIe siècle. Strasbourg 1994. Mathilde Lerenard: Die Vermittlung der französischen Aufklärung an deutschen Schulen am Beispiel von Friedrich Gedicke (1754–1803). In: Anna Busch, Nana Hengelhaupt u. Alix Winter (Hg.): Französisch-deutsche Kulturräume um 1800. Bildungsnetzwerke ‒ Vermittlerpersönlichkeiten ‒ Wissenstransfer. Berlin 2012, S. 89–104. Friedrich Leopold Brunn: Interessante Züge und Anekdoten aus der Geschichte alter und neuer Zeiten: ein Lesebuch für die Jugend zum Vergnügen und Unterricht, nach dem Französischen des Herrn Fillassier deutsch bearb. 6 Bde. Berlin 1788–1799 (Bd. 1: 11788, 21796; Bd. 2: 1 1789, 21799; Bd. 3: 1790; Bd. 4 1791; Bd. 5: 1793; Bd. 6: 1798). Reinhart Koselleck: Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1989, S. 38–66. Horst Walter Blanke u. Dirk Fleischer (Hg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990.
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der Formel ‚historia magistra vitae‘, sosehr das damit Gemeinte zumindest das Selbstverständnis der Historiker, wenn auch nicht ihr Schaffen, durch die Jahrhunderte geleitet hat. – Trotz verbaler Identität schwankte der Stellenwert unserer Formel im Zuge der Zeit erheblich. Nicht selten desavouierte gerade die Historiographie den Topos zur Blindformel, die nur in den Vorworten weitergereicht wurde. So ist es noch schwerer, den Unterschied zu klären, der immer zwischen der bloßen Verwendung des Gemeinplatzes und seiner praktischen Wirksamkeit geherrscht hat.12 Festgestellt wird lediglich das Fortbestehen eines Topos – einer immer wieder aufgenommenen Formel, die dazu dient, eine Schrift in eine Gattung einzureihen oder mit einer bestimmten Tradition zu verbinden. Dennoch fordert Kosellecks Feststellung einer mangelnden Erschließung der historia magistra vitae zu einer näheren Untersuchung auf. Während Jean-Marie Goulemot die zyklischen, am Konzept der Dekadenz orientierten Zeitmuster des aufklärerischen Geschichtsdiskurses und Chantal Grell eine zwischen Gelehrsamkeit und Philosophie ins Stocken geratene Aufklärungshistorie beschrieben haben,13 ist mit Kosellecks breiterer Rezeption in Frankreich die Aufmerksamkeit auf die Zeit um 1800 als Moment der Entstehung eines neuen Zeitbewusstseins gerichtet worden.14 Dabei lag der Schwerpunkt nicht so sehr auf dem von Koselleck beschriebenen Perspektivenwechsel von der Vergangenheitszur Zukunftsorientierung oder auf dem Wechselverhältnis zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont als vielmehr auf dem von der Französischen Revolution ausgelösten Erlebnis des Bruchs und der Zeitbeschleunigung.15 Kosellecks Aufsatz hat in Frankreich insbesondere durch François Hartogs Régimes d’historicité (Geschichtlichkeitsverhältnisse) Resonanz gefunden.16 Den Topos der historia magistra vitae unterzog Hartog in seiner Untersuchung von Chateaubriands Essai sur les Révolutions einer neuen Betrachtung:17 Chateaubriand habe sich auf das alte régime d’historicité und den traditionellen Revolutionsbegriff gestützt, um die Französische Revolution nach dem Maßstab der früheren Revolutionen zu verstehen.18 Dennoch sei das alte régime d’historicité 12 13
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Koselleck: Historia magistra vitae (wie Anm. 10), S. 39. Jean-Marie Goulemot: Le règne de l’histoire. Discours historique et révolutions. XVIIe–XVIIIe siècle. 2 Aufl. Paris 1996; Chantal Grell: L’histoire entre érudition et philosophie. Étude sur la connaissance historique à l’âge des Lumières. Paris 1993. Reinhart Koselleck: Le futur passé. Contribution à la sémantique des temps historiques. Übers. v. Jochen Hoock u. Marie-Claire Hoock. Paris 1990. Vgl. Anna Karlas Beitrag in diesem Band. Auf Französisch kann das Wort régime auf politische Regimes, sowie auf Geschwindigkeit und Drehzahl, oder allgemeiner auf einen Modus verweisen. Eben wegen dieser Mehrsinnigkeit scheint Hartog das Wort gewählt zu haben. François Hartog: Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps. Paris 2003, S. 11–30. Ebd., S. 77–112. Reinhart Koselleck: Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs. In: Ders.: Vergangene Zukunft (wie Anm. 10), S. 67–86.
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ungenügend gewesen, um den von der Revolution eingeleiteten einzigartigen Bruch in der Geschichte zu erfassen. Die historia magistra vitae wurde, so Hartog, im Essai sur les Révolutions zugunsten eines aufkeimenden neuartigen régime d’historicité ihres Sinnes entleert. Hartogs Ansatz, die historia magistra vitae als ein régime d’historicité zu verstehen, erlaubt zwar die Erweiterung von Kosellecks Begriffsanalyse zu einer umfassenden Werkanalyse. Seine Definition eines régime d’historicité bleibt dennoch sehr vage und verweist auf eine bewusst lückenhafte Herangehensweise, die auf den Begriff einer gesamten Zeitordnung (ordre du temps), d.h. auf ein Gesamtbild des Zeitbewusstseins einer Epoche verzichtet.19 Immerhin sind die beiden Hauptteile seines Buchs mit Ordre du temps 1 und Ordre du temps 2 betitelt und beruhen auf der klassischen Gegenüberstellung von Tradition (Vergangenheitsorientierung) und Moderne (Brucherlebnis und Zeitbeschleunigung). Eine präzisere Definition des Forschungsgegenstands historia magistra vitae würde hingegen eine schärfere Distanzierung von dieser auf ein Gesamtbild des Übergangs von der Tradition zur Moderne zielenden Herangehensweise ermöglichen. Angebracht erscheint ebenso eine klarere Unterscheidung zwischen Darstellungsformen und Zeitwahrnehmungen: Dass Geschichte als moralische Beispielsammlung dargestellt wird, beweist längst nicht, dass sich Autor und Leser an Vorbildern aus der Vergangenheit orientieren. Vielmehr kann eine Analyse der historischen Texte und ihrer Zirkulation in variierenden politischen Zusammenhängen zeigen, wie einund dieselbe Darstellungsform unterschiedlich aktualisiert werden konnte. Zu diesem Ansatz bietet die von Daniel Fulda angeregte Kulturmusterforschung eine aufschlussreiche Untersuchungskategorie.20 Kulturmuster werden durch eine Reihe von Spannungen definiert: Zwischen Reproduktion und Innovation weisen sie Stabilität in Raum, Zeit und Gesellschaft auf. Sie bilden gemeinsame Bezugspunkte bei steigender Meinungsverschiedenheit, sodass sie zugleich von Variabilität geprägt sind und je nach Ort, Zeit und Akteuren unterschiedlich aktualisiert werden.21 Zudem verbinden Kulturmuster Deutungsmuster mit Handlungsmustern.22 Begreift man die historia magistra vitae als Kulturmuster, so trägt 19 20
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Hartog: Régimes d’historicité (wie Anm. 16), S. 11–30. Daniel Fulda: Kultur, Kulturwissenschaft, Kulturmuster – Wege zu einem neuen Forschungskonzept aus dem Blickwinkel der Aufklärungsforschung. In: Ders. (Hg.): Kulturmuster der Aufklärung. Halle 2010, S. 7–33. „[…] Muster relationieren Wahrnehmungen, Äußerungen und Handlungen der Menschen sowohl in der Sozialdimension, denn sie können gleichzeitig aktualisiert werden, als auch in der Zeitdimension, denn sie können immer wieder aktualisiert werden, lassen zugleich aber Variation zu. Sich (bewusst oder unbewusst) auf Muster zu beziehen ermöglicht kommunikative Anschlüsse und damit sowohl kulturelle Reproduktion, als auch Innovation, ermöglicht biographische Identität sowie gesellschaftliche Kohärenz“ (ebd., S. 15). „Wir fragen nach kulturellen Mustern, in denen sich Deutungsmuster, mit deren Hilfe die Welt kategorial erschlossen, strukturiert und interpretiert wird, mit einer gesellschaftlich organisierten wie individuell aktualisierten Praxis verbinden, die ihnen folgt oder aus der sie entstehen“ (ebd. S. 17).
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man einerseits ihrer auffallenden Stabilität von der Antike und der Renaissance bis hin zur Sattelzeit Rechnung. Andererseits berücksichtigt man den starken Adressaten- und Verwendungsbezug historischer Texte für die Jugend und Nicht-Gelehrte als eine zentrale Untersuchungskategorie. Die historia magistra vitae liegt somit am Schnittpunkt zwischen den Handlungsmustern von Geschichtsvermittlern und lesern im pädagogischen und politischen Kontext und den Deutungsmustern einer Krisenzeit. Anhand des Dictionnaire historique d’éducation und seiner überarbeiteten Berliner Übersetzung können die wechselnden Funktionen des Kulturmusters historia magistra vitae nachvollzogen werden: Neben moralischer Erziehung und historischer Bildung sorgen historische Beispiele für einen politischen Konsensdiskurs, der durch die Polarisierung politischer Meinungen und Modelle zunehmend brüchig geworden war. In der Tat zeigen Auswahl und Anordnung der Beispiele innerhalb der Sammlungen, dass das Kulturmuster immer weniger hinreichte, um politische Spannungen und Meinungsverschiedenheit durch eine konsensuelle politische Moral zu schlichten. Insbesondere mit seiner Übersetzung beförderte Brunn eine neue Variation des alten Kulturmusters, indem er politischhistorische Exempla in den Dienst einer bestimmten politischen Meinung stellte. Das Quellenkorpus steht also für die ungebrochene Aktualität und Attraktivität des Kulturmusters in den drei letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Im Dictionnaire historique d’éducation hat Fillassier erbauende sowie unterhaltende Beispiele – mutige Taten, schlagfertige Antworten, orientalisierende Anekdoten – gesammelt. Brunns überarbeitete Übersetzung blieb eine historische Beispielsammlung, auch wenn die Reihenfolge des Originals verändert wurde. Zwischen 1770 und 1800, so stellt es sich dar, fungierte die Geschichte weiterhin als magistra vitae, als Lehrmeisterin des Lebens, und dies nicht nur in den Überresten der rhetorisch-humanistischen Bildung, sondern auch innerhalb neuer pädagogischer Projekte: in der Kultur der Provinzakademiker, in der Colmarer Militärakademie und im Joachimsthaler Gymnasium in Berlin. Kürze, Lesbarkeit, Memorierbarkeit scheinen zum Erfolg dieser alten Darstellungsform im Kontext einer zunehmend politisierten Geschichtsvermittlung beigetragen zu haben.
II.
Fillassiers Dictionnaire historique d’éducation (1771, 1784): historische Beispielhaftigkeit als Konsensdiskurs
Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist das Dictionnaire historique d’éducation (1771) von Fillassier. Diese Kompilation aus Heiligenleben, orientalisierenden Anekdoten, Heldentaten einfacher Soldaten oder Bürger, Auszügen aus Reiseerzählungen, römischer Historiographie sowie Biographien von meist französischen Königen und Adligen sammelt unter alphabetisch geordneten Rubriken die unterschiedlichen Tugenden, die von den kompilierten Beispielen illustriert werden.
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Aktualisiert wurde das Kulturmuster historia magistra vitae in einem stark an Reproduktion orientierten Werk und im Kontext der französischen Provinzakademien, die in den Krisenjahren der untergehenden Monarchie, trotz aller Reformbestrebungen, bis zum Ende des Ancien Régime einen legalistisch-monarchischen Konsensdiskurs produzierten. Das Kulturmuster historia magistra vitae dient hier der Neutralisierung und Schlichtung der in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entstandenen politischen Spannungen. In der Tat trugen die französischen Provinzakademien – wie sich in Daniel Roches umfassender Studie zeigt – zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen Stadtbevölkerung, lokaler Elite und königlicher Macht bei. In diesen pädagogischen Institutionen im breiteren Sinne hieß Wissensverbreitung Legitimierung und Eingliederung einer lokalen Elite in die städtische Gemeinschaft. Eine Ergänzung zur humanistischen Bildung der collèges boten die Akademien durch öffentliche Sitzungen, insbesondere zur Botanik und Naturwissenschaft, an.23 Fillassier, der sich selbst eifrig als Botaniker betätigte und Abhandlungen über eine neue, billige und nahrhafte Spargelart veröffentlichte,24 trug als Mitglied der Akademie von Arras zur Wissensverbreitung im Dienste einer Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände und des allgemeinen Wohlstands bei. Louis Rose, der Fillassier in die Akademie zu Arras einführte,25 war ebenfalls Autor von zwei Abhandlungen über Haushaltsführung und Landanbau, La bonne fermière („Die gute Bäuerin“, 1765) und Le bon fermier („Der gute Bauer“, 1767).26 Angestrebt war nicht nur eine technische Verbesserung der Landwirtschaft, sondern auch ein Mentalitätswandel in den unteren Gesellschaftsschichten – ein Engagement der gebildeten Elite für das Gemeinwesen, das mit demjenigen der deutschen patriotischen Gesellschaften und Volksaufklärer vergleichbar war.27
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Daniel Roche: Le Siècle des Lumières en province. Académies et académiciens provinciaux, 1680–1789. 2 Bde. Paris u. Den Haag 1978, S. 127–134. Jean-Jacques Fillassier: Culture de la grosse asperge, dite de Hollande (Questions d’agriculture proposées dans la Gazette d’agriculture du 19 mars 1782). Amsterdam u. Paris 1783. Jean-Jacques Fillassier: Eraste, ou L’ami de la jeunesse. Entretiens familiers, dans lesquels on donne aux jeunes gens de l’un et de l’autre sexe, des notions suffisantes sur la plûpart des connaissances humaines, & particulièrement sur la doctrine & l’histoire de la religion, sur la sciences des Moeurs, les usages de la vie civile, le commerce, la Physique, l’Histoire naturelle, la Mythologie, la Chronologie, la Géographie, l’histoire de France &c. Ouvrage qui doit intéresser les Pères & Mères, & généralement toutes les personnes chargées de l’éducation de la jeunesse. Paris 1773, unpag. Widmung an Louis Rose. Louis Rose: La Bonne fermière, ou élémens économiques utiles aux jeunes personnes destinées à cet état. Lille 1765; ders.: Le bon fermier ou l’Ami des laboureurs, par l’Auteur de la Bonne fermière. Lille 1767. Wolfgang Hardtwig: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997, S. 285–302; Holger Böning u. Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. IXf.
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Zur ihrer Selbstlegitimierung entwickelte diese bürgerliche Elite einen Diskurs über die Förderung der natürlichen Talente durch Nacheiferung, der auf die Gegenüberstellung von Aristokratie und Meritokratie hinauslief und den in Fillassiers Dictionnaire die Rubrik émulation (Nacheiferung) illustrierte.28 Durch diesen Konsensdiskurs einer Institution zwischen Aufgeschlossenheit und Exklusivität sollte gesellschaftlicher Zusammenhalt zwischen Stadtbevölkerung und Elite gestiftet werden. Anhand historischer Beispiele – insbesondere akademischer Lobreden und Huldigungen, in denen das mustergültige Leben eines Akademiemitglieds durch eine Reihe von Exempla geschildert wurde – kristallisierte sich ein „für die größte Zahl zugänglicher Heroismus“ heraus.29 Durch den Tugenddiskurs, der sich aus dieser Vielfalt von guten Beispielen ergab, konnten ein positiver Konsens gestiftet sowie die latenten Spannungen und das Verlangen nach Reformen aufgegriffen und positiv umgewertet werden, so z.B. durch die Konstruktion eines Königsbilds, das den Wünschen der bürgerlichen Elite entsprach, indem es das Ende des kostspieligen Hoflebens und ein Bemühen um den allgemeinen Wohlstand in Aussicht stellte.30 In der Tat gehörte zum Konsensdiskurs der Provinzakademien die Treue gegenüber dem König. Auf Tugend sollte die erneuerte Monarchie beruhen und Tugendbeispiele sollten als neue Vehikel der politischen Kommunikation zwischen König und Nation fungieren. In der zweiten Ausgabe des Dictionnaire (1784), drei Jahre nach der Geburt des Dauphins, fügte Fillassier aus diesem Anlass zahlreiche Beispiele von Liebesbezeugungen treuer Untertanen aus allen Ecken des Königreiches hinzu.31 Dennoch scheinen in dem so gezeichneten Königsbild auch die konflikthaften Beziehungen zwischen den Parlamenten und der königlichen Macht auf. Als das Dictionnaire historique d’éducation veröffentlicht wurde, erreichte der Konflikt mit der Maupeou-Reform (1771) einen ersten Höhepunkt. Das traditionelle Herrscherbild wurde zunehmend durch eine monarchisch-patriotische Moral ersetzt: Der monarchische Legalismus blieb zwar weiterhin bestehen, aber parallel dazu entwickelte sich eine staatsbürgerliche Moral, die sich auf die Rolle der Parlamentsmitglieder bezog.32 Dieser Wandel betraf auch Fillassiers kurze politische Laufbahn und die Politisierung seiner pädagogischen Schriften von 1789 bis 1794. In einem anderen pädagogischen Werk aus dem Jahr 1773, Éraste ou l’Ami de la jeunesse, das 1790 neu herausgegeben wurde, ergriff er für die Parlamente Partei und schrieb über die Maupeou-Reform: Ainsi la France vit alors le spectacle incroyable d’un monarque s’annonçant comme absolu, exigeant que sa volonté fasse loi, & d’un corps de magistrats, résistants à ses ordres donnés
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Fillassier: Dictionnaire historique d’éducation [1771] (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 529–536. Roche: Le Siècle des Lumières en province (wie Anm. 23), S. 169. Ebd., S. 145. Fillassier: Dictionnaire historique d’éducation [1784] (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 80–85. Roche: Le Siècle des Lumières en province (wie Anm. 23), S. 146.
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soit par écrit de sa main royale, soit de sa bouche, soit par les lettres de jussion les plus précises.33
Als Unterstützer der konstitutionellen Monarchie bewahrte er dennoch den auf moralischer Beispielhaftigkeit und Tugenddarstellung beruhenden Konsensdiskurs der Akademien: […] qu’il apprenne encore, votre vertueux monarque, quelques uns de ces traits généreux, qui déjà ont illustré le berceau de la liberté française […]. Étonnez-le de vos vertus, pour lui donner plutôt le prix des siennes, en avançant pour lui le moment de la tranquillité publique & le respect de votre félicité.34
Am 13. September 1791 wurde Fillassier in die Assemblée législative gewählt. Nach dem Tuileriensturm vom 10. August 1792 und dem Fall der Monarchie wurde er zum juge de paix in Bourg-Égalité (dem ehemaligen Bourg-la-Reine) degradiert, bis ein Vertreter (représentant en mission) der Convention nationale ihn 1794 seines Amtes enthob.35 Der Konsensdiskurs der bürgerlichen, lokalen Eliten über die Monarchie überdauerte den Übergang zur konstitutionellen Monarchie in den ersten Revolutionsjahren, nicht aber die wachsende Polarisierung des politischen Diskurses ab 1792. Das Kulturmuster historia magistra vitae wird im Dictionnaire historique d’éducation dort aktualisiert, wo ein Provinzakademiker auf Konsens und gesellschaftlichem Zusammenhalt beharrt. Es dient u.a. dazu, die politischen oder gesellschaftlichen Spannungen in den historisch-pädagogischen Diskurs zu integrieren und sie dort zu neutralisieren. Dazu trägt insbesondere bei, dass Fillassier nur positive Beispiele behandelt, einmal um die jungen Leser durch die Darstellung des Lasters nicht „anzustecken“ – wie er es in der Vorrede sehr konventionell darlegt –,36 zum anderen aber auch, um den polemischen Ton zu vermeiden und die Tugenden historisch so zu illustrieren, dass den Spannungen zugleich Rechnung getragen und politischer Konsens neu gestiftet wird. Auch durch die Form des Wörterbuchs – alphabetisch geordnete Tugenden und bunt gemischte historische Beispiele – wird das Muster auf dieselbe Weise aktualisiert. Das entspricht einerseits Käuferinteressen: Indem in ein- und demselben Buch verschiedene Auszüge aus anderen Büchern kompiliert und mehrere Verwendungsmöglichkeiten 33
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Jean-Jacques Fillassier: Eraste, ou L’ami de la jeunesse: entretiens familiers, dans lesquels on donne aux jeunes gens de l’un et de l’autre sexe, des notions suffisantes sur la plûpart des connaissances humaines, & particulièrement sur la doctrine & l’histoire de la religion, sur la sciences des Moeurs, les usages de la vie civile, le commerce, la Physique, l’Histoire naturelle, la Mythologie, la Chronologie, la Géographie, l’histoire de France &c. Ouvrage qui doit intéresser les Pères & Mères, & généralement toutes les personnes chargées de l’éducation de la jeunesse. Paris 1790, S. 355. Ebd., S. 378. Adolphe Robert, Edgar Bourloton u. Gaston Cougny: Dictionnaire des parlementaires français de 1789 à 1889. 5 Bde. Bd. 3. Paris 1889, S. 3. Fillassier: Dictionnaire historique d’éducation [1771] (wie Anm. 4), Bd. 1, S. IV.
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angeboten werden (Unterhaltung durch Witze, Aneignung historischen und geographischen Wissens, moralische Bildung, Wiederholung des in den collèges vermittelten Wissens über die griechisch-römische Antike, etc.), erweist sich der Kauf einer dicken Kompilation als preiswerte Alternative zum Kauf mehrerer Bücher. Indem andererseits ältere und neuere Formen und Themen historischer Exemplarität durch ihre Anordnung nach Tugenden auf eine Ebene gesetzt werden, indem also Beispiele römischer Tugend, orientalischer Weisheit, religiöser Frömmigkeit, soldatischen Heldenmuts sowie untertäniger Treue gegen den Dauphin neutral aneinander gereiht werden, entsteht ein sehr breites Verständnis politischer Tugend und moralischer Beispielhaftigkeit, durch das ein neuer Konsens gestiftet werden soll.
III. F. L. Brunns Übersetzung des Dictionnaire: Politische Polarisierung im Spiegel der historia magistra vitae Während die Beispielsammlung des Provinzakademikers vermutlich für den außerschulischen Kontext und den hofmeisterlichen Unterricht bestimmt war, wurde das Dictionnaire und dessen Übersetzung im schulischen Kontext der Colmarer Militärakademie und des Berliner Joachimsthaler Gymnasiums benutzt. Dies liefert auch eine Erklärung für die veränderte Stoßrichtung der Beispielsammlung in der Übersetzung: Fillassier widmete das Dictionnaire noch allgemein der moralischen Bildung der Jugend. Brunn hingegen verwendete es explizit im Rahmen des schulischen Geschichtsunterrichts. Fillassiers Dictionnaire blieb dem humanistischen Modell verhaftet, demzufolge eine Lektüre alle Wissensbereiche und moralische Fähigkeiten auf einmal umfassen sollte. Von dieser auf der Einheit aller Wissensformen beruhenden Pädagogik unterschied sich Brunns Ansatz, indem er auf eine fachspezifische Wissensvermittlung und -aneignung Wert legte. Die Colmarer Militärakademie sowie deren Mustereinrichtung, die École royale militaire in Paris, war nicht nach dem Klassensystem der humanistischen collèges, sondern in Kursen organisiert: Die Zeitpläne unterschieden zwischen Fächern wie Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte oder Zeichnen, während die Zeitgestaltung der collèges hauptsächlich von der rhetorischen Ausbildung der Schüler – ohne dabei nach Fächern sondern nach dem jeweiligen Niveau der Schüler zu unterscheiden – bestimmt war.37 Fillasiers Dictionnaire kam nun im Kontext eines Geschichtsunterrichts als Beispielsammlung zum Einsatz, in dem nicht mehr eine allgemeine moralische, sondern historische Bildung im Mittelpunkt stand.38
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Marie-Madeleine Compère u. Philippe Savoie: Temps scolaire et condition des enseignants du secondaire en France depuis deux siècles. In: Marie-Madeleine Compère (Hg.): Histoire du temps scolaire en Europe. Paris 1997, S. 267–312. Brunn: Interessante Züge (wie Anm. 9), Bd.1, 1. Aufl., S. VIIf.
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Bestanden Brunns Interessante Züge und Anekdoten aus der Geschichte alter und neuer Zeiten 1788 aus einer überarbeiteten Übersetzung aus dem Französischen, so bildeten sie 1799 den Titel einer Reihe, in der sämtliche pädagogisch-historischen Schriften – vermutlich überarbeitete Kurse – des Berliner Lehrers Brunn veröffentlicht wurden. Die ersten drei Bände sind aus Fillassiers Dictionnaire übersetzt. Die Bände vier und fünf (1791 und 1792) kompilieren „Charakterschilderungen“ der europäischen Herrscher in chronologischer Ordnung. Der sechste Band (1798) behandelt „die neueste Staatsgeschichte in einem gewißen Zusammenhange“: Ich hielt es am zweckmäßigsten, die neueste Staatsgeschichte in einem gewißen Zusammenhange zum Gegenstande der Fortsetzung dieses Werkes zu nehmen, indem man mit Recht verlangen kann, daß junge Leute mit den großen Begebenheiten, die sich vor ihren Augen zutragen, genau bekannt seien. Aus den Zeitungen und politischen Journalen lernen sie diese Begebenheiten nur stückweise kennen. Ich glaube daher, ein Buch, worin sie die neueste Geschichte im Zusammenhange und in einer allgemeinen Übersicht dargestellt fänden, würde ihnen ebenso angenehm als nützlich sein […].39
Der Schritt vom Fakten-Aggregat zur zusammenhängenden Geschichte kennzeichnet Brunns historisch-pädagogische Tätigkeit im Jahrzehnt 1788–1799, ohne dass dies als Übergang von einem Reservoir an Erfahrungen im Sinne der historia magistra vitae zur zusammenhängenden Erzählung im Sinne eines modernen Geschichtsbegriffs zu deuten wäre. Vielmehr nötigten einerseits pädagogische und andererseits politische Erwägungen Brunn dazu, Aggregat und Zusammenhang in eine dialektische Beziehung zu setzen, und nicht – wie die akademischen Historiker – das Aggregat bloß zu verwerfen.40 Aus pädagogischer Perspektive kann die Entwicklung der sechs Bände – von der Beispielsammlung in den ersten drei Bänden, über die biographischen Erzählungen in den Bänden vier und fünf bis hin zur zusammenhängenden Zeitgeschichte im Band sechs – als Ausdruck eines zunehmend auf Entwicklungszusammenhänge gerichteten Geschichtsunterricht angesehen werden. Aus der politischen Perspektive hingegen war die Forderung nach einer kohärenten Zeitgeschichte in der Vorrede zum sechsten Band nicht nur pädagogisch motiviert, sondern kann als eine Reaktion auf die chaotische Anhäufung von Geschichten über die Revolution gewertet werden. Eine solche politische Lesart trat in der überarbeiteten Neuausgabe der ersten zwei Bände 1796 und 1799 noch einmal verstärkt hervor. Wie die folgende Untersuchung zeigen soll, behielt Brunn die Form der Beispielsammlung zwar bei, fügte jedoch neue Beispiele mit verstärkt politischen Zügen hinzu. In der Vorrede zum ersten Band stellte Brunn die Übersetzung in den Kontext der Debatten über Geschichtspädagogik und Schulgeschichtsbücher, die seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum stattfanden. Durch eine Anspielung auf den Titel des übersetzten Werkes (Interessante Züge und Anekdo39 40
Ebd., Bd. 6, S. III. Blanke u. Fleischer: Theoretiker (wie Anm. 11), S. 100.
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ten aus der Geschichte alter und neuer Zeiten) wird die historische Beispielsammlung als eine neue, pädagogisch angemessene Gattung vorgestellt, die sich aus den pädagogischen Erfahrungen des 18. Jahrhunderts gleichsam notwendig ergebe: Nicht so befriedigend ist die Frage beantwortet: Wie soll man Kindern die Geschichte lehren? Die Meinungen darüber waren, seitdem man die Nothwendigkeit dieses Unterrichtes auf Schulen einsahe, sehr verschieden. Die Hübnere, Hilmar Curas, La Croze u.s.w. glaubten ihren Zweck durch Frage und Antwort zu erreichen und lieferten uns so ihre historischen Catechismos, die mit Luthers und Heidelberger Theologen Werken dieser Art in eine Reihe gesetzt zu werden verdienen. Andere, zum Theil schon vor jenen, schrieben historische Bildersäle, Lustgärten und wie die Titel weiter heißen. Andere machten Sammlungen anderer historischer Vorfälle, wie der für seine Zeit gewiss nicht zu verachtende Verfasser der Acerra philologica und verschiedene neuere Schriftsteller. Andere wollten sogar nach der neuesten Pädagogik den Kindern die Geschichte in Spiele beybringen. Noch andere schrieben fortlaufende Geschichtsbücher in mehreren Bänden; – alles zum Nutzen und Frommen der lieben Jugend. Da diese Letztern am meisten ihres Zweckes verfehlen, und verfehlen mußten, – indem die zarte Jugend wohl nichts weniger als einer anhaltenden und ununterbrochenen Lectüre fähig ist, – davon überzeugten sich bald die bewährtesten Pädagogen und jeder aufmerksame Lehrer durch Erfahrung, und man kam bald dahin überein, daß die beste Art des historischen Unterrichts für Kinder diese sey, bloß die interessantesten Zügen aus der Geschichte auszuheben; sie mit diesen ohne Rücksicht auf chronologische Ordnung allmählig bekannt zu machen und sie auf solche Art zu dem eigentlichen zusammenhängenden Geschichtsstudium vorzubereiten.41
Als Vorbereitung zu „zusammenhängenden“ Erzählungen wurden die Beispiele durch Brunns Auswahl ästhetisch vereinheitlicht und logisch angeordnet. Brunn übersetzte nicht alle Beispiele aus dem Dictionnaire, sondern schloss die kürzesten aus und zog diejenigen vor, in denen dem historischen Kontext größere Bedeutung zugemessen wurde. Auf eine Rubrik folgten direkt andere, thematisch ähnliche Rubriken. Aus der bunten, heterogenen Mischung des Dictionnaire, jener alphabetischen Ordnung, die dem Leser freien Raum ließ, um vom eigenen Standpunkt aus sinnvolle Verbindungen entstehen zu lassen, wurde in Brunns Fassung eine bewusst logisch angeordnete, aber weiterhin locker konstruierte, ästhetisch vereinheitlichte und für eine lineare Lektüre besser geeignete Beispielsammlung, die der Berliner Lehrer als erste Stufe im Geschichtsunterricht und als Vorbereitung zur zusammenhängenden Geschichte verstand. Ebenso wie Fillassier blieb zwar Brunn, zumindest dem Anschein nach, der Tradition des politischen Diskurses im Dienste der Konsenssicherung verhaftet, 41
Brunn: Interessante Züge (wie Anm. 9), Bd. 1, 1. Aufl., S. Vf. Angespielt wird vermutlich auf Johann Hübner: Kurtze Fragen aus der politischen Historia. Leipzig 1697; Hilmar Curas: Einleitung zur Universal-Historie. Berlin 1723; Maturin Veyssière de La Croze: Kurzer Begriff der allgemeinen Weltgeschichte. Gotha 1755; Peter Lauremberg: Acerra Philologica. Das ist/ Dritte hundert=außerlesener/ nützlicher/ lustiger/ und denckwürdiger Historien und Discursen, zusammen gebracht auß den berühmsten Griechischen und Lateinischen Scribenten. Rostock 1637. Zu den historischen Katechismen und den historischen Erzählungen siehe Hans-Jürgen Pandel: Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765–1830). Stuttgart-Bad Cannstadt 1990.
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aber seine Verarbeitung des französischen Originals zeugt von der zunehmenden Politisierung des historischen Diskurses in der Revolutionszeit. Aus der Auswahl der Beispiele ergab sich ein engeres Verständnis der historisch illustrierten Moral, auf die ein politischer Konsens gegründet werden konnte, d.h. eine neue, stärker politisch ausgerichtete Perspektive, die Brunn der konservativen Wende entgegenstellte, die die Französische Revolution um 1790 in der Regierung Friedrich Wilhelms II. auslöste. Das Kulturmuster historia magistra vitae wurde nicht nur in der krisengeschüttelten französischen Monarchie zur Schlichtung und positiven Umwertung der Spannungen eingesetzt, sondern auch als eine mögliche Form des politischen Ausdrucks in Preußen aktualisiert. Mit seiner Berufung ans Joachimsthaler Gymnasium 1788 trat Brunn in die Kreise der Berliner Aufklärer ein. Das Joachimsthalsche Gymnasium war durch das Generallandschulregiment von 1763 modernisiert worden, das die Beamtenausbildung unter anderem durch die Einführung von Geographie- und Statistikunterricht verbessern wollte – zwei Fächern, die Brunn unterrichtete. Johann Heinrich Ludwig Meierotto (1742–1800), Direktor des Gymnasiums zwischen 1775 und 1786, unterstützte die Bildungspolitik des Ministers Karl Abraham von Zedlitz, der – Friedrich Gedickes Reform vorbereitend – 1788 eine Aufnahmeprüfung für die Universität einführte. Nach seinem Tod wurde Brunn dessen Biograph.42 Nach dem Tod Friedrichs II. im Jahr 1786 konnte Zedlitz sein Amt zwar zunächst behalten. Zwei Jahre später wurde er jedoch durch den Rosenkreuzer Johann Christoph von Woellner im Dienste Friedrich Wilhelms II. abgelöst. Woellner bremste die Weiterführung der friederizianischen Politik und verstärkte ab 1789 das Zensurwesen. Trotz des politischen Richtungswechsels konnten die Beamten aus der Zeit Friedrichs II. die vor 1786 begonnene Modernisierung, z.B. mit dem Erlass des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten 1794, zumindest teilweise vollenden. Im Kontext dieser unter dem Eindruck der Französischen Revolution verschärften politischen Polarisierung in Preußen wurden auch Brunns Schriften von Zensurmaßnahmen getroffen: Seine ab Januar 1794 herausgegebene Historischpolitische Monatsschrift wurde nach nur vier Monaten verboten.43 Grund dafür war vermutlich der Versuch einer „Völkerglückslehre“ anhand einer Leserumfrage: Dass die oberen Gesellschaftsschichten für das Gemeinwesen auf einen Teil ihrer Privilegien verzichten konnten – eine Idee, auf die Brunn schon seine Übersetzung von D’Holbachs Système social von 1788 gebracht haben mag –,44 musste im Jahr 1794 als eine radikale Stellungnahme erscheinen. Noch ein Jahrzehnt zuvor wären 42 43 44
Friedrich Leopold Brunn: Versuch einer Lebensbeschreibung J.H.L. Meierotto’s. Berlin 1802. Friedrich Leopold Brunn (Hg.): Historisch-politische Monatsschrift. Zum Behuf der neuesten Zeitgeschichte [Jan.–Apr. 1794]. Paul Henri Thiry d’Holbach: System der bürgerlichen deutschen Gesellschaft oder natürliche Grundsätze der Sittenlehre und Staatskunst. Nebst einer Untersuchung über den Einfluß der Regierung auf die Sitten. Übers. v. Friedrich Leopold Brunn. Breslau 1788.
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Überlegungen zur Glückseligkeit in einem Staat kaum als radikal angesehen worden. Aber, so zeigt sich in Edoardo Tortarolos Studie La Ragione sulla Sprea, „die Berliner Zeitschriften, die in den 1780er Jahren immer häufiger politische Themen behandelt hatten, um Aufklärung und Rationalisierung des gesellschaftlichen Lebens zu befördern, mussten nun damit rechnen, im Kontext von Ereignissen rezipiert zu werden, deren Entzifferung durch das Publikum jeden Tag radikal neue Probleme hervorbrachte und ebenso radikale Stellungnahmen erforderte“.45 Aus dieser Perspektive können Brunns Übersetzung und insbesondere die hinzugefügten Beispiele der zweiten Ausgabe als eine strategische Reaktion auf die von der Französischen Revolution ausgelösten Herausforderungen der Berliner Aufklärung gelesen werden. Das in zahlreichen Beispielen und Anekdoten auf Friedrich II. ausgesprochene Lob erscheint somit zwar als eine konventionelle Huldigung des verstorbenen Herrschers, aber auch als eine implizite Kritik an seinem Nachfolger. Auch die Reformen des aufgeklärten Absolutismus in den 1780er Jahren, die Elemente der revolutionären Gesetzgebung wie die Aufhebung der Leibeigenschaft vorwegnahmen, erscheinen als wesentliche Bezugspunkte für den regierungskritischen Aufklärer der 1790er Jahre. Das liberal geprägte Thema der Schuldentilgung durch Aufhebung von Privilegien taucht regelmäßig in Brunns Schriften und Übersetzungen auf und wird bis zur zweiten Ausgabe des zweiten Bandes 1799 durchgehend behandelt. Schon 1788 hatte Brunn anonym die in England verfasste Rechtfertigung des Herrn von Calonne übersetzt, die auf den gescheiterten Versuch des französischen Finanzministers ab 1783, Charles Alexandre de Calonne, anspielte, eine Grundsteuer ohne Berücksichtigung der Privilegien einzuführen.46 Nach dem Verbot der Historischpolitischen Monatsschrift 1794 führte Brunn 1796 und 1799 in der zweiten Ausgabe des ersten und des zweiten Bands die Auseinandersetzungen mit dem Thema ohne explizite Kommentare durch Beispiele aus der nahen Vergangenheit weiter: In der Rubrik „Sparsamkeit“ im zweiten Band,47 die nicht aus Fillassiers Dictionnaire stammt, und in der Rubrik „Wohlwollen“ im ersten Band,48 die Brunn aus Fillassiers Rubrik „Bienveillance“ mit Zusätzen übersetzte,49 werden Zar Peter der Große (1672‒1725) beim Schelten verschwenderischer Höflinge dargestellt50 oder der allzu sparsame Markgraf Johann von der Neumark
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Edoardo Tortarolo: La ragione sulla Sprea. Coscienza storica e cultura politica nell’illuminismo berlinese. Bologna 1989, S. 270f. [Übers. P.P.]. Charles Alexandre de Calonne: Rechtfertigung des Herrn von Calonne, französischen Staatsministers, gegen die Anklage einer ungetreuen Verwaltung der Finanzen. Eyn Beytrag zur Kenntniß der neuesten Politik und Staatskunde von Frankreich. Übers. v. Friedrich Leopold Brunn. Berlin 1788. Brunn: Interessante Züge (wie Anm. 9), Bd. 2, 2. Aufl., S. 287–293. Ebd., Bd. 1, 2. Aufl., S. 41–50. Fillassier: Dictionnaire historique d’éducation [1771] (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 251‒253. Brunn: Interessante Züge (wie Anm. 9) Bd. 2, 2. Aufl., S. 289–291.
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(1513‒1571) im Gespräch mit einem Wirt über Herrschergeiz inszeniert.51 Thematisiert wird schließlich auch die Schuldentilgung im Herzogtum BraunschweigWolfenbüttel durch Karl Friedrich Wilhelm Ferdinand (1735‒1806).52 Beide hier dargestellten Tugenden verweisen nicht auf eine bloß individuelle Moral, sondern auch auf die politische Sphäre. Sparsamkeit deutet auf Finanzpolitik hin, und der Begriff des Wohlwollens war seit dem späten Mittelalter politisch konnotiert: Durch ihn wurde in Bitten, Petitionen, Herrscherlob usw. die Beziehung zwischen Herrscher und Untertanen definiert. Brunn aktualisierte die Herrschertugend mit deutlichem Anklang an die Französische Revolution („nicht länger über Sklaven Herr, sondern nur der Erste unter freyen Menschen“, „aus den finstern Zeiten des Lehnsystems“) innerhalb des Kulturmusters historia magistra vitae durch das Beispiel Karl Friedrichs von Baden (Regierungszeit 1738–1811): Der größte Theil der Einwohner der Markgrafschaft Baden seufzte noch gleich manchen andern deutschen Ländern, unter dem drückenden und entehrenden Joche der Leibeigenschaft. Karl Friedrich, der seit dem 7. May 1738 zum Segen des Landes über dasselbe herrscht, wollte nicht länger über Sklaven Herr, sondern nur der Erste unter freyen Menschen seyn. Durch ein Generalreskript vom 23. Juli 1783 hob Karl Friedrich, der Weise, die ganze Leibeigenschaft, und viele andere drückende Auflagen, wel[che] sich aus den finstern Zeiten des Lehnsystems herschrieben, auf einmal auf und erhob dadurch seine Unterthanen in die Klasse freyer Menschen. „Wie wir nun, heißt es in dem erwähnten General-Reskripte, bey der Aufhebung dieser Lasten die einzige Ansicht hegen, das Glück unserer Unterthanen zu befördern, und dadurch einen neuen Beweis geben, wie unveränderlich angelegen es uns ist, unsere Regentenpflichten zu erfüllen, unseren Unterthanen unsere landesväterlichen Gesinnungen immer mehr zu erproben und somit Huld, Liebe und Gnade zu erweisen; als sind wir auch voraus versichert, daß dieselben sich hierdurch zur fernen schuldigen Treue, Vertrauen und Ergebenheit gegen uns und unser fürstliches Haus aufmuntern laßen und zu dem Wohlstande des Landes Alles, was an ihnen liegt, mit verdoppelten Kräften beytragen werden.“ – Alle Einwohner dieses Landes fühlten den hohen Werth der ihnen von ihrem Landesvater erzeigten Wohlthaten, wodurch der jährige Ertrag der Staatseinkünfte um 60000 Gulden vermindert wurde, ohne daß auf irgend einen Ersatz dafür hingearbeitet wurde. Von allen Seiten her strömten Danksagungen zum Geber derselben hin. Aber Karl Friedrich glaubte keinen Dank dafür zu verdienen. Er ließ eine gedruckte Antwort auf die Danksagungen des Landes nach Aufhebung der Leibeigenschaft und anderer drückenden Auflagen vertheilen, worin er sich so äußert: „Daß das Wohl der Regenten mit dem Wohle des Landes innig vereiniget sey, so daß Beyder Wohl oder Übelstand zusammenfließen, ist bey mir, seitdem ich meiner Bestimmung nachzudenken gewohnt bin, ein fester Satz gewesen. Ich kann also, wenn ich etwas zum Besten des Landes thun kann, dafür keinen Dank erwarten noch annehmen. Was mich selbst vergnügt, mir Beruhigung giebt, mich der Erfüllung meiner Wünsche, ein freyes, opulentes, gesittetes, christliches Volk zu regieren, nähert, dafür kann man mich nicht danken. Ich aber habe dem Höchsten zu danken, der mir die Erfüllung meiner Wünsche hoffen läßt.“ – Zum Schluße fügt er hinzu: „Mögte die Jugend, Religion und Ehre uns zum freyen, opulenten, gesitteten, und christlichen Volke noch immer mehr heranwachsen machen! Das ist mein Verlangen. Das sind meine Wünsche.53
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Ebd., S. 287–289. Ebd., Bd. 1, 2. Aufl., S. 49f. Ebd., S. 43–45.
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Wie in Fillassiers Schriften aus den ersten Revolutionsjahren (1789–1792) fungierten Tugenddiskurs, positive Beispiele, Bezeugungen von Herrschertugenden („Huld, Liebe, Gnade“ gegen die Untertanen) und Untertanentugenden („Treue, Vertrauen, Ergebenheit“ gegen den Fürsten) als Träger einer direkten Kommunikation zwischen Regenten und Staatsbürgern und verbürgten die Einigkeit der Interessen im Lande – ein Aspekt, der durch die direkten Zitate aus dem GeneralReskript und der Antwort auf die Danksagungen noch betont wurde. Zwischen der Reproduktion alter Kulturmuster und neuer Fragestellungen wurde die historia magistra vitae im Kontext der von der Zensur geprägten politischen Polarisierung im Preußen der 1790er Jahre neu aktualisiert. Aus Fillassiers Werk übernahm Brunn einen konsensuellen historischen Diskurs aus positiven, moralisch-historischen Beispielen ohne Zusammenhang und frei von expliziten Kommentaren oder kompromittierenden Stellungnahmen. Während Fillassier Konsens und gesellschaftlichen Zusammenhalt bis zum Ende seiner politischen Laufbahn unterstützte, erweist sich dieselbe Form der Geschichtsdarstellung bei Brunn als ein nur vordergründig konsensueller historischer Diskurs und gehört vielmehr in einen Kontext von Zensur und politischer Polarisierung. An dieser besonderen Fallstudie zeigt sich der Wandel historischer Beispielhaftigkeit im Prozess der Politisierung der 1790er Jahre: Im Konsensdiskurs eines Fillassier behielten historische Beispiele auch bei steigender Politisierung ihre moralische Gültigkeit und wurden an erster Stelle zur Nachahmung vermittelt. Bei Brunn hingegen wurden sie innerhalb der Konfrontation konkurrierender politischer Modelle (des aufgeklärten Absolutismus, der französischen Republik, der konservativen Wende der 1790er Jahre) verwendet. Aus moralischen Beispielen wurden solche politisch-argumentativer Natur. Fillassier vermittelte moralische Grundsätze, Brunn lehrte Geschichte in staatsbürgerlicher Absicht.
IV. Schlussbemerkung Nicht nur die Fragestellungen der akademischen Geschichtsschreibung in Göttingen oder der philosophischen Geschichte in Frankreich trugen zum Wandel des historischen Diskurses um 1800 bei. Auch die zunehmende Politisierung im Zuge des Revolutionsgeschehens erforderte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine Neugestaltung der Formen und Themen und führte zu Sinnverlagerungen und Perspektivenwechseln in der Geschichtsvermittlung im schulischen und außerschulischen Kontext. Dass dieser Prozess früher als die Phase der Vergangenheitsbewältigung der französischen Restaurationszeit ansetzte,54 beweisen der Fall des Dictionnaire historique d’éducation und dessen Übersetzung, in denen Tugendbei54
Augustin Thierry: Lettres sur l’histoire de France. Hg. v. Aude Déruelle, mit einer Vorrede v. Marcel Gauchet. Paris 2012, S. 7–12.
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spiele als Träger der politischen Kommunikation und des politischen Ausdrucks zwischen Konsenssicherung und kritischer Stellungnahme fungieren. Der Wandel der Geschichtsschreibung wurde folglich nicht nur durch die Auflösung der historia magistra vitae in der gelehrten oder philosophischen Geschichtsschreibung beschleunigt, sondern auch durch die Adaptierung historischer Exemplarität in den pädagogischen Schriften der Zeit: Die Verlagerung der historischen Exempla von der moralischen auf die argumentative Ebene brachte kurze historische Erzählungen hervor, die auf einen breiten politischen und geschichtlichen Zusammenhang hinwiesen, sich aber zugleich konkrete Anschaulichkeit, Eigenwert und Aussagekraft bewahrten. Diese Texte zirkulierten zwischen Kulturräumen, politischen und pädagogischen Kontexten und gewannen dabei signifikant an Bedeutung. Der Fokus auf die Pädagogik, wo die Reproduktion alter Muster und die Überlieferung eines kulturellen Erbes eine zentrale Rolle spielen, sowie die Berücksichtigung der politischen Dimension und der historiographischen Herausforderungen der Zeitgeschichte, die zu einer immer radikaleren Konfrontation politischer Modelle führte, rücken das alte, von der Forschung bisher vernachlässigte Kulturmuster der historia magistra vitae in ein neues Licht. Aus einer Forschungsperspektive, die nicht mehr an der Selbstlegitimierung der akademischen Geschichtsschreibung orientiert ist, können die komplexen Voraussetzungen dieses Kulturmusters präziser untersucht werden. Die Kulturmusterforschung bietet daher insofern einen vielverprechenden methodologischen Ansatz, als sie die Dichotomie von Tradition und Moderne in der Historiographiegeschichte zu überwinden hilft: Moralisch-historische Beispiele sind um 1800 somit nicht als traditionelle Formen der Geschichtsvermittlung, sondern als gemeinsame Bezugspunkte zu verstehen, die eine gewisse Stabilität des historischen Diskurses garantierten, zugleich aber die Zirkulation historischer Texte und ihre Variation und Aktualisierung in unterschiedlichen pädagogischen und politischen Kontexten ermöglichten.
DAMIEN TRICOIRE
Raynals Geschichte beider Indien als erzählerisches Werk. Einige gattungstheoretische und ideenhistorische Überlegungen Die deutsche und die französische Geschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind unterschiedliche Wege gegangen. In Deutschland dominierte die Modernisierungstheorie, von deren Einfluss sich die Historiographie erst seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts etwas distanziert. Die Großtheorien der Entzauberung der Welt, der Sozialdisziplinierung, der Zivilisierung, der Konfessionalisierung und der Staatsbildung sind eher deutsche denn französische Schöpfungen.1 Französische Historiker rezipierten sie zwar und entwickelten sie teilweise auch weiter.2 Doch bereits die erste Generation der Annales-Schule interessierte sich eher für die Fremdheit der Vergangenheit als für solche Prozesstheorien.3 Auch die neuere Kulturgeschichte setzte sich in Frankreich deutlich früher als in Deutschland durch.4 Dieser Unterschied in den Ansätzen und im Erkenntnisinteresse ist auch spürbar auf dem Feld, das die Autoren dieses Bandes beschäftigt: der Geschichte der Geschichtsschreibung um 1800. Reinhart Koselleck und Jörn Rüsen stellten sich schon in den 1960er Jahren die Frage, wann und wie die moderne Geschichtsschreibung in Deutschland entstanden sei. Rüsen, Peter Hanns Reill und Horst Walter Blanke sahen diese Modernität in der Aufklärungshistorie weitgehend
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Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Berlin 2011, u.a. S. 17; Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 1993; Lars Behrisch: Art. Sozialdisziplinierung. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. v. Friedrich Jaeger. Bd. 12. Stuttgart 2010, Sp. 220–229; Heinz Schilling: Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas. In: Ders. u. Wolfgang Reinhard (Hg.): Katholische Konfessionalisierung. Münster 1995, S. 1–49; Wolfgang Reinhard: Was ist katholische Konfessionalisierung? In: Ebd., S. 419–451; ders.: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 2000. Zur Rezeption von Elias’ Thesen in Frankreich vgl. Étienne Anheim u. Benoît Grévin: Le procès du „procès de civilisation“? Nudité et pudeur selon H. P. Duerr. In: Revue d’histoire moderne et contemporaine 48/1 (2001), S. 160–181, hier S. 160. Marc Bloch: Les Rois thaumaturges. Essai sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre. Paris 1924; Lucien Febvre: Le Problème de l’incroyance au XVIe siècle. La religion de Rabelais. Paris 1947. Am Beispiel der Geschichte der Gewalt: Denis Crouzet: Les Guerriers de Dieu. La Violence au temps des troubles de religion. 2 Bde. Paris 1990; Claudia Ulbrich, Claudia Jarzebowski u. Michaela Hohkamp (Hg.): Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD. Berlin 2005; Peter Burschel: Sterben und Sterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der Frühen Neuzeit. München 2004.
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gegeben.5 Rüsen zufolge erlebte die Historiographie in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Verwissenschaftlichungsprozess, der die Matrix einer neuen Wissenschaft hervorbrachte.6 Auch Koselleck sah einen Bruch im 18. Jahrhundert, in dem ein neues Zeitverständnis aufgekommen sei.7 Ulrich Muhlack sah sich wiederum veranlasst, die These eines aufklärerischen Ursprungs der modernen Historie in zentralen Punkten zu nuancieren. Den eigentlichen Modernisierungsschub sah er vor allem in der Abkehr von der transzendenten christlich-theologischen hin zu einer immanenten Geschichte, die Historisches ganz aus dem Menschlichen heraus erkläre und somit zwischen Ereignis und Ursache nicht mehr trenne. Dieser Schritt sei jedoch erst mit dem Historismus ganz vollzogen worden, während die Aufklärung ebenso wie der Humanismus allenfalls Zwischenetappen gewesen seien.8 Während die Forschung zur Historiographie des 18. Jahrhunderts in Deutschland seit den 1960er Jahren einen großen Aufschwung erlebte, blieb in Frankreich das Interesse an diesem Thema bis zur Jahrhundertwende eher marginal. Die erste wichtige Monographie auf diesem Feld war L’histoire entre érudition et philosophie (1993) von Chantal Grell. Im Gegensatz zu den Thesen der Bielefelder Historiker betonte Grell, dass zumindest die französische Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts zutiefst unmoderne Züge getragen habe. Sie sei eine Begegnung mit dem Mythos geblieben, habe die Konzepte der „Zeit“ und der „Dauer“ nicht auseinandergehalten und die Vergangenheit kaum historisiert.9 Gleichzeitig stellte auch die deutsche Historiographieforschung die These in Frage, die moderne Historie sei in der Aufklärung entstanden, wobei sie dies aus einer anderen theoretischen Perspektive tat als Grell. Daniel Fulda und Johannes Süßmann etwa, stark von den postmodernen Diskussionen beeinflusst, gehen in ihrer Einschätzung, die Aufklärungshistorie sei unmodern gewesen, noch weiter als Muhlack. Ihnen zufolge sei erst im späteren 18. Jahrhundert das Prinzip entdeckt worden, das die Weichen zum Historismus stellte: die Erzählung.10 Fulda und Süßmann zeigen, wie die 5
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Horst Walter Blanke u. Jörn Rüsen (Hg.): Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens. Paderborn 1984; Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik. Stuttgart 1991; Peter H. Reill: The German Enlightenment and the Rise of Historicism. Berkeley u. Los Angeles 1975. Jörn Rüsen: Von der Aufklärung zum Historismus. Idealtypische Perspektiven eines Strukturwandels. In: Blanke u. ders. (Hg.): Von der Aufklärung (wie Anm. 5), S. 15–57. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 1979. Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991. Chantal Grell: L’Histoire entre érudition et philosophie. Étude sur la connaissance historique à l’âge des Lumières. Paris 1993. Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996; Johannes Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstruktionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke. Stuttgart 2000.
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aufklärerische Theorie einer „pragmatischen Geschichtsschreibung“ die Göttinger Historiographen Johann Christoph Gatterer und August Ludwig von Schlözer in ein Dilemma führte, dessen sie sich durchaus bewusst waren. Sie wollten die Kausalketten historischer Ereignisse objektiv abbilden, doch sehnten sie sich auch nach einer eleganten und erzählerischen Geschichtsschreibung, die sich – ohne ihren wissenschaftlichen Anspruch aufzugeben – mit der antiken messen könnte. Sie verstanden nicht, dass die Kausalkette nicht gegeben war, sondern vom Historiker konstruiert wurde. Mangels des kohärenzstiftenden Prinzips der Erzählung mussten sie jedoch feststellen, dass sie vom Ideal einer wissenschaftlichen und zugleich lesbaren Geschichtsschreibung weit entfernt blieben.11 Bei allen Kontroversen fällt auf, dass es den genannten deutschen Forschern um die Entstehung einer neuen Gattung geht – der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung –, die von den dichterischen und philosophischen Textarten klar zu trennen wäre. Im vorliegenden Beitrag soll darüber reflektiert werden, inwieweit diese Fragestellung zu einem besseren Verständnis der Historiographiegeschichte des 18. Jahrhunderts beiträgt. Im Mittelpunkt steht dabei eines der meistgelesenen historiographischen Werke der Epoche: die Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des européens dans les deux Indes, die Guillaume Thomas François Raynal in Zusammenarbeit mit mehreren philosophes, allen voran Diderot, verfasste.12 Die Geschichte beider Indien – wie diese Veröffentlichung gewöhnlich umgangssprachlich genannt wird – spielte in den oben vorgestellten historiographischen Debatten keine nennenswerte Rolle. Dabei war sie eines der auflagenstärksten Historienwerke der Spätaufklärung. Raynals Publikation kam in der Forschung vor allem aus einem anderen Grund eine besondere Bedeutung zu: Für eine ideengeschichtliche Forschungstradition, die im 18. Jahrhundert nach den Ursprüngen weniger der Gattung der modernen Historie als vielmehr der modernen Ideologien sucht, gilt dieses Werk spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts als antikolonialistisch, ja sogar als „Bibel des Antikolonialismus“.13 An diese traditionelle Lesart 11
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Fulda: Wissenschaft aus Kunst (wie Anm. 10), S. 50f.; Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman (wie Anm. 10), S. 33–74; Stephan Jaeger: Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel. Berlin u. Boston 2011. Guillaume Thomas François Raynal: Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes. 10 Bde. Genève 1781. Hier wird nur die dritte Ausgabe berücksichtigt, die als die innovativste und radikalste gilt. Im Folgenden wird aus der deutschen Kemptener Ausgabe von 1783‒1788 zitiert: Wilhelm Thomas Raynal: Philosophische und politische Geschichte der Besitzungen und Handlung der Europäer in beyden Indien. 10 Bde. Kempten 1783‒1788. So trägt eine Ausgabe von Auszügen aus dem Werk aus dem Jahr 1951 den Titel L’Anticolonialisme au XVIIIe siècle. Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes, par l’abbé Raynal. Introduction, choix de textes et notes par Gabriel Esquer. Paris 1951. Siehe auch: Jean Bruhat: Les origines de l’anticolonialisme en France (de Montaigne à l’abbé Raynal). In: Cahiers internationaux: revue internationale du monde du travail 42 (1953), S. 57–66 u. 43 (1953), S. 47–56; Jacques
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anknüpfend, kürte es vor kurzem Jonathan I. Israel zu „dem Buch, das eine Weltrevolution anstiftete“, zum wohl wichtigsten Werk einer „demokratischen Aufklärung“, die gegen die herrschenden sozialen Verhältnisse und für die Gleichheit aller Menschen gekämpft habe.14 Ausgehend von den oben zusammengefassten (vor allem deutschen) Debatten verfolgt dieser Aufsatz ein zweifaches Erkenntnisinteresse: Erstens soll eruiert werden, welche Erkenntnisse die Suche nach den Anfängen der modernen Historie verspricht, aber auch welche Gefahren sie birgt. Die Geschichte beider Indien soll mit dem Idealtypus des modernen Geschichtswerks verglichen werden. Es geht mir dabei weniger darum, ein Urteil darüber zu fällen, ob das Werk Raynals modern oder vormodern war, sondern vielmehr, die Probleme der Suche nach der Moderne, aber auch die Chancen einer gattungstheoretischen Fragestellung aufzuzeigen. Damit ist zweitens die Frage verbunden, wie die Geschichte beider Indien gelesen werden soll. Die Suche nach den konstituierenden Elementen der modernen Historie in der Geschichte beider Indien lädt dazu ein, nach Textmerkmalen Ausschau zu halten und damit einen anderen Blick auf dieses Werk zu werfen als in der Ideengeschichte üblich. Ich möchte zeigen, dass dieser Ansatz die traditionelle ideenhistorische Lesart in Frage stellt. In der Beantwortung dieser zwei Fragen soll – wie im ganzen Band – ein besonderer Wert auf die Analyse der Erzählungen an sich gelegt werden.15 Dieser Ansatz ist im Falle der Geschichte beider Indien besonders innovativ, da dieses Werk für gewöhnlich kaum als ein erzählerisches Werk, sondern mehr als eine „Kriegsmaschine“ wahrgenommen wird.16 Auch soll die Vielfalt historischen Erzählens um 1800 betont werden, um den Fokus von der wissenschaftlichen oder protowissenschaftlichen Historie auf unterschiedliche Gattungen historischen Erzählens zu erweitern.17 Hier soll danach gefragt werden, wie sich die Geschichte beider Indien im Hinblick auf Gattungszugehörigkeit klassifizieren lässt. Für gewöhnlich wird Raynal attestiert, ein eher zweitrangiger philosophe gewesen zu sein. Viele Forscher interessieren sich daher vor allem für die Beiträge Diderots, denen – wohl zu Recht – nachgesagt wird, literarisch innovativer und
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Caron: L’Anticolonialisme de l’abbé Raynal. Odense 1983; Sankar Muthu: Enlightenment Against Empire. Princeton u. Oxford 2003, S. 72–121; Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 66. Jonathan I. Israel: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790. Oxford 2011, S. 414‒442. Dagegen war Michèle Duchet bereits in den 1970er Jahren zu einem differenzierteren Urteil gekommen: Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières: Buffon, Voltaire, Rousseau, Helvétius, Diderot. Paris 1978, insb. S. 125–135. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman (wie Anm. 10), S. 21–31. Hans Wolpe: Raynal et sa machine de guerre. L’Histoire des deux Indes et ses perfectionnements. Stanford 1957; Michèle Duchet: Diderot et l’Histoire des Deux Indes ou l’Écriture fragmentaire. Paris 1978, S. 10f. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman (wie Anm. 10), S. 17.
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politisch radikaler gewesen zu sein.18 Generell wird in der Forschung weniger die Gesamtstruktur des Werks mitsamt seinen Erzählungen in den Blick genommen. Vielmehr werden kurze Auszüge isoliert, denen besonders radikales und antikolonialistisches Gedankengut eignen soll.19 Demgegenüber wird hier eine Lesart vorgeschlagen, die sich stärker an der Erfahrung des zeitgenössischen Lesers orientiert: Diesem präsentierte sich das Buch als eine Einheit und nicht als eine Abfolge von Textbausteinen aus der Werkstatt unterschiedlicher Autoren. Dessen Gesamtlogik und typische Muster sollen hier nachvollzogen werden, soweit es bei einem Werk dieses Umfangs möglich ist. Nach einer vorläufigen Definition des Typus der modernen Historie werden die Einleitung der Geschichte beider Indien, der Aufbau des Buchs, seine Erzählmuster, die enzyklopädische Darstellungsweise, der Umgang mit den Quellen, die Rhetorik sowie die dichterische Dimension des Werks besprochen. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage nach der Gattung gestellt. Zum Schluss soll der Versuch unternommen werden, einen emischen Blick einzunehmen, wie ihn Raynal und seine Mitstreiter auf das Werk hatten.
I.
Der Idealtypus der modernen Historie
„Moderne Historie“ ist ein etischer (und kein emischer) Begriff, d.h. eine Kategorie, die in wissenschaftlichen Diskursen, jedoch nicht in Quellen aus der untersuchten Zeit ihren Ursprung hat. Aus diesem Grund ist für die Verleihung des Prädikats „moderner Historiker“ weniger die Wahrnehmung der Zeitgenossen als vielmehr der Ähnlichkeitsgrad mit einem Idealtypus ausschlaggebend. Die Definition dieses Idealtypus hat wiederum immer etwas Willkürliches und Normatives in sich. Sie spiegelt das Selbstverständnis des Geschichtsforschers wieder, der die „moderne Historiographie“ zu definieren trachtet. Nur das, was der Historiker als eine ihm nahestehende Theorie und Praxis des Geschichtsschreibens anerkennt, kann von ihm als „modern“ verstanden werden. Daher waren die Kontroversen über die Frage, wann die moderne Historie ihren Anlauf genommen hat, stets auch Diskussionen darüber, was gute Geschichtsschreibung sei. Vertreter der genannten Bielefelder Schule wie Rüsen und Blanke suchten in der Aufklärung nach den Wurzeln der ‚Historischen Sozialwissenschaft‘, die sie sich herbeiwünschten.20 Kulturgeschichtliche Ansätze führten ihrerseits im späten 20. Jahrhundert zu der Einsicht, dass die entscheidende Wende hin zur modernen Historie um 1800 anzusetzen sei. 18 19 20
Duchet: Diderot (wie Anm. 16). Zur Charakterisierung Raynals: Ebd., S. 10. Ein Kompendium solcher Auszüge ist L’Anticolonialisme au XVIIIe siècle (wie Anm. 13). Diese Tendenz auch bei Israel: Democratic Enlightenment (wie Anm. 14), S. 414–442. Rüsen u. Blanke: Von der Aufklärung (wie Anm. 5); Blanke: Historiographiegeschichte (wie Anm. 5).
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Knüpft man an die Forschungen zur Geschichte der Historiographie an, so lassen sich folgende fünf Kriterien für eine „moderne Historie“ ausmachen. Ein solcher Katalog ist zugegebenermaßen etwas eklektisch, erweist sich aber vor allem im Hinblick auf die Analyse der Geschichte beider Indien als nützlich. 1. Philologisch-kritische Methode, Rationalisierung und Entrhetorisierung des historischen Diskurses: Von allen Kriterien der modernen Historie ist der philologisch-kritische Umgang mit den Quellen, den Muhlack nicht erst im Historismus, sondern bereits im Humanismus angeregt sieht, wohl das am wenigsten umstrittene. Diese Methode zeichne sich unter anderem durch das Gebot einer möglichst vollständigen Sammlung aller erreichbaren Dokumente, die historisch-kritische Aufbereitung des Materials und den Versuch, die Zuverlässigkeit der Quellen einzuschätzen, aus.21 In Rüsens Augen hat die Spätaufklärung „diesen Schritt zur Verwissenschaftlichung [...] getan“ und sich „strikt auf Informationen beschränkt, die den Quellen kritisch abgewonnen werden [konnten] und intersubjektiv überprüfbar“ waren.22 Rüsen geht so weit, eine „Transformation von ethischer Unparteilichkeit zur methodischen Objektivität“ zu diagnostizieren: Nicht das Leitbild der Vorurteilslosigkeit, sondern die kritische Methode sei zunehmend als das zentrale Qualitätsmerkmal der Historiographie wahrgenommen worden. Dieser Prozess sei mit einer Entrhetorisierung einhergegangen: Im Zuge der Verwissenschaftlichung seien nicht mehr die sprachlichen Mittel, sondern die rationale Argumentation für die Erzielung von Überzeugungskraft ausschlaggebend geworden.23 2. Immanenz der Geschichte und Globalisierung des historischen Raums: Muhlack zufolge hat sich die Historie im Zuge des Modernisierungsprozesses von einem sie bis dahin prägenden transzendenten Weltbild verabschiedet. Die Historiker hätten nun in der Erforschung des Wahrscheinlichen, Zeitlichen, Kontingenten und Menschlichen einen Wert an sich erkannt. Daher habe sowohl eine Partikularisierung als auch eine Globalisierung der erforschten Themengebiete stattgefunden. Für Muhlack hat die Aufklärungshistorie jedoch nur zum Teil diese Schritte vollzogen. Durch die Trennung zwischen positiver und negativer Geschichte, Zivilisation und Barbarei, Vernunft und Unvernunft, Fortschrittlichem und Rückständigem habe die Universalhistorie erneut eine transzendente Dimension eingeführt und zudem den mediterran-europäischen Standpunkt beibehalten. Ihre Versuche, Primärursachen und Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte auszumachen, hätten schließlich den Dualismus zwischen Ursache und Ereignis wiederhergestellt, der für die Heilsgeschichte typisch war.24 3. Geschichtsverständnis und Periodisierung: Moderne Historiographie setzt ein modernes Geschichtsverständnis voraus. Der Geschichtsprozess soll im Sinne 21 22 23 24
Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 8), S. 379f. Rüsen: Von der Aufklärung (wie Anm. 6), S. 35. Ebd., S. 27, 40. Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 8), S. 67–335.
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Kosellecks als offen verstanden werden, die früheren Epochen als ein für alle Mal vergangen. Daraus folgt, dass die Geschichte nicht mehr als eine Sammlung von moralischen Exempeln aufgefasst wird.25 Da die moderne Historiographie bestimmte historische Entwicklungen untersucht, indem sie nach der zeitlichen Dynamik ihrer sozialen Ursachen fragt, ist Grell zuzustimmen, wenn sie betont, dass für die moderne Historiographie Überlegungen über die Dauer und die Periodisierung zentral sind.26 4. Konstruktivistisches Historiographieverständnis, Überprüfbarkeit der Erzählung und Abgrenzung von der Dichtung: Wie Fulda und Süßmann gezeigt haben, konstruiert die moderne Historie einheitliche und klar strukturierte Erzählungen, die auf Fragestellungen antworten. Der moderne Historiker schließt einen Pakt mit dem Leser, der besagt, dass der Autor für seine Erzählung die Verantwortung übernimmt. Er kennzeichnet die Erzählung als sein Konstrukt, erläutert deren Konstruktionsprinzipien und bürgt für die Überprüfbarkeit seiner Behauptungen. Geschichtsschreibung wird dadurch von der Dichtung klar getrennt und als eine eigene Gattung etabliert. 5. Wissenschaftlicher Eigenzweck und Unterscheidung von Geschichte und Philosophie: Die moderne Historiographie ist das Produkt einer autonomen akademischen Disziplin, der Geschichtswissenschaft. Diese ist eine Fundamentalwissenschaft, d.h. sie ist auch dann legitim, wenn das von ihr produzierte Wissen nicht anwendbar ist. Zwar erfüllen historiographische Diskurse jenseits des Wissenschaftssystems oft politische und soziale Funktionen. Auch sind Geschichtswerke stark beeinflusst von Interessen, Problemen und Kontroversen, die außerhalb der akademischen Öffentlichkeit verhandelt werden. Doch wird die Existenzberechtigung der Geschichtswissenschaft nicht oder nicht vordergründig davon abgeleitet. Der primäre Zweck der modernen Geschichtsschreibung besteht nicht darin, Normen herauszuarbeiten, die eine unmittelbare Handlungsrelevanz besitzen. Geschichtswissenschaft wird somit klar von der Philosophie im Sinne des 18. Jahrhunderts unterschieden, die man als die öffentliche Ausübung der Vernunft im Dienste des Allgemeinwohls definieren kann.
II.
Geschichtsverständnis, Fragestellung, Zweck der Historie – zum Vorwort in der Geschichte beider Indien
Inwiefern entspricht die Geschichte beider Indien diesen Kriterien? Was dieses Werk auf den ersten Blick modern erscheinen lässt, ist die Diagnose welthistorischer Veränderungen, die Raynal mit einer Frage verbindet. Ganz am Anfang der
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Koselleck: Vergangene Zukunft (wie Anm. 7). Grell: L’Histoire (wie Anm. 9), u.a. S. 276.
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Geschichte beider Indien, in der Einleitung, stellt Raynal fest, dass die Welt sich in den vergangenen drei Jahrhunderten globalisiert habe: Für das menschliche Geschlecht überhaupt und für die Völker von Europa insbesondre ist keine Begebenheit so wichtig gewesen, als die Entdeckung der neuen Welt, und der Fahrt nach Ostindien und das Vorgebürg der guten Hofnung. Damals began eine gänzliche Veränderung in dem Handel, in der Nationalmacht, in den Sitten, dem Gewerb und der Regierung aller Völker. [...]. Alles hat sich verändert und wird sich noch verändern.27
Hier geht die Geschichte beider Indien mit drei Merkmalen der modernen Historie konform. Mit der Feststellung, alles habe sich durch den globalen Handel und die Kolonialexpansion verändert und werde sich noch verändern, scheint der Erzähler ein modernes Geschichtsverständnis zu vertreten: Raynal konzipiert hier die Geschichte als einen offenen Prozess und nicht als eine Ansammlung von zeitlosen Exempeln, für deren Relevanz die Stetigkeit der menschlichen Natur bürgt. Auch greift der Autor keineswegs auf transzendente Erklärungsmuster zurück: Nicht die göttliche Providenz, sondern die Seefahrt der Menschen habe die Welt verändert. Schließlich kann die Geschichte beider Indien als das Paradebeispiel der durch Ablösung von der Heilsgeschichte möglich gewordenen Globalisierung des historischen Raums im 18. Jahrhundert gelten, da sie eben jene Globalisierung zum Gegenstand hat. Doch direkt an die zitierte Passage anknüpfend formuliert Raynal eine Reihe von Fragen, die wohl kein moderner Historiker zum Leitfaden seiner Untersuchungen erklären würde: [S]ind die vergangenen Veränderungen der Menschheit nützlich gewesen? Können sie es, können es noch die künftigen ihr werden? [...]. Europa hat überall Colonien angelegt; aber kennt es die Grundsätze, nach welchen man sie anlegen muß?28
Diese Fragen machen klar, dass der Erzähler weniger die Globalisierung erklären als vielmehr aus seinen Ausführungen normative Grundsätze ableiten möchte, die für Politiker unmittelbar handlungsrelevant sein sollen. Der Titel Philosophische und politische Betrachtungen über die Geschichte ist ganz in diesem Sinne zu verstehen: Es geht Raynal darum, mit Hilfe der Philosophie Leitlinien für eine wünschenswerte Kolonialpolitik herauszuarbeiten. Wie der Titel schon besagt, wird Geschichte von Philosophie nicht getrennt.
III. Struktur des Werks Inwieweit deutet der Aufbau des Werks auf eine Globalisierung der Betrachtung und eine Verabschiedung vom traditionellen mediterran-europäischen Rahmen hin, 27 28
Raynal: Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 1f. Ebd., S. 2.
Raynals Geschichte beider Indien
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in dem sich die mittelalterliche Heilsgeschichte abspielte? Schreiben Raynal und seine Mitarbeiter eine Geschichte der Globalisierung, die ein neuartiges Verständnis von historischen Prozessen mit sich bringt? Man kann in der Geschichte beider Indien zwei große Teile ausmachen: Die Bücher 1 bis 5 behandeln die Geschichte der Entdeckungen, Kriege, Niederlassungen und des Handels der Europäer in „Ostindien“, also in allen Gebieten jenseits des Kaps der Guten Hoffnung, während die Bücher 6 bis 18 vergleichbare Ereignisse und Entwicklungen in Amerika beleuchten. Innerhalb der beiden Teile gliedert Raynal seine Untersuchung teilweise nach Regionen, vor allem aber nach den einzelnen europäischen Nationen. So behandelt er in den Büchern 1 bis 5 nacheinander das Vorgehen der Portugiesen, Holländer, Engländer, Franzosen, Dänen, Preußen, Spanier und Russen jenseits des Kaps der Guten Hoffnung. Die Bücher 6 bis 9 erzählen die Geschichte der Spanier und der Portugiesen in Amerika. Ab dem 10. Buch steht die Karibik im Mittelpunkt des Interesses. Es werden der transatlantische Sklavenhandel (Buch 11) und die Geschichte der Kolonien der Spanier, Holländer und Dänen, Franzosen und Engländer „auf dem großen amerikanischen Inselmeer“ und teilweise in Südamerika dargestellt (Bücher 12‒14). Die restlichen Bände handeln von Nordamerika, zunächst von den Franzosen und dann von den Engländern bzw. Briten. Implizit sind in dieser Gliederung zwei Ordnungsprinzipien am Werk. Erstens bestimmt nicht die gängige Vorstellung von den vier Kontinenten die Erzählung, sondern die Dichotomie zwischen Europa und „den Indien“, die in einen Osten und einen Westen unterteilt werden. Raynal übernimmt hiermit die Zweiteilung der außereuropäischen Welt, die ihren Ursprung in der Konkurrenz zwischen Spaniern und Portugiesen hatte und lediglich aus der Perspektive der westeuropäischen Seefahrt Sinn ergab. Die Geschichte beider Indien zeigt eine Grundstruktur auf, die sich von der traditionalen Universalgeschichte unterscheidet, jedoch nicht minder eurozentrisch, sogar ‚westeurozentrisch‘ ist. Zweitens sind vor allem die Nationalgeschichten Gegenstand der Erzählung. Die ‚westeurozentrische‘ und nationale ‚Ordnung der Dinge‘ führt dazu, dass Raynal keine Geschichte der Globalisierung schreibt, sondern viele Geschichten erzählt, die über die Erdkugel verteilt und nur lose miteinander verbunden sind. Er führt die Kolonialgeschichten der unterschiedlichen europäischen Nationen nicht zu einem gemeinsamen Narrativ zusammen und definiert keine chronologischen Abschnitte oder Zäsuren in der Geschichte der europäischen Expansion. Hiermit wird kein Verständnis von historischen Prozessen, von Dauer und Periodisierung erkennbar. Die Geschichte beider Indien bleibt somit eher eine Ansammlung von Einzelfällen.
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IV. Erzählmuster Die Einheit des Werks ergibt sich nicht etwa aus einer einzigen, sich durch die unterschiedlichen Bücher hindurchziehenden Erzählung, sondern aus der Art und Weise, wie die einzelnen Geschichten erzählt werden. Die Beispiele der Portugiesen, der Engländer und der Franzosen in Ostindien mögen dies verdeutlichen. Das erste Buch, das den Portugiesen jenseits des Kaps der Guten Hoffnung gewidmet ist, ist in der Ausgabe von 1780 in dreißig Kapitel unterteilt. Raynal erzählt in den Kapiteln 1 bis 17 die Geschichte der Entdeckungen und Feldzüge der Portugiesen. Obwohl er teilweise von der „Torheit der Eroberungen“ spricht und die Skrupellosigkeit der Portugiesen zeigt, folgt die Erzählung vor allem einem epischen Muster. Es ist immer eine kluge und mutige männliche Figur, die die Expansion in fremde Gebiete betreibt. Raynal eröffnet seine Erzählung mit der Unwissenheit der Europäer des 15. Jahrhunderts über die fernen Gebiete des Atlantiks und Afrikas. Eine Ausnahme bildet nur König Heinrich von Portugal,29 dessen Hof die Entscheidung traf, Afrika zu erobern – eine Eroberung indes, deren Ergebnisse durchwachsen waren. Erst Johann II. habe in seiner Weisheit die Portugiesen zu einer Umschiffung Südafrikas bewogen.30 In den restlichen Kapiteln inszeniert Raynal zwei Helden: die Seefahrer Vasco de Gama und Alfonso de Albuquerque. Die Geschehnisse werden aus ihrer Perspektive erzählt; man folgt ihren Gedanken, Taten und Worten, die teilweise in direkter Rede wiedergegeben werden. Ohne ihren Lebensweg oder ihren Charakter eingehend zu porträtieren, identifiziert sich der Erzähler mit ihnen, etwa wenn er schreibt, dass Vasco de Gama „zum Glück“ einen Pfadfinder gefunden habe oder „zum Glück“ vom Mogul nicht festgenommen worden sei.31 Ungefähr in der Mitte des Buches fasst der Autor „die Ursachen der großen Macht der Portugiesen“ (Kapitel 18) zusammen. Diese Ausführungen verraten viel über die erzählerischen Vorbilder, an die Raynal anknüpft; sie sind in der antiken Geschichtsschreibung zu suchen. Der Franzose eröffnet dieses Kapitel mit einer Bekundung seiner Bewunderung für die heldenhaften Portugiesen, von der er die Frage nach nationalen Eigenschaften ableitet, die die erstaunlichen Siege erklären: Wenn man über die Anzahl [der] Siege [des Albuquerque] und die Geschwindigkeit seiner Eroberungen erstaunen muß, welch ein Recht haben nicht auf unsre Bewundrung die heldenmüthigen Männer, die er die Ehre hatte anzuführen! Hatte man bis dahin eine Nation mit so wenig Macht so große Dinge thun sehn? [...] Was für Menschen mußten dann damals die Portugiesen sein, und welche besonderen Triebfedern hatten sie zu einem Volk von lauter Helden gemacht?32
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Ebd., S. 33. Ebd., S. 41. Ebd., S. 105f. Ebd., S. 153.
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Raynal gibt gleich darauf die Antwort: Es war vor allem der Geist des Rittertums, „eine Mischung aus Heldenmuth, Galanterie und Frömmigkeit“, der sie zu den Eroberern Asiens machte.33 Die Könige „erhoben auch noch den Geist der Nation durch die Art von Gleichheit, mit welcher sie dem Adel begegneten, und durch die Schranken, die sie selbst ihrer Macht setzten“.34 Raynal zeichnet das Bild einer kleinen Nation von Gleichen und Gleichgesinnten, die um ihre Freiheit und ihren Ruhm gemeinschaftlich kämpfte. Selbst der Geist der Kreuzzüge, der sie animierte, selbst ihr religiöser „Fanaticismus“ also, sei „glänzend“ gewesen.35 Gleichzeitig leitet dieses Kapitel zum zweiten Teil der Erzählung über: der Geschichte des Verfalls des portugiesischen Reichs, die nach einigen Kapiteln über China und Japan das Ende des ersten Buchs bildet. Bereits in der Mitte des Werks werden die Gründe für den Niedergang genannt. Diese waren laut Raynal moralischer Natur: Nachher aber verdarben die Reichthümer, dieser Zweck und Frucht ihrer Eroberungen, alles. Die edlen Leidenschaften verschwanden, so bald Ueppigkeit und Genuß eintraten; welche niemals ermangeln, die Kräfte des Leibes und die Tugenden der Seele zu vernichten.36
Nur zeitweilig konnte der glänzende João de Castro, der vierte Vizekönig von Indien, den heldenhaften Geist der Portugiesen in Asien wiederbeleben.37 Durch den Reichtum verweichlicht, „arteten“ die Portugiesen nach und nach „aus“.38 Die Struktur der Erzählung und die Topoi, auf die Raynal zurückgreift, sind also der antik-klassischen rise-and-fall-Geschichte der Imperien entlehnt. Zuerst blüht die respublica durch männliche virtus – die Aufopferungsbereitschaft des freien Bürgers für ein Gemeinwesen von Gleichgestellten – auf, dann wird sie jedoch durch den Luxus und die Wollust verdorben, die unvermeidbare Folgen der einstigen Heldentaten seien.39 Das Zeitverständnis ist hier zyklisch; die Geschichte erscheint keineswegs als offen. Die Ursachenforschung gelangt nicht über die Darstellung des moralischen Exempels hinaus. Hier gilt noch in einem ganz traditionalen Sinne: Historia magistra vitae. Diese republikanischen Erzählmuster prägen die Geschichte beider Indien so stark, dass Raynal regelrecht eine Untergangsgeschichte prophezeit, obschon die Empirie wenig Anhaltspunkte dafür liefert. Dies zeigt die Geschichte der Engländer in Indien. In dieser Erzählung bedient sich der Autor nur selten des epischen Tons. Die einzelnen Anführer treten meist hinter dem Kollektiv „der Engländer“ 33 34 35 36 37 38 39
Ebd., S. 153f. Ebd., S. 154. Ebd., S. 154f. Ebd., S. 156. Ebd., S. 225–228. Ebd., S. 156. John G. A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Tradition. Princeton 2003; ders.: Barbarism and Religion. 5 Bde. Bd. 3: The First Decline and Fall. Cambridge 2003.
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zurück. Diese werden als Händler verstanden, die sich lange Zeit friedlicher als die Portugiesen und Holländer verhielten, auch wenn sie teilweise deren gewaltsame Methoden übernahmen. Dank ihrer Klugheit expandierte ihr Handel.40 Durch einen „bloße[n] Zufall“ jedoch – und nicht durch die „menschliche Klugheit“ – kommt die East India Company im Siebenjährigen Krieg in den Besitz Bengalens.41 Dieses Ereignis stellt den Wendepunkt der Erzählung dar: Nach der Eroberung tritt in Bengalen eine „methodische Tyrannei [...] an die Stelle der willkürlichen Gewalt“ früherer orientalischer Despoten.42 Dass die Engländer so schnell ihre alten Grundsätze vergessen konnten, möge erstaunen, aber „diese Art von moralischer Aufgabe [lasse] sich leicht auflösen, wenn man die natürliche Würkung der Begebenheiten und der Umstände mit Aufmerksamkeit betrachtet“.43 Der Grund für die neue Unterdrückung der Inder liege im Verderben des englischen Charakters, das wiederum von der Ausübung der uneingeschränkten Herrschaft sowie der Natur und den Gebräuchen des Landes herrühre, die zur Weichlichkeit verleiteten.44 Angesichts dieses moralischen Niedergangs sieht sich der Erzähler veranlasst, Zweifel an der Fortdauer der Herrschaft der Engländer anzumelden.45 Obwohl er zugeben muss, dass die East India Company finanziell hervorragend dasteht,46 schließt er das Buch 3 mit einer flammenden Rede, die in plastischen Bildern die Händler vor ihrem baldigen Untergang warnt. Dieses rhetorische Kunststück ist in Anführungsstrichen gedruckt, ganz so, als ob es sich dabei um eine direkte Wiedergabe des Gesprochenen handelte. Sie soll wohl an die großen Reden der Antike erinnern.47 Die Geschichte der Franzosen in Indien stellt eine dritte Variante der antikrepublikanischen Erzählung dar. Die französische Expansion auf dem indischen Subkontinent in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird noch sehr viel deutlicher als die der Portugiesen in einem ausgesprochen epischen Ton erzählt. Stärker als bisher entfaltet Raynal eine Geschichte von Helden, die durch ihr Genie die Welt verändern. Die zwei Helden heißen hier Bertrand François Mahé de La Bourdonnais, der die Kolonie auf Mauritius gründete und glänzende Siege zu See erfocht, und Joseph François Dupleix, der eine gewagte Politik der territorialen Expansion in Südindien verfolgte. Die Triebfeder seiner Erzählung macht Raynal bei der Einführung der Figur von Dupleix explizit: Überall haben große Männer mehr gethan, als große Gesellschaften. Die Völker und die Gesellschaften sind nur die Werkzeuge der Männer von Genie; sie haben die Staaten und die Pflanzstädte angelegt. [...] Frankreich vorzüglich hat seinen Ruhm mehr einigen glücklichen Privatpersonen, als seiner Regierung zu verdanken. Einer von diesen seltnen Köpfen [La 40 41 42 43 44 45 46 47
Raynal: Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 11–185. Ebd., S. 186. Ebd., S. 204. Ebd., S. 217. Ebd. Ebd., S. 201–204. Ebd., S. 230–233. Ebd., S. 233–236.
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Bourdonnais, D.T.] hatte vor kurzem die Macht der Franzosen auf zwey wichtigen Inseln von Afrika [La Réunion und Mauritius, D.T.] gegründet; ein anderer noch ausserordentlicherer gab ihr einen Glanz in Asien: das war Dupleix.48
Laut Raynal habe Dupleix als Erster erkannt, dass ein Eingreifen in innerindische Konflikte einen Machtgewinn bringen könnte. Die Natur seiner Seele habe ihm ungeheuren Mut beschert.49 Für die Niederlagen der Franzosen im Siebenjährigen Krieg macht der Autor nicht seinen Helden, sondern die Unentschlossenheit der französischen Regierung und der Compagnie des Indes orientales verantwortlich, die er laut beklagt. Dieser „Fehler in der Staatsklugheit“ habe dazu geführt, dass man Dupleix befohlen habe, die Statthalterschaft der Provinz Karnataka abzulehnen um ihn daraufhin zurückzuberufen.50 Es ist bezeichnend, dass die Missbilligung gegenüber der Eroberungspolitik aus dem Text verschwindet, wenn es um die Franzosen geht. Von einem antikolonialistischen Werk wäre eine Schilderung der gewaltsamen Expansion der Franzosen zu erwarten, die jener der Portugiesen und Engländer ähnelte. Hier dominiert jedoch ein patriotisches Epos, dessen Held leider durch den Leichtsinn der Mächtigen behindert werde. Gleichzeitig stimmt diese Erzählung mit dem antikrepublikanischen Grundmuster überein. So beklagt der Autor in einem darauffolgenden Kapitel den Niedergang der guten Sitten auch der Franzosen und erklärt ihn zur Ursache des Verfalls französischer Machtpositionen, was im Widerspruch zu seiner These steht, Dupleix wäre Herrscher von Indien geworden, hätten ihn die französische Regierung und die Direktoren der Kompanie nur nicht zurückberufen.51 Ebenso im Gegensatz zu dem, was die Behauptung eines moralischen Niedergangs der Franzosen erwarten lässt, schließt das Buch 4 mit der optimistischen Einschätzung, die Franzosen würden bald ihre Autorität in Indien durchsetzen, weil die Eingeborenen in ihnen Befreier sähen. Den Weg zum Ausbau der französischen Herrschaft beschreibt Raynal im letzten Kapitel, das die „Grundsätze“ behandelt, „welche die Franzosen in Indien befolgen müssen, wenn sie ihr Ansehen und ihre Macht daselbst wieder empor bringen wollen“.52 Hier wird wieder deutlich, dass die Franzosen eine Sonderbehandlung erfahren. Während die Portugiesen und Engländer laut Raynal zwangsläufig in ihr Verderben stürzen, sagt der Autor den baldigen Triumph seiner Mitbürger voraus, die die richtigen Schlüsse aus ihren Fehlern ziehen würden: Alsdann werden sich, die als die Befreyer Indiens betrachteten Franzosen aus dem Stand der Demüthigung, in dem sie ihre schlechte Aufführung gestürzt hatte, erheben. Sie werden der
48 49 50 51 52
Ebd., S. 369. Ebd., S. 393f. Ebd., S. 407. Ebd., S. 412–415. Ebd., S. 474–480.
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Abgott der Fürsten und der Völker Indiens werden, wenn die durch sie alsdann hervorgebrachte Veränderung ihnen eine Lehre der Mäßigung wird.53
In diesem abschließenden Kapitel spricht sich der Erzähler wiederholt gegen jegliche gewalttätige Expansion aus, die in seinen Augen nicht zum Erwerb einer stabilen Machtposition führen kann: Erobern oder mit Gewalt berauben, ist gleich viel. Der Räuber und der gewaltthätige Mensch sind immer verhaßt. [...] Es giebt nur ein Mittel, sich über seine Mitbewerber hinaufzuschwingen; und dieses ist, Sanftmuth in der Regierung; Treue in den Verbindungen; bessere Beschaffenheit der Waaren; und die Mäßigkeit im Gewinst.54
Dennoch tritt der Autor nicht für einen lediglich auf Handel und soft power basierenden Neokolonialismus ein, wie von manchen Historikern gedeutet.55 Das Ziel bleibt, in beiden Indien „Staaten“ zu gründen: „In welchem Winkel ihr euch niederlasset, werdet ihr, wenn ihr euch als Stifter von Staaten betrachtet und betraget, bald eine unwiderstehliche Macht besitzen.“56 Weit entfernt vom vermeintlichen Antikolonialismus des Werks scheint auch in diesem Kapitel der aggressive Dupleix das Vorbild zu sein.
V. Enzyklopädie, Reisebericht, rhetorisches Werk, Roman? Nicht nur der Zweck und die Grundstruktur des Werks, sondern auch die klassischen Erzählmuster zeigen die Distanz zwischen der Geschichte beider Indien und dem Idealtypus des modernen Geschichtswerks. Vier weitere Merkmale von Raynals Werk machen die Gattungsbestimmung zu einem schwierigen Unterfangen. Erstens sticht die Tendenz der Autoren ins Auge, in enzyklopädischer Manier Tatsachen und Diskurse über die außereuropäische Welt zu kompilieren. Es lässt sich nicht nur keine durchgehende Erzählung, sondern auch keine stringente Argumentation erkennen. Die Geschichte beider Indien stellt unterschiedliche und oft widersprüchliche Konzepte unvermittelt nebeneinander.57 Neben konkreten Handlungsvorschlägen trägt das Werk auch Informationen über ferne Länder zusammen. In dieser Hinsicht fügt sich das Buch in die Gattung der Reiseliteratur ein. Wie Duchet angemerkt hat, ist das Projekt der Geschichte beider Indien mit der Histoire générale des voyages des Abbé Prévost verwandt, einer umfangreichen und systematischen Sammlung von Reiseberichten zu den unterschiedlichen Kapi53 54 55 56 57
Ebd., S. 474f. Ebd., S. 475f. Duchet: Anthropologie (wie Anm. 14), S. 160; Silvia Sebastiani: The Scottish Enlightenment. Race, Gender, and the Limits of Progress. New York 2013, S. 13. Raynal: Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 477. Z.B. zur Sklaverei Duchet: Anthropologie (wie Anm. 14), S. 133–193.
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teln der europäischen Expansion.58 Das schiere Ausmaß des Werks deutet darauf hin, dass Raynal vermutlich auch ein Nachschlagewerk im Sinn hatte, das ebenso über aktuelle politische Diskussionen wie über berühmte historische Figuren, über die Sitten unterschiedlicher Völker und über Tendenzen in der Entwicklung des Handels informiert. So beschreibt der Erzähler die „natürliche Beschaffenheit“, die altertümliche Geschichte, Aspekte wie Religion, Regierungswesen und Rechtsgelehrsamkeit sowie Sitten und Gebräuche von „Hindostan“ auf über fünfzig Seiten, d.h. viel ausführlicher als für eine Schilderung der portugiesischen Expansion erforderlich wäre.59 Vielleicht ist der Erfolg des Werks nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Raynal es verstand, die Masse der Reiseberichte und Denkschriften kompakter als Prévost zu kompilieren. Zweitens folgen Raynal und Diderot der kritisch-philologischen Methode nicht im Mindesten. Von einer systematischen Sammlung relevanter Quellen kann keine Rede sein. Die Autoren legen ihre Quellen nicht offen. Raynal und seine Mitarbeiter sind von jeglicher Quellenkritik weit entfernt. Sie reflektieren ihren eigenen Standort nicht. Die Geschichte beider Indien war ein offiziöses Auftragswerk des französischen Marineministeriums. Über weite Strecken zitieren die Verfasser wörtlich aus Denkschriften, die sich im Archiv des Ministeriums befinden – ohne jedoch die Zitate zu kennzeichnen.60 An keiner Stelle geben sie zu erkennen, dass sie die Wissensbestände, Sichtweisen und Konzepte wiedergeben, die in der Regierungselite jener Zeit diskutiert wurden. Dass die kritische Methode einen zentralen Platz in der Historiographie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingenommen habe, lässt sich anhand der Geschichte beider Indien also nicht belegen. Auch die Tatsache, dass – drittens – das Werk von rhetorischen Schreibweisen stark geprägt bleibt, passt nicht zum Typus der modernen Historie. Von einer Verwissenschaftlichung durch Entrhetorisierung und Hervorhebung der rationalen Argumentation ist hier keine Spur. Die Erzählinstanz fingiert Mündlichkeit. Das Geschriebene erscheint oft als eine Rede, die jenen der größten Oratoren der Antike ebenbürtig sein will. Im Kapitel über die Eroberung des Kaps der Guten Hoffnung durch die Holländer wendet sich der Erzähler an die Hottentotten des vergangenen Jahrhunderts und fordert sie auf zu fliehen. Diese paradoxe Hinwendung zu einem Publikum, das mit Sicherheit nie sein Werk lesen wird, nimmt der Erzähler anschließend zum Anlass, seine europäischen Leser anzusprechen: Und ihr, grausame Europäer! laßt euch meine Rede nicht aufbringen. Weder der Hottentott, noch der Bewohner der Gegenden, die für euch zum Verwüsten noch übrig sind, werden sie hören. Wenn meine Gedanken euch beleidigen, so seyd ihr nicht menschenfreundlicher, als eu58
59 60
Der erste Band der Histoire générale des voyages des Abbé Prévost erschien 1749. Bis 1760 brachte er weitere 14 Bände heraus. Das Werk wurde nach seinem Tod fortgesetzt. Dazu und zu den Ähnlichkeiten mit dem Projekt der Geschichte beider Indien siehe Duchet: Anthropologie (wie Anm. 14), S. 75–95. Raynal: Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 47–104. Duchet: Anthropologie (wie Anm. 14), S. 125–135.
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re Vorfahren; so steht ihr in dem Haß, den ich ihnen geschworen habe, den, welchen ich vor euch habe.61
Durch die vorgespiegelte Mündlichkeit inszeniert sich der Erzähler als Held der Gerechtigkeit und als mitfühlende Person, die teilweise vor lauter Emotionen gar nicht imstande ist, weiterzuerzählen und Tränen über das gerade Geschriebene vergießt, wie in der Einleitung zur Erzählung von der Eroberung Perus durch die Spanier nachzulesen.62 Der Erzähler überschreitet sogar – viertens – bisweilen die Grenze zur Dichtung. Der Erzählmodus folgt einer Wirkungsästhetik, die insbesondere Diderot vertrat.63 Das Ziel der Autoren ist, den Leser zu berühren. Aus diesem Grund greifen sie massiv auf literarische Vorlagen zurück. Der Erzähler präsentiert dem Leser sowohl tränenreiche Liebesgeschichten zwischen Sklaven64 als auch amüsante Betrachtungen von den unterschiedlichsten merkwürdigen Gegenständen und Vorläufen. In einem Kapitel verklärt er die Biber Kanadas augenzwinkernd zu einem Vorbild für tugendhafte Republikaner.65 Hinzu kommt, dass in der Geschichte beider Indien immer wieder Utopien dargestellt werden. Ganze Kapitel sind im Konjunktiv II verfasst. So erfährt der Leser nichts Konkretes über die unglückliche Geschichte der französischen Kolonie auf Madagaskar im 17. Jahrhundert. Stattdessen erläutert der Autor, was die Franzosen hätten tun sollen.66 Manchmal wird der Leser sogar regelrecht ins Reich der literarischen Fiktion geführt, ohne gewarnt zu werden. Hier knüpft Raynal am deutlichsten an das literarische Genre der Utopie an, um ein Ideal darzustellen. So gibt es etwa ein Kapitel über einen Musterstaat in Indien, in dem der Erzähler nur im letzten Satz verrät, dass es diesen Staat wahrscheinlich nie gegeben hat. Er eröffnet das Kapitel mit einer für die Reiseliteratur typischen Beschreibung der Topographie und der politischen Verhältnisse, die den Anschein eines wohlrecherchierten Berichts erwecken soll. Es folgt eine Lobrede auf den kleinen Staat Bisnapore, in dem Freiheit und Eigentum heilig sind, Diebstahl unbekannt, die Sicherheit umfassend, die Wohltätigkeit vollkommen. Doch dann wendet sich der
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65 66
Raynal: Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 342. Ebd., Bd. 4, S. 2. Kirill Abrosimov: Wissensordnungen der Aufklärung. Diderots Kommunikations-strategien zwischen der „Enyclopédie“ und der „Correspondance littéraire“ von Friedrich Melchior Grimm. In: Francia 38 (2011), S. 93–126. Europens Handel mit beyden Indien. Ein Auszug aus Raynals Geschichte, von M. Franz Christian Lorenz Karsten, Lehrer am herzoglichen Pädagogium zu Bützow. Rostock u. Leipzig 1780, S. 482f. Raynal: Histoire (wie Anm. 12), S. 77–90. Ebda., Bd. 2, S. 262–264.
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Erzähler an den Leser und verrät, dass seine Beschreibung Bisnapores eine „Fabel“ sei.67 Die Geschichte beider Indien erscheint als eine Mischung aus einer Enzyklopädie der kolonialen Welt, einer Kompilation von Reiseberichten, einer Sammlung erbaulicher und epischer Geschichten nach klassischem Muster, eines rhetorischen Werks nach dem antiken Vorbild und einer literarischen utopischen Fiktion.
VI. Etischer und emischer Blick Die Geschichte beider Indien entspricht also aus verschiedenen Gründen nur sehr beschränkt dem Typus einer modernen Historie. Es wurde deutlich, dass sich dieses Werk, das zu den erfolg- und einflussreichsten des sogenannten Zeitalters der Aufklärung gehört, in gattungshistorischer Perspektive kaum als Zeugnis für den angeblich modernen Charakter der Epoche eignet, den die Bielefelder Schule ausgemacht haben will. Kann man aus diesem Befund allgemeinere Schlussfolgerungen bezüglich der Art und Weise ziehen, wie wir Historiographiegeschichte schreiben sollen? So auflagenstark die Geschichte beider Indien gewesen sein mag – sie bleibt natürlich nur ein Werk unter vielen. Eine Analyse des Buchs von Raynal kann nicht prinzipiell die Forschungsagenda infrage stellen, die nach den Anfängen der modernen Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert sucht. Wer die Thesen Rüsens oder Blankes widerlegen möchte, muss wie Fulda oder Süßmann seine Aufmerksamkeit nicht Raynal, sondern Gatterer und Schlözer widmen, die die Bielefelder zu Wegbereitern der modernen Historiographie erklärt haben. Die Untersuchung der Geschichte beider Indien liefert einen anderen Beitrag: Sie zeigt den Preis, den die Forschung für ihre Konzentration auf die Entstehung der Gattung „wissenschaftliche Historie“ zu zahlen hat: Eine solche Forschungsagenda animiert dazu, nur nach Werken Ausschau zu halten, die uns modern erscheinen. Sie blendet nicht nur das Gros der damaligen Produktion, sondern sogar die erfolgreichsten Werke der Historiographiegeschichte tendenziell aus. Auch ermöglicht sie kein näheres Verständnis dieser Werke, weil sie lediglich deren Charakteristika an einem anachronistischen Ideal – dem der modernen Historiographie – misst. Dagegen soll hier betont werden, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vielmehr eine Vielfalt historischen Erzählens vorherrschte, die man nicht selten sogar innerhalb ein- und desselben Werks wiederfindet. Im Falle der Geschichte beider Indien sind es gerade ihre Komplexität und ihr Facettenreich-
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Ebd., S. 154. Bisnapore wird in Voltaires Fragments sur l’Inde auf der Grundlage eines Berichts von Holwell beschrieben: Urs App: The Birth of Orientalism. Philadelphia 2010, S. 300–304.
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tum, die vermutlich ihren ganzen Reiz ausmachten und ihren Erfolg begründeten, die aber einer Einstufung der Publikation als „modern“ wiederum im Wege stehen. Für ein Verständnis dieses Werks ist es wichtig, die Erzählmuster und -modi nach den Wirkungsabsichten zu befragen, die ihre Wahl wohl beeinflussten. Die etische Fragestellung nach der modernen Historie soll somit durch einen emischen Blick ergänzt werden. Der Zweck und die Zweckmäßigkeit der eingesetzten Mittel sollen deshalb im Zentrum der folgenden und abschließenden Überlegungen stehen. Wie der Erzähler in der Einleitung bereits ankündigt, geht es in der Geschichte beider Indien weder darum, die Globalisierung zu erklären, noch, ob Kolonien gutgeheißen werden können. Vielmehr wird gefragt, wie diese überhaupt anzulegen seien. Der Rückgriff auf moralische Exempel und zyklische rise-and-fallGeschichten erscheint vor diesem Hintergrund als ganz und gar zweckmäßig. Nach dem Verlust eines Großteils der französischen Überseebesitzungen im Siebenjährigen Krieg sollte gezeigt werden, wie Frankreich in Zukunft ein solides Kolonialreich errichten könnte. Erst vor dem Hintergrund dieser patriotischen Wirkungsabsicht, die am Beispiel der Franzosen in Indien besonders deutlich, aber nirgendwo programmatisch verkündet wird, erschließt sich die Einheit dieses komplexen Werks. Die Wiedergabe der heterogenen und teilweise sich widersprechenden Denkschriften erfüllt die Aufgabe, eine Orientierung in den kolonialpolitischen Überlegungen und Konzepte der französischen Eliten zu geben. Die Geschichten vom imperialen Aufstieg und Niedergang sollen ihrerseits zeigen, was in der Vergangenheit falsch gemacht wurde, und zugleich die Zerbrechlichkeit der mit Frankreich konkurrierenden Kolonialreiche – etwa des britischen in Indien – beweisen. Den patriotischen Sinn des Lesers gilt es wachzurufen, ihm Orientierung zu geben und ihn für das republikanische Ideal einer Gesellschaft von gleichgesinnten Bürgern zu gewinnen, wie anhand der „glänzenden“ Beispiele des Albuquerque oder des Dupleix deutlich wird. Die emotionalen Appelle an den Leser, das Beklagen des Geschehenen und die Plädoyers für Nichtexistentes zeigen: Die Einheit der Geschichte beider Indien liegt in einer kolonialistischen und patriotischen Utopie begründet. Die vielschichtige Struktur des Werks und die Schwierigkeit, es einer Gattung zuzuordnen, hängen eng damit zusammen.
VII. Schlussfolgerung Die Geschichte beider Indien ist ein Werk, das aufgrund seiner Komplexität den Kriterien einer modernen Geschichtsschreibung nur sehr beschränkt entspricht. Es sollte die Funktion einer philosophischen Politikberatung erfüllen. Darin entfaltet sich ein Verständnis von Geschichte, das auf den ersten Blick offen und modern erscheint, doch bei näherem Hinsehen, insbesondere durch den Rückgriff auf antike Erzählmuster, einen zyklischen und vormodernen Charakter aufweist. Die
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einzelnen Geschichten werden wie moralische Exempel nacheinander erzählt. Raynal schreibt keine Geschichte der Globalisierung, nimmt keine Periodisierung vor, reflektiert nicht über Dauer und Prozesse. Eine Globalisierung des historischen Raums ist nur in Ansätzen erkennbar; der Aufbau des Werks ist „westeurozentrisch“. Die klassische Rhetorik bleibt prägend. Vor allem aber lässt sich die Geschichte beider Indien nicht eindeutig einer Gattung zuordnen: Ist es ein von der Antike inspiriertes Geschichtswerk, ein politisches Traktat, eine enzyklopädische Sammlung von Reiseberichten und Denkschriften oder ein utopischer Roman? Merkmale all dieser Gattungen lassen sich in Raynals Werk wiederfinden. Angesichts der Tatsache, dass die Geschichte beider Indien bei Weitem keinen Einzelfall darstellt, erscheint die Suche nach der Entstehung der modernen Historie im 18. Jahrhundert nicht grundsätzlich illegitim, jedoch auch nicht unproblematisch. Die modernisierungstheoretischen Tendenzen der Historiographiegeschichte suggerieren einen evolutionären Vorgang, an dem sich die einzelnen Werke der fraglichen Epoche messen lassen müssen. Einer solchen Prüfung hält die Geschichte beider Indien jedoch nicht stand, was mitunter ein Grund dafür ist, warum das Werk in der Historiographiegeschichte kaum Beachtung findet. Sein überaus großer Erfolg zeigt, dass Raynal und Diderot durch die von ihnen gewählten heterogenen Schreibstrategien sehr wohl ihre Ziele erreichten. Um diesen zeitgenössischen Rezeptionsvorgang in den Blick zu bekommen, ist eine emische Perspektive auf das Werk notwendig, die die sprachlichen Mittel und die strukturelle Anlage des Textes an den Wirkungsabsichten der Verfasser und nicht an einem anachronistischen Idealtypus misst. Dies heißt jedoch nicht, dass jegliche etische Fragen unangemessen wären. Im Gegenteil kann die Frage nach den Erzählmustern und -strukturen, wenn sie erst einmal von modernisierungstheoretischen Prämissen befreit ist, überaus nützlich sein, um den Blick auf die Ideengeschichte zu erneuern. Viele Ideenhistoriker lesen die Geschichte beider Indien als ein antikolonialistisches Traktat. Dies gelingt allerdings nur, wenn man die Struktur, die Erzählmuster und den Erzählstil des Werks ausblendet und einige ausgewählte Auszüge, die von Diderot verfasst wurden, aus ihrem Kontext herauslöst. Wenn man sich jedoch den Gesamttext vor Augen hält, wird der angebliche antikoloniale Charakter deutlich relativiert. Stattdessen erscheint die Geschichte beider Indien über weite Strecken als ein patriotisches Geschichtswerk, das die französische Kolonialexpansion befürwortet. So führt im Endeffekt die etische Frage, ob die Geschichte beider Indien ein modernes Geschichtswerk sei, gerade dahin, sich von der anachronistischen Sicht zu distanzieren.
IWAN-MICHELANGELO D’APRILE
Verflochtene Sattelzeitgeschichten. 1 Journalistische Zeitgeschichtsschreibung um 1800 Auf dem Gebiet der deutschen Historiographiegeschichte der Sattelzeit haben sich in den letzten Jahrzehnten zwei grundlegende Forschungsansätze oder Paradigmen herausgebildet, die sich als überaus produktiv erwiesen haben und zusammen für jede Beschäftigung mit diesem Gegenstandsbereich den Ausgangspunkt und state of the art markieren. Erstens zu nennen ist ein wissenschaftshistorischer und universitätsgeschichtlicher Zugang, bei dem die Entstehung der Geschichtswissenschaft als akademische Disziplin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung in der Aufklärungshistorie im Zentrum steht. Dieser Zugang ist vor allem mit dem ehemaligen Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte und Forschern wie Hans Erich Bödeker, Peter Hanns Reill oder Horst Walter Blanke verbunden.2 Die jüngsten Arbeiten in dieser Hinsicht sind die Studien von Martin Gierl zu Gatterers Historiographie und André de Melo Araújos Auswertung der universalhistorischen Lehrveranstaltungen an der Universität Göttingen.3 Zum Zusammenhang von Akademisierung der Geschichtsschreibung und Nationalisierung nach 1810 finden sich in Sven Haases Untersuchung zur Berliner Universität entsprechende Hinweise.4 Eine zweite Herangehensweise nähert sich der Entstehung der modernen Geschichtsschreibung der Sattelzeit über die Narratologie und stellt den Zusammenhang von Geschichtswissenschaft und Literatur bei der Herausbildung des Historismus von Schiller bis Ranke ins Zentrum. Dieser Ansatz ist vor allem mit den 1
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Der Artikel stellt eine aktualisierte Zusammenfassung meines Buches Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz (Berlin 2013) dar. Nur beispielhaft unter vielen Publikationen seien genannt: Hans Erich Bödeker u.a. (Hg.): Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen 1992 sowie die Zusammenstellung von Horst Walter Blanke u. Dirk Fleischer (Hg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. André de Melo Araújo: Weltgeschichte in Göttingen. Eine Studie über das spätaufklärerische universalhistorische Denken 1756–1815. Bielefeld 2012; Martin Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012. Im Kontext der ‚anthropologischen Wende‘ untersucht Annette Meyer die spätaufklärerische Geschichtsschreibung. Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008. Hier vor allem zu Niebuhr, Rühs und Savigny siehe Sven Haase: Berliner Universität und Nationalgedanke 1800–1848. Genese einer politischen Idee. Stuttgart 2012, insb. S. 68‒70, 188‒190.
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Arbeiten von Daniel Fulda und Johannes Süßmann verbunden.5 Süßmann entwickelt darüber hinaus ein Modell für eine Textsortenlehre historischer Literatur, mit dem auf die konstitutive Bedeutung unterschiedlicher Gattungen der Geschichtsschreibung im Hinblick auf Erkenntnisinteressen, Fragestellungen und Darstellungsweisen verwiesen wird. Ich möchte diesen beiden Zugängen hier einen dritten zur Seite stellen, der sich der Frage der Geschichtsschreibung der Sattelzeit über ihre medialen Formen nähert. Historische Zeitschriften, Historische Kalender, Historische Taschenbücher, Enzyklopädien und Konversationslexika sowie Kompendien von Memoirenliteratur waren in der Sattelzeit zentrale Medien eines sich popularisierenden Geschichtsdiskurses. Am Beispiel einer Verlagsgeschichte und der populären Historiographie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben einen solchen mediengeschichtlichen Perspektivwechsel kürzlich Martin Nissen und Dirk Moldenhauer in ihren Dissertationsschriften vorgeschlagen.6 Nicht eine Interpretation der kanonischen Werke der großen Fachhistoriker wie Ranke, Droysen oder Treitschke legen sie ihrer Analyse des Geschichtsdiskurses des 19. Jahrhunderts zugrunde, sondern anhand von Verlagsprogrammen, Auflagenzahlen, Beständen in Leihbibliotheken und der Untersuchung der Rolle von Verlegerpersönlichkeiten richten sie den Blick auf Veröffentlichungspraktiken, Medien, Marktanteile und Leserschichten.7 Wie fruchtbar ein solcher Ansatz insbesondere für den deutschfranzösischen Kontext ist, zeigen Hans-Jürgen Lüsebrink und York-Gothart Mix in ihrem Projekt zur Rezeption der französischen Almanachkultur im deutschen Sprachraum sowie jetzt Anna Karla in ihrer grundlegenden Untersuchung der Zeitgeschichtsschreibung in der Memoirenliteratur zwischen Revolution und Restauration.8 Ich werde mich im Folgenden auf das Medium der historischen Zeitschriften sowie die damit verbundene Herausbildung eines neuen Autorentypus konzentrieren, den man als „Historiker-Journalisten“ bezeichnen könnte (Abschnitt 1). Be5
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Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996; Johannes Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). Stuttgart 2000. Vgl. in dieser Richtung zuletzt Stephan Jaeger: Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel. Berlin 2011. Martin Nissen: Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848–1900). Köln 2009; Dirk Moldenhauer: Geschichte als Ware. Der Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772–1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung. Köln, Weimar u. Wien 2008. Vgl. dazu auch die Rezension zu Nissens Populäre[r] Geschichtsschreibung von Annette Meyer: Geteilte Historiographie. In: Neue Politische Literatur 55/3 (2010), S. 489f. Hans-Jürgen Lüsebrink u. York-Gothart Mix (Hg.): Französische Almanachkultur im deutschen Sprachraum (1700–1815). Gattungsstrukturen, komparatistische Aspekte, Diskursformen. Göttingen 2013; Anna Karla: Revolution als Zeitgeschichte. Memoiren der Französischen Revolution in der Restaurationszeit. Göttingen 2014. Vgl. auch den Beitrag von Karla in diesem Band.
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tont werden soll vorweg, dass der mediengeschichtliche Zugang nicht im Gegensatz zu den anderen beiden Zugangsweisen steht, sondern dass sich im Gegenteil zahlreiche Überschneidungen zeigen: Historiker-Journalisten können gleichzeitig akademische Historiker gewesen sein; Schillers historische Werke sind neben den historischen Romanen Walter Scotts die unangefochtenen Spitzenreiter der Leihbibliotheken; er selbst der begehrteste Autor für Kalender- und Zeitschriftenverleger. Ein Wissenschaftsanspruch wird umgekehrt auch in historisch-politischen Monatsschriften vertreten. Schließlich sind viele der hier vorgestellten HistorikerJournalisten auch literarisch als Romanciers und Belletristen tätig – dies gilt für Friedrich Buchholz, Heinrich Zschokke, Joseph Wiedemann, Karl Ludwig von Woltmann und viele mehr. Dennoch lassen sich über einen solchen Zugang bestimmte Aspekte des historischen Diskurses um 1800 aufzeigen, die in den beiden anderen methodischen Herangehensweisen weniger deutlich werden. Er kann so zu einem komplexeren und pluraleren Historismus-Verständnis beitragen. Dazu gehört zuerst die zeithistorisch-politische Perspektivierung: Das Hauptthema der hier untersuchten Historiker ist die Geschichte des revolutionären Zeitalters und der napoleonischen Epoche bis hin zu den unterschiedlichen europäischen konstitutionellen Bewegungen. Zeitgeschichtsschreibung und Politik werden dabei in unmittelbarem Zusammenhang gesehen: „Eingreiffen in die ZeitEreignisse durch Darstellung der ZeitGeschichte“, bestimmt Johann Friedrich Cotta als den Zweck seiner Europäischen Annalen und formuliert damit prägnant, was für alle hier untersuchten Autoren gilt.9 Zweitens ist diese Art der Geschichtsschreibung nicht nur über den Gegenstandsbereich von Anfang an europäisch perspektiviert: Die Korrespondenznetzwerke der Zeitschriftenverleger spannen sich von London und Paris bis St. Petersburg und die deutschsprachigen historisch-politischen Journale bestehen zu großen Teilen aus Kompilationen, Adaptionen und Übersetzungen aus dem europäischen Zeitschriftendiskurs (Abschnitt 2). Drittens schließlich möchte ich argumentieren, dass sich – gerade durch diese europäische Perspektivierung – im historischen Zeitschriftendiskurs eine spezifische Art der Geschichtsschreibung und Geschichtsreflexion manifestiert, die im Anschluss an die westeuropäische Aufklärung Geschichte als einen umfassenden ökonomisch-politisch-sozialen Wandlungsprozess begreift. Sowohl in der konservativen Revolutionskritik als auch in der liberalen Revolutionsgeschichtsschreibung finden sich protosoziologische Argumentationsmuster, die man normalerweise nicht mit der Entstehung des Historismus in Verbindung bringt und die in der deutschen Historiographiegeschichte eher subkutan geblieben sind (Abschnitt 3). 9
Zit. nach Bernhard Fischer: Von den „Europäischen Annalen“ zur Tribüne – J.F. Cottas politische Periodika. Universalhistorische Geschichtsschreibung und „Innere Staatsbildung“. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 50 (1998), S. 295–315, hier S. 299.
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Für den „Erfinder“ der Sattelzeit, Reinhart Koselleck, hatte die journalistische Zeitgeschichtsschreibung „ihr großes Format“ erst nach der 1830er Juli-Revolution und in der Phase der Junghegelianer mit Autoren wie Bruno Bauer, Karl Marx, Lorenz von Stein, Michelet oder Adolphe Thiers, „deren Schriften zur Zeitgeschichte“ nach Koselleck „noch heute zur wiederholbaren Lektüre gehören“.10 Das Plädoyer dieses Artikels würde dagegen lauten, dass sich nicht nur die Lektüre von deren Vorläufern auch weiterhin lohnt, sondern dass sie wesentlich ein europäisches Geschichtsbewusstsein um 1800 geprägt haben.
I.
Das journalistische Feld – Medien und Akteure der Zeitgeschichtsschreibung
Eine neue Form der Zeitgeschichtsschreibung bildete sich als histoire immédiate in ganz Europa unmittelbar mit der Französischen Revolution im Dreieck von politischen und ökonomischen Umbrüchen, sich wandelnden Öffentlichkeitsformen und einem sich verändernden Zeit- und Aktualitätsverständnis heraus.11 Sie war keine bloß akademische Angelegenheit, sondern von Anfang an „ins Journalistische, in die Tagesschriftstellerei verschoben“12 und kam vorzugsweise in Medien wie historischen Zeitschriften, Almanachen oder Taschenbüchern zum Ausdruck. Markteröffnend haben im späten 18. Jahrhundert z.B. August Ludwig Schlözers StatsAnzeigen (Göttingen 1782–1793) oder Christoph Martin Wielands journalistische Arbeiten im Teutschen Merkur zur Französischen Revolution gewirkt.13 Ab 1770 lässt sich ein deutlicher Anstieg von Gründungen historisch-politischer Journale ausmachen, der erst um 1830 wieder abflaute.14 Mit der Französischen Revolution 10
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Reinhart Koselleck: Stetigkeit und Wandel aller Zeitgeschichten. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen. In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2003, S. 246– 264, hier S. 258. Zur „histoire immédiate“ in Frankreich vgl. Philippe Bourdin (Hg.): La Révolution 1789– 1871. Écriture d’une histoire immédiate. Clermont-Ferrand 2008 sowie für den deutschen Sprachraum die immer noch mustergültige Zusammenstellung von Horst Günther (Hg.): Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker. Frankfurt a.M. 1985. Koselleck: Stetigkeit und Wandel (wie Anm. 10), S. 258. Wielands politische Analysen der Revolutionszeit aus dem Teutschen Merkur hat Jan Philipp Reemtsma zusammengestellt in Christoph Martin Wieland: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. 3 Bde. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma. Nördlingen 1988. In den Jahrzehnten zwischen 1790 bis 1820 lassen sich mit Hans-Jürgen Pandel mindestens rund 70 Neugründungen historisch-politischer Zeitschriften pro Jahr feststellen, während die Zahlen in den Jahrzehnten zuvor zwischen vier und 25 liegen und im Jahrzehnt zwischen 1820 und 1830 wieder auf 22 sinken. Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765–1830). Stuttgart-Bad Canstatt 1990. Vgl. zur Gattung außerdem Ingeborg Salzbrunn: Studien zum deutschen historischen Zeitschriftenwesen von der Göttinger Aufklärung bis zur Herausgabe der „Historischen Zeitschrift“ (1859). Diss. Münster 1968.
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kam es insbesondere zu Neugründungen zeithistorischer Journale, deren Programmatik zumeist bereits an den Titeln ablesbar ist: Geschichte der gegenwärtigen Zeit (Straßburg 1790–1793), Räsonnierendes Magazin des Wichtigsten an der Zeitgeschichte (Salzburg 1791–1792), Klio. Eine Monatsschrift für die französische Zeitgeschichte (Leipzig 1795–1796), Die Zeiten oder Archiv für die neueste Staatengeschichte und Politik (Weimar 1805–1820) oder Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit (Aarau 1817–1823). Zu den konzeptionell anspruchsvollsten und überregional erfolgreichsten zeithistorischen Journalen um 1800 zählten Gottlob Benedict von Schirachs Politisches Journal (ab 1781), Johann Wilhelm von Archenholtz’ Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts (ab 1792), Cottas Europäische Annalen (ab 1795), Friedrich Gentz’ Historisches Journal (1798/99) oder Zschokkes Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit (ab 1817). Als später Nachzügler gehört auch noch die Historisch-politische Zeitschrift in diese Reihe, die Ranke 1832–1836 im Auftrag des Verlegers Christoph Perthes herausgab. Ausrichtung und Formate der zeithistorischen Medien wurden wesentlich von den Verlegern bestimmt. Sie waren es, die über Titel und Programm entschieden und sich gegebenenfalls zu den Formaten die passenden Autoren, Redakteure oder Herausgeber suchten. Erst aus der Interaktion der „Zeitschriftsteller“ mit Verlegern wird der Aufschwung zeithistorischer Publikationen erklärbar. So verhandelte Cotta15 für die geplante Gründung eines historisch-politischen Journals im Jahr 1794 zunächst mit Schiller und übertrug erst nach dessen Absage die Herausgeberschaft an Posselt, der bereits zu Beginn des Jahres 1794 einen Vorschlag zu einer solchen Zeitschrift unterbreitet hatte und ihr dann in einem Brief vom 29. Oktober 1794 den späteren Titel Europäische Annalen gab.16 Nach Posselts Tod im Jahr 1804 fragte Cotta erneut bei Schiller an, der Johannes von Müller ins Spiel brachte. Schließlich führte Cotta das Blatt ohne offiziellen Herausgeber, aber mit dem Berliner Journalisten Buchholz als wichtigstem Mitarbeiter. Gleiches gilt für Friedrich Justin Bertuchs Zusammenarbeit mit Christian Daniel Voss beim Journal Die Zeiten.17 Voss hatte Bertuch bereits im Juni 1803 den Vorschlag für die Gründung eines zeithistorischen Journals unterbreitet. Dieser aber zögerte über ein Jahr mit einer Antwort. Nach Posselts Tod versuchte er so15
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Zu Cotta als Verleger politischer Publizistik vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Revolution und Constitution: die Brüder Cotta. Eine biographische Studie zum Zeitalter der Französischen Revolution und des Vormärz. Berlin 1989; Karin Hertel: Der Politiker Johann Friedrich Cotta. Publizistische verlegerische Unternehmungen 1815–1819. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Sp. 366–578; Daniel Moran: Toward the century of words. Johann Cotta and the politics of the public realm in Germany 1795–1832. Berkeley 1990; Fischer: Politische Periodika (wie Anm. 9). Hans-Joachim Lang: Im Foyer der Revolution. Als Schiller in Tübingen Chefredakteur werden sollte: die Gründerzeit von Cottas „Allgemeiner Zeitung“. Tübingen 1998. Vgl. Julia Schmidt-Funke: Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft. Die politische Publizistik des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch. Köln, Weimar u. Wien 2005, S. 228‒233.
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fort, die sich auf dem Markt ergebende Lücke zu schließen und trat geradezu in einen Wettbewerb mit Cotta um die Verpflichtung Müllers. Letzterer entwarf, nachdem er von Bertuch einen Vorschuss von 1500 Rt erhalten hatte, zwar einen Plan für eine Zeitschrift mit dem Titel Die Zeiten. An Teutschland. Eine periodische Schrift, sagte wegen seiner Stellung im preußischen Staatsdienst aber schließlich ab und schlug statt seiner Niklas Vogt vor, der Professor für Geschichte in Mainz war und später einer der wichtigsten Publizisten im Rheinbund wurde. Erst nachdem auch Vogt abgesagt hatte, machte Bertuch Voss zum alleinigen Herausgeber des Journals. In Berlin wären die Journalistenkarrieren von Woltmann oder Buchholz ohne das Engagement des Verlegers Johann Friedrich Unger nicht möglich gewesen. Bei alledem blieben die Journale abhängig von der jeweiligen Regierungspolitik. Sie waren eingebunden in ein vielfältiges System von Vorzensur und Privilegierungen: Gentz etwa stellte sein Historisches Journal im Jahr 1800 ein, weil er wegen der preußischen Neutralitätspolitik für seine antifranzösische Publizistik von der Regierung keine Unterstützung mehr erhielt. Umgekehrt war Woltmanns Geschichte und Politik nicht mehr haltbar, als Preußen 1805 in die antifranzösische Koalition eintrat.18 Der Pressemarkt und die zunehmend aktive Pressepolitik der europäischen Großmächte eröffneten erstmals auch Verdienstmöglichkeiten, die es einer wachsenden Gruppe von Journalisten und Verlegern ermöglichten, von politischer Publizistik zu leben. Es bildete sich ein neuer Autorentypus des Historiker-Journalisten heraus, der mit einem zeitgenössischen Terminus „Zeitschriftsteller“ genannt wird. So spricht Wilhelm Ludwig Wekhrlin im vierten Band seines Grauen Ungeheuers von 1785 von seinen „Zunftbrüdern, den Zeitschriftstellern“;19 Ludwig Ferdinand Huber handelt in den Friedenspräliminarien von 1794 von „Zeitschriftsteller[n] und Revolutionsalmanachsmacher[n]“,20 Garlieb Merkel benutzt den Begriff zur Selbstcharakterisierung21 und Goethe betitelt den Herausgeber des Journals Deutschland, Johann Friedrich Reichardt, im Jahr 1796 in abgrenzender Absicht als „Zeitschriftsteller“.22 Ausführliche Reflexionen über „Zeitschriftsteller“ und „Journalisten“ finden sich um 1800 bei Gentz, der schon auf den engen Zusammenhang zwischen Journalismus und Zeitgeschichtsschreibung aufmerksam macht:
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Vgl. Karl Ludwig von Woltmann: Abschied von den Lesern dieser Zeitschrift. In: Geschichte und Politik 3 (1805), S. 263–267. Ludwig Wekhrlin: Das graue Ungeheuer. Bd. 4 (1785), S. 259. Ludwig Ferdinand Huber: Friedenspräliminarien. Bd. 6 (1794), S. 282, Anm [o.N.]. Vgl. Heinrich Bosse: Vom Schreiben leben. Garlieb Merkel als Zeitschriftsteller. In: OttoHeinrich Elias (Hg.): Zwischen Aufklärung und Biedermeier. Lüneburg 2007, S. 211–255. Johann Wolfgang Goethe: Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und SchillerArchivs. Hg. v. Erich Schmidt u. Bernhard Suphan. Weimar 1893, S. 6: „Der Zeitschriftsteller: Bald ist die Menge gesättigt von demokratischem Futter / Und ich wette du steckst irgend ein anderes auf.“
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Der Journalist steht zwischen dem Zeitungsschreiber und dem Geschichtsschreiber mitten inne: in so fern er das so eben geschehene erzählt, geht er freilich am sichersten, wenn er sich mehr an die Manier des erstern hält; in so fern er aber den rohen Stoff, den dieser liefert, zu verarbeiten anfängt, schließt er sich an den letztern an; und in dieser Hinsicht gilt von ihm alles das, was hier von dem Geschichtsschreiber gesagt wird.23
Der so umschriebene Autorentypus des politischen „Zeitschriftstellers“ ist nicht regional beschränkt, sondern findet sich in allen deutschen Territorien: in Württemberg (Johann Gottfried Pahl, Ludwig Posselt) und im Großherzogtum Frankfurt (Niklas Vogt, Peter Adolph Winkopp),24 im Elsass (Johann Friedrich Butenschön, Friedrich Christoph Cotta),25 in Bayern (Joseph Wiedemann, Christian Georg Otto),26 Österreich (Friedrich Gentz, Adam Müller, Friedrich Schlegel), Sachsen (Christian Daniel Voss, Heinrich Luden),27 Hannover (August Wilhelm Rehberg), Preußen (Friedrich Buchholz, Saul Ascher, Karl Ludwig von Woltmann), in der Schweiz (Heinrich Zschokke, Paul Usteri),28 in Norddeutschland (August Hennings, Johann Wilhelm von Archenholz, Gottlob Benedict von Schirach) oder im Baltikum (Garlieb Merkel, Carl Gustav Jochmann). Auch in Frankreich haben – nach den unmittelbaren revolutionären und gegenrevolutionären HistorikerJournalisten wie Jacques Mallet du Pan, Louis de Bonald, Jean de Sismondi und vielen weiteren – unter anderem drei der wichtigsten Historiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Karrieren als historisch-politische Journalisten begonnen: Der junge François Guizot (1787–1874) arbeitete ab 1808 als Korrespondent für Zschokkes zeithistorische Journale; Augustin Thierry (1795–1856) schrieb nach seiner Tätigkeit als Sekretär Henri de Saint-Simons von 1817–1820 hauptberuflich 23
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Gentz spricht sowohl von „Zeitschriftstellern“ wie von „Journalisten“. Vgl. Friedrich Gentz: Authentische Darstellung des Verhältnisses zwischen England und Spanien vor und bei dem Ausbruche des Krieges zwischen beiden Mächten. St. Petersburg 1806, S. 16 sowie ders.: In wie fern kann man Unparteilichkeit und Neutralität von einem politischen Schriftsteller verlangen? In: Historisches Journal 2 (1799), S. 323–341, hier S. 334. Vgl. hierzu Gerhard Schuck: Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. Kontinuitätsdenken und Diskontinuitätserfahrung in den Staatsrechts- und Verfassungsdebatten der Rheinbundpublizistik. Stuttgart 1994; Birgit Fratzke-Weiß: Europäische und nationale Konzeptionen im Rheinbund. Politische Zeitschriften als Medien der politischen Öffentlichkeit. Frankfurt a.M., Berlin u. Bern 1997 sowie Tristan Coignard: Vom „Reichspatriotismus“ zum „Rheinbundpatriotismus“? Napoleons Reformkonzept und sein Widerhall im Umfeld des ‚Rheinischen Bundes‘. In: Marion George u. Andrea Rudolph (Hg.): Napoleons langer Schatten über Europa. Dettelbach 2008, S. 87–102. Zum Elsass vgl. Susanne Lachenicht: Information und Propaganda. Die Presse deutscher Jakobiner im Elsaß (1791–1800). München 2004. Zu Bayern grundlegend Wolfgang Piereth: Bayerns Pressepolitik und die Neuordnung Deutschlands nach den Befreiungskriegen. München 1999. Zu Voss vgl. Axel Rüdiger: Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2005. Zu Zschokke vgl. Holger Böning: Heinrich Zschokke und sein „Aufrichtiger und wohlerfahrener Schweizerbote“. Die Volksaufklärung in der Schweiz. Bern u.a. 1983; Werner Ort: „Die Zeit ist kein Sumpf; sie ist Strom“. Heinrich Zschokke als Zeitschriftenmacher in der Schweiz. Bern u.a. 1998.
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historische Aufsätze für den Censeur européen und den Courrier français und Thiers (1797–1877) war in den 1820er Jahren wichtigster Mitarbeiter bei den liberalen Zeitschriften Le Constitutionel und Le national.29 Historiker-Journalisten sind im frühen 19. Jahrhundert ein europaweites Phänomen, wobei die Grenzen zwischen Geschichtsschreibung, Journalistik, Belletristik und philosophischer Publizistik fließend sind. Die Einkommensspanne reichte von journalistischen Tagelöhnern und Vielschreibern bis zu Großverdienern und erstaunlichen europäischen JournalistenKarrieren wie der von Gentz, der vom preußischen Zeitschriftenmacher zu Metternichs wichtigstem Politikberater aufstieg.30 Aber auch unbekanntere Autoren wie der österreichische Reiseschriftsteller Wiedemann, der zum bedeutenden Pressearbeiter der Regierungen in Frankreich und in Bayern wurde, oder der aus der Braunschweiger jüdischen Gemeinde stammende Karl Julius Lange, der nur durch die Hilfe Lessings den Verfolgungen des Herzogs von Braunschweig entgehen konnte, sind hier zu nennen. Lange stieg als politischer Journalist zum wichtigsten Mitarbeiter in der Presseabteilung des Preußischen Staatskanzlers Hardenberg auf und wurde schließlich sogar Erfurter Hofrat.31 Manchen gelang es sogar, mit Nicht-Schreiben Geld zu verdienen: So erhielt A. Müller von der Preußischen Regierung ein Wartegeld – man könnte auch sagen, Schweigegeld – in der beachtlichen Höhe von 1200 Rt, weil er sich mit seinen politischen Artikeln in Kleists Berliner Abendblättern zum Sprachrohr der altständischen Adelsopposition gemacht hatte.32 Vergleicht man dies mit den durchschnittlichen Verdienstmöglichkeiten für im weiteren Sinn intellektuelle Arbeit, die von 100–150 Rt im Jahr für Hauslehrer bis zu 300–500 Rt pro Jahr für kleinere und mittlere Beamte lagen, verwundert es nicht, dass zahlreiche Autoren ihre bisherige Beschäftigung aufgaben, um ganz ins Fach des politischen Journalismus zu wechseln.33 Merkel z.B. verließ eine Berater-
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Vgl. Ort: Zschokke (wie Anm. 28), S. 238‒241; Peter Stadler: Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich 1789–1871. Zürich 1958, S. 143. Vgl. Golo Mann: Friedrich von Gentz: Gegenspieler Napoleons – Vordenker Europas. Neuausgabe der Ausgabe Zürich 1947. Frankfurt a.M. 2011; Harro Zimmermann: Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik. Paderborn 2012. Zu Lange vgl. Peter Jungblut: Ein verteufeltes Leben. Simson Alexander David – Karriere eines Feindbilds. Berlin 2012; Andrea Hofmeister-Hunger: Pressepolitik und Staatsreform. Die Institutionalisierung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit bei Karl August von Hardenberg. Göttingen 1994, S. 141–144; Iwan-Michelangelo D’Aprile: „Die letzten Aufklärer“. Politischer Journalismus in Berlin um 1800. In: Ursula Goldenbaum u. Alexander Košenina (Hg.): Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien. Bd. 4. Hannover-Laatzen 2011, S. 179– 206, hier S. 192f. Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Der Streit um Christian Jacob Kraus in den „Berliner Abendblättern“ (2005). URL: http://www.textkritik.de/vigoni/kittsteiner1.htm [25.09.2013], S. 29. Nach Helga Eichler lag das durchschnittliche Jahreseinkommen in Berlin um 1800 bei 100– 150 Rt für Manufakturarbeiterfamilien und Hauslehrer, bei 300–500 Rt bei mittleren Beamten
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stelle am dänischen Hof, um als Schriftsteller nach Berlin zu gehen. Ascher, der als Jude nicht im Staatsdienst war, tauschte sein Buchhändlerdasein gegen eine Laufbahn als politischer Journalist ein und arbeitete unter anderem für Zschokkes Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit als Korrespondent. Und Woltmann schlug die Aussicht auf eine Professur in Göttingen aus, weil der Verleger Unger ihm für die Zeitschrift Geschichte und Politik ein besseres Angebot gemacht hatte.34 Buchholz schließlich gab im Jahr 1800 seine schlecht dotierte Stelle als Lehrer an der Ritterakademie in Brandenburg a.d. Havel auf, um sich in Berlin als freier Schriftsteller niederzulassen, wo er in Zusammenarbeit mit den Verlegern Unger, Cotta und Johann Daniel Sander zum „Haupt der politischen Presse in Deutschland“ wurde.35
II.
Adaptionen und Übersetzungen
Die Verleger, Buchhändler und Zeitschriftenherausgeber verfügten über ein dichtes Korrespondentennetz in den wichtigen europäischen Hauptstädten.36 Dies gilt für Archenholz’ Minerva, zu dessen Pariser Korrespondenten Georg Forster, Karl Friedrich Reinhard und Konrad Engelbert Oelsner gehörten, genauso wie für Cottas weitverzweigtes Korrespondentennetz oder Zschokkes zeithistorische Journale mit Korrespondenten wie Henri-Baptiste Grégoire und Guizot in Paris, Antonin von Schlichtegroll in London oder Ascher in Berlin.37 Übersetzungen und Adaptionen stehen dementsprechend im Zentrum der hier beschriebenen journalis-
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und bei bis zu 5000–8000 Rt bei Ministern und Diplomaten. Vgl. Helga Eichler: Berliner Intelligenz im 18. Jahrhundert. Herkunft – Struktur – Funktion. Berlin 1989, S. 31. In der Selbstbiographie Woltmanns heißt es dazu: „Der Hauptgrund, warum er [Woltmann, I.D.] die göttingische Professur aus dem Augenmerk verlor, war eine allem Anschein nach äußerst vortheilhafte buchhändlerische Verbindung, welche ihm Unger in Berlin anbot, ein Mann, der sich durch Rastlosigkeit und Unternehmungsgeist, durch die Beihülfe seiner Frau, welche die schwächliche Natur zu einer unglaublichen Anstrengung für seine Unternehmungen spannte, zu einem sehr aufblühenden Wohlstand emporgearbeitet hatte, ohne über dem Kaufmann seine künstlerischen Anlagen zu vergessen. Woltmann’s Gegenwart in Berlin ward durch solche Verbindung nöthig, wenigstens von dem Jahr 1800 an, wo er dem verabredeten Plan gemäß daselbst auch ein Journal für Geschichte und Politik beginnen sollte“ (Karl Ludwig von Woltmann: Selbstbiographie in: Karl Ludwig von Woltmann’s sämmtliche Werke. Hg. v. Karoline von Woltmann. Erste Lieferung. Erster Band. Berlin 1827, S. 13–187, hier S. 132). Adam Müller: Bei Gelegenheit der Untersuchungen über den Geburtsadel von Fr. Buchholz. In: Pallas (1808), S. 83‒88, hier S. 83. Vgl. Iwan-Michelangelo D’Aprile: Europäische Pressenetzwerke im napoleonischen Zeitalter. In: Anne Baillot (Hg.): Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800. Berlin 2011, S. 331–346. Friedrich Ruof: Johann Wilhelm von Archenholtz. Ein deutscher Schriftsteller zur Zeit der französischen Revolution und Napoleons (1741–1812). Vaduz 1965 [photom. ND der Ausg. Berlin 1915], S. 131; Ute Rieger: Johann Wilhelm von Archenholz als ‚Zeitbürger‘. Eine historisch-analytische Untersuchung zur Aufklärung in Deutschland. Berlin 1994, S. 32; Ort: Zschokke (wie Anm. 28), S. 165f., 350–372.
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tischen Zeitgeschichtsschreibung. Sie ist in besonders hohem Maße verflochtene Geschichtsschreibung, in der die wichtigen Artikel, Werke und Debatten des Revolutionszeitalters vor allem aus dem französischen und englischen, aber auch italienischen oder spanischen Sprachraum für die deutschen Debatten rezipiert und adaptiert werden. Die Diskurse und Netzwerke konstituieren über die Staatsgrenzen hinaus einen europäischen Öffentlichkeitsraum.38 So gehört es zum wichtigsten Handwerkszeug der Journalisten, über die maßgebenden europäischen Periodika ständig auf dem Laufenden zu sein. Als etwa die Europäischen Annalen gegründet werden, fordert Posselt von seinem Verleger Cotta unterschiedlichste europäische Journale als Informationsmaterial an: Moniteur, Journal de Paris, Hamburger-Berliner und Wiener HofZeitungen – Breslauer – Brünner – Clevische – Ministeriale Zeitung – Gothaer Handlungs-Zeitung – Frankfurter Oberpost-AmtsZeitung – Baireuther – Münchener – Schwäbischer Merkur – Karlsruher – Mannheimer – Cöllner – Hamburger politisches Journal – Niederelbisches Magazin – Schlözers Staatsanzeigen.39
Über ein breit gestreutes europäisches Lektürepensum im Zusammenhang mit seiner journalistischen Tätigkeit berichtet auch Gentz in einem Brief an Christian Garve: Sie würden erstaunen, wenn Sie die Menge von Zeitungen sehen sollten, die jetzt posttäglich durch meine Hände gehen. Zwei Tage der Woche (gewöhnlich den Montag und Donnerstag, wo die Clevische Post bei uns ankömmt, und wo ich auch gemeinhin von andern Arbeiten am freiesten bin) sind lediglich und ausschließend dem Lesen der Zeitungen und sorgfältigen Exzerpieren und Klassifizieren ihres Inhalts eingeräumt. Außer der Posseltschen Zeitung, der Leydener, Frankfurter, Hamburger und andern deutschen, bekomme ich nun regelmäßig fünf große französische Zeitungen: Redacteur, Conservateur, Journal de Paris, Ami des Loix, Moniteur, und drei englische: London Chronicle, Morning Chronicle, und Courier de Londres. Daß das Lesen und Exzerpieren aller dieser Blätter viel Zeit wegfrißt, werden Sie leicht ermessen können: ich bin aber – wenn ich die unendliche Wichtigkeit und Merkwürdigkeit der Geschichte dieser Tage in Erwägung ziehe – fest überzeugt, daß es mich nie gereuen wird, diese Zeit verwendet zu haben.40
Nicht nur bei Gentz steht eine Übersetzertätigkeit, in seinem Fall die Übersetzung von Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France (1790) am Anfang der zeithistorischen publizistischen Tätigkeit.41 In der Vorrede umreißt Gentz erstmals sein umfassendes gegenrevolutionäres politisches Programm, das für seine 38
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Der Transfer verlief durchaus in beide Richtungen und auch die deutschsprachigen Beiträge wurden in anderen europäischen Kontexten rezipiert: Gentz beispielsweise in Großbritannien, Buchholz in Frankreich oder Norwegen. Vgl. D’Aprile: Erfindung der Zeitgeschichte (wie Anm. 1), S. 64, 71f. Zit. nach Salzbrunn: Historisches Zeitschriftenwesen (wie Anm. 14), S. 149. Christian Garve an Friedrich Gentz, 23. März 1798. In: Briefe von und an Friedrich von Gentz. 2. Bde. Hg. v. Friedrich Carl Wittichen. Bd. 1. München u. Berlin 1909, S. 206f. Edmund Burke: Betrachtungen über die französische Revolution. Übersetzt mit einer Vorrede und Anmerkungen von Friedrich Gentz. 2 Bde. Berlin 1793 [ND: Ders.: Über die Französische Revolution. Hg. u. mit einem Anhang versehen v. Hermann Klenner. Berlin 1991].
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gesamte weitere Laufbahn leitend bleiben sollte. Später entwickelt er seine Positionen im Anschluss an die gegenrevolutionäre Publizistik Mallet Du Pans oder Bonalds in Zeitschriften wie dem Journal des débats oder dem Mercure de France oder Mallet du Pans Considérations sur la nature de la révolution de France et sur les causes, qui en prolongent la durée (1793), die Gentz in Übersetzungen dem deutschen Publikum zugänglich macht.42 Mallet du Pan wird auch als Autorentypus zu Gentz‘ Vorbild als politischer Zeitschriftsteller. In der prorevolutionären und frühliberalen deutschen Zeitgeschichtsschreibung sind Übersetzungen und die Reflexion derselben in den Vorreden ebenfalls zentral: Forsters Vorreden zu den Übersetzungen von Thomas Paines Rights of Man (1791‒1792) oder Volneys Ruines, ou méditation sur les révolutions des empires ebenso wie Posselts Übersetzung von Condorcets Esquisse d‘un tableau historique des progrès de l’esprit humain sind Grundtexte des hier umschriebenen Diskurses.43 Exemplarisch lässt sich die Bedeutung von Übersetzungen und Adaptionen für die deutsche Zeitgeschichtsschreibung am Beispiel von Buchholz zeigen. Bei Buchholz ist es vor allem die Rezeption der italienischen republikanischen Tradition, die katalysatorische Funktion bei seinem Wechsel von der Literaturprofessur zum politischen Journalismus hatte. Eines seiner ersten Werke war eine Übersetzung von Vittorio Alfieris Traktat Del Principe e delle Lettere (Der Fürst und die Wissenschaften), der 1789 erstmals vom Autor im Privatdruck in Kehl verlegt wurde und 1800 in einer nicht autorisierten Veröffentlichung in Paris erschien. Buchholz’ Übersetzung wurde von der preußischen Zensur unterdrückt und erst im Jahr 2011 publiziert.44 Alfieris Abhandlung steht in der Tradition Machiavellis und 42 43
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Jacques Mallet du Pan: Über die französische Revolution und die Ursachen ihrer Dauer. Uebersetzt mit einer Vorrede und Anmerkungen von Friedrich Gentz. Berlin 1794. Georg Forster: Vorrede zu Constantin François de Volney: Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche. Übers. v. Dorothea Magarete Forkel. Berlin 1792 [zuerst: Les ruines, ou méditation sur les révolutions des empires. Paris 1791]. Abgedruckt in: Georg Forster: Ueber den gelehrten Zunftzwang. In: Ders.: Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. 20 Bde. Hg. v. d. Akademie d. Wissenschaften. Bd. 8: Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte. Bearb. v. Siegfried Scheibe. Berlin 1974, S. 228–233. Vgl. als direkte Antwort auf Burke auch Forsters Vorrede zur deutschen Übersetzung von Thomas Paine: Die Rechte des Menschen. In: Ebd., S. 220–227; Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet: Entwurf eines historischen Gemäldes der Fortschritte des menschlichen Geistes. Nachlaß von Condorcet ins Teutsche übersetzt durch D. Ernst Ludwig Posselt. Tübingen 1796 [zuerst: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain. Paris 1794]. Vittorio Alfieri: Der Fürst und die Wissenschaften. Hg. v. Enrica Yvonne Dilk u. Helmuth Mojem. Mit einem Nachwort v. Arnaldo di Benedetto. Aus dem Italienischen übers. v. Friedrich Buchholz. Göttingen 2011. Die in einem Brief an Cotta angekündigte Vorrede hat Buchholz veröffentlicht in Friedrich Buchholz: Vittorio Alfieri von Asti. In: Eunomia 4/1 (1804), S. 89–105, 169–183. Zudem macht Buchholz Alfieri zu einer der zentralen Figuren in seinem 1806 veröffentlichten Roman Bekenntnisse einer schönen Seele. Von ihr selbst geschrieben [ND als: Friederike Helene Unger (sic!): Bekenntnisse einer schönen Seele. Frühe Frauenliteratur in Deutschland. Bd. 9. Hg. mit einem Nachwort v. Susanne Zantop. Hildesheim 1991]. Auch die biographische Skizze zu Alfieri im von seinem Freund Christian Ludwig Ideler herausgegebenen Handbuch der Italiänischen Sprache und Litteratur oder
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Rousseaus und zählt zu den Gründungsdokumenten des europäischen Republikanismus. Alfieri reflektiert hier den Zusammenhang zwischen der politischen Verfassung und der Möglichkeit kultureller und wissenschaftlicher Entwicklung. Seine These lautet, dass Wissenschaften und Künste nur in einer republikanischen Staatsverfassung gedeihen können, während sie in Monarchien korrumpiert und der Lächerlichkeit preisgegeben würden. Dies sei in den nicht-kompatiblen Interessen der Machthaber mit den „Zwecken der Wissenschaften“ begründet. Während der Fürst will und „wollen muss“, „daß seine Unterthanen verblendet, unwissend, niederträchtig, betrogen und unterdrückt seyen“, weil sonst seine absolutistische Machtgrundlage „aufhören würde zu existiren“, sei es der Zweck der Wissenschaften, „der möglich-größten Anzal von Menschen Licht, Wahrheit und Vergnügen zu gewähren.“45 Anstatt sich im „Koth der Höfe“ zu besudeln, rät er den Literaten und Wissenschaftlern, sich zu einer europaweiten Avantgarde der Republik zusammenzufinden und durch wirkliche Literatur und Wissenschaft „die allgemeine Schlafsucht“ zu stören, „welche man sehr fürstlich die öffentliche Ruhe nennt.“46 Buchholz’ Alfieri-Rezeption ist durchaus vergleichbar mit der – vor allem durch Lionello Sozzi – gut erforschten Bedeutung von Alfieris Principe für die Pariser Zirkel der Direktoratszeit und die Kreise um Germaine de Staël und Benjamin Constant.47 Ausgehend von Alfieri formuliert etwa de Staël in De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales erstmals explizit das Programm einer umfassenden Sozialgeschichte der Literatur von der Antike bis zur Moderne. De Staëls royalistischer Gegenspieler Bonald brachte dieses Programm zwei Jahre später, 1802, auf die Formulierung, dass die Literatur immer ein „Ausdruck der jeweiligen Gesellschaft“ („expression de la société“) sei.48 Der zweite wichtige republikanische Referenzautor für Buchholz war Machiavelli. Annette Meyer hat gezeigt, dass Buchholz einer der aktivsten Protagonisten der Machiavelli-Renaissance um 1800 war, an der auch Autoren wie Johann Gott-
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Auswahl interessanter Stücke aus den klassischen italiänischen Prosaisten und Dichtern nebst Nachrichten von den Verfassern und ihren Werken stammt mutmaßlich von Buchholz. Vgl. ebd., Bd. 2: Poetischer Theil. Berlin 1802, S. 305f. Alfieri: Fürst (wie Anm. 44), S. 10f. Ebd., S. 13. Lionello Sozzi: Germaine de Staël, Benjamin Constant et Alfieris „Del Principe e delle Lettere“. In: Orages. Littérature et culture 1760–1830 9 (2010): Devenir un „grand écrivain“. Métamorphoses de la reconnaissance littéraire. Dossier préparé par Jean-Christophe Igalens et Sophie Marchand, S. 103–127. Vgl. auch Axel Blaeschke: Introduction. In: Madame de Staël: De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales [1800]. Paris 1998, S. XXI–CXXI, hier S. CVIf. In: Mercure de France 41, 1er ventôse an X [20. Februar 1802]. Zit. nach Blaeschke: Introduction (wie Anm. 47), S. XXIII. Vgl. zu Bonald auch Robert Spaemann: Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L.G.A. de Bonald. Stuttgart 1998 [ND der Ausg. München 1959].
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lieb Fichte oder August Wilhelm Rehberg beteiligt waren.49 Buchholz betont insbesondere Machiavellis anti-normativistisches und anti-idealistisches Politikverständnis, in dessen Zentrum die Forderung nach einer „Zerstörung des Idealismus in Regierungsangelegenheiten“ gestanden habe.50 Auch in seiner MachiavelliRezeption, die auf seine Lehrtätigkeit für romanische Literaturen zurückgeht, kündigt sich so schon Buchholz’ frühsoziologischer Historismus an.51 Bis zum Schluss seiner publizistischen Tätigkeit bezeichnete sich Buchholz als „Schüler des florentinischen Staatssecretairs“.52 Neben dem italienischen Republikanismus zählen zu Buchholz’ programmatischen Übersetzungen und Adaptionen die politischen Theorien des französischen Revolutionsdiskurses, so etwa die Théorie du Monde Politique des vormaligen Redakteurs des Moniteur, Charles Hyacinthe His, die vom Verfasser im Untertitel als eine „Science du Gouvernement, considérée comme science exacte“ ausgewiesen wird oder auch Buchholz’ Vorrede zur deutschen Übersetzung des Lehrbuchs Gemählde der Revolutionen in Europa (1807), das Christoph Wilhelm Koch im Auftrag des französischen National-Instituts verfasst hat.53 In seiner Zeitschrift, der Neuen Monatsschrift für Deutschland, übersetzte Buchholz umfassend die zeitgenössische französische Historiographie. Hierzu gehören Auszüge aus Thierrys Histoire de la conquete de l’Angleterre par les Normands54 oder Artikel des liberalen Journalisten und Herausgeber des Constitutionnel Thiers,55 ebenso wie Victor Hugos Revolutionsgeschichte Étude sur Mirabeau von 1834, die die Ereignisse von 1789 und 1830 verbindet.56 Unter den von Buchholz übersetzten Historikern ragt der Publizist und spätere französische Minister Guizot mit Übersetzungen im Umfang von über 200 Seiten heraus: Buchholz publiziert Auszüge aus Guizots Essais sur l’histoire de France (Über den politischen Charakter des Lehnswesens),57 Über den Ursprung des Repräsen49
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Annette Meyer: Machiavellilektüre um 1800. Zur marginalisierten Rezeption in der Popularphilosophie. In: Dies. u. Cornel Zwierlein (Hg.): Machiavellismus in Deutschland – Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit. München 2010, S. 191– 213. Friedrich Buchholz: Ueber Niccolo Machiavellis Fürstenspiegel. In: Geschichte und Politik 2 (1803), S. 69–100. Vgl. dazu Abschnitt 3. Forum der Journal-Literatur: eine antikritische Quartalschrift. Hg. v. Karl Gutzkow. Frankfurt a.M. 1971 [photom. ND der Ausg. Berlin 1831], S. 27. [Friedrich Buchholz]: Theorie der politischen Welt. Hamburg 1807 [= Übers. Charles Hyacinthe His: Théorie du monde politique, ou de la science du gouvernement, considérée comme science exacte. Paris 1806]. Friedrich Buchholz: Vorrede. In: Christoph Wilhelm Koch: Gemählde der Revolutionen in Europa, seit dem Umsturze des Römischen Kaiserthums im Occident, bis auf unsre Zeiten. Aus dem Französischen übersetzt v. Johann Daniel Sander. Berlin 1807, S. I–V. Neue Monatsschrift für Deutschland (=NMD) 30 (1829), S. 186–188. NMD 11 (1823), S. 108–132. NMD 46 (1835), S. 66–71. NMD 13 (1824) , S. 43–89, 183–203.
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tativ-Systems in England58 und dessen rechtsreformerische Schrift De la peine de mort en matière politique (Von der sittlichen Wirksamkeit der Todesstrafe für politische Verbrechen).59 Nach Buchholz hat „seit Rousseaus Zeiten […] kein Schriftsteller Frankreich mehr in Erstaunen versetzt“ als Guizot.60 In kaum einer „europäischen Litteratur, die englische gar nicht ausgenommen“, dürfte sich nach Buchholz ein Werk finden, das sich mit Guizots Geschichtsschreibung messen kann.61 In der Beschreibung von Guizots Standpunkt ist dabei unschwer Buchholz’ eigene Position wiederzuerkennen: Unbefangen stellt er sich als den Verteidiger der Revolution dar, nicht in dem, was Böses von ihr ausgegangen ist, sondern in dem, was sie Gutes gewollt hat, und fortdauernd wollen muß. Die Charta ist ihm das, was sie jedem Franzosen seyn sollte: Anerkennung der Revolution.62
Eine Sonderstellung innerhalb von Buchholz’ Monatsschrift nehmen die Übersetzungen aus den saint-simonistischen Zeitschriften und der Schriften von Auguste Comte ein. Nicht nur ist Comte in Buchholz’ Monatsschrift der mit Abstand meistübersetzte Autor, sondern beide standen samt Comtes Schüler Gustave d’Eichthal auch in direktem Austausch. Als Resultat dieser Korrespondenz verfasste Buchholz für die Monatsschrift mit einem umfassenden Auszug aus Comtes Système de politique positive unter den Titeln Grundlinien einer nichtmetaphysischen Staatswissenschaft63 und Philosophische Betrachtungen über die Wissenschaften und über die Gelehrten64 die ersten deutschen Übersetzungen von Comtes Schriften überhaupt. Buchholz machte seine Monatsschrift durch Comtes Vermittlung darüber hinaus geradezu zum Sprachrohr saint-simonistischer Schriften und zu einer Art deutscher Teilausgabe des Producteur.65 Nicht weniger als 32 Abhandlungen auf rund 850 Seiten von Allier, Bazard, Blanqui, Buchez, Comte, Decaen, Enfantin, Dubouchet, Laurent, Rodrigues und Rouen übersetzte Buchholz hier in den Jahren 1826 bis 1829. Hinzu kommen weitere Artikel aus Journalen 58 59 60 61 62 63 64 65
Ebd., S. 316–344, 454–483; NMD 14 (1824), S. 54–86, 200–233. NMD 9 (1822), S. 456‒483. [Friedrich Buchholz]: Herr von Pradt und Herr Guizot. In: NMD 4 (1821), S. 88–99, hier S. 99. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93. Friedrich Buchholz [Übers. Auguste Comte:] Grundlinien einer nicht-metaphysischen Staatswissenschaft. In: NMD 14 (1824) S. 314–351, 439–476; NMD 15 (1824), S. 52–85. Friedrich Buchholz [Übers. Auguste Comte:] Philosophische Betrachtungen über die Wissenschaften und über die Gelehrten. In: NMD 19 (1826), S. 312–339. Der Producteur – journal de l’industrie, des sciences et des beaux-arts erschien von Oktober 1825 bis Oktober 1826 und war in dieser Zeit das zentrale saint-simonistische Publikationsorgan. Rütger Schäfer hat die von Buchholz in seiner Monatsschrift übersetzten saint-simonistischen Artikel neu abgedruckt in Saint-Simonistische Texte. Abhandlungen von Saint-Simon und anderen in zeitgenössischen Übersetzungen. 2 Bde. Hg. u. eingel. v. Rütger Schäfer. Aalen 1975. Vgl. zur Rezeption des Saint-Simonismus in der deutschen Presse auch Stefanie Siebers-Gfaller: Deutsche Pressestimmen zum Saint-Simonismus 1830–1836. Eine frühsozialistische Bewegung im Journalismus der Restaurationszeit. Frankfurt a.M. 1992.
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wie der Revue encyclopédique (Paris 1820–1835) und der Revue du progrès social (Paris 1834), die dem Saint-Simonismus nahestanden.66 Die durchaus identifikatorische Übernahme saint-simonistischer Schriften durch Buchholz lässt sich unter anderem daran festmachen, dass er teilweise Artikel aus dem Producteur übernahm, ohne sie überhaupt als Übersetzungen zu kennzeichnen, oder längere wörtliche Passagen vor allem aus Comtes Schriften in seine eigenen Artikel einbaute, ohne sie als Zitat auszuweisen.67 Was hier nur exemplarisch anhand Buchholz’ Journal skizziert wurde, gilt in gleicher Weise für Posselts Europäische Annalen, Archenholz’ Minerva oder Zschokkes Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit: Bei ihnen allen ist journalistische Zeitgeschichtsschreibung verflochtene Sattelzeitgeschichte, die sich selbst, häufig in kritischer Abgrenzung zu entstehenden romantischen Nationalismen, explizit als europäische Geschichtsschreibung versteht.
III. Zeitgeschichtsschreibung als Wirklichkeitswissenschaft des sozialen Wandels Mit der europäischen Perspektivierung der hier vorgestellten Zeitgeschichtsschreibung geht ihre explizit anti-idealistische und anti-metaphysische Stoßrichtung einher. Zeitgeschichte wird als Wirklichkeitswissenschaft in Auseinandersetzung mit den geschichtsphilosophischen Modellen Immanuel Kants oder Johann Gottlieb Fichtes konzipiert. Gegen die normativ-idealistische Überhöhung der Revolution – so Gentz’ Kritik – werden aus frühkonservativer Perspektive Erfahrung und Empirie, Tradition und Geschichte als zentrale, zugleich gegenrevolutionäre wie antikantianische Argumentationsmuster ins Feld geführt. Von den GentzBiographen Golo Mann und Harro Zimmermann wurde der „realpolitische“ Zugang denn auch als Grundzug in dessen Schriften ausgemacht.68 Explizit fordert Gentz eine „neue Theorie aus der Erfahrung“, in der anthropologische, historische und soziologische Aspekte zum Zweck eines umfassenden „Studiums der gesellschaftlichen Verhältnisse“ zusammengedacht werden: Kenntniß des Menschen, des Einzelnen und großer Massen, Kenntniß menschlicher Fähigkeiten, Neigungen, Schwachheiten und Leidenschaften, anhaltende Beobachtung, Vergleichung mannichfaltiger Lagen und Umstände, Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse.69
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Saint-Simonistische Texte (wie Anm. 65), Bd. 1, S. 8, 13. Ebd., Bd. 2, S. 147 u. Bd. 1, S. 258. Zimmermann: Realpolitik (wie Anm. 30). Friedrich Gentz: Nachtrag zu dem Räsonnement des Herrn Professor Kant. In: Kant, Gentz, Rehberg: Über Theorie und Praxis. Hg. v. Dieter Henrich. Frankfurt a.M. 1967, S. 89–111, hier S. 103 [zuerst: Berlinische Monatsschrift, 1793].
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In Gentz’ Zeitschriftenartikeln in der Berlinischen Monatsschrift, in der Minerva, im Historischen Journal sowie in seinen Rezensionen der neuesten Revolutionsschriften in der Allgemeinen Literaturzeitung sind die Vorgänge in Frankreich das Hauptthema, die er von Anfang an als „pragmatischer Geschichtsschreiber der Revolution“ analysierend und kommentierend begleitet.70 Auch Buchholz, der auf der anderen Seite des politischen Spektrums stand und dem Frühliberalismus zuzurechnen ist, teilt Gentz’ historisierende Kritik an der idealistischen Geschichtsphilosophie – allerdings auf der Basis eines anderen Geschichtsverständnisses: Während Gentz die Historie vor allem als Traditionsstabilisierung betreibt und er sich selbst als einen „Vertheidiger des Alten“ stilisiert, beschreibt Buchholz gegenüber Cotta den Zweck seiner Zeitgeschichtsschreibung als „Beschleunigung der Freiheit in Deutschland, ohne welche kein Heil zu erwarten ist“.71 Wie Gentz bringt Buchholz gegen die philosophische Spekulation die empirische Zeitgeschichte ins Spiel. Buchholz’ Programm der konsequenten Historisierung und damit – dem Selbstverständnis nach – verwissenschaftlichenden Deutung des Revolutionsgeschehens lässt sich in allen seinen Arbeiten von seinen schriftstellerischen Anfängen an beobachten.72 So grenzte er sich im Jahr 1802, als er im Unger-Verlag Girtanner’s historische Nachrichten und politische Betrachtungen über die französische Revolution fortsetzte, sofort programmatisch von seinem Vorgänger ab. Christoph Girtanner hatte die Historischen Nachrichten von 1791 bis 1797 publiziert und zu einem Sprachrohr konservativer Revolutionskritik gemacht.73 Als Kernpunkte des Jour70 71 72
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Zit. nach Zimmermann: Realpolitik (wie Anm. 30), S. 108. Buchholz an Cotta, 2. Oktober 1810. Zit. nach: D’Aprile: Erfindung der Zeitgeschichte (wie Anm. 8), S. 357. Zu Buchholz als Vorläufer der Soziologie vgl. die grundlegenden Arbeiten von Rütger Schäfer: Friedrich Buchholz – ein vergessener Vorläufer der Soziologie. 2 Bde. Göppingen 1972; Jörn Garber: Von der naturalistischen Menschheitsgeschichte (Georg Forster) zum gesellschaftswissenschaftlichen Positivismus (Friedrich Buchholz). In: Ders. u. Tanja van Hoorn (Hg.): Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Hannover-Laatzen 2006, S. 53–78; ders.: Ideologische Konstellationen der jakobinischen und liberalen Revolutionsrezeption in Deutschland (1790–1810). In: Ders. (Hg.): Revolutionäre Vernunft. Texte zur jakobinischen und liberalen Revolutionsrezeption in Deutschland 1789– 1810. Kronberg Ts. 1974, S. 170–220; ders.: Politische Revolution und industrielle Evolution: Reformstrategien des preußischen Saint-Simonismus (Friedrich Buchholz). In: Otto Büsch u. Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Preussen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789. Berlin u. New York 1989, S. 301–330; ders.: 1810. Die Entstehung der Soziologie im Konzept des ‚socialen’ Positivismus (Friedrich Buchholz). In: Roland Bongards u.a. (Hg.): Kalender kleiner Innovationen. 50 Anfänge einer Moderne zwischen 1755 und 1856. Für Günter Oesterle. Würzburg 2006, S. 275–284; Axel Rüdiger: Staatsschuld, Verfassung und Revolutionsprävention: Friedrich Buchholz und der Anfang der Sozialwissenschaft. In: Behemoth. A Journal on Civilisation 2 (2011), S. 127–149. Christof Wingertszahn: Der irritable Geschichtsschreiber. Christoph Girtanners publizistische Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution. In: Christoph Weiß u. Wolfgang Albrecht (Hg.): Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. St. Ingbert 1997, S. 481–520.
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nals unter Girtanner hat Christof Wingertszahn eine „Reduktion der historischen Vorgänge auf persönliche Intrigen“, die Darstellung von Komplotten und Verschwörungen, wodurch die Revolution als bloßer „Aufruhr“ gebrandmarkt wird, sowie im Anschluss an Burke die Idealisierung des Königspaars und der Adelskultur gegenüber dem wildgewordenen „Pöbel“ ausgemacht.74 Mit Buchholz’ Wiederaufnahme des Journals ist nicht nur ein stilistischer Qualitätssprung zu konstatieren, sondern auch eine veränderte Darstellung und Deutung der Revolution. Buchholz markiert die neue Ausrichtung des Journals mit „einer liberaleren Behandlung des großen Gegenstandes“, wobei das „liberalere“ sich nicht nur auf den politischen Standpunkt bezieht, sondern vor allem ein Geltenlassen historischer Vorgänge in ihrer zeitgebundenen Eigengesetzlichkeit meint.75 Dementsprechend wendet sich Buchholz strikt gegen jede moralisierende Bewertung in der Geschichtsdarstellung: Er selbst sei „durch das genaue Studium der Revoluzionsgeschichte von allem Glauben an Bosheit und damit zusammenhangenden Vorurtheilen einmal für allemal genesen.“76 Gerade in der Darstellung der Revolution in ihrer jakobinischen Phase und ihrer Akteure Danton und Robespierre komme es auf das Begreifen und Erklären historischer Vorgänge an und nicht auf das Verurteilen: „Die Wörter: Bösewicht, Heuchler u.s.w. erklären nichts und müssen für die Feder des Geschichtsschreibers gar nicht vorhanden sein.“77 Letztendlich müsse es das Ziel sein, die Revolution mit dem gleichen „ruhigen Blicke“ zu analysieren wie „die Völkerwanderungen, die Kreuzfahrten und die Reformation.“78 Am deutlichsten wird Buchholz’ Abgrenzung in der Bewertung der terreur. Man habe Robespierre „man weiß selbst nicht, zu welchem Ungeheuer gemacht“,79 während seine Handlungen doch nur strukturell aus der spezifischen außen- und innenpolitischen Situation zu erklären seien. In dieser Phase der Revolution sei Robespierre nur das „Werkzeug“ dieser unterschiedlichen Kräfte gewesen und die Phase der terreur inklusive William Pitts gegenrevolutionärer Interventionspolitik
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Ebd., S. 485‒487. Vgl. zu dieser Bedeutungsebene von „liberal“ im historiographischen Diskurs Arnold Hermann Ludwig Heerens Lob Herders: „Jedes Volk für das anzusehen, was es war, und in seiner Lage seyn und werden konnte, ist der Grundsatz, welchen der vortreffliche Verfasser desselben auf jeder Seite predigt; und eben dadurch sind die liberaleren Ideen in das Studium der Geschichte der Menschheit gebracht, und hingegen jene egoistischen Grundsätze verscheucht worden, nach denen wir mit dem Maaßstabe unserer Cultur die sittliche und bürgerliche Ausbildung fremder und entfernter Völker zu messen pflegten“ (Arnold Hermann Ludwig Heeren: [Rez. zu] Grundlinien zur pragmatischen Weltgeschichte, als ein Versuch, sie auf Ein Princip zurückzuführen, von C.H.L. Pölitz. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 27 (14. Februar 1795), S. 257‒266, hier S. 265f. [ND in Blanke u. Fleischer (Hg.): Theoretiker (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 515–520, hier S. 520]). Girtanner’s historische Nachrichten und politische Betrachtungen über die französische Revoluzion fortgesetzt von Friedrich Buchholz. Bd. 14 (1802), S. IV. Ebd., S. VIf. Ebd., S. VIII. Ebd., S. VII.
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insgesamt eine „nothwendige“ Periode, „um große Resultate hervorzubringen“.80 Daher würden dem historischen Blick Robespierre, Pitt und alle diejenigen, welche zugleich Gegenstände des Abscheus und der Verwunderung gewesen sind, in einem ganz anderen Lichte erscheinen; denn alsdann wird man einsehen, daß alle diese Männer etwas ganz anderes und weit mehr geleistet haben, als sie leisten wollten.81 Die geschichtlichen Umbrüche seiner Zeit deutet Buchholz ausdrücklich als einen nicht-intentionalen antagonistischen Prozess widerstreitender Kräfte auf der Basis der jeweiligen Eigentums- und Produktionsformationen, aus den Widersprüchen zwischen überkommenen politischen, rechtlichen und kulturellen Formen und ökonomischen Wirklichkeiten: Alle Revolutionen […] müssen also auf eine und dieselbe Weise erfolgt sein; nämlich dadurch, daß der innige und notwendige Zusammenhang, in welchem Gesellschaft, gesellschaftliche 82 Arbeit und Geld miteinander stehen, aufgehoben worden ist.
Die Französische Revolution, aber auch die Hardenberg’schen Reformen markieren für ihn einen umfassenden strukturellen Wandel vom „Feudalismus“ zur „bürgerlichen Gesellschaft“.83 Dem sozialwissenschaftlichen Erklärungsansatz entspricht dabei eine naturwissenschaftlich-ökonomische Terminologie, mit deren Hilfe Buchholz die historischen Vorgänge darstellt. So wird der geopolitische Konflikt zwischen Frankreich und England als ein „Finanzantagonismus“ zwischen „zwei gegenüberstehenden Massen“ erklärt, bei dem beide Regierungen als Gefangene ihrer Staatsschulden agieren, deren „Kraft“ sich mathematisch aus dem Kurs der Staatsanleihen errechnen lasse.84 Bereits 1805 beschreibt Buchholz die Konflikte der späten Ständegesellschaft ausdrücklich als Klassenkampf – als „Gegensatz, worin beweglicher und unbeweglicher Reichthum“ sich befinden, oder als Kampf zwischen den „Kapitalisten Englands“ und „der arbeitenden Klasse der Bewohner Großbritanniens“.85 Er nimmt damit ein Beschreibungsmuster vorweg, das später bei den Revolutionsgeschichten von französischen Historikern wie Guizot oder Thierry vorherrschend wird, die die Revolution als „lutte des diverses classes“ analysieren 80 81 82
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Ebd., S. VIIIf. Vgl. zu Pitt jetzt Kenneth Johnston: Politics of Alarm and the Lost Generation of the 1790s. Oxford 2013. Ebd., S. IX. Friedrich Buchholz: Hermes oder über die Natur der Gesellschaft – mit Blicken in die Zukunft. Tübingen 1810 [ND Kroberg/Ts. 1975], S. 41. Vgl. auch Garber: Ideologische Konstellationen (wie Anm. 72), S. 215f. Den Begriff des „Feudalismus“ führt Buchholz insbesondere ein in ders.: Untersuchungen über den Geburtsadel und die Möglichkeit seiner Fortdauer im neunzehnten Jahrhundert. Von dem Verfasser des neuen Leviathan. Berlin u. Leipzig 1807, S. 359‒362. Der Übergang zur „bürgerlichen Gesellschaft“ wird u.a. beschrieben in ders.: Hermes oder über die Natur der Gesellschaft (wie Anm. 82), S. 195. [Friedrich Buchholz]: Der neue Leviathan. Tübingen 1805 [ND Aalen 1970], S. 285. Ebd., S. 301.
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und damit Karl Marx’ Deutung der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen wesentlich inspirierten.86 Von Anfang an wurde Buchholz’ Geschichtsschreibung als ein historisches Gegenprogramm zum Idealismus wahrgenommen.87 Woltmann, selbst einer der wichtigen Historiker-Journalisten dieser Epoche, sah hierin sogar das Zeichen einer neuen Historikerschule – gleichsam einen Historismus avant la lettre. In einem Brief an den damals führenden Historiker J. v. Müller vom 16. Oktober 1802 empfiehlt er Buchholz’ Erstlingswerk als Manifest dieser neuen Schule: Eine Tendenz, die Ihrem Geiste sehr wohlthun wird, finden Sie in einem kaum erschienenen Buche: Darstellung eines neuen Gravitationsgesetzes für die moralische Welt. Alles, was die Philosophie bisher usurpirte, theilt der Verfasser (Buchholz) der Historie zu, und mit einer großen Konsequenz führt er seine Grundidee durch. […] Uebrigens bestätigt auch dieses Buch meine Hoffnung, daß wir jungen Historiker uns bald zu einer Schule ausbreiten werden, in welcher Sie nicht ohne Vergnügen als Meister ihren Sitz einnehmen.88
Rückblickend hat auch der Göttinger Historiker und ‚Gründungsvater‘ der deutschen Literaturgeschichtsschreibung Georg Gottfried Gervinus in seiner Autobiographie auf diese verdrängte anti-idealistische Spielart historischen Denkens aufmerksam gemacht: Blickte ich auf das herüber, was die idealistischen Systeme, was Hegel und Krause auf dem Gebiete der Geschichtsphilosophie selbst geleistet hatten, so konnte mich das nicht günstiger für ihre Methode stimmen. Sie hatten einzelne frühere Ansätze wie Buchholz’ Darstellung ei-
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Guizot führt 1828 die Geburt des modernen Europas auf den „Kampf der unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen“ zurück: „LʼEurope moderne est née de la lutte des diverses classes de la société“ (François Guizot: Cours d’histoire moderne: Histoire générale de la civilisation en Europe depuis la chute de l’empire romain jusqu’à la Révolution française. Paris 1828, S. 29). Marx nennt Thierry in einem Brief an Engels vom 27. Juli 1854 „le père des ‚Klassenkampfes‘ in der französischen Geschichtsschreibung“ (Marx-Engels-Werke. 44 Bde. Bd. 28. Berlin 1963, S. 381). Im Zuge seiner Rezeption der saint-simonistischen Schriften nennt Buchholz den Klassengegensatz als die Hauptursache der „allgemeine[n] Gährung, worin die europäische Welt sich in diesen Zeiten befindet“, die „von einer solchen Theilung der Arbeit herrührt, welche große Anstrengungen unbelohnt läßt und die zahlreichste Klasse dem Mangel preisgiebt“ (Friedrich Buchholz: Was ist von der neuen Lehre zu halten. In: NMD 37 (1832), S. 194‒219, hier S. 213). Unter den hier vorgestellten Publizisten ist Buchholz derjenige, der mit mehreren 10.000 Seiten das umfangreichste historiographische Werk hinterlassen hat. Dabei hat er sich nicht nur mit Zeitgeschichte im engeren Sinn beschäftigt, sondern zu allen Aspekten und Epochen der europäischen und atlantischen Geschichte umfangreiche Abhandlungen veröffentlicht. Neben der Geschichte der europäischen Staaten seit dem Frieden von Wien als Historisches Taschenbuch in 22 Bänden (1814–1837) oder der Geschichte Napoleon Bonaparte’s in drei Bänden (1827–1829) gehören dazu unter anderem die umfangreichen Abhandlungen Historische Untersuchungen über die Deutschen (1815‒1816), Philosophische Untersuchungen über das Mittelalter (1818‒1828) und Philosophische Untersuchungen über die Römer (1819). Karl Ludwig von Woltmann an Johannes von Müller, 16. Oktober 1802. In: Briefe an Johann von Müller. Hg. v. Johann Heinrich Maurer-Constant. 6 Bde. Bd. 1. Schaffhausen 1839, S. 210‒212, hier S. 212.
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nes neuen Gravitationsgesetzes für die moralische Welt […] verdrängt und vergessen gemacht, ohne etwas irgend Erschöpfendes an die Stelle zu setzen.89
Vor allem aber waren es die französischen Saint-Simonisten selbst, die in Buchholz’ Geschichtsschreibung erstaunt eine Art histoire croisée mit ihren eigenen positivistischen Bestrebungen entdeckten. Als d’Eichthal Buchholz Anfang Mai in Berlin aufsuchte, berichtet er sofort begeistert an seinen Mentor Comte, dass dieser großartige Mann das ganze System des Positivismus in seinem Kopf habe: „C’est un homme superbe, grand, une tête magnifique et pleine de génie […]. On peut dire qu’il a tout le système positif dans la tête.“90 Zusammen mit einem naturalistisch-evolutionsbiologisch gedeuteten Herder und Condorcet zählt d’Eichthal Buchholz zu den unmittelbaren Vorgängern der positivistischen Geschichtsauffassung, der von seinen Anfängen an gleiche Interessen wie Comte verfolgt habe: „Il est incontestable que dans toute sa carrière il a suivi d’une manière plus ou moins précise la direction que vous indiquez.“91 Comte selbst sah Buchholz – ähnlich wie Woltmann – als Vorreiter einer „Historikerpartei“, die innerhalb der deutschen Nation im Namen positivistischer Prinzipien gegen die „Partei der Metaphysiker“ angetreten sei: M. Bucholtz a beaucoup de crédit en Allemagne […]. Je suivrai avec soin cette relation, et suis effectivement porté à croire à un assez grand success en Allemagne, dans le parti des historiens qui lute dans toutes les universités et dans la nation germanique contre celui des métaphysiciens.92
Historismus und Positivismus als vermeintliches großes Gegensatzpaar des 19. Jahrhunderts, das zudem mit nationalisierenden Stereotypen belegt wurde, erscheinen diesen Akteuren des deutsch-französischen Pressediskurses der Sattelzeit in Abgrenzung gegen das tertium comparationis der Metaphysik durchaus noch vereint.
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Georg Gottfried Gervinus: G.G. Gervinus Leben. Von ihm selbst. Leipzig 1860/93, S. 279. Gustave d’Eichthal an Auguste Comte, 11. Mai 1824. In: La Revue Occidentale philosophique, sociale et politique. Organe du Positivisme. Hg. v. Pierre Laffitte. 2. Folge, 12/1 (1896), S. 186–276, hier S. 206. D’Eichthal an Comte, 18. Juni 1824. In: Ebd., S. 218. Comte an Tabarié, 22. August 1824. In: Lettres d’Auguste Comte à divers, publiées par ses Exécuteurs Testamentaires. 2 Bde. Bd. 2: Lettres antérieures à 1850. Paris 1905, S. 15‒27, hier S. 25.
ANNA KARLA
Die verschlafene Revolution von 1789. Französisch-deutsches Revolutionserzählen im Modus der Zeitgenossenschaft1 Es ist nie ernsthaft bezweifelt worden, dass die Französische Revolution auch im Konstitutionsprozess der modernen Geschichtsschreibung ein Schlüsselereignis darstellte. Vergleichsweise selten aber wurde gezielt nachgefragt, wie sich die Ereignisse seit 1789 zum Wandel der Geschichtsschreibung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verhalten haben. Französische Revolutionshistoriker interessierten sich lange für vermeintlich drängendere Themen als für die Entwicklung der Historiographie in der Folge der Revolution.2 Mittlerweile diskutiert man in Frankreich intensiver über das Verhältnis von Revolutionsereignis und Revolutionsgeschichte. Anhand der ersten Historiker der Revolution ist exemplarisch gezeigt worden, wie sich Tagespolitik und Geschichtspraxis wechselseitig beeinflussten. Die Überlegungen bleiben aber weitgehend auf französischsprachige Beispiele beschränkt und beziehen den historiographischen Widerhall der Revolution außerhalb der Grenzen Frankreichs üblicherweise nicht mit ein.3 Aus Sicht der deutschen Historiographiegeschichte führt die Französische Revolution auf das weite Forschungsfeld der Historismus-Genese. Die indirekte Zeitgenossenschaft deutscher Historiker zur Revolution dient traditionell als ein wesentliches Erklärungselement für die um 1800 einsetzende „grundsätzliche[…] Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte“.4 Jenseits aller Kontroversen um die Anfänge des Historismus gilt als ausgemacht, dass der Wandlungsprozess des Geschichtsdenkens in eine Zeit revolutionärer Umbrüche fiel.5 Die „tiefe Irritation“,6 welche die Revolution auch bei den 1 2
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Für Hinweise und Anregungen danke ich Philipp Müller, Friedemann Pestel und Johannes Süßmann. Eine löbliche Ausnahme dieses Befundes, allerdings ohne direkten Revolutionsbezug Alexandre Escudier: Le récit historique comme problème théorique en France et en Allemagne au XIXe siècle. Paris 1999. Vgl. z.B. Éric Barrault: Écrire l’histoire de la Révolution française pendant le premier XIXe siècle: Charles de Lacretelle (1766–1855), un historien „modéré“ dans la France postrévolutionnaire. Diss. Paris 2008 sowie die Tagungen „Histoire et politique. Quand les révolutionnaires prennent la plume“ (Paris I/EHESS, 25.06.2012) und „Les révolutions – un moment de relecture du passé“ (Lille 3/Société des études robespierristes/Société de 1848/Paris I, 5./6.12.2013). Im Überblick Pierre Serna: Révolution française. In: Christian Delacroix u.a. (Hg.): Historiographies. Concepts et débats. Bd. 2. Paris 2010, S. 1186–1213. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie [1922]. In: Ders.: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 16/1. Hg. v. Friedrich Wilhelm Graf. Berlin u. New York 2008, S. 281. Vgl. u.a. Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, S. 415–417. Grundlegend dazu Reinhart Koselleck u.a.: Art. Geschichte, Historie. In: Otto Brunner, Werner Conze u. ders. (Hg.):
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deutschen Zeitgenossen auslöste, habe den Umgang mit der Geschichte im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst. Anders als die Vorreiterrolle der Aufklärungshistorie7 und anders auch als die literarisch-ästhetischen Wurzeln der narrativen Geschichtsschreibung in der Goethe-Zeit8 wurde dieser Erklärungsstrang des Historismus allerdings kaum eigens untersucht, sondern ist letztlich stets Prämisse geblieben.9 Für die deutschsprachige Historiographiegeschichte ist die Französische Revolution ein vielbeschworener Fluchtpunkt; empirisch aber bleibt sie weithin ein blinder Fleck. Erst neuerdings mehren sich die Hinweise darauf, dass ein Zusammenhang zwischen der Zeitgenossenschaft zur Revolution und dem, was um 1800 Geschichte war und wie man sie zu schreiben hatte, nicht bloß postuliert werden dürfe. Befördert wird diese Annahme durch aktuelle Tendenzen der Historiographiegeschichte, neben Klassikern der Geschichtsschreibung auch populäre Darstellungen einzubeziehen und neben den historiographischen Endprodukten auch die politischen, sozialen und ökonomischen Kontexte auszuleuchten, in denen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Geschichte geschrieben wurde. Eine solche Historiographiegeschichte jenseits des Kanons aber kann sich über das Ereignismassiv „Französische Revolution“ nicht hinwegsetzen. Darüber hinaus sind die Inhalte und die Methoden von Zeitgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert ohne ihre expliziten und impliziten Revolutionsbezüge gar nicht zu verstehen.10 Vergleichende Studien zu Frankreich und Deutschland belegen zudem das bislang kaum ausgeschöpfte Potential einer Geschichte der Geschichtsschreibung, die neben dem Transfer von Inhalten auch die Zirkulation von Methoden, Erzählstrategien und Erkenntnisformen über die Sprachgrenzen hinweg verfolgt.11
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Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 593–717. Friedrich Jaeger u. Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. München 1992, S. 22. Vgl. z.B. Horst Walter Blanke: Aufklärungshistorie und Historismus: Bruch und Kontinuität. In: Otto Gerhard Oexle u. Jörn Rüsen (Hg.): Historismus in den Kulturwissenschaften. Köln 1996, S. 69–97. Vgl. Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996; Johannes Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). Stuttgart 2000. Grundlegend, aber weithin ohne Echo: Ernst Schulin: Zeitgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. In: Max-Planck-Institut für Geschichte (Hg.): Festschrift für Hermann Heimpel. Göttingen 1971, S. 102–139. Vgl. für Deutschland zuletzt Iwan-Michelangelo D’Aprile: Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz. Berlin 2013, S. 40–47. Für Frankreich: Philippe Bourdin (Hg.): La Révolution 1789–1871. Écriture d’une histoire immédiate. Clermont-Ferrand 2008. Vgl. für zwei Klassiker: Philipp Müller: Entwicklung aus Gegensätzen. Die Englische Geschichte in der Historiographie von Augustin Thierry und Leopold Ranke. In: IwanMichelangelo D’Aprile u. Ricardo K.S. Mak (Hg.): Aufklärung – Evolution – Globalgeschichte. Hannover 2010, S. 219–241. Für den Bestand historiographisch-revo-
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In diesem Sinne plädieren die folgenden Überlegungen dafür, die Französische Revolution historiographiegeschichtlich aufzuwerten, anstatt sie zur atmosphärischen Hintergrundfolie eines anderweitig motivierten Wandels der Geschichtsschreibung zu degradieren. In der sprachlichen Aneignung der Revolution prägten sich historische Erzählmuster aus, die langfristig auch außerhalb Frankreichs wirksam wurden. Das Folgende geht daher exemplarisch einer Beobachtung nach, die auf den ersten Blick anekdotisch anmutet, sich auf den zweiten Blick rätselhaft ausnimmt, auf den dritten Blick jedoch Aufschluss über die zeitgeschichtliche Verarbeitung der Revolution verspricht: Im 19. Jahrhundert zählte die Tatsache, dass der Chef der französischen Nationalgarde General Lafayette am 6. Oktober 1789 verschlafen hatte, zum kanonischen Wissen über die Französische Revolution – und zwar sowohl im Land der Revolution selbst als auch jenseits des Rheins. Um dieses Detail für eine länderübergreifende Historiographiegeschichte der Revolution fruchtbar zu machen, werden nachfolgend strukturelle Ähnlichkeiten in zwei französischen und zwei deutschsprachigen Schilderungen der sogenannten „Versailler Oktobertage“ aufgedeckt. Sie betreffen jenen Wendepunkt des ersten Revolutionsjahres, an dem eine aufgebrachte Menschenmenge das Versailler Schloss belagerte, nach dem „Bäckermeister, der Bäckermeisterin und dem kleinen Bäckerjungen“ verlangte und die Königsfamilie schlussendlich nach Paris eskortierte. Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, das minutiös aufgearbeitete Geschehen in Versailles um spektakuläre Enthüllungen zu bereichern.12 Stattdessen soll anhand der Lafayette-Szene geklärt werden, wie man in Frankreich und Deutschland über eine Schlüsselszene der Französischen Revolution sprach und schrieb, welche Fakten zur Verfügung standen und welcher Techniken der Darlegung man sich warum bediente. Mit Joseph Weber (1755–nach 1813), dem Milchbruder Marie-Antoinettes, und mit Jeanne Louise Henriette Campan (1752–1822), ihrer Kammerdame, kommen zuerst zwei Memorialisten der Französischen Revolution zu Wort, die Anfang Oktober 1789 in Versailles gewesen waren. Mit den Vorlesungen Barthold Georg Niebuhrs (1776–1831) und Jacob Burckhardts (1818–1897) wird die Episode anschließend in der akademischen Praxis zweier Klassiker der deutschsprachigen Historiographie weiterverfolgt. Bis zu siebzig Jahre nach den Ereignissen entstanden, firmierten auch die Vorlesungen noch dezidiert als Beiträge zu einem Gegenstand der Zeitgeschichte. Vordergründig geht es folglich um durchaus Verschiedenes: Schrieb in den Memoiren der ins Geschehen verwickelte Augenzeuge, so sprach in den universitären Vorlesungen der Historiker aus der Draufsicht; kamen hier biographische Erin-
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lutionsdidaktischer Schriften in Frankreich und Deutschland vgl. den Beitrag von Pauline Pujo in diesem Band. Zum Ablauf vgl. zusammenfassend Denis Richet: Art. Tage des Volksaufstands während der Revolution. In: François Furet u. Mona Ozouf (Hg.): Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution. Bd. 1: Ereignisse und Akteure. Frankfurt a.M. 1996, S. 230–251, hier S. 233–236.
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nerungen zum Ausdruck, so gebot dort die akademische Form Distanz zum Gegenstand. Die Parallellektüre macht indes auf Gemeinsamkeiten beider Textsorten im Umgang mit dem Revolutionsgeschehen aufmerksam. Als Spielarten der Zeitgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert haben beide zudem bislang zu wenig Beachtung durch die Historiographiegeschichte gefunden.13 Weil aber sowohl die Memoiren der Zeugen als auch die Vorlesungen der Zeithistoriker den General Lafayette zu einem Scharnier der Ereignisschilderung erhoben, lohnt die Korrelation zwischen Zeugenwissen und Geschichtserzählen in der Folge der Französischen Revolution einer näheren Betrachtung.
I.
Quellen der Zeitgeschichte
Vorab bedarf es einiger Worte zum materiellen und inhaltlichen Rahmen einer französisch-deutschen Revolutionsgeschichte aus der Feder von Zeugen und Historikern. Was man im frühen 19. Jahrhundert über die Französische Revolution wissen konnte, hing wesentlich vom Mitteilungsdrang der Mitlebenden ab. Die Quellenfrage führt daher auf die Zeugen des Geschehens zurück. Sie betrifft deren publizistische Gepflogen- und Gewohnheiten, sie betrifft das Kauf- und das Leseverhalten der Zeitgenossen, und sie betrifft die historiographische Praxis der Nachfahren. Die wirtschaftliche und politische Situation der Restaurationsepoche nach 1814/15 beförderte einen regelrechten Boom von Büchern, in denen die Teilnehmer ihre Sicht auf das Revolutionsgeschehen rekapitulierten. Ein Großteil der persönlichen Erlebnisberichte über die Revolution, die auf dem Buchmarkt der 1820er Jahre zur Verfügung standen, trug den traditionsreichen Gattungsnamen Mémoires. Diese Bezeichnung ging entweder auf die Verfasser selbst zurück oder häufiger noch auf findige Verleger, die den historisch neuen Stoff des Revolutionsgeschehens per Titelei und Aufmachung verkaufsstrategisch im Gewand der altgedienten „Gegenwartschronistik“14 präsentierten.15 Bis mindestens zur Jahrhundertmitte bildeten die Memoiren den Kernbestand der greifbaren Lektüre über die Französische Revolution. Die seit dem Beginn der 1820er Jahre verbreitete 13
14 15
Zum Genre der zeitgeschichtlichen Vorlesungen vgl. nur Ernst Schulin: Zeitgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. In: Ders.: Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken. Göttingen 1979, S. 65–96 sowie Wolfgang Hardtwig: Neuzeithistorie in Berlin 1810–1918. In: HeinzElmar Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität. Berlin 2010, S. 291–315, insb. S. 311. Fritz Ernst: Menschen und Memoiren. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Gunter Wolf. Heidelberg 1985, S. 342–353, hier S. 343. Zur Gattungstradition vgl. grundlegend Pierre Nora: Les Mémoires d’État. De Commynes à de Gaulle. In: Ders. (Hg.): Les Lieux de Mémoire. Bd. II/2: La Nation. Paris 1986, S. 355–400. Zur Konjunktur der zeitgeschichtlichen Memorialistik vgl. Damien Zanone: Écrire son temps. Les Mémoires en France entre 1820 et 1840. Lyon 2006, S. 15.
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Editionspraxis der Memoirensammlungen wies diese Texte darüber hinaus als seriell zu konsultierende Quellen aus. Revolutionsgeschichte war im frühen 19. Jahrhundert wesentlich Geschichte von schreibenden Zeugen, und sie war – vermittelt über die Verleger – eine Geschichte für Memoirenleser. Die Memoiren von Campan und Weber sind Teil eines Überlieferungsstrangs, der das Bild der Revolution im 19. Jahrhundert nachhaltiger prägte, als es die Revolutionshistoriographie üblicherweise zugestehen mag. Unter den französischen Revolutionshistorikern herrschte lange ein tiefes Misstrauen gegenüber der Memorialistik. Dieses Misstrauen berief sich offiziell auf epistemologische Einwände: Die subjektiv gefärbten Erlebnisberichte galten in ihrem Wahrheitsgehalt als höchst fragwürdig. Als Forschungsgegenstand schlug man sie deshalb leichter der Literatur- als der Geschichtswissenschaft zu.16 Eigentlich aber wog innerhalb einer durchaus engagiert vorgetragenen Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Revolution schwerer, dass die Memoiren und ihre Editionen des 19. Jahrhunderts keineswegs die Revolutionsversionen der „kleinen Leute“ repräsentierten. Stattdessen handelt es sich um die Textproduktion einer Deutungselite. Deren Repräsentanten waren zwar politisch breit gestreut. Sie hatten jedoch nicht nur in der Revolutionszeit durchweg herausgehobene Akteurs- und Beobachterposten eingenommen, sondern sie blieben unter den Vorzeichen des Zensuswahlrechts bis mindestens 1848 auch strukturell privilegiert. Ihnen war es möglich, die eigenen Erlebnis- und Rechenschaftsberichte wirkmächtig zu formulieren, aufwendig zu edieren und ebenso kostspielig wie gewinnbringend in Umlauf zu bringen.17 Die Leser des 19. Jahrhunderts konsultierten die Memoiren als gängigen Lesestoff über die Revolution, sie reflektierten aber durchaus das Problem der Objektivität von Zeugenberichten. Dazu trug nicht zuletzt die rezeptionsästhetisch geschickte Präsentation durch die Verleger bei. Mit der Collection des Mémoires relatifs à la Révolution française lancierte das Pariser Verlagshaus Baudouin Frères im Frühjahr 1820 als erste eine Sammlung von Memoiren zur Revolutionsgeschichte und leistete damit sowohl der seriellen Edition als auch der kritischvergleichenden Lektüre von Zeugenberichten Vorschub.18 Als Campan 1822 verstarb, erhielten die Brüder Baudouin das kurz zuvor vollendete Manuskript ihrer Memoiren. Der Text erschien noch im Todesjahr der Verfasserin unter dem griffigen Kurztitel Mémoires de Madame Campan in der Sammlung.19 Weber, der 1792 16 17 18
19
Vgl. Zanone: Écrire son temps (wie Anm. 15), S. 9–11. Vgl. Anna Karla: Revolution als Zeitgeschichte. Die Memoiren der Französischen Revolution in der Restaurationszeit. Göttingen 2014, S. 322–328. Vgl. zusammenfassend Anna Karla: Éditer la Révolution sous la Restauration: La collection „Barrière et Berille“. In: Sophie Wahnich (Hg.): Histoire d’un trésor perdu. Transmettre la Révolution française. Paris 2013, S. 129–148. Mémoires sur la vie privée de Marie-Antoinette, reine de France et de Navarre: suivis de souvenirs et anecdotes historiques sur les règnes de Louis XIV, Louis XV et Louis XVI. 3 Bde. Paris 1822 (Collection des Mémoires relatifs à la Révolution française. Mémoires de Madame Campan).
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nach Großbritannien emigriert und mit den Bourbonen nach Frankreich zurückgekehrt war, sah seine Memoiren gegen seinen Willen durch die Brüder Baudouin veröffentlicht. Die Verleger hatten das französische Urheberrecht erfolgreich zu ihren Gunsten ausgelegt und die ab 1804 in London erschienenen Mémoires concernant Marie-Antoinette, depuis son origine jusqu’au 16 octobre 1793 unter dem Kurztitel Mémoires de Weber für ihre Zwecke neu verlegt.20 In Deutschland kannten die entscheidenden Multiplikatoren diese Buchreihe sowie die zahlreichen einzeln publizierten Memoiren anderer Verlage. Joachim Heinrich Cotta stand über seinen Pariser Literaturagenten Alexander Schubart mit den Brüdern Baudouin in Kontakt.21 Goethe notierte 1823, die Mémoires de Madame Campan und diejenigen Webers gelesen zu haben.22 Hegel legte sich im selben Jahr ein Exzerpt zu den Mémoires sur l’Affaire de Varennes an, die ebenfalls in der Memoirensammlung erschienen waren.23 Niebuhr hielt sich zwar äußerst bedeckt, was die Inspirationsquellen seiner im Sommersemester 1829 an der Bonner Universität gehaltenen zeitgeschichtlichen Vorlesung anbelangte. Keinesfalls aber verschmähte er Lesestoff zur Revolutionsthematik. Jules Janins Roman L’âne mort ou la femme guillotinée, der 1829 ebenfalls bei Baudouin Frères erschien, hinterließ großen Eindruck auf ihn.24 Darüber hinaus konsultierte er die einschlägigen französischen Journale wie den Globe Littéraire.25 Die Rezensionen zu den Neuerscheinungen auf dem Pariser Buchmarkt können ihm dabei kaum entgangen sein. Drei Jahrzehnte nach Niebuhr hielt Burckhardt in Basel seit 1859/60 regelmäßig eine Vorlesung zur Revolutionszeit. Nachdrücklicher noch als Niebuhr begriff Burckhardt die Revolution nicht als Gegenstandsbereich der Vergangenheit, sondern betonte ihre Fortwirkungen in der Gegenwart und ihre Unabgeschlossenheit in der Zukunft. Das Vortragsmanuskript zitierte auch französische Memoiren als Quellengrundlage. Unter ihnen waren unter anderem die Mémoires
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Mémoires de Weber concernant Marie-Antoinette, archiduchesse d’Autriche et reine de France et de Navarre. Avec des notes et des éclaircissemens historiques par Berville et Barrière. 2 Bde. Paris 1822 (Collection des Mémoires relatifs à la Révolution française. Mémoires de Weber). Vgl. Robert Marquant: Thiers et le Baron Cotta. Étude sur la collaboration de Thiers à la gazette d’Augsbourg. Paris 1959, S. 25. Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. III. Abt.: Goethes Tagebücher. Bd. 9: Tagebücher 1823–1824. Weimar 1897, S. 20, 24. Vgl. Eva Ziesche: Der handschriftliche Nachlass Georg Wilhelm Hegels und die HegelBestände der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Teil I: Katalog. Wiesbaden 1995, S. 293. Vgl. Niebuhr an den Kronprinzen, 07.05.1830, Brief Nr. 1240. In: Barthold Georg Niebuhr: Briefe. Neue Folge 1816–1830. Bd. 3: Briefe aus Bonn (1826–1830) u. Bd. 4: Briefe aus Bonn (Juli bis Dezember 1830). Hg. v. Eduard Vischer. Bern u. München 1983f., hier Bd. 3, S. 555. Zu Niebuhrs Zeitungslektüren vgl. z.B. Niebuhr an D. Hensler, 11.04.1830, Brief Nr. 1237. In: Ebd., Bd. 3, S. 550.
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de Madame Campan aus der handlichen Sammlung des Pariser MemoirenVerlags.26
II.
Die Zeugen der Versailler Oktobertage: Campan und Weber
Auf den letzten Seiten des ersten Teils seiner zweibändigen Memoiren ging Weber ausführlich auf die beiden entscheidenden Tage im Herbst 1789 ein. Am Montag, dem 5. Oktober habe trübes und regnerisches Wetter in Versailles geherrscht.27 Bei Einbruch der Dunkelheit, gegen sechs Uhr, sei im Schloss die Nachricht eingetroffen: In Paris habe sich eine aufgebrachte Menschenmenge versammelt; sie habe sich in Richtung Versailles in Bewegung gesetzt; auffallend viele Frauen, vor allem Fischweiber, seien darunter, und sie seien mit Piken und anderen Gerätschaften bewaffnet. Sie würden nach Brot rufen. Mit von der Partie sei der General Lafayette, der sich unter dem Vorwand, die Aufwiegler zur Räson zu bringen, mitsamt der Nationalgarde an ihre Spitze gesetzt habe. – Weber zufolge trafen die Demonstranten aus Paris gegen zehn Uhr abends in Versailles ein. Erst nach Mitternacht sei es Ludwig XVI. gelungen, bei den Unterhändlern Aufschub für den kommenden Tag zu erwirken. Die Menschenmenge, die bis an das Gittertor des Schlosses gewogt war, so Weber weiter, beruhigte sich. Im Schlosshof bezog man provisorisch Nachtquartier. Lafayette versicherte sich ein letztes Mal der Lage. Dann zog er sich, als alles ruhig schien und er seine Truppe zu Wachsamkeit verpflichtet hatte, ins Hôtel de Noailles zurück. Dort sei er eingeschlafen. In den frühen Morgenstunden hätten Schreie und Tumult den Chef der Nationalgarde geweckt. Er eilte in Richtung Schloss, grämte sich, dass er zu lange geschlafen hatte, kam zu spät: Auf dem Schlossvorplatz war schon der Teufel los. Die Menschenmenge drängte durch das nunmehr geöffnete Portal zum Haupteingang. Einige Waghalsige hatten die Marmortreppe zu den königlichen Gemächern erklommen und waren bis ins Schlafzimmer Marie-Antoinettes vorgedrungen. Weber berichtet, wie ein langbärtiger Pariser Monsieur Deshuttes und Monsieur Varicourt, ihres Zeichens Leibgardisten des Königs von Frankreich, kurzerhand enthauptete. Die blutigen Köpfe wurden auf Piken aufgespießt unter dem Jubel der Umstehenden durch die Straßen von Versailles getragen. Um ein Uhr mittags des 6. Oktober schließlich setzte sich die Kutsche mit der Königsfamilie in Richtung Paris in Gang. Der minutiöse und detaillierte Bericht der Versailler Oktobertage nimmt bei Weber knapp dreißig Seiten ein und beschließt den ersten Band. Campan brauchte immerhin siebzehn Seiten, um ihre Version der Oktobertage einschließlich der 26 27
Vgl. Jacob Burckhardt: Geschichte des Revolutionszeitalters. Aus dem Nachlass hg. v. Wolfgang Hardtwig u.a. München u. Basel 2009, z.B. S. 210, 489, 564, 1446. Die folgenden zwei Absätze paraphrasiert nach Weber: Mémoires (wie Anm. 20), Bd. 1, S. 428–455.
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Vorgeschichte über das vermeintliche Gelage des Flandernregiments in ihren Memoiren auszubreiten.28 Die Passage bei Weber und die Parallelstelle bei Campan bergen in nuce zwei Elemente der Textgestaltung, die für die Erlebnisberichte der Revolutionszeitgenossen typisch sind. Erstens sind dies die Strategien der Beglaubigung: Die Memorialisten behaupteten, die Wahrheit zu sagen, und sie bekräftigen diesen Anspruch durch ein entsprechendes Arsenal an Argumenten. Als Opfer der revolutionären Parteikämpfe wussten sie nur zu gut, dass ihre Erinnerungsschriften dem Verdacht subjektiver Färbung und Parteilichkeit ausgesetzt sein würden. Als Campan ihre Revolutionserlebnisse um 1820 niederschrieb, beharrte sie deshalb auf Präzision und Neutralität: „Wenn man über nahe Zeiten schreibt, muss man von skrupelloser Genauigkeit sein und darf sich weder Interpretationen noch Übertreibungen erlauben.“29 In regelmäßigen Abständen flochten die Memorialisten Hinweise auf ihre Glaubwürdigkeit ein. Im Fall der Versailler Oktobertage konnten sowohl Weber als auch Campan den höchsten Trumpf ausspielen: Sie waren Anfang Oktober 1789 in Versailles zugegen.30 Weber gab an, sogar das verhängnisvolle Bankett des Flandernregiments Ende September persönlich beobachtet zu haben, jenes Ereignis, das in Paris heftige Empörung hervorrief und in der Revolutionsforschung üblicherweise als Auslöser für den Marsch auf Versailles gehandelt wird. „Ich war bei diesem Fest anwesend; und, als Augenzeuge, kann ich versichern, dass alles, was dort geschah nicht die Grenzen der angemessenen Feierstimmung und des Anstands überschritt.“31 Die Glaubwürdigkeit des Augenzeugen wurde indirekt auch durch solche Passagen untermauert, die aus zweiter oder gar aus dritter Hand stammten. Freimütig gaben Weber und Campan zu, ihre Augen selbstverständlich nicht überall gehabt zu haben. Sie waren aber in Versailles keineswegs isoliert gewesen, sondern hatten sich mit anderen, mindestens ebenso gut situierten Beobachtern ausgetauscht. Obwohl Weber seinen eigenen Angaben zufolge in den Morgenstunden des 6. Oktober im Getümmel auf dem Schlossvorplatz eingezwängt gewesen war,32 wusste er detailliert von dem Kampfgeschehen rund um den Palast zu berichten: „Man hat mir erzählt, dass M. de La Luzerne, der Marineminister, eine Kugel gesehen
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32
Vgl. Campan: Mémoires (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 69–85. „Les planches des bibliothèques se plient sous le poids de tout ce qui a été imprimé sur les dernières années du dix-huitième siècle“ (ebd., Bd. 1, S. 1). Zur Autopsie als ein Grundelement der Geschichtsschreibung seit der Antike vgl. François Hartog: L’évidence en histoire. Ce que voient les historiens. Paris 2005, S. 236–266. „J’étais présent à cette fête; et, comme témoin oculaire, je puis assurer que tout ce qui s’y passa n’excéda pas les bornes de la gaité et de la décence la plus scrupuleuse“ (Weber: Mémoires, wie Anm. 20, Bd. 1, S. 425). „Je m’étais précipité de mon lit à cette heure. Je trouvais les cohortes parisiennes sur la place d’armes, située en face du château“ (ebd., S. 443).
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habe, welche an die Mauer nahe jenem Fenster prallte, hinter dem sich die Königin befand […].“33 Zur Beantwortung der entscheidenden Frage, durch wen die Lage derart eskaliert war, verließ sich Campan blind auf Gerede und Gerüchte: Viele Leute haben bestätigt, den Duc d’Orléans erkannt zu haben, der um halb fünf Uhr morgens – in einem Gehrock und mit heruntergeklappter Hutkrempe – am Ende der Marmortreppe stand und mit der Hand auf den Wächtersaal wies, der den Gemächern der Königin vorgelagert war.34
Lafayettes verhängnisvolle Nachtruhe im Hôtel de Noailles hatte keiner der Hofangestellten persönlich beobachten können. Weber bemerkte spitz, dass der General, wenn er schon nicht Manns genug gewesen sei, der Müdigkeit zu trotzen, wenigstens das Vorzimmer des Königs für sein Nickerchen hätte wählen sollen.35 In Anbetracht des dramatischen Folgegeschehens bedurfte es allerdings auch gar keines Augenzeugen, um auszumalen, was eigentlich vorgefallen war: Der General hatte verschlafen. Jedenfalls traf er erst am Schloss ein, als das Geschehen schon seinen Lauf genommen hatte.36 Zweites charakteristisches Erzählelement sind die Strategien der Ereigniserzählung. Die Memorialisten lieferten keine neutrale Chronologie. Stattdessen beschrieben sie eine Abfolge bedeutungsvoller, weil folgenreicher Geschehensverläufe. Sie erzählten die Revolutionsgeschichte der Reihe nach in einem scheinbar zukunftsoffenen Verlauf. Zugleich aber flochten sie allerorten Deutungen und Werturteile ein, in denen über der Handlungs- die Erzählebene aufschien. Voraussetzung dafür war ein Erzählerstandpunkt, der Distanz ermöglichte und Draufsicht erlaubte. Weber verfasste seine Memoiren auf der Basis flüchtiger Notizen gut ein Jahrzehnt nach den Versailler Oktobertagen im britischen Exil. Campan schrieb sogar erst über drei Jahrzehnte nach dem Geschehen. Beide Memorialisten wussten folglich um den weiteren Verlauf der Revolution. Und beide konnten deshalb Erzählstrategien mobilisieren, die eben dieses nachträgliche Wissen einbezogen. In der Einstiegspassage zu den Versailler Oktobertagen tritt bei Campan der zeitlich nachgelagerte Erzählerstandpunkt besonders deutlich zutage:
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„On m’a raconté que M. de La Luzerne, ministre de la marine, ayant vu une balle frapper le mur près de la fenêtre où se trouvait la reine“ (ebd., S. 449). „Beaucoup de gens ont affirmé qu’ils avaient reconnu le duc d’Orléans à quatre heures et demi du matin, en redingote, et avec un chapeau rabattu au haut de l’escalier de marbre, indiquant de la main la salle des gardes qui précédait l’appartement de la reine“ (Campan: Mémoires, wie Anm. 19, Bd. 2, S. 78f.). „Ce sommeil de M. de La Fayette lui a été vivement reproché. Si la nature, épuisée chez lui, par les agitations et les fatigues de la journée qui venait de s’écouler, exigeait un repos momentané, c’était dans l’antichambre du roi qu’il aurait dû le prendre“ (Weber: Mémoires, wie Anm. 20, Bd. 1, S. 442). „M. de La Fayette avait été réveillé dans ces entrefaits. Il courut au château“ (ebd., S. 447).
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[…] schließlich, am Abend des 5. Oktobers, als die Armee Paris schon verlassen hatte, jagte der König in Meudon, und die Königin spazierte vollkommen allein durch die Gärten des Trianon, die sie zum letzten Mal in ihrem Leben durchschritt.37
Aus Campans Worten klangen Desillusion und Resignation angesichts des weiteren Revolutionsverlaufs. Vor allem aber barg der Eröffnungssatz die doppelt privilegierte Perspektive der Zeugin und Überlebenden. Die Hofangestellte war selbst vor Ort gewesen und hatte das Geschehen mit eigenen Augen beobachtet. Jahrzehnte später konnte sie bei der Niederschrift ihrer Memoiren eine Endzeitstimmung heraufbeschwören, die im Moment des Geschehens strenggenommen noch gar nicht absehbar gewesen war. Dass Marie-Antoinette „zum letzten Mal in ihrem Leben“ durch die Gärten des Trianon schritt, konnte nur schreiben, wem auch die Hinrichtung der Königin am 16. Oktober 1793 vor Augen stand. Das Erzählelement der „zukunftsgewissen Vorausdeutung“ nimmt sich im Kontext selbsterlebter Revolutionsgeschichte als eine eminent historische Erzähltechnik aus.38 Auch Weber verweigerte sich den Zwängen der Chronologie und nutzte stattdessen die Freiheit des Erzählens. Seinen Bericht der Versailler Oktobertage eröffnete er wie Campan proleptisch und eindeutig wertend. Schon beim Eintreffen der Pariser Marktweiber vor dem königlichen Schloss griff er voraus: „Auf diese Weise wurde diese unheilvolle Revolution vorgezeichnet.“39 Wo die Tumulte den Leser allzu sehr zu verwirren drohten, nahm Weber ihn an die Hand: „Im Schloss blieben nur noch die Wachposten zurück, und sie waren es, die am Folgetag zum Teil massakriert und zum Teil nach Paris verschleppt wurden, wie wir noch sehen werden.“40 Aus seinem Gesamturteil über die Vorfälle machte Weber keinen Hehl. In direktem Anschluss an das Verdikt über Lafayette streute er sein chronologisch wiederum verfrühtes Fazit ein: Nach dem 14. Juli, den der monarchietreue Emigrant bereits für katastrophal befand, hätten der 5. und 6. Oktober eine „zweite Revolution“ bedeutet.41
III. Mitlebender und Historiker: Barthold Georg Niebuhr Im Sommersemester 1829 nahm die Universität Bonn kurzfristig neben dem historischen Kolleg zur römischen Kaiserzeit eine Vorlesung zur Geschichte der Revolutionszeit ins Vorlesungsverzeichnis auf. Den Ausschlag für die Programmerwei37
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„[…] enfin, le soir du 5 octobre, quand l’armée était déjà sortie de Paris, le roi chassait au tir à Meudon, et la reine était absolument seule à se promener dans ses jardins de Trianon, qu’elle parcourait pour la dernière fois de sa vie“ (Campan: Mémoires, wie Anm. 19, Bd. 2, S. 73). Eberhart Lämmert: Bauformen des Erzählens. 8. Aufl. Stuttgart 1983, S. 143. „Ce fut ainsi que fut déterminé cette révolution funeste“ (Weber: Mémoires, wie Anm. 20, Bd. 1, S. 431). „Il ne resta dans le château que la garde de service, et c’est elle qui, le lendemain, fut en partie massacrée, et en partie traînée à Paris, ainsi qu’on va le voir“ (ebd., S. 440). „[…] la révolution du 14 juillet […] cette seconde révolution“ (ebd., S. 442).
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terung hatten die Studenten selbst gegeben, die ihren Geschichtsprofessor Niebuhr hartnäckig um einen Überblick über die Geschichte der jüngsten Vergangenheit gebeten hatten. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Angesichts des regen Interesses der Zuhörer und der Fülle des Stoffs musste Niebuhr die wöchentliche Vorlesungszeit im August von ursprünglich einer auf zwei Stunden verlängern. Schließlich war dem Professor der Vollständigkeit halber daran gelegen, „wenigstens doch bis auf die Restauration zu kommen“.42 Für Vorbereitungen fehlte die Zeit. Die Entscheidung, die zeitgeschichtliche Vorlesung tatsächlich zu halten, fiel kurzfristig.43 Niebuhrs eigentliches Forschungsinteresse galt fraglos dem alten Rom. Doch auch seine Römische Geschichte war wegen chronischer und akuter Gesundheitssorgen im Hause Niebuhr seit dem Winter 1828/29 kaum vorangekommen.44 Im Sommersemester griff Niebuhr deshalb auf eine Vortragstechnik zurück, auf die er sich bestens verstand: Er extemporierte seine Vorlesungen. Anstatt die Französische Revolution von einem ausformulierten Manuskript abzulesen, erzählte er sie über weite Strecken frei. Die schriftliche Überlieferung der Vorlesung beruht nicht auf Exzerpten, sondern geht allein auf den Fleiß der Bonner Studenten und auf die spätere Gedächtnispflege durch Niebuhrs Sohn Marcus zurück, der die Hörermitschriften 1845 in zwei Bänden veröffentlichte. Niebuhr kam zugute, dass er sein rhetorisches Gespür schon in den Vorlesungen zum Altertum geschärft hatte. Denn in einem schulmeisterlichen Sinne vorzubereiten brauchte der intime Kenner der römischen Geschichte seine Vorträge nie. Die Quellen kannte er gründlich genug, um auch spontan aus dem Vollen zu schöpfen: Ich lese, oder rede vielmehr, römische Geschichte und komme doch wenigstens tief in die Kaiserzeit hinein: es spricht die jungen Leute sehr an; und ich habe von Cicero und Cäsar geredet als ob es lebende und theure Freunde wären.45
Die Aufforderung der Studenten, auch die jüngste Vergangenheit in den Rang universitären Vorlesungsstoffs zu erheben, bedeutete für Niebuhr daher keinen Methoden-, sondern nur einen Themenwechsel. In Anbetracht der zeitlichen Nähe und der politischen Brisanz des verhandelten Gegenstands empfand er gleichwohl auch einen Genrewechsel: 42
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Niebuhr an D. Hensler, 27.09.1829, Brief Nr. 1190. In: Niebuhr: Briefe (wie Anm. 24), Bd. 3, S. 472. Zu Niebuhrs Arbeitsweise vgl. grundlegend Gerrit Walther: Niebuhrs Forschung. Stuttgart 1993. Vgl. die Vorrede in: Barthold Georg Niebuhr: Geschichte des Zeitalters der Revolution. Vorlesungen an der Universität zu Bonn im Sommer 1829. Bd. 1. Hamburg 1845, S. III‒X, hier S. V. Zu den Klagen über die Gesundheit vgl. z.B. Niebuhr an Schweighäuser, 09.06.1829, Brief Nr. 1180. In: Niebuhr: Briefe (wie Anm. 24), Bd. 3, S. 441; Niebuhr an Perthes, 21.07.1829, Brief Nr. 1183. In: Ebd., S. 445f. Niebuhr an Bluhme, 13.03.1829, Brief Nr. 1168. In: Ebd., Bd. 3, S. 434.
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Bisher waren meine Vorlesungen nur gelehrt gewesen: diesen Sommer habe ich auf die dringende Bitte vieler junger Leute die Geschichte der lezten vierzig Jahre gelesen. Gelesen heisst bey mir, geredet.46
Die fehlende Vorbereitung tat der Qualität der Vorbereitung offensichtlich keinen Abbruch. Die einschlägige Literatur dürfte Niebuhr bei seinen regelmäßigen Besuchen in der Bonner Lesegesellschaft und aus Zeitungslektüren zur Kenntnis genommen haben. Den „Einwürkungen von Mignet und den Lügen von St. Helena“ jedenfalls wusste er sich zu erwehren; anstelle parteiischer Revolutionsberichte wollte er den Studenten eine „große[…] Zahl gesunde[r] Begriffe über das Geschehen“ an die Hand geben.47 Bei allem Anspruch auf Abstraktion verlor sich Niebuhr dennoch gern im Detail. Die Quellengrundlage für diese Exkurse lässt sich nicht zweifelsfrei benennen. Doch liegt nahe, dass Niebuhr auch französische Memoiren gelesen hatte. Sein Verhältnis zur Revolution war politisch ambivalent bis kritisch, in jedem Fall aber emotional. Als in Paris die Bastille erstürmt wurde, war Niebuhr knapp dreizehn gewesen. In einem Brief an Savigny nannte er die Revolution später die „Aufregung der Welt in meiner Jugend“.48 In die erste Sitzung der Vorlesung ließ er die eigene Biographie einfließen: Früh schon habe er unter Anleitung des Vaters die „Zeitungen und Weltbegebenheiten“ zu Kenntnis genommen.49 In Hamburg lernte er als junger Erwachsener französische Emigranten kennen und kam mit ihnen ins Gespräch. Seine Vorstellung von der Revolution prägten diese Diskussionen sogar noch nachhaltiger als jede Lektüre: So wurden mir die Begebenheiten im höchsten Grade vertraut, und in meinem zwanzigsten Jahre konnte ich mit Emigrierten über speziellere Verhältnisse so reden, daß sie glaubten, ich habe in Paris gelebt; so lebhaft stand mir das Bild der Revolution und der Hauptpersonen derselben vor den Augen.50
Den Blick für die „Hauptpersonen“ bewahrte sich Niebuhr zeitlebens. Seinen Bonner Schreibtisch zierte eine Büste Mirabeaus.51 Und so kam er auch beim Vorlesungsabschnitt zu den Versailler Oktobertagen ins Erzählen: Am 5. Oktober sprengte man aus, der Hof beabsichtige eine Massacre der Versammlung, man müsse nach Versailles ziehen und den Hof nach Paris holen, damit er dem Brotmangel ein Ende mache, an dem er Schuld sei. Auf dem Stadthause widersetzte man sich dem Vorhaben mit Standhaftigkeit, so lange die Gefahr leidlich war; aber endlich gab man nach. Lafayette ließ sich die Schmach gefallen als General der sogenannten pariser Armee, mit den Pikenträgern
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Niebuhr an den preußischen Kronprinzen, 26.08.1829, Brief Nr. 1185. In: Ebd., S. 458. Ebd. Niebuhr an Savigny, 24.04.1829, Brief Nr. 1175. In: Ebd., S. 438. Niebuhr: Vorlesungen (wie Anm. 43), S. 39. Ebd. Vgl. Niebuhr an Dahlmann, 11.11.1830, Brief Nr. 1276. In: Niebuhr: Briefe (wie Anm. 24), Bd. 4, S. 104.
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Damen der Halle und Poissarden, und wenigen Nationalgarden nach Versailles zu marschieren.52
Nach diesem Einstieg in den Wendepunkt des ersten Revolutionsjahrs diskutierte Niebuhr knapp die schwierige Frage der Verantwortlichkeiten. Den Herzog von Orléans und dessen Partei unter der Führung des Duc d’Aguillon hielt er für dringend tatverdächtig. Sie hätten die Menschenmenge vor dem Schloss gezielt aufgewiegelt. Mirabeau, dessen Mittäterschaft im Spätherbst 1789 in einem Prozess vor dem Pariser Châtelet verhandelt worden war, erteilte Niebuhr die verspätete, wenn auch vage gehaltene Absolution: „Es ist Mirabeau vorgeworfen worden, daß er von diesem Unternehmen gewußt, ich wünsche daß er unschuldig ist.“53 Ohnehin war der Druck der unteren Volksschichten Anfang Oktober 1789 schon so groß, dass einzelne Akteure sich ihrer Einflussmöglichkeiten zunehmend beraubt sehen mussten. Als versierter Historiker verfügte Niebuhr über die sprachlichen Mittel, um seinen Zuhörern das revolutionstypische Übergewicht der Masse über den Einzelnen vor Augen zu führen. Anstelle des Agenten, den man dingfest hätte machen können, traten in der fortschreitenden Erzählung Pluralkonfigurationen wie „das Gesindel“ und „der Pöbel“ auf. Personenlose Passivwendungen ersetzten die Handlungen von Individuen. Das Königspaar sah sich einer Menge gegenüber, die sich – von einigen hervorstechenden Führertypen einmal abgesehen – in ihrer Gesamtheit weder differenzieren noch beherrschen ließ: Der Zug kam nach Versailles; der Hof war nur wenig von dem Unternehmen präveniret und statt Widerstand zu versuchen, öffnete man die Thore des Schloßhofs. So lagerte sich das Gesindel mit seinen Kanonen auf dem Hofe. Deputationen des schändlichsten Pöbels wurden in die königlichen Zimmer gelassen; man mußte auch die Königin hineinführen und der König hatte die Feigheit die verworfene Führerin zu umarmen. Der König versprach alles zu bewilligen und nach Paris zu kommen und wollte auch die Garde du Corps entlassen.54
Nicht entlassen konnte und wollte Niebuhr allerdings den General Lafayette aus der Verantwortung. Nach einer Atem- und vermutlich Trinkpause55 – die Vorlesungsmitschriften notieren einen Gedankenstrich – hob er neu an. Aus seinem Bericht klang Unverständnis: Der Aufruhr beschwichtigte sich, man kam zur Ruhe, und der Hof, Lafayette selbst, legten sich schlafen; wie dieser gedacht haben mag, daß alles sich ausgleichen werde, ist unbegreif-
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Niebuhr: Vorlesungen (wie Anm. 43), S. 220. Ebd., S. 221. Ebd. Niebuhr klagte darüber, wie schwer es ihm falle, über mehrere Stunden am Stück hinweg zu reden. Im laufenden Vorlesungsbetrieb des Sommersemesters unterzog er sich einer kräftezehrenden Trinkkur. Vgl. z.B. Niebuhr an D. Hensler, 06.09.1829, Brief Nr. 1186. In: Niebuhr: Briefe (wie Anm. 24), Bd. 3, S. 461.
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lich. Im königlichen Palast waren keine Truppen als die wachthabenden Gardes du Corps; Männer von Ehre, wenn sie auch den Sitten ihrer Zeit angehörten.56
Angesichts einer so folgenschweren Unbeherrschtheit kam es, wie es kommen musste – und wie der Antike-Kenner Niebuhr nicht nur aufgrund seiner Revolutionszeitgenossenschaft, sondern auch in Kenntnis der alten Exempla nur zu gut wusste: In der Nacht brach nun eine Rotte geführt vom Herzog von Aiguillon durch eine verratene Nebentüre wo keine Wache war ins Schloß ein und drang in die Zimmer der Königin. Sie wäre ohne Zweifel ermordet worden, wenn nicht die Gardes du Corps sich an verschiedenen Stellen auf die alleredelste und heldenmütigste Weise aufgeopfert hätten; der Tod der Spartaner bei Thermopylä ist nicht glorreicher.57
Aus den Höhen der griechischen Geschichte stieg Niebuhr anschließend wieder zu den ernüchternd-nackten Tatsachen der Gegenwartsvorgeschichte hinab. Hierher, und nicht auf die Thermopylen, gehörte auch der General Lafayette: Nur mit Mühe entfloh die Königin entkleidet zum König. Die verruchten Weiber fanden ihr Bette noch warm, glaubten, sie sei im Zimmer versteckt und durchsuchten alle Winkel. Vor dem Zimmer des Königs hatten die Gardes du Corps wieder harten Stand und jetzt erst erwachte Lafayette, ließ Alarm schlagen, versammelte die Nationalgarde und rettete mit Mühe den König und die Königin.58
Niebuhr hatte nicht nur vier Jahrzehnte zeitlichen Abstand, er zeigte als Historiker auch Verständnis. Seine Studenten sollten lernen, über die Geschichte nicht nach juridischen Maßstäben zu richten, sondern sie in ihrem historischen – und das hieß für Niebuhr nicht zuletzt: in einem anthropologischen – Sinn zu verstehen: „Dieser Vorfall beweist nur Lafayettes Unfähigkeit, nicht seine Schuld.“59 Niebuhr beschrieb die Versailler Oktobertage als ein bedeutungsschweres Ereignis und erhob Lafayette zu einer der Schlüsselfiguren. In seiner Vorlesung sprach er von den „entsetzlichen Tagen des 5. und 6. Octobers“ und von Lafayette als dem „bethörteste[n] aller Thoren“.60 Um die Bedeutung der Episode zu unterstreichen, widmete er ihr einen eigenen Vorlesungsabschnitt – die Mitschriften notieren eine Zwischenüberschrift. Um bei den Studenten ein bleibendes Bild des verhängnisvollen Geschehens zu verankern, griff er auf eine Vielzahl farbiger Details zurück. Statt langwieriger Forschung bedurfte es dafür eher eines erzählerischen Fingerspitzengefühls; umfangreiche Lektüren ersetzte der Historiker durch seine aufmerksame Zeitgenossenschaft. Denn dass weder die Revolution noch ihre Akteure ausschließlich der Vergangenheit angehörten, sollte sich spätestens ein Jahr nach dem Bonner Kolleg erneut herausstellen, als auch der alte Revolutions56 57 58 59 60
Niebuhr: Vorlesungen (wie Anm. 43), S. 221. Ebd. Ebd., S. 221f. Ebd., S. 222. Ebd., S. 218.
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general wieder von sich reden machte. Die Pariser Julirevolution von 1830 kommentierte Niebuhr als Zeitungsleser, Zeitgenosse und als Historiker, dem die alten Akteure bestens vertraut waren: Ich will gar nicht laügen [sic] dass ich die Pariser heldenmüthig, die Mässigung des Siegs nicht bloss komödienhaft, und die Besonnenheit der Deputierten – bis auf die aüsserste Linke – höchst respectabel finde. Es ist alles besser als 1789, und daran sieht man klar dass die Nation in der That besser geworden ist. Wäre nur nicht der alte Geck, Lafayette, und Anklänge in seiner Art!61
IV. Leser und Historiker: Jacob Burckhardt Burckhardt musste bei der Vorbereitung seiner Vorlesung gründlicher vorgehen. Wie Niebuhr sprach auch er frei, und wie schon bei Niebuhr stieß auch seine Vorlesung auf großes Interesse bei der Studentenschaft. Seinen Stoff aber bereitete der frisch nach Basel berufene Historiker anhand von Exzerpten und Übersichtsblättern gründlich auf und memorierte ihn vorab.62 Als er im Wintersemester 1859/60 zum ersten Mal über die Französische Revolution las, lagen deren zentrale Episoden bereits rund siebzig Jahre zurück; die Bestände der Mémoires und Histoires hatten sich nach der Publikationswelle der 1820er Jahre noch einmal vervielfacht. Die Menge an Literatur, die Burckhardt hinzuzog, ist beachtlich. In der Einstiegssitzung erläuterte er denn auch nicht nur die grundsätzliche Bedeutung der Revolution als einer weiterhin unabgeschlossenen Gegenwartsvorgeschichte.63 Sondern er reflektierte auch den Umstand, dass aus ihm wenn auch kein Zeitgenosse, so doch ein langjähriger Revolutions-Leser sprach. Burckhardts Jugend war anstatt durch die Wirren der Revolution durch deren schriftliche Aufarbeitung geprägt gewesen: Freilich, in jenen drei Decennien, da wir geboren wurden und jung waren, konnte man glauben, die Revolution sei ein Abgeschlossenes, das man als solches objectiv schildern dürfe […]. In jener Zeit erschienen diejenigen wenn auch nicht classischen wohlgeschriebenen Bücher, welche zwar nicht parteilos aber doch mit der Absicht der Billigkeit und des ruhigen Überzeugens eine allgemeine Ansicht über die Jahre 1789–1815 festzustellen suchten, als über ein abgeschlossenes Zeitalter.64
Das Manuskript belegt, dass Burckhardt im Laufe der Jahre immer wieder neue Literatur konsultierte, Fragen aufwarf und widersprüchliche Informationen einander gegenüberstellte. Den Haupttext durchziehen Randzusätze, Fußnoten, Strei61 62 63
64
Niebuhr an D. Hensler, 12.08.1830, Brief Nr. 1254. In: Niebuhr: Briefe (wie Anm. 24), Bd. 4, S. 40. Vgl. das Editorische Nachwort in Burckhardt: Revolutionszeitalter (wie Anm. 26), S. 1555f. Zu Burckhardts Gegenwartsinteresse an der Revolution vgl. zusammenfassend ebd., S. 1556– 1558. Zum „Revolutionszeitalter“ als Epoche und Erkenntniskategorie im 19. Jahrhundert vgl. Wolfgang Hardtwig: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit. Göttingen 1974, S. 23–50. Ebd., S. 15.
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chungen und ergänzende Kommentare. Als ein Resultat dieser Kompilationstechnik bietet auch der Vorlesungsabschnitt unter der Zwischenüberschrift „Octobertage“ eine Fülle an Details.65 Die wichtigste Literaturgrundlage der Passage bilden die Revolutionsgeschichten von Louis Blanc und Alexis de Tocqueville. In seinen Fußnoten und Randzusätzen zog Burckhardt zudem Autoren wie Heinrich von Sybel, Carl Adolph Menzel und Nicolas Villaumé hinzu. Neben den Historikern las Burckhardt aber auch die Schriften von Zeitgenossen der Revolution, und er konsultierte einige Zeugen der Versailler Oktobertage. Aus dem Bestand der Memorialistik nannte er explizit die Memoiren von Sénart, Fiévée und Mirabeau. Das Mémorial de Sainte-Hélène, das Napoleons Verdikt über Lafayette festschrieb, kam ebenso zu Wort66 wie die Schriften Konrad Engelbert Oelsners.67 Indirekt stützte sich das Vorlesungsmanuskript auch auf die Memoiren Lafayettes und auf die Revolutionsgeschichte Jacques Neckers.68 Dass Lafayette schon längerfristig den Plan ausgeheckt habe, den König in die Hauptstadt zu locken, legte Burckhardt zumindest nahe: […] Lafayette, obwohl er sich dann stundenlang widersetzte ‚um auf die Erlaubniß der Commune zu warten’ hat die Sache angezettelt und gewollt, um den König in Paris zu beherrschen (Lafayette läugnet, Necker aber bejaht es).69
Neben den Textbelegen deuten auch der Ton und die Treue zum Detail auf eine gründliche Memoirenlektüre hin. In Anlehnung an die Akribie der Augenzeugen suchte Burckhardt den Verlauf der beiden entscheidenden Revolutionstage nachzuzeichnen. Immer wieder nannte er Tages- und Uhrzeiten: „5. October Morgens“ – „schon Morgens zehn Uhr“ – „Nachts elf Uhr“ – „Abfahrt ein Uhr“.70 Die tumultartigen Szenen im Versailler Schloss brachte er in seinem für die Vorlesungsstichpunkte typischen Stakkato-Ton auf den Punkt: „Inzwischen hatten die Weiber in Versailles sich brodfordernd in Assemblée und Schloß gedrängt; Eine Deputation derselben beim König etc.; Raufereien […].“71
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Ebd., S. 266–271, Zitat S. 266. „Napoleon (Mémorial): La Fayette a été un niais politique. Sa bonhommie doit le rendre constamment dupe des hommes et des choses“ (ebd., S. 268). Oelsner gilt als einer der wortgewandtesten deutschen Augenzeugen der Französischen Revolution, war aber im Jahr 1789 noch gar nicht in Frankreich angelangt. Vgl. Klaus Deinet: Konrad Engelbert Oelsner und die Französische Revolution. Geschichtserfahrung und Geschichtsdeutung eines deutschen Girondisten. München u. Wien 1981, S. 21. Lafayettes Mémoires waren 1837/38 in sechs Bänden posthum durch die Familie des Generals publiziert worden. Die Histoire de la Révolution française des königlichen Finanzministers Jacques Necker von 1795 erfuhr 1821 eine Neuauflage. Zu diesem Zeitpunkt waren die 1818 verfassten Mémoires der Madame de Staël über das Leben ihres berühmten Vaters bereits erschienen. Burckhardt: Revolutionszeitalter (wie Anm. 26), S. 268. Ebd., S. 268f. Ebd., S. 268.
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Den Nachtschlaf Lafayettes hielt auch Burckhardt für erwähnenswert. Als einflussreicher Hauptakteur hätte Lafayette das Ruder noch herumreißen können. Stattdessen habe er sich sehenden Auges – und sogar noch zeitiger, als etwa von Weber kolportiert – aus der Verantwortung gestohlen: Aber Weiber und Vagabunden bewegten sich und lagerten dazwischen und drohten bereits mit einem Angriff auf die Caserne der Leibwache. Dennoch und dieß wissend legte sich Lafayette um Mitternacht zur Ruhe.72
Auf Basis seiner Lektüre und in Anbetracht der Ehrungen, die dem mehrfachen Revolutionsgeneral nach dessen Tod im Jahr 1834 seitens der republikanischen Linken in Frankreich zuteil geworden waren, attestierte Burckhardt Lafayette per Randzusatz allerdings nicht nur unbändige Müdigkeit, sondern auch unlautere Motive. Damit aber bescheinigte der Historiker dem Revolutionsakteur vor allem eine ebenso gründliche wie verhängnisvolle Fehleinschätzung der revolutionären Dynamik: „Er gönnte wahrscheinlich dem Hof einen kleinen Schrecken und wollte dann als Ordner und Retter auftreten.“73
V. Narration und Politik Die Kriterien, nach denen jemand seinen Platz auf der Bühne der Revolution erhielt, während andere leer ausgingen, verschoben sich mit wachsendem Abstand zum Geschehen. Sie verdienen deshalb die Aufmerksamkeit der Historiographiegeschichte. Wie in der Revolutionsgeschichte die Rollen verteilt wurden, implizierte ein politisches Urteil und hatte narrative Konsequenzen. Der Nachtschlaf Lafayettes jedenfalls war im 20. Jahrhundert nur noch eine Randnotiz. Wo die Revolutionsforschung überhaupt noch zu erzählen wagte, war sie mit Details sparsamer und den Memorialisten gegenüber misstrauischer. Das Kritische Wörterbuch zur Französischen Revolution subsumierte die Versailler Oktobertage unter die systematische Rubrik „Tage des Volksaufstands während der Revolution“. Als Verfasser entschied sich Denis Richet im Innern des Artikels gleichwohl für einen erzählenden Stil. Ganz auf Lafayettes Schlafgewohnheiten verzichten wollte oder konnte offenbar auch er nicht. Anstatt sich aber auf die Memorialisten zu verlassen, die dem General imaginär bis ins Schlafgemach gefolgt waren, wählte Richet für seine Erzählung eine Momentaufnahme, in der Tausende von Parisern den Anblick des überrumpelten Generals quasidemokratisch hätten bezeugen können – so sie denn ihr Revolutionserleben niedergeschrieben hätten:
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Ebd., S. 268f. Ebd., S. 269.
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Im Morgengrauen, um sechs Uhr, drang die Menge auf den Schlosshof vor. Brüsk aus dem Schlaf gerissen zeigte sich Lafayette mit dem König, der Königin und dem kleinen Dauphin auf dem vergoldeten Balkon des Marmorhofes.74
Diese spätere Hinwendung zur Revolution der Vielen auf dem Schlosshof belegt im Umkehrschluss den politisch exklusiven Charakter der zeitgeschichtlichen Verarbeitung der Französischen Revolution. Die intime Lafayette-Kennerschaft des 19. Jahrhunderts steht für eine Revolutionsgeschichte aus dem Geist der Zeitgenossenschaft, die sich aus einem privilegierten Augenzeugenwissen und aus mündlicher Überlieferung speiste, die selbstbewusst die historiographische Draufsicht wagte und die einzelnen Protagonisten höhere Beweislast aufbürdete als dem revolutionären Volk. Methodisches Kernelement dieser Geschichtsschreibung war die Konfrontation von Zeugenwissen. Die Memorialisten hatten ein solches Herangehen praktiziert, indem sie sich als glaubwürdige Augenzeugen inszenierten und darüber hinaus Versionen aus zweiter oder dritter Hand kolportierten. Die Verleger der 1820er Jahre erhoben die Widersprüche, die allerorten zutage traten, zum lukrativen Geschäftsprinzip. Memoiren, so postulierten sie in den Werbeschriften ihrer Sammlungen, müsse man in Serie lesen, um nicht der Parteimeinung eines Einzelnen aufzusitzen. Damit leisteten sie einer kritisch-komparatistischen Lektüre von Zeugenberichten Vorschub und appellierten mithin an die für die Historiographie entscheidende übergeordnete Vergleichsinstanz. Im Duktus eines spätaufklärerischen Publikumsideals überließen sie dem Leser das Gesamturteil über die Revolution. Die Historiker des 19. Jahrhunderts griffen dieses Lektüreangebot auf und setzten es im Umgang mit den Zeugen produktiv um. Dass auch Niebuhr ihm folgte, darf angesichts der Farbigkeit und der Detailtreue seiner Schilderungen wenigstens vermutet werden. Seine Diskussionen mit den Hamburger Emigranten dürften für seinen zugleich empathischen und distanzierten Umgang mit den Geschichtszeugen ohnehin schulbildend gewesen sein. In Burckhardts Manuskript belegen die Randnotizen und Einlassungen eindrücklich die revolutionstypische Vielfalt der Stimmen und Versionen, aber eben auch den selektierenden Blick und die wertende Stimme des Historikers. Narratives Kernelement war ein dezidiert historischer, in seiner Historizität aber höchst prekärer Erzählerstandpunkt. Historisch war dieser Standpunkt insofern, als er es ermöglichte, eine Episode wie die Versailler Oktobertage überhaupt erst als ein in sich abgeschlossenes Ereignis zu schildern. Nur im Duktus des Nachträglichen konnte man ein Geschehenszusammenhang durch Einstiegsformeln, Schlussklauseln oder schlichter noch durch Zwischenüberschriften aus dem Erzählfluss herausragen lassen. Dies setzte ein Mindestmaß an zeitlicher und zumeist auch räumlicher Distanz voraus. Die Memorialisten ließen die Revolution in fortgeschrittenem Alter oder aus der Entfernung der Emigration Revue passieren. 74
Richet: Tage des Volksaufstands (wie Anm. 12), S. 235.
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Nur weil sie zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht mehr inmitten des Geschehens standen, konnten sie erzählend Position beziehen. Prekär dagegen war der Erzählerstandpunkt der Memorialisten deshalb, weil sie erzählerisch aufleben ließen, was bis in die Gegenwart des Schreibens hinein fortwirkte und was ihr Leben von Grund auf und in den meisten Fällen zum Nachteil verändert hatte. Wer als Zeitgenosse seine Version des Revolutionsgeschehens veröffentlichte, setzte Maßstäbe, machte sich aber auch angreifbar. Niebuhr und Burckhardt wählten Distanz qua Beruf. Sie konnten sich darüber hinaus auf den doppelten Abstand zum Revolutionsgeschehen berufen, der sich aus ihrer Generationszugehörigkeit und Nationalität ergab. Dennoch war auch ihr Erzählerstandpunkt keineswegs unangreifbar. In ihren methodischen Vorworten reflektierten beide eine prinzipielle Unabgeschlossenheit der Revolution in der Gegenwart des 19. Jahrhunderts. Was für die französischen Revolutionszeugen persönlich-biographische Einsicht gewesen war, mutierte bei den beiden deutschsprachigen Historikern zum Grundproblem von Zeitgeschichtsschreibung. Aus der Perspektive des Jahres 1829 erschien Niebuhr die Revolutionszeit zwar als eine „epische Einheit“, die ihren „Ausgangspunct“ in Frankreich genommen habe. Ob die Französische Revolution ihren „Geschichtsschreiber“ aber jemals finden würde, sei eine „große Frage“.75 Burckhardt fasste die Offenheit, die der Revolutionsgeschichte auch um 1860 noch anhaftete, im Begriff vom „Revolutionszeitalter“. In Revolutionsfragen konnte selbst der Standpunkt des Historikers immer nur ein vorläufiger sein: „Er [dieser Curs, A.K.] redet vom Anfang dessen was noch fortwirkt und wirken wird, von dem Weltalter dessen weitere Entwicklung wir noch nicht kennen.“76 In quellensystematischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht entpuppen sich sowohl die Memoiren als auch die Vorlesungen über weite Strecken als ein Personendrama. In diesem Drama spielte eine stattliche Zahl an Protagonisten vor dem großen Chor der Masse. Der charakteristische Personalstil dieser Revolutionsgeschichten resultierte aus einer Überlieferungslage, die den „Hauptakteuren“ (Niebuhr) großen Raum zuwies. Die Memorialisten lieferten den Stoff zu dieser Geschichte. Die Historiker eigneten sich das Material an. Die Verleger, die Memoiren in Serie zur Verfügung stellten, leisteten verlässliche Vorarbeit. Der Fokus auf einzelne Personen und deren Handlungen – oder, im Falle Lafayettes, auf ihre Unterlassungen – entsprach somit einer Quellenproduktion, die auf die unmittelbaren Zeugen zurückging. Der personalisierte Erzählstil kann insofern als die zeittypische Antwort auf einen historischen Tatbestand verstanden werden, der allen Zeitgenossen eindrücklich vor Auge stand: Die Revolution hatte eine Unmenge an historischen Akteuren hervorgebracht, die sich zudem zu großer Zahl bemüßigt fühlten, über ihre Erlebnisse schriftliches Zeugnis abzulegen. Beherrschbar aber war die Revolution weder für den Einzelnen noch im Ganzen gewesen. Diese 75 76
Niebuhr: Vorlesungen (wie Anm. 43), S. 37. Burckhardt: Revolutionszeitalter (wie Anm. 26), S. 3.
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Einsicht in die Grenzen menschlicher Handlungsmacht war eine schmerzliche, und sie ließ sich nur im Medium der Erzählung transzendieren. In der Geschichte der Versailler Oktobertage hielt der müde Lafayette daher als Erklärung für einen Ereignisverlauf her, an dem er fraglos beteiligt gewesen war, der aber in letzter Konsequenz ein Rätsel blieb. Die Individualisierung der Schuldzuweisungen ging Hand in Hand mit der Personalisierung des Stils. Diese Art und Weise, Revolution zu erzählen, beruhte auf dem quasi-mündlichen Überlieferungsbestand der anwesenden Zeugen und ihrer Memoiren. Inhaltlich sollte man sie als den ernstgemeinten Versuch verstehen, der tiefen Irritation über den Verlauf der Revolution zumindest narrativ etwas entgegenzusetzen.77 Erkannt hatte diesen Zusammenhang auch Adolphe Thiers, der für seine eigene Revolutionsgeschichte ebenfalls großzügig aus Memoiren schöpfte. Für Thiers war die schiere Personenfülle nicht nur das Charakteristikum der Revolution, sondern sie war auch ihr politisches Kernproblem und zugleich ihre neuartige historiographische Herausforderung. Aufgabe jedes Revolutionshistorikers, der seinen Namen verdiene, sei es, die revolutionstypische Masse der Zeugen und Akteuren beherrschbar zu machen. Der Blick auf das Tun und Lassen des Einzelnen bleibe immer unzureichend, müsse aber unerbittlich sein: „Die Geschichte kann sich nicht genug ausbreiten, um bis zu den Individuen [alles] zu belegen, vor allem in einer Revolution, wo die Rollen – selbst die ersten – extrem zahlreich sind.“78 Unterm Strich überrascht nicht, dass die deutschsprachigen Historiker französische Texte lasen, um über die Französische Revolution im Bilde zu sein. Ebenso wenig verwundert, dass man mit einem zeitlichen Abstand von rund vierzig (Niebuhr) bis zu siebzig Jahren (Burckhardt) auf die Berichte von Zeugen und Akteuren des Revolutionsgeschehens zurückgriff, die zudem auf dem Buchmarkt leicht verfügbar waren. Die Gräben zwischen Zeugen und Historikern, zwischen Erlebnisbericht und historiographischer Draufsicht, zwischen französischem Revolutionserleben und deutschem Revolutionsbetrachten sind innerhalb der Geschichte der Historiographie vielfach vertieft worden. Die Zusammenschau der französischen Memoiren mit den deutschsprachigen Vorlesungen enthüllt jedoch strukturelle Ähnlichkeiten, die über den simplen Sachverhalt einer Transmission von Inhalten hinausweisen. In der Lafayette-Episode erscheinen die Sprach- und Genregrenzen als durchlässig und die Rollenverteilung von Zeugen und Historikern als situationsbedingt. Diese Parallelen sind Teil der langen Nachgeschichte der Französischen Revolution, sie gehören aber auch in die Entwicklungsgeschichte der modernen Geschichtsschreibung. 77
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Grundlegend zur erfahrungsgeschichtlichen Dimension historiographischer Methoden: Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2000, S. 27–77. „L’histoire ne peut pas s’étendre assez pour justifier jusqu’aux individus, surtout dans une révolution où les rôles, même les premiers, sont extrêmement nombreux“ (Adolphe Thiers: Histoire de la Révolution française. Bd. 1. Paris 1823, S. 378).
Varianten der Historisierung
CHANTAL GRELL
L’histoire des origines en France, 1780–1820 Les années 1780–1820 sont un moment clef dans l’historiographie des origines. Le récit traditionnel, fondé sur le texte de la Genèse, a été mis à mal, notamment du fait des travaux sur la chronologie universelle qui, en dépit des efforts méritoires de Newton pour comprimer les dynasties égyptiennes et les temps héroïques de la Grèce, ont fait voler en éclats les chronologies bibliques.1 Cette histoire des origines était proche, à échelle humaine, la Création remontant à 4004, au plus 5200 ans av. J.-C. ; elle était aussi rassurante : du déluge (2600 av. J.-C.) à l’aube du XVIIIe siècle (1700), on comptait quarante-trois siècles, au plus cinquante, soit quelque cent vingt à cent trente générations, même si quelques mauvais esprits, comme Isaac de La Peyrère, avaient supposé l’existence de « pré-adamites ».2 Au XIXe siècle, l’histoire des origines doit rompre avec la lecture littérale du récit des six jours de la Création.3 Il fallut dissocier l’âge de la Terre, celui de l’apparition de la vie, celui enfin de l’apparition de l’homme. Georges-Louis Leclerc de Buffon, dès les années 1770, avait estimé, en extrapolant ses expériences sur le refroidissement des sphères, à plus de 70 000 ans l’âge de la terre, et, plus vraisemblablement à un million d’années, pour le moins. Benoît Maillet, dans Telliamed (1755), avait supposé à la Terre un âge de deux milliards d’années ; Jean-Baptiste de Lamarck repoussa cet âge à quatre milliards sur la base de la rotation des océans. La question des fossiles, envisagés dans le contexte des stratifications géologiques par Stevin à la fin du XVIIe siècle, reprise par Georges Cuvier dans les Révolutions de la surface du globe (1825), recula l’âge de l’apparition de la vie. Enfin pour l’homme, dont les premiers outils, retrouvés dans les dépôts géologiques, furent étudiés par Boucher de Perthes (Antiquités celtiques et antédiluviennes, 1846–1863), il fallut concevoir un nouvel âge, dit « préhistoire ».4 1
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Chantal Grell : Die Wandlungen der chronologischen Wissenschaft und die Illusionen des Isaac Newton. In : Susanne Rau et Birgit Stud (éd.) : Geschichte schreiben. Ein Quellen-und Studienhandbuch zur Historiographie (ca. 1350–1750). Berlin 2010, pp. 390–403 ; La réception des travaux chronologiques d’Isaac Newton en France au XVIIIe siècle. In : Archives internationales d’histoire des sciences 168 (juin–juillet 2012), pp. 85–157. Dans deux ouvrages : Systema theologicum ex Præ Adamitarum. Amsterdam 1655 et Præ Adamitæ, sive Exercitatio, s.l., 1655. Ce second livre fut aussitôt traduit en anglais : Men before Adam ; or a Discourse upon the twelfth, thirteenth and fourteenth verses of the fifth chapter of the Epistle of the Apostle Paul to the Romans. Londres 1656. Sur La Peyrère, Richard H. Popkin : Isaac La Peyrère, 1596–1676, His Life, Work and Influence. Leyde 1987. Voir François Laplanche : La Bible en France entre mythe et critique, XVIe–XIXe siècles. Paris 1994. Il existe une très ample bibliographie qu’il n’est pas lieu de reproduire ici. Pour le XVIIIe siècle, Claudine Cohen : Science, libertinage et clandestinité à l’aube des Lumières. Le
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L’histoire des origines est donc remontée dans le temps. Certes, la dilatation du temps de l’histoire n’est pas celle de l’espace du ciel au XVIIe siècle, clos et fini, puis indéfini, enfin infini. Les échelles jouent encore sur les siècles et les méthodes appliquées sont celles, éprouvées, qui n’ont pas fait leurs preuves : le calcul des générations ; l’étude des langues et des étymologies à la recherche de la langue originelle ; l’étude des « monuments » et de tous les indices considérés comme « traces » à déchiffrer : traces physiques, traditions, récits mythiques, édifices, reliques, « médailles ».5
I.
L’Antiquité « dévoilée » : l’offensive des libres penseurs
Les études sur l’histoire des origines distinguent l’origine de l’histoire de celle des peuples. Il ne s’agit plus seulement de faire remonter au plus haut l’antiquité de sa nation pour assurer son rang et sa prééminence.6 Au delà de l’origine des peuples, l’objectif est d’atteindre le peuple originel, instituteur du genre humain : non pas le peuple hébreu de la Bible, mais l’Ancêtre dont le peuple hébreu ne fut qu’un rameau tardif. Le statut de l’histoire des origines change ainsi à une époque où le récit traditionnel n’est plus recevable, ni reçu, par les philosophes et les historiens qui ne disposent pas de méthodes ni d’outils pour écrire à nouveaux frais cette histoire. Signe des préoccupations des esprits, les ouvrages sur les origines se multiplient en France. Les années 1760 ont été marquées par une virulente offensive des athées. La suppression de la Compagnie de Jésus (1763), qui intervint dans un climat d’intolérance et de fanatisme religieux, sembla prédisposer les esprits las des incessantes polémiques à accueillir favorablement les ouvrages qui dénonçaient ces maux. Le baron d’Holbach (1723–1789) en profita pour livrer au public des traductions remaniées ainsi que toute une série d’ouvrages personnels. Un nombre considérable de pamphlets anti-chrétiens furent ainsi imprimés entre 1766 et 1772, en l’espace de six années.7 Ces ouvrages appelèrent des réponses :
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transformisme de Telliamed. Paris 2011 ; sur le XIXe, Laurent Goulven : Paléontologie et évolution en France, 1800–1860, de Cuvier-Lamarck à Darwin, Paris 1987 et : La naissance du transformisme. Lamarck entre Linné et Darwin. Paris 2001 ; Pietro Corsi : Lamarck, Genèse et enjeux du transformisme, 1770–1830. Paris 2001. Alain Schnapp : La conquête du passé. Aux origines de l’archéologie. Paris 1998. Cette recherche de brevets d’antiquité, fort commune aux XVe et XVIe siècles, a donné lieu à une fabrication industrielle de faux, cf. Roberto Bizzochi : Genealogie incredibili. Scritti di storia nell’Europa moderna. Bologne 1995 ; Généalogies fabuleuses. Inventer et faire croire dans l’Europe moderne. Paris 2010, et à tous les abus imaginables en matière d’étymologies, cf. Daniel Droixhe : La linguistique et l’appel de l’histoire (1600–1800). Genève 1978. L’ouvrage de Pierre Naville (1943) est vieilli : D’Holbach et la philosophie scientifique au XVIIIe siècle. Paris 1968. Plus récents, Alan Charles Kors : D’Holbach’s Coterie : An Enlightenment in Paris. Princeton 1976 ; Anna Minerbi-Belgrado : Paura e ignoranza. Studio
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d’athées, de libres penseurs, de jésuites, de catholiques modérés, de protestants militants, de déistes. L’offensive des libres penseurs et du baron d’Holbach a clairement défini le terrain : celui de l’universalité. Il ne s’agit pas de se quereller sur le peuple originel, mais de retracer les grandes lignes de l’histoire de l’humanité. Ce qui revient à privilégier les théories matérialistes de l’histoire des religions : la religion naît de la crainte, de la faiblesse et de la ruse. Elle est aussi une imposture. Créée par la peur, la religion est un instrument de pouvoir politique, comme l’expliquait John Trenchard (1662–1723) dans l’Histoire naturelle de la superstition, un texte anonyme de 1709, que publie alors d’Holbach. Pour Trenchard, l’origine des cultes idolâtres réside dans la personnification de la nature qui donne très tôt lieu à l’invention poétique d’allégories, source de cultes superstitieux et idolâtres, dûment encouragés par les princes et par les prêtres.8 La religion, renchérit d’Holbach dans La Contagion sacrée (1767), est une forme d’aliénation dont l’homme, de tout temps, a été la victime. Il s’agit donc de démonter les mécanismes qui ont favorisé les différentes formes de tyrannie et de despotisme, liées à l’alliance des pouvoirs temporel et spirituel ; de libérer l’homme d’une éducation obscurantiste, de lui enseigner les principes véritables de la morale, de la vie sociale et du bonheur. Le passé n’est pas différent du présent. En refusant toute forme de mise en perspective historique, d’Holbach insiste sur le fait que les erreurs originelles continuent de se perpétuer, et que l’ignorance qui en fut la cause n’a pas disparu. Le temps des origines apparaît comme un repoussoir, un modèle d’erreurs et d’errements qu’il faut se garder d’admirer et qu’il faut connaître pour se donner les moyens de lutter contre une aliénation plus que millénaire, imposée par la religion, quelles qu’en soient les formes, toutes également trompeuses. Publiée en 1766 par les soins du même baron, L’Antiquité dévoilée par ses usages ou Examen des principales opinions, cérémonies et institutions religieuses et politiques des différents peuples de la terre, de Nicolas-Antoine Boulanger (1722–1759), fut rédigée dans les années 1750.9 Ingénieur des Ponts et Chaussées, chargé de creuser des tranchées pour la construction du grand réseau routier français, Boulanger fut marqué par les traces du Déluge. A ses yeux, le souvenir du Déluge s’est perpétué des siècles durant, plongeant l’humanité dans un état désespéré qui fut la source de toutes les misères humaines : Le Déluge est le principe de tout ce qui a fait en divers siècles la honte et le malheur des nations : Hinc prima mali labes. La crainte, qui s’empara pour lors du cœur de l’homme,
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sulla teoria della religione in d’Holbach. Florence 1983 ; Mark Curran : Atheism, religion and Enlightenment in the Pre-revolutionary Europe. Londres 2012. Sur Trenchard, Margaret C. Jacob : The Radical Enlightenment : Pantheists, Freemasons and Republicans. Londres 1981. Sur Boulanger, Franco Venturi : L’Antichità svelata e l’idea del progresso in N. A. Boulanger. Bari 1947 ; John Hampton : Nicolas Antoine Boulanger et la science de son temps. Genève 1955 ; Paul Sadrin : N.-A. Boulanger (1722–1759) ou avant nous le Déluge. Oxford 1986.
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l’empêcha de découvrir et de suivre les vrais moyens de rétablir la société détruite. Son premier pas fut un faux pas ; sa première maxime fut une erreur ; et ne cessant d’agir ensuite conséquemment à son début, il n’a point cessé de s’égarer.10
Toute l’histoire de l’humanité primitive est ainsi marquée au coin du Déluge, au delà duquel il est impossible de remonter : Pour moi, j’ai vu écrit dans la nature que l’homme a été vivement affecté et profondément pénétré de ses malheurs ; j’ai vu qu’il a tremblé ; j’ai vu qu’il est devenu triste, mélancolique et religieux à l’excès ; j’ai vu qu’il a conçu un dégoût total pour cette terre malheureuse ; j’ai encore lu dans ce livre [de la nature, C.G.] que toutes les premières démarches de l’homme ont été réglées par ces différentes affections de son âme, que tout ce qui est arrivé par la suite des siècles dans le monde moral, religieux et politique, n’a été que la suite de ces démarches primitives ; enfin j’ai reconnu que cette première position de l’homme qui a renouvelé les sociétés, est la vraie porte de notre histoire, et la clef de toutes les énigmes que les usages et les traditions nous proposent. C’est donc par le Déluge que l’on doit commencer l’histoire des sociétés et des nations présentes.11 La partie la plus utile de l’histoire n’est point la connaissance aride des usages et des faits ; c’est celle qui nous montre l’esprit qui a fait établir ces usages, et les causes qui ont amené ces événements. […] Chaque usage a son histoire particulière, ou au moins sa fable ; chaque usage appartient et remonte à un fait particulier ; peut-être y a-t-il encore un lien secret et commun qui lie la masse générale de tous les usages avec celle de tous les faits. L’histoire des usages et de leur esprit ne serait ainsi qu’une nouvelle manière de faire l’histoire des hommes.12
Boulanger est profondément marqué par le tableau des révolutions de la terre, véritables archives des sciences et « monuments naturels », qu’il confronte aux traditions historiques. Il s’applique aussi à imaginer les suites morales de ces révolutions et les impressions produites sur des êtres sensibles et pensants. Se fondant ainsi sur une comparaison systématique de toutes les traditions, y compris celles des Hébreux, et sur l’idée qu’il se fait de la nature humaine, il réinterprète tous les rites à la lumière de la terreur obsessionnelle provoquée par le Déluge : toutes les fêtes en fixent le souvenir, toutes les fables relatent la catastrophe. Une fois les premières sociétés constituées, il fallut en effacer le souvenir, condition nécessaire à tout développement social. Le rôle des cérémonies et des fêtes religieuses consista à en perpétuer le souvenir, tout en effaçant l’angoisse et la terreur qui lui étaient liées. Les mystères furent le moyen le plus efficace que les prêtres imaginèrent pour limiter l’influence des dogmes apocalyptiques. Quand le souvenir du Déluge s’estompa, les rites devinrent incompréhensibles. L’étude de la religion, telle que Boulanger la conçoit, présente des traits originaux. Il s’intéresse moins à la mythologie qu’à la psychologie de l’homme qui imagina les fables ; il analyse moins les rites que l’esprit des rites ; il distingue ce 10
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Nicolas-Antoine Boulanger : L’Antiquité dévoilée par ses usages ou Examen des principales opinions, cérémonies et institutions religieuses et politiques des différents peuples de la terre. Vol. I. Amsterdam 1777 [1re éd. 1766], p. xl. Ibid., p. xxxix. Ibid., p. xxxi.
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qui est célébration du passé et espérance d’une libération future. La religion est l’instrument qui permet à l’homme de se libérer de ses terreurs premières ; elle est aussi celui de son aliénation, car elle le maintient dans l’angoisse et la sujétion. Pour Boulanger, l’histoire est néanmoins celle d’une libération progressive, du passage d’une conception apocalyptique du temps, à une conception cyclique, puis à une conception linéaire qui ouvre la voie à un progrès fondé sur l’oubli et l’accumulation des expériences et des découvertes. Conquête de la modernité, la liberté ne peut exister que dans un monde affranchi de la religion et détaché du traumatisme du souvenir originel. Charles-François Dupuis (1742–1809), licencié en théologie, avocat et francmaçon, s’est aventuré dans le domaine des sciences et initié à l’astronomie auprès du maître Jérôme Lalande.13 En 1778, il acquiert la conviction que les divinités de la fable ne sont autre chose que des constellations, que les noms des dieux sont identiques à ceux des astres et que leurs aventures ne sont qu’une expression allégorique du cours des astres.14 Il ne s’agissait pas, à l’instar de l’abbé Pluche,15 de considérer la contemplation des astres et du ciel comme l’une des sources de l’idolâtrie ; ni de montrer comment le monothéisme, hérité de Noé, avait longtemps conservé sa pureté, avant que Ménès ne perfectionne l’usage du zodiaque en adaptant les symboles et le calendrier au cas très particulier des travaux agricoles en Egypte et que les Grecs achèvent de rendre méconnaissables les figures mythologiques venues d’Egypte. Dupuis développe son système en 1781, dans son Mémoire sur l’origine des constellations et sur l’explication de la fable par l’astronomie.16 Bien que réfutées par Jean-Sylvain Bailly, ses hypothèses sont remarquées par Frédéric le Grand qui lui propose la chaire de littérature au Collège de Berlin. La mort du roi, en 1786, contrariant ce projet, il dut se contenter de la chaire d’éloquence latine du Collège de France en 1787 et d’un siège à l’Académie des inscriptions et belles lettres en 1788.17 Député à la Convention puis membre du conseil des Cinq Cents, membre de l’Institut, classe des Beaux-arts et Littérature, 13 14 15
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Claude Rétat : Lumières et ténèbres du citoyen Dupuis. In : Chroniques d’histoire maçonnique 50 (1999), pp. 5–68. A l’en croire, cette intuition lui vint le 18 mai 1778, comme il l’écrit dans le Journal des Savants en juin 1779. « […] Les Dieux […] originairement ne tenaient rien à l’histoire d’aucun homme qui eût vécu sur la terre ; ils n’étaient pas même des allégories ou des emblèmes destinés à enseigner la physique ou la morale […]. Ils étaient uniquement des caractères significatifs pour annoncer au peuple le cours du Soleil, la suite des fêtes, & l’ordre des travaux de l'année » (Histoire du Ciel. Vol. I. Paris 1739, p. 144). La première formulation prudente du système de Dupuis est exposée dans le Journal des Savants sous forme de trois Lettres sur l’origine astronomique de l’idolâtrie et de la fable : (juin 1779), pp. 420–428 ; (octobre 1779), pp. 687–700 ; (décembre 1779), pp. 817–826 ; (février 1780), pp. 85–101. Selon l’éloge de Bon-Joseph Dacier, Dupuis garda longtemps un silence prudent et, comme député à la Convention, se montra modéré. Cf. Bon-Joseph Dacier : Notice historique sur la vie et les ouvrages de M. Dupuis, lue le 3 juillet 1812. In : Mémoires de l’Institut royal, Académie des inscriptions 5/1 (1821), pp. 121–141.
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section Antiquités et Monuments, en 1795,18 la Révolution lui offre l’occasion de radicaliser ses analyses dans les trois volumes de L’Origine de tous les cultes ou Religion universelle (an III), ouvrage considéré comme un bréviaire de l’athéisme (fig. 1). L’objectif en est clairement défini : Cet ouvrage n’aura d’autre but, que de remonter à la source de nos opinions religieuses, d’en fixer l’origine, d’en suivre les progrès et les formes variées ; de faire apercevoir la chaîne commune, qui les unit toutes, et de proposer une méthode générale, pour en décomposer la masse informe et monstrueuse. Je ne parlerai point des religions révélées, parce qu’il n’en existe point, et qu’il n’en peut exister. Toutes sont filles de la curiosité, de l’ignorance, de l’intérêt et de l’imposture. Les dieux, chez moi, sont enfants des hommes ; et je pense, comme Hésiode, que la Terre a produit le Ciel.19
La méthode, comparative, se veut universelle : […] En étudiant l’Antiquité, j’ai tâché de saisir son esprit le plus universel, et de faire sortir mon système du résultat de mes recherches, de l’ensemble d’une foule de matériaux épars, que j’ai rapprochés, comparés et liés entre eux. C’est l’Antiquité elle-même, qui, bien étudiée, bien approfondie, a formé et fixé mon opinion sur elle. C’est elle qui m’a conduit, comme par la main, à la conclusion que j’ai ensuite mise en principe ; et j’ai eu la satisfaction de voir, que la marche, qu’elle m’avait tracée, était absolument celle de la nature. Chez moi, la première religion et la plus universelle se trouve être celle qui est le première dans l’ordre de nos idées, et la plus naturelle à l’homme. L’empire des sens y précède les ouvrages de la réflexion ; et on y voit que les notions puisées dans l’ordre physique ont existé, durant bien plus de siècles et chez un bien plus grand nombre d’hommes que les abstractions métaphysiques postérieurement imaginées.20
Premier postulat : C’est à l’univers et à ses parties que primitivement et le plus généralement les hommes ont attribué l’idée de la divinité. En conséquence : Les Dieux étant la nature elle-même, l’histoire des Dieux est donc celle de la nature ; et comme elle n’a point d’autres aventures que ses phénomènes, les aventures des Dieux seront donc les phénomènes de la nature mis en allégories. 21
Toutes les religions, même le christianisme, dérivent du culte solaire. Le christianisme « a le caractère du Dieu Soleil, adoré chez tous les peuples sous une foule de noms et avec des attributs différents ».22 Les douze travaux d’Hercule, les douze tribus d’Israël, les douze apôtres sont autant de configurations des signes du zodiaque ; les mythes de Bacchus, d’Osiris, des Argonautes, du Christ : autant d’allégories du passage du Soleil aux solstices et aux équinoxes. L’équinoxe de 18 19 20 21 22
En 1803 : classe de littérature et histoire ancienne. Charles-François Dupuis : Origine de tous les cultes, ou Religion universelle. Vol. I. Paris an III, p. viii. Ibid. Ibid, p. x. En 1827, le catholique Jean-Baptiste Pérès ridiculisa cette thèse dans son Grand Erratum, source d’un nombre infini d’errata à noter dans l’histoire du XIXe siècle, où faisant siennes les « démonstrations » de Dupuis, il établissait que Napoléon (décédé 6 ans auparavant) n’avait jamais existé, sinon comme mythe solaire, tout comme le Christ.
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printemps domine la vie religieuse antique. Pendant plus de deux millénaires (entre 4000 et 2151), placée sous le signe du Taureau, elle a donné lieu à l’adoration du Taureau dont le culte de Mithra marque le crépuscule. Puis, quand avec la précession, elle est venue dans Ariès vers 1000, ce fut l’adoration de l’agneau et l’âge de Jupiter Ammon et du christianisme.
II.
Le monde primitif « analysé »
Les langues, les allégories, les fables sont traditionnellement convoquées pour montrer comment la religion adamique (après Babel) ou la religion naturelle ont annoncé la religion chrétienne ; comment l’humanité, naturellement religieuse, fut sauvée de la barbarie primitive ; et comment ce monothéisme a dégénéré en polythéisme sous l’influence d’une classe dominante et de prêtres, qui ont usé de la religion pour asseoir leur pouvoir, en entretenant le peuple dans l’ignorance et la crédulité craintive. De là deux religions, l’une raisonnable et naturelle pour les élites, l’autre superstitieuse et irrationnelle pour le peuple. Frank Manuel a montré que cette théorie de la « double religion » pouvait s’accommoder du panthéisme de John Toland, du scepticisme de David Hume, du déisme de Henri Saint Jean de Bolingbroke, de l’évhémérisme de l’abbé Batteux, du matérialisme de Julien Offray de La Mettrie, de l’orthodoxie de l’abbé Pluche comme de l’athéisme de Charles-François Dupuis.23 Elle ne pouvait donc servir d’argument à une quelconque réfutation. L’interprétation des « fables » offrait-elle une meilleure clef ? En 1767, l’abbé Bergier (1718–1790) reprend la question de l’allégorie dans l’Origine des dieux du paganisme et le sens des fables découvert (1767) par l’analyse du mode de déformation des récits.24 Mais c’est surtout l’ouvrage d’Antoine Court de Gébelin (1719–1784), Le Monde primitif analysé et comparé avec le monde moderne,25 qui
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Frank Manuel : The Eighteenth Century confronts the Gods. Cambridge 1959. « Les Dieux sont des êtres imaginaires enfantés par l’ignorance, par l’admiration, par la peur : les fables sont de pures allégories, aussi grossières que ceux qui en sont les auteurs. C’est l’histoire naturelle, non telle que des observateurs instruits ou des philosophes auraient pu la faire, mais telle que des hommes encore sauvages l’ont envisagée et déguisée sous des expressions dont leurs descendants ne comprenaient plus le sens, ou dont ils ont volontairement abusé » (Nicolas-Sylvestre Bergier : L’Origine des dieux du paganisme et le sens des fables découvert par une explication suivie des poésies d’Hésiode. Vol. I. Paris 1774 [1re éd. 1767], p. 6). Antoine Court de Gébelin : Le Monde primitif analysé et comparé avec le monde moderne. 9 vol. Paris 1773–1784, quelque 5000 pages. Sur Court de Gébelin, Fernand Baldensperger : Court de Gébelin et l’importance de son Monde primitif . In : Mélanges de philologie et dʼhistoire littéraire offerts à Edmond Huguet par ses élèves, ses collègues et ses amis. Paris 1940, pp. 315–350 ; Joseph George Reish : Antoine Court de Gébelin, 18th Century Thinker and Linguist. An Appraisal. Madison 1972 ; Anne-Marie Mercier-Faivre : Court de Gébelin, du génie allégorique et symbolique des Anciens. Liège 1993 ; Un
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répond aux attentes d’un public que l’athéisme rebute (fig. 2). Fils d’un ministre protestant, Antoine Court avait quitté Lausanne en 1763 pour Paris afin d’y défendre la cause de ses coreligionnaires.26 Censeur royal, il s’y adonna à l’érudition et à l’étude du monde primitif pour faire triompher ses principes de tolérance religieuse. Gébelin est protestant, physiocrate et maçon :27 l’apologie de la tolérance, l’appel à la fraternité, la foi en l’homme et en la raison sont les clefs de son succès.28 Somme d’idées et d’hypothèses disparates, voire hétérogènes, dont l’allégorie fonde apparemment la cohérence, le Monde primitif est une tentative de reconstruction de l’unité originelle du monde, des origines au monde moderne qui, pour Gébelin, obéit aux mêmes principes : C’est le MONDE PRIMITIF, parce que l’on y traite des origines du monde et de ses antiquités depuis ses commencements jusques aux temps historiques des Grecs et des Romains, c’est-àdire jusqu’au VIIIe siècle au moins avant notre ère, temps où il se fait une révolution générale depuis la Chine jusques en Italie, et où les lumières commencent à se développer avec une explosion remarquable. Ce monde est ANALYSE, car on y passe en revue sa langue, son écriture, ses mœurs, ses usages, ses lois, sa religion, son étendue, et l’on remonte à l’origine et aux causes de ces objets fondamentaux. Il est comparé au MONDE MODERNE, en ce que l’on démontre que sa langue est la nôtre, et que la plupart de nos connaissances viennent de cette source première.29
La comparaison avec le monde moderne révèle des parentés profondes. Il s’agit d’une « archéologie du savoir avant la lettre » : « examen des monuments, lecture d’inscriptions, étude des civilisations, archéologie des choses, mais aussi archéologie du langage, des mots : le Monde des origines repose sur une étymologie, il vise à donner le ‹ mot › de l’énigme que représentent la langue et le monde ».30 Pour rendre compte de l’unité du monde et donner « la clef de tous les siècles et de toutes les connaissances humaines »,31 l’étude du langage est la science primordiale qui doit conduire à la connaissance des « choses ». La cause première, la
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Supplément à ‹ l’Encyclopédie › : le ‹ Monde primitif › d’Antoine Court de Gébelin. Paris 1999. Sur ce point, Paul Schmidt : Court de Gébelin à Paris, 1763–1784. Etude sur le protestantisme français. Paris 1908. Il est membre de la loge des Neuf Sœurs (entre 1778 et 1781), à laquelle appartenait l’astronome Jérôme de Lalande. Voir Charles Porset qui, dans sa réédition commentée de Louis Amiable : La Loge des Neuf sœurs. Paris 1989, pp. 97–101, montre que le rationalisme de Court de Gébelin a un arrière plan mystique. L’Académie française lui décerna deux prix. Le roi Louis XVI a souscrit pour cent exemplaires de chaque volume. Gébelin fut le président de la Société Apollonienne, émanation de la Loge des Neuf Sœurs (1780) devenue Musée de Paris, rue Dauphine (1782), qui contribua au rayonnement de ses idées. Les francs-maçons ont massivement souscrit, ibid., pp. 101 sq. ; Wallace Kirsop : Cultural networks in Pre-revolutionary France : Some reflections on the case of Antoine Court de Gébelin. In : Australian Journal of French Studies 18/3 (1981), pp. 231– 247. Gébelin : Le Monde primitif (cf. note 25), vol. I, p. 7. Mercier-Faivre : Un Supplément à ‹ l’Encyclopédie › (cf. note 25), p. 77. Gébelin : Le Monde primitif (cf. note 25), vol. I, p. 7.
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« nature humaine », est un fait unique et immuable. Tout naît des « besoins », au sens que Condillac donne à ce terme : Tout est né de nos besoins. Ces besoins ont été les mêmes pour tous, dans tous les temps, dans tous les pays ; leur continuité a entraîné la perpétuité des premiers moyens employés à les remplir. Nulle lacune, nulle suspension n’a été possible, puisque l’espèce humaine s’est perpétuée, & que les mêmes besoins et les mêmes ressources l’ont suivie partout […]. Il y a donc une chaîne continue qui lie tout à l’homme : il ne faut que bien connaître celui d’aujourd’hui pour connaître ceux de tous les siècles : les séries physiques et les séries morales sont nécessaires en elles-mêmes : elles sont sous nos yeux, sous notre main ; tout ce qui nous environne nous présente des arts, des loix, des mœurs, qui ont commencé avec nos besoins que de nouveaux besoins ont perfectionnés, et qui, par la raison même qu’ils ont été perfectionnés, ont leurs racines dans l’antiquité la plus reculée. Ainsi, en écartant ce qui n’est que perfectionnement, nous avons la plus grande certitude, une certitude de faits que ce qui a existé autrefois, existe aujourd’hui dans son intégrité, et n’a subi d’autre altération que des extensions et des développements.32
Les premiers besoins qui ont présidé à la création du langage et des arts majeurs demeurent identiques dans toutes les époques. Langage et agriculture naissent ensemble, produits par le même besoin, universel et collectif : s’assembler pour cultiver. Gébelin étudie successivement les sons, le langage, l’écriture, la grammaire. Son objectif était de remonter au langage primitif universel et originel et de réécrire l’histoire du monde afin de retrouver l’homme de la création et les connaissances qui furent nécessairement les siennes. L’allégorie fut le moyen d’expression privilégié de la « mentalité primitive ». Clef des origines, l’allégorie découle naturellement du langage, comme mode d’expression universel. Le premier volume consacre de longs développements au « génie allégorique des Anciens » : Fondée sur la langue même, et appliquée aux connaissances humaines, complément de l’une et préliminaire des autres, sa connaissance doit suivre celle de la langue et précéder celle des monuments historiques. Avec ce double secours, ceux-ci n’ont plus rien d’obscur ; l’on n’est plus exposé à ces méprises continuelles par lesquelles on confondait sans cesse entre eux les monuments allégoriques de l’Antiquité et ses monuments historiques […]. L’allégorie donna le ton à l’Antiquité entière, elle créa ses fables, elle présida à ses symboles, elle anima la mythologie, elle s’incorpora avec les vérités les plus respectables, elle forma la masse des cérémonies les plus augustes ; tout porta son empreinte : ce fut en quelque sorte l’unique langage de l’Antiquité primitive.33
Gébelin se montre émerveillé par tous les avantages de l’allégorie. Grâce à son secours, le monde primitif apparaît sous un jour flatteur et riant : Avec ce génie symbolique, tout change de face : il explique tout, il arrange tout ; la fable devient vérité : elle est digne de son titre de Mythologie, c’est-à-dire discours sacré ou respectable. Elle forme un édifice immense, brillant de lumière, où rien n’est déplacé, dont toutes les parties se soutiennent mutuellement et naissent les unes des autres. Les hommes du monde primitif ne sont plus ces êtres méprisables et stupides qui ne vivaient que d’eau et de glands, 32 33
Ibid., p. 4. Ibid., p. 17.
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qui prenaient pour des divinités augustes les pierres ou les animaux les plus vils, en qui l’humanité était dégradée ou dans l’enfance la plus grossière, qui n’avaient nulle idée des vertus et des vices.34
Disciple « bien aimé » de Quesnay, il évoque un monde primitif tel que les physiocrates l’auraient rêvé, où l’agriculture, délivrant les hommes des douloureuses angoisses de la faim, est décrite dans ses différents travaux, enseignés sous le voile de fictions poétiques. Toute la mythologie glorifie l’agriculture. L’histoire de Saturne célèbre les heureux effets de l’agriculture ; celle de Cérès décrit la culture du blé ; celle d’Hercule, les premiers défrichements. Les noms des divers personnages de la mythologie sont également allégoriques. Pour en déterminer l’étymologie et le sens, Gébelin cherche à restituer la langue primitive dont toutes les langues connues dérivent, y compris l’hébreu. De là, ses recherches sur les organes du langage, les sons naturels et les langues, l’origine du langage et de l’écriture (supériorité des peuples agriculteurs). Quatre volumes publiés sur les neuf sont des dictionnaires. Il y a un dictionnaire étymologique de la langue latine (VI et VII) ; un dictionnaire étymologique de la langue française (V), et de la langue grecque (IX). Gébelin est un « diffusionniste » qui pense que l’humanité a connu un développement uniforme et une langue et une religion uniques, avant de se disperser et de subir les influences modificatrices du climat, du relief, du régime politique, du tempérament des habitants. Militant de la cause protestante, ses thèses invitent à la tolérance, autour d’une forme de religion naturelle primitive.35 Il eut des émules qui complétèrent son œuvre laissée inachevée par son décès en 1784. Ainsi JeanLouis Viel de Saint-Maux (1745–1819) dans ses Lettres sur l’architecture des anciens et celle des modernes (1787) appliqua-t-il ces théories à l’architecture antique, toute symbolique et agricole. Le temple, tel qu’il le décrit, est un véritable raccourci visuel de toutes les connaissances agricoles.
III. Le peuple primitif « retrouvé » La question n’est plus celle de l’antiquité des Egyptiens. Les progrès des sciences de la Terre laissent clairement entendre que les sources écrites étaient somme toute tardives, que l’histoire de l’homme leur était bien antérieure, et qu’il est nécessaire, pour écrire cette histoire-ci, de rechercher d’autres « archives ». L’homme primitif, 34 35
Ibid., p. 68. « Je regarde mon ouvrage comme impossible à exécuter dans la communion romaine par le tour d’esprit qui y règne et par la manière dont on y étudie. Un Réformé pouvait seul l’entreprendre, n’en être pas effrayé, le pousser avec ardeur et réussir jusqu’à un certain point » (lettre du 14 juillet 1773 à Charles de Végobre, Bibliothèque publique universitaire de Genève, ms. Court de Gébelin, vol. 2, citée in: Mercier-Faivre : Un Supplément à ‹ l’Encyclopédie ›, cf. note 25, p. 95).
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sa psychologie (ses peurs, ses peines), sa physiologie (ses besoins, ses capacités), ses sens et ses premières « impressions », son langage sont les clefs d’accès les plus communes. Le Timée et le Critias de Platon, qui supposent aux Egyptiens des connaissances très étendues dans une antiquité très reculée, interrompues pendant de très longs temps, ouvrent des perspectives intéressantes. Dans la première édition de son Histoire de l’astronomie ancienne,36 Bailly (1736–1793) se livre à un rapide calcul pour déterminer l’époque d’Atlas, le père de l’astronomie, vers 3890 avant notre ère. Les débris du savoir astronomique étant diffusés ici et là vers 3000, le livre trois traite de l’astronomie « antédiluvienne », « si ancienne et si perfectionnée », à laquelle on doit la connaissance des mouvements du Soleil, de la Lune et des planètes, l’invention du calendrier et du zodiaque, et peut-être même la mesure de la Terre, l’usage de la boussole, des clepsydres et du télescope : toutes connaissances d’un peuple « dont le nom même est inconnu aujourd’hui »,37 transmises aux Chinois, aux Indiens et aux Chaldéens sous forme de débris. Les Atlantes ne sont pas encore nommés. Mais en 1780, Giuseppe Bartoli (1717–1788), professeur de littérature grecque et italienne à l’Université de Turin et antiquaire du roi de Sardaigne, évoque en ces termes leur triomphe à Paris : Profitons du moment ; Un ancien est à la mode : espèce de prodige, surtout à Paris, où plusieurs modernes, par une noble émulation très utile à la société, disputent avec succès le prix des sciences aux anciens. Tout le monde y parle aujourd’hui de l’île Atlantique de Platon.38
Bartoli lui-même avait publié à Stockholm en 1779, à côté d’un discours du roi de Suède pour l’inauguration de la Diète de 1778, un « Essai sur l’explication historique que Platon a donnée de son Atlantide »,39 dans lequel, loin des égarements de ses contemporains, il voyait seulement en l’Atlantide le masque de l’Athènes impérialiste et maritime.40 Bien que Jean-Baptiste-Claude Delisle de Sales ait revendiqué la découverte des Atlantes, affirmant avoir esquissé son système dans le Dictionnaire de la 36 37
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Jean-Sylvain Bailly : Histoire de l’astronomie ancienne, Depuis son origine jusqu’à l’établissement de l’école d’Alexandrie. Paris 1775 [2e éd. 1781]. Ibid., livre 3, § 18, in fine. Sur l’astronomie antédiluvienne, Mirella Pasini : L’astronomie antédiluvienne. Storia della scienza e origini della civiltà in Jean Sylvain Bailly. In : Studi Settecenteschi 11‒12 (1988–1989), pp. 197–235. Sur Bailly, Edwin Burrow Smith : JeanSylvain Bailly. Astronomer, Mystic, Revolutionary. In : Transactions of the American Philosophical Society 54 (1954), pp. 427–538. Guiseppe Bartoli : Réflexions impartiales sur le progrès réel ou apparent que les sciences et les arts ont fait dans le XVIIIe siècle en Europe. Paris 1780, p. 5. Giuseppe Bartoli : Discours par lequel Sa Majesté le roi de Suède a fait l’ouverture de la Diète, en suédois, traduit en français et en vers italiens, avec un Essai sur l’explication historique que Platon a donnée de son Atlantide et qu’on n’a pas considérée jusqu’à présent. Stockholm 1779. « Il ne s’agit que d’un peuple, d’une ville et d’un gouvernement dont je ne sais pas encore si je dois les appeler ou trop ou trop peu connus, des Athéniens, des Athéniens toujours, des Athéniens encore » (ibid., pp. 224 sq.).
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chasse et de la pêche en 1769, c’est à l’astronome Bailly, premier maire de Paris en 1789, que revint l’honneur du triomphe de ce retour.41 Bailly avait tous les titres : membre de l’Académie des sciences en 1763, de l’Académie française en 1784 et même de l’Académie des inscriptions en 1786.42 Trois ouvrages avaient fait de cet astronome un oracle : L’Histoire de l’astronomie ancienne (1775) ; les Lettres sur l’origine des sciences et sur celles des peuples de l’Asie, adressées à M. de Voltaire et précédées de quelques lettres de M. de Voltaire à l’auteur (1777), et les fameuses Lettres sur l’Atlantide de Platon et sur l’ancienne histoire de l’Asie pour servir de suite aux Lettres sur l’origine des sciences (1779). Voltaire estimait que l’Inde avait élaboré la forme la plus accomplie de la civilisation et de la morale et que les anciens peuples étaient redevables aux brahmes de leurs connaissances.43 Bailly ne partageait pas ce point de vue ou plus exactement estimait que les Indiens n’avaient été que les héritiers d’un peuple antérieur. L’étude de l’astronomie ancienne l’avait convaincu que ce peuple avait vécu dans le grand nord, où les cieux étaient limpides. Au Spitzberg, plus précisément.44 Il levait l’obstacle climatique grâce aux expériences de Buffon sur le refroidissement des sphères qui montraient un pôle nord tempéré, en des temps où la chaleur de la terre interdisait ailleurs toute vie. Aussi les premières régions peuplées avaient-elles été les pôles et les Atlantes avaient-ils dû exister. Les opérations de la nature nécessitant une longue suite de siècles, leur haute antiquité était incontestable. Aucun peuple historique n’avait, en effet, conservé la mémoire de telles variations climatiques. Ces preuves « scientifiques » devaient confondre le scepticisme ironique de Voltaire45 que le 41
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Une synthèse : Pierre Vidal-Naquet : L’Atlantide. Petite histoire du mythe platonicien. Paris 2006, chap. 4 (« Les Lumières et l’Atlantide, 1680–1786 ») et chap. 5 (« Le grand tournant, 1786–1841 »), pp. 83–113. Notons que Boulanger s’est aussi intéressé à l’Atlantide. Le Muséum national d'histoire naturelle de Paris possède le manuscrit des « Anecdotes de la nature ». Jacques Roger : Un manuscrit perdu et retrouvé : les ‹ anecdotes de la nature ›. In : Revue des Sciences Humaines (1953), pp. 231–254 ; le manuscrit a été retrouvé par Hampton : Boulanger et la science (cf. note 9). Roger Hahn a révélé dans quelles conditions : Quelques nouveaux documents sur Jean-Sylvain Bailly. In : Revue d’histoire des sciences et des techniques 8/4 (1955), pp. 338–353. Il avait reçu, en 1760, d’un aventurier, Laurent de Féderbe, chevalier de Maudave, un mystérieux manuscrit, les Ezourvedam, traduction par un brahme d’un ancien manuscrit sanscrit. Bien que la forgerie de missionnaires, visant à faire dériver les préceptes védiques d’une source chrétienne, ait été dénoncée quelques années plus tard, jamais Voltaire ne soupçonna la tromperie, ou il choisit d’ignorer les remarques critiques de ses contemporains. Sur l’Inde dont était partisan Voltaire : Sylvia Murr, Nicolas Jacques Desvaulx, Gaston Laurent Cœurdoux : L’Inde philosophique entre Bossuet et Voltaire. 2 vol. Paris 1987 ; Jyoti Mohan : La civilisation la plus antique : Voltaire’s images of India. In : Journal of World History 16 (2005), pp. 173–185 ; sur les Ezourvedam, Ludo Rocher : Ezourvedam : A French Veda of the Eighteenth Century. Philadelphie 1984. Découvert en 1596 par l’explorateur hollandais Willem Barents qui décéda l’année suivante, son navire étant immobilisé par les glaces. « Le doute est toujours permis dans les sciences, c’est la pierre de touche de la vérité. Cependant, le doute doit avoir des bornes ; toutes les vérités ne peuvent pas être démontrées comme des vérités mathématiques. Le genre humain aurait trop à perdre, s’il se réduisait à cette classe unique. Les témoignages balancés, les probabilités pesées, les fables rapprochées
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« nouveau Newton » flattait au fil des pages : « J’ose vous presser, Monsieur, de croire au refroidissement de la Terre, comme vous avez cru à l’attraction de Newton. Vous êtes en France un apôtre de cette grande vérité, je vous en offre une autre qui mérite le même hommage. En défendant la seconde comme la première, vous acquerrez la même gloire. »46 Enfin les arguments « historiques » devaient emporter l’adhésion. Bailly reprend encore ici la métaphore du voile. L’historien est celui qui lève le voile qui dérobe au regard la vérité de l’antiquité : Je ne me propose que de vous donner ici des preuves historiques. Nous allons parcourir l’Asie, et même toute l’étendue du monde ancien. J’espère, Monsieur, que vous ne vous rendrez pas difficile sur la nature de ces preuves. Je ne puis rien vous montrer qu’à travers un voile ; il n’est pas en mon pouvoir de déplacer la masse du temps ; les annales de ce peuple n’existent plus ; les anciens titres sont perdus […]. Le témoignage des anciens a été effacé, le fil de la tradition s’est rompu dans les déserts que la guerre a formés, et dans les siècles d’ignorance qui sont les déserts du temps. Mais il reste une notion confuse, quelques faits gravés dans la mémoire, et dont la durée annonce l’importance et la vérité. Un long souvenir, le souvenir des hommes est bien quelque chose : je fais grand cas de ces traditions antiques conservées chèrement par une suite de générations. Ce sont ces traditions historiques que nous allons consulter. Nous reconnaîtrons facilement les additions d’une imagination mensongère ; et nous rejetterons ce qui sera contraire à la vraisemblance et à la nature : le reste sera la vérité et nous y croirons, afin que cinquante siècles, qui ont déposé pour elle, ne réclament pas et ne s’élèvent point contre nous.47
Le nom, évidemment, prouve le fait : « Le nom d’Atlas ou du peuple Atlante retentit chez tous les écrivains de l’Antiquité : le poète et le philosophe n’ont point inventé ces noms ; Et comme les noms supposent les choses, l’ancienne existence
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et éclairées les unes par les autres, forment par leur réunion une lumière forte qui peut conduire à l’évidence. Et lorsque la philosophie avec ces secours arrive à des résultats fondés sur la nature des choses et des hommes, on a des raisons de croire et non pas de douter. On n’a pas besoin de savoir le nom d’un peuple pour reconnaître son existence et ses travaux. L’Asie est encore pleine des nouvelles de ce peuple : les conformités des peuples connus sont ces nouvelles ; les institutions savantes, très antiques et placées aux premiers commencements des nations orientales, sont les nouvelles d’un peuple auteur de ces institutions. Les grands édifices sont l’ouvrage, non de la race qui s’élève, mais de la race qui finit. Un palais n’est point bâti par des enfants » (Jean-Sylvain Bailly : Lettres sur l’Atlantide de Platon et sur l’ancienne histoire de l’Asie pour servir de suite aux Lettres sur l’origine des sciences. Paris 1779, pp. 6 sq.). Ibid., pp. 407 sq. Voltaire étant décédé en 1778, il s’agit bien évidemment d’un artifice rhétorique. La seule lettre de Voltaire, en tête de l’ouvrage, est ironique : « Les artichauts et les asperges que nous avons mangés cette année au mois de janvier, au milieu des glaces et des neiges, et qui ont été produits sans qu’un seul rayon du Soleil s’en soit mêlé, et sans aucun feu artificiel, me prouvaient assez que la Terre possède une chaleur intrinsèque très forte. Ce que vous en dîtes […] m’a beaucoup instruit sur mon potager […]. On me croira digne de vous avoir eu pour maître, puisque c’est à moi que vous adressez des lettres où tout le monde peut s’instruire » (ibid., pp. 7 sq.). Voltaire se réfère au volume précédent : Jean-Sylvain Bailly : Lettres sur l’origine des sciences et sur celle des peuples de l’Asie : adressées à M. de Voltaire. Londres et Paris 1777. Bailly : Lettres sur l’Atlantide (cf. note 45), pp. 17 sq.
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du peuple est démontrée ».48 Bailly reconnaît néanmoins, à plusieurs reprises, avoir écrit « une espèce de roman philosophique ».49 A l’aide de Platon et des anciens, d’Hérodote au besoin, des annales chinoises et indiennes (ce qu’il en retenait) et de beaucoup de détermination, Bailly retrace l’épopée des Atlantes (fig. 3). Au nord de la Norvège, le Spitzberg, berceau originaire des Atlantes, vagina gentium, matrice du genre humain, était une île que le surpeuplement et le refroidissement progressif rendirent moins hospitalière. Des colonies donnèrent ainsi naissance à différentes civilisations, non sans conflits entre les différentes vagues d’émigrants atlantes. A une époque indéterminée, un premier groupe d’Atlantes quitta sa patrie, sur des bateaux, pour le golfe d’Oby, au 69e degré de latitude, un débarquement connu dans la mythologie sous le nom du débarquement d’Hercule dont des colonnes marquaient le lieu. Les Atlantes occupèrent le pays compris entre l’Ob et l’Ienisseï et remontèrent vers les sources de ce fleuve, chassés vers le Sud, en Tartarie par de nouvelles vagues : c’est la guerre « des peuples séparés par les colonnes d’Hercule », de Platon. Les premiers habitants, amollis par des climats plus chauds et par l’habitude de l’abondance, poursuivirent encore leur route vers le sud et se réfugièrent dans le Caucase où, protégés par de solides fortifications, ils vécurent tranquillement « des temps de prospérité et de lumières qui ont depuis été embellis par la fable, parce qu’ils étaient lointains et regrettés ».50 Les seuls souvenirs de ces temps bienheureux sont la langue primitive dont tous les anciens idiomes dérivent et les tables astronomiques très précises dont héritèrent les Chaldéens. Mais les peuples du nord vinrent assiéger le Caucase et détruisirent, en vingt-quatre heures, le premier empire atlante. Quelques rares rescapés purent gagner les montagnes du Tibet où ils se firent brames, ou la Chine, comme Fohi. De siècle en siècle, de proche en proche, les nouvelles vagues d’Atlantes se civilisèrent en s’accoutumant aux climats tempérés ; elles peuplèrent l’Inde, la Phénicie, l’Egypte tandis que le Nord continuait de déverser de nouvelles hordes de prédateurs. Les Brames survivants du premier massacre apprirent aux Indiens l’‹ Hanscrit › et l’astronomie. Grâce à eux, la civilisation du « 49e parallèle » ne put être totalement oubliée et l’Inde, comme le pensait Voltaire, civilisa bien le reste du monde. Bailly était considéré comme un esprit modéré, même par le pouvoir qui l’a honoré, après Batteux, d’une pension intitulée prix de sagesse, réservée aux hommes de lettres bien-pensants. Son apologie de l’Atlantide n’en était pas moins très ambiguë et certains comptes rendus présentèrent son ouvrage comme antichrétien.51 Après Olof Rudbeck (1630–1702) qui avait choisi la Suède,52 le plus 48 49 50 51
Ibid., pp. 47 sq. Ibid., pp. 19 sq. Sur cette grande migration : ibid., pp. 403–441. Ibid., p. 468. Un premier compte rendu du Journal des savants fut assez favorable (janvier 1779), pp. 15– 23 ; un second de l’abbé Crey, très sévère (février 1779), pp. 93–110, ici p. 106 : « Toutes les fables, tous les noms antiques, toutes les rêveries mythologiques, allégoriques, même les tradi-
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ferme partisan des Hyperboréens fut Bailly, sans aucun présupposé nationaliste, qui se proposait seulement de retrouver la patrie des Atlantes, « terre où nos ancêtres ont été si heureux » et, comme aurait dit Voltaire dans « Le Mondain », « les temps fortunés de Saturne et de Rhée ». Pour l’abbé Crey, « [c]’est un paradoxe qui ne peut être reçu, tout au plus, que chez les Lapons et parmi les habitants sauvages et grossiers de la Sibérie ».53 Bailly ne renonça pas pour autant : il poursuivit cette correspondance en 1782 avec Madame du Bocage, la muse de Ferney, entreprenant de réécrire l’histoire des mythes.54 Toujours sous le patronage de Voltaire,55 Jean-Baptiste Isoard dit Delisle de Sales (1743–1816) propose d’autres pérégrinations aux Atlantes. « Ecrivain de la dernière médiocrité, un passeur, un de ces nombreux écrivains qui, vus de loin, assurent la transition entre les Lumières et le Romantisme »,56 il s’est embarqué en 1779 dans une immense compilation : l’Histoire des Hommes, ou Histoire nouvelle de tous les peuples du monde, cinquante-deux volumes dont il écrit les quarante et un premiers. Il en détache, en 1780, deux tomes : Histoire philosophique du monde primitif ou des Atlantes, développés en 1793 dans les sept volumes de l’Histoire philosophique du monde primitif.57 Le terrain était déjà occupé, il fallait proposer du neuf. A la différence de Bailly qui avait pris appui sur des arguments physiques empruntés à Buffon, Delisle de Sales fonde sa démonstration sur la géographie historique du globe : « Comme on n’a pas fait marcher parallèlement l’histoire du globe avec celle des hommes qui l’habitent, il s’ensuit que le lieu de
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tions altérées, sont des monuments précieux à ses yeux, pourvu cependant que les chimères antiques soient examinées par un esprit philosophique. Il attache à la philosophie ainsi considérée une telle supériorité, un si grand pouvoir que les récits extravagants des anciens, leur démence même, est un grand caractère d’antiquité lorsqu’elle sert de base à l’histoire : c’est une base bien ruineuse ». Pour Jed Z. Buchwald, la cause est entendue : « In the two decades or so before the Revolution, Bailly was hardly the only person to club religion with nature by inventing schemes that, for all their purportedly scientific qualifications, gave away little in fancifulness to the biblical creation myth » (Jed Z. Buchwald et Diane GrecoJosefowicz : The Zodiac of Paris. Princeton 2010, p. 30). Olof Rudbeck : Atlantica, sive Manheim vero Japeti posterorum sedes ac Patria. 4 vol. Uppsala 1679–1702. Journal des savants (février 1779), p. 110. Jean-Sylvain Bailly : Essai sur les fables et sur leur histoire. 2 vol. Paris an VII (1798/1799), posthume. Il publie en 1770 chez l’éditeur d’Helvetius à Amsterdam, en réponse au Système de la nature du baron d’Holbach, une Philosophie de la nature que Voltaire interprète comme une profession de foi déiste. Cet ouvrage fut condamné en 1775 par le Châtelet et brûlé au nom de la religion, ce qui assura son succès, et Delisle de Sales fit lui-même l’objet de poursuites en 1776. Pierre Malandain : Delisle de Sales, philosophe de la nature, 1741–1816. 2 vol. Vol. II. Oxford 1982, pp. 176–194. Vidal-Naquet : L’Atlantide (cf. note 41), p. 100 sq. Les quatre premiers volumes y sont consacrés à la théorie de la terre qui reprend et relie différentes pièces disséminées dans l’Histoire des hommes ; les trois derniers reproduisent, pour l’essentiel, les deux volumes de l’Histoire des Atlantes.
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la scène est totalement inconnu ; L’histoire ancienne n’a point eu de géographe. »58 En outre, son histoire se veut purgée de tout mystère. Refusant la lecture allégorique de Gébelin, Delisle de Sales prétend exposer la vérité sans voile et résoudre à sa manière le problème de l’Atlantide de Platon, « la clef de toute l’histoire ancienne ».59 De cette histoire des Atlantes – « un peuple primitif que nous ne connaîtrons jamais que par la raison » –, les Atlantes de Platon ne furent qu’un rameau tardif : J’ai découvert que le peuple de l’Atlantide, dont le philosophisme a voulu faire de nos jours la nation-mère du genre humain, n’était qu’un faible et stérile rejeton de la grande tige des Atlantes. Et ces Atlantes eux-mêmes, qui ont laissé des traces de leur passage sur une grande partie de nos continents, nés à une époque très éloignée de l’avènement de la nature, ne sont qu’une colonie de la métropole du Caucase.60
Un Caucase aux contours différents, dans une terre encore immergée : Une des premières îles que le genre humain put habiter, fut cette chaîne du Caucase, qui dans l’origine se trouvait baignée du côté de l’Europe, par la prolongation de notre Méditerranée actuelle et du côté de l’Asie, par le grand bassin formé de la réunion de notre mer glaciale et de notre mer des Indes, bassin que la stérilité de notre grammaire philosophique m’oblige à appeler mer Caspienne. Le Caucase […] s’étend du côté de sa tige, de la mer noire à la mer Caspienne, puis, se prolongeant vers le midi, il se courbe sous le nom d’Immaüs, traverse l’Asie dans sa largeur et s’étend jusqu’à la Chine. L’Atlas, qui domine sur l’Afrique, n’est qu’un anneau de cette chaîne primordiale ; il en est de même des Alpes, des Apennins et de tous les massifs imposants qui forment la charpente de l’Europe : enfin ce grand colosse étend ses bras, d’un côté vers l’Amérique et de l’autre vers les Terres Australes. Ainsi […] j’ai eu raison d’en conclure que toutes les montagnes de la Terre ont un point central de réunion vers la montagne-mère, comme tous les faisceaux fibrillaires, correspondent dans le corps humain au Sensorium : de dire que les Alpes, les Gates, les Apennins et la chaîne immense de l’Oural , sont à cet égard, les fibres des extrémités du globe, et que le Sensorium est au Caucase. C’est déjà un grand préjugé en faveur de ma théorie sur la métropole du genre humain, que cette Métropole, par ses rapports physiques avec tous les points du globe, semble avoir été appelée par la nature à la monarchie universelle.61
Si ce peuple primitif n’a point de nom,62 il a une histoire. Du Caucase, épuisé par les cultures, partirent des colonies : « un essaim d’Atlantes alla se créer une nou58 59
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Delisle de Sales : Histoire des Hommes, ou Histoire nouvelle de tous les peuples du monde. 52 vol. 1780‒1785. Vol. XIII. Paris 1782, pp. 15 sq. Delisle de Sales : Histoire philosophique du monde primitif ou des Atlantes. 2 vol. Vol. I. Paris 1780, p. 6. Gébelin avait consacré un long chapitre à Sanchoniaton et l’histoire des dieux, réinterprétée en termes allégoriques : « Allégories orientales ou le fragment de Sanchoniaton qui contient l’histoire de Saturne, suivie de celles de Mercure et d’Hercule ». In : Le Monde primitif (cf. note 25), vol. I, pp. 109–258. Pour Gébelin, l’histoire des dieux était une allégorie de l’agriculture. Delisle de Sales : Histoire philosophique du monde primitif. 7 vol. Vol. V. Paris an III [1re éd. 1793], p. 289. Ibid., vol. VI, pp. 57 sq. « Le peuple Primitif n’a point de nom ; les pas du temps imprimés sur les roches dégradées du Caucase semblent avoir anéanti les premières lignes de notre généalogie » (ibid., p. 86).
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velle patrie ». La première fut africaine : « Le nom d’Atlas que porte la chaîne primordiale de l’Afrique, celui d’Atlantique, donné par le concert unanime de toutes les traditions, aux mers qui entourent ce continent, tout, jusqu’à des débris d’histoires primitives, échappés aux catastrophes physiques du globe, annonce qu’on peut faire connaître ces premiers rejetons du peuple indigène, sous le nom d’Atlantes. »63 Trois époques scandent cette histoire : le temps du Caucase, celui de l’Atlas et de l’Afrique et le temps de l’Atlantide. Un mouvement supposé des eaux permet de lever le voile dans un chapitre intitulé « Essai sur la solution du problème de l’Atlantide » :64 Toutes les têtes de cette hydre de difficultés s’abattent à la fois, dès qu’on admet que l’océan a couvert, dans les temps reculés, les deux tiers du continent de l’Afrique […]. N’oublions pas que, dans ces premiers âges qui touchaient au berceau des nations, et, des myriades de siècles après, notre continent enseveli en grande partie sous les eaux, n’offrait aux regards que des îles formées par le sommet des montagnes : j’ai cité le Caucase et l’Atlas comme les plus apparentes ; mais il devait y en avoir une foule d’autres moins étendues ; et, dans ce nombre, on peut compter celle à qui l’antiquité a donné par excellence le nom d’Atlantide. Si l’on suppose […] que l’île de Platon était située au milieu de la Méditerranée, vers le 29e degré de longitude, et le 41e de latitude, à peu-près dans la position de notre Sardaigne, qui n’existait pas alors, ou qui est plutôt un des débris de l’Atlantide, il se trouvera qu’on aura rempli à peu-près toutes les conditions du problème.65
Cette île vaste, entre Carthage, l’Egypte, la Tyrrhénie, devait se situer aux alentours de la Sardaigne (fig. 4) : Telle est l’opinion la plus probable qu’on puisse embrasser sur l’Atlantide : le champ n’y est point ouvert aux rêveries savantes des étymologistes et des partisans de l’allégorie ; tous les détails se trouvent enchaînés de la manière la plus naturelle : la vraisemblance y prend tellement la teinte de la vérité, qu’il faut de grands préjugés philosophiques, pour n’en faire qu’une hypothèse.66
Delisle de Sales suit ici le Timée de Platon.67 La disparition de l’île de vingt-quatre heures est provoquée par un tremblement de terre. Ici intervient une analyse de la structure physique du continent, de l’expansion du feu primordial, du volcanisme en Méditerranée. Après la conflagration, le plateau de l’Atlantide s’effondre et il ne reste de l’antique continent que la Sardaigne, la Corse et la Sicile. « Vers le 63 64 65 66 67
Ibid. Ibid., pp. 159–194. Ibid., pp. 163–183. Ibid., pp. 187 sq. « Cette île était plus grande que le Libye et l’Asie ensemble ; de là, le passage vers les autres îles était possible aux navigateurs d’alors, et, de ces îles, sur tout le continent situé en face et qui entoure cette mer lointaine, la mer véritable […]. Dans cette île Atlantide, s’était formée une grande et merveilleuse puissance de rois ; elle dominait l’île entière, ainsi que beaucoup d’autres îles et parties du continent ; outre cela encore, de ce côté-ci du détroit, ils régnaient sur la Libye jusque vers l’Egypte, sur l’Europe jusqu’à la Tyrrhénie » (Platon : Timée, 25a‒b. In : Œuvres complètes. Trad. du grec ancien par Joseph Moreau et Léon Robin. Vol. II. Paris 1942, p. 190).
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premier âge de la nature vivante, une masse énorme de terres volcanisées fut lancée, toute à la fois, du sein des abîmes, par l’expansion du feu primordial ».68 Avec cette colonie du Caucase, sur le plateau de Tartarie – « Ere célèbre dans les annales de la raison, par le progrès des arts, des lettres et de l’astronomie. Enrichis aujourd’hui par cette dernière race du Peuple instituteur par excellence, ayant réussi à faire, des débris de la science épars dans tout l’Orient, un édifice régulier, où la main du génie est encore empreinte »69 – Delisle de Sales estime avoir réalisé un grand pas vers les « limites de l’éternité ».70 Il n’était pas très loin, selon Pierre Vidal-Naquet, de ce que Léon Poliakov appelait, en 1971, le « mythe aryen ». Il n’y manque qu’une chose : que la linguistique y ajoute la parenté des langues « indo-germaniques ».71
IV. « Un Chaos vaporeux » Comme François-René de Chateaubriand, disciple de Delisle de Sales, Antoine Fabre d’Olivet (1767–1825), fondateur d’une religion occultiste (la « Tradition »), s’intéresse aussi à la « science qui a été révélée à l’aube des siècles ».72 Il est longuement question des Atlantes, rencontrés une première fois à l’époque du Directoire, dans les Lettres à Sophie sur l’histoire de 1801. Fabre d’Olivet envisage un Caucase démesurément élargi, chargé d’une population surabondante qu’il ne pouvait plus nourrir, d’où partent trois colonies primitives : les Atlantes, sur le mont Atlas, occupent l’Afrique, une partie de l’Europe et les côtes de l’Asie (c’est la patrie des dieux qui développe l’agriculture et l’astronomie) ; les Péris (ou Perses) peuplent l’Asie (le pays des génies qui perfectionnent la religion, morale, philosophie) ; les Scythes, du nord de l’Asie jusqu’aux îles britanniques, devinrent « la tige d’une foule de nations belliqueuses, qui ne connurent d’autre occupation que la guerre, et d’autre gloire que les combats. » C’est le pays des guerriers.73 Pour la localisation originelle, il s’en tient au Timée : une île située sur les bords de la mer Atlantique, vis-à-vis le détroit de Gibraltar. Dans cette Atlantide, il y avait 68 69 70
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Delisle de Sales : Histoire philosophique du monde primitif (cf. note 60), vol. VI, p. 190. Ibid., p. 89. « Que pouvait-on attendre de plus de nous à l’entrée d’une si vaste carrière ? Placés entre le néant des siècles qui ne sont plus et le néant des siècles qui sont à naître, il ne nous restait, pour rendre universel le dépôt de nos connaissances historiques, que de jeter aux deux extrémités de l’édifice les pierres d’attente qui, s’unissant d’un côté au passé et de l’autre à l’avenir, pussent […] atteindre un jour aux limites de l’éternité » (Delisle de Sales : Histoire des hommes, cf. note 58, vol. III, p. 90). Vidal-Naquet : L’Atlantide (cf. note 41), p. 102. Léon Cellier : Fabre d’Olivet. Contribution à l’étude des aspects religieux du romantisme. Paris 1953, p. 12. Sur Fabre d’Olivet, voir aussi Auguste Viatte : Les sources occultes du romantisme : illuminisme, théosophie, 1770–1820. Paris 1979. Antoine Fabre d’Olivet : Lettres à Sophie sur l’histoire. Introduction d’Emmanuel DufourKowalski. Lausanne 2010, pp. 154 sq.
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des rois fameux par leur puissance qui régnaient sur toutes les contrées de la Libye jusqu’en Egypte, et du côté de l’Europe jusqu’à la Tyrrhénie. Il survint d’affreux tremblements de terre et des inondations désastreuses. En l’espace de vingt-quatre heures, l’île et tous ses habitants disparurent. Suivant Strabon, le premier nom connu dans les annales du monde est Acmon qui descendit du Caucase pour peupler les rives du Thermodon.74 Cet Acmon était le père d’Ouranos, dont le fils aîné fut Saturne, et Fabre d’Olivet rattache ainsi l’histoire de l’Atlantide aux généalogies divines. Comme Delisle de Sales, il refuse la glose allégorique de Gébelin, pour qui l’histoire des dieux était une allégorie de l’agriculture.75 Entre Gébelin, Bailly et Delisle de Sales, la contribution personnelle de Fabre d’Olivet se glisse dans les Lettres à Sophie sous la forme d’un récit galant extrait d’un manuscrit antique76 qui relate les amours d’Adim et d’Evehna, « histoire anté-diluvienne ». Adim (Adam), fils d’Eloïm, grand prêtre de Neptune, aime Evenha (Eve), la prêtresse de Vénus. Leurs amours contrariées n’aboutissent qu’après le Déluge qui engloutit la cité corrompue, lorsque le couple se retrouve dans le Caucase. A la suite de « quelque bouleversement semblable à celui qui détruisit l’Atlantide », les Hébreux furent les héritiers des Atlantes, les Chinois, des Péris et les Celtes, des Scythes. Les croisements donnèrent lieu à d’autres peuples. Le mélange Atlantes-Péris donna des peuples commerçants (les sémites) ; les unions Scythes-Atlantes, les Pélasges, la civilisation gréco-romaine et les Arabes ; les croisements Scythes-Péris ont donné les Mèdes, les Aryens… Pour 74
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« Je n’affirmerai point que cet Acmon ait été le guide de ces colons dont je viens de parler ; mais je ne vois pas sans plaisir, de l’aveu des plus sages historiens de l’antiquité, un des premiers rois du globe, descendre de la montagne où j’ai placé le berceau du genre humain » (ibid., lettre XIV, p. 157). « Je sais que des savants recommandables ont prétendu que toute l’histoire des Atlantes, n’était qu’une allégorie ingénieuse sur l’invention de l’agriculture ; mais je crois que la manie de tout allégoriser les a conduits trop loin. Il est impossible de lire attentivement ce qui nous a été transmis sur les Atlantes, sans y découvrir tous les signes de la vérité historique : ce sont des hommes qui s’y succèdent les uns aux autres dans l’ordre le plus naturel, et qui subissent toutes les vicissitudes de la vie humaine. Il est vrai que ces hommes ont cultivé et perfectionné l’agriculture […] et qu’il est possible que leur histoire se soit embellie de quelques traits relatifs à cette science ; mais dire que tout y soit figuré, prétendre que les hommes et les choses y soient également symboliques, c’est vouloir faire de l’histoire ancienne un chaos vaporeux, que le moindre souffle peut arranger et déranger de mille manières ; c’est fermer les yeux à la lumière du jour, sous prétexte qu’elle est trop commune, pour ne les ouvrir qu’à la clarté factice des flambeaux. Sachons distinguer l’histoire de la fable, et trouver sous les vernis même des allégories, le fonds historique qu’elles couvrent » (ibid., p. 158). « Il importe assez peu de savoir comment ce manuscrit m’est parvenu. Un autre se prévaudrait de quelque note marginale pour dire que cet ouvrage, écrit originairement dans la langue sacrée des Atlantes, fut traduit par les prêtres de Saïs en égyptien vulgaire, et remis à Solon qui le traduisit en grec et le déposa dans la bibliothèque publique d’Athènes ; il ne manquerait pas d’insinuer que c’est cet ouvrage que Platon commenta et dans la suite transporta, en partie, dans ses dialogues de Timée et de Critias ; mais moi, je dirai tout bonnement qu’il n’existe aucun renseignement de cette espèce ; j’avouerai même que le titre et le commencement du manuscrit manquent, et qu’il y avait beaucoup de lacunes dans le cours de l’ouvrage, auxquelles il n’a pas toujours été possible de suppléer » (ibid., pp. 197 sq.).
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Fabre d’Olivet, « [l]e peuple Atlante fut sans doute la tige d’une foule de nations ; mais le désastre de l’Atlantide et la submersion totale des peuples qui habitaient, à cette époque, les contrées basses de l’Europe et de l’Afrique, ont laissé peu de traces de leur filiation. On ne peut cependant s’empêcher de ranger parmi ses descendants le Syrien […], le Phénicien […] et l’Arabe indompté. L’Ethiopie reçut des habitants de l’Atlantide et, à son tour, en donna à l’Egypte, qui devint l’une de ses colonies. »77 Dans l’Histoire philosophique du genre humain, le schéma se complique, avec la place nouvelle prise par l’Inde. Mais l’objectif reste le même : faire « confluer » les livres sacrés des nations, Bible comprise. L’Histoire philosophique du genre humain relate le conflit entre la race noire, la plus ancienne qui, en des temps très anciens, « dominait sur la terre et y tenait le sceptre du pouvoir », et la race blanche à laquelle, après Rutbeck et Bailly, il attribue une origine nordique. Au nord donc, la race blanche, des Celtes ou Scythes ; au sud la race noire des Atlantes, « maîtres de l’univers ». Les Celtes, guidés par leurs druides, vainquirent les Atlantes. Tout contact donne lieu à des emprunts. Ainsi les Celtes adoptèrent l’écriture des Atlantes, mais en l’inversant ; les Indiens reprirent leur calendrier. Le haut lieu des fusions et des mutations décisives fut l’Egypte qui, « il ne faut point l’oublier, fut la dernière contrée qui resta sous la domination des Atlantes » ; l’Egypte, au carrefour des races « sudéenne » et « boréenne » dont elle subit plus tard le culte et les lois : « Elle pouvait même, au moyen de la première tradition, remonter à une tradition antérieure et conserver quelque idée de la race australe qui avait précédé la sudéenne. Cette première race, à laquelle appartenait peut-être le nom primitif d’Atlantique, avait péri tout entière au milieu d’un déluge effroyable qui, couvrant la terre, l’avait ravagée d’un pôle à l’autre, et avait submergé l’île immense et magnifique que cette race habitait au delà des mers ».78 La première race, la rouge, avait vécu dans une Amérique plus vaste que la nôtre, qui englobait le pôle austral. C’est le cataclysme, qui fit émerger des eaux une partie de l’Europe, qui favorisa l’expansion de la race boréenne. Le plus fascinant dans cette histoire des temps primitifs est qu’elle ne se réfère ni ne se rapporte en rien à l’histoire.79 Pour Léon Cellier, Fabre d’Olivet, qui parla pour la première fois des Atlantes à l’époque du Directoire, a un regard qui vient des Lumières et un autre qui construit un monde monstrueux qui se déploie dans une histoire entièrement fictive.80 Il n’y a, chez ce 77 78
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Antoine Fabre d’Olivet : Lettres à Sophie sur l’Histoire. 2 vol. Vol. II. Paris an IX (1801), pp. 12 sq. Antoine Fabre d’Olivet : Histoire philosophique du genre humain, ou lʼhomme considéré sous ses rapports religieux et politiques dans lʼÉtat social, à toutes les époques et chez les différens peuples de la terre. Vol. I. Paris 1824, pp. 308 sq. Pour Vidal-Naquet, « ce grand délire [est] présenté selon l’ordre du temps, sans la moindre source proprement historique, naturellement, mais enfin présenté comme une reconstruction partiellement biblique, mais aussi néo-païenne, de l’histoire de l’humanité » (Vidal-Naquet : L’Atlantide, cf. note 41, p. 110). Léon Cellier : Fabre d’Olivet. Paris 1953.
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dernier, aucune volonté de critiquer le récit de la Genèse. En 1815, il publie La Langue hébraïque restituée où il « démontre » que le sens véritable des mots hébreux s’est perdu avec la captivité de Babylone. Il s’appliquait à rétablir ce sens premier en montrant que l’hébreu était identique à l’égyptien, poussant la démonstration jusqu’à donner une nouvelle traduction du début de la Genèse tout à fait personnelle. Jean-François Champollion, il est vrai, n’avait pas encore déchiffré les hiéroglyphes.
V. Antiques mystères et secrète sagesse On peut s’interroger sur cette quête obstinée des origines et d’un peuple primitif et sur les échos qu’elle reçut en France. L’Egypte contribue à l’expliquer. Fabre d’Olivet, Gébelin ou Dupuis font de l’Egypte mystérieuse le berceau de la sagesse et des sciences humaines. L’Egypte avait fasciné les Grecs ;81 elle fascine les hommes de la Renaissance qui découvrent la traduction des Traités hermétiques (Marcile Ficin, 1471) et la première édition latine des Hieroglyphes d’Horapollon (1515).82 La « Renaissance égyptienne » a constamment cheminé derrière la renaissance antique et l’a parfois approfondie ou submergée au point de devenir une véritable obsession, entretenue par l’érudition.83 La démarche savante du « dévoilement », suscitée par une « illumination »,84 qui prend sens dans la perspective d’une régénération, évoque irrésistiblement les 81
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Entre autres sources, Lucien de Samosate : De l’astrologie, 3‒7 (qui attribue aux Ethiopiens la découverte de l’astrologie et aux Egyptiens la transformation de cet art en science) ; et Macrobe : Saturnales 1, 17, 21 qui explique les signes du zodiaque, inventé par les Egyptiens, par la marche du Soleil dans le ciel. L’hiéroglyphe est redécouvert grâce à un manuscrit d’Horapollon rapporté en Italie un siècle plus tôt, en 1419. Il existe une volumineuse bibliographie sur les hiéroglyphes : Erik Iversen : The Myth of Egypt and its Hieroglyphs in European Tradition. Copenhague 1961 ; Madeleine V. David : Le débat sur les écritures et l’hiéroglyphe aux XVIIe et XVIIIe siècles et l’application de la notion de déchiffrement aux écritures mortes. Paris 1965 ; plus général, Chantal Grell (éd.) : L’Egypte imaginaire de la Renaissance à Champollion. Paris 2001. Jurgis Baltrusaitis : La quête d’Isis. Essai sur la légende d’un mythe. Paris 1985, p. 10 : « […] il se produit alors un phénomène surprenant. L’Egypte réapparaît partout dans une vision du passé qui s’élargit progressivement. Ses dieux surgissent de tous côtés […]. On les retrouve dans les pays les plus lointains au fur et à mesure de leur exploration et de leur découverte, aux Inde, en Chine, au Mexique. En Europe même, d’après certains historiens, Isis et Osiris viennent en personne en Germanie, en Italie, en France, en Espagne, près de deux mille ans avant notre ère. Diverses pratiques de leurs cultes sont observées jusqu’à la fin du Moyen Age. C’est une Egypte renouvelée par un ensemble d’artifices qui s’est superposée à l’Egypte historique dont les colonnes et les tombeaux se recouvraient de sable et dont les textes étaient encore inaccessibles. » Nombre de préfaces décrivent cette expérience unique de la vérité qui prend possession de l’auteur et lui tient littéralement la main le temps d’achever son ouvrage. Marc-Antoine Laugier : Essai sur l’architecture. Paris 1755, p. xli–ii : « Tout à coup il s’est fait à mes yeux un grand jour. J’ai vu des objets distincts où je n’apercevais auparavant que des brouillards et des nuages : je les ai saisis, ces objets, avec ardeur et en faisant usage de leur lumière, j’ai vu
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mystères des anciens, et, pas rapidement franchi, ceux de la Franc-Maçonnerie. Certes, tous les auteurs mentionnés ne sont pas frères. La carrière de Gébelin est célèbre, entre le rite écossais des Amis Réunis et la Loge des Neuf Sœurs.85 On sait que le Monde primitif eut une grande influence sur la maçonnerie symbolique et philosophique et sur tous les amateurs de « science secrète ». Boulanger n’est toutefois pas recensé comme tel, et des soupçons seulement pèsent sur d’Holbach ; Bailly est présenté comme membre de la Loge des Neuf Sœurs par Louis Amiable, à tort selon Charles Porset.86 Dupuis, bien que protégé par le frère Lalande et engagé dans la lutte contre le fanatisme et l’intolérance, ne semble pas avoir été initié, mais son « Traité des mystères »87 a beaucoup influencé la maçonnerie théorique.88 En réduisant toutes les religions à un ensemble d’allégories à caractère astronomique, Dupuis considérait les mythologies anciennes comme des lambeaux mystérieux de poèmes composés dans la plus haute antiquité traduisant, dans un langage allégorique, le déroulement de l’année en liaison avec la trajectoire du Soleil et des astres.89 Le zodiaque devait ainsi être compris comme un calendrier rural et astronomique, décrivant les différents travaux agricoles et les constellations de la voûte céleste de l’Ethiopie et de la Haute Egypte. Dupuis attribuait aux prêtres égyptiens l’invention du zodiaque, interprété à la lumière du climat égyptien. Dans l’Origine de tous les cultes, il n’hésitait pas à faire remonter l’origine du zodiaque à 14 000–15 000 ans av. J.-C., date fixée à l’aide de la précession des équinoxes, au moment où le solstice d’été correspondait au Capricorne, et le solstice d’hiver au Cancer, sans égard pour les chronologies bibliques.90 Il confirma cette datation dans son Mémoire explicatif du zodiaque de Tentyra, chronologique et mythologique (1806).91 Assigner au zodiaque une origine égyptienne, n’était pas, en soi, original : cette idée de l’antique sagesse égyptienne était déjà présente dans la Divine Legation of Moses demonstrated (1737–1741) de William Warbur-
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peu à peu mes incertitudes disparaître, mes difficultés s’évanouir et j’en suis venu jusqu’à pouvoir me démontrer à moi-même par principes et par conséquences, la nécessité de tous les objets dont j’ignorais les causes. » En décembre 1777, il présente à l’occasion du premier convent de la Mère Loge du Rite écossais sept leçons sur « Les Allégories les plus vraisemblables des grades maçonniques », qui lui valent d’être reçu parmi les Amis réunis (1778). En mars 1779, il est secrétaire de la Loge des Neuf Sœurs dont le vénérable est alors l’astronome Lalande, dont est issue en 1780 la société apollonienne qui devient, en 1782, le Musée de Paris. Plusieurs Bailly figurent sur des registres de loges maçonniques, mais non le premier maire de Paris, bien qu’il fasse l’objet de notices dans des dictionnaires, mais « rien ne ressemble moins à un maçon qu’un franc-maçon » (Porset in : Amiable : La Loge des Neuf Sœurs, cf. note 27, p. 139). Dupuis : Origine de tous les cultes (cf. note 19), vol. II. Art. « Dupuis ». In : Daniel Ligou (éd.) : Dictionnaire de la Franc-Maçonnerie. Paris 1987, p. 383. Il en était ainsi de la légende d’Hercule, mais aussi de Bacchus ou de Jason. Dupuis : Origine de tous les cultes (cf. note 19), vol. III, p. 366 sq. Jed Z. Buchwald et Diane Greco-Josefowicz : The Zodiac of Paris. Princeton et Oxford 2010, pp. 47–69 (sur l’Origine de tous les cultes).
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ton (1698–1779),92 et dans l’Histoire du Ciel (1739) de l’abbé Pluche.93 Dupuis eut pour disciple Alexandre Lenoir, le fondateur controversé du Musée des monuments français94 qui tenait aussi les hiéroglyphes sacrés des Egyptiens pour une peinture mystérieuse des révolutions célestes des différentes planètes que l’on supposait gouverner le monde. Même leur déchiffrement par Champollion95 ne put le faire revenir sur son sentiment.96 L’idée d’un lien entre l’ancienne Egypte et la France moderne passe par les écrits de Gébelin et de Dupuis qui, tous deux, ont postulé l’existence d’un ancien Iseum dans l’Île de la Cité, à Paris97 – et surtout par Lenoir qui, sans avoir jamais eu le moindre goût pour le Moyen Age, a établi une filiation entre l’art égyptien et l’art roman-gothique qui explique son « médiévalisme »98 dans sa Description
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William Warburton : The Divine Legation of Moses demonstrated on the Principles of a Religious Deist, from the Omission of the Doctrine of a Future State of Reward and Punishment in the Jewish Dispensation. Livres 1–3, Londres 1737 ; livres 4–6, Londres 1741; première édition complète, Londres 1765 (4e éd., 6 livres en 5 vol.). C’est dans le livre 4 (vol. 3 de cette dernière édition) que l’on trouve l’analyse des hiéroglyphes et des développements de la science égyptienne, la formation des constellations et le culte des astres. Ce livre fut traduit en français en 1744 : Essai sur les hiéroglyphes des Egyptiens. Où l’on voit l’origine et le progrès du langage et de l’Ecriture, l’Antiquité des sciences en Egypte, et l’Origine du culte des animaux, traduit de l’Anglais de M. Warburthon. Avec des Observations sur l’antiquité des hiéroglyphes scientifiques et des remarques sur la Chronologie et sur la première écriture des Chinois. 2 vol. Paris 1744. Ce chapitre passa dans l’article « Ecriture » de l’Encyclopédie. Qui, dans son Histoire du Ciel (cf. note 15) nie avoir emprunté quoi que ce soit à Warburton (voir l’« Avis de l’Auteur »). Pluche attribue toutefois l’invention du zodiaque aux enfants de Noé dans la plaine de Senaar. Noël-Antoine Pluche : Le Spectacle de la Nature. Vol. 4. Paris 1739, troisième partie, pp. 281–313 (sur « l’invention du zodiaque », notamment pp. 308– 313). Dominique Poulot : Alexandre Lenoir et le Musée des monuments français. In : Pierre Nora (éd.) : Les lieux de mémoire. Vol. II : La Nation. Paris 1986, pp. 497–532. C’est en 1822 que Champollion expose à l’Académie des inscriptions les principes de l’écriture hiéroglyphique et son déchiffrement de la pierre de Rosette. Le Précis du système hiéroglyphique des anciens Egyptiens est publié en 1824. Alexandre Lenoir écrivait en 1822 que « malgré le mérite de ce système et la science de son auteur, on se prêtera difficilement à reconnaître les lettres d’un alphabet dans la figure d’un lion, d’un bélier, d’un oiseau » (Essai sur le zodiaque circulaire de Denderah. Paris 1822, première partie, p. 56). En 1834 dans son Parallèle de ces monuments avec ceux de l’Egypte, de l’Indostan et du reste de l’ancien monde, Lenoir confirmait son sentiment : « Un savant, de nos jours a cru découvrir dans ces hiéroglyphes un langage simple, soumis à des règles grammaticales et combiné d’après un alphabet. Dût-on m’accuser de scepticisme, je demande la permission de douter » (in : Guillaume Dupaix : Antiquités mexicaines, relation des trois expéditions du capitaine Dupaix, ordonnées en 1805, 1806 et 1807, par le roi Charles IV pour la recherche des antiquités du pays. 2 vol. Vol II. Paris 1836, p. 13). Le temple d’Isis, à Pompéi, a été découvert et dégagé en 1764. Pour Dominique Poulot, cette redécouverte du Moyen Âge dont on le crédite ne ressortit pas à une quelconque « avance » esthétique, mais est « l’effet pervers d’une singularité voire d’un retard intellectuel qui pousse Lenoir à embrasser des idées déjà anciennes et déconsidérées » (Dominique Poulot : L’Egypte imaginaire d’Alexandre Lenoir. In : Grell (éd.) : L’Egypte imaginaire, cf. note 82, pp. 127‒149, ici p. 130). Erik Iversen et Jurgis Baltrusaitis ont déjà
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historique et chronologique des monuments de sculpture réunis au Musée des monuments français (an X) et dans son Explication des hiéroglyphes (1809). Cette filiation tient de la révélation mystique exposée aux Frères du Souverain Chapitre Métropolitain du Rite Ecossais au convent philosophique de 1812 où il affirme : « On ne doit point s’étonner de voir nos temples décorés des emblèmes qui se trouvaient en Egypte, dans ceux de la déesse Isis qui d’ailleurs était la divinité adorée des Parisiens ».99 La première partie de la Franche Maçonnerie traite de l’origine des dieux, des mystères d’Isis et de Cérès et de la mythologie indienne.100 La « nature », à l’en croire, fut l’objet de l’adoration des premiers habitants de la terre et les fables anciennes ne sont, dans leur principe, qu’une image des phénomènes de la nature, comme les divinités qui en sont l’objet ne sont elles-mêmes que la représentation des astres. Le ciel et la terre ont façonné toutes les théogonies. Quant au Soleil, l’astre brillant qui anime toute la nature, fils d’un dieu tout puissant, c’est sur lui que roulent tous les mystères de la Franc-Maçonnerie. Lenoir fait sienne l’idée de Gébelin de la « céleste culture » qui lie les rythmes de la culture du blé à ceux de l’âme.101 Isis, l’âme du monde, personnifie la lumière, Vénus, Uranie, Cérès et Minerve. Le mythe d’Osiris illustre l’unité essentielle, le triomphe final de la lumière sur le mal et sur toutes les formes de dualité qui conduit l’initié à la suprême félicité. Le grand Cophte Cagliostro avait ouvert la Mère Loge de l’Adaptation de la Haute Maçonnerie Egyptienne, rue de la Sourderie, avec un rituel et des grades égyptiens et un temple d’Isis en 1784.102 C’est toutefois au lendemain de la Révolution que le rituel initiatique égyptien s’impose et que triomphent Isis et Osiris.103 L’expédition d’Egypte (1798–1801) était venue à point nommé pour donner une nouvelle vie à l’ancienne idée de l’origine égyptienne de la géométrie et de l’astronomie et établir un lien secret entre l’Egypte ancienne et la France révolutionnaire. Les loges nouvelles enrichissent leurs rituels et leur connaissance des considéré cette manie de voir partout des emblèmes égyptiatiques comme l’illustration tardive d’un mode de pensée dépassé. 99 Alexandre Lenoir : La Franche Maçonnerie rendue à sa véritable origine ou l’Antiquité de la Franche Maçonnerie, prouvée par l’explication des mystères anciens et modernes. Paris 1814, pp. 230 sq. [nouvelle éd. commentée de Claude Rétat. Paris 2007]. Sur Isis et les zodiaques égyptiens à Paris chez Gébelin, Dupuis et Lenoir, cf. Baltrusaitis : La quête d’Isis (cf. note 83), « Théogonies égyptiennes de la Révolution », pp. 21–40. 100 Il s’agit d’un cours en huit séances sur les rapports entre les anciens mystères des Egyptiens et des grecs et ceux de la Franc-Maçonnerie. 101 Quant à Fabre d’Olivet, qui n’a jamais été franc-maçon lui-même, il a proposé, dans La Vraie maçonnerie et la céleste culture, aux Frères de renouer avec le sens des origines, en instituant un rituel agricole comptant les trois grades d’« aspirant », de « laboureur » et de « cultivateur ». 102 Selon Amiable, c’est en 1783 que se fit jour le thème de l’origine égyptienne de la maçonnerie avec le Recueil précieux de la Maçonnerie Adouhiramite publié par Guillemin de SaintVictor. 103 Entre les deux éditions de 1789 et de 1803 du Recueil élémentaire de la Franc-maçonnerie Adou-Hiramite, à Jérusalem.
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mystères isiaques avec les découvertes : Loge Isis, fondée au Caire par Kléber ; Loge impériale des chevaliers de Saint-Jean d’Acre ; la Souveraine pyramide des amis du Désert, fondée à Toulouse en 1800 ; les Disciples de Memphis, fondée en 1814 à Montauban ; et surtout l’Ordre sacré des Sophisiens, fondé à Paris en 1801, qui regroupe d’anciens soldats et des savants de l’expédition à l’origine de l’Institut d’Egypte : Monge, Lacépède, Denon peut-être. La publication de la Description de l’Egypte, sous la direction d’Edme Jomard entre 1809 et 1828 fournit un ample matériel aux adeptes des loges « égyptosophiques » qui fleurissent sous la Restauration, les républicains continuant souterrainement, souvent comme francs-maçons, à faire usage de références aux résonnances politiques mais mystérieusement incompréhensibles.
VI. La stérile « mine du monde primitif » Le terme d’« origine » a conservé le poids que les théologiens lui donnaient : celui d’un commencement absolu qui détermine le cours des choses. Connaître l’origine, c’est atteindre à une vérité essentielle et authentique qui permet de rendre compte de la logique de l’histoire. La recherche de règles absolues, naguère fondées sur la restitution du modèle divin, donné par Dieu, repose, au XVIIIe siècle, sur le modèle donné par la « nature ». « Là finit ma méthode où finit la nature », écrit Dupuis qui écrit encore : « C’est dans la nature elle-même que j’ai puisé les idées fondamentales de ma nouvelle méthode ».104 « La Nature, toujours la même est le fil incorruptible qui nous a conduit dans la route droite et facile que nous proposons à nos lecteurs de parcourir avec nous ».105 Le terme de « Nature » désigne l’histoire naturelle, celle de la terre – sa grande ancienneté, les cataclysmes qui l’ont affectée, déluges, tremblements de terre et volcanisme – mais aussi la nature vraie de l’homme qui est immuable. Le fil du temps est continu : c’est la conviction de Gébelin qui ne voit aucune rupture entre le monde primitif et le présent : « Pour embrasser ce tableau dans toute son étendue, il suffit de se transporter au moment où commença la chaîne dont nous constituons le dernier chaînon », et à l’inverse : « Il y a une chaîne continue qui lie tout à l’homme : il ne faut que bien connaître celui d’aujourd’hui pour connaître ceux de tous les siècles ».106 Pour Dupuis, les leçons des origines conservent leur actualité « car presque rien n’a changé ».107 L’histoire qui est ainsi écrite est la négation même de l’histoire. Sans l’affirmer aussi brutalement, les différents auteurs en ont conscience, qui s’abritent derrière la contrainte du « système » qui vaut, à leurs yeux, preuve. Dupuis parle du « système véritable d’explications qui, malgré ses 104 105 106 107
Dupuis : Origine de tous les cultes (cf. note 19), vol. I, pp. xiii, xi. Gébelin : Le Monde primitif (cf. note 25), vol. I, p. 6. Ibid., p. 4. Dupuis : Origine de tous les cultes (cf. note 19), vol. I, p. ix.
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difficultés, est néanmoins le seul qu’il soit permis d’admettre » ;108 Bailly esquisse, pour Voltaire, une apologie des systèmes.109 Gébelin explique que l’ordre systématique garantit la certitude : C’est par cette route, constamment suivie depuis les premiers âges jusqu’à nous que l’histoire écrite acquiert un degré de certitude que la gravité et l’unanimité des historiens ne pourraient lui donner. Elle se trouve liée dans toutes ses parties à des pièces de comparaison, non seulement analogues, mais identiques, et produites par tous les siècles, par tous les peuples. Par-là, on ramène à des principes incontestables tout ce que l’Antiquité nous a transmis sur la population de la terre, sur la prospérité, sur les révolutions et la chute des empires. Et les faits historiques justifiés ou démentis d’après des principes démontrés, se séparent d’eux-mêmes des fables et ne nous montrent dans les variétés mythologiques des différentes nations que les pièces justificatives des mêmes besoins, des mêmes arts, sans autre altération que les flexions locales nécessitées par le physique de chaque climat. En un mot, tout ce qui existe ne présente plus que des rayons partant d’un même centre, et renfermés dans un cercle qui les lie tous et qui indique non seulement les rapports, mais la raison et le motif de tous.110
Cette histoire « systématique » n’a guère de rapports avec les faits. Elle est histoire philosophique, spéculation sur un être primitif abstrait, extrait de l’histoire, tel que Constantin François Volney l’imagine dans ses Ruines.111 Sauf à considérer que l’histoire est inscrite dans les langues dont la construction est à elle seule l’histoire complète de chaque peuple, et dont les filiations et les analogies sont le fil d’Ariane dans le labyrinthe des origines, explique encore Volney dans ses Leçons d’histoire (1795) présentées à l’Ecole normale en l’an III. Les langues sont, avec la mythologie, l’une des clefs d’accès aux origines. Boulanger a laissé en manuscrit un dictionnaire considérable, « qu’on pourrait regarder comme une concordance des langues anciennes et modernes, fondée sur l’analogie des mots simples et composés de ces langues, sans en excepter la française », selon d’Holbach.112 A l’étude du chinois, du phénicien, du copte étudié par l’abbé Barthélemy, de l’arménien dont Mathurin Veyssière de la Croze a laissé un dictionnaire manuscrit que Gébelin connaissait bien, s’ajoute celle du sanskrit qui conduira à la « découverte » de l’indo-européen. Dès 1731–1733, les pères Calmette, Le Gac et Pons ont envoyé à la Bibliothèque du roi un Rigveda complet et d’autres 108 109
Ibid., p. x. Bailly : Lettres sur l’Atlantide (cf. note 45), pp. 436–438 : « Vous direz peut-être que je fais un système, et votre indulgence ajoutera qu’il est ingénieux ; mais ce jeu d’esprit n’est pas dans mon caractère. La vérité sentie a trop d’empire sur moi ; je ne me sens pas le courage de la combattre de face : ma plume ne trouverait point d’expressions pour des pensées que je ne croirais pas vraies. Permettez, Monsieur, que nous nous expliquions sur les systèmes. Il semble que pour bien des gens un système ne soit qu’un jeu d’esprit, un pur roman. Ce mot est devenu le signe de l’improbation ; et pour reléguer une idée dans le pays des chimères, l’arrêt se prononce en disant, c’est un système […]. Système signifie assemblage […]. Un système n’est donc que la liaison des faits ; quand il n’est que cela, quand il ne les altère pas, il n’est point condamnable. » 110 Gébelin : Le Monde primitif (cf. note 25), vol. I, pp. 6 sq. 111 Constantin François Volney : Les Ruines Ou Méditations Sur Les Révolutions Des Empires. Genève 1791, chap. 6 (« État originel de l’homme »). 112 Boulanger : L’Antiquité dévoilée (cf. note 10), vol. I, p. xxii.
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textes très importants. De retour en Europe en 1762, Anquetil Duperron rapporte d’Inde de très nombreux manuscrits déposés à la Bibliothèque royale. Il y a étudié les traditions religieuses des Pârsî et leur texte sacré zoroastrien l’Avesta, dont il publie la traduction en 1771. Ce pionnier de l’étude de la pensée religieuse persane et indienne en Europe a laissé, à sa mort en 1805, des ébauches de dictionnaires de malayalam, de sanskrit et de telougan. Gébelin travaillait beaucoup à la bibliothèque du roi ; mais il est décédé avant que la théorie de l’existence d’une langue indo-européenne donne une nouvelle impulsion aux études de philologie comparée, grâce aux travaux de William Jones et de Charles Wilkins en 1786. Il a luimême laissé, nous l’avons vu, une série de dictionnaires et avait prévu, dans son plan initial, un « dictionnaire primitif » car « la première des langues, composée de mots nécessaires et représentatifs n’a jamais pu se perdre » ;113 un dictionnaire comparatif des langues qui devait permettre de suivre les déformations de la langue primitive ; un dictionnaire étymologique de la langue française, de la langue hébraïque, des noms propres et appellatifs et une Bibliothèque étymologique, jamais réalisés. Fabre d’Olivet a publié un dictionnaire de la langue hébraïque. Quand ils étudient l’homme primitif, sa psychologie, sa physiologie, sa culture, ces historiens restent dans la théorie. L’homme primitif vit hors de l’histoire. Détenteur d’un savoir perdu, il n’est pas comparé, comme l’avait naguère proposé le père Lafitau, avec les « sauvages » rencontrés par les voyageurs et les missionnaires. Il ne s’enrichit pas non plus de l’étude des sociétés archaïques. Le terme d’« anthropologie », qui existe dans le vocabulaire médical allemand depuis le XVIe siècle au sens d’anatomie, est certes ‹ disponible › dans l’Encyclopédie (« dans l’économie animale, c’est un traité de l’homme »), mais sans être affecté d’un sens particulier. En 1778, l’article « Anthropologie » de J. B. Robinet dans le Dictionnaire universel des sciences morales, témoigne d’un premier élargissement. En 1788, Alexandre-César Chavannes, professeur de théologie à Lausanne, publie un ouvrage intitulé Anthropologie ou Science générale de l’homme pour servir d’introduction à l’étude de la philosophie et des langues, où il traite de la glossologie, de l’étymologie, de la lexicologie, de la grammatologie et de la mythologie. Cet ouvrage ne semble pas avoir beaucoup d’écho en France.114 Selon Michèle Duchet toutefois, « en moins de trente ans s’est constituée une ‹ science générale de l’homme › dont la plus grande part forme ce que nous appelons encore une anthropologie, tandis que la linguistique a remplacé comme science la glossologie […] et que la mythologie, un temps rattachée à l’histoire, est redevenue une des provinces de l’anthropologie. »115 Qu’il soit permis d’en douter : quelle part les historiens du monde primitif prirent-ils à cette réflexion ? On peut penser qu’elle fut très réduite, et que le succès de leurs ouvrages constitua même un handicap 113 114 115
Gébelin : Le Monde primitif (cf. note 25), vol. I, p. 20. Sergio Moravia : La Scienza dell’Uomo nel Settecento. Bari 1970, pp. 78 sq. Michèle Duchet : Anthropologie et histoire au Siècle des Lumières. Paris 1995, p. 13.
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pour des entreprises plus sérieuses qui n’étaient pas dans l’air du temps. La Société des observateurs de l’homme, fondée en 1799 par Louis François Jauffret, n’eut qu’une existence éphémère (1799–1805), tout comme les cours qu’il donna au Louvre sur l’histoire naturelle de l’homme qui témoignent des premiers pas de l’anthropologie culturelle et de l’ethnologie. Naturaliste, voyageur et observateur de l’homme, François Péron adressa en 1800 à l’Institut national des Observations sur l’anthropologie ou Histoire naturelle de l’homme, la nécessité de s’occuper de l’avancement de cette science. Il y dessinait les contours d’une nouvelle science qui devait s’édifier en complément et en concurrence d’une histoire philosophique, refermée sur elle-même dans un cadre systématique et qui s’épuisait à exploiter en vain « la mine du monde primitif ».116
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En référence à Delisle de Sales : « J’ai vu que l’esprit et l’érudition avaient ouvert jusqu’ici la mine du monde primitif ; mais qu’il restait à la philosophie à l’exploiter » (Histoire philosophique du monde primitif, cf. note 60, vol. V, p. 288).
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Fig. 1: Charles-François Dupuis : Origine de tous les cultes, ou Religion universelle. Vol. 1. Paris An III, frontispice
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Fig. 2: Antoine Court de Gébelin : Le Monde primitif analysé et comparé avec le monde moderne. Vol. 1. Paris 1773, frontispice
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Fig. 3: Carte de Jean-Sylvain Bailly : Lettres sur l’Atlantide de Platon et sur l’ancienne histoire de l’Asie pour servir de suite aux Lettres sur l’origine des sciences. Paris 1779, in fine
Fig. 4: Carte de Jean-Baptiste-Claude Delisle de Sales : Histoire philosophique du monde primitif ou des Atlantes. Vol. I. Paris 1780, in fine
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L’historiographie de la musique grecque antique de Jean-Jacques Rousseau à August Böckh : Aspects d’un problème européen Que la musique grecque antique soit « tant jugée et si peu connue », comme l’écrit Jean-Jacques Rousseau en 1776, n’est pas le moindre paradoxe d’un art à l’égard duquel Montesquieu avait déjà manifesté son étonnement dans L’Esprit des Lois.1 Mais que Rousseau lui-même le reconnaisse n’est peut-être pas moins surprenant : l’auteur du Dictionnaire de Musique a passé près de trois décennies à étudier et à promouvoir cet art qui, tout en jouant un rôle essentiel dans la civilisation hellénique depuis Homère, semblait souvent étrange et incompréhensible aux Modernes. La formule de Rousseau est pourtant loin d’être purement rhétorique : la musique grecque a bien été l’objet d’innombrables évaluations esthétiques depuis la Querelle des Anciens et des Modernes jusqu’aux débats intenses sur les mérites de l’harmonie et de la mélodie dans la seconde moitié du dix-huitième siècle. Rousseau ne manque donc pas de relever cette antinomie : que vaut un jugement esthétique qui repose sinon sur l’ignorance, du moins sur la connaissance imparfaite d’une musique « obscure » et « presque inintelligible » ?2 Le philosophe est d’autant plus sensible à ces problèmes esthétiques et épistémologiques qu’il a 1
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Jean-Jacques Rousseau : Lettre à M. Burney et fragments d’observations sur l’Alceste de Gluck [1778]. In : Œuvres Complètes (dorénavant citées OC). Vol. V : Écrits sur la musique, la langue et le théâtre. Éd. par Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Paris 1995, pp. 431‒439, ici p. 437. Quant à Montesquieu, il a expliqué un « paradoxe des anciens » relatifs aux mœurs : le rapport entre les mœurs individuelles, la constitution politique et la musique, dont il constatait l’importance chez Platon, Aristote, Strabon, Xénophon et Plutarque. A propos de l’éducation, il note dans la lignée de la République de Platon : « [Les Anciens, C.C.] trouvaient une occupation dans les exercices qui dépendaient de la musique, et dans ceux qui avaient du rapport à la guerre. L’institution ne leur en donnait point d’autres. Il faut donc regarder les Grecs comme une société d’athlètes et de combattants. Or, ces exercices, si propres à faire des gens durs et sauvages, avaient besoin d’être tempérés par d’autres qui pussent adoucir les mœurs. La musique, qui tient à l’esprit par les organes du corps, était très propre à cela. C’est un milieu entre les exercices du corps qui rendent les hommes durs, et les sciences de spéculation qui les rendent sauvages. On ne peut pas dire que la musique inspirât la vertu ; cela serait inconcevable : mais elle empêchait l’effet de la férocité de l’institution, et faisait que l’âme avait, dans l’éducation, une part qu’elle n’y aurait point eue. » (Cf. CharlesLouis de Montesquieu : De l’Esprit des Lois. Éd. par Victor Goldschmidt. Paris 1979, livre IV, chap. 8, p. 165 sq.) Rousseau déclarait ainsi à propos des « modes » grecs : « Obscurs sur toutes les parties de leur Musique, [les Anciens, C.C.] sont presque inintelligibles sur celle-ci » (Jean-Jacques Rousseau : Art. Mode. In : Dictionnaire de Musique [1768]. In : OC, cf. note 1, vol. V, pp. 895‒905, ici p. 900). Quant à Johann Nikolaus Forkel, il évoquait une « musica occulta » au sens propre du terme. Cf. Johann Nikolaus Forkel : Allgemeine Geschichte der Musik. Vol. I. Leipzig 1788, p. 185.
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contribué à raviver la Querelle des Anciens et des Modernes en voulant démontrer que la « mélodie orale » des Grecs était un art parfait, différent de la « mélodie harmonique » des Modernes, voire supérieur à elle.3 En effet, dans la longue polémique qui l’a opposé à Jean-Philippe Rameau pendant les années 1750, il a pris le parti des Anciens face à un musicien cartésien qui rejetait l’autorité des Grecs.4 Après la mort de Rameau en 1764, le Dictionnaire de Musique (1768) lui a permis de diffuser largement ses idées et d’asseoir son autorité scientifique :5 pour l’historiographie de la musique grecque antique, en particulier, le Dictionnaire est un jalon aussi important que les travaux de Pierre Jean Burette parus dans les années 1720‒1730.6 L’un des problèmes abordés par Rousseau dans le Dictionnaire, mais aussi dans l’Essai sur l’origine des langues, concerne la relation entre théorie et histoire : ce problème est capital dans l’étude de la musique grecque entreprise par le philosophe musicien à partir de 1749‒1750. En effet, l’approfondissement de la dimension historique après la publication de la Lettre sur la musique française (1753) crée une tension entre une théorie générale, d’ordre synchronique, et une vision diachronique de la musique où la Grèce occupe une place privilégiée.7 Cette tension reste perceptible chez les successeurs de Rousseau, qui cherchent eux aussi à articuler l’histoire et la théorie de la musique, connue grâce aux auteurs grecs et latins édités par Marc Meibom en 1652, mais aussi par Platon, par Aristote et par le traité longtemps attribué à Plutarque.8 Le rapport des historiens de la musique aux auteurs gréco-latins constitue un problème à part entière dans la mesure où la tradition littéraire est la principale source d’informations sur la musique grecque. Un dialogue constant est engagé 3 4
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Jean-Jacques Rousseau : Essai sur l’origine des langues [1781]. In : OC (cf. note 1), vol. V, pp. 373‒429, ici p. 423. En 1751, à l’article « Musique » de l’Encyclopédie qui sera repris dans le Dictionnaire de Musique, Rousseau déclarait : « La plupart de ces sentiments sont fondées sur la persuasion où nous sommes de l’excellence de notre Musique, et sur le mépris que nous avons pour celle des Anciens. Mais ce mépris est-il lui-même aussi bien fondé que nous le prétendons ? C’est ce qui a été examiné bien des fois, et qui, vu l’obscurité de la matière et l’insuffisance des juges, aurait grand besoin de l’être mieux » (Rousseau : Art. Musique. In : Dictionnaire de Musique, cf. note 2, pp. 915‒926, ici p. 923). Sur la réception européenne du Dictionnaire de Musique, voir Jean-Jacques Eigeldinger. Introduction. In : Rousseau : OC (cf. note 1), vol. V, pp. CCLXXXVIII‒CCXCVII. Cf. Samuel Baud-Bovy : Jean-Jacques Rousseau et la musique. Neuchâtel 1988, pp. 89‒100 ; Marie-Elisabeth Duchez : Jean-Jacques Rousseau historien de la musique. In : Hugues Dufourt et Joël-Marie Fauquet (éd.) : La musique : du théorique au politique. Paris 1991, pp. 39‒111. (Duchez a étudié les thèses de Rousseau sur l’histoire de la musique médiévale, sans aborder la musique grecque antique.) Michèle Duchet et Michel Launay : Synchronie et diachronie : l’Essai sur l’origine des langues et le second Discours. In : Revue internationale de philosophie 82/4 (1967), pp. 421‒442. Pour une brève histoire de l’archéologie musicale grecque, cf. Egert Pöhlmann et Martin L. West : Documents of Ancient Greek Music. Oxford 2001, pp. 5 sq. ; Annie Bélis : La redécouverte de la musique antique du XVIe siècle au XIXe siècle. In : Christine Laloue (éd.) : Archéologie et musique. Paris 2002, pp. 8‒17.
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avec les théoriciens et les philosophes, de Platon à Boèce, et il s’accompagne généralement d’un parallèle entre la musique antique et la musique moderne. La définition d’une nouvelle méthode philologique par August Böckh vers 1810 n’abolit pas complètement ces pratiques : les discussions entre ramistes et rousseauistes se poursuivent au début du dix-neuvième siècle, à plus forte raison chez des philologues qui, comme Böckh ou son maître Friedrich August Wolf, considèrent l’évaluation esthétique de l’Antiquité comme une activité à part entière de l’Altertumswissenschaft.9 De Rousseau à Böckh, les historiens de la musique se sont donc engagés dans une quête de l’art musical grec à une période où le théâtre hellénique « revit » dans les tragédies lyriques françaises de Christoph Willibald Gluck ou dans les drames de Friedrich Schiller et de Johann Wolfgang von Goethe : nous évoquerons ici quelques aspects de cette vaste enquête européenne entre 1750 et 1810.
I.
Rousseau contre Rameau : l’historicité de la musique grecque
L’un des moments-clés dans l’historiographie de la musique grecque antique est sans conteste la querelle entre Rameau et Rousseau : à partir de la Démonstration du principe de l’harmonie (1750) de Rameau, le conflit qui met aux prises les deux musiciens philosophes concerne pour une bonne part la place réservée à la musique grecque, dont l’analyse repose chez l’un et l’autre sur une conception différente de la nature et de l’histoire. Musicien marqué par le cartésianisme comme la plupart des savants de son époque,10 Rameau reste fidèle à Descartes jusqu’aux années 1750 : du Traité de l’harmonie (1722) à la Démonstration du principe de l’harmonie, il applique les principes de la philosophie cartésienne à la musique et rappelle encore au milieu du siècle l’influence du Discours de la méthode dans ses recherches.11 La musique, pour Rameau, est une science physico-mathématique dont le principe réside dans la résonance d’un corps sonore déterminant tout le système harmonique. L’harmonie exerce un empire universel et l’histoire de la musique se borne au progrès de la science depuis « les Grecs » (syntagme par lequel Rameau désigne 9
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Ada Netschke-Hentschke : Le texte de Platon entre F.A. Wolf (1759‒1824) et F.D. Schleiermacher (1767‒1834). In : André Laks et Ada Netschke-Hentschke (éd.) : La naissance du paradigme herméneutique. Lille 2006, pp. 205 sq. Cf. Jean Erhard : L’idée de nature en France dans la première moitié du XVIIIe siècle. Paris 1994, pp. 63‒178 ; Chantal Grell : L’histoire entre érudition et philosophie. Paris 1993, pp. 72‒84. Jacques Chouillet a rappelé la place tout aussi importante de Descartes dans les théories du jeune Diderot. Cf. Jacques Chouillet : Les idées esthétiques de Diderot. Paris 1973, pp. 125‒130. Jean-Philippe Rameau : Démonstration du principe de l’harmonie. Paris 1750, pp. 7 sq. ; cf. Catherine Kintzler : Jean-Philippe Rameau. Splendeur et naufrage de l’esthétique du plaisir à l’âge classique. 3e éd. Paris 2011, pp. 17‒25.
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principalement Pythagore et son école) jusqu’à la découverte du principe de l’harmonie et de la progression triple, dont est déduit l’ensemble du système diatonique. Par conséquent, comme Descartes avant lui, Rameau conteste l’autorité des « Grecs » parce qu’ils ont « ignoré les vrais fondements » de la mélodie et de l’harmonie.12 Mais à partir des années 1750, une telle définition de la musique paraît devoir être révisée et Rameau subit les attaques des Encyclopédistes qui contestent le cartésianisme et revendiquent une autre conception de la nature et de l’histoire.13 Rousseau, pour sa part, rejette ce système mécaniste anhistorique au profit d’une nouvelle conception de la nature : une nature historicisée, telle que Buffon l’étudie dans son Histoire naturelle.14 Remontant aux origines de l’humanité dans l’Essai sur l’origine des langues et le second Discours, Rousseau avance une histoire conjecturale tirée de « raisonnements hypothétiques » plutôt que de « vérités historiques » :15 il peint le passage violent d’un état de nature antéhistorique, où les hommes vivaient épars au milieu des animaux et sans voix pour exprimer leurs passions, au devenir historique, qui provoque la socialisation des individus et la recherche de moyens d’expression linguistiques.16 La première langue était gestuelle et suffisait à communiquer les besoins ; c’est en voulant exprimer ses sentiments que l’homme a appris à maîtriser les sons : le cri primitif, essentiellement
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Rameau : Démonstration du principe de l’harmonie (cf. note 11), pp. 3 sq. Voir notamment Kintzler : Jean-Philippe Rameau (cf. note 11), pp. 17‒39, 113‒150 ; Béatrice Didier : La musique des Lumières. Paris 1985, pp. 91‒110 ; Thomas Christensen : Rameau and Musical Thought in the Enlightenment. Cambridge 1993, pp. 209‒251 ; Xavier Bouvier : Rousseau et la théorie ramiste. In : Rousseau : OC (cf. note 1), vol. V, pp. 1664‒1693 ; Olivier Pot : Introductions à la Lettre sur la musique française et à l’Examen de deux principes avancés par M. Rameau. In : Ibid., pp. XCIX‒CXXXV, CXLV‒CLXIV ; Alexander Rehding : Rousseau, Rameau, and Enharmonic Furies in the French Enlightenment. In : Journal of Music Theory 49/1 (2005), pp. 141‒180. Cf. Jean Starobinski : Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. 2e éd. Paris 1976, pp. 380‒392 ; Duchez : Jean-Jacques Rousseau historien de la musique (cf. note 6), pp. 44 sq. Sur la « temporalisation » de la nature au dix-huitième siècle, cf. Erhard : L’idée de nature (cf. note 10), pp. 181‒245 ; Reinhart Koselleck : Le concept d’histoire. In : L’expérience de l’histoire. Paris 1997, pp. 70‒76. Selon la célèbre déclaration du Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité (1754) : « Commençons donc par écarter les faits […]. Il ne faut pas prendre les recherches, dans lesquelles on peut entrer sur ce sujet, pour des vérités historiques, mais seulement pour des raisonnements hypothétiques et conditionnels » (Jean-Jacques Rousseau : Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. Éd. par Jacques Roger. Paris 1992 [1971], p. 169). Cf. Starobinski : Jean-Jacques Rousseau (cf. note 14), pp. 324 sq., 346‒349, 356‒375 ; Socialité de la musique. In : Le remède dans le mal. Critique et légitimation de l’artifice à l’âge des Lumières. Paris 1989, pp. 208‒232 ; Jacques Derrida : De la grammatologie. Paris 1967, pp. 261‒378 ; Michèle Duchet : Anthropologie et histoire. Paris 1971, pp. 322‒376 ; Victor Goldschmidt : Anthropologie et Politique. Les principes du système de Rousseau. Paris 1983, pp. 146‒167, 231‒240 ; Duchez : Rousseau historien de la musique (cf. note 6), pp. 42‒53.
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vocalique, s’est peu à peu précisé par l’ajout d’articulations, de consonnes.17 Les langues originelles étaient mélodiques, puisque dire et chanter étaient identiques, comme l’a rappelé Strabon,18 autorité dont se réclame Rousseau.19 L’accent, qui distingue les langues les unes des autres et révèle leur nature, n’était pas tonique, comme dans les langues modernes, mais mélodique ; il marquait l’élévation ou l’abaissement de la voix sur certaines syllabes. Les langues mélodiquement accentuées, proches de la langue originelle, se sont maintenues dans les pays orientaux tandis qu’elles ont disparu au Nord au cours des invasions barbares : ont alors prédominé des langues froides et logiques associées à une polyphonie harmonique « gothique » qui a ruiné la simplicité de la mélodie originelle. L’histoire « linguistico-musicale » de l’Europe se confond avec la déchéance de la mélodie vocale des premiers temps de l’humanité. Le concept d’origine, commun à Rameau et à Rousseau, renvoie alors à deux systèmes antagonistes. Dans la Génération harmonique (1737), Rameau explique l’origine de l’harmonie, du système diatonique, de la dissonance selon une méthode déductive associant l’expérimentation acoustique à un modèle mathématique. Quant à Rousseau, il « temporalise » la nature en voulant comprendre pourquoi la musique a dégénéré depuis les temps originaires et pourquoi l’Europe occidentale est la seule région du monde où l’harmonie a pris une telle ampleur. Si en Europe la langue chantante originelle a été oubliée et abolie par l’harmonie de l’homme moderne civilisé, il existe en revanche des traces des langues primitives, langues gestuelles et mélodiques, dans le vaste espace oriental qui s’étend de l’Asie mineure à la Chine, ces pays du « Midi » que Rousseau oppose aux pays du « Nord ». Ainsi, bien que la langue turque soit une « langue septentrionale »,20 le Turc, lointain cousin des Perses et des Grecs, n’a besoin que de quelques gestes de la main pour se faire comprendre, là où l’Européen se perd en longues palabres ;21 la langue chinoise, langue « méridionale » et « antique » si l’on se réfère à la répartition géographique des cultures au chapitre IX de l’Essai, comporte bien plus de voyelles que de consonnes, ce qui l’apparente à la langue mélodique originelle.22 Ces traces s’ajoutent aux témoignages rappelant qu’il a existé une époque favorisée : la Grèce antique, l’un des deux moments du « bonheur à mi-chemin » entre le pur état de nature et la civilisation moderne.23 La connaissance de la musique grecque, par conséquent, doit contrecarrer la théorie moderne à prétentions univer17
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Rousseau : Essai sur l’origine des langues (cf. note 3), pp. 382 sq. Gérard Genette a rappelé le prestige de la voyelle dans les théories linguistiques de la seconde moitié du dix-huitième siècle et des romantiques. Cf. Gérard Genette : Mimologiques. Paris 1999, pp. 453‒460. Strabon: Géographie I, II, 6. Rousseau : Essai sur l’origine des langues (cf. note 3), p. 411. Ibid., p. 409. Ibid., p. 376. Ibid., p. 382. Sur la découverte de la langue chinoise, cf. Madeleine V. David : Le débat sur les écritures et l’hiéroglyphe aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 1965, pp. 31‒42, 57‒65. Starobinski : Jean-Jacques Rousseau (cf. note 14), p. 370.
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selles de Rameau. Proche du « siècle d’or » où langue et parole étaient unies, cette musique n’est en vérité ni un mythe ni un pur objet de spéculation philosophique : elle est connue par de nombreux écrits théoriques qui peuvent être mis en relation avec les musiques non européennes.24 Certes, on a pu s’étonner de la somme d’érudition dépensée par Rousseau pour venir à bout des problèmes posés par cet art.25 Mais s’il lui accorde une telle importance dans son Dictionnaire, c’est qu’elle est appelée à témoigner en faveur d’une diversité des musiques correspondant à la diversité des mœurs et des coutumes. Il ne s’agit pas seulement d’érudition : la théorie de la musique grecque est l’un des éléments-clés du système historicophilosophique que Rousseau développe dans l’Essai sur l’origine des langues, le Dictionnaire de Musique et le Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité. La première différence fondamentale entre Grecs et Modernes réside dans la place des « mœurs ». Le plaisir que la musique procure à l’auditeur n’est pas causé par la perception de rapports d’intervalles (problème que Denis Diderot avait soulevé, avant Immanuel Kant, dans les Principes acoustiques en 1748),26 mais par les inflexions de la mélodie vocale, qui éveillent en l’auditeur des impressions morales. Or, comme les théoriciens grecs, écrit Rousseau à l’article « Mœurs », accordaient une place importante aux effets moraux de la musique et qu’une partie de leur enseignement consistait à apprendre aux musiciens les moyens de les susciter, la musique grecque avait atteint un « point de perfection » inconnu des Modernes.27 Cette perfection se fondait surtout sur la fusion de la parole et du chant : leur union intime explique les anecdotes à propos des pouvoirs extraordinaires de la musique grecque, auxquelles Rousseau est enclin à prêter foi.28 Des genres musicaux mal compris des Modernes, comme le dithyrambe, rappellent également la puissance d’une musique associée à l’ivresse et exprimant l’enthousiasme dionysiaque : Il ne faut pas demander si nos Littérateurs modernes, toujours sages et compassés, se sont récriés sur la fougue et le désordre des Dithyrambes. C’est fort mal fait, sans doute, de s’enivrer, surtout en l’honneur de la Divinité ; mais j’aimerais mieux encore être ivre moi-même, que de n’avoir que ce sot bon sens qui mesure sur la froide raison tous les discours d’un homme échauffé par le vin.29
Par cet éloge du dithyrambe, Rousseau prend le contrepied des philosophes qui, comme Voltaire, s’en prennent à l’enthousiasme fanatique, tout comme il s’éloigne de Platon, qui condamnait le ménadisme au nom de la tempérance, vertu cardinale 24 25 26 27 28 29
Cf. Ysia Tchen : La musique chinoise en France au dix-huitième siècle. Paris 1974, pp. 73‒75. Didier : La musique des Lumières (cf. note 13), p. 47. Chouillet : Les idées esthétiques de Diderot (cf. note 10), pp. 121‒130. Rousseau : Art. Mœurs. In : Dictionnaire de Musique (cf. note 2), p. 910 ; cf. Essai sur l’origine des langues (cf. note 3), p. 427. Rousseau : Essai sur l’origine des langues (cf. note 3), pp. 411 sq. Rousseau : Art. Dithyrambe. In : Dictionnaire de Musique (cf. note 2), p. 777.
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obtenue grâce à une éducation musicale et gymnastique :30 Platon, comme l’écrit Rousseau dans l’Essai, a vécu dans « cette Grèce pleine de Sophistes et de Philosophes » où la musique était déjà engagée dans un processus de décadence, commençait à se séparer de la parole et ne pouvait plus provoquer les mêmes effets qu’à l’époque archaïque.31 Pour comprendre comment la mélodie vocale devait susciter l’enthousiasme, on peut aussi se figurer la force d’une langue orientale comme l’arabe, dont l’énergie est éprouvée à l’audition et non à la lecture : les progrès de l’écriture indiquent déjà une déperdition de l’énergie originelle.32 La transe dionysiaque est analogue au fanatisme de l’Arabe qui écoutait Mahomet : Tel pour savoir lire un peu d’arabe sourit en feuilletant l’Alcoran, qui, s’il eût entendu Mahomet l’annoncer en personne dans cette langue éloquente et cadencée, avec cette voix sonore et persuasive qui séduisait l’oreille avant le cœur, et sans cesse animant ses sentences de l’accent de l’enthousiasme, se fût prosterné contre terre en criant, grand Prophète, Envoyé de Dieu, menez-nous à la gloire, au martyre ; nous voulons vaincre ou mourir pour vous. Le fanatisme nous paraît toujours risible, parce qu’il n’a point de voix parmi nous pour se faire entendre. Nos fanatiques même ne sont pas de vrais fanatiques, ce ne sont que des fripons ou des fous. Nos langues, au lieu d’inflexions pour des inspirés n’ont que ces cris pour des possédés du Diable.33
L’histoire confirme donc la puissance des langues méridionales qui ont conservé quelque chose de l’énergie des temps antérieurs aux progrès de la grammaire, de l’écriture et de la polyphonie ; d’où la valeur supérieure de la mélodie orale par rapport à la musique instrumentale. Mais il existe aussi dans la théorie grecque un élément qui atteste l’union originelle de la parole et du chant : le tétracorde. Rappelée dans ses grandes lignes au chapitre XVIII de l’Essai, la définition du tétracorde a fait l’objet d’un soin particulier dans le Dictionnaire de Musique : l’article « Tétracorde », paru initialement dans l’Encyclopédie en 1751, a été enrichi d’une conclusion dans laquelle Rousseau établit la différence de nature entre le système moderne et le système grec sur la base de preuves tirées de Boèce, de Bacchius le Vieux et de Nicomaque.34 Cet intervalle essentiel à la mélodie vocale grecque se situe en effet au cœur du différend entre Rameau et Rousseau. Dans les années 1750, Rameau accorde une 30
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Rousseau avait lu et annoté la République et les Lois, où la question de l’éducation musicale et gymnastique est capitale (notamment aux livres III et IV de la République, et aux livres II et VII des Lois), sur la copie d’une traduction latine réalisée par Marcile Ficin. Il avait notamment annoté les livres I et II des Lois, consacrés à la réglementation de l’ivresse, question qui apparaît aussi dans la Lettre à d’Alembert. Cf. M. J. Silverthorne : Rousseau’s Plato. In : Studies on Voltaire and the eighteenth century 116 (1973), pp. 235‒249. Cf. Rousseau : Essai sur l’origine des langues (cf. note 3), p. 425. Ibid., p. 384‒390. Cf. Michel Delon : L’idée d’énergie au tournant des Lumières : 1770‒1820. Paris 1988, pp. 58‒100, 110‒122. Rousseau : Essai sur l’origine des langues (cf. note 3), pp. 409 sq. Rousseau : Art. Tétracorde. In : Dictionnaire de Musique (cf. note 2), pp. 1116‒1120, ici pp. 1116 sq. Meibom avait édité les traités de Nicomaque de Gérasa (Manuel Harmonique) et de Bacchius le Vieux (Introduction à l’art de la musique), ainsi que le chapitre 3 du livre IV de l’Institution musicale de Boèce, où le philosophe expose la formation du système parfait.
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place toujours plus importante à l’histoire et à la comparaison du système harmonique moderne avec celui des « Grecs », des « Chinois » et des « Sauvages ». Or dans sa quête de l’origine historique de la musique, il est confronté au tétracorde grec : dans les Nouvelles réflexions sur le principe sonore (1760), il estime que le tétracorde est le vestige d’une époque primitive, antérieure à Noé ; il aurait été inventé par Adam à partir de la progression triple, principe universel connu depuis le « premier homme ».35 D’objet théorique, le tétracorde devient donc un objet historique dans les derniers écrits de Rameau.36 Quant à Rousseau, pris à partie par Rameau,37 il s’appuie non pas sur l’histoire biblique, mais sur la théorie musicale au chapitre XVIII de l’Essai et dans l’article « Tétracorde » : contre une histoire de la musique centrée sur le principe harmonique de la progression triple, il voit dans le tétracorde l’élément décisif pour prouver l’inanité des thèses ramistes : Cette division du système des Grecs par Tétracordes semblables, comme nous divisons le nôtre par octaves semblablement divisées, prouve, ce me semble, que le système n’avait été produit par aucun sentiment d’Harmonie, mais qu’ils avaient tâché d’y rendre par des Intervalles plus serrés les inflexions de voix que leur langue sonore et harmonieuse donnait à leur récitation soutenue, et surtout à celle de leur Poésie, qui d’abord fut un véritable chant ; de sorte que la musique n’était alors que l’Accent de la parole et ne devint un Art séparé qu’après un long trait de temps.38
Le tétracorde, avec son intervalle de quarte, est parfaitement adapté à la nature mélodique du grec ; à l’inverse, l’octave est le produit d’une musique harmonique dans laquelle l’instrument prédomine.39 Le tétracorde peut être mis en relation avec la prosodie : revendiquant la double autorité de Denys d’Halicarnasse et du grammairien Duclos, Rousseau rappelle dans l’Essai, au chapitre VII, que l’accentuation grecque (« l’Accent de la parole ») était mélodique puisque la voix se mouvait à l’intérieur d’un intervalle de quinte.40 Le grec, de par son accent, était 35 36 37
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Jean-Philippe Rameau : Code de musique pratique – Nouvelles réflexions sur le principe sonore. Paris 1760, pp. 224 sq. Jean-Philippe Rameau : Préface. In : Origine des sciences. Paris 1761, pp. 1‒4. Jean-Philippe Rameau : Code de musique pratique – Lettre à M. d’Alembert sur ses opinions en musique, insérées dans les articles « Fondamental » et « Gamme » de l’Encyclopédie. Paris 1760, pp. 2 sq. Rousseau envoie son manuscrit à Malesherbes le 25 septembre 1761 et lui confie : « Je ne pense pas que ce barbouillage puisse supporter l’impression séparément, mais peut-être pourra-t-il passer dans le recueil général, à la faveur du reste : Toutefois, je souhaiterois qu’il pût être donné à part à cause de Rameau qui continue à me tarabuster vilainement et qui cherche l’honneur d’une réponse directe qu’assurément je ne lui ferai pas » (cité par Jean Starobinski : Introduction à l’Essai sur l’origine des langues. In: Rousseau : OC, cf. note 1, vol. V, pp. CLXV‒CCIV ici p. CXCVIII). Rameau attaque les « hypothèses de certains Philosophes », en une allusion presque transparente à Rousseau (Rameau : Lettre à M. d’Alembert, cf. note 37, p. 5). Rousseau : Art. Tétracorde (cf. note 34), p. 1119. Rousseau : Essai sur l’origine des langues (cf. note 3), pp. 423 sq. Ibid., p. 391. Comme l’a souligné Starobinski, Denys d’Halicarnasse dit plus exactement que l’inflexion de la voix, dans la parole parlée, ne dépasse jamais l’intervalle de quinte ; l’élévation ou l’abaissement sont compris dans cet intervalle, sans que chaque syllabe
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une langue chantante, contrairement au français et à l’italien ;41 l’utilisation du tétracorde comme base du grand système parfait confirme ce fait linguistique. La querelle qui a mis aux prises Rousseau et Rameau, associant une grande technicité à l’utilisation d’arguments tirés de l’histoire de la musique, est décisive pour comprendre comment les savants abordent l’art musical grec dans les dernières décennies du siècle. Nous esquisserons ici les principales lignes de l’histoire de la musique grecque, qui reste à écrire, en convoquant deux des historiens les plus importants des années 1770‒1780 : Charles Burney (1726‒1814) et Johann Nikolaus Forkel (1749‒1818).
II.
Burney et Rousseau : du modèle artistique à l’histoire de la musique
De passage à Paris en décembre 1770, Burney rencontra Rousseau et reçut ses encouragements pour sa General History of Music, dont le premier volume parut en 1776 : devant lui, Rousseau évoqua les instruments de la musique grecque antique et la mélodie moderne avant de se plonger dans l’étude du plan de l’ouvrage, portant un visible intérêt au chapitre sur la musique grecque et approuvant l’idée d’une histoire des musiques nationales.42 De son côté, Burney, qui avait adapté en anglais le Devin du village en 1766, fut un lecteur attentif du Dictionnaire de Musique, qu’il considérait comme un ouvrage fondamental pour les historiens.43 Mais en 1776, l’auteur de La Nouvelle Héloïse put constater que Burney ne partageait guère ses vues sur la musique grecque antique. L’historien anglais, saluant l’audace du philosophe qui avait entrepris de vanter la mélodie des Grecs malgré sa simplicité et son dénuement,44 critiquait pour sa part l’imperfection de cet art, tant sur le plan rythmique que sur le plan « harmonique ».45 Un fait montre la distance qui sépare Rousseau et Burney : tandis que le premier a publié dans son Dictionnaire le fragment de la Première Pythique de Pindare (tenu alors pour authentique) sans harmonisation, le second en propose deux versions : « monodique » et « harmonique », puisque Burney l’a pourvu d’une
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accentuée le fasse entendre nécessairement. Voir la note 2 rédigée par Starobinski relative à l’Essai sur l’origine des langues in : Rousseau : OC (cf. note 1), vol. V, p. 1556. Rousseau : Essai sur l’origine des langues (cf. note 3), p. 392. Cf. Charles Burney : Voyage musical dans l’Europe des Lumières. Traduit, présenté et annoté par Michel Noiray. Paris 1992, p. 226. « The Musical Dictionary of M. Rousseau, without promising any thing more than an explanation of terms peculiar to the theory and practice of Music, affords not only more amusement, but more historical information relative to the art, than perhaps any book of the size that is extant » (Charles Burney : A General History of Music. Vol. I. New York et Londres 1935, p. 23). Ibid., pp. 128 sq. Ibid., pp. 74, 80, 130 sq. Sur les critiques de Burney contre les Grecs, cf. Kerry S. Grant : Dr Burney as critic and historian of music. Ann Harbor 1983, pp. 96‒99.
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basse et l’a analysé comme un morceau en « mi mineur ».46 Cette basse fondamentale a suscité l’ironie de Rousseau :47 rien de plus « ramiste » que de réaliser la basse d’un chant pindarique, quand bien même ce chant serait un faux commis par Kircher en 1650. Un tel choix, de la part de Burney, peut être interprété à la lumière de sa théorie de l’histoire. En effet, à l’inverse de Rousseau, il adopte la thèse d’un progrès linéaire dans l’histoire de la musique : à la perfection de la musique grecque, il substitue l’idée d’un perfectionnement continu qui se manifeste à travers le développement de la polyphonie harmonique depuis l’Antiquité. Aussi faut-il « transcrire » la musique de Pindare dans le système harmonique et rythmique moderne, en utilisant la notation occidentale, pour bien la comprendre : la musique grecque antique, stade dépassé de l’art, ne sert plus de modèle. Tandis que pour Rousseau, l’histoire de l’Antiquité était un moyen de comprendre la situation actuelle en observant comment la musique a dégénéré, l’histoire de la musique est pour Burney une science qui renvoie les Grecs à un monde disparu et presque incompréhensible. C’est ce que confirme l’organisation du premier volume de la General History of Music : la théorie de la musique grecque, que Burney distingue soigneusement de la narration historique, est exposée dans une longue Dissertation préliminaire. Dans cette Dissertation, Burney, convaincu que la théorie grecque, hérissée de difficultés insurmontables, est inutile pour développer le goût musical de l’honnête homme,48 évoque les différents éléments de la théorie grecque pour n’y plus revenir et aborde trois problèmes liés à « l’état présent de la musique » : si les Anciens ont pratiqué l’harmonie ; ce qu’était leur théâtre ; quels étaient les effets de leur musique. Burney, qui veut rompre avec ses prédécesseurs,49 opère donc un changement fondamental en privilégiant la narration historique : en dénonçant l’érudition considérable que la musique grecque exigerait en pure perte, il abandonne une tradition dont relève encore le Dictionnaire de Musique de Rousseau. La théorie associée à une norme esthétique fondée sur le modèle grec passe au second plan par rapport à l’étude du développement historique de la musique. Ne s’intéressant guère à une hypothétique unité originelle entre musique et langue,50 il prend acte 46 47
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Burney : A General History of Music (cf. note 43), vol. I, pp. 101‒103. « Vous avez mis, sous l’air antique d’une Ode de Pindare, une fort bonne basse. Mais je suis très sûr qu’il n’y avait pas une oreille Grecque que cette Basse n’eût écorchée au point de ne la pouvoir endurer » (Rousseau : Lettre à M. Burney, cf. note 1, p. 437). L’un des grands problèmes pour Burney est le lectorat auquel il destine son livre : redoutant l’érudition et les discussions techniques, dont la Storia della Musica (1757) de Giovanni Battista Martini lui fournissait un exemple récent, il souhaite s’adresser non pas aux érudits, mais à un public éclairé et amateur de musique, malgré la technicité et l’aridité de la théorie musicale grecque. Cf. Roger Lonsdale : Dr. Charles Burney. A literary biography. Oxford 1965, pp. 165 sq., 181 sq. ; Grant : Dr Burney as critic (cf. note 45), p. 56. Michel Noiray : Introduction. In : Burney : Voyage Musical (cf. note 42), pp. 9‒43, ici pp. 20 sq. Cf. Grant : Dr Burney as critic (cf. note 45), pp. 56‒60. Sa définition de la musique est succincte : « La Musique est un luxe innocent, qui, assurément, n’est pas nécessaire à notre existence, mais qui améliore et réjouit grandement le sens de
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de l’autonomisation de la musique instrumentale par rapport à la musique vocale qui se produit dès le quatrième siècle avant notre ère, moment où la musique instrumentale devient un « langage à part entière, avec lequel [elle, C.C.] est capable de parler aux passions ».51 Les critiques de Platon, d’Aristote et d’Aristoxène contre la « nouvelle musique » de Timothée de Milet et de ses contemporains sont dues à des systèmes philosophiques en vertu desquels la musique est considérée comme un art étranger à l’évolution :52 « Qu’y a-t-il dans le monde qui ne soit sujet au changement ? Peut-on attendre de la musique qu’elle ait sur toute chose le privilège d’être immuable, elle qui dépend à ce point de l’imagination et du sentiment ? », s’exclamait Burney en 1770.53 Aussi raille-t-il en 1776 les « grincheux de l’antiquité » qui regrettent un mythique âge d’or.54 La General History of Music se distingue donc de l’Essai sur l’origine des langues et du Dictionnaire de musique,55 et la lettre que Rousseau adresse à Burney en 1776 révèle la différence de leurs méthodes, liées à deux conceptions divergentes des relations entre Anciens et Modernes. Ce qui intéresse Rousseau, c’est une histoire de la musique orientée vers la régénération de l’art moderne :56 depuis le Projet concernant de nouveaux signes pour la musique (1742), la musique grecque nourrit sa réflexion sur les moyens dont disposent les musiciens européens et sur les mérites respectifs des différents styles musicaux. En 1776, il paraît moins se préoccuper de l’évolution historique de la musique antique (dont il a par ailleurs traité dans son Dictionnaire de Musique) que de problèmes théoriques concernant la dissociation de la parole et de l’accompagnement instrumental et dont la résolution doit aboutir à une régénération de la musique grâce à une nouvelle définition du rapport entre la voix et les instruments, comme dans son mélodrame Pygmalion en 1770 ou dans l’Alceste (italienne) de Gluck.57
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l’ouïe. Elle consiste, en l’état actuel, en Mélodie, Temps, Consonance et Dissonance » (Burney : A General History of Music, cf. note 43, vol. I, p. 21). Ibid., p. 338. Cf. Andrew Barker : Aristoxène et les critères du jugement musical. In : Florence Malhomme et Anne-Gabrièle Wersinger (éd.) : Mousikè et Arètè. La musique et l’éthique de l’Antiquité au Moyen Âge. Paris 2007, pp. 63‒75. Burney : Voyage Musical (cf. note 42), p. 73. Burney : A General History of Music (cf. note 43), vol. I, pp. 339 sq. On retrouvera par ailleurs des thèses similaires chez Chabanon, qui défend lui aussi le concept du progrès de la musique, conteste l’autorité de Platon et d’Aristote et s’oppose à la théorie d’une dégénérescence de la musique sous l’effet de l’évolution historique et du raffinement croissant de ses moyens et de sa technique. Cf. Michel-Paul-Guy de Chabanon : De la musique considérée en elle-même et dans ses rapports avec la parole, les langues, la poésie et le théâtre. Paris 1785, pp. 16‒18. Sur l’opposition entre Chabanon et Rousseau, cf. Françoise Escal : Un contradicteur de Rousseau. A l’horizon de l’opéra : voix, chant, musique selon Chabanon. In: André Bourde (éd.) : L’opéra au dix-huitième siècle. Actes du colloque tenu à Aix-enProvence en 1977. Marseille 1982, pp. 463‒475. Cf. Duchez : Jean-Jacques Rousseau historien de la musique (cf. note 6), p. 45. Fin mai 1771, dans une lettre rédigée en français, Burney confiait d’ailleurs à Rousseau son intérêt pour cette musique « à la grecque » où la parole déclamée se mêle à la musique sous la forme de « mélodrame » : « On dit M. que vous avez fait chanter votre belle Piece de Pygmali-
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Burney, assurément, écrit lui aussi une histoire orientée vers le présent, mais pour dénoncer les préjugés favorables aux Grecs et replacer leur musique dans son contexte.58 C’est pourquoi, afin de l’inscrire dans une histoire plus vaste, Burney consacre des chapitres aux Egyptiens, aux Hébreux et aux Romains : tandis que les Romains sont déconsidérés pour avoir été les épigones des Grecs, les Egyptiens se voient crédités du rôle prestigieux d’avoir fondé un art musical qui se développera en Grèce. Si la thèse de Burney fait écho à l’égyptomanie contemporaine,59 elle diffère notablement du Dictionnaire de Musique dans lequel, hormis quelques allusions à l’Egypte (par exemple aux articles « Musique » et « Linos »), Rousseau conserve une vision hellénocentrée de la musique. La mythologie offre à Burney une autre ressource pour éloigner la musique grecque et en révéler l’archaïsme. Dans la General History of Music, les mythes grecs sont conçus comme des allégories dotées d’une valeur épistémologique propre, conformément à l’interprétation rationaliste qui se développe au milieu du siècle.60 Plusieurs mythes constituent des documents historiques palliant le manque d’informations sur les origines de la musique grecque : naissance de Jupiter sur le mont Ida, fabrication de la syrinx par Minerve, fabrication de la lyre par Hermès, querelle entre Marsyas et Apollon, naissance des Muses, etc. Autant d’allégories qui peignent selon Burney le passage de l’état le plus simple à l’état le plus complexe, de la percussion rythmique à la poésie lyrique réunissant voix et instruments dans le chant. La mythologie grecque permet d’éclairer un processus universel par lequel la musique évolue de la barbarie primitive à la civilisation, avant de trouver son accomplissement à l’époque moderne.61 Adoptant par ailleurs une périodisation imitée de la Bibliothèque historique de Diodore de Sicile, Burney présente une histoire de la poésie musicale divisée en quatre grandes époques (dieux, demi-dieux, héros, hommes) et instaure une continuité entre temps mythiques et temps historiques : c’est ainsi qu’il retrace les progrès de la musique grecque par le biais de biographies des poètes légendaires et
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on dans un Chant Grec avec l’accompagnement des Flutes en Imitation au Moin de la Manière de Chanter ou de reciter des Anciens dans les Piece de Theatre. S’il cela est vrai je serroi tres Curieux de savoir vos Idees la dessus. C’est une Matiere tres delicate et dont on a parler beaucoup dans tous les Traitez ainsi que dans les Histoires de la Musique sans dire la moindre chose qui m’a convaincu que les auteur de ces Livres » (The Letters of Dr. Charles Burney. Vol 1 : 1751‒1784. Éd. par Alvaro Rebeiro, SJ. Oxford 1991, p. 88). « Your Lordship will often find me a Defender of the Moderns against the Prejudices of outrageous admirers of antiquity », écrit Burney à Lord Mornington fin mai 1776 (ibid., p. 214). Cf. Elisabeth Décultot : Johann Joachim Winckelmann : enquête sur la genèse de l’histoire de l’art. Paris 2000, pp. 130‒146. Burney : A General History of Music (cf. note 43), vol. I, p. 223. Burney a pu s’inspirer de l’Histoire naturelle de la religion de Hume (1757), l’un des penseurs qui l’ont le plus marqué. Cf. Noiray : Introduction (cf. note 48), p. 22. Sur l’essor de la mythologie au siècle des Lumières, voir notamment Jean Starobinski : Fable et mythologie aux XVIIe et XVIIIe siècles. In : Le remède dans le mal (cf. note 16), pp. 233‒262 ; Marcel Detienne : L’invention de la mythologie. Paris 1981. Burney : A General History of Music (cf. note 43), vol. I, p. 224.
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historiques, agrémentées de nombreuses traductions destinées à distraire son lecteur.62 Son récit se conclut par une question qui connaîtra un grand développement au siècle suivant : la survie de la musique grecque antique. Tandis que Johann Joachim Winckelmann terminait son Histoire de l’art de l’Antiquité sur l’image d’une Grèce évanouie hantant l’art européen, Burney mentionne la persistance de la musique antique dans l’empire ottoman, sous une forme abâtardie : « their Music is now so far from being the standard of excellence to the rest of the world, that none but themselves are pleased with it ».63 Cette assertion laisse à penser qu’il existerait une continuité entre l’Antiquité et l’époque moderne, une permanence de la musique antique sous les empires byzantin et ottoman ; mais la particularité de cette musique jette de sérieux doutes sur la valeur universelle de l’art musical antique et sur son statut de norme esthétique. L’Orient de Burney n’a plus rien de commun avec les pays méridionaux chers à Rousseau.
III. Forkel et Rousseau : l’harmonie « gothique » contre la monodie rythmique Comme le Dictionnaire de Musique, la General History of Music de Burney a joui d’une notoriété européenne à la fin du siècle. L’historien anglais est bien connu en particulier dans les pays germaniques, où L’Etat présent de la musique en Allemagne, aux Pays-Bas et dans les Provinces unies (1773) avait été traduit dès l’année de sa publication et avait suscité des réactions parfois hostiles, notamment de la part de Johann Nikolaus Forkel (1749‒1818). Organiste et maître de musique à Göttingen, Forkel a enseigné la « théorie de la musique » à l’Université GeorgAugust à partir de 1777 ; il est l’auteur de plusieurs publications importantes, dont la Musikalisch-Kritische Bibliothek (1777‒1779), les deux volumes de l’Allgemeine Geschichte der Musik (1788 et 1801), l’Allgemeine Literatur der Musik (1792) et la première biographie de Johann Sebastian Bach (1802).64 Forkel n’a pas rencontré Burney lors de son voyage de 1772, mais il a lu les ouvrages de l’historien anglais : en 1779, il publie une longue recension, assez sévère, de la General History of Music. Il tente de discréditer Burney en le faisant passer pour un « dilettante » incapable de porter un jugement correct sur la musique germanique ; ce dilettantisme aurait nui à la General History of Music, dont Forkel cri-
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Grant : Dr Burney as critic (cf. note 45), p. 104. Burney: A General History of Music (cf. note 43), vol. I, p. 341. Martin Staehelin : Musikalische Wissenschaft und musikalische Praxis bei Johann Nikolaus Forkel. In : Martin Staehelin (éd.) : Musikwissenschaft und Musikpflege an der Georg-AugustUniversität in Göttingen. Göttingen 1987, pp. 9‒26, ici pp. 9‒13.
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tique l’insuffisance conceptuelle.65 Néanmoins, pour analyser la musique des Anciens dans le premier volume de son Allgemeine Geschichte der Musik (1788), il puise abondamment dans le livre de Burney, dont il connaissait très bien le contenu :66 il divise l’Antiquité en quatre périodes (Egyptiens, Hébreux, Grecs, Romains), voit en l’Egypte la civilisation mère, considère que les mythes doivent être interprétés rationnellement et retrace l’histoire de la musique grecque en se fondant sur une périodisation identique. Le livre de Forkel, pourtant, ne se réduit pas à un simple plagiat.67 On peut relever quelques différences de détail, comme l’intérêt pour les données iconographiques,68 mais plus fondamentalement, c’est l’organisation même des parties théorique et historique qui est modifiée de façon significative puisque la théorie est insérée non plus avant, mais après l’exposé historique. Forkel veut bâtir de cette manière un système cohérent au lieu de séparer les notions théoriques de l’évolution historique. A cause du même souci de créer un système universel, la théorie de la musique grecque est également organisée selon les principes présentés dans la longue introduction de l’Allgemeine Geschichte der Musik : dans deux sections intitulées « Von der musikalischen Grammatik » et « Von der musikalischen Rhetorik », Forkel expose les éléments de la théorie grecque en les interprétant à partir de la rhétorique.69 Dans la lignée de Mattheson (Der Vollkommene Kapellmeister, 1739), il estime que la musique peut tout exprimer selon une grammaire et des figures analogues à celles qui sont mises en œuvre dans les arts oratoires. Rhétorique et philosophie sont étroitement associées : l’emploi des procédés rhétoriques est la conséquence de la nature de la musique définie au début de son ouvrage.70 Contrairement à Burney auquel il reprochait en 1779 d’avoir trop négligemment défini la musique dans la General History of Music,71 Forkel expose en effet sa propre théorie de l’origine de la musique : langue des émotions, la musique naît spontanément sous la forme d’un chant, tandis que la parole est la langue de l’esprit ; pure expression subjective, la langue musicale n’a pas été produite par l’imitation des sons de la nature.72 Engagée dans un processus dynamique, elle a 65
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Johann Nikolaus Forkel : [rec. de] A general History of Music […]. In : Musikalisch-Kritische Bibliothek. Vol. III. Gotha 1779, pp. 117‒191, ici pp. 117‒140 ; cf. Grant : Dr Burney as critic (cf. note 45), p. 292 ; Bernd Sponheuer : Reconstructing Ideal Types of the « German » in Music. In : Celia Applegate et Pamela Potter (éd.) : Music and German national identity. Chicago 2002, pp. 36‒58, ici p. 38. Forkel : [rec. de] A general History of Music (cf. note 65), pp. 141‒191. Sur les accusations de plagiat portées contre Forkel en Angleterre, Grant : Dr Burney as critic (cf. note 45), p. 293. Forkel : Allgemeine Geschichte der Musik (cf. note 2), vol. I, pp. 189 sq., 206 sq. Cf. Martin Kaltenecker : A propos du contexte philosophique et physiologique du paradigme rhétorique au XVIIIe siècle. In : Revue de Musicologie 95/1 (2009), pp. 65‒96, ici pp. 86‒93. Ibid., pp. 86 sq. Forkel : [rec. de] A general History of Music (cf. note 65), pp. 123‒131. Forkel : Allgemeine Geschichte der Musik (cf. note 2), vol. I, p. 2.
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évolué en passant du son isolé à la monodie et à la polyphonie. Ainsi, la musique progresse de la sensation au concept ; l’homme acquiert une conscience toujours plus développée de ses impressions auditives et il les organise selon des structures de plus en plus élaborées. Le Sauvage, selon Forkel, s’en tient à la pure sensation, mais les peuples « civilisés » (gebildete) lient sensation et représentation. Trois âges peuvent être décelés dans l’histoire de la musique : enfance, jeunesse, maturité ; à ces trois âges correspondent trois états de la musique : rythme, mélodie, harmonie. Ce schéma recouvre une réalité historique et géographique : le rythme est prédominant en Afrique et en Amérique, parmi des peuples qui n’ont pas évolué ; la mélodie a régné chez les peuples de l’Antiquité qui, de ce fait, n’ont pas atteint le stade le plus parfait de la musique ; l’harmonie, qui indique la perfection de la langue musicale, est réservée aux peuples européens.73 C’est donc la musique européenne qui offre les plus grandes ressources expressives et repose sur la grammaire la plus riche et la plus complexe. La musique grecque antique, dans cette vision progressiste de l’histoire, reste un enjeu majeur pour Forkel, qui s’oppose à Rousseau dès l’Introduction.74 Sur la question du rythme, à la suite de Burney,75 il attaque l’auteur du Dictionnaire de Musique et Isaac Vossius (dont il avait publié lui-même en 1779 une traduction du De poematum cantu et viribus rhythmi) :76 loin d’être parfaite, la rythmique grecque apparaît comme une technique arbitraire ;77 la multiplicité des pieds et le mélange des mètres ne sont pas une garantie de richesse, mais le signe d’une grande confusion.78 Inférieure sur le plan rythmique, la musique grecque monodique était également d’une grande pauvreté ; la musique, dans sa perfection, doit devenir harmonique pour exprimer l’ensemble des sentiments et des passions. A plus forte raison, l’harmonie n’est pas pour Forkel une invention « gothique » (au sens péjoratif que Rousseau avait attribué à cet adjectif) puisque l’architecture gothique possède une beauté intrinsèque.79 L’adjectif « gothique », sous la plume de Forkel, se charge de connotations auxquelles Rousseau ne songeait pas dans les années 1750 : entretemps, la cathédrale de Strasbourg a été redécouverte par Goethe. De même, Forkel veut réhabiliter la fugue après les sarcasmes dont Rousseau l’avait accablée dans le Dictionnaire :80 admirateur de Bach, Forkel voit dans 73 74 75 76
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Ibid., pp. 4‒19. Ibid., pp. 24 sq. Burney évoquait la rythmique « barbare » et « bruyante » des Grecs. Cf. Burney : A General History of Music (cf. note 43), vol. I, pp. 74 sq., 80 sq. Isaac Vossius : Vom Singen der Gedichte und von der Kraft des Rhythmus. In : MusikalischKritische Bibliothek. Vol. III. Gotha 1779, pp. [3]‒106. Dans le De Poematum cantu (1673), Vossius proclame la supériorité de la musique grecque antique sur la musique moderne, en particulier dans le domaine rythmique. Forkel : Allgemeine Geschichte der Musik (cf. note 2), vol. I, pp. 10, 28. Ibid., pp. 387‒389. Ibid., pp. 17, 404. « Le plaisir que donne ce genre de Musique étant toujours médiocre, on peut dire qu’une belle Fugue est l’ingrat chef-d’œuvre d’un bon Harmoniste », notait ironiquement Rousseau à
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la fugue non pas une pédanterie, mais le « fruit de la nature » et une forme qui correspond à la complexité croissante de la société moderne par rapport aux sociétés primitives et antiques.81 L’histoire de la musique grecque selon Forkel, émaillée de multiples comparaisons avec la musique moderne, est donc revêtue d’une dimension polémique et demeure tributaire de la querelle entre « mélodistes » et « harmonistes ». Celle-ci se poursuit au tournant du dix-neuvième siècle en changeant quelque peu de forme chez les premiers romantiques (Johann Gottfried Herder, Friedrich Schlegel, Friedrich W. J. Schelling, Friedrich Schleiermacher), qui opposent désormais la « musique » moderne et la « plastique » grecque.82 Mais la musique grecque n’en reste pas moins un objet d’étude qui ne laisse pas indifférents les admirateurs de l’Antiquité : c’est pour cette raison que le premier volume de l’Allgemeine Geschichte der Musik, paru quelques années avant l’essai de Schiller Sur la poésie naïve et sentimentale, a suscité par exemple de violentes critiques de la part de F. Schlegel en 1795.83 La génération de ce dernier, se réclamant de Rousseau et de Schiller, proclame la perfection de la musique grecque antique, tel Schelling qui, dans la Philosophie de l’art, s’appuie sur une assimilation conjecturale de la musique et de la plastique pour soutenir que « les Grecs, ayant été grands dans tous les arts, l’ont sûrement été dans la musique ».84 Parmi ces admirateurs de la musique grecque prend place le philologue August Böckh (1785‒1867), qui puise à son tour chez Rousseau des arguments en faveur des Anciens et développe une théorie et une histoire de la musique grecque antique en accentuant certaines thèses du philosophe genevois.
IV. Un transfert culturel : le De Metris Pindari de Böckh et le Dictionnaire de Musique de Rousseau Pour Böckh, Forkel est un « très virulent critique des Anciens » (« veterum castigator accerrimus »).85 Par conséquent, afin de réévaluer la musique grecque antique après les critiques dont elle a fait l’objet dans l’Allgemeine Geschichte der Musik,
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propos de la fugue (Rousseau : Art. Fugue. In : Dictionnaire de Musique, cf. note 2, pp. 831‒833, ici p. 833). Forkel : Allgemeine Geschichte der Musik (cf. note 2), vol. I, p. 48. Cf. Günter Scholtz : Schleiermachers Musikphilosophie. Göttingen 1981, pp. 72‒82. « Forkels Geschichte der Musik habe ich gelesen. Es ward mir dabey wie dem Aischylos beym Komiker. […] Der Mensch versteht weniger von der Griechen, als ein Eunuch von der Liebe, und weniger von der Musik als ein Russe von der Menschlichkeit » (Lettre de Friedrich Schlegel à August Wilhelm Schlegel, 20 janvier 1795, citée par Staehelin : Musikalische Wissenschaft, cf. note 64, p. 18). Friedrich Wilhelm Schelling : Philosophie de l’art. Trad. par Caroline Sulzer et Alain Pernet. Présentation et notes par Caroline Sulzer. Grenoble 1999, p. 187. August Böckh : De Metris Pindari Libri Tres. In : Pindari opera quae supersunt. Vol. I/2. Leipzig 1811, p. 269.
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il faut reprendre l’examen des problèmes posés par la musique grecque : aussi Böckh consacre-t-il dès 1811 plusieurs chapitres à l’« harmonie », aux instruments, à la danse et à la notation musicale au livre III du traité De Metris Pindari qui accompagne son édition des œuvres de Pindare (1811‒1821).86 Pourquoi évoquer la musique dans un traité de métrique ? Bien avant la Methodenstreit qui l’a opposée à Gottfried Hermann dans les années 1820,87 Böckh marque dès 1811 sa différence avec le professeur de Leipzig, dont la propre Commentatio De Metris Pindari (1798) n’accordait aucune place aux questions « harmoniques » ni à l’orchestique :88 or l’une des tâches qui incombe à l’éditeur de Pindare est de tenir compte de la notation musicale, puisqu’elle apparaît dans les huit premiers vers de la Première Pythique. Mais des anecdotes rapportées par Rousseau ou Hoffmann rappellent au philologue que la musique grecque peut provoquer le rire ou le scepticisme.89 Il faut donc la comprendre selon de nouveaux modes interprétatifs : la « philologie totale », telle que Böckh la définit au moment où il travaille à son édition de Pindare, devient le principal moyen d’accéder à la musique de la Grèce antique car elle procure les ressources nécessaires pour définir le style de Pindare dans sa dimension linguistique, mais aussi rythmique, musicale et même gestuelle. Selon le système exposé dans l’Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (qui rassemble les leçons données par Böckh à partir de 1809 et qui a été publiée après sa mort en 1867), le style d’un poète est déterminé 86 87
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Ibid., pp. 203‒272. Cf. Ernst Vogt : Die Methodenstreit zwischen Hermann und Böckh. In : Hellmut Flashar, Karlfried Gründer et Axel Horstmann (éd.) : Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Göttingen 1979, pp. 103‒121. Sur la méthode de Böckh, voir Benedetto Bravo : Philologie, histoire et philosophie de l’histoire. Etudes sur J. G. Droysen. Varsovie 1968, pp. 78‒96 ; Axel Horstmann : L’herméneutique comme théorie générale et comme organon des sciences philologiques chez August Boeckh. In : Laks et Netschke-Hentschke (éd.) : La naissance du paradigme herméneutique (cf. note 9), pp. 257‒272. Gottfried Hermann : Commentatio de Metris Pindari. In : Pindari Carmina cum lectionis varietate et ad notationibus iterum curavit Christian Gottlob Heyne. Vol. III. Göttingen 1798, pp. 179‒234. Si l’on en croit Rousseau dans l’Essai sur l’origine des langues : « Burette ayant traduit comme il put en notes de notre musique certains morceaux de musique grecque eut la simplicité de faire exécuter ces morceaux à l’Académie des Belles-Lettres, et les Académiciens eurent la patience de les écouter. […] Le prodige n’est pas qu’avec notre musique nous ne fassions plus ce que faisaient les Grecs avec la leur, il serait, au contraire, qu’avec des instruments si différents on produisit les mêmes effets » (Rousseau : Essai sur l’origine des langues, cf. note 3, pp. 411 sq.). Quant à Hoffmann, il écrivait en 1803 à propos de La Fiancée de Messine et de son chœur déclamé « à l’antique » : « [Les auditeurs, C.C.] ont-ils été bouleversés ? Ou est-il arrivé aux chanteurs la même aventure qu’à feu le Professeur Meibom qui, en entonnant un air grec, fit rire à ses dépens toute la cour de la reine Christine ? C’était très mal élevé, car ce brave homme était fort savant, et il voulait bien faire ; toutefois, ainsi qu’on peut le lire en beaucoup d’endroits, il avait parfois des idées tout à fait saugrenues » (E.T.A. Hoffmann : Lettre d’un frère cloîtré à son ami de la capitale [1803]. In : Ecrits sur la musique. Introduction d’Alain Montandon. Trad. par Brigitte Hébert et Alain Montandon. Lausanne 1985, pp. 23‒25, ici p. 25).
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par l’époque et par la nationalité : tandis que la langue, par son lexique et sa syntaxe, s’impose à l’écrivain, le style porte sa marque individuelle tout en étant le reflet de particularités nationales.90 D’après Böckh coexistaient en Grèce plusieurs styles qui exprimaient les caractères des différents Stämme (Doriens, Ioniens, Eoliens) de même que, dans l’Europe contemporaine, le style allemand se distingue du style français.91 Dans le cas de la musique, les « modes » (harmoniai) dorien, phrygien, ionien, éolien, lydien, manifestent le caractère de chaque Stamm et impriment leur style particulier à un poème lyrique : la théorie de l’éthos modal, reprise de Platon et d’Aristote et rappelée par Rousseau et Forkel,92 fournit un appoint important à la thèse générale de Böckh. Déterminé par le caractère des « tribus » helléniques, le style est aussi déterminé par les époques : Böckh conserve les catégories de Winckelmann en distinguant le style sévère, le style sublime, le style gracieux et le style « doucereux », et il les étend à l’ensemble des productions artistiques et intellectuelles de la Grèce.93 Les odes de Pindare doivent par conséquent être convenablement situées dans l’histoire de la musique grecque. Cependant, aucune découverte archéologique n’ayant été réalisée dans le domaine musical, les sources restent les mêmes qu’au dix-huitième siècle. Le changement le plus important apporté par la Sachphilologie de Böckh réside dans l’interprétation des données textuelles : pour prouver « l’excellence » de la musique grecque,94 il faut changer le regard que l’on porte sur les odes pindariques. Dans le De Metris Pindari, celles-ci apparaissent comme des vestiges ayant gardé de nombreuses traces musicales dans les mots (allusions aux instruments, au melos, aux harmoniai) et dans la structure métrique, laquelle, loin d’être un chaos de pieds et de mètres, forme un ensemble cohérent : le raffinement rythmique des épinicies prouve, comme l’avait affirmé Rousseau, la perfection de la musique au cinquième siècle.95 Quant à « l’harmonique », l’interprétation des écrits théoriques anciens doit permettre de définir le style musical de Pindare. Ainsi, pour analyser le tétracorde, dont nous avons vu le rôle capital chez Rousseau, Böckh retrace les 90
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August Böckh : Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Leipzig 1867, pp. 124‒128. Sur la notion de Stamm et ses traductions en français, voir Edouard Will : Doriens et Ioniens. Essai sur la valeur du critère ethnique appliqué à l’étude de l’histoire et de la civilisation grecque. Paris 1956, pp. 13‒15. Böckh : Enzyklopädie und Methodologie (cf. note 90), p. 129. Déjà Rousseau, dans la Lettre sur la musique française (1753), avait souligné l’importance de la nationalité dans les styles musicaux. Sur les problèmes posés par l’analyse « ethnique » de l’art développée par les hellénistes au dix-neuvième siècle, cf. Will : Doriens et Ioniens (cf. note 90), passim. Le rapport entre ethnos et ethos modal est aujourd’hui considérablement minimisé. Cf. Andrew Barker : Greek Musical Writings. Vol. II : Harmonic and Acoustic Theory. Cambridge 1989, pp. 14 sq. Böckh : Enzyklopädie und Methodologie (cf. note 90), p. 505. Cf. Rousseau : Art. Mode (cf. note 2), p. 904 ; Forkel : Allgemeine Geschichte der Musik (cf. note 2), vol. I, pp. 342‒344. Böckh : Enzyklopädie und Methodologie (cf. note 90), pp. 137 sq. Ibid., p. 501. Ibid., pp. 507‒510.
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étapes de la constitution du système diatonique jusqu’aux innovations de Timothée de Milet afin de déterminer quelle échelle Pindare a pu utiliser dans ses odes. L’histoire du tétracorde est semblable à celle que proposait Rousseau dans le Dictionnaire de Musique : la lyre comportait initialement trois, puis quatre cordes ; l’heptacorde est une création de Terpandre ; une huitième corde a été ajoutée au sixième siècle. Mais chez Böckh, ces données sont liées à des conjectures sur la pratique musicale de Pindare : celui-ci a probablement chanté sur l’heptacorde et non sur l’octacorde. Cette conjecture est fondée sur un imaginaire hellénique fortement structuré : en supposant que Pindare a utilisé l’heptacorde comme Terpandre, Böckh ajoute une touche importante au portrait d’un poète attaché à la tradition vénérable des prêtres-poètes archaïques.96 L’hypothèse, dont la légitimité avait été défendue dans l’Enzyklopädie,97 aboutit à une conclusion orientée dans le sens de la thèse générale du De Metris Pindari : Pindare a été le poète « dorien » par excellence et dans ses œuvres se reflète le caractère dorien, viril, mesuré et conservateur. Cette image est conforme à l’éthos habituellement associé au « mode » dorien depuis Platon :98 sévère, viril, austère. Doit-on s’étonner alors des résultats de l’analyse de la Première Pythique ? Ce que Böckh croit découvrir, ce n’est pas la gamme moderne de « mi mineur », ni le « mode » phrygien ou lydien, comme l’ont prétendu Burney et Forkel, mais le « mode » dorien, conforme à la théorie qu’il a longuement exposée aux chapitres VII et VIII du livre III.99 Dans cette histoire de la musique grecque associant l’histoire conjecturale et l’analyse technique, tout concourt donc à montrer que l’« esprit » dorien, le « dorisme » (ce concept dénoncé après 1945), régit les épinicies de Pindare : celles-ci concordent parfaitement avec l’archétype de l’art grec tel que le philologue l’a déterminé dans l’Enzyklopädie. De ce point de vue, l’édition de Pindare que réalise Böckh dans les années 1810 peut être considérée comme une étape importante de l’historiographie musicale, dont l’un des grands thèmes au dix-neuvième siècle sera la question de la nationalité.100 Cependant, on ne peut méconnaître ce que cette interprétation doit aux polémiques du siècle précédent : le parallèle entre Anciens et Modernes n’a pas disparu et l’on perçoit encore dans le De Metris Pindari des échos de la querelle entre Rameau et Rousseau. Se référant à l’article « Harmonie » du Dictionnaire de Musique, Böckh estime que l’architecture gothique, comme la polyphonie harmonique, aurait déplu aux Grecs en raison de la 96
Sur Pindare et le dorisme en Allemagne au début du dix-neuvième siècle, cf. Elizabeth Rawson : The Spartan tradition in European thought. Oxford 1969, pp. 306‒323. 97 Böckh : De Metris Pindari (cf. note 85), pp. 204‒206. 98 Platon : République. Livre III, 399a‒c. 99 Böckh : De Metris Pindari (cf. note 85), pp. 268 sq. Böckh contredit Forkel, qui estimait que les mélodies conservées ne révèlent pas l’esprit (Geist) des Grecs. Cf. Forkel : Allgemeine Geschichte der Musik (cf. note 2), vol. I, p. 185. 100 Cf. Carl Dahlhaus : Die Idee des Nationalismus in der Musik. In : Zwischen Romantik und Moderne. München 1974, pp. 74‒91.
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relativité du goût.101 Dans l’Enzyklopädie, la distinction entre l’art plastique, « classique », des Grecs et l’art « romantique » des Modernes aboutit à la thèse d’une décadence de la musique au quatrième siècle, réitérée après Rousseau ;102 et en certains passages du De Metris Pindari, les imprécations contre la musique moderne se font presque virulentes, comme dans l’Essai sur l’origine des langues de Rousseau, lorsque le philologue s’en prend à l’art « énervé » et « efféminé » des Modernes, dont le caractère diffère profondément de celui de Pindare, d’Alcman ou de Bacchylide.103 Ainsi apparaît une communauté de vues entre l’auteur du Dictionnaire de Musique et le philologue berlinois. Cet accord entre les deux historiens se manifestera encore, soixante-dix ans après Pygmalion, par un spectacle musical et dramatique « à la grecque » appelé à un grand succès européen : l’Antigone de Sophocle créée à Potsdam en 1841, pour laquelle Félix Mendelssohn-Bartholdy bénéficiera des conseils de Böckh lui-même.104 A partir de cette Antigone surgira de nouveau l’idéal d’une régénération musicale au contact de la musique grecque, restituée par la science historique.
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Après avoir comparé l’architecture gothique et l’harmonie, Böckh ajoute à propos des Grecs : « ne harmoniam quidem nostram magnopere mirati essent, quam Roussavius non male Gothicam dixit, eandem tamen acerbius, quam oportebat, exagitans repudiansque ut barbaram. […] quodque nobis convenit et placet, non ideo Graecis pulchrum videbatur » (Böckh : De Metris Pindari, cf. note 85, p. 253). 102 Böckh : Enzyklopädie und Methodologie (cf. note 90), p. 501. 103 Böckh : De Metris Pindari (cf. note 85), p. 240. 104 Cf. Hellmut Flashar : August Böckh und Felix Mendelssohn-Bartholdy. In : Eidola : ausgewählte kleine Schriften. Éd. par Manfred Kraus. Berlin 1989, pp. 581‒596.
AYŞE YUVA
L’histoire permet-elle de résoudre les questions philosophiques ? Les histoires de la philosophie de Tennemann et Degérando En quoi l’histoire de la philosophie est-elle de l’histoire, ou de la philosophie ?1 Certains modes d’historicisation de la philosophie, dans des textes du début du XIXe siècle, se sont paradoxalement accompagnés d’un rehaussement de la dignité philosophique de ceux-ci, ainsi qu’en témoignent, de façon différenciée, les histoires de la philosophie de deux auteurs essentiels dans ce domaine : tout d’abord Wilhelm Gottlieb Tennemann, dont la Geschichte der Philosophie est publiée entre 1798 et 1819, puis, en 1812, un texte que je considérerai plus particulièrement, le Grundriss der Geschichte der Philosophie für den Akademischen Unterricht, manuel qui sera publié en 1839 dans une version française par Victor Cousin ; et Joseph-Marie Degérando, qui se fait d’abord connaître de l’Institut par le premier prix accordé en 1799 à son mémoire sur « l’influence des signes sur la génération des idées » puis par son Histoire comparée des systèmes de philosophie, dédiée à l’Académie de Berlin, en 1804. Le rapprochement de ces deux auteurs – dont l’un est un professeur, représentant de l’histoire « pragmatique » de la philosophie telle qu’elle s’est pratiquée en Allemagne au XVIIIe siècle, et l’autre un auteur d’abord proche des Idéologues et qui se tournera plus tard vers la réforme sociale – peut sembler incongru.2 Mais il se justifie si l’on songe que Tennemann traduit, en 1806, l’ouvrage de Degérando de 1804 sous le titre Vergleichende Geschichte der Systeme der Philosophie et que ce dernier, s’il ne se réfère pas à cet auteur dans son ouvrage, rend néanmoins hommage aux historiens allemands de la philosophie, notamment à Johann Jakob Brucker, auteur de l’Historia critica philosophae parue entre 1742 et 1744. Il est surtout intéressant de comparer l’historicisation de la philosophie à laquelle ces auteurs procèdent à l’aune de leur rapport au criticisme, dont Tennemann se fait l'un des défenseurs, notamment dans les notes ajoutées à sa traduction de Degérando, là où ce dernier, qui en est pourtant l'un des introducteurs en France, cherche précisément à en montrer l’inanité. Par cette 1
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Ou, comme tendait à le montrer la discussion générale du colloque dont le présent texte est issu : comment l’historicisation de la philosophie s’accompagne d’une déstabilisation dans la définition de ce savoir (qui est également, en partie, discipline) ? Ulrich J. Schneider voit un tournant décisif se produire à la fin du XVIIIe siècle et s’attache pour sa part à étudier la période allant jusqu’à Tennemann, où l’histoire de la philosophie n’est pas encore conçue comme immanente à une discipline, mais est encore une forme historique parmi d’autres. On peut se demander, de ce point de vue, si Degérando et lui relèvent bien de la même période. Cf. Ulrich J. Schneider : Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte. Frankfurt a.M. 1990, p. 9.
L’histoire permet-elle de résoudre les questions philosophiques ?
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question, on ne cherche pas à relever un simple désaccord doctrinal ; celui-ci permet de préciser le rapport entre deux niveaux de connaissance de l’esprit humain, celui, « philosophique » de la genèse ou de l’origine des connaissances humaines, dont la Critique de la raison pure s’était, comme on le sait, saisie à nouveaux frais, et celui de l’histoire de la philosophie à proprement parler. J’aimerais montrer ici qu’à travers cette question se joue le statut philosophique de cette dernière. Or cette articulation n’a en soi rien d’évident. La temporalité habite en effet la philosophie à deux niveaux, distingués strictement par d’Alembert dans le Discours préliminaire de l’Encyclopédie :3 le niveau gnoséologique, c’est-à-dire celui de la genèse des facultés humaines, de l’ordre métaphysique des opérations de l’esprit d’un côté, l’ordre historique de ses progrès, ou disons l’histoire des sciences de l’autre.4 A première vue, l’histoire de la philosophie, en retraçant la succession des systèmes philosophiques, devrait relever uniquement de ce second aspect. Et pourtant, l’étude de l’empiricité historique des systèmes philosophiques est inséparable de la façon dont on évalue l’empirisme de la connaissance. Les problèmes qui nous arrêteront ici ont alors également trait à l’équivocité de l’élément « historique » au sein de ces écrits. Tout d’abord, comment se conçoit l’insertion de la philosophie dans une époque passée et jusqu’à quel point son histoire comporte-t-elle des événements et une causalité qui lui soient propres ? Comment la succession des systèmes philosophiques s’articule-t-elle – ou non – à la question de la genèse des facultés de connaissances ? Je montrerai que le remplacement par Tennemann, dans une perspective kantienne, de la question de l’origine des connaissances par celle de leur fondement a des conséquences importantes pour l’historicisation de la philosophie, qui ne sont cependant pas celles que Kant lui-même en tirait. Cette dimension gnoséologique permet ensuite de procéder non seulement à un classement, à une hiérarchisation des systèmes, mais aussi à une mise en récit : une certaine vision de ce que doit être l’unité de la philosophie et de la vérité participe d’un récit des combats entre systèmes et de la perspective d’une « paix » philosophique : serait-il alors possible que l’histoire de la philosophie permette de résoudre des questions philosophiques ?
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Cf. sur ce point Bertrand Binoche : Les trois sources des philosophies de l’histoire. Paris 1994, pp. 57 sq. Cf. Jean Le Rond d’Alembert : Discours préliminaire de l’Encyclopédie. Paris 1894 [1re éd. 1763], p. 8 : le texte est précisément organisé en deux parties qui examinent successivement ces deux ordres.
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I.
Ayşe Yuva
Le cours historique de la philosophie et la marche de la raison humaine
Pour mettre en évidence l’historicité dans laquelle la philosophie est saisie ou la façon dont une dimension philosophique se maintient à travers l’historicisation, on commencera par montrer que cette dimension historique ne revient pas à situer entièrement les philosophies dans le passé et à faire de la compréhension de cellesci l’objectif premier de ces textes. Certes, Tennemann comme Degérando ont à cœur de présenter d’une façon juste les philosophies des autres époques. Le premier souligne la nécessité de se « placer dans le point de vue de l’auteur »5 et critique particulièrement le second pour avoir voulu saisir le kantisme à l’aune d’une autre philosophie, celle de l’expérience, que Degérando définit comme une voie intermédiaire entre l’empirisme et le rationalisme et qui consiste à accepter, à côté des sensations, la réflexion comme source de connaissances et la conscience comme fondement de la moralité. Ce point de vue, selon Tennemann, rend Degérando inapte à comprendre la distinction de l’empirique et du transcendantal et lui fait perdre « l’esprit vivant » (« de[n] lebendige[n] Geist »)6 de la philosophie critique. Il lui reproche à plusieurs reprises de ne pas respecter l’ordre chronologique et de perdre par là « l’ensemble historique » (« den geschichtlichen Zusammenhang ») ;7 mais aussi de procéder à des rapprochements intempestifs frisant l’anachronisme : il fait ainsi de Platon un tenant de la philosophie de l’expérience, pour qui les idées générales naîtraient des comparaisons8 (et il présente les apories socratiques comme une volonté de ne pas s’élever trop hâtivement aux propositions générales). 9 De même, il est faux de faire de la philosophie de Duns Scot un « germe du système de Kant » (« ein Keim von dem System Kants »). Ces exemples ne sont pas anodins et montrent que l’enjeu de la discussion ne tourne pas autour de la compréhension du passé en tant que tel. Il s’agit de savoir quels systèmes du passé peuvent ou non être légitimement rapprochés de ceux du présent : et Degérando a alors tort à la fois de nier l’originalité du kantisme10 et de chercher des confirmations à sa propre philosophie dans le passé. Il serait donc faux de faire de Tennemann un tenant de la « compréhension » des doctrines contre un Degérando qui se contenterait d’en faire un classement anhistorique et partial. Le premier ne prétend pas présenter ces dernières dans leur 5
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Wilhelm Gottlieb Tennemann [trad.] : Vergleichende Geschichte der Systeme der Philosophie mit Rücksicht auf die Grundsätze der menschlichen Erkenntnisse von J. M. Degérando. 2 vol. Vol. I. Marburg 1806, p. 12. Ibid., p. 513. Ibid., p. 12. Ibid., vol. II, p. 146. Ibid., p. 142. Cela vaut aussi pour la philosophie morale kantienne, que Degérando présente à tort comme étant platonicienne. Cf. ibid., vol. I., p. 510.
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exhaustivité, mais seulement dans leurs principes et loue le second d’en avoir fait de même. Mieux, il approuve le fait de saisir tous les systèmes à l’aune d’une seule question anhistorique, celle de l’origine des connaissances humaines (alors que Cousin, plus tard, affirmera qu’il n’est pas juste, d’un point de vue historique, de poser la même question à tous les systèmes).11 Lui-même considère les doctrines sous l’angle de la question philosophique des fondements de la connaissance humaine. La construction même d’un ensemble historique d’événements doit être articulée d’un point de vue logique : il ne s’agit, en aucun cas, de s’en tenir à la présentation de « ce qui s’est produit » (« des Geschehenen »), mais de parvenir à une « connaissance des raisons et des conséquences ou de l’ensemble des événements » (« Erkenntnis der Gründe und Folgen oder des Zusammenhangs der Begebenheiten »).12 La saisie des événements, même philosophiques, est seconde par rapport à leur articulation en une totalité dont l’ordonnancement est philosophique, grâce à la saisie des raisons, des fondements de chaque doctrine et de ce qui la relie aux autres. Ainsi, le point de vue de l’historien de la philosophie ne s’identifie pas à une attitude de compréhension d’une singularité historique; la part d’individualité des systèmes étant même, pour Tennemann, ce qui les rend généralement faux et dogmatiques.13 Le paradigme de l’œuvre d’art, qui voudrait que les systèmes soient la création d’un esprit original, se révèle également inadéquat. La pluralité des systèmes ne doit pas être considérée comme irréductible ; sans être niée, la particularité, voire la singularité de ces œuvres doit être articulée à la généralité des questions philosophiques. Alors que l’exigence de compréhension situe l’histoire de la philosophie sur le versant de l’histoire, l’exigence d’une unité dans le questionnement est un trait qui relie ces écrits d’histoire de la philosophie à la philosophie. Partant, il ne s’agit donc pas non plus de comprendre les systèmes philosophiques purement et simplement comme le produit de leur société ou leur époque. Mais l’insertion de l’histoire de la philosophie dans ce que l’on appellera plus tard un « contexte » historique ne s’effectue pas de la même manière chez Tennemann et Degérando. Tous deux abstraient l’histoire de la philosophie du cours historique général, délimitent la frontière du philosophique et du non-philosophique, mais le sens de cette autonomie et de cette abstraction diffère chez les deux auteurs. Pour le premier, l’histoire de la philosophie ne se borne pas à présenter la succession des systèmes : ce qui fait événement dans ces textes a trait, plus généralement, aux périodes dans le développement de la raison et à la liaison des connaissances philosophiques ; Tennemann y inclut même les « événements extérieurs
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Victor Cousin : Sur l’Histoire comparée des systèmes de philosophie de Degérando. In : Fragments philosophiques. Paris 1833 [1re éd. 1826], pp. 98‒106, ici pp. 102 sq. Wilhelm Gottlieb Tennemann : Grundriss der Geschichte der Philosophie für den akademischen Unterricht. Leipzig: 1816, p. 5. Tennemann [trad.] : Vergleichende Geschichte (cf. note 5), vol. II, p. 430.
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remarquables, lorsqu'ils ont une influence sur le philosopher »14 (tels que la conquête d’Alexandrie et l’expansion du christianisme) ; le corps de texte entrelace d’ailleurs les événements politiques, sociaux et ceux qui ont trait à l’histoire de la raison. L’auteur ordonne explicitement l’histoire de la philosophie selon une double causalité, « extérieure » et « intérieure ». Certes, il distingue explicitement l’histoire de l’humanité, l’histoire de la culture, et même l’histoire des sciences en général, de l’histoire de la philosophie. Mais celle-ci est, en même temps, mise en rapport avec la « marche de la raison » (« Gang der Vernunft ») qui trouve son assise dans le cours historique général. Comme il le remarque : « Die pragmatische Darstellung besteht nicht in der Beobachtung der Zeitfolge der Begebenheiten; aber sie setzt sie voraus und gründet sich auf sie ».15 En outre, il accorde une part plus importante que Degérando à la biographie des philosophes, qui restent bien les acteurs majeurs de cette histoire (quoique leur individualité relève des causes « extérieures » et non pas « intérieures », qui animent l’histoire de la philosophie).16 Ainsi que le note Ulrich J. Schneider, cette place centrale de l’individu philosophant n’est pas due au hasard : « l’évidence pragmatique » étant qu’il y a eu de la philosophie parce qu’il y avait des philosophes, dont l’œuvre et la vie insérées dans la complexité historique17 permet bien de rendre compte de cette double causalité. Dans l’Histoire comparée de Degérando, en revanche, il s’agit essentiellement (dans la première partie de présentation, qui précède une seconde partie de critique) de retracer les « révolutions » de la philosophie et la succession des systèmes. Les conditions historiques générales apparaissent plus ponctuellement que chez Tennemann, essentiellement dans une longue note, au terme de laquelle l’auteur conclut que la philosophie qui « a son principe dans la nature de l’homme »,18 est néanmoins un « fruit de la civilisation, fruit tardif ».19 Elle est née en Orient, où les sciences ont, par la suite, cessé de se développer, pour des raisons d’ordre à la fois intellectuel (comme « l’abus des allégories » et le « goût des doctrines secrètes et mystérieuses »), institutionnel (l’absence de bibliothèques et d’écoles) et socio-économique (comme le luxe et la richesse du sol) ; d’ailleurs, comparant la situation de l’Athènes de la période classique et celle de la France de son temps, il dit attendre de circonstances selon lui similaires des résultats tout aussi remarquables et espérer la venue d’un « nouveau Socrate ».20 Le critère national n’est pas non plus absent, Degérando s’autorisant à parler « d’Ecole an14 15 16 17 18 19 20
Tennemann : Grundriss (cf. note 12), p. 13. Ibid, p. 7. Ibid., p. 3. Cf. Schneider : Die Vergangenheit des Geistes (cf. note 2), p. 66. Joseph-Marie Degérando : Histoire comparée des systèmes de philosophie, relativement aux principes des connaissances humaines. 3 vol. Vol. I. Paris 1804, p. 79. Ibid., vol. III, pp. 7‒11, note. Ibid., p. 11.
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glaise »21 et française.22 Toutefois, on ne peut observer, tout au long de l’ouvrage, une articulation systématique entre événements philosophiques et politiques ou sociaux. Les conditions historiques ne sont que rarement mentionnées ; quant au critère national, il n'est pas contraignant : ainsi, en Allemagne, s’il est bien possible d’identifier des « penchants », on ne saurait, en raison de la variété des systèmes, admettre une unique Ecole ; ce faisant, Degérando remet en cause l’identification traditionnelle de la philosophie allemande au leibnizianisme. L’histoire de la philosophie ne nie pas sa propre historicité, mais en fait un arrière-plan qui n’est pas thématisé de façon systématique. L’on comprend alors que les seuls événements retenus soient les systèmes eux-mêmes et que ceux-ci ne soient reliés que d’une façon lâche aux conditions historiques. L’autonomie de l’histoire de la philosophie semble ici plus grande que dans la présentation « pragmatique » de Tennemann : il s’agit d’articuler non pas tant des causes « intérieures » et « extérieures » que la temporalité et les principes de classement anhistorique au sein d’une histoire déjà interne de la philosophie.23 « L’histoire comparée » de Degérando offre ainsi un mélange ambigu entre le modèle de l’histoire naturelle et celui de la temporalité historique, entre le tableau et la comparaison. La proximité à l’histoire naturelle se traduit par une méthode de classification des systèmes de philosophie, qui s’ordonnent selon leurs « caractères » ;24 Degérando rend d’ailleurs hommage à d’Alembert pour avoir « class[é] les sciences comme Linnée [sic] a classé les plantes ».25 L’idéal encyclopédique apparaît alors à travers la volonté d’établir « une carte géographique des doctrines et des opinions qui composent le monde intellectuel »,26 ce qui n’est pas sans rappeler la « mappemonde » que d’Alembert souhaitait construire pour présenter l’ordre encyclopédique des connaissances. Toutefois celle-ci dépendait exclusivement, chez ce dernier, de la génération individuelle des idées et était détachée de l’histoire des progrès scientifiques et de la succession des théories. Dans son ouvrage de 1802 intitulé De la génération des 21
22
23
24 25 26
Ibid., p. 105 : « L’Ecole anglaise a, en général, un caractère calme, pacifique, et réservé, quelquefois trop aride et trop inanimé ; elle respecte surtout les décisions du bon sens ; elle a une haute estime pour les résultats pratiques, et dans leur nombre, elle s’attache surtout à ceux qui composent la philosophie morale ». Ibid., p. 106 : « L’Ecole française se distingue surtout par le prix éminent qu’elle attache à la clarté, à la simplicité des formes, par une étude délicate des sensations et des rapports qui unissent les idées au langage, par un goût particulier d’analyse et de critique, par une prévention plus marquée contre toutes les idées qui portent un caractère d’exaltation ; elle préfère, en général, les maximes aux théories ; elle aspire à faire jouir la philosophie d’une popularité à laquelle elle a fait peut-être plus d’un sacrifice ». Notons que dans l’Histoire de la philosophie moderne, rédigée dans les années 1820 mais publiée de façon posthume en 1847, l’enracinement politique et social des systèmes philosophiques apparaît plus clairement. Degérando : Histoire comparée (cf. note 18), vol. I, p. XXIV. Ibid., p. 355. Ibid., p. XVI.
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connaissances humaines, Degérando lui-même étudiait encore exclusivement le développement progressif des facultés humaines et la succession logique des connaissances individuelles, se contentant d’évoquer brièvement la succession des systèmes. L’ouvrage de 1804 se tourne vers les systèmes de philosophie apparus au cours de l’histoire : ce qui chez d’Alembert était simplement superposé, à savoir la génération logique des idées et la génération historique des sciences, se trouve désormais articulé. Le rapport n’est pas seulement d’inclusion, au sens où l’histoire de la philosophie prend pour objet les théories portant sur la genèse des connaissances humaines. La production de nomenclatures est un geste intellectuel commun à l’individu qui acquiert des connaissances, au philosophe qui les ordonne27 et à l’historien de la philosophie qui classe les solutions proposées par les philosophes. Dans tous les cas, on ordonne quelque chose qui a été « donné » par l’expérience, que celle-ci soit sensorielle, réflexive ou historique.28 La genèse se trouve englobée, pour ainsi dire, dans la méthode historique. L’histoire de la philosophie, en ce sens, déborde une simple présentation des systèmes et gagne une dimension philosophique en reproduisant le processus d’acquisition des connaissances par la raison humaine. Chez Tennemann, cette articulation entre le niveau gnoséologique, philosophique et historique se produit d’une tout autre manière, dans un processus de « développement ». Dès lors en effet que le « développement » de la philosophie est solidaire de celui de la raison, il devient possible de considérer le philosopher comme une « disposition » propre à l’humain en général ; on peut alors facilement passer au niveau de l'histoire universelle. Du fait que la marche de la raison y est en jeu, il faut alors dire qu'il n’y a pas de peuples qui soient, par nature, plus philosophes que d’autres. Pour autant, Tennemann nie qu’il y ait des philosophies en Orient. Comment résoudre alors cette contradiction apparente ? En établissant un développement historique au sein de la philosophie elle-même, à travers une différence entre des « philosophèmes » et même un « philosopher subjectif » que l’on peut retrouver partout, et un « philosopher objectif » qui se traduit par le plein développement des facultés de connaissance et la constitution de systèmes philosophiques. L’activité de l’esprit au niveau individuel (car les systèmes continuent à être l’ouvrage de certains sujets humains, et non d’un sujet abstrait ou collectif) a pu, en certains lieux et à certaines époques, donner lieu aux produits qui constituent l’histoire de la philosophie, et qui peuvent être classés aussi selon les nations 27 28
Ainsi, la métaphysique est définie comme « la nomenclature générale des idées humaines » (ibid., vol. III, p. 164). Cf. Delphine Kolesnik : Physiologie et psychologie. L’empirisme cartésien aux miroirs cousiniens. Habilitation à diriger les recherches soutenue le 1er décembre 2013 à l’Ecole Normale Supérieure de Lyon, dir. Pierre-François Moreau), p. 23: « On comprend enfin que la méthode suivie par Degérando (exposition, puis critique) se calque sur le type de philosophie qui vient a posteriori « balancer » cette histoire : on commence par collecter des impressions sensibles (des « faits »), puis la raison les combine et les transforme pour proposer une philosophie de cette exposition ».
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auxquelles les penseurs appartiennent. Le développement de la philosophie est le signe que l’imagination a cessé de dominer certains individus dans des sociétés déterminées ; son absence, réciproquement, montre que cette faculté est encore prépondérante. Un tel processus est, au moins en partie, contingent, conditionné – et non pas déterminé – empiriquement : une « impulsion venue du dehors » fait que certaines facultés favorables à la philosophie ont été mises en branle ici plutôt qu’ailleurs.29 Cette contingence peut, en dernière instance, être ordonnée téléologiquement, la culture (« Cultur ») philosophique d’un peuple apparaissant comme le moyen de cultiver (« Culturmittel ») les autres.30 Le « philosopher » dont tout homme et tout peuple sont capables en puissance ne s’actualise en systèmes qu’en certains lieux et sous certaines conditions, dans un processus qui tire sa source du développement effectif de certaines facultés. La « marche de la raison » n’est certes pas une genèse du sujet transcendantal ou de la raison pure en tant que telle. Par contre, Tennemann cite un auteur pour qui cette dernière est « la faculté de perfectibilité de toutes les facultés ».31 La direction des facultés, comme forces, étant connue, il reste à penser leur développement conformément à leurs fins – en ce sens, d’ailleurs, cette perfectibilité des facultés n’est sans doute pas indéfinie, et son terme peut être théoriquement pensé – de même que, comme on le verra, l’histoire de la philosophie s’oriente vers l’unité. La raison, comme faculté des fins aussi bien théoriques que pratiques, se développe donc dans l’histoire, et la succession des systèmes philosophiques devient un aspect de ce processus : les événements pris en compte par l’histoire de la philosophie se rapportent tous à un but de la raison (« Zweck der Vernunft ») et témoignent de ses efforts, ses aspirations (« Streben »). Ici, la distinction kantienne entre une histoire a priori de la raison humaine, dont les faits seraient tirés de la « nature de la raison humaine », et une histoire empirique de la philosophie, faite de tâtonnements, n’a plus lieu d’être.32 Et la succession des systèmes philosophiques constitue désormais une part essentielle du développement de la raison dans l’histoire. Les « raisons intérieures » qui ordonnent l’histoire de la philosophie sont également relatives aux lois de l’esprit humain. Cependant cela ne signifie pas que les deux niveaux seraient analogues et le rapport entre l’empirique et l’a priori s’organise de façon très différente pour la connaissance humaine ou l’histoire de la philosophie. Dans cette dernière, l’aspect intérieur ou extérieur du processus est placé à un même niveau empirique : il s’agit 29 30 31 32
Tennemann : Grundriss (cf. note 12), p. 8. Ibid. Ibid., p. 29. « Une histoire philosophique de la philosophie n’est pas elle-même historique ou empirique, elle est rationnelle, c’est-à-dire possible a priori. Car bien qu’elle présente des faits de la raison, elle n’emprunte pas ceux-ci au récit d’une histoire, elle les tire de la nature de la raison humaine en tant qu’archéologie philosophie » (Rudolf Eisler : Art. Histoire de la philosophie. In : Kant Lexicon. Éd. établie et augm. par Anne-Dominique Balmès et Pierre Osmo. Paris 1994, pp. 480 sq.)
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toujours de causes historiques (éventuellement orientées téléologiquement par le développement des facultés ou la recherche de la vérité). Au niveau des connaissances humaines, l’a priori relève du transcendantal, qui ne se place pas au niveau de l’expérience, mais en est une condition de possibilité. La question de la genèse ou du commencement des connaissances humaines doit être remplacée, dans une perspective kantienne, par celle de leurs fondements (« Gründe ») non empiriques – l’expérience se contentant de fournir la « matière » de la connaissance. A cet égard, précisément, le transcendantal n’est pas l’inné, qui indique lui aussi une origine. Pour toutes ces raisons, l’histoire de la philosophie et les connaissances humaines ne s’étudient pas de façon similaire : la distinction entre causalité intérieure et extérieure ne reproduit pas le partage de l’empirique et du transcendantal. L’histoire de la philosophie étudie un développement, ce que la philosophie de la connaissance ne fait pas. Tennemann reproche précisément à Degérando de confondre la connaissance commune et la connaissance scientifique ou philosophique, et même la perception et la connaissance. Chez ce dernier, il y a non seulement analogie, mais continuité d’un ordre à un autre. La question qui se pose alors est de savoir si l’histoire de la philosophie, dans sa temporalité propre, diversement imbriquée au cours historique général chez Tennemann et Degérando, peut être conçue comme une mise en récit orientée vers la résolution des problèmes gnoséologiques.
II.
Scepticisme de la connaissance, scepticisme historique : à la recherche de la paix philosophique
L’introduction de la question des connaissances humaines au cœur de l’histoire de la philosophie conduit à un ordonnancement des systèmes selon de grandes « classes » ; mais ce classement ne signifie pas le renoncement à une temporalité « intérieure », voire autonome, en tout cas non réductible au cours historique en général, au sein de l’histoire de la philosophie. Cette temporalité propre explique, en particulier, que l’histoire de la philosophie soit définie, par Tennemann, comme récit : Die Erzählung der mancherlei aus der Entwicklung der Vernunft entspringenden, durch äussere Ursachen beförderten oder gehemmten Bestrebungen, jenes Ideal der Vernunft […] zu erreichen, oder Philosophie als Wissenschaft zu stande zu bringen, ist überhaupt Geschichte der Philosophie.33
33
Tennemann : Grundriss (cf. note 12), p. 4.
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Cette mise en récit va avec la recherche d’un ensemble (« Zusammenhang »)34 et distingue l’entreprise de Tennemann des histoires de la philosophie antérieures reposant sur l’érudition.35 Chez Degérando, cette temporalité est plutôt pensée comme recherche de causes explicatives et le but de l’histoire de la philosophie est alors de « déterminer les causes de la marche de l’esprit humain, convertir ces observations en un code pratique pour l’administration et l’application de la science, en tirer la règle d’un meilleur régime pour notre esprit ».36 Il ne s’agit pas seulement, pour cet auteur, de retracer le processus linéaire de succession des systèmes (examinés à l’aune de la question des connaissances humaines et répartis en grandes classes) ; mais de tirer de cette histoire des enseignements pratiques pour la science et la philosophie – l’application restant ici résolument interne et détachée du contexte politique et social. Le modèle explicatif doit déboucher ici sur des effets épistémologiques et sur la résolution de problèmes gnoséologiques. Il n’en reste pas moins vrai que ni chez Tennemann, ni chez Degérando, cette historicité propre de la philosophie ne doit être comprise comme un développement continu et linéaire – et encore moins dialectique. L’histoire de la philosophie est bien plutôt marquée par la périodicité. Mais là où Degérando pense un retour, Tennemann a à cœur de souligner qu’il y a élargissement, développement, et non pas seulement un état stationnaire (« Stillstand »).37 Chez le premier, cette périodicité n’est pas à comprendre comme la morne répétition de certaines erreurs : elle fonde l’utilité de l’histoire de la philosophie, dans la mesure où la connaissance d’un passé ordonné à la fois par le classement et les répétitions permet de fonder des prédictions.38 Or cette périodicité signifie le retour d’un couple que l’histoire de la philosophie n’est pas encore totalement parvenue à dépasser, à savoir le dogmatisme et le scepticisme. Le premier désigne chez Degérando un procédé de l’esprit, le fait de poser une affirmation sans l’appui de l’expérience, et chez Tennemann une surestimation du pouvoir de la raison : dans les deux cas, un dépassement des limites de ce qu’il nous est permis de connaître. Sur ce point, la philosophie d’inspiration encore lockéenne de Degérando et le kantisme de Tennemann se rencontrent dans une critique et délimitation comparables du pouvoir de la raison. Or ce dogmatisme se retrouve dans toute l’histoire de la philosophie et produit presque mécaniquement son contraire, le scepticisme, ou « esprit de doute », comme lors du pas34 35 36 37 38
Cf. ibid., p. 5. Cf. Schneider : Die Vergangenheit des Geistes (cf. note 2), p. 55. Degérando : Histoire comparée (cf. note 18), vol. I, p. 18. Tennemann : Grundriss (cf. note 12), p. 35. Ceci apparaissait dès son ouvrage de 1802, Joseph-Marie Degérando : De la génération des connaissances humaines. Paris 1990, p. 13 : « Le secret de l’avenir est dans le passé. L’histoire des nations est la première étude du législateur. L’histoire de la pensée doit être la première étude du philosophe ».
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sage du XVIIe au XVIIIe siècle pour Degérando.39 Ce dernier différencie d’ailleurs différentes sortes de dogmatisme et ne rejette pas entièrement les thèses de certains de ces systèmes. Néanmoins, dogmatisme et scepticisme désignent des procédés de l’esprit et ne doivent pas être confondus avec les systèmes contemporains de philosophie de la connaissance que Degérando présente dans les chapitres conclusifs de son ouvrage : à savoir l’idéalisme, le scepticisme (comme théorie de la connaissance), l’empirisme, le criticisme et la philosophie de l’expérience. L’on trouve, dans l’idéalisme et le criticisme, des éléments de dogmatisme ; cependant le scepticisme théorique ne va pas toujours de pair avec le scepticisme comme esprit de doute, mais peut s’allier, par exemple, à « l’apathie morale » ou au contraire aux croyances religieuses,40 comme dans le cas de Jacobi, et, ajoute Degérando, également de Kant. Ces associations nous révèlent à nouveau quelque chose des rapports de l’histoire et de la philosophie : car le scepticisme comme esprit de doute est, dans l’époque actuelle, « assez conforme aux besoins de notre siècle et à la tendance actuelle des esprits ».41 C’est dire que ce procédé de l’esprit humain ne relève pas seulement de certaines tendances de la raison pure, mais est ancré, à l’arrière-plan, dans des conditions historiques « extérieures » ; et sa périodicité est celle de l’histoire elle-même, où certaines circonstances se reproduisent. Cependant cette périodicité du dogmatisme et du scepticisme ne saurait être le fin mot de l’histoire : Degérando comme Tennemann essaient de répondre à l’accusation selon laquelle l’histoire de la philosophie, en proposant le spectacle d’une lutte acharnée et sans vainqueur, conduirait finalement à une vision relativiste de la vérité. Les auteurs refusent l’égalité des systèmes qui équivaudrait précisément à un « scepticisme » qu’ils redoutent d’un point de vue théorique aussi bien que pratique. Or Tennemann et Degérando constatent, pour des raisons diamétralement opposées, que le kantisme a échoué à produire cette sortie du cycle dogmatismescepticisme. Pour le premier, seul le criticisme est à même de produire théoriquement cette sortie ; mais pourquoi ne s’est-elle pas produite historiquement ? La raison en est que les philosophes post-kantiens, dans leur prétention à connaître l’absolu au moyen d’une intuition intellectuelle, ont réintroduit le dogmatisme et les conflits entre sectes qui en sont le corollaire.42 La solution théoriquement juste n’est pas nécessairement celle qui gagne dans l’histoire de la philosophie, du moins pas de façon automatique ; la victoire du kantisme doit encore être assurée dans la pratique, ce qui suppose que l’on arrive à vaincre, précisément, certaines tendances de l’esprit humain au dogmatisme ou au scepticisme. 39 40 41 42
Degérando : Histoire comparée (cf. note 18), vol. II, p. 170, note 1. Ibid., vol. III, p. 435. Ibid., p. 436. Tennemann : Grundriss (cf. note 12), p. 370.
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Pour Degérando, au contraire, le champ de bataille de la philosophie allemande de son temps est le produit des contradictions théoriques du kantisme, de sa tendance à vouloir concilier les éléments les plus opposés. En ce sens, le kantisme conduit à la fois au scepticisme et au dogmatisme, au lieu de les dépasser tous deux. Alors que pour Tennemann, le scepticisme est seulement un « précurseur » de la véritable philosophie critique, pour Degérando, la distinction entre phénomène et chose en soi s’y apparente bel et bien. Ici, l’échec historique du kantisme est la manifestation de son échec théorique. Seule une philosophie de l’expérience encore en construction permet alors de mettre fin aux attitudes de dogmatisme et de scepticisme : la solution vient avant tout de la théorie. Mais dire que l’on peut attendre, du fait des circonstances similaires où se trouvent selon lui l’Athènes de Périclès et la France de son temps, la venue d’un nouveau Socrate, c’est aussi reconnaître que l’expérience historique générale rend possible l’émergence de certaines solutions philosophiques. L’opposition du scepticisme et du dogmatisme est alors dépassée, chez les deux auteurs, par une certaine vision de ce que doit être la « paix philosophique » et son unité. On peut donc se demander quel rapport la philosophie jugée la plus proche de la vérité entretient aux autres systèmes ; et si l’histoire peut être l’instance de production d’une telle paix. Chez Degérando, une première solution passe par la notion de « tolérance philosophique », que l’on retrouvera chez Cousin. Cette tolérance n’est pas « une entière indifférence à la vérité et à l’erreur » ; moralement, elle est un sentiment de respect et se distingue de l’apathie morale du sceptique. Mais surtout : « c’est le sentiment de sa propre conviction qui conduit l’homme sage à respecter la conviction d’autrui et les passions, après tout, font plus d’intolérans [sic] que les systèmes ».43 On voit ici une conception forte de la tolérance comme coexistence d’affirmations faites avec conviction, et non simple pluralité sur des sujets indifférents.44 Cependant, Degérando ne va pas jusqu’à rendre la vérité philosophique plurielle, et cette solution reste donc limitée. Chez Tennemann, elle est même absente. Chez les deux auteurs, la paix est plutôt pensée sous la forme d’une unité en constitution – ce qui suppose que les systèmes ne soient pas envisagés comme totalité, dans un esprit de secte.45 La multiplicité historique devient une préparation en vue de l’unité et l’accord philosophiques.46 Comme le dit Tennemann, il ne peut y avoir qu’un seul vrai système.47 Cette unité se conçoit alors, chez Degérando, sous la forme d’une totalité dont les parties ne se donnent que progressivement 43 44 45 46 47
Degérando : Histoire comparée (cf. note 18), vol. III, p. 431, note 2. Selon la distinction opérée par Bertrand Binoche dans son ouvrage : Religion privée, opinion publique. Paris 2012, p. 51. Degérando : Histoire comparée (cf. note 18), vol. II, p. 430. Ibid., vol. I, p. 5. Tennemann : Grundriss (cf. note 12), p. 35.
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dans l’histoire ; selon un autre paradigme présent chez Tennemann, elle survient après des « tentatives » qui restent insatisfaisantes (mais dont on ne doit pas non plus tout rejeter). Ainsi, la philosophie de l’expérience accepte certaines propositions qui ont été par la suite transformées en dogmes et ne dédaigne pas même le mysticisme ; elle prône, par ailleurs, un « scepticisme relatif » et non pas absolu. L’opposition éternelle du dogmatisme et du scepticisme est dépassée par une philosophie qui accepte de reconnaître leur part de vérité aux différents systèmes philosophiques. Si chez Tennemann, le vrai système ne se donne pas par morceaux, il ne se livre pas non plus par une révolution instantanée, et le processus historique reprend ici toute son importance : contrairement au lieu commun présent chez Degérando d’une « révolution » kantienne – au sens d’un bouleversement et non, comme l’entendait Kant au début de la première critique, d’un retournement de perspective – Tennemann présente ainsi le criticisme comme une réforme progressive et imperceptible, et non comme une révolution – ce que les systèmes qui ont suivi ont prétendu être avec leurs promesses et leurs illusions insensées. Les différentes doctrines sont là en vue d’un système de la connaissance qui devrait finir par se constituer entièrement. Cependant, malgré le parallèle que cela peut nous suggérer avec l’unité poétique, malgré même la définition de l’histoire de la philosophie comme « récit » chez Tennemann, cette unité philosophique est explicitement distinguée, par les deux auteurs, d’une unité poétique reposant par trop sur l’harmonie et l’imagination. Tout au plus Tennemann reconnaît-il que l’histoire de la philosophie doit, à des fins pédagogiques, présenter un « fil conducteur » (« Leitfaden ») par lequel l’enseignant comme l’étudiant puissent suivre le développement par étapes de la raison dans son aspiration à la science, ce qui suppose aussi des qualités formelles telles que la brièveté et la clarté. D’ailleurs, si Degérando affirme lui aussi que l’unité systématique n’est pas l’unité poétique,48 Tennemann lui reproche ponctuellement d’opérer des regroupements qui relèvent de cette dernière.49 Mais, et c’est là sans doute le point le plus important, ni cette unité formelle autour d’un fil conducteur ou d’un récit, ni, sur le fond, l’histoire de la philosophie, ne peuvent, pour Tennemann, amener la résolution du problème de la connaissance humaine qui seule assurerait une authentique paix philosophique. C’est ainsi qu’il faut comprendre le reproche fait à Degérando de considérer la paix philosophique comme le cœur de la philosophie kantienne. Malgré la référence fameuse en introduction de la Critique de la raison pure au « champ de bataille » (« Kampfplatz ») que serait l’histoire de la métaphysique, le centre de gravité du criticisme réside au contraire, selon Tennemann, dans les découvertes de Kant
48 49
Degérando : Histoire comparée (cf. note 18), vol. II, p. 407. Tennemann [trad.] : Vergleichende Geschichte (cf. note 5), vol. I, p. 48.
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concernant la possibilité et l’étendue des connaissances a priori,50 c’est-à-dire dans l’analytique transcendantale. L’accord qui en résulte est secondaire. Selon Tennemann, Degérando donne l’impression que le kantisme ne serait au mieux qu’un coup de génie, au pire qu’un jeu de mots, ce dont témoignerait la tendance des kantiens à s’estimer toujours mal compris. Or la nouveauté du kantisme, la rigueur de son analyse rendaient inévitables ces difficultés de compréhension. De ce que la philosophie kantienne, mal entendue, n’a pu être partagée de tous et amener la paix philosophique, on ne saurait conclure qu’elle est fausse. Le point de vue de la paix philosophique lui-même n’est donc que secondaire pour Tennemann – on peut avoir raison seul contre tous – alors qu’il est central pour Degérando. Du coup, un deuxième désaccord apparaît. Car pour Degérando, l’observation même du cours suivi par la philosophie rend cette pacification possible. Autrement dit, l’expérience historique permet de résoudre la question de l’origine des connaissances humaines. Elle a, en cela, une dimension éducatrice, au sens fort du terme : Mais si l’histoire de la philosophie nous montre que tous les systèmes conciliateurs, que toutes les doctrines impartiales, ont obtenu peu d’enthousiastes, ont été rarement utiles à leurs auteurs, l’histoire entière de la philosophie nous ramène à ces systèmes et à ces doctrines, comme à ceux qui sont réellement les plus sages en eux-mêmes et les plus utiles à la science.51
La solution se trouve dans le tracé d’une route moyenne entre les chemins suivis jusqu’à présent, et alternativement, par la philosophie, à savoir l’empirisme et le rationalisme : on peut mettre fin au tâtonnement de cette manière toute empirique. L’expérience comme ensemble de sensations régi par les lois de l’entendement se donne à comprendre à travers « la méthode expérimentale » qu’est l’histoire de la philosophie.52 L’induction est au fondement de la connaissance humaine comme de la connaissance philosophique et de la connaissance de l’historien de la philosophie : perception, connaissance rationnelle, connaissance historique s’analysent d’une façon comparable. Au contraire, Degérando interprète le kantisme comme une tentative, vouée à l’échec, de démontrer la possibilité des connaissances ellesmêmes : ce problème qui suppose un saut hors de l'expérience est, par définition, insoluble53 – et l’histoire de la philosophie permet de conclure à son inanité. Or non seulement une telle solution est inenvisageable pour Tennemann, mais l’histoire de la philosophie ne porte pas en elle la solution du fondement de la connaissance humaine. L’histoire empirique de la philosophie, même envisagée dans son versant « intérieur », ne permet pas de découvrir les résultats de l’analyse transcendantale. De même que la connaissance commence avec l’expérience mais n’en dérive pas, il n’est pas possible de déduire les principes philosophiques à 50 51 52 53
Ibid., p. 515. Degérando : Histoire comparée (cf. note 18), vol. I, p. 37. Ibid., p. 26. Ibid., vol. III, p. 175.
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partir de l’histoire de la philosophie. Ce que Kant a fait par la « discipline de la raison », Degérando pense pouvoir le faire à partir des données historiques : or on ne peut espérer, pour Tennemann, un accord des parties par ce chemin. On ne peut tirer de ce qui s’est passé des principes pour ce qui devrait se passer. Cette opposition entre Degérando et Tennemann est constitutive, dans ces années-là, du champ franco-allemand puisqu’on la retrouvera plus tard entre Amadeus Wendt, l’éditeur de Tennemann d’un côté, Cousin et Théodore Jouffroy de l’autre ;54 Tennemann ramène d’ailleurs explicitement la démarche de Degérando à la superficialité française devenue, comme on le sait, lieu commun à cette époque. Le fait d’établir ou non une césure entre l’histoire de la philosophie et la résolution des problèmes philosophiques amène les deux auteurs à concevoir différemment la finalité théorique de leurs écrits et le lien de l’histoire de la philosophie à cette dernière. Tennemann assume l’aspect pédagogique de son œuvre ; l’histoire de la philosophie ne peut, en elle-même, prétendre résoudre les problèmes philosophiques et en cela, elle n’est peut-être pas tout à fait de la philosophie ; mais elle en est un exercice préparatoire, une propédeutique (« Vorschule ») indispensable fournissant un socle de connaissances ; elle ne lui est pas étrangère, mais s’en distingue tout de même. C’est pourquoi on peut également comprendre qu’il ait traduit, parce qu’il le trouvait clair et bien écrit, un ouvrage tel que celui de Degérando dont il désapprouvait les orientations philosophiques fondamentales. On peut ici dire que le « récit » qu’est l’histoire de la philosophie ne se juge pas seulement à l’aune de la vérité – même si les exigences scientifiques de recherche de la vérité sont évidemment bien présentes – mais aussi de sa capacité à être transmis, et les qualités d’écriture de Degérando en sont pour lui un gage. Il voit d’ailleurs dans cette clarté d’écriture un trait propre aux Français : alors même que les historiens de la philosophie allemands lui semblent les plus avancés dans leur domaine, ces caractères de l’écriture continuent à justifier l’entreprise de traduction d’un ouvrage venu du pays voisin.55 Dans le cas de Degérando, au contraire, l’histoire de la philosophie offre directement, à qui sait l’observer, la solution des problèmes philosophiques. Chez lui, nulle prétention à fournir un ouvrage agréable ; il se présente comme un érudit qui met son texte à distance d’une certaine « utilité »56 immédiate et reconnaît
54 55
56
Cf. Patrice Vermeren : Victor Cousin. Le jeu de la philosophie et de l’Etat. Paris 1995, p. 114. On peut se référer ici à l’introduction de Daniel Fulda: au XVIIIe siècle règne encore le lieu commun selon lequel les écrits allemands seraient mal écrits, sans dramaturgie et sans choix pertinent des événements. Tenneman ne reprend pas un tel jugement à son compte, mais il est intéressant que cette clarté française continue à être mise en avant, alors même que la scientificité des histoires de la philosophie allemande lui semble plus grande. Le caractère « agréable » des écrits français continue à leur être compté comme une qualité. Joseph-Marie Degérando : Histoire de la philosophie moderne. 2e éd. Paris 1847, p. 46 : « Mais l’intérêt de la science est le seul qui doive […] guider [l’historien de la philosophie,
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d’ailleurs le mérite d’historiens de la philosophie allemands tels que Georg Gustav Fülleborn. Mais parce que l’histoire de la philosophie est déjà de la philosophie, elle pourra aussi permettre d’atteindre des fins morales traditionnellement assignées à celle-ci, telles que l’exercice de l’esprit de méditation dans une période corrompue, tout en ayant l’avantage de rendre impossible une application politique directe de la philosophie. Chez Degérando, l’ordre de l’histoire de la philosophie et de ses révolutions est seulement analogue à celui de la politique :57 la seule législation que l’on peut espérer réformer est celle de l’esprit, et non celle de l’Etat. Mais en cela, c’est la philosophie pratique elle-même qui sort du champ politique pour se réduire à la morale individuelle : l’exercice de l’histoire de la philosophie contribue alors au « perfectionnement » de l’individu et éloigne celuici de la frivolité des contemporains.58 L’accent mis, au niveau épistémologique, sur la question de l’origine des connaissances humaines ou de leur fondement se traduit, en définitive, par une vision très différenciée de ce que l’histoire de la philosophie peut apporter à la résolution des problèmes philosophiques. Refusant une histoire de la philosophie entièrement a priori telle que Kant la proposait, Tennemann est amené, du même coup, à en limiter les ambitions philosophiques ; comme recherche avant tout empirique de causes extérieures ou internes à la raison humaine, l’histoire de la philosophie ne peut prétendre fournir une analyse du domaine transcendantal. Sa mise en récit, certes orientée, ne peut à elle seule fournir la fin recherchée ; mais elle peut présenter extérieurement, à un niveau empirique, un processus non linéaire, incertain, de développement de la raison philosophante. Au contraire, il y a, pour Degérando, similarité et continuité entre les deux niveaux de la connaissance philosophique et de l’histoire de la philosophie : cependant il ne s’agit pas avant tout de produire un récit orienté, mais plutôt de déceler à même l’histoire des morceaux de vérité et de tirer des leçons des expériences passées. Chez lui, comme méthode expérimentale, l’histoire de la philosophie est bien pleinement philosophique.
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58
A.Y.] ; ce sont les faits menacés de l’oubli qu’il doit s’attacher à en préserver ; ce sont les points demeurés obscurs qu’il doit chercher à éclairer ». Degérando : Histoire comparée (cf. note 18), vol. II, p. 340 : L’histoire des révolutions politiques des nations est une préparation à l’étude des lois qui les régissent. L’histoire des révolutions philosophiques doit être une préparation à l’étude des lois de l’entendement. Cf. ibid., vol. III, p. 114.
CHRISTIAN HELMREICH
Alexander von Humboldts Wissenschaftsgeschichte. Über das Fortleben der „histoire philosophique“ im 19. Jahrhundert Alexander von Humboldt als Historiker – dieses Thema kann auf den ersten Blick stutzig machen. Humboldt, so lehren uns die meisten Lexika und Enzyklopädien, war ein „Reisender“ und „Naturwissenschaftler“. Gefeiert werden seine Entdeckungen auf dem Gebiet der Botanik, der Geologie, der Meeresforschung, der Meteorologie und natürlich der Geographie. Als Historiker ist er in der öffentlichen Wahrnehmung nicht wirklich präsent. Und dies umso weniger, als die Öffentlichkeit für gewöhnlich beide Humboldt-Brüder in einer Art Zusammenschau sieht, exemplarisch am Haupteingang der Berliner Universität, vor der seit 1883 zwei von dem Bildhauer Reinhold Begas aus Carrara-Marmor angefertigte Statuen der beiden Brüder zu sehen sind, links vor dem Eingang Wilhelm, rechts Alexander. Unterschwellig werden beide Brüder auch als Vertreter der zwei Hauptzweige der Wissenschaft wahrgenommen, wobei Wilhelm von Humboldt für die Geistesoder Kulturwissenschaften steht, während Alexander die Naturwissenschaften vertritt, als verkörperten sie gewissermaßen jene „zwei Kulturen“, die der englische Physiker und Romanautor Charles Percy Snow nach dem Zweiten Weltkrieg gefunden zu haben glaubte.1 Auf dem Umschlag der populären Doppelbiographie, die Manfred Geier 2009 den Brüdern Humboldt widmete, liest man: „Die Brüder Wilhelm von Humboldt (1767‒1835) und Alexander von Humboldt (1769‒1859) haben Geschichte geschrieben – als Philosoph, Sprachforscher und preußischer Staatsmann der Ältere, als Naturforscher, Schriftsteller und Weltreisender der Jüngere.“ 1
Charles Percy Snow: The Two Cultures. With an introduction by Stefan Collini. Cambridge 2003 [zuerst 1959]. Auf die Diskussionen, die sich an der von Snow konsequent durchgeführten Zweiteilung des wissenschaftlichen Feldes entzündeten, kann hier nicht eingegangen werden. In das Jahr, in dem die Humboldt-Sitzbilder vor der Berliner Universität aufgestellt wurden, fallen z.B. die Überlegungen Diltheys zur Bestimmung der Geisteswissenschaften und ihrer Abgrenzung von den Naturwissenschaften (Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883), und schon im 17. und 18 Jahrhundert war eine Zweiteilung der Disziplinen des Wissens durchaus geläufig, die sich in Formulierungen wie les sciences et les arts, les sciences et les lettres usw. niederschlug. Vgl. zu diesem Themenkomplex z.B. Wolfgang Frühwald: Humanistische und naturwissenschaftlich-technische Bildung: Die Erfahrung des 19. Jahrhunderts. In: Ders. u.a. (Hg.): Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. Frankfurt a.M. 1991, S. 73‒111, sowie die historisch weit ausholenden Ausführungen bei Ann Blair: Disciplinary Distinctions before the „Two Cultures“. In: The European Legacy, toward New Paradigms. Journal of the International Society for the Study of European Ideas 13/5 (2008), S. 577‒588.
Alexander von Humboldts Wissenschaftsgeschichte
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In den folgenden Ausführungen soll in einem ersten Teil dieses allzu simple Bild etwas nuanciert werden, bevor wir uns in einem zweiten Teil mit Alexander von Humboldts geschichtlichen Arbeiten beschäftigen, insbesondere mit dem Kosmos (1845‒1862). Dabei wollen wir uns drei Figuren annähern, denen bei Humboldt eine vorzügliche Rolle zukommt und an denen seine historische Verfahrensweise exemplarisch aufgezeigt werden kann: Alexander der Große (Abschnitt 3), die arabische Wissenschaft (Abschnitt 4) und James Cook (Abschnitt 5).
I.
Geschichte in Alexander von Humboldts Werk. Versuch einer Bestandsaufnahme
Seine Berühmtheit verdankt Alexander von Humboldt seiner großen Amerikareise (1799‒1804), die ihn in die heutigen Länder Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ecuador, Peru und Mexiko führte. Schon bei seiner Abreise aus Europa inszeniert Alexander sich selbst als naturwissenschaftlichen Forschungsreisenden, z.B. in einem Brief, den er am 11. April 1799 an David Friedländer sendet: Ich werde Pflanzen und Thiere sammeln, die Wärme, die Elasticität, den magnet[ischen] und den electr[ischen] Gehalt der Atmosphäre untersuchen, sie zerlegen, geograph[ische] Längen und Breiten bestimmen, Berge messen – aber dies alles ist nicht Zweck meiner Reise. Mein eigentlicher, einziger Zweck ist, das Zusammen- und Ineinander-Weben aller Naturkräfte zu untersuchen, den Einfluß der toten Natur auf die belebte Tier- und Pflanzenschöpfung. Diesem Zweck gemäß habe ich mich in allen Erfahrungskenntnissen umsehen müssen.2
Während der Reise sendet Alexander so oft wie möglich Briefe mit Daten, mit Gesteinsproben oder mit Teilen seiner Herbarien z.B. an französische Astronomen und Naturwissenschaftler.3 Seine erste große Veröffentlichung nach seiner Rückkehr, die 1807 zuerst auf französisch als Essai sur la géographie des plantes und im gleichen Jahr auf deutsch unter dem Titel Ideen zu einer Geographie der Pflanzen erschien, gilt als Gründungsdokument der Biogeographie. Die überwältigende Naturgewalt des amerikanischen Kontinents wird dort auch auf einem berühmten Blatt festgehalten, das den Titel Naturgemählde der Anden bzw. in der französischen Fassung Tableau physique des Andes trägt. Bemerkenswert für unseren Kontext ist ein relativ unbekannter Vortrag, den Humboldt im Januar 1806 in der Berliner Philomathischen Gesellschaft hielt und in dem er nicht nur einen Gegensatz zwischen der Geschichte auf der einen und der Natur auf der anderen Seite konstruiert, sondern diesen Gegensatz darüber hinaus auf die Alte und die Neue Welt projiziert:
2 3
Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787‒1799. Hg. v. Ilse Jahn u. Fritz G. Lange. Berlin 1973, S. 657. Alexander von Humboldt: Briefe aus Amerika 1799‒1804. Hg. v. Ulrike Moheit. Berlin 1993.
290
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Wenn ein aufmerksamer Beobachter den Nil vom Delta aufwärts, bis gegen Assuan (das alte Syene) schift, so ruht sein Blick überall auf ungeheuren Ueberresten von Schleusen, Dämmen, Pallästen, und Tempeln. Die niedrigen Ufer sind vegetazionsleer, und nur hie und da mit zerstreuten Dattelpalmen und Sykomorfeigen bewachsen. Fast erscheint die Natur dort kleinlich, gegen die aufgethürmten Riesenwerke untergegangener Kunst.4
Anders als Ägypten, das in dieser Passage für die in der Alten Welt unangefochtene Dominanz der Kultur steht, erscheint Amerika, d.h. der Kontinent, mit dem sich Humboldt jahrzehntelang beschäftigen sollte, als Ort, an dem die Übermacht der Natur den Menschen erdrückt und seine Existenz sogar überflüssig erscheinen läßt: Wie ganz anders ist der fühlende Mensch gestimmt, wenn er auf den ungeheuren Strömen von Südamerika 800 oder 1000 Meilen weit ins Innere des Kontinents eindringt, oder die wilden Berggehänge der Andes durchforscht! Hier verschwinden, gegen die mächtigere Natur, alle schwachen Werke des aufkeimenden Kunstfleißes der Menschen. Am Fuß schneebedeckter Vulkane, verbergen dichte Gebüsche von baumartigen Farrenkräutern, saftstrotzende Helikonien und hohe Fächerpalmen, den Boden. In menschenleeren Strecken von einigen tausend Quadratmeilen, leben nur Affen, Viverren, Tigerkatzen, und Krokodile. Verwilderte Pisangstämme und Melonenbäume sind die einzigen Spuren, welche der durchziehende Wilde, falls er je diese Einöden betrat, zurück ließ. Wenn der Anblick des sternenvollen Himmels in unsern Regionen die Phantasie mit Bildern von Welten füllt, in denen Menschen wohnen, so erwacht dagegen in den einsamen Waldungen am Cassiquiare und Atabapo die Idee einer Natur, in der die lebendigen Kräfte sich nur erst in zahllosen Pflanzengeschlechtern entwickeln, ohne sich schaffend zum Gebilde des Menschen zu erheben.5
Folgt man diesen ersten Beobachtungen, so wäre Humboldts Amerikareise die Erforschung eines fast menschenleeren, auf jeden Fall aber radikal geschichtslosen Orts. Nun will der berühmte Reisende aber gerade dieser Schlußfolgerung entgegentreten, hält er doch einen Vortrag, der schon in seinem Titel ganz klar darauf hinweist, daß es ihm um die „Urvölker von Amerika“ zu tun ist und um „die Denkmähler welche von ihnen übrig geblieben sind“. Mit anderen Worten: die von uns zitierte, beeindruckende Beschreibung der Alten und der Neuen Welt schildert nur den ersten Eindruck des Beobachters. Die Geschichtslosigkeit des neuen Kontinents ist nur ein trügerischer Schein, den Humboldt in seinem Vortrag aus dem Jahr 1806 und einige Jahre später besonders eindrucksvoll in den Vues des Cordillères et monumens des peuples indigènes de lʼAmérique (Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas, 1810‒1813) entkräftet.6 Dort legt er dem Publikum nicht nur einige Landschaftsbilder aus Südund Mittelamerika vor, sondern auch Tafeln von präkolumbianischen Bauwerken 4
5 6
Alexander von Humboldt: Ueber die Urvölker von Amerika und die Denkmähler welche von Ihnen übrig geblieben sind. In: Neue Berlinische Monatschrift XV (März 1806), S. 177‒208, hier S. 178. Ebd., S. 179. Von diesem bedeutenden Werk Humboldts waren bis zum Jahr 2004 auf deutsch nur Auszüge greifbar. Vgl. nunmehr Alexander von Humboldt: Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Übers. v. Claudia Kalscheuer. Hg. v. Oliver Lubrich u. Ottmar Ette. Frankfurt a.M. 2004. Zu den deutschen Teilausgaben dieses Werkes, vgl. ebd., S. 428f.
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und Codices, die er durch sorgfältige historische Kommentare zu erklären und zu analysieren versucht. Durch diese ersten Indizien wird man schnell auf die Zentralität der Geschichte in Alexander von Humboldts Publikationen aufmerksam, auf die ich hier nur kurz hinweisen möchte. Zu beachten wäre erstens der Umfang der historischen Ausführungen im großen Amerikawerk Humboldts ‒ Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents (Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent) ‒, in welchem der Forscher in den Jahren 1805‒1838 die Ergebnisse seiner Expedition niedergelegt hat und die bekanntlich aus 30 großformatigen Bänden (in Folio und in Quart) besteht: Fünfzehn Bände sind der Botanik vorbehalten, anschließend gibt es Bände, die den zoologischen Beobachtungen und den astronomischen, barometrischen und trigonometrischen Messungen gewidmet sind, sowie zwei Bände, in denen Humboldt eine umfassende Beschreibung Neu-Spaniens (des heutigen Mexiko) liefert.7 In den Jahren 1814‒1831 legt Humboldt im Rahmen des Voyage aux régions équinoxiales seine Relation historique vor, eine dreibändige, insgesamt mehr als 2000 Seiten umfassende Reisechronik, die trotz ihres monumentalen Ausmaßes unvollendet geblieben ist: Der Text zeichnet nur einen Teil (etwas mehr als ein Drittel) seiner Reise nach. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ‒ dreißig Jahre nach seiner Forschungsreise ‒ entschließt sich Humboldt, das amerikanische Reisewerk zu beenden (er nimmt dabei in Kauf, daß einige Teile des Werks nicht vollendet werden), u.a. weil er noch zwei andere Projekte verfolgt, an denen ihm gelegen ist und deren Ausführung der schon 1769 Geborene nicht endlos hinauszögern kann: eine längere Arbeit über Zentralasien (Frucht u.a. seiner Rußlandreise 1829) sowie eine allgemeine „Weltbeschreibung“ (d.h. den Kosmos). Den letzten Teil seines eigentlichen Amerikawerks publiziert er deshalb zwischen 1834 und 1838. Bezeichnenderweise ist dieser Schlußstein seines opus magnum ein historisches Werk, in dem Humboldt sich unter dem sperrigen Titel Examen critique de lʼhistoire de la géographie du nouveau continent et des progrès de lʼastronomie nautique au quinzième et seizième siècle8 mit der Geschichte und der Vorgeschichte der Entdeckung Amerikas beschäftigt, d.h. gleichsam mit der Entdeckung seines ureigenen Forschungsgegenstands. Obwohl auch dieser letzte Teil des Reisewerks Alexander von Humboldts ein Fragment geblieben ist (ein gigantisches Fragment allerdings: die Folioausgabe hat einen Umfang 7
8
Alexander von Humboldt: Essai politique sur le Royaume de la Nouvelle-Espagne. 2 Bde. Paris 1808‒1811. Es ist dies ein Werk, mit dem wir uns hier nicht beschäftigen können, wiewohl auch diese Arbeit bemerkenswerte historische Ausführungen enthält. Fast zeitgleich erschien eine deutsche Übersetzung dieser Arbeit: Alexander von Humboldt: Kritische Untersuchungen über die historische Entwickelung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und die Fortschritte der nautischen Astronomie in dem 15ten und 16ten Jahrhundert. Übers. v. Julius Ludwig Ideler. Berlin 1836. Von diesem Werk legte Ette 2009 im Insel Verlag eine auf die Übersetzung Idelers aufbauende, wertvolle Neuedition vor (mit einem leicht modifizierten Titel, vgl. Anm. 10).
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von 562 Seiten, die kurz darauf veranstaltete fünfbändige Oktavausgabe kommt auf mehr als 1760 Seiten), ist er sowohl Schlußstein als auch Fundament, auf das sich sein gesamtes Amerikawerk stützt. Dieses Examen critique kann hier nicht eingehender untersucht werden, wiewohl es für die Forschung von einigem Interesse ist, geht es Humboldt u.a. doch darum aufzuzeigen, daß die „Entdeckung“ Amerikas am Ende des 15. Jahrhunderts das Ergebnis eines jahrhundertelangen, schon im Altertum beginnenden Prozesses ist.9 Bevor wir uns nun dem letzten Werk Alexander von Humboldts zuwenden, dem (ebenfalls) fünfbändigen, in den Jahren 1845 bis 1862 erschienenen Kosmos, und darin insbesondere dem wissenschaftsgeschichtlichen Teil, soll uns in den Tiefen des Examen critique ein kleines anekdotisches Detail beschäftigen, das für das Selbstbild unseres Autors von Bedeutung ist. Zentrale Figur des Examen critique ist Christoph Kolumbus, dessen Amerikafahrten Humboldt z.T. minutiös nachzeichnet und von dem er in der Mitte seines Werks ein sehr detailliertes intellektuelles Porträt liefert. Am Ende dieser Beschreibung kommt Alexander auf die Abstammung des Seefahrers zu sprechen – erwähnt wird etwa der Umstand, daß sich die Ahnen Cristoforo Colombos als Lehnsmänner des Schlosses Cucarro sahen – und auf seinen Namen, der schon in den italienischen Urkunden variiert und in den verschiedenen europäischen Sprachen ebenfalls interessante Wandlungen durchgemacht hat. An einer versteckten Stelle seines Buches (auf Seite 361 der Folioausgabe, und auf den Seiten 389 bis 392 des dritten Bandes der Oktavausgabe), findet sich nun eine lange Fußnote, deren Schluß uns beschäftigen soll: Des changements analogues à ceux que le nom de l’amiral a subis en Italie, et en Espagne, où on le trouve écrit Colon, Colom et Colomo au lieu de Colombo se reproduisent dans d’autres familles qui n’ont aucune prétention de descendre de Cogoletto ou du château de Cucarro. Les Colomb de Bourgogne qui avant la révocation de l’édit de Nantes, y avoient établi de grandes verreries, signoient aussi Colon, Colom et Collon.10
9
10
Bezeichnenderweise schreibt Alexander von Humboldt in einem Brief an den Geographen Carl Ritter, „das Hauptresultat“ des Examen critique sei „die Entdekkung, das 15. Jahrhundert als einen Reflex der Mythen und Ahndungen der classischen Zeit und materieller Einwirkung der Araber und Normannen zu betrachten“ (Alexander von Humboldt u. Carl Ritter: Briefwechsel. Hg. v. Ulrich Päßler unter Mitarbeit v. Eberhard Knobloch. Berlin 2010, S. 50). [Jean Pierre] Erman u. [Pierre Chrétien Frédéric] Reclam: Mémoires pour servir à lʼHistoire des Réfugiés François dans les États du Roi (de Prusse). 9 Bde. Bd. V. Berlin 1786, S. 205: „Ähnliche Veränderungen wie diejenigen, welche der Name des Admirals in Spanien und Italien erlitten hat, wo man Colon, Colom und Colomo statt Colombo schreibt, finden sich auch in andern gleichnamigen Familien, welche keine Ansprüche darauf machen, aus Cogoletto oder dem Schlosse Cucarro herzustammen. Die Colomb aus Burgund, die vor dem Widerruf des Edikts von Nantes dort große Glashüten errichtet hatten, unterzeichneten ebenfalls mit Colon, Colom und Collon“ (Übersetzung aus Alexander von Humboldt: Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert. Hg. v. Ottmar Ette. Frankfurt a.M. 2009, S. 285).
Alexander von Humboldts Wissenschaftsgeschichte
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Bei den „Colomb aus Burgund“, die Alexander von Humboldt hier en passant am Ende einer langen Fußnote erwähnt, handelt es sich aber um die Familie MarieElisabeths von Colomb, der Mutter der Brüder Humboldt. Mit anderen Worten: Alexander von Humboldt, der oft als zweiter Entdecker Amerikas bezeichnet wird, ist gewissermaßen durch seinen Namen mit dem Genueser Seefahrer ‚verwandt‘. Vielleicht erklärt dies auch, weshalb seine Beschreibung des Christoph Kolumbus zum Teil wie ein Selbstporträt gelesen werden kann.
II.
Humboldts Geschichte der physischen Weltanschauung aus dem zweiten Band des Kosmos
Um die wissenschaftshistorischen Ausführungen Alexander von Humboldts in seinem späten Kosmos einzuordnen, ist es wichtig, ihren Platz in diesem Werk genau herauszuarbeiten. Der Kosmos ist eine allgemeine wissenschaftliche Beschreibung der Erde, die Humboldt nach 2383 Seiten im Oktavformat ebenfalls unvollendet ließ, diesmal nicht, weil er sich anderen Projekten widmen wollte, sondern weil – um hier die vielleicht etwas pathetischen Worte seines Sekretärs Eduard Buschmanns zu übernehmen – „der Tod […] den großen Autor seinem Werke vor dessen Vollendung entrissen“ hat.11 Der Kosmos besteht aus fünf Bänden: in den zwei ersten Bänden gibt der Autor einen allgemeinen Überblick, die darauf folgenden Bände befassen sich mit den „speziellen Ergebnissen“. Im ersten Band des Kosmos wird die Erde nun in einer Art zentripetaler Zoombewegung beschrieben, indem Humboldt sich aus den Weiten des Weltraums erst dem Sonnensystem und anschließend unserem Planeten nähert, dessen Beschaffenheit daraufhin beschrieben wird. Humboldt beschäftigt sich mit der Erdatmosphäre, mit den Meeren, den Gesteinsformationen, dann, gegen Ende des ersten Bandes, mit dem Pflanzen- und Tierleben und schließlich mit dem Menschen. Der zweite Band des Kosmos liefert dazu eine symmetrische (zentrifugale) Gegenbewegung; nachdem wir uns von außen her auf den Menschen hinbewegt haben, versenken wir uns gewissermaßen hinein in den Menschen und fragen danach, was den Menschen dazu bewegt hat, sich mit der Außenwelt zu beschäftigen, sich also nach außen zu projizieren. Doch gibt es einen zweiten, für uns noch wichtigeren Unterschied zwischen den beiden ersten Kosmos-Bänden. Der erste Band liefert eine synchrone Beschreibung des Universums („die einzelnen Theile der großen Gesammtheit“ werden „als coexistirend betrachtet“), während der zweite Band größtenteils diachronisch vorgeht, d.h. untersucht, „wie durch den Lauf der Jahrhunderte wir zu den
11
Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. 5 Bde. Stuttgart 1845‒1862.
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Kenntnissen gelangt sind, deren wir uns jetzt erfreuen“.12 Drei Viertel des zweiten Bandes sind einer großangelegten Geschichte der physischen Weltanschauung gewidmet, in der Humboldt die „Hauptmomente der allmäligen Entwickelung und Erweiterung des Begriffs vom Kosmos, als einem Naturganzen“ (dies der Untertitel des Abschnitts) darstellt. Hier interessiert sich Humboldt ‒ mit anderen Worten ‒ für die Vorgeschichte seines eigenen Blicks auf die Natur. Wir besitzen Dokumente, die es uns erlauben, die Genese der Kosmos-Schrift nachzuverfolgen: z.B. die im 20. Jahrhundert veröffentlichten Nachschriften der Vorlesungen und Vorträge, die Alexander von Humboldt im Winter 1827/28 in Berlin hielt, zuerst an der Berliner Universität, anschließend in veränderter Form für ein breiteres Publikum in der Singakademie. In seinen Vorträgen in der Singakademie teilt Alexander seinen historischen Überblick in folgende Epochen auf: 1, die Jonische Naturphilosophie, und die Dorisch-Pythagorische Schule. 2, die Züge Alexanders nach dem Osten. 3, die Züge der Araber nach Osten und Westen. 4, die Entdeckung von Amerika. 5, die Erfindung neuer Organe zur Naturbeobachtung, d.h. Fernrohr, Wärmemesser, Barometer von 1591‒1643. 6, Coockʼs Weltreisen, die ersten nicht bloß geographischen Entdeckungsreisen, die den Grund legten, zu späteren physikalischen Expeditionen.13 Betrachten wir nun, was aus dieser Einteilung knapp zwanzig Jahre später im zweiten Band des Kosmos (1847) geworden ist: 1, Griechenlands Frühzeit und klassische Periode 2, das Zeitalter Alexanders des Großen 3, die Ptolemäer 4, die Römer 5, die Araber 6, die Epoche der „oceanischen Entdeckungen“ (15. und 16. Jahrhundert) 7, das Zeitalter der modernen Astronomie, insbesondere des 17. Jahrhunderts (von Galilei bis Newton).14 12
13 14
Wir übernehmen die Darstellung dieser beiden Aspekte der Humboldtschen Weltbeschreibung nicht dem Kosmos selbst, sondern den sogenannten „Kosmosvorträgen“ aus den Jahren 1827/28, in denen der Gegensatz besonders prägnant formuliert wird: Alexander von Humboldt: Über das Universum. Die Kosmosvorträge 1827/28 in der Berliner Singakademie. Hg. v. Jürgen Hamel u. Klaus-Harro Tiemann. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1993, S. 147. Ebd., S. 150. (Die Hervorhebungen stammen vom anonymen Autor der Nachschrift der Humboldtschen Vorlesungen.) Ich gebe hier aus Platzgründen nicht die genauen Kapitelüberschriften Humboldts wieder, sondern liste von mir formulierte Titel auf. Die Kapitelüberschriften Humboldts erscheinen in
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Im Folgenden wollen wir diese überaus aufschlußreiche Epocheneinteilung näher betrachten, gehören doch die Zäsuren im Zeitkontinuum, die durch die Periodisierung entstehen, zu den strategisch wichtigsten Entscheidungen einer jeden Geschichtserzählung. Im Fall Alexander von Humboldts ist von besonderem Erkenntnisinteresse, daß wir es mit zwei konkurrierenden Periodisierungsvorschlägen zu tun haben. Drei Beobachtungen möchte ich vor diesem Hintergrund anstellen: Analysiert werden soll die Bedeutung Alexanders des Großen in Humboldts Geschichtsschema, diejenige der „Araber“ sowie die von Humboldt herausgearbeitete letzte Epoche. 1828 schließt er seinen Überblick mit einem Abschnitt über Cooks Weltumsegelungen und die modernen Forschungsreisen ab, während im letzten Kapitel der Geschichte der physischen Weltanschauung im zweiten Kosmos-Band von 1847 der Fokus auf die moderne Astronomie gelegt wird, wie schon aus dem stichwortartigen Inhaltsverzeichnis bzw. Titel des entsprechenden Kapitels hervorgeht: Große Entdeckungen in den Himmelsräumen durch Anwendung des Fernrohrs. – Hauptepoche der Sternkunde und Mathematik von Galilei und Kepler bis Newton und Leibnitz. – Gesetze der Planetenbewegung und allgemeine Gravitations-Theorie.15
Zuerst soll aber unser Blick auf die ersten Kapitel der Humboldtschen Geschichtserzählung gerichtet sein.
III. Alexander der Große als Forscher Alexander dem Großen kommt in Humboldts Tableau eine vorzügliche Rolle zu. Die Heerzüge des Mazedoniers markieren für ihn den Höhepunkt der antiken Wissenschaft. Bezeichnenderweise ist dies ein Aspekt, in dem sich die frühen Kosmosvorträge nicht wesentlich von dem später ausgeführten Werk unterscheiden. In den skizzenhaften Vorträgen aus dem Jahr 1828 werden die Perioden der Antike, die auf Alexanders Epoche folgen, einfach übergangen. Zu diesem Zeitpunkt interessiert sich Humboldt weder für das Zeitalter der Ptolemäer noch für dasjenige der Römer, denen er im Kosmos jeweils ein Kapitel widmen wird. Obwohl im späteren Kosmos durch die Einfügung dieser Kapitel die Darstellung des Altertums auf den ersten Blick ausgewogener erscheint, ändert sich die grundlegende wissenschaftsgeschichtliche Konzeption Humboldts nicht. Gipfel des Altertums bleibt in der Tat die Zeit Alexanders. Die Epoche der Ptolemäer ist für Humboldt hauptsächlich diejenige des enzyklopädischen Sammelns. Die Alexandrinische Schule der Ptolemäerzeit zeichnet sich „minder im Selbstbeobachten des
15
der Tat wie stichwortartige Zusammenfassungen der im Kapitel zu lesenden Ausführungen und sind deshalb entsprechend lang. Humboldt: Kosmos (wie Anm. 11), Bd. II, S. 341.
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Einzelnen“ aus als durch das „mühevoll[e] Zusammenfassen des Vorhandenen“, durch die „Anordnung, Vergleichung und geistige[…] Befruchtung des längst Gesammelten“.16 Bei den Römern wiederum würdigt Humboldt besonders die Kraft ihrer politischen Gestaltungsfähigkeit.17 Aus der Zeit von Roms Vorherrschaft hebt er zwar einzelne Wissenschaftlerfiguren hervor, z.B. Strabo, Ptolemäus und Plinius den Älteren.18 Insgesamt ist sein universalgeschichtliches Fazit aber sehr zurückhaltend. Seine Haltung kleidet Humboldt in eine eigentümliche Denkfigur, die man als Enttäuschung über das Ergebnis vor dem Hintergrund des hypothetisch Erwartbaren bezeichnen könnte: Bei dem Genusse eines langen Friedens hätte man vielleicht erwarten sollen, daß die Vereinigung so ausgedehnter, unter den verschiedenartigsten Klimaten gelegener Länder zu einer Monarchie, daß die Leichtigkeit, mit der Staatsbeamte mit einem zahlreichen Gefolge vielseitig gebildeter Männer die Provinzen durchreisten, nicht bloß der Erdbeschreibung, sondern der gesammten Naturkunde und den höheren Ansichten über den Zusammenhang der Erscheinungen auf eine außerordentliche Weise förderlich gewesen sein würde; aber so hochgespannte Erwartungen sind nicht in Erfüllung gegangen [Hervorh. C.H.].19
Ganz anders sieht das Alexander-Kapitel des Kosmos aus, das ja schon dadurch innerhalb der Darstellung des Altertums heraussticht, daß hier nicht mehrere Jahrhunderte erzählt werden, sondern nur die (in einer universalhistorischen Perspektive) relativ kurze Periode von Alexanders Heerzug nach Asien: weniger als ein Jahrzehnt. In einer teleologischen Geschichtserzählung, die von vornherein dem Fortschrittsbegriff unterstellt wird,20 werden die Resultate des Heerzugs Alexanders gewürdigt. Der militärische und machtpolitische Aspekt wird in der Skizze von 1828 ganz unterschlagen. Zwanzig Jahre später erscheint das Alexander-Bild Alexander von Humboldts noch positiver. Der Altertumswissenschaftler Pierre Briant bemerkt in seiner jüngst erschienenen Arbeit über das Bild Alexanders des Großen in der Zeit der Aufklärung, daß Humboldts Alexander-Bild, auf das er nicht weiter eingehen kann, im Grunde genommen dasjenige Droysens sei.21 In der Tat zitiert Humboldt in seinem Kosmos sehr oft dessen Geschichte Alexanders des Großen, die 1833 erschienen war. Gerne nimmt er das von Droysen propagierte Bild des 16 17 18 19 20
21
Ebd., S. 205f. Ebd., S. 217f. sowie 234f. Ebd., S. 222‒234. Ebd., S. 215f. Innerhalb der Kosmosvorlesungen aus dem Jahr 1828 hat Humboldt nur wenig Zeit, um aufzuzeigen, „wie durch den Lauf der Jahrhunderte wir zu den Kenntnissen gelangt sind, deren wir uns jetzt erfreuen. Eine geschichtliche Entwickelung dieses Fortschreitens kann nicht erwartet werden“ (Humboldt: Über das Universum, wie Anm. 12, S. 147). 1847 wird die Darstellung dieses Fortschritts oder „Fortschreitens“ dann in der Geschichte der physischen Weltanschauung ausgeführt, die sich, wie der Untertitel dieses Teils des Kosmos ankündigt, mit der „allmälige[n] Entwickelung und Erweiterung des Begriffs vom Kosmos“ beschäftigt (ders.: Kosmos, wie Anm. 11, Bd. II, S. 135). Pierre Briant: Alexandre des Lumières. Paris 2012.
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Mazedoniers als zivilisatorischen Helden auf. Ein entscheidender Unterschied ist allerdings bemerkbar: Während Droysen Alexander natürlich auch als Heerführer darstellt, dem die weltgeschichtliche Aufgabe zukommt, sowohl die Vereinzelung der griechischen Kleinstaaterei als auch den asiatischen Despotismus der persischen Könige zu überwinden, verschwinden bei Humboldt alle Gegner. Bei Droysen gibt es, hierin ganz hegelianisch,22 Sieger der Geschichte, also auch Verlierer, die benannt werden – in Humboldts Kosmos, der sich zugegebenermaßen nicht mit militärischen und politischen Aspekten beschäftigt, gibt es keinen Kampf, mithin keine Verlierer. Die Humboldtsche Wissenschaftsgeschichte ist eine gänzlich untragische Angelegenheit. Detailliert zeigt Humboldt auf, inwiefern Alexanders Heerzug eine „Erweiterung des Ideenkreises“ – um hier die Diktion Humboldts aufzunehmen – nach sich zog;23 und neben den großen Ideen gibt er auch eine farbige Beschreibung der Gegenstände, die die Griechen sehen konnten: Große und niegesehene Thier- und Pflanzengestalten erfüllten die Einbildungskraft mit anregenden Bildern. Schriftsteller, deren nüchtern-wissenschaftliche Schreibart sonst aller Begeisterung fremd bleibt, werden dichterisch, wenn sie beschreiben die Sitten der Elephanten; die „Höhe der Bäume, deren Gipfel mit einem Pfeile nicht erreicht werden kann, deren Blätter größer als die Schilde des Fußvolks sind“; die Bambusa, ein leichtgefiedertes, baumartiges Gras, „dessen einzelne Knoten (internodia) als vielrudrige Kähne dienen“; den durch seine Zweige wurzelnden indischen Feigenbaum, dessen Stamm bis 28 Fuß Durchmesser erreicht und der, wie Onesikritus sehr naturwahr sich ausdrückt, „ein Laubdach bildet gleich einem vielsäuligen Zelte“. Der hohen baumartigen Farren, nach meinem Gefühl des größten Schmuckes der Tropenländer, erwähnen indeß Alexanders Gefährten nie; wohl aber der herrlichen fächerartigen Schirmpalmen wie des zarten, ewig frischen Grünes angepflanzter PisangGebüsche.24
Der derart seiner Waffen und seiner Armeen beraubte Alexander wird der Entdecker einer neuen Welt. Auf bemerkenswerte Weise vermag es also Humboldt, den mazedonischen Heerzug gewissermaßen zu entmilitarisieren und in eine „wissenschaftliche Expedition“ umzuwandeln.25 22
23 24 25
Die Gemeinsamkeiten zwischen Droysens und Hegels Geschichtsauffassung werden schon seit langem kontrovers diskutiert. Zu diesem Punkt, der hier nicht nachgezeichnet werden kann, vgl. etwa Jörn Rüsen: Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J.G. Droysens. Paderborn 1969; Herbert Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Das Problem des Historismus. Freiburg u. München 1974; Stefan Jordan: Hegel und der Historismus. In: Elisabeth Weisser-Lohmann u. Dietmar Köhler (Hg.): Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bonn 1998, S. 205‒224 sowie (sich von Jordan absetzend) Christoph J. Bauer: „Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck“. Geschichtsphilosophie bei Hegel und Droysen. Hamburg 2001. Humboldt: Kosmos (wie Anm. 11), Bd. II, S. 186. Ebd., S. 189f. „Die macedonische Expedition, welche einen großen und schönen Theil der Erde dem Einflusse eines einzigen und dazu eines so hochgebildeten Volkes eröffnete, kann demnach im eigentlichsten Sinne des Worts als eine wissenschaftliche Expedition betrachtet werden“ (ebd., S. 192). Der Bezug auf den Ägyptenfeldzug Napoleons, auf den noch im Nachsatz zu diesem Zitat angespielt wird, ist unverkennbar, wenngleich es irritieren mag, daß Humboldt
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Die Kunde eines großen Theils des Erdbodens wurde nun erst wahrhaft eröffnet. Die Welt der Objecte trat mit überwiegender Gewalt dem subjectiven Schaffen gegenüber; und indem, durch Alexanders Eroberungen, griechische Sprache und Litteratur sich fruchtbringend verbreiteten, waren gleichzeitig die wissenschaftliche Beobachtung und die systematische Bearbeitung des gesammten Wissens durch Aristoteles Lehre und Vorbild dem Geiste klar geworden.26
Alexander wird zu einer Kolumbus-Figur umfunktioniert,27 so wie umgekehrt auch das Ende des 15. Jahrhunderts mit dem Zeitalter Alexanders verglichen wird28 – eine Parallelisierung, die der Autor des Kosmos nicht bei Droysen gefunden hat, sondern die ihm ganz eigen ist. Während Alexander der Große den Griechen das Tor zum Osten hin öffnete, ist Kolumbus derjenige, der den Europäern eine gänzlich neue Welt im Westen aufschloß. Daß die Verbindung von Alexander dem Großen und Kolumbus auch dazu beiträgt, beide Gestalten mit Humboldt in Beziehung zu setzen, wird in dem Werk selbst nicht hervorgehoben; nicht zu übersehen ist allerdings die Empathie, mit der der Autor des Kosmos sich mit zwei Figuren beschäftigt, die seine Namensvettern sind: Humboldt teilt seinen Vornamen mit dem großen Mazedonier, während seine Familie mütterlicherseits, wie wir schon bemerkt haben, den Namen des Genueser Entdeckers trug.
IV. Lob der Araber Für jeden in der Tradition der Aufklärung stehenden Theoretiker des historischen Fortschritts stellt das Mittelalter eine gewisse Herausforderung dar, besonders wenn er, wie Alexander von Humboldt, sich kaum für eine christlich-,romantische‘ Lesart begeistert haben dürfte, in der das Mittelalter wenigstens als Blütezeit der europäischen Glaubenswelt gefeiert werden konnte. Alexander interessiert sich für die wissenschaftlichen Errungenschaften der verschiedenen Epochen, und da konnte ihm das europäische Mittelalter wie eine Zeit des Stillstandes erscheinen: Es kann weder von großen Entdeckungsreisen berichtet werden (sieht man von den Fahrten der Wikinger, die Humboldt durchaus kannte, oder von der Reise Marco Polos ab) noch von wichtigen naturwissenschaftlichen Leistungen. Humboldt löst das Problem anders als etwa Goethe, der sein der Zwischenzeit gewidmetes Kapitel
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unterschwellig den von ihm hochgelobten Alexander mit dem modernen französischen Heerführer und Kaiser vergleicht, dem er doch so kritisch gegenüberstand. Ebd., S. 189f. Vgl. ebd., S. 186: „In keiner anderen Zeitepoche (die, achtzehn und ein halbes Jahrhundert später erfolgende Begebenheit der Entdeckung und Aufschließung des tropischen Amerikaʼs ausgenommen) ist auf einmal einem Theile des Menschengeschlechts eine reichere Fülle neuer Naturansichten, ein größeres Material zur Begründung der physischen Erdkenntniß und des vergleichenden ethnologischen Studiums dargeboten worden.“ Vgl. ebd., S. 267: „Wie in Alexanders Heerzügen, aber mit noch überwältigender Macht, drängte sich jetzt die Welt der Objecte, in den Einzelformen des Wahrnehmbaren wie in dem Zusammenwirken lebendiger Kräfte, dem combinirenden Geiste auf.“
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des „Historischen Teils“ der Farbenlehre (1810) mit einem Abschnitt einleitet, der die Diskontinuität zwischen dem Altertum und der Neuzeit thematisiert. Das Mittelalter erscheint dort nicht wie ein Bindestrich zwischen dem Altertum und der Moderne, sondern wie eine Kluft, die den Übergang von der Zeit Athens und Roms zu der Jetztzeit durchaus erschwert. Lücke ist der Titel des entsprechenden Abschnitts bei Goethe: Jene früheren Geographen, welche die Karte von Africa verfertigten, waren gewohnt, dahin, wo Berge, Flüsse, Städte fehlten, allenfalls einen Elefanten, Löwen oder sonst ein Ungeheuer der Wüste zu zeichnen, ohne daß sie deshalb wären getadelt worden. Man wird uns daher wohl auch nicht verargen, wenn wir in die große Lücke, wo uns die erfreuliche, lebendige, fortschreitende Wissenschaft verläßt, einige Betrachtungen einschieben, auf die wir uns künftig wieder beziehen können.29
Statt nun, wie Goethe, eine solche „Lücke“ oder einen solchen weißen Fleck zu postulieren, bemerkt Humboldt: Es liegt nicht in der Bestimmung des menschlichen Geschlechts, eine Verfinsterung zu erleiden, die gleichmäßig das ganz Geschlecht ergriffe. Ein erhaltendes Princip nährt den ewigen Lebensproceß der fortschreitenden Vernunft.30
Dieses „erhaltende Princip“ oder, um es anders auszudrücken, die verborgene Arbeit des Fortschritts versucht Humboldt nun auf zwei Arten darzustellen. Erst einmal unterstreicht er bei der Beschreibung der für ihn goldenen Zeit der ozeanischen Entdeckungen am Ende des 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts, daß die geschichtlich außerordentliche Konstellation der Zeit um 1500 schon in den vorhergehenden Jahrhunderten, wie er selbst schreibt, „tiefe Wurzeln“ besitzt: Die Epoche des Columbus erlangte nur deshalb so schnell die Erfüllung ihrer Bestimmung, weil befruchtende Keime von einer Reihe hochbegabter Männer ausgestreuet worden waren, die wie ein Lichtstreifen durch das ganze Mittelalter, durch finstere Jahrhunderte hindurchgeht. Ein einziges derselben, das dreizehnte, zeigt uns Roger Baco, Nicolaus Scotus, Albert den Großen, Vincentius von Beauvais. Die erweckte Geistesthätigkeit trug bald ihre Früchte in Erweiterung der Erdkunde.31
Diese Zeilen aus dem Kosmos fassen zum Teil die langen Passagen aus dem großen Examen critique zusammen, in denen Humboldt die intellektuelle Genealogie und die Voraussetzungen der Entdeckung Amerikas nachweist. Dies aber genügt nicht, um eine Geschichtskontinuität herzustellen, da immer noch eine breite „Lücke“ klafft zwischen dem Untergang des Römischen Reiches und den von Humboldt hier erwähnten Lichtgestalten des 13. Jahrhunderts. Deshalb bemüht Alexander eine zweite Strategie, die darin besteht, nach der Beschreibung der Epochen 29
30 31
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. 20 in 32 Bänden. Hg. v. Karl Richter. Bd. 10: Zur Farbenlehre. Hg. v. Peter Schmidt. München u. Wien 1989, S. 566. Humboldt: Kosmos (wie Anm. 11), Bd. II, S. 268. Ebd.
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des Altertums einen Umweg zu machen, indem er die translatio studii in den Orient verlegt. In der Tat sind es die Araber, die in Humboldts Geschichtsdarstellung die Lücke auffüllen zwischen dem Altertum und dem Zeitalter der „oceanischen Entdeckungen“. Diese geographische Verlagerung seiner Geschichtserzählung, die eine fast kontinuierliche Geschichte des Fortschritts ermöglicht, ist übrigens in Humboldts Kosmosvorlesungen aus den Jahren 1827/28 noch stärker ausgeprägt, in denen die arabische Wissenschaft sich nicht nur von der gleichzeitigen Entwicklung im mittelalterlichen Europa positiv abhebt, sondern sogar vom späten römischen Kaiserreich. Durch den Einfall der Araber ist, so Humboldt, „die in Schwachheit versunkene Welt wieder aufgefrischt worden“.32 Daß Humboldt den Grund dieser Schwachheit in dem „ganzen Wust der morgenländischen Theosophie“ verortet, der „mit den Neuplatonikern und Gnostikern“ in der Zeit des Kaisers Hadrian in Rom Einzug gehalten habe,33 sei hier nur am Rande vermerkt. Dem frühen Christentum kann Humboldt ganz offensichtlich nur wenig Sympathie entgegenbringen,34 und wenn man eine strenge Unterscheidung zwischen platonischen und aristotelischen Denktraditionen postuliert, so sieht sich Humboldt in der Regel lieber als Aristoteliker.35 In den Kosmosvorlesungen wie in dem späteren Kosmos kommt dem Umweg über den Osten des Mittelmeerbeckens eine wissenschaftsgeschichtlich bedeutende Rolle zu. Im Kosmos zeichnet Humboldt mit großer Sympathie die wissenschaftlichen Arbeiten der Araber nach, die nicht nur dazu beitragen, bedeutendes Ideengut aus der Antike für die Nachwelt zu erhalten, sondern auch noch ganz und gar neuartige Wissenschaftspraktiken erfinden. Während das Altertum schon das „Aufsuchen des Vorhandenen“ und das „Messen von Größe und Dauer der Bewegung“ kannte, haben die arabischen Wissenschaftler, so Humboldt, „eine dritte und höhere Stufe“ der wissenschaftlichen Methode erreicht, durch das „willkührliche Hervorrufen von Erscheinungen, das Experimentieren“ – eine „in dem Alterthum fast 32 33 34
35
Humboldt: Über das Universum (wie Anm. 12), S. 160. Ebd., S. 158. Dies wird in den Kosmosvorlesungen offener ausgesprochen als im späteren Kosmos, der weder die christliche Spätantike noch das europäische Frühmittelalter richtig thematisiert. 1828 hatte Humboldt in den Vorlesungen noch bemerkt, daß „gehässige Streitigkeiten über religiöse Gegenstände und allgemeine Unduldsamkeit viel zur Schwächung des römischen Reiches beitrugen“ (ebd., S. 160). Im Kosmos vermeidet Humboldt jede Anhäufung negativer Bemerkungen zur Rolle des Christentums. Dort findet sich allerdings die Bemerkung, daß „durch christliche Autorität […] verworrene Ideen über den Kosmos“ im Mittelalter hätten aufleben können, deren „Nichtigkeit“ schon von den Alexandrinern bewiesen worden seien (Humboldt: Kosmos, wie Anm. 11, Bd. II, S. 281), und er hebt im Gegenteil die positive politische und philosophische Wirkung des Christentums hervor, das das „Gefühl von der Einheit des Menschengeschlechts“ begünstigt habe (so im Untertitel zum ,römischen‘ Kapitel der Geschichte der physischen Weltanschauung, ebd., S. 212 sowie im Text, S. 234‒236). Vgl. auch in diesem Sinn den von Humboldt noch im Kosmos dargestellten Gegensatz zwischen Platonismus und Aristotelismus, wobei er wieder ganz eindeutig letzterem eine wissenschaftsgeschichtlich fortschrittliche Wirkung zuspricht. Vgl. Humboldt: Kosmos (wie Anm. 11), Bd. II, S. 281.
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ganz unbetretene Stufe“.36 Man möchte, so führte Humboldt schon 1828 diesen Gedanken aus, „die Art unserer heutigen Naturbetrachtung von den Arabern datiren“.37 Im Kosmos gibt Humboldt darüber hinaus detaillierte Informationen über die Fortschritte dieses „mit der Natur so befreundete[n] Volks“ in den verschiedenen Zweigen der Naturwissenschaft,38 in der Erdkunde,39 der Botanik,40 der Arzneikunde,41 der Chemie (mit den Arabern, so Humboldt, „fing gleichsam ein neues Zeitalter für diese Wissenschaft an“),42 in den mathematischen Wissenschaften (begünstigt durch die Übernahme des indischen Zahlensystems)43 und in der Astronomie.44 Diese positive Wertung der Arbeit der arabischen Wissenschaftler ist gegen Ende des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht ganz unüblich. Schon bei Gibbon45 oder bei Condorcet wird die arabische Wissenschaft gelobt, während gleichzeitig der „durch die Religion gestützte Despotismus“ („un despotisme consacré par la religion“) des Orients scharf kritisiert wird.46 Obwohl nun Humboldt in sein Gesamtbild auch einige wenige negative Beobachtungen einfließen läßt, besonders in den letzten Seiten seines Arabien-Kapitels, werden die Araber im Kosmos in ein überaus helles und freundliches Licht getaucht. Dies ist umso bemerkenswerter, als Humboldts Position sich sehr deutlich abhebt von dem negativen Bild, das viele seiner Zeitgenossen von den Arabern zeichnen. In Hegels Geschichtsphilosophie zeichnen sich die Araber z.B. durch ihre „Formlosigkeit“ aus – und dieses negative Element, das schon am Anfang der ihnen gewidmeten Ausführungen innerhalb der Hegelschen Vorlesungen kräftig hervorge-
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38 39 40 41 42 43 44 45
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Ebd., S. 249. Humboldt: Über das Universum (wie Anm. 12), S. 161. Derselbe Gedanke wird auch im Kosmos ausgeführt: „Die Araber sind, wir wiederholen es, als die eigentlichen Gründer der physischen Wissenschaften zu betrachten, in der Bedeutung des Wortes, welche wir ihm jetzt zu geben gewohnt sind“ (ders.: Kosmos, wie Anm. 11, Bd. II, S. 248). Humboldt: Kosmos (wie Anm. 11), Bd. II, S. 254. Ebd., S. 252‒255. Ebd., S. 254f. Ebd., S. 250, 255. Ebd., S. 256f. Ebd., S. 262‒264. Ebd., S. 258‒262. Exemplarisch das insgesamt ausgewogene Bild, das Gibbon 1788 von den Arabern in den Kapiteln L bis LII seiner monumentalen History of the Decline and the Fall of the Roman Empire zeichnet. In diesen Abschnitten findet sich sowohl die positive Bewertung der arabischen Wissenschaft als auch die negative, im 18. Jahrhundert geradezu topische Kennzeichnung der politischen („despotism“) und religiösen („superstition“) Bräuche und Institutionen des Orients. Zu Gibbon vgl. insbesondere David Womersley: „Enthusiasm and Imposture“: Gibbon and Mahomet. In: Ders.: Gibbon and the „Watchmen of the Holy City“. The Historian and his Reputation 1776‒1815. Oxford 2002, S. 148‒172. Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet: Tableau historique des progrès de l’esprit humain. Projets, esquisse, fragments et notes (1772‒1794). Hg. v. Jean-Pierre Schandeler u. Pierre Crépel. Paris 2004, S. 327 (Sixième époque).
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hoben wird,47 läßt die vom Philosophen kurz erwähnten wissenschaftlichen Leistungen der arabischen Völker nur als fragile, schnell wieder abgeschlossene Episode erscheinen, die in der negativen Stimmung des gesamten Abschnitts keine Wirkung entfalten kann. Noch bedeutsamer für unseren Kontext sind die kurzen Abschnitte, die William Whewell in seiner einflußreichen History of the Inductive Sciences (1837) den Arabern widmet.48 In diesem Werk, das oft wiederaufgelegt wurde und schon 1840 in einer deutschen Übersetzung vorlag, werden die arabischen Wissenschaftler nur als unfruchtbare Bewahrer der griechischen Wissenschaft („scrupulous but unprofitable servant“) abgefertigt.49 Sie fügen sich deshalb gut in die in Whewells Worten „stationäre Periode“ der Wissenschaftsgeschichte ein. Als produktives Zwischenglied zwischen den Wissenschaftlern des (europäischen) Altertums und denen der (europäischen) Neuzeit taugt die arabische Wissenschaft nicht: „Europe had to start where Europe had stopped. There is no Arabian name which any one has thought of interposing between Archimedes the ancient, and Stevinus and Galileo the moderns“.50
V. Das Zeitalter der Mathematik Zu den strategisch bedeutenden Punkten eines jeden geschichtsphilosophischen Panoramas gehört naturgemäß das Ende der Erzählung, d.h. die Charakterisierung der letzten Periode oder des letzten Kapitels der dargestellten Geschichte. Ein Vergleich der Kosmosvorlesungen und des Kosmos bietet hier ein reiches Anschauungsmaterial, weil sich Humboldts „Geschichte der physischen Weltanschauung“ in dieser Hinsicht in den zwei Jahrzehnten, die zwischen beiden Entwürfen liegen, stark gewandelt hat. Unterschiede gibt es nicht nur in der Periodisierung, d.h. in der von Humboldt vorgelegten Chronologie, sondern auch in der Charakterisierung der letzten Epoche, die ja deshalb von Bedeutung ist, weil sie immer auch die Jetztzeit des Autors mit einbezieht. Ein erster Unterschied zwischen der in den Kosmosvorlesungen und der im Kosmos vorgelegten Geschichte ist in der Periodisierung zu suchen. Es fällt auf, 47
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„Wir haben schon früher die Natur des orientalischen Prinzips kennengelernt und gesehen, daß das Höchste desselben nur negativ ist, und daß das Affirmative das Herausfallen in die Natürlichkeit und die reale Knechtschaft des Geistes bedeutet. […] Die mohammedanische Religion nahm ihren Ursprung bei den Arabern: hier ist der Geist ein ganz einfacher, und der Sinn des Formlosen ist hier zu Hause, denn in diesen Wüsten ist nichts, was gebildet werden könnte“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. XII: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M. 1986, S. 429f.). William Whewell: History of the inductive sciences, from the earliest to the present times. 3 Bde. Bd. I. London 1837, S. 222‒231, 276‒280, 336‒341. Ebd., S. 223. Ebd., S. 341.
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daß die sehr knapp vorgetragene Periodisierung in den Kosmosvorlesungen stärker auf die Jetztzeit des Autors ausgerichtet ist: Die Antike wird in nur zwei Epochen unterteilt, eine Epoche bleibt dem (arabischen) Mittelalter vorbehalten, und für die Neuzeit seit 1492 bleiben drei Epochen. Im Kosmos werden die Perioden ganz anders gewichtet. Den nunmehr vier Epochen der Antike stehen neben der arabischen Periode nur noch zwei moderne Perioden gegenüber.51 Noch bedeutender ist, daß die in den Kosmosvorlesungen skizzierte letzte Periode, diejenige der modernen wissenschaftlichen Expeditionen, die Humboldt mit dem Namen Cooks verbindet, im Kosmos ganz unter den Tisch fällt. In den Kosmosvorlesungen ist die Evozierung Cooks insofern evident, als der englische Weltumsegler die Tradition des aufklärerischen Forschungsreisenden wenn nicht begründet, so doch exemplarisch verkörpert, weshalb er ja schon im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht nur in England geradezu heroisiert wurde; daß Alexander von Humboldts eigene Amerikareise in dieser Tradition steht, verleiht der in den Vorlesungen vorgenommenen Periodisierung zusätzliches Gewicht.52 Umso erstaunlicher, daß Cooks Reisen zwanzig Jahre später in der Geschichte der physischen Weltanschauung im zweiten Band des Kosmos nicht erwähnt werden. Im Kosmos endet die letzte in der Geschichtserzählung dargestellte Epoche mit Newton, ca. ein dreiviertel Jahrhundert vor Cook. Das 18. und das 19. Jahrhundert werden in der Geschichte der physischen Weltanschauung nicht mehr dargestellt. Dies mag einerseits daran liegen, daß Humboldt es vorzieht, eine gewisse Distanz zwischen seiner eigenen und der letzten von ihm erzählten Zeit zu wahren. Erst aus der Distanz kann man die herausgehobenen Ereignisse in der riesigen Masse der Begebenheiten wahrnehmen. Schon am Anfang des 5. Kapitels hatte Humboldt in diesem Sinn bemerkt: Unseren Zeiten näher wird das Herausheben einzelner Momente um so schwieriger, als die menschliche Thätigkeit sich vielseitiger bewegt und als mit einer neuen Ordnung in den geselligen und staatlichen Verhältnissen auch ein engeres Band alle wissenschaftlichen Richtungen umschließt.53
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Etwas anders sieht der Befund allerdings aus, wenn wir die Länge der verschiedenen Kapitel berücksichtigen. Jeder der zwei Perioden der Neuzeit wird im Kosmos weit mehr Platz eingeräumt als den früheren Perioden: im Haupttext wird die 6. Epoche in 74 Seiten, die 7. Epoche immerhin noch in 53 Seiten abgehandelt, während die fünf anderen Epochen nur 31, 16, 11, 24 und 28 Seiten beanspruchen (insgesamt mithin kürzer als die zwei letzten Kapitel sind). In dieser Hinsicht entgeht Alexander von Humboldts Geschichte der physischen Weltanschauung nicht den Tendenzen, die auch sonst in Universalgeschichten sehr oft bemerkbar sind: die rezenten Perioden werden ausführlicher beschrieben als die älteren Zeiten. Ebenfalls erwähnt werden müßte hier die Bedeutung Georg Forsters als Bindeglied zwischen Cook und Humboldt; seine erste größere Reise unternahm Alexander von Humboldt 1790 durch das Rheinland, die Niederlande, England und Frankreich als Begleiter Forsters, der 1772‒1775 bekanntlich an der zweiten Weltreise Cooks teilgenommen hatte. Humboldt: Kosmos (wie Anm. 11), Bd. II, S. 238f.
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Gleichzeitig wird die Geschichte der Forschungsreisen des 18. und des 19. Jahrhunderts von Alexander von Humboldt im Kosmos auch deshalb ganz ausgespart, weil er eine ganz andere Geschichte erzählen möchte und eine ganz andere Analyse der wissenschaftshistorischen Position seiner eigenen Zeit liefert als in den Vorträgen zwanzig Jahre zuvor. Mit dem Ende der Renaissance, so Humboldt nun, endet gleichzeitig das Zeitalter der „ozeanischen Entdeckungen“. Der Mensch hat alle Weltteile entdeckt. Die Weltkarte, die Umrisse aller Erdkontinente sind im Wesentlichen bekannt. Mit anderen Worten: Kolumbus und seine Zeitgenossen sind die letzten bedeutenden Entdecker von Teilen der Außenwelt. Jede Mehrung der Kenntnisse von der Welt spielt sich fortan in einer anderen Sphäre ab. Das Zeitalter der großen Entdeckungsreisen am Ende des 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts ist also als Abschluß eines langen Prozesses anzusehen. Dies erklärt auch die fundamentale Zäsur zwischen der sechsten und der siebten (bzw. letzten) Epoche des im Kosmos gelieferten Geschichtspanoramas: Mit der Besitznahme einer ganzen Erdhälfte, welche verhüllt lag, mit den größten Entdeckungen im Raume, welche je den Menschen geglückt, ist für mich die Reihe der Ereignisse und Begebenheiten geschlossen, welche plötzlich den Horizont der Ideen erweitert, zum Erforschen von physischen Gesetzen angeregt, das Streben nach dem endlichen Erfassen des Weltganzen belebt haben. Die Intelligenz bringt fortan, wie wir schon oben angedeutet, Großes ohne Anregung durch Begebenheiten, als Wirkung eigener innerer Kraft, gleichzeitig nach allen Richtungen hervor.54
Eine bemerkenswerte Passage: Virtuos interpretiert Alexander von Humboldt alle Unternehmungen, die in den Jahrhunderten nach 1550 dazu führten, daß die Europäer peu à peu alle ihnen vordem unbekannten Regionen der Erde kartographieren konnten, nur als Folgeerscheinungen oder Fortsetzungen der großen Entdeckungsreisen des ausgehenden 15. und des 16. Jahrhunderts. Danach geschah das methodisch Neue, so Humboldt, andernorts. Nach dem Zeitalter der großen Entdeckungen beginnt ab 1550 die Periode, in der Entdeckungen durch die Riesenschritte, die „der menschliche Geist vorzugsweise in Entwickelung mathematischer Gedanken“ macht, „durch eigne innere Kraft, nicht durch äußere Begebenheiten angeregt“ [Hervorh. C.H].55 Kurzum: Es handelt sich um das Zeitalter der Mathematik. Die Zäsur zwischen den sechs ersten und der siebten Epoche der Humboldtschen Geschichte der physischen Weltanschauung kann man also gleichsetzen mit derjenigen zwischen dem Außen und dem Innen – zwischen der Erforschung der Außenwelt und derjenigen der intellektuell zu erfassenden, abstrakten mathematischen Gesetze.
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Ebd., S. 397. Neben dieser Passage wird die hier beschriebene entscheidende Zäsur in der Geschichte der physischen Weltanschauung noch zwei Mal dargestellt: jeweils am Anfang des 5. und des 6. Kapitels (Bd. II, S. 238 sowie S. 341f.). Ebd., S. 341f.
Alexander von Humboldts Wissenschaftsgeschichte
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Die Geistesarbeit zeigt sich in ihrer erhabensten Größe da, wo sie, statt äußerer materieller Mittel zu bedürfen, ihren Glanz allein von dem erhält, was der mathematischen Gedankenentwickelung, der reinen Abstraction entquillt.56
Die Unterscheidung zwischen den „äußeren“ und den „inneren“ Entdeckungen wird im letzten Kapitel der Geschichte der physischen Weltanschauung besonders hervorgehoben, begründet sie doch die fundamentale Unterscheidung zwischen den sechs in der Vergangenheit liegenden Epochen einerseits, die in der Entdeckung Amerikas kulminieren, und der letzten Epoche andererseits, dem Zeitalter der Mathematik, das sich nicht nur auf die Jahrzehnte zwischen Kopernikus und Newton erstreckt, sondern in das eigentlich, so Humboldt, auch unsere und jede zukünftige Zeit noch hineingehört.
VI. Ausblick: Kein Ende in Sicht Ralph Rainer Wuthenow hat Alexander von Humboldt einmal den „letzte[n] Repräsentant[en] der europäischen Aufklärung“ genannt.57 Zwar sollten solch pauschale Wendungen und Wertungen nur mit Vorsicht gebraucht werden. Beschäftigt man sich mit Humboldts Geschichtsauffassung, wird man die Nähe zur deutschen (Kant) oder französischen (Condorcet) Spätaufklärung indes nicht leugnen. Humboldt kannte natürlich Kants Schriften, und mit Condorcet58 hat er sich in den letzten Jahren der Julimonarchie wieder verstärkt beschäftigt. François Arago, sein großer Freund, hatte 1841 in der Pariser Akademie der Wissenschaften eine längere Condorcet-Biographie vorgetragen und veranlasste einige Jahre später eine zwölfbändige Ausgabe der Werke des Mathematikers und Philosophen, die Humboldt zugesandt wurde.59 Dies könnte seine „optimistische“ Geschichtsschreibung noch bestärkt haben.60 In der Tat besitzt der bei Condorcet entwickelte Fortschrittsbegriff gerade für die aufstrebende Wissenschaft dieser Zeit eine besondere 56 57
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Ebd., S. 394. Ralph Rainer Wuthenow: Annex: Alexander von Humboldt. In: Horst Albert Glaser u. György M. Vajda (Hg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Epoche im Überblick. Amsterdam u. Philadelphia 2001, S. 53‒60, hier S. 53. Eine eingehende Untersuchung der Bedeutung Condorcets für Alexander von Humboldt steht noch aus. Vgl. Correspondance d’Alexandre de Humboldt avec François Arago (1809‒1853). Hg. v. Ernest-Théodore Hamy. Paris 1908, S. 224‒228, 231, 322‒324, sowie Henry Stevens: The Humboldt Library. A catalogue of the library of Alexander von Humboldt, with a bibliographical and biographical memoir. London 1863. Hierbei unterscheidet sich Humboldt allerdings nicht wesentlich von seinen Zeitgenossen, wird der Fortschritt doch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Koselleck überzeugend nachweist, zu einem „Leitbegriff“ des geschichtlichen und politischen Diskurses. Vgl. Reinhart Koselleck u. Christian Meier: Fortschritt. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 351‒423, insb. S. 407‒415.
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Anziehungskraft. Während die Höherentwicklung der Menschheit im Bereich der Kunst, der Literatur, der Philosophie, der Moral oder der Politik auch nach der Querelle des Anciens et des Modernes umstritten geblieben war, wurde die Idee eines Fortschritts der Wissenschaft und der Technik spätestens in der späten Neuzeit allgemein. Die im Kosmos gebotene Geschichtserzählung wird von diesem optimistischen Wissenschaftsverständnis gespeist. Wie bei Kant und bei Condorcet gibt es in den Augen Humboldts kein „Ende“ der (Wissenschafts-)Geschichte. Das jetzt Erreichte ist vorläufig, und der Fortschritt zur Zukunft hin offen – ein Gedanke, der im Kosmos oft hervorgehoben wird, besonders eindrücklich etwa in einer Passage, in der Humboldt auf das überaus charakteristische Bild eines ständig zurückweichenden Horizonts rekurriert: Es ist die Eigenthümlichkeit wichtiger Entdeckungen, daß sie zugleich den Kreis der Eroberungen und die Aussicht in das Gebiet, das noch zu erobern übrig bleibt, erweitern. Schwache Geister glauben in jeder Epoche wohlgefällig, daß die Menschheit auf den Culminationspunkt intellectueller Fortschritte gelangt sei; sie vergessen, daß durch die innige Verkettung aller Naturerscheinungen, in dem Maaße als man vorschreitet, das zu durchlaufende Feld eine größere Ausdehnung gewinnt, daß es von einem Gesichtskreise begrenzt ist, der unaufhörlich vor dem Forscher zurückweicht.61
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Humboldt: Kosmos (wie Anm. 11), Bd. II, S. 337. Vgl. auch ebd., S. 399.