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German Pages 300 [308] Year 1934
Ruth (8 J. 4 Mon.) und Sonja ( j J. j
Mon.)
RUTH TAGEBUCH ÜBER DIE ENTWICKLUNG EINES MÄDCHENS VON DER GEBURT BIS ZUM 18. LEBENSJAHRE VON
VILHELM RASMUSSEN DIREKTOR DER L E H R E R H O C H S C H U L E IN KOPENHAGEN
A U S D E M M A N U S K R I P T Ü B E R S E T Z T VON
A L B E R T ROHRBERG OBERSTUDIENDIREKTOR IN BERLIN
MIT i TITELBILD UND 96 ABBILDUNGEN
HERAUSGEGEBEN M I T U N T E R S T Ü T Z U N G DES R A S K - O R S T E D - F O N D S
MÜNCHEN UND BERLIN 1934
VERLAG VON R.OLDENBOURG
Druck R. Oldenbourg, München und Berlin
Das erste Jahr. Ruth wird am 3. Dezember 1909 geboren und wiegt 6 % Pfd. Am 30. Dezember wiegt sie ungefähr 8 % Pfd. Ruth sieht sehr interessiert auf die weiße Decke des Zimmers und läßt die Augen rund herum wandern. Als ich eine Nuß knacke, die etwas stark kracht, wendet sie die Augen nach mir. Es ist das erste Mal, daß wir eine Aufmerksamkeit für ein Geräusch feststellen können, mit Ausnahme des Gesanges. Ruth schläft fast den ganzen Tag; in der Regel ist sie nur wach, wenn sie Nahrung haben soll, oder wenn mit der Windel etwas nicht in Ordnung ist. Ihr Weinen ist verschieden, je nachdem der Hunger oder die Windel die Ursache ist. Wenn sie des Hungers wegen weint, bewegt sie den Mund wie beim Saugen. Ruth war trotz gewaltigen Neujahrsschießens vollkommen ruhig. 1. J a n u a r 1910. Ruth sieht nun nach uns. Ihre Augen drehen sich ganz hoch nach der Stirn, damit sie uns fixieren kann, wenn wir ihrem Bette nahe kommen. 2. Januar. Ruth sieht mit großer Aufmerksamkeit lange nach dem Lichtfleck, den der Lampenschirm auf der Zimmerdecke bildet. Das Licht fesselt ihre Aufmerksamkeit am stärksten. — Es kommt mir vor, als hätte sie gelächelt, als ich lächelnd nach ihr sah, aber Agnes ist der Ansicht, daß ihr Mienenspiel Magenkneifen bedeutet. 3. Januar. Ruth wiegt 8 % Pfd.; sie hat in den letzten vier Tagen nicht zugenommen. 8. Januar. Ruth ist etwas krank; der Arzt verordnet Medizin. Als Ruth durch die Zimmer getragen wird, sieht sie sich nach allen Seiten um und wendet den Kopf hierhin und dorthin. 10. Januar. Ruth wiegt 8 % Pfd. In zwölf Tagen hat sie dasselbe Gewicht behalten. R a s m u s s e n , Tagebuch.
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Geburt. Interesse.
Geräusch. Schlaf.
Geräusch. Aufmerksamkeit.
Gewicht. Krankheit. Aufmerksamkeit.
Gewicht.
Gewicht. Laute.
Aufmerksam.keit.
Gewicht. Aufmerksamkeit
'
Erinnerung,
Lächeln. Gewicht. Licht. AufmerksamkeiL
Rücken,
17. Januar. Ruth wiegt 9*4 Pfd. und ist anscheinend gesund; sie schreit sehr wenig zur Unzeit. — Plötzlich stößt Ruth gegen 22 Uhr schnell nacheinander einige gleichförmige Laute aus, etwa wie hö—i, hö—i, hö—i. Wenn man annehmen kann, daß ein so kleines Kind t r ä u m t , hätte man sagen können: „Sie spricht im Schlaf". 18. Januar. Ruth entdeckt die Hängelampe, als ich sie f ¿gj^ jj a jj e ) während ich am Schreibtisch sitze. Sie au sieht lange auf die nicht angezündete Lampe. 23. Januar. Ruth hat begonnen, sich nach den verschiedenen Gegenständen des Zimmers umzusehen. Sie war heute abend so mit ihrer Umgebung beschäftigt, daß sie bei der Nahrungsaufnahme abgelenkt war. Agnes (die Mutter) meint, sie verstünde schon, was es bedeutet, wenn sie die Brust entblößt. Ruth betrachtet ihre Hände vorläufig noch als Milchquellen und saugt mit großem Eifer an mehreren Fingern zugleich. 24. Januar. Ruth wiegt 9 % Pfd. 6. Februar. Sie wiegt 10 Pfd. R u t h sieht eifrig nach der Hängelampe. Während ich sie durch das Zimmer trage, wendet sie ständig den Kopf so, daß sie die Lampe sehen kann. Einmal wendet sie den Kopf nach der Lampe zurück; sie muß also etwas Erinnerung an den empfangenen Eindruck und an die Richtung haben, aus der er kam. Wenn sie auf die Lampe sieht, runzelt sie die Stirnhaut und bewegt sie auf und nieder. Gleichzeitig wirft sie heftig den Kopf, streckt die Arme aus und bewegt sie auf und nieder. Ruth weiß jetzt, was es bedeutet, wenn Agnes sich über sie beugt und die Brust entblößt. Sie wird dadurch beruhigt und saugt. 13. Februar. Heute hat Ruth unzweifelhaft mir mehrere Male zugelächelt, auch hat sie im Schlaf ziemlich laut gelacht. 14. Februar. Ruth wiegt 10 Pfd. Als Agnes sie heute morgen am Rücken etwas kitzelt, lacht sie laut auf. 21. Februar. Ruth wiegt ungefähr 10% Pfd. Ihr wesentlichstes Interesse hat ständig das Licht. Sie sieht auf das Lampenlicht oder auf die Lichtpunkte an der Zimmerdecke. Gestern hielt ich sie so, daß sie gegen das Fenster sehen konnte; damit war sie lange stark beschäftigt. Sie hat bedeutende 2
Kräfte im Rücken, denn sie kann ihn stark krümmen, wenn sie unter der Decke auf dem Bauche liegt. Sie erhält täglich eine, manchmal zwei Mahlzeiten künstliche Nahrung. 2. März. Ruth wiegt fast 11 Pfd. Sie legt mitunter die Hände auf die Brust der Mutter, wenn sie saugt. Sie kann jetzt den Kopf aufrecht halten. 7. März. Ruth wiegt gut 11 Pfd. 15. März. Heute abend lacht Ruth im Schlaf. Agnes meint, Ruth beachte, ob die Mahlzeit in einer Flasche oder in einer Tasse gebracht wird. Im zweiten Falle weiß sie, daß es Medizin ist und weint weiter. Ist es aber eine Flasche, so schweigt sie und nimmt das Gebotene willig. 20. März. Ruth wiegt ungefähr 11% Pfd. 28. März. Ruth ist am Abend sehr unruhig und weint viel. Sie hat in den beiden letzten Tagen Milchsuppe aus einer Flasche erhalten. Als ich mich am Mittag über ihr Bett beuge und einige „ T ö n e " hervorbringe, wird sie sehr aufgeräumt und bringt selbst ähnliche „ T ö n e " in annähernd gleicher Tonhöhe hervor. 2. April. Ruth wiegt ungefähr 12 Pfd. Sie kann sich jetzt in der Wiege recht hoch heben, um aufzukommen, und einige Sekunden in dieser Lage halten. Sie hat meistens Milchsuppe in der Flasche. 9. April. Ruth wiegt gut 12 Pfd. Sie ist etwas krank gewesen und hat in den beiden letzten Tagen keinen starken Appetit gehabt. 10. April. Ruth weint aus Hunger, aber als ihr die Mutter die Flasche mit der Milchsuppe zeigt, schweigt sie und lächelt. Sie kennt also jetzt ihre Flasche. 19. April. Ruth wiegt 12 Pfd. Sie hat zum ersten Male etwas Gewicht verloren, aber kaum mehr als 25 g. 23. April. Ruth wiegt 12 y2 Pfd. Als ich mehrere Male über meinen Schreibtisch hin „ R u t h " rufe, wendet sie den Kopf und sieht mich an. Sie hat also verstanden, daß ich mich an sie gewendet habe. 30. April. Ruth wiegt 1 3 P f d . 15. Mai. Ruth wiegt 14 Pfd. Man bemerkt nichts Neues in Ruths Benehmen. Von Woche zu Woche sieht sie entl*
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Aktivität.
Verstand.
Töne.
Kraft.
Krankheit.
Erinnerung.
Gewicht.
Name.
Name.
Laute.
Greifen.
Aktivität.
Greifen,
Verstand.
Freundlichkeit
'
wickelter aus, aber sie unternimmt nichts, was sie nicht schon gekonnt hat. 22. Mai. Ruth wiegt knapp 14% Pfd. 29. Mai. Ruth wiegt rund 14% Pfd. 6. Juni. Ruth wiegt 15 Pfd. 13. Juni. Ruth wiegt 15 % Pfd. Ruth hört jetzt auf ihren Namen; sobald man ihn ruft, wendet sie sich dem Rufer zu. 27. Juni. Ruth wiegt 16 Pfd. 3. Juli. Unten auf der Straße pfeift ein Junge auf den Fingern. Einen Augenblick danach schreit Ruth in demselben hohen Ton, und kurz danach wiederholt sie das zweimal. Sie kann jetzt ohne Stütze aufrecht sitzen, greifen, und sie greift nach allem, was in ihre Nähe kommt, führt es zum Munde, leckt und saugt daran. Ruth wiegt ungefähr 16 % Pfd. 5. Juli. Wenn Ruth nach allen Dingen greift, die ihr erreichbar sind, macht sie Erfahrungen über die Körper und deren Erscheinungen: 1. weiche Körper: Wolle, Baumwolle, Leinen, Kissen, Körperteile; 2. harte und glatte Körper: Silberlöffel, Uhrkette, Flasche, Fingernägel; 3. Abstand: erreichbar, nicht erreichbar; 4. Widerstand, zum Beispiel kommt die Kette nicht in den Mund. Wenn sie an den Dingen leckt, hat sie gelegentlich, aber kaum oft, Geschmacksempfindungen, dagegen empfindet sie Härte, Weichheit und Glätte. Wenn sie etwas stark interessiert, stößt sie ein gedämpftes öh—öh oder ein höheres aj—aj aus und klappt mit den Händen auf den Gegenstand. 17. Juli. Ruth wiegt ungefähr 16% Pfd. Sie versteht jetzt, daß sie sich im Bett aufrichten kann, wenn sie einige Finger ergreift, die man ihr reicht. Ihr Betasten und Schmecken alles dessen, was sie erreichen kann, ist rastlos und erkennbar ziellos. Es ist eine Hauptaufgabe in der Erziehung des Menschen, das „Begreifen" der Dinge zwar beizubehalten, aber dabei schließlich ausdauernd und zielbewußt zu werden. 21. Juli. Ruth entdeckt z u e r s t Nase und Mund in meinem Gesicht, zwei Tage später eines der Ohren, das sie lange in allen Winkeln befühlt. Auch ihre eigenen Ohren hat sie entdeckt und wie alle anderen Gegenstände befühlt. Wenn ich sie trage, klappt sie mir wiederholt auf die Schultern und sagt 4
ja—ja. An Vokalen habe ich sie benutzen hören: a, aa (in der dänischen Sprache gesprochen wie der Anfangsvokal im englischen allright), e, und an Konsonant-Vokalverbindungen: ja, na, ej, da—da, ija—ija, aja, ja—ja, ana, nana, daj—daj, ja—ana, dej—da—hu—hu (alle im Dänischen wie im Deutschen ausgesprochen). 24. Juli. Ruth wiegt gut 16% Pfd. Helga (das Mädchen) erzählt, daß sie mit dem Vorhang „Versteck gespielt" habe, wie es Agnes mitunter mit ihr gespielt habe, und daß Ruth sehr bei diesem Spiel gelacht habe, 31. Juli. Ruth wiegt 16 Pfd. Sie hat in der letzten Woche gut ein halbes Pfund verloren; heute hat sie Fieber gehabt, sich übergeben und geweint. Der Arzt meint, es seien die kommenden Zähne. Ruth kann sich jetzt aus liegender Stellung mit Hilfe ihrer Hände aufrichten. 5. August. Ruth wiegt wieder 16% PW. Als ich heute morgen in das Zimmer komme, in dem sie sitzt und weint, zeigt sie Angst über mein plötzliches Auftreten, das sie nicht gehört hatte. Ein kleines Kind, dem niemals ein Mensch oder eine Sache Verdruß bereitet hat, kann also Angst zeigen. Die Angst ist also nicht in selbsterworbener Erfahrung begründet, sondern muß instinktiv sein. Ruth erhielt gestern einen grauen Gummiball, der sie aber nicht interessiert. Sie beklappte ihn einige Male, ließ ihn aber liegen, als er wegrollte. Ihre Klapper benutzt sie aber von sich aus hin und wieder. Nächst solchen Gegenständen, die betastet und in den Mund gesteckt werden können, sind es wohl solche, die Geräusch machen, die ein so kleines Kind interessieren. Von den sichtbaren Dingen lenken am stärksten solche die Aufmerksamkeit auf sich, die sich von der Umgebung abheben, wie ein Knopf am Anzug oder im Hemd. Er wird sehr genau untersucht, mit „gerunzelten" Rrauen und langem Starren. Ruth ist ein Wesen noch ohne jede Moral, die über den reinen Egoismus hinausgeht. Sobald sie einen Wunsch hat, wünscht sie ihn rücksichtslos erfüllt. 14. August. Ruth wiegt ungefähr 17 Pfd. Sie versteht jetzt, sich an einem Riemen festzuhalten, damit sie nicht umfällt, wenn der Wagen hin und hergefahren wird.
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Sprache.
Spiel.
Gewicht.
Initiative. Angst.
Spiel.
Aufmerksam-
keiL
Moral.
Initiative.
20. August. R u t h kann sich jetzt aufrichten, indem sie an die eine Seite des Wagens greift. Ihre Kräfte reichen hierzu auch aus, wenn eine schwere, mehrere Male zusammengefaltete Decke über sie gelegt wird. Verstand. 21. August. R u t h wiegt gut 17 Pfd. Sie begreift jetzt die Vorbereitungen zu ihrer Mahlzeit. Wenn das Mädchen Milch aus dem Milchtopf in die Kasserolle gießt, hört sie auf zu
Fig. 1 (9 Mon.). weinen, ebenso wenn das Kühlgefäß mit der Milchflasche in ihre Nähe k o m m t , oder wenn Agnes mit der Flasche an das Bett klopft. Zeigt man ihr die Flasche endlich im Ernst, k o m m t sie in starken Affekt, öffnet den Mund und erhebt den Kopf. 30. August. R u t h wiegt 18 Pfd. 13. September. Ruth wiegt ungefähr 19 Pfd. Spiel. Am 10. September erhält sie einen kleinen Tisch mit einem Stuhl (Fig. 1.) Ihre Freude, im Stuhl sitzen zu können, ist außerordentlich groß; sie lachte lange Zeit laut und rückte Freundlich- mit dem Stuhl. Am nächsten Tage rückt sie wieder mit dem keit Stuhl und lacht laut. Sie klappt mehrfach den kleinen Tisch vor sich, schlägt aber zu hart zu und sieht bedenklich aus, jedesmal, wenn sie zu hart t r i f f t .
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Am 4. September wird R u t h photographiert (Fig. 2). 23. September. R u t h k a n n sich jetzt an einen Gegenstand Erinnerung. erinnern, den man ihr wegnimmt, selbst wenn sie gleichzeitig einen andern erhält. Ich nehme ihr eine Lupe weg und gebe ihr einen Löffel; sie sieht aber nach der Lupe, die ich in die Tasche stecke, und läßt den Löffel liegen. 25. September. Ruth wiegt heute nur 18% P f d . 28. September. R u t h greift in die Rückwand des Bettes Initiative. und hebt sich so hoch, daß sie weit über den Rand sehen kann.
Fig. 2 (9 Mon.). Niemand hat ihr beigebracht, sich auf ihre Beine zu stützen; sie h a t sich also ganz aus eigenem Antriebe erhoben. Aber kleine Kinder sollen vielleicht Gelegenheit haben, ihre verhältnismäßig starken Arme bei ihren ersten Stehversuchen zu Hilfe zu nehmen. 2. Oktober. R u t h legt sich heute zum ersten Male in das Gewohnheit. Bett zurück, um zu trinken, als sie die Flasche mit der Nahrung sieht. 3. Oktober. R u t h s erste beiden Schneidezähne sind gerade Zähne. durch den Gaumen gestoßen. Sie hat keine nennenswerten 7
Beschwerden dabei gehabt, sie ist nur etwas empfindlich geErinnerung. wesen. Ruth kennt jetzt den Laut, den Agnes mit der Flasche im Kühlgefäß hervorbringt, denn sie hört dann auf zu weinen und sieht nach der Flasche. Initiative. 25. Oktober. Ruth richtet sich heute von selbst auf und steht auf ihrer Mutter Schoß, nur etwas unter den Armen gestützt. Pfui. 30. Oktober. Wenn man Pfui zu Ruth sagt, etwa wenn sie ihre Strümpfe abgezogen hat, lächelt sie freundlich und setzt das Spiel fort. Im Laute des Wortes Pfui oder in dem begleitenden Mienenspiel ist also nichts, das Ruth als eine Warnung oder als ein Verbot auffassen könnte. Rufe ich sie dagegen mit ihrem Namen, so sieht sie augenblicklich nach mir hin; sie hat also schon soviel von der Sprache erfaßt, um zu verstehen, daß sich dieser Laut auf sie bezieht. 4. November. Ruth greift gleich oft mit der rechten wie Zweihändig. mit der linken Hand zu. Sie kann also nach der Theorie von dem links liegenden Sprechzentrum noch keines haben; andererseits bringt sie aber viele Laute hervor, die aus Konsonanten und Vokalen zusammengesetzt sind. Das sind natürlich nicht „ W ö r t e r " im Sinne des Erwachsenen, aber haben Freundlichkeit. sie nicht für das Kind bestimmte Bedeutung ? Wenn sie etwas sehr stark interessiert ruft sie da—da—da und beklopft den Gegenstand wiederholt. Heute hat sie sich im B e t t selbst aufgerichtet zum Stehen, nur etwas auf die Kante gestützt. Nachahmung Sie hat die Gewohnheit, hin und wieder zu nicken; dabei undGewohnhat sie einen sehr „ernsten" Gesichtsausdruck. Jedesmal, heit. wenn ich ihr etwas vorsinge, lauscht sie aufmerksam und starrt Aufmerksamkeit. unverwandt auf mich. Gelegentlich steckt sie eine Hand in meinen Mund, wie wenn sie dort etwas herausholen will. Gang. 9. November. Wenn Ruth aufsteht, setzt sie zunächst die Außenkanten der Füße gegen die Unterlage; dann erst drückt ihr Körpergewicht die Fußflächen gegen die Unterlage. Ohne sich zu stützen, kann sie noch nicht stehen. Man kann ihr nicht ansehen, ob ihr das Stehen Vergnügen bereitet. Sie zeigt keine Überraschung dabei. Kriechen. 12. November. Ruth ist heute richtig gekrochen. Sonst hat sie sich auf dem Boden dadurch fortbewegt, daß sie sich
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aus der sitzenden Stellung auf den Bauch und dann wieder auf den Rücken wälzte. Heute ist sie aber ein Stück auf allen Vieren gekrochen. Man kann ihr nicht ansehen, ob sie über diese Entdeckung froh oder überrascht oder in anderer Weise beeinflußt ist. Vor einigen Tagen ist ein Schneidezahn oben links erschienen. 15. November. Ruth versteht, wenn ich sage: „Komm her Sprachverständnis. zu V a t e r " und mit dem Finger winke. Sie kommt sofort hingekrochen. Auf dem Wege hört sie zu kriechen auf und bleibt sitzen; vermutlich glaubt sie, schon am Ziel zu sein. Als ich wieder winke und „ k o m m " rufe, beginnt sie aufs neue zu kriechen, hört aber wieder auf, ehe ich sie erreichen kann. Abstand kann sie also noch nicht einschätzen. Sie weiß aber durchaus, um was es sich handelt, denn jedesmal, wenn sie sitzen bleibt, breitet sie die Arme aus, wie sie es sonst tut, wenn ich sie hochnehme. Wenn ich „ F a r " (Vater) zu ihr Vater. sage, sagt sie „ A r " . Wenn ihr jemand zunickt, nickt sie auch. Nachahmung. Sie hat also begonnen, deutlich nachzuahmen. Als ich heute mit einer Hand auf mein Knie schlage, schlägt auch Ruth mit der Hand auf m e i n Knie. Die Nachahmung ist also nicht ganz „analog", aber es ist doch eine Nachahmung. E s ist etwas merkwürdig Bewußtes in Ruths Gesicht. Wenn sie lächelt, sieht sie schelmisch-verständig aus; wenn sie sich etwas ansieht, erweckt es den Eindruck, als sei sie ein genauer Beobachter. Wäre ich nicht ihr Vater, würde ich ihren stark wechselnden und „klugen" Gesichtsausdruck für ein Zeichen von Intelligenz halten. 22. November. Heute steht Ruth frei in ihrem B e t t ohne Stehen. sich festzuhalten. Doch war sie eingeschnallt und die Riemen strafften sich. Merkwürdigerweise bemerkt man keine Freude bei ihr, wenn sie etwas neues „erlebt". 28. November. Heute sagt Ruth zum ersten Male „ M o r " Nachahmung, (Mutter). Ich spreche ihr das Wort mehrfach langsam und langgezogen vor; einmal ahmte sie mit dem Worte „ B u a r " nach, es gelingt aber nioht, sie zur Wiederholung des Lautes zu bringen. Ob sie weiß, daß Far und Mor die beiden Personen bedeuten, ist schwer festzustellen. Es kommt mir aber vor, als verbände sie richtige Vorstellungen mit den Lauten.
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Das zweite Jahr. Stehen.
Heiter,
Bücherregal.
Erinnerung.
Bild.
Gewohnheit.
11. Dezember 1910. Ruth erhebt sich heute durch eigene Kraft an einem Regal und bleibt dort lange stehen. Als sie auf das Gesäß zurückfällt, macht das augenscheinlich nicht den geringsten Eindruck auf sie. Am Abend beginnt sie aus eigenem Antriebe zu gehen, als ich sie an den Händen halte und hinter ihr stehe. Später fällt sie hin und liegt auf dem Rücken. Als ich eine Hand ausstrecke, greift sie zu und erhebt sich in die Sitzstellung; dann greift sie noch einmal zu und erhebt sich zum Stand. Als sie die Badewanne sieht, wird sie sehr vergnügt; sie muß also schon verstehen, daß sie gebadet werden soll. 13. Dezember. Ruth, die auf den Kachelofen im Speisezimmer zukriecht, wird aufgehoben, umgedreht und auf den Fußboden gelegt. Plötzlich beginnt sie in starkem Affekt und schnaufend auf ein Bücherregal zuzukriechen, das in m e i n e m Arbeitszimmer steht. Aus diesem Regal greift sie gerne die Bücher heraus; sie kann sich also daran erinnern, daß dieses Regal im andern Zimmer hinter dem Schreibtisch steht, denn von ihrem Platze aus kann sie es nicht sehen. Als sie sich dem Regal nähert, ist sie so außer sich vor Freude, daß sie hinfällt und nicht imstande ist, weiter zu kriechen. Sie weiß gut, daß sie nicht das Regal berühren soll, und sie beeilt sich daher aus allen Kräften, es zu erreichen, ehe sie selbst ergriffen wird. Sie weiß aber natürlich nicht, daß sie durch ihre Eile und ihr Lachen gerade ihren Plan verrät. 23. Dezember. Ruth weiß jetzt, daß eine Uhr tickt. Sie hält sie von selbst an die Ohren, erst an das eine, dann an das andere. Sie erinnert sich also an diese Eigenschaft der Uhr von einem Tage zum andern. Ihrem Bett gegenüber hängt ein großes koloriertes Bild ,,les glaneuses"; darauf fällt heute ihr Blick und sie betrachtet es lange. Ich habe zum ersten Male beobachtet, daß sie ein Bild bemerkt und betrachtet; vermutlich hat die Größe und die Buntheit des Bildes dazu beigetragen. In der letzten Woche ist Ruth mit ihrem Nachtgeschirr vertraut geworden und kann des Tages leidlich trocken ge10
halten werden, wenn sie beizeiten auf den Topf gesetzt wird. Zuerst mußte sie recht lange sitzen, ehe sie das Geschäft verrichtete, aber jetzt geht es meistens recht rasch. Dieses eine von vielen Beispielen zeigt, daß das Kind sich der Erfahrung bedient, und zwar lange bevor man ihm etwas erklären kann. 28. Dezember. Ruth greift nach dem Handspiegel der Mutter und sieht mit dem größten Interesse hinein. Sie legt ihn auf das Sofa, beugt das Gesicht tief auf den Spiegel, drückt den Mund darauf und lehnt zärtlich die Wange an den Spiegel. Sie erkennt, daß da etwas ist und nimmt offenbar an, es sei ein Mensch, den sie gerne hui. Auch in meinen Taschenspiegel sieht sie mit Interesse, aber er ist kleiner und zeigt nur einen Teil des Gesichtes. Ruth versteht jetzt, wenn wir essen, denn sie sagt aus sich: ma—ma, d. h. Mad (gesprochen math, mit etwa englischem th am Ende) = Essen. 31. Dezember. Ruth hört wohl die Kanonenschläge des Sylvesterlärms, zeigt aber nicht die geringste Angst. Auch bei dem ersten Knall war keine Bewegung bei ihr zu entdecken. Dies läßt sich so deuten, daß keine instinktive Angst vor Geräuschen vorhanden ist. Ruth kann jetzt selbst auf ihrer Unterlippe „spielen". Wenn wir sagen „Ruth spielt", beginnt sie zu „spielen". Sie kann auch selbst „hören", daß die Uhr tickt. Wenn wir sagen „Ruth hört", setzt sie die Uhr an das Ohr. 2. Januar 1911. Ruth kann jetzt andeuten, daß sie „fertig" ist, wenn sie auf dem Topf sitzt: sie kreischt heftig. Sie kann auch, wenn sie abführen will, dies durch Kreischen andeuten. 8. Januar. Ruth entdeckt meine Augen und sticht mit dem Finger erst in das rechte Auge, und, als ich es schließe, in das linke. Sie greift nach dem Augenlid und versucht, das Auge zu öffnen. 15. Februar. Ruth ahmt jetzt nach, was sie sieht. Ich schließe einen Briefumschlag, indem ich mit der Zunge daran lecke. Sofort leckt sie mit der Zunge in der Luft und ist sehr vergnügt dabei. Ruth kann jetzt vom Topf aufstehen, ohne sich zu stützen; gehen kann sie aber noch nicht. 11
Siegel.
Geräusche.
Musik.
Forschen.
Nachahmung.
Gehen.
Nachahmung.
Sprache,
Gehen.
Sprache,
Zähne.
Gang.
Erinnerung.
6. März. Ruth hat sich angewöhnt, mit dem Topf Schlitten zu fahren; sie stößt sich mit den Beinen ab und gleitet rückwärts. Sie kann sich ganz ohne Hilfe vom Boden erheben; sie beugt sich vornüber, stützt sich auf die Hände, beugt die Kniee und macht dann den Rücken gerade. 13. März. Ruth hat heute beim Stehen den einen Fuß vorwärts gesetzt, der allererste Versuch zu gehen. An artikulierten Lauten kennt sie nur „mam—ma" = Essen. Ruth versteht, die Krampe der Gittertür zu heben, die sie im Eßzimmer einsperrt. 23. März. Ich putze meine Nase, während ich vor Ruths Bett sitze; darauf gebe ich ihr mein Taschentuch. Sie führt es an die Nase, pustet, gibt einen Trompetenlaut von sich, wie ich es getan habe, und wiederholt das mehrere Male. Ruth versteht jetzt zu steuern, wenn sie auf dem Topf Schlitten fährt; sie wendet, indem sie den Topf dreht, den Rücken nach der beabsichtigten Richtung. Ruth ist ständig sehr redselig, aber sie kann nur „ma—ma" sagen. Mitunter sagt sie auch „ j a " oder „nei" oder „ n a a " wie ihre Mutter. 7. April. Ruth macht heute sieben bis acht Schritte, aber anscheinend ohne Freude über dieses Ereignis. Das Gehen ist noch sehr unsicher, und sie hält sich am liebsten an Stühlen oder Tischen fest. Ruth spricht uns jetzt sehr bereitwillig nach was wir sagen. Sie sagt zum Beispiel naa, naa oder ja, ja. Sie weiß, daß ein Hund wau—wau sagt, und wenn sie bei der Ausfahrt einen Hund sieht, sagt sie in starkem Affekt wau—wau. Ihr Ausdruck einer freudigen Überraschung ist ein langgezogenes „Aa" (im dänischen wie der Anfangsvokal des englischen allright gesprochen). Sie ist in diesen Tagen der Zähne wegen etwas unruhig. Sie hat bisher nur die beiden mittleren Schneidezähne im Ober- und Unterkiefer und außerdem den linken äußeren Schneidezahn im Oberkiefer. 9. April. Ruth geht heute quer durch das Eßzimmer, langsam, grabesernst und ohne Zeichen von Freude. Erst als sie bei mir ist und „hoch" will, strahlt sie vor Freude. 12. April. Ruth hat schon einige Tage große Freude gezeigt, wenn ich den Schlüssel beim Heimkommen am Nachmittage 12
in das Schloß stecke. Sie hat also nicht nur Erinnerung, son- Denken. dern kann auch einen Schluß ziehen, denn sie weiß ja, daß es der Vater ist, der heimkommt. Ruth kann jetzt ein Zimmer Gehen. der Länge nach durchwandern, aber es geschieht noch sehr unsicher und steifbeinig. Der Körper schwingt dabei sehr stark um eine senkrechte Achse. Die ganze rechte Seite schwingt in einem Bogen vorwärts, wenn das rechte Bein vorgesetzt wird, und die Füße werden als Ganzes gesetzt, klatsch, klatsch. Die Füße haben auch noch deutlich nach innen gewendete Fußsohlen, und die Füße können durch eigene Muskelkraft stark nach innen gesetzt werden. 20. April. Ruth übt heute zum ersten Male eine bcachtens- Phantasie. werte Phantasietätigkeit aus. Sie nimmt ein fingiertes Etwas von einem Schemel und „legt" es in meine Hand. Darauf „nimmt" sie es wieder aus meiner Hand und „legt" es wieder auf den Schemel; so verfährt sie mehrere Male. Auf der Aus- Interesse. fahrt interessiert sie sich für alles, besonders aber für Hunde. Sobald sie einen Hund erblickt ruft sie wau—wau. Merkwürdig ist aber, daß sie schweigt, wenn Agnes oder ich sie auf einen Hund aufmerksam machen; sie will ihn also selbst entdecken. 21. April. Ruth hat das Simulieren erfunden, wenn sie aus Simulieren. dem Bett will. Sie sagt „sis—sis", und das bedeutet, daß sie auf den Topf will. Aber sie verwendet es auch als Mittel, um aufgenommen zu werden. Die ersten Male waren wir im Zweifel, ob sie wirklich simulierte, obwohl sie kürzlich mit Erfolg auf dem Topf gewesen war, ehe sie „sis—sis" gesagt hatte. Schließlich wurde aber das Simulieren unzweifelhaft, u. a. auch, weil sie ihre Freude bezeugte, wenn die List glückte. 24. April. Ruth gibt jetzt durch ein sehr energisches Sprache. „sis—sis" dem Wunsche Ausdruck, auf den Topf gesetzt zu werden. 29. April. Wenn Ruth Bilder sieht, nennt sie alle „wau". Wau. Es können Bilder von Tieren, Menschen oder Gegenständen sein. Ein Wauwau ist offenbar das, was den meisten Eindruck von allem gemacht hat, dessen Namen sie gehört hat. Die Sprache. Enten im Frederiksberger Park bezeichnet sie mit einem selbsterfundenen Laut, den ich nicht wiedergeben kann. Er 13
lautet, wie wenn einem langgezogenen r ein Laut zwischen a und ä folgt. Sprache. 1. Mai. Ruth sieht Spatzen auf dem Hofe und stößt den Laut aus, mit dem sie sonst die Enten bezeichnet. Gleichzeitig zeigt sie auf die Spatzen. Einen Hund auf der Straße ließ sie ganz nahe herankommen, ohne irgendwie Furcht zu Spiel, zeigen. Hin und wieder spielt sie wie am 20. April beschrieben: ein fingiertes Etwas wegnehmen. Sie kann sich also daran erinnern. Sprache. 2. Mai. Wenn Ruth etwas sieht, das sie fesselt, zeigt sie mit dem Zeigefinger darauf, entweder mit dem rechten oder mit dem linken, und sagt „de—de" oder ,,ne—ne" oder „ n ä ' ä " . Da ihr niemand beigebracht hat, mit dem Zeigefinger zu zeigen, handelt sie entweder spontan, wenn sie diese Methode benutzt, oder sie hat sie uns abgesehen. Mit den Verwunderungsausbrüchen verhält es sich vermutlich ebenso. Nae kann sie gehört haben (im Dänischen vulgäre Aussprache für nej = nein), und das macht sie zu ne. Aber für „ d e " findet sich bei uns Erwachsenen kein Vorbild. Vermutlich ist es auch aus „ n e " entstanden. 14. Mai. Ruth war im Zoologischen Garten und hat dort Tiere gesehen. Die Bisonochsen nennt sie wau—wau; das ist vorläufig die Bezeichnung für die Vierbeiner. Während sie aber vor Hunden gar keine Angst zeigt, war sie anfangs den Bisonochsen gegenüber etwas bedenklich. Schließlich beruhigt sie sich aber und sieht den Tieren interessiert zu. Die storchähnlichen Vögel im Rosengarten nennt sie ra—ra; Musik, das ist die Bezeichnung für alles Federvieh. Die Musik fesselte Ruth sehr stark; sie hörte sehr eifrig zu, wandte sich zwischendurch um und zeigte, daß dort etwas Bemerkenswertes war. Reinlichkeits- Ruth grub im Sande und bekam dabei etwas Schmutz in die sinn. Hand. Als sie es sah, zeigte sie mir die Hand und sagte ,,uf". Schwierig- Ruth bringt es noch nicht fertig, einen Deckel auf eine Schachkeittel zu setzen. Es macht ihr viel Spaß, immer wieder den Deckel abzunehmen, aber wenn sie ihn wieder aufsetzen will, bringt sie Deckel und Schachtel in alle möglichen Winkel zueinander. Sie kann also nicht beobachten, welche Kanten und Flächen hierbei parallel sein müssen. Sprache.
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22. Mai. Ruth hat heute zum ersten Male ,,Far" (Vater) gesagt; „ B a r " hat sie schon oft gesagt. Im Wegweiser des Zoologischen Gartens sieht Ruth Bilder und nennt alle Tiere Wauwau, mit Ausnahme der Enten; diese nennt sie Ra. Ruth hat jetzt im Oberkiefer vier Schneidezähne und zwei Backenzähne, die gerade durchgestoßen sind; im Unterkiefer hat sie einstweilen nur zwei Schneidezähne. 10. Juni. Ruth erhält Eimer und Spaten; anfangs läßt sie keine Freude erkennen. Nachdem sie die Sachen aber einige Stunden besessen hatte, war sie sehr erfreut darüber. Sie erzählte, daß ein Wauwau da sei, und will die Sachen mit ins Bett nehmen am Abend. An den folgenden Tagen verlangt sie mit einigen Unruhezeichen, daß ihr die Sachen beim Schlafen mit ins Bett gegeben werden sollen. Es ist das erstemal, daß sie intensives und ausdauerndes Interesse an einem Spielzeug erkennen läßt. 16. Juni. Ruth versteht jetzt gar nicht so wenig von dem, was man sagt. Fordere ich sie auf, mit dem, was sie in der Hand hat, zur Mutter zu gehen, so geht sie auch zur Mutter. Da heute Eimer und Spaten nicht zur Stelle waren, als sie unten war, setzte sich Ruth mit gefalteten Händen hin und bebte vor Zorn. Dann aber machte sie sich daran, mit den Händen zu graben.
Sprache..
Spiel.
Spielzeug.
Sprache.
Zorn.
6. Juli. Ruth findet heute bei der Großmutter die Tür zum Schlafzimmer geschlossen. Sie stellt sich an diese Tür und sagt wau—wau. Sie kann sich also erinnern, daß sie vom Fenster dieses Zimmers aus einen Hund auf dem Hofe gesehen hat. — Ruth sieht, daß ich eine Schreibtischschublade mit Hilfe eines Schlüssels öffne. Sie findet einen kleinen Nagel und steckt ihn in ein Schlüsselloch, das tiefer unten im Schreibtisch angebracht ist.
Erinnerung.
7. Juli. Ruth ist auf das Land gekommen. Im Zuge war sie ungemein stark mit allem beschäftigt, das sie durch das Fenster sehen kann. Pferde, Kühe und alle anderen Tiere nennt sie W a u ; diese interessieren sie am meisten. Jedenfalls zeigt sie ihr Interesse nur für Tiere, nicht für Häuser, Wälder usw.
Interesse.
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Ästhetik.
Hauch.
Meer,
Erinnerung.
Moral,
8. Juli. Ruth „pflückt Blumen"; sie greift dabei Grashalme und anderes in Bausch und Bogen mit; von den Blumen nimmt sie nur die Blüte oder ein Blütenblatt. Gelbe und rote Blumen bevorzugt sie zunächst. 9. Juli. Ruth sieht zum ersten Male Rauch aus einem Schornstein kommen. Das beschäftigt sie sehr stark; sie zeigt unentwegt dahin und läßt einige eigentümliche Warnungslaute hören, wie wenn sie ängstlich sei, was der Rauch wohl sein könne. Später kommt sie zum ersten Male an das Meer, das sich in starker Bewegung befindet, mit Schaumköpfen auf den Wellen. Sie ist sehr stark hiervon ergriffen, zeigte auf das Meer und sagt mehrmals e—e. Alles andere, das sie auf dem Wege zum Meere sieht, macht auch nicht annähernd so starken Eindruck auf sie. Den Wald, die Heide, den Strand, in dem sie buddelte, beachtete sie ohne ein Zeichen dafür, daß sie diesen Dingen besondere Bedeutung beimaß. Das Meer jedoch war etwas ganz besonderes, vielleicht wegen seiner Bewegung.
14. Juli. Ein Herr aus dem Pensionat nimmt Ruth mit zu den Kirschbäumen und gibt ihr Kirschen. Seitdem schleicht sie sich durch einen großen Umweg zu den Bäumen und stiehlt Kirschen. Selbst wenn ich hinterher gehe, schreitet sie rasch aus und greift nach den Kirschen, wenn sie unter den Bäumen steht. Nachdem ich ihr einen Klaps auf die Finger gegeben habe, bleibt sie das nächstemal unter den Bäumen stehen, zeigt auf die Kirschen und sagt mam—mam. Es ist das erste schwache Zeichen dafür, daß sie ein Verbot versteht. Agnes erzählt, daß Ruth am Nachmittage bei den Johannisbeeren deutlich erkennen ließ, daß es ihr bekannt war, daß hier verbotene Früchte seien. Nur wenn sie sich nicht bemerkt glaubt, geht sie in den Busch. — Ruth sieht weiße Wolken am Himmel, zeigt darauf und sagt dee—dee. Auch den W T etterhahn bemerkt sie. Alle Vierfüßer, Pferde, Kühe, Schafe, nennt sie noch Wauwau. Ruth hat in den voraufgegangenen Tagen in der See gebadet. Am ersten Tage war sie ganz ruhig; als ich mit ihr auf dem Arm ins Wasser ging, schrie sie etwas. Sie wurde etwas ins Wasser getaucht, schrie ein wenig, hörte aber sofort 16
d a m i t auf, als sie auf dem Lande abgetrocknet wurde. Am nächsten Tage weinte sie ganz wenig, als sie zum Wasser getragen wurde und zeigte sich etwas unruhig. Im Wasser weinte sie stärker, als sie aber am Lande war, lächelte sie sofort. Ruth singt sehr viel. An verständlichen Worten erkennt man n u r u—de, was vermutlich R u t h ' e sein soll; hin und wieder hört man auch bar = far (Vater). Einmal sagt sie auch dat = t a k (danke), als ihr etwas gereicht wird. 15. Juli. R u t h beginnt Wörter nachzusprechen, die sie hört. Unter anderem sagt sie: Mis, Morgen. 20. Juli. R u t h s Erinnerung reicht jetzt von einem Tage zum andern. Gestern steckte sie einen Halm in die Löcher der Platte eines Gartentisches. Als sie heute wieder einen Halm findet, geht sie sofort zur Tischplatte und steckt ihn in das Loch. Als R u t h zum ersten Male ein Pferd sah, schlug dieses zufällig mit dem Schweif, so daß es pfiff. Diesen L a u t m a c h t Ruth nach, eine Analogie zu wauwau als Bezeichnung des Hundes. R u t h zieht alle reifen Früchte anderer Nahrung v o r : Bananen, Erdbeeren, Himbeeren, Kirschen, Johannisbeeren. Hier draußen auf dem Lande stiehlt sie Johannisbeeren. R u t h h a t einen Zaum um, der beim Gehen in einem kurzen Stab hängen bleibt. R u t h bleibt stehen, sieht den Z a u m auf dem Stubben hängen, hebt ihn ab und geht weiter. Sie kann also über ein Hemnis nachdenken und es beseitigen. Als R u t h heute beim Wagenschuppen vorbeikommt, sagt sie w a u — w a u ; ich glaubte, sie meinte damit einen Hund, obwohl kein Hund da war. Ich höre aber jetzt, daß sie „ W a g e n " sagen will (wird im Dänischen „ w a u n " gesprochen). Sie hat also bemerkt, daß die großen Wagen dasselbe sind wie ihr zweirädriger kleiner Wagen. 2. August. R u t h spricht uns jetzt eine Reihe von Wörtern n a c h : Est a n s t a t t Hest (Pferd), Dudo a n s t a t t Bu-ko (Buhkuh), Du'u a n s t a t t Due (Taube), Mis (Katze), Misse a n s t a t t Chemisse (Hemd). Als der Hund des Hauses auf sie zukommt, eilt sie zur Mutter und sagt deutlich Mor—Mor (Mutter — Mutter in richtiger dänischer Aussprache). 4. August. R u t h steht auf einer hohen Treppenstufe und will in den Garten hinunter, wagt aber den Sprung nicht. Sie R a s m u s s e n , Tagebuch.
2
17
Gesang.
Sprache. Erinnerung.
Sprache.
Moral. Verstand.
Sprache.
Denken.
Sprache.
Erinnerung.
bedenkt sich einen Augenblick, geht dann zur Tür neben der Treppe, hält sich an ihr fest und gleitet die Stufe hinunter. Kurz danach verfährt sie ebenso. Ruth hat damit zweifellos 1. die Gefahr erkannt, der sie sich beim unmittelbaren Absteigen aussetzte, 2. eingesehen, daß ihr die Tür eine Stütze sein kann, 3. sich erinnert, daß ihr die Tür eine Stütze gewesen ist. 6. August. Ruth hat in den Sommerferien die Namen vieler Dinge gesagt. Sie spricht einzelne Wörter nach, aber keine Sätze. Es sind fast ausschließlich Hauptwörter, die sie wiederholt, wie Tä anstatt Trae (Baum), Dun anstatt Stol (Stuhl), Mann (richtig), Ti anstatt Blomst (Blume, von attis = hatschi) Pi anstatt Pige (Mädchen), Kräng anstatt Dreng (Junge), Wau anstatt Vogn ( = waun, Wagen), Pis anstatt Pisk (Peitsche), Daa anstatt Stok (Stock, aa immer offen gesprochen), Wa anstatt Vand (wann = Wasser), Ö anstatt Öl (Bier). Ruth ist in den Ferien sehr braun geworden und sieht frisch und gesund aus. Die Beine sind fast gerade. Sie hat 4 + 4 Schneide- und 2 + 2 Backenzähne; der rechte innere Schneidezahn des Unterkiefers kam zuletzt. Wenn Ruth nicht gehorcht, erhält sie einen Klaps hinten drauf; aber selbst ein recht kräftiger Schlag hat bemerkenswerterweise keine sichtbare Wirkung. Sie weint nicht, sie schleicht sich nur weg. Es kommt aber vor, daß sie einige Augenblicke später schmeichelnd wiederkommt oder küssen will. Ruth kannte das Mädchen bei der Rückkehr aus den vierwöchigen Ferien nicht wieder, trotzdem sie Helga sehr liebte. Sie wurde aber bald mit ihr vertraut und zeigte dann ihr früheres freundliches Wesen wieder ihr gegenüber. 7. August. Ruth, die vor den Ferien ihr tägliches warmes Bad sehr geliebt hatte, will sich jetzt nicht mehr in die Badewanne setzen. Sie zeigt großen Unwillen gegen das warme Wasser. Später wird sie ruhiger und setzt sich. In den Ferien war sie zuletzt fast nicht mehr furchtsam vor dem Wasser; nur in dem Augenblick, wenn man sie in das Wasser setzte, wimmerte sie etwas. Wenn aber der unangenehme Augenblick des Tauchens überwunden war, ging sie ruhig im Wasser 18
umher, während ich Steine für sie aufhob. Tiefer als bis zu den Schultern ist sie nicht ins Wasser gekommen, und der Kopf blieb stets trocken. Ruth bekommt eine leere grüne Schachtel, in der einmal Schokolade war, von der man ihr ungefähr vor einem Monat etwas abgegeben hatte. Sie sagt sofort mam—ma (Essen) und sieht nach, ob etwas in der Schachtel ist. Als Ruth in den Frederiksberger Garten kommt und die Enten sieht, sagt sie ra—ra wie vor den Ferien. Sie hat also die Enten wiedererkannt. 25. August. Ruth hat begonnen zu „zeichnen". Sie sagt „isch", was gewiß Avis (gespr. awieß = Zeitung) bedeuten soll. Dann bittet sie, daß man ihr etwas zeichne. Es werden gezeichnet: Hund, Pferd, Kuh, Ente, Katze, Mädchen, Junge usw. Sie kann die Zeichnungen einigermaßen richtig voneinander unterscheiden und die Namen nennen. Sie selbst zeichnet Striche kreuz und quer sowohl mit der rechten als auch mit der linken Hand. Mit diesem Spiel ist sie stark beschäftigt. Besonders was man von einem Bilde erzählt, setzt sie in Affekt, etwa: Jetzt will ich ein kleines Mädchen zeichnen. Die Ausführung der Zeichnung geht ihr dagegen oft zu langsam; sie will dann selbst eingreifen. Ruth sagt im wesentlichen immer noch einzelne Wörter, aber nicht nur Hauptwörter; sie sagt zum Beispiel regnet, weht, fahren in schwer wiederzugebenden Ausdrücken. Der einzige zusammengesetzte Satz entfuhr ihr als ein Hut zur Erde fiel: Hut — bums. 27. August. Ruth erinnert sich jetzt recht gut. Sie war am 21. August bei ihrer Tante und erhielt einen Apfel, der aus einer Schale in der Küche genommen wurde. Als sie heute bei dem nächsten Besuch wieder in die Küche kommt, geht sie sofort auf die Schale zu, nimmt einige Äpfel und zeigte ihr mam—mam. Ruth sagt jetzt auch Lole anstatt Kjole (Kleid), Lölle anstatt Stövler (gepr. stöuler, Stiefel), Busser anstatt Bukser (Hosen), Dun anstatt Stol, At anstatt Hat (Hut), Döj (deu) anstatt Töj = teu (Zeug), Da anstatt Tak (Dank). 29. August. Das Mädchen Helga ruft sie Lala, was ich erst heute entdecke. 2*
19
Erinnerung.
Zeichnen.
Erinnerung.
Verneinung.
Analogie,
30. August. Ruth hat die Masern bekommen und sieht sehr rotgesprenkelt aus. 31. August. Sie ist sehr ruhig und schläft die meiste Zeit des Tages. Sie ist jetzt stark rot, hat Fieber und hustet etwas. Sie ist nicht sehr mürrisch und lacht mitunter, wenn wir an das Bett kommen. I. September. Ruth ist heute viel gesünder. Sie sitzt im Bett und spricht oder lacht. 3. September. Ruth sagt heute morgen: mam—mam, mer, mer mam—mam (mehr Essen); später: far saa'er = far sover (gespr. Bauer — schläft). Sie schlägt, als sie an die Couch kommt, darauf und sagt: saa'er, also: das ist das, worauf Vater schläft. 4. September. Beim Besehen eines Zoologiebuches erkennt Ruth folgende Tiere: Katze, Hund (Wolf), Pferd, Taube, Ente. Andere Bilder benennt sie entweder nicht, oder sie sagt wauwau, ra, oder ähnlich. 5. September. Ruth sagt heute wieder: far saa'er. Als Helga sie etwas essen lassen will, was sie nicht mag, legt sie sich im Bett zurück und sagt: saa'er. Das ist ein Beispiel der Verneinung durch eine andere Tätigkeit als die verlangte. Sonst weigert sich Ruth durch eine abwehrende Grimasse und ein „um". Ruth ist heute gesund und aufgestanden. I I . September. Ruth sagt heute, als sie ein Blatt bekam: ,,nä, se, Mor" (nein, sieh, Mutter). Sie ist stark mit ihrem Zoologiebuch beschäftigt und kennt ziemlich viele Vierfüßer und Vögel. Sie spielt mit deutlicher Phantasie. Eine Puppe, die sie „Dreng" (Junge) nennt, legt sie in eine Schale und sagt: „Dreng sover" (Junge schläft). Ihre Sprache besteht jetzt aus einzelnen Äußerungen, die teils Hauptwörter, teils kurze Sätze sind. Die Hauptwörter werden aber nicht gebeugt, und das Zeitwort steht immer in der Gegenwart (eine Beugung des Zeitwortes nach den einzelnen Personen kennt die dänische Sprache nicht, so daß es für ein Kind leichter ist, richtig zu konjugieren). Sie ist also im eigentlichen Sinne ein Gegenwartsmensch, an Vergangenheit und Zukunft denkt sie nicht, oder, vorsichtiger ausgedrückt, läßt sie das in ihrer „Rede" nicht erkennen. 20
18. September. Ruth sagt ¡\amin anstatt Knap (Knopf), Mann piel anstatt der Mann spielt, Boll anstatt Boldt (Ball), Haarba anstatt Haarbaand (Haarband), Doje anstatt Treje (gespr. treue, Jacke), mejer anstatt leger (gespr. leier, spiele), Lala anstatt Helga. Ruth sieht sich in einem großen Spiegel und sagt „Da", soll heißen Goddag; dabei greift sie nach dem Bilde ihrer Hand. 26. September. Ruths Wortvorrat wird immer größer, außerdem berichtigt sie die Aussprache der bisher gebrauchten Wörter. Sie sagt Nap anstatt Knap (Knopf), aber in der Mehrzahl noch Nammer anstatt Napper (Knapper), Har Pige anstatt Fars Pige (Vaters Mädchen), ebenso Mor Pige, mitunter aber schon richtig Mors Pige. Der Genitiv ist also die erste Beugung, die sie verwendet (Dativ und Akkusativ haben im Dänischen keine besonderen Endungen, nur der Plural ist kenntlich; Regeln sind aber für die Pluralbildungen nicht vorhanden). Ruth beginnt zu verneinen indem sie „nein" sagt, etwa: Far saa'er, nej anstatt Far sover ikke (Vater schläft, nein anstatt Vater schläft nicht). Als Ausrufewörter benutzt sie nä (aus nein vulgär gebildet), se (sieh) und ih! Diese Worte hört man auch beim erwachsenen Dänen viel. Ferner wird beobachtet: Baner anstatt Svaner (Schwäne), Lus anstatt Lys (Licht), Vaner anstatt Vanter (Handschuhe), Mis Mav (gespr. mieß ma—u, Katze), Bol anstatt Fugl (gespr. Fuul, Vogel), Bole anstatt Fugle, Dame richtig, Pi'e anstatt Pige, Kone (Frau) richtig, Dang anstatt Dreng (Junge), Lole paa anstatt Kjole paa (Kleid an), De anstatt Ske (Löffel), Isch anstatt Blyant (Bleistift), Pir anstatt Papir, Opsa anstatt op (auf), op lege soll heißen: sie will auf den Boden gesetzt werden, damit sie spielen kann, Buh = Kuh, Est anstatt Hest (Pferd), Du'ä anstatt Due (Taube), Külü = Hahn, Rap = Ente, Bis anstatt Fisk, Baa anstatt Bog, Dol anstatt Stol, Sän anstatt Seng (Bett), Baas = Bams = Björn (Bär). Aus einer Reihe anderer Wörter geht hervor, daß Ruth den Stimmhalt noch nicht beherrscht, der für die dänische Aussprache charakteristisch und für den Ausländer schwer zu erlernen ist. Der Stimmhalt besteht in einem jähen Zusammenklappen der Stimmbänder, so daß der Ton ruckartig ab21
Sprache.
Analogie.
Verneinung.
geschnitten wird (wie bei einem leichten Schlucken). Es hat keinen Sinn, diese Wörter und Ruths Aussprache hier anzugeben, da der Nichtdäne den Unterschied nicht erkennen kann. Wenn Ruth „ m e r " sagt, bedeutet das nicht, daß sie von dieser Art mehr zu haben wünscht; es bedeutet nur den Wunsch, man sollte in dem Spiel usw. fortfahren. Analogie. 28. September. Ruth sagt, als sie ihre Mutter über den Korridor hüpfen sieht „Mutter spielt". Sieht sie Bilder von Affen, so nennt sie sie unweigerlich „Mann". Sie erkennt jetzt die Bilder folgender Tiere: Pferd, Kuh, Taube, Hund, Katze, E n t e und Fisch. Sie kann jetzt ganz nett Sätze sagen, jedoch noch ohne Beugung der Wörter. Sie sagt zum Beispiel goda Mor anstatt god dag, Mor, F a r saa'er anstatt F a r sover (schläft), Lala leger (Helga spielt), op Far = ich möchte auf, zu Vater, ned lege = ich möchte hinunter (auf den Fußboden) zum Spielen, Mel anstatt Kamel, R a anstatt Giraf, Daar anstatt Stork, Baast anstatt Blomst (Blume), Paere (Birne) richtig, Sose = Suppe, Damen söd = Damen er söd (die Dame ist lieb). 1. Oktober. Dode anstatt Dukke (Puppe), Bille anstatt en Spille (ein Spiel, gemeint ist ein Musikinstrument; der Gegenstand war in Wirklichkeit ein Thermometer), tom anstatt kom (komme). Ruth geht mit ihrem Bären im Arm umher und sagt: Dode lege anstatt Dukken leger (die Puppe spielt), Vaner paa anstatt Yanter paa (Handschuhe an); beim Suchen nach ihrer Puppe sagt sie „men dog" (aber, doch!), wie man es auch beim erwachsenen Dänen hört, wenn er erstaunt ist. Wenn Ruth „ F a a " sagt, soll es heißen: maa jeg faa = darf ich (haben). 3. Oktober. R u t h spricht den e r s t e n richtigen S a t z : da ist der Ball; nur in dem Worte Ball fehlt noch der Stimmhalt. Sie sagt jetzt Krau—e anstatt Kra—u—e (Kragen), Töje anstatt Syltetöje (Zuckerzeug), Tarn anstatt Kam (Kamm), Bors anstatt Börste (Bürste), da = t a k (danke), als sie einen Kuchen erhielt, finn, ich finde, anstatt ich habe das gefunden. Tasse anstatt Taske (Tasche), Tyse anstatt Kyse (Kapuze), Kly anstatt Klud (Lappen). Wenn sie erstaunt ist, ruft sie: ja, nei, nä, naa, saa, uh, hah, men dog! 22
11. Oktober. Ruth kennt jetzt alle täglich vorkommenden Gegenstände und Erscheinungen, zum Beispiel Kamm, Bürste, Bett, Kissen, Bettdecke, Stiefel, Strümpfe, Hemd, Hosen, Kleid, Kragen, Handschuhe, Kappe, Gamaschen, Hut, Jacke, Stock, Tasche, Kleid, Haarband, Buch, Bär, Essen, Wasser, Löffel, Bad, Anziehen und Ausziehen, das sie an und aus nennt, Schwamm, Wagen, Wagenfahrt, Haus, Mann, Dame, Mädchen, Junge, Kinder, Enten, Schwäne, Vogel, Pferd, Hund, Katze, Baum, Blume, Taube, Fisch, Tisch, Hühner, Nadel, Stuhl, Wasser, auch in den Wasserarmen, die sie in der Stadt sieht, Nachtgeschirr, das sie „ H u t " nennt, Ball. An Personen kennt sie: Vater, Mutter, Ruth, Lalla (Helga), Großvater, Anna, Dine, Bus. An Körperteilen kennt sie: Haar, Stirn, Augen, Nase, Mund, Ohren, Magen, Arme, Hände, Finger, Beine, Kopf. 18. Oktober. Ich komme von einer viertägigen Reise zurück; als Ruth mich sieht, benimmt sie sich genau wie sonst, wenn ich heimkomme. Durchaus nichts deutet darauf hin, daß sie eine Vorstellung davon hat, daß ich länger als sonst aus dem Hause gewesen bin. 23. Oktober. Ruth ist im Bade und entdeckt ihren Nabel: was ist das? Namm ( = Knap, Knopf). Ruth kennt jetzt noch folgende Tiere: Fant = Elefant, San = sael (Seehund), Benn = Firben (Vierbein), Lange = Slange, Dyr (Tier) richtig. Ferner sagt sie Esse anstatt Aeske (Schachtel). 26. Oktober. Ruth spielt gewöhnlich sehr eifrig. Ihr Spiel besteht darin, daß sie den Bären in einer Zigarrenkiste ins Bett legt und ihn mit einem Taschentuch zudeckt. Dabei sagt sie in kindlicher Sprache: Decke drauf. Bärchen schläft. Dann singt sie ihn in den Schlaf. Man sieht, daß das Schlafengehen auf Ruth den stärksten Eindruck macht, sonst würde sie nicht so außerordentlich oft spielen: die Puppe, den Bären, den Hund ins Bett bringen. Ich habe dagegen nicht beobachtet, daß sie ihrem Spielzeug zu essen gibt. Ruth entdeckt ihre Hosen auf einer Leine und sagt: Busser hän'er = Bukser hänger. Ferner: Mor Döler a = Mor Stöulerne af (Mutter, zieht mir die Stiefel aus).
23
Zeitgefühl.
Sprache.
Spiel.
Furcht.
Ästhetik.
30. Oktober. Ruth sagt: Auf, Mutter, Ruth Töje, d. h. Mutter, steh auf, und gib Ruth Zuckcrzeug zu essen! Ruth erhält Kastanien, und trotzdem sie bald sehr viele hat, verlangt sie stets ,,mer Bolle", also mehr Bälle. Die in ihrem Besitz waren, interessierten sie nicht sehr sonderlich; sie lagen in ihrer Wagendecke. Der Wunsch nach mehr war jedoch immer stark. Zu Hause legt Ruth eine Kastanie in ein Taschentuch und singt sie in den Schlaf, ein unbestreitbares Beispiel von Animismus. Einen Kuß nennt Ruth „Nöss". 2. November. Ruth sagt: Mor didder anstatt Mor striker (stickt). Weitere Wörter und Sätze: Röj anstatt Rög (Rauch), Vaad anstatt Baad (Bad), Lamme anstatt Lampe, Ruth sider anstatt Ruth sidder (sitzt), Far jemme anstatt Far hjemme (heim), Tul anstatt Klud (Lappen), dejli lade anstatt dejlig Chokolade (schöne Sch.); sie gebraucht die Zahlwörter eins und zwei noch nicht mit den richtigen Einzahl- und Mehrzahlformen der folgenden Wörter. Sie antwortet oft ja und nein an den richtigen Stellen. 3. November. Ruth sieht den Mond und sagt: Licht oben. Ruth spielt mit den Kastanien und bringt sie zu einer Schachtel auf der Couch, eine nach der andern. Das geschieht die ganze Zeit im Laufschritt; ein Zeichen der Aktivität des Kindes. 4. November. Ruth sagt Mann Döler paa anstatt Manden h a r Stövler paa (der Mann h a t Stiefel an), Ruth klein anstatt Ruth ist klein; in allen Sätzen fehlt das Zeitwort mit Ausnahme des Satzes Ruth schläft. Ruth geht mit mir durch einen stockfinstern Gang, zeigt aber nicht das geringste Zeichen von Unruhe. Bisher hat sie noch nie im Dunkeln die geringste Unruhe oder Furcht vor etwas gezeigt. Sie liegt oft im dunklen Schlafzimmer lange wach in der besten Laune, singt oder spricht vor sich hin. 6. November. Ruth liebt sehr ein Sofakissen, das aus hellgelber Seide ist und Stickereien aus Goldfäden und roter Seide hat. Während sie sich sonst nicht gerade nach dem Schlafen drängt, bittet sie jeden Augenblick auf die Couch gelegt zu werden, damit sie auf diesem Kissen schlafen kann. Zwischendurch wendet sie sich dann um und betrachtet das 24
Kissen mit Interesse. Die Liebe zu diesem Kissen ist offenbar ästhetisch begründet. 7. November. Ruth hat ihren Bären im Bett neben sich aufgestellt, so daß er die Vögel im Buche sehen kann; sie zeigt mit den Fingern auf die Vögel und sagt zum Bären: Was ist das? Und darauf zur Mutter: Bärchen sieht. 9. November. Ruth hat eine große Puppe erhalten und ist entzückt. Sie nennt sie Dudde (anstatt Dukke = Puppe), legt sie zum Schlafen nieder und setzt sie, als wir essen, an den Tisch; dudde mam—mam erklärt sie dabei. Mit einem Taschentuch putzt sie ihr die Nase mit der Erklärung „Dudde nat". Sie nimmt die Puppe bei der Hand, und es scheint mir, daß sie recht unangenehm berührt ist, weil die Puppe nicht aus eigener Kraft stehen kann. Sie sagt „Dudde lejer" und versucht, sie zum Stehen zu bringen, was natürlich nicht gelingt. Ruth hat sich heute morgen unter dem Oberbett versteckt. Als Agnes fragt, wo denn Ruth sei, sagt sie „da" und steckt den Kopf heraus. Bei diesem Spiel sagt sie ferner: „ R u t h finn", „Ruth sehr finn". Ruths Puppe stößt gegen eine Kante. Ruth tätschelt die Puppe und sagt: so, bei, soll heißen: so, nun ist der Schmerz vorbei. Damit sie nicht verlorengehen, hat Agnes der Puppe die Schuhe abgezogen. Ruth bemerkt das und sagt: „Stiefel an, nein", also die Puppe hat die Stiefel nicht an. 12. November. Ruth sagt zur Puppe: Dudde, uh ha, Pfui, das soll bedeuten, die Puppe hat sich naß gemacht. Ruth liegt jeden Abend im Schlafzimmer im Dunkeln, zeigt aber, obwohl sie wach ist, nie das geringste Zeichen von Furcht. Kommt man zu ihr hinein, so sagt sie irgend etwas, es verrät aber nie Furcht vor der Dunkelheit. 13. November. Ruth sagt: „Ruth tegne het isch pir" anstatt Ruth tegner hest Blyant papir (zeichnet mit einem Bleistift ein Pferd auf Papier). Der Wortvorrat hat sich bedeutend vergrößert (die Wörter werden jetzt nicht mehr im Kinderdänisch angegeben; das soll nur in besonderen wichtigen Fällen geschehen, wenn Betrachtungen an der Aussprache es erfordern): Apfel, Birne, Schiff, Hut, (nämlich Fingerhut), Schaf, Haar, Ruth eine Bein-Ruth auch Bein zu, also Ruth 25
Animismus.
Analogie. Furcht.
hat noch ein Bein, to Mann anstatt to Mänd (zwei Männer), zwei bedeutet hier mehr als einer. Ruth sagt: „ich schlafe", das erstemal, daß das Wort ich beobachtet wird. 14. November. Bei einer Ausfahrt durch den Frederiksberger Garten gehen die Gänse auf den Wegen spazieren, umringen Ruths Wagen und schreien laut. — Ruth sagt: sch, Vater schläft! Sie weiß, daß sie ruhig zu sein hat, wenn der Vater schläft. 15. November. Ruth kennt Bilder von der Schnecke, der Krabbe, dem Käfer, dem Krebs, dem Adler. 16. November. Als ich zur Tür hereintrete, sagt Ruth: „Guten Tag, Vater", wiederholt es aber gelegentlich später. Sie weiß also noch nicht, daß es ein Gruß ist. Sie greift meine Manschetten und sagt: schetter finn; sie kennt noch die Wörter Brief und Fliege. 21. November. Ruth besieht Bilder in einem Buch; sie stößt auf eine leere Seite und sagt „nichts!" Beim Essen nimmt Ich. sie sich selbst ein Stück und sagt: Ruth selbst! Das sind unbestreitbare Beweise dafür, daß ihr „ich" in Gegensatz zu anderen gekommen ist. Ruth wurde heute im Wagen ausgefahren. Die Mutter ließ sie im Wagen vor einem Hause stehen und ging in eine Wohnung des ersten Stockes. Nach längerer Zeit öffnete dort eine Dame das Fenster und rief Ruth zu: Guten Tag, Ruth! Ruth antwortete: Mutter, tomm. Als die Mutter wieder zum Wagen trat, sagte Ruth: Guten Tag, Mutter, mehr fahren, also: fahre mich wieder. Ruth beobachtet jetzt selbst die Worte, die ihre Umgebung benutzt, auch wenn sie nicht an sie gerichtet sind, zum Beispiel Ply oder Byroply anstatt Paraply, Tobler anstatt Kartofler. Furcht. 23. November. Ruth wird im Wagen ausgefahren; vor einem Bahnübergang muß gewartet werden. In unmittelbarer Nähe steht eine Lokomotive, deren Schornstein raucht, und die aus den Zylindern Dampf zischen läßt. Ruth zeigt jetzt Angst, wird rot im Gesicht, erhebt sich etwas aus ihrem Sitz, sieht furchtsam aus und sagt: mehr fahren, also: ich möchte weiter fahren. Die Mutter sagt: Du sollst nicht ängstlich sein. Bei der Rückkehr zum Übergang kommt wieder ein Zug vorüber; sie sagt: Ruth bange. Als aber dann noch 26
ein Zug aus der andern Richtung kommt, sagt Ruth nur noch „Zug". Bei d i e s e r G e l e g e n h e i t w i r d z u m e r s t e n Male F u r c h t bei ihr b e o b a c h t e t . 25. November. Trotzdem Ruth sich bemüht, ist es ihr noch nicht möglich, K und S auszusprechen. Das K und S läßt sie vor Konsonanten weg, das K ersetzt sie mitunter durch ein T. Sie hat die folgenden Beschäftigungen: Bilder besehen, zeichnen, mit der Puppe, dem Bären, dem Hunde spielen, mit den „Bällen", d. h. Nüssen spielen, mit Eimer und Spaten spielen und mit der Peitsche spielen. 27. November. Ruth sieht heute Agnes und mich im Mantel, sagt darauf „fahren" und faßt mich an die Hand, obwohl sie keinen Mantel anhat. Sie schließt offenbar, daß sie ausgefahren werden soll, wenn sie die Eltern im Überzeug sieht, versteht aber noch nicht, daß sie nicht mitgenommen werden kann, wenn sie nicht angezogen ist. 1. Dezember. Ich bin zwei Tage auf der Reise gewesen. Als Ruth aufwacht und mich sieht, ist ihr nicht anzumerken, daß sie im geringsten mein ungewöhnlich langes Fernbleiben beobachtet hat. Ich knacke eine Wallnuß in der Hand und mache dabei offenbar ein angestrengtes Gesicht. Ruth, die mich genau beobachtet, sieht ebenfalls aus, als strenge sie sich aus aller Kraft an. Das ist offenbar ein Beispiel zur Suggestion. Ruth kennt jetzt auch die Wörter „Schlüssel" und „Hallo" (Telefon). 2. Dezember. Als Ruth ihre Mutter im Begriff sieht auszugehen, sagt sie: Zeug an, Fahren, Stadt, also ich will mein Zeug anhaben, um in die Stadt fahren zu können. Sie versteht also, daß sie erst ihre Sachen anziehen muß, ehe sie in die Stadt fahren kann. Ruth hat einen Puppenwagen erhalten, in dem sie ihre Puppe spazieren fährt. Sie setzt sie in den Wagen und sagt „sitze gut", d.h. nun sitzest du gut, wie Helga zu Ruth sagt. Später sagt sie „schön warm", nun hast du es schön warm, wie ebenfalls das Mädchen zu ihr sagt. Als Ruth ins Bett gelegt wird, will sie den Puppenwagen auch ins Bett gelegt haben. Ruth hat heute, dem letzten Tage ihres zweiten Lebensjahres, folgenden Wortschatz: 27
Sprechen.
Wortschatz.
1.Ausrufe: nä, Pfui, aber doch, uff, uha, au, ja, nein, so, na, bi (forbi, vorbei), ih, sieh, um, sch—sch. 2. Hauptwörter: Schuh, Strumpf, Hose, Kleid, Kappe, Hut, Jacke, Mütze, Haarband, Schuh, Hemd, Handschuh, Bein, Ende, Stirn, Auge, Nase, Mund, Kinn, Hals, Haar, Ohr, Hand, Arm, Mutter, Vater, Lalla (für Helga), Eff (für Ebba), Oma, Mann, Dame, Mädchen, Junge, Tisch, Stuhl, Kissen, Sofa, Decke, Bett, Bettdecke, Topf (Hut genannt), Lampe, Buch, Bücher, Bleistift, Papier, Zeitung, Blatt, Wasser, Blume, Hallo (Telefon), Ball, Schachtel, Schlüssel, Haus, Stein, Baum, Wagen, Eimer, Spaten, Puppe, Manschette, Kragen, Brille, Uhr, Essen, Fleisch, Fisch, Kaffee, Bier, Schokolade, Milch, Zuckerzeug, Knopf, Nadel, Nagel, Bad, Kopf, Tomate, Katze, Kuh, Kind, Pferd, Elefant, Schwein, Seehund, Bär, Maus, Hund, Käfer, Hase, Hatte, Vogel, Möwe, Ente, Storch, Huhn, Eule, Taube, Krähe, Star, Schwalbe, Schlange, Frosch, Schildkröte, Wurm, Fliege, Biene, Krabbe, Krebs, Schnecke, Seestern, Schaf, Schwan, Löffel, Brief, Treppe, Zug, Stadt, Schnur, Peitsche, Regenschirm, Kartoffel, Bild, Kuß, Fingerhut, Schiff, Birne, Apfel, Boot, Rauch, Finger, Schwamm, Stock, Tasche (im dänischen z w e i Wörter, die Tasche, die man in die Hand nimmt, und die Tasche in der Kleidung), Lappen, Kamm, Bürste, Kleiderkragen, Spiel (Musikinstrument), Suppe, Leben, Schleife; zusammen 147 Wörter. 3. Eigenschaftswörter: groß, klein, lieb, schön, lang, rot, bange, warm, kalt; zusammen 9. 4. Zeitwörter: schlafen, sitzen, fahren, gehen, laufen, zeichnen, essen, kommen, tragen, haben, stricken, spielen, sein, regnen, wehen, sehen, hängen, nähen; zusammen 18 Zeitwörter. 5. Besondere Ausdrücke: Guten Tag, Wiedersehen, Gute Nacht, Guten Morgen, Danke, mehr, laß sein, komm, selbst, ich noch, auch, Guten Abend, auf, runter, da, sehr, hoch (sie will aufgenommen werden), das, nicht, kaput. 6. Zahlwörter: eins, zwei, drei, viele. Ruths Wortvorrat umfaßt also über 210 Wörter.
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Das dritte Jahr. 3. Dezember 1911. Ruth hat heute Geburtstag; sie hat einen Puppenwagen bekommen, der großes Entzücken bei ihr hervorruft. Am Abend kommen noch Kissen hinzu, die auch großen Jubel erwecken. Ruth legt unaufhörlich die Kissen im Wagen zurecht, oft falsch, wirft sie dann auf die Erde, legt sie wieder in den Wagen. Sie hat auch einen Satz Bauklötze erhalten, mit denen sie Häuser baut. Einige Male sagt Ruth klagend: pip ae dö'e, was aber niemand deuten kann. Vielleicht meint sie mit Pip einen kleinen Vogel, von dem sie hat reden hören. Als es später dem Mädchcn erzählt wird, erklärt sie, Pip sei die Puppe ihrer kleinen Schwester, die entzwei gegangen war, und von der man deshalb in ihrer Familie gesagt habe, sie sei tot (död). Ruth hat davon jedenfalls so viel verstanden, daß sie ernsthaft aussehen muß, wenn sie von Pip spricht. Ruth sagt den Satz noch mehrmals am Abend, immer sehr betrübt und mit ständig veränderter Stimme. Als man über sie lacht, versteht sie durchaus, daß de der Mittelpunkt der Unterhaltung ist. Das kann also ein zweijähriges Kind schon begreifen. 4. Dezember. Ruth spricht jetzt noch die Wörter Klötze und Klemmer, jedoch läßt sie das K am Anfang aus. Wenn Ruth den Satz „Pip ist t o t " spricht, sagt sie es mit der größten Rührung, wie in einer Grabrede. Sie senkt den Kopf, zieht die Augenbrauen hoch, schließt die Augen etwas und spricht mit einer wimmernden leisen Stimme. 5. Dezember. Ruth hat heute Abend mit der linken Hand gezeichnet. Es entstehen dieselben flachen Spiralen, die sie immer zeichnet, und die bald einen Mann, bald ein Mädchen oder anderes darstellen sollen. Wenn sie das Wort Sparbüchse sagt, läßt sie das S am Anfang aus. 7. Dezember. Ruth erzählt: Ruth faßt Mutter an — Mutter läuft — Ruth läuft — Ruth ist mit. Sie erzählt alles mit der stärksten Leidenschaft; es handelt sich um Ereignisse des gestrigen Tages. Ruth kann sich also an diese Ereignisse erinnern und die Bemerkungen verstehen, die sich auf diese Ereignisse beziehen. 29
GeschmeichelL
Verstellung.
Sprache.
Erinnerung.
Furcht.
Frage warum
'
Wer?
Einschmei cheln.
Sprache.
Selbständigkeit.
Als Ruth vor einiger Zeit vor einem Zuge Angst zeigte, wurde sie rot; dasselbe geschieht, als heute auf dem Boden über uns Geräusche zu hören sind. Sie wird rot und sagt: Ruth bange. Sie kann jetzt ihren Namen in der Form Ruth Ras sagen. Ferner sagt sie „Rüde zwei Jahre". „Laß sein!" 8. Dezember. Ruth sagt heute: soll nicht — warum soll soll nicht? Sie sagte es in meinem Arbeitszimmer vor dem Bücherregal, dessen Bücher sie nicht anrühren soll. Ihre Äußerung stand nicht in Verbindung mit anderem, das vorher gesagt wurde. Sie sagt ferner: „Ruth heißt Rudde." Agnes hat Ruth die Urheber der einzelnen Geschenke mitgeteilt, sie kann jetzt auf die einzelnen Fragen richtig antworten : Wer hat Ruth die Puppe geschenkt ? Oma. Wer hat Ruth die Kissen geschenkt ? Vater. Wer hat Ruth die Bauklötze geschenkt ? Eva. Wer hat Ruth den Puppenwagen gebracht ? Mann (nämlich der Bote). Ruth ist heute verdrossen, so daß ich zu ihr sage: Ruth ist nicht Vaters liebes Mädchen, wobei ich böse dreinschaue. Sofort wendet sie sich zu mir um, ist sehr zärtlich, sagt „da far" und legt ihr Gesicht an meines. Als ich ihr später wieder vorwerfe, daß sie unfreundlich sei, sagt sie: Laß sein, Pfui; was ich so deute: Laß sein, sozusagen, pfui über mich! 10. Dezember. Ruth hat ihre Aussprache des Mädchennamens berichtigt; anstatt Lalla sagt sie jetzt Heia. Oft benutzt sie auch noch die alte Bezeichnung. Ruth spielt am meisten mit ihrer Puppe und mit dem Bären, dann erst mit den Bauklötzen. Außerdem sieht sie sich Bilder an, zeichnet oder „liest". 11. Dezember. Ruth geht den ganzen Weg treppauf bis zum vierten Stock allein. In einer Straßenbahn wischt Agnes eine Fensterscheibe ab, um besser sehen zu können. Ruth wischt auch etwas ab und sagt: Rudde selbst. 14. Dezember. Ruth erhält ein Weihnachtsreklameheft und sieht sich die Bilder an. Als sie an das Bild Fig. 3 kommt, das zwei Engel darstellt, zeigt sie auf den unbekleideten der beiden und sagt: Sieh mal, Mutti, das ist Ruth. Sie kann also sehen, daß die Formen des kleinen Engels kindlich sind wie ihre eigenen. 30
Fig. 3.
Zu dem Bilde einer Dame, die eine ähnliche Frisur wie Ruths Mutter hat, sagt Rutli: wie Mutti (Fig. 4). Einem anderen Bilde, das durch eine füllige Haarfrisur auffällt, gibt sie den Namen ihrer Tante. Hauptsächlich dienen ihr also die Fri- Analogie. suren beim Identifizieren. 16. Dezember. Wenn R u t h Schritte auf der Treppe hört, r u f t sie: Vati. Geht der Betreffende aber in eine der unten liegenden Wohnungen, so r u f t sie: Nicht Vati, nein, nein, nicht Vati. Wenn ich ihr etwas vor- Beobachtung. zeichne, kann sie in der Regel erkennen, welches Tier es werden soll, sobald ich die Ohren zeichne. Wenn R u t h Gesichter unterscheiden soll, geht es ihr vermutlich wie uns Erwachsenen bei fremden Rassen: Fig. 4. sie kommen ihr alle gleichartig vor,
t
31
Zeichnen.
Selbständigkeit. Analogie.
besonders, wenn leicht erkennbare Äußerlichkeiten, wie Haartracht und Bart gleichartig sind. 18. Dezember. Ruths Wortvorrat wächst stark, aber sie bessert wenig an der Aussprache. Sie sagt jetzt Mosser Ebba anstatt Moster Ebba (Tante Ebba), Bessefar und Bessemor anstatt Bestefar und Bestemor (Großvater und Großmutter). Zur Zeit beschäftigt sie sich stark mit Zeichnen. Aber ihre Zeichnungen sind noch recht willkürliche Bleistiftstriche. Die Zeichnungen in Fig. 5 sollen eine Taube und einen Hahn
vorstellen. Sie zeichnet eben so oft mit der rechten wie mit der linken Hand. 27. Dezember. Ruth greift nach der Türklinke, um hinauszukommen. Sie hat also beobachtet, daß wir Erwachsenen die Tür auf diese Art öffnen. Ruth will jetzt allein essen; sie bittet sich den Löffel aus und sagt: Ruth nimmt selbst. Ruth hat ein Mädchen gesehen, daß mit einer Kapuze und einer Mütze bekleidet war und Bus heißt. Jedesmal wenn sie ein ebenso gekleidetes Mädchen sieht, begeht sie den groben Analogieschluß, sie Bus zu nennen. Derselbe Fehler liegt vor, wenn sie jeden älteren Herrn mit grauem Vollbart Großvater nennt. 32
28. Dezember. Ruth zeichnet viel. Ehe sie beginnt, sagt sie: Mann malen oder Ebba malen, und dann kratzt sie los. 31. Dezember. Ruth zeichnet einige runde Figuren und sagt: Ball. Das sind die ersten Figuren, die der Wirklichkeit ähneln. Ruth sieht einige Wolken am Himmel und sagt Muh und Fisch. Für sie scheinen diese Wolken also einer Kuh und einem Fisch zu ähneln. Sie berichtigt ihre Aussprache: Pir zu Pepir anstatt Papier. 1. Januar 1912. Ruth ist bei ihrer Tante, wo zugleich ein kleiner Dackel zu Besuch ist. Ruth ist außerordentlich freundlich zu ihm und behandelt ihn wie einen kleinen Menschen. Als sie einen Knochen erhält, der für den Hund bestimmt ist, sagt sie mit einschmeichelnder Stimme: Bitte schön, W a u ! Als der Hund ihr folgt, wird sie bedenklich und sagt: Wau, schlaf. Als er sich entfernt, faßt sie aber wieder Mut und r u f t : Komm, W a u ! Bei der Heimkehr greift sie nach dem Knopf der elektrischen Klingel bei der Wohnungstür. Sie hat also bemerkt, daß man darauf drücken muß, ehe die Tür aufgeht. Ruth ist ständig stark vom Zeichnen gefesselt. Sie benutzt meistens die linke Hand. 2. Januar. Rüth klettert auf die Stühle und auf das Sofa. Wenn sie nicht heraufkommt, sagt sie: hänte Dammel, anstatt hente Skammel (Schemel holen). 4. Januar. Ruth soll Kakao trinken, will aber nicht mehr, da man ihr nicht erlaubt, allein zu trinken. Da sie das nicht kann, macht sie sich mit übergegossenem Kakao schmutzig. Ich sage streng zu ihr: Geh zu Mutti und bitte um Entschuldigung. Obgleich sie dieses Wort (Forladelse) vorher nicht gehört hat, geht sie zur Mutter und sagt sehr bescheiden: „Ladelse", verbunden mit einem Kuß. Die Situation hat sie also richtig verstanden. Ruth sieht eine große Tanne im Frederiksberggarten und sagt: Weihnachtsbaum. Die Tanne hatte nur oben Zweige. R u t h hat also nur die Krone mit dem Weihnachtsbaum identifiziert. Sie sagt j e t z t : Vimmer anstatt Vinduer (Fenster), Lolade und Taffee. 5. Januar. Ruth wird durch den Frederiksberger Garten gefahren und erhält einen kleinen Zweig, den sie Peitsche R a s m u s s e n , Tagebuch.
3
33
Zeichnen.
Analogie.
Hund und Mensch,
Verstand.
Frage.
Bilder.
Selbständigkeit.
Phantasie.
Realismus. Frage.
n e n n t . Sie sieht oben nach den Baumkronen und sagt: alle Peitschen. Danach sieht sie auf den Boden und sagt: Blumen hin ? Sie kann sich also erinnern, hier im Sommer Blumen gesehen zu haben, und vermißt sie jetzt. Außerdem hat sie eine F r a g e gestellt. 6. Januar. Ruth soll gebadet werden. Sie sieht die Sonne und sagt: Dolen dinner a n s t a t t Solen skinner (die Sonne scheint). Später sagt sie von einem Bilde: Mädchen h a t Apfel Hand. 8. Januar. R u t h sieht sich selbst in einem großen Spiegel. Auf die Frage der Mutter, wer das sei, sagt sie: Rudde. 11. Januar. Ruth zeigt ihrer P u p p e Bilder und erklärt: P u p p e , sieh, öff, off. Es war das Bild eines Schweines. Heute h a t R u t h zum ersten Male allein gegessen, und zwar Biersuppe. Es ging leidlich mit viel Plemperei. Als die Mutter helfen wollte, sagt sie: Mors ejen Mad (Mutters eignes Essen), also paß auf dein eigenes Essen. 13. Januar. R u t h sagt zu Helga: t o m m nu. Helga nörgelt und sagt: Es heißt komm nu. Aber Ruth b e h a u p t e t : nein, heißt t o m m nu. Ein klares Beispiel erwachender Selbständigkeit und Kritik oder nicht ? 17. Januar. Ruth k o m m t zum Schuhmacher; auf der Treppe sagt sie: Rauf nach Tante Line. Als sie aber die Wohn u n g des Schuhmachers betritt, berichtigt sie: nicht T a n t e Line. Sie hat also erkannt, daß sie sich an einer anderen Örtlichkeit befindet. Als die Mutter ihr zuflüstert: Nun muß R u t h schlafen! flüstert sie genau im gleichen Tone: Nein, R u t h nicht schlafen. 22. Januar. Ruth setzt sich zusammen mit ihrer Puppe auf einen Stuhl und sagt: Lektische (Elektrische). Dann geht sie mit der Puppe zum Schlafzimmerfenster und sagt: sieh. Diesen Beispielen der Phantasie folgt ein Beispiel des Realismus. Sie gibt der Puppe zu essen; als sie merkt, daß es vergeblich ist, ißt sie es selbst. 23. Januar. Ruth zeigt ihrer P u p p e Bilder und sagt: Ist das, P u p p e ? Also: Was ist das, P u p p e ? Dann blättert sie und erklärt: Sieh, Püppchen, öff—öff, Külü usw. Dann zeichnet sie, wendet sich zur P u p p e um und sagt: Sieh, P u p p e , 34
zeichne Mädchen. Ein Mann arbeitet im Garten, da das Kabel für elektrisches Licht gelegt werden soll. R u t h f r a g t : Ist das, Mann macht ? (Eigentliche Frage.) Während der Ausfahrt sagt R u t h heute: viel Schnee. Ferner sagt sie ohne sichtbaren Anlaß: Ruth nicht bange vor Wauwau. Ich singe R u t h die erste Strophe eines bekannten Kinderliedes vor. Als ich mich dem Ende nähere, fällt sie mit dem richtigen W o r t ein. Sie kann also schon etwas von einem Liede behalten, das sie gelegentlich hört. 25. Januar. Ruth versucht jetzt selbst das Lied zu singen. Die beiden ersten Verse kann sie in kindlichem Dänisch sagen, den Rest der Strophe findel sie leidlich nach einigen Einhilfen. Die Melodie hat sie ebenfalls behalten, wenn sie auch nicht rein singt. Ruth sieht ihrer Mutter in die Augen und sagt: Sieh mal, kleines Mädchen in Mutters Augen. Eine feine Beobachtung! 29. Januar. Wenn R u t h die Bilder an der W a n d besieht, sagt sie: Großvater (Darwin), Onkel Krisse (Böcklin), Oma (eine alte Frau). Sie gibt also den Bildern den Namen ihrer besten Bekannten, wobei ganz oberflächliche Ähnlichkeiten das Identifizieren leiten, etwa der weiße Bart bei Darwin und ihrem Großvater oder Onkel Kristians schwarzer Bart bei Böcklin. Ruth entdeckt auf der Treppe etwas Schmutz, den ein Arbeiter hinterlassen hat. Sie sagt: Dame nicht Flur waschen, also: die Reinigungsfrau hat ihre Pflicht nicht erfüllt. R u t h sieht etwas Wasser auf dem Fußboden, das der Großvater mit seinen Schneestiefeln in das Zimmer gebracht hat. Sie sagt: Mutti klein, also: Mutti hat den Boden naß gemacht, wie R u t h noch mitunter. Dann holt sie einen Lappen und säubert den Boden. 5. Februar. Eine F r a u h a t etwas mit mir zu besprechen. Nachdem sie gegangen ist, fragt R u t h : Wer ist das ? — R u t h legt Preßkohlen in Reih und Glied und sagt dabei: fut — f u t — hier entlang (Eisenbahn). R u t h „ k o m m a n d i e r t " mit dem Mädchen, obwohl sie nie dergleichen gehört hat. Wie ihr das Mädchen Essen gibt, sagt sie: steh — sitz — steh — sitz usw. immer schneller. Das Mädchen ging natürlich nicht darauf ein. 3*
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Frage.
Verserinnerune
Beobachtung.
Analogie.
Wer?
6. Februar. Agnes versucht, mich in die Nase zu kneifen. Ruth sieht das und sagt sehr aufgebracht: Nich Vati Nase kneifen. Sie muß also eine Erinnerung haben, daß dergleichen weh tun kann, und außerdem verrät die Äußerung Mitgefühl. Zeichnungen. 10. Februar. Ruth ist mit Zeichnen beschäftigt und setzt zum ersten Male ein Auge in ein Gesicht. Sie malt einen Kreis in das Gesicht und sagt: Auge. Bei ihren Zeichnungen von Mädchen kann man einigermaßen Kopf, Körper und Beine erkennen. Beim Zeichnen erklärt sie: Kopf, Leib, Beine. Ruth zeichnet überwiegend mit der linken Hand. Helga bringt ihr einen kleinen Bleistift; sie weist ihn aber mit den Worten zurück: Nein, nicht den kleinen, großen haben. Ihr Tonfall war dabei sehr bestimmt, wie sie oft Gesang. spricht. Ruth kann jetzt eine ganze Melodie in der Erinnerung behalten, ebenso fast das ganze Lied. Mit einiger Einhilfe kann sie das ganze Kinderlied mit seinen drei Strophen singen; die Melodie singt sie fast rein. 12. Februar. Beim Erwachen sagt R u t h : So — hat Oma gesagt. Die Großmutter hatte nämlich am voraufgehenden Abend gesagt: Soo, jetzt mußt du schlafen. Die Erinnerung an diese belanglose Episode reicht also schon über die Nacht hinweg. Verzeihung. 24. Februar. Ruth sagt heute morgen: Ruth nicht Vatis Bücher kaput machen. Ich sage: Nein, sonst kriegst du einen Klaps. R u t h : Nicht Klaps, Vati. La'else, Vati. Sie weiß also, daß das Wort ,,om Forladelse (um Verzeihung)" geeignet ist, ein Versehen wieder gutzumachen. In Ruths Benehmen merkt man jetzt nicht viele Änderungen ; sie spricht zwar viel, aber sehr ungenau in bezug auf die Konsonanten. Ihr häufigstes Spiel ist das Zeichnen, aber ihr Zeichnen besteht nur aus Kratzereien. Sie sehen alle gleich aus, was sie auch vorstellen mögen. Sie zeichnet Kopf, Leib und Beine. Schelmerei 2. März. Ruth beschäftigt sich in den letzten Tagen mit und Ironie. folgendem Spiel: sie sagt: Ruth nicht Mutti lieb haben. Ruth nicht Vati lieb haben. Dabei sieht sie sehr ernst drein. Wenige Augenblicke später sagt sie dann: Ruth doch Vati lieb haben. Das ist offenbar eine bewußte Schelmerei, eine Verstellung. Mitgefühl.
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die Vater und Mutter necken sollen. Ruth spielte heute Kaufmann mit ihrer Mutter. Sie packen etwas Papier in eine Tüte: das sind die Bonbons. Das Einpacken geschieht mit großer Lustigkeit, ganz besonders groß ist aber die Freude, als sich beim Öffnen der Tüte ein „Bonbon" findet. Es t u t der Freude keinen Abtrag, daß es nur ein Stück Papier ist. Auffallend ist auch, daß unzählige Wiederholungen des Spieles das Interesse nicht schwächen. Wenn Ruth aus Papier „Pakete" macht, indem sie das Papier an den Enden zusammenfaltet, kann sie dieses Spiel auch ununterbrochen wiederholen. Ruth kann jetzt ohne Einhilfe den Text einiger Verse von Kinderlicdern. 10. März. Ruth bindet sich ein kleines Metallband, das vom Weihnachtsbaum übrig geblieben ist, um den Leib und sagt in großer Freude: Ruth fein. Ruth hat sich angewöhnt, alles Papier entzweizureißen, um „Pakete" zu machen. Sie reißt auch ihre Bilderbücher entzwei. Eva ist mit ihren Eltern zu Besuch. Von Eva wird erzählt, daß sie von einem Stückchen Schokolade, das sie morgens erhält, ein Stück abbeißt und den Rest für das kleine Schwesterchen einwickelt. Im Laufe des Tages beißt sie aber immer wieder ein Stückchen von dem Rest ab, bis schließlich nichts mehr übriggeblieben ist. Ein Wettstreit zwischen Altruismus und Egoismus. Ruth hat einen Puppenjungen erhalten, der Peter genannt wird. Ein Paar Schellen, die am Ende der Arme angebracht sind, nennt sie Hände. Ruth hat ihr Buch zerrissen und wird gefragt, was wohl Peter dazu sagen wird. Sie antwortet: Peter sagt, Pfui Rudde. 17. März. Ruth sagt, als sie sich kämmt: Ruth kämmt dich. Sie verwechselt also die Personen. Ruth sieht aus dem Fenster und sagt: Ruth kommt ganz unten auf die Straße. Ruth ist merkwürdig „erwachsen"; irgendwelche Ereignisse nimmt sie ernsthaft und ruhig auf. So sagt sie etwa: Uh, Mutti, Ruth bald Treppe runtergefallen. Sie spricht jetzt ziemlich lange Sätze, doch fehlen in ihnen noch mancherlei Worte. Ruth spielt meistens: einpacken, zeichnen, die Puppe pflegen, wie sie gepflegt wird (Anwendung des Gelernten), Papier entzweireißen. Eine Schachtel, die Ruth entzwei37
Phantasie.
W
iederholungen.
Freude und Putz.
Egoismus u. Altruismus.
Sprache
Sp iel.
Spiel.
Selbständigkeit.
Selbständiger Einfall.
Puppen,
reißen m ö c h t e , erweist sich als zu stark. Sie k o m m t und sagt k l a g e n d : Geht nicht kaputt, Mutti. Ich habe aus Pappe einige runde Scheiben geschnitten; sie stellen Zweiörestücke vor, für die R u t h sich Bonbons kauft. 8. April. R u t h s häufigstes Spiel ist immer noch, aus kleinen Papierstückchen, die in mehrere „ U m s c h l ä g e " gelegt werden, „ P a k e t e " zu machen. Mitunter wird auch ein anderer Gegenstand eingewickelt, etwa ein Knopf. Dann zeichnet sie, besonders Mädchen, Damen und Männer. Meist sind es unverständliche Figuren, mit Ausnahme des Kopfes, der immer kreisrund gezeichnet wird. Endlich singt R u t h sehr oft, wobei sie im Zimmer umhergeht. 14. April. R u t h zeigt auf sich und s a g t : Das bin ich. 22. April. Bei der Heimkehr von einem Ausgang sage ich zu i h r : Sieh mal nach, ob Helga zu Hause i s t ! Sie k o m m t zurück und s a g t : Nein, Helga ist nicht zu H a u s e ! E i n ganz richtiger S a t z . Ruth m a c h t noch ständig P a k e t e , zeichnet und besieht Bilder. Auf dem Ausgang wünscht sie sich recht freundlich eine Peitsche, also einen Zweig. Sie beginnt dann sofort, ihn zu zerreißen und beklagt sich, als es nicht sogleich gelingt. In unserer Wohnung sind elektrische L a m p e n aufgehängt worden. Ruth geht von Zimmer zu Zimmer und zeigt sie mir alle. Sie berichtigt jetzt ihre Sprache selbst. E s heißt nicht Müsse, es heißt B e d s t e m o r ; es heißt nicht Lalla, es heißt Helga. E s heißt nicht Isch, es heißt B y n y n ( a n s t a t t B l y a n t = Bleistift). R u t h ist ins B e t t gebracht worden, h a t die Decke über den Kopf gezogen und ruft „ W i l h e l " . Ich soll also kommen und die lustige Geschichte ansehen. Sie lacht laut auf, als die Mutter k o m m t und sie u n t e r der Decke findet. 30. April. R u t h s Stimme ist sehr biegsam und ihre Fähigkeit zu betonen ungewöhnlich gut für ihr Alter. Das hat sich schon sehr zeitig gezeigt, t r i t t aber erst j e t z t recht in die E r scheinung, da sie ganze Sätze spricht, die sie recht verschieden b e t o n t . R u t h macht sich aus Papier eine Rolle und s a g t : Puppe. D a n n macht sie eine zweite Rolle und s a g t : Ach, Mutti, sieh den kleinen Pip, und legt ihn unter die B e t t d e c k e . Dann sagt sie: Seil, Mutti, Pip schläft.
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8. Mai. Agnes hat eine Träne im linken Auge. R u t h sagt: Mutti lange Nase im Auge. 12. Mai. R u t h steckt eine Haarnadel in ihr Kleid und sagt: Tut R u d d e nicht weh. Kleid. 18. Mai. R u t h hat einen schlimmen Fuß, den sie sich etwas v e r r e n k t hat. Sie klagt nicht, weil sie nicht stehen kann, sondern sagt: Ruth lieber kleiner Wauwau, und beginnt zu kriechen. 24. Mai. R u t h liegt im Rett und sagt zu ihrer ins Zimmer tretenden M u t t e r : Ich möchte meinen Eimer h a b e n ; er liegt drinnen mit den Räumchen (im Zimmer mit den Blumen-Bäumr.hen). Ehe Ruth schlafen ging, hatte man den Eimer dorthin gelegt. Sie h a t einen langen Satz gesagt, gute Erinnerung gezeigt und klaren Rescheid gegeben. R u t h ist beschäftigt, das Bild eines kleinen Mädchens zu erklären. Als die M u t t e r auf den Unterkörper des Mädchens zeigt, verrät Ruth Bedenken über die Bezeichnung. Sie kann ihn nicht, wie sonst, „Kleid" nennen, weil keine Ähnlichkeit mit einem Kleide vorhanden ist. 27. Mai. R u t h pflückt ausschließlich Löwenzahn, und zwar gleichgültig, ob er noch in Blüte steht, Frucht trägt oder vert r o c k n e t ist. Vielleicht liegt der Grund darin, daß sie diese Pflanze „ k e n n t " ; sie war nämlich die erste Pflanze, die m a n f ü r sie gepflückt hatte. R u t h entdeckt eine Fliege und verfolgt sie mit den Augen: Ach, sieh, die kleine Fliege . . . wo ist sie denn jetzt hin . . . ach, da bist du . . . wo bist du denn jetzt . . . usw. Ein Beispiel einer sorgfältigen Beobachtung. R u t h h a t einen Zaum um, der durch einen Stecken am Tischbein festgemacht ist. Sie versucht mehrfach, durch starkes Ziehen freizukommen, wendet sich dann um, zieht den Stecken aus dem Zaum und reicht ihn dem Großvater. 29. Mai. R u t h sieht einen Hund und sagt: Sieh mal den kleinen großen H u n d ! Sie k a n n also die Merkmale klein und groß noch nicht unterscheiden, sondern weiß nur, daß sie zur genaueren Bezeichnung verwendet werden. 31. Mai. R u t h f r a g t : Wo ist das Messer? Ich a n t w o r t e : Vati weiß das nicht. Darauf sie sofort: Doch, du weißt es doch. Das ist die erste Äußerung des Zweifels, die ich beob-
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Analogie. Analogie und Animismus. Krankheit.
Aufrichtigkeit.
Auswahl.
Verstand.
Sprache und Verstand.
Zweifel.
Interesse.
Abstand,.
Sprachliche Selbstandig-
achtet habe. Ruth hat übrigens niemals Grund gehabt, meine Wahrhaftigkeit zu bezweifeln, auch nicht in diesem Falle. 24. Juni. Ruth hat Bonbons erhalten. Sie nimmt einen davon, läuft zu Helga und sagt: Lalla soll einen Bonbon haben, sie ist so hungrig. 4. Juli. Ruth ist wieder in der Sommerfrische. Als ich einen Vogel singen höre, sage ich: Hör doch mal den kleinen Vogel! Sie antwortet: Zeige ihn mir, Vati! Als eine Krähe schreit, sage ich: Hör mal, wie die Krähe schreit! Sie wieder: Zeige sie mir, Vati! 5. Juli. Ruth liegt im Bett und sieht ihre Mutter vor dem Fenster außerhalb des Zimmers; ihr Bett steht an der Wand gegenüber dem Fenster. Sie streckt die Hand aus und sagt: Faß Ruth an, Mutti! Sie kann also den Abstand noch nicht beurteilen. 7. Juli. Ruth sieht eine Reihe von Pferden, die ihr zufällig alle die Hinterhand zuwenden. Sie sagt: Die Pferde drücken auch (können auch abführen). Die Pferde haben auch Popo da unterm Schwanz. Diese Beobachtung ist u. a. auch deshalb interessant, weil niemand ihr dergleichen erklärt hat. Sie muß also beobachtet haben, daß eines der Pferde den Kot abgesetzt hat. 8. Juli. Ruth sieht einen Schmetterling und fragt: Was ist das. Ich erkläre: Das ist ein Schmetterling. In diesem Augenblick kommt noch ein zweiter hinzu. Ruth sagt sofort: Nun sind da zwei Schmetterlinge. Der Begriff zwei ist ihr also verständlich. Ruth fährt mit ihrer Mutter aus und sagt: Ich möchte ein Bäumchen (eigentlich Tannenbäumchen, ihr Name für Löwenzahn) haben. Aber wo kannst du den kriegen ? Vermutlich hat sie beim Umhersehen keinen Löwenzahn entdecken können. Ruth geht allein ins Wasser, wenn wir baden, sagt aber trotzdem: Ich mag das W'asser nicht. 11. Juli. In der Nacht muß Ruth sich übergeben, vermutwejj ^ c j a s Mittagsessen, Rhabarbersuppe mit Sahne, nicht bekommen ist. Vor dem Ubergeben ruft sie „Vati", nach dem Übergeben sagt sie: Uh, Mutti, Ruth hat Schmutz in den Mund bekommen. Sie schafft sich also eine eigene 40
Fig. Ü ('2 J. 8 Mon.). Ausdrucksvveise, da sie die Bezeichnung der Erwachsenen für den Vorgang noch nicht kennt. Am folgenden Tage k o m m t R u t h aus diesen Gründen nicht in das Wasser. 12. Juli. Ruth ist zum Schlafen ins Bett gelegt worden, doch Langer Satz h a t man ihr eine kleine Schachtel zum Spielen gegeben. Diese ¿ ^ l i g e g r Ü n ' fällt auf die Erde. Als die Mutter sich anschickt, sie aufzuheben, sagt Rutli: Nicht aufnehmen, Mutti, Ruth soll doch schlafen. IG. Juli. Ruth gelit barfuß und sagt: Es macht nichts, Mutti, ich friere nicht. Heute sollte sie ihre zweite Sandale wieder anziehen, die verlorengegangen war, und sagte: Hier ist die zwei Sandale. 22. Juni. Ruth sagt: Mutti, mach die Tür auf, denn ich Begründung. k a n n nicht allein! R u t h schließt gewissenhaft die Gartent ü r e n , „damit die Pferde nicht zu R u t h hineinlaufen"; in 41
Pfiffigkeit oder Zweifel
Blumen.
Kröte.
Schnecke.
Mißverständnis.
Vergeßlichkeit.
Sorgfalt.
?
Wirklichkeit ist es umgekehrt: sie soll nicht auf den Weg hinaus, wo die Pferde vorbeikommen. Ruth f r a g t : Darf ich die kleinen Schweine sehen ? Die Mutter: Es stehen Räder davor. Darf ich die Räder sehen? Entweder zweifelte sie, oder sie wollte zunächst zu den Rädern und damit vermutlich zu den Schweinen kommen. R u t h gräbt mit einem kleinen Spaten im Sande und füllt einen Eimer, oder sie h a t einen größeren Spaten, mit dem sie eine Schiebkarre füllt. Mitunter gräbt sie auch einfach mit den Händen. Sie hat auch ein Schiff, mit dem sie beim Baden spielt, und segelt in einer W r anne über das Meer. Mit Puppe und Bärchen spielt sie dagegen fast gar nicht mehr. Wenn Ruth Blumen pflückt, n i m m t sie am liebsten Löwenzahn, den sie gerne Weihnachtsbäumchen nennt, ferner Klee. Von diesen Pflanzen sind ihr nämlich die Namen bekannt. Heute sieht sie eine Kröte, die sie sehr interessiert; ist die aber hübsch, sagt sie. Als wir das Tier verlassen, bittet sie, es wiedersehen zu dürfen. Die Kröte macht also keinen häßlichen Eindruck auf sie. Später sehen wir im Walde eine schwarze Wegschnecke. Ruth betrachtet sie sehr neugierig und findet sie hübsch. WTir müssen dreimal umkehren, so groß ist ihr Interesse an dem Tier. Die Mutter trägt Essen in den Händen und kann R u t h daher nicht an die Hand nehmen, sie sagt also: Faß Muttis Kleid an! Darauf R u t h : Kannst du nicht allein gehen, Mutti ? 23. Juli. T a n t e Frieda, die Ruth seit Anfang des Jahres nicht gesehen hat, soll zum Besuch aus Rußland kommen. Ruth kennt T a n t e Frieda recht gut aus Gesprächen, aber als sie eintrifft, kann sie sich ihrer nicht erinnern. Erst allmählich wird sie damit vertraut, daß diese Dame dem bekannten Begriff T a n t e Frieda zuzuordnen ist. In der Nacht ruft R u t h : Mutti, Ruth muß austreten. Nachdem das besorgt ist, und die Mutter ihr die Hosen wieder anzieht, sagt sie: Ich bin naß, Mutti. Die Hosen werden ausgezogen und eine Unterlage ins Bett gelegt. Sie f r a g t : Ist es jetzt auch trocken ? Sie ist also auf sorgfältige Erledigung der Angelegenheit bedacht. Ruth ist sehr geschickt im Auffinden von Pilzen, selbst wenn sie klein sind und wenig durch ihre Farbe auffallen. 42
R u t h fällt beim Gehen und schlägt sich das Knie auf. Zuerst weint sie etwas, als aber das Kleid gebürstet ist, hört sie auf. Sie wird in den Wagen gesetzt, und ich fahre sie schnell nach Hause, damit die W u n d e ausgewaschen werden kann. E s b l u t e t , und als R u t h das sieht, sagt sie: E s blutet, aber das m a c h t nichts (nämlich m a c h t dem W a g e n nichts aus). Nach dem W a s c h e n und Verbinden der W u n d e sagt R u t h : Ist es schlimm, V a t i ? B l u t und B l u t e n wirken also nach dieser B e o b a c h t u n g nicht i n s t i n k t m ä ß i g a b s c h r e c k e n d ; erst als die W u n d e mit Karbol ausgewaschen wird, wird R u t h unruhig, wimmert etwas und b i t t e t , einzuhalten.
Blut.
2F>. Juli. Ruth will selbst auf die Toilette gehen. Da sie aber mit ihrer Kleidung doch einige Schwierigkeiten hat, gelingt es nicht ganz. Die Mutter begnügt sich jedoch damit, nur die Sicherheitsnadeln zu entfernen. R u t h zeigt hier und in vielen anderen Fällen den starken Trieb, sich selbst zu helfen. So will sie selbst essen, und wenn man sie zum B a d e n ruft, geht sie ein S t ü c k am Strande entlang, da sie allein ins W a s s e r gehen will. 29. Juli. Das Knie ist geheilt; beim Reinigen sagt R u t h : Knie und Ruth. Ach, das kleine Knie, das soll bei R u t h liegen. Sie faßt also das Knie nicht als Teil ihres Körpers auf. R u t h zeigt sich bei einem Gewitter außerordentlich lebh a f t . Agnes meint, daß es vom Gewitter herrühre, während ich der Ansicht bin, daß es seinen Grund darin hat, daß R u t h spät am Abend in einen Kreis von Damen k o m m t , die alle ihre Äußerungen mit großer A u f m e r k s a m k e i t behandeln. 31. Juli. Agnes hebt ihr Kleid, um S c h m u t z auf dem W e g e Nachahmung. auszuweichen. Sofort h e b t auch R u t h ihr Kleid hoch. Ein Beispiel für sinnlose Nachachmung, denn R u t h s Kleid ist natürlich sehr kurz. Als R u t h ins B e t t gebracht wird, fragt sie: W o sind denn die kleinen Kälbchen ? Sie h a t t e die Tiere vor zwei W o c h e n bei einer Ausfahrt in der Nachbarschaft gesehen. 3. August. Als R u t h heute morgen den Topf benutzen soll, Selbsthilfe. steht sie mit Hilfe eines Stuhles selbst im B e t t auf, zieht sich aus, holt den T o p f aus dem Nachttisch und stellt ihn auch dorthin wieder zurück. E s ist das erstemal, daß sie sich ganz allein hierbei behilft.
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Zentrum.
Ursache.
Mitteilungsbedürfnis.
Die Bäume wehen.
Beobachtung.
Veranschaulichung.
4. August. Ruth sieht einige Schiffe auf dem Meer und erklärt: Ruths Schiffe. Sie zeigt immer wieder darauf und behauptet: Ruths Schiffe. So ist fast alles, was sie sieht, Ruths. Nur wenn sie erfahren hat, daß irgend etwas „dem Manne" oder auch Fräulein Christensen gehört, behauptet sie nicht ihr Eigentumsrecht. 5. August. Die Mutter ordnet an, daß Ruth die Sandalen anziehen soll. Sie sucht sie hervor und versucht es; es gelingt aber nicht. Da sagt sie zur Mutter: Mutti, ich kann nicht, aber ich kann ja auf dem Teppich bleiben. Bald darauf verläßt sie aber doch den Teppich. Die Mutter: Du sollst doch auf dem Teppich bleiben! Es ist ja nicht kalt! antwortet sie zur Begründung. Ruth will etwas erzählen, das sie erlebt hat, und redet lustig darauf los. Man kann aber nicht verstehen, was sie meint. Schließlich gibt sie es auf und sagt etwas schluchzend: Nein, Mutti, ich kann nicht. Es zeigt sich also ein starkes Mitteilungsbedürfnis. Auf einer Wagenfahrt wird es windig, so daß die Blätter der Pappeln im Winde stark rauschen. Ruth sagt: Hör mal, die Bäume wehen, und zeigt damit, daß sie Ursache und Wirkung verwechselt. Möglich ist auch eine rein sprachliche Ungenauigkeit: Hör mal, wie es in den Bäumen weht! Ruth nimmt den Spazierstock ihrer Mutter und gibt ihn in deren andere Hand. Dann sagt sie: Jetzt kannst du Ruth an die andere Hand fassen. Ruth legt das eine Ende einer Peitsche an ihr Ohr, während der Schaft auf dem Wege nachschleppt. Sie beobachtet, daß man auf diese Weise das Geräusch des Schleppens sehr deutlich hört, denn sie sagt mehrfach: Hör mal, Vati! Sie glaubt also, daß ich das Geräusch ebenso gut hören kann. Ruth fragt: Wo ist die Erde, Mutti ? Du gehst auf der Erde. Ruth stampft mit dem Fuß auf und fragt: Ist das die Erde, worauf Ruth jetzt tritt ? Sie macht also eine Beobachtung zur Sicherung des Verständnisses. Wenn Ruth mich sehen will, will sie meine Augen sehen: Darf ich Vatis Augen sehen ? Die Augen machen also die Person aus. 44
27. September. Ruth kommt mit ihrer Mutter aus der Sommerfrische heim. Sie ist sehr groß und kräftig. Alle Zähne sind jetzt durchgebrochen; der Appetit ist ausgezeichnet. 7. Oktober. Ruth hat kürzlich das Märchen von Rotkäppchen gehört und Bilder dazu gesehen. Sie fragt: Warum hat der Wolf eine Kappe auf ? und antwortet selbst: Weil es so kalt ist. Sie kann also die Frage selbst mit der Angabe der Ursache beantworten. 11. Oktober. Ruth fragt heute die Mutter: Machst du mir die Tasche auf? Nein, du mußt etwas warten. Ach, liebe Mutti, du bist so lieb heute. Machst du mir die Tasche auf ? Sie verrät, damit ihre egoistisch begründete Liebe. Ich habe mich ins Bett gelegt, da ich mich etwas erkältet habe. Ruth wird in ihr Bett gelegt, das in der Nähe steht. Ich huste zweimal, Ruth hustet auch zweimal, ich ziehe tief Luft ein, Ruth macht es genau so. Dann schläft sie ein. Diese Beispiele zeigen unbewußte und bedeutungslose Nachahmung. Ruth geht mit ihrer Puppe im Zimmer umher und läßt sie an die Bücher fassen. Jedesmal klappt sie dabei der Puppe auf die Finger und sagt: Pfui, du darfst doch nicht Vatis Bücher anfassen! 12. Oktober. Ruth sieht, als die Lampe eingeschaltet wird, deren Spiegelbild im Fenster. Sie sagt: Da ist ja auch eine Lampe draußen. Als ich den Vorhang vorziehe, bemerkt sie: So, nun ist sie weg. Ruth hat großes Interesse für Bilder, besonders in einem Geschichtsbuch. Sie kommt angelaufen und sagt: Willst du mit Ruth lesen ?, also die Bilder erklären. Ruth sieht einen Herrn auf einem Balkon und fragt: Wie kommt der Herr runter ? 13. Oktober. Ruth sagt beim Schlafen gehen: Mutti, ich will den Schweinchen Blumen geben. Vor drei W ochen hatte sie in der Sommerfrische den Schweinen einige Blumen zum Fressen gegeben. Ob sie jetzt glaubt, daß die Schweine in Kopenhagen sind ? Ruth hat von ihrem Großvater eine Schachtel mit Kastanien erhalten. Am Abend legt sie die Schachtel in einen Liegestuhl und sagt: Die wollen am liebsten in Muttis Stuhl schlafen. 45
Überlegung.
Egoismus und Liebe.
Nachahmung.
Erziehung und Spiel. Beobachtung.
Zusammenhang. Erinnerung.
Animismus.
Phantasie u, Realismus
Eule und Schirm.
•lnalogie.
Furcht und Erkenntnis der Ursache.
20. Oktober. R u t h spielt mit Bleistiften, aus denen sie „ H ä u s e r " b a u t . Ich sage: Sieh mal, Ruth b a u t ja ein Haus. Sie: Nein, das sind Bleistifte, aber es sollen Häuser sein. Bei ihrer Phantasiebildung ist sie sich also doch der Realität bewußt. 27. Oktober. R u t h sagt von ihrer P u p p e : Sie kann nicht so machen (winken), sie k a n n auch nicht so machen (mit dem Kopf nicken), aber sie kann so sitzen (in einem Stuhl). Vorher im Bett erhielt die Puppe von R u t h Schläge mit der E r m a h nung, artig zu sein. Unartig kann die Puppe also auch sein. Beim Bilderbesehen sieht R u t h das Bild einer Eule und sagt: Das ist eine Eule, sie h a t aber keinen Schirm. Später, als sie das Bild eines Staren sieht: Nur die Eulen haben Schirme. Hier zeigt sich, wie ein nicht anschaulicher Begriff die Sprache verfälschen kann. R u t h kennt das Kinderlied vom kleinen ,,01e mit dem Schirm". Ole und Ugle (gespr. Uhle) hat sie miteinander verwechselt. 30. Oktober. Agnes macht einige Tanzschritte und hebt dabei die Beine; Ruth m a c h t es nach und sagt: R u t h winkt mit den Beinen. 31. Oktober. Ich nehme R u t h bei einem Ausflug meiner Klasse in den Wald mit; sie ist darüber sehr aufgeräumt. Als mir ein Junge eine Haselnuß bringt, sage ich: Der hat ja, weiß Gott, eine Haselnuß! R u t h sagt: Vati soll nicht „weiß G o t t " sagen. R u t h will das nicht. Sie achtet genau darauf, daß keiner „weiß Gott", „ v e r d a m m t " oder ähnliche Ausdrücke gebraucht. Sie hat sie bei ihrem Sommeraufenthalt von den Bauern und Fischern gehört und ist gewarnt worden, sie zu gebrauchen. Die Mutter sagt zu R u t h : Jetzt will ich dich in Eile waschen. R u t h entgegnet: Du m u ß t mich doch in Wasser waschen. 5. November. Ruth zeigt Furcht vor meinen aufgehängten Hosen, sagt aber: Ich brauche ja keine Angst zu haben, das sind nur Vatis Hosen, Beine sind nicht drin. Als R u t h im Dunkeln liegt, wird sie durch das Rasseln eines Weckers erschreckt. Nachdem aber Licht gemacht ist und sie selbst die Uhr zum Rasseln gebracht hat, verschwindet ihre F u r c h t . Sie findet sich ruhig damit ab, daß das Licht ausgeschaltet 46
wird, sagt aber: Die kleine Uhr soll nicht so machen, das mag R u t h nicht. 15. November. R u t h wäscht ihre Finger, von denen das Wasser t r o p f t . Sie sieht es und sagt: Es t r o p f t , weil zu viel Wasser dran ist. Sie h a t also die Ursache richtig erkannt. R u t h sieht ein Kleid an der W a n d hängen und sagt: Ich dachte, das war ein kleines Mädchen, aber dann dachte ich nicht, d a ß es ein kleines Mädchen war, es war ja ein Kleidchen. R u t h h a t ganz schwarze Fußsohlen, so daß die Mutter sagt: Aber R u t h , du hast ja ganz schwarze Sohlen. R u t h : Ja, weil ich auf dem Boden gegangen bin (Erkenntnis der Ursache). 15. November. R u t h sieht in einem Botanikbuch, das sie vorher nie gesehen hat, das farbige Bild einer Klette. Sofort sagt sie: Sieh mal, Mutti, das ist ja eine Klette! Sie h a t vorher nie das Bild einer Klette gesehen, wohl aber die Pflanze während ihres Sommeraufenthaltes vor dem 10. August. Sie zeigt hierbei eine sehr gute Erinnerung. 22. November. R u t h war ausgetreten und soll ihre Hosen wieder anziehen. Das Mädchen will ihr dabei helfen, aber R u t h s a g t : Mutti soll helfen. Das Mädchen: Aber ich habe doch die Sicherheitsnadeln, da kann doch Mutti nicht helfen. R u t h : Du kannst ja Mutti die Nadeln geben. Sie kann also eine Schwierigkeit gedanklich überwinden. 29. November. R u t h b a u t Häuser aus Brotscheiben und sagt: Ich baue ein Haus. Das Mädchen fragt, ob m a n denn auch aus Brotscheiben Häuser bauen kann. R u t h erklärt: Ja, das sind j a Steine. Hier zeigt sich doppelte Phantasie: zuerst wird das Brot zum Stein, dann der Stein zum Hause. R u t h ißt einen Apfel, gibt aber den Rest der Mutter. Auf die Frage, ob sie denn nicht mehr essen könne, antwortet sie: Nein, denn ich habe keinen Hunger mehr.
47
Ursache.
Erinnerung
Logik.
Phantasie in zweiter Potenz.
Das vierte Jahr.
Kritik
oder
Zweifel,
Schatten, Sprechen.
Zweifel.
Erinnerung.
Ursache. Schwierige Fragen.
3. Dezember 1912. Heute ist Ruths Geburtstag; sie bekommt u. a. Pantoffeln, die mit blauen Schleifen verziert sind. Sie nennt sie „Haarbänder". Die Mutter sagt: Es regnet. Ruth: Nein, die Straße ist trocken. Die Mutter: Es regnet doch, es sind ja Tropfen an den Scheiben. Ruth betrachtet die Scheiben und sagt: Nein, Mutti, es sind keine Tropfen dran. 6. Dezember. Ruth sieht ihren Schatten, läuft hin und her und sagt: Ruth spielt mit dem kleinen fremden Mädchen Zeck. Rutil bemerkt bei ihrer Puppe Augenbrauen und fragt: Warum hat sie das, Mutti ? Vielleicht, damit sie da nicht friert ? Ruth spielt jetzt meist mit ihren Puppen und zeichnet nicht mehr. Als Begründung sagt sie, daß sie nicht zeichnen kann. Sie macht ständig Fehler beim Gebrauch der persönlichen Fürwörter; sie sagt etwa: Ich schlage sich . . . willst du sich rasieren u. ä. Wenn sie mit ihrem Spiel stark beschäftigt ist, redet sie unaufhörlich, aber ohne logischen Zusammenhang über alles mögliche, das ihr gerade in die Erinnerung kommt. 12. Dezember. Ruth bittet ihre Mutter um einen Beutel; die Mutter sagt aber, daß sie keinen Beutel habe. Ruth geht darauf in das Schlafzimmer, leert einen Beutel, in dem sich Seifenstücke befinden, kommt zurück und sagt: Hier ist ein Beutel. Sie hat also das Vorhandensein dieses Beutels in der Erinnerung behalten, der lange Zeit in einer Schublade lag. 14. Dezember. Zum Geburtstag erhielt Ruth von ihrem Großvater einen Schokoladenmann, der aber bis heute beiseite gelegt wurde. Als Ruth ihn heute auf ihrem Bette findet, sagt sie: Das ist ja der Schokoladenmann, den Rutli von Großvater bekommen hat. Ihr Gedächtnis hat also über die elf Tage ausgehalten. 14. Dezember. Ruth ruft heute aus dem Schlafzimmer: Mutti, ich möchte eine Tasse Schokolade haben, wenn sie nicht mehr heiß ist. Ruth sieht das Bild einer alten Frau und f r a g t : Warum ist sie so alt? Weil sie nicht mehr jung ist. Warum ist sie nicht mehr jung? Weil sie schon so lange ge48
lebt hat. W a r u m hat sie so lange gelebt ? Weil sie noch nicht gestorben ist. Iiier liegt ein Muster kindlicher Fragestellung vor. 16. Dezember. Die Mutter sagt: Vielleicht h a t R u t h einen W u r m im Magen. R u t h a n t w o r t e t : Dann müssen wir den Kopf abnehmen und in den Magen sehen. Aber wie machen wir den Kopf wieder auf ? Diese Äußerung geht auf folgendes Erlebnis zurück: Eine von R u t h s Puppen h a t t e den Kopf verloren. Rei dieser Gelegenheit h a t t e R u t h in den Puppenkörper hineinsehen können. Meine Remühungen, den Kopf wieder zu befestigen, waren fehlgeschlagen. Daher also R u t h s Befürchtungen, es könnte mit ihrem Kopf ähnlich gehen. 18. Dezember. R u t h erhält ein Stück Schokolade und sagt: Da k a n n ja Vati morgen einen kleinen Apfel bekommen. Nachdem sie ein Stück Schokolade gegessen hat, sagt sie vom Rest: Das wird weggelegt. Sie legt es in eine Schublade, wo es einige Stunden liegen bleibt. Dann erst holt sie sich das Stück und ißt es auf. Dies ist das erstemal, daß ein „ A u f h e b e n " beobachtet wird; geschieht es, um sich einen Vorrat zu schaffen oder aus Sparsamkeit, oder aus welchen Gründen sonst ? 22. Dezember. R u t h steht auf dem Treppenflur, um mir zum Abschied zuzuwinken. Sie beugt sich dann vor und sagt: Machst du nicht so, Vati ? Ich soll also, wie ich es gewöhnlich tue, mit der Spitze meines Stockes an ihre Schuhe klopfen. Hier zeigt sich, in wie hohem Grade kleine Kinder Gewohnheitswesen sind; es muß immer so sein, wie sie es gewöhnt sind. Man sollte diese Eigenschaft weit mehr bei der Erziehung ausnutzen. R u t h h a t eine Mundharmonika bekommen. Sie ist ungemein vergnügt darüber und spielt den ganzen Tag. Sonst spielt sie meist mit ihren Puppen, weniger mit den Hauklötzen und anderm Spielzeug. Die Puppen behandelt sie stets wie kleine Kinder. 25. Dezember. Zum Weihnachtsfest hat R u t h erhalten: Pferd u n d Wagen, ein P u p p e n b e t t , kleine Puppen, einen H a m p e l m a n n u. a. m. Als der Hampelmann in Rewegung gesetzt wird, sagt sie: Er reitet, anders kann er nicht. R u t h Rasmussen,
Tagebuch.
4
49
Analogie.
Verbergen.
Gewohnheit.
Mundharmonika
-
Begründung,
Analogie.
GuteBeobachtung.
Beobachtung.
Warum?
Verständnis.
Unverstand-
hch.
hat auch neue Kissen und Bettwäsche erhalten. Als ich im Scherz sage: Jetzt wird Vati in diesem neuen Bett schlafen und Ruth in Vatis Bett, sagt sie: Das ist ja zu klein. — Ruth sieht heute einen Jungen, geht auf ihn zu und sagt: Guten Tag, kleiner Junge! Unmittelbar darauf sagt sie zu ihrer Mutter: Wie schmutzig er an der Nase ist. Sie kann also trotz des freundlichen Interesses diese Beobachtung machen. 27. Dezember. Ruth findet ein Stück Papierborte, das sie zerreißt; während sie aber bisher Papier immer kreuz und quer zerrissen hat, zerreißt sie hier genau nach dem Muster. Sie hat also das Muster, Kreise, genau erkannt. 30. Dezember. Die Mutter wäscht eine Gans und Ruth verrät ganz grobe Analogie durch die Frage: Glaubst du nicht, daß die Gans sich erkältet, Mutti ? Auf einem Spaziergang sehen wir oft eine Büste. Ruth nennt sie „den Mann" und fragt, warum er keine Beine hat. Sie sieht auch eine Plastik ^gg ; ) Tages" mit einem Kinde auf dem Arm und erklärt: Das ist eine Dame, die mit einem Kind auf dem Arm fliegt. 2. Januar 1913. Ruth sieht sich die Bilder in einem Schaufenster an. Darunter zeigt eines einen Mann, der Kugeln wirft. Ruth ahmt seine Stellung nach und fragt: Warum macht er so ? In einem andern Schaufenster sieht sie einen Jüngling, der die Arme emporstreckt. Auch hier ahmt sie seine Stellung nach. Sie schafft sich also klare, anschauliche Vorstellungen durch Nachahmung. 3. Januar. Ruth hüpft auf dem Sofa auf und nieder, was ihr untersagt wird. Sie fragt: W a r u m ? Ich erkläre ihr, daß das Sofa diese Beanspruchung nicht aushalten könne. Sie sagt: Aber das Sofa sagt ja nichts! Aus einer Bierflasche wird der Korken gezogen, dann aber lose wieder aufgesetzt. Ruth sieht das und fragt: Warum machst du ihn ab und dann wieder auf ? Sie versteht also das anscheinend Sinnlose, kann aber nicht verstehen, daß der Korken jetzt nur lose aufsitzt. 4. Januar. Die Mutter fragt R u t h : Wollen wir Ruth die Haare abschneiden ? Ruth antwortet: Nein, Mutti, dann haben wir ja nichts zu kämmen. Etwas später: Blutet es, 50
wenn man das Haar abschneidet ? Als sie die Mutter hierüber beruhigt, sagt R u t h : Aber nicht R u t h s Beine abschneiden. Hier zeigt sich ein Mangel an Urteil, weil sie keine ausreichenden Erfahrungen hat. Sie hat an den Läden Wild gesehen, dessen gebrochene Beine bluteten. Das hat sie stark beschäftigt. R u t h sieht in einem Schaufenster ein „ K n i e s t ü c k " Wilhelms von Oranien. Sie zeigt darauf und sagt: Das ist Wilhelm. In unserer W o h n u n g hängt nämlich ebenfalls ein Bild Wilhelms von Oranien. Sie kann also schon auf einem Bilde die Person wiedererkennen. 5. Januar. R u t h h a t zu Weihnachten ein P a a r weiße Handschuhe erhalten. Sie wurden schmutzig, weil R u t h offenbar an einer Hauswand damit entlang strich. Heute kommen die Handschuhe aus der W'äsche und werden ihr rein angezogen. Sie sagt: Ich darf nicht wieder das Haus anfassen, sonst werden sie schmutzig. Sie h a t also eine ausreichende Erinnerung und kann das zweckmäßige richtig begründen. Oft gehen ihre Vorstellungen ohne Ordnung durcheinander, besonders wenn sie mit sich selbst beschäftigt ist, oder wenn sie beim Spielen vor sich hin spricht. R u t h singt ein Kinderlied, das sie in allen Strophen auswendig kann. Nachdem sie die erste Strophe gesungen hat, fragt sie mich: Singst du jetzt vom W ä c h s t ? Ich verstehe das zunächst nicht, entdecke dann aber folgendes: In der zweiten Strophe heißt es an einer Stelle: Wo der Riesenkohl wächst. Sie hat also den Sinn der Strophe gar nicht verstanden, trotzdem sie sie auswendig kann. R u t h muß Hafergrütze essen; die Mutter gibt aber dem Mädchen den Auftrag, etwas Apfelkompott zu bringen, das darüber gestreut werden soll. R u t h sagt: Denn so mögen wir es lieber, und gibt damit eine richtige Begründung. 7. Januar. Ich zeichne eine Giraffe und male ihr auch die Flecken an. R u t h fragt nach deren Bedeutung. Ich erkläre: Das sind die Flecken. R u t h : Aber dann müssen sie doch abgewaschen werden. Die „Flecken" der Giraffe k a n n sie also nur analog den Flecken auffassen, die sie im täglichen Leben kennt. 4*
51
Wiedererkennen.
Erinnerung. Begri/ndung.
Begründung.
Analogie.
Begründung.
Animismus. Al fehlt ier
Spiegel.
Bild.
Begründung, Gewohnheit,
Analogie.
Schneeball.
10. Januar. Ich liege mit Ruth auf der Couch und sage, Lege dich mehr zur Wand! Sie begründet: Damit du mehr Platz hast. Bei der Heimkehr spiele ich mit Ruth und nehme sie auf die Schultern; sie hat keine Schuhe an. Ich sage daher: Ich will dir die Sandalen anziehen. Sie antwortet: Aber hier oben kann ich doch keine Löcher in die Strümpfe bekommen. Ruth ist beim Friseur, der ihr das Haar schneidet. E r fors*e ^ Augen zu schließen. Sie tut es auch, öffnet sie aber bald wieder und sagt: Die wollen nicht mehr zu sein. Es fehlt ihr an Ausdauer, den Entschluß durchzuhalten, andererseits glaubt sie, die Äugen öffnen sich von selbst. Nachdem das Haar geschnitten ist, sieht sie ihr Bild im Spiegel, das ihr offenbar fremd vorkommt. Sie nennt das Spiegelbild nämlich „ E v a " . 11. Januar. Auf einem Spaziergang sieht sie das Bild eines Löwenkopfes, dessen Maul geschlossen ist. Sie fragt: Warum hat er nicht das Maul offen (nämlich wie auf den Löwenbildern, die sie kennt). Ich sage: Das weiß ich nicht. R u t h : Vielleicht ist er nicht hungrig. Ob sie ein solches Bild als lebendes Tier ansieht ? Ruth sieht einige gefällte Bäume und abgesägte Äste. Sie sagt: Die müssen kleiner gemacht werden, die sind zu groß. Ruth will Sandalen und nicht Pantoffeln anhaben, und sagt zur Begründung: Pantoffeln zieht man doch nur morgens an. Wenn wir von einem Spaziergang heimkommen, muß i c h z u e r s t in die Wohnung gehen, d a n n läutet Ruth, und dann wird ihr die Tür geöffnet. Ruth kann sich erinnern, welche Bilder sie zu Weihnachten in den Schaufenstern gesehen hat. So fragt sie zum Beispiel: Wo ist Wilhelm?, oder: Wo ist das K a m e l ? 12. Januar. Ruth sieht eine Hyazinthenblüte aus den Blättern hervorsprießen und sagt: Da kommt eine Blume aus dem Magen. 13. Januar. Ruth hat einen Schneeball in der rechten Hand. Die Mutter sagt zu ihr: Komm, fasse mich an! R u t h : Das kann ich nicht, ich habe doch Schnee in der Hand. Was soll ich da machen ? So nimm doch den Schnee in die andere Hand. Ruth macht also ihre Hand auf und sagt erstaunt: 52
Aber nun ist er ja gar nicht mehr da! Sie macht also eine überraschende Beobachtung. R u t h k a n n schon seit acht Tagen selbst ihre Gamaschen ausziehen. Vorgestern zog sie selbst die Stiefel aus, und heute, als die Mutter beschäftigt war, h a t t e sie ebenfalls die Stiefel allein ausgezogen. Der Ablauf ihrer Vorstellungen ist jetzt recht lebhaft. Wenn sie „telefoniert", sprudelt ihre Rede n u r so, u n d der gedachte P a r t n e r muß lange Geschichten anhören. Als m a n R u t h an ihrem Geburtstag sagte: Heute hast du Geburtstag, fragt sie: Wo ist denn mein Geburtstag ? 14. J a n u a r . Als R u t h beim Essen ist, sagt die Mutter, u m sie anzuregen: Ach, wie schmeckt das g u t ! Ruth macht aber eine wohlbegründete Einwendung und sagt: Nein, bei mir schmeckt es nicht gut. R u t h sieht ein kleines Mädchen weinen und f r a g t : W7as will das kleine Mädchen haben ? Hier verrät sich der Zweck des Weinens: Es dient zur Erreichung der Wünsche. R u t h sieht ein Bild eines Tigers mit geöffnetem Maule. Sie s a g t : Er m a c h t den Mund auf. Die Mutter sagt: Du hast doch keine F u r c h t vor ihm ? Ruth antwortet : Nein, er macht ihn j a wieder zu. R u t h ist Schlitten gefahren. Irgend jemand hat sie beim Rücken festgehalten, damit sie nicht umfiel. Die Mutter f r a g t : Dich hat wohl ein kleiner Junge festgehalten ? Sie a n t w o r t e t : Nein, es war nur ein Mädchen. 16. J a n u a r . R u t h springt immer von der letzten Stufe eines Treppenabsatzes herunter. Die Mutter sagt d a n n : H o p p ! Rutli sagt: Du brauchst das nicht zu sagen, ich springe auch so. R u t h begeht eine grobe Verwechslung, die durch die doppelte Bedeutung eines Wortes zu erklären ist. Im Dänischen fragt man nicht wie spät es ist, sondern: Was ist die Glocke ? Nun hat R u t h einen Pferdezaum mit einigen Glocken daran bekommen. Sie läutet damit und f r a g t : Was ist die Glocke? Halb fünf auf dieser Uhr hier. Sie versteht also gar nicht, um was es sich handelt. Als R u t h Bilder ansieht, sagt eine T a n t e zu ihr: Das ist ein Fisch. R u t h wendet aber ein: Nein, das ist ein Seehund.
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Selbsthilfe.
Schwatzen.
Einwendung.
Weinen.
Verständnis.
Begründung.
Glocken.
Einwendung. Kritik.
Analogie.
Einwendung.
Erinnerung.
Denken. Analogie,
Eifersucht.
Beobachtung. Gewohnheit.
Sie hat also das Bild wirklich erkannt. Ähnlich ist es bei folgendem Gespräch: Sie sieht das Bild einer Drossel und wird gefragt, was es darstelle. Sie sagt: Das ist keine Krähe, das ist eine Drossel. 24. Januar. Ruth nennt eine Schleife am Bett „Haarband", einige Riemen an dem eisernen Bettgestell nennt sie „Zaum". 28. Januar. Ruth will zur Klinik, um ihre Mutter und die kleine Schwester zu besuchen. Das Mädchen sagt: Aber die Mutter ist doch krank! — Aber das Schwesterchen ist ja bei Mutti! — Ja, die ist auch krank, und muß bei Mutti sein. — Darauf wieder Ruth: Aber Vati ist nicht krank (fortzuführen: er ist bei Mutti, also will ich auch da sein). In diesen Einwendungen zeigt sich eine hartnäckige Logik. Ruth ist vom 17. Januar bis zum 7. Februar, also drei Wochen aus dem Hause gewesen. Als sie auf meinem Schreibtisch das Bild von Hermann Trier sieht, fragt sie: Darf ich Hermann Trier ansehen ? Sie hat also ein gutes Gedächtnis. Dasselbe zeigt sich bei folgendem Vorhaben: Sie will den Kohlenkasten heilmachen und sagt: Gib mir doch, was da auf der Schale liegt. Es waren die Henkel, die am 17. Januar dorthin gelegt wurden. Ruth freut sich sehr über ihre kleine Schwester. Sie stellt fest: Sie hat ja keine Zähne! Wer soll die einsetzen ? Sie gibt sich selbst die Antwort: Die kommen von allein. Die Brustwarzen der Mutter nennt sie „Boller" (vom dänischen Wort „Ball" in kindlicher Weise abgeleitet) und sagt: Schwesterchen trinkt aus Muttis Boller. Sie stellt fest, daß sie keine „Boller" hat, berichtigt aber: Doch, ich einen, hier unten (Nabel), aber es ist nur einer. 1. Februar. Ruth ist außerordentlich lieb zu ihrer kleinen Schwester. Es ist nicht das geringste Zeichen zu erkennen, daß sie sie etwa als einen Mitbewerber bei der elterlichen Liebe betrachten könnte. Sie untersucht sie sehr genau: Wie niedlich sie ist! Wo ist denn der Daumen ? Ach, da ist er ja! 8. Februar. Ruth war mit mir auf dem Kirchhofe, den wir seit Monaten nicht besucht haben. Wir kommen an einen Weg, den wir seinerzeit jeder an einem Rande entlanggegan54
gen sind. Sie sagt zu m i r : Du m u ß t da drüben gehen, und beweist damit, daß sie die Szene noch in der Erinnerung h a t . 10. F e b r u a r . I m Frederiksberger Garten fragt R u t h die M u t t e r : Wie setzt man im S o m m e r die B l ä t t e r an die B ä u m e ? S p ä t e r antwortet sie sich s e l b s t : Die kommen von allein. Dann im S o m m e r kommen auch die S t r ä u ß e wieder. 16. F e b r u a r . Die G r o ß m u t t e r spielt mit R u t h , unterbricht das Spiel aber plötzlich, um zur Wiege zu gehen und S o n j a zu b e t r a c h t e n , die gerade so niedlich daliegt! R u t h geht auch zur Wiege, sieht auf S o n j a , zieht die G r o ß m u t t e r hinweg und s a g l : I c h finde nicht, daß sie niedlich aussieht. E n t w e d e r zeigt sich hier die Eifersucht, oder sie will mit einem Kniff ihre privilegierte Stellung erhalten.
Fragen.
Eifersucht.
17. F e b r u a r . Die Mutter n i m m t R u t h mit zu einem Besuch. Angst. Die Herrschaften, die im vierten S t o c k wohnen, sind aber Ursächlicher nicht zu Hause. Da die M u t t e r das Haus wieder verlassen Zusammenhang. will, s t r ä u b t sich R u t h ein wenig und f r a g t : W a r u m gehen wir j e t z t wieder weg ? Die M u t t e r n i m m t sie deshalb auf den A r m und geht die Treppe hinunter. Dabei fällt sie hin, so daß R u t h zu unterst zu liegen k o m m t . R u t h schlägt sich den Kopf. Nachdem sie wieder auf den Beinen sind, sagt die M u t t e r : So, nun wollen wir weiter gehen. R u t h a n t w o r t e t : A b e r ganz vorsichtig, Mutti. Als die Mutter auf dem Heimwege noch einmal s a g t : Ich habe solche Angst ausgestanden, sagt R u t h : Du darfst keine Angst haben, Mutti, denn dann habe ich auch A n g s t . R u t h zeigt hier, daß sie den Zusamm e n h a n g verstanden hat und hinreichende Vorsicht besitzt, ferner verrät sich die instinktive Empfindung, daß die Angst der M u t t e r ansteckend auf sie wirkt. 18. F e b r u a r . R u t h e r z ä h l t : E d i t h war verlobt, und hat ge- Erinnerung. weint, weil sie G r o ß v a t e r etwas Verkehrtes erzählt hat. Diese Äußerung bezieht sich auf ein Ereignis, das kurz vor dem 1. November s t a t t f a n d . E s war seitdem von Niemandem erw ä h n t worden. R u t h h a t t e damals mitangehört, daß diese D a m e ihrer M u t t e r erzählte, sie sei verlobt gewesen und habe ihrem G r o ß v a t e r etwas Falsches berichtet. Sie h a t also die W o r t e vollkommen richtig wiedergegeben.
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Tiere.
Sprache.
Eifersucht. Verbot. Definition.
Phantasie.
Verbrannter Finger.
22. Februar. Ruth ist mit der Großmutter im Zoologischen Garten, sie zeigt etwas Angst vor den Elefanten. Sie beoba c h t e t : Da ist ein Elefant, der hat noch einen kleinen Elefanten, und da ist einer, der hat keinen kleinen Elefanten. Nach Bildern kennt sie Zebra und Papagei. Einige tropische Kleinvögel nennt sie „Spatzen, die auf dem Rücken bunt sind". Schimpansen und andere Menschenaffen nennt sie „alte Frauen". 26. Februar. Die Mutter sagt: Was soll ich jetzt mit dir anstellen ? Ruth antwortet: Du kannst mich ja auf den Tisch stellen. 2. März. Man sagt von S o n j a : Sie ist lieb. Ruth antwortet: J a , Schwesterchen ist lieb, wie Ruth. Man hat Ruth irgend etwas verboten. Sie sagt darauf zu ihrer Mutter: Gehe doch in die Kammer, dann kann ich es tun. Ruth will etwas haben, womit sie Eisenbahn spielen kann. Auf die Frage der Mutter, was es denn eigentlich sein sollr sagt sie: Ein Nagel mit einer Schnur dran. Ruth soll ins B e t t gehen, und die Großmutter sagt: Jetzt spielen wir noch einmal, und dann gehts ins B e t t . Darauf R u t h : Nein, jetzt spielen wir noch einmal und dann noch einmal und dann noch einmal und d a n n gehen wir ins Bett. 3. März. Die Mutter sagt Ruth, daß sie nicht mit einem nassen Tuch Staub wischen darf und verläßt darauf das Zimmer. Als sie nach einiger Zeit wieder in das Zimmer tritt, sieht sie Ruth doch beim Staubwischen. Ruth sagt: Da bist du j a schon wieder; gehe in das andere Zimmer. Sie ahmt also die Sprechweise der Erwachsenen nach, ohne deren Unhöflichkeit zu verstehen. 4. März. Ruth reibt sich die Hände und sagt: Ich wasche meine Hände. Ich n e n n e das Seife. In ihre Phantasie mischt sich also Realismus. Ruth hat sich den Finger verbrannt. Sie zeigt ihn mir und erklärt: Den habe ich am Ofen verbrannt. Ich nehme ihren Finger in den Mund, um sie zu beruhigen. Zwei Tage nach dem Ereignis steckte sie mir den Finger in den Mund und sagte, unter Mißverstehen der Ausdrucksweise: Vati, willst du mich saugen ?
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11. März. R u t h sieht mein Bild in der Zeitung und sagt: Soll ich nicht den Kopf abschneiden und in mein Schränkchen legen. Ich habe doch ein Schränkchen. 12. März. R u t h sieht Krähen auf der Straße und sagt: Sieh mal, die sehen wie Tauben aus . . . die sind schwarz und weiß (sie meint grau). 14. März. R u t h sieht sich in meinem Zoologiebuch die farbigen Bilder von allerhand Tieren an und läßt sich die Namen sagen. Sie sieht dabei auch das nichtfarbige Bild eines Wasserkäfers und sagt: Das ist ein Wasserkäfer, wie der da, und zeigt das gleiche Tier in der b u n t e n Tafel. Als ich ihr auf ihre Fragen auch bei einem Bilde erkläre, daß es eine Heuschrecke darstelle, sagt sie: Nein, das ist keine. Ich: Doch, es ist eine Heuschrecke. R u t h : Nein, das hast du früher nicht gesagt. Sie b l ä t t e r t zurück und zeigt ein anderes Bild einer Heuschrecke mit den W o r t e n : Das ist eine. Das eine Bild zeigte das Tier mit zusammengelegten, das andere mit ausgebreiteten Schwingen. Vielleicht hat m a n ihr bisher zufällig n u r bei dem einen Bilde den Namen Heuschrecke genannt. Jedenfalls zeigt sie in diesen Einwendungen Kritik und berechtigten Zweifel. 16. März. Daß R u t h den Gesichtsausdruck durchaus versteht, zeigt folgender Vorgang. Sie hatte, um aus dem Bett zu kommen, vermutlich simuliert. Ich sehe sie deshalb ernst an u n d frage: Ist das auch wahr ? Sie legt die H a n d auf mein Kinn und sagt: Du sollst nicht so böse aussehen. 17. März. R u t h spielt Kriegen und Versteck durch das ganze Zimmer. Stelle ich mich hinter die Tür oder neben einen Schrank, so findet sie mich nach axisdauerndem Suchen. Als ich mich hinter einen Schrank stelle, der nicht unmittelbar an unserm „W'ege" liegt, sagt sie: Du m u ß t nicht so weit weggehen. Einige Meter Abstand bedeuten also f ü r sie schon einen langen Weg. Einmal verstecke ich mich hinter einer dichten grünen Gardine. Obwohl sie sich dadurch stark aufb a u s c h t , ist sie nicht imstande, mich zu finden. Als ich sie zwischendurch einmal anrufe, fragt sie: Vati, wo bist d u ? W e n n sie bei einer Tür vorbeiläuft, hinter der ich stehe, geschieht es vermutlich nur, weil sie auf das „ K r i e g e n " aus ist bl
Aufbewahren.
Beobachtung.
Beobachtung und Wiedererkennen.
Zweifel.
Gesichtsausdruck.
Versteckspielen.
und so in F a h r t ist, daß der Gedanke, ich könnte hinter der Tür verborgen sein, ihr nicht kommt. Sobald sie mich nicht hört, sucht sie n u r an den „ b e k a n n t e n " Verstecken. Habe ich ein neues Versteck gewählt, so findet sie mich nicht. Die Puppe Die T a n t e sagt zu ihr: W a r u m hast du denn deinem Kinde friert. kein Kleid angezogen ? Deine Mutti zieht dir ja auch ein Kleid an. Sie antwortet: Ja, ich friere auch, aber die P u p p e friert nicht. Es bleibt unentschieden, ob sie diese A n t w o r t n u r als Ausrede gesagt hat oder ob sie tatsächlich, wenn sie auch die P u p p e als „ K i n d " bezeichnet, doch bemerkt, daß sie nicht frieren kann. Beobachtung. R u t h sieht auf die Körnchen in der Sagosuppe und sagt: Sieh doch mal, da sind kleine Löcher in der Suppe. Traum.
Eifersucht.
Zeichnung.
18. März. Auf die Frage, ob R u t h in der Nacht wach gewesen sei, antwortete sie: J a , da war eine alte Frau, aber dann habe ich die Augen zugemacht, und da war sie weg. 21. März. Sonja liegt neben mir im Bett. Ruth k o m m t angekrochen und will durchaus auf demselben Platze liegen, oben auf Sonja. Endlich wird sie ruhiger und sieht freundlich auf die kleine Schwester, die nun an ihrem alten Platz liegt. Nachdem R u t h lange Zeit gezeichnet hat, ohne daß m a n erkennen konnte, was es vorstellen sollte, h a t sie heute nebenstehende Blume gezeichnet (Fig. 7). Man kann leicht erkennen,
Fig. 7: Eine Blume (3 J . 4 Mon.).
Fig. 8: Ein Fiscli (3J.4Mon.).
daß ein Blumentopf mit einer Blume geineint ist. In ihrem Zeichnen ist eine lange Stillstandsperiode, wenn nicht ein Rückgang eingetreten. Phantasie. R u t h läuft im Zimmer umher, hält ein kleines Küken aus W a t t e hoch und sagt: Nun fliegt das kleine Küken. R u t h h a t eine mürrische Zeit, sie weint über Nichtigkeiten, besonders unartig ist sie, wenn sie heimgehen soll, oder wenn sie ihr Spiel (Graben) abbrechen soll. 58
Es wird darüber gesprochen, daß R u t h mit offenem Munde geht. Sie sagt: Ich m u ß den Mund aufmachen, sonst kann ich nicht sprechen. 22. März. Wie andere Kinder in diesem Alter gibt sich Ruth mit ganz einfachen Geschichten zufrieden, die ihre eigene Person betreffen. Wenn sie mich etwa bittet, zu erzählen, was wir bei T a n t e Line machen, so besteht die ganze Geschichte darin, daß aufgezählt wird: Erst sagt T a n t e Line Guten Tag, dann sagt Onkel Krischan Guten Tag, dann sagt Onkel Peter Guten Tag. Das findet sie lustig. R u t h sieht die Mutter hinken und möchte es nachmachen. Es gelingt ihr aber nicht, da sie stets mit beiden Beinen hinkt. Die Mutter sagt: Nun wollen wir dir es genau zeigen, sieh mal her! Ruth sieht a u f m e r k s a m zu und sagt: Ach so, du hast das eine Bein oben u n t e r dem Rock! Man liest Ruth das Märchen vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzchen vor. Als sie hört, daß das kleine Mädchen Streichhölzer anstrich, sagt sie: Pfui, ich will nichts mehr davon hören, das Mädchen ist ja so unartig. In ihr begrenztes moralisches Gesichtsfeld paßt diese Tätigkeit nicht hinein. 23. März. Ich sagte: Sieh mal Sonjas niedliche kleine F ü ß e ! R u t h antwortet eifersüchtig: Ja, aber mein F u ß ist schöner. 24. März. Die erste „Messung" beobachte ich bei folgender Gelegenheit: R u t h hält einen Fuß gegen einen meiner Füße und sagt: Dein F u ß ist größer. Bei einem Besuch im Zoo zeigt R u t h nicht besonders starke Aufmerksamkeit für die Tiere, doch will sie gerne junge Tiere sehen. Vom Elefantenjungen sagt sie: Das kann Biersuppe essen. Vermutlich in Analogie mit einem Kinde, das auch Biersuppe essen m u ß . Die Affen sieht sie mit großem Interesse an und sagt: Der hat eine H a n d . Als wir eine Reihe von Tieren besehen h a t t e n , sagt sie: Hier kann man buddeln und begann zu graben. Der Drang, sich zu betätigen, ist also stärker als die rein passive B e t r a c h t u n g der Tiere. Die E x k r e m e n t e der Ziegen beschäftigen sie s t a r k ; sie sagt: Das sind die, die innen Steine haben. Sie verwechselt sie wegen ihrer Form mit Pflaumen. Die Tiger bringen sie in starken A f f e k t ; sie erkennt sie nach den Bildern sofort wieder. Am stärksten wird
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Ursache.
Beobachtung.
Moral.
Eifersucht. Beobachtung.
Analogie.
Beobachtung. Tätigkeit.
Analogie.
Ästhetik.
Inalogie.
Eifersucht.
Angst. Animismus. Analogie. Hilfe.
Beobachtung. Eifersucht.
Aufmerksamkeit.
sie durch den Anblick eines Goldfasanen e r r e g t ; sie ruft a u s : Nein, ist der aber schön! Auch für die Hühner hat sie starkes Interesse, vermutlich, weil es alte B e k a n n t e sind. A m s t ä r k s t e n interessierten sie: Affen, Giraffen, Tiger, Goldfasanen, Hühner, Schwimmvögel, T a u b e n , Wölfe u. a. m.' Als wir n a c h etwa fünfviertel Stunden wieder an einem B a u e r mit Tieren vorbeikommen, sagt sie: Hier sind wir gewesen. Nachdem sie eine halbe Stunde gebuddelt hat, wünscht sie noch einmal die Giraffen zu sehen. W i r waren auf einem Konzert und kommen heim. Als die M u t t e r zu R u t h ins Zimmer t r i t t , sagt diese: Ich dachte nicht, daß du m i t V a t i zur Musik warst, ich dachte, du warst auf dem Buddelplatz. Sie urteilt also in Analogie mit ihrer eigenen Vorliebe, der das Buddeln mehr S p a ß m a c h t als das Anhören von Musik. Ich sage vorsätzlich so, daß R u t h es h ö r t : Die kleine S o n j a hat schönes Haar. R u t h wird zwar nicht eifersüchtig, sagt a b e r : J a , sie hat eine Frisur wie ein Tischlerjunge. Sie meint d a m i t : Das H a a r ist kurzgeschnitten, wie bei einem Jungen und wie auch bei ihr selbst. Man h a t sie deshalb oft einen „ T i s c h l e r j u n g e n " genannt. 26. März. R u t h spielt mit ihrer Puppe auf dem (dunklen) Korridor. Sie s a g t : Du sollst keine Angst haben, Püppchen. 30. März. R u t h sieht die Mutter mit einem Bauklötzchen in der H a n d . Sie sagt: Mit e i n e m Klötzchen kannst du nicht spielen, Mutti, hier hast du noch einen. Mehr können hier nicht stehen, es ist zu weich (sie m e i n t : auf der Tischdecke). Ich prüfe R u t h in ihrer F a r b e n k e n n t n i s . E s sind v o r h a n d e n : rot, gelb, grün, blau, braun und schwarz. B e i der ersten Probe kennt sie die F a r b e n nicht, bei der zweiten Probe k e n n t sie rot, grün, gelb und blau; eine halbe Stunde später h a t sie sie wieder vergessen. 31. März. R u t h singt und sagt d a n n : Die Zunge singt. Die M u t t e r h a t S o n j a auf dem A r m und sagt zu R u t h : Sieh mal, wen ich hier habe. R u t h ungeduldig und ärgerlich: Ach, die kenne ich. Die M u t t e r sitzt und n ä h t . R u t h k o m m t unaufgefordert m i t einer F u ß b a n k und s a g t : B i t t e , Mutti, so sitzest du bequemer.
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R u t h f r a g t : Wie macht der Mann die Pferde ? Die Mutter sagt zum Mädchen: Machen Sie für Ruth eine Tasse Wasserkakao! R u t h : Ich möchte keinen Wasserkakao haben. Die Mutter sagt, da das Mädchen ja den A u f t r a g verstanden h a t , zur Ablenkung: Du sollst eine Tasse Kakao haben. R u t h h a t aber den Kniff gemerkt und f r a g t : Hast du nicht Wasserkakao gesagt ? 2. April. R u t h geht mit dem Mädchen zum Rollen. Dort sieht sie zwei Puppen, darunter einen Puppenjungen, der den Namen Polle t r ä g t . Sie sagt: Sieh mal, Anna, da ist eine P u p p e und ein kleiner Junge. Auf dem Heimwege erzählt sie dem Mädchen: Die Kinder glaubten, daß Polle eine Puppe sei, aber ich hab.e ihnen gesagt, daß es Polle (ein Junge) ist. Puppen sind doch Mädchen, aber Puppenjungen sind immer Jungen. R u t h singt Prosatext, in dem sie ihre „Erlebnisse" darstellt. Man sieht hieraus, daß Gesang potenziertes Sprechen ist. R u t h wird ins Bett gelegt, erklärt aber: Ich bin nicht müde. Wenige Augenblicke später schläft sie schon. Entweder merken die Kinder also nicht, daß sie müde sind oder sie wollen es nicht zugeben. 3. April. Ruth ist im Bett, sitzt aber und spielt. Die Großmutter, von ihr „Müsse" genannt, liegt auf dem Bett daneben. Ich trete ins Zimmer und befehle Ruth, sich hinzulegen, wobei ich sie scharf ansehe. Nach einigen Augenblicken richtet sich R u t h etwas auf und sagt zu Müsse: Glaubst du, daß Vati mich so sehen kann ? Ich mag nicht, wenn er so böse sieht. R u t h sieht einige kleine, runde, weiße Wolken am Himmel. Sie e r k l ä r t : Die sehen aus wie kleine Lämmer, die haben Köpfe. Sie erklärt Müsse: Die Leute sagen, Lebertran schmeckt gut, aber das ist nicht wahr, er schmeckt nicht gut. R u t h sieht Bilder vom kleinen Klaus und großen Klaus. Eines der Pferde liegt am Boden und ist erschlagen. Ruth sagt: Mutti, zeige mir doch mal die Splitter von dem P f e r d ! Die Analogie ist diese: Wenn ein Glas zu Boden fällt, geht es entzwei u n d die Splitter liegen umher. Das erschlagene Pferd muß also beim Fallen auch Splitter liefern. 61
Fragen. Intelligenz.
Gesang und Rede. Müde.
Moral.
Bewußte Kritik. Analogie.
7. April. R u t h pustet und sagt: Jetzt puste ich das Schwesterchen weg, dann haben wir kein Schwesterchen mehr. — Aber w a r u m denn das ? — J a , sie ist unartig, sie schreit, d a n n will sie die Flasche haben, und d a n n will sie nicht mehr die Flasche haben, und wir können doch nicht immer so beibleiben. 8. April. R u t h ist bei der Großmutter und wird gefragt, wie es denn dem kleinen Lämmchen gehe und dem Schäfchen. Sie a n t w o r t e t : Es geht g u t ; es h a t t e aber das Lämmchen schon den Kopf verloren, und auch seine Beine waren nicht Dramatisch, mehr heil. Die Großmutter fragt, ob denn die bunten Bleistifte noch alle da seien. R u t h geht in die Mitte des Zimmers, breitet theatralisch die Hände aus und s a g t : , J a , die Bleistifte, knack, bums, die sind k a p u t t , alle k a p u t t , Müsse. Die letzten Worte sagt sie sehr schelmisch. Fragen. 10. April. R u t h fragt mich, während ich die Zeitung lese: Wie kommen die Bilder in die Zeitung ? Sie will wissen, ob m a n sie zeichnet, wie sie selbst zeichnet. Moral. 11. April. R u t h ist unartig, schlägt nach der Mutter und r u f t „ p f u i " . Sie wird aber sofort bedenklich und erklärt: Pfui habe ich zu mir gesagt. Bild. 12. April. R u t h sieht in einem Andersenschen Märchenbuche einen Mann, dessen Kopf eingeklemmt ist. Sie sagt: Mutti, mach ihn frei. Es bleibt dahingestellt, ob hier das Bild mit der Wirklichkeit verwechselt ist, oder ob das Erlebnis so stark ist, daß das Bild zur Wirklichkeit wird. Erfahrung. R u t h fällt und schlägt sich stark. Sie sagt zur Mutter: Wir wollen jetzt nicht mehr laufen, und geht sehr vorsichtig. Analogie. 13. April. R u t h beobachtet einige Papierstücke, die vom Winde umeinandergeblasen werden. Sie sagt: Die Stücke hauen sich. — R u t h sitzt auf einem Tisch, während die Mutter um den Tisch tanzt. Ruth r u f t plötzlich in starkem Affekt : Du sollst nicht in den Weihnachtsbaum t r e t e n ! Sie verwechselt die Situation mit dem (in Dänemark üblichen) Tanz um den Weihnachtsbaum, von dem aber in diesem Falle gar nicht gesprochen wurde. Die Mutter unterhält sich mit ihrer Mutter, der Großmutter Müsse. Da redet Ruth dazwischen: Wir wollen jetzt nicht Ruth
und
Sonja.
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m e h r davon reden. A u f den e r s t a u n t e n B l i c k der M u t t e r e r k l ä r t R u t h : W i r (Müsse und R u t h ) wollen doch z u s a m m e n spielen. Sie sagt das m i t dem freundlichsten G e s i c h t , das sie machen kann. 16. April. R u t h w a r ungezogen, h a t t e t r o t z V e r b o t e s m i t S o n j a s F l a s c h e n gespielt, eine d a v o n umgeworfen, so d a ß sie entzwei gegangen war. I c h schelte R u t h sehr, setze sie auf den B o d e n und sehe sehr ärgerlich aus. N a c h einiger Zeit k o m m t sie zu m i r , s c h m e i c h e l t sich ein und b i t t e t um V e r zeihung. Als ich die V e r z e i h u n g g e w ä h r t h a b e und wieder freundlich aussehe, sagt sie, s t r a h l e n d vor F r e u d e : V a t i l a c h t wieder.
Strafe.
R u t h ist in den A n l a g e n und sieht, wie einige J u n g e n auf dem R a s e n spielen. Sie will a u c h dahin, a b e r die M u t t e r erk l ä r t ihr, daß m a n dort n i c h t spielen dürfe. R u t h b e m e r k t d a r a u f , daß sie j a so lange dort spielen k ö n n e bis der W ä c h t e r k ä m e und es a u s d r ü c k l i c h v e r b i e t e . Sie sieht also weder den G r u n d des V e r b o t e s ein, noch f ü r c h t e t sie die S t r a f e für die Übertretung. 17. April. R u t h spielt E i s e n b a h n . Mit vielem S c h n a u f e n (als L o k o m o t i v e ) b e w e g t sie sich in den Z i m m e r n hin und her. Zugleich h a t sie einen P a p i e r k o r b a u f g e s e t z t , der sie zu einem J u n g e n m a c h e n soll. Sie k o m m t zu mir, setzt sich auf meinen S c h o ß und f r a g t , ob die E i s e n b a h n hier f r ü h s t ü c k e n k ö n n e . 2 3 . April. E i n e S p r i t z e wird ins W a s s e r g e s t e c k t . R u t h m a c h t eine feine B e o b a c h t u n g , indem sie f r a g t , warum die S p r i t z e i m W a s s e r einen K n i c k h a b e ( L i c h t b r e c h u n g ) . I c h bin einige T a g e k r a n k gewesen u n d m u ß t e m i c h a m ersten A b e n d ü b e r g e b e n . D a s m a c h t einen s t a r k e n E i n d r u c k auf R u t h ; sie weint und will in ein anderes Z i m m e r . Als sie w i e d e r k o m m t , ist sie m e i n e t wegen s t a r k b e u n r u h i g t . A m n ä c h s t e n T a g e spielt sie m i t dem P u p p e n j u n g e n Polle. E r w a r k r a n k und liegt i m B e t t . E r v e r l a n g t n a c h einem Gefäß, denn er will sich ü b e r g e b e n . E s findet sich ihr B u d d e l e i m e r ; Polle liegt tief u n t e n in seinem W a g e n . „ S o k a n n er n i c h t an den E i m e r k o m m e n , " e r k l ä r t R u t h und h e b t ihn h o c h . D a n n wird er g e f r a g t : „ K o m m t n o c h m e h r ? " , wie sie es a m T a g e v o r h e r b e o b a c h t e t h a t . D a n n wird er wieder ins B e t t gelegt.
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Animismus.
Beobachtung.
Sympathie.
Zeit.
Privilegium.
.Nachahmung.
Dramatisch.
Strafe.
Erinnerung.
Einwand,
26. April. R u t h fragt: W a n n habe ich meinen Ball von Vati bekommen ? War das gestern ? Nein, das war nicht richtig gestern. Hier zeigt sich, daß das Zeitgefühl sich entwickelt hat. 29. April. R u t h und Sonja weinen gleichzeitig. Plötzlich unterbricht R u t h ihr Geschrei und sagt: Schwesterchen, du brauchst nicht zu weinen, wenn ich weine. Betrachtet sie hier ihr Weinen als ein Privilegium ? 4. Mai. Wir machen einen Ausflug; als ein Auto in Sicht k o m m t , zeigt sich, daß sehr viel Staub aufgewirbelt wird. Die Mutter stellt sich daher zum Schutz hinter eine Mauer. Als nach einiger Zeit wieder eine Mauer an der Seite des Weges ist, geht Ruth hinter die Mauer, hält die Hand über die Augen und sagt: Ich möchte keinen S t a u b in die Augen bekommen. W e n n R u t h mit ihren Puppen spielt, wird alles nachgeahmt, wie sie es bei den Erwachsenen sieht. Sie holt das Töpfchen, sie hält ihnen den Kopf, wenn sie sich übergeben müssen, sie schilt sie, wenn sie ungezogen sind, sie legt sie ins Bett und dergleichen mehr. 8. Mai. R u t h ist bei Großmutter Müsse, die mit einer Dame über R u t h spricht und sagt: W'enn sie jetzt n u r vergnügt sein und nicht immer auf jede Frage nur „sehr g u t " — „sehr g u t " antworten wollte. Ruth f r a g t : Wer ist denn das, der immer sehr gut — sehr gut sagt ? Die Nachahmung des Tonfalles, in dem die G r o ß m u t t e r gesprochen hatte, war dabei ausgezeichnet. R u t h ist unartig gewesen und die Mutter strafte sie durch Nichtbeachtung. Nach einiger Zeit kommt R u t h zur Mutter und sagt: EntschuldigeMutti, damit du nicht mehr „so" machst. Dabei sieht sie steif geradeaus, wie es die Mutter getan hatte. 11. Mai. R u t h erzählt mir anscheinend ohne äußere Veranlassung: Im Sommer wohnten wir in einem kleinen Hause bei Fräulein Christensen. Es ist etwa acht Monate her, daß wir das Pensionat Christensen verließen, und rund zehn Monate, daß wir in dem kleinen Hause wohnten. Dann fragt sie: W a r u m wohnten wir nicht in einem großen Hause ? I c h : Das wäre zu groß für uns gewesen. Sie: Aber jetzt wohnen wir doch in einem großen Hause.
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Ich lese ein B u c h , und Ruth fragt ob sie die Bilder in dem Zweifel. B u c h ansehen darf. Ich sagte ihr, daß keine Bilder in dem Buche seien. Sie bezweifelt das jedoch und sagt wir wollen mal blättern, ob wirklich keine Bilder drin sind. W i e früher p f l ü c k t sie fast ausschließlich L ö w e n z a h n Löwenzahn. H a r t n ä c k i g verwendet sie dafür den Namen W e i h n a c h t s b a u m ,
Fig. 9 (3 J. 6 Mon.). obwohl ich ihr mehrfach den richtigen Namen gesagt habe. Es ist nicht festzustellen, w a r u m sie so eifrig L ö w e n z a h n p f l ü c k t , möglicherweise weil er so h ä u f i g oder so auffällig ist, oder ihr so schön erscheint. Gelegentlich hat sie auch eine B u t t e r b l u m e aus einem Graben geholt oder ein Gänseblümchen. V ö g e l finden jedoch nicht ihr Interesse. R u t h zeichnet einen W o l f ; ich soll F u r c h t zeigen, wenn Phantasie, ich ihn sehe. Ich tue das natürlich auch. U m mir weiter Logik. Rasmussen,
Tagebuch.
5
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Furcht einzuflößen, zeichnet sie immer von neuem Wölfe, trotzdem der erste dazu schon ausreicht. Sie verrät dadurch Mangel an Logik. Das zeigt sich auch darin, daß sie mit ihrem Wolf ruhig wartet, als ich erkläre, jetzt beim Rasieren keine Zeit zu haben, mich zu fürchten. E r s t als ich mit dem Rasieren fertig bin, zeigt sie mir einen neuen Wolf. Es ist ihr also noch nicht möglich einzusehen, daß m a n sich
Fig. 10 (3 J. 6 Mon.).
vor einem Wolfe fürchten muß, ob man sich nun rasiert oder nicht. Die Idee des Spieles läßt diese kritischen Überlegungen nicht aufkommen. Sammeln. Ruth sammelt jetzt Nägel, Papierstücke, Lappen u. ä.; sie werden aufgehoben und für das Spiel verwendet. Sprache und. 23. Mai. R u t h liegt und singt: Ich bin froh, ich bin froh, in Gesang. ständigerWiederholung. Gesang ist eben potenziertes Sprechen. R u t h sagt: Ich muß in die Schule. Die „ S t u n d e " sagt, icli soll heimgehen. Sie h a t das Wort „ S t u n d e " vollkommen falsch verstanden.
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Ruth will über das Seil springen, aber die Mutter kann ihr nicht helfen. Da bindet sie aus eigener Erfindung das Seil an eine Wanne und sagt: So, Wannchen, jetzt wollen wir springen. 29. Mai. Müsse schlägt Ruth vor, beim Spiel mit den Puppen Frau Madsen zu sein. Ruth geht darauf ein, streicht sich erst über die eine, dann über die andere Backe und sagt: So, jetzt bin ich Frau Madsen. Sie streift also förmlich Ruth von sich ab und verwandelt ihr Ich. Ruth liegt
Die Mutter.
Dramatisch.
Der Vater. Fig. 11 (:i J. 6 Mon.).
in ihrem Bette auf dem Bauche und sagt: Jetzt bin ich Schwesterchen; dabei nickt sie mit dem Kopfe, wie sie es bei der Schwester gesehen hat, die den Hals noch nicht steif halten kann. Ruth sieht das Bild einer lachenden Dame, neben der ein Herr steht. Sie erklärt: Sie ist so froh, weil ihr Vati bei ihr steht. Beim Sprechen unterlaufen ihr etwa folgende Fehler: Haben alte Frauen Vatier (anstatt einen Vater) ? Es war böse vom Jäger, daß er den Hasen schießte. 5*
Erfindung. Ammismus.
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Analogie.
Sprache.
Egoismus.
Phantasie.
Spielzeug.
Wißbegier.
Egoistische Berechnung.
Fragen.
Beobachtung.
Eifersucht.
Die Mutter fragt R u t h : W a r u m hast du denn Vati lieb ? Weil er mir Bilder zeichnen kann. Die Liebe wird durch zufriedengestellten Egoismus begründet. 1. Juni. R u t h will ausschneiden, sagt aber selbst: Eine Scheere darf ich nicht nehmen, aber vielleicht finde ich zwei Nägel, dann können die meine Schere sein. In der Phantasie erfüllt sie also ihren Wunsch, obwohl sie genau sieht, daß die beiden Nägel keine Schere sind. R u t h findet eine leere Sardinenbüchse, sucht sich noch ein Stückchen Holz und beginnt zu buddeln. Sie hört aber bald auf, da die Erde zu hart ist. Das Spielzeug kann recht einfach sein, wenn es nur f ü r den gedachten Zweck brauchbar ist. R u t h pflückt, wie gewöhnlich, Löwenzahn und Bellis, findet dabei aber auch eine Ehrenpreis und fragt nach deren Namen. Ich habe ihr gelegentlich die Namen der häufigsten Pflanzen genannt, sie zeigt jetzt selbst den Wunsch, ihr Wissen zu erweitern. R u t h ist mit Müsse auf dem Spaziergang und erhält Müsse sagt: J e t z t bekommst du diesen v o n j^r B o n b o n s . noch, dann hast du drei im ganzen. Diese beiden heben wir für Mutti auf und der letzte ist dann für mich. R u t h war eine Weile nachdenklich und m a c h t dann folgenden Vorschlag: Mutti kriegt einen Bonbon, aber du kannst doch in den Laden gehen und dir welche kaufen. Darf ich dann noch einen kriegen ? Geht man mit Ruth spazieren, so fragt sie ununterbrochen etwas: Wie heißt der Junge ? Wie heißt das Mädchen ? Sagt m a n i h r : Der Junge heißt Peter, so fragt sie weiter: W 7 arum heißt er Peter ? 8. Juni. In der Bahn fragt R u t h : W a r u m fahren die B ä u m e auch ? Hier zeigt sich die naive Auffassung von Ruhe und Bewegung. 9. Juni. Man sagt von Sonja: W'as hat sie für rote Backen. Sofort sagt R u t h : Ich habe auch rote Backen. Von allen Bäumen kennt R u t h am sichersten die Tanne; deren Verwendung als Weihnachtsbaum gibt eine so sichere Verknüpfung des Interesses, daß ihr der Baum stets auffällt.
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R u t h gibt ein Beispiel von der lebendigen Phantasie und den schauspielerischen Fähigkeiten eines Kindes. Sie sagt zu ihrer Mutter: So, nun bist du ein kleines Mädchen. Willst du m i t mir spielen ? Und sofort mit veränderter Stimme, wie m a n zu Kindern spricht: Guten Tag, Kleine, wie heißt du denn ? R u t h ist heute lebhaft beschäftigt, mit Müsse K a u f m a n n zu spielen. Sie k a u f t Bonbons für Geld, das aus runden Papierstückchen gemacht wurde. Sie sagt: Wir spielen ganz richtig K a u f m a n n . 15. Juni. Die M u t t e r macht bei irgendeiner Gelegenheit ein liebenswürdiges Gesicht, das aber nicht ganz ehrlich gemeint ist. R u t h sagt d a r a u f : Du machst dich (gemeinL ist: freundlich). Sie h a t den Sachverhalt wohl richtig dargestellt, kann ihn aber nicht in der üblichen Weise sprachlich darstellen. R u t h sieht das Bild einer Antilope und fragt nach dem N a m e n des Tieres. Auf meine Antwort sagt sie: Es sieht aus wie ein Hirsch. R u t h h a t sich stark mit Nähen beschäftigt, weil sie gesehen hat, wie die Mutter ein Kleid für sie nähte. Sie m a c h t Eierkuchen und andere Speisen aus Sand; die Steine dienen als Mandeln, feiner Sand als Zucker. 20. Juni. R u t h fragt die Mutter im Spiel: W a s haben Sie zu Hause ? Die M u t t e r : Wras hast du denn zu Hause ? R u t h : Ich habe zwei kleine Piepvögelchen und zwei Papageien. Die essen so gerne Suppe. Hier zeigt sich eine Ideenassoziation ohne innere ursächliche Verbindung, wie m a n sie auch bei geisteskranken Erwachsenen findet. Ruth ist jetzt stark beschäftigt, aus Plastilin allerlei Gegenstände zu formen. 21. Juni. R u t h bezieht fast alles auf ihr eigenes Ich. Das zeigt sich etwa in der Frage: Ist der Kuchen für mich gebacken ? R u t h geht umher und singt endlose Wortketten, die keinen Sinn ergeben. 22. Juni. Beim Spazierengehen sehen wir Heuhaufen. Sie sagt: Die haben wir bei Fräulein Christensen gesehen. Diese Erinnerung ist gut, denn seit dem vorigen Sommeraufenthalt k a n n sie keine Heuhaufen gesehen haben. Es ist auch von ihnen nie gesprochen worden.
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Dramatisch.
Durchschaut.
Ähnlichkeit.
Ruths
Ich.
Erinnerung.
Fragen.
Gewohnheit.
Fragen.
Fragen.
23. Juni. Wie macht m a n Menschen ? W a r u m macht m a n Finger, m a n könnte ja die Arme nehmen ? Die Mutter: Dann könnte m a n nicht so gut zufassen. R u t h : Nein, dann könnte ich mit meiner Schippe nicht so gut buddeln. Ihre Vorstellung beruht hier wieder auf Analogie: Wie m a n etwas aus Plastilin macht, so macht man auch Finger. An dem selbstgebrachten Beispiel mit dem Buddeln erkennt sie den Nutzen der Gliedmaßen am besten. Außerdem zeigen sich schon die ersten Fragen nach dem Vorgang der Schöpfung und über die eigene Gestalt. R u t h h a t einmal durch einen kleinen Tanz eine Zulage an K o m p o t t erhalten. Später hat sie oft denselben Kniff verwendet. Heute bekommt sie wieder etwas mehr K o m p o t t , hat aber keine Lust, es zu essen. Sie weist deshalb darauf hin: Ich muß doch tanzen, wenn ich mehr K o m p o t t haben will. 24. Juni. Ich spiele mit R u t h Ball; sie verlangt: Du m u ß t so aufstampfen, und s t a m p f t fest mit dem Fuße. Bei einem früheren Spiele hatte ich nämlich bei jedem Wurf diese an sich unnötige Bewegung gemacht. Sie hält an der Gewohnheit fest. W a r u m h a t man Arme ? Damit die Hände daran sitzen können. Aber die könnten doch hier sitzen (sie zeigt die Schultern), und dann m ü ß t e m a n so machen. Sie beugt sich ganz weit nach unten und zeigt, wie m a n sich dann der Hände bedienen müßte. 26. Juni. R u t h erhält von Müsse eine Tulpe. Sie bem e r k t : Sie sieht aus wie eine Lilie. Wieder ein Fragespiel mit der M u t t e r : WTas hast du zu H a u s e ? R u t h : Ich habe zwei kleine Vögelchen. Welche Farbe haben sie denn? Sie sind gelb. Wie heißen sie d e n n ? Es sind Spatzen. Dann können sie doch nicht gelb sein ? Doch, sie sind gelb. WTas kriegen sie denn zu essen ? Biersuppe und Kompott ( R u t h s eigene Gerichte). Dann mit weinerlicher Stimme: Aber sie mögen das nicht (Ruth mag auch keine Biersuppe). Es liegen folgende Beobachtungen zugrunde: Ruth k a n n von der W o h n u n g aus zwei Kanarienvögel im Bauer sehen. Sie beobachtet sie mit großem Interesse. Spatzen hat sie 70
Fig. 12 (3 J . 8 Mon.).
oft gesehen und deren Namen gehört. Die Bezeichnungen der F a r b e n kennt sie noch nicht, daher bedient sie sich stets der gelben Farbe. 28. Juni. R u t h sieht das Bild eines Dampfers mit rauchendem Schornstein. Sie erklärt: Das ist ein Zug. W a r u m fährt der Zug auf dem Wasser ? Wir sehen das Bild eines Negers. R u t h erklärt: Das ist ein Schornsteinfeger, nicht wahr ? R u t h sieht Nelken und Löwenmaul. Sie f r a g t : Wie heißen die Blumen ? Nelken. J a , aber diese hier (gemeint sind Löwenmaul) ? Trotzdem die Blumen einander in Gestalt und F a r b e sehr ähneln, bemerkt sie doch den Unterschied. 71
Analogie.
Unterschied.
Animismus. Erinnerung.
Konkret und abstrakt.
Analogie.
Baden.
Sprache.
4. Juli. Müsse hat auf ihren Spaziergängen mit R u t h o f t den Buddeleimer als F u ß b a n k benutzt, wenn an der Bank nicht schon ein Stützbrett vorhanden war. Heute will aber Müsse den Eimer benutzen, trotzdem ein Stützbrett vorhanden ist. R u t h nimmt den Eimer weg und sagt: Du hast ja ein Brett, da brauchst du keinen Eimer mehr. Darauf Müsse: Ja, geh du nur mit deinem Eimer, dann bin ich aber auch böse auf dich. Nach einiger Zeit k o m m t Ruth mit dem Eimer zurück, setzt ihn zurecht und sagt: Sieh mal, da bringe ich den Eimer wieder. 5. Juli. Ruth schilt mit ihrer Puppe Lise: W a r u m sitzest du nicht so artig wie andere Kinder ? 10. Juli. Wir baden in Helsingör und sind in einem kleinen Badehause. R u t h sagt: Das ist gerade wie bei Fräulein Christensen, aber da waren zwei Badehäuser. Das ist wieder eine gute Erinnerung, denn seit dem 26. September k a n n sie diese Badezellen nicht gesehen haben, und es hat auch niemand in der Zwischenzeit mit ihr darüber gesprochen. Ich zeige R u t h zwei Buchfinken und sage: Das ist der Vater und das die Mutter. R u t h : Und wo ist die kleine Ruth ? Sie gestaltet die abstrakte Belehrung sogleich konkret. R u t h pflückt eifrig Blumen und läßt sich deren Namen erklären. Sie pflückt jetzt alle vorkommenden Arten. Wir machen einen Ausflug. R u t h fragt in der B a h n : Wo sind denn die Kinder ? Sie ist an Klassenausflüge mit meinen Schulkindern gewöhnt. Wir sehen eine große Ringelnatter. R u t h bewundert sie: Wie niedlich die ist. Sie fühlt demnach keinerlei Ekel oder Abscheu vor der Schlange. R u t h badet heute. Sie will selbst schnell ins Wasser; sie wird ihrer Mutter zugereicht und dann untergetaucht. Sie wimmert etwas. Sobald sie aber das Wasser verlassen h a t , sagt sie: Das war aber schön. Will sie damit vielleicht den ihr peinlichen Eindruck ausgleichen, daß sie geweint hat ? 11. Juli. Gestern lief die Mutter hinter R u t h und mir her und rief: Ich kann euch nicht einholen. Heute geht R u t h mit mir die Treppe hinauf und die Mutter k o m m t hinterher. R u t h sagt zu m i r : Mutti kann euch nicht einholen. Das Pronomen 72
ist falsch gebraucht, aber aus dem Zusammenhange versteht sie, was gemeint ist. R u t h liegt neben mir. Sie drückt den Kopf in die Kissen und schließt die Augen; sie glaubt dann, daß sie nicht zu sehen ist. R u t h h a t etwas Verbotenes getan und wird zurechtgewiesen. Während sie sonst immer sagt: Entschuldige, Mutti, sagt sie h e u t e : Ich will es nie wieder t u n . Das ist besser und deutlicher als die Bitte um Entschuldigung, die sie doch noch nicht richtig verstehen kann. R u t h spielt heute „ B a d e n " . Sie zieht sich aus und geht ins „Wasser". Einen Augenblick später k o m m t sie mit zusammengeschlagenen Armen und kältezitternd zurück und sagt: Wie ist das doch heute schön im Wasser, wie sie es kürzlich bei der Mutter gesehen hat. Wir bemerken, daß R u t h „ j u a r t i g " a n s t a t t artig sagt. Vermutlich erklärt sich das so: Man hat oft gesagt: Du bist ja [jo] artig, woraus R u t h in schlechter Nachahmung juartig gem a c h t hat. 18. Juli. R u t h spielt Ball: sie soll das Fangen lernen und gibt sich auch die größte Mühe. Zuerst sieht sie hin und wieder noch zur Seite, h a t aber bald erkannt, daß m a n den Ball unausgesetzt fixieren muß, wenn man ihn fangen will. So können viele Spiele dazu beitragen, Aufmerksamkeit und Konzentration zu üben. R u t h hat beobachtet, daß die Erwachsenen eine Blume ins Knopfloch stecken. Heute n i m m t sie eine ganz unansehnliche Blume und steckt sie in ihren Gürtel. Sie will sich schmücken, h a t aber noch gar kein Verständnis dafür, was schön ist und zum Schmücken verwendet werden kann. 20. Juli. R u t h sieht eine Spinne und f r a g t : Was fressen die Spinnen ? Fliegen. Können die Spinnen fliegen ? Nein. Wie kriegen sie dann aber die Fliegen ? Wir gehen an einem Pferdewagen vorbei und R u t h f r a g t : Wie heißt das kleine Pferd ? Das ist ein Isländer. Und wie heißen die a n d e r n ? Die großen, dicken Pferde heißen Holsteiner. Und wie heißen die großen Pferde, die nicht dick sind ? Eine merkwürdige, rein logische Frage. 73
Augen verborgen, alles verhör gen. Moral zu.
nimmt
Spiel.
A ufmerksamkeit.
Nachahmung.
Begründetes Fragen. Logik.
Beobachtung.
Verstecken.
Kritik.
Realismus.
Überlegung.
Beobachtung.
22. Juli. Es h a t in der Nacht stark geregnet, so daß sich in den Gossen Sandablagerungen gebildet haben. R u t h fragt, wer die Hügel gemacht habe. Sie zeigt hierdurch eine gute Naturbeobachtung. R u t h spielt mit Eimer und Spaten im Sande. Zu ihrem größten Erstaunen bemerkt sie, daß der Kuchen ganz bleibt. Freudestrahlend r u f t sie: Sieh mal, Vati, er ist h a r t geworden. Ich erkläre ihr, daß der Grund in der Feuchtigkeit der Erde liege. So kann ein Kind aus seinem Spiel unter richtiger Anleitung eine Reihe von physikalischen Kenntnissen erwerben. R u t h „versteckt" sich hinter einem Baum. Gleichzeitig verkündet sie aber laut jubelnd, d a ß sie sich hinter dem großen B a u m versteckt hat. Wenn sie mich nicht sieht, hält sie sich für unauffindbar. R u t h fragt die Mutter: W a r u m hat Vati lange Haare auf den Armen, ich kurze und du gar keine ? Weil Vati ein Mann ist, Mutti eine F r a u und du ein kleines Mädchen. Aber warum h a t dann Luise lange Haare ? 23. Juli. R u t h spielt mit ihrer Puppe, die durchaus wie ein Menschenkind behandelt wird. Plötzlich unterbricht sie aber das Spiel mit den W e r t e n : Sie kann nicht sprechen, denn sie ist nicht lebendig. R u t h findet eine kleine schwarze Perle und fragt, wo sie herkommen könne. Ich meine, daß sie vielleicht von ihren Indianerschuhen stamme. R u t h sieht die Schuhe an und sagt d a n n : Nein, die haben ja gar keine schwarzen Perlen. Hier zeigt sich eine gute Beobachtung und Überlegung. R u t h stellt fest, daß die Feuchtigkeit nach dem letzten Regen von der Straße verschwunden ist, und fragt, wie das komme. In diesem Alter sind demnach schon solche Beobachtungen möglich und erklärbar. R u t h steht mit mir vor der Glyptothek und b e t r a c h t e t die Plastik des Kentauren, der ein Wreib e n t f ü h r t . Sie gerät in starken Affekt und sagt: Sieh mal, sie m a c h t so mit den Fingern, und a h m t die gespreizte Fingerhaltung des Weibes nach. Dann, nach weiterer Betrachtung: Sie hat ja keinen Daumen. Ich zeige ihr den Daumen auf der abgewendeten 74
Seite. Neben dieser guten Beobachtung fällt die Anregung zur N a c h a h m u n g der H a n d h a l t u n g auf. R u t h sieht ein Motorboot mit einem Schornstein und f r a g t : W a r u m ist eine Eisenbahn darauf ? Wir sind auf dem Rathausplatz und ich erkläre ihr: Das ist das Rathaus. Sie sagt: Da sind ja zwei Rathäuser. Das Palasthotel an diesem Platze hat nämlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Rathause. 26. Juli. Heute ist R u t h mit ihrer Mutter in die Sommerfrische gereist. Sie kann sich erinnern, daß ich vorigen Sommer mitgereist bin. R u t h ist jetzt ohne Sandalen 96 cm groß. A m 3. September k o m m t Ruth aus der Sommerfrische zurück. 6. September. Darf ich das Buch lesen ? Ja, aber du darfst es nicht zerreißen. Das habe ich ja auch nicht gesagt, ich habe gesagt, ich will es lesen. Die Mutter sagt zu R u t h : Vati ist in der Schule. Darauf R u t h : Ist er denn so klein ? Auf dem Lande hat sie nämlich erfahren, daß kleine Kinder in die Schule gehen müssen. In den Sommerferien ist R u t h gerne ins Wasser gegangen, und es h a t ihr viel Vergnügen gemacht zu planschen. Eines Tages aber wollte sie durchaus oben am Strande bleiben und dort s p i e l e n , daß sie badet. Hier ging ihr die Phantasie über die Wirklichkeit. Die P u p p e Lise ist hingefallen und h a t sich weh getan; sie weint aber nicht. Das Mädchen erklärt: Vielleicht h a t sie sich gar nicht weh getan. Aber R u t h stellt richtig: Sie weint nicht, weil sie nicht lebendig ist. 15. September. Es wird untersucht, ob Ruth einen „Schlag" oder n u r einen „ K l a p s " bekommen hat. Sie bildet dabei folgende Definition: Das war schlagen, denn es t a t weh, und dann ist es schlagen. 2. Oktober. Die Kleine weint, und die Mutter regt sich d a r ü b e r auf. R u t h sagt: Du sollst dich nicht so aufregen, Mutti! 3. Oktober. R u t h n i m m t aus Versehen einen Stoß Manuskriptblätter herunter, die ich auf meinen Schreibtisch gelegt h a t t e . Als ich in das Zimmer trete, sehe ich das Manuskript 75
Analogie.
Erinnerung.
Größe.
Schule.
Phantasie und Wirklichkeit.
Realismus.
Definition.
Moral.
auf dem Boden zerstreut und rufe bestürzt aus: Mein Manuskript ! R u t h merkt offenbar, daß ich befürchte, sie habe etwas Böses getan, kommt von selbst zu mir und sagt: Sei nicht böse, Vati, ich dachte, es ist mein Papier. Sie war sehr bestürzt, ohne daß sie im geringsten gescholten wurde. Meine Stimme und mein Gesichtsausdruck haben ihr sofort verraten, daß sie etwas Unrechtes getan hat. Verstecken. 4. Oktober. R u t h versteckt sich bei ihrem Großvater unter einem Tisch. Kopf und Augen werden verdeckt. Sie s a g t : Jetzt kannst du mich nicht mehr sehen, Opa, jetzt kannst du meine Augen nicht mehr sehen. Der Großvater: Aber deine Kniee kann ich sehen. Es ist die schon oft beobachtete Erscheinung: Wenn die Augen nicht zu sehen sind, ist die ganze Person unsichtbar. Autorität R u t h b e n u t z t einen schlechten Ausdruck; die Mutter vergegen weist das. R u t h wendet ein: Aber Gerda sagt auch so, und Autorität. Gerdas Mutter sagt nichts. Hier steht für Ruth A u t o r i t ä t gegen A u t o r i t ä t . Analogie.
22. Oktober. Beim Spazierengehen in der Südmark sieht R u t h beim Eingang in einen Weg in der Mitte einen Pfahl, um Fuhrwerke fernzuhalten. Sie sagt: „Das ist gerade wie auf dem Friedhofe" und gibt damit ein Muster einer unangreifbaren Analogie ohne Identifizierung.
Animismus.
Von einem Gespann erklärt R u t h : J e t z t müssen die Pferde nach Hause und schlafen gehen. Dann vom W a g e n : Der Wagen muß auch nach Hause und schlafen und F u t t e r kriegen. Auf meinen Einwand, ob sie denn glaube, daß der Wagen essen könne, sagt sie: Nein, aber wir tun so (als könne er essen). Sie h a t die verkehrte Analogie zwar erkannt, aber nicht ganz berichtigt. Ästhetik. Daß die N a t u r ein Kind in diesem Alter ästhetisch beeindrucken kann, zeigt folgende Äußerung R u t h s : Hier (in den Anlagen) sind aber viele Farben, gelb und grün und rot und braun. Dann sieht sie in die Baumkronen und erklärt: Von da oben kommen die Blätter (die auf dem Wege liegen). Dann sammelt sie eine Menge Blätter und Kastanien und s a g t : Gelbe müssen auch dabei sein. 76
25. Oktober. Ruth sieht das Bild von Darwin in meinem Analogie. Zimmer und sagt: Das ist Großvater. Glaubst du denn wirklich, daß es Großvater ist ? Nein, aber er sieht so aus. Was sieht so aus ? E r hat so wenig Haar und solchen B a r t wie Großvater. Als man ihr einmal die Haare kurz geschoren hatte, meinte sie, sie sei jetzt so alt wie Großvater. Wir blättern in einem Album mit Reproduktionen bekann- Erin nei'uns. ter Gemälde; bei einem „Angelus" erkennt sie, daß es auch in Großvaters Zimmer hängt. Auch bei den Rembrandtschen „Kleiderhändlern" bemerkt sie richtig, daß es in der grünen Stube sei. Bei der Betrachtung eines Mannes, der mit gefalteten Händen sitzt, versucht sie die Stellung nachzuahmen und beugt sich über das Buch. Die Mutter sagt: Kannst du denn das Bild finden, das so aussieht wie Großvater? Ruth blättert; die Mutter will helfen: Nach der andern Seite mußt du blättern. R u t h : Nein, das war hinten, denn es waren nicht mehr viele Blätter dahinter. 1. November. Ich gehe die Treppe hinunter und habe Ruth an der Hand. Sie sagt: „jetzt sind wir alle beide zuerst d a " , obwohl sie die richtige Benutzung des Wortes sehr oft von uns gehört hat, wenn wir die Treppe hinauf- oder hinabstiegen. Ich lasse sie daher eine Stufe vorgehen und erkläre: So, jetzt kommst du zuerst und ich zuletzt. Ruth liegt im B e t t und weint. Die Mutter will sie beruhigen, aber Ruth entgegnet: Deinetwegen weine ich ja gar nicht. Sie will nämlich, daß das Mädchen anwesend ist. 2. November. Ruth zeigt mir einen Mann, den sie gezeichnet hat, und fragt: Was muß er noch haben? I c h : Arme Sie kommt zurück und sagt: Dann muß er auch Hände haben, die sitzen j a an den Armen. Dabei zeigt sie mir ihre Hände erst an dem einen, dann an dem andern Arm. Sie versucht also, ihre Behauptung zu veranschaulichen. 5. November. Die Großmutter schmückt Ruth mit Uhr und Uhrkette, Brosche, Kamm u. a. m. Alle diese schönen Dinge werden an den unmöglichsten Stellen angebracht, aber Ruth ist entzückt über den bunten Staat. 7. November. Ruth sammelt im Park Blätter. Als die Mutter sie ruft, erklärt sie: Nein, ich muß noch mehr Blätter t i
Sprache.
Veranschaulichung.
Pflicht.
Erfahrung.
Ihre
Bilder.
„Weg."
Erfahrung.
Phantasie.
Phantasie.
Beobachtung.
sammeln. Aber die sind ja ganz n a ß ! R u t h n i m m t ein trokkenes Blatt und sagt: Das ist nicht naß, du kannst j a fühlen. Ich zeige R u t h in einem psychologischen Werke die Bilder, die sie selbst gezeichnet hat. R u t h erkennt sie nicht wieder, erkennt aber auch nicht, daß sie einen Herrn und eine Dame vorstellen sollen. Ruth spielt Versteck. Kannst du mich finden ? Ja. Bin ich jetzt w e g ? Nein. Kannst du mich sehen? Nein. Dann bin ich doch weg. „Weg" sein ist also identisch mit „nicht gesehen w e r d e n " . R u t h sieht einen Dielennagel lose im Fußboden sitzen und f r a g t : W a r u m ist denn da ein Nagel drin ? Damit die Dielen nicht auseinanderfallen. R u t h zieht den Nagel heraus und stellt fest: Aber sie fallen ja gar nicht auseinander. 10. November. Bei einem Spaziergang mit der Mutter erklärt R u t h : So, jetzt bin ich eine fremde Dame, und dabei t u t sie, als läse sie eine Zeitung, die an einem Zaun angeschlagen ist. 11. November. Ruth hat einen kleinen Spankorb erhalten, über den sie sich sehr freut. Sie stellt ihn an das Bett der Mutter und t r i t t mit den Füßen auf der Stelle. Jetzt gehe ich die Treppe hinauf. Dann drückt sie mit dem Finger auf die Schulter der Mutter: Klingelingeling — jetzt habe ich geklingelt. Dieses Spiel wiederholt sie mehrfach. 15. November. Ruth hat einen alten Briefumschlag. Sie k o m m t zu mir, steckt ihn durch die Stuhllehne und sagt: Ein Brief für Vati; da wird er durch den Briefkasten gesteckt. Ich gehe mit R u t h spazieren; die Sonne steht uns im Rücken, so daß sie unsere Schatten beobachten kann. Sie erklärt: Da geht auch eine kleine Ruth. Sieh mal, wie lang sie ist. Wie lang Vati ist! Da ist Ruths Korb. Die Stiefel kann m a n nicht sehen. Ich zeige ihr darauf den Schatten meiner und ihrer Stiefel. Sie fährt in der Beobachtung fort: Sieh mal, wie lang dein Stock ist. Wie dünn die Beine sind! Ob das kleine Mädchen Inge heißt ? Es wird wieder das Album mit Reproduktionen b e k a n n t e r Gemälde betrachtet. Sie bemerkt überall zunächst die Kinder und zeigt sie. Außerdem unterscheidet sie meist richtig zwi78
sehen Herrn und Dame. Und zweimal macht sie auf Handlungen aufmerksam. Das eine Bild stellt den Tod mit der Sense neben einem Holzfäller d a r : Er will ihn schneiden, und deshalb weint er. Das andere Bild stellt zwei Mädchen an einem Tische dar: Sie essen, die Mutter h a t es ihnen gegeben. 16. November. R u t h ist bei ihrer T a n t e und berichtet: Ich sollte erst nicht zu dir kommen, denn die Nägel waren lang. Man hatte nämlich zur Bedingung gemacht, daß die Nägel beschnitten werden. R u t h geht mit ihrer Mutter an einem Bahnhof vorbei, vor dem eine brennende Bogenlampe hängt. R u t h sagt: Das ist ein Mond. Nein, das ist eine Lampe. Nein, das ist ein Mond. Beim Näherkommen sagt R u t h : Ja, es ist doch eine Lampe, du hast recht, die hängt ja an einer Schnur. R u t h sagt: Ich habe Schokolade von Tante b e k o m m e n ; ich habe T a n t e so lieb, nicht wahr ? 20. November. R u t h f r a g t : Legen die Hühner ihre Eier selbst ? Ja. W a r u m legt der H a h n keine Eier ? Wie kommen die Eier heraus ? Die Hühner drücken sie heraus. Wo kommen die Eier her ? Die sind in den Hühnern. Ja, aber wie ? 21. November. Esther sagt, daß meine Eüße ebenso groß sind wie ihre. Sind denn meine Füße groß ? Die sind doch klein! Rutil sieht einen Schornsteinfeger auf dem Dache stehen und seiner Arbeit nachgehen. Sie sagt: Er muß in den Schornstein hineingehen; das ist ja tief. 23. November. Als R u t h zu ihrer Großmutter kommt, wird sie gefragt: Na, was hast du heute g e t r ä u m t ? R u t h antwortet sehr pfiffig: ,,Daß Müsse mit mir spielt", obwohl sie das bestimmt nicht geträumt hat und vielleicht auch die Frage der G r o ß m u t t e r nicht richtig verstanden hat. R u t h probiert ein neues Kleid a n ; es macht viele Schwierigkeiten, sie zum Stillehalten zu bringen. Als sie wieder freigelassen wird, spaziert sie hin und her und ist anscheinend „eine fremde D a m e " , wie sie so oft spielt. R u t h hat mit einer Syndetikontube gespielt und mit dem Inhalt ein Buch beschmutzt. Als ich darüber zukomme und frage: Wer hat das getan ?, sagt sie: Willst du hauen ? Nein, 79
Beobachtung.
Liebe. Interesse.
Sprache.
Denken.
„Traum."
Neues Kleid.
Furcht.
Wunsch. Kritik.
Ursprung.
Spiel.
Maß. Bild.
aber sieh dir das einmal a n ; ich will wissen, wer das getan h a t . Da aber ihre Schuhe auf dem Schreibtischstuhl deutliche Spuren hinterlassen hatten, zeige ich sie ihr und frage: Sind das nicht deine Schuhe gewesen ? Also, wer ist es gewesen ? Ich bin es gewesen. Nach Aufforderung b i t t e t sie d a n n u m Verzeihung. 24. November. Darf ich eine solche P u p p e haben, wenn wir wieder Geld dazu haben ? 26. November. Ruth bittet die Mutter, von einem Löscher den Handgriff abzuschrauben. Die Mutter sagt: Das geht nicht (es war ihr aber zu unbequem). R u t h läßt aber mit Bitten nicht nach, und da es endlich abgeschraubt ist, sagt sie: Siehst du, daß es doch abgeht ? 29. November. Ruth fragt anscheinend ganz ohne Veranlassung: Wie haben wir mich gekriegt? Die Mutter: Wir haben dich aus der Stadt abgeholt. R u t h a h m t in ihrem Spiel die Ereignisse ihres Tageslaufes nach. Wenn ihr Haar gewaschen wird, muß sich auch die P u p p e das H a a r waschen lassen. Nimmt die Mutter ein P l ä t t b r e t t , m u ß auch die P u p p e plätten. Sie mißt mich mit einem Zollstock und sagt: Du bist fünf Pfund. Als sie in meinem Buch Komma- und Semikolonzeichen sieht, sagt sie: Das sind Tränen.
Das fünfte Jahr. Wachsen. Spiel.
Eigentum. Diebstahl.
3. Dezember 1913. R u t h fragt heute an ihrem Geburtstage : Wie soll ich denn wachsen ? Wie wächst m a n ? 4. Dezember. Jetzt will ich aufstehen und spielen. Mußt du in die Schule ? Dies ist das erste Mal, daß man aus ihren W o r t e n entnehmen kann, daß ihr der Unterschied zwischen ihrem Spiel und der Arbeit des Erwachsenen klar ist. 5. Dezember. Ruth plaudert: Wenn ich im Krankenhause bin (bei der kleinen Schwester), spiele ich mit den Klötzchen. Wenn es keiner sieht, kann ich die Klötzchen nehmen. Sie hält den Diebstahl für erlaubt, wenn er nicht entdeckt wird.
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R u t h kann jetzt allein die Strümpfe anziehen, Hosen und Schuhe anziehen, die Schuhe zubinden, aber die Schleife k a n n sie nicht machen. Sie kann den Mantel anziehen und ihn zuknöpfen und die Kappe aufsetzen. Sie kann Mantel, Schuhe, S t r ü m p f e und Hosen ausziehen. Sie kann selbst die Toilette aufsuchen. Sie geht die Treppe hinauf und hinunter, k a u f t Kleinigkeiten ein, kann allein essen und trinken. Die Mutter sagt: Es ist am besten, wenn wir auf dem Korridor ausschalten. Vati sagt, daß du dann besser schläfst. R u t h , die mit drei Puppen im Bett liegt, sagt dazu: Ja, ich schlafe, aber es ist besser, wir lassen brennen, der kleinen P u p p e n wegen. Also nicht f ü r mich, sondern f ü r die Puppen, Ist das nun ein Kniff, um sich selbst Licht zu sichern, oder ist es eine Auswirkung des Animismus, der die neuen Puppen als Lebewesen behandelt ? R u t h h a t mehrere Tage vorher im Dunkeln gelegen. 7. Dezember. R u t h erklärt: Heute spiele ich nicht. Heute gehe ich in die Schule. Diese Äußerung ist wieder ein Zeichen dafür, daß ihr der Gegensatz zwischen Spiel und anderer Beschäftigung erkennbar wird. R u t h hört ein Volkslied singen. Sie sagt: Das habe ich in der Sonntagsschule gehört. Sie h a t eine Melodie wiedere r k a n n t , die sie vor einem Monat gehört hat. R u t h und ich gehen der Sonne entgegen. R u t h wendet sich um, sieht die Schatten und sagt: W a r u m gehen sie nicht vor uns ? (wie wir es kürzlich bei einer anderen Gelegenheit bem e r k t hatten.) Sie h a t also noch nicht erkannt, wie der Schatten entsteht. R u t h und ich stehen bei Sonja, die einen Klapper bekommen hat. Ich sage: „Das ist aber eine schöne Klapper." Da zeigt R u t h eine Schachtel, die ihr gehört, mit einem Bild auf dem Deckel, und sagt: Die ist noch schöner. R u t h h a t sich heute selbst ausgezogen, also Kleid, Unterrock, Hosen, Strümpfe und Schuhe abgelegt. Sie kann sich allein die Hände waschen und abtrocknen. 8. Dezember. Das Mädchen sagt: Sieh mal, das Schwesterchen h a t Locken. R u t h steht dabei, zieht und zieht an ihren R a s m ü s s e n , Tagebuch.
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Fertigkeiten.
Furcht im Dunkeln.
Schule Spiel.
und
Melodie.
Schatten.
Eifersucht und Selbstbehauptung.
Ausziehen.
Eifersucht.
Animismus.
Haaren, sagt aber nichts. Sie bedauert offenbar, daß sie nicht zu Locken werden wollen. 11. Dezember. Ruth spielt mit ihren Puppen; sie bekommen Milch aus kleinen Puppentassen. Nachdem sie einmal herumgereicht hat, sagt sie zu ihrer Mutter: Die lebendigen trinken aber richtig. Sie versteht demnach, daß die Puppen nicht trinken können. Bei der Betrachtung von Bildern sagt sie: Warum kann man nicht sehen auf den Bildern, wie sie mit den Beinen gehen ? Offenbar betrachtet sie die Bilder als etwas Lebendiges, das sich eigentlich bewegen müßte, aber zugleich beobachtet sie, daß die Beine sich nicht bewegen.
Fig. 13: Ein H u n d (4 J . 0 Mon.). Beobachtung.
Wiedererkennen, TVenn ich groß bin.
Selbsterkenntnis.
14. Dezember. Auf einem Spaziergang beobachtet Ruth Streifen auf dem Wege. Sie fragt: Wer hat die kleinen Löcher gemacht ? Ein Auto. Wie hat es die Löcher gemacht ? Auf den Rädern sind kleine Knöpfe. Als wir bei einem Schaufenster vorbeifahren, sehen wir ein farbiges Bild der Mona Lisa. R u t h : Die haben wir in der Zeitung gesehen. Ruth legt eine Briefmarke auf meinen Schreibtisch und g s a t : ]ji e s o u aufgehoben werden, bis ich groß bin. Wir sammeln nämlich ausländische Marken in einer Schachtel, die Ruth haben soll, wenn sie groß ist. 18. Dezember. Ruth erklärt: Es nützt nichts, wenn ich s a g 6 )
188
22. Dezember. Ruth sagt von ihrer Schwester: Sie ist wie Muttis Pillen, außen süß (im Dänischen — artig) und innen bitter.
Psychologie.
24. Dezember. Gegen ihre Gewohnheit war Ruth am heutigen Weihnachtsabend etwas empfindlich, vermutlich, weil sie bedeutend weniger Geschenke bekommen hat als Sonja. Sie war sonst bescheiden in ihren Wünschen, die im übrigen
Weihnachten.
Fig. 56: Ein W e i h n a c h t s b a u m (9 J. 0 Mon.).
alle erfüllt wurden; sie erhielt: Tausendundeine Nacht (zweibändig), dasselbe Werk noch einmal in einem Bande (verkürzt), Tuschkasten und Pinsel, eine kleine Tasse, einen Perlenkranz, Seife, Parfüm, Taschenspiegel und Leckereien. Beim Schlafengehen sagt sie zur Mutter: Das erste, das ich mir zum nächsten Weihnachten wünsche, ist also ein Puppenwagen und eine Puppe. Aber kurz danach hat sie doch Bedenken: Vielleicht will ich das doch nicht haben, denn es wird mir bald über sein, und dann habe ich ja von Sonja die Erlaubnis, mit ihrem Puppenwagen zu spielen, und dann ist es ja gut. Das ist wirklich ein schönes Weihnachtsfest gewesen. 189
Talent.
Auffassung.
Tests.
25. Dezember. Es wird vom „Talent" gesprochen; eine Bekannte hat großes Talent, Geschichten zu erzählen, und meine Frau lobt dieses Talent. Kurz darauf gibt sie Ruth den Auftrag, Elna (aus dem Hause) zu bitten, herunterzukommen, und fügt hinzu: Aber sage es recht freundlich. R u t h : Ja, ich werde ihr so auf die Backe klopfen, dann habe ich auch Talent. 2. Januar 1919. Ruth erzählt wieder einmal von ihrem Theaterbesuch am 20. Dezember. Sie hat den eigenartigen Ton der Theatersprache richtig erkannt, denn sie zitiert „Emmis" Worte: Ich halte es für Aberglauben, und ich halte es für sehr dumm. Dann erzählt sie, daß „Emmi — Emmi" gerufen wurde, und sie ahmt das in dem gleichen, sehr hohen und süßlichen Theatertonfall nach, ebenso Emmis Antwort: Ja, jetzt komme ich. Da ich selbst im Theater war, kann ich feststellen, daß ihre Nachahmung recht genau ist. 2. Januar. Ich mache Versuche mit den Binetschen Tests. 1. Für das 9. Jahr: 1. richtig, 2. richtig. Die Definition einer „Mutter" gibt sie so: Eine Mutter, das ist, wenn sie ein kleines Kind hat, dann heißt sie Mutter. 3., 4., 5. richtig. Sie antwortet zu a) auf den nächsten warten; b) wenn er sagt: Ich bitte um Entschuldigung, dann sage ich: Oh, bitte; c) entweder bezahlen, oder sich entschuldigen. 2. für das 10. Jahr: 1. nicht versucht; 2. s. Fig. 35; 3. a) er war tot, dann konnte er doch nicht leben; b) er hatte nur zwei (Brüder); c) das konnte sie nicht; d) das ist viel; e) nein, denn dann war er tot (die Frage wurde zweimal gelesen); 4. a) dann möchte ich einen Zettel mit zur Schule haben. Dieser Test ist, wie schon erwähnt, ungünstig, b) was soll das heißen: sich einlassen? Ich erkläre ihr, daß diese Worte bedeuten: etwas tun. Darauf sagte sie: sparen, dann kann man kaufen; c) Sie fragt: Was ist denn eine böse Tat ? Nach meiner Erklärung sagt sie: Es kann doch sein, daß die andern das verdient haben; d) Dann will ich ihn erst ansehen und mit ihm sprechen; 5. a) In Kopenhagen bin ich geboren. Öresund ist eine Stadt. Geld ist gut. b) In Kopenhagen hat man viel Geld, auch in Öresund. (Sie hält Öresund fälschlich für eine Stadt.) 190
3. für das 12. Jahr: 1. nicht versucht; 2. Wiederholung von 10,5; 3. Sie nennt in 3 Minuten genau 60 Hauptwörter. Oft nimmt sie systematisch verwandte Wörter, wie Küche, Korridor, Toilette, Kinderstube; oder: Strümpfe, Schuhe usw. 4. a) gut sein, b) daß man etwas gut macht, c) wenn jemand sagt, er will etwas teilen, daß er es dann genau macht; 5. Ruth findet leicht den Sinn in den beiden ersten Sätzen, doch macht es Schwierigkeiten, den Platz für „gut" im dritten zu finden. 3. für das 15. Jahr: 1. Ruth macht einen Fehler in jeder der beiden ersten Zahlenreihen und zwei Fehler in der dritten Reihe; 2. richtig; 3. richtig, mit Ausnahme einer Zeit bei einem Verbum. doch ist es ohne Bedeutung für den Sinn; 4. richtig, ausführliche Erklärung; 5. Falsch. Antwort: ein Vogel. Aber dieser Test ist ungeeignet, denn ein Kind braucht noch nicht vom Erhängen gehört zu haben, selbst wenn es 15 Jahre alt ist. Und wenn es davon gehört hat, hat es vermutlich auch erfahren, daß man den Erhängten sofort abschneiden muß, anstatt zunächst zur Polizei zu laufen; b) richtig: daß einer da war, der tot war. 11. Januar. Ruth hat die kleine Ausgabe von Tausendundeiner Nacht gelesen, darauf die große Ausgabe nach Christian Winther. Darauf las sie Öhlenschlaegers „Aladdin". Sie hat dieses Werk ganz gelesen, nichts übersprungen. Auf meine Frage, wie es ihr gefallen habe, sagt sie: Schöner als Tausendundeine Nacht, denn er schreibt so schöne Verse. 11. Januar. Ruth hat in den letzten Tagen nach ausge-' stopften Vögeln die folgenden Beschreibungen gemacht. Es handelt sich um eine Wachtel und eine Lerche. Die Namen waren überklebt; sie sollte Unterschiede und Übereinstimmungen feststellen. 1. Die Wachtel hat einen kleinen Kopf und kleine, unklare Augen und einen kleinen, krummen, dunkelbraunen Schnabel, Sie ist braun mit weiß und schwarz durcheinander. Sie ist flach auf beiden Seiten des Körpers und nicht sehr groß, aber ich habe vergessen zu schreiben, daß ein kleiner gelber Fleck mitten auf dem Schnabel ist; und der Oberschnabel ist etwas größer als der Unterschnabel. Der Unterschnabel ist gelb, und nur der Oberschnabel ist krumm. 191
Lektüre.
Aufsätze.
Größe.
Sie hat einen kleinen Schwanz, der nur aus weichen Federn besteht. Auf dem Kopf hat sie drei gelbe Streifen. Weiter ist da eigentlich nichts auf dem Körper und auf dem Kopfe, das ich nicht schon gesagt habe, was ich weiß, aber dann sind noch die Beine und die Füße da. Die Beine sind gelb und ein klein wenig dreikantig und am obersten gehen Federn herunter. An den Zehen sind schwarze und gelbe Streifen, es sind ganz kleine gelbe Krallen da und dann ist noch eine Hinterzehe da, die am Bein sitzt, auch mit Kralle. 2. Dieser Vogel ist grau und hat steife Federn und sie sind steifer als die vom andern, denn der hatte weiche Federn, und ich glaube nicht, daß er fliegen konnte, was dieser kann, er hat zwölf große und lange Federn am Schwanz und zum steuern, der andere hatte nur einige ganz kleine weiche Federn, da kann man also sehen, daß die Vögel sich gar nicht ähneln, er hat klarere Augen, größeren andern Schnabel, größere Krallen und Beine und Zehen, nun kann ich erst vom Schnabel schreiben, der sieht aus wie ein Papageienschnabel, weil der Unterschnabel sich zum Oberschnabel heraufbiegt, der Unterschnabel ist gelb und der andere braun. Dann komme ich zu Magen und Brust, die Brust ist weiß mit schwarzen Flecken und der Magen ist weiß. Die Beine sind gelb und ganz glatt, und die Zehen sind braun mit großen Krallen, eine große Hinterzehe und ebensolche Kralle, aber viel größer. Den gelben Fleck mitten auf dem Schnabel hat Ruth gefunden (bei 1); daß die Beine „ein klein wenig dreikantig" sind ist ein unbeholfener Ausdruck für die Tatsache, daß die Läufe an der Hinterseite scharf sind. Daß (bei 2) zwölf Schwanzfedern sind ist richtig. Die Augen sind natürlich in beiden Fällen gleich klar, da sie ja aus Glas sind. Bei beiden Vögeln werden die dunkelbraunen Flecke „schwarz" genannt, die graue Brust (bei 2) weiß; sonst sind die Farben richtig gesehen. 18. Januar. (Sonjas Geburtstag.) Ruth ist 128 cm groß. Sie ist etwas unzufrieden, weil Sonja ihr nicht genug von ihrer Schokolade abgegeben hat, sonst aber froh und ohne Mißgunst. 192
25. Januar. In der Schule wird von Verachtung gesprochen. Ruth steht auf und sagt: Ich verachte meine Schwester — mitunter. Die Kleidung interessiert sie nicht besonders. Als in der Schule von Kleidung gesprochen wird, sagt Ruth: Ich habe auch ein neues Kleid bekommen, grün, aber nicht so fein. Gelegentlich erhält Ruth in der Schule den Auftrag, mit der Klasse zu lesen. Wenn eine Schülerin mit ihrem Absatz fertig ist, sagt sie wie die Lehrerin: Danke, die nächste. Sie verbessert auch und verlangt „noch einmal", was die Mitschülerinnen sich auch gefallen lassen. Wer nicht gut lesen kann, wird an die Tafel geschrieben. Die Lehrerin sagt zu diesen Übungen: Es ist ganz still in der Klasse, wie_ wenn ich selbst dabei bin. 26. Januar. Ruth stellt fest: Fräulein Petersen lacht immer so sehr über alles, was Herr Nielsen sagt. 26. Januar. Ruth bleibt vor einer Kirche stehen, in der Orgel gespielt wird, und sagt: Das klingt so herrlich; es ist ein solcher Friede darin. 4. Februar. In der Schule gefällt Ruth am besten der Handarbeitsunterricht, danach der Religionsunterricht, denn „wir hören die ganze Zeit Geschichten". 6. Februar. Ruth erzählt, ein Junge habe seinen und ihren Namen zusammen an einen Zaun geschrieben, denn sein Bruder habe gesagt, sie seien „verlobt". Ruth nimmt das ohne besondere Beachtung hin. 6. Februar. Ruth berichtet, daß eine ihrer Freundinnen von ihr gesagt habe, sie singe „knorke". An der Betonung dieses vulgären Ausdruckes merkte man, daß sie ihn ablehnt. Sie ist im allgemeinen ziemlich fest und kritisch gegenüber Ausdrücken der Straße. 4. März. Sonja hat mit Ruth über Gott gesprochen: Ich habe Gott lieb; ich könnte ihn küssen. Glaubst du nicht, daß er feine Stuben da oben hat ? Hierzu meint Ruth (zu mir): Ich stelle mir das nun ganz anders vor; ich denke mir, daß man so zwischen den Wolken schwebt. R a s m u s s e n , Tagebuch.
13
193
Verachtung.
Kleidung.
Ruth als ,, Lehrerin".
Reobachtung. Ästhetik.
Religionsunterricht.
Verlobung.
Sprache.
Religion.
Ausdruck Freude.
der
Krankheil.
Selbstironie.
Spott.
Schule. Schönheit.
Religion.
Moral.
6. März. Freust du dich denn nicht, daß wir zu Frau Nielsen hinausfahren wollen? J a — ha — ha — ha! Das klingt so komisch, aber ich fühle die Freude so mittendrin. 8. März. Ruth ist wieder einige Tage krank gewesen (Drüsen an der rechten Seite des Halses). Wenn sie im B e t t liegen muß, liest sie meistens. 11. März. Ruth sagt: Ich k o n n t e es nicht finden —- es hat nämlich auf seinem Platz gelegen — ja, das ist die Folge davon! — Es macht ihr große Mühe, alle Dinge an ihren Platz zu legen. Ich habe meiner Frau einen alten, ausgebesserten Füllfederhalter geschenkt. Diese kostbare Gabe verspottet Ruth in folgendem Spiel: Sie ist König; ach, da habe ich j a meine Krone verloren .(sie hat aber nichts auf dem Kopfe), sie ist entzwei gegangen — na, dann kann meine Königin sie bekommen. Ruth freut sich, daß sie nach ihrer Krankheit die Schule wieder besuchen kann. 19. März. Ruth fragt: Ist Herr Hansen t ü c h t i g ? Ich: In Musik ist er tüchtig. Die Mutter: Aber Menschen, die in Musik tüchtig sind, sind oft in andern Dingen nicht tüchtig. R u t h : Aber er ist tüchtig schön. 25. April. Die Mutter erzählt Ruth einige kleine Kindergeschichten aus Johannes Jörgensens Büchern. Ruth fragt: Sind da nicht mehr Geschichten ? Was steht denn sonst noch in seinen Büchern drin ? E r spricht von seiner Religion, daß er gerne glauben möchte, es aber nicht kann. Ruth lacht dazu geheimnisvoll, so daß die Mutter fragt: 'Warum lachst du ? Das ist nichts für dich. Doch, ich weiß, weil du auch glaubst. Ruth, immer noch in gleicher Weise lachend: Nein, weil ich auch gerne glauben möchte, es aber auch nicht kann. 26. März. Heute kommt Ruth in der heftigsten Erregung aus der Schule und sagt: Was hat Tove doch für eine unartige Mutter und für eine unartige T a n t e ! Dann erzählt sie einige gemeine Ausdrücke, die diese beiden Frauen gesagt haben und fügt hinzu: Ist das nicht schrecklich ?— Das ist es, aber du hast doch keinen Schaden davon. — Nein, ich sage so etwas auch nicht; aber denke mal, daß sie so etwas zu ihren Kindern 194
sagen! Das habe ich auch zu Tove gesagt; das ist schrecklich, so etwas zu seinen Kindern zu sagen, dann sagen es ja die Kinder schließlich auch. — Das alles brachte sie mit dem stärksten Abscheu hervor. 26. März. R u t h b e h a u p t e t : Mich interessiert alles. Kürzlieh hat sie einiges in dem Buche von Aug. W i m m e r : „Degenerierte Kinder" gelesen, aber natürlich nicht verstanden. Heute liest sie ein Gedicht von Axel Juel, das sie aber auch nicht versteht. Dazu, sagt sie noch einmal, sich selbst ironisierend: Mich interessiert alles, aber ich verstehe nichts davon. 26. März. R u t h liest zufällig in der Zeitung eine Notiz über „ F r u c h t a b t r e i b u n g " und f r a g t : Was ist denn „ F r u c h t " ? Ich antworte ausweichend: „Du bist noch zu klein, um das zu verstehen", und hoffe, sie damit abgefunden zu haben. Ruth lächelt aber, so daß die Mutter nach dem Grunde fragt. — Ihr glaubt, ihr könnt das vor mir geheim halten, das könnt ihr aber doch nicht! Etwas später erklärt ihr die Mutter den Begriff, und R u t h sagt: Ja, das kann ich verstehen, daß man das nicht darf; das h ä t t e ja ein prächtiges Kind werden können, so wie Sonja.
Interesse.
Aufklärung.
30. März. R u t h ist in der Schule geprüft worden. Im mündlichen Rechnen h a t sie aus lauter Nervosität schlecht abgeschnitten, trotzdem sie sonst gut rechnet, wenn auch etwas langsam. 4. April. R u t h ist heute sehr artig zum Mädchen gewesen, so daß die Mutter sagt: So solltest du immer sein. R u t h a n t w o r t e t : Ja, aber das kann ich gar nicht bestimmen; das ist so, wie ein Herr sagt, daß es plötzlich über ihn kommt.
Prüfung.
6. April. Ich sage zu einem Gelegenheitsgedicht: Wenn ich es geschrieben hätte, wäre es auch nicht besser geworden. R u t h : Ach, du bist so ein Selbsthasser, wie du sonst gar nicht bist — so ein verlorener Selbsthasser. Sie will wohl damit sagen, daß meine Bescheidenheit in diesem Falle nicht ganz echt ist. R u t h h a t vom Bronzezeitalter gelesen und fragt, was das sei. Ich erkläre ihr daß man in jener Zeit W'affen und Geräte
Kritik.
13*
195
Willensfreiheit.
Veranscb.aulichung.
Fig. 57:
Religion.
Kritik.
Psychologie.
Ruth
(9 J . 6 M o n ) . ,
Sonja
(G J . 4
Mon.).
aus Bronze angefertigt hat. Sie veranschaulicht sich d a s : Ach so, dasselbe, woraus m a n Denkmäler macht. 7. April. R u t h liest von Ansgar und liest plötzlich l a u t : Der Herr h a t gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gelobt. Dann f ü g t sie hinzu: Also, er ist zufrieden. Sie erzählt dann der Mutter, daß sie soeben gelesen habe, wie Ansgar in Deutschland mehrere Kirchen und Klöster erbaut habe, und wie die Seeräuber sie zerstört h ä t t e n . 7. April. R u t h hat in einer Gesellschaft gehört, wie das Äußere eines Mannes stark umstritten wurde. Auf dem Heimwege fragt sie: Wie ist denn sein Inneres? 16. April. R u t h erzählt aus der Schule: In Fräulein Petersens und in Fräulein Jacobsens Stunden sind wir immer artig. W e n n Fräulein Petersen aus der Klasse geht, sagt sie i m m e r : J e t z t werden wir mal sehen, wie artig ihr seid, wenn ich nicht hier bin. Und wenn sie zurückkommt, fragt sie immer eine A~on uns, ob wir auch artig gewesen sind. Aber Fräulein Jacobsen sagt niemals etwas. 196
19. April. Ruth liest von einem Kaiser, der mit großer Pracht beigesetzt wurde. — Die Mutter sagt: Das tut man, um ihn zu ehren. — Man ehrt ihn doch aber mehr, wenn man traurig ist. — Das schon, aber die meisten Menschen meinen, daß man auch etwas sehen müsse. — Aber wenn man nun den Sarg, die Blumen und die ganze Pracht sieht, kann man doch leicht vergessen traurig zu sein. Ruth hört einen Rezitator und macht gegen das Urteil der Mutter (es ist lustig) folgende Einwendungen: Ich finde, es ist langweilig; es ist so dumm, was er da sagt von „Neese" und „Polonaise". Gerade wie Herrn Hulds Witze. Als der Rezitator dann später sagt: „ J e l z l müßl ihr aber «Lille sein, denn s e h e n könnt ihr die Mücken, aber wenn ihr solchen Lärm macht, dann hört ihr sie nicht," meint Ruth: Na, das war ja mal recht lustig. 19. April. Ich habe mit Ruth die Glyptothek besucht. Sie zeigte die ganze Zeit hindurch starkes Interesse, trotzdem wir etwa zwei Stunden umhergingen. Sie sieht sich alles genau an, bemerkt zum Beispiel, daß die Hände nachlässig gemacht sind, daß die beiden japanischen Holzskulpturen in gleicher Weise sitzen, daß Rodin in einer Gruppe eine unschöne Hand geschaffen hat, erkennt aber auch an, daß „die Stellung der Arme schön ist" u. a. m. 22. April. Die Mutter geht heute mit den Kindern Hüte einkaufen. Nach Verlassen des Geschäfts sagt Ruth: Die Damen in den Geschäften sagen immer das, was du sagst; sie warten, bis du etwas gesagt hast, und dann sagen sie dasselbe; aber sie sagen nichts, ehe du etwas gesagt hast, denn sonst könnten sie dir vielleicht widersprechen, und das wäre doch traurig. 24. April. Wenn Robinson Bücher gehabt hätte, brauchte er über seinen Schiffbruch nicht so traurig zu sein. 25. April. Beim Schlafengehen sagt Ruth zu ihrer Mutter: Ich kann das alles am besten am Abend erzählen. Am Tage kann ich es nicht. Man kann am Tage gar nicht darüber nachdenken, man kommt gar nicht heran, man bleibt vor der Tür stehen. Aber am Abend kann man richtig weinen und richtig froh sein. 197
Schein
Sem
und
-
Rezitator.
Ästhetik.
Psychologie.
Bücher. Psychologie.
Phantasie.
Erziehung.
Logik. Phantasie.
Religion.
25. April. R u t h liest „Stine Menschenkind" und hat gehört, daß der Anfang der Geschichte in Tisvildeleje (der ihr bekannten Sommerfrische) spielt. Sie sagt darauf: Dann ist es ja gar nicht so, wie ich es mir gedacht habe. Ich habe immer gedacht, das kleine Haus liegt hier, und hier ist eine Stube und die kleine Küche. Davor ist der Garten, in dem Stine spielt, und hinten am Hause stehen die Alten und sehen zu. Und dann läuft sie auf den Weg, und dann weint sie, weil sie zu weit gelaufen ist, und dann kommen die Alten zu ihr hin. Aber wenn man nun hört, daß es in Tisvildeleje ist, und wenn man dann nachdenkt, wie m a n es sich gedacht h a t (dann paßt es nicht). 3. Mai. R u t h sagt von ihrer Freundin J y t t e : Sie ist unartig, ich will sehen, ob ich sie nicht artig machen kann. Aber es könnte ja auch sein, daß J y t t e mich unartig macht, und dann könnten wir (in der Klasse) vielleicht alle unartig werden. Aber vielleicht ist dann e i n e da, die uns alle artig macht. Dann würde ich aber nicht gleich artig sein, denn sie soll nicht die Ehre haben, mich artig zu machen. Ich würde etwas warten. Dann wäre ich aber auch unartig gewesen, und es wäre von ihr gekommen, daß ich wieder artig geworden bin. Ruth nimmt ihren Hut ab und sagt: Ich kann nicht mehr schwitzen als ich schwitze — keiner kann das. 5. Mai. R u t h berichtet, daß sie eine Wiedererzählung über Odin und Thor schreiben m u ß , von denen sie in der Schule gesprochen haben. Kurz danach sagt sie: Nach vielen tausend Jahren wird m a n vielleicht erzählen, daß man in alten Zeiten den Mund spitzte und aufeinandersetzte, und dann gab es einen kleinen „Klick" als Liebeszeichen. 11. Mai. Nachdem über ein Gedicht gesprochen worden ist, das von Gott handelt, sagt R u t h : Ich weiß nicht, was ich glauben soll, ich schwebe zwischen Himmel und Erde. Die M u t t e r : T u t dir das leid ? Nein, jetzt nicht, aber es muß einem doch leid t u n wegen Joh. Jörgensen; denn wenn man erwachsen ist, muß man ja wissen, was richtig ist, und wenn m a n nun gar nicht weiß, was eigentlich richtig ist, dann ist das doch traurig. 198
11. Mai. Die beiden Mädchen spielen Versteck. Immer wenn die eine sich versteckt hat, sieht die andere sich genau um, u m vielleicht irgend eine Spur zu bemerken. Einmal kann ich auch feststellen, daß R u t h hört, welchen Weg Sonja gelaufen ist, um sich zu verstecken. Einmal versteckt sich Sonja hinter meinen Stuhl, um R u t h zu verlocken, an ganz a n d e r e r Stelle zu suchen. Der Kniff gelingt ihr auch. 25. Mai. Ruth a h m t nach, wie ihre Mitschülerinnen singen; einmal singt sie auch wie ein kleines Kind, ohne Verständnis und ohne Gefühl. Dazu sagt sie: Kannst du hören ? Das ist nichts. 26. Mai. Ruth ist mit Sonja auf der Wiese gewesen, um Blumen zu pflücken. Sonja konnte daher keine Butterb l u m e n finden, und R u t h erzählt das mit folgender Begründ u n g : Sonja denkt n u r an die Dinge, die ihr am allernächsten liegen. 28. Mai. Ruth berichtet heute, daß die Lehrerin ihr gesagt h a b e : W 7 arum beißt du an deinen Nägeln? Wenn du alles kannst, was du willst, kannst du auch unterlassen, an den Nägeln zu beißen. Sie fügt hinzu: Ich glaube, ich werde i m m e r wieder an den Nägeln beißen. Ich bin wie ein B a u m mit grünen Blättern, aber dazwischen sind zwei welke Blätter, und das sind meine Hände mit den Nägeln. 31. Mai. Ruth stellt fest: Müsse h a t immer das gerne, was du auch gerne hast. 2. Juni. Sonja sieht R u t h nackt und sagt: Oh, was m a n da sieht! R u t h : Sie denkt immer etwas unartiges. Gerade wie Astrid, wenn sie einen nackten Herrn oder eine nackte Dame sieht. Ich kann das nicht verstehen, denn wenn es so ist, ist es doch nicht unartig. 5. Juni. Ruth hört mich auf einer Verfassungsfeier reden und sagt nachher zu mir: Du hast so genau gesprochen, nur einmal hast du „ A a r t i e r " (Jahrzehnte) a n s t a t t „Aarstider" (Jahreszeiten) gesagt. Das klang, wie wenn du das gar nicht meintest. Die Verwechslung dieser beiden ähnlich klingenden W ö r t e r durch R u t h k o m m t daher, daß ich in der Einleitung zu meiner Rede vom Frühling gesprochen h a b e ; so erw a r t e t e R u t h weitere Ausführungen über „Jahreszeiten". 199
Spiel als Erziehung.
Psychologische Beobachtung.
Psychologie.
Bildliche Darstellung.
Psychologie. Natürliche A uffassung
Ästhetik.
Lebensfreude. Selbsterkenntnis.
Zeugnis.
Ironie.
Ausgewichen.
„Naiv."
13. Juni. Ruth sagt: Mir geht es immer sehr gut, aber heute geht es mir noch etwas besser. 23. Juni. Durch einen unglücklichen Zufall hat Ruth mein Buch „Psychologie des Kindes" in die Hand bekommen, in dem viele Beobachtungen aus diesem Tagebuch verarbeitet worden sind. Bei der Lektüre lacht sie so laut, daß die Mutter ins Zimmer kommt. — Die Mutter: Aber das Buch sollst du doch gar nicht lesen! — Das ist aber schön von euch, daß ihr mich so beobachtet habt! — Dann bittet sie ständig, ob sie es nicht weiterlesen dürfe. — Ich werde bestimmt nicht eingebildet, wenn ihr das etwa befürchtet. Ich weiß, das hätte auch ein anderes kleines Mädchen sein können. Das hat Vati geschrieben, damit die Eltern verstehen, wie die Kinderdenken, und daß sie nicht Unkraut sind, sondern richtige Blumen. 24. Juni. Ruth hat zum ersten Male ein Zeugnis bekommen. Es weist nur gute Noten auf, und strahlend, ohne ein Wort zu sagen, überreicht sie das Zeugnis der Mutter. Ruth spielt mit einer kleinen Puppe und sagt: Die Leute lieben ihre Kinder, weil sie ihnen Schmerzen bereitet haben. Aber ich liebe diese Puppe, obwohl sie mir niemals Schmerzen bereitet hat. (Sie hat sich jedoch nie viel mit Puppen abgegeben.) Dann spricht sie weiter mit der Puppe: Jetzt mußt du artig sein. Dann, zur Mutter gewendet: Hörst du, sie sagt nichts. Ich habe nie viel mit Puppen gespielt, aber jetzt habe ich es gelernt (soll heißen: Ich kann es mir vorstellen). Mit den andern Kindern ist das nicht so, die spielen gleich gerne mit Puppen (und nachher wird es ihnen über). Es wird davon gesprochen, daß meine Frau und ich nicht hübsch aussehen. Meine Frau sagt: Wir sind nun einmal keine schönen Menschen. Ich: Aber wir sind doch auch nicht zwei ganz häßliche Menschen, nicht wahr, Ruth ? Ruth kneift die Augen zu und sagt: Ich kann nicht sehen, die Sonne blendet so. 7. Juli. Ruth bemerkt, daß ein Kissenüberzug hübscher als ein anderer sei, aber die Mutter ist anderer Meinung. Darauf erklärt R u t h : Ich bin vielleicht naiv, aber das muß ich ja sein, wenn ich ein Kind bin. Denn naiv, das ist kindlich, und wenn man ein Kind ist, muß man schon kindlich sein. 200
10. Juli. Heute war F r a u Johannsen mit ihren Eltern bei uns zu Besuch. Nachdem sie weggegangen sind, sagt R u t h : Frau Johannsen sah ihre Mutter ganz anders an als uns andere. Diese Beobachtung ist ganz richtig; die Mutter ist nämlich gegen alle Menschen sehr bissig in ihren Bemerkungen, und F r a u Johannsen, die das aus dem täglichen Zusammensein kennt, n a h m von ihrer Mutter mit Blick und Ausdruck deutlich Abstand. 12. Juli. R u t h hat aus eigenem Antriebe und ohne Hilfe eine Liste der Blumen und Bäume aufgeschrieben, die sie bis heute in der Sommerfrische Kongstrup gesehen hat. Sie zählt 79 Namen. 12. Juli. Sonja fragt die Mutter: Gibt es einen Gott hier für das Land ? Nein, das glaube ich nicht. W a r u m sagen denn aber alle Leute, daß es einen Gott gibt ? Jetzt komme ich hinzu, und R u t h setzt das Gespräch f o r t : Sonja fragt Mutter, ob es hier einen Gott für das Land gibt, aber das kann doch nicht sein, denn sie haben überall einen, von dem sie sagen, er sei der richtige. Wir lachen über die, die an Thor und Odin geglaubt haben, aber nach tausend Jahren lacht m a n vielleicht über u n s . 15. Juli. R u t h ist leicht bekleidet, damit sie besser Bockspringen kann. Ich erzähle bei dieser Gelegenheit, daß die Kinder in J a p a n oft ganz unbekleidet seien. R u t h meint dazu: Dann stehen sie höher als wir, denn es ist doch schlimm, daß es sein muß, wie es soll (daß Brauch und Sitte dem Einzelnen sein Betragen vorschreiben). 16. Juli. R u t h bricht eine Blume und sieht, daß der Stengel Milchsaft hat. Darauf bricht sie noch etwa sechs andere Blumen gleicher Art, um zu sehen, „ob es nur die eine ist". 17. Juli. R u t h liest ein Märchen, in dem erzählt wird, daß ein König und ein Prinz ein Bild einer Prinzessin malen ließen, das ihr auf ein Haar glich. Einige Seiten weiter heißt es dann, daß der König und der Prinz zum König der Pfauen sagten, das Bild sei der Prinzessin ganz ähnlich, trotzdem sie wußten, daß die Prinzessin weit schöner als das Bild war. Ruth entdeckt den Widerspruch und sagt: Sie kann doch 201
Psychologie.
PflanzenKenntnis.
Gott.
Sitte.
NachprüfunSKritik.
nicht schöner als das Bild sein, wenn es ihr auf ein Haar ähnelt! Methode. 20. Juli. R u t h sammelt Schneckenhäuser und legt sie in Gruppen zu vier zusammen. Ich frage: W a r u m legst du sie so hin ? Wenn ich mich irre, weiß ich gleich, wo der Fehler ist. Aber warum legst du gerade vier zusammen und nicht fünf oder sieben ? So ist es am leichtesten zu übersehen. Psychologische Beobachtung.
20. Juli. R u t h sagt von einer Dame, die uns besucht h a t : Sie h a t so ein friedliches Lächeln. Das ist eine ausgezeichnete Beobachtung und ein treffender Ausdruck.
Willensfreiheit.
1. August. Wenn ich mit Sonja schimpfe, dann bestimme ich das nicht. Das ist das Böse, das heult und schreit in mir. Das Gute, das ist heiser, das kann m a n fast nicht hören. Das bin ich gar nicht (die mit Sonja schimpft).
p jj. 58: Ein ausgeschmückter Pappteller (9 J. 7 M o r ü .
Phantasie.
4. August. Sonja sagt: Wenn doch meine P u p p e lebendig werden könnte, aber das k a n n sie nicht. R u t h : Nein, sie hat ja kein Gehirn. Eine P u p p e ist überhaupt etwas ganz lächerliches. Sie hat eine Stirn, aber innen ist alles hohl. Sonja: Aber man kann doch ganz schön mit ihnen spielen. Trotz dieser Unterhaltung spielen sie dann recht schön mit ihren Puppen, geben ihnen zum Beispiel die Brust, und R u t h r u f t : Au, sie h a t mich eben gebissen!
Ursprung.
6. August. R u t h : Ich kann eigentlich gar nicht verstehen, wie m a n dem Vater ähnlich sein kann, wie ich zum Beispiel Vatis Nase bekommen kann, wenn ich dadrin liege (in der Mutter) und nichts ahne. 202
7. August. Rutli zu ihrer M u t t e r : Wie lieb man eigentlich Vater und Mutter h a t ! Du darfst nicht sterben, ehe ich erwachsen bin. 8. August. Es ist eigentlich herrlich zu lesen! Man vergißt alles. Die Mutter f r a g t : Weinst du denn, wenn du etwas so Trauriges liest wie Onkel Toms H ü t t e ? Ja, innen, und wenn ich etwas Fröhliches lese, bin ich auch froh, innen. 10. August. Beim Essen wird darüber gesprochen, daß Sonja früher nicht wählerisch gewesen ist, als sie klein war, daß sie es aber jetzt geworden ist. R u t h f r a g t : W a r ich wählerisch, als ich klein war ? Ja, du warst es immer, man konnte dich k a u m zu Essen bringen. Es ist gut, daß ich wählerisch gewesen bin, dann war es nicht Ungezogenheit (von zwei Übeln zieht sie das kleinere vor). 16. August. Wenn Großvater Karten mischt, dann geht es ganz schnell und leicht. Das ist wohl so, weil er sie ganz locker hält und nur wenig Karten faßt. 20. August. Die Mutter hat heftige Kopfschmerzen und R u t h flüstert ihr zu: Bete doch einmal, daß es besser wird! — Du bist sehr lieb! — Es könnte doch sein, daß es hilft. — Am nächsten Morgen sagt sie: Mutter, ist es etwas besser geworden ? — Ja. — Das kam, weil ich gebetet „ habe, daß es besser wird. — Vielleicht ist es auch besser geworden, weil ich Umschläge gemacht habe. 22. August. R u t h und Sonja zanken sich. Die Mutter sagt scherzend: Aber wo Fig. 5 9 : E i n a u s g e s c h m ü c k t e r P a p p - ist denn die liebe Ruth, die teller (9 J . 7 Mon.j. überlegene R u t h , die niemals unartig sein kann ? R u t h beginnt plötzlich zu lachen und s a g t : Du kannst froh sein, weil du so bist (so humorvoll, daß du es mit Scherz behandelst, denn auf diese Weise ist es am besten erledigt).
m¡ P I I #
203
Lektüre.
Nachdenken.
Rationelle Methode. Gott.
Psychologisches Verständnis.
Keine ichelei.
23. August. Ruth soll an Onkel Hans in Amerika schreiben • Ach, ich weiß wirklich nicht, was ich schreiben soll. Ich habe Onkel Hans doch nie gesehen. Soll ich etwa schreiben: Ich habe dich lieb ? Poesie. 25. August. In einem Aufsatz über Fröding ist einer seiner Briefe zitiert, in dem er von der Poesie sagt: „Nach meiner Meinung ist Poesie warmes oder tiefes Gefühl in einer Sprache u n ( j wen(|et, ejn
Fig. 60: Zeichnung nach einem Bilde (9 J. 10 Mon.).
ausgedrückt, die beim Leser gleiche Gefühle hervorzurufen vermag". Die Mutter liest Ruth diese Erklärung vor, weil sie kürzlich nach einer Erklärung für Poesie gefragt hat. Im Laufe des Tages sagt Ruth bei der Lektüre von Selma Lagerlöf: Das muß Poesie sein, ganz bestimmt. Warum denn ? Sie schreibt hier von einem Mann, der an einen See kommt, wo das schlanke Schilf den herrlichen Wasserrosen zulächelt. Na, und ? Da fühlt man, wie sie es gefühlt hat, als sie es schrieb. Lesen.
4. September. Als Sonja sich mit Buchstabieren beschäftigt, sagt Ruth: Du kannst dich freuen, wenn du erst einmal 204
lesen kannst. Dann kannst du Bücher lesen, das ist etwas wundervolles. Wir haben ein Klavier bekommen, und Ruth hat angefangen, Klavier zu spielen. Sie gibt sich ihren Übungen mit großem Eifer hin. Die Lehrerin sagt, daß sie ihre Hände gut beherrscht. Ruth ist 135 cm groß. 10. September. Axel sagt, ich sei so entwickelt ; was heißt das ? Er will sagen, daß du recht verständig bist. Er sagt, daß ich über Dinge spreche, über die sonst nur 13jährige Mädchen sprechen können. Das kommt daher, daß du in so vielen Büchern lesen kannst. 15. September. Es wird von Idealen (Personen) gesprochen, und Ruth fragt die Mutter, was ein Ideal ist. Das ist ein Mensch, der so ist, wie die Menschen eigentlich sein sollten. Wer ist denn dein Ideal ? Sie antwortet spitzbübisch lächelnd selbst: Das bist du . . . und Sonja. 18. September. Ruth erzählt aus ihrem Religionsunterrieht: Ich habe gesagt, daß ich es nicht verstehen kann, warum über einen reuigen Sünder mehr Freude ist, als über 99 andere, die nichts zu bereuen brauchen. Da hat das Fräulein gesagt: Ja, mein Liebling, es wäre natürlich auch besser, wenn sie alle gut wären, aber das sind sie nun einmal nicht. Ruth sagt zu dieser Erklärung: So ist es doch gerade nicht, aber ich habe nichts weiter gesagt. 21. September. In einem der Zimmer sind die Möbel umgestellt worden. Ruth sagt darauf: jetzt ist hier mehr Platz. Das kann doch nicht sein, es stehen ja dieselben Sachen im Zimmer! Ich meine, es ist besserer Platz. 1. Oktober. Ruth ist in einer Familie gewesen, wo eine „Hausdame" die Wirtschaft leitet und sich mit der Erziehung der Kinder befaßt. Sie erzählt das der Mutter: die haben also da ein Mädchen, das ist beides, Mädchen und Mutter; d a s hätte doch keines von unsern Mädchen gekonnt, nicht wahr ? 5. Oktober. Wenn die Sonne im Osten aufgeht und im Westen untergeht, so kann sie doch nur um die h a l b e Erde herumgehen (nur eine halbkreisförmige Bahn haben); aber 205
Klavier.
Größe. Eitelkeit.
Ironische Schmeichelci.
Religion.
Logik.
Würdigung.
Astronomie.
dann geht sie wohl unten herum zum nächsten Morgen (unter dem südlichen Horizont zum Aufgangspunkt zurück). Ich erkläre ihr darauf den wirklichen Sachverhalt und die Vorstellung der Griechen. Aus der Schule.
6. Oktober. Eine Lehrerin, die keine Disziplin halten k a n n , ärgert R u t h damit, daß sie aus voller Lungenkraft singt, wenn leises und gedämpftes Singen verlangt wird. Sie erzählt : Wegen jeder Kleinigkeit müssen wir in der Ecke stehen; da m a c h t es uns gar nichts mehr aus, wenn wir in der Ecke stehen. Und dann ist es so grabeslangweilig bei ihr . . . und dann lobt sie niemals. Sie schimpft immer nur, wenn etwas passiert ist.
Tod.
16. Oktober. Sonja hat der Mutter erzählt, daß sie sie mit in ihren Sarg nehmen wolle. Als die Mutter mit R u t h über diese Äußerung spricht, sagt sie: Ich will zuerst sterben. Dann bleibt sie etwas nachdenklich, und man m e r k t ihr leichtes Schaudern an. Dann fährt sie f o r t : Ich will nicht mehr daran denken. Und wieder nach einer Weile: Es wäre ja auch schrecklich, immer und immer und immer zu leben.
Lektüre. Sophistik.
Psychologische Selbstbeobachtung.
Am meisten fesselt R u t h das Lesen; es ist ihr wichtigstes Spiel. 19. Oktober. Wir haben einen Spaziergang um den Dammhaussee gemacht und ruhen uns auf einer Bank aus. Die Mutter b i t t e t Ruth, ein Herbstlied zu singen. R u t h , der kurz vorher der Wunsch abgeschlagen war, in nahe gelegenen Krug Schokolade zu trinken, sagt: Ja, wenn ich Schokolade bekomme, dann singe ich. Du bekommst keine Schokolade für dein Singen. Nein, f ü r das Singen bekomme ich keine; aber wenn ich welche bekäme, d a n n würde ich vor Freude singen. 21. Oktober. Ruth weint, weil Sonja sie geschlagen h a t . Die Mutter, in dem Glauben, daß es wirklich weh getan habe, will sie trösten, merkt aber, daß sie lacht: Du darfst nicht t u n wie wrenn du weinst, wenn dir nicht so zumute ist. Am Abend sagt R u t h zu ihrer Entschuldigung: Du hast dich geirrt. Ich habe wirklich geweint, aber wenn das Schlimmste überstanden ist, dann muß ich lachen, und d a f ü r kann ich nicht. 206
23. Oktober. R u t h spielt im Zimmer Seilspringen, was verboten ist. Sie t u t , als hört sie das Verbot nicht, und sie bestraft wird, fühlt sie sich stark verletzt, weil sie Verbot nicht gehört hat. Sie ist immer unschuldig und oft, als hörte sie Verbote nicht.
ihr Moral. als das tut
2. November. Ich lese den Kindern das „Feuerzeug" vor. Spitzfindi Als ich lese, daß der Soldat zwei Hiebe austeilte, und daß k e i t ' darauf der zweite Hund kam, sagt R u t h : Dann m u ß t e doch auch der erste Hund kommen, als er den ersten Hieb austeilte. Es war ein Steckkontakt für eine Lampe ganz unten am Kritik. Fußboden angebracht worden. Ich fand das angenehm, weil er nicht so in die Augen fallt, und sagte d a h e r : Das ist genial, den K o n t a k t da anzubringen, wo ihn keiner sieht. R u t h : Aber du hast ihn doch gesehen! 7. November. R u t h hört, daß jemand in der Nacht, als Mangel a er nicht schlafen konnte, über den Weichenwärter nachdachte, Mitleid. der das (kürzlich geschehene) Eisenbahnunglück bei Vigerslev verschuldet h a t . Sie sagt: Ach, das ist so interessant, davon zu lesen; m a n kann ja nicht sagen, daß es Spaß macht, aber ich kann es immerzu lesen, selbst wenn immer wieder dasselbe darinsteht. 14. November. R u t h wird gefragt, was sie über Herrn Psycholog Petersen denkt. Das weiß ich nicht; er h a t ja nichts gesagt, und wenn er nichts sagt, kann ich auch nichts über ihn denken. 15. November. R u t h liest die Geschichte eines Jungen, der Mitleid. von einem Orang-Utang e n t f ü h r t wird und mit ihm lebt. Sie erzählt der Mutter: Ich lese hier eine Geschichte, die ist so schön, daß ich gleich heulen könnte. W a r u m denn ? Weil der Junge so aussah, daß der eigene Vater ihn nicht erkannte, als er ihn endlich wiederfand. 15. November. R u t h erzählt wieder von der Lehrerin, die Aus der keine Disziplin h a t : Es h a t keinen Zweck, wenn m a n sich S c h u l e bei ihr vornimmt, artig zu sein. Sobald man etwas in der Stunde drin ist, ist es so langweilig, daß man es nicht aushalten kann. Da denkt m a n denn: Du willst bis' morgen warten. 207
Ich hasse Naturkunde und Erdkunde bei Fräulein Petersen; es ist so schrecklich langweilig. Aber wenn Fräulein Hansen die Stunde gibt, dann habe ich es gerne. Bleichsucht. Religion.
Selbstbeobachtung.
19. November. Ruth ist etwas bleichsüchtig und bekommt Arsenik als Medizin. 26. November. Ruths Klavierlehrerin hat ihr aufgegeben, ein Weihnachtslied fleißig zu üben, „um das Christkindlein damit zu erfreuen". Ruth erzählt das und fügt hinzu: Ich will schon fleißig üben, aber nicht, um das Ghristkindlein damit zu erfreuen. 26. November. Die Mutter sagt zu R u t h : Hast du schon beobachtet, wenn man arbeitet, wenn man sich übt, dann kann man es plötzlich. R u t h : Das habe ich neulich beim Klavierspielen bemerkt. Als ich die Baßnoten auf dem Klavier zeigen sollte, verstand ich plötzlich, daß sie auf dem Klavier ebenso liegen, wie die Diskantnoten (nur weiter links). Nur auf dem Papier stehen sie anders (im F-Schlüssel).
Unrecht28. November. Ruth soll in ihren Aufgaben Sätze mit dem mäßiges Lob. Worte „Gold" bilden. Die Mutter schlägt vor: Es ist nicht
alles Gold, was glänzt. Ruth schreibt auch den Satz und wird in der Schule wegen ihrer Erklärung gelobt. Sie verschweigt aber, daß die Mutter geholfen hat. Als sie der Mutter erzählt, wie sie den Satz in der Klasse erklärt habe, fragt diese: Glaubst du, daß sie es auch verstanden haben ? Nein, das glaube ich wirklich nicht. Fein, so ist es fein! Psychologie.
29. November. Ruth sagt zur Mutter: Du lobst dich selbst! — Nein, davon bin ich weit entfernt. Eher noch habe ich Minderwertigkeitsvorstellungen. — Ach, du machst dich zu klein, du mußt mehr angeben!
Schnelle Auffassung.
29. November. Als die Mutter Ruth etwas erklärt, sagt R u t h : Ich habe verstanden, ich habe j a schon verstanden! Ich kann nicht vertragen, wenn solange erklärt wird, wenn ich es verstanden habe. Das macht Fräulein Petersen immer, und das ist so schrecklich langweilig. Sonja will, daß die Mutter mit ihr ebenso tanzen soll, wie soeben mit mir, „denn ich habe euch beide so lieb". Ruth sagt darauf: Ach, wenn ich nur eine Stelle hätte, wohin ich
Eifersucht.
208
spucken könnte! Das kann gekränkte Eifersucht sein, aber auch Abneigung gegen Zärtlichkeitsbezeugungen bei anderen. 1. Dezember. Die M u t t e r : So, jetzt werdet ihr beide gut Spitzfindigschlafen! R u t h : Es ist doch nicht sicher, ob wir gut schlafen keit. werden. R u t h : Ich finde eigentlich, alte Menschen sehen immer Ästhetik. schön aus. — Das finde ich aber nicht. — Doch, ich finde, ihr Gesicht sieht immer fein aus. Es ist ganz selten, daß m a n einen jungen Menschen mit einem feinen Gesicht findet. 2. Dezember. Sind Kalender für Kinder oder für Erwach- Ironie. sene ? Sie sind für kindliche Erwachsene. (Die Kinder spielen K a u f m a n n , und Sonja v e r k a u f t Bücher.) Darauf sagt Ruth zu Sonja: Ich möchte gerne ein Buch für kindliche Erwachsene. Ich bin nämlich neun Jahre alt. 2. Dezember. R u t h h a t den Film „ H e r r n Arnes Schatz" Psychologie. gesehen und sagt zu ihrer M u t t e r : Wie waren doch die jungen Mädchen niedlich! In dem Gesicht der Mutter steht jedoch zu lesen, daß ihr die weibliche Komparserie n i c h t gefallen hat. Das erkennt Ruth und schränkt ihr Lob ein: Na ja, sehr klug sahen sie nicht aus.
Das elfte Jahr. 3. Dezember 1919. R u t h s Geburtstag; sie vollendet das zehnte Lebensjahr. Sie ist 135 cm groß. 17. Dezember. Die Mutter sagt zu R u t h : Ich komme hin Psychologie. und sehe beim Tanzen zu, wenn du magst. Ja, denn selbst wenn m a n so „erwachsen" ist wie ich, ist es doch schön, die Mutter in der Nähe zu haben. Wieso ? Man fühlt sich so sicher. Die Mutter fragt, wie es in der Klavierstunde gegangen sei. Klavierspiel. R u t h sieht vergnügt aus, sagt aber nichts. Später stellt sich heraus, daß die Lehrerin gesagt hat, sie spiele an den richtigen Stellen stark und schwach, ohne daß es dastehe. Zu Hause ist ihr die Ü b u n g jedoch nicht vorgespielt worden. Die Mutter sagt von einer Dame, daß sie nicht schön sei. Psychologie. R u t h wendet ein: Aber sie sieht klug aus, sie h a t so durchdringende Augen. Rasmussen,
Tagebuch.
14
209
Vaterlandsliebe.
Ästhetik.
Religion.
Psychologie.
Ästhetik.
Psychologie.
Religion.
R u t h : Was ist Nationalgefühl? Die Mutter: Das ist die Liebe, die man zu seinem Vaterlande hat. — Die habe ich. — Aber es ist besser, Liebe zur ganzen Welt zu haben. — Aber Andersen liebt Dänemark, er sagt: „Ich liebe dich, ich liebe dich, Dänemark, mein Vaterland!" Und wenn er es tut, dann will ich es auch tun . . . Das ist ebenso wie mit Sonja und Fräulein Eldon. Die Mutter: Hast du meine neue Bluse gesehen? Ja, die mit den weißen Knöpfen ? Ja, aber die habe ich abgetrennt. Das ist gut; die sahen etwas dürftig aus. Ruth betet jeden Abend das Vaterunser, dann ein anderes kleines Gebet und singt endlich ein kleines frommes Lied. In der Tanzstunde prahlt ein Mädchen mit den Streichen, die sie in der Schule gemacht haben will, und sagt von einer andern: Ach, mit der ist gar nichts los, die kann ja nicht einmal eine Dummheit machen! Ruth sagt hierauf ihrer Mutter: Ich glaube bestimmt, daß sie schlecht ist; sie ist dumm und dof, sie kann ja selber keine Dummheiten machen. 18. Dezember. Ruth sieht in einem Schaufenster einen Blumenkorb, der mit Bändern geschmückt ist, und sagt: Wie schön sind die Blumen, aber die Schleifen könnten fehlen. 20. Dezember. Ruth soll zum Weihnachtsball meiner Schule mitkommen. Im Laufe des Tages sagt sie: Ich bin gewiß ungezogen, aber das kommt, weil ich mich so auf den Abend freue. (Sie hat ein Gefühl, daß die Freude ihr Gleichgewicht etwas stört.) Auf dem Ball tanzt sie gut und amüsiert sich gut. Sie fragt die Mutter: Was meinst du, wie habe ich getanzt ? Gut. Ich glaube, Vati findet das nicht. W r arum ? Ach, er hat bloß so zu mir genickt, —und dann macht sie eine Bewegung, die andeuten soll, daß ich ihrem Tanz nicht sonderlich große Aufmerksamkeit schenkte. Ich habe sie jedoch gerade genau beobachtet, aber mit Rücksicht auf die andern Kinder es in einer ganz unauffälligen Form getan. 22. Dezember. Ruth erzählt, daß ihr Lehrer am letzten Schultage vor den Weihnachtsferien die Weihnachtsgeschichte vorgelesen habe. Dabei habe er gesagt: Diese Geschichte hat eure Urgroßmutter gelesen, eure Großmutter und eure Mutter. 210
Die kann man immer wieder lesen, so schön ist sie. Glaubst du nun, Mutti, daß er ein Christ ist ? 24. Dezember. R u t h zeichnet vier Damen und erklärt, daß sie sie „verschieden" gemacht habe (nämlich in den Gesichtern). Danach zeichnet sie vier Männer, die auch verschieden werden. R u t h ist ganz vom Weihnachtsfest erfüllt, aber in ihrer eigenen stillen Art. Während Sonja vorher versucht hat, ihre Geschenke zu sehen, hat R u t h kein Interesse d a f ü r gezeigt. Sie h a t nur einige Male gesagt, daß sie sich sehr auf das Fest freue. Gegen ihre Gewohnheit hat sie im Kinderzimmer schön aufgeräumt. Als wir die Türen zum Weihnachtszimmer öffnen, gab R u t h mir im Vorbeigehen einen sehr herzlichen Kuß, den ich und alle anderen als Ausdruck ihrer großen Dankbarkeit ansahen. Später zeigte es sich, daß es eine Art J u d a s k u ß war, denn sie h a t t e dabei (auf Rat des Mädchens) auf meinem Rücken eine Nadel mit einem Narrenkopf befestigt. Als der Streich später entdeckt wurde und ich etwas verstimmt war, war R u t h zunächst vergnügt über das Gelingen ihrer List, später sagte sie mir dann, daß der Kuß „beides" bedeutet hätte. R u t h hat viele Bücher zum Weihnachtsfest bekommen. Das Lesen ist immer noch ihre wesentlichste Arbeit, Spiel oder Zeitvertreib, wie man es nennen will. 30. Dezember. Sonja liest sehr laut, und die Mutter sagt ihr deshalb, sie solle etwas leiser lesen. Sie liest aber weiter so laut, glaubt aber offenbar, ihre Stimme g e d ä m p f t zu haben. R u t h sagt d a r a u f : Ach, sie versteht gar nichts. Die M u t t e r : Sie ist doch so artig. — Ja, aber wenn man klug ist, dann ist man alles, d a n n ist man auch artig, denn es ist klug, artig zu sein, dann sind die andern auch nett zu einem. — Bist du deswegen artig ? — Nein; ich bin von selbst artig. Als R u t h wieder einmal unartig ist, zitiert die Mutter ihre eigenen W o r t e : „ E s ist klug, artig zu sein". R u t h : Aber Sonja ist unartig (Gedankengang: Da darf ich auch unartig sein; also ihre Theorie bleibt bestehen). 31. Dezember. R u t h sagt vom Mädchen: Man kann merken, was du ihr auch erklärst, sie versteht es doch nicht. 14*
211
Zeichnen.
Weihnachten.
Reue.
Lektüre.
Psychologie.
Schlagfertig.
Psychologie.
Schlagfertig.
Bibel.
Spiele.
Tanz. Psychologie.
Gute
Laune.
Lektüre. Größe. Mitfreude.
3. Januar 1920. Ruth geht vor der Mutter her und wiegt sich etwas: Sieh mal, Mutter, so gehst du. So, t u e ich das ? Ja, findest du es häßlich ? R u t h hört zu, während ich Sonja aus der Bibel vorlese. Sie ist sehr aufmerksam und bemerkt, daß an einigen Stellen Widersprüche sind, so zum Beispiel als im 2. Kapitel (1. B. M.) von den Tieren gesprochen wird, die aus Erde geschaffen werden, wie schon im 1. Kapitel, und daß im 5. Kapitel zum dritten Male von der Erschaffung des Menschen geredet wird. Sie f r a g t : W a s heißt das „er schloß die Stätte zu mit Fleisch" ? Was ist ein Cherub ? Ich erkläre ihr, daß ein Cherub ein Engel sei, und daß gemeint ist, „die Wunde schließt sich". Sie ist damit zufrieden, trotzdem ich nur ein Wort durch ein anderes ersetzt habe, aber offenbar kann sie sich unter einem Engel etwas vorstellen. 12. J a n u a r . Ruth und Sonja spielen Karten und Dame; dabei sind sie beide recht geschickt. Wenn ich ihnen vorteilhafte Methoden erkläre, sind sie sehr aufmerksam. Ruths Hauptvergnügen ist aber immer noch das Lesen. 15. Januar. Ruth tanzt sehr gerne und zeigt uns oft, daß sie ihre Tanzschritte genau kennt. 17. J a n u a r . Als R u t h von ihrer Mutter Medizin bekommt, sagt sie: Wie lieb du bist! — Das sagst du aber immer nur, wenn ich dir etwas Gutes tue. — Glaubst du, ich werde hier sagen, ich mag meine Mutter nicht leiden, wenn ich sie doch immer lieb habe! (Im Gegensatz zu Sonja oft recht temperamentvollen Äußerungen.) 18. Januar. An Sonjas Geburtstag zeigt R u t h nicht die geringste Mißstimmung über Sonjas Geschenke und spielt mit den kleinen Gästen den ganzen Tag. Sie liest die kindlichen Geschichten des „Kinderfreundes". R u t h ist 135 cm groß. 22. Januar. Ruth kommt abends vom Tanzen heim und ißt noch etwas; meine Frau und ich erzählen uns dies und das, wobei wir recht vergnügt sind. Als R u t h ins Bett gehen soll, fragt sie: Darf ich fragen, ist es immer so gemütlich bei euch ? Denn dann möchte ich hier bleiben. 212
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Fig. 61: Verschiedene Gegenstände (10 J . 2 Mon.).
31. Januar. Ruth ist krank und soll jetzt schlafen. Sie sagt: Wenn ich jetzt unter meinem Bett ganz stille liegen soll, dann wäre es ja am besten, wenn ich von nichts wüßte. R u t h : Frau Hansen ist nicht nett zu ihrem Mädchen, denn wenn sie mit der Abrechnung kommt, sagt sie, es stimmt nicht. Vielleicht ist es aber auch so, daß man sich auf das Mädchen nicht richtig verlassen kann, und darum glaubt sie ihr nicht, selbst wenn es richtig ist. Ruth fragt die Mutter: Wen von deinen Lehrern konntest du am besten leiden ? — Ich glaube, am liebsten war mir Herr 213
Philosophie.
Psychologie.
Bedeutung
d e s Vaters
-
Psychologie.
Psychologie.
Zeichnen.
Pflichtbewußtsein.
Nielsen. —Warum hast du dich denn nicht mit ihm verheiratet ? — Er hat mich ja nie gefragt, ob ich seine Frau werden wollte. — Was hättest du aber getan, wenn er dich gefragt hätte ? — Ach, das weiß ich nicht. — Ich hätte ihn nicht haben wollen (Ruth hat von Herrn Nielsen oft sprechen hören). — Dann wäre es ja auch nicht sicher gewesen, daß ich dich bekommen hätte. — Das hat doch damit nichts zu tun, denn der Mann macht doch die Kinder nicht. Ruth erzählt, daß ihr ein (neunjähriges) Mädchen berichtet habe, die Kinder einer Tanzschule hätten einen Tanz „Biene und Schmetterling" aufgeführt. Die Kinder hätten weiße, gestreifte Kleider angehabt, weiße Schleifen im Haar und lange gebrannte Locken. Der Schmetterling lag auf der Erde, so daß das weiße Kleid starr in die Luft stand. Die Bienen tanzten umher und fragten: Was ist denn mit dir, kleiner Schmetterling ? Könnt ihr denn nicht sehen ? Ich schlafe doch! Kurz darauf hätte das Mädchen dann erzählt, daß alles nicht wahr sei. Ruth meint dazu: Die Kleine hat mir richtig leid getan; man konnte sehen, daß sie so etwas am liebsten haben möchte, mit den Kleidern und Schleifen und Locken. 6. Februar. Ruth hört von einem Dichter erzählen, dem man seine Schulden erlassen hat, und der sofort aufs neue Geld borgte mit der Begründung, „daß er ja nicht mehr durch Schulden belastet sei". Es wurde hinzugefügt, daß er als Mensch nicht viel taugen könne. Darauf Ruth: Nein, er ist eben nur Dichter. 22. Februar. Ruth hat lange nicht aus eigenem Antriebe gezeichnet. Ich habe beiden Kindern jetzt eine Schachtel mit farbiger Zeichenkreide geschenkt und gezeigt, wie man damit arbeitet. Jetzt zeichnet Ruth mit großem Eifer, und zwar teils das, was ich zeichne, teils selbständig. Ich zeichne einen blühenden Kaktus in einem Blumentopf. Ruth zeichnet dazu passend eine Tulpe im Blumentopf (Fig. 62), aber ohne Modell. Ruth macht ihre Schularbeiten, ihre Klavierübungen und ihre Tanzübungen ohne besondere Aufforderung und Aufsicht. Sie zeigt großes Interesse für ihre Arbeiten und ver214
steht die Bedeutung der Schule, „denn sonst wird man nicht tüchtig". 28. Februar. Ruth ist sehr erfreut, daß sie in der Schule Auszeichein blankes 25-Örestück erhalten hat, weil sie mit einer Näh- nunSarbeit zuerst fertig geworden ist und sie gut gemacht hat. Die Münze soll „aufgehoben" werden. 2. März. Ruth hat eine Verständnis. kleine, recht sentimentale Geschichte gelesen und fragt die Mutter: Wie gefällt sie dir? Na ja, sie ist ja ganz nett, aber . . . Ruth, mit vollkommenem Verständnis für den ablehnenden Tonfall: Na ja, natürlich! Die Mutter sitzt mit Freude. ihren beiden Mädchen zusammen, sie plaudern gemütlich und sind vergnügt. Ruth sagt: Ach, wie haben wir es doch schön; ich habe solche Fröhlichkeit so gerne! 6. März. Nach einem Kritik. Besuch bei einem Verwandten der Dichterin Fig. 62: Eine Tulpe (10 J. 3 Mon.). Rinna Hauch, liest die Mutter Ruth ein Zitat aus Georg Brandes vor: „Es war ihr ein Grauen zu sehen, wie man das heranwachsende Geschlecht systematisch bearbeitete und erzog, seine Denkfähigkeit in Fesseln zu legen und so jeden Tag mehr zu verdummen, den es lebte. Sie pflegte mit humorvollem Entsetzen die Antwort zu berichten, die ihr ein hochstehender Geistlicher eines Tages auf ihre Klagen gegeben hatte: Was für unsere alten Patriarchen gut genug gewesen ist, wird auch für mich noch gut genug sein." — 215
Schlagfertig.
Selbsterkenntnis. Selbst ist der Mann.
Psychologie.
Zärtlich.
Religion.
Realismus.
Krankheit.
Die Mutter sagt dazu: D a s schien ihr also so schrecklich zu sein. Darauf R u t h mit starker Betonung: Das war es auch. 9. März. R u t h erzählt der Mutter, daß sie sich nach dem Turnen in drei Minuten anziehen kann. Da R u t h zu Hause beim Anziehen sehr langsam ist, sagt die M u t t e r : Zu Hause hast du das aber nicht geübt. R u t h : Nein, das ist gerade das Feine dabei. R u t h sagt von Alma: Sie war ein nettes Mädchen. Ich habe mich nur einmal mit ihr gezankt, und da h a t t e s i e recht. 11. März. R u t h belehrt S o n j a : man m u ß immer selbst die Probe machen, sonst k a n n m a n es noch nicht. Dann zu mir gewendet: Was man lesen soll, muß m a n auch selbst gesehen haben, sonst versteht m a n es nicht. 13. März. Heute habe ich mich mit Fräulein Petersen gestritten. Sie sagte: Wasser löscht den Durst am besten. Da habe ich gesagt: Nein, Bier. Dabei habe ich mich gemeldet. Da sagte Fräulein Petersen: Nein, Wasser. Dann wieder ich: Nein, Bier. Dann wieder Fräulein: Nein, Wasser, lies weiter. Die M u t t e r : Haben denn deine Mitschülerinnen nicht gelacht ? Die haben ganz ernst zugehört. Die verstehen das nicht so gut wie ich. Ich bin ganz anders als sie, und das ist gar nicht schön. 15. März. Die Mutter: Du bist nie zärtlich zu mir. — Nein, das brauche ich nicht zu tun. So zärtlich sein! Das ist beinahe etwas Schweinerei! Heute habe ich die Lehrerin gefragt, wie denn da Menschen sein konnten, die Iiain erschlagen wollten. Sie hat nichts gesagt. — Sie m u ß doch irgend etwas gesagt haben! — Na ja, sie h a t etwas gesagt, das keine Antwort war. Ich glaube, sie sagte: Vielleicht sind neue Menschen hinzugekommen. 17. März. R u t h lehnt die Lektüre einer Geschichte mit der Überschrift „Wie der Papst sein hohes Alter erreichte" mit den Worten ab: Es wird schon ganz natürlich zugegangen sein. R u t h h a t etwa zwei Wochen an Lungenentzündung gelegen. Sie ist nicht sehr krank gewesen; die T e m p e r a t u r lag etwas über dem Normalen fest. 216
Während ihrer Krankheit hat R u t h sich Gedichte aus einem Buch abgeschrieben, das ihr die Großmutter geliehen hat. Besonders h a t ihr ein kleines Abendlied gefallen, das Hauch nach dem Deutschen bearbeitet hat (wenn ich heute, lieber Gott, gesündigt gegen dein Gebot . . .). R u t h liest jetzt Heibergs Vaudeviller und Elverhöj, Hostrups Komödien, Hertz: König Renés Tochter, Jules Verne. 26. März. R u t h sagt heute : Ich glaube, ich bekomme Interesse für Literatur. R u t h s wichtigstes Spiel ist das Lesen ; gelegentlich malt sie auch ein wenig. Dagegen hat sie nur wenig Neigung, mit anderen Kindern auf dem Hofe zu spielen. 28. März. Wenn man sich genau an alles erinnern könnte, brauchte m a n nicht den ganzen Sagenkram. Dann könnte einer es immer dem andern erzählen, und dann könnte m a n es auch glauben. Ich halte mich an das Wirkliche. R u t h sagt zu ihrer Mutter: Ich glaube, ich bin ebenso klug wie du. Du bist nur älter, du hast mehr gesehen und mehr erlebt und weißt mehr. 5. April. Einige Jungen haben Zweige von einem Apfelb a u m abgerissen; Ruth stellt darüber folgende Betrachtung a n : WTenn es nur Mädchen gäbe, würde nicht so viel abgerissen. Aber dann m ü ß t e n sich die Damen mit Damen verheiraten, und das wäre langweilig. 20. April. R u t h wird in der Kinderstube gebadet und t a n z t vollkommen nackt lustig umher. Ihre eine „ M a m m a " ist seit einiger Zeit groß geworden, jetzt zeigt sich, daß auch die andere sich strafft. Auf R u t h s Frage (warum ?) sage ich ihr, daß diese Erscheinungen eintreten, weil sie „groß" wird, Darauf h ü p f t sie wieder in großer Freude umher und r u f t : Ach, ich werde erwachsen! Zugleich ist sie aber noch so „klein", daß sie keine Bedenken hat, nackt umherzuspringen, während ich im Zimmer sitze. 22. April. Ich hasse Paula, aber ich lasse mir nichts merken, das ist das klügste. 28. April. Eine bekannte Dame pflegt sehr leicht zu loben. Die Mutter fragt R u t h : Hat Frau Jacobsen nicht gesagt, daß 217
Lektüre.
Bewußtes Interesse.
Sage u. Wirklichkeit.
Heirat.
Pubertät.
Vorsicht. Psychologie.
Arbeit u. ihr Ergebnis.
Religion.
Ironie und Spiel.
Schule.
Psychologie.
Tugend.
dein Regenhut der allerschönste ist ? — Nein, denn was sollte sie dann von den anderen Hüten sagen. 2. Mai. Die Mutter hat Ruth ein neues Kleid genäht. Ruth stellt folgende Betrachtung an: Nun hast du viele Tage gesessen und gearbeitet und deinen Kopf angestrengt, wie das alles werden muß, und jetzt ist es fertig, und ich habe nun ein neues Kleid; und was ist das jetzt ? Das ist wie ein Haar auf dem Kopf (gemeint: wie ein Tropfen im Meer, also ist die viele Arbeit ein neues Kleid wert, auf das man schließlich verzichten kann ?). Ich lese in einem Buche (Dhamapada) und Ruth fragt, was es für ein Buch sei. Ich sage: Ich gehe einen Augenblick weg, du kannst ja darin unterdessen lesen. Bei meiner Rückkehr fragt sie, was ein „vedischer" König sei. Sie muß also mindestens 8 Seiten mit ihren Anmerkungen gelesen haben. 6. Mai. Ruth spielt mit ihrer Freundin Lilli; Ruth ist die Lehrerin, Lilli muß eine ganze Klasse darstellen. Ruth r u f t : Alle gerade stehen! Ihr müßt so fein dastehen, daß ich bequem durch die Reihen gehen kann! Dann geht sie an Lilli vorbei und sagt: Na, das geht ja. In der Schule haben wir jetzt nicht mehr Turnen, erzählt Ruth, sondern Spielen. Das Turnen ist in lustige Spiele gekleidet worden, zum Beispiel „Teufel im Kasten": Die Kinder müssen sich ganz klein machen, um dann plötzlich sich zu ihrer ganzen Länge auszurecken. 13. Mai. Die Mutter hat Ruth einige Verse vom Jubiläum der Pädagogischen Gesellschaft gezeigt, in denen stand, daß man die Sorgen und Freuden der Kinder teilen solle. Ruth sagt dazu: Das machst du, Mutti. Du machst deine Arbeit wie die Erwachsenen, und dann teilst du noch unsere Sorgen und Freuden. 16. Mai. In der Klasse wird von der Tugend gesprochen, und die Lehrerin fragt: Kennt ihr vielleicht jemanden, der tugendhaft ist ? Ruth meldet sich und sagt: Olga ist tugendhaft (sie ist Ruths schärfste Konkurrentin). Die Lehrerin: Na ja, aber ich könnte dann auch noch eine Reihe von Mädchen nennen, das will ich aber nicht tun, damit ihr nicht eingebildet werdet. Man könnte da zum Beispiel auch Ruth nennen. 218
Als Ruth der Mutter diese Geschichte erzählt, meint diese: Vati ist der Ansicht, die richtige Tugend zeige sich, wenn man gar nicht daran denkt, das Richtige zu tun, es aber von selbst doch tut. Ich meine aber, man ist am tugendhaftesten, wenn man sich sehr anstrengt, das Richtige zu tun. Neulich brüllte Sonja zum Beispiel furchtbar, und ich schalt mit ihr, sie solle sich beherrschen und stille sein. Da t a t sie es, sagte aber: Eigentlich müßte ich noch viel lauter schreien. R u t h : Da war sie dann also tugendhaft. 18. Mai. Eine von Ruths Mitschülerinnen hat Läuse; die Schulschwester stellt fest, daß im Haar Nissen sind. Das Kind ist darüber recht unglücklich, zumal die Mitschülerinnen nun ihren Umgang scheuen. Ruth nimmt sich jedoch ihrer an, spricht mit ihr, tröstet sie und versucht zugleich, sie mit den Handlungen der Schulschwester auszusöhnen. Ruth spielt mit Sonja Schule; Ruth ist die Lehrerin und fragt Sonja: Wie heißt d u ? Was ist dein Vater? Wie alt bist du ? Wo wohnst du ? Wie viele Läuse hast du ? Die Mutter: Aber warum fragst du denn danach? Ja, in der Schule wollen sie alle Dinge ganz genau wissen. 22. Mai. Beim Bade unterhält Ruth sich mit der Mutter: Ein Schoß (Ruth benutzt einen Ausdruck der Kindersprache, der nicht übersetzt werden kann) ist eigentlich eine merkwürdige Einrichtung. Erst kommt hier etwas Wasser heraus, dann wird es hier etwas dick, und dann bekommt man ein kleines Kind. Und was das Kind zu essen kriegen soll, das kommt hier in die Brust, bitte sehr, und da will das Kind auch gerade hin. Das ist geradezu eine Erfindung, eigentlich eine ganz lustige Erfindung. Ruth erzählt: Manchmal denke ich mir richtigen Unsinn. Dann denke ich mir, daß nach vielen tausend Jahren eine Lehrerin ihren Kindern erzählt, daß die Menschen einmal zwei Arme und fünf Finger hatten. Vielleicht sind sie dann Regenwürmer. Aber das meine ich natürlich alles nicht so. 24. Mai. Ruth hat mit dem 17jährigen Axel einen vierstündigen Ausflug gemacht. Sie erzählt: Rosa hat gesagt, daß ich mit Herren gegangen bin. Das konnte ich aber nicht leiden, uh! Wenn wir auf dem Hof spielen, ist Lilli so in 219
Tugend.
Charakter.
Ironie.
Sexuelle Betrachtung.
Phantasie.
Erotik.
Hans verliebt! Die lacht ihn jedesmal so an, wenn er in ihre Nähe kommt, u h ! Vor einigen Jahren hat mir Gerda gesagt, ich soll die Freundin (im Dänischen: Liebste) eines Jungen werden und dann mit ihm poussieren. Aber das habe ich natürlich nicht getan. Ehe. Axel h a t mir erzählt, daß er später ein Haus haben will mit einem Musikzimmer; da soll ein Klavier drin sein und eine Geige und eine Flöte. Und oben auf dem Hause soll ein T u r m sein, damit Axel die Sterne betrachten kann. Und dann m u ß er natürlich auch eine F r a u und einige Kinder haben. Traum. 25. Mai. R u t h erzählt heute morgen, daß sie im Traum ein Kind bekommen habe, und daß es durchaus nicht wehe getan hätte. Dann sei sie eine Treppe hinuntergegangen, und ein Mann h ä t t e ihr gesagt, hier dürfe man nicht gehen. Sie erzählt diese beiden so ganz verschiedenen Erlebnisse mit derselben Interessenbetonung, f a ß t also die Geburt des Kindes als etwas ganz Natürliches auf, ohne pikante Nebenbedeutung. Ironie. 25. Mai. Die Kinder singen vor dem Schlafengehen jedes ein frommes Lied. Die Mutter, die heute den Vorgang des Schlafengehens schnell erledigt haben will, sagt zu ihnen: Nun singt, mal schnell noch einen Vers herunter! Ruth, durch die hierin indirekt geäußerte Ablehnung ihres Gebetes verletzt, singt darauf sofort: Fuchs, du hast die Gans gestohlen. Ironie. 1. Juni. Kürzlich h a t die Mutter R u t h ein schlechtes Buch weggenommen; heute möchte R u t h in einen Film gehen. Sie ironisiert sich daher selbst: Ich liebe alles, was nicht viel taugt. Ich liebe Filme. Psychologie. 5. Juni. Die Mutter und R u t h unterhalten sich darüber, daß Rechnen, Lesen und Schreiben die wichtigsten Fächer sind. Die Mutter: Nein, das sind sie nicht, aber m a n kann natürlich nichts lernen, wenn man diese Fächer nicht beherrscht. Sie sind Mittler, aber nicht Ziel des Lernens. R u t h : Da hast du dieselbe Sache hübsch ausgedrückt. Gefühl. 9. Juni. R u t h sagt zur M u t t e r : Ich habe dich lieb. Die Mutter, die das scherzhaft nimmt, erwidert: Das ist ja gar nicht möglich. Ruth beginnt sofort zu weinen: Sonst sagst du immer, ich hätte dich nicht lieb, und wenn ich es nun sage, dann redest du so! 220
17. Juni. Zwischen R u t h und ihren Mitschülerinnen ist eine kleine Verstimmung entstanden, weil R u t h über eine von ihnen geklatscht hat. Als Ruth zur Schule geht, sagt die Mutter: Ich möchte hoffen, daß ihr euch bald wieder vertragt. i R u t h : Das wird schon kommen. Ich bin ganz ruhig und tue, als wüßte ich von nichts.
Wesensart.
Fig. 63: Ruth (10 J. 7 Mon.). 23. Juni. Ich halte R u t h vor, daß es mir sehr unangenehm Ironie. ist, ihr immer noch nicht das Nägelbeißen abgewöhnt zu haben, was mir sonst doch schon bei vielen Kindern gelungen ist. Ruth erzählt darauf, daß eine Lehrerin es bei einem andern Kinde erreicht habe, indem sie 25 Öre versprach. Ich: Das will ich dir gerne geben, wenn du dann die Unart lassen willst. R u t h : Ich beiße doch nicht an den Nägeln, weil es mir an Geld fehlt! 26. Juni. R u t h sagt: Nein, ich möchte keinen Verlobten Liebe. haben. Ich kann nicht verstellen, wie man einen mehr lieb 221
Ferien. Psychologie.
Bildlich ausgedrückt.
Staat und Politik.
haben kann als die andern. Man hat doch seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester lieb, aber dann einen Menschen lieb haben, der gar nicht zur Familie gehört, nein, das verstehe ich nicht! Die Sommerferien 1920 werden in Skabohuse bei Nyborg auf Fünen zugebracht (1. Juli bis 30. August). 5. Juli. Ruth fragt ihre Mutter: Wenn du richtig über etwas nachdenken willst, sammelst du dann nicht alle die kleinen Teile deines Gehirns ? So mache ich es. Wenn ich rechnen soll, dann sammle ich alle die kleinen Teile von meinem Gehirn. Man denkt ja gleichzeitig an so viele Dinge, an lange Radfahrten, an Baden, daß du dasitzt und die Stiefel zuschnürst. Aber wenn ich rechnen soll, dann sammle ich das alles hier zusammen (sie zeigt auf den Kopf), und dann schmelze ich das alles zu Rechnen zusammen. — Ist es denn so schwer zu rechnen ? — Nein; daß ich Rechnen gesagt habe, ist zufällig. Wenn es Erdkunde ist, dann schmelze ich alles um in Erdkunde, und wenn es Religion ist, dann schmelze ich alles um in Religion. 6. Juli. Mit mir ist es wie mit dem kleinen Vogel in der Wüste, von dem ich einmal gelesen habe. Als der Habicht kam, legte er sich in den Sand, und da er dieselbe Farbe wie der Sand hatte, war er nicht zu sehen. Das hatte er von seiner Mutter gelernt, aber das wußte er nicht; er dachte, er hätte es aus sich selbst, und darüber war er ganz glücklich . . . Alles, was ich mache und glaube, was ich gerne habe, und was ich nicht mag, das muß ich natürlich von euch haben. Aber darüber denke ich nie nach. Ich denke immer, das weiß ich aus mir selbst. Es stimmt also nicht ganz mit dem Vogel, denn der glaubte ja, er könnte es aus sich selbst. Natürlich werde ich erzogen; alle Kinder werden erzogen, aber ich merke gar nicht, daß ich erzogen werde. Ruth fragte die Mutter, was man unter „ S t a a t " verstehe. Sie erklärt: Wie wir unsern kleinen Haushalt haben, so hat das ganze Land seinen großen Haushalt; das nennt man Staat. Und Politik entsteht, weil die verschiedenen Parteien des Landes sich uneinig darüber sind, wie dieser Haushalt am besten geführt werden soll. Jeder Stand meint, daß auf ihn 222
am meisten Rücksicht genommen werden müsse. Die Mutter erkärt dann als Beispiel die Preisregulierung und die verschiedenen Meinungen darüber, die sich aus den widersprechenden Interessen ergeben. R u t h : Ich verstehe schon, daß Politik so ganz verschiedene Dinge umfaßt, aber es ist doch immer Kampf um Geld. Die Mutter erzählt weiter, daß die Radikalen eine Preisregulierung gemacht haben, und daß das gegenwärtige (linke) Ministerium sie wieder aufheben will. R u t h : Darüber spricht also Vati (als Abgeordneter) immer, und darüber soll am Dienstag abgestimmt werden! Ach, jetzt bin ich aber gespannt darauf. Man spricht so gut mit dir. Mutti, man versteht das alles jetzt so gut. 14. Juli. Ist es wahr, Vati, daß der Stier die Kuh decken Befruchtung muß, wenn sie ein Kalb bekommen soll ? Und auch die Hühner und die Hunde, wenn sie Junge haben sollen ? — J a , das ist richtig. — Und warum tun sie das ? — Man nennt das „Befruchtung". — Ruth lacht und sagt: Aber ein Herr springt doch auch nicht auf eine Dame, wenn sie ein Kind haben soll! — Ich will es dir an den Fischen erklären, da ist es am einfachsten zu verstehen. Da in diesem Augenblick Sonja hinzukommt, wird das Gespräch unterbrochen. Ruth ist später nicht auf das Thema zurückgekommen. Von der Rolle des Vaters hat sie also einstweilen noch keine Ahnung. 19. Juli. Sie sagen in der Schule, ich sei in Botanik so Selbsterkenntnis. gut, aber ich kenne doch nur die Namen. Ruth hat Radfahren (auf Axels Rad) gelernt. Zunächst stand sie auf den Pedalen und lernte steuern. Dann lernte sie treten und bremsen. Das Radfahren war eine große Leidenschaft, bis sie eines Tages fiel und sich das Kinn aufschlug. Seit dieser Zeit hat sie das Rad nicht mehr angerührt.
Radfahren.
21. Juli. Ach, heute habe ich es so gut gehabt. Ich hatte den Himmel auf Erden.
Freude.
22. Juli. Ich bade ohne Badezeug in großer Entfernung Mangel an von der sonst üblichen Badestelle. Als Ruth zu mir hinkommt, Schamgefühl. bedecke ich mich mit einem Handtuch; doch Ruth sagt: Du brauchst dich nicht zu genieren! Seinem Kinde kann man es doch zeigen. Dann geht sie aber doch wieder zurück. 223
Knabe und Mädchen.
Spiel.
Steckenpferd.
Gate Beobachtung.
Phantasie.
Absichtlich. Kritik.
23. Juli. R u t h und Sonja baden mit (dem 8jährigen) Svend zusammen. R u t h sagt: Wenn mein Haar geschnitten würde, und wenn ich nur solch kleines Ding wie Svend hätte, dann wäre ich ein Junge. 25. Juli. R u t h spielt mit einigen Jungen zusammen „ S o l d a t " . Sie ist so begeistert von dem Spiel, daß sie nicht nach Christianslund zum Sonntagsnachmittagskonzert mitkommen will. Sie strahlt vor Freude, daß sie ihr „ G e w e h r " richtig schultern kann. 26. Juli. R u t h spielt mit Steckenpferden, die in den Stall gebracht, gezäumt und gefüttert werden usw. Besonders große Freude macht ihr ein „ S t e c k e n p f e r d " aus einem Pappelzweig; der Schwanz ist ein blättertragender Zweig. So kindlich k a n n R u t h bei all ihrer sonstigen Nachdenklichkeit sein. 28. Juli. Vati, warum sind immer nur in den Feuersteinen Löcher ? — Das weiß ich nicht. Vielleicht erklärt es sich aus ihrer Entstehungsweise. Aber es ist gut, daß du es beobachtet hast. — Das war nicht so schwer, wo hier ganze Berge von Feuersteinen liegen. Da fiel es mir auf, daß ich nie in einem andern Stein ein Loch gesehen habe. — Dann reitet sie auf ihrem Steckenpferd davon. 1. August. R u t h hat zwei „ P f e r d e " . Sie reitet auf einem „ P f e r d " , h a t aber auch noch eine „ K u h " . Sie sagt: Jetzt tue ich, wie wenn es beide Pferde wären, denn die kann ich jetzt gebrauchen. Und wer kann das sehen ? R u t h strauchelt, b e h a u p t e t aber, daß es absichtlich geschehen sei: denn alles, was ich tue, geschieht mit Willen. 3. August. R u t h hört folgende Geschichte über ihren Freund Svend: Er ist ungezogen gewesen und hat nach seiner Mutter mit den Füßen gestoßen. Zur Strafe soll er Stubenarrest bekommen und eine Strafarbeit machen. Das will er aber nicht. Darauf wird die Mutter böse und schlägt ihn. Svend hingegen sagt, das nütze gar nichts, denn er sei der Stärkere. Darauf verabreicht ihm die Mutter eine tüchtige Tracht Prügel und fügt hinzu: Hast du nun gemerkt, daß i c h die Stärkere b i n ? Da muß Svend sich fügen. Ruth n i m m t dazu Stellung: Das ist eine merkwürdige Art, sein Kind zu behandeln! Denn wenn nun die Mutter nicht die 224
Stärkere gewesen wäre ? Dann h ä t t e Svend Recht bekommen, und das durfte doch nicht sein. 6. August. R u t h ist oben auf einer hohen Klinte und wirft Ironie. Steine ins Meer. Die Mutter: Höre auf d a m i t ; ich fürchte, du fällst mir noch selbst herunter! R u t h : Ja, das nächste Mal, wenn du nicht dabei bist, denn du sollst es nicht sehen, dann setze ich mich auf solchen Stein. 9. August. Sofort nach der Heimkehr aus der Sommer- Musik. frische setzt sich R u t h ans Klavier und spielt. Die Lehrerin fragt einen Jungen: Frierst du ? Ruth r u f t Konzentratwn dazwischen: Er wird sich schon warm lesen! 11. August. R u t h erzählt, daß ein Herr mich unterwegs Psychologie. übertrieben höflich gegrüßt habe. Sie f ü g t hinzu: So ist er; entweder grüßt er gar nicht, oder er m a c h t zu viel davon! Der servile, aber unzuverlässige Charakter dieses Mannes ist damit richtig erkannt. R u t h ist 143 cm groß. Größe. 31. August. Ruth hat heute das Schwimmenlernen be- Schwimmen. endet. Sie h a t ein Vierteljahr dazu gebraucht. 3. September. R u t h fragt die M u t t e r : Welche Königin Spitzfindig. hast du am liebsten ? Die Mutter nennt einige und f r a g t : Und welche d u ? Ach, das kannst du nicht r a t e n ; das ist eine mit Südjütland, aber nicht Thyra Danebod. Die Königin Margarethe ist es; ja, die habe ich am liebsten!— W a r u m denn ? — Weil sie klug und gut war. — W r enn du wählen könntest würdest du lieber klug oder gut sein wollen ? — Ich würde gut sein wollen, denn wenn man das wählt, muß man schon klug sein — wenn m a n überhaupt wählen könnte! 17. September. R u t h hat in den letzten Wochen gelesen: Lektüre. Örvar Odds Saga, Die Flucht des Hirsches, Heldensagen, Werke von Heiberg und Hostrup, Der Erbe von Skjoldborg, In elfter Stunde, Henne und Küken, Helden von Transvaal, Die Diamanteninsel, Im Walde, Die Tabu-Insel, T a n t e Lotte, Liebe Freunde, Knabe oder Mädchen, Heidi, Der gelbe Wolf. 24. September. Die Mutter liest ein Gedicht von Axel Juel vor, das den Herbst beschreibt. Nach dem Lesen sagt sie: Eine der Strophen ist besonders schön. R u t h zeigt darauf R a s m u s s e n,
Tagebuch.
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Fig. 64: Entwurf zu einem Bucheinband (10 J . 9 Mon.).
Ratschläge.
sofort auf die S t r o p h e , die a m b e s t e n die H e r b s t s t i m m u n g wiedergibt. W a r u m f i n d e s t du denn gerade diese S t r o p h e am s c h ö n s t e n ? Weil m a n bei ihr a m b e s t e n hören k a n n wie der H e r b s t wirklich ist. 2 5 . S e p t e m b e r . S o n j a k o m m t weinend von der S t r a ß e herauf und b e k l a g t sich, wie s c h l e c h t ihre Gespielinnen s e i e n ; „ S i e s c h i m p f e n i m m e r , du alte Zicke, und ich h a b e i h n e n doch nichts g e t a n ! D a h a u e ich sie n a t ü r l i c h . " R u t h : A c h , so viel m u ß m a n sich n i c h t daraus m a c h e n ! W e n n m a n sich mit j e m a n d e m g e z a n k t h a t , dann m u ß m a n ihn gar n i c h t
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b e a c h t e n . Dann kann m a n sich mit den andern nicht auch noch zanken. 26. September. Da heute Konfirmationssonntag ist, fragt R u t h die M u t t e r : Soll ich mich konfirmieren lassen, oder soll ich zur Jugendweihe gehen, was meinst du ? — Da m u ß t du doch zunächst erst wissen, was die Konfirmation bedeutet. Man legt dabei das Gelübde ab, sein ganzes Leben an G o t t zu glauben. — Das kann man doch a b e r nur tun, wenn m a n weiß, was man später glauben wird! W a s muß man tun, wenn man zur Jugendweihe geht ? — Dann wird einem gesagt, daß man sich stets bemühen soll, das R e c h t e zu tun. Aber das ist eigentlich nicht nötig, denn das wird uns doch jeden T a g gesagt. — Dann will ich nicht zur Konfirmation gehen und auch nicht zur Jugendweihe. Dann wollen wir nur bei „ W i w e l " (im Kopenhagener Tivoli) ein F e s t feiern.
Religion.
26. S e p t e m b e r . Die Mutter h a t ein B u c h über „ W e l t l i c h e M o r a l " erhalten und liest daraus R u t h einige Sätze v o r : Ich habe gepflanzt und gehegt unter Sonnenschein und bei L a c h e n und Weinen, und habe die kleine F r u c h t erwartungsvoll bet r a c h t e t . Und welcher Lohn war es mir, wenn das, was ich dir vor J a h r und T a g einmal gesagt habe, bei dir Wurzel gefaßt h a t t e , und wenn du es mir dann eines Tages als deine eigene Erfahrung m i t t e i l t e s t . R u t h : Darüber haben wir j a in der Sommerfrische einmal gesprochen. Die Mutter liest w e i t e r : . . . und so hoffe ich, du m ö c h t e s t dir das, was ich dir j e t z t sagen will, aneignen und danach leben in der vollen Überzeugung, daß du gerade so selbst dein Leben eingerichtet h ä t t e s t . R u t h : J a , das h o f f t er, aber wir t u n es schon.
Moral.
6. Oktober. R u t h s Lehrerin h a t g e s a g t : E s ist leicht, die zu lieben, die uns lieben; aber es ist schwer, die zu lieben, die uns nicht lieben. I m Anschluß hieran sprechen die M u t t e r und R u t h über Konfuzius. R u t h : Jesus hat doch gesagt, man soll alle Menschen lieben; man ist j a auch ein besserer Mensch, wenn man es t u t . Die M u t t e r : Wenn mir Menschen Böses zufügen, dann liebe ich sie nicht. Ich ziehe mich a b e r von ihnen zurück. Ich tue nichts, um ihnen zu schaden. R u t h : Ich weiß, das nennst du dann „ B ö s e s mit Gerechtigkeit ver-
Konfuzius.
15*
227
Lebensfreude.
Poesie.
Moral.
Mrissen Wirkung.
Psychologie.
gelten"; aber Sonja schlägt wieder, wenn ihr einer etwas t u t . Das nennt s i e Gerechtigkeit. Die Mutter fügt als Beispiel für ihre Auffassung hinzu: Ich liebe Frau Nielsen nicht, denn sie hat viel getan, um mir zu schaden. — Aber sie war ja auch recht d u m m ; deshalb kann man sie doch lieben und über das andere hinwegsehen. — Ein Franzose hat auch einmal gesagt: Alles verstehen heißt alles vergeben. — Dann hat der Franzose ganz logisch gedacht (wie Konfuzius). 7. Oktober. Die Mutter liegt mit ihren beiden Mädchen auf der Couch; sie sagen Gedichte auf; die Mutter h a t gerade Axel Juels Gedicht aufgesagt, das die Freude „über nichts" verherrlicht. R u t h : Das finde ich aber auch ganz richtig. Man ist n u r froh, weil m a n da ist. Dabei streckt sie Arme und Beine hoch in die L u f t . Die M u t t e r : Bist du denn froh, daß du da bist ? Und ob ich darüber froh bin! Das ist eine sonderbare Frage. Gott weiß, was ich sagen würde, wenn ich nicht da wäre. 7. Oktober. Ruth sagt von Axel Juel: Das ist merkwürdig bei ihm, er betont Nacht und Herbst. Wir würden doch gerade Tag und Sommer betonen. 11. Oktober. Ruth erzählt ihrer M u t t e r : Ich mache mein Herz rein. Wie machst du denn das ? So am Abend, wenn ich schlafen gehe, dann mache ich es rein. Was bedeutet das denn ? Wenn da etwas ist, was mir nicht gefallen hat, wie ich es gemacht habe, dann sage ich mir, das tust du nicht wieder. Aber wenn ich in einer Sache Recht gehabt habe, dann sage ich mir, das war gut so, und die andern haben Unrecht. Hat das mit Gott etwas zu t u n ? Durchaus nicht; das mache ich ganz allein mit mir ab. Du solltest es eigentlich auch nicht wissen. 18. Oktober. Es ist merkwürdig, wenn ich vom Sport komme, k o m m t immer ein großer Strom von Radfahrern auf dem einen Wege angefahren. Auf dem andern W7ege kommt vielleicht nur ein einziger kleiner Mensch gefahren. Er b r a u c h t gar nicht klein zu sein, aber ich f ü h l e so, als wäre er klein. Meine F r a u sagt: Vati ist heute witzig. Ich: Das ist ja gut für die andern, denn ich merke es nicht. R u t h : Nein, 228
da hat man selbst gar nichts davon, wenn man witzig ist. Das ist gerade so, wie wenn man beim Spielen etwas gewinnt, das m a n schon hat. Ruth erzählt mir: Denke mal, was eine Lehrerin heute für dummes Zeug gesagt h a t : Nun seid aber ruhig, sonst mache ich ein böses Gesicht! Das macht doch wirklich nichts aus, wenn es nicht tiefer geht! Wenn ich groß bin, schreibe ich lange Artikel in den konservativen Zeitungen. Dann schreibe ich: D a s ist richtig, und alles, was ihr schreibt, ist verkehrt. Aber jetzt will ich ganz etwas anderes erzählen: Olgas Eltern sind konservativ. Ich finde das so komisch, ich kann nicht sagen warum, aber ich finde es komisch. Ebenso, wenn ich auf der Straße die Plakate sehe: W ä h l t konservativ! Dann kann ich rasend werden. —Diese Äußerung ist verwunderlich, da Ruth zu Hause nie heftige Ausfälle gegen andere politische Richtungen hört. 31. Oktober. Ich möchte lieber mit Jungen zur Schule gehen. Das ist viel schöner. Die schmieren sich nicht so an. Was heißt denn das, anschmieren ? Erst k o m m t Christa und spricht mit mir über Olga; und dann sprechen Olga und Christa über mich; dann erzählt sie Olga, was ich von Christa gesagt habe, und dann Christa, was ich von Olga gesagt habe, und dann erzählt sie mir wieder, was Olga gesagt hat. Und das alles, weil sie es mit niemandem verderben will. 31. Oktober. Dickens müßte so viele Bücher geschrieben haben, daß ich immerzu welche von ihm lesen könnte. Darf ich ein Buch bekommen ? Aber nicht zu erwachsen. Was soll das heißen ? So wie Axel Juel (Verse). 5. November. Die Mutter erzählt R u t h einiges aus einer Aussprache über Koedukation, an der sie in der pädagogischen Gesellschaft teilgenommen h a t : Da k a m nachher eine Dame zu mir und sagte: Du hast ja heute abend allerlei zu hören bekommen! Hast du ein akademisches Examen g e m a c h t ? Darauf habe ich natürlich „nein" gesagt. — Hast du nicht gesagt, du hast ,,in der Schule des Lebens" Examen gemacht ? Nein; das h ä t t e ich natürlich gut sagen können, aber ich habe es nicht gesagt. Vielleicht hätte sie dann auch gedacht: Das h a t sie wieder von ihren Kindern. Diese Äuße229
Psychologie.
Standpunkt der Eltern.
Schule.
Lektüre.
Ironie.
Bildlich ausgedrückt.
Beobachtung.
Lektüre. Verständnis.
rung Ruths ist blutiger Spott gegenüber jener Dame, die glaubt, zur Kindererziehung sei ein E x a m e n nötig. 6. November. Als die Mutter heute zum „Gute-Nacht-sagen" z u ^ ^ K j n c i e r n hineingeht, sagt R u t h : Du kommst in einem guten Augenblick. Wir haben gerade beschlossen, uns immer zu vertragen. Das soll nicht so sein wie bei einigen Geschwistern, die eine hohe Mauer zwischen sich gebaut haben. Die einzige Art, miteinander zu verkehren, besteht darin, giftige Pfeile über die Mauer zu schicken. — Wo hast du denn das her ? — Das habe ich nirgendwo her. Ich habe mir nur gedacht, daß es so sein kann. (3. November. Ruth sagt zu ihrer Mutter, die Klavier spielt: Wie schön das ist, wenn einer aufmerksam aussieht. Ich kann Lotte in der Schule gar nicht ansehen; sie sieht immer so aus. Damit verwandelt sie ihr Gesicht so, daß es einen ganz imbezillen Ausdruck erhalt. 15. November. Ruth liest Njäls Saga in Konstantin Hansens Übersetzung. Ruth liest die Strophe: „Denn niemand weiß, wann das große Wunder im Herzen geschieht." Sie sagt: Das ist schön! Die Mutter: Weißt du denn, was es bedeutet ? Doch, das ist die Liebe. Denkst du denn, ich habe noch nie jemanden lieb gehabt ? Wen denn ? Dich, Vati, Sonja und J y t t e .
Das zwölfte Jahr. '3. Dezember 1920. Ruth vollendet das 1 1 . J a h r ; sie ist den ganzen Tag vergnügt. Größe. Ruth ist 1 4 5 cm groß. Zeichnen. 19. Dezember. Ruth zeichnet, während sie gekämmt wird. Das Bild ist interessant wegen der vielen richtigen Überschneidungen, zum Beispiel beim Hut, beim Rock usw., und wegen der guten Perspektive. Ironie. Die Mutter hat gelegentlich etwas aus dem Faust vorgelesen, wobei auch das Wort „himmlisch" vorkam. Diesen Ausdruck gebraucht aber auch Tante Line mit Vorliebe. Als nun einmal etwas geschieht, was Ruth „himmlisch" nennt, fügt sie hinzu: So sagt Goethe und Tante Line. 230
B e i m Heimweg von der Besichtigung der Weihnaclitsaus- Wünsche. Stellungen in den Geschäften fragt die Mutter R u t h : W ü n s c h s t du dir nun etwas von all dem, was du gesehen hast ? — Nein, gar nichts. 19. Dezember. R u t h rechnet, m a c h t es aber falsch und Selbstruft a u s : Ach, was für ein K a l b bin i c h ! Das kann ich also erkenntnis. auch sein! 24. Dezember. R u t h freut sich sehr über ihre W e i h n a c h t s - Weihnachten. geschenke, besonders über einige B ü c h e r von Dickens und über eine lederne Schulmappe. 25. Dezember. R u t h schreibt folgenden Aufsatz über einen Aufsatz. A b e n d aus der S o m m c r f r i s c h c : E s war Abend. Ich war zusammen mit meiner Schwester mit einer Menge K n a b e n und Mädchen vor unserm Hause. Die Sonne wollte untergehen; sie war schon blutrot geworden. J e t z t stand sie über dem Wasser, dem großen, breiten, blauen B e l t . W i r sahen uns das alle an, aber einer brach das Schweigen. „Wollen wir nicht zum Busch laufen und V e r s t e c k s p i e l e n ? " „Ja," riefen alle zugleich, „das wollen w i r . " J e t z t galt es, wer zuerst a n k a m . W i r setzten uns in Galopp. Einige liefen arii S t r a n d e entlang, andere am Felde entlang. Meine Schwester k a m zuerst an. W e r zuletzt kam, sollte suchen; das war ein kleiner Junge, der hieß Borge. „ D u m u ß t s u c h e n , " riefen wir. „ J a , das will ich auch g e r n e , " antwortete Borge, und dann stand er und rief: 10, 20, 30, 40, und ehe wir ein W o r t verstanden, h a t t e er bis 100 gezählt. Und der Abend ging hin. Da leuchtete das Blinkfeuer von Sprogö auf, also war es 9 Uhr. „ W i r müssen h e i m , " rief einer, und da gingen wir heim. Eine große schreiende und frohe Kinderschar ging heim, verzehrte das Abendbrot und ging schlafen. 26. Dezember. R u t h liest „ T e r j e V i g e n " und findet es Lektüre. sehr schön, besonders die Stelle, wenn erzählt wird, wie er mit dem Korn h e i m k o m m t . Entschuldige, Mutti, der Fehler ist mir so durchgeschlüpft. Psychologie. W e n n ich müde bin, schlüpft mir manches so durch. 27. Dezember. W ä h r e n d einer Gesellschaft bei einer T a n t e Zuhörer. wird über die Menschen in den verschiedenen Zeiten gesprochen ; jemand m a c h t die Bemerkung, daß an den Menschen 231
der Gegenwart nicht viel Wertvolles sei. Eine ältere Dame sagt d a z u : Aber wir leben ja auch in der alten Zeit (und verstehen daher die jüngere Generation nicht). Am nächsten Tage sagt R u t h : Etwas habe ich gestern bei Tante Martha nicht verstanden, nämlich was Frau Oleson sagte (sie zitiert); was soll das bedeuten ? Man kann doch nicht verlangen, d a ß ich alles verstehe. Schule. 2. Januar 1921. Ruth freut sich, daß morgen die Schule wieder beginnt. Scham. 6. J a n u a r . Ruth klagt, daß sie in der Scheide (sie b e n u t z t einen Ausdruck der Kindersprache) Schmerzen habe. Ich sage, daß ich keine Medikamente zur Hand habe, daß sie sich aber mit Borwasser waschen könne. Sie entblößt sich augenblicklich, öffnet die Scheide, damit der W a t t e b a u s c h eingeführt werden kann und zeigt dabei nicht das geringste Zeichen von Scham oder Verlegenheit. Beurteilung.
14. J a n u a r . Emma Gad, die Verfasserin eines „guten Tones in Beispielen", ist gestorben. Davon hat aber R u t h nichts gehört; sie hat nur aus der Zeitung von dem Todesfalle vernommen. Sie fragt: Ist es traurig, daß E m m a Gad gestorben ist ? — Die Mutter: Ach, sie h a t viel Überflüssiges geschrieben.—Ja, daß man grüßen soll, wenn man Bekannte auf der Straße trifft. — Und dann h a t t e sie so schädliche Begriffe über das, was fein und was unfein ist. — Ja, daß es nicht fein ist, den Hinteraufgang zu benutzen, wenn man heimkommt.
16. J a n u a r . Ruth hat eine A u f f ü h r u n g von „Dornröschen" gesehen. Als die Feen um Dornröschens Wiege tanzten, und man erwarten konnte, R u t h h ä t t e den Eindruck von etwas überirdisch Schönem, sagt sie: Was ist das für eine Plastik! Es ist gar nichts mit ihnen los. Das kann jeder machen. Das ist gar nicht schön. Ich könnte es besser machen. lllusionsBei derselben Gelegenheit sagt R u t h : Der Baum, in dem mangel. ¿¡ e Hexe sitzt, ist nur aus Pappe. Die Dornenhecke ist auch aus Pappe. Die Hexe sieht so groß aus, weil sie auf einem Tritt steht. Die Mutter: Als ich als Kind im Theater war, glaubte ich, das wäre eine wirkliche Hexe in einem wirkKunst (Tanz).
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liehen Baum. R u t h : Zwischendurch denke ich das auch einmal, aber es geht rasch vorüber. 5. Februar. R u t h erzählt der Mutter, daß sie in der Schule gesagt habe, bei der Moral käme es nicht darauf an, Christ zu sein; es käme nur darauf an, gut zu sein, ob man Christ sei oder nicht. Darauf sagte die Lehrerin: Es kommt doch darauf an, Christ zu sein. Die Mutter: Du weißt wohl, daß diese Beh a u p t u n g falsch ist. — Natürlich, sonst h ä t t e ich es dir gar nicht erzählt. — Wenn du das für richtig hältst, m u ß t du ja auch glauben, daß wir Verworfene seien. — So weit reicht ihr Einfluß durchaus nicht. — Im Anschluß hieran unterhalten sich die Mutter und Ruth darüber, daß manche Menschen es als ihr Ideal betrachten, Christen zu sein, während andere wieder es gerade als ihr Ideal betrachten, keine Christen zu sein. 5. Februar. Die Mutter liest Frödings Gedicht „die Guten und die E d l e n " ; R u t h findet es sehr lustig und beweist damit, daß sie es verstanden hat. 7. Februar. R u t h fragt, ob sie den Roman in der Zeitung lesen darf. Die Mutter wünscht es jedoch nicht, da sie den Roman für schlecht hält. R u t h ist sehr aufgebracht darüber und sagt: Das kann ich durchaus nicht verstehen. Als ihr einmal darüber gesprochen, daß Gustafsens Töchter nicht in die Schule gehen dürften, weil die Eltern befürchteten, sie würden dort schlecht beeinflußt, hat Vati gesagt: Man kann nicht schwimmen lernen, wenn man nicht ins Wasser kommt. So muß es doch aber hier auch sein. Wenn man nicht Gutes u n d Schlechtes liest, lernt m a n ja nie Beides unterscheiden. Warum soll m a n denn Schlechtes lesen ? — Es könnte doch sein, daß es auf deinen Geschmack verschlechternd einFig. 65: K n a b e mit wirkt. — Nein, bei mir nicht. Wenn mir Fuf3ball (11 J . 2 Mon.). einer etwas Schlechtes zeigt und sagt, das ist gut, dann sage ich: Nein, das ist es n i c h t . Das ändert meinen Geschmack nicht im geringsten. — Wenn du nun 233
W eltliche Moral.
Verständnis.
Geschmack Selbstvertrauen.
u.
deine Tochter wärest, würdest du sie dann auch ein Buch lesen lassen, das du für schlecht hältst ? — Ja, denn ich würde mir sagen, kennen lernen m u ß sie es doch. R u t h b e k o m m t also die Erlaubnis, den Anfang zu lesen. Die Mutter f r a g t : Wie gefällt es dir ? —Ich verstehe schon, was du meinst. Das Mädchen, das lieber den Grafen haben möchte als den, den sie wirklich lieb hat . . . aber so sind sie wohl, und d a n n ist es ja auch schön zu lesen, wie sie sind.
Fig. 66: Ein H a u s (11 J . 4 Mon.). Lesen.
Kritik.
Literarischer Geschmack, Kritik.
8. Februar. Wenn m a n sich über etwas tüchtig geärgert hat, braucht man nur zu lesen. Wenn man dann aufhört, ist es weg. 20. Februar. Die Klavierlehrerin fragt Ruth, ob sie noch an den Nägeln beißt. Ja, das tue ich noch. Der Arzt sagt, es ist Nervosität. Nein, das ist nicht richtig. Das ist nur eine Frage der Willensstärke. Du m u ß t nur sagen: Ich w i l l nicht mehr. Das sage ich auch jeden Tag. Aber ich k a n n nicht. 21. Februar. Jedes Buch, das man nach Dickens liest, k o m m t m i r recht dürftig vor. So urteilt R u t h bei der Lektüre von „Little Dorrit". 9. März. Ruth sieht ein Bild, das den Tanzunterricht einiger fürstlicher Kinder darstellt, und sagt: Das könnte mir schon gefallen, dort tanzen zu lernen, a n s t a t t so wie bei uns mit allen möglichen Leuten zusammenzukommen. Die M u t t e r : Aber das soll man gerade; man soll stets suchen, mit allen möglichen Menschen zusammenzukommen. Man soll niemanden gering einschätzen. — Nein, im allgemeinen nicht, nur wenn er wirklich gering ist. Ich habe gar keine Lust mit Lotte lauter Unsinn zu reden. — Aber sie werden doch nicht alle ständig Unsinn reden. — Dann reden sie über solche Sachen, die 234
nicht viel besser sind als Unsinn. Mit Ausnahme von Paula, mit der rede ich zwanzigmal lieber. Am liebsten spreche ich mit dir und mit Vati und mit Sonja. Ja, die Wahrheit muß ich schon sagen. — Sprichst du denn gar nicht mit deinen Lehrerinnen ?— Das schon, aber das wird ja keine richtige Unterhaltung, mit Ausnahme, wenn wir Religion haben. Wenn wir da etwas nicht verstehen, dann u n t e r h a l t e n wir uns richtig darüber. Das habe ich gerne. Das ist eine richtige Kinderunterhaltung. — H a b t ihr da kürzlich über etwas gesprochen ? — Ja, neulich hat die Lehrerin gesagt, daß man nicht immer auszusprechen braucht, was man d e n k t ; wenn es nicht gut ist, kann m a n auch schweigen. Da habe ich aber gesagt, daß ich meine, man solle immer sagen, was man denkt. Ich halte es für viel richtiger, wenn man immer sagt, was m a n denkt, selbst wenn es nicht gut ist. Da sagte sie: Ja, ich habe ja auch gesagt, man soll es lieb t u n . Aber sie konnte sich nicht herausreden. Sie sagte immer wieder dasselbe, und dann t a t sie, wie wenn sie Recht hätte. Ich finde, das soll m a n nicht t u n . W7enn m a n Unrecht hat, dann soll man es auch zugeben. Das würde ich tun, wenn es mir passierte. Aber dazu habe ich noch niemals Grund gehabt. 16. Marz. Es wird über ein Problem gesprochen, und die Mutter sagt ironisierend. Das werden wir hier gerade herausfinden! R u t h : Ach, ich finde so gerne etwas heraus. R u t h h a t gebadet, k o m m t zu mir und zeigt mir, daß ihre Brüste „groß" seien. Sie strahlt vor Freude. Die M u t t e r : Haben schon andere in deiner Klasse Brüste bekommen. Nein, so weit h a t es noch keine gebracht. 19. März. Vor unseren Fenstern entsteht ein großes Schadenfeuer in einem Holzlager. R u t h ist sehr ängstlich, klamm e r t sich an die Mutter und ist überherzlich. Dann sagt sie: Ob die kleine J v t t e schläft ? Ich kann es ja sehen, aber wenn J y t t e nicht schläft, das wäre doch schrecklich! Als wir später erfahren, daß nur Holzvorräte brennen, beruhigt sich R u t h : Ach, das ist ja schön, daß nichts anderes brennt. Sonst wäre es ja ein richtiges Unglück geworden! 1. April. Wir h a t t e n gestern eine kleine Gesellschaft, und heute läßt Ruth sich sprachlich Wendungen erklären, die 235
Forschungse
tf er Pubertät.
Feuer.
Wißbegier.
sie dabei gehört hat: Was heißt das, sie h a t immer Öl auf ihrer Lampe (von einem Mädchen, das seine Sachen stets in Ordnung h a t ) ; was heißt das, sie ist so exaltiert? Später fragt mich meine Frau, ob die Familie Hansen zum MoissiGastspiel gehen will. R u t h antwortet für mich: Sicher, denn früher sind sie schon einmal dagewesen, und Frau Hansen hat gesagt: wir gehen immer aufs Ganze. Psychologie. Ironie.
Oper.
Liebschaften.
.l«s
der Schule.
Ironie.
10. April. Ich werde niemals eine Dichterin, denn ich habe es alles in mir (und kann es nicht darstellen). Die Mutter h a t einen neuen Sommermantel bekommen und R u t h sagt dazu: Wie hübsch du aussiehst! Aber schade, daß es am Sommermantel liegt! 20. April. R u t h wird in das Reinhardtsche Gastspiel „Orpheus in der Unterwelt" mitgenommen. Während der Ouvertüre lacht sie mehrmals; sie muß also die humoristischen Einfälle des Komponisten verstanden haben. Im allgemeinen äußert sie: WTie geistreich dieser Mann (Reinhardt) ist! Die Mutter fragt, ob sie bemerkt habe, daß man Orpheus verboten hat sich umzusehen. R u t h : Nein, das ist mir nicht aufgefallen, aber das macht ja nichts bei der Handlung, denn sie verschwand ja in den Einzelheiten. 24. April. Ruth erzählt von ihren Mitschülerinnen: Ursel schreibt in der Stunde immer Karls Namen in ihre Hand. In ihre Hefte schreibt sie immer „Vera und Holger", „Minna und H a n s " . Bei ihrem letzten Aufsatz hat Ursel mit „ K a r l Christensen" unterschrieben, so verdreht ist sie schon. 4. Mai. Wir müßten in der Klasse alle gleich gut sein, denn so ist es schrecklich. Die Letzte verhöhnen sie, weil sie nichts kann, und die Erste beneiden sie, weil sie alles kann. Es ist nicht mehr auszuhalten. Die Mutter erzählt bei Tisch von einer Aussprache im S t u d e n t e n b u n d . Ein Student habe gesagt: „Der Bund solle Licht in jede Hütte bringen und Freude in jedem Winkel blühen lassen." Später habe ein anderer Student denselben Satz wiederholt, ihm aber eine ironische Betonung gegeben. Die M u t t e r : Ich kann eigentlich nicht verstehen, was daran so komisch war, aber es klang ungemein komisch. R u t h : Das,
236
was es so komisch machte, wird wohl gewesen sein, daß es allzurichtig war. 5. Mai. R u t h ist wieder im Theater gewesen und hat das „Abenteuer auf einer W a n d e r u n g " gesehen. Auf meine Frage, wie es gewesen sei, erhalte ich n u r eine Inhaltsangabe des Stückes. Die Mutter fragt darauf „ob sie im Theater müde gewesen sei". R u t h : Man kann nie merken, ob man müde ist, wenn man im Theater sitzt. Ich kann gar nichts merken. Ich vergesse mich vollständig, wenn der Vorhang hochgeht, und finde mich erst wieder, wenn er fällt. Eine b e k a n n t e Dame erklärte, sie ginge ins Theater, um etwas Hübsches zu sehen, hübschc Damen und Herren, die sich fein benehmen. Später fragt die Mutter R u t h : Hast du gehört, was sie vom Theaterbesuch gesagt hat ?— Und ob ich das gehört habe! —Was meinst du denn, weswegen man ins Theater g e h t . — U m sich selbst zu sehen, wie Moissi sagt (sie h a t gehört, daß Moissi sich so in einem Interview geäußert hat). Das bedeutet doch, daß man seine eigenen Gedanken und Gefühle sieht (diese Erklärung des Ausspruches hat ihr die Mutter kürzlich gegeben). „Sich selbst sehen" bedeutet natürlich nicht, daß ich ins Theater gehe, um ein kleines Mädchen mit S t u m p f n a s e und Hängezopf zu sehen. Ich verstehe schon, was das heißt, aber ich habe es noch nicht erlebt; denn wenn ich Dornröschen im Garten herumspazieren sehe, dann ist das ja sehr nett, abef d a s ist es nicht. R u t h sagt von einer Dame: Ihr Gesicht hat gar keinen Ausdruck, weil sie nie einen Eindruck von etwas hat. Die Mutter: Hast du denn nicht gesehen, sie hat ein Paar energische Augen ? Die h a t sie schon; sie kann die Milch genau im richtigen Augenblick vom Feuer nehmen, damit sie nicht überkocht, und sie kann das Essen genau so machen, wie es sein soll. Aber das ist ja alles nichts. Sie kann nicht hören, wenn ein Ton falsch ist, sie kann nicht merken, ob ein Stück gut ist. Diese Dame erzählt in der Straßenbahn, daß sie ein Auto recht vermisse und ein Haus mit Garten am Wasser. R u t h sagt später d a z u : Das war scheußlich zu hören, daß ihr so etwas die Hauptsache ist. 237
Theater.
Psychologie.
Theater.
Ästhetik.
Psychologie.
W eibliche Eitelkeit erwacht.
. 10. Mai. R u t h war mit ihrer Mutter im Theater und sieht: „ E s war einmal." Sie ist ganz bei der Sache, und als der Vorhang hochgeht, drückt sie der Mutter die Hand und s a g t : J e t z t ! Die M u t t e r : Wie war die Prinzessin doch jähzornig. R u t h : Und so ist sie auch geblieben. Als sie den Prinzen heiraten wollte, t a t sie so, als wäre sie sanft wie eine Taube, aber sie ist immer so geblieben, wie sie zuerst war. - Die M u t t e r : Aber eine wirkliche Veränderung ist doch mit ihr vorgegangen. Zuerst war sie vornehm, aber dann wollte sie in einer H ü t t e wohnen, wenn sie nur mit dem zusammen sein konnte, den sie lieb hatte. — R u t h : Das hast du nun gesehen, aber ich habe das nicht gesehen. R u t h war im Theater von der festlichen Stimmung und der Prachtentfaltung sehr ergriffen. Sie sah über das Publik u m hin und sagte: So viele Damen in Seide! . . . Ich möchte eigentlich gern anders als Rasmussen heißen. Die M u t t e r : W a r u m denn das ? Der Name kommt mir so häßlich vor. Auf dem Heimweg durch die Östergade sagt R u t h , daß sie am liebsten h i e r wohnen möchte. Hier seien alle die feinen Geschäfte, die leckersten Sachen könne man hier bekommen, und m a n sähe nie ein Dienstmädchen nach Butter und Käse laufen. 13. Mai. R u t h sagt von einer Mitschülerin: Helga ist kein feines Mädchen. Einige Tage später sagt sie jedoch: Helga ist doch ein nettes Mädchen. Die Mutter: Hast du nicht neulich gesagt, sie sei kein feines Mädchen ? Doch, aber das war nicht ihr Sinn; ihre Kleidung, ihr Geschmack sind nicht fein. R u t h soll einen Sommerhut haben, es ist aber schwierig, einen Hut zu finden, der sowohl der Mutter als auch R u t h gefällt. R u t h : W a r u m soll er denn ganz einfach sein ? W a r u m sollen keine Rosen drauf sein ? Wenn mir nun Rosen gut stehen, warum sollen denn keine dran sein ? Endlich findet sich ein einfacher weißer H u t mit einer kleinen Rose auf jeder Seite und mit einem Seidenband auf der einen Seite. R u t h ist glücklich und spiegelt sich mit kokettem, selbstgefälligem Lächeln. Dann sagt sie zur M u t t e r : Wenn du das Band nicht leiden kannst, können wir es ja abnehmen, wenn du es durchaus willst. Es blieb sitzen; die Mutter brachte es nicht über das Herz, es zu entfernen. 238
14. Mai. Ruth hat gebadet und tanzt nackt im Kinderzimmer umher, trotzdem ich anwesend bin. 15. Mai. R u t h hat sich geduscht, k o m m t in ihrem Bademantel zu mir herein und flüstert mir zu: Ich habe jetzt Haare an der Scheide (sie b e n u t z t einen Ausdruck der Kindersprache), sieh mal. Ich sehe flüchtig hin. Vorher hat sie es der Mutter erzählt. 16. Mai. Die Mutter hat Ruth stets gesagt, daß das Einfachste auch das Schönste ist. Es wird wieder einmal erörtert, als R u t h ein neues Sommerkleid erhalten soll. R u t h wendet aber ein: Es ist gar nicht sicher, daß das Einfachste auch immer das Schönste ist. Es kann aucli etwas schön sein, wenn es nicht einfach ist. Wenn das, was einem gefällt, nur schön ist, dann braucht es nicht einfach zu sein. R u t h : Ich verstehe das noch immer nicht richtig. Ist es ein Keim, der heranwächst und ein Kind wird ? Die Mutter: Ja. Nach R u t h s Auffassung hat die Mutter sich entschieden, den Vater für den Keim sorgen zu lassen. Aus einem Gespräch mit einer Freundin: Denke mal, wenn ich nun einen andern Vater gehabt hätte! Ich will natürlich keinen andern Vater haben. Die Freundin: Dann wärst d u es nicht geworden. Natürlich, denn ich stamme doch von meiner Mutter. 16. Mai. Ich habe das Tagebuch eines deutschen Mädchens bekommen, das vom 11. bis zum 14. Jahre geführt worden ist. Das hat Ruth veranlaßt, sich ebenfalls ein Tagebuch einzurichten. Es ist nicht weit gediehen und sei hier mitgeteilt: ,,14. Mai. Ich sitze auf dem Balkon und schreibe; es brennt auf meinen Nacken und ich schwitze. Oh, wie ich schwitze! Es ist fast zu warm, in so starkem Sonnenschein zu sitzen, aber sobald ich in das Zimmer gehe, friere ich. Mir geht es jetzt wie dem Lehrer, der sagte: Als Kind sei es ihm immer vorgekommen, als nähme man stets auf die Erwachsenen Rücksicht, aber jetzt h ä t t e er den Eindruck, daß man immer auf die Kinder Rücksicht nähme. Er hat es gewiß nicht sehr gut gehabt. 17. Mai. Gestern hatten wir Besuch von Großmutter. Meine Tante und meine Kusine sollten auch mitkommen, aber T a n t e war zu müde. Sie hat nämlich so viele Bücher zu über-
239
Pubertät.
Geschmack.
Ursprung.
Tagebuch.
setzen. Meine Großmutter h a t den Namen „Müsse", und so nennen wir sie alle. Müsse hat recht schlimme Beine; sie h a t t e Gicht darin. Als sie es Mutter erzählte, sah sie sehr traurig aus, aber dann beherrschte sie sich, ach, wie gut das von ihr war, denn sie hatte sicher immerzu Schmerzen in den Beinen. Im Juni bekommen wir Besuch von einem alten Mann, der 80 Jahre alt ist. Ich freue mich darauf, ihn zu sehen; seine Frau kommt auch mit, das ist schade. Als der alte Mann Geburtstag hatte, sandte Vater ihm 25 Kr., und darüber hat er sich so gefreut, daß er, der sonst nie Briefe schreibt, einen langen Brief geschrieben hat, worin er Vati vielmals dankt, und Mutter h a t gesagt, daß er ,Überraschung' in zwei Wörtern geschrieben und hie und da ein Wort vergessen hat, und das finde ich nicht nett von ihr. 19. Mai. Gestern h a t t e meine Mitschülerin Esther Geburtstag. Ich war bei ihr, und wir haben uns gut amüsiert. Wir haben Schokolade bekommen, Handball gespielt, und am Abend waren wir im Kino, weil Esthers Vater Kinodirektor ist. Alle Fremden waren so nett, und es war so hübsch. Man kann ja schon merken, daß es keine feine Gesellschaft ist, denn die meisten sprachen nicht sehr fein, aber wenn sie sonst nett und lieb sind, t u t es ja nichts. Beim Handballspielen habe ich mir den F u ß vertreten und er schwoll rasch a n ; das war kein Spaß mehr und t a t die ganze Zeit weh, und am Abend war es so schlimm, daß gar keine Rede davon sein konnte, nächsten Tag zur Schule zu gehen. Das war mir gar nicht lieb, denn ich habe gerade einen guten Tag verloren. Wir haben heute zwei ganze Stunden Handarbeiten, und wir sollten auch noch Diktat schreiben. Diese beiden Fächer habe ich gerne, aber am allerliebsten habe ich doch Turnen. Aber wenn man sich den Fuß verstaucht hat und nicht zur Schule gehen kann, muß man sich die Zeit in anderer Weise vertreiben, und da lese ich und schreibe und zeichne, aber das ist nichts für mich heute, und da dachte ich, es ist am besten, wenn ich über Esthers Geburtstag schreibe, und das habe ich getan. 4. Juni. Es ist mir eigentlich viel in der letzten Zeit passiert. Aber ich kann nun einmal am besten darüber schreiben, wenn 240
alles b e i s a m m e n ist. Ich habe angefangen zu baden. Ach, wie schön ist es doch, wieder zu baden. A m ersten Tage auf der B a d e a n s t a l t war ich so müde, daß ich mir gar nicht vorstellen konnte, daß ich die 50 m schaffte, die ich schwimmen sollte. S o n j a geht auch schon schwimmen. Sie hat gar keine Angst, und ich muß sagen, das h ä t t e ich nicht geglaubt. In diesem J a h r e sind wir auch im ,Tivoli' gewesen. E s ist so ein schönes Gefühl, unter all den bunten L a m p e n spazieren zu gehen. Und, auch ein seltsames Gefühl, als ich unter den verschiedenen L a m p e n spazieren ging, m u ß t e ich denken, daß die Menschen eigentlich auch so verschieden sind wie eine rote und eine blaue L a m p e . E s ist seltsam, daß man an so etwas denken muß, wenn man unter einer Menge b u n t e r L a m p e n spazieren geht. Gestern war ich m i t der Klasse auf A m a g e r ; es war sehr schön im Museum, wo wir eine alte holländische W o h n u n g sahen. Da waren auch alte Zeitungen aus der Zeit Friedrichs V I I . , und eine so alte Zeitung ist recht komisch, denn es könnte j a sein . . (hier bricht das T a g e b u c h ab). Aufsatz. Die K a t z e ist ein Vierfüßer. Sie frißt R a t t e n und Mäuse und ist daher ein nützliches Tier. W e n n eine K a t z e ihre B e u t e gefangen hat, frißt sie sie nicht sofort, sondern spielt erst Ball m i t ihr oder l ä ß t sie liegen. Sie hat scharfe und spitze Zähne, mit denen sie mehr beißt als k a u t . W e n n sie läuft, k a n n man sie fast nicht hören, weil sie ihre Krallen einziehen kann und sie sonst nur b r a u c h t , wenn sie k l e t t e r t oder böse wird. E i n e K a t z e kann viele verschiedene F a r b e n haben. Sie kann braun mit weißen Flecken sein, schwarz, weiß und endlich kann sie auch schwarz mit weißen Flecken sein. Sie ist ein schönes Tier, schlank und geschmeidig, wenn sie den langen Schweif hinterher schwingen läßt (hierzu Fig. 67).
Aufsatz.
23. Mai. In der Zeitung stehen einige Spalten Aphorismen von R a b i n d r a n a t h Tagore. Die M u t t e r liest sie, R u t h k o m m t dazu, und sie sprechen darüber. „ F u r c h t s a m e r Gedanke, habe keine Angst vor m i r ; ich bin D i c h t e r . " W a s meinst du, R u t h , was das heißen soll ? Ein Dichter h a t also furchtsame G e d a n k e n und nicht furchtsame Gedanken, und nun sagt er
Aphorismen.
R a s m u s s e n , Tagebuch.
16
241
zu dem furchtsamen Gedanken: Habe keine Angst vor mir; ich bin ein Dichter. Aber was macht ein Dichter mit einem furchtsamen Gedanken ? Das weiß ich nicht. Besser kann ich es nicht erklären. Die Mutter: Er behandelt ihn schön und behutsam. Ach so, er dichtet darüber. „Die Tränen der Erde sind es, die ihr Lächeln in Blüte halten." Ruth: Sie
Fig. 67: Eine Katze.
halten das Lächeln in Blüte, das soll heißen, sie achten darauf, daß das Lächeln nicht aufhört. Man kann nicht lächeln ohne Tränen . . . das heißt also, daß man nicht froh sein kann, wenn man vorher nicht traurig gewesen ist. Das habe ich übrigens schon einmal gehört, aber nicht so poetisch ausgedrückt (Ruth hat das vor drei Jahren auf einem Ausfluge gehört). „Du lächeltest und sprachst über nichts mit mir, und ich fühlte, daß ich hierauf lange gewartet hatte." R u t h : Ja, dann wird er nicht viel von ihm erwartet haben. (Hier 242
fehlt ihr das Verständnis für den erotischen Inhalt des Satzes.) „ D a s Unrecht kann keine Niederlage ertragen, wohl aber das Recht." R u t h : Wenn m a n Recht hat, ist es gleich, was geschieht. Einige Tage vorher h a t t e sie geäußert: W e n n ich einer Sache wegen beschuldigt würde, die ich nicht getan habe, ja, wenn ich ins Gefängnis käme, ich würde mir nichts daraus machen, wenn ich wüßte, ich h ä t t e Recht. „Diese kleinen Gedanken sind ein Blätterrauschen. Aber sie haben ihr freudevolles Echo in meinem Herzen." R u t h : Ja, das ist schön. Was denkst du denn, daß es heißen soll ? Es bedeutet, daß es so wenig ist, f ü r ihn aber unendlich viel bedeutet. 29. Mai. R u t h hat Ziegenpeter (Mumps) und liegt im Bett. 30. Mai. Die Mutter sagt R u t h , daß sie Sorge habe, Sonja werde das Schwimmen nicht erlernen, weil sie im Wasser F u r c h t bekomme. R u t h : Ach nein, F u r c h t b e k o m m t sie nicht, denn die Lehrerin m a c h t es mit ihr ja so wie mit mir. Sie sagt: So ein mutiges Mädchen! Und dann werde ich so mutig, und dann t a u c h t sie mich mehrere Male unter. Dann wird m a n vergnügt, und das macht ja auch nichts, denn es dauert ja n u r einen Augenblick. 5. Juni. Ruth sagt am Abend beim Schlafengehen der Mutter, daß sie sie sehr lieb habe. Die Mutter: Ich kann aber gar nicht immer merken, daß du mich so lieb h a s t ! R u t h : Gehe in den Laden und frage nach dem, was du im Schaufenster nicht siehst (ein Zitat aus einem Schaufenster). 6. Juni. Ruth h a t einige Kindheitserinnerungen vorlesen gehört, in denen der Schreiber berichtet, daß Widerwärtigkeiten, ungerechte Behandlung und Schikanen sehr starken Eindruck auf ihn gemacht hätten. R u t h : Ach, wenn m a n das so nimmt, dann könnte man ja k a u m noch leben. Meine Mitschülerinnen können mich ja nicht leiden, und wenn ich mich um alles das k ü m m e r n wollte, was sie sagten, m ü ß t e ich immer unglücklich sein. Sie sagen, d a ß ich ein Klatschmaul und ein Anschmierer bin, und das ist nicht wahr. Ich habe einmal geklatscht, und das war nicht richtig. Das habe ich nie wieder getan, aber immer wieder reden sie davon. Und wenn sie sagen, ich schmiere mich an, und es ist nicht 16*
243
Krank. Psychologie.
Schlagfertig.
Psychologie.
wahr, so kann man ja nichts anderes t u n als zu denken, sie sind dumm, und sich nicht d a r u m zu kümmern. Gute Beob11. Juni. Es ist merkwürdig mit Metas Schwester. Meta achtung. h a t ja Läuse, ist schlecht gekleidet, unordentlich und niemals richtig gewaschen. Aber ihre Schwester ist so niedlich, so n e t t gekleidet, so hübsch zurechtgemacht, daß sie wie das niedlichste kleine Mädchen aussieht. Man kann gar nicht glauben, daß sie aus demselben Hause kommen. Das heißt, wenn m a n das Gesicht genau ansieht, dann sieht man es doch. 16. Juni. Wir haben einige Freunde zum Abendessen gePsychologie. h a b t . Am Tage danach sagt R u t h zur Mutter: Wie du Frau Hansen u m a r m t und geküßt h a s t ! Und vor Frau Nielsen hast du dich so verneigt, und sie h a t dir auf die Schulter geklopft! Ich habe nicht geglaubt, daß es so zwischen Erwachsenen zugeht, außer wenn ein Sohn von Amerika zurückkommt oder so. Na, aber die Männer, die machen das ruhiger. Wie hast du dich denn amüsiert ? Ich mich amüsiert ? Ich habe zugehört, was ihr euch erzählt habt. Ironisch: Ich bin ja auch ein großer Politiker (es war viel von der augenblicklichen politischen Lage die Rede). Als ihr euch immerzu über Politik unterhalten habt, dachte ich bei m i r : Ob ich wohl auch einmal dahin kommen werde, so über Politik zu reden. Aber mit wem sollte ich dann wohl reden ? Vielleicht mit Erna ? W a r u m denn mit der ? Weil ich glaube, daß sie wohl nie auch nur eine Sekunde über so etwas nachdenken wird. Ursprung.
Ferien.
Ironie.
19. Juni. Wenn eine Frau zufällig, kurz, nachdem sie sich mit einem Manne verheiratet hat, ein Kind bekommt, so kann es gut sein, daß das Kind dem Vater ähnelt, und das sind doch zwei Menschen, die gar nicht miteinander zu t u n haben. 4. Juli. R u t h hat ein Rad b e k o m m e n ; sie k a n n sofort darauf fahren, da sie im vorigen Jahre auf Axels Rad geübt hat. Das Rad wird mit in die Sommerfrische genommen. Um sich ordentlich zu üben, stellt R u t h je einen Schuh auf die Seiten eines Liegestuhles u n d fährt zwischen Schuh und Stuhl hindurch, ohne anzustoßen. 10. Juli. Rosa hat gesagt, das Wasser sei heute so salzig, daß es ordentlich gut trage. R u t h ironisiert das: J a , es war so salzig, als ich hineinhüpfte, ging ich auf der Oberfläche. 244
13. Juli. R u t h hat Sonja schwimmen gelehrt. Strecke die Lehrerin. Arme aus und die Beine nach hinten und dann liege stille und gleite so lange du kannst. Dann mache wieder einen Stoß und bleibe so bei. Sonja lernte schnell mit langen Stößen schwimmen, natürlich hat sie lange geübt. R u t h h a t eine A u f n a h m e von Sonja, wie sie gerade einige Kunst. Mühe hat, ein Hemd anzuziehen, und sagt: Sonja steht so Erinnerung. da wie E v a in der Gruppe ,,das verlorene Paradies". 20. Juli. Die Mutter und R u t h radeln von Skabohus nach Kjerteminde. Bei einem Strandrestaurant treffen sie eine Gesellschaft von Lehrerinnen. R u t h erzählt der Mutter, daß eine der Lehrerinnen ein Auge habe und zuerst ö zugekniffen ö die Mutter, dann R u t h forschend angesehen habe. — Die Mutter: Na, das sind eben Lehrerinnen, die Vati kennen. — W a r u m meinst du, daß es Lehrerinnen sind ?—Das sieht m a n doch. — Da hat sie sicher gedacht: Ob sie ihre Geographie kann ? Die Mutter doch sicher nicht! 20. Juli. R u t h und ein zwölfjähriger Junge sollten um Schamgefühl. die Wette schwimmen. Die M u t t e r : Nimm deinen Badeanzug mit. — Ach nein, es schwimmt sich so schlecht mit dem Badeanzug. — Sie gehen beide zum Strande. — Die Mutter: Zieh dich hier in der Höhle aus. — Hier draußen ist es viel schöner. — R u t h zieht sich aus und geht mit dem Jungen zusammen ins Wasser, ohne Anzeichen, daß sie von seiner Anwesenheit unangenehm berührt ist. Sie schwimmen u m die Wette, schlagen Purzelb ä u m e u. a. m. (In Dänemark ist allerdings das Nacktbaden viel verbreiteter als in Deutschland.) 25. Juli. Ich bin mit meiner Frau und R u t h zusammen Schamgefühl. zum Baden gegangen. Ich entferne mich ein gutes Stück, da ich ohne Badeanzug Freiübungen machen will. R u t h kommt mir nach. Ich sage ihr, daß sie umkehren solle, da ich ohne Anzug Freiübungen machen will. Sie sagt zwar: „ E s m a c h t doch nichts, daß ich hier b i n , " geht aber doch zurück. Als nach einer Weile die Mutter sagt, daß sie zu mir hingehen wolle, warnt R u t h : Es nützt dir nichts. Vati will ohne Badeanzug turnen. 26. Juli. Die Mutter h a t R u t h oft gefragt, wen von ihren Logik. Spielgefährten, den vier Brüdern Petersen, sie am besten 245
leiden könne. Sie bekam stets die Antwort, daß sie sie alle gleich gut leiden könne. Einmal fragt R u t h aber zurück: Wen k a n n s t du denn am besten leiden ? — Max und Erich. — J a , siehst du, wenn d u zwei von ihnen am besten leiden kannst, dann ist es doch nicht so schlimm, wenn ich vier gut leiden kann. Logik. 28. Juli. Ein Herr fragt R u t h : Kannst du mit Viktor um die W e t t e schwimmen ? Ja, das k a n n ich, aber Viktor kommt zuerst an. Sexuell. 29. Juli. R u t h fragt mich in Gegenwart vieler Personen: Vati, ich habe zwei Tiere gesehen, die zusammenhingen. W a s kann denn das sein ? Sie sahen aus wie Heuschrecken, waren aber braun. R u t h , Sonja und ihre vier Freunde, die Gebrüder Petersen, baden zusammen ohne Radeanzug. Der älteste Junge ist 14 Jahre alt, aber verhältnismäßig unentwickelt. 2. August. R u t h liegt eines Abends bei ihrer Mutter und ist, wie dann oft, sehr gesprächig. Sie erzählt: Ach, ich habe dich so lieb, ich habe euch alle so lieb. Wie soll man das nur bekämpfen ? Wenn ich einmal einen Mann lieben werde, werde ich es gar nicht aushalten können. Ich muß mir vor Freude das Leben nehmen. Neulich habe ich geträumt, daß ich neben einem Manne ging. E r h a t t e lockiges Haar, sonst weiß ich aber nicht, wie er aussah. Aber ich h a t t e so ein merkwürdiges Gefühl. . . . Das habe ich schon einmal get r ä u m t . Das war im Winter. E r war wie ein Geist. Aber ich h a t t e ihn lieb und habe f u r c h t b a r geweint und h a t t e doch solchen Trost dabei. Wenn ich einmal einen Mann lieben werde, werde ich den ganzen Abend über ihn reden, über alle seine Tugenden. Ästhetik.
2. August. Die Mutter m a c h t mit ihren beiden Mädchen eine R a d f a h r t nach Nyborg und Holckenhavn. R u t h : Wie schön es in Nyborg ist, aber ich glaube doch nicht, daß ich hier wohnen möchte. W a r u m denn nicht ? Ich glaube, daß m a n in Kopenhagen doch mit mehr Menschen zusammenkommen kann, die einen besseren Verstand haben. In Holckenh a v n dagegen meinte R u t h , daß es ihr wohl gefallen könnte, unter solchen Verhältnissen auf einem Herrensitz zu wohnen. —
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In der Kirche h a t t e sie starkes Interesse für die Bildschnitzerarbeiten. 3. August. Durch einen bedauerlichen Zufall fällt R u t h eine Zeitschrift in die Hand, in der eines meiner Bücher besprochen ist, in dem ich Aufzeichnungen aus diesem Tagebuch verwendet habe. Als sie liest, daß der Verfasser ihre und Sonjas Bemerkungen als „tiefsinnig" erklärt, fragt sie: Ist er sonst ein vernünftiger Mann ? Wenn ich das jemals t u n würde, würde ich es dir nachher sagen. Da kannst du ganz ruhig sein. Sonst scheint es mir aber ein guter Artikel zu sein, denn er h a t das Buch richtig verstanden bis auf das eine {oben erwähnte), Er versteht, daß die Eltern ihre Kinder kennenlernen sollen, indem sie auf das achten, was sie sagen, d a m i t sie sie besser erziehen können. 4. August. R u t h k o m m t dazu, wie die Mutter in einer Kunstgeschichte Michelangelos „Madonna mit Jesus" bet r a c h t e t ; sie will ihr vorlesen, was über das Bild geschrieben ist, aber R u t h wehrt a b : Nein, jetzt bin ich nur ein Räuber mit einem Dolch im Gürtel. Laß das bis zum Winter. R u t h wird gerufen und a n t w o r t e t : Nein, ich kann nicht kommen, denn wir spielen. Nein, wir spielen nicht. Es ist viel ernster: Hier ist Bürgerkrieg. 12. August. R u t h ist 144 cm groß. 25. August. R u t h k o m m t von der Schwimmprüfung und ist von ihrer Abteilung als erste zu einem Wettbewerb bes t i m m t worden. Sie ist ganz von Energie und Interesse erfüllt, liest und spielt nicht, denkt nur an das Schwimmen. 2. September. R u t h h a t wieder begonnen, Klavier zu spielen und erledigt ihre Aufgaben von selbst. Sie stellt sich leicht und vollkommen auf das ein, was sie soll. Das Schwimmen wird fortgesetzt; sie h a t das Zeugnis über die kleine Schwimmprüfung erhalten und ist darauf stolz wie ein siegreicher Boxer. 10. September. R u t h sagt: Sonja s t a m m t eigentlich auch aus Fünen. Die Mutter: W a s meinst du damit ? R u t h weicht aus und antwortet mit ganz anderen Dingen, bis sie endlich s a g t : Hast du nicht gemerkt, daß ich die Frage lieber umgehen möchte ? 247
Buchbesprechung.
Spiel.
Spiel und Scherz. Größe. Schwimmen.
Klavier.
Ursprung.
Psychologie.
Nachdenken.
Liebe.
{{. September. Die Mutter spricht mit Ruth über zwei Mitschülerinnen, die nicht immer ein angenehmes Wesen haben. Zu der einen hat die Lehrerin gesagt: „Man sollte es nicht für möglich halten, daß du aus einem gebildeten Hause stammst." Die Mutter fragt nun Ruth, wie man es sich erklären könne, daß diese Mädchen nicht immer einen guten Eindruck machen, da doch die Mutter eine so ausgezeichnete Frau sei. Ruth: Vielleicht sind sie dumm, nicht allgemein, aber hierin. Jetzt spricht die Mutter eine so starke Sprache mit heftigen Ausdrücken, und so ist es das einzige, das sie dürfen, aber auf das andere achten sie gar nicht. Ein bekannter Herr pflegt oft zu sagen: Das kommt von selbst. Die Mutter spricht darüber mit Ruth: Das glaube ich nicht. Es kommt nichts von selbst. — Doch, es gibt Dinge, die von selbst kommen. — Kannst du mir denn solche nennen ? — Ja, solch eine kleine Blume, die zwischen den Steinen auf der Straße wächst und blüht und welkt. Keine hat sich um sie gekümmert. Beinahe hätte ich auch mich selbst genannt, aber dann hättest du ja gleich gesagt, daß du mir ja zu essen gibst und mich pflegst und behütest. Die Mutter erzählt Ruth, daß sie einmal zu einer Dame gesagt habe: Wenn mich jemand lieb hat, so soll er mich lieb haben, wie ich auch bin. Darauf habe die Dame geantwortet: Nein, wenn jemand mich lieb hat, so t u t er es gerade, weil ich so bin, wie ich bin. Ruth: Das war klug gesagt von der Dame. Wenn ich meine Mitschülerinnen gerne habe, so ist es gerade, weil sie so sind, wie sie sind und nicht wie die andern. Und wenn ich eine Lehrerin gerne habe, so tue ich es, weil sie gerecht und nicht ungerecht ist. So ist es mit allen Menschen, nur nicht mit Vater, Mutter und Schwester. Die habe ich lieb, wie sie auch sind. 11. September. Die Mutter erzählt Ruth einige Repliken aus „Hamlet." Der König will Hamlet nach England senden, um ihn vom Hofe zu entfernen, sagt aber, es geschehe zu seinem eigenen Wohle. Hamlet: Nach England. König: Ja, Hamlet. Hamlet: Gut.
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König: So ist es, wenn du unsere Absicht wüßtest. Hamlet: Ich sehe einen Cherub, der sie sieht. Ruth: Das war gut geantwortet. Denn da sind so viele Dinge; da ist eine gute Absicht, und da ist eine böse Absicht. Er will aber nicht sagen, daß er sie selbst sieht, und so sagt er, da ist ein Engel, der sie sieht. 15. September. Ruth sieht im Zoo eine Otter mit genau wiederholten, gleichen Bewegungen im Becken herumschwimmen und sagt: Das ist ebenso wie bei dem Gefangenen in einem Buch von Dickens. Er zählt mit Schritten, wie lang sein Gefängnis ist, und er zählt, wie breit sein Gefängnis ist. Später sagt Ruth beim Anblick des Königsadlers: Kannst du sehen, was für einen verwilderten Blick er hat. Er sieht aus, wie wenn er sich geradezu danach sehnt, hinauszukommen.
Analogie.
17. September. Eine Dame fand, daß Gedenksteine für so viele errichtet wären, die keine besondere Bedeutung hätten, und vermißte einen Gedenkstein für den Grönlandforscher Hans Egede. Da die grönländische Ausstellung vorbereitet wurde, teilte sie ihren Wunsch dem Leiter mit: Er antwortete ihr nicht, aber auf der Ausstellung waren viele Dinge, die an Hans Egede erinnerten. Als Ruth das hörte, sagt sie: Dann haben Sie ja d o r t die Antwort bekommen. Ja, sagt die Dame, du tröstest mich, Ruth, und zeigst mir, daß Gott mir in d i e s e r Weise geantwortet hat. Nachdem die Dame gegangen ist, sagt Ruth zur Mutter: Sie hat mich natürlich mißverstanden, denn ich meinte, daß der M a n n ihr geantwortet hat, und daß diese Antwort immer noch besser ist, als wenn er geschrieben und nachher nichts getan hätte.
Religion und Realismus.
24. September. Sonja sagt zu Ruth: Ich habe dich so lieb, daß ich es dir gar nicht sagen kann. Ruth: Ich habe dich auch lieb. Aber ich kann es nicht so gut ausdrücken wie du. 29. September. Was ich am Tage erlebe, sehe ich am Abend in Bildern. Wenn ich am Tage schwimme, sehe ich am Abend Wasser; wenn ich im Walde Räuber gespielt habe, sehe ich geheime Wege; und wenn ich etwas unangenehmes erlebt habe, wie zum Beispiel damals, als die Dame von der Straßenbahn fiel, dann sehe ich das und bekomme Angst. 249
Ironie.
Psychologie.
Liebschaften.
Sicherheit.
Pubertät.
Liebe.
Zufall.
Lektüre.
29. September. Ruth erzählt: Ich bin mit Mitschülerinnen im Leseraum gewesen. Die „Liebsten" waren auch da. Die haben über uns gegrinst. Die Mutter: „Liebste", wer sind denn die ? Das sind Jungen aus 3b. Neulich war ein Junge da, der fragte Hertha, ob sie nicht Olga fragen wollte, ob sie seine Liebste sein wollte. In der Pause kam er dann grinsend zu ihr hin und Olga sagte: Ja, ich will. Was heißt denn das, seine Liebste sein ? Ach, dann bringen sie einander nach Hause oder treffen einander nachmittags im Leseraum, und da sitzen sie dann und grinsen über uns. Die brauchen einander gar nicht gerne zu haben, das brauchst du nicht zu denken. Die Jungen grinsen richtig blöde; die Mädchen schämen sich ja etwas, aber manchmal grinsen sie auch so. Denke dir mal an, Lotte hat einen Liebsten! Sollte man das für möglich halten! Aber warum wollte denn der Junge gerade Olga zur Liebsten haben ? Ach, sie sieht ja hübsch aus und hat eine Golfjacke, beinahe so lang wie das Kleid. Eigentlich soll man ja einander gerne haben. Das muß aber dann zufällig kommen und nicht ein ganz bestimmter, und auch keiner von der 3b. 3. Oktober. Rutli bittet, als sie ins Bett gegangen ist: Mutter, kann ich jetzt einen beruhigenden Kuß bekommen ? Nachdem sie ihn erhalten hat : Ach, das war schön . . . beruhigend und besänftigend. 5. Oktober. Ruth liegt auf einem Stuhl, zieht das Hemd hoch, besieht ihre Pubes und sagt: Bin ich vielleicht keine Dame ? Ich weiß nicht, was ihr meint. 8. Oktober. Die Mutter sagt: Seine Kinder hat man immer lieber als seine Eltern. Ruth: Ich glaube nicht, daß ich dahin kommen werde. — Das kannst du jetzt noch nicht verstehen. — Ja, ihr werdet natürlich allmählich langweiliger. 9. Oktober. Ruth kommt vom Sport zurück und berichtet: Axel hat mich nach Hause gebracht. Er kam gerade von der Handelsschule. War das nicht nett ? — Ich konnte nur zugeben, daß es ein ungewöhnlich günstiger Zufall war. 16. Oktober. Ruth hat sich gestern den Fuß verstaucht, als sie von einem Stein heruntersprang. Vielleicht ist auch das Wadenbein gebrochen. Sie liegt im Bett und liest Dickens. 250
Die Mutter f r a g t : Kannst du nun den Unterschied zwischen dem „Familienjournal" und Dickens merken ? Ruth, schelmisch: Ja, das Familienjournal ist besser. Merkst du nun, wenn du das Familienjournal liest, was ich meine, wenn ich sage, es ist schlecht ? Das kann ich durchaus merken. 30. Oktober. R u t h wird gebadet, und ich werde geholt, u m zu sehen, wie stark ihre Brüste geworden sind. Sie zeigt sie mir, und ich gebe meine Verwunderung zu erkennen. Danach zeigt sie ihre Schamhaare und sagt: Sieh mal! Aber das zeigt m a n eigentlich nur u n t e r Frauen. R u t h ist für ihr Alter merkwürdig stark entwickelt. Die Mutter erzählt Ruth von Tagores Schauspiel „Das P o s t a m t " u. a., daß alle Personen dazu beitragen, daß das Kind an die Wirklichkeit aller seiner Einfälle glaubt, zum Beispiel auch daran, daß er einen Brief vom König bekommt. R u t h : Das ist aber nicht recht. — Ja, aber so starb er glücklich. — Es ist aber doch nicht recht. 30. Oktober. R u t h s Fuß hat sich so weit gebessert, daß sie heute einen kleinen Spaziergang machen kann. Sie tritt aber doch noch recht vorsichtig auf. 3. November. Es wird davon gesprochen, daß die Mutter den Fackelzug für Georg Brandes mitmachen soll. Sie sagt: Georg Brandes ist der einzige Mensch, bei dem ich mir vorstellen kann, daß ich ihm einen Fackelzug bringe. R u t h sieht sie vorwurfsvoll an und sagt: Und Vati ? 4. November. Am Abend nach dem Fackelzug wurde mir erzählt, daß ein zwölfjähriger Junge anläßlich Ruths Kritik an dem Andersenschen Märchen von den drei Hunden gesagt h a b e : „Sie h a t keine P h a n t a s i e . " Der Erzähler fügt hinzu: „ U n d die drei Schläge folgen ja auch so schnell aufeinander, daß der erste Hund keine Zeit h a t zu kommen. Ich versuche zu erklären, daß bei R u t h kein Mangel an Phantasie vorliegt, kann aber mit meiner Auffassung nicht durchdringen. Heute erzählt die Mutter R u t h die Bemerkung des Jungen. Sie sagt dazu: Ich h a t t e ja gerade Phantasie! E r denkt nicht daran, daß der erste Hund ja kommen muß, sobald man den ersten Schlag getan hat. Das ist ja das merkwürdige dabei. Daß die Schläge so schnell aufeinander folgen, ist ja Unsinn.
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Pubertät.
Moral.
Krankheit.
Ideal.
Psychologie.
Wenn man einmal geschlagen hat, k o m m t ja der erste Hund in derselben Sekunde. Das ist ja gerade die Phantasie (das zu sehen). Wenn man einmal schlägt, k o m m t der erste H u n d ; wenn man zweimal schlägt, k o m m t der zweite H u n d ; schlägt m a n dreimal (2 und 1 ist 3), so k o m m t der dritte Hund. Natürlich h a t Andersen Phantasie gehabt, als er das schrieb, aber er hat nicht daran gedacht, daß es nicht richtig ist. R u t h hat das Phänomen auch nicht exakt erfaßt. Der Unterschied im Herbeirufen der Hunde besteht lediglich in der A n z a h l der Schläge. Werden also drei Schläge gegeben, so müssen die drei Hunde kurz hintereinander erscheinen. Aber R u t h s Erklärung zeigt ja, daß ich Recht bei meiner Behauptung hatte, daß sie bei ihrer Kritik Phantasie bewies. Verständnis.
5. November. Die Mutter erzählt R u t h anläßlich des Fackelzuges einiges über Georg Brandes und sagt etwa, daß er viele Menschen zu ganz anderem Denken gebracht habe. Vor seiner Zeit waren die Menschen hier im Lande religiös, er hat aber gezeigt, daß das Leben hier auf der Erde etwas wertvolles ist und nicht unter Zuständen nach dem Tode leiden soll. Nach Georg Brandes Wirken arteilen und fühlen die Menschen aus einer ganz anderen Auffassung heraus. R u t h : E r h a t also die Menschen verändert.
Charakteristik.
7. November. Als ich mich am Morgen beim Ankleiden beeile, sagt R u t h : Es ist so komisch zu sehen, wie Vati sich am Morgen immer beeilt. So ein kleiner, dicklicher, älterer, gebildeter Herr, der so h e r u m f u h r w e r k t und sich beeilt. 13. November. Die Mutter liest R u t h Axel Juels Gedicht „Die heiligen drei Könige" vor und fügt hinzu, daß er nicht religiös ist. R u t h : Dann ist es also nicht Gott, den er meint, sondern er braucht, das, um anzudeuten, was f ü r ihn das Höchste ist. (Das Gedicht l a u t e t : Denn das sollten die Menschen lernen, was zu tiefst königliche Ehre ist; eine Krippe kann ein Altar sein, und einen Gott kann m a n in Lumpen gehüllt finden.)
Verständnis.
Fehlendes Verständnis.
20. November. Die Mutter sieht mit Sonja und R u t h eine Operette. Die darin vorkommenden Andeutungen in sexueller Richtung versteht R u t h nicht. W e n n die „ H e l d i n " etwa dem 252
Kapitän vorsingt: „ I c h versichere auf Ehre, daß ich nicht maskulin b i n " , so versteht R u t h das so, daß sie keine „Maske" auf hat, also nicht verkleidet ist. Die Mutter erklärt: Es bedeutet, d a ß sie kein Mann ist, sondern eine Dame. Auch jetzt noch h a t R u t h kein Verständnis für die sexuelle Nebenbedeutung, und ebenso ergeht es ihr mit den übrigen Andeutungen. 21. November. R u t h hört, wie eine Dame sagt, man müsse Kindern keine langen Erklärungen geben, sondern sie sich selbst überlassen. Dazu sagt sie: Vati und Mutti antworten mir, und darüber bin ich froh. Die M u t t e r : Ich glaube auch k a u m , d a ß man uns nachsagen kann, wir plagen euch mit langen u n d umständlichen Erklärungen. Aber vielleicht ist unsere A n t w o r t gelegentlich einmal zu weitläufig.— Das können sie ja gar nicht sein, denn man n i m m t ja nur das aus der Antwort, was man versteht. Von dem Rest hat man ja sowieso nichts. 23. November. R u t h b e k o m m t jetzt die Backenzähne; sie ist mürrisch, schwierig zu behandeln, weniger lustig als sonst, steht in ihrer Entwicklung etwas still. Ihre Interessen haben sich etwas v e r ä n d e r t : Sie spricht von Frisuren und Kleidern, was sie früher nicht nennenswert beschäftigt hat. Sie ist auch etwas geschmacklos geworden. Sie beschäftigt sich stark mit ihren wachsenden Brüsten, die „ h ü p f e n " , wenn sie tanzt. Dann erzählt sie T r ä u m e : Ein Mann hat mich g e k ü ß t ; das war über alle Grenzen schön. Heute habe ich geträumt, daß ich verheiratet war, aber einen andern liebte. W a r u m t r ä u m t m a n so etwas immerzu ? 2. Dezember. R u t h hat gebadet und kommt nackt, nur mit Schuhen bekleidet, in mein Zimmer und t a n z t auf dem Teppich! Durch eine leichte Geste lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die Schamhaare. Ich bemerke ablenkend, daß sie zwei Schönheitsfehler in der H a u t habe. Zu ihrer Mutter sagt sie: H a s t du nicht das Gefühl, ein junges Mädchen (kein Kind mehr) zu baden ?
253
Psychologie.
Pubertät.
Pubertät.
Das dreizehnte J a h r .
Phantasie.
Pubertät.
Psychologie.
Zeugnis.
Liebschaft.
Reichtum.
3. Dezember 1921. Ruth vollendet das 12. Jahr. Sie ist 149,5 cm groß. Sie ist den ganzen Tag in strahlender Laune. Am nächsten Tage ist sie müde. 10. Dezember. Ruth soll gebadet werden, war schon ausgekleidet, hatte aber den Bademantel um. Als die Mutter mit dem Badewasser ins Zimmer kommt, liegt Ruth zu einer Kugel zusammengerollt unter dem Mantel und sagt: Ich bin ein Veilchen im Winter; aber jetzt kommt der Frühling, da springe ich auf. Im selben Augenblick erhebt sie sich zu voller Größe und wirft den Bademantel beiseite. Darf ich noch einmal aufspringen ? Nein, jetzt sollst du baden. Ach, jetzt werde ich erwachsen, und da darf ich das nie mehr tun! Und wenn es nur das wäre! Na, dann springe noch einmal auf! 12. Dezember. Ruths Freundin, die etwas jünger ist als sie, hat ihr geheimnisvoll und glückstrahlend zugeflüstert: Jetzt werden meine Brüste auch hart. 17. Dezember. Ruth hat in einem Geschichtsbuch gelesen, daß Bismarck klug und rücksichtslos gewesen sei. Sie sagt dazu: Das kann ich nicht verstehen, wie man klug und rücksichtslos gleichzeitig sein kann. Wenn man rücksichtslos ist, ist man doch nicht klug. Ruth hat auf ihrem Zeugnis neun „sehr gut" und „gut", ist aber betroffen, daß Sonjas Zeugnis noch ein „sehr gut" mehr enthält. Sie sagt aber nichts. 21. Dezember. Ruth erzählt von einem 15jährigen Jungen, der mit einem 14jährigen Mädchen „verlobt" sei. Die Mutter: Das scheint mir doch etwas früh zu sein. — Ruth: Ich las einmal, daß Martin Luther in eine Familie kam, wo ein Junge und ein Mädchen einander mit Liebe im Blicke ansahen. Die Hausfrau hatte die Bildung, nicht über diese Liebe zu lachen, wenn sie auch zwischen Kindern war. — Es scheint mir aber trotzdem, daß dies hier recht jung ist. — Nein, das ist alt; das stammt aus Luthers Zeiten. 22. Dezember. Ruth hat jetzt viel übrig für Reichtum. Sie erzählt von einer Mitschülerin, die einen Pelzmantel zu 254
Weihnachten bekommen hat. Daneben hätten 50 Kr. gelegen, um Leckereien für die Mutter zu kaufen. Sie ist überwältigt davon. Ruth hat jetzt eine Periode weniger guten Geschmackes. Betragen. Auch in der Schule ist ihr Betragen nicht mehr ganz zuverlässig. 24. Dezember. Ruth erzählt, daß die Lehrerin gesagt habe: Aus der Jetzt habe ich mein ganzes Bücherregal durchgesucht, um euch Schule.
Fig. 68: Dame mit Kinderwagen (12 J . 1 Mon.).
etwas aus Grönland vorlesen zu können, und das Einzige, was ich jetzt als Gegenleistung verlange, ist, daß ihr ruhig seid. Und d a s wollten wir nun gerade nicht. Die Mutter: Das ist aber tragisch. Ja, sowohl für sie als für u n s . Sie hat aber kein Geschick, das in ihrem Regal zu finden, was uns Spaß macht. 25. Dezember. Ruth tut, als sei sie die Mutter, und sagt zu Sonja: Jetzt mußt du aber wirklich artig sein, und wenn 255
Ironie.
Eitelkeit.
Selbstbeobachtung u. Ironie.
Langeweile.
Pubertät.
Ironischer Spott.
Hinterlist.
Ideal.
du zu etwas besondere Lust hast, so darfst du das nicht t u n . Das m u ß t du endlich begreifen. 27. Dezember. Ruth hat sich „Silberdraht" vom Weihn a c h t s b a u m u m die Stirne und um die Knöchel gewunden und sich einen weißen Schal umgelegt. In diesem Kostüm t a n z t sie einen mimischen Tanz mit reichlich vielen Abstechern zum Spiegel. Sie ist augenscheinlich jetzt sehr stark mit ihrem Äußeren beschäftigt. 29. Dezember. Ruth hört ein Gespräch, das nicht für sie bestimmt ist, mit an und sagt: Ich verstehe es, und ich weiß, daß ich es verstehe. Das soll dir aber nicht leid t u n , denn wenn ich weiß, daß ich es weiß, kann es nie so schlimm werden. W a s ich da sage, wird immer verwickelter. R u t h sagt: Ich habe so furchtbare Langeweile, dabei bückt sie sich bis tief unter den Tisch, schleppt die ausgestreckten Beine lang hinterher und k o m m t auf der andern Seite des Tisches wieder zum Vorschein. Es ist sehr selten, daß sie Langeweile erkennen läßt. 2. Januar 1922. Ruth steht nackt vor mir, zeigt auf ihre „ P u b e s " und sagt: Bin ich nun nicht bald ein junges Weib ? 8. J a n u a r . Sonja h a t sich den Arm verletzt und f ü h l t sich dabei sehr wichtig. Als R u t h sagt, daß es wohl doch keine Sehnenzerrung zu sein scheint, wird sie sehr böse. R u t h sagt: Aber du m u ß t dich doch freuen, wenn es keine Sehnenzerrung ist. Im übrigen kannst du sicher sein, daß ich das Wort kenne: Ehre, dem Ehre gebührt. Sonja hört, daß sie Schlittschuhlaufen darf, sobald ihr Arm wieder gesund ist. Plötzlich wird er gesund; Sonja kann jede Bewegung ausführen und zeigt mir strahlend, daß sie ihn rund herum schwenken kann. Die Mutter sagt zu R u t h : Sie m u ß aber geglaubt haben, daß ihr Arm sehr k r a n k sei, denn sonst kann ein Kind nicht so bekümmert aussehen. R u t h : Oh, das kann sie doch; das habe ich oft getan. Das kann ich von dir nicht glauben. Das sollst du auch nicht; aber deshalb kann es doch wahr sein. 1 5 . J a n u a r . Die Lehrerin hat zu R u t h gesagt: Du sollst Paula nicht zu deinem Ideal machen! Als R u t h das erzählt,
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fügt sie h i n z u : W i e wenn das e t w a s ist, das sie b e s t i m m t , oder etwas, das ich selbst b e s t i m m e n k a n n . 'Zeichnen. 2 4 . J a n u a r . R u t h h a t ein M ä d c h e n gezeichnet F i g . 6 9 , I m H e r b s t sagte R u t h e i n m a l zu ihrer M u t t e r : Du sagst Psychologie. n i e m a l s selbst etwas, das ist m e r k w ü r d i g . A b e r du v e r s t e h s t s o gut, d a ß du d a d u r c h n o c h m e r k w ü r d i g e r wirst. 16. F e b r u a r . R u t h ist in dieser Pubertät. Z e i t ungewöhnlich r e i z b a r ; sie sagt z. B . : n i c h t s m a c h t mir m e h r F r e u d e . V e r m u t l i c h steht die erste M e n s t r u a tion bevor. 2. März. S o n j a singt — wie so oft Psychologie. ein t r a u r i g e s K i r c h e n l i e d . Die — "Wei M u t t e r sagt zu R u t h : Das ist j a Fig. 69 : Ein Mädchen n i c h t a u s z u h a l t e n . I c h werde einige (12 J . 2 Mon.). f l o t t e Volkslieder m i t ihr singen. R u t h : D a s m a c h t g a r n i c h t s aus. Sie wird auch die t r a u r i g singen. 3. März. I c h zeige R u t h einige schlechte B i l d e r in der Zei- Charaktet u n g von W e r k e n aus der K u n s t a u s s t e l l u n g . Sie sagt von dem ristik. K o p f eines j u n g e n M ä d c h e n s , d a ß er schön sei. Das B i l d ist v o n Glob. E s e r i n n e r t an das, was er sonst m a l t . E s ist so zart. 5. März. R u t h erkundigt sich, wovon ein V o r t r a g im S t u - Moral. d e n t e n k l u b g e h a n d e l t h a b e . Die M u t t e r b e r i c h t e t , d a ß m a n ü b e r den „ b l i n d e n G e h o r s a m " (im Heeresdienst) gesprochen h a b e . B l i n d e r G e h o r s a m , was ist das ? Das b e d e u t e t , d a ß m a n willig und ohne W i d e r s p r u c h t u n soll, was ein a n d e r e r s a g t ; das k a n n j a sehr g u t sein, a b e r es k o m m t n a t ü r l i c h d a r a u f an, was er befiehlt, sonst k a n n es j a schrecklich werden. 8. M ä r z . S o n j a h a t W ü r m e r u n d soll W u r m k u c h e n be- Selbstironie. kommen. R u t h : I c h will a u c h W u r m k u c h e n h a b e n . Die M u t t e r : D u h a s t j a keine W ü r m e r . I h r k ö n n t n i c h t i m m e r alles gleich h a b e n . E s h a t j a seine g u t e n Gründe, d a ß ihr es v e r s c h i e d e n h a b t . J a , ich m u ß a b e r auch W ü r m e r h a b e n , d a liegt der F e h l e r . N a t ü r l i c h m u ß ich a u c h W ü r m e r h a b e n ! 14. M ä r z . D a ß im Ü b e r g a n g s a l t e r Mangel an e r n s t h a f t e m InteresseI n t e r e s s e e i n t r i t t , zeigt folgende Ä u ß e r u n g R u t h s : W o r ü b e r mangel. R a s m u s s e n , Tagebuch
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ist denn am Sonnabend im Studentenklub geredet worden ? Über Buddha, ein Gott der Inder. Ach, laßt doch die Inder mit ihrem Gott in Ruhe. Gesunde 16. März. Die Mutter erzählt R u t h von Buddha, wie er Kritik. Mönch W urde, nachdem er der Sage nach die vier „Erschein u n g e n " gehabt hatte. — Das verstehe ich nicht; erkläre doch mal! — Er sagt, wenn man doch einmal alt wird, kann man sich nicht darüber freuen, daß man jung ist. Und wenn man doch k r a n k wird, k a n n es einem keine Freude bereiten, gesund zu
Fig. 70: Adam und E v a (12 J . 3 Mon.).
sein. —Ach, da hat er aber nicht Recht. Ich bin doch frohf Freue dich am Leben, solange es da ist. Es handelt sich ja gerade darum, so viel wie möglich vom Leben zu haben, solange man jung ist, ehe es anders wird. Ironie.
20. März. Die Mutter schärft R u t h ein: Wenn du jetzt ins Kinderzimmer gehst, so schleichst du dich ganz sachte zur Tür und machst sie ganz leise zu und gehst ganz leise hinaus. — R u t h : Ja, und wenn eine Ritze in der Tür ist r werde ich durchkriechen.
Psychologie.
24. März. Wenn ich mit anderen zusammen bin, bin ich wie ein geschlossenes Buch. 258
1. April. Ruth ist in die unterste Klasse der höheren Schule Höhere gekommen. (Der Übergang erfolgt in Dänemark oft erst nach f ü n f Grundschuljahren.) Sie ist jedoch krank und kann nicht zur Schule gehen. 6. April. R u t h hat von ihren Mitschülerinnen gehört, wie Verlobung. es in der höheren Schule zugeht. Sie erzählt: In unserer Klasse sind 10 Jungen und 20 Mädchen (die dänische höhere Schule hat meistens Koedukation); die meisten davon sind schon verlobt. Die M u t t e r : Was heißt das, sie sind schon verlobt? Das heißt, sie gehen zusammen, und wenn er gegen die andern grob ist, ist er zu ihr nett. Grethe ist mit einem der besten Suhiiler verlobt. 10. April. Ruth ist zum ersten Male in die neue Schule ge- Die Schule. gangen und erzählt : Ich bin so glücklich, daß ich in die höhere Schule gekommen bin. Ich habe so feine Lehrer, selbst Fräulein Nielsen ist verdunkelt. 12. April. Bei der A u f n a h m e p r ü f u n g in die höhere Schule hat R u t h folgende Aufgabe erhalten: W i e d e r e r z ä h 1 u n g. Wo m a n s u c h e n soll, wenn e t w a s a b h a n d e n g e k o m men ist. Vor vielen Jahren lebte einmal ein Landpfarrer, der sehr hitzig und jähzornig war, wenn ihm etwas nicht zu Willen war. Nun ereignete es sich an einem Sommermorgen, daß einige von seinen Kühen verschwunden waren; der Knecht J a k o b wurde mit dem Jungen ausgesandt, um sie zu suchen. Gegen Mittag kamen sie unverrichteter Sache zurück. Der P f a r r e r wurde böse und fragte sie aus, wo sie gewesen wären; sie antworteten, daß sie in der Wiese gesucht h ä t t e n , drüben beim Nachbarn und an mehreren anderen Stellen. „Na, da haben wir es," sagte der Pfarrer. „ I c h habe Euch oft genug gesagt, wenn etwas weg ist, sollt ihr an den paar Stellen nachsehen, wo ihr es am wenigsten v e r m u t e t . Geht jetzt essen, und wenn ihr dann weitersucht, denkt an meine Worte." Danach ging der Pfarrer in sein Studierzimmer; als er nach einiger Zeit in den Garten sah, sah er J a k o b und den Jungen 17*
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PrüfungsarbeiL
mit der großen Feuerleiter angeschleppt kommen und sie gerade vor seinem Fenster an das Dach legen. Schnell kam er heraus und fragte, warum sie nicht nach den Kühen suchten, wie er ihnen befohlen habe. „Das t u n wir ja auch," sagte Jakob, der schon ein ganzes Stück auf der Leiter heraufgestiegen w a r ; „wir sehen im Storchnest nach, wo wir sie am wenigsten vermuten.'" Unterdessen war er oben auf dem Dache angekommen und f u h r fort: „ W a h r h a f t i g , der Herr Pfarrer h a t doch recht. Da liegen sie beide faul und halten Mittagsschlaf, während wir hier suchen." „Was sagst d u , " fuhr der Pfarrer auf, „willst du mir weismachen, daß sie im Storchnest liegen ?" „Nein", rief Jakob ebenso kaltblütig, wie der Pfarrer hitzig w r ar; „aber von hier oben kann ich sie mitten im Haferfelde liegen sehen." Mit diesen Worten kam er die Leiter wieder herunter und befahl dem Jungen, die Kühe zu holen, während der Pfarrer betroffen in sein Zimmer zurückging. Ruths Wiedererzählung. W o m a n s u c h e n soll, w e n n e t w a s a b h a n d e n g e k o m m e n ist. Vor vielen Jahren lebte einmal ein Landpfarrer, der sehr hitzig und jähzornig war, wenn ihm etwas nicht zu Willen war. An einem warmen Sommertag waren einige von seinen Kühen verschwunden, und zwei von seinen Leuten, der Knecht Jakob und ein Junge, waren aus sie zu suchen. Zum Mittag kamen sie unverrichteter Sache zurück. Der Pfarrer war sehr interessiert und fragte sie aus, und auf seine Frage, wo sie hingegangen wären zu suchen, antworteten sie, daß sie unten in der Wiese gewesen wären, beim Nachbarn sowie an vielen anderen Stellen. „Na, da haben wir es," sagte der Pfarrer. „ I h r wißt doch, daß ihr auf den Stellen suchen sollt, wo ihr am wenigsten die Kühe erwartet. Aber geht jetzt und laßt euch Essen geben, und t u t nachher, was ich euch gesagt h a b e . " Danach ging er in sein Studierzimmer. Nach kurzer Zeit sah er zufällig aus seinem Fenster und sah da J a k o b und den Jungen mit einer Leiter angeschleppt kommen, die sie an die W a n d stellten, um auf das Dach zu kommen. 260
Der Pfarrer kam schnell heraus und sagte, daß sie wirklich nach den Kühen suchen sollten, wie er gesagt h a t t e . „ D a s tun wir a u c h , " sagte J a k o b ebenso ruhig wie der Pfarrer hitzig war, „wir wollen oben nachsehen, ob die K ü h e nicht im Storchnest sind, wo wir sie am wenigsten e r w a r t e n . " Dabei war er ganz zum Dachrücken gekommen, und plötzlich ruft er a u s : „ W a h r h a f t i g , ob der Herr Pfarrer nicht R e c h t h a t ! Da liegen sie j a und halten Mittagsschlaf, während wir gehen und sie s u c h e n . " Der Pfarrer wurde böse. „Willst du mir weismachen, daß sie oben im Storchnest liegen ? " „Nein, das will ich nicht, aber ich kann von hier sehen, daß sie mitten im Haferfelde liegen." Nun sandte J a k o b den Jungen nacli ihnen, während der Pfarrer betroffen wegging. 14. April. E s wird von Philosophie und der Definition dieses Begriffs gesprochen. R u t h , die oft über dieses T h e m a hat reden hören, s a g t : Philosophie, das ist zu viel Denken. 15. April. R u t h streichelt die Mutter an der B r u s t und s a g t : Ich habe immer solche Neigung, dich an so wunderlichen Stellen zu liebkosen.
Philosophie.
Sexuell.
16. April. Bei der B e t r a c h t u n g des Bildes „ M u t t e r " von Ideal. E i n a r Nielsen sagt R u t h : Ach nein, so soll eine M u t t e r nicht sein. E i n e M u t t e r muß so sein (sie m a c h t einige lebhafte B e wegungen und wechselt mehrmals den Gesichtsausdruck). Die M u t t e r : W i e bin ich d e n n ? R u t h , schelmisch: Du bist so m i t t e n drin. Nein, natürlich bist du so, wie ich sage, sonst würde ich j a auch gar nicht wissen, wie eine Mutter sein soll. 18. April. S o n j a : W i e viele Magen h a t die K u h ? Die Prüfung. M u t t e r : Das weiß ich nicht, ich glaube zwei. S o n j a : Nein, das ist falsch; die Lehrerin sagt, sie hat vier Magen. R u t h : Das ist nicht wahr. S o n j a : Doch, das ist doch wahr. R u t h : Sieh mir mal gerade in die Augen (damit ich sehen kann, ob du die W a h r h e i t sprichst). Die Mutter sagt bei einer Aussprache zu R u t h : Das ist ein MißverständMißverständnis. R u t h sieht die M u t t e r mit einem eigenartigen nis. Ausdruck an und s a g t : Da sind gewiß viele Mißverständnisse.
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Aufklärung.
Methode.
Verständnis.
Liebschaften.
R u t h fragt mich: Springt der Stier auf die Kuh, damit sie Junge b e k o m m t ? Das habe ich in der Sommerfrische gehört. Ja, das ist richtig. Aber machen es die Menschen ebenso ? Du k a n n s t das am besten bei den Fischen verstehen. Das Dorschweibchen legt seine Eier ins Wasser, aber damit es Fische werden können, müssen sie befruchtet werden. Das geschieht, indem das Dorschmännchen seinen Samen darüber ausgießt. Dann bewegen sich die Samenteilchen auf die Eier zu, und in jedes Ei dringt ein Samenteilchen ein. So wird das Ei befruchtet und kann ein Dorsch werden. Ebenso ist es bei den Hühnern. Du hast ja schon gesehen, daß der Hahn auf die Henne springt. Dabei kommt der Samen in die Henne bis zu den Eiern, und in eines davon dringt ein Samenteilchen ein. Dann gleitet das Ei langsam weiter und umgibt sich mit Weißem und Schale, bevor es gelegt wird. Auch bei der Kuh und beim Hunde geschieht es ganz ähnlich; das Ei ist nicht größer als ein Pünktchen. Ist es ebenso beim Menschen ? Ja, eine Frau kann keine Kinder bekommen, wenn sie nicht einen Mann oder einen Geliebten hat. Sie sollte aber immer einen Mann haben, denn sonst hat das Kind kein Heim, in dem es am besten aufwächst. Ja, aber Fräulein Jacobsen draußen in S u n d b y hat doch keinen Mann und keinen Geliebten (und doch ein Kind). — Doch, sie hat einen Geliebten gehabt, aber der h a t sie verlassen. 20. April. R u t h liest l a u t Englisch. H a t euch die Lehrerin gesagt, daß ihr laut lesen sollt ? Nein, das habe ich selbst gefunden, denn sonst kann man nicht wissen, ob man die W r örter richtig ausspricht. 22. April. Es wird von den ethischen Idealen der Griechen gesprochen. Die Mutter sagt: Es gab vier griechische Haupttugenden, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung . . . und die vierte habe ich vergessen. R u t h , die zugehört hat, sagt: W a r es vielleicht die Weisheit ? R u t h hat vorher nichts über dieses Thema gehört. 24. April. Ein Mitschüler fragt R u t h : Wen von den Jungen kannst du am beslen leiden ? Ruth nennt fünf Jungen. Aber die sind doch alle schon vergeben! R u t h berichtet das der Mutter und fügt hinzu: Findest du nicht auch, daß das eine 262
schreckliche Art zu reden ist ? I c h könnte j a gut verlobt sein, a b e r man darf doch nicht so darüber reden. 25. April. Nach der E r k l ä r u n g der B e f r u c h t u n g ( s . S . 2 6 2 ) fragt R u t h die M u t t e r : Man b e s t i m m t j a selbst, wenn man Kinder haben will. Vati hat mir etwas davon erzählt. Aber wie geht es denn eigentlich zu mit dem Teilchen, das in das Huhn k o m m t ? Denn Vati hat vom Huhn gesprochen. — W a s für ein Teilchen ? — Ein Samenteilchen. Fliegt das nun so in den Mund hinein ? — Die Mutter, wohl verstehend, daß R u t h diesen Irrtum absichtlich gesagt hat, a n t w o r t e t : Nein, das t u t es nicht. A b e r du weißt doch, daß ein Mann anders als eine F r a u gcschaffcn ist. Im Geschlechtsorgan des Mannes bilden sich die Samenteilchen und werden dann in die F r a u eingeführt. Da kann dann ein Samenteilchen ein E i treffen, und dann entsteht ein kleines Kind. E s muß neun Monate wachsen, und wenn es ausgewachsen ist, bringt die Mutter es zur W e l t . —Das alles wurde langsam und mit genauer Überlegung der W o r t e gesagt, um nicht abstoßend zu wirken. A b e r als die M u t t e r fertig war, faßte R u t h sie sehr zärtlich u m und sagte: W i e hat das doch lange gedauert. Die Mutter erzählt ihr dann noch, daß bei der B e f r u c h t u n g gefährliche K r a n k h e i t e n übertragen werden können, und daß die M ü t t e r deshalb große Sorge um ihre T ö c h t e r haben, sowohl, daß sie Kinder bekommen, als auch, daß sie k r a n k werden. — D a b r a u c h s t du bei mir nun keine F u r c h t mehr zu haben.
Aufklärun,
15. Mai. Bisher ist nicht das geringste Anzeichen beob- Sexuell. a c h t e t worden, daß die sexuelle Aufklärung R u t h weiter beschäftigt hat. 20. Mai. R u t h : Mir scheint, alle Menschen sind Idioten, Übergangserscheinung. und ich werde es auch mehr und mehr. R u t h erzählt, daß ihr und S o n j a auf der S t r a ß e ein Herr Unangebegegnet sei. S o n j a habe gegrüßt, da sie ihn kannte. Der nehme Folgen. Herr s a g t e : Dich kenne ich n i c h t , wer bist d u ? S o n j a : Das ist meine Schwester R u t h . A c h so, i h r seid das, über die so viel in der Zeitung geschrieben wird. R u t h , zu ihrer M u t t e r : E i n Idiot, nicht w a h r ? Du m u ß t aber nun V a t i sagen, daß er endlich aufhört, über uns zu schreiben. Die Leute sind j a ganz v e r r ü c k t .
263
Methodisch.
Beobachtung.
Psychologie.
Ablehnung des Spieles.
2 1 . Mai. W i r sind in K l a m p e n b o r g und hören eine Nachtigall. Die Mutter und die Kinder haben sie entdeckt, a b e r ich kann sie nicht finden. Da leitet mich R u t h ganz systematisch a n : Sieh mal den Zweig, der sich so s t a r k k r ü m m t , verfolge den bis zum S t a m m , dann siehst du sie. Das w a r auch richtig; die Nachtigall saß auf einem kleinen Zweige mit einem größeren Zweige als Hintergrund, so daß sie wegen ihrer Schutzfarbe schwer zu erkennen war. 25. Mai. R u t h sieht im Tivoli Akrobaten und s a g t : W i e sind die Damen doch h ä ß l i c h ! A b e r wie k o m m t es, daß bei ihnen die Armmuskeln nicht so hervortreten wie bei den Männern ? Die Kinder gehen dann in die „lustige E c k e " und bleiben eine halbe Stunde dort. Nachher sind sie voller B e geisterung. W e n n man sie selbst zum Handeln anregt, sind die Kinder stets begeistert. 27. Mai. Die Mutter f r a g t : I c h habe da eine sehr schöne D a m e in deiner Schule gesehen; das ist wohl Fräulein Hansen ? R u t h : H a t t e sie dunkles Haar, das so ganz fein sitzt, und sah sie so respektabel aus, so wie wenn sie immerzu den S t a u b wegbläst ? J a , das kann man wohl sagen. Dann ist sie es. Die M u t t e r : Sitze hier nicht herum, gehe auf den Hof und Ball. R u t h : Das ist gerade, wie wenn ich zu dir sagen wollte, gehe auf den Hof und spiele Ball.
Spieje
Religion.
23. Mai. Die Mutter und R u t h sprechen über Spiritismus und die Mutter sagt, daß sie nichts davon hält. R u t h : Ich habe noch gar keine feste Überzeugung davon. — Das ist gut. — W a r u m ist das gut ? W e n n man in der Religion keine feste Überzeugung h a t , ist es doch schlecht. — Hast du denn eine feste Überzeugung ?— J a . —Und welche ?— Daß es nichts gibt. — W a r es denn schlecht, bevor du diese feste Überzeugung h a t t e s t ? — N a , schlecht k a n n man wohl nicht sagen. Man denkt j a nicht den ganzen T a g an Gott, wenn man spielt.
Zeichnen.
30. Mai. R u t h hat aus der Schule Zeichnung Fig. 71 geb r a c h t . Sie äußert sich dazu: E s gefällt mir gar nicht, wie in der Schule gezeichnet wird. S o fasse ich das gar nicht auf. 6. J u n i . Unser Lehrer h a t heute mit uns über Konzentration gesprochen. E r sagt, wenn man über eine Sache spricht
Psychologie.
264
soll man die Schublade im Gehirn aufmachen, in der diese Sache liegt, und alle anderen Schubladen zu. Sonst kann m a n das nicht. E r ist nun so ein ordentlicher Mann, er m a c h t es so mit den Schubladen. Bei mir ist das wie eine Grütze; wenn ich an etwas denken soll, dann knete ich solange zurück, bis es da ist. Ein andermal wieder lasse ich alles in den Ecken herumliegen. 10. Juni. R u t h sitzt mit der Mutter auf einer hohen Klinte am Strande. Die Mutter steht auf und sagt: So, nun k a n n es losgehen (heimwärts). R u t h : Willst du Purzelbäume schlagen bis herunter zum Strande ? — Nein, das ist mir zu schwer. — Das kann m a n machen, ohne daß man es will, so leicht ist es! 12. Juni. Die Mutter spricht von einem Manne und sagt, daß er ein ganz angenehmer Mensch sei, aber „er spricht nur über ganz gleichgültige Fig. 71: Nachzeichnen einer Dinge"; er sagt nie seine MeiZeichnung an der Schultafel (12 J . 6 Mon.). nung. R u t h : Nein, das soll man auch nicht. Ich habe gar keine Meinungen; so ist man gerade ein Mensch. Wenn du Briefe schreibst, schreibst du darin dann diese Meinungen, über die du immer mit Vati sprichst, hin und her, hin und her ? 14. Juni. Die Mutter spricht von einem Herrn und betont als charakteristisch, daß er sich in seinem Auftreten von seiner Umgebung bestimmen läßt. R u t h : Wie das Wasser; es h a t keine eigene Form, n i m m t aber die Form des Behälters a n ; das haben wir in Physik gelernt. R u t h ist mit der Mutter bereits in der Sommerfrische in Tisvilde und sendet folgenden Brief:
265
Dialektik.
Verschlossenheit. Pubertätserscheinung,.
Analogie.
Brief.
Fig. 72: Ruth (12 J. 7 Mon.). Lieber V a t e r ! Das w a r aber ein schöner Ausflug, erst zum S a n d k r u g u n d d a n n zu F r a u R i n d o m s G r a b in T i b i r k e ! I m S a n d k r u g haben wir B u t t e r b r o t und Sodawasser b e k o m m e n ; das s c h m e c k t e g u t nach solcher Tour. N a c h d e m wir eine S t u n d e d a w a r e n , gingen wir zu den A s s e r b o - R u i n e n . V o m Kloster ist ja nicht m e h r viel da, a b e r es w a r doch schön. M u t t i m e i n t e , d a ß wir F r a u R i n d o m s Grab a u f s u c h e n sollten, u n d deshalb sind wir d a h i n geradelt. Das G r a b w a r voller Kränze, aber sie waren alle v e r w e l k t . F s lag schön, dicht bei der K i r c h h o f s m a u e r , die den kleinen Kirchhof u m g i b t .
266
Kurz gesagt, war es eine lange Tour, hügelauf und hügelab, so daß uns der Sand um die Ohren flog, aber schön war sie doch. Ich kann nicht dafür, daß meine Schrift nicht so schön ist, denn ich sitze so schlecht. Freundlichen Gruß Deine Ruth Rasmussen. 18. Juni. Ich erörtere mit meiner Frau, ob es nötig ist, den Kindern eine besondere Erziehung in äußerem Anstand und guten Sitten zu geben, oder ob man sich damit begnügen soll, ihr inneres Ich zu erziehen und darauf zu vertrauen, daß es von selbst das äußere Ich ausreichend beeinflußt. R u t h hört zu, und als ich sage: „ I c h glaube, das Äußere k o m m t von selbst, wenn man nur geduldig am inneren Menschen arbeitet, 1 ' sagt sie, „ J a , wenn du das zumeinen Ohr hineinsagst, kann es zum andern Ohr hinausgehen." 1. September. Ruth ist umgeschult worden; aus der „Zwischenschule", einer Unterstufe der höheren Schule, die nur die Klassen Quinta bis Untersekunda nach deutscher Bezeichnung umfassen, ist sie in ein Gymnasium gekommen, das bis zur Reifeprüfung f ü h r t . Welchen Lehrer hast du denn in der neuen Schule am liebsten ? Den Herrn Direktor (also ihren Vater). 17. September. Die Familie hält Sonntagsruhe und steht spät auf. Sonja hat für ihren Vetter Solholm eine Pferdeleine gestrickt; R u t h schlägt eine Änderung vor, und da Sonja sie nicht a n n i m m t , sagt sie, sie sei dumm. Ruth wird zurechtgewiesen, und ich sage ihr: Du hättest Sonja lieber zu dem Glauben bringen sollen, daß sie selbst die Verbesserung gefunden hat. So mache ich es, wenn ich etwas ausgeführt haben will. Das Gespräch k o m m t jetzt auf andere Gegenstände, und nach einer Weile sage ich, sie solle aufstehen. Sie a n t w o r t e t : Ich will nicht. Als ich ihr darauf einen Kuß gebe, sagt sie: Jetzt habe ich selbst gefunden, daß ich aufstehen möchte. 17. September. W;ir sehen uns „ J e p p e vom Berge" an. Es wird von einem Prolog eingeleitet, und die Mutter fragt R u t h , wie es ihr gefallen habe. Sie sagt: Das war Gas, aber kein Feuer. 29. September. R u t h erzählte von einem Herrn, der eine lustige Begebenheit erzählt h a t t e und sich umsah, ob sie 267
Ironie.
Umschulung.
Psychologie. Ironie.
Kritik.
Psychologie.
auch gewirkt h a t t e : an einigen Stellen hatte sie gewirkt, aber die W i r k u n g ließ bald nach. Scham. 1. Oktober. Ruth und Sonja werden gebadet. Wie gewöhnlich tanzt Rutli nackt umher, aber es scheint mir doch, als zeigen sich Zeichen von Schamhaftigkeit. Taufe. 7. Oktober. In der Nationalzeitung (Sonntagsbeilage) stehen verschiedene Interviews über die Kindertaufe, darunter auch eine Äußerung von mir. R u t h liest die Äußerungen, weiß aber nicht, was die Taufe eigentlich ist. Ich erkläre ihr, daß man
Fig. 73: Vase mit Mohnblumen (12 J . 11 Mon.).
durch die Taufe das Kind in die Gemeinschaft der Kirche eintragen läßt und zugleich gelobt, daß es in Gemeinschaft mit Gott leben und an ihn glauben solle. R u t h : Ja, das sagen einige, ich habe aber auch gehört, daß die Taufe ein Segen sei. Später fragt die Mutter R u t h : Hältst du es für einen Fehler, daß Vati und ich euch nicht haben t a u f e n lassen ?— Das weiß ich nicht. Das kommt ja ganz darauf an, was die Taufe ist. Vati sagt, daß sie ein Gelübde ist, das man ablegt; andere sagen, es ist ein Segen, den man bekommt. Wenn sie ein Gelübde ist, hat es ja nichts zu sagen. Aber wenn sie ein Segen ist, ist es ja etwas anderes. Man kann gar nicht anders erfahren, was richtig ist, als indem man die Bibel liest. Aber das mag ich nicht. 15. Oktober. Ruth h a t Fig. 73 gezeichnet. Für die Vase h a t sie ein Modell gehabt, die Blumen sind freie Phantasie. 268
18. Oktober, Zu Weihnachten wünsche ich mir ein Buch, aber nicht von Dickens, wie sonst immer, sondern „Großmutters Zwillinge" oder ein anderes Jungmädchenbuch. 24. Oktober. R u t h charakterisiert eine Mitschülerin: Sie ist sehr tüchtig in Handarbeit und ordentlich, weiblich, langweilig. Und dann h a t sie eine gerade Nase und einen kleinen Mund und ganz weiche Zöpfe im Nacken. 25. Oktober. Wie schön ist es heimzukommen, in eine warme Stube mit schönen Blumen. 11. November. Jetzt mag ich die Jungen in meiner Klasse sehr gerne leiden. - Die M u t t e r : W a r u m denn ? Warum soll ich das erklären ? — Das ist doch etwas ganz Natürliches. Das mußt du gar nicht so besonders nehmen. — Dann warte lieber noch mit der Frage, bis ich es auch nicht mehr als etwas Besonderes betrachte. Ich w i l l nicht darüber diskutieren. 23. November. Ruth ist krank, und die Mutter hat sie untersucht. Dabei hat Ruth ihr Hemd verkehrt angezogen und vorne und hinten vertauscht. Du hast vorne hinten und hinten vorne. W'obei ? Bei deinem Hemd. Ach, ich dachte auf dem Körper, das käme ja auf dasselbe hinaus. Fig. 74: F r i e r e n d e s 25. November. R u t h war zum „VorM ä d c h e n (in J.) spielen" in der Musikschule und hat einige Male verkehrt gespielt. Sie erklärt, daß sie so nervös gewesen sei, daß ihr die Beine gezittert h ä t t e n . 28. November. R u t h hat Fig. 74 gezeichnet und f r a g t : Kannst du sehen, daß das Mädchen friert und auf die Straßenbahn wartet ? 269
Geänderter Geschmack.
Konkurrentin.
Ästhetik.
Jungen.
Logik.
Xervös.
Zeichnung.
Das vierzehnte Jahr. Geburtstag.
Der Klügste.
Scharfsinn.
Schlagfertig.
Wißbegier.
Schlechte Gesellschaft.
3. Dezember 1922. R u t h vollendet heute das 13. Lebensjahr. Sie ist 157,5 cm groß. Sie hat ihre Freundinnen zu Besuch und amüsiert sich köstlich. Insbesondere sind Freierspiele und Verkleidungen ihr Vergnügen. 13. Dezember. Die Mutter h a t t e sich in einer Unterredung mit einem Herrn über die Unbequemlichkeiten beklagt, die ihr eine Kindergesellschaft bereitet hatte. Der Herr h a t t e geantwortet : Bei mir ist es ebenso, aber so sind die Kinder in dieser Stadt. Als es R u t h erzählt wird, sagt sie: Und h ä t t e t ihr mit den Menschen in Australien gesprochen, sie h ä t t e n gesagt: So sind die Menschen in dieser Welt. 17. Dezember. Ich h a t t e in Ruths Klasse erzählt, daß in Japan die höchste Gottheit die Göttin Amateratsu ist. R u t h f r a g t : W a r u m ist der höchste Gott eine Frau, wenn der Mann in J a p a n f ü r so vornehm angesehen wird ? 19. Dezember. Ruth sieht eine Lichtreklame, die f ü r Hafergrütze wirbt. Eine Schlange läuft u m das Feld herum, um die Aufmerksamkeit zu erregen. Die Mutter sagt scherzh a f t : Da siehst du es, daß ich recht habe. R u t h : Nein, denn du hältst es mit den Schlangen, und die Schlangen sind falsch. Die Mutter liest Höffdings Ethik, und R u t h fragt sie: Wenn du nun ganz ehrlich bist, macht dir das Spaß ? Als sie sieht, daß das Werk in neunter Auflage erschienen ist, sagt sie: Ist es möglich, so viele Menschen lesen so etwas! 22. Dezember. Ruth erzählt uns von ihrer Klasse und sagt: £ g s j n ( j i m a n s t ä n d i g e Kinder drin. Die M u t t e r : Sind es die Jungen ? Nein, die sagen nie etwas. Die Mädchen sind es, die sprechen so viel von dem, was wir hier zu Hause „Bef r u c h t u n g " genannt haben. Sie erzählen unanständige Geschichten; die kann ich dir gar nicht wieder erzählen. Das kannst du schon, denn ich will doch wissen, in welcher Gesellschaft du lebst. R u t h erzählt darauf eine schlüpfrige Geschichte und fügt hinzu: Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen und nicht zu denken, daß ich darin lebe.
24. Dezember. Die Vorbereitungen f ü r das Weihnachtsfest machen es unmöglich, daß ich in meinem Bett schlafe, u n d ich soll daher mit Sonja zusammenschlafen. Sie wird aber plötzlich g r o ß m ü t i g und s a g t : Ich habe R u t h so lieb, ich schenke ihr zu Weihnachten, daß du bei i h r schlafen kannst. Ich finde jedoch diese Freundlichkeit übertrieben und suche davon f r e i z u k o m m e n : Ach nein, R u t h ist zu groß, dann haben wir ja keinen Platz. Durch diese B e g r ü n d u n g suche ich die A u f m e r k s a m k e i t von dem wahren Motiv abzulenken. Es k o m m t aber doch zu Sonjas Vorschlag. Als ich n u n in R u t h s B e t t komme, k ü ß t sie mich, legt sich d a n n ganz zur W a n d herüber u n d sagt: Bin ich n u n wirklich zu groß ? Sie hat also keine A h n u n g von dem wirklichen Motiv. I. Januar 1923. Sie liest mit dem größten Interesse ein J u n g m ä d c h e n b u c h von Valborg D a h l : Agnetes großes Erlebnis. Das ist der T y p ihres gegenwärtigen literarischen Geschmacks. I I . J a n u a r . Die M u t t e r sagt aus irgend einer Veranlassung: Es ist merkwürdig, daß manche L e u t e keine Ironie verstehen. R u t h : Ach, einige Menschen verstehen e i n e Art Ironie, andere verstehen eine a n d e r e A r t Ironie, und da machen sie sich übereinander lustig, weil sie einander nicht verstehen. Ich glaube, so ist es; ich w e i ß , so ist es. 21. J a n u a r . R u t h sieht „ E l v e r h ö j " , aber leider sitze ich nicht bei ihr, so daß ich nicht beobachten kann, was sie interessiert. Jedoch bemerke ich, d a ß sie sehr a u f m e r k s a m die Musik und die Tänze verfolgt. 28. J a n u a r . R u t h k o m m t dazu, wie ich mit S o n j a über die F o r m der E r d e spreche. Ich frage sie, w a r u m sie zu der Ansicht gekommen sei, daß die E r d e r u n d ist. Der Horizont ist r u n d . Das ist aber kein Beweis d a f ü r , daß die E r d e eine Kugel ist. Das k a n n m a n an der verschiedenen W ä r m e sehen. Sie meint die klimatischen Erscheinungen; wenn das auch kein Beweis ist, so A r e r r ä t es doch einen eigenen Gedankengang. 18. F e b r u a r . Die Mutter bittet R u t h , ein Stück zu wiederholen, daß sie soeben gespielt h a t , aber recht ungern spielt. 271
Unbefangen.
Lektüre.
Psychologie.
Theater.
Kenntnisse.
Ironie.
R u t h ist ungezogen und spielt etwas anderes. Kurz danach kommt sie aber zurück und sagt: Jetzt bin ich bereit, es z e h n m a l zu spielen. Zuletzt muß ich mir die Ohren zuhalten. Menschenkenntnis. Zeichnungen.
Wesen.
Paradox.
Ziel.
Lehrer.
19. Februar. Alle Menschen verachten einander. Du verachtest die Frauen von den reichen Börsenleuten, und die verachten dich. 24. Februar. Ich sehe mir mit R u t h im Schulmuseum Schülerzeichnungen aus H a m b u r g und Wien an. R u t h ist sehr interessiert und sieht sofort perspektivische Fehler, zum Beispiel in einigen Bildern von einem Weinkeller. Bei einer Reihe von Zeichnungen von der Weinernte bemängelt sie, daß die Menschen zu gleichartig dargestellt seien. Am meisten bewundert sie eine Zeichnung, die einen Springer darstellt. Bei der Heimkehr sagt die Mutter R u t h ganz leise, daß eine Nachbarin gestorben ist. R u t h sagt darauf nichts, aber nach einiger Zeit meldet Sonja, daß R u t h weine. Die Mutter geht zu R u t h und spricht mit ihr, jedoch verbirgt R u t h — soweit möglich — ihre Bewegung. 5. März. R u t h sagt etwas Sinnloses und f ü g t hinzu: Das war gewiß paradox. Nein, das h a t mit etwas Paradoxem gar nichts zu t u n . Doch, denn m a n b e k o m m t Kopfschmerzen, wenn man daran denkt, und das b e k o m m t man bei Paradoxem auch. 25. März. Es wird davon gesprochen, daß man sich ein Ziel setzen soll. Ruth sagt: Ich setze mir oft ein Ziel. W a s für ein Ziel ? Wenn ich mir zum Beispiel vornehme, diese Aufgaben zu rechnen, dann rechne ich sie auch, oder wenn ich mir vornehme, ich will das hier zu Ende machen, ehe der Monat zu Ende ist, so tue ich es auch. Ich erreiche es immer. Aber das k o m m t vielleicht daher, daß es etwas so Unbedeutendes ist. 26. März. Ich habe Herrn Hansen sehr gerne; das ist so ein feiner Mann. Vielleicht habe ich ihn auch deshalb so gerne, weil er in seinem Fache so viel kann. Aber Herrn Nielsen, nein, den mag ich nicht. Der hat keine Spur davon. Er sitzt immer so (die Arme auf die Knie gestemmt). 272
Fifi- 75: Eine Vase mit selbsterfunderier Dekoration (13 J . 4 Mon.).
273
(13 .1. i Mon.).
Fif,'. 7 7 : F r s t e s Beispiel e i n e r F a r b e n p e r s p e k t i v e (Ili .1. 'i Mon.).
274
26. März. Bei einem Gespräcli mit Sonja wird gesagt, daß es Strahlen gibt, die durch den Körper hindurchgehen, und daß jeder diese Strahlen aushalten kann. Sonja sagt nichts dazu, aber Ruth erklärt : Das heißt also, wenn jemand k o m m t und deine Komode nachsieht, darf er nichts darin finden, das dir nicht gehört.
Ironie.
30. März. Die Mutter und R u t h gehen in die Kunstausstellung und sehen dort u. a. die Plastik „ T r o s t " . R u t h sagt: Sieli mal die H a n d ! Etwas später: Und auch die andere Hand. Meist muß man die Hände ansehen. Bei einer Plastik „Beduinenmädchen" sagt sie: Ich kann den Mund nicht verstehen. Aus dem K a t a logwird festgestellt, daß ein Beduinenmädchen dargestellt ist. R u t h : Ja, dann verstehe ich es. 26. April. R u t h hat Sonja gezeichnet (Fig. 78), aber Sonja h a t die Farben aufgetragen und dabei nicht verstanden, daß der unterste Teil ihr eigenes Gesäß darstellt. 28. April. R u t h sagt beim Spielen: Ich kann nur spielen, wenn ich nicht daran denke, was ich tue. Wenn ich es mir überlege, geht es nicht. Das ist doch widerwärtig! Fig. 78: S o n j a .
Kunstver-
(13 J . 5 Mon.).
Ruth sagt zur M u t t e r : Ich kann mir niemals vorstellen, daß ich mit einem Mann so vertraulich werden kann, daß ich mit ihm vertraulicher als mit einem andern reden kann. R u t h sagt zur Mutter: Man sollte gar nicht dulden, wie gründlich du bist. Du brauchst gar nicht so gründlich zu sein. Was für eine Spannung muß in deinem Gehirn sein, und was für eine Erschlaffung nachher. Das sollst du nicht! Dusollst nur das Ganze ordnen, so daß es nett aussieht, denn sonst kann man ja nicht durchfinden. Du solltest nur sehen, wie ich im Kinderzimmer Ordnung mache. 275
siändnis.
Zeichnung.
Klavierspiel.
Vertrauen.
Psychologie.
Pubertät.
Freiheit der Lehrer.
Lektüre.
Träume.
Scham.
Beobachtung.
7. Mai. Ich habe nichts zu tun. Ich kann mit der Zeit nichts anfangen. Die ganze Zeit über freue ich mich so sehr, aber ich weiß gar nicht worüber. Und was ich dann erlebe, entspricht durchaus nicht meinen Gefühlen. Ich glaube, ich bin in das Alter gekommen, wo m a n hinaus möchte. 8. Mai. In der Zeitung steht ein Artikel, daß die Lehrer von jetzt ab die Erlaubnis hätten, nach ihrer Individualität zu arbeiten. Darauf sagt R u t h im Hinblick auf einen ihrer Lehrer: Wenn er besonders faul ist, entfaltet er seine Individualität. 11. Mai. R u t h hat Anna Karenina gelesen und äußert sich d a r ü b e r : Das Buch habe ich gelesen zu Hause und in der Schule, auf der Straße und in der Straßenbahn, bei Tag und bei Nacht. Bei Dickens sind die Menschen so geschildert, daß einige alle bösen Seiten, andere alle guten Seiten haben. Die erhebt er d a n n bis zum Himmel. Bei Tolstoi ist es nicht so. Aber ich k a n n nicht verstehen, daß es so viele Familienkonflikte geben kann. Wenn ich jetzt nicht mehr Dickens lese, so tue ich das nicht etwa, weil ich Dickens nicht mehr mag, sondern weil ich lieber etwas lesen möchte, was mich nicht anstrengt. 16. Mai. R u t h kommt u m Uhr morgens zu mir und fragt, ob sie bei mir schlafen dürfe; sie habe so häßlich get r ä u m t . Am nächsten Tage erzählt sie der M u t t e r : Es ist merkwürdig. Ich habe so schlecht in der Nacht g e t r ä u m t . Meine T r ä u m e sind sonst immer so, als wäre es ein anderer Tag (die Begebenheiten verlaufen ebenso ruhig wie a m Tage). 19. Mai. R u t h hat gebadet und hat die Mutter gefragt, ob sie zu mir hineingehen dürfe, um zu zeigen, wie sie aussähe: Denn sonst wird Vati zu sehr staunen, wenn er mich gelegentlich sieht. Sie kommt im Bademantel in mein Zimmer, und ehe ich es hindern kann läßt sie ihn fallen und dreht sich einige Male herum. 20. Mai. Auf einem Spaziergange mit R u t h sehen wir zwei junge Damen, die stark geschminkt und auffällig gekleidet sind. R u t h f r a g t : wie k o m m t es, daß sie alle gleich aussehen ? Man könnte meinen, daß sie alle e i n e nachahmen. 276
31. Mai. Ruth hat die erste Menstruation. Sie war zwar Menstruareizbar in der voraufgehenden Zeit, aber nicht krank oder t w n • von anderen Unannehmlichkeiten geplagt. Sie bemerkt es in der Schule, als Sonja sie darauf aufmerksam macht, daß sie blute. Sie sagt zu S o n j a : Du mußt es nicht V a t i sagen, das werde ich selbst tun. W a r u m hat man das eigentlich ? Na, das werde ich erfahren, wenn ich heimkomme. Als wir gemeinsam mit der Straßenbahn heimfahren, erzählt sie mir das Ereignis. Die Blutungen verlaufen ohne Beschwerden, werden aber in den nächsten Tagen stärker. A l s noch Halsschmerzen hinzukommen. muß Ruth einige T a g e im Bett liegen. 9. Sie versucht jetzt in ihren Zeichnungen auszudrücken.
seelische Zustände
9. Juni. In einem Gespräch zwischen der Mutter und ihren Begattung. beiden Töchtern über dieses T h e m a fragt R u t h : Gibt es auch Leute, die das mit Kindern machen? Die M u t t e r : Das ist auch schon geschehen. W a r u m haben sie das getan ? Aus V e r g n ü g e n ? S o n j a : Das wäre doch ein recht grober Spaß! Die M u t t e r : Nein, so ist es nicht. Sie tun es aus Lust. R u t h : W i e kann man denn dazu Lust h a b e n ? Die M u t t e r : Es gibt ein Gefühl, das bewirkt, daß man dazu Lust hat. 18. Juni. Ruth sagt zur M u t t e r : Dir kann man sofort an- Psychologie. sehen, ob du jemanden leiden kannst oder nicht. W e n n du jemanden nicht leiden kannst, dann siehst du aus, o h ! 20. Juni. Ruth beobachtet den Sonnenuntergang, und Beweis. es fällt ihr auf, daß die Sonne recht weit nach Norden gerückt ist. Ich erkläre ihr, daß die Sonne im Sommer beim Untergehen immer mehr nach Norden rückt, und daß sie am nächsten T a g e noch weiter nordwestlich, vermutlich hinter jenen Schornsteinen untergehen werde. Ruth antwortet scherzend: Ehe ich es gesehen habe, glaube ich es nicht. Ich will Beweise haben. i . Juli. Es wird darüber gesprochen, daß die Kinder in den ersten Ferientagen nicht eher aufstehen sollen, ehe sie aufgewacht sind (nämlich von selbst aufgewacht sind). Ruth R a s in Ii s s o i i , T a g e b u c h .
18
277
Spitzfindig.
sagt dazu: Ich stehe immer erst auf, nachdem ich aufgewacht bin (also auch, wenn sie geweckt wird). Intelligent. 3. Juli. Wir sprechen über die Namensänderung, die Verwandte vorgenommen haben. Sonja möchte auch deren neuen Nachnamen haben und den (in Dänemark häufigen) Namen Rasmussen vermeiden. R u t h sagt dazu: Es ist besser, wenn m a n seinen Namen ungewöhnlich macht. Menstrua14. Juli. Sie war ohne größere Beschwerden, aber etwas tion.
Bescheiden.
unregelmäßig.
15. Juli. Wir bekommen Besuch von einem Geologen, der einen vermeintlichen F u n d besichtigen soll. R u t h b e k o m m t
Fig. 79: Hühner, auf dem Lande gezeichnet (13 J . 7 Mon.).
die Erlaubnis mitzugehen und sagt zu dieser E h r e : Wenn ich mich n u r zu einem kleinen H u n d machen könnte, denn dann wäre es natürlich, daß ich mitliefe. Philosophie. 17. Juli. Wir haben über Georg Brandes gesprochen und fragen am nächsten Morgen R u t h : Warst du noch wach, als wir über Georg Brandes sprachen ? Gott sei Dank nicht. Es ist doch nichts Böses, über Georg Brandes zu sprechen. Andere sprechen vielleicht über Grundtvig. Ja, und andere frühstücken gut und sprechen darüber. Psychologie.
21. Juli. Die Kinder haben sich am Strande mit ihren Spielgefährten Papiermühlen gemacht. R u t h sagt zu uns: Wenn ihr jetzt ein Geheul hört, dann ist es, weil jeder glaubt, seine Mühle geht am besten, und das ist ja denn auch gut so. 278
Fig. 80: Schlittschuhläuferin (Kreide-Zeichnung). (14 J . 0 Mon.).
18*
279
Es wird über eine Äußerung Sonjas gesprochen und die Mutter sagt: Das ist merkwürdig. Sonja zeigt hier einen Selbständigkeitsdrang wie sonst nie. R u t h : Das ist schon mehr Selbständigkeitswahn. Psychologie. 26. September. Die Mutter bereitet mit R u t h Sauce für ein Pilzgericht. R u t h sagt: Wenn es uns mißglückt, lachen wir. Wille. 19. Oktober. Die Mutter: Ich weiß nicht, ob es meine eigene Schuld ist, aber ich glaube nicht, daß ihr immer t u t , was ich sage, und daß ihr es so gut t u t , wie ich es wünsche. Nüchtern.
/
Fig. 81: Arbeiter (Bunte Kreide).
( U J . 0 Mon.).
R u t h : Den Willen h a b e i c h , aber es fehlt mir das Können. Die M u t t e r : Ja, darauf kommt das Ganze an, daß man ernstlich w i l l . „Der Wille gilt, er macht uns frei oder fällt uns." (Ein Zitat in Versform.) Das heißt also: Entweder w i l l man die Schwierigkeiten überwinden, dann ist man frei, oder man beugt sich ihnen, dann ist man gebunden. R u t h : Wenn ein Sklave in Ketten liegt, dann bricht er entweder die Ketten und ist frei, oder er kann es nicht, dann bleibt er Sklave. Das kann man auf alle Dinge übertragen. Sonja: Daß man frei ist, das bedeutet, daß man selbständig ist, daß man a l l e i n ist. R u t h : Ich denke nicht so sehr an den Willen, denn ich w i l l . 280
Das fünfzehnte Jahr. 3. Dezember 1923. R u t h vollendet heute das 14. Lebensjahr. Sie ist 160,5 cm groß. Als ich meine Verwunderung über diese stattliche Größe ausdrücke, meint sie: Wenn ich mir n u r nicht noch selbst über den Kopf wachse. 5. Dezember. R u t h sagt: Es ist mir zum ersten Male auf- Sprachliche Beobachtung. gefallen, daß in jeder Silbe ein Konsonant ist. u. Die Mutter ist mit den Kindern in der Glyptothek gewesen. Erfahrung Als Ruth im Bett liegt, zieht sie die Bettdecke etwas zur Seite Spiel. und sagt: Die N a t u r entschleiert sich vor der Wissenschaft. Das ist der Titel einer Skulptur in der Glyptothek. Ruth h a t seit ihrem Geburtstage eine Menge PastellzeichZeichnen. iningen angefertigt. 22. Dezember. Die Mutter und Ruth sprechen über Engel Ironie. und R u t h sagt: Ich weiß ja nicht besonders viel von ihnen, denn Sonja ist der einzige Engel, den ich persönlich kenne. 26. Januar 1924. R u t h : Ich habe drei Ich; das eine will Psychologie den einen Weg, das andere will den andern Weg, und das dritte entscheidet dann. 5. Februar. R u t h : Warum hat Vati nie einen schönen Ge- Milteilungsdanken und schreibt ein Buch d a r ü b e r ? Die Mutter: Vater drans. hat ja schon solche Gedanken gehabt und ein Buch darüber geschrieben. R u t h : Nein, so nicht. Wenn ich einmal einen schönen Gedanken habe, wenn ich groß bin, dann will ich versuchen, mich darüber auszusprechen, denn was nützt es, wenn man ganz allein mit einem schönen Gedanken umhergeht. 20. April. R u t h ist mit der Mutter in der K unstausstellung. Malerei. Sie sieht ein P o r t r ä t von Georg Brandes gemalt von Hermann Vedel und f r a g t : Ist er so alt. Nach Beendigung des Rundganges will sie von vorne anfangen. 27. April. R u t h hört, daß ein Professor gesagt hat, daß er Scharfsinn. jetzt alt sei und bald sterben werde, aber dann gedacht h a b e : Jetzt kannst du bald heimgehen zu Gott. Sie sagt dazu: E r glaubte also an Gott, weil es gut für ihn war. Wäre das andere
281
besser f ü r ihn gewesen, so h a t t e er das geglaubt. Ob es w a h r ist, spielte keine Rolle dabei. WillensEs wird ü b e r die Willensfreiheit gesprochen, u n d R u t h 'reihen. f r a g | . -yy as b e d e u t e t d e n n eigentlich die F r a g e u m die Willens-
Fig. 82: E i n M ä d c h e n , das L u f t s c h l ö s s e r b a u t (14 J . 0 Mon.).
freiheit ? Die M u t t e r : Es h a n d e l t sich d a r u m , ob d u willst, weil d u gezwungen bist, es zu wollen, oder ob d u willst, weil du selbst dich b e s t i m m s t , es zu wollen. I m Falle bist d u gebunden, im a n d e r n Falle bist du frei. Mein Wille ist g e b u n d e n .
282
etwas etwas ersten Ruth:
28. April. In einem Gespräch über Religion h a t die Mutter gesagt, daß sie ein religiöses Gefühl habe, selbst wenn sie nicht an Gott glaube. R u t h f r a g t : Was meinst du vorhin mit deinen Worten ? Die M u t t e r : Ach, das ist nicht so leicht zu erklären. Aber ich will es dir schon einmal erklären, wenn ich kann. R u t h : Ich habe ja auch meine Religion. Welche denn ? Wenn ich zum Beispiel die Sonne scheinen sehe, kann ich das ja auch Gott nennen.
Religion.
Fig. 83: S c h l i t t s c h u h l ä u f e r ( B u n t e Kreide). (14 J . 1 Mon.).
29. April. R u t h sagt zur Mutter: Wenn du geweint hast, lachst du stets hinterher.
Psychologie.
3. Mai. Es wird von einer Dame gesprochen, daß sie ihren Sohn mit 20 Jahren geboren habe. Ruth sagt strahlend: Ach, dann sind es ja nur noch sechs Jahre (daß ich ein Kind haben kann). 4. Mai. Wir haben uns das Schloß Rosenborg angesehen und ich habe erzählt, daß Christian IV. von seinem Zimmer zum Kinderzimmer ein Sprachrohr anlegen ließ, damit er mit seinen Kindern und sie mit ihm sprechen konnten. R u t h sagt als Beispiel: Vati, Hans kitzelt mich.
Sexuell.
R u t h amüsiert sich köstlich über die naiven Malereien, auf denen man Christian IV. sieht, der in den Wolken die Engel 283
Laune.
Religion.
Psychologie.
um sich versammelt und ilinen Aufträge gibt, und dem man einen Lehnstuhl im Himmel zurechtgestellt hat. 5,. Juni. R u t h hatte sich nicht gut betragen, und die Mutter h a t t e sich darüber geärgert. Als sie kurz darauf aus dem Hause ging, überlegte sie: So ist R u t h nun und wird vielleicht immer so bleiben. Aber ich will auf jeden Fall alles tun, um ihr zu nützen und in jeder Richtung, m a g sie nun zu mir sein, wie sie will. Am nächsten Tage erzählt die Mutter R u t h ihre
Fig. 84: D a m e a m S t r a n d e (14 J . 2 Mon.).
Langeweile.
Pubertät.
Überlegungen. Ruth f r a g t : Hast du das gedacht, als du in guter oder in schlechter Laune warst ? Denn mir scheint, es ist besser, wenn du es in schlechter Laune gedacht hast. Rutli hat viel Langeweile und f r a g t : Heißt es nicht „corpus"? — Die Mutter: Nein, so hei 13t es nicht. — Ach, das weiß ich ja. Ach, wie ich mich langweile. Etwas Gutes ist ja beim Langweilen dabei; ich weiß nicht, was es ist, aber sonst könnte m a n es nicht aushalten. 20. Juni. R u t h ist gereizt gewesen und sagt zur E r k l ä r u n g : Mir ist nicht g u t ; ich werde gewiß unwohl werden. In der letzten Zeit h a t Ruth ganz simpel aussehende Damen gezeichnet und sich geschmacklos frisiert. Jetzt sind ihre Damen wieder netter und ihre Frisur gut. 284
Rutli: Wenn ich müde bin kann ich nicht mit dem aufhören, Psychologie. mit dem ich mich beschäftige. 2. Juli. R u t h liest ein Kinderbuch und sagt: Ich glaube, Ironie. daß ich (sonst) zu viel Gutes bekomme. 7. Juli. R u t h hat das Buch „ D ä n e n " von Joh. V. Jensen Bordell. gelesen, an dessen gewagte Schilderungen weder ich noch meine Frau sich erinnern konnten. Ruth f r a g t : Mutti, was ist ein Bordell (auf der ersten Silbe betont). Es wird ihr erklärt, und sie a n t w o r t e t : Sind junge Männer immer so verderbt ? Im übrigen h a t das Buch kaum Schaden angerichtet, da Ruth gründlichen Bescheid auf ihre Frage bekommen hat.
j Fig. 85: Vater schläft (14 J . 4 Mon.).
10. Juli. Ruth beschäftigt sich täglich mit Zeichnen, anstatt mit gleichaltrigen zu spielen. Sie ist eine Einspännernatur. 12. Juli. Ruth näht sich zum ersten Male ein Kleid, aber die Mutter hat es zugeschnitten. 17. Juli. Ruth holt mich auf dem Rade ein, während ich im Walde bei Tisvilde einen Spaziergang mache. Ich frage sie, warum sie nicht mit den andern Kindern spiele; sie antw o r t e t : Das tue ich auch hin und wieder. Aber ich langweile mich gar nicht, ich amüsiere mich gut. 20. Juli. R u t h : Ich habe es gerne, über große Probleme zu l e s e n , aber ich kann nicht verstehen, wie m a n darüber so alltäglich reden kann. 285
UVsc«.
Nähen. Wesen.
Philosophie.
Psychologie. Verständnis.
23. Juli. Es muß traurig sein, wenn man Mönch ist. 26. Juli. Vor unserem Hause hat die Heilsarmee eine Versammlung abgehalten. Ruth sagt: Wie klingt es schrecklich, aber sie meinen es ja gut. Philosophie. Ich unterhalte mich abends mit meiner Frau über Höffdings Religionsphilosophie. R u t h kommt am nächsten Morgen hinein und sagt: Ich hörte, daß ihr über Höffding spracht. Da habe ich mich gleich auf die andere Seite gelegt um einzuschlafen.
Fig. 86: Dekorationsmuster (14 J . 4 Mon.). Getroffen.
Beobachtung.
Religion.
Eltern.
30. Juli. Es wird vom Tagebuchführen gesprochen, besonders, daß manche nicht wissen, was sie in das Tagebuch schreiben sollen. Ruth sagt dazu: Man h a t selbst Schuld, wenn man nichts erlebt. •31. Juli. Die Kinder besuchen einen ländlichen Zirkus. R u t h erzählt: Das Hübscheste an der ganzen Vorstellung war die niedliche Bewegung, die die Seiltänzerin am Ende ihrer Vorführung machte. 9. August. R u t h b e k o m m t aus der Leihbibliothek in der Sommerfrische das B u c h : „Thora Esches Erinnerungen", ein Buch stark orthodoxer Richtung. Ich empfehle ihr, das Buch zu lesen, um die Menschen dieser Richtung kennen zu lernen. R u t h liest es und lacht mehrfach laut über die darin enthaltenen Naivitäten. Bald legt sie es aber mit den Worten beiseite: Nein, ich kann es nun nicht mehr aushalten. 24. August. R u t h : Ich weiß, wie mein Vater und meine Mutter sind, aber ich sage nichts. So d u m m bin ich nicht.
286
9. September. R u t h hat eine mathematische Aufgabe zu lösen, bei der von einem Polynom etwas abzuziehen ist. Gegen ihre Gewohnheit fragt sie mich um Rat. Ich antworte: Das ist doch die alte Regel, daß die Summe von Subtrahend und Resultat gleich dem Minuenden ist. R u t h : Aha! 7 — 4 = 3, weil 4 + 3 = 7 ist. 12. September. R u t h interessiert sich für Tänzerinnen und sagt von einer: Ist sie nicht schön? Dann spiegelt sie sich und sagt: Ach, wie schade ist es, daß ich so gerade Schultern habe. Das habe ich schon so bedauert. Deshalb habe ich auch immer so ein ernstes Gesicht. 19. September. R u t h erzählt eine lustige Geschichte, und die Mutter sagt: Ach, ich würde wer weiß was dafür geben, wenn ich deine muntere Laune hätte. R u t h : Ach, p h i l o s o p h i e r e du nur ruhig weiter und sei froh, daß du das kannst! Ich werde mich noch einmal blutig rächen. Ruth, schelmisch: Ja, wenn ich zu philosophieren beginne. Das meinst du doch, nicht wahr ?
f7P
Verständnis.
Interesse.
Philosophie.
, \
Fig. 87: K n a b e , auf d e m B a u c h e liegend (14 J . 5 Mon.).
2. Oktober. Wir wollen sehen, was Ruth werden will. Sie hilft ein, indem sie sagt, daß der Beruf mit einem Fremdwort bezeichnet wird. Ich rate richtig auf Journalist. R u t h n i m m t es mit Ironie auf und sagt: Nicht etwa, weil es so etwas Hohes ist, sondern weil ich so gute Aufsätze schreibe. Ruths Lebenslust ist äußerst stark. Das zeigt folgende Ä u ß e r u n g : Ehe ich das Abitur mache, muß ich unbedingt S u m a t r a gesehen haben. 287
Beruf.
Lebenslust.
Psychologie.
5. O k t o b e r . R u t h s a g t zur M u t t e r : Du bist zu g u t f ü r diese W e l t . Du gehörst in eine a n d e r e W e l t . I n dieser W e l t bist du N u m m e r E i n s , aber in der a n d e r n W e l t wirst d u N u m m e r L e t z t
l-'ig. 8 « : S o n j a , v o n R u t h g e z e i c h n e t (14 .1. 5 Mon.).
sein. Dir fehlt nämlich e t w a s . Du wirkst nicht auf andere. Du eignest dich nicht z u m F ü h r e r . Du hast nichts imponierendes. W a s meinst d u d e n n d a m i t , d a ß ich f ü r diese W e l t zu g u t b i n ? Z u n ä c h s t ist d a s ja S p a ß . A b e r S p a ß beiseite, ich glaube, d a ß du ein ungewöhnlich v e r n ü n f t i g e r Mensch bist. 288
Fig. 89: R u t h (14 J . 8 Mon.).
Dir gellt es wie der Dame, zu der F r a u H a n s e n einmal s a g t e : Sie müssen mehr auf sieh seihst v e r t r a u e n . 10. O k t o b e r . Iis wird d a r ü b e r gescherzt, d a ß ich ohne Sauce speise. R u t h s a g t : Vati wird m e h r u n d m e h r I t a l i e n e r ; n ä c h s t e n s b e k o m m t er noch d u n k l e Augen.
Ironie.
l.'i. O k t o b e r . Die M u t t e r strickt eine Mütze u n d s a g t : E s ist Verständnis. m e r k w ü r d i g , so aus Nichts etwas zu s c h a f f e n . R u t h : A n d e r s wäre es a u c h n i c h t s b e s o n d e r e s ; d a r a u f k o m m t es doch i m m e r an. 289
27. Oktober. Ruth pflegte Bilder, die ihr gefielen, in ein Buch zu kleben. Jetzt klebt sie sie aber auf Karton und erklärt: Ich klebe jetzt nicht mehr in das Buch, sondern auf Karton. Wenn mir dann ein Blatt nicht mehr gefällt, k a n n ich es wegwerfen. Hier ist schon eines, das wegkommt. Noch Kind. 31. Oktober. Ruth ist etwas mißgestimmt, weil Sonja Mutters alte Uhr | ; bekommen hat, während sie noch keine Uhr hat. |TW , j \ •') Die Mutter sagt: Du sollst aber auch in Beethovens Neunte mitgenommen / ' '"Av:-.- y**»»«-,. werden, und Sonja be- / % \ V i f . 1 k o m m t nur einen Bon- % bons. — Ich möchte lieber X ^ ^ ^ J ^ f ^ einen Bonbons haben als Beethoven hören. ¡¡Bs^a Interesse. 3. November. Ruth be- . ; 5 " V schäftigt sich immer noch ^ K j X V»««. damit, schöne Frauen aus I' *' illustrierten Zeitungen auf Karton zu kleben. W ahlspruch. 9. November. Ruth: Fig. 90: Mutter und Kind MeinWahlspruchist: Klar (14 J. 10 Mon.). sehen und milde urteilen. Pubertät. Die Mutter erzählt Ruth, daß sie in ihrer Kindheit, als sie im gleichen Alter wie R u t h war, sich über alle Dinge Rechenschaft ablegen mußte. R u t h : Dann warst du nicht wie ich, denn ich interessiere mich für nichts. R u t h ist aber doch heute in der Glyptothek gewesen. Allerdings klebt sie immer noch Bilder schöner F r a u e n auf Karton. Religion. 23. November. Ruth k o m m t freudestrahlend heim und erzählt: Ich habe drei Taufen und eine Hochzeit gesehen. Ich gehe gerne in die Kirche. Ironie. 1. Dezember. Die Mutter liest ein Stück aus der Divina Comedia vor, und zwar über die Hölle. R u t h : Ach, wie häßlich das ist, besonders aber deine Stimme. Zunehmende Kritik.
290
Fig. 92: Ein Knabe (Bunte Kreide).
(14 J. 6 Mon.).
Das sechszehnte Jahr. 3. Dezember 1924. Ruth vollendet das 15. Lebensjahr. Sie ist 161,5 cm groß. 11. Dezember. R u t h : Man muß egoistisch sein, sonst erreicht man nichts. R u t h ist in der „Zauberflöte" gewesen und soll jetzt den Film „Little Dorrit" sehen. Die Mutter sagt: Ich glaube, im Film wirst du dich mehr amüsieren als in der Oper. R u t h : Pst! Vati könnte es hören und sich ärgern. 1. Januar 1925. Es wird davon gesprochen, ob Ruth die „ J u g e n d w e i h e " erhalten soll, und R u t h äußert ihre Unzufriedenheit darüber, daß unsere Familie so klein ist und sie daher nur wenig Konfirmationsgeschenke erhalten wird. 2. Januar. Heute wird bestimmt, daß Ruth die Jugendweihe empfangen soll, und zwar in der Gruppe, in der ich die Rede zu halten habe. R u t h ist ganz davon erfüllt, welche Kleidungsstücke sie bei dieser Gelegenheit bekommen soll. 6. Januar. Ruth hat mit mir „Orpheus und E u r y d i k e " und „Coppelia" gesehen. Sie erzählt der Mutter: Die langen Opern sind noch zu hoch für mich. Es ist merkwürdig, daß dieselben Bewegungen bei den Ballettdamen ganz verschieden aussehen können. Sie hat also richtig beobachtet, daß sie zwar alle dieselben Bewegungen machen, daß sie aber bei der einen schön, bei der andern gleichgültig aussehen können. 22. März. R u t h hat heute in der Nikolaikirche die Jugendweihe erhalten. Ich habe vor ungefähr 60 Kindern die Festrede gehalten und R u t h ist froh und stolz darüber. Sie war glücklich über ihre bescheidenen Geschenke: Ein Armband, eine Halskette mit zwei Bernsteinperlen, und einen Füllfederhalter. 23. März. Ich habe vergessen, etwas Geld herauszulegen, damit R u t h einer Schulfreundin eine kleine Aufmerksamkeit zur Konfirmation erweisen kann. Sie weint bitterlich, bis die Mutter Abhilfe schafft. 6. April. R u t h wiegt 55 kg. R a s m u s s e n , Tagebuch.
19
293
Moral. Thealer Film.
u.
Konjirmationsgeschenke.
Konfirmation.
Gute Beobachtung.
Jugendweihe.
Weinen.
Gewicht.
Umzug.
6. April. Wir ziehen in die Direktordienstwohnung in der Staatlichen Lehrerhochschule, die sehr geräumig ist. R u t h ist glücklich über die neue Heimat.
13. April. R u t h h a t (Fig. 88) ein Bild von Sonja beim Spielen gezeichnet. Es ist so gut getroffen, daß man Sonjas Augen zu sehen glaubt. Literatur. Die Mutter sagt zu R u t h : Ich mache mir nichts aus „Little D o r r i t " ; das ist keine Menschenschilderung. R u t h : Ich finde, daß der Film gut ist, aber Menschenschilderung findet m a n nicht bei Dickens. Anatole France ist so geistreich, daß ich mich fast übergeben muß. Glauben. 21. April. R u t h erzählt von einem Lehrer, der zu den Konfirmanden des letzten Sonntags gesprochen h a t : Es gibt drei Wege: einer führt nach innen, einer nach außen und einer nach oben. Es gibt ja viele Menschen, die in das Universum sehen und sagen, es gibt keinen Gott. Aber es h a t Völker gegeben, die klüger waren als ihr, und die haben geglaubt, daß es einen Gott gibt. Da könnt ihr meiner Treu es wohl auch glauben. R u t h bemerkt d a z u : Als er das sagte, habe ich etwas gekichert, und die andern waren sehr verärgert. Später unterhält R u t h sich m i t einer Freundin darüber und sagt: Sieh mal, Inge, wenn ich n u n klüger wäre als du, würdest du dann glauben, daß es richtig ist, was ich sage, wenn du es nicht glauben k a n n s t ? Inge: Nein, nein, aber dennoch . . . 25. Mai. R u t h liest Selma Lagerlöfs „Gösta Berling" und findet es sehr schön. Ironie. 1. Juli. Es wird davon gesprochen, daß ich in der letzten Zeit auffällig schwerhörig gewesen bin und ich sage zur Erklärung: Das macht meine Nase (nämlich: deren K a t a r r h ist an der Schwerhörigkeit Schuld). R u t h entgegnet: Du sollst mit deiner Stimme zum Ballett gehen. Reue. 5. Juli. R u t h ist v e r s t i m m t darüber, daß bei der Reise nach -Tisvilde ihre Zahnbürste vergessen worden ist. Ich schelte mit ihr und erinnere sie daran, daß die Mutter durch die Reise viel Arbeit gehabt hat. Am nächsten Tage k o m m t R u t h zur Mutter und zu mir, k ü ß t uns und bittet um Verzeihung.
Lektüre.
294
F i g . 93: R u t h (15 J . 6 Mon.).
8. Juli. Die M u t t e r : W e n n du mit Fremden sprichst, m u ß t du auf dich achten und dich etwas besonnen ausdrücken. R u t h : Aber warum d e n n ? W e n n mir etwas einfällt, soll ich es dann nicht sagen ? 11. Juli. Die M u t t e r : Nun will ich aber richtig schlafen, und dann werde ich morgen n e t t zu euch allen sein. R u t h : W e r d e ich aber einen Schreck b e k o m m e n , wenn ich morgen M u t t e r mit einem Heiligenscheine sehe! 13. Juli. Die M u t t e r : W a r u m hast du mich denn eigentlich so lieb ? R u t h : Weil du dich mit einem so lieben V a t e r verheiratet hast. 15. Juli. R u t h sagt anläßlich der Rezitation eines Schauspielers in der S o m m e r f r i s c h e : E s war eigentlich ein Skandal, wenn es nicht so komisch gewesen wäre. Aber es war so unsagbar komisch. 29. Juli. R u t h schreit in einem schweren T r a u m m i t t e n in der Nacht auf. Sie geht zunächst zur Mutter, dann zu mir ins B e t t und schläft beruhigt wieder ein. 19*
295
Natürlich.
Ironie.
Liebe.
Ethik.
Vertrauen.
Beobachtung.
2. August. R u t h f r a g t : W a r u m heißt es eigentlich: le petit chaperon rouge, es ist doch ein Mädchen ? Das Wunder. S . A u g u s t . R u t h sagt: Es ist doch merkwürdig, daß die Milch dick wird. Ich: Das ist doch nicht merkwürdig, das k o m m t doch von den Milchsäurebakterien. Das nimmt mir aber R u t h sehr übel und s a g t : Vati will niemals haben, daß etwas wunderbar ist. Sobald m a n sagt, es ist wunderbar, daß die Sonne aufgeht und untergeht, sagt V a t i : Das k o m m t daher, daß die Erde sich um ihre Achse dreht. Es hilft auch nichts, daß im Grunde alles wunderbar sei, wenn man es auch erklären könne. Sie ist erzürnt, weil das „ W u n d e r " verloren gegangen ist. Kritik.
Beobachtung. Scherz.
Beobachtung.
Geschmack.
5. August. Die Mutter liest R u t h eine kleine Novelle aus einer Zeitschrift vor und karikiert dabei die etwas zu hochtrabende Sprache im Gegensatz zum dürftigen Inhalt mit den W o r t e n : Das ist eine Fünf-Groschen-Torte. Ruth f r a g t : Woher kennt er (der Verfasser) sie (die Heldin) so gut ? — E r steckt ja in ihr drin. — Wie kann er dann wissen, wie sie aussieht ? 17. Oktober. Ruth sieht ein Ballett und sagt u. a.: Wie wundervoll h a t der Clown seine Verzweiflung dargestellt. Sonja h a t einen neuen H u t bekommen. R u t h begutachtet ihn mit den W o r t e n : Auf den kann man sich auch nicht recht oft setzen. 11. November. Ruth hört einen schwedischen Vortrag über Schweden (die Skandinavier können auch stets die beiden anderen skandinavischen Sprachen verstehen, ohne sie zu sprechen). Sie sagt dazu: Wie schwer ist es doch, in einer fremden Sprache zu reden. Jedesmal, wenn Frau Hansson das dänische W o r t „ W a l d " sagen wollte, unterbrach sie ihren Redefluß, holte tief Atem und brachte dann das Wort immer noch in falscher Aussprache heraus. 29. November. Ich komme von einer Reise aus Paris zurück und habe u. a. einige Reproduktionen von Plastiken mitgebracht, Michelangelos „Sklave", die „Venus von Milo" u. a. m. R u t h will sie aber nicht in ihrem Zimmer haben und erbittet sich lieber Zeichnungen. 296
Das siebzehnte J a h r . 3. Dezember 1925. Ruth vollendet das 16. Lebensjahr und ist 163,5 cm groß. Sie hat Mitschülerinnen aus der neuen Mädchenschule und Mitschüler aus der alten (Koedukations-) schule eingeladen, außerdem sind vier Brüder aus der Bek a n n t s c h a f t da, deren ältester bereits studiert. So wird denn fleißig getanzt.
F i g .