Sammlung der Geister: Kulturkritischer Aktivismus im Umkreis Rudolf Euckens 1890–1945 9783110687033, 9783110686869

The study examines the work of the philosopher and literature Nobel Prize winner Rudolf Eucken, who gathered around him

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German Pages 529 [530] Year 2020

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Sammlung der Geister: Kulturkritischer Aktivismus im Umkreis Rudolf Euckens 1890–1945
 9783110687033, 9783110686869

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Michael Schäfer Sammlung der Geister



Michael Schäfer

Sammlung der Geister  Kulturkritischer Aktivismus im Umkreis Rudolf Euckens 1890–1945

ISBN 978-3-11-068686-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068703-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068712-5

Library of Congress Control Number: 2020934067 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Irene Eucken: Porträt Rudolf Eucken, um 1900, ÖlLw. 43,5x35 cm, FSU Jena, Kustodie InvNr. GP 290, Foto J.-P. Kasper, FSU Jena. Typesetting: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Um dieses Buch zu schreiben, waren Ressourcen materieller Art wie auch ideelle Hilfestellungen notwendig. Daher gebührt zunächst einmal denjenigen Institutionen und Personen Dank, die zur Erarbeitung der vorliegenden Monographie beigetragen haben. Grundlage der Studie war ein Forschungsprojekt der Professur für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Technischen Universität Dresden, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft dreieinhalb Jahre lang finanziert hat. Die DFG hat zudem einen Druckkostenzuschuss zur Buchveröffentlichung bereitgestellt. Bei der Vorbereitung des Projektantrags bin ich in den Genuss einer Unterstützung der TU Dresden gekommen, und das Institut für Geschichte hat mir während der Laufzeit des Projekts einen Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt. Die Idee, Rudolf Eucken und seinen „Kreis“ zu erforschen, stammt von Prof. Dr. Frank-Michael Kuhlemann. Er hatte wesentlichen Anteil an der konzeptionellen Entwicklung des Vorhabens. Er hat die Arbeit als Projektleiter verlässlich betreut, mir in zahlreichen Gesprächen sachkundiges Feedback gegeben und das Manuskript akribisch gegengelesen. Mein besonderer Dank gilt auch Dr. Uwe Dathe von der FriedrichSchiller-Universität Jena, der mir die Einsichtnahme in den archivalisch noch nicht erschlossenen Nachlass Walter Euckens in der Handschriftenabteilung der Thüringischen Universitäts- und Landesbibliothek ermöglicht hat. Zudem hat mir Uwe Dathe in unseren regelmäßigen Gesprächen in der Bibliotheks-Cafeteria viele wertvolle Hinweise für meine Arbeit gegeben, und er hat schließlich einen Teil des Manuskripts gelesen. Nancy Walter M. Ed. hat mir mit ihrer Expertise in jüdischer Geschichte weitergeholfen. Prof. Dr. Gerd Schwerhoff (TU Dresden) danke ich für seine hilfreichen Ratschläge bei der formalen Ausgestaltung des Projektantrags. Prof. Dr. Christoph Eucken (Bern) hat mir freundlicherweise die Nutzung des Nachlasses seines Vaters, Walter Eucken, erlaubt. Dresden im Dezember 2019

https://doi.org/10.1515/9783110687033-201

Michael Schäfer

Inhalt Vorwort  V 1 Einleitung  1 Ein ziemlich vergessener Nobelpreisträger  1 Bildungsbürgertum, Kulturkritik und Moderne  6 Untersuchungsgegenstand, Leitfragen, Quellen  13 2 Der Philosoph und sein Werk  21 Lehr- und Wanderjahre  21 Am Ziel der Wünsche  31 Abschied von Aristoteles  34 Ein romantisches Intermezzo (mit Happy End)  37 Rudolf Euckens Kritik der Moderne  42 Der Weg aus der Krise 47  Rudolf Eucken und die deutsche Schulphilosophie  50 Um die Erkenntnis kosmischer Wahrheiten  54 Ein gut vernetzter Solitär  60 Eine Eucken-Schule?  62 3 Resonanzen und Kreise: Die Formierung einer kulturkritischen Bewegung  69 Der Philosoph und seine „Impresaria“  69 Philosophischer Aktivismus  78 Zum Wahrheitsgehalt der Religion  84 Können wir noch Protestanten sein?  90 „Geistesreligion“, Judentum und Reformkatholizismus  98 Im Kampf um das Gymnasium  114 Die Lehrer und ihre Bildung  118 Noologische Pädagogik  125 Weltweite Netze  136 Auf dem Gipfel internationalen Ruhms  149 Die Sammlung der Geister  158 4 Im Krieg der Geister 1914–1918  168 „Unsere gerechte Sache“  168 Der Sinn des Krieges  175 Um die Gunst der Neutralen  182 Die Befreiung der kleinen Völker  197 Kriegsmoral und Heimatfront  205 Die Sammlung der Geister (Fortsetzung)  214 5 Der Euckenbund 1918/19–1926  218 „Was bleibt unser Halt?“  218 Von der Luther-Gesellschaft zum Euckenbund  221 Der Euckenbund im Profil  230 Der Euckenbund im neuen Deutschland  244 Der Euckenbund vor der „Judenfrage“  258 Die Reformation des Rechts  268 Die Pädagogen und der Euckenbund  275 Die Krise des gebildeten Mittelstandes  286 Der Euckenbund im Ausland  293

VIII  Inhalt

6 Bund ohne Meister 1926–1933  311 Der neue Euckenbund  311 Das Rudolf-Eucken-Haus  321 Die Scheidung der Geister  331 An der Basis des Bundes  336 Kapitalismus und Kulturkrise  348 Um die Wiederkehr der Religion  353 „Staat“ und „Persönlichkeit“ im Zeichen der Krise  361 Die Sammlung der Geister (Teil 3)  368 7 Die Eucken-Bewegung im Nationalsozialismus  374 Einschätzungen und Haltungen vor 1933  374 Das Euckenhaus auf dem Weg in die Diktatur 1933/34  381 Der Euckenbund zwischen Gleichschaltung und Eigenständigkeit  388 Zwischen den Zeilen der Tatwelt  400 Von Freiburg nach Jena: Die Tatwelt-Redaktion 1933/34  408 Die neue Tatwelt  414 Inseln der Seligen?  420 Um die Einheit des Geisteslebens  426 Das Rudolf-Eucken-Haus im Dienste der Auslandspropaganda  437 Der Euckenbund auf dem Rückzug  448 Zwischen Jena und Freiburg  455 Der Ausklang der Eucken-Bewegung 1939–1943/45  463 8 Fazit  474 Anhang  493 Namensregister  515

1 Einleitung Ein ziemlich vergessener Nobelpreisträger Im Sommer 1906 erhielt der Jenaer Philosophieprofessor Rudolf Eucken Post aus Schweden. Ein Göteborger Kollege, Vitalis Norström, bat um die Begutachtung eines Manuskripts und fragte an, ob ihm Eucken einen deutschen Verleger für die Veröffentlichung empfehlen könne. Norström gab sich als Bewunderer der Philosophie Euckens zu erkennen. Dessen Werke seien ihm „in der Arbeit an meiner menschlichen und wissenschaftlichen Entwicklung von einer unabsehbaren Bedeutung gewesen“. Der Jenaer Ordinarius antwortete postwendend. Er habe bereits von verschiedenen Seiten gehört, dass Norström in Schweden für seine, Euckens, Philosophie eifrig und erfolgreich gewirkt habe. Deshalb habe er schon länger den Wunsch gehegt, „es möge sich zwischen uns auch eine persönliche Beziehung herstellen“. Einige Wochen später hatte Eucken Norströms Manuskript, eine kritische Auseinandersetzung mit den Lehren der schwedischen Pädagogin Ellen Key, gelesen und für gut befunden. Er hatte auch gleich einen namhaften Leipziger Verleger kontaktiert und ihm die Schrift wärmstens zur Veröffentlichung empfohlen. Von soviel freundlicher Hilfsbereitschaft geradezu überwältigt, bekannte Norström: „Ich schätze mich glücklich, dass ich Sie nunmehr nicht nur als Philosophen sondern auch als Menschen kenne.“ Kurz: Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.1 In den folgenden Jahren unterhielten die beiden Professoren einen intensiven Briefwechsel, tauschten sich ausgiebig über philosophische Fragen aus, vertrauten sich einander ihre „innersten Erlebnisse und seelischen Entwicklungen“ an und schmiedeten allerlei Pläne, wie man die gemeinsamen Grundüberzeugungen zu Gehör bringen könnte. Im März 1907 erzählte Norström dem deutschen Kollegen eher beiläufig, ihm sei die Ehre zuteil geworden, „als einer von den 18 Unsterblichen“ in die Schwedische Akademie aufgenommen zu werden. Dies war insofern eine bedeutsame Nachricht, als die Akademie in den Jahren zuvor starke internationale Beachtung erfahren hatte. Ihre Mitglieder – Schriftsteller, Philosophen, Literaturwissenschaftler – vergaben nämlich seit 1903 alljährlich den Nobelpreis für Literatur.2 Von da an nimmt die Geschichte märchenhafte Züge an. Ende 1907 teilte Norström Eucken seine Absicht mit, „Ihren Namen in Verbindung mit dem litte1 ThULB NLRE I, 20, Bl. N237f: Vitalis Norström an Rudolf Eucken, 27.6. und 1.9.1906; ebd. I, 30, Bl. 162: Eucken an Norström, 2.7., 2.8. und 18.8.1906. 2 Zitate: ThULB NLRE I, 30, Bl. 190: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 4.8.1907; ebd., I, 20, Bl. N 246f: Norström an Eucken, 3.3.1907. https://doi.org/10.1515/9783110687033-001

2  1 Einleitung

rarischen Nobelpreis“ für das kommende Jahr zu bringen. Auch Philosophen könnten diesen Preis erhalten, ja, Nobel selbst habe die „idealistische Richtung“ der Kandidaten als wichtiges Kriterium für die Auszeichnung ausdrücklich genannt. Und wer habe in dieser Beziehung „unter den zurzeit Lebenden“ mehr geleistet als der Philosoph aus Jena, der doch als Erneuerer des Idealismus gelte?! Einige Wochen später meldete Norström nach Jena, er habe Eucken offiziell für den Literatur-Nobelpreis 1908 vorgeschlagen, und bat ihn, seine Schriften an das Nobelkomitee zu senden. Rudolf Eucken war nun einer von insgesamt 16 Kandidaten auf den am Jahresende vergebenen Preis. Zu den Favoriten zählte der deutsche Philosoph allerdings nicht unbedingt. Hoch gehandelt wurden im Vorfeld der englische Lyriker Algernon Swinburne und die schwedische Romanautorin Selma Lagerlöf. Doch hatte Norström seinem deutschen Brieffreund bereits im Vorjahr mitgeteilt, in der Akademie stünden sich „eine altkonservative Richtung, die mit sich nicht reden lässt, und eine fortschrittliche, weitherzigere, wenn nicht gerade feindlich, so doch ohne Verständnis gegenüber“. Dass Swinburne, berühmt-berüchtigt wegen seiner rauschhaften, sado-masochistisch angehauchten Gedichte, nicht bei allen Juroren auf Begeisterung stoßen würde, war vorauszusehen. Lagerlöf wiederum war dem Sekretär des Nobelpreiskomitees, Wirsén, als Vertreterin der literarischen Moderne ein Dorn im Auge. In dieser Patt-Situation handelte Norström mit den Lagerlöf-Unterstützern einen Deal aus: Würden sie durch ihr Votum seinem Freund Eucken zum Sieg verhelfen, wolle er im kommenden Jahr seine Stimme für die schwedische Schriftstellerin in die Waagschale werfen.3 Ende Oktober 1908 schrieb Norström nach Jena, die Lage im Nobelpreiskomitee sei noch „sehr bunt und unklar, doch scheinen wir gewisse Hoffnung [zu] haben schon für dieses Jahr.“ Eucken solle ihm so rasch wie möglich ein kurzes Exposé seiner Lebensansichten und ihrer Bedeutung für die gegenwärtige geistige Lage zukommen lassen, darin vor allem auch sein „Verhältnis zum Glauben an einen persönlichen Gott“ erläutern. Er wolle diesen Text „im eignen Namen soweit es geht und mit gewissen Zusätzen für unsren Zweck verwenden“. Als Rudolf Eucken drei Wochen später, am 14. November, nach einem Tag voller Gremiensitzungen von der Universität nach Hause kam, fand er dort einen Brief aus Schweden vor, in dem ihm Norström mitteilte, man habe ihn gerade zum diesjährigen Träger des Nobelpreises für Literatur erkoren.4

3 ThULB NLRE I, 20, Bl. N 253, 271ff, 278: Vitalis Norström an Rudolf Eucken, 25.6. und 3.12.1907, 9.1.1908. Vgl. Sieg, Geist, S. 80–87; Dathe Philosophen. 4 ThULB NLRE I, 20, Bl. N 288: Vitalis Norström an Rudolf Eucken, 24.10.1908. Vgl. ebd., Bl. 291: Norström an Eucken, 13.11.1908; ebd. I, 30, Bl. 252: Eucken an Norström, 14.11.1908.

Ein ziemlich vergessener Nobelpreisträger 

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Es ist nun schwer vorstellbar, dass Rudolf Eucken eine solche Ehre zuteil geworden wäre, ohne dass ein Mann in der Jury gesessen hätte, der ihn in seinen Briefen gewöhnlich als „Meister und Freund“ ansprach. Der Jenaer Philosoph gilt denn auch heute als der unbekannteste unter den deutschsprachigen Literatur-Nobelpreisträgern. Seine Werke, in denen er sich mit der Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der Menschheit auseinandersetzte, zum Kampf um einen geistigen Lebensinhalt aufrief oder den Sinn und Wert des Lebens auslotete, werden schon lange nicht mehr gelesen. In der neueren philosophiegeschichtlichen Handbuch- und Überblickliteratur wird der Jenaer Philosoph, wenn überhaupt, nur ganz kursorisch als Randfigur erwähnt.5 Wenn also Rudolf Eucken als Philosoph und Schriftsteller heute – möglicherweise zu recht – vergessen ist, so scheint er doch zu seinen Lebzeiten eine bekannte Figur des kulturellen Lebens gewesen zu sein. In den zeitnahen Kompendien zur Philosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde ihm ein fester Platz unter den bedeutenderen Denkern der Gegenwart eingeräumt. Zwischen der Jahrhundertwende und den 1920er Jahren erschienen zahlreiche Monographien, die sich mit dem Werk Rudolf Euckens auseinandersetzten.6 Die neuere Geschichtswissenschaft hat Rudolf Eucken durchaus als Intellektuellen mit Ausstrahlungskraft auf eine breitere Öffentlichkeit des späten Kaiserreichs wahrgenommen. Recht gut erforscht ist sein publizistisches Wirken als Kriegsdeuter und -propagandist 1914/18. So ordnet Barbara Beßlich dem Philosophen in ihrer Studie zum „Kulturkrieg“-Diskurs eine bedeutsame, wenn auch reichlich fragwürdige Rolle zu. Beßlich behandelt „Kulturkrieg“ als ideologisches Konstrukt, das darauf abzielte, den Ersten Weltkrieg zum Kampf der deutschen Nation zur Erhaltung ihres geistigen „Wesens“ zu stilisieren. Sie leitet dieses Konstrukt aus zivilisationskritischen Haltungen ab, die sich in den Jahrzehnten vor 1914 im deutschen Bildungsbürgertum verbreitet hatten. Ein lebensphilosophisch unterfütterter Neoidealismus, wie ihn namentlich Rudolf Eucken vertrat, habe sich gegen die Rationalität und Sachlichkeit einer als westeuropäisch deklarierten Aufklärung gewandt. Der Krieg sei schließlich von diesen Intellektuellen als Chance begriffen worden, die oft konstatierte „Kulturkrise“ der Vorkriegszeit zu überwinden. Euckens Idealismus charakterisiert Beßlich einerseits als epigonal und nostalgisch. Andererseits habe sich der Jenaer Philo5 Holzey/Röd, Philosophie, S. 235f, widmen Rudolf Eucken im zweiten Band ihrer Philosophiegeschichte des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts einige wenige Absätze. Bei Schnädelbach, Philosophie, findet Eucken zweimal als Lehrer Max Schelers Erwähnung und einmal in Klammern in einer Aufzählung der Vertreter des Neoidealismus (S. 207, 225, 242). In Störigs voluminöser Weltgeschichte der Philosophie taucht der Name Eucken gar nicht auf. 6 Vgl. etwa Siebert, Geschichte, S. 475–515; ders., Lebensanschauung; Höffding, Philosophen, S. 176–187; Goldstein, Wandlungen; Kappstein, Eucken.

4  1 Einleitung

soph aber an ein Publikum jenseits der Fachgelehrsamkeit gewandt, das ihn als originären Denker mit sensiblem Gespür für die Defizite der Moderne gefeiert habe. Dies wiederum habe Rudolf Eucken in den Augen seiner Zeitgenossen ausgesprochen modern erscheinen lassen.7 Peter Hoeres widmet Eucken in seiner vergleichenden Monographie zur deutschen und britischen Philosophie im Ersten Weltkrieg ein eigenes Kapitel. Er wendet sich hier allerdings gegen Beßlichs Interpretation, Eucken habe einen „Vergangenheitsdiskurs“ geführt. Es sei dem Jenaer Philosophen, so Hoeres, keineswegs um eine nostalgische Restauration des klassischen Idealismus des frühen 19. Jahrhunderts gegangen, sondern um eine neuartige, auf die Zukunft gerichtete Synthese. Kurt Flasch ordnet Rudolf Eucken ebenfalls die Rolle eines intellektuellen Stichwortgebers bei der „geistigen Mobilmachung“ des Bildungsbürgertums im August 1914 zu. Seine Reden und Artikel hätten einen Kanon dessen angeboten, was ein gebildeter Deutscher über den Krieg denken sollte. Eucken habe so „die terminologische Massenware markiert, die andere Intellektuelle im Weltkrieg schlicht weitergaben oder originell abwandelten“.8 Ähnlich beschreibt auch Ulrich Sieg in seiner Monographie zur deutschen Philosophie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus die Bedeutung des Jenaer Ordinarius als „Inbegriff deutscher Weltkriegsphilosophie“. Eucken habe gängigen Topoi eine gelehrte Weihe verleihen Es sei ihm so gelungen, „wohlvertraute, aber inhaltlich vage Erörterungen in Positionierungen für den Propagandakrieg zu überführen“. Sieg präsentiert Rudolf Eucken als ziemlich lausigen Philosophen, der sich von seiner eigenen, auf Breitenwirkung zielenden Rhetorik habe verleiten lassen, differenzierte Gedankenführung und argumentative Konsistenz durch kühne sprachliche Bilder zu ersetzen. Dabei habe Eucken letztlich nur conventional wisdom offeriert, bildungsbürgerliche Denkfiguren, die seinen Lesern und Zuhörern schon seit ihrer Schulzeit vertraut gewesen seien. Allerdings weise, so Sieg, gerade die Konventionalität seiner populärphilosophischen Traktate den Jenaer Ordinarius als einen eher altmodischen, an den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts orientierten Denker aus. Der aggressive Radikal-Nationalismus jüngerer Kollegen sei ihm fremd geblieben. Nach dem Krieg habe Eucken mit „seinem weihevollen Weltbild“ und seinem konzilianten Habitus schließlich vollends den Anschluss an die intellektuelle Diskurslandschaft der Zeit verloren.9 Aus einer anderen Perspektive kommt Rudolf Euckens Einfluss auf seine bildungsbürgerlichen Zeitgenossen in Gangolf Hübingers Kulturprotestantis7 Vgl. Beßlich, Kulturkrieg, S. 2ff, 7-10, 46f, 100. Vgl. bereits Lübbe, Philosophie, S. 176–185. 8 Hoeres, Krieg, S. 222f; Flasch, Mobilmachung, S. 18, 30, 35 (Zitat). 9 Sieg, Geist, S. 75, 78, 100, 118, 120f, 163, 189.

Ein ziemlich vergessener Nobelpreisträger



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mus-Studie in den Blick. Vor allem in seinen religionsphilosophischen Schriften habe Eucken eine Neubelebung des Christentums zur unverzichtbaren Voraussetzung für eine Intensivierung des modernen Geisteslebens und Kulturbewusstseins erklärt. Damit sei dessen „neuidealistische Kulturphilosophie“ für den deutschen Kulturprotestanismus zur „interpretatorischen Achse“, zum „Königsweg“ einer angestrebten Synthese von christlichem Glauben und moderner Kultur geworden. In einem ähnlichen intellektuellen Kontext verortet auch Friedrich Wilhelm Graf den Jenaer Philosophen in seinem biographischen Aufsatz. Eucken habe „im Medium der Philosophie der Wahrheit des christlichen Glaubens Geltung zu verschaffen“ gesucht und einen neoidealistisch geläuterten Protestantismus als verbindliches Wertefundament der deutschen Gesellschaft propagiert. Graf verweist zudem auf die zahlreichen und vielfältigen Beziehungen, die Eucken zu anderen Intellektuellen verbanden. Der Jenaer Professor habe seit der Jahrhundertwende ein dichtes grenzüberschreitendes Netzwerk geknüpft und – mehr noch als zu deutschen Kollegen – in intensivem Kontakt zu ausländischen Philosophen und Theologen gestanden.10 Neuerlich ist auch der ein oder andere Versuch unternommen worden, Rudolf Eucken als Philosophen aufzuwerten. Hermann Lübbe hat 2009 in einem online veröffentlichten Text das Werk des Jenaer Professors geradezu hymnisch gewürdigt und es gegen den Ruch nationalistischer Kriegsapologetik verteidigt. Euckens Kulturphilosophie will Lübbe hier als „eine Expression von intellektuellen Erfahrungen mit Modernisierungsprozessen“ verstanden wissen, „in denen die lesende Zeitgenossenschaft weltweit eigene Erfahrungen wieder fand“. Als Publizist habe Eucken auf die „Weltanschauungskämpfe vortotalitärer Bürgerlichkeit liberalisierend“ gewirkt. Er sei zum Kreis der Persönlichkeiten zu zählen, „die die bürgerliche Kultur in die Weimarer Republik transferierten, und das in der Absicht, diese Republik lebensfähig zu machen“.11 Der ebenfalls 2009 erschienene Aufsatzband Phänomenologie und die Ordnung der Wirtschaft stellt Rudolf Eucken im Untertitel in eine Reihe mit Edmund Husserl und Michel Foucault. Ferdinand Fellmanns Beitrag rückt Euckens Werk gedanklich in die Nähe der Phänomenologie Husserls. Er bescheinigt dem Jenaer Philosophen einen durchaus tragfähigen holistischen Ansatz vertreten zu haben. Nur habe Eucken den Anschluss an den Stilwandel des philosophischen Diskurses verpasst hat; namentlich fehle ihm „das für die nachkantische Philosophie unerlässliche bewusstseinstheoretische Fundament“.12 Uwe Dathe und Nils Goldschmidt ha10 Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 180, 252; Graf, Positivität, S. 58, 73. 11 Lübbe, Rudolf Eucken, o. S. 12 Fellmann, Werk, S. 32,. 35, 29. Der gleiche Autor hat sich bereits in seiner 1983 erschienenen Monographie zur deutschen Lebensphilosophie recht ausführlich auf Euckens Schriften bezo-

6  1 Einleitung

ben schließlich den Einfluss von Rudolf Euckens philosophischem Denken im Werk seines heute wesentlichen bekannteren Sohnes, des Nationalökonomen Walter Eucken, ausgemacht.13 Die Beschäftigung mit der Person Rudolf Euckens ist in den letzten beiden Jahrzehnten nicht zuletzt durch die Zugänglichmachung seines umfangreichen Nachlasses in der Thüringischen Universitäts- und Landesbibliothek Jena gefördert worden. Uwe Dathe, der diesen Nachlass akribisch geordnet und katalogisiert hat, hat seit der Jahrtausendwende eine ganze Reihe von Aufsätzen zum Leben und Werk Euckens vorgelegt. Er hat dabei den Jenaer Philosophen als Unterstützer der ukrainischen Nationalbewegung im Ersten Weltkrieg vorgestellt, ihn als Pionier der Begriffsgeschichte gewürdigt, Euckens frühe Verbindung mit dem Berliner Philosophen und Wissenschaftspolitiker Friedrich Adolf Trendelenburg näher beleuchtet u. a. m. Andere Jenaer Historiker sind in ihren Forschungen zur Stadt- und Universitätsgeschichte auf Rudolf Eucken (und vor allem seine Frau Irene) als Förderer zeitgenössischer moderner Künstler gestoßen oder haben auf sein Engagement in der Lehrerbildung hingewiesen.14 Bei einigen Autoren, die sich auf die ein oder andere Weise mit der Person Rudolf Euckens beschäftigen, findet auch eine weitere Aktivität des Philosophen Erwähnung. Eucken hat nämlich nach dem Ersten Weltkrieg seine Anhänger in einem „Euckenbund“ gesammelt, der über seinen Tod 1926 hinweg Bestand hatte. Dieser Bund gab seit 1925 auch eine Zeitschrift heraus, Die Tatwelt, die bis in die frühen 1940er Jahre erschien.15

Bildungsbürgertum, Kulturkritik und Moderne Worum es in Rudolf Euckens Werken und Schriften geht, das hat sich im einleitenden Forschungsüberblick bereits in vagen Umrissen angedeutet. Es ist dabei von Euckens Diagnose einer „Kulturkrise“ und deren Überwindung die Rede gewesen. Er wird als Vertreter einer philosophischen Richtung, des Idealismus, vorgestellt, die augenscheinlich schon als etwas überholt galt. Er stand offenbar gen (vgl. Fellmann, Gelebte Philosophie, S. 19ff, 35f, 67-77). Vgl. ähnlich: Klump/Wörsdörfer, Affiliation. 13 Vgl. Dathe/Goldschmidt, Wie der Vater. Hierzu auch: Schäfer, Kapitalismus. 14 Vgl. Dathe, Ausflug; ders., Begriffsgeschichte; ders., Rudolf Eucken; ders., Jena; ders., Fackel; ders., Nachlass; ders., Philosoph; ders., Gegner; ders., Philosophen; Werner, Moderne, S. 109ff; Wahl, Jena, S. 58ff, 107-127, 170, 179; Neuland, Irene Eucken; Steinbach, Ökonomisten, S. 270–275. 15 Vgl. vor allem Dathe, Rudolf Eucken, S. 57ff; ders., Nachlass, S. 294–299; sowie Sieg, Geist, S. 164; Beßlich, Kulturkrieg, S. 113ff; Graf, Positivität, S. 83f.

Bildungsbürgertum, Kulturkritik und Moderne



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in einer spezifischen Bildungstradition, der „neuhumanistischen“, und sprach ein gleichgesinntes „bildungsbürgerliches“ Publikum an. Seine Interpreten sind sich nicht ganz einig darüber, wie „modern“ oder zeitgemäß Euckens Ideen und Haltungen waren. Einer seiner neueren Biographen sah sich offensichtlich veranlasst, den Jenaer Philosophen von „totalitären“ Denkern abzugrenzen, ihn zu einem Protagonisten liberaler, bürgerlicher Werte, ja zu einem Verteidiger der Weimarer Demokratie zu erklären. Diese Stichworte verweisen allesamt auf ein verbreitetes historiographisches Narrativ, einen Interpretationsrahmen, in dem das deutsche Bildungsbürgertum in der Geschichtsforschung der letzten Jahrzehnte behandelt worden ist. „Bildungsbürgertum“ wird in diesem Zusammenhang gewöhnlich als eine soziale Formation verstanden, deren gruppenbildende Gemeinsamkeit auf einem spezifisch deutschen Verständnis von Persönlichkeitsentwicklung – eben „Bildung“ – beruhte. Bildung in diesem Sinne meint einen Prozess, in dem sich der Einzelne selbsttätig nach seinen individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu vervollkommnen trachtet, um eine mündige, innengeleitete, sein Leben an moralischen Leitideen ausrichtende sittliche Persönlichkeit auszubilden. Die aktive Auseinandersetzung mit „wertvollen“ Bildungsgütern – den antiken Sprachen, der Literatur, der Philosophie, der bildenden Kunst, der klassischen Musik – galt als vornehmliches Mittel, um diesen Prozess voranzutreiben. Das humanistische Bildungskonzept schöpfte aus der idealistischen Philosophie des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert – Kant, Fichte, Schelling, Hegel – wie aus den literarischen Werken und theoretischen Schriften Schillers und Goethes. Formuliert wurde dieses Programm von zeitgenössischen Pädagogen und Bildungsreformern, vor allem Wilhelm von Humboldt, und praktisch umgesetzt wurde es in der Einrichtung des humanistischen Gymnasiums als höherer Regelschule. Zwar war das gymnasiale Curriculum konzeptionell auf die Vermittlung zweckfreien Bildungswissens ausgerichtet und nicht auf die Weitergabe beruflich nutzbarer Kenntnisse. Doch besaß die humanistische Bildung durchaus zentrale Bedeutung für die bildungsbürgerliche Karriereplanung. Der Zugang zum freien akademischen Beruf und zur höheren Laufbahn im öffentlichen Dienst wurde nämlich in Preußen und bald auch in den anderen deutschen Staaten an den Erwerb der gymnasialen Hochschulreife und ein anschließendes Universitätsstudium gebunden. Der gemeinsame Bildungsgang gab im 19. Jahrhundert einem Bildungsbürgertum soziale Kontur, das als geistige – „gebildete“ – Elite selbstbewusst Anspruch auf öffentliche Meinungsführerschaft erhob.16 16 Vgl. Bollenbeck, Bildung, S. 14f, 134ff, 148, 154, 196; Lepsius, Bildungsbürgertum; Lundgren, Bildung; Kocka, Bildungsbürgertum; Koselleck, Einleitung; Schäfer, Geschichte, S. 92–105.

8  1 Einleitung

Am Ende des 19. Jahrhunderts zirkulierten aber in den bildungsbürgerlichen Diskurskreisen zunehmend Gegenwartsdiagnosen, die eine Krise des Geistes, die Verflachung, den Niedergang, den Verfall der zeitgenössischen Kultur diagnostizierten. Man beklagte das Umsichgreifen eines „geistlosen“ Materialismus, die „Vermassung“ und geistige Nivellierung der Gesellschaft, in der die gebildete Einzel-Persönlichkeit nicht mehr hinreichend zur Geltung komme. Die Forschung hat diesen um 1900 anschwellenden Krisendiskurs gemeinhin als Reaktion des Bildungsbürgertums auf den beschleunigten Prozess der Modernisierung gedeutet, dem die deutsche Gesellschaft im Gefolge der mächtigen Industrialisierungs- und Urbanisierungsschübe seit der Reichsgründungszeit unterworfen war. Das Bildungsbürgertum habe im Zuge dieser Entwicklung einen schmerzlich empfundenen gesellschaftlichen Statusverlust erlitten. Nicht allein, dass es von dem neu aufgestiegenen industriekapitalistischen Wirtschaftsbürgertum an Geld, Macht und Prestige überstrahlt wurde – das deutsche Bildungsbürgertum habe auch seine bisher genossene kulturelle Vormachtstellung bedroht gefühlt. Technik und Naturwissenschaften hätten zunehmend die Deutungshoheit der alten Geisteswissenschaften abgelöst. Das mühsam erworbene Bildungswissen und die kulturelle Kompetenz und Expertise der Bildungsbürger sei dadurch entwertet worden.17 Georg Bollenbeck hat diesen Vorgang als eine „kulturelle Enteignung“ charakterisiert und ihn exemplarisch auf dem Gebiet der Kunst nachgezeichnet. Auf der einen Seite habe die moderne Avantgardekunst das ästhetische Verständnis der meisten Bildungsbürger zunehmend überfordert. Auf der anderen Seite hätten sich neue Formen populärer Massenkultur entwickelt, deren Hervorbringungen den hergebrachten bildungsbürgerlichen Beurteilungsmaßstäben künstlerischer Qualität vollends zuwiderliefen. Das eine wie das andere schien für die Funktionen, die den „schönen Künsten“ im Prozess der Bildung zur sittlich gereiften idealistischen Persönlichkeit zugeschrieben wurden, unbrauchbar und wertlos zu sein.18 Seine argumentative Stoßkraft erhält diese Interpretation bildungsbürgerlicher Kulturkritik von der These, es komme hier eine ressentimentgeladene Ablehnung der Moderne zum Ausdruck, die für den weiteren Gang der deutschen Geschichte fatale Folgen gezeitigt habe. Mit seiner Grundsatzkritik an der modernen Zivilisation habe sich das deutsche Bildungsbürgertum von bürgerlichliberalen Werten und Gesellschaftsentwürfen, von Aufklärung und Rationalis17 Vgl. Bollenbeck, Bildung, S. 28, 240-266; ders., Tradition, S. 24–40; Langewiesche, Bildungsbürgertum, S. 109f; Gutsche, Niedergang, S. 68ff, 106-109; Heidbrink, Kampf, S. 156ff; Schäfer, Geschichte, S. 171ff. 18 Vgl. Bollenbeck, Tradition, S. 124–129; Hepp, Avantgarde, S. 71f.

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mus abgewandt. Bislang unhinterfragte bürgerliche Normen und Tugenden wie Vernünftigkeit, Nützlichkeit und Berechenbarkeit seien nun aggressiv zurückgewiesen worden. Rationale wissenschaftliche Erkenntnis sei durch einen Diskurs, der die „Ganzheitlichkeit“ des „Lebens“ zu einer zentralen Kategorie des „Verstehens“ von Wirklichkeit erhob, entwertet und verworfen worden. Das Projekt einer „Bürgerlichen Gesellschaft“, die politische Vision der „egalitären Staatsbürgergesellschaft“ habe in den gebildeten Schichten stark an Anziehungskraft verloren. Antiliberale, antidemokratische, autoritäre, nationalistisch und „völkisch“ aufgeladene Ordnungsvorstellungen hätten nun zunehmend das politische Denken der deutschen Bildungsbürger beherrscht.19 In gewisser Weise kam in dieser Entwicklung, so wird von einigen Autoren argumentiert, auch eine Abwendung des Bildungsbürgertums von der eigenen idealistisch imprägnierten Bildungstradition zum Ausdruck. Der im ausgehenden 19. Jahrhundert unter den Gebildeten um sich greifende Kulturpessimismus wird etwa als „Desillusionierung hochgestimmter Erwartungen über die Bildsamkeit des Menschen und den Fortschritt der Menschheit“ gedeutet.20 Auch die zunehmende Verbreitung rassistisch und biologistisch unterfütterter Weltdeutungsmuster erscheint demnach als ein Verblassen idealistischer Anschauungen: Je mehr die Entwicklung des einzelnen Menschen als von seiner biologischen Ausstattung determiniert gedacht wird, desto weniger Raum bleibt für eine selbsttätige „geistige“ Bildung der Persönlichkeit. Auf der anderen Seite heben viele Autoren hervor, die Skepsis gegenüber dem liberal-demokratischen Verfassungsmodell und zivilgesellschaftlichen Ordnungsprinzipien staatsfreier Selbstorganisation sei bereits in den idealistischen Denktraditionen des deutschen Bildungsbürgertums selbst angelegt gewesen. Es hätten sich hier, so argumentiert etwa Bollenbeck, Wissensformen und Verhaltensweisen ausgeprägt, „die mit der Ökonomie und der Politik entscheidende Bereiche der Modernisierung abwerten bzw. zurückstellen“. Das humanistische Bildungsideal überspringe gewissermaßen den Citoyen, den politischen Bürger.21 Die Politik- und Wirtschaftsferne der deutschen Bildungsbürger wird nun oft mit ihrer Staatsnähe in Verbindung gebracht. Die große Mehrzahl der akademisch Gebildeten stand in den Diensten des Staates und anderer öffentlicher Institutionen: die höheren Verwaltungs- und Justizbeamten ebenso wie die Oberlehrer und Universitätsprofessoren, die protestantischen Pfarrer, die kommunalen Bediensteten oder später die leitenden Post- und Bahnbeamten. 19 Zitat: Bollenbeck, Abwendung, S. 153. Vgl. ebd., S. 151ff; ders., Bildung, S. 238ff; Meuter/ Otten, Einleitung, S. 11–16; Heidbrink, Kampf, S. 156f; klassisch: Stern, Kulturpessimismus. 20 Zitat: Bollenbeck, Bildung, S. 171f. 21 Vgl. ebd., S. 134–142; ähnlich auch Ringer, Die Gelehrten, S. 266ff; vgl. bereits Krieger, Idea.

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Die Gymnasien wie die Hochschulen befanden sich gewöhnlich in staatlicher oder kommunaler Trägerschaft. Curricula, Prüfungsordnungen und die Zulassung zum akademischen Beruf, all dies fiel in die Anordnungs- und Regelungskompetenz der Kultusministerien und anderer staatlicher Behörden. Selbst die Angehörigen der freien Berufe, wie die Ärzte oder die Rechtsanwälte, waren in ihrem Ausbildungsgang und ihrer Berufsausübung weitgehender staatlicher Regulierung unterworfen. Mit der Erhebung des humanistischen Gymnasiums zur höheren Regelschule und den Universitätsreformen des frühen 19. Jahrhunderts war die staatliche Bildungspolitik von utilitaristischen Zwecksetzungen abgerückt. Die preußisch-deutschen Bildungspolitiker näherten sich damit dem Ideal eines „Kulturstaats“, der die Förderung von Bildung, Kunst und Wissenschaft als ureigenste Aufgabe anerkannte und der als Garant ihrer Freiheit von kirchlicher Bevormundung wie von der Inanspruchnahme durch wirtschaftliche Interessen auftrat. Die idealistische Philosophie erhob den Staat zur moralischen Anstalt, zur unparteiischen, ordnenden und ausgleichenden Instanz neben und über der Bürgerlichen Gesellschaft, die zur Sphäre egoistischer Partikularinteressen herabgewürdigt wurde.22 Die Staatsnähe des Bildungsbürgertum, seine habituelle Prägung durch eine politik- und wirtschaftsferne Bildungsideologie, schließlich die von Statusängsten forcierte antimoderne Kulturkritik – dies zusammengenommen bildet auch einen der argumentativen Grundpfeiler der Generalthese vom „deutschen Sonderweg in die Moderne“. Das antimoderne Ressentiment der meinungsführenden Bildungsschicht wird in diesem Kontext als gewichtiger Faktor herangezogen, um zu erklären, warum sich in Deutschland, anders als in vergleichbaren „westlichen“ Ländern – Großbritannien, Frankreich, den USA – die Verfassungs- und Werteordnung einer pluralistischen, zivil-bürgerlichen, liberaldemokratischen Gesellschaft bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nicht entscheidend durchsetzen konnte. Die Abwendung des deutschen Bildungsbürgertums von der Moderne trug in dieser Lesart wesentlich zur politischen Reformunfähigkeit des wilhelminischen Obrigkeitsstaats und zum Scheitern der Weimarer Demokratie bei und bereitete schließlich dem Nationalsozialismus den Boden.23 Dieses Narrativ ist in den vergangenen Jahrzehnten allerdings von verschiedenen Seiten in seiner Stimmigkeit stark in Zweifel gezogen worden. Zwei Kritikpunkte erscheinen mir dabei im Hinblick auf die Bewertung bildungsbürger-

22 Vgl. Bollenbeck, Bildung, S. 176–185, 197ff; Krieger, Idea, S. 115–130; 182-187; Kocka, Muster, S. 50–55. 23 Vgl. als Überblick über die Sonderwegdebatte: Grebing, Sonderweg; sowie Kocka, Bürgertum.

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licher Kulturkritik besonders bedenkenswert. Zum einen impliziert das Konstrukt eines „deutschen Sonderwegs“, dass es so etwas wie einen Normalweg in die Moderne gebe, den Weg nämlich, den die „westlichen“ Staaten und Gesellschaften eingeschlagen haben. Doch bei etwas genauerer Betrachtung wird rasch deutlich, dass britische, französische und nordamerikanische Modernisierungsverläufe in vielen Aspekten ebenfalls stark von einander variieren. Zudem haben gerade englische Historiker irritiert darauf hingewiesen, dass ihre deutschen Kollegen ein stark idealisierendes Bild der britischen Gesellschaft und ihrer politischen Kultur entwerfen würden.24 So haben denn auch gleichgewichtig angelegte empirische Vergleichsstudien meist eher die Ähnlichkeiten als die Unterschiede zwischen Deutschland und dem „Westen“ betont. Die Befunde, die Verena Gutsche in ihrer Studie über Niedergangsdiskurse in Deutschland und Großbritannien präsentiert, deuten z. B. an, dass kulturpessimistische und kulturkritische Haltungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts keinesfalls ein ausgeprägt deutsches Phänomen waren. In den meisten untersuchten Punkten ähneln sich die argumentativen Topoi der deutschen und britischen Kulturkritiker. Zwar stellt Gutsche fest, dass die deutschen Autoren sich stärker an idealistischen Denkfiguren orientierten. Doch es waren gerade die biologistischen und rassistischen Ideologeme, mit denen der deutsche Sonderweg in den Nationalsozialismus gemeinhin gepflastert erscheint, die eher in den untersuchten britischen Texten auftauchten.25 Gewichtiger noch erscheint mir ein zweiter Einwand gegen das Narrativ, das die bildungsbürgerliche Kritik an der Moderne für die Zerstörung der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus (mit-)verantwortlich macht. Diesem Narrativ unterliegt nämlich allzu oft ein zweifelhaftes und mit einem starken ideologischen Bias belastetes Konzept von „Moderne“, „Modernität“ und „Modernisierung“. Die Moderne als Zielpunkt des Modernisierungsprozesses erscheint hier als pluralistische Wohlstandsgesellschaft mit hoher sozialer Mobilität, in der ein liberal-demokratisches Regierungssystem und verfassungsmäßig garantierte Bürgerrechte, kapitalistische Marktwirtschaft und wissenschaftlich-technologischer Fortschritt ein funktional integriertes holistisches Ganzes bilden. Es ist fast unnötig zu erwähnen, dass diese Moderne von ihren Narratoren als erstrebenswerte „Zielvision“ betrachtet wird und dass ihnen daher der kulturkritische Widerstand gegen diese leuchtende Zukunft als

24 Vgl. zur britischen Sonderwegs-Kritik: Blackbourn/Eley, Peculiarities. 25 Vgl. Gutsche, Niedergang, S. 261–264, 294, 317, 337, 398-403.

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irrationales, von finsteren Macht- und Statusinteressen vormoderner Eliten angetriebenes Unterfangen erscheint.26 Die Stimmigkeit eines strukturfunktionalistischen Modells der Moderne, das Kapitalismus, instrumentelle Vernunft, Demokratie und egalitäre Bürgergesellschaft in harmonischer Interdependenz vereint, ist spätestens mit der Diskussion um die „Modernität“ des Nationalsozialismus infrage gestellt worden. Deutet nicht die Technikbegeisterung Adolf Hitlers und vieler anderer Nationalsozialisten zumindest partiell auf ein positives Verhältnis zur Moderne? Beschleunigten sich nicht in der NS-Zeit gesellschaftliche Modernisierungsprozesse in Deutschland, etwa im Sinne einer Auflösung verkrusteter sozialer Hierarchien? Ein Narrativ, in dem der Nationalsozialismus den Kristallisationspunkt antimoderner Verweigerung bildet und für den ultimativen „Zivilisationsbruch“ steht, wird aber ad absurdum geführt, wenn dem NS-Regime moderne Züge und modernisierende Wirkungen zugeschrieben werden.27 Zudem sollte man nicht übersehen, dass in der gesellschaftspolitischen Debatte wie in den Kulturwissenschaften ein gegenläufiges Narrativ der Moderne in den letzten Jahrzehnten zunehmend stärker hervorgetreten ist. Bereits Max Horkheimer und Theodor Adorno haben Nationalsozialismus und Holocaust in ihrer Dialektik der Aufklärung zum Ausfluss einer instrumentellen, allein auf zweckrationale Effizienz zielenden Vernunft erklärt. Das „von der Wissenschaft geförderte geistige Klima instrumenteller Rationalität“ erlaube es, „sozialtechnologische Entwürfe allein in bezug auf ihre technische Machbarkeit zu begründen und zu rechtfertigen“, so nimmt in neuerer Zeit der Philosoph Zygmunt Bauman diesen Argumentationsfaden auf. Die Moderne stelle so „mittels einer radikalen Schwächung moralischer Hemmungen und der Durchführung großangelegter, von moralischer Beurteilung unabhängiger und von jedem hemmenden Einfluss individueller Moralität ausgenommener Projekte … die Mittel für den Genozid bereit.“ Wesentlichen Anteil an der Verbreitung eines dystopischen Bilds der Moderne hatte nicht zuletzt eine Ökologiebewegung, die in der Entfesselung einer ungehemmten ökonomisch-technologischen Wachstumsdynamik die Ursachen für Umweltzerstörung, Klimawandel und den massiven Raubbau natürlicher Ressourcen ausmacht und in diesen Entwicklungen die Lebensgrundlagen der Menschheit bedroht sieht. „Kulturkritische“ Deutungsmuster sind in den letzten Jahrzehnten tendenziell von rechts nach links ge-

26 Vgl. als elaborierter Gesamtentwurf dieses Verständnisses der Moderne: Münch, Struktur; zur Nutzbarmachung dieses Modernisierungskonzepts für die Geschichtswissenschaft: Wehler, Modernisierungstheorie; kritisch: Schäfer, Modernisierung; Rohkrämer, Moderne, S. 14–22. 27 Vgl. Bavaj, Ambivalenz; Radkau, Nationalsozialismus; Rohkrämer, Moderne, S. 22, 347-352.

Untersuchungsgegenstand, Leitfragen, Quellen 

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wandert, während „Modernität“, „Innovation“ oder „Reform“ zu Schlüsselbegriffen neoliberaler bzw. neokonservativer Diskurse geworden sind.28 Es verbietet sich daher, Kritik an der Moderne per se und a priori als eine irrationale, auf emotionale Ressentiments zurückzuführende Einstellung zu pathologisieren oder sie allein auf die Macht- und Statusinteressen vormoderner Eliten zurückzuführen. Ebenso wenig impliziert Kulturkritik in jedem Fall eine antidemokratische, anti-liberale, anti-zivile, anti-emanzipatorische oder gar totalitäre Zielrichtung. Zudem erscheinen die Konzepte von Moderne, Modernität und Modernisierung so konträr und so stark mit ideologischen Prämissen beladen, dass es sich nicht empfiehlt, mit einem analytischen Modernitätsbegriff zu arbeiten, der auf ein holistisches, systemtheoretisches Modell von Moderne/ Modernisierung rekurriert. Vielmehr sollten eindeutigere, weniger komplex konstruierte Kategorien verwendet werden, um die kulturkritischen Diagnosen, Forderungen und Haltungen Rudolf Euckens und seiner Anhänger zu kennzeichnen. Es wäre dann zunächst einmal nicht zu fragen, inwiefern solche Diagnosen, Forderungen, Haltungen als „modern“ oder „anti-modern“ einzustufen seien, sondern etwa, ob sie als „zivil“, „liberal“, „autoritär“, „totalitär“, „pluralistisch“ usw. zu charakterisieren sind.

Untersuchungsgegenstand, Leitfragen, Quellen Bevor wir uns nun den Leitfragen der vorliegenden Studie zuwenden können, wäre es wohl angebracht, erst einmal deren Gegenstand und Thema etwas genauer zu umreißen. Dies ist leichter gesagt als getan, denn der Untersuchungsgegenstand und die Sichtweise darauf haben im Laufe der Zeit eine Metamorphose durchgemacht. Am Ausgangspunkt der Überlegungen hat ein Interview gestanden, das Ulrich Raulff 2009 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegeben hat. Der Marbacher Literaturwissenschaftler umreißt hier skizzenhaft das Phänomen informeller Kreise von Intellektuellen, das sich namentlich seit der Wende zum 20. Jahrhundert ausgeprägt habe. Der Kreis um Stefan George, über dessen „Nachleben“ Raulff gerade ein vielbesprochenes Buch veröffentlicht hatte, sei ein „ungeheures Kraftzentrum“ gewesen, eine „Verdichtung intellektueller Energie“, die noch lange nach dem Tod des „Meisters“ bis in die junge Bundesrepublik und deren kultur- und bildungspolitische Weichenstellungen ausgestrahlt habe. Und der George-Kreis sei kein Einzelfall gewesen. Es habe „Paral-

28 Zitat: Bauman, Moderne, S. 69. Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik, S. 15, 19, 31, 47f, 95, 100; Bavaj, Ambivalenz, S. 54; Schäfer, Modernisierung, S. 14f, 175f.

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lelkreise“ gegeben, den „Forte-Kreis“, den „Eucken-Kreis“, meist „um ähnliche charismatische Figuren gebildet. Kreise waren ein Erfolgsmodell, eine Marke“.29 Könnte man demnach den hier ins Spiel gebrachten „Eucken-Kreis“ nicht auf ähnliche Weise betrachten wie den George-Kreis: als „charismatische Gemeinschaft“ gleichgesinnter Intellektueller, die sich um ihren „Meister“ schart, ihre Ideen in verschiedene Diskurs-Netzwerke einspeist und möglicherweise lange nach dem Tod des Namensgebers Einfluss ausübt, Wirkungen erzielt? Ein weiterer Bezugspunkt der Konzeptionierung des nun Gestalt annehmenden Forschungsprojekts war ein Aufsatz, in dem Hans Mommsen die „Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert“ am Wandel der Formen politischer und kultureller Assoziierung festmacht. An die Stelle des „bürgerlichen“ Vereins als öffentlicher, demokratischer und im Grundsatz für jedermann frei zugänglicher Assoziation seien „vorliberale“ Formen des Zusammenschlusses getreten, die Mommsen unter dem Begriff des „Bundes“ subsumiert. Charakteristisch für solche „Bünde“ sei das Prinzip der Kooptation, die ritualisierte Einbindung der Mitglieder, die Abschließung nach außen, oft auch der Bezug auf eine charismatische Führerpersönlichkeit gewesen.30 Um einen „Kreis“ im Sinne Raulffs oder – definitorisch stark überlappend – einen „Bund“ nach Mommsens Verständnis am Beispiel von Rudolf Eucken und seinen Anhängern systematisch zu erfassen, war zunächst eine Netzwerkanalyse ins Auge gefasst worden. Dabei sollte es darum gehen, einen Kreis von Personen zu identifizieren, die mit Rudolf Eucken in engem persönlichen Kontakt standen und sich aktiv für die Verbreitung der Lehren Rudolf Euckens einsetzten. Das Innenleben dieses Kreises und seine „Außenbeziehungen“ könnten, so stand zu hoffen, über die Intensität und Qualität der Interaktionen seiner Mitglieder und ihrer Netzwerk-Verflechtungen mit anderen Personenkreisen und Institutionen sichtbar gemacht werden. Es hat sich aber bei näherer Betrachtung herausgestellt, dass ein solchermaßen umrissener „Kreis“, wenn überhaupt, nur über kürzere Zeiträume existierte. Die Aktivitäten, die von Rudolf Eucken oder in seinem Namen zur Ausbreitung seiner Lehre und deren praktischen Umsetzung unternommen worden, erscheinen dabei so weitläufig und von ganz unterschiedlichen Kreisen, Netzwerken und Institutionen mit meist geringer personeller Überlappung getragen, dass sich ein „Eucken-Kreis“ allenfalls als sehr volatiles, diffuses und diverses Gebilde beschreiben lässt. Die 29 Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.10.2009, S. Z6. Vgl. Raulff, Kreis; sowie zum GeorgeKreis auch: Groppe, Macht. 30 Zitate: Raulff, Kreis, S. 57; Mommsen, Auflösung, S. 289, 292. Vgl. Kuhlemann/Schäfer, Kreise; hierzu auch die gruppensoziologischen Überlegungen Jürgen Freses: Frese, Intellektuellen-Assoziationen; sowie Stünkel, Formular.

Untersuchungsgegenstand, Leitfragen, Quellen



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wichtigste institutionelle Ausprägung der Eucken-Anhänger firmierte zwar als „Bund“. Doch kann man diesen „Euckenbund“, der als Verbund lokaler Vereine mit Statuten, Vorständen und eingeschriebenen Mitgliedern, mit Vereinsorgan und jährlicher Generalversammlung organisiert war, kaum als einen in dichter persönlicher Interaktion konstituierten Kreis oder als „Bund“ im Sinne Mommsens ansehen. Ein Festhalten an der idealtypischen „Kreis“-Konfiguration hätte daher die Untersuchung der Gefahr ausgesetzt, einer realiter nicht vorhandenen Formation künstlich Leben einzuhauchen – ganz abgesehen davon, dass der Aufwand einer Netzwerkanalyse wohl in keinem angemessenen Verhältnis zu ihrem Ertrag gestanden hätte.31 Besser zur Umschreibung des Untersuchungsgegenstandes passt daher der offenere Begriff „Bewegung“, der nicht an eine bestimmte Form der Assoziierung gebunden ist. In welchen Konfigurationen sich diese „Eucken-Bewegung“ ausformte, wird Gegenstand der Untersuchung sein. Am Ausgangspunkt der vorliegenden Studie stehen die Person und das Werk Rudolf Euckens. Es werden daher zunächst einmal die Grundlinien des Gedankengebäudes skizziert, das Eucken in seinen Schriften entwirft, und die Sinnstiftungsangebote und Handlungsanleitungen dargelegt, die er aus seinen hier dargelegten Erkenntnissen ableitet. Im nächsten Schritt wird die Ausstrahlung und Rezeption von Euckens Lehren in verschiedenen Diskurskreisen und Handlungsfeldern in den Blick genommen. Im Wesentlichen sind dies das Feld der Pädagogik und der Bildungspolitik, die theologischen, religionsphilosophischen und kirchenpolitischen Debatten und Auseinandersetzungen sowie die universitär-akademische Philosophie. Auch die Rezeption der Philosophie und Weltanschauung Rudolf Euckens im Ausland wird näher betrachtet. Auf allen diesen Diskurs- und Handlungsfeldern widmet die Untersuchung den Aktivitäten des Jenaer Philosophen selbst, seinen Kommentaren und Interventionen wie auch seinem networking besondere Aufmerksamkeit. Auf diese Weise werden die Umrisse eines Kreises (im weiteren Sinne) von Freunden und Anhängern, Schülern und gleichgesinnten Intellektuellen sichtbar, mit denen Eucken in persönlichem Kontakt stand, korrespondierte, kooperierte und sich austauschte. Es lässt sich so die allmähliche Formierung einer Bewegung verfolgen, die seit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs festere Konturen annahm, um schließlich 1919/20 mit der Gründung des „Euckenbundes“ einen dauerhaften institutionellen Fokus zu erhalten. Diese „Eucken-Bewegung“ wird dann in ihren organisatorischen, personellen und programmatischen Ausprägungen in den Blick genommen. Schwerpunkte der Untersuchung sind hier:

31 Vgl. zu diesen Überlegungen die Befunde in: Schäfer, Sammlung, S. 133ff.

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die formellen und informellen Führungsstrukturen des Euckenbundes und sein soziales Profil; die institutionellen Träger der Bewegung und ihre Medien; ihre erklärten Ziele und die Strategien und Aktivitäten zu deren Um- und Durchsetzung; die Resonanz, die Wirkungen und der Erfolg der Bewegung.

Anliegen und Selbstverständnis dieser Bewegung und ihres Namensgebers sind in einem umfangreichen Korpus von Texten formuliert worden. Deren inhaltsanalytische Auswertung orientiert sich in einer allgemeinen Leitperspektive an der Frage nach der Wahrnehmung und Deutung der Moderne und ihrer Krisenhaftigkeit. Es geht demnach darum, das in diesen Texten entworfene Szenario der modernen Gesellschaft, ihrer Fehlentwicklungen und Defizite nachzuzeichnen – und zwar als Deutungsrahmen, innerhalb dessen die Eucken-Bewegung ihr kulturkritisches Programm entwickelte, Lösungen und Bewältigungsstrategien für die von ihr perzipierte Krise der Moderne aufzeigte. An den Entwürfen gesellschaftlicher Ordnung, die im Szenario einer als defizitär befundenen Gegenwart und der angestrebten Zielvision einer neuen Gesellschaft umrissen werden, lassen sich dann Aussagen darüber treffen, inwiefern die Kritik an der Moderne sich in anti-demokratischen, anti-liberalen oder anti-zivilen Haltungen, Einstellungen und Forderungen niederschlug. Im Fokus der Untersuchung steht hier, wie in den Texten Rudolf Euckens und seiner Anhänger die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen – „Staat“, „Volk“, „Nation“ – im Idealfall gedacht wird. Wie wird staatliche Herrschaft legitimiert, an den Einzelnen als „Staatsbürger“ zurückgebunden? In welchem Verhältnis stehen die Freiheitsrechte des Einzelnen und seine Verpflichtung gegenüber dem staatlich verfassten Gemeinwesen? Welche Tugenden werden in diesen Texten vom Einzelnen als Träger (oder zumindest als Mitwirkender) des Gemeinwesens erwartet und abverlangt? Es läge hier eigentlich nahe, mit dem Begriff der „Bürgerlichkeit“ zu operieren. Allerdings hat die Verwendung dieses Terminus in der deutschen Bürgertumsforschung ihm m. E. jede analytische Trennschärfe geraubt. Es fließen hier nämlich zwei unterschiedliche Bedeutungskomplexe des Bürgerlichen ineinander: (1.) das „Zivile“, das Bezug nimmt auf den „Bürger“ als Angehörigen eines politischen Gemeinwesens – den Citoyen – und (2.) das „Bourgeoise“, das den „Bürger“ als Angehörigen einer sozialen Formation kennzeichnet. Bürgerlichkeit wird denn auch nur allzu oft als ziemlich beliebiges Konglomerat staatsbürgerlicher Tugenden,

Untersuchungsgegenstand, Leitfragen, Quellen



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Prinzipien gesellschaftlicher Ordnung und bourgeoiser Praktiken und Habitusformen operationalisiert.32 Daher erscheint es sinnvoll, bei der analytischen Begriffsbildung das Zivile aus seiner unglücklichen terminologischen Verquickung mit dem Bourgeoisen zu lösen und von „Zivilität“ statt von „Bürgerlichkeit“ zu sprechen. „Zivil“ oder auch „zivilgesellschaftlich“ in diesem Sinne rekurriert im Wesentlichen auf politisch-gesellschaftliche Organisationsformen, Handlungsmodi und Leitwerte. Im definitorischen Zentrum steht dabei das Modell eines Gemeinwesens, das in möglichst weitgehender Weise vom aktiven Engagement von Bürgern – Citoyens - in freier und freiwilliger Assoziation getragen wird.33 Die Frage, inwieweit das „staatsnahe“ deutsche Bildungsbürgertum sich von bürgerlichen Werten lossagte, lässt sich mit einer solchen Operationalisierung von Bürgerlichkeit wahrscheinlich wesentlich eindeutiger beantworten, als wenn in den Bürgerlichkeitsbegriff auch noch die Tischsitten der Bourgeoisie oder die Tugend der Pünktlichkeit einfließen würden. Im Übrigen weist der Begriff des „Bürgerlichen“, wie er in Teilen der historischen Bürgertumsforschung gebraucht wird, erhebliche Schnittmengen mit dem auf, was bei modernisierungstheoretisch argumentierenden Historikern gewöhnlich unter „modern“ subsumiert wird. So manifestierte sich in einer verbreiteten Lesart der einschlägigen Literatur die Abwendung des deutschen Bildungsbürgertums von der „Bürgerlichkeit“ wie von der „Moderne“ in der Zurückweisung rationalen Denkens und aufklärerischer Traditionen, der Propagierung irrationaler und anti-rationaler Weltanschauungen.34 Allerdings verweist die Kritik der „instrumentellen Vernunft“, wie sie von Horkheimer/Adorno bis Zygmunt Bauman vorgebracht worden ist, darauf, dass eine analytische Begriffskonstruktion von „Rationalität“ hier ziemlich zwangsläufig auf ideologisch vermintes Gelände führen würde. Anstatt die Lehren Rudolf Euckens auf ihre „Rationalität“ oder „Irrationalität“ abzuklopfen, erscheint es in diesem Fall sinnvoller, sie zunächst einmal als kritische Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Konzepten rationaler Wissenschaftlichkeit zu lesen. Welche Folgerungen der Jenaer Philosoph und seine Gesinnungsgenossen aus dieser Kritik zogen, ob sie in wissenschaftsfeindliche Esoterik oder völkischen Mystizismus führte, ob sie womöglich konstruktivere, oder, wenn man so will, „rationalere“ Lösungswege zu Problemen und Defiziten der Moderne aufzeigten, wird zu diskutieren sein.

32 Vgl. hierzu Schäfer, Werte, S. 125–130; ders., Geschichte, S. 9f. 33 Vgl. Kocka, Zivilgesellschaft, S. 32f; 34 Vgl. etwa Heidbrink, Kampf, S. 156–161; sowie kritisch: Rohkrämer, Moderne, S. 18f.

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Die inhaltliche Analyse bildungsbürgerlicher Kulturkritik am Beispiel der Eucken-Bewegung konfiguriert sich schließlich um den Schlüsselbegriff der „Bildung“. Einen Fokus der Untersuchung bildet auch hier die Frage, wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft diskursiv entwickelt und geordnet wird. Es wird zunächst zu fragen sein, in welchem Sinne Rudolf Eucken und die Eucken-Bewegung an Konzepte und Deutungsmuster der deutschen humanistischen Bildungstradition anknüpften, inwieweit sie diese modifizierten oder eigene Lesarten entwickelten. Zwei Aspekte stehen dabei im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Zum einen erscheint hier wesentlich, ob im Verständnis des Prozesses der Persönlichkeitsbildung das Individuum mit seinen Interessen und Bedürfnissen in den Vordergrund gerückt wird. Oder zielt Bildung in den Texten der „Euckenianer“ letztlich darauf, den Einzelnen zu veranlassen, sich mit seiner ganzen Persönlichkeit bereitwillig in den Dienst der „Gemeinschaft“ zu stellen? Zum anderen geht es um den Rang und die Bedeutsamkeit, den Eucken und seine Anhänger der durch „Bildung“ ausgewiesenen „Persönlichkeit“ in der Gesellschaft zuordnen bzw. die Ansprüche politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Privilegierung, die sie daraus für die Gebildeten ableiten. Diese Fragestellung rekurriert auf kulturkritische Diskurse, die „Persönlichkeit“ und „Masse“ einander dichotom gegenüber setzen, die die moderne Gesellschaft von einer „Vermassung“ und vom Untergang der „Persönlichkeit“ bedroht sehen. Richtete sich demnach auch die Eucken-Bewegung an solchen elitistischen, „geistesaristokratischen“ Denkfiguren aus und bezog sie damit Position gegen demokratische und egalitäre Entwicklungen und Bestrebungen? Bei aller Skepsis gegenüber den gängigen Sonderweg-Narrativen kommt natürlich auch die vorliegende Arbeit an einer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Verantwortung des deutschen Bildungsbürgertums für das Scheitern der Weimarer Demokratie und Aufstieg des Nationalsozialismus nicht vorbei. Die empirische Untersuchung kann hier bei der Frage ansetzen, in welcher Weise die Eucken-Bewegung, die von ihr entfalteten kulturkritischen Szenarien und die daraus abgeleiteten gesellschaftlichen Ordnungsentwürfe in politische Forderungen und Handlungsanleitungen übersetzte. Lassen sich skeptische oder ablehnende Haltungen gegenüber der Weimarer Republik aus kulturkritischen Deutungsmustern mit langem Traditionsvorlauf ableiten? Oder sind die doch eher aus den tiefgreifenden Zäsuren des Ersten Weltkriegs und dessen als traumatisch empfundenem Ende in Niederlage und Revolution zu erklären? Entsprang die politische Positionierung des Euckenbundes einer grundsätzlichen Ablehnung des neuen demokratischen Staates oder ging es ihm und sei-

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nem Namensgeber darum, wie etwa Lübbe meint35, die Republik zu „verbürgerlichen“ (womöglich zu „zivilisieren“?) und sie dadurch lebensfähig zu machen? Da die Eucken-Bewegung nach dem Tod des Philosophen im September 1926 ein organisiertes „Nachleben“ von mehr als anderthalb Jahrzehnten besaß, kommt auch ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus direkt ins Blickfeld der Betrachtung. Wie nahmen die Führung und die aktive Mitgliedschaft des Euckenbundes die NS-Bewegung vor 1933 wahr? Machten Rudolf Euckens kulturkritische Weltsichten seine Anhänger empfänglich für die nationalsozialistische Ideologie? Oder gab ihnen der verstorbene „Meister“ ein geistiges Rüstzeug mit, das sie gegen den totalitären Gesellschaftsentwurf und die propagandistischen Inszenierungen der Nationalsozialisten immunisierte? Da sich das öffentliche Wirken der Eucken-Bewegung im nationalsozialistischen Deutschland noch bis 1943 verfolgen lässt, liegt die Frage nahe, unter welchen Bedingungen die Euckenianer in diesen zehn Jahren agierten. Ließen sich der Euckenbund und die anderen institutionellen Träger der Bewegung nach 1933 in dem Sinne „gleichschalten“, dass sie sich zur NS-Ideologie bekannten und zum Teil des Propaganda-Apparats des Regimes wurden? Oder gelang es, Räume und Nischen im Gefüge des totalitären Staates zu erschließen, um das Anliegen Rudolf Euckens in authentischer Weise weiter zu verfolgen? Die dichte Überlieferung privater Korrespondenz im inneren Führungskreis der Eucken-Bewegung bietet hier die Chance, Haltungen und Einstellungen von Bildungsbürgern im Nationalsozialismus genauer in den Blick zu nehmen, Spielräume des Handelns unter den Bedingungen der Diktatur zu ermessen, Strategien geistiger Selbstbehauptung zu verfolgen. Die vorliegende Monographie schöpft aus einem breiten Fundus archivalischer und gedruckter Quellen. Einen Kernbestand bot der Nachlass Rudolf Eucken, der in der Handschriftenabteilung der Thüringischen Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) in Jena verwahrt wird. Hier finden sich 30 Archivkästen mit der erhaltenen Korrespondenz Rudolf Euckens, allerdings ganz überwiegend die Briefe, die der Philosoph von anderen erhielt. Dazu kommen acht weitere Kästen mit dem Briefwechsel seiner Frau bzw. Witwe Irene Eucken, die eine Schlüsselposition in der Eucken-Bewegung der 1920er und 30er Jahre einnahm. Dem Nachlass Rudolf Eucken ist schließlich auch die recht umfangreiche Überlieferung der Jenaer Hauptgeschäftsstelle des Euckenbundes und des Rudolf-Eucken-Hauses (insgesamt 34 Archivkästen) zugeordnet worden.36 Ein zweiter wichtiger Bestand, der Nachlass Walter Eucken in der ThULB, war zum 35 Vgl. Lübbe, Rudolf Eucken, o. S. 36 Vgl. Dathe, Nachlass. Das ausführliche Findbuch ist als Band 14 der unkommentiert als Faksimile veröffentlichten Gesammelten Werke Rudolf Euckens publiziert.

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Zeitpunkt der Abfassung der Studie noch im Prozess archivalischer Erschließung. Der Bearbeiter dieses Nachlasses, Dr. Uwe Dathe, hat es mir freundlicherweise ermöglicht, die für das Thema relevanten Unterlagen einzusehen. Es waren dies vor allem die zahlreichen Briefe Irene und Ida Euckens an Walter Eucken und dessen Frau Edith Eucken-Erdsiek vom Ende der 1920er bis in die frühen 1940er Jahre sowie Materialien zum Euckenbund und zur Zeitschrift des Bundes. Ergänzend dazu wurde für bestimmte Themenstellungen behördliches Archivgut eingesehen, vor allem im Bestand Thüringisches Volksbildungsministerium im Hauptstaatsarchiv Weimar, Unterlagen zur Ausländerbetreuung im Universitätsarchiv Jena und (nur noch fragmentarisch erhalten) die den Euckenbund betreffenden Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin. Schwieriger gestaltete sich die Suche nach den Korrespondenzen Rudolf Euckens und anderer Schlüsselfiguren der Bewegung, die nicht in den beiden Jenaer Nachlässen dokumentiert sind. Recht ergiebig erwies sich in dieser Hinsicht der Nachlass Julius Goldsteins, eines Schülers Euckens, der im Leo Baeck Institute in New York lagert, aber mittlerweile in digitalisierter Form online abrufbar ist. Ein Konvolut von rund 100 Briefen Rudolf Euckens findet sich im Nachlass des katholischen Theologen Friedrich von Hügel in der Universitätsbibliothek von St. Andrews in Schottland. Insgesamt dürfte aber nur ein kleinerer Teil dieser verstreuten Korrespondenz erfasst worden sein. Unterlagen zu den einzelnen Ortsgruppen ließen sich nur im Münchner Fall ausfindig machen. Daneben stützt sich die Studie auf die Auswertung des umfangreichen veröffentlichten Schriftguts aus dem Umkreis der Eucken-Bewegung: der Werke Rudolf Euckens und der Schriften seiner Anhänger, ebenso der Zeitschrift Die Tatwelt und anderer Publikationen des Euckenbundes.

2 Der Philosoph und sein Werk Lehr- und Wanderjahre Der Briefwechsel zwischen Rudolf Eucken und Vitalis Norström gibt nicht allein Aufschluss über die Hintergründe der Nobelpreisverleihung von 1908. Die beiden Philosophen tauschten auch schon recht früh vertrauliche Reminiszenzen zum eigenen persönlichen Werdegang aus. In einem Brief vom August 1907 erinnerte sich Eucken an eine bereits mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegende Postkutschenfahrt von Gifhorn nach Celle, die er als Sechsjähriger mit seiner Mutter unternommen hatte: Auf einer Reise jenseits unserer Heimat trafen wir in einem Postwagen mit einem alten Rabbiner zusammen, er sprach herzlich mit uns, namentlich mit mir, erhob dann plötzlich feierlich seine Stimme, segnete mich und erklärte meiner Mutter, Gott habe ihr Kind berufen, für seine Zwecke zu wirken und werde es sicher durch das Leben führen. Dieser Eindruck ist meiner Mutter unvergesslich geblieben, ich selbst, damals sechsjährig, habe nur eine dunkle Erinnerung daran.1

Diese Anekdote verweist zunächst einmal auf ein allgemeines quellenkritisches Problem. Die ersten Jahrzehnte einer Biographie Rudolf Euckens müssen sich ganz überwiegend auf Erinnerungen des Protagonisten selbst stützen, die meist Jahrzehnte nach dem Erlebten niedergeschrieben wurden. Dies ist eigentlich eine wenig vertrauenswürdige Quelle, weiß man doch inzwischen aus der hirnphysiologischen Forschung, dass das menschliche Gedächtnis immer wieder neu geschrieben und überschrieben wird. Ohne ergänzenden Rückgriff auf zeitnahe Quellen ist daher bei memorierten Texten letztlich kaum auseinander zu halten, was tatsächlich vom Autor persönlich erlebt wurde, was er von anderen gehört hat, was aus medialer Vermittlung stammt oder was er sich schlicht „eingebildet“ – imaginiert – hat. In diesem speziellen Falle reflektierte Eucken, dass das Geschehen ihm selbst nur „dunkel“ in Erinnerung geblieben war, dass er hier auf Erzählungen seiner Mutter rekurrierte (in der Form, in der er sich an diese Erzählungen erinnerte). So müssen wir demnach den frühen Lebenslauf und Werdegang Rudolf Euckens wohl oder übel durch den Filter solcher nachträglich geordneter und sinnhaft aufgeladener narrativer Kompositionen erschließen.2 1 ThULB NLRE I, 30, Bl. 191: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 4.8.1907. Die gleiche Anekdote findet sich in: R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 9. 2 Vgl. zum Funktionieren des menschlichen Gedächtnisses und den daraus zu ziehenden Folgerungen für die Geschichtswissenschaft: Fried, Schleier, bes. S. 118–155. https://doi.org/10.1515/9783110687033-002

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In dem eben zitierten kleinen Text steckt ein verbreiteter Topos biographischer Narrative, dass sich nämlich früh im Leben des „Helden“ seine spätere Größe andeutete, dass ihm sein Schicksal ahnungsvoll vorhergesagt wurde, dass womöglich göttliches Wirken im Spiel war. Bei aller gebotenen Vorsicht hinsichtlich dieser Erinnerung aus zweiter Hand wirft sie dennoch ein Schlaglicht auf eine wohl grundlegende familiäre Konstellation, die die persönliche Entwicklung Euckens bis ins Erwachsenenalter prägte. Rudolf Christoph Eucken wurde am 5. Januar 1846 in Aurich als ältester von zwei Söhnen eines höheren Postbeamten geboren. Das ostfriesische Städtchen war wegen seiner geographischen Lage zu einem administrativen Zentrum im Verwaltungsaufbau des Königreichs Hannover geworden. Euckens Vater hatte es zum Vorstand des hier ansässigen Hauptpostamtes gebracht. Anfang 1851, kurz nach Rudolfs fünftem Geburtstag, war sein jüngerer Bruder gestorben. Noch im gleichen Jahr erlag der Vater während eines Ferienaufenthalts auf Norderney 59jährig einem Herzinfarkt.3 Dieses plötzliche Auseinanderbrechen der Familie hatte für die beiden Überlebenden, Rudolf Eucken und seine Mutter, mental wie materiell einschneidende Folgen. In seinen Memoiren leitet Eucken aus diesen Erfahrungen mit dem Tod nahe stehender Menschen seine frühe Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen ab. Auch die eigene prekäre Gesundheit und eine vorübergehende Erblindung hätten dazu beigetragen, dass er sich bereits als Kind intensiv mit Religion und bald auch mit Philosophie beschäftigt habe.4 Inwiefern solche Erinnerungstexte tatsächliche Kausalitäten wiedergeben oder ob sie eher den Versuch dokumentieren, den eigenen Lebensweg im Rückblick sinnhaft zu ordnen, lässt sich ohne weitere, unabhängige Quellen nicht entscheiden. Plausibler und nachvollziehbarer als Folge und Reaktion auf die familiären Schicksalsschläge des Jahres 1851 erscheint dagegen die überaus enge Lebensgemeinschaft, die den jungen Rudolf Eucken und seine verwitwete Mutter fortan miteinander verband. Für Ida Maria Eucken und ihren kleinen Sohn hatte der Tod des männlichen Familienoberhauptes ganz unmittelbare Auswirkungen auf ihre materielle Existenz. Aus den wenigen verfügbaren Informationen kann man vermuten, dass die Lebensführung der Auricher Postbeamtenfamilie sich in einem Rahmen bewegte, den die historische Bürgertumsforschung idealtypisch umrissen hat: Die 3 Vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 6, 9; ThULB NLRE II, 8, Nr. 28, Bl. 12f: Mskr. „Erinnerungen an die Mutter“; StAUL Hügel Papers, ms2475: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 29.1. [1900]; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 54. 4 Vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 21; R. Eucken, Leben, S. 433; ThULB NLRE I, 30, Bl. 190ff: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 4.8.1907.

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Familie Eucken gehörte offenbar zu einem Bildungsbürgertum, dem der Staat als Arbeitgeber und Dienstherr ein solides, wenn auch vergleichsweise bescheidenes Berufseinkommen gewährte und ein Mindestmaß an sozialer Absicherung garantierte. Nach dem vorzeitigen Tod ihres „Ernährers“ konnte die Lage der Rest-Familie dennoch prekär werden, denn die vom Staat seinen Beamten gebotene soziale Sicherung beschränkte sich in diesem Falle tatsächlich auf ein Mindestmaß. Ida Eucken bezog nun eine Witwenrente von jährlich 200 Talern (600 Mark), ein Betrag, mit dem allein sie und ihr kleiner Sohn nur ein sehr kärgliches Dasein hätten fristen können. Allerdings konnten bildungsbürgerliche Familien gewöhnlich auf zusätzliche, vom Berufseinkommen unabhängige Mittel zurückgreifen: Ersparnisse, ererbte Geldvermögen oder Immobilien. Dies galt auch für die Euckens, wenngleich in einem wohl recht bescheidenen Ausmaß. Mutter und Sohn zogen aus der repräsentativen Stadtwohnung der Familie in ein Haus mit Garten am Stadtrand von Aurich. Dieses Haus hatte sich die Mutter Ida Euckens ursprünglich als „Witwensitz“ gekauft. Es konnte nun mietfrei bezogen werden. Zu der Ausgabenersparnis, die mit diesem Umzug verbunden war, kamen Möglichkeiten eines „standesgemäßen“ Gelderwerbs. Ida Eucken nahm nun regelmäßig Pensionsgäste auf, offenbar vor allem Schüler aus dem weiteren ländlichen Einzugsgebiet des Auricher Gymnasiums, die für längere Zeit in ihren Haushalt lebten.5 Rudolf Eucken besuchte das Gymnasium in Aurich, die einzige höhere Schule dieser Art weit und breit. Der junge Eucken war ein ausnehmend guter Schüler. Eine Klasse auf dem Gymnasium konnte er sogar überspringen. Als Oberschüler reüssierte er nicht allein in den philologisch-altsprachlichen Fächern, die im 19. Jahrhundert den Kern des Curriculums des humanistischen Gymnasiums ausmachten. Eucken entwickelte auch Talent und Interesse für die mathematisch-naturwissenschaftliche Seite des Unterrichts. Er habe sogar, so erinnerte er sich später, sich zeitweise mit dem Gedanken getragen, nach dem Abitur ein Studium der Mathematik und Physik an einer Technischen Hochschule zu beginnen. Trotz der beengten Lebensumstände stand es wohl für die Mutter außer Frage, dass ihr ältester und nun einziger Sohn eine Schuldbildung erhalten sollte, die ihm eine akademische Laufbahn ermöglichen würde. Sie verfolgte damit eine typisch bildungsbürgerliche Strategie sozialer Reproduktion. Der Weg der Söhne zu einem Beruf, der eine „standesgemäße“ bürgerliche Existenz sichern sollte, verlief hier gewöhnlich über das Gymnasium und das Studium an einer Universität. Für die Herkunftsfamilie waren damit 5 Vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 15f, 18; ThULB NLRE II, 8, Nr. 28, Bl. 14f: Mskr. „Erinnerungen an die Mutter“. Allgemein zur Lebensführung und Krisenmanagement bürgerlicher Familien: Budde, Weg, S. 58–80, 100-111; Schäfer, Geschichte, S. 114–125.

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finanzielle Belastungen verbunden, die oft – auch ohne den Ausfall des Hauptverdieners – langfristiges Sparen und Konsumverzicht unumgänglich machten. „Alle Bestrebungen meiner Mutter“, so berichtet Eucken in seinen Lebenserinnerungen, „hatten dabei ein festes Ziel, mich auf die Höhe der akademischen Bildung zu führen; darin sah sie ihre einzige Aufgabe.“6 Man kann vermuten, dass dieses Streben bereits durch den familiären Hintergrund Ida Euckens habituell angelegt war. Während nämlich Rudolf Euckens Vater aus einer Bauernfamilie stammte, war seine Mutter in einem Pastorenhaushalt aufgewachsen. Ihr Vater war der Theologe Rudolf Christoph Gittermann (1776–1848), von dem ihr ältester Sohn beide Vornamen erbte. Gittermann hatte 1801 mit einer Abhandlung über das sittlich Gute im Menschen promoviert, die aus der Philosophie Kants schöpfte. Er gehörte zu den führenden Vertretern eines ostfriesischen Rationalismus, der das Luthertum mit aufklärerischem Gedankengut auffrischen wollte. Sein Sohn, der Junghegelianer Carl Gittermann, Ida Euckens jüngerer Bruder, führte diese Tradition insofern fort, als er versuchte, die Lehre Ludwig Feuerbachs theologisch nutzbar zu machen. Als Rektor einer Lateinschule setzte ihn solcher Radikalismus in häufigen Konflikt mit seinen vorgesetzten Behörden und brachte ihm schließlich eine Strafversetzung an die Navigationsschule in Leer ein. Mit seinem Onkel führte der philosophisch und religiös interessierte Schüler Rudolf Eucken nach eigenem Bekunden häufig anregende Diskussionen. „Wir konnten damals oft nicht zusammengehen, da ich von früh an die Unvereinbarkeit von Feuerbach und Christentum klar durchschaute.“7 Im Rückblick sah sich Eucken in der Familientradition eines gemäßigten theologischen Liberalismus, der sich von der kirchlichen Orthodoxie absetzte.8 Bereits 1863, im Alter von 17 Jahren schloss Rudolf Eucken seine Schulzeit mit dem Abitur ab. Er schrieb sich nun an der hannoveranischen Landesuniversität in Göttingen ein. Ida Eucken verkaufte das Haus in Aurich und bezog mit ihrem Sohn eine kleine Etagenwohnung am Göttinger Markt. Dass der angehende Student seine Mutter an den Studienort mitbrachte, war nun ein wohl eher ungewöhnlicher Vorgang. Er zeigt aber umso deutlicher an, in welchem Maße Mutter und Sohn die akademische Karriere als gemeinsames Projekt verstanden. Rudolf Eucken schloss sich in Göttingen zunächst einer landsmannschaftlichen Studentenverbindung, der „Frisia“, an. Er sah aber schnell ein, dass die 6 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 16; vgl. ebd. 16ff, 20f; ThULB NLRE II, 8, Nr. 28, Bl. 15f: Mskr. „Erinnerungen an die Mutter“; allgemein: Schäfer, Geschichte, S. 94f. 7 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 12; vgl. das „Lebensbild“ Carl Gittermanns in: ThULB NLRE I, 31a, Bl. 80f (Anlage zu: Carl Gittermann an Rudolf Eucken, 21.12.1891). 8 Vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, 6f, 11f, 21.

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von der „Frisia“ praktizierten Formen studentischen Lebens und die Wohngemeinschaft mit der Mutter sich nicht recht miteinander vertrugen. Also trat er bald wieder aus. Dennoch schrieb Eucken im Nachhinein dem Einfluss der Mutter das Verdienst zu, dass er nicht seinem Hang zur Stubengelehrsamkeit nachgegeben habe. Sie sei es nämlich gewesen, die ihn immer wieder gedrängt habe, mich möglichst in allen Künsten und Fertigkeiten ausbilden, eifrig Schlittschuhlaufen treiben, auch Tanzstunden nehmen, die mir wenig angenehm waren; … Auch die äußeren Umgangsformen sollten nicht vernachlässigt werden. Kurz, sie wirkte meinem Streben nach Philosophieren, Grübeln, Einsamkeit mit besten Kräften entgegen, ihren Bemühungen war es vornehmlich zu verdanken, daß ich nicht ein einseitiger Gelehrter wurde. (…) Auch während der Universitätsjahre hat sie unermüdlich gewirkt, meine Beziehungen zur Umgebung auszubilden …9

Rudolf Eucken belegte in seiner dreijährigen Göttinger Studienzeit vornehmlich Lehrveranstaltungen in Philosophie, klassischer Philologie und Geschichte. Dahinter stand offenkundig eine zweigleisige Karriere-Strategie. „Mein Hauptziel war die Philosophie“, schrieb er später, „ich hoffte im Laufe der Zeit darin eine akademische Stellung erreichen zu können“. Um aber die Philosophie zu seinem Beruf zu machen, war Eucken darauf angewiesen, eine ordentliche, fest besoldete Professur an einer Universität zu erhalten. Für das Dasein eines „Privatgelehrten“ fehlte ihm der entsprechende Vermögenshintergrund. Zwar boten sich gerade der Alterskohorte, der Rudolf Eucken angehörte, vergleichsweise gute Karrierechancen. Die Universitäten wurden in den 1860er und 70er Jahren ausgebaut, die Zahl der Dozentenstellen verdoppelte sich in den beiden Jahrzehnten. Aber auch in der Reichsgründungszeit waren Philosophie-Lehrstühle an deutschen Hochschulen nicht gerade reichlich gesät. Daher schien es unbedingt ratsam zu sein, sich eine zweite, weniger riskante berufliche Option offen zu halten, um „meiner Mutter und mir eine sichere Lebensstellung zu geben“. Das Studium der philologischen und historischen Fächer würde ihm die Möglichkeit eröffnen, die Laufbahn eines Lehrers an einer höheren Schule, vorzugsweise einem humanistischen Gymnasium einzuschlagen.10 Der prominenteste in Göttingen lehrende Philosophieprofessor der 1860er Jahre war wohl Hermann Lotze (1817–1881). Mit seiner Wertephilosophie knüpfte er an die Tradition des klassischen deutschen Idealismus an. Lotze ging es darum, der modernen wissenschaftlichen Weltinterpretation eine wert- und 9 Ebd., S. 24. Vgl. ebd. 23ff. 10 Ebd., S. 23. Vgl. ThULB NLRE II, 8, Nr. 28, Bl. 16: Mskr. „Erinnerungen an die Mutter“; vgl. ThULB NLRE I, 30, Bl. 192: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 4.8.1907; allgemein Köhnke, Entstehung, S. 306–312.

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sinnhafte, im Metaphysischen wurzelnde, komplementäre Perspektive entgegenzustellen. Seine Philosophie weist damit eigentlich – wie wir noch sehen werden – wesentliche Gemeinsamkeiten mit den später von Rudolf Eucken formulierten philosophischen Grundüberzeugungen auf.11 Dennoch konstatierte Eucken später, er habe zu Lotze während seiner Göttinger Studienjahre „kein näheres Verhältnis gewonnen“. Dessen Vorlesungen hätten ihm „ für die Probleme, welche mich erfüllten“ nicht viel geboten Er habe die „durchgehenden großen Linien“ vermisst. Überhaupt sei ihm Lotzes Lehre wie eine „Gelehrtenphilosophie“ vorgekommen, „die das Ganze des gemeinsamen Lebens zu wenig berührte und bewegte.“12 Möglicherweise formte Rudolf Eucken seinen intellektuellen Werdegang hier ex post in etwas zu stromlinienförmiger Weise, indem er die Zufälligkeiten des Studiums und die Wirkmacht persönlicher Sympathie aus seinen Lebenserinnerungen heraus destillierte. Denn sein wichtigster akademischer Lehrer in Göttingen wurde der Aristoteles-Experte Gustav Teichmüller (1832–1888), dessen wissenschaftliches Oevre wohl noch wesentlich weniger „das Ganze des gemeinsamen Lebens“ berührte und bewegte als die Philosophie Lotzes. Teichmüller war seit 1860 Privatdozent in Göttingen, hatte aber zwischenzeitlich seine Lehrtätigkeit für eine anderthalbjährige Orientreise unterbrochen, bevor er 1864 an die Universität zurückkehrte. In Teichmüllers Wohnung trafen sich Eucken und einige seiner Kommilitonen zu aristotelischen Übungen. Der Dozent lud sie anschließend zum Tee ein und erzählte von seinen Reisen. Diese Zusammenkünfte inspirierten Rudolf Eucken schließlich zu seinem Dissertationsthema, einer philologisch angelegten Studie über die Sprache des Aristoteles, die er 1866 in Latein veröffentlichte.13 Im Alter von 20 Jahren verließ Rudolf Eucken mit dem Titel eines Doktors der Philosophie die Universität Göttingen. Gleich nachdem er im Oktober 1866 das Oberlehrerexamen abgelegt hatte, zog er mit seiner Mutter nach Berlin. Er tat dies auf gut Glück; eine Stelle oder eine andere bezahlte Arbeit stand ihm hier zunächst nicht in Aussicht. In seinen Notizen zur Lebensgeschichte der Mutter hielt Eucken später fest, vorteilhafte Stellungen im Schuldienst seien ihm bereits während des Studiums angetragen worden. Seine Mutter habe ihn aber darin in dem Plan bestärkt, nach Berlin zu gehen, in der Hoffnung, dort 11 Zu Lotze vgl. Schnädelbach, Philosophie, S. 197–217. Schnädelbach stellt Rudolf Eucken sogar explizit in die Reihe einer von Lotze ausgehenden Linie der neoidealistischen Philosophie in Deutschland (vgl. ebd. S. 207). 12 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 28. 13 R. Eucken, De Aristotelis; Vgl. ders., Lebenserinnerungen, S. 29, 34; ders., Teichmüller; Dathe, Rudolf Eucken, S. 41; ders., Begriffsgeschichte, S. 86f; Szyłkarski, Teichmüller, S. XXXIIff.

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auch nach dem Eintritt in die Oberlehrerlaufbahn „wissenschaftlich und speciell philosophisch weiterarbeiten“ zu können.14 Der Ortswechsel in die preußische Hauptstadt erleichterte es dem jungen Philosophen zudem, „soziales Kapital“ für den weiteren akademischen Karrierepfad zu sammeln. Teichmüller hatte seinem Schüler ein Empfehlungsschreiben an seinen eigenen „Doktorvater“ Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872) mitgegeben. Trendelenburg nahm als vortragender Rat im Kultusministerium und als Sekretär der Akademie der Wissenschaften eine einflussreiche Position im preußischen Wissenschaftsbetrieb ein. Er fand offenbar Gefallen an dem kleinen umtriebigen Ostfriesen, nahm ihn bald zu seinen sonntagnachmittäglichen Spaziergängen mit und lud Mutter und Sohn zu den Geselligkeiten im eigenen Familienhaushalt ein. Wichtiger noch, Trendelenburg führte den jungen Rudolf Eucken in eine „Abendgesellschaft“ ein, zu der sich regelmäßig ein illustrer Kreis Berliner Gelehrter traf, unter ihnen Theodor Mommsen. Auch in eine Reihe anderer Professoren-Häuser und geselliger Kreise fand Eucken in den Wochen und Monaten nach seiner Ankunft in Berlin Eingang.15 Euckens Beziehung zu Trendelenburg beschränkte sich nicht auf solche Geselligkeiten. Dass der eminente Wissenschaftspolitiker und Philosoph sich persönlich des frisch promovierten 20jährigen annahm, gründete wohl in der Überzeugung, jemanden zu fördern, dem man eine glänzende akademische Zukunft zutrauen konnte. Eucken hatte Trendelenburg seine Doktorarbeit De Aristotelis dicendi ratione schon von Göttingen aus zugesandt und damit das Interesse des führenden Aristoteles-Kenners geweckt. Der Berliner Professor nahm Eucken in sein aristotelisches Seminar auf und dieser hörte Trendelenburgs Vorlesung zur Psychologie. Rudolf Eucken war mit dem Vorsatz nach Berlin gekommen, gleich eine größere „rein-philosophische“ Arbeit in Angriff zu nehmen. Trendelenburg bremste den Ehrgeiz des jungen Kollegen und ermunterte ihn, zunächst einmal „auf der betretenen Bahn fortzufahren“. Es sei „für den Philosophen überaus werthvoll …, sich in einer positiven Wissenschaft zu befestigen und dort Anknüpfungspunkte für die philosophische Thätigkeit zu suchen.“ Eucken befolgte diesen Rat und setzte zunächst einmal seine philologischen Arbeiten zur Sprache des Aristoteles fort. In einer 1868 veröffentlichten, diesmal deutsch verfassten Schrift beschäftigt er sich mit den Präpositionen in den Texten des griechischen Philosophen. Immerhin erregte er in Fachkreisen damit einiges Aufse-

14 ThULB NLRE II, 8, Nr. 28, Bl. 22: Mskr. „Erinnerungen an die Mutter“. 15 Vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 38ff; Rudolf Eucken an Gustav Teichmüller, 30.12.1866, abgedruckt in: Szyłkarski, Verkehr, S. 413.

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hen, konnte er doch den Nachweis führen, dass ein Aristoteles zugeschriebener Text als unauthentisch betrachtet werden müsse.16 Für Friedrich Adolf Trendelenburg selbst war die Beschäftigung mit Aristoteles kein Unterfangen, das auf eine historisch-philologische Exegese als Endziel hinausgelaufen wäre. Es ging ihm vielmehr darum, aus dem Werk des griechischen Philosophen Nutzanwendungen für die Gegenwart zu ziehen. Es war die Überzeugung Trendelenburgs, so stellte später Rudolf Eucken die Lehre seines Mentors dar, dass bereits Plato und Aristoteles die Grundprinzipien der Philosophie gefunden hätten. Diese letzten philosophischen Fragen blieben unveränderlich aktuell und bildeten auch noch in der Gegenwart den Mittelpunkt des Wissenschaftssystems, um den herum sich die wandelbaren Erfahrungs- und Anwendungswissenschaften gruppierten. Trendelenburg wollte in seiner philosophischen Arbeit vornehmlich diese von den klassischen antiken Denkern formulierten Grundprinzipien vertiefen und klären. Die erkenntnistheoretischen Überlegungen und wissenschaftliche Methodenlehre, die Trendelenburg aus der Beschäftigung mit Aristoteles entwickelte, schätzte Eucken auch später noch als bedeutsame und bleibende Leistung. Trendelenburg habe aus der allgemeinen Logik eine „schneidige Waffe der Polemik“ geschmiedet, mit der er den spekulativen Idealismus, vor allem die Hegelsche Dialektik, „Punkt für Punkt auf Einstimmigkeit, Zusammenhang und Begründung“ geprüft und verworfen habe.17 Mit seinem Werk steht Friedrich Adolf Trendelenburg inmitten der tiefgreifenden Umbruchphase der deutschen Philosophie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die großen spekulativen Systeme und geschichtsphilosophischen Gesamtentwürfe, die in den vorangegangen Jahrzehnten im „deutschen Idealismus“ Fichtes, Schellings und Hegels die Szene beherrscht hatten, kamen nun zunehmend in den Ruch wissenschaftlich haltloser Metaphysik. Trendelenburg forderte von der Philosophie eine größere „Sorgfalt in der Auseinandersetzung mit dem Tatsächlichen“ (Eucken) ein, eine erkenntnistheoretische und empirische Fundierung philosophischen Denkens. Er gilt heute als ein wichtiger Vorläufer des Neukantianismus wie des deutschen Positivismus, obwohl er selbst sich weder auf Kant berief noch einen einseitigen Empirismus vertrat. Trendelenburgs „organische Weltansicht“ gründete auf durchaus idealistischen Prämissen: Die Welt erscheint ihm als von geistigen Prinzipien getragenes Ganzes. Das Interesse an der Vielfalt des Wirklichen ist immer an die Forderung gebun16 Rudolf Eucken an Ernst Bratuscheck, 30.6.1872, abgedruckt in: Dathe, Fackel, S. 119; vgl. Eucken an Gustav Teichmüller, 30.12.1866, abgedruckt in: Szyłkarski, Verkehr, S. 413; Dathe, Fackel, S. 108f; R. Eucken, Lebenserinnungen, S. 43; ders., Sprachgebrauch. 17 Eucken, Charakteristik, S. 129f; vgl. ebd. S. 124ff; sowie Dathe, Begriffsgeschichte, S. 88.

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den, dass alles Einzelne sich auf das Ganze zu beziehen habe. Für Trendelenburg muss sich alles Wissen „durch Induktion aus äußerer und innerer Erfahrung aufbauen und durch Deduktion von den Prinzipien aus vollenden.“18 Wie Trendelenburgs Denken in Rudolf Euckens philosophisches Werk einfloss, wird weiter unten noch deutlich werden. Vorerst war der angehende Philosoph noch damit beschäftigt, die Weichen für sein berufliches Auskommen zu stellen. Anfang 1867 trug Euckens rühriges networking in Berlin erste Früchte. Der Dezernent für das Oberschulwesen im preußischen Kultusministerium, Ludwig Adolf Wiese, machte ihm das Angebot, die Vertretung eines erkrankten Lehrers in Stolp zu übernehmen. Die Kontakt-Drehscheibe Berlin zu verlassen, um als Lehrer in eine Kleinstadt nach Hinterpommern zu gehen, das passte nun aber ganz und gar nicht in die Karriereplanung Euckens. Er lehnte das Angebot dankend ab. Auch einem „vortheilhaften Ruf“ an die Ritterakademie Liegnitz, der Schule, in die der schlesische Adel seine Kinder schickte, verweigerte er sich mit „Rücksicht auf meine weitere Ausbildung“. Stattdessen trat Eucken in Berlin zu Ostern 1867 eine probeweise Anstellung am neugegründeten städtischen Sophiengymnasium an.19 Einige Monate später präsentierte ihm der Geheimrat Wiese aber ein neues Angebot: Er sollte eine gutdotierte Oberlehrerstelle am Gymnasium und der Realschule in Husum antreten. Diese Aufforderung löste eine Krisensitzung mit der Mutter und dem Mentor aus: Meine Mutter war außer sich, weil sie ein Scheitern meiner wissenschaftlichen Pläne befürchtete. Trendelenburg teilte die Bedenken, riet aber schließlich trotzdem jene Stellung anzunehmen. Ein Beharren auf meiner Weigerung würde mich in eine unerquickliche Lage bringen, die für einen jungen Gelehrten, der am Anfang seiner Laufbahn stehe, bedenklich wäre.20

Schweren Herzens entschloss sich Eucken, der Berufung in die nordfriesische Küstenstadt Folge zu leisten. Trendelenburg hatte ihm versichert, seine Berliner Freunde würden schon dafür sorgen, dass er nach einiger Zeit in die Hauptstadt zurückkehren könne. Von Herbst 1867 bis Ostern 1869 blieb Rudolf Eucken

18 Eucken, Charakteristik, S. 121; Köhnke, Entstehung, S. 34; vgl. ebd., S. 23–42; allgemein: Schnädelbach, Philosophie, S. 88–111. 19 Vgl. Rudolf Eucken an Gustav Teichmüller, 7.4.1867, abgedruckt in: Szyłkarski, Verkehr, S. 413; ThULB NLRE II, 8, Nr. 28, Bl. 23: Mskr. „Erinnerungen an die Mutter“; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 40f. 20 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 41.

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schließlich in Husum. Er erteilte hier Unterricht in Latein, Hebräisch, Deutsch und Religion.21 Sein Husumer „Exil“ nutzte Eucken dazu, sich intensiver mit philosophischer Methodenlehre und Erkenntnistheorie zu beschäftigen. Er las die frühmodernen Klassiker (Descartes, Locke und Hume), vor allem aber Trendelenburgs Hauptwerk, die Logischen Untersuchungen von 1840. Eucken drängte es nun, das Feld der aristotelischen Sprachstudien endlich verlassen zu können. Er habe sich, so klagte er im März 1869 seinem Lehrer Teichmüller, …nun lang genug mit Konjunktionen, Präpositionen etc. herumgeschlagen, für die gesammte geistige Bildung hat man doch zu wenig Frucht davon und gerät gar schliesslich in Gefahr, am Äussern haften zu bleiben und über die Schale den Kern zu verlieren.22

Ganz los wurde Eucken aber den Sprachgebrauch des Aristoteles vorerst nicht. Als er schließlich im Frühjahr 1869 nach Berlin zurückkehren konnte, wartete auf ihn bereits die Aufgabe, den Index Aristotelicus des Philologen Hermann Bonitz Korrektur zu lesen. Bonitz hatte ihm auch eine Stellung als Lehrer am hauptstädtischen Friedrichsgymnasium vermittelt, die es ihm ermöglichte, das ungeliebte Husum zu verlassen. Eucken zog damit eine „um fast 100 Th. geringere Einnahme vor, um nur wieder in wissenschaftliche Atmosphäre zu kommen“.23 Die Rückkehr nach Berlin blieb allerdings ein halbjähriges Intermezzo im akademischen Werdegang Euckens. Bereits im Herbst 1869 wechselte er als Klassenlehrer der Sekunda an ein renommiertes Gymnasium in Frankfurt am Main. Dessen Direktor, ein Bruder Theodor Mommsens, hatte ihm diese attraktive und gut bezahlte Stelle angeboten. Eucken war sich allerdings darüber im Klaren darüber, dass er die Berufung nach Frankfurt vor allem der nachdrücklichen Empfehlung Trendelenburgs zu verdanken hatte. Mit der Mutter bezog er nun eine „elegant eingerichtete Wohnung“ mit „prachtvolle[r] Aussicht auf den Main bis nach Offenbach“.24

21 Vgl. ebd., S. 43f; ThULB NLRE II, 8, Nr. 28, Bl. 23: Mskr. „Erinnerungen an die Mutter“; ThULB NLRE I, 28, Bl. An. 33: Prof. Möller an Propst Jessen, undatiert. 22 Rudolf Eucken an Gustav Teichmüller, 25.3.1869, abgedruckt in: Szyłkarski, Verkehr, S. 416; vgl. ebd. S. 415; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 43. 23 Friedrich Adolf Trendelenburg an Gustav Teichmüller, 11.5.1869, abgedruckt in: Szyłkarski, Verkehr, S. 416; vgl. Rudolf Eucken an Gustav Teichmüller, 25.3.1869, abgedruckt in: ebd. S. 415; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 44f; ThULB NLRE II, 8, Nr. 28, Bl. 23f: Mskr. „Erinnerungen an die Mutter“. 24 Rudolf Eucken an Gustav Teichmüller, 2.1.1870, abgedruckt in: Szyłkarski, Verkehr, S. 417; vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 44f, 48f.

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Am Ziel der Wünsche Zwei Jahre später gelang Rudolf Eucken der ersehnte Sprung an die Universität. 1871 wurde er zum Ordinarius für Philosophie und Pädagogik nach Basel berufen. Auch dieses Mal spielten die Weichenstellungen seiner Mentoren für den Karrierefortgang Euckens eine ausschlaggebende Rolle. Die Baseler Professur hatte nämlich seit 1868 sein Doktorvater inne gehabt. Nach drei Jahren in der Schweiz wechselte Gustav Teichmüller aber an die Universität Dorpat in Estland, der Heimat seiner Frau. Unter dem 2. April 1871 hielt das Sitzungsprotokoll der für die Neuberufung zuständigen Baseler Universitätsbehörde fest, Professor Teichmüller habe sich mit dem Herrn Dr. Eucken in Frankfurt näher besprochen und denselben warm empfohlen. Einige Tage später reiste ein offizieller Abgesandter der Universität Basel nach Frankfurt, und man wurde sich schnell über die Formalitäten einig. Eucken sollte die 4200 Franken Jahresgehalt beziehen, die er auch bisher als Lehrer bekommen hatte. „Die ganze Sache ist mir wie ein Traum“, schrieb er in seinem Dankesbrief an Teichmüller, „es war immer mein Lieblingswunsch, einmal in die akademische Laufbahn eintreten und mich ganz den philosophischen Studien widmen zu dürfen; dass dieser Wunsch so rasch in Erfüllung geht, übersteigt meine kühnsten Hoffnungen.“25 Der Betrieb an der Universität Basel war Anfang der 1870er Jahre mit einer Gesamtzahl von weniger als 200 Studierenden noch sehr überschaubar. Doch wirkten hier eine Reihe namhafter Professoren, unter ihnen der Historiker Jacob Burckhardt. Zu Euckens neuen Kollegen zählte auch ein kurz zuvor berufener junger Philologe, dessen philosophisches Werk erst einige Jahrzehnte später Furore machen sollte: Friedrich Nietzsche. Auch Nietzsche hatte sich 1871 um eine Berufung auf den frei gewordenen Teichmüller-Lehrstuhl bemüht, war aber wegen seines noch mangelnden fachlichen Profils als Philosoph chancenlos geblieben. Eucken ist in späteren Jahren immer wieder gebeten worden, über seine Bekanntschaft mit Nietzsche in Basel zu berichten. Er erzählte dann meist die eine oder andere Anekdote, räumte aber ein, dass seine persönlichen Beziehungen zu Nietzsche nicht über eine freundliche Kollegialität hinausgegangen seien. In der zeitnahen Korrespondenz zwischen Eucken und Teichmüller deutet sich allerdings eher eine gewisse Abneigung gegen die Baseler „Schopenhauerianer“ – Nietzsche, den Privatdozenten Heinrich Romundt und den Theologen Franz Overbeck – an.26 Näher als sein radikaler deutscher Lands-

25 Rudolf Eucken an Gustav Teichmüller, 19.4.1871, abgedruckt in: Szyłkarski, Verkehr, S. 418f; vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 52; Janz, Nietzsche, S. 403. 26 Vgl. die Briefe vom 15.9. und 1.11.1874, abgedruckt in: Szyłkarski, Verkehr, S. 420ff.

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mann stand Eucken in Basel jedenfalls der Kirchenhistoriker Rudolf Staehelin, mit dessen Familie er noch jahrzehntelang verbunden blieb.27 Fünf Semester lang lehrte Rudolf Eucken in Basel. Seine Schweizer Zeit war von einer schweren persönlichen Krise überschattet. Im Frühjahr 1872 starb seine Mutter, die ihn durch alle Stationen seines bisherigen Lebens begleitet hatte, im Alter von 57 Jahren. Ida Eucken war mit ihrem Sohn von Berlin nach Husum und wieder zurück nach Berlin gezogen. Sie hatte ihn zu seiner letzten Oberlehrerstelle nach Frankfurt begleitet, und auch in Basel hatten Mutter und Sohn ein gemeinsames Domizil bezogen. Beide hatten seit der Göttinger Studentenzeit jedes Jahr zusammen eine Urlaubsreise unternommen, nach Thüringen, in den Harz, an den Rhein. Die Mutter hatte dem Junggesellen bis zuletzt den Haushalt geführt. Sie war ihm die erste Gesprächspartnerin gewesen; mit ihr hatte er seine philosophischen Ideen und seine wissenschaftlichen Pläne entwickelt und diskutiert. Das zielstrebig verfolgte gemeinsame Projekt war mit der Berufung auf den Lehrstuhl in Basel zum Abschluss gelangt. So deutete es zumindest Rudolf Eucken in seinen Lebenserinnerungen und stellte damit das Erreichen des ersehnten beruflichen Ziels und den anschließenden Tod der Mutter in eine sinnhafte Sequenz: „Als ich von meiner Basler Antrittsrede zurückkam, fand ich sie tiefbewegt in Freudentränen; ihr eigenes Werk war damit vollbracht, sie hatte keine weiteren Wünsche mehr an das Leben. Ich aber mußte nun auf lange Jahre hinaus einsam weiterwandern.“28 Euckens um 1920 verfassten Memoiren ist auch zu entnehmen, dass der plötzliche Verlust der Mutter ihn beinahe aus der Bahn geworfen hätte. Er habe eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, die akademische Karriere aufzugeben und „mich an erster Stelle den großen sozialen Problemen zu widmen“. Dazu ist es nicht gekommen, aber die traurigen Erfahrungen an seinem neuen Wirkungsort trugen wohl dazu bei, dass Rudolf Eucken der Stadt Basel und ihrer Universität schon bald den Rücken kehrte. Es „konnte mir nicht zweifelhaft sein, daß, solange ich unter dem Eindruck meines schweren Verlustes war, ich nicht die volle Frische und die nötige Spannkraft des Schaffens erlangen würde“.29 Die Gelegenheit zum Ortswechsel bot sich, als Eucken an Weihnachten 1873 Besuch von dem Jenaer Universitätskurator Moritz Seebeck bekam, der ihm die Frage vorlegte, ob er geneigt sei, einem Ruf nach Thüringen zu folgen. Seebeck verfasste einige Tage später einen ausführlichen Bericht über seinen 27 Vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 53, 58f; ThULB NLRE I, 29, Bl. 118: Rudolf Eucken an Ernst Liljedahl, 24.2.1921; Janz, Nietzsche, S. 400–405. Euckens Nietzsche-Anekdoten sind z. B. im Tagebuch von Harry Graf Kessler zum 15.2.1903 dokumentiert (Kessler, Tagebuch Band 3, S. 547). 28 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 56. 29 Ebd., S. 58f.

Am Ziel der Wünsche



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Besuch in Basel, in dem er selbst die äußere Erscheinung seines Gastgebers beschrieb: Der Philosoph sei von „etwas unter mittlerer Größe; sein Haupthaar schlicht, aber dicht und wie sein Vollbart röthlich blond“. Er trage eine Brille; der Gelehrte sei „namentlich an der Stirnbildung“ zu erkennen. Seine Aussprache sei „bei gutklingender Stimme ohne besondere Dialektfärbung doch unverkennbar norddeutsch“. Eucken habe erklärt, die ihm angetragene Professur gerne annehmen zu wollen, sofern man ihn ebenso hoch besolde wie in Basel.30 Der Berufung Euckens in Jena waren längere kontroverse Auseinandersetzungen über die Besetzung des bereits 1872 vakant gewordenen PhilosophieLehrstuhls vorausgegangen. Die Ordinarien der naturwissenschaftlichen Fächer unter der Führung des Zoologen Ernst Haeckel hatten im Senat die Nominierung des streitbaren Berliner Privatdozenten Eugen Dühring, einen Vertreter eines positivistischen Materialismus durchgesetzt. Die Mehrheit der Philosophischen Fakultät, die sich von dem Vorgehen der Naturwissenschaftler überrumpelt fühlte, sträubte sich jedoch gegen die Berufung eines Mannes, der „in Abwendung von allem, was je Religion oder Philosophie von einem Übersinnlichen, Ewigen und Göttlichen gelehrt haben, jedweden theoretischen Idealismus als unbegründet und unberechtigt bestreitet“. Diese Darstellung im Bericht des Universitätskurators Seebeck an die Kultusministerien der thüringischen Staaten im September 1873 dürfte wohl Dührings Berufungschancen nicht gerade gefördert haben. Mit Rudolf Eucken konnte Seebeck nun einen Kandidaten präsentieren, der bereits eine ordentliche Professur innehatte. Für Eucken sprach auch, dass er in der kurzen Zeit, die er in Basel lehrte, Vorlesungen zu einem umfangreichen Themenspektrum angeboten hatte, zur aristotelischen Philosophie, zur Logik, zur Ethik, zur Philosophiegeschichte, zur Pädagogik und zur Psychologie.31 Eucken selbst versicherte in einem wenige Tage nach der Unterredung mit Seebeck verfassten Brief, es gehe ihm nicht nur um eine Vermehrung der Kenntnisse der Studenten, sondern um eine „allgemeine Vertiefung des geistigen Lebens“. „Alle glänzenden Fortschritte der Einzelwissenschaften und alle Vollendung der Technik“ könnten nicht den „tieferen Anforderungen des ganzen Menschen genügen.“ Aufgabe der Philosophie sei es nach seiner Auffassung, der Zersplitterung des Wissens entgegen zu wirken, auf das einheitliche Wesen des Menschen hinzuweisen und die Einheit aller höheren Bildung zu vertreten.32 Zum Sommersemester 1874 trat Rudolf Eucken seine neue Stelle in Jena

30 Vollert, Berufung, S. 519; vgl. ebd. 519ff; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 59. 31 Vgl. Vollert, Berufung, S. 507–517. 32 Ebd., S. 520f; vgl. auch Dathe, Rudolf Eucken, S. 44.

34  2 Der Philosoph und sein Werk

an. Er war nun 28 Jahre alt. 46 Jahre lang, bis zu seiner Emeritierung 1920, sollte er an der Universität Jena lehren.

Abschied von Aristoteles In seinen Verhandlungen mit dem Jenaer Universitätskurator zur Jahreswende 1873/74 erwähnte Rudolf Eucken, er arbeite an einem Werk, das sich mit den „metaphysischen Grundlagen einer ethischen Weltanschauung“ beschäftige.33 Die Verwirklichung dieses Vorhabens sollte sich aber noch bis in die zweite Hälfte der 1880er Jahre hinziehen. Die gesamten Siebziger Jahre hindurch hielt er in seinen philosophischen Arbeiten weiterhin die „Fackel Trendelenburgs in der Hand“. So hatte Friedrich Nietzsche in einem Privatbrief Euckens wissenschaftliches Profil bei dessen Berufung nach Basel spöttisch umrissen.34 1872 legte Eucken zwei weitere Schriften zum Werk des Aristoteles vor. Bei der ersten handelte es sich um das überarbeitete Manuskript seiner Baseler Antrittsvorlesung, in der er allgemeine Überlegungen zur Bedeutung der Aristotelischen Philosophie für die Gegenwart präsentierte. Die zweite, längere Schrift war eine empirisch gestützte Untersuchung, in der Eucken Die Methode der Aristotelischen Forschung in ihrem Zusammenhang mit den philosophischen Grundprinzipien des Aristoteles darlegte. Hier wendet er gewissermaßen das methodische Werkzeug, das Trendelenburg aus der aristotelischen Logik entwickelt hat, in kritischer Absicht auf die Methode des Aristoteles selbst an. Eucken kommt dabei zu einem eigentlich niederschmetternden Ergebnis, das seine bisherigen Forschungen in einem merkwürdigen Licht erscheinen lässt: … bei den verschiedensten Gelegenheiten mussten wir bemerken, wie die Methode unseres Philosophen hinter den Anforderungen der fortgeschrittenen Wissenschaft zurückblieb, und es wurde uns klar, dass wir sie fast nirgends bis ins Einzelne hinein als Muster nehmen dürfen.35

Letztlich blieb aus dem Werk des Aristoteles zur Nutzanwendung für die aktuelle philosophische Methodik nur das allgemeine Postulat, „mit der Würdigung der Eigenthümlichkeit jedes einzelnen Gebietes eine einheitlich durchgehende Weltanschauung zu verbinden.“ Gerade hier könnte, so schließt Eucken sein

33 Vgl. Vollert, Berufung, S. 516; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 58. 34 Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, 10.4.1871, abgedruckt in: Nietzsche, Briefe, S. 192. Vgl. Dathe, Fackel, S. 105. 35 R. Eucken, Methode, S. 184f.

Abschied von Aristoteles



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Fazit, eine Ergänzung der neueren kritisch-analytischen Richtungen der Philosophie geboten sein.36 Man kann dieses Fazit auch als Distanzierung von Trendelenburgs grundlegender Prämisse lesen, dass Aristoteles und Plato alles Wesentliche im Prinzip bereits formuliert hätten, dass demzufolge die Vertiefung in die überlieferten Schriften der Alten zum Kerngeschäft des modernen Philosophen gehöre. In einer späteren Würdigung des Werks Trendelenburgs sieht Eucken dessen angreifbarsten Punkt darin, die tiefgreifenden Umwälzungen im Denken der Neuzeit nicht genügend zu berücksichtigen. Die „ungeheuren Gegensätze, welche die moderne Welt aufgedeckt hat, der einschneidende Zweifel, durch dessen Fegefeuer sie den Weg zur Wahrheit sucht“ – das könne man nicht als bloße Ausführung und Ergänzung der Antike behandeln. Doch erscheint ihm diese Kritik auch noch 1884 als eher nebensächlich angesichts der fortwährenden Bedeutung der erkenntnistheoretischen Arbeiten Trendelenburgs.37 Nachdem er seinen Aristoteles ad acta gelegt hatte, wandte sich Rudolf Eucken einem Projekt zu, das man ohne weiteres als Versuch werten kann, das Werk Friedrich Adolf Trendelenburgs fortzuführen und zu vollenden. 1872 veröffentlichte er in den Philosophischen Monatsheften einen Aufruf zur „Begründung eines Lexicons der philosophischen Terminologie“. Euckens Lexikon-Projekt knüpft an Trendelenburgs Konzeption einer Begriffsgeschichte der Philosophie an. Dabei ging es diesem, wie auch seinem Schüler Eucken, nicht etwa um eine auf Vollständigkeit zielende philologische Sammelarbeit. Die philosophische Terminologiegeschichte bot vielmehr einen heuristischen Zugang zur Erfassung eines Gesamtgebäudes der Philosophie, des menschlichen Geisteslebens überhaupt. Hier könne man nachverfolgen, so Eucken, wie die gesamte Sprache im Lauf der Geschichte vergeistigt, das allgemeine Denken und Empfinden umgewandelt werde. Jeder Terminus werde so zu einem „Apostel philosophischen Denkens“. Dahinter steht bei Trendelenburg und Eucken die Überzeugung, dass die Werke der großen Philosophen nicht isoliert als selbständige schöpferische Leistungen betrachtet werden sollten. Der Beitrag des einzelnen Denkers gründe vielmehr auf dem Fundament, das ihm seine Vorgänger hinterlassen haben. Von dort aus nehme er die Problemstellungen auf und führe sie weiter.38 Ein Lexikon der philosophischen Begriffe wurde in den 1870er Jahren nicht in Angriff genommen. Rudolf Eucken präsentierte am Ende des Jahrzehnts kurz hintereinander zwei Werke, die als Vorarbeiten zu einem solchen Unternehmen 36 Ebd., S. 185. Vgl. Dathe, Begriffsgeschichte, S. 90; ders., Fackel, S. 110ff. 37 R. Eucken, Charakteristik, S. 128f; vgl. Dathe, Fackel, S. 110; ders., Begriffsgeschichte, S. 90. 38 R. Eucken, Terminologie, 219. Vgl. ebd., S. S. 216f, Dathe, Begriffsgeschichte, S. 88f

36  2 Der Philosoph und sein Werk

angesehen werden können: In der Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart von 1878 behandelte er eine exemplarische Auswahl von 14 Begriffen bzw. Begriffspaaren, die er als besonders bedeutsam erachtete: „Erfahrung“, „subjektiv/objektiv“, „mechanisch/organisch“, „Realismus/Idealismus“, „Kultur“ u. a. m. Im Jahr darauf folgte mit der Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriss eine synthetische Darstellung, die begriffsgeschichtliche und systematisch-philosophische Herangehensweisen zu vereinen suchte. Eucken verstand diese beiden Bücher keinesfalls als nur „positive“ Studien, die handbuchartig und möglichst wertfrei die historische Entwicklung der philosophischen Terminologie aufzeigten. Seine Darlegungen durchzieht deutlich hörbar ein kulturkritischer Grundton. Eucken bezieht hier explizit Front gegen positivistische und materialistische Richtungen in der zeitgenössischen Philosophie. Er wendet sich gegen die Grundtendenz, „das Geistige der substantiellen Bedeutung im Weltgeschehen zu berauben und alle Begriffe und Ueberzeugungen unter möglichster Eliminirung des Geistigen zu bilden“. Dadurch gehe die zentrale Einheit und fundamentale Begründung des Begriffssystems verloren.39 Ohne dass er diese Gedankengänge systematisch entwickelt hätte, finden sich in den beiden begriffsgeschichtlichen Büchern zahlreiche Stellen, an denen Eucken seiner Unzufriedenheit mit dem zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs freien Lauf lässt. Er wendet sich gegen die fortschreitende Zweckorientierung wissenschaftlicher Forschung, die Sucht, ihre Ergebnisse „einer unmittelbaren Mittheilung und Verwendung im Allgemeinen Leben zu bringen“. Namentlich kritisiert Eucken einen „Mangel an strenger Consequenz und systematisch ausbauender Kraft“. Der Mechanismus gelte als einzige Art der Kausalität, während die Voraussetzungen und Bedingungen, an die er gebunden sei, nicht beachtet würden. Für die vielen Fragen, die nicht durch die mechanistische Weltsicht beantwortet werden könnten, interessiere man sich nicht weiter, „als ginge da die Welt zu Ende, wo wir zu forschen müde werden“. Eucken diagnostiziert eine tiefe Krise der Philosophie und der Wissenschaft, in deren Kern ein „Widerspruch zwischen Lehre und Leben“ stehe. Während nämlich auf der einen Seite das Geistige und Ideelle in der Wissenschaft weg definiert werde, werde es auf praktischem Gebiet – im Recht, in der Erziehung, im Gesellschaftsleben – „als das Wesentliche und Grundhafte in der Welt“ vorausgesetzt. Das geistige Leben der Gegenwart habe demnach einen Inhalt, dessen Prämissen erschüttert seien: „Wir können theoretisch das nicht rechtfertigen, von dem wir praktisch nicht lassen wollen und können.“40

39 R. Eucken, Terminologie, S. 216; ders., Grundbegriffe, S. 261. 40 R. Eucken, Grundbegriffe, S. 260–263.

Ein romantisches Intermezzo (mit Happy End) 

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Im Rückblick kennzeichnete Rudolf Eucken seine Beschäftigung mit der philosophischen Terminologie als eine nicht recht befriedigende Phase des Suchens. Die näheren Freunde seien von diesen Veröffentlichungen „im Grunde enttäuscht gewesen“. Er habe daher in den folgenden Jahren diesen Pfad verlassen und schließlich sogar seine umfangreichen Sammlungen zur Begriffsgeschichte vernichtet. Ganz so radikal, wie es Eucken in seinen Memoiren darstellt, dürfte allerdings seine Abwendung von der terminologischen Forschung nicht gewesen sein. Bis lange nach der Jahrhundertwende veröffentlichte er Aufsätze und Lexikonbeiträge zur Terminologie der Philosophie. In vielen seiner späteren weltanschaulichen und philosophiegeschichtlichen Werke greift er auf seine begriffsgeschichtlichen Studien als empirische Grundlage zurück. Auch in der zeitgenössischen Fachöffentlichkeit fanden Euckens terminologische Arbeiten einige Anerkennung. Auf Betreiben des Philosophen, Lexikografen und Präsidenten der Yale University, Noah Porter, erschienen die Grundbegriffe der Gegenwart 1880 in englischer Übersetzung in den USA.41 Ironischerweise sind es gerade diese Werke, die bis heute vom wissenschaftlichen Renomée Rudolf Euckens geblieben sind. Er gilt als einer der wichtigsten konzeptionellen Wegbereiter der Begriffsgeschichte.42

Ein romantisches Intermezzo (mit Happy End) Am 14. April 1882 wandte sich Rudolf Eucken in einer delikaten Herzensangelegenheit an die Witwe Athenäa Passow: Je länger ich in Ihrem werthen Familienkreise verkehre und je mehr ich Ihre liebe Tochter kennen lerne, … desto klarer und gewisser wird es mir, daß es mir innerlich durchaus unmöglich ist, in der neutralen Stellung eines älteren Freundes zu verharren. Dazu ist mir Frl. Irene viel, viel zu lieb geworden. Wie ich für sie empfinde, das würde ich nur ihr selber aussprechen können – falls es dazu kommen darf.43

Nach dieser Eröffnung mäandert der Brief durch eine weitläufige Landschaft des Einerseits und Andererseits, der Zusicherungen und Beschwichtigungen, der vertraulichen Bekenntnisse und demutsvollen Floskeln, der Zweifel und Hoffnungen. Er könnte dem „Frl. Irene“ ja vielleicht völlig gleichgültig sein. Zudem wisse er nicht, ob die „hochverehrte Frau Professorin“ sein Anliegen mög41 Vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 67ff (Zitat: S. 67); Dathe, Fackel, S. 114ff; Sieg, Geist, S. 74f. 42 Vgl. etwa Schröder, Geschichte, S. 160; Scholtz, Begriffsgeschichte, S. 196; Lübbe, Rudolf Eucken. 43 ThULB NLRE I, 32, Bl. 7f: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 14.4.1882.

38  2 Der Philosoph und sein Werk

licherweise als törichten Gedanken ansehe. Immerhin trennte ihn von seiner Angebeteten ein recht beträchtlicher Altersunterschied. Irene Passow würde in der übernächsten Woche (am 25. April) ihren 19. Geburtstag feiern, während Eucken mit seinen mittlerweile 36 Jahren eher zur Generation ihrer 43jährigen Mutter gehörte. Athenäa Passow (1839–1913) war nach dem Tod ihres Mannes, eines Bremer Gymnasialdirektors, mit der Tochter und den beiden Söhnen nach Jena übergesiedelt. Die Passows waren mit Moritz Seebeck verwandt, dem schon mehrfach erwähnten Kurator der Jenaer Universität. Und bei seinem Freund Seebeck machte denn auch Rudolf Eucken die Bekanntschaft der Witwe und ihrer Kinder. Eucken half tatkräftig, der neu zugezogenen Familie die Integration in das Jenaer Gesellschaftsleben zu erleichtern. So berichtet er Athenäa Passow in einem Brief zum Jahresende 1881 von seinen Bemühungen, ihr „ohne Ballotement“ zur Mitgliedschaft im örtlichen Museums- und Lese-Club zu verhelfen.44 Bald war der Philosophieprofessor ein regelmäßiger Gast im Hause Passow. Daher empfand es der Philosoph als „einfachste sittliche Pflicht“, eine offene Aussprache zu suchen. Es sei ja doch unwahr und zweideutig, wenn er im Umgang mit der Familie Passow „Gleichgültigkeit erheuchle, wo das vollste Gegentheil der Fall ist“. Und überhaupt habe er „die Woche nichts, gar nichts philosophieren können, habe die Tage verträumt, mich von den Collegen ferngehalten, kurz es bewegt mich nur der Eine Gedanke“. Er habe sich „auf’s ernsteste“ geprüft, „ob ich mich einer selbstlosen Liebe für fähig halten dürfe“. Er habe „das mir stets gegenwärtige Andenken meiner treuen Mutter um Rath gefragt“ und hoffe „so sicher zu sein, wie überhaupt uns Menschen möglich ist“. Schließlich beendet Eucken den Brief mit der Bitte, Frau Passow möge ihm „in schonungsloser Offenheit“ mitteilen, „was Sie urtheilen und wissen“45 Nach den Eröffnungen Euckens entspann sich in den folgenden 14 Tagen ein intensiver Briefwechsel zwischen ihm und seiner Schwiegermutter in spe. Und wenn sich ein halbwegs glaubwürdiger Vorwand finden ließ, traf man sich auch zu persönlicher Aussprache und Beratung. Von der Korrespondenz sind zwar nur die Briefe Rudolf Euckens erhalten. Die Reaktionen seiner Briefpartnerin kann man aber recht gut erahnen. Auf sein erstes Schreiben erhielt Eucken eine Antwort, die in ihm wohl eher gemischte Gefühle erweckte. Unter dem 16. April versicherte er der „Frau Professorin“ seine Dankbarkeit, dass sie seine Offenbarung „in so freundlich schonender und discreter Weise“ aufgenommen habe. „Aber andererseits zeigt mir freilich die Überraschung, welche mein Brief 44 Vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 73; ThULB NLRE I, 32, Bl. 1f: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 30.12.1881. 45 ThULB NLRE I, 32, Bl. 8: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 14.4.1882.

Ein romantisches Intermezzo (mit Happy End)



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bei Ihnen hervorrief, wie thöricht mein ganzes Unterfangen ist, und ich mich Ihnen gegenüber eigentlich recht beschämt fühle.“46 Die Angelegenheit blieb fürs erste in der Schwebe. Offenbar war es Eucken nicht gelungen, Athenäa Passow davon zu überzeugen, dass seine Heiratsabsichten nicht einer Augenblickslaune entsprungen waren. Nach acht quälenden Tagen setzte der Philosoph schließlich alles auf eine Karte und verabschiedete sich von seinen konventionellen Wendungen und verdrucksten Windungen. Er legte der Witwe in einem langen Brief eindringlich sein Seelenleben und seine Lebensanschauungen offen, um die Ernsthaftigkeit seiner Absichten zu untermauern. Alles was er im Leben angefangen habe, „stand vor meinem geistigen Auge als ein nothwendiges, gewisses. Habe ich etwas als solches ergriffen so habe ich mich nie getäuscht.“ Er sei sich daher der Tiefe und Beharrlichkeit seiner Empfindungen sicher. Nie habe ihn etwas lebhaft erregt, was nicht seinem ganzen Inneren entsprochen habe und „daher auch von ganzer Seele erfaßt wurde“. Nun war Eucken auf ein Terrain gewechselt, auf dem er sich mit großer Sicherheit bewegte: dem Reich der idealistischen Philosophie und ihren mitunter betörenden Höhenflügen. Das „Reine, Edle und Selbstlose des Wesens“, „die Ganzheit und Frische des Lebens“ – das seien „Eigenschaften, die zu erreichen ich für mich selbst als Ideal betrachte“. Entscheidend in dieser Lage sei, „ob der Gegenstand der Liebe das Unsterbliche des Menschen ist, das wodurch wir einer geistigen und göttlichen Welt angehören“.47 Rudolf Eucken legte in diesem Brief außerordentlich großen Wert darauf, nicht als ein von seinen Studien besessener Gelehrter zu erscheinen. Er verachte die Ehen, die seine Kollegen gewöhnlich führten: „Der Mann, … nur die Mußestunden, d. h. die Zeit der Abspannung, den Seinigen widmend, und sich dann wie aus vornehmer Höhe herablassend! Kein inneres Verhältniß, kein wesenhaft gemeinsames Gemüthsleben! Das finde ich schrecklich …“ Er selbst könne sich ein solches Eheleben nicht vorstellen, „allein deswegen, weil ich einen unauslöschlich tiefen Durst nach Liebe, Hingebung und Vertrauen habe; weil mein Leben ohne das verödet“. Nein, er sei nicht an erster Stelle Gelehrter. Alles dränge bei ihm zum „rein menschlichen hin“. Das „persönliche Verhältniß“ könne ihm nie „ein nebensächliches, eine bloße angenehme Zugabe zum Leben werden. Das kann und darf und soll es nicht! Was dem Einen das Erste, muß auch dem Andern das Erste sein.“ Eucken beendete seinen furiosen Brief mit der Versicherung, „daß alles gottvertrauende menschl. Handeln von höherer Macht getragen, gefördert und gesichert werde“. In solchem Vertrauen könne er 46 Ebd., Bl. 11: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 16.4.1882. 47 Ebd., Bl. 14f: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 22.4.1882.

40  2 Der Philosoph und sein Werk

auch die Frage, „ob meine Liebe eine kräftige und dauernde sein werde“, sicher bejahen.48 Damit hatte Eucken offensichtlich die skeptische Mutter für sich gewonnen und zu seiner Komplizin gemacht. In der nun folgenden Woche wurden im Hin und Her der täglichen Korrespondenz minutiös „Landpartien“ geplant, gesellige Abende anberaumt und die Fortschritte evaluiert, die der verliebte Philosoph bei dem noch immer nicht eingeweihten „Frl. Irene“ erzielte.49 Mit dem 28. April bricht der Briefwechsel ab, ohne dass bis dahin ein entscheidender Durchbruch erzielt worden wäre. Es muss dann aber alles sehr schnell gegangen sein, denn bereits unter dem 14. Mai 1882 bedankte sich Gustav Teichmüller aus Dorpat für die Zusendung der Verlobungsanzeige. Der nächste Brief Rudolf Euckens an Athenäa Passow datiert vom 16. September des gleichen Jahres und war auf der ersten Station der Hochzeitsreise des jungen Paares nach Italien geschrieben worden. Er beginnt mit der Anrede: „Liebe gute Mama“ – in einer Schrift, als habe dem Professor dabei ein kleiner Junge die Hand geführt.50 Nun mag man sich fragen, was ein romantisches Intermezzo samt Happy End in einer wissenschaftlichen Abhandlung zu suchen hat. Diese Episode erscheint aber in zweierlei Hinsicht für den Fortgang der Untersuchung signifikant. Zum ersten betritt hier eine Schlüsselfigur die Bühne des Geschehens, eine Person, die für eine Geschichte der Eucken-Bewegung möglicherweise wichtiger ist als der Philosoph selbst: Irene Eucken, geborene Passow – eben jenes „Frl. Irene“, über dessen Kopf hinweg der künftige Ehegatte und die Mutter gerade die Eheschließungsmodalitäten verhandelt haben. Davon später mehr. Die schriftlich überlieferten Äußerungen Rudolf Euckens gegenüber seiner späteren Schwiegermutter vom April 1882 dokumentieren, zum zweiten, einen entscheidenden Wendepunkt seines philosophischen Schaffens. Das Projekt, eine „ethische Weltanschauung“ als eigenes philosophisches System zu entwickeln, hatte Eucken nach seinem Wechsel nach Jena zwar nicht aus den Augen verloren. Doch dauerte es lange, bis sich seine Überlegungen und Studien zu einem kohärenten und tragfähigen Ganzen formten. Die Arbeit an seiner „ethischen Weltanschauung“ trug für Rudolf Eucken Züge persönlicher Sinnsuche, ja, es mögen sich gewissermaßen selbst-therapeutische Zwecksetzungen mit ihr verbunden haben. Im Rückblick empfand er die Jahre nach dem Tod der Mutter und dem Umzug nach Jena als Zeit innerer Unruhe. In den Semesterferien war er viel auf Reisen; zweimal zog es ihn über die Alpen in das klassische 48 Ebd., Bl. 16-19. 49 Ebd., Bl. 21-31: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 24.4. bis 27./28.4.1882. 50 Gustav Teichmüller an Rudolf Eucken, 14.5.1882, in: Szyłkarski, Verkehr, S. 437; ThULB NLRE I, 32, Bl. 33: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 16.9.1882.

Ein romantisches Intermezzo (mit Happy End) 

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Wunschziel des deutschen Bildungsbürgertums, nach Italien. „Alles das“, so resümierte Eucken später, „brachte mir natürlich mannigfache Erweiterung und Förderung, aber es gab mir nicht einen festen Halt im eigenen Leben und Denken, es gewährte mir keine innere Sicherheit und Freiheit.“ Erst ganz allmählich formte sich sein Gedankengebäude soweit aus, dass er sich nach eigenem Bekunden einer „festen Hauptrichtung“ gewiss sein konnte; „es geschah das in entscheidender Weise in den Jahren 1881 und 1882.“51 Wenn man Euckens Memoiren Glauben schenkt, so fiel sein gedanklicher Durchbruch zur eigenen Philosophie demnach exakt in die Zeit, als er die Bekanntschaft der Passows machte, sich in die Tochter des Hauses verliebte, sie heiratete und endlich zur „lieben guten Mama“ heimkehren konnte. Dass in Euckens Selbstverständnis philosophische Erkenntnis und persönliche Lebensgestaltung eng aufeinander bezogen waren, dass die Philosophie wichtig für sein inneres Gleichgewicht war, ihm einen „festen Halt“ im Leben geben sollte, das war nicht unbedingt nur die pietätvolle Blattgoldmalerei der Lebenserinnerungen. Dieser Zusammenhang kommt auch in den Briefen von 1882 zum Ausdruck. So vertraute er seiner künftigen Schwiegermutter an, er habe wohl früher geglaubt, es sei für seine Forschung besser und angemessener, sein ganzes Leben auf sie auszurichten. Doch sei es ihm nach und nach bewusst geworden, „daß wahres Forschen und ächt u. edel menschliches Leben, daß Erkentniß und Liebe auf einander angewiesen sind und nur in ihrer Verbindung wahrhaften Segen bringen können“. Er verspüre einen „unersättlichen Drang nach ganzheitl. menschl. Leben und Wesen“. Ebenso nachdrücklich betont Eucken, dass er das, „was ich an geistigem Leben besitze, auch den anderen fruchtbar“ machen wolle. Es sei ihm die „Mittheilung des ganzen Wesens zu ganzem Wesen, die Steigerung, Säuberung, Wandlung zu solcher Mittheilung der Höhepunkt, ja der eigentliche Inhalt des Lebens“.52 Dieses empathische Bekenntnis lässt sich wohl nicht nur auf einen momentanen Gefühlsüberschwang zurückführen. Euckens mit ernsthafter Begeisterung vorgetragene ganzheitliche Visionen passten wohl nicht unbedingt zum Auftreten, das von einem Ordinarius der Philosophie erwartet wurde. Rudolf Eucken habe, so zitiert der Jenaer Historiker Alexander Cartellieri einen zeitgenössischen Augenzeugen, als junger Professor auf seine Kollegen äußerst kindlich gewirkt. Man habe ihn hinter seinen Rücken gelegentlich etwas verspottet.53

51 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 70 52 ThULB NLRE I, 32, Bl. 17f: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 22.4.1882. 53 Vgl. Steinbach/Dathe (Hg.), Cartellieri, S. 558.

42  2 Der Philosoph und sein Werk

Rudolf Euckens Kritik der Moderne Ergebnis des gedanklichen Klärungsprozesses waren zwei aufeinander bezogene Buchveröffentlichungen, zunächst 1885 die Prolegomena zu Forschungen über die Einheit des Geisteslebens, in denen Rudolf Eucken die methodischen Grundlagen seiner Studien darlegt, schließlich das drei Jahre später publizierte Hauptwerk Die Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der Menschheit. Diese beiden Schriften bilden das Fundament und Grundgerüst eines philosophischen Gedankengebäudes, das Eucken in den folgenden Jahrzehnten in zahllosen Schriften ausbaute, im Detail modifizierte, variierte oder einfach nur wiederholte. Da es hier nicht um eine detaillierte Werk-Exegese gehen kann, empfiehlt es sich, an dieser Stelle den chronologischen Strom der Erzählung fürs Erste zu verlassen und die Philosophie Rudolf Euckens als Gesamtentwurf zu betrachten. Der folgende Digest schöpft vor allem aus den vier philosophischen Hauptwerken, der Einheit des Geisteslebens von 1888, dem 1896 erstmals erschienenen Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, den Grundlinien einer neuen Lebensordnung (Erstauflage 1907) sowie dem 1918 veröffentlichten Spätwerk Mensch und Welt. Einen ersten Zugang in die Gedankenwelt Rudolf Euckens eröffnet der Begriff des „Syntagma“, auf Deutsch: „Lebenssystem“ oder „Lebensordnung“. Syntagmen sind für Eucken, „Zusammenhänge der geschichtlichen Wirklichkeit, welche die Fülle des Daseins in ein charakteristisches Gesamtgeschehen fassen“. Sie verleihen so dem Leben der menschlichen Gemeinschaft und des Einzelnen eine sinnhafte Einheit und weisen dem Denken und Handeln bestimmte Ziele zu. Eine solche Lebensordnung vereint demnach universelle Leitprinzipien und Grundwerte, basale Denk- und Weltdeutungsmuster, an denen sich die Menschen orientieren. Syntagmen sind in Euckens Definition geschlossene Systeme mit Anspruch auf „Allgenugsamkeit“ und Ausschließlichkeit. Sie sind zwar dem historischen Wandel unterworfen, beherrschen und prägen aber menschliche Gesellschaften gewöhnlich über längere Zeiträume.54 Konkret bezieht sich Rudolf Eucken in seinen Werken vor allem auf zwei historische Syntagmen: die klassische, vom griechischen Denken geprägte Antike und das mittelalterliche Christentum. Das antike Lebenssystem basierte in Euckens Lesart auf dem Willen der griechischen Philosophen, die Welt aus ihren eigenen Zusammenhängen auf natürliche Art zu verstehen. Ihr Bestreben gehe dahin, im Weltbau feste Ordnungen zu entdecken und diese als Ganzes, als Kosmos zusammenzuschließen. Mit der Durchsetzung des abendländischen 54 R. Eucken, Einheit, S. 5. Vgl. ders., Prolegomena, S. 74; sowie Goldstein, Wandlungen, S. 153f.

Rudolf Euckens Kritik der Moderne 

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Christentums wird das antike Lebenssystem durch ein neues Syntagma abgelöst. Den Kern der christlichen Lehre bildet für Rudolf Eucken die Verkündigung einer neuen Welt- und Lebensordnung, eines „Himmelreichs“, das sich – anders als im griechischen Denkkosmos – in „schroffem Gegensatz zum vorgefundenen Sein, ja zu allem natürlichen Tun und Treiben der Menschen“ befinde. Das Christentum fokussiere das ganze Leben auf den Eintritt in das neue Reich, auf die volle und ausschließliche Hingabe an Gott.55 Mit der Aufklärung verlor das Christentum seit dem 17. Jahrhundert in den europäischen Gesellschaften sein bislang unhinterfragtes Weltdeutungsmonopol. An dieser Stelle setzt nun Rudolf Euckens Kritik der Moderne an. Die Neuzeit habe nämlich keine einheitliche Lebensordnung mehr hervorgebracht. Vielmehr seien in der Gegenwart des ausgehenden 19. Jahrhunderts mehrere Syntagmen gleichzeitig wirksam.56 Der Mensch könne sich daher nicht mehr an allgemein gültigen Wertmaßstäben orientieren; die sinnhafte Einheit des Lebens zerfalle. In seinem Grundlagenwerk aus den 1880er Jahren geht Eucken von zwei nebeneinander wirkenden modernen Lebenssystemen aus, dem „Naturalismus“ und dem „Intellektualismus“. Unter Naturalismus subsumiert er alle Daseinsentwürfe, die das Gesamtgeschehen allein aus sinnlich erfahrbaren und empirisch nachweisbaren Mechanismen und Gesetzen der Natur zu ordnen und zu erklären suchten. Diesem naturwissenschaftlichen Weltbild und dem philosophischen Positivismus steht nun in Euckens Auffassung ein Intellektualismus gegenüber, der danach strebe, „den ganzen Umkreis des Daseins in eigentümlich verstandenes intellektuelles Tun aufgehen zu lassen“. Er rekurriert hier auf die großen spekulativen Weltentwürfe des 19. Jahrhunderts und führt damit Trendelenburgs Kritik des Hegelianismus fort. Der Intellektualismus tendiere dazu die „Verbindung zu begründetem Gesamtgeschehen“ zu lockern. Er werde dadurch schnell schatten- und schemenhaft, zum bloßen Hirn-Gespinst, und verliere so die Nähe zum Leben. Der Intellektualismus steht bei Eucken für ein deduktives Verfahren der Welterkenntnis: Hier wird empirische Faktizität umstandslos in ein erdachtes, spekulatives Gesamtsystem gezwängt. Der Naturalismus verfährt dagegen nach dem entgegengesetzten, dem induktiven Prinzip. Die Naturwissenschaft führe die Welt der Erfahrung auf kleinste Kräfte zurück und konstruiere aus den Beziehungen zwischen den Einzelelementen den

55 R. Eucken, Lebensanschauungen 1905, S. 153; vgl. ebd., S. 16ff, 134-139, 153-161; ders., Mensch (1918), S. 251f, 260ff; ders., Grundlinien, S. 136f, 178. 56 Gelegentlich subsumiert Eucken die Neuzeit unter dem Syntagma der Kraftentwicklung, dessen geistige Einheit aber zersplittert sei. Vgl. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 107; Renker, Krisis, S. 48.

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Gesamtmechanismus der Welt. Hier lägen alle unsere Ziele und Güter innerhalb der sinnesgeistigen Welt; alle Kräfte und Triebfedern sind individueller Natur.57 Rund zwei Jahrzehnte später, in den zuerst 1907 veröffentlichten Grundlinien einer neuen Lebensordnung, sind aus den zwei widerstrebenden Lebensordnungen der „Jetztzeit“ fünf geworden. Eucken reflektiert hier, dass auch die älteren Syntagmen nicht einfach verschwunden sind, sondern dass sie für viele Menschen weiterhin gültige Ordnungen darstellten, an denen sie ihr Leben orientierten. Dies gelte namentlich für die Religion „in Gestalt des Christentums“. Zudem sieht Eucken eine über Jahrtausende reichende Kontinuität eines „immanenten Idealismus“, der aus den Idealen des antiken Griechentums schöpfe. Im Kern des Lebens stünden hier Betätigungen, die den Menschen mit dem All verbinden, vor allem das geistige Schaffen in Kunst und Wissenschaft. Moral werde gegründet auf das Wesen des Menschen, Wirklichkeit als Reich der Vernunft verstanden. Eucken bezieht sich hier stark auf den klassischen deutschen Idealismus der „Goethezeit“, der im humanistischen Bildungskonzept während des 19. Jahrhunderts zum identitätsstiftenden Gemeingut des gebildeten Bürgertums in Deutschland geworden war. Am Beginn des 20. Jahrhundert scheint ihm aber diese Lebensanschauung „ins Unsichere geraten“ zu sein. Denn, wo „geistiges Leben geweckt ist, da müsste die sichtbare Welt sich ihm willig, ja freudig beugen“. Einer so glatten Lösung widersprächen aber schroff die Erfahrungen des letzten Jahrhunderts.58 Während die beiden älteren Syntagmen eine unsichtbare Welt zum „Hauptstandort des Lebens“ erklärten, seien drei jüngere Lebensordnungen ganz im sinnlichen Dasein verortet. Zu diesen modernen Ordnungen zählt Eucken nun einerseits, wie schon in den 1880er Jahren, den „Naturalismus“, andererseits aber zwei Lebenssysteme, die offenbar erst in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten größere Wirkungsmacht erlangt hatten: den „Sozialismus“ und den „Subjektivismus“. Der Sozialismus, die „gesellschaftliche Lebensordnung“, finde die Ziele des Lebens in der menschlichen Gesellschaft und entwickle von ihr aus Werte. Wer sich dieser Lebensordnung verschreibe, glaube an eine Summierung der Vernunft in der Verbindung der Individuen zur Gemeinschaft. Das Individuum werde hier ganz und gar an die Gesellschaft gebunden und könne „nur innerhalb ihrer, nie ihr gegenüber ein Recht und eine Bedeutung erlangen“. Augenscheinlich hat Eucken hier vor allem die sozialdemokratische Bewegung, die seit den 1890er Jahren einen spektakulären Aufschwung genommen hatte, im Blick. Der Subjektivismus wiederum fällt für ihn in das entgegengesetzte Extrem: Das Individuum wolle alle überkommenen Bindun57 R. Eucken, Prolegomena, S. VII, 74, 83 (Zitat); ders., Einheit, S. 1–9, 322-329 (Zitat: S. 327). 58 R. Eucken, Grundlinien, S. 11. Vgl. ebd., S. 3–11; sowie ders., Sinn (1917), S. 10ff.

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gen abschütteln, sich ganz auf sein eigenes Vermögen stellen und kein anderes Maß als das eigene Befinden anerkennen. Typischerweise tendierten die Anhänger dieser Lebensanschauung zu einer künstlerisch-ästhetischen Sicht auf das Dasein und lehnten die „Arbeits- und Nützlichkeitskultur“ dezidiert ab. Philosophischer Bezugspunkt ist hier offenbar die Lehre Friedrich Nietzsches, die seit der Jahrhundertwende eine breite Rezeption in der gebildeten Öffentlichkeit erfahren hatte.59 Der gleichzeitige Geltungsanspruch sich gegenseitig ausschließender Lebensordnungen habe, so Eucken, auch dazu geführt, dass in der zeitgenössischen Gesellschaft faktisch die widersprüchlichsten ethischen Grundannahmen unverbunden nebeneinander existierten. So erkläre man mit Darwin „den Kampf ums Dasein mit seiner rücksichtslosen Behauptung des Ich und Vernichtung der anderen zum leitenden Gesetz auch des menschlichen Lebens“. Zugleich glaube man aber an eine innere Vernunft der Welt und halte die Idee der Humanität hoch. Eine ideale Gesinnung und eine unbedingte Wertschätzung idealer Güter werde einerseits wie selbstverständlich als Grundbedingung ethischen Handelns vorausgesetzt. Anderseits lehne man jedoch „die wissenschaftliche Gestaltung einer dem entsprechenden Weltanschauung“ als Verirrung ab.60 Die divergierenden Lebensordnungen könne man, so Eucken weiter, kaum zu einer Synthese bringen. Sie verfolgten viel zu verschiedene Ziele, verlangten viel zu Verschiedenes von uns. Jede von ihnen besitze zwar einen Wahrheitsgehalt, der sich unmöglich aufgeben lasse. Doch könne keine dieser Ordnungen, für sich allein genommen, das Ganze des Lebens in sich zu fassen. Das Christentum entspreche in seiner überkommenen Form nicht mehr dem geistigen Niveau der Zeit. Den immanenten Idealismus hielt der Jenaer Philosoph durch die Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts für überholt. Und auch den modernen Syntagmen spricht Eucken die Eignung und Fähigkeit ab, die Wirklichkeit hinreichend zu erfassen und dem Menschen ein sinnhaftes Dasein zu ermöglichen. Die Erwartung der Vertreter des Subjektivismus, es müssten „nur die Satzungen fallen, womit die Gesellschaft, das Individuum einengt“, um „ein herrliches Aufblühen einer unerschöpflichen Individualkultur“ zu bewirken, hält Eucken für reichlich naiv. Zu einer „echten Individualität“ gehöre eine innere Einheit, die kein Geschenk der Natur sondern ein Werk geistiger Arbeit sei, das Konzentration und oft auch das Überwinden schwerer Widersprüche verlange. Dem Sozialismus billigt Eucken war zu, „bedeutende und berechtigte Forderungen“ zu stellen. Doch sei es ganz und gar verfehlt, solche Forderungen zur 59 R. Eucken, Grundlinien, S. 3, 31, 37. Vgl. ebd., S. 26–43. 60 R. Eucken, Kampf, S. 369ff.

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Hauptsache des Lebens zu machen. Unmittelbares geistiges Schaffen sei nur „in der Seele des Individuums“ möglich. Alle „Verinnerlichung der Kultur“ beinhalte letztlich eine „Erhebung über den Kreis der Gesellschaft“. Verkümmere daher die Selbständigkeit des Individuums, sinke auch das Ganze.61 Seine Kritik an der Moderne fokussiert Rudolf Eucken aber vor allem auf den Naturalismus, den er wohl dann doch als beherrschendes Syntagma seiner Gegenwart betrachtet. In seiner historischen Genese verortet der Philosoph den Naturalismus in der Gedankenwelt der Aufklärung. An sich sieht Eucken in der Aufklärung eine notwendige Stufe in der geistigen Entwicklung der Menschheit, die sich nicht überspringen lasse. Die Macht des Menschen über die Natur wie über sich selbst habe enorm zugenommen. Im politischen und wirtschaftlichen Leben sei die Freilegung der individuellen Kräfte „ein Aufruf zu selbständigerer Betätigung“ gewesen. Die Defizite aufklärerischen Denkens macht Eucken an der Überschätzung des Erkennens und einem platten Nützlichkeitsdenken fest. Die Synthese sei demgegenüber zurückgetreten, der Mensch habe seine innere Verbindung zum All eingebüßt. Immerhin betrachtet Eucken aber die Aufklärung als „das letzte geschlossene Lebenssystem, das wir hatten“. Sie habe ein „Lebensganzes“ geschaffen, „das eine gleichmäßige Durchbildung aller Mannigfaltigkeit unternahm und bis zu einem gewissen Grade auch vollzog.“62 Diesen ganzheitlichen Anspruch verlor die naturalistische Lebensordnung aber im Zuge der technisch-wissenschaftlichen Durchdringung des Lebens im 19. Jahrhunderts. Es habe sich nun eine „Arbeitskultur“, eine „Realkultur“ herausgebildet, die das Verhältnis des Menschen zu den ihn umgebenden Welt zur Hauptsache mache und den Schwerpunkt des Lebens in die intellektuelle und technische Bewältigung dieser Umgebung verlege. Die großartige Entwicklung der technischen Seite des Lebend stehe aber in empfindlichem Kontrast zur Verkümmerung seiner ethischen Seite. „Durch alle Arbeit und Erfahrung ist eine Fülle von Kraft und Technik erzeugt“, konstatiert Eucken. Diese Kraft schwebe aber „frei in der Luft, sie ist nicht durch einen Inhalt gebunden, sondern gehört wie ein herrenloses Gut dem, der sich ihrer bemächtigt.“ Die moderne Arbeitskultur habe einen Menschentypus mit vielen Kenntnissen und großer Geschicklichkeit hervorgebracht, der aber innerlich völlig leer sei, ein Mensch, der „nichts sagen und nichts schaffen kann, weil er geistig nichts erlebt“.63 Der Naturalismus und die anderen modernen Lebensordnungen hätten, so resümiert Rudolf Eucken, „das menschliche Dasein tausendfach bereichert, 61 R. Eucken. Grundlinien, S. 33ff, 43. Vgl. ebd., S. 47f; ders., Mensch (1918), S. 213f; ders., Sinn (1917), S. 36ff. 62 R. Eucken, Lebensanschauungen (1905), S. 387; ders., Grundlinien, S. 192. 63 R. Eucken, Wissenschaft, S. 189f; ders., Kampf, S. 369.

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aber sie haben das auf Kosten seines geistigen Gehalts getan; sie haben das Innenleben verkümmern lassen und die inneren Probleme des Menschen in bequemer Weise zurückgestellt“. Mehr noch, die Welt der Moderne fasse sich nicht mehr „in ein Ganzes zusammen“, ihr dunkles Getriebe lasse keinen Sinn und Zweck erkennen, es umschlinge uns „mit bloßer und blinder Tatsächlichkeit“. Ein Leben aber, das sich nicht mehr in ein Ganzes zusammenfasse und als Ganzes Ziele verfolge, das sei auch nicht mehr „imstande, sich dem Ganzen der Welt entgegenzustellen und sich mit ihm auseinanderzusetzen“. Es werde zum Teil eines sinnlosen Mechanismus; es verliere trotz aller „Leistung nach außen den Charakter innerer Größe.“64

Der Weg aus der Krise Eben dieses Ganze des Lebens wieder herzustellen und ihm so Sinnhaftigkeit und innere Größe zu verleihen, darauf richtet sich nun der Kern von Rudolf Euckens Lehre. Grundlegend für das Verständnis dieser Lehre ist der Begriff des „Geisteslebens“. Zunächst einmal meint Geistesleben bei Eucken den selbständigen Kreis des Mentalen, der sich mit der Entwicklung der menschlichen Kultur gegenüber „der bloß sinnesgeistigen Naturexistenz“ herausgebildet habe. Das Dasein verwandle sich damit in eine Gedankenwelt; sinnliche würden durch ideelle Größen ersetzt. Mit der Herausbildung eines selbständigen Geisteslebens, trete der Mensch aus der Natur heraus in ein „naturüberlegenes“ Dasein. Eucken grenzt sich hier ganz dezidiert gegen „biologistische“ Daseinsentwürfe ab. Der Mensch ist nach seiner Überzeugung keineswegs durch seine animalische Natur determiniert. Im Gegenteil: Je höher seine geistige Entwicklung fortschreitet, desto mehr hebt er sich von der Natur ab, desto mehr Freiheit gewinnt er ihr gegenüber.65 Das Geistesleben versteht Eucken aber nicht (oder nicht nur) als Gesamtheit des Denkens und Wissens der Menschen. Es verweise vielmehr auf ein über die Menschheit hinausreichendes und von ihr unabhängiges Geschehen, das in einer „Überwelt“ begründet sei. Im Geistesleben liege, so hat dies Euckens Schüler Julius Goldstein pointiert formuliert, „die Behauptung, Sinn und Vernunft der Welt zu sein“.66 Diese geistige Überwelt existiere als „kosmische Wirklichkeit“ zwar unabhängig vom Menschen, doch könne er mit ihr in Verbindung 64 R. Eucken, Grundlinien, S. 48; ders., Mensch (1918), S. 6, 10. 65 R. Eucken, Einheit, S. 360–379; ders., Mensch (1918), S. 61–67; ders. Einführung, S. 122; ders., Wissenschaft, S. 250f. 66 Goldstein, Wandlungen, S. 157.

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treten und daran teilhaben. Im menschlichen Geistesleben, in der Philosophie, der Kunst, dem Recht, der Religion findet sich demnach ein Abglanz kosmischer Wahrheit. Der Mensch dringe „durch den Lauf der weltgeschichtlichen Arbeit mit ihren Versuchen, Erfahrungen, Wandlungen allmählich“ zur solcher Wahrheit vor.67 Um seinen Lesern die Verbindung zwischen dem Menschen und der kosmischen Wirklichkeit des überweltlichen Geistesleben vor Augen zu führen, verweist Rudolf Eucken auf das Phänomen der Moral, das weder durch die Interessen des Individuums noch über die Erfordernisse menschlichen Zusammenlebens hinreichend erklärt werden könne. Die Menschheit habe im Laufe ihrer Entwicklung ideelle Größen wie Charakter, Recht, Pflicht herausgebildet, „die von einer natürlichen Wirklichkeit her überhaupt nicht zu verstehen sind.“ Denn hätte der Mensch „nicht von innen her ein moralisches Wesen einzusetzen gehabt, so könnten sicherlich alle Notwendigkeiten der bloßen Existenz nie die Wendung zur Moral, die Entwickelung einer moralischen Daseinssphäre begreiflich machen“. Man habe es hier mit einer „Wesensbeschaffenheit des Menschen“ zu tun, die sich etwa bei der Feindesliebe, „in einen vollen Gegensatz zu den natürlichen Affekten stellt.“ Aus diesen Grund seien in der Geschichte der Menschheit gegen alle Versuche, „bei den Größen der subjektiven Seite: Lust, Genuß, Kraftgefühl u. s. w. abzuschließen“, stets Gegenbewegungen erwachsen.68 Von diesen gedanklichen Prämissen ausgehend beschreibt Eucken einen langwierigen und mühseligen Bildungsprozess, der dem Einzelnen den Zugang zu einer höheren, geistigen Wirklichkeit eröffne. Es gelte hier – in den Worten eines weiteren Eucken-Schülers, Otto Siebert – „das Geistesleben in ein Ganzes zusammenzufassen und ein der Zerstreuung und Sinnlosigkeit der unmittelbaren Erfahrung überlegenes Prinzip zu finden“. Der Jenaer Philosoph wiederum betont, dass dieses Ziel nicht etwa durch weltabgeschiedene Kontemplation zu erreichen sei, sondern vielmehr in der aktiven und kreativen Auseinandersetzung mit der Welt, im Kampf gegen äußere und innere Widerstände. Eucken spricht hier von „Aktivismus“. Indem der Einzelne nun sein Schaffen auf das große Ganze der ihm zugänglichen kosmischen Wirklichkeit ausrichte und sich an den „Ideen des Wahren und des Sittlichguten“ orientiere, höre seine Arbeit auf, eine bloßen Tätigkeit ohne inneren Sinn zu sein. Sie werde zur „Volltat“. Es eröffne sich demjenigen, der „Prinzip und Werk“ auf diese Art vereine, eine „Tatwelt“. Solches Streben findet seinen Gipfelpunkt und Abschluss schließlich in einem „Lebenswerk“: 67 R. Eucken, Einheit, S. 381; ders., Strömungen (1920), S. 32f; ders., Wahrheitsgehalt, S. 133. 68 R. Eucken, Einheit, S. 352, 379, 383.

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Jenes Lebenswerk aber stellt große Forderungen an die Gestalt der Dinge. Die weite Mannigfaltigkeit des Alls muß hier vollständig von der kosmischen Einheit beherrscht sein, das Geschehen muß einen substantiellen Charakter tragen, der Sieg der Freiheit über die Natur entschieden sein. Die Werte, welche die Wendung zur substantiellen Freiheit schafft, dürfen nicht als leere Wünsche schattenhaft über dem Dasein schweben, sondern sie müssen es unmittelbar beherrschen oder vielmehr einnehmen; die geistige Wirklichkeit hat sich als ein Reich der Vernunft zu erweisen, das von immanenten Wesenszwecken geleitet wird.69

Derjenige, der sich auf einen solchen Weg begibt, erlangt insofern Freiheit, als er sich dabei sowohl von den Impulsen seiner sinnesweltlichen Natur als auch von den Normen und Zwängen der Gesellschaft zu befreien hat. Indem er sein Handeln allein durch seine inneren Überzeugungen leiten lässt und sich an für wahr und gut befundenen Prinzipien orientiert, gewinne der Mensch eine „weltüberlegene Innerlichkeit“. In Rudolf Euckens Verständnis beinhaltet diese Art innerer Freiheit für das Individuum aber zugleich „ein Prinzip strengster Bindung“. Wenn Eucken fordert, das eigene Handeln und Schaffen in den inneren Zusammenhang „mit einer idealen und kosmischen Wirklichkeit“ hineinzustellen, geht es ihm um die Bindung an objektive und nicht bloß subjektive Wahrheiten. Das Individuum müsse sich daher dem Ganzen unterordnen und einfügen, „um an der Aufgabe auch nur arbeiten zu können.“70 Indem der Mensch solchermaßen „als freies Wesen mit freien Wesen verkehrt, Wirkungen ausübt und Wirkungen empfängt,“ indem „jede Wirkung vom Einzelnen zum Einzelnen durch die Idee der Gesamtwelt belebt wird“, entwickle er „ein eigentümliches Reich persönlichen Lebens, das an jeder Stelle eine Selbständigkeit gegen die natürliche Lage zeigt“. Hier formuliert Rudolf Eucken das Leitprinzip einer neuen Lebensordnung und es erscheint ihm als „Lebensfrage der Menschheit, ob sie solcher Fortbildung fähig, und ob sie thatsächlich in ihr begriffen ist.“71 Nun beschreibt Eucken aber den Weg zu dieser Fortentwicklung der Menschheit als Prozess individueller Persönlichkeitsbildung. Darüber, wie dieses neue Syntagma Allgemeingültigkeit erhalten soll, finden sich seinen philosophischen Schriften allenfalls vage Hinweise. Im Vorwort der Einheit des Geisteslebens versichert er seinen Lesern, dass „der Kampf um neue Ideen und neue Lebensordnungen“ keineswegs nur eine „private Angelegenheit“ sei. Vielmehr lasse „nur durch ein mannhaftes Zusammenstehen aller Gleichgesinnten sich den ungeheuren Gegenmächten irgendwelcher Boden abringen.“72 69 Ebd., S. 434f, 456; Siebert, Geschichte, S. 491. 70 R. Eucken, Grundlinien, S. 6; ders., Einheit, S. 381, 400. 71 R. Eucken, Einheit, S. 383, 391. 72 Ebd., S. VII.

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Rudolf Eucken und die deutsche Schulphilosophie Die Rezeption seines großen philosophischen Entwurfs, den er in der Einheit des Geisteslebens 1888 entfaltet hatte, bereitete Rudolf Eucken eine bittere Enttäuschung. Nur wenige seiner Kollegen wollten sich ernsthaft mit seinen Ideen auseinander setzen. Im Vorwort der Mitte der 1890er Jahre veröffentlichten Abhandlung Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt lässt Eucken seiner Frustration über die enttäuschende Resonanz seines Werkes in der philosophischen Fachöffentlichkeit freien Lauf. Beinahe trotzig beginnt er mit dem Diktum: „Die folgenden Darlegungen wissen sich in vollem Gegensatz zu den geistigen Strömungen, die heute äußerlich noch vorherrschen.“ Er grenzt sich von einer „selbstbewußten und selbstgerechten Fachgelehrsamkeit“ ab, der „alles Streben nach Weltanschauung und zusammenhaltender Überzeugung eine leere Utopie dünkt“. Diese „Fachgelehrten“ ließen nur eine Philosophie gelten, die auf Prinzipienfragen verzichte und „entweder Geschichte oder Naturwissenschaft werde“. In „unserer eigenen Wissenschaft“, so fährt Eucken im Plural Auctorialis fort, müsse er sich daher recht vereinsamt fühlen. Doch habe man „den inneren Zug der Zeit für sich“. Die Zeit dürste „nach einem fester begründeten und zugleich größeren und freieren Leben“, nach einem gemeinsamen Ideal, einem „Lebensinhalt, der diesen Namen verdient.“73 In seiner eigenen Wahrnehmung sah sich Rudolf Eucken auch noch in späteren Jahren als wenig geschätzter Außenseiter des akademisch-philosophischen Betriebs. Als Euckens Schüler Julius Goldstein im Auftrag der Jenaer Philosophischen Gesellschaft 1898 bei dem Ordinarius vorfühlte, ob ihm eine Festschrift anlässlich des 25. Jahrestages seiner Berufung nach Jena genehm wäre, wehrte dieser entschieden ab. Er halte dies für vollkommen unangebracht, denn er sei nach 25 Jahren Arbeit noch nicht weiter gekommen. In der Gelehrtenwelt werde er nicht anerkannt und befinde sich in der Opposition zu den herrschenden Richtungen. Er stehe zwar bei jeder Lehrstuhlbesetzung an einer der größeren Universitäten auf der Liste, „aber Intrigen wüßten es stets zu hintertreiben“. „Ich merkte ihm einen gewissen inneren Schmerz an“, hielt Goldstein in seinem Tagebuch fest. „Ich war etwas erschüttert. Wie glücklich man doch nach außen scheinen kann, wenn innerlich ein Kummer frißt.“74 Auch ein Jahrzehnt später ist in den Äußerungen Euckens zu diesem Thema sei73 Vorwort zur ersten Auflage, in: R. Eucken, Kampf, S. IIIf; vgl. ders., Epilog, S. 119f. Zur Rezeption der Einheit des Geisteslebens vgl. ders., Lebenserinnerungen, S. 75. 74 LBI, Goldstein Collection I/26: Tagebücher Julius Goldstein 1896–1902: Eintrag 16.9.1898. Ähnlich Eucken selbst in einem Brief an Friedrich von Hügel drei Tage später: StAUL Hügel Papers ms 2495. Zur Philosophischen Gesellschaft vgl. Henckmann, Anfänge, S. 19f; Flitner, Erinnerungen, S. 167f.

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ne Erbitterung noch deutlich zu spüren. An Vitalis Norström schrieb er Ende 1907, er sei „durch Zeugnisse so warmer Wertschätzung aus Gelehrtenkreisen“, wie sie ihm sein schwedischer Philosophenfreund entgegenbringe, „nicht verwöhnt – muss ich doch in Deutschland einen steten Kampf gegen eine bloss zur Gelehrsamkeit tendierende Philosophie führen“. Die „Fach- und Stubengelehrten“, so beklagte sich Eucken ein dreiviertel Jahr später beim gleichen Adressaten, sähen ihn als einen Mystiker an, der nicht recht in die Gegenwart passe.75 Was unterschied nun Rudolf Eucken von den „Fach- und Stubengelehrten“, die seiner Wahrnehmung nach den Ton in der deutschen „Schulphilosophie“ der Jahrhundertwende angaben? Er selbst hat seine Lehre häufiger als „Lebensphilosophie“ gekennzeichnet und auch in der Literatur ist Eucken gelegentlich unter diesem Etikett verortet worden. Wie sinnvoll und aussagekräftig eine solche Einordnung ist, hängt wohl nicht zuletzt davon ab, was man mit „Lebensphilosophie“ meint. Wenn man darunter, wie etwa Ferdinand Fellmann, eine „gelebte Philosophie“ versteht, die sich mit dem Sinn menschlichen Daseins beschäftigt, dann war Rudolf Eucken sicherlich ein „Lebensphilosoph“. In seiner Studie Gelebte Philosophie in Deutschland schlägt Fellmann denn auch den Bogen von Euckens „Philosophie des Lebens“ über Edmund Husserls Phänomenologie bis zur „Kritischen Theorie“ von Adorno und Horkheimer.76 Wenn man dagegen, wie Hansjoachim Störig, den Vertretern der Lebensphilosophie bescheinigt, dass sie allesamt „auf den Schultern Schopenhauers und Nietzsches stehen“ und die meisten von ihnen von der Biologie als Leitwissenschaft ausgingen – dann wird man Eucken eher nicht in diese Schublade einordnen.77 Was Eucken mit den Vertretern einer von Friedrich Nietzsche inspirierten Lebensphilosophie verbindet, ist bestenfalls ein mentaler und emotionaler Habitus, der sich in einer vitalistischen Rhetorik, im empathischen Bezug auf das Lebendige ausdrückt. Eucken billigt seinem früheren Baseler Kollegen zu, er verhelfe „dem, was in vielen Seelen aufstrebt, zu einem Ausdruck und durch die künstlerische Fassung zu einer Veredlung“, nämlich: die Entrüstung über eine schablonenhafte und schematische Kultur, über die moderne Verflachung und Entseelung des Lebens, der Widerstand gegen das übliche Aufgehen in das Getriebe der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit, die tiefe Abneigung gegen die Selbstgerechtigkeit des Spießbürgertums, auch das gelehrter Art, gegen jenes Sicheinspinnen in ein enges und ödes Philistertum, das der deutschen Natur so zähe anhaftet, ein Widerwille endlich gegen moralische und religiöse Bindungen, deren innere Wahrheit verloren 75 ThULB NLRE I, 30, Bl. 205, 247f: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 6.12.1907 und 26.10.1908. Vgl. auch R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 79, 86 76 Fellmann, Philosophie, S. 7ff. 77 Störig, Weltgeschichte, S. 630. Vgl. Bollenbeck, Kulturkritik, S. 205; Merlio, Kulturkritik, S. 28, 37f.

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ging. Indem das Subjekt alle solche Bindungen abschüttelt, entwickelt sich mit hinreißender Kraft ein Verlangen nach größerem Leben, ein Durst nach Entfaltung alles Vermögens, ein Wille zur Macht.78

Es bereitete Eucken offensichtlich keine Mühe, Nietzsches kulturkritische Diagnosen in die eigene Sprache zu übersetzen. Doch einen Weg zu einem „wahrhaftigen Selbstleben“, „einen kräftigen Lebensinhalt“ scheint ihm diese Philosophie nicht aufzuzeigen. Für Eucken kommt hier lediglich „die künstlerisch verstärkte und veredelte Stimmung des Individuums“ zum Ausdruck.79 Noch weniger sollte man Rudolf Euckens Lehren mit den biologistischen Spielarten der Lebensphilosophie in einen Topf werfen. Das Wort Leben sei „heute in aller Munde“, konstatiert er 1912, doch würden sich hier die „verschiedensten Begriffe“ durchkreuzen. Vor allem werde oft „eine höhere und eine niedere Stufe des Lebens nicht genügend geschieden, und es droht, was das Geistesleben fördern soll, unter die Macht bloßer Naturbegriffe zu geraten.“ Eucken argumentiert dagegen anti-biologistisch: Der Mensch erhebt sich mit der Entwicklung eines naturüberlegenen „Geisteslebens“ über sein biologisches Dasein. Mit der Eröffnung einer „Tatwelt“, eines „Selbstlebens“ geht für Eucken eine Befreiung von den natürlich-biologischen Determinanten des „bloßen“ Menschseins einher.80 „Leben“ meint bei Rudolf Eucken vornehmlich „geistiges Leben“, „Geistesleben“. Es geht ihm um eine sinnhafte Ordnung des menschlichen Lebens, die wiederum bereits in einer transzendenten kosmischen Ordnung angelegt ist. Und es sind für Eucken letztlich die Sinndefizite des Lebens, die auf bestimmten Stufen kultureller Entwicklung als mächtige Antriebskräfte zur Ausformung und Durchsetzung neuer Lebensordnungen wirken. Dies erläutert er etwa in den Grundlinien am Beispiel der Reformation: Die geringe geistige Aktivität des mittelalterlichen Menschen habe ihm das Nebeneinander von kirchlicher Ordnung und persönlicher Gesinnung nicht als Widerspruch sondern als Ergänzung erscheinen lassen. Sobald aber in der Neuzeit die Innerlichkeit mehr Selbständigkeit und Selbstbewusstsein erlangt habe, „mußte die Bindung an eine äußere Ordnung zu einem unerträglichen Drucke werden.“ In diesem Sinne, so verallgemeinert Eucken, stelle „der Zusammenstoß innerer Notwendigkeiten mit einer ihnen widersprechenden Lage“ eine Haupttriebkraft geschichtlicher Bewegung dar. Kurz, es ist bei Rudolf Eucken der Geist, der das Leben zu formen hat, und nicht umgekehrt.81

78 R. Eucken, Lebensanschauungen (1905), S. 500f. 79 Ebd., S. 503ff. 80 Zitat: R. Eucken, Erkennen, S. IIIf. 81 R. Eucken, Grundlinien, S. 60f. Vgl. auch Fellmann, Philosophie, S. 72f.

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Dieses Grundverständnis wiederum weist ihn als Vertreter des Idealismus aus und er selbst ordnet sich auch immer wieder ausdrücklich einem „neuen“, einem „ethischen“, einem „christlichen“ Idealismus zu.82 Es sind nun in Euckens philosophischem Werk viele der Konzepte und Denkfiguren des klassischen deutschen Idealismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts auszumachen. Der Jenaer Philosoph hat sich wohl bei Kant ebenso großzügig bedient wie bei Fichte. Und wenn man das eben zitierte Beispiel für die Bewegungskräfte menschlicher Geschichte betrachtet, so hat sich Eucken auch nicht gescheut, Anleihen bei Hegels Dialektik zu machen. Rudolf Eucken war deswegen aber nicht nur ein „Nostalgiker“, der die idealistische Philosophie der Goethezeit wiederbeleben und nacherleben wollte.83 Diesen „alten“ Idealismus und die von ihm vermittelten lebensweltlichen Orientierungen charakterisierte Eucken am Vorabend des Ersten Weltkriegs als überholtes Relikt. „Uns aber ist diese Lebensgestaltung als Ganzes merkwürdig rasch in die Ferne gerückt“, schreibt er 1913 in der zweiten Auflage der Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, „bei aller geschichtlichen Nähe ist sie uns innerlich fremder geworden als die Welt der Religion.“84 Euckens philosophischen Profilierungsanstrengungen konzentrierten sich seit der Jahrhundertwende vor allem auf die Abgrenzung zu denjenigen seiner Kollegen, die ihre Lehren auf Kant, Fichte oder Hegel gründeten. Er führe, so teilte er 1904 einem amerikanischen Bekannten mit, einen besonders „harten Kampf gegen eine dualistische Erkenntnislehre, die sich auf Kant, und gegen eine relationistische Evolutionslehre, die sich auf Hegel beruft; bei beiden Punkten bin ich in energischer Arbeit“. Mit seiner 1912 erschienenen Schrift Erkennen und Leben wollte Eucken auch, wie er dem Theologen Friedrich von Hügel schrieb, die „Differenz von den spekulativen Idealisten“ deutlich hervorheben. „So sehr ich z. B. die moralische Energie Fichtes schätze, in der Erkenntnislehre fühle ich mich ihm keineswegs nahe, ja seine Irrlehre ist mir geradezu antipathisch.“85 Von Euckens antihegelianischer Positionierung in der Nachfolge Trendelenburgs ist oben schon die Rede gewesen. Im Kern machte sich seine Kritik an der Hegelschen Dialektik daran fest, dass hier „die Philosophie ein 82 Vgl. vor allem Euckens Briefe an Vitalis Norström, etwa vom 5.3.1907 (ThULB NLRE I, 30, Bl. 176, vom 16.9.1908 (ebd. Bl. 241), vom 23.12.1908 (ebd. Bl. 268f), vom 19.1. 1909 (ebd. Bl. 303f) und vom 8.6.1914 (ebd. Bl. 392). 83 So Beßlich, Kulturkrieg, S. 45ff; mit ähnlichem Tenor: Sieg, Geist, S. 74–79; Hoeres, Krieg, S. 210f. 84 R. Eucken Grundlinien, S. 10. 85 ThULB NLRE I, 29, Bl. 31: Rudolf Eucken an Pastor W. Fritzmeier, Chicago, 22.12.1904; StAUL Hügel Papers, ms2555: Eucken an Hügel, 23.12.1912. Zu Euckens Fichte-Rezeption vgl. Fulda, Neufichteanismus; Haskamp, Personalismus, S. 14–18, 48-61, 96ff, 119-130.

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bloßer Ausdruck der jeweiligen Lage“ werde. Alle absolute Wahrheit weiche daher dem Relativismus, sie werde folglich „ein bloßes Kind der Zeit, ein Werkzeug für die Notwendigkeiten des Lebens und seine wechselnden Bedürfnisse.“86 Immanuel Kant ist in Rudolf Euckens philosophiegeschichtlichem Lehrbuch Lebensanschauungen der großen Denker das längste Kapitel gewidmet. Bei aller Hochschätzung des Werkes und der philosophiegeschichtlichen Bedeutung Kants – am Ende bringt Eucken gewichtige Einwände gegen seine Lehre vor. Bei Kant werde der Mensch auf dem Gebiet der Erkenntnis „ganz und gar in den bloßmenschlichen Vorstellungskreis gebannt“ und büße damit den Zugang zu aller echten Wahrheit ein. Dagegen werde aber „im Gebiet der praktischen Vernunft unser Leben rasch, zu rasch und ohne gehörige Abstoßung des Bloßmenschlichen, zu absoluter Gültigkeit und Wahrheit erhoben.“ Eucken sieht daher die Gefahr, „daß die vom Menschen gebildete Welt auch nur für den Menschen gilt, und daß er von der großen Wirklichkeit als einem unerforschlichen Reich der Dinge an sich für immer abgeschnitten wird.“87 Rudolf Euckens Kritik am zeitgenössischen Neukantianismus wiederum fokussiert auf den Stellenwert, den hier die Erkenntnistheorie eingenommen hatte. Kant selbst habe zu dieser Entwicklung beigetragen, indem er seine Philosophie „mit Vorliebe eine kritische genannt und auch im Titel seiner Werke den Begriff der Kritik vorangestellt“ habe. Dies sei keineswegs glücklich gewesen und habe nicht wenig zur Verhüllung des Kerns seiner Philosophie beigetragen. Dadurch sei einseitig die erkenntnistheoretische Aufgabe in den Vordergrund gerückt. Die Neukantianer würden aber übersehen, dass „alle Art des Erkennens abhängig ist von der Art des Lebens“. Wenn eine „charakteristische Erkenntnis“ gewonnen werden solle, müsse zuvor „ein charakteristisches Leben“ gesichert sein. Wissenschaftliche Erkenntnis hat für Eucken demnach nur dann einen Sinn und einen Wert, wenn sie sich in das Große und Ganze einer ethisch fundierten, „wahrhaftigen“ Lebensordnung einfügt.88

Um die Erkenntnis kosmischer Wahrheiten Was seinen Lehrer Rudolf Eucken vom Mainstream der deutschen Philosophie der Jahrhundertwende trennte, hat Julius Goldstein 1911 folgendermaßen auf den Punkt gebracht: 86 R. Eucken, Erkennen, S. 26f, ders., Lebensanschauungen (1905), S. 450 87 R. Eucken, Lebensanschauungen (1905), S. 417f; ders., Grundlinien, S. 230. 88 R. Eucken, Lebensanschauungen (1905), S. 415.

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Die deutsche Schulphilosophie … wollte um jeden Preis die ‚Wissenschaftlichkeit‘ retten – und wissenschaftlich blieb man, wenn man sich um Dinge nicht bekümmerte, die spekulative Unbequemlichkeiten bereiteten. Man hatte auch ein Mittel gefunden, um es vor seinem philosophischen Gewissen zu rechtfertigen, wenn man alle zur Metaphysik hindrängenden Probleme von sich wies. Es war allgemach zu einem Dogma geworden, daß an dem Anfang der Philosophie eine bis ins einzelne ausgebaute Erkenntnistheorie zu stehen habe, die von vornherein den Umkreis der zu behandelnden Probleme bestimmte. Und meistens kam man über diese erkenntnistheoretische Grundlegung überhaupt nicht hinaus.89

Eucken selbst war es nun durchaus bewusst, dass er sein Werk auf ein epistomologisches Fundament gründen musste, um von der philosophischen Fachwelt Ernst genommen zu werden. Seiner Einheit des Geisteslebens hat er bereits 1885 den Versuch vorangestellt, eine solche Erkenntnislehre zu formulieren. Am Ausgangspunkt dieser Prolegomena steht die Frage, „ob der Fülle der Erscheinungen eine umfassende Einheit innewohne, ob vom Grunde her ein Gesamtgeschehen ausgeprägter Art wirke, ob dasselbe alles einzelne trage, treibe und Gemeinsamkeit des Sinnes zuführe.“ Der Blick des Forschers habe sich dorthin zu richten, wo sich die Menschen eine geistige Welt inmitten einer widerstehenden oder gleichgültigen Natur aufgebaut hätten. Zwar sei diese „Arbeitswelt“ unvollkommen, verbesserungs- und entwicklungsfähig, sie besitze aber einen höheren Grad an Konsistenz als anderes Tun. In der Wissenschaft, der Kunst, der Religion usw. werde ein zusammenhängender Bestand von Phänomenen sichtbar, auf die sich ein Bild des Geisteslebens berufen könne. Von hier aus, vom menschlichen Geistesleben, nähert sich Eucken nun im deduktivinduktiven Wechselspiel den kosmischen Wahrheiten. Was sich nämlich „in Denken und Trachten, in Wirken und Schaffen der Menschheit zu beharrender Leistung“ zusammenschieße, besitze „die Gewähr sicherer Thatsächlichkeit“. Der Sinn, in dem hier das Dasein erfasst und erlebt werde, könne ohne weiteres als echt und als richtig gelten. Der Inhalt des menschlichen Gesamtbewusstseins bilde demnach unmittelbar „den Naturbestand des Geisteslebens.“90 Wie aber lässt sich in solcher Analyse Menschenwerk und kosmische Wahrheit auseinander halten? Eucken schlägt eine Methode der Reduktion vor, mittels derer die große Masse einzelner Erscheinungen auf Grundprinzipien zurückgeführt werden könne. Es gelte dabei, „alles Besondere als Bezeugung eines Ganzen zu verstehen“ und „ein Prinzipielles, das in der greifbaren Leistung verschlossen, ja vergraben war, zu erwecken und zu befreien“. Es geht nun nicht etwa darum, hinter den Erscheinungen ein wesenhaftes „Ding an 89 Goldstein, Wandlungen, S. 152f. 90 R. Eucken, Prolegomena, S. 2, 22, 63.

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sich“ zu entdecken. Euckens reduktives Verfahren zielt vielmehr darauf, systemische Strukturen freizulegen. Einerseits gelte es, an einem Bestand von Phänomenen einen „leitenden Gedanken“ zu erkennen, der einen weiten Stoff ergreife, alles Fremde ausscheide, Zugehöriges zusammenfasse, um es zu ordnen, zu gliedern und abzustufen. Andererseits sei danach zu fragen, ob ein Phänomen möglicherweise eine Funktion für ein größeres Ganze erfülle, ob von ihm eine spezifische „Sachleistung“ für ein Gesamtsystem ausgehe. Erweise sich nun an einem wohlbegründeten Phänomen eine eigenartige Sachleistung, so darf dasselbe von hier aus als ursprünglich, als primäres Datum gelten. Damit aber legt sich die Untersuchung wie an einen Anker und vermag sich nun Schritt um Schritt schwankender Lage zu entwinden. Denn ist einmal ein eigenartiger Sachverhalt … als Seite und Reihe eines Gesamtaktes im Sichern, so zeugt er für die entsprechenden Funktionen und Funktionsgruppen: was an funktioneller Leistung sich einem unangreifbaren Sachgeschehen zuordnet, das ist auch seinerseits bloßer Meinung und flüchtigem Versuche entzogen.91

Eucken nennt dieses Verfahren mit einem von ihm selbst kreierten Terminus „noologisch“. Er rekurriert damit auf die neuplatonische Gegenüberstellung von noos („Vernunft“, „Geist“) und psyche („Seele“). Die „noologische“ Methode bezieht sich demnach auf den Nachweis eines Zusammenhangs geistiger Phänomene mit dem großen kosmischen Ganzen des Geisteslebens – im Unterschied zu einem „psychologischen“ Verfahren, das bloß auf die Erklärung geistiger Vorgänge im Menschen gerichtet ist.92 Die philosophische Fachwelt scheint Rudolf Eucken von der Wissenschaftlichkeit seiner methodischen Vorgehensweise, wie er sie in den Prolegomena skizziert hat, nicht recht überzeugt zu haben. Nach der Jahrhundertwende begann der Jenaer Ordinarius daher den Plan ins Auge zu fassen, seine Philosophie erkenntnistheoretisch aufzurüsten. Es komme jetzt alles darauf an, schrieb er kurz vor Weihnachten 1904, „meine wissenschaftlich doch noch recht angreifbaren Gedanken in Auseinandersetzung mit entgegenstehenden Gedankenwelten besser zu fundieren“. In seinem intensiven Briefwechsel mit Vitalis Norström taucht das Thema immer wieder auf. Unter dem 3. April 1907 teilte der Göteborger Philosoph dem Freund mit, er „sehe mit großer Spannung Ihrer Erkenntnislehre entgegen“. Denn nur durch „eine vollständige Erkenntnislehre

91 Ebd., S. 63, 65f; ders., Lebenserinnerungen, S. 74. 92 Vgl. R. Eucken, Erkennen, S. 121; sowie Höffding, Philosophen, S. 178f; Fellmann, Philosophie, S. 34.

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kann die gewaltige Bedeutung Ihrer Lebensphilosophie auch in rein und streng wissenschaftlicher Hinsicht zu ihrem vollen Rechte gelangen.“93 Ein halbes Jahr später explizierte Vitalis Norström noch einmal genauer, warum er eine systematische epistomologische Fundierung der Lehre Rudolf Euckens für so wichtig und wünschenswert hielt. Mit seinem Konzept des Geisteslebens sei Eucken für ihn der erste gewesen, „der einen entschieden positiven Standpunkt oberhalb des Gegensatzes Subjekt–Objekt einzunehmen imstande gewesen ist“. Kant habe zwar die Grundlagen des Idealismus gelegt, sei aber nie über den Gegensatz Realismus–Idealismus hinaus gelangt. Fichte habe die Begriffe der Wirklichkeit und Wahrheit „von ihrem realistischen und intellektualistischen Untergrunde“ losgemacht, „um sie auf das Tun und Sollen zu basieren“. Er sei aber den Subjektivismus nie richtig losgeworden. Schelling und Hegel wiederum hätten in ihren philosophischen Entwürfen „das persönliche und geschichtliche Leben in Natur und natürlichen Kreislauf“ zurückverwandelt. Erst sein „Freund und Meister“ Eucken hatte nach Ansicht des schwedischen Philosophen „das geistige Prinzip zu einem wirklichen Fortgang über den blossen Idealismus zum Noëtismus zu verwenden vermocht. Was Hegel nicht gelang, das ist Ihnen prinzipiell gelungen.“94 Rudolf Euckens deutsche Kollegen dürften dies im Allgemeinen etwas anders gesehen haben. Ernst Troeltsch hatte ihm schon 1905 in einem Brief prophezeit, es werde Eucken schwerfallen, seine Lehre erkenntnistheoretisch zu begründen: Der Knoten der Schwierigkeiten u. Gegensätze wird sich freilich erst voll entwickeln, wenn Sie auf die erkenntnistheoretischen Probleme eingehen. Denn da wird die prinzipiell dualistische Struktur Ihres Denkens deutlich heraustreten müssen. Es ist der Dualismus von Geist u. Seele meines Erachtens ein fundamental wichtiger Gedanke, an dem der Schlüssel der Position liegt. Nicht Ihre Betonung des metaphysischen Erkenntnisgehalts wird die Schwierigkeit machen, sondern der notwendig dialektische Charakter dieser metaphysischen Erkenntnisgehalte u. der Voraussetzungen für eine solche Erkenntnis.95

Damit war die Messlatte für eine erkenntnistheoretische Abhandlung hoch gelegt und Eucken tat sich in der Folgezeit offenkundig schwer, solchen Erwartungen gerecht zu werden. Immer wieder traten andere Projekte und Verpflichtun93 ThULB NLRE I, 29, Bl. 31: Rudolf Eucken an Pastor W. Fritzmeier, Chicago, 22.12.1904; ebd. I, 20, Bl. N 252: Vitalis Norström an Eucken, 3.4.1907. 94 ThULB NLRE I, 20, Bl. N. 266f: Vitalis Norström an Rudolf Eucken, 9.11.1907. „Noëtismus“ bezieht sich hier auf eine Lehre, die in der Annahme eines selbständigen Geisteslebens gründet; vgl. Budde, Noologische Pädagogik, S. 201; Graf, Positivität, S. 71. 95 ThULB NLRE I, 26, Bl. T 157f: Ernst Troeltsch an Rudolf Eucken, 13.10.1905 (abgedruckt in: Troeltsch, Briefe III, S. 104).

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gen in den Vordergrund. Im Oktober 1909 teilte Eucken dem schwedischen Kollegen mit, seine Lehrtätigkeit im kommenden Wintersemester solle „ganz und gar der Erkenntnislehre gewidmet sein“. Mitte Dezember musste er einsehen, dass er seine Studenten mit den Problemen der Erkenntnistheorie überforderte.96 Im April 1911 schrieb Eucken nach Göteborg, er wolle nun den „Entwurf einer Erkenntnislehre“ in Angriff nehmen, die – „in steter Auseinandersetzung mit Kant“ – wenigstens in Grundlinien seine Überzeugung herausarbeite. Er habe „ganze Stösse Manuscript leidlich druckfertig“, ließ er Norström einige Monate später wissen, zögerte aber mit der Drucklegung. Das Ganze habe „noch nicht die zwingende Anschaulichkeit und Überzeugungskraft gewonnen“. Im Februar 1912 kündigte Irene Eucken ihrer Mutter an, im Herbst des Jahres werde definitiv „Rudolfs Erkentnißlehre herauskommen, das Buch, was zur Sicherstellung seiner Philosophie absolut notwendig ist“.97 Der kleine Band, der schließlich Ende 1912 unter dem Titel Erkennen und Leben veröffentlicht wurde, präsentierte allenfalls den vagen Umriss einer Erkenntnistheorie. Er wolle dieses Buch „natürlich nur als eine Andeutung des Weges, nur als eine Einleitung“ verstanden wissen, schrieb Eucken an Norström. Inhaltlich bietet Erkennen und Leben kaum mehr als einen konzentrierten Extrakt aus früheren Werken. Die philosophische Erkenntnisarbeit solle auf die „allüberragende Frage“ fokussieren, „wie sich das Dasein zur Tatwelt verhalte, ob jenes ihren Forderungen entspreche oder dahinter zurückbleibe, wohl gar ihnen schroff widerspreche.“ Das Problem, auf das Troeltsch den Jenaer Philosophen sieben Jahre zuvor hingewiesen hatte, nämlich, was denn die Voraussetzung für solche Erkenntnis sei, bleibt in Erkennen und Leben merkwürdig unterbelichtet. Eucken verweist nur ganz allgemein auf seine noologische Methode, die es ermögliche, „ein Gefüge des Geisteslebens aus der vorgefundenen Vermengung klar und kräftig herauszuheben.“98 In seinem letzten philosophischen Werk Mensch und Welt greift Eucken schließlich das Erkenntnisproblem noch einmal auf. „Erkennen“, so postuliert er hier, sei dem Menschen nur als ein Selbsterkennen, als „Sichselberfinden“ und „Sichselbstvollenden“ möglich; „alles was draußen liegt, bleibt uns für immer verschlossen.“ „Draußen“ liegt in diesem Verständnis die Natur. Der Natur nämlich könne man „nicht in der Weise wissenschaftlich nahekommen, daß 96 ThULB NLRE I, 30, Bl. 307: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 31.10.1909. Vgl. ebd. Bl. 224, 313f: Eucken an Norström, 9.7.1908 und 13.12.1909; ThULB NLRE I, 20, Bl. 309f: Norström an Eucken, 30.9.1909; ThULB NLRE I, 32, Bl. 341f: Eucken an Athenäa Passow, 8.11.1908. 97 ThULB NLRE I, 30, Bl. 356f, 364: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 13.4.1911 und 15.9.1911; ThULB: NLRE V, 16, Bl. 563: Irene Eucken an Athenäa Passow, 4.2.1912. 98 ThULB NLRE I, 30, Bl. 379: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 6.12.1912; R. Eucken, Erkennen, S. 126. Vgl. auch Fellmann, Philosophie, S. 69f.

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wir ihr Vorgehen in eigenes Leben verwandeln, es aus eigner Tätigkeit erzeugen oder doch nachbilden“. Die Natur lasse sich zwar als Ordnung beschreiben und erklären. Der Sinn dieser natürlichen Ordnung erschließe sich jedoch dem Menschen nicht. Die menschlichen Individuen erschienen in dieser Ordnung vielmehr „als bloße Mittel und Werkzeuge für die Erhaltung des Lebensprozesses“. Ein sinnhaftes Erkennen der Welt wiederum sei dem Menschen nur unter der gedanklichen Prämisse möglich, dass „im Menschen etwas Übermenschliches vorgehen kann“, dass seine Existenz einen „inneren Zusammenhang mit dem All“ besitzt. Erkennen sei demnach in erster Linie auf eine Welt in uns gerichtet und nicht auf eine Welt um uns.99 Damit sei aber, so stellt Eucken klar, nicht die „innere Erfahrung im gewöhnlichen Sinn“ gemeint, etwa das religiöse Erleben. Solche Erfahrung gehe „nach der Verschiedenheit der Individuen oft ins unbegrenzte“ auseinander. „Was die Seele des Menschen an Bedürfnissen aufweist, das hängt an Wunsch und Meinung und erschließt keine dem Menschen überlegene Wahrheit“. Hauptaufgabe „erkennenden Denkens“ sei es vielmehr, „sich mit dem menschlichen Stande zu beschäftigen und in ihm Übermenschliches und Bloßmenschliches zu scheiden“. Es sei demnach zwischen „Menschenkultur“ und „Geisteskultur“ zu unterscheiden. Die Menschenkultur stelle „alles Streben in den Dienst des Menschen und unterwirft alle Maße und Kräfte diesem Ziele“. Dagegen eröffne die Geisteskultur dem Menschen „Lebenstatsachen“, die „ihre Wahrheit und ihr Recht in sich selber“ trügen und die „durch keinen Widerspruch der Erfahrungswelt zu erschüttern“ seien. Die Denkgesetze blieben nämlich gültig, auch wenn der Mensch noch so unlogisch denke; die Moral behalte ihr Recht, „mag das menschliche Getriebe moralisch noch so unlauter sein“. Von hier aus erscheine die ganze menschliche Sphäre als Bereich, „der nicht zu richten hat, sondern selbst gerichtet wird“.100 Ein erkennendes Denken, das dem Menschen solchermaßen „Ausblicke in das Weltleben“ eröffne, müsse auf dem noologischen Verfahren gründen. Es komme dabei darauf an, eine feste Hauptrichtung herauszuarbeiten und von da aus die einzelnen Fäden und Stufen zu verbinden. (…) Jene Hauptrichtung weist den Weg, den wir einzuschlagen haben; was darüber hinausliegt, das bleibt ein Raum gewagter Spekulationen. Aber wir sehen bei Feststellen jenes Grundstrebens genug, um unser Ziel zu erkennen und unsere Überzeugungen zu bemessen …

99 R. Eucken, Mensch (1923), S. 397f, 403, 468ff, 474. 100 Ebd., S. 407–410, 468, 474.

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Darüber, wie das noologische Verfahren zu objektiven und überprüfbaren Erkenntnissen und „Wahrheiten“ führen soll, erfahren wir allerdings auch bei diesem letzten Anlauf Rudolf Euckens, eine Erkenntnistheorie zu formulieren, nichts Genaueres. Den gedanklichen Ausgangspunkt seiner „Philosophie des Geisteslebens“, dass nämlich „ein solches Leben überhaupt bei uns aufsteigt und seine Wirklichkeit offenbart“, erklärt er in Mensch und Welt zum „Grundaxiom, woran alles Erkennen hängt“. Das hieß dann wohl, dass man diese Annahme nicht weiter zu hinterfragen habe.101

Ein gut vernetzter Solitär Trotz seiner Probleme mit der Wissenschaftlichkeit war Eucken in der Gemeinde der philosophischen Fachkollegen keineswegs so isoliert, wie er selbst das immer wieder beklagte. Otto Siebert hat in seiner Geschichte der neueren deutschen Philosophie seit Hegel einen längeren Abschnitt Rudolf Eucken und seinen „Gesinnungsgenossen“ gewidmet. Siebert, der selbst bei Eucken promoviert hatte, gruppiert hier eine ganze Reihe zeitgenössischer deutscher Philosophen um den Jenaer Ordinarius als Zentralfigur. Darunter finden sich einige illustre Namen: Wilhelm Dilthey, Ernst Troeltsch, Heinrich Rickert.102 Es erscheint zwar zweifelhaft, ob die Genannten selbst mit dieser Zuordnung als geistige Satelliten des Meisters aus Jena einverstanden gewesen wären. Doch sind Affinitäten und Parallelen zwischen Rudolf Eucken und seinen von Siebert genannten Gesinnungsgenossen in ihren Erkenntnisinteressen, Konzepten und Denkfiguren durchaus augenfällig. Wie Eucken stellte sich auch Dilthey gegen die Vorstellung, allein die zergliedernde naturwissenschaftliche Analyse könne als „wissenschaftlich“ gelten. Es erfordere vielmehr einen „verstehenden“ Zugang, eine „Geisteswissenschaft“, um die Einheit der Welt und ihren Ausdruck im gedankenmäßigen Zusammenhang allgemeiner Formen und Gesetze zu erfassen.103 In persönlichem Kontakt stand Rudolf Eucken mit dem Heidelberger Religionsphilosophen Ernst Troeltsch, der ihm 1905 in einem Brief versicherte, es seien „ja im Wesentlichen die gleichen Ziele, für die wir beiderseits kämpfen“. Beide trafen sich in der „Anerkennung eines allem seelischen Mechanismus 101 Ebd., S. 410, 474f, 484. 102 Siebert nennt noch Hermann Siebeck, Gustav Claß, August Dorner und Robert Schellwien (vgl. Siebert, Geschichte, S. 475f). 103 Vgl. Siebert, Geschichte, S. 510f; allgemein: Iggers, Geschichtswissenschaft, S. 176–188; Schnädelbach, Philosophie, S. S. 75f; Hösle, Geschichte, S. 234f. Vgl. auch Euckens Stellungnahme zu Diltheys Position in einem Brief vom 15.4.1895 (abgedruckt in: Lessing, Briefe, S. 223ff).

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überlegenen Geisteslebens“ (Siebert). Trotz dieser gemeinsamen Zielrichtung schieden sich die Geister der beiden Ordinarien allerdings in einem wesentlichen Punkt. Eucken kritisierte 1903 in einer Besprechung von Troeltschs Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, dessen Behandlung des Geisteslebens hebe sich „nicht scharf genug von der historischen Betrachtung“ ab. Es sei dem Autor daher nur gelungen, die Bedeutung des Christentums wahrscheinlich machen, nicht aber, sie sicher zu beweisen. Und genau diesen absoluten Wahrheitsanspruch, den Eucken seiner noologischen Beweisführung unterlegte, sah wiederum Troeltsch als erkenntnistheoretisch zweifelhaft an.104 Mit dem Freiburger Philosophie-Ordinarius Heinrich Rickert verband Rudolf Eucken das philosophische Streben nach einer ethischen Fundierung der Moderne. Auch Rickert und anderen südwestdeutschen Neukantianern ging es um eine Überwindung von Relativismus und Positivismus. Auch sie gingen von der Herleitbarkeit von Normen und Werten aus, die Wahrhaftigkeit und Gültigkeit beanspruchen konnten. Insofern richtete sich Euckens Kritik an der einseitigen Fokussierung des Neukantianismus an erkenntnistheoretischen Fragen wohl vornehmlich auf die „Marburger Schule“, wie sie Hermann Cohen, Paul Natorp und andere repräsentierten.105 Wilhelm Windelband, der Spiritus Rector der südwestdeutschen Schule, unterstrich in seinen Briefen an Eucken immer wieder die Nähe des Jenaer Kollegen zu den eigenen Positionen. 1902 versuchte Windelband sogar, Eucken seine Nachfolge an der Universität Straßburg schmackhaft zu machen: „Ich für meine Person würde Niemand lieber mein Katheder besteigen sehen als Sie. Sie sind einer unserer letzten Führer und Sie führen in eine Richtung, die, wenn sie nicht ganz die meinige ist, doch dieser weitaus am nächsten liegt“. Einige Monate später wollte Windelband Rudolf Eucken als Autor für eine philosophische Enzyklopädie gewinnen, „die möglichst alle in der, sagen wir einmal kurz, idealistischen Gesinnung einander nahe stehenden Hauptvertreter der gegenwärtigen Philosophie“ vereinigen sollte. Er verstehe zwar, dass Eucken nicht recht geneigt sei, sich an solchen Unternehmungen zu beteiligen – „der Starke ist am mächtigsten allein“. Es würde aber doch „die Umgebung aus Männern wie Rickert, Troeltsch, Hensel neben mir wenigstens nicht störend für Sie sein.“106 104 NLRE I, 26, Bl. T 157: Ernst Troeltsch an Rudolf Eucken, 13.10.1905; Siebert, Geschichte, S. 508; R. Eucken, Rezension Troeltsch, S. 185. Vgl. Nowak,. Revolution, S. 144; Lübbe, Rudolf Eucken, o. S. 105 Vgl. Ringer, Die Gelehrten, S. 277; Ferrari, Neukantianismus, S. 14; Schnädelbach, Philosophie, S. 219–223; Koehnke, Entstehung, S. 417–429; Siebert, Geschichte, S. 513. 106 ThULB NLRE I, 28, Bl. W 228, 230f: Wilhelm Windelband an Rudolf Eucken, 3.12.1902 und 23.4.1903. Der Windelband-Schüler Paul Hensel war Ordinarius für systematische Philosophie in Erlangen. Zu Windelbands Wertschätzung Euckens vgl. auch Homann, Philosophie, S. 98.

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Dagegen scheint Rudolf Eucken im Neukantianismus auch in seiner südwestdeutschen Spielart stärker das Trennende als das Gemeinsame zur eigenen Lehre wahrgenommen zu haben. Für ihn waren die Werttheorien Windelbands und Rickerts wohl letztlich nur „subjektivistische“, aus der „bloßmenschlichen“ Kultur abgeleitete Konstrukte.107 Und es war wiederum sein im Transzendenten verankerter Wahrheitsanspruch, der Eucken den Fachkollegen möglicherweise als „Mystiker“ erscheinen ließ. Für einen des Mystizismus verdächtigten Solitär war der Jenaer Philosoph allerdings, in die Netzwerke seiner Peer Group bemerkenswert gut integriert. So gehörte Eucken etwa zum Herausgebergremium der Kant-Studien, des theoretischen „Zentralorgans“ der Neukantianer. Seinen Schüler Max Scheler hatte er 1902 sogar in deren Redaktion platzieren können. 1910, bei der Gründung des Logos, einer international ausgerichteten und mehrsprachig erscheinenden „Zeitschrift für die Philosophie der Kultur“, bat man Eucken wie selbstverständlich in den illustren Kreis der zehn Herausgeber, dem auch Windelband, Rickert, Troeltsch, Edmund Husserl, Max Weber, Friedrich Meinecke und Georg Simmel angehörten. Im Kollegenkreis genoss Rudolf Eucken zu dieser Zeit offenbar den Ruf eines der einflussreichsten Männer der deutschen Universitätsphilosophie. Als der Marburger Ordinarius Paul Natorp 1912 von einem seiner Schüler gebeten wurde, sich für ihn bei einer LehrstuhlBesetzung einzusetzen, antwortete er, ein unverstelltes Eintreten für den eigenen Schüler sei „nicht nur unnütz, sondern direkt schädlich“. „Das“, so fuhr Natorp fort, könnten nur „Dilthey, Eucken, Windelband sich leisten“.108

Eine Eucken-Schule? Einfluss und intellektuelle Ausstrahlung übte Rudolf Eucken nicht zuletzt als Hochschullehrer aus. Schon bevor die Nobelpreisverleihung ihn zum gefeierten internationalen „Star“ machte, hatte er großen Zulauf von Studenten und betreute zahlreiche Doktoranden. Seine Vorlesungen seien so stark besucht, berichtete er im Mai 1907 einem englischen Briefpartner, dass er in einen größeren Saal außerhalb der Universität habe ausweichen müssen. Es mag bei der Beliebtheit Euckens mitgespielt haben, dass er als gutmütiger und „gnädiger“ Prü107 So etwa: R. Eucken, Rezension Troeltsch, S. 185, wo er Troeltsch vorwirft, zu sehr unter dem Einfluss „subjektivistischer Werttheorien“ zu stehen. 108 Zitat nach: Sieg, Aufstieg, S. 344. Vgl. Graf, Positivität, S. 79; Dahms, Jenaer Philosophen, S. 726; Schlotter, Totalität, S. 86; Homann, Philosophie, S. 103–110; Ferrari, Neukantianismus, S. 12f; Henckmann, Scheler, S. 18. Zu Euckens Einflussnahme bei Schelers Eintritt in die Kantstudien-Redaktion vgl. auch: BSB München Crusiusiana I.: Korrespondenz: Eucken, Rudolf, o. Bl.: Rudolf Eucken an Otto Crusius, 11.8.1912.

Eine Eucken-Schule?



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fer galt. Mehr noch dürfte der Impetus, seinen Hörern die Philosophie als sinngebende ethische Leitwissenschaft nahe zu bringen, sie mit Leben zu erfüllen, ihm Studenten zugeführt haben. Alexander Cartellieri mockierte sich in seinem Tagebuch im Nachhinein darüber, dass der Kollege Eucken die Einrichtung eines Philosophischen Seminars in Jena abgeblockt habe. Eucken habe nämlich gemeint, „die Studenten sollten nicht ihre Nasen in Bücher stecken, sondern denken.“ Bei Prüfungen habe er keinen großen Wert darauf gelegt, „ob der Kandidat die grossen Meister selbst studiert hatte“. Es sei ihm vielmehr auf die „lebendige Erfassung“ angekommen.109 Auch wenn Cartellieri in Rudolf Euckens universitärer Lehrtätigkeit die „strenge Wissenschaftlichkeit“ vermisste – der Jenaer Philosoph prägte den intellektuellen Werdegang einer ganzen Reihe von Schülern, die später auf dem universitär-akademischen Feld Karriere machten. Relativ detailliert lässt sich Euckens wissenschaftlich-methodischer Einfluss im Falle Max Schelers belegen. Scheler war zum Wintersemester 1896/97 aus Berlin nach Jena gekommen. Bereits Ende 1897 reichte er seine Dissertation ein. Rudolf Eucken fungierte zwar als Erstprüfer, doch der eigenwillige Scheler hatte sich offenbar vornehmlich an neukantianischen Lesarten orientiert, wie sie auch der Inhaber des zweiten Jenaer Philosophie-Lehrstuhls, Otto Liebmann, vertrat. Seinen „Doktorvater“ Eucken erwähnt er im systematischen Teil der Arbeit noch nicht einmal.110 Um seine weitere akademische Karriere voranzutreiben, wechselte Scheler 1898 an die Universität Heidelberg. Nachdem ihm aber Eucken seine Förderung bei der Habilitation und eine anschließende Dozentur in Aussicht gestellt hatte, kehrte er nach einigen Monaten nach Jena zurück. Schon im folgenden Jahr präsentierte Scheler seine Habilitationsschrift Die transzendentale und die psychologische Methode. Mittlerweile hatte er sich offenbar eingehender mit Euckens Philosophie beschäftigt und nutzte sie zu einer Grundsatzkritik der Neukantianer, namentlich der Marburger Richtung: Philosophische Erkenntnis könne nicht allein aus den „positiven“ Wissenschaften, der Psychologie und der Mathematik, entwickelt werden. Nur eine Vorgehensweise, die das gesamte Reich der Kulturleistungen zu erfassen suche, eröffne einen Weg, die geschichtlichen, existentiellen und konkreten Seiten der menschlichen Individualität in ihrer Gesamtheit zu verstehen.111

109 StAUL Hügel Papers, ms2526: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 19.5.1907; Steinbach/Dathe (Hg.), Cartellieri, S. 411, 557f. 110 Vgl. Henckmann, Anfänge, S. 17–22; zu Liebmann vgl. Koehnke, Entstehung, S. 222–229. 111 Vgl. Scheler, Methode, S. 179ff; Henckmann, Anfänge, S. 20–25; ders., Scheler, S. 40f; Bosio, Arbeitswelt, S. 185f; Siebert, Geschichte, S. 492f.

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Max Schelers Hinwendung zu Euckens noologischer Methode war allerdings von recht kurzer Dauer. Er wird einige Jahre später bei Edmund Husserl ein Verfahren für sich entdecken, das eine konkretere und elaboriertere Anleitung enthält, wie ein gegebenes Phänomen auf das Wesentliche zu reduzieren sei.112 Seit 1905 verschwand Scheler auch physisch aus dem Umkreis Rudolf Euckens, nachdem er in Jena einen veritablen Skandal ausgelöst hatte. Eine Affäre mit der Frau des Buchverlegers Eugen Diederichs war auf spektakuläre Weise publik geworden, als Schelers eigene Ehefrau die Geliebte ihres Mannes öffentlich ohrfeigte. Damit war Max Scheler in der Gesellschaft der kleinen Universitätsstadt „unmöglich“ geworden, und er versuchte nun, seine akademische Karriere in seiner Heimatstadt München fortzusetzen. Auch sein Doktorvater entzog ihm nun seine Förderung. Er habe mit Scheler persönlich so unliebsame Erfahrungen gemacht, teilte Eucken 1908 einem Münchner Kollegen mit, dass er „unwiederbringlich mein Vertrauen“ verloren habe; „ich kann ihn nicht mehr als einen aufrichtigen Charakter achten“.113 Weniger flüchtig erwies sich der Einfluss der Philosophie Rudolf Euckens auf das wissenschaftliche Werk eines zweiten Schülers, der um die Jahrhundertwende in Jena promovierte. Julius Goldstein reichte 1898 eine überwiegend erkenntnistheoretisch-methodologisch ausgerichtete Abhandlung als Dissertation ein, die ganz der Gedankenwelt Euckens verhaftet war. Goldstein beschäftigt sich hier mit dem Doppelcharakter geistiger Tatsachenkomplexe – Ethik, Religion, Recht, Logik, Ästhetik –, die aus zwei grundsätzlich verschiedenen Perspektiven erfasst werden könnten. Untersuche man „Geistesthatsachen“ als psychologisch-historische Phänomene deskriptiv und analytisch, erscheine das geistige Leben „als ein sich ewig wandelnder Prozess ohne Sinn und Zweck“. Wo aber „aus dem Fluss des seelischen Geschehens Thatsachenkomplexe von überindividueller Gültigkeit sich herausheben“ – dort beginne der Erkenntnisbereich der „noologischen Wissenschaften“ und nur dort könne sich die Frage nach der Wahrheit einer Geistestatsache erheben.114 1898 absolvierte Julius Goldstein sein Rigorosum summa cum laude. Sein weiterer akademischer Karriereweg erwies sich aber als außerordentlich steinig. Zwischenzeitlich versuchte Goldstein, mittellos und nach dem Abschluss seines 112 Vgl. Henckmann, Scheler, S. 19, 43-52; Störig, Weltgeschichte, S. 662f; Böhme, Einführung, S. 232. 113 BSB München Crusiusiana I: Korrespondenz: Eucken, Rudolf: Rudolf Eucken an Otto Crusius, 16.12.1908. Vgl. Max Scheler an Eucken, 8.10.1906 und 24.1.1907 (ThULB, NLRE I, 24, Bl. S 54-S 60); StAUL Hügel Papers, ms2521, ms2533: Eucken an Friedrich von Hügel, 21.3.1906 und 6.5.1909.; sowie Werner, Moderne, S. 110f; Henckmann, Scheler, S. 19ff; ders., Anfänge, S. 24f, 29. 114 Goldstein, Kulturproblem, S. 52, 54, 66; vgl. Siebert, Geschichte, S. 491.

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Studiums hoch verschuldet, in England Fuß zu fassen. Seine Aufenthalte in London und Manchester 1900/01 blieben jedoch ebenso Episode wie eine Anstellung in einem „Institut für kommerzielle Propaganda“, sprich: einer Werbeagentur, in Berlin. Rudolf Eucken hatte Goldstein einige Monate nach der Promotion empfohlen, sich an einer großen Universität zu habilitieren. In Berlin oder in Leipzig würden ihm die Kolleg- und Prüfungsgelder als Privatdozent ein halbwegs gesichertes Einkommen versprechen. Eine Professur zu erhalten, sei allerdings für ihn als Juden „bei den augenblicklich herrschenden Vorurteilen“ schwierig. Der Antisemitismus, so tröstete Eucken seinen Schüler 1898, das „sind Wogen, die kommen und vergehen.“115 Es dauerte noch mehrere Jahre, bis sich Julius Goldstein nach vielen vergeblichen Anfragen und Anläufen habilitieren konnte. Er kam schließlich 1902 an der Technischen Hochschule Darmstadt unter. Der Aufenthalt in der hessischen Residenzstadt und deren räumliche Nähe zu Frankfurt, Mainz, Heidelberg und Mannheim würden es ihm, so hoffte er, ermöglichen, durch Vorträge sein Einkommen aufzubessern. Seine Probleme wurden damit aber nicht weniger. Goldsteins Vorlesungen und seine populären Vorträge seien zwar gut besucht, berichtete 1905 der Literaturprofessor Otto Harnack, der die Darmstädter Habilitation nachdrücklich gefördert hatte, in einem Brief an Rudolf Eucken. Doch habe der jüdische Privatdozent mit massiven antisemitischen Anfeindungen zu kämpfen. Goldstein werde von einem Teil der nicht-jüdischen Studentenschaft und des Publikums „geradezu geboykottet“. Er wünsche ihm dringend, so Harnack weiter, „daß er aus diesen ungesunden Verhältnissen herauskäme, da in Darmstadt für ihn die Bedingungen zu einem ernsten und gerecht beurteilten Streben nicht gegeben sind“. Dieser Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen; Julius Goldstein blieb bis zu seinem Tod 1929 in Darmstadt.116 Goldstein hielt weiterhin in regelmäßigem persönlichem Kontakt mit seinem Doktorvater. Er blieb auch – nach außen hin – dessen philosophischem Werk verbunden, umso mehr, als Eucken ihm 1905 ein (zunächst) mit 1500 Mark dotiertes Stipendium für mehrere Jahre vermittelte.117 In seinem 1911 erschienenen Buch Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart stellt Goldstein 115 LBI, Goldstein Collection I/26: Tagebücher Julius Goldstein, Eintrag 16.9.1898; vgl. ebd: Einträge 25.10. und 29.10.1898, Januar, März und 23.8.1899; 1.4. und 24.12.1900, Januar, 25.3., 13.4. und 11.9.1901; sowie: ThULB, NLRE I, 31a, Bl. 17: Gertrud Coupland an Rudolf Eucken, 11.2.1901. 116 ThULB, NLRE I, 10, Bl. H 98f: Otto Harnack an Rudolf Eucken, 7.11.1905. Vgl. LBI, Goldstein Collection I/26: Tagebücher Julius Goldstein, Einträge 23.2. und 1.5.1901. 117 Vgl. StAUL Hügel Papers, ms2520, ms2483, ms 2522, ms2524, ms 2525, ms2527, ms 2528: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 5.11.1905, 9.11.[1905], 17.12.1906, 10.2.[1906], 31.5. und 25.12.1907.

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Rudolf Eucken als Begründer einer neuen Philosophie in eine illustre Reihe mit William James und Henri Bergson. Gemeinsam sei den drei Philosophen das Ziel, „das Leben in seiner vom Intellekt unbeeinflußten Ursprünglichkeit zu erfassen“. Sie gingen „von den seelischen Gegebenheiten aus und versuchen, von hier aus zu einer über den Menschen hinausreichenden Welt des Geistes zu gelangen.“118 Die Lektüre seines Tagebuchs legt allerdings nahe, dass sich Julius Goldstein zu diesem Zeitpunkt innerlich längst von der Philosophie seines Doktorvaters gelöst und distanziert hatte. Bereits 1901 waren ihm „einzelne gefährliche Züge“ Euckens aufgefallen: Dreiviertel der Menschheit fielen bei ihm „als unberührt vom Geistesleben + damit der Vernunft unter den Tisch“. Auch die Zweifel am methodologischen Zugriff des Jenaer Philosophen mehrten sich. „Wenn es nur schärfer & straffer in den Grundbegriffen wäre!“, kommentierte er Mitte 1901 Euckens gerade erschienenes religionsphilosophisches Hauptwerk Der Wahrheitsgehalt der Religion. Drei Jahre später machte Goldstein seinen Lehrer gar für eigene intellektuelle Fehlentwicklungen verantwortlich: Durch seine „großmaschigen Gedanken“ habe ihm Eucken „den Sinn getötet für das Kleine, für das Fachproblem, für das langsame + mühsame Steinchen auf Steinchen häufen, für die subtile Begriffsanalyse“. Er stehe vor einem inneren Wendepunkt, hielt Goldberg schließlich im Juli 1905 fest. Mit Eucken komme er schon seit langem nicht mehr weiter. Erkenntnistheoretisch gebe ihm sein früherer Lehrer so gut wie nichts mehr. Da würden ihn mittlerweile die „Engländer, Schiller, Mach, James“, mehr „aufregen“.119 Seit der Jahrhundertwende beschäftigte sich eine ganze Reihe anderer akademischer Schüler Rudolf Euckens in ihren Schriften mit dessen Werk oder schöpften aus ihm ausgiebig für eigene Themenstellungen. Otto Siebert stellte 1911 Rudolf Euckens Welt- und Lebensanschauung und die Hauptprobleme der Gegenwart in einem kompakten Buch vor.120 Hermann Leser, der in Jena bei Otto Liebmann promoviert hatte, schwenkte in seiner Habilitationsschrift von 1901 ganz auf die Linie Euckens um. Auf diese Abhandlung bezog sich Julius 118 Goldstein, Wandlungen, S. 82, 149. 119 LBI, Goldstein Collection I/26: Tagebücher Julius Goldstein, Eintrag September 1901; ebd. I/27, Einträge 22.1.1904, Juli 1907. Goldstein nimmt hier Bezug auf den Wiener Physiker und Philosophen Ernst Mach sowie die Pragmatisten F. C. S. Schiller und William James. Vgl. zu Goldsteins Interesse am Pragmatismus: Schiller an James vom 25.10.1905 (in: Skrupskelis/Berkeley, Correspondence, Band 11, S. 575): „A disciple of Eucken in Darmstadt is writing an article that may well launch pragmatism in Germany“. Vgl. auch die Briefe James’ an Goldstein zwischen 1906 und 1910 (in: Aus Briefen, S. 412ff). Zu Goldsteins weiterer philosophischer Entwicklung vgl. Dipper, Technikphilosoph. 120 Vgl. Siebert, Geschichte, S. 475–515; ders., Lebensanschauung.

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Goldsteins Tagebucheintrag über Euckens „gefährliche Züge“. Denn Leser schreibt hier die entscheidenden Weichenstellungen der Geschichte einzig und allein den ideellen Impulsen „großer Menschen“ zu. Goldstein mochte darin nur „eine Grimasse Euckens“ sehen. Immerhin brachte die Arbeit Leser eine Habilitation an der Universität Erlangen ein, wo ein weiterer früherer EuckenSchüler, Richard Falckenberg, den Lehrstuhl für Philosophie innehatte.121 Den Platz als Rudolf Euckens hoffnungsvollster junger Adept nahm nach dem Weggang Schelers und Goldsteins von Jena augenscheinlich Otto Braun ein. Auch Braun präsentierte das Werk seines „Meisters“ in Vorträgen, Aufsätzen und einem kleinen Band mit einem Querschnitt aus Euckens Werken.122 In seiner Dissertation, veröffentlicht unter dem empathischen Titel Hinauf zum Idealismus!, hatte er sich auf Euckens Rat mit der Philosophie Schellings beschäftigt. In der Einleitung wird bereits deutlich, dass Braun gewillt war, diesen Klassiker des „Deutschen Idealismus“ durch die Brille Rudolf Euckens zu lesen. So heißt es etwa hier: Wenn „dem Menschen die Wesensbildung gelungen ist, wenn er in dauernder Innentat sein Wesen durch den Geist einheitlich gestaltet hat,“ dann solle der Mensch „zum Schaffen kommen“. Und auch die „gefährlichen Züge“ Euckens kommen in Brauns Doktorarbeit zum Vorschein: Es müssten diejenigen „als wahre Menschen“ gelten, die das Größte für die Förderung der geistigen Kultur in Wissenschaft, Religion und Kunst leisteten. Daraus erwachse ein „Geistesaristokratismus“, wie ihn jede höhere Kultur mit sich gebracht habe. Denn „Vernunft ist stets bei Wenigen nur gewesen.“123 Die gedankliche Nähe zu seinem Doktorvater hatte sich auch nicht verflüchtigt, als Otto Braun einige Jahre später den Grundriss einer „Philosophie des Schaffens“ präsentierte. Braun versteht hier Kultur, ganz ähnlich wie Eucken, als „Vergeistigungsprozess“, in dem der Mensch „das metaphysische Wesen der Welt zur Entfaltung“ bringe und sich dadurch „ein neues Reich der Wirklichkeit“ erschließe. Dezidierter noch als sein Lehrer betont Otto Braun mit Schelling das Intuitive des Erkenntnisprozesses. Die Entstehung philosophischer Systeme sei letztlich ist kein Prozess der „objektiv-logischen Reflexion“. Die „logische Zurechtlegung“ folge erst auf einen „ursprünglichen Prozeß des Erle121 LBI, Goldstein Collection I/26: Tagebücher Julius Goldstein, Eintrag September 1901; vgl. Tilitzki, Universitätsphilosophie 1, S. 135f. Siebert, Geschichte, S. 491ff, listet 1905 neben Goldstein, Scheler, Leser und sich selbst als Eucken-Schüler noch August Messer, Otto Trübe und Emil Fuchs sowie die Theologen Christian Lülmann, Paul Kalweit und Hans Pöhlmann auf. Leopold Ziegler, der häufiger zu den prominenten Eucken-Schülern gerechnet wird (vgl. Holzey/Röd, Philosophie, S. 236; Homann, Philosophie, S. 95; Graf, Positivität, S. 73), promovierte zwar in Jena bei Eucken, vertrat aber wohl kaum dessen Positionen. 122 Braun, Philosophie; ders., Monismus; ders. (Hg.), Geistesprobleme. 123 Braun, Idealismus, S. 7, 9.

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bens, der eine intuitive, auch von Gefühl und Willen bestimmte Stellungnahme des Menschen zur Welt darstellt.“124 Braun erlangte seine Habilitation 1911 an der Universität Münster, wohl nicht ohne nachdrückliche Empfehlung Euckens.125 Er blieb seinem Doktorvater weiterhin verbunden, organisierte etwa 1916 die Ehrungen zum 70. Geburtstag Rudolf Euckens. Noch 1920, als er nach Basel berufen wurde, galt Otto Braun als Euckens „Spezialschüler“.126 Als letzter seiner prominenteren Schüler profilierte sich Eberhard Grisebach in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in Jena. Grisebach hatte zunächst Architektur studiert, verbrachte dann einige Jahre lang in einem Lungensanatorium in Davos und war schon beinahe 30, als er Ende 1909 bei Eucken über Kultur als Formbildung promovierte. Auch Grisebach orientiert sich in dieser Abhandlung an der noologischen Methode: Es gelte, aus der gesamten Kultur „Formen der Kunst und der Moral als das Bild äußerer und innerer Anschauung“ herauszugreifen, um die „Mannigfaltigkeit der Kultur zu einer verbindenden Einheit bringen“. Ziel seiner Arbeit sei es, einen Maßstab zu gewinnen, „um Unechtes von Echtem, Lebendiges von Totem zu scheiden“. Eberhard Grisebach habilitierte sich 1913 in Jena mit einer vergleichend-synthetischen Arbeit der kulturphilosophischen Ansätze Diltheys, Simmels, Rickerts, Windelbands und Euckens, ging aber nach dem Ersten Weltkrieg wissenschaftlich wie menschlich auf Distanz zu seinem akademischen Lehrer.127 Eine Schule von angehenden Philosophiedozenten, die Grundpositionen Rudolf Euckens vertraten und zur erkenntnisleitenden und methodologischen Basis ihrer eigenen Arbeiten nutzten, ist also mindestens seit der Jahrhundertwende deutlich zu erkennen. Doch personell macht diese Schule einen recht volatilen Eindruck. Im Verlaufe ihrer akademischen Karriere distanzierten sich alle seine „Meisterschüler“ von den Lehren des Jenaer Philosophen. Selbst Otto Braun sollte sich mit seinem Doktorvater nach dem Krieg überwerfen. Dies ist dann doch ein deutliches Indiz dafür, dass die Resonanz, die Rudolf Euckens Werk unter seinen Zeitgenossen fand, nicht unbedingt im Raum der universitären Philosophie zu verorten ist.

124 125 126 vgl. 127

Braun, Grundriss, S. 22ff, 118, 208. Vgl. auch Hoeres, Krieg, S. 52. Vgl. hierzu Erich Becher an Rudolf Eucken vom 15.2.1911 (ThULB, NLRE I, 1, Bl. B 156f). So Unterstaatssekretär Becker an Rudolf Eucken, 1.4.1920 (ThULB, NLRE I, 2, Bl. B 326); ebd. I, 22, Bl. P 219: Hans Pöhlmann an Eucken, 4.1.1916; Braun, Bericht. Grisebach, Kultur, S. 10f, 62ff. Vgl. ebd., S. 68 (Lebenslauf); Grisebach, Arbeit.

3 Resonanzen und Kreise: Die Formierung einer kulturkritischen Bewegung. Der Philosoph und seine „Impresaria“ Ein „Philosoph für gebildete Leute, die neben ihren Geschäften sich nach einer Herz und Gemüt erquickenden idealistischen Weltanschauung sehnen“ – so charakterisierte Julius Goldstein seinen Doktorvater 1905 in einem bitteren Tagebuch-Eintrag.1 Augenscheinlich hatte Rudolf Eucken seit der Veröffentlichung seines schwer verdaulichen Opus Magnum zwei Jahrzehnte zuvor eine bemerkenswerte Wendung vollzogen und ein größeres Publikum jenseits des Fachgelehrtentums gefunden. Wir nehmen nun den chronologischen Erzählfaden dort wieder auf, wo wir ihn im vorigen Kapitel fallen gelassen haben: auf der Hochzeitsreise des Philosophen und seiner 19jährigen Braut zum Lago di Como im September 1882. Im folgenden Jahr gebar Irene Eucken einen Sohn, der aber kurz nach der Geburt starb. Am 3. Juli 1884, kam ein weiterer Sohn, Arnold, zur Welt. Am 10. Januar 1888 folgte eine Tochter, die den Namen der verstorbenen Mutter des Philosophen erhielt: Ida Maria. Das jüngste Kind, Walter, wurde schließlich am 17. Januar 1891 geboren. Nach der Hochzeit hatte Rudolf Eucken seine Junggesellenwohnung für ein geräumigeres Domizil aufgegeben. Seit 1886 bewohnten die Euckens ein Haus am Forstweg oberhalb der Stadt mit einem grandiosen Blick auf das Saaletal. Die Zuerkennung des Nobelpreises erlaubte es ihnen, eine geräumige Villa mit großem Garten im Universitätsviertel zu kaufen. Das Haus in der Botzstraße Nr. 5 hatte eine Wohnfläche von insgesamt 203 Quadratmetern auf zweieinhalb Stockwerken; dazu kamen ein Hof mit 88 und ein Garten von 984 Quadratmetern. Im September 1910 gingen Wohnhaus und Grundstück zum Kaufpreis von 52.000 Mark in den Besitz Rudolf Euckens über. Weitere 17.000 Mark wurden aufgewandt, um das Haus „mit allem modernen Komfort“ auszustatten: Zentralheizung, fließend warmes Wasser, Elektrizität, ein Wintergarten u. a. m. Mitte Februar 1911 konnten die Euckens ihre Villa beziehen. Die neue Wohnung, so schrieb der Philosoph an Norström im März 1911 mit einem gewissen Understatement, sei „solide, zweckmäßig und wohnlich“.2 1 LBI, Goldstein Collection I/27: Tagebücher Julius Goldstein, Eintrag Juli 1905. 2 ThULB NLRE I, 30, Bl. 354f: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 5.3.1911. Vgl. ebd. Bl. 350: Eucken an Norström, 30.1.1911; ThHSA 6 – 32 – 0040: Thüringisches Volksbildungsministerium C 449, Bl. 204: Aufstellung 26.1.1940; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 55f; Becke-Goehring/ Eucken, Arnold Eucken, S. 9. https://doi.org/10.1515/9783110687033-003

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Zu diesem Zeitpunkt wohnten die drei Kinder bereits nicht mehr regelmäßig im elterlichen Haus. Die Söhne waren dem Beispiel des Vaters zwar insoweit gefolgt, als beide eine akademisch-wissenschaftliche Laufbahn einschlugen. Doch hatten weder Arnold noch Walter Eucken eine geisteswissenschaftliche Fachrichtung gewählt. Arnold Eucken immatrikulierte sich zum Sommersemester 1902 in den Fächern Mathematik, Physik und Chemie an der Universität Kiel. Nach zwei Semestern im heimatlichen Jena 1904/05 legte er dort das obligatorische Chemie-Examen ab. Danach wechselte er nach Berlin zu Walther Nernst, einem der profiliertesten Vertreter der physikalischen Chemie, der gerade eben zum Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts der Friedrich-WilhelmsUniversität berufen worden war. Ende 1906 promovierte Arnold Eucken bei Nernst in Berlin; Anfang 1911 habilitierte er sich dort. Walter Eucken studierte nach seinem Abitur 1909 Geschichte, Staatswissenschaften, Nationalökonomie und Jura in Kiel, Jena und Bonn. 1913 erlangte er den Doktorgrad in Nationalökonomie an der Universität Bonn mit einer Dissertation zur Verbandsbildung in der Seeschifffahrt. Ida Eucken, die Tochter, erhielt nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung in Musik und Gesang an einem Dresdner Privatinstitut, der sich diverse Auslandsaufenthalte anschlossen. Sie strebte danach, eine professionelle Konzertsängerin zu werden. Im September 1913 meldete Rudolf Eucken seinem Freund Norström, Ida habe ihre musikalische Ausbildung soweit beendet, dass sie im kommenden Winter öffentlich als „Oratoriensängerin“ auftreten werde.3 Die Organisation des Professorenhaushaltes oblag Irene Eucken. Sie war es auch, die 1910/11 die Modernisierung der neu erstandenen Villa in die Hand nahm. „Meine Frau“, so Rudolf Eucken zwei Wochen vor dem geplanten Einzug, „hat noch viel mit der Sache zu tun, da die hiesigen Handwerker alles eher als eifrig und präcis sind. Ich selbst werde bis dahin wenig von der Unruhe berührt.“ Das Haus in der Botzstraße habe in seiner Einrichtung ganz den Stempel des Geistes Irene Euckens getragen und sei Stätte einer angeregten hochstehenden Geselligkeit gewesen, erinnerte sich ihre Schwiegertochter.4 Aus der Familienkorrespondenz lässt sich erschließen, dass bereits im alten Domizil beinahe täglich Gäste im Haus waren, oft auch ausländische Studenten und Wissenschaftler. „Am Dienstag hatten wir 6 Zuhörer von mir (2 Deutsche, 2 Siebenbürger, 1 Schweizer, 1 Amerikaner) zum Thee“, teilte Rudolf Eucken etwa im Februar 1887 seiner Schwiegermutter Athenäa Passow mit. Eher weniger begeistert klingt 1896 Irene Euckens Beschreibung einer offenbar regelmäßigen 3 Vgl. Becke-Goehring/Eucken, Arnold Eucken, S. 10f, 18f; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 54f, 61f: ThULB NLRE I, 30, Bl. 387: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 23.9.1913. 4 ThULB NLRE I, 30, Bl. 350: Eucken an Norström, 30.1.1911; Erdsiek, Irene Eucken, S. 64.

Der Philosoph und seine „Impresaria“ 

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Veranstaltung im Hause für die britischen und amerikanischen Hörerinnen ihres Mannes: „Das Missdinner war gestern sträflich langweilig, ich schwanke, wem ich die Prämie der größten Langeweile zuerkennen soll“. Schon am folgenden Tag stand eine weitere „Studentengesellschaft“ auf dem Programm. Erwartet wurden: „4 Bulgaren, der unvermeidliche Goldstein und ein Japaner.“ Auch eine philosophische Abendgesellschaft traf sich in den 1890er Jahren regelmäßig bei den Euckens, eine Veranstaltung, die nach den Schilderungen der Hausherrin recht ungezwungen ablief: „…nach Tisch wurde in meinem Zimmer, Rudolf war in seinem Zimmer, über den Wahrheitsbegriff gestritten“. Die engeren Schüler des Philosophen genossen im Haus am Forstweg augenscheinlich Familienanschluss. Nach dem Umzug in die geräumige Villa in unmittelbarer Nähe der Universität scheint sich der Umfang der häuslichen Geselligkeit noch ausgedehnt zu haben. Man habe, so Irene Eucken 1929, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg feste wöchentliche Empfangstage für 30 bis 40 Gäste gegeben.5 Für Irene Eucken traten neben das Management eines großen Hauses samt Betreuung dreier Kinder, was sie mit Hilfe von ein bis zwei Dienstmädchen bewältigte, seit den 1890er Jahren weitere Interessen und Aktivitäten. Als ihre Kinder sie nicht mehr so stark in Beschlag nahmen, habe sie, so wird sie später von der Schwiegertochter zitiert, „manchmal zum Fenster hinaus auf den Berg“ gesehen und gedacht, „ich müßte ihn mit diesen meinen Armen aufheben und forttragen. Solch eine Kraft fühlte ich in mir und sehnte mich danach, sie anzuwenden.“ Irene Eucken tat sich nun mit einigen befreundeten Frauen zu einem „Stickverein“ zusammen und betätigte sich als Modedesignerin. Sie entwarf Stickmuster und Damenkleider, fertigte sie selbst an (oder ließ sie anfertigen), und zwar nicht allein für die eigene Garderobe, sondern auch für den Verkauf. Den Vertrieb der in der „Stickstube“ entworfenen Kleidungsstücke scheint ein Wiener Modehaus übernommen zu haben. Die schönsten Arbeiten wurden in kunstgewerblichen Ausstellungen in Jena, in Weimar, in Bremen, 1910 sogar in London, präsentiert.6 5 ThULB NLRE I, 32, Bl. 124: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 17.2.1887; ebd. V, 16, Bl. 220, 229: Irene Eucken an Athenäa Passow, 17.6.1895 und 13.4.1896; ebd. Bl. 200: Irene Eucken an Athenäa Passow,; ebd. V, 6, Bl. 138: Irene Eucken an Eulalia Guzman, 2.9.1929. Vgl. ebd. V, 16, 203f, 243f: Irene Eucken an Athenäa Passow, 28.6. und 20.7.1895; ebd. I, 32, Bl. 326: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 28.12.[1899]; ebd. I, 1, Bl. B 942: Max Büsing an Rudolf Eucken, 4.1.1926; LBI, Goldstein Collection I/26: Tagebücher Julius Goldstein, Eintrag Juli 1898. 6 Erdsiek, Irene Eucken, S. 63. Vgl. ThULB NLRE V, 16, Bl. 174, 204, 287, 458: Irene Eucken an Athenäa Passow, 23.6.1893, 28.6.1895, 16.8.1897 und 23.10.1908; StAUL Hügel Papers, ms2536: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 23.1.1910; Balint, Auszug, S. 101; Neuland, Irene Eucken, S. 228. Ob und in welchem Ausmaß Irene Eucken bereits vor 1914 bezahlte Arbeitskräfte beschäftigte, geht aus den verfügbaren Unterlagen nicht zweifelsfrei hervor. Die von Balint und

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1895 hatte Irene Eucken am Jenaer Gymnasium Zeichenunterricht genommen, zunächst als Vorbereitung für eine Reise nach Italien, um dort „ordentlich Muster“ zeichnen zu können. Bald waren es nicht nur Stickmuster, denen ihr künstlerischer Ehrgeiz galt. 1897 schrieb sie ihrer Mutter, sie zeichne gerade „Rudolfs Schreibtisch mit Umgebung“, wolle sich aber in einigen Tagen an einem Porträt ihres Jüngsten versuchen. Auch der Philosoph selbst saß später seiner Gattin Modell, wie auf dem den Einband dieses Buches zu sehen ist. Einige Jahre lang fuhr Irene Eucken regelmäßig früh morgens nach Weimar, um sich an der dortigen Kunsthochschule ausbilden zu lassen. Mit der Zeit wuchsen ihre malerischen Ambitionen und Fertigkeiten. Anfang 1909 berichtete Arnold Eucken seiner Großmutter von einem Besuch im Jenaer Elternhaus: Meine Hauptaufgabe war, Mutter als Modell zu sitzen. Das Bild soll Vater zum Geburtstag geschenkt werden. Meiner Ansicht nach ist es sehr gut gelungen. Überhaupt finde ich die Fortschritte in ihrer Malerei gerade in der letzten Zeit sehr beachtenswert. Sie will nun auch endlich eine richtige Ausstellung beschicken.7

1904 gehörte Irene Eucken zu den Initiatoren der Gründung einer Gesellschaft der Kunstfreunde von Jena und Weimar, die sich vor allem der Förderung moderner bildender Kunst verschrieben hatte. Der Vorstand wurde paritätisch mit Weimarer und Jenaer Mitgliedern besetzt. Die Kunstfreunde der Residenzstadt wurden repräsentiert von Harry Graf Kessler, der das Weimarer Museum für Kunst und Kunstgewerbe ehrenamtlich leitete, dem Designer Henry van de Velde sowie zwei Professoren der Großherzoglichen Kunsthochschule. Dagegen wurde Jena im Vorstand der Gesellschaft neben dem Archäologieprofessor Ferdinand Noack von drei verheirateten Damen aus dem gebildeten Bürgertum der Universitätsstadt vertreten, unter ihnen Irene Eucken. Statutengemäß sollte sich die Gesellschaft überwiegend der Unterstützung heimischer Künstler widmen. Doch strebte der Vorstand bald nach höheren Zielen. Im Gründungsjahr 1904 waren in Weimar die Werke Auguste Rodins ausgestellt gewesen. Von der Gesellschaft der Kunstfreunde ging nun die Initiative aus, dem berühmten französischen Bildhauer und Maler die Ehrendoktorwürde der Jenaer Universität zu verleihen. Rudolf Eucken, der 1905 als Dekan der Philosophischen Fakultät amtierte, brachte das Verfahren in Gang und setzte die Ehrung, unterstützt von dem Kunsthistoriker Botho Graef, schließlich auch durch. Allerdings hatte diese

Neuland zitierten Aussagen beziehen sich möglicherweise auf die 1921 gegründete Textilwerkstätten GmbH. 7 ThULB: NLRE V, 16, Bl. 260: Irene Eucken an Athenäa Passow, 16.3.1897; ebd. V, 9, Bl. 8: Arnold Eucken an Athenäa Passow, 22.1.1909. Vgl. Erdsiek, Irene Eucken, S. 63f; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 57; Becke-Goehring/M. Eucken, Arnold Eucken, S. 12.

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Aktion im folgenden Jahr ein unerquickliches Nachspiel. Rodin bedankte sich nämlich mit einer Serie aquarellierter Aktzeichnungen, die im Weimarer Kunstmuseum ausgestellt wurden. Doch lösten die Exponate wegen ihrer sexuellen Freizügigkeit empörte Reaktionen aus, zumal Rodin diese Zeichnungen mit einer Widmung an den großherzoglichen Landesherrn versehen hatte.8 Auch das nächste Projekt der Gesellschaft der Kunstfreunde von Jena und Weimar blieb in der Öffentlichkeit der beiden thüringischen Kulturstädte nicht unumstritten. Die Gesellschaft fasste den Plan, ein großes Gemälde für das neuerbaute Hauptgebäude der Universität Jena zu stiften. Es war Irene Eucken, die vorschlug, den Schweizer Maler Franz Hodler für die Gestaltung und Ausführung dieses Kunstwerks zu gewinnen. Sie verhandelte persönlich mit dem Künstler und man einigte sich auf ein sehr moderates Honorar. Hodler kam im Frühjahr 1908 nach Jena, wohnte während seines Aufenthalts im Haus der Euckens und erteilte bei dieser Gelegenheit der Dame des Hauses privaten Zeichenunterricht. Der 17jährige Gymnasiast Walter Eucken stand dem Schweizer Maler für eine der zentralen Figuren des Bildes Modell. Hodler schuf ein Gemälde, das den Auszug der Jenaer Studenten zum Befreiungskrieg gegen die napoleonische Fremdherrschaft 1813 darstellte. Beim kunstsinnigen Publikum stießen das Vorhaben und seine Ausführung auf einige Kritik. Dass ein ausländischer Künstler mit einem solch patriotischen Sujet beauftragt wurde, rief selbst in der überregionalen Presse irritierte Kommentare hervor. Das Bild selbst war wegen seiner unkonventionellen, ziemlich unheroischen Darstellung, die manche Kritiker an populäre Kinderspielbögen zum Ausschneiden erinnerte, in der Stadt mit vernehmbarem Murren quittiert worden.9 Wenn man nun diese Vorgänge in Bezug setzt mit Georg Bollenbecks Thesen zur „kulturellen Enteignung“, ergibt sich, was Rudolf Eucken betrifft, ein eigentümliches Bild. Bollenbeck sieht den Übergang von einer „moderaten“ zu einer „avantgardistischen Moderne“ um 1910 ja als entscheidende Bruchlinie im Prozess der Entfremdung des gebildeten Bürgertums von der Kunst der klassischen Moderne an. Moderate Formen der modernen bildenden Kunst etwa, wie der Impressionismus oder die Werke Edvard Munchs, seien zumindest von Teilen des kunstsinnigen Bürgertums schließlich akzeptiert und gefeiert worden. Dagegen hätten die kubistischen Experimente eines Picasso oder die Bilder der jüngeren Expressionisten (wie Kokoschka, Kirchner, Heckel) nicht mehr in 8 Vgl. Werner, Moderne, S. 109f; Wahl, Jena, S. 58ff; ders., Gesellschaftsexperiment, S. 251ff; Bollenbeck, Tradition, S. 154. 9 Vgl. Balint, Auszug, S. 77ff, 122, 228f; Werner, Moderne, S. 110; Neuland, Irene Eucken, S. 224; Becke-Goehring/Eucken, Arnold Eucken, S. 12; ThULB NLRE V, 6, Bl. 173: Irene Eucken an Hugo Kehrer, 8.7.1930.

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das bildungsbürgerliche Kunstideal des Schönen, Wahren und Guten integriert werden können. Gerade den Jena-Weimarer Rodin-Skandal von 1906 hat Bollenbeck als Paradebeispiel für seine These herangezogen, dass solche Ablehnung nicht allein einem konventionellen Publikumsgeschmack entsprang, der eine Zeitlang brauchte, um sich an das Neue zu gewöhnen. Vielmehr seien es gerade die Experten an den Universitäten, Kunstschulen und Akademien gewesen, die sich vehement gegen diese neue, als hässlich, obszön und unmoralisch empfundene Kunst wandten.10 Diesen Skandal hatte aber letztlich kein anderer als Rudolf Eucken, der eminente Kulturkritiker und Erneuerer des Idealismus, mit seinem Einsatz für die Verleihung des Doktorgrades honoris causa an Auguste Rodin losgetreten. Eucken hatte bereits auf der Gründungsversammlung der Gesellschaft der Kunstfreunde von Jena und Weimar 1904 die Festrede gehalten und zwar über die Bedeutung der bildenden Künste für das Geistesleben der Gegenwart. Mit solchen Themen setzte er sich auch gelegentlich in seinen Schriften auseinander, etwa im Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Die Kunst ist Eucken hier ein wichtiger Faktor zur Erhöhung des Lebens. Es entwickele sich durch sie eine eigene Welt, in der das innere Erlebnis zu reinerer und stärkerer Entfaltung komme als im „natürlichen Dasein“. Inwieweit dies auch für die Kunst der Moderne zutrifft, lässt Eucken allerdings offen. Einerseits konstatiert er Anzeichen dafür, dass sich das künstlerische Niveau „neuerdings“ wieder hebe. Kriterien für solche gute Kunst sind ihm die Beherrschung der Form, die gelungene Darstellung des Subjekts mit seinen Empfindungen und Bewegungen, schließlich das Bestreben, die innersten Bedürfnisse der Zeit zum Ausdruck bringen und dabei das Ewige in die Form der Zeit kleiden. Andererseits hat Eucken aber auch vieles an einer Gegenwartskunst auszusetzen, die sich ausschließlich an das unmittelbare Dasein hingebe, die nicht den Punkt der weltgeschichtlichen Arbeit treffe, sondern den „bloßen Augenblick“. Dann entstünden bloße Momentbilder, die unablässig wechselten und auf die Dauer ermüdeten und abstumpften.11 Mit seiner empathisch vorgetragenen Überzeugung, die Kunst müsse der Erhöhung des Lebens dienen, sei Träger von Ewigkeitswerten, bewegte sich Rudolf Eucken sicherlich in den Traditionen des klassischen idealistischen Bildungsdiskurses. Augenscheinlich galten für ihn solche Zuordnungen auch für die Werke von umstrittenen zeitgenössischen Künstlern wie eben Auguste Rodin und Franz Hodler. Ob der Philosoph ein tiefer gehendes Interesse an der 10 Vgl. Bollenbeck, Tradition, S. 141ff, 154. 11 R. Eucken, Kampf (1896), S. 394f. Vgl. Neuland, Irene Eucken, S. 223; Wahl, Gesellschaftsexperiment, S. 251f.

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zeitgenössischen bildenden Kunst (oder anderen Künsten) aufbrachte, mag bezweifelt werden. Er scheint sich wohl eher auf die ästhetisch-künstlerische Expertise seiner näheren Umgebung verlassen zu haben. Möglicherweise spielte hier sein Schüler Eberhard Grisebach eine gewisse Rolle. Grisebach gehörte zu den intellektuellen Wortführern der Gesellschaft der Kunstfreunde. In seiner Dissertation wandte er Euckens noologische Methode in systematischer Weise auf die bildenden Künste an, auch wenn er in seiner 65seitigen Abhandlung sehr im Allgemeinen und Abstrakten blieb.12 Es war aber wohl vor allem die eigene Familie – seine Gesang studierende Tochter Ida, sein Sohn Walter und seine künstlerisch begabte und mäzenatisch aktive Ehefrau –, die Rudolf Euckens Meinungen zur „klassischen Moderne“ beeinflusst haben dürften. Walter Euckens Interesse für die zeitgenössische bildende Kunst erschöpfte sich offensichtlich nicht darin, dass er seiner Mutter und Franz Hodler geduldig Modell saß oder stand. Der jüngere Eucken-Sohn schloss während seines Studiums in Bonn eine enge Freundschaft mit dem expressionistischen Maler August Macke, tauschte sich mit ihm intensiv über die moderne Malerei aus und besaß auch selbst mindestens ein bedeutenderes Werk Mackes.13 Irene Eucken betätigte sich als Förderin eines anderen deutschen Expressionisten, von Ernst-Ludwig Kirchner. Zwischen dem Maler und der Professorengattin entspann sich ein längerer persönlicher Briefwechsel. 1915 weilte Kirchner in Jena und malte das Ehepaar Eucken und ihre Tochter Ida im Musikzimmer in der Botzstraße, ein Bild, das er allerdings erst in den 1920er Jahren fertigstellte („Musikzimmer II“). Für eine Ausstellung von Erzeugnissen der „Stickstube“ Irene Euckens in Bremen 1916 gestaltete der Maler den Katalog und steuerte selbst fünf Holzschnitte bei. Alles in Allem machten der kulturkritische Philosoph und seine Familie nicht den Eindruck, als habe die bildende Kunst der „klassischen Moderne“ in ihnen Gefühle „kultureller Enteignung“ hervorgerufen. Vor allem für Irene Eucken besaß der Einsatz für die künstlerische Avantgarde wohl auch Momente sozialer und intellektueller Distinktion, was sich bei ihr offenbar recht zwanglos mit einem ausgeprägten Bewusstsein bildungsbürgerlichen Familienstolzes verband. Zu den Dingen, „die ihr in allerliebster Weise anstanden“, erinnerte sich ihre Schwiegertochter, gehörte etwa der Umstand, dass Goethe einer „Urahnin“ eines seiner Werke „in stürmischer Huldigung“ gewidmet habe. „Und wie gern erzählte sie“, so Edith Eucken-Erdsiek weiter, von ihrem Großvater, dem Archäologen Ulrichs, einer Gestalt so recht nach der Herzenslust ihrer Phantasie; wie er – hinreißend durch Geist und schöne Erscheinung – mit seiner im 12 Grisebach, Kultur; vgl. Werner, Moderne, S. 109. 13 Vgl. Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 62; NLRE V, 12, Bl. 99, 111: Walter an Irene Eucken, 2.8. und 18.10.1935.

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Sturm eroberten jungen Frau die Hochzeitsreise in der Postkutsche gleich von Bremen bis Griechenland antrat, um dort das ganze Schulwesen in deutschem Geiste aufzubauen!14

Irene Euckens Großvater Heinrich Ulrichs war Mitbegründer der Athener Universität, und in der griechischen Hauptstadt wurde auch 1839 ihre Mutter geboren und auf den Namen Athenäa getauft. Nach dem frühen Tod des Großvaters heiratete die Großmutter einen Sohn des bremischen Bürgermeisters Smidt, letzterer berühmt als Gründer von Bremerhaven. Athenäa Passow nèe Ulrichs wiederum, die wir bereits als Gymnasialdirektorenwitwe kennen gelernt haben, verdiente nach dem Tod ihres Mannes zumindest einen Teil ihres Lebensunterhalts als Schriftstellerin. Nicht jede[r] fasste allerdings Irene Euckens Familiengeschichten so wohlwollend auf wie ihre Schwiegertochter. Willy Hellpach, der badische Politiker und Sozialpsychologe, berichtet in seinen Memoiren über sein erstes Zusammentreffen mit der Philosophengattin, diese habe ihm bereits „in den ersten Minuten unseres Gesprächs ihre ganze vornehme Bremenser Herkunft anschaulich“ gemacht – eine genealogische Aufklärung, „die an Eindringlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ“. In Alexander Cartellieris Tagebuch taucht Irene Eucken häufiger auf, meist in wenig schmeichelhafter Darstellung: „Frau Irene ist bekannt durch ihr hochmütiges Kopfnicken als Gruss. Wo sie ist, in Versammlungen usw., schreitet sie gleich an den ersten Platz. Sie urteilt gern von oben herab.“15 In der Jenaer Gesellschaft der Jahrhundertwende war Irene Eucken augenscheinlich eine auffällige Erscheinung: groß, schlank, selbstbewusst, elegant gekleidet, sportlich, allerdings schon früh ergraut. Ihren eher etwas klein geratenen Ehemann überragte sie wohl um einiges. Den „kleinen Alten“ nannte Tochter Ida, die im körperlichen Habitus der Mutter nachschlug, ihren Vater gerne in Briefen. Folgt man den Tagebucheinträgen Cartellieris, so war das äußerlich so ungleiche Paar immer mal wieder Zielscheibe des Spotts im Kollegenkreis. Der Historiker zeichnet Rudolf Eucken als gutmütigen, etwas weltfremden Menschen, der von seiner ehrgeizigen Frau angetrieben wurde. Irene Eucken habe dem Philosophen „die Richtung von der reinen Gelehrsamkeit auf die volkstümlich einträgliche Schriftstellerei gegeben“. Sie sei seine „Impressaria“ gewesen.16

14 Erdsiek, Irene Eucken, S. 61. 15 Führ/Zier (Hg.), Hellpach-Memoiren, S. 116; Steinbach/Dathe (Hg.), Cartellieri, S. 556. Vgl. Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 60 Anm. 39; Becke-Goehring/M. Eucken, Arnold Eucken, S. 9. 16 ThULB NLRE V, 13, Bl. 170f, 173, 175f: Ida an Irene und Rudolf Eucken, 9.8., 11.8., 13.8., 15.8. und 16.8.1925; Steinbach/Dathe (Hg.), Cartellieri, S. 556. Vgl. ebd., S. 556f, 790f. In Cartellieris

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Wie ernst man diese Einschätzung nehmen sollte, steht allerdings dahin. Cartellieri reproduziert hier zunächst einmal die gängigen Negativ-Stereotypen, mit denen allzu selbstbewusste Frauen (und deren Ehemänner) belegt wurden. Man kann aber durchaus annehmen, dass Irene Eucken von Anfang an ein reges Interesse für die Arbeit ihres Mannes aufbrachte. „Gestern Abend“, so schrieb die frischgebackene „Frau Professor“ 1882 vom Comer See an ihre Mutter, „hat Rudolf mir wieder sehr viel von dem Großen Denker Plato erzählt und dann sieht er so hübsch aus (ich meine Rudolf). Ich gab mir sehr viele Mühe ihn zu verstehen, und Dank seiner klaren Erklärung gelang es mir auch.“ Wie die oben erwähnte „philosophische Abendgesellschaft“ aus den 1890er Jahren oder ihre ebenfalls bereits zitierten Bemerkungen über „Rudolfs Erkenntnißlehre“ 1912 andeuten, blieb Irene Euckens Interesse an der Philosophie auch über die Flitterwochen hinaus erhalten. In ihren Briefen an Athenäa Passow lässt sie sich öfter einmal über die Rezeption der Werke ihres Mannes, über geplante Veröffentlichungen und Neuauflagen u. ä. m. aus. Im Juli 1895 berichtet Irene Eucken der Mutter sogar, wie man beim Besuch des Leipziger Verlegers Hermann Credner in Jena gemeinsam über den Titel des neuen Buches beraten hatte. „Wir“, so berichtet sie, „einigten uns auf ‚Kampf um einen Lebensinhalt‘. Wir denken, daß das eine glückliche Wahl ist.“17 Irene Eucken begleitete den Philosophen zunehmend auch auf dessen Vortragsreisen. Sie fuhr mit ihrem Mann zur Nobelpreisverleihung nach Stockholm. Gleich nachdem die Nachricht von der Zuerkennung des Preises ein Jena eingetroffen war, hatte sie bei Vitalis Norström anfragen lassen, welche Garderobe für diese Gelegenheit angemessen sei. Bei der siebenmonatigen Gastprofessur ihres Gatten in den USA 1912/13 war Irene Eucken ebenfalls mit von der Partie. Die „Meinigen sind besorgt, mich, den etwas unpraktischen Menschen, allein in die Ferne ziehen zu lassen“, hatte Rudolf Eucken schon Ende 1907 seinem Freund Norström anvertraut.18 Wenn Irene Eucken aktiv Anteil an der Arbeit ihres Mannes nahm, dann entsprach dies durchaus dem Verständnis ehelicher Gemeinsamkeit, das der Philosoph im Frühjahr 1882 gegenüber der künftigen Schwiegermutter entwickelte: Ehe und Familienleben sollten von einem wesenhaft gemeinsamen Gemütsleben, von einem inneren Verhältnis zueinander getragen werden und Tagebuch finden sich auch bisweilen abstruse Behauptungen, etwa die, Irene Eucken habe ihrem Mann „durch ihre nordischen Beziehungen“ den Nobelpreis verschafft (ebd., S. 791). 17 Zitate: ThULB NLRE V, 15d, Bl. 1f: Irene Eucken an Athenäa Passow, 9.9. [wohl 9.10.] 1882; ebd. V, 16, Bl. 206: Irene Eucken an Athenäa Passow, 4.7.1895. Vgl. ebd, Bl. 182, 200, 387, 456, 472: Irene Eucken an Athenäa Passow, 25.3.1894, 17.6.1895, 14.7.1900, 23.10.1908, 4.2.1912. 18 ThULB NLRE I, 30, Bl. 208, 258: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 11.12.1907 und 18.11.1908. Vgl. ebd., Bl. 316, 345: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 7.2. und 6.10.1910; ebd. V, 16, Bl. 456: Irene Eucken an Athenäa Passow, 23.10.1908.

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nicht bloß der Rekreation des von der Berufsarbeit abgespannten Ehemanns dienen. Ob seine resolute Ehefrau nun aber, wie Cartellieri vermutet, Rudolf Eucken tatsächlich vom Pfad strenger Wissenschaftlichkeit abbrachte und ihn antrieb, für ein großes Publikum zu schreiben, dafür fehlen schlicht die Belege.19 Es finden sich allerdings genügend Hinweise darauf, dass Euckens zunehmender Drang zu öffentlicher Wirksamkeit in seiner philosophischer Lehre selbst angelegt war.

Philosophischer Aktivismus Der Philosophie Rudolf Euckens unterliegt eine Aufforderung zum Handeln, auch wenn dies nicht immer sehr explizit formuliert ist. Seine Werke mögen dem Leser die tröstliche Gewissheit vermitteln, dass sich das menschliche Dasein letztlich in ein sinnhaftes großes Ganzes füge. Eucken erinnert aber sein Publikum immer wieder daran, dass es ernsthafter und mühsamer Arbeit bedürfe, um sich den Zugang zu einem „weltüberlegenen“ Geistesleben zu erschließen, um auf diese Weise einen „Lebensinhalt“ zu gewinnen. Es gelte, wie er bereits in der Einheit des Geisteslebens 1888 formuliert, ein zunächst in scheinbarer Jenseitigkeit befindliches Prinzip, ohne das einmal die Wirklichkeit keine Wahrheit erreichen kann, für uns und unsere Weltlage zu voller Entwickelung zu bringen. Dies aber kann nur geschehen, indem das Selbst sich zur That verkörpert, sich in ein Thun hineinlegt, dadurch das entgegenstehende Dasein an sich zieht und in sein Werk verwandelt.20

Wenn auch für Eucken selbst und für viele seiner Leser solches Tun vornehmlich in Lesen, Schreiben und Reden, in „geistiger Arbeit“, bestanden haben dürfte, so zieht sich durch Euckens Texte eine eigentümliche aktivistische Rhetorik. Das „Werk“ wird dem Dasein durch eine „Tat“, im „Kampf“, unter Mühen und gegen vielfältige Widerstände abgerungen – als ginge es nicht um Schreibtisch und Rednerpult sondern um das Pflügen eines besonders steinigen Ackers. Eucken bekräftigt immer wieder, dass neue Lebensordnungen von denjenigen, die ihre Prinzipien vertreten, aktiv durchgesetzt werden müssten. Und bereits im Vorwort der Einheit des Geisteslebens versichert er seinen Lesern, dass „der Kampf um neue Ideen und neue Lebensordnungen“ keineswegs nur eine „private Angelegenheit“ sei. Vielmehr lasse „nur durch ein mannhaftes Zu19 Vgl. ThULB NLRE I, 32, Bl. 16-19: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 22.4.1882; Steinbach/ Dathe (Hg.), Cartellieri, S. 791. 20 R. Eucken, Einheit, S. 402.

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sammenstehen aller Gleichgesinnten sich den ungeheuren Gegenmächten irgendwelcher Boden abringen.“21 Wie aber dieser Prozess von der Erkenntnisarbeit des Einzelnen bis zur Durchsetzung einer neuen Lebensordnung konkret vor sich gehen könnte – darüber geben die Werke Rudolf Euckens so gut wie keine Auskunft. Diese Leerstelle mag auch in den epistomologischen Grundüberzeugungen Euckens begründet gewesen sein. Der Jenaer Philosoph lehnte Geschichtsteleologien dezidiert ab: Die Zukunft war für ihn prinzipiell ergebnisoffen; sie formte sich im Handeln der Menschen aus. Daher rührt letztlich auch die inhaltliche Vagheit und Verschwommenheit der Euckenschen Visionen einer neuen Lebensordnung. Euckens Schriften zeigen einen Weg auf, lassen das Ziel aber weitgehend unbestimmt. Denn die Erschließung einer Tatwelt in der Auseinandersetzung mit einem weltüberlegenen Geistesleben, ihre schöpferische Umsetzung in einem Lebenswerk, schließlich die Ausformung und Durchsetzung einer neuen Lebensordnung – all dies stellt sich bei Eucken als ein langwieriger Prozess der „Wahrheitsfindung“ dar, über dessen Ergebnis man erst am Ende und nicht schon im Vorhinein konkretere Aussagen treffen kann. So dürfte auch Rudolf Euckens Weg vom Kathedergelehrten zur Leitfigur einer Sammlungsbewegung kein frühzeitig aufgestellter Masterplan unterlegen haben, sondern sich für ihn selbst erst allmählich eröffnet und erschlossen haben. Tatsächlich reichte Euckens publizistisches Wirken im ersten Jahrzehnt seiner Jenaer Zeit kaum über die engen Kommunikationskreise seines Fachs hinaus. Bis zur Mitte der 1880er Jahre findet sich in seinem Publikationsverzeichnis nur gelegentlich ein Aufsatz oder Artikel, den er nicht in der philosophischen Fachpublizistik (meist die Philosophischen Monatshefte) oder in allgemein akademisch-wissenschaftlichen Periodika (etwa die Göttingischen Gelehrten Anzeigen, die Jenaer Literaturzeitung und die Deutsche Litteraturzeitung) veröffentlicht hätte. Seit 1872 brachte die Allgemeine Zeitung (Augsburg, später München) in ihren Kulturbeilagen von Eucken verfasste Artikel, allerdings vorerst nur ein-, zweimal im Jahr.22 1885/87 kamen einige Kulturzeitschriften hinzu, die Eucken ein publizistisches Forum boten: die Deutsche Revue über das gesamte nationale Leben der Gegenwart (Breslau), Die Gegenwart Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben und die Deutsche Rundschau (beide Berlin). Nur in der letzteren Zeitschrift veröffentlichte der Jenaer Ordinarius regelmäßig. Noch Mitte der 1880er Jahre bewegte sich Eucken in seinen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln ganz überwiegend auf dem ihm angestammten Fachgebiet. Er rezensierte philo21 Ebd., S. VII. 22 Vgl. R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13, S. 71–76.

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sophische Neuerscheinungen, schrieb Nachrufe auf Kollegen, erläuterte philosophische Grundbegriffe und führte die Leser in das Leben und Wirken verschiedener „großer Denker“ ein. Ob er damit eine breitere Leserschaft erreichte, erscheint zumindest zweifelhaft. So teilte er 1886 seiner Schwiegermutter mit, er habe neulich der Täglichen Rundschau, einer großen Berliner Tageszeitung, „einen kleinen Artikel über Leibniz geschickt, nach meiner Meinung recht populär, den sie aber doch als zu schwer zurückschickte. Ich thue am besten, mich wie sonst an die Allg. Z. zu halten …“23 Das Veröffentlichungsverzeichnis Rudolf Euckens zeigt an, dass die Zahl seiner Zeitungs- und Zeitschriftenartikel ab Mitte der 1890er Jahre zunahm und die Bandbreite der behandelten Themen sich merklich vergrößerte. Der Jenaer Philosoph schrieb nun sowohl für die Tages- und Wochenpresse und Politikund Kulturzeitschriften als auch für die Fach- und Verbandspublizistik. Zwar blieb die Allgemeine Zeitung bis zu ihrem Ende als Tageszeitung 1908 Euckens „Hausblatt“. Es waren nun schon einmal sechs, sieben Artikel pro Jahr, die hier erschienen. Nach und nach kamen andere namhafte Tageszeitungen hinzu, die Eucken ein publizistisches Forum zur Verbreitung seiner Ideen und Ansichten boten oder bei ihm von sich aus wegen eines Artikels zu einem bestimmten Thema anfragten. Den Anfang machte 1895/96 die Vossische Zeitung mit Vorabdrucken von Kapiteln aus dem Kampf um einen geistigen Lebensinhalt und der ersten Neuauflage der Lebensanschauungen der großen Denker. Spätestens mit der Nobelpreisverleihung hatte Rudolf Eucken augenscheinlich die Auswahl unter den angesehensten deutschen Tageszeitungen. Seit 1907 schrieb er für die Frankfurter Zeitung, 1908 kamen die Münchner Neuesten Nachrichten hinzu, seit 1910 das auflagenstarke Berliner Tageblatt. Rechnet man noch die Vossische Zeitung hinzu, für die Eucken weiterhin schrieb, so fällt auf, dass die meisten dieser Tageszeitungen eine ausgeprägt linksliberale Ausrichtung besaßen. Rudolf Eucken, der sich politisch wohl weiter rechts, bei den Nationalliberalen, verortete, nahm diese Diskrepanz eher amüsiert zur Kenntnis. „Drolligerweise“, so teilte der Philosoph seinem Freund Norström im Frühjahr 1909 mit, „sind jetzt in Deutschland meine besten Freunde die demokratischen Blätter.“24 Seit dem Ausgang der 1890er Jahre schrieb Eucken zudem für eine ganze Reihe von Wochen- und Monatszeitschriften, die einen bildungsbürgerlichen Leserkreis über Politik und Gesellschaft, Kunst und Kultur unterrichteten. In ei23 ThULB NLRE I, 32, Bl. 97: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 29.6.1886. Vgl. R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13, S. 79–89. Zu Euckens Rolle als „Hausphilosoph“ der Deutschen Rundschau vgl. Goeller, Hüter, S. 269. 24 ThULB NLRE I, 30, Bl. 290: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 27.4.1909. Vgl. R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13, S. 91–128.

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nigen Fällen blieb es bei einem einzelnen Artikel, in anderen Zeitschriften publizierte Rudolf Eucken mehr oder minder regelmäßig. In diese letztere Kategorie fallen die Deutsche Rundschau, die von Maximilian Harden herausgegebene Die Zukunft (seit 1897), die Wiener Wochenzeitung Die Zeit (erstmals 1898) sowie ab 1901 die Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart.25 In seinen für ein breiteres Publikum bestimmten Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln trat Rudolf Eucken im Laufe der 1890er Jahre aus der bisher von ihm besetzten fachspezifischen Nische heraus. Er begann nun damit, seine eigenen Ideen und Bestrebungen über diese Medien zu verbreiten. 1897 veröffentlichte er in der Deutschen Rundschau eine „philosophische Meditation“ über den „innere[n] Mensch[en] am Ausgang des 19. Jahrhunderts“. Im folgenden Jahr schrieb er über „Die innere Bewegung des modernen Lebens“ in der Wiener Zeit, über „Die moralischen Triebkräfte im Leben der Gegenwart“ in der Zukunft.26 Besonders eng verbunden war der Jenaer Philosoph in den Jahren nach der Jahrhundertwende der Deutschen Monatsschrift, die von dem Schriftsteller und Publizisten Julius Lohmeyer gegründet worden war. Bereits in der ersten Nummer vom Oktober 1901 war Eucken mit einem Beitrag vertreten, in dem er „Die weltgeschichtliche Aufgabe des deutschen Geistes“ beleuchtete. Die Zeitschrift veröffentlichte einerseits literarische Texte und bot andererseits ihren Lesern ein breites Spektrum an Themen aus Kultur, Politik und Volkswirtschaft. Zu den bekannteren Namen unter den regelmäßigen Autoren der Deutschen Monatsschrift gehören die Historiker Otto Hintze und Theodor Schiemann, die Nationalökonomen Adolf Wagner, Gustav Schmoller und Max Sering, Houston Stewart Chamberlain, der Kolonialpolitiker Carl Peters, der Theologe Reinhold Seeberg oder der Flottenenthusiast Georg Wislicenus. Wenn auch der eine oder andere Liberale gelegentlich mit Texten vertreten war, so besaß die Monatsschrift doch insgesamt ein rechtsnationalistisches Profil. Viele ihrer Autoren bewegten sich im Umkreis der „Nationalen Verbände“. Die Zeitschrift berichtete regelmäßig über das „Deutschtum“ im Ausland, die deutschen Kolonien wie über die Heeres- und Flottenpolitik. 1903 kam die Deutsche Monatsschrift auf 3.700 Abonnenten. Sie war nach Euckens Einschätzung „namentlich in den gebildeten Beamten- und Lehrer-, auch Offizierskreisen stark verbreitet“.27 In der Deutschen Monatsschrift fand Rudolf Eucken ein Publikationsorgan, dessen Redaktion sich der Verbreitung seiner Lehre und Weltanschauung be25 Vgl. R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13, S. 91–99. 26 Vgl. ebd., 3, S. 92f; ders., Der innere Mensch; ders., Bewegung; ders., Triebkräfte 27 ThULB NLRE I, 30, Bl. 192: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 4.8.1907. Vgl. ThULB NLRE I, 18, Bl. L 321: Julius Lohmeyer an Rudolf Eucken, 17.4.1903.

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sonders verpflichtet fühlte. Man plane, schrieb Lohmeyer 1903 nach Jena, „eine eingehendere Darlegung Ihrer Philosophie durch einen bes. hervorragenden Vertreter in allgemeinverständlicher Darstellungsweise“. „Ganz besonders“ liege ihm am Herzen, „die begabteren unter unseren Frauen in Ihre befreienden Gedankengänge einzuführen.“ Lohmeyer beauftragte schließlich in Absprache mit Eucken den Gießener Privatdozenten August Messer mit der Aufgabe, den Jenaer Philosophen als „Vorkämpfer des Idealismus“ zu porträtieren.28 Zu den ständigen Mitarbeitern der Zeitschrift gehörte der Eucken-Schüler Otto Siebert, der sich 1905 in einem längeren Beitrag „Rudolf Euckens Stellung zur christlichen Religion“ widmete. Siebert rezensierte in einer regelmäßigen Kolumne die philosophischen Neuerscheinungen und ging dort und in Einzelbesprechungen ausführlich auf die Werke seines Doktorvaters, selbst die diversen Neuauflagen, ein. Auch das erste auf deutsch erschienene Werk Norströms besprach Siebert „warm und hübsch“ (Eucken) in der Deutschen Monatsschrift.29 Die Deutsche Monatsschrift, die Ende 1907 ihr Erscheinen einstellte, wie auch die zahlreichen anderen Zeitschriften, in denen sich Rudolf Eucken seit dem Ausgang der 1890er Jahre mehr oder minder regelmäßig zu Wort meldete, trugen sicherlich dazu bei, dass der Jenaer Ordinarius bereits vor der Nobelpreis-Verleihung der gebildeten Öffentlichkeit in Deutschland als eminenter zeitgenössischer Philosoph bekannt war. Inhaltlich konzentrierte sich Eucken in seinem publizistischen Wirken darauf, seine Philosophie einem breiteren Leserkreis in möglichst verständlicher Form vorzustellen. Konkrete gesellschaftspolitische Handlungsanleitungen, wie denn die vom ihm aufgeworfenen Problemstellungen angepackt und gelöst werden könnten, präsentierte er vorerst allerdings kaum. In einem programmatischen Aufsatz in der Deutschen Monatsschrift vom Herbst 1903 mit dem Titel Einleitende Gedanken über den Kampf um die Weltanschauung argumentiert er, was diese Frage angeht, merkwürdig zurückhaltend. Eucken versteht hier den Begriff der „Weltanschauung“ als „Wendung von der strengen Wissenschaft zur allgemeinmenschlichen Überzeugung“. Eine Weltanschauung erscheint ihm als Voraussetzung, um eine zielgerichtete Position in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung einzunehmen.30 28 ThULB NLRE I, 18, Bl. L 319: Julius Lohmeyer an Rudolf Eucken, 21.1.1903. Vgl. ebd. Bl. L 320: Lohmeyer an Eucken, 10.2.1903; Siebert, Geschichte, S. 491, zählt Messer zu den Schülern Euckens. Aus dessen Vita geht allerdings hervor, dass er bei Hermann Siebeck in Gießen promovierte (vgl. Kanitschneider, Messer). Messers Eucken-Aufsatz ist veröffentlicht in: Deutsche Monatsschrift 5, 1903/04, S. 556–570. 29 ThULB NLRE I, 30, Bl. 192: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 4.8.1907. Unter den Autoren der Deutschen Monatsschrift (11, 1906/07, S. 371–375), findet sich auch ein enger persönlicher Freund Euckens, der Pädagoge und Literaturhistoriker Alfred Biese. 30 R. Eucken, Gedanken, S. 14.

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Nach Euckens Argumentation ist aber schon diese Grundvoraussetzung für eine Reformbewegung, die die grundlegenden Probleme der Gegenwart aufgreifen und einer Lösung zuführen könnte, nicht gegeben. Diesen Umstand wiederum führt er geradewegs auf die bereits in der Einheit des Geisteslebens dargelegten Charakteristika der Moderne zurück: ihre geistige Fragmentierung und unübersichtliche diffuse Vielgestaltigkeit: In geschlossenen Zeiten kämpfte man um greifbarere Probleme, und die großen Gegensätze, die nie schlummern, kamen an bestimmten und umgrenzten Streitpunkten zum Austrag. Daß wir uns nach einer Weltanschauung erst wieder umsehen müssen, ist das Zeichen einer Krise, einer Erschütterung der überkommenen Zusammenhänge.31

Es gelte demnach, so Eucken weiter, erst einmal eine klare Frontstellung aufzubauen. Man werde auch beim Problem der Weltanschauung nicht weiterkommen, „ohne daß sich die mannigfachen Fragen in ein einziges Entweder-Oder zusammenfassen und an diesem sich die Geister scheiden“.32 Es gehe darum, den Hauptgegensatz klar herauszuarbeiten. Erst nach dieser „Scheidung der Geister“ könne man eine Sammlung denken. Seine eigenen „einleitenden Gedanken“ in der Deutschen Monatsschrift kommen dann tatsächlich nicht über die Einleitung hinaus. Eucken betont zwar, dass es entscheidend darauf ankomme, wo die Scheidelinie gezogen werde. Doch in seinen Ausführungen legt er vor allem fest, wo diese Linie nicht gezogen werden sollte. Den Hauptgegensatz könne man keinesfalls entlang der konfessionellen Spaltung zwischen Protestanten und Katholiken verorten. Das seien Problemlagen des 16. Jahrhunderts gewesen, die nur noch unfruchtbaren Streit hervorrufen würden. Zudem würden „heute dieselben Probleme von ernsten Seelen beider Seiten empfunden“. Es bestehe hier mehr Gemeinschaft als die Verschiedenheit der Bekenntnisse vermuten ließe. Auch der Rückgriff auf die Vergangenheit, um dort vermeintlich klarere und festere Gestaltungsprinzipien für heutige Frontstellungen zu erschließen, gehe letztlich ins Leere; „das verhindert schon die präzise Schaffung und die deutliche Abgrenzung, in der die historische Forschung uns das Bild jener Zeiten vor Augen stellt“. So fällt Euckens Fazit ziemlich frustrierend aus: Einfache und klare Frontstellungen und Gegensätze seien in der Gegenwart nicht zu erkennen. Eine solche Einfachheit aber kann uns auch die scharfsinnigste Reflexion nicht aufweisen, sie will aus dem Zwange geistiger Notwendigkeit geboren sein, und ein solcher Zwang fehlt unserer Zeit. Vielleicht wird es noch mancher Erfahrungen und mancher Er-

31 Ebd., S. 14. 32 Ebd., S. 14f.

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schütterungen bedürfen, damit er aus der Berührung von geistiger Tiefe und weltgeschichtlicher Lage hervorgehe.33

Rudolf Eucken machte seinen Lesern demnach wenig Hoffnung, dass sich in absehbarer Zeit eine umfassende Bewegung, getragen von einer gemeinsamen Weltanschauung, formieren würde, die an den Brennpunkten der gesellschaftlichen Auseinandersetzung den Kampf um eine Überwindung der geistigen Krise der Moderne und zur Durchsetzung einer neuen Lebensordnung aufnehmen könnte. Für ihn selbst hieß dies aber offensichtlich nicht, dass er sich vorläufig darauf beschränken würde, seine Ansichten und Einsichten in der stillen Gelehrtenstube zu Papier zu bringen. Die Suche nach der „Richtung des Wegs“ gestaltete sich für den Jenaer Philosophen dann doch aktiver und konkreter, als seine eher ernüchternde Analyse der Gesamtlage von 1903 vielleicht erwarten ließe. Seit den 1890er Jahren meldete sich Eucken immer wieder in gesellschaftspolitischen Debatten zu Wort und engagierte sich auf Feldern, die nicht unbedingt in den beruflichen Wirkungs- und Zuständigkeitsbereich eines an der Universität lehrenden und forschenden Philosophieprofessors fielen. Am häufigsten und nachdrücklichsten tat er dies in der Bildungspolitik und auf dem Feld der religionspolitischen Auseinandersetzungen. Seine Lehre stieß denn auch bei Theologen und Pädagogen augenscheinlich auf mehr Resonanz als bei der eigenen Peer Group, den Philosophen. Diese beiden Diskurs- und Aktionsfelder werden im Folgenden näher betrachtet und zwar vor allem im Hinblick auf zwei Erkenntnisinteressen. Erstens soll die Untersuchung Aufschluss darüber geben, in welcher Weise Euckens philosophisch-weltanschaulichen Positionen im Kontext konkreter und themenbezogener gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung – von ihm selbst und anderen – programmatisch ausformuliert, vertreten und praktisch umgesetzt wurden. Zweitens lässt sich auf diesen Feldern möglicherweise die Herausbildung von Netzwerken des Kontakts, des Meinungsaustauschs, des koordinierten Handelns verfolgen, aus denen sich ein festerer Kreis von Anhängern und Mitstreitern Euckens rekrutierte.

Zum Wahrheitsgehalt der Religion In den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende begann sich Rudolf Eucken zusehends intensiver mit religionsphilosophischen Themen zu beschäftigen. Als geschlossenes Ganzes präsentierte Eucken seine Überlegungen 1901 in der Mo33 Ebd., S. 14ff.

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nographie Der Wahrheitsgehalt der Religion. Im Rückblick bewertet Rudolf Eucken dieses Buch als sein persönlichstes Werk. Seit seiner Kindheit habe er sich intensiv mit religiösen Problemen befasst. Dabei sei ihm „das Bewußtsein eines Getragenwerdens des Menschen durch eine höhere Macht“ ein „unentbehrliches Grundaxiom“ seines Lebens geworden. In ihrer zeitgenössischen kirchlichkonfessionellen Ausformung erschien Eucken aber die christliche Religion zu eng, zu dogmatisch und zu lebensfern zu sein. Auch das problematische Verhältnis von Religion und Kultur habe ihn stark beschäftigt: Beide „schienen mir innerlich aufeinander angewiesen zu sein, ohne sich doch bei der Verschiedenheit ihrer Ausgangspunkte und Bewegungsrichtungen vereinigen zu dürfen“. Abgelöst von der Kultur bleibe gerade das protestantische Christentum zu sehr eine Sache des „bloßen Individuums“. Es könne nicht wie der Katholizismus als „alldurchdringende Lebensmacht“ wirken.34 In Rudolf Euckens systematischen und philosophiegeschichtlichen Werken nimmt die Religion einen mehr oder minder prominenten Platz im menschlichen Geistesleben inne. In der Begründung und Ausformung des Christentums erkennt Eucken zäsursetzende Stufen in der geistigen Fortentwicklung der Menschheit. Hauptstreben und Grundaffekt des geistigen Lebens sei das Verlangen nach einer Wahrheit, die Befriedigung finde im Aufbau einer „wesenhaften“ Welt. Die Erfahrungswelt kenne dagegen nur ein vermitteltes, bedingtes, begrenztes Leben ohne innere Einheit. Hier ordnet Rudolf Eucken nun der Religion eine zentrale Funktion zu: Die Religion erschließe dem Menschen ein ewiges Sein, eine Überwelt, und führe ihm eine Offenbarung göttlichen Wollens und Wesens zu. Sie gewähre dem Menschen mit ihrer zeitlosen Wahrheit einen sicheren Halt und fordere ihn auf, sein Leben im Sinne dieser Wahrheit zu gestalten. Das menschliche Geistesleben wiederum erhalte erst mit der Hinwendung zur Religion Tiefe und Einheit und werde durch sie ins Ganze, Prinzipielle, Absolute erhoben. In der Religion vollziehe sich die Zusammenfassung dessen, was im ganzen Leben schon steckt, aber ohne solche Konzentration sich selbst nicht finden könne. Alles, was unserem Dasein geistigen Charakter verleihe, gelange ohne den Bezug zur Religion zu keinem Abschluss und verliere Halt und Grund.35 Eucken verwendet den Begriff der Religion in mindestens drei Bedeutungsvarianten, die nicht immer trennscharf auseinander zu halten sind. Er behandelt zunächst die „universale“ Religion, die generell im Glauben an ein absolutes Geistesleben und an die „Idealität unseres eignen Wesens“ gründet. Ihr Gehalt ist gewissermaßen die „kosmische“ Wahrheit, auf deren Ergründung 34 R. Eucken, Epilog, S. 122f; vgl. ders., Lebenserinnerungen, S. 78f. 35 Vgl. R. Eucken, Wahrheitsgehalt, S. 136ff, 201-213, 416.

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und Aneignung Eucken den Bildungs- und Erkenntnisprozess des Einzelnen ausrichtet. Zum zweiten spricht er von „charakteristischen“, „geschichtlichen“ oder „positiven“ Religionen, die ein „in seinen Grundzügen klar durchdachtes Gesamtbild der Wirklichkeit“ entwerfen, „jede in ihrer eignen, durchaus eigentümlichen Art“. Damit sind im Kern die großen gemeinschaftsbildenden „Weltreligionen“ gemeint – Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus. Diese idealtypisch als holistische Einheiten umrissenen Religionen sind wiederum analytisch von ihren vielfältigen konfessionell-kirchlichen Ausprägungen, die auf spezifischen Dogmen und Glaubensbekenntnissen gründen, zu unterscheiden.36 Grundsätzlich bezieht sich Euckens Religionsphilosophie auf alle geschichtlichen Religionen, zumindest, soweit sie aufgehört haben, „ein bloßes Stück einer Volkskultur zu sein, und wo sie sich zugleich von aller bloßen Naturmythologie befreit“ haben. Eine spirituelle Rangfolge der Glaubenssysteme ist aber im Wahrheitsgehalt der Religion unverkennbar. Eucken trennt zunächst einmal zwischen Gesetzes- und Erlösungsreligionen. Im Kern einer Gesetzesreligion – offenbar rekurriert er hier auf Judentum und Islam – stehe „die Verkündigung und Verfechtung einer sittlichen Ordnung“, die in einem strengen Gesetz für das ganze Leben kodifiziert sei. Für die Erfüllung der göttlichen Gebote winke dem Einzelnen – im Diesseits oder im Jenseits – großer Lohn, für ihre Übertretung drohe schwere Strafe. Die Erlösungsreligionen siedelt Eucken auf einer höheren geistigen Stufe an. Hier kann der Mensch nicht aus eigener Kraft in seinem Handeln die Wahl zwischen dem Guten und Bösen vollziehen. Vielmehr gelte er den Erlösungsreligionen als von Grund aus unfähig zum Guten. Die Welt erscheine ihnen als „durchaus verfehlt“. Sie verlangten „eine völlige Umwälzung und Erneuerung, die alte Welt muß versinken, ein neuer Mensch geboren werden“.37 Eucken unterscheidet zwei Typen der Erlösungsreligion, das Christentum und die indischen Religionen. Auch in diesem Falle fließen in seine Darlegung dezidierte Wertungen ein. Dem Christentum billigt er „vom Standpunkt … des Forschers betrachtet“ eine „überragende Größe“ zu. Während die indischen Glaubens- und Weisheitslehren im Dasein überhaupt ein Übel sähen, halte das Christentum eine glückliche Balance zwischen Weltverneinung und Welterneuerung. Der Christ könne die Welt nicht schlechthin verwerfen. Sie sei ihm „ein vollkommenes Werk göttlicher Weisheit und Güte“, das nur durch den Abfall der Menschen entstellt und verdorben worden sei. Der Glaube an Gott eröff36 Ebd., S. 211, 308. Vgl. ebd., S. 201–237, 339-362; Pöhlmann, Theologie, S. 52f, 58-63; Siebert, Lebensanschauung, S. 55, 64. 37 R. Eucken, Wahrheitsgehalt, S. 1, 8f.

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ne hier dem Menschen ein Reich der Liebe und Gnade, in dem er ein neues Leben gewinnen könne. Hier deutet sich an, dass Eucken, auch wenn er über weite Strecken von Religion im Allgemeinen spricht, vor allem das Christentum im Sinn hat. Wenn er sich im letzten Abschnitt seines Buches dem Christentum zuwendet, macht er dies auch ganz explizit: Im Ganzen der Untersuchung fanden und fühlten wir uns eins mit der charakteristischen Substanz des Christentums; eben das, was aus der Gesamtbewegung des Geisteslebens als Forderung wie als Thatsache hervorgeht, …, dies hält uns in fester historischer Verkörperung das Christentum entgegen.

Das Christentum erscheint hier „als die Religion der Religionen“, als „geschichtliche Verwirklichung ewiger Wahrheit“, ja „als die Erfüllung eines Verlangens, das deutlich oder versteckt durch alles Menschenwesen und alles Menschenleben geht.“38 Grundsätzlich beharrt Eucken aber darauf, dass alle historischen Religionen, auch die christliche, nur als „Gefäße der Wahrheit oder auch Wege zur Wahrheit“, nicht jedoch als „die Wahrheit selbst“ zu gelten haben.39 Für die Aufgabe der Religion, „das Ganze des Geisteslebens auf die Kraft seiner tieferen Ursprünge zurückzuführen“, bedürfe es an sich zwar, so Eucken, keiner geschlossenen Gemeinschaft. Gesellschaftlich bedeutsam und wirkkräftig werde die Religion aber erst in der Ausformung der historischen Glaubenssysteme und der sie tragenden Gemeinschaften. Die positiven Religionen würden „alles Dasein nach festem Maß“ messen, billigen und verwerfen. Sie suchten „Verwandtes an sich zu ziehen, Feindliches auszutreiben, alles Neutrale zur Entscheidung zu zwingen.“ Es komme so eine gewaltige Bewegung in das Leben, die Dinge verlassen den chaotischen Stand eines trägen Nebeneinander und gewinnen Gestalt und Farbe, das Dasein zerlegt sich in Frage und Antwort, ja es entspinnt sich beim Widerstande der Unvernunft ein heißer Kampf der Welten, an denen der Mensch aufs aktivste teilnimmt. Erst in solchem Schalten über Unendlichkeiten hebt sich das Leben von der kleinmenschlichen Art ins Große, so erst gewinnt es als Ganzes einen Charakter.40

Erst in ihrer „charakteristischen“ Form werde die Religion zu einer „selbständigen Lebensmacht“. Nur so könne unser Geistesleben letztlich eine Einheit gegenüber der Zerstreuung der Welt erlangen. In dieser Form bedürfe die Religion des Zusammenschlusses und der Ausbildung eines besonders Lebenskreises. Die Kirche erscheint Eucken demnach unentbehrlich dafür, dass das neue Le38 Ebd., S. 8, 10, 401f. 39 Ebd., S. 378. 40 Ebd., S. 366, 308f.

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ben, das die Religion dem Menschen eröffne, auch in die Realität umgesetzt werden könne. Allerdings scheut sich Rudolf Eucken, der Kirche den Rang einer Dogmen setzenden Zwangs- und Monopolorganisation zuzubilligen. Für den Einzelnen gilt: Was die Menschen geistig zusammenhält, ist nicht die Kirche, sondern das Reich Gottes, so daß keine Sorge zu sein braucht, es werde aus allen geistigen Zusammenhängen herausfallen, wer keiner sichtbaren Kirche anzuhängen vermag.41

Hauptaufgabe der Religion in ihrer charakteristischen Ausprägung sei es, eine innere Umwälzung des Daseins zu vollziehen, ein neues Leben in unsere Wirklichkeit hinein zu pflanzen, „ein Ewiges inmitten des Stromes der Zeit, eine göttliche Welt inmitten der Unlauterkeit menschlicher Dinge“ zu entfalten. Um dieser Aufgabe treu zu bleiben, dürfe die Religion das Göttliche nicht an überkommene Formen und Dogmen binden, an Dinge, „die die weltgeschichtliche Bewegung als der menschlichen Seite angehörig aufgewiesen hat.“ Auch lasse sich die moderne Kultur nicht einfach weg dekretieren. Der historische Zusammenhang könne, nachdem er nun einmal zerrissen sei, nicht künstlich wiederhergestellt werden.42 Rudolf Eucken entwirft im Wahrheitsgehalt der Religion die Umrisse eines erneuerten Christentums, das in der Moderne wieder zu einer „Lebensmacht“ werden könne. Es geht ihm darum, dieses neue Christentum dem Niveau des menschlichen Geisteslebens, das viel komplexer und subtiler als in der Vormoderne geworden ist, anzugleichen. Unerlässlich erscheint ihm dabei die Erhebung der Religion ins „Reingeistige“. Das Sinnliche in der Religion, das inneres Leben an äußere Zeichen binde, würde heute als magisch und als eine Hemmung geistiger Freiheit empfunden. Dies gelte keinesfalls nur für den Katholizismus. Auch im Protestantismus hätten sich solche sinnlich-magischen Elemente in allem erhalten, „was einen sakramentalen Charakter behauptet, in allem, was an religiösen Handlungen und Bekenntnissen dem Menschen von äußerer Autorität als ein Muss auferlegt wird“. Überhaupt habe die Fixierung eines in festen Dogmen niedergelegten Gedankenkreises zurückzutreten gegenüber der Pflege des neuen Lebens. 43 1901 bot die liberal-protestantische Zeitschrift Christliche Welt Rudolf Eucken die Gelegenheit, die wichtigsten Thesen und Befunde seines gerade erschienenen religionsphilosophischen Hauptwerks einem theologisch gebildeten Leserkreis darzulegen. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Religion, so beginnt Eucken, werde nur jemand zum Gegenstand einer Untersuchung machen, 41 Ebd., S. 351, 368; vgl. ebd. S. 366–369. 42 Ebd., S. 54ff. 43 Ebd., S. 420f.

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der vom Wirken einer ewigen und unverlierbaren Wahrheit in der Religion überzeugt sei, diese Wahrheit aber verdunkelt und gefährdet glaube. Die Ursache dieses Problems macht er daran fest, dass „das Ganze des Lebens“ in den letzten Jahrhunderten großen Wandlungen unterworfen gewesen sei, die Religion aber ihre alte Form weitgehend unverändert aufrechterhalten habe. Daher erscheine die Religion nun fremdartig in einer völlig veränderten Welt. Zwar genieße sie immer noch großes Ansehen und äußere Anerkennung. Doch sei die Religion in Gefahr, ein bloßer Anhang des Lebens, eine konventionelle Form zu werden, neben der das übrige Leben „unbekümmert völlig andre Bahnen“ verfolge. Die große Kluft zwischen dem, was die Religion nach außen hin scheine, und dem, was sie uns tatsächlich sei, habe eine Spaltung des Lebens und eine Unwahrhaftigkeit der Gesinnung bewirkt.44 Im Folgenden entwirft Eucken das Programm einer Neubegründung der Religion für die Moderne. Eine Befestigung der Religion „von innen her“ sei nur mittels der „Abhebung eines geistigen, mit einem Weltcharakter ausgestatteten Lebensprozesses“ möglich. Nur ein – sein – noologisches Verfahren könne diesen geistigen Lebensprozess und damit den „Wahrheitsgehalt der Religion“ in objektiver Weise erfassen und bestimmen. Wer die Religion „wissenschaftlich begründet haben“ wolle, dürfe eine solche Vertiefung der Wirklichkeit nicht scheuen. Damit formulierte Eucken die „Frage der Wahrheit der Religion“ als eine Frage der Thatsächlichkeit, die Frage der wirksamen Gegenwart eines göttlichen Lebens in unserem Lebenskreise. Ob eine solche in den Erfahrungen des Geisteslebens, des vom unmittelbaren Seelenleben deutlich geschiedenen Geisteslebens zu Tage tritt, darin mußte unsre Arbeit ihr Hauptproblem finden.

Dies sei der einzige Weg, eine Religion zu begründen, die dem Menschen der Gegenwart einen festen Halt gewähren könne. Damit vermeide man einerseits die unfruchtbare Begriffsspekulation des „Intellektualismus“ und andererseits einen „noch gefährlicheren Subjektivismus und Psychologismus“, die die Religion zur bloßen Weltanschauung machten oder nur auf Gefühle und Affekte gründeten.45 Wenn Rudolf Eucken hier den Anspruch formuliert, die Wahrheit eines religiösen Glaubenssystems wissenschaftlich objektiv zu begründen, so hat dies weitreichende theologische Implikationen. Er stellt damit einen Maßstab in Aussicht, um den Wahrheitsgehalt der geschichtlichen Religionen, einschließlich ihrer zeitgenössischen Ausprägungen zu beurteilen. Im Wahrheitsgehalt der Religion führt er dazu aus, es verbiete sich zwar eine einfache Verwerfung der 44 R. Eucken, Problem, Sp. 593. 45 Ebd., Sp. 594f.

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geschichtlichen Religionen. Man könne auch nicht einer einzigen dieser Religionen alle Wahrheit zuerkennen und die anderen als Irrwege kennzeichnen. Zugleich dürften aber nicht verschiedene Wahrheiten nebeneinander geduldet werden. Entscheidend für den Wahrheitsgehalt einer Religion sei letztlich die Frage, ob diese Religion „eine Weiterbildung des geistigen Lebens bringt, ob sie Inhalte und Güter einführt, die aller deutenden Reflexion und aller Willkür der Menschen überlegen sind.“46

Können wir noch Protestanten sein? Bei den Religionsgemeinschaften seiner Zeit rannte Rudolf Eucken mit seiner Forderung, das „Übermenschliche vom Bloßmenschlichen“ zu scheiden und die nicht mehr zeitgemäßen Elemente wegfallen zu lassen, wohl nicht gerade offene Türen ein. Zunächst einmal wurde Eucken aber in der kirchlich-theologischen Öffentlichkeit vor allem als Philosoph wahrgenommen, der in seinen Werken die Religion nachdrücklich als unentbehrlichen Bestandteil jeder höher entwickelten menschlichen Gesellschaft rechtfertigte. Die Attraktivität seiner Lehre rührte hier wohl zu nicht geringen Teilen aus dem Umstand, dass ein prominenter Gelehrter, der außerhalb der theologischen Zunft stand, mit wissenschaftlichem Anspruch den christlichen Glauben verteidigte. So erhielt Eucken die Einladung, auf dem Kongress der Inneren Mission 1903, der dem „Kampf um die christliche Weltanschauung“ gewidmet sein sollte, den Hauptvortrag zu halten. Es würden „weite Kreise unserer Gebildeten“ unter dem Einfluss der Philosophie Nietzsches, der Evolutionslehre und ähnlicher Systeme immer mehr „von dem Christenthum und seiner ewigen Wahrheit abwenden und es entbehren zu können glauben“. Gerade deshalb erschien dem Zentralausschuss der Inneren Mission ein Professor der Philosophie geeigneter als ein Theologe, dieses Thema öffentlich zu behandeln.47 Nach der Jahrhundertwende befasste sich eine ganze Reihe von Theologen mit der Religionsphilosophie Rudolf Euckens. Auch für sie lag der theologische Nutzwert von Euckens Lehre offenbar primär in dem Versprechen, Religion als objektive Wahrheit methodologisch und erkenntnistheoretisch abgesichert herzuleiten. Den Anfang machte 1902 der nachmalige Danziger Superintendent Paul Kalweit, zu dieser Zeit Studiendirektor am Predigerseminar im schlesischen Naumburg an der Queis. In seiner Jenaer theologischen Dissertation argu46 R. Eucken, Wahrheitsgehalt, S. 269, 304. 47 ThULB NLRE I, 12, Bl. I 72: Central-Ausschuss für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, an Rudolf Eucken, 25.11.1902.

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mentierte er mit Eucken, bei der Begründung der Religion seien psychologische Erklärungsversuche unzulänglich. Vielmehr sei eine metaphysische Behandlung des Problems notwendig. Dabei müsse „auf das Ganze des menschlichen Geisteslebens zurückgegangen werden“.48 Der Nürnberger Oberlehrer Hans Pöhlmann präsentierte in seiner 1903 publizierten, ebenfalls in Jena entstandenen Doktorarbeit gar „Rudolf Euckens Theologie“. Kurt Kesseler, ein Berliner Religionslehrer, beschäftigte sich in einer ganzen Reihe von Schriften mit Euckens Religionsverständnis, u. a. in seiner Erlanger Dissertation. Richard Kade schließlich, Pfarrer in Lichtentanne nahe Saalfeld und in den 1930er und 40er Jahren Superintendent der thüringischen Landeskirche, setzte sich in einer 1912 veröffentlichten Schrift mit der theologischen und religionsphilosophischen Nutzbarmachung der noologischen Methode auseinander. Für Kade hatte Euckens methodologischer Ansatz den „einzige[n] vollgültige[n] Beweis für die Realität Gottes erbracht, eines Gottes, der nicht bloß einen philosophischen Gedanken darstellt, … sondern in lebendigem Wirken sich den Menschen offenbart“.49 So bereitwillig man sich in protestantischen Kreisen den Wahrheitsgehalt des Christentums von Rudolf Eucken wissenschaftlich nachweisen ließ, so wenig war eigentlich zu übersehen, dass die theologischen Schlussfolgerungen, die der Jenaer Philosoph selbst aus seiner Beschäftigung mit der Religion zog, einen Pferdefuß hatten. Nicht allein, dass Eucken den christlichen Glauben insoweit relativierte, als er dem Christentum als charakteristischer Religion eben nur einen bestimmten Wahrheitsgehalt zubilligte. Mehr noch, er nahm es sich in seinen Schriften zur Religion heraus, grundlegende dogmatische Axiome der christlichen Kirchen zu ignorieren oder als „bloßmenschliche“ Zutat abzutun, die möglichst bald aufzugeben seien. Auch einigen seiner Anhänger unter den Theologen und Religionspädagogen waren solche Diskrepanzen nicht entgangen. Bereits Hans Pöhlmann hatte in seiner Dissertation 1903 vorsichtige Zweifel an Euckens Theologie geäußert, denn vieles, was Eucken verwerfe, gelte anderen als unantastbar – „und manches mit Recht“. So monierte er etwa, dass das Gebet bei Eucken gar nicht erwähnt werde. Weise nicht „die Urthatsache des Gebetes“ selbst darauf hin, so argumentierte Pöhlmann, „dass Gott noch persönlicher, sagen wir einfach,

48 Kalweit, Begründung, S. 77. Kalweit hatte zudem zwei Jahre zuvor bei Eucken eine philosophische Dissertation über die Begründung des Gottesbegriffs bei Hermann Lotze eingereicht. 49 Kade, Methode, S. 133. Vgl. Pöhlmann, Philosophie; Kesseler, Bedeutung (1911); ders., Werk. Kades Schrift kam bei Euckens Leipziger Stammverleger Veit & Comp. heraus, und der Philosoph hatte ihre Veröffentlichung nachdrücklich empfohlen. Vgl. ThULB NLRE I, 27, Bl. V 143: Veit & Comp. an Rudolf Eucken, 8.5.1912.

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menschenartiger gedacht werden darf und muss?“50 Auch Paul Kalweit, der noch 1906 in einem mehrteiligen Artikel den Lesern der Christlichen Welt die große Bedeutung von Euckens Philosophie für die Theologie vor Augen gehalten hatte, rückte einige Jahre später in einigen Punkten von dessen Positionen ab. Kalweit mochte sich nicht damit anfreunden, dass Eucken Jesus von Nazareth allein als Mensch verstanden wissen wollte. Im Christentum, so hielt er dem Philosophen entgegen, werde es immer eine Christologie geben, und bei der Christologie werde es sich stets um eine Vereinigung von Menschlichem und Göttlichem handeln. „Darum wird das Christentum in der Geschichte und in dem Schicksal Jesu immer mehr als eine Einkleidung für einen geistigen Gehalt sehen, nämlich das in strengstem Sinne wirkliche Handeln Gottes mit der Welt.“51 In dem gerade zitierten, 1910 erschienenen Aufsatz stellt Kalweit fest, die Theologen, die sich mit Eucken beschäftigten, hätten meist völlig unter dem Eindruck der wertvollen Hilfe gestanden, die sie von dessen Lehre erhielten. Deren Implikationen seien ihnen daher gar nicht recht zu Bewusstsein gekommen. Viele der Arbeiten von theologischer Seite würden auch einfach nur Euckens Gedanken wiederholen.52 Dies begann sich allerdings nun zu ändern. In den Jahren nach der Nobelpreisverleihung wurden von protestantischer wie auch von katholischer Seite vermehrt kritische Stimmen zu Euckens Auffassung des Christentums laut. 1911/12 sah sich einer seiner eifrigsten Apologeten, Kurt Kesseler, dazu veranlasst, dieser Kritik entgegen zu treten.53 Am Ende dieser in Erlangen als Dissertation eingereichten Abhandlung macht Kesseler aber eher den Eindruck als wolle er Eucken vor allem vor sich selbst in Schutz nehmen: Bis hierher haben wir Eucken durchgängig zugestimmt, wenn wir erkannten, wie seine religionsphilosophischen Ideen den modernen Zeitforderungen genügen, ohne doch den ewigen Gehalt des Christentums zu schädigen, ja wie seine Ideen gerade dem modernen Menschen die christlichen Wahrheiten nahe bringen. Bei der Besprechung seiner Stellung zum kirchlichen Dogma sind wir zu einem Punkte gelangt, wo wir Eucken glauben widersprechen zu müssen.54

50 Pöhlmann, Philosophie, S. 90f. 51 Kalweit, Religionsphilosophie, S. 147f. Vgl. ders., Eucken. 52 Kalweit, Religionsphilosophie, S. 145. 53 Kesseler, Bedeutung (1912), S. 7f, nennt einen Aufsatz des katholischen Theologen Joseph Mausbach in der Zeitschrift Hochland, eine Broschüre Karl Bornhausens, einem Schüler des Theologen Wilhelm Herrmann, Ludwig von Gerdtells Schrift Rudolf Euckens Christentum sowie die kritischen Äußerungen Kalweits, alle 1909/10 erschienen. 54 Ebd., S. 60.

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Auf den nächsten Seiten folgt nun eine wesentlich schärfere Kritik an Euckens theologischen Positionen als die vorsichtigen Einwände Paul Kalweits. Der Jenaer Philosoph lehne die kirchlichen Dogmen rundweg ab: die Gottheit Christi und die Wunder ebenso wie die Auferstehung und die Sakramente. Kesseler hielt dagegen, diese Dogmen repräsentierten doch ewige Werte und sie hätten die religiösen Wahrheiten den Menschen näher gebracht. Wenn Jesus nicht mehr der Erlöser sei, werde das Christentum in seinem wesentlichen Kern getroffen. Dabei enthielten doch die Gedanken der Euckenschen Philosophie sehr viel „von dem Ewigen, was sich in die Dogmen gekleidet“ habe. Eucken stehe daher „dem Dogma innerlich näher, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, und als Eucken selber sieht.“ Am Ende tröstet Kesseler sich und seine Leser mit dem Gedanken, dass eine tiefer gehende theologische Durchdringung der Religionsphilosophie Euckens zu einer milderen Beurteilung des Dogmas gelangen werde.55 Euckens Bestreben, das Christentum von den ihm obsolet erscheinenden Dogmen zu befreien, um es auf den geistigen Stand der Moderne zu bringen, rückt ihn in die Nähe des zeitgenössischen „Kulturprotestantismus“. Und hier, bei einem liberalen Protestantismus, der sich vom Dogmatismus der konservativen lutherischen Orthodoxie ebenso verabschiedete wie von einem pietistischen Gefühlschristentum, hat auch die neuere Literatur Eucken gewöhnlich eingeordnet. Gangolf Hübinger erhebt Rudolf Euckens Neuidealismus sogar in den Rang einer „interpretatorischen Achse“ des kulturprotestantischen Selbstverständnisses. Den Jenaer Philosophen selbst rechnet er zu den „Gelehrtenpolitikern“, die das „Netzwerk kulturprotestantischer Eliten“ getragen hätten.56 Bei genauerer Betrachtung erscheint diese Zuordnung allerdings einigermaßen problematisch. Bereits die zeitgenössische Fremdzuordnung Euckens zum liberalen Protestantismus deckte sich nicht unbedingt mit dessen Selbstverortung. Als etwa die Christliche Welt Ende 1910 „einen engeren Kreis unserer autoritären [sic! M. S.] Mitarbeiter“ aufforderte, Artikel zum 25. Jubiläumsjahrgang der Zeitschrift beizusteuern, fragte sie auch bei Rudolf Eucken an. Nun hatte zwar Eucken in dem kulturprotestantischen Blatt rund zehn Jahr zuvor seinen Wahrheitsgehalt der Religion vorgestellt. Doch war dieser 1901 erschienene Artikel sein einziger Beitrag für die Christliche Welt geblieben, während etwa ihm nahestehende Theologen – Kade, Kalweit, Pöhlmann – dort ziemlich regelmäßig Artikel oder Rezensionen veröffentlichten. „So viel treffliche Artikel dies Blatt ent55 Ebd., S. 60–64. 56 Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 180, 130; vgl. ebd. S. 129–132, 252, 261; ähnlich: Graf, Positivität, S. 74f; ders. Laboratorium, S. 283f; Lübbe, Rudolf Eucken, o. S.; kritisch zu Hübingers Kulturprotestantismus-Konzept: Kuhlemann, Milieu.

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hält, so sehr es auch zu mir sich freundlich gestellt hat,“ schrieb Eucken 1909 in einem privaten Brief über die Christliche Welt, „die dort herrschende religiöse Grundstimmung ist mir nicht sympathisch, sie ist bald subjektiv sentimental, bald zu sozial, durchgängig zu wenig metaphysisch.“.57 Eine ähnliche Ambivalenz zeigt sich, wenn man die kirchenpolitischen Interventionen und Stellungnahmen des Jenaer Ordinarius etwas genauer unter die Lupe nimmt. So gehörte Eucken 1906 zu den 27 Hochschullehrern, die in einer vielbeachteten Resolution Einspruch erhoben gegen die Schulgesetzvorlage der preußischen Regierung, mit der die konfessionelle Volksschule faktisch als Regelschule bestätigt wurde. Die Unterzeichner, neben Eucken so bekannte Namen wie Lujo Brentano, Karl Lamprecht, Paul Natorp, Werner Sombart, Max Weber oder Wilhelm Wundt, wandten sich hier gegen jeden Einfluss „partikularreligiöser Tendenzen“ im Unterricht, Was naturwissenschaftliche und geschichtliche Wahrheit sei, müsse nach den eigenen Gesetzen des Gegenstands entschieden werden. Gegenüber der „trennenden Tendenz des religiösen Sonderbekenntnisses“ sei die „Einheit der humanen und nationalen Bildung“ zu wahren.58 Bereits einige Jahre zuvor hatte sich Eucken einer Protestkundgebung gegen die Amtshebung des Osnabrücker Pfarrers Hermann Weingart angeschlossen, die einen ähnlichen Kreis von protestantischen Intellektuellen vereinte. Die Maßregelung Weingarts durch seine kirchlichen Vorgesetzten war erfolgt, nachdem der Pastor in seiner Osterpredigt 1898 die leibliche Auferstehung Jesu angezweifelt hatte. Auch in anderen religionspolitischen Auseinandersetzungen der Zeit, etwa in der Frage des konfessionellen Religionsunterrichts, der obligatorischen Religionsprüfung bei der Zulassung zum Lehramt an höheren Schulen, oder allgemein bei der Trennung von Staat und Kirche stand Eucken gewöhnlich auf der Seite der Liberalen gegen die konservative Orthodoxie.59 Eucken selbst ließ sich allerdings nicht ohne weiteres vom liberal-protestantischen Lager als einer der ihren reklamieren. Dies macht etwa seine Haltung zum sog. Fall Jatho deutlich, einer der spektakulärsten Auseinandersetzungen im deutschen Protestantismus der Zeit der vor dem Ersten Weltkrieg. Der Kölner Stadtpfarrer Carl Jatho hatte verkündet, er erkenne die Kirche nur als Gemeindekirche an, er lehne einen außerweltlichen Gott ab und sehe in Christus nur die religiöse Idee, nicht aber die Person. Solche Positionen mochten zwar auch 57 ThULB NLRE I, 26, Bl. T 130: Johannes Tiedje an Rudolf Eucken, 20.12.1910; StAUL Hügel Papers, ms2534: Eucken an Friedrich von Hügel, 21.7.1909. 58 Der Text der Resolution ist zitiert nach: Simmel, Gesamtausgabe Band 17, S. 161f. Vgl. Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 183. 59 Vgl. zum Fall Weingart: Hübinger, Kulturprotestantismus 129f; zum Religionsunterricht: Budde, Noologische Pädagogik, S. 329–336; zur Religionsprüfung für Lehramtskandidaten: R. Eucken, Religionslehre.

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die meisten liberalen Theologen nicht gutheißen, aber die scharfe Maßregelung Jathos und seine Entlassung aus dem Kirchendienst lehnten sie entschieden ab. Im März 1911 sandte nun der Marburger Philosoph Paul Natorp Eucken eine Erklärung zugunsten Jathos und bat ihn, sie an oberster Stelle zu unterzeichnen. „Ihr Einfluß ist in der protest. Theologie so stark, daß Ihre Stimme in solcher Angelegenheit uns ganz besonders wichtig sein muß“, versicherte Natorp dem Kollegen. Die Antwort aus Jena kam postwendend: Rudolf Eucken weigerte sich rundweg, seinen Namen für die Resolution herzugeben. Natorp appellierte vergeblich an Eucken, er möge doch „mit den im letzten Kern Gleichgesinnten“ gemeinsam handeln. Es gehe schließlich um die Freiheit der deutschen evangelischen Kirche.60 Eucken wiederum begründete seine Haltung zum „Fall Jatho“ in einer 1911 erschienenen Schrift mit dem Argument, es sei kaum zu bestreiten, dass jede Kirche, die nicht zu einem Diskussionsklub über religiöse und philosophische Themata sinken will, von ihren Lehrern gewisse Grundüberzeugungen verlangen muß, … und ebensowenig, daß im vorliegenden Fall die Abweichung von der als kirchlich geltenden Überzeugung eine recht erhebliche war.

Daher sei auch die große Entrüstung über die formal kaum angreifbare Entscheidung des kirchlichen Spruchkollegiums nicht angebracht. Offensichtlich lehnte Eucken, anders als es sein Adept Kesseler annahm, keineswegs das kirchliche Dogma per se ab. Schon 1901 hatte er nämlich im Wahrheitsgehalt der Religion klargestellt, eine Religionsgemeinschaft habe ihren Angehörigen eine Durchbildung und Festlegung der religiösen Gedankenwelt zu liefern. Das Recht einer solchen Forderung werde nicht dadurch aufgehoben, dass heute weite Kreise alle kirchlichen Dogmen ablehnten. Diese Ablehnung komme nämlich vor allem daher, das die überkommenen Dogmen den heutigen Forderungen des religiösen Lebens nicht mehr entsprächen und „daher uns oft fremdartig berühren“.61 Im Wahrheitsgehalt der Religion deutete Rudolf Eucken auch bereits an, was ihn von der liberalen Theologie und dem Kulturprotestantismus trennte. Hier verkündet er apodiktisch: Die moderne Kultur „mit ihrer Weltfreudigkeit und unmittelbaren Lebensbejahung“ habe die ethischen Größen verdrängt und alle Ewigkeit an den Evolutionsgedanken preisgegeben. Sie sei daher in ihrer heutigen Fassung „mit der Religion überhaupt schlechterdings unverträglich“.

60 ThULB NLRE I, 19, Bl. N 25: Paul Natorp an Rudolf Eucken, 9.3.1911. Vgl. allgemein zum Fall Jatho: Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 188f. 61 R. Eucken, Christen, S. 233; ders, Wahrheitsgehalt, S. 346.

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Diese Kultur könne man nicht zum Maßstab der Religion machen. Und, so fügt er als sarkastischen Seitenhieb gegen allzu eifrige „Kulturprotestanten“ hinzu: Heute kann keine noch so verkehrte, noch so religionsfeindliche Bewegung aufkommen, ohne daß sich alsbald ‚freisinnige‘ Leute finden, welche als Schleppenträger der Zeit nachzuweisen bemüht sind, daß das alles sich mit der Religion und dem Christentum ausgezeichnet vertrage, ja daß es dessen wahren Sinn erst recht erschließe.62

Eucken erklärt in seinen religionsphilosophischen Schriften die Bedeutung der Religion immer auch aus ihrer Funktion, dem Menschen einen „zeitüberlegenen“ Standpunkt zu verschaffen. Eine allzu „zeitgemäße“ Religion würde demnach Gefahr laufen, diesen sicheren Standpunkt zu verlieren und dem Relativismus zu verfallen. Was er vom liberalen Kulturprotestantismus und dessen konservativen Widersachern hielt, formulierte Eucken 1909 explizit in der dritten Auflage seiner Hauptprobleme der Religionsphilosophie: Da der „neuere Protestantismus“ mehr aus der Kultur als aus der Religion erwachsen sei, komme bei ihm das eigentümliche Wesen des Christentums – „das Herbe, Irrationale, Weltverneinende“ – nicht voll zur Geltung. Das Potenzial des Christentums zur Weltüberwindung und Welterneuerung erscheine nur abgeschwächt. Es fehle dem neueren Protestantismus an metaphysischer Tiefe.63 Noch wesentlich kritischer fällt Euckens Urteil allerdings über den „älteren Protestantismus“ aus. Dessen Bestreben, die Religion von weltlichen Elementen zu reinigen, habe nämlich im Laufe der Zeit zu einer Spaltung des Daseins in Glauben und Wissen, in Religion und Kultur geführt. Daher ständen nun eine subjektive, einseitig gefühlsmäßige Religion und eine säkuläre, auf das bloß Nützliche fixierte Kultur unverbunden nebeneinander. Die Leitung des geistigen Lebens sei den orthodoxen Protestanten längst entglitten. Ihren Bedeutungsverlust versuchten sie durch einen mit staatlicher Autorität durchgesetzten Bekenntniszwang zu kompensieren. Dies sei nun aber ganz unerträglich, denn: „Wer nicht mehr die geistige Führung hat, der darf auch nicht herrschen wollen.“64 Diese explizite und (für Euckens Verhältnisse) scharfe Kritik des zeitgenössischen Protestantismus war Ausfluss eines verstärkten Bestrebens des frischgebackenen Nobelpreisträgers, die eigene religionspolitische Position klarer herauszustellen und sich einer Vereinnahmung durch eines der beiden protestantischen Lager zu entziehen. 1909 teilte er Vitalis Norström mit, die Neuauflage der Hauptprobleme der Religionsphilosophie bezwecke vor allem, seine Stel62 R. Eucken, Wahrheitsgehalt, S. 428. Vgl. auch Kesseler, Bedeutung (1912), S. 65. 63 R. Eucken, Hauptprobleme, S. 168. 64 Ebd., S. 165ff.

Können wir noch Protestanten sein?



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lung zum überlieferten orthodoxen Christentum deutlicher hervorzuheben. Er werde nämlich oft den Orthodoxen zu nahe gerückt und „als eine Art Apologet der Kirche, wie sie ist“, behandelt. Zwei Jahre später war sein Hauptadressat das kulturprotestantische Lager. Man erwarte von ihm eine Aussprache, schrieb er im April 1911 nach Göteborg, wohl mit Bezug auf seine Haltung zum „Fall Jatho“. Die „Liberalen werden unmutig, dass ich mich nicht einfach auf ihre Seite stelle, was ich doch nach meinen metaphysischen Überzeugungen nicht kann; kurz ich komme in eine schiefe Stellung, wenn ich jetzt nicht offen und deutlich spreche.“65 Eucken hatte seinem schwedischen Freund im Frühjahr 1911 ein Buch angekündigt, das am Ende des Jahres unter dem Titel Können wir noch Christen sein? erschien. Hier geht es ihm im Kern um die Frage, wie sich das Christentum in seinem Grundgehalt in der Jetztzeit behaupten könne und ob es dabei in der Lage sei, „den Wahrheitsgehalt des in den Bewegungen und Erfahrungen der letzten Jahrhunderte neu aufsteigenden Lebens in sich aufzunehmen“.66 Diesen Maßstab legt Eucken an den deutschen Protestantismus an. Zunächst konstatiert er, dass jede präzisere Fassung der Eigentümlichkeiten des älteren und des neueren Protestantismus rasch klarwerden lasse, dass beide Richtungen nicht unmittelbar in einer Kirche zusammengehen könnten. Das was sie vereine – die Schätzung der Persönlichkeit und der „Kampf gegen Rom“ – sei zu wenig, um eine religiöse Gemeinschaft hervorzubringen, die den Aufgaben der Gegenwart gewachsen wäre. Keine der beiden Richtungen sei wiederum für sich in der Lage, die gegenwärtige Krise zu überwinden. Dem älteren Protestantismus, der seine Begründung ganz und gar in der Bibel suche, habe die moderne Bibelkritik schwer zugesetzt. Auch könne man nicht mehr die Überzeugung des reformatorischen Christentums von der Verderbtheit der Welt und seine Gleichgültigkeit gegenüber der allgemeinen Kultur teilen. Dem neueren Protestantismus werde es dagegen schwer, „der Religion die notwendige Überlegenheit zu wahren, und den gewaltigen Verwicklungen der Zeit eine sichere Zentralwahrheit entgegenzusetzen“. Daher sieht Eucken auch hier keine ausreichende Basis für eine „Weltreligion, die das ganze Leben befestigen und durchdringen soll“.67 Zudem stellt Rudolf Eucken in Können wir noch Christen sein? das institutionelle Fundament des deutschen Protestantismus zur Disposition, das Landeskirchensystem. Gerade wenn schroffe religiöse Gegensätze zwischen den Gläubigen herrschten, sei ein solches System unhaltbar. Der Staat müsse dann entweder die eine Partei fördern und die andere unterdrücken, oder aber er suche 65 ThULB NLRE I, 30, Bl. 291, 357: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 23.5.1909 und 13.4.1911. 66 R. Eucken, Christen, S. 148. 67 Ebd., S. 220–223.

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einen Mittelweg und stelle damit niemanden zufrieden. Der Fall des Pfarrers Jatho habe seine Brisanz eben dadurch bekommen, dass hier jemand im Namen einer Staatskirche aus der religiösen Gemeinschaft seines Volkes ausgeschlossen und ihm seine religiöse Wirksamkeit erschwert worden sei. „Daher hätten, so lange die protestantische Kirche den Charakter einer Staats- und Landeskirche trägt, Männer freierer Denkart nun und nimmer eine derartige Einrichtung billigen dürfen.“68 Am Ende steht für Eucken die Überzeugung, dass keine Hoffnung bestehe, innerhalb der vorhandenen Kirchen „eine so gründliche Erneuerung zu erreichen, wie die Lage der Gegenwart sie fordert“. Was an die Stelle des Protestantismus und des Katholizismus treten soll, umreißt Eucken allerdings nur in vagen Umrissen. Grundsätzlich ist für ihn klar, dass eine neue „Weltreligion“ nur in den Zusammenhängen eines „weltbegründenden und welterhöhenden“ Geisteslebens zu finden sein würde. Dies wiederum führe aber „auf andere Bahnen und über die besondere Konfession hinaus.“ Ob diese neue Religion noch innerhalb des Christentums liege, hänge letztlich davon ab, was man als Kern und Wesen einer Religion verstehe: Bedeutet sie ein geschlossenes System von Lehren und Einrichtungen, so darf nur der als ihr Anhänger gelten, der dies System in seinem vollen Umfange annimmt. Diese Fassung wurde aber durch unsere ganze Untersuchung bekämpft. Hat die Religion an erster Stelle mit dem Leben zu tun, so liegt ihr unterscheidendes Wesen in der ihr eigenthümlichen Gestaltung des Lebens …

Unter dieser Voraussetzung war sich Eucken sicher, dass das, was an Neuem erforderlich sei, nicht mit der Grundwahrheit des Christentums breche, sondern sie „nur gemäß dem weltgeschichtlichen Stande des Lebens“ weiter entwickele.69

„Geistesreligion“, Judentum und Reformkatholizismus Euckens religionsphilosophische Schriften wurden nicht nur im deutschen Protestantismus rezipiert, sondern auch von nicht-protestantischen Theologen. So veröffentlichte 1912 der Karlsbader Rabbiner Ignaz Ziegler eine Abhandlung mit dem Titel Die Geistesreligion und das jüdische Religionsgesetz, die sich ausdrücklich auf das Werk Rudolf Euckens beruft. Ziegler hatte sein Manuskript offenbar ausgiebig mit Eucken besprochen. Der Jenaer Philosoph steuerte ein Geleitwort 68 Ebd., S. 232f. 69 Zitate: ebd., S. 205ff, 223.

„Geistesreligion“, Judentum und Reformkatholizismus



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bei, in dem er die Gemeinsamkeit der verschiedenen Religionen betonte, die alle um ihre Existenz kämpften und sich daher nicht als Feinde, sondern als Genossen behandeln sollten. Auch sollte das Buch des Rabbi Ziegler auf alle jene aufklärend und berichtigend wirken, „welche das Judentum trotz seines großen sittlichen Ernstes und seines inmitten tausendjähriger schwerer Bedrückungen tapfer aufrechterhaltenen freudigen Lebensmutes glauben, geringschätzig behandeln zu dürfen.“70 Als Zielgruppe seiner Abhandlung nahm Ziegler die jüdischen Intellektuellen, die „Kulturjuden“, ins Visier, diejenigen, „die nach Religion verlangen, aber eine an dem alten Gottesglauben haftende Religion mit ihrem Denken unvereinbar halten“. Er präsentierte seinen Lesern zunächst eine eigene Version des religionsphilosophischen Entwurfs Euckens, die er als „Geistesreligion“ kennzeichnete. Diese Geistesreligion entstehe aus dem Glauben an eine „im Menschen ewig fortwirkende Urkraft“. Die Gottheit sei hier rein geistig zu denken und von jedem Anthropomorphismus befreit und losgelöst. Zieglers Buch kreist um die Frage, wie das Judentum den von Rudolf Eucken aufgezeigten Weg zu einer Geistesreligion nehmen könnte. Im Mittelpunkt steht dabei die Beweisführung, dass das mosaische Religionsgesetz als Zentralcharakteristikum des Judentums kompatibel mit dieser Geistesreligion sei. Ziegler kommt schließlich zu einem positiven Ergebnis. Das jüdische Religionsgesetz dürfe aber nicht als „bindendes göttliches Gesetz, als Bedingung irgendeines materiellen Heils, sondern in seiner symbolischen Bedeutung zur sittlichen, religiösen Erziehung“ angesehen werden.71 Die Abhandlung des Rabbi Ziegler ist von einer geradezu euphorischen Verehrung für den Jenaer Philosophen durchzogen. Er halte Rudolf Eucken für einen Wiedererwecker des religiösen Sinns im 20. Jahrhundert, wie es Friedrich Schleiermacher für das vergangene Jahrhundert gewesen sei. An diese Einschätzung knüpfen sich große Erwartungen. Euckens Geistesreligion sei im Prinzip an alle historischen Religionen gerichtet. Der Protestantismus würde heute schon mit seinen besten Kräften die Geistesreligion an sich ziehen. Auch der Katholizismus könne sich dieser Entwicklung letztlich nicht verweigern. Daher müsse sich auch das Judentum je früher desto besser diesen Prinzipien öffnen.72 Die Schrift des Karlsbader Rabbiners ist, soweit sich übersehen lässt, der einzige Versuch einer Nutzbarmachung von Euckens Philosophie für die jüdi70 Ziegler, Geistesreligion, S. V. Vgl. zur Vorgeschichte des Buches: ThULB NLRE I, 27, Bl. V 138f: Verlag Veit & Comp., Leipzig, an Rudolf Eucken, 28.9.1911; StAUL Hügel Papers, ms2542: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 17.6.1911. 71 Zitate: Ziegler, Geistesreligion, S. X, 16f, 152. 72 Vgl. ebd., S. 21, 25.

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sche Theologie.73 Auch Rudolf Eucken selbst scheint sich nicht tiefer gehend mit dem jüdischen Glauben oder der jüdischen Reformbewegung beschäftigt zu haben. Wesentlich intensiver gestaltete sich dagegen die Auseinandersetzung des Jenaer Philosophen mit dem Katholizismus. Bemerkenswert zahlreich sind seine Veröffentlichungen zu Thomas von Aquin, dessen Lehren am Ausgang des 19. Jahrhunderts im „Neuthomismus“ das theoretische Fundament der kirchenamtlichen Soziallehre bildeten. Bereits in den frühen 1880er Jahren stellte Eucken diesen katholischen Leitphilosophen bzw. -theologen in einer Artikelserie den Lesern der Allgemeinen Zeitung vor. Eine überarbeitete Version dieser Artikel erschien 1885 in einem Sonderheft der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik und im folgenden Jahr als selbständige Schrift, die wiederum 1910 eine zweite Auflage erreichte. Es war daher nicht verwunderlich, dass der Leipziger Verleger Felix Meiner 1913 den Vorschlag eines katholischen Geistlichen, Thomas von Aquins Summa contra Gentilis in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen, zunächst dem „hervorragendste[n] Kenner des Thomas auf protestantischer Seite“ vorlegte: Rudolf Eucken.74 Euckens mehrfach aufgelegte Schrift zu Thomas von Aquin ist zunächst einmal eine philosophiegeschichtliche Abhandlung, in der das Werk des mittelalterlichen Kirchenlehrers seiner Bedeutung für Geistesleben der Menschheit gewürdigt und verortet wird. Die kirchenpolitische Stoßrichtung der Schrift erscheint allerdings offensichtlich. Eucken kommt nämlich zu zwei Hauptthesen, die dem Thomismus jeglichen geistigen Nutzwert für die Gegenwart absprechen. Zum ersten sei bereits Thomas’ Rückgriff auf Aristoteles innerlich unvereinbar mit dem Christentum gewesen. Zum zweiten habe sich „die Art des Geisteslebens für das Ganze der Menschheit“ seit den Zeiten des Doctor Angelicus so grundlegend verändert, dass es dem Thomismus völlig unmöglich sei, den Gehalt der modernen Kultur in sich aufzunehmen. Rudolf Eucken sprach damit der kirchenamtlichen Gesellschaftsphilosophie die geistige Existenzberechtigung ab. Entsprechend giftig fiel denn auch die Rezeption im kirchennahen Blätterwald aus, und 1887 trat eine Gegenschrift in der Publikationsreihe der Görresgesellschaft der Darstellung Euckens entgegen.75 Euckens Beurteilung des Katholizismus als „charakteristischer Religion“ fiel kaum schmeichelhafter aus als seine Analyse des Thomismus. Den Grundgehalt des Katholizismus fasst er in reduktiver Pointiertheit zusammen: Hier sei 73 Zur Rezeption Euckens in der zionistischen Bewegung siehe aber Vogt, War, S. 283f. 74 Vgl. Allgemeine Zeitung 20. - 23.9.1882, S. 3866f, 3883f, 3897ff, 3914f; Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Band 87 (Sonderheft), 1885, S. 161–214; R. Eucken, Thomas; ThULB NLRE I, 18, Bl. M 137ff: Felix Meiner an Rudolf Eucken, 16.5. und 20.5.1913 (Zitat: Bl. M 138). 75 Eucken, Thomas, S. 43. Vgl. ebd., S. 42–49.

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dem Christentum eine Welt der natürlichen Vernunft angegliedert, die in ihrem Bereich zwar eine gewisse Selbständigkeit genieße. Doch sei diese natürliche Vernunft immer dem Glauben untergeordnet und könne, wenn sie in Widerspruch zu ihm trete, nie irgendwelches Recht behaupten. Die Kirche wiederum erhebe den Anspruch, ausschließlicher Träger der Wahrheit und des moralischen Gewissens der Menschheit zu sein. In seinem Grundgehalt ist der Katholizismus für Eucken daher bereits im Mittelalter zum Abschluss gekommen. Mit seiner „strengen Bindung an die mittelalterliche Denkweise“ gerate der Katholizismus „unvermeidlich in einen immer schrofferen Gegensatz zu den Bewegungen der Zeit und den Bedürfnissen des modernen Menschen, ja zu den inneren Notwendigkeiten des Geisteslebens“.76 In gewisser Hinsicht brachte Rudolf Eucken dieser konsequenten Verweigerung gegenüber der Moderne sogar einige Wertschätzung entgegen. Der Katholizismus kam seiner Vision einer ganzheitlichen Lebensordnung, die alle Bereiche des menschlichen Daseins umfasste, wesentlich näher als der Protestantismus. Die Religion und ihre Anforderungen, Regeln, Praktiken und Wertnormen durchdrangen den lebensweltlichen Alltag und das kulturelle Leben der Katholiken in viel stärkerem Maße als bei den meisten Protestanten. Im Rückblick der 1920er Jahre schreibt Eucken, „alle Festigkeit meiner freien protestantischen Denkweise“ habe ihn nicht daran gehindert, aufrichtige Hochachtung für das Streben der katholischen Kirche zu empfinden, „das Ganze voranzustellen, sowie Kultur wie Religion enger miteinander zu verbinden.“77 Letztlich schien ihm aber der Katholizismus mit seiner geistigen Enge, seiner rigiden kirchlichen Dogmatik, seiner autoritären Bevormundung des geistigen Lebens und seinen magischen Praktiken noch einen besonders weiten Weg zu einer „Geistesreligion“ zurückzulegen zu haben. Umso aufmerksamer beobachtete Rudolf Eucken die Anzeichen für ein Erstarken reformerischer Strömungen, vor allem im französischen Katholizismus. In seinem „Hausblatt“, der Allgemeinen Zeitung, referierte er Anfang 1902 in ausführlicher Weise den Text einer Rede, die der Erzbischof von Albi gerade in Toulouse gehalten hatte. In dieser Rede unterschied der hohe katholische Würdenträger zwischen der religiösen Grundwahrheit des Katholizismus einerseits und der wissenschaftlichen und philosophischen Darstellung dieser Wahrheit andererseits. Eucken zufolge machte es diese Scheidung möglich, „innerhalb einer als ewig und unwandelbar ergriffenen Wahrheit eine fortschreitende Bewegung mit verschiedenen Stufen anzuerkennen“. Der Erzbischof habe damit ein 76 R. Eucken, Strömungen (1909), S. 320; vgl. ders., Hauptprobleme, S. 162f; ders., Christen, S. 213ff. 77 R. Eucken, Epilog, S. 123; vgl. ders., Hauptprobleme, S. 163.

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„wissenschaftliches Programm des modernen Katholizismus“ entworfen. Wenn dabei auch die grundlegenden Dogmen der Papstkirche ihre Geltung behielten, so trete doch hier ein anderer Katholizismus zutage, „als wir ihn durchschnittlich vorzufinden pflegen“. Es sei dies ein Katholizismus, der Kraft und Mut genug habe, den Wahrheitsgehalt des modernen Geisteslebens in sich aufzunehmen und sich seiner zu freuen. Der Philosoph setzte die Rede des französischen Erzbischofs in den Zusammenhang mit den Bestrebungen „hervorragender Geister und tiefer Seelen“, den Katholizismus in eine freundliche Beziehung zur Neuzeit zu setzen, alle wertvollen Errungenschaften des geistigen Lebens in ihn aufzunehmen und ihm damit erst eine „geistige Katholizität“ im ursprünglichen Wortsinne zu erringen.78 Diese Bestrebungen hatte Rudolf Eucken aus der Nähe verfolgen können, seit er 1896 mit dem Londoner Privatgelehrten Friedrich von Hügel in Kontakt getreten war. Der weltläufige Baron Hügel, 1852 als Sohn eines Diplomaten in österreichischen Diensten in Florenz geboren, war so etwas wie der Knotenpunkt eines internationalen Netzwerkes reformkatholischer – „modernistischer“ – Theologen. Zunächst hatten er und Eucken schriftlich korrespondiert, aber bald lernten sie sich auch persönlich kennen. Im Mai 1898 kam der Baron auf einer seiner zahlreichen Reisen durch Europa nach Jena. In der folgenden knappen Woche saßen die beiden Männer Tag für Tag zu ausgiebigen philosophischen Diskussionen zusammen. Eucken nahm seinen Gast zu einer Sitzung der Philosophischen Gesellschaft mit und Hügel hörte eine Vorlesung des Philosophen über „Bewegung und Ruhe“. Im März 1901 traf Julius Goldstein den Privatgelehrten und einen seiner Mitstreiter, Wilfried Ward, in London zum Lunch. Euckens jüdischer Schüler erfuhr hier Dinge, die ihn in Erstaunen setzten: Ward, Hügel und „ein paar französ.+ italienische Jesuiten“ hielten es für notwendig und möglich, den Katholizismus – „ganz auf der Höhe der Zeit“ – mit wissenschaftlicher Bibelkritik und moderner Geschichtsauffassung zu durchsetzen. Hügel habe die Ansicht geäußert, die moderne Wissenschaft sei für die Religion das Gleiche, was der Pantheismus der Mystiker im Mittelalter für sie war: ein notwendiges Mittel, um sie vor dem Einschlafen zu bewahren.79 Im folgenden Jahr war Friedrich von Hügel wieder in Jena. Diesmal stellte ihm der Professor einen hoffnungsvollen katholischen Schüler vor: Max Scheler. Schon 1900 hatte Eucken Schelers gerade erschienene Habilitationsschrift nach London gesandt. Nun traf man sich bei Familie Scheler zum Tee, redete und ging spazieren. In den nächsten Tagen folgten die philosophischen 78 R. Eucken, Programm, S. 337ff. 79 LBI: Goldstein Collection I/26, Tagebuch Julius Goldstein 1900/1901: 25. März 1901. Vgl. ebd. 1898/99: Mai 1898; Neuner, Streit, S. 75; ders., Religion, S. 35; Kelly, Philosophy, S. 73.

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Debatten, dieses Mal zu dritt. Ein Gegenbesuch Euckens in London fand allerdings erst 1911 statt. Der Philosoph war mit Frau und Tochter angereist. Den ersten Nachmittag verbrachten die Freunde im Albert Museum und im Britischen Museum. Abends gab Hügel eine Dinner Party zu Ehren seiner deutschen Gäste. Das Ehepaar Eucken verabschiedete sich bereits am nächsten Tag. Tochter Ida, die in London ihre Gesangsausbildung fortführen wollte, blieb noch einige Wochen im Hause des Barons. Im folgenden Jahr war auch Walter Eucken während eines Englandaufenthaltes mehrere Male im Hause Hügel zu Gast.80 Über weite Strecken gestaltete sich die Beziehung der beiden Männer als Brief-Freundschaft, ähnlich wie die zwischen Rudolf Eucken und Vitalis Norström. Auch hier war der Austausch nicht ganz gleichgewichtig, denn wie der Göteborger Professor nahm auch der Londoner Privatgelehrte gegenüber Eucken eher die Rolle des Adepten und Bewunderers ein. Von Anfang an schien Friedrich von Hügel brennend an Euckens religionsphilosophischem System interessiert zu sein. Ende 1897 schrieb er aus Rom, er denke viel und oft an „Ihre kommende Religionsphilosophie“. Er überlege sich bereits, wie er dieser „Krone Ihres Strebens“ in England durch strategisch platzierte Besprechungen und eine Übersetzung ins Englische den Weg bahnen könnte. Einen Teil der Druckfahnen des Wahrheitsgehalts las der Baron Korrektur. Eine englische Ausgabe erschien allerdings erst 1912.81 Hügels eigene Forschungen konzentrierten sich auf eine spätmittelalterliche katholische Mystikerin und Heilige, an deren Leben und Wirken er in seinem 1908 erschienenen zweibändigen Hauptwerk The Mystical Element of Religion as Studied in Saint Catherine of Genoa and her Friends eine geschlossene Religionsphilosophie entfaltet. Hier entwickelt er das eigentümliche Verständnis von Mystik, das Julius Goldstein bei seinem Besuch 1901 so verblüfft hatte. Hügel versteht nämlich unter Mystik eine Form der Religion, die auf die Person und ihre Verwirklichung ausgerichtet ist. Der Mystiker dringe in die Tiefe vor und könne so überall in unserer Welt Wahrheit und Geist finden. In Hügels religionsphilosophischem Entwurf figuriert das Mystische als eines von drei konstitutiven Elementen der Religion, die gewöhnlich in Spannung zueinander stehen. Das zweite Element einer Religion ist demnach das historisch-institutionel80 Vgl. Kelly, Philosophy, S. 80, 103; ThULB NLRE I, 12, Bl. H 606: Friedrich von Hügel an Rudolf Eucken, 30.12.1900; ebd. 30, Bl. 362: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 18.6.1911; ebd. V, 11, Bl. 295: Walter Eucken an Athenäa Passow, 14.11.1912; Kelly (Hg.), Letters 131: Friedrich von Hügel an Maude Petre, 18.5.1911; StAUL Hügel Papers, ms2536. ms2542f: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 21.5., 17.6. und 23.7.1911. 81 ThULB NLRE I, 12, Bl. H 594f: Friedrich von Hügel an Rudolf Eucken, 1.12.1897; vgl. StAUL Hügel Papers, ms2501: Eucken an Hügel, 30.3.1900; Neuner, Religion, S. 35; Kelly, Philosophy, S. 76; Graf (Hg.), Tyrrell, S. 231.

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le – sprich: die Kirche –; die Theologie repräsentiert das dritte, das wissenschaftlich-lehrmäßige Element.82 Friedrich von Hügels religionsphilosophisches Werk beschäftigt sich vor allem mit der Beziehung zwischen der Mystik und der Kirche. Er bedient sich hier bei Euckens analytischer Unterscheidung von universaler und charakteristischer Religion. Das Spannungsverhältnis dieser beiden Grundelemente konstituiert sich dadurch, dass einerseits die Kirche die religiöse Wirklichkeit der Transzendenz Gottes und der Heilsgeschichte zu gewährleisten habe. Auf der anderen Seite verheiße aber die Mystik ein unmittelbares Erleben, eine Begegnung mit Gott, und damit einen Glauben aus eigener, nicht durch die kirchliche Autorität vermittelter Gewissheit. Die Aufgabe der Theologie sei es wiederum, sowohl die religiöse Erfahrung als auch die kirchliche Lehre von menschlichen Wunschvorstellungen und Projektionen zu reinigen. Nur eine Religion, die die Spannung zwischen ihren gegensätzlichen Elementen aushalte und fruchtbringend nutze, könne auch in der Moderne gedeihen. Rudolf Eucken bedachte das Opus Magnum seines Freundes mit einer ausführlichen Besprechung in der auflagenstarken Deutschen Rundschau.83 Der weitläufig vernetzte Londoner Privatgelehrte machte seine katholischen Freunde und Kollegen mit den Lehren des protestantischen Philosophen bekannt. Auf der anderen Seite vermittelte der Baron Eucken eine intime Kenntnis der internationalen reformkatholischen Bewegung. Der Jenaer Ordinarius nutzte dieses Insiderwissen, um den modernistischen Bestrebungen Resonanz außerhalb der katholischen Diskurskreise zu verschaffen und auch im protestantischen Lager um Verständnis zu werben. „Wer die Sache vom engkonfessionellprotestantischen Parteistandpunkt ansieht“, schrieb er etwa in dem Artikel über die Rede des Erzbischofs von Albi 1902, könne sich womöglich eines Missbehagens nicht erwehren. Mache doch die Reformbewegung den Katholizismus leistungsfähiger im „Wettbewerb um die Geister“. Von einem umfassenderen Standpunkt betrachtet, könne man sich jedoch über diese Bewegung nur freuen und müsse ihr warme Sympathie entgegen bringen. Dass Eucken die Rede eines in Deutschland kaum bekannten Geistlichen als signifikante programmatische Äußerung der katholischen Reformbewegung aufgriff, wird wohl nicht ohne einen Fingerzeig seines Londoner Freundes geschehen sein. Bei dem Erzbischof

82 Vgl. Neuner, Streit, S. 76–80; ders., Religion, S. 36f; Arnold, Geschichte, S. 84. 83 Vgl. Neuner, Streit, S. 80–83; Arnold, Geschichte, S. 84f; Kelly, Philosophy, S. 184f; Neuner, Erfahrung, S. 133, 182f, 325f. Eine ausführliche Auseinandersetzung Hügels mit der Religionsphilosophie Euckens ist dokumentiert in einem Brief an die Theologin Maude Petre vom 26.9.1900, (in: Kelly (Hg.), Letters, S. 8–14). Euckens Rezension in: Deutsche Rundschau 142, 1910, S. 165–170.

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von Albi handelte es sich um Eudoxe-Irénée Mignot, einem langjährigen Mitstreiter Friedrich von Hügels.84 Ähnliches gilt wohl auch für Maurice Blondel, Professor für Philosophie in Aix-en-Provence, und dessen Schüler Lucien Laberthonnière, über deren Rolle in der katholischen Reformbewegung Eucken bereits 1897 in der Allgemeinen Zeitung berichtet hatte. Blondels méthode d’immanence, so schreibt er hier, wolle „das Geistesleben rein bei sich selbst richten, unsre Ideen als Stücke eines immanenten Lebensprocesses verstehen“. Dazu müsse aber die Methode über die bloß menschliche Natur hinausweisen, um die inneren Schranken aller reflektierenden Erkenntnis zum Bewusstsein zu bringen. „Ist aber die menschliche Handlung zugleich unsre That und die That Gottes, so muß sie in sich selbst ein übernatürliches Element enthalten, so muß dies Uebernatürliche die Seele immer zu sich hinziehen, so kann der Mensch nicht ruhen und rasten, bis er diesen inneren Kern seines eigenen Wesens ergriffen, sich selbst damit errungen hat.“ In Euckens Darstellung rücken hier die Positionen der französischen Modernisten ganz nahe an die eigenen Konzepte von „Geistesleben“ und „Tatwelt“.85 Einer der engsten Vertrauten des Barons, der irische Jesuit George Tyrrell, nahm sogar direkten Kontakt mit Eucken auf. Tyrrell stammte aus einem anglikanischen Elternhaus, konvertierte als junger Mann zum Katholizismus und wurde mit 30 Jahren zum Priester geweiht. Eine Zeitlang lehrte er am Jesuitenkolleg in Stonyhurst Philosophie. Wegen seiner unkonventionellen Lesart des Thomismus erschien Tyrrell aber seinen Vorgesetzten und Mitdozenten dort bald nicht mehr tragbar. Mitte der 1890er Jahre wurde er in die Londoner Niederlassung des Ordens versetzt, um an einer jesuitischen Zeitschrift mitzuarbeiten. Hier im exklusiven Stadtteil Mayfair lernte Tyrrell den Baron von Hügel kennen, der ihn mit den neuesten religionsphilosophischen Arbeiten vom Kontinent bekannt machte, mit Blondel, Laberthonnière und – mit Rudolf Eucken. Es seien seine Schriften gewesen, teilte George Tyrrell dem Jenaer Philosophen 1902 mit, die ihn veranlasst hätten, es auf sich zu nehmen, „to master the somewhat discouraging difficulties of German.“86

84 R. Eucken, Programm, S. 339. Vgl. StAUL Hügel Papers, ms2476: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 22.2.[1902]. 85 R. Eucken, Religionsphilosophische Bewegungen, S. 2. Vgl. StAUL Hügel Papers, ms2491, ms 2494: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 15.10.1896 und 7.2.1898; Kelly, Philosophy, S. 64–65, 68-71; Neuner, Streit, S. 53ff; Arnold, Geschichte, S. 58. 86 ThULB NLRE I, 26, Bl. T 183: George Tyrrell an Rudolf Eucken, 4.9.1902. Vgl. Arnold, Geschichte, S. 70f; Weiß, Modernismus, S. 87ff; Graf (Hg.), Tyrrell, S. 235f, Brüngel, Religionsphilosophie, S. 10; Neuner, Erfahrung, S. 54.

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Der Einfluss Hügels und die Rezeption der Schriften Blondels, Laberthonnières und Euckens brachten den irischen Jesuiten bald zu Positionen, die geeignet waren, ihm gehörigen Ärger mit der Amtskirche einzutragen. Tyrrell verkündete nun, Repräsentanten der christlichen Botschaft seien nicht das kirchliche Lehramt und die Hierarchie, sondern die Heiligen und Mystiker (im Sinne Hügels). Durch eine intellektualisierte Verkündigung und Dogmatisierung der Glaubenswahrheiten sei die religiöse Unmittelbarkeit verloren gegangen. An Rudolf Eucken schrieb er 1902: It seems clearer to me every day that this ‚intellectualism‘ is the worst of all our religious divisions; and that we shall never find a unity of understanding as long as we seek it apart from a unity of the whole spirit.87

Dieser Meinung konnte sich Eucken sicherlich mit ganzem Herzen anschließen, hätte sie doch Wort für Wort von ihm selbst stammen können. Weniger Verständnis fand George Tyrrell bei seinen Vorgesetzten. In einem Brief von 1906 schilderte er Eucken ausführlich die näheren Umstände seines Ausschlusses aus der Societas Jesu.88 Auch in Italien wurden reformkatholische Kreise auf die religionsphilosophischen Schriften des protestantischen Professors aus Jena aufmerksam. Im November 1906 erhielt Eucken einen Brief von Alessandro Casati aus Monza. Casati berief sich auf den Besuch eines Freundes, des Paters Brizio Casciola, in Jena im August des Jahres. Seitdem sei Don Brizio zum „Dolmetscher für die Bewunderung geworden, die einige junge Italiener in jüngster Zeit für Sie hegen“. Man plane nun die Gründung einer „Revue für ethische und religiöse Studien“, die „Alles, was geistig bedeutend“ sei in Europa, aufnehmen solle. Die Initiatoren dieses Unternehmens hätten den Wunsch geäußert, Eucken „gleichsam zum Schutzgeiste zu haben“. Ob er denn wohl mit dem Abdruck italienischer Übersetzungen seiner Schriften einverstanden wäre und selbst Artikel zu dieser neuen Zeitschrift beitragen würde? Casciola, ein römischer Armenseelsorger, war eine bedeutsame Figur im reformkatholischen Netzwerk Friedrich von Hügels. Die Initiatoren der Zeitschrift bestanden aus Vertrauensleuten des Barons.89

87 ThULB NLRE I, 26, Bl. T 184: George Tyrrell an Rudolf Eucken, 4.9.1902. Der Brief ist ediert in: Graf (Hg.), Tyrrell, S. 243. 88 ThULB NLRE I, 26, Bl. T 187: George Tyrrell an Rudolf Eucken, 29.3.1906. Der Brief ist ediert in: Graf (Hg.), Tyrrell, S. 244ff. Vgl. Arnold, Geschichte, S. 70f; Neuner, Streit, S. 87. 89 ThULB NLRE I, 3, Bl. C 54f: Alessandro Casati an Rudolf Eucken, 24.11.1906. Vgl. StAUL Hügel Papers, ms2522: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 17.12.1906; Arnold, Geschichte, S. 85; Kelly (Hg.), Letters, S. XXV.

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Die neue Zeitschrift, die Anfang 1907 erstmals erschien, trug den Namen Il Rinnovamento. Hinter ihr standen, wie Eucken seinem Freund Norström anvertraute, „namentlich junge Patricier“, „die weder ultramontan noch positivistisch sind.“ Der Jenaer Philosoph rührte in den nächsten Monaten eifrig die Werbetrommel für die italienische Zeitschrift. Der katholische Modernismus und der eigene Neuidealismus waren für ihn offenbar im intellektuellen Profil des in Mailand erscheinenden Blattes weitgehend zur Deckung gekommen. Il Rinnovamento trage „unsere Ideen“ in Kreise, die sonst wenig davon berührt würden, schrieb Eucken im April 1907 nach Göteborg. Im Juni stellte er Il Rinnovamento in der renommierten Frankfurter Zeitung dem gebildeten Deutschland vor. Vitalis Norström drängte er nachdrücklich, für die Zeitschrift zu schreiben. Eucken selbst steuerte Auszüge aus aktuellen Werken und einen Vorlesungstext bei, die von einem der Redakteure, dem Grafen Stefano Jacini, ins Italienische übertragen worden waren. Im Sommer 1907 kam Jacini nach Jena. Der junge Graf habe ihm ganz außerordentlich gefallen, schrieb Eucken an Norström, „und ich glaube, dass man von ihm bei glücklicher Weiterentwicklung hervorragende Leistungen erwarten darf.“ Im September reiste der Philosoph zum Comer See, um dort Casati und Jacini zu treffen. Il Rinnovamento hatte nun 1200 bis 1300 Abonnenten in ganz Europa.90 Ein regelmäßiger Mitarbeiter der italienischen Zeitschrift war der Krakauer Philosophieprofessor Marian Zdziechowski. 1905 hatte Rudolf Eucken eine kleine Schrift des Polen zur Charakteristik der modernen Strömungen im Katholizismus in der Allgemeinen Zeitung besprochen. Ihren Autor stellte er als neuen Vorkämpfer des liberalen Katholizismus vor. Wie sein Artikel über Maurice Blondel liest sich auch diese Darstellung, als ob Eucken aus eigenen Werken referiere. Den Ausdruck „liberal“ wollte er als Charakteristikum des modernistischen Katholizismus nicht im landläufigen Sinne verstanden wissen. Es gehe dabei durchaus nicht um eine verstandesmäßige Aufklärung oder um eine Kapitulation der Religion vor den intellektuellen Strömungen der Zeit. Im Gegenteil, Zdziechowski mache vielmehr der Apologetik einen zu starken Rationalismus und Optimismus zum Vorwurf. Ihn habe der Eindruck „von der Unvernunft der uns umfangenden Welt, von den Widersprüchen des menschlichen Daseins, von dem weiten Abstande zwischen Ideal und Wirklichkeit“ zur Religion getrieben. Hier suche er Halt im Aufbau eines Reiches tätiger Liebe. Zdziechowski gehöre in die Reihe der Männer, 90 Zitate: ThULB NLRE I, 30, Bl. 180f: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 14.4.1907; ebd. Bl. 193: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 8.9.1907. Vgl. ebd. Bl. 176f, 182, 185, 195: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 5.3., 23.4., 16.6., 2.10.1907. Euckens Beiträge für Il Rinnovamento sind aufgeführt in: R. Eucken, Gesammelte Werke, Band 13, S. 110ff.

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welche auch im Katholizismus vom Gemüt und der Moral her nach einer Verinnerlichung des Lebens drängen; dies eben ist ja bezeichnend für die neueren Bestrebungen, daß sie vom Ganzen des Lebens her und im eigenen Interesse der Religion, nicht die Religion fremden Maßstäben unterwerfen und ihr vom Verstande ihren Inhalt zuweisen lassen.91

Einige Jahre zuvor hatte Marian Zdziechowski Euckens Wahrheitsgehalt der Religion dem polnischen Publikum mit einer Vorlesung, die später als Aufsatz veröffentlicht wurde, nahe gebracht. 1906 bekannte er sich in einem Brief an den Jenaer Philosophen als dessen treuer Anfänger. Euckens Philosophie sei der mächtigste Ausdruck „für den Aufruhr des Menschen, der in sich das Bild Gottes trägt“. Die neuzeitlichen philosophischen Systeme hätten Gott „im Universum ertränkt“ und ihm den Menschen gegenüber gestellt, der an Gott irregeworden ist. Diese Philosophie sei nun mit Nietzsche an ihre letzten Grenzen gelangt. Euckens Lehre stelle eine Wendung in der Geistesgeschichte dar, sei sie doch Ausdruck einer religiösen Reaktion, „die schließlich den Kult des incarnierten Wortes herbeiführen muß“. Der Krakauer Professor kündigte an, er werde in seiner Vorlesung im Sommersemester Euckens Einheit des Geisteslebens und den Kampf um einen geistigen Lebensinhalt ausführlich behandeln.92 Die Bestrebungen, den Katholizismus auf die geistige Höhe der Zeit zu heben, verfolgte Rudolf Eucken auch in Deutschland und er stand in freundlichem Kontakt mit einigen katholischen Theologen und Philosophen. Bereits Anfang der 1890er Jahre korrespondierte er intensiv mit dem Theologen Jakob Frohschammer, der einen philosophischen Lehrstuhl an der Münchner Ludwig-Maximilians Universität innehatte. Frohschammer war schon in den 1850er Jahren mit der Amtskirche in Konflikt geraten, seine Schriften standen fortan auf dem Index der verbotenen Bücher. Er hatte 1889 eine Arbeit über Thomas von Aquin veröffentlicht. Eucken besprach das Buch und schickte die Sonderdrucke seiner Rezension an befreundete Gelehrte. Leider, so teilte er Frohschammer mit, fehle es aber an „freisinnigen Kennern des Thomas“. Er hoffe jedoch, einige seiner Studenten für Doktorarbeiten über Thomas von Aquin zu gewinnen. „Wir Idealisten“, so umriss Eucken die Gemeinsamkeiten zwischen ihm und dem katholischen Professor, würden „uns einerseits des Ultramontanismus und des Buchstabenglaubens, andererseits des Materialismus und der spezialistischen Zersplitterung zu erwehren“ haben.93 91 R. Eucken, Vorkämpfer, S. 601. 92 ThULB NLRE I, 28, Bl. Z 20f: Marian Zdziechowski an Rudolf Eucken, 1.4.1906. Vgl. StAUL Hügel Papers, ms2480: Eucken an Friedrich von Hügel, 10.8.[1903]. 93 UBM NL Frohschammer: 4° Cod. ms. 917m 86, Eucken: Rudolf Eucken an Jakob Frohschammer, 29.5.1890 und 16.11.1892. Vgl. ebd.: Eucken an Frohschammer, 29.12.1890, 4.2. und 9.7.1892. Vgl. Selow, Frohschammer.

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Gut ein Jahrzehnt später ergriff Rudolf Eucken in einem Artikel in der Allgemeinen Zeitung das Wort für die Freiheit der Forschung an den katholischen theologischen Fakultäten der deutschen Universitäten. Unmittelbarer Anlass war der Tod des Freiburger Theologen Franz Xaver Kraus. Als Professor für Kunstgeschichte und Kirchengeschichte in Straßburg und Freiburg hatte Kraus zeitweise schwere Konflikte mit der Amtskirche auskämpfen müssen. In den Jahren vor seinem Tod 1901 hatte er in einer eigenen Kolumne in der Allgemeinen Zeitung unter einem Pseudonym regelmäßig die kirchlichen Zustände kritisch bis sarkastisch beleuchtet. Eucken hob in seinem Nachruf besonders Kraus’ Mut hervor, die Schäden in der katholischen Kirche rücksichtslos aufzudecken und gegen das „Ultramontane“ – den politischen Katholizismus – Front zu machen, „soweit es ihm gleichbedeutend mit vaterlandslos, selbstsüchtig und beschränkt erschien“. Bei seinen protestantischen Lesern warb Eucken um Verständnis für die Lage und das Verhalten der katholischen Intellektuellen. Kraus sei in der nichtkatholischen Presse wegen seiner Weigerung, die katholische Kirche zu verlassen, immer wieder als schwankende Gestalt dargestellt worden. Es habe jedoch nicht im Charakter eines Franz Xaver Kraus gelegen, „ein Stück jenes Glaubens in einer schwachen Stunde preiszugeben, um dafür den Beifall Andersgläubiger zu ernten“. Dieses unerschütterliche Festhalten an den Disziplinen der Kirche und ihrem Kultus erscheine „Fernerstehenden“ oft als unwürdige Heuchelei. Doch solle man nicht die „gewaltige Macht des frommen Mutterglaubens“ unterschätzen. Dem kirchlichen Glauben treu zu bleiben, dabei aber das freie Forschen allen Widerständen zum Trotz nicht aufzugeben – diese Haltung der katholischen Kollegen nötigte dem Jenaer Ordinarius großen Respekt ab.94 Dass Euckens Religionsphilosophie nach der Jahrhundertwende auch im deutschen Katholizismus rezipiert wurde, darüber gibt eine Korrespondenz mit dem Trierer Theologen Matthias Laros 1905/06 Auskunft. Der größte Genuss bei der Lektüre von Werken wie dem Wahrheitsgehalt der Religion, teilte Laros dem Philosophen mit, bereite ihm Euckens Vorliebe, den logischen aprioristischen Deduktionen das innere und äußere Erleben einer Wahrheit entgegenzuhalten. Den größten Raum in den langen Briefen des Trierer Priesters nahmen die Verständnisfragen ein, mit denen er offensichtlich versuchte, Euckens Lehren und Einsichten auf ihre Kompatibilität mit dem katholischen Glauben abzuklopfen. In seinem ersten Brief kam es ihm anscheinend vor allem darauf an, eine Antwort auf die Frage zu erhalten: „Giebt es ein großes obj. Etwas hinter all dem Schein, oder ist alles nur subjektiv?“. Ganz befriedigend scheint Euckens Antwort nicht gewesen zu sein, denn Laros legte ihm die Frage einige Monate spä94 R. Eucken, Freiheit, S. 81f. Zu Kraus vgl. Neuner, Streit, S. 44; Arnold, Geschichte, S. 28.

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ter in einer etwas anderen Formulierung noch einmal vor: „Giebt es hinter all dem subjektivem Fürwahrhalten ein großes Objekt, von dem jenes nur ein schwacher Schein, ein Ringen um die Aneignung ist?“. Dieses Mal bekam Laros wohl eine positive Antwort, denn er präsentierte Eucken nun eine theologisch spezifischere – wie er es selbst nannte – „peinliche“ Frage: „Ist das absolute Wesen, das mit seiner unendlichen Lebensfülle das All durchdringt, ein selbständiges, selbstbewußtes, persönliches Wesen in u. über der Welt?“.95 Im gleichen Brief erklärte der katholische Theologe seinem protestantischen Adressaten, es werde wohl nicht möglich sein, „in den uns zu Gebote stehenden Organen von kathol. Standpunkte eine umfassende Stellungnahme zu Ihren Leistungen zu geben“. In diesem Falle würde zudem auch die Kritik „vor der Hand die Hauptsache sein müssen“. Im Klartext hieß das wohl, dass sich Euckens religionsphilosophische Positionen nicht gefahrlos ins Katholische übersetzen ließen. Gleichzeitig versicherte Laros dem Philosophen aber, dieser habe auch im „schwarzen Trier“ eine große Zahl aufrichtiger Verehrer. Man lese und diskutiere seine Werke in ungezwungenen Zusammenkünften. Im Stillen hielten er und seine Freunde Rudolf Eucken „für einen von uns“.96 In den Kreisen des katholischen Modernismus fiel das religionsphilosophische Werk des Jenaer Ordinarius offenbar auf besonders fruchtbaren Boden. Auch auf Eucken selbst übte der Modernismus eine gewisse Faszination aus. Die Ziele der Bewegung deckten sich, zumindest in seiner Wahrnehmung, in vielem mit dem eigenen Reformprogramm: Es galt, die Religion von ihrem vormodernen Ballast zu befreien, ohne dabei ihre Verankerung im Transzendenten, ihre Spiritualität, den „frommen Mutterglauben“ aufzugeben. Die amour fou des protestantischen Professors mit dem Katholizismus fand nach 1907 allerdings ein ziemlich jähes Ende. Im Dekret Lamentabili im Juli dieses Jahres und in der erläuternden Enzyklika Pascendi dominici gregis zwei Monate später verurteilte Papst Pius X. den Modernismus in scharfer Form. Die Kurie stellte hier eine lange Liste von Verboten und Regeln auf. Vor allem die historisch-kritische Bibelexegese und die Kirchengeschichtsforschung wurde bis ins Detail dogmatischen Vorgaben unterworfen. Zunächst hoffte Eucken wohl, man könnte sich pragmatisch mit den Dekreten des Papstes arrangieren. Ende 1907 teilte er Norström mit, „Unser Rinnovamento“ werde sich halten, aber künftig nur alle zwei Monate erscheinen. Man lasse die Polemik sehr zurücktreten, halte aber an den positiven Zielen desto entschiedener fest. Dabei war die 95 ThULB NLRE I, 17, Bl. L 51, 55, 59: Matthias Laros an Rudolf Eucken, 11.2., 31.7. und 30.12.1905. 96 ThULB NLRE I, 17, Bl. L 58: Matthias Laros an Rudolf Eucken, 30.12.1905. Zu weiteren Kontakten Euckens mit deutschen Reformkatholiken vgl. Graf (Hg.), Tyrrell, S. 232.

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Amtskirche massiv gegen die Zeitschrift vorgegangen. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung der Enzyklika exkommunizierte der Erzbischof von Mailand sämtliche Autoren, Verkäufer, Käufer und Leser des Rinnovamento. „Es war Gefahr, dass das Ganze ins Stocken kam“, schrieb Eucken im Dezember 1907 nach Schweden, „und ich selbst habe energisch dazu mitgewirkt, ein tapferes Aufrechterhalten zu empfehlen.“97 Etwa zur gleichen Zeit erhielt Eucken eine vertrauliche Anfrage von der offiziösen Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, ob er zu einer Artikelserie zur Modernisten-Enzyklika beitragen würde. Der „geistige Vater“ der Zeitschrift, der ehemalige preußische Kultusminister Althoff, hege den Wunsch, dass die führenden Geister der beiden Konfessionen sich in dieser Frage zu Wort meldeten. In Berlin hoffte man, die Folgen der Enzyklika vor allem für die katholisch-theologischen Fakultäten zumindest abmildern zu können. Eine konsequente Umsetzung der beiden päpstlichen Lehrschreiben hätte die vom Staat garantierte Forschungsfreiheit völlig außer Kraft gesetzt. Vier katholische und vier evangelische Theologen sowie die Philosophen Friedrich Paulsen und Rudolf Eucken beteiligten sich an der Artikelserie der Internationalen Wochenschrift zwischen Mitte Dezember 1907 und Ende Februar 1908.98 Eucken versucht in seinem Beitrag – neben einer ausführlichen Detailkritik der Enzyklika –, das Anliegen seiner katholischen Freunde verständlich zu machen und zu rechtfertigen. Der Modernismus wolle nicht weniger sondern mehr Religion; „er will eine jedem Einzelnen seelisch nähere, eine das ganze Wesen durchdringende und zur Tätigkeit antreibende, er will eine mehr persönliche und mehr aktive Religion.“ Die Modernisten seien der Überzeugung, dass seit dem Mittelalter im Grundbestand des Lebens Verschiebungen statt gefunden hätten, die ohne schweren Schaden nicht zu ignorieren seien. Nichts desto weniger hielten die Modernisten mit ganzer Seele an ihrer Kirche fest. Der in sehr moderatem Ton verfasste Artikel äußert auch Verständnis für die Befürchtungen der kirchlichen Autorität, das Neue könne Erzeugnis eines schrankenlosen Subjektivismus und Relativismus, „eine Verflüchtigung der Wahrheit“ sein. Am Schluss ermahnt Eucken seine Leser, keinen Augenblick zu vergessen, dass eine Kirche etwas anderes sei als eine philosophische Lehre. Die Rückständigkeit ihres dogmatischen Lehrsystems hebe nicht die gewaltige geistige und moralische Macht der katholischen Kirche auf. 99 97 ThULB NLRE I, 30, Bl. 211: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 12.12.1907. Vgl. allgemein: Arnold, Geschichte, S. 90, 106f; Neuner, Erfahrung, S. 66. 98 ThULB NLRE I, 12, Bl. I 85: Internationale Wochenschrift an Rudolf Eucken, 28.11.1907. Vgl. Nottmeier, Harnack, S. 323f. 99 R. Eucken, Enzyklika, Sp. 98ff, 108f.

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Im eigenen protestantisch-akademischen Umkreis stieß Euckens Artikel wohl eher auf Befremden. Der Erfurter Kirchenhistoriker Richard Bärwinkel, dem der Jenaer Ordinarius einen Sonderdruck des Aufsatzes hatte zukommen lassen, antwortete mit einem gewissen Sarkasmus: Eucken spreche ein sehr maßvolles Urteil über „diese zur Ertödtung des Wahrheitssinnes vom Papst erlaßene Kundgebung“ und suche „in liebevoller Teilnahme die Motive desselben aufzudecken“. Doch nütze hier Milde nichts. Die katholisch-theologischen Fakultäten sollten aufgehoben werden; nur das würde Eindruck machen. Noch ungnädiger fiel das Urteil des Jenaer Kollegen Cartellieri aus. Eine Reform der Kurie sei ausgeschlossen, hielt der Historiker am 1. März 1908 in seinem Tagebuch fest, „und die weiche Art Euckens, diese Dinge aufzufassen, genügt geschichtlich geschulten Ansprüchen nicht.“ Auch Euckens Vorträge zum katholischen Modernismus fielen im protestantischen Jena wohl auf ziemlich steinigen Boden. „Unser Eucken hier“, ist in einem Eintrag des Cartellieri-Tagebuchs ein knappes Jahr später zu lesen, hielt vor Monaten einen Vortrag über den Modernismus, in seiner bekannten, verschwommenen Weise. Nachdem er geschildert hatte, was für vortreffliche Menschen die ihm persönlich vielfach bekannten Modernisten wären, fragte ich ihn, ob denn nach seiner Meinung ihre Philosophie selbständige Werte geschaffen habe oder nur deshalb merkwürdig sei, weil eben innerhalb der katholischen Kirche und im Gegensatze gegen die offizielle Kirchenlehre erwachsen. Darauf gab er keine klare Antwort und lobte wieder die Trefflichkeit der Leute.100

Im Gefolge der Modernismus-Enzyklika brach das reformkatholische Netzwerk rasch auseinander. George Tyrrell übte in der Londoner Times scharfe Kritik am Vorgehen des Papstes und provozierte damit seine umgehende Exkommunikation. Er glaube nicht mehr an eine modernisierte römische Kirche, schrieb Tyrrell Ende 1908 nach Jena. Die Religion der Zukunft werde sich außerhalb der Kirchen formen; keiner der alten Schläuche könne den neuen Wein aufnehmen. Zu diesem Zeitpunkt war Tyrrell bereits schwer krank; er starb 48jährig Mitte 1909. Viele der radikaleren Modernisten folgten Tyrrells Beispiel und brachen mit der römischen Kirche. Die eher gemäßigten Reformkatholiken, zu denen sich auch Friedrich von Hügel und die Rinnovamentisti zählten, beugten sich schließlich dem Druck aus Rom. Il Rinnovamento stellte sein Erscheinen Ende 1909 ein. Der Baron hatte mit Sorge die „immanentistischen“ Tendenzen im reformkatholischen Lager registriert. Den transzendenten Charakter der Religion wollte er auf keinen Fall preisgeben und befand sich damit in tiefstem Einver100 ThULB NLRE I, 1, Bl. B 50f: Richard Bärwinkel an Rudolf Eucken, 1.3.1908; Steinbach/ Dathe (Hg.), Cartellieri, S. 103: 1.3.1908; ebd. S. 113, 21.2.1909.

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ständnis mit seinem Freund Eucken. Sein eigenes Hauptwerk zur Mystikerin Katharina Fieschi erschien 1908 auf dem Höhepunkt des Modernismusstreits. Hügel hatte aber den (reichlich vorhandenen) theologischen Sprengstoff so gut getarnt, dass die amtskirchlichen Glaubenskontrolleure nichts Anrüchiges fanden, um das Werk auf den Index der für Katholiken verbotenen Bücher zu setzen. Leider galt er seither auch vielen als harmloser Privatgelehrter mit einem Faible für obskure Mystikerinnen.101 In der 3. Auflage seiner Hauptprobleme der Religionsphilosophie (1909) rückte dann auch Rudolf Eucken von den Hoffnungen ab, die er in den Reformkatholizismus gesetzt hatte. Hier schreibt er er zur modernistischen Bewegung: An hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen und an vortrefflichen Persönlichkeiten fehlt es hier nicht; ob aber eine Wirkung auf das Ganze der Religion von hier ausgehen könne, und ob der Katholizismus, ohne sein Wesen aufzugeben, mit der modernen Kultur vereinbar sei, das läßt sich sehr bezweifeln.102

Bereits im Jahr zuvor hatte Eucken gegenüber Norström im Hinblick auf die Repressionsmaßnahmen der Kurie geäußert, es kribbele ihn oft, „eine energische Schrift gegen all dies römische Unwesen zu schreiben“. „Man sieht immer wieder“, so fuhr er fort, „wie viel wir doch an unserem Protestantismus haben, so sehr man auch bei ihm manches anders, tiefer und kräftiger haben möchte.“103 Von denjenigen der modernistischen Aktivisten, die im Zuge der Repressionsmaßnahmen die katholische Kirche verließen, fanden gewiss auch einige eine neue spirituelle Heimat in Rudolf Euckens „Geistesreligion“. Relativ gut belegt ist der Fall des Landgerichtsrats Gustav Ziegler aus Kempten im Allgäu. Ziegler war einige Jahre lang im deutschen Kolonialdienst gewesen, stand politisch den Nationalliberalen nahe und war ein erbitterter Gegner des „Ultramontanismus“, sprich: der Zentrumspartei. Er gehörte zum Mitarbeiterkreis der modernistischen Zeitschrift Neues Jahrhundert, die als Organ der Münchner Krausgesellschaft firmierte. Die Krausgesellschaft wiederum hatte sich als reformkatholische Vereinigung von Laien und Klerikern im Gedenken an Franz Xaver Kraus zusammen gefunden. Die Gesellschaft nahm couragiert gegen die Maßregelung modernistischer Geistlicher Stellung.104

101 George Tyrrell an Rudolf Eucken, 16.12.1908 (zitiert nach: Graf (Hg.), Tyrrell, S. 247). Vgl. Arnold, Geschichte, S. 73ff, 83-87; Weiß, Modernismus, S. 92; Neuner, Erfahrung, S. 64ff; Kelly (Hg.), Letters, S. XXV; ThULB NLRE I, 30, Bl. 230-233: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 30.7. und 9.8.1908. 102 R. Eucken, Hauptprobleme, S. 165. 103 ThULB NLRE I, 30, Bl. 232f: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 9.8.1908. 104 Vgl. Weiß, Modernismus, S. 356–360, 402.

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Seit 1910 saß Gustav Ziegler im Vorstand der Krausgesellschaft und profilierte sich bald als Sprecher einer radikalen Gruppe, die einen völligen Bruch der Gesellschaft mit dem römischen Katholizismus forderte. Die Konflikte entzündeten sich vor allem an der Frage, was mit denjenigen Mitgliedern der Gesellschaft geschehen sollte, die sich der Amtskirche durch die Ablegung des „Antimodernisten-Eids“ unterworfen hatten. Ziegler forderte, diese Leute müssten die Krausgesellschaft verlassen. Man müsse sich bewusst sein, „daß die Leistung des Eides durch unsere Freunde unter den Geistlichen diese für unsere Bewegung diskreditieren.“ Man könne sie damit nicht mehr als „Führer u. Mitkämpfer für unsere Ideen“ betrachten, „sondern nur noch als bemitleidenswerte Opfer des römischen Systems.“ Doch letztlich drang Ziegler mit dieser Position nicht durch. Er konnte auch nicht verhindern, dass sich die Krausgesellschaft in ihrem neuen Programm als Vereinigung von Mitgliedern der katholischen Kirche definierte. Ziegler trat daraufhin aus der Gesellschaft aus. Drei Jahre später sollte er zum inneren Kreis derer gehören, die eine „Sammlung der Geister“ im Sinne Rudolf Euckens in Gang setzen wollten.105

Im Kampf um das Gymnasium Zu Anfang der 1890er Jahre meldete sich Eucken zum ersten Male ausführlich in einer bildungspolitischen Auseinandersetzung zu Wort. Es ging um die Reform des höheren Schulwesens in Preußen, eine Debatte, die nicht zuletzt von Äußerungen des neuen technikbegeisterten Kaisers Wilhelm II. losgetreten worden war. Dabei stand die Frage im Zentrum, ob das humanistische Gymnasium mit seinem an der klassischen Antike orientierten Bildungskanon noch zeitgemäß sei. Sollte man nicht, anstatt dem Studium „toter“ Sprachen breiten Raum zu gewähren, die „realen“ Unterrichtsfächer und das Deutsche viel stärker in den Mittelpunkt der Curricula der höheren Schulen stellen? Rudolf Eucken bezog in einer Artikelserie im Herbst 1890 in der Allgemeinen Zeitung106, dezidiert für ein Festhalten am humanistischen Bildungskonzept Stellung. Eucken konzediert zwar, dass die Praxis des Gymnasialunterrichts durchaus verbesserungswürdig sei. Es sollte dabei aber nicht das humanistische Bildungskonzept zur 105 BSB München: Kraus-Gesellschaft IV, 12, Dok. 46: Gustav Ziegler an Phillip Funk, 13.11.1910. Vgl. ebd. III, 9, Dok. 4: Druckschrift: Landgerichtsrat Ziegler, Kempten, an den Ausschuss der Krausgesellschaft, 11.5.1911; sowie, Weiß, Modernismus, S. 363–368, 402f. 106 Vgl. Allgemeine Zeitung, Beilagen, 9.9., 2.10. und 25.10.1890. Die drei längeren Artikel wurden 1891 in einem kleinen Band veröffentlicht (R. Eucken, Gymnasium). Vgl. zu diesen Debatten: Landfester, Humanismus, S. 149–156; Oelkers, Reformpädagogik, S. 27f; Plake, Reformpädagogik, S. 152f.

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Disposition gestellt werden, sondern es müssten, im Gegenteil, die Fehlentwicklungen korrigiert werden, die der Entfaltung dieser Prinzipien entgegenstünden. Als wesentliche Ursache dieser Fehlentwicklungen macht der Jenaer Ordinarius die „Steigerung des Wettbewerbs um die höhere Bildung und ihre Vorteile“ aus. Zum einen sei dies die Folge verstärkter Tendenzen sozialer Mobilisierung. Vor allem das Kleinbürgertum schicke seine Kinder vermehrt auf die höheren Schulen, in der Hoffnung, ihnen auf diesem Wege Chancen gesellschaftlichen Aufstiegs zu eröffnen. Zum anderen habe das staatliche Berechtigungswesen den Zugang zu zahlreichen Berufen und Laufbahnen, ebenso das Privileg des „einjährig-freiwilligen“ Militärdienstes an bestimmte Schulabschlüsse gekoppelt. Solche Prämien hätten den massenhaften Andrang zu den höheren Lehranstalten und ihre „Überfüllung mit oft recht ungeeigneten Elementen“ gefördert.107 Fehlentwicklungen an den Gymnasien macht Eucken schließlich auch an einer allzu starken bürokratischen Einwirkung auf die Schulen fest. Durch das „Regieren von oben her, zu viel Reglementieren und eine zu große Gleichförmigkeit“ habe der Staat die Individualität der einzelnen Lehranstalten wie der einzelnen Lehrer bekämpft und damit notwendigerweise die Gefahr heraufbeschworen, „greifbare und sinnfällige Leistungen vor dem stilleren Bilden und Erziehen zu bevorzugen“ und „seelenlose Routine um sich greifen zu lassen“. Das Interesse habe sich so mehr auf die fertig abzuliefernde Leistung und den sichtbaren Erfolg als auf „die Sache selbst“ fokussiert. Besonders kritisiert Eucken den großen Stellenwert von Prüfungsleistungen in der schulischen Praxis. Vor allem die Abiturprüfung wirke dahin, „ein mechanisches Arbeiten und ein flaches Strebertum zu erzeugen.“108 Kurz, der Philosoph sieht jene Tendenzen am Wirken, die er in seinen zeitkritischen Diagnosen immer wieder als Fehlentwicklungen der Moderne benannt und beklagt hatte. Es äußere sich hier „die Gewalt jenes mechanistischen Zuges, dem unsre Zeit viel mehr verfallen ist, als sie selbst es weiß.“ Ziel einer Reform der höheren Schulbildung müsse es daher sein, „der Dinge Geist und bildende Kraft stärker zur Wirkung zu bringen und die Menschen zu größerer Selbstthätigkeit aufzurufen“.109 Rudolf Euckens Vorschläge zur Reform des höheren Schulwesens richten sich an einer Neubelebung des humanistischen Bildungskonzeptes aus. Um seinen Lesern dieses Konzept in seinen charakteristischen Wesenszügen plastisch vor Augen zu führen, greift er auf ein bewährtes Verfahren seiner philosophischen Abhandlungen zurück: Er präsentiert die humanistische Bildungsidee in 107 R. Eucken, Gymnasium, S. 7f. 108 Ebd., S. 9–12. 109 Ebd., S. 48 und S. 5.

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ihrer klassischen Formulierung durch den Pädagogen Friedrich August Wolf um 1800, um dessen Essenz als holistisches Ganzes klar hervortreten zu lassen. In Euckens Darlegung sind unschwer die eigenen Maximen „volltätiger“ Lebensgestaltung wiederzuerkennen. Dem Pädagogen Wolf sei alles Wissen primär Mittel „zur Erweckung und Erweisung geistiger Selbstthätigkeit“ gewesen. Jede besondere Leistung sollte beherrscht sein von einem Geist, der alles Einzelne zu einem harmonischen Ganzen füge. Für Wolf sei das höchste Ziel des Unterrichts eine Erziehung zur geistigen Selbständigkeit und zur „echten Liebe für das Wahre und Schöne“ gewesen. Dieses Ziel wiederum sei nur erreichbar, wenn der Individualität des Schülers freier Spielraum zur Entwicklung gegeben werde. Das humanistische Gymnasium, wie es F. A. Wolf und seinen Gesinnungsgenossen vor Augen gestanden habe, sei als wissenschaftliche Anstalt, als Werkstätte geistiger Tätigkeit gedacht gewesen, die von einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern getragen werden sollte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts sei aber „durch unablässiges Reglementieren und Kontrollieren“ dieses Vertrauensverhältnis und jede Selbsttätigkeit und Selbständigkeit der Schüler erdrückt worden.110 Im letzten Teil seiner Artikelserie entwickelt Rudolf Eucken eigene Vorschläge zur Reform des höheren Schulwesens. Wünschenswert erscheint ihm zunächst einmal, das Gymnasium von denjenigen Schülern zu entlasten, „die es nicht seiner selbst willen und nicht bis zu Ende besuchen“. Als konkrete Maßnahme schlägt er vor, den Einjährig-Freiwilligen-Status nur noch denen zu gewähren, die eine höhere Schule ganz durchlaufen haben. Eine zweite Forderung zielt auf die Reform des Unterrichts in den klassischen Sprachen, die den ursprünglichen humanistischen Bildungsgedanken wieder zur Geltung bringen sollte. Den Schülern würden die griechische und lateinische Sprache und Literatur oft so wenig anschaulich dargeboten, dass ihr lebendiger Geist sich verflüchtige. Es werde eine bloßer Fachgelehrsamkeit vermittelt, die bei den Schülern kaum Begeisterung erwecke.111 Auch gegen die Überfrachtung des höheren Schulunterrichts mit immer mehr Lernstoff und eine Ausweitung des Fächerkanons nimmt der Philosoph Stellung. Wolle man am Ziel des humanisierenden Bildens festhalten, müsse man sich auf das Wesentliche beschränken. Andernfalls siege „die Dressur über die Bildung“. Eucken geht dabei so weit, für eine Abschaffung der Abiturprüfung, zu plädieren:

110 Ebd., S. 34, 39, 48. 111 Ebd., S. 52f, 55f.

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Solange die Arbeit der Schule gerade auf der höchsten Stufe, eben da, wo sich vornehmlich bei den Schülern innere Lust und selbständige Thätigkeit entfalten sollen und könnten, auf ein förmliches, unter staatlicher Autorität abzulegendes Examen gerichtet wird, so lange wird die Ansammlung möglichst vielen Wissens … die Hauptsache bleiben und unter der Gleichförmigkeit der Forderungen keine Individualisierung der Thätigkeit aufkommen könne.

Man könne die Beurteilung der Hochschulreife eines Schülers getrost in das sachkundige Ermessen des Lehrerkollegiums legen. Überhaupt solle der Staat mehr auf die Tüchtigkeit der Lehrer vertrauen und sie als selbständige Gelehrte und Erzieher behandeln, anstatt sie zu ausführenden Beamten der Kultusbürokratie zu degradieren.112 Man sollte nun vorsichtig sein, Rudolf Eucken zum rückwärtsgewandten Apologeten eines unzeitgemäßen bildungsbürgerlichen Traditionalismus zu machen, wie dies mit Bezug auf seine schulpolitischen Äußerungen von 1890 bisweilen in der Literatur zu lesen ist.113 Euckens Fokussierung auf die klassische Antike als Kern der gymnasialen Bildung trat in späteren schulpolitischen Stellungnahmen merklich zurück. Selbst die 1900 verfügte Gleichstellung der Abschlüsse der Realgymnasien und Oberrealschulen mit denen des humanistischen Gymnasiums begrüßte Eucken – „trotz naheliegender Bedenken“ – im Grundsatz. Es seien die Schulen nun in einen Stand freier Konkurrenz getreten, „alle Konkurrenz aber macht das Leben anstrengender und aufregender; so wird es sich wohl auch hier bewähren“.114 Bedeutsamer an Euckens Neubelebung der humanistischen Bildungskonzepte erscheinen die Aspekte, die auf reformpädagogische Anschauungen vorgreifen: sein Plädoyer für eine freie Entwicklung der Individualität der Schüler und die Erziehung zu geistiger Selbständigkeit und „Selbsttätigkeit“; seine Kritik an der Ausrichtung des Unterrichts auf abprüfbare Wissensbestände; seine Forderung nach Abbau staatlicher Regulierung und nach freier Unterrichtsgestaltung; der Nachdruck, den er auf die Erweckung intrinsischer Lernmotivationen bei den Schülern legt; seine Betonung eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen Schülern und Lehrern.

112 Ebd., S. 56–59, 60, 62. 113 Vgl. etwa Beßlich, Kulturkrieg, S. 53f; Sieg, Geist, S. 77. 114 R. Eucken, Bildungsstreben, S. 42.

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Die Lehrer und ihre Bildung Rudolf Eucken meldete sich nicht allein publizistisch zu bildungspolitischen Fragen zu Wort, sondern war auch in mehr oder minder direkter Weise an der Formung des pädagogischen Nachwuchses beteiligt. Das Fach Philosophie spielte nämlich im universitären Ausbildungsgang der Gymnasial- und Realschullehrer um 1900 immer noch eine wesentliche Rolle. Bei den Examina für das höhere Lehramt mussten die Kandidaten eine schriftliche Arbeit zu einem philosophischen Thema vorlegen und eine mündliche Prüfung zur Geschichte der Philosophie und Pädagogik absolvieren. Für diese letztere Prüfung boten Eucken und seine Privatdozenten regelmäßige Lehrveranstaltungen an.115 Greifbarer und spezifischer wird Rudolf Euckens Engagement in der Lehrerbildung in den Kooperationen mit Wilhelm Rein, seit 1886 Honorarprofessor für Pädagogik an der Universität Jena. Rein galt als Vertreter der auf Johann Friedrich Herbart zurückgehenden pädagogischen Schule. Die „Herbartianer“ standen zunächst einmal in deutlichem Gegensatz zu den Positionen, die Rudolf Eucken in seinen bildungspolitischen Stellungnahmen vertrat. Sie setzten darauf, den Unterricht systematisch zu gliedern und zu gestalten. Es ging ihnen darum, in den Schülern ein möglichst vielseitiges Interesse zu erwecken, während Aspekte der Persönlichkeitsbildung weitgehend ausgeklammert wurden. Um die Jahrhundertwende stand die starre Anwendung der herbartianischen Schematik denn auch in der Kritik der sich formierenden Reformpädagogik. Wilhelm Rein selbst blieb allerdings von reformpädagogischen Bestrebungen nicht unberührt. Er drängte vor allem auf eine stärkere Verwissenschaftlichung der Pädagogik und erstrebte mit der von ihm weitergeführten Jenaer Versuchsschule einen engeren Praxisbezug in der Lehrerausbildung an. Mit dem Konzept der „Erziehungsschule“ näherte sich Rein durchaus Positionen an, die auch Eucken vertrat: Anders als die „Lernschule“ sollte sie sich nicht auf die bloße Vermittlung von Wissen beschränken, sondern vielmehr den Schüler zur „Ausbildung des persönlichen Geisteslebens“ befähigen und ihn ermutigen, sich selbstverantwortlich zur „moralischen Persönlichkeit“ fortzubilden.116 Wilhelm Rein entwickelte nach seiner Berufung nach Jena eine rührige Aktivität, vor allem auf dem Feld der Lehrerausbildung, in der auch seine Professorenkollegen und die Vertreter der thüringischen Lehrervereine einbezogen 115 Vgl. Friedrich, Position, S. 255; Meyer, Rein, S. 17; sowie die Erläuterungen Euckens im Schreiben an Vitalis Norström vom 6.10.1910 (ThULB NLRE I, 30, Bl. 343f). 116 Zitiert nach: Koerrenz, Jena, S. 145; vgl. Steinbach, Ökonomisten, S. 255; Herrmann, Denken, S. 159ff; Werner, Moderne, S. 52f; Oelkers, Rein, S. 138, 146. Meyer, Rein, S. 19ff; Moog, Geschichte, S. 455f

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waren. 1889 veranstaltete Rein erstmals Fortbildungskurse für Lehrer, die einen überregionalen Teilnehmerkreis ansprechen sollten. Diese „Ferienkurse“ zielten zunächst primär darauf, es den Lehrern der realen Fächer zu ermöglichen, sich über die Fortschritte der Naturwissenschaften auf dem Laufenden zu halten. In den nächsten zweieinhalb Jahrzehnten nahmen die Jenaer Ferienkurse immer größere Dimensionen an. Bald wurden auch die geisteswissenschaftlichen Fächer in das Kursangebot einbezogen. Seit den 1890er Jahren wurden die Kurse für Frauen und für Volksschullehrer geöffnet. Den zweiwöchigen Fortbildungskurs im Herbst 1889 besuchten etwa 20 Lehrer. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Zahl der Kursteilnehmer auf über 800 erhöht, die von rund 50 Dozenten unterrichtet wurden.117 Rudolf Eucken und seine Mitarbeiter gehörten bereits seit den 1890er Jahren zu den tragenden Säulen der Jenaer Ferienkurse. Sie boten den Teilnehmern in ihren Vorlesungen gewöhnlich eine Einführung in die Philosophie, meist als Abriss der Geschichte der „geistigen Strömungen“ von der Antike bis zur Gegenwart. Man darf wohl annehmen, dass Eucken sich hier im Wesentlichen an den eigenen philosophiegeschichtlichen Darstellungen, den Lebensanschauungen der großen Denker und den Geistigen Strömungen der Gegenwart, orientierte. In der argumentativen Komposition einer Abfolge einander ablösenden Syntagmen bzw. von widerspruchsvoll nebeneinander stehenden Lebensordnungen transportierte Eucken letztlich auch die eigenen Anschauungen. Seine Schüler traten mitunter gar als Propagandisten seiner Lehren auf.118 Die Kooperation mit Wilhelm Rein bei den Jenaer Fortbildungskursen für Lehrer trug möglicherweise auch zu gewissen Schwerpunktverschiebungen in den pädagogischen und bildungspolitischen Stellungnahmen Euckens bei. Der klassische Bildungskanon, den er noch 1890 so emphatisch verteidigt hatte, spielte in seinen späteren Überlegungen zu der Frage, was an den Schulen gelehrt werden solle, kaum noch eine Rolle. Euckens schulpolitischer Einsatz konzentrierte sich nun auf die Forderung, das Fach Philosophie in den Lehrplan der höheren Schulen aufzunehmen. 1898 beschäftigte er sich er in der Zukunft mit der Frage Was läßt sich zur Hebung philosophischer Bildung thun? 1903 griff er dieses Thema unter (fast) dem gleichen Titel im Anhang eines Sammelbandes seiner philosophischen und weltanschaulichen Aufsätze noch einmal auf.119 Eucken fokussiert sein Plädoyer auf zwei allgemeine Zielsetzungen. Der Philosophie-Unterricht solle einerseits zur Steigerung des intellektuellen Vermögens 117 Vgl. Lütgert, Ferienkurse, S. 219–224; Steinbach, Ökonomisten, S. 265–268, 273, Graff/ Schotte, Jena, S. 157f; Meyer, Rein, S. 26f. 118 Vgl. Budde, Weltanschauung, S. 71f; Steinbach, Ökonomisten, S. 270ff; Meyer, Rein, S. 17. 119 Vgl. R. Eucken, Hebung 1898; ders., Hebung 1903, S. 229.

120  3 Resonanzen und Kreise: Die Formierung einer kulturkritischen Bewegung.

der Schüler dienen. Andererseits könne die Einführung in eine philosophische Weltanschauung einen „Grundstock von Überzeugungen … zur Zusammenhaltung und auch Befestigung des geistigen Lebens“ vermitteln.120 Zum ersten Punkt, der „logischen Schulung“, macht Eucken nur einige eher pragmatische Vorschläge zur Gestaltung des Unterrichts. Wesentlich mehr Raum nimmt dagegen das zweite Ziel ein. Hier geht es um Bildung in einem engeren Sinne. Die Einführung in die Probleme der Weltanschauung solle nämlich nicht bloß Wissensstoff vermitteln und mehr im Auge haben als „nützliche Aufklärung“. Vielmehr gelte es, das Selbstverständliche in ein Problem zu verwandeln und sich damit „von der Selbstzufriedenheit der alltäglichen Meinung“ zu befreien. Der Philosophie-Unterricht, wie er Eucken vorschwebt, zielt auf die „Hebung des eigenen Denkens und geistigen Strebens“. Diese Ziele könnten am ehesten erreicht werden, indem man die Schüler mit „den großen Helden des Denkens“ vertraut mache, namentlich mit Plato und Kant. Die platonische Ideenlehre sei besonders geeignet, da sie „mit wunderbarer Kraft“ die „Überlegenheit der Denkarbeit über alles menschliche Meinen und Mögen“ verkörpere. Sie kämpfe „für eine Unabhängigkeit des Menschen von Schicksal und Umgebung, für ein Wurzeln des Lebens in der eigenen Kraft“. Bei Kant werde den Schülern zum Bewusstsein gebracht, dass wir die Dinge nicht unmittelbar sehen sondern „durch unsere eigene Organisation hindurch“, sie in unserem Denken demnach zunächst immer nur eine menschliche Wahrheit besitzen. Für den Bildungsprozess der Jugendlichen erscheint es Rudolf Eucken zudem wichtig, dass Kant die moralische Handlung als einen Wert in sich selbst versteht, dass so eine neue Welt „von der moralischen Persönlichkeit aus“ entworfen werde.121 Euckens Vorschläge zur (Wieder-) Einführung des Philosophieunterrichts an den höheren Schulen – und in ähnlicher Form auch an den Hochschulen – stehen im Kern seiner Überlegungen, was sich zur Hebung der philosophischen Bildung in Deutschland tun lasse. Diese Überlegungen verkoppelt der Jenaer Philosoph wiederum dezidiert mit seinen grundlegenden weltanschaulichen Anliegen. Man befinde sich „inmitten einer schweren geistigen Krise“, seien doch die Überzeugungen und Einrichtungen, „die sonst unserem Denken und Handeln eine sichere Richtung gaben“, „bis zum Grunde erschüttert“. …im Leben, Handeln, künstlerischen Schaffen widerstreiten einander schroffe Gegensätze und reißen den Menschen auseinander. Inzwischen dringt eine seichte Aufklärung, die auf der Höhe geistiger Arbeit längst überwunden schien, in immer weitere Volkskreise,

120 R. Eucken, Hebung 1903, S. 229, 234. 121 Ebd., S. 234ff.

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und die demokratische Gestaltung des modernen Lebens gibt solcher Meinung der Vielen ein nicht zu unterschätzendes Gewicht.122

„Die neue Art“ habe weder eine volle Klarheit der Überzeugung noch eine genügende Universalität entwickeln können. In der Moderne umfasse die „Arbeit an den Dingen“ immer nur einen besonderen Kreis; die Erfahrungen des Einzelnen erreichten nur einen Teil der Wirklichkeit. Der ganze Mensch verschwinde hinter „dem Naturforscher, dem Historiker, dem Politiker usw.“ und ihren partikularen Lebensanschauungen. Die wachsende Differenzierung der Arbeit werde so „zu einer immer größeren Gefahr für die innere Gemeinschaft der Menschheit“. Eine solide logische Bildung erscheint Eucken daher als unabdingbare Voraussetzung, sich in diesem wirren Durcheinander „verschiedenartigster, ja widerstreitender Gedankenmassen“ zurecht zu finden.123 Um die Jahrhundertwende hat Rudolf Eucken seine Stellungnahmen zur Reform der höheren Bildung argumentativ wesentlich stringenter als zehn Jahre zuvor auf die Anforderungen der Moderne und die Überwindung der von ihr ausgelösten geistigen Krise ausgerichtet. Die zweite Schwerpunktverschiebung in Euckens pädagogisch-bildungspolitischer Positionierung dürfte wohl noch direkter auf die Erfahrungen der Jenaer Ferienkurse zurückzuführen sein. Es tritt nun nämlich in den publizistischen Äußerungen und im persönlichen Engagement des Philosophen ein lebhaftes Interesse an der Bildung der Volksschullehrer hervor. Wilhelm Rein wollte die Teilnahme an den Fortbildungskursen nicht auf die akademisch gebildeten Lehrer beschränken. Er und seine Mitstreiter stießen damit aber bei der Jenaer Universitätsverwaltung und den Kultusbehörden der Thüringer Staaten auf Skepsis und Ablehnung. Dort hielt man die Öffnung der wissenschaftlichen Fortbildungskurse für ein sinnloses Unterfangen. Den Volksschullehrern würde dadurch allenfalls eine ungenügende „Halbbildung“ und ein „Scheinwissen“ vermittelt werden.124 Trotz dieser Widerstände hielten Rein, Eucken und die anderen beteiligten Jenaer Professoren die Ferienkurse für die Volksschullehrer offen. Sie unterliefen faktisch die Anweisungen „von oben“ und lockerten im Lauf der Zeit die Zugangsbedingungen für die seminaristisch gebildeten Pädagogen immer mehr. Zudem gingen Rein und Eucken am Ende der 1890er Jahre daran, die universitären Fortbildungsangebote für die Volksschullehrer auszuweiten. Sie organisierten seit dem Wintersemester 1898/99 wöchentliche wissenschaftliche Vorträge, die jeweils Samstagsabends in der Universität Jena stattfanden. Zur gleichen Zeit fragte der Gothaische Landeslehrerverein bei Eucken an, ob man solche 122 Ebd., S. 231. 123 Ebd., S. 230f. 124 Vgl. Steinbach, Ökonomisten, S. 266–270; Lütgert, Ferienkurse, S. 222.

122  3 Resonanzen und Kreise: Die Formierung einer kulturkritischen Bewegung.

Vortragsreihen auch in anderen thüringischen Städten anbieten könnte. Im Sommersemester 1899 führte der Jenaer Philosoph die Gothaer Lehrer in einer stark besuchten Vortragsreihe in „Die geistigen Strömungen im Altertum, Mittelalter und in der Neuzeit“ ein. Er nahm dafür auch den Ärger mit seinem Universitätskurator auf sich, der seinen Dienstreiseantrag für diese Unternehmungen abgelehnt hatte.125 Von nun an war Rudolf Eucken regelmäßig in den thüringischen Städten unterwegs, um den Volksschullehrern eine philosophische Grundbildung zu vermitteln. Bald weitete er seinen Aktionsradius noch einmal aus. 1907 bis 1909 berichtete Eucken seinem schwedischen Kollegen Norström regelmäßig von seinen philosophischen Vortragszyklen über „Lebensprobleme der Gegenwart“, die er auf Einladung der Oberschulbehörde in Hamburg sowie der „nichtradikalen Lehrer“ in Bremen absolvierte. 1911 beschäftigte sich die Zeitschrift des Wiesbadener Lehrervereins in mehreren Ausgaben ausführlich mit einer Vortragsreihe, die Eucken in der hessischen Stadt „Über die Grundzüge eines modernen Idealismus“ gehalten hatte. Anfang 1914 verhandelte er mit dem Kasseler Lehrerverein über einen ähnlichen Vorlesungszyklus.126 Euckens zeitaufwändiges Engagement für die philosophische Bildung der Volksschullehrer mag angesichts der „geistesaristokratischen“ Implikationen seiner weltanschaulichen Schriften zunächst einmal verwundern. Er selbst versicherte 1902 in einem Zeitschriftenartikel, die Erfahrungen, die er bei den philosophischen Lehrveranstaltungen für die Volksschullehrer gemacht habe, seien die „denkbar besten“ gewesen. Die Teilnehmer hätten keineswegs eine bequeme Popularisierung des Stoffes gewünscht, sondern wollten „zu den letzten Quellen vordringen“, ohne Rücksicht auf die Mühe und Arbeit, die sie dies kostete. An gleicher Stelle erklärt er die sozialen Prämissen des alten Bildungshumanismus für nicht mehr zeitgemäß. Nach dieser „älteren Überzeugung“ sei „nur eine auserlesene Minderheit zur vollen Teilnahme am Geistesleben berufen“, während sich alle Übrigen „mit dürftigen Brosamen zu begnügen hatten“. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts habe sich dies aber grundsätzlich gewandelt, die Bildung der breiten Schichten des Volkes sei „in unaufhörlichem Wachsen begriffen“. Im Rückblick seiner Lebenserinnerungen klingt an, dass der unmittelbare persönliche Kontakt mit den Volksschullehrern Eucken dazu brachte, seine Meinung zum geistigen Potenzial der breiteren Bevölkerungs125 Vgl. Steinbach, Ökonomisten, S. 270f; Eucken, Lebenserinnerungen, S. 80; ThULB NLRE I, 31, Bl. B 591f: H. Böttner, Gothaischer Landes-Lehrerverein, an Rudolf Eucken, 23.11.1898. 126 ThULB NLRE I, 30, Bl. 240: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 26.8.1908. Vgl. ebd. Bl. 178, 298: Eucken an Norström, 1.4.1907 und 8.8.1909; ebd. I, 2, Bl. B 386f: Otto Betting an Eucken, 6.1.1914; R. Eucken, Gesammelte Werke 13, S. 122; ders., Lebenserinnerungen, S. 80; Friedrich, Position, S. 256.

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schichten zu überdenken. Es sei ein großer Gewinn für ihn gewesen, mit „aufstrebenden Bevölkerungsklassen“ in engere Beziehung zu treten. Seine eigenen Arbeiten hätten sich vom „bloß Schulmäßigen“ gelöst, ihm selbst habe „das Leben mehr Weite und Freiheit“ gewonnen. Zugleich habe sich in ihm der Wunsch bekräftigt, „in dieser zerrissenen und unsicheren Zeit unserem Volk ein geistiger Führer und Berater zu werden“.127 Euckens Werben um die „aufstrebenden Bevölkerungsklassen“ blieb nicht unerwidert. Den Volksschullehrern und ihre Berufsverbänden erschien der Jenaer Professor bald als prominenter und einflussreicher Fürsprecher und Verbündeter. Mit der von ihm mitgetragenen Öffnung der wissenschaftlichen Ferienkurse und seinen zahlreichen philosophischen Vortragsreisen vertrat Eucken nicht zuletzt auch ein wesentliches standespolitisches Ziel der organisierten Volksschullehrerschaft: Die Akademisierung ihres Ausbildungsganges sollte ihr gesellschaftliches Ansehen ebenso heben wie die ihnen zugeordneten Ränge in den Beamtenbesoldungsordnungen. Eucken leitete bereitwillig Wasser auf die Mühlen der Lehrervereine, wenn er etwa in der Deutschen Monatsschrift verkündete: Als Menschenbildner wirken kann der Volksschullehrer nicht ohne eine wissenschaftliche Methode, nicht ohne ethische Überzeugungen und psychologische Einsichten, er kann es auch nicht ohne eine größere Freiheit der Bewegung und ohne eine engere Berührung mit dem geistigen Leben seiner Zeit. In der Konsequenz eines solchen Strebens liegt aber unverkennbar die Forderung, den Volksschullehrerstand zur Universität in Beziehung zu setzen.128

Zum Fürsprecher der Gymnasiallehrer und ihrer beruflichen Belange hatte sich Rudolf Eucken bereits in seiner Artikelserie in der Allgemeinen Zeitung vom Herbst 1890 gemacht. Mit seiner nachdrücklichen Befürwortung des Griechischund Latein-Unterrichts verteidigte er hier nicht nur das von der Entwertung bedrohte „kulturelle Kapital“ der klassischen Philologen. Der ehemalige Gymnasiallehrer Eucken sprach auch einer kräftigen Ausweitung der professionellen Autonomie der akademisch gebildeten Lehrer das Wort, indem er ihnen bei der Unterrichtsgestaltung möglichst freie Hand geben und die Beurteilung der Hochschulreife der einzelnen Schüler ganz in ihr Ermessen legen wollte. Und indem er bei dieser Gelegenheit das Oberlehrer- mit einem Richterkollegium verglich, in dessen sachverständiges und selbständiges Urteil man ja auch ohne weiteres Vertrauen habe, verwies er möglicherweise in besonders subtiler Weise auf ein ganz handfestes materielles Begehren des Oberlehrerstandes: die 127 R. Eucken, Bildungsstreben, S. 44, 48; ders. Lebenserinnerungen, S. 80. 128 R. Eucken, Bildungsstreben, S. 45.

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Gleichstellung mit den Richtern bei der Gehaltseinstufung. Der Jenaer Universitätsordinarius würdigte die Gymnasialprofessoren als wissenschaftlich ernstzunehmende Kollegen und schmeichelte ihrem Selbstbild als Angehörige des „Gelehrtenstandes“.129 Seit der Jahrhundertwende verdichteten sich die publizistischen Verbindungen zwischen Rudolf Eucken und den Pädagogen. Artikel von und über Eucken erschienen nun regelmäßig in der Verbandspresse der Lehrer.130 Durch die Fortbildungskurse und Vortragsreisen machte der Philosoph Jahr für Jahr zahlreiche Ober- und Volksschullehrer mit seinen Ideen vertraut. Nicht zu vergessen sind dabei auch die Lehramtskandidaten, die bei Eucken und seinen Privatdozenten in Jena Vorlesungen und Übungen zur Philosophie und Geschichte der Pädagogik besuchten, Prüfungen ablegten, Dissertationen verfassten und promovierten. Andere Pädagogen hatten seine Bücher gelesen und suchten danach manchmal auch den persönlichen Kontakt mit Eucken. Manche Lehrer schickten Eucken eigene Aufsätze und Manuskripte, die dieser dann begutachtete und kommentierte, ggf. auch Hilfestellungen und Tipps zur Veröffentlichung gab. In nicht wenigen der Briefe, die sich im Nachlass Euckens erhalten haben, ist die Überraschung seiner Korrespondenzpartner darüber zu spüren, dass der Jenaer Philosoph ihnen ausführlich geantwortet und in freundlich-fürsorglichem Ton seine Hilfe angeboten hatte. „Von einem Geistesriesen wie von Ihnen, dessen Namen wir mit Ehrfurcht nennen, einen so gütigen Brief mit so anerkennenden Worten zu erhalten, wie mir dies vor einiger Zeit zuteil wurde, ist für einen kleinen Mann ein großes Glück.“, schrieb 1902 ein Gymnasiallehrer aus Greiz an Eucken.131 Andere Lehrer teilten dem Philosophen in begeisterter Emphase mit, welche „wunderbare Wirkung“ seine Schriften auf sie ausgeübt hatte, so der Volksschullehrer Max Schmidt aus Kreuzburg in Oberschlesien 1904: „Ich hatte das Gefühl, als wenn ich neue Augen u. eine neue Sprache bekäme, als wenn mein ganzes bisher dunkles, verworrenes Wesen ins klare Licht des Gedankens gehoben würde.“ In ähnlicher Weise beschreibt der Chemnitzer Lehrer Otto Günther seine erste Begegnung mit Euckens Werken: Was ich da las, war mir eine Offenbarung. Das Buch mußte mein werden. Von der Bücherei lief ich zum Buchhändler, und wenige Tage nachher hielt ich die eben erschienenen Geistigen Strömungen (1909) in der Hand. Ich las das Buch wie im Fieber durch, wie ahnend, um welch köstliche Worte es sich handelte. In systematischer Durchführung wollte 129 R. Eucken, Bildungsstreben, S. 43; vgl. ders., Gymnasium, S. 22f, 62; sowie allgemein Bölling, Sozialgeschichte, S. 48f. 130 Vgl. R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13, S. 99ff, 108, 112, 114, 116, 119f, 122, 124. 131 ThULB NLRE I, 23, Bl. R 248: Otto Richter an Rudolf Eucken, 6.12.1902.

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ich das Neue kennen lernen. Ich erwarb die Grundlinien. Mit Staunen sah ich eine neue Welt.132

Nach der als Erweckungserlebnis geschilderten ersten Lektüre von Rudolf Euckens Schriften drängte es Günther dazu, auch seine Kollegen an der ihm widerfahrenen Offenbarung teilhaben zu lassen. Im ersten seiner zahlreichen Briefe an Eucken schickte er dem Philosophen einen Zeitungsausschnitt, der einen Vortrag im Chemnitzer Pädagogischen Verein dokumentierte. Er habe sich veranlasst gesehen, so Günther, Position gegenüber einem kurz zuvor an gleicher Stelle gehaltenen Vortrag zu beziehen. Ein Berliner Gastredner hatte den Chemnitzer Lehrern neue Ergebnisse der Hirnforschung präsentiert und daraus die Folgerung gezogen, die Pädagogik dürfe sich nicht länger auf eine philosophische Denkweise gründen, sondern müsse sich auf die „chemisch-physiologische Entwicklung der Kinder“ stützen. Günther antwortete mit einem Vortrag, der sich auf die Lehren Euckens berief, um diese Ansichten zu konterkarieren.133

Noologische Pädagogik Der Chemnitzer Mittelschullehrer war nicht der einzige Pädagoge, der aus den Werken Rudolf Euckens schöpfte, um eigene erziehungswissenschaftliche Positionen zu formulieren und zu begründen. Anfang 1905 hatte sein schlesischer Kollege Max Schmidt den Philosophen wissen lassen, ihm sei der Gedanke gekommen, ob nicht „Ihre Weltanschauung eine geeignete Grundlage für die pädagogischen Forderungen der Gegenwart abgeben würde“. Eucken könnte doch selbst, so regte er an, eine wissenschaftlich-systematische Pädagogik entwerfen und sich in den Fachzeitschriften an der Erörterung pädagogischer Probleme beteiligen. Schmidt arbeitete in den folgenden Monaten das Konzept einer Schulreform nach den weltanschaulichen Maximen Euckens aus, das er nach Jena zur Begutachtung sandte.134 Der Vorstoß des Kreuzburger Lehrers scheint schließlich im Sande verlaufen zu sein. Eucken selbst unternahm keinen Versuch, seine pädagogischen Überlegungen und bildungspolitischen Stellungnahmen konzeptionell zu systematisieren. In seinen Grundlinien einer neuen Lebensordnung beklagt er aber, es gebe „bei aller Fülle pädagogischer Theorien keine selbständige Philosophie der Erziehung“. Man behelfe sich meist mit un132 Ebd. I, 24, Bl. S. 113: Max Schmidt an Rudolf Eucken, 28.3.1904; ebd. I, 10, Bl. G 517: Otto Günther an Eucken, 12.10.1915. 133 Ebd. I, 10, Bl. G 516: Otto Günther an Rudolf Eucken, 12.10.1915. 134 Ebd. I, 24, Bl. S 114-117: Max Schmidt an Rudolf Eucken, Januar und 18.7.1905.

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zusammenhängenden Ideen, die der Aufklärung oder dem Neuhumanismus entlehnt worden seien. Die Folge sei, dass „wir bei der Erziehung die Probleme und Verwicklungen, die im Ganzen unseres Lebens liegen, nicht genügend herausarbeiten und zugleich nicht genügend würdigen“. Hauptaufgabe der Erziehungsarbeit solle es nicht sein, den Menschen mit möglichst vielen Fertigkeiten auszustatten und seine Leistungsfähigkeit zu steigern. Vielmehr gelte es, „den tiefsten Grund seines Wesens gegen ungeheure Widerstände zu beleben, den Menschen zu innerer Selbständigkeit zu führen und ihn zum Kampf gegen eine, wenn nicht feindliche, so doch gleichgültige Welt zu stärken“.135 An einer in der Philosophie Rudolf Euckens begründeten Pädagogik versuchte sich im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg eine ganze Reihe von Pädagogen. Den Anfang machte Oskar Kästner, seines Zeichens Oberlehrer an der städtischen höheren Mädchenschule und dem Lehrerinnenseminar in Leipzig. Kästner hatte zwischen 1891 und 1894 in Jena ein Theologiestudium absolviert und im folgenden Jahr bei Eucken mit einer Arbeit über Nikolaus von Kues promoviert. 1907 veröffentlichte er einen Band mit dem Titel Sozialpädagogik und Neuidealismus. Kästners Buch liest sich in seinem theoretischen Teil über weite Strecken wie eine Generalabrechnung mit der zeitgenössischen Sozial- oder Kulturpädagogik, wie sie von Paul Natorp, Paul Bergemann und anderen vertreten wurde. Kästner wirft diesen Sozialpädagogen vor, den Menschen als bloßes Gemeinschaftswesen zu begreifen, „das den Ausgangs- und Quellpunkt seiner gesamten Existenz in der Gesamtheit beschlossen weiß“. Dem hält er mit Berufung auf Eucken entgegen, dass der Mensch keineswegs in seinen sozialen Beziehungen und Leistungen aufgehe. Der Mensch habe vielmehr in erster Linie für die Entwicklung einer „selbsteigenen Persönlichkeit“ Sorge zu tragen. Demnach könne sich auch die Pädagogik nicht primär an seiner Sozialisation, seiner Integration in die Gesellschaft ausrichten. Es müsse immer um den einzelnen Menschen gehen, um die „Entfaltung seines eigenen Selbst, die Entfaltung einer Geisteswelt mit eigentümlichen Gütern und Methoden“. Hier liege der eigentliche Sinn und die Substanz des menschlichen Lebens.136 Kästner konfiguriert in dieser Schrift das Verhältnis von Individuum und moderner Gesellschaft in radikaler Dichotomie und spitzt damit Euckens kulturkritische Diagnosen radikal zu. Die technisch-industrielle Kultur und das wissenschaftliche Natursystem hätten den Menschen geknechtet und hielten ihn hart umklammert. Der Leipziger Mädchenschullehrer zielte damit nicht zuletzt

135 R. Eucken, Grundlinien, S. 216. 136 Kästner, Sozialpädagogik, S. 8, 10, 23, 35. Vgl. zu Kästner: Jacobmeyer, Schulgeschichtsbuch, S. 1355; zur Sozialpädagogik Natorps vgl. Herrmann, Denken, S. 162f.

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auf die zeitgenössischen sozialhygienischen Diskurse, die das Wohlergehen des Einzelnen dem Wohl der Gesellschaft unterordneten: ... insbesondere müßte der Kulturpädagog alles die Gesellschaft und ihre Kultur Hemmende beiseitewerfen, sowie doch die Natur überall ausschaltet, was ihr nicht dient, und zugrunde gehen läßt. So müßte der ethische Evolutionist gebrechliche, unbrauchbare, kranke usw. Kinder töten, denn die Ausgaben und an sie gewendeten Mühen wären nutzlos. Das müßten im Ernste des naturberauschten und kulturtrunkenen Erziehers höchste Aufgaben sein; denn nicht der einzelne kommt schließlich in Betracht, sondern das Ganze, nicht persönliche Seele heißt die Losung, sondern Gattungsförderung. Die Gattung ist ewig und unsterblich, das Individuum ein vergängliches, bloßzeitliches, dienendes Glied ohne eigenen Wert und eigenes Sein.137

Gegen dieses dystopische Szenario setzt Kästner Rudolf Euckens Bild des Menschen, der nicht bloßes Glied des Ganzen sei, der einen Eigenwert in sich trage.138 An dieses Plädoyer für eine an der individuellen Persönlichkeitsentwicklung ausgerichteten Pädagogik schließt sich eine Abhandlung an, die zahlreiche Aspekte und Details der praktischen Unterrichtsgestaltung, des Schulsystems und der Lehrerausbildung behandelt. In der Beantwortung der Frage, was aus seinen grundsätzlichen Ausführungen „für die staatliche Unterrichtsverwaltung“ folge, hebt Kästner „in allererster Linie“ die Einsicht hervor, dass „gelehrte und fremde Gegenstände im Hintergrunde stehen können und die nationale Bildung somit die langgewahrte Einheitsbildung unseres Volkes sein muß.“139 Eine solche Ausrichtung seiner bildungspolitischen Maximen auf „nationale“ Ziele mag nach der rigorosen Ablehnung einer auf gesellschaftliche Zwecke gerichtete Pädagogik verwundern. Doch anders als die Gesellschaft scheint für Kästner die Nation in der Sphäre des Ideellen angesiedelt zu sein. Auch widerspricht seine Forderung nach der Zurücksetzung des klassischen Unterrichts zugunsten der „deutschen“ Fächer den Positionen, die Rudolf Eucken zu Anfang der 1890er Jahren formuliert hat. In anderen Punkten folgt Kästners Schrift aber seinem Lehrer, etwa bei dem Stellenwert, den er der Förderung eines intrinsischen Lernens zuordnet, ebenso bei der damit verbundenen schärferen Selektion beim Zugang zu den höheren Schulen.140 In persönlichen Kontakt trat Oskar Kästner mit Eucken nach dem Erscheinen seines Buches 1907 – seine Promotion in Jena lag mehr als zehn Jahre zurück – offenbar nicht. Drei weitere Lehrer, die sich in ihren pädagogischen Pu137 Kästner, Sozialpädagogik, S. 16, 54, 46f. 138 Vgl. ebd., S. 21, 107. 139 Ebd., S. 130. 140 Vgl. ebd., S. 133–136.

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blikationen dezidiert auf Eucken beriefen, tauschten sich dagegen intensiver mit dem Philosophen aus: Kurt Kesseler, Paul Oldendorff und Gerhard Budde. Der Berliner Religionslehrer Kesseler setzte sich in einem 1914 veröffentlichen Bändchen mit der Bedeutung Euckens für die Pädagogik auseinander. Grundlegender Ausgangspunkt für eine Pädagogik nach Eucken ist für ihn „der Glaube an eine Geisteswelt“. Daraus entspringe die Forderung an den Einzelnen, sein Leben geistigen Normen zu unterstellen, damit sich ihm „das ganze geistige Leben nach seinem vollen Umfange“ erschließe. Auch Kesseler stellt die Persönlichkeitsentwicklung des Schülers, die „Heranbildung von Charakteren, die im geistigen Leben wurzelfest geworden sind“, in das Zentrum seiner in knappen Umrissen skizzierten Pädagogik. Auch er wendet sich gegen einen Unterricht, der auf bloße Kenntnisvermittlung zielt, und gegen die Praxis des geistlosen „Paukens“ großer Mengen an Wissensstoff. Den jungen Menschen sei in der Schule „lieber etwas zu viel als zu wenig“ Freiheit zu gewähren. Persönlichen Interessen und „gesunden Neigungen“ der Schüler könne man, zumal in den oberen Klassen, durchaus Rechnung tragen.141 Der Religionspädagoge Kesseler wendet sich in dieser Schrift unter Berufung auf Eucken zudem gegen den konfessionellen Religionsunterricht. Es dürfe keine Dogmatik gelehrt werden, „sondern das neue geistige Leben soll geweckt, zum Durchbruch gebracht, gepflegt werden“. Den Schülern solle dabei primär ein geschichtliches Verständnis der Religionen vermittelt werden. Schließlich greift Kesseler in diesem Zusammenhang eine bildungspolitische Kernforderung Rudolf Euckens auf: die Einführung eines Philosophie-Unterrichts in den oberen Klassen der höheren Schulen.142 Oberstes Erziehungsziel einer Pädagogik im Sinne Rudolf Euckens ist nach Kurt Kesseler die Anleitung der Schüler zu ethisch-sittlichem Handeln. Nur das Interesse am geistigen Leben dürfe uns leiten. Diese Maxime kondensiert Kesseler nun auf den Imperativ „Sei deutsch!“. Der Argumentationsstrang, der zu dieser zunächst merkwürdig anmutenden Volte führt, lässt sich in etwa folgendermaßen zusammenfassen: Da das Geistesleben uns in nationaler Prägung entgegentrete, müsse die schulische Erziehung sich auf die nationale Geisteskultur, auf die Erweckung „nationaler Gesinnung“ richten. Sittliche Erziehung habe sich daher auch an nationalen Tugenden und Charaktereigenschaften zu orientieren. Leitsterne der Erziehung zu ethischem Handeln müssten demnach die „drei fundamentalen Eigenschaften der deutschen Gesinnung“ sein: Innerlichkeit, Wahrheit und Freiheit. Kesseler bezieht sich hier explizit auf Rudolf

141 Kesseler, Kampf, S. 27ff. 142 Ebd., S. 30f.

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Euckens kurz zuvor erschienene Schrift Zur Sammlung der Geister.143 Was es mit dieser Schrift auf sich hatte, werden wir am Ende dieses Kapitels erfahren. Paul Oldendorff, Lehrer für Deutsch und Latein an einer höheren Schule in Berlin, pflegte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg einen recht regelmäßigen Briefwechsel mit Rudolf Eucken, der sich auch auf persönlich-private Angelegenheiten erstreckte. So erbat sich und erhielt der Berliner Pädagoge 1914 von Eucken einen Kredit, um die Kosten eines Sanatoriumsaufenthalts in Dänemark bestreiten zu können.144 In seinen Briefen berichtete Oldendorff immer mal wieder von seinen Aktivitäten und Plänen zur Verbreitung der Anschauungen des Philosophen in der pädagogischen Fachöffentlichkeit wie auch in eigenen Veröffentlichungen zu philosophisch-weltanschaulichen Themen. Im November 1910 teilte Paul Oldendorff dem Jenaer Ordinarius mit, alle seine Gedanken mündeten derzeit „in das Problem echter Bildung und echter Cultur“. Ganz im Duktus Euckens postulierte er die Notwendigkeit, aus dem „zerstreuenden und ziellosen Vielerlei“ die „Bildung zu einem echten Ziele zu führen“. Dies könne nur geschehen, durch die Besinnung „auf die Quelle alles Geistesleben“, nämlich „die im Menschen zum Durchbruch kommende neue Welt“.145 In der im folgenden Jahr erschienenen Schrift Höhere Schule und Geisteskultur mit Beziehung auf die Lehrerbildung entwickelt Oldendorff diese Gedanken in zusammenhängender Form weiter. Eigentliche Bestimmung der höheren Schule sei es, „Menschen von wirklich kulturellem Werte, Menschen mit persönlichem Leben und schöpferischer Kraft heranzubilden“. Es sei zwar immer nur ein kleiner Prozentsatz von Schülern, bei denen solche Bestrebungen auf fruchtbaren Boden fielen. Man sollte aber diese Ziele „nicht um der Menge derer willen, die nur zu äußeren Zwecken und der Berechtigungen wegen die Schule besuchen“, niedriger stecken.146 Gerhard Budde schließlich entwickelte Euckens Postulat einer „Philosophie der Erziehung“ als theoretisch fundiertes pädagogisches System und vertrat es in einer wahren Flut von Büchern und Aufsätzen in der Fachöffentlichkeit. Budde hatte in den 1880er Jahren in Marburg und Berlin neuere Sprachen und Germanistik studiert und war seit 1890 als Lehrer an einem Gymnasium in Hannover tätig. 1906 wurde ihm der Titel eines Gymnasialprofessors verliehen. 1909/ 10 promovierte Budde in Jena mit einer Dissertation über den Kampf um die Vorherrschaft der Antike im Unterricht der höheren Knabenschulen. Aus dieser Studie ging 1910 ein umfangreiches zweibändiges Werk zur Pädagogik der höheren 143 144 145 146

Kesseler, Kampf, S. 32f. Vgl. ThULB NLRE I, 20, Bl. O 89-93: Paul Oldendorff an Rudolf Eucken, 30.3. und 7.4.1914. Ebd., Bl. O 77: Paul Oldendorff an Rudolf Eucken, 9.11.1910. Oldendorff, Schule, S. 22f.

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Knabenschulen in Preußen seit Anfang des 19. Jahrhunderts hervor. In den nächsten Jahren erschienen in rascher Folge Broschüren und kürzere Abhandlungen mit programmatischen Titeln wie Das Gymnasium des 20. Jahrhunderts, Der Kampf gegen die Lernschule, Die Lösung des Gymnasialproblems, Mehr Freude an der Schule!. Budde reüssierte schließlich 1910 als Privatdozent für Pädagogik an der Technischen Hochschule Hannover.147 Spätestens seit 1908 stand Gerhard Budde mit Rudolf Eucken in persönlichem Kontakt. Bereits im Frühjahr 1909 verkehrte der Hannoveraner Pädagoge auf so vertrautem Fuß mit Eucken, dass er den frischgebackenen Nobelpreisträger um die Vermittlung eines Darlehens von 10.000 Mark bat, das er zur Begleichung seiner privaten Schulden verwenden wollte. Er habe, so Budde, im Laufe der Jahre immer wieder Geld leihen müssen und sei nun „dadurch nach zu vielen Seiten abhängig geworden“. Er empfinde dies nun als „doppelt unangenehm“, da er jetzt schriftstellerisch einen eigenen dezidierten Standpunkt vertrete. Zu Beginn seines Briefes hatte Budde erklärt, er arbeite an einem größeren Werk, in dem er die Pädagogik auf den Boden der Philosophie Euckens verpflanzen wolle.148 Im Herbst 1910 beteiligte sich Gerhard Budde mit sechs Vorträgen über „Weltanschauung und Pädagogik“ an den Jenaer Ferienkursen für Lehrer. Er ordnet hier in starker Anlehnung an die Kategorien Euckens das pädagogische Denken seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts weltanschaulichen Strömungen zu, dem Neuhumanismus, dem Intellektualismus, dem Sozialismus, dem Individualismus, dem Voluntarismus und dem Neuidealismus. Budde folgt dabei einer zielgerichteten Dramaturgie: In den ersten fünf Vorträgen unterzieht er die verschiedenen Richtungen einer eingehenden Kritik, um ihnen schließlich im letzten Vortrag den Entwurf einer Pädagogik entgegen zu halten, die auf Euckens neuidealistischer Philosophie gründete.149 Auch in seinen zahlreichen Veröffentlichungen der Vorkriegsjahre präsentierte Gerhard Budde die Lehre Rudolf Euckens als Basis und zentralen theoretischen Bezugspunkt seiner pädagogischen und bildungspolitischen Überlegungen. Selbst in seiner Geschichte der Pädagogik des 19. Jahrhunderts widmet er der „neuidealistischen Pädagogik“ ein größeres Kapitel, das er mit der bemerkenswerten Prognose einleitet: „… wenn nicht alle Zeichen trügen, wird sich die höhere Schule des 20. Jahrhunderts auf der Euckenschen Weltanschauung aufbauen.“ „Professor Budde“, so teilte Eucken seinem Freund Norström 1911 mit, 147 Vgl. den Lebenslauf in: Budde, Kampf, S. 83; Budde, Pädagogik; Budde, Was fordern wir, S. 35; sowie die Verlagswerbung in: Budde, Lernschule. 148 ThULB NLRE 1-4, Bl. B 848-842: Gerhard Budde an Rudolf Eucken, 14.4.1909; vgl. ebd. Bl. B 846f: Gerhard Budde an Rudolf Eucken, 14.6.1908. 149 Die Vorträge wurden 1911 unter dem Titel Weltanschauung und Pädagogik veröffentlicht.

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sei einer seiner eifrigsten Freunde unter den Pädagogen. Der Jenaer Ordinarius griff seinem Adepten nicht nur finanziell unter die Arme, sondern förderte auch nach Kräften die Verbreitung von dessen Schriften, indem er sie Gesinnungsgenossen wie Norström zukommen ließ.150 Auch an der Ausformung der pädagogischen Systematik Buddes war Eucken aktiv beteiligt. In seinem Hauptwerk Noologische Pädagogik. Entwurf einer Persönlichkeitspädagogik auf der Grundlage der Philosophie Rudolf Euckens (1914) bedankt sich Budde bei dem Philosophen für „die wertvolle Hilfe, die er mir bei dem Aufbau des vorliegenden Buches mit immer gleicher Liebenswürdigkeit sowohl bei der Aufstellung der verschiedenen Entwürfe als auch in Einzelfragen geleistet … hat“.151 Mit dem von Eucken geprägten Terminus „noologisch“ verweist Budde darauf, dass seine Pädagogik „ihren obersten Standort“ in einer „den menschlichen Kreis überschreitenden zeitüberlegenen Ordnung“, dem „Geistesleben“, einnehme. Oberstes Erziehungsziel ist es für ihn demnach, die Heranwachsenden für die Anerkennung und Aneignung „der ewigen Ordnungen des Geisteslebens“ tauglich zu machen. Die Kennzeichnung als Persönlichkeits- oder humanistische Pädagogik wiederum nimmt direkten Bezug zur neuhumanistischen Bildungstradition.152 Buddes Fundamentalkritik der preußisch-deutschen Pädagogik des 19. Jahrhunderts setzt an der Abwendung von den Prinzipien individueller Persönlichkeitsbildung an. Das Gymnasium, wie es den humanistischen Bildungsreformern vorschwebte, sollte auf einer harmonischen Ausbildung aller Kräfte gründen. Doch schon bald seien diese Erziehungsziele in den Hintergrund getreten und durch die einseitige Pflege von Verstand und Gedächtnis abgelöst worden. Das preußische Gymnasium habe seitdem die formale Bildung des Intellekts, vorzugsweise durch die lateinische Grammatik, ins Zentrum des Unterrichts gestellt.153 Diese defizitäre und sinnwidrige Umsetzung des Humboldtschen Bildungsideal in der preußischen Schulpolitik des 19. Jahrhunderts führt Budde vor allem auf den Einfluss eines Philosophen zurück, der auch in Euckens Schriften nicht recht gelitten ist: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Vor allem zwei Tendenzen des Hegelschen Denkens hätten der offiziellen preußischen Pädagogik ihren Stempel aufgedrückt. Erstens habe der „Intellektualismus“ Hegels, der das reine Denken zum Ausgangspunkt des Lebens mache, auf das Curriculum der höheren Schulen übergegriffen. Dies habe dazu beigetragen, dass vor allem der 150 ThULB NLRE I, 30, Bl. 355: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 5.3.1911. 151 Budde, Pädagogik Band 2, S. 259; ThULB NLRE I, 30, Bl. 355: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 5.3.1911; Budde, Noologische Pädagogik, S. VI. 152 Budde, Noologische Pädagogik, S. IV; vgl. ders., Gymnasium, S. 5ff; sowie allgemein zu Buddes Pädagogik: Vogelhuber, Geschichte, S. 316. 153 Vgl. Budde, Gymnasium, S. 12, 19; ders., Noologische Pädagogik, S. IVf.

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altsprachliche Unterricht lange Zeit durch einen leeren Formalismus gekennzeichnet gewesen sei. In der Philosophie Euckens wirke dagegen jede Geisteskraft – der Intellekt, die Phantasie, das Gemüt und der Wille – harmonisch am Aufbau des Geisteslebens mit. Zweitens träten bei Hegel die Rechte des Individuums gegenüber den Interessen des Staates zurück. Als Ziel der gymnasialen Erziehung sei daher – ganz im Widerspruch zu den Vorstellungen der neuhumanistischen Pädagogen – die Beugung des Individuums unter die Autorität in den Vordergrund getreten.154 Hegels Eintreten für den „Politismus“ in der Pädagogik habe, so Budde weiter, großen Schaden angerichtet. Die Praxis des höheren Schulunterricht sei von einer „lieblosen polizistischen Disziplin“ geprägt, die jedes Vertrauen zwischen Schülern und Lehrern ertötet habe. Die Unterwerfung unter den gleichmäßigen Lernzwang eines starren Curriculum lasse der individuellen Eigenart der Schüler keinen Raum. Erziehungsziel sei nun nicht mehr der individuelle Einzelmensch als Persönlichkeit gewesen, sondern der Gelehrte und der Beamte. Die utilitaristischen Tendenzen der höheren Schulbildung, ihre Ausrichtung auf beruflich verwertbare Fertigkeiten, hätten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der Ausbildung eines realen Zweiges noch verstärkt. In eine ähnliche Richtung wie die Kritik an der Staatsorientierung der Hegelschen Lehre und ihrer pädagogischen Nutzanwendungen zielen Buddes Vorbehalte gegen eine Pädagogik, die die Gemeinschaft in den Mittelpunkt ihrer Erziehungsziele stellt. Hier trifft er sich mit Oskar Kästners Polemik gegen die „Sozialpädagogik“.155 Seine Noologische Pädagogik versteht Gerhard Budde augenscheinlich als dezidierten Gegenentwurf zu den „intellektualistischen“ und „politistischen“ Erziehungsprinzipien des 19. Jahrhunderts und einer immer noch von ihnen geprägten Praxis in den preußisch-deutschen Oberschulen. Der Hannoveraner Gymnasialprofessor plädiert in diesem Sinne für eine Rückbesinnung auf die klassischen neuhumanistischen Konzepte der Persönlichkeitsbildung, aber eben auf der Grundlage der Philosophie Rudolf Euckens. Höchste und oberste Aufgabe aller Erziehung ist es für Budde, den heranwachsenden Menschen zu seiner eigentlichen Bestimmung als „individuelles Geisteswesen“ zu führen, ihn zu befähigen, sich „in Freiheit das Geistesleben anzueignen und so dem Göttlichem in sich zum Siege über das Bloßmenschliche zu verhelfen“. Im Kern des Unterrichts an den höheren Schule habe daher die Aufgabe, „Persönlichkeiten“ heranbilden, zu stehen. Persönlichkeiten im Sinne Rudolf Euckens wurzelten in einer zeitüberlegenen Geisteswelt mit ewigen sittlichen Normen. Erst 154 Vgl. Budde, Weltanschauung, S. 79f; ders., Gymnasium, S. 13f. 155 Budde, Gymnasium, S. 17; vgl. ebd., S. 16f, 36f; ders., Noologische Pädagogik, S. IVf; ders., Weltanschauung, S. 77ff.

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wenn das Individuum fest und sicher in dieser Geisteswelt stehe, erlange es wahre Selbständigkeit gegenüber den Bindungen der Außenwelt, der Gesellschaft, und werde so zur Persönlichkeit.156 Allerdings sieht sich Budde auf der anderen Seite veranlasst, sein Konzept individueller Persönlichkeitsbildung von einer pädagogischen Richtung abzugrenzen, die in einem extremen Individualismus gründe, der sich philosophisch auf Friedrich Nietzsche berufe. Er rekurriert hier besonders auf die schwedische Pädagogin Ellen Key, die mit ihrem Bestseller Das Jahrhundert des Kindes auch in Deutschland in liberaleren Kreisen des gebildeten Bürgertums auf beträchtliche Resonanz gestoßen war. Die Kritik Keys am zeitgenössischen Erziehungssystem griff vieles auf, was auch Rudolf Eucken und seine Anhänger unter den Pädagogen immer wieder beklagten: die geistlose Dressur der Kinder und Heranwachsenden durch rigide Disziplin- und Gehorsamsanforderungen, den ständigen Prüfungsdruck, die mangelnde Rücksichtnahme auf individuelle Interessen und Neigungen. Ihr Ruf nach einer Erziehung zur „Selbsttätigkeit“ traf sich selbst terminologisch mit den Forderungen der Euckenianer. Doch Ellen Key stellte in ihren Schriften das öffentliche Erziehungssystem überhaupt infrage. Sie hielt Kindergärten und Schulen per se für eine Geißel der Moderne und strebte nach einer Verlegung der schulischen und vorschulischen Erziehung in den Binnenraum des Familienhaushaltes. Die Erziehung selbst sollte primär den Raum zur Entfaltung einer bereits angelegten individuellen Natur des Kindes geben und möglichst wenig in diesen „natürlichen“ Prozess eingreifen.157 Die individuelle Persönlichkeitsbildung wollte Budde nun keineswegs als freie Selbstentfaltung des Kindes verstanden wissen. Der Pädagoge könne seine Schützlinge nicht einfach ihren natürlichen Trieben überlassen und Gehorsam und Pflicht aus seinem Erziehungsprogramm streichen. Ein Erziehungsideal, das sich an der ungehinderten Entwicklung natürlicher Anlagen orientierte, widersprach letztlich grundlegenden Prämissen des Menschenbildes der Philosophie Rudolf Euckens. Bei Eucken fokussiert der Prozess der Persönlichkeitsbildung gerade auf eine Lösung vom naturgegebenen Dasein und auf die Teilhabe an einer der Natur überlegenen geistigen Welt als einer im Metaphysischen verankerten Ordnung. Im Mittelpunkt der Noologischen Pädagogik steht daher die Vermittlung religiös fundierter, moralisch-ethischer Grundwerte. Eine Pädagogik „vom Kind aus“, wie sie Ellen Key und ihre Anhänger vertraten, erschien

156 Budde, Noologische Pädagogik, S. 284; ders, Weltanschauung, S. 83; vgl. ebd., S. 77–83. 157 Vgl. allgemein zu Ellen Key: Andresen/Baader, Wege; Herrmann, Denken, S. 164f; Moog, Geschichte, S. 442ff.

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Budde als Angriff auf jede Art von Moral und insbesondere auf die Pflicht als Kern der christlichen Ethik.158 Gerhard Buddes Noologische Pädagogik verband sich mit einem bildungspolitischen Reformprogramm, in dessen Mittelpunkt eine grundlegende Neugestaltung des höheren Schulwesens stand. Anders als Oldendorff, der das humanistische Gymnasium auf eine kleine Elite intrinsisch motivierbarer Schüler zuschneiden und beschränken wollte, plädierte Budde für die Schaffung einer einheitlichen höheren Regelschule, mit der die zunehmende Zersplitterung in verschiedene altsprachliche, neusprachliche und „reale“ Zweige aufgehoben werden sollte. Nach Lage der Dinge konnte dies aber nur über eine drastische Einschränkung des altsprachlichen Unterrichts geschehen. An Buddes „Gymnasium des 20. Jahrhunderts“ sollte Griechisch nur noch als Wahlfach gelehrt werden und der Lateinunterricht sollte zumindest vom Ballast des intensiven Grammatikstudiums befreit werden.159 Im Vorwort seiner Noologischen Pädagogik argumentiert Budde, selbst Lehrer für Deutsch und moderne Fremdsprachen, man könne das Ziel humanistischer Persönlichkeitsbildung nicht mehr auf dem gleichen Wege erreichen wie frühere Generationen. Das antike Hellenentum in den Mittelpunkt der gymnasialen Bildung zu stellen, wie es der Neuhumanismus getan habe, sei überhaupt verfehlt gewesen, da der antike, überwiegend künstlerische Lebenstyp durch den religiös-ethischen Lebenstyp des Christentums wesentlich ergänzt worden sei. An die Stelle des Griechischen sollte daher das Deutsche treten. Im „Deutschtum“, genauer gesagt: im „deutschen Idealismus“, habe sich nämlich eine Synthese des Griechen- und des Christentums auf höherer Ebene entwickelt. Dieses „Deutschtum echter Art“ müsse daher „die Grundlage unserer gesamten Jugenderziehung werden“. Der Deutschunterricht, wie er Budde vorschwebte, stand im „Dienst der Phantasie, des Gemüts und des Willens“. „Verstandesbildung“ sei hier erst in zweiter Linie zu erstreben. Im Zentrum soll dabei die Auseinandersetzung mit den besten deutschen Dichtungen stehen. Für die ethische Bildung sah Budde die Philosophie als unabdingbar an, sei es als eigenes Fach, sei es als Teil des Fremdsprachen- und Deutschunterrichts. Grundsätzlich postulierte die Noologische Pädagogik den Vorrang der Geistesvor den Naturwissenschaften im Unterricht der höheren Schulen. Das Geistesleben müsse für den Menschen höher stehen als die Natur, die Persönlichkeitsbildung Priorität vor der Vermittlung „realer“ Wissensbestände haben.160 158 Vgl. Budde, Weltanschauung. S. 46–52. Zu Euckens Position gegenüber Ellen Key vgl. ThULB NLRE I, 30, Bl. 164f, 174: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 2.8.1906 und 21.2.1907. 159 Vgl. Budde, Gymnasium, S. 63f; ders., Kampf, S. 23f: ders., Weltanschauung, S. 80 160 Budde, Noologische Pädagogik, S. V.; ders. Gymnasium, S. 88f; ders., Kampf, S. 22.

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Die durchgreifende Neugewichtung des Stundenplans, die Gerhard Budde in seinen Schriften entwarf, verband sich mit einer Kritik des „Utraquismus“. Das im deutschen höheren Schulwesen herrschende Prinzip einer „formalen“ und „allgemeinen“ Bildung und die große und stetig wachsende Zahl obligatorischer Fächer habe nämlich gerade aus den „Kreisen der Höchstgebildeten“ immer lautere Klagen über den Mangel an individueller Bildung und die Verflachung und Zersplitterung des Unterrichts ertönen lassen. Auf die individuelle Eigenart der Schüler werde keine Rücksicht genommen. Das Individuelle, „welches das Wertvollste am Menschen ist“, werde nivelliert „und so die Schule für die einseitig Begabten, die später meistens sich als die Tüchtigsten erweisen, zu einer Stätte der Qual.“ Demgegenüber strebe die Noologische Pädagogik nach einer Reduzierung der Zahl der Pflichtfächer und nach einer stärkeren Individualisierung des Unterrichts, etwa durch eine größere Wahlfreiheit für die Schüler. Hier greift Budde Forderungen auf, die Eucken bereits zwei Jahrzehnte zuvor formuliert hatte. Und wie Oskar Kästner prangert er das „Regime der Angstgefühle“ an deutschen Schulen an. Die „polizistische“ Disziplinierung der Schüler müsse ein Ende haben, das Übermaß an Geboten und Verboten abgebaut und die völlig überzogenen Strafen für kleinste Vergehen abgeschafft werden. Nur dann könne sich ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern entwickeln, nur dann werde sich die jugendliche Persönlichkeit ungehindert entfalten.161 Gerhard Buddes Bestrebungen, auf der Grundlage von Rudolf Euckens Philosophie eine neue Pädagogik zu entwerfen, haben in der umfangreichen neueren Literatur zur Geschichte der Reformpädagogik kaum Widerhall gefunden. Dagegen räumen die einschlägigen pädagogischen Handbücher der 1920er und frühen 30er Jahre der „noologischen“, „humanistischen“ oder „Persönlichkeitspädagogik“ Buddes, Kästners und Kesselers einen durchaus nicht marginalen Platz in der zeitgenössischen Erziehungswissenschaft ein. Auch Hugo Gaudig wird hier zum Teil dieser Richtung zugeordnet, selbst wenn er in seinen Schriften nicht explizit auf Euckens Werk Bezug genommen hat. Noch 1937 erschien in Argentinien eine Monographie über La Pedagogica de la Personalidad (Eucken – Budde – Gaudig – Kesseler).162 In ihren eben dargelegten Grundzügen lässt sich diese Pädagogik ohne weiteres im reformpädagogischen Mainstream des späten Kaiserreichs verorten. Gerhard Budde und seine Mitstreiter setzen in ihren Schriften aber durchaus eigentümliche Akzente. So stellt Budde seinen 161 Budde, Gymnasium, S. 33, 101; vgl. ebd., S. 97–101; ders., Weltanschauung, S. 88; ders., Kampf S. 21; ders., Noologische Pädagogik, S. 429. 162 Vgl. Peter Petersens Rezension des Buches in: Die Tatwelt 14, 1938, S. 225f; sowie Vogelhuber, Geschichte, S. 297f, 316ff; Moog, Geschichte, S. 456f.

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pädagogischen Entwurf, wie dies bereits Rudolf Eucken selbst getan hat, dezidiert in die Traditionslinie des neuhumanistischen Bildungskonzepts – und distanziert sich vehement von dessen Umsetzung in die schulischen Praxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Noologische Pädagogik erscheint in vielem als Rückwendung zu den idealistischen Erziehungskonzepten Humboldts und Wolfs, die die preußische Kultusbürokratie geradezu in ihr Gegenteil verkehrt habe.163 Bemerkenswert erscheint aber vor allem, in welcher Weise in den pädagogischen Schriften Euckens, Kästners, Kesselers und Buddes das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft, zur Gesellschaft, zum Staat austariert wird. Nicht allein, dass der Unterricht den Schülern große Freiheitsräume gewähren und so weit wie möglich ihren Bedürfnissen und Neigungen entgegen kommen soll – die Schule als Instanz der „Sozialisation“ wird hier überhaupt problematisiert. Für die „euckenianischen“ Pädagogen gehört es nicht zu den primären Aufgaben der Schule, die Heranwachsenden zu einem irgendwie „nützlichen“ Glied der Gemeinschaft zu machen oder ihre Ausbildung den Interessen von Staat und Wirtschaft unterzuordnen. „Überall, wo das soziale Erziehungsziel dem humanistischen vorangestellt wird, … verläßt die Pädagogik den richtigen Weg“, erklärt Budde bereits in der Einleitung zu seiner Noologischen Pädagogik apodiktisch.164 Die Schüler sollen vielmehr befähigt werden, eine gesellschaftskritische Position einzunehmen. Auch den verbreiteten autoritären Erziehungsstil, der auf strikten Gehorsam und rigide Disziplin ausgelegt ist, lehnen Rudolf Eucken und die von ihm inspirierten Pädagogen ab. Insofern trägt die Noologische Pädagogik durchaus emanzipatorische und anti-autoritäre Züge.

Weltweite Netze In seinen Briefen an Vitalis Norström gab Rudolf Eucken immer mal wieder seiner Überzeugung Ausdruck, er werde im Ausland besser verstanden als in Deutschland. Seine Schriften würden dort freundlicher aufgenommen und hätten, zumal in den Kreisen der Gelehrten, weniger Widerstände zu überwinden

163 Ein ähnliches Narrativ findet sich noch in den Darstellungen Herman Nohls zur Geschichte der Reformpädagogik aus den 1960er und 70er Jahren. Dies ist möglicherweise kein Zufall: Der Dilthey-Schüler Nohl hatte als Jenaer Privatdozent seit 1908 zum Mitarbeiterkreis Euckens gehört. Vgl. Oelkers, Reformpädagogik, S. 18–21; Flitner, Erinnerungen, S. 109f; Friedrich, Position, S. 255. 164 Budde, Noologische Pädagogik, S. IV.

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als im eigenen Land.165 Bei der Nobelpreisverleihung oder bei Euckens Engagement für die katholischen Modernisten hat sich denn auch bereits angedeutet, dass der Jenaer Philosoph zahlreiche Kontakte ins europäische Ausland unterhielt und dort gelesen wurde. Rudolf Euckens Aufstieg zur international bekannten Geistesgröße begann möglicherweise in den eigenen vier Wänden. Der Jenaer Ordinarius stand in dem Ruf, besonders viele ausländische Studenten zu betreuen. Augenscheinlich bekamen sie während ihres Studienaufenthalts in Jena die Gelegenheit, den eminenten Philosophen auch privat näher kennen zu lernen. Man habe, so erinnerte sich Irene Eucken später, seit 1882, ihrem Hochzeitsjahr, „fortwährend ausländische Gelehrte und Studierende“ im Haus gehabt. Die Universität Jena kam zwischen 1890 und 1914 auf einen Ausländeranteil unter ihren Studierenden von 9,3 Prozent im Jahresdurchschnitt und nahm damit im innerdeutschen Vergleich den vierten Platz ein. Nur die renommierten großen Universitäten Berlin, Leipzig und Heidelberg rangierten vor der thüringischen Landesuniversität. „Wir haben hier ein sehr internationales Publikum, meine näheren Zuhörer sind mehr Nichtdeutsche als Deutsche“, teilte Eucken 1907 dem schwedischen Kollegen Norström mit.166. Rudolf Euckens akademische Auslandskontakte intensivierten sich, nachdem das Jenaer Programm der Lehrerfortbildung 1893 um „Ferienkurse“ für Ausländer erweitert wurde. Von nun an kamen Jahr für Jahr in den Sommersemesterferien in wachender Zahl Lehrer, Studenten und andere Akademiker aus vielen europäischen Ländern und Nordamerika in die thüringische Universitätsstadt, um einen Deutsch-Sprachkurs zu absolvieren und sich ggf. von Eucken oder seinen Assistenten in die Philosophie einführen zu lassen. Der Philosoph trat zudem aktiv für eine Öffnung des Universitätsstudiums für Frauen ein. Mehrmals unternahm er Vorstöße, um Frauen den Besuch von Philosophie-Vorlesungen und die Promotion zu ermöglichen. 1902 konzedierte die Weimarer Kultusbürokratie gegen den anhaltenden Widerstand des Universitätskurators die Zulassung einzelner Hörerinnen an der Philosophischen Fakultät, bevor 1908 dann die Immatrikulation von Frauen an der Universität Jena allgemein gestattet wurde. Für den Ruf Euckens im Ausland war diese Entwicklung insofern bedeutsam, als sein Einsatz für das Frauenstudium ihm vornehmlich britische und amerikanische Studentinnen zuführte. Bereits seit der Mitte der 1890er Jahre bot er jungen Frauen aus diesen Ländern private Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie an. „Morgen beginnt die Specialvorlesung für die 165 Vgl. etwa ThULB NLRE I, 30, Bl. 310, 327: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 5.12.1909 und 26.3.1910; ähnlich auch: R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 86. 166 ThULB NLRE V, 6, Bl. 138: Irene Eucken an Eulalia Guzman, 2.9.1929; ebd. I, 30, Bl. 204: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 28.11.1907. Vgl. Siebe, Germania, S. 282f.

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Damen (hier oben im Eßzimmer) früh 9 Uhr“, teilte Rudolf Eucken im April 1898 seiner Schwiegermutter mit. „Fünf (3 aus Amerika, 2 aus England) haben schon gebeten daran theilnehmen zu dürfen (natürlich lese ich gratis)“.167 Solche persönliche Betreuung trug sicherlich dazu bei, dass die Kontakte zu ausländischen Studierenden oder Teilnehmern der Ferienkurse auch nach deren Rückkehr in ihre Heimatländer in vielen Fällen weiter gepflegt wurden. Frühere Schüler hielten brieflichen Kontakt zu ihrem deutschen Professor und kamen auch einmal, wenn sich die Gelegenheit ergab, zu einem Besuch nach Jena. Eindrucksvoll belegt wird dies durch einen Brief aus Oswego im Staat New York. Er stehe immer noch in regelmäßigem Kontakt mit „many of the old Jena friends“, teilt der Pädagoge Grant Karr hier seinem Doktorvater Eucken mit. Es folgt eine lange Aufzählung ehemaliger Jenaer Studenten, die im Nordosten der USA als Lehrer und Pfarrer lebten: Prof. Mace and Mrs. Mace live only thirty five miles, an hour by rail, from here … (…) Dr. Wilson is also in Syracuse, teaching philosophy. (…) Dr. Tupper … is a pastor in Cambridge, Mass. (…) Dr. Painter … has taught some and preached some … Dr. Judd is teaching in a small college at Alliance, Ohio. (…) Herr Hall is in a Teacher’s Training School in New York City. (…) Mr. Wilkinson is teaching Englisch in a small college in Elmhurst, Illinois … (…) Mr. Shaw is in New York University … I see Mr. Will S. Monroe once in a while … He is located at Westfield, Mass., working in a Normal School. Herr Dr. Rose is Dean of the Department of Pedagogy in the Teachers Training School in Brooklyn. (…) Dr. Weir is president of a Normal School at Clarion, Pennsylvania…

Auch über Mr. und Mrs Shank, Mr. Moore, Mrs. Kleinsorge, Miss Blaich, Dr. Christman und Mr. Waterman berichtete Karr nach Jena. Zudem kündigte er einen neuen Studenten an, den 17jährigen Sohn des Philosophen John Dewey, dem er ein Einführungsschreiben für Eucken mitgegeben habe.168 Ihre stärkste Resonanz außerhalb des deutschsprachigen Raums fand Rudolf Euckens Philosophie tatsächlich zunächst in den USA. Bereits 1880 war hier eine englische Übersetzung seiner Grundbegriffe der Gegenwart erschienen. In einer amerikanischen Zeitschrift, The Monist, veröffentlichte Eucken 1896 auch seinen ersten fremdsprachigen Artikel, ebenfalls zur philosophischen Terminologie.169 Der Herausgeber des Monist, Paul Carus, ein gebürtiger Deutscher, 167 ThULB NLRE I, 32, Bl. 298: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 29.4.1898. Vgl. ebd., Bl. 295: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 23.4.1898; Lütgert, Ferienkurse, S. 222f; Schmidt, Alma Mater; S. 221; Hänel, Studierende, S. 500f; Steinbach, Ökonomisten, S. 268; Hänel, Studierende, S. 500f, 508. 168 ThULB NLRE I, 14, Bl. K 136f: Grant Karr an Rudolf Eucken, 19.3.1905. 169 Der Titel der Zeitschrift The Monist hatte nichts mit dem Monismus eines Ernst Haeckel zu tun. Vgl. hierzu ebd. I, 4, Bl. C 40: Paul Carus an Rudolf Eucken, 8.6.1896. Dass Eucken in

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hatte in Tübingen Philosophie, klassische Philologie und Naturwissenschaften studiert und war 1883 in die USA ausgewandert. Materiell abgesichert durch die Heirat mit der Tochter eines amerikanischen Industriellen, betätigte er sich seit 1886 als Herausgeber religionsphilosophischer Zeitschriften. Es war demnach sicherlich hilfreich für die Rezeption der Werke Euckens in den USA, dass zahlreiche amerikanische Akademiker am Ausgang des 19. Jahrhunderts aufgrund ihres Immigrationshintergrunds des Deutschen mächtig waren. Die redaktionelle Leitlinie des Monist und seiner Schwesterzeitschrift The Open Court orientierte sich an einer eigentümlichen Verknüpfung von Naturwissenschaft und Religion. Carus galt die exakte Wissenschaft als religiöse Offenbarung. Sie vermittele in systematischer Form dem Menschen Wahrheiten göttlichen Ursprungs. Dies war nicht unbedingt die Perspektive Euckens auf die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Religion. Doch mag das Bestreben, der Religion einen zentralen Platz im Geistesleben der Moderne zuzuweisen, für genügend weltanschauliche Gemeinsamkeit zwischen dem deutsch-amerikanischen Publizisten und dem Jenaer Philosophen gesorgt zu haben. Carus’ spezielles Interesse galt den östlichen Religionen, besonders dem Buddhismus. Auch zu diesem Thema konnte Eucken Sachdienliches beisteuern, wie sein 1898 im Monist veröffentlichter Aufsatz On the Philosophical Basis of Christianity in its Relation to Buddhism andeutet.170 Zwischen 1898 und 1902 veröffentlichte Rudolf Eucken eine ganze Reihe von Artikeln in einer weiteren amerikanischen Zeitschrift, The Forum, die in New York erschien. Deren Herausgeber, Joseph Mayer Rice, hatte 1888/90 in Jena und Leipzig Psychologie und Pädagogik studiert und war 1893/94 noch einmal nach Jena zurückgekehrt. Sein akademischer Lehrer war vor allem Wilhelm Rein gewesen, so dass er sicherlich auch nähere Bekanntschaft mit Rudolf Eucken geschlossen hatte. Rice hatte in den frühen 1890er Jahren als investigativer Journalist das amerikanische Bildungssystem kritisch beleuchtet. Seit 1897 fungierte er als Herausgeber des Forums, wo im folgenden Jahr der erste Beitrag Euckens erschien. Der Jenaer Ordinarius behandelte in seinen Artikeln meist deutsche Zustände und Befindlichkeiten, vor allem das deutsche Bildungssystem, die zeitgenössische deutsche Philosophie oder die Stellung von Religion und Kirchen in Deutschland.171 Verbandsorganen der Monisten publizierte, um auch bei weltanschaulichen Gegnern Gehör zu finden, wie Graf, Positivität, S. 79, meint, trifft daher wohl nicht zu. 170 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Carus; R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13, S. 93. 171 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/The_Forum_(defunct_magazine); R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 86; ders., Gesammelte Werke Bd. 13, S. 93–101; sowie Euckens Notiz, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung 7.6.1904, S. 422.

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Der vielleicht einflussreichste Propagandist der Philosophie Euckens in den Vereinigten Staaten war der Psychologe Hugo Münsterberg. Dies mag angesichts dessen wissenschaftlichen Profils zunächst etwas abwegig erscheinen. Münsterberg gilt nämlich als einer der Begründer der Psychologie als empirisch-experimenteller Wissenschaft. Er hatte in Leipzig bei Wilhelm Wundt promoviert und 1887 in Heidelberg auch den medizinischen Doktorgrad erworben. Nach einigen Jahren als Privatdozent in Freiburg wude Münsterberg 1892 auf Fürsprache William James’ zum Direktor des Psychologischen Labors an der Harvard University ernannt. Drei Jahre später kehrte er noch einmal nach Deutschland zurück und versuchte, eine ordentliche Professur an einer deutschen Hochschule zu erhalten. Auch Eucken setzte sich für ihn ein. Doch erwies sich Münsterbergs jüdische Herkunft als gewichtiges Handicap. Schließlich erhielt er 1897 einen Lehrstuhl in Harvard.172 Um 1900 löste sich das Fach Psychologie gerade erst von der bisherigen Zuordnung als Teilbereich der Philosophie. Die experimentelle Psychologie, die Hugo Münsterberg vertrat, hatte sich dabei am weitesten von der bisherigen Mutterwissenschaft entfernt. Sie war in Münsterbergs Verständnis „Psychotechnik“, eine angewandte Wissenschaft mit praktischen und kommerziell verwertbaren Zwecksetzungen, von Eignungstests für Trambahnfahrer bis zur Produktwerbung. Kurz, Münsterbergs experimentelle Psychologie stand so ziemlich für alles, was Rudolf Eucken an der modernen „positivistischen“ Wissenschaft ablehnte. Der Jenaer Ordinarius gehörte denn auch 1913 zu den Unterzeichnern einer Protestresolution gegen die Umwidmung philosophischer Lehrstühle in solche für experimentelle Psychologie. Nichts desto weniger zählte sich Hugo Münsterberg zu den Anhängern von Euckens Lehre. Sein Kampf um eine „consequente Psychologie“, so teilte er dem Jenaer Philosophen 1895 mit, sei doch letztlich eine „Vorarbeit, um aufzuhellen, wie Psychologie doch principiell nie den Werten des Lebens sich auch nur nähern kann“. Insofern vollzog er hier die strikte Trennung von noologischer und psychologischer Erkenntnis, von der Analyse des objektiven Grundgehalts des Geisteslebens einerseits und dessen Wirkung auf den Menschen und im Menschen andererseits.173 Münsterberg beschäftigte sich neben seinen grundlegenden Arbeiten zur experimentellen Psychologie auch mit philosophischen Fragen, vor allem mit der Ableitung und Begründung von Werten. 1908 veröffentlichte er eine Philosophie der Werte, ein Werk, das er im Jahr zuvor Eucken als sein „Weltverbesse172 Vgl. Lück, Münsterberg; Keller, States, S. 24–29; ThULB NLRE I, 19, Bl. M 334: Hugo Münsterberg an Rudolf Eucken, 30.12.1896. 173 ThULB NLRE I, 19, Bl. M 334f: Hugo Münsterberg an Rudolf Eucken, 4.11.1895. Vgl. Lück, Münsterberg.

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rungsbuch“ angekündigt hatte. Bereits kurz nachdem Münsterberg sein Ordinariat in Harvard erhalten hatte, trat er an Rudolf Eucken mit dem Plan heran, den Kampf um einen geistigen Lebensinhalt in einer englischen Ausgabe zu veröffentlichen. Er habe, so teilte er dem Philosophen mit, schon eine englischsprachige Kollegin als Übersetzerin gewonnen. Einen amerikanischen Verlag zu finden, sei nicht weiter problematisch. Seine Empfehlung als Harvard-Ordinarius werde vollkommen ausreichen. Warum dann doch nichts aus diesem Vorhaben wurde, geht aus den vorhandenen Quellen nicht hervor.174 Auch mit einigen amerikanischen Kollegen trat Rudolf Eucken nach der Jahrhundertwende in einen etwas engeren, meist brieflichen Kontakt. Dies waren allesamt Vertreter des „Personalismus“, einer philosophischen Richtung, die deutliche Affinitäten mit Euckens eigenem Denken besitzt. Die amerikanischen Personalisten, die um die Jahrhundertwende mehrere Schulen gebildet hatten, waren stark beeinflusst von der klassischen deutschen idealistischen Philosophie, von Kant, Schelling, Fichte und Hegel, auch von Hermann Lotze. Viele von ihnen hatten auch an deutschen Universitäten studiert. Mit einer der Gründerfiguren des amerikanischen Personalismus, Borden Parker Bowne, Professor für Philosophie an der Boston University, korrespondierte Eucken auf recht vertrautem Fuß. Bowne teilte dem deutschen Kollegen Anfang 1910 mit, er sei seit langem mit dessen Werk vertraut und kündigte ihm für das kommende Frühjahr seinen Besuch in Jena an. Zu einem persönlichen Zusammentreffen kam es allerdings nicht mehr, da Bowne kurze Zeit später starb. Zu einem 1915 in den USA veröffentlichten Gedenkband steuerte Eucken die Einführung in das Werk Bownes bei. Auch mit George Holmes Howison, Professor in Berkeley und Begründer der kalifornischen Schule des Personalismus, tauschte sich Eucken gelegentlich aus. Eine intensivere Korrespondenz, allerdings überwiegend erst in den 1920er Jahren, pflegte der Jenaer Philosoph mit Bownes Schüler Ralph Tyler Flewellin, der als methodistischer Pastor wirkte, bevor er 1917 einen Philosophie-Lehrstuhl an der University of Southern California in Los Angeles erhielt.175 Der Personalismus in seinen diversen Spielarten und Rudolf Euckens Neuidealismus weisen offensichtliche Gemeinsamkeiten auf. Zum einen vereint sie ihre Verankerung im Metaphysischen. Borden Parker Bownes Vorstellungen von einem göttlichen Geist („Divine Mind“) als selbststeuernder intelligenter 174 ThULB NLRE I, 19, Bl. M 334f, 340-343, 351: Hugo Münsterberg an Rudolf Eucken, 4.11.1895, 14.9. und 19.9.1896, 20.8.1907. 175 Vgl. Buford, Personalism; Dorrien, Making, S. 372ff; R. Eucken, Work, S. 17; ThULB NLRE I, 3, Bl. B 652ff: Bordon P. Bowne an Rudolf Eucken, 7.2. und 29.3.1910; ebd. I, 12, Bl. H 577-581: George Holmes Howison an Eucken, 30.12.1909 und 20.3.1912; sowie zwei Briefe Flewellins an Eucken 1913/14 (ebd. I, 8, Bl. F 173f).

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Kraft, die die Ordnung und Kontinuität des Daseins verbürge, lassen sich sicherlich ohne große Komplikationen in Euckens Entwurf der „Einheit des Geisteslebens“ übersetzen. Zum zweiten kreist auch das Menschen- und Gesellschaftsbild der amerikanischen Personalisten um die Persönlichkeit, die ihr Handeln in grundsätzlicher Freiheit an „ewigen“, „höheren“ Werten und Idealen ausrichtet. Zudem teilten Eucken und die Personalisten ihre Feinde und Feindbilder. Bowne verkündete in seinen Briefen nach Jena die Wiedergeburt der spirituellen Philosophie, die er als Gegenreaktion zum Materialismus und Atheismus, zum evolutionistischen und mechanistischen Naturalismus der vorigen Generationen deutet. Eucken sei einer der Propugnatores in diesem Kampf gewesen, „and I have myself been on the firing lines.“176 Während der Personalismus in philosophiegeschichtlichen Handbüchern heute bestenfalls als Marginalie behandelt wird, hat sich eine andere Strömung der amerikanischen Philosophie der Jahrhundertwende, der Pragmatismus, einen festen und geachteten Platz im Kanon der Philosophiegeschichte erobert. Nun wurden die beiden prominentesten Vertreter des Pragmatismus, William James und John Dewey, von den Zeitgenossen auch immer mal wieder mit Rudolf Eucken in Verbindung gebracht. Der Eucken-Schüler Grant Karr, bemerkte, als er 1905 dem Jenaer Ordinarius den Sohn Deweys als neuen Studenten ankündigte, er halte den Vater, Professor an der New Yorker Columbia Universität, für einen der besten zeitgenössischen Denker Amerikas. Er habe, so Karr weiter, häufiger Dewey gegenüber die Hoffnung geäußert, er möge Eucken persönlich kennenlernen. Natürlich kenne Dewey die Arbeiten Euckens zum größten Teil.177 Auch von William James ist dokumentiert, dass er sich mit den Werken des Jenaer Philosophen intensiv auseinandersetzte. 1905 berichtete der Pastor Fritzmeier aus Chicago, er habe sich nach einem Vortrag James’ persönlich mit diesem über Eucken unterhalten. James habe sich voller Begeisterung über Euckens religionsphilosophische Arbeiten geäußert.178 Offensichtlich beruhte aber solche Wertschätzung nicht auf Gegenseitigkeit und es ist auch nicht schwer nachzuvollziehen, warum dem so war. Die amerikanischen Pragmatisten klammerten aus ihrem philosophischen Entwurf dezidiert alles aus, was ihnen spekulativ erschien: „erste Dinge“, Prinzipien, historische „Notwendigkeiten“. Sie betrachteten die Welt von den Ergebnissen her. 176 ThULB NLRE I, 3, Bl. B 652ff: Bordon P. Bowne an Rudolf Eucken, 7.2. und 29.3.1910. Vgl. Buford, Personalism; Flewellin, The philosophy; R. Eucken, Work, S. 21, 29f. 177 ThULB NLRE I, 14, Bl. K 136: Grant Karr an Rudolf Eucken, 19.3.1905. 178 ThULB NLE I, 8, Bl. F 418f: W. Fritzmeier an Rudolf Eucken, 9.7.1905. Vgl. auch William James an Wincenty Lutoslawski, 12.8.1901: „I have just read a very good, tho’ very prolix work of Euckens der Wahrheitsgehalt der Religion, from which I have received encouragement and instruction.“ (zitiert nach: Skrupskelis/Berkeley, Correspondence, Band 11, S. 531).

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Als wahr galt ihnen, was nützlich war, einen konkreten Wert hatte, was erfolgreich war. Auch der Wert einer Philosophie bemaß sich daran, inwieweit sie sich im praktischen Leben bewährte. Nun mochten sich William James, John Dewey und Rudolf Eucken möglicherweise in der Ablehnung spekulativer Systeme oder auch in der Forderung einer „lebensnahen“ Philosophie einig sein. Doch der eben referierte pragmatistische Wahrheitsbegriff stand doch quer zu allem, was der metaphysisch verankerte Neuidealismus Euckens als welt- und zeitüberlegene Wahrheiten postulierte. Das war nun in Euckens Augen der nackte Utilitarismus. So dürfte er auch einigermaßen irritiert gewesen sein, als ihm Howison Ende 1909 berichtete: „You will be surprised … to learn that W. James and his adherents are publicly claiming you as a Pragmatist.“ Einige Monate später teilte Eucken Norström mit, es liege ihm ganz besonders an einer deutlichen Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus, „der in America, wie dortige Freunde schreiben, sich oft auf mich beruft.“ Als er 1912 zu seiner ersten und einzigen Reise nach Amerika aufbrach, kündigte Eucken dem schwedischen Freund an, er hoffe, dort „energisch gegen Utilitarismus und Pragmatismus wirken zu können“.179 Wie in Europa so wurden Rudolf Euckens Werke auch in Nordamerika seit der Jahrhundertwende in wachsendem Maße von Theologen verschiedener Konfession rezipiert. Es waren hier vor allem die Unitarier, die den Jenaer Philosophen lasen und ihn als einen der ihren reklamierten. Dies war insofern auch gerechtfertigt, als der Unitarismus eine betont undogmatische Form des protestantischen Christentums repräsentierte und auf ein festes Glaubensbekenntnis verzichtete. Die amerikanischen Unitarier hatten die Federführung bei der Organisation regelmäßiger Weltkongresse für freies Christentum übernommen. Auf diesen Kongressen versammelten sich überwiegend Vertreter eines liberalen Protestantismus, aber auch die katholischen Modernisten und Angehörige nicht-christlicher Religionsgemeinschaften traten hier auf. Rudolf Euckens Status eines international bekannten Religionsphilosophen und prominenten Protagonisten eines freien Christentums lässt sich daran ablesen, dass er zu den Kongressen von 1905, 1907 und 1910 vom International Council of Unitarian and Other Liberal Religious Thinkers and Workers in Boston eingeladen wurde, dort eine der Reden zu halten. Zu den Kongressen in Genf 1905 und in Boston 1907 reiste er nicht an, sondern ließ seine Rede verlesen. Für einen Auftritt beim Bostoner Weltkongress hatte ihm das Organisationskomitee ein Honorarium von $ 179 Zitate: ThULB NLE I, 12, Bl. H 577: George Holmes Howison an Rudolf Eucken, 30.12.1909; ebd. I, 30, Bl. 337, 377: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, Göteborg, 3.7.1910 und 8.9.1912. Vgl. auch R. Eucken, Strömungen (1909), S. 49f. Zum Pragmatismus: Störig, Weltgeschichte, S. 639–645.

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200 geboten, „to address us in a topic representative of your life work, and our common cause of philosophical and religious enlightenment.“ Auf dem fünften „Weltkongress für freies Christentum und religiösen Fortschritt“ im August 1910 trat Eucken schließlich in persona auf, allerdings nicht am Haupttagungsort Berlin, sondern nur auf der Abschlussveranstaltung, die im nahen Weimar stattfand.180 Einen längeren persönlichen Briefwechsel unterhielt Eucken seit 1906 mit einem unitarischen Theologen, Richard W. Boynton, Pfarrer in St. Paul/Minnesota und Buffalo/New York. Boynton kam im Sommer 1907 nach Jena, um Euckens Vorlesungen zu hören. In den folgenden Jahren betätigte er sich in seinem amerikanischen Wirkungskreis als eifriger Propagandist von Euckens Lehre. So kündigte Boynton dem Jenaer Ordinarius 1913 an, er werde auf der Western Unitarian Conference in Toledo/Ohio über die zeitgenössische Philosophie und ihre Hilfe für die Religion sprechen. Dabei wolle er Euckens Philosophie als diejenige vorstellen, die gegenwärtig den größten und bedeutendsten Beitrag zur Religion leiste.181 In den westeuropäischen Ländern stand einer weiteren Verbreitung von Euckens Philosophie und Weltanschauung vorerst das Sprachproblem entgegen. In Großbritannien oder Frankreich war wohl bei den Intellektuellen und Akademikern die Kenntnis der deutschen Sprache weniger verbreitet als in den USA. Kaum jemand wird sich hier wie George Tyrrell der Mühe unterzogen haben, deutsch zu lernen, um das Werk des Jenaer Philosophen studieren zu können. Und selbst in diesem Fall hatte es den fortwährenden Ermahnungen Friedrich von Hügels bedurft, um den irischen Theologen dazu zu bringen, doch endlich seine Deutschkenntnisse zu verbessern. Die Ankündigung des Barons von 1897, den Schriften seines Freundes Eucken durch Übersetzungen ins Englische den Weg zu internationaler Anerkennung zu bahnen, zeitigte wiederum mehr als ein Jahrzehnt lang keine konkreten Konsequenzen.182 Auch andere Vorstöße, Euckens Bücher in Übersetzungen dem englischsprachigen Publikum zugänglich zu machen, erwiesen sich als außerordentlich mühsame und langwierige Angelegenheit. Ende 1903 erhielt der Philosoph Post aus England von einem Kollegen, Williston Samuel Hough, der ihm erklärte, 180 Vgl. R. Eucken, Free Christianity; ders., Die deutsche Philosophie; ThULB NLRE I, 28, Bl. W 118: Charles W. Wendte, The International Council of Unitarian and Other Liberal Religious Thinkers and Workers, Rundschreiben, 25.5.1905, 17.6. und 12.10.1906; 18.2.1907; Hübinger, Kulturprotestantismus, S. 251f; Sieg, Geist, S. 96. 181 ThULB NLRE I, 3, Bl. B 667: Richard W. Boynton an Rudolf Eucken, 27.3.1913. Vgl. ebd. Bl. B 661-664, 669-673: Boynton an Eucken, 28.12.1906, 20.8.1907, 25.3. und 28.6. 1913, 6.1.1914. 182 Vgl. Graf (Hg.), Tyrrell, S. 235f; ThULB NLRE I, 12, Bl. H 594: Friedrich von Hügel an Rudolf Eucken, 1.12.1897.

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die Lebensanschauungen der großen Denker hätten einen so großen Eindruck auf ihn gemacht, dass er sie gerne übersetzen wolle. Eucken reagierte so prompt, dass Hough ihm schon eine Woche später für seine enthusiastische Zustimmung zu dem Projekt danken konnte. Gleichzeitig schlug Hough vor, in der englischen Version ein Kapitel über das britische Denken im 19. Jahrhundert hinzuzufügen. Vor allem die Evolutionstheorie habe in der gesamten englischsprachigen Welt einen solchen Einfluss erlangt, dass die Behandlung dieser Lehre das Interesse an dem Buch sehr erhöhen würde. Schon wenige Wochen später berichtete Hough, er habe einen renommierten britisch-amerikanischen Verlag, Macmillan, für die englische Version der Lebensanschauungen interessieren können. Allerdings wolle der Verlag erst einen Vertrag abschließen, wenn der gesamte Text der Übersetzung vorliege. Man habe ihm erklärt, der große Erfolg des Buches in Deutschland bürge noch nicht für einen ähnlichen Erfolg in England.183 Im Frühjahr 1904 setzte sich Rudolf Eucken daran, das Kapitel zur englischen Philosophie zu verfassen. Anfang 1905 legte Hough einen Teil des übersetzten Manuskripts vor. Doch dann erhielt er einen Ruf auf einen PhilosophieLehrstuhl in Washington D. C. und die Arbeiten gerieten ins Stocken. Erst im Frühjahr 1908 lag die Übersetzung vor, doch beide amerikanische Verlage, denen Hough das Manuskript angeboten hatte, lehnten eine Veröffentlichung wegen mangelnder Gewinnaussichten ab. Schließlich akzeptierte der New Yorker Verlag Charles Scribner’s Sons im Herbst 1908 die englische Version der Lebensanschauungen der großen Denker – und machte damit einen unverhofften Glücksgriff, hatte man doch plötzlich den neuen Literatur-Nobelpreisträger im Programm.184 Mittlerweile war aber der Jenaer Philosoph dem nicht der deutschen Sprache mächtigen Publikum in Großbritannien und den USA auf andere Weise näher gebracht worden. Ein englischer Schüler Euckens, W. R. Boyce Gibson, hatte nach seiner Rückkehr nach London begonnen, die Philosophie seines Lehrers in seinem Heimatland zu verbreiten. 1905 berichtete Boyce Gibson nach Jena, er schreibe einen Beitrag über den religiösen Idealismus für ein neues theologisches Wörterbuch, der sich ganz überwiegend mit der Lehre Euckens befasse. Auch habe er eine Reihe von Vorlesungen über die Philosophie seines Doktorvaters gehalten. 1906 veröffentlichte Boyce Gibson ein kleines Buch, das sich 183 ThULB NLRE I, 12, Bl. H 492, 497f, 501f: W. S. Hough an Rudolf Eucken, 23. und 30.12.1903, 30.1.1904. 184 Vgl. ebd. I, 12, Bl. H 516-520, 526-531, 548, 554ff, 565: W. S. Hough an Rudolf Eucken, 8.4. und 22.5.1904, 30.1., 6.7. und 24.12.1905, 27.6.1906, 7.7.1907, 27.3. und 6.12.1908, 26.2. und 6.10.1909.

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mit Rudolf Eucken’s Philosophy of Life auseinandersetzte. Im gleichen Jahr übernahmen er und seine Frau Lucy von Hough die Übersetzung von Euckens Lebensanschauungen der großen Denker. Der Philosoph selbst erhielt von den englischen Unitariern die Einladung, die prestigeträchtige Essex Hall Lecture, die einmal jährlich in London stattfand, zu übernehmen. Eucken sagte allerdings ab, weil er, wie er in seinen Memoiren schrieb, sich nicht entschließen konnte, englisch zu sprechen. 1908 veröffentlichte er dafür in einer den Unitarier nahestehenden Zeitschrift einen Artikel zum Problem der Unsterblichkeit.185 Auch in Frankreich dauerte es lange, bis die ersten Übersetzungen von Rudolf Euckens Werken erschienen. Eucken scheint aber hier früher als in England einem breiteren philosophischen und theologischen Fachpublikum bekannt gewesen zu sein. Bereits 1897 hatte er die Grundlinien seiner Religionsphilosophie in einer renommierten philosophischen Zeitschrift, der Revue de métaphysique et de morale, dargelegt. Seit 1903 trug Eucken regelmäßig Artikel zu einer lexikalischen Sammlung philosophischer Termini bei, die im Bulletin de la Société francaise de Philosophie veröffentlicht wurden.186 Auch von reformkatholischen Theologen und Religionsphilosophen aus dem Kreis des Barons von Hügel wurde er schon seit der Jahrhundertwende rezipiert.187 Eine bedeutsame Mittlerrolle übernahm auch hier ein ehemaliger Schüler Euckens: Isaak Benrubi, der 1904 mit einer Arbeit über Rousseau sein Studium in Jena abgeschlossen hatte. Nach seiner Promotion ging Benrubi nach Paris und bewegte sich hier bald im Dunstkreis einer lebensphilosophisch-idealistischen Schule, deren prominenteste Vertreter Émile Boutroux und Henri Bergson waren. In den Werken von Boutroux und Bergson lassen sich durchaus Anklänge an Euckens Philosophie und gemeinsame Denkfiguren finden. Boutroux übt eine Grundsatzkritik an der naturwissenschaftlichen Methodik und ihren gedanklichen Prämissen. Für ihn ist das Naturgeschehen weitgehend kontingent und lässt sich keinesfalls hinreichend in kausal-mechanistische Gesetzmäßigkeiten fassen. Das geistige Leben entziehe sich erst recht einer mechanistischen Betrachtungsweise. Letztlich werde die gesamte Realität von einem frei wirkenden geistigen Prinzip bestimmt. Boutroux’ Schüler Bergson spitzt diesen erkenntnistheoretischen Gedankengang zu, indem er naturwissenschaftliche Lo185 Vgl. ThULB NLRE 1-9, Bl. G 152ff: W. R. Boyce Gibson an Rudolf Eucken, 13. und 27.11.1905; ebd. I, 12, Bl. H 535: W. S. Hough an Eucken, 27.6.1906; ebd. I, 5, Bl. D 75, 77: V. D. Davis an Eucken, 11.3. und 1.4.1907; StAUL Hügel Papers, ms2519: Eucken an Friedrich von Hügel, 29.9.1905; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 84f; The Hibbert Journal 6, 1907/08, S. 836–851. 186 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Revue_de_métaphysique_et_de_morale; R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13, S. 92, 103, 105f, 109, 111, 115, 118, 120, 122, 124, 127, 133. 187 Hinweise darauf finden sich in: ThULB NLRE I, 30, Bl. 276: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 26.1.1909; ebd. I, 2, Bl. B 251f: Isaak Benrubi an Rudolf Eucken, 3.5.1908.

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gik und philosophische Erkenntnis überhaupt für inkompatibel erklärt. Der Philosoph erkenne intuitiv und verhelfe durch eine anschauliche bildhafte Darstellung des Erkannten auch anderen zum gleichen intuitiven Verständnis. Bergson präsentiert gewissermaßen eine antimaterialistische Lesart der Evolutionstheorie: Die Entfaltung des Lebens komme nicht aus der Materie und ihren mechanischen Gesetzen, sondern vollziehe sich, im Gegenteil, gegen die Trägheit der Materie und gegen die Kontingenz des Naturgeschehens. Bergson sieht hier eine transindividuelle Kraft, einen elan vital, am Werk, die ihren Ausdruck suche, indem sie andauernd widerstrebende Materie transformiere und in immer höheren und freieren Formen organisiere. Die Evolution erscheint bei Bergson als zielgerichtete Entfaltung einer kosmischen Kraft, die in diesem Prozess – um mit Eucken zu sprechen – zu sich selbst kommt. Der Mensch ist in den Gang der Evolution créative sinnhaft eingebunden, ist er doch das einzige zur Intuition fähige Lebewesen. In ihm erkennt sich das Leben selbst und kann über sich selbst nachdenken.188 In Jena hatte derweil Max Scheler dem Verleger Eugen Diederichs eine Übersetzung von Bergsons Buch Matière et Memoire vorgeschlagen. Weil jedoch die Übersetzerin mit der fachgerechten Übertragung der komplexen philosophischen Terminologie ins Deutsche überfordert war, beauftragte Diederichs 1906 Isaak Benrubi, das übersetzte Manuskript zu überarbeiten. Empfohlen hatte Benrubi dem Jenaer Verleger niemand anderes als Rudolf Eucken selbst. Der Eucken-Schüler übernahm in der Folgezeit die Übersetzung weiterer Werke der Franzosen für Diederichs, Boutroux’ D’Idée de la Loi naturelle und Bergsons L’Evolution créative.189 Benrubi machte wiederum die beiden Pariser Philosophen auf die Affinitäten ihrer Werke mit denen des deutschen Kollegen Eucken aufmerksam. Mitte 1907 berichtete er seinem Doktorvater von einem Gespräch mit Henri Bergson. Dieser habe, so Benrubi, „meine Erörterungen seiner Überzeugungen und Intuitionen durch die Ihrigen sehr treffend“ gefunden. „Als ich ihn auf Ihre Definition des ‚Geisteslebens‘ aufmerksam machte, rief er aus: ‚das ist ja im Grunde meine Auffassung des Geisteslebens‘“. Die „auffallende Verwandtschaft“ zwischen „der Bergson’schen Metaphysik und der Ihrigen“ versuchte Benrubi auch gleich Eucken selbst nahe zu bringen. „Wie Sie“, so fuhr er fort, kämpfe nämlich auch Bergson 188 Vgl. zu Boutroux: Holzey/Röd, Philosophie, S. 236f; zu Bergson: Störig, Weltgeschichte, S. 632f; Harrington, Science. S. 90f; Hughes, Consciousness, S. 117–121, 188. 189 Vgl. Eugen Diederichs an Isaac Benrubi, 16.11.1906 (in: Diederichs, Selbstzeugnisse, S. 162f); ThULB NLRE I, 2, Bl. B 248: Benrubi an Rudolf Eucken, 30.6.1907; Graf, Laboratorium, S. 280f.

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für den souveränen Charakter des Geisteslebens … sodann für die Selbständigkeit der Philosophie (Philosophie = Metaphysik), gegen den Intellektualismus, gegen den Optimismus des Panlogismus. Wie Sie, so hat er auch B. ein tiefes Verständnis für die Hemmnisse, die die Selbstverwirklichung des Geisteslebens in der Natur und in der Geschichte erschweren.190

Im folgenden Jahr hatte Eucken die Gelegenheit, die französischen Kollegen persönlich kennenzulernen. Auf seiner Urlaubsreise in den Schwarzwald schaute der Jenaer Ordinarius beim 3. Internationalen Philosophiekongress in Heidelberg vorbei und machte dort die Bekanntschaft von Émile Boutroux und dem Herausgeber der Revue metaphysique et de morale, Xavier Leon. Vitalis Norström teilte er einige Wochen später mit, der auf der Tagung herrschende Ton habe ihn sehr angesprochen. „Der Idealismus, und zwar in der besonderen Richtung einer Lebensphilosophie, hatte dort das entschiedenste Übergewicht, es war ein beinahe kampflustiger Ton, den ich bei manchen fand.“191 Die Beziehungen zwischen Rudolf Eucken und seinen französischen Gesinnungsgenossen intensivierten sich nun merklich. In der 1909 erschienen 4. Auflage seiner Geistigen Strömungen der Gegenwart widmete er den Franzosen ein Kapitel, was wiederum von Boutroux beifällig aufgenommen wurde. Bergson und Boutroux sandten dem deutschen Philosophen anlässlich der Nobelpreisverleihung Glückwunschschreiben, die in zahlreichen Zeitungen abgedruckt wurden. Beide schrieben in den folgenden Jahren Vorworte für französische Ausgaben von Euckens Werken. Boutroux verfasste sogar ein kleines, von Benrubi übersetztes Buch über Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus, das 1911 erschien. Auch der eine oder andere Doktorand scheint in diesen Jahren zwischen Paris und Jena gewechselt zu sein. Henri Bergson lernte Eucken während seines USA-Aufenthalts 1912/13 persönlich kennen, und noch im Mai 1914 kam Émile Boutroux zu Besuch nach Jena.192 Auch in anderen europäischen Ländern wuchs seit der Jahrhundertwende das Interesse an den philosophisch-weltanschaulichen Werken Rudolf Euckens. In den Niederlanden etwa, wo das Sprachproblem geringer war, ging der Jenaer Ordinarius auf Einladung einer Vereinigung von Theologiestudenten bereits 1902 auf Vortragsreise. Von Euckens Kontakten nach Italien war schon im Zusammenhang mit der Zeitschrift Il Rinnovamento die Rede. Die Rezeption des 190 ThULB NLRE I, 2, Bl. B 248ff: Benrubi an Rudolf Eucken, 30.6.1907. Vgl. Benrubi, Eucken, S. 27. 191 ThULB NLRE I, 30, Bl. 244f: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 3.10.1908. 192 Vgl. ThULB NLRE I, 3, Bl. B 643: Émile Boutroux an Rudolf Eucken, 2.1.1909. Eucken, Strömungen (1909), S. 144–149; ThULB NLRE I, 2, Bl. B 222f: Emil Benezé an Eucken, 9.6.1912 und 1.5.1921; ebd. I, 30, Bl. 381f: Eucken an Vitalis Norström, 10.2.1913; Dathe, Nachlass, S. 281.

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deutschen Philosophen durch die Modernisten mag dazu beigetragen haben, dass eine italienische Ausgabe der Lebensanschauungen der großen Denker bereits 1908 erschien.193 In Schweden waren Euckens Schriften schon in den 1890er Jahren rezipiert worden. Hier scheint vor allem die Freundschaft mit Vitalis Norström die Kontakte Euckens zu den philosophischen und theologischen Fakultäten der schwedischen Universitäten befördert zu haben. Aus Göteborg wie aus Upsala erhielt er 1907/08 Einladungen zu Vorträgen. Im August 1908 besuchten ihn zwei prominente schwedische Gelehrte in Jena, der Philosoph Reinhold Geijer und der Theologe Nathan Söderblom. Mit Söderblom korrespondierte Eucken in den folgenden Jahren regelmäßig. Zudem fand er in dem Journalisten und Übersetzer Ernst Liljedahl einen begeisterten Anhänger, der es sich zur Aufgabe machte, die Ideen Euckens in Schweden mit Artikeln in der Presse und der Veröffentlichung von Schriften des Philosophen in der Landessprache zu verbreiten.194

Auf dem Gipfel internationalen Ruhms Der vorige Abschnitt hat verdeutlicht, dass Rudolf Euckens Philosophie seit etwa 1900 im europäischen Ausland wie in Nordamerika vermehrt beachtet und rezipiert wurde. Die reformkatholische Bewegung in Großbritannien, Frankreich und Italien hatte Eucken ebenso „entdeckt“ wie die englischen und amerikanischen Unitarier. Ähnliches gilt für Philosophen und philosophische Schulen in Frankreich, in den angelsächsischen Ländern, in Schweden, die sich selbst irgendwo zwischen Lebensphilosophie und Neuidealismus positionierten und Frontstellung gegen rationalistische, materialistische oder einseitig naturwissenschaftliche Welterklärungen bezogen. Es ist aber wohl ebenso deutlich geworden, dass die Ausstrahlungskraft der Lehren Euckens im fremdsprachigen Ausland auf kleine Zirkel von Intellektuellen und Fachgelehrten beschränkt bleiben musste, solange seine Schriften nicht in der jeweiligen Landessprache verfügbar waren. Es gab zwar seit Mitte der 1890er Jahre immer wieder Vorstöße von Anhängern und Schülern, einzelne Bücher des Jenaer Philosophen ins Eng-

193 Vgl. ThULB NLRE I, 4, Bl. C 101f: Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye an Rudolf Eucken, 13.2.1902; ebd. I, 5, Bl. C 252: C. W. Coolsma an Eucken, 12.2.1902: ebd. I, 30, Bl. 230: Eucken an Vitalis Norström, 30.7.1908. 194 Vgl. ebd. I, 32, Bl. 247: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 27.7.1894; ebd. I, 30, Bl. 208, 232: Eucken an Vitalis Norström, 11.12.1907 und 9.8.1908; ebd. V, 16, Bl. 431: Irene Eucken an Athenäa Passow, 3.8.1908; ebd. I, 17: Ernst Liljedahl an Rudolf Eucken, 6.4.1908; ebd. I, 29: Eucken an Liljedahl, 10.4., 20.9., 3.10.1908 und 5.12.1908.

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lische, ins Italienische, ins Schwedische, selbst ins Finnische zu übersetzen.195 Doch vor 1908 blieben fast alle diese Vorstöße erfolglos. Die meisten Verlage schätzten den potenziellen Leserkreis für schwergewichtige Abhandlungen eines noch wenig bekannten deutschen Philosophen als so überschaubar ein, dass sie von einer Veröffentlichung der ihnen angebotenen Übersetzungen Abstand nahmen. Auch stellte die Übertragung der philosophischen Hauptwerke Euckens in andere Sprachen die Übersetzer vor große Probleme. Der Wahrheitsgehalt der Religion, Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt oder Die Einheit des Geisteslebens waren in dem wenig luziden Schreibstil der deutschen Universitätsgelehrtheit verfasst. Euckens Gedankenführung war über weite Strecken ausgesprochen abstrakt, er bediente sich einer mitunter eigentümlichen Terminologie. Übersetzer, die nicht mit der Materie vertraut waren, scheiterten gewöhnlich schnell an einer solchen Aufgabe. All dies änderte sich in dem Moment, als bekannt wurde, dass Rudolf Eucken der Nobelpreis für Literatur zuerkannt worden war. Nun waren es die ausländischen Buchverlage, denen es nicht schnell genug gehen konnte, mit einem Buch des neuen Nobelpreisträgers am Markt präsent zu sein oder zumindest eine Darstellung über Eucken und sein Werk anbieten zu können. Zwischen 1909 und 1914 erschienen bis auf die schwer verdauliche Einheit des Geisteslebens alle bedeutenderen Werke Rudolf Euckens in englischer Sprache. Boyce Gibsons Einführung in Euckens Philosophie erreichte 1912 bereits eine dritte Auflage. Mindestens sechs weitere Bücher über Eucken und sein Werk kamen zwischen 1912 und 1914 auf den englischsprachigen Markt.196 Auf die Hilfe seines bisher eifrigsten britischen Anhängers musste Rudolf Eucken allerdings in den letzten Vorkriegsjahren verzichten. W. R. Boyce Gibson folgte 1911 dem Ruf auf einen Philosophie-Lehrstuhl in Melbourne/Australien. Dessen Rolle bei der Verbreitung der Werke Euckens in England übernahm nun ein weiterer seiner britischen Schüler, William Tudor Jones. Der Pfarrer aus Swansea hatte drei aufeinander folgende Sommersemester 1903/05 mit einem Stipendium der unitarischen Hibbert Stiftung bei Eucken Religionsphilosophie gehört und anschließend in Jena über Die Idee der Persönlichkeit bei den englischen Denkern der Gegenwart promoviert. Nachdem er für einige Jahre aus gesundheitlichen Gründen in Neuseeland gelebt hatte, meldete sich Tudor Jones Mitte 1910 bei Rudolf Eucken per Postkarte mit der Nachricht zurück, er habe nun ein Pastorat an der Unity Church, London, angetreten. Wie dem Baron Hü195 Vgl. ThULB NLRE I, 26, Bl. S 755ff: Suomalaisen Kirjallisuuden Seura [Finnische Literaturgesellschaft] an Rudolf Eucken, 23.2. und 26.3.1898. 196 Vgl. Boyce Gibson, Eucken’s Philosophy; Tudor Jones, Interpretation; ders., Philosophy; Jones, Eucken; Herrmann, Eucken; Booth, Eucken; MacGowan, Philosophy.

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gel hatte auch den Unitariern seit langem am Herzen gelegen, den Wahrheitsgehalt des Religion dem englischsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Bereits 1904 hatte Tudor Jones die Übersetzung dieses religionsphilosophischen Schlüsselwerks ins Auge gefasst gehabt. Im November 1910 teilte er Eucken mit, er habe diese Aufgabe nun selbst übernommen, nachdem der ursprünglich damit beauftragte Theologe krankheitshalber kaum Fortschritte gemacht habe. Im Frühjahr 1911 hatte Jones das Manuskript abgeschlossen und Friedrich von Hügel zur Durchsicht übergeben. Der katholische Baron fand darin aber so viele Mängel, dass er den gesamten Text noch einmal akribisch überarbeitete. Ende des Jahres erschien The Truth of Religion beim Verlag Williams & Norgate in London und gleichzeitig bei G. P. Putnam’s Sons in New York.197 Im Juni 1911 reiste Rudolf Eucken selbst für eine Woche nach England, um über „Religion und Leben“ zu sprechen. Er hatte nun die Einladung, die Essex Hall Lecture zu geben, angenommen, nachdem die Veranstalter ihm erlaubt hatten, die Vorlesung auf Deutsch zu halten und zuvor eine englische Zusammenfassung im Publikum zu verteilen. Er spreche zwar leidlich Englisch, hatte er einige Jahre zuvor seinem Freund Norström anvertraut, „aber mit einer Aussprache, die allgemeines Vergnügen zu erregen pflegt“.198 Zwei Tage nach dem Auftritt in London hielt Eucken den gleichen Vortrag im Manchester College, Oxford. Am Vortag war auch Friedrich von Hügel nach Oxford gereist, um in einem anderen College über Euckens Religionsphilosophie zu sprechen. Ganz glücklich war Hügel aber offenbar nicht über Rudolf Euckens englische Auftritte unter der Schirmherrschaft der Unitarier. Er habe versucht, so teilte er einer Vertrauten mit, Euckens Essex Hall Lecture abzubiegen und sich darum bemüht, dem deutschen Philosophen eine Einladung für eine andere Vorlesung zu verschaffen, was ihm jedoch nicht gelungen sei.199 Auch in den folgenden Jahren erhielt Eucken aus England zahlreiche Einladungen zu Vorträgen. „Wie sehr aber Rudolf in England geliebt wird“, schrieb Irene Eucken 1912 ihrer Mutter, „davon machst Du Dir garkeinen Begriff, es ist

197 Vgl. ThULB NLRE I, 13, Bl. J 204-211: W. Tudor Jones an Rudolf Eucken, 21.12.1905, 25.6. und 1.11.1910, 21.2. und 18.11.1911; StAUL Hügel Papers, ms2496f, ms2525, ms2536, ms2542, ms2545: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, undatiertes Fragment [nach 1901], 12.9.1904; 21.5., 17.6. und 30.11.1911; Kelly, Philosophy, S. 103; Tudor Jones, Idee, S. 151 (Lebenslauf). 198 ThULB NLRE I, 30, Bl. 210: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 12.12.1907. 199 Vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 84f; Kelly, Philosophy, S. 103; ders. (Hg.), Letters, S. 131: Friedrich von Hügel an Maude Petre, 18.5.1911; StAUL Hügel Papers, ms2536: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 21.5.1911.

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wahrhaft erstaunlich, wie bekannt er ist.“200 Eine weitere Englandreise kam aber 1912 und 1913 wegen der vielfältigen Verpflichtungen und Aktivitäten des Philosophen nicht zustande. Tudor Jones war inzwischen unermüdlich darum bemüht, den Ruhm seines Doktorvaters auf der britischen Insel zu mehren. Er verhandelte mit den Verlegern über neue Übersetzungen von Eucken-Werken und begann im Herbst 1911 an einem Buch über Leben und Werk seines Meisters. Ein solches Buch „would have a ready sale & would help to popularize your books“, schrieb Tudor Jones nach Jena. Er wolle, so fügte er hinzu, dass Euckens Lehre sich in England und den englischsprachigen Ländern tief einwurzele. Eine knappes Jahr später konnte er dem Philosophen melden, das Buch sei fertig, umfasse fast 300 Seiten werde noch Ende 1912 in einer Erstauflage von 2000 Exemplaren erscheinen. 1914 folgte ein weiteres Werk aus der Feder des unitarischen Pastors über die Philosophie Rudolf Euckens.201 William Tudor Jones sammelte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg einen Kreis von Anhängern des Jenaer Philosophen. Er bekomme täglich Briefe aus aller Welt mit Anfragen über die Euckens Lehren. Es hätten sich auch mehrere Eucken-Vereine in verschiedenen Teilen des Vereinigten Königreichs gebildet. Anfang 1914 präsentierte Tudor Jones seinem Doktorvater einen ehrgeizigen Plan, den sein Londoner Kreis entworfen hatte. Um die Philosophie Rudolf Euckens in Großbritannien fest zu verankern, müssten die prominentesten Mitglieder der Regierung und die philosophische Welt an Euckens Lehre und Persönlichkeit interessiert werden. Eucken solle seine geplante Englandreise ganz gezielt darauf ausrichten, sich den einflussreichsten Kreisen des Landes zu präsentieren. Man wolle versuchen, dem König selbst die Bedeutung seiner Philosophie nahezubringen. Im Mittelpunkt der Reise solle ein großes Festbankett in London stehen. Ein Mitglied seines Kreises, Sir Home Gordon, wolle sich ganz der Organisation dieser Veranstaltung zu widmen. Home Gordon werde Lord Haldane, den amtierenden Lord Chancellor, bitten, den Vorsitz des Banketts zu übernehmen. Es würden die führenden Vertreter der Universitäten und der Kirchen eingeladen. Den Jenaer Philosophen bat Tudor Jones eindringlich, keine weiteren Arrangements für seine Reise zu treffen. Offensichtlich wollte er Eucken davon abhalten, wahllos Einladungen anzunehmen.202 Wie realistisch dieses grandiose Szenario war, lässt sich schwer einschätzen. Eucken selbst scheint dem Plan keine allzu große Priorität eingeräumt zu 200 ThULB NLRE V, 16, Bl. 602f: Irene Eucken an Athenäa Passow, 9.6.1912; vgl. ebd. I, 32, Bl. 383: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 27.5.1912. 201 Ebd. I, 13, Bl. J 210ff: W. Tudor Jones an Rudolf Eucken, 18.11.1911 und 1.11.1912; ebd. 28, Bl. W 210f: Williams & Norgate an Eucken, 24.10.1912. 202 Vgl. ThULB NLRE I, 13, Bl. J 214-223: W. Tudor Jones an Rudolf Eucken, 14.1. und 30.1. 1914, sowie ein undatierter Brief etwa Februar/März 1914; R. Eucken, Leben, S. 436.

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haben. Mitte 1914 schrieb er lapidar an Norström, er habe seine Pfingstreise nach England aufgegeben, weil es zuhause so viel zu tun gab. Dahinter standen aber offenbar noch andere Gründe. Seinem Freund Hügel teilte er mit, er sei diesmal sowohl von den Unitariern als auch von anglikanischen Freunden eingeladen worden. Beiden Seiten sei er für die Verbreitung seiner Schriften sehr zu Dank verpflichtet. „Aber sobald es an die Ausarbeitung meiner geplanten Reden ging, empfand ich eine ungeheure Schwierigkeit, es beiden Seiten recht zu machen.“203 Wie in Deutschland fanden Rudolf Euckens Werke auch in Großbritannien bei den Theologen und einem breiteren philosophisch interessierten Publikum positivere Resonanz als in der eigenen Peer Goup, den Universitätsphilosophen. Neben Boyce Gibson war es besonders Alfred Hoernlé, Professor an der Universität St. Andrews, der sich für die Verbreitung der Schriften Euckens einsetzte. Hoernlé hatte bereits 1907 zugesagt, die gerade erschienenen Grundlinien einer neuen Lebensordnung ins Englische zu übersetzen. In den Rezensionen seiner in Großbritannien erschienen Bücher in der Fachpublizistik musste sich der deutsche Professor dagegen häufiger vorhalten lassen, seine Lehren seien eher zivilisationskritische Weltanschauung denn wissenschaftlich fundierte Philosophie. Die „altenglischen Empiristen“, würden ihn „als einen argen Metaphysiker“ verschreien, schrieb Eucken Ende 1909 an Norström. Doch immerhin: „Die Theologen scheinen alle für mich zu sein.“204 Der beste Boden „für unsere gemeinsamen Überzeugungen“, so hatte Eucken im September 1910 seinem schwedischen Freund erklärt, finde sich in England und Amerika. Den Einladungen nach England wolle er nun endlich im kommenden Jahr nachkommen. Zu einer einer Reise in die USA könne er sich aber nicht recht entschließen. Eineinhalb Jahre später hatte sich Eucken dann zu einem Entschluss durchgerungen und schrieb nach Göteborg, er werde „nächsten Winter – erschrecken Sie nicht – in Amerika lesen“.205 Rudolf Eucken kam in den Genuss eines Austauschprogramms für Professoren, das einige Jahre zuvor vom preußischen Kultusministerium mit der New Yorker Columbia University und der Harvard University vereinbart worden war. Zu den Organisatoren des Programms hatte auf amerikanischer Seite auch Hugo Münsterberg gehört, der selbst 1910/11 als Austauschprofessor in Berlin weilte. Möglicherweise hatte der Psychologie-Professor aus Harvard seine Hand im Spiel, als sein Freund Eu203 Vgl. ThULB NLRE I, 30, Bl. 392: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 8.6.1914; StAUL Hügel Papers, ms2563: Eucken an Friedrich von Hügel, 8.5.1914. 204 ThULB NLRE I, 30, Bl. 313f: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 13.12.1909. Vgl. ebd, Bl. 188: Eucken an Norström, 7.7.1907; Hoeres, Krieg, S. 210ff. Die Übersetzung der Grundlinien übernahm aber schließlich Alban Widgery. 205 ThULB NLRE I, 30, Bl. 341, 369: Rudolf Eucken an Vitalis Norström 10.9.1910 und 17.2.1912.

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cken als Ordinarius einer nichtpreußischen Universität eingeladen wurde, auf Kosten der preußischen Regierung ein knappes Studienjahr in den USA zu verbringen.206 Am 14. September 1912 trat Rudolf Eucken in Begleitung seiner Ehefrau Irene von Bremen aus die Reise über den Atlantik an; Tochter Ida stieg in Southampton zu. Man reiste in der „Fürstenkabine“ des Passagierdampfers „Berlin“ und residierte nach der Ankunft in Amerika in einem großen Bostoner Hotel. Der Jenaer Philosoph bot in Harvard Vorlesungen zur Geschichte der deutschen Philosophie und zu den „Leitenden Ideen der Gegenwart“ sowie eine Übung zur Religionsphilosophie an. Einmal pro Woche absolvierte er zudem eine öffentliche Vorlesung vor einem großen Publikum „aus den besten Ständen von Boston“. „Hier werden wir täglich eingeladen und bei allen möglichen Gelegenheiten muss ich reden“, schrieb Eucken im Dezember nach Göteborg. Der Philosoph hatte sich zwar im Sommer „tüchtig in der englischen Konversation“ geübt, doch seine Lehrveranstaltungen und öffentlichen Vorträge hielt er zunächst auf Deutsch oder las sie auf englisch vom Manuskript ab.207 Ende Januar 1913 trat der Philosoph eine kleine Rundreise durch die Universitätsstädte des Staats New York an. Im Februar 1913 zog Eucken nach New York City, um einige Wochen lang an den dortigen Hochschulen zu lehren. Inzwischen fühlte er sich in der Landessprache so firm, dass er einen sechsstündigen Kurs auf Englisch über die Grundprobleme der Ethik an der New York University gab. An der Columbia University sprach er zweimal über „Idealism and Realism in the 19th Century“ sowie auf Deutsch über „Die Hauptaufgaben der Philosophie in der Gegenwart“. In New York traf er Henri Bergson, der dort einige Vorträge hielt. Im März folgte eine weitere Vortragstour durch die Universitäten und Colleges des Nordostens der USA. Dem deutschen Philosophen wurden mehrere Doktorhüte amerikanischer Hochschulen verliehen. In New York bildete sich eine Eucken Association, am Lutheran College in Gettysburg/Pennsylvania ein Eucken Club. Auch außerhalb des universitären Bereichs trat Eucken auf. Vor allem Kirchengemeinden und deutsch-amerikanische Vereine luden den Philosophen ein. Anfang 1913 sprach er auf der Festveranstaltung einer liberalen jüdischen Gemeinde in der New Yorker Carnegie Hall. Zahlreiche Zeitungs- und Zeitschriftenartikel erschienen über seine Vorträge und Vorlesungen wie über seine Philosophie im Allgemeinen. Eine ganze Reihe seiner Vorlesun206 Vgl. Ebd. I, 30, Bl. 369f: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 17.2.1912; StAUL Hügel Papers, ms2554: Eucken an Friedrich von Hügel, 27.8.1912; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 86f; zum Professorenaustausch allgemein: Füssl, Kulturaustausch, S. 52f. 207 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 87; ThULB NLRE I, 30, Bl. 379, 374: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 6.12. und 7.7.1912. Vgl. ebd. Bl. 369f, 377f: Eucken an Vitalis Norström, 17.2., 8.9. und 10.11.1912.

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gen und Vorträge wurden in Zeitschriften oder als Broschüren veröffentlicht, ebenso Artikel, die Eucken eigens verfasste.208 Kaum waren die Euckens im April 1913 wieder nach Jena zurückgekehrt, erhielt der Philosoph eine vertrauliche Anfrage, ob er geneigt sei, im folgenden Jahr eine Einladung zu einer Reihe von Vorträgen in Japan anzunehmen. In den Jahren zuvor waren die philosophischen und religionsphilosophischen Werke Euckens von asiatischen Intellektuellen vermehrt rezipiert worden, nicht allein in Japan, sondern vor allem auch in Indien. 1910 bemerkte Eucken in einem Brief an Norström, seine Lehrveranstaltungen würden nun von „Specialphilosophen aus allen Teilen der Erde“ besucht. Die englischen Übersetzungen, so stellte er einige Monate später fest, würden ihn in vielfache Beziehungen gerade zu indischen Forschern bringen. Bald wurden Eucken-Bücher auch ins Sanskrit und Hindi übertragen. Acht japanische und vier Übersetzungen in indische Sprachen waren im September 1912 in Arbeit.209 Mit einem indischen Kollegen, Ajit Chakravati, korrespondierte Rudolf Eucken seit 1910 recht intensiv. Es war Chakravatis Guru, der indische Schriftsteller, Philosoph und künftige Literatur-Nobelpreisträger Rabindranath Tagore, der seinen Schüler auf die Schriften Euckens aufmerksam gemacht hatte. Einen anderen indischen Gelehrten, Prabhu Dutt Shastri, lernte der Jenaer Philosoph persönlich kennen. Shastri hatte in Kiel und Oxford promoviert und über die altindischen Upanischaden geforscht. Aus den Briefen dieser indischen Wissenschaftler wird gut ersichtlich, welche Attraktivität die Werke des deutschen Philosophen für sie besaß. Zunächst einmal waren die Inder davon angetan, dass Eucken die indischen Weisheitslehren und Religionen in großer Selbstverständlichkeit in seine religionsphilosophischen Abhandlungen einbezog. Und nicht nur das – Eucken stellte die indischen Religionen auf eine Ebene mit dem Christentum, indem er sie zur geistig höchst entwickelten Form der Erlösungsreligion zählte. Chakravati bescheinigte dem deutschen Kollegen, er mache nicht den Fehler vieler Europäer, die indische Kultur an das untere Ende einer Stufenleiter der Zivilisationen zu setzen.210 Zudem entdeckten die indischen Kollegen in Euckens Philosophie des Geisteslebens Affinitäten zu Denktraditionen, in deren Kontinuität sie sich selbst 208 Vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen 86-90; StAUL Hügel Papers, ms2555: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 23.12.1912; ThULB NLRE I, 30, Bl. 381f: Eucken an Vitalis Norström, Göteborg, 10.2.1913; ebd. I, 20, Bl. N. 160: Broadway Tabernacle Church an Eucken, 26.11.1912; ebd. I, 28, Bl. W 240: Stephen S. Wise an Eucken, 24.1.1913; R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13, S. 124–128. 209 ThULB NLRE I, 30, Bl. 347: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 13.11.1910. Vgl. ebd. I, 13, Bl. J 32: Günther Jacoby an Eucken, 25.7.1913; ebd. I, 30, Bl. 354, 375, 377: Eucken an Norström, 5.3.1911, 7.7. und 8.9.1912.

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einordneten. Die Lektüre ihrer Briefe vermittelt die intellektuelle Begeisterung, mit der Chakravati und Shastri die Lehren des Jenaer Philosophen mit den eigenen Konzepten und Denkfiguren verglichen, Parallelen ausmachten und sie in die eigene philosophische Sprache übersetzten. Chakravati verwies etwa auf das hinduistische Ideal der Innerlichkeit („Inwardness“). Danach sei derjenige wirklich frei, der sein inneres Selbst in allen Dingen und alle äußeren Dinge in seinem inneren Selbst sehe. Chakravati fand denn auch in den Schriften Euckens große Übereinstimmungen mit den Positionen seines Meisters Tagore. Shastri berichtete nach Jena, er schreibe gerade an einem zweiten Teil seiner Abhandlung The Doctrine of Maya in the System of Vedanta und wolle hier auch die Analogien dieser altindischen Weisheitslehre zur Philosophie Euckens aufzeigen. Allerdings wies der Inder den deutschen Philosophen auch auf dessen ziemlich krudes Verständnis der indischen Religionen hin, das nur den Buddhismus im Blick habe, den Hinduismus aber kaum beachte.211 Nicht zuletzt diente der Nobelpreisträger den indischen Intellektuellen als Kronzeuge gegen die Paradigmen „westlichen“ Wissenschafts- und Zivilisationsdenkens und damit auch der kulturellen Selbstvergewisserung gegenüber dem zivilisatorischen Überlegenheitsanspruch der britischen Kolonialmacht. Hatte nicht der weltbekannte Philosoph eine tiefgreifende Krise der Moderne diagnostiziert und deren Ursachen an einem „geistlosen“ Naturalismus festgemacht?! Die westliche Zivilisation, schrieb Ajit Chakravati 1910 an Eucken, sei immer viel mehr auf die Entwicklung der natürlichen als der spirituellen Seite des Menschen gerichtet gewesen. Dies habe zwar bewundernswerte Errungenschaften wie einen wohlgeordneten Rechtsstaat hervorgebracht. Doch betrachte Europa offenbar die Sozialethik und den Rechtssinn für das höchste Gut der Menschheit. „To progress eternally without stopping anywhere is her motto, consequently Evolution is her god …“ Daher sei er froh, dass Eucken dem Geistigen einen so großen Stellenwert gegenüber dem Natürlichen einräume.212 In Japan wurde Euckens Philosophie vor 1908 vor allem in den christlichen Gemeinden rezipiert. Wesentlichen Anteil an ihrer Verbreitung hatte der Theologe Hajime Minami, der in Deutschland studiert hatte. Minami war der erste japanische Pfarrer einer 1884 in Weimar gegründeten Missionsgesellschaft liberaler Richtung, des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins. 1910 sprach Minami auf dem Berliner Weltkongress der Unitarier über das freie 210 Vgl. Ebd. I, 4, Bl. C 81f, 87-90, 92-95: Ajit K. Chakravati an Rudolf Eucken, 25.10.1910, 16.1.1911 und 16.10.1912; ebd. I, 24, Bl. S 304-307, 310: Prabhu Dutt Shastri an Eucken, 12.12. [o. J.] und 28.5.1914; Shastri, Doctrine, S. 139 211 ThULB NLRE I, 4, Bl. C 90, 94: Ajit K. Chakravati an Rudolf Eucken, 16.10.1912; ebd. I, 24, Bl. S 304, 306f: Prabhu Dutt Shastri an Eucken, 12.12. [o. J.]. 212 ThULB NLRE I, 4, Bl. C 81f: Ajit K. Chakravati an Rudolf Eucken, 25.10.1910.

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Christentum in Japan. In Tokio hatte sich unter dem Vorsitz Minamis eine Eucken-Gesellschaft gebildet, die eine rührige Vortragstätigkeit entfaltete. Von dem Umkreis der protestantischen Gemeinden in Japan ging wohl auch die ausgesprochen rasche Übersetzung der Schriften des deutschen Philosophen aus. Bereits Ende 1912 teilte Pastor Nukagu aus Tokio Rudolf Eucken mit, fast alle seine Hauptwerke seien mittlerweile ins Japanische übertragen worden. Er würde nun gerne auch die Grundlinien einer neuen Lebensanschauung in Angriff nehmen. Im Frühjahr 1914 kündigte Nukagu an, er schreibe an einem Buch mit dem Titel Der große Denker Rudolf Eucken, das in einigen Monaten in Japan erscheinen solle.213 Zu diesem Zeitpunkt war Euckens Ruf längst über die engen Kreise des japanischen Protestantismus hinausgedrungen. Der Greifswalder Philosophiedozent Günther Jacoby, der gerade von einer Vortragsreise aus Japan zurückgekehrt war, zeichnete dem Jenaer Philosophen 1913 ein erstaunliches Bild von dessen Popularität in dem ostasiatischen Land: Ich kenne keinen gebildeten Japaner, der nicht von Ihren Bestrebungen gehört, und ich habe keinen kennen gelernt, der nicht von Ihrem Werke mit Ehrerbietung und Bewunderung gesprochen hätte. Ich selbst habe in Minamis Euckenverein in Tokyo zwei Mal gesprochen. Immer wünschen meine Studenten etwas von Eucken zu hören; und wiederholt wurde ich von den Professoren der beiden kaiserlichen und anderen Universitäten auf Ihr philosophisches Werk angesprochen. In Tokyo und Kyoto sind Sie unter allen Deutschen der am meisten genannte.214

Jacoby war es auch, der Eucken den Plan einer Vortragsreise nach Japan unterbreitete. Das Vorhaben hatte eine ausgeprägt kulturpropagandistische Zielrichtung. Der Sinn und die Bedeutung der Einladung an Eucken, in Japan zu sprechen, sei, so Jacoby, die Förderung des „Deutschen Gedankens in der Welt“. „Wir Deutschen“ seien dazu berufen, „der Fortentwicklung der Weltkultur durch den deutschen Ernst und die deutsche Tiefe ein unschätzbares Gut zu bringen“. Dies sei gerade in Japan bitter nötig, denn unter der „Vorherrschaft des angelsächsischen Geistes“ habe Japan zwar die Segnungen der „äußeren Zivilisation“ empfangen, doch habe „die innere Kultur des Herzens und die Entwicklung des Geisteslebens“ Schaden genommen. Schließlich nahm der Plan die Form einer zweimonatigen Gastprofessur an den beiden staatlichen Univer213 ThULB NLRE I, 20, Bl. N 375, 378: K. Nukagu an Rudolf Eucken, 21.11.1912 und 12.4.1914. Vgl. Mizotani, Problematik, S. 930; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 96; ThULB NLRE I, 13, Bl. J 32: Günther Jacoby an Eucken, 25.7.1913; ebd. I, 19, Bl. M 278ff: H. Minami an Eucken, 12.2.1913; ebd. I, 10, Bl. H 129: T. Hata an Eucken, 22.10.1920. 214 ThULB NLRE I, 13, Bl. J 32: Günther Jacoby an Rudolf Eucken, 25.7.1913. Zu Jacoby vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Günther_Jacoby

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sitäten in Tokio und Kyoto an, die Eucken im September 1914 antreten sollte. Der Philosoph wollte in Begleitung seiner Frau mit der transsibirischen Eisenbahn anreisen und bei der Gelegenheit auch einige Vorträge in China halten. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs machte dann aber die ostasiatischen Reisepläne der Euckens zur Makulatur.215

Die Sammlung der Geister Angesichts der großen Aufmerksamkeit, die Rudolf Eucken seit 1908 der Knüpfung eines internationalen Netzwerkes von Gleichgesinnten und Anhängern widmete, mutet es zunächst eher befremdlich an, dass er Ende 1913 ein Buch veröffentlichte, das seine Lehre und seine Bestrebungen dezidiert in einen nationalistischen Deutungs- und Handlungsrahmen stellte. Zur Sammlung der Geister erschien bei einem großen Leipziger Verlag, Quelle & Meyer, und schon die äußere Gestaltung des Bandes – das starke Papier, die dekorative Frakturschrift – verwies darauf, dass er weder für ein philosophisches Fachpublikum gedacht war noch auf den Absatz im Ausland zielte. Inhaltlich brachte das kleine Buch nur eine Variation altbekannter Themen und Thesen. Neu war aber, dass Eucken seine sonst als universell behandelten Zeitdiagnosen an deutschen Befindlichkeiten entwickelt. Auch dieses Werk beginnt der Jenaer Philosoph mit der These, der Gegenwart fehle die Einheit des Geisteslebens im Sinne eines das ganze Leben sinnhaft ordnenden Syntagma. Nur sind es jetzt ausdrücklich die Deutschen, die sich „bei allen prinzipiellen Fragen in arger Spaltung“ befinden. Dabei hält Eucken der Gegenwart im Rekurs auf eine bessere Vergangenheit ein positives Kontrastbild entgegen. Er verweist auf „die vor hundert Jahren erreichte Höhe“, als „eine gemeinsame geistige Atmosphäre die Individuen bei aller Mannigfaltigkeit umfing und zusammenhielt“. Eucken bezieht sich auf einen „idealistisch gesinnte[n] Humanismus, der die Gemüter verband und ihnen inmitten des Lebens ein Ewiges und Unendliches gegenwärtig hielt“. Dies ist nun angesichts seiner eher abschätzigen Bewertung des „immanenten Idealismus“ der „Goethezeit“, die er noch in der gerade erst erschienenen zweiten Auflage der Grundlinien einer neuen Lebensanschauung wiederholt, doch eine etwas überraschende Konfiguration.216

215 ThULB NLRE I, 13, Bl. J 32: Günther Jacoby an Rudolf Eucken, 25.7.1913. Vgl. ebd. I, 30, Bl. 392: Eucken an Vitalis Norström, 8.6.1914; ebd. I, 5, Bl. D 151: Deutsche Gesandtschaft Peking an Eucken, 18.4.1914. 216 R. Eucken, Sammlung, S. 5. Vgl. ders., Grundlinien, S. 8–11.

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Seine Diagnose der Krise des Geisteslebens der deutschen Gegenwart dekliniert Eucken im Folgenden auf verschiedenen Gebieten durch: Der konfessionelle Gegensatz, der um 1800 innerlich überwunden schien, habe nun wieder eine gefährliche Spannung erreicht. Der Philosophie fehlten die einfachen Grundwahrheiten, die die Welt erleuchteten und neue Lebenstiefen eröffneten. In der Pädagogik gebe es keine leitenden Gedanken mehr, die sich am Ideal des ganzen Menschen orientierten. In Literatur und Kunst vermisst Eucken „ein Schaffen, welches die ungeheure Spannung der Gegenwart zu angemessenen Ausdruck brächte und durch die künstlerische Gestaltung den schweren Druck der Dinge befreiend und erhöhend entgegenwirkte.“ Die Pflichtidee habe an Ausstrahlungskraft verloren. „Die Verneinung aller Macht, die dem Menschen überlegen und zugleich seinem Innern gegenwärtig ist“, nehme ihr alle Schärfe und aufrüttelnde Kraft. Moralisches Handeln werde auf den „bloßen Menschen“ gerichtet und nur noch sozialethisch begründet. Eine „hohe Blüte der Arbeitskultur“ treffe zusammen mit einer unbefriedigenden „Innenkultur“. Kurz, das Leben fasse sich nicht zu einer Einheit zusammen, „wir vermögen ihm nicht einen beherrschenden Mittelpunkt zu geben, wir erlangen kein inneres Gleichgewicht und keinen widerspruchsfreien Lebenstypus.“217 Nun konzediert Eucken zwar, dies seien Probleme und „Verwicklungen“, an denen alle Völker zu tragen hätten. Doch würden die Deutschen ganz besonders darunter leiden. Wegen seiner historisch bedingten Aufspaltung in verschiedene Stämme, Staaten und Konfessionen würde das deutsche Volk schwerer zu einer „gemeinsamen Art“ zusammenfinden als andere Völker. Im „deutschen Wesen“, in der „deutschen Art“ seien aber auch Charakterzüge und Dispositionen angelegt, die „den Deutschen“ in besonderer Weise befähigten, die geistige Krise der Gegenwart zu überwinden. Wie jedes große Kulturvolk trage auch das deutsche etwas in sich, „was eine wichtige Seite des Menschenwesens vertritt und eine der ganzen Menschheit gemeinsame Aufgabe besonders tüchtig behandelt“. „Der Deutsche“ trete „damit für die Menschheit ein, er arbeitet für die Menschheit“.218 Im definitorischen Kern dessen, was Eucken als deutsch gilt, steht der Begriff der „Innerlichkeit“. Diese Innerlichkeit komme etwa in einem eigentümlichen Arbeitsethos zum Ausdruck: Die Arbeit habe hier die Seele des Menschen an sich gezogen und sei dadurch von einem bloßen Mittel zu einem völligen Selbstzweck geworden. Deutsche Innerlichkeit zeige sich auch im Verlangen nach der „Ausbildung einer unsichtbaren Welt“, in der Suche nach einer „Tiefe, in der das menschliche Leben sich unmittelbar mit einer unsichtbaren Ordnung 217 R. Eucken, Sammlung, S. 6–13, 17. 218 Ebd., S. 24, 28.

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berührt und ihre erhöhende Kraft in sich aufnimmt“. Die deutsche Innerlichkeit gründe nicht auf der bloßen Subjektivität des Individuums, sondern sie versetze den Menschen in eine neue Welt, „die aus innerer Bewegung des Geisteslebens hervorgeht“. Solche Innerlichkeit durchdringe die deutsche Pädagogik, die vom Konsens getragen werde, dass der Mensch nicht „für draußen befindliche Ziele“, sondern „für sich selbst zu bilden sei, indem er zu einer selbständigen Persönlichkeit und einer geistigen Individualität erhoben wurde.“ Ebenso präge sich die Kultur der Innerlichkeit im Streben deutscher Kunst, Literatur und Musik aus, „dem Menschen alle Tiefen seiner Seele zu eröffnen und ihn sich selbst innerlich näher zu bringen“.219 Das stark ausgeprägte Bewusstsein der Deutschen für den inneren Zusammenhang mit dem Ganzen der Wirklichkeit und der Bedeutung des eigenen Handelns gebe dem deutschen Leben seine schwere Ernsthaftigkeit. Es treibe den Deutschen zur Systematisierung seiner Ansichten und Meinungen in einer geschlossenen Weltanschauung, selbst wenn dies ganz unidealistische Phänomene wie den Monismus und die Sozialdemokratie hervorbringe. Hier äußere sich letztlich auch ein im deutschen Wesen angelegtes Streben nach Wahrhaftigkeit und Freiheit. Unter Freiheit verstehe der Deutsche aber, so Eucken, keinesfalls die Unabhängigkeit des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft. Vielmehr sei ihm Freiheit ein Wirken von innen heraus, „eine Erhebung seines Lebens und Schaffens zu voller Selbständigkeit und Ursprünglichkeit.“ Freiheit sei demnach für die Deutschen kein fertiger Besitz, sondern ein Ziel, das sich nur allmählich erreichen lasse.220 Was Rudolf Eucken hier in noologischer Reduktion als „deutsches Wesen“ präsentiert, ließ sich wohl kaum aus demoskopisch erfassbaren Mentalitäten und Verhaltensdispositionen der deutschen Bevölkerung herleiten. Für ihn manifestiert sich das wesenhaft Deutsche vornehmlich in den Werken der großen Denker und führenden Geister. In der Tendenz wird das deutsche Volk hier zu einer „individuellen Totalität“, der Eigenschaften zugeschrieben werden, die sich an den real existierenden Deutschen nicht überprüfen lassen. Der Deutsche sei „sich selbst ein Ideal“ und da die Forderungen dieses Ideals höher seien als bei anderen Völkern, finde sich in Deutschland auch „der weiteste Abstand zwischen der Höhe und dem Durchschnitt“. Die hohen Ideale „deutschen Wesens“ verhindere daher keinesfalls „die weite Ausbreitung eines öden Spießbürgertums, einer Enge und Kleinlichkeit, einer Unsicherheit und Gebundenheit im Durchschnitt des Lebens“.221 219 Ebd., S. 29–33, 38f, 41f, 44f, 47. 220 Ebd., S. 57, 59-62, 68. 221 Ebd., S. 78. Vgl. allgemein: Nowak, Revolution, S. 139f, 145f, 150.

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Im abschließenden Teil der Sammlung der Geister entwickelt Eucken ein Programm, an dem sich eine Reformbewegung in Deutschland orientieren könnte. Er nennt vor allem drei Forderungen, „welche die geistige Lage der Gegenwart uns immer eindringlicher vorhält“ und deren Erfüllung anzubahnen, die „deutsche Art“ besonders geeignet sei: – die „Überwindung des bloßen Kraftideals“, – die „Rettung des Menschen vor völligem Nichtigwerden“, – die „Klärung der Verhältnisse von sichtbarer und unsichtbarer Welt.“222 In seinen Erläuterungen dieser Forderungen wiederholt und variiert Eucken, was er bereits in seinem Konstrukt des „deutschen Wesens“ umrissen hat und was er in zahlreichen früheren Publikationen immer wieder in erschöpfender Redundanz dargelegt hat. Es gelte, ein Leben zu entwickeln, „das nicht den Zwecken des bloßen Menschen dient, sondern ihm überlegen wird und ihn mit erhöhendem Wirken in eine neue Welt versetzt“. Man müsse sich „der flachen und flüchtigen Art widersetzen“, mit der die Religion weithin behandelt werde. Der Kern der Religion, der Moral, der Kunst sei in der „Offenbarung ursprünglicher Tiefen und eigentümlicher Zusammenhänge der Wirklichkeit“ zu suchen, usw. usf. Neu ist allerdings, dass Eucken nun kulturkritische Diagnose und lebensphilosophische Vision mit einem Aufruf zum gemeinsamen Handeln verbindet. Der Einzelne dringe heute aus eigener Kraft nicht durch, so dass ein festerer Zusammenschluss, eben eine „Sammlung der Geister“, notwendig sei.223 Zehn Jahre nach seiner pessimistischen Bestandsaufnahme in der Deutschen Monatsschrift schien für Rudolf Eucken offensichtlich nun die Zeit reif zu sein, seine Anschauungen programmatisch auszuformulieren und Gleichgesinnte um sich zu sammeln. Das Fehlen eindeutiger weltanschaulicher Frontlinien wird nun nicht mehr problematisiert. Allerdings soll auch jetzt vor der „Sammlung“ die „Scheidung der Geister“ stehen. Ein solcher Zusammenschluss bedürfe eines Grundstocks gemeinsamer Überzeugungen, eine Klärung dessen, „was heute zu bejahen und was zu verneinen ist“.224 Verändert hatte sich seit dem Erscheinen des Aufsatzes in der Deutschen Monatsschrift wohl weniger die geistige Großwetterlage als vielmehr der öffentliche Status des Jenaer Philosophen. Rudolf Eucken war in den Rang eines weltweit bekannten Großintellektuellen aufgestiegen, dessen Ansichten und Aufrufe nun auf weit größere Beachtung stießen als zehn Jahre zuvor. Die Zahl seiner Anhänger war seitdem stark angestiegen, Pädagogen und Theologen verschiedener Konfessionen be222 R. Eucken, Sammlung, S. 87. 223 Ebd., S. 94, 100f, 138, 124. 224 Ebd., S. 124.

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riefen sich auf seine Schriften. Für nicht wenige seiner Leser waren Euckens Bücher offenkundig so bedeutsam, dass sie sich intensiv damit auseinander setzten, möglicherweise auch versuchten, ihr Leben an den dort dargelegten Maximen auszurichten und sinnhaft zu rahmen. An manchen Orten hatten sich Lesezirkel zusammen gefunden, um sich dem gemeinsamen Studium der Werke des Philosophen zu widmen.225 Eucken selbst war bereits vor der Zuerkennung des Nobelpreises dazu übergangen, seine Anschauungen einem breiteren Lesepublikum verständlich zu machen. Im Oktober 1907 berichtete er Norström von seinem Vorhaben, seine Grundüberzeugungen in einem kleinen Buch „möglichst einfach von Standpunkt des Subjekts“ darzulegen. Es gehe ihm darum, so schreibt er im Vorwort des Buches, „die inneren Probleme der Gegenwart jedem Einzelnen möglichst nahe zu bringen und ihn zur Teilnahme daran zu gewinnen“.226 Der Sinn und Wert des Lebens erschien Mitte 1908 bei Quelle & Meyer, gerade rechtzeitig, um dem interessierten Publikum zum Weihnachtsgeschäft ein relativ leicht lesbares und nicht allzu umfangreiches Buch des neuen Nobelpreisträgers für Literatur präsentieren zu können. Nicht nur für den weihnachtlichen Gabentisch wurde Euckens Sinn und Wert des Lebens gerne genommen. „Konfirmation und Ostern geben auch wieder Anlass, um in Prospekten dafür zu wirken“, ließ der Leipziger Verleger den Autor im Februar 1913 wissen. In den wenigen Jahren bis zum Kriegsausbruch 1914 erreichte das Werk vier Auflagen.227 Die Prominenz, die Rudolf Eucken am Vorabend des Ersten Weltkriegs genoss, erklärt aber noch nicht hinreichend, warum er seine Weltanschauung in der Sammlung der Geister in einer Lesart anbot, die ungeniert ein nationales Stereotyp auf das andere setzte. Wenn er eben noch versichert hatte, er finde im Ausland mehr Verständnis für seine Lehren und Bestrebungen als im eigenen Land, warum dann auf einmal dieser Drang, ein Hohelied auf das „deutsche Wesen“ anzustimmen? In seinen einige Jahre später verfassten Lebenserinnerungen erklärt Eucken, Zur Sammlung der Geister sei unter den Eindrücken der Amerikareise entstanden. Ihm sei in den USA bewusst geworden, „wie notwendig eine Kräftigung und Verinnerlichung des deutschen Lebens sei“. Auf der einen Seite war dem Philosoph „die Kraftlosigkeit des deutschen Lebens“ in den Vereinigten Staaten aufgefallen. Er traf hier viele Deutsch-Amerikaner, deren deutsches Kulturbewusstsein stark im Schwinden begriffen zu sein schien. Auf 225 Vgl. ThULB NLRE I, 17, Bl. L 58: Matthias Laros an Rudolf Eucken, 30.12.1905; ebd. I, 14, Bl. K 347: Albert Klein an Eucken, 17.2.1914; ebd. I, 3, Bl. B 764: Wilhelm Breidenstein an Eucken, 10.6.1912 226 Ebd. I, 30, Bl. 197: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 18.10.1907; R. Eucken, Sinn, o. S. 227 ThULB NLRE I, 22, Bl. Q 48: Quelle & Meyer an Rudolf Eucken, 28.2.1913. Vgl. Dathe, Rudolf Eucken, S. 55; Sieg, Geist, S. 93.

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der anderen Seite vermitteln die Briefe, die das Ehepaar Eucken im Herbst und Winter 1912/13 nach Hause schrieben, den Eindruck, als habe ihr Aufenthalt in einem fremden Land ihnen nationalkulturelle Eigenheiten plastischer hervortreten lassen. Seiner Schwiegermutter schrieb Rudolf Eucken, der Grundzug des amerikanischen Lebens sei ihm zwar durchaus sympathisch. Bloße Gelehrsamkeit gelte hier wenig, man dränge vielmehr stets auf eine Bewährung im Leben. Doch fasse man den Begriff des Lebens oft zu praktisch und eng. Im Allgemeinen sei die geistige Atmosphäre in den USA nicht geeignet, hervorragende Persönlichkeiten zu bilden. Irene Eucken meinte gar, es sei für die Amerikaner überhaupt, „momentan unmöglich, uns Deutschen geistig gleichzukommen; sie können das nicht mit irgend etwas ersetzen, was uns die vielen stark ausgeprägten Geister gegeben haben“.228 Allerdings hatte Eucken das Szenario des „deutschen Wesens“ und seiner Menschheitsaufgabe in ganz ähnlicher Form bereits mehr als zehn Jahre zuvor, im Herbst 1901, in seinem ersten Artikel für die Deutsche Monatsschrift entfaltet. Ausgangspunkt war hier die Position des Deutschen Reiches im „weltpolitischen“ Wettstreit der Nationen. Diese Herausforderung könne, so Eucken, das deutsche Volk nur bewältigen, wenn es „an die Größe seiner geistigen Art und an eine Unentbehrlichkeit dieser Art für das Ganze der Menschheit“ glaube. Ein „Kulturvolk“ müsse nämlich „von seinem Wesen Rechenschaft geben und nach seiner Bedeutung für das Ganze der Menschheit fragen“. Das Eigentümliche der „deutschen Art“ bestimmt der Philosoph mit dem gleichen Kanon an Stereotypen, den er auch in seinem „Geistersammlungsbuch“ von 1913 heranzieht. Und auch das Fazit des Artikels über die Die weltgeschichtliche Aufgabe des deutschen Geistes klingt ziemlich vertraut: Das deutsche Volk ist vor allem berufen, für eine Vertiefung und Befreiung der Kultur zu wirken, ein Ganzes und Inneres des Menschen zu entwickeln und in aller Bethätigung nach außen gegenwärtig zu halten, die Arbeit an der Welt intensiv zu gestalten, in sie die Seele hineinzulegen und durch sie die Seele zu stärken.229

Man sollte daher die Fokussierung der Sammlung der Geister auf das Nationale nicht voreilig einer zäsurhaften Wendung Euckens zu nationalistischen Deutungsmustern und Weltbildern zuschreiben.230 Dass sich der Jenaer Philosoph auch im letzten Vorkriegsjahr nicht als Protagonist eines aggressiv gegen andere Völker und Nationen gewendeten Nationalismus verstand, kann man an sei228 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 89, 93; ThULB NLRE I, 32, Bl. 386f: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 18.12.1912; ebd. V, 16, Bl. 660f: Irene Eucken an Athenäa Passow, 8.12.1912. 229 R. Eucken, Aufgabe, S. 23, 30f. 230 In diese Richtung argumentiert etwa Beßlich, Kulturkrieg, S. 92f.

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nen Reflexionen über die Nationalitätsidee in der zweiten, 1913 erschienenen Auflage der Grundlinien einer neuen Lebensanschauung ersehen. Er problematisiert hier die Gefahren, die die Verallgemeinerung des Nationalbewusstseins im Laufe des 19. Jahrhunderts mit sich brachte. Am Anfang des Jahrhunderts hätten „Überzeugungen idealistischer Art“ gestanden, nach der die Nation als „eigenartige Individualisierung des gesamten Geisteslebens“ verstanden worden sei. Die „Vielheit dieser Individualitäten“ sollte das Leben der Menschheit bereichern. Die „Entwicklung der eigentümlichen Art“ „im edlen Wettkampf der Völker“ habe versprochen, „den Individuen eine Fülle belebender und erhöhender Antriebe zuzuführen“. Je mehr aber die Nationalitätsidee „von der Höhe der Gedankenwelt zur Breite der menschlichen Verhältnisse herabstieg“, desto mehr „Gewalt und Unbill“ habe sie erzeugt, desto mehr würden „Handlungen, je nachdem sie uns oder andere betreffen, nach doppeltem Maß und doppeltem Gewichte“ gemessen. „Wir Deutschen“, so Eucken weiter, schwankten oft unsicher zwischen einem „gesinnungslosen Kosmopolitismus“ und einem „aufdringlichen Nationalismus“ hin und her. Ein ruhiges Festhalten an ihrer eigentümlichen Art sei „uns“ noch nicht so selbstverständlich geworden „wie Völkern älterer politischer Bildung“.231 Es mögen daher beim Perspektivenwechsel, den Rudolf Eucken in Zur Sammlung der Geister vornahm, nicht zuletzt pragmatische Überlegungen eine Rolle gespielt haben. Es dürfte Eucken klar gewesen sein, dass eine organisierte Bewegung schwerlich außerhalb des nationalstaatlichen Rahmens denkbar war, wenn sie gesellschaftspolitische Wirkung erzielen wollte. Es lag dann auch nahe, an das patriotische Sentiment zu appellieren und das in den Blick genommene Reformprogramm als „nationale“ Aufgabe zu rahmen. Den Lesern diese Aufgabe mit einem Katalog schmeichelhafter kollektiver Wesenszüge schmackhaft zu machen, konnte wohl auch nicht schaden. Wie ernst es dem Philosophen mit der „Sammlung der Geister“ tatsächlich war, ist aus den verfügbaren Quellen nicht ohne weiteres zu erschließen. Zwar schrieb ihm sein Leipziger Verleger im November 1913: „Eine besondere Freude wäre es mir, wenn von verschiedenen Seiten Ihre Anregung zur Sammlung aufgenommen würde und es zur Bildung fester Gruppen kommen würde, wie Sie das für notwendig halten.“232 Doch machte Eucken zunächst keine Anstalten, selbst die Organisation der von ihm in Aussicht genommenen Bewegung aktiv voranzutreiben. Es war Julius Goldstein, der Ende 1913 mit dem Vorschlag an Eucken herantrat, eine Zeitschrift „zur Sammlung aller positiv gerichteten Geister“ zu gründen. Er hatte auch schon „ein schönes Programm“ dafür entworfen, doch sein 231 R. Eucken, Grundlinien, S. 222f. 232 ThULB NLRE I, 22, Bl. Q 51: Quelle & Meyer an Rudolf Eucken, 11.11.1913.

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Doktorvater bremste ihn offensichtlich. Man müsse sich vor Übereilung hüten.233 Mitte Februar 1914 meldete sich ein Albert Klein aus Gießen bei Eucken und gab sich als treuer Anhänger seiner Lehre zu erkennen. Klein berichtete von einem Gespräch mit dem Geschäftsführer des Rheinischen Verbands für Volksbildung, Georg Volk. Dieser Herr verfolge den Plan, eine „wirkliche Sammlung der Geister“ in die Wege zu leiten. Es müsse sich dazu „eine Kerntruppe des Neuidealismus“ entschlossen um ihren Führer scharen. Den Führer einer solchen Bewegung habe man auch schon ausgemacht: „Sie selber sind es“. Volk ließ nun bei Eucken anfragen, ob dieser bereit sei, bei der Schaffung einer Organisation mitzuwirken, „die Ihre Ideen in Praxis umzusetzen trachten würde – und besonders diejenigen Ihres letzten Buches“. Dem Philosophen würde damit keine neue Last aufgeladen. Die eigentliche Arbeit würde Volk besorgen. Eucken könne sich darauf beschränken, den Aufruf zu unterzeichnen und gelegentlich einen Vortrag zu halten.234 Volk hatte seinen Plan auch Julius Goldstein vorgelegt, der sogleich nach Jena berichtete, er sei für die Sache „wirklich enthusiasmiert“. Er habe mit Volk vereinbart, dass sich im März ein „kleiner Kreis von Persönlichkeiten“ zusammenfinden solle, um die Einzelheiten des Vorhabens zu besprechen.235 Goldstein formulierte nun ein Programm, das der Bewegung eine allgemein idealistische Grundrichtung gab und sandte Einladungen an etwa 80 Personen aus. Am 14. März 1914 fand das angekündigte Treffen in Darmstadt statt. Eucken war selbst angereist und hielt einen Vortrag. In der Diskussion stellte sich heraus, dass die Teilnehmer recht unterschiedliche Ansichten über den Charakter hatten, die die angestrebte „Sammlung der Geister“ haben sollte. Georg Volk plädierte dafür, die Volksbildung in den Mittelpunkt der Aktivitäten zu stellen, um die „breiten Massen des Volkes“ anzusprechen. Eine Mehrheit der Anwesenden dachte dagegen eher an eine „Gesellschaft für die intellektuelle Mittelschicht“. Man einigte sich schließlich darauf, zunächst eine Zeitschrift zu gründen, um deren organisatorischen Kern herum sich die Gesellschaft formieren sollte. Die Bildung von Ortsgruppen wurde vorerst zurückgestellt.236 Ende März trafen sich Volk, ein Pfarrer Fuchs, der Leipziger Verleger Heinrich Meyer (Quelle & Meyer) und einige andere in kleinem Kreis in Frankfurt. Da Julius Goldstein verhindert war, nahm seine Frau an dem Treffen teil. Aus Margarete Goldsteins Aufzeichnungen dieser Besprechung ist die allgemeine 233 Ebd. I, 9, Bl. G 248: Julius Goldstein an Rudolf Eucken, 30.12.1913. 234 Ebd. I, 14, Bl. K 347: Albert Klein, Gießen, an Rudolf Eucken, 17.2.1914. 235 Ebd. I, 9, Bl. G 251: Julius Goldstein an Rudolf Eucken, 15.2.1914. 236 Ebd. Bl. G 235: Margarete Goldstein an Rudolf Eucken, 20.3.1914. Vgl. ebd. Bl. G 253f: Julius Goldstein an Eucken, 7.3.1914. R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 93.

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Enttäuschung über das Auftreten Euckens auf der Darmstädter Tagung und seine Äußerungen in einem zwischenzeitlich eingetroffenen Brief zu ersehen. Der Philosoph interessierte sich offenbar vor allem für die programmatischen Feinheiten und sträubte sich gegen ein rasches Vorgehen. Goldstein mutmaßte sogar gegenüber seiner Frau, Eucken wolle Zeit gewinnen, um sich ganz von der Sache zurückzuziehen. Der Verleger Meyer kennzeichnete seinen Erfolgsautor als verzagten Gelehrten, der wenig Sinn für das Praktische habe. Ein anderer Teilnehmer des Frankfurter Treffens meinte, Eucken wolle bloß eine philosophische Sekte gründen. Volk stellte die Frage in den Raum, ob man weitermachen wolle, auch wenn Eucken nicht mitgehe.237 Der Fortgang der „Sammlung der Geister“ in den folgenden Wochen und Monaten bleibt mangels Quellen im Dunkeln. Auch über den Kreis der involvierten Personen liegen nur fragmentarische Informationen vor. Als Teilnehmer der Darmstädter Besprechung lassen sich neben den eben genannten Personen nachweisen: der Straßburger Philosophiedozent Otto von der Pfordten, der Historiker Eduard Heyck, der Kemptener Landgerichtsrat Gustav Ziegler, der Biologie und Philosoph Hans Driesch sowie eine Redakteurin der Zeitschrift Der Vortrupp, Malwine Ebhardt.238 Auf Julius Goldsteins Einladungsliste vom März 1914 standen anscheinend nicht allein Freunde und bekennende Anhänger des Jenaer Philosophen. Goldstein wollte die neue Bewegung auf eine möglichst breite Basis von Personen und Gruppierungen stellen, die „bei aller Verschiedenheit wissenschaftlicher, politischer und religiöser Richtungen“ sich zu einer idealistischen Grundeinstellung bekannten. Selbst „parteimässige Sozialdemokraten“ hatte er offenbar nach Darmstadt eingeladen. Auf der anderen Seite wollte Goldstein eine Grenze nach rechts, zu einem völkisch und antisemitisch gefärbten Nationalismus, ziehen. So war die Zeitschrift Der Vortrupp vertreten, weil sie von „wirklich ideal gerichtete[n] Menschen“ gelesen werde, „die ihre Form des Deutschtums von der nationalistischen Verfälschung durch den Rassenbegriff reinigen möchten“. Goldsteins Vorstellungen einer „Sammlung der Geister“ blieben nicht unwidersprochen. Eduard Heyck, der als Privatgelehrter in der Schweiz lebte, hatte schon im Vorfeld der Darmstädter Tagung vor politischer Indifferenz gewarnt. „Wir sollen parteiisch sein: national und deutschbewußt“, erklärte er in einem Brief an Eucken und äußerte die Sorge, man wolle „Ihre große schöne Tat auf die Mühlen der opportunistischen, dekorativ mit den Idealen ausgeputzten 237 Vgl. LBI, NL Goldstein 3/11: Margarete an Julius Goldstein, 31.3.1914; ebd. 2/19: Julius an Margarete Goldstein, 21.3.1914. 238 Vgl. ThULB NLRE I, 9, Bl. G 253f: Julius Goldstein an Rudolf Eucken, 7.3.1914; ebd. I, 11, Bl. H 304f: Eduard Heyck an Eucken, 11.3.1914; ebd. I, 9, Bl. G 235f: Margarete Goldstein an Eucken, 20.3.1914; ebd. I, 27, Bl. V 277: Malwine Ebhardt an Eucken, 6.1.1916; Ziegler, Reformation, S. 3.

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Mischmaschliberalismus und tatsächlichen Kosmopolitismus leiten“. Zwei Monate später warnte er den Philosophen vor einer Beteiligung von Sozialdemokraten und vor einem „gar zu spürbarem Vorwiegen des stets recht regen jüdischen Teils“.239

239 ThULB NLE I, 9, Bl. G 258f: Julius Goldstein an Rudolf Eucken, 1.7.1914; ebd. I, 11, Bl. H 304f, 307: Eduard Heyck an Eucken, 11.3. und 16.5.1914.

4 Im Krieg der Geister 1914–1918 „Unsere gerechte Sache“ Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den ersten Augusttagen 1914 war für Rudolf Eucken ein möglicherweise nicht ganz unwillkommener Anlass, seine „Sammlung der Geister“ fürs erste ad acta zu legen. Wie der Philosoph den Ausbruch des Krieges erlebte und wahrnahm, ist nicht belegt. „Wir haben hier sehr unruhige Tage, die Nachrichten schwanken fortwährend hin und her und lassen einen nicht zur Ruhe kommen“, hatte er noch wenige Tage vor den Kriegserklärungen an seinen Londoner Freund Friedrich von Hügel geschrieben und hinzugefügt: „Sehnlich sehen wir einer glücklichen Wendung der Sache entgegen.“ Zwei Wochen später war die Stimmung im Hause Eucken offensichtlich in eine ganz andere Richtung gekippt. Man stehe, so teilte er Vitalis Norström mit, „in einem Riesenkampfe“, sei aber zuversichtlich ihn siegreich zu bestehen; „unsere Gegner werden den furor Teutonicus schon kennen lernen“. Man sei am meisten über die Engländer entrüstet, „dass in unserm Kampfe gegen das Slaventum uns eine Germanische Macht in den Rücken fällt“. Es hätten sich massenhaft Freiwillige gemeldet und auch seine beiden Söhne seien „in den Kampf gezogen, stolz und froh, für die grosse Sache kämpfen zu dürfen“.1 Arnold Eucken, der 1906/07 seinen einjährig-freiwilligen Militärdienst beim Feldartillerieregiment 198 in Erfurt abgeleistet hatte, kehrte als Leutnant der Reserve zu dieser Einheit zurück. Sein Bruder Walter hatte seinen Militärdienst erst im Oktober 1913 angetreten, ebenfalls bei der Artillerie und zwar bei einem bayerischen, in Erlangen stationierten Regiment. Irene Eucken stellte sich im August 1914 freiwillig in den Dienst der Kriegsführung und übernahm die Leitung der Küche eines Lazaretts in Jena.2 Rudolf Euckens Beitrag zu den Kriegsanstrengungen des Deutschen Reiches bestand in den Monaten nach dem Kriegsausbruch vor allem in einer mächtigen Steigerung seiner publizistischen Tätigkeit. In zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, öffentlichen Aufrufen und Vorträgen stellte er die Gerechtigkeit der deutschen Sache heraus und wies die Schuld am Krieg den Gegnern zu. In einer frühen Stellungnahme, einem Aufsatz in der Zeitschrift Der Vortrupp vom 1. September 1914, führt Eucken etwa aus, das deutsche Volk habe den Krieg nicht mutwillig hervorgerufen, sondern er sei ihm von seinen Nachbarn 1 StAUL Hügel Papers, ms2565: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 29.7.1914; ThULB NLRE I, 30, Bl. 393: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 11.8.1914. 2 Vgl. Becke-Göhring/M. Eucken, Arnold Eucken, S. 11, 13; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 63f; ThULB NLRE I, 30, Bl. 396: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 21.12.1914. https://doi.org/10.1515/9783110687033-004

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aufgezwungen worden. Mit Verweis auf das Attentat von Sarajevo reklamiert der Philosoph „Moral und Recht“ für die deutsche Seite: Man kämpfe dagegen, dass „der organisierte Mord zu einem Faktor des Völkerlebens werde“ und halte zugleich seinem Bundesgenossen die Treue.3 Es ist aber vor allem die Entrüstung über die Engländer, die Euckens frühe Kriegskommentare durchzieht. Bereits am 18. August war er zusammen mit seinem Jenaer Kollegen Ernst Haeckel mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit getreten, die in scharfen Worten den Eintritt Großbritanniens an der Seite der Gegner Deutschlands verurteilte. Bei Eucken mag hier der Umstand mitgespielt haben, dass sein Werk gerade in England auf großes Interesse gestoßen war, dass er in den vergangenen Jahren mit Einladungen und Ehrungen geradezu überschüttet worden war. Euckens Vehemenz war wohl nicht allein persönlicher Enttäuschung entsprungen, standen doch England und die Engländer überhaupt im Mittelpunkt des bildungsbürgerlichen Kriegsdiskurses.4 Ein wesentliches Moment dieser emotional unterfütterten Englandkritik dürfte darin zu suchen sein, dass die britische Regierung ihren Kriegseintritt dezidiert rechtlich-moralisch begründet hatte: Man trete für die Rechte des kleinen Belgien ein, das trotz erklärter Neutralität unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts von seinem bis an die Zähne bewaffneten großen Nachbarn überfallen worden sei. Damit trafen die Briten die deutsche Kriegsapologetik offensichtlich an einem wunden Punkt, und dies umso mehr, wenn diese Apologetik von einem idealistischen Philosophen vertreten wurde, für den Recht und Moral im Kern seiner Lehre standen. Daher verwundert es nicht, dass Rudolf Eucken in seinen Kommentaren zum Kriegsausbruch mit Eifer versuchte, die „wahren“ Motive der Engländer zu enthüllen. „Deutschlands notwendigen Einmarsch in Belgien“, so heißt es in dem von Eucken und Haeckel Mitte August 1914 veröffentlichten Text, habe England lediglich benutzt, „um dem brutalen nationalen Egoismus ein Mäntelchen der Wohlanständigkeit umzuhängen.“ Vor allem den Neid auf die Deutschen und ihre wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Errungenschaften machten die beiden Jenaer Professoren (und mit ihnen viele andere deutsche Kriegsdeuter) als eigentliche Antriebskraft hinter dem Kriegseintritt der Briten aus. England wolle, so Eucken wenige Wochen später, Deutschland seiner Stellung in der Welt berauben und seinen Handel und Wohlstand vernichten. Nur zu diesem Zweck habe es „mit höchst bedenklichen Mitteln die halbe Welt ge-

3 R. Eucken, Jugend, S. 516. 4 Vgl. etwa am Leipziger Fall: Schäfer, Bürgertum, S. 172ff.

170  4 Im Krieg der Geister 1914–1918

gen uns in den Krieg gehetzt“. Auf England falle daher „die ungeheure Schuld und die welthistorische Verantwortung“.5 Die Überzeugung, dass die Briten aus „niederen“, wirtschaftlichen und machtegoistischen Motiven heraus den Krieg gegen Deutschland ins Werk gesetzt hatten, befeuerte die Empörungsrhetorik zusätzlich. War es nicht ein schändlicher Verrat, dass dieses „germanische“ Volk, das kulturell und ethnisch seinen deutschen „Vettern“ so eng verbunden war, sich an die Seite der „Barbarei“ in Gestalt der „slawischen, halbasiatischen Macht“ Russland stellte? Anfang September 1914 verliehen die beiden Jenaer Professoren ihrer Entrüstung über „das uns bluts- und stammverwandte England“ noch einmal symbolischen Ausdruck, indem sie die ihnen verliehenen Auszeichnungen britischer Universitäten zurückgaben und die deutsche Hochschullehrerschaft aufforderten, ihrem Beispiel zu folgen.6 Rudolf Eucken gehörte zu den Unterzeichnern einer ganzen Reihe weiterer Resolutionen, die darauf zielten, die deutsche Position darzulegen und zu rechtfertigen, wie etwa die beiden Aufrufe „An die evangelischen Christen im Auslande“ vom September und November 1914. Er zählte auch zu den 93 deutschen Gelehrten und Künstlern, die sich Anfang Oktober in einem berühmt-berüchtigten Aufruf „An die Kulturwelt“ wandten. Wie stark die deutsche Kriegsapologetik mittlerweile im Wettbewerb um die öffentliche Meinung in den neutralen Ländern in die Defensive geraten war, deutet sich schon im rhetorischen Aufbau dieses Aufrufs an: Der eigene Standpunkt wird in Thesen präsentiert, die allesamt mit den Worten „Es ist nicht wahr …“ beginnen. Deutschland habe den Krieg nicht verschuldet (man habe dafür „urkundliche Beweise“). Es habe die Neutralität Belgiens nicht verletzt (sondern sei damit nur den Engländern und Franzosen zuvorgekommen). Ebenso wenig habe es Leben und Eigentum eines einzigen belgischen Bürgers angetastet (außer in „bitterster Notwehr“). Man sei auch nicht für die Zerstörungen wertvoller Kulturdenkmäler in der Stadt Löwen verantwortlich. Sollten wirklich Kunstwerke zerstört worden sein, würde es jeder Deutsche beklagen. Im Übrigen lehne man es ab, wegen der Erhaltung von Kunstwerken zu riskieren, den Krieg zu verlieren. Auch sei die Behauptung der Feinde unwahr, dass sich ihr Kampf allein gegen den deutschen Militarismus und nicht gegen die deutsche Kultur richte. Der deutsche Militarismus und die deutsche Kultur würden nämlich von jeher in bestem Einverständnis zu einander stehen. Der Aufruf „An die Kulturwelt“ schloss mit dem ebenso flehentlich wie hilflos wirkenden Appell: „Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu

5 Zitate nach: Kellermann, Krieg, S. 27f, 31f. 6 Zitate nach: ebd., S. 27f. Vgl. Brocke, Wissenschaft, S. 715; Dathe, Philosoph, S. 51f.

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Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.“7 Die Lektüre dieses Textes macht es wohl auch den heutigen Leser ohne weiteres nachvollziehbar, warum der „Aufruf der 93“ in der „Kulturwelt“ der kriegsführenden wie der neutralen Länder auf ein verheerendes Echo stieß. Offenbar hatten zahlreiche der Unterzeichner den Wortlaut des Aufrufs nicht gekannt oder waren sogar ohne ihr Einverständnis auf dessen Namensliste gesetzt worden.8 Ob dies auch auf Rudolf Eucken zutraf, ist nicht belegt. Doch meinte der Philosoph nach dem Krieg, der Aufruf sei „in der Form wenig glücklich“ gewesen, er sei auch „viel zu dogmatisch und summarisch gehalten“. Viele Denkfiguren des Textes finden sich allerdings auch in den Kriegskommentaren Euckens. So setzte er sich im Herbst 1914 in der Zeitschrift Das Größere Deutschland mit einer gängigen Lesart der alliierten Propaganda auseinander, der eben erwähnten Dichotomie zwischen dem zu bekämpfenden deutschem Militarismus und der schätzenswerten deutschen Kultur. Anstatt nun aber, wie es vielleicht nahegelegen hätte, den Vorwurf des Militarismus rundweg zurückzuweisen, entwirft er ein Szenario des Deutschen, das den Militarismus und die Kultur zu einer harmonischen Synthese vereint: … das deutsche Heereswesen steht nicht nur in keinem Gegensatz zur Kultur, es ist ein wesentliches Stück der Kultur, es ist ein Hauptmittel zur intellektuellen und moralischen Hebung des Volkes. … die Führer unseres Heeres sind zugleich geistige Spitzen unseres Volkes. In noch höherem Maße aber vollzieht der Heeresdienst eine moralische Erziehung am ganzen Volke. Jeder Einzelne wird damit zur Pflichttreue, zum Gehorsam, zur Ordnung und Pünktlichkeit angehalten, …9

Präsentierte der Jenaer Philosoph hier nicht genau die militaristische Kultur, die die Kriegsgegner den Deutschen vorwarfen und unterstellten? In seinem Buch Zur Sammlung der Geister hatte Eucken noch im Jahr zuvor den Hang zum Militärischen keineswegs zu den hervorragenden Charakterzügen der Deutschen gezählt. Und Gehorsam und Pünktlichkeit gehörten sicher nicht zu den Tugenden, die dem Individuum halfen, für sich eine „Tatwelt“ der Innerlichkeit zu eröffnen – ganz abgesehen davon, dass Euckens Verweis auf die Armee als „Schule der Nation“ geeignet war, jedem noologischen Pädagogen die Haare zu Berge stehen zu lassen.

7 Zitiert nach dem Faksimile-Abdruck in: Brocke, Wissenschaft, S. 718. Vgl. Dathe, Philosoph, S. 52; Schwabe, Wissenschaft, S. 22–26; Ungern-Sternberg, Aufruf; Bruendel, Volksgemeinschaft, S. 40–44. 8 Vgl. Brocke, Wissenschaft, S. 661f; Ungern-Sternberg, Aufruf, S. 64, 94-104. 9 R. Eucken, Militarismus, S. 959.

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Die Appelle der deutschen Gelehrten an die Kulturschaffenden des Auslands mit ihrer merkwürdigen Mischung aus flehentlich vorgetragener Apologetik, beleidigender Polemik und kulturellem Überlegenheitsanspruch trugen sicherlich auch zu einer Eskalation gegenseitiger Verunglimpfungen in den propagandistischen Stellungnahmen von Intellektuellen der kriegsführenden Länder bei. Es gingen nun die vor dem Krieg aufgebauten freundschaftlichen Beziehungen Euckens zu den gleichgesinnten französischen Philosophen zu Bruch. Èmile Boutroux und Henri Bergson äußerten sich in Aufrufen und eigenen Veröffentlichungen wenig schmeichelhaft zur deutschen Kultur. Bergson hatte bereits eine Woche nach Kriegsausbruch in einer Rede vor der Academie des Sciences Morales verkündet, der Kampf gegen Deutschland sei ein Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei. Boutroux, der noch im Mai 1914 in der Aula der Jenaer Universität das deutsche Volk als Träger des Idealismus gefeiert hatte, wollte nun in der deutschen Wissenschaft und Philosophie nur noch eine „gelehrte Barbarei“ erkennen.10 Isaak Benrubi, der sich vor dem Krieg als Vermittler zwischen Eucken, Bergson und Boutroux betätigt hatte, erlebte den August 1914 in Paris. Ende September verließ er die französische Hauptstadt und siedelte nach Genf über. Unter dem 3. Oktober 1914 versicherte er seinem Doktorvater, dass er, „wie ich mich auch zu dem Probleme der Ursachen des Krieges stellen mag, Ihr treuer Schüler und aufrichtiger Verehrer bin und bleiben werde“. Auch seine Liebe zur deutschen Kultur bleibe unerschütterlich. In seinem nächsten Brief aus den ersten Januartagen 1915 distanzierte er sich vehement von Boutroux und Bergson, deren „schmachvolle“ Charakteristik der deutschen Kultur an Irrsinn grenze. Er habe nun eine Gegendarstellung in Form eines „offenen Briefes“ an Rudolf Eucken verfasst und der Frankfurter Zeitung zur Veröffentlichung zugesandt.11 Zwischen Entsetzen und Bedauern pendelte auch ein weiterer Mittler zwischen Eucken und den französischen Idealisten. Der Meißener Gymnasialprofessor Alfred Leicht, der an französischen Übersetzungen von Eucken-Werken beteiligt gewesen war, fand Boutroux’ Artikel über die deutsche Kultur zwar „höchst befremdlich und nicht entschuldbar“. Doch gleichzeitig appellierte er an Eucken, die Brücken zur französischen Philosophie nicht dauerhaft abzubrechen. Zumindest Henri Bergson halte er für einen „Mann von vornehmer Gesinnung“. Bergson und Eucken seien doch „verwandte Geister“. Finde sich

10 Vgl. Brocke, Wissenschaft, S. 665, 696; Daems, Jenaer Philosophen, S. 727; Grüner, Universität, S. 74; Schlotter, Totalität, S. 62; Ungern-Sternberg, Aufruf, 55, 100; Bruendel, Volksgemeinschaft, S. 38f. 11 ThULB NLRE I, 2, Bl. B 261-264: Isaak Benrubi an Rudolf Eucken, 3.10.1914 und 3.1.1915.

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in jedem Volke nur ein Führer, der von Humanität durchdrungen ist und deren Ziel der Masse fest vorzeichnet, dann wird diese allmählich der ‚Giftatmosphäre des Hasses‘ wieder entzogen und der Begriff der Vaterlandsliebe geläutert und gehoben werden. Für uns Deutsche sind Sie dieser Führer. In Frankreich hat niemand einen so mächtigen Einfluß auf geistigem Gebiete als Bergson,…12

Auch Eucken hatte gegenüber Leicht die Hoffnung ausgedrückt, „daß später deutsche und französische Kultur zu gegenseitiger Ergänzung wieder freundlich zusammenwirken.“ Doch seien leider „Kultur und jeweilige Menschen … verschiedene Dinge.“13 Eucken hatte bereits im September 1914 beklagt, dass selbst ein „Denker wie Bergson“ „Schimpfworte gegen Deutschland“ gerichtet habe, „die ihn von aller Besonnenheit und Gerechtigkeitsliebe verlassen zeigen“. Er sprach dem französischen Philosoph aber nicht gleich die fachliche Kompetenz ab wie dies sein Jenaer Kollege, der Neukantianer Bruno Bauch tat. Für Bauch waren die Lehren von Boutroux und Bergson, in denen Rudolf Eucken und seine Schüler vor 1914 so viele Ähnlichkeiten zu den eigenen Überzeugungen entdeckt hatten, eine „Reklame- und Modephilosophie“, „romantische Phantasterei“ und „verfehlte mystische Spekulationen“.14 Noch größere Wellen als die Äußerungen der französischen Philosophen zur deutschen Kultur schlug im Herbst 1914 in Jena ein anderer Fall, zu dem sich Eucken wohl oder übel zu Wort melden musste. Ende September hatte nämlich Ferdinand Hodler eine Erklärung unterschrieben, die die Beschießung der Kathedrale von Reims durch deutsche Artillerie als Akt der Barbarei verurteilte. Diese Nachricht löste in der thüringischen Universitätsstadt einen Sturm der Entrüstung aus. Nun erhielten auch die Vorbehalte gegen sein Gemälde neue Nahrung. Selbst ein Wilhelm Rein setzte die Kunst Hodlers als „unerträgliche Affektiertheit und falsche Genialität“ herab. Eucken forderte den Prorektor der Universität in einem Schreiben auf, das Bild entfernen zu lassen. Dies dürfte aber eher der Versuch einer Schadensbegrenzung gewesen sein, denn bald standen wesentlich radikalere Vorschläge im Raum. Ernst Haeckel wollte das Kunstwerk zum Verkauf anbieten lassen und den Erlös dem Roten Kreuz spenden. Schließlich verschwand das Gemälde für die Dauer des Krieges hinter einem Bretterverschlag. Hodler, erschrocken über die heftigen deutschen Reaktionen, erklärte in einem Telegramm an Eucken, sein Protest habe sich nicht

12 ThULB NLRE I, 17, Bl. L 120f: Alfred Leicht an Rudolf Eucken, 14.1.1915. 13 So wiedergegeben in: ebd. 14 R. Eucken, Gelehrte, Sp. 71; die Bauch-Zitate nach: Daems, Jenaer Philosophen, S. 727; vgl. Grüner, Universität, S. 74; Schlotter, Totalität, S. 62.

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gegen Deutschland, sondern allein gegen die Zerstörung eines Kunstwerkes gerichtet.15 Rudolf Eucken gingen offenbar die Invektiven gegen Hodler und seine Kunst, und überhaupt die verbreitete Neigung, missliebige Kritiker der deutschen Kriegsführung persönlich zu verunglimpfen und ihr künstlerisches oder wissenschaftliches Werk zu entwerten, gründlich gegen den Strich. Als er 1916 von dem Kunsthistoriker Adelbert Matthaei kritisiert wurde, weil er in einem seiner Texte eine Äußerung Ferdinand Hodlers zur Kunst Dürers zitiert hatte, antwortete Eucken in ziemlich ungehaltenen Ton. Er halte den Schweizer Maler trotz seiner bedauernswerten Unterschrift für einen „deutschen Künstler“. Manche der Jenaer Studenten hätten sich, bevor sie in den Krieg zogen, „jenes von Ihnen verworfene Bild angeschaut und sich dran erquickt“. Man müsse doch bedenken, dass die künstlerischen Bestrebungen zu allen Zeiten auseinander gingen. „Aber so viel Gemeinschaftsgefühl sollte durch alle Richtungen gehen, dass man ein Benehmen wie das Haeckels, also eines Laien, der unbefugterweise ein Kunstwerk öffentlich zum Verkauf ausbietet, als der Kunst unwürdig verwirft.“ Kampf sei notwendig, so schloss Eucken seinen Brief, „aber es darf in ihm nicht alles Gemeinschaftsgefühl verloren gehen“.16 Allerdings scheint sich nach der Aufregung der ersten Kriegsmonate die Empörungsbereitschaft allgemein etwas gelegt zu haben. Ein neuerlicher Aufruf französischer Künstler gegen die „deutsche Barbarei“ vom März 1915, den u. a. Auguste Rodin unterzeichnet hatte, wurde zwar von der Jenaischen Zeitung mit der Forderung nach Aberkennung der Ehrendoktorwürde Rodins beantwortet. Auch in diesem Falle war Rudolf Eucken, der diese Ehrung initiiert hatte, besonders betroffen. Doch die Universitätsleitung ignorierte das Ansinnen des führenden bürgerlichen Blattes der Stadt einfach und die Angelegenheit verlief im Sand.17 Von Eucken selbst waren seit der Jahreswende 1914/15 wieder gemäßigtere Töne zu hören. In einem Artikel, den die Frankfurter Zeitung am Neujahrsmorgen veröffentlichte, klang auch leise Kritik an dem überschäumenden nationalistischen Chauvinismus des bildungsbürgerlichen Kriegsdiskurses an. „Der Deutsche“ dürfe sich nicht „in die Enge einer nationalen Sonderart einspinnen wollen“ oder „einem trägen Rassedünkel huldigen“. Ein großes Kulturvolk wie das deutsche könne „seine eigene Höhe nicht erreichen“, „ohne sich das Ganze der Menschheit gegenwärtig zu halten“. Und Mitte 1915 stellte er in einem Zeitschriftartikel klar, dass zwar der Zorn auf den Gegner durchaus ange15 Vgl. Grüner, Universität, S. 64–67; Balint, Auszug, S. 132ff, 224; Neuland, Irene Eucken, S. 226. 16 ThULB NLRE I, 29, Bl. 153f: Rudolf Eucken an Adelbert Matthaei, 28.10.1916. 17 Vgl. Grüner, Universität, S. 73.

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bracht sei, nicht aber ein Hass, der nichts am anderen anzuerkennen vermöge. Man dürfe doch nicht den Kulturbesitz des englischen, des französischen, des italienischen Volkes herabsetzen und verwerfen.18

Der Sinn des Krieges In einer seiner frühen Äußerungen zum Ersten Weltkrieg, einem Mitte September 1914 im Vortrupp publizierten Aufsatz, schildert Rudolf Eucken den Kriegsausbruch als euphorisches Erweckungs- und Gemeinschaftserlebnis: Wir haben erlebt, daß alle Zerklüftung der Parteien, aller Unterschied der Volksklassen vor dem Bewußtsein, Deutsche zu sein, verschwand; wir alle fühlten uns als Glieder einer großen Gemeinschaft, verbunden durch ein hohes Ziel, angetrieben, dafür das Äußerste unseres Vermögens einzusetzen. Wir erfuhren dabei eine innere Hebung der Seele: alles Kleine und Selbstische trat zurück, ganz und gar durften wir uns als Werkzeuge einer höheren Ordnung, als Mitarbeiter an einem heiligen Werke fühlen. Eine erhabene Größe kam damit in unser Leben, Liebe und Opfersinn; das Feuer, was jetzt entzündet ward, wird in das ganze künftige Leben leuchten und es vor der Kälte des Alltagslebens bewahren.19

Mit dieser Wahrnehmung und Deutung des Ersten Weltkriegs befand sich der Jenaer Ordinarius einerseits im Mainstream des bildungsbürgerlichen Kriegsdiskurses. Das freudige Erstaunen über das plötzliche Verschwinden von Parteiund Klassengegensätzen; die Wahrnehmung einer allgemeinen Bereitschaft, sich für die nationale Gemeinschaft einzusetzen; die Feier des Kriegs als Katalysator einer moralischen Läuterung – all das sind Topoi, die in zahllosen zeitgenössischen Texten zu finden sind.20 Ebenso unverkennbar sind aber andererseits die gedanklichen Kontinuitäten, die Euckens Texte zum Krieg zu seinen philosophisch-weltanschaulichen Schriften der Vorkriegszeit aufweisen. Der Philosoph fügte, so wird im Folgenden zu zeigen sein, den Krieg ziemlich passgerecht in das Panorama seiner eigenen Weltanschauung ein, deutete ihn in diesem spezifischen Kontext sinnhaft und formulierte die aus dem Krieg zu ziehenden Folgerungen in programmatischer Weise aus. Sein weltanschauliches „Kriegsziel-Programm“ entwickelte Rudolf Eucken in zahlreichen Zeitschriftenund Zeitungsartikeln und Beiträgen zu Sammelbänden, vor allem aber in zwei 18 R. Eucken, Deutsche Gedanken, S. 2; ders., Unser seelisches Verhältnis. 19 R. Eucken, Beginn, S. 541. 20 Vgl. Bruendel, Volksgemeinschaft, S. 52f, 67-71. Zu Euckens Kriegsschriften vgl. Beßlich, Kulturkrieg, S. 98–115; Sieg, Geist, S. 117–121; Hoeres, Krieg, S. 222f; Flasch, Mobilmachung, S. 15–35.

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Buchveröffentlichungen. Die Träger des deutschen Idealismus erschien zu Weihnachten 1915 in einer Erstauflage von 25.000 Exemplaren im Berliner UllsteinVerlag. Dieses Buch sei, so Eucken, „in erster Stelle für unsere Krieger bestimmt.“ Nach einem Jahr war die Erstauflage vergriffen und es wurden Ende 1916 noch einmal 5000 Stück gedruckt. 1917 folgte im Otto Reichl Verlag die Broschüre Die geistigen Forderungen der Gegenwart, die bis zum Kriegsende eine Gesamtauflage von 6000 erreichte.21 Am Ausgangspunkt von Euckens Kriegsschriften steht gewöhnlich das altbekannte Szenario der geistigen Krise. Doch gehört die Krise nun fürs erste der Vergangenheit an. „Vor dem Kriege“, so beschreibt Eucken in den Geistigen Forderungen das Problem in einer vereinfachten Variante, sei ein Nebeneinander von „Arbeitskultur“ und „Genusskultur“ bezeichnend für die Lage des deutschen Volkes gewesen. Zwar hätten viele Menschen das Unzulängliche dieses Zustands empfunden und es habe auch Bestrebungen einer Sammlung der Geister „für eine dem deutschen Geist entsprechende Inhaltskultur“ gegeben. Doch letztlich seien diese Bestrebungen nicht recht in Fluss gekommen, „da die gegebene Lage den Menschen viel zu sehr festhielt und voll zu befriedigen schien; es fehlte an einem zwingenden Grunde, aus ihr herauszutreten und neuen Zielen nachzugehen.“ Der Krieg habe nun die Deutschen aus der bequemen Routine des Daseins aufgerüttelt, ihnen die Probleme mit greller Deutlichkeit vor Augen gestellt und sie die Widersprüche des menschlichen Daseins in voller Schroffheit empfinden lassen.22 Die Herausforderung des Krieges, so kann man den Gedankengang fortführen, zwang die Deutschen, sich mit ganzer Kraft einer großen Aufgabe, einem gemeinsamem Werk zu widmen und brachte ein gewaltiges Potenzial zum Vorschein. In geradezu hymnischer Exaltation schwärmt Eucken noch 1917 von der „unbegrenzte[n] Bereitwilligkeit, sich dem Dienst des Ganzen zu weihen“, „eine [r] kriegerische[n] Tüchtigkeit sondergleichen“, dem „Zurückstellen alles Scheidenden vor dem gemeinsamen Werk“, usw. usf. Solche Töne schlug der Jenaer Philosoph nicht nur in seinen publizierten Texten an. In ganz ähnlicher Diktion schrieb er Mitte 1915 seinem Freund Norström:

21 ThULB NLRE I, 30, Bl. 401: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 30.11.1915. Vgl. ebd. Bl. 404: Eucken an Norström, 29.4.1916; ebd. I, 26, Bl. U 17: Ullstein & Co an Eucken, 18.1.1917; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 99ff; Seng, Weltanschauung, S. 129f. 22 R. Eucken, Forderungen, S. 12, 14f.

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Die Selbstverständlichkeit der Hingebung an das Ganze, die Festigkeit und Zuversicht inmitten der Angriffe der halben Welt, die unbegrenzte Opferwilligkeit, auch die ruhige Fortführung der Arbeit inmitten der gewaltigen Unruhe, alles zusammen ist in Wahrheit etwas Grossartiges, wie es in dieser Weise kaum die Vergangenheit bot.23

Dabei wollte Rudolf Eucken nicht das Hohelied des Kriegs an sich anstimmen. Aus philosophischer Sicht sei der Krieg prinzipiell ein Übel: Sein zerstörendes und verheerendes Wirken, die Unterordnung des Rechts unter die Macht, die von ihm bewirkte Zerklüftung und Verfeindung der Menschheit seien tief zu beklagen. Auch könne man den Krieg nicht aus seinen möglicherweise positiven Auswirkungen rechtfertigen. Denn auch Krankheit, Leid und Not könnten zur Vertiefung und Veredlung der Seele beitragen, ohne dass man sie als erstrebenswertes Gut betrachten würde. Für die Beurteilung eines Krieges sei es jedoch bedeutsam, „ob er für edle Ziele geführt wird, ob er vom Gegner aufgedrängt oder aus eigenem Mehrhabenwollen entsprungen ist“. Nur ein gerechter Krieg könne den Menschen „über alle Dinge des Alltags und alle Kleinheit der Selbstsucht“ hinausheben, alle Gegensätze überbrücken und völlige Einheit herstellen. Unnötig zu erwähnen, dass Eucken zu dem Schluss kam, dass die Deutschen seit 1914 einen gerechten Krieg führten.24 „Alles Gute, alle innere Kräftigung und Erhebung“, die ein gerechter Krieg zu bringen vermöge, werden in Rudolf Euckens Schriften so zum Katalysator einer lange erhofften Bewegung: Die trägen Verhältnisse kämen in Fluss, die geistige Krise könnte überwunden, eine Einheit des Geisteslebens hergestellt, eine neue Lebensordnung inauguriert werden. Die Grundvoraussetzungen für eine solche Bewegung, die Eucken 1903 in seinem pessimistischen Aufsatz in der Deutschen Monatsschrift genannt hatte, – eine klare Frontstellung, ein greifbarer Hauptgegensatz, ein großes gemeinsames Ziel – schienen ihm nun gegeben. Solche Einfachheit, so hatte er 1903 geschrieben, wolle „aus dem Zwange geistiger Notwendigkeit geboren“ werden, einem Zwang, der aus der „Berührung von geistiger Tiefe und weltgeschichtlicher Lage“ hervorgehen werde. Erst dann werde es gelingen, zu einer Weltanschauung zu kommen, die einer kraftvollen Bewegung Sinn, Zweck und Ziel gebe.25 An solche Überlegungen knüpfte Rudolf Eucken in einem Beitrag zu dem 1916 veröffentlichten Sammelband Vom inneren Frieden des deutschen Volkes. Hier bekräftigten konservative, liberale, katholische und sozialdemokratische Autoren noch einmal den im August 1914 ausgerufenen „Burgfrieden“. Der einleitende Aufsatz zur Einheit der deutschen Weltanschauung war dem Jenaer Phi23 Ebd., S. 6; ThULB NLRE I, 30, Bl. 398: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 6.6.1915. 24 R. Eucken, Krieg, S. 166f, 169f. 25 Zitate: ebd., S. 170: R. Eucken, Gedanken, S. 16.

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losophen übertragen worden. Euckens Überlegungen beginnen mit der These, ein „großes Kulturvolk“ könne einer gewissen Einheit in der Weltanschauung nicht entbehren, sei doch eine solche Einheit notwendig, um „seinem geistigen Schaffen einen ausgeprägten Charakter zu geben“. Diese These problematisiert er dann in einem rhetorischen Schlenker mit dem Einwand, dass jede Weltanschauung einen Wahrheitsanspruch habe und nach Alleinherrschaft verlange; „sie duldet keine Vielheit, alles Ja in ihr enthält ein entschiedenes und ausschließendes Nein“. So gesehen, erscheine jeder Versuch, die Deutschen in einer gemeinsamen Weltanschauung zusammenzubringen, aussichtslos. Doch sei das Leben eines Volkes mehr als nur die „Summe der Meinungen, die sich in ihm durchkreuzen und in flüchtigem Wechsel einander folgen“. Hinter den Meinungen stehe nämlich die „Arbeit des Volkes“, das, was an geistiger Bewegung in einem Volk vorgehe, dem „Versinken ins Kleinmenschliche“ entgegenwirke, den Menschen auf hohe Ziele richte, kurz: „das gemeinsame weltgeschichtliche Werk“.26 Eucken umreißt nun die charakteristischen Hauptzüge, die der „deutschen Arbeit“ in dem eben dargelegten Sinne innewohnten. Es sind dies im Wesentlichen die gleichen Topoi nationaler Selbstvergewisserung, die er bereits 1913 in Zur Sammlung der Geister ausführlich beschrieben hatte: die „deutsche Innerlichkeit“, das in ihr gründende eigentümliche Verhältnis zur Arbeit, das Pflichtethos, die Universalität des deutschen Denkens etc. Auch hier fehlt im Übrigen der Hang zum Militärischen als nennenswerter deutscher Charakterzug. Alle diese „deutschen“ Tugenden und Eigentümlichkeiten vereine, so Eucken, ein „metaphysischer Zug“, der „das deutsche Leben über die Oberfläche des Daseins“ hinaus treibe und es „eine begründende und schaffende Tiefe“ suchen lasse.27 Erkenne man „die Hauptrichtungen des deutschen Strebens“ an, ließen sich auch die Gegensätze zwischen der religiösen und säkularen Denkart, zwischen Individualismus und Sozialismus, zwischen Idealismus und Realismus einer Synthese zuführen oder doch überbrücken.28 Auch in anderer Hinsicht knüpft Rudolf Eucken in seinen Schriften zum Krieg unmittelbar an die Denkfiguren an, die er im Vorkriegsjahr in der Sammlung der Geister entwickelt hat. Wieder changiert das „Deutsche“ zwischen Idealtypus und Ideal, als Potenzial, das zwar in den Deutschen angelegt ist, doch in der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft nur unzureichend realisiert erscheint – auch wenn nach dem August 1914 Ideal und Wirklichkeit einander näher gerückt waren. Ebenso hält der Philosoph an der gedanklichen Prämisse 26 Ders., Weltanschauung, S. 11f. 27 Vgl. ebd., S. 12–18 (Zitat: S. 18). 28 Vgl. ebd., S. 18–22 (Zitat: S. 12).

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fest, dass die „deutsche Art“ vor allem in den Anschauungen der „großen Denker“ zum Ausdruck komme. In Die Träger des deutschen Idealismus bringt Eucken das „deutsche Denken“ schließlich ganz mit einer spezifischen philosophischen Tradition zur Deckung. Im Konstrukt des „deutschen Idealismus“ schlägt er den Bogen vom mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart über Kant, die Romantiker und Fichte bis hin zu Schelling, Schleiermacher und – Hegel. Damit hatte der preußische Staatsphilosoph Hegel in Euckens Schriften eine erstaunliche Karriere durchlaufen: vom Hauptvertreter eines lebensfernen „Intellektualismus“, einer von schattenhafter Spekulation und haltlosem Relativismus geprägten Philosophie, zu einem der großen Heroen der deutschen Geistesgeschichte. Die Protagonisten des „deutschen Idealismus“ hätten „in schweren Zeiten“, so fasst Rudolf Eucken das Gemeinsame ihres Anliegens zusammen, „vom Grunde ihrer Seele her eine geistige Welt entwickelt“, die „an erster Stelle deutsche Überzeugung und deutsche Gesinnung bekundet“. Idealisten seien diese Männer, weil sie zu der Überzeugung ständen, der Mensch sei mehr als ein bloßes Naturwesen. Im Menschen breche vielmehr eine neue Stufe der Wirklichkeit durch, die ihm „eine eigentümliche Würde und Größe“ verleihe und seinem Handeln hohe Ziele vorhalte. „Das Gute“ sei den deutschen Idealisten ein „unbedingter Selbstwert“, der sich von dem Nützlichen und Angenehmen des „bloßen Menschen“ abhebe. Die „Belebung selbständiger Innerlichkeit, die ethische Tat, die Treue der Hingebung an das Werk des Ganzen“ genieße hier die „höchste Schätzung“. Auch besitze der „deutsche Idealismus“ ein eigentümliches Verhältnis zur Religion. Sie sei ihm der innerste Kern des Lebens. Der „deutsche Idealismus“ binde zudem die Religion nicht starr an „Satzungen der Vergangenheit“. Er verlange vielmehr eine „Gestaltung aus lebendiger Gegenwart, einer Gegenwart freilich nicht des wechselnden Augenblicks, sondern eines zeitüberlegenen Schaffens.“ Kurz: Der „deutsche Idealismus“ besitzt eine geradezu frappierende Ähnlichkeit mit der Philosophie Rudolf Euckens.29 Das spezifisch Deutsche, das Eucken in seinen Kriegsschriften in immer neuen Varianten konstruierte, kam auch bei ihm nicht ohne die Gegenüberstellung zum „Anderen“, zum „Nicht-Deutschen“ aus. In den Kontrast setzte er den „deutschen Idealismus“, die „deutsche Innerlichkeit“ usw. naheliegenderweise meist mit der Kultur der Feindmächte, vor allem der „westlichen“ Länder Frankreich und Großbritannien. Zwei Konstrukte der Differenz hebt er dabei als besonders grundlegend hervor. Das eine ist die Unterscheidung von westlicher „Formkultur“ und deutscher „Inhaltskultur“. In den westlichen Ländern habe sich, so Eucken, die geistige Gestaltung des Lebens darauf konzentriert, das 29 Zitate: R. Eucken, Träger, S. 9f, 239, 243f.

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menschliche Tun und Benehmen in gewisse Formen zu bringen, es der Rohheit der „bloßen Natur“ zu entwinden, „eine Verfeinerung des ganzen Lebens herbeizuführen“. Den Deutschen genüge aber eine solche „Formkultur“ nicht, könne sie doch dem Leben „keinen festen Inhalt und vollen Sinn“ geben. Auf einem Inhalt zu bestehen, dazu zwinge „uns Deutsche die Eigentümlichkeit unserer Natur“. Die deutsche Art, dem Leben einen Inhalt zu geben, bestehe im Prinzip darin, „Seele und Welt“ zueinander in Beziehung zu setzen und zusammenbringen, die daraus erwachsenden Gegensätze überwinden zu suchen „und zugleich das Ganze der Wirklichkeit in eigenen Besitz, eigenes Leben [zu] verwandeln“.30 In Euckens Gegenüberstellung von Form- und Inhaltskultur lassen sich unschwer Anklänge an die im bildungsbürgerlichen Kriegsdiskurs stark verbreitete Dichotomie von westlicher „Zivilisation“ und deutscher „Kultur“ erkennen. Zivilisation bezieht sich hier auf die Errungenschaften eines „äußerlichen“ technisch-materiellen Fortschritts, das Nützliche und Praktische, die Ausprägung von Konventionen des geselligen Umgangs u. ä., während Kultur sich auf die innere Veredlung des Menschen, auf seine „Bildung“ richtet. Es versteht sich beinahe von selbst, dass auch in Euckens Variante dieser Denkfigur das „Eigene“ höher bewertet wird als das „Andere“. Man dürfe sich in dieser Hinsicht „ohne Selbstüberhebung den Gegnern überlegen fühlen“, schrieb der Jenaer Philosoph 1915, denn ohne den Fortgang einer Inhaltskultur verliere das geistige Streben der Menschheit allen tieferen Sinn und müsse „in völlige Leere auslaufen“.31 Eine zweite wesentliche Differenz zwischen Deutschland und dem „Westen“ entwickelt Rudolf Eucken, wie zahlreiche andere deutsche Kriegskommentatoren auch, am Begriff der Freiheit. In Die Träger der deutschen Idealismus bezieht er sich vor allem auf die Philosophie Immanuel Kants, die den deutschen Begriff der Freiheit „aus dem tiefsten Innern unsres Wesens begründet und ihn zum festen Grundstein des menschlichen Lebens“ gemacht habe. Während der „englische Liberalismus“ die Freiheit dem Menschen, „wie er leibt und lebt“, als bedingungsloses persönliches Grundrecht zubillige, habe Kant „die Persönlichkeit als Glied einer sittlichen Welt“ im Auge gehabt. Kant habe Freiheit nicht als Abwerfung aller Bindung oder ein Gestalten des Lebens nach individuellem Belieben verstanden, sondern als freiwillige Bindung an ein selbst gewolltes Gesetz, als Aufnehmen einer allgemeinen Ordnung in den eigenen Willen. Daher wirke der Gehorsam gegen ein solches Gesetz nicht einengend. Vielmehr erwei30 Ders., Zwiespalt, Sp. 484ff; vgl. ders., Forderungen, S. 26f. Vgl. Beßlich, Kulturkrieg, S. 105. 31 R. Eucken, Zwiespalt, Sp. 487f; zum Diskurs über Kultur und Zivilisation vgl. Bollenbeck, Bildung, S. 270-276.

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tere dieser freiwillige Gehorsam unser Wesen und lasse es „fester auf uns selbst“ stehen.32 Diesen Freiheitsbegriff hat Rudolf Eucken schon lange vor dem Krieg expliziert und vertreten. Bereits in der Einheit des Geisteslebens von 1888 verweist er auf die beiden verschiedenen Fassungen von „Freiheit“, die man nicht durcheinander bringen dürfe. Das eine sei „eine Freiheit der subjektiven Existenz“, die als ungebundene Willkür verstanden werde. Dagegen setzt er eine Freiheit, die den „Gegensatz von Natur und Willkür“ überwinden wolle, die die „Gesetze der Sache“ achte, „aber dieselben nicht von draußen empfängt, sondern aus eigener Entscheidung und ursprünglicher Selbstthätigkeit entwickelt.“ 1913 war aus diesem Freiheitsverständnis ein nationaler Charakterzug geworden. Seit 1914 wurde die „deutsche Freiheit“ zur zentralen Chiffre eines propagandistischen Schlagabtauschs. „Daß die Fremden das nicht verstehen und den Gehorsam des freien Mannes blinde Unterwürfigkeit schelten“, das sei, so Eucken, „eine gröbliche Verkennung der Wahrheit, eine Verkennung, die ihrerseits eine klägliche Flachheit bekundet.“33 In Zur Sammlung der Geister hatte Rudolf Eucken die Deutschen nicht nur als anders als die anderen beschrieben, er hatte ihnen auch eine „Menschheitsaufgabe“ zugedacht. An diesen Gedankengang knüpfte er im Herbst 1914 in einer kleinen Broschüre mit dem programmatischen Titel Die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes an. Hier entwickelt er zunächst in der bekannten Art die „Eigentümlichkeiten der deutschen Art“. Aus seinen Konstruktionen des Deutschen zieht er am Schluss zwei für seine Leser ermutigende Erkenntnisse. Zum einen verleihe der „Besitz einer ursprünglichen und weltumfassenden Innerlichkeit“ dem deutschen Volk „eine unerschöpfliche Stärke“. Denn wo solche Innerlichkeit fehle, bleibe die Kraft von äußeren Bedingungen abhängig und dem Leben fehle das Große und Heldenhafte. Man könne demnach guter Hoffnung sein, dass „wir“ „allem Ansturm der Welt um uns von innen her eine Welt entgegensetzen und jener gegenüber zum Siege führen.“ Zum anderen hat das „deutsche Leben und Tun“ für Eucken insofern eine weltgeschichtliche Bedeutung als es der Menschheit beispielhaft den Weg aus der Krise der Moderne aufzeige: Die moderne Menschheit ist in großer Gefahr, in ein sinnloses Hasten hineinzugeraten und darin aufzugehen. Dem können wir Deutsche kraft unserer geistigen Art energisch entgegenwirken, wir können der Mannigfaltigkeit eine Einheit, der Bewegung eine Ruhe 32 Ders., Träger, S. 61, 38. 33 Zitate: ders., Einheit, S. 354; ders. Träger, S. 38. Vgl. ders., Sammlung, S. 62. Zu Euckens Freiheitsbegriff auch: Beßlich, Kulturkrieg, S. 109f; Hoeres, Krieg, S. 222; allgemein: Bruendel, Volksgemeinschaft, S. 115ff.

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entgegenhalten, wir können damit den geistigen Bestand des menschlichen Lebens wahren und fördern.

Mehr als bei jedem anderen Volk sei die Innerlichkeit uns Deutschen zu einer gemeinsamen, unser Schaffen beherrschenden und unsere Geschichte durchwaltenden Macht geworden. In diesem Sinne dürfen wir sagen, daß wir die Seele der Menschheit bilden, und daß die Vernichtung der deutschen Art die Weltgeschichte ihres tiefsten Sinnes berauben würde.34

In seinen Schriften zum Krieg setzte Rudolf Eucken sein im letzten Vorkriegsjahr begonnenes Projekt fort, die eigene Philosophie und Weltanschauung in einem nationalistischen Deutungsrahmen neu zu lesen. In zahlreichen Artikeln, Aufsätzen, veröffentlichten Reden, Broschüren und Büchern, für ein breites Publikum geschrieben und oft in hoher Auflage gedruckt, entwirft er das merkwürdige Szenario einer Welt, in der Nationen und Völker zu Akteuren mit Charaktereigenschaften und zu Trägern geistiger Strömungen und Lebensordnungen werden. Dabei verortet er das Kriegsgeschehen in einer Art Heilsgeschichte, in der dem deutschen Volk die Helden- und Erlöserrolle zukommt. Der „Kampf für das Vaterland“ erscheint Eucken „zugleich als ein Kampf für die idealen Güter der Menschheit“.35 Das eigene Werk bringt Eucken in den Gleichklang mit einer als nationale Eigentümlichkeit gedeuteten philosophischen Tradition. Der Jenaer Philosoph vereinnahmt hier die Prädikate „deutsch“ und „idealistisch“ für seine Weltanschauung und verkoppelt die deutsche Sache mit den eigenen Bestrebungen.

Um die Gunst der Neutralen In seinen nach dem Krieg veröffentlichten Memoiren schreibt Rudolf Eucken, er habe es für die „Sache der geistigen Führer, der sogenannten Intellektuellen“, gehalten, nach außen hin „für das gute Recht Deutschlands einzutreten“.36 Wenn Eucken gehofft haben sollte, seine britischen und französischen Kollegen und Gesinnungsgenossen von der Gerechtigkeit der deutschen Sache überzeugen zu können, so wurde er angesichts der Eskalation gegenseitiger Herabsetzungen in den Intellektuellen-Aufrufen der kriegführenden Länder wohl schnell eines besseren belehrt. Seine Bemühungen, die deutsche Sache ins rechte Licht 34 R. Eucken, Bedeutung, S. 22f. 35 R. Eucken, Träger, S. 247. 36 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 99.

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zu rücken, konzentrierten sich daher bald auf die Öffentlichkeit der neutralen Staaten. Am 31. August 1914 übergaben Rudolf Eucken und Ernst Haeckel der Presse einen Aufruf „An die amerikanischen Universitäten“, in dem sie erläuterten, wer aus ihrer Sicht die Schuld am Ausbruch des Krieges trug. Das gemeinsame Auftreten Euckens und Haeckels erschien insofern symbolträchtig, als hier zwei eminente Wissenschaftler mit einer Stimme sprachen, die sich in ihren weltanschaulichen Positionen diametral gegenüber standen. Eucken hatte oft genug den „Monismus“ Haeckels, „der eine Weltanschauung von der Naturwissenschaft her entwerfen zu können glaubt“, attackiert. Doch scheint dieser Gegensatz das persönliche Verhältnis der beiden Jenaer Professoren nicht sonderlich getrübt zu haben, denn man verkehrte privat recht freundschaftlich miteinander.37 Die Vereinigten Staaten blieben auch in den folgenden zweieinhalb Jahren für Eucken das wichtigste Feld seiner propagandistischen Tätigkeit. Bis zu ihrem Kriegseintritt im April 1917 waren die USA für die deutsche Außenpolitik das bei weitem bedeutsamste neutrale Land, dessen Beeinflussung von enormer kriegsstrategischer Bedeutung erschien: Aus den USA erhielten die Kriegsgegner große Mengen an Waffen, Munition, Lebensmitteln und anderen kriegswichtigen Wirtschaftsgütern, während die alliierte Seeblockade das Deutsche Reich von seinen transatlantischen Handelsbeziehungen abschnitt. Der deutsche U-Boot-Krieg wiederum, der zwangsläufig auch die US-Handelsschifffahrt traf, belastete zunehmend die deutsch-amerikanischen Beziehungen und führte schließlich zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten auf Seiten der Entente. Bei seinem Aufenthalt in Boston und New York 1912/13 hatte Rudolf Eucken zahlreiche persönliche Kontakte geknüpft, Bekanntschaften und Freundschaften geschlossen oder vertieft. Er war in engere Beziehung zu den Organisationen der Deutsch-Amerikaner getreten, hatte auch seine amerikanischen Verleger und andere Publizisten und „Meinungsmacher“ näher kennengelernt. Eucken konnte daher die Hoffnung hegen, dass seine Stellungnahmen zum Krieg in den USA auf Resonanz stoßen würden. Auf der anderen Seite war er sich auch klar darüber, dass die publizistische Vertretung der deutschen Position in der US-amerikanischen Öffentlichkeit mit beträchtlichen Handicaps zu kämpfen haben würde. Die Briten hatten bereits am Tag nach ihrem Kriegseintritt die deutschen Unterseekabel im Nordatlantik gekappt und somit die direkte telegraphische Kommunikation zu den USA unterbunden. Der Postverkehr zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten musste ebenfalls eingestellt werden. Briefe und Texte Euckens fan37 Zitat: R. Eucken, Erkennen, S. 13. Vgl. ThULB NLRE I, 32, Bl. 287: Rudolf Eucken an Athenäa Passow, 11.4.[1898]; Siebert, Lebensanschauung, S. 73–77; Dathe, Gegner.

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den nur noch auf verschlungenen Pfaden ihren Weg von Jena an ihre Adressaten in den USA. Offenbar leistete das Amerikanische Rote Kreuz, das in München ein Krankenhaus unterhielt, dem Philosophen logistische Hilfestellung. In einem Fall wurde ein zur Veröffentlichung vorgesehener Redetext Euckens gleich auch von einer amerikanischen Pflegerin des Rotkreuz-Krankenhauses übersetzt. Wie seine Münchener Kontaktperson, die Ärztin Sofie Nordhoff-Jung, dem Philosophen mitteilte, habe sie diesen Text Mitte November 1914 per Einschreibebrief an ihre in den USA lebende Schwester gesandt. Erst Ende Januar 1915 kam er dort an und wurde an einen Freund und Schüler Euckens, den Germanisten Kuno Francke weiter geleitet. Ein anderes zur Veröffentlichung in den USA vorgesehenes Manuskript gab Nordhoff-Jung einer amerikanischen Bekannten mit, die via Kopenhagen die nicht ganz ungefährliche Reise über den Nordatlantik antrat.38 Für Rudolf Eucken lagen aber die Schwierigkeiten, dem deutschen Standpunkt in der amerikanischen öffentlichen Meinung Gehör und Verständnis zu verschaffen, nicht allein an den kriegsbedingten Blockaden des transatlantischen Kommunikationsflusses. Schon während seiner Zeit als Austauschprofessor war Eucken immer wieder das, seiner Ansicht nach, stark verzerrte Deutschlandbild der Amerikaner aufgefallen. Man habe in den USA Deutschland als unfreies Land betrachtet und auf die Deutschen als politisch rückschrittliches Volk herabgesehen. Dieses Zerrbild sei vor allem deswegen entstanden, weil Nachrichten aus Deutschland die amerikanische Öffentlichkeit vornehmlich über britische Telegraphendienste und die Londoner Presse erreicht hätten. Die Zeitungen der Deutsch-Amerikaner hätten, eben weil sie in deutscher Sprache erschienen, nur geringen Einfluss ausgeübt. Eine englischsprachige Zeitung, „welche das Leben und Streben der Deutschen in Amerika und überhaupt die deutsche Betrachtungsweise der Dinge hätte vertreten können“, gab es vor dem Krieg nicht. Nach seiner Rückkehr aus Amerika sandte Rudolf Eucken eine Denkschrift an die deutsche Regierung, in der er vorschlug, ein amtliches deutsches Nachrichtenbüro in New York oder Washington zu begründen.39 Die Nachrichten über die Stimmung in den USA, die in den ersten Kriegswochen den Philosophen in Jena erreichten, waren denn auch wenig ermutigend. Unter dem 10. September 1914 schrieb ihm ein Hans Frölicher aus Baltimore, die Presse stehe „fast ohne Ausnahme, und oft in geradezu hässlicher Weise auf Seiten von Deutschlands Feinden“. Frölicher versicherte Eucken zwar seiner 38 Vgl. ThULB NLRE I, 20, Bl. N 223-226: Sofie Nordhoff-Jung an Rudolf Eucken, 25.9. und 23.10.1914, undatiert [Anfang 1915]. 39 Zitat: R. Eucken, Stellung, S. 305. Vgl. ders., Lebenserinnerungen, S. 91; ThULB NLRE I, 12, Bl. I 17: Otto Sonne an Rudolf Eucken, 13.6.1914.

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Sympathie für den deutschen Standpunkt, skizzierte aber recht nüchtern die Gründe für die „deutschfeindliche“ Haltung der Amerikaner. Genannt würden in der Öffentlichkeit meist „die Neutralitätsverletzung von Belgien, die Kriegserklärungen Deutschlands, das Bombenwerfen in Antwerpen und die Brandschatzung Löwens, u.s.w.“ Die „wahren“ Gründe für die einseitige Parteinahme der amerikanischen Öffentlichkeit hörten sich bei Frölicher allerdings nicht wesentlich schmeichelhafter für die Deutschen an: In den USA sorge man sich, ein deutscher Sieg würde „das Prinzip des Absolutismus und Militarismus“ rechtfertigen und „dem demokratischen Prinzip ins Grab läute[n]“. Zudem habe die Schroffheit und Anmaßung „des behördlichen und gesellschaftlichen Deutschtums“ mehr und mehr Anstoß gegeben.40 Die US-amerikanischen Medien waren in den Wochen und Monaten nach dem Kriegsausbruch in Europa durchaus bereit, Euckens Aufrufe und Artikel zu veröffentlichen. Die renommierte New York Times etwa druckte die englandkritische Erklärung Euckens und Haeckels vom 18. August, wenn auch notgedrungen mit dreiwöchiger Verspätung. Der Kanzler der New York University ließ die Erklärung der beiden Professoren vom 31. August an alle Dekane verteilen. Man versuche, so teilte er Eucken mit, eine echte Neutralität einzuhalten und heiße daher jede Information willkommen, die ein besseres Bild vom Geschehen in Europa vermittle. Das Bostoner Magazin The Atlantic Monthly fragte Mitte September bei Eucken an und bat um eine „philosophische Verteidigung der deutschen Position“. Offenbar war die Zeitschrift sehr interessiert, seriöse Stellungnahmen zum Krieg von deutsche Seite zu erhalten. Wäre Eucken in der Lage, einem größeren Teil der Atlantic-Leserschaft zu überzeugen, so versuchte die Redaktion dem Philosophen ihren Vorschlag schmackhaft zu machen, würde er einen nicht unbedeutenden Sieg für die pro-deutsche Meinung in den USA errungen haben. Eucken sandte dann zwar ein Manuskript nach Boston, zog es aber kurz darauf wieder zurück. Als er Anfang 1915 der Zeitschrift einen neuen Artikel zuschickte, wurde ihm beschieden, es sei nun zu spät, um den Beitrag noch nutzbringend zu veröffentlichen.41 Im Schriftenverzeichnis Rudolf Euckens finden sich dennoch eine ganze Reihe von Aufsätzen und Artikeln zum Krieg, die zwischen September 1914 und Februar 1916 in amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften publiziert wurden. So brachte die New York Times Ende September 1914 den Text einer Rede Eu40 ThULB NLRE I, 8, Bl. F 443: Hans Frölicher an Rudolf Eucken, 10.9.1914. Vgl. allgemein: Brocke, Wissenschaft, S. 676. 41 Vgl. R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13: Schriftenverzeichnis, S. 132; ThULB NLRE I, 8, Bl. F 443: Hans Frölicher an Rudolf Eucken, 10.9.1914; ebd. I, 3, Bl. B 800f: Elmer Ellsworth Brown an Eucken, 31.12.1914; ebd. I, 1, Bl. A 115-121: Ellery Sedgwick an Eucken, 15.9. und 30.11.1914, 18.2.1915.

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ckens, die er einige Wochen zuvor in Berlin gehalten hatte. Auch das Monatsmagazin der New York Times brachte den ein oder anderen Beitrag des Nobelpreisträgers. Ebenso gaben andere Blätter des amerikanischen Nordostens Eucken die Gelegenheit, ihren Lesern seine Ansichten zum Krieg darzulegen. Bei den veröffentlichten Eucken-Texten handelte es sich fast durchweg um übersetzte Reden und Nachdrucke von Artikeln aus deutschen Zeitungen. Dies erscheint insofern bemerkenswert, als der Philosoph offenbar von der Annahme ausging, seine für ein deutsches Publikum bestimmten patriotischen Reden und Artikel würden bei der amerikanischen Leserschaft die gleiche Resonanz finden.42 Ein solcher Text war der Anfang 1915 im linksliberalen Berliner Tageblatt publizierte Artikel Deutschfeindliche Strömungen in Amerika, der in einer Tageszeitung der Universitätsstadt Rochester nachgedruckt wurde. Eucken geht hier der Frage nach, warum sich „die Mehrheit des englisch-amerikanischen Publikums … im gegenwärtigen Kriege so unfreundlich zu uns stellt“. Er kommt zu dem Ergebnis, der Hauptgrund der Abneigung gegen die Deutschen liege „in einem durchaus ungenügenden Verständnis der europäischen Lage und in einer starken Verkennung des deutschen Wesens“. Dieses rechte Verständnis versucht Eucken im Folgenden seinen Lesern zu vermitteln. Die tieferen Ursachen des Krieges sieht er in der systematischen Einkreisung des Deutschen Reiches durch seine feindlich gesinnten Nachbarn. Anschließend führt Eucken recht umständlich den Beweis, dass die Deutschen kein „Eroberungsvolk“ seien. Selbst die Redaktion des Berliner Tageblatts hielt Euckens Argumentation offenbar für so fadenscheinig, dass sie sich veranlasst sah, den Artikel mit einer Vorbemerkung zu versehen. Der „hochverehrte Gelehrte“ habe hier nur bestimmte Seiten des Problems beleuchtet. Für die Abneigung der amerikanischen Öffentlichkeit gegen Deutschland gebe es noch verschiedene andere Ursachen und Quellen. Gewöhnlich würde „die belgische Neutralitätsfrage in den Vordergrund geschoben.“ Eucken hatte in seinem Text die offensichtlichste Ursache für die „deutschfeindlichen Strömungen in Amerika“ völlig ausgeblendet.43 Dabei besaß Rudolf Eucken über die Debatten in den USA genügend Informationen aus erster Hand. Seine zahlreichen amerikanischen Korrespondenzpartner berichteten ihm ausführlich zu diesem Thema; einige schickten ihm Zeitungsausschnitte, aus denen er etwa die Resonanz seiner Erklärungen und Aufrufe in den US-Medien entnehmen konnte. Nicht wenige dieser Briefe setzten sich auch kritisch mit den Äußerungen des Jenaer Nobelpreisträgers auseinander. Der Tenor dieser amerikanischer Rückmeldungen war eigentlich unmiss42 Vgl. R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13, S. 132–152. 43 R. Eucken, Deutschfeindliche Strömungen.

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verständlich: Die Amerikaner fänden es schwierig, so schrieb etwa Euckens New Yorker Verleger Putnam, to reconcile the high standard of ethics which has been emphasized by world-wide teachers like yourself with the action that have been carried on ‚under official orders‘ in Belgium and in eastern France.44

Gerade die beiden Aufrufe vom August 1914, die Eucken gemeinsam mit Haeckel verfasst hatte, scheinen in den USA unter seinen Lesern und Anhängern heftige Irritationen ausgelöst zu haben. Bei aller Bewunderung für die deutsche Kultur, schrieb Francis J. Batchelor aus New York, „we cannot, cannot believe in the justification of Germany’s part in this war.“ Batchelor schickte dem Philosophen ein Päckchen mit Zeitungsausschnitten. Darunter befand sich ein Leserbrief aus der New York Times, dessen Verfasser vermutete, „those beloved scholars Eucken and Haeckel“ seien zu ihren Erklärungen gezwungen worden. Andere amerikanische Korrespondenten erklärten sich die Äußerungen der deutschen Professoren zur Frage der Kriegsschuld damit, dass Eucken und seinen Kollegen wichtige Fakten nicht bekannt seien.45 Von außerhalb des deutsch-amerikanischen Milieus erhielt der Jenaer Philosoph auf seine Bemühungen, die Amerikaner von der Gerechtigkeit der deutschen Sache zu überzeugen, kaum positives Feedback. Selbst ein persönlicher Freund wie der unitarische Theologe Richard Boynton mochte sich nicht zugunsten Deutschlands festlegen. Boynton meinte zwar, an seinem Wohnort in Buffalo, einer Stadt im äußersten Westen des Staates New York, gebe es mehr Sympathie als anderswo für die deutsche Sache. Er selbst empfinde es aber als verfrüht, über die Frage von Schuld und Recht zu urteilen. Zu den wenigen Amerikanern, die ihre Sympathie für die deutsche Seite bekannten, gehörte Winifred Hyde, eine College-Dozentin aus Lincoln/Nebraska, die 1911 in Jena bei Eucken promoviert worden war. Sie jubele über alle deutschen Siege, „als ob ich sie gewonnen hätte.“ versicherte sie im November 1915 ihrem Doktorvater. Im Übrigen war Ms. Hyde der Überzeugung, dass die „deutschfreundliche Gesinnung“ im mittleren Westen verbreiteter sei, als angenommen werde, wenn sie auch nicht überwiege. „Fast einstimmig für Deutschland scheinen diejenigen zu sein, die da studiert haben.“46 44 ThULB NLRE I, 22, Bl. P 399: G. P. Putnam’s Sons an Rudolf Eucken, 5.3.1915. 45 ThULB NLRE I, 1, Bl. B 115: Francis J. Batchelor an Rudolf Eucken; 2.10.1914; ebd. I, 28, Bl. An 6: Ausschnitt: New York Times, 24.9.1914. Vgl. ebd. I, 22, Bl. P 395ff: G. P. Putnam’s Sons an Eucken, 21.1.1915; ThULB NLE I, 13, Bl. J 193: J. W. Johnston an Eucken und Haeckel, 12.10.1914; ebd. I, 20, Bl. N 155ff: Garrett Newkirk an die Unterzeichner des „Aufrufs der 93“, 10.11.1914. 46 Ebd. I, 12, Bl. H 657, H 655: Winifred Hyde an Rudolf Eucken, 21.11. und 7.3.1915. Vgl. ebd. Bl. 659: Hyde an Eucken, 22.7.1916; sowie ebd. I, 8, Bl. F 304: Mary Frazier an Rudolf und Irene

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Solche Einschätzungen mögen Rudolf Eucken in der Überzeugung gestärkt haben, dass die feindselige Stimmung gegenüber der deutschen Kriegsführung in den USA vor allem auf die „schier dämonische Macht der Presse“ zurückzuführen sei. Diesen Eindruck vermittelten ihm auch einige der Briefe, die der Philosoph von Amerikanern deutscher Herkunft erhielt.47 Nachdem offensichtlich kaum einer seiner anglo-amerikanischen Ansprechpartner bereit war, sich aktiv für die deutsche Sache zu engagieren, konzentrierten sich Euckens Bemühungen bald auf die Unterstützung der Deutsch-Amerikaner. Seine deutsche Leserschaft wies er immer wieder auf das unermüdliche Eintreten der Deutschen in den USA für ihr „Mutterland“ hin. Seit Ende August 1914 verfügten die DeutschAmerikaner über eine englischsprachige Zeitung, das Wochenblatt The Fatherland, das in einer Auflage von an die 100.000 Exemplaren erschien. Damit verband sich die Hoffnung, auf die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten zugunsten Deutschlands Einfluss nehmen zu können. Die Redaktion wandte sich Mitte September 1914 an Eucken mit der Bitte um Beiträge und Material. Der Philosoph forderte in einem Zeitschriftenartikel dazu auf, dem Fatherland, „richtige Nachrichten über den Krieg und seine Lagen sowie über die gesamten politischen Verhältnisse Europas fortlaufend sicher und rasch zuzuführen“.48 Zu Rudolf Euckens transatlantischen Kontakten gehörten zwei seit langem mit ihm befreundete Wissenschaftler, die zu den führenden deutsch-amerikanischen Intellektuellen zählten: Hugo Münsterberg und der Germanist Kuno Francke, auch er ein Harvard-Mann. Vor allem der Psychologe und Philosoph Münsterberg trat seit dem Kriegsausbruch in zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln als Verteidiger Deutschlands hervor. Im Frühjahr 1915 veröffentlichte er die Schrift The Peace and America, in der er sich systematisch mit dem Krieg in Europa und den deutsch-amerikanischen Beziehungen auseinandersetzte. Münsterbergs Ausführungen erscheinen wesentlich überlegter, mehr auf das amerikanische Publikum zugeschnitten und vor allem weniger emotionsgeladen als die Versuche Euckens, auf die öffentliche Meinung in den USA Einfluss zu nehmen. Der deutsch-jüdische Harvard-Professor appellierte an die Amerikaner, ihre selbst bekundete Neutralität ernstzunehmen, anstatt Deutschlands Kriegsgegner mit Waffen zu beliefern. Betrachte man den Krieg in Europa Eucken, 11.9.1914; ebd. V, 1, Bl. 358: Mary Frazier an Irene Eucken, 14.10.1915. Zu Winifred Hyde vgl. auch Hänel, Studierende, S. 508ff. 47 R. Eucken, Neutralität, S. 444. Vgl. ThULB NLRE I, 11, Bl. H 365f: Hayo Hans Hinrichs an Rudolf Eucken, 13.9.1914; ebd. I, 16, Bl. K 734: Heinrich Kreutzmann an Eucken, 22.7.1915. 48 R. Eucken, Die Deutschen im Ausland, S. 1894. Vgl. ders., Stellung, S. 303f; ThULB NLRE I, 11, Bl. H 365f: Hayo Hans Hinrichs an Rudolf Eucken, 13.9.1914. Im Schriftenverzeichnis Euckens sind drei Artikel in The Fatherland verzeichnet, alle 1915 (R. Eucken, Gesammelte Werke Bd. 13, S. 143, 146). Zur deutschen Propaganda in den USA allgemein vgl. Doerries, Promoting.

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als unparteiischer Beobachter, werde man bald erkennen, dass alle beteiligten Völker aus hohen idealen Motiven ihre moralische Pflicht zu erfüllen suchten und jede Seite davon überzeugt sei, vollkommen im Recht zu sein. Daher sei die Frage der Kriegsschuld im Grunde bedeutungslos. Wie Eucken versucht auch Münsterberg, seinen amerikanischen Lesern das „deutsche Denken“ und seine anti-utilitaristischen Werte nahe zu bringen. Anders als der Jenaer Philosoph vermeidet er es aber klugerweise, aus diesem „deutschen Idealismus“ eine weltgeschichtliche Missionsaufgabe abzuleiten. Schließlich nimmt Münsterberg ausführlich Stellung zur Verletzung der belgischen Neutralität. Er versucht dabei, den Nachweis zu führen, dass Belgien faktisch nicht neutral, sondern im geheimen Bündnis mit den Westmächten gewesen sei.49 Einige Wochen nach dem Erscheinen von The Peace and America versetzte die Versenkung des amerikanischen Passagierschiffs Lusitania durch ein deutsches U-Boot den Verteidigern der deutschen Kriegsführung einen weiteren schweren Schlag. Münsterberg schrieb im Juni 1915 an Eucken, die deutschfeindliche Stimmung sei in den USA in einer Weise gewachsen, von der man sich in Deutschland keine Vorstellung mache. „Aus dem Haß ist schlechthin Verachtung geworden; Männer, die gastlich in meinem Hause verkehrt, starren mir auf der Straße groß ins Gesicht und kennen mich nicht.“ Selbst die Deutsch-Amerikaner seien nun in Scharen zu den Feinden übergegangen. Münsterberg kündete an, seine politische Arbeit vorerst im Stillen weiterführen zu wollen. Er sei aber in „dauernder Korrespondenz mit den führenden Leuten; mit Wilson, Roosevelt etc. bin ich auf bestem Fuß geblieben“.50 Der deutschstämmige Harvard-Professor verfügte wohl tatsächlich über ausgezeichnete Verbindungen zum politischen Establishment in Washington. Er war persönlich bekannt mit dem Präsidenten Woodrow Wilson und auch mit Theodore Roosevelt, der 1916 noch einmal als Präsidentschaftskandidat antrat. Ende 1915 versuchte Münsterberg in einem vielbeachteten Artikel in The Fatherland das Stimmengewicht der deutsch-amerikanischen Wähler für Roosevelt in die Waagschale zu werfen. Doch seine Hoffnung, damit zumindest einen der Kandidaten für die deutsche Sache zu gewinnen, erfüllte sich nicht. Keiner der beiden Bewerber um das Präsidentenamt konnte es sich offenbar leisten, in den Verdacht zu geraten, Sympathien für die deutsche Seite zu hegen. Hugo Münsterberg starb, politisch und gesellschaftlich isoliert, im Dezember 1916.51

49 Vgl. Münsterberg, Peace, S. 16ff, 74-77, 86f, 170-181; Keller, States, S. 69f, 84f; Münsterberg, Münsterberg, S. 257f, 269. 50 ThULB NLRE I, 19, Bl. M 352f: Hugo Münsterberg an Rudolf Eucken, 3.6.1915. 51 Vgl. Keller, States, S. 83f, 94-97, 107f.

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Kuno Francke hatte in den 1870er Jahren in Jena studiert und dabei, wie er rückblickend schrieb, mit Rudolf Eucken freundschaftliche Beziehungen geknüpft, „die der gütige Mann mit rührender Treue bis an sein Lebensende aufrechterhalten hat.“52 Bereits seit 1884 lehrte Francke an der Harvard University deutsche Literatur- und Kulturgeschichte. Er initiierte die Gründung eines Germanischen Museums auf dem Universitätsgelände und übernahm ehrenamtlich dessen Leitung. Auch Francke widmete sich nach dem Ausbruch des Krieges der publizistischen Verteidigung der deutschen Position und veröffentlichte noch 1916 eine Auswahl seiner Kriegsschriften unter dem Titel The German Spirit. Allerdings verfolgte er eine vorsichtigere und zurückhaltendere Strategie als Münsterberg. „Die einzige Art, wie wir hier wirklich für Deutschland arbeiten u. gegen die Waffenausfuhr Stimmung machen können“, sei immer wieder die Gerechtigkeit der deutschen Sache ins rechte Licht zu stellen, erklärte er in einem Brief an Eucken vom September 1915. Durch „Protestversammlungen und Wahldrohungen“ würden die Deutsch-Amerikaner „die deutsche Sache hierzulande nur um so mehr verhaßt“ machen. Diese Position hatte Francke einige Monate zuvor in einem Leserbrief an die New York Times öffentlich verkündet. Franckes Stellungnahme führte zu einem persönlichen Zerwürfnis mit seinem Freund und Kollegen Münsterberg. Unmittelbar nach dem Kriegseintritt der USA im April 1917 legte Kuno Francke seine Professur nieder und zog sich aus dem akademischen Leben zurück.53 Für Rudolf Eucken bedeutete die Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an das Deutsche Reich das endgültige Scheitern seiner Bemühungen, die amerikanische Öffentlichkeit für die deutsche Sache zu gewinnen. In einem Beitrag für die Zeitschrift des Vereins für das Deutschtum im Ausland führte er die Ursachen dieses Scheiterns vornehmlich auf die politische Schwäche der deutschstämmigen US-Bürger zurück. Eigentlich wäre doch die Zahl der Deutschen in Amerika groß genug, um als Wählerblock schwer ins Gewicht zu fallen. Dennoch hätten sich weder Demokraten noch Republikaner um das deutsche Votum bemüht oder seien den deutschen Wünschen irgendwie entgegen gekommen. Den Hauptgrund für den geringen Einfluss der Deutsch-Amerikaner machte der Philosoph im Fehlen höherer deutscher Bildungsanstalten aus. Der Besuch der englischsprachigen Schulen und Universitäten führe die deutsche Jugend der englischen Gedankenwelt zu und entfremde sie „dem deutschen Leben“. Auf diese Weise gingen den Deutschen „ihre eignen aufstrebenden Geis-

52 Francke, Arbeit, S. 1. 53 ThULB NLRE I, 8, Bl. F 260f: Kuno Francke an Rudolf Eucken, 2.9.1915. Vgl. ebd. Bl. F 264: Francke an Eucken, 28.10.1919; Francke, Arbeit, S. 1f,41-47, 51f, 65, 73; Keller, States, S. 86.

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ter verloren“. Dadurch sei der Eindruck entstanden, „als sei die deutsche Kultur minderwertiger Art und im Zusammenstoß der englischen nicht gewachsen.“54 Kaum erfolgreicher als die Versuche, die US-Amerikaner für die deutsche Seite einzunehmen, gestaltete sich die propagandistische Bearbeitung der neutralen Nachbarländer des Deutschen Reiches. Die Jenaer Professoren und Dozenten diskutierten in den ersten Kriegswochen intensiv darüber, wie man auf ausländische Kollegen im Sinne der deutschen Kriegsführung Einfluss nehmen und der alliierten Propaganda entgegentreten könnte. Diesen Überlegungen entsprangen nicht nur die Proklamationen der international bekannten Gelehrten Haeckel und Eucken, sondern auch eine weniger spektakuläre gemeinsame Aktion der Jenaer Universitätslehrer. Man versandte eine Sonderausgabe der Leipziger Neuesten Nachrichten, die ausführlich regierungsamtliches Material zum Kriegsausbruch dokumentierte, an ausländische Mitglieder deutscher wissenschaftlicher Gesellschaften, an die Teilnehmer der Jenaer Ferienkurse und andere Personengruppen, deren Adressen verfügbar waren. Mitte September 1914 beschloss die Universitätsleitung, mit der Konstituierung einer Dependance des Thüringischen Verbandes zur Verbreitung wahrer Kriegsnachrichten solche Aktivitäten auf eine feste organisatorische Grundlage zu stellen. Hauptzweck dieser von der Universität Jena getragenen Einrichtung, die bald unter der Bezeichnung „Kriegsnachrichtenstelle“ firmierte, war die Versendung „aufklärender“ Schriften und Zeitungen ins neutrale Ausland. Schließlich verständigte sich die Jenaer Stelle mit ähnlichen Initiativen in anderen Städten auf eine Arbeitsteilung und widmete sich fortan der propagandistischen Bearbeitung der Schweiz.55 Die Rückmeldungen, die Eucken aus der Schweiz über die Wirkungen dieser „Aufklärungsbemühungen“ erhielt, waren geradezu niederschmetternd. Ende Oktober 1914 setzte ihm der Arzt Rudolf Staehelin, der gleichnamige Sohn des verstorbenen Basler Kirchenhistorikers, in einen längeren Brief die haarsträubenden Fehler der Jenaer Auslandspropaganda auseinander. Zunächst einmal hätten die Auszüge aus den Leipziger Neuesten Nachrichten und aus Friedrich Naumanns Zeitschrift Die Hilfe nur Meldungen gebracht, die dem Schweizer Leser schon längst aus der heimischen Presse bekannt waren. Zudem enthielten die übersandten deutschen Presseberichte peinlicherweise zahlreiche Behauptungen und Darstellungen, die sich inzwischen als falsch herausgestellt hätten. Besonders erregte sich Staehelin über den Einfall der Jenaer Kriegsnachrichtenstelle, ihren Sendungen in die Schweiz ein Exemplar der Zeitschrift Das größere Deutschland beizulegen: 54 R. Eucken, Stellung, S. 303ff. 55 Vgl. Grüner, Universität, S. 80ff.

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Schon der Titel muss jeden Schweizer stutzig machen. Nach welcher Richtung sollte Deutschland wünschen sich zu vergrößern, wenn nicht nach der einzigen, in der noch Deutschsprechende wohnen, die nicht zu Deutschland oder Österreich gehören? Lesen Sie doch bitte einmal die Vorrede an die Leser: Muss ein Unbeteiligter nicht zu der Überzeugung kommen, dass der durch den Titel hervorgerufene Verdacht richtig ist und dass wir an die Reihe kommen, wenn Deutschland jetzt siegt?56

Der Basler Arzt wies den befreundeten Professor auch darauf hin, dass es der deutschen Auslandspropaganda gut anstehen würde, „wenn die Zeitungen sich zu einer gerechteren Beurteilung der Feinde herbeilassen könnten“. Dies gelte vor allem in Bezug auf Belgien. Wie viele der amerikanischen Briefpartner Euckens wertete auch Staehelin die Verletzung der belgischen Neutralität als eklatanten Bruch des Völkerrechts. Wenn sich die Belgier nicht auf einen Handel einlassen wollten, „sondern die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes gegen die Uebermacht bis auf den letzten Blutstropfen verteidigt haben“, so verdienten sie dafür Sympathie und nicht Verachtung.57 Auf viel Resonanz scheint Rudolf Staehelin mit seinen Empfehlungen und Hinweisen in Jena nicht gestoßen zu sein. Anfang 1916 schrieb ein Schweizer Pfarrer an Eucken, dass es von deutscher Seite immer noch für nötig gehalten werde, die Schweizer „aufzuklären“. Das schade der eigenen Sache doch nur. Als Deutschschweizer wisse man sich eins mit dem deutschen Geistesleben, könne sich aber unmöglich ganz auf die Seite einer Kriegspartei stellen.58 Noch wesentlich kritischer fielen die Kommentare aus den Niederlanden zur deutschen Auslandspropaganda im Allgemeinen und zu den publizistischen Äußerungen Rudolf Euckens im Besonderen aus. Die Artikel und Erklärungen, die der Philosoph im Herbst 1914 in der holländischen Presse veröffentliche, brachten ihm vor allem empörte Zuschriften ein. Die Niederländer hatte der deutsche Einmarsch in das Nachbarland offenkundig schockiert. Was Deutschland Belgien angetan habe, so heißt es in einem dieser Briefe, das habe es im Geiste auch Holland angetan. Man habe den Deutschen gegenüber jegliches Vertrauen verloren. Besonders provokant wirkte es für die niederländischen Zeitungsleser, wenn Eucken dann auch noch hochtönend das „deutsche Wesen“ feierte oder gar von der „Treue“ schrieb, die „von Alters her … für das deutsche Ohr … den besten Klang“ gehabt habe. Auch dass Deutschlands Kampf ein Eintreten für die ganze Menschheit sei, wollten die Holländer partout nicht einse56 ThULB NLRE I, 25, Bl. S 460: Rudolf Staehelin an Rudolf Eucken, 26.10.1914. Vgl. ebd. Bl. S 458f. 57 Ebd., Bl. S 460f. 58 Ebd. I, 28, Bl. W 137f: G. Wieser an Rudolf Eucken, 3.1.1916. Ähnliche Rückmeldungen hatte auch der Jenaer Verleger Eugen Diederichs aus der Schweiz erhalten (vgl. ebd. 1, 6, Bl. D 283: Eugen Diederichs an Rudolf Eucken, 1.6.1915). Vgl. auch Ungern-Sternberg, Sinn, S. 94.

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hen. „Wenn von einem hervorragenden, ernstlichen Herrn mit einem weitem Blick wie Prof. Eucken so gedacht wird“, resümierte ein Ingenieur aus Delft in einem Mitte Oktober 1914 verfassten Brief an den Philosophen, dann beweist dieses, daß wirklich nicht ungerechterweise den Deutschen vorgeworfen wird, nicht die wahre Bildung zu haben, welche sich dadurch auszeichnet, daß man sich eindenken und versetzen kann in der Denkungsart von anderen …59

Die Bemerkung des Delfter Ingenieurs über die Unfähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, trifft einen Punkt, der auch dem heutigen Betrachter Rätsel aufgibt: Wieso agierten und argumentierten Rudolf Eucken und seine Kollegen bei der Darstellung der deutschen Position im neutralen Ausland in einer Weise, die für den erstrebten Zweck so offensichtlich kontraproduktiv erscheint? Es mochte ja sein, dass man mit Lobliedern über das „deutsche Wesen“ und die „deutsche Art“ das heimische Publikum erbauen und begeistern konnte. Die gleichen Texte aber einer ausländischen Leserschaft zu präsentieren, wirkt doch eher wie der Ausfluss einer narzistischen Persönlichkeitsstörung, der irrigen Annahme, andere mit ermüdenden Darstellungen der eigenen Grandiosität für sich einnehmen zu können. Rudolf Euckens kriegspropagandistisches Wirken wird – jenseits psychopathologischer Ferndiagnosen – möglicherweise etwas verständlicher, wenn man sich die gedanklichen Prämissen vergegenwärtigt, die seine Wahrnehmung leiteten. Zunächst gründete Euckens Haltung auf der festen Überzeugung, dass das Deutsche Reich einen ihm aufgezwungenen Verteidigungskrieg führte. Da die Informationen, anhand derer sich diese Annahme hätte überprüfen lassen, dem Philosophen im August 1914 nicht zur Verfügung standen, basierte seine Überzeugung auf dem Vertrauen, dass die Darstellung der deutschen Regierung zum Ausbruch des Krieges der Wahrheit entsprach. Dieses offenbar unhinterfragte Vertrauen mag auch in einem „idealistischen“ Denkstil begründet gewesen zu sein, den Eucken seit dem letzten Vorkriegsjahr immer wieder als spezifisch deutsch stilisierte. Handeln war demnach primär aufgrund der Intentionen der Akteure und ihrer darin zum Ausdruck kommenden ethischen Einstellung zu beurteilen. Dagegen schien die Beachtung formaler, „äußerer“ Regeln sekundär. Die Berufung auf sie bei der Begründung des eigenen Verhaltens stand im Verdacht des „Pharisäertums“: Was war die penible Beachtung formaler Regeln wert, wenn ihr ethisch begründeter Sinn damit unterlaufen wurde? Auf diesen

59 Zitate: ThULB NLRE I, 11, Bl. H 221f: C. C. van der Heide an Rudolf Eucken 27.9.1914; ebd. I, 15, Bl. K 417f: G. Knuttel an Eucken, 10.10.1914.

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Kontrast rekurrierte auch Euckens Unterscheidung von westlicher „Formkultur“ und deutscher „Inhaltskultur“.60 Rudolf Eucken bewertet in seinen Texten die deutsche Politik im Vorfeld des Kriegsausbruchs wie die deutsche Kriegsführung selbst als ethisch motiviert. Auch Vorgänge, die faktisch zur Eskalation der Situation beigetragen haben, wie die Rückendeckung der Reichsleitung für Österreichs Vorgehen gegen Serbien, rechtfertigen sich wegen ihrer ethischen Intentionen, in diesem Fall der Treue zum Bündnispartner. Eucken geht sogar soweit, die Leistung der deutschen und der alliierten Soldaten prinzipiell unterschiedlich zu bewerten. Zeigten die Briten, die Franzosen, die Russen bestenfalls „physische Tapferkeit“, so gründe sich die „wahre Tapferkeit“ des deutschen Soldaten „auf die eigne Überzeugung und das eigne Wollen des freien und selbstbewußten Mannes, sie ist eine Tat der ganzen Seele, sie entspringt aus einer Gesinnung, der die Rettung des Vaterlandes wichtiger und wertvoller ist als das eigne Leben“.61 Auf der anderen Seite hat der Jenaer Ordinarius offenbar kein Problem damit, die Verletzung der Neutralität Belgiens als bloße Formalität zu behandeln. Ebenso schnell wie Eucken bereit ist, der deutschen Politik ethische Motive zuzubilligen, unterstellt er den Kriegsgegnern, ihr Handeln sei von wirtschaftlichen Erwägungen oder purem Machtinteresse geleitet. Wenn sich namentlich die Briten auf völkerrechtliche Motive für ihren Kriegseintritt berufen, so kann er darin nichts anderes als „Heuchelei“ entdecken, als einen fadenscheinigen Vorwand zur Bemäntelung „egoistischer“ Interessen. Euckens Konstrukt des „deutschen Idealismus“ mag in seiner Auslegung, der eigenen Seite a priori hohe ethische Motive und den Gegnern niedrigste Absichten zuzuordnen, willkürlich erscheinen und in seiner Zielrichtung demagogisch wirken. Doch vermitteln die persönlichen Zeugnisse durchaus den Eindruck, als ob der Philosoph selbst an seine öffentlich vertretenen Analysen und Deutungen des Krieges geglaubt habe. Aus seinen Texten spricht bisweilen ein verzweifelter Drang, sich den ausländischen Kollegen verständlich zu machen, das deutsche Denken zu erklären und die Gerechtigkeit der deutschen Sache damit zu begründen. Man kann auch die Frustration und eine ohnmächtige Wut darüber spüren, dass es nicht gelang, zumindest im neutralen Ausland die alliierten Schuldzuweisungen an Deutschland wirkungsvoll zu konterkarieren. Anstatt aber die zahlreichen Rückmeldungen aus den USA, der Schweiz, den Niederlanden und auch aus Dänemark62 zu einer Anpassung der eigenen Kommunikati60 Vgl. auch Flasch, Mobilmachung, S. 20f. 61 R. Eucken, Der fromme Sinn, S. 273. 62 Vgl. ThULB NLRE I, 9, Bl. G 48f: Eduard Geismar an Rudolf Eucken, 22.1.1916; ebd. I, 17, Bl. L 239: Erich Lilienthal an Eucken, 30.6.1915.

Um die Gunst der Neutralen



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onsstrategien zu nutzen, scheint das Echo aus dem neutralen Ausland eher das Gegenteil bewirkt zu haben. Es bestärkte Eucken nur noch in dem Glauben, dass das deutsche Denken, Wollen und Fühlen sich grundlegend von dem anderer Völker unterscheide und eben deswegen so wertvoll sei. 1916 startete Rudolf Eucken einen erneuten Versuch, die deutsche Sache im neutralen Ausland in einem freundlicheren Licht erscheinen zu lassen. Der Leipziger Verlag S. Hirzel war Ende 1915 an ihn mit dem Plan eines Sammelbandes herangetreten, „in dem anerkannte und vorurteilslose Männer der neutralen Staaten die Stimmung ihres Landes schildern“. Eucken sollte als Herausgeber fungieren und ein Einleitungskapitel verfassen. Die Suche nach geeigneten Autoren erwies sich anscheinend als recht schwierig. Es gab wohl nicht wenige Absagen; auf einen dänischen Beitrag musste schließlich ganz verzichtet werden.63 Im Band Neutrale Stimmen, der im zweiten Halbjahr 1916 erschien, schildern sechs Autoren aus fünf neutralen Staaten die Stimmungen und Haltungen zum Krieg in ihrem jeweiligen Land. Es waren dies der Schuldirektor Karl Aas aus Trondheim in Norwegen, der Philosoph Jonkheer van der Wyck, Professor emeritus der Universität Utrecht, der Berner Theologe Karl Marti, der schwedische Historiker Harald Hjärne sowie Paul Carus, in dessen Zeitschriften Eucken publiziert hatte, und der New Yorker Nationalökomon Edwin J. Clapp, der als Kritiker der britischen Seeblockadepolitik aufgetreten war. Während Hjärne, van der Wyck und der Deutschamerikaner Carus nachdrücklich Partei für die deutsche Seite ergreifen, bemühen sich Clapp und Aas eher um eine sachliche Analyse des Kriegsgeschehens. Sie versuchen zudem, dem deutschen Publikum deutlich zu machen, dass die geringe Sympathie für die deutschen Sache auch mit dem Einmarsch in das neutrale Belgien, dem „Torpedokrieg“ gegen die Handelsschifffahrt oder den Zeppelinangriffen auf London zu tun haben könnte. Karl Marti schließlich erklärt, warum auch die deutschsprechenden Schweizer nicht Partei für Deutschland ergreifen mochten. Der Beitrag des Berner Theologen liest sich wie ein Hohelied auf die Schweizer Eidgenossenschaft, ihre Neutralität, ihre demokratische Tradition und ihre „rassenübergreifende“ patriotische Einigkeit.64 Aus einem der neutralen Länder Europas, aus Schweden, erhielt Eucken für seine Erklärung und Bewertung des Krieges häufiger positive Rückmeldungen. „Gott segne Deutschland in seinem ungeheuren Kampf nicht nur für das Germanentum im grossen und ganzen sondern für’s Dasein“, schrieb Vitalis Norström 63 Vgl. ebd. I, 11, Bl. H 386-396: Georg Hirzel an Rudolf Eucken, 27. und 29.12.1915, 13.1., 2.2., 25.4. und 3.5.1916 (Zitat: Bl. H 386); R. Eucken (Hg.), Stimmen, S. 8f. 64 Vgl. R. Eucken (Hg.), Stimmen, S. 5f, 56-59, 141, 217ff, 225f, 229-232; sowie Hoeres, Krieg, S. 129f.

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bereits am 2. August 1914 nach Jena. Anfang 1915 versicherte der Göteborger Professor seinem deutschen Philosophen-Freund, sein Glaube an die Gerechtigkeit der deutschen Sache stehe fest und unerschüttert. Selbst für Euckens Imaginationen des Deutschen zeigte sich Norström empfänglich. Was ihm das deutsche Wesen so lieb und teuer mache, schrieb er im Juni 1915, sei nicht nur die „beispiellose Kraftentfaltung in jeder Richtung, die dieses Volk der erstaunten Welt vorzeigt, sondern vielmehr dessen Geistesfrische und Geistestiefe, die hier zusammengehen“. Auch von seinem schwedischen Übersetzer und Anhänger Ernst Liljedahl erhielt Eucken ermunternde Briefe. Noch Mitte 1917 hielt Liljedahl fest, er glaube fest daran, dass Deutschland so vollständig siegen werde, „wie es für die Zukunft der Menschheit nötig ist“.65 Die schwedischen Sympathien für die deutsche Seite waren sicherlich auch in der geopolitischen Lage des skandinavischen Landes begründet. Vom russischen Zarenreich schienen die Schweden mehr zu befürchten haben als vom weiter entfernten Deutschland. Norström hielt in seinen Briefen nach Jena sogar den Kriegseintritt seines Landes auf Seiten des Deutschen Reiches für notwendig und wünschenswert. Anfang August 1914 gab er seiner Erwartung Ausdruck, dass Schweden in diesem Kampf nicht neutral bleiben könne. Einige Wochen später war er offenbar eines Besseren belehrt worden: Die „Volkesstimmung“ sei nun einmal so, dass Schweden nie und nimmer ohne Zwang in den Krieg eintreten werde. Der „langwierige Friede und der Liberalismus“ hätten die „Volkskraft recht gründlich geschwächt“. Aufgeben wollte Norström aber die Hoffnung auf einen schwedischen Kriegseintritt nicht. Noch im September 1916 teilte er Eucken mit, alle seine Landsleute, „denen die gemeinsame germanische Sache so unendlich teuer“ sei und die Augen hätten für „die vom Osten drohende Gefahr“, würden an der Neutralität Schwedens leiden. Doch: „Kommt der Tag – und er muss kommen! – da England freie Durchfahrt für seine Artilleriesendungen nach Russland fordert, da werden wir allen Anschein nach nicht einwilligen, und da stehen auch wir unmittelbar vor dem Kriege.“ Zwischen den Zeilen der Briefe aus Göteborg klingt allerdings bisweilen heraus, dass Vitalis Norströms Sympathien für Deutschland nicht unbedingt von einer der Mehrheit der Schweden geteilt wurde. An die deutschen Gräueltaten, habe er nie geglaubt, „wie so viele, übrigens kluge und verständige Menschen es taten und noch tun“, beteuerte Norström Mitte 1915. Die „Lügenfabrike“ arbeite eben immerfort und man werde in Schweden jeden Tag von den Publikationen der Entente bombardiert.66 65 ThULB NLRE I, 20, Bl. N 340, 344ff: Vitalis Norström an Rudolf Eucken, 2.8.1914, 8.1. und 15.6.1915; ebd. I, 17, Bl. L 245: Ernst Liljedahl an Rudolf Eucken, 11.7.1917. 66 Ebd. I, 20, Bl. N 340ff, 345f, 351: Vitalis Norström an Rudolf Eucken, 2.8. und 23.8.1914, 15.6.1915, 29.9.1917.

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Die Befreiung der kleinen Völker Am erfolgversprechendsten waren Rudolf Euckens kriegspropagandistische Auslandsaktivitäten dort, wo den beteiligten Akteuren ihre jeweiligen „nationalen“ Interessen weitgehend kongruent erschienen. Dies trifft vor allem auf die nord- und osteuropäischen Länder und Regionen zu, die bislang zum staatlichen Verbund des Zarenreiches gehört hatten. Mit der finnischen Autonomiebewegung war der Jenaer Ordinarius schon seit der Jahrhundertwende eng verbunden gewesen. 1898 war die Finnische Literaturgesellschaft an Eucken mit der Bitte herangetreten, eine Übersetzung der Lebensanschauungen der großen Denker zu genehmigen. Der Philosoph stimmte nicht allein der Übersetzung zu, sondern ergänzte die finnische Ausgabe durch ein Kapitel über den Nationaldichter Johann Ludvig Runeberg. In der Folgezeit nahm Eucken intensiv Anteil an den Auseinandersetzungen um die finnische Autonomie. Während des 19. Jahrhunderts hatten die Finnen innerhalb des russischen Staatsverbandes weitgehende Selbstverwaltungsrechte genossen, die aber durch den Zugriff der Petersburger Zentralgewalt am Ende des Jahrhunderts zunehmend in Frage gestellt wurden. 1899 wandten sich prominente Vertreter von Wissenschaft und Kunst aus einer ganzen Reihe europäischer Länder in einer Petition zugunsten Finnlands an den Zaren. Rudolf Eucken war bei bei Organisation einer deutschen Resolution initiativ beteiligt.67 Der internationale Protest blieb allerdings ziemlich wirkungslos. 1903 wurde die alte finnische Verfassung aufgehoben. Doch im Gefolge der russischen Revolution von 1905 erhielten die Finnen ihre Autonomierechte zurück und gaben sich eine politische Verfassung, die als erste in Europa ein Frauenwahlrecht einführte. Seit etwa 1910 versuchte das zaristische Regime wieder verstärkt, die finnische Selbstverwaltung einzuschränken. Rudolf Eucken gehörte nun zu den prominentesten Intellektuellen, die versuchten, eine europäische Öffentlichkeit für die Sache der Finnen zu mobilisieren. In einem 1910 veröffentlichten Aufsatz entwirft der deutsche Nobelpreisträger ein ganz ähnliches moralisches Szenario wie die britischen und französischen Kriegskommentatoren vier Jahre später. Hier ist es die autokratische Großmacht Russland, die das kleine Nachbarvolk der Finnen seiner Freiheit berauben will und damit den Tadel der Gemeinschaft der europäischen Kulturvölker auf sich zieht. Und wie die alliierte Propaganda sich nicht gegen das deutsche Volk sondern nur gegen eine herrschende Clique militaristischer Kriegstreiber zu wenden vorgibt, so hält auch Eucken fest, dass 67 Vgl. R. Eucken, Not, S. 191f; ders., Lebenserinnerungen, S. 82; ThULB NLRE I, 26, Bl. S 755f: Suomalaisen Kirjallisuuden Seura an Rudolf Eucken, 23.2.1898; ebd. I, 21, Bl. P 174: Hugo Pipping an Eucken, 14.3.1899; Schmidt/Schmidt, Svenskhet, S. 345f.

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„das russische Beamtentum … nicht Rußland schlechthin“ sei. Das Land habe nun die „Bahn einer konstitutionellen Entwicklung betreten, seine Volksvertretung, die Duma, hat sich ihre Stellung in der Schätzung der Kulturwelt erst zu erringen.“ Man sieht also: Politische Partizipations- und Freiheitsrechte sind 1910 auch für Rudolf Eucken ein Zeichen kultureller Höherentwicklung.68 Der Kriegsausbruch 1914 machte das Deutsche Reich zum natürlichen Verbündeten der finnischen Nationalbewegung. Im Laufe des Jahres 1915 begann die Aufstellung und Ausbildung finnischer Freiwilligenverbände in Deutschland, und Pläne zur Proklamation eines unabhängigen Finnlands nahmen festere Formen an. Anfang 1916 wurde Rudolf Eucken von einem alten finnischen Mitstreiter, Johannes Oehqvist, in diese Aktivitäten eingeweiht. Oehqvist, ein Deutschlehrer und Universitätsdozent aus Helsinki, hatte bereits um die Jahrhundertwende mit tätiger Unterstützung des Jenaer Ordinarius eine deutschsprachige Zeitschrift zur Vertretung der finnischen Sache, die Finnländische Rundschau, herausgebracht. 1909/10 hatten beide eine Resolution von deutschen Professoren gegen die russische Finnlandpolitik organisiert. Unter dem 2. Januar 1916 berichtete Oehqvist nun dem Philosophen vertraulich über die bisherige Entwicklung. Demnach hatte Ende 1914 eine Anzahl junger Akademiker in Helsinki beschlossen, die durch den Krieg geschaffene weltpolitische Konstellation für eine Befreiung Finnlands von der russischen Herrschaft zu nutzen. Der deutsche Generalstab habe auf ihre Bitte hin ein Militärlager eingerichtet, um eine Kerntruppe finnischer Offiziere auszubilden. Bis Mitte 1915 sei diese Truppe auf etwa 150 Mann, „lauter akademisch gebildete Leute“, angewachsen. Mittlerweile denke man aber in größeren Dimensionen. Es solle nun ein Stamm von Offizieren und Unteroffizieren gebildet werden, der ein finnisches Volksheer von 150.000 Mann staffelweise weiter auszubilden und zu befehligen habe. Fast 1000 Finnen seien nun in dem Lager untergebracht. „Diese jungen Männer haben natürlich alle Brücken hinter sich abgebrochen, zurückkehren können sie nur in ein befreites Finnland.“ Politisch denke man an „selbständiges Finnland unter einem preussischen Prinzen als König“.69 Seit Frühjahr 1916 kämpfte ein finnisches „Jäger-Bataillon“ auf deutscher Seite an der Front im Baltikum. Derweil gingen die finnischen Aktivisten in Berlin daran, die Unabhängigkeitspläne publizistisch vorzubereiten. Einer der Führer dieser Gruppe, Friedrich Wetterhoff, korrespondierte mit Eucken über den 68 R. Eucken, Finlands [!] Not, S. 193. 69 ThULB NLRE I, 20, Bl. O 25f: Johannes Oehqvist an Rudolf Eucken, 2.1.1916. Vgl. ebd. Bl. O 16-22: Oehqvist an Eucken, 22.12.1900, 27.12.1909, 17.10.1910. Notiz Euckens zur Finnischen Rundschau, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 24.5.1902, S. 358. Zur finnischen Freiwilligentruppe vgl. Hubatsch, Unruhe, S. 112f.

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Plan, die öffentliche Meinung in Deutschland mit Vorträgen auf die finnische Frage einzustimmen. Der Philosoph war der Ansicht, Schriften und Zeitungsartikel seien wichtiger, wenn man die „maßgebenden Kreise“ erreichen wolle. Wetterhoff hielt dagegen, wenn Russland langfristig unschädlich gemacht werden solle, müsse „dieser Gedanke von der Überzeugung des ganzen deutschen Volkes getragen werden“. Einige Wochen später erhielt Eucken die Einladung, einem eben gegründeten Ausschuss zur Förderung der deutsch-finnischen Beziehungen beizutreten. Den Vorsitz des Ausschusses hatte der Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg übernommen, der als Kandidat für den künftigen finnischen Thron galt.70 Aus diesem Ausschuss ging schließlich im August 1916 eine Deutsch-Finnländische Vereinigung hervor, als deren Vorsitzender Rudolf Eucken firmierte. Satzungsgemäßer Zweck der Vereinigung war die Pflege der wechselseitigen kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen. Euckens exponierte Stellung deutet darauf hin, dass ein Kreis möglichst prominenter Wissenschaftler und Künstler für die finnische Sache gewonnen werden sollte. Unter den deutschen Intellektuellen stieß die Frage der Unabhängigkeit Finnlands mitten im Krieg kaum auf Resonanz. Mehr Interesse fand die Ausgestaltung der künftigen deutsch-finnischen Beziehungen in der Kaufmannschaft der Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck. Im November 1917 konstituierte sich aus diesen Kreisen eine „Hansa-Gruppe“ der Deutsch-Finnländischen Vereinigung, die vornehmlich wirtschaftspolitische Ziele verfolgte. Diese Gruppe trat schließlich im August 1918 – mit Rudolf Eucken als Ehrenvorsitzendem – ganz an die Stelle der Vereinigung. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Finnland-Projekt bereits konkrete Formen angenommen. Zur Jahreswende 1917/18 hatten die Finnen ihre Unabhängigkeit proklamiert. Die deutsche Regierung erkannte den neuen Staat umgehend an und schloss auch rasch mit ihm einen Handelsvertrag ab.71 Rudolf Eucken begleitete die deutsche Finnlandpolitik und die finnische Unabhängigkeitsbewegung seit Ausbruch des Krieges publizistisch mit Artikeln in überregionalen Tageszeitungen, Aufsätzen in Zeitschriften und Beiträgen in Sammelbänden. Er brachte hier dem deutschen Publikum den Freiheitskampf der Finnen gegen die russische Unterdrückung nahe oder machte es allgemein mit finnischer Geschichte und Kultur bekannt. Im Falle der Finnen und anderer nicht-russischer Bevölkerungen des Zarenreiches bewegte sich der Jenaer Philosoph gegenüber der westalliierten Propaganda argumentativ auf weit günstigerem Terrain als im Wettstreit um die Gunst der öffentlichen Meinung in den 70 ThULB NLRE I, 28, Bl. W 149: Friedrich Wetterhoff an Rudolf Eucken, 1.4.1916. Vgl. ebd. I, 26, Bl. S 726: Karl Strunz zu Löwenstein an Eucken, 30.4.1916; sowie Hubatsch, Unruhe, S. 112. 71 Vgl. Klosterhuis, Imperialisten 470f, Hubatsch, Unruhe, S. 112f, 127.

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neutralen Ländern. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das die französische und britische Politik mit Blick auf Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich einforderten, konnte im Prinzip mindestens ebenso gut auf den äußerst undemokratischen Verbündeten der westlichen Demokratien, auf Russland angewandt werden. Diesen argumentativen Schwachpunkt der westalliierten Kriegspropaganda konnte Eucken in seiner Finnlandpublizistik voll ausspielen. Vor 1914 sei „von England wie von Frankreich her … den Finnländern in ihrem Freiheitskampf viel Sympathie erwiesen“ worden. Wie „konnte man das gänzlich vergessen und sich rückhaltlos für den Unterdrücker Finnlands begeistern, sich mit ihm auf Leben und Tod verbünden?“.72 Wenn Eucken in seinen Kriegsschriften die deutsche Kultur in ihrer Eigentümlichkeit und ihrem Wert für die Menschheit präsentierte, konnte auch beim unbefangenen Beobachter leicht der Eindruck nationalistischer Hybris entstehen. Seine Stellungnahmen zur Unabhängigkeitsbewegung der Finnen wie auch der Balten, Polen und Ukrainer brachten dagegen die universellen und emanzipatorischen Züge seines Nations- und Volksbegriffes stärker zur Geltung. In einem Artikel im Berliner Tageblatt vom September 1915 machte Eucken diese Züge im geschichtlichen Exkurs auf den antinapoleonischen „Freiheitskrieg“ von 1813 auch ganz explizit. Damals habe gegolten, „das Schmähliche der politischen Lage allen Kreisen voll zum Bewußtsein zu bringen und zugleich die Kräfte zu energischer Entfaltung zu wecken“. Die Philosophie habe ihren Beitrag dazu geleistet, indem sie die Bedeutung der Nation und des nationalen Staates „aus dem innersten Wesen des Menschen begründete und zugleich die ganze Seele für die neuen Ziele aufrief“. An dieser Stelle vollzieht der Jenaer Philosoph eine argumentative Volte, die der neueren „Kulturkrieg“-Literatur offenbar entgangen ist.73 Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ und die Erinnerung an „1813“ werden hier keineswegs für eine unhinterfragte Verherrlichung der Nation herangezogen. Sie bilden vielmehr den Ausgangspunkt für eine Kritik des zeitgenössischen Nationalismus. „Fichtes Schätzung der Nation“ gründe nämlich darin, dass er in ihr „eine eigentümliche Gestaltung des gemeinsamen menschlichen Geisteslebens sah“. Seine Wendung zur Nation sei zugleich eine Aufforderung gewesen, „sich auf die Höhe ihrer geistigen Art zu heben“. Im 19. Jahrhundert habe sich dieser geistige Charakter oft stark verdunkelt. Der Begriff der Nation sei „bloß auf das physische Zusammensein, auf die bloße Rasse gestellt“ worden. „Je weniger geistigen Gehalt ein Volksleben hatte, … desto ungestümer und gehässiger 72 R. Eucken, Leidensweg, S. 2. Vgl. ders., Gesammelte Werke Bd. 13:, S. 133–154. 73 Vgl. etwa die Bemerkungen zu Euckens Fichte-Rezeption bei Sieg, Geist, S. 120, und Beßlich, Kulturkrieg, S. 39, 79.

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ward oft der nationale Drang, desto mehr glaubte man den eigenen Erfolg nur durch Schädigung anderer erreichen zu können.“ Gerade die Erfahrung des Weltkrieges habe eine moralische Ambivalenz der „nationalen Idee“ zutage gefördert. Einerseits hebe diese Idee die Menschen über enge Selbstsucht hinaus, verbinde sie miteinander und mache sie zu schwersten Opfern bereit. Anderseits gestalte sich aber diese Kräftigung der Gesinnung allzu leicht zu einer Verengung auf das eigene Volk. Die nationale Bewegung schädige so „das Verhältnis von Volk zu Volk, sie ist geneigt, jede Handlung zu billigen, ja zu preisen, die zugunsten des eigenen Volkes geschieht“. Es sei Aufgabe der Philosophie, „die nationale Idee auf einer solchen Höhe zu halten, daß Nation und Menschlichkeit nicht miteinander in unversöhnlichen Widerspruch kommen und die eigene Stärke sich nicht auf Ungerechtigkeit gegen die anderen gründet.“74 In einem programmatischen Aufsatz, der Anfang 1918 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Die Ostsee erschien, demonstriert Eucken, wie sich das Konzept der „Volksindividualität“ für die Werbung in den Westgebieten des Zarenreiches nutzbringend anwenden ließ. Die Entwicklung des Ostseeraums, so argumentiert er hier, sei lange Zeit „durch das gewaltsame Vordringen der russischen Macht in jenes ihr ethnographisch fremde Gebiet“ gehemmt worden. Nun sei aber der Druck, der auf den „östlich des Meeres lebenden Völkern“ durch „die schwere Hand des Zarismus“ gelastet habe, „dank der Tapferkeit und Tüchtigkeit der deutschen Heere“ gewichen. Damit werde ein „freier Raum für die volle Betätigung eigner Kraft gewonnen“. Eucken verband damit die Hoffnung, dass sich „engere Beziehungen zwischen den verschiedenen Anwohnern jenes Meeres entwickeln“, dass sich ein „eigentümlicher Kulturtypus ausbilden und den geistigen Besitz der Menschheit mehren kann“.75 Komplizierter als im Falle der Finnen und der baltischen Völker lagen die Dinge bei den Polen. Größere polnische Bevölkerungsgruppen lebten ja sowohl im Verbund des Zarenreiches als auch in den preußischen Ostgebieten und im österreichischen Galizien. Während die galizischen Polen ein gewisses Maß an politischer Autonomie innerhalb des Habsburgerstaates genossen, setzte der preußische Staat zur Bekämpfung der polnischen Bewegung auf administrative Zwangsmittel und eine aktive Germanisierungspolitik. In den Vorkriegsjahrzehnten hatte sich in Posen, Westpreußen und Oberschlesien ein giftiger Nationalitätenkampf entwickelt. Zumindest in privaten Äußerungen übte Eucken deutliche Kritik an der preußisch-deutschen Polenpolitik, die, wie er Anfang 1908 an Norström schrieb, „meinen Überzeugungen von Gerechtigkeit direkt widerspricht.“ Er halte das Prinzip „eius regio – eius natio“ für keineswegs besser 74 R. Eucken, Philosophie, S. 2. 75 Ders., Verschiebungen, S. 12f.

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als den konfessionellen Zwang, der sich mit der bekannten Formel „eius regio – eius religio“ verbunden habe.76 Eine gewisse persönliche Verbindung mit Polen besaß Rudolf Eucken durch den zeitweise recht intensiven Kontakt mit dem Krakauer Philosophen Marian Zdziechowski. Dass Eucken noch zur Jahreswende 1914/15 bei seinem Leipziger Verleger eine polnische Übersetzung seines Buches Sinn und Wert des Lebens anregte, deutet an, dass er unter den gebildeten Polen ein Leserpotenzial vermutete. Es gab wohl auch neben Zdziechowski weitere Anhänger seiner Lehre in Polen. So meldete sich Mitte 1916 ein Wilhelm Feldman bei dem Jenaer Ordinarius und stellte sich als ehemaliger Herausgeber der Krakauer Zeitschrift Krytyka vor. Er habe, so Feldman, in seiner Zeitschrift häufiger über Euckens Philosophie geschrieben und auch Julius Goldsteins Abhandlung über Eucken und seine Lehre auf Polnisch veröffentlicht. Feldman war mittlerweile Redakteur der deutschsprachigen, in Berlin erscheinenden Polnischen Blätter geworden und bat den Philosophen nun um einen Beitrag für seine neue Zeitschrift.77 Eucken lieferte ein freundliches Essay über polnisches und deutsches Geistesleben, in dem er sich vorwiegend mit der Rezeption deutscher Philosophen in Polen beschäftigt. Entgegen „der bei uns verbreiteten Meinung“ habe nämlich „kaum ein anderes Volk“ der deutschen Philosophie von Leibniz bis Nietzsche so viel Interesse und Anteilnahme entgegengebracht. Dabei habe aber die polnische Philosophie durchaus ihre Selbständigkeit bewahrt und charakteristische Züge entwickelt. Wie die deutsche, so vertrete auch die polnische Philosophie „den Vorrang der Innerlichkeit und das Ausgehen des Denkens vom Leben“, gebe aber zugleich „den Begriffen eine eigentümliche Färbung“. „So stehen wir uns nahe genug, um uns fruchtbare Anregung bieten zu können.“ Überhaupt läge eine gegenseitige Verständigung im beiderseitigen Interesse. Dabei könne nur „ein vertrauensvolles Sichzusammenfinden der Geister ... aller politischen Vereinbarung einen festen Halt und eine belebende Wärme verleihen“.78 Diese etwas vagen Andeutungen rekurrieren wohl auf die Vorbereitungen zur Proklamation eines polnischen Staates, die dann im November 1916 vollzogen und von Rudolf Eucken in den Polnischen Blättern freudig begrüßt wurde. Feldman und Eucken korrespondierten in den nächsten Monaten darüber, wie das deutsch-polnische Verhältnis vertieft und die „geistige Annäherung beider Völker“ gefördert werden könnte. Der polnische Redakteur schlug vor, populär76 ThULB NLRE I, 30: Bl. 214: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 24.1.1908. 77 Vgl. ebd. I, 22, Bl. Q 66: Quelle & Meyer an Rudolf Eucken, 5.1.1915; ebd. Bl. P 249f: Wilhelm Feldman an Eucken, 3.7.1916. 78 R. Eucken, Polnisches Geistesleben, S. 100f, 103.

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wissenschaftliche Vorträge über Polen, seine Geschichte und Kultur zu veranstalten und in „geschlossenen Zirkeln“ über die politischen Zustände und geistigen Strömungen in Polen aufzuklären. Eucken regte an, Lehrstühle für polnische Sprache, Geschichte und Literatur an deutschen Universitäten zu begründen. Bald mehrten sich aber Feldmans Klagen über das Verhalten der deutschen Besatzungsbehörden auf dem Territorium des neu proklamierten polnischen Staates und in den angrenzenden, ebenfalls von Polen besiedelten Gebieten. Auch an der Diskriminierung der Polen in den preußischen Ostgebieten und der Bekämpfung der nationalpolnischen Bewegung habe sich faktisch nichts geändert. Wenn schon der Einbezug der preußischen Polen in das unabhängige Polen politisch nicht möglich sei, so könne man doch stattdessen eine „Vereinigung Polens mit seinen uralten Ostgebieten“ anstreben. Den Polen würden damit ein Betätigungsfeld und eine „staatsschöpferische Aufgabe“ für die nächsten einhundert Jahre geboten.79 Solche Vorschläge kollidierten nicht allein mit Plänen der Besatzungsmacht, im Baltikum einen von der dort ansässigen deutschen Oberschicht beherrschten Satellitenstaat zu errichten, sondern auch mit den Unabhängigkeitsbestrebungen anderer Volksgruppen. In Feldmans „uralten Ostgebieten“ waren die Polen meist nur eine Minderheit. Eucken hatte seinen polnischen Briefpartner offenbar darauf angesprochen, dass im österreichischen Ostgalizien die Polen ihrerseits die dortige „ruthenische“ – ukrainische – Bevölkerungsmehrheit drangsaliert hätten.80 Rudolf Eucken selbst stand seit den ersten Kriegsmonaten mit den in Deutschland und Österreich aktiven ukrainischen Organisationen in Verbindung und engagierte sich publizistisch für die eine unabhängige Ukraine. Schon in seinem ersten Artikel in den Ukrainischen Nachrichten machte der Philosoph Ende 1914 seinen Leser klar, dass es hier nicht allein um das nationale Selbstbestimmungsrecht der Völker sondern auch um weitreichende geopolitische Weichenstellungen gehe. Gelinge es nämlich nicht, die westlichen, von Russland unterworfenen Völker aus dem Verbund des Zarenreiches zu lösen, würde auch nach einem siegreichen Krieg „das russische Riesenreich mit seiner halbasiatischen, alles nivellierenden Art und seinen ungeheuren Massen eine grosse Gefahr für Zentraleuropa bleiben“. Insofern entscheide sich am Schicksal dieser Völker auch das Schicksal Europa. Dies gelte ganz besonders für die 30 Millionen Ukrainer. Im „Moskowitertum“ präsentierte Eucken den nichtrussischen Slawen und den „germanischen“ Ländern Mittel- und Nordeuropas einen

79 ThULB NLRE I, 22, Bl. P 254-262: Wilhelm Feldman an Rudolf Eucken, 10.1., 29.6. und 11.7.1917. Vgl. Dathe, Ausflug, S. 187ff. 80 Vgl. ThULB NLRE I, 22, Bl. P 261f: Wilhelm Feldman an Rudolf Eucken, 11.7.1917.

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gemeinsamen Gegner, der für die Unterdrückung nationaler Individualität, für „asiatische Willkür“ und „Einförmigkeit“ stand.81 Mir diesen Positionen stand Eucken im Einklang mit den politischen Zielen einer Gruppe rühriger Publizisten und Politiker, die sich um Paul Rohrbach und Ernst Jäckh und deren Zeitschriften Das Größere Deutschland, dessen Nachfolgeorgan Deutsche Politik sowie Osteuropäische Zukunft sammelte. In allen diesen Blättern veröffentliche der Jenaer Professor und die Redakteure hielten ihn über die Berliner Ukraine-Politik auf dem Laufenden. Die Forderungen der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung und ihrer deutschen Unterstützer machten zunächst wenig Eindruck auf die politischen Entscheidungsträger. Zeitweise hatte die Ukrainepublizistik auch Schwierigkeiten mit den Zensurbehörden, da die Reichsregierung die Polen nicht vor den Kopf stoßen wollte. Auch Euckens Beiträge zur Ukrainepolitik wurden nicht immer mit offenen Armen entgegengenommen. So beschied ihm die Redaktion der Vossischen Zeitung im August 1917, sie könne sich in dieser Frage nicht auf seinen Standpunkt stellen. Die Zeitung verfolge die Linie, alles zu vermeiden, „was einem deutschen Eingriff in das Nationalitätenproblem des russischen Reichs gleichkäme“.82 Erst mit der „Oktoberrevolution“ und der Aufnahme von Friedensverhandlungen Ende 1917 wurde die Unabhängigkeit der Ukraine für die deutsche Politik zu einer realistischen Option. Es bildete sich nun, initiiert von der Rohrbach-Gruppe und unterstützt vom Auswärtigen Amt, eine Deutsch-Ukrainische Gesellschaft mit ähnlichen Zielsetzungen wie die Deutsch-Finnische Vereinigung. Eucken wurde auf ausdrücklichen Wunsch der ukrainischen Führer eingeladen, dem Ehrenpräsidium dieser Organisation beizutreten. Rohrbach trug dem Philosophen im April 1918 sogar den Vorsitz der Gesellschaft an. Eucken lehnte ab, firmierte aber schließlich als „Ehrenvorsitzender“. Das abrupte Ende des Krieges machte schließlich die weitgespannten deutschen Ukrainepläne zur Makulatur.83 Der Einsatz für das nationale Selbstbestimmungsrecht der Finnen, Polen und Ukrainer und die damit verbundenen geostrategischen Überlegungen bestimmte auch Euckens Position in den innenpolitischen Auseinandersetzungen um die deutschen Kriegsziele. Die Begründung selbständiger Nationalstaaten jenseits der Ostgrenzen des Deutschen Reichs schloss weitreichende Annexionen, wie sie zahlreiche seiner Professorenkollegen befürworteten und unter81 Zitiert nach: Dathe, Ausflug, S. 185; vgl. ebd., S. 184f. 82 ThULB NLRE I, 27, Bl. V 302: Vossische Zeitung an Rudolf Eucken, 8.8.1917. Vgl. ebd. I, 6, Bl. D 183: F. Kolbe an Eucken, 15.3.1916; ebd. I, 21, Bl. O 164: Falk Schupp an Eucken, 2.10.1917; Dathe, Ausflug, S. 182f, 187f. 83 Vgl. ThULB NLRE I, 23, Bl. R 313f: Paul Rohrbach an Rudolf Eucken, 21.3. und 30.4.1918; Dathe, Ausflug, S. 182f, 190ff; Klosterhuis, Imperialisten, S. 494; Remer, Ukraine, S. 290.

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stützten, zwangsläufig aus. Auch wenn er in dieser Debatte, soweit zu übersehen ist, nicht explizit Stellung bezog – Euckens Name findet sich nicht unter den großen Kriegszielresolutionen der Annexionisten. Eine gewaltsame Angliederung ethnisch fremder Gebiete oder die Verwirklichung der alldeutschen Ansiedlungs- und Germanisierungspläne – das wäre nun nach den Kriterien der Finnland- und Ukraineschriften Euckens nichts anderes als „Moskowitertum“ gewesen.84

Kriegsmoral und Heimatfront In ihrer Ausgabe vom 4. Oktober 1917 präsentierte die Leipziger Illustrirte Zeitung eine „Rundfrage bei führenden Männern Deutschlands“ zur Lage der Nation. Zur illustren Schar derer, die hier ihre „Forderungen der Stunde“ formulierten, gehörten u. a. der Nationalökonom Lujo Brentano, die Theologen Gottfried Traub und Adolf von Harnack, der bayerische und der preußische Kriegsminister, die sozialdemokratischen Führer Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, der Chemiker Fritz Haber – und Rudolf Eucken. Die Stunde fordere von uns, so beginnt der Jenaer Nobelpreisträger seinen kurzen Beitrag, „daß unser seelisches Verhalten in Gesinnung und Kraft der sachlichen Leistung unseres Heeres und Volkes voll entspreche“. Es folgt nun eine Liste, was solcher „einzigartigen Leistung“, die „unvergleichlich in der Weltgeschichte“ dastehe, nicht entspreche. Der negative Grundton lässt darauf schließen, dass Eucken nun, nach mehr als drei Jahren Krieg, von der allgemeinen Stimmungslage und der innenpolitischen Entwicklung in Deutschland einigermaßen frustriert war. Der Philosoph prangerte hier all jene seiner Landsleute an, die vergäßen, „daß große Zeiten bis in den Alltag hinein große Opfer“ verlangten. Er kritisierte auch diejenigen, die „das eine über alles entscheidende Siegesziel durch Nebenfragen“ störten oder schädigten. Ebenso wenig entspreche den Forderungen der Stunde, „wer unserem der ganzen Welt gewachsenen Volke zumutet, seine staatliche Zukunft nicht gemäß seiner eigenen Art, sondern nach fremden Modellen der innerlich längst überwundenen Aufklärungszeit zu gestalten.“85 Mit dieser Negativliste hatte sich Rudolf Eucken auf den wichtigsten Feldern der innenpolitischen Auseinandersetzung ziemlich eindeutig positioniert: Der Krieg sollte unter allen Umständen bis zum militärischen Sieg über die Feinde weitergeführt werden. Die Demokratisierung und Parlamentarisierung der politischen Verfassung des Reiches und seiner Einzelstaaten sollte unterbleiben. 84 Vgl. Dathe, Philosoph, S. 54f; ders., Rudolf Eucken, S. 57; Schwabe, Wissenschaft, S. 79. 85 Illustrirte Zeitung, Leipzig, Band 149, Nr. 3840, 4.10.1917, S. 482.

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Dass „große Zeiten“ selbst im Alltag große Opfer verlangten, das hatten wohl die meisten Leser der Illustrirten Zeitung nach mehr als drei Jahren Krieg schmerzlich erfahren müssen. Die absolute Priorität von Kriegsführung und Rüstungsproduktion hatte ebenso wie die alliierte Handelsblockade die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Lebensmitteln, Brennstoffen und anderen Artikeln des täglichen Bedarfs zunehmend stärker beeinträchtigt. Im vergangenen Winterhalbjahr, dem berüchtigten „Steckrübenwinter“ von 1916/17, war es bei der Verteilung von Grundnahrungsmitteln zu ernsthaften Engpässen gekommen. Auch vom Hochgefühl der nationalen Solidarität des August 1914 dürfte nun kaum noch etwas übrig geblieben sein. Im Gegenteil, immer mehr Personengruppen standen im Verdacht, sich rücksichtslos auf Kosten ihrer Mitbürger und Volksgenossen zu bereichern: Landwirte und Lebensmittelhändler, „Schieber“ und Schwarzhändler, Fabrikanten, die sich eine goldene Nase an Rüstungsaufträgen verdienten, oder auch ihre Arbeiter, die exorbitante Lohnerhöhungen erzwangen. „Anfangs hat der Krieg wirklich hohe, glänzende Eigenschaften unseres Volkes ans Licht gebracht“, schrieb Wilhelm Gittermann im Juli 1917 seinem Cousin Rudolf Eucken, „aber je länger je mehr ist die Große Masse wieder zu dem herabgesunken, was sie vorher war“. Er finde, so Gittermann weiter, „die Aushungerungs- und Ausbeutungspolitik, die von unseren eigenen Landsleuten an uns geübt wird – nicht von Einzelnen, sondern von ganzen Ständen und Klassen … – um kein Haar moralischer … als die von den Engländern geübte“.86 Über die alltäglichen Opfer, die die „großen Zeiten“ Rudolf Eucken und seiner Familie abverlangten, lassen sich nur einige Vermutungen anstellen. Sicherlich wurde das Leben teurer. Die Professorengehälter wurden während des Krieges kaum, wenn überhaupt, an die Geldentwertung angepasst. Da die Studentenzahlen infolge des Krieges stark rückläufig waren, schrumpften auch die Einnahmen der Professoren aus den Kolleggeldern und Prüfungsgebühren. Doch wird man annehmen können, dass der Nobelpreisträger von 1908 mittlerweile so wohlhabend war und durch seine Vorträge, Bücher, Aufsätze und Zeitungsartikel über zahlreiche Nebeneinkünfte verfügte, dass die Lebenshaltung in der Eucken-Villa wohl kaum einschneidenden Einschränkungen unterworfen war. Einige seiner Verehrer ließen es sich auch nicht nehmen, dem Philosophen schwer erhältliche Lebensmittel zu senden.87 Als Eucken im Frühjahr 1918 eine Vortragsreise nach Brüssel unternahm, schrieb er an seine Frau nach Jena: 86 ThULB NLRE I, 31a, Bl. 143f: Wilhelm Gittermann an Rudolf Eucken, 26.7.1917. Zur Lebenshaltung im Bürgertum während des Ersten Weltkriegs vgl. Schäfer, Bürgertum, S. 194–199. 87 Vgl. etwa die Briefe des Stettiner Bäckereibesitzers Emil Colas an Eucken vom 12.10.1917 und 10.4.1918 (ThULB NLRE I, 5, Bl. C 222, 226).

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„Was das Essen betrifft, so gibt es kleine Portionen und ich bin sehr froh, daß Du mir so reichlich Lebensmittel mitgegeben hast. So kann ich mir namentlich ein behagliches zweites Frühstück bereiten.“ Von zuhause war Rudolf Eucken offensichtlich größere Portionen gewöhnt, als sie der Veranstalter der Vorträge, die deutsche Besatzungsbehörde, veranschlagt hatte.88 Die Opfer-Rhetorik, die Eucken und viele andere Kriegsdeuter in ihren Texten entfalteten, bezog sich natürlich nicht nur auf die „Heimatfront“. Es waren die Soldaten im Kampfeinsatz, die ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit riskierten und mit ihrem Tod das ultimative Opfer erbrachten. Eine ausgesprochen transzendent-religiöse Sinnperspektive eröffnete der Jenaer Philosoph den Soldaten und ihren Angehörigen in seinem Aufsatz Der fromme Sinn, eine Folge des Krieges, der 1915 in einer vom sächsischen Kriegsministerium herausgegebenen illustrierten Zeitschrift erschien. Verluste und Leiden, so schreibt er hier, könnten denjenigen nicht niederdrücken, der fest davon überzeugt sei, einer gerechten Sache zu dienen, „und der zugleich davon durchdrungen ist, daß eine höhere Macht in seiner Seele waltet und sich in ihr mit schöpferischem Wirken offenbart“. Dieser Macht „mit ihrem umwandelnden Wirken“ dürfe man auch, so Eucken weiter, sein „äußeres Geschick“ „getrost und hoffnungsvoll“ anvertrauen. Denn: wie von ihr unser Leben stammt, so liegt auch bei ihr sein Abschluß, ihre Gedanken aber sind nicht unsere Gedanken, ihre Wege nicht unsere Wege. Mag daher im menschlichen Lebenslauf uns manches rätselhaft bleiben, unser Glaube wird dadurch nicht erschüttert, ein frommer Sinn wird in Demut auch das Unerforschliche verehren.

Die gerechte Sache, die Deutschland in Euckens Augen im Krieg vertrat, wird hier zu einer „heiligen Sache“, deren Sinn im unerforschlich Transzendenten liegt und als deren „Diener“ sich die „Helden“, indem sie „männliche Tapferkeit mit tiefer Frömmigkeit verbinden“, willig opferten.89 In seinen Vorträgen und Schriften versuchte Rudolf Eucken, seine Zuhörer und Leser im Glauben an den Sinn des Krieges, an die Gerechtigkeit der eigenen Sache, an einen deutschen Sieg zu bestärken. Je länger sich der Krieg hinauszog, je mehr Opfer er forderte, desto nachdrücklicher appellierte der Philosoph an sein Publikum, den Mut und die Hoffnung nicht zu verlieren und auch unter widrigen Verhältnissen durchzuhalten. Seinen Beitrag zu solcher Aufrechterhaltung der „Kriegsmoral“ leistete Eucken, der Anfang 1916 bereits die 70 überschritten hatte, nicht allein an der „Heimatfront“. Er versuchte vielmehr immer wieder, auch auf die Hauptakteure des Krieges, die Soldaten, einzuwirken. Sein 88 Ebd. I, 31b, Bl. 58f: Rudolf an Irene Eucken, undatiert [April 1918]. 89 R. Eucken, Der fromme Sinn, S. 274.

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Buch Die Träger des deutschen Idealismus, zu Weihnachten 1915 als Taschenbuch in hoher Auflage und zu niedrigem Preis erschienen, war ausdrücklich für die Soldaten „im Felde“ gedacht, zumindest die gebildeteren unter ihnen. Für die Militärpublizistik schrieb Eucken ebenfalls und vermittelte auch Schüler wie Otto Braun als Autoren und Redner. Seine Tochter Ida und ihr Verlobter, der Pianist Walt Jäger, scheinen ebenfalls in der kulturellen Truppenbetreuung aktiv gewesen zu sein. Der Philosoph selbst reiste noch im April 1918 nach Brüssel, um an einem einwöchigen Hochschulkurs für Militärangehörige als Dozent teilzunehmen. Er hielt hier eine dreistündige Vorlesung über den „Kampf um den Sinn und Wert des Menschenlebens“ sowie einen einmaligen Abendvortrags mit dem Titel „Deutschlands Leistung für die geistige Befreiung der Menschheit“.90 Wie es um die eigene, persönliche „Kriegsmoral“ des Jenaer Ordinarius bestellt war, darüber geben die verfügbaren Quellen nur wenig Auskunft. In seinen Briefen an Vitalis Norström in der ersten Kriegshälfte – der schwedische Philosoph starb 1917 – spricht er hin und wieder die „gewaltigen Opfer“ an, die der Krieg für viele Familien durch den Tod von Söhnen, Vätern und Brüdern bringe. Er biegt dann aber meist schnell auf den Ton seiner Kriegsschriften ab. Eine „heroische Zeit“ fordere nun einmal große Opfer, schreibt er im Oktober 1914, „der Einzelne tritt hier ganz vor der Aufgabe des Ganzen zurück“. In einem seiner letzten Briefe an den schwedischen Freund, Ende November 1916, schildert Eucken die Stimmung als ernst; der Durchhaltewille sei aber unerschüttert, „und wir werden uns nicht nur halten, wir hoffen auch, dass aus der ungeheuren Erschütterung eine Verjüngung unserer gesamten Kultur hervorgeht“.91 Wie viele andere Familien mussten auch die Euckens während des Krieges damit leben, dass ihre Söhne über längere Zeit hinweg einer sehr realen Todesgefahr ausgesetzt waren. Arnold Eucken nahm 1915 als Artillerieoffizier an der deutschen Offensive in Galizien teil, scheint aber bald aus der unmittelbaren Kampfzone abgezogen worden zu sein. Seit Herbst 1915 war er als Adjutant im Stab des Generals Mackensen für die Flugabwehrkanonen zuständig – wie sein Vater meinte. „ein sehr interessantes Kommando…, das es ihm gestattet, seine physikalisch-technischen Kenntnisse zu verwerten“. Im Herbst 1916 wurde Arnold Eucken schließlich als Dozent an die Schallmess-Schule in Köln berufen. 90 Vgl. ThULB NLRE I, 25, Bl. S 650ff: Der Stoßtrupp an Rudolf Eucken, 6.10., 15.10. und 22.10.1917; ebd. I, 28, Bl. W 233: Generalmajor von Winterfeldt an Eucken, 4.3.1918; ebd., I, 31b, Bl. 58f: Rudolf an Irene Eucken, undatiert [April 1918]; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 103. 91 ThULB NLRE I, 30, Bl. 394, 406: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 20.10.1914 und 26.11.1916.

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Sein Bruder Walter war bereits in den ersten Kriegswochen im Kampfeinsatz an der Westfront gewesen. Er sollte während des gesamten Krieges in Frontnähe bleiben, im Osten wie im Westen. Sein jüngerer Sohn habe, so schrieb Rudolf Eucken Ende 1915 an Norström, „entschiedene Freude an der kriegerischen Tätigkeit und ist wegen erwiesener Tapferkeit und Einsicht mit drei Orden geschmückt (natürlich darunter das eiserne Kreuz), für einen noch höheren, selten vergebenen ist er vorgeschlagen“.92 Zwischen den Zeilen klingt neben dem väterlichen Stolz manchmal aber auch die Sorge um die Söhne an. Fast überall in den Familien finde man schwere Lücken gerissen, schrieb der Philosoph im Juni 1915 nach Göteborg. Die Sturmangriffe der Infanterie kosteten ungeheure Opfer. Bei der Artillerie seien die Verluste nicht ganz so hoch und seine beiden Söhne seien bis jetzt unverwundet geblieben. Als schließlich Ida Euckens Verlobter im März 1918 in Frankreich fiel, versetzte dies der Familie in Jena einen heftigen Schock. Irene und Rudolf Eucken suchten nun offenbar nach Mitteln und Wegen, um ihren jüngsten Sohn aus der unmittelbaren Gefahrenzone versetzen zu lassen. Darauf deutet ein Brief Adolf Passows an seine Schwester Irene Eucken vom Mai 1918 hin. Passow, Professor für Ohrenheilkunde in Berlin, hatte sich bei den „zuständigen Stellen“ wegen eines Abzugs seines Neffen von der Front erkundigt. Er musste aber nach Jena melden, da sei augenblicklich beim besten Willen nichts zu machen. Man könne nur hoffen, dass der günstige Stern, der über Walter Eucken gewacht habe, „ihm auch fernerhin hold bleibt“.93 Der Tod des „geliebten Schwiegersohns“ und die ständige Sorge um den jüngeren Sohn gingen nicht spurlos an dem Jenaer Philosophen vorüber. Im Juni 1918 erkrankte er an einem schweren Bronchialkatarrh, von dem er sich nur langsam erholte.94 In Rudolf Euckens öffentlichen Verlautbarungen scheint sich diese persönliche Krise aber kaum niedergeschlagen zu haben. Auch jetzt noch verbreitete der Philosoph in seinen Artikeln und Aufsätzen die feste Überzeugung, das Deutsche Reich werde den Krieg bis zu einem entscheidenden militärischen Sieg weiterführen. Im Mai 1918 setzte er den Lesern der populären Familienzeitschrift Die Gartenlaube auseinander, es gebe zwar „ängstliche Seelen“, die „alle ungünstigen Möglichkeiten in stärksten Farben ausmalen“. Die Mehrheit des deutschen Volkes beseele aber immer noch eine zuversichtliche 92 Ebd. I, 30, Bl. 401f: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 30.11. und 3.12.1915. Vgl. ebd. Bl. 395, 405: Eucken an Norström 20.10.1914 und 26.11.1916; ebd. V, 6, Bl. 173: Irene Eucken an Hugo Kehrer, 8.7.1930; Becke-Goehring/M. Eucken, Arnold Eucken, S. 13; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 63f. 93 ThULB NLRE I, 30, Bl. 398: Rudolf Eucken an Vitalis Norström, 6.6.1915; ebd. V, 15, Bl. 31: Adolf Passow an Irene Eucken, 13.5.1918. 94 Vgl. Ebd. I, 29, Bl. 105f: Rudolf Eucken an Ernst Liljedahl, 18.7.1918.

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Stimmung. Der Artikel selbst beschäftigt sich bereits mit den Aufgaben der Zeit nach einem erfolgreich bestandenen Krieg. Ob „wir Deutschen“ dann wieder ein freundliches Verhältnis zu anderen Völkern finden werden, darum müsse man sich nicht groß sorgen. Die Achtung der Menschen, selbst der Gegner, gewinne nicht der, „der sich scheu nach ihnen umsieht und sich ihnen möglichst angenehm darstellen will, … sondern der, welcher ruhig und fest seinen eigenen Weg verfolgt, unbekümmert um die Meinung und Stimmung der anderen“.95 In diesem Sinne hatte sich Rudolf Eucken auch im Vorjahr innenpolitisch positioniert, als er seinen prominenten Namen unter die große Protestkundgebung gegen die Friedensresolution der Reichstagsmehrheit vom Juli 1917 setzte. Der Philosoph gehörte im Oktober 1917 zu den Unterzeichnern des Aufrufs zur Gründung der Jenaer Vaterlandspartei. Eucken optierte damit für eine robuste „Siegfrieden“-Politik, wenn er auch wohl kaum mit dem annexionistischen Kriegszielprogramm der neuen Partei konform gehen konnte. Diese Positionierung gründete sicherlich auch auf einer optimistischen Einschätzung der Kriegslage, die aus Euckens Perspektive betrachtet nicht ganz abwegig erscheint. Im Herbst 1917 stand Russland militärisch vor dem Zusammenbruch, die lang erstrebte Unabhängigkeit Finnlands war in greifbare Nähe gerückt. Zudem hatte gerade eine deutsche Offensive die italienische Isonzofront überrannt und Italien faktisch aus dem Krieg geboxt. Die frei gewordenen Kräfte könnten nun, so hofften Eucken und andere „Siegfrieden“-Enthusiasten, zu einem letzten entscheidenden Schlag im Westen verwendet werden.96 Die lebhafte Korrespondenz mit einer Aktivistin der Vaterlandspartei, der Berliner Nationalökonomin (und Mitgründerin des Deutschen Vereins für Frauenwahlrecht) Charlotte Engel-Reimers, belegt, dass sich Rudolf Eucken durchaus aktiv für die Partei betätigte. Der Jenaer Ordinarius initiierte offenbar die Gründung einer akademischen Gruppe der Vaterlandspartei und ermunterte seine Studenten, in den Semesterferien in ihren Heimatorten für die Partei zu werben. Er selbst reiste auf Einladung der Berliner Studentengruppe in der Osterwoche 1918 für einen Vortrag in die Reichshauptstadt. Die Briefe, die Charlotte Engel-Reimers nach Jena sandte, geben allerdings das Empfinden wieder, mit dem Einsatz für die „Siegfrieden“-Bewegung gerade in der Hochschullehrerschaft gegen den Strom zu schwimmen. In der Wahrnehmung der Dozentin ge95 R. Eucken, Selbstvertrauen, S. 273. 96 Vgl. Dathe, Philosoph, S. 57ff, 63 Anm. 56; Schulz, Krieg, S. XX; Eberhard Grisebach an Rudolf Eucken, 18.10.1917, abgedruckt in: Grisebach, Konfliktpädagogik, S. 16f. Allgemein zur Gründung der Vaterlandspartei vgl. Schwabe, Wissenschaft, S. 160f; Hagenlücke, Vaterlandspartei, S. 143–164.

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hörten die prominentesten staats- und geschichtswissenschaftlichen Ordinarien in Berlin, in Hamburg oder in Heidelberg zu den „Flaumachern“ – Delbrück, Meinecke, Hintze, Herkner, Troeltsch, Schulze-Gävernitz, „die beiden Webers“. Besonders verhängnisvoll wirke es, so Engel-Reimers, dass gerade unter diesen „Schlappmachern“ die besten Lehrer seien, die die Studenten immer wieder der Vaterlandspartei abspenstig machten.97 Für Eucken ging sein Engament für die Partei auch mit dem Abbruch bisheriger politisch-publizistischer Verbindungen einher. Anfang 1918 forderte er die Redaktion der Zeitschrift Deutsche Politik, die von Paul Rohrbach, Ernst Jäckh und Theodor Heuss redigiert wurde, auf, ihn von der Liste der Mitarbeiter zu streichen. Der Philosoph hatte an einer redaktionellen Linie Anstoß genommen, die sich dezidiert gegen die Vaterlandspartei und ihre Bestrebungen richtete.98 Die zweite zentrale Thema, das die innenpolitischen Debatten in der zweiten Kriegshälfte beherrschte, war die Frage einer grundlegender Reformen der politischen Verfassung. Eine wesentliche Forderung, die vor allem von den Sozialdemokraten vertreten wurde, war die Abschaffung der Klassen- und Zensuswahlrechte auf der Ebene der Bundesstaaten und Kommunen. Eine solche Demokratisierung politischer Partizipationsrechte ließ sich wohl kaum umgehen, nachdem Millionen von Arbeitern ihr Leben und ihre Gesundheit an der Front und in der Rüstungsindustrie eingesetzt hatten. Die kaiserliche Osterbotschaft 1917 stellte denn auch eine Reform des Dreiklassenwahlrechts für den preußischen Landtag in Aussicht. Umstrittener war dagegen die Forderung nach einer Parlamentarisierung des Regierungssystems. Rudolf Eucken hatte seine Position zu diesen Fragen im Grundsatz bereits im ersten Kriegsjahr formuliert und zwar – wie so oft – in der Auseinandersetzung mit der alliierten Propaganda. In bekannter Manier griff er auch hier den Vorwurf des Abweichens von zivilisatorischen Standards auf, wertete die kritisierten Zustände um und konstruierte sie als Eigenes, als Teil eines deutschen Wesens in der Differenz zu den Prinzipien der westlichen Kriegsgegner. Britische, französische und amerikanische Kommentatoren erklärten „einen möglichst schrankenlosen Parlamentarismus für das Ideal des menschlichen Zusammenseins“ und legten diesen „fremden Maßstab“ an die deutschen Verhältnisse. Der „reine Parlamentarismus“ berge aber so viele Nachteile, dass er nicht als Gewähr sondern als Gefahr für die Freiheit erscheine. Kurz, man habe als Deutsche ein eigenes Ideal „wie für das gesamte 97 Vgl. ThULB NLRE I, 7, Bl. E 67-79: Charlotte Engel-Reimers an Rudolf Eucken, 23.11. und 24.12.1917, 28.2. und 4.4.1918; sowie ebd. I, 11, Bl. H 226: Hans Heinrich an Eucken, 8.5.1918. Engel-Reimers gehörte offenbar dem Reichsausschuss der Vaterlandspartei an (vgl. die Liste in: Hagenlücke, Vaterlandspartei,S. 166f Anm. 14), 98 Vgl. ThULB NLRE I, 6, Bl. D 186: Theodor Heuss an Rudolf Eucken, 12.2.1918.

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Leben, so auch für den Staat, und wir glauben genug in der Kulturarbeit geleistet zu haben, um verlangen zu dürfen, nach unseren eigenen Maßen und Zielen beurteilt zu werden“.99 In einem in Das Größere Deutschland veröffentlichten Aufsatz setzte sich Eucken Mitte 1915 eingehend mit den politischen Verfassungen des Deutschen Reiches und seiner westlichen Gegnern auseinander. Der Vorwurf politischer Rückständigkeit gründete seiner Ansicht nach einerseits darin, dass die alliierte Propaganda ein Zerrbild des deutschen Kaiserreichs als autokratisch regierter, militaristischer Zwangsstaat entwerfe. Die angelsächsischen und französischen Autoren könnten sich nicht „in uns und unsere Verhältnisse“ hineinversetzen, sie machten ihre Kritik an nebensächlichen Erscheinungen fest und neigten bei der Darstellung der deutschen Zustände überhaupt zu „grober Karikatur“. „So vermögen jene unsere gesetzlich geordnete Monarchie nicht von einer moskowitischen oder orientalischen Autokratie zu unterscheiden“. Auf der anderen Seite würden, so Eucken, die alliierten Kriegspropagandisten die politischen Zustände in den eigenen Ländern idealisieren und dieses Idealbild der parlamentarischen Demokratie zum Maßstab ihrer Beurteilung der deutschen Verhältnisse heranziehen.100 Eucken dreht nun den Spieß um: Er vergleicht die von ihm wahrgenommene Praxis der politischen Verfassung in den „westlichen Demokratien“ mit einer ziemlich idealisierten Version des deutschen Konstitutionalismus. Zunächst beschwört der Philosoph die Gefahren und Schattenseiten einer Demokratie, die alle Hemmungen und Unterschiede aufhebe und so „das Volk mehr und mehr in eine gleichartige Masse“ verwandle. Eine solche Masse stelle eine „abschleifende, gleichmachende, eine Mittelmäßigkeit erzeugende Macht“ dar. Sie erzeuge einen Konformitätsdruck, der sich gegen die Freiheit und Selbständigkeit des Einzelnen richte. Letztlich habe jedoch in den westlichen Demokratien eine kapitalistischen Oligarchie das Sagen, die über die Presse „die Richtung der großen Masse“ bestimme. Das deutsche Regierungssystem erscheint ihm vor diesem dunklen Hintergrund in umso helleren Licht: „Wie gering sind gegen die Schäden einer solchen Geldherrschaft, der niedrigsten aller Staatsformen, alle Gefahren einer selbständigen Monarchie!“101 Eucken gibt in diesem Text dem immer wieder beschworenen „deutschen“ Freiheitsbegriff eine etwas konkretere Fassung, indem er ihn aus der Perspektive des staatlich besoldeten Bildungsbürgers beleuchtet. „Uns“, so schreibt er hier, liege weniger daran, „als Stück einer großen Masse eine Stimme abgeben 99 R. Eucken, Neutralität, S. 447. 100 Ders., Rückständigkeit, S. 583, 580. 101 Ebd., S. 578f.

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zu dürfen“. Vielmehr gehe es darum, im „eignen Lebenskreise eine unabhängige und selbständige Tätigkeit zu entwickeln und dabei unsere Individualität zur vollen Geltung zu bringen“. In Deutschland lege man daher „höchsten Wert darauf, daß der Beamte, der Lehrer, der Geistliche sich sicher und fest in seiner Stellung fühle und nicht durch Abhängigkeitsverhältnisse in seinem Handeln und Entscheiden beeinflußt werde“. Gesetzlich verbürgte Gehaltsordnungen sicherten jedem Angehörigen dieser Berufe ein regelmäßiges Einkommen. Man habe eine solche bedingungslose materielle Absicherung im Vertrauen auf die „deutsche Pflichttreue“ und die „deutsche Arbeitslust“ unbedenklich wagen können. Ganz anders stelle sich dagegen die Situation in in den liberalen Demokratien des westlichen Auslandes dar, wo vielfache Abhängigkeitsverhältnisse und eine oft prekäre materielle Absicherung den Angehörigen der gebildeten Berufe nur geringe Freiheitsräume eröffneten. Man solle zudem nicht vergessen, so Eucken weiter, dass der Freiheit nicht nur vom Staat, sondern auch von der Gesellschaft Gefahren drohten. Gesellschaftliche Sitten und Einrichtungen, religiöser Fanatismus und wirtschaftliche Abhängigkeiten könnten „eine schier tyrannische Macht“ über den Einzelnen ausüben. In der Praxis werde die formale Freiheit in den westlichen Demokratien „durch die Macht des Kapitals und durch den sozialen Zwang aufs stärkste eingeschränkt“. Der Deutsche sei demnach weit freier, „weit mehr imstande seinen eigenen Weg zu gehen, als der Engländer und der Amerikaner“. So gesehen, erscheint dem Jenaer Philosophen der deutsche Staat als Garant individueller Freiheit. Die konstitutionelle Monarchie finde in Deutschland ihre Aufgabe vor allem darin, „gegenüber den oft auseinandergehenden Zwecken der Individuen, der Erwerbskreise, der Parteien das Wohl des Ganzen zu vertreten und durchzusetzen“. Eine Parlamentarisierung nach „westlichem“ Muster würde, so befürchtet Eucken, die Unabhängigkeit des Staates gegenüber einer die Freiheit des Einzelnen bedrohenden Gesellschaft gefährden.102 Zwei Jahre später, nach der Ankündigung einer Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts im Frühjahr 1917, griff Rudolf Eucken konkreter in die politische Debatte ein. Seine „philosophischen Gedanken zur Wahlrechtsfrage“ beginnt er mit einer nachdrücklichen Befürwortung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Seine Einführung entspreche einem starken Zug der Zeit, hätten doch die „breiten Massen des Volkes“ weit mehr Bedeutung erlangt und sich im Vergleich zu früheren Zeiten „auch innerlich sehr gehoben“. Dies gelte in besonderem Maße gerade für das deutsche Volk. Die Erfahrungen des Weltkriegs „mit seinen gemeinsamen Taten und Leiden, mit seinem Zurückdrängen aller Unterschiede gegenüber dem, was uns miteinander verbindet“, hätten 102 Ebd., S. 579ff.

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schließlich den Forderungen nach einem Wahlrecht ohne Abstufungen zusätzlich Nachdruck verliehen.103 Nach dieser Einleitung vollzieht Eucken aber eine argumentative Volte: Ideal sei ein solches Wahlrecht nur dann, „wenn alle einzelnen Bürger ein selbständiges Urteil hätten und dieses in voller Freiheit zum, Ausdruck bringen könnten“. Dies sei aber wegen der ungeheuren Macht der Presse, die vornehmlich den Interessen kleiner kapitalistischer Kreise diene, keineswegs der Fall. Als Paradebeispiel für diese These dient dem Philosophen wieder einmal die alliierte Propaganda. Der Kriegseintritt der USA hatte Eucken in der Überzeugung bekräftigt, dunkle Kräfte hätten durch ihre Medienmacht die westlichen Völker in den Krieg mit Deutschland gehetzt. Es werde „dem Volke, das, wozu man es haben will, als seine eigne Meinung und sein Interesse eingeredet.“ Wo die Menschen, „wie z. B. die Amerikaner, selbst zu erkennen und entscheiden glauben, da sind sie lediglich gefügige Stücke einer großen Herde“.104 Eucken bringt noch einen weiteren Einwand gegen ein Wahlrecht vor, das das Volk als „gleichartige Masse“, als „Nebeneinander einzelner Individuen“ behandle. Ein solches Wahlrecht bringe die Gliederung des Volkes unzureichend zum Ausdruck und biete kaum die Gewähr, „die Kulturarbeit der Gemeinschaft mit ihrer reichen Verzweigung zu gleichmäßiger Vertretung zu bringen“. Die politischen Vertretungskörperschaften würden so Gefahr laufen, das geistige Niveau ihrer Zeit nicht zu erreichen. Eucken schlägt daher eine Ergänzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts durch berufsständische Formen politischer Repräsentation vor. Dabei denkt er nicht etwa an ein Zweikammernsystem, sondern an ein Parlament, dem sowohl die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Abgeordneten als auch Vertreter von Berufs- und Standesorganisationen angehören sollten. Auf diese Weise wären „alle Hauptinteressen der Kulturarbeit durch sachkundige Männer vertreten“ und es könnte sich zwischen diesen „Sachkundigen und den Gesamtvertretern eine fruchtbare Wechselwirkung in persönlicher Berührung und im Austausch der Erfahrungen entwickeln“.105

Die Sammlung der Geister (Fortsetzung) Die Idee einer „Sammlung der Geister“ verlor ihre Attraktion unter Rudolf Euckens Anhängern und Gesinnungsgenossen auch nach dem Ausbruch des Krie103 Ders., Wahlrechtsfrage, S. 542. 104 Ebd., S. 542f. 105 Ebd., S. 543f

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ges nicht. Bald sah sich der Philosoph von Anfragen bedrängt, ob man die Geistersammlung denn nicht wieder aufnehmen sollte – gerade, weil unter dem Eindruck des „Augusterlebnisses“ die Zeit dafür besonders günstig erschien. Eucken wollte dagegen das Ende des Krieges abwarten. Was ihn zu dieser Haltung bewegte, wird aus den verfügbaren Korrespondenzen nicht recht klar. Möglicherweise wollte Eucken eine Sammlungsbewegung, die doch für ihn auch immer eine „Scheidung der Geister“ beinhaltete, nicht in Zeiten des politischen „Burgfriedens“ einleiten. Man könne aber doch wenigstens, so schrieb ihm im Dezember 1914 Diedrich Bischoff, der Direktor einer Leipziger Lebensversicherung, „die erforderliche Organisation unter den Vorkämpfern und Mitkämpfern der idealistischen Bewegung von 1914“ vorbereiten. Bischoff war Vorsitzender des Vereins Deutscher Freimaurer und hatte Eucken kurz vor Kriegsausbruch besucht, um mit ihm über ein mögliches Zusammenwirken von Freimaurerei und neuidealistischer Bewegung zu sprechen. Im Frühjahr 1915 drängte Bischoff den Philosophen noch einmal nachdrücklich zur Aktivität. Die Sammlung „der Träger des – heute so mächtig erstarkten – deutschen Idealismus zu gemeinsamer Wirksamkeit“ sei doch für das deutsche Volk ein entscheidendes Grundproblem. Es wäre es schwerer Fehler, würde die Gunst der Stunde nicht genutzt und die Organisation der „Kräfte des vaterländischen Idealismus zur Pflege des Geisteserbes von 1914“ weiter hinausgeschoben. Auch dieser Appell scheint bei Eucken nicht gefruchtet zu haben.106 Im Herbst 1917 trat dann Rudolf Eucken mit einer etwas überraschenden Initiative an die Öffentlichkeit. Er rief im Kunstwart, der Zeitschrift des Dürerbundes, zur Gründung einer Luther-Gesellschaft auf. Inwiefern er damit seine 1914 auf Eis gelegte „Sammlung der Geister“ zu reanimieren beabsichtigte, geht aus den verfügbaren Quellen nicht eindeutig hervor. In seinem Aufruf behandelt Eucken die Gründung der Luther-Gesellschaft eher als wissenschaftliches Desiderat. Die Gedenkfeiern zum 400jährigen Reformationsjubiläum hätten deutlich gemacht, dass der Reformator „im Ganzen seines Wirkens und Wesens“ viel zu wenig bekannt sei. Das Bild Martin Luthers sei einseitig von seiner religiösen Leistung bestimmt. Für Eucken war Luther der Mann, der „dem deutschen Idealismus zuerst die ihm eigentümliche Prägung gegeben und damit unser Volk auf den Weg zu einer geistigen Weltmacht geführt hat“. Dies im öffentlichen Be-

106 ThULB NLRE I, 2, Bl. B 446ff: Diedrich Bischoff an Rudolf Eucken, 16.12.1914, 27.4.1915. Vgl. ebd. B 445: Bischoff an Eucken, 22.6.1914; ebd. I, 23, Bl. R 250ff: Pastor Richter an Eucken, 16.8. und 21.8.1915; ThULB NLRE I, 14, Bl. K 273f: Wilhelm Kiefer an Eucken, 28.10.1915; sowie Beyer, Bischoff.

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wusstsein zu verankern, war für den Jenaer Philosophen die vorrangige Aufgabe der neuen Gesellschaft.107 Damit hatte Eucken bereits deutlich gemacht, dass er bei seiner Gründungsinitiative keine theologische oder kirchlich-konfessionelle Vereinigung im Auge hatte. Die Gesellschaft solle die Person und das Wirken Martin Luthers auch denjenigen näher bringen, die seine Theologie nicht zu teilen vermochten. Eucken wollte besonders Gelehrte und Schriftsteller, die sich mit Luther beschäftigt hatten, für die Gesellschaft gewinnen, um den Reformator „im Ganzen seines Wesens und Wirkens für das deutsche Volk fruchtbarer zu machen“. In einem kurz vor dem Gründungsaufruf, ebenfalls im Kunstwart erschienenen Aufsatz Zum Bilde Luthers hatte der Jenaer Ordinarius zudem gefordert, man müsse bei Luther deutlicher zwischen Vergänglichem und Bleibendem scheiden. Luthers theologische Gedankenwelt, etwa „seine Lehre von dem durch unsere Sünden erzürnten, nun aber durch das Blutopfer seines Sohnes versöhnten Gott“, sei „den meisten von uns … schlechterdings unhaltbar geworden“. Doch sei Luthers theologisches Gedankengerüst letztlich nur Mittel und Werkzeug für die Erschließung eines neuen Lebens gewesen. Der neue Lebenstypus, der im Wirken des großen Reformators zum Durchbruch komme, sei vor allem durch eine neue Religiosität gekennzeichnet, „die mit innerster Bewegung des Gemütes und tiefer Demut männlichste Tapferkeit, ein volles Aufrechtstehen verbindet“. Damit habe Martin Luther die Grundlagen eines eigentümlich deutschen Idealismus gelegt. Für die Gegenwart gehe es darum, die unvergänglichen Grundwahrheiten in Luthers Werk von ihrer unzulänglich gewordenen konkreten Fassung abzulösen.108 Es muss Rudolf Eucken klar gewesen sein, dass „sein“ Luther im deutschen Protestantismus nicht auf ungeteilten Beifall stoßen würde. Kritik kam vor allem aus dem orthodox-protestantischen Lager. Euckens Vorhaben, den Reformator als Helden des deutschen Idealismus neu zu definieren, so kommentierte die Allgemeine evangelisch-lutherische Kirchenzeitung, sei etwa so, als hebe man bei Jesus seine charaktervolle Persönlichkeit und seine Volkstümlichkeit hervor, schweige aber „von seinem Wesen als Sohn Gottes und seinem Werk der Erlösung“. Dennoch fand der Aufruf Euckens in kirchlich-evangelischen Kreisen ihre größte Resonanz. Der eigentliche Gründungsaufruf zur Luther-Gesellschaft trug die Unterschrift von 260 Personen und Institutionen, darunter zahlreichen Theologen, Religionsphilosophen und Kirchenhistorikern, hohen Staatsbeamten und Städtevertretern, Publizisten und Verlegern. Ebenso waren

107 R. Eucken, Aufruf, S. 182. 108 Ebd., S. 183; ders., Zum Bilde Luthers, S. 87.

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zahlreiche Kirchen- und Schulbehörden sowie fast alle größeren evangelischen Vereinigungen vertreten.109 Die konstituierende Generalversammlung der Luther-Gesellschaft fand schließlich am 26. September 1918 in der Aula des Wittenberger MelanchthonGymnasiums statt. Die Versammlung wählte Rudolf Eucken in Abwesenheit zum Vorsitzenden der Luther-Gesellschaft. Der Philosoph hatte wegen seiner immer noch angeschlagenen Gesundheit eine persönliche Teilnahme abgesagt. Seine Festrede wurde verlesen. Man bedürfe heute Luther, so leitet Eucken seinem Text ein, „weil sein fester Glaube, seine riesenhafte Kraft, sein unerschütterliches Gottvertrauen uns unentbehrlich ist, um uns vor den ungeheuren Gefahren zu retten, in denen wir uns befinden.“ Seine verlesene Rede scheint sich zwar stimmungsmäßig schon auf die bevorstehende Kriegsniederlage eingeschwungen zu haben. Aber inhaltlich kommt Eucken rasch zu den bekannten Thesen zur geistigen Krise der Moderne, während nach den einleitenden Sätzen von Luther kaum noch die Rede ist: Die Moderne habe eine große Lücke im „Grundbestande des Menschenwesens“ hinterlassen. Das Wesentliche werde nicht genügend entfaltet, das Leben bleibe überwiegend auf das Äußere gerichtet, so dass „kein sicheres Verhältnis zu den großen Mächten des geistigen und religiösen Lebens entstehen konnte.“ Es gelte nun das „Wesenhafte, Lebenserhöhende, Ewige“ kräftig herauszuarbeiten und zugleich „das Künstliche, Scheinhafte, Unechte, was unsere Seele vergiftet und unser Leben erniedrigt“ energisch auszuscheiden und zu verwerfen.110

109 Zitiert nach: Düfel, Voraussetzungen, S. 93. Vgl. Luther. Mitteilungen der Luther-Gesellschaft 1, 1919, S. 29; Düfel, Voraussetzungen, S. 94. 110 R. Eucken, Luther-Gesellschaft, o. S.; vgl. Düfel, Voraussetzungen, S. 96.

5 Der Euckenbund 1918/19–1926 „Was bleibt unser Halt?“ So wortreich und elaboriert Rudolf Eucken den Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommentiert hatte, so einsilbig gab er sich in den letzten Wochen und Monaten des Krieges. Noch im Rückblick einiger Jahre wollte er sich mit dieser Zeit am liebsten gar nicht befassen. „Es widerstrebt mir“, bekennt Eucken in seinen Lebenserinnerungen, „den weiteren Fortgang des Krieges zu verfolgen und dem kläglichen Zusammenbruch der deutschen Macht und des deutschen Willens nachzugehen.“ Der Philosoph kränkelte im Herbst 1918 und sandte der vom Kriegspresseamt herausgegebenen Deutschen Kriegswochenschau statt eines Artikels nur drei kurze „Sinnsätze“, die in der Ausgabe vom 13. Oktober zu finden sind. Diesen „Worten für die Gegenwart“ ist zu entnehmen, dass man nun zusammenhalten müsse und dass der Glaube und die Liebe zum eigenen Volk „das scheinbar Unmögliche in ein Mögliches verwandeln“ könnten.1 Der Zeitpunkt, an dem die Hoffnungen auf einen deutschen Sieg in die Realisierung einer bevorstehenden Niederlage umschlugen, ist ziemlich genau in einem Brief Walter Euckens an seine Mutter vom 10. Juli 1918 dokumentiert. „Seit meinem Weggang von Euch“, schreibt er hier, habe sich viel Trauriges ereignet. „Damals waren wir alle doch wirklich siegesbewußt. Und nun in dieser kurzen Frist dieser traurige Umschwung.“ Bereits hier gab der angehende Nationalökonom den Ton für die kommende Nachkriegszeit an. Das Wesentliche sei nämlich nicht, „daß unser Heer hier und da eine Schlappe erlitten hat“. Vielmehr habe die Heimat „jammervoll versagt“ und werfe jetzt die Flinte ins Korn. Nun stand der junge Eucken vor einem gedanklichen und emotionalen Dilemma, das letztlich einem nationalistischen Sinngefüge inhärent ist. Solange das Geschehen an den Kriegsfronten und in der Heimat es erlaubte, das eigene Volk, die eigene Nation als heroische Schicksalsgemeinschaft zu imaginieren, machte auch der Einsatz für diese Gemeinschaft Sinn. Was aber, wenn sich diese Imagination nicht mehr aufrechterhalten ließ? „Man fragt sich wirklich, wofür kämpfen wir? Etwa für die Jammerlappen zu Hause?“. In seinem Brief an die Mutter löst Walter Eucken dieses Dilemma, indem er sich von der Nation lossagt. Er fühle sich als Deutscher nicht mehr stolz. Es sei ihm nicht mehr möglich, im Dienst für das Vaterland aufzugehen, „weil mir mein Vaterland zu erbärmlich ist“. Er habe daraus gelernt, dass man seine Arbeit nicht „auf die 1 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 104; Deutsche Kriegswochenschau Nr. 97, 13.10.1913, S. 1504. https://doi.org/10.1515/9783110687033-005

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Menge, in die Weite gründen“ dürfe. Es bleibe letztlich nur, für die Sache und „einige liebe Menschen in diesem Milieu“ zu arbeiten.2 So einfach konnte es sich sein Vater, der berufsmäßig ins Weite blickte, natürlich nicht machen. Nachdem die Novemberrevolution dem jahrelangen massenhaften Töten ein sehr abruptes Ende bereitet hatte, fand Rudolf Eucken bald seine Sprache wieder. Bereits im Dezember 1918 erschien ein kleines Buch, in dem der Philosoph sich und seinen Lesern Antworten auf die Frage Was bleibt unser Halt? gab. Dieser Titel verweist schon darauf, dass für Eucken der Ausgang des Ersten Weltkriegs eine massive Sinnkrise hervorgerufen hatte. Von Anfang an hatte der Jenaer Ordinarius in zahlreichen Publikationen den Krieg als Ringen um „höhere“ Werte, um geistig-moralische Prinzipien gedeutet. Die Deutschen kämpften für eine gerechte Sache, sie vertraten „die idealen Güter der Menschheit“; es ging um nichts weniger als die „Seele der Menschheit“. Mit dieser sinnhaften Aufladung begaben sich Eucken und seine Gesinnungsgenossen letztlich in eine mentale Zwickmühle. Nur ein höherer Sinn konnte die immensen Opfer des Krieges rechtfertigen. Damit aber die erbrachten Opfer nicht umsonst gewesen sein würden, machte nur ein vollständiger Sieg Sinn, wofür dann wiederum immer neue Opfer gebracht werden mussten. Als schließlich mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 die Niederlage des Deutschen Reiches besiegelt war, traf dies den Jenaer Philosophen „mit der niederschmetternden Gewalt einer weltgeschichtlichen Tragödie“. So steht am Anfang von Was bleibt unser Halt? ein traumatisches Erlebnis: „Wir möchten uns kaum in die neue Lage finden, wir fühlen uns wie von einem schweren Traum befangen …“.3 Man hätte nun annehmen können, dass die Gründe und Ursachen der Niederlage auf der Hand lagen. Die Deutschen und ihre Verbündeten waren der militärischen und materiellen Übermacht ihrer zahlreichen Feinde unterlegen. Die Hoffnung, dass nach dem Ausscheiden des Zarenreiches ein letzter entscheidender Schlag im Westen gelingen könnte, hatte sich als trügerisch erwiesen. Mit dem Eintreffen frischer, gut ausgebildeter und ausgerüsteter amerikanischer Truppen in Frankreich neigte sich die Waage endgültig der Seite der alliierten Kriegsgegner zu. Diesen offensichtlichen Kausalzusammenhang mochte Rudolf Eucken nicht anerkennen: „Unsere Gegner hätten bei aller äußeren Überlegenheit uns nicht überwunden, wären wir selbst die rechten Menschen gewesen, hätten wir selbst uns geistig und moralisch zur weltgeschichtlichen Größe erhoben.“4 2 ThULB NLRE V, 11, Bl. 47f: Walter an Irene Eucken, 10.7.1918. 3 R. Eucken, Halt, S. 3. 4 Ebd., S. 7.

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Selbst wenn man bedenkt, dass der Jenaer Professor im Herbst 1918 nicht über den Kenntnisstand spätgeborener Historiker verfügte – eine so realitätsferne Diagnose bleibt doch erklärungsbedürftig. Sicherlich kann man Euckens kontrafaktische Argumentation als Weigerung lesen, sich und seinen Lesern das Scheitern der von ihm so nachdrücklich propagierten „Siegfrieden“-Politik einzugestehen. Möglicherweise verstellten dem Philosophen aber auch seine eigenen idealistischen Weltkonstruktionen den Blick: die Grundüberzeugung, dass innere Haltungen prinzipiell wichtiger seien als äußere Gegebenheiten. Diese Rhetorik der „Innerlichkeit“ durchzieht Euckens Kriegsschriften. Immer wieder hat er in den vier Kriegsjahren seinen Lesern vor Augen gehalten, wie das deutsche Volk, beseelt von Pflichtgefühl und dem Glauben an die gerechte Sache, einer Welt von Feinden nicht nur standgehalten habe, sondern siegreich vorgedrungen sei. Es sind dies oft euphorische Visionen, in denen „deutscher“ Geist, Glaube und Willen über einen „äußerlich“ überlegenen Gegner triumphieren. Am Ende steht bei Rudolf Eucken nun nicht etwa die Erkenntnis, dass auch Quantität irgendwann einmal in Qualität umschlägt und dass Kampfgeist, Durchhaltewille und Siegesglaube womöglich eine dauerhafte Unterlegenheit an Soldaten, Waffen, Munition und anderen materiellen Ressourcen nur in begrenztem Maße kompensieren können. Der Jenaer Ordinarius kommt, im Gegenteil zu dem Schluss, dass die Niederlage durch einen Mangel an geistiger Kraft und moralischer Haltung verschuldet worden sei. Ein „großer Teil der Volksgenossen“, so schreibt er in Was bleibt unser Halt?, habe sich „gleichgültig für die große Sache, matt, schlaff und lustlos gezeigt“ und zwar in der Heimat noch mehr als an der Front. Es bleibe doch in höchstem Maße traurig, ja kläglich, daß ein Volk, das so lange und so überlegen sich den höchsten Aufgaben gewachsen erwies, in der Entscheidungsstunde teilweise nicht die nötige Ausdauer, Selbstzucht, Treue, sittliche Kraft gezeigt und dadurch die weltgeschichtliche Stellung unseres ganzen Volkes in unabsehbarer Weise geschädigt hat.

In dem unmittelbar nach Kriegsende verfassten Büchlein klingt schon die Argumentationslinie der „Dolchstoß-Legende“ an, doch werden hier „Schuldige“ noch nicht konkret namhaft gemacht. Eucken belässt es vorerst bei einer „WirAlle“-Bußpredigt: „Wenn wir daher nicht siegreich bestanden, so haben wir selbst das verschuldet, wir selbst haben uns um die Früchte der gewaltigen Anstrengungen betrogen“.5

5 Ebd., S. 9f.

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Damit ist aber Euckens Ursachenforschung noch nicht beendet. Ein wesentlicher Grund für den unglücklichen Verlauf des Krieges sei auch gewesen, dass „uns in diesen entscheidenden Jahren große Staatsmänner hartnäckig versagt blieben“. Es habe sich niemand gefunden, der dem Volk Ziele und Wege gezeigt habe, der „mit zündender Kraft und überlegener Wucht die Mitbürger hätte fortreißen können“. Dass solche Führer fehlten, habe letztlich seinen tieferen Grund in einem allgemeinen Mangel an überragenden Persönlichkeiten; „wir hatten Mittelgut in allen Graden, aber nirgends eine wahrhafte Größe.“ Damit ist der Philosoph wieder auf dem wohlvertrauten Terrain seiner Krisendiagnosen der Vorkriegszeit angelangt. Die „bloße Arbeitskultur“, so konstatiert er, habe es nicht vermocht, zum Ganzen des Menschen vorzudringen und lebensvolle, ausgeprägte Persönlichkeiten hervorzubringen.6 Hoffnung für die Zukunft schöpft der Philosoph aus dem „Glauben an das Walten eines geistigen, übersinnlichen Lebens bei uns“. Die Lage Deutschlands wäre völlig hoffnungslos, würde nicht „eine höhere Macht uns einen festen Halt gegenüber allen Wirren und Stürmen“ gewähren. Im Besonderen verweist Eucken – wieder einmal – auf den „deutschen Idealismus“, der das Ganze der Menschheit veredelt habe. „Solches Schaffen darf uns auch inmitten aller Wandlungen und Erschütterungen stärken und uns zu einem Zeugnisse dienen, daß unser Volk dauernd auf eine tiefere Art angelegt ist.“ Eine entscheidende Wendung verspricht sich Eucken von einer durchgreifenden ethischen Erneuerung und Vertiefung des ganzen Lebens. Er äußert sich aber skeptisch, ob eine solche Wendung von der Generation seiner Zeitgenossen zu erwarten sei. Dem „gegenwärtigen Geschlecht“ fehle Saft und Kraft; es sei innerlich leer, matt und flach, kenne keine echte Liebe und keinen echten Zorn. Man müsse daher seine Hoffnungen vor allem auf die Jugend, die Kriegsgeneration setzen, die „durch das Heiligtum des Schmerzes“ gegangen und „dadurch geläutert, gekräftigt, umgewandelt“ worden sei.7

Von der Luther-Gesellschaft zum Euckenbund Mitte Dezember 1918 trafen bei Rudolf Eucken die ersten Reaktionen auf Was bleibt unser Halt? aus dem Kreis seiner Freunde und Anhänger ein. Er habe schon oft „die Feder ansetzen“ wollen, um ihn aufzufordern, ein „Wörtlein … ernst, aufrüttelnder Mahnung ins Volk hineinzurufen“, schrieb der Frankfurter Gymnasialdirektor Alfred Biese dem Philosophen. Er habe nach den Ereignissen 6 Ebd., S. 6–9. 7 Ebd., S. 20, 26, 28f.

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der vergangenen Wochen oft am „deutschen Wesen“ verzagen wollen. „Sehen Sie, auf solchen Boden der Empfänglichkeit fiel soeben Ihr Schriftlein, und ich griff es voll Freuden auf u. lege es dankbar hin, nachdem ich es in alle Poren der Seele aufgenommen habe.“ Etwas weniger inbrünstig, aber doch mit ähnlichem Tenor beschrieb der Chemnitzer Mittelschullehrer Otto Günther seine Gedanken bei der Lektüre von Was bleibt unser Halt?. Auch für ihn ist der Jenaer Philosoph eine Leitfigur, die er dazu berufen sieht, „dem schwankenden Menschen“ „in den Wirren der Gegenwart“ Orientierung und Halt zu geben. Mit der alten staatlichen Form seien, so Günther, auch „andere Lebensgebiete wie das der Religion, für viele gänzlich zerbrochen“. Diesen suchenden Menschen „von überlegener Warte aus den tragenden Grund zu zeigen“, das sei ein großes Verdienst von Euckens kleiner Schrift.8 Otto Günther hatte im Herbst 1915 mit Rudolf Eucken Kontakt aufgenommen und sich als begeisterter Anhänger seiner Philosophie bekannt. In seiner Antwort hatte der Philosoph dem Chemnitzer Lehrer von Bestrebungen berichtet, nach dem Krieg „alle Idealgesinnten“ zusammen zu schließen. Genau eine Woche nach Kriegsende kam Günther auf diese Ankündigung zurück: Der Zusammenbruch sei da, die Neuaufbau müsse nun vorgenommen werden. Es sei ihm ein dringendes Bedürfnis, sich dieser Neugestaltung zu widmen. „Ew. Hochwohlgeboren“ möge ihm doch bitte mitteilen, wo er „Anschluß zu der Arbeit in Ihrem Geiste“ finden könne.9 Am 13. Dezember 1918 berichtete Günther nach Jena, er habe sich bei der Luther-Gesellschaft angemeldet und wolle nun sehen, was er im Geiste der Gesellschaft tun könne. Gleichzeitig legte er dem Philosophen einen Plan vor, mit dem er sich schon seit längerer Zeit beschäftigt habe: Wäre es nicht möglich, Euckens Chemnitzer Freunde und Anhänger „zu sammeln und zu gemeinsamer Arbeit aufzurufen“? Damit scheint er bei Rudolf Eucken offene Türen eingerannt zu haben. Schon eine Woche später schickte Günther Eucken ein Inserat aus dem Chemnitzer Tageblatt mit der Bemerkung, er sei dem Wunsch des Philosophen sehr gerne nachgekommen. Allerdings hätten sich auf die Anzeige bisher nur fünf Personen, zwei Geistliche, zwei Kaufleute und „1 Dame“, gemeldet. Er wolle versuchen, „die neuen Freunde gleich nach den Feiertagen mit meinem Plan bekanntzumachen“. Anfang Januar 1919 waren es dann sechs Personen, die Günthers „Ruf zur Sammlung“ gefolgt waren. Man setzte sich zusammen und beschloss, mit der gemeinsamen Lektüre und Diskussion der Werke Rudolf Euckens zu beginnen. Mit weiteren Zeitungs8 ThULB NLRE I, 2, Bl. B 430: Alfred Biese an Rudolf Eucken, 16.12.1918 (Postkarte); ebd. I, 10, Bl. G 522: Otto Günther an Rudolf Eucken, 13.12.1918. 9 Ebd. I, 10, Bl. G 520f: Otto Günther an Rudolf Eucken, 18.11.1918. Vgl. ebd. Bl. G 516f, 519: Günther an Eucken, 12.10.1915 und 4.1.1916.

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anzeigen wolle man versuchen, den Kreis zu erweitern. „Der Luther-Gesellschaft sind wir noch nicht beigetreten; wir wollen erst eine Einheit werden.“10 Im letzten Satz klingt schon eine untergründige Differenz an zwischen den Plänen und Vorstellungen des „Meisters“ und der praktischen Umsetzung der Direktiven aus Jena durch seine Anhänger. Eucken wollte offenbar die eben konstituierte Luther-Gesellschaft zur organisatorischen Basis für seinen neuerlichen Anlauf zur „Sammlung der Geister“ machen. Allerdings bestand der Vorstand der Gesellschaft vornehmlich aus Repräsentanten der evangelischen Landeskirchen und aus ebensolchen Universitätstheologen. Die Aktivitäten der Gesellschaft konzentrierten sich im ersten Jahr ihres Bestehens auf die Veranstaltung von Luther-Abenden, deren künstlerische Leitung in den Händen von Ida Eucken lag. Diese Abende bestanden gewöhnlich aus weihevollen Lesungen von Luther-Texten mit einem musikalischen Rahmenprogramm, in dem meistens Werke von Bach aufgeführt wurden. Ortsgruppen der Luther-Gesellschaft wurden vorerst nur in Wittenberg und Berlin gebildet. Bei seinen Gesinnungsgenossen stieß Eucken mit der Anregung, Lokalorganisationen der Luther-Gesellschaft zu bilden, anscheinend auf wenig Begeisterung. Diedrich Bischoff, der während des Kriegs besonders nachdrücklich auf eine energische Fortsetzung der Geistersammlung gedrängt hatte, reagierte Mitte Oktober 1918 merklich irritiert auf Euckens Ansinnen, ihn zur Gründung einer Luther-Gesellschaft-Ortsgruppe zu bewegen. Nach Ansicht des Leipziger Freimaurers war eine „gesunde Entwicklung unseres Volkslebens nach der hereingebrochenen Katastrophe“ nur zu erhoffen, wenn es gelinge, „die aufbauenden Geister aus allen Lagern in besonderen Gemeinden zu sammeln“. Eine Luther-Gesellschaft sei dazu denkbar ungeeignet, zumal, wenn man auch die Sozialdemokraten einbeziehen wolle.11 Für die weitere Entwicklung der Sammelbewegung waren vor allem Otto Günthers Aktivitäten in Chemnitz wegweisend. Mitte 1919 war seine kleine „Euckengesellschaft“ auf 22 Mitglieder, darunter sieben Lehrer und zwei Pfarrer, angewachsen. Man hatte zusammen die Schrift Zur Sammlung der Geister studiert und Fühler zu anderen, ähnlich gesinnten lokalen Gruppierungen ausgestreckt. Anfang Juli lud Günther Vertreter des Bundes für Gegenwartschristentum, des Dürer- und des Neulandbundes sowie des Chemnitzer Lehrerinnenvereins zu einer gemeinsamen Sitzung ein. Günthers Ausführungen zur „Sammlung der Geister“ wurden auf dem Treffen wohl recht beifällig aufgenommen. Doch als darüber diskutiert wurde, in welcher Form der Zusammen10 Ebd., Bl. G 522f, 525f: Otto Günther an Rudolf Eucken, 13.12. und 20.12.1918, 3.1.1919. 11 ThULB NLRE I, 2, Bl. B 454: Diedrich Bischoff an Rudolf Eucken, 19.10.1918. Vgl. Luther. Mitteilungen der Luther-Gesellschaft 1, 1919, S. 30f, 75ff.

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schluss erfolgen sollte, gingen die Meinungen auseinander. Otto Günther plädierte, getreu den Anweisungen seines Meisters, für einen Anschluss an die Luther-Gesellschaft, doch stand er mit dieser Meinung alleine da. Bereits zwei Wochen zuvor war dieses Thema im kleineren Kreis der Chemnitzer Euckengesellschaft zur Sprache gekommen und selbst hier fand die Konstituierung einer Ortsgruppe der Luther-Gesellschaft kaum Fürsprecher. Lieber wollte man der 1914 gegründeten Fichtegesellschaft beitreten. Die Frage der Namensgebung stellte Günther daher fürs erste zurück. Die vier Gruppen sollten einmal im Monat zu einer gemeinsamen Vortrags- und Diskussionsveranstaltung einladen. Im Übrigen könnten sie ihre eigenen Ziele weiterverfolgen.12 Derweil hatte sich in Jena eine Gruppe nach Chemnitzer Beispiel gebildet, die allerdings als Luther-Gesellschaft firmierte. Diese Jenaer Gesellschaft entwarf, wohl unter tätiger Mitarbeit Rudolf Euckens, eine Denkschrift mit dem Titel „Aufruf zur Sammlung der Geister“, die Anfang Juli 1919 an Mitglieder der Luther-Gesellschaft und andere für geeignet erachtete Personen versandt wurde. Darin wurde u. a. der Plan ventiliert, einen Führerkader von „Luther-Offizieren“ aufzubauen.13 Dieser Rundbrief stieß offenbar auf eine wenig begeisterte Resonanz. Otto Günther regte in einem Brief an Irene Eucken an, die lokalen Kreise „Euckengesellschaften“ zu nennen und der Luther-Gesellschaft als Dachorganisation einen klärenden Zusatz wie „Kampfgemeinschaft für deutsche Innerlichkeit“ hinzuzufügen. Und überhaupt, könne man nicht doch den „Luther“ ganz aus der Gesellschaft streichen?! Der Name des Reformators wirke in der Werbearbeit für die „Sammlung der Geister“ einfach zu abschreckend, da an ihm zu viel „kirchlich-dogmatischer Wust“ klebe. Den beiden Sozialdemokraten in seiner Chemnitzer Euckengesellschaft klinge „Luther-Gesellschaft“ zu deutschnational-konservativ, seinen Pfarrern sei er zu kirchlich. Im Volksbewusstsein gelte Martin Luther nun einmal nicht als „Träger deutschen Geisteslebens“, sondern als „orthodoxer Kirchenmann“. Und Katholiken würden sich einer Luther-Gesellschaft schon gleich gar nicht anschließen. „Ich weiß, was der Meister darauf antworten wird“, fuhr Günther fort, daß er froh ist, einen Namen gefunden zu haben, an dem sich die Geister scheiden in solche, die am Äußeren, an der Überlieferung, am Zeitgepräge haften, u. in solche, die zum

12 ThULB NLRE I, 10, Bl. G 528: Otto Günther an Rudolf Eucken, 21.6.1919. Vgl. ebd., Bl. G 527531: Günther an Eucken, 14.6., 21.6. und 5.7.1919. Zur Fichtegesellschaft vgl. Nordalm, Fichte, S. 223f. 13 Vgl. ThULB NLRE VI, 12, Mappe 10.1, o. Bl.: Mskr.: „2. Luther-Besprechungsabend am 8.7.1919“; ebd. I, 19, Bl. M 185: Georg Meißner an Rudolf Eucken, 6.7.1919; ebd. I, 23, Bl. R 35f: Reclam Verlag an Eucken, 5.8.1919; ebd. VI, 5, o. Bl.: Gustav Meyer-Lingen an Gerhard Budde, 21.7.1919.

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Kern vordringen. Ich aber wage einzuwenden, daß die Freilegung des geistigen Gehaltes viel Mühe verursachen wird, die erspart geblieben wäre, wenn sein Name der großen Gesellschaft vorgeleuchtet hätte. (…) Wir sind seine Geisteskinder, warum sollten wir uns nicht nach ihm nennen!14

Auch in Jena selbst rief die „Sammlung der Geister“ unter dem Dach einer „Luther-Gesellschaft“ bald Unbehagen hervor. Am 19. Juli 1919 schrieb der Chefredakteur der Jenaischen Zeitung, Gustav Meyer-Lingen, vertraulich an Gerhard Budde, man habe die Jenaer Gruppe nach Luther benannt, weil Rudolf Eucken diesen so überzeugend als „Reformator des Lebens“ geschildert habe. Das sei aber nun, wenn man genauer darüber nachdenke, doch ein Luther „gesehen durch Euckens Geist“. Daher sei der Wunsch geäußert worden, „den hiesigen Verein auch im Namen mit Eucken in Verbindung zu bringen“. Beim Herrn Geheimrat sei man aber damit „auf Bedenken mancherlei Art“ gestoßen. Könnte man nicht, schlug Meyer-Lingen dem Pädagogen vor, in Hannover und anderen Städten Eucken-Gesellschaften nach Chemnitzer Muster ins Leben rufen? Diese Einzelkreise könnten einen Dachverband bilden, dem man sich dann sicher auch in Jena anschließen würde.15 Im Hause Eucken setzte sich nun wohl die Erkenntnis durch, dass man sich nicht den Wünschen der Freunde und Anhänger verweigern konnte, sollte die „Sammlung der Geister“ auf größere Resonanz stoßen. Es war anscheinend Irene Eucken, die diesen Geisteswandel einleitete. Meyer-Lingen hatte ihr seinen Brief an Budde vor der Versendung zur Absegnung vorgelegt. Möglicherweise hatte Irene Eucken dieses Vorgehen sogar selbst initiiert. Jedenfalls nahm sie von nun an die „Sammlung der Geister“ in ihre Hand. Seit Juli 1919 waren die Briefe Otto Günthers nach Jena nicht mehr an den Philosophen, sondern an dessen Frau adressiert.16 Irene Eucken gab Günther zu verstehen, dass es ihr und ihrem Mann peinlich wäre, wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehe, die Gründung der Eucken-Gesellschaften sei von dem Jenaer Ordinarius selbst ausgegangen. Sie fragte daher bei dem Chemnitzer Lehrer an, ob er bereit wäre, die Ausführung ihres Plans federführend in die Hand zu nehmen. Günther willigte ein und erhielt einige Tage später aus Jena eine Adressenliste mit potenziellen Ansprechpartnern für die Bildung lokaler Gruppen. Dieser Umweg war bald nicht mehr nötig, denn Rudolf Eucken gab schließlich dem Drängen seiner Anhänger und 14 ThULB NLRE V, 2, Bl. 548f: Otto Günther an Irene Eucken, undatiert [wohl Juli 1919]. Eine ähnliche Stimmungslage ist auch in den Briefen eines Stettiner Anhängers dokumentiert: vgl. ebd. I, 19, Bl. M 187-190, 195f: Georg Meißner an Rudolf Eucken, 25./26. 7. und 25.8.1919. 15 ThULB NLRE VI, 5, o. Bl.: Gustav Meyer-Lingen an Gerhard Budde, 21.7.1919. 16 Vgl. ebd.: Gustav Meyer-Lingen an Irene Eucken, 21.7.1919; ebd. V, 13a, Bl. 5a: Otto Günther an Ida Eucken, 15.8.1919.

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seiner Ehefrau nach und willigte in die Gründung eines Bundes ein, der seinen Namen tragen sollte. Aus Jena erhielt Günther nun die Anweisung, die „vertrautesten Freunde“ zu kontaktieren und sie mit der neuesten Wendung der Dinge bekannt zu machen. Zu diesem engeren Kreis zählten u. a. die Pädagogen Paul Oldendorff und Gerhard Budde, der Kemptener Landgerichtsrat Gustav Ziegler, der Gymnasialdirektor und Literaturhistoriker Alfred Biese, der Stettiner Gymnasialprofessor Paul Meinhold und Euckens „Spezialschüler“ Otto Braun. Die Angeschriebenen wurden gebeten, einen Gründungsaufruf zu unterzeichnen und an ihrem Wohnort eine Sammlung Gleichgesinnter einzuleiten. 17 Nicht bei allen „Freunden“ stieß dieses Ansinnen auf positive Resonanz. Einige reagierten gar nicht und wurden ein zweites Mal angeschrieben. Otto Braun, der noch 1916 die Ehrungen zu Rudolf Euckens 70. Geburtstag organisiert hatte, listete in seinem Antwortbrief an Günter zahlreiche Einwände und Vorbehalte gegen den Gründungsplan auf. Der neue Bund werde wohl kaum die bestehenden Organisationen ähnlicher Art unter seinem Dach vereinen können; er werde daher nur als neuer Verein zu den alten hinzukommen. Ortsgruppen machten nur einen Sinn, wenn geeignete Persönlichkeiten gefunden würden. Sonst werde dabei nur ein „moralisierender Kaffeeklatsch“ herauskommen. Und „Euckenbund“ schien ihm auch nicht der richtige Name zu sein. Der werde doch bloß „Intellektuelle & Literaten“ anlocken, nicht aber „die Geistigen“ sammeln. Kurz, Braun gab deutlich zu verstehen, dass er sich nicht in dem geplanten Bund engagieren wollte.18 Julius Goldstein, der die „Sammlung der Geister“ im Frühjahr 1914 in die Hand genommen hatte, wurde 1919 möglicherweise gar nicht erst eingeladen. Es existiert nämlich eine längere, von Rudolf Eucken eigenhändig aufgestellte Liste seiner „Gesinnungsgenossen“ mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen seiner Frau. Auf der Liste findet sich auch der Name Julius Goldstein; er ist aber nachträglich durchgestrichen worden. Gründe für die Entfernung des Darmstädter Philosophen aus der Reihe der Gesinnungsgenossen seines Doktorvaters sind nicht belegt. Allerdings scheint es, als habe die Professorengattin gegen den „unvermeidlichen Goldstein“ schon in dessen Jenaer Zeit eine ausgeprägte persönliche Abneigung gehegt, die bisweilen eine antisemitische Färbung annahm.19 17 Ebd. V, 13a, Bl. 5a: Otto Günther an Ida Eucken, 15.8.1919; vgl. V, 2, Bl. 515f, 526f: Günther an Irene Eucken, 23.7. und 30.8.1919; ebd. VI, 12, Mappe 10.3, o. Bl.: Rundbrief Günther, September 1919. 18 Zitiert nach: Ebd. V, 2, Bl. 528: Otto Günther an Irene Eucken, 1.9.1919. Vgl. ebd., Bl. 526526a, 531: Günther an Irene Eucken, 30.8. und 9.9.1919. 19 Ebd. VI, 12, Mappe 10.1: Liste „Gesinnungsgenossen“, undatiert [1919]. Vgl. den Brief Irene Euckens vom 20.4.1898, in dem sie ihrer Mutter über das auffällige Interesse Goldsteins für

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Die Liste der Gesinnungsgenossen des Philosophen umfasst, einschließlich der durchgestrichenen Namen, insgesamt 99 Personen. Es taucht hier eine ganze Reihe von Leuten auf, die uns bereits in den vorigen Kapiteln begegnet sind, darunter die Pädagogen Budde, Oldendorff, Kesseler und Kästner. Mindestens zwölf weitere Personen sind als Lehrer ausgewiesen oder identifiziert, unter ihnen Biese, Günther und Alfred Leicht. Die von Euckens Religionsphilosophie beeinflussten protestantischen Theologen Kade, Kalweit und Pöhlmann finden sich ebenfalls auf der Liste, zudem mindestens 20 weitere evangelische Pfarrer und Universitätstheologen. Auch den jüdischen Theologen Ignaz Ziegler und den Kölner Rabbiner Wolf zählte Rudolf Eucken 1919 zu seinen Gesinnungsgenossen. Gleiches gilt für den Leipziger Freimaurer Diedrich Bischoff und die Berliner Wirtschaftswissenschaftlerin Charlotte Engel-Reimers. Von den Personen, die im Frühjahr 1914 im Umfeld des Darmstädter Treffens zur „Sammlung der Geister“ namentlich identifiziert werden konnten, tauchten fünf Jahre später außer dem durchgestrichenen Julius Goldstein nur noch Eduard Heyck und Gustav Ziegler auf. Trotz zahlreicher Professorentitel finden sich unter den Gesinnungsgenossen des Jenaer Philosophen kaum namhafte Intellektuelle, am ehesten noch der Basler Philosophie-Ordinarius Karl Joel und die Leipziger Frauenrechtlerin Henriette Goldschmidt. Bemerkenswert sind zudem die Namen Wilhelm von Oechelhäuser und Felix Kuh, der erstere ein ehemaliger Vorsitzender des Vereins Deutscher Ingenieure, der letztere amtierender Chefredakteur der Deutschen Arbeitgeber-Zeitung. Auf der anderen Seite setzte Eucken auch die Namen von Lesern auf die Liste, auf deren „Fanpost“ er ausführlich geantwortet hatte. In einigen Fällen hatten sich daraus längere Korrespondenzen entwickelt. Dazu gehörte ein Stettiner Bäckermeister, eine ehemalige katholische Ordensschwester aus Klagenfurt oder die Schweizer Ehefrau eines preußischen Berufsoffiziers aus Verden an der Aller.20 Am 14. Oktober 1919 hielt die Jenaer Euckenbund seine erste Sitzung unter dem neuen Namen ab. Einige Tage zuvor war ein Rundschreiben an den engeren Kreis der „Euckenfreunde“ versandt worden, das um Rückäußerung zu dem Vorschlag bat, den Hauptsitz des Bundes in die thüringische Universitätsstadt zu legen. Es sollte hier „unter Vorsitz von Rudolf Eucken“ eine zentrale Geeine englische Studentin berichtet und kommentiert: „Ich denke mir nur, das Fräulein wird einen rechten Schreck bekommen, wenn der Itzig ansteigt.“ (Ebd., V, 16, Bl. 322). Dass die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte, deutet ein Tagebuch-Eintrag Goldsteins an, wo er Irene Eucken als „widerlich hochmütig“ und „entsetzlich gemütsleer“ charakterisiert. (LBI, Goldstein Collection I/26: Tagebuch 19.3.1903). 20 Vgl. ThULB NLRE I, 5, Bl. C 216-229: Emil Colas an Rudolf Eucken, Mai 1917 bis Mai 1918; ebd. I, 1, Bl. B 1-31: Raphaela Baar an Eucken, 2.12.1909 bis 29.12.1917; D 28-53: H. Danneil an Eucken, 29.3.1917 bis 3.1.1918.

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schäftsstelle eingerichtet werden, um die Arbeit der lokalen Euckenbünde zu koordinieren. Chefredakteur Meyer-Lingen würde einstweilen als „Beisitzer“, Friedrich Dannenberg, ein Schüler Euckens, als Sekretär fungieren. Allerdings war es keineswegs klar, welche Position Rudolf Eucken tatsächlich in der neuen Organisation einnehmen würde. Irene Eucken hatte Anfang Oktober Otto Günther mitgeteilt, ihr Mann wolle neben seinem Amt als Vorsitzender der LutherGesellschaft nicht auch noch den Vorsitz des nach ihm selbst benannten Bundes übernehmen. Günther gab sich in seiner Antwort enttäuscht über diese Entscheidung, drängte aber dennoch darauf, der Philosoph möchte „an die Spitze treten“, dem Bund fehle sonst „die Krönung“.21 Rudolf Eucken willigte schließlich ein, als „Ehrenvorsitzender“ des Euckenbundes zu firmieren. Auch nachdem er im Herbst 1920 als Vorsitzender der Luther-Gesellschaft zurückgetreten war, blieb es bei diesem Arrangement. Allerdings übte der Philosoph auch ohne ein offizielles Führungsamt maßgeblichen Einfluss auf den Euckenbund aus. Die programmatischen Verlautbarungen des Bundes formulierte er überwiegend selbst. Zudem besaß er einen sehr unmittelbaren Zugriff auf die Arbeit der Jenaer Geschäftsstelle. Deren Büro befand sich nämlich direkt neben seinem Arbeitszimmer in der Euckenvilla. Den gleichen unkomplizierten Zugang hatte allerdings auch eine Person, die wesentlich aktiver an der Gründung des Euckenbundes beteiligt war als sein Namensgeber. Es war augenscheinlich Irene Eucken, die vorgeschlagen hatte, man könne doch die Geschäftsführung des Bundes praktischerweise in ihrem Wohnhaus unterbringen. Damit ließe sich „viel Zeit, Kraft und Geld ersparen“. Einige Jahre später fasste die Geschäftsstelle in einem Schreiben an die Ortsgruppe Nürnberg den Status des Philosophen in dem nach ihm benannten Bund in der Formel zusammen, „daß Rudolf Eucken wohl unser geistiger Führer ist, daß er sich aber um die Organisation des Bundes in keiner Weise kümmert.“22 In den ersten Januartagen 1920 trat schließlich der Euckenbund mit dem Gründungsaufruf an die Öffentlichkeit. 28 Personen hatten ihren Namen unter den Aufruf gesetzt. Darunter waren die „üblichen Verdächtigen“, die bereits seit der Vorkriegszeit als Anhänger von Euckens Lehre aufgetreten waren: Paul Oldendorff, Kurt Kesseler, Gerhard Budde, Gustav Ziegler, Eduard Heyck, Hans Pöhlmann, Otto Günther, ebenso der Bremer Oberlehrer und Eucken-Schüler 21 Ebd. VI, 12, Mappe 10.3, o. Bl.: Rundschreiben, 10.10.1919; ebd. V, 2, Bl. 536: Otto Günther an Irene Eucken, 4.10.1919. Vgl. ebd. VI, 12, o. Bl.: Mappe 10.1: Protokoll „Erste Tagung des Euckenbundes am 14. Oktober 1919“; ebd. VI, 13, Mappe 1, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung Nr. 3, 3.1.1920. 22 Ebd. V, 2, Bl. 536: Otto Günther an Irene Eucken, 4.10.1919; ebd. VI, 31, o. Bl.: Ortsgruppe Nürnberg: Sekretariat Jena an Dr. Hunger, undatiert [November 1925]. Vgl. ebd. VI, 13, Mappe 1, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung Nr. 3, 3.1.1920.

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Bruno Jordan, Alfred Biese, Felix Kuh und Gustav Meyer-Lingen. Der Breslauer Pastor Herbert Baum war aus seiner Zeit als Pfarrer in Jena ebenfalls ein alter Bekannter. Friedrich Dannenberg und Georg Frebold hatten in jüngerer Zeit bei Rudolf Eucken promoviert und wollten sich nun habilitieren. Dagegen hatte keiner seiner ehemaligen Assistenten und Privatdozenten den Aufruf unterschrieben. Aus der eigenen Standesgruppe der Universitätsprofessoren finden sich nur die Namen des Greifswalder Philosophen Hermann Schwarz und des Geographen Siegmund Günther (TH München), die aber im Folgenden nicht mehr hervortraten.23 Gleichzeitig veröffentlichte der Leipziger Reclam-Verlag ein 24-seitiges Bändchen, in dem Rudolf Eucken unter dem Titel Unsere Forderung an das Leben das Programm des Bundes darlegte. In zwölf Thesen formulierte er hier die „Hauptrichtung des gemeinsamen Strebens“. In der Hauptsache geben diese Leitsätze die allgemeinen philosophisch-weltanschaulichen Prämissen der eigenen Lehre wieder: dass man vom „Leben“ ausgehe und sich gegen eine reine „Verstandeskultur“ richte; dass ein „Naturleben“ von einem „Geistesleben“ zu trennen sei dass man den Menschen als „geistiges Wesen“ ansehe; dass man an das Wirken einer ewigen Wahrheit glaube; dass der Gegenwart die Einheit einer Lebensordnung fehle; u. a. m. In dem Bändchen wurde auch noch einmal begründet, warum man den Boden der Luther-Gesellschaft verlassen und eine neue, sich auf Eucken beziehende Assoziation ins Leben gerufen hatte. Dies geschehe aus der Überzeugung, „daß eine Persönlichkeit vergangener Zeiten bei aller Größe zur Führerschaft nicht berufen und ein überkommenes Weltbild nicht völlig angeeignet werden kann.“24 Am 6. Oktober 1920 traf sich der Euckenbund zu seiner ersten Jahrestagung in Jena. „Was will der Euckenbund?“, fragte Rudolf Eucken in einer Leitrede und gab darauf eine ebenso grandiose wie unkonkrete Antwort. Inhaltlich entwickelte er im Grunde nur die Umrisse seines wohl allen Anwesenden bekannten philosophischen Weltbildes. Doch er tat dies im Gestus eines exaltierten Erweckungspredigers, der seiner Gemeinde die Vision des Himmelreichs vor Augen treten lässt. Er habe, so Eucken, die Grundüberzeugung, „daß wir nicht nur dieser sinnlichen Welt angehören, sondern daß es noch eine tiefere Welt gibt“, „eine Einheit in der Welt, etwas Ganzes, Tragendes, Schaffendes“. Gehöre der Mensch einer Tatwelt an, so könne er teilnehmen an dieser Einheit, könne ein Weltwesen sein. „Wir wollen Geisteswesen werden durch die Kraft der Einheit“. „Wir wollen ganze Menschen werden, Weltwesen“. Es entstehe so der 23 Vgl. R. Eucken, Unsere Forderung, S. 15ff. 24 Ebd., S. 4–14, 17. Vgl. ThULB NLRE VI, 13, Mappe 1, o. Bl.: Ausschnitte Jenaische Zeitung 3.1.1920, Vossische Zeitung 8.1.1920.

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„Gedanke eines Reiches Gottes, eines geistigen Reiches, des Geistes der Wahrheit und der Liebe. Dieses Reich steht über allen anderen Ordnungen und Verbindungen.“ Es gehe darum, „einen gesteigerten Begriff des Geistes suchen, der Kraft und Inhalt verbindet und dadurch ein neues Menschentum erstrebt“. Was wollte also der Euckenbund? Wenn es nach seinem Namensgeber ging, nichts weniger als das: „Wir wollen eine weltgeschichtliche Bewegung hervorbringen.“25

Der Euckenbund im Profil Zu den Zeitpunkt, an dem Rudolf Eucken seinen Anhängern die Aura einer weltgeschichtlichen Bewegung in Aussicht stellte, befand sich der Euckenbund noch immer in statu nascendi. Zu den beiden „Eucken-Gesellschaften“ in Chemnitz und Jena waren, soweit sich übersehen lässt, an vier weiteren Orten lokale Bünde gegründet worden. Den Anfang machte Ende 1919 ein kleiner Kreis „von 10 bestgewillten Menschen“ um Paul Oldendorff in Köpenick bei Berlin, offenbar meist dessen Lehrerkollegen und ehemalige Schüler. Man traf sich vorerst im Wechsel in den Privatwohnungen der Mitglieder zu Lektüre und Diskussion von Eucken-Werken mit religiösem Bezug. Im Januar 1920 formierte sich in Nürnberg eine Ortsgruppe des Euckenbundes mit zunächst 21 Mitgliedern, darunter vielen Frauen. Alle drei Wochen besprach man im Sitzungszimmer des Ärztlichen Vereins Schriften des Jenaer Philosophen, „um auf Grund genauer Kenntnisse später ins Weite und in die Öffentlichkeit zu wirken“. In Berlin waren es im Mai 1920 26 Eucken-Anhänger, die sich zu einer Ortsgruppe zusammenfanden. Den Vorsitz übernahm der Oberrealschul-Professor Curt Hacker. Zumindest auf dem Papier am eindrucksvollsten gestaltete sich die Gründung des Euckenbundes in Hannover unter dem Vorsitz Gerhard Buddes im Februar 1920, der nach einigen Monaten 143 eingeschriebene Mitglieder vorweisen konnte.26 Auf der Tagung vom Oktober 1920 wurden die bisher vorgenommenen personellen Weichenstellungen in der Führung des Bundes durch die Wahl eines geschäftsführenden Vorstandes bestätigt. Diese Funktionen übernahm, wie bisher, die Führung der Jenaer Ortsgruppe. Der Chefredakteur und Miteigentümer 25 Zitiert nach: Der Euckenbund 1, 1920, S. 2f. 26 ThULB NLRE V, 4, Bl. 1146: Else Oldendorff an Irene Eucken, 10.12.1919; ebd. VI, 12, Mappe 10.3, o. Bl.: „Bericht über die bisherige Tätigkeit der einzelnen Ortsgruppen des Euckenbundes“. Vgl, ebd. VI, 4, o. Bl.: Martha Kirchner an Sekretariat Euckenbund, 17.5.1920; ebd. VI, 28, o. Bl.: Aufruf Euckenbund Hannover, Februar 1920; ebd., o. Bl.: Mitgliederliste Ortsgruppe Hannover 1920; ebd. I, 4, Bl. B 867: Gerhard Budde an Rudolf Eucken, 17.3.1920.

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der Jenaischen Zeitung, Gustav Meyer-Lingen, amtierte als Vorsitzender, Friedrich Dannenberg als besoldeter Sekretär, Irene Eucken als 2. Vorsitzende des Euckenbundes. Für die Vergütung des Sekretärs wurde ein Mitgliedsbeitrag von 5 Mark erhoben. Dem Sekretariat war insbesondere die Aufgabe übertragen, die Korrespondenz mit den Ortsgruppen zu führen und Anfragen zu beantworten. Es gab zudem seit November 1920 eine monatlich erscheinende Mitgliederzeitschrift, Der Euckenbund, heraus. Die Zeitschrift enthielt einerseits längere Aufsätze, die meist von Mitgliedern des Bundes, häufig auch von Rudolf Eucken selbst verfasst waren. Anderseits wurden hier die Tätigkeitsberichte der Ortsgruppen, Berichte und Protokolle von den Jahresversammlungen und andere organisatorische Angelegenheiten den Mitgliedern bekannt gemacht. Gedruckt wurde Der Euckenbund in der Zeitungs- und Universitätsdruckerei, deren Miteigentümer der Vorsitzende Meyer-Lingen war.27 Die geschäftliche Verbindung zwischen dem Bund und der Druckerei seines Vorsitzenden erwies sich in den folgenden Jahren als durchaus problematisch und gab im Herbst 1923 den Anlass für einen Führungswechsel. Vorausgegangen war ein Konflikt zwischen Meyer-Lingen und der Euckenbund-Geschäftsstelle um die Höhe der Druckkosten für die Publikationen des Bundes. Es war dies eine zur Zeit der Hyperinflation ganz typische Auseinandersetzung zwischen Kreditor und Debitor. Die Geschäftsstelle bezichtigte die Druckerei der „Überteuerung“ und gab ihre Aufträge schließlich an die Konkurrenz. MeyerLingen legte daraufhin empört sein Amt als Vorsitzender des Euckenbundes nieder. Zu seinem Nachfolger an der Spitze des Euckenbundes wurde auf der Jahresversammlung im Oktober 1923 der Vorsitzende der Berliner Ortsgruppe, Curt Hacker, gewählt. Den Vorsitz der Ortsgruppe Jena übernahm nun der Gymnasiallehrer Benno von Hagen, ein Altphilologe und Eucken-Schüler.28 Zumindest in der Theorie übte die Jenaer Geschäftsstelle lediglich Koordinationsfunktionen aus, während die Bewegung selbst aus einem Netzwerk lokaler „Euckenbünde“ bestehen sollte. Neu eintretende Mitglieder sollten sich bei der Ortsgruppe ihrer Stadt anmelden. Auch die Mitgliedsbeiträge wurden von den einzelnen Lokalorganisationen erhoben. Nur wenn in der Nähe des Wohnortes eines neuen Mitglieds kein Euckenbund bestand, gingen die Eintrittserklärungen und Beitragszahlungen direkt an das Sekretariat in Jena. Die 1919/20 erstellten „Richtlinien für den Ausbau“ machten deutlich, wie sich die Initiatoren 27 Vgl. R. Eucken, Unsere Forderung, S. 23f; Der Euckenbund 1, 1920, S. 3. 28 Vgl. ThULB VI, 5, o. Bl.: Gustav Meyer-Lingen an Sekretariat Jena, 21.7.1923; Meyer-Lingen an Irene Eucken, 23.7.1923; Der Euckenbund 4, 1923, S. 42; ThHSA Weimar: Amtsgericht Jena Nr. 89, Bl. 15, 19: Sekretariat Jena an Amtsgericht Jena, 4.11.1923; Protokoll Ortsgruppe Jena, 8.4.1924.

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des Euckenbundes die Organisation vor Ort vorstellten. Ein Vertrauensmann aus dem Freundes- und Anhängerkreis des Philosophen sollte gleichgesinnte Männer und Frauen um sich sammeln und so den Euckenbund des Ortes bilden. Die regelmäßigen Zusammenkünfte der Gruppe könnten mit einem kurzen Vortrag eingeleitet werden. Anschließend sollte diskutiert und das Ganze protokolliert werden. Themen könnten sowohl „grundsätzliche Erwägungen“ als auch „lebendige Fragen der Gegenwart“ sein. Es komme darauf an, dass sich die Fragen gegenseitig berührten und dass die Mitglieder Lebenserfahrungen austauschten. Es seien die grundlegenden Werke Rudolf Eucken durchzunehmen, aber auch neue Bücher, die einen Bezug zu den Bestrebungen des Bundes hatten. Das einzelne Mitglied sollte seine solchermaßen „auf gemeinsamen Boden erworbenen Überzeugungen“ in Wort und Schrift, in seinem Berufsumfeld und privat verbreiten.29 In der Praxis gestaltete sich die Organisation der Eucken-Bewegung wesentlich buntscheckiger, als es diese Blaupause vorsah. Wenn man in Jena gehofft hatte, die Mobilisierung der Freunde, Anhänger und Gesinnungsgenossen des Philosophen würde sogleich ein flächendeckendes Netz von Euckenbünden entstehen lassen, so musste man sich bald eines Besseren belehren lassen. Ob in einer Stadt eine Ortsgruppe des Bundes entstand, hing doch sehr vom persönlichen Engagement einzelner Aktivisten, deren örtlichen Verbindungen und anderen Zufälligkeiten ab. So machte der rührige Einsatz von Otto Günther ausgerechnet die Industriestadt Chemnitz zum zentralen Stützpunkt der Bewegung in Sachsen – während der Euckenbund im bildungsbürgerlich geprägten Dresden unter der Führung einer alten Dame ein mühseliges Dasein fristete. In der Universitäts- und Buchhandelsstadt Leipzig kam überhaupt keine Ortsgruppe zustande. Der umtriebige Gustav Ziegler gründete frühzeitig eine Ortsgruppe an seinem Wohnort Kempten. Von dort aus verbreitete er den Euckenbund in den frühen 1920er Jahren im ländlich-katholischen Allgäu und initiierte schließlich die Bildung einer weiteren Ortsgruppe in Lindau.30 Besonders erfolgreich bei der Gründung von Euckenbünden betätigten sich Lehrer, die oft im Kollegenkreis einen Stamm gleichgesinnter Mitstreiter rekrutierten. Neben Günther in Chemnitz, Hacker in Berlin, Oldendorff in Köpenick und Budde in Hannover waren Volks-, Mittel- oder Oberschullehrer führend an der Formierung der Eucken-Bewegung in Breslau, Fulda und Hildesheim beteiligt. In Mühlhausen/Thüringen gründeten 1922 sechs Lehrerinnen die Ortsgrup29 R. Eucken, Unsere Forderung, S. 21ff. 30 Vgl. ThULB NLRE VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Dresden: Emma Wurm an Sekretariat Jena, 2.11.1925; ebd. VI, 29, o. Bl.: Ortsgruppe Kempten: Gustav Ziegler an Sekretariat Jena, 25.2. und 26.7.1922; ebd., o. Bl.: Bericht der Ortsgruppe Kempten, September 1922.

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pe. Das Engagement einzelner Anhänger des Philosophen unter den Pädagogen erklärt auch, warum sich Euckenbünde in der Kleinstadt Biedenkopf bei Marburg oder in Westerholt, einer Dorfgemeinde in Ostfriesland, bildeten. Auch evangelische Geistliche zählten zu den Initiatoren und Vorsitzenden von Ortsgruppen des Euckenbundes. Ein Pfarrer Ostertag gehörte zu den Aktivisten der Münchener Ortsgruppe. Die Euckenbünde in Magdeburg und Breslau wurden von Pastoren geleitet.31 Während auf der einen Seite zahlreiche lokale Aktivisten zuvor offenbar nicht in persönlichem Kontakt zu Rudolf Eucken gestanden hatten, machten auf der anderen Seite manche der „vertrautesten Freunde“ wenig Anstalten, sich aktiv für den Euckenbund zu engagieren. Alfred Biese, der Frankfurter Schuldirektor und Literaturhistoriker, war seit Jahrzehnten mit dem Jenaer Philosophen befreundet und hatte an prominenter Stelle den Gründungsaufruf des Euckenbundes unterzeichnet. 1923 stellte man in der Geschäftsstelle fest, dass Biese noch nicht einmal Mitglied des Bundes geworden war. Auf Rückfrage antwortete Biese, er fühle sich Rudolf Eucken so eng verbunden, „daß es des äußeren Bandes des ‚Bundes‘ kaum noch bedürfte“. Er habe bei der Werbung für den Euckenbund auch nur bei einem einzigen Mann Widerhall gefunden. Als Biese zwei Jahre später von einem Frankfurter Kollegen wegen der Gründung einer Ortsgruppe angesprochen wurde, winkte er gleich ab. Diese „Stadt des Materialismus“ eigne sich nicht für eine „Zweigniederlassung der Euckenschen Philosophie“, stehe sie doch „zu ¾ unter dem Einfluss der Frankfurter Zeitung und einer demokratisch-sozialistischen Verwaltung“.32 Ebenso wenig wie in Frankfurt am Main kam ein Euckenbund in Hamburg zustande. Ein Versuch der Jenaer Geschäftsstelle zur Jahreswende 1923/24, die Gründung einer Ortsgruppe zu forcieren, verlief augenscheinlich im Sande. Der Bund besaß zwar in der Freien und Hansestadt eine ganze Reihe von Einzelmitgliedern. Es fand sich aber niemand unter ihnen, der bereit gewesen wäre, die Sache in die Hand zu nehmen.33 Auch in den urbanen Zentren des Rhein-Ruhr-Raums fasste der Euckenbund nur schwer Fuß. Aus Bochum meldete sich zwar bereits Mitte 1920 eine „langjährige Verehrerin“, Wally Cramer, bei dem Jenaer Philosophen und 31 Vgl. die Aufstellung in: Der Euckenbund 4, 1923, S. 20; ebd. 2, 1921, S. 21; ebd. 4, 1923, S. 41; ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Karl Heinrich an Sekretariat Jena, 12.4.1923; ebd. I, 13, Bl. J 163: Ida Joedicke an Rudolf Eucken, 26.8.1922; ebd. VI, 1, o. Bl.: Korrespondenz Hauptlehrer Eilts – Sekretariat Jena 4.10., 21.10. und 2.11.1922, 2.2. und 13.11.1924. 32 ThULB NLRE VI, 1, o. Bl.: Korrespondenz Sekretariat Jena – Alfred Biese 23.6. und 27.6.1923; ebd. I, 28, Bl. Z 60: Philipp Zimmermann an Rudolf Eucken, 21.12.1925. 33 Vgl. ThULB NLRE VI, 1, o. Bl.: Korrespondenz Ruth v. Dassel – Sekretariat Jena, 31.1. und 8.2.1924.

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machte Vorschläge zur Organisation der Eucken-Bewegung im Ruhrgebiet. Sie selbst sei allerdings so stark in der Jugendarbeit der Deutschen Volkspartei engagiert, dass sie sich kaum aktiv für den Euckenbund betätigen könne. Anfang 1921 meldete Cramer nach Jena, es sei ihr nun gelungen, 22 Mitglieder für den Euckenbund zu werben. Die Gründung einer Ortsgruppe sei aber bisher gescheitert, da sich kein geeigneter Vorsitzender gefunden habe. Seit Herbst 1921 führte der Euckenbund zwar eine Bochumer Ortsgruppe auf, doch eine „würdige Persönlichkeit“ zur Leitung der Gruppe hatte sich auch noch 1923 nicht gefunden.34 In Duisburg, wo seit 1922 eine Gruppe bestand, besaß der Euckenbund ein prominentes Mitglied, den Reichstagsabgeordneten und Syndikus der Niederrheinischen Handelskammer, Otto Most. Most war zwar bereit, seine weitläufigen Kontakte zugunsten der Eucken-Bewegung einzusetzen. Seine beruflichen und politischen Verpflichtungen ließen ihm aber kaum Zeit, in der Ortsgruppe tätig zu werden. Mitte der 1920er Jahre konstatierte der Vorsitzende des Bundes, beide Ruhrgebiet-Ortsgruppen – Bochum und Duisburg – würden „absolut keine Tätigkeit entfalten“. Auch in Düsseldorf bestand der Euckenbund nur auf dem Papier.35 Von besonderer Bedeutung war es für die Euckenbewegung, in der Reichshauptstadt Berlin organisatorisch präsent zu sein. Der Berliner Euckenbund gehörte nun zwar zu den frühesten Gründungen, er entwickelte sich jedoch nicht so, wie man sich dies in Jena erhofft hatte. Dies lag wohl nicht zuletzt an dem Muster, nach dem sich die lokalen Bünde rekrutierten. Es war gewöhnlich ein einzelner „Vertrauensmann“ oder einige wenige Eucken-Anhänger, die zunächst im eigenen Kollegen- und Bekanntenkreis Gesinnungsgenossen sammelten. Diese Methode mochte in überschaubaren Städten hinreichen, um der Euckenbundfiliale mit der Zeit zu einer stadtweiten Bekanntschaft zu verhelfen. In der Vier-Millionen-Metropole Berlin entwickelte sich der Bund unter dem Vorsitz des Lichterfelder Oberlehrers Curt Hacker aber zu einer Stadtteilgruppe. Im Frühjahr 1923 teilte Hacker dem Sekretariat in Jena mit, er habe sich entschlossen, „die Bundestätigkeit nach Lichterfelde zu verlagern, wo ich einen erschwinglichen Raum für die Sitzungen zur Verfügung habe und … eines treuen und sich mehrenden Kreises gewiß bin.“ „Wir im Westen“, so Hacker weiter, seien bisher zu den Ortsgruppensitzungen in die Stadtmitte gefahren, was doch unnütz viel Zeit und Geld gekostet habe. Zudem würden die anderen Berliner 34 ThULB NLRE I, 5, Bl. C 352: Wally Cramer an Rudolf Eucken, 24.6.1920; ebd. VI, 1, o. Bl.: Cramer an Sekretariat Jena, 6.2.1921, 14.3. und 25.7.1923. Vgl. Der Euckenbund 2, 1921, S. 43. 35 ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Bochum: Curt Hacker an Friedrich Beck, undatiert [wohl Mai 1926]. Vgl. ebd. VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Duisburg: Korrespondenz Otto Most – Sekretariat Jena, 10.12. und 29.12.1924, 5.1.1925; ebd. VI, 2, o. Bl.: Ortsgruppe Düsseldorf: Hans Freymark an Sekretariat Jena, 16.2.1923.

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Mitglieder diesen Treffen größtenteils fernbleiben. Der Berliner Vorsitzende schlug daher vor, die entfernter wohnenden Euckenianer sollten in ihren Quartieren eigene Gruppen bilden. Die Entscheidung, das Vereinslokal des Euckenbundes in den „abgelegene[n] Winkel …, wo gerade Herr Hacker wohnt“ zu verlegen, wurde allerdings nicht von allen Berliner Mitgliedern goutiert.36 Zur Gründung weiterer Stadtteilgruppen, wie es Hacker vorgeschlagen hatte, kam es in den folgenden Jahren nicht. Die Jenaer Führung des Bundes hatte sowieso andere Prioritäten. „Wir müssen ein festes Zentrum in Berlin einrichten, sonst fällt dort alles auseinander“, schrieb Rudolf Eucken Anfang 1923 an Ernst Liljedahl nach Schweden. Der Philosoph versuchte, bei ausländischen Anhängern Geld aufzutreiben, um in Berlin und einigen anderen Großstädten Büros des Bundes einzurichten. Gelinge diese Konzentration werde „das Ganze in eine neue Entwicklungsstufe eintreten“. Dieser Plan dürfte aber nur unter den Bedingungen der Hyperinflation realisierbar gewesen sein, als der niedrige Devisenkurs der Mark und ihre deutlich höhere Binnenkaufkraft auch kleinere Beträge in Fremdwährung sehr wertvoll machten. Nach der Währungsstabilisierung wollte Walter Eucken, seit 1922 Privatdozent an der Berliner Universität, die Gründung einer zentralen Hauptstadtgruppe in die Hand nehmen. Da er aber im Frühjahr 1925 einen Ruf nach Tübingen erhielt, blieb es beim Vorhaben.37 Sowohl in seiner Außendarstellung als auch im Selbstverständnis vieler Aktivisten pflegte der Euckenbund den Anspruch einer Gemeinschaft, die ihre Angehörigen in persönlichem Kontakt miteinander verband und auf gemeinsame Ziele verpflichtete. „Und ein Bund sollte es sein“, so definierte 1920 die erste Ausgabe der Zeitschrift des Euckenbundes den Charakter der neuen Organisation, nicht eine Gesellschaft, nicht eine Vereinigung zu gelehrter Forschung, sondern ein Bund, eine Gemeinschaft Gleichstrebender, die bereit sind, der herkömmlichen Bewertung der Lebensgüter sich entgegen zu stellen und der geistigen Reformation, die wir erwarten, vorzuarbeiten, jeder nach seinen Kräften und mit Einsetzung seiner ganzen Persönlichkeit.38

Solches rhetorische Einschwören auf eine „Gemeinschaft Gleichstrebender“ ließen sich die Euckenianer wohl gerne gefallen. Schwieriger war es, die Mitglie36 Ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin: Curt Hacker an Sekretariat Jena, 8.4.1923; ebd. VI, 2, o. Bl.: Paul Jos. Grund an Sekretariat Jena, 11.1.1923. 37 Zitat: ThULB NLRE I, 29, Bl. 134: Rudolf Eucken an Ernst Liljedahl, 13.1.1923. Vgl. ebd. Bl. 136: Eucken an Liljedahl, 6.2.1923; ebd. IV, 7, o. Bl.: Sekretariat Jena an M. Walcher, Spandau, 25.10.1925. 38 Der Euckenbund 1, 1920, S. 2.

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der persönlich auf den Bund und seine Ziele zu verpflichten. Die dritte Hauptversammlung des Euckenbundes beschloss im Oktober 1922, dass die Mitgliedschaft nicht länger durch eine einfache und formlose Anmeldung erworben werden konnte. Stattdessen sollten neue Mitglieder künftig ein feierliches Gelübde ablegen. Rudolf Eucken selbst hatte zu diesem Zweck zehn „ethische Richtlinien“ aufgestellt, die in gedruckter Form an Ortsgruppen und Einzelmitglieder verschickt wurden. Die zehn Merksätze lesen sich meistenteils wie ein sehr allgemein gefasster Tugendkatalog: Gefordert wurden „sittliche Reinheit“, „Tapferkeit“, „Wahrhaftigkeit“, „Gerechtigkeit“, „Selbstwürde“, „Menschenliebe“, „Treue der Gesinnung“. Zudem beinhalteten die „ethischen Richtlinien“ ein auf den kleinstmöglichen Nenner herunter gebrochenes religiöses Glaubensbekenntnis: „Ehrfurcht vor geistigen Mächten“ und „Glauben an das Wirken eines göttlichen Weltwillens“. Schließlich formulierte der 10-Punkte-Kanon ein recht vage gehaltenes politisches Credo, das „Vaterlandsliebe und Staatsgesinnung“ einforderte und „einen weichlichen Pazifismus.“ verwarf.39 Die meisten „Forderungen“, die in den „ethischen Richtlinien“ gestellt wurden, klingen so allgemein formuliert, dass sie ohne weiteres von allen Mitgliedern akzeptiert werden konnten. Wer konnte schon etwas gegen Tapferkeit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit haben? An einer der politischen Forderungen und an der Bestimmung, dass sich die Mitglieder feierlich auf die ihnen vorgelegten Richtlinien zu verpflichten hatten, schieden sich allerdings dann doch die Geister. Die Ortsgruppe Reichenbach im Vogtland löste sich sogar postwendend selbst auf. Dass plötzlich von den Mitgliedern ein „Gelübde“ gefordert werde, so erklärte der Reichenbacher Vorsitzende diesen Schritt, gehe „vielen gegen das Gefühl“. Man habe sich seinerzeit auf dem Boden eines Idealismus zusammengefunden, der den Mitgliedern „keinerlei dogmatische Bindung auferlegen“ sollte.40 Als Anfang 1925 das Aufnahmeprocedere noch einmal etwas detaillierter festgelegt wurde, meldete die Chemnitzer Ortsgruppe Vorbehalte an. Von einer Unterschrift im Gruppenbuch, so berichtete Otto Günther nach Jena, „namentlich aber einem Handschlag, wollen mehrere Mitglieder nichts wissen“. Der Chemnitzer Vorsitzende vermutete, dass den sozialdemokratischen und linksliberalen Mitgliedern seiner Gruppe die Pazifismus-Klausel in den ethischen Richtlinien Bauchschmerzen bereitete. Es war in Chemnitz zu Diskussionen gekommen, wie diese Klausel zu deuten sei. Wurde hier nur ein 39 Der Euckenbund Heft 1, Januar 1925, S. 5; sowie die Vordrucke in: ThULB NLRE VI, 12, Mappe 9. 40 ThULB NLRE VI, 31, o. Bl.: Ortsgruppe Reichenbach: Erich Kummer an Sekretariat Jena 27.12.1922; ebd.: Gesamtvorstand der Ortsgruppe Reichenbach an Sekretariat Jena, 28.12.1922. Vgl. ebd. VI, 13, Mappe 1, o. Bl.: Zeitungsausschnitt Mitteldeutsche Zeitung Nr. 278, 1922.

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„weichlicher“, nicht aber ein „herzhafter“ Pazifismus verworfen? Oder wandte sich diese Richtlinie gegen den Pazifismus an sich? Zehn Tage nach seiner Anfrage erhielt Günther eine Postkarte von seinem Meister persönlich. Rudolf Eucken erklärte hier, die Klausel wende sich gegen eine Art von Pazifismus, die den Deutschen die Schuld am Weltkrieg gebe. Dagegen liege „eine echte Versöhnung der Völker“ durchaus im Sinne des Euckenbundes. Diese Interpretation war dann auch für die eher linksgerichteten Chemnitzer Euckenbündler akzeptabel.41 In der ersten Hälfte der 1920er Jahre schwankte die Zahl der lokalen Euckenbünde meist zwischen 15 und 25. Manche dieser Gruppen existierten nur auf dem Papier, andere lösten sich nach kurzer Zeit wieder auf oder schliefen ein. Die aktiven Ortsgruppen wiederum wiesen in ihrem Selbstverständnis und ihrer praktischen Arbeit mitunter starke Unterschiede auf. Manche führten das eher selbstgenügsame Dasein intimer Lesekreise, die sich vornehmlich mit den Schriften des Meisters auseinandersetzten. In Lindau versammelte sich im Namen Euckens ein „kleiner Freundeskreis“, um reihum in den Privatwohnungen der Mitglieder Leseabende zu veranstalten. Ähnlich scheinen die Dinge in Köpenick gelegen zu haben. Hier besprach man zunächst die wichtigsten Leitsätze des Bundes, las gemeinsam einzelne Abschnitte von Können wir noch Christen sein? und diskutierte vornehmlich religiöse Fragen. Die Ortsgruppe Fulda beschloss zu Beginn des Winterhalbjahrs 1922/23, alle vier Wochen einen Abend zu veranstalten. Zur Einführung sollten Euckens Lebenserinnerungen gelesen werden und dann das eher populäre Sinn und Wert des Lebens. Von Fall zu Fall konnten auch Referate über zeitgemäße Themen gehalten werden.42 Selbst die für die Bewegung besonders wichtigen Euckenbünde in Chemnitz und Jena scheinen wenig an die lokale Öffentlichkeit getreten zu sein. In Chemnitz trafen sich die Euckenianer zunächst jeden zweiten und vierten Freitag im Monat im Haus eines Pastors zur intensiven Lektüre von Zur Sammlung der Geister und Können wir noch Christen sein?. Der Vorsitzende Otto Günther hielt „Euckenkurse“ für die örtlichen Mitglieder ab. An die Öffentlichkeit, so hieß es im Bericht für 1920, sei man nicht getreten, „da die Freunde im engsten Kreise still zu arbeiten und sich zu vertiefen wünschten.“ Auch noch vier Jahre später versammelten sich die 15 bis 20 Chemnitzer Mitglieder wechselweise in den Privatwohnungen, zeigten ihre Treffen aber in der Lokalpresse an. In Jena scheint der 41 ThULB NLRE VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Otto Günther an Sekretariat Jena 18.2.1925; ebd. VI, 12, Mappe 10.3., o. Bl.: Notiz: „Pazifismus“ undatiert [1925]. 42 Vgl. Der Euckenbund 2, 1921, S. 43f; ebd. 4, 1923, S. 41; ThULB NLRE VI, 12, Mappe 10.3, o. Bl.: Mskr. „Bericht über die bisherige Tätigkeit der einzelnen Ortsgruppen des Euckenbundes“ undatiert [1920]; ebd. VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Fulda: Dr. Sellner an Sekretariat Jena, 10.11.1922.

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Euckenbund vornehmlich mit seinen Jahresversammlungen öffentlich präsent gewesen zu sein. Die Ortsgruppe hielt ihre Sitzungen gewöhnlich „im kleineren Kreise“ in der Euckenvilla ab. Im Winterhalbjahr 1923/24 veranstaltete sie aber auf „besonderen, aus der akademischen Jugend geäußerten Wunsch“ drei Vorträge des Ehrenvorsitzenden, für die ein größerer Saal angemietet wurde.43 Referate und Vorträge zur Philosophie und Weltanschauung Rudolf Euckens und die Lektüre seiner Schriften gehörten zum Veranstaltungsprogramm der meisten lokalen Euckenbünde. Solche Exegese erschien den Euckenianern bedeutsam und nutzbringend für ihre persönliche Charakterbildung und individuelle Lebensgestaltung, für die Interpretation des Weltgeschehens und die weltanschauliche Ausrichtung der Gruppe. Sie mochte ebenso Anregungen und Hinweise bieten für die mehr praktische Arbeit der lokalen Bünde. Die Ortsgruppen sahen sich allerdings nicht selten mit dem Problem konfrontiert, dass ein mehr oder minder großer Teil der Euckenbündler ein allenfalls rudimentäres Verständnis für das Werk des Nobelpreisträgers besaß. Einige der Ortsgruppen boten daher spezielle „Euckenkurse“ an, in denen die Mitglieder mit den Grundlagen der „Philosophie des Geisteslebens“ vertraut gemacht werden sollten.44 Der Vorsitzende der Stendaler Ortsgruppe, der Postinspektor Emil Herms, schickte im Herbst 1924 ein Memorandum nach Jena, das sich ausführlich mit diesen Problemen beschäftigte. Viele der Mitglieder und Freunde des Bundes würden sich gerne mit Rudolf Euckens Philosophie bekanntmachen wollen. Es fehle ihnen aber die Zeit zum Studium der Schriften Euckens oder der Literatur darüber. Zudem sei diese Lektüre selbst für akademisch gebildete Leute ziemlich mühevoll. Herms hielt es an sich für ausreichend, den Grundgehalt der Lehren Euckens zu verstehen, „um ihn als Baustein in das eigene Lebensbild einzustellen“. Für diesen Zweck würde ein in allgemein verständlicher Sprache geschriebenes Buch genügen, das einen Abriss des geistigen Lebens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts biete und dann das Besondere und Neue in Rudolf Euckens Persönlichkeit und Lebenswerk hervorhebe. Insbesondere sollte dargelegt werden, „wie der Idealismus Rudolf Euckens, sein Aktivismus, in alle Ge-

43 Vgl. ThULB NLRE VI, 12, Mappe 10.3, o. Bl.: Mskr. „Bericht über die bisherige Tätigkeit der einzelnen Ortsgruppen des Euckenbundes“; ebd., Mappe 1, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung Nr. 286, 12.12.1923; ebd. VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Otto Günther an Sekretariat Jena 24.9.1924; ebd. I, 10, Bl. G 541f: Günther an Rudolf Eucken, 18.4.1924. 44 Vgl. ebd. VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Otto Günther an Sekretariat Jena 24.9.1924; ebd. VI, 12, Mappe 10.3, o. Bl.: Mskr. „Bericht über die bisherige Tätigkeit der einzelnen Ortsgruppen des Euckenbundes“; ebd. VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe Magdeburg: „Protokoll über die Gründungssitzung des Euckenbundes-Magdeburg am 15.3.1923“.

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biete des praktischen Lebens (Politik, Wirtschaft, Religion, Schule) hineingetragen werden kann und muß.“45 An dem unterschiedlichen intellektuellen Niveau und den sich daraus ergebenden verschiedenen Interessen der Euckenbündler entzündeten sich bisweilen Divergenzen innerhalb der Ortsgruppen. So berichtete ein Mitglied des Berliner Euckenbundes, Martha Kirchner, ihrem Meister persönlich von einer Diskussion um die Frage „Soll an Rudolf Euckens Lehre festgehalten werden oder soll zunächst die Wissenschaft Euckens, eigentlich nur verständlich für akademisch Gebildete, erarbeitet werden?“ Die meisten der anwesenden Herren seien für die Wissenschaft eingetreten, da sie befürchteten, der allzu große Drang nach praktischer Betätigung würde zur geistigen Verflachung führen. Sie und ihr Sohn hätten diese Haltung als große Enttäuschung empfunden und sie habe mit ihren Gesinnungsgenossen nach der Versammlung noch eine Stunde zusammen gesessen. „Wir fanden uns“, so Kirchner weiter, als echte Euckenjünger und -Jüngerinnen. (…) Ihr Name soll uns Symbol und Erwecker neuen geistigen Gemeinschaftslebens sein, darin wurden wir uns einig. (…) Aber nicht wahr, wenn wir nicht täglich und stündlich bei unseren Handlungen denken: ‚wir gehören zum Euckenbund‘, also was wir lernen ins praktische Leben zu übertragen, dann wollen Sie uns nicht?46

Martha Kirchner würde bald anderswo nach diesem geistigen Gemeinschaftsleben suchen. 1926 schrieb Curt Hacker nach Jena, Frau Kirchner sei „ihrem geistig irrlichternden Sohn“ in das Lager von Rudolf Steiners Anthroposophen gefolgt.47 Immerhin scheint die Mehrzahl der aktiven Euckenbünde sich nicht mit der Exegese der Werke Rudolf Euckens begnügt zu haben. Sie versuchten in der einen oder anderen Form, die Lehre ihres Meisters weiter zu verbreiten und „ins praktische Leben zu übertragen“. Besonders elaborierte Anstrengungen zur Verbreitung und Umsetzung seiner Weltanschauung unternahm der Euckenbund in München. Mit ihren um die einhundert Mitgliedern gehörte die Münchner Ortsgruppe zu den größten Lokalorganisationen des Bundes. 1921 wurde der Münchner Euckenbund in acht berufsständische Abteilungen mit jeweils bis zu fünf Unterabteilungen gegliedert. Diese Abteilungen sollten in ihrem Bereich mit den Berufsorganisationen und „den Gesetz und Norm schaffenden Stellen“ in Verbindung treten, „um die Grundlagen zu schaffen, auf denen eine neue Le45 ThULB NLRE VI, 32, o. Bl.: Ortsgruppe Stendal: „Anregungen der Ortsgruppe Stendal zur Förderung der Euckenbundbestrebungen“, 8.10.1924. 46 ThULB NLRE I, 14, Bl. K 319f: Martha Kirchner an Rudolf Eucken, 13.10. [1924?]. 47 Ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Curt Hacker an Sekretariat Jena, 1.4.1926.

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bensform sich bilden kann“. Sehr viel Wirkung scheint dieser Organisationsplan aber nicht erzielt zu haben. Spätere Berichte erwähnen die berufsständischen Abteilungen nicht mehr.48 Eine rührige Aktivität entfaltete auch Gustav Zieglers Kemptener Ortsgruppe, die in den ersten beiden Jahren ihres Bestehens von sechs auf 38 Mitglieder angewachsen war. Bei den vierzehntäglichen Zusammenkünften hatte sich ein fester Ablauf herausgebildet. Der erste Teil des Abends war dem „Aktivismus“ gewidmet. Der Vorsitzende gab einen Bericht über die Aktivitäten der Ortsgruppe in den vergangenen zwei Wochen, „mit Hinweisen auf neue Möglichkeit oder Notwendigkeit von Betätigung“. Darauf folgte eine Aussprache, bei der jeder Anwesende aufgefordert war, Anregungen zu geben. In der anschließenden Pause ging die Sammelbüchse herum. Der zweite Teil begann mit einem Referat eines der Teilnehmer zu einem Buch oder einem aktuellen Thema, woran sich eine Diskussion anschloss. Der Drang zum „ethischen Aktivismus“ äußerte sich in Kempten auch darin, dass die Euckenianer sich anderen Vereinen und Initiativen anschlossen, deren Bestrebungen man guthieß. Die Ortsgruppe trat als korporatives Mitglied dem Arbeitsbund für unparteiische Volksaufklärung und dem Deutschen Ostmarkenverein bei und warb für den Aufklärungsausschuss betr. die Kriegsschuldfrage. Anfang 1923 beteiligte sich der örtliche Euckenbund an der Gründung des Verbandes vaterländischer Vereine Kemptens.49 Solche politisch gefärbten Aktivitäten waren allerdings für die Ortsgruppen des Euckenbundes eher untypisch. Die lokalen Euckenbünde traten vor allem mit mehr oder minder regelmäßigen Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen an die Öffentlichkeit. Die damit verbundenen Intentionen fasste der Lehrer Willi Grollmus, einer der Gründer der Breslauer Ortsgruppe, Mitte 1922 so zusammen: Für das kommende Winterhalbjahr plane man fünf bis acht große öffentliche Vorträge, in denen über diverse Lebensbereiche und ihre Neugestaltung gesprochen werden solle. Die Vorträge sollten „nach der lebensvertiefenden Art des Euckenbundes“ ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Was sich in der Ankündigung des Breslauer Lehrers wie ein wohl durchdachtes Konzept zur Umsetzung der Ziele des Bundes und zur Werbung neuer Anhänger anhört, wirkt weit weniger überzeugend, wenn man die Berichte der Ortsgruppen über ihre tatsächlich abgehaltenen Veranstaltungen durchsieht. So boten die die öffentlichen Vortragsabende der Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde im Frühjahr 1922 ein 48 Ebd. VI, 31, Mappe 8, o. Bl.: Ortsgruppe München: Josef Schwarz an Sekretariat Jena, 16.3.1922. Vgl. ebd.: Schaubild: „Berufsständische Gliederung des Euckenbundes“ [Juli 1921]; ebd., Mappe 9: Bericht über die Geschäfte des Vorstandes und der Kassaführung, 15.1.1922. 49 Vgl. Ebd. VI, 29, o. Bl.: Ortsgruppe Kempten: Bericht der Ortsgruppe Kempten des Euckenbundes, September 1922; ebd.: Bericht der Ortsgruppe Kempten für den Euckenbund [1923].

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Sammelsurium verschiedener Themen: Einer Einführung in Oswald Spenglers Sachbuch-Besteller Der Untergang des Abendlands folgten Studienrat Landmessers Betrachtungen über „Die Seelenvorstellungen primitiver Völker“ und ein Vortrag zum „Aktivismus in der sozialen Fürsorge“. Den Abschluss dieses ziemlich zusammenhanglosen Zyklus bildeten die Ausführungen des Vorsitzenden Hacker zum Thema „Das religiöse Leben in Goethes Oden“.50 Ein Problem war sicherlich, aus den eigenen Reihen genügend geeignete Referenten für die von der Ortsgruppe veranstalteten Vortragabende zu rekrutieren. Einem Eintritt zahlenden Publikum musste man schließlich mehr bieten, als ein ad hoc zu einem Eucken-Text verfasstes Einführungsreferat. Von daher dürfte sich das Programm eher an dem Themenangebot orientiert haben, das die im Bund aktiven Oberlehrer, Pastoren oder andere Akademiker aus ihrem beruflichen oder privaten Spezialwissen beisteuern konnten. Manchmal gewannen die Ortsgruppen einen auswärtigen Euckenianer für einen Vortrag. In Kempten sprach etwa der Münchner Kunstmaler Fritz Haß 1921/22 mehrmals über den Expressionismus, den Impressionismus und ähnliche Themen aus seinem Schaffensbereich. Gelegentlich gelang es einem der lokalen Bünde, Rudolf Eucken selbst, der immer noch größere Säle füllte, zu einem Vortrag zu bewegen. Schließlich griffen die Ortsgruppen für ihre Vortragsabende auch auf die Dienste professioneller Redner zurück. Helene Fernau, später eine Pionierin der Logopädie, absolvierte mit ihren Rezitationen 1924 sogar eine kleine Euckenbund-Tournee. In Fulda, Kempten, Chemnitz und Stendal las sie moderne religiöse Lyrik und Gedichte von Walter Flex und Rainer Maria Rilke.51 Wollten die Euckenbünde auf Dauer ein größeres Publikum für ihre Vortragsabende interessieren, konnten sie nicht allein Themen zu Rudolf Eucken und seinem Werk anbieten. Man versuche aber bewusst, so hieß es in einem Bericht der Ortsgruppe Stendal 1924, die in den Vorträgen behandelten Themen mit Euckens „Weltanschauungsphilosophie“ in Zusammenhang zu bringen, „um die Verbindung dieser Philosophie mit dem klassischen deutschen Idealismus und ihre Bedeutung für die Lebensgestaltung der Gegenwart darzutun.“ Diese Versicherung mag für die monatlichen Stendaler „Mitgliederversammlungen, zu der auch Gäste eingeladen wurden“, auch halbwegs zugetroffen haben. In zwei der elf Vorträge im Berichtsjahr 1923/24 wurde im Titel auf Eucken und 50 ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Willi Grollmus an Sekretariat Jena, 6.6.1922; ebd.: Ortsgruppe Berlin: Curt Hacker an Sekretariat Jena, undatiert [Juni 1922?]. 51 Vgl. ThULB NLRE VI, 29, o. Bl.: Ortsgruppe Kempten: Bericht der Ortsgruppe Kempten des Euckenbundes, September 1922; ebd. VI, 32, Mappe 4, o. Bl.: Ortsgruppe Stendal: Zeitungsausschnitt Altmärkische Tageszeitung, 16.2.1924; ebd. VI, 4, o. Bl.: Lisa Kunow an Gustav MeyerLingen, 29.10.1924. Zu Helene Fernau: http://www.hfh-schule.de/index.php/unsereschule/helenefernauhorn.

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den Euckenbund Bezug genommen. Bei den meisten anderen lag dieser Bezug nahe (etwa „Weltanschauung und Lebensgestaltung“, „Wissen und Glauben“, „Deutscher Humanitätsgedanke und deutscher Volkscharakter“). Anderen Euckenbünden fiel es aber augenscheinlich schwer, die Themenvielfalt ihres Vortragprogramms irgendwie mit der Lehre ihres Namensgebers in Verbindung zu setzen. Das obengenannte Beispiel der Berliner Vortragsveranstaltungen, deren Themenvielfalt sich auch in anderen Euckenbund-Programmen findet, deuten an, dass die Ortsgruppen des Bundes mancherorts eher den Charakter allgemeiner Kulturvereine oder philosophischer Debattierclubs angenommen hatten.52 Über die Zahl der Mitglieder des Euckenbundes liegen für die erste Hälfte der 1920er Jahre nur vage Angaben vor. Anscheinend war man selbst in der zentralen Geschäftsstelle in Jena auf Schätzungen angewiesen. Der Bund zähle in Deutschland wohl 3000 bis 4000 Mitglieder, teilte das Sekretariat im Mai 1924 ihrem Vertrauensmann in London mit. Diese Angabe dürfte deutlich zu hoch gegriffen sein, denn zu diesem Zeitpunkt gab es bestenfalls 18 lokale Euckenbünde, denen im Allgemeinen zwischen 20 und 50 Personen angehörten. Die Münchner Gruppe meldete 1923 mal 77, mal 108 Mitglieder. Die Ortsgruppe Magdeburg zählte bis zu 67 Euckenianer in ihren Reihen. Der Euckenbund in Reichenbach kam kurz vor seiner freiwilligen Auflösung auf die erstaunliche Zahl von 64 Mitgliedern.53 Unter den Personen, die die Mitgliederlisten der Ortsgruppen und der Geschäftsstelle aufführen, dürften sich zahlreiche „Karteileichen“ befunden haben. 142 Namen standen auf der Liste, die die Ortsgruppe Hannover 1920 nach Jena sandte. Drei Jahre später scheint man sich in Hannover bei der Aufstellung der Mitgliederliste eher an der ziemlich tristen Realität orientiert zu heben. Nur noch 19 Namen waren hier im April 1923 aufgeführt. Offenbar setzten zahlreiche Leute nach öffentlichen Vorträgen oder, wenn sie persönlich angesprochen wurden, ihre Unterschrift unter das ihnen vorgelegte Anmeldeformular, ohne danach in irgendeiner Weise im Bund tätig zu werden oder Beiträge zu zahlen. Gustav Ziegler fühlte sich Ende 1924 veranlasst, die in der Mitgliederzeitschrift gemachten Angaben über die Größe seiner Kemptener Ortsgruppe richtig zu stellen. Er habe zwar erwähnt, dass man zwei Jahre zuvor durch verstärkte Werbung in Kempten und Umgebung auf 70 Mitglieder gekom-

52 Zitate: ThULB NLRE VI, 32, Mappe 4, o. Bl.: Ortsgruppe Stendal: Bericht der Ortsgruppe Stendal über ihre Arbeit im Jahre 1923/24, Oktober 1924; ebd. VI, 12, Mappe 10.3, o. Bl.: Mskr. „Bericht über die bisherige Tätigkeit der einzelnen Ortsgruppen des Euckenbundes“ undatiert [1920]. 53 Vgl. ThULB NLE VI, 6, o. Bl.: Sekretariat Euckenbund an Hans Traugott Schorn, London, 17.5.1924; sowie die Mitgliederlisten in: ebd. VI, 27 bis VI, 32.

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men sei. Der größte Teil dieser Leute habe sich aber als teilnahmslos erwiesen und sei mittlerweile wieder ausgetreten.54 In den Unterlagen der Jenaer Geschäftsstelle findet sich eine Mitgliederliste mit 1006 Namen, was die tatsächliche numerische Stärke des Euckenbundes eher widerspiegeln dürfte als die oben genannte drei- bis vierfache Mitgliederzahl.55 Unter den hier aufgeführten Personen dominierte das – überwiegend staatsnahe – Bildungsbürgertum: die Angehörigen der Lehrberufe, die protestantischen Pfarrer, die höheren Verwaltungs- und Justizbeamten, dazu Ärzte und Anwälte, Journalisten, Schriftsteller und Künstler sowie Studenten. Etwa 60 Prozent der Personen, bei denen der Beruf vermerkt ist, gehören diesen Gruppen an. Vor allem Lehrer aller Schulgattungen waren im Euckenbund offenkundig stark vertreten; sie machten in den frühen 1920er Jahren rund ein Fünftel aller Mitglieder aus (und fast ein Drittel derjenigen mit Berufsangabe). Dagegen sind die Kollegen des Jenaer Ordinarius sehr spärlich auf der Mitgliederliste vertreten. Ganze acht Hochschulprofessoren waren 1922/23 als Angehörige des Euckenbundes registriert. Vier von ihnen gehörten dem Lehrkörper der Ludwig-Maximilians-Universität München an: der Philosoph und Psychologe Erich Becher, der klassische Philologe Albert Rehm, der Pädagoge Aloys Fischer sowie der Sozialhygieniker Ignaz Kaup, der 1918/19 als österreichischer Minister für Volksgesundheit amtiert hatte. Arnold Eucken war natürlich dem Bund beigetreten und hatte zwei Breslauer Kollegen mitgebracht, den Philosophie-Ordinarius Eugen Kühnemann und Fritz Weege, Professor für klassische Archäologie. Schließlich weist die Liste den Königsberger Strafrechtler Wilhelm Sauer als Mitglied des Euckenbundes aus. Auch Wirtschaftsbürger waren dem Bund in den frühen 1920er Jahren beigetreten, wenngleich in deutlich geringerem Maße als die Bildungsbürger. Je nach Zählweise machten sie etwa 10 bis 14 Prozent der Mitgliedschaft aus. Eher selten dürften die Angehörigen der kleinbürgerlichen Gruppen, der selbständigen Handwerker und Kleinhändler, der nicht akademisch gebildeten Angestellten und Beamten, unter den organisierten „Euckenianern“ zu finden gewesen sein. Die zwei Arbeiter auf der Mitgliederliste sind beide als Setzer ausgewiesen, waren demnach in einer Druckerei beschäftigt. Mehr als ein Viertel der aufgeführten Personen waren Frauen, wohl zu großen Teilen nicht berufstätige Ehefrauen und Witwen aus ähnlichen bürgerlichen Milieus wie das Gros der männlichen Mitglieder. Es finden sich aber unter

54 Vgl. ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Euckenbund Hannover: Mitgliederlisten 1920 und April 1923; ebd. VI, 7, o. Bl.: Gustav Ziegler an Sekretariat Euckenbund, 30.12.1924. 55 ThULB NLRE VI, 12, o. Bl.: undatierte Mitgliederliste [wohl 1922/23]. Siehe Tabelle im Anhang.

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den Mitgliedern des Bundes immerhin 59 berufstätige Frauen, meist Lehrerinnen.

Der Euckenbund im neuen Deutschland Im Frühjahr 1919 warf Rudolf Eucken ein weiteres Mal sein internationales Renommee in außenpolitischer Mission in die Waagschale. Zusammen mit einigen anderen Vertretern philosophisch-weltanschaulicher Gesellschaften – dem Monistenbund, der Schopenhauer- und der Kant-Gesellschaft – richtete Eucken als Vorsitzer der Luther-Gesellschaft einen Appell an den amerikanischen Präsidenten. Der „Herr Woodrow Wilson“ möge doch bitte auf die französischen und britischen Alliierten einwirken, um einen „Gewaltfrieden“ abzuwenden, „der gegen alle Leitsätze Ihres Völkerbundes verstößt“. Ähnlich wie die ProfessorenAufrufe der ersten Kriegsmonate wirkt auch diese Deklaration im Ton wie in der Argumentation für ihre Zwecksetzung seltsam unangemessen. Der 20-seitige Text oszilliert zwischen Anmaßung und Anbiederung, Klage und Zerknirschtheit, Drohgebärde und Sachargument. Eucken und seine Mitstreiter stellen sich dem amerikanischen Präsidenten vor als „Hüter der Ewigkeitswerte, die von den Besten aller Zeiten und Völker für die Menschheit geschaffen wurden“, die es als ihre Pflicht betrachteten, „in letzter, weltgeschichtlicher Stunde“ vor einer „Weltkatastrophe“ zu warnen.56 In ihrem offenen Brief an den US-Präsidenten vertreten die Unterzeichner häufiger Positionen, gegen die sich Eucken in seinen Schriften zum Krieg vehement gewehrt hatte (und dies auch später wieder tun würde). Die Demokratie gilt ihnen nun auf einmal als Gesellschaftsordnung, „die es jedem ermöglicht in Deutschland zu leben, sich zu entwickeln und an dem Schicksal des Staates bestimmend mitzuwirken“. Die deutsche Kriegsführung und der Vorwurf des Militarismus erschienen den deutschen Professoren ebenfalls in einem neuen Licht. Man wolle nicht verteidigen, was in Belgien und Nordfrankreich geschehen sei. Die deutsche Zivilbevölkerung habe jedoch so gut wie gar nichts davon gewusst. Der deutsche Soldat sei wiederum „in das Joch der eisernen Disziplin gespannt“ gewesen, „die ihm durch die Tradition von Generationen in Fleisch und Blut übergegangen war. Ihm wurde befohlen, er mußte gehorchen.“ Den verschärften U-Boot-Krieg hätten „eigenmächtig ein halbes Dutzend Menschen“ beschlossen, die „verhängnisvoll weitgehenden Einfluß“ über den Kaiser gehabt hätten.57 56 Herrn Woodrow Wilson, S. 3. 57 Ebd., S. 4f, 8f.

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Selbst in der Frage der Kriegsschuld rückte Rudolf Eucken als Mitunterzeichner des Wilson-Briefes von seinen zuvor im Brustton der Überzeugung vorgebrachten Positionen ab. Jetzt konzedierte er zumindest eine deutsche Mitschuld am Kriegsausbruch, da „einige wenige Männer der alten Regierung Deutschlands … voreilig die letzten Brücken abbrachen, ehe alle Mittel zur Vermeidung dieser furchtbaren Katastrophe erschöpft waren“. Das deutsche Volk habe aber an sein sittliches Recht geglaubt zu den Waffen zu greifen. Es sei ihm gesagt worden, es werde angegriffen, um vernichtet zu werden. Eine Alleinschuld des Deutschen Reiches, die die alliierten Regierungen einige Wochen zuvor für unzweifelhaft erklärt hatten, wollten Eucken und seine Kollegen natürlich nicht einräumen. Mit dieser Frage sollte sich, so schlugen sie vor, ein unparteiischer internationaler Gerichtshof beschäftigen. Im Übrigen beriefen sich die Professoren auf die „14 Punkte“, die der Präsident Anfang 1918 als Grundlage eines Verständigungsfriedens verkündet hatte. Deutschland habe im Vertrauen auf dieses Versprechen eines „Friedens der Menschlichkeit und Gerechtigkeit“ seine Waffen gestreckt. Es habe darauf gerechnet, „daß seine Feinde ihr in weltgeschichtlicher Stunde gegebenes Versprechen ritterlich einlösen werden“.58 Der Appell an den US-Präsidenten blieb augenscheinlich erfolglos. Der Friedensvertrag, den die deutsche Regierung einige Wochen unterzeichnen musste, erlegte dem Deutschen Reich nicht allein Gebietsabtrennungen und hohe Reparationszahlungen auf. Regierung und Reichstag wurden auch genötigt, die alleinige Schuld Deutschlands am Ausbruch des Krieges anzuerkennen. In einer kurzen, in der Zeitschrift Der Spiegel veröffentlichten Stellungnahme bezichtigte der Philosoph nun „die Urheber der ungeheuerlichen Friedensbedingungen“ im Habitus eines Anklägers vor Gericht in reichlich theatralischer Manier der „Unwahrhaftigkeit“ und der „ehrlosen Gesinnung“. Da es keinen Gerichtshof gebe, der in diesen moralischen Dingen ein Urteil sprechen könnte, appelliere er an die Philosophen der neutralen Staaten, „das moralische Gewissen der Menschheit zu vertreten“. Man solle ihm bitte direkt mitteilen, ob sie die Gesinnung der alliierten Regierungen für moralisch hielten. Er werde dafür sorgen, dass ihr Urteil nicht ungehört verhalle.59 Zumindest eine Antwort auf diesen merkwürdigen Aufruf scheint Eucken erhalten zu haben. Pfarrer Adolf Bolliger aus Zürich ging auf das Gerichtsspiel seines ehemaligen Lehrers in einem Privatbrief ein. Es steht allerdings zu bezweifeln, ob diese Antwort dem Jenaer Ordinarius gefallen hat. Bolliger pflichtete Eucken zwar insofern bei, als auch er das Verhalten der der Entente-Führer 58 Ebd., S. 6, 8f, 20. 59 Der Spiegel Nr. 9/10, 1919, S. 18f.

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für zutiefst unmoralisch erachtete. Doch für ehrlos mochte er sie nicht halten. Es seien vielmehr die Deutschen gewesen, die ihrem „Kaiser u. den Heerführern nicht die Treue gehalten“ und „Eide gebrochen“ hätten, die „selbst als Ankläger ihrer Regierung u. ihres Volkes aufgetreten“ seien und die ihre „Waffen, Kriegsschiffe, Pflüge, Handelsschiffe ausgeliefert“ hätten. Die Deutschen hätten sich damit selbst ehrlos gemacht. „Dafür werden sie von den Alliierten nun genommen.“60 Die Ausführungen des Schweizer Pfarrers mögen zwar nicht den Intentionen Rudolf Euckens entsprochen haben, die „Urteilssprüche“ aus dem neutralen Ausland propagandistisch in Stellung zu bringen. Doch geben sie cum grano salis die Meinung wieder, die der Jenaer Philosoph selbst nach den Geschehnissen des November 1918 von seinen Landsleuten hegte. Die Deutschen erscheinen in der Rhetorik des Euckenbundes und seines Führers wie in einem Kippbild. Einerseits werden sie als arglose und unschuldige Opfer der gewalttätigen Willkür der Siegermächte stilisiert, betrogen und gedemütigt durch einen ihnen aufgezwungenen Friedensvertrag, der jeder Gerechtigkeit Hohn sprach. Auf der anderen Seite werden die Deutschen zu Verursachern ihres eigenen Unglücks. Kurz nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags bedankte sich Eucken bei seinem schwedischen Anhänger Ernst Liljedahl für das Wohlwollen, „was Sie unserem Lande trotz aller seiner Missgriffe und Fehler bewahren“. Es sei ihm ein „trauriges Rätsel, dass Deutschland so tief sinken konnte, und die Hauptschuld war doch moralischer Art“.61 Die Katastrophenstimmung im gebildeten Bürgertum in der ersten Nachkriegszeit spiegelt sich in der Familienkorrespondenz der Euckens eindringlich wider. Kurz nach der Veröffentlichung der alliierten Friedensbedingungen zeichnete Arnold Eucken in einem Brief nach Jena ein wahrhaft apokalyptisches Zukunftsszenario. Die Siegermächte würden mit dem deutschen Volk ebenso verfahren wie die Türken mit den wilden Hunden in Konstantinopel, deren man sich entledigen wollte, die man aber aus religiösem Vorurteil nicht zu töten wagte: Man fing die Tiere ein und brachte sie alle auf eine kleine Insel. Dort fraßen sie sich gegenseitig auf, bis alle verhungert waren. Ob wir die Bedingungen annehmen oder ablehnen, das ist ist jedenfalls gewiß, daß wir furchtbaren Zeiten entgegen gehen. Unser Volk wird furchtbar Hunger leiden müssen und sich selbst zerfleischen.

60 ThULB NLRE I, 3, Bl. B 609: Adolf Bolliger an Rudolf Eucken, 3.6.1919. Vgl. auch die abschlägige Antwort des schwedischen Philosophen Reinhold Geijer vom 6.7.1919 (ebd. I, 9, Bl. G 40). 61 Ebd. I, 29, Bl. 112: Rudolf Eucken an Ernst Liljedahl, 21.7.1919.

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Sein Bruder Walter reagierte dagegen kämpferisch. Wie recht er doch gehabt habe, schrieb er an seine Mutter, „als ich immer so radikal die Vernichtung der Gegner verlangte“. Wie weit wäre man jetzt, wenn das ganze Volk diesen Willen gehabt hätte. Er hoffe, dass „wir bald zur Revanche die Waffe in die Hand nehmen“.62 In den Wochen und Monaten zuvor hatte sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die innenpolitische Lage fokussiert, die angesichts von Massenstreiks und bewaffneten Zusammenstößen unaufhörlich zu eskalieren schien. Die Euckens und viele andere Bürger trieb die Sorge um, dass die Entwicklung in Deutschland den gleichen Gang nehmen würde wie im bolschewistischen Russland. Mitte April 1919 sah Arnold Eucken eine Katastrophe herannahen. Eine Rettung könne allenfalls noch eine Diktatur bringen. Der Regierung jedenfalls traute er nicht zu, der Radikalisierung der Massen und dem Zerfall der staatlichen Ordnung Einhalt zu gebieten. Für ihn erhob sich nun eine dreifache Frage: „1) Können wir irgend etwas dagegen tun. 2) Wie schützt man seine Familie und sich selbst vor katastrophalen Ereignissen? 3) Was soll aus uns werden, wenn der Staat pp. zusammenbricht?“. Für die nähere Zukunft kündete der ältere Eucken-Sohn seinen Eltern an, er wolle sich wieder dem Militär anschließen. Komme dann ein „Putsch o. dgl., so weiß man, was man zu tun hat. Andernfalls wird man – d. h. das ganze Bürgertum – einfach überrumpelt“. Zwei Wochen später meldete Arnold Eucken nach Jena, er habe sich der Breslauer Einwohnerwehr angeschlossen. Sein jüngerer Bruder schrieb der Mutter Ende Juni 1919, er habe sich als „Zeitfreiwilliger“ bei der Armee gemeldet. Man werde dann nur im Notfall einberufen, „wenn wirkliche Unruhen hier sind“.63 Unter dem Eindruck des revolutionären Umbruchs veröffentlichte Rudolf Eucken zwei Schriften, die sich kritisch mit neuen Staat und seinen tragenden politischen Kräften auseinandersetzten. An den Anfang des Bändchens Deutsche Freiheit von 1919 stellt er die These, das deutsche Volk habe in der Vergangenheit eine ihm eigentümliche geistige Freiheit in Religion, Moral, Erkenntnis und Kunst hervorgebracht. Nun drohe „uns Deutschen“ aber, „vor allem von seiten einer radikalen Demokratie und des Sozialismus“ politische Unfreiheit. Eucken entfaltet hier zunächst noch einmal den bereits aus seinen Kriegsschriften bekannten Freiheitsbegriff. In Deutsche Freiheit geht es aber weniger um die freiwillige Unterordnung unter das als notwendig Erkannte. Eucken versucht vielmehr den Nachweis zu führen, dass die moderne Demokratie für die Freiheit 62 Ebd. V, 9, Bl. 84: Arnold an Irene Eucken, 8.5.1919; ebd. V, 11, Bl. 87: Walter an Irene Eucken, 11.5.1919 (Postkarte). Vgl. ähnlich: ebd. Bl. 101: Walter an Irene Eucken, 26.6.1919. 63 Ebd. V, 9, Bl. 75, 82: Arnold an Irene Eucken, 17.4. und 2.5.1919; ebd. V, 11, Bl. 100: Walter an Irene Eucken, 26.6.1919.

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des Einzelnen gefährlich sei. Es gebe nämlich nicht nur eine „Unfreiheit der Ordnung“. Weit gefährlicher und verderblicher sei vielmehr gegenwärtig eine Unfreiheit, die aus der Freiheit selbst hervorgehe. Eucken zielte damit auf eine Form von Demokratie, die sich vor allem in den Großstädten, wo sich Massen „ungeschieden“ zusammenballten, ausgeprägt habe. Der einzelne, der vereinzelte Mensch stehe hier unter dem unmittelbaren Druck der Gesellschaft, die wiederum ihre Macht vornehmlich durch die Presse ausübe. Alles Streben und Sinnen sei in einer solchen Demokratie auf den „Beifall der großen Menge“ gerichtet. Es herrsche ein starker Nivellierungsdruck. Der „Durchschnittsmensch“ sei eifrig darauf bedacht, in allen Verhältnissen möglichste Gleichheit durchzusetzen. Er behandle alles, was den Durchschnitt überschreite, als schweres, ihn persönlich betreffendes Unrecht.64 Die „Unfreiheit unter dem Schein der Freiheit“ erreichte für Eucken die „letzte und höchste Stufe“ im sozialistischen Staat. Was immer der Einzelne hier an Freiheit besitze, das habe er nur innerhalb des Ganzen. Er könne daher nie dem Ganzen eine selbständige Denkweise und eine selbständige Aufgabe gegenüber stellen. Ein allgewaltiger Staat, der alles Leben an sich raffe, und die ausschließliche Unterwerfung allen Lebens und Strebens durch das wirtschaftliche Ziel – dies grenze den Lebenskreis sehr ein. Die wertvollsten geistigen Güter der Menschheit würden dabei bedenkenlos preisgegeben. Es entstehe damit eine „klägliche Erniedrigung und Unfreiheit des ganzen Lebens.“65 Der teilweise recht schrille Ton des 36-seitigen Pamphlets Deutsche Freiheit ist in der im folgenden Jahr publiziertern Schrift Der Sozialismus und seine Lebensgestaltung weitgehend verschwunden. Eucken destilliert hier einen wesenhaften „Gesamtcharakter sozialistischer Lebensführung und Denkweise“. Er versteht den Sozialismus als umfassende Lebensordnung und beurteilt ihn an diesem Maßstab. Ausgangspunkt des Sozialismus sei sowohl die unbedingte Unterordnung der Individuen unter das Ganze der Gesellschaft, als auch die Behandlung der wirtschaftlichen Aufgabe als der Hauptsache des Lebens; aber um diesen Kern hat sich ein eigentümliches Lebensganzes gebildet, das eine völlige Umwälzung des menschlichen Lebens erstrebt.66

Eucken behandelt den Sozialismus zunächst einmal als eine die gegebene Wirklichkeit transformierende, Sinn vermittelnde und Einheit schaffende Kraft. Der Sozialismus habe eine eigene Gedankenwelt ausgebildet, deren Stärke darin liege, dass sie der tatsächlichen Bewegung des modernen Lebens entgegen kom64 R. Eucken, Freiheit, S. 3, 29-32. 65 Ebd., S. 33ff. 66 Ders., Sozialismus, S. 14.

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me. Er eröffne die Möglichkeit eines neuen Lebens, „das dem Menschen eine vollere Wahrheit und ein volleres Glück verheißt und seine Seele einzunehmen vermag“. Die Bestrebungen des Sozialismus könnten das „bloße Geschehen“ in „ein eigenes Handeln“ verwandeln und trügen, so gesehen, einen idealistischen Charakter, wenn auch „eines Idealismus, der alle erträumten Größen und Güter verwirft, und der seine Aufgabe nur innerhalb der Wirklichkeit findet.“ Der Sozialismus dränge zudem auf eine „vollere Belebung des menschlichen Daseins nach allen Richtungen hin“. Er verspreche eine allumfassende Lebensanschauung, „wie die Gegenwart sie schmerzlich entbehrt; Leben und Wirken greifen hier unmittelbar ineinander“. Die Stärke dieser Lebensführung liege „in der Bildung einer Lebens- und Gedankengemeinschaft der ganzen Menschen, in der Erzeugung einer geistigen Atmosphäre, die alle Aufgaben und Leistungen in sich trägt und ausgleicht.“67 Rudolf Eucken formuliert hier gewissermaßen in neoidealistischen Kategorien, was die sozialistische Bewegung für einen nach Ganzheitlichkeit und Einheit, Wahrhaftigkeit und Lebenssinn suchenden Bildungsbürger attraktiv machen könnte. Im zweiten Teil seiner Sozialismus-Schrift von 1920 reißt aber Eucken das von ihm errichtete Gebäude des Sozialismus als ganzheitlicher und sinnhafter Lebensordnung Stück für Stück wieder ein. Als erstes attestiert er der sozialistischen Lebensauffassung ein grundlegendes Sinndefizit. In der sozialistischen Gedankenwelt sehe es oft so aus, als könnte ein „von Arbeit wenig beschwertes, sorgenfreies, von geistigen Genüssen begleitetes Leben“ alle Ansprüche des Menschen befriedigen. Dieses Ziel reiche aber für „ein denkendes und zur vollen Selbstbestimmung gewecktes Wesen“ keineswegs aus. Ein solches Leben werde rasch ins Sinnliche und ins Vage fallen und sich schließlich in Leere und Langeweile verwandeln. Es stecke nämlich, so Eucken weiter, „offenbar eine große Forderung im Leben, die befriedigt werden will, ein zwingender Antrieb, der über das bloße Individuum hinaustreibt und den Menschen als einen Teilhaber unendlichen Lebens erweist.“68 Zudem neige die sozialistische Lebensanschauung dazu, das Wirken des Individuums als gleichgültig zu betrachten und in ihm nur den Ausfluss niederer Selbstsucht zu verstehen. Doch „echtes Schaffen“ bilde sich nun einmal nicht als „Niederschlag des Durchschnitts“, sondern habe vielmehr „einen unablässigen Kampf gegen den stumpfen und trägen, dabei oft neidischen und bösartigen Durchschnitt zu führen“. Für den Jenaer Philosophen sind es wieder einmal nur „Die Großen“, die die Sache des Geistes aufrechterhielten, „nur sie eröffnen neue Möglichkeiten und Fernsichten, nur an ihren Feuerseelen entzündet sich 67 Ebd., S. 18f, 21f, 24, 50. 68 Ebd., S. 84, 141.

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ursprüngliches Leben.“ Somit bilde das sozialistische Gleichheitsideal ein Hemmnis für den geistigen Fortschritt der Menschheit.69 Schließlich attestiert Eucken der Sozialdemokratie, sie verfolge einander direkt widerstreitende Bewegungsrichtungen: „Demokratie und Sozialismus sind zu verschieden, um unmittelbar zusammengehen zu können, das eine muß vor dem anderen stehen.“ Der Grundgedanke des Sozialismus sei eben nicht die Freiheit der Individuen, sondern das Gesamtwohl. Deshalb habe sich der Einzelne immer dem Gesamtwohl unterzuordnen. Der Sozialismus zeige keinen Weg, wie „die Freiheit der einzelnen und die Einheit des Ganzen“, die beide unerlässlich für das geistige Bestehen der Menschheit seien, miteinander verbunden werden könnten. In der holistischen Konstruktion Rudolf Euckens erscheint der Sozialismus als System totalitärer Ordnung. Hier werde eine besondere Partei mit dem Ganzen der Gemeinschaft gleichgesetzt und zwar in einer Weise, „die ein Gegenstück lediglich in dem kirchlichen Fanatismus hat, der jene in Gläubige und Ungläubige zerlegt und alles Andersartige verketzert“. Das Individuum werde im Sozialismus von früher Jugend an in eine geschlossen Weltanschauung gesponnen, die keine offenen Probleme kenne. Wesentliches Merkmalen einer „echten Freiheit“ sei dagegen das Vermögen, „sich in andere Denkweisen versetzen zu können und mit ihnen unbefangen zu verkehren, statt nur an den eigenen Kern gebannt zu bleiben“.70 Rudolf Eucken verwirft damit sowohl eine Demokratie „westlichen“ Musters als auch den Sozialismus, den er allerdings auf ein Konstrukt reduziert, das keinen Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus macht. Ein zusammenhängendes Konzept einer politischen Verfassung entwickelten weder Eucken noch der nach ihm benannte Bund. Der Jenaer Ordinarius dachte offenbar immer noch in den Bahnen seiner Stellungnahmen zu den Reformdebatten des letzten Kriegsjahres. Seine Skepsis gegenüber der parlamentarischen Regierungsform war durch die Erfahrungen der Nachkriegszeit augenscheinlich nicht kleiner geworden. In seinem Sozialismus-Buch erläutert Eucken anhand der Praxis der Koalitionsregierungen die Dysfunktionalität des Weimarer Parlamentarismus. Der Abstand der Lebensideale von Sozialdemokratie, Demokratie und politischem Katholizismus sei „handgreiflich, ihre Lebensgestaltungen, nicht bloß ihre Lebensanschauungen gehen bis zum vollen Gegensatz auseinander.“ Ein politisches Zusammengehen sei nur möglich, wenn jeder seine Grundüberzeugungen zurückstelle. Wie könne unter solchen Umständen ein Gemeinwesen gedeihen? Müsse es sich nicht „in ein Nebeneinander einzelner Maßregeln auflösen, die kein inneres Band zusammenhält, kann daraus ein zusammenhalten69 Ebd., S. 112. 70 Ebd., S. 128ff.

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der Wille entstehen, und wird nicht das Staatswesen bei solchem Mangel unfehlbar der Macht der Partei und ihrer augenblicklichen Strömungen verfallen?“71 Seinen Anhängern gab der Jenaer Philosoph in den „Ethischen Richtlinien“ des Euckenbundes als politische Verhaltensmaßregel nur die Erklärung mit: „Wir fordern Vaterlandsliebe und Staatsgesinnung, ohne sie wird das Leben matt und schlaff“.72 Dies mochte man als Aufforderung zu „staatsbürgerlicher“ Aktivität verstehen. Eucken selbst ließ sich in einer der Hauptreden des Bremer „Staatsbürgertags“ vom Juni 1922 über die „Erziehung zum Staatsbürgertum“ aus. Veranstalter war der Reichsbürgerrat, die Dachorganisation der lokalen Bürgerausschüsse und Bürgerräte, die sich in den ersten Monaten nach der Novemberrevolution in vielen Städten gebildet hatten. Diese Zusammenschlüsse verstanden sich als politische Vertretung des städtischen Bürgertums und als organisatorisches Gegengewicht zu den revolutionären Gewalten, den Arbeiterund Soldatenräten. Walter Eucken war 1919 eine Zeitlang als besoldeter Mitarbeiter des Bremer Bürgerausschusses und als dessen Vertreter in Berlin tätig gewesen. In den 1920er Jahren bestanden diese Organisationen mancherorts als Clearingstelle antisozialistischer Bündnisse in der Kommunalpolitik weiter.73 In seiner Rede vor dem Bremer Staatsbürgertag und mit ähnlichem Tenor in einem Anfang 1924 in Jena gehaltenen Vortrag attestierte Rudolf Eucken seinen Landsleuten staatsbürgerliche Defizite, die er auf den deutschen Volkscharakter und die deutsche Geschichte zurückführte. Er bediente sich dabei aus seiner wie immer prall gefüllten Kiste nationaler Stereotypen. Es seien die Gefahren des deutschen Staatslebens nicht zuletzt in der „deutschen seelischen Art“ begründet: „Wir Deutschen“ seien nämlich „Gedankenmenschen, nicht Tat- oder Wissensmenschen“, Grübler, die zu viel überlegten, und daher oft den richtigen Augenblick zum Handeln versäumten. Zwar sei der Deutsche etwa dem Engländer geistig weit überlegen. Doch im Handeln versage er, zersplittere sich, neige zu Uneinigkeit. „Der Engländer“ dagegen habe immer ein Hauptziel fest im Auge und verfolge es zäh und rücksichtslos. Den Deutschen fehle eben „das Selbstverständliche der nationalen Gesinnung und Denkweise, das Selbstverständliche, das anderen Völkern, wie den Franzosen und den Engländern, keine Sorge bereitet“.74 Ein weiteres Topos der Konstruktion deutscher Defizite, 71 Ebd., S. 132f. 72 ThULB NLRE VI, 12, Mappe 9, o. Bl.: Vordrucke „Ethische Richtlinien“ (Punkt 6). 73 Vgl. Der Euckenbund 3, 1922, S. 34; ThULB NLRE V, 11, Bl. 67-73: Walter an Irene Eucken, 28.2., 3.3. und 11.3.1919. Allgemein zu den Bürgerräten: Bieber, Bürgertum; sowie am Leipziger Fall: Schäfer, Bürgertum, S. 225–234, 256-261. 74 ThULB NLRE VI, 13, Mappe 1, o. Bl.: Zeitungsausschnitt Jenaische Zeitung Nr. 22, 26.1.1924; R. Eucken, Erziehung, S. 31.

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das Eucken immer wieder bemüht, ist das einer „höchst bedauerlichen Uneinigkeit“. Als unveränderlich wollte der Jenaer Philosoph den deutschen Volkscharakter und damit die von ihm konstatierte „politische Unfähigkeit des deutschen Volkes“ allerdings nicht ansehen. Immerhin gehöre zur „deutschen Art“ auch „unsere geistige Umwandlungsfähigkeit“. Der Deutsche besitze nämlich „eine große Elastizität, nach furchtbaren Erschütterungen hat er immer wieder den Mut und die Kraft gefunden, neue Wege zu ersinnen und zu verfolgen.“75 Vor allem der Kemptener Ortsgruppenvorsitzende Gustav Ziegler drängte auf eine dezidiert politische Ausrichtung der Arbeit des Bundes. In seinen 1923 erschienenen „Zeitgedanken eines Euckenbündlers“ begründete der Allgäuer Jurist die Defizite der politischen Kultur in Deutschland im Duktus seines Meisters: Die „einseitige Arbeitskultur“, die zunehmende Spezialisierung der Arbeit, das „Vorherrschen der Standesinteressen“, die „Überorganisation des Vereinswesens“ – all dies habe dazu beigetragen, dass den Deutschen der Sinn für die Notwendigkeiten der Gesamtheit verloren gegangen sei. Im Besonderen richtete sich Zieglers Augenmerk auf die „gebildeten und sozial höher stehenden Kreise [n], auf deren tätige Mitarbeit jeder Staat besonders angewiesen ist.“ Es habe diesen Kreisen bereits lange vor dem Krieg „teils an der unabhängigen Pflichtauffassung gefehlt, welche sich ausschließlich in den Dienst des Staatsgedankens stellt …, teils am sittlichen Ernst gegenüber den Aufgaben staatsbürgerlicher Pflichterfüllung.“ Überhaupt sei der deutsche Staatsbürger nicht genügend von dem Gefühl durchdrungen, persönlich für das Schicksal des Staates mitverantwortlich zu sein. In diesem Mangel an staatsbürgerlicher Gesinnung lägen die tieferen Gründe für das politische Versagen der Deutschen während des Krieges.76 In den Überlegungen Rudolf Euckens und des „Euckenbündlers“ Gustav Ziegler zur staatsbürgerlichen Erziehung finden zivile Tugenden ihre zentralen Bezugspunkte im Einsatz des Einzelnen für Volk, Staat und Nation. In den diskursiven Nuancen ihrer Argumentation deuten sich jedoch gewisse Unterschiede in der Austarierung des Verhältnisses von Staat und Bürger an. Der Kemptener Landesgerichtsrat stellt die Ansprüche des Staates an den Einzelnen, die Inpflichtnahme des Bürgers für den Staat in den Mittelpunkt seiner Rhetorik. Für Ziegler wird der Mensch „in seinen Pflichtenkreis hineingeboren“. In diesem Pflichtenkreis stehe „die Sorge um den Staat, die liebevolle Pflege staatsbürgerlicher Lebensgemeinschaft in gleicher Weise wie die Sorge für die Familie und den Dienst im Berufe obenan“. Diese „Binsenweisheit“ habe aber in Deutschland höchst ungenügende Beachtung gefunden, trotzdem das Reichs75 R. Eucken, Erziehung, S. 32. 76 Ziegler, Reformation, S. 5f; ders., Kultur, S. 12f.

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tagswahlrecht „den deutschen Staatsbürger schon seit 1871 zur tätigen Anteilnahme an den Staatsgeschäften berief“. Damit sei in die „Hände der Gesamtheit“ eine große Macht gelegt worden, die „nur dann unschädlich sein konnte, wenn dieser Macht auch ein gleichwertiges Verantwortungsgefühl entsprach“. Der „Normalbürger“ habe aber geglaubt, seine Pflicht dem Staat gegenüber erfüllt zu haben, „wenn er alle paar Jahre am Wahltag in die Wahlzelle schlich“. Unter staatsbürgerlicher Pflichterfüllung verstehe er jedoch „die planmäßige Einstellung unserer Gedanken und Handlungen auf die Bedürfnisse der Gesamtheit des Volkes und des Staates.“77 Die Rhetorik des Kemptener Euckenbund-Vorsitzenden hat an solchen Stellen einen totalitären Klang, den man in den Äußerungen seines Meisters kaum heraushören kann. Anders als Ziegler denkt Eucken auch vom Individuum und seinen Entwicklungsmöglichkeiten aus. Der Mensch nämlich, der „nicht sicher in seinem Staate steht, der die eigne Verantwortung für die gemeinsamen Dinge ablehnt und diese als gleichgültig behandelt, der ist nur ein verkümmerter Mensch, mag er noch so gelehrt sein“. Zur Bildung des ganzen Menschen gehöre das Bewusstsein, die Sache des Ganzen mitzutragen und dadurch „bei sich selbst zu wachsen“.78 Es bleibt bei Rudolf Eucken immer eine gewisse Skepsis gegenüber dem „preußischen“ Beamtenstaat. Am deutlichsten tritt diese, auch emotional unterfütterte Abneigung vielleicht in den Passagen seiner 1921 veröffentlichten Memoiren zutage, in denen er sich an die Reichsgründungszeit erinnert – wenn er etwa davon berichtet, wie er 1866 mit anderen Göttinger Studenten „eine Art Freikorps“ gebildet habe, das für die Belange des welfischen Königshauses eingetreten sei. Bei der Neugestaltung der Verhältnisse sei für diese Bestrebungen dann kein Platz mehr gewesen; alles sei bedauerlicherweise „von oben“ geordnet worden. Bitterer noch klingen seine Reminiszenzen an die Maßregelung und Zwangspensionierung seines alten Auricher Lehrers wegen „althannoveranischer“ Äußerungen durch die neue preußische Obrigkeit: Dieser Fall ist charakteristisch für die bureaukratische Art, die Deutschland wie ein dichtes Gewebe umsponnen hat. Diese Bureaukratie hat kein Augenmaß für groß und klein, sie denkt in starren Schablonen und kann sich in keiner Weise in eine fremde Denkart versetzen sowie kein Recht einer Individualität würdigen.79

Dieser kritische Grundton durchzieht selbst Euckens Erinnerungen an die Reichseinigung von 1871. Es habe zwar „wohltuend und befestigend“ gewirkt, dass sich „aus dem wirren Getriebe der Parteien und der sich gegenseitig wider77 Zitate: Ziegler, Kultur, S. 12f; ders., Reformation, S. 9ff. 78 R. Eucken, Erziehung, S. 31. 79 Ders., Lebenserinnerungen, S. 19f, 32f.

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sprechenden Programme eine feste Hand hervorhob und ein deutliches Ziel vorhielt“. Doch bei „aller Anerkennung der überlegenen Größe“ Bismarcks habe er selbst es nicht vollauf verwinden können, „daß jene Wendung ohne alle Selbsttätigkeit des Volkes erfolgte“. Er habe daher „keine reine Freude“ an dieser Entwicklung empfinden können. „Ich hatte gehofft, dem äußeren Aufschwung würde auch ein innerer entsprechen, und es würde das Leben mehr in Selbsttätigkeit gestellt werden.“80 Euckens „Lebenserinnerungen“ aus den frühen 1920er Jahren lesen sich stellenweise wie eine Abrechnung mit dem Beamtenstaat und dem Bürgertum des Kaiserreichs. Die Politik habe damals die ideellen Faktoren des menschlichen Zusammenlebens unterschätzt. Der „Kulturkampf“ sei ihm ebenso unsympathisch gewesen wie „die schroffe Art, wie die unserem Staatsverbande einverleibten Völker behandelt und selbst in ihrer Muttersprache eingeengt wurden; unsympathisch auch das Sozialistengesetz mit seinem verfehlten Versuch, eine weltgeschichtliche Bewegung durch polizeiliche Maßregeln zu unterdrücken“. Die Schuld an diesen Fehlentwicklungen wollte der Jenaer Philosoph weniger bei Bismarck suchen als im Verzicht des deutschen Bürgertums auf einen selbständigen politischen Willen. Die politische Macht sei so einem Beamtenstaat verblieben, „der von oben her zu regieren und die Staatsbürger mehr als Objekt denn als Subjekt der Tätigkeit zu behandeln pflegte.“ Dies habe sich nach Bismarcks Entlassung schwer gerächt, als nicht mehr „ein überlegener Geist das Ganze lenkte“.81 Den Staatsbürgern verlangt Rudolf Eucken in seinen Schriften und Reden der Nachkriegszeit Zivilcourage – „bürgerlichen Mut“ – ab. Die Zivilcourage, die er meint, richtet sich allerdings keineswegs auf ein mutiges Eintreten für bürgerliche Rechte gegenüber staatlichen Machtansprüchen. Sie äußert sich vielmehr in dem Mut des Einzelnen, seiner „gesellschaftlichen Umgebung“, dem „geringen Durchschnitt“, „der sich als öffentliche Meinung bezeichnet“, entgegenzutreten, „etwaige Irrungen aufzudecken“ und dabei auch keinen Widerspruch mit Parteidoktrinen zu scheuen. Die Courage des Citoyen, des Staatsbürgers zeigt sich nicht zuletzt im Eintreten für den Staat. Sie ist besonders dann gefragt, wenn der „Staat“ vor der Gesellschaft – gut hegelianisch gedacht als Reich der individuellen Bedürfnisse und egoistischen Interessen – in Schutz genommen werden muss. In diesem Sinne dürfte auch die „Staatsgesinnung“ in

80 Ebd., S. 36f. 81 Ebd., S. 37; ders., Deutsche Freiheit, S. 8.

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den Ethischen Richtlinien verstanden werden, zu der sich die Mitglieder des Euckenbundes verpflichteten.82 Bedroht erschien der nachrevolutionäre Staat vor allem von den politischen Parteien. Die Parlamentarisierung hatte es in dieser Lesart den Parteien ermöglicht, in den Kernbereich staatlicher Gestaltungsmacht vorzudringen, um dort die „Sonder“-Interessen ihrer Klientelgruppen durchzusetzen, ihren Mitgliedern öffentliche Ämter und Pfründe zu sichern und staatliches Handeln ihren politischen Doktrinen zu unterwerfen. Der Staat erschien als ein prekäres Gebilde, das vom Zugriff unbefugter gesellschaftlicher Mächte bedroht war. Er war nun auf die aktive Unterstützung „staatstragender“ und „staatsbejahender“ Bürger angewiesen. An sich sah der Philosoph die Parteien für das Funktionieren einer freiheitlichen Staatsverfassung als unentbehrlich an, hielten sie doch das staatliche Leben in Fluss. Zu einer Gefahr würden sie aber dann, „wenn sie den ganzen Menschen unter sich ziehen, wenn sie seine Überzeugungen und, was noch schlimmer ist, seine Interessen sich unterwerfen“. Parteien müsse es geben, aber „Parteimenschen“ seien ein Unglück.83 Euckens Version einer Staatsbürgergesellschaft mag zwar in wesentlichen Grundzügen durchaus als ziviler Entwurf politischer Ordnung erscheinen. Doch enthält dieser Entwurf in seinem Zentrum, eben im „Staat“, auf den sich das Handeln der Bürger zu beziehen hat, eine Leerstelle: Was konstituierte nach dem Ende der Monarchie einen Staat, der unabhängig von der Gesellschaft gedacht wurde? Wer waren seit dem November 1918 die Repräsentanten dieses Staats und mit welcher Legitimation übten sie staatliche Gewalt aus? Stellenweise wird der Staat in Rudolf Euckens politischen Schriften ins Transzendente verlagert und der Sphäre des „Geisteslebens“ zugerechnet – und so diskursiv dem Mehrheitswillen der „bloßen Menschen“ entzogen. Im Staat, so führte der Philosoph im Januar 1924 in einem öffentlichen Vortrag in Jena aus, stecke „selbst etwas Übermenschliches“; er sei „Träger einer überlegenen, höheren, ethischen Ordnung“.84 Der Euckenbund verstand sich selbst als „unpolitische“ Bewegung, meinte damit aber im Grunde nur, dass er nicht die Positionen einer bestimmten Partei oder politischen Richtung vertrat. Rudolf Euckens programmatische Stellungnahmen gegen Sozialismus und Demokratie zogen aber bereits 1919/20 deutliche Grenzen gegenüber denjenigen Parteien, die am stärksten mit dem neuen demokratischen Staat identifiziert waren, die SPD und die linksliberale Deut82 ThULB NLRE VI, 13, Mappe 1, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung 26.1.1924; R. Eucken, Zur ethischen Frage, S. 2. 83 R. Eucken, Deutsche Freiheit, S. 26f. 84 ThULB NLRE VI, 13, Mappe 1, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung 26.1.1924.

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sche Demokratische Partei (DDP). Mitglieder und Anhänger dieser beiden Parteien finden sich, soweit zu übersehen ist, allenfalls vereinzelt unter der Angehörigen des Euckenbundes. Belegt ist Mitgliedschaft von Sozialdemokraten nur in der Chemnitzer Ortsgruppe. Hier hatte Otto Günther zwei seiner sozialdemokratischen Lehrerkollegen für den Bund angeworben. Andere Mitglieder des Chemnitzer Euckenbundes gehörten der DDP an. Die programmatischen Stellungnahmen des Bundes und seines Namensgebers, wie die Pazifismus-Klausel der Ethischen Richtlinien oder Euckens Sozialismus-Buch, führten denn auch in den Sitzungen und Vortragsabenden der Ortsgruppe Chemnitz häufiger zu stürmischen Debatten.85 Wie scharf Rudolf Eucken selbst die Linie gegenüber der Sozialdemokratie zog, musste im ersten Nachkriegsjahr sein Schüler Eberhard Grisebach erfahren. Der Privatdozent hatte im April 1919 die Festrede auf einer sozialdemokratischen Jugendweihe-Veranstaltung in Erfurt gehalten. Daraufhin brach Eucken die persönlichen Beziehungen zu Grisebach, ohne ihn anzuhören, in brüsker Weise ab. Er habe, so rechtfertigte der Philosoph sein Verhalten, „durch mein ganzes Leben und Wirken die Ueberzeugung verfochten, dass die Moral für ihre Kräftigung und volle Vertiefung einer metaphysischen und religiösen Ueberzeugung bedarf“. Nun habe er schmerzlich feststellen müssen, „dass Herr Dr. Grisebach … bei einer feierlichen Gelegenheit den entgegengesetzten Standpunkt vertrat. Gerade eine Zeit wie die gegenwärtige verlangt dringend, dass jeder fest auf seiner Ueberzeugung steht und die daraus erwachsenden Konsequenzen zieht.“86 Auch zum katholischen Zentrum, hielten die Euckenianer im Allgemeinen Distanz. Der „Ultramontanismus“ der Zentrumspartei war dem Jenaer Philosophen bereits vor 1914 höchst suspekt gewesen. Sie galt ihm und seinen Gesinnungsgenossen als politischer Arm der katholischen Kirche, als Gegner der Geistesfreiheit, als „national unzuverlässig“. Noch 1932 versicherte sich der Vorsitzende der Ortsgruppe Halle bei Irene Eucken zurück, ob sie „aus konfessionellen Gründen“ Bedenken gegen die Aufnahme eines Katholiken trage. Auf jeden Fall wolle er erst einmal eruieren, wie der Kandidat zum Zentrum stehe.87 Das in der Mitgliedschaft des Bundes in den 1920er Jahren vertretene parteipolitische Spektrum umfasste im Allgemeinen lediglich die Deutsche Volkspartei (DVP) und die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die Nachfolgeparteien 85 Vgl. Ebd. VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Otto Günther an Sekretariat Jena, 24.9.1924, 18.2.1925 und 23.11.1927. 86 Ebd. I, 29, Bl. 7: Rudolf Eucken an Alfred Benda, 10.2.1920. Vgl. ebd. I, 2, Bl. B 219f: Benda an Eucken, 1.2.1920; ebd. V, 2, Bl. 463-466: Charlotte Grisebach an Irene Eucken, 6.4.1919 und 24.1.1920; ebd. V, 5, Bl. 1418: Helene Spengler an Irene Eucken, 15.4.1919; sowie Schlotter, Totalität, S. 171; Steinbach, Versumpfung, S. 206. 87 Vgl. ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Irene Eucken, 29.6.1932.

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der Nationalliberalen und der Konservativen. Die engsten Verbindungen pflegten die Euckenianer zur DVP. Der Chemnitzer Vorsitzende Otto Günther war Mitglied dieser Partei, ebenso Wally Cramer, die Bochumer Euckenbund-Aktivistin. Arnold Eucken teilte Ende 1919 seinen Eltern mit, er sei der Breslauer DVP beigetreten. Er habe entschieden den Eindruck, „daß der Kreis um die Deutsche Volkspartei z. Z. viel mehr Intelligenz und Kultur beherbergt als der der Deutschnationalen. Und schließlich gehört unsereins doch dorthin.“ Eine ganze Reihe von DVP-Spitzenpolitikern gehörten dem Euckenbund an: der Vorsitzende Gustav Stresemann, der thüringische Ministerpräsident Richard Leutheußer, die Reichstagsabgeordneten Otto Most und Jakob Rießer, ebenso der Reichsinnenminister Karl Jarres. Aktives Engagement in der Arbeit des Bundes entfaltete allerdings nur Most. Ein DDP-Mann, der sächsische Volksbildungsminister Emil Menke-Glückert, rechnete sich ebenfalls zu den Anhängern Rudolf Euckens. Prominente Deutschnationale finden sich nicht in den Mitgliederlisten des Euckenbundes. Unter den Aktivisten des Bundes gab es aber wohl nicht wenige DNVP-Mitglieder. So trug sich Hans Traugott Schorn, der dem Vorstand der Ortsgruppe Hannover angehörte und für den Euckenbund in England unterwegs war, 1924 mit mit dem Gedanken, für die Deutschnationalen bei der Reichstagswahl zu kandidieren, und war dann am Ende des Jahres im Wahlkampf für die Partei aktiv.88 Ein mehr oder minder aktives DNVP-Mitglied stand allerdings dem Führungszirkel des Euckenbundes besonders nahe. Ida Eucken war der Partei 1919 beigetreten und engagierte sich in der Folgezeit eifrig in der Jenaer DNVP-Jugendgruppe. Sie tat dies wohl etwas übereifrig, denn im Frühjahr 1920 ermittelte die Weimarer Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch wegen Hochverrats gegen die Tochter des Philosophen. In der Familienkorrespondenz finden sich zahlreiche Äußerungen Ida Euckens, die auf ein radikalnationalistisches Weltbild schließen lassen und die sie auf der Skala der politischen Einstellungen deutlich weiter rechts verorten als ihre Eltern und Geschwister. So berichtete sie unter dem 2. September 1919 ihrer Mutter, sie habe zur Feier des Sedantages – „und weil die Regierung es verboten hat“ – „mächtig geflaggt, zum Badezimmer heraus, jeder Mensch bleibt erschrocken über die Riesenfahne stehen“. Man kann davon ausgehen, dass Ida Euckens Fahne nicht

88 Ebd. V, 9, Bl. 134: Arnold an Irene Eucken, 27.12.1919. Vgl. ebd I, 5, Bl. C 352: Wally Cramer an Rudolf Eucken, 24.6.1920; ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin: Sekretariat Jena an Curt Hacker, 5.5.1922; ebd. VI, 3, o. Bl.: Sekretariat Jena an Hacker, 22.3.1922; ebd. VI, 27, o. Bl.: Emil Menke-Glückert an Benno von Hagen, 18.2.1929; ebd. VI, 6, o. Bl.: H. T. Schorn an Sekretariat Jena, 20.6. und 6.11.1924; ebd. VI, 12, o. Bl.: Otto Günther an Benno von Hagen, 16.10.1933; Der Euckenbund, März 1925, S. 34.

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in den Farben Schwarz-Rot-Gold gehalten war. Eine weitere Kostprobe ihres politischen Humors findet sich in einem Brief an die Mutter vom September 1924, in dem sie über das Wohnhaus schreibt, das der Physiker und Kunstmäzen Felix Auerbach gerade im Bauhaus-Stil errichten ließ: Auerbachs Haus ist doch mit den komischen Ambisteinen gebaut! Die werden nass auf dem Bauplatz zubereitet und noch feucht eingesetzt. Da haben die Sextaner auf jedem Schulweg in die schon gemauerten Steine Hakenkreuze geformt! Alles lacht! Ich finde es blendend!89

Der Euckenbund vor der „Judenfrage“ Drei Wochen nachdem Ida Eucken ihr Amüsement über die HakenkreuzSchmierereien am Haus eines angesehenen jüdischen Mitbürgers kundgetan hatte, musste sich die Jahresversammlung des Euckenbundes damit beschäftigen, ob und unter welchen Bedingungen Juden aufgenommen werden sollten. Unmittelbarer Anlass war ein Eklat, der sich im April 1924 auf einer „Euckenwoche“ in Breslau zugetragen hatte. Rudolf Eucken selbst hatte einen Vortrag gehalten. In der anschließenden Diskussion kam es zu einem erregten Wortwechsel zwischen dem Philosophen und dem jüdischen Blindenlehrer und Hochschuldozenten Ludwig Cohn. Über das, was sich dort genau zugetragen hat, gehen die Darstellungen der Beteiligten auseinander. Cohn veröffentlichte knapp zwei Wochen später seine Version der Ereignisse in der Jüdischen Zeitung für Ostdeutschland. Er habe in der Diskussion seiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, „daß eine ethisch-philosophische Gemeinschaft von einer deutsch-christlichen Ethik spreche und nicht von einer Menschheitsethik“. Seien denn Juden weniger ethisch veranlagt als Christen? Man möge ihm klipp und klar sagen, ob der Euckenbund demnach die Juden von der Mitgliedschaft ausschließe. In Cohns Darstellung blaffte ihn Eucken daraufhin an: „Herr, Sie sind kleinlich und empfindlich! Vielleicht sagen Sie gar noch, ich sei Antisemit!“. Dann habe ihm der Philosoph auseinander gesetzt, dass das „Ringen zur Persönlichkeit in Innerlichkeit und Schaffenskraft ist etwas Gottgegebenes, was eben nur dem Deutschen und Christen eigen sein kann“. Schließlich habe Eu-

89 ThULB NLRE V, 13c, Bl. 50, 143: Ida an Irene Eucken, 2.9.1919 und 17.9.1924: Vgl. ebd., V, 11, Bl. 121: Walter an Irene Eucken, 12.4.1920; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Erdsiek, 9.4.1920; Oswalt, Opposition, S. 326.

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cken „mit erhobener Stimme“ ausgerufen: „Ich will, es sollen im Euckenbunde Juden nicht sein!“.90 In seiner Gegendarstellung in der gleichen Zeitung stritt Rudolf Eucken vehement ab, diesen letzten Ausspruch von sich gegeben zu haben. In der Juninummer des Euckenbund führte er dann aus, es habe ihn peinlich berührt, dass Cohn einen abstrakten Menschenbegriff zum Maßstab genommen und für die Eigentümlichkeit und Größe des deutschen Wesens so gar keine Schätzung gezeigt habe. Es sei ihm dadurch klar geworden, „welche tiefe Kluft das deutsche Geistesleben und gewisse – nicht alle – jüdische Kreise trennt“. Drei Arten jüdischen Denkens glaubte Eucken unterscheiden zu können. Auf der einen Seite ständen die Zionisten, die sich explizit nicht als Deutsche fühlten und Palästina als ihre Heimat ansähen. Auf der anderen Seite kenne er aber zahlreiche Juden, „welche ihre geistige Heimat im deutschen Leben finden und diesem Leben aus voller Seele dienen“. Es gebe aber nun, drittens, auch viele Juden, die sich halb als Juden und halb als Deutsche betrachteten. Dies sei nun die eigentlich problematische Gruppe, denn „bei der Hauptrichtung des Strebens“ gebe es nun einmal kein Mittelding: „was man ist, das muß man mit ganzer Kraft sein“. „Der Jude muß entweder Deutscher werden mit Leib und Seele und die deutschen Geschicke teilen, oder er muß Jude bleiben.“91 Die Stellungnahmen Euckens trugen wohl kaum dazu bei, die Wogen im Breslauer Euckenbund zu glätten. Die jüdischen Mitglieder der Ortsgruppe hatten inzwischen ihren Austritt aus dem Bund erklärt, was die Jenaer Geschäftsstelle gegenüber Curt Hacker zu dem Kommentar veranlasste, dies sei „ja in keiner Weise bedauerlich“. Hacker wiederum hatte bereits während der Breslauer „Euckenwoche“ Öl ins Feuer gegossen, als er den Ortsgruppenvorsitzenden Hans Georg Haack, einen protestantischen Pfarrer, scharf kritisierte, weil dieser wiederholt Juden zu Vorträgen eingeladen hatte. Er habe, so berichtete der Berliner Oberschullehrer, bei seinem Aufenthalt in Breslau den Eindruck gewonnen, „wie stark in den wertvollsten Mitgliedern der Breslauer Gruppe die Besorgnis und Trauer wegen eines wachsenden Einflusses spezifisch jüdischer Geister bereits Wurzel gefaßt hat“. Pastor Haack setzte nun die Debatte der „Judenfrage“ auf die Tagesordnung der Jahresversammlung des Euckenbundes im

90 Jüdische Zeitung für Ostdeutschland 25.4.1924. Vgl. R. Eucken, Nachwort, S. 21. Zu Cohn: http://www.europeana.eu/portal/en/record/2048612/data_item_cjh_lbiarchive_oai_digital_cjh_org_1768993.html 91 Jüdische Zeitung für Ostdeutschland Nr. 12, 9.5.1924; R. Eucken, Nachwort, S. 21f. Vgl. zu dieser Dreiteilung auch Hambrock, Etablierung, S. 48f.

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Oktober 1924. Es sollte verbindlich festgelegt werden, unter welchen Bedingungen Juden Mitglieder des Bundes werden konnten.92 Die Breslauer Vorgänge waren nun nicht die erste Gelegenheit, bei der sich der Euckenbund und seine lokalen Gliederungen mit der Frage der Aufnahme von Juden befassten. Als Anfang 1922 Arthur Reichenberger, der Münchner Ortsvorsitzende des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, dem Euckenbund beitreten wollte, nahm dies die Führung der Ortsgruppe zum Anlass für eine grundsätzliche Klärung. Nachdem sich die große Mehrheit der Münchner Mitglieder dagegen ausgesprochen hatten, Juden aufzunehmen, wurde beschlossen, Aufnahmeanträge von Juden bis auf weiteres abzuweisen, die Bestimmung aber nicht in die Satzungen aufzunehmen. Die Kemptener Ortsgruppe folgte kurz darauf diesem Beispiel. Curt Hackers Lichterfelder Gruppe beschloss auf Initiative ihres Vorsitzenden im Frühjahr 1924 ebenfalls, „Juden grundsätzlich herauszuhalten“.93 Der Münchner Euckenbund hatte sich im März 1922 ebenso wie der abgewiesene Reichenberger an Rudolf Eucken persönlich gewandt. Einige Wochen später fragte zudem die Breslauer Ortsgruppe in Jena an, wie man sich gegenüber einer örtlichen Freimaurerloge verhalten solle, die dem Bund korporativ beitreten wollte. Da die Loge zahlreiche Juden als Mitglieder habe, seien in der Gruppe Bedenken laut geworden, der jüdische Einfluss könnte „das spezifisch Deutsche unseres Denkens und Strebens verwischen“. Rudolf Eucken betonte in seinem Antwortschreiben, er vertrete entschieden die Meinung, dass der Euckenbund unmöglich alle Juden ausschließen könne. Es gebe unter ihnen „manche tüchtige und für die deutsche Sache verdiente Persönlichkeiten“. Er selbst würde empfehlen, solche Juden aufzunehmen, die sich als Deutsche fühlten und bekannten, Zionisten dagegen abzuweisen. Allerdings sollte es den einzelnen Ortsgruppen nicht verwehrt werden, Juden auszuschließen, wenn sie dies wollten. Man lege im Euckenbund großen Wert auf persönliche und freundschaftliche Verhältnisse und dies könne man eben nicht gewaltsam erzwingen. Im Übrigen gab der Philosoph der Überzeugung Ausdruck, der Antisemitismus beinhalte die Gefahr von Verengung und Ungerechtigkeit und habe dem deutschen Leben sehr geschadet. Die Jahresversammlung des Bundes im 92 ThULB NLRE VI, 3, o. Bl.: Sekretariat Jena an Curt Hacker, 2.5.1924; ebd. Curt Hacker an Irene Eucken, 26.9.1924. Vgl. ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Lazar von Lippa an Benno von Hagen, 4.2.1931; Der Euckenbund 5, 1924, S. 44. 93 ThULB NLRE I, 10, Bl. H 22: Curt Hacker an Rudolf Eucken, 7.5.1924. Vgl. ebd. VI, 31, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 8: Josef Schwarz an Sekretariat Jena, 16.3.1922; ebd. I, 7, Bl. E 151154: Schwarz an Eucken, 27.3. und 29.3.1922; ebd. I, 23, Bl. R 75f: Arthur Reichenberger an Eucken, 22.3.1922; ebd. VI, 29, o. Bl.: Ortsgruppe Kempten: Bericht September 1922. Zu Reichenberger vgl. Pöckinger, Soldaten, S. 327.

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Oktober 1922 einigte sich schließlich auf die Minimalformel, jede Ortsgruppe müsse über Aufnahme und Ausschluss von Juden von Fall zu Fall selbst entscheiden.94 Zwei Jahre später stand das Thema dann wieder auf der Agenda der Hauptversammlung des Euckenbundes. Pastor Haack ließ sich nun nicht mit dem Hinweis auf die Freiheit der Ortsgruppen, über die Aufnahme neuer Mitglieder autonom zu entscheiden, abspeisen. Er habe infolge der unklaren Haltung des Bundes „mehrere sehr wertvolle jüdische Mitglieder“ verloren, „deren Verlust er sehr bedauere.“ Er stellte daher den Antrag, die Hauptversammlung möge erklären, dass die „Verweigerung der Aufnahme von jüdischen Mitbürgern, die sich bewußt als Deutsche fühlen und die Richtlinien unseres Bundes anerkennen,“ mit dem Grundgedanken des Euckenbundes unvereinbar sei. Da sich über diesen Antrag keine Einigkeit erzielen ließ, stimmte die Mehrheit der Anwesenden dem Vorschlag zu, Rudolf Eucken möge mit einem Schiedsspruch die Sache klären. Zum Sitzungsbeginn am folgenden Morgen präsentierte der Ehrenvorsitzende seinen Spruch, der faktisch die bestehende Regelung bekräftigte: Jüdische Persönlichkeiten, welche die deutsche Gesinnung teilen und im besonderen unsere Richtlinien anerkennen, können Mitglieder unseres Bundes werden und gemeinsam mit uns für unsere ethischen Aufgaben wirken. Aber es liegt bei den einzelnen Ortsgruppen, ob sie jene in ihren Kreis aufnehmen oder nicht.95

Haack verkündete daraufhin gerade heraus, er werde sich diesem Schiedsspruch nicht unterwerfen. Offensichtlich machte der Pastor nun mit deutlichen Worten seinem Unmut auch gegenüber seinem Meister Luft. Zurück in Breslau stellte er den Antrag, seine Ortsgruppe solle aus dem Gesamtbund austreten. Nach sehr erhitzten Debatten fanden die Breslauer Euckenianer einen Konsens über das weitere Verbleiben im Bund, drängten aber auf die Formulierung eines alle Ortsgruppen verpflichtenden Statuts. Arnold Eucken erläuterte Ende Oktober 1924 seiner Mutter, Haack und Genossen wollten vor allem verhindern, dass der Euckenbund, „in ein einseitig völkisches Fahrwasser gerät“. Es wurden nun zwar tatsächlich Statuten entworfen und als „Gliederungen des Euckenbundes“ im Januar 1925 im Vereinsorgan veröffentlicht. Doch gab diese Satzung den Ortsgruppen in der Aufnahme oder Ablehnung neuer Mitglieder explizit volle 94 ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Lehrer Heinrich an Sekretariat Jena, 14.4.1922; ebd. o. Bl.: Rudolf Eucken an Lehrer Heinrich, 18.4.1922. Vgl. ebd. I, 7, Bl. E 153: Josef Schwarz an Eucken, 27.3.1922; ebd. I, 23, Bl. R 75ff: Arthur Reichenberger an Eucken, 22.3.1922; ebd. VI, 24: Mappe 1922: Protokoll der 3. Hauptversammlung 6./7.10.1922, S. 4. 95 Der Euckenbund 5, 1924, S. 44f. Vgl. ThULB NLRE VI, 24: Mappe „1925 Stenograph. Notizen …“, o. Bl.: Protokoll Hauptversammlung 17.10.1925, S. 2.

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Freiheit. Zudem heißt es an anderer Stelle: „Der Euckenbund ist religiös im Grundsinn des Christentums ohne ausschließende Betonung der einen oder der andern Konfession“ – eine Formel, die auch als Ausschlusskriterium für Menschen jüdischen Glaubens gedeutet werden konnte. So nimmt es nicht Wunder, dass Haack schließlich den Euckenbund verließ und eine neue „Tatgemeinschaft deutscher Idealisten“ ins Leben rief. Der Bund verlor damit einen seiner profiliertesten Köpfe. Noch im Frühjahr 1923 hatte ein Porträt des Breslauer Theologen in altdeutscher Tracht das Titelblatt der englischsprachigen Eucken Review geziert.96 Damit war die Sache aber noch nicht ausgestanden. Im Vorfeld der Hauptversammlung von 1924 hatte der Vorsitzende des Verbandes nationaldeutscher Juden, Max Naumann, mit Rudolf Eucken über die Auseinandersetzungen nach dem Breslauer Eklat korrespondiert und den Wunsch geäußert, dem Euckenbund beizutreten. Diese Bitte wurde ihm zwar gewährt, doch bat ihn die Geschäftsstelle, sich direkt in Jena anzumelden und nicht an seinem Wohnort Berlin. Eine Ortsgruppe bestehe hier nur in Lichterfelde, man plane aber die Bildung einer Gruppe im „eigentlichen Berlin“. Hinter dieser Anweisung stand wohl auch, dass Hackers Lichterfelder Gruppe einige Monate zuvor beschlossen hatte, keine Juden aufzunehmen. Im Oktober nahm Naumann an der Hauptversammlung teil und meldete sich dort „als Jude“ in der Debatte zu Wort. Er pflichtete Eucken bei, dass man Zionisten nicht aufnehmen sollte. Doch hätten die „wirklich deutsch Fühlenden“ unter den Juden „innerlich das Recht mitzureden“. Sie dürften sich nicht ausschließen lassen, sondern müssten die gleiche Behandlung wie die „deutschfühlenden Nichtjuden“ verlangen.97 Am Tag nach der Jahresversammlung erklärte Naumann in einem Brief an das Euckenbund-Sekretariat, dass Rudolf Euckens Schiedsspruch nicht seinen Wünschen entsprochen habe. Er bat darum, ihm die Gelegenheit zu geben, im Nachrichtenblatt des Bundes „in sachlicher Form auszuführen, dass die gestern getroffene Entscheidung auf die Dauer nicht haltbar ist“. Dieses Ansinnen wurde ihm rundweg verweigert. Nachdem Entscheidungen über prinzipielle Fragen einmal getroffen seien, wolle man keine weitere Debatte oder Zeitungspolemik. Im Übrigen sei der Schiedsspruch ja gerecht, denn man würde den Juden Sonderrechte einräumen, wenn man die Ortsgruppen verpflichte, jedes jüdische Mitglied des Bundes in ihren Kreis aufzunehmen. Die Einzelmitglieder des Eu96 ThULB NLRE V, 9, Bl. 220: Arnold an Irene Eucken, 31.10.1924; Der Euckenbund, Januar 1925, S. 5f. Vgl. ThULB NLRE VI, 7, o. Bl.: Sekretariat Jena an Gustav Ziegler, 5.1.1925; Eucken Review Nr. 4/5, 1923. Zu Haack vgl. auch Hambrock, Etablierung, S. 89f. 97 Vgl. Der Euckenbund 5, 1924,S. 45. Vgl. ThULB NLRE I, 19, Bl. N 34: Max Naumann an Rudolf Eucken, 4.9.1924; ebd. VI, 5, o. Bl.: Korrespondenz Naumann – Sekretariat Jena, 9.8. - 16.9.1924.

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ckenbundes seien schließlich nicht gezwungen, sich einer Ortsgruppe anzuschließen.98 Der Vorsitzende des Verbandes nationaldeutscher Juden gab sich mit diesem Bescheid nicht zufrieden. Sein Beitritt zum Euckenbund scheint spätestens nun für ihn zu einer Probe aufs Exempel geworden sein: War die Ankündigung Rudolf Euckens, dass der nach ihm benannte Bund offen stehe für Juden, die sich zur deutschen Nation bekannten, tatsächlich beim Wort zu nehmen? Naumann versuchte nun, die Gründung einer zweiten Euckenbund-Gruppe in Berlin voranzutreiben und dabei die „Judenfrage“ erneut aufzurollen. Der Jenaer Führung, sprich: Irene Eucken, scheint es wiederum frühzeitig bewusst gewesen zu sein, dass Naumanns Berliner Aktivitäten für den Bund ein beträchtliches Sprengpotenzial besaßen. Bereits unmittelbar nach der Hauptversammlung kündete sie ihrem Bruder, dem Berliner Medizinprofessor Adolf Passow, ihren Besuch an, um die „Angelegenheit Naumann und nationaldeutsche Juden“ zu besprechen. „Die ganze Entwicklung hier bei unserer Tagung ist ganz anders verlaufen, als wir gedacht haben, und eine Einigung zwischen den Juden und dem Eucken-Bund ist nicht erfolgt.“99 Walter Eucken sollte nun dafür sorgen, dass die Angelegenheiten des Bundes in der Reichshauptstadt nicht aus dem Ruder liefen. „Die Sache mit dem Euckenbund nimmt hier eine ganze üble Wendung“, schrieb der Eucken-Sohn im Januar 1925 nach Jena. Als Beleg sandte er seiner Mutter ein gedrucktes Zirkular, das die „Groß-Berliner Mitglieder des Euckenbundes“ zu einer Versammlung einlud. Dort sollte die durch den Schiedsspruch Rudolf Euckens geschaffene Lage erörtert und wohl auch die Gründung einer zweiten Berliner Ortsgruppe ins Auge gefasst werden. Der Theologe und Schriftsteller Theodor Kappstein, ein langjähriger Anhängers des Jenaer Philosophen, würde einen Einleitungsvortrag zum Thema „Euckenbund und Judenfrage“ halten. Unterschrieben hatten den Rundbrief Kappstein – und Walter Euckens Onkel Adolf Passow.100 Dieser Vorstoß rief sofort den Euckenbundvorsitzenden Hacker auf den Plan. „Ich bin bereit, es nötigenfalls mit jedem aufzunehmen, der unsern Bund und seinen Frieden zu schädigen droht“, kündete er Irene Eucken an und entwickelte ihr einen detaillierten Plan, wie er die von seinem Intimfeind Kappstein einberufene Versammlung zu obstruieren gedachte. Das Ganze endete schließlich wie das sprichwörtliche „Hornberger Schießen“. Die Kontrahen98 ThULB NLRE VI, 5, o. Bl.: Korrespondenz Max Naumann – Sekretariat Jena, 13.10. und 20.10.1924. 99 ThULB NLRE VI, 5, o. Bl.: Irene Eucken an Adolf Passow, 13.10.1924. 100 Ebd. VI, 1, o. Bl.: Walter an Irene Eucken, 20.1.1925; ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin: Rundschreiben 16.1.1925.

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ten Kappstein, Naumann und Hacker sagten ihr Erscheinen kurzfristig ab; den Geheimen Medizinalrat Passow hatte man vergessen einzuladen. So saß Walter Eucken mit den wenigen zu dem Termin erschienenen Euckenbündlern, „darunter 3 national-deutsche Juden“, zu einer netten Plauderei zusammen. An seine Mutter schrieb er, die ganze Angelegenheit habe ihm die Augen über den jämmerlichen Zustand des Berliner Euckenbundes geöffnet. Die Misere machte er vor allem an der Person Hackers fest: „Er hält alle frischen aufstrebenden Kräfte fern, da er von ihnen Konkurrenz fürchtet: Ein kleiner Papst, der nichts hinter sich hat.“101 Wenige Tage nach der verunglückten Veranstaltung schrieb Max Naumann einen langen Brief an Walter Eucken, in dem er seine Sicht der Dinge erläuterte. Er sei in den Euckenbund eingetreten, um für dessen Ziele zu arbeiten. Doch habe er dazu bisher keine Gelegenheit gehabt, da er nicht einmal zu den offiziellen Veranstaltungen zum Geburtstag Rudolf Euckens eingeladen worden sei. „Einen solchen Zustand weiter zu ertragen, würde ich unter meiner Würde halten“. Er sehe nun, so Naumann weiter, für die Klärung des Verhältnisses zwischen dem Euckenbund und den Juden zwei Möglichkeiten. Entweder der Bund erkläre sich offen für antisemitisch, indem er Juden grundsätzlich von der Mitgliedschaft ausschließe. Dies erscheine ihm immer noch eine bessere Lösung als der bisherige Zustand, der darauf hinauslaufe, dass man theoretisch Juden aufnehme, „sie aber praktisch bei Seite schiebt“. Oder aber es werde die Möglichkeit dafür geschaffen, „dass auch Juden und sonstige Mitglieder, die Herrn Prof. Hacker oder sonst einem anderen Mitglied aus irgendwelchen Gründen nicht gefallen, zur aktiven Mitarbeit herangezogen werden.“ Diese könnte etwa mit der Gründung einer zweiten, Juden offen stehenden Berliner Ortsgruppe geschehen. Nachdem nun in Berlin eine Aussprache nicht habe stattfinden können, müsse Rudolf Eucken persönlich „durch das Gewicht seines Wortes“ die Möglichkeit für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit schaffen. Andernfalls könne er, Naumann, seine Mitgliedschaft im Euckenbund nicht aufrechterhalten.102 Die Pläne zur Gründung einer neuen Berliner Ortsgruppe verliefen spätestens nach dem Fortgang Walter Euckens aus der Reichshauptstadt im Sande. Rudolf Eucken enthielt sich fortan weiterer Verlautbarungen zur „Judenfrage“. Der Philosoph war letztlich nicht bereit, seine persönliche Haltung zum Antisemitismus in den Kanon der essentiellen Grundsätze seiner Bewegung aufzuneh101 ThULB NLRE VI, 3, o. Bl.: Curt Hacker an Irene Eucken, 23.1.1925; ebd. VI, 1, o. Bl.: Walter an Irene Eucken, 27.1.1925. Zu Hackers Verhältnis zu Kappstein vgl. ebd. VI, 3, o. Bl.: Hacker an Irene Eucken, 15.1.1924 [wohl 1925]. 102 Ebd. VI, 5, o. Bl.: Max Naumann an Walter Eucken, 29.1.1925.

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men. Eucken schien zunehmend unwillig, sich mit der Beziehung zwischen dem Bund und den Juden weiter zu befassen. An einen Breslauer Anhänger schrieb er im November 1924, die Judenfrage habe auf der Jahresversammlung die Gemüter über Gebühr bewegt. Für die meisten Ortsgruppen gebe es doch überhaupt kein Problem, da sie ja gar keine jüdischen Mitglieder hätten. Im persönlichen Umgang mit Juden zeigte Eucken sicherlich keine Berührungsscheu. Seinen jüdischen Schülern, Julius Goldstein und Isaak Benrubi, hatte er vor 1914 längere Zeit finanziell unter die Arme gegriffen, indem er ihnen über den Baron Hügel private Stipendien vermittelte. Mit beiden pflegte er den persönlichen Kontakt auch noch in den 1920er Jahren und setzte sich nachdrücklich für Goldsteins Berufung auf den Darmstädter Lehrstuhl ein.103 Dennoch erscheinen seine Verlautbarungen, was die Bewertung der Juden und des Jüdischen angeht, zumindest ambivalent. Auf der einen Seite hielt der Philosoph auch nach 1918 von Rassentheorien, die sich nun verstärkt im öffentlichen Diskurs ausbreiteten, nicht viel. Als im Sommer 1919 in einer Veranstaltung der Jenaer Luther-Gesellschaft ein Referent das „Problem des deutschen Menschen“ mit rassenbiologischen Kategorien zu lösen versuchte, wandte Rudolf Eucken sich in der Diskussion laut Protokoll dagegen, daß die Rassenfrage aus dem physiologischen auf das geistige Gebiet übertragen werde. Von einer reinen Rasse könne man in den Kulturländern überhaupt nicht mehr reden, da sich im Laufe der Jahrhunderte, eine starke Mischung vollzogen hat. Und wenn man, auf unsere großen Männer sehend, der deutschen bzw. germanischen Rasse höhere Qualitäten zuerkenne, so spreche dagegen doch der höchst unerfreuliche geistige Stand des Durchschnitts.104

Auf der anderen Seite produzierte und reproduzierte gerade der Idealismus Rudolf Euckens einen schier unerschöpflichen Strom kollektiver Stereotypen. Im Falle der Juden konnten diese Typisierungen durchaus wohlwollend ausfallen, wie etwa im Vorwort für das religionsphilosophische Werk des Karlsbader Rabbiners Ignaz Ziegler 1912, wo er den großen sittlichen Ernst und den freudigen Lebensmut des Judentums hervorgehoben hatte. In seinen Erläuterungen zur „Judenfrage“ ein Jahrzehnt später warnte er dagegen vor dem „jüdischen Geschäfts-Geist“, dessen Auswuchern ernst zu nehmende Gefahren für „unser Volk“ bringe. An anderer Stelle ist für ihn das Jüdische charakterisiert durch „eine freischwebende, auf den bloßen Verstand gestellte, abstrakte Denkweise, die einerseits zersetzend, andererseits verflachend wirkt“. Dabei stellt der „jüdi103 Vgl. StAUL Hügel Papers, ms2528, ms2544: Rudolf Eucken an Friedrich von Hügel, 25.12.1907 und 6.8.1911; 104 ThULB NLRE VI, 12, Mappe 10.1, o. Bl.: Mskr. „2. Luther-Besprechungsabend am 8.7.1919“. Vgl. ebd. I, 29, Bl. 149: Rudolf Eucken an Lazar von Lippa, 10.11.1924.

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sche Geist“ für Eucken offensichtlich ein ähnliches Konstrukt wie das „deutsche Wesen“ dar, eine typisierende Reduktion, die letztlich ohne empirischen Bezug auf das Denken und Handeln real existierender Juden auskommt. In Rudolf Euckens Rhetorik changiert daher der „deutsche“ wie der „jüdische Geist“ seltsam zwischen Real- und Idealtypus. Letztlich steht es aber in seiner Argumentation dem Individuum frei, wessen Geistes Kind es sein möchte. So setzte Eucken 1922 der Breslauer Ortsgruppe auseinander, er halte zwar Abwehrmaßnahmen gegen den Einfluss jüdischen Geistes für gerechtfertigt, doch dürfe „der einzelne Jude“ nicht darunter leiden, „wenn er selbst ein ehrenwerter und deutschgesinnter Mensch ist.“105 Diese Position wurde aber in der Führung des Euckenbundes offenkundig nicht allgemein geteilt. So erklärte der Vorsitzende Curt Hacker im September 1924 in einem Brief an Irene Eucken, in seinem Verständnis stehe es dem einzelnen Juden ganz und gar nicht frei, sich dem Deutschtum anzuschließen. Es sei nämlich „die innere Solidarität mit den Glaubens- und Stammesgenossen viel stärker, als dem einzelnen Juden, der sich zu uns halten will, bewußt sein mag“. Hinter ihm stehe „der hydraulische Druck der ganzen Rasse“. Er erkenne, so vertraute Hacker der Philosophengattin an, die „Dreiteilung des Herrn Geheimrats“ in zionistische, „deutsch gesinnte“ und „geistig heimatlose“ Juden zwar ohne weiteres an. Doch rechne sein Meister „nicht mit der im Gesamt-Judentum verkörperten, ganz eigenartigen, zum Parasitentum drängenden geistigen Energie, der sich der einzelne Jude bei bestem Willen kaum entziehen kann“. Der Euckenbund müsse aber imstande sein ohne Rücksicht auf fremde Zeugen und ihre Wünsche die deutsch-christliche Art des Wollens, Empfindens, Verhaltens zur Geltung zu bringen, zu läutern, zu steigern und zu stärken. Lieber einen harmlosen, ja nützlichen Juden zuviel fernhalten, als solche Marder in den Taubenschlag lassen!106

Der Vorsitzende des Euckenbundes bekannte sich hier zu einem aggressiven Antisemitismus, in dessen Begründungszusammenhang kulturalistische und rassistische Kategorien zwanglos ineinander übergingen. Solche Ansichten stießen bei der heimlichen Chefin des Bundes möglicherweise auf offenere Ohren als bei seinem Namensgeber. In Irene Euckens Privatkorrespondenz finden sich gelegentlich so krasse antisemitische Bemerkungen, dass man vermuten kann, dass sie wohl selbst die Ressentiments derjenigen Eu105 ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Rudolf Eucken an Lehrer Heinrich, 18.4.1922. Vgl. Ziegler, Geistesreligion, S. V. R. Eucken, Nachwort, S. 21. 106 ThULB NLRE I, 10, Bl. H 23: Curt Hacker an Rudolf Eucken, 7.5.1924, Anlage; ebd. VI, 3, o. Bl.: Curt Hacker an Irene Eucken, 4.11.1924.

Der Euckenbund vor der „Judenfrage“



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ckenbündler teilte, die partout keine Juden in ihrer Ortsgruppe haben wollten.107 Ihr älterer Sohn hielt ihr 1919 sogar vor, sie vertrete einen „schroffen Antisemitismus“. Arnold Eucken hatte darum gebeten, ein ihm bekanntes jüdisches Ehepaar doch einmal in die Botzstraße einzuladen. Irene Eucken hatte dieses Ansinnen augenscheinlich so empört zurückgewiesen, dass ihr Sohn sie daran erinnern musste, dass sie doch auch geselligen Umgang mit Juden pflege, etwa mit ihrer Vorstandkollegin im Verein der Kunstfreunde, Clara Rosenthal, mit dem Jenaer Kunsthistoriker Botho Graef und anderen mehr. Allerdings zeugt Arnold Euckens Brief an die Mutter von einer sehr ambivalenten Haltung. Er wolle keinesfalls als „Anwalt des Judentums“ auftreten. Vielmehr sei er „prinzipiell auch Judengegner“, der „einem Christen (richtiger Germane), wenn es irgend geht, den Vorzug“ einräume. Jedoch habe er, so Arnold Eucken weiter, jüdische Bekannte und Kollegen, „die ich persönlich z. T. sehr hoch schätze, mit denen ich beinahe sogar befreundet bin“. Im Übrigen halte er einen „einseitigen, fanatischen Antisemitismus“ für „uns Deutsche“ unangebracht. Man brauche nämlich „(leider!) die Juden zu manchen Kulturaufgaben, z. B. zum Journalismus“.108 Die Fronten in der „Judenfrage“ zogen sich quer durch die Familie Eucken. Noch wesentlich ungenierter als ihre Mutter posaunte Ida Eucken ihren Antisemitismus in die Welt hinein und benannte ihn auch so. So schrieb sie 1920, als sie ihren Vater auf einer Vortragsreise durch Dänemark und Norwegen begleitete, aus Oslo: „… es ist eine Wohltat mit reinrassigen Leuten zu tun zu haben, – da kann der Alte [Rudolf Eucken, M. S.] sagen, was er will, … – Man wird doch immer mehr Antisemit …“. Allerdings musste sie gewahr sein, dass ihr Bruder Walter auf derartige Äußerungen ziemlich allergisch reagieren konnte. Einen solchen Vorfall hat Ida Eucken selbst in einem Brief an ihre Mutter dokumentiert. Rudolf und Irene Eucken hatten Mitte der 1920er Jahre ihren Enkel Hans Joachim aufgenommen, der in Jena das Gymnasium besuchte. Walter habe sich, so schrieb Ida Eucken 1925 aus ihrem Feriendomizil auf Rügen nach Jena, „letzthin ganz namenlos über den ‚Antisemitismus‘ von Hans“ erregt, „insbesondere über die Juden-Plakate in seinem Zimmer“. Irene Eucken solle doch bitte vor dem anstehenden Besuch ihres jüngeren Sohnes wenigstens die „schlimmsten“ Plakate aus dem Zimmer des Enkels entfernen. Möglicherweise hing die empfindliche Reaktion Walter Euckens auf das mit antisemitischen 107 So etwa: „Nun aber ein schwerer Punkt: Frau v. Below ist angejudelt! Sie ist eine hochgebildete und keineswegs protzige Frau, aber – irgendwo ist Judenblut!“ (ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 26.12.1928). Siehe auch ihre Titulierung Goldsteins als „Itzig“ 1898 (oben S. 227, Anm. 19). 108 NLRE V, 9, Bl. 113f: Arnold an Irene Eucken, 19.8. und 31.8.1919.

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Postern geschmückte Zimmer seines Neffen auch damit zusammen, dass er eine Frau mit „ostjüdischem“ Migrationshintergrund geheiratet hatte. Der jüngere der Eucken-Söhne hatte seine spätere Ehefrau als Studentin im Wintersemester 1918/19 im nationalökonomischen Seminar seines Doktorvaters Hermann Schumacher in Berlin kennengelernt. Edith Erdsiek war 1896 in Smolensk geboren und als Achtjährige mit ihrer Familie nach Deutschland übergesiedelt. Ihr Vater war ein westfälischer Textilgroßhändler protestantischer Konfession, ihre Mutter entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Minsk.109

Die Reformation des Rechts Gerade in der Zeit nach seiner Gründung trat der Euckenbund in seinen öffentlichen Verlautbarungen bemerkenswert selbstbewusst auf und verkündete weitreichende Zielvorstellungen. So heißt es in einem Aufruf von Mitte 1921: „Der Euckenbund hat sich das Durchsäuern unseres ganzen Lebens zum Ziel gesetzt. Er will unsre Wirklichkeit beeinflussen, Leben von der Seele gestalten.“ Der Aufruf forderte nichts weniger als eine „Rechtsreformation“, eine grundlegende Neuordnung des deutschen Rechtssystems. Die Kritik richtete sich gegen die überkommene, an der Systematik des römischen Rechts orientierten Praxis der Rechtskodifizierung und Rechtsprechung in Deutschland. Dieses System habe einen kaum zu übersehenden Korpus detaillierter Gesetzesbestimmungen hervorgebracht. Es habe sich ein „Rechtspositivismus“ herausgebildet, in dem sich das Recht von der Gerechtigkeit gelöst habe, und eine Rechtsprechung, die sich stur am formalen „Buchstaben des Gesetzes“ orientiere. Der Euckenbund plädierte für ein stark vereinfachtes Recht, das mit einem Minimum an kodifizierten Gesetzen auskommen sollte. Die Rechtsprechung sollte stärker an ethische Prinzipien gebunden werden; die Interessen der Gemeinschaft hätten mehr zu gelten als egoistische Einzelinteressen. Eine unbürokratische Schiedsgerichtsbarkeit könnte den staatlichen Justizapparat von zahlreichen Bagatell- und Streitsachen entlasten.110 Solche Vorstellungen waren gewiss keine originären Hervorbringungen des Euckenbundes. Sie wurden in der Umbruchphase nach dem Ersten Weltkrieg in der juristischen Fachöffentlichkeit wie auch in den politischen Parteien lebhaft 109 ThULB NLRE V, 13c, Bl. 57f: Ida an Irene Eucken, 13.4.1920; ebd. V, 14, Bl. 203: Ida an Irene Eucken, 26.9.1925. Vgl. Becke-Goehring/Eucken, Arnold Eucken, S. 55; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 66f; dies., Edith Eucken-Erdsiek, S. 397. 110 Der Euckenbund 2, 1921, S. 27f. Vgl. ebd. 3, 1922, S. 1, 17f; von der Pfordten, Recht; ders., Arbeitsgemeinschaft.

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diskutiert. Das Einklinken in die Rechtsreform-Debatte war für den Euckenbund attraktiv, weil sich hier ein Feld eröffnete, auf dem grundlegende Forderungen und Prinzipien der Lehre und Weltanschauung Rudolf Euckens in politisches Handeln umgesetzt werden konnten. Das Recht erscheint in der Sprache Euckens als als eigentümliche Offenbarung des Geisteslebens und besitzt als solche eine Verankerung im Metaphysischen. Die „bloßen Individuen“ könnten „nun und nimmer“ Recht erzeugen. Der transzendente Bezug macht sich vor allem am Begriff der „Gerechtigkeit“ fest. „Die Gerechtigkeit ist ewig; wandelbar sind die Formen“, hieß es im Aufruf des Euckenbundes von 1921. Von dieser Warte aus ließ sich anschaulich gegen Positivismus, Relativismus und Utilitarismus argumentieren.111 Dass die Rechtsordnung als integrativer Teil eines größeren, holistischen Ganzen gedacht wird, kann als weiterer Topos Euckenschen Denkens gelten. Vom Recht werde ein eigentümliches Lebensgefüge vorausgesetzt; man müsse sich daher stets der Gefahr bewusst sein, „die daraus entspringt, daß die positive Rechtsordnung dazu neigt, das Recht von seiner Grundlage, vom schaffenden menschlichen Gesamtleben loszureißen und auf sich selbst zu stellen“. Im Recht müssten die „lebensgestaltenden Kräfte“ der Familie, „des bindenden Herkommens, die Volksart, der ganze Lebensstil, die Herzensbildung, die sittlichen Überzeugungen, die wirtschaftlichen Zustände, die tiefsten Fragen des Glaubens“ zum Ausdruck kommen. In diesem Sinne sollte das neue Recht einen „Inhalt“ haben – im Unterschied zum „formalen“ in abstrakten allgemeingültigen Sätzen gefassten Recht.112 Es verstand sich beinahe von selbst, dass diese Prinzipien als wesenhaft deutsch oder germanisch gedeutet wurden. Rudolf Eucken mochte zwar konzedieren, dass alles Recht letztlich „in unserem geistigen, auf ein gemeinsames Leben angewiesenen Wesen, das über den Gegensätzen der Völker steht“, wurzele. Doch vertrage sich diese universelle Einheit durchaus mit individuell ausgeprägten Bildungen im Rechtsleben der einzelnen Völker. Und nur solche Bildungen gäben „dem Leben eine volle Wirklichkeit“. Dass nun gerade die vom Euckenbund geforderte „Rechtsreformation“ einen wesenhaft deutschen Charakter haben sollte, erstaunt doch etwas. Das erstrebte „deutsche Recht“ weist nämlich grundlegende Ähnlichkeiten zur englischen und US-amerikanischen Rechtstradition auf mit ihrer Verankerung im Common Law, dem nicht-kodifizierten Gewohnheitsrecht, und ihrer induktiven Vorgehensweise vom Einzelund Präzedenzfall aus. Die ausgeprägte Rezeptionsgeschichte des römischen Rechts, die das deutsche und das französische Rechtssystem verbindet, wird 111 Der Euckenbund 3, 1922, S. 1; ebd. 2, 1921, S. 28. 112 Der Euckenbund 2, 1921, S. 28; von der Pfordten, Recht, S. 16

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hier bei der Bestimmung der „deutschen Art“ zugunsten einer imaginierten „germanischen“ Tradition ausgeblendet.113 Eine offensichtliche Konsequenz aus der Forderung, das Recht von detaillierten gesetzlichen Vorgaben zu lösen und an ethische Prinzipien, sittliche Überzeugungen und das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden zu binden, wäre die Erweiterung des Entscheidungsspielraums der Recht Sprechenden gewesen. Auch dies wurde von Rudolf Eucken und seine Anhängern als durchaus erwünschter Effekt angesehen, hätte doch damit die Urteilsfindung stärker im Ermessen „freigestaltender Persönlichkeiten“ gelegen. Der „Hebel zur Erneuerung von Volk und Staat“, so verkündete der Aufruf des Euckenbundes in etwas ungelenker Ausdrucksweise, müsse „nicht in der Rechtstechnik, sondern im sittlichen Gemeinschaftswillen und der sittlichen Vernunft (Ethik) in Richter- und Beamtenschaft angesetzt werden“. Man müsse endlich, sekundierte der bayerische Oberlandesgerichtsrat und Vorsitzende des Münchner Euckenbundes Theodor von der Pfordten 1922, „mit dem einfachen und schon so oft ausgesprochenen Gedanken Ernst machen, daß es viel weniger auf die Gesetze und Einrichtungen als auf die wirkenden Persönlichkeiten ankommt“. Grundvoraussetzung für eine Reformation des Rechts sei daher die Heranbildung eines „Juristenstandes“ mit hoher allgemeiner Bildung, beseelt von „wahrhaft philosophischem Geiste und freiem Blick für die Lebensbedürfnisse“. Dass mit einer solchen Neugestaltung des Rechtssystems auch eine Einbuße an Rechtssicherheit verbunden sein würde, wurde allenfalls ansatzweise reflektiert.114 Der Euckenbund beließ es nicht bei der Veröffentlichung seines Aufrufs, sondern startete im Juni 1921 eine großangelegte Aktion, um die ins Auge gefasste „Rechtsreformation“ voranzutreiben. Das Jenaer Sekretariat leitete den Aufruf mit einem persönlichen, in der Argumentation sorgfältig auf den jeweiligen Adressaten abgestimmten Anschreiben an die Wissenschafts- und Justizminister der Länder und des Reiches, an sämtliche juristische Fakultäten der deutschen Universitäten, an die Oberlandesgerichtspräsidenten, an die Herausgeber juristischer Fachzeitschriften sowie an einzelne Juristen, von denen angenommen werden konnte, dass sich ihre Vorstellungen zur Reform der Justiz in die gleiche Richtung bewegten wie die des Bundes. Auch die Vorstände der politischen Parteien, einschließlich der SPD, erhielten den Aufruf. Im Duktus der Dringlichkeit wurden die Minister, Jura-Professoren, Richter und anderen Juristen aufgefordert, sich für die Reformbestrebungen des Euckenbundes zu engagieren, sei es für eine „Umgestaltung der Rechtseinrichtungen und der Rechts-

113 R. Eucken, Einzelne Gedanken, S. 17. Vgl. von der Pfordten, Arbeitsgemeinschaft, S. 31. 114 Der Euckenbund 2, 1921, S. 28; von der Pfordten, Arbeitsgemeinschaft, S. 32.

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verfahren“, sei es für eine Reform der Juristenausbildung oder durch entsprechende Stellungnahmen in der Fachöffentlichkeit.115 Größere Resonanz scheint diese Aktion nicht gefunden zu haben. Offenbar hatte der Euckenbund seine Einflussmöglichkeiten und sein Renommee unter den staatlichen Entscheidungsträgern und den juristischen Meinungsführern gründlich überschätzt. Zur Jahreswende 1921/22 schritt der Bund schließlich zur Gründung einer Juristischen Arbeitsgemeinschaft. Die Mobilisierung der Juristen in der eigenen Mitgliedschaft sollte wohl dem Rechtsreform-Projekt neuen Schub verleihen. Im Mai 1922 unternahm die Jenaer Geschäftsstelle des Euckenbundes einen gezielten Vorstoß, um die politisch einflussreichsten unter den eingeschriebenen Mitgliedern zur aktiven Mitarbeit zu bewegen. Dem Berliner Ortsgruppenvorsitzenden Hacker wurde die Aufgabe übertragen, die DVPReichstagsabgeordneten Leutheusser, Rießer und Stresemann zu kontaktieren und aufzufordern, der Juristischen Arbeitsgemeinschaft beizutreten. Gustav Stresemann entzog sich diesem Ansinnen mit dem Hinweis darauf, er sei ja gelernter Volkswirt und kein Jurist.116 Rudolf Eucken meldete sich im Frühjahr 1922 im Mitteilungsblatt des Bundes mit dem ziemlich treffend überschriebenen Aufsatz Einzelne Gedanken eines Laien zum Rechts- und Gesellschaftsleben zu Wort. Unter den Juristen, die sich in der Arbeitsgemeinschaft engagierten, trat vor allem Theodor von der Pfordten hervor. Der Münchener Oberlandesgerichtsrat hatte Rudolf Eucken 1920 um einen Beitrag für die von ihm herausgegebene Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht gebeten. Er habe kürzlich die Lebensanschauungen der großen Denker gelesen und wünschte sich von dem Philosophen „eine idealistische Grundlegung des Rechts im Gegensatze zu der heute vielfach üblichen mechanisch-äusserlichen Auffassung“. Bei der Gelegenheit warb Eucken den Juristen für seinen neuen Bund an. Theodor von der Pfordten gehörte zur Jahreswende 1920/21 zu den Gründern des Münchener Euckenbundes und übernahm dessen Vorsitz.117 In zwei längeren Artikeln in Der Euckenbund stellte von der Pfordten 1922/ 23 eine Reihe grundlegender Überlegungen zu dem von den Euckenianern propagierten Justiz-Reformprogramm an. Er tat dies in durchaus abwägender Weise und mit erkennbar größerem juristischem Sachverstand als der oder die Ver115 ThULB NLRE VI, 12, Mappe 12, o. Bl.: Euckenbund an Staatsminister Dr. Paulssen, 16.6.1921. Vgl. die Kopien der abgesandten Schreiben in: ebd. 116 Vgl. Der Euckenbund 2, 1921, S. 29; ebd. 3, 1922, S. 1; ThULB NLRE VI, 12, Mappe 11, o. Bl.: Rundschreiben, 28.4.1922; ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin: Sekretariat Jena an Curt Hacker, 5.5.1922; ebd. VI, 7, o. Bl.: Briefwechsel Sekretariat Jena – Gustav Stresemann 6.5. und 17.5.1922. 117 ThULB NLRE I, 21, Bl. P 153f: Theodor von der Pfordten an Rudolf Eucken, 26.10.1920. Vgl. ebd. Bl. P 155: von der Pfordten an Eucken, 19.11.1920.

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fasser des reichlich unausgegoren wirkenden Aufrufs zur „Rechtsreformation“ von 1921. Der Münchener Oberlandesrichter wollte sich augenscheinlich nicht auf die Gegenüberstellung von „romanischem“ und „germanischem“ Recht einlassen. Er präsentierte vielmehr seinen Mit-Euckenbündlern eine Art Ehrenrettung des römischen Rechts, das in seiner klassischen Form „eine weit beweglichere Handhabung des Rechts“ ermöglicht habe als dessen spätere Umsetzung in den deutschen Rechtsordnungen. Was sich im 19. Jahrhunderts in der Lehre des römischen Rechts breit gemacht habe, sei eine „Verirrung übergelehrter deutscher Professoren“ gewesen. Man könne auch nun nicht alles mit einem Schlag ausstreichen, was seit dem Mittelalter in das Recht hinein gewachsen sei – und schon gar nicht die „große und in vieler Hinsicht genial ausgedachte Begriffswelt des römischen Rechts“.118 Auch vor allzu großen Erwartungen, was die geforderte Vereinfachung und „volkstümliche“ Ausgestaltung des Rechts betraf, warnte von der Pfordten. Auf einer höheren Stufe der Entwicklung werde das Recht immer bis zu einem gewissen Grade „unvolkstümlich“ sein, weil eben die allgemeinen kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse komplexer geworden seien. Besonderen Wert legte der Oberlandesgerichtsrat darauf, den Nachweis zu führen, dass das Recht wesensmäßig nicht Ausfluss der Staatsgewalt sei. Das Recht sei der „Niederschlag weltbewegender Menschheitsgedanken“ und keine vom Staat geschaffene Einrichtung. Der „Urgedanke“, der allem Recht zugrunde liege, sei „die Achtung vor dem fremden Selbst und vor den Gemeinschaftswerten, also die Beschränkung des eigenen Selbst“. Zur ihrer Verwirklichung habe sich die Rechtsidee an die staatliche Gewalt anlehnen müssen. Dieses Bündnis sei aber oft verhängnisvoll für die Idee geworden. Sie habe ihre Reinheit verloren, die Gewalt habe sich zu Lasten des Rechts breit gemacht und ziehe es „wieder herab in den Bereich eigensüchtiger menschlicher Bestrebungen“. „Selbst ein Bismarck“ sei nicht frei gewesen vom Bestreben, „den politischen Gegner auf dem Wege Rechtens zu vernichten“. Und auch der neue demokratische Staat missbrauche das Recht für politische Zweck, etwa durch Gesetze, die darauf zielten, das politische Wohlwollen einer bestimmten Volksschicht zu erkaufen.119 Dieser gegen die Staatsgewalt in Stellung gebrachte Rechtsidealismus erscheint in einem sehr merkwürdigen Licht, wenn man sich vor Augen hält, dass der Vorsitzende des Münchner Euckenbundes in den frühen 1920er Jahren gleichzeitig dem inneren Führungskreis einer aufstrebenden bayerischen Kleinpartei angehörte. Theodor von der Pfordten war der Rechtsexperte der frühen NSDAP. Er war wohl wesentlich beteiligt an der Vorbereitung des sog. Hitlerput118 Von der Pfordten, Arbeitsgemeinschaft, S. 31. 119 Ders., Recht, S. 15f; ders., Arbeitsgemeinschaft, S. 32.

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sches. Am 9. November 1923 marschierte er in der zweiten Reihe des Zugs der Putschisten durch die Münchner Innenstadt. Als die an der Feldherrenhalle postierten Sicherheitskräfte das Feuer eröffneten, wurde von der Pfordten tödlich getroffen. In seiner Manteltasche fand die Polizei den Entwurf einer provisorischen Reichsverfassung, die in Kraft getreten wäre, wäre Adolf Hitlers Marsch auf Berlin nicht bereits am Münchner Odeonsplatz stecken geblieben. Diese „Notverfassung“ sah die Auflösung aller parlamentarischen Körperschaften vor, ebenso die sofortige Entlassung von jüdischen Beamten, die Einziehung jüdischer Vermögen und die Unterbringung „sicherheitsgefährlicher Personen und unnützer Esser“ in Zwangsarbeitslagern. Zuwiderhandlungen wurden fast ausnahmslos mit der Todesstrafe bedroht, die von Standgerichten zu verhängen und zu vollstrecken war. Der Münchner Euckenbund-Vorsitzende hatte an der Ausarbeitung dieses Konvoluts, das rechtsstaatliche Prinzipien in rabiater Weise außer Kraft setzte, offenbar wesentlichen Anteil genommen.120 Das „Rechtsreformation“-Projekt des Euckenbundes schlief nach dem gewaltsamen Ableben ihres Münchner Ortsgruppenvorsitzenden offensichtlich endgültig ein. Die Führung des Euckenbundes hatte im Frühjahr 1923 Theodor von der Pfordten den Vorsitz ihrer Juristischen Arbeitsgemeinschaft angetragen, was dieser aber wegen Arbeitsüberlastung abgelehnt hatte. Ihm fehlten auch die nötigen Verbindungen, um dieses Amt wirkungsvoll ausüben zu können. In Mittel- und Norddeutschland sei er so gut wie unbekannt.121 Inwieweit der Jenaer Zentrale die politischen Aktivitäten ihres Münchner Ortsgruppenvorsitzenden bekannt waren, lässt sich nicht genau erschließen. Rudolf Eucken hatte Theodor von der Pfordten noch im August 1923 in München persönlich getroffen, als er mit seiner Tochter unterwegs zur Sommerfrische auf dem – kein Witz! – Obersalzberg war. Ida Eucken und wohl auch ihr Vater wussten zu diesem Zeitpunkt offensichtlich bereits recht gut über die NSDAP und ihren Führer Bescheid. In einem ihrer fast täglichen Briefe vom Obersalzberg nach Jena gab die Eucken-Tochter ihrem Bedauern Ausdruck, den famosen Volksredner Adolf Hitler verpasst zu haben – „schade, wir hätten ihn alle gerne gehört!“. Von der Pfordten wiederum äußerte in seinem letzten Brief an die Jenaer Geschäftsstelle Ende September 1923 den Wunsch, „einmal im Euckenbunde über das Verhältnis der Euckenschen Lehre zu der deutsch-völkischen Bewegung zu sprechen“. Ob er zur bevorstehenden Jahrestagung des Bundes kommen werde, ließ er we-

120 Vgl. Gordon, Hitlerputsch, S. 235, 241.Thoß, Ludendorff-Kreis, S. 342f; Müller, Wandel, S. 151ff. 121 ThULB NLRE VI, 5, o. Bl.: Briefwechsel Sekretariat Jena – Theodor von der Pfordten, 27.3. und 18.4.1923; Vgl. ebd.: Sekretariat Jena an J. Caesar, 27.8.1924.

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gen der „politischen Verhältnisse“ offen. Es könnten nämlich „Umstände eintreten, die es unbedingt nötig machen, dass ich hier am Platze bin.“122 Einige Wochen später traten diese Umstände dann tatsächlich ein. In Jena wusste man nach ausführlichen Berichten des Münchner Euckenbund-Geschäftsführers Josef Schwarz und der Witwe von der Pfordtens bald recht genau über die Ereignisse des 9. November Bescheid. „Man fragt sich“, schrieb Arnold Eucken an seine Mutter, „wie es möglich war, daß ein Mann von solcher Urteilskraft und solchen sonstigen geistigen Fähigkeiten sich derart mit einem Mann wie Hittler [!] einließ“. Dieser „Hittler“ sei doch „ein Abenteurer“, „ein weltfremder Mensch“, „ein Utopist“. Gegen den Staatsstreich an sich scheint der Breslauer Eucken-Sohn allerdings keine Einwände gehabt zu haben: „Wenn wir dagewesen wären, hätten wir möglicherweise auch mitgemacht, aber das Endergebnis war doch über Erwarten kläglich“. Dass ihr Münchner Ortsgruppenvorsitzender an einem Putschversuch gegen die von dem „Euckenbündler“ Gustav Stresemann geführte Regierung beteiligt gewesen war, war für den Bund kein Grund zur Distanzierung. Im Gegenteil, ein Vertreter des Münchener Euckenbundes legte am Grab von der Pfordtens einen Kranz nieder und hielt eine Gedenkrede. Ein nachgelassenes Manuskript des Verstorbenen fand unter dem Titel Die Tragik des Idealismus Aufnahme in die Schriftenreihe des Bundes. Rudolf Eucken persönlich widmete dem Bändchen eine ausführliche Besprechung. Auf der Jahrestagung des Euckenbundes im Oktober 1924 gedachte der Vorsitzende Hacker feierlich „des geistigen Führers und Trägers unserer juristischen Arbeitsgemeinschaft und Vorsitzenden der Münchener Ortsgruppe, der als ein Opfer seines Idealismus bei den Münchener Novembervorgängen vorigen Jahres fiel“.123 Theodor von der Pfordtens Tragik des Idealismus liest sich nun nicht gerade wie ein wüstes rechtsradikales Pamphlet, sondern verströmt über weite Strecken den harmlos erbaulichen Flair einer besinnlichen Sonntagspredigt. Die Tragik des Idealismus besteht für von der Pfordten darin, dass der Idealist „gerade an dem Besten seines Wesens scheitert, daß sein hohes Streben ihn in den Irrtum hineinführt, daß er Gutes wollend Übles herbeiführt, und daß er schließlich mit sich selbst in unlösbaren Zwiespalt gerät.“ Und als ob er seinen eigenen Nachruf schreiben würde, fährt der Rechtsexperte der frühen Hitler-Partei fort:

122 Ebd. VI, 5, o. Bl.: Theodor von der Pfordten an Sekretariat Jena, 22.9.1923; vgl. ebd. V, 13c, Bl. 98f: Ida an Irene Eucken, 14.8. und 16.8.1923 (Zitat). 123 Ebd. V, 9, Bl. 181: Arnold an Irene Eucken, 15.11.1923; Der Euckenbund 5, 1924, S. 43. Vgl. ebd. I, 7, Bl. E 156: Ortsgruppe München: Josef Schwarz an Rudolf Eucken, 4.12.1923; ebd. I, 21, Bl. P 141-144: Elly von der Pfordten an Rudolf Eucken, undatiert [Anfang 1924].

Die Pädagogen und der Euckenbund



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Der Idealismus kann wahr sein der Gesinnung nach, ehrlich und hochherzig im Wollen, aber doch falsch dem Gegenstande nach. Nicht nur der Weg zum Ziel kann verfehlt werden, sondern auch der gewählte Leitstern kann sich als trügerisches Irrlicht erweisen.124

Die Pädagogen und der Euckenbund Auch die im Euckenbund vertretenen Pädagogen sammelten sich in den frühen 1920er Jahren in einer Arbeitsgemeinschaft. Doch da über die Arbeit dieses Gremiums in den Akten und Publikationen des Euckenbundes so gut wie nichts zu finden ist, dürfte die Pädagogische AG wohl bald wieder eingeschlafen sein. Es lassen sich aber dennoch Bestrebungen ausmachen, die Lehren Rudolf Euckens in die erziehungswissenschaftliche Theorie einfließen zu lassen und in die schulische Praxis umzusetzen. Einen institutionellen Fokus fanden diese Bestrebungen in den Schriften aus dem Euckenkreis, einer seit 1923 vom Euckenbund herausgegebenen Buchreihe des pädagogischen Verlags Beyer & Mann in Langensalza. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatten die profiliertesten euckenianischen Pädagogen bei Beyer & Mann publiziert. Man könne hier, so erklärte die Jenaer Geschäftsstelle 1923, auch umfangreichere Arbeiten „außerhalb unseres kleinen Blättchens erscheinen lassen“. Das Programm der Schriften aus dem Euckenkreis umfasste nicht nur pädagogische Abhandlungen, doch die Platzierung der Reihe in einem pädagogischen Fachverlag verwies auf ein Kernpublikum von Lehrern, das man hier wohl erreichen wollte.125 Die Auswahl und Begutachtung der für die Veröffentlichung in der Schriftenreihe eingereichten Manuskripte nahm Rudolf Eucken persönlich vor. Um möglichen Friktionen zwischen dem Meister und seinen Anhängern vorzubeugen, gab Irene Eucken Anfang 1924 die Weisung aus, den Autoren die Ablehnung ihrer Manuskripte durch den Verleger mitteilen zu lassen. Dieses Procedere wurde dann sogleich auf einen Pädagogen angewandt, den man auf keinen Fall verärgern wollte: Gerhard Budde. Friedrich Mann, der Leiter des Langensalzaer Verlags, teilte Rudolf Eucken im Mai 1924 mit, er habe sich dessen Verbesserungsvorschläge zu Eigen gemacht und sie Budde mitgeteilt. Damit habe er vermeiden wollen, „daß Ihre Person … von einer ev. sich auslösenden Unstimmigkeit getroffen würde“.126 Der Philosoph suchte demnach auch noch in sei124 Von der Pfordten, Tragik, S. 9f. 125 ThULB NLRE VI, 5, o. Bl.: Sekretariat Jena an Theodor von der Pfordten, 18.5.1923. Vgl. Der Euckenbund 4, 1923, S. 23; ThULB NLRE VI, 3, o. Bl.: Irene Eucken an Curt Hacker, 8.2. und 5.3.1924. 126 ThULB NLRE I, 18, Bl. M 63: Friedrich Mann an Rudolf Eucken, 15.5.1924. Vgl. ebd. VI, 3, o. Bl.: Irene Eucken an Curt Hacker, 8.2.1924.

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nen letzten Lebensjahren korrigierenden Einfluss auf die Veröffentlichungen seines profiliertesten Anhängers unter den Pädagogen zu nehmen. Gerhard Budde blieb während des Krieges und der Nachkriegszeit der Lehre und der Person Rudolf Euckens eng verbunden. Der Philosoph holte seinen Hannoveraner Schüler mit ins Boot, als er 1917 in der in hoher Auflage erscheinenden Leipziger Illustrirten Zeitung einen „Meinungsaustausch über die Reform der höheren Schulen“ moderierte, zu dem eine Reihe namhafter Pädagogen beitrug. Budde gehörte zum engeren Kreis der Freunde des Philosophen, die sich bereitwillig in die Gründung des Euckenbundes einspannen ließen. Die Ortsgruppe Hannover, deren Vorsitz Budde übernahm, war einer der frühesten und zunächst auch größten lokalen Euckenbünde. Man darf auch vermuten, dass es Buddes Einfluss in Kollegenkreises zu verdanken war, dass der Philologenverein Hannover mit seinen 330 Mitgliedern dem Euckenbund korporativ beitrat.127 In seinen pädagogischen Schriften wiederholte Gerhard Budde im Wesentlichen die in seinem Hauptwerk von 1914 vertretenen Positionen. Der Mensch sei in erster Linie ein kosmisches und erst in zweiter Linie ein soziales und ein Naturwesen, verkündete er etwa Anfang der 1920er Jahre vor dem Breslauer katholischen Lehrerverein. Als Ziel der Erziehung galt Budde „nicht der sich von allen Bindungen lösende Übermensch, aber auch nicht der der Mehrheit blind folgende Herdenmensch, sondern der in einer unsichtbaren Welt ewiger Ordnungen wurzelnde und dadurch von seiner selbstischen Individualität und von der Gesellschaft innerlich unabhängige sittliche Mensch.“ In einem der Hauptvorträge auf der Jahresversammlung 1924 präsentierte Gerhard Budde seine schulpolitischen Positionen als Forderungen des Euckenbundes. Wieder einmal beschwor er den Sündenfall der preußisch-deutschen Bildungspolitik, die das Gymnasium auf die „falsche Bahn einer intellektualistischen Gelehrtenschule“, einer einseitigen Verstandes- und Gedächtnisbildung gelenkt habe. Es sollten nun die ethischen Fächer Religion, Deutsch und Geschichte endlich Vorrang erhalten vor der Mathematik, den Naturwissenschaften und der lateinischen Grammatik. Zumindest in der Oberstufe müsse die Allgemeinbildung zurücktreten hinter eine „die geistige Eigenart der Schüler berücksichtigende individuelle Bildung ..., damit die jugendliche Persönlichkeit von der Stelle aus, an der ihr eigentliches geistiges Kraftzentrum liegt, sich frei entwickeln kann.“128 Auch Kurt Kesseler, der Berliner Religionslehrer, bezog sich in seinen zahlreichen pädagogischen Veröffentlichungen weiterhin auf das Werk des Jenaer 127 Vgl. Illustrirte Zeitung, Leipzig, Band 149, Nr. 3856, 24.5.1917, S. 698f; ThULB NLRE VI, 24: Mappe 1922: Protokoll der 3. Hauptversammlung 6./7.10.1922, S. 2. 128 Budde, Strömungen, S. 105, 110: ders., Was fordern wir, S. 11, 16, 28; Vgl. Saupe, Pädagogen, S. 11.

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Philosophen. In seiner 1921 erschienenen Pädagogik auf philosophischer Grundlage verkündete er apodiktisch: „Nur wer im Weltanschauungskampf eine feste, auf Kritik und Systematik gegründete Überzeugung vertritt, kann in der pädagogischen Problematik mitreden.“ Nur mittels einer „aktivistischen Weltanschauung der ideal-realistischen Persönlichkeitskultur“, wie sie Eucken oder auch Troeltsch verträten, werde eine systematisch-philosophische Begründung der Pädagogik möglich. In seiner Pädagogik auf philosophischer Grundlage plädiert Kesseler u. a. für eine weitgehende Trennung von Staat und Schule. Die Pädagogik der Gegenwart sei „Staatspädagogik“; der Staat beanspruche, sich seine Bürger zu erziehen. Es sei bislang nicht gelungen, die Schule neben Staat und Kirche als „selbständige Lebensform“ zu entwickeln. Kesseler möchte die Staatspädagogik durch eine „idealistische Sozialpädagogik“ überwinden: Das „freie Volk“ solle „seine Glieder zu freien Persönlichkeiten durch freie Veranstaltungen“ erziehen. Er entwirft hier die Vision eines zivilgesellschaftlichen, von den Bürgern möglichst direkt getragenen Schulsystems und bringt dabei die „freien Volkskräfte“ in Position sowohl gegen den alten bürokratischen Obrigkeitsstaat wie gegen den neuen demokratischen „Parteienstaat“. Konkret schwebt Kesseler eine „pädagogische Synodalverfassung“ vor, die sich in einem mehrstufigem Aufbau von unten nach oben konstituiert und das Schulwesen ganz in die Hand von Schulgemeinden und aus deren Mitte gewählten Schulvorständen legt. Allerdings war Kurt Kesseler wie schon vor 1914 nicht bereit, sich die Lehren seines Meisters kritiklos zu Eigen zu machen. Im Oktober 1919 wandte er sich an Eucken persönlich und bat um Aufklärung darüber, wie bindend dessen Philosophie und Weltanschauung für die Mitglieder des neuen Bundes sein sollten. Er selbst glaube, „daß jemand sehr wohl eine ganze Reihe Ihrer Lehrformulierungen bekämpfen und doch Ihres Geistes sein kann“. Kesseler gehörte dann doch zu den 28 Unterzeichnern des Gründungsaufrufs des Euckenbundes und engagierte sich aktiv in der Berliner Ortsgruppe. Es verwundert aber kaum, dass er mit dem autoritär auftretenden Ortsgruppenvorsitzenden Hacker ein eher schwieriges Verhältnis pflegte. „Dr. Kesseler“, beschwerte sich Hacker 1924 in Jena, sei ein Querkopf, der gewöhnlich das Gegenteil von dem tue, was man ihm vorschlage. Kesseler war mittlerweile als Oberstudiendirektor nach Minden in Westfalen gewechselt. Bald fiel er auch dort seinen Lehrerkollegen aus dem Euckenbund als eigenwilliger Vertreter des Sache Rudolf Euckens auf. Gerhard Budde berichtete 1926 seinem Meister, Kesseler habe in der Kantgesellschaft Hannover einen Vortrag zu Euckens 80. Geburtstag gehalten und sei „Ihnen durchaus nicht gerecht geworden“. Auch habe er sich bereits in seiner Berliner Zeit von der „noologischen Pädagogik“ entfernt. Aus dem Bund zog sich Kesseler zunehmend zurück und zwar, wie Irene Eucken vermutete, weil sich der

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Meister geweigert habe, ein Manuskript des Pädagogen in den Schriften aus dem Euckenkreis zu veröffentlichen.129 Persönlich nahm Rudolf Eucken nach 1918 an der Verbreitung seiner Lehre unter den Pädagogen nicht mehr in dem Ausmaße teil wie vor dem Krieg. Die Jenaer Ferienkurse wurden zwar nach Wilhelm Reins Emeritierung 1923 fortgeführt, aber dessen Nachfolger, Peter Petersen, hielt sich zunächst fern. Auch die enge Verbindung zu Eucken und seinen Schülern riss in der Nachkriegszeit offenbar ab. Herman Nohl beteiligte sich zwar weiterhin an der Jenaer Lehrerfortbildung, doch vertrat der Dilthey-Schüler nicht die pädagogischen Prinzipien der Euckenianer. Eucken selbst trat noch gelegentlich auf Weiterbildungsveranstaltungen auf, so bei den „Pädagogischen Herbstwochen“ der Hessen-Nassauer Lehrer in Kassel und den „Akademischen Kursen für allgemeine Fortbildung und Wirtschaftswissenschaften“ in Düsseldorf. Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters musste der Jenaer Philosoph solche Einladungen zunehmend ablehnen.130 Auf der anderen Seite gab aber die Gründung des Euckenbundes der Propaganda der Eucken-Anhänger unter den Pädagogen neuen Auftrieb. In vielen der Ortsgruppen bildeten die Lehrer das personelle Rückgrat und gaben dort aufgrund ihres beruflichen Habitus oft genug auch den Ton an. Manche der lokalen Bünde gingen direkt aus den Aktivitäten von Lehrervereinen oder aus Veranstaltungen im Bereich der Lehrerbildung hervor. Recht gut nachvollziehen lässt sich dies etwa im Falle der Ortsgruppe Breslau. Im Frühjahr 1920 berichtete ein Teilnehmer des Breslauer Seminaristenkurses für Kriegsteilnehmer namens Willi Grollmus nach Jena, er sei von Rudolf Euckens Werk so begeistert, dass er vor seinem Kurs bereits zwei Vorträge darüber gehalten habe. Einige Monate später teilte er der Euckenbund-Geschäftsstelle mit, er beabsichtige im Kollegenkreis eine pädagogische Arbeitsgemeinschaft „im Sinne der Ideen Rudolf Euckens“ gründen. Schließlich konnte Grollmus im Januar 1922 vermelden, „ein kleiner Kreis von Euckenfreunden“ habe in Breslau eine Ortsgruppe des Bundes gegründet.131

129 ThULB NLRE I, 14, Bl. K 211: Kurt Kesseler an Rudolf Eucken, 16.10.1919; ebd. VI, 3, o. Bl.: Curt Hacker, Berlin, an Sekretariat Euckenbund, 26.4.1924; ebd. I, 4, Bl. B 894: Gerhard Budde an Rudolf Eucken, 31.1.1926. Vgl. ebd. I, 14, Bl. K 212: Kurt Kesseler an Rudolf Eucken, 7.6. und 9.10.1923; ebd. VI, 3, o. Bl.: Irene Eucken an Curt Hacker, 8.2.1924. 130 Vgl. Lütgert, Ferienkurse, S. 224; ThULB NLRE I, 16, Bl. K 903f: H. Küster an Rudolf Eucken, 6.8.1920; ebd. Bl. K 960-963: Karl Kumpmann an Rudolf Eucken, 17.1., 19.1. und 16.2.1922. 131 ThULB NLRE VI, 2, o. Bl.: Willi Grollmus an Sekretariat Jena, 31.8.1920; ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Grollmus an Sekretariat Jena, 28.1.1922. Vgl. ebd. VI, 2, o. Bl.: Grollmus an Sekretariat Jena 28.3., 31.8., 9.10., 10.11. und 29.11.1920, 15.1. und 14.2.1921.

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Im ländlichen Ostfriesland ging die Ortsgruppengründung 1924 auf mehrere Vorträge des Lehrers Eilts über Euckens Philosophie in der Lehrerkonferenz Westerholt zurück. Eine wesentliche Rolle bei der Formierung des Euckenbundes spielten Volksschul-, Mittelschul- und Oberlehrer auch im hessischen Biedenkopf, in Fulda, Hildesheim und Mühlhausen/Thüringen, natürlich in Otto Günthers früher Chemnitzer „Euckengesellschaft“, in Buddes Hannoveraner Ortsgruppe, in Berlin-Lichterfelde oder in Köpenick, wo Paul Oldendorff einen Euckenbund ins Leben gerufen hatte und 1922 den Vorsitz an den Direktor des örtlichen Lehrerseminars weitergab. Oldendorff selbst fand seine pädagogische Heimat in den folgenden Jahren allerdings bei den Anthroposophen und ihren Waldorfschulen. Zur Münchner Ortsgruppe gehörte schließlich ein namhafter Universitätspädagoge, Aloys Fischer, der jedoch kein Vertreter einer spezifisch an Eucken ausgerichteten Pädagogik war.132 Die von Lehrern geprägten lokalen Bünde entwickelten bisweilen eine ausgesprochen pädagogische Arbeitsagenda. Einige von ihnen bildeten pädagogische Arbeitskreise. In ihren Gruppensitzungen und öffentlichen Veranstaltungen sprachen gerne Lehrer zu pädagogischen Themen. Es finden sich in den Geschäftsunterlagen und der Publizistik des Bundes immer wieder Hinweise auf in den Ortsgruppen aktive Lehrern, die in den Lehrervereinen der Umgebung das Werk Rudolf Euckens vorstellten oder auf Fortbildungsseminaren Veranstaltungen zur Philosophie Euckens und der von ihm beeinflussten Pädagogik anboten. Manchmal gelang es diesen Lehrern, solche Berufsorganisationen und Bildungsinstitutionen sogar zur Abhaltung ganzer „Euckenwochen“ zu bewegen.133 Eine wichtige Rolle für die Verbreitung der Lehren Rudolf Euckens und ihren pädagogischen Nutzanwendungen spielte in den 1920er Jahren der Bremer Oberlehrer Bruno Jordan. Jordan hatte vor dem Krieg in Jena promoviert und stand seitdem in regelmäßigem persönlichem Kontakt mit dem Philosophen. Er gehörte Anfang 1920 zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufs des Euckenbundes. Die Versuche, in seiner Heimatstadt eine Ortsgruppe des Bundes zu gründen, scheiterten aber vorerst. Stattdessen übernahm er den Vorsitz der Bremer Philosophischen Gesellschaft, auch in der Hoffnung, wie er seinem Meister, versicherte, die von dieser neuen Gesellschaft „vorgebildete[n] Herren“ dem Eu132 Ebd. VI, 32, o. Bl.: Ortsgruppe Westerholt: Eilts an Sekretariat Jena, 2.2.1924. Vgl. ebd. VI, 24: Mappe 1922: Protokoll der 3. Hauptversammlung 6./7.10.1922, S. 2; Der Euckenbund 4, 1923, S. 35; Oldendorff, Waldorfschule; zu Fischer vgl. Oelkers, Reformpädagogik, S. 206f. 133 Vgl. etwa ThULB NLRE VI, 24: Mappe 1922: Protokoll der 3. Hauptversammlung 6./ 7.10.1922, S. 1; ebd. Mappe „1925 Stenograph. Notizen …“, o. Bl.: Protokoll der 6. Hauptversammlung 17.10.1925; ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Willi Grollmus an Sekretariat Jena, 6.6.1922; Der Euckenbund 4, 1923, S. 34f.

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ckenbund zuzuführen. Seit den frühen 1920er Jahren fungierte Jordan als Geschäftsführer des wissenschaftlichen Vortragswesens dieser Gesellschaft und hatte seit 1924 das gleiche Amt für die neu gegründete Bremer Wissenschaftliche Gesellschaft inne. Diese Position verhalf dem Bremer Studienrat zu zahlreichen Netzwerkkontakten, die sich für die Bestrebungen des Euckenbunds nutzen ließen. Er habe, so schrieb Jordan Mitte 1922 nach Jena, an der Tagung der Kantgesellschaft in Halle ebenso teilgenommen wie an der Einweihungsfeier der Philosophischen Akademie in Erlangen (deren Kuratorium Rudolf Eucken angehörte). Seine Bremer Philosophische Gesellschaft plane für das nächste Winterhalbjahr neben den Vorträgen auch „pädagogisch eingerichtete Kursen zur Einführung in die Philosophie“. Er unterhalte mittlerweile enge Beziehungen zu Universitätskreisen; er habe die Göttinger Hochschulwoche organisatorisch vorbereitet und dabei viele Bekanntschaften knüpfen können. Wie schon in früheren Jahren halte er zahlreiche Vorlesungen vor Lehrern über die Geschichte der Philosophie.134 Bruno Jordan agierte in den 1920er Jahren als eine Art Vertrauensmann des Euckenbundes in Nordwestdeutschland. Als etwa im Herbst 1922 ein Lehrer aus Deinstedt bei Bremervörde in Jena um Unterstützung bei der Veranstaltung einer „Euckenwoche“ anfragte, verwies man ihn auf Jordan. Zu Ostern 1923 trafen sich 16 Lehrerinnen und Lehrer aus dem Regierungsbezirk Stade in Deinstedt einige Tage lang, um von dem Bremer Studienrat in die Gedankenwelt Rudolf Euckens eingeführt zu werden. Der Tagungsbericht, den Jordan selbst für die Zeitschrift des Bundes verfasste, erzählt die Deinstedter Euckenwoche als intensives Gemeinschaftserlebnis. Er selbst agierte in diesem Narrativ als „Führer“, der die „Grundlinien einer neuen Welt- und Lebensanschauung, wie sie Eucken in seinen welterobernden Werken überzeugend vertritt“, erläuterte: Nach der gemeinsamen Tafel, an der bereits die Unterhaltung lebhaft um die aufgeworfenen Fragen kreiste, wanderten die Teilnehmer ins Freie, wo in zwangloser Weise eine sehr lebhafte, inhaltreiche Aussprache mit dem Führer erfolgte, der auf alle gestellten Fragen im Sinne des Noologismus eine Antwort zu geben versuchte.

Der Jenaer Meister hatte ein persönliches Grußwort verlesen und Autogrammkarten verteilen lassen. Jeder Teilnehmer erhielt am Ende ein Exemplar der Euckenbund-Programmschrift Unsere Forderung an das Leben.135 Die Resonanz auf 134 ThULB NLRE I, 13, Bl. J 230f, 236: Bruno Jordan an Rudolf Eucken, 23.10.1922 und 16.6.1922. Vgl. zur Philosophischen Akademie Erlangen den Briefwechsel zwischen Rudolf Eucken und Rolf Hoffmann, 28.8. und 22.9.1922: ebd. I, 29, Bl. 56, und ebd. IV, 3, o. Bl. 135 Der Euckenbund 4, 1923, S. 34. Vgl. ThULB NLRE I, 26, Bl. T 105a: A. J. Tietjen an Rudolf Eucken, 23.1.1923; ebd. VI, 7, o. Bl.: Tietjen an Sekretariat Jena, 1.3.1923; ebd. I, 13, Bl. J 237f: Bruno Jordan an Eucken, 9.4.1923; Der Euckenbund 4, 1923, S. 35.

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die Euckenwoche ermutigte Bruno Jordan, bei den nordwestdeutschen Mitgliedern des Euckenbundes den Plan zum Bau eines Tagungsheims in Deinstedt zu ventilieren. Auch der Provinzial-Lehrerverein Hannover ließ sich für das Projekt einspannen und widmete dem Bund eine Sondernummer seiner Zeitschrift. In Jena konnte man sich aber letztlich nicht für das Vorhaben erwärmen. Irene Eucken meinte in einem Brief an den Vorsitzenden Hacker, man könne wohl ggf. die Euckenwochen unterstützen, wolle jedoch nicht größere finanzielle Opfer für eine Einrichtung aufbringen, das für verschiedene Richtungen geöffnet sei.136 Welche Spuren die Persönlichkeitspädagogik nach Rudolf Eucken im schulischen Alltag der 1920er Jahre hinterließ, ist kaum schlüssig nachzuvollziehen. Man kann wohl annehmen, dass die im Euckenbund engagierten Lehrer versuchten, ihre Überzeugungen auf die eine oder andere Weise in den Unterricht einfließen zu lassen. Doch die grundlegenden Forderungen, die Budde, Kesseler und andere Pädagogen im Umfeld der Euckenbewegung vertraten, schlugen sich augenscheinlich kaum in den schulpolitischen Reformprojekten und Weichenstellungen der Weimarer Zeit nieder. Der Euckenbund klinkte sich selten in die politischen Auseinandersetzungen zu Fragen der schulischen Bildung ein. Selbst die heftig umstrittenen Gesamtschulpläne der sozialistisch geführten Thüringer Landesregierungen ließ er, so weit zu übersehen ist, unkommentiert. Hier dürften die Positionen der Volksschul- und höheren Lehrern so gegensätzlich gewesen sein, dass eine eindeutige Stellungnahme den Bund einer inneren Zerreißprobe ausgesetzt hätte. Deutlicher äußerte sich die Euckenbewegung zur Frage des Religionsunterrichts. Auf der einen Seite sollte der Religionsunterricht als Pflichtfach an den Schulen erhalten, ja aufgewertet werden. Auf der anderen Seite wiederholten Eucken und seine Anhänger ihre bereits in der Vorkriegszeit vertretene Forderung nach einer Entkonfessionalisierung dieses Schulfaches. Doch die politische Schlüsselposition der katholischen Zentrumspartei im Reich und den meisten Bundesstaaten rückte eine Verwirklichung dieses Zieles in weite Ferne.137 Insofern teilte die Noologische Pädagogik das Schicksal der meisten anderen reformpädagogischen Richtungen: Eine systematische Umsetzung ihrer hochfliegenden Reformkonzepte ließ sich allenfalls in den kleinen Nischen angehen, die das staatliche Schulsystem in Deutschland ließ. Seit 1922 bestand in Düsseldorf eine „Rudolf-Eucken-Schule“, die „nach den Grundsätzen der noologischen Pädagogik Geheimrat Prof. Dr. R. Euckens-Jena“ arbeitete. Gründer und 136 Vgl. ThULB NLRE I, 13, Bl. J 237f: Bruno Jordan an Rudolf Eucken, 11.2.1924; ebd. VI, 3, o. Bl.: Irene Eucken an Curt Hacker, Berlin, 5.3.1924. 137 Vgl. allgemein: Moog, Geschichte, S. 518f.

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Leiter dieses Instituts war der Pädagoge Hans Freymark, der vor 1914 in Bonn bei dem Philosophen und Psychologen Oswald Külpe studiert hatte und noch kurz vor Rudolf Euckens Emeritierung 1920 in Jena seine Promotion abgelegt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hans Freymark schon einige Jahre im Lehrerberuf gearbeitet. Seit 1916 war er Besitzer und Leiter einer privaten höheren Knabenschule in Düsseldorf, die er dann sechs Jahre später mit Einwilligung seines Doktorvaters in „Rudolf-Eucken-Schule“ umbenannte.138 Das Düsseldorfer Lehrinstitut bot seinen Schülern nicht etwa den Bildungsgang eines humanistischen Gymnasiums. „Angesichts der Bedeutung Düsseldorfs als Handels- und Industriestadt wird Schülern, die einst in Handel und Industrie ihren Platz ausfüllen wollen, eine Vorbildung geboten“, so eine Broschüre Mitte der 1920er Jahre. Die Rudolf-Eucken-Schule orientiere sich an den Curricula des realen Zweigs der höheren Lehranstalten. Bis Mitte der 1920er Jahre war zudem eine „Vorschule“ angegliedert, bis 1919 der eigentliche Hauptgeschäftszweig privater Lehranstalten in Deutschland. Die Absonderung der Grundschüler aus den Familien des gebildeten und besitzenden Bürgertums von den Volksschülern war durch die Schulgesetzgebung der neuen Republik unterbunden worden und lief nach einer Übergangsperiode aus. Auf die beiden letzten Klassenstufen, die Unter- und Oberprima, verzichtete die Rudolf-Eucken-Schule, um zu verhindern, „daß in den Oberklassen intellektuell und moralisch bedenkliche Elemente Eingang finden“. Man wolle auch der Gefahr eines „verkappten Pressbetriebs“ vorbeugen, „den schon der Name der Schule verbietet“.139 Mit Hans Freymarks Rudolf-Eucken-Schule stand der Noologischen Pädagogik nun eine Einrichtung zur Verfügung, die für eine praktischen Umsetzung ihrer Prinzipien und Konzepte größere Freiheiten zu bieten schien als die stärker an die Vorgaben der Kultusbürokratie gebundenen staatlichen Regelschulen. Erziehungsziel der Düsseldorfer Schule sollte, laut ihrer Werbebroschüre, „Persönlichkeitsbildung im Euckenschen Sinne“ sein. „Persönlichkeit“ meine „geistiges Ich, innerliche Selbständigkeit, Aufgabe“ – im Unterschied zur „Individualität“, die sich auf das bloß sinnliche Ich, dessen „äußerliche Selbständigkeit und Gabe“ beziehe. Persönlichkeit verlange eine „Verneinung der naturhaften Selbsterhaltung“, das „Hinaustreten über die bloße menschlich Form des Geisteslebens“.140 138 ThULB NLRE I, 8, Bl. F 377: Hans Freymark an Rudolf Eucken, 21.5.1926 (Briefkopf). Vgl. ebd., Bl. F 343, F 354-358: Freymark an Eucken, 1.2.1913, 17.2. und 21.2.1920, 4.10.1921. 139 Dr. Freymarks Rudolf-Eucken-Schule, S. 4. Vgl. ThULB NLRE I, 8, Bl. F 358, 362: Hans Freymark an Rudolf Eucken, 4.10.1921 und 4.8.1922. 140 Dr. Freymarks Rudolf-Eucken-Schule, S. 12f: vgl. Freymark, Vorschläge, S. 33.

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Freymarks erzieherisches Konzept knüpfte in weiten Teilen an die Überlegungen und Forderungen an, die Rudolf Eucken und die von ihm inspirierten Pädagogen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt hatten. Auch der Düsseldorfer Schulleiter geißelte die „alte Lernschule“ mit ihrem vornehmlich auf Prüfungen und zählbare Leistungsnachweise ausgerichteten „fabrikmäßigen Massenunterricht“. Persönlichkeitsbildend könne nur ein Unterricht sein, der sich an den natürlichen Interessen des Kindes orientiere und die Schüler zur Selbsttätigkeit anleite. „Langatmiges Dozieren wie öde Paukerei sind aus unseren Schulstuben verbannt“, verkündete die Werbebroschüre der Rudolf-Eucken-Schule. Mit seiner Kritik des „Intellektualismus“ und des „Utilitarismus“ vertrat Freymark weitere, aus der Philosophie Euckens hergeleitete erzieherische Grundsätze. Der Unterricht sollte weder einseitig die „Verstandes- und Gedächtnispflege“ fördern noch sich an einer beruflichen Verwertbarkeit des zu vermittelnden Wissens orientieren.141 Neu war an Freymarks Version der Noologischen Pädagogik der Stellenwert der Jugendpsychologie. Hier griff er offenbar auf die Arbeiten seines ersten akademischen Lehrers zurück, des Bonner experimentellen Psychologen Oswald Külpe. Zur Beseitigung innerer Hemmungen sei eine „gründliche Kenntnis und Beobachtung des kindlichen Seelenlebens vonnöten“. Zudem legte der Düsseldorfer Schulleiter großen Wert auf eine Erziehung zur Gemeinschaft. Eine von Rudolf Euckens Idealen bestimmte Erziehungslehre führe, so Freymark, „zur natürlichen Verschmelzung von Individual- und Sozialpädagogik“. Sie verkünde einen „Idealismus der Tat“, eine Bildung des Willens und des Charakters, „der in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft wirkt, ohne sich in seine Zeit zu verlieren.“ Dies erscheint insoweit als Kehrtwende, als sich die euckenianischen Pädagogen in der Vorkriegszeit ihre Persönlichkeits- noch dezidiert von der Sozialpädagogik abgrenzten. Nun war vom „Verantwortungsgefühl gegenüber der Volksgemeinde“ die Rede, das bereits „gegenüber der Klassen- und Schulgemeinde erlebt und geübt“ werden sollte.142 Das Einschwenken Freymarks auf den Gemeinschaftsdiskurs erscheint nun aber nicht weiter verwunderlich, nachdem die „Volksgemeinschaft“ seit Kriegsausbruch 1914 zu einem zentralen Bezugspunkt der politischen Rhetorik geworden war. Auch in den Leitsätzen des Euckenbundes von 1919/20 fand sich die

141 Freymark, Vorschläge, S. 33; Dr. Freymarks Rudolf-Eucken-Schule, S. 7ff 142 Dr. Freymarks Rudolf-Eucken-Schule, S. 8; Freymark, Vorschläge, S. 34. Vgl. Der Euckenbund 5, 1924, S. 7: Freymarks Welt- und Lebensanschauung sei „im Wesentlichen aus zwei Werkstätten des Geistes entnommen: Külpe und Eucken, an sich große Gegensätze, werden zu einer Synthese, zu einer philosophischen Gesamtansicht von verschiedenen Standorten aus, erhoben.“

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mittlerweile gängige Gegenübersetzung von „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“: … in geistigen Zusammenhängen begründete Gemeinschaft, bedeutet uns weit mehr als Gesellschaft; die Gesellschaft ist eine Erzeugnis der einzelnen Punkte, die Gemeinschaft dagegen fordert ein inneres Ganzes; das ergibt grundverschiedene Ziele und Werte.

Den spezifischeren Terminus der „Volksgemeinschaft“ verwandte der Philosoph selbst allerdings eher sparsam, während dieser politische Schlüsselbegriff auf einige der Aktivisten des Bundes größere Attraktion ausübte. Für einen Gustav Ziegler stand die „geistige Reformation“, die die Euckenbewegung in Gang setzten sollte, in einem unhinterfragbaren Letztbegründungszusammenhang: Sie bahnte den Weg zu einer „wahrhaftigen Volksgemeinschaft“.143 Bemerkenswerter als die Ausrichtung sozialer Erziehungsziele auf die „Volksgemeinde“ erscheint in Hans Freymarks Version der noologischen Pädagogik die demokratische Ausgestaltung und Umsetzung dieses Erziehungsziels als „Schülerselbstregierung“. Das Kind solle seine Schule als einen Organismus erleben, „in dem es sich als mitwirkendes und daher für das Gedeihen des Ganzen mitverantwortliches Glied fühlt“. Solche Selbstregierung sei die „beste Vorschule für die Erzeugung staatsbürgerlicher Gesinnung“. Die werdende Persönlichkeit könne nur in möglichster Freiheit gedeihen. Selbstregierung hieß für Freymark vor allem, den Schülern einen großen Spielraum für eine autonome Regelung ihres schulischen Daseins zu gewähren. Dies schloss auch die Überlegung ein, dass der einzelne Schüler durch den Gruppendruck der Klassengemeinschaft begrenzt würde. Von der Schulleitung und den Lehrern verhängte Schul- und Ordnungsstrafen sollten damit möglichst überflüssig gemacht werden.144 Im Euckenbund nahm man regen Anteil am Gedeihen der Düsseldorfer Privatschule. Nicht allein warb das Mitgliederblatt für die Rudolf-Eucken-Schule. Auch bei der Rekrutierung von Lehrkräften leistete der Bund Hilfestellung. Das erste Erfordernis für eine Schule, die Rudolf Euckens Ideale verwirklichen wolle, schrieb Freymark 1925 in der Zeitschrift des Bundes, sei die Gewinnung von Mitarbeitern, die die Grundgedanken der aktivistischen Lebensphilosophie des Meisters aus Jena vertreten würden. Gerade in den Schulstunden, die Weltanschauungsfragen gewidmet seien, hänge alles von der Persönlichkeit des Lehrers ab.145 Im Jahr zuvor hatte sich der Düsseldorfer Schulleiter an den Vorstand mit der Bitte gewandt, ihm unter den Mitgliedern des Euckenbundes geeignete 143 R. Eucken, Unsere Forderung, S. 7; Ziegler, Reformation, S. 18. 144 Vgl. Dr. Freymarks Rudolf-Eucken-Schule, S. 9; Freymark, Vorschläge, S. 33f. 145 Freymark, Vorschläge, S. 33.

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Lehrkräfte zu vermitteln. Es sei ihm, nicht gelungen, in Düsseldorf „Euckenjünger“ als Lehrer zu gewinnen. Der Euckenbund-Vorstand versandte daraufhin ein Rundschreiben an die Ortsgruppen und veröffentlichte einen Aufruf in der Zeitschrift mit der Bitte an die Mitglieder, „uns Studienreferendare, Studienassessoren und junge Studienräte, die in Euckens Weltanschauung wurzeln und Lust haben, nach Düsseldorf zu gehen, zu melden“. Aktenkundig ist allerdings nur ein Referendar, ein Schüler Gerhard Buddes, der zu Ostern 1925 als Lehrkraft in Düsseldorf eingestellt wurde.146 Die Rudolf Eucken-Schule hatte seit ihrer Umbenennung mit massiven finanziellen Problemen zu kämpfen. Als private Lehranstalt war sie in den Nachkriegsjahren den Auswirkungen des rasanten Geldwertverfalls besonders stark ausgesetzt. Im Hyperinflationsjahr 1923 war die Lage so verzweifelt, dass Hans Freymark ernsthaft ins Auge fasste, die Schule aufzugeben und sich in Lateinamerika eine neue berufliche Existenz aufzubauen. Auch nach der Währungsstabilisierung besserte sich die finanzielle Situation der Euckenschule nur langsam. 1925 beschwerte sich ein angeheirateter Neffe der Euckens in Jena über das Geschäftsgebaren der Düsseldorfer Schule. Man habe den ältesten Sohn dort angemeldet, „bestochen von dem Namen Rudolf-Eucken-Schule und den hohen Idealen, die in dem Prospekt der Schule angeführt sind“. Die Schulleitung habe das Schulgeld verfrüht angemahnt und der Junge sei deswegen von seiner Lehrerin beschimpft, schikaniert und schließlich von der Schule entfernt worden. Mit dem Auslaufen der Übergangsregelung für die Vorschulen spitzte sich die Situation der Schule Mitte der 1920er Jahre zu. Die Düsseldorfer Lehranstalt wurde nun in verstärktem Maße auf eine wenig erwünschte Klientel verwiesen: schwer erziehbare oder lernschwache Bürgersöhne, deren schulische Karriere in den regulären öffentlichen Schulen gescheitert war. Darum hatte Freymark bislang auf die beiden Abschlussklassen verzichtet, denn „was in einer Großstadt in die Oberstufe um Aufnahme nachsucht“, sei zu „9/10 Bruch“. Nehme man solche Schüler auf, werde das Ziel der Persönlichkeitsbildung zur Farce. Noch in ihrer 1926 gedruckten Werbebroschüre erklärte die Rudolf-Eucken-Schule kategorisch: „Knaben, die bisher nirgendwo gut taten, können wir keine Zufluchtsstätte bieten“.147

146 Der Euckenbund 5, 1924, S. 7; ThULB NLRE VI, 2, o. Bl.: Hans Freymark an Euckenbund, 26.3.1924;. Vgl. ebd. I, 8, Bl. F 371: Freymark an Rudolf Eucken, 2.6.1924; ebd. VI, 2, o. Bl.: Freymark an Sekretariat Jena, 16.5. und 23.5.1925; ebd. I, 9, Bl. G 77: Walter Genzel an Rudolf Eucken, 7.8.1924; ebd. VI, 2, o. Bl.: Genzel an Sekretariat Jena, 26.3.1925; ebd.: Freymark an Sekretariat, 16.5.1925. 147 ThULB NLRE I, 31a, Bl. 159f: Richard Grün an Rudolf Eucken, 7.8.1925; ebd. I, 8, Bl. F 373f: Hans Freymark an Eucken, 28.6.1925; Dr. Freymarks Rudolf-Eucken-Schule, S. 5. Vgl. ThULB

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Im Juni 1925 legte Freymark dem Namenspatron seiner Schule einen Alternativplan vor: Seine pädagogischen Ideale ließen sich nirgends so gut umsetzen wie in einem Landerziehungsheim. Er habe ein geeignetes Anwesen in der Holsteinischen Schweiz gefunden, das relativ preiswert zu pachten wäre. Dieser Plan zerschlug sich offenbar, denn Anfang 1926 schrieb Freymark an Eucken, ihm sei die Leitung einer „berechtigten Schule mit großem Alumnat“ in Bad Blankenburg/Thüringen angeboten worden. Die staatliche Berechtigung stellte zwar die Schule auf eine solidere finanzielle Basis, doch hätte sie gleichzeitig die pädagogische Gestaltungsfreiheit eingeschränkt. Freymark hoffte aber, wie er seinem Doktorvater mitteilte, „Verständnis bei der Aufsichtsbehörde für m. Ideale zu finden, d. h. für die von der Schablone abweichenden unterrichtl. und erzieher. Maßnahmen, die mir zur Verwirklichung der noolog. Pädagogik erforderlich scheinen“. Die Verhandlungen scheiterten aber, da Freymark nicht die geforderte Kaufsumme aufbringen konnte. Damit rückte wieder das Landschulheim-Projekt in den Mittelpunkt der Überlegungen. Nach dem Tod Euckens bricht die Korrespondenz zwischen Freymark und dem Euckenbund ab, so dass das weitere Schicksal der Rudolf-Eucken-Schule im Dunkeln bleibt.148

Die Krise des gebildeten Mittelstandes Die Probleme der Rudolf-Eucken-Schule in der ersten Hälfte der 1920er Jahre verweisen auf einen im Bildungsbürgertum als krisenhaft empfundenen Wandel, der zumindest zeitweise die Grundlagen der eigenen Existenz zu bedrohen schien. Die Aufhebung der privaten Vorschulen etwa gehörte zu den Maßnahmen, mit denen der neue demokratische Staat mehr Bildungsgerechtigkeit erzielen wollte. Auch andere „Bildungserbrechte“ standen in der Nachkriegszeit zur Disposition. In den frühen 1920er Jahren beunruhigten die Einheitsschulpläne der Linksparteien die bildungsbürgerlichen Schichten. In Thüringen nahm die Abschaffung gesonderter höherer Schulen in den Gesetzesvorlagen sozialdemokratisch geführter Regierungen konkrete Formen an, bis dann seit 1924 „bürgerliche“ Landtagsmehrheiten solche Vorhaben ad acta legten.149 Eine soziale Öffnung der höheren und Hochschulbildung, die eine Reproduktion des Bildungsbürgertums in der Generationenfolge ernstlich infrage ge-

NLRE I, 8, Bl. F 366: Freymark an Eucken, 11.4.1923; ebd. VI, 2, o. Bl.: Sekretariat Jena an Freymark, 9.6. und 29.6.1923. 148 ThULB NLRE I, 8, Bl. F 376ff: Hans Freymark an Rudolf Eucken, 2.1. und 21.5.1926; Bl. F 377f: Vgl. ebd. Bl. F 379f: Freymark an Eucken, 31.7.1926. 149 Vgl. Schäfer, Bürgertum, S. 340–346.

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stellt hätte, kam in der Weimarer Republik letztlich nicht über Ansätze hinaus. Umso härter wurden viele bildungsbürgerliche Familien von den materiellen Folgen der wirtschaftlichen Krisenlagen im Zuge von Krieg, Inflation und deflationärer Stabilisierung getroffen. Seit den Kriegsjahren waren die Gehälter der festbesoldeten Akademiker „real“, d. h. gemessen an ihrer Kaufkraft, deutlich gesunken. Zeitweise machten sie nur noch ein Drittel ihres Vorkriegswertes aus. Die Besoldungsreformen der Nachkriegszeit reduzierten zudem die Spanne zwischen hohen und niedrigen Gehältern im öffentlichen Dienst, so dass die verbeamteten Akademiker auch relativ gegenüber den nicht-akademischen Beamtengruppen an Einkommen verloren. Meist noch stärker als die höheren Beamten und Angestellten waren die Angehörigen der freien Berufe vom inflationären Geldwertverlust betroffen.150 Während sich aber die Beamtengehälter und die Gebührensätze der Ärzte und Rechtsanwälte nach der Einführung einer neuen, stabilen Währung 1923/ 24 real bald wieder auf das Vorkriegsniveau zurückkehrten, erwiesen sich die Verluste an Geldvermögen in den allermeisten Fällen als permanent. Gerade in bildungsbürgerlichen Familien, die auf ein – im Vergleich zum Wirtschaftsbürgertum – eher bescheidenes Berufseinkommen angewiesen waren, kam den ererbten oder ersparten Vermögensrücklagen eine besondere Bedeutung zu. Solche „unabhängigen Mittel“ waren wichtig für die Realisierung einer als „standesgemäß“ empfundenen Lebenshaltung, für kulturelle Ausgaben, bei Freiberuflern auch für die Alterssicherung und nicht zuletzt für die schulische und universitäre Ausbildung der Kinder. Finanzielle Rücklagen waren zumeist auf Sparbüchern und in festverzinslichen Staats- und Kommunalanleihen angelegt. Die Große Inflation machte solche, normalerweise „mündelsicheren“ Geldanlagen zu wertlosem Altpapier.151 Die Folgen dieser Inflationsverluste waren für den „akademischen Mittelstand“ oft einschneidend. Dies lässt sich auch an der Situation von Hans Freymarks Düsseldorfer „Pädagogikum“ ablesen. Gerade der gewissermaßen natürlichen Zielgruppe einer Rudolf-Eucken-Schule, den humanistisch gebildeten Akademikern, fiel es in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg äußerst schwer, die Schulgelder einer privaten Lehranstalt aufzubringen. Daher dürfte auch die Ausrichtung der Rudolf-Eucken-Schule auf den realen Zweig des höheren Schulsystems kein Zufall gewesen sein, erreichte man doch so eine potenziell finanzkräftigere Klientel mit „wirtschaftsnahen“ Hintergrund. Dies gilt etwa für Rudolf Euckens augenscheinlich aus der Schule „gemobbten“ Großneffen. Des150 Vgl. ebd., S. 322–332; Fattmann, Bildungsbürger, S. 113–119; Heiler, Verelendung, S. 31– 42. 151 Vgl. Schäfer, Bürgertum, S. 315–321; Heiler, Verelendung, S. 46–49.

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sen Vater, Richard Grün, war nämlich Direktor am Düsseldorfer Forschungsinstitut der Hüttenzementindustrie. Ähnlich verhielt es sich mit dem Hochschulstudium, dessen Kosten nun den Etat vieler bildungsbürgerlicher Familien überstiegen. Es breitete sich an den Universitäten das Phänomen des „Werkstudenten“ aus, Studierende, die ihr Studium durch Erwerbsarbeit selbst finanzieren mussten. Die Berufsaussichten der jüngeren Akademiker waren angesichts staatlicher Stellenkürzungen auch nach dem Ende der Inflationszeit eher trübe.152 In den 1920er Jahren nahm daher die Zahl der Gebildeten in prekären Lebensverhältnissen stark zu: arbeitslose Lehramtskandidaten; Privatdozenten, denen ihre Einnahmen aus Kolleg- und Prüfungsgeldern, aus Vortrags- und Aufsatzhonoraren nicht einmal mehr ein Existenzminimum sicherten; „Privatgelehrte“, denen die Zinsen ihres Vermögens vor 1914 ein Leben ohne Erwerbsarbeit ermöglicht hatten; freischaffende Schriftsteller und Künstler, die an den Folgen der Kaufkraftverluste ihres Publikums litten; Rentner, denen die Inflation ihre Altersrücklagen weggefressen hatte. Dieses „Prekariat“ hatte Rudolf Eucken vor allem im Auge, als er 1921 im Septemberheft des Euckenbund die „Vernichtung des gebildeten deutschen Mittelstandes“ an die Wand malte: Die wachsende Geldentwertung habe eine „furchtbare Erschütterung des wirtschaftlichen Gleichgewichts“ hervorgerufen. Während nämlich die Arbeiter, die Gewerbetreibenden oder die Landwirte aufgrund ihrer Organisationsmacht in der Lage seien, ihre Einkommen an den Geldwertverfall anzupassen, würden die Steigerungsraten der Festbesoldetengehälter weit hinter der Inflationsrate zurück bleiben. Noch weit schlimmer aber seien andere Schichten des gebildeten Mittelstandes von dieser Entwicklung betroffen. Man denke an die „Witwen, einzelstehenden Frauen, dürftig Pensionierten, kleinen Rentner[n],… weiter an diejenigen Männer und Frauen, welchen einem freien Beruf dienen, wie die Schriftsteller, Musiker, Künstler usw.“ Diese Menschen müssten sich immer mehr einschränken, ihre Kulturbedürfnisse aufgeben, „sich von alten liebgewordenen Besitztümern wie von Büchern, Bildern, Einrichtungen trennen, um nur das Allernötigste zum Unterhalt zu beschaffen“. Der Jenaer Philosoph unterstrich die Dringlichkeit und Bedeutsamkeit des Problems, indem er die Folgen eines Verschwindens dieser mittelständischen Bildungsschicht für die Gesellschaft prognostizierte. Das freie Schaffen der künstlerisch-geistigen Berufe sei nämlich „ein Hauptstück einer echten Kultur“. Ohne dieses Schaffen könne „das Leben eine innere Freudigkeit und eine geistige Beweglichkeit nicht bewahren, nicht den Kampf gegen den drohenden Mechanismus führen“. Es sei, so Eucken weiter, 152 Vgl. Schäfer, Bürgertum, S. 358f; Schreiber, Not, S. 50–54.

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für das Wohl der Gesellschaft und für den Aufstieg der Kultur eine unbedingte Notwendigkeit, daß gewisse Schichten nicht ausschließlich durch die wirtschaftliche Selbsterhaltung eingenommen werden, daß sie ein inneres Verhältnis zu geistigen Lebensgebieten ausbilden, daß zugleich gewisse Zusammenhänge der Gedankenwelten und Ziele entstehen.153

In seinem Artikel in der Zeitschrift des Bundes hatte Eucken vor allem an den Staat appelliert, „den leidenden Gliedern des Mittelstandes“ zu Hilfe zu kommen und möglichst „jedem der Hilfebedürftigen und Würdigen ein Existenzminimum“ zu sichern. Der Philosoph und seine Anhänger sahen aber die Krise des „gebildeten Mittelstandes“ auch als Betätigungsfeld ihres „ethischen Aktivismus“. Die Jenaer Jahresversammlung des Euckenbundes im Oktober 1922 beschloss die Bildung einer „Arbeitsgemeinschaft für soziale Hilfe“ und auch verschiedene Lokalorganisationen engagierten sich für die Unterstützung von Inflationsopfern. In Köpenick organisierte die Ortsgruppe im Winter 1922/23 eine tägliche Armenspeisung für rund 40 Bedürftige. Der Breslauer Euckenbund bildete Stadtteilgruppen, die Hilfsmaßnahmen für den „notleidenden Mittelstand“ einleiten sollten. Die Ortsgruppe Stendal veranstaltete im Januar 1924 ein Konzert zugunsten der Kleinrentnerfürsorge. In Mühlhausen betätigten sich die Euckenbündler seit 1922 in verschiedenen lokalen Hilfsorganisationen und Initiativen wie der „Mittelstandsmesse der vereinigten Frauenvereine zur Verund Einkaufsvermittlung von Gegenständen aus Privatbesitz unter strengster Diskretion“. Dass solches Engagement nicht zuletzt als eine Art kollektive Selbsthilfe der Angehörigen des „gebildeten Mittelstandes“, dem sich wohl das Gros der Mitglieder des Euckenbundes selbst zurechnete, verstanden wurde, zeigt auch eine Verlautbarung der Münchner Ortsgruppe vom Mai 1923. Hier hatte man eine Arbeitsgemeinschaft ins Leben gerufen, die sich die Aufgabe setzte, in gegenseitiger Hilfebereitschaft Gegenstände des täglichen Bedarfs und Spenden an Bedürftige zu vermitteln.154 Rudolf Eucken selbst stellte seine vielfältigen persönlichen Kontakte ebenfalls in den Dienst solcher Hilfsmaßnahmen. So trat 1921 ein Thüringer Rittergutsbesitzer an den Philosophen mit dem Angebot heran, einem „unbemittelten Akademiker“ vier Wochen Erholungsferien zu ermöglichen. Besonders hilfreich waren dabei Euckens weitreichende Verbindungen ins Ausland und seine inter153 R. Eucken, Vernichtung, S. 38. Vgl. auch Eucken Review Februar 1923, S.10f. 154 Vgl. ThULB NLRE I, 28, Bl. W 276: Seminardirektor Wulff an Rudolf Eucken, 28.9.1923; ebd. VI, 24: Mappe 1922: Protokoll der 3. Hauptversammlung 6./7.10.1922, S. 2; ebd. VI, 32, o. Bl.: Ortsgruppe Stendal, Mappe 4: Ausschnitt Altmärkische Tageszeitung 18.1.1924; ebd. VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe Mühlhausen/Th.: Ida Joedicke an Sekretariat Jena, 7.12.1922 (Zitat); VI, 31, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 10: Ausschnitt Münchner Neueste Nachrichten 29.5.1923.

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nationale Prominenz, die ihm Zugang zu Fremdwährungen verschafften. Zu Zeiten der galoppierenden und Hyperinflation waren auch kleinere Beträge in USDollar, Pfund Sterling oder schwedischen Kronen wegen der Kluft zwischen dem Außenhandelswert der Mark und ihrer deutlich höheren Inlandskaufkraft von beträchtlichem Wert. Oft traten ausländische Hilfsorganisationen und Einzelpersonen von sich aus an den Jenaer Philosophen heran, wenn sie eine vertrauenswürdige und gut vernetzte Kontaktperson zur Verteilung ihrer Gelder in Deutschland suchten. So stellte sich im April 1921 ein Carl G. Grossmann bei Eucken als Präsident der „Amerika-Hilfe für Sachsen und Thüringen“ vor. Er selbst sei bis 1913 Gerichtsassessor in Dresden gewesen und agiere nun als Sozius einer New Yorker Anwaltskanzlei für internationale Rechtsfälle. Man habe dem Philosophen bereits 15.000 Mark überwiesen, die er doch bitte dem Thüringer Roten Kreuz und „ganz besonders dem Mittelstand“ zukommen lassen solle. Zudem wolle man ihm eine größere Nahrungsmittelsendung zukommen lassen.155 Aus England erhielt Eucken Ende 1923 eine Anfrage, ob er bereit sei, an einer Hilfsaktion britischer Hochschullehrer für notleidende deutsche Kollegen mitzuwirken. Der Plan ging von Lady Mary Murray aus, der Frau des Oxforder Altphilologen und liberalen Politikers Gilbert Murray. Als Vermittler betätigte sich Harry Graf Kessler, ein alter Bekannter der Euckens aus der Gesellschaft der Kunstfreunde. Kessler hatte Lady Murray vorgeschlagen, sich auf einige wichtige deutsche Universitäten zu konzentrieren und ihr Berlin, Leipzig, Heidelberg und Jena genannt. Er selbst versprach, nach seiner Rückkehr nach Deutschland die Professoren Alfred Weber, Adolf von Harnack, Walter Goetz und Rudolf Eucken anzusprechen. Eucken versicherte der Lady, er sei selbstverständlich bereit, die von den englischen Kollegen gesammelten Beträge an die Universität Jena weiterzuleiten. „Seien Sie überzeugt, dass die Gabe nur in würdige Hände geleitet wird und dass Sie sicherlich der deutschen Wissenschaft und damit der Welt einst Förderung erweisen“, so fügte er laut Briefentwurf hinzu. Der Philosoph besaß aber dann doch soviel Common Sense, um das Adjektiv „deutsch“ vor der „Wissenschaft“ wegzustreichen.156 Eine aktive Akquise von Geld, Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen zugunsten der notleidenden gebildeten Mittelschichten betrieb Rudolf Eucken 1922/23 besonders für das Projekt eines Jenaer Studentenheims. Es waren hier vor allem die Mittel zur Ernährung der Studenten aufzubringen. Im Juli 1922 wandte sich der Philosoph an Kuno Francke mit der Bitte, in amerikanischen 155 ThULB NLRE I, 9, Bl. G 5: Hans von der Gabelentz-Linsingen an Rudolf Eucken, 9.6.1921; ebd. I, 10, Bl. G 374: Carl G. Grossmann an Eucken, 12.4.1921. 156 Ebd. I, 29, Bl. 160: Rudolf Eucken an Lady Mary Murray, undatierter Entwurf. Vgl. ebd. I, 14, Bl. K 222: Harry Graf Kessler an Rudolf Eucken, 28.12.1923; Kessler, Tagebuch Band 8, S. 158.

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Universitätskreisen Sammlungen für diesen Zweck in die Wege zu leiten. Aber in Harvard und anderen Ostküsten-Universitäten waren die Ressentiments gegenüber den Deutschen auch vier Jahre nach Kriegsende noch so groß, dass der ehemalige Germanistikprofessor meinte, die Sache habe nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie nicht von einem Mann mit deutschem Namen ausgehe. Francke gelang es zwar, einen angloamerikanischen Kollegen zur Bildung eines Hilfskomitees zu bewegen. Doch musste er im September 1922 seinem alten Doktorvater eingestehen, dass seine Bemühungen für das Jenaer Studentenheim erfolglos geblieben waren. Er sei fast überall auf Ablehnung gestoßen. Mehr Glück hatte Eucken in Schweden, wo der getreue Ernst Liljedahl mehrere tausend Kronen für die Jenaer Studenten sammelte. Anfang 1923 konnte der Philosophen seinem schwedischen Freund mitteilen, das Studentenheim sei nun eröffnet worden und man könne rund 250 Studenten zumindest bis zum Ende des Wintersemesters mit Brot und „beste[m] amerikanische[n] Schmalz“ versorgen.157 Die praktische Organisation der Verteilung der aus dem Ausland eingehenden Geldmittel hatte Rudolf Eucken seiner Ehefrau übertragen. Irene Eucken wiederum war nicht gewillt, die Disposition über die Verwendung der wertvollen Fremdvaluta aus der Hand zu geben. Im Dezember 1922 bedankte sich der Emeritus bei Liljedahl für die „herrliche Sendung von 1000 Kronen“, fügte aber sogleich hinzu, „diese gewaltige Summe“ könne nicht einfach den Studenten überlassen werden. Er schlug stattdessen vor, Irene Eucken „das Vertrauen zu geben, dass sie die Verwendung aufs sorgfältigste überwacht.“ Bereits im Vormonat hatte Rudolf Eucken dem Schweden mitgeteilt, seine Frau könne viel besser als die Studenten übersehen, „was zur Förderung der Sache wünschenswert ist“. Die Geldsendungen der ausländischen Freunde und Anhänger kamen durchaus auch eigenen Zwecken zugute. Liljedahls Zuwendungen wurden etwa zu gleichen Teilen dem Jenaer Studentenheim und der Kasse des Euckenbundes zugedacht. Auch bedürftige Akademiker aus den eigenen Reihen kamen in den Genuss der von Eucken vermittelten „Mittelstandshilfe“, wie Gerhard Buddes überschwänglicher Dankesbrief an seinen rauschebärtigen Meister vom Nikolaustag 1922 belegt.158 Auch an Rudolf Eucken und seiner Familie gingen die Folgen der Inflationskrise nicht spurlos vorüber. Der Realwert der Einkünfte aus dem Professorenbzw. Ruhegehalt, aus dem Verkauf der Bücher, Vortragshonoraren u. ä. hatte 157 Vgl. ebd. I, 8, Bl. F 267f, 270: Kuno Franke an Rudolf Eucken, 17.7. und 30.9.1922; ebd. I, 29, Bl. 129, 133: Eucken an Ernst Liljedahl, 27.11. und 13.1.1923 (Zitat); Eucken Review Februar 1923, S. 11. 158 ThULB NLRE I, 29, Bl. 129-132: Rudolf Eucken an Ernst Liljedahl, 27.11. und 11.12.1922. Vgl. ebd. I, 29, Bl. 133f: Eucken an Liljedahl, 13.1.1923; ebd. I, 4, Bl. B 878: Gerhard Budde an Eucken, 6.12.1922.

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sich seit 1914 merklich vermindert. Trotzdem unterstützte der Philosoph seine beiden Söhne, die am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn standen, und die im Elternhaus lebende Tochter bis in die Nachkriegszeit hinein mit Geldzuwendungen. „Dank Eurer Unterstützung – allerdings auch nur mit ihr – habe ich mich finanziell ja leidlich durch den Krieg durchgeschlagen,“ schrieb Arnold Eucken Ende 1918 nach Jena. Nun stünden weitere Ausgaben an, die sein bevorstehender Umzug nach Breslau mit sich bringe, wo er jetzt endlich seine Professur antreten konnte. Es müsse neue Zivilkleidung angeschafft werden, der Umzug bezahlt werden, die hohen Lebenshaltungskosten in der schlesischen Großstadt aufgebracht werden. Die notorische Nahrungsmittelknappheit bewog den älteren Eucken-Sohn, aufs Land ziehen, um „dort nach Möglichkeit etwas Selbstversorger zu werden.“ Ins Souterrain der Professorenvilla in Jena zogen derweil einige Ziegen ein, um die sich Irene Eucken persönlich kümmerte.159 Einem noch stärkeren Wertverfall als die laufenden Einnahmen war das auf Sparbüchern und in Wertpapieren angelegte Vermögen des Nobelpreisträgers ausgesetzt. Rudolf und Irene Eucken konnten allerdings in solchen Dingen auf die Expertise ihres jüngeren Sohnes zurückgreifen. Der Nationalökonom, der 1921 seine Venia Legendi an der Universität Berlin erhielt, übernahm nach dem Krieg die Geldanlage für die Familie. Sein Vater übertrug ihm zudem die Verhandlungen mit seinen Verlegern. Walter Eucken erkannte die Konsequenzen des verlorenen Krieges und der beschleunigten Inflation für das elterliche Vermögen relativ frühzeitig. Mitte 1919 riet er der Mutter, ihre Reichs- und Kriegsanleihen zu verkaufen. Ein Staatsbankrott sei kaum mehr zu vermeiden, so dass diese Papiere wohl stark entwertet würden. Der Rat des Sohnes, stattdessen württembergische Staatsanleihen anzuschaffen, dürfte sich allerdings als wenig zielführend erwiesen haben. Ein halbes Jahr später korrigierte Walter Eucken denn auch diese Einschätzung und wies die Eltern an, alle festverzinslichen Papiere abzustoßen. Nun traten die Euckens verstärkt die „Flucht in die Sachwerte“ an. 1920 erwarb Arnold Eucken mit finanzieller Unterstützung des Vaters ein Eigenheim in der ländlichen Peripherie Breslaus. Weitere Immobilienkäufe wurden ins Auge gefasst, dann aber doch nicht getätigt. Augenscheinlich versuchte man vornehmlich, noch vorhandenes Geldvermögen und größere Einnahmen, soweit es die staatliche Devisenkontrolle zuließ, in „harten“ Fremdwährungen anzulegen.160 159 ThULB NLRE V, 9, Bl. 49f: Arnold an Irene Eucken, 20.12.1918. Vgl. Erdsiek, Irene Eucken, S. 64. 160 ThULB NLRE V, 11, Bl. 102, 113: Walter an Irene Eucken, 21.7.1919 und 19.2.1920; ebd. V, 9, Bl. 229: Arnold an Rudolf Eucken, 20.12.1924; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 29.5.[1923?]; Becke-Goehring/M. Eucken, Arnold Eucken, S. 54.

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Mitte 1920 regte Walter Eucken zudem die Erschließung neuer Einnahmequellen an, damit „Jena im Notfall auf eigenen Füßen steht“. Auch seine Schwester müsse nun „bei der finanziellen Lage unseres Hauses verdienen“. Er dachte dabei an den Ausbau der „Stickstube“, die seine Mutter seit der Vorkriegszeit betrieb, und schlug vor, Ida solle eine kaufmännische Ausbildung absolvieren, um die Buchhaltung des kleinen Betriebs übernehmen zu können. Im folgenden Jahr wurde eine Textil- und Kunstgewerbestätten GmbH ins Handelsregister eingetragen. 12 bis 14 Arbeiterinnen stellten nun im ersten Stock des Wohnhauses Stickereien und Stoffdrucke nach künstlerischen Entwürfen Irene Euckens her. Bereits im Vorjahr hatte Ida Eucken auf ihrer Nordlandreise mit dem Vater Vertriebskontakte geknüpft. Es gelang Mutter und Tochter schließlich, die Erzeugnisse ihrer Textilwerkstätten auf den kaufkräftigeren Auslandsmärkten, vor allem den Niederlanden und den USA abzusetzen. Die Devisenerlöse der Stickereien, die Vergütungen aus dem Verkauf von Büchern im Ausland und die Zuwendungen ausländischer Freunde und Anhänger versorgten die Familie in den Inflationsjahren mit einem stetigen Geldfluss in stabiler Fremdwährung. Dass die Euckens die Geldentwertung sehr viel gelassener ertragen konnten als die meisten ihrer Freunde und Bekannten, geht aus einem Brief Ida Euckens an ihre Mutter vom September 1923 hervor: Am Vorabend habe sie an einem geselligen Zusammensein teilgenommen, wo „entsetzlich viel … über Preise geredet“ worden sei. Sie jedoch, kommentierte die EuckenTochter in der ihr eigenen Nonchalance, „finde immer alles billig, bemühe mich aber auch, in das allgemeine Entsetzensgeschrei einzustimmen“.161

Der Euckenbund im Ausland Als Bruno Jordan 1920 den Lesern der Weser-Zeitung den neugegründeten Euckenbund vorstellte, war sein Erwartungshorizont, was die Bedeutsamkeit der neuen Bewegung betraf, wahrhaft grenzenlos. In „eingehenden persönlichen Unterredungen mit Geheimrat Eucken und seiner Frau Gemahlin“ habe sich in ihm die Überzeugung gefestigt, dass der Idealismus Euckens im Begriff steht, besonders im Ausland, in den nordischen Ländern, in China, Indien, Amerika usw. einen beispiellosen Siegeszug anzutreten. Es liegen

161 ThULB NLRE V, 11, Bl. 138: Walter an Irene Eucken, 2.7.1920; ebd. V, 13c, Bl. 114: Ida an Irene Eucken, 12.9.1923. Vgl. ebd. I, 29, Bl. 74, 115: Rudolf Eucken an Theodore F. Koch, 18.6.1923, und an Ernst Liljedahl, 3.12.1920; ebd. V, 13c, Bl. 62f, 71: Ida an Irene Eucken, 17.4.1920 und 9.8.1921; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 64.

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ganz bestimmte Anzeichen und Beweise vor, daß insbesondere Euckens Wirksamkeit … eine Welle kräftigen idealistischen Lebens und Strebens heraufführt.162

Die messianischen Welteroberungsvisionen des Bremer Pädagogen erscheinen eineinhalb Jahre nach Kriegsende doch reichlich optimistisch, um nicht zu sagen illusorisch. Die meisten Kontakte ins Ausland, zumal ins feindliche, waren während des Krieges abgebrochen und mussten nun erst wieder neu geknüpft werden. Möglicherweise hatte sich Jordan von der Euphorie seines Meisters mitreißen lassen, der gerade von seiner ersten Auslandsreise nach dem Krieg zurückgekehrt war. Im April 1920 war Rudolf Eucken in Begleitung seiner Tochter zwei Wochen lang auf Vortragstournee in Dänemark und Norwegen gewesen. Nach Ida Euckens regelmäßigen Berichten an ihre Mutter zu schließen, gestalteten sich die Auftritte des Nobelpreisträgers in Kopenhagen, Oslo und Trondheim zu einem wahren Triumphzug. „Die Presse-Aufnahme ist eminent!“, schrieb sie am 13. April aus Oslo. „In jeder grossen Zeitung ist heute ein Hauptartikel über den Alten mit Bild u. zwar von tadellosen Leuten!“ Ehefrau und Tochter hatten sich zuvor Sorgen über den körperlichen und mentalen Zustand Euckens gemacht. „Das Schönste, was ich Dir schreiben kann“, vermeldete Ida Eucken nach Jena, sei, dass der Vortrag des Vaters „wieder ganz hervorragend war! Frisch, klar, ohne Hemmung! Einfach erstaunlich! Das Rührendste dabei ist, wie er selber glückselig ist u. Vertrauen zu sich gewinnt“. Besonders viel Freude machten „dem Alten“ seine täglichen Sprechstunden, wo „20 Leute um ihn herumsitzen u. ihn reden lassen“.163 Die Wiederaufnahme der kulturellen Auslandsbeziehungen nach dem Ende des „Großen Krieges“ gestaltete sich im Falle der neutralen skandinavischen Staaten wohl relativ problemlos. Eucken initiierte zusammen mit dem Nordistik-Dozenten Wolrad Eigenbrodt im Sommer 1920 einen vierwöchigen, gut besuchten Ferienkurs für schwedische Lehrer, der auch in den kommenden Jahren veranstaltet wurde. Nach Schweden waren Rudolf Euckens persönliche Kontakte auch während der Kriegsjahre nie abgebrochen. Zwar war Vitalis Norström 1917 gestorben, doch dafür intensivierte sich der Briefwechsel mit Ernst Liljedahl. In den Nachkriegsjahren versuchte Liljedahl mit Rezensionen und Artikeln das Interesse am Werk Euckens in seinem Heimatland lebendig zu halten. Mit seinen Geldsendungen trug er wohl wesentlich dazu bei, dass der Euckenbund während der Inflationszeit liquide blieb. Liljedahl trat dem Bund bei und scheint auch das ein oder andere schwedische Mitglied geworben zu haben. 1921 vermeldete das Nachrichtenblatt des Euckenbunds sogar, in der Universi162 ThULB NLRE VI, 13, Mappe 1, o. Bl.: Ausschnitt Weser-Zeitung 23.6.1920. 163 Ebd. V, 13c, Bl. 57, 61, 66: Ida an Irene Eucken, 12.4., 13.4. und 15.4.1920.

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tätsstadt Upsala habe sich eine Ortsgruppe mit 14 Mitgliedern konstituiert, die aber wohl bald wieder einschlief.164 Als weitaus schwieriger erwies es sich, die Netzwerk-Kontakte aus der Vorkriegszeit in den ehemaligen Feindstaaten zu reaktivieren oder neue Verbindungen zu knüpfen. Vor allem im Verkehr nach Frankreich herrschte bis Ende der 1920er Jahre weitgehende Funkstille. Die Empörung über die französische Reparations- und Besatzungspolitik ließen für Rudolf Eucken und seine Anhänger den Gedanken an einen Kulturaustausch mit Frankreich wohl gar nicht erst aufkommen. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen, während der Besetzung des Ruhrgebiets 1923, hielt es Irene Eucken für angebracht, vorsorglich die Debussy-Stücke aus dem musikalischen Rahmenprogramm der Jahresversammlung des Bundes zu streichen. Der Gedankenaustausch mit den französischen Neoidealisten wurde nicht wieder aufgenommen. Nach den gegenseitigen Invektiven während des Krieges waren weder Eucken noch Bergson – Boutroux starb 1921 – bereit, einen versöhnlichen Schritt aufeinander zu zu machen. Als sich Isaak Benrubi 1925 in Paris aufhielt, schien ihm zwar die allgemeine Stimmung einer Normalisierung der deutsch-französischen Beziehungen zuzuneigen. Schwieriger stehe es aber „mit den Gelehrten und natürlich den Philosophen. Vorläufig fühle ich mich hier noch sehr vereinsamt.“165 Vergleichsweise zügig kamen die transatlantischen Beziehungen nach 1918 wieder in Gang. Bald nach Friedensschluss meldeten sich deutsch-amerikanische Freunde und Anhänger bei den Euckens. Aus ihren Briefen nach Jena spricht oft die Verbitterung über die Haltung der USA im Krieg und über die eigene Behandlung durch Behörden, Kollegen und Mitbürger. „Was für uns Amerikanische Bürger von Deutscher Abkunft so ganz besonders schmerzlich ist, ist die Thatsache, daß es lediglich der Thätigkeit der Vereinigten Staaten zuzuschreiben ist, daß Deutschland unterlegen“, schrieb Dr. Henry Kreutzmann aus San Francisco. Man habe blutenden Herzens die eigenen Söhne „in den Kampf gegen das bedrängte Deutschland“ schicken müssen. Vier Jahre zuvor hatte sich Kreutzmann noch „Heinrich“ statt „Henry“ genannt. Kuno Francke schickte im Oktober 1919 selbst verfasste Gedichte nach Jena. Deren Veröffentlichung in den USA sei vorerst ausgeschlossen, da hier jede Sympathieäußerung für Deutschland unter Strafe stehe. Auch einer von Franckes Söhnen war als amerikanischer Soldat in Frankreich gewesen. Den Germanisten Julius Goebel aus 164 Vgl. Schmidt, Svenskhet, S. 346f; Wahl, Ferienkurse, S. 147; R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 114; ThULB NLRE I, 29, Bl. 99-136: Rudolf Eucken an Ernst Liljedahl, 18.7. und 4.9.1917, 5.2.1918, 21.7. und 5.9.1919, 3.12.1920, 31.1.1921, 23.1. und 22.6.1922, 6.2.1923; Der Euckenbund 2, 1921, S. 22. 165 ThULB NLRE I, 2, Bl. B 279f: Isaak Benrubi an Rudolf Eucken, 20.9.1925. Vgl. ebd. VI, 2, o. Bl.: Irene Eucken an Irma Göbel, Berlin, 22.9.1923.

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Chicago verbitterte es besonders, dass seinem geliebten deutschen Vaterland die „völlig entartete“ angelsächsische Demokratie aufgezwungen worden sei. Nur dem „heimlichen demokratischen Neid auf das Einzige und Hervorragende deutscher Wissenschaft und Kunst“, schrieb er es zu, dass die amerikanischen Universitäten während des Krieges zu „Brutkästen des geistigen Deutschenhasses“ geworden seien.166 Langwieriger vollzog sich oft die Wiederaufnahme persönlicher Beziehungen mit alten angloamerikanischen Freunden, Kollegen und Bekannten, wenn sie denn überhaupt zustande kam. Auf seinen Brief an Richard Boynton, den unitarischen Theologen, vom Januar 1921 erhielt Rudolf Eucken erst zu Weihnachten eine Antwort. Offensichtlich hatte Euckens Auftreten als deutscher Kriegspropagandist den amerikanischen Freund tief befremdet. Einige Artikel in der amerikanischen Presse hätten ihn, so erklärte Boynton, annehmen lassen, Eucken sei zum Imperialisten geworden. Daher sei er nun sehr dankbar für die Erklärungen, die der Philosoph ihm in seinem Brief gegeben habe. In einem Ende 1922 verfassten Brief entschuldigte sich Boynton noch einmal ganz explizit dafür, dass er Eucken in einem während des Krieges veröffentlichten Artikel als Vertreter des alldeutschen Imperialismus missinterpretiert habe.167 Ralph Tyler Flewellin, den Eucken während seines Harvard-Semesters als Pastor kennengelernt hatte, schrieb ihm Mitte 1922 augenscheinlich aus eigenem Antrieb. Flewellin teilte Eucken mit, er sei inzwischen Leiter des philosophischen Instituts der University of Southern California in Los Angeles geworden, wo man eine gute und starke Schule des Idealismus aufbaue. Es folgten in den nächsten Jahren einige weitere Briefe, die meist ein konkretes Anliegen zum Anlass hatten. Mal bat Flewellin den Philosophen um einen Beitrag für die von ihm herausgegebene Zeitschrift The Personalist. Mal fragte er an, ob Eucken nicht jemand kenne, der seine philosophische Bibliothek verkaufen wolle, mal bat er um Kontaktadressen für eine bevorstehende Europareise. Auch andere amerikanische Bekannte aus der Vorkriegszeit korrespondierten seit den frühen 1920er Jahre wieder mit dem Jenaer Emeritus. Doch ging es auch hier meist um solche Auskünfte und kleine Gefälligkeiten. Ein tiefer gehendes Interesse an Euckens Lehren scheint nur noch in wenigen Briefen aus Amerika auf.168 Dies musste auch Irene Eucken erfahren, als sie 1922 den Plan fasste, systematisch Anhänger in den USA zu werben und dort eine Organisation des Eu166 Ebd. I, 16, Bl. K 735: Henry Kreutzmann an Rudolf Eucken, 13.9.1919; ebd. I, 8, Bl. F 264ff: Kuno Franke an Eucken, 28.10.1919; ebd. I, 9, Bl. G 188: Julius Goebel an Eucken, 8.9.1920. 167 Ebd. I, 3, Bl. B 676f: Richard W. Boynton an Rudolf Eucken, 29.12.1921 und 20.11.1922. 168 Vgl. ebd. I, 8, Bl. F 175ff: Ralph Tyler Flewellin an Rudolf Eucken, 20.7. und 27.10.1922, 20.6.1925; ebd. I, 5, Bl. C 194f: John F. Coar an Eucken, 8.7.1921; ebd. I, 7 Bl. D 490: Allen Macy Dulles an Eucken, 13.12.1923 und 29.1.1924.

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ckenbundes aufzubauen. Seit Anfang 1923 gab der Bund eine englischsprachige Zeitschrift heraus, die Eucken Review, mit der man hoffte, das Anliegen der Bewegung, in der angelsächsischen Welt bekannt zu machen. Die Geschäftsstelle in Jena sandte die Zeitschrift an ehemalige amerikanische Anhänger und Schüler Rudolf Euckens mit der Bitte, für die Bestrebungen des Bundes zu werben. Doch scheinen diese Bemühungen auf wenig Resonanz gestoßen zu sein. Selbst die Unitarier, die vor dem Krieg so großen Anteil an der Verbreitung von Rudolf Euckens religionsphilosophischem Werk in Großbritannien und den USA genommen hatten, zeigten nun den Avancen aus Jena meist die kalte Schulter.169 Angesichts der heftigen internen Auseinandersetzungen um die „Judenfrage“ mutet es ausgesprochen ironisch an, wenn der einzige konkrete Versuch zur Etablierung des Euckenbundes in Amerika ausgerechnet aus den deutschjüdischen Kreisen Chicagos kam. Ms. Flora Levy war 1922 dem Euckenbund beigetreten und hatte auch gleich zwei Professoren der University of Chicago für den Bund geworben. Sie habe sich vorgenommen, schrieb sie Rudolf Eucken, tüchtig für den Euckenbund zu wirken, neue Mitglieder zu werben und zur Vergrößerung seines Werbefonds beizutragen. Der deutsch-amerikanische Publizist Michael Singer, auch er ein Jude, warb seit der Gründung des Bundes in seiner in Chicago erscheinenden Zeitschrift Die Neue Zeit für die Eucken-Bewegung in Amerika. Die Gründung einer Euckenbund-Ortsgruppe in Chicago kam allerdings nicht zustande. Der Führung des Bundes dienten ihre jüdischen Anhänger in Amerika aber immerhin als Argument gegen eine offene antisemitische Positionierung. Als Gustav Ziegler in der Hauptversammlung 1922 den Ausschluss der Juden aus dem Bund forderte, widersprach ihm Irene Eucken mit dem Hinweis auf „das sehr eifrige Mitglied Frl. Flora Levy in Chicago“. Der Philosoph selbst nannte Michael Singer 1924 in seinem Nachwort zur Breslauer Euckenwoche als Beispiel eines „innerlich deutsch gewordene[n] Juden“ und rechnete ihn zu seinen besten Freunden. Kurz zuvor hatte Der Euckenbund den gerade verstorbenen Singer mit einem Nachruf geehrt.170 Etwas größeres Interesse als in den Vereinigten Staaten von Amerika fanden Rudolf Euckens neue Schriften nach dem Ersten Weltkrieg in Großbritannien. 1921 erschien eine englische Version seines Sozialismus-Buches in einem renommierten Londoner Verlag. Zwei Jahre später veröffentlichte Eucken eine 169 Vgl. z. B. ebd. VI, 3, o. Bl.: Sekretariat Jena an Daniel A. Huebsch, 12.5.1923; ebd. VI, 2, o. Bl.: Sekretariat an Frederick R. Griffin, undatiert [1923/24]; ebd. VI, 4a, o. Bl.: Irene Eucken an Else Lohmann, München, 20.12.1923; ebd. VI, 3, o. Bl.: Irene Eucken an Curt Hacker, 28.4.1924. 170 Ebd. VI, 24: Mappe 1922: Protokoll Hauptversammlung 6./7.10.1922, S. 4; R. Eucken, Nachwort, S. 21. Vgl. ThULB NLRE I, 17, Bl. L 201f: Flora Levy an Rudolf Eucken, 28.4. und 17.8.1922; ebd. VI, 4a, o. Bl.: Sekretariat Jena an Flora Levy, 17.5.1923; Der Euckenbund 5, 1924, S. 7; Rudolf Eucken an Julius Goldstein, 28.2.1921 (in: Aus Briefen, S. 411f).

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kleine, eigens für das britische Publikum verfasste Schrift, The Individual and Society. Das Vorwort dieses Büchleins stammte von Arthur Boutwood, mit dem Eucken seit 1920 korrespondierte. Boutwood war als Autor zahlreicher politischer, philosophischer und theologischer Schriften hervorgetreten. Schon bald nach dem Ende des Krieges nahm er Kontakt mit Eucken auf. Er suche, so schrieb er nach Jena, „your co-operation in an effort to reconstitute those great spiritual unities which the War had destroyed“. Ein dauerhafter Frieden in Europa, so Boutwood in einem späteren Brief, werde nicht von den Politikern zustande gebracht werden. Diese Aufgabe müssten gutwillige Privatleute in die Hand nehmen.171 In der kulturkritischen Lehre des Jenaer Philosophen konnte Arthur Boutwood offenbar seine eigenen weltanschaulichen Überzeugungen wiederfinden. Im Rückblick auf die friedliche Gesellschaftsordnung vor dem Krieg würden manche von uns das, was wir verloren haben, überschätzen, schrieb er Eucken im Oktober 1920. Diese Gesellschaft sei doch letztlich durch die Falschheiten der Zivilisation zerstört worden. Der neue Frieden werde nur von Dauer sein, wenn er auf einer spirituellen Grundlage aufgebaut werde. Als ihm der Philosoph drei Jahre später berichtete, man empfinde es in Deutschland besonders schmerzlich, dass sich das staatliche und wirtschaftliche Leben von der Religion abgelöst habe, und das Leben so allen Halt verliere, konnte ihm Boutwood nur zustimmen. In England sei man nicht besser dran. Der englische Liberalismus habe noch nie eine religiöse Fundierung gehabt, die Labour Party repräsentiere Kräfte, die dem Materialismus verfallen seien, und die Konservativen seien kaum mehr als das politische Instrument der Banken und Großindustriellen. Kurz: „The spiritual outlook seems to me very gloomy.“172 Von den zahlreichen britischen Anhängern, die Rudolf Eucken in den Vorkriegsjahren umworben hatten, war dagegen nach 1918 kaum jemand bereit, sich für die von ihm ins Leben gerufene Bewegung einzusetzen. Die Korrespondenz Euckens mit Friedrich von Hügel war seit 1914 abgerissen. Versuche des Philosophen, mit dem langjährigen Freund nach dem Krieg wieder Kontakt aufzunehmen, wurden nicht beantwortet. Der Baron hatte Eucken offenkundig dessen kriegspropagandistischen Elaborate übel genommen. Auch William Tudor Jones ließ nichts mehr von sich hören. Der walisische Unitarier sei „Vaters ergebenster Schüler“ gewesen erinnerte sich Irene Eucken später. „Mit dem Kriege hörte diese Liebe auf.“ Von den britischen Freunden der Vorkriegszeit nahmen 171 ThULB NLRE I, 3, Bl. B 645, 651: Arthur Boutwood an Rudolf Eucken, 20.10.1920 und 26.10.1921. 172 Ebd. I, 3, Bl. F 9 [einsortiert zwischen B 651 und 652]: Arthur Boutwood an Rudolf Eucken, 26.9.1923. Zu Boutwood vgl. Green, Ideologies, S. 46–56.

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allein W. R. Boyce Gibson und seine Frau Lucy die Verbindung mit dem Philosophen wieder auf. Lucy Gibson besorgte 1923 die Übersetzung der Programmschrift Unsere Forderung an das Leben ins Englische. Doch saßen die Gibsons in Melbourne definitiv zu weit vom Schuss, um für den Euckenbund in England größere Wirksamkeit zu entfalten.173 Als Lucy Gibsons Übersetzung des Euckenbund-Manifests Ende 1923 in Jena eintraf, war man dort gerade dabei, Pläne für den Aufbau einer britischen Organisation zu schmieden. Erster Ansprechpartner war der Cambridger Philosophie-Dozent Alban G. Widgery, der 1911 ein Semester in Jena studiert und kurz danach Euckens Grundlinien einer neuen Lebensordnung ins Englische übersetzt hatte. Man habe, so schrieb das Jenaer Sekretariat Ende November 1923 an Widgery, den Versuch gemacht, mit der englischsprachigen Eucken Review „die durch den Krieg versprengten Schüler und Freunde Rudolf Euckens zu sammeln“. Dies sei aber nur zum kleineren Teil gelungen. Daher sei man zu der Überzeugung gelangt, „dass es richtiger wäre, wenn es auch in England und Amerika zu einem festen Zusammenschluss des Bundes käme“. Die Eucken Review sollte in London herausgegeben werden und „englischsprachige Gelehrte und Forscher“ könnten dann als Mitarbeiter gewonnen werden. Bislang enthielt die Zeitschrift größtenteils übersetzte Artikel aus dem deutschen Mitgliederblatt.174 Widgery hielt die Zeit noch nicht reif für die Gründung einer britischen Euckenbund-Filiale. Die einflussreichen Philosophen und Publizisten würden Eucken immer noch seinen Aufruf mit Haeckel vom August 1914 übelnehmen. Jeder Versuch, eine Eucken-Bewegung in England zu inszenieren, würde wohl nur zur Wiederbelebung bitterer Gefühle gegen Eucken und gegen Deutschland führen. Möglicherweise werde aber, so Widgery weiter, die bevorstehende Bildung einer von der Labour Party geführten Regierung einen Wandel der britischen Deutschlandpolitik herbeiführen und dann würde vielleicht auch die öffentliche Meinung den Bestrebungen des Bundes aufgeschlossener gegenüber stehen.175 Trotz dieser wenig ermutigenden Auskunft, ging der Euckenbund daran, die Gründung einer Ortsgruppe in London in Angriff zu nehmen. Im Februar 1924 hatte ein Aktivist des Bundes aus Hannover, Hans Traugott Schorn, der Geschäftsstelle mitgeteilt, er werde im Frühjahr einen Vortrag über „Nietzsche und Eucken“ in London halten. Bei der Gelegenheit wolle er seine englischen 173 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 18.4.1938. Vgl. ThULB NLRE VI, 6, o. Bl.: Sekretariat Jena an Hans Traugott Schorn, 2.5.1924; ebd. VI, 2, o. Bl.: Korrespondenz Gustav Meyer-Lingen – W. R. Boyce Gibson, 12.7., 16.9. und 13.12.1923. 174 ThULB NLRE VI, 7, o. Bl.: Sekretariat Jena an Alban G. Widgery, 24.11.1923. 175 Ebd.: Alban G. Widgery an Sekretariat Jena, 4.1.1924.

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Verbindungen auffrischen, um für den Euckenbund zu werben. Schorn war vor 1914 Dozent für Literatur am Northampton Polytechnic Institute in London gewesen. Den Krieg hatte er in Internierungslagern verbracht. Seit 1919 lebte er in Hannover und schlug sich mehr schlecht als recht mit Vorlesungen, Vorträgen u. ä. durch.176 Es war nun nicht das erste Mal, dass Schorn in Jena mit Plänen vorstellig wurde, wie man seine Vortragstätigkeit mit den Bestrebungen des Euckenbundes zu beiderseitigem Nutzen verbinden könnte. Rudolf Eucken selbst hatte bei seinem Hannoveraner Schüler Hans Frebold bereits 1920 Erkundigungen über Schorn eingezogen. Frebold meinte zu wissen, dass Schorn vor dem Krieg in England „Beziehungen zu den höchsten Persönlichkeiten gehabt“ habe, dass er etwa häufiger bei Sir Edward Grey, dem britischen Außenminister, zum Frühstück eingeladen gewesen sei. Er sei auch „ein überzeugter Anhänger Ihrer Überzeugungen“, erfüllt von „geradezu glühende[m] Idealismus“. Frebold hielt Schorn jedoch wegen dessen unsicheren und zaghaften Auftretens nicht geeignet für Aufgaben, bei denen es auf „Bestimmtheit und Entschiedenheit“ ankomme. Trotz dieser Charakterskizze beauftragte Irene Eucken den Dozenten, in London Beziehungen für den Bund anzuknüpfen. Der Frau Geheimrat sei zwar bewusst, so ließ das Sekretariat im April 1924 das Auswärtige Amt wissen, dass Schorn nicht geeignet sei, „eine Bewegung in London hervorzurufen“. Da er aber gut englisch spreche und mancherlei Beziehungen in England habe, werde er imstande sein, „für eine etwaige größere Werbearbeit vorzubereiten“.177 Im Mai 1924 weilte Schorn einige Wochen lang in London. Anders als von der Jenaer Geschäftsstelle angekündigt, leitete er sogleich die Gründung einer Ortsgruppe in die Wege. Man hatte ihm einige Empfehlungsschreiben mitgegeben, die der Euckenbund von der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft in Berlin erhalten hatte. Von Jena selbst bekam er nur die Adressen von Widgery und Boyce Gibson. Arthur Boutwood war zwischenzeitlich verstorben. Versuche Schorns, Kontakt mit Tudor Jones, dem Eucken-Biographen Meyrick Booth und Friedrich von Hügel aufzunehmen, blieben ohne Resonanz. In seinen Briefen nach Jena vermittelt Schorn den Eindruck, als habe er einen illustren Kreis von Spitzenpolitikern, Adligen und Kirchenleuten für die Bestrebungen des Bundes interessieren können. Mit Landwirtschaftsminister Noel-Buxton sei er persönlich gut bekannt, ebenso mit Lady Margaret Sackville, die er zunächst als Verlobte des neuen Premiers Ramsay MacDonald, dann als dessen gute Freundin 176 Vgl. ebd.VI, 6, o. Bl.: Hans Traugott Schorn an Sekretariat Jena, 23.2.1924. 177 Ebd. I, 8, Bl. F 320: Georg Frebold an Rudolf Eucken, 12.2.1920; PA-AA Berlin RZ 503, Nr. R 65523, o. Bl.: Sekretariat Jena an Heilbron, 8.4.1924. Vgl. auch ThULB NLRE I, 24, Bl. S 159: Hans Traugott Schorn an Rudolf Eucken, 17.9.1923.

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vorstellte. In der Gründungsversammlung sollte Bildungsminister Trevelyan den Vorsitz führen, wovon später nicht mehr die Rede war.178 Wer nun tatsächlich in der für den 19. Mai 1924 anberaumten Versammlung in London anwesend war, geht aus den Berichten Schorns nicht recht hervor. Genannt werden nur John Crawley, Herausgeber der linken Sonntagszeitung Reynold’s News, der Literaturagent R. Dingle, sowie die Ehefrau des LabourFraktionsvorsitzenden Ben C. Spoor. Die Veranstaltung sei, so musste Schorn zugeben, „leider nicht so gut besucht [gewesen], als ich erwartet hatte“. The Inquirer, eine den Unitariern nahestehenden Zeitschrift, habe die Versammlung aber wohlwollend besprochen. Schorn hatte einen einstündigen Vortrag über die Aufgaben des Euckenbundes und seine Tätigkeit in Deutschland gehalten. In welcher Form sich die Gründung des Londoner Euckenbundes vollzog, bleibt einigermaßen im Dunkeln. Offenbar wurden zunächst nur einzelne Mitglieder aufgenommen. Zumindest hatte sich niemand gefunden, der als Vorsitzender fungieren wollte. Ein paar Tage später fuhr Schorn zurück nach Hannover und ließ die Geschäfte der reichlich virtuell anmutenden Ortsgruppe London in den Händen einer Sekretärin, die für ein Honorar von £ 5 die Eucken Review durchsehen und an die britischen Mitglieder verschicken sollte.179 Die folgenden Wochen und Monate versuchten Schorn und die Jenaer Führung des Bundes, von Deutschland aus die weitere Entwicklung der Londoner Ortsgruppe zu steuern. Augenscheinlich lief denn auch die Sache gründlich aus dem Ruder. Man fand weder einen Vorsitzenden noch überhaupt jemanden, der es in die Hand genommen hätte, die geplanten monatlichen Versammlungen zu organisieren. Die Londoner Sekretärin war von den ihr zugedachten Aufgaben völlig überfordert. Versuche, neue Mitglieder für den Bund in Großbritannien brieflich zu werben, blieben meist ganz ohne Antwort. Wie dilettantisch der Euckenbund sein ambitioniertes Projekt anging, sich in London ein Sprungbrett für die angelsächsische Welt zu schaffen, kam nicht zuletzt in der Gestaltung der Eucken Review zum Ausdruck. Schorn wies immer wieder auf unkorrekte Übersetzungen und peinlich schülerhaftes Englisch hin. In England lege man großen Wert auf mustergültiges Englisch. Daher schade ein schlecht übersetzter

178 Vgl. ThULB NLRE VI, 6, o. Bl.: Hans Traugott Schorn an Sekretariat Jena, 28.4., 1.5., 13.5., 31.5. und 3.8.1924. Laut http://en.wikipedia.org/wiki/Lady_Margaret_Sackville war die Lady MacDonalds langjährige Geliebte. 179 ThULB NLRE VI, 6, o. Bl.: Hans Traugott Schorn an Sekretariat Euckenbund, 20.5.1924. Vgl. ebd.: Schorn an Sekretariat, 13.5., 31.5., 11.8. und 23.9.1924; ebd. VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe London: Undatierter Text: „Euckenbund, Ortsgruppe London“; ebd. VI, 3, o. Bl.: Sekretariat an Curt Hacker, 14.6.1924; Der Euckenbund 5, 1924, S. 24.

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Aufsatz mehr als er nütze. In Jena hatte man die Übersetzungsarbeiten zeitweilig einem örtlichen Studienrat überantwortet.180 Auch der Inhalt der Eucken Review stieß bei britischen Lesern vielfach auf Kritik. Seine englischen Kontaktleute wiesen Schorn dringlich darauf hin, dass das ständige Betonen der weltgeschichtlichen Aufgabe des German Spirit Befremden und Misstrauen hervorrufe. Und man solle doch bitte nicht German Idealism schreiben, sondern New Idealism o. ä. Augenscheinlich hatten Rudolf Eucken und seine Anhänger aus den Erfahrungen der Auslandspropaganda während des Kriegs nichts gelernt. Man meinte immer noch, man könne die für das deutsche Publikum gedachten Texte inhaltlich unverändert dem Ausland präsentieren und damit die gleiche Wirkung wie zuhause erzielen.181 Rudolf Eucken hielt auch nach 1918 an der Lesart seiner Kriegsschriften fest, nach der das „deutsche Wesen“ im Allgemeinen und der „deutsche Idealismus“ im Besonderen eine „Menschheitsaufgabe“ zu erfüllen hätten. Genau dies galt ihm auch als vorrangiger Zweck der Bestrebungen, den Euckenbund im Ausland zu etablieren. Über Die Unentbehrlichkeit des deutschen Idealismus für die Weltkultur schrieb Eucken 1923 im Mitteilungsblatt des Bundes. Die Preisgabe der „deutschen Art“„würde eine schmerzliche, kaum auszufüllende Lücke für die Menschheit bedeuten“. Der Euckenbund sei nach besten Kräften bemüht, „im Sinne eines ethischen Idealismus sowohl auf das eigene Volk als auf die ganze Menschheit zu wirken und damit die Weltkultur zu fördern“.182 Mehr denn je identifizierte Eucken die eigene Lehre mit dem „deutschen Idealismus“ und der „deutschen Art“. In der Zeitschrift Der Türmer schrieb er 1921: Der Mensch ist nach deutscher Überzeugung als geistiges Wesen berufen, ein neues Lebensgefüge zu bilden, von innen heraus eine Wirklichkeit zu erbauen, die allein dem Leben einen Inhalt verspricht. Als ein solches Wesen kann er eine selbsttätige Lebensenergie werden, einen inneren Zusammenhang mit dem Ganzen des schaffenden Lebens gewinnen, auf Grund dieses Lebens eine Wesensbildung vollziehen und an seiner Stelle zur Erhöhung des Ganzen wirken.183

Prägnanter als in diesem als „deutsche Überzeugung“ gekennzeichneten Glaubensbekenntnis ist die Quintessenz von Rudolf Euckens Lehre wohl kaum zusammenzufassen. 180 Vgl. ThULB NLRE VI, 6, o. Bl.: Hans Traugott Schorn an Sekretariat Jena, 28.4., 13.5., 31.5., 11.8. und 23.9.1924; ebd. VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe London: Maud E. Home an Sekretariat, 2.10. und 21.10.1924; ebd. VI, 6, o. Bl.: Sekretariat Jena an Schorn, 1.5.1924. 181 Vgl. ThULB NLRE VI, 6, o. Bl.: Hans Traugott Schorn an Sekretariat Jena, 31.5.1924; ebd. VI, 3, o. Bl.: Sekretariat Jena an Curt Hacker, 14.6.1924. 182 R. Eucken, Unentbehrlichkeit, S. 17. 183 Ders., Die rechte Art, S. 2.

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Ein weiteres Dilemma, mit dem sich der Euckenbund in Großbritannien, z. T. auch in den USA, auseinander zu setzen hatte, hing damit zusammen, dass seine politische Ausrichtung nicht recht zu den Überzeugungen der Kreise passte, die der Bund dort vornehmlich ansprach. Alban Widgerys Hoffnung auf eine freundlichere Aufnahme der Bestrebungen des Bundes in England machten sich daran fest, dass nach dem Labour-Wahlsieg Ende 1923 diejenigen Kräfte an die Regierung kommen würden, die gegenüber der deutschen Republik eine weniger harte Linie fahren würden als ihre konservativ-rechtsliberalen Vorgänger. Die Leute, bei denen der DNVP-Aktivist Schorn in London am ehesten ein offenes Ohr fand, entstammten ziemlich genau denjenigen Kreisen, mit deren deutschen Pendants der Euckenbund partout nichts zu tun haben wollte: bürgerliche und adlige Sympathisanten des linken Flügels der alten Liberal Party oder der neuen Labour Party, gemäßigte Sozialisten, linksliberale Theologen, Pazifisten oder die Aktivisten von E. D. Morels anti-militaristischer Union for Democratic Control. Ihnen war Rudolf Eucken wohl vor allem als liberaler Religionsphilosoph in Erinnerung, mit dessen Lehren man gegen eine konservative kirchliche Orthodoxie zu Felde ziehen konnte. Um die britischen Sympathisanten nicht vor den Kopf zu stoßen, mahnte Schorn mehrmals in Jena an, die Redaktion der Eucken Review solle auf Artikel mit allzu deutsch-nationalem Grundton besser verzichten. Auch Elogen auf den Generalfeldmarschall Hindenburg kämen in diesen Kreisen nicht so gut an. „Unsere Hauptfreunde“ in England seien nun einmal „ausgesprochene Pazifisten“. Dies könne „uns ja auch schließlich ganz gleichgültig sein“, zumal, so fügte Schorn anscheinend ohne jede Ironie hinzu, „Heer und Flotte in Deutschland nur zur Sicherung des Friedens gehalten wurden, wir also im Grunde auch stark Pazifisten waren“. Daher plädierte der Hannoveraner Dozent dafür, in der englischen Fassung der „Ethischen Richtlinien“ die Pazifismus-Klausel wegzulassen. Auch das Bekenntnis zur Vaterlandsliebe war unter den Mitgliedern und Sympathisanten des Euckenbundes in Großbritannien und den USA auf Ablehnung gestoßen. 1922 schrieb eine Anhängerin aus New York dem Jenaer Philosophen, ihr komme es so vor, als habe eben der Patriotismus viel zu all dem Mord, Elend und Hass seit 1914 beigetragen. Auch diese Klausel hielt Schorn in der englischen Version der Richtlinien für durchaus verzichtbar. Es seien nämlich „gerade unsere Freunde und Gönner drüben, … die einfach angeekelt sind von der Hetze gegen Deutschland unter der Marke ‚Patriotismus‘.“184 Das Scheitern der Ortsgruppengründungen in London und Chicago stellte auch die Eucken Review zur Disposition. Die Zeitschrift war Anfang 1923 mit fi184 ThULB NLRE VI, 6, o. Bl.: Hans Traugott Schorn an Sekretariat Jena, 13.5.1924, 5.8.1924, 7.2.1925; ebd. I, 27, Bl. W 57: Blanche Watson an Rudolf Eucken, 10.6.1922.

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nanzieller Hilfe ausländischer Freunde, vor allem den Zuwendungen Liljedahls aus Schweden lanciert worden. Verhandlungen mit der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes um eine regelmäßige Abnahme von 100 Exemplaren für die deutschen Botschaften und Konsulate blieben im Frühjahr 1923 augenscheinlich erfolglos. Mit der Währungsstabilisierung seit Ende 1923 vermehrten sich die finanziellen Probleme der Zeitschrift, da nun Zuwendungen und Verkaufserlöse aus dem Ausland keine größere Kaufkraft mehr besaßen als die reguläre deutsche Währung. Der Realwert der noch vorhandenen Devisenvorräte war dadurch deutlich gesunken. Für das laufende Jahr 1924 gelang es, die Mittel für die Eucken Review, die in einer Auflage von 500 Exemplaren gedruckt wurde, aufzubringen. Da sich aber weder potente Geldgeber aus der Wirtschaft fanden noch das Auswärtige Amt bereit war, mehr als einen einmaligen Zuschuss beizusteuern, beschloss die Führung des Bundes, ihr englischsprachiges Mitteilungsblatt zum Jahresende 1924 einzustellen.185 Während in Westeuropa und den USA das Interesse an Rudolf Euckens Werk nach dem Ersten Weltkrieg stark nachgelassen hatte, scheint sein Ansehen in Ostasien nicht gelitten zu haben. Als 1919 die große japanische Zeitung Asaki Shimbun einen festen Korrespondenten nach Berlin entsandte, nahm dieser sogleich Kontakt mit dem Jenaer Philosophen auf. Vermittelt hatte die Verbindung ein R. Kunze, der lange als Lektor, Journalist und Publizist für die deutsche Auslandspropaganda in Japan und China gearbeitet hatte. Außer den „grossen deutschen Heerfuehrern im Weltkrieg“ sei kein Name in Japan so bekannt wie der Euckens, berichtete Kunze. Anfang 1920 eröffnete ein Aufsatz Rudolf Euckens über „Deutschland und Japan“ die Asaki Shimbun-Artikelserie „Deutsche Geistesgrößen“. Weitere Beiträge sollten in den nächsten Jahren folgen.186 Auch seine japanischen Anhänger meldeten sich bald nach dem Krieg bei Eucken, darunter ein Mitglied der Tokioter Euckengesellschaft, das mit einem Empfehlungsschreiben seines Lehrers Hajime Minami nach Deutschland gereist

185 Vgl. ThULB NLE I, 29, Bl. 136: Rudolf Eucken an Ernst Liljedahl, 6.2.1923; ebd. VI, 1, o. Bl.: Korrespondenz Sekretariat Jena – Auswärtiges Amt, 31.3. bis 12.5.1923; ebd. VI, 5, o. Bl.: Korrespondenz Sekretariat – Otto Most, 7.7., 21.7., 2.10. und 14.10.1924; ebd. VI, 6, o. Bl.: Sekretariat an Hans Traugott Schorn, 17.5.1924; ebd. VI, 4, o. Bl.: Korrespondenz Sekretariat – Erich Krahmer-Möllenberg, 15.3., 20.3. und 4.6.1923, 6.8.1924.; ebd. VI, 3, o. Bl.: Irene Eucken an Curt Hacker, 28.4.1924; PA-AA, Berlin; RZ 503, Nr. R. 65523, o. Bl.: Briefwechsel Krahmer-Möllenberg – Auswärtiges Amt, 14.7. und 25.7.1924; Der Euckenbund 5, 1924, S. 44. 186 ThULB NLRE I, 16, Bl. K 978: R. Kunze an Rudolf Eucken, 22.12.1919- Vgl. ebd. Bl. K 976f, 987, 998: Kunze an Eucken 11.12.1919, 2.9.1920, 14.11.1921; ebd. I, 19, Bl. N 6: Bunichi Nagura an Eucken, 12.12.1919, 30.3.1921.

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war.187 Einen eifrigen Propagandisten seiner Lehre fand der Philosoph in Kazunobu Kanokogi, der 1912 mit einer Arbeit über Das Religiöse in Jena den philosophischen Doktorgrad erworben hatte. Im März 1920 schrieb Kanokogi nach Jena, er fühle tiefe Trauer über die Erniedrigung Deutschlands. „Wer sollte sich nicht darüber empören, dass der edle und tapfere Kämpfer der welt-historischen Kultur von einem äusserlichen, ‚practical‘ Krämer in schamloser Weise besiegt und schliesslich gefangen genommen wurde durch die Netze der Lügen … der Angel-Sächsen [sic!]“. Kanokogi kam 1924 nach Deutschland und amtierte einige Jahre lang als Direktor des Japan-Instituts in Berlin. Er entfaltete in dieser Zeit eine ausgedehnte Vortragstätigkeit und sprach auch in Veranstaltungen örtlicher Euckenbünde. „Das Schöne an Kanokogi ist“, meinte Ida Eucken 1928, „dass er auch stets den Eucken-Schüler betont.“188 Der Erste Weltkrieg hatte in Japan augenscheinlich weit weniger antideutsche Ressentiments hervorgebracht als in den westlichen „Feindstaaten“ des Deutschen Reiches. Ähnliches gilt wohl auch für China, das 1917 mehr pro forma in den Krieg gegen Deutschland eingetreten war. In Ostasien war der Krieg faktisch schnell beendet und hatte nicht zu den enormen Opferzahlen geführt wie auf den europäischen Kriegsschauplätzen. Anfang 1920 erhielt Eucken überraschenden Besuch aus dem „Reich der Mitte“. Der chinesische Finanzminister, der mit einer Delegation zu den Friedensverhandlungen von Versailles angereist war, nutzte seinen Europaaufenthalt für einen Abstecher nach Jena. Im Schlepptau hatte er zwei chinesische Philosophen, Liang Qichao und dessen Schüler Zhang Junmai, letzterer in Europa besser bekannt als Carsun Chang. Der Staatsmann, so schreibt Rudolf Eucken in seinen Memoiren, habe es für wichtig gehalten, „mit meinem philosophischen Idealismus und Aktivismus eine enge Fühlung zu gewinnen.“ Man habe in den Gesprächen die Übersetzung von Euckens Hauptwerken ins Chinesische ins Auge gefasst. Zhang/Chang blieb für das Sommersemester in Jena, „um sich ganz in meine Gedankenwelt und zugleich in den deutschen Idealismus zu versetzen“.189 Carsun Chang hatte 1913 bis 1915 in Berlin Staatswissenschaften und Philosophie studiert und war seit seiner Rückkehr nach China in politischen Ämtern, 187 Vgl. ebd. I, 10, Bl. H 129f: T. Hata, an Rudolf Eucken; 22.10.1920; ebd. I, 16, Bl. K 817f: M. Kubo an Eucken, 14.4.1920. 188 ThULB NLE I, 14, Bl. K 84-88: Kazunobu Kanokogi an Rudolf Eucken, 8.3.1920; ebd. Bl. K 80ff, 91: Kanokogi an Eucken, 24.12.1911 und 29.6.1924; vgl. ebd. VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Ida Eucken an Rudolf Voß, 19.12.1928; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 5./7.5.1928. Zu Kanokogis Deutschland-Aufenthalt 1927/29 vgl. Bieber, SS, S. 106–110. 189 R. Eucken, Lebenserinnerungen, S. 113f. Vgl. Fröhlich, Staatsdenken, S. 82, 140f, 350ff; Bauer, Verlag, S. 464f.

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als Universitätsprofessor und als Publizist tätig. Aus den Gesprächen Changs mit dem Jenaer Philosophen ging eine gemeinsame Schrift hervor, Das Lebensproblem in China und Europa, die 1922 auf deutsch erschien, später auch in China veröffentlicht wurde. „Die Grundlagen von Moral und Sitte sind auch in China schwankend geworden“, erklärt Chang im Vorwort. Es gehe für sein Heimatland nun darum, wie weit das Alte beibehalten werden könne und wie weit die europäische Kultur Aufnahme finden müsse. Man wolle den Entwurf einer Ethik präsentieren, in der eine Synthese der europäischen und chinesischen Kultur versucht werde. Es gelte, so fügt Eucken hinzu, die „Eigentümlichkeit der chinesischen Lebensgestaltung zu durchleuchten und zu würdigen, zugleich aber auch darauf hinzuweisen, welche Weiterbildungen jenes Lebens wünschenswert sind“.190 Eine wesentliche Aufgabe der Modernisierung der chinesischen Lebensanschauung sieht Eucken im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das Recht des Einzelnen sei im alten China sehr begrenzt gewesen. Der „moderne Chinese“ müsse sich stark genug fühlen, gegenüber der Gesellschaft eigene Wege zu gehen und auch einen Kampf gegen die Gesellschaft zu wagen. Eucken und Chang präsentieren hier das europäische Denken in einer deutschen und einer westlich-angelsächsischen Version. Sie sind bemüht, die strukturellen Gemeinsamkeiten des traditionellen chinesischen Denkens und des „deutschen Idealismus“ hervorzuheben. Die deutsche und die chinesische Art besäßen wesentliche Züge gemeinsam: „die Wahrhaftigkeit, die Sachlichkeit, die Tüchtigkeit der Arbeit, die Schätzung des Menschen als Menschen; die entschiedene Abneigung gegen den Utilitarismus und Hedonismus“. Daran schließt sich das Argument an, die deutsche Version des Europäischen sei sehr viel geeigneter für die künftige Entwicklung Chinas als die angelsächsische, die Eucken wieder einmal umstandslos mit allem gleichsetzt, was er als Fehlentwicklung der Moderne brandmarkt: Naturalismus, Utilitarismus und Materialismus. Die englisch-amerikanische Denkweise neige dahin, so warnt er die chinesischen Leser, „ihre Lebensgestaltung als die einzig mögliche, selbstverständliche oder doch allen anderen Arten überlegene zu geben“. China müsse daher auf der Hut sein, damit ihm nicht „fremde und flache Denkweisen aufoktroiert werden.“191 Rudolf Eucken wurde von der chinesischen Regierung eingeladen, für ein Studienjahr als Gastprofessor nach Peking zu kommen. Wegen seines fortgeschrittenen Alters musste er absagen, doch bat er den Leipziger Biologen und Philosophen Hans Driesch, den Ruf aus China an seiner statt anzunehmen. Der Jenaer Emeritus schwor seinen Leipziger Kollegen darauf ein, im fernen Osten 190 R. Eucken/Chang, Lebensproblem, S. IV-V. 191 Ebd., S. 184f, 187f, 193, 196.

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die deutsche Philosophie zu vertreten. China stehe vielleicht an einem bedeutsamen Wendepunkt und man wolle dort nun die deutsche Philosophie gegen die Engländer und Amerikaner zu Wort kommen lassen. 1922/23 absolvierte Driesch schließlich seine Pekinger Gastprofessur.192 Die China-Pläne des Jenaer Philosophen machen deutlich, dass die Auslandsaktivitäten Rudolf Euckens und seiner Anhänger nicht zuletzt im Dienste der deutschen Kulturpropaganda standen. Man betonte oft genug den Anspruch, eine spezifisch deutsche Philosophie und Weltanschauung zu vertreten, die geeignet schien, das sehr angeschlagene Ansehen der Deutschen in der Welt zu heben. Dass diese Art ausländischer Kulturarbeit auch eine aggressive Seite hatte, die sich gegen die ehemaligen Kriegsgegner – die Briten, die Franzosen, die Amerikaner – richtete, wird besonders bei den indischen Verbindungen Euckens evident. Im August 1920 meldete sich etwa Prabhu Dutt Shastri von London aus, kündete seinen Besuch in Jena an und schwärmte von alten Zeiten: How happy I was to be with you in 1910 and to see that you philosophised in the truly glorious way of our ancient sages & Rishis. Philosophy without an intimate relation with Life is meaningless, and your message is the only hope for the regeneration of Europe.193

Andere indische Korrespondenten kommentierten Artikel der Eucken Review oder fragten wegen einer Mitgliedschaft im Euckenbund an. Auch sie verspürten den Drang, die Affinitäten zwischen der Lehren Euckens und dem „deutschen Idealismus“ mit den eigenen philosophischen Traditionen hervorzuheben. Die deutsche Philosophie, so schrieb J. K. Majumdar 1923, sei „inspired by the same lofty ideal of spiritualism (or idealism) as characterised the ancient Hindu thought“.194 Besonders gespannt verfolgte man in Jena die indische Unabhängigkeitsbewegung gegen die britische Kolonialmacht. In einem Brief an ihre Mutter vom August 1921 berichtete Ida Eucken vom Besuch eines Inders in der Euckenvilla. Das Gespräch mit dem Gast brachte sie lapidar auf den Punkt: „Der Englandhass einigte uns.“ Ihr Vater stand derweil in Briefkontakt mit der New Yorker Unterstützer-Szene der Bewegung Mahatma Gandhis und versuchte deren Schriften in deutscher Übersetzung beim Jenaer Diederichs Verlag unterzubringen. „Der Name Gandhi fängt an, auch in Deutschland zu klingen und Wider192 ThULB NLRE I, 29, Bl. 22: Rudolf Eucken an Hans Driesch, undatiert [ca. 1921]. Vgl. Driesch, Lebenserinnerungen, S. 167. 193 ThULB NLRE I, 24, Bl. S 317: Prabhu Dutt Shastri an Rudolf Eucken, 16.10.1920. Vgl. ebd. Bl. S. 315: Shastri an Eucken, 21.8. 1920. 194 Ebd. VI, 5, o. Bl.: J. K. Majumdar, an Sekretariat Jena, 12.4.1923. Vgl. ebd. VI, 1, o. Bl.: Jayendraray Bhagwandal Durkat an Herausgeber der Eucken Review, 22.3.1923.

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hall zu finden, dank der warmen Anteilnahme eines Rudolf Eucken“, verkündete 1924 Kazunobu Kanokogi im Vorwort seines Gandhi-Buches. Der japanische Schüler des Jenaer Philosophen war in den Jahren zuvor in Indien gewesen und hatte sich im Umkreis des Mahatma bewegt. Nun feierte Kanokogi den „idealistischen Revolutionismus“ des indischen Widerstandsführers in der kulturkritischen Diktion seines deutschen Meisters: Gandhi wird unverständlich bleiben da, wo der äußere Mensch noch triumphiert, da, wo der Wert des menschlichen Daseins in den bloßen Bedingungen desselben, nämlich in den materiellen Gütern und den entäußerten sogenannten Kulturgütern gelegt wird, wobei doch die wahre Kultur, der wahre Wert eines Menschen unveräußerlich in seinem Innern liegt.195

Eucken selbst zeigte sich von den Lehren Gandhis inspiriert, als er 1923 in der Zeitschrift des Bundes zum gewaltlosen Widerstand gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets aufrief. Passiver Widerstand könne „zu einer elementaren, unüberwindlichen Macht werden, wenn er von der moralischen Ueberzeugung eines einmütigen Volkes getragen wird“. Den deutschen Lesern mag der indische Bezug dieser Ausführungen entgangen sein, nicht aber J. K. Majumdar, dem Sohn eines Philosophieprofessors aus Kalkutta, der gerade in London studierte und den Artikel in der Eucken Review gelesen hatte: I have been delighted to find that Prof. Eucken holds the same view of passive resistance which has been preached in India by Mr. Gandhi during recent years. We Indians can very well realise the hard conditions under which Germany is now living, as we have also been suffering from the same cause …196

Die Akten des Euckenbundes und die im Nachlass Rudolf Euckens erhaltenen persönlichen Papiere belegen, dass der Philosoph und seine Anhänger in den Jahren nach dem Krieg auch in Osteuropa vielfältige Verbindungen unterhielten. Allerdings lässt sich hier wenig Kontinuität zum Engagement Euckens für die Belange die „kleinen Völker“ vor und während des Krieges erkennen, wenn er auch die Kontakte nach Finnland weiterhin pflegte. Nun, nachdem auf den ehemaligen Territorien der „Vielvölkerreiche“ zahlreiche neue Staaten entstanden waren, wandte sich seine Aufmerksamkeit den deutschsprachigen Minderheiten zu. Deren kulturelle Eigenständigkeit schien gerade in diesen neuen, 195 Ebd, V, 13c, Bl. 74: Ida an Irene Eucken, 11.8.1921; ebd. I, 27, Bl. W 56f: Blanche Watson an Rudolf Eucken, 10.6.1922; ebd. I, 28, Bl. An 11: Eugen Diederichs Verlag an The Indian Information Bureau, 23.5.1922; Kanokogi, Gandhi, S. 3, 28. 196 R. Eucken, Notwehr, S. 10; ThULB NLRE VI, 5, o. Bl.: J. K. Majumdar an Sekretariat Jena, 12.4.1923. Den Bezug zwischen Gandhi-Bewegung und „Ruhrkampf“ stellt auch Kanokogi, Gandhi, S. 5, her.

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sich am Ideal ethnischer Homogenität orientierenden Nationalstaaten bedroht zu sein.197 Seit der ersten Nachkriegszeit stand Rudolf Eucken in Kontakt zu Berliner Regierungsstellen, die mit der Betreuung der deutschen Minderheiten in Osteuropa betraut waren. Den wichtigsten dieser Kontakte hatte Arnold Eucken vermittelt, als er seinen „Korpsbruder“, den Regierungsrat a. D. Erich KrahmerMöllenberg, an den Vater verwies. Krahmer-Möllenberg war bis 1918 als Referent im preußischen Innenministerium für polnische Angelegenheiten zuständig gewesen. Nach seinem Ausscheiden aus dem Ministerium hatte er die Geschäftsführung eines interfraktionellen Ausschusses des Reichstags übernommen, der „sich in erster Linie die Fürsorge für das Deutschtum in Polen angelegen sein lässt“. Krahmer-Möllenberg bat Eucken um Vermittlung zu deutsch-amerikanischen Kreisen, von denen er finanzielle Zuwendungen für die Arbeit des Ausschusses erhoffte. Eucken empfahl ihn an Michael Singer und George S. Viereck, während des Krieges Herausgeber des deutsch-amerikanischen Kampfblattes The Fatherland. In den folgenden Jahren nahm KrahmerMöllenberg immer mal wieder die Vermittlungsdienste des gut vernetzten Jenaer Emeritus in Anspruch. Auf der anderen Seite erwies sich der ehemalige Regierungsrat für den Euckenbund als wertvoller Ansprechpartner bei der Akquise staatlicher Zuschüsse.198 Das Engagement Rudolf Euckens für die Belange der osteuropäischen Auslandsdeutschen konzentrierte sich vornehmlich auf Lettland. Im Frühjahr 1922 fragte Erich Krahmer-Möllenberg in Jena an, ob der Philosoph seine geplante Finnlandreise nicht mit Auftritten in Riga und Dorpat verbinden könnte. Er sollte dort sowohl vor deutsch-baltischem als auch vor lettischem und estnischem Publikum auftreten. Denn, so Krahmer-Möllenberg, „wenn es irgendwo ein Land giebt, das den deutschen Kulturkreisen gewonnen werden kann und muss, so ist es der nahe Osten. Dort kämpfen sowohl die Randvölker Finnen, Esthen [!], Letten wie Russen kulturell noch um den Anschluss an einen der westeuropäischen Kulturkreise.“ Eucken erhielt eine Einladung des Herder-Instituts in Riga, der renommiertesten baltendeutschen Kultureinrichtung, sich als Dozent an den Ferienhochschulkursen des Instituts zu beteiligen. Im September 1922 reiste Rudolf Eucken in Begleitung seiner Frau nach Riga, hielt im Herder-Institut einen viertägigen Kurs zum Thema „Die gegenwärtige Lage des 197 Vgl. den Briefwechsel Euckens mit Johannes Oehqvist 1919–1924 (ThULB NLRE I, 20, Bl. O 29–34). 198 Ebd. I, 15, Bl. K 667f: Erich Krahmer-Möllenberg an Rudolf Eucken, 11.8.1920. Vgl. ebd. Bl. K 670-680: Krahmer-Möllenberg an Eucken 17.9. und 9.11.1920, 5.8.1921, 18.5. und 8.6.1922, 30.12.1924; ebd. VI, 4, o. Bl.: Sekretariat Jena an Krahmer-Möllenberg, 15.3., 20.3. und 4.6.1923, 29.11.1924; ebd. V, 3, Bl. 839: Krahmer-Möllenberg an Irene Eucken, 16.3.1923.

310  5 Der Euckenbund 1918/19–1926

geistigen Lebens“ ab, sprach in der neugegründeten lettischen Universität, besuchte das deutsche Gymnasium und trat auch in Libau auf.199 Die Beziehungen Rudolf Euckens mit den Deutschen in Lettland intensivierten sich im folgenden Jahr, als der Philosoph seine publizistischen Verbindungen für den Erhalt der Rigaer Jakobikirche im Besitz der deutschen evangelischen Gemeinde einsetzte. Die lettische Regierung hatte 1919 ein Konkordat mit der katholischen Kirche geschlossen und dort zugesichert, der katholischen Minderheit eine Kathedralkirche in der Hauptstadt zuzuweisen. Diese Entscheidung hatte unter den Baltendeutschen große Empörung ausgelöst. Rudolf Eucken schrieb selbst einen Artikel im Euckenbund, der auch in der Eucken Review verbreitet wurde. Eine Volksabstimmung erreichte im September 1923 nicht die notwendige Stimmenzahl, so dass die Kampagne schließlich erfolglos blieb. Immerhin konstituierte sich in Riga im gleichen Jahr eine Ortsgruppe des Euckenbundes, die aber offenbar kaum Aktivität entwickelte.200

199 Ebd. I, 15, Bl. K 676: Erich Krahmer-Möllenberg an Rudolf Eucken, 8.6.1922. Vgl. ebd. Bl. K 675: Krahmer-Möllenberg an Eucken, 18.5.1922; ebd. I, 24, Bl. S 17: Peter Salits an Eucken, 28.8.1922; ebd. I, 29, Bl. 129: Eucken an Ernst Liljedahl, 27.11.1922; ebd. I, 10, Bl. G 562: Ernst Gurland an Eucken, 18.11.1922; ThHSA 6 – 32 – 0040: Thüringisches Volksbildungsministerium, C 86, Bl. 3: Reichsminister des Innern an Unterrichtsverwaltungen der Länder, 30.10.1922. 200 Vgl. ThULB NLRE I, 26, Bl. S 711-715: W. v. Stromberg an Rudolf Eucken, 15.5., 23.5., 4.6. und 23.6. 1923; Der Euckenbund 4, 1923, S. 23; ThULB NLE I, 13, Bl. J 311f: Frieda Jürgensohn an Eucken, 28.11.1922; 8.3. und 25.3.1923, 5.2. und 30.4.1924; ebd. VI, 31, o. Bl.: Ortsgruppe Riga: Grußwort an Rudolf Eucken zur Gründung einer Ortsgruppe Riga, 5.10.1923.

6 Bund ohne Meister 1926–1933 Der neue Euckenbund Am 15. September 1926 starb Rudolf Eucken in Jena im Alter von 80 Jahren. Der Philosoph hatte noch in seinen letzten Lebensjahren zahlreiche Aufsätze und Artikel in Zeitschriften und der Tagespresse veröffentlicht, war immer noch als Redner aufgetreten, vor allem für den nach ihm benannten Bund. Auch seine vielen Ehrenämter nahm Eucken weiterhin, so gut es eben ging, wahr. Immerhin rief er noch Anfang 1926 einen internationalen Eklat hervor, als er zusammen mit dem Münchener Pädagogen Georg Kerschensteiner aus Protest gegen die italienische Südtirol-Politik dem in Rom statt findenden International Moral Education Congress fernblieb und demonstrativ aus dem Vorstand dieser Vereinigung austrat.1 Es erschienen nach wie vor Neuauflagen der Werke Euckens, 1925 sogar endlich die zweite Auflage der Einheit des Geisteslebens. Doch sein philosophisches Œvre war im Großen und Ganzen mit dem Erscheinen von Mensch und Welt im Frühjahr 1918 abgeschlossen. Die publizistischen Aktivitäten des Jenaer Philosophen können nicht darüber hinweg täuschen, dass Rudolf Eucken in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr im Vollbesitz seiner körperlichen und mentalen Kräfte war. Einige Wochen nach dem Tod des Vaters resümierte Walter Eucken in einem Brief an seine Mutter: Wenn ich jetzt so auf die letzten Jahre zurückblicke, dann denke ich oft, wie recht Du hattest, wenn Du sagtest, Du habest die acht Jahre mit dem Tode gerungen … Es war ein Kampf, den Du lange und erfolgreich geführt hast. Und wenn Du ihn schließlich nicht mehr führen konntest, weil eben Vaters Natur ihr Recht verlangte, so wirst Du doch später an die Zeit von 1918 bis 1926 vielleicht ähnlich zurückdenken, wie viele Leute auf den Krieg 1914/1918.2

Zeitweise machte sich die Familie offenbar ernsthafte Sorgen um den Geisteszustand des Philosophen. Im März 1919 berichtete Walter Eucken seiner Mutter von einem Gespräch mit Theodor Kappstein, der dem Eucken-Sohn zu verstehen gegeben hatte, dass er Mensch und Welt in größeren Passagen für senil halte. Im Oktober 1920 verursachte Rudolf Eucken bei einem Vortrag in Chemnitz einen Eklat, als er – offensichtlich desorientiert – begann, in der Diskussion sein jugendliches Publikum zu beschimpfen. Augenscheinlich erholte sich Eu1 Vgl. ThULB NLRE I, 14, Bl. K 198 – 203: Georg Kerschensteiner an Rudolf Eucken, 20.12.1925, 12.2.1926 und 9.6.1926; Stadtbibliothek München – Monacensia, NL Georg Kerschensteiner, GK B 234: Eucken, Rudolf: Eucken an Kerschensteiner, 28.4.1925 und 22.12.1925. 2 ThULB NLRE V, 11, Bl. 248: Walter an Irene Eucken, 18.10.1926. https://doi.org/10.1515/9783110687033-006

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cken nach 1920 wieder. In der Familienkorrespondenz ist danach noch eine ernsthaftere Gesundheitskrise dokumentiert, nachdem sich der Vater im August 1923 auf dem Obersalzberg einen Darmkatarrh zugezogen hatte.3 Als Rudolf Eucken nach dem Ende des Wintersemesters 1919/20 emeritiert wurde, dürfte sich unter seinen namhafteren Schüler wohl niemand mehr befunden haben, der sich nicht auf die eine oder andere Weise vom Werk oder der Person des Philosophen distanziert hätte. Max Scheler fällte 1922 in seinem Buch Die deutsche Philosophie der Gegenwart das harsche Urteil, die Lehre seines Doktorvaters beruhe auf einer „sehr mangelhaften theoretischen Begründung“. Sie sei vage und nebelhaft und vermische Religion und Metaphysik in einem für „beide unstatthaften Sinne“. Euckens „Spezialschüler“ Otto Braun, der seit 1920 in Basel lehrte, versicherte seinem Lehrer zwar, er „sehe noch so viel Gemeinsamkeiten zwischen Ihren u. meinen Anschauungen, dasz ich meine Stellung zu Ihrer Lebensleistung nicht ändern werde“. Doch warf er Eucken in scharfer Form vor, dieser verstehe den „Aktivismus neuerdings im Sinne der Brachialgewalt… im Sinne der Giftgase, Fliegerbomben u. Tanks“. Braun sah dagegen den Pazifismus als die „wahre Aktivität für eine bessere Zukunft unserer Kinder“. Dies führe konsequenterweise zur Kriegsdienstverweigerung, „wozu dann wohl mehr entschlossener Aktivismus gehören dürfte, als zum Gasabblasen gegen einen unsichtbaren Feind“. 1922 beging Otto Braun Suizid.4 Eberhard Grisebach überwarf sich mit Rudolf Eucken 1919, wie gesehen, ebenfalls aus politischen Gründen. Bereits im Herbst 1917 hatte Grisebach seinen Doktorvater in einem Privatbrief wegen dessen Engagements für die Vaterlandspartei kritisiert. Der Privatdozent zählte zu den wenigen Jenaer Hochschullehrern, die sich öffentlich zur neuen Republik bekannten. Als Grisebach 1921 gegen den Willen der Fakultätsmehrheit mit Unterstützung des sozialdemokratischen Volksbildungsministers eine außerordentliche Professur erhielt, traten die beiden Philosophie-Ordinarien, Bruno Bauch und Euckens Nachfolger Max Wundt, eine regelrechte Rufmordkampagne gegen ihn los. Erst 1931 erhielt er, nachdem er bereits die 50 überschritten hatte, den Ruf auf einen Lehrstuhl in Zürich.5

3 Vgl. ThULB NLRE V, 11, Bl. 75: Walter an Irene Eucken, 20.3.1919; ebd. I, 10, Bl. G 533f: Otto Günther an Rudolf Eucken, 21.10.1920; ebd. V, 13, Bl. 99-112: Ida an Irene Eucken 16.8. bis 12.9.1923. 4 Scheler, Philosophie, S. 274f; ThULB NLRE I, 3, Bl. B 734: Otto Braun an Rudolf Eucken [um 1920]. 5 Vgl. Grisebach, Konfliktpädagogik,S. 16f, Steinbach, Versumpfung, S. 207; Kodalle, Fremdheit, S. 16; Dahms, Philosophen, S. 734; Steinbach/Dathe (Hg.), Cartellieri, S. 798; Flitner, Erinnerungen, S. 283, Tilitzki, Universitätsphilosophen, S. 61, 128.

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Mit seinen beiden jüdischen Schülern, Isaak Benrubi und Julius Goldstein, stand Rudolf Eucken bis zu seinem Tod zwar in durchaus freundlichem Kontakt. Doch auch sie hatten mittlerweile den Neoidealismus ihres Lehrers hinter sich gelassen. Goldsteins philosophisches Denken hatte sich bereits vor dem Krieg dem Pragmatismus William James’ angenähert. Dessen ungeachtet setzte sich Eucken für die Berufung seines ehemaligen Schülers zum Philosophie-Ordinarius in Darmstadt ein. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen erhielt Goldstein schließlich 1925 gegen den massiven Widerstand der Hochschulgremien seinen Lehrstuhl, starb aber bereits vier Jahre später.6 Isaak Benrubi fristete auch noch in den 1920er Jahren das prekäre Dasein eines Privatdozenten ohne nennenswerten Vermögenshintergrund. Als er 1929 auf Einladung Irene Euckens eine Vorlesungsreihe über „Bergson und Eucken“ hielt, stellte man in Jena fest, dass Benrubi mittlerweile dem Denken des französischen Philosophen viel näher stand als dem seines Doktorvaters. Empört berichtete die EuckenWitwe ihren jüngeren Sohn, der Genfer Privatdozent habe durchscheinen lassen, dass „Vaters Philosophie nicht wissenschaftlich genug sei“.7 Wie es mit dem Euckenbund nach dem Tod seines Ehrenvorsitzenden und Namensgebers weiter gehen sollte, schien zunächst unklar. Irene und Ida Eucken widmeten sich im Herbst 1926 zunächst dem Ausbau ihrer Textilwerkstätten. Sie kamen aber recht bald zu der Überzeugung „daß wir eine rein kaufmännische und fabrikatorische Arbeit auf die Dauer nicht leisten wollen“. Augenscheinlich kam man zur Jahreswende 1926/27 im Familienkreis überein, den Euckenbund weiter bestehen zu lassen. Es erschien allerdings unabweislich, dass der Bund personell, finanziell und organisatorisch neu aufgestellt werden musste. Die Pläne zur Neuordnung des Euckenbundes zielten darauf, die Handlungsfähigkeit der Führung zu stärken, den Ausbau der Ortsgruppen zu forcieren und sie stärker den organisatorischen Vorgaben der Zentrale zu unterwerfen. Für Irene Eucken hieß dies nicht zuletzt, selbst die Zügel fester in die Hand zu nehmen. Das 1923 getroffene Arrangement, den Vorsitz an Curt Hacker zu übertragen, die Geschäftsstelle des Bundes aber in Jena zu belassen, hatte sich als wenig praktikabel erwiesen. Die Kommunikation zwischen der Jenaer Euckenvilla und dem Lichterfelder Oberlehrer gestaltete sich allzu umständlich, zumal Hacker keinen Telefonanschluss besaß. Der Bundesvorsitzende fühlte sich oft genug übergangen, während ihm Irene Eucken mangelnde Initiative vorwarf.8 6 Vgl. Dienemann, Goldstein, S. 314ff; ThULB NLRE I, 9, Bl. G 264f: Julius Goldstein an Rudolf Eucken, 3.4. und 25.5.1923; Eucken an Goldstein, 28.2.1921, 25.4.1924 und 18.10.1926 [wohl 1925] (in: Aus Briefen, S. 411f); Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 196ff. 7 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 12.6.1929. 8 Ebd.: Irene an Walter Eucken, 4.12.1926. Vgl. ThULB NLRE VI, 3, o. Bl.: Curt Hacker an Irene Eucken, 8.8.1925; ebd. V, 2, Bl. 590: Hacker an Irene Eucken 28.6.1926; ebd. V, 13c, Bl. 154: Ida

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Zu diesen Koordinationsschwierigkeiten kam, dass Hackers Auftreten in Jena zunehmend Unmut erregte. Nicht allein, dass er 1924 die Hauptverantwortung für die Eskalation des Konfliktes mit dem Breslauer Ortsgruppenvorsitzenden Haack trug. Er hatte auch die für die Außenwahrnehmung des Bundes so wichtige Hauptstadtgruppe zu einem kleinbürgerlichen Vorortsklüngel verkommen lassen. Das Fass zum Überlaufen brachte offenbar ein Auftritt des Vorsitzenden anlässlich der Gründungsversammlung der Ortsgruppe Naumburg im Juni 1927. Hackers Vortrag habe, so berichtete Irene Eucken ihrem Sohn aufgebracht, „viel mehr verdorben als genützt“. Der Vorsitzende habe nicht nur zu leise geredet und sei nicht zum Punkt gekommen. Er habe zudem die im Publikum sitzenden „vollkommen rechtsstehenden Geistlichen“ mit Angriffen auf die Bibel und die Bergpredigt brüskiert. Hacker kündigte schließlich Anfang 1928 seinen Rücktritt vom Amt des Bundesvorsitzenden an. „Sie, gnädige Frau,“ so begründete er gegenüber Irene Eucken seinen Entschluss, „sind sich des Einblickes in die Erfordernisse der Bundesbewegung und der Treffsicherheit Ihrer Entscheidungen allzu deutlich bewußt, als daß Sie das Bedürfnis verspüren, einer anderen Persönlichkeit mitwirkenden Einfluß auf die Gestaltung der Arbeit in irgend welchem größeren Umfang zu zugestehen.“9 Hackers Nachfolger wurde der bisherige dritte Vorsitzende, der Jenaer Gymnasialdirektor Benno von Hagen, ein Altphilologe, der 1906 von Rudolf Eucken promoviert wurde. Allerdings war Irene Eucken vom öffentlichen Auftreten Hagens auch nicht sonderlich angetan. Anlässlich der vom Münchner Euckenbund ausgerichteten Gedenkfeier für ihren verstorbenen Mann im November 1926 beklagte sie sich im Familienkreis, bei Hagens Reden komme der Schulmeister zu stark heraus, „ein Akademiker redet anders als ein Lehrer“. Er wirke dabei „leider etwas komisch“. Zudem habe er sich „eine Hornbrille mit hellem Rand angeschafft, dann sächselt er doch recht, und dann spricht er nicht frei“. Benno von Hagens Vorzüge dürften in den Augen der Eucken-Witwe daher wohl vor allem darin gelegen haben, dass er jederzeit vor Ort in Jena verfügbar war und sich zudem als wesentlich willfähriger gegenüber den Wünschen und Anordnungen der „Frau Geheimrat“ erwies als sein Vorgänger. Irene Eucken behielt ihr Amt als zweite Vorsitzende des Euckenbundes. Zum dritten Vorsitzenden avancierte 1928 der Postrat Rudolf Voß, einer der rührigsten und erfolgreichsten Aktivisten des Bundes. Voß hatte die Bildung der Kieler Ortsgruppe initiiert und sie als Vorsitzender geleitet. Im Herbst 1927 gründete er, mittlerweile nach Halle an Irene Eucken, 30.4.1925; ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Hacker an Irene Eucken, 3.5.1927 und 9.2.1928. 9 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 25.6.1927; ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Curt Hacker an Irene Eucken, 9.2.1928.

Der neue Euckenbund



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an der Saale versetzt, auch dort eine Ortsgruppe, die bald zu den größten und aktivsten Lokalorganisationen des Bundes zählte.10 Eine grundlegende Voraussetzung für den von ihr ins Auge gefassten organisatorischen Umbau erschien Irene Eucken die Neuordnung der Finanzen des Euckenbundes. Die erste Haupttagung des Bundes nach dem Tod des Meisters zu Ostern 1927 sollte sich, wie sie ihrer Schwiegertochter mitteilte, vor allem darum drehen, „ob wir den Bund aus wirtschaftlichen Gründen weiter führen können“. An regelmäßigen Einkünften verfügte die Geschäftsstelle nur über die Mitgliederbeiträge, die in der Regel von den Ortsgruppen eingesammelt und nach Jena weitergeleitet werden sollten. Doch funktionierte diese Regelung in der Praxis mehr schlecht als recht. Wie viel von den ihr zustehenden Geldern die Jenaer Zentrale tatsächlich erhielt, hing stark von der Sorgfalt und Nachdrücklichkeit der örtlichen Kassenwarte ab. Nicht wenige Ortsgruppen blieben mit der Abführung der Beiträge notorisch in Rückstand oder überließen es ihren Mitgliedern, ob und wie viel sie zahlen wollten. Finanzierungslücken hatte die Witwe des Philosophen nicht selten aus eigener Tasche gedeckt. Die Schulden des Euckenbundes bei seiner 2. Vorsitzenden summierten sich schließlich auf 4000 bis 5000 Mark.11 Den Ortsgruppen wurde nun auferlegt, einen Kassierer zu ernennen, der für die Erhebung der Beiträge verantwortlich war. Säumigen Mitgliedern sollte ein Bote ins Haus geschickt werden. Die Aufgabe, die lokalen Bünde zur Durchführung dieser Maßnahmen zu veranlassen, übernahm der Direktor der Jenaer Gasund Wasserwerke, Joseph Gülich. Es erging nun die dringende Aufforderung an die Ortsgruppen, alle ihre Mitglieder dem Hauptvorstand zu melden. Anfang Dezember 1928 berichtete Irene Eucken ihrem Sohn Walter, man sei nun dabei, alle ausstehenden Gelder einzuziehen. Es sei allerdings „wirklich unglaublich, wie sich ganz angesehene Leute sträuben zu bezahlen“. Es habe auch „allerlei Austritte“ gegeben.12 Der Jahresbeitrag von sechs Reichsmark erscheint nun nicht gerade exorbitant, vor allem, wenn man einrechnet, dass in dieser Summe das Abonnement für die seit 1925 herausgegebene Publikumszeitschrift des Bundes und der Bezug des internen Mitteilungsblatts enthalten war. Allzu große Sprünge konnte der Euckenbund auf dieser finanziellen Basis nicht machen. Daher ging die Je10 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, undatiert [November 1926]. Vgl. ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Irene Eucken an Rudolf Voß, 27.3.1928; ebd. o. Bl.: Voß an Ida Eucken, 14.10. und 12.11.1927; Mitteilungen Euckenbund, Mai 1928, o. S. 11 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 12.2.1927 (Postkarte); vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, 20.6.1930. 12 Ebd.: Irene an Walter Eucken, 17.10., 20.10. und 8.12.1928; Vgl. ThULB NLRE VI, 29, o. Bl.: Ortsgruppe Kiel, Mappe 9: Rudolf Voß an Dr. Auener, 27.10.1928;

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naer Führung daran, alternative Geldquellen zu erschließen. Ende 1928 teilte ein Rundschreiben den Vorsitzenden der Ortsgruppen mit, der Vorstand habe beschlossen, „Persönlichkeiten, die kraft ihrer Stellung und Verhältnisse in der Lage sind, dem Bund auch finanziell stützen zu können und die aus ideellen Gründen ein Interesse daran haben, als Fördernde Mitglieder heranzuziehen“. Die lokalen Bünde waren aufgefordert, im eigenen Umkreis solche Fördermitglieder anzuwerben oder dem Vorstand die Adressen potenzieller Förderer mitzuteilen. „Förderer des Euckenbundes“ durfte sich nennen, wer einmalig eine Summe von 1000 RM stiftete oder sich zu einem Jahresbeitrag von mindestens 100 RM verpflichtete. Als besonderer Anreiz wurde ein „Goldenes Buch“ angelegt, in das die Namen der Förderer aufgenommen und auf dessen erster Seite Reichspräsident Hindenburg in eigener Handschrift „dem Euckenbund in seinen Bestrebungen um Erneuerung und Vertiefung des Lebens guten Erfolg“ wünschte. Diese Widmung hatte der thüringische Ministerpräsident Leutheußer vermittelt. Auch dem prominentesten Mitglied des Bundes, dem Reichsaußenminister Gustav Stresemann, legte man das „Goldene Buch“ zur Unterschrift vor.13 Seit Anfang 1929 bemühten sich Gülich und Ida Eucken aktiv um die Rekrutierung zahlender Fördermitglieder. Praktische Hilfestellung leistete ihnen dabei vor allem Otto Most, der als Reichstagsabgeordneter und Duisburger Handelskammersyndikus über zahlreiche Verbindungen zur Industrie verfügte. Auch der umtriebige Hallenser Ortsgruppenvorsitzende Rudolf Voß knüpfte Kontakte zum ortsansässigen Wirtschaftsbürgertum und es gelang ihm, das Management der Mansfeld AG für die Bestrebungen des Euckenbundes zu interessieren. Am Ende des Jahres 1929 konnte Irene Eucken ihrer Schwiegertochter mitteilen, man verfüge nun über vier Förderer. Die finanzielle Lage des Bundes habe sich dadurch sehr gebessert. Trotz der einsetzenden Weltwirtschaftskrise gelang es Gülich, Most und Ida Eucken in den folgenden Monaten weitere Fördermitglieder aus der Industrie zu gewinnen. Darunter befanden sich einige „dicke Fische“: der IG Farben-Konzern, die Jenaer Zeiss-Werke und der Dessauer Flugzeugbauer Hugo Junkers.14 13 ThULB NLRE VI, 12, Mappe 11, o. Bl.: Rundschreiben an die Vorsitzenden der Ortsgruppen, 22.12.1928; Vgl. ebd. VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Sekretariat Jena, 17.3.1929; ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Bremen: Benno von Hagen an Bruno Jordan, 12.12.1929; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 2.11.1928 und 2.2.1929; 14 Vgl. ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 20.12.1929, 17./19. 1. und 29.1.1930; ebd.: Irene an Walter Eucken, 2.2., 22.2., 29.3., 29.5., 5.6., 17.6. und 5.7.1929; ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Sekretariat Jena, 2.8. und 26.9.1929; ebd.: Voß an Benno von Hagen, 9.9. und 26.12.1929; ebd.: Voß an Irene Eucken, 24.11.1929; ebd.: Irene Eucken an Voß, 4.3.1930.

Die Tatwelt 

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Dass die finanzielle Subventionierung durch die Großindustrie den Euckenbund der Gefahr der Einflussnahme von außen aussetzte, wurde in Jena augenscheinlich nicht weiter problematisiert. Irene Eucken konnte der stärkeren Zuwendung des Bundes zu wirtschaftsbürgerlichen Kreisen bald positive Seiten abgewinnen. Man habe sich, befand sie 1929, in der Vergangenheit zu einseitig an die „Geistesarbeiter“ gewandt, obwohl diese doch „in den seltensten Fällen mit ihrem Intellekt und ihren Auffassungen für uns zu gebrauchen“ gewesen seien. Man werde sich daher bei den Industriellen „gar nicht so sehr verschlechtern“. Auch würden manche Unternehmer durchaus einsehen, „daß für unsere Zeit eine geistige Vertiefung das Allernotwendigste ist“.15 Hier deutet sich vielleicht auch an, dass nach dem Tod Rudolf Euckens das geisteswissenschaftliche Element im engeren Familienkreis rückläufig war. Die Söhne waren mittlerweile renommierte Natur- bzw. Wirtschaftswissenschaftler, eine der Schwiegertöchter war ebenfalls eine studierte Nationalökonomin und die Witwe und ihre Tochter betrieben ein Textilunternehmen.

Die Tatwelt Eine bedeutsame Weichenstellung für die Neuausrichtung der Bewegung wurde noch zu Lebzeiten Rudolf Euckens vorgenommen. Auf Anregung Irene Euckens beschloss die Hauptversammlung des Bundes im Oktober 1924 eine Neugestaltung des Nachrichtenblattes. Der Umfang der Zeitschrift sollte erweitert werden und sie sollte stärker auf Außenwirkung zielen. Es gelte daher, hervorragende Mitarbeiter zu gewinnen, auch solche, die nicht dem Euckenbund angehörten. Den Autoren müsste man zwar entsprechende Honorare zahlen. Die Mehrkosten könnten aber durch eine Anhebung des Bezugspreises und die Aufnahme von Anzeigen gedeckt werden. Aufgabe der neuen Zeitschrift sollte es sein, „zu großen Gegenwartsfragen vom Standpunkt der Euckenschen Philosophie aus“ Stellung zu nehmen. Das Ziel war nichts weniger, als „in die geistige Bewegung der Gegenwart eine einheitliche Richtung im Sinne der Gedankenwelt Euckens zu bringen“.16 Es war nun nicht das erste Mal in der Geschichte des Euckenbundes, dass auf grandiose Ankündigungen eine ziemlich dilettantische Umsetzung der 15 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 5.7.1929. 16 ThULB NLRE VI, 24: Mappe „1925 Stenograph. Notizen …“, o. Bl.: Protokoll „Hauptversammlung 17.10.1925 …“, S. 4. Vgl. ebd. VI, 1, o. Bl.: Sekretariat Jena an M. G. Conrad, 31.12.1924; ebd. VI, 5, o. Bl.: Sekretariat an Otto Most, 14.10.1924; ebd. VI, 6, o. Bl.: Sekretariat an Hans Traugott Schorn, 3.11.1924. Der Euckenbund 5, 1924, S. 44.

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hochfliegenden Pläne folgte. Die erste Ausgabe der neugestalteten Zeitschrift, die in einer Auflage von 4000 Exemplaren gedruckt und z. T. als kostenlose Werbenummer an potenzielle Interessenten versandt wurde, unterschied sich inhaltlich nicht wesentlich vom bisherigen Mitgliederblatt. Sie bestand aus einigen Grundlagentextes des Bundes, aus einem Aufsatz Curt Hackers über Wesen und Ziele des Euckenbundes sowie den Nachrichten aus den Ortsgruppen. Die Zeitschrift hieß nach wie vor Der Euckenbund, führte aber nun den Untertitel Organ für ethischen Aktivismus. Als Herausgeber zeichnete der Vorsitzende Hacker, ohne dass er aber an der Redaktion wesentlichen Anteil genommen hätte.17 Irene Eucken und das Jenaer Sekretariat waren von der Herausgabe einer monatlich erscheinenden Publikumszeitschrift bald gründlich überfordert. Edith Eucken-Erdsiek erinnerte sich später, ihre Schwiegermutter habe die Zeitschrift „ohne einen Stamm von Abonnenten, ohne Verlag“ gegründet. „Wir strandeten damit nach der ersten Nummer“.18 Noch bevor die Pilotausgabe im Januar 1925 erschienen war, bat Irene Eucken ihren jüngeren Sohn flehentlich um Hilfe: „Bitte, lieber Walter, hilf mir mit Deinem Rat. Ich habe Niemanden, der mir auf diesem Punkt raten könnte.“ Zur Februarausgabe steuerte Edith Eucken-Erdsiek eine Betrachtung über George Bernard Shaws Bühnenstück Die Heilige Johanna bei; für das Märzheft schrieb Walter Eucken unter einem Pseudonym über Sozialismus und Aufklärung. Auch die anderen Beiträge kamen aus dem Umkreis des Bundes. Benno von Hagen beschäftigte sich mit Platons Forderungen an die leitenden Staatsmänner; Hans Freymark machte Vorschläge für die Verwirklichung aktivistischer Ideale im Schulleben. Der Meister selbst schüttelte gleich zwei Artikel aus dem Ärmel, eine feuilletonistische Fingerübung zum „deutschen Stil“ und einen weiteren Aufguss seines philosophischen Grundthemas. All dies wirkte reichlich konzeptionslos und beliebig.19 Irene Eucken brachte schließlich ihren Sohn und ihre Schwiegertochter dazu, die Redaktion des Blattes in die Hand zu nehmen. Walter Eucken hatte seine Zusage allerdings an eine Liste von Bedingungen gebunden. Zunächst einmal müsste der Titel geändert werden. Ein geschäftlicher Erfolg sei anders nicht zu erzielen, denn: „So sehr der Name Eucken zieht, so sehr stößt der Name ‚Euckenbund‘ ab. Jeder vermutet dahinter persönliche Propaganda.“ Dies würde sowohl die Abonnenten als auch potenzielle Mitarbeiter abschrecken. Auch die Berichte aus den Ortsgruppen müssten aus der Zeitschrift verschwin17 Der Euckenbund, Januar 1925. 18 Zitiert nach: Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 66f Anm. 81. 19 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 3.12.1924. Vgl. Der Euckenbund Februar und März 1925.

Die Tatwelt



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den. Die Leute, mit denen er wegen Aufsätzen für die Zeitschrift verhandelt habe, so Walter Eucken weiter, hätten stets erklärt, „daß sie Vater innerlich sehr nahe stünden, daß sie gern mitarbeiten würden, aber nur wenn es kein Bundesorgan des Euckenbundes wäre, dem sie fern stünden“. Werde die Zeitschrift nicht vom Bund getrennt, müsse man auf seine Mitarbeit verzichten.20 Dieses Ultimatum zeigte offensichtlich Wirkung. Trotz der Vorbehalte im Führungskreis des Bundes erschien die Zeitschrift ab April 1925 unter dem Titel Die Tatwelt. Zeitschrift für Erneuerung des Geisteslebens. Zwar blieb mit den Schlüsselbegriffen „Tatwelt“ und „Geistesleben“ der Bezug zu Euckens Philosophie erhalten. Auch fand sich auf der Titelseite der Zusatz „unter ständiger Mitarbeit von Rudolf Eucken“, der nach dem Tod des Philosophen durch den Hinweis „Begründet von Rudolf Eucken“ ersetzt wurde. Doch der Bezug zum Euckenbund tauchte fortan nur noch im Kleingedruckten auf. Seit Herbst 1925 fielen die Ortsgruppenberichte weg. Sie wurden fortan in einem kleinen Mitteilungsblatt separat veröffentlicht. Mit dem Jahrgang 1926 erschien die Tatwelt nicht mehr monatlich sondern vierteljährlich. Die in der Zeitschrift veröffentlichten Artikel stammten allerdings vorläufig noch fast durchweg von Aktivisten des Bundes (darunter Hacker, Pöhlmann, Jordan und Vater, allesamt Lehrer, sowie den Pfarrern Nagel, Ostertag und Kalweit), von Rudolf Eucken selbst, ebenso von den beiden Redakteuren. Walter Eucken schrieb hier unter dem Pseudonym „Dr. Kurt Heinrich“ und hielt sein Incognito auch gegenüber dem Sekretariat und den familienfremden Vorstandsmitgliedern aufrecht. Seine Frau zeichnete als „E. Erdsiek“ und verfasste eine regelmäßige Kolumne unter dem Namen „Janus“. Auch in ihrem Falle sollten offenbar das Verwandtschaftsverhältnis zur Familie des Philosophen und wohl ebenso das Geschlecht der Autorin den Lesern verborgen bleiben.21 Im Laufe des Jahres 1926 mehrten sich aber die Beiträge von Universitätswissenschaftlern, die nicht in näherer Beziehung zu Rudolf Eucken und dem Euckenbund standen. Der Rechtsphilosoph Ernst von Hippel, zu dieser Zeit noch Heidelberger Privatdozent, schrieb Über die Notwendigkeit einer metaphysischen Grundlegung der Rechtstheorie. Sein noch jüngerer Heidelberger Kollege 20 ThULB NLRE VI, 1, o. Bl.: Walter an Irene Eucken, 17.3.1925; ebd. Brieffragment 1925. Vgl. ebd.: Walter Eucken an Sekretariat Jena, 13.3.1925. 21 Walter Eucken stellte den Autor der „Janus“-Kolumnen dem Bundesvorsitzenden Hacker sogar als „frühere[n] Schüler meines Vaters“ vor. Zur Tarnung des eigenen Pseudonyms teilte er dem Sekretariat mit: „Dr. Heinrich hat mich gebeten, eine Korrektur zu lesen, da er z. Zt. im Ausland ist, und für ihn auch das Honorar in Empfang zu nehmen.“ (ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Walter Eucken an Curt Hacker, 11.9.1926; ebd. VI, 1, o. Bl.: Walter Eucken an Sekretariat Jena, 13.3.1925). Vgl. Klinckowstroem, Edith Eucken-Erdsieck, S. 397ff; dies., Walter Eucken, S. 71.

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Erik Wolf machte sich Gedanken Über die geschichtliche Größe der Juristen. Der Amerikanist Friedrich Schönemann, Professor an der Berliner Universität, befasste sich mit dem Thema „Sport und Geistesleben“ in den USA. Der Basler Philosoph Karl Joel trug ein „Geistesbild“ Albert Schweitzers bei. Hermann Glockner, Philosophie-Privatdozent in Heidelberg, lieferte einen Beitrag zur Ästhetik der deutschen „Klassiker“. In allen diesen Artikeln tauchte der Name Rudolf Eucken nur einmal auf.22 Auf der anderen Seite wurden aber die Bindungen zwischen der Tatwelt und dem Euckenbund keineswegs gekappt. Die Mitglieder des Bundes wurden zum Bezug der Zeitschrift verpflichtet. Im neu festgesetzten Mitgliedsbeitrag war das Tatwelt-Abonnement bereits einberechnet. An der Basis regte sich bald Protest gegen dieses Arrangement. Einzelne Mitglieder seiner Ortsgruppe, schrieb Otto Günther im Mai 1925 nach Jena, hielten die Zeitung für zu teuer und schlügen vor, Zeitungsgeld und Bundesbeitrag zu trennen. Diese Lösung wäre aber wohl das Ende der Tatwelt gewesen. Ohne die feste Abnahme durch die Euckenbund-Mitglieder wäre die Zeitschrift finanziell wohl kaum lebensfähig gewesen. Die Unzufriedenheit der Euckenbündler mit dem Zwangsabonnement steigerte sich noch, als sich das Blatt zunehmend mit Artikeln füllte, die von Hochschullehrern verfasst worden waren. Viele der Mitglieder des Bundes, so der Tenor der Kritik, würden für eine Zeitschrift zahlen, deren Artikel ihnen größtenteils kaum verständlich seien.23 Besonders hartnäckig brachte Curt Hacker diese Einwände gegen die inhaltliche Neugestaltung der Zeitschrift des Bundes vor. Der Vorsitzende firmierte zwar als Herausgeber der Tatwelt, besaß aber auf deren inhaltliche Ausgestaltung keinerlei Zugriff. Erst nach seinem Rücktritt vom Vorsitz im Frühjahr 1928 ging die Herausgeberschaft der Tatwelt offiziell auf Edith Eucken-Erdsiek über. Bis dahin gab Hacker die Kritik an der Basis, die Zeitschrift sei zu gelehrt, zu akademisch, zu doktrinär, nach Jena und Freiburg weiter. Walter Eucken wollte diese Einwände nicht gelten lassen. Wer ein „Erbauungsblättchen“ suche, solle sich eben „anderen Produkten zuwenden“. Von einem Mitglied des Euckenbundes müsse man doch erwarten können, das es zumindest die leichteren Schriften Rudolf Euckens wie den Sinn und Wert des Lebens verstehe. Genau dies bezweifelte Hacker aber. Lege man diesen Maßstab an, so schrieb er Irene Eucken Anfang 1927, würde sich die Mitgliedschaft des Bundes auf einen Bruchteil ver22 Die Tatwelt 2, 1926, S. 41–49, 61-66, 90-96, 99-110, 137-141. 23 ThULB NLRE VI, 2, o. Bl.: Otto Günther an Sekretariat Jena, 16.5.1925. Vgl. ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Bochum: Sekretariat an Alfred Beck, 18.9.1926; ebd., o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Lazar von Lippa an Irene Eucken, 8.4.1928; ebd. VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Ida Eucken, 26.11.1927.

Das Rudolf-Eucken-Haus 

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ringern. Es sei eben sehr schwierig, „das Verständnis eines selbständigen und schöpferischen Denkers einem großen Kreise zugänglich zu machen“. Dem Bund fehle immer noch das verbindende Zwischenglied zwischen den Schriften Rudolf Euckens und dem Gros der Mitglieder.24

Das Rudolf-Eucken-Haus Komplettiert wurde die institutionelle Neuformierung der Euckenbewegung durch ein Projekt, das besonders Irene Eucken am Herzen lag. Am 5. Januar 1928, dem 82. Geburtstag ihres verstorbenen Mannes, wurde in der Aula der Universität Jena feierlich ein „Rudolf-Eucken-Haus“ eröffnet. Ministerpräsident Leutheußer feierte Rudolf Eucken in seiner Festansprache als „Wiedererneuerer und Führer der Gegenwart des deutschen Idealismus“. Max Wundt sprach anschließend über „Kants Gestalt im Wandel deutscher Weltanschauung“ und stellte seinen Vorgänger auf dem Jenaer Philosophie-Lehrstuhl am Ende seines Vortrags in eine Linie mit Aristoteles, Plato und Kant. Am Nachmittag empfing die Witwe des Philosophen als Gastgeberin im Rudolf-Eucken-Haus selbst: Eine besinnliche Stunde, ohne viele offizielle Worte. Man war beieinander, man sprach fast gedämpft, man wanderte durch die Räume, in denen Rudolf Eucken daheim war. Von den Wänden schauen Bilder herab, meist von der Gattin oder der Tochter Hand geschaffen. Kein Raum beinahe, wo nicht Bücher sich in Regalen reihen. In der stillen Studierstube der einfache Schreibtisch.(…) Ein Stoß Telegramme wurden verlesen, Namen von Klang aus aller Herren Länder hörten wir, die wissenschaftliche Welt dachte heute an Jena. Ein paar wertvolle Verse wurden von Elisabet[h] Seefried-München warm und mit großer Kunst gesprochen.25

Nicht ganz so salbungsvoll ist dasselbe Ereignis in Alexander Cartellieris Tagebuch wiedergegeben: Donnerstag war in der Aula Feier zur Eröffnung des Euckenhauses. Eine richtige Komödie von ernsten Männern mit ernsten Gesichtern gespielt. Dahinter steht Frau Irene, die als sehr geschäftstüchtig gilt. Schade um das schöne Geld, das von Berlin aus gespendet worden ist.26

24 Ebd.VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Briefwechsel Curt Hacker – Walter Eucken, 16.8. und 11.9.1926: ebd.: Hacker an Irene Eucken, 30.1.1927. 25 ThULB NLRE VI, 13, Mappe 2, o. Bl.: Ausschnitt Jenaer Volksblatt 5, 6.1.1928. Vgl. ebd.: Ausschnitt Jenaische Zeitung Nr. 5, 6.1.1928. 26 Steinbach/Dathe (Hg.), Cartellieri, S. 576.

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Das Rudolf Eucken-Haus befand sich, wie aus diesen Schilderungen leicht zu erschließen ist, in den Räumen des Wohnhauses in der Botzstraße. Seit Frühjahr 1927 hatte Irene Eucken mit dem Thüringer Volksbildungsministerium, der Jenaer Universitätsverwaltung und dem Auswärtigen Amt in Verhandlungen gestanden wegen einer öffentlichen Nutzung der Euckenvilla, die seit dem Tod ihres Mannes nur noch von ihr und ihrer Tochter Ida bewohnt wurde. Erleichtert wurde ihr die Durchsetzung ihres Vorhabens sicherlich durch die guten Verbindungen des Euckenbundes zu den zuständigen staatlichen Entscheidungsträgern. Außenminister Gustav Stresemann war von Curt Hacker frühzeitig über die Pläne der Eucken-Witwe in Kenntnis gesetzt worden. Stresemanns Parteifreund und Bundesbruder Richard Leutheußer amtierte seit 1924 als thüringischer Ministerpräsident, Volksbildungs- und Justizminister. Von der Universität Jena war dagegen wohl weniger Entgegenkommen für den Plan zu erwarten, die Betreuung ausländischer Wissenschaftlicher und Studenten an eine externe Stelle zu delegieren. In diesem Falle profitierte Irene Eucken kurioserweise von einer Maßnahme der sozialistisch geführten Vorgängerregierung, die 1922 das Amt des Universitätskurators nicht wieder besetzt hatte. Um direkteren Zugriff auf die Landesuniversität zu erlangen, wurden die Aufgaben des Kurators einem Ministerialbeamten, dem Oberregierungsrat Friedrich Stier, übertragen. Stier sollte sich im kommenden Jahrzehnt als zuverlässigster und loyalster Verbündeter Irene Euckens in der thüringischen Ministerialbürokratie erweisen.27 Möglicherweise kam der Eucken-Witwe noch ein weiterer Zufall zu Hilfe. In der Akte des Jenaer Universitätsarchivs zum Rudolf-Eucken-Haus findet sich nämlich ein Rundschreiben des Verbands der Deutschen Hochschulen vom April 1927, das sich mit der Frage auseinander setzte, wie der „überaus rührigen französischen Kulturpropaganda im Auslande von deutscher Seite ein Gegengewicht gesetzt und deutsche Kulturpropaganda in ausländischen akademischen Kreisen getrieben werden könne.“ Die Universitäten wurden aufgefordert, Maßnahmen zur Betreuung ausländischer Studenten in die Wege zu leiten. Anfang Mai beschloss der Senat der Universität Jena, zu diesem Zweck einen Ausschuss zu bilden, der sich am 23. Juni auch konstituierte. Unter dem 24. Juni teilte dann das Volksbildungsministerium dem Rektor mit, in „Verbindung mit den für die Ausländerbetreuung notwendigen Arbeiten“ könne die „Erhaltung des Hauses Rudolf Euckens als eines geistigen Mittelpunktes und einer Arbeitsstelle für ausländische Gelehrte und Studierende“ „gewissermaßen als ein Anfang“

27 Vgl. ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Curt Hacker an Irene Eucken, 3.5.1927; Grass, Links, S. 24–27; Schmidt, Alma Mater, S. 263; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 6.6.1927.

Das Rudolf-Eucken-Haus



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angesehen werden. Das Ministerium kündigte im gleichen Schreiben die Bildung eines Kuratoriums für diese neue Einrichtung an.28 Das Kuratorium setzte sich schließlich aus vier Personen zusammen: dem Oberregierungsrat Stier, dem Staatsrechtsprofessor Otto Koellreutter als Vertreter der Universität Jena, Benno von Hagen für den Euckenbund und Irene Eucken. Zudem wurde ein repräsentativer Ehrenausschuss gebildet, der sich aus prominenten Wissenschaftlern, Politikern, Kirchenvertretern und Diplomaten aus dem In- und vor allem dem Ausland rekrutieren sollte. Diesem Gremium traten Stresemann und Leutheußer bei, ebenso der thüringische Oberlandespfarrer oder auch der Münsteraner Professor Georg Schreiber, ein prominenter Zentrumspolitiker. Unter den ausländischen Mitgliedern des Ehrenausschusses finden sich recht zahlreich alte Freunde und Mitkämpfer Rudolf Euckens: Carsun Chang, Hajime Minami aus Tokio, der Sprachwissenschaftler Hugo Pipping aus Helsinki, der neuseeländische Theologe Frank Dunlop, Prabhu Dutt Shastri, nun Rektor der Hajshahi Universität in Kalkutta, daneben auch einige recht prominente Philosophen wie William Ernest Hocking von der Harvard University und der italienische Neoidealist Benedetto Croce, ebenso Tsiang Tso Ping, der chinesische Gesandte in Berlin.29 Das Kuratorium mietete vier Studier- und Gesellschaftsräume im Erdgeschoss der Eucken-Villa, einschließlich Bibliothek und Wintergarten, sowie zwei möblierte Gästezimmer an. Die Küche, die Wirtschafts- und Wohnräume im ersten Stock konnten bei festlichen Gelegenheiten mitbenutzt werden, ebenso der Garten. Das Kuratorium beteiligte sich an den Nebenkosten, kam für die Bewirtung der Gäste des Hauses auf und zahlte eine pauschale Aufwandsentschädigung für die dort abgehaltenen Veranstaltungen. Aufgabe des Euckenhauses war es, laut Satzung, erstens, das geistige Erbe Rudolf Euckens zu erhalten und für die Nachwelt nutzbar zu machen. Zweitens sollte das Haus einen geistigen Mittelpunkt bilden für ausländische Gelehrte und Studierende, die sich in Jena aufhielten.30

28 UAJ, B. A. Nr. 1918, Bl. 1ff: Verband der Deutschen Hochschulen an die Rektoren, 16.4.1927, samt rückseitigem Vermerk zur Sitzung des Senats vom 5.5.1927; ebd. Bl. 8: Ministerium für Volksbildung an Rektor der Universität Jena, 24.6.1927. Vgl. ebd. Bl. 18: Universität Jena an Ministerium für Volksbildung, 3.11.1927. 29 Vgl. ThULB NLRE VI, 13, Mappe 3, o. Bl.: Ausschnitt Eisenacher Zeitung, 24.2.1928; ebd. VI, 14, Mappe 7, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung, 12.12.1929; UAJ, B. A. Nr. 1918, Bl. 12: Satzung des Rudolf Eucken-Hauses. Eine Liste der ausländischen Angehörigen des Ehrenausschusses findet sich in: UAJ, U II, Nr. 13, Bl. 41; zu Koellreutter vgl. Schmidt, Alma Mater, S. 280f. 30 Vgl. UAJ, U II, Nr. 13, Bl. 78: Mietvertrag 1.8.1928; ebd., Bl. 12: Satzung des Rudolf EuckenHauses.

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Mit der Lancierung des Rudolf-Eucken-Hauses verfolgte Irene Eucken augenscheinlich mehrere strategische Zielsetzungen. Ein Motiv war sicherlich das Bestreben, die Euckenbewegung auf eine breitere materielle und institutionelle Grundlage zu stellen. Allerdings blieb das finanzielle Fundament des Hauses einigermaßen wacklig. Das Universitätsrentamt besorgte die Kassengeschäfte, das Sekretariat des Euckenbundes, sprich: Ida Eucken, übernahm die allgemeine Geschäftsführung. Doch eine feste und dauerhafte Verpflichtung, für die Kosten des Euckenhauses aufzukommen, gingen offenbar weder das Land Thüringen noch das Reich noch die Universität Jena ein. So war das Kuratorium bei der Aufbringung der Geldmittel für Ausstattung und Betrieb der von ihm getragenen Einrichtung größtenteils auf das Geschick des Oberregierungsrats Stier angewiesen. Stier lebe von der Hand in den Mund, schrieb Ida Eucken Mitte 1928 ihrer Mutter. Er erkläre „nie klar, ob er eigentlich Mittel für uns hat oder nicht. So würgte ich wieder, um das Junigeld zu bekommen, habe es auch bekommen, aber unsere Auslagen noch nicht“. Zuversichtlicher äußerte sich Irene Eucken ein dreiviertel Jahr später: Es sei letztlich einerlei, ob man Stiftungsgelder akquirieren könne. Denn: „Das Haus wird ja bis jetzt von Stier gehalten, und er treibt immer Geld auf.“ Offenbar erhielt das Euckenhaus für 1929 und 1930 vom Auswärtigen Amt und anderen Reichsstellen einen Zuschuss von jeweils 3.000 RM. Noch einmal die gleiche Summe stammte „aus irgendwelchen Fonds“, auf die Stier direkten Zugriff nehmen konnte.31 In einem Ende 1930 verfassten Brief an Curt Hacker hielt Irene Eucken fest, sie habe das Haus gegründet, um auch außerhalb des Euckenbundes „auf die Hochhaltung der Geistesarbeit Rudolf Euckens“ hinarbeiten zu können. Damit gab sie dem ehemaligen Vorsitzenden wohl auch zu verstehen, dass sie das Projekt einer internationalen Ausrichtung des Bundes nach dem sang- und klanglosen Scheitern der Londoner Ortsgruppe und dem Eingehen der Eucken Review ad acta gelegt hatte. Zudem drohte mit dem Tod ihres Mannes auch dessen weitläufiges Netzwerk persönlicher Kontakte in aller Welt verloren zu gehen. Insofern bot das Konzept einer mit der Universität verbundenen internationalen Begegnungsstätte für Mutter und Tochter Eucken die Chance, als Nichtakademikerinnen in der akademischen Welt eigenständig zu agieren. Mit der Gründung und die Erhaltung des Euckenhauses verbanden sich nicht zuletzt auch Überlegungen persönlicher Art. Die Philosophen-Witwe trieb augenscheinlich die Sorge um ihre unverheiratete, mittlerweile 40jährige Tochter um. Die gemeinsam 31 ThULB NLRE V, 14, Bl. 226: Ida an Irene Eucken, 29.6.1928; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 29.3.1929. Vgl. ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 6.6.1927; Irene an Walter Eucken, 26.20. und 5./6.11.1930; UAJ, B. A. Nr. 1918, Bl. 12: Satzung des Rudolf Eucken-Hauses.

Das Rudolf-Eucken-Haus 

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betriebenen Textilwerkstätten waren 1927 aufgegeben worden. Ida Euckens angestrebte Karriere als Konzertsängerin war längst versandet. Sie hatte schließlich zunehmend die im Euckenbund-Sekretariat anfallenden Arbeiten übernommen. Für „Idas Zukunft muß das Haus gehalten werden“, erklärte Irene Eucken Ende 1930 in einem Brief an ihren Sohn Walter. „Wer weiß, ob der Bund sich hält und dann würde sie für ihr weiteres Leben keine Tätigkeit haben. 25 Jahre kann sie nicht ohne interessante Tätigkeit sein.“32 Nach der Eröffnung des Rudolf-Eucken-Hauses Anfang 1928 fanden das Kuratorium und der Senatsausschuss für Ausländerbetreuung zu einer offensichtlich recht reibungslosen Zusammenarbeit. Im März konstituierte sich ein gemeinsamer engerer Ausschuss, um die Ausländerarbeit an der Universität Jena zu koordinieren. Man kam grundsätzlich überein, dass Veranstaltungen im großen Rahmen nicht zweckmäßig seien. Es sollten vielmehr bestimmte, sorgfältig ausgewählte Ausländer in kleinen Gruppen mit Dozenten und Studierenden der Universität zusammengeführt werden. Für diesen Zweck sollte das Euckenhaus zur Verfügung stehen. Die Dozenten wurden gebeten, ausländische Kollegen, zu denen sie in persönlicher Verbindung standen, zu Besuchen Jenas zu veranlassen. An Besuchern scheint es dem neuen Jenaer „Ausländerhaus“ nicht gemangelt zu haben. Anfang 1929 beschied Stier der Deutschen Akademischen Auslandsstelle: „Das mir zur Verfügung stehende Gastzimmer im Euckenhaus kann ich bei dem lebhaften Betriebe, den das Haus angenommen hat, leider nicht zur Verfügung stellen, da es fortlaufend für Übernachtung prominenter Gäste gebraucht wird.“33 Während des Semesters lud das Rudolf-Eucken-Haus einmal in der Woche zu öffentlichen Abendveranstaltungen ein. In der Regel wurde ein Vortrag mit anschließender Diskussion geboten. Meist sprach ein auswärtiger Gast des Hauses, einer der ausländischen Studenten oder ein Angehöriger des Lehrkörpers der Universität. Auch musikalische Darbietungen, bei denen bisweilen Ida Eucken auftrat, standen häufiger auf dem Wochenprogramm des Hauses, ebenso Dichterlesungen und Rezitationen. Für die ausländischen Studenten veranstaltete das Euckenhaus Weihnachtsfeiern und Empfänge zum Semesterabschluss, auch gelegentlich Ausflüge in die Umgebung, oder spezielle „Heimatabende“, an denen ein Student oder Gastwissenschaftler über sein Land berichtete. Ge-

32 ThULB NLRE V, 6, Bl. 143: Irene Eucken an Curt Hacker, 5.12.1930; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 5./6.11.1930. Vgl. Dathe, Nachlass, S. 291ff. 33 ThHSA 6 – 32 – 0040: Thüringisches Volksbildungsministerium, C 220, Bl. 20: Friedrich Stier an Deutsche Akademische Austauschstelle, 8.2.1929. Vgl. UAJ B. A. Nr. 1918, Bl. 35, 51f, 68: Protokolle Besprechungen vom 4.2., 1.3. und 9.7.1928; ThULB NLRE VI, 13, Mappe 6, o. Bl.: Ausschnitt Der Tag, 7.4.1929.

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wöhnlich waren zu solchen Anlässen auch eine Anzahl deutscher Studenten geladen.34 Die Themen der Veranstaltungen im Rudolf-Eucken-Haus zeichneten sich vor allem durch ihre bunte Vielfalt aus. Reisebeschreibungen und Beiträge zur Landeskunde wechselten ab mit Vorträgen zu Geschichte, Kunst, Kultur und Wirtschaft, Religion und Philosophie, oft mit speziellem Bezug auf einzelne Länder und Völker. Auch die Fremdenverkehrswerbung kam nicht zu kurz. So wurde etwa im Januar 1930 den ausländischen Gästen in Lichtbildern vor Augen geführt, „was es in Jena und Umgebung zu erschauen und erwandern gibt“. Manchmal kam auch die Lage der Auslandsdeutschen zur Sprache. Einmal versuchte ein Referent, der als ehemaliger Gouverneur von Deutsch-Ostafrika vorgestellt wurde, seinen Zuhörern zu beweisen, dass deutsche Kriegsgräuel eine Erfindung der alliierten Propaganda gewesen seien. Doch insgesamt scheint eine direkte propagandistische Ausrichtung in den Veranstaltungsberichten der späten 1920er und frühen 30er Jahren nur selten durch.35 Diese kursorische Aufzählung deutet an, dass die im Rudolf-Eucken-Haus dargebotenen Vorträge sich nicht unbedingt auf gehobenem intellektuellem Niveau bewegten. Die Jenaer Professoren fanden sich wohl nur dann in größerer Zahl im Publikum, wenn ein namhafter Kollege vortrug. „Zu den Vorträgen, die regelmässig im Euckenhaus gehalten wurden, bekam ich die Einladungen, ging aber nur dann hin, wenn ich glaubte, wegen der Person des Redners dazu verpflichtet zu sein“, schrieb Alexander Cartellieri rückblickend. Irene Eucken, so der Jenaer Historiker weiter, „hätte immer gern eine Anzahl Professoren dabei gehabt, damit das Euckenhaus als eine Art Mittelpunkt der Universität erschiene, aber meist waren nur ganz wenige da.“ Noch etwas anderes fällt bei der Durchsicht der Zeitungsausschnitte über die Vortragsabende im Euckenhaus auf: Das Werk des Namensgebers war offenbar kaum einmal Gegenstand der Vorträge und Diskussionen. Anfänglich scheint die Leitung des Hauses auch durchaus bestrebt gewesen zu sein, Schüler und Anhänger des Philosophen in das Veranstaltungsprogramm einzubeziehen. Bereits zur Eröffnungsfeier hatte Elisabet Seefried, eine Aktivistin des Münchener Euckenbundes, Gedichte rezitiert. Der Euckenschüler Kazunobu Kanokogi sprach Anfang Mai 1928 über japanische Kunst und war im März 1929 noch einmal für zehn Tage Gast des Euckenhauses. Im Juni 1928 verzeichnete das Veranstaltungsprogramm den „Vortrag des begeisterten Schülers Euckens“, Prof. Dr. Kaarle Krohn, Helsinki, der über das „Nationalepos der Finnen“ referierte. Über Rudolf Eucken selbst sprachen 34 Zu den einzelnen Veranstaltungen im Rudolf-Eucken-Haus 1928–1932 vgl. die Sammlung von Zeitungsausschnitten, meist aus der Jenaischen Zeitung, in: ThULB NLRE VI, Kästen 13-15. 35 Vgl. ebd. VI, 14, ebd. 15, o. Bl.: Ausschnitte Jenaische Zeitung 16.1.1930 und 22.5.1931.

Das Rudolf-Eucken-Haus 

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seine begeisterten Schüler allerdings augenscheinlich nicht. Selbst der Euckenbund-Vorsitzende Benno von Hagen, der im Ende 1930 gleich zweimal im Euckenhaus auftrat, zeigte Dias von seiner Griechenlandreise.36 Am ehesten lässt sich die Einladung an den Genfer Philosophen Isaak Benrubi zu einer Vortragsreihe als Versuch interpretieren, der satzungsgemäßen Zwecksetzung zur Pflege des Werks Rudolf Euckens nachzukommen. Irene Eucken hatte bereits im Sommer 1928 dem Kuratorium vorgeschlagen, „daß wir Benrubi zu einem Kurs über französische Philosophie, oder derartiges, gewinnen könnten“. Zunächst war ihr Vorschlag aus Geldmangel abgelehnt worden. Ein zweiter Vorstoß der Eucken-Witwe im Oktober 1928 war am Einspruch des zu Rate gezogenen Philosophie-Ordinarius Max Wundt gescheitert. Die Stimmung sei wieder einmal „sehr franzosenfeindlich“, schrieb Irene Eucken an ihren Sohn. Schließlich kam Benrubi im Sommersemester 1929 nach Jena, logierte einige Wochen lang im Euckenhaus und konzentrierte sich in seinen Vorträgen auf Henri Bergson und Rudolf Eucken. Doch der Besuch des Genfer Privatdozenten ließ die Gastgeberin reichlich frustriert und verärgert zurück. Benrubi sei enttäuscht darüber gewesen, nur im Euckenhaus, nicht aber in der Universität zu sprechen. Er habe geargwöhnt, dass für seine Vorträge nicht genügend Werbung gemacht würde und habe dann aus gekränktem Stolz das ihm angebotene Honorar abgelehnt. Irene Eucken wiederum sah sich in ihren Erwartungen an den alten Schüler ihres Mannes getäuscht. Gerade „das, was ich bei ihm suchte, fand ich nicht“, klagte sie gegenüber Walter Eucken: „Eine Überzeugung von Vaters Lehre. Wohl hat er vieles von Vater gelesen, wohl hat er ihn durchgearbeitet, aber als Anhänger kann man ihn kaum bezeichnen“. Die Zuhörer, die Rudolf Eucken nicht kannten, hätten einen ganz schlechten Eindruck von seiner Lehre bekommen.37 Immerhin brachte der Betrieb des Hauses Irene und Ida Eucken relativ zwanglos in persönlichen Kontakt mit zahlreichen Wissenschaftlern und angehenden Akademikern. Sie konnten sogar an eine Methode der Netzwerkbildung anknüpfen, derer sich bereits Rudolf Eucken erfolgreich bedient hatte. Seit 1929 beteiligte sich das Rudolf-Eucken-Haus an „Nordischen Ferienkursen“ für Studenten aus Skandinavien und den Niederlanden. Zunächst kamen 90 Teilneh36 Vgl. ebd. VI, 13, Mappe 6, o. Bl.: Ausschnitt Der Tag, 7.4.1929 (Zitat); ebd. VI, 13, Mappe 2, o. Bl.: Ausschnitt Jenaer Volksblatt 5, 6.1.1928; ebd. VI, 14, Mappe 12, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung, 13.11. und 12.12.1930; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 5./7.5.1928, Ebd.: Irene an Walter Eucken, 6.5.1928 und 29.3.1929. 37 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 6.7. und 19.7.1928; ebd.: Irene an Walter Eucken, 14.10.1928 und 17.6.1929. Vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, 9.5., 5.6., 12.6. und 15.6.1929; ThULB NLRE V, 1, Bl. 75: Isaak Benrubi an Irene Eucken, 15.5.1929; ebd. VI, 13, Mappe 6, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung, 8.6.1929.

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mer, überwiegend aus Schweden. 1931 waren es bereits 180 Anmeldungen. Die Vorlesungen fanden meist im Jenaer Volkshaus statt, während das Euckenhaus für das Rahmenprogramm zuständig war.38 Vielleicht noch wichtiger für die internationale Reputation des „Ausländerhauses“ in der Botzstraße war das 1932 erstmals veranstaltete Weimar-Jena Summer-College. Zielgruppe dieser Veranstaltungen waren amerikanische Studentinnen, denen die Kultur der deutschen Klassik nahe gebracht werden sollte. Auf dem Titelblatt der Programmbroschüre prangte eine Goethe-Büste, umrahmt von 14 Porträts eminenter Vertreter der beiden thüringischen Kulturstädte, darunter Bach, Schiller, Fichte, Hegel, Nietzsche – und Rudolf Eucken. Die Leitung lag nominell bei dem Jenaer Rechtsphilosophen Carl August Emge und von amerikanischer Seite bei der Deutsch-Lektorin Christine Till aus Stamford/Connecticut. Den Teilnehmerinnen, von Ida Eucken bald als „Tillergirls“ tituliert, wurde für $ 470 pro Person ein vielfältiges Programm mit Sprachkursen, Kulturveranstaltungen, Exkursionen, Sport und Vorlesungen geboten, u. a. sprach Benno von Hagen über The Life and Works of Rudolph Eucken. Wegen der hohen Teilnahmekosten und der weiten Anreise bewegte sich das Summer-College in einem übersichtlicheren Rahmen als die Nordischen Ferienkurse, so dass die Jenaer Vorlesungen meist in den Räumen der Euckenvilla stattfanden. Alexander Cartellieri lag daher wohl gar nicht so falsch mit einer Bemerkung, die er viereinhalb Jahre zuvor anlässlich der Eröffnungsfeier des Euckenhauses in einer Mischung von Missbilligung und Anerkennung seinem Tagebuch anvertraut hatte: „Frau Irene ist wohl die erste, die amerikanische Reklame auf deutsche Universitätsverhältnisse übertragen hat.“39 Besonders intensiv gestaltete sich für Irene und Ida Eucken die Betreuung von Gästen aus Ostasien. Vor allem chinesische Wissenschaftler und Studenten fanden sich seit dem Ausgang der 1920er Jahre in größerer Zahl in Jena ein. Dies hatte möglicherweise auch mit der Rückkehr eines alten Bekannten der Euckens zu tun. Im Frühjahr 1928 hatte Zhang Junmai alias Carsun Chang in einem Brief an Irene Eucken durchblicken lassen, dass er China wegen der zunehmend repressiven Politik des Kuomintang-Regimes verlassen wollte. Sein Institut für Politik habe man ihm geschlossen. Die Philosophen-Witwe begann nun in Jena den Boden für eine Gastprofessur vorzubereiten. Die Universität willigte schließlich ein, konnte Chang aber lediglich freien Aufenthalt, jedoch 38 Vgl. ThULB NLRE VI, 14, Mappe 7, o. Bl.: Ausschnitte Jenaische Zeitung, 1.7.1929; Jenaer Volksblatt, 2.7.1929; ebd. VI, 15, Mappe 14, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung, 2.7.1931; ebd. V, 14, Bl. 363, 390: Ida an Irene Eucken, 15.6. und 9.7.1932; sowie Wahl, Ferienkurse, S. 147. 39 Steinbach/Dathe (Hg.), Cartellieri, S. 57. Vgl. ThHSA 6 – 32 – 0040: Thüringisches Volksbildungsministerium, C 224, Bl. 4-8: Programm-Broschüre: „Weimar-Jena Summer-College 1932“; Wahl, Ferienkurse, S. 146–149.

Das Rudolf-Eucken-Haus 

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kein Honorar anbieten. Im November 1929 traf der Gast aus China in Deutschland ein, Ende Januar 1930 siedelte er nach Jena über. Im folgenden Sommersemester las Chang an der Universität über chinesische Philosophie.40 Für Ida Eucken erwies sich der Aufenthalt des chinesischen Professors zunächst als einigermaßen nervenaufreibend. Das Deutsch Changs war so schwer verständlich, auch die Vorlesungen und das Kolleg bisweilen so nachlässig vorbereitet, dass sich die Eucken-Tochter veranlasst fühlte, ihren Gast energisch in die richtige Spur zu bringen. Ihr „Anbrauser“ zeigte auch zunächst Wirkung. „Der Mann muss manchmal hart angefasst werden“, schrieb sie merklich befriedigt der Mutter. Doch zehn Tage später musste Ida Eucken resigniert zur Kenntnis nehmen: „Meine Erziehungsversuche, die ich geduldig und freundlich unternommen habe, wirken auf zwei Kollegstunden, dann sind sie vergessen.“ Schließlich wurde die Aufgabe, den Gastprofessor aus China bei der Vorbereitung seiner Lehrveranstaltungen zu unterstützen, an Susanne Hampe delegiert, einer promovierten Philosophin, die zwei Jahre zuvor geholfen hatte, eine Euckenbundgruppe in Weimar aus der Taufe zu heben.41 Carsun Chang blieb noch bis September 1931 in Jena. Im Februar dieses Jahres hatte er im Euckenhaus vor zahlreichen Jenaer Professoren gesprochen, sehr zur Befriedigung Irene Euckens. Changs Aufenthalt öffnete dem Haus und seinen Leiterinnen hochrangige Kontakte ins Reich der Mitte. Ida Eucken nahm bereits im Januar 1930 an einem Festbankett der chinesischen Gesandtschaft in Berlin teil. Der Botschafter persönlich, der General Tsiang Tso Ping, reiste im Oktober 1930 nach Jena, und verbrachte den Nachmittag und den Abend im Euckenhaus. Bei dieser Gelegenheit trat er wohl auch dem Ehrenausschuss des Rudolf-Eucken-Hauses bei. Zur gleichen Zeit nahm die Zahl der Studierenden aus China beträchtlich zu. 1928 waren gerade einmal fünf Chinesen an der Universität Jena immatrikuliert. Ende 1930 schätzte Irene Eucken die Zahl chinesischen Studenten in Jena auf 30 bis 40. Seit März dieses Jahres bot Ida Eucken Deutschkurse für ostasiatische Studenten an. Die Jenaer Chinesen hatten mittlerweile einen Club gebildet, der sich regelmäßig im Euckenhaus traf. Und auch in anderer Hinsicht scheinen die chinesischen Studenten die Erfolgsbilanz des Hauses gemehrt zu haben. „Unsere Ping-Pong Eucken-Haus-Mannschaft hat bei den Wettspielen der Universität glänzend gesiegt“, berichtete Irene Eucken 40 Vgl. ThULB NLRE V, 1, Bl. 148ff: Carsun Chang an Irene Eucken, 2.5.1928 und 16.2.1929; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 19.7.1928; UAJ B. A. Nr. 1918, Bl. 109ff: Korrespondenz Chang – Universität Jena, 23.12.1929 und 4.1.1930; ThULB NLRE VI, 14, Mappe 10, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung, 8.4.1930; sowie Bauer, Verlag, S. 467. 41 ThULB NLRE V, 14, Bl. 286, 305: Ida an Irene Eucken, 20.5. und 30.5.1930. Vgl. ebd., Bl. 271f, 277f, 280, 291ff, 299, 311ff: Ida an Irene Eucken, 12.5. bis 3.6.1930,

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Ende 1931 an Sohn und Schwiegertochter nach Freiburg, fügte aber gleich hinzu: „Diese Abteilung des Hauses ist mir immer etwas komisch.“42 Ungleich weniger zahlreich waren um 1930 die japanischen Studenten in Jena vertreten. Das Verzeichnis der an der thüringischen Landesuniversität immatrikulierten Ausländer führt im Wintersemester 1928/29 lediglich einen Toyowo Ohgushi aus Nagasaki auf. Für das Rudolf-Eucken-Haus und seine Beziehungen zu Japan und zur japanischen Kultur sollte sich jedoch gerade der junge Herr Ohgushi als bedeutsamer Vermittler erweisen. Der japanische Postgraduate-Student führte sich im Euckenhaus mit einer dramatischen Szene ein. In einem Brief vom 20. April 1929 berichtete Ida Eucken ihrer Mutter, sie habe soeben ein merkwürdiges Erlebnis gehabt: Ogushi [!] … sass völlig gebrochen da, da er soeben die Nachricht erhalten hatte, dass sein geliebter Lehrer Usugi gestorben sei. Ein Schüler von ihm hat sich sofort auch das Leben genommen und zu meiner grössten Bestürzung erklärte er mir, er müsse das auch tuen! Ich kann Dir sagen, dass es furchtbar schwer war, den armen Kerl wieder ins Gleise zu bekommen, ich habe ihn schließlich an der Vaterlandsliebe gepackt, und glaube ihn über den Berg zu haben. Die Auffassung ist die, dass man den Lehrer nicht allein im Jenseits lassen darf. An sich habe ich wieder eine Unmenge gelernt, was ich bisher nicht wusste über die ganze ostasiatische Einstellung.43

Ida Eucken nahm den jungen Japaner fortan persönlich unter ihre Fittiche und es entwickelte sich in den folgenden vier Jahren ein lebhafter interkultureller Austausch. Sie begann, selbst Japanisch zu lernen. Bald stand man auf so vertrautem Fuß, dass die Philosophen-Tochter ihren japanischen Schützling in ihren Briefen vorzugsweise als „mein Dummchen“ titulierte. Ohgushi war mit einem japanischen Regierungsstipendium nach Deutschland gekommen, um Staatswissenschaften zu studieren. Seine wissenschaftlichen Interessen lagen auf dem Gebiet der politischen Philosophie und des Verfassungsrechts. In Jena besuchte er das Seminar Otto Koellreutters, tatkräftig unterstützt von Ida Eucken. „Mein Dummchen muss nun wieder ein Referat halten am 1. Juli“, schrieb

42 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Walter und Edith Eucken, 22.12.1931. Vgl. ebd. Irene an Walter Eucken, 16.1. und 26.10.1930; ThULB NLRE V, 6, Bl. 147: Irene Eucken an Susanne Hampe, 26.2.1931; ebd. VI, 14, Mappe 12, o. Bl.: Ausschnitt Jenaische Zeitung, 1.11.1930; ebd. V, 6, Bl. 10: Irene Eucken an Hosang An, 8.12.1930; ebd. V, 6, Bl. 140: Irene Eucken an Eulalia Guzman, 2.9.1929; UAJ B. A. 1918, Bl. 89f: Verzeichnis der an der Universität Jena immatrikulierten Ausländer, Sommersemester 1928 plus Zugang im Wintersemester 1928/29. 43 ThULB NLRE V, 14, Bl. 250: Ida an Irene Eucken, 20.4.1929. Vgl. UAJ B. A. 1918, Bl. 90: Verzeichnis der an der Universität Jena immatrikulierten Ausländer … 1928/29.

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sie Ende Mai 1930 an die Mutter, „die Vorarbeiten beginnen, wir reden nichts wie Souveränität, Monarchie, die verschiedenen Theorien …“.44 In den folgenden Monaten saßen Ohgushi und Ida Eucken dann an einem Aufsatz. Irene Eucken meinte später, ihre Tochter habe das Manuskript nicht nur in ein „leidliches Deutsch“ gebracht, sondern auch die Gedanken des Autors „zu einer gewissen geordneten Reihenfolge“ sortiert. Immerhin fand die Euckenhaus-Chefin das Ergebnis so bedeutend, dass ihr Idas „wahnsinnige Arbeiterei“ im Nachhinein gerechtfertigt erschien. Ohgushi habe zu beweisen versucht, „daß das Christentum nicht staatenbildend ist und daß die Europäer nicht universal denken.“ Im Übrigen erschien es Irene Eucken bedauerlich, dass nach dem Tod ihres Mannes „nun in Jena eine umfassende Persönlichkeit fehlt, die wirklich weitblickend philosophisch auf die jungen Leute eingehen kann“. Zwischenzeitlich war der Japaner nach Berlin gereist und hatte länger mit Carl Schmitt gesprochen. Auch Walter Eucken erklärte sich bereit, das Manuskript Ohgushis zu begutachten. Im Herbst 1932 reiste Ida Eucken schließlich mit ihrem Schützling nach Freiburg, wo ihn ihr Bruder mit Edmund Husserl bekannt machte.45

Die Scheidung der Geister In den anderthalb Jahren nach dem Tod Rudolf Euckens hatte sich das Rahmenwerk der mit seinem Namen verbundenen Bewegung grundlegend neu gebildet. Mit der Eröffnung des Euckenhauses und der redaktionellen Neuausrichtung der Tatwelt war ihr Gewicht auf zwei neue institutionelle Pfeiler verlagert worden, die allenfalls nominell mit dem Euckenbund verbunden waren. Zusammengehalten wurde dieses Konglomerat weitgehend voneinander unabhängiger Einrichtungen von Irene Eucken und ihrem engsten Familienkreis. Tochter und Schwiegertochter der Philosophen-Witwe besetzten die Schlüsselpositionen in der Geschäftsführung der drei Pfeiler der Bewegung: Das Jenaer Sekretariat des Bundes und der Betrieb des Rudolf-Eucken-Hauses lagen in den Händen Ida Euckens, ihre Schwägerin Edith Eucken-Erdsiek besorgte von Freiburg aus die Redaktion der Tatwelt. Walter und Arnold Eucken ließen sich immer wieder für den Bund, das Haus oder Die Tatwelt einspannen, knüpften Verbindungen, gaben Ratschläge, schrieben Artikel und hielten Vorträge. Die Fäden aber liefen bei Irene Eucken zusammen. 44 ThULB NLRE V, 14, Bl. 293: Ida an Irene Eucken, 23.5.1930. 45 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 20.7. und 28.12.1930. Vgl. ebd. 24.10.1932.

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Wie die Neuausrichtung der Zeitschrift des Bundes so wurde auch die Gründung des Rudolf-Eucken-Hauses von den alten Aktivisten der Bewegung nicht unbedingt mit Beifall aufgenommen. Es war wieder einmal Curt Hacker, der am deutlichsten seine Vorbehalte zum Ausdruck brachte. In zwei langen Briefen an die Witwe seines Meisters kritisierte der ehemalige Vorsitzende 1930/31 die Verquickung der Arbeit des Euckenhauses mit denen des Bundes in grundsätzlicher Form. Das Haus habe sich, so Hacker, die Aufgabe gesetzt, Propaganda für die Schriften Rudolf Euckens zu betreiben und schließe „möglichst keine einzige Gruppe im deutschen Volk und keine der fremden Nationen aus“. Lasse sich der Euckenbund auf diese Form der Propaganda ein, „so gibt er sich auf oder verwandelt seinen Charakter bis zu einer tatsächlichen Neugründung, der sich dann die Gesellschaft der besten bisherigen Mitglieder versagen würde“. In Hackers Verständnis stellte ein „Bund“ eine spezifische Form des Zusammenschlusses dar: „eine auf Tat und Wirkung gestellte Gemeinschaft“. Eine solche Gemeinschaft „lebt im Kampf, lebt vom Kampf“. Die bloße Begeisterung für einen Philosophen genüge nicht, um „in seinem Namen“ eine Bundesgemeinschaft zu schließen. Der Euckenbund sei vielmehr darauf angewiesen, „sich als eine innerdeutsche, als eine schlechthin nationale Angelegenheit nach innen und nach außen“ darzustellen.46 Der Berliner Oberlehrer beruft sich in seiner Kritik auf Rudolf Euckens Vorkriegsschrift Zur Sammlung der Geister, die er – nicht zu Unrecht – als grundlegendes Manifest der Bewegung ansieht. Hier würden „zuerst und zuletzt, das deutsche Problem, das Deutschtum als Problem“ behandelt. Die zentrale Aufgabe des Euckenbundes bestehe demnach in der „praktischen Lösung des Problems der Deutschheit aufgrund der Philosophie Rudolf Euckens“. Diese Aufgabe gebe dem Bund eine politische Agenda vor, die er nach innen wie nach außen zu vertreten habe. Man müsse, so Hacker, sympathisieren mit den Richtungen des öffentlichen Lebens, in denen die deutsche Empörung zittert, und deren noch so fernes aber unverrückbares Ziel es ist, das Joch abzuschütteln, unbeirrt durch die Fata Morgana einer bevorstehenden ‚Völkerversöhnung‘, durch eigene Kraft, auf die allein wir angewiesen sind, und koste es dereinst abermals Ströme von Blut.47

Das Rudolf-Eucken-Haus sei dagegen „bestimmt für die Bildung strebsamer Ausländer“. Die Aufgabensetzungen des Hauses würden daher, so die Quintessenz von Hackers Kritik, den Bestrebungen des Bundes entgegen wirken. Der Euckenbund müsse nun „auf Interessen, Empfindungen und Gesinnungen 46 ThULB NLRE V, 2, Bl. 595f: Curt Hacker an Irene Eucken, 20.12.1930. 47 Ebd., Bl. 596.

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Rücksicht nehmen, die dem nationalen Gedanken im Deutschen Volke, wo nicht feindlich, doch fremd sind“.48 Es war dies nicht das erste Mal, dass sich Irene Eucken mit Aktivisten des Bundes auseinandersetzen musste, die eine Politisierung der Bewegung unter radikalnationalistischen Vorzeichen propagierten. Gustav Ziegler verfolgte als Vorsitzender des Kemptener Euckenbundes ziemlich eigentümliche Vorstellungen, wie Rudolf Euckens Forderung nach einem „ethischen Aktivismus“ und einer „Sammlung der Geister“ in die Praxis umzusetzen seien. Im Frühjahr 1926 teilte Ziegler Irene Eucken mit, er sei „nun als Euckenbündler endgültig an die Front gegangen“. Er halte die „Zusammenführung der nationalen und völkischen Kräfte zu einem einigen Zusammengehen“ für „die vordringlichste Aufgabe, die uns Deutschen gestellt ist“. Er sei zu der Überzeugung gelangt, dass er auf diese Weise dem Euckenbund mehr diene als „im Innendienst der Ortsgruppe“.49 Außer einer freundlichen Ermahnung Irene Euckens, er solle doch bedenken, dass der Euckenbund über den Parteien stehe, scheint man in Jena zunächst nicht auf die Aktivitäten der Allgäuer Euckenbündler reagiert zu haben. Erst als Ziegler den Versuch unternahm, den Bund als Ganzes auf seine Vorstellungen radikalnationalistischer Sammlungspolitik festzulegen, sah sich die Jenaer Führung zum Eingreifen veranlasst. Im Februar 1928 schickte die Ortsgruppe Kempten eine Resolution an die Redaktion des Mitteilungsblatts, in der die Mitglieder des Bundes zur tätigen Mitarbeit in Organisationen wie dem Deutschen Frauenkampfbund und dem Verein für das Deutschtum im Ausland verpflichtet wurden. Auch der Kampf „gegen die Hauptvertreterin der materialistischen Weltanschauung, die Sozialdemokratie“, sollte zu den Pflichten eines Euckenbündlers gehören.50 Irene Eucken lehnte es ab, diese Resolution abzudrucken. Daraufhin versandte Ziegler den Text an Mitglieder und Freunde im Euckenbund und gab ihn an die Presse weiter. Walter Eucken stellte nun beim Vorstand den Antrag, den Kemptener Vorsitzenden aus dem Euckenbund auszuschließen. Seine Mutter wollte allerdings von einem solchen Vorgehen nichts wissen und versuchte die Angelegenheit gütlich zu regeln. Man könne doch, so schrieb sie Ziegler, die strittigen Punkte auf der bevorstehenden Haupttagung des Bundes ruhig und sachlich besprechen. Doch der Landesgerichtsrat wies jeden Vermittlungsver48 Ebd., Bl. 596, 599: Curt Hacker an Irene Eucken, 20.12.1930 und 4.1.1931. 49 Ebd. V, 5, Bl. 1688f: Gustav Ziegler an Irene Eucken, 2.4.1926. 50 Ebd. VI, 29, o. Bl.: Ortsgruppe Kiel, Mappe 10: Bericht der Ortsgruppe Kempten, undatiert [Anfang 1928]. Vgl. ebd. V, 5, Bl. 1693: Gustav Ziegler an Irene Eucken, undatiertes Fragment [Anfang 1926].

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such brüsk zurück und erklärte seinen Austritt aus den Euckenbund. Die gesamte Kemptener Ortsgruppe folgte seinem Beispiel. Eine Woche danach erklärte auch der Suhler Vorsitzende Bruno Wunderlich seinen Austritt. Die Behandlung Zieglers habe ihn zu diesem Schritt veranlasst, denn alle „Vergehen“, die zu dessen Maßregelung geführt hätten, habe auch er begangen und werde sie wieder begehen. Die Ortsgruppe Suhl löste sich umgehend auf. Ein Schreiben Wunderlichs vom September 1927 deutet an, dass sich auch die Suhler Euckenianer im völkisch-radikalnationalistischen Spektrum verorteten. Man würde sich freuen, so heißt es hier, wenn die Tatwelt ab und zu das „vaterländische Wirken Euckens“ behandeln würde. Auf der Wunschliste aus Suhl standen u. a. Themen wie „Der völkische Gedanke und Eucken“ oder „Eucken und der Rassegedanken“.51 Die Affäre Ziegler zeigt an, dass die Führung des Euckenbundes seit Mitte der 1920er Jahre nicht mehr so einfach zu ignorieren bereit war, wenn sich einzelne Ortsgruppen „in der ‚unangenehmen‘ völkischen Richtung“ bewegten.52 Zu diesem Einstellungswandel trug sicherlich auch die Einflussnahme Walter Euckens bei, dessen Stimme, seitdem er und seine Frau Die Tatwelt übernommen hatten, an Gewicht gewann. Doch die größere Bereitschaft, auf die Aktivitäten der Ortsgruppen Einfluss zu nehmen, lag ganz auf der Linie von Irene Euckens Bestrebungen, dem Euckenbund ein neues organisatorisches, programmatisches und soziales Profil zu geben. Mit der Konsolidierung der finanziellen Grundlagen und der Lancierung einer intellektuell ambitionierten Zeitschrift gingen auch Überlegungen einher, die lokale Organisation des Euckenbundes systematisch auszubauen und die bestehenden Ortsgruppen neu zu beleben. Die inhaltliche Ausrichtung der Tatwelt, die Gründung des Rudolf-EuckenHauses als internationale Begegnungsstätte, die Werbung um kapitalkräftige Förderer – alle diese Maßnahmen zur Reorganisation der Bewegung verweisen letztlich darauf, dass die Ambitionen Irene und Walter Euckens den intellektuellen und sozialen Horizont der Mitgliedschaft des Bundes wissentlich missachteten. Der „Menge der Mitglieder“ sei die Die Tatwelt zu hoch, schrieb der Breslauer Euckenianer Lazar von Lippa 1928 nach Jena. Ihre Werbekraft beschränke sich daher auf einen kleinen Kreis von Akademikern. Der Nimbus des Euckenbundes, so Lippa weiter, „wirkt mehr bei Damen, Lehrern, Postbeamten pp. pp. 51 Vgl. ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 25.2. und 15.4.1928; ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Ida Eucken an Rudolf Voß, 6.3.1928; ebd. VI, 29, o. Bl.: Ortsgruppe Kiel, Mappe 10: Briefwechsel Gustav Ziegler – Dr. Auener, 5.4. und 23.4.1928; ebd.: Ortsgruppe Kempten an Sekretariat Jena, 29.3.1928; ebd. VI, 32, o. Bl.: Ortsgruppe Suhl: Briefwechsel Bruno Wunderlich – Benno von Hagen, 6.4., 13.4. und 1.5.1928; ebd.: Bruno Wunderlich an Sekretariat Jena, 31.8.1926 und 23.9.1927. 52 ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Ida Eucken, 4.5.1928.

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In ihrer Anschauung ist der Name Eucken mit Hohem und Edlen verknüpft, an dem sie teilhaben, mit dem sie glänzen wollen. Hier liegt eine unerschöpfliche Werbekraft, hier hat die Pflege guten Acker.“53 Das Problem war nur, dass weder Irene Eucken noch ihr Freiburger Sohn diesem „guten Acker“ ihre Pflege angedeihen lassen wollten. Ihre Bestrebungen gingen vielmehr dahin, dem Euckenbund „höherstehende“ Mitglieder zuzuführen. Dem Chemnitzer Ortsgruppenchef Otto Günther sandte die Jenaer Geschäftsstelle im November 1927 gute Tipps, wie er dieses bewerkstelligen könnte. Zunächst müsste Günther herausfinden, „ob die führenden Männer in Chemnitz überhaupt geistige Interessen haben“. Er könne dabei so vorgehen wie der Postrat Voß in Halle. Voß orientiere sich über die Einstellung der „verschiedenen Professoren und Präsidenten“, mache dann Besuch und versuche diese Leute im persönlichen Gespräch für die Ziele und Aufgaben des Bundes zu gewinnen. Die meisten der so Angesprochenen würden dann der Ortsgruppe beitreten.54 Der beispielgebende Hallenser Postrat hätte dies sicherlich weniger optimistisch formuliert. Noch einige Wochen zuvor hatte Rudolf Voß in einem Brief an Ida Eucken geklagt: „Sie machen sich keinen Begriff, wie schwer es ist, etwas Neues hier ins Leben zu rufen“. Er müsse die Personen, die er im Euckenbund haben wolle, sämtlich persönlich aufsuchen, da Anzeigen in den Zeitungen die wenigstens lesen würden. „Und unsere Akademiker, Philologen pp. verhalten sich meist ganz ablehnend, weil sie ‚saturiert‘ sind.“ Voß hätte es auch gerne gesehen, wenn ein Universitätsprofessor den Vorsitz in Halle übernommen hätte. „Der Vors. wäre ja von jeder Arbeit befreit worden u. ich hätte meine Kraft natürlich gern in den Dienst der guten Sache gestellt.“ Doch fand sich unter den Ordinarien, an die Voß herangetreten war, niemand, der sich auf dieses Arrangement einlassen wollte.55 Nicht überall goutierten es die Euckenbündler, wenn ihnen aus Jena bedeutet wurde, sie sollten sich um die Werbung „prominenter“ und „hochstehender“ neuer Mitglieder bemühen. Im Sommer 1930 traten gleich vier langjährige Mitglieder der Lichterfelder Ortsgruppe, allesamt Frauen, aus dem Bund aus. Dieser Schritt sei ihnen nicht leicht gefallen, erklärten sie in einem Brief an den Vorsitzenden Benno von Hagen. Doch sei nach dem Tod Rudolf Euckens der „Geist im Euckenhause ein anderer“ geworden. Man vermisse die „Grundideen, die uns einst zusammenführten. Ganz besonders stieß uns die Art ab, wie wir 53 Ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Lazar von Lippa an Irene Eucken, 8.4.1928. 54 Ebd.VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Sekretariat Jena an Otto Günther, 22.11.1927 55 Ebd. VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Ida Eucken, 14.10. und 12.11.1927. Vgl. ebd.: Voß an Ida Eucken, 15.12.1927.

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aufgefordert wurden, neue Mitglieder zu werben“. Curt Hacker teilte Irene Eucken einige Monate später mit, die Damen würden nun einmal in der Woche zusammenkommen, um sich gemeinsam in die Schriften Rudolf Euckens zu vertiefen. Der ehemalige Vorsitzende fühlte sich durch diese Reaktion in seiner Kritik an der Führung des Bundes nur zu bestätigt. Doch in Jena und Freiburg dürfte er mit diesen Vorhaltungen kaum Eindruck gemacht haben. Im Gegenteil: Anfang August 1930 hatte Irene Eucken ihrem Sohn Walter gemeldet, der Euckenbund habe seit Mai des Jahres 17 neue Mitglieder und einen Förderer gewonnen. Es seien zwar auch sechs Mitglieder ausgetreten. „Es ist aber eine Tatsache, daß die neuen Anmeldungen weit hochstehendere Persönlichkeiten sind als die Ausgeschiedenen. Das sind meist alte Damen oder kleine Beamte.“56

An der Basis des Bundes Die Anstrengungen zum Ausbau der Organisation des Euckenbundes schlugen sich zwischen 1927 und 1929 in der Gründung von vier neuen Ortsgruppen nieder und zwar in Naumburg, Halle, Bremen und Weimar. Doch lösten sich im gleichen Zeitraum auch vier, z. T. bereits länger bestehende lokale Euckenbünde auf. Neben Suhl und Kempten waren dies 1929 Dresden und Köpenick. Zudem waren am Ende der 1920er Jahre die Ortsgruppen in Fulda, Bochum, Lindau und Magdeburg augenscheinlich eingeschlafen. Auch qualitativ erfüllten die Neugründungen die hochgesteckten Ziele und Erwartungen der Philosophen-Witwe wohl kaum. Als Erfolg nach diesen Maßstäben kann allenfalls die Ortsgruppe Halle gelten, die binnen kurzem zu den aktivsten und mitgliederstärksten lokalen Euckenbünden zählte. Dies war vor allem der Initiative und dem Geschick ihres Gründers und Vorsitzenden Rudolf Voß zu verdanken, der seit Frühjahr 1928 auch als 3. Vorsitzender des Gesamt-Bundes amtierte und in den nächsten Jahren zu den engsten Beratern Irene Euckens außerhalb ihres Familienkreises gehörte.57 Die Gründung der drei anderen neuen Gruppen war weitgehend von der Jenaer Geschäftsstelle initiiert und organisiert worden. Irene Eucken hatte im Frühjahr 1928 eine Reise nach Norddeutschland unternommen und dabei die 56 Ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Elfriede von Cranach an Benno von Hagen, 8.7.1930; ebd. V, 2, Bl. 595: Curt Hacker an Irene Eucken, 20.12.1930; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 3.8.1930. Vgl. ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Benno von Hagen an Curt Hacker, 2.7.1930. 57 Vgl. ThULB NLRE V, 14, Bl. 265: Ida an Irene Eucken, 28.4.1929; ebd. VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Dresden: Emma Wurm an Sekretariat Jena, 3.12.1929; ebd. VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Mitgliederlisten.

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Ortsgruppen in Rudolf Euckens Heimatstadt Aurich, wo der Philosoph auch begraben lag, und in Hannover inspiziert. In ihrer Geburtsstadt Bremen wohnte sie Anfang Mai der Gründung einer Ortsgruppe bei, deren Vorsitz eine Jugendfreundin übernahm. Bruno Jordan hatte den Einführungsvortrag gehalten und auf ihn richteten sich nun die Erwartungen, was die Gestaltung des Programms der neuen Gruppe anging. Doch Jordan war durch seine zahlreichen beruflichen und ehrenamtlichen Verpflichtungen so überlastet, dass er diese Erwartungen nicht erfüllen konnte. So kam der Bremer Euckenbund gar nicht aus den Startlöchern und schlief wieder ein, bevor er überhaupt in irgendeiner Weise aktiv geworden war.58 Auch zur Gründung der Ortsgruppen in den Nachbarstädten Naumburg und Weimar war Irene Eucken angereist. Die Naumburger Gruppe wurde von dem Theologen Ernst Marbach geführt, dessen Charakter und Erscheinungsbild von der Eucken-Witwe so umrissen wurde: Pfarrer Marbach ist ein ausgezeichneter Redner. Er ist jung, begeistert und hat ein schönes Organ und eine dekorative Erscheinung … Im Augenblick ist er Religionslehrer an einer Schule. Er hat keine Stelle als Pfarrer. Vielleicht ist er den Geistlichen zu links stehend. (…) Er redet glänzend, offenbar ohne jede Schwierigkeit, aber wie das bei solchen Leuten so leicht ist, er scheint flach zu sein. (…) Pastoral ist er nicht.

Trotz des Charmes seines Vorsitzenden kam der Naumburger Euckenbund nicht über 15 bis 20 wenig aktive Mitglieder hinaus. Nachdem Marbach 1930 eine Pfarrerstelle in Berlin angetreten hatte, schrumpfte die Gruppe auf zehn Leute zusammen.59 In Weimar wurde ein Euckenbund Mitte 1928 aus der Taufe gehoben und kam hier auf 35 bis 40 eingeschriebene Mitglieder. Die Weimarer Ortsgruppe entwickelte sich zunächst mehr nach dem Geschmack Irene Euckens. Für die Zusammenkünfte stellte eine Frau von Below Räumlichkeiten zur Verfügung, „sehr vornehm. Sie hat ein glänzendes Haus. Diener vor der Thür und in der Garderobe“. Letztlich hing aber auch hier das Gedeihen des Bundes an einer einzelnen Person, in diesem Falle an der 1926 in Jena promovierten Philosophin Susanne Hampe. Als Hampe Anfang 1931 die thüringische Landeshauptstadt 58 Vgl. ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Bremen: Lucie Grote an Irene Eucken, 7.4.1928; ebd.: Protokoll der Sitzung vom 4.5.1928; ebd.: Bruno Jordan an Sekretariat Jena, 12.12.1928; ebd.: Tilda Hähn-Rassow an Lucie Grote, 14.12.1929; ebd. V, 2, Bl. 484ff: Lucie Grote an Irene Eucken, 11.4.1929, 29.1. und 19.2. 1930; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 29.4.1928; ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 5./7.5.1928. 59 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 25.6.1927. Vgl. ThULB NLRE VI, 31, o. Bl.: Ortsgruppe Naumburg, Mappe 2: Ernst Marbach an Irene Eucken, 13.12.1928; ebd. Mappe 1: Mitgliederliste 1.3.1931; ebd.: Ernst Marbach an Benno von Hagen, 15.8.1930.

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verließ, fand sich niemand, der bereit war, ihre Nachfolge anzutreten und die Ortsgruppe schlief bald ganz ein.60 Besondere Aufmerksamkeit widmete die Führung des Bundes den großstädtischen Lokalorganisationen. Mitte der 1920er Jahren gab es Euckenbünde in Dresden, Hannover, Breslau, Berlin und München. Eine größere Rolle in der kulturellen Öffentlichkeit dieser urbanen Zentren spielte der Euckenbund jedoch allenfalls in der bayerischen Hauptstadt. Besonders trist stellte sich die Situation in Dresden dar, wo die Ortsgruppe des Euckenbundes ganze acht Mitglieder zählte. Eigentlich bestand der Dresdner Euckenbund nur aus einer alten Dame namens Emma Wurm. Die anderen Mitglieder, so Frau Wurm 1929, seien „größtenteils aus Gefälligkeit gegen mich Mitglieder und es ist mir nicht gelungen in den 4 Jahren sie merklich für die Sache zu interessieren.“61 Dabei besaß der Bund in der sächsischen Hauptstadt einige prominente Einzelmitglieder, darunter den Ministerialdirektor im Volksbildungsministerium, Emil Menke-Glückert. Ende 1928 unternahm die Jenaer Zentrale einen Anlauf, um seine Dresdner Prominenz für einen Neuaufbau der Ortsgruppe zu aktivieren. Aber weder die angeschriebenen Professoren noch der Ministerialdirektor konnten in dieser Sache weiterhelfen oder wären selbst bereit gewesen, sich aktiv zu engagieren. „Immer und immer wieder habe ich versucht, eine zur Leitung geeignete Persönlichkeit für den Euckenbund zu gewinnen“, beteuerte Menke-Glückert. Er habe aber eine Absage nach der anderen erhalten. Die Konkurrenz anderer ähnlicher Gesellschaften sei eben in Dresden zu groß. Einige Monate später meldete Emma Wurm nach Jena, sie selbst habe einen geeigneten Mann gefunden, der den Vorsitz der Ortsgruppe übernehmen könnte. Es handele sich um einen jungen Volksschullehrer, der sich als „feuriger Anhänger“ der Philosophie Rudolf Euckens dargestellt habe. Dieser Herr wäre bereit, unter seinen Lehrerkollegen neue Mitglieder zu werben. In Jena stieß sie allerdings mit dieser Idee offenkundig auf wenig Gegenliebe. Ende 1929 teilte Frau Wurm schließlich dem Sekretariat des Bundes mit, sie habe schweren Herzens ihre Dresdner Ortsgruppe aufgelöst.62

60 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 31.1.1929. Vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, 26.12.1928; ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Bremen: Irene Eucken an Tilda Hähn-Rassow, 20.6.1928; ebd. V, 2, Bl. 632: Susanne Hampe an Irene Eucken, 25.2.1931; ebd. VI, 32, o. Bl.: Ortsgruppe Weimar: Sekretariat Jena an Justizrat Mardersteig, 8.6.1931; ebd.: Mitgliederlisten. 61 ThULB NLRE VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Dresden: Emma Wurm an Sekretariat Jena, 6.4.1929. Vgl. ebd.: Emma Wurm an Sekretariat Jena, 2.11.1925, 5.4. und 19.12.1928; 62 Ebd.VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Dresden: Emil Menke-Glückert an Benno von Hagen, 18.2.1929; ebd.: Emma Wurm an Sekretariat Jena, 6.4.1929. Vgl. Briefwechsel Hagen – Prof.

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Eine traurige Entwicklung hatte im Laufe der 1920er Jahre der Euckenbund in einer seiner frühen Hochburgen, in Hannover, genommen. Gerhard Budde, der Vorsitzende der Ortsgruppe, hatte sich kaum aktiv betätigt und nach dem Tod seines Meisters sein Engagement für den Bund ganz eingestellt. Die faktische Leitung der Gruppe lag bei einem Pastor Schnacke, dem Schwiegervater von Bruno Jordan. Anfang 1927 unternahm Hans-Traugott Schorn einen Vorstoß, die Hannoveraner Ortsgruppe neu zu beleben. Eine Besserung könne nur dadurch eintreten, wenn er selbst Vorsitzender würde und die Führung der Ortsgruppe durch „wirksame neue Mitglieder von gesellschaftlichem Einfluss“ ergänzt würde. In Jena war man nach den Erfahrungen mit Schorns Englandmission von diesem Plan wenig begeistert und Irene Eucken bat ihn dringlich, von weiteren Schritten in diese Richtung vorerst absehen zu wollen. Einige Monate später musste die Philosophen-Witwe erfahren, dass man in Hannover gerade dabei war, Schorn zum Vorsitzenden zu ernennen. Er und seine Vorstandskollegen hätten angenommen, verteidigte sich Pastor Schnacke, dass Schorn in Jena persona gratissima sei. Die für die Wahl anberaumte Sitzung wurde im letzten Augenblick verschoben, woraufhin Schorn erbost seinen Austritt aus dem Euckenbund erklärte. Zunächst blieb in Hannover alles beim Alten und Schnacke versicherte Irene Eucken, dass die Besorgnisse über den Zustand der Ortsgruppe unbegründet seien. Die Gruppe habe 80 bis 90 Mitglieder, wovon sich etwa ein Drittel regelmäßig an den Versammlungen beteilige. Doch als Irene Eucken im folgenden Jahr die Situation in Hannover persönlich in Augenschein nahm, kam sie zu einem anderen Ergebnis. „Die Ortsgruppe Hannover ist schauderhaft heruntergewirtschaftet“, schrieb sie ihrem Sohn Walter. Die Gruppe werde jetzt neu aufgebaut ohne Budde, der „vollkommen körperlich zusammengebrochen“ sei. Sie glaubte auch schon den richtigen Mann für diese Aufgabe gefunden zu haben. Rudolf Voß hatte ihr einen Prof. Dr. Werckmeister empfohlen, einen „großer Euckenverehrer“, der von Halle nach Hannover übergesiedelt war. Im Juni 1928 wurde Werckmeister zum Vorsitzenden des Hannoveraner Euckenbundes gewählt. Doch leider handelte sich bei Werckmeister nicht, wie Irene Eucken angenommen hatte, um einen Hochschul-Ordinarius, sondern um einen in prekären Verhältnissen lebenden frühpensionierten Gymnasial-Professor.63

Bäumler, 5.12. und 15.12.1928; ebd.: Briefwechsel Hagen – Menke-Glückert 6.4. und 15.5.1929; ebd.: Emma Wurm an Sekretariat Jena, 3.12.1929. 63 ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Hannover: Briefwechsel Hans-Traugott Schorn – Irene Eucken, 7.2. und 9.2. 1927; ebd., o. Bl.: Briefwechsel Pastor Schnacke – Irene Eucken, Mai 1927; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 12.5.1928: Vgl. ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Hannover: Irene Eucken an Dr. Grimm, 31.5.1928;

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Der neue Ortsgruppen-Vorsitzende begann sogleich damit, ein eigenes philosophisches Programm zu entwickeln, das er in den Ortsgruppensitzungen vortrug. Die ausführlichen Protokolle seiner Vorträge, die er zum Abdruck im Mitteilungsblatt nach Jena sandte, lösten dort einiges Entsetzen aus. Werckmeisters Elaborate erscheinen in ihrem Duktus mehr von Nietzsche als von Eucken inspiriert. Die „gesamte bisherige Schulphilosophie von Aristoteles bis zur Gegenwart“ ist ihm ein „saft- und kraftloses, ein lebensfremdes Gedankenspielen“. Es gelte nun die Philosophie auf „das Leben selbst“, „das allgewaltige dahinflutende Sein in, um und über uns“, zu stellen. Hagens Mitteilung, man stehe im Euckenbund-Vorstand „in verschiedenen Hauptpunkten Ihrer Auffassung diametral“ gegenüber, beeindruckte Werkmeister wenig. Es überrasche ihn nicht, gab er zurück, dass der Vorstand in diesen Fragen anders als er denke, denn der werde doch sicher von Universitätsprofessoren gebildet. Und es sei ja bekannt, dass die Hochschullehrerschaft „dem wirklichen Leben“ „ganz besonders fremd“ gegenüberstehe. Werkmeister jedenfalls wusste sich mit Rudolf Eucken völlig einig, habe er doch mit diesem vor dessen Tod „gerade über diesen Punkt“ ausführlich korrespondiert. In Hannover hatten Werckmeisters Vortragszyklen den Effekt, dass die Ortsgruppe binnen weniger Monate „vollständig zusammengeschmolzen“ war.64 Ein weiteres Sorgenkind des Euckenbund-Vorstandes war die Breslauer Ortsgruppe. Seit Pastor Haacks Rücktritt im Gefolge der Auseinandersetzungen um die „Judenfrage“ hatte der Euckenbund in Breslau merklich an Ausstrahlungskraft verloren. Nachdem nun Haacks Nachfolger, der Pfarrer Nagel, 1927 eine Stelle in Hamburg angenommen hatte, hielt Irene Eucken die Zeit für eine gründliche Neuformierung des Bundes in Schlesien gekommen. Arnold Eucken sollte es übernehmen, einen neuen Vorstand nach den Vorstellungen seiner Mutter zusammenzustellen, „bestehend aus einigen Mitgliedern der Universität, der technischen Hochschule, des schlesischen Adels und einer Persönlichkeit, die die organisatorische Arbeit macht“. Zugang zu den schlesischen Adelskreisen sollte dem Bund ein Graf Pückler, den Irene Eucken persönlich kannte und der Leser der Tatwelt war, verschaffen. „Wenn eine Kulturangelegenheit Macht bekommen soll“, so verkündete Irene Eucken dem Grafen ihr bekanntes Credo, dann müssten sich „gesellschaftlich hochstehende Kreise“ beteiligen. „Lehrer,

ebd. Gerhard Budde an Walter Werckmeister, 23.5.1928; ebd.: Werckmeister an Irene Eucken, 29.5.1928; ebd.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Sekretariat Jena, 7.3.1928 und 26.5.1928. 64 ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Hannover: Walter Werckmeister an Sekretariat Jena, 14.6.1928; ebd.: Briefwechsel Werckmeister – Benno von Hagen, 21.6. und 26.6.1928; ebd.: Werckmeister an Euckenbund Jena, 17.11.1928.

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Beamte, Geistliche bringen den nötigen Schwung und Widerhall alleine nicht auf.“65 Nachdem Arnold Eucken zu einer Vorbesprechung in kleinem Kreise eingeladen hatte, konstituierte sich die neue Breslauer Ortsgruppe Ende Oktober 1928. Allerdings hatte sich der schlesische Adel rar gemacht und auch unter den Ordinarien fand sich offenbar niemand, der den Vorsitz übernehmen hatte wollen. So wurde Wilhelm Steinberg, Privatdozent für Philosophie an der Technischen Hochschule, zum Vorsitzenden gewählt. „Der gute Arnold hat wirklich die Ortsgruppe Breslau in Gang gebracht“, schrieb seine Mutter wenige Tage später nach Freiburg. „Wirklich, unsere Familie hält in der Hauptsache den Bund.“ Doch Irene Euckens Euphorie sollte sich als verfrüht erweisen. Zwar konnte die Breslauer Ortsgruppe am Jahresende 1928 die stolze Zahl von 59 Mitgliedern nach Jena melden. Doch kaum eine der neu geworbenen „höherstehenden Persönlichkeiten“ wollte sich in irgendeiner Weise im Euckenbund betätigen oder ließ sich auch nur bei dessen Veranstaltungen blicken. Dabei hatte Arnold Eucken es arrangieren können, dass die Technische Hochschule dem Bund die Aula für Vorträge zur Verfügung stellte. Die bisherigen Mitglieder wiederum, „in der Hauptsache alte Damen, Volksschullehrer etc.“ (O-Ton Irene Eucken), fühlten sich offenbar im Hochschulmilieu nicht recht wohl und blieben ebenfalls den Vortragsabenden in der abseits gelegenen TH fern.66 Die frustrierende Entwicklung der neu formierten Breslauer Ortsgruppe veranlasste den Vorstand des Euckenbundes, ernsthaft darüber nachzudenken, ob man nicht Hans Haack wieder als Vorsitzenden gewinnen könnte. Unweigerlich kam damit auch wieder die „Judenfrage“ aufs Tapet. Irene Eucken hielt den Pfarrer an sich „in jeder Beziehung für die Stelle des 1. Vorsitzenden in Breslau geeignet“; er sei „aggressiv und gescheit“. Sie habe auch, schrieb sie Rudolf Voß, „unter der Hand“ gehört, Haack wäre gewillt, die Führung des Breslauer Euckenbundes wieder zu übernehmen. Doch habe sie sich „bis jetzt immer dagegen gewehrt, gerade in einer Stadt wie Breslau, welche so stark unter jüdischem Einfluss steht, einen ausgesprochenen Judenfreund an die Spitze zu stellen.“ Man müsse doch sagen, „ohne antisemitisch zu sein“, so fuhr Irene Eucken fort, dass Haack geradezu ein Philosemit sei. Daher komme er in Breslau, wo „das Judentum das Germanentum so stark überwuchert“ für den Bund nicht in Betracht. „Es ist doch etwas anderes, wenn man den einen oder ande65 Ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Irene Eucken an Lazar von Lippa, 17.5.1928; ebd.: Irene Eucken an Graf Pückler, 10.6.1928. 66 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 2.11.1928; ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Irene Eucken an Rudolf Voß, 8.11.1929. Vgl. ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: G. Geisler an Gesamtvorstand Jena, 17.1.1929; ebd.: Dr. Steinberg an Benno von Hagen, 8.3.1929. Zu Steinberg: Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 222f.

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ren Juden in unserem Kreis hat und auch gern aufnimmt, oder ob jemand tatsächlich die Juden über die Christen stellt, und zwar als protestantischer Geistlicher.“ 1931 wies die Jenaer Führung den Breslauer Ortsgruppenvorstand dann doch an, dem Pastor die Leitung der Gruppe anzubieten. Haack müsse aber versichern, „dass er die leidige Judenfrage nicht wieder akut werden lässt“. Nach einigem hin und her lehnte Pastor Haack das an ihn herangetragene Angebot schließlich ab.67 Ein Beispiel für die gelungene Organisation einer großstädtischen Euckenbund-Filiale konnte Irene Eucken in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre immerhin vorweisen. Das war die Ortsgruppe München. „Diese Gruppe“, schrieb sie im Dezember 1926 an Walter Eucken, „hebt genau wie die Tatwelt unseren Bund aus der kleinen Vereinsmeierei heraus.“ Hier sei „Zug und großer Styl“. Dem Münchener Euckenbund wurde sogar die Ehre zuteil, die Gedenkfeier für den verstorbenen Meister auszurichten. Das Profil der Gruppe hatte sich allerdings im Vergleich zu ihrer Anfangszeit stark gewandelt. Die personellen Verflechtungen mit dem völkisch-radikalnationalistischen Untergrund der bayerischen Hauptstadt scheinen Mitte der Zwanziger Jahre gekappt worden zu sein. Der entscheidende Führungswechsel wurde auch hier offensichtlich von Jena inspiriert. Bis 1924/25 lag die organisatorische Arbeit in der Hand des Eisenbahninspektors Josef Schwarz, der als „geschäftlicher Leiter“ der Ortsgruppe firmierte und im Zivilberuf der Auskunftsstelle der Reichszentrale für Deutsche Verkehrswerbung in München und Oberammergau vorstand. Allerdings beschwerten sich einige Münchner Mitglieder immer mal wieder in Jena über die chaotische Amtsführung ihres geschäftlichen Leiters.68 Seit 1923 verfolgte Schwarz den ebenso ehrgeizigen wie kuriosen Plan, eine „Geistes- und Erkenntnisschule“ zu gründen. Kurios war dieser Plan vor allem deswegen, weil es ausgerechnet ein junger jüdischer Schriftsteller war, der den Bahninspektor für dieses Projekt begeistert hatte. Noch im Jahr zuvor hatte die Münchener Ortsgruppe ja die Aufnahme von Juden kategorisch abgelehnt. Schwarz selbst hatte bei dieser Gelegenheit Rudolf Eucken auseinander gesetzt hatte, es sei doch beinahe ausgeschlossen, „dass ein Jude, national fühlend, dem Ganzen einer Volkseinheit dienen kann; er ist entweder als Raffer Materialist oder internationaler Verächter der Sitten, die den Stolz einer Nation bilden, oder er ist beides zugleich“. Im Mai 1924 teilte nun derselbe Josef Schwarz dem 67 ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Irene Eucken an Rudolf Voß, 8.11. und 29.11.1929; ebd. Benno von Hagen an Lazar von Lippa, 11.2.1931. Vgl. ebd.: Voß an Irene Eucken, 17.11.1929; ebd: Lippa an Hagen, 4.2. und 10.3.1931. 68 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 1.12.1926. Vgl. etwa ThULB NLRE VI, 4a, o. Bl.: Else Lohmann an Sekretariat Jena, 18.6. und 19.6.1923; sowie Schwarz’ Visitenkarte (ebd. VI, 31, Mappe 9, o. Bl.).

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Philosophen mit, sein jüdischer Schützling, der unter dem Pseudonym „Hellmund“ auftrat69, beabsichtige im Rahmen der Ortsgruppe München eine „Philosophische Schule der geistigen Einheit“ ins Leben zu rufen. Das Programm der geplanten Schule umriss Schwarz wie folgt: Die Schule lehrt, wie sich der Mensch des in ihm wirksamen, alles stoffliche und geistige Werden bestimmenden Gesetzes: des Zielstrebens nach Einheit in der Mannigfaltigkeit und des Schwerpunktes, nach dem alles gravitiert, der treibenden Kraft, dem Urquell alles Seins bewusst wird und wie er in diesem Bewusstsein unter Nutzung der aus stofflichen (naturhaften) Trieben fortgesetzt sich bildenden, neues keimendes Leben bergenden Gegensätze, kämpfend, in bewusster Verbindung mit der Einheit die Dinge zusammenschauend, synthetisch schafft und so als kosmischer Mensch überwindend schöpferisch bildet ein Reich der Harmonie und der Herrschaft des Geistes.

Und, so fügte Schwarz hinzu: „Diese Lehre deckt sich vollkommen mit der Ihrigen“. Dieser Ansicht mochte sich Rudolf Eucken allerdings nicht anschließen. Der Philosoph versuchte, seinem Münchener Adepten sachte nahezulegen, dass er diesen, ihm selbst völlig unbekannten Herrn Hellmund möglicherweise etwas überschätze. Es sei ja doch nicht selten, „dass jüngere Juden eine eigentümliche Regsamkeit besitzen, dass aber im Verlauf des Lebens kein bedeutsamer Kern dahinter steckt.“70 Ida Eucken sah sich nun veranlasst, selbst in München nach dem Rechten zu sehen. Anfang Oktober 1924 erhielt eine der Aktivistinnen des Münchener Euckenbundes, Luise Seefried, einen Brief aus Jena, in dem ihr mitgeteilt wurde, die Leitung liege bei Herrn Schwarz „in vollständig falschen Händen“. Frau Seefried möge doch dafür sorgen, dass Schwarz künftig „eine untergeordnetere Rolle in der Ortsgruppe spielt“. Mit der Adressatin dieses Schreibens, einer gut situierten Witwe von Mitte 60, waren die Euckens offenbar schon seit längerem privat gut bekannt.71 Auf der folgenden Jahresversammlung der Ortsgruppe wurde der Kunstmaler Fritz Haß zum Vorsitzenden gewählt. Doch bald entbrannte um die Führung des Münchener Euckenbundes ein heftiger Kampf zwischen dem neuen Vorsitzenden und Luise Seefried. Der Konflikt entzündete sich an den unterschiedlichen Vorstellungen über die künftige Arbeit der Orts69 Es handelt sich wohl um Heinrich Hellmund (eigentlich Ernst Rosenthal), der 1927 das mehrbändige philosophische Werk Das Wesen der Welt veröffentlichte und 1930 bei August Messer in Gießen promovierte. Vgl. http://www.heinrich-hellmund.de/lebenslauf.html 70 ThULB NLRE I, 7, Bl. E 152, 158: Josef Schwarz an Rudolf Eucken, 27.3.1922 und 7.5.1924; ebd. I, 30, Bl. 430: Eucken an Schwarz, 4.6.1924. Vgl. ebd. V, 3, Bl. 952, 955: Else Lohmann an Sekretariat Jena, 24.2. und 31.3.1924. 71 ThULB NLRE VI, 6, o. Bl.: Sekretariat Jena an Luise Seefried, 2.10. und 6.10.1924. Vgl. den Zeitungsausschnitt zu Luise Seefrieds 70. Geburtstag am 27.12.1930 (ebd. VI, 14, Mappe 12, o. Bl.).

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gruppe. Haß wollte die Mitglieder in die Werke Rudolf Euckens einzuführen, „in der Erkenntnis, dass ja doch niemand zuhause lese und man die Betreffenden nur eben so packen und anziehen und festhalten könne“. Dagegen schwebten der Witwe Seefried Vorträge über allgemein-philosophische und kulturelle Themen mit anschließender Diskussion vor, die sie in ihrer eigenen Wohnung veranstalten wollte. Haß wiederum wehrte sich gegen Veranstaltungen „vor planlos zusammengeladenen Personen, d. h. Personen, die nicht auf dem klaren Eucken-Boden stehen“. Wenn man dann auch noch mit solchen Leuten diskutiere, könne dies nur auflösend und zerstörend wirken.72 Der Kunstmaler zog schließlich den Kürzeren und erklärte erbost seinen Rücktritt, nicht ohne der Führung des Euckenbundes einen ausführlichen Bericht über das Intrigenspiel seiner Widersacherin übersandt zu haben. Fritz Haß schloss sich der Kemptener Gruppe Gustav Zieglers an, wo er schon in den Jahren zuvor mehrfach aufgetreten war. Damit scheint auch eine politische Nähe zu dem radikalnationalistischen Landgerichtsrat zum Ausdruck gekommen zu sein. Haß, ein gebürtiger Ostpreuße, hatte 1922/23 in München und Kempten Lichtbildervorträge über das bedrohte Ostpreußen und die Schlacht von Tannenberg gehalten. Aus dem Seefried-Lager verlautbarte, der „fanatische Antisemitismus“ von Haß und seinen Gesinnungsgenossen habe bei verschiedenen Mitgliedern der Ortsgruppe München Anstoß erregt.73 Seit 1925 scheint Luise Seefried ziemlich unangefochten die bestimmende Kraft im Münchener Euckenbund gewesen zu sein. Ihre jüngere Tochter Elisabet, die das Amt der Schriftführerin der Ortsgruppe übernommen hatte, erledigte einen größeren Teil der organisatorischen Alltagsarbeit. Elisabet Seefried verfolgte daneben weiter ihre künstlerischen Ambitionen und trat als Rezitatorin literarischer Texte auf. Sie besorgte auch das kulturelle Rahmenprogramm bei der Einweihung des Jenaer Euckenhauses Anfang 1928. Die ältere Seefried-Tochter, Auguste, war mit dem Neukantianer Eugen Herrigel verheiratet und hielt sich längere Zeit in Japan auf. 1930 wurde Herrigel auf den Philosophie-Lehrstuhl der Universität Erlangen berufen.74 72 Ebd. VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 6: Fritz Haß an Luise Seefried, 31.3.1925. Vgl. ebd.: Bericht über den Vortrag von Dr. Erdmann am 11.3.1925; ebd. Mappe 7: Elisabet Seefried an Sekretariat Jena, undatiert [Januar 1925]. 73 Ebd. VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 5: Elisabet Seefried an Sekretariat Jena, 11.4.1926. Vgl. ebd. VI, 3, o. Bl.: Curt Hacker an Irene Eucken, 26.4.1925; ebd. VI, 29, o. Bl.: Ortsgruppe Kempten: Bericht der Ortsgruppe Kempten, September 1922; ebd. VI, 31, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 8: Ausschnitt Münchner Stadt-Anzeiger, 1.2.1923; ebd. VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 6: Elisabet Seefried an Sekretariat Jena, 15.8.1925. 74 Vgl. ebd. VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 7: Elisabet Seefried an Sekretariat Jena, undatiert [Januar 1925]; ebd. VI, 14, Mappe 12, o. Bl.: Ausschnitt ohne Angaben [zum

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Luise Seefried und ihre Töchter verfügten augenscheinlich über gute Kontakte zur Münchner Künstlerszene wie zur Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität. Diese Vernetzung im gehobenen Bildungsbürgertum der Stadt schlug sich bald in den Führungsgremien des Euckenbundes nieder. 1926 trug Luise Seefried dem Schriftsteller und Kunsthistoriker Otto von Taube den Vorsitz der Ortsgruppe an. Wegen dessen mangelnden Redner-Talents sah sich Seefried aber bald nach einem geeigneteren Kandidaten um und es gelang ihr, den Philosophie-Ordinarius Erich Becher zur Übernahme dieses Amtes zu bewegen. Nach dessen Tod 1929 bekleidete Luise Seefried dann offenbar auch nominell das Amt der Ortsgruppenvorsitzenden. Der Vorstand des Münchener Euckenbundes bestand 1930 aus Mutter und Tochter Seefried und einer illustren Reihe von Universitätsprofessoren. Es waren dies der Direktor des Instituts für Theatergeschichte Hans-Heinrich Borcherdt; Fritz van Calker, Strafrechtsordinarius an der TH München und bis 1918 nationalliberaler Reichstagsabgeordneter; der Mathematiker und Philosoph Hugo Dingler, der Pädagoge Aloys Fischer; der Psychologe und Musikwissenschaftler Kurt Huber, später Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, und der Altphilologe Albert Rehm. Dazu kamen Wilhelm von Pechmann, ein Direktor der Bayerischen Landesbank und vormaliger Präsident der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, der Bankdirektor Hermann Freiermuth und der Kulturredakteur der Münchener Neuesten Nachrichten, Wilhelm von Schramm.75 Die Vortragsveranstaltungen des Münchener Euckenbundes fanden in Hörsälen der Ludwig-Maximilians-Universität statt und zwar gewöhnlich im Auditorium Maximum. Die Liste der Referenten, die in späten 1920er und frühen 30er Jahren in den Veranstaltungen des Münchener Euckenbundes auftraten, enthält eine ganze Reihe bekannter Namen: Albert Schweitzer, Ottmar Spann, Hans Driesch, C. G. Jung, Leopold Ziegler, Eduard Spranger, Ludwig Klages. 1927 sprach Bruno Bauch im Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität, während die Münchener Euckenianer im Falle seines Kollegen Max Wundt abwinkten. Der Nachfolger Rudolf Euckens auf dessen Jenaer Philosophie-Lehrstuhl war ihnen zu „stark völkisch eingestellt“. Nach den öffentlichen Vorträgen lud Luise Seefried gerne zur Diskussion im kleinen Kreis in ihren Salon ein und versuchte damit einen Hauch sozialer Exklusivität zu verströmen. Benno 70. Geburtstag Luise Seefrieds, 27.12.1930]; ebd. V, 5, Bl. 1368: Luise Seefried an Irene Eucken, 28.6.1929, zu Herrigel, Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 281f. 75 Die Vorstandsliste findet sich auf dem Briefkopf des Euckenbundes München: ThULB NLRE V, 5, Bl. 1372: Luise Seefried an Irene Eucken, 25.10.1930. Vgl. ebd. VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 5: Luise Seefried an Irene Eucken, 21.12.1926; ebd. Mappe 1: Benno von Hagen an Albert Rehm, 17.10.1929; StBM – Monacensia: Archiv Otto von Taube: B 390: Euckenbund: Briefwechsel Luise Seefried – Otto von Taube 20.10., 8.12. und 10.12.1926, 18.1.1927.

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von Hagen konnte 1932 stolz daraufhin hinweisen: „In München ist heute der Euckenbund der grösste Vortragsverein der Stadt und zählt in seinen Vorträgen meist 1500 bis 2000 Zuhörer.“.76 Dieses Prestige hatte allerdings seinen Preis. Seitdem Luise Seefried in München die Zügel in die Hand genommen hatte, musste sich die Führung des Bundes regelmäßig mit den ungedeckten Defiziten der Ortsgruppe beschäftigen. Im Rechnungsjahr 1926/27 standen Ausgaben von RM 2.863,14 lediglich Einnahmen von RM 1.134,25 gegenüber. Bei acht Vorträgen im ersten Halbjahr 1927 hatte der Münchener Euckenbund rund 1.600 Mark für Honorare, Werbung, Saalmiete usw. verausgabt, aber nur etwas mehr als 900 Mark durch die Eintrittsgelder eingenommen. An Mitgliedsbeiträgen standen lediglich 218 Mark zu Buch. „Damit erklärt sich mir das Wunder von München auf eine natürliche, aber nicht sehr erfreuliche Art. Gewiß wäre der Euckenbund auf ganz anderem Fuße zu erhalten, wenn wir unseren Gruppen solche Zuschüsse leisten könnten“, kommentierte Curt Hacker mit offensichtlicher Genugtuung dieses Ergebnis. Irene Eucken hatte dem Noch-Vorsitzenden wohl einmal zu oft das leuchtende Beispiel der Ortsgruppe München vorgehalten. Es war denn auch die 2. Vorsitzende des Bundes, die sich immer wieder für ihre Münchener Freundin in die Bresche warf. „Wenn sie nichts riskiert, kann sie den Bund auch nicht in einen großen Styl bringen“, schrieb Irene Eucken im Dezember 1926 ihrem Sohn Walter. Sie fände es auch klug, „Frau Seefrieds Rechnung zu begleichen, denn diese Ortsgruppe München ist für uns die wichtigste Gruppe.“ Auch im folgenden Jahr brachte Irene Eucken den Vorstand des Bundes dazu, wenigstens einen Teil des Münchener Defizits zu decken, trotz eines empörten Protestschreibens aus Kempten.77 Als aber der Münchener Euckenbund Ende 1928 wieder einen Fehlbetrag von mehr als 1.200 Mark meldete, konnte die Philosophen-Witwe ihre Vorstandskollegen nicht mehr zu weiteren Geldzahlungen bewegen. Der Gesamt76 ThULB NLRE VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 4: Luise Seefried an Irene Eucken, 28.7.1927; ebd. VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Dresden: Benno von Hagen an Dr. Petzold, 29.3.1932: Vgl. ThULB NLRE VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe, Mappe 4 und 2: Luise Seefried an Irene Eucken, 3.8.1927, 16.3., 23.3. und 8.4.1928; ThULB NLWE, Materialien zum Euckenbund: Liste von Vorträgen im Audimax der Universität, [1933]; ThULB NLRE VI, 3, o. Bl.: Curt Hacker an Irene Eucken, 13.7.1925. 77 ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Curt Hacker an Irene Eucken, 24.11.1927; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 1.12. und 4.12.1926. Vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, 1.12.1926; ThULB NLRE VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 3: Abrechnungen, 15.11. und 21.11.1927; ebd.: Gustav Ziegler an Sekretariat Jena, 27.11.1927.

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vorstand teilte den Münchenern mit, die Ortsgruppe müsse aus prinzipiellen Gründen ihre Ausgaben selbst tragen. Mit diesem Bescheid mochte sich Luise Seefried nicht abfinden. Wolle der Euckenbund in München seine Stellung erhalten, müsse man weiterhin gute Honorare zahlen und für die Vorträge Propaganda machen, dabei aber die Eintrittspreise niedrig halten. Sie habe aus eigener Tasche bereits mehr als 2000 Mark zugeschossen. Der Vorstand blieb aber schließlich bei seinem Beschluss.78 Die Art und Weise, wie Luise Seefried den Münchener Euckenbund zu einem angesehenen Forum intellektuellen Austauschs machte, traf sich wohl weitgehend mit den Vorstellungen Irene Euckens, wie die Reorganisation des Bundes ins Werk gesetzt werden sollte. Das Münchener Beispiel diente ihr auch als Blaupause für einen weiteren Anlauf zur Gründung einer Hauptstadtgruppe. Man müsste, schrieb sie 1926, an Curt Hacker, eine Dame für unsere Ideen zu gewinnen, welche in den entscheidenden Kreisen Berlins gut bekannt ist und welche Freude daran hat, zu organisieren und bedeutende Leute um sich zu versammeln. Diese Dame müsste eine Tätigkeit entwickeln, ähnlich, wie die vorbildliche Tätigkeit von Frau Seefried. Es ist überall das gleiche, wo eine energische Dame mit an der Spitze steht, gehen die Sachen viel leichter, als wenn ausschliesslich Herren die Organisation leiten. Es liegt der Grund wohl darin, dass im Allgemeinen die Frauen nicht so überlastet mit Berufsarbeiten sind, und dass sie sich leichter den leitenden Herren unterordnen.

Drei Jahre später hatte das Münchner Beispiel in den Augen Irene Euckens zwar etwas an Glanz verloren, nicht aber die Idee, die sich damit verbunden hatte. „Unser Ideal ist eben, dass auch in Berlin sich irgend eine Dame findet, welche eine ähnliche Einrichtung trifft, wie wir sie hier in Jena in unserem Rudolf-Eucken-Haus haben.“ Dies müsste ein Platz sein, „wo sich alle die gleichstrebenden Geistesarbeiter in Berlin zu einer Aussprache sammeln und finden könnten“.79 Die Suche nach einer geeigneten Berliner Dame blieb augenscheinlich erfolglos. Auch andere Versuche, den Euckenbund als intellektuellen Sammelpunkt der hauptstädtischen Gesellschaft zu etablieren, verliefen im Sande. 1928 versuchte die Jenaer Zentrale ihre gesellschaftlich höherstehenden Einzelmit78 Vgl. ThULB NLRE V, 5, Bl. 1367–1371: Luise Seefried an Irene Eucken, 6.6., 31.7. und 21.10.1929; ebd. VI, 30, o. Bl.: Ortsgruppe München, Mappe 1: Sekretariat Jena an Luise Seefried, 4.11.1929; ebd. Luise Seefried an Benno von Hagen, 22.10.1929; ebd. Mappe 2: Sekretariat Jena an Luise Seefried, 18.10.1928; ebd.: Luise Seefried an Irene Eucken, 5.11.1928; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 26.12.1928. 79 ThULB NLRE VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Irene Eucken an Curt Hacker, 20.3.1926; ebd. V, 6, Bl. 66: Irene Eucken an Regierungspräsident Dyckerhoff, 5.12.1929.

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glieder in Berlin, unter ihnen auch Walter Euckens Schwager, den Landgerichtsrat Gerhard Erdsiek, zu mobilisieren. Es sollten nun zunächst möglichst viele Gruppen in allen Teilen der Stadt gegründet werden. Diese könnten dann gemeinsam „im Herzen Berlins“ eine ähnliche Veranstaltungstätigkeit entwickeln wie der Münchener Euckenbund. Außer einer unverbindlichen Vorbesprechung kam bei dem Vorstoß nichts heraus.80 In den frühen 1930er Jahren wollte man die Sache wieder vom Kopf her anpacken: Zunächst sollte eine möglichst einflussreiche Persönlichkeit als Vorsitzender gefunden werden, der dann mit die Gründung einer zentralen Hauptstadtgruppe in die Hand nehmen könnte. Ende 1930 erbot sich Ernst Marbach, der nun einer Kirchengemeinde in Moabit vorstand, in Berlin-Mitte einen Euckenbund zu gründen. Aber der ehemalige Naumburger Ortsgruppen-Vorsitzende war Irene Eucken nicht genehm. So war die Führung des Bundes noch im Frühjahr 1933 auf der Suche nach einem Berliner Vorsitzenden.81

Kapitalismus und Kulturkrise Die Reorganisation der Euckenbewegung seit Mitte der 1920er Jahre hatte eine gewisse Pluralisierung weltanschaulicher Positionen und Themenfelder im Gefolge, die im Umkreis des Euckenbundes bezogen und debattiert wurden. Die Öffnung der Tatwelt für Autoren, die außerhalb der Bewegung standen, die Metamorphose einiger Ortsgruppen zu Kulturvereinen und der Veranstaltungsbetrieb des Rudolf-Eucken-Hauses – all dies verwischte tendenziell das ideologische Profil des Euckenbundes. Zudem war mit dem Tod des Meisters der ständige Strom „verbindlicher“ Interpretationen aktueller Entwicklungen und Erscheinungen versiegt. Rudolf Euckens Hang, darüber zu dozieren, wie die Geister zu scheiden seien, hatte sicherlich ebenso zur Geschlossenheit des weltanschaulichen Gesamtgebäudes des Bundes beigetragen. Die Richtung der Be80 Vgl. ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Irene Eucken, 16.7.1928; ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Irene Eucken an Geheimrat Momber, 18.7.1928; ebd.: Benno von Hagen an Seminardirektor Wulff, 18.7.1928; ebd: Hagen an Geheimrat Fischer, 18.7.1928; ebd. V, 5, Bl. 1439, 1442a: Robert Straube an Irene Eucken, 24.9. und 14.10.1928; ebd. V, 14, Bl. 265: Ida an Irene Eucken, 28.4.1929; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Walter Eucken, 20.10.1928; ebd.: Irene Eucken an Edith EuckenErdsiek, 7.7.1928. 81 Vgl. ThULB NLRE V, 3, Bl. 994: Ernst Marbach, an Irene Eucken, 13.12.1930: ebd. VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Irene Eucken, 23.12.1932 und 13.1.1933; ebd. V, 4, Bl. 1077f: Otto Most an Irene Eucken, 17.3. und 28.3.1933; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 21.10.1930; ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 24.10.1932.

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wegung und das Spektrum der von ihr vertretenen Positionen wurden nun zunehmend in der Redaktion der Tatwelt bestimmt. Nach ihrem Umzug von Berlin nach Tübingen 1925 und von dort nach Freiburg 1927 hielten Walter Eucken und seine Frau Edith auch räumlich Distanz zur institutionalisierten Euckenbewegung. Im südwestdeutschen Raum hatte der Bund organisatorisch kaum Fuß gefasst hatte und das Ehepaar Eucken-Erdsiek machte offenbar keine Anstalten, in Tübingen oder in Freiburg eine Ortsgruppe aus der Taufe zu heben. Dem verstärkten Einfluss Walter Euckens ist es sicherlich auch zuzuschreiben, dass im Umkreis des Euckenbundes Fragen der Wirtschaftsordnung ausgiebiger zur Sprache kamen als zuvor. In seinen philosophischen und weltanschaulichen Schriften hatte sich Rudolf Eucken vergleichsweise wenig mit den wirtschaftlichen Umwälzungen der Moderne, der Industriellen Revolution und dem Durchbruch des kapitalistischen Wirtschaftssystems, beschäftigt. Die weltbewegenden Kräfte identifizierte der Neoidealist Eucken vornehmlich als Geistesströmungen, in diesem Falle als Naturalismus, Utilitarismus oder Materialismus. Die Wortschöpfung „Ökonomismus“ bezog er meist auf die sozialistische Bewegung und die von ihr vertretene Lebensordnung, die den Sinn des Daseins irrigerweise aus der Neugestaltung des Wirtschaftssystems ableite. In den frühen 1920er Jahren nahm der Philosoph allerdings bei einer Gelegenheit ausführlicher zur Wirtschaftsordnung der Moderne Stellung. In seiner Rede vor der Jahresversammlung des Euckenbundes im Oktober 1922 macht er nämlich die „geistige Krise der Gegenwart“ in wesentlichen Teilen an einer „Krise der Arbeit“ fest. „In früheren Zeiten“, so fabuliert Rudolf Eucken hier, habe sich die Arbeit eng mit der Persönlichkeit des Menschen verbunden, „das Wirken trug in sich selbst die Gesinnung und die Freude der Seele, die Richtung auf den Gegenstand kräftigte das Streben, aus einer gelegentlichen Beschäftigung wuchs die Arbeit zu einem Beruf, der das Leben ausfüllte und es veredelte.“ In der Moderne habe die Arbeit aber einen „despotischen Charakter angenommen, der sich mit drückender Wucht auf die Seele legt“. Die Bildung der Persönlichkeit sei nun bestenfalls zu einer Nebensache geworden. Eine „Arbeitskultur“ habe sich herausgebildet, die alle Aufgaben wirtschaftlichen Zwecken unterordne und alle Ziele dadurch entstelle.82 So weit, so erwartbar. Doch nun folgt eine Kapitalismuskritik, wie sie Eucken in Anklängen schon in seinen Kriegsschriften formuliert und auf die oligarchische Herrschaftspraxis „westlicher“ Demokratien bezogen hat. Er sieht nun auch im eigenen Land eine „gewaltige Steigerung der Macht des Kapitals“, „eine Herrschaft des Geldes, eine Plutokratie, die unwürdigste aller Regierungen“, die durch „tausendfache Kanäle“ in das gemeinsame Leben eindringe 82 R. Eucken, Krise, S. 59f.

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und allen Inhalt des Lebens ihren „selbstischen Zwecken“ opfere. Es müsse aber, so fordert der Philosoph, das ethische Interesse vor dem wirtschaftlichen stehen. Und, so fährt er fort: Wir können es nicht als ein Grundrecht des Fabrikunternehmers anerkennen, beliebig eine unbegrenzte Zahl von Arbeitern in seinen Dienst zu ziehen und sie seinen Sonderzwecken gefügig zu machen. Jenes unselige Zusammenballen entwurzelt den Menschen, es nimmt ihm Heimat, Heimatgefühl, einen inneren Zusammenhang mit seinem Volke und Vaterlande, es macht ihn geistig arm und es verdrängt alles Individuelle, alles Persönliche. Unmöglich kann der Mensch sich dabei glücklich fühlen, unmöglich sein geistiges Vermögen entfalten.

Der Staat sei berufen, das Wirtschaftsleben ethisch zu überwachen. Zu lange habe man nämlich die wirtschaftlichen Bewegungen als einen bloßen Naturprozess behandelt und alle Hemmungen zugunsten einer vermeintlichen Freiheit aufgegeben.83 Was nun Walter Eucken betrifft, so bediente sich sein Vater der Fachkompetenz des angehenden Nationalökonomen wohl nicht allein zur Rettung des Familienvermögens vor der Inflation. Vielmehr legte der jüngere Eucken-Sohn bei der Überarbeitung von Schriften des Vaters selbst Hand an. Walter Eucken habe 1925, so schreibt seine Mutter später, die zweite Auflage von Der Sozialismus und seine Lebensgestaltung „mit allerlei Randbemerkungen und Einfügungen wissenschaftlicher Art“ versehen und so „den Wissenschaftlern das Buch näher gebracht“. Die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus stand denn auch im Blickpunkt der meisten Aufsätze, die Walter Eucken unter dem Pseudonym Kurt Heinrich zu den frühen Jahrgängen der Tatwelt beisteuerte. In der Beurteilung des Sozialismus schließt sich der Sohn hier im Wesentlichen der Lesart des Vaters an: Das ist die Frage, bei der alle Marxisten versagen. Hat denn das Leben des Einzelnen einen Inhalt? Er lebt dann für die Gesellschaft, antwortet der Marxist. Aber welcher Sinn hat die Gesellschaft? Sie ist doch nur der Apparat, der dazu bestimmt ist, für das größte Glück der größten Zahl zu sorgen.

Der Sozialismus könne dem Menschen keinen sinnhaften Lebensinhalt bieten. Dies sei von der Wirtschaft aus überhaupt unmöglich.84 Eigene Akzente setzte Walter Eucken dagegen in einem Anfang 1926 erschienenen Tatwelt-Beitrag, in dem er dem Kapitalismus eine Verschärfung der 83 Ebd., S. 60f. 84 ThULB NLWE: Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 13.4.1928; Heinrich, Kritik, S. 42. Vgl. auch ders., Sozialismus; ders., Religion.

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„geistigen Krise der Zeit“ zuschreibt. Während sich nämlich eine religiös geprägte Lebensordnung relativ einfach in den Rahmen der vormodernen Wirtschaft habe einfügen lassen, habe der Kapitalismus eine Wirtschaftsgesinnung hervorgebracht, bei der der Einzelne allein nach seinem rationalen Selbstinteresse handle. Dies habe in erheblichem Maße zur Marginalisierung des Religiösen beigetragen, denn „wahrhafte Religion“ sei nun mal mit der „Herrschaft des wirtschaftlichen Selbstinteresses auf die Dauer nicht vereinbar“. Allerdings will Walter Eucken von staatlichen Interventionen in die Freiheit der „wirtschaftlichen Bewegungen“, wie sie sein Vater vier Jahre zuvor gefordert hat, nichts wissen. Versuche des Staates, in den kapitalistischen Mechanismus einzugreifen, hätten bisher stets mehr geschadet als genützt. Die Forderung zur Beseitigung des Kapitalismus gar, müsse man mit Entschiedenheit zurückweisen. Der Kapitalismus sei unentbehrlich geworden, „wenn die ungeheuer angeschwollene Menschenmasse der Welt ernährt werden soll.“ Man stehe demnach vor einem kaum lösbaren Dilemma: Wie könne man die Menschen wieder „Glieder einer umfassenden geistigen Lebensordnung“ werden zu lassen, dabei aber die Wirtschaft so gestalten, dass sie ihrem äußeren Zweck voll entspricht. Als „Schüler Rudolf Euckens“ wisse man, erklärte der Sohn des Philosophen, daß eine geistige Reformation der gesamten Menschheit notwendig ist, kommen muß und wird. Aber wir wissen auch, daß dieser Reformation, der Schaffung einer neuen Lebensordnung, unter anderem auch der Kapitalismus mit seiner rationalen Wirtschaftsführung entgegensteht – und trotzdem können wir den Kapitalismus aus äußeren Gründen nicht beseitigen. Ein solch gewaltiges Problem kann nur in Jahrhunderten gelöst werden.85

Die Bemühungen Irene Euckens um die Anwerbung finanzkräftiger Förderer aus der Industrie scheint in den folgenden Jahren dazu beigetragen zu haben, das von ihrem Sohn formulierte Dilemma zumindest diskursiv einer Lösung näher zu bringen. Am 26. Oktober 1929 – am Vortag hatte der Schwarze Freitag an der New Yorker Börse die große Weltwirtschaftskrise eingeläutet – erklärte Otto Most den Teilnehmern der Jahresversammlung des Euckenbundes, die kapitalistische Wirtschaftsgesinnung stehe einer geistig-moralischen Wende im Sinne Rudolf Euckens keineswegs im Wege stehe. Nach materiellen Erträgen zu zielen, habe nämlich nichts mit moralischer Minderwertigkeit zu tun. Eine „vernünftige Selbstliebe“ sei vielmehr eine Tugend, wenn sie gepaart sei, „mit Wagemut, Unternehmungslust und Selbstverantwortungsgefühl“. Most präsentiert nun die Lehren Rudolf Euckens in einer wirtschaftsbürgerlichen Lesart. Seine Protagonisten sind „Unternehmerpersönlichkeiten“, die sich durch „Tatwillen“, „Schaffensfreude“ und „technisches Können“ auszeichneten, die im Kampf 85 Heinrich, Krise, S. 14ff. Vgl. Schäfer, Kapitalismus, S. 307f; Pies, Eucken, S. 9–19.

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stünden „gegen Verantwortungslosigkeit, Entseelung, Entpersönlichung“ und sich einsetzten „für Verantwortungsbewußtsein, Vergeistigung und Vermenschlichung der Wirtschaft.“86 Tags darauf beschäftigte sich Walter Eucken in der zweiten Hauptrede mit den Folgen des wirtschaftlichen Wandels des zurückliegenden Jahrhunderts für die Kulturentwicklung. Er wandelt hier zunächst ganz auf den Spuren seines Vaters, wenn er die Kritik der Moderne am Verlust der Einheit der Kultur festmacht. Größere Teile des Volkes hätten sich von der überkommenen christlichen Kultur gelöst. In der „Bildungskultur“ habe man nur noch „ein regelloses Nebeneinander sich befehdender Sekten.“ Als wesentliche Ursache dieser Entwicklung macht er einen sozialen Umschichtungsprozess aus, den das dynamische Wirtschaftswachstum der vergangenen hundert Jahre in Gang gesetzt habe und in dessen Verlauf sich die alten Bildungsschichten aufgelöst hätten. Zwar sei es das einzelne Genie, das „eine Kultur schafft oder erhält“. Doch müssten Bildungsschichten mit eigener Urteilsfähigkeit „die Leistungen des Genies zunächst als überragend erkennen, sie verstehen und sich innerlich aneignen, sie im weiteren Verlauf verarbeiten und ihr Leben danach gestalten.“ Solche über Generationen gewachsenen Schichten seien in der Gegenwart aber nicht mehr vorhanden und könnten sich wegen der Dynamik der modernen Wirtschaft auch nicht neu bilden. Voraussetzung „wahrhafter Kulturbildung“ sei demnach der Übergang zu einer statischeren Wirtschaftsweise. Dies würde aber wiederum die Leistungsfähigkeit des wirtschaftlichen Apparats mindern. So gesehen, hatte Walter Eucken das drei Jahre zuvor konstruierte Dilemma nur variiert, aber keiner Lösung zugeführt.87 Auf der folgenden Hauptversammlung des Bundes am 1. November 1931 nahm Walter Eucken das Thema von neuem auf. Auch dieser Vortrag kreist um den zerrissenen Gesamtzusammenhang von Glauben, Leben und Arbeit, den daraus resultierenden Sinnverlust des menschlichen Daseins und um die Frage, wie diese Krise zu überwinden sei. Eucken macht nun das Problem nicht mehr strukturell an der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung oder der Dynamik des ökonomischen Wachstums fest, sondern legt den Akzent mehr auf geistesgeschichtliche Entwicklungen: Sobald sich der Mensch nicht mehr so sehr in erster Linie als Sünder empfand, den nur göttliche Gnade erlösen kann, sobald er meinte, von Natur gut zu sein, verschob sich auch der Schwerpunkt des Lebens, und sein Inhalt formte sich um. Das Leben schien nicht

86 Most, Wirtschaft, S. 133f. 87 W. Eucken, Wirtschaftsentwicklung, S. 34–37.

Um die Wiederkehr der Religion 

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mehr der Religion zu bedürfen, es wurde in steigendem Maße autonom geregelt und wurde nach Werten bestimmt, die nicht aus dem Glauben genommen werden.88

Im Kern seiner Ausführungen steht nun die Beweisführung, dass ein sinnhafter Zusammenhang des Lebens weder durch eine grundlegende Umgestaltung der Wirtschaft noch durch das Aufgehen des Einzelnen im Staat wieder hergestellt werden könne. Zu der altbekannten Kritik des Sozialismus ist nun die Kritik des „Politismus“ gekommen, des leidenschaftlichen Glaubens an den totalen, alles durchdringenden Staat. Konkreter wird Walter Eucken nicht, doch kann man unschwer erraten, dass er hier die mittlerweile mächtig angeschwollene nationalsozialistische Bewegung ins Visier nimmt. Marxismus und Nationalsozialismus sind für Eucken Symptome der oft beschworen geistigen Krise. Ihre fortreißende Kraft beruhe zum großen Teil darauf, dass ihre Anhänger hofften, „ein Zentrum gefunden zu haben, von dem aus das Leben wieder einen Sinnzusammenhang erhalten kann.“ Dies sei aber letztlich eine vergebliche Hoffnung, denn Sinn könne „den Tätigkeiten des einzelnen Menschen nur von der Religion, vom Glauben an Gott wieder verliehen werden“. Dies werde die geschichtliche Entwicklung nach dem Scheitern aller anderen Versuche mit Notwendigkeit erweisen.89

Um die Wiederkehr der Religion Im letzten Teil seiner Jenaer Rede vom Allerheiligentag 1931 begibt sich Walter Eucken auf das Feld der theologischen Zeitdebatten. Dass man vom Ziel einer neuen religiös begründeten Lebensordnung noch sehr weit entfernt sei, so führt er aus, das würden gerade die neueren Strömungen der Theologie zeigen. Vor allem die „dialektische Theologie“ Karl Barths und Friedrich Gogartens sei gekennzeichnet „durch Verkennung dieses Grundproblems des modernen Menschen“. Wenn zwischen Gott und Welt, wie bei Barth und Gogarten, der schärfste Gegensatz bestehe, würden alle Bestrebungen, zu einer sinnhaften und ganzheitlichen Lebensordnung zu gelangen, entwertet.90 Hier deutet sich an, dass sich die theologischen, kirchen- und religionspolitischen Fronten und Konstellationen seit der Vorkriegszeit grundlegend verschoben hatten. Die Positio-

88 Ders., S. 82f. 89 Ebd., S. 84–87. Zur Einordnung der Euckenbund-Texte Walter Euckens in die Genese seines nationalökonomischen Werkes vgl. Schäfer, Kapitalismus; Dathe/Goldschmidt, Vater; Pies, Eucken, S. 20–24. 90 W. Eucken, Religion, S. 87f.

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nierung der Euckenbewegung auf diesem Feld war deutlich komplizierter geworden. Rudolf Eucken selbst bekräftigte nach 1918 seine Forderung nach einer überkonfessionellen Erneuerung des Christentums. Er habe den Eindruck, dass die meisten Geistlichen dieses gewaltige Problem nicht genügend beachteten, schrieb er im Frühjahr 1923 einem Anhänger aus Quedlinburg. Es gehe darum, „von einem historisch gebundenen Christentum zu einem universalen aufzusteigen“. Das Christentum müsse über die alte, durch die weltgeschichtliche Bewegung überholte Form hinauswachsen. Ein halbes Jahr später, auf der Jahrestagung des Bundes im Oktober 1923, beschäftigte sich Eucken noch einmal öffentlich mit der „Notwendigkeit einer Reformation des Christentums“. Zwar könne sich der Euckenbund nicht auf eine besondere Fassung der Religion festlegen. Doch wolle er auch nicht an einer so dringlichen Frage vorbeigehen, aus der „die Pflicht der Wahrhaftigkeit zu uns spricht“. So setzt er denn im Folgenden den Versammelten auseinander, die Gedankenwelt des Christentums bedürfe einer gründlichen Sichtung, solle sie „dem weltgeschichtlichen Stande des Lebens entsprechen“. Seine Grundwahrheiten und Grundbewegungen müssten vertieft und vereinfacht werden, damit es wieder „mit erhöhender Macht zum ganzen Menschen“ sprechen könne.91 Wenn Rudolf Eucken zögerte, seine Visionen zur Reformation des Christentums ex cathedra als Lehrmeinung des Euckenbundes zu verkünden, so hing dies sicherlich damit zusammen, dass religiöse Überzeugungen, theologische Positionen und konfessionelle Bindungen der Mitglieder sich nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen. Vielen Pastoren, Religionslehrern und anderen kirchlich gebundenen Euckenianern dürfte wohl mulmig geworden sein, wenn ihr Meister – wie in der eben zitierten Rede – die Trinitätslehre und die Göttlichkeit Jesu wieder einmal als obsolete Mythologie verwarf. Auch in anderer Hinsicht gingen die Meinungen über die Essentials des Christentums unter dem Meister und seinen Jüngern auseinander. Als eine Anhängerin Mitte 1919 auf einem Jenaer „Lutherabend“ verkündete, es komme darauf an, die „Empfänglichkeit für ein Überströmen der göttlichen Kraft auf den Menschen, für ein Einssein mit Gott“ zu erwecken, widersprach Eucken energisch. Das Christentum sei eine Erlösungsreligion, die ohne den Begriff des für die Menschheit leidenden Gott nicht gedacht werde könne. Entweder man setze einen an sich guten Menschen voraus, der nur zu einer vorübergehend verlorenen Quelle zurückzuführen ist – dann brauche man eigentlich keine Religion. Oder man stelle sich auf den christlichen Standpunkt und erkenne den tiefen Riss im 91 ThULB NLRE I, 30, Bl. 451: Rudolf Eucken an Wilke, 20.4.1923; R. Eucken, Notwendigkeit, S.1, 6f.

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Menschen, die Sehnsucht des Menschen nach Erlösung vom Übel. Auf große Resonanz schien diese Zurechtweisung nicht gestoßen zu sein, denn das Protokoll hielt fest, „dass trotz Herrn Geheimrat Euckens klarer und scharfer Begriffsbestimmung die folgende Debatte sich mehrfach nicht mit dem Christentum und der protestantischen Kirche beschäftigte, sondern mit einer freischwebenden, religiös gehobenen Stimmung.“92 Die Vision eines von konfessionellem Dogma und archaischen Überhängen gereinigten, auch für die Gebildeten glaubhaften, „liberalen“ Christentums scheint nach 1918 einiges von ihrer Ausstrahlungskraft verloren zu haben. Die Protagonisten eines solchen „Kulturprotestantismus“, wenn man denn Rudolf Euckens unter diesem Etikett subsumieren will, mussten sich nun nicht allein mit der landeskirchlichen Orthodoxie auseinandersetzen, sondern sahen ihre Positionen von ganz verschiedenen Seiten in Frage gestellt. So debattierte die Jahresversammlung im Herbst 1924 ausgiebig über die Haltung des Bundes zu Forderungen nach einem „germanischen“ Christentum, die sich mit der völkischen Welle der Vorjahre in protestantischen Diskurskreisen verbreitet hatten. Man verunreinige das Christus-Ideal durch „unsere sogenannten ‚deutschen Belange‘“, hatte der altgediente Euckenianer Theodor Kappstein in seinem Vortrag scharf kritisiert. Er verwies dabei etwa auf nationalistische Predigten und Kirchenlieder oder Machwerke wie ein „Kriegsvaterunser“, um dann klar zu stellen: „Das Evangelium ist seiner Natur nach übervölkisch, es vereinigt die Klassen, die Rassen, die Massen in der Gottesliebe und Bruderliebe“. Bei seinen Bundesbrüdern stieß Kappstein mit dieser Auffassung auf heftigen Widerspruch. Man habe doch das Recht, „das Christentum deutsch aufzufassen und in deutschem Sinne weiter zu entwickeln …, ohne damit etwa dem Wotanskult das Wort zu reden“, hielt ihm ein Teilnehmer entgegen. Rudolf Eucken selbst äußerte sich nicht. Doch dürfte Fritz Vater, der Lehrer aus Biedenkopf, der Position seines Meisters in dieser Frage ziemlich nahe gekommen sein, wenn er verkündete, „daß es zwar keinen deutschen Gott gibt, aber eine deutsche Frömmigkeit“. Es müssten „die Charakterwerte der einzelnen Völker“ entwickelt werden, denn es habe „jedes einzelne Volk seine Aufgabe im ganzen Völkerleben“. Ähnlich argumentierte Emil Herms, als er im Januar 1925 vor seiner Stendaler Ortsgruppe über „Germanische Weltanschauung und Christentum“ referierte. Einer „Germanisierung“ des Christentums wollte der Ober-Telegrapheninspektor nicht das Wort reden. Jedes Volk habe aber seine besondere Mission in der Welt. Damit es diese erfüllen könne, müsse es seine besonderen Anlagen pflegen und ausbilden. „Dienst am Vaterland“ sei somit zugleich 92 ThULB NLRE VI, 12, Mappe 10.1, o. Bl.: Protokoll „Luther-Besprechungsabend“ 29.7.1919. Vgl. R. Eucken, Notwendigkeit, S. 5f.

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„Dienst an der Menschheit“ und „letzten Endes Gottesdienst“. Eine solche Weite hätte aber eine germanische Volksreligion nie erreichen können.93 Der revolutionäre Umbruch von 1918/19 hatte zudem die Kräfte politisch gestärkt, die die organisierte Religion aus den Bildungsanstalten, wie überhaupt aus dem öffentlichen Leben zurückdrängen wollten. Euckens harsche Reaktion auf den Auftritt seines Schülers Eberhard Grisebach bei einer sozialistischen Jugendweihe deutet das Bedrohungspotenzial an, das in den Augen des Philosophen von dieser Entwicklung auszugehen schien. Die sozialdemokratisch geführten thüringischen Landesregierungen bestätigten in den folgenden Jahren diese Befürchtungen, indem sie die Abschaffung des Reformationsfestes und des Buß- und Bettages als gesetzliche Feiertage dekretierten und im Oktober 1921 die Zahlungen des Staates an die Landeskirche einstellten. Mit der Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichts verwirklichte der Volksbildungsminister Max Greil zwar ein altes Anliegen Rudolf Euckens und seiner Anhänger. Doch im Kontext der sozialistischen Kirchenpolitik erschien diese Maßnahme vor allen als Schritt zur Verdrängung der christlichen Religion aus den öffentlichen Schulen.94 Mit kaum weniger Misstrauen beobachteten die Euckenianer die Bestrebungen der Zentrumspartei, deren parlamentarische Schlüsselposition im Reichstag und in den Landtagen Preußens, Bayerns und anderer Bundesstaaten der katholischen Kirche einen unmittelbaren Zugriff auf die kultuspolitischen Weichenstellungen zu verschaffen schien. Als ab Mitte der 1920er Jahre ein Reichsschulgesetz und der Abschluss von Konkordaten zwischen der Kurie und dem Reich bzw. Preußen auf der politischen Agenda standen, waren aus den Ortsgruppen des Bundes alarmierte Stimmen zu vernehmen. Es bereite sich eine neue Gegenreformation vor, warnte ein Pastor Jansen im Oktober 1925 in einem Vortrag vor dem Kieler Euckenbund. Es würden nicht nur die Volks- und höheren Schulen unter kirchliche Bevormundung gestellt. Auch an den theologischen und philosophischen Fakultäten der Universitäten müssten künftig von der katholischen Kirche approbierte Dozenten angestellt werden. Dies sei eine Verhöhnung der Wissenschaft. Ebenso verhängnisvoll sei die Bestimmung des Schulgesetzentwurfs, dass die gesamte Unterrichts- und Erziehungsarbeit vom Geist des jeweiligen Bekenntnisses getragen sein müsse.95

93 Zitiert nach: Der Euckenbund 5, 1924, S. 45f; ThULB NLRE VI, 32, o. Bl.: Ortsgruppe Stendal, Mappe 4: Ausschnitt Altmärkische Tageszeitung, 17.1.1925. 94 Vgl. Gottwald, Kirchenpolitik, S. 138–143, 150. 95 ThULB NLRE VI, 29, o. Bl.: Ortsgruppe Kiel, Mappe 4: Bericht zum Vortrag von Pastor D. Jansen vom 27.10.1925.

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Es war denn auch die Ortsgruppe Kiel, die das Thema Reichskonkordat auf die Tagungsordnung der Haupttagung des Bundes im April 1927 setzte. Deren Vorsitzender Rudolf Voß erläuterte der Versammlung die Gefahren, die ein solches Abkommens zwischen Staat und Kirche bringe. Er stellte schließlich den Antrag, der Euckenbund möge öffentlich erklären, man erblicke im Abschluss eines Reichskonkordats eine schwere Gefährdung der Staatsrechte. Der Vorsitzende Hacker hatte schon im Vorfeld der Tagung nach Jena geschrieben, man müsse diese Angelegenheit überkonfessionell behandeln und nach Möglichkeit „die Klippe des Politischen im engeren Sinne“ vermeiden. Auch aus Schlesien und dem Allgäu kamen warnende Stimmen. Lazar von Lippa (Breslau) mahnte: „Unsere katholischen Mitglieder dürfen nicht verletzt werden, noch darf ein antikatholischer Schein entstehen.“ In der kontrovers geführten Debatte auf der Hauptversammlung plädierte Irene Eucken dafür, eine Stellungnahme zur Konkordatsfrage zu unterlassen, in der Tatwelt aber das Problem der religiösen Erziehung und des Religionsunterrichts ausführlich zu behandeln. Eine entsprechende Resolution wurde schließlich einstimmig angenommen. In den folgenden Wochen tauschte sich Irene Eucken mit ihrer Schwiegertochter zwar über mögliche Autoren der geplanten Artikelserie zum Religionsunterricht aus. Doch dabei blieb es dann auch. Bis in die frühen 1930er Jahre erschien in der Tatwelt kein einziger Beitrag, der sich mit diesem Thema befasst hätte. Anscheinend verlor die Frage einer weiteren Konfessionalisierung des schulischen Unterrichts bald wieder an Brisanz, da weder die Beratungen um das Reichsschulgesetz noch die Verhandlungen über ein Reichskonkordat mit der katholischen Kirche fürs erste konkrete Fortschritte machten.96 Der Euckenbund-Chefin brannten derweil dringendere theologische Probleme unter den Nägeln. Einige Wochen nach der Hauptversammlung, berichtete sie dem designierten Vorsitzenden der neuen Naumburger Ortsgruppe, Ernst Marbach, in einem langen Brief merklich aufgebracht über die Antrittsvorlesung Friedrich Gogartens in Jena. Gogarten, neben Karl Barth prominentester Vertreter der „Dialektischen Theologie“, war 1925 Pfarrer im nahegelegenen Dorndorf geworden und hatte sich bald darauf an der thüringischen Landesuniversität als Privatdozent für Religionsgeschichte habilitiert. Irene Eucken bezichtigte Gogarten nun, er habe in seiner Antrittsvorlesung die „Willensfreiheit und die Denkfreiheit wenigstens für die Theologie“ geleugnet; „er führt uns in 96 Ebd. VI, 26, o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Curt Hacker an Irene Eucken, 14.3.1927; ebd., o. Bl.: Ortsgruppe Breslau: Lazar von Lippa an Irene Eucken, 1.4.1927. Vgl. ebd., o. Bl.: Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde: Hacker an Irene Eucken, 27.4.1927; Mitteilungen Euckenbund Mai-Juni 1927, o. S.; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 10.6.1927.

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das richtige Mittelalter zurück, ganz nahe an den Katholizismus“. Könnte man, so schlug sie Marbach vor, die geplante Naumburger Ortsgruppe nicht gleich mit dem Bewusstsein gründen, dass hier besonders religionsphilosophische und theologische Fragen zu behandeln sein würden? Der Philosophen-Witwe schwebte dabei eine Art Bildungszentrum des Euckenbundes vor, das sich besonders an Geistliche richten sollte.97 Aus den Naumburger Plänen Irene Euckens wurde augenscheinlich nichts, doch die Auseinandersetzung mit der „Richtung Barth-Gogarten“ nahm in der Publizistik des Euckenbundes in den folgenden Jahren breiten Raum ein. Dies kam nicht von ungefähr, stellte doch die Dialektische Theologie einen Frontalangriff auf die idealistische Religionsphilosophie dar. Hier wurde Gott radikal als „das ganz Andere“ gedacht, als ein Absolutes, das vom Menschen weder erfasst noch begriffen werden könne. Weil damit jede vernunftmäßige Vermittlung ausgeschlossen war, blieb dem Menschen in seinem Verhältnis zu Gott nur demutsvolle Unterwerfung. Zwar hatte auch Rudolf Eucken in seiner Distanzierung vom zeitgenössischen „Kulturprotestantismus“ immer mal wieder das Transzendente, das „Nicht-Verfügbare“ des Göttlichen betont und auf das Irrationale, das „Herbe“ des Christentums hingewiesen. Doch die Kernanliegen von Euckens Religionsphilosophie: das Christentum auf eine geistige Ebene zu heben, die „dem weltgeschichtlichen Stande des Lebens“ entspreche, um zu einer neuen religiös fundierten Lebensordnung zu gelangen, sich gar dem Göttlichen via noologischer Analyse des menschlichen Geisteslebens zu nähern – all dies dürfte den Dialektischen Theologen als zutiefst ablehnungswürdiger Ausfluss menschlicher Anmaßung vorgekommen sein.98 Der Aufstieg der Dialektischen Theologie in den 1920er Jahren schlug sich augenscheinlich auf die Attraktivität der religionsphilosophischen Lehre Euckens bei einer neuen Generation von Theologen nieder. Für den Euckenbund unter evangelischen Geistlichen zu werben, sei jetzt außerordentlich schwierig, berichtete Richard Kade, mittlerweile Pfarrer in Jena, Anfang 1928 der Witwe des Philosophen. Alles, was mit dem deutschen Idealismus zusammenhänge, gelte namentlich unter den jüngeren Theologen als überlebt. Barth, Gogarten und ihre Gesinnungsgenossen „beherrschen heute weithin einfach die Situation, und es kann sich nur Gehör verschaffen, wer ihnen folgt oder sich wenigstens mit den von ihnen neu gestellten Problemen auseinandersetzt“. Gerade die Universität Jena hatte sich in den Jahren zuvor zu einem Stützpunkt der Dialek97 ThULB NLRE VI, 31: Ortsgruppe Naumburg, Mappe 3, o. Bl.: Irene Eucken an Ernst Marbach 16.5.1927. 98 Vgl. zur Dialektischen Theologie allgemein: Pannenberg, Problemgeschichte, S. 178–239; Goering, Netzwerk.

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tischen Theologie entwickelt und zwar nicht allein wegen der Lehrtätigkeit Friedrich Gogartens. Auch Eberhard Grisebach, der nun in der Philosophischen Fakultät eine außerordentliche Professur innehatte, vertrat mittlerweile Positionen, die sich explizit auf die Gedankengänge der Dialektischen Theologie beriefen. In seinen pädagogischen Schriften hob der ehemalige Eucken-Schüler die Ohnmacht, Zerrissenheit und Sündhaftigkeit des Menschen hervor und warnte vor einer optimistischen Überschätzung der Möglichkeiten der Erziehung.99 Nach ihrem Schockerlebnis beim Besuch der Antrittsvorlesung Gogartens drängte Irene Eucken auf eine eingehende kritische Auseinandersetzung mit der Dialektischen Theologie in der Tatwelt. Bei deren Herausgeberin und den potenziellen Autoren im Umkreis der Zeitschrift stieß sie allerdings zunächst auf wenig Resonanz. Bruno Jordan, der sich bereits 1926 in der Tatwelt mit den Positionen der Barth-Gogarten-Schule befasst hatte, schien ihr eine allzu verständnisvolle Haltung gegenüber der Dialektischen Theologie einzunehmen, ja in wichtigen Punkten Übereinstimmungen mit der Euckenschen Lehre erkennen zu wollen.100 Schließlich wurde die Zurückweisung der neuen theologischen Richtung dem Hamburger Pfarrer Kurt Schöppe übertragen, dessen Artikel in der letzten Tatwelt-Ausgabe des Jahres 1928 erschien. Schöppe versucht hier den Beweis zu führen, dass das, was an Barths Lehre richtig sei, sich bereits „bei unserem Meister“ finde: dass nämlich echte Religion aus dem Gegensatz, dem „Bruch mit der nächsten Welt“ hervorgehe. Rudolf Eucken habe doch auch längst vor Barth und Gogarten die „Kulturkrisis“ geschildert und auf eine Scheidung von allem „Kultur- und Fortschrittsenthusiasmus“ gedrungen. Mit Hilfe von Euckens Religionsphilosophie könne man den Wahrheitsgehalt der Barthschen Theologie durchaus in das System eines tiefen Idealismus einbauen. Kurz gesagt, der Text macht stellenweise den Eindruck als wollte der Hamburger Pastor eher die Kompatibilität zwischen Barth-Gogarten und Eucken als deren Unvereinbarkeit nachwiesen. Immerhin scheint der Artikel einen Einstellungswandel bei der Tatwelt-Redaktion bewirkt zu haben. Im Oktober 1928 schrieb Ida Eucken ihrer Mutter aus Freiburg: „Edith ist völlig angetan von dem Artikel Schoeppe, endlich sieht sie ein, dass die Tatwelt intensiv gegen die Barth-Gogarten Richtung einstehen muss.“101

99 ThULB NLWE, Korrespondenz zum Euckenbund: Richard Kade an Irene Eucken, 27.1.1928. Vgl. Messer, Pädagogik, S. 46; Moog, Geschichte, S. 537; Schlotter, Totalität, S. 170f; Kodalle, Fremdheit, S. 16; Flitner, Erinnerungen, S. 283. 100 Vgl. Die Tatwelt 2, 1926, S. 55f; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 18.4. und 19.7.1928 101 Schöppe, Strömungen, S. 120, 122; ThULB NLRE V, 14, Bl. 253: Ida an Irene Eucken, 8.10.1928.

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In den frühen 1930er Jahren intensivierte sich die Auseinandersetzung mit der Dialektischen Theologie in der Zeitschrift des Euckenbundes noch einmal. Den Anfang machte 1931 der Abdruck eines Vortrags, den der Pfarrer Wilhelm Ernst vor der Hallenser Ortsgruppe gehalten hatte und in dem er die Notwendigkeit der „Weltanschauung im geistigen Haushalt des Menschen“ gegen Barth, Gogarten und Grisebach verteidigte. Der exilrussische Philosoph Nicolaj Berdjajew, der 1932 in der Tatwelt in einem Rundumschlag Die geistige Situation der modernen Welt beleuchtete, will den „Barthianismus“ als Reaktion gegen Moderne und Liberalismus verstanden wissen. In ihrer Autoritätsgläubigkeit und dem Zurückweisen der Geistesfreiheit stehe die Dialektische Theorie in einer Reihe mit dem katholischen Neuthomismus, dem Faschismus und dem Kommunismus. Hans Leisegang steuerte im gleichen Heft einen ausgiebigen Verriss von Friedrich Gogartens neu erschienener Politischer Ethik bei. Der Nach-Nachfolger Rudolf Euckens kommt dabei zu dem Ergebnis, Gogartens Staatsauffassung passe nur auf einen Polizeistaat, erschöpfe sich doch seine politische Ethik darin, die Unterwerfung unter jede Obrigkeit zu verlangen.102 Am elaboriertesten setzte sich Anfang 1932 die Herausgeberin der Tatwelt selbst mit der Barth-Gogarten-Schule auseinander. Edith Eucken-Erdsiek versucht hier nicht wie Schöppe und Jordan, die Lehre des Meisters an den aktuellen theologischen Leitdiskurs anzukoppeln. Ihre Argumentation zielt vielmehr darauf, die Dialektische Theologie zu einer Erscheinung der von ihrem verstorbenen Schwiegervater diagnostizierten Krise der Moderne zu erklären. Diese Theologie wittere überall dort, wo der Mensch eine Sinngebung suche, die „Sünde des Titanismus“. Damit richte sich die ganze Wucht ihres Angriffs „gegen die verschwindende Minderheit der geistig Ringenden“. Dabei mache aber gerade die rigide Absage an jeden Versuch des Menschen, sein Verhältnis zu Gott und der Welt sinnhaft zu ordnen, die Dialektische Theologie zum echten Kind ihrer Zeit. Dieser Zeit fehle nämlich das Organ dafür, das Absolute „als Einheit eines in allem waltenden Sinnes“ zu erkennen. Anstatt die mechanisierte Welt zu „durchseelen“, bemühe sich die Dialektische Theologie darum, ihr den letzten Rest von Seele herauszuziehen. Was bei solcher Negation aller Lebenswerte bleibe, sei die Aneinanderreihung bloßer „Fakta, die sich in keine Zusammenhänge einordnen lassen und jeder Sinndeutung spotten“.103

102 Vgl. Die Tatwelt 7, 1931, S. 65f; ebd. 8, 1932, S. 174f, 204f. 103 Erdsiek, Theologie, S. 11, 13.

„Staat“ und „Persönlichkeit“ im Zeichen der Krise



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„Staat“ und „Persönlichkeit“ im Zeichen der Krise Die Übernahme der Tatwelt-Redaktion durch Edith Eucken-Erdsiek und die zunehmende Einflussnahme ihres Mannes Walter auf das weltanschauliche Profil des Euckenbundes scheinen seit Mitte der 1920er Jahre zu einer gewissen politischen Neujustierung der Bewegung geführt zu haben. „Der Euckenbund ist kein nationaler Verein“, schärfte Walter Eucken 1926 seiner Mutter ein. Der Euckenbund habe ein anderes Ziel, „er will eine Gesamtumwälzung auf Grund der Euckenschen Ideen“. Alles, was von diesem Ziel abführe, sei verwerflich. Irene Eucken hatte dem Sohn den Plan vorgetragen, Aufführungen mit Rezitationen und „lebenden Bildern“ mit auslandspropagandistischer Zielrichtung zu veranstalten. Es gelte damit zu beweisen, „dass die von uns abgetrennten Gebiete seit Jahrhunderten in den geistig besten Gütern deutsch sind“.104 Im Euckenbund selbst machte sich ebenfalls ein gewisses Unbehagen bemerkbar, wenn Veranstaltungen als Forum radikalnationalistischer und antirepublikanischer Polemik genutzt wurden. Im Herbst 1927 hatte der Vorstand des Bundes den Rezitator Ernst Schrumpf für eine Tournee durch die Ortsgruppen engagiert. Schrumpf las vornehmlich aus Rudolf Euckens Pamphlet Deutsche Freiheit von 1919 und stieß damit auf eine sehr gemischte Resonanz. Für den Suhler Ortsgruppenvorsitzenden Wunderlich war der Vortrag „ein Erleben. Oft hatte ich den Eindruck, als seien die Gedanken im Augenblicke erst gedacht worden.“ Aus Kempten und Immenstadt im Allgäu vermeldete Schrumpf selbst wahre Triumphe: „übervolle Häuser, größter Beifall, einzigartige Kritiken“. Dagegen war man in Chemnitz von der Aufführung des Vortragskünstlers weniger begeistert. Schrumpf habe „die Stellen über Demokratie – Sozialdemokratie mit zu starkem Gefühlsausdruck“ gesprochen, kritisierte Otto Günther. Rudolf Euckens sachliche Ablehnung habe sich dadurch in Abscheu verwandelt. Vor allem die anwesenden Lehrer hätten an dieser „Nuancierung Euckenscher Gedanken“ starken Anstoß genommen „und sehen nun in R. Eucken einen einseitigen Philosophen der Rechtsparteien“. Irene Eucken, die Schrumpfs Lesung in Naumburg besucht hatte, äußerte ähnliche Vorbehalte: „Eine kleine Veränderung, wie dies beim Lesen Herr Sch. mehrere Male tat, und ein gewisser Ton machten meinen Mann zum Parteimann.“ Rudolf Eucken habe die Demokratie zwar vollkommen abgelehnt, „aber er war nie gehässig“. Die Distanzierung der

104 ThULB NLRE V, 11, Bl. 220: Walter an Irene Eucken, 20.6.1926; ebd. VI, 30, Ortsgruppe München, o. Bl.: Sekretariat Jena an Elisabet Seefried, 3.7.1926.

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Jenaer Führung von den Auftritten Schrumpfs trug in der Folge zum Austritt der Ortsgruppen Kempten und Suhl bei.105 Auch wenn sich der Euckenbund in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nachdrücklicher gegen den völkisch-radikalnationalistischen Aktivismus in Teilen der Mitgliedschaft wandte, so machte dies seine führenden Repräsentanten offenkundig noch nicht zu „Vernunftrepublikanern“. Die Tatwelt enthielt sich zwar weitgehend von Kommentaren zum politischen Tagesgeschehen, doch stand in den dort publizierten Texten die demokratisch-republikanische Gegenwart fast durchweg im Zeichen der Krise. Zwar fehlte vielen der Artikel der explizite Bezug zu den Lehren Rudolf Euckens. Doch verfolgte die Redaktion insofern eine einheitliche Grundlinie, als die Beiträge zumindest in der Tendenz mit den von der Bewegung vertretenen Überzeugungen und Zielen kompatibel zu sein hatten. Bei aller Diversität der Themen und Standpunkte lässt sich durchaus ein kohärentes Bild der hier vertretenen politischen Ordnungsvorstellungen entwerfen. Ein weites diskursives Feld konfigurierte sich in den Texten der Tatwelt um den Begriff der „Masse“. 1929 übertrug es Edith Eucken-Erdsiek dem Freiburger Pädagogen und Psychologen Georg Stieler, das „Problem der Masse“ in einem längeren Beitrag systematisch anzugehen. Stieler, der gerade die sozialpsychologische Studie Person und Masse veröffentlicht hatte, reproduziert hier das gängige Topos der „Masse“ als einer „atomisierten“, beziehungslos nebeneinanderher lebenden Anhäufung von Einzelmenschen. Es sei kaum möglich, diese „großen Menschenmassen seelisch so zu versorgen, wie es für ihr Wohlergehen unbedingt nötig ist“. Es drohe das Anwachsen eines „seelischen Proletariats“, „einer Horde von Entwurzelten und Verzweifelten“. Wie Rudolf Eucken zehn Jahr zuvor, so erscheint es auch für Stieler evident, dass die solchermaßen als psychisch labile Masse definierte großstädtische Bevölkerung besonders anfällig für politische Manipulation sei. Es ist aber nicht die von der Presse gesteuerte Masse isolierter Einzelner, die der Freiburger Extra-Ordinarius im Auge hat, sondern die versammelte Masse, die auf parteipolitischen Großveranstaltungen „verzaubert, toll, trunken gemacht“ werde.106 Bemerkenswert an diesem Text erscheint, wie Stieler die manipulierte Masse in Beziehung setzt zu ihrem „Führer“. Das seelische Verhalten von Führer 105 Ebd. VI, 32, Ortsgruppe Suhl, o. Bl.: Bruno Wunderlich an Irene Eucken, [Ende 1927]; ebd. VI, 12, Mappe 14, o. Bl.: Ernst Schrumpf an Irene Eucken, 23.10.1927; ebd. VI, 27, Ortsgruppe Chemnitz, o. Bl.: Otto Günther an Sekretariat Jena, 23.11.1927; ebd. VI, 12, Mappe 14, o. Bl.: Irene Eucken an Gustav Ziegler, 30.12.1927. Vgl. ebd. VI, 32, o. Bl.: Ortsgruppe Suhl: Wunderlich an Sekretariat Jena, 6.4.1928; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 15.4.1928. 106 Stieler, Problem, S. 63, 65. Zu Stieler vgl. Wolfradt u. a. (Hg.), Psychologinnen. S. 435f.

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und Masse sei „korrelativ durch einander bedingt“. Ein „Massengeschehnis“ sei nämlich immer eine untrennbare Einheit von Führereinwirkungen einerseits und der Empfänglichkeit der Massenindividuen andererseits. Der Wechselverkehr zwischen Führer und Masse vollziehe sich notwendigerweise auf sehr primitivem Niveau: Auf die versammelten Menschenmassen wirken in besonderem Grade die Primitiven und die Psychopathen, weil sie an sich selbst glauben und dadurch starke suggestive Kraft besitzen. Der geistig Geschulte ist viel zu kritisch, er ist selbst nicht sicher genug, weil er die Schwierigkeiten mindestens ahnt, die nur ein völlig Bornierter verkennt.107

Der Freiburger Sozialpsychologe setzt in seinem Tatwelt-Aufsatz damit einen deutlichen Kontrapunkt zu dem zeitgenössischen, gerade im „bürgerlich-nationalen“ Lager verbreiteten Führerdiskurs. Zumindest solange ihr „Meister“ noch lebte, hatte sich auch der Euckenbund bisweilen auf diesen Diskurs eingeschwungen. So verkündete der Einleitungstext der ersten Ausgabe der Mitgliederzeitung vom November 1920, der Führer, auf den die „Mehrheit unserer Volksgenossen“ warte, weile bereits – in Gestalt Rudolf Euckens – „mitten unter uns“. „Um unseren Führer geschart“, als „getreue Gefolgsleute“, „mit einer jauchzenden, begeisterten, opferbereiten Zustimmung“ wolle man siegen.108 Am Ende der Zwanziger Jahre war einigen Tatwelt-Autoren solcher Führerund Gefolgschafts-Enthusiasmus augenscheinlich abhandengekommen. Für sie unterschied sich die „gebildete“, „geistig hochstehende“ „Persönlichkeit“ vom „Massenmenschen“ auch dadurch, dass sie keinen Führer benötigte, sondern selbst wusste, wo es lang ging. Ihre Kritik richtete sich dabei nicht allein gegen linke, sondern auch gegen rechte „Massenbewegungen“. „Alle jungen Leute wollen heute ‚Führer‘ werden, d. h. Sprachrohre für die gerade fälligen Schlagworte der Kollektivität“, befand 1928 der in Salzburg lebende Schriftsteller und regelmäßige Tatwelt-Autor Oskar A. H. Schmitz. Würde die Erziehung – wie früher – noch den „ganzen Menschen“ berühren, so Schmitz weiter, gäbe es „zwar weniger national oder sozial ‚eingestellte‘ Parteimenschen, aber mehr menschliches Gefühl, weniger interessante Ansichten, aber mehr Lebenseinsicht“.109 Dass „individuelles Menschentum“ (Schmitz) zurück zu binden war an die Gemeinschaft, verstand sich fast von selbst: „Wer sich individuell gefunden hat, der muß zurück in die Kollektivität, denn ohne die Ausdrucksmöglichkeiten der Nation, des Standes, des Berufs, der Familie, des Geschlechtes, des Zeitalters hinge die Individualität als Schemen in der Luft.“ Im nächsten Tatwelt107 Stieler, Problem, S. 64. 108 Der Euckenbund 1, 1920, S. 1. 109 Schmitz, Bankrott, S. 6.

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Heft erhielt der Hausphilosoph des Euckenbundes, Bruno Jordan, Gelegenheit, die Wechselbeziehung von Individuum und Gemeinschaft in den Begriffen seines verstorbenen Meisters auszuformulieren. Auf der einen Seite dürfe man gegenüber den Forderungen der Gemeinschaft nie die Individualität aufgeben. Auf der anderen Seite sei der Einzelne aber aufgefordert, sich „eine vom Ich unabhängige Welt“ zu erschließen, eine „Tatwelt“, „eine Welt eigenen Gepräges und eigener Gesetzlichkeit, die Kräfte zum Widerstand leiht“. Nur im Zusammenhang mit dieser überlegenen Wirklichkeit, dem „Geistesleben“ könne es eine lebendige Gemeinschaft geben, die mehr sei als eine erweiterte Gestaltung des Ich. Solche „Gemeinschaft“ sei „auf ein und dasselbe Wollen gerichtet“, was sie wiederum von bloßer „Gesellschaft“ unterscheide.110 Dabei unterschied sich das demokratisch verfasste Gemeinwesen der Gegenwart meist diametral von dem, was in der Tatwelt als „wahre“, „echte“ Gemeinschaft imaginiert wurde. In besonders rabiater Weise hatte der Münchner Publizist Edgar Jung die moderne Demokratie in seinem 1928 veröffentlichten Buch als Die Herrschaft der Minderwertigen verworfen und damit auch die Aufmerksamkeit der Tatwelt-Redaktion erregt. „Wir lasen Ihr Buch“, schrieb Edith Eucken-Erdsiek im Juni 1928 an Jung, „und haben aus der Lektüre die Ueberzeugung gewonnen, dass die von Ihnen dargelegten Auffassungen sich sehr weitgehend mit Ideen berühren, wie sie auch unsere Zeitschrift vertritt.“111 Edgar Jung erhielt 1928/29 die Gelegenheit, seine Anschauungen den Lesern der Tatwelt in zwei Beiträgen vorzustellen. Die Ursachen der „modernen Staatskrise“ macht er hier in der Auflösung „organischer“ gesellschaftlicher Bindungen aus. Das Leben der Menschen habe sich, so holt Jung aus, „in der Doppelung von Gesellschaft und Staat zu vollziehen“. Die Gesellschaft sei das „organisch Gewachsene“, das sich im Staat eine höchste Rechtsordnung setze. Früher sei die Gesellschaft von „metaphysischen Bindungen religiöser und volkstümlicher Art“ zusammengehalten, geformt und geordnet worden. Diese Verfasstheit von Gesellschaft und Staat habe sich in der Moderne grundlegend verändert: Die Gesellschaft verliert alle organischen Bindungen, wie Heimat, Stände usw. Das Volk verstädtert, der Bauer wird entmannt. Die Stände werden nicht mehr durch die Leistungsehre zusammengehalten, sondern durch den gemeinsamen Nutzen (Klasse). Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Gleichheitsforderung, verwischen die letzten organischen Grenzen. Der moderne Mensch wird Nomade, der in einer Wüste steht, zum Troste den Stimmzettel in der Hand. Alles ordnet nur noch der allgewaltige Staat, selbst ohne Autorität, verquickt mit den Interessen und zerrissen von den Interessengruppen. Staatswille ist die Komponente der Partikularinteressen, dargestellt durch den Kompromiß der Mehrheitsparteien. 110 Ebd., S. 8; Jordan, Philosophie, S. 48ff. 111 ThULB NLWE, Korrespondenz zum Euckenbund: Edith Eucken-Erdsiek an Edgar Jung, 30.6.1928.

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Das geldbeherrschte Privatinstrument der Partei tritt anstelle organischer Gemeinschaft.112

Die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft gründe in der Moderne, so Edgar Jung weiter, wesentlich auf dem Prinzip des „Individualismus“. Der „Individualist“ verneine ein „übergeordnetes Leben“ und ordne dem Einzelnen den höchsten und letzten Wert zu. Der „Überindividualist“ hingegen erkenne „über das Individuum hinausragende Werte“ an und verstehe sich als Glied einer Kette. Solche Selbstbeschränkung beinhalte zwar zu eine Minderbewertung des Einzelnen im Vergleich zur menschlichen Gemeinschaft, führe aber „ebenso zwangsläufig zur Vertiefung der Persönlichkeit“. Es habe hier nicht das Einzelwesen ein Recht auf Entfaltung, sondern die Gemeinschaft besitze ein Recht auf Entfaltung des Einzelwesens. Der Individualismus als Geistesrichtung münde dagegen praktisch in der Gleichheitslehre und gehe so mit der „Verneinung der Persönlichkeit“ einher. Es verhelfe daher gerade eine organische Gesellschaftsauffassung dem Individuum zu seinem Rechte.113 Diese Rhetorik produzierte letztlich eine Kippfigur, mit der das Recht des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft genauso nachdrücklich begründet werden konnte wie das Recht der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen. Einerseits beschworen die „Euckenianer“ immer wieder die Persönlichkeit, die sich frei entfalten sollte, die einen unabhängigen Standpunkt einnehmen sollte, die sich damit gegen die Gesellschaft zu stellen habe. Andererseits erscheint aber die Ideal-Gesellschaft als holistische Einheit, als Wertegemeinschaft, getragen von einem gemeinsamen Wollen und gegründet auf nicht zu hinterfragenden Wahrheiten. Rudolf Eucken koppelte seine Vision einer solchen neuen „Lebensordnung“ immerhin noch an ein verstandesmäßig ergründbares „Geistesleben“. Edgar Jung wies in seinem Tatwelt-Artikel von 1929 dagegen jegliche „rationale“ Begründung zurück: „Nur im Gefühlsmäßigen, nur im stillwirkenden seelischen VerwurzeItsein in der Ganzheit liegt die Sicherheit für echtes und gesundes Gemeinschaftsleben! Verstandesmäßig zu entscheidende Zweifelsfragen, ob das Ich oder die Gemeinschaft in den Vordergrund zu treten hätten, dürfen überhaupt nicht auftauchen.“114 Dabei wurde in der Zeitschrift des Euckenbundes schon einmal das faschistische Italien als leuchtendes Vorbild herangezogen. „Das neue Recht Italiens ist eine einzige Hymne auf die Nation“, verkündete der Freiburger Jura-Privatdozent Hans Liermann 1929 in der Tatwelt. „Auf diese Weise“, so Liermann weiter, 112 Jung, Polarität, S. 115f. 113 Ebd., S. 113f; ders., Herrschaft, S. 94. 114 Jung, Polarität, S. 114.

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enthüllt sich die Krisis des deutschen Rechts als ein Teil der Krisis unseres geistigen Lebens überhaupt. Der Einzelne, der sich zu einem festen Standpunkt durchgerungen hat, mag sich auch von dort seine Gedanken über das Recht machen. (…) Aber es genügt nicht, um daran eine neue Rechtsordnung zu bilden. Denn Recht ist Ordnung der Gemeinschaft, Rechtsdenken ist Denken in Gemeinschaft. Wo das gemeinsame Denken, das gemeinsame Ideal fehlt, kann sich schwerlich ein Recht im höheren Sinne bilden. Da können nur Gesetze gemacht werden.115

Ähnlich ambivalent erscheint in den Texten, die am Ende der 1920er und am Beginn der 1930er Jahre in der Tatwelt veröffentlicht wurden, das Verhältnis der Bürger zum Staat. Die diskursive Delegitimierung der parlamentarischen Demokratie durchzieht als Grundton die Beiträge zur politischen Philosophie. Der Staat wird hier gerne zur metaphysischen Größe erklärt und in einer transzendenten, nicht verfügbaren Sphäre verortet. So erklärte der Hallenser Theologe Georg Wehrung 1931 den Staat zu einer „dem Mögen und Meinen des Menschen übergeordnete[n] Größe von eigener Hoheit und Würde, die der Christ nur aus Gottes Schöpfungswillen begreifen kann.“ Staatliche Souveränität werde dem Volk von Gott verliehen als „Vollmacht zum Dienst am Ganzen“. Dieses Verständnis gebe die Gewähr dafür, dass die Regierenden „dem Ganzen dienen, ohne die Partei über das Volk zu stellen“. „Unser heutiges politisches Leben“ werde aber, so kritisiert Wehrung, von einem anderen, „westlichen“ Staatsbegriff bestimmt. Der Staat werde als „als reines Diesseitsgebilde ohne höhere Weihe“ betrachtet, was dann auch die allseits bekannten Missstände herrufe: „Die Regierung wird Exponent der durchdringenden Machtgruppen. Die Gerechtigkeit steht in Gefahr, der Macht der Partei dienstbar gemacht zu werden.“ Solch ein Staat schwebe stets in der Gefahr, „dämonischen Mächten“ zu verfallen. Was dies bedeute, verstehe man besser als früher, nun da „wir es am eigenen Leibe verspürt haben“.116 Zwei Jahre zuvor war Oskar Schmitz bei der Abhebung des Staates von der Gesellschaft ohne expliziten Bezug zu höheren Mächten ausgekommen und hatte sich mit einer Alltagsanalogie beholfen: Wie die Ehe sei auch der Staat nicht bloß eine Beziehung von Mensch zu Mensch, „sondern er ist außerdem noch eine Beziehung des einzelnen Menschen zu einem Dritten, Überpersönlichen, zu jener Beziehung selbst, eben dem Staat.“ Dass aber der einzelne Mensch, so fährt Schmitz fort, in eine Beziehung zum Staat als einem überpersönlichen Dritten treten könne, setze voraus, „daß sich der Einzelne zugleich von dem Kollektiven, als der öffentlichen Sache, bewußt unterscheide, nämlich als Civis“. Es sei diese selbstbewusste Beziehung zum Staat, die den Bürger vor dem 115 Liermann, Krisis, S. 49f. Liermann war seit 1929 Professor für Kirchenrecht in Erlangen. 116 Wehrung, Evangelium, S. 21f. Zu Wehrung vgl. Wolfes, Theologie, S. 215–229.

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Erlöschen im Kollektiv, vor dem Aufgehen im Staat bewahre. Diese „wesentlich abendländische[n] Einstellung des Menschen zum Staat als der gemeinsamen Res publica“, wollte der Salzburger Schriftsteller als gemeinsames europäisches Erbe verstanden wissen, das sich „durch unsere ganze Geschichte seit Athen und Sparta erhalten“ habe.117 Als alleinigen Träger des Staates mag sich Schmitz den Citoyen jedoch eher nicht vorstellen. Vielmehr erscheint ihm eine „Synthese von Monarchie und freiem, republikanischen Bürgertum“, „das konstitutionelle Königtum“ als „denkbar beste Regierungsform“. Wo die Könige fehlten oder versagten, habe man die Wahl „zwischen Republik und Chaos“, ein Zustand, aus dem sich, wie Schmitz meint, notgedrungen Diktaturen entwickeln, sei es die „Tyrannis eines Einzelnen“ oder eine „Diktatur der Masse“ (sprich: ein kommunistisches Regime). In einer solchen „revolutionären Situation“ wähnt sich Schmitz, wie der Titel seines Aufsatzes ausweist, augenscheinlich am Ende der 1920er Jahre. Eine Diktatur allerdings, so gibt er zu bedenken, ertrage „erfahrungsgemäß das Abendland nur in Notfällen oder in Zeiten der Erschlaffung und dann nur kurze Zeit“. Nachdem im 19. Jahrhundert „jeder Abendländer“ Bürger geworden sei und damit aufgehört habe, Untertan zu sein, werde er diesen Status nicht mehr freiwillig aufgeben.118 Einen Ausweg aus diesem Dilemma deutet Oskar Schmitz in seinem Tatwelt-Artikel dann aber doch an. Er zaubert nämlich den „konstruktiven Diktator“ aus dem Hut, der das Chaos beseitige und wieder einen Staat bilde – „und sofort ist auch wieder der Civis möglich“. Dieser „konstruktive Diktator“ hat auch bereits einen Namen: Benito Mussolini. Zwar verwirkliche Mussolini nicht unbedingt das Ideal republikanischer Bürgerfreiheit, insofern der Einzelne „vorläufig sehr wenig an der Gestaltung der Res publica beteiligt ist“. Doch könne dies „als Übergang“ ertragen werden, da es doch zurzeit nur die Alternative „Mussolini oder Revolution“ gebe. Von einigen „Fehlgriffen“ abgesehen, lasse der Faschismus jeden unbehelligt, der sich nicht verdächtigt mache, etwas gegen ihn zu unternehmen. Dagegen verfolge die „Diktatur der Masse“ jeden individueller Gesinnung Verdächtigen, auch wenn er sich äußerlich füge. „Die Diktatur Mussolinis“, so ist in der Zeitschrift des Euckenbundes im Frühjahr 1929 zu lesen, „gehört noch zu den politischen Formen, die das Abendland in Notlagen immer ertragen hat…, weil darin der Civis nicht grundsätzlich verneint ist. Es gibt eben gefährliche Übergangszeiten, in denen Ruhe wirklich die erste Bürgerpflicht ist.“119 117 Schmitz, Situation, S. 4f. 118 Ebd., S. 4 119 Ebd., S. 5f.

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Die Sammlung der Geister (Teil 3) Trotz der wenig ermutigenden Ergebnisse der Reorganisation der lokalen Euckenbünde und der bereits mit Macht einsetzenden Weltwirtschaftskrise intensivierte Irene Eucken am Anfang der 1930er Jahre noch einmal ihre Bemühungen, den Bund auf größeren Fuß zu stellen. „Wir sind jetzt soweit, dass, wenn wir genügend Mittel haben, wir wirklich in Deutschland einen durchschlagenden Erfolg mit unserem Bunde haben könnten“, teilte sie im Juli 1930 einem Mitglied des Euckenbundes mit. Man habe nun die Mittel, um Die Tatwelt zu halten. Nun wolle man „einen Direktor für unser Eucken-Haus oder sagen wir, eine bezahlte Kraft für den Euckenbund, … welcher es übernimmt, in den Ortsgruppen regelmäßig Kurse etc. zu veranstalten, weitere Ortsgruppen zu gründen usw.“120 Einen Mann für diese Aufgabe hatte Irene Eucken auch schon im Auge. Im November 1929 kündete sie ihrem Sohn Walter an, sie habe jemanden kennen gelernt, „der für unsere Eucken-Bewegung sehr wichtig werden kann“. Es handelte sich um den evangelischen Stadtpfarrer von Kronstadt in Siebenbürgen, Viktor Glondys, der gerade im Rudolf-Eucken-Haus zu Gast war. Glondys war promovierter Philosoph und hatte eine Zeitlang als Privatdozent an der Universität Czernowitz Philosophiegeschichte gelehrt. Diese philosophisch-theologische Doppelqualifikation ließ ihn Irene Eucken als besonders geeignet für eine hauptamtliche Leitungsposition im Bund erscheinen. Glondys hatte der Eucken-Witwe zu verstehen gegeben, „daß es jetzt dringend notwendig sei, Vaters Philosophie mit der Theologie zu verbinden oder vielmehr für die Theologie fruchtbar zu machen“.121 So einfach ließ sich die Philosophen-Witwe dann allerdings doch nicht von dem eloquenten Theologen um den Finger wickeln. Nachdem sie eine der Schriften Glondys’ gelesen hatte, scheint Irene Euckens Euphorie erst einmal einen Dämpfer bekommen zu haben. Sie begreife nicht, so schrieb sie Anfang 1930 nach Freiburg, „wie er eine Verbindung seiner theologischen Auffassung mit Vaters Philosophie herstellen kann“. Sie stieß sie sich offenbar an Glondys’ Auffassung von der Trinität, die ihr wie eine „Dreigötterlehre“ vorkam. Rudolf Eucken hatte, wie erinnerlich, immer betont, dass er Jesus als Mensch ansehe. Irene Eucken bat nun ihre Schwiegertochter um fachkundigen Rat: Halte sie Glondys „für philosophisch tüchtiger als theologisch tüchtig“? Wäre ihm zuzu120 ThULB NLRE V, 6, Bl. 174: Irene Eucken an Carl Kindermann, 26.7.1930. Vgl. ähnlich: ebd. Bl. 334: Irene Eucken an Rudolf Voß, 25.7.1930. 121 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 21.11.1929. Vgl. Böhm, Glondys, S. 147–150.

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trauen, dass er „so klar philosophisch denkt, daß er dann über die erwähnten Widersprüche hinweg käme?“122 Edith Eucken-Erdsiek scheint die philosophische und theologische Tüchtigkeit des Kronstädter Pastors zumindest so hoch eingeschätzt zu haben, dass sein Text im Frühjahr 1930 in der Tatwelt veröffentlicht wurde. Viktor Glondys unterzieht hier die Dialektische Theologie einer Generalkritik und setzt ihr dann Rudolf Euckens Religionsphilosophie entgegen. Wenn Gott, wie es Barth und Gogarten behaupteten, „das Ganz-Andere“ sei, könne über Gott keine Aussage gemacht werden. Dies komme einer Selbstaufhebung der Theologie gleich. Rudolf Euckens religionsphilosophische Lehre zeige dagegen, dass es „ein sachliches Reden über den Gehalt des Christentums“ gebe, das „seinen eigentümlichen Wahrheitsgehalt … einsichtig zu machen vermag“. Bei Eucken werde die Kluft zwischen Gott und den Menschen „nicht durch Vermengung oder durch Herabziehung des Göttlichen ins Menschliche noch durch VergöttIichung des Menschlichen“ überbrückt. Vielmehr geschehe dies „durch das Wunder der Schöpfertat, der Schaffung einer Gemeinschaft, in der, was Gottes ist, Gottes bleibt und doch dem Menschen sich schenkt, so daß Gemeinschaft entsteht, von Gott her aus freier Gnade gewirkt.“ In Rudolf Euckens Wahrheitsgehalt der Religion, so das Fazit, harre ein „Schatz … seiner Hebung durch die Theologie“.123 Im Juli 1930 teilte Glondys Irene Eucken mit, er sei zum Bischof-Vikar gewählt worden und bekleide damit die höchste geistliche Stelle der siebenbürgischen Landeskirche nach dem Bischof. Auch versicherte er ihr noch einmal, er stimme völlig mit Rudolf Eucken überein. Irene Eucken wiederum war mittlerweile so weit von der Eignung des Theologen für das Amt eines EuckenbundDirektors überzeugt, dass sie ihm die Stelle in Aussicht stellte. Obwohl er nun eine kirchliche Führungsposition innehatte, war Glondys geneigt, dieses Angebot ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Es würde zwar in seiner Kirche niemand begreifen, dass er bereit sei, ein hochgeachtetes Amt mit sehr guter Dotierung „gegen die bescheidene Stellung eines philosoph. Wanderlehrers u. Beamten eines Vereins zu vertauschen“, schrieb er im Februar 1931 nach Jena. Er glaube aber, „daß sich dort mein eigentliches Wesen viel voller auswirken könnte als hier, wo ich so durch Verwaltungsarbeiten u. dgl. gebunden bin“. Einige Wochen zuvor hatte Glondys angeboten, sich mit der Hälfte des in Aussicht gestellten Monatsgehaltes von 700 RM zu begnügen und seine Arbeit für den Bund

122 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 17./ 19.1.1930. Vgl. ThULB NLRE V, 2, Bl. 415f: Viktor Glondys an Irene Eucken, 1.1.1930. 123 Glondys, Euckens „Wahrheitsgehalt …“, S. 11, 14, 16.

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mit einer ähnlichen Stelle in Diensten des Evangelischen Bundes zu verbinden.124 Derweil warb Irene Eucken innerhalb des Euckenbundes und im eigenen Familienkreis für den Kronstädter Pfarrer. Sie glaube fest an Glondys, schrieb sie Walter Eucken Mitte 1931. Sie rechnete aber mit gehörigem Widerstand im weiteren Führungskreis des Bundes. Auch Arnold Eucken hatte sich gegen den Plan ausgesprochen, weil er fürchtete, es würde unweigerlich zu Differenzen zwischen dem neuen Direktor und seiner machtbewussten Mutter kommen. Irene Eucken sah in dem siebenbürgischen Theologen aber nicht allein einen fähigen Organisator, sondern auch jemanden, dem sie zutraute, das philosophische Werk ihres verstorbenen Mannes weiter zu führen: „Es ist … die Tragik in Vaters Leben, daß er viel Anerkennung und Ruhm fand, daß er aber keine Schule bildete. Ohne Nachfolger aber wird Vaters Lehre nach und nach verstummen.“125 Doch letztlich hing die Realisierung des Vorhabens davon ab, ob es der Euckenbund-Chefin gelang, eine Finanzierung der Direktorenstelle zu bewerkstelligen. Ihr Blick richtete sich dabei vornehmlich auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Bereits seit dem Ende der 1920er Jahre schmiedete Irene Eucken Pläne zu einer Vortragsreise durch die USA, um Geldgeber für den Bund und das Haus zu werben. Im Frühjahr 1931 gewannen diese Pläne Gestalt, als alten Freunden wie Richard Boynton und neugewonnenen Bekannten wie dem Germanisten Paul Curtis eine Amerika-Tour Ida Euckens für August angekündigt wurde. Etwa zur gleichen Zeit reichte das Kuratorium des Rudolf-Eucken-Hauses einen Antrag bei der deutsch-amerikanischen Carl-Schurz-Stiftung ein, der um die Bewilligung von Mitteln für das Gehalt eines Direktors bat. Die Direktorenstelle ist hier dem Euckenhaus zugeordnet und die Aufgabenbeschreibung ist auf den deutsch-amerikanischen Kulturaustausch zugeschnitten. Doch wird im Antrag darauf verwiesen, die Sache sei dringend, „weil uns ein Mann zur Verfügung stehen würde, der der Sache gewachsen wäre“ und der als „treu deutscher Mann … an exponierter Stelle im Ausland“ stehe. Wer anders als der deutschrumänische Bischof-Vikar Viktor Glondys konnte damit gemeint sein?!126

124 ThULB NLRE V, 2, Bl. 423, 425f: Viktor Glondys an Irene Eucken, 14.7.1930, 26.1. und 6.2.1931. 125 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, undatiert [ca. Mitte 1931]. 126 ThULB NLRE VI, 33, o. Bl.: „Gesuch des Kuratoriums des Rudolf Eucken-Hauses.“ [ca. 1930/31]. Vgl. ebd. V, 12, Bl. 1f: Edith Eucken-Erdsiek an Irene Eucken, Freiburg, 4.7.1929; ebd. V, 14, Bl. 284: Ida an Irene Eucken, 19.5.1930; ebd. V, 1, Bl. 102f: Richard W. Boynton an Irene Eucken, 26.4.1931; V, 6, Bl. 58: Irene Eucken an Paul H. Curtis, 8.4.1931; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 28.6. und 6.7. 1929; ebd.: Irene an Walter Eucken, 5.7.1929.

Die Sammlung der Geister (Teil 3)



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Seit Anfang 1931 liefen in Jena und Freiburg die Vorbereitungen für die jährliche Hauptversammlung des Euckenbundes, die sich dieses Mal vermehrt auch an „Fernerstehende“ wenden sollte: „Geistesarbeiter, Jugendführer, auch junge Menschen, reiche Leute, die den großen Ernst unserer Lage erkennen.“ Auf dieser Bühne würde man dann Viktor Glondys einer größeren Öffentlichkeit präsentieren. Glondys sollte eine der Hauptreden halten und hatte auch schon zugesagt, im Herbst Schulungskurse im Euckenhaus abzuhalten. Im Frühjahr 1931 war die kommende Jahresversammlung in Irene Euckens Briefen nach Freiburg zur „Kampftagung“ geworden. „Wenn wir richtig vorgehen, können wir jetzt endlich eine Bewegung hervorrufen; die Überzeugung habe ich“. Die Tagung sollte unter dem Motto stehen: „Was kann Eucken unserer Zeit heute sein, und welche Schritte hat der Euckenbund zu tun, um seine Lehre wirksam zu machen?“ Die Antwort formulierte Irene Eucken gleich selbst: Man müsse zu einem „neuen religiösen Idealismus“ kommen. Nur so könne der „Marxismus“ und der „Materialismus“ besiegt werden. Das Schlimme sei, so führte sie in einem Brief an die Freiburger Schwiegertochter aus, dass „wir solchen Idealismus noch nicht haben und die Weltanschauung des Materialismus vollkommen fertig vor uns steht“. Ihre Hoffnung setzte sie vorerst darauf, dass es Glondys gelinge, „Vaters Lehre in die Theologie ein[zu]fügen; dann hätten wir einen neuen Idealismus.“127 Es ging jetzt für Irene Eucken darum, „größere Kreise“ für den Euckenbund zu gewinnen. Es sei ihr, so schrieb sie nach Freiburg, bei der Ausarbeitung der Tagung klar geworden, dass „wir ohne eine große Zahl von Mitarbeitern keine Stoßkraft bekommen“. Nur dann werde man auch die äußeren Mittel erhalten, um die Bewegung schlagkräftig zu machen. Ein weit publizierter Aufruf sollte die Öffentlichkeit aufrütteln und die Aufmerksamkeit auf die Jenaer Tagung lenken. Und wie könnte ein solcher Aufruf anders betitelt sein als „Zur Sammlung der Geister“. Der Entwurf dieses Manifests stammte von Irene Eucken selbst. Überarbeitet hatten den Text der Vorsitzende Benno von Hagen, der Verleger Meyer-Lingen, Bruno Bauch, Glondys, Otto Most sowie die beiden Eucken-Söhne und Edith Eucken-Erdsiek.128 Beigefügt war eine recht eindrucksvolle Liste von 50 Personen, die zur „Sammlung der Geister“ aufriefen, zunächst die Bundesleitung und die Ortsgruppenvorsitzenden, dann weitere prominente Mitglieder und Förderer des Bundes, schließlich noch eine Reihe von Leuten, die unterzeichnet hatten, 127 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 25.2.1931; ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 13.5.1931. Vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, 30.4. und 1.6.1931; ThULB NLRE VI, 24: Mappe „1931 Briefwechsel A-E“, o. Bl.: Irene an Walter Eucken, 9.5.1931. 128 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 1.6.1931.

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ohne dem Euckenbund anzugehören. Im Vergleich zum Gründungsaufruf von 1920 fällt ins Auge, dass die Universitätsprofessoren nun wesentlich zahlreicher vertreten waren. 16 Ordinarien hatten ihren Namen unter den Aufruf gesetzt. Darunter waren Bruno Bauch, Max Wundt, dessen Jenaer Nachfolger Hans Leisegang, der Breslauer Germanist Eugen Kühnemann, der Theologe Georg Wehrung, der Philosoph Fritz Medicus aus Basel oder Luise Seefrieds Schwiegersohn Eugen Herrigel. Leisegang, Kühnemann, Wehrung, natürlich Arnold Eucken und einige andere Professoren waren als Mitglieder des Bundes aufgeführt. Auch eine Reihe von Förderern des Euckenbundes aus der Wirtschaft hatten den Aufruf unterzeichnet, u. a. der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Felix von Mendelsohn, Hugo Junkers, der Jenaer Buchverleger Gustav Fischer oder der Uhrenfabrikant Thiel aus Ruhla. Zu den bekannteren Namen auf der Unterzeichnerliste zählten zudem der Potsdamer Regierungspräsident August Winnig, Richard Leutheußer, der inzwischen dem erweiterten Führungsgremium des Bundes angehörte, Edgar Jung und der Schriftsteller Hanns Johst. Irene Eucken hatte zunächst geplant, auch im Ausland Unterschriften für den Aufruf zu sammeln. Doch Otto Most hatte ihr dringend abgeraten. So wurden schließlich nur die Namen von Carsun Chang und des HarvardPhilosophen William Hocking in die Unterzeichnerliste aufgenommen.129 Die Jahrestagung des Euckenbundes wurde am Reformationstag 1931 mit einem Leitvortrag Viktor Glondys’ „Zur religiösen Krise der Gegenwart“ eröffnet. Der Ursprung dieser Krise, so diagnostizierte der Siebenbürger Theologe, liege in der um sich greifenden Gottlosigkeit, die zur „Zersetzung der Volkssittlichkeit und Atomisierung der Gemeinschaft“ führe. Wesentlich beigetragen zu dieser religiösen Krise habe das verbreitete Vorurteil, „der Gottesglaube sei wissenschaftlich angreifbar und der Atheismus wissenschaftlich begründeter.“ Die Philosophie Rudolf Euckens verweise dagegen auf die „Urtatsache des Stoßens des Menschen auf Gott“, die aller Religion zugrunde liege. Es sei daher der Euckenbund in besonderer Weise verpflichtet, zur „Besinnung auf diese religiöse Urtatsache“ anzuleiten. Am folgenden Tag fanden vier öffentliche Podiumsdiskussionen statt, die sich mit diesen Thesen beschäftigten, und die Hauptleitung beriet über die Maßnahmen, mit denen die Arbeit des Bundes intensiviert werden könnte.130

129 Vgl. ThULB NLRE VI, 17, o. Bl.: Anzeige aus Blätter für Deutsche Philosophie VI, 2/3: „Zur Sammlung der Geister. Aufruf des Euckenbundes“, ebd. VI, 25: Mappe „1931 Briefwechsel MR“, o. Bl.: Paul Reusch an Benno von Hagen, 19.6.1931; ebd.: Otto Most an Benno von Hagen, 26.6.1931. 130 Mitteilungen Euckenbund Dezember 1931, o. S.: Bericht über die 11. Haupttagung des Euckenbundes in Jena, 31.10./1.11. 1931.

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Wenn Irene Eucken gehofft hatte, die Tagung würde dem Euckenbund zu einem Wachstumsschub verhelfen und ihn zum organisatorischen Zentrum einer neuen Sammlungsbewegung machen, so dürfte sie schon bald eines besseren belehrt worden sein. Es war nun absehbar, dass es angesichts der weltweiten Wirtschaftskrise nicht gelingen würde, die Mittel für eine besoldete Direktorenstelle aufzubringen. Glondys, der im November 1931 im Euckenhaus ein Seminar für Studenten anbot, war zudem inzwischen in eine öffentlich ausgetragene Kontroverse verwickelt wurden. Der Bischof-Vikar hatte in einer Kronstädter Predigt Stellung gegen die NS-Rassenideologie bezogen und sie als unchristlich verworfen. Er war danach zur Zielscheibe der Siebenbürger Nationalsozialisten geworden. Diese Affäre kochte bald auch in Jena auf. Der „Rassenforscher“ Hans F. K. Günther, seit dem Vorjahr Professor an der Thüringer Landesuniversität, fühlte sich von Glondys’ Aussagen zur Rassenkunde so provoziert, dass er ihn öffentlich scharf angriff.131 Weil Glondys nun als Gegner Günthers gelte, würde er „für uns“ bei den Studenten nur noch schwer durchzusetzen sein, berichtete Irene Eucken Ende 1931 nach Freiburg. Im Übrigen habe sich Glondys in der Angelegenheit auch recht dumm benommen und trage die alleinige Schuld, dass „sich dieser an sich doch sehr kleine Streit so zuspitzte“. Viktor Glondys blieb schließlich in Rumänien und wurde 1932 zum siebenbürgischen Landesbischof gewählt. In späteren Äußerungen ließ Irene Eucken kein gutes Haar mehr an dem Theologen. Er sei doch schließlich nur ein Blender gewesen. Die Philosophen-Witwe selbst hatte erst einmal mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Bei ihrer Rückkehr nach Jena nach längerem Kuraufenthalt zu Pfingsten 1932 war das Momentum, das von dem Sammlungsaufruf und der Tagung vielleicht – aber auch nur vielleicht – hätte ausgehen können, längst verpufft.132

131 Vgl. ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 8.11.1931; ThULB NLRE V, 2, Bl. 438, 445f: Viktor Glondys an Irene Eucken, 16.9.1931, 2.12. und 6.12.1931; 132 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Ehepaar Eucken-Erdsiek 22.12.1931; ebd.: Irene an Walter Eucken, 3./4.10.1934. Vgl. ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 8.11.1931, 31.3.1932; ebd.: Irene an Walter Eucken, Pfingstsonntag 1932; Böhm, Glondys, S. 153.

7 Die Eucken-Bewegung im Nationalsozialismus Einschätzungen und Haltungen vor 1933 Bis zum Ende der 1920er Jahre scheint man sich im Hause Eucken um die nationalsozialistische Bewegung und ihren Führer Adolf Hitler kaum tiefer gehende Gedanken gemacht zu haben. Den Fakt, dass der Münchner Euckenbund-Vorsitzende dem Führungskreis der frühen NSDAP angehört hatte, nahm man kopfschüttelnd (Arnold Eucken) oder kommentarlos (alle anderen) zur Kenntnis. Erst als die „Nazis“ bei den Landtagswahlen in Thüringen im Dezember 1929 auf mehr als elf Prozent der Stimmen kamen und im Januar 1930 dort erstmals in eine Landesregierung eintraten, rückte die NS-Bewegung stärker in das Blickfeld der Führung des Euckenbundes. Zwei Tage nach der thüringischen Landtagswahl drückte Irene Eucken in einem Brief an ihre Schwiegertochter ihre Frustration über die beiden Parteien aus, denen sich der Bund und die Euckens selbst politisch verbunden fühlten. Die DVP und die DNVP hatten deutlich verloren und die Euckenbund-Chefin sprach sogar von einem „Zusammenbruch unserer Rechtsparteien“. Diesen Parteien fehle „ein Ziel, ein Gedanke“. Sie seien vollkommen unreif, die Führung zu übernehmen. Einen Diktator nach der Art Mussolinis könne Deutschland aber nicht ertragen. „Erstens hat es kein Heer, das ihn stützt, zweitens ist das Volk zu gebildet.“ Irene Euckens Kommentar zur Aufnahme der NSDAP in die thüringische Landesregierung fiel erst einmal abwartend aus. „Wir sind ja jetzt das rechts stehendste Land in Deutschland! Wir wollen nun mal sehen, wie uns das bekommen wird“, schrieb sie Ende Januar 1930. Man höre allgemein, dass der nationalsozialistische Minister Frick „ein ruhiger, besonnener Mann“ sei. Es werde daher vielleicht nicht zu „hitlerisch“. Wilhelm Frick hatte nicht nur das Innen-, sondern auch das Volksbildungsministerium übernommen, ein Ressort, das für das Rudolf-EuckenHaus von besonderer Wichtigkeit war.1 Einige Monate später, nach den ersten konkreten Erfahrungen mit der neuen Rechtsregierung, berichtete Irene Eucken einem Bremer Verwandten, man lerne nun „die Vorteile und die Nachteile einer Diktatur in Thüringen kennen“. Angetan war die Chefin des Euckenbundes vor allem vom Vorgehen des nationalsozialistischen Innen- und Bildungsministers gegen die politische Linke. Der Weg, den die Nationalsozialisten eingeschlagen haben, sei unbedingt notwendig, „um endlich wenigstens Klarheit über unsere Stellung zu den Marxisten zu 1 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 10.12.1929, 29.1.1930. Vgl. Grass, Links 31f. https://doi.org/10.1515/9783110687033-007

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bekommen“. Die Philosophen-Witwe wertete den rabiaten Kurs gegen Sozialdemokraten und Kommunisten sogar als Bestätigung der von Rudolf Eucken verfolgten Bestrebungen. Ihr verstorbener Mann habe seinerzeit mit seinem Buch Der Sozialismus und seine Lebensgestaltung den rechtsstehenden Parteien eine Waffe gegen den Sozialismus in die Hand geben wollen. Doch hätten die Parteien „in ihrer Schlaffheit die Schrift sehr wenig beachtet“. Nun endlich würde sie hervorgeholt werden.2 Die „Nachteile der Diktatur“ waren in Irene Euckens Augen überwiegend dort zu suchen, wo der Interventionsdrang des nationalsozialistischen Volksbildungsministers sich auf die Gestaltungsräume des gehobenen Bildungsbürgertums richtete. Der spektakulärste Eingriff in die Autonomie der Thüringer Landesuniversität erfolgte im Frühjahr 1930, als Frick die Berufung des „Rassenforschers“ Hans F. K. Günther auf einen neu geschaffenen Lehrstuhl für „Sozialanthropologie und Rassenkunde“ gegen den ausdrücklichen Willen der Universität durchsetzte. Irene Eucken hatte am 1. April nach Freiburg geschrieben: „Wir arbeiten alle, um das Schlimmste abzuwenden“ – vergeblich, wie sich bald zeigen sollte. Besondere Sorge bereitete der Eucken-Witwe, dass ihr einflussreichster Verbündeter in der Weimarer Kultusbürokratie, Friedrich Stier, seine Position verlieren könnte. Frick agiere völlig willkürlich und rücksichtslos und Stier sei beim Minister „keineswegs gut angeschrieben“, berichtete sie Mitte 1930. Und da nun der Erfolg bei den sächsischen Landtagswahlen den Nationalsozialisten den Rücken gestärkt habe, fürchtete sie „jetzt noch viel diktatorischere Maßnahmen“. Diese Einschätzung hielt Irene Eucken aber nicht davon ab, zwei Tage nach der Auflösung des Reichstags im Juli 1930 ihren Freiburger Kindern anzukündigen: „Wir werden wohl Nationalsozialistisch wählen!“.3 Einstweilen schwankte man in der Euckenvilla bei der Einschätzung des Nationalsozialismus zwischen Skepsis und Hoffnung. Irene Eucken war einerseits geneigt, den Aufschwung der NSDAP als Zeichen einer idealistischen Erneuerung in der jüngeren Generationen zu deuten. Bereits im September 1929 hatte sie einer mexikanischen Anhängerin erklärt, die NS-Bewegung sei deshalb so interessant, „weil sie wohl 2/3 der akademischen Jugend hinter sich hat“. Es komme nun darauf an, dass eine „Vertiefung einsetzt, und dann ist allerdings eine grosse Entscheidung auch für die Welt zum Besseren gewonnen.“ Anderthalb Jahre später hatte sich an dieser Einschätzung nicht viel geändert. Es sei 2 ThULB NLRE V, 15, Bl. 8: Irene Eucken an Hermann Eggers, 25.7.1930. Ähnlich auch schon: ebd. V, 6, Bl. 93: Irene Eucken an Baron von Fölckersahm, 25.3.1930. 3 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 1.4. und 20.7.1930; ebd.: Irene an Walter Eucken, 25.6.1930. Vgl. Schmidt, Alma Mater, S. 284f; John/ Stutz, Universität, S. 411–414; Sieg, Geist, S. 203; Weisenburger, Rassepapst, S. 180–183; Kaudelka, Berufung.

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erfreulich, dass „ein starker Idealismus unter der rechts stehenden Jugend waltet“, teilte die Philosophen-Witwe im April 1931 dem amerikanischen Germanisten Paul Curtis mit. Andererseits schreckte sie die intellektuelle Dürftigkeit des Nationalsozialismus und seiner Vertreter immer wieder ab. Es sei doch „viel Ungegorenes und Unklares in dieser Bewegung“, schrieb sie an Curtis. Die Feier zur Amtseinführung Günthers als Jenaer Professor in Anwesenheit Hitlers und Goebbels’ kommentierte sie mit der Bemerkung, hinter der nationalsozialistischen Bewegung stehe nur Kraft und kein Inhalt.4 Der emotionalen Wucht, mit der die NSDAP öffentliche Auftritte inszenierte, konnte sich Irene Eucken trotz aller intellektuellen Skepsis offenbar nicht ganz entziehen. Im November 1930 besuchte sie zwei solcher Veranstaltungen in Jena, von denen sie ausführlich nach Freiburg berichtete. In der ersten traten ein pensionierter General und der NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel auf, in der zweiten sprach ein Rechtsanwalt, der gerade im sog. Ulmer Reichswehrprozess drei nationalsozialistische Offiziere verteidigt hatte. Es mochte der Euckenbund-Chefin zwar komisch vorkommen, dass der alte General, ein „treuer Protestant“, ausgerechnet in Adolf Hitler den Nachfolger Martin Luthers sehen wollte. Doch von seiner Rede über „Deutschlands Not“ war sie angerührt; „er spricht eben aus tiefster Überzeugung und auch nicht gehässig, sondern nur aus dem Gefühl heraus“. Auch Sauckels Auftritt gefiel der Philosophen-Witwe, habe er doch in vielem gesprochen, „als wenn er Vaters Schüler gewesen wäre“. „Wenn Du Vaters Ethik als Grundlage des staatsbürgerlichen Lebens die letzten Seiten durchsiehst“, schrieb sie ihrem Sohn, „so waren das etwa des Redners geistige Forderungen, nur primitiver ausgedrückt.“5 Auch die paramilitärische Choreographie der Nazi-Veranstaltungen machte auf Irene Eucken offenkundig Eindruck. Zwar hätten die SA-Aufmärsche „für uns, die wir das alte Heer kannten“, zunächst theaterhaft gewirkt. Doch habe sich dies nach und nach verloren. „Es machte wirklich Eindruck, als oben auf der Bühne dieser alte Held stand und redete und unter ihm aufgereiht die junge Sturmtruppe stand – als er nun sagte, diese Jugend ist bereit, ihr Leben für die Idee zu lassen,…“. Mochte es Irene Eucken auch streng missbilligen, dass Kinder für politische Zwecke missbraucht würden. Es sei aber dann doch entzückend – „sagt Ida“ – wenn die „Hitlerjugend“ einmarschiere, die „10jährigen Jungens in braunen Hemden!“.

4 ThULB NLRE V, 6, Bl. 140: Irene Eucken an Eulalia Guzman, 2.9.1929; ebd. V, 6, Bl. 58: Irene Eucken an Paul H. Curtis, 8.4.1931; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Ehepaar Eucken-Erdsiek, 15./16.11.1930. 5 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 5./6.11.1930.

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Der „Idealismus“, den Irene Eucken in der NS-Bewegung zu entdecken glaubte, war vor allem eine persönliche Haltung. Hier fand sich eine junge Generation zusammen, die materielle Interessen gering achtete und sich an „höheren“, „geistigen Werten“ orientierte, die erklärte, ihr Leben uneigennützig für eine Idee, für die Gemeinschaft, die Nation einsetzen zu wollen. „Eine Reinigung geht von diesen Leuten aus, und das ist schon ein Gewinn.“ Hier kehrten die Topoi des Kriegsdiskurses wieder, mit denen Rudolf Eucken die Euphorie des August 1914 zu einer geistig-moralischen Wende erklärt hatte. Mochte auch das Denken der Naziführer und ihrer jugendlichen Anhänger schlicht und naiv, ihre politischen Ziele vage und diffus, ihre Mittel manchmal mehr als zweifelhaft erschienen – von der Bewegung ging im Empfinden der Eucken-Witwe eine unbändige jugendliche Kraft und Begeisterung aus.6 In den Monaten nach der Reichstagswahl vom September 1930 kreisten Irene Euckens Gedanken darum, wie man diese Energien im Sinne des eigenen Strebens kanalisieren könnte. Wenn es gelänge, teilte sie Anfang 1931 einem norwegischen Oberlehrer mit, „dass hervorragende Geistesarbeiter Einfluss auf diese Bewegung gewinnen“, könnte „eine grosse Verschiebung unserer Innerlichkeit in Deutschland vor sich gehen“. An Walter Eucken hatte sie einige Wochen zuvor geschrieben: „Wenn die Jugend richtig geleitet wird, ist die Bewegung ein Segen.“ Ihrem Sohn machte sie dann auch gleich konkrete Vorschläge, wie er etwa auf seinen 16jährigen Neffen Hans Joachim, Arnold Euckens ältesten Sohn, Einfluss nehmen könnte. Sie schaue jetzt öfters mal in Hitlers Mein Kampf, vertraute sie dem Nationalökonomen an. „Vieles lehnt man ab, aber noch mehr stimmt man zu.“ Walter solle doch seinem Neffen das Buch schenken. „Ich möchte vor allen Dingen, daß Du Einfluß auf den Jungen bekommst. Er schwimmt schon ganz im Hitler-Strom.“7 Mit dem Ende der thüringischen Rechtsregierung im März 1931 und dem Rücktritt der beiden nationalsozialistischen Minister endete fürs erste die intensive Beschäftigung der Führerin des Euckenbundes mit dem Nationalsozialismus. Erst als im folgenden Jahr Reichstags- und Landtagswahlen anstanden, beide terminiert auf den 31. Juli 1932, finden sich in den Briefen aus Jena wieder vermehrt Anmerkungen zur NS-Bewegung, allerdings nicht mehr in der Ausführlichkeit wie im Herbst 1930. Es war mittlerweile in der Euckenvilla eine gewisse Ernüchterung eingekehrt und selbst Ida Eucken, der „Rechtsausleger“ der Familie, haderte im Sommer 1932 mit den Nationalsozialisten und ihrem jugendlichen Anhang. Sie habe sich, so schrieb sie der Mutter unter dem 21. Juni, 6 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 5./6. 11. und 26.11.1930. 7 ThULB NLRE V, 6, Bl. 307: Irene Eucken an Skard, 15.1.1931; ThULB NLWE: Irene an Walter Eucken, 26.11.1930.

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mehr als zwei Stunden lang die Klagen des Gymnasialdirektors Benno von Hagen über die „Zustände in der Jugend“ anhören müssen: „alles Nazi, alles verhetzt, alle Kultur ablehnend, alles Lernen ablehnend“. Ähnliches erfuhr Ida Eucken einige Tage später beim Mittagessen mit dem Universitätsrektor Abraham Esau. „Nach Esaus Erzählungen über die Studenten kann man schwermütig werden, wen soll man am 31. wählen?“. Am 1. Juli waren die thüringischen Nazis, die gerade die Verabschiedung des Landes-Etats sabotiert hatten, für die Eucken-Tochter „eine wüste Gesellschaft“. Eine knappe Woche später gaben ihr die Nationalsozialisten erneut Anlass zur Schwermut: Es werde allen Ernstes davon gesprochen, „dass im ‚dritten Reich‘ sämmtliche [sic!] deutschen Universitäten geschlossen werden sollen. Es soll dort nur noch Fachschulen geben und ein einziges Forschungsinstitut. Weisst Du, denken kann ich mir dieses nicht; dass die Nazis aber Unheil in Kultursachen anrichten werden, steht für mich fest“. Zwei Tage später hatten bei der Frage, wem Ida Eucken bei den bevorstehenden Reichstagswahlen ihre Stimme geben sollte, wieder andere Überlegungen die Überhand gewonnen. Die vermeintliche Nachgiebigkeit der Regierung Papen bei den Verhandlungen um die deutschen Reparationen hatte sie so erzürnt, dass sie ihrer Mutter mitteilte, sie habe sich nun doch entschlossen, „am 31. die Nazis zu wählen“.8 Die erdrutschartigen Zugewinne der NSDAP bei den Wahlen vom 31. Juli 1932, im Reich wie in Thüringen, dürften dann aber bei Mutter und Tochter Eucken eher Besorgnis als Euphorie ausgelöst haben. Unmittelbare Folgen für das Jenaer Rudolf-Eucken-Haus hatte das Thüringer Ergebnis, denn nun amtierte in Weimar eine von den Nationalsozialisten geführte Landesregierung unter dem Gauleiter Sauckel als Ministerpräsidenten. Die liberalen Parteien und die Deutschnationalen waren marginalisiert worden und nicht mehr an der Regierung beteiligt. Irene Eucken war vor allem entsetzt darüber, „daß uns jetzt drei unstudierte Männer regieren“: ein ehemaliger Matrose und Schlosser, ein Dorfschullehrer und ein früherer Reisender. Wie könnten denn diese Leute beurteilen, was Kultur sei. Jedenfalls, so berichtete nach Freiburg, sei Friedrich Stier sehr bedrückt. Der Oberregierungsrat hatte wohl auch allen Grund zur Sorge. Denn zum 1. Oktober 1932 bestellte der nationalsozialistische Volksbildungsminister einen seiner Parteigenossen, den Extraordinarius Karl August Emge, zum Kurator der Landesuniversität und übertrug ihm damit Aufgaben, die bislang Stier wahrgenommen hatte. Auch Otto Koellreutter, der Vertreter der Universität Jena im Euckenhaus-Kuratorium, war inzwischen in die NSDAP eingetreten. Irene Eucken sah sich nun einer deutlich gewachsenen Bereitschaft der politischen Entscheidungsträger gegenüber, auf das „Ausländerhaus“ der Universität 8 ThULB NLRE V, 14, Bl. 369, 372, 381, 388, 390: Ida an Irene Eucken, 21.6.-9.7.1932.

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direkten Einfluss zu nehmen. „Wir sehen all’ die Gefahren, die unserem Haus erwachsen können“, schrieb sie Anfang November 1932 an Walter Eucken, „dürfen dabei nicht in Opposition mit unserer Regierung kommen.“ Vom Idealismus der Nationalsozialisten und ihrer Anhängerschaft war nun nicht mehr die Rede. „Ich wähle D[eu]tschnational“, kündete die Philosophen-Witwe ihrem Freiburger Sohn im Hinblick auf die bevorstehende Reichstagswahl an. „Jetzt muß nur Papen gekräftigt werden.“9 Der Euckenbund nahm zur nationalsozialistischen Bewegung vor 1933 nicht öffentlich Stellung. Otto Günther regte allerdings Anfang 1932 bei Irene Eucken eine interne Aussprache im Vorstand oder der Hauptleitung darüber an, welche Haltung der Bund zur NSDAP einnehmen sollte. Er bekam von Vorsitzen Hagen die Antwort: Zur N.S.D.A.P. Stellung zu nehmen, ist dem Euckenbunde unmöglich, so lange die sehr wertvolle und vom nationalen Standpunkte zu begrüßende Bewegung Partei ist. Die N.S. D.A.P. verlangt aber restloses Aufgehen und restloses Eintreten. Sie kennt keine Götter neben sich, … Andererseits bemerke ich, dass diese Erklärung vertraulich ist und mehr oder weniger für alle national eingestellten Parteien gilt. Wir müssen uns hüten, in dieser gärenden Zeit den Bund politisch festzulegen, soviel Freiheit wir dem Einzelnen lassen; dass wir materialistisch oder marxistisch eingestellte Leute, auch wenn sie philosophisch interessiert sind, nicht als Mitglieder wünschen, wissen Sie ohnehin.10

Dies hieß dann wohl, dass die NSDAP dem eigenen „nationalen“ Lager zugerechnet wurde, innerhalb dessen man parteipolitische Neutralität bewahren wollte, und dass Mitglieder der Partei ohne weiteres im Euckenbund willkommen waren. Konkrete Hinweise darüber, wie viele Nationalsozialisten sich den Ortsgruppen des Bundes in den frühen 1930er Jahren anschlossen oder wie viele Euckenianer vor 1933 der Nazi-Partei beitraten, liegen nicht vor. Belegt ist allerdings, dass einer der lokalen Euckenbünde von einem Nationalsozialisten geführt wurde. In der Ortsgruppe Naumburg trat ein Dr. Ernst Oettel Ende 1930 die Nachfolge des Pfarrers Marbach an. Er tat dies mit ausdrücklicher Billigung Irene Euckens. Oettel war zuvor im Jenaer Euckenbund aktiv gewesen.11

9 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Ehepaar Eucken-Erdsiek, 2.9.1932; ebd.: Irene an Walter Eucken, 4.11.1932 (Postkarte). Vgl. Grass, Links, S. 34f; Schmidt, Alma Mater, S. 286f; John/Stutz, Universität, S. 422ff. 10 ThULB NLRE VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Benno von Hagen an Otto Günther, 5.2.1932. Vgl. ebd.: Günther an Irene Eucken, 1.2.1932. 11 Vgl. ebd. V, 6, Bl. 209: Irene Eucken an Ernst Marbach, 5.12.1930; ebd. Bl. 284f: Irene Eucken an Oberstleutnant Schröder, 5.3.1931; ebd. VI, 25: Mappe „1931 Briefwechsel V/W“, o. Bl.: Otto Most an Benno von Hagen, 26.6.1931.

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Auch sonst scheint das Verhältnis zwischen den Euckenbünden und den Nazis vor Ort nicht unbedingt von Berührungsscheu geprägt gewesen zu sein. Der Anlass für Günthers Anfrage in Jena war die Gründung einer „Nationalen Volkshochschule“ durch Chemnitzer NSDAP-Aktivisten gewesen. Die Euckenbund-Ortsgruppe war gebeten worden, aus den eigenen Reihen Lehrer und Mitarbeiter für diese neue Einrichtung zu stellen. Hagen teilte dem Chemnitzer Vorsitzenden mit, in Jena würde man seine Mitarbeit in der Nationalen VHS durchaus begrüßen. Günther bot daraufhin im Frühjahr 1932 dort eine Vortragsreihe über die Lehre Rudolf Euckens an. „Die Gelegenheit, Euckens Gedanken dahinein zu tragen, benutze ich gern“, schrieb er Ida Eucken. Auch die ältere Chemnitzer Volkshochschule, deren Lektoren zum Großteil SPD-Mitglieder seien, habe wegen einer Zusammenarbeit beim Euckenbund angefragt, fuhr Günther fort, „und auch wir hatten die Bereitschaft erklärt, dort Vorträge über Rudolf Eucken zu halten.“ Diese Mitteilung versah die Empfängerin des Briefes nun allerdings am Rand mit einem irritierten Fragezeichen.12 Die Tatwelt enthielt sich vor 1933 jeden direkten Kommentars zur NS-Bewegung. Einen wohlwollenden Artikel des jugendbewegten Schriftstellers Hermann Buddensieg, der seit Mitte der 1920er Jahre häufiger in Veranstaltungen des Euckenbunds aufgetreten war, über den „Neuen Nationalismus“, lehnte Edith Eucken-Erdsiek 1932 ab.13 Zwischen den Zeilen kann man allerdings bisweilen erschließen, was die Herausgeberin der Tatwelt und ihr Ehemann von dem Aufschwung rechtsradikaler Massenbewegungen hielten. So veröffentlichte die Zeitschrift in ihrer Ausgabe vom Juli 1932 den Vortrag, in dem Walter Eucken auf der großen Kundgebung des Euckenbundes vom Herbst des Vorjahres auf eine Strömung „der neuesten Zeit“ eingegangen war. Deren „Politismus“, die Forderung nach dem das Aufgehen des Einzelnen in einem totalen Staat, kritisiert er hier, wie gesehen, als Ausfluss fehlgeleiteter Sinnsuche, als irreales „Traumbild“.14 Dezidierte Kritik an der nationalsozialistischen Ideologie kam allerdings aus den Reihen der noologischen Pädagogen. Der Düsseldorfer Gymnasiallehrer und regelmäßige Tatwelt-Autor Gustav Würtenberg setzte sich 1932 in einem längeren Artikel mit diversen neueren Strömungen der deutschen Pädagogik auseinander und kam dabei am Schluss auf die „neueste nationalistische Erziehungstheorie“ zu sprechen, die er vor allem von Ernst Krieck vertreten sah. Es 12 Zitat: ThULB NLRE VI, 2, o. Bl.: Otto Günther an Ida Eucken, 23.3.1932. Vgl. VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Günther, an Irene Eucken, 1.2.1932; ebd.: Briefwechsel Günther – Benno von Hagen, 5.2. und 21.2.1932. 13 Vgl. ThULB NLWE, Korrespondenz zum Euckenbund: Hermann Buddensieg an Edith Eucken-Erdsiek, 9.7.1932. 14 W. Eucken, Religion, S. 85ff. Vgl. auch Schäfer, Kapitalismus, S. 308f.

Das Euckenhaus auf dem Weg in die Diktatur 1933/34 

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würden hier, so Würtenberg, bedingungsloser Gehorsam und Disziplin gegenüber dem Staat gefordert. Der Staat werde zu einer absoluten Größe, der sich auch das Geistesleben und die Religion zu fügen habe. Bei der NS-Pädagogik schlage der Kampf gegen einen übersteigerten Individualismus in einen geistigen Kollektivismus um. Und das sei nun mit „wahrer Bildung“ kaum weniger vereinbar. Wahre Bildung solle vielmehr die Weite des Blicks vermitteln und die Freiheit der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten befördern. Würtenberg sah in den Schriften des NS-Pädagogen Ernst Kriek ein Musterbeispiel „frontalen Denkens“. Viele Menschen lebten nämlich in den Gedankengängen einer Partei, eines Bundes, einer Klasse, einer Front. Solches „frontale Denken“ sei daher überhaupt kein Denken im eigentlichen und werthaften Sinne, sondern nur ein Nachkauen fremder Meinung, ein Mäntelchen für geistige Trägheit. Ziel der Erziehung müsse aber der verantwortlich an der Entfaltung aller seiner Eigenkräfte arbeitende, geistig selbständige und urteilsfähige Mensch sein. „Wehe uns, wenn auch die Schulerziehung künftig ‚frontal‘ eingestellt wäre auf das Ziel des ‚genormten Menschen‘, auf die uniforme, von irgendwoher dekretierte Meinung. Es wäre der Tod von Geist und Kultur …“15

Das Euckenhaus auf dem Weg in die Diktatur 1933/34 Eine Woche nach der Reichstagswahl vom März 1933 beschrieb Irene Eucken ihrem Sohn Walter ihre Empfindungen über den Wahlsieg der Nationalsozialisten. Sie zog dabei eine bemerkenswerte Parallele zum November 1918: Wie steht mir der Tag vor Augen, als Vater und ich vor dem erleuchteten Fenster Neuenhahns standen und die Waffenstillstandsbedingungen lasen. Das Volk war trunken vor Freude darüber, es jubelte und jauchzte. Ich trat einen Schritt zurück und weinte, da sagte eine alte Frau leise zu mir: ‚Sie wissen garnicht, was das alles bedeutet!‘ So ist es heute wiederum, das Volk weiß nicht, was es bedeutet.16

In einem weiteren Brief nach Freiburg, einige Tage später verfasst, wird etwas deutlicher, was Irene Eucken am Ausgang der Wahl vom 5. März so erschreckt hatte, dass sie sich an den Tag erinnert fühlte, an dem Deutschland den Krieg verlor. An sich hatte die Euckenbund-Chefin die Regierungsbildung vom 30. Januar 1933 durchaus begrüßt. Es sei nämlich „unbedingt notwendig für uns“ geworden, „daß die Nazis unter den Linksleuten aufräumten“. Papen habe leider 15 Würtenberg, Schule, S. 126ff. 16 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 11./12.3.1933. Mit „Neuenhahn“ ist die Jenaer Zeitungsdruckerei gemeint.

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zu wenige Leute hinter sich gehabt, „um diese notwendige Säuberung vorzunehmen“. Irene Eucken hatte bereits in den Jahren zuvor mit dem Gedanken geliebäugelt, die NS-Bewegung ließe sich nutzen, um die verhassten Sozialdemokraten und Kommunisten mit einem Gewaltakt aus dem öffentlichen Leben, aus staatlichen und kommunalen Ämtern zu entfernen. „Zuweilen denke ich auch, daß es am besten ist“, hatte sie im November 1930 geschrieben, „daß man diesen Leuten, wir Alle, hilft, durchzukommen und die Marxisten zu erledigen mit vereinter Kraft, und dann an den Aufbau geht“. Als Musterbeispiel für diese Strategie schwebte ihr damals das faschistische Italien vor. Der Ausgang der Märzwahl hatte Irene Eucken klar gemacht, dass sich die Nationalsozialisten nicht mehr von ihren konservativen Regierungspartnern kontrollieren lassen würden. „Warum“, klagte sie, „haben die Deutschen so wenig schwarz, weiß, rot gewählt?“. Vorläufig binde die Regierung noch der Eid, den sie dem Reichspräsidenten abgelegt habe. Hitler würde sonst wohl keinen Nicht-Nazi mehr dulden.17 Irene Euckens Briefe vom Frühjahr 1933 vermitteln den Eindruck, als hätten sie und ihre nähere Umgebung die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten als massive Bedrohung ihrer bürgerlichen Existenz erlebt. Beamtenstellen würden abgebaut und mit NS-Parteigängern neu besetzt, schrieb sie an Walter Eucken. Ihre Kuratoriums-Kollegen Hagen und Stier stünden jetzt sehr unsicher da. Man wisse nie, ob sich nicht ein Nazi finde, der ihre Stelle übernehmen könnte. Das vierte Mitglied des Euckenhaus-Kuratoriums, Otto Koellreutter, hingegen sei nun „der große Mann“. „Im Gespräch ist er sehr herablassend, reserviert und auch wieder bestimmt.“ Der Extra-Ordinarius war bereits vor 1933 der NSDAP beigetreten. Viele andere Professoren, Lehrer und Beamte machten es ihm im Frühjahr 1933 nach. Auch Arnold Eucken gehörte zu diesen „Märzgefallenen“. Er habe sich „zum P. G. gemeldet“, berichtete seine Mutter Anfang Mai nach Freiburg. „Er schreibt, der Kampf wird innerhalb des Nationalsozialismus jetzt gekämpft“. Einige Tage zuvor hatte Irene Eucken ihrem anderen Sohn die Einrichtung eines Reisekontos vorgeschlagen, damit man sich ggf. schnell treffen könne. Wichtige Fragen seien nun „nur mündlich zu erledigen“. Der Überwachungsstaat warf seine Schatten voraus.18 Die erste Sorge der Philosophen-Witwe galt im Frühjahr 1933 dem Weiterbestand des Jenaer Rudolf-Eucken-Hauses. Stand nach dem politischen Umbruch nicht auch das Arrangement mit dem Land Thüringen und der Universität Jena 17 Ebd.: Irene an Walter Eucken, 14.3.1933; ebd.: Irene Eucken an Walter und Edith EuckenErdsiek, 15./16.11.1930. 18 Ebd.: Irene an Walter Eucken, 11./12. 3., 28.4. und 2.5.1933. Zu Koellreutter vgl. Schmidt, Alma Mater, S. 280f.

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zur Disposition, das Haus als universitäre Einrichtung der Ausländerbetreuung zu betreiben? Würde Friedrich Stier weiterhin in der Lage sein, seine schützende Hand über das Euckenhaus zu halten, wo doch seine eigene Position in der Weimarer Ministerialbürokratie prekärer denn je erschien? Würde Otto Koellreutter seine starke Stellung zur Abschirmung des Hauses einsetzen oder würde er den Machtanspruch der Partei im Kuratorium zur Geltung bringen? Zum Semesterempfang des Euckenhauses im Mai 1933 sprach Koellreutter über den „Sinn und das Wesen der nationalen Revolution“. Irene Eucken las aus seinen Ausführungen, „dass alle kulturellen Bestrebungen möglichst unabhängig bleiben müssten“, und verschickte den Redetext an ihr wichtig erscheinende Leute. Eine untergründige Ambivalenz im Verhalten des nationalsozialistischen Staatsrechtsprofessors blieb aber: Ein Augenzeuge der Veranstaltung erinnerte sich später, Koellreutter habe die „humorvolle“ Bemerkung fallen lassen, anscheinend werde jetzt auch das Euckenhaus „gleichgeschaltet“.19 Da seine Finanzierung fast völlig von öffentlichen Zuschüssen abhing, war das Rudolf-Eucken-Haus für Gleichschaltungs- oder Abwicklungsversuche besonders anfällig. Die Finanzlage des Euckenbundes als nichtstaatlichem Träger war durch die Wirtschaftskrise und die Stornierung von Fördererbeiträgen im Laufe des Jahres 1933 so prekär geworden, dass er seinen finanziellen Verpflichtungen für das Haus nicht mehr nachkommen konnte. Irene Eucken sah sich gezwungen, ein Defizit von 1000 RM aus eigener Tasche zu decken. Benno von Hagen, der den Bund im Kuratorium vertrat, war für die Witwe offenbar keine rechte Hilfe. Der Euckenbund-Vorsitzende werde von Stier und Koellreutter, so teilte sie im Mai 1933 ihrem Sohn Walter mit, „hingenommen wie etwas, was eben sein muß“. Der um seine Stelle bangende Gymnasialdirektor benehme sich in Kuratoriumssitzungen „wie ein Vögelchen, das sich in ein Zimmer verirrt hat“.20 In dieser Situation traten Irene Eucken und ihre Tochter die Flucht nach vorne an. Ende April 1933 reiste Ida Eucken nach Berlin, um im Auswärtigen Amt „eigenartige Vorschläge für die Förderung von Auslandsbeziehungen“ zu präsentieren. Augenscheinlich ging es den Jenaer Euckens darum, außerhalb Thüringens ausreichende Rückendeckung zu mobilisieren, um nötigenfalls Übernahmeversuche durch regionale oder lokale Parteigliederungen abbiegen zu können. Die in Berlin vorgelegten Konzepte liefen darauf hinaus, die Aus19 ThULB NLRE V, 6, Bl. 358: Irene Eucken an Paul Wille, 23.5.1933; Lüpkes, Jahrhundert, S. 71. Vgl. ThULB NLWE, Materialien zum Euckenbund: Tätigkeitsbericht Rudolf EuckenHaus 1933/34; ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Rudolf Voß an Irene Eucken, 30.5.1933. 20 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 12.5.1933. Vgl. ebd., Korrespondenz zum Euckenbund: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 16.5.1934 (Anlage).

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landsverbindungen des Hauses gezielt zu propagandistischen Zwecken zu nutzen. Zwar sei man jetzt schon mit der Tätigkeit des Hauses in Jena, in Weimar und in Berlin recht zufrieden, schrieb Irene Eucken Mitte Mai 1933 nach Freiburg. Es sei aber „Ida und mein Ziel“, das Euckenhaus „für Deutschland so unentbehrlich“ zu machen, „daß man dankbar für Idas und meine Arbeit ist“. Dann werde man neue Förderer gewinnen und könne darauf hoffen, etwaige Fehlbeträge gedeckt zu bekommen.21 Wie ihre Auslandspropaganda praktisch aussehen konnte, davon hatte die Leitung des Rudolf-Eucken-Hauses den Berliner Stellen bereits eine Arbeitsprobe präsentieren können. Anfang April 1933 hatte nämlich Ida Eucken die Gründung eines „Ausschusses Ausländischer Studenten“ initiiert. Dieser Ausschuss trat mit einer Resolution „an die Kommilitonen im Auslande“ an die Öffentlichkeit, um „Gerüchte[n] und Pressemeldungen“ entgegen zu treten, im Zuge der „nationalen Revolution“ sei es zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen gekommen. Vielmehr erklärte man „aufgrund selbsterlebter Tatsachen“, dass „jeder Ausländer das Gastrecht des Landes voll genießt, daß jeder dem ruhigen Studium nachgehen konnte und nachgehen kann. Nicht das Geringste ist uns über Belästigung der Ausländer bekanntgeworden, weder in der Universität noch auf der Straße.“ Unterschrieben hatten den Aufruf Jenaer Studenten aus Bolivien, Bulgarien, Chile, China, Griechenland, Indien, Jugoslawien, Japan, Rumänien, Thailand, Ungarn und den USA.22 Die Entschließung der Jenaer Auslandsstudenten wurde im Mitteldeutschen Rundfunk und im Deutschlandfunk verbreitet. Durch Vermittlung des Thüringer Volksbildungsministeriums fand sie auch Aufnahme im größten Teil der deutschen Presse. Vor allem wurde aber versucht, die Erklärung in den ausländischen Medien unterzubringen. Nicht allein die Studenten selbst versandten die Erklärung in ihre Heimatländer. Ida und Irene Eucken aktivierten ihre zahlreichen Kontakte zur internationalen Gelehrtenwelt, um der Jenaer Resolution Resonanz zu verschaffen. Einige der alten Freunde des Hauses Eucken ließen sich auch tatsächlich für die Aktion einspannen. W. R. Boyce Gibson schrieb aus Melbourne, er werde das Studium in Deutschland auch weiterhin empfehlen, da er durch die Resolution die Bestätigung erhalten habe, dass die Lage dort durchaus ruhig sei. Prabhu Dutt Shastri kündete an, er wolle mit Freuden die Entschließung an Freunde weitergeben und sie in der indischen Presse veröffentlichen. Aus Finnland, Schweden, Ungarn und Griechenland kamen ähnliche Rückmeldungen. In seinem Bericht vom August 1933 hob der Ausschuss der 21 Ebd., Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 2.5. und 12.5.1933. 22 Wege der Wissenschaft, S. 45f: Dokument Nr. 15. Vgl. UAJ B. A. 1918, Bl. 149f: „Bericht über die Aufklärungsarbeit …“, undatiert [August 1933].

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ausländischen Studenten hervor, dass die Unterstützung des Rudolf-EuckenHauses wesentlich zum Erfolg seines Aufrufs beigetragen habe. Und überhaupt, so heißt es an anderer Stelle, sei der Kreis der Jenaer ausländischen Studierenden eng mit dem Rudolf Eucken-Haus und seinen kulturellen Forderungen verbunden. Sie haben durch die eindrucksvollen Vortragsabende des Hauses und durch zahlreiche Zusammenkünfte mit Deutschen Kommilitonen zwecks Gedankenaustausches eine Ideenbereicherung und eine geistig-seelische, idealistische Fundamentierung erfahren, die nun zur ordnenden und gestaltenden Kraft ihres eigenen Kulturwollens geworden ist.23

Dies las sich nun wie ein von Mutter und Tochter Eucken diktiertes Bewerbungsschreiben an das Auswärtige Amt. Zunächst versuchte man im Euckenhaus das Momentum des Aufrufs zu nutzen. Der Jenaer AuslandsstudentenAusschuss formulierte im Sommer 1933 Leitsätze zur Schaffung einer Spitzenorganisation der ausländischen Studierenden in Deutschland. Diese Organisation sollte als „Bindeglied zwischen Deutschland und dem Ausland zur Überwindung der Entzweiung der Völker“ dienen. Sie sollte den „Austausch deutscher und ausländischer Geisteskultur“ fördern, die Interessen ihrer Mitglieder in Studienangelegenheiten vertreten und sich schließlich dem Studium „des deutschen Volkstums und des neuen deutschen Staatsaufbaus“ widmen. Eine große Tagung in Jena zur Konstituierung dieses Verbandes war bereits für Juni 1933 anberaumt, wurde aber mehrmals verschoben und schließlich ganz abgesagt.24 Letztlich ließen sich die nationalsozialistischen Studentenführer die Federführung einer solchen Organisation nicht aus der Hand nehmen. „Wie ich die ganze Lage jetzt ansehe“, schrieb Irene Eucken, „wäre ein Ausländerverein nur unter Führung von Nationalsozialisten möglich.“ Der NS-Studentenverband beharre darauf, „daß deutsche Studenten mit in den Ausländerverbindungen sind und daß sie sich auch ganz zu Hitler bekennen“. Die Euckenhaus-Leitung ließ nun der Sache ihren Lauf, hatte doch für sie die ganze Aktion ihren primären Zweck bereits erfüllt. Mitte September konnte Irene Eucken ihrem Sohn ein anerkennendes Schreiben des thüringischen Volksbildungsminister Wächtler vorweisen. Der Minister, den sie bei seinem Amtsantritt naserümpfend als „Dorfschullehrer“ tituliert hatte, kündigte an, er werde das Auswärtige Amt und das Reichspropagandaministerium von der Arbeit des Rudolf-Eucken-Hauses unterrichten.25 Das Haus und seine beiden Leiterinnen verfolgten im Frühjahr und 23 UAJ B. A. 1918, Bl. 152f: „Bericht über die Aufklärungsarbeit …“; ebd., Bl. 154: „Bericht über die geplante Tagung …“, 14.8.1933. 24 Ebd., Bl. 155f: „Bericht über die geplante Tagung …“. Vgl. ThULB NLWE, Materialien zum Euckenbund: Tätigkeitsbericht Rudolf Eucken-Haus 1933/34. 25 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 24.6. und 18.9.1933.

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Sommer 1933 eine paradox anmutende, aber für die Zukunft richtungsweisende Strategie. Um der Bedrohung durch das NS-Regime zu begegnen, halfen sie mit, eben dieses Regime im Ausland schön zu zeichnen. In seinen regulären Veranstaltungen bot das Rudolf-Eucken-Haus seit Frühjahr 1933 gezwungenermaßen alten und neu gewendeten Nationalsozialisten ein Forum, auf dem diese das „neue Deutschland“ den ausländischen Gästen präsentieren konnten. Sie wisse nicht, so schilderte die Chefin des Hauses ihrem Freiburger Sohn die Situation, „ob Dir der Ton, der sich in unserem Hause breit macht, immer angenehm wäre“. Doch versicherte Irene Eucken, man selbst behalte „immer unsere Linie, sie wird sogar immer klarer, man gewöhnt sich sogar an diese und sagt, daß dieses Haus eben philosophisch eingestellt sei“. Ihrer Schwiegertochter Edith berichtete sie Mitte Mai von einem „Ausspracheabend“ zwischen deutschen und ausländischen Studenten, über die Grundlagen die Kultur. Die Ausländer hätten in der Debatte größere Kenntnis der deutschen Kultur und Philosophie gezeigt, während ihre deutschen Kommilitonen glaubten, „daß jetzt erst eine Kultur geschaffen wird. Frühere Zeiten sind erledigt.“ Sie wolle nun den im Haus mitarbeitenden Ausländern je ein Heft der neuen Tatwelt zukommen lassen, „damit sie die geistige Einstellung des Hauses erkennen“.26 Nach den Berichten Irene Euckens gestalteten sich die Vortrags- und Diskussionsabende im Euckenhaus oft als ein untergründiges Ringen um die Definition von Schlüsselbegriffen wie „Volk“, „Nation“, „Idealismus“ oder „Liberalismus“. Es komme ihr vor, „die Rasse soll unter jeder Bedingung einen metaphysischen Mantel bekommen.“ Es galt daher, den Sprachgebrauch der Nazis in den Debatten diskret zu konterkarieren. Manchmal präsentierte das Haus auch Redner, von denen man hoffen konnte, dass sie im eigenen Sinne sprechen würden. So meldete Bruno Bauch Ende 1933 einen Vortrag über den Begriff des „Volkes“ an. „Er legt wohl die Definition von Fichte zu Grunde“, vermutete Irene Eucken, „die ja sehr schön ist“ (und vor allem ohne den Bezug zur „Rasse“ auskommt).27 Allerdings gingen die Begriffe und die Fronten selbst in den von den Euckenianern ausgerichteten Veranstaltungen bisweilen ziemlich durcheinander. Am Buß- und Bettag 1933 versammelte sich im Rudolf-Eucken-Haus nach Darstellung der Lokalpresse eine „ernstgesinnte Gemeinde, bestehend aus Mitgliedern 26 Ebd.: Irene an Walter Eucken, 15.7.1933; ebd. Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 13.5.1933. 27 Ebd. Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 13.5. und 7.12.1933. Vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, 15.7.1933; ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 11.11.1933.

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des Euckenbundes und Freunden des Hauses“, um eines „Märtyrers“ der NS-Bewegung zu gedenken. Es ging um niemand anderen als Theodor von der Pfordten, dessen Todestag sich gerade zum zehnten Mal gejährt hatte. Es hatte sich einige offizielle Prominenz versammelt – Ministerialrat Stier, der Universitätsrektor Esau, der Direktor des Goethe-Instituts in Rom. Die Begrüßungsansprache hielt Benno von Hagen, die Gedächtnisrede übernahm ein Pfarrer Büchner. „Wenn wir alle heute im Sinne der Ideale handeln, für die die nationalen Kämpfer der damaligen Zeit gefallen sind, so erfüllen wir den Sinn ihres Sterbens und geben ihnen die ewige Ruhe“, würdigte der Pfarrer den Gründer des Münchener Euckenbundes – und brachte es dann fertig, Rudolf Eucken, Jesus Christus und den Nationalsozialismus zu einem harmonischen Ganzen zusammenzufügen: „Freiherr von der Pfordten, dessen Lebenselement der Idealismus Euckenscher Prägung war, mußte auch die Tragik des Idealismus kennen lernen. Der Weg des Idealisten führt immer über Golgatha, und Jesus Christus war der erste Idealist.“ Irene Eucken fand die Feier trotzdem „ergreifend schön“, meinte allerdings, dem Pfarrer Büchner liege vielleicht „die Gefahr der Phrase“ zu nahe. Für sie bot das Gedenken an Theodor von der Pfordten wohl eine günstige Gelegenheit, dem Regime Gemeinsamkeiten zu demonstrieren, ohne sich damit allzu sehr ideologisch zu kompromittieren.28 Im Herbst 1933 hatte sich der Zugriff die Philosophen-Witwe auf das Euckenhaus so weit konsolidiert, dass sie einen Wechsel im Kuratorium problemlos nach ihren Wünschen gestalten konnte. Otto Koellreutter hatte einen Ruf nach München erhalten und Irene Eucken registrierte erstaunt, dass sich „verschiedene Professoren hier“ darauf „spitzten“, dessen Nachfolger im Haus zu werden. Die Euckenbund-Chefin hatte allerdings schon genaue Vorstellungen darüber, wer der neue Vertreter der Universität im Leitungsgremium des Rudolf-Eucken-Hauses werden sollte: „Ich möchte Hedemann haben.“ Und Hedemann sollte sie bekommen. Justus Wilhelm Hedemann lehrte seit 1906 Rechtswissenschaften an der Universität Jena und war Richter am Jenaer Oberlandesgericht. Mit Rudolf Eucken und Herman Nohl hatte er 1919 den Thüringischen Volkshochschul-Verein gegründet und Irene Eucken zählte ihn zu den Vertretern der Lehre ihres Mannes. Hedemann war nicht in die NSDAP eingetreten, gehörte aber 1933 zu den Gründungsmitgliedern der „Akademie für Deutsches Recht“ und hatte auch sonst ausgezeichnete Kontakte zum neuen Regime. Einer seiner Schüler amtierte als Staatssekretär im Preußischen und Reichsjustizministerium. Dies war niemand anderes als Roland Freisler, dem Hedemann 1935 den zweiten Band seiner Fortschritte des Zivilrechts im XIX. 28 UAJ Bestand U Abt. II, Nr. 13, Bl. 8: Ausschnitt ohne Angaben; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 26.11.1933.

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Jahrhundert widmen sollte. Im November 1933 wurde Justus Wilhelm Hedemann ins Kuratorium des Euckenhauses aufgenommen; Volksbildungsminister Wächtler trat dem Ehrenausschuss des Hauses bei.29 Die Fortexistenz des Rudolf-Eucken-Hauses als internationale Begegnungsstätte war damit keineswegs gesichert. Anfang März 1934 verlangte die Jenaer Studentenschaft die Schließung des Hauses und setzte durch, dass die Universität den Vertrag über dessen Tätigkeit zum 31. März kündigte. Irene Eucken gelang es, genügend politische Unterstützung zu mobilisieren, um diesen Vorstoß abzuwehren. Es wurde schließlich eine Arbeitsteilung vereinbart, nach der die Betreuung ausländischer Gruppenbesuche künftig der Studentenschaft vorbehalten war. Dagegen fielen die Werbung im Ausland, die Anknüpfung auswärtiger Beziehungen und die Betreuung einzelner Gelehrter ausschließlich in den Aufgabenbereich des Euckenhauses. Allerdings wurden dem Haus die Landesmittel um die Hälfte gekürzt. Die Verhandlungen mit dem Auswärtigen Amt in Berlin waren inzwischen so weit gediehen, dass diese Mittelkürzung durch einen Zuschuss des Reiches kompensiert werden konnte. Es zeichnete sich nun ein Gesamtkonzept der auswärtigen Kulturpropaganda ab, die auch den Euckenbund und Die Tatwelt einbezog.30

Der Euckenbund zwischen Gleichschaltung und Eigenständigkeit Drei Tage vor der Märzwahl 1933 schrieb der 3. Vorsitzende des Euckenbundes, Rudolf Voß, der Witwe seines Meisters einen euphorischen Brief, in dem er die Zukunft im Allgemeinen und die des Bundes im Besonderen in den leuchtendsten Farben malte: Da der Staat nun wieder auf nationaler u. christlicher Grundlage aufgebaut wird, hat unsere Bewegung auch weiter eine Zukunft, denn das strebt der E. B. ja auch an. Ich bin davon überzeugt, daß alle Geschehnisse jetzt von Gott geleitet werden u. daß wir jetzt als seine Arbeiter hier in seiner Werkstatt mitzuarbeiten haben, u. daß der Erfolg deshalb auch nicht ausbleiben wird. Nach diesem gewaltigen Geschehen, in dessen Strudel wir 29 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 9.10.1933. Vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, 1.11.1933; ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 11.11.1933; UAJ Bestand U Abt. II, Nr. 13, Bl. 8f: Ausschnitt Jenaische Zeitung 9.11.1933; Mohnhaupt, Hedemann, S. 110, 113, 118, 120. 30 Vgl. ThULB NLWE, Korrespondenz zum Euckenbund: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 16.5.1934: Anlage; ebd., Materialien zum Euckenbund: „Niederschrift eines Gespräches … 21. Juli 1934“; ThULB NLRE V, 12, Bl. 20: Walter an Irene Eucken, 5.4.1934. Vgl. Bruhn, Studentenschaft, S. 236f.

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alle mit hineingezogen sind, wird eine Erneuerung, eine Neugeburt des Deutschen Volkes folgen.31

Einige Wochen später hatte die Euphorie des Hallenser Postrats über den Anbruch des neuen Zeitalters einen merklichen Dämpfer erhalten. Er habe, so berichtete er nach Jena, am Vortag in seinem Büro eine Besprechung mit Nationalsozialisten gehabt. Er fand die Ansichten der neuen Machthaber „über das Christentum u. den Geist Christi“ reichlich verworren, gab sich aber durchaus selbstbewusst, hier Abhilfe schaffen zu können: „Die Herren müssen auch hier aus der Verworrenheit zur Klarheit geführt werden“. Ende Mai 1933 war die Zuversicht des 3. Vorsitzenden, die Nationalsozialisten zu gedanklicher Klarheit erziehen zu können, offenbar der Erkenntnis gewichen, dass dies nicht so einfach sein würde. Auch hatte es ihm zu dämmern begonnen, dass der Euckenbund im neuen Deutschland keineswegs auf eine rosige Zukunft rechnen konnte: „Mir will immer noch nicht in den Sinn, daß man beabsichtigt, auch das Geistesleben zu uniformieren.“ Dann werde man wohl auch dem Euckenbund nahelegen, sich dem nationalsozialistischen Kampfbund für deutsche Kultur anzuschließen oder sich aufzulösen.32 Fünf Monate später hatte sich Rudolf Voß’ noch vorhandene Skepsis gegenüber dem Nationalsozialismus zur unbedingten Unterwerfungsbereitschaft gewandelt. „Wir wissen ganz genau, wo wir stehen u. zu stehen haben“, so formulierte er Mitte Oktober 1933 die Position, die er selbst einnahm und die auch der Euckenbund als selbstverständlich anzusehen habe. „Ich stehe mit ganzem Herzen hinter Adolf Hitler, wenn ich auch dieses oder jenes ablehne.“ Der Vorsitzende der Ortsgruppe Halle setzte nun seine ganze Hoffnung auf einen ins Ätherische entrückten Führer. „Wir dürfen nicht vergessen, daß nach der Revolution die Evolution kommt. Und dieser klare Geist Adolf Hitler, der ein Genie ist, weiß das am besten.“ Die Klarheit des Geistes hatte offenbar die Seiten gewechselt. Er sei fest davon überzeugt, so verkündete Voß der Euckenbund-Chefin, dass das Dritte Reich schon im kommenden Jahr ein anderes Gesicht haben werde. Man könne doch die Intelligenz nicht einfach ausschalten. Selbst seinen alten Meister ordnete der Hallenser Postrat nun umstandslos in die Traditionslinie des Nationalsozialismus ein: „Wie Fichte der Verkünder der Freiheitsbewegung vor mehr als 100 Jahren war, so ist Rud. Eucken, der immer zur Sammlung der Geister aufrief, der Verkünder der jetzigen nationalen Bewegung.“33 Was die Klarheit des Geistes angeht, hätte der dritte Vorsitzende des Euckenbundes sich einiges von dessen zweiter Vorsitzenden abschauen können. 31 ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Irene Eucken, 2.3.1933. 32 Ebd.: Rudolf Voß an Irene Eucken, 31.3. und 25.5.1933. 33 Ebd. Rudolf Voß an Irene Eucken, 16.10.1933.

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Irene Eucken gab sich bereits Frühjahr 1933 keinen Illusionen über den Charakter des Nationalsozialismus und die Absichten des neuen Regimes hin. Ende April berichtete sie Walter Eucken vom Besuch eines italienischen Professors, der sein Heimatland wegen des Faschismus verlassen hatte und nun im benachbarten Apolda lebte. Der Gast habe ihr erklärt, dass das, was nun in Deutschland geschehe, ihm wie eine schlechte Übersetzung italienischer Vorgänge vorkomme. Es wiederhole sich hier alles ganz genauso, wie es in Italien elf Jahre zuvor vor sich gegangen sei. „Er gibt mir den brüderlichen Rat, nur zuzusehen, nichts, aber auch garnichts zu tun als zuzusehen.“ Sie werde, so Irene Eucken, über diesen Rat nachdenken. Man stehe jedenfalls vor wichtigen Entscheidungen. Eines müsse aber klar sein: Euer Vater hat mir ein strahlend klares Schild hinterlassen, was nun die ganze Erde beachtet, dieses Schild soll unserem Vaterlande auch heute dienen und es mit schmücken, aber beschmutzen lasse ich den Glanz mir nicht.34

Einige Tage später kündete die Philosophen-Witwe ihrem jüngeren Sohn an, sie werde in den Pfingstferien eine Sitzung der Hauptleitung des Euckenbundes einberufen, „um mit den Herren die Lage zu besprechen“. Die Aussichten auf einen Fortbestand der Bewegung beurteilte sie recht pessimistisch. Für den Augenblick habe der Bund keine Berechtigung, da er jetzt wohl schwerlich irgendwie bestimmend oder auch nur hemmend eingreifen könne. Die Tatwelt werde wohl auf Dauer in ihrer Eigenart nicht geduldet werden. Wenn man schon aufhören müsse, so wäre es „aus pekuniären Gründen“ erwünscht, dies rasch zu tun. Mitte Mai war Irene Eucken wieder optimistischer. Sie persönlich, so versicherte sie Walter Eucken, wolle Die Tatwelt halten. Dann müsse aber auch der Bund gehalten werden. „Wir sind in der angenehmen Lage, daß nur wir – Ihr in Freiburg und Ida und ich in Jena, über diese letzten Entschlüsse zu entscheiden haben. Ich habe nicht die Absicht, irgend andere Persönlichkeiten zu befragen oder hereinreden zu lassen.“ Die Besprechung im größeren Führungskreis kam dann auch nicht zustande. Stattdessen berieten Irene, Ida und Walter Eucken, Voß und Hagen zu Pfingsten 1933 in Jena über das weitere Vorgehen. Man kam offenbar überein, die Entwicklung der kommenden Monate abzuwarten, bevor die Hauptleitung, in der alle Ortsgruppen vertreten waren, einbezogen werden sollte.35

34 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 28.4.1933. 35 Ebd.: Irene an Walter Eucken, 2.5. und 12.5.1933. Vgl. ThULB NLRE V, 6, Bl. 358: Irene Eucken an Paul Wille, 23.5.1933; ebd. VI, 12, Mappe 16, o. Bl.: Benno von Hagen an Otto Günther, 28.6.1933; ebd. VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Irene Eucken, 8.5. und 30.5.1933.

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Dieses Vorgehen kann man durchaus als Hinhaltetaktik verstehen, denn an der Basis und unter den Fördermitgliedern waren Forderungen laut geworden, der Euckenbund möge sich eindeutig zum „neuen Staat“ bekennen. So schlug der Vorsitzende des Kieler Euckenbundes, Paul Wille, im Mai 1933 vor, die Ortsgruppen sollten sich den örtlichen NS-Kulturorganisationen anschließen. Irene Eucken plädierte dafür, weiterhin parteipolitische Neutralität zu bewahren. Wille trat daraufhin als Einzelperson dem Kieler Kampfbund für deutschen Kultur bei. Er wolle genau verfolgen, was dort vorgehe und zum Besten des Euckenbundes anwenden. Ähnlich hatte im Übrigen auch die Jenaer Ortsgruppe reagiert, als sie im Frühjahr 1933 aufgefordert worden war, sich dem Kampfbund anzuschließen. In diesem Fall war Benno von Hagen der NS-Kulturorganisation beigetreten. Innerhalb der Kieler Ortsgruppe dauerten die Auseinandersetzungen um die Positionierung zum Nationalsozialismus in den folgenden Monaten an, bis sich die Gruppe im Dezember 1933 schließlich auflöste.36 Der bisherige Vorsitzende des Kieler Euckenbundes hatte sich bereits zuvor auf die ideologische Wellenlänge des Regimes eingeschwungen. In der Schleswig-Holsteinischen Schulzeitung vom 30. September 1933 lässt sich der Studienrat Dr. Paul Wille weitläufig über den „Aufbau der nationalsozialistischen Weltanschauung“ aus. Der Text ist gespickt mit Zitaten von NS-Führern und enthält ziemlich aberwitzige Herleitungen der Nazi-Ideologie. Wille stellt etwa Goethe, Nietzsche und Hitler in eine Linie als Vertreter des Pragmatismus, „jener philosophischen Doktrin, nach der die Wahrheit einer Lehre nur nach ihrem Nutzen für das Handeln bestimmt wird“. Zudem weiß der Kieler Oberlehrer beifällig zu berichten, die Nationalsozialisten behandelten das „jüdische Problem“ nicht mehr nur als Religions-, sonder als „Rasseproblem“. Es gehe ihnen darum, „den demoralisierenden Einfluß des … Judentums zu brechen und aus unserem kulturellen Leben auszuschalten“. Für Adolf Hitler würden aber nicht „äußere Merkmale, nicht blaue Augen und blonde Haare“ als „Zeichen edler Rasse“ gelten. Zur „hochwertigen nordischen Rasse“ gehöre vielmehr „nur der, der dies beweist durch seine Reaktion auf die neue vom Führer proklamierte Idee vom heroischen Menschen“.37 Immerhin versuchte der Kieler Ortsgruppen-Vorsitzende nicht, Rudolf Eucken zum Stammvater des Nationalsozialismus zu erklären. Der Name des Jenaer Philosophen taucht im gesamten Text nicht auf.

36 Vgl. ThULB NLRE V, 5, Bl. 1650ff: Paul Wille an Irene Eucken, 21.5. und 27.5.1933; ebd. V, 6, Bl. 358f: Irene Eucken an Wille, 23.5. und 4.10.1933; ebd. VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Irene Eucken, 6.12.1933; NLWE, Materialien zum Euckenbund: Bericht zur Sitzung der Hauptleitung vom 27.10.1934. 37 ThULB NLRE VI, 16: Ausschnitt Schleswig-Holsteinische Schulzeitung, Nr. 39, 30.9.1933, S. 601–605.

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Andere Euckenianer widerstanden nicht der Versuchung, die Lehre ihres verstorbenen Meisters auf nationalsozialistisch zu bürsten. Im Oktober 1933 präsentierte Pastor Ernst den Hallenser Euckenbündlern die Gemeinsamkeiten von „Euckens Denkart“ und der „Denkart der neuen Zeitbewegung“. Beide stünden „in einer Front gegen den antiidealistischen Geist des positivistischen Zeitalters und gegen das von ihm beherrschte liberalistische Lebenssystem“. Beide berührten sich positiv „im Streben nach einem volksnahen, volksverständlichen, die seelischen Kräfte für den Volksaufbau mobilisierenden Idealismus als Grundlage inneren Selbstverständnisses des Menschen“. Was nun die Begriffe Volk, Blut und Rasse angehe, die „für das innere Selbstverständnis des deutschen Menschen der Gegenwart“ im Vordergrund stünden, so sah der Pastor keine Schwierigkeit, „sie in R. Euckens Gedankenwelt sinngemäß einzubauen“. Man könne zwischen Euckens „Geistesleben“ und dem „völkisch-, blut- und rassenmäßig bedingten Denken“ der „leitenden Geister der neuen Zeitbewegung“ durchaus eine Brücke schlagen.38 Besonders nachdrücklich drängten in den Monaten nach der „Machtergreifung“ zwei alte Aktivisten aus dem Führungskreis des Bundes auf ein öffentliches Bekenntnis der Bewegung zum nationalsozialistischen Staat. Otto Günther und Fritz Vater hatten sich auf der Deutschen Lehrertagung zu Pfingsten 1933 getroffen und gemeinsam einen Antrag formuliert, den sie in Jena einreichten: „In Anbetracht der Grösse der Ereignisse“ möge man in absehbarer Zeit eine Vorstandssitzung einberufen, „in der die Frage erörtert wird, wie sich der Euckenbund zu den nationalen Geschehnissen stellt und was er in der gegenwärtigen Zeit zu tun gedenkt“. Günther und Vater waren mittlerweile in die NSDAP eingetreten, wie im Übrigen auch Paul Wille. Dass die Vorstöße zur „Gleichschaltung“ des Euckenbundes gerade von den Lehrern ausgingen, ist sicher kein Zufall. Für sie stellte sich ihre berufliche Situation im Frühjahr und Sommer 1933 besonders prekär dar, da das Regime mit aller Macht danach drängte, Zugriff auf die schulische Erziehung der kommenden Generation zu erlangen. Der Eintritt in die NSDAP mochte vielen Lehrern als berufliche Existenzversicherung erscheinen und der Förderung der Karriere konnte er auch nicht schaden. Otto Günther jedenfalls trat sicherheitshalber noch gleich der SA bei und stieg in der Folgezeit im fortgeschrittenen Alter von 62 Jahren zu Amt und Würden in der lokalen Lehrerschaft auf. Er übernahm 1933 den Vorsitz des Chemnitzer Lehrervereins, wo er zuvor unter Demokraten und Sozialdemokraten ein politischer Außenseiter gewesen war. Im Vorjahr hatte sich Günther noch ver38 Ebd. VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Mskr. „Rud. Eucken und das innere Selbstverständnis …“, 24.10.1933. Vgl. ebd.: Ausschnitt ohne Quellenangabe, 24.10.1933; ebd.: Rudolf Voß an Irene Eucken, 26.10.1933.

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geblich um das Amt des Bezirksschulrats beworben. Nun ernannte ihn der neue Volksbildungsminister zumindest zum „Helfer des Bezirksschulrates“. „An Ihnen ist schwer gesündigt worden; der neue Staat hat viel gutzumachen an Ihnen“, versicherte ihm der Schulrat bei dieser Gelegenheit. Günther wurde nun zum Schulleiter berufen, avancierte zum Gauverbandsreferent für Sprecherziehung im sächsischen NS-Lehrerbund und zum „Propagandawart“ der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt.39 Die Jenaer Euckenbund-Führung reagierte auf den Antrag der Ortsgruppenvorsitzenden von Chemnitz und Biedenkopf erst einmal hinhaltend. Eine Sitzung der Hauptleitung werde erst im September einberufen, kündigte Benno von Hagen Günther in seinem Antwortschreiben an, „da der Juli und August wegen der grossen Ferien fortfällt“. Hagen versicherte dem Chemnitzer Oberlehrer, man sei in Jena der Ansicht, es könne über „die Stellung des Euckenbundes zur nationalen Erhebung … nur eine Meinung geben“, gründe sich diese Erhebung doch „voll und ganz auf Euckens Lebenswerk“. Drei Monate später schrieb Irene Eucken nach Chemnitz, der Vorstand wolle die geplante Sitzung der Hauptleitung „aus Sparsamkeitsgründen“ auf das kommende Frühjahr zu verschieben. Sie fügte zudem den Entwurf eines Rundschreibens an, in dem Mitgliedern, Förderern, Freunden und Gönnern die fortwährende Bedeutung des Euckenbundes und seiner Arbeit vor Augen geführt wurde. Hauptziel des Bundes sei erstens, so heißt es hier, „an der Vertiefung der Bewegung, die unser Volk neu gestaltet, mitzuarbeiten“. Zweitens sehe es der Euckenbund als seine Pflicht an, die „Geltung deutschen Geisteslebens im Auslande zu erhalten und zu mehren“. Um das erstgenannte „Hauptziel“ zu erreichen, legte das Rundschreiben den Mitgliedern die Lektüre der Schriften Rudolf Euckens ans Herz und benannte eine Liste von Rednern, die für Vorträge in den Ortsgruppen zur Verfügung standen. Auf der Rednerliste finden sich auch Leute wie der Pastor Ernst und Fritz Vater, von denen zu erwarten war, dass sie eine reichlich braun eingefärbte Version von Rudolf Euckens Lehre präsentieren würden. Vater bot etwa einen Vortrag mit dem Titel „Adolf Hitler und Rudolf Euckens Geist im Kampf um die deutsche Freiheit“ an. Zum zweiten „Hauptziel“ erging sich der Rundbrief in längeren Ausführungen über die Arbeit des Rudolf-Eucken-Hau-

39 Ebd. VI, 12, Mappe 16, o. Bl.: Otto Günther an Benno von Hagen, 18.6. und 16.10.1933. Vgl. ebd.: Günther an Irene Eucken, 28.8.1933 (Postkarte); ebd.: Fritz Schulze an Irene Eucken, 30.6.1933: ebd. VI 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Günther an Hagen, 31.3.1932; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 5.12.1933. Vgl. Frey, Geschichte, S. 511–514.

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ses. Eine explizite Stellungnahme zur Haltung des Bundes gegenüber dem Nationalsozialismus enthielt das Zirkular nicht.40 Dieses Vorgehen war dann auch einem so devoten Anhänger des Jenaer Philosophen und seiner Witwe wie Otto Günther zu viel. Anfang Oktober 1933 forderte der Chemnitzer Ortsgruppenvorsitzende bei Irene Eucken eine klare Stellungnahme „zur Gegenwart“ ein. Er warte seit Monaten vergebens auf „eine straffe Wegrichtung“ aus Jena. Den Ortsgruppen sei doch nicht geholfen, wenn man die Schriften Euckens aufzähle und zur Lektüre empfehle. Die Welt habe sich schließlich seit Rudolf Euckens Tod bewegt, die politische Lage habe sich völlig verändert. Er wolle nun definitiv wissen: Sage der Bund „Ja“ zur gegenwärtigen Lage „oder lehnt er dies oder jenes ab, oder lässt er sich von der grossen Bewegung mitschleppen“. Er selbst, erklärte Günther, habe sich „als Führer der Ortsgruppe Chemnitz ganz in die Praxis hineingestellt und bejahe die nationale Erhebung aus vollem Herzen und versuche Rudolf Euckens geistige Haltung in die Tat umzusetzen“.41 In Jena und Freiburg nahm man Günthers Brief einigermaßen alarmiert zur Kenntnis. Walter Eucken entwarf ein Antwortschreiben, in dem er durchblicken ließ, dass „führende Kreise der N. S. unsere Arbeit lebhaft begrüßen“. Wenn Günther sehe, „daß Ihr mit den Nazis gut steht, wird er weich“, prophezeite der Nationalökonom seiner Mutter. Im Übrigen war der Entwurf im Ton durchaus konziliant gehalten. In Jena war man allerdings der Meinung, es sei angebrachter, scharf gegen den Chemnitzer Vorsitzenden vorzugehen. „Du weißt nicht, wie gefährlich diese einfachen Lehrer geworden sind“, erklärte Irene Eucken dem Sohn. Trete man ihnen nicht ganz bestimmt entgegen, „verdrehen und verklatschen sie die hochstehendsten Sachen“. In der Antwort, die Benno von Hagen schließlich nach Chemnitz sandte, war von Konzilianz nun gar nichts mehr zu bemerken. Der Euckenbund-Vorsitzende erklärte Günther rundweg, er brauche auf seine Kritik überhaupt keine Rücksicht zu nehmen. Der Bund gründe schließlich auf dem „Führerprinzip, und nicht auf demokratisch-parlamentarischer Basis“. Im Folgenden rückte Hagen Rudolf Eucken und sein Werk ganz nahe an den Nationalsozialismus heran: Sie wissen, dass Rudolf Eucken immer den Glauben an das grosse deutsche Wunder, das geschehen muss, in einzigartiger und herrlicher Weise hochgehalten und verteidigt hat. Nun [da] sich die Stunde erfüllt, an die er geglaubt hat, die zu erleben ihm nicht mehr beschieden war, ist es Dankespflicht, Schicksal[s]schuld und ein besonderes Gebot der 40 ThULB NLRE VI, 12, Mappe 16, o. Bl.: Benno von Hagen an Otto Günther, 28.6.1933; ebd.: Irene Eucken an Günther, 25.9.1933; ThULB NLWE, Materialien zum Euckenbund: Rundschreiben Herbst 1933. 41 ThULB NLRE VI, 12, Mappe 16, o. Bl.: Otto Günther an Irene Eucken, 4.10.1933:

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Lage, sein Werk einzubauen in die Wiedergeburt von Volk und Nation. (…) Unsere feste und zuverlässige Grundeinstellung zu Adolf Hitler und zu seinem Werk in Zweifel zu stellen haben Sie kein Recht, da gerade Sie, als einzigster in unserer Bundesleitung, in früherer Zeit uns oft ermahnten, dem Einfluss der Marxisten keinen zu grossen Widerstand entgegen zu stellen.42

Augenscheinlich hatte der Jenaer Gymnasialdirektor die im „neuen Staat“ herrschenden Diskursregeln bereits gründlich internalisiert. Wenn möglich, berief man sich auf das „Führerprinzip“, jedenfalls aber auf den Willen Adolf Hitlers als unhinterfragbaren Maßstab allen Handelns und Denkens. Und auch eine beiläufig eingestreute Drohung, den Adressaten zu denunzieren, konnte ein brauchbares Mittel der Einschüchterung sein. Hagens Brief war verständlicherweise nicht dazu angetan, die Wogen zu glätten. Günther teilte Irene Eucken unter dem 14. Oktober lapidar mit, er sei aus dem Euckenbund ausgetreten, da es ihm nicht länger möglich sei, „Herrn Oberstudiendirektor Dr. v. Hagen als dem Vorsitzenden des Bundes weiterhin Gefolgschaft zu leisten“. Zwei Tage später nahm der Chemnitzer Mittelschullehrer in einem langen Brief zu den Vorwürfen aus Jena Stellung. Auch Otto Günther wusste natürlich um die Regeln der Argumentation unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur. Auch er hob hervor, wie wichtig es ihm sei, „das Werk Rudolf Euckens einzubauen in die Wiedergeburt von Volk und Nation“. Auch er wollte im Nationalsozialismus die Realisierung der Lehre seines Meisters sehen. Was Günther schreibt, wirkt aber wesentlich authentischer als die vorgestanzten Floskeln, mit denen Hagen versuchte, seinen Kontrahenten in die Schranken zu weisen. „Rudolf Eucken ist das umwertende Ereignis meines Lebens“, beteuerte der Chemnitzer Ortsgruppenvorsitzende. Es ging ihm wohl tatsächlich darum, für sich selbst eine sinnhafte Kontinuität zwischen seinem jahrzehntelangen Engagement für die Lehre des Jenaer Philosophen und seiner Konversion zum Nationalsozialisten herzustellen: Der ethische Aktivismus, die heroische Lebensführung, die wesensbildende Tat usw. usw., alles das sind Gedanken Rudolf Euckens, die heute lebendig sind und Tat werden. Man müßte die übereinstimmenden Momente deutlich herausheben und zusammenfassen: So würde Rudolf Euckens Lebenswerk in die Gegenwart hineinwirken.43

42 Ebd. V, 12, Bl. 241: Walter an Irene Eucken, undatiert [wohl Anfang Oktober 1933]; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 9.10.1933; ThULB NLRE VI, 12, Mappe 16, o. Bl.: Benno von Hagen an Otto Günther, 9.10.1933. 43 ThULB NLRE VI, 12, Mappe 16, o. Bl.: Otto Günther an Irene Eucken, 14.10.1933; ebd.: Günther an Benno von Hagen, 16.10.1933.

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Günther verhehlte auch nicht, wie sehr er Hagens Äußerungen als persönliche Kränkung empfunden hatte. Vor allem die Bemerkung über seine frühere Nachgiebigkeit gegenüber „den Marxisten“, brachte ihn auf. In sonderbarer Umkehrung der Konstellation musste sich der Vorsitzende des Bundes, der eigentlich die Bewegung auf Distanz zum NS-Regime halten sollte, von dem Chemnitzer SA-Mann und Nazi-Aktivisten vorhalten lassen, er wisse doch, „daß marxistische Gesinnung einen Lehrer aus Amt und Brot bringen kann“. „Der Führer der Euckenbewegung“, so Günther weiter, „hätte das nicht schreiben sollen. Der Satz hat ein fatales Geschmäckle“. Als könnte er sich gar nicht über die perfide Denunziationsdrohung seines Bundesbruders beruhigen, fügte er dann noch als handschriftliches Post Skriptum hinzu: „Um dieses Satzes willen kündige ich Ihnen die Gefolgschaft.“ An seiner „Hingebung an das Werk Rudolf Euckens“ ändere sein Austritt aber nichts, versicherte der Chemnitzer Mittelschullehrer und beendete seinen Brief mit dem Abschiedsgruß: „Mit Rudolf Eucken im Herzen folge ich der Führung Adolf Hitlers. Heil Hitler! Otto Günther“.44 Irene Eucken versuchte nun, auf Günther begütigend einzuwirken und ihn zu bewegen, seinen Austritt aus dem Bund rückgängig zu machen. Die Euckenbund-Chefin appellierte empathisch an Günthers Pflichtgefühl gegenüber seinem Vaterland und seinen beiden Führern. „Der heilige Augenblick, in dem wir Deutsche Alle an dieser neuen Wende stehen, zwingt mich zu sagen, dass ich nicht glaube, dass Rudolf Eucken und auch nicht Adolf Hitler mit Ihren Vorgehen einverstanden wären.“ Nachdem auch ein weiteres Schreiben der Philosophen-Witwe den Ortsgruppen-Vorsitzenden nicht zum Einlenken veranlasst hatte, fuhr sie Mitte November 1933 persönlich nach Chemnitz, „um die leidige Angelegenheit zwischen Hagen – Günther zu ordnen“. Der Besuch gestaltete sich für Irene Eucken wenig erfreulich. Günther habe sie in SA-Uniform vom Bahnhof abgeholt, schrieb sie peinlich berührt ihrer Schwiegertochter. „Ein Herr in diesem Alter und auch mit seinem Körperumfang paßt nicht in diese jugendliche Tracht.“ Sie habe den Eindruck gewonnen, dass Hagens Brief nur ein Vorwand zu Günthers Austritt gewesen sei. Sie vermutete, der Chemnitzer Vorsitzende beabsichtige, den Euckenbund unter seiner Führung gleichzuschalten, um damit seine Stellung in der Partei zu verbessern.45

44 ThULB NLRE VI, 12, Mappe 16, o. Bl.: Otto Günther an Benno von Hagen, 16.10.1933. 45 Ebd.: Irene Eucken an Otto Günther, 15.10. und 25.10.1933; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 16.11.1933. Vgl. ThULB NLRE VI, 12, Mappe 16, o. Bl.: Benno von Hagen an Hoffmann, 22.12.1933; ebd.: Sekretariat Jena an Rudolph Leitem, 15.11.1933.

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Die weitere Entwicklung der Angelegenheit deutet allerdings nicht darauf hin, dass dies wirklich Otto Günthers Intention gewesen war. Günther ließ sich zwar nicht zu einem Rücktritt vom Rücktritt bewegen, doch machte er offenbar keine Anstalten, den Euckenbund unter seine Kontrolle zu bekommen. Ein Teil der Chemnitzer Mitglieder folgte dem ehemaligen Vorsitzenden und verließ ebenfalls den Bund. Die verbliebenen etwa zehn Euckenbündler führten die Ortsgruppe unter dem Vorsitz eines arbeitslosen Angestellten namens Rudolph Leitem weiter. Benno von Hagen leistete Anfang Januar vor der Chemnitzer Ortsgruppe persönlich Abbitte, indem er erklärte, seine Bemerkung über die Nachgiebigkeit Günthers gegenüber den Marxisten zu bedauern. Otto Günther verhielt sich nach seinem Rückzug aus dem Euckenbund durchaus loyal, hielt den Kontakt mit seinen ehemaligen Chemnitzer Mitstreitern aufrecht und gab dem neuen Vorsitzenden den ein oder anderen Ratschlag für den Umgang mit den lokalen Parteiinstanzen. Für die Jenaer Führung des Bundes fand dieser gefährliche Konflikt damit ein glimpfliches Ende. Irene Eucken zog im Dezember 1933 ein stoisches Fazit aus der Affäre Günther: Wir müssen immer und immer wieder sagen, daß es nervöse und ängstliche Menschen gibt und ruhige und tapfere. Die ersteren sind unbedingt für die sogenannte Gleichschaltung, … Zu diesen gehört Wille-Kiel und Günther-Chemnitz, daran ist nichts zu ändern.46

Die verweigerte Gleichschaltung hatte allerdings für die Chemnitzer Ortsgruppe offenbar den Preis, dem NS-Regime besonders demonstrativ Loyalität zu bekunden: Zum „Führergeburtstag“ am 20. April 1934 sprach am „Leseabend“ des Euckenbundes ein Thüringer NS-Kulturfunktionär über „Die politische Dichtung des Nationalsozialismus“. Im folgenden Monat trug Rudolph Leitem selbst über Theodor von der Pfordtens Tragik des Idealismus vor. Auch der Idealist müsse, so Leitems Quintessenz, „mit den Füßen auf der Erde stehen bleiben, wenn er in den Himmel hinauf greift“. Und genau dies habe „unser Führer“ getan, „der trotz seines glühenden Idealismus den Boden nicht unter den Füßen verlor und in dem Augenblick, als er sich durchgesetzt hatte, mit scharfem Verstand seine Idee zu realisieren, in die Tat umzusetzen begann“. Die Grenze zwischen

46 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 5.12.1933. Vgl. ThULB NLRE VI, 12, Mappe 16, o. Bl.: Erklärung Benno von Hagen, 6.1.1934; ebd. VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Rudolph Leitem an Irene Eucken, 18.5. und 26.5.1934; ebd. VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Leitem an Hagen, 18.1.1934. Zu Leitems beruflicher Situation vgl. seinen Brief an Irene Eucken vom 24.2.1935 (ebd.): „Ich bin im Reklamebüro der Werkzeugmaschinenfabrik J. E. Reinecker tätig. Durch die Anstellung verdiene ich erstmals seit drei Jahren wieder etwas.“

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„Gleichschaltung“ und „Nicht-Gleichschaltung“ erscheint hier doch ziemlich verwischt.47 Im Frühjahr 1934 war die Zeit des Abwartens und Hinhaltens auch für die Jenaer Führung vorbei. Das Regime hatte sich nun offenkundig konsolidiert und es galt, ein dauerhaftes Arrangement für die weitere Tätigkeit des Euckenbundes im „Dritten Reich“ zu finden. Im Mai 1934 ließ Irene Eucken eine von ihrer Tochter Ida verfasste Denkschrift für den inneren Familienkreis zirkulieren. Man sei sich, so heißt es da, im Vorstand bewusst, dass sich Euckenbund und Tatwelt in einer ideellen Krise befänden. Eine Überwindung dieser Krise sei nur zu erreichen, wenn „eine Persönlichkeit gefunden würde, die einmal volle Anerkennung in der Partei geniesst, die sich dabei gleichzeitig zum deutschen Idealismus und Euckens Lehre bekennt“. Es erscheint beinahe unnötig zu erwähnen, dass die Euckenbund-Chefin eine solche Persönlichkeit bereits ins Auge gefasst hatte. Einige Wochen zuvor hatte sie Otto Most gefragt, ob es nicht ratsam sei, zu den Planungen für die Haupttagung des Bundes im Herbst, „einige alte Nationalsozialisten heranziehen“. Auch bei Rudolf Voß stieß Irene Eucken mit diesem Vorschlag auf offene Ohren. Der Hallenser Ortsgruppen-Vorsitzende hielt es für gut, „wenn möglichst viele alte Nat. Soz. gewonnen werden“, und fügte ein wenig überoptimistisch hinzu: „Man muß in den maßgebenden Kreisen zu der Überzeugung kommen: Mitglied des E. B. zu sein, ist ebenso hoch anzuschlagen wie Mitgl. der NSDAP zu sein.“ Es fand sich dann auch bald ein Mann, der dem Anforderungsprofil der Philosophen-Witwe entsprach. Otto Most brachte am 9. Mai 1934 den Chefsyndikus der Industrie- und Handelskammer München, Dr. Hans Buchner, zu einer Besprechung nach Jena mit. Arnold Eucken war aus Göttingen angereist, Walter Eucken war verhindert, hieß aber die Einbeziehung Buchners ausdrücklich gut. Auch Voß. Hagen und Hedemann nahmen an dem Treffen in der Euckenvilla teil.48 Die Besprechung verlief offenbar nach den Wünschen Irene Euckens. Buchner habe allen Teilnehmern sehr gefallen, berichtete sie am folgenden Tag nach Freiburg. „Er ist ein überzeugter Anhänger Vaters. Er wünscht, daß seine Ideen mehr Einfluß auf die Jugend gewinnen. Er ist bereit, für unsere Aufgaben mit uns zu arbeiten.“ Buchner sei ein „alter Kämpfer“ der NSDAP mit einer Partei47 Zitat nach: ThULB NLRE VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Ausschnitt Allgemeine Zeitung Chemnitz, 13.5.1934. Vgl. ebd: Ausschnitt ohne Angaben [April 1934]; ebd.: Rudolph Leitem an Irene Eucken, 27.4. und 18.5.1934. 48 ThULB NLWE: Korrespondenz zum Euckenbund: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 16.5.1934: Anlage; ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Irene Eucken, 28.4.1934. Vgl. ebd. V, 6, Bl. 228: Irene Eucken an Otto Most, 14.4.1934; VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Irene Eucken an Voß, 23.4.1934 (Entwurf); ebd. V, 12, Bl. 28: Walter an Irene Eucken, 3.5.1934.

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buchnummer um die 50, wollte die Euckenbund-Chefin in Erfahrung gebracht haben. Tatsächlich konnte Hans Buchner eine lange Parteikarriere vorweisen. Er hatte 1923 am Hitler-Putsch teilgenommen und war Wirtschaftsredakteur des Völkischen Beobachters gewesen. 1933 übernahm er die Geschäftsführung der IHK München und fungierte zugleich als Gauamtsleiter und Gauwirtschaftsberater der NSDAP für München-Oberbayern. Man vereinbarte, dass Buchner die Hauptrede auf der Jahrestagung des Bundes halten sollte. Im Übrigen sei das Wort „Nationalsozialismus“ während der Besprechung nicht einmal gefallen. Hans Buchner wurde schließlich im Oktober 1934 in die Hauptleitung des Bundes aufgenommen. Was sich Irene Eucken von der Kooptation Buchners in das weitere Führungsgremium des Euckenbundes versprach, lässt sich zwischen den Zeilen aus ihren schriftlichen Äußerungen erschließen. Offenkundig erscheint, dass sie einen möglichst einflussreichen Nazi für den Bund rekrutieren wollte, um Zugriffsversuche aus der Partei abwehren zu können. Dass Buchner als Wirtschaftsfunktionär nicht in der Kulturbürokratie des Regimes eingebunden war, hielt sie eher für einen Vorteil, denn er werde dann nicht versuchen wollen, Einfluss auf die Arbeit des Bundes oder den Inhalt der Tatwelt zu nehmen. Der Münchener Syndikus schien zudem eine wertvolle Informationsquelle für die geplante Ausweitung der Auslandsaktivitäten von Bund, Haus und Tatwelt zu sein. Buchner sei bereit, so Irene Eucken, „an geeigneten Stellen zu fragen, wenn wir irgend bei politischen Persönlichkeiten zweifelnd über ihre frühere Deutschfeindlichkeit, besonders im Kriege, sind.“49 Doch Irene Eucken war sich letztlich sehr wohl bewusst, dass selbst der Schutz, den ein „alter Kämpfer“ in einflussreicher Position möglicherweise bieten konnte, wenig an einem basalen Problem öffentlichen Wirkens in der Diktatur änderte. „Wir wissen“, schrieb sie Anfang August 1934 an Otto Most, daß seit dem letzten Mai sehr viel vorgegangen ist, was sowohl uns im Lande, als im Auslande beeinflußt. Es ist das Wort Begebenheiten oder Ereignisse. Diese sind so übermächtig, daß wir alle von kulturellen Fragen abgezogen werden und nur auf das achten und auch innerlich, vielleicht auch in kulturellem Sinne das durchdenken, was die Ereignisse umgeben. Es will mir scheinen, daß, wenn wir nicht irgendwie diese Ereignisse berühren, die Tatwelt für uns augenblicklich blutleer bleibt.

Bei den Begebenheiten und Ereignissen, auf die Irene Eucken hier referierte, handelte es sich wohl um den den missglückten Versuch der österreichischen Nazis, mit einem Staatsstreich in Wien die Macht zu übernehmen, und den sog. 49 ThULB NLWE: Korrespondenz zum Euckenbund: Irene an Walter Eucken, 10.5. und 29.10.1934. Vgl. ThULB NLRE V, 4, Bl. 1089: Otto Most an Irene Eucken, 10.10.1934. Zu Buchner: Modert, Motor, S. 153–161.

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Röhm-Putsch, die brutale „Liquidierung“ der SA-Führung und anderer missliebiger Personen, die auch einen Tatwelt-Autor, Edgar Jung, das Leben gekostet hatte. Die schockierenden Terrorakte des Regimes im Sommer 1934 führten der Philosophen-Witwe deutlich ins Bewusstsein, dass es mittlerweile eine ausgeweitete Tabu-Zone von Themen gab, zu denen der Euckenbund und seine Zeitschrift nicht mehr gefahrlos Stellung nehmen konnten, und sich niemand im Umkreis ihrer Redner und Autoren fand, der sich dazu äußern wollte. Eine schöne Rede über den Idealismus bei Plato könne zwar sehr erhebend sein, so fuhr Irene Eucken fort. Aber wer wird das sagen, wonach wir uns sehnen? Wer wird die Worte über Einheit und Freiheit finden, die doch unbedingt zum wahren, großen Idealismus dazu gehören? Wir werden schwanken zwischen Phrasentum und schwer wissenschaftlichen Darstellungen.50

Zwischen den Zeilen der Tatwelt Ganz so „blutleer“, wie sie Irene Eucken erklärte, war die Quartalsschrift des Euckenbundes dann wohl doch nicht. Die Jahrgänge 1933 und 1934 der Tatwelt enthalten zahlreiche Abhandlungen, in denen es um Fragen der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung geht. Gegen den Strich gelesen, kann man in einer ganzen Reihe von Aufsätzen mehr oder minder untergründige Kritik am Nationalsozialismus und an der Praxis des NS-Regimes ausmachen. Anders als bei den Veranstaltungen der noch aktiven Euckenbund-Ortsgruppen oder auch in Verlautbarungen des Gesamtvorstands finden sich in der Tatwelt weder Loyalitätsbekundungen an die nationalsozialistischen Machthaber noch versuchte man hier, Leben und Werk Rudolf Euckens posthum zu nazifizieren. Allerdings war gleich der erste Beitrag im April-Heft 1933 von einem Nationalsozialisten verfasst worden (ohne dass dies dem Leser explizit gemacht worden wäre). Der Kulturphilosoph Paul Krannhals ließ sich hier über „Ende oder Wiedergeburt der Persönlichkeit?“ aus. Zum Zeitpunkt der Abfassung des Aufsatzes war den Nationalsozialisten offenkundig noch daran gelegen, in einem publizistischen Forum des liberal-konservativen Bildungsbürgertums die Besorgnis über das ominöse S-Wort im Parteinamen zu zerstreuen. Krannhals kommt denn auch gleich zum Thema, wenn er das „merkwürdige Schauspiel“ anspricht, dass das Schlagwort „Sozialismus“ als Standpunktcharakterisierung von zwei sich erbittert bekämpfenden „Massenlagern“ zugleich in Anspruch genommen werde. 50 ThULB NLRE V, 6, Bl. 230: Irene Eucken an Otto Most, 4.8.[1934].

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Nun seien „Sozialismus“, „Demokratie“, „Proletariat“ usw. Sammelbegriffe, „welche eine Masse von Menschen im Unterschiede zum einzelnen Individuum kennzeichnen“ und als solche „durchaus im Massengeist zu Hause“. Hingegen könne die Masse mit dem Gegenbegriff der „selbstverantwortlichen, selbstdenkenden, selbständigen Persönlichkeit“ nichts anzufangen.51 Krannhals setzt nun zum Versuch an, der Masse den Makel zu nehmen, der ihr im bildungsbürgerlichen Diskurs gemeinhin anhing. Man müsse nämlich zwischen einer „mechanischen“ und einer „organischen“ Masse unterscheiden: „Die Masse als reine Quantität, als die Macht der Zahl, gehört dem Reiche des Mechanischen an. Die Masse als Qualität, als die Massenseele, ist, ebenso wie die Persönlichkeit, im Reiche des Organischen zu Hause.“ Für die Nationalsozialisten als den „Anwälten der organischen Masse“ sei die Inanspruchnahme des Schlagwortes „Sozialismus“ lediglich ein taktisches Mittel gewesen, das die politische Situation der Zeit erfordert habe, was aber von dem erstrebten Ziel, der Volksgemeinschaft, streng zu unterscheiden sei. Die „innerlich zusammengehörige“ nationale Volksgemeinschaft wird nun umstandslos zur Herrschaft der organischen Masse erklärt. Sie stelle „ihrer Idee nach eine vielgliedrige Lebensform“, eine „organische Gemeinschaft von Persönlichkeiten“ dar. In diesem Sinne sei nun die „Herrschaft der Masse als ein notwendiges Mittel zur Wiedergeburt der Persönlichkeit“ aufzufassen. Es liege darin eine dem Marxismus entgegengesetzte positive innere Haltung, die sich nicht auf die „revolutionäre Enteignung der 3 % Besitzenden“ richte, sondern „der unbehinderten Herrschaft des Leistungsprinzips auf allen menschlichen Wirkungsgebieten“ den Weg bahne. „Das der Gesamtheit gegenüber immer zugleich verpflichtende Eigentum“ sei ein bedeutsamer Faktor der Persönlichkeitstradition und der Erhaltung einer Führerschicht, in der echtes Persönlichkeitsbewusstsein lebendig gepflegt werde. Diese Führerschicht sei nicht durch ihren Besitz bestimmt, sondern es sei umgekehrt der Besitz „eine Folgeerscheinung der Distanz echter Leistungen gegenüber dem Durchschnitt“.52 Paul Krannhals war seit den 1920er Jahren in der NSDAP aktiv gewesen und hatte 1929 zu den Gründern des Kampfbundes für deutsche Kultur gehört. In seinem 1928 veröffentlichten zweibändigen Werk Das organische Weltbild entwickelt er völkische Gemeinschafts-Vorstellungen. Sein Name findet sich allerdings auch auf der Liste der „Gesinnungsgenossen“, die Rudolf Eucken 1919 im Vorfeld der Gründung des Euckenbundes aufgestellt hatte. Krannhals hatte bereits 1930 einen Artikel in der Tatwelt veröffentlicht, ein allgemein gehaltenes Essay über Metaphysik und Philosophie. Irene Eucken teilte ihrer Schwieger51 Krannhals, Ende, S. 3f. 52 Ebd., S. 5–9.

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tochter bei dieser Gelegenheit mit, „dieser Krannhals“ sei „früher begeisterter Anhänger v. Vater“ gewesen, „jetzt hat er ihn … nicht mal in seinem Buch ‚organisches Weltbild‘ erwähnt.“ Bruno Jordan monierte in einer Rezension im folgenden Jahr, vom Geist Euckens sei kaum etwas auf seinen Schüler Krannhals übergangen. Der zeige, im Gegenteil, oft eine gefährliche Nähe zu biologischem Denken. In seinem Tatwelt-Aufsatz vom Frühjahr 1933 verzichtete Krannhals auf rassenideologische Begründungszusammenhänge. Dass sein alter Meister die Vorstellung einer „Wiedergeburt der Persönlichkeit“ aus der Herrschaft der „organischen Masse“ goutiert hätte, mag man allerdings bezweifeln.53 Gleich im Anschluss an Krannhals’ Aufsatz gab der Freiburger Historiker Gerhard Ritter, ein enger Freund des Hauses Eucken-Erdsiek, den Lesern der Tatwelt unter dem Titel Ewiges Recht und Staatsinteresse eine „geschichtliche Orientierung zur gegenwärtigen Lage“. Die verfassungswidrige Abwicklung des demokratischen Staates stellte für Ritter offenbar kein Problem dar. Es gehöre zum „Wesen jeder Revolution“, so erklärt er in der Einleitung lapidar, „daß sie einen gegebenen Rechtszustand durchbricht, um neues Recht an die Stelle des geltenden zu setzen.“ Im Übrigen gilt ihm „der liberale Staatsgedanke als veraltet, rückständig, ja fast verächtlich“. Bereits in der Weimarer Verfassung seien vom liberalen Gleichgewicht der Gewalten „nur noch Trümmer übrig geblieben“. Zwar seien die Freiheitsrechte des Individuums als Grundrechte in die Verfassung aufgenommen worden. Die Vorstellung, dass diese verbrieften Rechte über dem Gutdünken der politischen Machthaber stehen, habe sich aber als Irrglaube erwiesen. Diese Vorstellung gelte der „Masse der Menschen nichts mehr im Vergleich mit ihren Parteiidealen“, denen sie „mit religiöser Inbrunst“ anhingen. Es sei eben „ein Wesensmerkmal der modernen Massenpartei, daß sie in ihrem Willen den Gesamtwillen der Nation zu verkörpern beansprucht“. Eben dieser Parteienherrschaft sollte in dem neuen Staat, der Gerhard Ritter im Frühjahr 1933 vorschwebte, ein Riegel vorgeschoben werden: Was wir brauchen, ist eine Erneuerung unseres Staates als echter Volksstaat, aber in germanisch-christlichem Sinn, d. h. als ein Staatswesen, in dem geführt und gehorcht wird, doch ohne Vernichtung freien Eigenlebens, ohne uniformierende, geistlose Gewalt. Was wir brauchen, ist: daß wir uns endlich frei machen von romanischen und angelsächsischen Vorbildern, daß wir uns endlich besinnen auf die historischen Grundlagen unseres eigenen Staates und Volkstums. Aus dem Erbe unserer deutschen Geschichte sollten wir den Nationalstaat der Zukunft gestalten: als eine Vereinigung des von Stein Gewollten mit

53 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 17./ 19.1.1930; Die Tatwelt 7, 1931, S. 39f. Vgl. ebd. 6, 1930, S. 41–45; ThULB NLRE VI, 12: Liste „Gesinnungsgenossen“, undatiert [1919]. Zu Krannhals vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/ Paul_Krannhals

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dem von Bismarck Geschaffenen: als einen Staat, in dem eine starke autoritäre Führung freiwillige Gefolgschaft findet, weil sie das ewige Recht und die Freiheit zu achten weiß.

Möglicherweise schwante es dem Freiburger Ordinarius bereits zum Zeitpunkt der Abfassung seines Tatwelt-Aufsatzes, dass der nationalsozialistische Mehrheitskoalitionär zwar die autoritäre Führung beanspruchen, sich aber aber um das Recht und die Freiheit des Einzelnen kaum scheren würde. In seinem Text warnt er vor dem „totalen Staat“, dessen Wesen es sei, dass „alles Leben von der Politik her bestimmt sein soll, das private Dasein so gut wie das öffentliche – vor allem auch das Recht. Daß alles Recht verschlungen ist von der politischen Konvenienz.“54 Der Freiburger Rechtshistoriker Claudius von Schwerin griff in seiner Abhandlung Vom germanischen Staat im folgenden Tatwelt-Heft, das im Juli 1933 erschien, noch weiter in die Geschichte zurück. Auch dieser Aufsatz kreiste um die diskursiven Pole „Freiheit“, „Gemeinschaft“ und „Führertum“. Schwerins imaginierte Germanen gingen (1.) alle Bindungen aus freiem Willen ein. Ihnen war (2.) „das Bewußtsein der Gemeinschaft nicht Ergebnis verstandesmäßiger Überlegung, sondern eine unausweichliche innere Haltung“: Der Germane „zweifelte nicht daran, daß das Interesse der Gesamtheit dem des Einzelnen vorging“. Der von der Volksversammlung als Führer gewählte Herzog war aber (3.) „Inhaber einer unbeschränkten Gewalt.“ Auch diese Variante idealistischer Staatsphilosophie verließ sich auf die Formel von freiwilliger Unterordnung in die Notwendigkeit, das Wesen der „Deutschen Freiheit“, wie es Rudolf Eucken so oft gefeiert hatte. Welcher dieser widerstrebenden Elemente – individuelle Freiheit, Gemeinschaftsbindung und bedingungsloser Gehorsam – im Zweifelsfall zu gelten hatte, blieb auch hier weitgehend offen. Immerhin betont Schwerin, dass dem Führer eine unbeschränkte Gewalt nur im „Augenblicke höchster Gefahr für das Ganze“ übertragen wurde. Nach „Beendigung der Gefahr und dem Rücktritt des nur für die Zeit der Not gewählten Führers“, nahm der einzelne Germane seinen Teil an der Staatsgewalt wieder an sich. Immer gelte aber: „dieser Führer ist gewählt, seine Macht aufgebaut auf dem Willen jedes Einzelnen.“55 Irene Eucken verstand den Artikel Schwerins augenscheinlich als geeigneten Beitrag im sublimen Ringen mit dem Nationalsozialismus um die Besetzung diskursiver Begriffe. Im November 1933 berichtete ihr ein Chemnitzer Euckenbund-Mitglied, der Oberlehrer Hoffmann, er sei vom örtlichen Stahlhelm aufgefordert worden, über „Deutschlands Neuordnung“ zu reden. Dieses Ansinnen 54 Ritter, Recht, S. 11, 18f. Vgl. auch Schwabe, Weg, S. 192f; zu Ritters Haltung zum Nationalsozialismus allgemein vgl. Cornelißen, Ritter, S. 227–246. 55 Schwerin, Staat, S. 53, 55. Vgl. zu Schwerin: Hollerbach, Lehre, S. 100.

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bereitete ihm offenkundig gehörige Bauchschmerzen. Einer seiner Bundesbrüder habe dort schon über die „geschichtl. Grundlagen des III. Reiches“ vorgetragen und es sei ihm, Hoffmann, so vorgekommen, als habe der Referent „Manches, gegen seine innere Überzeugung gesprochen“. „Das liegt mir nicht“, beteuerte er. „Für mich ist das Wort, was Sie bei uns prägten, maßgebend: ‚Der Geist muß frei bleiben!‘“. Die Frau Geheimrat verwies den Chemnitzer Lehrer auf den Schwerin-Aufsatz, der ihm den Stoff für einen schönen Vortrag liefern könnte, „den Sie ohne jede geistige Bindung in voller geistiger Überzeugung halten könnten“.56 Im Oktober-Heft der Tatwelt folgten zwei weitere Aufsätze von Freiburger Universitätslehrern, die sich als Kommentar zur aktuellen politischen Lage lesen lassen. Der Privatdozent Friedrich Lutz, ein Schüler Walter Euckens, wählte einen recht originellen Umweg, um sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinander zu setzen. Er schrieb über den mittlerweile obsoleten „Tat“-Kreis, der pars pro toto stehen sollte „für eine ganz bestimmte, für die Gegenwart typische Geisteshaltung“. Lutz fokussierte seine Kritik – ganz euckenianisch – auf den „anthropozentrischen relativistischen Standpunkt“, der im Menschen das Maß aller Dinge sehe, und als dessen „geistigen Stammvater“ er Friedrich Nietzsche ausmachte. Die Folge dieser Geisteshaltung sei, dass „ein den einzelnen Lebensgebieten immanentes Schwergewicht nicht anerkannt wird“. Nach seinem eigenen Verständnis habe jedoch jedes Gebiet „seine eigenen an der Idee dieses Fachgebietes ausgerichteten Aufgaben und Anforderungen“. „Die Wissenschaft unter der Idee der Wahrheit“ habe demnach die Aufgabe, Zusammenhänge des Naturgeschehens oder der menschlichen Geschichte objektiv zu erklären. Dies betrachtete der Freiburger Privatdozent als „eine in sich ruhende Aufgabe, die der Menschheit ewig und unabänderlich gestellt ist.“57 Im gleichen Heft meldete sich Walter Eucken selbst zu Wort. Und auch sein Text, lakonisch Denken – Warum? betitelt, ist als eine Verteidigung der Freiheit von Lehre und Wissenschaft zu lesen und kam ohne viel Camouflage aus. „Angst vor der Ratio, Geringschätzung des Denkens, Vertrauen auf andere Kräfte des Menschen“, dies seien wesentliche Kennzeichen der Epoche, in der wir lebten, diagnostizierte der Nationalökonom. Taten seien der Gegenwart wichtiger als Wahrheiten, Handeln wichtiger als Denken, Gefühl und Stimmung wichtiger als Vernunft. Wenn also der heutige Massenmensch das Denken nicht liebt, weil es unbequem und zeitraubend ist, wenn die Literaten in der Verfemung der Vernunft sich überbieten, als ob sie 56 ThULB NLRE VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Briefwechsel Irene Eucken – O. Hoffmann, 23.11. und 26.11.1933. 57 Lutz, Geisteshaltung, S. 107f.

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eine nebensächliche oder schädliche Eigenschaft des Menschen wäre, wenn politisierende Ideologen uns auffordern, der Stimmung zu folgen und nicht vernünftiger Überlegung, so liegt dem allen ein fundamentaler Irrtum zugrunde: Es ist die Ansicht von einer bloß subjektiven Geltung des logisch-richtigen Denkens …

Nachdem er solchermaßen die Nationalsozialisten mit einer eindrucksvollen Reihe bildungsbürgerlicher Invektiven – „Massenmenschen“, „Literaten“, „politisierende Ideologen“ – bedacht hatte, konzedierte Walter Eucken, auch er lehne eine einseitige Überschätzung reinen Erkennens und reinen Denkens ab. Doch dürfe der Teufel nicht mit dem Beelzebub ausgetrieben werden. Es sollte dies das letzte Mal sein, dass in der Zeitschrift, die Walter Eucken wesentlich geformt hatte, ein Beitrag aus seiner Feder erschien.58 Im Herbst 1933 wurde solche wenig verklausulierte Kritik am Nationalsozialismus offenkundig bereits als Wagnis angesehen. „Walters Artikel in der Tatwelt gefällt allgemein sehr“, schrieb Mutter Eucken aus Jena nach Freiburg. „Man findet es erfreulich, daß er nicht beanstandet wurde.“ Dennoch kann man auch im folgenden Jahrgang der Zeitschrift des Euckenbundes Beiträge entdecken, die kritisch Position gegenüber Aspekten nationalsozialistischer Ideologie und Politik bezogen. Im April-Heft 1934 schrieb Gerhard Budde über Sozialpädagogik oder Individualpädagogik. Er wiederholte dabei seine seit der Vorkriegszeit bekannten Positionen, die aber nun entschieden „unzeitgemäß“ klangen. Der Hannoveraner Pädagoge griff hier jegliche Form von „Sozialpädagogik“ an, „die ihren Standort nicht im Individuum, sondern in der Gemeinschaft nimmt.“59 Direkt auf Buddes Artikel folgt ein Beitrag, dessen politische Anstößigkeit sich weniger aus seinem Inhalt ergab, als aus der Person, der er gewidmet war. Es war dies eine Würdigung des jüdischen Philosophen Edmund Husserl zu seinem 75. Geburtstag. Husserl wohnte in Freiburg und stand bis zu seinem Tod 1938 in freundschaftlichem Kontakt mit dem Ehepaar Eucken-Erdsiek.60 Schließlich setzt sich, immer noch im gleichen Heft, Marie Luise Gräfin Strachwitz mit der Ideenwandlung des italienischen Faschismus auseinander und meint damit offenkundig auch dessen deutsche Variante. Die Faschisten würden den Kampf um das Ideal des Vaterlandes so hoch über alles stellen, dass sie eine Diktatur einem „Leben nach den früheren liberalen Grundsätzen vorziehen“ würden. „Pressefreiheit, Wahlreform liberaler Tendenz sind für den Faschisten inzwischen indiskutabel geworden. Straffe Führung stattdessen, und 58 W. Eucken, Denken, S. 148, 151f. 59 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 11.11.1933; Budde, Sozialpädagogik, S. 6, 10. 60 Die Tatwelt 10, 1934, S. 15–32. Vgl. Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 74f.

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wo die nicht ausreicht: Zwang. Die Diktatur hat sich durchgesetzt, die einen beugen sich ihr freiwillig und begeistert, die anderen gezwungen.“ Doch, so gibt die Breslauer Gräfin zu bedenken, zu straffer Zwang erzeuge leicht Heuchelei, „eine höchst unerfreuliche Spitzelwirtschaft und Angeberei; Rachsucht und Neid wurden vielfach in den kleinen Leuten geweckt“. Zudem sei auch manche gesunde individualistische Tendenz als staatsfeindlich gebrandmarkt worden. Die „Ideenwandlung“ des italienischen Faschismus, die Strachwitz erkannt haben will, verbindet sie in ihrem Artikel augenscheinlich mit der Hoffnung, dass auch der Nationalsozialismus bald zur Vernunft kommen möge: „Die Faschisten haben es lernen müssen, daß das, was sie als Ziel sehnsüchtig vor Augen hatten, schneller durch Vernunft erreicht wird, als durch die Mittel, die die Begeisterung verlangt“.61 In den beiden letzten Nummern des Jahres 1934 räumte die Redaktion der Tatwelt dem Freiburger Wirtschaftsjuristen Franz Böhm mehr als 40 Druckseiten Platz ein, um sich in systematischer Weise mit dem Verhältnis von Recht und Macht auseinander zu setzen. Böhms Abhandlung enthält zwar war keine explizite Stellungnahme zum Nationalsozialismus. Doch die Grundzüge der Staatsrechtslehre, die er hier entwickelt, widersprechen den Prinzipien und der Praxis des nationalsozialistischen Staats in zahlreichen Aspekten diametral. Am Ausgangspunkt von Böhms Überlegungen steht die Forderung, dass alles Gemeinschaftsleben seine sittliche Grundlage in den Lehren der christlichen Religion zu finden habe. Der Sinn allen sozialen Lebens sei wiederum in der Verwirklichung des Sittlichen zu suchen und nicht etwa in der „Selbsterhaltung der Art, der Bluts- oder Geschichtsgemeinschaft, die Existenzverteidigung, der Kampf um Lebensraum, Lebensrecht, Ehre, Selbständigkeit und Freiheit nach außen“. Bei diesen letztgenannten Auffassungen, also faktisch den nationalsozialistischen Letztbegründungsformeln staatlicher Existenz, handele es sich um „die Übertragung eines glatten Materialismus aus der Welt des Individuellen in die Welt des Sozialen, Nationalen und Rassenmäßigen“. So wenig sich der Sinn des persönlichen Einzellebens in der Erkämpfung gedeihlicher Bedingungen erschöpfe, so wenig sei auch die Bestimmung eines Volkes erfüllt, wenn es sich damit begnüge, zu existieren und seine Existenz für die Zukunft zu sichern und zu verteidigen.62 Franz Böhm will in den Grundkategorien Freiheit, Gehorsam und Macht keine originären ethischen Werte sehen, sondern lediglich „Instrumente im Dienste der Wertverwirklichung“. Die Rechtsordnung erkenne Gehorsam, Freiheit und Macht als rechtlich geschützte Sozialbeziehungen nur da an, „wo sie 61 Strachwitz, Ideenwandlung, S. 49f. 62 Böhm, Recht, S. 118, 125f.

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ihrer bedarf, um das Gemeinschaftsleben gerecht und zweckmäßig zu ordnen“. Daher sollten nur nur solche Gemeinschaftsaufgaben mit einer Herrschaftsordnung ausgestattet werden, „bei denen die gedeihliche Zusammenarbeit der Rechtsgenossen am besten in der Weise sichergestellt wird, daß einer befiehlt und die anderen gehorchen“. Umgekehrt sei aber da Freiheit vorzusehen, wo zu erwarten sei, „daß der Einzelne seine Fähigkeiten zum Wohle des Ganzen breiter entfalten und nachhaltiger einsetzen wird, wenn er in der Luft der Freiheit atmen darf, als wenn seinem schöpferischen Vermögen durch Befehl, Zwang, Gebot und Verbot von außen die Entfaltung verkümmert wird“. Böhms konservatives Staatsverständnis kommt besonders in der Übertragung eines weitgehenden Handlungs- und Entscheidungsspielraum an die staatliche Exekutive zum Vorschein. Die Vergangenheit, sprich: die Weimarer Demokratie, habe gelehrt, dass man zwar Machtkontrollen jeder Art in die Verfassung einbauen könne, „die Macht in sich selbst aufspalten und den einen Träger von Macht dem anderen als Aufseher setzen“, dass man „endlich die Willensbildung der höheren Machtträger durch Einführung parlamentarischer Verfahrensordnungen komplizieren“ könne. Dann müsse man aber auch in Kauf nehmen, „daß die zur Lösung der entscheidenden politischen Aufgaben berufene Instanz entsprechend aktionsunfähiger wird“. Kurz: Franz Böhms Ausführungen lesen sich genauso autoritär wie die Vorstellungen, die seiner Freiburger Historikerkollege Ritter im Frühjahr 1933 in der Tatwelt verbreitet hatte.63 Ebenso typisch wie die konservative Seite, kommt in Böhms Text die liberale Seite bildungsbürgerlichen Ordnungsdenkens zum Ausdruck. Während dem Staat (und seinen leitenden Beamten) weitgehende Machtkompetenzen zugeordnet werden, soll dem „geistigen Schaffen“ und „der beliebigen Mitteilung der Ergebnisse dieses Schaffens an andere“ größtmögliche Freiheit zukommen. Die Folgen verweigerter geistiger Schaffens- und Meinungsfreiheit beschreibt Böhm in so eindringlicher Weise, dass man vermuten kann, dass hier nicht zuletzt die Erfahrungen von anderthalb Jahren nationalsozialistischer Herrschaft zum Ausdruck kommen: Man kann es immer wieder beobachten, wie sich in einem solchen Falle alsbald Strebertum und Ketzerverfolgungspsychose breitmachen, wie also eine moralische Atmosphäre entsteht, die vergiftend in den Bereich des geistigen Schaffens selbst übergreift. Durch den machtmäßigen Eingriff in die Mitteilungsfreiheit wird eben zugleich immer auch die Schaffensfreiheit selbst angetastet, da es plötzlich für den geistig oder künstlerisch Schaffenden lukrativ wird, seine Mission gegenüber der Wahrheit und der Kunst zu verraten und solche Gedanken zu äußern, solche Werte zu schaffen, die den Inhabern der politischen Macht genehm sind, während es andererseits gefährlich ist, der wahren Mission zu

63 Ebd., S. 170, 178f.

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dienen, wenn die Ergebnisse dem Staate, seinen Leitern und Beamten oder einer herrischen und drohenden öffentlichen Meinung nicht zusagen.

Für den Freiburger Juristen waren daher politische Macht und geistige Schaffensfreiheit „Blankovollmachten, deren man schlechthin bedarf, wenn man ihre Früchte will; sie vertragen keine Einschränkungen und Kontrollen, ohne daß der schöpferische Prozeß beeinträchtigt wird“. Am Ende seines zweiteiligen Aufsatzes kommt Franz Böhm zu der heiklen Frage, was passiere, wenn „die letzte und höchste Herrschaftsgewalt, die das Recht verleiht, ihre Kraft gegen das Recht selbst kehrt“. Seine Antwort klingt allerdings angesichts der deutschen Realität im Herbst 1934 ziemlich ratlos: „Einzige Garantie gegen den Mißbrauch der Macht ist das Vorhandensein einer starken und unerschütterlichen Kraft des Rechtsbewußtseins und des sittlichen Vermögens im Volke selbst.“64

Von Freiburg nach Jena: Die Tatwelt-Redaktion 1933/34 Irene Eucken hatte bereits im Herbst 1933 begonnen, ihre Bemühungen, den Euckenbund, das Rudolf-Eucken-Haus und Die Tatwelt an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen und abzusichern, in eine Gesamtstrategie zu integrieren. Unter dem 1. November 1933 legte sie Walter Eucken ihre Überlegungen in ausführlicher Form vor. Es gehe ihr darum, „eine Rückversicherung zwischen Haus – Bund und Tatwelt anzustreben“. Alle drei Institutionen müssten „unpolitisch“ blieben und „kulturellen Fragen dienen“. Einerseits sei es notwendig, den Euckenbund und seine Zeitschrift wirtschaftlich abzusichern. Andererseits „muß etwas gefunden werden, was dem Hause die Möglichkeit gibt, ohne unerwartetes Dazwischenfunken an seiner kulturellen Arbeit festzuhalten“. Drehund Angelpunkt der Überlegungen Irene Euckens war die Ausrichtung auf das Ausland. Ohne „Auslandswirkung“, konstatierte sie kategorisch, werde es keine Sicherung geben.65 In den Verhandlungen im Auswärtigen Amt zeichnete sich in den folgenden Monaten zunehmend ab, dass der Zeitschrift bei der Auslandspropaganda des Rudolf-Eucken-Hauses eine tragende Rolle zukommen würde. Man habe in Berlin eingesehen, berichtete Irene Eucken Anfang Mai 1934 nach Freiburg, „daß wenn das Haus als ein Kulturzentrum sich ausbilden soll, es tatsächlich eine

64 Ebd., S. 179ff 185, 191. 65 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 1.11.1933.

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kulturelle Zeitschrift zur Seite haben muß. Darum ist man bereit, die Tatwelt zu stützen.“66 Einige Tage später informierte die Euckenbund-Chefin ihre Schwiegertochter über die getroffenen Vereinbarungen und fragte an, „ob Du nach den starken Veränderungen die Tatwelt weiter leiten kannst und willst“. Das Auswärtige Amt werde dem Kuratorium des Euckenhauses einen regelmäßigen Zuschuss für den Ausbau der Zeitschrift zahlen. Dadurch trete man, so Irene Eucken, „in gewisse Beziehung, oder sagen wir, Abhängigkeit zu dieser offiziellen Stelle.“ Eine Besprechung der Euckenbund-Führung im kleinen Kreise habe eine „Aktivierung“ der Tatwelt in dem Sinne ins Auge gefasst, „dass sie sich nicht in der Behandlung einzelner staatspolitischer Probleme aeusssert, dass sie aber bewusst aus Eucken heraus in geistige Fühlung zu den grossen kulturellen Strömen tritt, dass sie nunmehr ihre bisher geübte Zurückhaltung dank der Rückendeckung lockern dürfte“. Da Die Tatwelt nun „einen weit ausgedehnteren und mehr beachteten Flug“ als bisher antreten werde, sei es allen Anwesenden als gute Idee erschienen, „wenn wir von uns aus den neuen Mitarbeiter B. bitten, als Herausgeber zu zeichnen.“ Der „neue Mitarbeiter“, das war Hans Buchner, der Münchner Handelskammer-Syndikus und NS-Funktionär.67 Die Konsequenzen, die die Euckenbund-Führung aus der Subventionierung durch das Auswärtige Amt für die inhaltliche und personelle Neuausrichtung der Tatwelt zog, wollten Edith Eucken-Erdsiek nicht einleuchten. Es komme ihr so vor, als würde man in Jena „eine Art Gleichschaltung“ anstreben. Darauf könne sie „selbstverständlich … niemals“ eingehen. Dies würde doch auch gar nicht, so argumentierte Eucken-Erdsiek, in der Intention des Auswärtigen Amtes liegen. „Im Gegenteil scheint es uns gerade wegen unserer charaktervollen Haltung unterstützen zu wollen. Dem A. A. kann nichts daran liegen, daß eine gleichgeschaltete Zeitschrift mehr erscheint.“ Gerade dort wisse man doch, dass solche Erzeugnisse im Ausland nur geringe Achtung genossen. Das Wort „Gleichschaltung“ verbat sich Irene Eucken zwar, doch ruderte sie in ihren Antwortbrief wieder ein beträchtliches Stück zurück. Inhaltlich werde sich Die Tatwelt nicht verändern; es werde nur eine Auslandsabteilung angehängt und Auslandswerbung aufgenommen. Auch sei es ihr nicht wichtig, dass Buchner als Herausgeber zeichne. Sein Name wäre „gleichsam eine Impfung gegen allerlei Unangenehmes gewesen“. Von dem Münchner Funktionär schien ihr keine ernsthafte Gefahr auszugehen. Buchner sei doch nur „ein liebenswürdiger, wei-

66 Ebd.: Irene an Walter Eucken, 1.11. und 2.11.1933; ebd., Korrespondenz zum Euckenbund: Irene an Walter Eucken, 6.5.1934. 67 Ebd.: Korrespondenz zum Euckenbund: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 16.5.1934; ebd.: „Denkschrift über die Gestaltung des zukünftigen Tätigkeits-Bereiches …“.

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cher, etwas romantischer Mann mit grosser Sehnsucht, dass Vaters Einfluss wachsen möge“.68 Die Frage der Herausgeberschaft hatte allerdings noch einen weiteren Aspekt. Edith Eucken-Erdsiek entstammte ja mütterlicherseits aus einer jüdischen Familie. Da für die neuen Machthaber nicht mehr die Konfession, sondern die „Rasse“ zählte, galt sie, obwohl protestantisch getauft, als „Halb-Jüdin“. Irene Eucken sprach diesen Aspekt in ihren Briefen nach Freiburg auch offen an. Es wäre nach Lage der Dinge „einfach dumm“, so teilte sie ihrer Schwiegertochter im Juni 1934 mit, wenn man den „Arierparagraphen“ totschweigen würde. „Wir sind jetzt abhängig von einer Reichs- und einer Landes-Stelle. Daher werden wir schärfer beobachtet werden als bisher, bes. wenn wir Einfluß bekommen.“ Man dürfe keine verletzbare Stelle zeigen. Irene Eucken schlug daher vor, ihr Sohn solle als Herausgeber zeichnen; Edith Eucken-Erdsiek würde dann einfach in der bisherigen Weise weiter arbeiten. Es stehe aber der Schwiegertochter frei, weiter als Herausgeberin zeichnen. Falls dann wirklich eine offizielle Anfrage komme, dann werde sie, kündigte die Euckenbund-Chefin an, „natürlich Bund, Haus, Tatwelt sofort auflösen, denn befehlen lasse ich mir nichts auf diesen Punkt. (…) Man muss einen Schlag parieren, bevor er sitzt.“69 Fürs erste versuchte aber Irene Eucken, ihren Freiburger Sohn zur Übernahme der Herausgeberschaft der Tatwelt zu bewegen und das Kuratorium des Euckenhauses auf diesen Plan einzuschwören. In einer Besprechung der Jenaer Euckens mit Friedrich Stier im Juli 1934 war man sich einig, dass es schwierig sei, eine Persönlichkeit zu finden, die bereit wäre, als Herausgeber zu zeichnen, ohne Entscheidungsrechte zu beanspruchen. Die einzige Lösung, so hielt das Protokoll fest, sei es, Walter Eucken für dieses Amt zu gewinnen. Der eigentliche Knackpunkt lag aber wohl in der Einschränkung der bisherigen Autonomie der Tatwelt-Redaktion. Bereits Ende Mai hatte Irene Eucken an Otto Most geschrieben, ihre Schwiegertochter könnte wohl über die Veränderung der Herausgeberschaft hinwegkommen, „nicht aber über das Aufgeben ihrer ausschliesslichen Entscheidung.“ Sie habe ihren Kindern aber klar gemacht, dass die Leitung der Tatwelt künftig nicht mehr nur in Freiburg liegen könne. Bereits zu diesem Zeitpunkt erwartete sie nicht mehr ernsthaft, dass das Ehepaar Eucken-Erdsiek in ein solches Arrangement einwilligen würde.70

68 Ebd.: Briefwechsel Irene Eucken – Edith Eucken-Erdsiek, 22.5. und 1.6.1934. 69 Ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 1.6.1934. 70 Ebd.: Gesprächsprotokoll 21.7.1934; ThULB NLRE V, 6, Bl. 229: Irene Eucken an Otto Most, 21.5.1934. Vgl. ThULB NLWE, Korrespondenz zum Euckenbund: Irene an Walter Eucken, 24.7.1934.

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Trotzdem bemühte sich Irene Eucken in den Sommermonaten 1934 darum, Edith Eucken-Erdsiek die Fortsetzung ihrer redaktionellen Tätigkeit schmackhaft zu machen. Keiner der Herren des Kuratoriums habe die Zeit, die Qualifikation oder das Interesse, sich in der Gestaltung der Zeitschrift einzumischen oder gar aktiv mitzuarbeiten. Und solange das A. A. „so bleibt wie es jetzt ist“, werde man Die Tatwelt „in ihrer augenblicklichen Geistesrichtung halten können“. Faktisch würde die neue Regelung nur auf eine Zusammenarbeit im Familienkreis, mit Schwiegermutter und Schwägerin, hinauslaufen: „Wenn Du auch selbständig arbeitest, so mußt Du doch von uns hören, was das Ausland von uns hören möchte und wir wiederum müssen Deine Pläne kennen.“71 Letztlich blieb alle Überzeugungsarbeit vergebens. Edith Eucken-Erdsiek erklärte, es sei ihr beim besten Willen nicht möglich, ihre Arbeit für Die Tatwelt fortzusetzen. Es sei nun einmal so, dass die Herausgabe einer weltanschaulichen Zeitschrift „eine mit der Persönlichkeit des Herausgebers eng verbundene Leistung“ darstelle. Man könne daher „nicht anderen Stellen das Recht geben, fortlaufend in die sachliche Arbeit hineinzuwirken, ohne daß die Einheit und das Niveau der Zeitschrift leidet.“ In einem bitteren Brief warf sie Irene und Ida Eucken vor, die Umgestaltung der Zeitschrift von langer Hand geplant zu haben. Es seien keineswegs „die Wünsche und Forderungen des A. A., denen meine Selbständigkeit geopfert werden müßte“. Vielmehr laufe diese Umgestaltung darauf hinaus, die Zurückhaltung gegenüber der NS-Bewegung zu lockern. Sie könne nicht mit der Schwiegermutter und der Schwägerin zusammen arbeiten, wenn über Ziele und künftigen Charakter der Tatwelt keine Einigkeit bestehe. Und selbst, wenn sich die beiden bemühen würden, die bisherige Linie der Zeitschrift zu wahren – „Ihr könnt es nicht u. niemand kann es, denn das Unvereinbare kann man nicht vereinen.“ Walter Eucken schloss sich der Stellungnahme seiner Frau an. Edith habe versucht, schrieb er im August 1934 nach Jena, „die Fahne und die Idee der Tatwelt hochzuhalten. Angesichts der Haltung des Publikums und der Verleger war das von vornherein eine schwierige Sache.“ Nachdem nun aber auch die Leitung des Euckenbundes die alte Linie nicht weiter verfolgen wolle, werde der Kampf aussichtslos.72 Hier klingt auch an, dass die Tatwelt-Redaktion seit dem Vorjahr immer wieder schwierige Auseinandersetzungen mit dem Verlag zu führen hatte. Bei 71 ThULB NLWE: Korrespondenz zum Euckenbund: Irene an Walter Eucken, 24.7.1934; ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 8.7.1934; ebd., Materialien zum Euckenbund: Gesprächsprotokoll 21.7.1934; ebd., Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 11.8.1934. 72 Ebd., Korrespondenz zum Euckenbund: Edith Eucken-Erdsiek an Irene Eucken, [Sommer 1934]; ebd.: Walter Eucken an Irene Eucken, 22.8.1934. Vgl. ebd., Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 11.8.1934.

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Junker & Dünnhaupt war man mit der wirtschaftlichen Situation der Zeitschrift unzufrieden. Die Zahl der freien Abonnenten hatte sich in den ersten 15 Monaten der NS-Diktatur auf ein Drittel reduziert. Von den rund 900 Beziehern der Tatwelt außerhalb der Euckenbund-Mitgliedschaft waren nur noch rund 300 übrig geblieben. Von einer Intensivierung der Propaganda, wie der Verlag sie bei der Übernahme der Zeitschrift vertraglich zugesagt hatte, wollten Junker & Dünnhaupt nun nichts mehr wissen. Zudem hatte der Verleger im Herbst 1933 versucht, die Aufnahme von Artikeln jüdischer Autoren zu verhindern. Anlass war ein Manuskript über Wilhelm Dilthey, das der Marburger Neukantianer Arthur Liebert eingereicht hatte. Der Verlag sperrte sich vehement gegen die Aufnahme des Aufsatzes des zwangsemeritierten Philosophie-Ordinarius. Liebert wiederum weigerte sich, seinen Artikel anonym oder unter anderem Namen zu veröffentlichen, und zog schließlich das Manuskript zurück.73 Die Herausgeberin versuchte anschließend, mit Hilfe ihres Bruders, des Berliner Richters Gerhard Erdsiek, eine grundsätzliche Klärung herbeizuführen. Der Verlag sicherte ihr zwar volle Freiheit bei der Auswahl der Beiträge zu, fügte aber gleich hinzu, es wäre ihm lieb, bei Heranziehung eines jüdischen Autors vorher informiert zu werden, „um ihm Gelegenheit zu geben, im konkreten Fall etwa bestehende besondere Bedenken zum Ausdruck zu bringen.“ Was bedeute denn dann die juristische Freiheit in der Auswahl aller Beiträge, so fragte Edith Eucken-Erdsiek zurück, „wenn uns gleichzeitig eine Rücksichtnahme auf die Wünsche des Verlages nahegelegt wird, die diese Freiheit im Grunde wieder illusorisch macht?“ Auch auf die personelle Neuausrichtung der Tatwelt im Sommer 1934 versuchte der Verleger Paul Junker augenscheinlich Einfluss zu nehmen. In Jena mutmaßte man, Junker wolle den Universitätskurator Emge als Herausgeber lancieren und/oder die Zeitschrift mit den ebenfalls in seinem Verlag erscheinenden Blättern der philosophischen Gesellschaft fusionieren. Irene Eucken schaute sich daraufhin nach einem neuen Verleger für Die Tatwelt um. Schließlich lenkten beide Seiten ein.74 Edith Eucken-Erdsiek verabschiedete sich von „ihrer“ Tatwelt im Oktoberheft 1934 mit einem Artikel, der mit Kampf dem Bürger? überschrieben war. Sie beschäftigt sich hier zunächst mit der „kämpferischen und feurigen Jugend“, die nicht mehr Bürger sein wolle, deren Sehnsucht auf „ein unbekümmertes, 73 Vgl. ebd., Korrespondenz zum Euckenbund: Junker & Dünnhaupt an Edith Eucken-Erdsiek, 5.9. und 15.12.1933, an Benno von Hagen, 11.10.1933, an Gerhard Erdsiek, 25.11.1933 und an Edith Eucken-Erdsiek, 12.12.1933; Paul Junker an Edith Eucken-Erdsiek, 28.6.1933; Gerhard Erdsiek an Junker & Dünnhaupt, 13.11.1933. 74 Ebd.: Briefwechsel Junker & Dünnhaupt – Edith Eucken-Erdsiek, 25.11. und 8.12.1933. Vgl. ebd.: Walter an Irene Eucken, 22.8.1934;: ebd.: Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 11.8. und 15.8.1934; ebd.: Irene an Walter Eucken, 18.8. und 24.8.1934.

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starkes, heroisches Leben“ gehe. Diese „Jugend“ ist unschwer als die Alterskohorte des Bildungsbürgertums zu erkennen, die bereits vor 1933 zu großen Teilen dem Nationalsozialismus anhing. Die Ablehnung des Bürgers entspringe, so Eucken-Erdsiek, einem Zerrbild des Bürgerlichen. „Bürgerlichkeit“ bedeute für diese jungen Leute „nicht gefährlich leben zu wollen, Polster zu schaffen gegen die Härten des Daseinskampfes, Sicherungen einzuschalten, Vorkehrungen zu treffen, Kompromisse zu schließen, Halbheiten zu begehen“. Eucken-Erdsiek entwickelt nun demgegenüber den Begriff der Bürgerlichkeit aus seiner etymologischen Nähe zur „Geborgenheit“. Die romantische Sehnsucht nach dem Leben als Wagnis und Abenteuer ist für sie letztlich Zeichen einer „Krise des heutigen Menschen, der aus der Geborgenheit herausgefallen ist und nichts notwendiger braucht, als wieder in sie hineinzukommen.“ In dieser Diagnose finden sich nur zu deutliche Anklänge an die kulturkritischen Szenarien Rudolf Euckens. Aus der Geborgenheit gefallen sei insbesondere der Mensch, der an keinen Gott mehr glaubt – der Mensch, der keinen Sinn in seinem Dasein und in seiner Arbeit mehr findet – der Mensch, dessen Seele zu der Seele anderer keine Brücke des Verständnisses mehr schlagen kann – der Mensch, an dessen stumpfgewordenem Sinn große Taten und Werke vergebens rühren – endlich der Mensch, für den auch die Dinge der Umwelt aufgehört haben, eine lebendige Sprache zu sprechen.75

Dem solchermaßen ungeborgenen Menschen stünden, so Edith Erdsiek-Eucken weiter, zwei Wege offen, zur Geborgenheit zurück zu finden, und zwar ein richtiger und ein falscher Weg. Den falschen Weg und seinen idealtypischen Protagonisten, den „Spießbürger“, zeichnet sie mit anschaulicher Eloquenz. Der Spießbürger sei „der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung, die ihn umgibt, mit Haut und Haaren anheimgegeben“. Mangels Religion, seelischer Tiefe und Phantasie kenne er ein „Darüberhinaus“ gar nicht. Die gesellschaftliche Ordnung biete solchen Leuten vor allem „Sicherung der Existenz, Ansehen, Geltung samt dem Drum und Dran an dazugehörigen Schlagworten und Ideologien“. In diese – falsche – Geborgenheit schmiege er sich hinein, der „Spießer“, klebe sich an die Oberfläche der jeweiligen Ordnung, verschmelze mit ihr mimikryhaft. Da er Schutz und Sicherheit um jeden Preis suche, passe der Spießbürger sich auch jeder neuen Ordnung problemlos an. Er verwechsele dabei notorisch die ewigen Werte, „die unabhängig vom Belieben der Zeiten und Völker ihre nie verstummende Forderung erheben“ mit den jeweiligen gesellschaftlichen Spielregeln, die „lediglich dazu da sind, das Funktionieren des Apparates zu ermög-

75 Erdsiek, Kampf, S. 219f.

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lichen.“ Ihm komme es nur darauf an, sich „als ein Bannerträger der neuen Zeit recht stattlich sehen zu lassen“.76 Nach dem sie nun die Mitläufer des Regimes, die Konformisten und Opportunisten mit dem bildungsbürgerlichem Invektiv-Begriff des „Spießers“ belegt und als Sozialtypus ausgemalt hat, wendet sich Edith Eucken-Erdsiek wieder der „kämpferischen und feurigen Jugend“ zu, der sie sich offenkundig enger verbunden fühlt. Sie bedient sich hier letztlich der gleichen Denkfigur, mit der Irene Eucken bereits 1930/31 in der Anhängerschaft der NS-Bewegung vor allem „idealistische“, in ihren Ideen aber noch unausgegorene junge Leute ausmachte. Diese in ihrem Idealismus fehlgeleitete Jugend galt es für die eigene Sache zu gewinnen; ihr stand der wahre Weg zur Geborgenheit, zur Bürgerlichkeit offen: Kann eine Jugend, die einmal die Träger eines neuen Staates stellen soll, es sich leisten, gegen die Bürgerlichkeit Sturm zu laufen? Ist es nicht vielmehr ihre Bestimmung, den Typus des neuen, des wahren Bürgers herauszubilden? Und liegt nicht die größte Gefahr für diese Bestimmung darin, daß die Jugend, mag sie auch noch so sehr auf das Spießbürgertum alter Prägung schelten, einem Spießertum der Revolution verfällt, daß sie durch die verführt wird, denen die grundlegenden Werte nichts und die bloßen Spielregeln alles sind? Wie aber soll sie lernen, Ewiges und Zeitbedingtes auseinanderzuhalten, zu einer echten Geborgenheit hinzufinden und diejenigen Werte und Normen zu erkennen, für die sich einzusetzen allein das Ziel einer gesunden Sehnsucht sein kann?

Die Antworten auf diese Fragen fand Edith Eucken-Erdsiek in der Philosophie ihres Schwiegervaters. Voraussetzung einer Lösung der angesprochenen Probleme sei es, dass die Jugend „wieder Ehrfurcht lernt vor den Werten der geistigen Welt und in ernstem Bemühen in sie einzudringen sucht.“ Zur echten Geborgenheit müsse sich der Mensch „durch Not und Kampf und Verzweiflung hindurch“ „hinzutasten“. „Der Mensch aber, der wieder aus solcher Geborgenheit heraus lebt, der, fest in sich gegründet und sinnvoll in den Kosmos einbezogen, dazu berufen ist die tragende, ja unentbehrliche Stütze aller irdischen Ordnungen abzugeben: das ist der wahre Bürger.“77

Die neue Tatwelt Nachdem Edith Eucken-Erdsiek ihren Rückzug als verantwortliche Redakteurin der Tatwelt angekündigt hatte und auch Walter Eucken nicht in die Fußstapfen

76 Ebd., S. 222f. 77 Ebd., S. 221, 224.

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seiner Frau treten wollte, ging die Suche nach einem Herausgeber weiter. Von Hans Buchner war nun nicht mehr die Rede. Mitte August 1934 fragte Irene Eucken bei ihrer Schwiegertochter an: „Würde Hagen Dir als Herausgeber zusagen? Er würde ein Strohmann sein. Wir haben ihn seit Jahren als solchen erkannt.“ Edith Eucken-Erdsiek hatte gegen den Euckenbund-Vorsitzenden nichts einzuwenden. Dies wäre auf die gleiche Arbeitsteilung hinaus gelaufen, wie sie sich für den Euckenbund und das Euckenhaus ausgeformt hatte: Irene Eucken traf die wesentlichen Entscheidungen, ihre Tochter Ida erledigte die anfallenden Arbeiten und Benno von Hagen setzte seinen Namen unter die offizielle Korrespondenz.78 Da nun aber die Redaktion faktisch Ida Eucken übertragen war, deren philosophischer Sachverstand auf autodidaktischer Aneignung beruhte, hielt es ihre Mutter dann doch für besser, ihr statt Hagen einen „wirklichen Philosophen“ zur Seite zu stellen. Ihre Wahl fiel auf Bruno Jordan, „der Einzigste von Vaters Schülern, der in Betracht kam“, wie sie nach Freiburg meldete. Ida Eucken sollte sich auf die Beziehungen zum Ausland konzentrieren, während Jordan die Redaktion der philosophischen Abhandlungen übernahm. Sehr lange hielt dieses Arrangement nicht. Nach etwas mehr als einem Jahr legte der Bremer Studienrat sein Amt als Mitherausgeber der Tatwelt nieder. Jordan fühlte sich durch den rabiaten Durchsetzungswillen Ida Euckens zusehends beiseite gedrängt. Seine Bedenken, die er gegen Form und Inhalt von Beiträgen vorbrachte, seien nicht berücksichtigt worden. Manuskripte, die er abgelehnt hatte, seien trotzdem in der Zeitschrift erschienen. „Kurz, ich durfte zuletzt nur noch die Rolle eines blossen Beraters spielen, der überdies selten gehört wurde.“ Jordans Nachfolger wurde nun doch der Mann, von dem zu erwarten stand, dass er eben diesen Part des bloßen Beraters klaglos akzeptieren würde: Benno von Hagen.79 Den ersten Zuschuss hatte das Auswärtige Amt bereits im Juni 1934 nach Jena überwiesen. Pro Heft erhielt das Euckenhaus 1000 RM. Nun galt es, die Lancierung der Zeitschrift als offiziöses Medium der Kulturpropaganda des Deutschen Reiches im Ausland vorzubereiten. Die Tatwelt würde ganz überwiegend auf Deutsch erscheinen. Am Ende jeden Heftes wurden lediglich knappe englische Resümees der Hauptbeiträge angehängt. Aber einen Teil der Artikel sollten ausländische Autoren beisteuern. Irene und Ida Eucken mobilisierten im Herbst 1934 ihre Kontakte im Ausland, und zwar ganz überwiegend solche, die sie in den sechseinhalb Jahren zuvor über das Rudolf-Eucken-Haus aufgebaut 78 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 15.8.1934. 79 Ebd.: Irene an Walter Eucken, 16.1.1935; ebd., Korrespondenz zum Euckenbund: Bruno Jordan an Benno von Hagen, 12.4.[1936].

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und vertieft hatten. Die Resonanz auf die Anfragen war größer als erwartet. Auf dem Innenumschlag der ersten Ausgabe der „neuen“ Tatwelt vom Februar 1935 sind nun als „ständige Mitarbeiter des Auslandes“ nicht allein intime Freunde des Hauses wie Chang und Ohgushi ausgelistet, sondern auch eine durchaus ansehnliche Reihe renommierter Philosophie-Professoren: Jacques Chevalier aus Grenoble, William Ernest Hocking von der Harvard University, der Schwede Ephraim Liljequist, der Präsident der Philosophischen Gesellschaft Italiens, Francesco Orestano, John M. Warbeke, Professor am Mt. Holyoke College in Massachusetts, Thaddäus Zielinski aus Warschau, sowie der Londoner Theologe William R. Inge. Auf der verlängerten Liste standen im Jahr darauf Leute wie J. S. Bixler, ebenfalls ein Harvard-Mann, Edgar S. Brightman von der Boston University, der Züricher Ordinarius Emil Ermatinger oder der Yale-Germanist Carl F. Schreiber. Die meisten dieser Wissenschaftler waren 1935 und 1936 auch tatsächlich mit Beiträgen in der Zeitschrift vertreten.80 In ihren Werbebriefen an potenzielle Autoren ließ Irene Eucken mehr oder minder deutlich durchblicken, dass die Wendung zum Ausland für sie die einzige Möglichkeit war, der Tatwelt und dem Euckenhaus ein Stück geistigen Freiraums zu erhalten. Ein großes Kulturvolk befinde sich in schwerem Ringen um seine geistige Selbständigkeit, schrieb sie an William Inge, und sein Kampf würde erleichtert, „wenn einige prominente ausländische Persönlichkeiten diesen kulturellen Bestrebungen Förderung zusagten“. Einem anderen britischen Adressaten erklärte sie offenherzig: Fast kann man sagen, daß die Lage in Deutschland immer interessanter wird. Aber auch immer einsamer werden wir. Politisch und wirtschaftlich müssen wir das ertragen aber sobald die Vereinsamung auch Kultur und Geistesfragen ergreift, kann unser Haus das nicht unbewegt hinnehmen. Darum wollen wir die Zeitschrift des E. Bundes … mehr an die Aufgaben des Hauses anlehnen und wollen versuchen, auch durch die Tatwelt mit dem Ausland einen geistigen Austausch zu treten.81

Die neugestaltete Tatwelt sollte, so das Geleitwort zur ersten Ausgabe, „unseren Freunden“ „das Kulturgut des aktiven deutschen Idealismus“ nahebringen und zugleich den Kulturaustausch mit anderen Völkern „im Sinne jenes Idealismus“ vermitteln. Der Geist Rudolf Euckens sollte den Herausgebern wahlweise als „Führer“, „Leitstern“ und „Kompass“ dienen. Ein solches Programm war aller80 Vgl. ebd. Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 12.9.1934; ebd.: Irene an Walter Eucken, 29.10.1934; ThHSA Weimar 6–32–0040:Volksbildungsministerium, C 449, Bl. 312: Auswärtiges Amt an Kuratorium Rudolf-Eucken-Haus, 10.4.1943; Die Tatwelt 11, 1935, o. S.; ebd. 12, 1936, S. 2. 81 ThULB NLRE V, 6, Bl. 153: Irene Eucken an William R. Inge, undatiert [1934]; ebd., Bl. 353: Irene Eucken an Whitechaple, undatiert [1934].

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dings einfacher postuliert als in die Tat umgesetzt. Das Problem waren weniger die ausländischen als die deutschen Mitarbeiter. Noch vor dem Erscheinen des ersten Heftes hatte Irene Eucken ihrer Schwiegertochter anvertraut, dass zwar aus dem Ausland einiges eingegangen war, dass es aber recht wenig deutsche Autoren gebe, „die aus verschiedenen Gründen zu uns passen“.82 Dass die neue Tatwelt-Redaktion es schwierig fand, genügend deutsche Autoren zu finden, lag wohl nicht zuletzt daran, dass sich ein Teil der bisherigen Mitarbeiter nach Edith Eucken-Erdsieks Ablösung zurückgezogen hatten. Von den Freiburger Kollegen und Schülern Walter Euckens, die 1933/34 größere Teile der Tatwelt gefüllt hatten, schrieb nun kaum noch jemand für das nach Jena umgezogene Blatt. Ein weiteres Problem für die Zeitschrift, die sich nun wieder dezidierter auf Rudolf Eucken und seinen „aktiven Idealismus“ berief, bestand darin, dass sich kaum ein renommierter Intellektueller noch zu den Lehren des Jenaer Philosophen bekennen mochte. Als Mitte 1935 in Jena eine Anfrage aus Frankreich eintraf mit der Bitte, doch die Namen von Philosophen zu nennen, die Anhänger von Rudolf Eucken seien, stürzte dies die Redaktion in einige Verlegenheit. „Es liegt wohl etwas Unwahrheit darin, daß wir die Tatwelt in der ganzen Welt verschicken und nicht einige deutsche Mitarbeiter hinter uns haben, die wir restlos empfehlen können“. sinnierte Irene Eucken in einem Brief nach Freiburg. Sie habe sich damit abgefunden, resümierte sie im folgenden Jahr, „daß Vaters Ansichten nur von wenigen Gelehrten geteilt werden. Wollten wir darauf bestehen, würden wir kaum Artikel bekommen. So steht unsere Tatwelt auch unter dem Zeichen des Idealismus, nicht des ‚aktiven‘ Idealismus alleine.“83 Wohl oder übel mussten Ida Eucken und Bruno Jordan ihre deutschen Autoren zunächst vornehmlich aus dem Umkreis des Euckenbundes und der Jenaer Universität rekrutieren. Jordan selbst steuerte während seiner anderthalb Jahre als Tatwelt-Herausgeber einige Artikel bei, erntete dabei aber nicht unbedingte den Beifall der Philosophen-Witwe. Er arbeite viel zu schnell, seine Texte seien deshalb unverständlich und unklar. Susanne Hampe, die ehemalige Leiterin des Weimarer Euckenbundes, und der Düsseldorfer Religionspädagoge Gustav Würtenberg blieben der Zeitschrift auch nach 1935 treu. Bruno Bauch sprang im Frühjahr 1935 mit einer „Selbstanzeige“ seiner in Bälde erscheinenden Grundzüge der Ethik ein. Die Jenaer Professoren Ulrich Scheuner, ein Staatsrechtler, und der Physiologe Emil Ritter von Skramlik veröffentlichten ebenfalls in den ersten Tatwelt-Heften nach dem Herausgeberwechsel. Im Laufe des Jah82 Die Tatwelt 11, 1935, S. 1; ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 17.1.1935. 83 ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 6.7.1935 und 22.3.1936.

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res gelang es Irene Eucken, einen der prominenteren deutschen Philosophie-Ordinarien idealistischer Richtung, den Göttinger Hegelianer Julius Binder, als Autor zu gewinnen. Binder versprach bei einem Besuch in Jena, auch seine Schüler für eine Mitarbeit in der Zeitschrift heranzuziehen. Er selbst lieferte eine zweiteilige Abhandlung über Philosophie und Staat ab, die Ende 1935 und Anfang 1936 in der Tatwelt veröffentlicht wurde.84 Allerdings wurde man in Jena und vor allem in Freiburg nicht recht froh mit Binders Elaborat. Der Göttinger Hegelianer will hier „den einzelnen Menschen als Glied des lebendigen Ganzen, das wir ein Volk oder eine Nation nennen,“ begreifen. Ebenso wie das menschliche Individuum sei auch das Volk eine „Wesens- und Lebenseinheit“. Soweit verkündet Binder Allgemeingut eines „deutschen Idealismus“, auf den sich auch Rudolf Eucken immer wieder berufen hatte. Am Schluss seines staatsphilosophischen Zweiteilers vollzieht Julius Binder aber so etwas wie die Nazifizierung Hegels. Der Staat sei „der Geist als die objektive Form der Gemeinschaft, und ist als solcher frei“. Er sei daher „nicht eine bloße Schranke für die individuelle Freiheit, die aus Nützlichkeitsgründen ertragen werden muß, sondern ist die Wirklichkeit der Freiheit selbst“. Binder folgert nun, dass „alle die Freiheitsgarantien, die der Individualismus und Liberalismus der Neuzeit vom Staate gefordert hat, um diese Mitglieder vor der Übermacht des Staates zu schützen“, insbesondere die Menschen- und Bürgerrechte, hinfällig würden. Die ganze Problematik der politischen Gegenwart enthüllt sich unter diesem Aspekt vor unsren Augen und der Idealismus, und er allein, ist imstande, alle die Probleme, die durch den Individualismus und Liberalismus in der politischen Sphäre gestellt worden sind, zu lösen – zu lösen, wie wir sagen können, in eben der Weise, in der der bewußte Wille des Dritten Reichs der Deutschen sie praktisch gelöst hat. Und so erscheint uns der Begründer des Idealismus, Hegel, zugleich als ein Vorläufer und Verkünder dieses Dritten Reichs.85

Nachdem das Heft mit dem Schlussteil des Binder-Aufsatzes erschienen war, kam denn auch sogleich eine Abmahnung aus Freiburg. „Während durchaus anerkannt werden muß, daß im vorigen Jahr keinerlei Konzessionen gemacht wurden, die sich mit der bisherigen Linie nicht vertrugen, ist das nunmehr der Fall“, schrieb Walter Eucken der Mutter. Irene Eucken rechtfertigte sich damit, 84 Vgl. Die Tatwelt 11, 1935, S. 38–45, 67-75, 154-157, 169-186; ebd. 12, 1936, S. 42–45; ThULB NLRE V, 6, Bl. 166: Irene Eucken an Bruno Jordan, 7.3.1935; ebd. V, 12; Bl. 112: Walter an Irene Eucken, 24.10.1935; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 14.7. und 19.10.1935. 85 Binder, Philosophie, S. 44f. Zu Binder vgl. Dreier, Recht, S. 142–167; Kiesewetter, Hegel, S. 309–321.

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ihr und Ida sei die besagte Stelle im Manuskript nicht so aufgefallen, „wie sie uns jetzt im Druck auffällt“. Habe denn Binder Hegel richtig wiedergegeben? Könne der Philosoph tatsächlich „grundlegend für unsere neuen Staatsideen sein“? Hegel, so erklärte ihr der Sohn, habe zwar „eine sehr große, wohl übertriebene Schätzung“ vom Staat gehabt, hätte aber wohl Binders Schluss aufs Schärfste missbilligt. „Ein Zustand, in dem die Partei dem Staate befiehlt, der Staat und der Staatsapparat also ein von der Partei abhängiges Gebilde ist, entspricht nicht der Ansicht Hegels.“86 Tatsächlich blieb solche politische Anbiederung an das Regime in TatweltArtikeln auch in den folgenden Jahren die Ausnahme. Die Redaktion forderte ggf. die Autoren auf, die entsprechenden Passagen aus ihren Manuskripten zu entfernen. Manche der Mitarbeiter ließen sich dies auch gefallen. Der Rostocker Physiker Pascual Jordan, der 1936 einen Beitrag mit dem Titel Gibt es eine „Krise“ der modernen physikalischen Forschung? in Jena eingereicht hatte, gab Ida Eucken ohne weiteres sein Einverständnis zur Streichung der „politischen Stellen“. Offenbar hatte Jordan seinen Artikel mit Angriffen auf jüdische Physiker wie Albert Einstein garniert. Max Wundt, bereits in seiner Jenaer Zeit stark völkisch angehaucht, ging hingegen auf die Bitte der Redaktion, aus seinem Manuskript „die Politik zu streichen“ nicht ein. Sein Beitrag erschien daraufhin nicht in der Tatwelt. „Das Schlimmste ist, daß fast alle Deutschen Politik mit in ihre Aufsätze mischen und es übel nehmen, wenn man bittet, diese zu streichen“, beklagte sich Irene Eucken im April 1936 bei ihrem Sohn. „Außerdem“, so fügte sie hinzu, „sind viele Menschen richtig feige.“87 Die redaktionelle Neuausrichtung der Tatwelt als Medium der deutschen Kulturpropaganda bringt bei näherem Hinsehen eine durchaus merkwürdige Konstruktion zum Vorschein. Der Propagandawert gegenüber dem Ausland könnte allenfalls darin bestanden haben, dass die Zeitschrift den Eindruck von „Normalität“ vermittelte. War das „neue Deutschland“ wirklich ein monolithischer Zwangsstaat, wenn hier eine philosophisch-weltanschauliche Zeitschrift frei von nationalsozialistischer Ideologie erscheinen konnte? Allerdings mochte dem ausländischen Leser ebenso der Verdacht gekommen sein, dass dies nur möglich war, wenn jeder direkte Bezug auf die politische Realität des Dritten Reiches vermieden wurde. Das deutsche Geistesleben, das in der Tatwelt seit 1935 präsentiert wurde, spielte sich in einem luftleeren Raum ab. Gerade die Heranziehung ausländischer Autoren, deren Beiträge nun zu etwa einem Drittel 86 ThULB NLRE V, 12, Bl. 141ff: Walter an Irene Eucken, 20.3. und 28.3.1936; ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 22.3.1936. 87 ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 22.3. und 6.4.1936. Vgl. ebd. Irene an Walter Eucken, Ostersonntag 1936.

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Die Tatwelt füllten, vermittelt wiederum den Eindruck, als habe sich das Blatt vor allem an ein deutsches Publikum gerichtet. Diese Leser wurden nun nämlich wesentlich ausgiebiger als zuvor mit philosophischen, religiösen und kulturwissenschaftlichen Entwicklungen in England, in Frankreich, in Italien, in den USA oder in Ostasien vertraut gemacht, eigentlich paradox für eine Zeitschrift, die vor allem die deutsche Kultur im Ausland verbreiten sollte. Für die Redaktion der Tatwelt barg die „Internationalisierung“ der Zeitschrift die Chance, gewisse publizistische Freiräume zu erschließen. Die ausländischen Mitarbeiter konnten gefahrloser kritische Meinungen äußern als ihre deutschen Kollegen. Ihnen mussten auch die mit der auswärtigen Kulturpropaganda befassten Partei- und Regierungsstellen wohl oder übel einen größeren Spielraum gewähren. Mitunter nutzten die ausländischen Autoren diesen Raum tatsächlich, um Positionen zu vertreten, die ansonsten in der deutschen Öffentlichkeit (oder was davon übrig geblieben war) schwerlich hätten geäußert werden können. So kündete die Tatwelt-Redaktion 1937 einen Artikel unter der Überschrift an: „Ein ausländischer Philosoph beleuchtet die Frage der Anwendungsmöglichkeit des Rassenbegriffes“. Auf fünf eng bedruckten Seiten bespricht hier der britische Neoidealist Alfred Hoernlé ein deutsches Buch über die „Grundlagen der Rassenpsychologie“. Hoernlé, der bereits vor 1914 in Kontakt mit Rudolf Eucken gestanden hatte, nimmt dabei die „Rassenlehre“ des Nationalsozialismus argumentativ gründlich auseinander und kommt am Ende zu dem lapidaren Fazit, es fehle nach wie vor der Beweis, dass „die Rassenpsychologie eine empirisch fundierte Wissenschaft ist oder sein kann.“88

Inseln der Seligen? Die programmatische Neustrukturierung der Tatwelt brachte seit 1935 die Zeitschrift in einen wesentlichen engeren funktionalen Zusammenhang mit den beiden anderen institutionellen Pfeilern der Bewegung, dem Rudolf-Eucken-Haus und Euckenbund. Die Freiburger Redaktion hatte vom Bund größtmöglichen Abstand gehalten und das Haus war ihr noch nicht einmal einer Erwähnung wert gewesen. Seit 1935 waren nun die Tatwelt-Redaktion, die organisatorische Leitung des Euckenhauses und die Geschäftsführung des Bundes in einer Hand vereint, in der von Ida Eucken. Die Philosophen-Tochter gehörte jetzt auch offiziell als Schriftführerin und Schatzmeisterin dem Vorstand des Euckenbundes an.89 Die Tatwelt druckte regelmäßig die Tätigkeitsberichte des Euckenhauses ab und befasste sich ausführlich mit den Tagungen des Bundes. Allerdings hat88 Die Tatwelt 13, 1937, S. 104–108; Zitat: S. 108. Vgl. zu Hoernlé auch Hoeres, Krieg, S. 210f.

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ten die Haupttagungen des Euckenbundes nach 1933 nicht mehr viel mit den Jahresversammlungen früherer Jahre zu tun, auf denen die Delegierten der Ortsgruppen über Programm und Satzung diskutierten und für die Gesamtorganisation bindende Beschlüsse fassten. Diese Veranstaltungen trugen nun eher den Charakter philosophischer Tagungen, die unter einem Leitthema standen, zu dem Fachwissenschaftler vortrugen und debattierten. Im Herbst 1934 veranstaltete der Euckenbund erstmals seit 1931 wieder eine öffentliche Haupttagung. Der Bund werde sich auflösen, hatte Irene Eucken im April nach Freiburg geschrieben, „wenn wir in diesem Jahr wiederum keine Tagung veranstalten“. Die Kooptation Hans Buchners in den Führungskreis der Bewegung und die Ankündigung, der Münchner NS-Funktionär werde die Hauptrede halten, deutet an, dass man in Jena eine Art Modus Vivendi mit dem NS-Regime anstrebte. Auch das Rahmenthema der Tagung, „Der deutsche Idealismus und seine Bedeutung für das Geistesleben der Gegenwart“, schien geeignet, eine Brücke zum Nationalsozialismus zu schlagen, dabei aber gleichzeitig eigene Akzente zu setzen. „Die Begriffe: Entwicklung, Persönlichkeit, Freiheit müssen mehr herausgearbeitet werden“, mahnte Rudolf Voß in einem Brief an Irene Eucken im Vorfeld der Tagung. „Freiheit ist ein gottgewolltes Gut, eine Urkraft in uns. Und Persönlichkeit nach Eucken äußerlich begrenzt, aber innerlich unbegrenzt.“90 Irene Eucken hatte offenbar beabsichtigt, den Vortrag des „alten Kämpfers“ Buchner mit Referaten prominenter liberal-konservativer Geisteswissenschaftler einzurahmen. Der Altphilologe Werner Jäger, der Philosoph Fritz Medicus sowie die Historiker Hermann Oncken und Gerhard Ritter sollten die Wurzeln, die historische Entwicklung und die Gegenwart des „deutschen Idealismus“ darlegen. Die Euckenbund-Chefin holte sich aber nur Absagen. „Es ist überall die gleiche Sache, daß sich die Herren in der Redefreiheit behindert fühlen“, teilte sie Otto Most mit. Im Falle Ritters mutmaßte sie, er werde „von meinen Freiburger Kindern, mit denen er eng befreundet ist, in der Richtung hin beeinflusst sein, daß diese sich nicht ausreden lassen, daß die Tatwelt künftig eine andere Richtung einschlagen wird“. Fritz Medicus, der Züricher Fichte-Spezialist, legte Irene Eucken ohne Umschweife seine inneren Widerstände gegen einen Auftritt auf der Jenaer Tagung dar: Ich brächte es nicht fertig, in der gegenwärtigen Zeit, in der ich von einem sozusagen sicheren Beobachtungsposten aus ein unerhörtes Geschehen mitansehe, zu denen zu spre89 Vgl. ThULB NLWE, Materialien zum Euckenbund: Protokoll Sitzung der Hauptleitung, 27.10.1934. 90 Ebd. Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 23.4.1934 (Postkarte); ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Rudolf Voß an Irene Eucken, 6.9.1934.

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chen, an denen und durch die solches Geschehen sich vollzieht. Wäre ich jetzt deutscher Professor, ich würde mit Freuden Ihrer Einladung folgen: aber das, was nach meinem Dafürhalten jetzt zu sagen wäre, darf nur sagen, wer persönlich mitträgt – aber nicht einer, der, nachdem er gesprochen hat, schleunigst in die Schweiz abreist.

Auch seinen Namen für die Umschlagseite der „neuen“ Tatwelt als Förderer und Mitarbeiter aus dem Ausland wollte der Züricher Ordinarius nicht hergeben.91 Auf der Euckenbund-Tagung Ende Oktober 1934 sprachen daher drei altgediente Euckenianer: der Hamburger reformierte Pfarrer Nagel, ehemals Vorsitzender der Breslauer Ortsgruppe, der Düsseldorfer Studienrat Gustav Würtenberg und der designierte Tatwelt-Herausgeber Bruno Jordan. Einen weiteren Vortrag hatte der schwedische Philosophie-Professor Ephraim Liljequist übernommen, der zufällig in Jena zu Besuch war und von dem Irene Eucken meinte: „Er ist alt und langweilig, aber er ist solide, hat ein gutes Wissen und ist aus tiefster Überzeugung Idealist“. Die Euckenbund-Chefin, die sich zuvor Sorgen gemacht hatte, wie der Vortrag Hans Buchners über „Idealismus und deutsche Volksgemeinschaft“ wohl ausfallen würde, gab sich nach der Tagung erleichtert. Der Münchener Nationalsozialist hatte sich offenbar eng an die Schriften Rudolf Euckens gehalten. Auch sei Buchners Auffassung von „Rasse“, so schrieb Irene Eucken nach Freiburg, nicht beim Biologischen stehen geblieben. „Sicher ist, daß ein Kulturmensch zu uns sprach, der sich in manches Problem vertieft hat.“92 Den einzigen Vortrag, den die Tatwelt-Redaktion als veröffentlichungswürdig empfand, waren Bruno Jordans Ausführungen über den deutschen Idealismus und die Gegenwart. „Die Gegenwart“ – das war in den Verlautbarungen des Euckenbundes gemeinhin die Chiffre für den nationalsozialistischen Staat. Jordan beginnt recht mutig mit der Exposition des Dilemmas, das die NS-Diktatur für viele Bildungsbürger mit sich brachte: Der neue deutsche Mensch ist auf den ersten Anblick seltsam gespalten: er soll unbedingt frei sein in der Wahrheitsfindung, im Kunstschaffen, kurz, in jeder Betätigung seines Kulturwillens. Und doch soll er wiederum sich gebunden fühlen an das Volkstum, an den Staat, an dessen politische und kulturpolitische Lage. (…) … die Forderung, alles Tun und Denken an die politische Gemeinschaft zu binden, scheint der andern völlig entgegenge91 ThULB NLRE V, 4, Bl. 1086: handschriftliche Notiz für Brief an Otto Most auf dessen Schreiben vom 10.9.1934; ebd. V, 3, Bl. 1001: Fritz Medicus an Irene Eucken, 17.9.1934. Vgl. ebd. V, 6, Bl. 212-215: Irene Eucken an Fritz Medicus, 29.9., 13.10. und 4.11.1934; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 11.8.1934. 92 ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 3./4. 10. und 29.10.1934. Vgl. Die Tatwelt 11, 1935, S. 56.

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setzt, die Ehrfurcht und Verantwortung vor dem unangreifbaren Reich innerer Werte verlangen muß.

Die Auflösung dieses Dilemmas, die der Bremer Studienrat aber seinen Zuhörern und Lesern präsentierte, kommt jedoch letztlich nicht über die Darlegung des altbekannten „deutschen“ Freiheitsbegriffs hinaus. Der „neue deutsche Mensch“, so will es Jordan scheinen, suche „nicht mehr ängstlich die Grenzen zwischen individueller und kollektiver Freiheit und Bindung möglichst günstig für das Individuum abzustecken“. Als das Höchste gelte ihm vielmehr ein „freier Entschluß, die Freiheit aufzugeben“. Am Ende bleibt Jordan der fromme Wunsch, „daß die Bewegung, die eine neue Formung des deutschen Menschen erstrebt“, sich den deutschen Idealismus, wie ihn Rudolf Eucken verstanden habe, als Leitbild „eingliedert und wirksam erhält“.93 Die Haupttagung des Euckenbundes vom Oktober 1934 fand ein lebhaftes Echo in der Presse. An die 25 verschiedene Autoren hätten sich mit der Veranstaltung beschäftigt, zählte Irene Eucken. Besonders gut gefiel ihr die Wendung, mit der das Feuilleton des Berliner Tageblatts die Tagung charakterisiert hatte: „Eine Insel der Seligen“. In etwas profanerer Weise hatte sie selbst diesen Topos im Vorfeld der Veranstaltung in einem Brief an Medicus als Motiv für ihre Arbeit in der nationalsozialistischen Gegenwart entwickelt. Es sei, so schrieb sie hier, „für uns Deutsche und für die Menschheit“ im Augenblick das Wichtigste, dass „unbehindert von jeder Politik Welt- und Menschheitsprobleme durchgearbeitet werden“. Dazu müsse es Plätze geben, „die nach Möglichkeit freie Forschungen beachten und darauf hinweisen“. Solche Plätze wollten – „in ganz bescheidener Weise“ – das Rudolf-Eucken-Haus, Die Tatwelt und die Euckenbundtagungen sein.94 Die Kooperation mit dem Auswärtigen Amt und die Lancierung der Tatwelt als offiziöses Organ der deutschen Auslandspropaganda gaben dem Prestige der Jenaer Tagungen offenkundig einen gehörigen Schub. Im Herbst 1936 waren die Euckenbündler bei den öffentlichen Verhandlungen ihrer Hauptversammlung nur noch als Zaungäste vertreten. Die Hauptrede hielt ein prominenter italienischer Philosoph, Francesco Orestano; zwei weitere Vorträge steuerten Jenaer Nachwuchswissenschaftler bei, Jürgen Rausch und Karl Gumpricht. Irene Eucken hatten Zweifel geplagt, ob sie ihre „Insel der Seligen“ würde abschirmen können. „Vielleicht wäre es klüger, keine Tagung zu machen“, schrieb sie im Juli 1936 nach Freiburg. Man sollte möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich 93 Jordan, Idealismus, S. 94f, 97. 94 ThULB NLRE V, 6: Irene Eucken an Fritz Medicus, 29.9.1934. Vgl. ebd. V, 12, Bl. 46: Walter an Irene Eucken, 16.11.1934. ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 8.11.1934.

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lenken. Der Goethegesellschaft sei ihre letzte Tagung nicht gut bekommen, denn man habe ihr im Anschluss den „Arierparagraphen“ aufgezwungen. Komme man aber gar nicht zusammen, verliere man die gegenseitige Fühlung. Walter Eucken, den seine Mutter eingeladen hatte, winkte gleich ab. „Bei der Position, die ich nun einmal habe und die sehr beachtet wird, würde mein Erscheinen und gar Sprechen auf der Tagung eine Belastung bedeuten.“95 Die Haupttagung wurde mit einer internen Sitzung der Bundesleitung am Reformationstag 1936 eröffnet. Es schloss sich eine Gedenkstunde zum zehnten Todestag Rudolf Euckens in der Jenaer Garnisonskirche an. Den Abendvortrag hielt Orestano in einem großen Hörsaal der Universität. Am Sonntagvormittag folgten die Referate Rauschs und Gumprichts im Euckenhaus mit anschließender längerer Diskussion. Die gesamte Veranstaltung stand unter dem Motto „Schaffen im Geist“ und zumindest der Tagungsbericht der Tatwelt stellte in einem Vorwort den konzeptionellen Bezug zu Rudolf Euckens Philosophie her. Es sei, so heißt es hier, von jeher Aufgabe der Philosophie gewesen, eine Synthese von Realismus und Idealismus zu suchen. Die „Tat“ aber, das „Schaffen“ umfasse beide Seiten der Welt. Sie gehe von der Idee aus, ergreife den Stoff und gestaltet ihn nach der Idee, „Gedanken und Wirklichkeit einend“. Aus dem schaffenden Geistesleben begründe sich bei Rudolf Eucken das „Aufsteigen der Wirklichkeit zu einer inneren Einheit und zu voller Selbständigkeit“. Das Sein sei hier dem Sollen unterworfen, „das wahre Sein ist der Wert, den wir verwirklichen sollen“.96 Diese Exposition des Tagungsthemas warf natürlich die spannende Frage auf, wie sich die Forderung Rudolf Euckens, eine „selbständige Wirklichkeit“ zu schaffen, zur „Gegenwart“, sprich: zum Nationalsozialismus, verhielt. Hans Buchner zumindest, der die Tagung eröffnete, hatte kein Problem damit, Eucken und Hitler in einen engen Zusammenhang zu rücken. Wie Rudolf Eucken wolle man sich als „Idealisten der Tat“ betätigen, „in treuer Liebe zu Volkstum, Vaterland und Führer“. Francesco Orestanos Hauptrede stand nun aber merkwürdig quer zu Rudolf Euckens Lehre. In seiner Einleitung schiebt er die Weltund Lebensanschauung Euckens ziemlich rüde beiseite. Für ihn schöpft die Noologie des Jenaer Philosophen aus metaphysischen Prämissen, „nach denen die menschliche Welt als eine Art protestantischer Monadologie anzusehen 95 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 26.7.1936; ThULB NLRE V, 12, Bl. 181f: Walter an Irene Eucken, 18.10.1936. Vgl. ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 31.5.1936. 96 Die Tatwelt 12, 1936, S. 186f. Vgl. ThULB NLRE VI, 25: Mappe „1936 Rechnungen, Einladungen, Programme“, o. Bl.: Gedruckte Einladung zur 13. Haupttagung des Euckenbundes 1.11.1936; ebd. Mappe „1936 Briefwechsel A-L“, o. Bl.: Hans Buchner an Benno von Hagen, 29.10.1936.

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wäre“. Orestano geht dagegen von der Annahme aus, dass alle Erfahrung eine relationale Struktur besitze, die in sich geordnet sei. Ordnung sei daher die „Achse der Realität“ und „der Brennpunkt der ganzen geistigen Tätigkeit“. Der schaffende Geist könne nur dann etwas Bestehendes, Wirksames und Fruchtbares hervorbringen, wenn dieses Etwas eine Ordnung in sich trage und darstelle. Schaffen heiße wiederum letztlich, Werte neu zu erzeugen oder zu befestigen. Orestano verweist seine Zuhörer nun ausdrücklich auf Faschismus und Nationalsozialismus als den zwei großartigsten Wertprozessen, die sich vor unseren Augen in Italien und Deutschland entwickeln. Wir haben uns heute mehr denn je auf die Wiederbelebung, auf die Schöpfung und Pflege nationaler Werte eingestellt. Bei dieser Schicksalreichen [sic!] Unternehmung empfinden wir tiefer denn je die ganze Besonderheit der eigenen Werte, und wir wenden uns gegen jede Generalisierung, etwa im Sinne des Rationalismus des 18. Jahrhunderts. Die Logik der Werte hat bei uns ganz die Oberhand über die Logik der Begriffe genommen.97

Diese Ausführungen brachten dem italienischen Philosophen in der Frankfurter Zeitung unter der Überschrift „Leerlauf der Ordnung“ eine geharnischte Kritik ein. Der Artikel verweist auf den grundlegenden Unterschied zwischen dem scholastischen Ordo-Begriff und Orestanos Ordnung als „Achse der Realität“. Mittelalterliche „Ordo“ sei immer eindeutig bezogen gewesen auf die theologisch gegliederte Hierarchie der Werte, an deren Absolutheit niemand gezweifelt habe. Orestano aber empfinde es gerade als „befreiende“ Leistung, „diese Absolutheit der Werte als falsch entlarvt und die Wertwelt zur abhängigen Variablen der Erfahrung gemacht zu haben“. Es könne daher auf ein letztes Einheitsprinzip nicht verzichtet werden, solle die Philosophie nicht in ein haltloses Chaos von „Relationen“ versinken. Rudolf Eucken hätte das wohl ähnlich gesehen.98 Anders als Orestano enthielten sich die beiden anderen Referenten jedes expliziten Hinweises auf die nationalsozialistische Gegenwart. Um „den jungen Leuten in ihrer Laufbahn nicht wesentlich zu schaden“, hatte Ida Eucken im Frühjahr 1936 vorsichtshalber bei Buchner vorgefühlt, was er von dem Plan halte, auf der Jenaer Jahrestagung idealistisch gesinnte Nachwuchs-Philosophen auftreten zu lassen. Der Münchner Handelskammersyndikus fand das Vorhaben, Irene Eucken zufolge, „nicht nur gut, sondern erfreulich“, und habe im Übrigen selbst gefordert, „daß garkeine Politik gebracht würde“. Karl Gum97 Orestano, Technik, S. 176, 178f, 181. Zitat Buchner: ThULB NLRE VI, 25: Mappe „1936 Zeitungsnachrichten …“, o. Bl.: Ausschnitt National-Zeitung, Essen, 11.11.1936. 98 ThULB NLRE VI, 25: Mappe „1936 Zeitungsnachrichten, Redeentwürfe B. v. Hagens“, o. Bl.: Ausschnitt Frankfurter Zeitung, 5.11.1936.

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pricht und Jürgen Rausch kreisten in ihren Referaten um den Zusammenhang von philosophischer Theorie und Lebenspraxis. Der Publizist Paul Feldkeller, seit den 1920er Jahren Euckenbund-Mitglied, meinte in einer ausführlichen Besprechung der Tagung, die in einer Reihe von Tageszeitungen veröffentlicht wurde, es seien dabei keine Lösungen herausgesprungen, „ja selbst keine neuen Gedanken zutage“ getreten. Auch sei das „Kernproblem“ in den Vorträgen der beiden Jung-Philosophen kaum einmal berührt worden, nämlich „die Forderung des heutigen Staates (nicht nur des nationalsozialistischen), daß auch die Innerlichkeit eine allgemeinverbindliche Form annehme“.99 Die Haupttagung des Bundes von 1936 glich mehr denn je einem Balanceakt. Einerseits wollte man in Jena die Aufmerksamkeit des Regimes nicht allzu sehr auf sich ziehen, um unkontrollierbare Interventionen zu vermeiden. Anderseits sollte die Tagung aber doch ein publizistisches Echo erregen, um die Bedeutsamkeit des Bundes und seiner Arbeit zu demonstrieren. Vorträge und Diskussion sollten möglichst an nationalsozialistische Leit-Diskurse ankoppeln, ohne dabei aber eigene Positionen und Akzentsetzungen aufzugeben. Irene Eucken äußerte sich jedenfalls befriedigt von dem Echo, das die Haupttagung gefunden hatte. Selbst der Völkische Beobachter, so konstatierte sie, habe die Veranstaltung verständnisvoll und wohlwollend besprochen, „nur lehnen sie dort das ‚Geistesleben‘ ab als überrassisch“. Die Tagung habe ihr und Ida den Mut zum Weiterarbeiten gegeben, habe man doch noch wenige Tage zuvor „von gewissen Kreisen“ Angriffe zu erdulden gehabt. Die zustimmenden Kommentare aus der Parteipresse hätten daher beruhigend gewirkt. Walter Eucken pflichtete seiner Mutter zwar hinsichtlich des praktischen Erfolgs der Tagung bei, wollte sich aber über deren Inhalt und Verlauf nicht näher äußern. Das sei, um mit Fontane zu sprechen, „ein weites Feld“.100

Um die Einheit des Geisteslebens Von der Jenaer Haupttagung gingen durchaus Anregungen für die thematische Gestaltung künftiger philosophischer Veranstaltungen unter der Ägide des Euckenbundes aus. Im Vorfeld der Tagung hatten Irene und Ida Eucken nach jungen Geisteswissenschaftlern gesucht, die eine idealistische Linie vertraten und 99 ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 31.5.1936; ThULB NLRE VI, 25: Mappe „1936 Zeitungsnachrichten …“, o. Bl.: Ausschnitt Saarbrücker Zeitung, 7.11.1936. Die Beiträge Gumprichts und Rauschs sind dokumentiert in: Die Tatwelt 12, 1936, S. 188–216. 100 ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 14.11. und 24.11.1936; ThULB NLRE V, 12, Bl. 186: Walter an Irene Eucken, Freiburg, 21.11.1936. Vgl. ebd. VI, 25: Mappe „1936 Zeitungsnachrichten …“, o. Bl.: Ausschnitt Völkischer Beobachter 5.11.1936.

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die in der Aussprache die Vorträge kommentieren sollten. Sie waren dabei auf einen Schüler des Leipziger Philosophen Arnold Gehlen aufmerksam geworden, der im Jahr zuvor eine Dissertation über Fichte vorgelegt hatte. Ida Eucken bat Rudolf Voß zu eruieren, ob dieser junge Mann, ein Dr. Helmut Schelsky, sich wohl eignen würde, auf der Tagung einen Diskussionsbeitrag zu liefern. Voß stattete Schelsky daraufhin einen Besuch ab und berichtete, dieser vertrete den „deutschen Idealismus“, „der nach seiner Überzeugung weiter ausgebaut werden müsse u. mit der heutigen Weltanschauung – aber in gutem, geistigen Sinne in Einklang zu bringen sei“.101 Schelsky nahm die Einladung aus Jena dankend an und schlug vor, doch auch seinen Kollegen Gotthard Günther zu berücksichtigen. Dessen Buch über Hegels Logik sei geeignet, eine neue Auffassung des Hegelschen Denkens zu begründen. Es gehe ja doch dem Euckenbund „wesentlich um eine neue Begründung des idealistischen Philosophierens“. Es war dann Gotthard Günthers Kommentar, den die Leitung des Euckenbundes für so bedeutsam hielt, dass er im Wortlaut in der Tatwelt abgedruckt wurde. Der Gehlen-Assistent Günther vertrat hier die Überzeugung, dass „die verpflichtende Verbindlichkeit des philosophischen Bewußtseins ganz grundsätzlich und radikal von der ontisch (gegenständlich) orientierten Allgemeingültigkeit der positiven Wissenschaften“ abweiche. Aus der Einsicht in die Strukturdifferenz zwischen den positiven exakten Wissenschaften und der Philosophie dürfe aber keineswegs der Schluss gezogen werden, dass die Philosophie keine exakte „im strengen Beweisverfahren mitteilbare Wissenschaft“ sei. Für den Idealismus ende Wissenschaft noch nicht dort, wo das Gebiet der gegenständlichen Aussagen verlassen wird und das Denken in ein Verhältnis zu seiner eigenen Innerlichkeit tritt. Nur wer auch heute noch die klassische Logik als die definitive und totale Darstellung des rationalen Bewußtseins hält, kann das behaupten. Der Idealismus (und mit ihm die moderne Mathematik und Logistik) hat diese Auffassung aufs heftigste bekämpft; was er fordert, ist gerade eine strenge, exakte, rational mitteilbare Theorie der Innerlichkeit.102

Gotthard Günthers erkenntnistheoretische Überlegungen gaben offenbar den Anstoß dafür, dass man in Jena den Plan fasste, bereits im Sommer 1937 außerhalb der Reihe der Euckenbund-Haupttagungen ein weiteres philosophisch-wissenschaftliches Kolloquium zu organisieren. Diese „Arbeitstagung“ sollte sich 101 ThULB NLRE VI, 25: Mappe „1936 Briefwechsel R-S“, o. Bl.: Briefwechsel Ida Eucken – Rudolf Voß, 1.10. und 5.10.1936. Zu Schelskys wissenschaftlichem Werdegang vgl. Gallus, Schelsky, S. 8; Kempf, Wirklichkeitsverweigerung, S. 20f; Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 727ff. 102 ThULB NLRE VI, 25: Mappe „1936 Briefwechsel R-S“, o. Bl.: Helmut Schelsky an Benno von Hagen, 13.10.1936; Die Tatwelt 12, 1936, S. 217, 219f.

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der Frage widmen: „Ist eine systematische Einheit in den Wissenschaften möglich?“. Für die Führung des Euckenbundes dürfte die thematische Ausrichtung der Veranstaltung in mehrerer Hinsicht attraktiv gewesen sein. Einmal ließ sich die Frage nach der Einheit wissenschaftlicher Erkenntnis recht mühelos in den Bezug zum Werk Rudolf Euckens setzen. Zum Zweiten war kaum zu befürchten, dass man sich mit einem solchen abstrakt-theoretischen Thema auf ideologisches Glatteis begeben würde. Eine Tagung über die Einheit der Wissenschaften würde die Referenten weder zu peinlichen „politischen“ Bezugnahmen auf „die Gegenwart“ animieren. Noch bestand unmittelbar die Gefahr, Anstoß zu erregen. Schließlich verband Irene Eucken die Arbeitstagung mit der Hoffnung, den Kreis potenzieller Tatwelt-Autoren und Veranstaltungsredner erweitern zu können. Gelinge es, die ins Auge gefasste Arbeitstagung zu realisieren, so schrieb sie im März 1937 nach Freiburg, „werde ich vielleicht weitere Kräfte kennen lernen, die sich aus Überzeugung mit solchen Problemen beschäftigen“.103 Mit der Arbeitstagung vom Sommer 1937 versuchten Irene und Ida Eucken, Geistes- und Naturwissenschaftler in einen erkenntnistheoretischen Dialog zu bringen. Bereits im Jahr zuvor war in der Tatwelt eine Reihe von Artikeln erschienen, die sich mit epistomologischen Fragen der Physik beschäftigten. Der Rostocker Ordinarius Pascual Jordan setzte sich mit der (vermeintlichen) Krise der modernen physikalischen Forschung auseinander. Der Münchner Philosoph Aloys Wenzl, ein Schüler Erich Bechers, verwies auf die Rolle der Mathematik in der Physik. Georg Joos, ein Göttinger Kollege Arnold Euckens, warf einen begriffsgeschichtlichen Blick auf die physikalische Terminologie. Wenzl, der vor 1933 SPD-Mitglied gewesen war, und Jordan nahmen auch an der Jenaer Arbeitstagung teil. Selbst Werner Heisenberg signalisierte sein Interesse, die Sommertagung mitzumachen. Ida Eucken suchte den Physik-Nobelpreisträger zusammen mit Gotthard Günther in Leipzig auf und nahm einen „ausgezeichneten Eindruck“ von ihm mit. Heisenberg kam zwar dann doch nicht nach Jena, schickte aber einen philosophisch interessierten Schüler, den 25jährigen CarlFriedrich von Weizsäcker.104 Dieses Mal wurde die Zeitschrift des Euckenbundes ausgiebig in die publizistische Vorbereitung der Tagung eingespannt. Das zweite Tatwelt-Heft des Jahrgangs 1937 widmete sich ganz der bevorstehenden Veranstaltung. Der einführende Beitrag bemühte sich, das Tagungsthema perspektivisch auf das Werk Rudolf Euckens auszurichten. Um der Gefahr einer Trennung von Wissenschaft 103 ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 21./23.3.1937. Vgl. ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 22.11.1936. 104 Ebd.: Irene an Walter Eucken, 13.3.1937. Vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, 7.2.1937; Die Tatwelt 12, 1936, S. 59–68, 94–10, 145–152; sowie Kempf, Wirklichkeitsverweigerung, S. 23.

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und Leben entgegenzutreten, müssten sich auch die exakten Wissenschaften mit der von Eucken aufgeworfenen Grundfrage auseinandersetzen: „Gibt es einen einheitlichen Charakter des Geisteslebens und bezeugt sich dieser in fortwährender Tat?“ Rudolf Euckens noologisches Verfahren weise den Weg „zur unbedingten Bejahung einer Einheit in Bewußtsein und Tat der Menschen“, indem es ein „Tat-System“ erschließe. Dieses System erstrecke sich vom „Ganzen des Geisteslebens“ über alle Einzelgebiete und weise diesen „Stellung und Leistung innerhalb jenes Ganzen“ zu.105 Die beiden Leit-Artikel des Heftes trugen Carl-Friedrich von Weizsäcker und Gotthard Günther bei, ohne im Übrigen einen direkten Bezug zur Lehre Rudolf Euckens herzustellen. Weizsäcker beschäftigte sich mit der Frage: „Ist eine systematische Einheit der Wissenschaft möglich?“. Er kam dabei zu dem Schluss, dass nur die „Wissenschaft vom Unbelebten“ gegenwärtig eine sachlich begründete Einheit besitze, die auf „der Reduktion der Gesetze der Physik und Chemie auf die atomaren Gesetze“ beruhe. Um den „Sinn der Wissenschaft im Leben nicht zu verlieren“, müsse man aber dennoch eine Einheit des Weltbildes erstreben. Diese Einheit mit wissenschaftlichen Methoden herzustellen, sei allenfalls in einer fernen und ungewissen Zukunft möglich. Vorläufig habe man die „Einheit, die dem Leben dienen kann“, „im Leben selbst“ zu suchen.106 Gotthard Günther konstatiert, in der Neuzeit seien „alle Versuche, ein neues einheitliches und totales System des Wissens zu entwickeln, ausnahmslos zum Scheitern verurteilt“ gewesen. Dieses Scheitern führt er auf den grundlegenden Irrtum zurück, „daß Denken und Sein die gleiche logische Mächtigkeit besäßen und deshalb metaphysisch unmittelbar identisch seien“. Vielmehr besitze das Denken „eine unendlich höhere Mächtigkeit“ und könne daher nie ohne Rest auf das Sein abgebildet werden. Alle Aussagen des Denkens über sich selbst seien nämlich grundsätzlich doppelsinnig: Sie definierten das Denken als objektiven Reflexionszusammenhang oder als subjektiven Sinnzusammenhang. In der Moderne entfalle damit grundsätzlich die Möglichkeit, zu einem universalen System der Wissenschaften zu kommen, indem man die positiven Wissenschaften auf das Sein/die Welt abbilde. Somit entfalle auch die Hoffnung, „daß, wenn nur einmal das Sein wissenschaftlich bezwungen sei, sich das System der Wissenschaft von selbst ergeben müsse.“ Gotthard Günther entwickelt im Folgenden ein Klassifikationsschema der Wissenschaften – ein Spektrum, an dessen einem Pol die Physik als Extrembeispiel einer „Seinswissenschaft“ verortet ist und am anderen Pol die Ethik als ausgeprägteste Form einer „Sinnwissenschaft“ steht. Doch selbst die Physik, so räumte Günther ein, entspreche nicht 105 Die Tatwelt 13, 1937, S. 61f, 65. 106 Weizsäcker, Einheit, S. 78f.

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mehr dem Ideal einer restlosen Abbildung des Denkens auf das Sein. Die Heisenbergsche Unschärferelation habe nun „das genaue Gegenteil“ bewiesen.107 Je näher die für den 19. und 20. Juni 1937 angesetzte Tagung im Euckenhaus rückte, desto mehr Anziehungskraft schien sie auf die wissenschaftliche und kulturpolitische Prominenz auszuüben. „Jetzt fangen sich fortwährend Leute anzumelden“, schrieb Irene Eucken eine Woche vor der Veranstaltung nach Freiburg. Man habe doch „ganz still und bescheiden“ eine ernsthafte Arbeitstagung geplant; nun habe sich auf einmal „ein großer Philosoph aus Mailand und ein Sprachforscher aus Rumänien“ angesagt. „Hoffentlich blamieren wir uns nicht.“ Sorge machte der Euckenbund-Chefin vor allem, dass der Oberlehrer Benno von Hagen es übernommen hatte, in Rudolf Euckens noologische Methode einzuführen. Tatsächlich vereinte die Arbeitstagung des Euckenbundes vom Sommer 1937 eine bemerkenswerte Reihe großer Namen, vor allem Physiker und Philosophen. Neben den noch am Anfang ihrer Karriere stehenden künftigen Größen Schelsky, Günther und Weizsäcker beteiligten sich an der Aussprache u. a. die Professoren Arnold Gehlen, Willy Hellpach, Pascual Jordan, Bernhard Bavink, Aloys Wenzl, Bruno Bauch sowie die italienischen Philosophen Francesco Orestano und Antonio Banfi. Selbst der Kulturattaché der französischen Botschaft in Berlin, Henri Jourdan, war nach Jena gekommen.108 Die „uns alle beherrschende Frage nach der Möglichkeit einer Einheit der Wissenschaft“, verkündete Benno von Hagen in seiner Einführung, solle heute „von der Lebensarbeit Rudolf Euckens her beleuchtet werden“. Sein eigener Beitrag griff dabei mehr als ein halbes Jahrhundert zurück auf Euckens Prolegomena von 1885. Er tat dies zwar ohne die von Irene Eucken befürchteten Peinlichkeiten hervorzurufen. Doch die Leitthemen der Diskussion gaben Carl-Friedrich von Weizsäckers und Gotthard Günthers vor, die ihre in der Tatwelt veröffentlichten Thesen noch einmal mündlich erläuterten. In der von Arnold Eucken moderierten Aussprache plädierte Weizsäcker dafür, die Einheit der Wissenschaften zunächst einmal nicht im Wissen und Denken zu suchen, sondern im Handeln und Sein. Es wären nämlich, so führte er aus, „viele der Fragen, die uns hier zusammengeführt haben, in dem Augenblick gelöst, in dem es eine Anzahl von Wissenschaftlern gäbe, die sich menschlich untereinander geeinigt hätten in einer gemeinsamen tätigen Überzeugung von dieser Einheit des Lebens.“ Die geforderte „gemeinsame tätige Überzeugung“ rückte Carl-Fried107 Günther, Einheit, S. 80f, 83, 85, 87f, 92. 108 ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 6.6. und 13.6.1937. Vgl. Die Tatwelt 13, 1937, S. 115. Jourdan hatte allerdings bereits 1927 in der Tatwelt publiziert und war als Übersetzer von Rudolf Euckens Lebensanschauungen ins Französische im Gespräch gewesen (Vgl. Die Tatwelt 3, 1927, S. 67–74; ThULB NLRE V, 6, Bl. 168: Irene Eucken an Henri Jourdan, 8.6.1928).

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rich von Weizsäcker nun in den Bereich des Glaubens. Es werde wohl manchem Wissenschaftler leichter fallen, „religiös als philosophisch gläubig zu sein“. Das „religiöse Phänomen“ sei nämlich eine „seelische Wirklichkeit, die er an sich erfahren kann und dann anerkennen muß, auch ohne sie vernunftmäßig zu verstehen“.109 Einige andere Diskussionsredner wurden, was den „wirksamen Glauben“ als Basis einer sinnstiftenden Einheit der Wissenschaften anging, wesentlich konkreter als der Leipziger Physiker. Weizsäckers Rostocker Kollege Pascual Jordan sah „die eigentliche Quelle für die ethische Kraft, welche die machtvolle Entfaltung der Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten ermöglicht hat, im protestantischen, reformatorischen Christentum“. Der Mediziner Wolfgang Veil, Direktor der Jenaer Universitätsklinik und Irene Euckens behandelnder Arzt, rückte „Geist“, „Wahrheit“ und „Christentum“ in einen noch engeren Zusammenhang. Das Christentum, „das evangelische Bekenntnis“, war für ihn die einzige Religion, die „Ehrfurcht vor dem reinen und letzten Geistigen“ besitze. Für den Wissenschaftler komme es letztlich auf die verpflichtende Stellungnahme zur Wahrheit an. Es gehe demnach die Einheit unserer Wissenschaft über das hinaus, was uns nur an das Reale fesselt. Es geht hinein ins Absolute, das man nicht ausdrücken kann mit Richtigkeit, sondern nur mit dem Begriff von der Einheit der Wissenschaft in Gott, d. h. in der Wahrheit.110

Veils letzte Bemerkung bezog sich auf eine Wortmeldung des Heidelberger Psychologen Willy Hellpach, der den gemeinsamen ethischen Boden der Wissenschaftler nicht im Transzendenten verorten wollte. Hellpach verwies vielmehr auf das „Ethos des Wahrheitsdranges, den wir als den wissenschaftseigentümlichen mit dem bescheideneren Wörtchen ‚richtig‘ bezeichnen“. Es würden nämlich Problemstellungen der Wissenschaft allzu oft weltanschaulich inspiriert und dirigiert. Wer jedoch „die kleinste ihm bewußte Unrichtigkeit in Kauf nähme, um ein weltanschaulich oder sonstwie ‚erwünschtes‘ Resultat zu erzielen“, der könne nicht mehr als Wissenschaftler gelten, sondern sei „ein Falschmünzer der Wissenschaft“. Hellpach plädierte daher dafür, eine „neue Solidarität der wissenschaftlichen Haltung“ aufzubauen.111 Die Diskussion im Euckenhaus brachte auch zum Vorschein, dass man trotz des abstrakt-theoretischen Ausgangspunktes der „Arbeitstagung“ letztlich an einer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen „Gegenwart“ nicht ganz vorbeikam. Noch deutlicher als Willy Hellpach in seiner Kritik an der Ideo109 Die Tatwelt 13, 1937, S. 120 (Hagen), 136 (Weizsäcker). Vgl. ebd., S. 115–129. 110 Ebd., S. 148 (Jordan), 142 (Veil). 111 Ebd., S. 138.

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logisierung der Wissenschaft äußerte sich Wolfgang Veil, indem er gegen die „Zwangswirtschaft des Geistigen und des Geistes“ Stellung bezog. Wie im Politischen und im Wirtschaftlichen führe Zwang auch im Geistigen nur zu Fehlern und Katastrophen. Keiner der Referenten und Diskutanten unternahm im Übrigen den Versuch, eine gemeinsame ethische Basis wissenschaftlicher Arbeit auf der Grundlage der nationalsozialistischen Weltanschauung zu formulieren.112 Im Familienkreis der Euckens maß man allerdings der Diskrepanz zwischen den religiös und den nicht-religiös argumentierenden Teilnehmern größere Signifikanz zu. Irene Eucken sah darin den „eigentliche[n] Fingerzeig der Tagung“: „Es ist zu schroff gesagt ‚gegen die Religion‘, aber doch ohne Platz für eigentliche ‚Ethik‘ sind: Günther, Schelsky, Wagner, Gehlen. Dafür Wenzl …, Veil, Hagen, Gumpricht, Rausch, Baving [sic!], Weizsäcker, … Böhm, … Jordan.“ Walter Eucken antwortete der Mutter, es sei ihm in den letzten Jahren klar geworden, dass die ganze Geschichte aus einem Kampf zwischen Glauben und Unglauben bestehe. Dass die Jenaer Arbeitstagung zu dieser Antithese gelangt sei, zeige ihm, dass man dort wirklich zu den wesentlichen Problemen vorgedrungen sei.113 Für Irene Eucken war die Arbeitstagung vom Juni 1937 ein voller Erfolg. Merklich euphorisiert schrieb sie einige Tage später nach Freiburg: „Mir scheint das Bedeutende und Bedeutsame zu sein, daß diese Tagung in ihrer geistigen Höhe überhaupt möglich war.“ Besonders angetan war sie von ihren beiden jungen Hauptreferenten, denen sie das Hauptverdienst für das geistige Niveau der Veranstaltung zuschrieb. Weizsäcker sei „ein Genie, spielend spricht er über die schwersten Fragen, dabei lächelt er wie ein Kind. 25 Jahre alt. Arnold meinte treffend, so denke ich mir den jungen Mozart.“ Über Gotthard Günther hatte die Euckenbund-Chefin bereits im Vorfeld der Tagung geurteilt, er sei „abstrakt sehr begabt“. Allerdings hielt sie ihn für „menschlich so absonderlich, daß man es kaum erträgt“. Schon seit der Haupttagung im Vorjahr war Irene Eucken von Günther so beeindruckt, dass sie Ende 1936 ihrem Freiburger Sohn ankündigte, sie wolle versuchen, dem jungen Mann zu helfen. Günther habe aus „inneren Gründen“ seine Assistentenstelle bei Gehlen in Leipzig aufgegeben. Er habe nun ein Angebot aus Südafrika, als Segelfluglehrer zu arbeiten. „Wir haben aber so wenige begabte junge Philosophen, daß wir ihn gerne in Deutschland halten möchten.“ Gotthard Günther galt tatsächlich als ernsthafter Kandidat für die Berufung auf einen Philosophie-Lehrstuhl in Jena. Er zog es jedoch vor, zusammen mit seiner jüdischen Frau 1937 nach Südafrika zu emi112 Die Tatwelt 13, 1937, S. 142. 113 ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 24.6.1937; ThULB NLRE V, 12, Bl. 223: Walter an Irene Eucken, 25.6.1937.

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grieren, wo er allerdings nicht als Segelfluglehrer arbeitete, sondern an der Universität Stellenbosch als Philosophie-Dozent Beschäftigung fand. Seit 1940 lehrte Günther schließlich in den USA.114 Gotthard Günther, Carl-Friedrich von Weizsäcker und Helmut Schelsky publizierten auch in den folgenden Jahren regelmäßig in der Tatwelt. Untereinander blieben der Philosoph Günther, der Physiker Weizsäcker und der Soziologe Schelsky bis in die 1970er Jahre in persönlichem Kontakt. Weizsäcker und Schelsky versuchten nach dem Krieg, Günther auf einen Lehrstuhl an einer deutschen Universität zu hieven, wenn auch vergeblich. Der Euckenbund hatte ihnen seit Mitte der 1930er Jahre mit seiner Zeitschrift und seinen Tagungen offenbar ein wichtiges Forum geboten, um gemeinsame erkenntnistheoretische und philosophisch-ethische Positionen zu entwickeln. 1975 erinnerte Schelsky den menschlich wohl recht schwierigen Günther in einem Brief daran, „daß unsere ganze persönliche Beziehung auf diesen Jahren in Leipzig beruht und auf einer geistigen und persönlichen Identifizierung, die dann erheblich lange durchgehalten hat“. Dieser Zusammenhalt habe darauf gegründet, „daß Du mit Weizsäcker, mir, Gehlen, Jordan usw. in Leipzig doch eine sehr intensive Arbeitsgemeinschaft gehabt hast, die sich nicht zuletzt in den Tagungen der ‚Tatwelt‘ in Jena verwirklicht haben.“115 Die beiden Kolloquien im Rudolf-Eucken-Haus scheinen das wissenschaftliche Prestige der Veranstalter deutlich gehoben zu haben. Ida Eucken erhielt vom preußischen Kultusministerium die Einladung, am internationalen Philosophiekongress 1937 in Paris teilzunehmen. Die französische Regierung hatte ausdrücklich darum gebeten, sie als Mitglied der deutschen Delegation zu benennen – möglicherweise auf Initiative des Berliner Kulturattachés Jourdan. Selbst Walter Eucken und sein Freiburger Freundeskreis, die seit Herbst 1934 Distanz zu den Veranstaltungen des Euckenbundes gehalten hatten, näherten sich jetzt wieder an. Franz Böhm, der zum Sommersemester 1936 eine Lehrstuhlvertretung an der Universität Jena angetreten hatte, berichtete dem Nationalökonomen „ganz begeistert“ von der Arbeitstagung im Euckenhaus. „Während der ganzen Jenaer Zeit habe er keine Aussprache erlebt“, so zitierte Walter Eucken den Juristen, „die in gleicher Weise angenehm und – wie er mehrfach wiederholte – ‚großartig‘ gewesen sei.“116 114 ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Walter Eucken, 31.12.1936, 5.4. und 24.6.1937; Vgl. Kempf, Wirklichkeitsverweigerung, S. 22. 115 Staatsbibliothek Berlin: NL Gotthard Günther Nr. 774, Bl. 17f: Helmut Schelsky an Gotthard Günther, 16.7.1975. Vgl. ebd., Bl. 7: Schelsky an Günther 7.1.1963; Kempf, Wirklichkeitsverweigerung, S. 47ff. 116 ThULB NLRE V, 12, Bl. 225: Walter an Irene Eucken, 16.7.1937. Vgl. ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 13.6.1937; ThHSA Weimar 6–32–0040: Volksbil-

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Nach Franz Böhms Übersiedlung in die thüringische Universitätsstadt hatten sich die Jenaer Euckens bemüht, ihn in die Aktivitäten des Hauses einzubinden. Doch Böhm entzog sich nach einiger Zeit diesen Avancen, sehr zum Bedauern Irene Euckens. „Wir, unser Haus, wird Prof. Böhm auch nicht das geben können, was er in Freiburg hatte“, schrieb sie schon Mitte 1936 an Walter Eucken und deutete dabei an, dass dem Juristen ihre anpassungsbereite Linie gegenüber dem Regime nicht behagte: „Wir gehen wohl unseren eigenen Weg, sowohl im Haus wie in der Tatwelt, aber mehr durch Umgehung als im Widerspruch.“ Böhm geriet in Jena schon bald in größere Schwierigkeiten. Eigentlich sollte der Vertretung bald die Berufung auf den Wirtschaftsrechts-Lehrstuhl folgen. Doch als die Universität Jena ihn Anfang 1937 zum Ordinarius ernennen wollte, legte sich Reichsstatthalter Sauckel quer. Böhm und seine Schwiegermutter, die Schriftstellerin Ricarda Huch, hatten auf einer privaten Geselligkeit Kritik am offiziellen Antisemitismus geübt und waren prompt von einem der Anwesenden denunziert worden. Die Sache zog ein Dienststrafverfahren nach sich, das mit der Aberkennung von Böhms Lehrbefugnis und seiner Beurlaubung aus dem Staatsdienst endete.117 Im Oktober 1938 veranstaltete der Euckenbund eine letzte Arbeitstagung, die unter dem Motto „Wissenschaft und Lebenspraxis in der Gegenwart“ stand. Die brillanten jungen Leute fehlten dieses Mal. Gotthard Günther war inzwischen emigriert, Carl-Friedrich von Weizsäcker wegen einer Wehrdienstverpflichtung unabkömmlich. Als Referenten traten durchweg Ordinarien auf. Es waren dies allesamt alte Bekannte: Antonio Banfi, Pascual Jordan und Wolfgang Veil hatten bereits an der Sommertagung 1937 teilgenommen, ebenso die Moderatoren Arnold Eucken und Willy Hellpach. Der Staatsrechtler Ernst von Hippel, nun Professor in Königsberg, war seit den 1920er Jahren regelmäßiger Autor der Tatwelt gewesen. Und auch zwei eminente „Freiburger“ sprachen auf der Jenaer Tagung: Gerhard Ritter – und Walter Eucken.118 Das Tagungsthema war eher vage formuliert und ließ Raum für sehr unterschiedliche Ansätze, „Wissenschaft“ und „Leben“ aufeinander zu beziehen. Benno von Hagen stellte in seiner Begrüßungsansprache einige Eucken-Zitate dungsministerium, C 449, Bl. 137: Reichs- und Preußischer Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Berlin, an Volksbildungsministerium, Weimar, 17.7.1937 (Abschrift). 117 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 31.5.1936. Vgl. ThULB NLRE V, 12, Bl. 144, 146, 156: Walter an Irene Eucken, 31.3., 17.4. und 30.5.1936; ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 6.4. und 28.6.1936, 26.3.1937; ebd: Ida an Walter Eucken, 26.3. und 15.4.1937; Schmidt, Alma Mater, S. 291; Wege der Wissenschaft, S. 174–185. 118 Vgl. ThULB NLRE VI, 12, Mappe 17, o. Bl.: Einladung des Vorstands des Euckenbundes zur Arbeitstagung am 15. und 16.10.1938 nach Jena ins Euckenhaus; Die Tatwelt 14, 1938, S. 174.

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nebeneinander, die seiner Meinung nach alle auf die Frage hinausliefen, ob man „die Wahrheit am Menschen oder der Mensch an der Wahrheit zu messen“ habe. Antonio Banfi, Professor für die Geschichte der Philosophie in Mailand, ging seine Aufgabe eher theoretisch an und präsentierte eine Philosophie der Geschichte als „phänomenologische Theorie der Strukturen und Beziehungen“. Banfi war Irene Eucken von der italienischen Lektorin der Uni Jena als Schüler des Neoidealisten Benedetto Croces und hervorragender Kenner der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts empfohlen worden. In den 1930er Jahren hatte sich Banfi der Phänomenologie Edmund Husserls angenähert. Während des Zweiten Weltkrieges sollte sich der Mailänder Professor der antifaschistischen Resistenza anschließen. Nach dem Krieg wandelte sich Banfi schließlich zum Marxisten.119 In Jena, im Herbst 1938 überließ Antonio Banfi es aber seinem deutschen Kollegen Gerhard Ritter, der „Gegenwart“ gegenüber Position zu beziehen. Der Freiburger Historiker beschäftigte sich mit der nun häufig an die Geschichtswissenschaft herangetragene Forderung, dass sie „dem gegenwärtigen Leben zu dienen habe“. Historische Objektivität stehe im Verdacht „unschöpferischen Eunuchentums“. „Wahre Historie“ sei demnach „wesentlich Sache des gestaltenden Künstlers, der sie zu dramatischer Einheit zu bilden weiß: des Dramatikers, der Geschichte ‚objektiv denkt‘, indem er das Vereinzelte zum Ganzen webt, eine ‚Einheit des Planes in die Dinge legt‘, wenn sie auch nicht darinnen ist.“ Ritter hielt den Tendenzen einer Nutzbarmachung der Geschichte für politisch-propagandistische Zwecke sein Verständnis einer objektiven Historiographie entgegen. Objektive Geschichtsschreibung basiere auf einer Sinndeutung, die aber keinesfalls willkürlich vorgehe, „sondern sich am Gegenstand der Erkenntnis bewährt: die den wahren Lebenszusammenhang der Dinge zu entdecken, tiefer als bisher zu verstehen lehrt“. Aus seiner Ablehnung der Forderung nach einer Indienststellung der Geschichte für das „gegenwärtige Leben“ machte Ritter keinen Hehl. Solche „Tendenzhistorie“ verbaue das wahre Verständnis der Dinge durch Vorurteile.120 Pascual Jordan, der Rostocker Physik-Ordinarius, griff in seinem Papier zum „Einheitsproblem der physikalischen und biologischen Wissenschaften“ noch einmal die erkenntnistheoretischen Fragestellungen der vorigen Tagung auf. Er argumentiert hier, dass die umstürzenden Erkenntnisse der Quantenmechanik die bisher gezogene Grenze zwischen der Physik und den biologischen Wissenschaften faktisch aufgehoben hätten. Die „allerkleinsten Körperchen“ 119 Die Tatwelt 14, 1938, S. 175, 186. Vgl. ThULB NLRE V, 2, Bl. 408: Carlotta Giulio an Irene Eucken, 27.2.1937; https://de.wikipedia.org/wiki/Antonio_Banfi. 120 Ritter, Wissenschaft, S. 187, 189, 195.

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unterlägen nämlich physikalischen Reaktionsgesetzen, die eindeutige Voraussagen unmöglich machten. Damit werde, so brachte Jordan seine weitergehenden Folgerungen in der Diskussion auf den Punkt, die materialistische Philosophie, „die in der Naturwissenschaft ihr stärkstes Bollwerk fand“, „heute vom naturwissenschaftlichen Experiment widerlegt.“121 Ernst von Hippel entwarf in seinem Vortrag eine Generalkritik des Rechtspositivismus und setzte dabei – relativ unverfänglich – beim Völkerrecht an. Die „großen Gewaltfrieden des 20. Jahrhunderts“ hätten „gleichsam im Experiment das Unzulängliche und Lebensfremde dieser Denkweise“ gezeigt. Es zeige sich nämlich hier, „daß der Mensch als solcher keineswegs bereit ist, bloße Gewalt schon darum für Recht anzusehen, weil sie sich der Formen juristischer Technik bedient“. Der Königsberger Rechtsphilosoph und Staatsrechtler knüpft hier an die Positionen des Euckenbundes zur „Rechtsreformation“ aus den frühen 1920er Jahren an und argumentiert denn auch im Folgenden ganz euckenianisch. Es gelte nämlich, das Recht als einen Teil der gesamten Lebensordnung zu verstehen. Es komme daher darauf an, „zu durchschauen, in welchen Tätigkeiten der Mensch als solcher auf Erden steht, und was diese Arbeitsgebiete an Regelungen brauchen und vertragen“. Dabei sei jedenfalls der Bereich des Geistes innerlich mit der Freiheit verbunden, „da nur frei die Wahrheit erkannt werden kann“. Welche Folgerungen für „die Gegenwart“ man daraus ziehen konnte, blieb der Phantasie der Zuhörer und Leser überlassen.122 Offener in seiner Kritik am NS-Regime äußerte sich auch dieses Mal der Jenaer Medizinprofessor Wolfgang Veil. Allerdings ging es ihm vornehmlich um standespolitische Belange. Veils Beitrag rekurrierte darauf, dass die deutschen Ärzte die Aufwertung der Naturheilkunde und der nicht universitär geschulten Heilpraktiker nach 1933 als Minderung ihres professionellen Status empfanden. „Es ist allgemein bekannt“, so beginnt er seinen Vortrag, „daß man in Deutschland während der letzten 5 Jahre … die Medizin, die der moderne deutsche Arzt vertritt, als Schulmedizin in Gegensatz zum natürlichen Empfinden des Volkes stellte.“ Nicht „die Lebenspraxis als solche“ könne einen Arzt bilden, sondern allein „die tiefste naturwissenschaftliche Erkenntnis, das Wissen um Himmel und Erden in ihrer chemischen und physikalischen Gestaltung“. Veil diagnostiziert eine „Krise der Medizin“, die vor allem dadurch entstanden sei, „daß der wissenschaftliche Herrschaftsanspruch selbst von denjenigen nicht mehr grundsätzlich aufrecht erhalten wurde, die die Wissenschaft vertraten.“ In seiner weiteren Argumentation bewegt sich Wolfgang Veil allerdings sorgsam innerhalb des vom Regime gesetzten Diskursrahmens. Er stellt nun die „Krise der 121 Die Tatwelt 14, 1938, S. 201f, 221. Zu Pascual Jordan vgl. Hoffmann, Jordan. 122 Hippel, Rechtswissenschaft, S. 75, 78f.

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Medizin“ in den Kontext allgemeinen Kulturverfalls. Die tieferen Ursachen der Krise schreibt Veil dem Wirken von Kräften zu, deren Bekämpfung der Nationalsozialismus sich zur Aufgabe gemacht hatte: „Dem Marxismus und dem überhandnehmenden Einfluß deutschfremder Artung“, sowie dem „Dogma von der parlamentarischen Demokratie“. Auch vor dem Gebrauch antisemitischer Terminologie scheut der Jenaer Mediziner nicht zurück, wenn er auf „die früher ihrer Einseitigkeit und ihrer starken Entarisierung halber vielfach geschmähten Dermatologen“ verwies.123 Und Walter Eucken? Dieses Mal hatten sich beide Eucken-Söhne aktiv an der Vorbereitung der Tagung beteiligt. „Nur durch sie beide haben wir die glänzenden Redner bekommen. Alles Ordinarien“, hielt ihre Mutter fest. Walter Eucken sprach in Jena über „Nationalökonomie und Lebenspraxis“. Doch sein Vortrag blieb als einziger unveröffentlicht. Die Tatwelt brachte nur eine zweiseitige Zusammenstellung von Ausschnitten aus seiner Schrift Nationalökonomie – Wozu? und kündete an, in einem der nächsten Hefte das nationalökonomische Tagungs-Referat zu veröffentlichen. Dabei blieb es dann.124

Das Rudolf-Eucken-Haus im Dienste der Auslandspropaganda Als sich die Wissenschaftler im Herbst 1938 im Rudolf-Eucken-Haus zur ihrer „Lebenspraxis“-Tagung versammelten, war dort und anderswo in Deutschland der Nationalsozialismus längst zum Alltag geworden. Benno von Hagen hatte als Vorsitzender des Euckenbundes die Zusammenkunft „mit einem tiefempfundenen Dank und ‚Sieg Heil‘ auf den Führer eröffnet.“. Im Alltagsbetrieb des Euckenhauses wurden die Riten politischer Loyalitätsbekundung ebenfalls befolgt. Die im Rundfunk übertragenen Ansprachen Hitlers zum 30. Januar, zum Kriegsausbruch im September 1939 und anderen Anlässen hörte man in der Euckenvilla „in deutsch-ausländischer Gemeinschaft“, wie die jährlichen Tätigkeitsberichte des Hauses lapidar in stereotyper Formulierung festhielten. Auch andere Aktivitäten des Rudolf-Eucken-Hauses boten dem Regime ein Forum zur direkten Selbstdarstellung gegenüber den ausländischen Gästen. 1936 organisierte das Haus eine Besichtigung einer Neubausiedlung nahe Weimar, bei welcher Gelegenheit deren Leiter „die Grundsätze des nationalsozialistischen Siedlungssystems“ erklärte. Im folgenden Jahr besuchten die vom Euckenhaus betreuten ausländischen Studenten und Wissenschaftler die Leistungsschau „5 123 Die Tatwelt 35, 1939, S. 12f, 20, 34f. 124 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 23.10.1938. Vgl. Die Tatwelt 35, 1939, S. 79f.

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Jahre nationalsozialistische Regierung in Thüringen“ in Weimar, wo sie von Friedrich Stier persönlich herum geführt wurden. Auch der ein oder andere Parteigänger des Regimes referierte auf den wöchentlichen Vortragsabenden im Euckenhaus. 1935 sprach etwa Hans F. K. Günther, der Rassen-Günther, über „Lamarckismus, Darwinismus, Neudarwinismus und die Frage der völkischen Aufartung“.125 Doch insgesamt waren solche Darbietungen nationalsozialistischer Ideologie und Propaganda wohl eher die Ausnahme. Den einzigen nationalsozialistisch gefärbten Text, den die Tätigkeitsberichte des Rudolf-Eucken-Hauses in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in längeren Auszügen wiedergaben, stammte ausgerechnet von einem der jungen Leipziger Wissenschaftler, auf die Irene Eucken so stolz war, von Helmut Schelsky. Der künftige Star-Soziologe der Bundesrepublik Deutschland verglich 1938 im Euckenhaus die „Revolutionen“ von 1789, 1917 und 1933 miteinander. Er kam dabei zu dem Ergebnis, die nationalsozialistische Revolution habe „nicht nur eine neue, frühere Revolutionen etwa bloß ablösende Idee“ gebracht, sondern zugleich eine neue politische Haltung. Der S. A.-Mann ist der eigentliche Träger dieser neuen, nie vorher dagewesenen Haltung, die mit ihrem ungeheuren starken Ethos (Schweigemärsche) und ihrer bewußten Aktivität (Versammlungsschutz, Säuberung der Straße von der Kommune usw.) innerhalb der Revolution, bereits ehe sie zur Macht gelangte,… einen nie vorher in der Geschichte erlebten, wirklichen geistigen und ethischen Umbruch bewirkte. Politische Willensbildung und Substanz wurden verschmolzen. Die Revolution Adolf Hitlers sei die letzte der drei großen Revolutionen, denn sie habe eine neue Revolution für alle Zeiten unmöglich gemacht.126

Ansonsten vermitteln die Jahresberichte den Eindruck, als habe sich an der praktischen Tätigkeit und der inhaltlichen Gestaltung der kulturellen Veranstaltungen des Rudolf-Eucken-Hauses gegenüber der Zeit vor 1933 nicht allzu viel geändert. Die Heimatabende, an denen ausländische Gäste über ihre Länder berichteten, gehörten nach wie vor zum Standardprogramm des Hauses. Auch die Empfänge zur Begrüßung der ausländischen Studenten zu Semesterbeginn wurden weiterhin veranstaltet. An jedem Mittwoch lud das Euckenhaus während der Vorlesungszeiten zu einem Vortragsabend ein. Doch nur wenige der dort präsentierten Vorträge scheinen eine so ausgeprägte politisch-ideologische Tö125 Die Tatwelt 34, 1938, 174 (Hagen). Vgl. ThULB NLRE V, 14, Bl. 416, 426: Ida an Irene Eucken, 29.9. und 4.10.1937 (beides Postkarten); Ida an Walter Eucken, 24.11.1937, 11.3., 24.3., 12.5.1938 und 4.9.1939; Tätigkeitsberichte Rudolf-Eucken-Haus 1935–1939 (Die Tatwelt 12, 1936, S. 55; ebd. 13, 1937, S. 59; 14, 1938, S. 54, 56; ebd. 15, 1939, S, 53; ebd. 26, 1940, S. 62f). 126 Die Tatwelt 15, 1939, S. 53. Zu Schelskys Karriere in der NSDAP vgl. Kempf, Wirklichkeitsverweigerung, S. 15, 20f, Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 729.

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nung ausgewiesen haben wie Helmut Schelskys Revolutionsvergleich von 1938. Schwerere philosophische Kost wurde vornehmlich von Gastwissenschaftlern und durchreisenden ausländischen Professoren geboten. Ansonsten scheint an den Mittwochabenden in der Euckenvilla die mehr oder minder lehrreiche Unterhaltung vorgeherrscht zu haben: Reiseberichte, gerne mit Lichtbildern, kunsthistorische, kulturgeschichtliche und literarische Vorträge. Selbst die jungen, dem Haus nahe stehenden Philosophen ließen sich bisweilen herbei, über ihre privaten Hobbies zu sprechen. Karl Gumpricht führte im Februar 1937 in das Werk Wilhelm Buschs ein. Gotthard Günther hatte einige Wochen zuvor „einem jugendlichen Sportkreis vom Segelflug und allem, was dazu gehört“, erzählt.127 Überhaupt bot das Rudolf-Eucken-Haus seinen ausländischen Gästen und deutschen Besuchern zahlreiche Möglichkeiten geselliger Freizeitgestaltung: Tee-Nachmittage, Spiele-, Musik- und Sing-Abende, organisierte Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten und Wirtschaftsbetrieben der Umgebung u. a. m. An den „Nordischen Ferienkursen“ für skandinavische und niederländische Studenten beteiligte sich das Euckenhaus in ähnlicher Weise wie vor 1933. In die ebenfalls weiter veranstalteten Weimar-Jena Summer-Colleges war allerdings das Haus offenbar nicht mehr direkt involviert. Der Nutzwert des Jenaer Begegnungshauses für das NS-Regime bestand, wie es scheint, weniger darin, dass die ausländischen Studenten und Wissenschaftler hier offen propagandistisch bearbeitet worden wären. Vielmehr bemühte man sich in der Botzstraße, das akademische Leben im „Dritten Reich“ von seiner freundlichsten Seite zu zeigen, in der Erwartung, dass die Gäste nach ihrer Rückkehr dieses Bild auch in ihren Heimatländern verbreiteten.128 Die Beziehungen des Rudolf-Eucken-Hauses zur NS-Studentenschaft blieben auch in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre angespannt. Walter Eucken, der in Freiburg reichlich Gelegenheit hatte, mit den Nazi-Studentenführern und ihrem renitenten Anhang Erfahrungen zu sammeln, hatte seiner Mutter bereits im Frühjahr 1934 geraten, „den Studenten etwas entgegen zu kommen und sie quasi in die Leitung des Hauses mit aufzunehmen“. Allzu viel Einfluss dürfe man ihnen allerdings nicht gewähren; sonst laufe man Gefahr selbst ausgeschaltet zu werden. Ein Vertreter der Studentenschaft wurde denn auch in das Kuratori127 Tätigkeitsbericht Rudolf-Eucken-Haus 1937 (Die Tatwelt 14, 1938, S. 54). Vgl. Tätigkeitsberichte 1935-39 (ebd. 12, 1936, S. 55ff; ebd. 13, 1937, S. 57–60; ebd. 14, 1938, S. 54-58; ebd. 15, 1939, S. 52–59; ebd. 16, 1940, S. 60–63). 128 Vgl. ThHSA Weimar 6–32–0040: Volksbildungsministerium, C 449, Bl. 34: Ausschnitt Jenaische Zeitung 3.7.1935; ebd. C 224, Bl. 181-194: Programm „Weimar-Jena Summer-College 1937“; Tätigkeitsberichte Rudolf-Eucken-Haus 1936, 1937 (Die Tatwelt 13, 1937, S. 58ff; ebd. 14, 1938, S. 54ff).

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um des Hauses aufgenommen, ebenso ein Herr von der Akademischen Auslandsstelle der Universität. Die Studentenführung erhielt das Recht, die Einladungen an die deutschen Kommilitonen zu den Semester-Veranstaltungen des Euckenhauses auszusprechen. Die jungen Nazis im Publikum der Mittwochabendvorträge fand Irene Eucken augenscheinlich wenig bereichernd. „Wir sind sehr froh, daß das Semester nun vorüber ist“, seufzte sie Ende Juni 1935 in einem Brief nach Freiburg. Die Führer der Studentenschaft seien nun fort sind. „So können wir Studenten nach unserem Willen einladen“.129 Lange währte der Frieden nicht. Im August 1935 erklärte der Studenten-Vertreter seinen Austritt aus dem Kuratorium. Gleichzeitig brach die Führung der Studentenschaft ihre Beziehungen zum Euckenhaus ab und wollte den Studierenden sogar den Besuch des Hauses verbieten. Was den letzten Punkt betraf, wurde die Jenaer Studentenführung allerdings prompt zurückgepfiffen. Der Rektor und die Akademische Auslandsstelle machten die Studentenschaft darauf aufmerksam, dass das Rudolf-Eucken-Haus seine Auslandsabende offiziell im Auftrag der Universität veranstalte. Studentenführer Hans Eberhardt musste sich verpflichten, der Auslandsarbeit der Universität keine Schwierigkeiten zu bereiten und schriftlich zusichern, „die Ausländer nicht von der verschiedenen Auffassung über das Euckenhaus spüren zu lassen“.130 Im folgenden Jahr startete die Studentenschaft einen erneuten Vorstoß, um Zugriff auf das Jenaer Ausländerhaus zu erhalten. Diesmal setzte man den Hebel wieder einmal bei der Bezuschussung des Hauses durch öffentliche Stellen an. Im Sommersemester 1936 strich die Akademische Auslandsstelle ihren halbjährlichen Zuschuss von 400 RM. Als Friedrich Stier daraufhin in Berlin um eine Weiterbewilligung dieser Gelder bat, erklärte sich der Deutsche Akademische Auslandsdienst zwar grundsätzlich dazu bereit. Doch sei die Voraussetzung hierfür, „dass bei den maßgebenden Stellen in Jena Einvernehmen über die Notwendigkeit dieser Unterstützung des Eucken-Hauses besteht“. Offenbar hatte sich der NSDAP-Kreisleiter gegen eine weitere Finanzierung des Hauses quergelegt. Sollte der Kreisleiter einwilligen, werde der DAAD die entsprechenden Mittel in der bisherigen Höhe wieder bereitstellen. Damit die Partei grünes Licht für die weitere Bezuschussung aus den Fonds der Akademischen Auslandsstelle bzw. des DAAD gab, musste man im Euckenhaus der Studentenführung entgegen kommen. Im Dezember 1936 machte der thüringische Gaustu129 ThULB NLRE V, 12, Bl. 20: Walter an Irene Eucken, 5.4.1934; ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 30.6.1935. Vgl. ebd., Korrespondenz zum Euckenbund: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 16.5.1934. 130 UAJ Bestand U Abt. II, Nr. 13, Bl. 40: Übereinkommen, 23.11.1935. Vgl. ebd., Bl. 39: K. H. Fischer an das Kuratorium des Rudolf-Eucken-Hauses, 23.8.1935; ebd. Bl. 45: Akademische Auslandsstelle an den Rektor, 21.12.1935.

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dentenführer Vorschläge für eine gemeinsame Betreuung aller in Jena studierenden Ausländer. Seit Anfang 1937 lud dann die Studentenführung wieder einen Teil der Gäste zu den Veranstaltungen des Hauses ein.131 Es dauerte nicht lange, bis es zwischen der Leitung des Euckenhauses und den Studenten zu den ersten Reibereien kam. Anfang März 1937 bemängelte der Leiter des Grenz- und Auslandsamtes der Jenaer Studentenschaft, Hans Laberke, in einem Schreiben an den Rektor die Innenausstattung des Hauses. Dort hänge nun zwar ein Führerbild, das aber nicht so recht in den Gesamtrahmen passe. Wenn doch wenigstens das Musikzimmer, wo man sich zumeist zusammenfinde, „durch einige neue Bilder und eine entsprechende Anordnung reine und wahre Formen zeigen“ würde! Man könnte doch jetzt in den Semesterferien, so schlug Laberke vor, derartige Umgestaltungen vornehmen, dann würden die Änderungen nicht so ins Auge fallen. „Fräulein Eucken“ würde dies doch sicher veranlassen, wenn sie entsprechende „Hinweise“ vom Rektor und von Ministerialrat Stier bekomme. Zumindest Friedrich Stier dachte offensichtlich nicht daran, den Wünschen der Studentenschaft gegenüber Mutter und Tochter Eucken Nachdruck zu verleihen. Die Räume seien in dem Zustand, in dem sie Rudolf Eucken verlassen habe, erklärte er dem Studentenfunktionär. Diese Tatsache sei von den Gästen des Hauses immer besonders hoch gewertet worden. Daher könnten Umstellungen der Einrichtungsgegenstände im Euckenhaus nur mit größter Vorsicht und Zurückhaltung vorgenommen werden. „Zum Zweiten“, so fuhr der Ministerialrat fort, kann eine solche Änderung der Eigentümerin des Hauses, Frau Irene Eucken, nicht verborgen bleiben. Bei ihrem außerordentlich lebhaften Verhalten und ihrer tätigen Anteilnahme an der Arbeit des Hauses vergißt man zu leicht ihr wirkliches Alter. Sie werden mit mir darin übereinstimmen, daß wir etwas vermeiden müssen, was sie unnötig aufregt …132

Zwei Monate später wurde Hans Laberke ein weiteres Mal in Sachen Rudolf-Eucken-Haus bei Stier vorstellig. Dieses Mal griff er die Beschwerde einer schwedischen Studentin und ihrer deutschen Freundin auf, die sich von Irene Eucken mit allzu großer sozialer Herablassung behandelt fühlten. Nach diesem Vorspiel legte Laberke dem Kuratorium eine Erklärung vor, nach der die Studentenfüh131 ThHSA Weimar 6–32–0040: Volksbildungsministerium, C 449, Bl. 77: DAAD an Volksbildungsministerium, 18.12.1936. Vgl. ebd., Bl. 74: Friedrich Stier an DAAD, 29.9.1936; ebd. Bl. 78f: DAAD an Meyer-Erlach, 18.12.1936; ebd., Bl. 89, 177: Hans Laberke an Friedrich Stier, 10.1. und 7.5.1937. 132 UAJ Bestand U Abt. II, Nr. 13, Bl. 51: Grenz- und Auslandsamt der Studentenschaft an Rektor, 7.3.1937; ThHSA Weimar 6–32–0040: Volksbildungsministerium, C 449, Bl. 93: Friedrich Stier an Hans Laberke, 11.3.1937.

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rung als „gleichberechtigt einladende Stelle“ anerkannt und „Umstellungen, soweit sie für die Ausländerbetreuung im Sinne der von Staat und Partei geforderten Voraussetzungen unbedingt notwendig sind,“ zugestanden werden sollten. Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, kündete er an, bis zur Erledigung seiner Vorschläge die Mitarbeit der Studentenschaft im Euckenhaus einzustellen. Er habe aber den Kreisleiter davon noch nicht in Kenntnis gesetzt, da er hoffe, die Schwierigkeiten könnten auf einfachere Weise beseitigt werden. Mitte Juni 1937 unterzeichneten das Kuratorium des Rudolf-Eucken-Hauses und die Jenaer Studentenführung schließlich eine Vereinbarung, die es der Studentenschaft erlaubte, das Haus auch für eigene Veranstaltungen zu nutzen. Laberke verlor keine Zeit und präsentierte bereits einige Wochen später einen Plan für die Umgestaltung des Musikzimmers im Euckenhaus, den er von einem Architekten hatte ausarbeiten lassen. Diesem Ansinnen stellte sich wiederum Irene Eucken entgegen und es kam ihr dabei die weltpolitische Großwetterlage zu Hilfe. Nachdem der Krieg in Ostasien fürs erste beigelegt scheine, so kündete sie ihrem Freiburger Sohn Ende Juli 1937 an, würden Toyowo Ohgushi und ein chinesischer Kollege ins Haus kommen, um hier zu arbeiten. Dann „kann ich der Studentenschaft keine Räume zur Verfügung stellen, die sie nach ihrem Geschmack einrichten wollen. Dann scheidet das Forthängen gewisser Bilder aus. Was ich sowieso nicht zugegeben hätte.“133 Anfang März 1938 brachten Irene und Ida Eucken in Erfahrung, dass Sauckel den Vertrag des Landes Thüringen mit dem Euckenhaus zum 30. September kündigen werde. Damit stand auch das Arrangement mit dem Auswärtigen Amt hinsichtlich der von Haus und Tatwelt übernommenen auslandspropagandistischen Aufgaben zur Disposition. Ida Eucken fuhr umgehend nach Berlin. Im Auswärtigen Amt erklärte man ihr, dem Ministerium sei die Arbeit des Euckenhauses völlig egal, man wolle aber unbedingt die „litterarische Auslandsarbeit“ weiter führen. „Wir können es kaum fassen, daß wir jetzt plötzlich selbständig entscheiden können – entscheiden, ohne den wertvollsten Teil unserer Arbeit zu zerstören“, schrieb Irene Eucken nach Freiburg. Die Philosophen-Witwe und ihre Tochter schlugen nun Friedrich Stier vor, die Arbeit des Hauses auf die wissenschaftliche Auslandsarbeit zu beschränken und die Betreuung der ausländischen Studenten ganz abzugeben. Es war nicht das erste Mal, dass sie diesen Plan in Weimar vorgelegt hatten. Doch hatte Stier diese Variante wegen der Probleme, das Haus bei einer solchen Reduzierung seiner Aufgaben weiter133 ThHSA Weimar 6–32–0040: Volksbildungsministerium, C 449, Bl. 177-181: Hans Laberke an Friedrich Stier, 7.5.1937; ebd. Bl. 185: Vereinbarung zwischen dem Kuratorium des RudolfEucken-Hauses und der Studentenführung (Entwurf), 17.6.1937; ebd. Bl. 187: Laberke an Stier, 8.7.1937; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 24.7.1937.

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hin aus der Landeskasse zu bezuschussen, bislang immer abgelehnt. Nun schien auch der Weimarer Ministerialdirektor der „ewigen Reibungen mit den jungen Leuten müde zu werden“ und versprach, die Möglichkeiten für eine Umsetzung des Plans auszuloten.134 Auch dieses Mal gelang es Friedrich Stier, genügend politischen Rückhalt zu mobilisieren, um eine Schließung des Rudolf-Eucken-Hauses abzubiegen. Die angekündigte Kündigung unterblieb. Doch der Druck auf das Haus nahm in der Folgezeit weiter zu. Im Herbst 1938 gründeten die Akademische Auslandsstelle der Universität und die Studentenschaft einen „Deutsch-Ausländischen Club“, der bei der Betreuung der ausländischen Studenten und Wissenschaftler in direkte Konkurrenz zum Euckenhaus trat. Zur Jahreswende 1938/39 kursierten zudem Pläne, ein Auslandsamt der NS-Dozentenschaft in Jena ins Leben zu rufen. Die Organisation der Hochschuldozenten forderte sogleich im Volksbildungsministerium einen ausführlichen Bericht über den Euckenbund und das Rudolf-Eucken-Haus an. Vor allem wollte man wissen, „inwieweit staatliche Stellen den Euckenbund wirtschaftlich unterstützen“. Stier versuchte in seinem Bericht augenscheinlich, die Begehrlichkeiten der Parteiorganisation zu dämpfen, indem er konstatierte, die Arbeiten des Euckenhauses seien „nach der wissenschaftlichen Seite hin … wichtig und wertvoll“. Die „hier zum Ausland sich ergebenden Beziehungen“ sollten nicht ohne Not zerstört werden.135 Das zweite Standbein ihrer kulturpropagandistischen Aktivitäten erwies sich für Irene und Ida Eucken als wesentlich stabiler als das wacklige Arrangement mit Universität und Volksbildungsministerium beim Betrieb des Jenaer Ausländerhauses. Jedes Frühjahr reiste Ida Eucken für einige Tage in die Reichshauptstadt, um im Auswärtigen Amt über die weitere Gewährung des Zuschusses für Die Tatwelt zu verhandeln. Im Allgemeinen scheinen die jährlichen Neubewilligungen problemlos über die Bühne gegangen zu sein. Der wichtigste Berliner Ansprechpartner der Eucken-Tochter war Fritz Stieve, seit 1932 Leiter der Abteilung Kultur des Auswärtigen Amtes. Stieve, ein promovierter Historiker, war während des Ersten Weltkriegs Presseattaché der deutschen Botschaft in Stockholm gewesen und hatte 1928 bis 1932 als deutscher Gesandter in Riga amtiert. Möglicherweise trugen seine längeren Aufenthalte in Schweden und 134 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Ehepaar Eucken-Erdsiek, 10.3.1938; ebd.: Ida an Walter Eucken, 24.3.1938. Vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, 4.3., 29.3. und 3.4.1938. 135 ThHSA Weimar: 6–32–0040: Volksbildungsministerium, C 449, Bl. 190f: Briefwechsel Gaudozentenbundsführer Dr. Jörg – Friedrich Stier 19.12.1938 und 16.1.1939: ebd.: Reichsstatthalter in Thüringen 1933–1945, Nr. 437, Bl. 3: Auslandsamt der Dozentenschaf an Sauckel, 10.1.1939. Vgl. ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Ida Eucken an Walter Eucken, 3.4. und 12.11.1938; sowie John/Stutz, Universität, S. 452.

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Lettland dazu bei, ihn von der Zugkraft des Namens Eucken für die Kulturpropaganda im Ausland zu überzeugen.136 In der Tatwelt schrieben, was die Ausländer angeht, ganz überwiegend Philosophieprofessoren idealistischer Grundrichtung. Prominent vertreten waren vor allem US-Amerikaner wie John M. Warbeke, Roger W. Holmes, beide am Mount Holyoke College in Massachusetts, oder Edgar Sheffield Brightman von der Universität Boston. Manche, wie der Harvard-Mann William Ernest Hocking, hatten bereits vor 1933 in Kontakt mit dem Euckenhaus gestanden. Ralph Tyler Flewellin, der „Personalist“ aus Los Angeles, hatte noch mit Rudolf Eucken persönlich korrespondiert. George P. Conger, Professor an University of Minneapolis, veröffentlichte 1936 Reminiszenzen an sein Studium bei Eucken in Jena in der Tatwelt. Beiträge von den britischen Philosophen blieben dagegen eher rar. Allein John D. Laird von der Universität Aberdeen platzierte zwischen 1935 und 1939 mehrfach Artikel oder längere Rezensionen in der Zeitschrift des Euckenbundes. Relativ häufig schrieben französische Autoren in der Tatwelt – ein merklicher Unterschied zur weitgehenden Funkstille zwischen der Eucken-Bewegung und den französischen Philosophen in der Weimarer Zeit. Jacques Chevalier (Grenoble) war im Herbst 1935 sogar zu einem Vortrag nach Jena ins Euckenhaus gekommen.137 René Le Senne, Gabriel Marcel und Louis Lavelle finden sich in den folgenden Jahren unter den Mitarbeitern der Zeitschrift. Mehrfach vertreten als Autoren waren zudem die schon oben erwähnten Italiener Orestano und Banfi sowie Thaddäus Zielinski aus Warschau. Auf die redaktionelle Gestaltung der Tatwelt nahm die Kulturabteilung des Auswärtigen Amts keinen direkten Einfluss. Stieve und seine Beamten verzichteten auch darauf, die Hefte zu begutachten, bevor sie in Druck gingen. Allerdings musste die Redaktion regelmäßig eine aktualisierte Liste ihrer ausländischen Autoren in Berlin zur Überprüfung vorlegen. Auch die Übermittlung von Texten an ausländische Medien unterlag der vorherigen Genehmigung durch das Auswärtige Amt. Als Jacques Chevalier die Euckenhaus-Leitung bat, einen Bericht über seinen Jenaer Vortrag an französische Zeitungen zu senden, musste man das Plazet Stieves einholen.138 Tatsächlich ging die aktive Einwirkung der in Ida Euckens Händen vereinten Geschäftsstellen von Haus, Bund und Tat136 Vgl. ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 29.3.1936, 7.4.1937 und 20.3.1939: ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 1.4.1936. Zu Stieve: Handbuch Auswärtige Dienste, S. 359ff. Allgemein zur Kulturpropaganda des AA während des Nationalsozialismus vgl. Trommler, Kulturmacht, S. 457–461; Gesche, Kultur, S. 77. 137 Vgl. Tätigkeitsbericht Rudolf-Eucken-Haus 1935 (Die Tatwelt 12, 1936, S. 56); ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 10.10.1935. 138 Vgl. ThHSA Weimar 6– 32–0040: Volksbildungsministerium, C 449, Bl. 39: Ida Eucken an Friedrich Stieve, 8.10.1935.

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welt auf die öffentliche Meinung des Auslands offenbar kaum über den Vertrieb der Zeitschrift hinaus. Eine Propaganda-Aktion wie die Resolution der Jenaer Auslandsstudenten vom Frühjahr 1933 starteten Mutter und Tochter Eucken nicht mehr. Soweit sich aus ihrem Briefwechsel erschließen lässt, beschränkte sich die direkte Propaganda-Arbeit auf gelegentliche Übersendungen von offiziösen Schriften an einzelne Freunde und ehemalige Gäste des Hauses. So bedankte sich der Germanist Paul Curtis 1936 bei Irene Eucken für die Übersendung einer Broschüre mit dem Titel Wer will den Krieg?.139 In welcher Weise die angesprochenen ausländischen Wissenschaftler die ihnen übermittelten Materialien verwendeten, lässt sich aus den verfügbaren Quellen kaum erschließen. Nur in einem Fall ist zu belegen, dass ein ehemaliger Gast tatsächlich im Sinne der auslandspropagandistischen Zielsetzungen des Rudolf-Eucken-Hauses in seinem Heimatland aktiv wurde. Bezeichnenderweise handelte es sich dabei um einen Deutsch-Amerikaner, den GermanistikDozenten Walter J. Mueller von der Cornell University in Ithaca/New York. Mueller hatte im Sommer 1936 am Weimar-Jena Summer College teilgenommen. Bei dieser Gelegenheit war er mit dem Euckenhaus in Kontakt gekommen und hatte dort einen „USA-Heimatabend“ gestaltet. Im März 1937 berichtete Mueller, er habe an seiner Universität eine Reihe von Vorträgen gehalten und dabei auch einige Studenten „so weit bekehrt, daß sie den deutschen Standpunkt einsehen“. Einige Wochen später schrieb Mueller nach Jena, er habe im örtlichen „Deutschen Verein“ vor 40 Leuten über seine Erlebnisse in Deutschland vorgetragen und dabei auch das Euckenhaus vorgestellt.140 Walter J. Mueller versuchte zudem, Artikel in der Zeitschrift World Youth unterzubringen, die das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten in ein positives Licht rücken sollten. Aus Jena erhielt er zu diesem Zweck die Zusammenfassung eines Euckenhaus-Vortrags über das „moderne Italien“. Viel Erfolg scheint Mueller mit seinen publizistischen Vorstößen nicht gehabt zu haben. Berichte über Deutschland, so klagte er, berücksichtige die Redaktion der World Youth kaum. Sein eigener, vor längerer Zeit eingereichter Aufsatz über die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholz-Klink sei noch immer nicht erschienen. Bald mutmaßte Mueller, die Zeitschrift neige zu den „Liberalen“ (also wohl zum linken Flügel der Democratic Party). Für ihn stellte sich diese politi-

139 Vgl. ThULB NLRE V, 1, Bl. 214: Paul H. Curtis an Irene Eucken, 22.7.1936. 140 ThULB NLRE V, 4, Bl. 1101: Walter J. Mueller an Irene Eucken, 16.3.1937. Vgl. ebd. Bl. 1102, 1106: Mueller an Irene Eucken, 11.4. und 4.10.1937; Tätigkeitsbericht Rudolf-Eucken-Haus 1936 (Die Tatwelt 13, 1937, S. 58); ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 1.3.1937.

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sche Ausrichtung „mehr oder weniger als ein Bekenntnis zu kommunistischen Idealen“ dar. Darunter fiel für den deutsch-amerikanischen Dozenten auch ein „uneingeschränkter gesellschaftlicher Verkehr zwischen Negern und Weißen“. „Ich muß sagen“, so Mueller, „bei mir liegt ein zu starkes rassisches Bewußtsein vor, um diese Forderungen zu billigen.“141 Mit solchen Positionierungen war wohl nicht unbedingt ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus verbunden. Mueller bezeichnete sich selbst als „konservativen, nationalempfindenden Menschen“. Mit seiner Haltung zur „Rassenfrage“ und seiner Kommunisten-Paranoia dürfte er durchaus im Mainstream des US-amerikanischen Konservatismus der 1930er Jahre zu verorten sein. Dazu gehörte auch die vehemente Ablehnung der New Deal-Politik des demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, die Mueller in seinen Briefen nach Jena zum Ausdruck brachte. Der angehende College-Professor zeichnete dabei die Zustände in den Vereinigten Staaten als wahres Horrorszenario von Unruhen, Massenstreiks und kommunistischen Propaganda-Feldzügen. Bei Irene Eucken fand er mit diesen Schilderungen anscheinend offene Ohren. Die Philosophen-Witwe wollte auch einer gerade aus den USA zurückgekehrten Bekannten partout nicht glauben, dass Berichte über amerikanische Streiks völlig übertrieben seien.142 Zudem berichtete Mueller nach Jena, in den USA sei „eine öffentliche Hetze gegen Deutschland im Gange“, die ihn an das deutschfeindliche Klima in der amerikanischen Öffentlichkeit während des Weltkriegs erinnerte. Ausführlich schilderte er im Frühjahr 1937 Kundgebungen gegen die Nazi-Diktatur in New York. „Die meisten Deutsch-Amerikaner“, so Mueller, würden diese Geschehnisse aufs tiefste bedauern. „Wir wollen nur Frieden und Verständigung, während man uns ständig vorwirft, den Nationalsozialismus in Amerika einführen zu wollen!“. Der junge Germanistikdozent sah sich offenbar vor die gleiche Problematik gestellt wie die deutsch-amerikanischen Aktivisten 20 Jahre zuvor. In seiner Wahrnehmung war die „alte Heimat“ Opfer einer organisierten Schmutzkampagne geworden. Man müsse daher Mittel und Wege finden, um das vermeintlich verzerrte Deutschland-Bild der Amerikaner zu korrigieren. Irene Eucken fand Muellers Schilderungen so erschütternd, dass sie umgehend daran ging, seinen Brief ihr geeignet erscheinenden Personen zukommen zu lassen. Auch an das Auswärtige Amt reichte sie die Berichte aus Amerika weiter. Dort

141 ThULB NLRE V, 4, Bl. 1099f, 1104: Walter J. Mueller an Irene Eucken, 16.3. und 15.5.1937. 142 Vgl. ebd., Bl. 1100: Walter J. Mueller an Irene Eucken, 16.3.1937; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 5.4.1937.

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winkte man aber ab. Es seien aus den USA so viele ähnliche Berichte eingegangen, dass man das Land augenblicklich „als verlorenen Posten“ ansehe.143 Mit zwei alten Freunden aus Ostasien standen Irene und Ida Eucken während der 1930er Jahren weiterhin in mehr oder minder kontinuierlichem Kontakt. Toyowo Ohgushi kündete 1937 an, für ein Jahr nach Jena kommen zu wollen. Er komme, so vertraute er seiner ehemaligen Mentorin Ida Eucken an, „geistig in Japan nicht weiter“. Augenscheinlich wurde dann aber doch nichts aus dem Jena-Aufenthalt des japanischen Staatsrechtlers. Carsun Chang hatte Irene Eucken im August 1933 gebeten, ihn von Zeit zu Zeit wissen zu lassen, „wie es der Hitler-Regierung geht“. Er selbst wolle gern das Seine tun, um in China „alle falsche Meinungen betreffend die jetzige Regierung zu beseitigen“. Politisch entwickele sich Deutschland ja nun, wies es „Fräulein Eucken“ gewollte habe. Die ganze Bewegung entspreche der Bedeutung der Reformation. Sie sei eine „Verwirklichung des aktivistischen Geistes“. Augenscheinlich nahm Chang zu diesem Zeitpunkt an, seine ehemaligen Gastgeberinnen seien zu überzeugten Anhängern des Nationalsozialismus geworden. Für den ersten Jahrgang der „neuen“ Tatwelt steuerte der chinesische Freund 1935 ein Kapitel seiner Geschichte der neukonfuzianischen Philosophie bei.144 Selbst Chang und Ohgushi scheinen nicht in irgendeiner systematischen Weise in die kulturpropagandistischen Aktivitäten der Euckenvilla eingespannt gewesen zu sein. Changs Bemerkungen vom Sommer 1933 bezogen sich offensichtlich auf die Initiative der Jenaer Auslandsstudenten. Möglicherweise ermahnte gerade der Ausgang dieses Vorstoßes Irene und Ida Eucken, sich künftig nicht mehr in Aktionen zu engagieren, die dazu geeignet waren, die Aufmerksamkeit von Parteigliederungen auf sich zu ziehen. Um den Wert des Euckenhauses für das Ansehen Deutschlands in der Welt zu demonstrieren, beließen es sie es fortan bei eher dezenten Hinweisen auf die positiven Eindrücke, die ihre ausländischen Gäste von ihren Aufenthalten in Jena mitgenommen hätten. Als sich 1938 die Gründung des Hauses zum zehnten Mal jährte, kamen die vier Gründungsmitglieder des Kuratoriums „zu einer kleinen internen Feier“ zusammen. „Intern“ war diese Feier allerdings keineswegs, denn zur „großen Überraschung und Freude“ der Jubilare wurde ihnen „von den beiden derzeitigen ausländischen Senioren, Herrn Dr. med. Chang We-Hyuin und Herrn cand. phys. Sveinn Tordarson, eine Fülle freundlicher Glückwunschschreiben ehema143 ThULB NLRE V, 4, Bl. 1099ff: Walter J. Mueller an Irene Eucken, 16.3.1937; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 5.4. und 12.4.1937. 144 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Ehepaar Eucken-Erdsiek, 28.6.1937; ThULB NLRE V, 1, Bl. 156ff: Carsun Chang an Irene Eucken, 18.8.1933. Vgl. Die Tatwelt 11, 1935, S. 140–153; sowie Bauer, Eugen Diederichs Verlag, S. 467.

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liger Gäste des Hauses …vorgelesen und überreicht“. Im Jahresbericht des Rudolf-Eucken-Hauses, der in der Tatwelt publiziert wurde, sind diese Adressen auf zwei vollen Seiten im Wortlaut wiedergegeben. Hier bekannten etwa ehemalige Gäste aus Japan, sie würden sich zuweilen immer noch versammeln, um die schöne Jenaer Zeit wiedererstehen zu lassen. Aus Frankreich schrieb eine ehemalige Gaststudentin, sie würde gerne ihrem Mann, der noch nie in Deutschland gewesen, „aber ein großer Deutschlandfreund“ sei, Jena und das Euckenhaus zeigen, wo sie so viele schöne Stunden verlebt habe. Einer der amerikanischen Freunde des Hauses beteuerte, er habe hier „den erhabenen deutschen Geist erfaßt“. Eine andere US-amerikanische Adresse prophezeite, dass aus dem Rudolf-Eucken-Haus „immer wieder Ströme gewaltigen Geisteslebens im Sinne Euckens, Erbe und Wegführer des klassischen deutschen Idealismus, in die Gedanken- und Tatwelt des neuerwachten deutschen Volkes sich ergießen werden, die … sich zum Gemeingut der gesamten heilsuchenden Menschheit zu entwickeln berufen sind.“ Ähnlich äußerten sich auch die Gratulanten aus Finnland, Polen, den Niederlanden, Indien, Griechenland und Schweden.145

Der Euckenbund auf dem Rückzug Einige Wochen vor der „internen“ Zehnjahresfeier des Rudolf-Eucken-Hauses hatte Irene Eucken Post von einem alten Mitkämpfer erhalten. Rudolf Voß, der dritte Vorsitzende des Euckenbundes, versicherte ihr hier: „Der E. B. steht im In- und Ausland geachtet da und ist nun wohl auch von der Regierung als unentbehrlich anerkannt.“ Dies war nun eine Behauptung, die selbst dann reichlich realitätsfern anmutet, wenn man die großzügigste Definition dessen, was den Euckenbund ausmachte, zugrunde legt und das Euckenhaus, die Tatwelt und die Jenaer Tagungen als Einrichtungen und Veranstaltungen des Bundes verstehen will. Als von Mitgliedern getragene und in Ortsgruppen verzweigte Organisation führte der Euckenbund in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nur noch ein Schattendasein. Im Zuge ihrer Reorganisationsbemühungen hatte Irene Eucken noch 1934 Pläne geschmiedet, „ein oder die andere Ortsgruppe zu gründen. Ganz kleine, nur mit Qualitätsmenschen!“. Es sind auch konkrete Anläufe zu solchen Gründungen belegbar, in Leipzig und (wieder einmal) in Berlin. Doch beide Vorstöße verliefen nach einiger Zeit wieder im Sande. Anfang 1936 wurde die Jenaer Zentrale von der Nachricht überrascht, dass sich in Bremen spontan ein kleiner Euckenbund gebildet habe, nachdem Bruno Jordan zur 145 Tätigkeitsbericht Rudolf-Eucken-Haus 1938 (Die Tatwelt 15, 1939, S. 54–57).

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Feier des 90. Geburtstags seines Meisters „in einem angesehenen Privathaus“ einen Vortrag gehalten hatte. Unter den Mitgliedern seien, wie Irene Eucken ihrem Sohn Walter mitteilte, „die angesehensten Wissenschaftler Bremens, meist Naturforscher“. Man wolle ab und zu im privaten Kreis zusammenkommen und sich, angeleitet von Jordan in die Lehre Rudolf Euckens vertiefen. Ob dieser Plan wirklich in die Tat umgesetzt wurde, ist aus den verfügbaren Unterlagen nicht zu ersehen.146 Ein offenes – öffentliches – Auftreten war dem Bund als nicht-nationalsozialistischer Organisation nun nur noch in einem sehr beschränkten Maße möglich. „Laut werben können wir nicht“, schrieb Irene Eucken Mitte 1937, „so muß es leise von Mund zu Mund geschehen, aber es kommt wenig dabei heraus.“ Die Mehrzahl der lokalen Euckenbünde hatte zu diesem Zeitpunkt ihre Versammlungs- und Veranstaltungstätigkeit längst eingestellt. Korrespondenzen finden sich in den Unterlagen der Jenaer Geschäftsstelle für die Zeit nach 1933 lediglich für eine Handvoll von Ortsgruppen. Daraus geht etwa hervor, dass die Ortsgruppe Stendal noch im Winterhalbjahr 1937/38 drei „Arbeitsabende“ abhielt, in denen vornehmlich „die Verbindungslinien der Euckenschen Philosophie zur Religion“ besprochen wurden.147 So weit zu übersehen ist, traten in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nur drei Lokalorganisationen des Bundes überhaupt noch an die Öffentlichkeit. Es waren dies die Ortsgruppen Chemnitz, Halle und München. Der Chemnitzer Euckenbund konsolidierte sich nach dem Austritt Otto Günthers wieder. Anfang 1935 meldete der Vorsitzende Rudolph Leitem zwei Neuaufnahmen, was den Mitgliederbestand der Ortsgruppe auf 13 brachte. Dieser kleine Kreis von Anhängern des Jenaer Philosophen scheint sich auch in den folgenden Jahren regelmäßig getroffen zu haben. Die Gruppe veranstaltete nach wie vor öffentliche Vortragsabende, über die gelegentlich auch die Lokalpresse berichtete. Die Chemnitzer Euckenbündler waren von sich aus bestrebt, den persönlichen Kontakt zum Bundesvorstand aufrecht zu erhalten. Sie unternahmen hin und wieder Ausflüge nach Jena und wurden im Euckenhaus empfangen. Zu ihrer jährlichen Festsitzung zum Geburtstag Rudolf Euckens lud die Ortsgruppe den 146 ThULB NLRE V, 5, Bl. 1583: Rudolf Voß an Irene Eucken, 23.4.1938; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 27.11.1934; ebd.: Irene an Walter Eucken, 12.1.1936. Vgl. zu Berlin: ThULB NLRE V, 4, Bl. 1093: Otto Most an Irene Eucken, 17.12.1934; ebd. VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Irene Eucken an Most, 15.11.1934; zu Leipzig: ebd.: Rudolf Voß an Irene Eucken, 22.1., 2.2., 2.3., 10.3., 3.11., 14.11., 22.11.1934 und 6.3.1935; ebd.: Irene Eucken an Most, 15.11.1934; zu Bremen: ebd. V, 2, Bl. 501: Lucie Grote an Irene Eucken, 13.1.1936. 147 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 11.7.1937; ThULB NLRE V, 2, Bl. 658f: Emil Herms an Irene Eucken, 23.4.1938.

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Bundesvorsitzenden und die Witwe des Philosophen nach Chemnitz ein. So berichtete Irene Eucken im Januar 1939 dem Freiburger Sohn von ihrer Reise in die sächsische Industriestadt und ihrer Teilnahme an der Festveranstaltung. Benno von Hagen hielt vor rund 80 Personen einen Vortrag über das Geistesleben im Sinne Rudolf Euckens. Der Chemnitzer Ortsgruppenvorsitzende stellte die Leitlinien und Ziele des Bundes vor und tat dies, wie Irene Eucken fand, ganz ausgezeichnet – „wenn man sich an seinen Dialekt gewöhnt hatte“. Noch im Frühjahr 1941 erhielt die Eucken-Witwe eine Einladung aus Chemnitz zu einem Vortrag Leitems zum Thema „Können wir noch Christen sein?“. Und im Mai 1943 fand sich die gesamte Chemnitzer Ortsgruppe zum ersten Semesterabend des Euckenhauses in Jena ein.148 In Halle an der Saale erhielt die Ortsgruppe im Herbst 1935 einen neuen Vorsitzenden, einen Pfarrer Roennecke. Doch der Oberpostrat Voß scheint auch nach seiner dienstlichen Versetzung nach Leipzig die treibende Kraft des Hallenser Euckenbundes gewesen zu sein. Noch Mitte der 1930er Jahre veranstaltete die Gruppe im Winterhalbjahr sechs bis acht öffentliche Vortragsabende. Höhepunkt des Jahreszyklus waren auch hier die Feierlichkeiten anlässlich der Geburtstage des verstorbenen Meisters. Im Januar 1936 waren Irene Eucken und Benno von Hagen zu dieser Feierstunde angereist. Im November des gleichen Jahres lud die Hallenser Ortsgruppe sogar zu einem Vortrag Francesco Orestanos in einen Hörsaal der Universität ein. Gelegentlich meldete der Vorstand der Ortsgruppe sogar einige Neuaufnahmen. Anfang 1935 verzeichnete der Euckenbund in Halle 56 Mitglieder; Mitte 1937 waren es noch 46. Danach beschleunigte sich aber der Mitgliederschwund. Anfang 1939 schrieb Hagen an Voß, ihm bereite diese Entwicklung größte Sorge. Es hätten 1938/39 acht Mitglieder aus Halle den Bund verlassen, drei weitere seien verstorben. Der Vorsitzende drängte den Ortsgruppenvorstand, die ausgetretenen Mitglieder anzusprechen, um sie zurück zu gewinnen, und neue Werbemaßnahmen einzuleiten. Damit bricht aber die Korrespondenz zwischen Jena und Halle ab.149 148 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 7.1.1939. Vgl. ThULB NLRE VI, 27, o. Bl.: Ortsgruppe Chemnitz: Rudolph Leitem an Sekretariat Jena, 17.2.1935; ebd: Ausschnitt Chemnitzer Neueste Nachrichten, 17.4.1937; ebd. VI, 25: Mappe „1936 Zeitungsnachrichten…“, o. Bl.: Ausschnitt Chemnitzer Allgemeine Zeitung, 8.11.1936; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 14.6.1936; Irene an Ida Eucken, 21.5.1941; Ida an Walter Eucken, 10.5.1943. 149 Vgl. ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Ausschnitte Saale-Zeitung, Halle, 5.1. und 9.2.1935; ebd.: Rudolf Voß an Irene Eucken, 7.1.1935; ebd. Mitgliederliste Ortsgruppe Halle, Januar 1935; ebd.: Gilck an Sekretariat Jena, 26.12.1936, 9.5.1937 und 4.8.1938; ebd. Einladungskarte Ortsgruppe Halle [1936]; ebd. VI, 25: Mappe „1936 Briefwechsel M-P“, o. Bl.: Sekretariat Jena an Francesco Orestano, 19.10.1936; ebd. VI, 25: Mappe „1936 Briefwechsel A-L“, o. Bl.:

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Der Münchener Euckenbund firmierte Mitte der 1930er Jahre als „Kulturphilosophische Gesellschaft“ und in seinem Vorstand und engerem Ausschuss war immer noch eine beeindruckende Auswahl großbürgerlicher und adliger Honoratioren vertreten. Die Universitätsprofessoren Hans Heinrich Borcherdt, Fritz van Calker, Aloys Fischer und Albert Rehm hatten bereits vor 1933 diesen Gremien angehört. Neu hinzugekommen waren der Historiker Karl Alexander von Müller, der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder, der Komponist Clemens von Franckenstein und der Verleger Hugo Bruckmann. Nach wie vor fanden die öffentlichen Vorträge des Münchener Euckenbundes im Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität statt. Das Programm für das Wintersemester 1936/37 weist einige hochkarätige Referenten auf, unter ihnen der Schriftsteller Hans Grimm. Die Seele des Münchner Betriebs war immer noch Luise Seefried, nun bereits Mitte 70. Ihre Probleme mit dem Geld hatten sich offenbar nicht vermindert. Ein Redner wie Hans Grimm, so berichtete Seefried 1936 nach Jena, garantiere zwar guten Besuch. Doch seien die Honorare für solche Leute so hoch, dass es nicht möglich sei, Reserven zu bilden. Bei den meisten anderen, weniger bekannten Referenten sei das Defizit sicher. Sie allein sei es, so klagte sie, die für eventuelle Defizite aufzukommen habe. Augenscheinlich hatte der Münchner Euckenbund aber auch mit den politischen Rahmenbedingungen der NS-Diktatur zu kämpfen. Es sei ihr, so Luise Seefried 1936, von „maßgebenden Stellen u. Persönlichkeiten“ geraten worden, eine zweijährige Pause eintreten zu lassen, „bis die Politik dem Geistigen wieder mehr Raum gibt“. Ende 1937 kam ihre Tochter Elisabet nach Jena zu einem ihrer Rezitationsabende. Beim Mittagessen in der Euckenvilla bekräftigte sie die Absicht, zusammen mit ihrer Mutter die Münchner Ortsgruppe weiter zu führen. Dies war allerdings das letzte quellenmäßig belegte Lebenszeichen des Euckenbundes München.150 Der Kontakt zwischen der Geschäftsstelle des Bundes in Jena und den Mitgliedern beschränkte sich seit der Reorganisation der Bewegung 1934/35 im Wesentlichen auf die Eintreibung der Mitgliedsbeiträge und den Vertrieb der Tatwelt. In der Zeitschrift des Bundes waren aber nur gelegentlich einmal Beiträge zu finden, die sich spezifisch mit der Philosophie und Weltanschauung Rudolf Euckens beschäftigten. Zudem nahmen seit 1937 die auf den Jenaer Tagungen debattierten erkenntnistheoretischen Probleme so breiten Raum in der Tatwelt ein, dass viele der verbliebenen Mitglieder sich mehr denn je genötigt sahen, Benno von Hagen an Horst Höhne, 9.10.1936; ebd.: VI, 7, o. Bl.: Benno von Hagen an Rudolf Voß, 24.2.1939; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 27.11.1938. 150 ThULB NLRE VI, 25: Mappe „1936 Briefwechsel R-S“, o. Bl.: Luise Seefried an Irene Eucken, [Herbst 1936]. Vgl. HStA München: Abt. I: Staatsministerium für Unterricht und Kultus, MK 40515: Euckenbund München an Dr. Böpple, 9.12.1936; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 27.12.1937.

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eine Zeitschrift zu beziehen, deren Inhalt sie großenteils nicht nachvollziehen konnten. So erklärte ein Justizrat Kaufmann aus Magdeburg im Sommer 1937 seinen Austritt aus den Bund mit dem Zwang seine Ausgaben zu beschränken. Er habe 1933 „infolge der politischen Verhältnisse“ seinen Beruf aufgeben müssen. Ihn habe bei der Entscheidung gegen eine weitere Mitgliedschaft im Euckenbund auch die Erkenntnis geleitet, „dass seit einiger Zeit die Tatwelt einen so streng wissenschaftlichen Charakter angenommen hat, dass mein laienhaftes Verständnis dafür nicht genügte“. Die Redaktion versuchte 1938/39 gegenzusteuern, indem sie den Lesern eine längere Serie von Aufsätzen über die „geschichtsbildende Kraft der Lebensanschauungen großer Soldaten“ präsentierte, „die zugänglicher geschrieben sind als die rein philosophischen Aufsätze“.151 Irene Eucken hatte sich noch Ende 1935 mit Plänen für einen Ausbau der internen Publizistik des Bundes beschäftigt. Sie wolle, so teilte sie ihrer Schwiegertochter mit, ab Januar 1936 ein kleines Mitteilungsblatt für die Mitglieder herausgeben. Es sollten darin den Euckenbündlern vor allem die ethischen Forderungen Rudolf Euckens in Erinnerung gebracht werden. Der EuckenbundChefin schwebte eine Reihe von kleinen Heften vor, die jeweils einen bestimmten Aspekt der Lehre ihres verstorbenen Mannes behandeln sollten. Sie nannte Euckens Begriff vom Bösen, seine Auffassung von Freiheit, seine Forderung nach Aktivismus und nach Wesensbildung. Es sollten ganz knapp und ohne lange Herleitung die Forderungen Rudolf Euckens benannt und dann ihre praktische Bedeutung für die verschiedenen Lebensbereiche – Religion, Pädagogik, Familie, Wehrmacht, Kunst und Literatur u. a. m. – illustriert werden. Diese Mitteilungsblätter wollte Irene Eucken nicht nur an die Mitglieder versenden, sondern auch an Leute, „von denen uns die gleiche Gesinnung bekannt ist und die unseren Äußerungen Verständniß entgegenbringen“.152 Das erste dieser Blätter hatte die Philosophen-Witwe selbst entworfen und zur Begutachtung nach Freiburg geschickt. Dabei machte sie noch einmal den Versuch, Edith Eucken-Erdsiek wieder in die publizistischen Aktivitäten des Bundes einzuspannen. Ihr selbst, so bekannte Irene Eucken, sei bereits die Formulierung des Textes für die Pilotausgabe sehr schwer gefallen. „Eine lächerlich lange Zeit brauche ich für derartige Dinge, in der gleichen Zeit könnte ich 4 Muster entwerfen und ein Portrait zeichnen.“ Doch holte sich Irene Eucken bei ihrer Freiburger Schwiegertochter eine glatte Absage. Edith Eucken-Erdsiek hatte mittlerweile zwei kleine Kinder zu versorgen und wollte die wenige Zeit, die ihr die Pflichten als Hausfrau und Mutter ließen, der Arbeit an einem eigenen 151 ThULB NLRE VI, 4, o. Bl.: E. Kaufmann an Benno von Hagen, 28.7.1937; ebd.: Sekretariat Jena an Postinspektor Kirchner, 28.3.1938. 152 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 2.12.1935.

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Buch widmen. Sie äußerte in ihrem Antwortbrief nach Jena allerdings auch offen ihre grundsätzlichen Vorbehalte, sich in dem von ihrer Schwiegermutter vorgeschlagenen Rahmen publizistisch zu betätigen. „Meine Stärke liegt darin, daß ich radikal bin“, erklärte Edith Eucken-Erdsiek. „Und radikal darf man hierbei nicht sein, ohne in die größten Schwierigkeiten zu kommen.“ Für sie spreche aus den Forderungen Rudolf Euckens die Stimme eines Bußpredigers. „Aber will man denn einem Bußprediger Gehör geben?“ Die Texte der Mitteilungsblätter müssten vor der Veröffentlichung von der Hauptleitung des Bundes und damit auch von dem NS-Funktionär Buchner abgesegnet werden. Edith Eucken-Erdsiek konnte sich nicht vorstellen, dass das, was sie zu sagen hatte, unter diesen Umständen ohne Abstriche gedruckt werden würde. „Alles aber so abzuschwächen u. zurechtzustutzen, daß es nirgends Anstoß erregt – dann, meine ich, kann man es ebenso gut bleiben lassen.“ Man könne nicht, so fuhr sie fort, „in einem Atemzug Wahrheit fordern u. selber gegen das eigene innere Gefühl von Wahrhaftigkeit handeln.“153 Irene Eucken nahm dieses Bekenntnis ihrer Schwiegertochter zum Anlass, selbst zu formulieren, was ihr eigener Antrieb dafür war, unter widrigen Bedingungen so viel Energie, Zeit und Geld in die Aufrechterhaltung der Eucken-Bewegung zu investieren. Sie kleidete diese Erklärung in das Gewand eines Gleichnisses: Neben ihrem Bett stehe eine Uhr mit beleuchtetem Zifferblatt, deren Schein es ihr erleichtere, des Nachts den Knipser für ihre Nachttischlampe zu finden. Da sie fürchte, wie ihre Großmutter durch eine plötzliche Netzhautablösung zu erblinden, sei es ihr zudem eine große Beruhigung, im Dunkeln immer den kleinen leuchtenden Fleck der Uhr sehen zu können. Was sie erstrebe, wollte Irene Eucken mit der Wirksamkeit dieser „kleinen Leuchte-Uhr“ vergleichen: Wenn ich in tiefster Dunkelheit einen bescheidenen Schein verbreiten kann, der nur von dem früheren Licht entstammt, so ist meine Aufgabe erfüllt. Vielleicht findet ein Mitmensch durch diesen Schein den Knipser, der ihm ermöglicht, sein Zimmer zu erhellen, vielleicht gibt dieser Schein einem Mitmenschen die Gewißheit in der Dunkelheit, daß er sein Augenlicht noch hat.154

Diese Einstellung erscheine ihr absolut wahrhaftig, auch wenn sie in ihren Bestrebungen den einen oder anderen Kompromiss machen müsse.

153 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 14.12.1935; ThULB NLRE V, 12, Bl. 121ff: Edith Eucken-Erdsiek an Irene Eucken, 6.12.1935. Vgl. ebd. Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 2.12.1935. 154 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 8.12.1935.

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Nach der Absage aus Freiburg gab Irene Eucken ihren Plan eines neuen Mitteilungsblattes für die Mitglieder des Euckenbundes offenbar bald auf. Damit trat auch der Stellenwert, den der Bund für die Aktivitäten von Irene und Ida Eucken einnahm, stark zurück. Die Einbindung der alten Aktivisten der Bewegung wurde, sofern sie nicht an der Arbeit des Rudolf-Eucken-Hauses und der Tatwelt einbezogen waren, deutlich schwächer. Das Verhältnis der Jenaer Damen zu Bruno Jordan scheint sich nach dessen nicht ganz freiwilligem Abgang aus der Redaktion der Tatwelt abgekühlt zu haben. Möglicherweise pflegte der Bremer Studienrat in den späteren 1930er Jahren, wie oben angedeutet, seinen eigenen privaten Euckenzirkel. Jordan verstarb allerdings bereits Anfang 1939. Rudolf Voß blieb in Kontakt mit Irene und Ida Eucken, fungierte aber wohl nicht mehr als enger Ratgeber der Philosophen-Witwe. Der Hallenser Oberpostrat musste als ehemals aktiver Freimaurer in den ersten Jahren des „Dritten Reiches“ um seine berufliche Zukunft bangen. Schließlich konnte er im Februar 1935 nach Jena melden, man habe ihm nun bescheinigt, dass „nicht der geringste Zweifel an meiner nationalen Einstellung u. meinem Eintreten für den nat. soz. Staat“ bestehe. Voß’ prekäre berufliche Stellung schlug sich augenscheinlich auch auf seine seine Verlautbarungen als Vorsitzender des Hallenser Euckenbundes nieder. So leitete er Eucken-Geburtstagsfeier 1935 mit der Bekräftigung des Willens der „hallischen Ortsgruppe des Eucken-Bundes“ ein, „mit dem Dritten Reich, das der durch Novemberrevolution und Marxismus befürworteten Entchristlichung des Denkens und der Gottlosenbewegung Einhalt geboten habe, in Treue zusammenzuarbeiten“.155 Ähnliche Anpassungsbereitschaft konnte man auch vom nominellen Vorsitzenden des Euckenbundes erwarten. Bereits in der Auseinandersetzung mit Otto Günther im Herbst 1933 schien Benno von Hagen bestrebt, keinen Zweifel an seiner Loyalität zum Regime aufkommen zu lassen. Wie weit der Gymnasialdirektor in seiner Annäherung an den Nationalsozialismus zu gehen bereit war, das dokumentiert seine Ansprache vor den Abiturienten 1936. Der Altphilologe sprach – aus aktuellem Anlass – über den Olympia-Gedanken. Er verband hier die klassische Antike, „die noch weit entfernt war von rassischem Zerfall und kulturellen Zersetzungserscheinungen“, in zwanglosester Weise mit der nationalsozialistischen „Gegenwart“. Drei Leitsätze gab Benno von Hagen den Schulabgängern auf ihren weiteren Lebensweg: (1.) Das „Bekenntnis zur Harmonie von Leib und Seele“, dem sich das Dritte Reich in besonderem Maße verschrieben habe, (2.) das „Bekenntnis zur Aristie“, in dem „zugleich noch ein rassi155 ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Voß an Irene Eucken, 22.2.1935; ebd.: Ausschnitt Saale-Zeitung, Halle, 5.1.1935. Vgl. Die Tatwelt 15, 1939, S. 172; zu Voß’ Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge: ebd.: Voß an Irene Eucken, 21.3., 31.3. und 13.4.1933.

Zwischen Jena und Freiburg



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sches und völkisches Merkmal“ lebe, und schließlich (3.) den „Agon“-Gedanken, der „lebendigste Wirklichkeit“ geworden sei „im Ringen der nationalsozialistischen Bewegung um die Macht im Staate, im Kampf um das Saarland, in der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht“. Es falle uns eben nichts im Leben in den Schoß; alles wolle durch Mühe und Kampf errungen sein – „so hat es uns der Führer immer und immer wieder in seinen großen Reden gesagt“. 1939 trat Hagen in die NSDAP ein. Rudolph Leitem, der Chemnitzer Bundesbruder, hatte ihn dazu aufgefordert; „hocherfreut hat er [Hagen] sich nun gemeldet“, kommentierte Irene Eucken. Im Übrigen brachte Hagen für seine Pflichten als Vorsitzender des Euckenbundes, als Herausgeber der Tatwelt und als Mitglied des Euckenhaus-Kuratoriums offenbar zusehends weniger Enthusiasmus auf.156

Zwischen Jena und Freiburg Die Beziehungen Irene Euckens zu ihren „Freiburger Kindern“ waren auch nach 1934 trotz der Auseinandersetzungen um die Gestaltung der Tatwelt allem Anschein nach von familiärer Herzlichkeit geprägt. Walter Eucken und Edith Eucken-Erdsiek kommentierten die Aktivitäten der (Schwieger-)Mutter und Schwester/Schwägerin im Allgemeinen durchaus wohlwollend und ermutigend. Auch waren sie bereit, gelegentlich zur Veröffentlichung eingesandte Manuskripte zu begutachten. So schickte Irene Eucken 1936 einen längeren Text Fritz Vaters über Rudolf Eucken nach Freiburg zur Durchsicht, um ihn von der philosophisch gebildeten Schwiegertochter auf etwaige Fehler abklopfen zu lassen. Möglicherweise könnte Vaters Abhandlung dazu genutzt werden, die Schriften aus dem Eucken-Kreis zu reaktivieren. Edith Eucken-Erdsiek fand allerdings die Schrift des Lehrers aus Biedenkopf „philosophisch unklar“ und in der Darstellung der Grundgedanken Rudolf Euckens fehlerhaft. Zudem werde das Bestreben erkennbar, den Jenaer Philosophen „als Vorläufer gewisser heutiger Strömungen erscheinen zu lassen“. „Daß er so wenig den Sinn von Vaters Philosophie verstanden hat“, assistierte ihr Walter Eucken, „und daß er ihn so beflissen ‚gleichschalten‘ will, hätte ich nicht erwartet“.157 156 Mitteilungsblatt ehemaliger Carolo-Alexandriner Nr. 34, 1936 (Fundort: ThULB NLRE VI, 16, Bl. 313ff); ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 17./18.6.1939. Vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, 12.8.1941; ThULB NLRE V, 14, Bl. 417, 424: Ida an Irene Eucken, 29.9. und 4.10.1937. 157 ThULB NLRE V, 12, Bl. 158f: Edith Eucken-Erdsiek an Irene Eucken, 30.5.1936. Vgl. ebd., Bl. 157: Walter an Irene Eucken, 30.5.1936; ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 4.5. und 1.6.1936.

456  7 Die Eucken-Bewegung im Nationalsozialismus

Mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter in Freiburg tauschte sich Irene Eucken wohl recht intensiv über die Zustände im nationalsozialistischen Deutschland aus, was sich auch in ihrem Schriftverkehr niederschlug, wenngleich mehr in Andeutungen. Es tritt dabei vor allem das Gefühl schrumpfender Handlungsräume und zunehmender Isolation zutage. „Immer wieder muß ich auch an die Herbsttage 1918 denken, in denen wir in heftigen Nachhutkämpfen mit den Franzosen lagen“, schrieb Walter Eucken im September 1934. „Heute fühlt man sich auch im Rückzug, den anständig zu führen unsere Hauptaufgabe bleibt.“ Im Jahr darauf schrieb der Nationalökonom seiner Mutter, es sei doch sonderbar, „wie wenige Menschen in unserer Schicht sehen, wo wir stehen und wohin die Entwicklung geht.“ Und auch Irene Eucken äußerte gelegentlich Zweifel, ob es Sinn mache, „für eine Idee zu kämpfen, die sich absolut nicht in unsere Zeit eingliedern läßt“. Allen Beteiligten war es nur zu bewusst, dass man sich nicht mehr auf die Respektierung des Briefgeheimnisses verlassen konnte. So fragte Irene Eucken zu Ostern 1936 in Freiburg nach, ob ihr letzter Brief angekommen sei und bemerkte, „wir werden hier immer beobachtet, so kann auch mal etwas fortkommen.“ Im folgenden Jahr gingen die Euckens dazu über, ihre Briefe zu verschlüsseln, indem sie bestimmte Personen nur noch mit ihren Vornamen benannten.158 Da es nicht mehr gefahrlos möglich schien, sich auf postalischem Wege im Klartext kritisch über das NS-Regime auszutauschen, fehlen die schriftlichen Zeugnisse, um ein genaueres Bild der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Familienkreis der Euckens zu zeichnen. Es findet sich aber in den Briefen, die zwischen Jena und Freiburg hin und her gingen, immer mal wieder der Hinweis, dass man solche heiklen Fragen im persönlichen Gespräch bereden wollte. Gelegenheiten dazu boten etwa die regelmäßigen Besuche Irene Euckens in Freiburg oder die jährlichen gemeinsamen Urlaubsaufenthalte auf Rügen. Die Familienkorrespondenz vermittelt den Eindruck, dass die Jenaer und Göttinger Familienzweige recht gut über die die regimekritischen Kreisbildungen unterrichtet waren, in die das Ehepaar Eucken-Erdsiek in Freiburg einbezogen war. Walter Eucken hatte während des Rektorats Martin Heideggers 1933/34 offen Stellung bezogen gegen dessen Versuche, die Universität im Sinne der nationalsozialistischen Machthaber umzuformen. Nachdem Heidegger und der Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät im Frühjahr 1934 von ihren Ämtern zurückgetreten waren, teilte Walter Eucken seiner Mutter mit, seine Po-

158 ThULB NLRE V, 12, Bl. 40, 112: Walter an Irene Eucken, 17.9.1934 und 24.10.1935; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 31.5.1936; ebd.: Irene an Walter Eucken, [April] 1936; ebd.: Irene Eucken an Walter und Edith Eucken-Erdsiek, 11./12.10.1937.

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sition an der Universität erscheine ihm nun wesentlich gefestigter, habe er doch mit „den jetzt maßgebenden Herren“ seit längerem sehr gute Beziehungen.159 Auch das einstweilige Scheitern der von Heidegger forcierten Gleichschaltungsbestrebungen brachte für die Freiburger Professoren die vor 1933 genossenen akademischen Freiheiten nicht zurück. Die Professoren-Geselligkeit werde immer geringer, schrieb Walter Eucken Anfang 1935 nach Jena. Überhaupt enttäusche ihn „das Heer der Professoren in ihrer menschlichen Gesamtentwicklung“. Einige Monate später unterrichtete Walter Eucken die Mutter von seinem Eintritt in den Rotary Club. Er sei dazu aufgefordert worden und habe dies gerne getan, „weil ich auf eine Professoren-Geselligkeit keinen Wert mehr lege“. Dem Freiburger Rotary Club gehörten 28 Herren an, meistens Leute aus der Wirtschaft. Man esse jeden Mittwoch zusammen, oft seien auch ausländische Besucher anwesend. Irene Eucken war mit dem Beitritt des Sohnes zu den Rotariern sehr einverstanden. Schließlich verfolge „dieser Club im Großen, was wir im Kleinen mit unserem Hause bezwecken.“160 Walter Euckens Abkehr von der „Professoren-Geselligkeit“ hieß nicht, dass er sich von allen Kollegen zurückgezogen hätte. Im Gegenteil, es bildeten sich nun unter den Freiburger Universitätslehrern und ihren Familien neue „freundschaftlich gesinnte Kreise“. Ein solcher im Privaten gepflegter Gedankenaustausch konnte sich zum Teil auf bereits etablierte Strukturen stützen. Walter und Edith Eucken-Erdsiek gehörten etwa dem 1927 von Gerhard Ritter gegründeten Lesezirkel an, wie im Übrigen auch die Heideggers. Die Zusammenkünfte dieses Zirkels nahmen seit 1933 – nun wohl ohne Martin Heidegger und Gemahlin – konspirative Züge an. Edith Eucken-Erdsiek berichtete etwa im Februar 1935 ihrer Schwiegermutter, man habe „bei Ritter im kleinen Kreise ein Colloquium über Mussolinis Aufstieg“ abgehalten. Auch auf den Abendgesellschaften, zu denen Ricarda Huch und ihr Schwiegersohn Franz Böhm vor ihrer Übersiedlung nach Jena 1936 einluden, gehörten die Freiburger Euckens zu den regelmäßigen Gästen. Man habe sich „glänzend unterhalten“, schrieb Edith Eucken-Erdsiek nach Jena, und zwar „hauptsächlich über das Problem, daß Philosophie und Leben enger miteinander verbunden werden müßten“. Als noch wichtiger für die Formierung eines „Freiburger Kreises“ bildungsbürgerlicher Dissidenten gilt ein als „privatissime“ und „gratis“ angekündigtes Seminar zum Thema „Der Einzelne und die Gemeinschaft“, das der Nationalökonom 159 ThULB NLRE V, 12, Bl. 28: Walter an Irene Eucken, 3.5.1934. Vgl. Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 86f; Martin, Widerstand, S. 35f; Goldschmidt, Rolle, S. 300f; Sieg, Geist, S. 205f. 160 ThULB NLRE V, 12, Bl. 58: Walter an Irene und Ida Eucken, 18.1.1935; ebd. Bl. 84: Walter an Irene Eucken, 10.5.1935; ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 13.5.1935.

458  7 Die Eucken-Bewegung im Nationalsozialismus

Karl Diehl seit dem Wintersemester 1933/34 in seiner Privatwohnung abhielt. Hier fanden sich regelmäßig das Ehepaar Eucken-Erdsiek, Gerhard Ritter und der Nationalökonom Adolf Lampe mit ihren Ehefrauen, ab 1937 auch der Wirtschaftswissenschaftler Constantin von Dietze ein.161 Walter Eucken beließ es nicht dabei, sich im vertrauten Freundeskreis kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinander zu setzen. Im Sommersemester 1936 trat er mit einer Vorlesung an die Öffentlichkeit des Hörsaals, deren regimekritische Ausrichtung durch das historische Sujet nur notdürftig bemäntelt war. Eucken sprach jeden Mittwoch über den „Kampf der Wissenschaft (dargestellt am Lebenswerk großer Denker)“. Die Veranstaltung war für Hörer aller Fakultäten offen und fand zunächst geringes Interesse. Sobald aber die Studentenzeitung Mitte April den Inhalt der Vorlesung scharf kritisiert hatte, wuchs die Zahl der Interessenten sprunghaft an. Nach wenigen Wochen waren aus 30 Hörern 300 geworden, die nun zu hören bekamen, wie ein Sokrates, ein Galilei, ein Spinoza ihren Kampf um die wissenschaftliche Wahrheit gegen staatliche und kirchliche Repression ausgefochten hatten.162 Dabei hatte Walter Eucken gerade erst eine heftige Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Studenten durchgestanden. Am Ende des Wintersemesters war der Ordinarius in einer Fakultätssitzung mit einem Funktionär der Studentenschaft aneinander geraten, den er als „Soldatenrat-Type“ titulierte, „wie wir sie 1918/19 oft genug kennengelernt haben“. Dies rief einen „ordentlichen Krach“ hervor, den Walter Eucken aber offenbar ziemlich unbeschadet überstand, auch weil sich die Kollegen geschlossen hinter ihn stellten. Zu Beginn des Sommersemesters 1936 war dieser Konflikt durch eine Aussprache mit der NS-Studentenführung beigelegt worden. Doch bereits einige Tage später sorgte Euckens Vorlesung und der Angriff in der Studentenzeitung für neue Aufregung. Der NS-Studentenbund versuchte nun gegenzusteuern und setzte im Anschluss an die Vorlesungen Diskussionsveranstaltungen an. Doch gab er damit dem eloquenten Nationalökonomen nur ein weiteres Forum, um seine Position in der universitären Öffentlichkeit darzulegen. Immerhin verliefen diese Debatten, wie Walter Eucken Anfang Mai nach Jena berichtete, zunächst „in anständigen Formen, ruhig und so, daß zweifellos das Auditorium zum überwiegenden Teil auf meiner Seite war“.163 161 ThULB NLRE V, 12, Bl. 58: Walter an Irene und Ida Eucken, 18.1.1935; ebd. Bl. 63f: Edith Eucken-Erdsiek an Irene Eucken, 15.2.1935. Vgl. Cornelißen, Ritter, S. 154f, 338; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 90. 162 Vgl. ThULB NLRE V, 12, Bl. 153: Walter an Irene Eucken, 1.5.1936; Goldschmidt, Rolle, S. 300f; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 77f. 163 ThULB NLRE V, 12, Bl. 136, 53: Walter an Irene Eucken, 20.2. und 1.5.1936. Vgl. ebd., Bl. 137f, 141, 145, 154f: Walter an Irene Eucken, 29.2., 7.3., 20.3., 10.4., 16.5. und 23.5.1936.

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Ende Mai 1936 verschärfte sich aber der Ton. In der vom NS-Studentenbund veranstalteten Diskussion nach der Vorlesung sei er, so Eucken, vom „Dekan der Philosophen, Oppermann, und von einem Studentenführer … ungemein scharf, nicht nur sachlich sondern auch persönlich angegriffen“ worden. Er habe „ziemlich energisch“ erwidert und dafür lebhaften Beifall aus dem Publikum bekommen. In der folgenden Diskussion hätten prominente Kollegen – Gerhard Ritter sowie der Zoologe und frischgebackene Nobelpreisträger Hans Spemann – Partei für ihn ergriffen. „Die Gegenseite wurde sehr in die Enge getrieben“. Nach diesem Debakel verzichtete die Studentenführung auf weitere Debatten und beschränkte sich darauf, in der Studentenzeitung gegen Walter Eucken und seine Vorlesung zu polemisieren. Konkrete Folgen hatten das öffentliche Auftreten für die Freiheit der Wissenschaft und seine Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Studenten für den Nationalökonomen augenscheinlich nicht. Es hat den Anschein, als ob in Freiburg die Vernetzung dissidenter Professoren in informellen Freundeskreisen eine „kritische Masse“ hervorgebracht hatte, die dem einzelnen Hochschullehrer einen gewissen Schutz bot. Es gab hier nämlich genügend Professoren, die bereit waren, NaziParteigängern in der Studenten- und Dozentenschaft offen entgegen zu treten. Dass dies an anderen Universitäten nicht unbedingt der Fall war, musste Franz Böhm nach seinem Weggang von Freiburg schmerzlich erfahren. In Jena reichte eine im privaten Kreis geäußerte Meinung zur plötzlichen Beendigung der akademischen Karriere. Noch schlimmer war es 1934/35 Rudolf Euckens NachNachfolger als Jenaer Philosophie-Ordinarius, Hans Leisegang, ergangen. Leisegang saß infolge einer ähnlichen Denunziation ein halbes Jahr im Gefängnis und verlor anschließend seinen Lehrstuhl.164 Noch auf einem weiteren Feld dissidenter Aktivität war Walter Eucken engagiert. Im Frühjahr 1935 eröffnete der Freiburger Nationalökonom seiner Mutter, er sei schon seit langem Mitglied der Bekennenden Kirche. „Wenn ich auch nicht im Bruderrat bin, so werde ich etwa immer herangezogen, wenn wichtigere interne Veranstaltungen sind.“ Es gebe in der Bewegung „frühere Orthodoxe“ wie „frühere Liberale“. Das mache nun keinen Unterschied mehr, denn „Alles, was für das evangelische Christentum in Deutschland kämpft und gegen Gottlosigkeit und Heidentum“, treffe hier zusammen. Auch seine engeren Kollegen hätten sich fast alle der „Bekenntnisfront“ angeschlossen, Gerhard Ritter sogar

164 ThULB NLRE V, 12, Bl. 156: Walter an Irene Eucken, 30.5.1936. Vgl. ebd., Bl. 160f: Walter an Irene Eucken, 6.6. und 12.6.1936; Dahms, Philosophen, S. 724f, 748.

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in führender Position.165 Dass das Ehepaar Eucken-Erdsiek der Bekennenden Kirche nahe stand, dürfte für Irene Eucken zu diesem Zeitpunkt nicht mehr neu gewesen sein. Im Sommer 1934 hatte die Philosophen-Witwe ihrer Schwiegertochter vorgeschlagen, einen Artikel aus der Feder des Jenaer Theologie-Ordinarius Heinrich Weinel über „die tiefsten Gründe der religiösen Fragen in Deutschland“ in das nächste Heft der Tatwelt aufzunehmen. Edith Eucken-Erdsiek schien von dieser Idee nicht recht begeistert. Weinel nehme in den aktuellen kirchenpolitischen Auseinandersetzungen „einen wenig strammen Standpunkt ein“ und mache sehr viele Konzessionen. Die Tatwelt-Herausgeberin teilte schließlich dem Theologen mit, man könne seinen Aufsatz nur dann bringen, wenn er vom Standpunkt der Bekennenden Kirche geschrieben sei. Weinel zog daraufhin, seinen angekündigten Beitrag erbost zurück. Im November 1934, kurz bevor die Redaktion der Zeitschrift von Freiburg nach Jena wechselte, beschwor Walter Eucken seine Mutter und seine Schwester noch einmal eindringlich: „In Erinnerung an Vater, aus eurer eigenen Überzeugung und mit Rücksicht auf das Ausland kann und darf in der Tatwelt nur der Standpunkt der Bek. Front eingenommen werden.“166 Irene und Ida Eucken waren allerdings nicht gewillt, dieser Vorgabe bedingungslos Folge zu leisten. In der ersten Nummer des Tatwelt-Jahrgangs 1936 erschien ein Aufsatz des Kirchenhistorikers Erich Seeberg, einem der prominentesten Vertreter der „Deutschen Christen“ unter den Universitätstheologen. Seeberg schrieb über „Meister Eckhart und Luther“ und versuchte hier, den mittelalterlichen Mystiker und den frühneuzeitlichen Reformator als Vertreter eines spezifisch deutschen Christentums zu reklamieren und ihre Lehren miteinander zu versöhnen. Am Ende seines Artikels nahm der Theologe zur Positionierung der evangelischen Kirche im Nationalsozialismus Stellung. Er tat dies zwar in eher dezenter und verklausulierter Form. Doch dürften seine Forderung nach einer „Deutung und Sicht des Christentums, … die den Bedürfnissen unserer Zeit genügt“, und seine Klage über „eine Pastorenkirche, die schließlich auch politisch ihre Stunde versäumt hat“, dem eingeweihten Leser kaum im Zweifel darüber gelassen haben, woher der Wind wehte. „Was wir erleben“, schloss Seeberg, „ist der Beginn der Auferstehung unser Volkes. Die Geschichte

165 ThULB NLRE V, 12, Bl. 89f: Walter an Irene Eucken, [wohl Ende Mai 1935]. Zu den Beziehungen des Kreises um Walter Eucken und Gerhard Ritter zur Bekennenden Kirche vgl. Cornelißen, Ritter, S. 343f; Oswalt, Opposition, S. 343f; Martin, Widerstand, S. 45. 166 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 10.8.1934; ThULB NLRE V, 12, Bl. 35: Edith Eucken-Erdsiek an Irene Eucken, 15.8.1934; ebd., Bl. 46: Walter an Irene Eucken, 16.11.1934. Vgl. ebd., Bl. 45: Walter an Irene Eucken, 31.10.1934; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 15.8. und 18.8.1934.

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urteilt streng, … und sie wird auch ihr Wort über die Rolle der Kirche bei dem deutschen Aufbruch sprechen.“167 Der Seeberg-Artikel löste in Freiburg helle Empörung aus. Insbesondere der Schluss, so hielt Walter Eucken seiner Mutter vor, stelle einen „überflüssigen und unsympathischen Angriff gegen die Bekenntniskirche“ dar. „Von ihm zu den Worten von Vater führt keine Brücke.“ Irene Eucken sah dies anders. Ihrer Schwiegertochter schrieb sie, der Artikel habe sie angeregt, über die Mystik nachzudenken und zwar über eine „Mystik, die zur Tat zurückführt“, wie sie Rudolf Eucken aufgefasst habe. Irene Eucken wollte offenbar in Seebergs Forderung nach einem zeitgemäßen Christentum eine Parallele zu den Bestrebungen ihres verstorbenen Mannes erkennen. Hatte nicht auch Rudolf Eucken Meister Eckhart und Martin Luther geradewegs in die Traditionslinie des „deutschen Idealismus“ gerückt? Die Positionen, die Theologen wie Erich Seeberg im „Kirchenkampf“ einnahmen, erschienen Irene Eucken demgegenüber eher zweitrangig. 1934 hatte sie sogar versucht, den Kieler Landesbischof Paulsen für den Euckenbund zu gewinnen. „Natürlich ist man etwas zögernd, wenn ein Geistlicher sich deutscher Christ nennt,“ teilte sie bei dieser Gelegenheit Rudolf Voß mit. Aber es komme doch schließlich „auf die letzte Auffassung an“. Kurz, es war die vermutete Nähe zur Lehre Rudolf Euckens, die seine Witwe bei der Auswahl von Tatwelt-Autoren und Rednern für Euckenbund-Tagungen leitete. Auch der Kritik aus Freiburg an ihrem Versuch, Heinrich Weinel für Die Tatwelt zu rekrutieren, hielt sie als letzte Rechtfertigungslinie entgegen: „Er [Weinel] verlangt doch wenigstens, daß man sich eingehend mit Vater beschäftigt!“.168 Irene Euckens Stellungnahmen zur Bekennenden Kirche fielen in ihren Briefen nach Freiburg meist ziemlich ambivalent aus. Sie freue sich zwar „aufrichtig der mannhaften Haltung der süddeutschen Geistlichen“, schrieb sie im November 1934 an ihren Sohn. Aber deren kirchliche Überzeugung sei ihr doch zu orthodox. In „diesem Augenblicke, wo es sich um ‚geistige Freiheit‘ handelt“, so konzedierte sie immerhin, sei diese Orthodoxie allerdings wohl Nebensache. Mitte 1935 bat Irene Eucken ausdrücklich um weitere Berichte aus Freiburg über die Bekenntnisbewegung. „Hier in Jena“ herrsche gegen die kirchlichen Fragen große Gleichgültigkeit. Ihre weiteren Ausführungen vermit-

167 Seeberg, Meister Eckhart, S. 16. Zu Erich Seebergs Verbindung zu den Deutschen Christen vgl. Kaufmann, Anpassung, S. 226–240; Gailus, Diskurse, S. 241f. 168 ThULB NLRE V, 12, Bl. 141: Walter an Irene Eucken, 20.3.1936; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 1.4.1936; ThULB NLRE VI, 28, o. Bl.: Ortsgruppe Halle: Irene Eucken an Rudolf Voß, 8.8.1934 (Entwurf); ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 18.11.1934. Vgl. ThULB NLRE V, 12, Bl. 142f: Walter an Irene Eucken, 28.3.1936.

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teln aber den Eindruck, als ob auch die Chefin des Euckenhauses diese Gleichgültigkeit teilte: Ich selbst aber denke viel über religiöse Fragen nach, ich stütze mich dabei auf Vaters Bücher. Sie geben mir Alles, was ich brauche.(…) Mir genügt die Überzeugung, daß diese Lehre wahrhaftig ist. In dieser Überzeugung weiß ich mich eins mit einigen Gleichgesinnten. Ein Geistlicher ist nicht darunter.169

Zwei Jahre später, im April 1937, konnte Irene Eucken dann auch aus Jena von einer großen Kundgebung der „Bekenntnisfront“ berichten. Allerdings war dies ein Bericht aus zweiter Hand. Eine befreundete Pastorenfrau habe ihr alles erzählt. Sie selbst war der Veranstaltung in der großen Jenaer Stadtkirche ferngeblieben.170 Dagegen war das Engagement in der Bekennenden Kirche für das Ehepaar Eucken-Erdsiek durchaus in lebensweltliche Zusammenhänge eingebettet. Es war der Pfarrer Hermann Weber, die treibende Kraft der Freiburger „Bekenntnisfront“, der 1933 ihre älteste Tochter, nach der Großmutter Irene genannt, taufte. Die Taufe der zweiten Tochter, Marianne, feierte man 1935 in Berlin im Haus Gerhard Erdsieks. Auch in diesem Falle hatte ein der Bekennenden Kirche nahestehender Geistlicher die kirchliche Zeremonie vorgenommen. Im Spätherbst 1938, im unmittelbaren Gefolge der vom Regime inszenierten gewaltsamen Ausschreitungen gegen die deutschen Juden, verdichteten sich die Kontakte zwischen den dissidenten Freiburger Professoren und den bekenntnistreuen protestantischen Geistlichen. Gerhard Ritter und die Pfarrer Dürr und Hof – Weber war im Vorjahr verstorben – formulierten einen Appell an die Kirche, öffentlich gegen die Pogrome Stellung zu nehmen. Das Papier zirkulierte in den folgenden Monaten in den bekenntniskirchlichen Gemeinden. Das „Freiburger Konzil“, wie sich der neu formierte Kreis ironisch selbst titulierte, traf sich in mittlerweile bewährter Weise reihum in den Privatwohnungen der Mitglieder. Irene Eucken nahm im Mai 1941, als sie eine Zeitlang bei ihren „Freiburger Kindern“ lebte, an einem solchen Treffen teil und berichtete davon in einem Brief nach Jena: Es waren mit uns 10 Herren und 10 Damen. Es wurde über ein religiöses Thema gesprochen. Eigentlich hieß es Staat und Kirche. Der Redner hielt sich aber nicht an das Thema. Außerdem konnte ich ihn wegen seines starken Dialekts nicht gut verstehen. Er sprach über eine Stunde. Die nachfolgende Debatte verlief ruhig. Niemand wurde leidenschaftlich. Walter sprach am lebhaftesten (über die Notwendigkeit, die Vernunft der Religion beizugeben …). Seine Aussprache und sein Organ sind sehr klangvoll und tragen gut, er 169 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 8.11.1934 und 6.7.1935. 170 Ebd.: Irene an Walter Eucken, 18.4.1937.

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überzeugt durch seine feste, klare Darlegung schon. Ich erzähle mündlich noch davon. Edith hatte ihre große Erkerstube entzückend hergerichtet. Jetzt gibt es ja auch Blumen. Reichliche Butterbrötchen (belegte Semmeln), Kuchen, etwas trocken, sehr dünne Käsestangen, Apfelwein und Wein wurden gereicht. Allgemein fühlte man sich behaglich!171

Der Ausklang der Eucken-Bewegung 1939–1943/45 Im Frühjahr 1937 kündete Irene Eucken ihrem Sohn Walter an, sie wolle ihren Arzt, Wolfgang Veil, aufsuchen, „und mit ihm besprechen, wie ich es erreichen kann, daß ich noch zwei, Arnold rät drei Jahre, ganz arbeitsfähig bleibe“. Sie glaube, dass „drei wichtige entscheidende Jahre vor uns liegen“. So lange werde ihre Tochter Ida noch brauchen, bis sie die Leitung von Euckenhaus und Tatwelt allein und eigenverantwortlich übernehmen könne – falls dies dann noch möglich sei. Zwei Tage später berichtete sie nach Freiburg, Veil habe ihr gesundheitliches Befinden für so gut gehalten, dass sie ihre Arbeit durchaus noch zwei bis drei Jahre fortführen könne. Diese Prognose war wohl etwas zu optimistisch. Irene Eucken war nun 74 Jahre alt. Schon einige Jahre zuvor, 1932, hatte sie eine schwere Krankheit überstanden, die sie monatelang ans Bett gefesselt hatte. Seitdem mehrten sich ihre gesundheitlichen Probleme. Schlimmer noch traf es seit dem Sommer 1938 ihre Tochter. Ida Eucken erkrankte schwer und war die folgenden zwei Jahre über weite Strecken kaum arbeitsfähig. Gerade war sie wieder halbwegs hergestellt, wurde ihre Mutter ernsthaft krank, verbrachte 1940/41 längere Zeit in Kurkliniken in Österreich und im Schwarzwald und wurde im Frühjahr 1941 zwei Monate von ihren „Freiburger Kindern“ betreut. Am 18. September 1941 starb Irene Eucken schließlich 78jährig in Jena. Ida Euckens Krankheit kehrte Mitte 1943 mit Macht zurück. Sie starb rund zwei Jahre nach der Mutter, am 16. Oktober 1943 im Alter von 55 Jahren.172 Ihre langwierigen Krankheitsgeschichten brachten es mit sich, dass Irene und Ida Eucken seit den ausgehenden 1930er Jahren ihre Aktivitäten reduzieren mussten. Es erscheint bemerkenswert, dass es ihnen unter diesen Umständen 171 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Ida Eucken, 19.5.1941. Vgl. ThULB NLRE V, 12, Bl. 104, 109, 165: Walter an Irene Eucken, 5.9. und 3.10.1935, 18.7.1936; Martin, Widerstand, S. 48; Cornelißen, Ritter, S. 338f, 354f; Klinckowstroem, Walter Eucken, S. 91f. 172 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 27.4. und 29.4.1937. Vgl. ebd.: Irene an Walter Eucken, Pfingstsonntag 1932, 8.11. und 27.11.1938, 24.3.1939; ebd.: Irene Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 31.8.1941; ebd.: Irene an Ida Eucken, 11.4.1941; ebd: Ida Eucken an Edith Eucken-Erdsiek, 15.1. und 5.11.1939, 17.6.1940; ebd. Ida an Walter Eucken, 13.7.1941; UAJ Bestand U Abt. II, Nr. 13, Bl. 64: Gedrucktes Mskr: „Ida Maria Eucken in memoriam“, undatiert [1943]; Erdsiek, Irene Eucken, S. 65.

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überhaupt gelang, den Betrieb des Rudolf-Eucken-Hauses aufrecht zu erhalten und die Zeitschrift des Bundes weiter zu veröffentlichen. In ihrem in der Tatwelt veröffentlichten Nachruf illustrierte Edith Eucken-Erdsiek an einer Episode, mit welch eiserner Disziplin sich ihre Schwiegermutter der selbst auferlegten Aufgabe unterwarf. Zwei Tage vor der Euckenbund-Tagung im Oktober 1938 sei Irene Eucken im Dunkeln eine Treppe heruntergestürzt und habe sich dabei nicht unerheblich verletzt. Da Ida Eucken bettlägerig war, sei die 75jährige PhilosophenWitwe fast völlig ohne Hilfe im Haus gewesen. Irene Eucken habe nun beschlossen, „daß ein solcher Unfall zu unzeitgemäß sei, um auch nur beachtet zu werden“. Sie habe sich mit äußerster Anstrengung aufgerafft, ihre Schmerzen überspielt und mit solchem Charme die Tagung geleitet, dass diese „als besonders anregend und schön wohl allen Teilnehmern vor Augen stehen wird“.173 Ida Eucken musste die Redaktionsarbeit für längere Zeit zurückfahren oder ganz einstellen. Trotzdem gelang es ihr, von 1938/39 bis 1942/43 – mit Ausnahme einer Doppelnummer – jeweils vier Ausgaben pro Jahrgang herauszubringen, wenn auch die einzelnen Hefte mit wachsender Verzögerung erschienen. Das letzte Heft des Jahrgangs 1942 konnte schließlich erst Mitte des folgenden Jahres ausgegeben werden. Mit Kriegsbeginn 1939 kamen für Die Tatwelt weitere Probleme dazu. Es setzten nun wieder die behördlichen Bewirtschaftungsmaßnahmen ein und die Herausgeberin musste darum kämpfen, dass genügend Papier für den Druck freigegeben wurde. Es verband sich damit die Sorge, die Zeitschrift könnte gewissermaßen auf kaltem Wege liquidiert werden. Ida Eucken fand aber auf ihren „Berliner Touren“ schließlich doch immer genügend Rückendeckung, um den Betrieb der Tatwelt aufrecht zu erhalten. Durch das Ausscheiden Fritz Stieves aus der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes verlor sie zwar 1939 ihren bisherigen Ansprechpartner. Doch wurde Die Tatwelt auch weiterhin vom Auswärtigen Amt in der bisherigen Höhe bezuschusst.174 Probleme bereitete zunehmend auch die Rekrutierung ausländischer Autoren. Mit der Kriegserklärung vom September 1939 verschwanden die britischen und französischen Beiträge aus der Tatwelt. Aufsätze von US-Amerikanern finden sich noch in den Tatwelt-Heften der ersten beiden Kriegsjahre. 1940 schrieb ein deutsch-amerikanischer Professor der University of Oklahoma, Gustav E. Müller, über die „Maschine als Erlöser und Dämon“. William E. Hocking war noch in der ersten, im August erschienenen Ausgabe des Jahrgangs 1941 mit einem Beitrag vertreten. Die Ersetzung der englischsprachigen Abstracts am 173 Erdsiek, Irene Eucken, S. 65f. 174 Vgl. ThULB NLWE Familienkorrespondenz: Irene Eucken, an Edith Eucken-Erdsiek, 8.11.1938; ebd.: debd.: Irene an Ida Eucken, 11.4., 20.4. und 23.54.1941; Irene an Walter Eucken, 12.8.1941.

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Ende der Hefte durch italienische zeigt seit 1942 den mittlerweile stark geschrumpften ausländischen Rezipientenkreis an.175 Mitte 1942 unternahm Ida Eucken einen Vorstoß zur Anwerbung französischer Autoren. Sie schlug der AA-Kulturabteilung vor, selbst nach Paris zu fahren, um mit Louis Lavelle, mit dem sie freundschaftlich verbunden war und der bereits in den 1930er Jahren für die Tatwelt geschrieben hatte, sowie dem Physik-Nobelpreisträger Louis de Broglie persönlich zu verhandeln. Doch da ihr die Genehmigung für die Auslandsreise nicht bewilligt wurde, musste sie diesen Plan aufgeben. Im letzten Jahrgang 1942/43 beschränkte sich das Spektrum der nicht-deutschen Mitarbeiter auf einen Ungarn, einen Flamen und einen Italiener. Der Kreis der für Die Tatwelt infrage kommenden ausländischen Autoren wurde offenkundig noch durch ein weiteres, von der Redaktion selbst aufgestelltes Kriterium verkleinert. Dies lässt sich zumindest aus einem Brief Ida Euckens vom Mai 1943 erschließen, in dem sie ihren Bruder Walter um seine Einschätzung der wissenschaftlich-fachlichen Qualität eines slowenischen Professors aus Ljubljana bittet. „Alles andere“ sei in Ordnung mit dem Mann. Es sei nun einmal „jetzt so sinnlos schwer, nicht-quislingende Mitarbeiter zu bekommen.“ Das sollte wohl heißen, dass man keine ausländischen Nazis in der Zeitschrift zu Wort kommen lassen wollte. Bei dem Laibacher Professor handelte es im Übrigen um Josip Vidmar, einer Schlüsselfigur des Widerstandes gegen die deutsche Besetzung.176 Die inhaltliche Ausrichtung der Tatwelt änderte sich in den Jahren des Zweiten Weltkriegs bemerkenswert wenig. Der Krieg selbst wurde kaum thematisiert. Die Redaktion beschränkte sich darauf, dem im Oktober 1939 ausgegebenen Heft einen kurzen Text aus den Kriegsschriften Rudolf Euckens voranzustellen. In der Dezember-Ausgabe folgte ein längerer Aufsatz zum Thema Soldatentum und Glaube, der sich in sehr allgemeiner Form mit dem Glauben großer Heerführer beschäftigte – und zwar mit dem religiösen Glauben (und nicht etwa mit dem Glauben an das Volk, den Führer, den Sieg o. ä.). Es war dies der sechste und letzte Teil einer im Vorjahr begonnenen Artikelserie. In den folgenden dreieinhalb Jahren erschienen in der Zeitschrift des Euckenbundes lediglich zwei weitere Beiträge, die als Kommentar zum Krieg gelesen werden konnten. Und beide Texte unterschieden sich in ihrem Tenor merklich von den zahlrei-

175 Vgl. ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Walter Eucken, 28.3.1940; ebd.: Ida an Walter Eucken, 16.4.1942, 28.3. und 6.7.1943; ebd.: Ida Eucken an Ehepaar Eucken-Erdsiek, 27./28. 6. und 23.10.1941.Die Tatwelt 16, 1940, S. 92–99; ebd. 17, 1941, innere Umschlagseite und S. 23–31. 176 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Ida an Walter Eucken, 3.5.1943. Vgl. ebd.: Abschrift eines Schreiben aus Berlin (wohl AA) an Ida Eucken, 14.7.1942; ebd.: Ida an Walter Eucken, 13.5., 21.7., 30.7. und 18.11.1942.

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chen Schriften, in denen Rudolf Eucken in den Jahren 1914 bis 1918 den Sinn des Krieges erläuterte.177 Beim ersten Text handelte es sich um einen Vortrag Rudolph Leitems, den der Chemnitzer Euckenbund-Vorsitzende im Herbst 1940 vor seiner Ortsgruppe gehalten hatte. Offensichtlich ging Leitem zum Zeitpunkt seiner Rede davon aus, dass der Krieg bereits siegreich beendet war. Von Siegeseuphorie ist aber wenig zu spüren. „Wir befinden uns gegenwärtig“, meint Leitem hier, „inmitten einer Umordnung, die verhindern muß, daß Europa nochmals von einer Katastrophe wie der gegenwärtigen heimgesucht wird“. Der Krieg habe nicht allein den besiegten Völkern, sondern auch dem eigenen Volk tiefe Wunden geschlagen, die es nun auszuheilen gelte. Und hier sei jedes Mitglied des Euckenbundes zur Mitarbeit aufgerufen. Es müsse dabei namentlich um einen „inneren kulturellen Aufbau“ gehen. Es folgen dann reichlich salbungsvolle Ausführungen über den Idealismus, der nun „erst recht zur Lebensnotwendigkeit“ werde, setze doch „im gleichen Maße, wie das Streben nach Höherem nachläßt oder aufhört, … der innere Verfall ein“.178 Wesentlich grundsätzlicher und natürlich auch elaborierter setzte sich Gerhard Ritter in seinem im letzten Tatwelt-Jahrgang veröffentlichten Aufsatz Machtkampf und Friedensordnung mit dem Krieg auseinander. Der Freiburger Historiker konstatierte hier einen tiefgreifenden Wandel in der Kriegsführung der europäischen Mächte. Seit dem Mittelalter habe die Völker Europas jenseits aller kriegerisch ausgefochtenen Machtkämpfe immer eine höhere Gemeinsamkeit verbunden, die aus dem Bewusstsein entsprungen sei, dem „christlichen Abendland“, einer europäischen Völkerfamilie mit gemeinsamen Grundwerten, Rechts- und Ehrvorstellungen anzugehören. Das „ewige Ringen um Übermacht“ sei immer auch von dem Streben bestimmt gewesen, „zu einer friedlichen Ordnung zu gelangen, die gerecht für alle und darum von Dauer wäre“. Dieses Equilibrium sei seit dem Ende des Ersten Weltkriegs aus den Fugen geraten. An die Stelle der durch das Christentum gestifteten Gemeinsamkeit Europas sei die Sprengkraft nationalistischer Leidenschaften getreten. „Die Verantwortung der Staatslenker vor dem christlichen Gott“ wurde „ersetzt durch ihre Verantwortung vor dem eigenen Volk und vor dessen Geschichte – was bedeutete sie da praktisch noch anderes als eine Aufforderung, Macht und weltlichen Ruhm der eigenen Nation mit allen Mitteln zu erhöhen?“ Wenn „die letzte Kraft des ganzen Volkstums“ daran gesetzt werde, um den Sieg zu gewinnen, dann, so warn-

177 Die Tatwelt 15, 1939, S. 117–120; ebd., S. 145–156. 178 Ebd. 16, 1940, S. 175.

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te Ritter, gerate „sogar der Gedanke der Humanität in den Verdacht der bloßen Halbheit und Schwäche“.179 Im abschließenden Teil seines Aufsatzes fordert der Freiburger Historiker, den Krieg wieder politischen Zielen und Zwecksetzungen zu unterstellen. Höchstes und letztes Ziel von Politik könne nicht „kämpferische Machtballung, sondern Stiftung und Sicherung einer friedlichen Dauerordnung“ sein. Und auch das letzte Ziel der Kriegführung müsse die „Herstellung einer wahrhaft guten, wahrhaft gerechten und darum dauerhaften Friedensordnung“ sein. Der „totale Krieg“ könne daher „mit gutem Gewissen und mit Aussicht auf Dauererfolg nur so geführt werden, daß er jener letzten und obersten Aufgabe diene“. Können diese Ausführungen als Kritik an der Kriegsführung des nationalsozialistischen Deutschland gelesen werden? Der Aufsatz erschien in den ersten Monaten des Jahres 1943. Anfang Mai fragte Ida Eucken bei ihrem Bruder in Freiburg an, ob auch er den Ritter-Aufsatz „als Konjunktur“ empfinde. Zumindest dessen Wirkung gehe in diese Richtung, so dass die folgenden Beiträge des Heftes überhaupt nicht mehr gelesen würden. Es scheint so, als vermutete die Herausgeberin, Ritters Machtkampf und Friedensordnung sei als Kommentar zur Katastrophe von Stalingrad und zur Verkündung des „totalen Kriegs“ gedacht und würde auch so gelesen.180 Im Frühjahr 1943 begann das NS-Regime nachdrücklicher auf die inhaltliche Gestaltung der Tatwelt Einfluss zu nehmen. Die Redaktion sei, so schrieb Ida Eucken unter dem 2. Mai nach Freiburg, in den vergangenen Wochen „mit Verordnungen, Strafandrohungen usw. richtig überpurzelt“ worden. Man müsse daher gewärtig sein, „das Veröffentlichte zu vertreten“. Für das neue Heft forderten die Medienlenker des Regimes ein Geleitwort zur „heutigen Lage“. Zunächst suchte die Herausgeberin, wie sie ihrem Bruder mitteilte, nach passenden Zitaten der „großen Philosophen“ einschließlich Rudolf Euckens. Doch dann seien ihr „innere Zweifel über die Verbindung der heutigen Zeit zu jenen Denkern“ gekommen. Stattdessen entschied sie sich für ein halbwegs unverfängliches Zitat aus einer Sammlung von Feldpostbriefen, wo vom Vertrauen in den „Schöpfer“ die Rede war. Zudem seien sie, so Ida Eucken weiter, verpflichtet worden, „Betrachtungen gegen den Hauptfeind Europas, gegen den Bolschewismus u. gegen Juda anzustellen oder aber für ‚mehr Kinder‘ einzutreten“. Auch dieser propagandistischen Vorgabe versuchte Ida Eucken, mit einigen allgemeinen Floskeln pro forma Genüge zu tun. „All die Ecken und Kanten, um

179 Ritter, Machtkampf, S. 128–131. 180 Ebd., S. 124f, 127f; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Ida an Walter Eucken, 3.5.1943.

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die ich herum muss, sind unbeschreibbar“, klagte sie ihrem Bruder, „das wichtigste ist aber, dass wir trotz allem unbeschmutzt darum herum kommen.“181 Gerhard Ritters Machtkampf und Friedensordnung war, wie gesagt, einer der wenigen Beiträge mit einem offensichtlichen Bezug zur Gegenwart des Krieges. Und Ida Euckens missbilligender Kommentar zur Rezeption des Aufsatzes deutet an, dass sie solchen Zeitbezug tunlichst vermeiden wollte – sei es, um sich keinen Ärger einzuhandeln, sei es, um das Heft nicht mit Nazi-Propaganda beschmutzen zu müssen. Dies gab allerdings den Kriegsausgaben der Tatwelt eine etwas gespenstische Note. Denn während die Welt dabei war, vollends aus den Fugen zu geraten, präsentierte die Zeitschrift des Euckenbundes ihren Lesern Abhandlungen über Das Märchen als Ausdruck des Zeitgeists, zu Friedrich Schlegels Begriff der romantischen Ironie oder – als besonderen philologischen Leckerbissen – einen Schulaufsatz Rudolf Euckens über Cicero aus dem Jahr 1863.182 In den frühen 1940er Jahren griff Die Tatwelt auch die Diskussionen der Jenaer Tagungen von 1937/38 um die Einheit der Wissenschaft wieder auf. Zur Jahreswende 1941/42 machte sich Carl-Friedrich von Weizsäcker in einem längeren Aufsatz Gedanken über Das Verhältnis der Quantenmechanik zur Philosophie Kants. In den folgenden Heften kommentierten Bernhard Bavink, Gustav Mie, Theodor Haering und Arnold Gehlen Weizsäckers Abhandlung in der Tatwelt ausführlich. Zwischenzeitlich scheinen allerdings Ida Eucken gewisse Zweifel an der Kompetenz des philosophierenden Physikers gekommen zu sein. Im Frühjahr 1942 berichtete sie Walter Eucken von einem Besuch in Weizsäckers Privatwohnung in Berlin-Dahlem. Es sei zwar eine „hübsche Plauderstunde“ gewesen, doch hatte es Ida Eucken irritiert, dass Weizsäcker „restlos begeistert ist von dem Logistiker Scholz und gleichzeitig von Heidegger und sage und schreibe vom dem Mahayana-Buddhismus!“ Da sie ihn zur Mitarbeit in der Tatwelt brauche, habe sie ihn erzählen lassen und dazu geschwiegen. Sie fange aber an zu glauben, „dass er nur als Physiker überragend ist und ein Liebhaber der Philosophie bleiben wird.“ Weitere Irritationen kamen hinzu. „Mein geliebter Weizsäcker“, schrieb Ida Eucken zwei Wochen später, habe seinen großen TatweltAufsatz, ohne zu fragen und ohne Vermerk über die Erstveröffentlichung unter anderem Titel in der Zeitschrift Die Chemie platziert. Auch über Carl-Friedrich von Weizsäckers Artikel für Nazi-Blätter wie die Wochenzeitung Das Reich runzelte die Philosophen-Tochter bedenklich die Stirn. Es sie doch schade, „dass er sich nicht von dieser Art Schreiberei fern hält.“ Als Weizsäcker Anfang 1943 nach Jena kam, um im Euckenhaus zu sprechen, war aber Ida Euckens Unmut über den Physiker wieder dem hingerissenen Staunen über dessen rhetorische 181 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Ida an Walter Eucken, 2.5.1943. 182 Die Tatwelt 17, 1941, S. 4–23, 45-48, 138-150; ebd. 18, 1942/43, S. 182–191.

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Brillanz gewichen: „wie er diese ganze mathematische Theorie der Quantenmechanik einem so hinservierte, freisprechend, das hat schon Wirkung.“183 Auch andere Mitglieder des Diskussionskreises der späten Euckenbund-Tagungen meldeten sich während des Krieges in der Tatwelt zu Wort. Gotthard Günther setzte sich in einem Anfang 1941 veröffentlichten Beitrag kritisch mit dem Verhältnis von Philosophie und mathematisierender Logik auseinander. Dass Günther und seine jüdische Frau mittlerweile in die USA emigriert waren, ignorierte die Redaktion der Zeitschrift souverän und führte ihn unter einer italienischen Adresse auf, wo Günther 1937 kurzzeitig als Lehrer tätig gewesen war. Willy Hellpach steuerte im letzten Tatwelt-Jahrgang einen erkenntnistheoretischen Aufsatz bei, in dem er sich Gedanken über das Verhältnis der Philosophie zu den empirischen Wissenschaften machte. Noch im Juni 1943 sprach er im Rudolf-Eucken-Haus. Helmut Schelsky, mittlerweile auf einen SoziologieLehrstuhl in Straßburg berufen, ließ sich ebenfalls hin und wieder in Jena blicken. Im März 1942 kam er während eines verwundungsbedingten Fronturlaubs zu Besuch in die Euckenvilla. „Er ist ja ein schneidiger Kerl“, meinte Ida Eucken, „dass er mit einem total zerschossenen Arm absolut wieder im April an die Ostfront will“. Am Ende des Wintersemesters 1942/43 hielt Schelsky schließlich einen Vortrag über Friedrich List im Euckenhaus. Selbst über eine weitere wissenschaftliche Tagung dachten die Geschwister Eucken nach. Noch wenige Wochen vor ihrem Tod bot Ida Eucken ihrem Bruder Walter die unteren Räume der Euckenvilla – „ohne mich selbstredend“ – für diesen Zweck an.184 Nach dem Tod Ida Euckens im Oktober 1943 fand sich im Umkreis des Euckenbundes niemand mehr, der fähig und willens gewesen wäre, Die Tatwelt weiterzuführen. Der Verlag Junker & Dünnhaupt hätte gerne den eingeführten Titel unter neuer Redaktion übernommen und bot dafür an, unentgeltlich eine Gedächtnisausgabe für Ida Eucken zu erstellen. Zur Beratung dieses Vorschlags wurden im Februar 1944 eine Sitzung der Hauptleitung und eine Generalversammlung des Euckenbundes anberaumt. „Ein Abtreten des Titelblattes“, so teilte Benno von Hagen am folgenden Tag dem Verlag mit, „fand schärfste Ablehnung, da irgendwelche Gewähr für eine Fortführung der Zeitschrift im Geiste Rudolf Euckens von Ihnen nicht gegeben werden könne.“185 183 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Ida an Walter Eucken, 2.4., 16.4. und 26.6.1942, 15.1.1943. Vgl. Die Tatwelt 17, 1941, S. 66–98; ebd. 18, 1942/43, S. 105–109. 184 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Ida an Walter Eucken, 7.3.1942, 9.9.1943. Vgl. ebd.: Ida an Walter Eucken, 26.2. und 3.5.1943; Die Tatwelt 16, 1940, S. 135–147; ebd. 18, 1942/43, S. 109–118. 185 ThULB NLWE, Korrespondenz zum Euckenbund: Benno von Hagen an Junker, 21.2.1944. Vgl. ebd.: Junker & Dünnhaupt an Walter Eucken, 6.11.1943; ebd.: Hagen an Junker & Dünnhaupt, 4.3.1944.

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Auch der Fortbestand des Rudolf-Eucken-Hauses stand nach dem Tod Ida Euckens zur Disposition. Der Betrieb des Hauses war in den Jahren zuvor nur mit Mühe aufrecht erhalten worden. In den ersten eineinhalb Kriegsjahren war es aufgrund der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit seiner Leiterinnen ganz geschlossen gewesen. Erst im Sommersemester 1941 konnten Irene und Ida Eucken wieder daran denken, die eine oder andere Veranstaltung durchzuführen. Ein regelrechtes Veranstaltungsprogramm gab es erst wieder seit 1942. Das Jahr wurde am 10. Januar mit einer Gedenkfeier für Irene Eucken eröffnet, zu der auch zahlreiche Mitglieder des Euckenbundes erschienen waren. Es spielte sich nun wieder das aus der Vorkriegszeit bekannte Potpourri aus einigen wissenschaftlich anspruchsvolleren Vorträgen, Reiseberichten mit Diaprojektor („Mit deutschem Auto 6500 km durch die libysche Wüste“!), „Heimatabenden“, musikalischen Darbietungen und Rezitationen, Gruppenausflügen, Spieleabenden und Tischtennisturnieren ein.186 Mit der Wiederaufnahme des Veranstaltungsbetriebs rückten sogleich auch wieder die Beziehungen des Rudolf-Eucken-Haus zur Universität und den diversen auf dem Feld der „Ausländerarbeit“ aktiven Parteigliederungen in den Blickpunkt. Hinter den Kulissen hatte es bereits zwei Jahre zuvor Versuche gegeben, auf das Haus Zugriff zu nehmen. Anfang 1940 war der Leiter der Akademischen Auslandsstelle, Olaf Krückmann, bei Friedrich Stier vorstellig geworden, um über die weitere Nutzung der Räumlichkeiten des seit Kriegsbeginn geschlossenen Ausländerhauses zu verhandeln. Er schlug sogar vor, die Euckenvilla käuflich zu erwerben. Der Weimarer Ministerialrat gab Krückmann aber zu verstehen, dass er nicht glaube, dass Irene Eucken das Haus zu ihren Lebzeiten verlaufen wolle. Man habe sich daher ggf. auf die jetzt vom Kuratorium gemieteten Räume zu beschränken. Selbst im Falle eines Kaufes hielt Stier die Beibehaltung des Namens „nicht nur für notwendig, sondern auch für erwünscht“.187 Einige Wochen später hatte sich das Thema Euckenhaus auf eine höhere Ebene verlagert. Mitte April 1940 schrieb der stellvertretende Thüringer NSDAPGauleiter Siekmeier an den Rektor der Universität, Karl Astel, dieser möge doch versuchen, einen Vertrauensmann der Partei in das Kuratorium des Rudolf-Eu-

186 Vgl. ThHSA Weimar 6–32–0040: Volksbildungsministerium, C 449, Bl. 220f: Briefwechsel Friedrich Stier – Irene Eucken, 14.10. und 27.11.1940; ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Irene an Ida Eucken, 1.5. und 17.5.1941: ebd.: Ida an Walter Eucken, 12.1., 24.3., 26.6. und 7.7.1942, 8.2. und 16.2.1943; Tätigkeitsbericht Rudolf-Eucken-Haus 1942 (in: Die Tatwelt 18, 1942/43, S. 232). 187 ThHSA Weimar: 6 – 32 – 0040: Volksbildungsministerium C449, Bl 203, 206: Briefwechsel Olaf Krückmann – Friedrich Stier, undatiert und 27.2.1940.

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cken-Hauses aufnehmen zu lassen. Astel schlug dagegen ein wesentlich rabiateres Vorgehen vor: Es bedarf einer grundsätzlichen Besprechung darüber, ob es Zweck hat, die zweifellos weltanschaulich unseren Bestrebungen zum Teil entgegengerichteten geselligen Abende des Euckenhauses durch Hereinnahme von Vertretern von uns in ihrem Bestehen zu fördern oder ob es nicht zweckmässig wäre, das Euckenhaus durch eine völlige Neubesetzung seines Direktoriums zu etwas grundsätzlich Neuem zu machen. Bei der gegenwärtigen Zusammensetzung des Direktoriums bedarf es schon eines kulturell und politisch sehr gut Bescheid wissenden, klar denkenden und energischen Menschen, um der ehrwürdigen Institution unseren grundsätzlich anderen Grundcharakter aufzuprägen.188

Augenscheinlich ging auch dieser Vorstoß, das Euckenhaus „gleichzuschalten“, letzen Endes ins Leere. Als Anfang 1942 das Haus wieder seinen regelmäßigen Betrieb aufnahm, hielt es Ida Eucken allerdings für angebracht, sich Rückendeckung von „ganz oben“ zu holen. Sie sprach beim mächtigsten Mann Thüringens, dem Gauleiter und Reichsstatthalter Sauckel vor. Auch Stier führte „mit unserem hohem Uni.-Herrn“ ein längeres Gespräch über das Euckenhaus und berichtete anschließend nach Jena, dieser habe sich „denkbar günstig“ geäußert. Eigentlich habe Sauckel ja vorgehabt, das Haus nicht zu halten. Er habe sich nun aber eines Besseren besonnen. In den Akten des Volksbildungsministeriums findet sich ein auf den 7. Februar 1942 datiertes Exposé, in dem die Argumente für einen Erhalt des Rudolf-Eucken-Hauses in seiner bisherigen Form aufgelistet sind. Die Pflege der Auslandsbeziehungen sei in der Kriegszeit notwendig, um „die kulturell-akademische Verbindung mit den verbündeten europäischen Nationen zu halten und zu intensivieren“. Und nach dem Krieg müssten die Beziehungen zu den Länder außerhalb Kontinentaleuropas wieder aufgenommen worden. Um diese Aufgaben zu erfüllen, sei gerade das Euckenhaus besonders geeignet. Das Exposé verweist auf die langjährige Kontinuität der Ausländerbetreuung des Hauses und listet die zahlreichen Kontakte zu „führenden Männern aus aller Welt“ auf. Darunter finden sich so illustre Namen wie der des amtierenden japanischen Ministerpräsidenten Tojo. Auch sei die Verbindung der Ausländerbetreuung mit dem Namen Rudolf Eucken ein unschätzbarer Vorteil, denn: „Dieser Name wirkt in manchen wichtigen Ländern wie eine Marke einer Firma. Etwa wie ‚Persil‘. Jeder kennt sie. Wiederum ist dies ein grosses, unersetzliches Aktivum, auf das keine Firma verzichtet.“189

188 UAJ Bestand B. A. Nr. 2132, Bl. 25: Astel an Siekmeier, 23.4.1940. Vgl. ebd., Bl. 21: Siekmeier an Astel, 17.4.1940. 189 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Ida an Walter Eucken, 4.3.1942; ThHSA Weimar: 6 – 32 – 0040: Volksbildungsministerium C449, Bl. 270ff: Exposé, 7.2.1942.

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In den folgenden Wochen und Monaten registrierte Ida Eucken mit ungläubigem Erstaunen die Anzeichen des Wohlwollens, dessen sich das Haus und seine Leiterin nun auf einmal erfreuen konnten. Zum ersten Mal seit Jahren, so berichtete sie im März 1942 ihrem Bruder, seien die Veranstaltungen des Euckenhauses wieder im Vorlesungsverzeichnis der Universität verzeichnet. Ihre Aufnahme in das Kuratorium anstelle ihrer verstorbenen Mutter sei problemlos über die Bühne gegangen. Auch zu feierlichen Anlässen wurde die Philosophen-Tochter wieder eingeladen. „Wisst Ihr“, schrieb Ida Eucken nach Freiburg, „zum Rollen ist es zu beobachten, wie … Menschen, die sich mir gegenüber seit Jahren etwas zurückgehalten haben, jetzt freundschaftlichst sich benehmen, allerhand über unseren höchsten Herrn wissen wollen und eben wieder quasi ‚anbändeln‘.“ Wie lange dieser Zustand aber anhalten werde – das „‚weiss nur Gott‘, würden meine Araber sagen.“190 Ein Jahr später mehrten sich dann die Anzeichen, dass die Zeit, in der das Rudolf-Eucken-Haus sich im offiziellen Wohlwollen sonnen konnte, zu Ende ging. Die „Quertreibereien beginnen wieder“, vermeldete Ida Eucken Ende Mai 1943. Und wieder einmal ging das Ungemach von der NS-Studentenführung aus. Aus Berlin war die Anweisung an die Außenämter der Studentenschaften der einzelnen Hochschulen ergangen, eigene Klubs zur Betreuung ausländischer Kommilitonen zu gründen. „Hier in Jena ist damit ein Medizinstudent beauftragt worden, 4. Semester, Sachse, volle 4 Wochen schon in Jena, geringe Formen, ehrgeizig, vom Ausland, fremden Verhältnissen usw. kaum eine Ahnung“, wusste Ida Eucken zu berichten. Rektor Astel und Stier drängten nun die sichtlich unwillige Euckenhaus-Leiterin, sich mit dem jungen Herren, dem sie in ihren Briefen den Codenamen „Heini“ verpasst hatte, über eine Zusammenarbeit ins Benehmen zu setzen.191 Ida Eucken war mittlerweile ins Krankenhaus eingeliefert worden. In ihrer Abwesenheit tauchte „Heini“ in der Botzstraße auf, verschaffte sich durch Einschüchterungen Zutritt, besichtigte die Räume und ging auch gleich daran, bauliche Veränderungen ins Auge zu fassen. Ida Eucken verlor keine Zeit, um diesem Zugriff einen Riegel vorzuschieben. Ihrem alten Verbündeten, dem Ministerialrat Stier, der sie zur Mäßigung anhielt, verkündete sie „sehr vergnügt“, dass das Haus ihr gehöre, dass aber ihre Geschwister daran Erbschaftspflichtteile besäßen. Daher müssten sie bei den kleinsten Änderungen um ihre Zustimmung gebeten werden. Und sie habe vor, sich „strikte daran zu halten“, fügte sie hinzu. Diese Regelung hatte Irene Eucken 1938 in ihr Testament aufnehmen lassen. „Es ist gut, daß gegenüber außen stehenden Kreisen Ida nicht 190 ThULB NLWE, Familienkorrespondenz: Ida an Walter Eucken, 16.3., 5.5. und 26.6.1942. 191 Ebd.: Ida an Walter Eucken, 24.5. und 28.6.1943.

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restlos über das Haus verfügen kann“, hatte sie damals Walter Eucken erklärt.192 Ida Euckens Tod setzte auch dieser institutionellen Säule der Euckenbewegung ein Ende. „Ida Maria Eucken war die bewegende und treibende Kraft“, teilte Friedrich Stier dem Auswärtigen Amt Anfang November 1943 lapidar mit, „ein Ersatz für sie ist nicht vorhanden.“ Der Veranstaltungsbetrieb des Hauses ging nun in die Trägerschaft einer neugebildeten „Deutsch-Ausländischen Akademikervereinigung“ über, die in die Nachfolge des Kuratoriums eintrat und die wie bisher die Räumlichkeiten der Euckenvilla mietete. Der Euckenbund, der in den letzten Jahren faktisch nur noch in seiner formalen Funktion als Trägerverein der Tatwelt und des Euckenhauses existiert hatte, löste sich im Februar 1944 offiziell auf. 193

192 Ebd.: Ida an Walter Eucken, 6.7.1943; ebd.: Irene an Walter Eucken, 20.8.1938. 193 Zitat: ThHSA Weimar: 6 – 32 – 0040: Volksbildungsministerium C449, Bl. 311: Stier, an Dr. Roth, 2.11.1943. Vgl. ebd. Bl. 317: Stier an Walter Eucken, 9.12.1943; ebd. Bl. 324: Rundschreiben Deutsch-Ausländische Akademiker Vereinigung, Jena, 3.1.1944; ThULB NLWE, Korrespondenz zum Euckenbund: Benno von Hagen an Verlag Junker & Dünnhaupt, Berlin, 4.3.1944.

8 Fazit Wollte man es sich einfach machen, hätte man wohl kein Problem, an der Geschichte der Eucken-Bewegung zwischen der Jahrhundertwende und den 1930er Jahren das bekannte Narrativ über das Bildungsbürgertum, die Kulturkritik und die Moderne beispielhaft zu reproduzieren. In Rudolf Euckens kulturkritischen Schriften kann man unschwer ein Ressentiment gegen Naturwissenschaft und moderne Technik ausmachen. Der Philosoph bezog Front gegen „Rationalismus“ und „Intellektualismus“. Er glaubte, unumstößliche Wahrheiten in transzendenten kosmologischen Ordnungen zu finden, und operierte mit esoterischen Begrifflichkeiten wie dem „Geistesleben“ und der „Tatwelt“. Seine Lehren lassen die Neigung erkennen, die idealistische Bildungstradition „geistesaristokratisch“ zuzuspitzen. Eucken stellte immer wieder die „gebildete Persönlichkeit“ dem „Massenmenschen“ gegenüber und leitete aus dieser Gegenüberstellung grundlegende Vorbehalte gegen die Demokratie ab. Der Jenaer Ordinarius gehörte seit 1914 zu den einflussreichsten Protagonisten des antiliberalen Topos’ einer „Deutschen Freiheit“. Die von ihm initiierte Bewegung positionierte sich von Anfang an in radikaler Opposition zum republikanischen Staat. Rudolf Eucken und seine Anhänger waren auch später weit entfernt davon, die Weimarer Demokratie lebensfähig machen zu wollen. Im Euckenbund waren nationalistische, völkische und antisemitische Haltungen virulent. Die Führung des Bundes weigerte sich in den frühen 1930er Jahren nicht allein, eine Grenze zur nationalsozialistischen Bewegung zu ziehen. Sie liebäugelte auch damit, die Nationalsozialisten zur Abwicklung der Demokratie zu instrumentalisieren. Nach 1933 stellten sich der Euckenbund und seine Zeitschrift in den Dienst der nationalsozialistischen Propaganda und trugen dazu bei, das Image des NS-Regimes im Ausland aufzupolieren. Damit könnte man die Akte „Eucken“ schließen. Damit würden aber auch die Ambivalenzen und die gegen- und querläufigen Aspekte unter den Tisch fallen, die möglicherweise zu einem anderen, besseren, subtileren Verständnis der Eucken-Bewegung bzw. des kulturkritisch disponierten deutschen Bildungsbürgertums der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beitragen könnten. Unter den Tisch fallen würden damit auch die grundsätzlichen Zweifel an den Prämissen des „Bildungsbürgertum, Kulturkritik & Moderne“-Narrativs: Kann man Kritik an der Moderne per se zur politischen Pathologie erklären? Sollte man wirklich ein Konstrukt von Moderne, das kapitalistische Wirtschaft, wissenschaftliche Rationalität und instrumentelle Vernunft, liberale Demokratie und egalitäre Bürgergesellschaft in harmonischer Interdependenz vereint, als Leitbild und Bewertungsmaßstab der Untersuchung verwenden? Zumindest Rudolf Euckens https://doi.org/10.1515/9783110687033-008

8 Fazit



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Verständnis der Moderne und seine Kritik an ihr entziehen sich einer eindeutigen Zuordnung und Bewertung, wenn man ein solches Modell als Maßstab zugrunde legt. In seinen oft ausführlichen kulturgeschichtlichen Herleitungen legt der Jenaer Philosoph großen Wert darauf, die Geistesströmungen der Moderne und ihre materiellen Hervorbringungen als Entwicklungen zu würdigen, hinter die es kein Zurück geben könne und dürfe. Rudolf Euckens Kritik an diesen Entwicklungen hebt darauf ab, dass eine allein auf rationalistisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis beruhende Weltanschauung zwangsläufig eine defizitäre Ordnung des menschlichen Daseins begründen müsse. Sie entbehre nämlich einer ethischen Grundlage, solange sie keine anderen Maßstäbe als die Nützlichkeit und Machbarkeit bieten könne. Sie habe eine Fülle von Technik hervorgebracht, die Eucken als frei in der Luft schwebende, nicht durch einen geistig-ethischen Inhalt gebundene Kraft kennzeichnet, ein herrenloses Gut, dessen sich jeder bemächtigen könne, seien seine Absichten auch noch so finster. Ohne eine allgemeingültige ethische Fundierung drohe die moderne Gesellschaft zu einem dunklen Getriebe ohne Sinn und Zweck zu werden. Im Hinblick auf diese an der Wende zum 20. Jahrhundert formulierten Einsichten könnte man Rudolf Eucken durchaus zu den Protagonisten einer Lesart der Moderne zählen, die vor dem zerstörerischen Potenzial einer von moralischen Hemmnissen befreiten instrumentellen Vernunft warnt. Das ethische Fundament, das Eucken seiner Vision einer neuen Lebensordnung unterlegt, speist sich im Kern aus einem runderneuerten Christentum, das sich dem geistigen Niveau der Moderne anzugleichen habe. An sich erscheint die Bezugnahme auf ein kulturell verankertes Substrat christlicher Werte nicht weiter bemerkenswert. Da Eucken aber in seinen Schriften immer wieder explizit betont, dass es ihm um absolute Wahrheiten geht und dass er sich gegen jeglichen ethischen Relativismus wendet, bekommen seine Gesellschaftsentwürfe einen illiberalen, antipluralistischen Zug. Dieser Zug kommt vielleicht am schärfsten in seinem Syntagmen-Modell zum Vorschein, das die Pluralität der Werte zum Grundproblem der Moderne erklärt. Rudolf Eucken präsentiert dagegen seine schöne neue Welt als holistische Einheit, wo sich das Denken und Handeln der Menschen an verbindlichen Werten und Verhaltensmaßstäben orientieren und auf gemeinsame Ziele gerichtet sind. Hier mag man ein totalitäres Potenzial erkennen. Euckens Kritik an (natur-)wissenschaftlicher Welterkenntnis besitzt – neben der moralischen – auch eine ernstzunehmende erkenntnistheoretische Dimension, insoweit sie sich gegen einen platten Empirismus richtet, der alles, was nicht durch messbare sinnliche Erfahrung nachweisbar ist, als „unwissenschaftlich“ oder gar als nicht existent erklärt. An sich wird man daher die wissenschaftskritischen Einwände Rudolf Euckens wohl kaum als „irrational“ im

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landläufigen Sinne kennzeichnen können. Das Interesse der Erben des Jenaer Philosophen an den grundstürzenden Neuerungen der modernen Physik, wie es sich in der Tatwelt und den Euckenbund-Tagungen der späteren 1930er Jahre manifestierte, stand durchaus in der Kontinuität dieser Wissenschaftskritik. Die Quantenmechanik und die Heisenbergsche Unschärferelation schienen darauf hinzudeuten, dass das festgefügte naturwissenschaftliche Weltbild zu verschwimmen begann. Problematisch wird diese Argumentation allerdings, wenn sie als Beweis für transzendente Wahrheiten herhalten soll. Rudolf Euckens noologische Methode erscheint geradezu als Musterbeispiel einer solchen zweifelhaften Beweisführung. Als heuristisches Mittel zur Reduktion komplexer Sachverhalte mag die Noologie ähnlich brauchbar sein wie Max Webers Idealtypen. Doch wenn Eucken den Anspruch erhebt, mittels dieser Methode gesicherte Erkenntnisse über ein kosmisches Geistesleben zu gewinnen oder den Wahrheitsgehalt des Christentums zu vermessen, so hat dies mehr als nur einen Hauch von Esoterik. Möglicherweise gründete die Attraktivität der Lehren Rudolf Euckens auf seine Zeitgenossen ja gerade in dieser Mischung aus Wissenschaftlichkeit und Spiritualität. Wenn der eminente Denker aus Jena „wissenschaftlich“ nachwies, dass der christlichen Religion in ihrer protestantischen Ausprägung ein hoher Wahrheitsgehalt innewohne, sprach er ein gebildetes Publikum an, dem zwar die überkommenen Glaubensgewissheiten unsicher geworden waren, das sich aber auch nicht mit dem ethisch-moralischen Relativismus und der spirituellen Leere einer „entzauberten“ Moderne abfinden wollte. Mit seinen mehr oder minder direkten Bezugnahmen auf das protestantische Christentum und das humanistische Bildungskonzept knüpfte Eucken offensichtlich an Denkfiguren und Praktiken an, die seinen Lesern vertraut waren, die auf ihre habituell geprägten Bedürfnisse und Wünsche zugeschnitten erscheinen. Zum einen versprachen die Lehren des Jenaer Philosophen dem Einzelnen einen „festen Halt“, indem sie die Gewissheit über die Sinnhaftigkeit der Welt und des menschlichen Lebens vermittelten. Zum anderen zeigte Eucken seinen Anhängern einen Weg auf, wie sie sich solche Gewissheit erarbeiten, wie sie an einem größeren sinnhaften Ganzen teilhaben und aktiv an seiner Entfaltung im eigenen Tätigkeitsbereich mitwirken könnten. Insoweit mag man die für ein breiteres Publikum bestimmten Werke Rudolf Euckens als spirituelle Ratgeberliteratur ansehen, die den Lesern eine Anleitung für ein sinnerfülltes Dasein anbot, ihnen womöglich half, sich mit der Moderne zu versöhnen oder diese zumindest etwas gemütlicher zu gestalten. Etwas anderes war es aber, eine Bewegung ins Leben zu rufen, die sich zum Ziel setzte, eine neue Gesellschaft zu formen, eine Lebensordnung durchzusetzen, die auch verbindlich für alle anderen sein sollte. Hier sollte die als Kenn-

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zeichen und Defizit der Moderne diagnostizierte Vieldeutigkeit durch Eindeutigkeit ersetzt werden. Die Einheitlichkeit einer Ordnung mit objektivem Sinngehalt trat an die Stelle der Vielfalt individueller und gruppenspezifischer Lebensentwürfe und Sinnstiftungen. Wenn Eucken in euphorischer Diktion die Durchsetzung eines neuen Syntagma als mitreißende Bewegung feiert, die alles nach ihren Prinzipien ordnet und auf ihre Ziele ausrichtet, so erinnert diese Beschreibung doch fatal an einen Vorgang, der einige Jahr nach Euckens Tod mit dem Ausdruck „Gleichschaltung“ belegt werden würde. Die Bewegung, die Rudolf Eucken dann tatsächlich ins Leben rief, war allerdings weit davon entfernt, solche Wirkung zu erzielen. Das Manifest dieser Bewegung, das Eucken 1913 formulierte, setzte ihr von Anfang an einen nationalistischen Deutungsrahmen. Dies erscheint insofern irritierend, als der Philosoph zuvor in seinen Schriften fast ganz ohne nationalen Bezug ausgekommen war. Nun auf einmal schrieb er den Deutschen eine besondere Disposition und Fähigkeit zu, die von ihm diagnostizierten Probleme der Moderne zu erkennen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und sie einer Lösung zuzuführen. Im letzten Friedensjahr war dies möglicherweise nur eine pragmatische Wendung gewesen war, um der „Sammlung der Geister“ mit einem Appell an nationale Selbstgefälligkeiten emotionalen Schub zu verleihen. Während des Ersten Weltkriegs lud Eucken diese Lesart in geradezu monströser Weise auf zu einem Ringen zwischen einem „deutschen Idealismus“ und den Prinzipien einer von den Feinden verkörperten „materialistischen“ Moderne um die Erlösung der Menschheit. Dieses Szenario, das der Jenaer Ordinarius in zahlreichen Schriften und Vorträgen verbreitete, ging augenscheinlich mit einem profunden Realitätsverlust einher, etwa bei der Einschätzung der Rezeption der deutschen Kriegsführung in den neutralen Ländern wie auch der Kriegslage im allgemeinen. Dabei speiste sich Rudolf Euckens Version des „Kriegs der Geister“, zumindest in seinem eigenen Selbstverständnis, keineswegs aus völkischem oder radikal-nationalistischem Gedankengut. Der Jenaer Philosoph berief sich vielmehr auf eine idealistisch-romantische Denktradition, die den verschiedenen Völkern und Nationen spezifische Eigentümlichkeiten zuschreibt, die sie zum Wohl der gesamten Menschheit zu entwickeln und einzusetzen hätten. Eucken betont dabei, es seien primär geistige Charakteristika, die ein Volk ausmachten, und keineswegs bloß „rassische“ Gemeinsamkeiten. Eine rücksichtslose Verfolgung eigensüchtiger nationaler Interessen auf Kosten der anderen Völker und Nationen kennzeichnet er als Pervertierung der „nationalen Idee“. Eucken setzte sich vor 1914 und während des Krieges publizistisch für das Selbstbestimmungsrecht der „kleinen“ Völker ein und hielt sich – trotz seines Engagements für die Vaterlandspartei – von annexionistischen Kriegszielresolutionen fern.

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Dennoch führte auch seine idealistische Lesart von Volk und Nation den Philosophen seit 1913/14 zu Positionen, die ungebremster nationalistischer Hybris entsprungen zu sein schienen. Durch private wie öffentliche Äußerungen Rudolf Euckens und seiner Anhänger zieht sich ein unhinterfragtes Selbstverständnis, als Deutscher den Angehörigen anderer Nationen moralisch und geistig in allen Belangen überlegen zu sein. Dieses kollektive Selbstbild gründet wohl nicht zuletzt auch in einem Denkstil, den Rudolf Eucken in seinen Werken als erkenntnisleitende Methode beschreibt. Es geht dabei darum, das Eigentümliche und Wesentliche eines Phänomens zu erkennen, um essentielle Wahrheiten freizulegen und so dem eigenen Handeln Sinn und Richtung zu geben. Solche „Wesensbildung“ äußert sich nicht zuletzt im Drang, mittels StereotypenKonstruktion Differenz zu erzeugen, das Eigentümliche einer geistigen Strömung, einer Kultur, einer Religion, eines Volkes herauszustellen. Dies konnte durchaus mit einer Wertschätzung der Eigenart anderer Kulturen verbunden sein. Dafür lassen sich in den Schriften Rudolf Euckens ebenso Beispiele finden wie in den Aktivitäten seiner Witwe und seiner Tochter im Rahmen des nach ihm benannten Jenaer Ausländerhauses. Doch bei den gleichen Personen findet sich eben auch der Hang, oft in geradezu grotesker Weise das eigene kollektive Selbst zu feiern und über andere Nationen und Völker zu erheben. Der Drang zur Wesensbildung äußerte sich nicht zuletzt in der Neigung, Volk und Nation als holistisches Ganzes zu denken – um dann womöglich „volksfremde Elemente“ zu definieren, ihre Assimilation zu fordern oder aus der nationalen Gemeinschaft auszuschließen. Die Auseinandersetzungen über die „Judenfrage“ im Euckenbund der 1920er Jahre bieten ein besonders notorisches Beispiel für diesen Diskurs. Rudolf Eucken verwies zwar immer mal wieder darauf, dass die dem Kollektiv als wesenhaft zugeordneten Eigenschaften und Prinzipien nicht mit den individuellen Charakterzügen des Einzelnen zu verwechseln seien, dass der einzelne Jude sehr wohl ein guter Deutscher, ein Idealist, ein würdiges Mitglied seines Bundes sein könne. Doch wollten viele seiner Anhänger solche feinen Unterschiede offenbar nicht zur Kenntnis nehmen. Es deutet sich hier an, wie allgegenwärtig antisemitische Ressentiments im gebildeten deutschen Bürgertum der Weimarer Zeit waren. Die nationalistische Hybris der Euckenschen Konstruktionen des Deutschen steht in einem merkwürdigen Kontrast zu den zahlreichen internationalen Kontakten und Verbindungen, die der Jenaer Philosoph und später seine Witwe und Tochter in seinem Namen unterhielten. Solange Eucken seine Philosophie nicht demonstrativ in den Rahmen eines „deutschen Idealismus“ stellte, an dem die Welt genesen sollte, fanden seine Lehren und Anschauungen auch außerhalb des deutschsprachigen Kulturkreises ein aufnahmebereites Publikum. Euckens internationaler Erfolg im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg deutet

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zumindest an, dass die von ihm aufgeworfenen Probleme und Diagnosen nicht unbedingt als Ausdruck einer spezifischen German Angst vor der Moderne zu begreifen sind. Im Ausland fand das Werk Rudolf Euckens im wesentlichen Resonanz bei drei Rezipientengruppen und Diskursmilieus: Die zahlreichen Verbindungen, die der Jenaer Philosoph seit den 1890er Jahren zu Fachkollegen und ehemaligen Schülern in Europa, Amerika und Asien unterhielt, verweisen (1.) darauf, dass philosophische Strömungen, Richtungen und Schulen sich nicht allein im nationalstaatlichen Rahmen entfalteten und organisierten. Es verdichtete sich seit der Jahrhundertwende eine Art neoidealistisch-lebensphilosophische Internationale, deren Vertreter miteinander in intellektuellem Austausch standen und die Übersetzung und Veröffentlichung von Büchern und Aufsätzen der ihnen nahestehenden ausländischen Kollegen im eigenen Land förderten. Es wird hier zudem deutlich, dass kulturkritisch ausgerichtete Philosophien auch außerhalb des deutschen Kaiserreichs vertreten wurden. Selbst in Frankreich gab es augenscheinlich nicht nur „rationalistische“, an cartesianischen Traditionen hängende Denker. Ein Henri Bergson vertrat hier mit seiner intuitiv-vitalistischen Lehre Anschauungen, die mindestens ebenso wissenschaftskritisch daherkamen wie die Rudolf Euckens. In den USA beherrschte um 1910 nicht allein der Pragmatismus das Feld, sondern es hatte sich dort eine Schule des „Personalismus“ etabliert, die in ähnlicher Weise Bezug auf die humanistische Bildungsidee und die christliche Religion nahm wie der Jenaer Nobelpreisträger. In seiner eigenen Wahrnehmung fiel Euckens Philosophie vor 1914 in Westeuropa und Nordamerika sogar auf fruchtbareren Boden als in Deutschland, wo er sich von der Diskurshoheit eines erkenntnistheoretisch ausgerichteten Neukantianismus zur Seite gedrängt fühlte. Die Frage, wie Religion und Glauben in einer zunehmend säkularisierten, „entzauberten“ Welt bestehen könnten, beschäftigte (2.) nicht allein in Deutschland die Theologen. Und auch in diesem Falle lieferte Rudolf Eucken Diagnosen, Antworten und Lösungen, die auch anderswo in Europa und in Nordamerika ohne weiteres verstanden und aufgenommen wurden. Gerade Euckens religionsphilosophisches Werk scheint für ausländische Theologen liberalprotestantischer und reformkatholischer Richtung mindestens ebenso attraktiv gewesen zu sein wie für seine deutschen Landsleute. Vor allem die britischen und amerikanischen Unitarier fanden in den Schriften des deutschen Professors offenbar eigene Anschauungen und Ziele wieder: ein undogmatisches, „zeitgemäßes“ Christentum, das dennoch im Transzendenten verankert war. Allerdings deutet die politische Positionierung seiner Anhänger und Leser unter den angloamerikanischen Theologen, die nicht selten pazifistische, linksliberale oder sozialistische Haltungen vertraten, an, dass sie Eucken möglicherweise etwas anders lasen als dessen deutschen Anhänger (und er selbst).

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Zahlreiche Übersetzungen in indische und ostasiatische Sprachen deuten (3.) an, dass Rudolf Euckens Werke vor und nach dem Ersten Weltkrieg auch jenseits des europäischen Kulturkreises gelesen wurden. Seine grundsätzliche Offenheit für die nicht-christlichen Religionen, seine explizite Bezugnahme auf die asiatischen Weisheits- und Glaubenslehren machten den deutschen Nobelpreisträger wohl anschlussfähig für indische, chinesische und japanische Intellektuelle, die eine Synthese zwischen dem „westlichen“ Denken und den eigenen philosophischen und spirituellen Traditionen anstrebten. Auch konnte Eucken aufgrund seiner unermüdlichen Kritik an „Naturalismus“, „Materialismus“ und „Utilitarismus“ als eminenter Kronzeuge gegen den angloamerikanischen Kulturimperialismus und gegen eine als bedrohlich empfundene „Verwestlichung“ ihrer Gesellschaften herangezogen werden. Im Übrigen ließen Euckens Texte ob ihrer Vagheit, zumal nach der Übersetzung in andere Sprachen, wohl beträchtlichen Raum für produktive Missverständnisse und idiosynkratische Aneignungen. An sich lässt es das philosophische Werk Rudolf Euckens größtenteils offen, wie eine künftige gesellschaftliche und politische Ordnung aussehen sollte. Zu Fragen der Staats- und Regierungsform bezog der Philosoph vor 1914 kaum explizit Stellung. Erst im Laufe des Ersten Weltkriegs, vor allem aber in den frühen Jahren der Weimarer Republik, äußerte er sich zu diesen Fragen in expliziter und dezidierter Weise. Eucken ließ dabei kaum einen Zweifel daran, dass er die parlamentarische Demokratie als Regierungssystem rundweg ablehnte. Angelegt war diese Haltung allerdings bereits in seinen philosophischen und geistesgeschichtlichen Abhandlungen der Vorkriegszeit. Der Jenaer Ordinarius bekräftigte hier immer wieder die Überzeugung, dass es die „großen Männer“, die genialen Ausnahmegestalten gewesen seien, die den kulturellen und spirituellen Fortschritt der Menschheit vorangetrieben hätten. Das „Geistesleben“ eines Volkes bemaß sich an den Leistungen einer kleinen Trägerschicht „geistig Hochstehender“, während die große Mehrheit der Bevölkerung nur eine unkreative Masse bildete. Der Weg zu einem wahrhaftigen Leben, zur Erschließung einer „Tatwelt“ beginnt bei Eucken mit der Gewinnung eines „unabhängigen Standpunkts“ gegenüber der Gesellschaft, gegenüber der „Durchschnittsmeinung“. Als pädagogische Maxime mag dies einerseits als Erziehung zu Kritikfähigkeit verstanden werden. Andererseits wurde hier das Bild einer Gesellschaft transportiert, in der eine Minderheit „gebildeter Persönlichkeiten“ sich dem Konformitätsdruck der geistig trägen Mehrheit – der „Spießbürger“ und „Philister“ wie auch der Masse der Ungebildeten und Besitzlosen – ausgesetzt sah. „Geistesfreiheit“ meint bei Eucken daher immer auch den Freiraum, den eine Gesellschaft den geistig

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Tüchtigen einzuräumen hat, um es ihnen zu ermöglichen, ihr Potenzial zu entfalten. In seinen politischen Kommentaren spitzt Eucken diesen Gedankengang zu: Die Demokratie wird ihm hier zur Bedrohung der Freiheit. Wenn staatliches Handeln abhängig werde vom Votum der Vielen, von einer manipulativen Massenpresse und „Sonderinteressen“ verfolgenden Parteien, dann, so kann man Rudolf Eucken verstehen, müsse dies den Gestaltungsspielraum und die Geltungskraft der „geistig hochstehenden“ Wenigen beeinträchtigen. Der von der Gesellschaft unabhängige Beamtenstaat erscheint ihm so als Sphäre und als Garant der Freiheit. Die staatsbürgerlichen Tugenden, wie sie Eucken und seine Anhänger nach 1918 definierten, zielten darauf, den „Staat“ vor dem Zugriff der demokratischen Massengesellschaft zu schützen bzw. seine Unabhängigkeit wiederherzustellen. Der Jenaer Ordinarius führte seinen bildungsbürgerlichen Lesern mitunter recht konkret vor Augen, was sie an dem alten „Kulturstaat“ hatten. Dieser Staat gewährte den in seinen Diensten stehenden Akademikern nicht allein eine abgesicherte materielle Existenz, sondern auch ein hohes Maß an beruflicher Autonomie. Ihr faktisch unkündbarer Beamtenstatus schirmte sie, wenn sie einmal „im Amt“ waren, vor den Unbilden des Arbeitsmarktes ab. Der Kulturstaat garantierte – in dieser Lesart – die Freiheit des Geistes und der Wissenschaft. Er schützte die von ihm besoldeten Lehrer und Forscher vor parteipolitischer Einflussnahme, vor religiösen Eiferern und vor der Abhängigkeit von privaten Geldgebern, vor der Zumutung, die eigene geistige Arbeit in den Dienst utilitaristischer Wirtschaftsinteressen stellen zu müssen. Hier bekommen Euckens Anschauungen vielleicht am deutlichsten den Charakter einer interessengeleiteten Ideologie des „staatsnahen“ Bildungsbürgertums. Doch bei aller bildungsbürgerlichen Staatsnähe war Rudolf Eucken weit davon entfernt, den Staat als Instanz zu denken, dessen Zwecken sich der Einzelne klaglos unterzuordnen hatte. Dafür neigte der „preußische“ Beamtenstaat in seinen Augen dann doch zu sehr zu schablonenhaftem Bürokratismus, zu überzogenen Zwangsmaßnahmen, zur Gängelung und Bevormundung der Bürger. Eucken prägte für eine Geisteshaltung, die den Staat zum Mittelpunkt menschlicher Lebensordnung machen wollte, sogar einen eigenen, negativ konnotierten Terminus: „Politismus“. Völlig indiskutabel erscheint ihm dabei die Vorstellung, dass der Staat Anspruch erheben sollte, das Geistesleben zu bestimmen. Alles in Allem entwirft der Jenaer Philosoph hier ein durchaus ziviles Szenario politischer Ordnung. Idealerweise sollte das öffentliche Leben möglichst der „Selbsttätigkeit“ der Bürger überlassen bleiben. Euckens inbrünstig beschworene „deutsche Freiheit“ enthält jedoch immer auch eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft. Es ist dies die Erwartung, dass die innengeleitete Persönlichkeit sich aus Pflichtgefühl dem für das größe-

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re Ganze als richtig und notwendig Erachtete freiwillig unterwirft. Dieses gedankliche Scharnier produziert, was das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft angeht, in den Texten Euckens und seiner Anhänger unablässig Kippbilder. Auf der einen Seite steht die Aufforderung an den Einzelnen, einen unabhängigen Standpunkt gegenüber der Gesellschaft (wahlweise auch der „Gemeinschaft“) zu gewinnen und sein Streben an „höheren“ Wahrheiten auszurichten. Die von Eucken inspirierte noologische Pädagogik macht diesen Individualisierungsprozess zum Leitbild schulischer Erziehung. Dagegen räumt sie der Sozialisierungsfunktion der Schule eine allenfalls untergeordnete Bedeutung zu, verwirft Disziplinierung und Zwang und grenzt sich dezidiert von einer auf die Erziehung zur Gemeinschaft ausgerichtete „Sozialpädagogik“ ab. Wenn aber Eucken in seinen Hymnen an die „deutsche Freiheit“ während des Ersten Weltkriegs den „Gehorsam des freien Mannes“ feiert, der sich freiwillig einer selbst auferlegten Pflicht fügt, so hat er damit Disziplin und Zwang gewissermaßen internalisiert. Freiheit ist für den Jenaer Philosophen kein bedingungsloses persönliches Grundrecht, sondern sie steht als „innere Freiheit“ am Ende eines Prozesses individueller Persönlichkeitsbildung. Freiheit wird so, wie er in einer Anwandlung von Orwell’schem Doublespeak formuliert, zum „Prinzip strengster Bindung“. Damit kippt die Denkfigur wieder auf die andere Seite. Wenn es um den Einsatz für ideelle, „höhere“, Ziele ging, so schien in Euckens Denken die „freiwillige“ Selbst-Hingabe des Individuums an „das Ganze“ weder Maß noch Grenze zu kennen. Nachdem der Philosoph die deutsche Kriegsführung im Ersten Weltkrieg in den Rang einer Menschheitsmission erhoben hatte, wurden seine Landleute für ihn zu Werkzeugen einer höheren Ordnung, von denen selbstloser Einsatz und grenzenlose Opferbereitschaft erwartet wurde. So konnte wiederum die Kriegsniederlage als moralisches Versagen, als Ausfluss kollektiver Charakterschwäche gedeutet werden. Die Gründung des Euckenbundes 1919/20 war denn auch von Anfang an rhetorisch eng verkoppelt mit dem Einsatz für die besiegte Nation und deren künftigen Wiederaufstieg. Am Ausgangspunkt stand für Rudolf Eucken und seine Anhänger eine Version der „Dolchstoßlegende“, an die so viele „national gesinnte“ Bildungsbürger so gerne glauben mochten. Die deutsche Niederlage galt ihnen als Folge eines von der „Heimatfront“ ausgehenden moralischen Zusammenbruchs. Es traten nun die negativen Seiten „des Deutschen“ als personalisiertem Ideal-Konstrukt in den Vordergrund des Diskurses: sein notorischer Hang zur Uneinigkeit, seine politische Naivität im Umgang mit den Vertretern anderer Nationen, seine Neigung, die Dinge so gründlich zu durchdenken, dass er darüber das Handeln vergaß. An solchen Stereotypen arbeitete sich das staatsbürgerliche Erziehungsprogramm der lokalen Euckenbünde ab.

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Die deutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit war in den Verlautbarungen des Bundes zu großen Teilen seelisch krank und geistig-moralisch weit vom rechten Weg abgekommen. An dieser tristen Gegenwart, gegen die nun das vergangene Deutschland der Zeit vor 1914 in goldenem Licht erscheinen mochte, konkretisierten sich die kulturkritischen Diagnosen der Euckenianer. Für den sittlich-moralischen Niedergang der deutschen Gesellschaft ließen sich, so schien es, zahllose Symptome anführen: eine um sich greifende sexuelle Freizügigkeit, weithin grassierende „Gottlosigkeit“, die rücksichtslose Gier der „Inflationsgewinnler“, bürgerkriegsähnliche Unruhen und endemische Streiks. Dazu kam die politische Instabilität der neuen Demokratie, in der die Regierungen von Parteien abhingen, deren Weltanschauungen inkompatibel mit einander waren und deren politisches Handeln vornehmlich von partikularen Machtinteressen und den materiellen Wünschen ihrer Wählerklientel geleitet schien. Eine sachorientierte Politik, ein kraftvolles Auftreten nach außen, überhaupt ein einheitlicher Grundzug staatlichen Handelns schienen unter diesen Umständen nicht mehr möglich zu sein. Nun machten sich zwar in einigen Ortsgruppen des Euckenbundes Bestrebungen geltend, offen Front gegen diejenigen politischen Kräfte zu beziehen, denen die Hauptschuld an der Misere gegeben wurde, den „Marxisten“, den „Demokraten“ und den „Ultramontanen“. Doch insgesamt nahm der Bund für sich in Anspruch, eine „unpolitische“ Haltung zu vertreten. Diese Maxime befolgte der Euckenbund insofern, als er im Allgemeinen nicht offen für oder gegen bestimmte Parteien auftrat oder zu aktuellen politischen Debatten Stellung nahm. Ein deutlich hörbarer politischer Grundton durchzog aber dennoch die Verlautbarungen der Euckenbewegung: Die Weimarer Demokratie galt ihr als Quelle des Übels, ihre Überwindung als Voraussetzung für eine grundlegende Besserung und für den Wiederaufstieg der Nation. Das Programm, das der Euckenbundes bei seiner Gründung verkündete, war ebenso anspruchsvoll in seinen Zielen wie diffus in seiner Umsetzung. Auf der Grundlage der Lehren Rudolf Euckens wollte man eine weltgeschichtliche Bewegung in Gang setzen, die Krise der Moderne durch eine neue sinnhafte Lebensordnung überwinden und damit gleichzeitig die geistig-moralische Gesundung des deutschen Volkes in die Wege leiten. Wie dies im Einzelnen bewerkstelligt werden sollte, blieb allerdings weitgehend der Phantasie der Beteiligten überlassen. Die Aufforderung zur „Sammlung der Geister“ deutet an, dass man von der Vorstellung ausging, es gebe in den gebildeten Kreisen viele Gleichgesinnte, die sich unter der Ägide einer allseits anerkannten, charismatischen Integrationsfigur wie dem ehrwürdigen Philosophen und Nobelpreisträger Rudolf Eucken zu einer breiten Bewegung zusammenschließen würden. Doch stellte sich dies bald als ziemlich naive Fehleinschätzung heraus. Es gab viele andere

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Gruppierungen – Gesellschaften und Bünde, die sich auf Fichte, Kant, Goethe, Luther, Kepler u. a. beriefen –, die mit einem ähnlichem Anspruch wie der Euckenbund auftraten. Als Integrations- und Leitfigur war der Jenaer Philosoph dann doch ein zu idiosynkratischer Denker, der es zu sehr liebte, ex cathedra „die Wahrheit“ zu verkünden, und im Zweifelsfall auf der „Scheidung der Geister“ bestand. Die „Sammlung der Geister“ implizierte wohl auch, dass Jeder, der sich dem Euckenbund anschloss, zunächst einmal auf seinem Tätigkeitsfeld im Sinne der Lehren Rudolf Euckens wirken und für sie in seinem Umkreis werben sollte. Einige Ortsgruppen machten sich auch systematisch Gedanken, welche Folgerungen aus den Schriften des Meisters zu ziehen und wie diese praktisch umzusetzen seien. Doch nur wenige Mitglieder des Bundes waren tatsächlich in einer Position, um über einen bescheidenen, lokal begrenzten Gestaltungsraum hinaus Einfluss nehmen zu können. Und ein Gustav Stresemann wird sich wiederum wohl kaum so mit den Zielen des Euckenbundes identifiziert haben, dass er sie zum Leitstern seines politischen Wirkens erhoben hätte. Auch die Versuche, die in der Bewegung prominent vertretenen Berufsgruppen in Arbeitsgemeinschaften zu sammeln, um mit vereinter Kraft ehrgeizige Reformprojekte anzuschieben, verliefen offenkundig enttäuschend. Noch trüber sah es für die Bestrebungen aus, mit einem neuen überkonfessionellen Christentum der künftigen Lebensordnung ein ethisches Fundament zu geben. Vor 1914 mochte es scheinen, als ob Rudolf Euckens religionsphilosophische Überlegungen und die daraus gezogenen theologischen Konsequenzen im Trend der Zeit liegen würden. Nach 1918 saßen Eucken und seine Anhänger religionspolitisch wohl zwischen allen Stühlen. Der bedrohliche Machtgewinn der politischen Kräfte, die eine Zurückdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben anstrebten, zog seit der Revolution scharfe Frontlinien, die im Protestantismus die konservative Orthodoxie stärkten. Für ein Reformprogramm, das eine stärkere Trennung von Kirche und Staat forderte, Simultanschulen befürwortete oder den Religionsunterricht entkonfessionalieren wollte, blieb unter diesen Umständen wenig Raum. Eine neue Generation protestantischer Theologen fand offenbar den radikalen Fundamentalismus der Dialektischen Theologie attraktiver als den etwas altmodisch gewordenen liberalen Kulturprotestantismus, zu dessen Vertretern auch ein Rudolf Eucken – trotz seiner eigenen Vorbehalte – gezählt wurde. Gänzlich irreal muten die weit gesteckten Erwartungen an, die der Jenaer Philosoph und einige seiner „Jünger“ in den frühen 1920er Jahren hinsichtlich der weltweiten Ausbreitung der Euckenbewegung hegten. Wer glaubte, dass ausgerechnet Euckens „deutscher Idealismus“, ein Kernstück der Kulturkriegsideologie, nun kurz nach dem verlorenen Krieg die angelsächsische Welt im Sturm erobern würde, der musste in wahrlich über-

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weltlichen Gefilden schweben. An der Basis der Bewegung, in den lokalen Euckenbünden, war man wiederum größtenteils mit sich selbst beschäftigt. Meistens stand wohl das gemeinschaftliche Studium der Werke Euckens im Mittelpunkt der Aktivitäten. An die Öffentlichkeit traten die Ortsgruppen des Bundes allenfalls als Kulturvereine, die ein allgemeines Vortragsprogramm boten. Allem Anschein nach blieben Einfluss und Wirksamkeit der Euckenbewegung in der deutschen Gesellschaft des ausgehenden Kaiserreich und der Weimarer Zeit marginal. Der Jenaer Philosoph und seine Anhänger können aber doch in gewisser Weise pars pro toto für die Geister stehen, zu deren Sammlung sie 1913/14, 1919/20 und 1931 aufriefen. Solche Appelle zielten auf einen common sense im gebildeten Bürgertum, der wohl nicht nur von den Euckenianern imaginiert war. Zwar fiel die Resonanz auf diese Aufrufe eher enttäuschend aus. Viele der angesprochenen „Geister“ schreckten vielleicht auch vor dem persönlichen Engagement in einer etwas sektenhaft anmutenden Organisation wie dem Euckenbund zurück. Doch wurden Rudolf Euckens Bücher auch noch in den 1920er Jahren weit über den Kreis seiner aktiven Anhänger hinaus gelesen und der Philosoph meldete sich regelmäßig in auflagenstarken und meinungsführenden Tageszeitungen und Zeitschriften zu Wort. Die „Zielgruppe“ der Geister-Aufrufe lässt sich zunächst einmal – ganz pauschal gesprochen – im protestantischen Bildungsbürgertum vermuten. Man kann diese Kennzeichnung noch etwas in dem Sinne spezifizieren, als „protestantisch“ hier mehr meint als eine bloß formale Mitgliedschaft in der jeweiligen Landeskirche. Das idealtypische Publikum, das Eucken ansprach, fühlte sich wohl der reformatorischen Tradition verbunden, suchte aber nach einer zeitgemäßeren, „glaubwürdigeren“ Version des protestantischen Christentums. Dem „Bildungsbürgertum“ kann man die Anhänger Rudolf Euckens zunächst einmal deswegen zurechnen, weil sie wohl ganz überwiegend eine höhere Schule absolviert hatten und einem akademischen Beruf nachgingen bzw., im Falle der zahlreich vertretenen nicht-berufstätigen Ehefrauen und Witwen, einen Mann geheiratet hatten, auf den diese Kriterien zutrafen. Auch dieser Begriff lässt sich spezifischer fassen, sind doch die Bezüge zur humanistischen Bildungstradition in Euckens Lehren und Anschauungen offenkundig. „Bildung“ wird hier als Prozess verstanden, in dessen Verlauf sich der Einzelne in der Auseinandersetzung mit den „wertvollen“ Hervorbringungen des menschlichen Geisteslebens zur moralisch gefestigten, innengeleiteten „Persönlichkeit“ entwickelt, die ihr Handeln „idealistisch“ an für wahr erkannten Prinzipien ausrichtet und dabei „egoistische“, „materielle“ Interessen zurückstellt. Solche Denkfiguren dürften vor und auch noch nach dem Ersten Weltkrieg in Akademikerfamilien verbreitet oder ihren Angehörigen zumindest von Jugend an vertraut gewesen sein.

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Können wir demnach die Kulturkritik, die Kritik an der „Moderne“, wie Rudolf Eucken und seine Anhänger sie formulierten, als Symptom einer Krise des Selbstverständnis des deutschen Bildungsbürgertums lesen, als wahrgenommenen oder tatsächlichen gesellschaftlichen Geltungsverlust, gar als „kulturelle Enteignung“? Die Befunde der vorliegenden Studie verweisen in dieser Hinsicht zunächst einmal auf eine deutliche Zäsur, die vom Ersten Weltkrieg und seinen Folgen gesetzt wurde. Vor 1914 finden sich in den Texten Euckens oder der von ihm inspirierten Pädagogen kaum Aussagen, die sich als Kritik am Niedergang der Bildung oder als Klage über eine abnehmende sozialen Geltungskraft der Gebildeten deuten ließen. Kritik richtete sich eher auf den Umstand, dass das humanistische Bildungskonzept im preußisch-deutschen Schulsystem nie richtig implementiert und bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die staatliche Kultusbürokratie geradezu in ihr Gegenteil verkehrt worden sei. Allenfalls könnte man hinter der nachdrücklichen Ablehnung einer „utilitaristischen“ Ausrichtung von Schule und Hochschule auf die vorrangige Vermittlung beruflich verwertbaren Wissens bildungsbürgerliche Statusängste vermuten. Auch die Angst vor einer „kulturellen Enteignung“ scheint zumindest bei Rudolf Eucken und seiner Familie angesichts ihres Engagements für die bildende Kunst der „klassischen Moderne“ nicht sonderlich ausgeprägt gewesen zu sein. Der Jenaer Ordinarius verbreitete in dieser Hinsicht eher Optimismus. Für ihn befand sich das künstlerisch-kulturelle Leben um die Jahrhundertwende im Aufschwung, die Verödung und Verflachung der Zeit nach der Reichsgründung waren überwunden. Man mag aus Rudolf Euckens Vorbehalten gegen eine von Naturwissenschaft und Technik geprägte moderne „Arbeitskultur“ ein gewisses soziales Ressentiment des Vertreters einer geisteswissenschaftlichen Bildungselite herauslesen. Doch erst seit dem November 1918 behandelten Eucken und die Euckenianer die Krise der Kultur eindeutig und explizit als Krise der bildungsbürgerlichen Kulturträger. Das deutsche Bildungsbürgertum sah sich nun von einer ziemlich handfesten ökonomischen Enteignung bedroht und hatte wohl auch einigen Grund dazu. Die Inflation fraß die angesparten Vermögen auf, die bislang die materielle Existenz der verbeamteten und freiberuflichen Akademiker abgepolstert hatten. Die „geistige Arbeit“ schien jetzt, wo die demokratischen „Massenparteien“ das Sagen bei der Aufstellung von Besoldungsordnungen hatten, rasant an Wert zu verlieren. Die in Versailles auferlegten Reparationslasten würden es zudem, so die Befürchtungen, dem deutschen Staat auf längere Sicht unmöglich machen, seinen kulturellen Aufgabensetzungen gerecht zu werden. Selbst in der vergleichsweise sicher etablierten Professorenfamilie Eucken dachte man um 1920 ernsthaft darüber nach auszuwandern.

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Es dürfte daher kein Zufall sein, dass in der Revolutions- und Inflationszeit die Invektiven gegen die „ungebildete Masse“ in den Schriften Rudolf Euckens und der Publizistik des Euckenbundes einen mitunter schrillen Höhepunkt erreichten. Die „Kulturkrise“ und das Schicksal des Bildungsbürgertums erschienen nun unentwirrbar miteinander verwoben. Dies blieb auch nach dem Ende der Inflationskrise so. Die kulturtragenden Schichten, so verkündete Walter Eucken auf einer Hauptversammlung des Bundes apodiktisch, seien nicht mehr vorhanden. Ganz verschwunden waren die „geistig hochstehenden Persönlichkeiten“ augenscheinlich dann doch nicht. Sie wurden seit der Mitte der 1920er Jahren in der Führung des Euckenbundes aber zunehmend elitär gedacht und fanden sich nun auch gerne im Wirtschaftsbürgertum. Rudolf Eucken, der selbst dem „gebildeten Mittelstand“ entstammte und seine Kindheit und Jugend unter prekären Verhältnissen verlebte, hatte im Umgang mit Lehrern und „kleinen“ Beamten offenkundig wenig Berührungsscheu gezeigt. Seiner Ehefrau, die sich gerne einen hanseatischen Patrizierstammbaum imaginierte, und seinen im Professorenhaushalt aufgewachsenen Kindern war es dagegen sichtlich peinlich, einer Bewegung vorzustehen, die vornehmlich aus Volksschullehrern und „alten Damen“ zu bestehen schien. Der „gebildete Mittelstand“, ob verarmt oder nicht, stand für die Erben des Philosophen unter dem Verdacht, allenfalls „halbgebildet“ zu sein. Für die These, dass das deutsche Bildungsbürgertum – ob als „gebildeter Mittelstand“ oder als gehobene Akademikerschicht – eine Mitverantwortung am Scheitern der Weimarer Demokratie trug, bietet das Fallbeispiel der Euckenbewegung sicherlich hinreichend empirische Evidenz. Ein „Vernunftrepublikanismus“, wie er Gustav Stresemann nachgesagt wird, ist bei dessen Mit-Euckenbündlern selbst in den „guten Jahren“ der Republik kaum zu entdecken – sieht man einmal von einigen Chemnitzer Volksschullehrern mit DDP- oder SPD-Mitgliederausweisen ab. Im Gegenteil, es herrschte unter den Anhängern Rudolf Euckens weitgehender Konsens darüber, dass eine „Gesundung“ der politischen Verhältnisse erst nach der Abwicklung des „Weimarer Systems“ eintreten könne. Wesentlich ambivalenter fällt dagegen die Antwort auf die Frage aus, welchen Anteil das Bildungsbürgertum, repräsentiert von der Euckenbewegung, am Aufstieg des Nationalsozialismus hatte. Ein expliziter Kommentar des Jenaer Philosophen zur frühen NS-Bewegung ist nicht überliefert. Aus seinen Stellungnahmen gegen den nach 1918 um sich greifenden biologistisch-rassistischen Determinismus, auch gegen den grassierenden Antisemitismus kann man aber wohl schließen, das Eucken dem völkischen Radikalismus ablehnend gegenüber stand. Für seine Anhänger galt dies aber nicht unbedingt; zumindest einige der lokalen Euckenbünde scheinen in den ersten Jahren den Aktivismus ih-

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res Meisters in völkischen Lesarten interpretiert zu haben. Die Leitung des Bundes sah bis Mitte der 20er Jahre offenbar wenig Anlass, sich von solchen Tendenzen zu distanzieren oder dagegen vorzugehen. Erst der Versuch, die Gesamtbewegung politisch eindeutig am äußeren rechten Rand zu positionieren, führte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre dazu, dass der Euckenbund und die völkischen Euckenianer getrennte Wege gingen. Grundsätzlich war man in Jena aber geneigt, auch die Anhänger völkisch-radikalnationalistischer Positionen zum eigenen politischen Lager zu zählen. Im Zweifelsfall mochte man ihnen zugute halten, dass sie, angetrieben von besonders intensiver und idealistischer Liebe zu Volk und Vaterland, über das Ziel hinausgeschossen waren. In ähnlicher Weise reagierte die Führung des Euckenbundes zunächst auf den Aufstieg des Nationalsozialismus zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft. Die NSDAP wurde augenscheinlich recht umstandslos zum eigenen politischen Lager gerechnet. Das Phänomen einer massenwirksamen Rechtspartei, die spektakuläre Wahlerfolge einfuhr, gab der Euckenbund-Chefin Anlass zu der Hoffnung, die verhasste Weimarer Demokratie könnte nun endlich beseitigt werden. Auch die Rhetorik idealistischer Gesinnungsethik, mit der die neue Bewegung sich „hohe“, „nationale“ Ziele setzte und sie mit kompromissloser Entschiedenheit zu verfolgen schien, sprach wohl nicht wenige Euckenianer an. Die Witwe des Philosophen deutete die NS-Bewegung und ihre Anziehungskraft auf die Studenten und Oberschüler als erfreuliches Zeichen dafür, dass sich unter der jüngeren Bildungsbürger-Generation eine idealistische Erneuerung anbahnte, wie sie Rudolf Eucken immer propagiert hatte. Allerdings sind solche Äußerungen keineswegs als kritiklose Zustimmung zur NS-Bewegung und ihrer Ideologie zu lesen. Auch wenn Irene Eucken und ihre Tochter in den frühen 1930er Jahren das ein oder andere Mal ihre Stimme für die NSDAP abgaben, gewisse bildungsbürgerliche Vorbehalte gegen die „Nazis“ ließen sich nicht ganz beiseite schieben: das dürftige intellektuelle Niveau und der kleinbürgerliche Hintergrund ihrer Anhänger, das als radauhaft empfundene Auftreten Hitlers und anderer Parteiführer. Nachdem man bereits 1930/31 und dann massiv ab Spätsommer 1932 Kostproben nationalsozialistischer Herrschaftspraxis erhalten hatte, schwanden in der Jenaer Euckenvilla auch die Reste von Begeisterung über die NS-Bewegung. Die rabiaten personellen „Säuberungen“ des Staatsapparats von Angehörigen der Linksparteien mochten wohl Irene Euckens Beifall finden. Sobald sich der Zugriff der neuen Machthaber in Thüringen aber auf die Gestaltungsräume richtete, in denen das gehobene Bildungsbürgertum bislang weitgehende Autonomie genoss, begann es der Professorenwitwe zu dämmern, dass man mit den Nazis möglicherweise von einem durchaus erträglichen Regen in eine sehr ungemütliche Traufe geraten würde. Irene Euckens „Kinder“ in der Freiburger Re-

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daktion der Tatwelt hatten wohl, was die NS-Bewegung betrifft, die zwischenzeitliche Euphorie der Jenaer Euckens nicht geteilt. Bei ihnen überwog offenbar von Anfang an das Misstrauen gegen eine populistische Massenbewegung, die ihre Heilserwartungen auf einen alles durchdringenden Zwangsstaat richtete. Eine deutliche Position bezog die Zeitschrift des Euckenbundes aber nicht gegenüber dem Nationalsozialismus. Das Gebot parteipolitischer Neutralität im eigenen Lager brachte es mit sich, dass in der Tatwelt kaum einmal Ross und Reiter beim Namen genannt wurden. Zudem erschienen hier am Ende der 1920er und zu Beginn der 30er Jahre etliche Artikel, deren Autoren mehr oder minder offen autoritäre „Lösungen“ propagierten, bisweilen sogar mit dem italienischen Faschismus liebäugelten. War womöglich eine Diktatur akzeptabel, um die politische Krise zu beenden oder um Schlimmeres – den „Bolschewismus“ – zu verhindern? Als ein solches Szenario seit Ende Januar 1933 Gestalt annahm, reagierte der weitere Führungskreis des Euckenbundes mit einer merkwürdigen Mischung aus Euphorie und Panik. Erstere Gefühlslage herrschte vor, solange man sich einreden konnte, es vollziehe sich gerade die seit 14 Jahren sehnlich erwartete „nationale Revolution“. Je klarer es aber wurde, dass die bürgerlichkonservativen Kräfte in der Regierung die Nationalsozialisten nicht in Schach würden halten können, desto mehr begann die zweite Emotion zu überwiegen. Panik erzeugte bei den zahlreichen staatsabhängigen Bildungsbürgern unter den Euckenianern vor allem die Vorstellung, dass die Nazis den öffentlichen Dienst nun rücksichtslos mit ihren Leuten besetzen würden. Aus der Sorge um die eigene politische „Tragbarkeit“ speisten sich wohl auch z. T. die Versuche aus den Reihen der Euckenbund-Aktivisten, den Bund durch ein öffentliches Bekenntnis zum neuen Regime „gleichzuschalten“, ja ihren Meister posthum zum Künder des Nationalsozialismus zu erklären. Ganz abwegig war das Letztere nicht. Es ist durchaus nachvollziehbar, das es einem Teil seiner Anhänger erscheinen mochte, als öffne sich nun das Tor zu der neuen Lebensordnung, die Rudolf Eucken vorgeschwebt hatte. Hatte der Nationalsozialismus nicht eine mächtige Bewegung hervorgebracht, getragen von einem aktivistischen Ethos im idealistischen Einsatz für Volk und Nation? Legte nicht der „neue Staat“ besonderen Wert auf die Pflege und Entwicklung deutscher Eigenart? Entfaltete sich nun nicht die ganzheitliche Vision des Meisters aus Jena, wo sich alles nach einheitlichen Prinzipien gestaltete und auf gemeinsame Ziele ausrichtete? Die entscheidenden Leute in der Euckenbewegung schlossen sich dieser Lesart allerdings nicht an. Irene Eucken, ihre beiden Söhne, ihre Freiburger Schwiegertochter und wohl auch ihre Tochter stimmten im Frühjahr 1933 darin überein, dass die Philosophie Rudolf Euckens in wesentlichen Punkten nicht

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mit dem Nationalsozialismus in Einklang zu bringen war. Den Rassenlehren hatte der Philosoph zu Lebzeiten selbst energisch widersprochen. Sie vertrugen sich definitiv nicht mit seinem Bild vom Menschen als „Geisteswesen“, das berufen ist, sich von naturgegebenen Determinanten zu befreien. Auch Euckens Vision eines neuen „geistigen“ Christentums konnte man wohl kaum ernsthaft mit der völkisch-rassistischen Religion der „Deutschen Christen“ verwechseln, die den christlichen Universalismus zur Disposition stellte. Weder in Jena noch in Freiburg wollte man im NS-Regime den Staat erkennen, auf den sich die vom Euckenbund oft geforderte „Staatsgesinnung“ bezog. Das parlamentarische System, das den Parteien den Zugriff auf Regierung und Verwaltung eröffnet hatte, war zwar beseitigt worden, doch nun war der Staat augenscheinlich zur Beute einer einzelnen Partei geworden. Geradezu als Schock wirkte im Frühjahr 1933 auf etliche Euckenianer die Erkenntnis, dass der nationalsozialistische Staat dabei war, auch das „Geistesleben“ gleichzuschalten und damit eine elementare Grundlage bildungsbürgerlicher Existenz zur Disposition zu stellen. Der Modus Vivendi mit dem alten Obrigkeitsstaat hatte letztlich auf dem Vertrauen gegründet, dass eine Beamtenschaft, die von bildungsbürgerlich sozialisierten Verwaltungsjuristen geleitet wurde, auf die Belange und Freiheiten der Gebildeten kulant Rücksicht nehmen würde. In Rudolf Euckens politischer Publizistik der Kriegs- und Nachkriegszeit und ebenso in den in der Tatwelt vor und nach 1933 veröffentlichten staatsphilosophischen Texten findet sich häufig eine merkwürdige Mischung ziviler Grundüberzeugungen und autoritärer Impulse. „Der Staat“ sollte einerseits in der Sphäre des Geisteslebens größtmögliche Freiheit gewähren, andererseits aber in anderen Bereichen der inneren und äußeren Politik möglichst kraftvoll und ungehindert von parlamentarischer Kontrolle agieren. Die „deutsche Freiheit“, die der Jenaer Philosoph in ausdrücklicher Abgrenzung zu einem „westlichen“ Freiheitsbegriff beschwor, glaubte, auf formale Grundrechtsgarantien verzichten zu können. Dem Einzelnen verfassungsmäßig fixierte Grund- und Freiheitsrechte einzuräumen, schien ihm zum egoistischen Missbrauch dieser Rechte einzuladen. Wie viel Freiheit der Staat auf den verschiedenen Gebieten jeweils gewährte und wie die Gesellschaft und ihre Vertreter in die Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse einbezogen sein sollten, erscheint hier oft eher eine Frage der Zweckmäßigkeit als des Prinzips. Dass der autoritäre Staat ohne verfassungsmäßige Checks and Balances auch die Geistesfreiheit abschaffen könnte, wurde im Umkreis der Euckenbewegung augenscheinlich erst problematisiert, als es zu spät war. Die Befunde der Studie zur Euckenbewegung und ihrer diversen institutionellen Ausformungen im Jahrzehnt nach 1933 verweisen auf verschiedene Strategien und Modi, mit denen sich Bildungsbürger im Nationalsozialismus einzu-

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richten versuchten. Einem Teil der 1933 noch aktiven Amtsträger des Euckenbundes scheint es wenig Mühe bereitet zu haben, sich auf die Sprachregelungen des Regimes einzuschwingen. Die wenigen Ortsgruppen, die nach 1933 noch öffentliche Aktivität entwickelten, fügten sich wohl recht nahtlos in das kulturell-ideologische Anforderungsprofil des NS-Staates ein. Ihnen ging es augenscheinlich vor allem um den Nachweis, dass die Lehren ihres verstorbenen Namensgebers mit dem Nationalsozialismus kompatibel waren. Gerade die Volks- und Oberschullehrer, die seit der Vorkriegszeit gewissermaßen das personelle Rückgrat der Euckenbewegung gebildet hatten, empfanden sich in ihrer beruflichen Existenz besonders bedroht. Sie standen als Erzieher der Jugend unter verschärfter Beobachtung. Schon der bloße Anschein, sie ständen nicht voll und ganz auf dem Boden des nationalsozialistischen Staates und seiner Weltanschauung, konnte sie womöglich ihre Stellung kosten. Die Hochschullehrer, die im Euckenbund eine eher marginale Rolle gespielt hatten, waren mit der Eröffnung des Rudolf-Eucken-Hauses und der Lancierung der Tatwelt seit den ausgehenden 1920er Jahren stärker in den Blickpunkt der Untersuchung gerückt. Unter den Jenaer Universitätsprofessoren scheint vor 1933 im Allgemeinen wenig originäre Begeisterung für den Nationalsozialismus geherrscht zu haben. Dies dürfte sich auch nach der „Machtergreifung“, angesichts der massiven Eingriffe der Nationalsozialisten in die Selbstverwaltung der Ordinarien-Universität und der faktischen Aufhebung der Freiheit von Lehre und Forschung, nicht unbedingt geändert haben. Die Kritik an der Ideologisierung der Wissenschaft zog sich denn auch in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre als eine Art Grundrauschen durch die Jenaer Tagungen im Euckenhaus. Dass die Widerständigkeit der etablierten Hochschullehrer gewöhnlich nicht über ein solches leises Murren hinauskam, lag möglicherweise weniger an der unmittelbaren Gefährdung ihrer beruflichen Existenz. Was ein unerschrockener Ordinarius sich an offener Kritik im Hörsaal „leisten“ konnte, wenn die Kollegen mitzogen, demonstrierte Walter Eucken in eindrucksvoller Weise. Der Hochschulund Forschungsbetrieb konstituierte aber nun einmal ein Handlungsfeld, auf dem ein intensiver Wettbewerb um knappe Ressourcen und Positionen herrschte. Um in diesen Wettbewerb erfolgreich zu bestehen, war es ratsam, durch „Fühlungnahme“ und Vernetzung mit bildungspolitischen Entscheidungsträgern „soziales Kapital“ anzuhäufen. Ebenso wenig konnte es schaden, sich in den eigenen Verlautbarungen an herrschende Leit-Diskurse anzukoppeln. Irene Euckens Beschwerden über den notorischen Drang der deutschen Tatwelt-Autoren, „Politik“ in ihre eingesandten Artikel zu mischen, deuten an, dass diese habituelle Praxis noch bestärkt wurde, je mehr sich Gliederungen und Instanzen der NSDAP auf diesem Feld bemerkbar machten.

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Wenn sich auch der innere Führungskreis der mittlerweile zum „Familienunternehmen“ mutierten Euckenbewegung in der Ablehnung solcher ideologischer Anbiederung einig war, so zog man doch für das weitere öffentliche Wirken unterschiedliche Konsequenzen. Für die Tatwelt-Herausgeberin Edith Eucken-Erdsiek und ihren Ehemann Walter Eucken machte die publizistische Arbeit unter den Bedingungen einer vom Regime gesteuerten und überwachten „öffentlichen Meinung“ keinen Sinn mehr. Als ihnen die redaktionelle Dispositionsfreiheit aufgekündigt wurde, zogen sie sich folgerichtig zurück und kommentierten das publizistische Geschehen fortan aus dem Off. Irene Eucken und ihr Tochter Ida suchten dagegen nach einem Weg, die Arbeit des Bundes weiterzuführen, ohne sich als Propagandisten der NS-Ideologie zu kompromittieren. Es gelang ihnen auch tatsächlich, ein Arrangement zu etablieren, das ihnen den Freiraum gab, dieses Ziel halbwegs glaubwürdig zu verfolgen. Es lässt sich demnach zeigen, dass es solche „nicht-gleichgeschalteten“ Rudimente „bürgerlicher Öffentlichkeit“ im nationalsozialistischen Deutschland durchaus gab. Die Untersuchung hat aber auch angedeutet, dass diese Freiräume nur unter großem Aufwand und ständigem Kampf aufrecht zu erhalten waren. Auch schien es für den Betrieb des Euckenhauses und die Herausgabe der Tatwelt unabdingbar zu sein, dem Regime immer wieder augenfällig zu demonstrieren, dass man ihm für seine Außendarstellung von Nutzen war. Dass die Leitung des Jenaer Ausländerhauses und die Redaktion der Euckenbund-Zeitschrift ihrem ausländischen Publikum letztlich falsche Tatsachen vorspiegelten, indem sie das „neue Deutschland“ in harmloser Normalität präsentierten, wurde augenscheinlich nicht weiter problematisiert.

Anhang 1 Unveröffentlichte Quellen Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin: Bestand RZ 503: Kunst und Wissenschaft (bis 1926), Nr. R 65523 Bestand RZ 617: Legationskasse – Kulturpolitische Ausgaben 1939–1944, Nr. 144828

Staatsbibliothek, Berlin: NL 196: Nachlass Gotthard Günter, Nr. 774

Universitätsarchiv, Jena: Bestand B. A., Nr. 1918 Bestand B. A., Nr. 2132 Bestand U Abt. II, Nr. 13

Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek, Jena: Nachlass Rudolf Eucken Nachlass Walter Eucken

Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München: Abt. I: Allgemeines Staatsarchiv: Staatsministerium für Unterricht und Kultus: MK 40515: Euckenbund Ortsgruppe München 1921–1936

Bayerische Staatsbibliothek, München: Crusiusiana I: Korrespondenz: Rudolf Eucken Kraus-Gesellschaft, Nr. III,9; Nr. IV,12

Stadtbibliothek München – Sammlung Monacensia: Nachlass Georg Kerschensteiner, Nr. B 234: Eucken, Rudolf Archiv Otto von Taube, Nr. B 390: Euckenbund

Universitätsbibliothek München: Nachlass Frohschammer, 4° Cod. ms. 917m 86, Eucken

Leo Baeck Institute, New York: Julius and Margarete Goldstein Collection: Box 1/26 (Tagebücher Julius Goldstein) Box 2/19; Box 3/11 (Korrespondenz Julius und Margarete Goldstein)

https://doi.org/10.1515/9783110687033-009

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St. Andrews University Library Special Collections: Friedrich von Hügel Papers, msB3280.H8

Thüringisches Hauptstaatsarchiv, Weimar: Reichsstatthalter in Thüringen 1933–1945, Nr. 437 Thüringisches Amtsgericht Jena, Nr. 89 Thüringisches Volksbildungsministerium, Nr. C 86, C 220, C 224 und C 449

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498  Anhang

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2 Literatur 

499

Julius Goldstein, Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung des Problems von Leben und Wissenschaft, Leipzig 1911. Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), George Tyrrell über seinen Ausschluss aus dem Jesuitenorden. Vier unveröffentlichte Briefe George Tyrrells an Rudolf Eucken, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 5, 1998, S. 228–247. Eberhard Grisebach, Konfliktpädagogik als Friedensforschung. Texte aus dem Nachlass, hg. von Michael Freyer, Reinstetten 1978. Eberhard Grisebach, Kulturphilosophische Arbeit der Gegenwart. Eine synthetische Darstellung ihrer besonderen Denkweisen, Habilitationsschrift Jena, Weida 1913. Eberhard Grisebach, Kultur als Formbildung, Diss. Jena 1909, Weida 1910. Gotthard Günther, Die philosophische Einheit der Wissenschaften, in: Die Tatwelt 13, 1937, S. 79–92. Kurt Heinrich [= Walter Eucken], Die geistige Krise und der Kapitalismus, in: Die Tatwelt, 2, 1926, S. 13–16. Kurt Heinrich [= Walter Eucken], Zur Kritik des Sozialismus, in: Die Tatwelt 1, 1925, S. 37–42. Kurt Heinrich [= Walter Eucken], Religion und Sozialismus, in: Die Tatwelt 3, 1927, S. 127–132. Kurt Heinrich [= Walter Eucken], Sozialismus und Aufklärung. Kritische Betrachtungen zu Sombarts „Sozialismus“, in: Die Tatwelt 1, 1925, S. 29–32. Emma Herrmann, Eucken and Bergson. Their Significance for Christian Thought, London 1912. Herrn Woodrow Wilson, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, hg. von der Deutschen Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung, Berlin 1919 Ernst von Hippel, Rechtswissenschaft und Lebenspraxis, in: Die Tatwelt, 15, 1939, S. 73–79. Illustrirte Zeitung, Leipzig Band 149, Nr. 3856, 24.5.1917, S. 698f. Abel J. Jones, Rudolf Eucken. A Philosophy of Life, 1912. Bruno Jordan, Der deutsche Idealismus und die Gegenwart, in: Die Tatwelt 11, 1935, S. 89–97. Bruno Jordan, Philosophie und Gemeinschaft, in: Die Tatwelt 4, 1928, S. 41–51. Jüdische Zeitung für Ostdeutschland, Breslau, April/Mai 1924. Edgar Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung. Eine Selbstbesprechung vom Verfasser, in: Die Tatwelt 4, 1928, S. 90–95. Edgar Jung, Die Polarität zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft, in: Die Tatwelt 5, 1929, S. 111–117. Richard Kade, Rudolf Euckens noologische Methode in ihrer Bedeutung für die Religionsphilosophie, Leipzig 1912. Oskar Kästner, Der Begriff der Entwicklung bei Nikolaus von Kues, Diss. Jena, Bern 1896. Oskar Kästner, Sozialpädagogik und Neuidealismus. Grundlagen und Grundzüge einer echten Volksbildung mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie Rudolf Euckens, Leipzig 1907, Ndr. 2006. Paul Kalweit, Die Begründung der Religion, Diss. Jena 1902. Paul Kalweit, Rudolf Eucken, in: Christliche Welt 20, 1906, Sp. 170-174, 194ff, 243-247, 293297. Paul Kalweit, Euckens Religionsphilosophie und die christliche Heilsgeschichte, in: DeutschEvangelisch. Monatsblätter für den gesamten Protestantismus 1, 1910, S. 135–149. Kazunobu Kanokogi, Gandhi. Der Geist der indischen Revolution, Berlin 1924. Theodor Kappstein, Rudolf Eucken, Der Erneuerer des deutschen Idealismus, Berlin 1909. Hermann Kellermann, Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914, Weimar 1915.

500  Anhang

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2 Literatur 

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502  Anhang

Ignaz Ziegler, Die Geistesreligion und das jüdische Religionsgesetz. Ein Beitrag zur Erneuerung des Judentums, Berlin 1912.

2.3 Sekundärliteratur Sabine Andresen/Meike Sophia Baader, Wege aus dem Jahrhundert des Kindes. Tradition und Utopie bei Ellen Key, Neuwied 1998. Claus Arnold, Kleine Geschichte des Modernismus, Freiburg u. a. 2007. Wolfgang Bauer, Der Eugen Diederichs Verlag und das deutsche China-Bild, in: Gangolf Hübinger (Hg.), Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, S. 450–485. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992. Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003. Margot Becke-Goehring/Margaret Eucken, Arnold Eucken: Chemiker – Physiker – Hochschullehrer, Berlin u. a. 1995. Barbara Beßlich, Wege in den „Kulturkrieg“. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt 2000. Bernhard Beyer, Bischoff, Diedrich, in: NDB 2 (1955), S. 262. Hans-Joachim Bieber, Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland 1918–1920, Hamburg 1992. Hans-Joachim Bieber, SS und Samurai. Deutsch-japanische Kulturbeziehungen 1933–1945, München 2014. David Blackbourn/Geoff Eley, The Peculiarities of German History. Bourgeois Society an Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford / New York 1984. Rainer Bölling, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart, Göttingen 1983. Johann Böhm, D. Dr. Viktor Glondys (1882–1949). Sein Wirken als Bischof der evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien von 1933 bis 1941, in: Peter Maser/Christian-Erdmann Schott (Hg.), Kirchengeschichte in Lebensbildern im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, Münster 2005, S. 147–175. Gernot Böhme, Einführung in die Philosophie. Weltweisheit – Lebensreform – Wissenschaft, Frankfurt/M. 1994. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M. 1994. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis Günther Anders, München 2007. Georg Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt/M. 1999. Franco Bosio, Arbeitswelt und Geisteswelt beim frühen Scheler, in: Christian Bermes (Hg.), Denken des Ursprungs – Ursprung des Denkens. Schelers Philosophie und ihre Anfänge in Jena, Würzburg 1998, S. 184–189. Bernhard vom Brocke, „Wissenschaft und Militarismus“. Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt“ und der Zusammenbruch der internationalen Gelehrtenpolitik im Ersten Weltkrieg, in: William Calder u. a. (Hg.), Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, S. 649–719.

2 Literatur



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3 Mitglieder des Euckenbundes ca. 1922/23 nach Berufs- und Statusgruppen Beruf / Status Hochschulprofessoren andere Hochschullehrer Pfarrer/Geistliche Lehrer an höheren Schulen Volks- und Mittelschullehrer andere Lehrer / ohne genauere Angabe Verwaltungs-, Post-, Bahnbeamte Richter / Staatsanwälte Partei- und Verbandsfunktionäre Journalisten / Schriftsteller Ärzte / Zahnärzte Rechtsanwälte andere akademische Berufe Künstlerische Berufe Unternehmer / Fabrikanten / Verleger Leitende Angestellte / Manager Kaufleute Landwirte / Gutsbesitzer

abs. 8 1 34 94 14 95 95 27 9 21 31 17 30 8 23 9 57 7

% 0,80 0,10 3,38 9,34 1,39 9,44 9,44 2,68 0,89 2,09 3,08 1,69 2,98 0,80 2,29 0,89 5,67 0,70

4 Abkürzungsverzeichnis

Beruf / Status Offiziere Handwerksmeister / Kleinhändler Technische und kaufmännische Angestellte Arbeiter Studenten Frauen ohne Berufsangabe andere Berufe / ohne Angabe Mitglieder insgesamt davon Frauen davon berufstätig

abs. 12 8 28 2 20 215 141 1006 274 59

% 1,19 0,80 2,78 0,20 1,99 21,37 14,02 100 27,24 5,86

Berechnet nach: ThULB NLRE VI, 12, o. Bl.: Mitgliederliste undatiert [ca. 1922/23].

4 Abkürzungsverzeichnis BSB BHSA DAAD LBI NDB NL NLRE NLWE PA-AA StAUL StBM ThHSA ThULB UAJ UBM VDA

Bayerische Staatsbibliothek, München Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Deutscher Akademischer Auslandsdienst Leo Baeck Institute, New York Neue Deutsche Biographie Nachlass Nachlass Rudolf Eucken Nachlass Walter Eucken Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin St. Andrews University Library Stadtbibliothek München Thüringisches Hauptstaatsarchiv, Weimar Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek, Jena Universitätsarchiv Jena Universitätsbibliothek München Verein für das Deutschtum im Ausland



513

Namensregister (Rudolf Eucken ist nicht aufgenommen) Aas, Karl 195 Adolf Friedrich, Herzog zu Mecklenburg 199 Adorno, Theodor 12, 17, 51 Althoff, Friedrich 111 Aristoteles 26ff, 30, 34f, 100, 321 Astel, Karl 470ff Auerbach, Felix 258 Bach, Johann Sebastian 223, 328 Bärwinkel, Richard 112 Banfi, Antonio 430, 434f, 444 Barth, Karl 353, 357–360, 369 Batchelor, Francis C. 187 Bauch, Bruno 173, 312, 345, 371f, 386, 417 Baum, Herbert 229 Bauman, Zygmunt 12, 17 Bavink, Bernhard 430, 432, 468 Becher, Erich 243, 345, 428 Below, Eva (?) von 267, 337 Benrubi, Isaak 146ff, 172, 265, 295, 313, 327 Berdjajew, Nicolaj 360 Bergemann, Paul 126 Bergson, Henri 66, 146ff, 154, 172f, 295, 313, 327, 479 Beßlich, Barbara 3 Biese, Alfred 82, 221f, 226f, 229, 233 Binder, Julius 418f Bischoff, Diedrich 215, 223, 227 Bismarck, Otto von 254, 272, 403 Bixler, J. S. 416 Blondel, Maurice 105ff Böhm, Franz 406ff, 432ff, 457, 459 Bollenbeck, Georg 8f, 73f Bolliger, Adolf 245f Bonitz, Hermann 30 Booth, Meyrick 300 Borcherdt, Hans-Heinrich 345, 451 Bornhausen, Karl 92 Boutroux, Émile 146ff, 172f, 295 Boutwood, Arthur 298, 300 Bowne, Borden Parker 141f Boynton, Richard W. 144, 187, 296, 370 Braun, Otto 67f, 208, 226, 312 https://doi.org/10.1515/9783110687033-010

Brentano, Lujo 94, 205 Brightman, Edgar S. 416, 444 Broglie, Louis de 465 Bruckmann, Hugo 451 Buchner, Hans 398f, 409f, 415, 421f, 424, 453 Budde, Gerhard 128–136, 225–228, 230, 232, 275ff, 279, 281, 285, 291, 338, 405 Buddensieg, Hermann 380 Büchner (Pfarrer) 387 Burckhardt, Jacob 31 Busch, Wilhelm 439 Cartellieri, Alexander 41, 63, 76ff, 112, 321, 326, 328 Carus, Paul 138f, 195 Casati, Alessandro 106f Casciola, Brizio 106f Chakravati, Ajit 155f Chamberlain, Houston Stewart 81 Chang, Carsun 305f, 323, 328f, 372, 416, 447 Chang, We-Huyin 447 Chevalier, Jacques 416, 444 Cicero, Marcus Tullius 468 Clapp, Edwin J. 195 Cohen, Hermann 61 Cohn, Ludwig 258f Conger, George B. 444 Cramer, Wally 233f, 257 Crawley, John 301 Credner, Hermann 77 Croce, Benedetto 323, 435 Curtis, Paul 370, 376, 445 Dannenberg, Friedrich 228f, 231 Darwin, Charles 45 Dathe, Uwe 5, 6, 20 Debussy, Claude 295 Delbrück, Hans 211 Descartes. René 30 Dewey, John 138, 142f Diederichs, Eugen 64, 147 Diehl, Karl 458 Dietze, Constantin von 458 Dilthey, Wilhelm 60, 62, 68, 278, 412 Dingle, R. 301

516  Namensregister

Dingler, Hugo 345 Driesch, Hans 166, 306f, 345 Dühring, Eugen 33 Dürer, Albrecht 174 Dürr, Karl Heinrich 462 Dunlop, Frank 323 Eberhardt, Hans 440 Ebert, Friedrich 205 Ebhardt, Malwine 166 Eigenbrodt, Wolrad 294 Eilts (Lehrer) 279 Einstein, Albert 419 Emge, Carl August 328, 378, 412 Engel-Reimers, Charlotte 210f, 227 Erdsiek, Gerhard 348, 412, 462 Ermatinger, Emil 416 Ernst, Wilhelm 360, 392f Esau, Abraham 378, 387 Eucken, Ammo Becker (Vater Rudolf Euckens) 22 Eucken, Arnold 69f, 72, 168, 208, 243, 246f, 257, 261, 267, 274, 292, 309, 317, 331, 340f, 370ff, 374, 377, 382, 398, 428, 430, 432, 434, 437, 463, 489 Eucken, Ida (Mutter Rudolf Euckens) 21–27, 29f, 32 Eucken, Ida (Tochter Rudolf Euckens) 20, 69, 70, 75f, 103, 154, 208, 223, 257, 267, 273, 292ff, 305, 307, 313, 316f, 321f, 324f, 327– 331, 335, 343, 359, 370, 376ff, 380, 383ff, 390, 398, 410f, 415, 417, 419f, 426ff, 433, 441–445, 447, 454f, 460, 463–473, 478, 488f, 492 Eucken, Irene 6, 19, 20, 37–41, 58, 69–73, 75–78, 103, 137, 151, 154, 158, 163, 168, 206, 209, 218, 224–228, 231, 247, 256ff, 261, 263, 266f, 274f, 277, 281, 291–298, 300, 307, 309, 311, 313–318, 320–337, 339–342, 346ff, 350, 351, 357ff, 361, 368– 379, 381–391, 393–405, 408–419, 421– 424, 426, 428, 430–435, 437–443, 445– 450, 452–457, 459–464, 470, 472f, 478, 487ff, 491f Eucken, Irene (Tochter Edith EuckenErdsieks) 462 Eucken, Hans Joachim 267, 377

Eucken, Marianne 462 Eucken, Walter 6, 19f, 69f, 73, 75, 103, 168, 209, 218f, 235, 247, 251, 263f, 267f, 292f, 311, 313- 320, 325, 327, 330f, 333–336, 339, 342, 346, 348–353, 361, 368, 370f, 376f, 379–383, 386, 390, 394, 398, 402, 404, 405, 408, 410f, 414, 417ff, 424, 426, 432ff, 437, 439, 442, 450, 455–463, 465– 469, 473, 487ff, 491f Eucken-Erdsiek, Edith 20, 70f, 75, 268, 315– 320, 330f, 334, 349, 357, 359, 360ff, 364, 368f, 371, 374, 380, 386, 390, 402, 405, 409–415, 417, 452f, 455–458, 460–464, 488f, 492 Falckenberg, Richard 67 Feldkeller, Paul 426 Feldman, Wilhelm 202f Fellmann, Ferdinand 5, 51 Fernau, Helene 241 Feuerbach, Ludwig 24 Fichte, Johann Gottlieb 7, 28, 53, 57, 141, 179, 328, 389, 421, 427, 484 Fieschi, Katherina (Katharina von Genua) 103, 113 Fischer, Aloys 243, 279, 345, 451 Fischer, Gustav 372 Flasch, Kurt 4 Flewellin, Ralph Tyler 141, 296, 444 Flex, Walter 241 Fontane, Theodor 426 Foucault, Michel 5 Francke, Kuno 184, 188, 190, 290, 291, 295 Franckenstein, Clemens von 451 Frebold, Georg 229, 300 Freiermuth, Hermann 345 Freisler, Roland 387 Frese, Jürgen 14 Freymark, Hans 282–287, 318 Frick, Wilhelm 374f Fritzmeier, W. 143 Frölicher, Hans 184f Frohschammer, Jakob 108 Fuchs, Emil 67 Fuchs (Pfarrer) 165 Galilei, Galileo 458

Namensregister

Gandhi, Mohandas Karamchand (Mahatma) 307f Gaudig, Hugo 135 Gehlen, Arnold 427, 430, 432f, 468 Geijer, Reinhold 149, 246 George, Stefan 13 Gerdtell, Ludwig von 92 Gibson, Lucy Judge Peacock 146, 299 Gibson, W. R. Boyce 145f, 150, 153, 299, 300, 384 Gittermann, Carl 24 Gittermann, Rudolf Christoph 24 Gittermann, Wilhelm 206 Glockner, Hermann 320 Glondys, Viktor 368–373 Goebbels, Josef 376 Goebel, Julius 295f Goethe, Johann Wolfgang 7, 241, 328, 391, 484 Goetz, Walter 290 Gogarten, Friedrich 354, 357–360, 369 Goldschmidt, Henriette 227 Goldschmidt, Nils 5 Goldstein, Julius 47, 50, 54, 64–67, 69, 102f, 164ff, 202, 226f, 265, 313 Goldstein, Margarethe 165f Gordon, Home Seton 152 Graef, Bodo 72, 267 Graf, Friedrich Wilhelm 5 Greil, Max 356 Grey, Edward 300 Grimm, Hans 451 Grisebach, Eberhard 68, 75, 256, 312, 356, 359f Grollmus, Willi 240, 278 Grossmann, Carl G. 290 Grün, Richard 285, 288 Gühlich, Joseph 315f Günther, Gotthard 427–434, 439, 469 Günther, Hans F. K. 373, 375f, 438 Günther, Otto 124f, 222–228, 232, 236f, 256f, 279, 320, 335, 361, 379f, 392–397, 449, 454 Günther, Siegmund 229 Gumpricht, Karl 423–426, 432, 439 Gutsche, Verena 11



517

Haack, Hans Georg 259, 261f, 314. 340ff Haber, Fritz 205 Hacker, Curt 230ff, 234f 239, 241, 259f, 262ff, 266, 271, 274, 277, 281, 313f, 318, 319–322, 324, 332f, 336, 346f, 357 Haeckel. Ernst 33, 138, 169f, 173f, 183, 191, 299 Haering, Theodor 468 Hagen, Benno von 231, 314, 318, 323, 327f, 335, 340, 346, 371, 378f, 382f, 387, 390f, 393–398, 415, 430, 432, 434f, 437, 450, 454f, 469 Haldane, Richard Burdon 152 Hampe, Susanne 329, 337f, 417 Harden, Maximilian 81 Harnack, Adolf von 205, 290 Harnack, Otto 65 Haß, Fritz 241, 343f Heckel, Erich 73 Hedemann, Justus Wilhelm 387f, 398 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7, 28, 53, 57, 131f, 141, 179, 328, 418, 427 Heidegger, Martin 456f 468 Heisenberg, Werner 428, 430, 476 Hellmund, Heinrich 342f Hellpach, Willy 76, 430f, 434, 469 Hensel, Paul 61 Herbart, Johann Friedrich 118 Herkner, Heinrich 211 Herms, Emil 238, 355 Herrigel, Auguste (geb. Seefried) 344f Herrigel, Eugen 344, 372 Herrmann, Wilhelm 92 Heuss, Theodor 211 Heyck, Eduard 166f, 227f Hindenburg, Paul von 303, 316, 382 Hintze, Otto 81, 211 Hippel, Ernst von 319, 434, 436 Hitler, Adolf 12, 273f, 374, 376, 382, 385, 389, 391, 393, 395ff, 424, 437f, 488 Hjärne, Harald 195 Hocking, William Ernest 323, 372, 416, 444, 464 Hodler, Franz 73ff, 173f Hoeres, Peter 4 Hoernlé, Alfred 153, 420

518  Namensregister

Hof, Otto 462 Hoffmann, O. 403f Holmes, Roger W. 444 Horkheimer, Max 12, 17, 51 Hough, Williston Samuel 144ff Howison, George Holmes 141, 143 Huber, Kurt 345 Huch, Ricarda 434, 457 Hübinger, Gangolf 4, 93 Hügel, Friedrich von 53, 102–106, 112, 144, 146, 150f, 153, 168, 265, 298, 300 Humboldt, Wilhelm von 7, 136 Hume, David 30 Husserl, Edmund 5, 51, 62, 64, 331, 405, 435 Hyde, Winifred 187 Inge, William R. 416 Jacini, Stefano 107 Jacoby, Günther 157 Jäckh, Ernst 204, 211 Jäger, Walt 208f Jäger, Werner 421 James, William 66, 140, 142f, 313 Jansen (Pastor) 356 Jarres, Karl 257 Jatho, Carl 94f, 97f Joel, Karl 227, 320 Johst, Hanns 372 Jones, William Tudor 150ff, 298, 300 Joos, Georg 428 Jourdan, Henri 430, 433 Jordan, Bruno 229, 279ff, 293f, 319, 337, 339, 359f, 364, 402, 415, 417, 422f, 448f, 454 Jordan, Pascual 419, 428, 430–436 Jung, C. G. 345 Jung, Edgar 364f, 372, 400 Junker, Paul 412 Junkers, Hugo 316, 372 Kade, Richard 91, 93, 227, 358 Kästner, Oskar 126f, 132, 135f, 227 Kalweit, Paul 67, 90–93, 227, 319 Kanogoki, Kazunobi 305, 308, 326 Kant, Immanuel 7, 24, 28, 53f, 57f, 120, 141, 179f, 321, 468, 484 Kappstein, Theodor 263f, 311, 355 Karr, Grant 138, 142

Kaufmann (Justizrat) 452 Kaup, Ignaz 243 Kepler, Johannes 484 Kerschensteiner, Georg 311 Kesseler, Kurt 91ff, 95, 128, 135f, 227f, 276ff, 281 Kessler, Harry Graf 72, 290 Key, Ellen 1, 133f Kirchner, Ernst-Ludwig 73, 75 Kirchner, Martha 239 Klages, Ludwig 345 Klein, Albert 165 Koellreutter, Otto 323, 330, 378, 382f, 387 Kokoschka, Oskar 73 Krahmer-Möllenberg, Erich 309 Kramlik, Emil von 417 Krannhals, Paul 400, 401f Kraus, Franz Xaver 109, 114 Kreutzmann, Henry/Heinrich 295 Krieck, Ernst 380f Krohn, Kaarle 326 Krückmann, Olaf 470 Kühnemann, Eugen 243, 372 Külpe, Oswald 282f Kuh, Felix 227, 229 Kunze, R. 304 Laberke, Hans 441f Laberthonnière, Lucien 105f Lagerlöf, Selma 2 Laird, John D. 444 Lampe, Adolf 458 Lamprecht, Karl 94 Landmesser (Studienrat) 241 Laros, Matthias 109f Lavelle, Louis 444, 465 Leibniz, Gottfried Wilhelm 80, 202 Leicht, Alfred 172f, 227 Leisegang, Hans 360, 372, 459 Leitem, Rudolph 397, 449, 455, 466 Leon, Xavier 148 Le Senne, René 444 Leser, Hermann 66f Leutheußer, Richard 257, 271, 316, 321f, 372 Levy, Flora 297 Liang Qichao 305 Liebert, Arthur 412

Namensregister

Liebmann, Otto 63, 66 Liermann, Hans 365f Liljedahl, Ernst 149, 196, 235, 246, 291, 294, 304 Liljequist, Ephraim 416, 422 Lippa, Lazar von 334f, 357 List, Friedrich 469 Locke, John 30 Lohmeyer, Julius 81f Lotze, Hermann 25f, 91, 141 Lübbe, Hermann 5, 19 Lülmann, Christian 67 Luther, Martin 215ff, 223ff, 376, 460f, 484 Lutz, Friedrich 404 MacDonald, Ramsay 300 Mach, Ernst 66 Macke, August 75 Majumdar, J. K. 307f Mann, Friedrich 275 Marbach, Ernst 337, 348, 357f, 379 Marcel, Gabriel 444 Marti, Karl 195 Matthaei, Adelbert 174 Mausbach, Joseph 92 Medicus, Fritz 372, 421ff Meinecke, Friedrich 62, 211 Meiner, Felix 100 Meinhold, Paul 226 Meister Eckhart 179, 460f Mendelsohn, Felix von 372 Menke-Glückert, Emil 257, 338 Messer, August 67, 82 Meyer, Heinrich 165f Meyer-Lingen, Gustav 225, 228f, 231, 371 Mie, Gustav 468 Mignot, Eudoxe-Irénée (Erzbischof von Albi) 101f, 104f Minami, Hajime 156f, 304, 323 Mommsen, Hans 14 Mommsen, Theodor 27 Mommsen, Tycho 30 Morel, Edmund Dene 303 Most, Otto 234, 257, 316, 351f, 371f, 398f, 410 Müller, Gustav E. 464 Müller, Karl Alexander von 451



519

Mueller, Walter J. 445f Münsterberg, Hugo 140f, 153, 188ff Munch, Edvard 73 Murray, Gilbert 290 Murray, Mary 290 Mussolini, Benito 367, 374, 457 Nagel, Johannes 319, 340, 422 Natorp, Paul 61f, 94f, 126 Naumann, Max 262ff Nietzsche, Friedrich 31, 34, 45, 51f, 108, 133, 202, 299, 328, 391, 404 Nikolaus von Kues 126 Noack, Ferdinand 72 Noel-Buxton, Noel 300 Nohl, Herman 136, 278, 387 Nordhoff-Jung, Sofie 184 Norström, Vitalis 1, 2, 21, 51, 56ff, 69f, 77, 80, 90, 96f, 103, 107, 110, 122, 130f, 136f, 143, 148f, 151, 153, 155, 168, 176, 195f, 201, 208f, 294 Nugaku (Pastor) 157 Oechelhäuser, Wilhelm von 227 Oehqvist, Johannes 198 Oettel, Ernst 379 Ohgushi, Toyowo 330f, 442, 447 Oldendorff, Paul 128f, 134, 226f, 230, 232, 279 Oncken, Hermann 421 Oppermann, Hans 459 Orestano, Francesco 416, 423ff, 430, 444, 450 Orwell, George 482 Ostertag (Pfarrer) 233, 319 Overbeck, Franz 31 Papen, Franz von 378f, 381 Passow, Adolf 209, 263f Passow, Athenäa 37–41, 58, 70, 72, 76f, 80, 138, 151, 163 Paulsen, Adalbert 461 Paulsen, Friedrich 111 Pechmann, Wilhelm von 345 Peters, Carl 81 Petersen, Peter 278 Pfordten, Elly von der 274 Pfordten, Otto von der 166

520  Namensregister

Pfordten, Theodor von der 270–275, 387, 397 Picasso, Pablo 73 Pinder, Wilhelm 451 Pipping, Hugo 323 Pius X. (Papst) 110 Plato 28, 35, 120, 321, 400 Pöhlmann, Hans 67, 91ff, 227f, 319 Porter, Noah 37 Pückler (Graf) 340 Raulff, Ulrich 13f Rausch, Jürgen 423–426, 432 Rehm, Albert 243, 345, 451 Reichenberger, Arthur 260 Rein, Wilhelm 118f, 121, 139, 173, 278 Rice, Joseph Mayer 139 Rickert, Heinrich 60ff, 68 Rießer, Jakob 257, 271 Rilke, Rainer Maria 241 Ritter, Gerhard 402f, 421, 434f, 457ff, 462, 466ff Rodin, Auguste 72ff, 174 Roennecke (Pfarrer) 450 Rohrbach, Paul 204, 211 Romundt, Heinrich 31 Roosevelt, Franklin D. 446 Roosevelt, Theodore 189 Rosenthal, Clara 267 Rousseau, Jean-Jacques 146 Runeberg, Johann Ludvig 197 Sackville, Margaret 300 Sauckel, Fritz 376, 378, 434, 442, 471 Sauer, Wilhelm 243 Scheidemann, Philipp 205 Scheler, Max 3, 62ff, 67, 102, 147, 312 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 7, 28, 57, 67, 141, 179 Schelsky, Helmut 427, 430, 432f, 438, 469 Scheuner, Ulrich 417 Schiemann, Theodor 81 Schiller, Ferdinand C. S. 66 Schiller, Friedrich 7, 328 Schleiermacher, Friedrich 179 Schlegel, Friedrich 468 Schmidt, Max 124f Schmitt, Carl 331

Schmitz, Oskar A. H. 363, 366f Schmoller, Gustav 81 Schnacke (Pastor) 339 Schönemann, Friedrich 320 Schöppe, Kurt 359 Scholz, Heinrich 468 Scholz-Klink, Gertrud 445 Schopenhauer, Arthur 51 Schorn, Hans Traugott 257, 299–303, 339 Schramm, Wilhelm von 345 Schreiber, Carl F. 416 Schreiber, Georg 323 Schrumpf, Ernst 361f Schulze-Gävernitz, Gerhart von 211 Schumacher, Hermann 268 Schwarz, Hermann 229 Schwarz, Josef 274, 342f Schweitzer, Albert 320, 345 Schwerin, Claudius von 403f Seebeck, Moritz 32ff, 38 Seeberg, Erich 460f Seeberg, Reinhold 81 Seefried, Elisabet 321, 326, 344ff, 451 Seefried, Luise 343–347, 372, 451 Sering, Max 81 Shastri, Prabhu Dutt 155f, 307, 323, 384 Shaw, George Bernard 318 Siebeck, Hermann 82 Siebert, Otto 48, 60f, 66, 82 Sieg, Ulrich 4 Siekmeier, Heinrich 470 Simmel, Georg 62, 68 Singer, Michael 297, 309 Söderblom, Nathan 149 Sokrates 458 Sombart, Werner 94 Spann, Ottmar 345 Spemann, Hans 459 Spengler, Oswald 241 Spinoza, Baruch de 458 Spoor, Ann Mary 301 Spoor, Ben C. 301 Spranger, Eduard 345 Staehelin, Rudolf (junior) 191f Staehelin, Rudolf (senior) 32, 191 Stein, Friedrich Karl von und zum 402

Namensregister

Steinberg, Wilhelm 341 Steiner, Rudolf 239 Stieler, Georg 362f Stier, Friedrich 322–325, 375, 378, 382f, 387, 410, 438, 440–443, 470–473 Stieve, Fritz 443f, 464 Störig, Hansjoachim 51 Strachwitz, Marie Luise von 405f Stresemann, Gustav 257, 271, 274, 316, 322, 484, 487 Swinburne, Algernon 2 Tagore, Rabindranath 155f Taube, Otto von 345 Teichmüller, Gustav 26f, 30f, 40 Thiel, Reinhold (?) 372 Thomas von Aquin 100, 108 Till, Christine 328 Tojo, Hideki 471 Tordason, Sveinn 447 Traub, Gottfried 205 Trendelenburg, Friedrich Adolf 6, 27–30, 34f, 40, 43, 53 Trevelyan, Charles Philips 301 Troeltsch, Ernst 57f, 60ff, 211, 277 Trübe, Otto 67 Tsiang Tso Ping 323, 329 Tyrell, George 105f, 112, 144 Ulrichs, Heinrich 75f van Calker, Fritz 345, 451 van der Wyck, Jonkheer 195 van de Velde, Henry 72 Vater, Fritz 319, 355, 392f, 455 Veil, Wolfgang 431f, 434, 436f, 463 Vidmar, Josip 465 Viereck, George S. 309 Volk, Georg 165f Voß, Rudolf 256, 314ff, 335f, 339, 341, 357, 388ff, 398, 421, 427, 448, 450, 454, 461 Wächtler, Fritz 385, 388 Wagner, Adolf 81



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Wagner, Kurt 432 Warbeke, John M. 416, 444 Ward, Wilfried 102 Weber, Alfred 211, 290 Weber, Hermann 462 Weber, Max 62, 94, 211, 476 Weege, Fritz 243 Wehrung, Georg 366, 372 Weinel, Heinrich 460f Weingart, Hermann 94 Weizsäcker, Carl-Friedrich von 428–434, 468f Wenzl, Aloys 428, 430, 432 Werckmeister, Walter 339f Wetterhoff, Friedrich 198f Widgery, Alban G. 153, 299f, 303 Wiese, Ludwig Adolf 29 Wilhelm II. 114 Wille, Paul 391f, 397 Wilson, Woodrow 189, 244f Windelband, Wilhelm 61f, 68 Winnig, August 372 Wirsén, Carl David af 2 Wislicenus, Georg 81 Wolf, Erik 320 Wolf, Friedrich August 116, 136 Wolf (Rabbiner) 227 Würtenberg, Gustav 380f, 417, 422 Wunderlich, Bruno 334, 361 Wundt, Max 312, 321, 327, 345, 372, 419 Wundt, Wilhelm 94, 140 Wurm, Emma 338 Zdziechowski, Marian 107f, 202 Zhang Junmai siehe Chang, Carsun Ziegler, Gustav 114f, 166, 226ff, 232, 240, 242, 252f, 284, 297, 333f, 344 Ziegler, Ignaz 98f, 227, 265 Ziegler, Leopold 67, 345 Zielinski, Thaddäus 416, 444