Ruth Berghaus und Paul Dessau: Komponieren – Choreographieren – Inszenieren [1 ed.] 9783412500719, 9783412500696


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Ruth Berghaus und Paul Dessau: Komponieren – Choreographieren – Inszenieren [1 ed.]
 9783412500719, 9783412500696

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Ruth Berghaus und Paul Dessau Komponieren – Choreographieren – Inszenieren

KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft

Nina Noeske, Matthias Tischer (Hg.)

KlangZeiten

Musik, Politik und Gesellschaft Band 14 Herausgegeben von

Detlef Altenburg (†) Michael Berg Albrecht von Massow

Ruth Berghaus und Paul Dessau Komponieren – Choreographieren – Inszenieren

Herausgegeben von

Nina Noeske und Matthias Tischer

Mit 34 Abbildungen

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Marion Schöne, Szene mit Reiner Süß als Puntila. Berlin, 1966. Stiftung Stadtmuseum Berlin – Archiv der Deutschen Staatsoper. Inv.-Nr.: SM 2013-2646, 12728. Reproduktion: Friedhelm Hoffmann, Berlin Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch.

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50071-9

Inhalt Vorwort................................................................................................................................... 1 Claudia Jeschke Körperinszenierungen in der Tanztheater-Kultur der DDR: Zum Beispiel Ruth Berghaus............................................................................................... 3 Gunhild Oberzaucher-Schüller »Puppchen, du bist mein Augenstern« – Über den Wandel des Stellenwerts der Musik im Werkverständnis der Choreographin Ruth Berghaus.................................................................................... 13 Lars Klingberg Ruth Berghaus’ Lukullus-Inszenierungen.......................................................................... 27 Matthias Tischer Puntila. Anatomie einer Inszenierung................................................................................ 49 Nina Noeske Wie unter einer Glasglocke: Leonce und Lena von Berghaus und Dessau....................................................................... 67 Gerd Rienäcker (†) Ruth Berghaus inszeniert Paul Dessau............................................................................. 85 Elaine Kelly Ruth Berghaus and the Rise of post-Brechtian Opera................................................... 99 Nina Noeske Berghaus’ Inszenierung von Siegfried Matthus’ Cornet (1985).................................... 115 Die Autorinnen und Autoren........................................................................................... 127

Vorwort Vorliegender Band versammelt die Beiträge der internationalen Tagung Komposition – Choreographie – Inszenierung: Ruth Berghaus & Paul Dessau, die am 26. und 27. Septem­ ber 2014 an der Universität Salzburg stattfand – bereichert um jeweils einen zusätzli­ chen Beitrag von Gerd Rienäcker sowie der Herausgeberin. Schon lange steht die Frage im Raum, inwieweit die Wissenschaft einen Zugang zu kreativen Gruppenprozessen hat. Den Anfang sollten Künstlerpaare machen, etwa Mag und Jack White, John Lennon und Paul McCartney, Marta und György Kurtág. Die Auswahl ist eher zufällig, wenn auch nicht beliebig. Es ging uns um Paa­ re, die künstlerisch einander beflügeln und keineswegs behindern oder auf destrukti­ ve Weise miteinander konkurrieren. Die Wahl fiel auf zwei herausragende Künstler­ persönlichkeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Grand Dame der Regie, Ruth Berghaus, und ihren Ehemann, die graue Eminenz des Musiklebens in der DDR, Paul Dessau. Dessau (Jahrgang 1894) hatte in den 50er Jahren Berghaus (Jahrgang 1927) ans Theater geholt und ihr den Weg von der Tanztheater­ zur Opernregie geebnet. Er schrieb ihr Tanz­Szenen (1958 und 1959), und sie inszenierte alle seine Opern, teilweise, wie im Falle von Die Verurteilung des Lukullus, mehrfach. Die Lebens­ und Schaffensgemeinschaft von Berghaus und Dessau strahlte auf eine ganze Generation jüngerer Künstler aus, denen sie in ihrem Haus in Zeuthen einen Ort des Austauschs boten, wie er in der DDR einmalig war. Die hier versammelten Beiträge bieten ein Prisma der Lesarten und Deutungsansätze des Theaters von Berghaus und Dessau. Den Anfang macht Claudia Jeschke mit dem Ansatz, »die komplexen soziokultu­ rellen und politischen Lesarten von Körperinszenierungen und Tanz zu DDR­Zeiten zu systematisieren«1, und zwar im Spannungsfeld von künstlerischem Wollen und staatlichem Sollen im Kontext des Kalten Krieges mit seiner globalen Ballett­Diplo­ matie. Gunhild Oberzaucher­Schüllers Beitrag Über den Wandel des Stellenwerts der Musik im Werkverständnis der Choreographin Ruth Berghaus verortet die Arbeit der Regis­ seurin in einer ebenso deutschen wie weiblichen Traditionslinie. Die beiden ersten Beiträge ergänzen sich in der Grundlegung einer autonomen Ästhetik der Bewegung. Keine Oper ihres Mannes inszenierte Ruth Berghaus so oft wie die Brecht­Oper Lu­ kullus, jenen kulturpolitischen Stein des Anstoßes in der DDR der frühen 50er Jahre. Lars Klingberg zeichnet in seinem Beitrag anhand des Lukullus die Emanzipation der Berghaus – gemeinsam mit Karl Mickel und Heiner Müller – von Brecht, aber auch von Dessau im Zuge der Ausprägung einer eigenen Ästhetik nach. Im Anschluss vertritt der Herausgeber die These, dass Berghaus und Dessau in ihrem Bestreben, einen ›autonomen artistischen Realismus‹ auszuprägen, gleichermaßen in Anlehnung an den wie in Abgrenzung vom offiziösen Sozialistischen Realismus sich gegenseitig bis zu Dessaus Tod 1979 beflügelten; gleichsam im Ringen um ein dialektisches Musiktheater mit Brecht, nach Brecht, über Brecht hinaus. Nina Noeske spürt an­ 1

Vgl. Claudia Jeschkes Beitrag in diesem Band, S. 3.

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VORWORT

hand der letzten Oper von Paul Dessau, Leonce und Lena, dem gesellschaftlichen Laborcharakter der Bühnenkunst des Künstlerpaars nach, bevor Gerd Rienäcker aus der Perspektive des Zeitzeugen Berghaus’ Schaffen Revue passieren lässt. Elaine Kelly beschäftigt sich mit Berghaus’ post­Brechtischer Inszenierungspraxis. Den Ab­ schluss macht die Herausgeberin mit einem Beitrag über die Inszenierung von Sieg­ fried Matthus’ Oper Cornet. Wir danken allen Archiven und Personen, die uns Quellen zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben, namentlich der Akademie der Künste, Berlin, dem Theaterarchiv, Berlin, dem Deutschen Rundfunkarchiv sowie natürlich Herrn Maxim Dessau. Nina Noeske und Matthias Tischer Hamburg und Berlin, im Januar 2018

Körperinszenierungen in der Tanztheater-Kultur der DDR: Zum Beispiel Ruth Berghaus Claudia Jeschke »Ich will keine geschlossene Aufführung, kein So-ist-Es-und-so-bleibt-Es, keine Verhärtung, keine Versteinerung, keine Stagnation.« (Ruth Berghaus, 1983)1

*** In den Hinweisen der Sekundärliteratur zu ihrer Biographie wird Ruth Berghaus als Tänzerin, Choreographin und Regisseurin geführt. Ihr professionelles – bewegungsorientiertes wie tanzaffines – Profil, so die Rezeption, ist u.a. bestimmt von präzisen und prägnanten Körperinszenierungen, sowohl in der physischen Charakterisierung von Einzelpersonen, in der Gestaltung von Interaktionen als auch von Gruppen-Aktivitäten. Diese Körperinszenierungen sind (und sie erlauben), so Georg-Friedrich Kühn in einem Nachruf auf Ruth Berghaus, »Forschungen«, »unablässiges Nachdenken«. Kühn betont, wie einflussreich Berghaus’ Studium bei Gret Palucca zwischen 1947 und 1951 für ihre szenische Phantasie gewesen sei: »Daher rührt bei ihr dieses spezifische Gefühl für den Körper und seine Kraft im Raum, und wie man den Raum und seine Kraftlinien für eine bestimmte Aussage zum Sprechen bringt; dieses Gespür für nicht-naturalistische Bewegungsformen, und wie man den Sinn eines Vorgangs oder einer Figur umsetzt in Form, indem man nicht einfach den Vorgang zeigt, sondern mit den Darstellern improvisierend zu finden sucht, was ›dahinter‹ ist, seine ›Übersetzung‹.«2

Dass das System Palucca im Fall der Körperregie von Ruth Berghaus (möglicherweise) zu kurz greift, sei an dieser Stelle angedeutet. Im Folgenden werde ich versuchen, die komplexen soziokulturellen und politischen Lesarten von Körperinszenierungen und Tanz zu DDR-Zeiten zu systematisieren, mit denen sich die Tanz- und Theaterschaffenden, also auch Gret Palucca und Ruth Berghaus, konfrontiert sahen. Berghaus hat, wie viele andere auch, diese hochideologischen Lesarten für sich modifiziert, mit ihren persönlichen Signaturen versehen. Immerhin verordnete die Kulturpolitik der DDR ein vielfältiges Repertoire an Körper- und Bewegungskonzepten – ein Repertoire, das sich entsprechend der Maßgaben der Partei entwickelte und veränderte, während des 40-jährigen Bestehens der DDR jedoch niemals aus der öffentlichen Diskussion verschwand. Die politisch ordinierten Körperkonzepte und ihre affirmativen wie subversiven Wandlungen und Überformungen sind das Thema meiner Ausführungen. Ruth Berghaus war in diese Geschichte eingebunden; der Überblick über deren programmatische Facetten dürfte, so die Intention meiner Beschäftigung, nicht nur einen 1

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Georg-Friedrich Kühn: Kraftwerk, Theatertier, sterbender Schwan. Die Regisseurin Ruth Berghaus. Online: https://www.gf-kuehn.de/oper/bergh/berghess.htm (3. Juni 2018). Georg-Friedrich Kühn: Kraftwerk, Theatertier, sterbender Schwan. Die Regisseurin Ruth Berghaus, in: NZZ, 15. Oktober 1996. Online: http://www.gf-kuehn.de/oper/bergh/berghess.htm (15. September 2017).

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CLAUDIA JESCHKE

zentralen Aspekt der ostdeutschen Kulturpolitik beschreiben, sondern auch je zeittypische Materialien und Konzepte als ästhetische Referenzsysteme für den Umgang mit Körper und Bewegung in der DDR (und im Fall von Ruth Berghaus auch darüber hinaus) isolieren. Dies kann hier nur überblicksartig geschehen – es werden pro futuro weitere Überlegungen notwendig sein, um diese Referenzsysteme mit den Ästhetiken bestimmter Berghaus-Inszenierungen bzw. den kinästhetischen Effekten spezifischer Aufführungen in direkte Verbindungen zu bringen. Die Formalismus-Realismus-Debatte Der Zusammenbruch der DDR und die schwierige Gestaltung eines nunmehr gesamtdeutschen Kulturlebens brachten grundlegende Funktions- und Strukturwandel mit sich – auch im Bereich des Tanzes, der sich mit wesentlichen inhaltlichen und organisatorischen Veränderungen konfrontiert sah.3 Das Spektrum dieser Veränderungen nach 1989 maß sich entscheidend an den spezifischen Bedingungen, unter denen sich in den Anfangsjahren der DDR der Tanz als Kulturinstrument etablierte: In den konstitutiven 1950er Jahren entwickelten sich sein Auftrag der politischen und sozialen Repräsentation wie sein subversives Potential. Nach einer der Entnazifizierung dienenden Übergangsphase als sowjetische Besatzungszone (1945–1949) definierte sich der ostdeutsche Staat als antifaschistische Diktatur für das Proletariat – eine Diktatur, die in Regierung und Gesellschaft sowjetische Strukturen übernahm, einschließlich der autoritären Führung durch eine kommunistische Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Auf die Gründung des Kulturbundes 1945 folgte 1948 der erste Kulturtag der SED, bei dem sich eine richtungsweisende Verlagerung des Schwerpunktes in den Grundforderungen vollzog, die bislang an die Kultur gestellt worden waren. 4 Die anfängliche Forderung nach einer entnazifizierten Kultur wandelte sich zur Forderung nach einer sozialistischen Kultur; dadurch wurde es möglich, die Kunstschaffenden an bestimmte Richtlinien, genauer: an die sogenannte Realismus-Debatte zu binden. Infolge dieser allgemeinen Debatte entstand die spezifische Diskussion über die Umsetzungsmöglichkeiten der Forderungen im Tanz. 1953 fand in Berlin eine theoretische Konferenz der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten statt, die die bisherige Entwicklung des Tanzes in der 3

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Dass Ruth Berghaus als ›Wanderin zwischen den Welten‹ operierte, wurde vielfach – kritisch wie bewundernd – angemerkt. »Kunst und Leben müssen aufs das engste miteinander verbunden sein. Realismus in der Kunst bedeutet keine besondere Kunstform, Stilart oder Kunstrichtung, sondern eine künstlerische Grundhaltung, die sich an dem gesellschaftlichen Geschehen unserer Zeit orientiert. Aus der Tatsache, dass eine grundlegende neue Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Werden ist, erwächst der Kunst die Verpflichtung, den Inhalt dieser sich gestaltenden neuen Ordnung zum Inhalt des Kunstschaffens unserer Zeit zu machen. Abzulehnen sind jene zeitbedingten Tendenzen in der Kunst, die Ausdruck einer überlebten Gesellschaftsordnung sind und sich in kulturpessimistischen, den Fortschritt negierenden Strömungen äußern.« Gerd Dietrich: Politik und Kultur in der SBZ 1945–1949, Bern 1993, S. 291, Dokument 38.

Körperinszenierungen in der Tanztheater-Kultur der DDR

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DDR kritisch resümierte und mithin nach Möglichkeiten suchte, die kulturpolitischen Maßgaben des Staates zu erfüllen. Es ging im Wesentlichen um die ideologische, ästhetische und technische Bedeutung des klassischen Balletts und des Volkstanzes im Vergleich zum deutschen Ausdruckstanz aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen sowie um die Frage, wie der Mangel an realistischen Libretti behoben werden könne. Auszüge aus Martin Sporcks Artikel zum Realismus im Tanz, veröffentlicht aus Anlass der Konferenz von 1953, machen das sozial- und kulturpolitische Programm am Beispiel einer Beschreibung deutlich, die gegen die Solotänze einer Ausdruckstanz-Protagonistin, Mary Wigman, so polemisiert: »Formen aus dem Nichts, zerplatzend ins Nichts, ein Künstler, der sein Bewusstsein vollkom men ausschaltet – was ist dieses Bekenntnis anderes als reiner Formalismus? Der ›Raum‹ wird verabsolutiert, die Raumkomposition dient nicht der Aussage des Inhalts, sondern ist Selbstzweck, entsprungen aus geheimnisvollen, metaphysischen Raumvorgängen. Die Musik wird nicht in ihrem Inhalt tänzerisch ausgedrückt, sondern abstrakt in ihren Tönen, und Rhythmen werden in ebenso abstrakte Bewegungen umgesetzt. Soweit von einer Aussage gesprochen werden kann, sind es sehr abstrakte ›allgemein-menschliche‹ Gedanken und Gefühle, in Verkennung der Tatsache, dass es in einer Klassengesellschaft keine solchen ›allgemein-menschlichen‹ Gefühle geben kann.« 5

Sporcks programmatischer Artikel priorisiert hingegen den Volkstanz und das sowjetische Ballett: »Die Erneuerung des Tanzes kann nicht von der Form her erfolgen, sondern vom Inhalt. Er füllt den Tanz mit neuem gesellschaftlichen Inhalt, dann werden auch die neuen Formen entstehen, die diesem Inhalt gerecht werden. Das Gebiet, das in dieser Beziehung das Ballett am wirksamsten bereichern kann, ist meines Erachtens der deutsche Volkstanz. […] Im Volkstanz äußert sich am unmittelbarsten der nationale Charakter im Tanz. […] Was wir brauchen, sind also neue Ballette, sozialistisch im Inhalt und national in der Form, ist die hohe künstlerische Meisterschaft, ist ein Tänzer von neuem Typus, der, dem Leben zu gewandt, seine Gedanken und Gefühle der Volksmassen verbindet und seinem Volke als ganze Kraft dient.«6

Palucca und der Neue Künstlerische Tanz Gret Palucca, Schülerin von Mary Wigman, galt als eine der wesentlichen Pionierinnen des Ausdruckstanzes – als eine Pionierin mit (von bildender Kunst und Musik geprägter) abstrakter Ästhetik und improvisatorischer Arbeitsweise, auf die ich hier anhand einiger mir symptomatisch erscheinender Aussagen Paluccas nur kurz verweisen kann. 5

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Martin Sporck: Realismus im Tanz, in: Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten. Hauptabteilung künstlerischer Nachwuchs und Lehranstalten (Hg.): Realismus im Tanz, Dresden 1953, S. 7–15, hier S. 13. Ebd., S. 13f.

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CLAUDIA JESCHKE

Zur bildenden Kunst: »Kolbe’s Tänzerin […] ist für mich die künstlerisch erschöpfende und zeitgemäße Darstellung einer tänzerischen Geste. Was mir persönlich sehr liegt, hat auch die Skulptur: Verhaltenheit. Der Spannungsvorgang ist nicht eindeutig greifbar formuliert, er bleibt verhüllt. Daher die starke Ausstrahlung. Und ein zweites hat die Skulptur: Gelassenheit. Nichts von sichtbarer Anstrengung oder Übertreibung, sondern Selbstverständlichkeit, Überlegenheit, Ruhe in der Bewegung und daher Schönheit.«7

Zur Musik: »Der Tanz bleibt […] primär. Seine innere Form verbindet sich mit der inneren Form der Musik, und die Arbeit am Tanz ist die Durchführung des thematischen Materials im Einklang mit der Musik. So entsteht eine Zwei-Einheit, das, was für mich der neue Tanz ist.« 8

Zur Arbeitsweise: »Jede Improvisation ist einmalig. Ich kann keine Bewegung, keinen Rhythmus, keinen Spannungszusammenhang genau so wiederholen, auch wenn die Musik wiederholt würde. Alles fließt, und die Vergänglichkeit ist vielleicht das Schönste daran. Erregend und belebend die restlose Konzentration auf den Augenblick.« 9

Und: »Wenn ein Tanz fertig ist, beschäftigt er mich ebensosehr wie im Entstehen. Ich kann ihn hundertmal tanzen und habe doch nie das Gefühl der bloßen Wiederholung. Er entwickelt sich mit mir, verändert sich im Ausdruck, oft sogar in der Melodie, wenn auch die Grundform bleibt.«10

Paluccas bürgerlicher Individualstil entsprach somit nicht der Doktrin der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten in der DDR. Auch ihre politische Vergangenheit ließ weltanschauliche Zweifel aufkommen, war sie doch 1936 zur Eröffnung der Olympischen Spiele eingeladen worden, ein Solo zu tanzen; sie hatte sich somit im Zentrum nationalsozialistischer Programmatik und Aktivitäten befunden. Obwohl sie ihre Dresdner Schule 1939 wegen ihrer teilweise jüdischen Herkunft schließen musste, konnte sie als einzige der modernen Tänzerinnen und Tänzer ihre Solokarriere, wenn auch eingeschränkt, während des Krieges fortsetzen. Ihre Karriere in Ostdeutschland zeigt, dass sie sich – ähnlich unangefochten/angefochten – auch durch die ideologischen Regularien des sozialistischen Regimes manövrierte. Mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht, die in Palucca eine renommierte und deshalb wertvolle Pädagogin und Kulturfunktionärin sah, öffnete sie unmittelbar nach Kriegsende 1945 ihre Schule im zerbombten Dresden. 11 Palucca blieb weiterhin geschätzt wegen ihrer tanztechnischen Fähigkeiten und ihrer abstrakten Choreo7

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Huguette Duvoisin und René Radrizzani (Hg.): Gret Palucca. Schriften, Interviews, Tanzmanuskripte, Basel 2008, S. 152f. Ebd., S. 145. Ebd., S. 147. Ebd., S. 147f. Vgl. z.B. Ralf Stabel: Tanz, Palucca! Die Verkörperung einer Leidenschaft, Berlin 2001, S. 136–138.

Körperinszenierungen in der Tanztheater-Kultur der DDR

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graphien, die sich mit Stimmungen und ausdrucksstarken Körperdarstellungen befassten; eine Technik oder ein pädagogisches System entwickelte sie jedoch nie. Dennoch beeinflussten sie und der von ihr geschaffene ›Neue Künstlerische Tanz‹ (NKT) mehrere Generationen von Tänzern und Choreographen in Ostdeutschland – ein Einfluss, der ihrer Entschlossenheit geschuldet war, ihren ganz persönlichen Zugang zum Tanz zu vermitteln. Paluccas Erfolg und Ruhm immunisierte sie und ihre Schule wenigstens teil- und zeitweise gegen die Zensur, doch hatte sie immer wieder ihr auf dem Ausdruckstanz basierendes Vokabular und Unterrichten zu rechtfertigen. Zurück zu den konstituierenden Jahren der Palucca-Schule. Ein 1953 von der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, Hauptabteilung für künstlerischen Nachwuchs und Lehranstalten herausgegebener Artikel mit dem Titel Besuch bei Palucca zeigt einmal mehr und beispielhaft konkret, dass sich Paluccas persönliche Arbeit kaum mit den staatlichen Maßgaben vereinbaren ließ, dass offiziell aber immer wieder wohlwollend und geduldig das Bemühen der Schule um den Realismus im Tanz heraufbeschworen wird. Damals schon gestellte Fragen und Konflikte bleiben bis zum Tod Paluccas 1993 virulent und – ungelöst. Hier ein kurzer Ausschnitt aus dem erwähnten Artikel von 1953: »Was hier [in der Palucca-Schule] in aller Stille erarbeitet wird, ist in der Tat geeignet, den künstlerischen Tanz auf eine breite Basis zu stellen. Palucca geht es um den ›neuen künstlerischen Tanz‹ (während ihr die Vokabel Ausdruckstanz fremd ist). Es geht ihr um einen Tanz, der unser verändertes Lebensgefühl wiedergibt, der nach neuen Formen sucht, ohne auf wohlfundamentierte technische Grundlagen zu verzichten. Dass die Palucca-Schule bei der Ausbildung zum Kunsttanz in jedem Fall das Exerzitium des klassischen Balletts lehrt, ist nicht allgemein bekannt. Erst nach einigen Semestern können und müssen sich die Studierenden entscheiden, welchen Weg sie zu gehen beabsichtigen – ob sie sich der von Palucca gepflegten Richtung oder der des klassischen Bühnentanzes (wie er vorwiegend an den Operntheatern ge fordert wird) zuwenden. Zunächst einmal werden sie aber von Palucca an die Kandare genommen: die Jungen und Mädel [sic] müssen das Gehen und Schreiten, die Beintechnik und die Sprünge lernen; sie müssen die Herrschaft über ihren Körper gewinnen und das Mechanische zugunsten des sinnvollen Ausdrucks abstreifen. Diesem Ziel dienen die tanztechnischen Etüden, die von zwei Mitarbeiterinnen Paluccas entwickelt wurden und die Grundlage des Selbststudiums sind: ›Zurück zum Realismus im Tanz‹.«12

Palucca und Berghaus Ob Ruth Berghaus eine der beiden hier genannten Mitarbeiterinnen war, ist nicht belegt. Sie könnte es aber gewesen sein. Ihrer positiv wie negativ interpretierbaren Aussage »Niemand weiß, wer Palucca war, ist oder sein wird« 13 folgt die ›Palucca-Schülerin‹ und ausgebildete Tanzregisseurin (nicht Tänzerin) Ruth Berghaus zu Beginn der 1950er Jahre einerseits mit Loyalität, andererseits durch Emanzipation und Profilie12 13

Sporck: Realismus im Tanz (Anm. 5), S. 45f. Ralf Stabel: Vorwärts, Rückwärts, Seitwärts mit und ohne Frontveränderung, Wilhelmshaven 2001, S. 11.

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CLAUDIA JESCHKE

rung. 1952 leitet sie die Meisterklasse an der Berliner Dependance der Schule, die an der Deutschen Akademie der Künste eingerichtet wurde, um Tanzregisseure auszubilden. Berghaus’ Aufgabe ist, Tanzpantomimen und Ballette mit neuen realistischen Inhalten zu schaffen. Diese Meisterklasse besteht nur ein Jahr. Zwischen 1954 und 1956 tritt die Schule mit Einstudierungen an die Öffentlichkeit. Palucca selbst wird zum ersten Mal als Choreographin geführt; ihre Arbeiten finden positive Resonanz als »sichtbare Musik«14, als »Ausdrucksbilder der Musik«15. Zu diesen Aufführungen steuert auch Ruth Berghaus eigene Tanz-Kompositionen bei – Ralf Stabel, der Biograph der Palucca-Schule, schätzt diese Beiträge so ein: »Den größten Erfolg allerdings hat Ruth Berghaus mit ihren Einstudierungen ›Zugvögel‹ und ›Die den Himmel verdunkeln sind unsere Feinde‹, mit denen sie einerseits den kulturpolitischen Forderungen nach Gestaltung des neuen Lebens und seiner Probleme – in diesem Fall der Kriegsbedrohung durch die atomare Aufrüstung – nachkommt, andererseits dazu aber die Mittel des Neuen Künstlerischen Tanzes verwendet.« 16

Berghaus selbst bestätigt – Palucca-loyal wie linientreu – in einem Artikel Wie die Tanzszenen ›Zugvögel‹ entstanden die angepasste bzw. anpassungsfähige Relevanz des Neuen Künstlerischen Tanzes für diese Choreographie: »Ich las in der Zeitung, daß Zugvögel ihren gewohnten, jahrtausendelang benutzten Weg in den Süden ändern, wenn sie auf Landschaften stoßen, die von Atomstaubregen verseucht sind. Dieser für eine Tanzgestaltung geradezu prädestinierte Vorgang schien mir geeignet, zu zeigen, wie notwendig es ist, daß die Menschen endlich eine neue Bahn ihres gemeinsamen Lebens finden: ohne Kriegsleiden, den Weg des Sozialismus. Das Festprogramm des Zentralrates der FDJ anläßlich der Verleihung des Erich-Weinert-Preises gab mir Gelegenheit, dieses Thema [...] zunächst sehr gerafft, in loser, aber eindringlicher Beziehung zu den anderen künstlerischen Aussagen (Chor, Rezitation, politisches Kabarett) zu entwickeln. Es war ein willkommener Anlaß, zu beweisen, welche wirkungsvolle Mittel der Neue Künstlerische Tanz besitzt, zur Agit-Prop-Arbeit beizutragen.«17

Trotz der offensichtlichen Bemühungen von Ruth Berghaus gelingt die von Palucca angestrebte Priorisierung des, unter sozialistischer Perspektive: dubiosen, Neuen Künstlerischen Tanzes im Lehrplan der Schule in den 1950er Jahren nicht wirklich. Der Konflikt wird 1960 camoufliert durch die Gliederung der Schule in die zwei Abteilungen Klassischer Tanz und Neuer Künstlerischer Tanz. 1958 nimmt Berghaus an der Palucca-Schule die Produktion Die den Himmel verdunkeln, sind unsere Feinde, Musik: Paul Dessau,18 wieder auf und kreiert in den Folge14 15 16

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Ebd., S. 224. Ebd. Ebd. Sigrid Neef: Das Theater der Ruth Berghaus, Berlin 1989, vermittelt auf S. 14, Abb. 5, dass die Titel Zugvögel und Die den Himmel verdunkeln, sind unsere Feinde dasselbe Stück bezeichnen. Neef: Theater (Anm. 16), S. 14; Original in: Sonntag 9 (1958). Paul Dessau berichtet hierzu: »Am 14. Juni 1958 wird eine Tanzscene, betitelt: ›Die den Him mel verdunkeln, sind unsere Feinde‹, in Bitterfeld vor eintausend Arbeitern erstmalig aufgeführt. Ruth hat das Libretto verfasst, den begabten Lyriker Jens Gerlach, den Musiker Reiner Bredemeyer und den grossartigen Sprecher Ekkehard Schall herangezogen, und auch den Schluss ›Proletarier aller Länder‹ initiiert. Ruth hat eine kühne, hervorragende Arbeit geleistet.

Körperinszenierungen in der Tanztheater-Kultur der DDR

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jahren im Rahmen von Schulaufführungen drei weitere größere eigenständige Choreographien: Flug zur Sonne (1959), Hände weg! (1962) – beide ebenso zur Musik von Paul Dessau – und Das Katzenhaus (1963), Musik: Reiner Bredemeyer. 19 In einer Dokumentationsreihe des Fernsehens der DDR erläutert Berghaus ihre Arbeit am Katzenhaus20 und erklärt, wie sie die Bewegungen der Katzen von deren sozialem Stand abgeleitet hat. Damit passte das sowjetische Märchen von den armen und den reichen Katzen inhaltlich ins Konzept von der Bildung des sozialistischen Bewusstseins. Berghaus’ Körperinszenierungen und Choreographien für die Palucca-Schule sind geprägt von einer habituellen und damit zeichenhaften Bewegungs- und Gestensprache, die Sigrid Neef so beschreibt: »Charakteristisch für Werke und Inszenierungen waren eine epische Erzählstruktur und Darstellungsweise bei einer gleichzeitig streng-gebauten politisch-philosophisch orientierten Fabel. Als Tanz-Szenen oder auch Tanz-Essay bezeichnet, standen sie weder in der Tradition des Klassischen Balletts noch in der des Volkstanzes, auch mit dem Begriff des Neuen Künstlerischen Tanzes waren sie nicht völlig zu erfassen.«21

Diese Einschätzung möchte ich modifizieren. Einflüsse von Tanztheater und Volkstanz Jenseits ihrer sozialistischen Überzeugung lag Berghaus’ ästhetische, bewegungstechnische wie choreographische Signatur wohl in der besonderen Mischung der zentralen körperinszenatorischen Angebote in der DDR der 1960er Jahre – Angebote, die öffentlich diskutiert (auch von ihr) und vielerorts praktiziert wurden. In diesem Klima lässt sich Berghaus trotz ihrer Proklamation der politischen Dimension des Neuen Künstlerischen Tanzes kaum eindeutig platzieren. Sie ist sicherlich infiziert von der generellen Diskussion um den Realismus im Tanz; ihre Arbeiten zeigen eine deutliche Affinität zu dessen Kategorien, die sich in der DDR vor allem im Ballett (genannt Tanztheater) präsentierten. Darüber hinaus dürfte sie auch Charakteristika aus dem Volkstanz-nahen Konzept der ›Gemeinschaft der Tanzenden‹ assimiliert haben. Das ›Tanztheater‹ der DDR entstand unter dem Einfluss von Walter Felsenstein, dem künstlerischen Direktor der Komischen Oper in Berlin. Dessen Konzept auf

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Wir alle, die wir teilhaben an dieser Arbeit, haben den Vorstoss in eine neue, sozialistische Kunst mitbewirkt. Die eintausend Bitterfelder Arbeiter haben dies durch ihr einmütiges Bekenntnis bezeugt.« Paul Dessau: »Let’s hope fort he best«. Briefe und Notizbücher aus den Jahren 19481978, Berlin 2000, S. 70. Die Ausstattung stammte für alle Arbeiten außer zu Die den Himmel verdunkeln… von Achim Freyer.

Vgl. Film: Von der Ballettstange zur Bühne (Besuch in der Palucca Schule), Tanzarchiv Leipzig, e.V., Signatur DVD 495; VC 196; KC 53. Neef: Theater (Anm. 16), S. 12.

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CLAUDIA JESCHKE

den Tanz übertragend, vertrat einer der auch international erfolgreichsten ostdeutschen Choreographen, Tom Schilling, folgende Ansicht: »Ich meine […], daß das realistische Tanztheater seine Bezogenheit zur Realität nicht nur vom Inhaltlichen her gewinnt, indem es einen Ausschnitt der Wirklichkeit, des realen Lebens szenisch umsetzt, sondern daß auch diese Umsetzung, die szenische Gestaltung unverwechselbar tänzerisch und ausschließlich mit tänzerischen Mitteln geschieht, und zwar so, daß der Tanz – natürlich in Verbindung mit der Musik – als wirklich glaubwürdige Erzählweise der Geschichte, der Fabel – oder auch lediglich der musikalischen Vorlage – erscheint, daß gewissermaßen die szenische Darstellung sich selbst begründet und sich als letztlich einzig mögliche Gestaltungsweise legitimiert.«22

Für Tom Schilling erwies sich der Realismus im Tanz vor allem als Struktur oder auch als Rahmen, innerhalb dessen er Inhalte psychologisch modifizierte, indem er etwa Ballett-Klassiker aus der vorsowjetischen wie der sowjetischen Zeit choreographisch umgestaltete: Er spielte mit dem klassischen Vokabular, wandelte es ab, fragmentierte und kombinierte es mit modernen, zeitgenössischen Tanzidiomen. Schillings Karriere spiegelt die relative künstlerische Freiheit im Umgang mit dem sozialistischen Realismus, ausgehend vom klassischen Tanz. Ruth Berghaus ist nach eigener Aussage keine Anhängerin von Felsensteins und Schillings psychologisierender Ästhetik in der Rollengestaltung, auch wenn sie sich, wie der bereits erwähnte Journalist Georg-Friedrich Kühn beschreibt, diesen Personen verpflichtet fühlte. Sie folgte wohl eher »Brechts Methode, in Form und Inhalt das Widersprüchliche in den Menschen und Dingen bemerkenswert zu machen, es herauszustellen, es nicht zu verschleifen« 23. Was sie aber mit Tom Schilling vergleichbar macht (und von Palucca unterscheidet), ist das offensichtlich produktive Verhältnis von politischer Linientreue bzw. sozialistischer Überzeugung, Traditionsbewusstsein und der Herausarbeitung einer eigenständigen, eigenwilligen, international beachteten künstlerischen Handschrift. Nicht zu vergessen in Berghaus’ Umgang mit Körperinszenierungen ist die Volkstanz-Bewegung, obwohl diese als vor allem sozialer Tanz ästhetisch kaum Schnittstellen zu ihren immer deutlich theatralen Arbeiten aufweist. Volkstänze, also ›natürliche‹, vielen Menschen ›eigene‹ Bewegungen bildeten das Vokabular einer neuen Gemeinschaftlichkeit, das von vielen in den 1920er und 30er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs aktiven, ausdruckstanzgeschulten Tänzern und Choreographen in der DDR aufgegriffen, aktiviert und gestaltet wurde. »Jeder Mensch ist ein Tänzer« – Labans kosmologisch-philosophische Forderung wurde nun sozialistisch interpretiert und allmählich gemäß den parteipolitischen Direktiven überformt. Der Tanzhistoriker Jens Giersdorf weist darauf hin, dass in den Volkstanz-Praxen der DDR neben Sozialisierung und Darstellung von Schichtzugehörigkeit auch utopische soziale Visionen durch Tanz und Verkörperung vermittelt wurden. Er schreibt: 22 23

Bernd Köllinger: Tanztheater. Tom Schilling und die zeitgenössische Choreographie, Berlin 1983, S. 8. Neef: Theater (Anm. 16), S. 12.

Körperinszenierungen in der Tanztheater-Kultur der DDR

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»Für mich wird Folklore nicht nur von ihrem bewahrenden oder traditionellen Wert bestimmt, sondern auch durch ihr Potential als Werkzeug zur Herstellung gemeinschaftlicher (lokaler oder nationaler) Identifikation. Diese beiden Schwerpunkte – Tradition und Gemeinschaft – werden durch eine Untersuchung der Konzentration von Folklore auf Körperlichkeit als Wissensressource ergänzt. Ein derartiges Folkloreverständnis dehnt die Begriffe archivarischer Praxis auf Körperlichkeit und Bewegung aus.«24

Der von Jens Giersdorf herausgearbeitete Aspekt von Körperwissen, von der kinästhetischen Vermittlungskraft der Bewegung, ergänzt die übliche Rede von der Zeichenhaftigkeit der Bühnensprache, die Ruth Berghaus in ihren Choreographien und Inszenierungen je spezifisch entwickelt. Und aus der Ereignishaftigkeit körperlicher wie bewegungsorientierter Vermittlung beziehen, so meine Überlegung, die Aufführungen als Performances einen zusätzlichen, wenn auch wesentlichen Anteil ihrer Überzeugungsqualitäten. Ost- und westdeutsche Historiographien Die ereignishafte Qualität ihrer Inszenierungen zeigt sich in den 1980er Jahren vorwiegend in Opernproduktionen, die sie u.a. auch in Westdeutschland erarbeitet. Berghaus’ Auseinandersetzung mit dem Musiktheater entspricht ihrer Vorliebe für die Traditionsform Oper. Oper besteht für sie aus verschiedenen konzeptionellen Schichten, die theatrale Fiktion und gesellschaftliche Friktion produktiv auszuhandeln vermögen. Eine Aussage eines ihrer frühesten Mitarbeiter, Achim Freyer, scheint mir auf das prekäre wie fruchtbare Verhältnis von Fiktion und Friktion zu verweisen: »›Die Berghaus‹, eine unkonventionelle, kühne Frau mit einer Kunstvorstellung für eine bessere Welt, politisch und theatralisch, auf der Suche nach einer klaren Weltsicht in Idee und Form mit allen Irrtümern, die dazu gehören. [Sic]«25

Die geographisch und ästhetisch weiter gefasste Standort-Bestimmung der Körperinszenierungen von Ruth Berghaus in den 1970er und 80er Jahren steht noch aus und lässt sich wohl nicht allein, so meine Vermutung, aus der Bewegungs- und Tanzgeschichte der DDR erläutern. Zu fragen wäre etwa nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten mit in Westdeutschland und international tätigen zeitgenössischen Regisseuren wie Robert Wilson oder auch mit Pina Bausch. Mit Ersterem teilt sie zum Beispiel – und ich skizziere hier fahrlässig grob – die formale Radikalität, die Unbedingtheit im Umgang mit der Zeit, die Typisierung der Figuren. Mit Bausch verbindet Berghaus die kritische Haltung gegenüber bourgeoiser Restauration nach dem Zweiten Weltkrieg, auf die Pina Bausch nicht mit Ideen zur Weltverbesserung reagiert, sondern mit Desillusionierung – eine Haltung, die auf Wahrnehmung, d.h. dem Interesse daran, was Menschen bewegt (so Bauschs legendärer Ausspruch), ba24 25

Jens Richard Giersdorf: Volkseigene Körper. Ostdeutscher Tanz seit 1945, Bielefeld 2014, S. 46.

Achim Freyer: Die Initialzündung, in: Irene Bazinger (Hg.): Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion, Berlin 2010, S. 13–16, hier S. 16.

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CLAUDIA JESCHKE

sierte.26 Pina Bausch produzierte Stücke, die mit Berghaus vergleichbare Materialien und Verfahrensweisen27 aufweisen und deren Verwendung interessanterweise von westdeutschen Kritikern als Brecht-affiner Verfremdungseffekt rezipiert und später von Hans-Thies Lehmann mit dem Label ›postdramatisches Theater‹ 28 versehen wurde. Meine Beobachtung gilt hier der generellen Bedeutung von Körperlichkeit im Theater der 1970er/80er Jahre, die in der DDR eine besondere und besonders ausgestellte, von Ruth Berghaus ideologisch mitgeprägte Vorgeschichte aufwies und deren Ästhetik außerhalb der DDR auf die Entwicklung neuer szenischer, ähnlich körper- und bewegungsorientierter Formen und Strategien traf, ohne dass die Tanz-, Musik- oder Theater-Geschichtsschreibung bislang diese verhandelt oder zur Diskussion gestellt hätte.

26 27

28

http://www.pinabausch.org/de/pina/was-mich-bewegt (28. April 2016). In diesem Zusammenhang wären möglicherweise folgende Aspekte von Relevanz: Die Arbeiten von Pina Bausch verwendeten die individuellen Biographien ihrer Tänzer, ihre (Pinas) und deren Leiden (der Tänzer) an der Gesellschaft und den Äußerungen dieses Leidens durch die Instanz einer immer persönlich geprägten Körperlichkeit und sozial bestimmter Bewegungsmuster. Wie Ruth Berghaus bediente sich auch Pina Bausch einer präzisen, sozial wie habituell geprägten Gesten- und Zeichensprache – allerdings ohne den aufklärerischen, universalistischen, anti-individualistischen Impetus von Ruth Berghaus. Pina Bausch zeigte kleine Geschichten, die sie in ihren Inszenierungen ›groß‹ machte, ausbreitete durch den permanenten Fragegestus, der ihre szenischen Montagen, die Bewegungs-Wiederholungen bestimmte. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999.

»Puppchen, du bist mein Augenstern« – Über den Wandel des Stellenwerts der Musik im Werkverständnis der Choreographin Ruth Berghaus Gunhild Oberzaucher-Schüller

Nach einem Dank an Daniela Reinhold von der Akademie der Künste (Berlin) sowie an Maxim Dessau für die Klarstellung einiger Berghaus-Fakten möchte ich, ganz gegen die guten wissenschaftlichen Sitten, meine Ausführungen mit einer privaten Betrachtung beginnen. In den 1980er Jahren – ich arbeitete damals in Deutschland – machte mich mein Mann (in Wien) auf eine Frau aufmerksam, die früher in unserer Straße nie aufgefallen war, daher zugezogen sein musste. Gewohnt, auf Bewegung analysierend zu blicken, stach mir die Körperlichkeit dieser Frau, die immer zu der gleichen frühen Stunde das Haus verließ, sofort ins Auge: Den Körper zum Äußersten gespannt, aber doch locker federnd – ein Kennzeichen wirklich guter Tänzer –, bewegte sie sich zielgerichtet, vorwärtsstrebend, fast losstürmend, immer wie ein waches Instrument in lauernder Bereitschaft. Fast aggressiv schritt sie in einem für einfaches Gehen überraschend hohen Tempo. Die bei diesem Gehen offenbar gleichbleibend eingesetzte Kraft ließ die Bewegungen – und dies wies wiederum auf einen tänzerisch bestens geschulten Körper hin – niemals eckig werden oder abrupt stoppen, die Bewegungen blieben, trotz der eingesetzten Kraft, die spürbar war, rund und in einem Kontinuum fließend. Dazu kam, dass die etwa fünfzigjährige Dame – und das war sofort erkennbar – sich in einer Aura bewegte, ein Faktum, das den Betrachter immer auf Distanz hielt. Trotz des gebietenden Abstands, den man nun tagtäglich auf ebendenselben Wegen hielt – es war der Weg opernwärts –, war aber bald herausgefunden, wessen außergewöhnliche Körperlichkeit man da vor sich hatte: Es war die von Ruth Berghaus, die in Wien arbeitete. Als ob diese meine Beobachtung der unverwechselbaren Körperlichkeit einer Persönlichkeit, von der sich freilich so manches ableiten ließe, an Privatem nicht schon genug wäre, bezieht sich der gewählte Titel meiner Ausführungen ebenfalls auf Privates, diesmal allerdings auf die Beziehung zwischen Ruth Berghaus und Paul Dessau. Denn der Titel »Puppchen, du bist mein Augenstern« 1 leitet sich einerseits von einer Fotografie aus dem Jahr 1954 ab. Der körperliche Ausdruck der Abgebil deten, Dessau und Berghaus, gibt in beinahe ergreifender Weise über die im Jahre 1954 empfundene Hinwendung zueinander Auskunft. Andererseits möchte der Titel auf die künstlerische und familiäre Verankerung Dessaus hinweisen. Darüber hinaus soll betont werden, dass Dessau auch ein Mann der Filmmusik war, ein Genre also, das man als durchaus verwandt mit jener Büh 1

Der Komponist Jean Gilbert war Dessaus Cousin; Gilberts Sohn Robert fügte 1953 die Nummer seines Vaters Puppchen, du bist mein Augenstern aus Puppchen (1912) in Jean Gilberts Die keusche Susanne (1910) ein.

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GUNHILD OBERZAUCHER-SCHÜLLER

nenmusik bezeichnen kann, die zu komponieren Ruth Berghaus ihn anregte. Es sind dies zwei »Tanzszenen« und ein »Tanz-Essay«: 1958 entstand Die den Himmel verdunkeln, sind unsere Feinde. Das Stück, das auch die Arbeitstitel Zugvögel sowie Der lautlose Regen trug, war für und mit Studierenden der Palucca-Schule Dresden kreiert worden. Das Szenarium hatten Berghaus und Joachim Tenschert, Dramaturg des Berliner Ensembles, verfasst, das als Teil des Werks verwendete Gedicht ist von Jens Gerlach, 2 einem Lyriker, der mit Dessau zusammenarbeitete. Die Musik stammt von Dessau, die Nummern 3, 8 und 9 von Reiner Bredemeyer. Am Beginn der Konzeption des überaus vielgestaltigen Werks, das als »Tanzszenen« ausgewiesen ist, steht ein Film, der die Explosion einer Atombombe zeigt. Das Stück endet mit dem von einem Chor gesungenen Hanns Eisler-Lied Arbeiter, Bauern, nehmt die Gewehre. Die Uraufführung fand am 14. Juli 1958 in Bitterfeld statt, die Ausführenden waren die Schüler der Palucca-Schule Dresden. Die Dauer des Werks ist etwa 20 Minuten, der Inhalt ist die durch einen Atombombenabwurf zerstörte Natur und der Aufruf, sich dagegen zu erheben. Schon im Jahr darauf entstand das »Tanzspiel« Flug zur Sonne. Für die Studierenden der 4. und 5. Klasse der Palucca-Schule kreiert, stammt dieses Szenarium von Berghaus, die Musik wiederum von Dessau, die Nummern 1 und 3 von Bredemeyer, die Ausstattung von Achim Freyer. Die Uraufführung erfolgte am 7. Juni 1959 durch die Dresdner Palucca-Schule. Das etwa fünfzehnminütige Stück hat den Aufstieg eines von Menschen geformten Planeten – des »Sputnik« – und dessen Begegnung mit Sonne und Mond zum Thema. 1962 schließlich entstand der »Tanz-Essay« Hände weg!. Wiederum kreiert für Studierende der Palucca-Schule, stammt auch dieses Szenarium von Berghaus, die Musik von Dessau, die Ausstattung von Freyer. Die Uraufführung fand am 22. April 1962 durch die Palucca-Schule statt. Das etwa fünfzehnminütige Werk hat das Eindringen des Kapitalismus in die Welt eines friedlichen afrikanischen Volks zum Inhalt. Dazu gerechnet wird noch ein viertes Stück, genauer Teile eines Stücks, nämlich die 1964 entstandenen Schlachtszenen in William Shakespeares Coriolan (Bearbeitung von Bertolt Brecht) in der Bühnenfassung des Berliner Ensembles. Dessau hatte dafür die Musik komponiert, die Regie stammte von Manfred Wekwerth und Tenschert, die Choreographie der Schlachtszenen von Berghaus. Diese Szenen werden unter anderem auch deswegen hinzugezogen, weil man sie als Reaktion von Berghaus auf die offizielle Reaktion auf Hände weg! verstehen könnte. Das dritte gemeinsam entstandene Werk von Berghaus und Dessau hätte nämlich, so die Meinung der für künstlerische Belange zuständigen Entscheidungsträger der Partei, versucht, ›Formalismus‹ in die Palucca-Schule einzuschleusen, eine Einschätzung, die Dessau in seinem Tagebuch wie folgt kommentiert:

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Das verwendete Gedicht des deutschen Dichters Gerlach, dessen Texte Paul Dessau öfters vertonte, ging zurück auf ein Gedicht von Stephan Hermlin, Die Vögel und der Test. Vgl. Corinne Holtz: Ruth Berghaus. Ein Porträt, Hamburg 2005, S. 97.

»Puppchen, du bist mein Augenstern«

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»Was richtig, klar und eindeutig ist, nennen die Dilettanten (die non-valeurs) ›kalt‹ – oder ›formalistisch‹ (weil ihnen nichts anderes einfällt, weil ihnen überhaupt nichts einfällt – weil sie nichts und nichts richtig gelernt haben!) Und ist nicht gerade das Klare, Unvernebelte das Realistische, das zum Denken Verhelfende! Nein! Sie kennen + propagieren nur das Undurchsichtige, Einlullende, Trübe, Nachgekaute, das Dumme: weil sie selbst undurchsichtig, trüb + dumm sind!«3

Das Formalismusverdikt beendete nicht nur die Choreographenkarriere der Ruth Berghaus, sondern auch die Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten Dessau und der Choreographin Berghaus, eröffnete aber eine neue Zusammenarbeit: nämlich diejenige von Dessau und der choreographierenden Regisseurin Berghaus. Dass diese erste Arbeit gerade ein Kampf ist, kommt nicht von ungefähr. Im Folgenden soll nun weniger der Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und der Choreographin bei den genannten Werken nachgegangen werden. Vielmehr soll – immer vom Standpunkt der Tanzhistorikerin aus gesehen – nach dem Stellenwert der Musik innerhalb dieser Arbeiten und nach dem Stellenwert der Musik für Berghaus innerhalb des Gefüges der Tanzstücke gefragt werden. Von welchem Musik-, von welchem Werkverständnis geht sie also aus? Ändert sich dieses im Laufe der 1950er und 60er Jahre? Wenn ja, spielte Dessau in die sem Änderungsprozess eine bestimmte Rolle? Dazu die folgende These: Im Laufe der meines Erachtens überaus engen Zusammenarbeit zwischen Dessau und Berghaus änderte sich in den Berghaus-Stücken nicht nur der Stellenwert der Musik innerhalb des Werkgefüges, sondern auch der Grundcharakter der Arbeit an sich. Sieht man ein Tanzstück als ein Gefüge von Künsten, von Libretto, Musik, Raumkonzeption sowie gestalteter Bewegung, so verschiebt sich in den Arbeiten der Berghaus im Laufe der hier zur Debatte stehenden Zeit nicht nur die Wertigkeit dieser Einzelteile – im Brecht’schen Sprachgebrauch: ›Elemente‹ – innerhalb der Werkanlage, sondern auch die Beziehung der Teile zueinander. Und dies geschieht in erheblichem Maße, sodass im Laufe dieses Prozesses der Fokus des Bühnenwerks auf jeweils anderen Einzelteilen liegt: zunächst auf der aus der Musik entwickelten Bewegung allein, sodann auf dem Libretto, dann erst auf der Musik und der Raumkonzeption. Schließlich wird ein ›Alleingang‹ der einzelnen Elemente, ein gleichwertiges, voneinander unabhängiges Nebeneinander angestrebt. Die Eckdaten für meine Überlegung sind: 1950, das Jahr also, in dem Berghaus ihr Studium an der Palucca-Schule abschloss, in dem sie auch Dessau schon kennenlernte, und dem Coriolan-Jahr 1964. Die These vom Wandel der Wertigkeit der Elemente innerhalb der Berghaus’schen Werkgestalt, von der Verschiebung (nicht nur) des Stellenwerts der Musik darin, stützt sich auf drei Pfeiler, allesamt Schriften oder Äußerungen von Berghaus. 4 3

4

Tagebucheintrag vom 26. Juni 1962, in: Daniela Reinhold (Hg.): Paul Dessau. »Let’s Hope for the Best«. Briefe und Notizbücher aus den Jahren 1948 bis 1978, Berlin 2000, S. 84. Dessau hatte im Dezember 1961 mit der Komposition begonnen. Eine eigene Arbeit wäre es, die Textsorte dieser schriftlichen Äußerungen zu bestimmen. Immer vom Zwang der erklärenden Rechtfertigung ausgehend, sind die Schriften wohl als Vorführtexte gedacht, die überzeugen wollen, wie ›ideenkonform‹ das jeweilige Werk ist.

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Der erste aus den ganz frühen 1950er Jahren stammende Pfeiler steht im Zusammenhang mit schriftlichen Abschlussarbeiten von Ruth Berghaus und verweist auf die (handwerkliche) Basis, auf der Berghaus ihre Arbeit baut. Der zweite Pfeiler stützt sich auf das Konzeptpapier eines bereits weit gediehenen Ballettprojekts, vermutlich aus dem Jahr 1955, für das Dessau offenbar plante die Musik zu schreiben. Dieser Text gibt bereits über jenes neue, auch unter dem Einfluss Dessaus entstandene Werkverständnis Auskunft, das für die ersten beiden Tanzstücke gültig war. Der dritte Pfeiler ist ein wahrscheinlich 1964 niedergelegtes Notat über den Stellenwert der Musik in den Schlachtszenen des Coriolan. Dieses ist Zeugnis für die weitere Veränderung und das angestrebte Ziel. Dieses Verständnis war wiederum für alle weiteren Regiearbeiten verbindlich. Vorweg noch einige Bemerkungen: Da das politische Handeln, vor allem aber das Ineinandergreifen von Politik und Kunst, aus dem heraus die jeweiligen Aussagen von Berghaus getätigt wurden, noch immer Gegenstand der Forschung sind, kann eine diesbezügliche eingehende Besprechung hier nicht geleistet werden. Zur Sprache soll unter vielem anderen auch nicht das Paradoxon des künstlerischen Kontinuums kommen, nämlich jenes der nach 1945 in die Berliner und Dresdner Tanzlandschaft involvierten Personen. Denn es gilt festzuhalten: Diejenigen, die das Tanzgeschehen in der Zeit des Nationalsozialismus mitgetragen hatten, waren ohne Zäsur weiterhin in ähnlichen Positionen bis in die 1950er Jahre und zum Teil darüber hinaus tätig.5 Die Auswirkungen dieses Kontinuums auf die künstlerische Produktion muss Gegenstand weiterer Forschung sein. Des Weiteren ausgespart wird eine Schilderung der vibrierenden Tanzszene der späten 1940er Jahre im Westen wie im Osten Berlins, die in den Berghaus-Stücken Spuren hinterließen.6 Auch wird verzichtet auf die Differenzierung des kulturellen Geschehens in den verschieden Besatzungszonen sowie auf den Vergleich zwischen dem Osten Berlins und Dresden, wo Berghaus aufwuchs, studierte und zu choreographieren begann. Verglichen werden nicht die in ebendieser Zeit – meist für Tatjana Gsovsky – entstandenen Ballette mit den Werken Dessaus. Es sind dies immerhin Kompositionen von Carl Orff, Gottfried von Einem, Leo Spies, Boris Blacher, Hans Werner Henze, Heimo Erbse, Luigi Nono, Giselher Klebe, Henri Sauguet und Nicolas Nabokov. 5

6

Dazu gehörten: Tatjana Gsovsky (zunächst an der Staatsoper, dann an der Städtischen Oper), Daisy Spies, danach Lilo Gruber (an der Staatsoper), Rudolf Kölling, Jens Keith, danach Gustav Blank (an der Städtischen Oper), Sabine Ress, Ilse Meudtner und Gertrud Steinweg (an der Komischen Oper), aber auch Tänzerinnen und Tänzer wie Liselotte Köster, Jockel Stahl und Suse Preisser (Städtische Oper), Rolf Jahnke und Michael Piel (Staatsoper) sowie Georg Groke (Komische Oper). Von jenen Tänzerinnen und Tänzern, deren Stern nach 1945 aufging, sind in erstere Linie zu nennen: Gert Reinholm, Peter van Dyk, Rainer Köchermann, Natascha Trofimowa, Gisela Deege und Maria Fris (alle unter Tatjana Gsovsky an der Staatsoper). Nach deren Weggang 1950 waren es an der Staatsoper vor allem Claus Schulz, Eleonore Vesco und Nora Mank, die die Spitzenpositionen im frühen DDR-Ballett einnahmen. In den Bilddokumenten ihrer Arbeiten finden sich Motive, die in Werken der Zeit zu sehen gewesen waren.

»Puppchen, du bist mein Augenstern«

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Von einigen Ausdruckstänzerinnen, die in Dresden noch weit mehr als in der Hauptstadt präsent waren, soll doch etwas länger die Rede sein, weil Berghaus ganz klar einem dieser ›Lager‹ angehörte. Während nämlich Westberlin durch die allesamt unter dem Zeichen des klassischen Tanzes stehenden Gastspiele der SiegermächteEnsembles mehr und mehr in den Bann des Balletts geriet, verfolgten die Vertreter des Ausdruckstanzes in Dresden, in Leipzig, aber auch in Ostberlin unbeirrt ihren Weg weiter. Sendungsbewusst suchten sie jetzt an die für sie so erfolgreichen Jahre vor 1933 anzuschließen, ein Bestreben, das durch die im Osten einsetzende Formalismus-Realismus-Debatte immer weiter ins Wanken geriet. 7 In dieser vielgestaltigen Nachkriegstanzlandschaft ragt widersprüchlich und rätselhaft die Berghaus-Lehrerin Gret Palucca 8 heraus. Zwar Vertreterin des Ausdruckstanzes, verstand sie es, jenen Sonderweg, den sie schon unter den Nationalsozialisten zu behaupten gewusst hatte, erneut weiterzuverfolgen. Wieder, wie in der Zeit der Nationalsozialisten, vermochte Palucca9 einen Weg zu gehen, der den immer 7

8

9

Siehe dazu: Zur Diskussion. Realismus im Tanz, hg. von der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, Dresden o.J. Für den vorliegenden Aufsatz wurde folgende Palucca-Literatur herangezogen: Olaf Rydberg: Die Tänzerin Palucca, Dresden 1935; Edith Krull und Werner Gommlich: Palucca, Berlin 1964; Gerhard Schumann (Hg.): Palucca. Porträt einer Künstlerin, Berlin 1972; Künstler um Palucca. Ausstellung zu Ehren des 85. Geburtstages, hg. von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Dresden 1987; Marion Kant: Palucca: »Ich bin ganz gut durchgekommen…«. Eine tanzpolitische Chronik des Jahres 1951, in: Jahrbuch Tanzforschung 5 (1994), Wilhelmshaven 1994, S. 39–52; Peter Jarchow und Ralf Stabel: Palucca. Aus ihrem Leben – Über ihre Kunst, Berlin 1997; Katja Erdmann-Rajski: Gret Palucca. Zeiterfahrung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Deutsche Demokratische Republik, Hildesheim u.a. 2000; Ralf Stabel: Palucca Schule Dresden. Geschichte und Geschichten, Dresden 2000; Ralf Stabel: Tanz, Palucca! Die Verkörperung einer Leidenschaft, Berlin 2001; René Radrizzani (Hg.): Gret Palucca. Schriften, Interviews, Tanzmanuskripte, Basel 2008; Susanne Beyer: Palucca. Die Biografie, Berlin 2009. Am 1. Juni 1945 wird Palucca bereits ein Unterrichtsraum zugewiesen, am 1. Juli beginnt der Unterricht, der erste Tanzabend findet am 31. Juli 1945 in der Dresdner Tonhalle unter dem Titel Aufschwung statt. Palucca beginnt sofort wieder zu gastieren. 1946 kandidiert sie als parteilose Kandidatin auf der Liste der SED, die sowjetischen Behörden machen sie zum ›Opfer des Faschismus‹. Palucca wie auch Mary Wigman – damals Leipzig – kämpfen um den Hochschulstatus für ihre Schulen. Wigman geht nach Westberlin. Palucca erhält einen Interzonenpass. Weitere Räume für die Schule in der Wiener Straße 91 werden zur Verfügung gestellt. Die Währungsreform am 23. Juni 1948 bedeutet fast das Ende der Schule. Am 1. April 1949 wird die Schule verstaatlicht. 1950 beendet Palucca ihre Solokarriere. Sie wird Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste. Eine zentrale Tanzschule mit dem Namen Palucca Schule Berlin wird geplant, die Pläne lassen sich nicht realisieren. Palucca geht nach Dresden zurück. 1951 schließt die eben gegründete Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten mit Palucca einen Einzelvertrag ab. Das Ministerium für Volksbildung wünscht die Etablierung des klassischen Balletts in der Schule, ein Unterrichtsgegenstand, der erstmals im Schuljahr 1951/52 eingeführt wird. Ein Neubau im Großen Garten wird bewilligt. Im März 1951 wird bei der 5. Tagung des Zentralkomitees der SED der »Kampf gegen den Formalismus« beschlossen, diskutiert wird die Zukunft des Ausdruckstanzes. 1952 wird an die Seite Paluccas – ohne ihr Wissen – ein staatlicher stellvertretender Leiter eingesetzt; darauf legt Palucca im Oktober ihr Amt als Schulleiterin nieder. Im März 1953 findet eine Tanzkonferenz statt, wo die

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konkreter formulierten Forderungen der Partei, nunmehr der SED, völlig entgegengesetzt war. Obwohl sie von 1933 bis 1945 nicht die gewünschte Werkform auf die Bühne brachte, sie nicht die gewünschten Inhalte aufgriff, obwohl sie sich nicht der gewünschten Technik bediente und obwohl sie eine sogenannte ›Halbjüdin‹ war, konnte sie bis zur Theatersperre 1944 auftreten. (Ihre Dresdner Schule hatte sie indes 1939 schließen müssen.) Die Sachlage wiederholte sich nach 1945. Obwohl sie wiederum die gewünschte Werkform ignorierte, sie die geforderten Inhalte nicht aufgriff, sich auch der gewünschten Technik nicht bediente, behielt sie ihren Status als Person, die es in der DDR zu halten galt. Das ständige Misstrauen, das die Verantwortlichen gegen Ruth Berghaus hegten, ist auch Folge ihrer künstlerischen Zugehörigkeit zu Palucca. Der Grund für die Möglichkeit eines solchen individuellen Agierens mag in beiden Fällen ein und derselbe gewesen sein, nämlich der, dass es nicht nur einen einzigen Entscheidungsträger, sondern deren mehrere gab, die letztlich auch gegeneinander arbeiteten. Dazu Matthias Tischer in seinem Dessau-Buch: »Staatliche Restriktionsmechanismen und parteidoktrinärer Lenkungswille führten dazu, daß sich im Windschatten der von der SED gewünschten und propagierten ›sozialistischen Nationalkultur‹ […] eine Fülle individueller Form- und Gestaltungsschöpfungen ausmachen läßt […].«10 Der Kampf um Paluccas Eigenständigkeit endete 1954 damit, dass Palucca zwar künstlerische Leiterin der nach ihr benannten Schule bleiben konnte, der von ihr vertretene Ausdruckstanz aber nur mehr eingeschränkt und unter dem neuen Namen ›Neuer Künstlerischer Tanz‹ weitergeführt werden konnte. Anderen Ausdruckstänzern erging es anders. Zum Beispiel Jean Weidt, Marianne Vogelsang, Dore Hoyer, aber auch Mary Wigman. Es waren aber die Werke dieser Genannten – Weidt, Vogelsang, Hoyer und Wigman –, die ohne Zweifel, sowohl was die Anlage wie die Anliegen ihrer Werke betrifft, Vorbilder für Berghaus wurden. Und noch ein für uns wichtiger Aspekt vorweg: Im Falle Wigman nämlich interessiert hier weniger die Solo- und Gruppenarbeit dieser Jahre, sondern eher Wigmans Tätigkeit als Opernregisseurin. Wohl aus produktionstechnischen Gründen brachte sie in der fraglichen Zeit nur eine einzige Arbeit heraus, nämlich 1947 die Regie zu Glucks Orpheus und Eurydike. Ganz allgemein muss in diesem Zusammen-

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Weichen gestellt werden. Im Juni 1953 lädt Palucca Mitglieder der Sektion Darstellende Kunst der Deutschen Akademie der Künste sowie Vertreter der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten nach Dresden zur Begutachtung ein. Unter ihnen: Bertolt Brecht, Paul Dessau, Walter Felsenstein, Wolfgang Langhoff und Helene Weigel. Sie alle sprechen sich positiv für Palucca aus, die Kulturpolitiker sind jedoch ablehnend. Es hat den Anschein, als wäre der Kampf um die Schule verloren. Palucca droht mit Ausreise. Im Dezember 1953 kommt es zur Rede Walter Felsensteins über Palucca in Berlin. 1954 wird das Ministerium für Kultur gegründet, der neue Minister (Johannes R. Becher) beruft Palucca zur künstlerischen Leiterin der Palucca-Schule. 1955 ist das Haus fertiggestellt. Ein offizieller Film über die Schu le inkludiert den ›Neuen Künstlerischen Tanz‹. Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln u.a. 2009, S. 15.

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hang und im Hinblick auf die Tätigkeit von Ruth Berghaus hinzugefügt werden, dass die Hinwendung zur Regie, besonders zur Opernregie, Teil der Bewegung des Ausdruckstanzes war. Dies beginnt mit der legendären Hellerauer Orpheus-Inszenierung 1913, geht über die Händel-Renaissance, die Arbeiten eines Kurt Jooss, einer Margarete Wallmann, die Mannheimer Wigman-Produktionen, der Arbeit von Gertrud Wagner bis hin zu Ruth Berghaus. Berghaus steht also mit ihrer Tätigkeit als Opernregisseurin in einer ebenso deutschen wie weiblichen Traditionslinie. 1. Im Folgenden soll endlich der erste Thesenpfeiler besprochen werden, eine Schrift, 11 die in Zusammenhang mit dem Studienabschluss von Berghaus steht. Berghaus entwirft darin (offenbar) ein künftiges Ausbildungsprogramm des Faches ›Tanzregie‹, 12 an dem sie beteiligt oder für das sie sogar verantwortlich sein soll. Diese Schrift resümiert das an der Palucca-Schule Gelernte, das Werkverständnis ebenso wie jenes Instrumentarium, mit dem Berghaus bis zu ihrem Tod souverän umzugehen weiß und das es erst ermöglichte, die eigenen Bewegungsvisionen nicht nur sinnlich in »Raumgegenden« (Erich Wonder)13 wahrnehmbar werden zu lassen, sondern auch Darsteller und Chor gezielt und überzeugend in Bewegung setzen zu können. (Für die Tanzhistorikerin bemerkenswert ist es, wie dieser Einsatz körperlicher Mittel rezipiert wird. Von intellektueller Seite je nach Leitphilosophie zwar unterschiedlich, meist aber positiv aufgenommen, erwecken die ›bewegten‹ Mittel, mithilfe derer sich die Sprechenden oder Singenden ausdrücken, bei den politisch Verantwortlichen Unsicherheit und Misstrauen.) In der erwähnten Schrift, die das musikalische Verständnis von Berghaus ebenso zeigt wie die Nähe von musikalischer und choreographischer Kompositionsweise, breitet die junge Palucca-Absolventin einen Aufgabenkatalog für das Fach ›Tanzregie‹ aus, der deswegen von größtem Interesse ist, weil bestimmte Bereiche betont, andere wieder – Palucca gemäß – völlig beiseitegelassen werden. Die Schrift zeigt auch, wie Berghaus mit Musik umzugehen imstande ist. Sie teilt die Aufgaben in folgende (ausschließlich) musikalische Bereiche: »1. Einstudierung [gemeint sind Etüden, G. O.-S.] nach gegebener Musik a) (Etüden) mit bestimmten Themen. Z.B.: Der Tanz muss auf einem bestimmten Raumweg stattfinden. – Einen Drehtanz entwickeln. – Einen Theatertanz einstudieren, wie ›Tanz der sieben Schleier‹ aus ›Salome‹; ›Polka‹ aus der ›Verkauften Braut‹ – Die Überschrift der Musik als Thema verwenden, z. B. ›Zuckerfee‹ aus der Nußknackersuite – u.a.m. b) völlig frei (Etüden), eine reine tänzerisch-musikalische Einstudierung 11 12 13

Vgl. dazu Friederike Nöhring: Bewegungsbiographie, Berlin u.a. 2000, S. 259. Es ist unklar, woher der Begriff ›Tanzregie‹ stammt. In: Irene Bazinger: Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion, Berlin 2010, S. 41.

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GUNHILD OBERZAUCHER-SCHÜLLER 2. Einstudierung (Etüden) nach einem Thema und die entsprechende Begleitung dafür finden. ›Rhythmischer Tanz‹ – der Schüler wählt z.B. das Musikstück ›In der Krim‹. ›Monotonie‹ – er wählt Schlagzeugbegleitung, die er selbst vorher zusammengestellt hat oder komponieren lässt. ›Wanderende Menschen‹ – der Schüler erklärt seine Auffassung davon und lässt die Begleitung gleichzeitig mit der Einstudierung durch die Musiker oder durch Schlagzeuger entstehen. 3. Einstudierung (Etüde) eines Tanzes nach völlig freier Wahl. Dann hat der Schüler u.a. fol gende Möglichkeiten: (Was kommt jetzt, denkt man? Atombombe, Algerienkrieg, Heimkehrerthema?) Musikloser Tanz, Gruppentanz, Solo, Duett usw., Pantomime, Groteske, Maskentanz, Tanz mit Tüchern, Einstudierung nach Tanzformen (Menuett, Habanera, Walzer usw.), Bewegungschor, Tanz nach einem bestimmten Instrument (Trommel, Flöte) u.a.m.« 14

Was sagt uns dieses Papier, dessen Inhalt sich übrigens kaum von anderen Ausdruckstanzausbildungen unterscheidet, die auf Musik als Basis ihrer Arbeit bauen? 15 Abgesehen davon, dass der Raum überraschend wenig zur Sprache kommt, ist es das Fehlen von »Fabeln« (Inhalten), die völlig außen vor bleiben. 16 Mit diesem ganz und gar musikbezogenen Werkverständnis und einigen dementsprechenden Arbeiten (Komposition IV, Furientanz aus Orpheus und Eurydike) versucht Berghaus nun – auch in ihrer Eigenschaft als Meisterschülerin von Palucca und Wolfgang Langhoff –, als Repräsentantin der Palucca-Schule an den 1951 in Berlin stattfindenden III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten für den Frieden teilzunehmen. Es ist kaum verwunderlich, dass sie und ihre Mitstreiterin von diesen Festspielen ausgeschlossen werden.17 14

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Archiv der AdK, Gret-Palucca-Archiv, 977, Stichworte zum Unterricht für Tanzregie an der Palucca-Schule-Dresden (1950). Siehe dazu etwa die Schulprospekte der Neuen Schule Hellerau, von Hellerau-Laxenberg, aber auch jene der Schule von Mary Wigman oder des Elementaren Tanzes. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist eine frühe Arbeit von Berghaus, die programmatisch Komposition V (Musik: Peter Fischer) genannt wurde, wobei sich dieses ›Komponieren‹ selbstverständlich auf die Bewegung und nicht auf die Musik bezieht. Der Untertitel (warten, tasten, rufen, lauschen, finden) gibt klar und nüchtern über den Zweck der Arbeit Auskunft. Der Inhalt des Stückes ist die Bewegung an sich, es gibt keine »Fabel«, die Musik stammt von ei nem an der Schule tätigen Pianisten. (Gerade die Pianisten nehmen nicht nur in der PaluccaAusbildung einen besonderen Platz ein, denn ihre Arbeit liegt nicht nur im bloßen Begleiten, sondern im gemeinsamen – improvisierenden – Erarbeiten.) Der Musik wird in Bezug auf die Choreographie je nach Zweck des Stückes – entweder als eine für die Bühne bestimmte Solooder Gruppenarbeit oder als bloße Etüde – eine bestimmte Aufgabe zugewiesen. Im Tanz für die Bühne kommt der Musik ein gleichwertiger Status zu, sie gibt Choreographie, Charakter, Tempo, Rhythmus und Zeit vor und unterstützt sie begleitend. Man fühlt sich im positiven Sinn voneinander abhängig, der Gedanke an eine Hierarchie kommt nicht auf. In Etüden wird der Musik meist die Rolle des Impulsgebers zugeteilt, der Impulsgeber kann aber auch die Be wegung im Raum sein. Es wird der Standpunkt vertreten, dass die Musik wie die Choreographie jeweils eigene »Möglichkeiten« – wie Ruth Berghaus dies später bezeichnet – besitzen, die nach Aufgabe oder Anliegen der Choreographie wechselweise in den Vordergrund treten. Vgl. dazu vor allem Ralf Stabel: Die 50er Jahre in der DDR, in: Hedwig Müller, Ralf Stabel und Patricia Stöckemann: Krokodil im Schwanensee. Tanz in Deutschland seit 1945, Frankfurt/M. 2003, S. 85f.; Holtz: Ruth Berghaus (Anm. 2), S. 81.

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2. Der zweite Schritt der Ausführungen geht in das Theaterjahr 1957/58, eine Saison, die für die Tanzgeschichte der DDR von eminenter Wichtigkeit war, gelingt es doch endlich, ein für die neue Tanzästhetik verbindliches, nach sowjetischem Vorbild ausgerichtetes Modell auf die Bühne zu stellen. Dabei soll vermerkt werden, dass die erheblichen Veränderungen im politischen Geschehen – etwa die Auflösung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, die Installation eines Kulturministeriums und das sogenannte »Tauwetter« – keinen nachvollziehbaren Einfluss auf die Tanzszene hatten. Das von Lilo Gruber 1958 für die Staatsoper Berlin kreierte Ballett Die neue Odyssee erfüllt alle Parteiforderungen: Das Libretto vertritt die aktuellen sozialistischen Anliegen, das Ballett ist abendfüllend, die offenbar melodiöse, einfache, vor allem ›positive‹ Musik von Victor Bruns hat dienende Funktion, die angewandte Tanztechnik ist klassisch. Ab nun hat man sich an diesem Werk zu orientieren. In dieser so wichtigen Saison kommt die erste Berghaus/Dessau-Produktion Die den Himmel verdunkeln, sind unsere Feinde heraus. Schon das bloße Vorhandensein eines Szenariums zeigt, in welchem Maße sich die Palucca-Schülerin von ihrer Meisterin weg und zu den Forderungen der Zeit und des Ortes hin bewegt hat. Bereits vor der Produktion von Die den Himmel verdunkeln, sind unsere Feinde hat Berghaus ihr neues Werkverständnis festgehalten. In einem wahrscheinlich 1955 verfassten Konzeptpapier für ihr Projekt Les Deux Fleurance18 schreibt sie in der »Anleitung für den Choreographen«: »Tanz, Musik, Kostüm und das Bild, sind die Mittel, mit denen das Stück dem Zuschauer gezeigt werden soll. Es ist ein Tanzstück, also dienen Musik, Kostüm, und Bild der Aussage des Tanzes. Musik, Kostüm und Bild haben eine vom Tanz abhängige Funktion, und müssen einzig und allein nach den Erfordernissen einer tänzerischen Darstellung gestaltet werden. Da die tänzerische Darstellung in diesem Ballett von einem Handlungsablauf mit einer ganz bestimmten Aussage lebt, haben sich also alle dem Ballett zur Verfügung stehenden Mittel dem Inhalt des Stückes zu unterwerfen. Das bedeutet im einzelnen Folgendes: I. Für den Tanz: Die eindeutige, zum Verständnis führende Darstellung des Stoffes, kann nur entstehen, wenn der Tanz einzig und allein mit jeder Bewegung, jedem Schritt und jeder Geste der Handlung dient. Festgelegte Schrittkombinationen, die auch anderweitig verwendbar sind, und die eventuell nur genommen werden, um das technische Können der Tänzer zu zeigen, die also nicht nur bedingt sind durch den Stoff, dürfen nicht gebraucht werden. Die Stilisierung der Bewegung, des Raumes und des Rhythmus muß sich in jeder noch so kleinen Phase der Aussage des Stückes unterwerfen. […] 18

Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 4002.

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GUNHILD OBERZAUCHER-SCHÜLLER II. Für die Musik: Die Musik dient grundsätzlich nicht zur Untermalung des Tanzes. Sie hat die Funktion, mit ihren Mitteln die tänzerische Darstellung und den Inhalt des Stückes deutlich zu machen.« 19

Das erste gemeinsame Werk von Dessau und Berghaus, Die den Himmel verdunkeln, sind unsere Feinde, ist klar nach dem neuen Werkverständnis konzipiert. Als wichtigste Neuerung ist die Existenz einer Fabel zu sehen, ein Faktum, das Konsequenzen für das Werkgefüge hat, denn was früher Inhalt und Mittel zugleich war – nämlich die aus der Musik heraus entwickelte körperliche Bewegung im Raum –, rückt nun aus dem Zentrum der Werkkonzeption heraus und wird mehr und mehr zum bloßen Mittel. Hauptanliegen des neuen Werkes von Berghaus, die mittlerweile auch jene »Überzeugungen« und »Denkprinzipien« (Hans Werner Henze) 20 teilt, die Paul Dessau lebt, ist klar die Botschaft des Szenariums, wobei es darum geht, »vom Typischen zum Allgemeinen zu kommen«.21 Damit ist auch eine der offiziellen Anforderungen an ein Stück erfüllt. Eine andere Anforderung erfüllt Berghaus – bewusst – ganz und gar nicht: die angewandte Technik. Beides, die in der Ideologie des neuen Staates verankerte Fabel wie die verwendete Tanztechnik, wird auch im dritten Berghaus/Dessau-Stück herangezogen. Wie eine im Westen erschienene Rezension von Kurt Peters belegt, fällt das von Berghaus auf die Bühne gebrachte Bewegungsvokabular besonders auf.22 »Ruth Berghaus, die Tanzregie unterrichtet, gibt zum Abschluß eine Beispielinszenierung eines neuerarbeiteten kolonialen Themas: ›Hände weg!‹ Eine durch Studioaufführungen in der DDR bereits bekannte und viel diskutierte Szene, die – aus dem chorischen Tanz entwickelt – sich an Taue gefesselt strahlenförmig im Raum vollzieht. Ebenso eindrucksvoll in der Idee wie – trotz der Fesselung – technisch hemmungslos, an den fruchtbaren ›Urschlamm‹ […] des Modernen Tanzes der anfänglichen zwanziger Jahre gemahnend. Aber, wie gesagt: noch und wieder fruchtbar!«23

Diese positive Einschätzung wird von den offiziellen Stellen offenbar nicht geteilt. Doch nicht nur das Ignorieren der geforderten Technik fällt unangenehm auf, sondern auch die Musik Dessaus, die ganz und gar nicht dem entspricht, was man von einer Musik dieses Genres erwartet, nämlich melodiös zu sein, harmonisch zu begleiten, zu illustrieren, Atmosphäre zu geben, im Übrigen gleichsam Stichwortbringer für den Tanz zu sein. Dessaus Bühnentanzmusik unterscheidet sich wesentlich sowohl von den sowjetischen Vorbildern eines Boris Assafjew oder Aram Chatschaturjan, die nun schon in der DDR zu hören sind, als auch von den heimi19 20

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22 23

Ebd. Hans Werner Henze, Geleitwort, in: Ausstellungskatalog: Paul Dessau. 1894–1979. Dokumente zu Leben und Werk, hg. von Daniela Reinhold, Berlin 1995, S. 5. Brief von Ruth Berghaus an die Palucca-Schule vom 6. Dezember 1958, Archiv der Palucca Hochschule Dresden. Kurt Peters: Sommerkurse bei Palucca, in: Tanzarchiv 10 (1962), S. 109–120. Ebd., S. 116.

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schen Komponisten dieses Genres, etwa Victor Bruns oder Wolfgang Hohensee. Ein Gespräch, das die Autoren (Berghaus und Dessau) 1962 mit Palucca sowie Studierenden und Lehrenden der Palucca-Schule führen, gibt über die Kluft zwischen Dessaus Musik und den Hörgewohnheiten der Zeit Auskunft: Palucca fragt: »Versteht Ihr die Musik jetzt besser, da ihr Euch an sie gewöhnt habt?« Das Bejahen der Tänzer kommentiert Berghaus mit: die Musik sei nun auch deshalb verständlicher, »weil ihr jetzt die Musik bildhaft hört«. Ein Lehrer beharrt jedoch auf der »Unverständlichkeit« der Musik: »Glauben Sie, dass die Musik das Publikum beim ersten Mal hören versteht?« Dessau antwortet darauf: »Nein, aber die Musik wird nie allein gespielt werden.« Und jemand ergänzt: »Die Menschen in Schwerin werden sie richtig verstehen, wenn Ihr sie richtig tanzt.« Dessau erklärt weiter: »Diese Musik läßt Raum und Platz für den Tanz. Er [der Tanz] ist selbständig und ahmt die Musik nicht nach.« Bemerkt wird des Weiteren der Unterschied zwi schen bisheriger Ballettmusik und der Musik Dessaus, wobei als Vergleich Werner Egks Abraxas herangezogen wird. Hände weg! wird übrigens nicht als Handlungsballett angesehen, »eher [als] ein Poem. Die Musik ist aus diesem Grund anders und dramatischer.« Vor allem aber, meint ein Diskutant: »Hier hat die Musik eine absolutere Funktion als andere.« Ebendiese andere Funktion verwirre aber. Ein Diskutant meint: »Wir waren am Anfang der Meinung, daß die Musik erklärt werden muß, ich finde [aber] die Musik, die erklärt werden muß, ist keine Musik. Was sagen Sie dazu?« Darauf antwortet der schlagfertige Dessau: »Sie erklären ja die Musik indem sie gut tanzt [sic].« So weit die Diskussion aus dem Jahr 1962.24 Heute – und ich gebe diese Einschätzung als Tanzhistorikerin ab – überrascht die Musik zu allen drei Stücken. Und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Weit entfernt von sowjetischer bzw. der DDR-Ballettmusik, verwundert die Besetzung der Stücke, die wahrscheinlich auch aus produktionstechnischen Gründen eher klein gewählt wurde. Der dazugehörende »kammermusikalische Ton« (Daniela Reinhold) wird durch mehrfache Kontraste charakterisiert, diese geben den drei Werken Struktur. Mindestens vier solcher Kontrastfaktoren sind zu nennen, sie alle können als Halteoder Orientierungspunkte für die Choreographin dienen. Erstens der Kontrast zwischen der ›heroischen‹ Ernsthaftigkeit des Themas und dem über Strecken hinweg sehr feinen, fast zarten Kammermusikcharakter, der vielleicht auch deswegen gewählt wurde, um einer möglichen Plakativität der Darstellung des Themas entgegenzuwirken. Der Choreographie wird so auch die Möglichkeit geboten, vom ›Typischen ins Allgemeine‹ zu kommen. Dazu, zweitens, der Kontrast zwischen der fortfahrenden Erzählung und der Nummernhaftigkeit der Komposition, wobei dem klaren Beginn einer Nummer oft ein offenes Ende gegenübersteht. Des Weiteren, drittens, der Kontrast der einzelnen Nummern zueinander. Dieser drückt sich vor allem in der völlig unterschiedlichen Instrumentation aus: Feinen Zusammenklängen von Holz- und Blechblasinstrumenten stehen fast brutale Schlagzeugpassagen gegenüber. Viertens schließlich ist der Kontrastreichtum der Raumauffassung der Musik 24

Archiv der AdK, Paul-Dessau-Archiv, 742092, Protokoll eines Gesprächs in der PaluccaSchule, 21.2.1962 (mit freundlicher Genehmigung von Maxim Dessau).

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festzuhalten. Unruhigen, nervösen Passagen – gleichsam am Platz – stehen flächige gegenüber, die wiederum mit in die Höhe strebenden Klangfiguren kontrastiert werden. Dieser Wechsel von Raumbewegung und Dynamik könnte von der Choreographin konzeptionell genützt worden sein. Im Falle von Flug zur Sonne lässt sich dies sogar belegen. Berghaus nämlich setzt für die musikalisch in die Höhe strebenden Passagen (der Planeten) Spitzentanz ein. Wie ›zuwider‹ ihr das ist, offenbart sie in einer ausführlichen Erklärung. Fragt man nun nach der Art der Zusammenarbeit zwischen Berghaus und Dessau, so gestaltete sich diese vielleicht folgendermaßen: Die von Berghaus erstellte Konzeption (wobei die Idee durchaus auch von Dessau stammen kann) wird gemeinsam durchgegangen. Der Gedanke an eine Minutage kommt auf (Tempo, Akzente, Dynamik, Rhythmik). Darauf folgt die Komposition, darauf das intensive Studium der Partitur durch Berghaus, wobei es ihr ein besonderes Anliegen ist – wie wir dies von Michael Gielen25 und Frank Schneider26, aber auch von Dessau selbst wissen –, die Strukturen der Partitur genau zu kennen. Der Akt des Choreographierens erfolgt in einem eigenen, vom Komponisten separierten Schöpfungsprozess. 3. Der dritte Thesenpfeiler, ein Berghaus-Notat zu den Schlachtenszenen des Coriolan,27 gibt darüber Auskunft, in welch erheblichem Maß das Werkverständnis von Berghaus sich verändert. Teil davon ist die Verschiebung des Stellenwerts der Musik innerhalb eines Werkes. Dieses Werkverständnis ist schließlich jenes, das Berghaus bis zu ihrem Lebensende vertritt. Wer nun tatsächlich das Verdienst hat, Berghaus für die Choreographie geholt zu haben, sei dahingestellt. Nahe liegt, dass Dessau schon im Hinblick auf eine Bewegungsrealisierung durch Berghaus die Nummernfolge komponierte. 28 Die Musik hat wieder Nummerncharakter, sie hält sich sehr »streng«, so Berghaus, »an die […] Überschriften der einzelnen Komplexe und gibt ihnen dadurch großen Zusammenhang, Eindeutigkeit und Einheitlichkeit. Berghaus versucht etwaigen Einwänden entgegenzutreten: Die Nummernhaftigkeit sollte genutzt werden. »Zwischen jeder Nummer entsteht notgedrungen eine Zäsur. Die Choreographie nutzt diese, und zwar in verschiedener Weise: einmal als Bewegungslosigkeit, ein andermal geht die Bewegung ohne Musik weiter: Eine besondere Situation wird durch die Stille hervorgehoben. […] Die Musik«, so Berghaus weiter, »gibt kein Detail, weil sie nicht illustriert. Sie komponiert Rufe, Rhythmen, Abläufe der Schlacht nach ihren Gesetzen, ohne Rücksicht auf die Rhythmen und Bewegungsabläufe der Choreo25

26 27 28

Michael Gielen: Alles ergab sich aus der Musik. Ein Gespräch, in: Bazinger: Regie: Ruth Berghaus (Anm. 13), S. 23–36. Frank Schneider: Verstehen wollen, wie kompositorisches Denken funktioniert, in: ebd., S. 103–110. In: Sigrid Neef: Das Theater der Ruth Berghaus, Berlin (Ost) 1989, S. 21f. In diesem Zusammenhang sei Maxim Dessau gedankt, der zu diesem Thema ausführlich mündlich Stellung nahm.

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graphie.« Die Choreographie reagiere nicht »im einzelnen« auf die Musik, sie werde nicht als »Begleitung«, sondern »eigenständig« gehandhabt, denn: »Die Fabel der Schlacht muß […] erzählt werden durch die Musik und die Choreographie.« Das, was die Choreographie mit der Musik gemein hat, ist das Zeitmaß. Die Musik »deutet« nicht: »Sie kann z.B. kontrapunktisch« mit etwas umgehen. »Sie muß nur Musik und Bewegung zusammensetzen, zusammenfügen.« Und Berghaus betont immer wieder die eigenständigen Wege, die Musik und Choreographie zu gehen haben: »Zu unregelmäßigen musikalischen Rhythmen« kommen zum Beispiel »verhältnismäßig regelmäßige choreographische Rhythmen«.29 Die Choreographie geht ganz bewusst eigene Wege: In einem Teil einer musikalische Phrase etwa »werden die Römer mehr durch die Musik unterstützt, aber choreographisch wird schon gezeigt, daß die Kampfkraft der Römer nachläßt«. Immer wieder betont Berghaus, dass durch die Musik das eine, durch die Choreographie anderes erfahrbar wird. Eine Verdoppelung wäre »langweilig und uninteressant«. Und: »Ganz abgesehen davon, daß beide ›Schwesterkünste‹ auf die eine oder andere Weise um ihr Mitteilungsvermögen gebracht würden.«30 So weit die Schrift von Berghaus, die jenes Werkverständnis zum Ausdruck bringt, das über ein Jahrzehnt auch unter dem Einfluss von Dessau gewachsen war und das über Dessaus Tod hinaus auch für die Regiearbeit von Ruth Berghaus verbindlich blieb. Bei dieser Vorgangsweise der Regiearbeit sah sich Berghaus allerdings, und diese Gedanken sollen abschließend zu weiteren Überlegungen anregen, mannigfachen Einwänden von Seiten der Rezeption ausgesetzt. Das hohe Ausmaß der kritischen Resonanz, das angesichts des besonderen Anspruchs sowie der herausragenden Qualität der Arbeit von Berghaus doch immer wieder überrascht, ist verschiedenen Gründen geschuldet. Zum einen muss gefragt werden, inwieweit der Blick von Berghaus auf das Zusammenwirken beziehungsweise den Alleingang der einzelnen ›Elemente‹ einer Inszenierung, den genannten Reaktionen Vorschub leistet. Von der These ausgehend, dass die Qualität einer Inszenierung oder Choreographie von der Ausgewogenheit der verwendeten ›Elemente‹ wie den herangezogenen Mitteln ausgeht, fällt auf, dass die in den Ausführungen ausgebreiteten Thesen auf einem Drei-Pfeiler-Gerüst, also auf einem Fundament stehen, das tendenziell dazu neigt, nach der einen oder anderen Stelle wegzukippen. Aus diesem Blickwinkel heraus ergeben sich folgende Fragen: Neigt die Regiearbeit der Ruth Berghaus vielleicht dazu, nach der einen oder anderen Seite zu kippen? Funktioniert die so oft angepriesene »Eigenständigkeit der Elemente« tatsächlich? Geht die viel beschworene Eigenständigkeit nicht auf Kosten des anderen, zum Beispiel: Ist die theoretische Deutung der Fabel tatsächlich sinnlich wahrnehmbar? Überdeckt nicht zuweilen die Raumlösung die körperliche Bewegung? Oder: Tritt vielleicht die Musik, zumal nach dem Tod Paul Dessaus, in den Hintergrund? 29 30

Neef, Das Theater der Ruth Berghaus (Anm. 27), S. 21. Ebd.

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Diese Fragen bringen uns zum zweiten Grund für die widersprüchliche Resonanz der Regiearbeit von Berghaus. Sie liegt in der – vermeintlich irrigen – Annahme der Choreographin Berghaus, geformte Bewegung könne an sich wahrgenommen und auch als intellektuell deutbar erfahren werden. Noch immer von der mitteleuropäischen Tradition ausgehend, körperliche Bewegung allein als Unterhaltung zu sehen, fehlt hier die Einsicht, Bewegung Seriosität und Aussagekraft zuzugestehen. Dieser Mangel aber, Bewegung zu sehen und diese auch – sei es im Zusammenwirken mit den anderen ›Elementen‹ einer Inszenierung, oder auch als selbstständige Kraft – bewerten zu können, mochte oft die Ursache dafür gewesen sein, die Gesamtkonzeption einer Arbeit nicht würdigen zu können. Mag dieser – wohl auch als Folge des Wirkens von Pina Bausch – allmählich platzgreifende Wandel der Bewertung von Bewegung für die Wertschätzung der Arbeit von Ruth Berghaus auch zu spät gekommen sein, so ist er doch für das Verständnis jener Regisseurinnen und Regisseure von größter Bedeutung, die heute im Sinne von Berghaus arbeiten.

Ruth Berghaus’ Lukullus-Inszenierungen Lars Klingberg Ruth Berghaus inszenierte sämtliche fünf Opern Paul Dessaus und brachte vier davon zur Uraufführung. Lediglich Dessaus erste Oper Die Verurteilung des Lukullus (bzw. in der früheren Fassung Das Verhör des Lukullus) wurde nicht von ihr uraufgeführt; die Uraufführung fiel in diesem Fall in eine Zeit, in der sie noch nicht als Regisseurin tätig war und in der auch ihre eheliche Verbindung mit dem Komponisten noch nicht bestand. Doch gerade diese Oper war es, um die sie sich im Laufe ihrer Karriere als Regisseurin besonders intensiv bemühen sollte. Von 1960 an hatte sie sie insgesamt sechsmal auf die Bühne gebracht, davon allein viermal an der Deutschen Staatsoper Berlin. Ihrer ersten Inszenierung an diesem Haus (1960, gemeinsam mit Erhard Fischer) folgten Inszenierungen am Theater der Landeshauptstadt Mainz (1960) und am Volkstheater Rostock (1961). In den Jahren 1965, 1983 und 1992 inszenierte sie Lukullus erneut an der Deutschen Staatsoper Berlin. Es ist davon auszugehen, dass Paul Dessau bei den noch zu seinen Lebzeiten entstandenen Inszenierungen erheblichen Einfluss auf die Regiearbeit nahm. Obwohl die von beiden Eheleuten geschriebenen Briefe für meine Untersuchung nur teilweise zur Verfügung standen, ließen sich für Dessaus Einflussnahme mehrere Belege finden. So äußerte sich der Komponist im Jahr 1961 in seinem Notizbuch glücklich über den großen Erfolg der Rostocker Lukullus-Premiere (36 Vorhänge) und erwähnte von den an diesem Erfolg beteiligten Künstlern einzig Ruth Berghaus. 1 Über die im Februar 1966 im Fernsehen gesendete Inszenierung von 1965 schrieb er ins Notizbuch: »Famose Arbeit von Ruth. Grosser Eindruck bei vielen. Zeitungen nehmen keine Notiz. Auch zu gut für Zeitungen.«2

1

2

Dessau im Notizbuch 1961–1977, Bl. 10r; Transkription in: ders.: »Let’s Hope for the Best«. Briefe und Notizbücher aus den Jahren 1948 bis 1978, im Auftrag der Stiftung Archiv der Akademie der Künste hg. von Daniela Reinhold, Hofheim 2000 (= Archive zur Musik des 20. Jahrhunderts 5), S. 77. Dessau im Notizbuch 1963–1977, Bl. 22r; Transkription in: ders.: »Let’s Hope for the Best« (Anm. 1), S. 106.

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Abb. 1: Ruth Berghaus mit Hubert Lehmann, dem Sänger der Titelpartie (Foto: Marion Schöne) Quelle: Sigrid Neef: Das Theater der Ruth Berghaus, Berlin 1989, Abb. 25 (S. 30)

Wenige Monate später verteidigte Dessau die Entscheidung von Ruth Berghaus, in ihre Inszenierung ein auf den Vietnam-Krieg verweisendes Foto einzufügen – eine Aktion, die im November 1966 den amerikanischen Sänger John Moulson, der die Rolle des Lukullus verkörperte, dazu bewog, die Deutsche Staatsoper um Vertragsauflösung zu bitten.3 In Dessaus Notizbuch findet sich hierzu der Eintrag: »Am

3

Dessau: »Let’s Hope for the Best« (Anm. 1), S. 96, Anm. 135.

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24.6.67 ›Lukullus‹ mit Hubert Lehmann aus Erfurt. Ausgezeichnet. Dieses amerikanische Schwein glücklich ersetzt.«4 Besonders eng mit ihrem Ehemann arbeitete Ruth Berghaus bei ihrer ersten Berliner Lukullus-Inszenierung 1960 zusammen. Das geht zum Beispiel aus einem Brief Dessaus an den Bühnenbildner Hainer Hill hervor. Zugleich wird in diesem Brief deutlich, wie wenig Dessau bereit war, von Brechts Vorgaben abzuweichen. Denn er sprach sich dafür aus, einen Regieeinfall (der vermutlich von Ruth Berghaus stammte) zu korrigieren: »Überlege Dir bitte folgendes: Es heißt bei Brecht: ›Zwei Jungfrauen mit einer Tafel‹. Daß wir diese Stelle von zwei Kindern singen lassen, ist insofern dramaturgisch richtig, als es aussagt, daß man den Fries ›gefälscht‹ hat (Brecht). Wir müssen aber die beiden Gestalten, von denen die eine jetzt bei Dir ein kleines Kind ist, leider Gottes korrigieren. Es müssen unbedingt zwei Jungfrauen sein, wenn wir nicht den Text ändern wollen, und das wollen wir nicht.« 5

In ihrer Mainzer Lukullus-Inszenierung von 1960 teilte Berghaus den Chor in der ersten Szene – wie aus ihren Regienotaten hervorgeht – in drei Gruppen, die an verschiedenen Stellen der Bühne positioniert waren und jeweils einen Gestus interpretierten; sie verwendete für die Gruppen die Bezeichnungen »Chorgruppe«, »Extrachorgruppe« und »Sprechergruppe«. Man darf diese szenische Idee vielleicht als einen Vorgriff auf ihr späteres, von Karl Mickel »szenische Metapher« genanntes Inszenierungsprinzip sehen. In ihren Regienotaten heißt es erläuternd zur Teilung des Chores: »Die 3 Volksgruppen zeigen verschiedene Verhaltensweisen: Chorgruppe rechts ist im Bann [des] Aufwandes, staunend genau den Gestus des Gesanges übernehmend. Jeder reagiert für sich, real, weniger rhythmisch die Bewegungen. Die Extrachorgruppe zeigt den gleichen Gestus[,] aber in anderer Weise: Sie reagieren in Gruppen, die Bewegungen werden rhythmisch fixiert. Die Gruppe ist entfernt von Publikum u. soll das Wogen einer Masse wiedergeben. Der Zuschauer sieht also vorn das spezielle[,] das sich nach hinten ins allgemeine [sic] fortsetzt. Die Sprechergruppe hat einen anderen Gestus. Sie verhalten sich unabhängig vom Chorgesang u. unabhängig von der Trauermusik. Sie sind von Anfang an gegen den Aufwand.« 6

Glaubt man der Berichterstattung in der Presse zur Mainzer Inszenierung, so muss es sich um eine sehr sachliche, eng an die Aussage des Textes gelehnte szenische Einrichtung gehandelt haben: »Die Mainzer Inszenierung von Ruth Berghaus […] ließ keinen Augenblick Gefühle aufkommen. Im Sinne Brechts, im Sinne Dessaus, soll der Zuschauer angeregt werden, mit- und nach zudenken. Er soll sich ebenso wie das Totengericht für die Verurteilung des Lukullus entschei4

5

6

Dessau im Notizbuch 1961–1977, Bl. 42v; Transkription in: ders.: »Let’s Hope for the Best« (Anm. 1), S. 96. Dessau an Hill, 26.1.1960, Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 198. Zu Hills Wirken bei dieser Inszenierung siehe Lothar Schirmer und Dirk Praller: Bühnen-Bilder. Hainer Hill und die Kunst der Projektion, Karlsruhe 2005 (= Lindemanns Bibliothek 26), S. 38. Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 206, Bl. 2f.

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LARS KLINGBERG den. Nicht aus dem Gefühl heraus, sondern aus der klaren Erkenntnis, daß dieser römische Feldherr weniger für die Menschheit getan habe, als die einfachen Leute vom Markt oder diese armselige Tertullia, die den Feldherrn im Reich der Schatten begrüßt. Ruth Berghaus fand genau den schmalen Grat zwischen Karikatur (Begräbniszug), Anklage (Herbeischaffung des Frieses) und eine[r] kühlen Leidenschaftlichkeit (Verurteilung). Die Bewegungsregie war klug durchdacht und ließ auch hier die Desillusionierung des Geschehens erkennen.«7

Im Folgenden werde ich zwei Inszenierungen näher unter die Lupe nehmen, nämlich die Berliner Inszenierungen von 1965 und 1983. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen sind beide Inszenierungen besonders gut dokumentiert, und zum anderen fiel in die Zwischenzeit der radikale Wechsel des Inszenierungsstils von Ruth Berghaus, sodass durch einen unmittelbaren Vergleich die jeweiligen Stilmerkmale besonders deutlich sichtbar werden.

Abb. 2: Lukullus (Hubert Lehmann) im Schattenreich (Foto: Marion Schöne) Quelle: Sigrid Neef: Das Theater der Ruth Berghaus, Berlin 1989, Abb. 26 (S. 31)

In der Inszenierung von 1965 setzte Ruth Berghaus die Figur des Lukullus ins Zentrum, dessen Charakterzüge sie ebenso überhöhte wie die Verehrung, die ihm vom Volk zuteil geworden war. In ihrer auszugsweise gedruckten Regiekonzeption schrieb sie dazu: »Durch Trauerzug, Begräbnis, Hinweise auf seine Toten wird Lukullus, bevor man ihn überhaupt zu Gesicht bekommt, zu einem idealen Helden aufgebaut. Die Heldenverehrung sollte so eindrucksvoll und überzeugend sein, daß die wenigen Einschränkungen, die von einigen 7

Erik Emig: »Die Verurteilung des Lukullus.« Erstaufführung der Oper von Bert Brecht und Paul Dessau in Mainz, in: Die Freiheit, Mainz, 14. Jg., Nr. 121 vom 14.10.1960, S. M 3.

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Leuten während des Trauerzuges gemacht werden, nur wenig ins Gewicht fallen. Sie können des großen Mannes Ruhm angesichts so großer, wirksamer Veranstaltungen nicht beschädigen. Ihre Argumente sind zu klein und alltäglich, um seine Nützlichkeit, die sich in Eroberungen von ganzen Ländern dokumentiert, in Frage zu stellen.« 8

Berghaus zeichnete Lukullus ganz als soziale Figur, als eine Person, die völlig mit dem durch ihn vertretenen sozialen Typus identisch ist: »Hier scheitert einer der typischsten Vertreter der untergehenden Klasse, der die aufkommende nie begreifen wird, weil er so konsequent in seiner Klasse lebte. Das Verhalten des Lukullus wird also von seiner gesellschaftlichen Stellung bestimmt, er wird sozial beurteilt. Allein diese Betrachtung des Feldherrn interessierte den Dichter. Denn es geht in diesem Stück nicht darum, Glück und Unglück des Lukullus zu beschreiben, sondern darum, was Glück und Unglück solcher Männer anderen kostet.« 9

In ihren unpublizierten Konzeptionsmaterialien zur Inszenierung von 1965 äußerte sich die Regisseurin insbesondere zur Gestaltung der ersten Szene (Der Trauerzug): »Der Zug muß eine Show sein. Das Staunen und die Bewunderung des Volkes gelten dem Aufwand. Die Kritik einzelner wird von der Show erstickt. Der Zug wird nur die im Text angekündigten Dinge zeigen. Diese aber in großer Aufwendigkeit: Katafalk, Klageweiber, Fries und die Darstellungen seines Triumphes. (Der Katafalk wird von Soldaten getragen.) Der Transport des Frieses wird als schwieriger Arbeitsprozeß gezeigt: Sklaven rollen ihn auf Balken vorwärts. Die Szenen des Triumphes werden in überlebensgroßen phantastischen Masken vorgeführt.« 10

Bewusst sollte nach dieser Konzeption keinerlei ironische Brechung der dargestellten Ruhmestaten des Lukullus während des Trauerzuges zum Ausdruck kommen. Der Kontrapunkt zur Szenerie sollte allein durch die Musik und später durch die Aussagen im Verhör erfolgen: »So z.B. soll der Trauerzug nur in idealistischer Form in Erscheinung treten. Die Aufdeckung der Darstellungen im Trauerzug und die wahre Geschichte der Friesgestalten darf [sic] erst durch die Zeugnisse der Zeugen kommen. Der Zug soll einen absolut friedlichen und glorreichen Eindruck machen. Die Größe des Helden sollte nicht angezweifelt werden. Sie wird (später) durch Argumente gebrochen und abgebaut.«11

Dieses Konzept hatte zur Folge, dass eine strikte Trennung zwischen den in der Oberwelt und den in der Unterwelt spielenden Szenen vorgenommen wurde – eine Trennung der Handlung in zwei Teile, die sich »streng voneinander unterscheiden«. 12 Nicht zuletzt in diesem Punkt sollte sich übrigens die nachfolgende Inszenierung (von 1983) fundamental von der Inszenierung des Jahres 1965 unterscheiden, denn dort wurde die Trennung von Oberwelt und Unterwelt aufgehoben. 8 9 10

11 12

Ruth Berghaus: Aus der Regiekonzeption zu Lukullus, in: Oper im Bild 5/1965, [S. 2]. Ebd. »Die Verurteilung des Lukullus« (Konzeptions- und Regiematerialien von Ruth Berghaus), Typoskript, 4 Bl., Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 248. Ebd. Vgl. ebd.

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Die Inszenierung von 1983 bedeutet in fast jeder Hinsicht einen Bruch mit der Inszenierungstradition und insbesondere mit der vorherigen Inszenierung von 1965. Dieser Bruch ist so auffallend, dass sich die Frage, was dafür die Ursachen waren, geradezu aufdrängt. In dieser Inszenierung praktizierte Ruth Berghaus in voller Konsequenz an einer zeitgenössischen Oper einen Inszenierungsstil, den sie einige Jahre zuvor im Sprechtheater erprobt hatte. Denkbar, dass der Tod von Paul Dessau in gewisser Weise die Voraussetzung dafür war, dass sie es erst so spät riskierte, eine von dessen Opern zum Experimentierfeld des neuen Stils zu machen. Denn zwar rühmte Berghaus Dessaus Toleranz ihren Arbeiten gegenüber, 13 doch dürfte andererseits dessen Vorliebe für das realistische Musiktheater Walter Felsensteins, in dem er das Modell einer »werkgetreuen Wiedergabe unserer Meisterwerke« sah, 14 bremsend auf ihre avantgardistischen Ambitionen gewirkt haben. Bevor ich mich zu der Frage äußere, was die Ursachen und mögliche Begleitumstände dieses Paradigmenwechsels waren, seien die wichtigsten Merkmale des neuen Inszenierungsstils zusammengetragen, eines Stils, der Ruth Berghaus zu einer Pionierin und Klassikerin dessen, was wir heute ›Regietheater‹ nennen, gemacht hat. Gemeinhin wird das in den 1970er Jahren entstandene ›Regietheater‹ an der Praxis aktualisierender Inszenierungen festgemacht. Berghaus’ ›Regietheater‹-Inszenierungen waren jedoch von Anfang an mehr als bloße Aktualisierungen, vielmehr kombinierte Berghaus das Prinzip der Aktualisierung mit einem weiteren grundlegenden Prinzip: mit dem Prinzip der mehrdimensionalen Aufspaltung einzelner interpretatorischer Elemente und ihrer gleichzeitigen spannungsvollen In-Bezug-Setzung. Beide Prinzipien handhabte die Regisseurin nicht willkürlich, sondern führte sie auf gesellschaftliche Veränderungen seit den früheren Modellinszenierungen zurück. Den Schritt zum ›Regietheater‹ wagte sie nicht im Alleingang, sondern in stetigem Austausch mit ihrem jeweiligen Regieteam. Besonders wichtig wurden dabei zwei Personen, die zum unmittelbaren Umfeld Ruth Berghaus’ während ihrer Zeit als Intendantin des Berliner Ensembles gehörten: die Schriftsteller Karl Mickel und Heiner Müller. Mickel war schon von Berghaus’ Vorgängerin Helene Weigel ans Berliner Ensemble geholt worden, Müller, der mit der Affäre um die Uraufführung seines Stückes Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande (1961) zur Unperson in der DDR geworden und aus dem literarischen Leben des Landes weitgehend ausgegrenzt worden war, holte Berghaus 1970 als Dramaturgen an dieses Haus, an dem sie im selben 13

14

Ruth Berghaus über ihre Zusammenarbeit mit Paul Dessau: »Mein Mann liefert die Komposi tion, ich muß mich mit ihm als Regisseur auseinandersetzen. So, wie ich ihm in seine Arbeit nicht reinrede, tut er es nicht in meine. Das schließt natürlich nicht aus, daß wir uns streiten.« (Karsten Bartels: Stillstand ist unproduktiv. Sonntag-Gespräch mit der Regisseurin Ruth Berghaus, in: Sonntag, Berlin, 33. Jg., Nr. 9 vom 4.3.1979, S. 7; vgl. Sigrid Neef: Das Theater der Ruth Berghaus, Berlin 1989, S. 28). Paul Dessau: Die Kunst der schöpferischen Ausdeutung der Musik, in: Intendanz der Komischen Oper Berlin (Hg.): Die Komische Oper 1947–1954, Berlin 1954, S. 55–59; Wiederabdruck, in: ders.: Notizen zu Noten, hg. von Fritz Hennenberg, Leipzig 1974 (= Reclams Universal-Bibliothek 571), S. 161–169, hier S. 161; zu Dessaus Beziehung zu Felsenstein vgl. auch Neef: Das Theater der Ruth Berghaus (Anm. 13), S. 27.

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Jahr stellvertretende Intendantin geworden war und im folgenden Jahr Nachfolgerin Helene Weigels als Intendantin werden sollte. Beide Schriftsteller standen zuvor schon mit Paul Dessau in enger Verbindung. Mickel hatte für ihn die Libretti zu der 1964 uraufgeführten Kantate Requiem für Lumumba sowie zu der 1974 uraufgeführten, von Ruth Berghaus inszenierten Oper Einstein geschrieben; von Müller stammte u.a. das Libretto zu Dessaus Oper Lanzelot, die von Ruth Berghaus 1969 zur Uraufführung gebracht wurde. Müllers Schauspiel Zement brachte Berghaus 1973 am Berliner Ensemble gegen große politische Widerstände zur Uraufführung. Die erste Arbeit von Ruth Berghaus, in der sie ihren neuen Stil konsequent umsetzte, war 1974 die Inszenierung von Brechts Stück Die Mutter, einer Bearbeitung von Maxim Gorkis gleichnamigem Roman. Die Regisseurin hatte damit ein Stück ausgewählt, das noch von Brecht zu einer modellhaften Aufführung gebracht worden war – eine Folie, vor der sich nun die Unterschiede in der Inszenierungspraxis umso plastischer hervorhoben. Der Schritt zum bewussten Abweichen vom ›Modell‹ – ein Schritt, mit dem Ruth Berghaus den Zorn der Brecht-Erben auf sich zog – ist vermutlich in engem Austausch mit Karl Mickel vollzogen worden. Das geht aus damaligen Überlegungen zur Regiekonzeption hervor, über die sich Mickel in Interviews äußerte. Aber auch bei späterer Gelegenheit – 1996 in seinem Nachruf auf Ruth Berghaus – äußerte er sich dazu und fasste die damaligen Überlegungen mit folgenden Worten zusammen: »Ich glaube, daß Ruth Berghaus 1974, während sie ›Einstein‹ und ›Die Mutter‹ inszenierte, sich der Maximen ihrer Arbeitsweise bewußt vergewisserte und ihrer dauerhaft inne ward. I.e., kurz gesagt: auf der Bühne treffen unterschiedene bedeutungstragende Faktoren zusammen: Sprache, Musik, Körperlichkeiten der Darsteller, optische Gestalten der Gruppen und Räume. Diese Faktoren vermitteln untereinander widersprüchliche Gehalte synchron: sind insgesamt der musikalischen Vertikale analog. Kein Widerspruch bleibt ohne Widerspruch; die Wechselwirkungen produzieren ein bewegliches Geflecht szenischer Metaphern; der Bühnenraum ist semantisch geladen bis in den letzten Winkel.«15

Mickel deutet in diesem Rückblick an, was ein zentraler Punkt in Berghaus’ neuer Regieführung war: die Trennung und das spannungsvolle Gegeneinander-Ausspielen der »bedeutungstragenden Faktoren« zu »szenischen Metaphern«. Der Begriff »szenische Metapher« ist von Mickel eigens 1974 im Zusammenhang mit der Mutter-Inszenierung erstmals benutzt worden. Berghaus’ langjährige Assistentin Sigrid Neef sprach in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Brecht von der »Trennung der Elemente«.16

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16

Karl Mickel: Das Berliner Ensemble der Ruth Berghaus, in: Theater der Zeit 51 (1996), Heft 2, S. 50f., hier S. 51; Wiederabdruck unter dem Titel Nekrolog in ders.: Gelehrtenrepublik. Beiträge zur deutschen Dichtungsgeschichte, Halle (Saale) 2000 (= Karl Mickel: Schriften 5), S. 467–472, hier S. 472. Neef: Das Theater der Ruth Berghaus (Anm. 13), S. 27.

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Doch zunächst einige Bemerkungen zum Prinzip der Aktualisierung eines klassisch gewordenen Stücks, eines Prinzips, dem Ruth Berghaus 1974 in der Inszenierung von Brechts Die Mutter erstmals konsequent gefolgt ist. In der vom Inszenierungs-Team verfassten Konzeption heißt es dazu: »Die Mutter-Inszenierung ist die erste Arbeit, in der wir bei einem großen Brecht-Stück vom Modell 1951 bewußt und konsequent abweichen. Wir gehen auf das Prinzip der Uraufführung 1931 zurück. Das betrifft auch Eislers Musik, deren 1. Fassung wir verwenden.«17

Die Abweichungen vom ›Modell‹ waren mit der Annahme gerechtfertigt worden, dass gesellschaftliche Hintergründe, die während der Entstehung des Stückes als den Zuschauern bekannt vorausgesetzt werden konnten, einem gegenwärtigen Publikum nicht mehr geläufig seien, sodass manche Szenen nicht mehr verständlich seien. Als Beispiel nannte Karl Mickel den Einsatz des Chores, auf den man sich entschlossen habe zu verzichten und ihn durch einen artistisch distanziert auftretenden Sänger zu ersetzen. Während Brecht beim Publikum noch die Kenntnis der Chöre der Hungernden bei Demonstrationen habe voraussetzen können, habe man in der DDR Demonstrationen nur als stumme und mit Lautsprechern beschallte Veranstaltungen erlebt.18

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18

Ruth Berghaus, Karl Mickel, Andreas Reinhardt und Thomas Günther: Konzeptionsmaterial, in: Verband der Theaterschaffenden der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Regisseure der DDR inszenieren Brecht. Materialien und Fotos zu zwölf Aufführungen. Zum 80. Geburtstag von Bertolt Brecht, Redaktion: Angela Kuberski und Regine Herrmann, Berlin o.J. [1977] (= Dokumentation – Information für Theater, Sonderbeitrag), S. 2/1–2/5, hier S. 2/2. Mickel: Das Berliner Ensemble der Ruth Berghaus (Anm. 15), S. 51 bzw. im Wiederabdruck S. 471.

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Abb. 3: Bericht vom 1. Mai (Foto: Maria Steinfeldt) Pelagea Wlassowa: Felicitas Ritsch, Iwan: Kurt Goldstein, Andrej: Peter Hladik, Anton: Hans-Peter Minetti, Pawel: Hans-Joachim Frank, Mascha: Jutta Hoffmann, Smilgin: Hans-Peter Reinecke Quelle: Sigrid Neef: Das Theater der Ruth Berghaus, Berlin 1989, Abb. 121 (S. 93)

Nun ein Beispiel für die in derselben Inszenierung gegenüber dem ›Modell‹ vorgenommenen Änderungen: In der 5. Szene (Bericht vom 1. Mai 1905) änderten Berghaus und Mickel die Form. Brecht hatte die Ereignisse während der Maidemonstration in St. Petersburg, die zum Tod des Arbeiters Smilgin führten, dem Publikum in Form eines Erinnerungsberichts mitgeteilt. Dazu sei nochmals aus der 1974 vom Inszenierungs-Team verfassten Konzeption zitiert:

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LARS KLINGBERG »Brechts Kunstlösung für diese Szene beruht darauf, daß das Stück während großer Klassenkämpfe und direkter Konfrontation mit dem Klassenfeind gespielt wurde; die realen Demonstrationen, welche dem Publikum bekannt waren und an denen es teilnahm, waren auf der Bühne nicht zu imitieren. Deshalb wählte er die Berichtsform; die Episierung ist unmittelbare formale Konsequenz aus den realen Formen des Klassenkampfs: In den Sälen wurden die Demonstrationen zur Zeit der Uraufführung tatsächlich ausgewertet. Das ist nicht unsere Situation, deshalb ist eine andere szenische Lösung nötig. Wir müssen versuchen, auf der Bühne Kenntnis der Konfrontation mit dem bewaffneten Klassenfeind direkt zu vermitteln, da unserem Publikum diese Kenntnis fehlt. Dafür ist eine theatralische Lösung zu finden. In diesem Zusammenhang scheint uns der Tod des Smilgin das Zentrum der Szene [zu sein]. Dieses Ereignis ist zu rekonstruieren (rekonstruieren ist etwas anderes als berichten und auswerten); die Rekonstruktion erfordert vom Darsteller des Smilgin, daß er seine Entscheidung ohne Distanz, direkt, innerhalb eines episierenden Kontext[es] spielt; das ist ein grober formaler Bruch, der noch verschärft wird dadurch, daß nicht Smilgin, sondern Smilgins Geist auf der Bühne steht. Es liegen mehrere Schichten übereinander. Die Schichten sind miteinander nicht vermittelt, sie müssen einzeln aufgedeckt und dürfen nicht vermischt werden.« 19

In der Szene Bericht vom 1. Mai sah Karl Mickel auch in anderer Hinsicht ein Experimentierfeld, nämlich hinsichtlich der Synchronität verschiedener Deutungsebenen. In dieser Szene waren die beiden zur Sprache hinzukommenden Dimensionen vertreten durch das Arrangement der Körper wie bei einer Pietà und durch die Musik Hanns Eislers mit ihrer Assoziativität. Dies geht aus einer Stellungnahme Mickels hervor: »Ruth Berghaus hat ein exzeptionelles Regieprinzip: das konsequente Arbeiten an synchronen Vorgängen mit verschiedenen Aussagemitteln. Wenn wir die Szene ›1. Mai‹ nehmen, dann haben wir die Körperlichkeit der Schauspieler, das Arrangement ihrer Körper auf der Bühne, wir haben die Sprache, den Text, den sie sagen, also die pure Haltung, und wir haben dazu die Musik. Nun kann man mit allen drei Ebenen dieselbe Aussage machen. Man kann das Ganze aber verdichten, indem man gleichzeitig über die verschiedenen Deutungsträger Sprache, Musik, körperliche Haltung, Arrangement verschiedene Gehalte, die auch einander widersprechen können, zur selben Zeit – in der Musik wäre das also die Vertikale – übermittelt und inszeniert. Das fordert sehr viel vom Schauspieler, das fordert noch mehr vom Publikum, das erhöht die Widersprüchlichkeit des Vorgangs.«20

Wie bereits erwähnt, fand Mickel 1974 für das In-Beziehung-Setzen der verschiedenen Deutungsebenen – Sprache, Musik und körperliche Haltung – den Begriff »szenische Metapher«. Ausdrücklich grenzte er sich vom Gebrauch des Terminus »optische Metapher« für diesen Sachverhalt ab, weil damit nur eine einzige Ebene berührt werde, während »szenische Metapher« alle drei Ebenen meine. 21

19 20

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Berghaus/Mickel/Reinhardt/Günther: Konzeptionsmaterial (Anm. 17), S. 2/3. Schauspielerisches Detail und Regiekonzeption. Gespräch über die Inszenierung von Brechts »Mutter« am Ber liner Ensemble (1975), in: Verband der Theaterschaffenden der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Material zum Theater. Beiträge zur Theorie und Praxis des sozialistischen Theaters, Nr. 100, Reihe Schauspiel, Heft 28: Revolution und Geschichte auf dem Theater – Beiträge vom ErichEngel-Seminar 1977, Berlin 1978, S. 33–36, hier S. 34f. Ebd., S. 35.

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In einer späteren Reflexion über das, was er »szenische Metapher« nannte, schloss Mickel auch noch eine vierte Ebene – die Veränderung des Bühnenbildes – mit ein: »›Szenische Metapher‹ ist eine Kurzformel für das Bemühen, das Theater als Ganzes zu ge brauchen und zu nehmen und nicht als Mittel, als was Zwischengeschaltetes, das dem Transport von etwas Transzendentem dienen soll; für das Bemühen, dem Theater zu geben, was des Theaters ist. Man sieht, man hört: man begreift Sprache, man hört Musik. Die Welt ist wider sprüchlich. Und in diesen drei groben Komponenten Sprache – Musik – szenische Bewegung können auf jeder Ebene entweder abwechselnd oder gleichzeitig oder widerstreitend die verschiedensten Informationen gegeben werden. Es kann gleichzeitig durch ein szenisches Arran gement diese Information gegeben werden; das, was dazu gesprochen wird, gibt eine zweite, die Musik eine dritte, Veränderung des Bühnenbildes eine vierte Information. Das gibt auch eine Dichte der Inszenierung. Es erfolgt nicht alles nacheinander, sondern widersprüchlich, parallel laufend. Und es gehört ja zu den wesentlichen Gattungsbestimmungen des Theaters, daß Verschiedenes gleichzeitig passieren kann. […] Das Theater fordert diese widersprüchliche Synchronität der verschiedensten Elemente, gerade weil es so ein komplexes Instrument ist. Und das scheint mir eben die Entdeckung zu sein, die die Regiearbeit von Ruth Berghaus ins allgemeine Bewußtsein gerückt hat.« 22

Wie Sigrid Neef feststellte, die als Dramaturgin wichtige Ideengeberin bei der Lukullus-Inszenierung von 1983 war, sei Berghaus hier sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hätte in ihrer Lukullus-Inszenierung »die Synchronität der verschiedenen Elemente zu einer Synchronität verschiedener Fabellesarten gebracht«. Damit hätte sie mit Brechts Postulat gebrochen, dass es die Aufgabe des Theaters sei, »eine Fabellesart zu finden«.23 Ich möchte noch einmal kurz zum ersten der beiden von Ruth Berghaus kombinierten Prinzipien zurückkehren: zum Prinzip der Aktualisierung. Auch für Karl Mickel war dieses Prinzip übrigens letztlich das entscheidende. Seine von mir bereits zitierte Reflexion über Berghaus’ Inszenierung von Brechts Die Mutter schloss er mit den Worten: »Der Hauptgedanke ist doch, die heutige Welt darzustellen.« 24 Weitere Gedankengänge zum Prinzip der Aktualisierung erfahren wir aus Äußerungen Heiner Müllers. Dass Ruth Berghaus auf dessen Rat großen Wert legte, geht etwa aus ihrer Bemerkung hervor: »Heiner Müller ist für mich eine Art letzte Instanz, wenn er zum Beispiel etwas zu einer Aufführung sagt.« 25 Eine Schlüsselfunktion aus dem folgen22

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24 25

Angela Kuberski: Aus einem Gespräch mit Karl Mickel am 28.9.1977, in: Regisseure der DDR inszenieren Brecht (Anm. 17), S. 2/8–2/17, hier S. 2/12f. Sigrid Neef: Ruth Berghaus inszeniert Paul Dessaus Opern, in: Sigrid Neef (Hg.): Ruth Berghaus inszeniert Die Verurteilung des Lukullus, Oper von Paul Dessau, Text von Bertolt Brecht. Eine Dokumentation der Aufführung der Deutschen Staatsoper Berlin 1983, Berlin o.J. [1987] (= Theaterarbeit in der DDR 14), S. 8–14, hier S. 9. Kuberski: Aus einem Gespräch mit Karl Mickel am 28.9.1977 (Anm. 22), S. 2/17. Ruth Berghaus und Heiner Müller im Gespräch [Zeuthen, 4.10.1987], aufgezeichnet und unter Teilnahme von Sigrid Neef, in: Sinn und Form 41 (1989), S. 114–131; geringfügig geänderte Fassung in: Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche, Frankfurt/M. 1990, S. 71–93; Wiederabdruck in: ders.: Gespräche 2: 1987–1991, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2008 (= Heiner Müller: Werke 11), S. 72–99, hier S. 85.

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den Zitat, das aus einem Gespräch aus dem Jahr 1987 stammt und das Müllers freizügige Behandlung von Regieanweisungen – sogar auch in seinen eigenen Stücken – belegt, hat meines Erachtens der letzte Satz, auf den ich noch eigens eingehen werde: »Es fängt zum Beispiel schon bei den frühen Stücken von Schiller an. Wenn du als Regisseur die Regieanweisungen beachtest und das machst, was Schiller anweist, bist du ziemlich verlo ren. Man muß sehr oft das Gegenteil von dem machen, was er da schreibt, damit es stimmt. Wenn zum Beispiel dort steht ›Friedrich (sehr bestialisch)‹, muß das heute gerade freundlich kommen. Genau dasselbe passiert mir, wenn ich jetzt Lohndrücker inszeniere und die Regieanweisungen lese, dann weiß ich genau, diese Regieanweisungen sind der Versuch, auf ein Theater einzugehen mit einem Text, der für ein ganz anderes Theater geschrieben ist. Mit den Regieanweisungen aber gehe ich auf das Theater ein, das im Moment existiert. […] Und heute kann man diese Regieanweisungen nur noch streichen und vergessen, sonst ist das Stück verloren, und man bekommt nicht mehr mit, daß der Text eine Übersetzung von Wirklichkeit ist und keine Abbildung.«26

Müller sah also die Aufgabe des Regisseurs nicht darin, dem Publikum Kenntnisse über zeitgenössische Kontexte eines Stückes zu vermitteln, sondern er sah sie darin, dem Publikum den Text in dessen eigene heutige Lebenswirklichkeit zu ›übersetzen‹, d.h. den Text so einzurichten und zu kontextualisieren, als würde es sich um ein aktuell entstandenes Stück handeln. Von Ruth Berghaus gibt es im Zusammenhang mit ihrer 1983er Lukullus-Inszenierung eine ganz ähnliche Bemerkung. In einer Rundfunksendung über diese Inszenierung äußerte sie, das Einzige, was man aus einem autorisierten früheren Inszenierungsmodell lernen könne, sei, »in welcher Zeit wir damals waren, in welcher Situation die Autoren die Aufführung haben wollten und welche gesellschaftlichen, politischen und kulturpolitischen und ästhetischen Verhältnisse herrschten«. Als heutiger Regisseur müsse man dies zwar »alles wissen«, man dürfe aber von diesem Wissen keinen Gebrauch machen, sondern man müsse »alles wieder vergessen und […] von vorn anfangen«.27

26 27

Ebd., S. 87. Berghaus in der Rundfunksendung Am Anfang stand der »Lukullus« innerhalb der Sendereihe Radio-DDR-Musikklub des Senders Radio DDR II, Erstsendung am 27.4.1984, Wiederholungssendung am 30.11.1984. Siehe die Transkription am Ende dieses Beitrages.

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Abb. 4: Umschlag der von Sigrid Neef herausgegebenen Dokumentation der Inszenierung von 1983 Quelle: Sigrid Neef (Hg.): Ruth Berghaus inszeniert Die Verurteilung des Lukullus, Oper von Paul Dessau, Text von Bertolt Brecht. Eine Dokumentation der Aufführung der Deutschen Staatsoper Berlin 1983 , Berlin o.J. [1987] (= Theaterarbeit in der DDR 14)

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Über die Lukullus-Inszenierung von 1983 gibt es zwar keine filmische Dokumentation, doch lassen sich die Ausstattung und das darstellerische Geschehen ziemlich präzise anhand von Fotos und verschiedenen schriftlichen Zeugnissen rekonstruieren. In einer von Sigrid Neef herausgegebenen Dokumentation sind u.a. die Thesen des Regieteams und eine detaillierte Beschreibung der Aufführung abgedruckt. Außerdem sind als Archivdokumente zwei Fassungen einer Regiekonzeption sowie die unveröffentlichten Protokolle über die während der Arbeit an der Inszenierung stattgefundenen Sitzungen des Regieteams erhalten geblieben, aus denen sich die einzelnen Arbeitsschritte und konzeptionellen Überlegungen während des Entstehungsprozesses rekonstruieren lassen. Die Inszenierung von 1983 ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der atomaren Bedrohung der damaligen Zeit, in der es zwischen den Großmächten zu einem ›Zweiten Kalten Krieg‹ gekommen war. Dieser Zusammenhang wurde auch dadurch betont, dass die Deutsche Staatsoper am 23. November 1983 – am Tag nach dem Bundestagsbeschluss zur Stationierung von Mittelstreckenraketen – eine außerplanmäßige Aufführung der Verurteilung des Lukullus auf ihren Spielplan setzte; gleichzeitig wurden von den Mitwirkenden öffentliche Erklärungen zur Friedensproblematik eingeholt, und Intendant Hans Pischner wandte sich in einem Offenen Brief an die Intendanten europäischer Opernhäuser.28

Abb. 5: Szenenfotos der 1. Szene (Fotos: Maria Steinfeldt) Quelle: Sigrid Neef (Hg.): Ruth Berghaus inszeniert Die Verurteilung des Lukullus, Oper von Paul Dessau, Text von Bertolt Brecht. Eine Dokumentation der Aufführung der Deutschen Staatsoper Berlin 1983 , Berlin o.J. [1987] (= Theaterarbeit in der DDR 14), S. 38f. 28

Siehe dazu die Materialien im Archiv der AdK, Sigrid-Neef-Sammlung, Signatur: 155, sowie Auszüge aus den Erklärungen von Mitwirkenden in dem zusammenfassenden Bericht von Sigrid Neef: Eine außergewöhnliche Vorstellung. »Lukullus«-Ensemble der Deutschen Staatsoper bekennt sich zur sozialistischen Friedenspolitik, in: Sonntag, Berlin, 37. Jg., Nr. 49 vom 4.12.1983, S. 2.

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Das von Hans-Joachim Schlieker geschaffene Bühnenbild stellt eine Szenerie wie nach einem Atomkrieg dar. Im Zentrum steht eine mehrspurige Fahrbahn, die in den Materialien des Regieteams stets »Autobahn« genannt wurde, obwohl auch Assoziationen an eine Startbahn hervorgerufen werden sollten. 29 Dieses Ausstattungsmerkmal sollte sowohl an den mit dem Bau von Autobahnen verbundenen NS-Mythos erinnern als auch an Brechts Mahnung von 1938, dass die Forcierung des Autobahnbaus durch das NS-Regime im Zusammenhang mit der Kriegsvorbereitung stand. 30 In den vom Regieteam erarbeiteten Thesen zur Inszenierung wurde darüber hinaus aber auch Bezug auf den damals umstrittenen Bau der »Startbahn West« des Flughafens Frankfurt am Main genommen.31 Ausgehend von einer These Heiner Müllers, der 1981 seiner Befürchtung Ausdruck gegeben hatte, dass angesichts der nuklearen Bedrohung die Alternative »Sozialismus oder Barbarei« abgelöst werden könnte durch die Alternative »Untergang oder Barbarei«, sollte in der Inszenierung die selbstmörderische Sinnlosigkeit des Krieges im Atomzeitalter zum Ausdruck kommen. 32 Stillschweigend stellte das Regieteam damit die Gültigkeit der von Brecht 1951 auf Druck der SED vorgenommenen Änderungen am Lukullus-Libretto in Frage, mit denen damals hatte klargestellt werden sollen, dass nur der Angriffskrieg zu verurteilen sei. Um die Ausweglosigkeit der Menschen zu verdeutlichen, verhalten sich die Figuren oft unlogisch oder kontraproduktiv im Sinne ihrer jeweiligen Rolle; es konnte der Eindruck entstehen, dass sie ziellos umherirren. An vielen Stellen wurde der Versuch unternommen, die Handlung im Sinne zusätzlicher Fabeln assoziativ fortzuschreiben, wodurch es dem Zuschauer außerordentlich schwer gemacht wurde, einem ›roten Faden‹ zu folgen. Die dieser Vielschichtigkeit zugrunde liegenden Ideen erfahren wir aus den Thesen des Regieteams:

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Während der Arbeit an der Inszenierung entbrannte beim Regieteam – Ruth Berghaus (Inszenierung), Sigrid Neef (Dramaturgie), Marie-Luise Strandt (Kostüme), Hans-Joachim Schlieker (Bühnenbild), Ingo Bossan (Mitarbeit an der Produktion) – ein Streit darüber, »ob das Bild mehr Autobahn oder mehr Startbahn assoziieren soll«; Einigkeit bestand aber darin, dass »auf keinen Fall der Eindruck entstehen« dürfe, »daß man von dieser Bahn noch starten kann, noch wegkommt« (Bossan: Arbeitsgespräch »Lukullus« am 20.4.1983, Typoskript, 2 Bl., Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 225). So in der ersten von zwei Fassungen einer (unautorisierten, unbetitelten und undatierten) Regiekonzeption zur Inszenierung von 1983, Typoskript, 4 Bl., Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 252. Vgl. auch die vom Regieteam erarbeiteten Thesen zur Inszenierung, in: Ruth Berghaus inszeniert Die Verurteilung des Lukullus (Anm. 23), S. 16–24, hier S. 23, wo auch Brechts Gedicht – ein Abschnitt aus der in den Svendborger Gedichten enthaltenen Deutschen Kriegsfibel – abgedruckt ist. Ebd. (Regieteam: Thesen zur Inszenierung), S. 24. Sigrid Neef: Werkstattgespräch mit Ruth Berghaus, in: Mitteilungen. Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik, 22. Jg., Nr. 5 (September/Oktober 1984), S. 9f., hier S. 9. Das Zitat stammt aus Müllers (im Programmheft abgedrucktem) Beitrag auf der von Stephan Hermlin im Dezember 1981 organisierten Schriftstellertagung »Berliner Begegnung zur Friedensförderung«, an der auch Ruth Berghaus teilgenommen hatte.

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LARS KLINGBERG »Wir fanden in der Oper fünf Schichten, die es aufzudecken und zu erzählen galt: 1. Die Geschichte des Frieses. Er ist eine dichterische und musikalische Metapher und meint das Verhältnis zwischen Abbild und Realität […]. 2. Die Geschichte des Lukullus, der um sein Nachleben kämpft. […] 3. […] die Geschichte des Gerichtes. Wir erkannten in den Schöffen die ›Riesen des Neuanfangs‹. […] 4. […] die Geschichte der Kinder […]. Ruth Berghaus las den Kindern des Kinderchores, die wir dafür vorgesehen hatten, Brechts ›Kinderkreuzzug‹ vor […], und sie wurden zu wachen, wissenden Mitspielern in der Inszenierung. 5. Ausgehend von der realen politischen Situation, war es uns wichtig zu zeigen, daß wir selbst uns in diesem Stück befinden. […] Wenn sich die Gegenwärtigkeit des Kampfes auf der Bühne wiederfinden lassen sollte, durften wir die Inszenierung nicht so anlegen, als wenn wir das Ende, die Verurteilung des Lukullus, schon wüßten.« 33

Abb. 6: Lukullus (Reiner Goldberg) im Schattenreich, vor dem Totengericht (Foto: Maria Steinfeldt); Lehrer: Harald Neukirch, Bauer: Peter Olesch, Bäcker: Peter Menzel, Fischweib: Uta Priew, Totenrichter: Konrad Rupf, v.l.n.r.; Quelle: Sigrid Neef: Das Theater der Ruth Berghaus, Berlin 1989, Abb. 33 (S. 36)

Markant für die Inszenierung wurde die von mir bereits erwähnte Aufhebung der Trennung in Ober- und Unterwelt – eine Entscheidung, die die Gegenwärtigkeit des auf der Bühne dargestellten Geschehens verdeutlichen sollte und die das Regieteam 33

Regieteam: Thesen zur Inszenierung (Anm. 30), S. 21–24.

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nachträglich mit einem Verweis auf Brecht zu legitimieren versuchte. 34 Charakteristisch wurde außerdem die Entscheidung, das Orchester auf der Bühne zu platzieren. Dadurch sollte ein Kontrast der Lebendigkeit gegenüber der ansonsten auf der Bühne vorherrschenden Agonie geschaffen werden. 35 In den Thesen heißt es dazu, »wir versprachen uns viel davon, wenn gegen eine Szenerie, die Trümmer und Versinkendes zeigt, ein Orchester anspielt, Musik sich behauptet: das Messing der Instrumente gegen die Tristesse von Verfallendem«.36 Zugleich wurde so die Anordnung der Instrumentengruppen sichtbar gemacht, wodurch die unterschiedlichen Musizierformen, denen die einzelnen Instrumente in Dessaus Partitur entsprachen, »szenisch ins ›Bild gerückt‹« wurden, was ihre Korrespondenz mit szenischen Vorgängen möglich machte.37 Der Symbolgehalt von Dessaus sehr differenzierter Komposition und Instrumentierung war es übrigens auch, durch den sich das Regieteam zu dem Inszenierungsprinzip anregen ließ, mit mehreren, »gleichzeitig, parallel und aufeinander bezogen erzählte[n]« Fabeln dem Zuschauer »eine Fülle von Zeichen und Angeboten« zu geben, »die man kombinieren kann«38 – und der Gefahr eines Dualismus von Opfern und Täter entgegenzuwirken. Dabei war die Erkenntnis entscheidend, dass oftmals Text und Musik sich »ganz deutlich gerade diesem Dualismus verweigern«. 39 Die Inszenierung von 1983 löste ein großes, überwiegend positives Presseecho in beiden deutschen Staaten aus. Am 2. Mai 1984 lud die Akademie der Künste der DDR zu einem »Werkstattgespräch« mit Ruth Berghaus ein, und am 27. April 1984 (sowie erneut am 30. November 1984) sendete Radio DDR II im Rahmen der Sendereihe »Radio-DDR-Musikklub« ein von Otto Zengel moderiertes Gespräch zwischen Ruth Berghaus, Sigrid Neef und den Musikwissenschaftlern Gerd Rienäcker und Frank Schneider (vgl. die Transkription des Gesprächs im Anhang). Abschließend noch eine kurze Bemerkung zu Ruth Berghaus’ letzter LukullusInszenierung (von 1992), die zunächst von der Deutschen Staatsoper Berlin nicht als Neuinszenierung, sondern als Wiederaufnahme ausgewiesen wurde. 40 In der Tat handelte es sich lediglich um eine in verschiedenen Details revidierte Wiederaufnahme der Fassung von 1983. Zu den wichtigsten Änderungen gehörte die Streichung zweier von Paul Dessau 1951 hinzugefügter Arien: der Arie des Königs und der Arie des Lehrers »Rom, Rom, wer ist Rom?«. Die Notwendigkeit, angesichts der veränderten politischen Lage eine echte Neuinszenierung – vielleicht sogar eine Inszenierung der 34 35

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Ebd., S. 18. Vgl. Bossan: Arbeitsgespräch »Lukullus« am 19.4.1983, Typoskript, 2 Bl., Archiv der AdK, RuthBerghaus-Archiv, 225. Regieteam: Thesen zur Inszenierung (Anm. 30), S. 17. [o.A.]: Problemspiegel für »Lukullus«-Arbeitsgespräch in der Akademie der Künste der DDR, o.D., Typoskript, 4 Bl., Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 243. Sigrid Neef: Werkstattgespräch mit Ruth Berghaus (Anm. 32), S. 10. [o.A.]: Zur Arbeit an Text, Stoff und Musik, in: Ruth Berghaus inszeniert Die Verurteilung des Lukullus (Anm. 23), S. 25–29, hier S. 25. So die Bezeichnung im anonym und undatiert überlieferten Protokoll Arbeitsgespräch zur Wiederaufnahme »Lukullus«, Typoskript, 3 Bl., Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 244.

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im Frühjahr 1951 unter dem Titel Das Verhör des Lukullus aufgeführten Urfassung – vorzunehmen, wurde von Ruth Berghaus erkannt; seitens der Staatsoper war aber damals nur eine Neueinstudierung eingeplant gewesen. 41 ***

Anhang Transkription des Hörbeispiels aus Radio-DDR-Musikklub: Am Anfang stand der »Lukullus«; Moderator: Otto Zengel; Gesprächspartner: Ruth Berghaus, Sigrid Neef, Gerd Rienäcker und Frank Schneider; Radio DDR II, Erstsendung am 27.4.1984, Wiederholungssendung am 30.11.1984; Ausschnitt (00:00:58–00:09:29); Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv, Standort: Potsdam-Babelsberg, Archivnummer: StMG3752; vgl. auch die (stark bearbeitete) Transkription unter dem Titel Radio DDR Musikklub. Am Anfang stand der »Lukullus«. Otto Zengel im Gespräch mit Ruth Berghaus, Sig rid Neef, Dr. Gerd Rienäcker und Dr. Frank Schneider, in: Sigrid Neef (Hg.): Ruth Berghaus inszeniert Die Verurteilung des Lukullus, Oper von Paul Dessau, Text von Bertolt Brecht. Eine Dokumentation der Aufführung der Deutschen Staatsoper Berlin 1983, Berlin o.J. [1987] (= Theaterarbeit in der DDR 14), S. 90– 98, hier S. 90–93 […] Otto Zengel: Ihre dritte Inszenierung in Berlin, Frau Berghaus, ich sagte schon, sie bot überraschende Lösungen, setzte neue Akzente. Sie unterschied sich wesentlich von den vorangegangenen. Und auch in anderen Theatern, an anderen Bühnen, wird der ›Lukullus‹ anders inszeniert. Heißt das – die Frage an Sie –, dass die Musik Paul Dessaus dem Regisseur breiten Spielraum bietet, dass er ihm viele Entfaltungs- und Deutungsmöglichkeiten offeriert? Ruth Berghaus: Das Interesse an einem Kunstwerk ist solange da, solange es ein Rätsel bleibt. Wäre es gelöst, wäre das Kunstwerk tot. Der Titel »Die Verurteilung des Lukullus« sagt das Ende. Es war also uns wichtig, das Rätsel im Kunstwerk zu suchen, und wir fanden es in der Musik. Jede Regiekonzeption oder Regiearbeit bemüht sich, das Rätsel zu lösen, und jede Inszenierung ist eine Probe auf das Werk, und jede Regiekonzeption ist eine musikalische. Otto Zengel: Ja, Frank Schneider bitte! Frank Schneider: Aber die Frage vom Moderator hat natürlich noch einen allgemeinen Aspekt auch. Also, es ist völlig richtig, dass jedes Werk, jedes Kunstwerk, genügend Elemente enthält, die nicht eine Inszenierung erschöpfen kann. Kunstwerke sind vieldeutig, also bedürfen sie der Interpretation. Ich würde aber denken, bei einem Typ, einem Operntypus, wie dem »Lukullus« ist von vornherein nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit gegeben, für die szenische Realisierung immer eigentlich ganz von vorn zu beginnen. Denn die theatralischen Elemente sind von vornherein bei dieser Konzeption von »epischem Musiktheater« ja nicht so linear aufeinander bezogen wie das etwa in älteren Musiktheatertypen der Fall ist. Es sind also selbst die Dessau’schen oder Brecht’schen Vorschriften ja ganz mager. Also, es ist ja für ver 41

Vgl. Georg-Friedrich Kühn: Fischgericht und Totengebet. Paul Dessaus »Lukullus« wieder an der Linden-Oper, in: Frankfurter Rundschau, 48. Jg., Nr. 132 vom 9.6.1992, S. 7.

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schiedene Elemente auch völlige Freiheit vorgegeben, viel weiter als das etwa bei einer Berg’schen Oper ist oder bei Wagner. Ruth Berghaus: Also, Dessau hat nicht theoretisiert, was das Theaterpraktische anbelangt, und das ist sehr klug. Otto Zengel: Und er hat auch wenig Anweisungen gegeben – ich meine verbale Anweisungen – in der Partitur. Es ist doch nur am Schluss eine kurze Bemerkung bei der Verurteilungsszene, sonst doch kaum. Ruth Berghaus: Keine Regieanweisung. Otto Zengel: Er lässt also dem Regisseur völlig freie Hand. Ruth Berghaus: Ja. Frank Schneider: Aber auch das Verhältnis von Text und Musik ist doch ein anderes, ein mehrdeutiges, es ist kein lineares. Es sind ja immer eine Menge von Brechungen drin. Das ist viel leicht, was Frau Berghaus unter anderem mit gewissen Rätselhaftigkeiten und Beziehungen wenigstens zwischen diesen beiden Ebenen meint. Die muss man immer neu entdecken – und in gewisser Weise festlegen erst. Da drückt nicht eines das andere Medium so unmittelbar aus. Gerd Rienäcker: Na ja, es gibt aber noch einen dritten Aspekt: Wenn Ruth Berghaus sagt, jedes Werk ist ein Rätsel, ist ja auch die Frage zu stellen, für wen und wann – und wann, unter welchen Bedingungen, ein solches Rätsel aufgegriffen und gelöst werden muss. Und da sind wir ja mitten im Gespräch über unsere Zeit. Dann ist ja die Frage zu stellen, was sind denn das für geschichtliche Konstellationen, die uns den »Lukullus« nahelegen, die sehr verschiedene Leute zur Beschäftigung mit dem Werk zwingen, die sehr verschiedene Leute zu bohrenden Fragen zwingen, was denn in dem Werk noch enthalten sei von dem, was man vielleicht hätte übersehen können. Die Beschäftigung mit dem Werk ist ja mehr als die Beschäftigung mit einem ästhetischen Gebilde. Und ich würde das Gespräch über die ungeheueren internationalen Kollisionen nicht auslassen wollen, wenn gerade ein »Lukullus« ansteht. Otto Zengel: Sie meinen also, nicht nur jede neue Generation – ich meine, das Werk ist ja vor 30, gut 30 Jahren, uraufgeführt worden –, nicht nur jede neue Generation wird das Werk neu erleben und empfinden, sondern auch schon jede neue Inszenierung muss entsprechend der Aktualität der Politik darauf Bezug nehmen? Ruth Berghaus: Na, sehen Sie, ich hab’ doch die Aufführung anders inszeniert als vor 20 Jahren oder als vor 10 Jahren. Es geht gar nicht anders. Ich kann mich doch nicht aus der Welt rauslassen, in der ich lebe, und wenn ich ein Werk inszeniere, interpretiere ich es natürlich von der Situation aus, in der ich mich befinde und mit der Umwelt in der ich lebe und in der Welt überhaupt. So wird es jedes Jahr wahrscheinlich anders sein… Otto Zengel: …entsprechend der Situation und entsprechend auch Ihrem Vorhaben, was Sie dem Publikum, dem Hörer, dem Opernbesucher mitteilen wollen. Also wahrscheinlich werden bei jeder neuen Inszenierung die Akzente wieder neu gesetzt, Frau Neef? Sigrid Neef: Ja, sie werden durch jeden neu gesetzt, der sich mit einem Werk einer Zeit stellt. Und diese Inszenierung hier ist entstanden in einer Zeit, wo die Raketenstationierung zur Fra ge stand. Und aus dieser Zeitfrage konnten und wollten wir uns nicht heraushalten. Und damit hat sich das Werk für uns auf eine besondere Weise gestellt.

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LARS KLINGBERG Frank Schneider: Ich meine, das Werk enthält eine Problematik, eine inhaltliche Herausforderung, deren Aktualität nicht abnimmt, sondern wächst – objektiv. Die Lage verschärft sich, die Fragen zwischen Krieg und Frieden stehen heute in der Welt nicht nur schlimm, sondern existentiell, glaube ich, für alle zusammen. Und wenn man also eine Oper sich vornimmt, inszeniert, die hier ein politisches Moment zu ihrem Gegenstand macht, es aufgreift, glaube ich, darf nicht nur, sondern muss die Inszenierung sogar zu verschärften Mitteln auch greifen. Otto Zengel: Gerd Rienäcker, Sie sagten es doch im Programmheft: Leider ist der »Lukullus«, sagten Sie, aktuell oder modern; Sie bedauerten es also. Wenn Sie es noch einmal erklären könnten…? Gerd Rienäcker: Nein, ich habe es anders gesagt. Ich habe gesagt: »Er ist aktueller als [es] sich die Autoren gewünscht hätten.«42 Und das ist wichtig. Die Autoren hatten nämlich große Wünsche, dass diese Situation sich nicht so entwickeln wird. Sie hat sich anders entwickelt, selbst anders, als es Schenker in der »Missa nigra« voraussah. Und Schenker sagt auch: »Das Werk hat an Aktualität zugenommen – so wie ich es nicht gewusst habe«. Sigrid Neef: Und wenn man das Wort von dem Rätsel, was ich sehr glücklich und wichtig finde, doch noch mal aufgreift und genau befragt, dann heißt das ja nicht, dass irgendjemand einmal kommt und das Rätsel löst und auf einen Satz bringt, und dann gilt dieser Satz für alle Zeiten, dann sei das Kunstwerk ›erlöst‹. Otto Zengel: Also, es gibt wohl – gerade, was den »Lukullus« anbetrifft – überhaupt nicht so etwas wie ein Inszenierungsschema? Sigrid Neef: Sie meinen jetzt sicherlich Modell? Ruth Berghaus: Das gibt es natürlich. Es gibt ein Inszenierungsschema für dieses Stück. Und dieses Inszenierungsschema muss man durchbrechen, weil dieses Schema aus einem Modell kommt, aus einer anderen Zeit. Das Modell lehrt uns, in welcher Zeit wir damals waren, in welcher Situation die Autoren die Aufführung haben wollten und welche gesellschaftlichen, politischen und kulturpolitischen und ästhetischen Verhältnisse herrschten. Das ist das Einzige, was man aus einem Modell lernen kann. Ansonsten muss man völlig neu an eine Arbeit rangehen. Das heißt, ich muss das alles wissen, aber ich muss alles wieder vergessen und muss von vorn anfangen: Ton für Ton, Wort für Wort in Beziehung neu setzen, analysieren, neu zusammenknüpfen, betonen, weniger betonen. Heute wird anders musiziert, diese Musik wird heute anders musiziert als vor 20 Jahren – Haenchen macht es hervorragend, und Kegel hat es

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Gerd Rienäcker: Auszüge aus einem Gespräch zur Oper »Die Verurteilung des Lukullus«, geführt am 15.6.1983, in: Dessau/Brecht: Die Verurteilung des Lukullus, [Programmheft], hg. von der Deutschen Staatsoper Berlin, Redaktion: Sigrid Neef, Berlin [1983], unpag. [S. 3 und S. 10f., hier S. 3 und S. 11]: »Die Krieg-Frieden-Problematik hat sich so zugespitzt, daß selbst Dessau und Brecht sich das hätten kaum vorstellen können. Warum sollte ein Werk, das hierzu Grundfra gen deutlichst artikuliert, unaktuell geworden sein? […] Wann könnte die ›Verurteilung des Lukullus‹ ein modernes Werk sein? Es könnte modern sein, wenn heutige Realitätserfahrungen in Kunstspezifisches überführt und in diesem transparent gemacht werden. ›Lukullus‹ ist modern, wenn die politische Dimension mit aller Deutlichkeit und jenseits von Plakativem artikuliert wird. ›Lukullus‹ ist auf traurige Weise auch modern, weil die Vorgänge, die es selbst in der ersten Schicht darbietet, an Bedrohlichkeit zugenommen haben. Solche Modernität hatte Paul Dessau sich nicht gewünscht.« Vgl. die vollständige Fassung des Textes von Gerd Rienäcker unter dem Titel Fragen an »Die Verurteilung des Lukullus«[,] genauer an uns, die wir es heute zu inszenieren trachten, 15.6.1983, Typoskript, 18 S., Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 214.

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hervorragend gemacht, aber Kegel macht es ganz anders (oder: hat es anders gemacht als es Haenchen macht heute) –, die Bläser spielen anders, wir leben anders, wir sitzen anders, alles spielt eine große Rolle. […]

Puntila. Anatomie einer Inszenierung Matthias Tischer An den vielfältigen Spuren, welche Paul Dessaus Oper Puntila nach dem Stück Herr Puntila und sein Knecht Matti von Bertolt Brecht1 in der Inszenierung von Ruth Berg­ haus und ihrem Team in den Archiven (allen voran der Akademie der Künste, Ber­ lin) hinterlassen hat, lassen sich unterschiedliche, zum Teil einander kreuzende Pfade des musikalischen und politischen Diskurses nachzeichnen. Praxis, Poetik, Ästhetik und Politik durchdringen und bedingen einander, so werden in der Auseinanderset­ zung mit Puntila, oder vielmehr mit dem, was wir von der Inszenierung in den Quel­ len erfahren, nicht nur die Möglichkeitsbedingungen eines eigenständigen zeitge­ mäßen Musiktheaters in der DDR erkennbar. Darüber hinaus wird die Schwelle vom brechtschen zum nach­brechtschen (Musik­)Theater gut ables­ und beschreibbar am Puntila, gerade vor dem Hintergrund von Dessaus erster Brecht­Oper Lukullus. Mehr noch als an den harschen Zensurbestrebungen gegenüber dem Lukullus werden die Schwierigkeiten der DDR mit ihrem Poeta laureatus Bertolt Brecht deutlich anhand der Legitimationsstrategien des Autoren­ und Inszenierungsteams der ersten Brecht­ Oper nach Brechts Tod. Das künstlerische Argumentieren mit Brecht über Brecht hinaus, die dialektische Aufhebung der brechtschen Poetik und Ästhetik, die behut­ same Dekonstruktion des vermeintlich ersten Dichters im Staate DDR ist eine der bedeutendsten Leistungen des kongenialen Künstlerpaares Berghaus/Dessau und ih­ rer Mitstreiter. Es gehört zudem zu den tröstlichen Momenten in der Auseinander­ setzung mit dem autoritären System DDR, dass sich solche Größe selbst einem eher kunstfernen Realpolitiker wie Walter Ulbricht mitteilte. Dessau erinnerte sich später, der erste Mann im Staat habe den humorvoll­artistischen Klassenkampf auf der Opernbühne gemocht.2 Dabei dürfte die eigentliche dramaturgische Triebkraft der Oper Puntila dem durchschnittlichen Rezipienten hörend kaum bewusst, da sie je­ doch auf die Inszenierung massiv zurückwirkte, nicht minder augenfällig gewesen sein. Die Klangfarben des Orchesters sind es wesentlich, welche die Dualismen der brechtschen Fabel zugunsten faszinierender semantischer Vielfalt aufheben. Zudem werden am Puntila exemplarisch die Bezüge erkennbar zwischen Dessaus Komposi­ tionen für den Konzertsaal und jenen für die Opernbühne, bis hin zu Gemeinsam­ keiten im musikalischen Material, seien es Zwölftonreihen oder Bezüge zu Bühnen­ musiken, die Dessau für Brechts Stücke geschrieben hatte und im Musiktheater oder seinen Orchestermusiken in neue Zusammenhänge einbettete. 1

2

Das Stück entstand im finnischen Exil 1940/41 nach Ideen von und in Zusammenarbeit mit der finnischen Dichterin Hella Wuolijoki, bei der Brecht in dieser Zeit wohnte. Die Urauffüh­ rung fand 1948 am Züricher Schauspielhaus statt. Dessau schrieb seine Schauspielmusik zum Stück 1949 in Berlin. Vgl. den Brief Dessaus an Walter Ulbricht vom 30.6.1970, Archiv der AdK, Paul­Dessau­ Archiv, 1963.5.

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1. Vorbemerkungen Die Puntila­Inszenierung von 1966 wurde zur Keimzelle der symbiotischen Zu­ sammenarbeit von Ruth Berghaus und Paul Dessau. Zwar hatte Ruth Berghaus zu­ vor bereits die Neuinszenierung der Oper Die Verurteilung des Lukullus von Brecht und Dessau übernommen, aber wie sie selber immer wieder betonen sollte, insze­ nierte sie spätestens seit dem Puntila nicht mehr Brecht, sondern Dessau. Nach Brechts Tod 1956 trifft für Dessau in der DDR zumindest anteilig das zu, was Joseph Haydn über sich in der Abgeschiedenheit von Schloss Esterházy gesagt ha­ ben soll: »[I]ch war von der Welt abgesondert, niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so musste ich original werden.« 3 Nach Brechts Tod war im Leben des Künstlerpaares und in dem Staat, den sie für ihr Wir­ ken gewählt hatten, einiges im Umbruch. Mit Brechts Tod hatte in der DDR dessen Musealisierung begonnen, zu einem Vatermord seitens der jüngeren Dichter kam es nicht, allenfalls zu einem Widerwillen mancher Autoren und eines erheblichen Teils des Publikums gegenüber dem staatstragenden Anstrich besagten Museums. Dessau emanzipierte sich in dieser Zeit wieder in Teilen von Brechts Musikauf­ fassung4 und besann sich verstärkt auf seine musikalischen Leitsterne, neben Bach, Mozart und Beethoven allen voran Arnold Schönberg, wie dies am deutlichsten in seiner Gedenkkomposition für den Dichterfreund In Memoriam Bertolt Brecht mit ih­ rem dodekaphonen Schlusssatz wird.5 Die Choreographin Ruth Berghaus heiratete 1954 Paul Dessau und lenkte seit­ dem, unterstützt von ihrem Mann, ihre Karriere verstärkt in Richtung Schauspiel­ und Opernregie. Dieses anfängliche Mentorenverhältnis strahlte dann im Laufe der Zeit auf Dessau zurück, indem Ruth Berghaus ihrerseits ihr neues Netzwerk, allen voran Karl Mickel, Heiner Müller und Volker Braun mit Dessau teilte. Bemerkens­ werterweise war ihr erster vielbeachteter Regiebeitrag eine Choreographie für Brechts Coriolan­Bearbeitung.6 Das Regieteam löste nach langem Experimentieren das Problem der Kampfhandlungen auf offener Bühne dahingehend, dass Dessau eine ›Battaglia Sprechchor­Schlagwerkkomposition‹7 schrieb, zu der Berghaus eine Choreographie erarbeitete.8 Die Musik für Coriolan ist bezeichnend für Dessaus ›strategische Ästhetik‹ in der DDR. Nach den traumatischen Erfahrungen mit der gelenkten Kritik an seiner ers­ ten Oper Lukullus im Rahmen der so genannten Formalismusdebatte 9 hatte Dessau 3 4

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Georg August Griesinger: Biographische Notizen über Joseph Haydn, Leipzig 1810, S. 24. Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln u.a. 2009, S. 89ff. Ebd., S. 104ff. Vgl. hierzu den Beitrag von Gunhild Oberzaucher­Schüller in diesem Band. Die Eröffnungsszenen des Lukullus können hier als ›zivile‹ Vorformen gesehen werden. Zu dieser Inszenierung existiert zumindest in Teilen eine filmische Dokumentation: Archiv der AdK, Audiovisuelle Medien, 401901. Vgl. Joachim Lucchesi (Hg.): Das Verhör in der Oper. Die Debatte um die Aufführung »Das Verhör des Lukullus« von Bertolt Brecht und Paul Dessau, Berlin 1993 (= Kunst- und politische Debatten im

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seine schelmischen, scheinbar so naiven wie intelligenten Legitimationsstrategien für die selbstbestimmte Wahl seiner Stoffe, Materialien und Verfahrensweisen verfeinert. Nach seinen vielgescholtenen Geräuschkompositionen für Sprechchor und Orche­ sterschlagwerk im Lukullus begründete Dessau seine Freude am exzessiven Schlag­ werkeinsatz im Coriolan mit der Realitätsnähe des getanzten Krieges, um schließlich im Puntila die Realitätsbruchstücke u.a. in Gestalt von Autohupen ins Orchester ein­ ziehen zu lassen. In diesem Bestreben, einen ›autonomen artistischen Realismus‹ her­ vorzubringen, gleichermaßen in Anlehnung an den wie Abgrenzung vom offiziösen Sozialistischen Realismus, beflügelten sich Dessau und Berghaus gegenseitig bis zu Dessaus Tod 1979. Im Falle der postumen Inszenierung von Leonce und Lena10 im Jahr 1979 wie der letzten Berghaus­Inszenierung des Lukullus im Jahr 1983 scheint diese symbiotische wechselseitige Beförderung sogar den Tod des Komponisten überdauert zu haben. Noch vor Abschluss der Komposition bzw. Orchestration des Puntila im Jahr 1959 hatte Walter Felsenstein sich die Uraufführung für die Komische Oper ge­ sichert,11 und Dessau seinerseits hatte alles getan, die Kommunikation mit dem Hauptvertreter realistischer Inszenierungspraxis in der DDR reibungslos zu gestalten – bis hin zu einer Widmungskomposition für Felsensteins Kinder zu Weihnachten. 12 Der Hochdruck, unter dem Dessau und seine Mitstreiter die Oper zwischen 1956 und 1959 fertiggestellt hatten, verpuffte angesichts des Zögerns seitens der Komi­ schen Oper, das Stück auf die Bühne zu bringen. Die Ursachen hierfür liegen weit­ gehend im Dunkeln, als gesichert kann lediglich angenommen werden, dass es sich um keine staatliche Intervention wie im Falle von Dessaus erster Oper gehandelt ha­ ben dürfte. Zwei mögliche Gründe könnten sein, erstens, dass sich Felsenstein so­ wohl mit der Ästhetik Brechts als auch mit Dessaus erwähntem ›autonomen ar­ tistischen Realismus‹ nur schwer anfreunden konnte und so die Inszenierung aus künstlerischem Zweifel hinauszögerte. Zweitens wäre denkbar, dass sich Felsenstein und sein Team keinen adäquaten Höreindruck anhand des Klavierauszuges ver­ schaffen konnten, was durchaus verständlich sein kann, bei einer Oper, deren trei­ bende Kraft – wie erwähnt – die orchestralen Klangfarben sind. 13 Verbürgt ist ledig­ lich, dass die Freundschaft zwischen dem Regisseur und dem Komponisten an der verschleppten Uraufführung zerbrach. Am 18.12.1969 schrieb Felsenstein in einem Geburtstagsbrief an Dessau: »Da bereitete ich ihnen – vor etwa acht Jahren, als Opfer meiner in der Komischen Oper entwickelten Super­Demokratie – diese große 10 11

12

13

geteilten Deutschland, Bd. 1). Vgl. hierzu den Beitrag von Nina Noeske in diesem Band. Das Walter­Felsenstein­Archiv der AdK (2461) enthält einen Brief Dessaus an Felsenstein vom 25.6.1957, in dem die Rede von einer Übergabe des Puntila noch unter dem Arbeitstitel Die Abenteuer des Herrn Puntila bis zum 4. Bild ist. 6 Sätze für Streichquartett, auch 5. Streichquartett für die kleinen Felsensteine; Quartettino, Quartetto piccolo; Felsensteinquartett. Ein Werkverzeichnis Dessaus findet sich in Daniela Reinhold (Hg.): Paul Dessau (1894–1979). Dokumente zu Leben und Werk, Berlin 1995, S. 215–240. Ein Tonbandmitschnitt des Klaviervorspiels wahrscheinlich in den Räumlichkeiten der Komi­ schen Oper ist in der AdK unter Paul­Dessau­Archiv 3174 erhalten.

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Enttäuschung, für die ich – wenn auch nur indirekt mitschuldig – als Leiter des Hauses die ganze Schuld tragen muß. Ich verlor den Freund und war mit Paul Dessau nunmehr ›offiziell bekannt‹«.14 Dieser zwischenmenschliche Unglücksfall sollte für die Karriere von Ruth Berghaus zum Glücksfall werden. Felsenstein wurde die Uraufführung entzogen, und Dessau konnte eine Inszenierung durch Ruth Berghaus einige hundert Meter weiter an der Staatsoper Unter den Linden durchsetzen. Puntila war in dem Sinne eine ›Zeit­Oper‹, dass sie, wie ihr symphonisches Schwesterstück In Memoriam Bertolt Brecht, ein Signal des Aufbruchs für das Kompo­ nieren in der DDR gleichermaßen ›nach Stalin‹ wie ›nach Brecht‹ darstellte, weg von einem als affirmativen Klassizismus gedeuteten Sozialistischen Realismus und weg von einer staatlich gelenkten Poetik, welche das klanglich und rhythmisch Raffinierte wie Schroffe fürchtete und diffamierte. In diesem Sinne schrieb 1965 während der Probenarbeiten der mit Peter Palitzsch für das Libretto verantwortliche Manfred Wekwerth in einem Brief an den verant­ wortlichen Bühnenbildner Andreas Reinhardt über die Entstehungsgeschichte: »Um dieses grossartige Werk des nach meiner Meinung grössten lebenden Komponisten in dieser Zeit herauszubringen, bedarf es der grössten Initiative. Wir schrieben damals, obwohl wir überhaupt keine Zeit hatten, beinahe in Nachtarbeit das Libretto. Dessau komponierte mit einer Arbeitsfreude, von der wir Jungen nur lernen können. (Dass die Oper 6 Jahre lag, macht die jetzigen Anstrengungen umso notwendiger.)«15

2. Textgenese Die Textbearbeiter hatten Brechts Theaterstück kaum verändert und lediglich für die Opernbühne gekürzt. Dessau seinerseits kürzte weiter, strich besonders plakative (klassenkämpferische) Passagen, wie etwa direkte Publikumsadressen: »Matti zum Publikum: Fünf Wochen hab ich die Stell’, nicht einmal angesehen hat er mich rich­ tig. So sind sie«.16 Darüber hinaus fielen im Laufe der Texteinrichtung zusehends die bei Brecht überdeutlichen Bibel­Allusionen weg. So wurde etwa im Arbeitsprozess aus der Szenenüberschrift Der Herr Jesus am Ölberg die nicht minder hintersinnige Überschrift Herr Puntila findet einen Menschen.17 14 15

16

17

Archiv der AdK, Walter­Felsenstein­Archiv, 4537, b 396. Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 866­1, Bl. 1. Die Staatsoper betrieb einen gigan­ tischen Aufwand, um den Puntila auf die Bühne zu bringen. Probenbeginn war am 15.9.1966, die Premiere am 15.11.1966, 40 Tage Klavierproben, 12 Tage Orchesterproben, 4 Tage Sitz­ proben, 17 Tage Bühne mit Orchester, davon dreimal auch abends und 4 Abschlussproben. In der Fassung von 1950, welche als Textgrundlage der Frankfurter Gesamtausgabe dient, heißt es: »Vielleicht habe ich Sie nie richtig angesehen, ich bin erst seit fünf Wochen bei Ih­ nen.« Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Frankfurt/M. 1989, Bd. 6, S. 287. Wahrscheinlich ist Dessau an dieser Stelle der klassenkämpferische Impetus seiner Librettisten zu plakativ. In der Skizze ist die erste Szene überschrieben »DER HERR JESUS AM OELBERG«, vgl. Archiv der AdK, Paul­Dessau­Archiv, 704.4

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3. Synopse Brecht hatte Dessau kurz vor seinem unerwarteten Tod bei der einzigen Bespre­ chung zum Puntila­Opernprojekt nicht nur seinen Segen erteilt, sondern – nicht ganz leicht nachvollziehbar – Dessau geraten, Ausschnitte aus der Puntila­Verfilmung von Alberto Cavalcanti in die Oper zu integrieren. Das scheint nicht ganz leicht nachvoll­ ziehbar deshalb, weil die Wiener Verfilmung dem Theaterstück sowohl den politischen als auch den erotischen Reißzahn gezogen hatte und das Ganze, unterlegt mit einem fragwürdigen Hanns­Eisler­Potpourri, zum Schwank mit Musik hatte wer­ den lassen. Dessau und letztlich auch Berghaus waren diesem Rat nicht gefolgt, dennoch blieb genug des Negierten erhalten, sodass die Oper beispielsweise die Zweiteilung des Filmes übernahm: In der ersten Hälfte Gutsbesitzer Puntilas abenteuerliche Reise durchs Tavastland (Bild 1–6), in der zweiten der ›häusliche Krieg‹ auf Gut Pun­ tila (Bild 7–13). Prolog 1. Bild: Herr Puntila findet einen Menschen 2. Bild: Der Wald 3. Bild: Die Klinkmann 4. Bild: Herr Puntila verlobt sich mit den Frühaufsteherinnen 5. Bild: Der Gesindemarkt 6. Bild: Die Heimfahrt 7. Bild: Skandal auf Puntila 8. Bild: Ein Gespräch über Krebse 9. Bild: Der Bund der Bräute des Herrn Puntila 10. Bild: Der lange Heimweg 11. Bild: Puntila verlobt seine Tochter einem Menschen 12. Bild: Zwischenspiel vor dem Vorhang. Nocturno 13. Bild: Bibliothekszimmer auf Puntila Epilog: Matti wendet Puntila den Rücken Die Inszenierungsmaterialien aus dem Berghaus­Archiv beschreiben die Ausgangs­ lage der Oper in 13 Bildern folgendermaßen: »Puntila ist der Überlebende einer wahren Sintflut von Spirituosen, die die Saufkumpanen ver­ schlungen hat. Puntila bricht auf und erhebt sich zu übernatürlicher Größe: er tanzt auf dem Aquavit. (Christus auf dem Wasser) Puntila besitzt im Suff die Gabe nicht zu hören, was er nicht hören will.«18

Für die Bühnenhandlung bedeutete das: Puntila hat in einem feinen Hotel mit den lokalen Honoratioren drei Tage gezecht, bis die Saufkumpanen nicht mehr ansprech­ bar waren, nun wendet er sich an seinen Chauffeur, der ob der tagelangen Wartezeit 18

Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 277.

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im Begriff ist, den Dienst zu quittieren und verbrüdert sich mit ihm zum Zeitver­ treib. Im Rausch die Freundschaft des »Schofförs« suchend, ernüchternd diesen um so mehr schikanierend, zieht Puntila mit Matti los, seinen Wald zu schätzen. Den Erlös braucht er als Mitgift für seine Tochter, die im Dienste des sozialen Aufstiegs den überschuldeten Attaché heiraten soll. Am Ende des zweiten Bildes erscheint ihm sein Wald jedoch zu schade, und er zieht es vor, ›sich selbst zu verkaufen‹, d.h. sich mit der Tante besagten Attachés zu verheiraten, was sich jedoch im dritten Bild als nicht praktikabel erweist. Da Puntilas Alkoholpegel und somit seine anarchisch­pragmatische Volkstüm­ lichkeit nachlässt, begibt er sich im vierten Bild a tempo ins Dorf, um in der Apotheke angeblich für seine kranken Kühe Alkohol zu erwerben, den er sogleich zu trinken beginnt und sich hochgestimmt mit vier Dorfbewohnerinnen verlobt, nicht ohne sich vorher ihre Lebensgeschichten erzählen zu lassen. Alle vier lädt er zum kom­ menden Sonntag zur Verlobungsfeier auf sein Gut ein. Abermals durch Alkohol zum Menschenfreund mutiert, stellt der Gutsbesitzer auf dem Gesindemarkt mehrere Sai­ sonarbeiter ein, für die er allerdings keine Arbeit hat und welche demzufolge von sei­ ner Tochter Eva stehenden Fußes wieder fort und somit in die Arbeitslosigkeit ge­ schickt werden. Puntila ist inzwischen nüchtern und drangsaliert Matti, während Eva diesen bittet, sie zu kompromittieren, damit sie den ungeliebten Attaché los wird. Dessen Schulden erweisen sich jedoch als zu hoch, um sich einen Luxus wie Stolz leisten zu können. Im folgenden 8. Bild wird deutlich, dass sich Eva neben der Posse tatsächlich für Matti interessiert. Im 9. Bild treffen die Verlobten des Herrn Puntila auf Gut Puntila ein und werden schmählich verjagt. Am Vorabend der Verlobung gehen Matti und Eva gemeinsam an den Fluss zum Krebsefangen. Zu Evas Verlo­ bung ist Puntilas fürchterlicher Anfall von Nüchternheit überstanden; in hellsichtiger Trunkenheit verjagt er den Attaché und beschließt, Eva mit seinem Chauffeur zu verheiraten; Eva fällt jedoch bei Mattis Eheexamen, einer Art Lebenstauglichkeits­ prüfung für arme Leute, durch. Tags darauf beschließt Puntila dem Alkohol endgültig dadurch zu entsagen, dass er alle Vorräte im Haus trinkend vernichtet. Matti erhält im folgenden Rausch den Auftrag, die Bibliothek zu zertrümmern und aus den Resten ein Ebenbild des Hatel­ mabergs aufzuschichten, den Puntila besteigen möchte, um seinen Angestellten von der Anhöhe aus die Schönheit Finnlands zu zeigen. Bevor der Gutsbesitzer über zahllose Zumutungen seinen Angestellten gegenüber abermals nüchtern werden kann, verabschiedet sich Matti und geht seiner Wege. 4. Mit Brecht Brecht aufheben Das Regieteam um Ruth Berghaus stand nun vor der immensen Aufgabe, Brechts Theaterpraxis, Poetik und Ästhetik im Hegelschen Sinne aufzuheben. Die Funde seiner ästhetischen Erkenntnistheorie galt es zu bewahren, ohne einen weiteren Saal

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im virtuellen Brechtmuseum der DDR zu bespielen. In ihrer Regiekonzeption ver­ mieden Berghaus und ihr Team, dies zur Sprache zu bringen, aber in späteren Äuße­ rungen machte die Regisseurin kein Hehl daraus, dass sie Brechts Poetik für die zeit­ genössische Opernbühne nur bedingt bereit war zu übernehmen. Dabei argumentier­ te sie mit einer »veränderten Emotionalität der Musik« und damit, dass Brechts Dua­ lismen dialektischer gefasst werden müssten: »Dafür weiß unser Publikum zu viel«. Und schließlich müssten die Fragen generell komplizierter sein als im Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters.19 Diese Aufhebung der brechtschen Poetik und Ästhetik wurzelte in Dessaus kompositorischer Neuausrichtung nach Brechts Tod. Analog zur Choralphantasie über dem Lied der Mutter Courage im Mittelsatz der Orchester­ musik In Memoriam Bertolt Brecht (1956/57), welche eingebettet in das (pseudo­)dode­ kaphone Umfeld der Ecksätze erklang, verwendete Dessau neben einer zuweilen sehr freien Dodekaphonie im Puntila Lieder und Volksliedintonationen aus seiner Musik für das Schauspiel Herr Puntila und sein Knecht Matti. Das Artistische und das Volkstonhafte, das Gestische und das Autoreferenzielle sowie das plakativ Naive und das Esoterische durchdringen sich seit dieser Zeit in Dessaus Œuvre in schillernder semantischer Vielfalt. 5. Regiekonzeption Die Materialien zur Regiekonzeption lassen sich grob in drei Ebenen unterteilen: 1. politisch­ästhetische Rechtfertigung 2. dramaturgisch Grundsätzliches 3. präzise Beschreibungen der Inszenierungspraxis. Die ausführliche Rechtfertigung des Regiekonzeptes stützt sich auf drei Säulen: auf Marx, auf Brechts artistische Dialektik und schließlich auf Dessaus Komposition, welche, so die unausgesprochene Kernaussage, Brechts künstlerisch­politische Hal­ tung über Brecht hinaus geführt habe und somit in der Musikalisierung des Brecht­ Stoffes zu besagtem ›autonomen artistischen Realismus‹ gefunden habe. Konkret heißt das, der Klassenkampf in der Oper Puntila wird wesentlich erfahrbar in der Struktur und den Klangfarben des Orchestersatzes. In den frühen Materialien zur Inszenierung finden sich zwei zentrale Zitate, die als Mottos der Regiekonzeption gelesen werden können. Angerufen wurden als Hausheilige zum einen Brecht selbst, zum anderen Karl Marx mit seinem berühmten Diktum aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: »Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im gefesselten Prome­

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Archiv der AdK, Tonband 234212 (Podiumsdiskussion im Brechthaus, 1984).

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MATTHIAS TISCHER theus des Äschylus, mußten noch einmal komisch sterben in den Gesprächen Lucians. Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide.«20

Bei Marx heißt der nächste Satz: »Diese heitere geschichtliche Bestimmung vindizieren wir den politischen Mächten Deutschlands.«21 Das Brecht­Zitat wiederum bringt das undialektische Basis­Überbau­Denken (»Kunst spiegelt die Wirklichkeit wider«), das dem Realismus­Diskurs der frühen DDR innewohnte, zum Tanzen: »Der Gegensatz zw. Kunst + Natur kann dann fruchtbar gemacht werden, wenn er im Kunst ­ werk zwar zur Einheit gebracht, aber nicht ausgetilgt wird. Wir brauchen eine Kunst, die die Natur meistert, wir brauchen die künstlerisch gestaltete Wirklichkeit und die natürliche Kunst.«22

Die Poetik des Künstlerpaares Berghaus/Dessau schließlich entfaltet sich in einem Konvolut, das unter der Überschrift »Zur Lesart« 23 archiviert ist. Eine Händeschei­ dung ist nicht immer zuverlässig möglich. In den verschiedenen Fassungen finden sich handschriftliche Einträge von beiden; aus den Archiven wissen wir, dass Berg­ haus ordentlicher Schreibmaschine schrieb als Dessau. Analyse, Deutung und Au­ topoiesis gehen in diesen Ausführungen Hand in Hand, wie folgendes Beispiel illus­ triert: »Auffällig ist, daß die Welt des Puntila, wenn er besoffen ist, eine annehmbare ist. Die Musik unterstützt Puntilas Flucht in die Trunkenheit, wenn er das Bedürfnis hat, menschlich zu sein. Die Musik schafft da immer eine wohltuende Atmosphäre. Sie teilt Puntilas Sehnsucht: Hinein in den Suff und damit hinein in eine bessere Welt. Sie bremst und kritisiert ihn nicht. Im Ge­ genteil, sie geht über Puntilas Ansprüche hinaus. Sie kann gar nicht genug kriegen vom Alko ­ hol. Das ewig Musikalische zieht uns hinan.« 24

Parallel zu dieser dramaturgischen Grundlinie – wahrscheinlich von Ruth Berghaus – liegt in den Inszenierungsmaterialien eine Begründung der musikalischen Faktur von Dessau vor. Es sei daran erinnert, dass eine Opernöffentlichkeit, die sich in der DDR gerade mit der neoklassizistischen Oratorienpartitur von Dessaus Lukullus an­ zufreunden begann, nun vom polystilistischen Klangrausch des Puntila­Orchesters überrascht wurde.25 20 21

22 23 24 25

Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 277, Regiekonzeption. Karl Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: ders. und Friedrich Engels: Werke, Berlin (Ost) 1976, S. 378–391, hier S. 382. Bertolt Brecht: Schriften zum Theater, Bd. 4: 1933–1947, Frankfurt/M. 1963, S. 144. Enthalten in Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 277. Ebd., Bl. 2. Die Besetzung von Puntila: 3 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten (B/A), 1 Klarinette (Es), Tenor­ Saxophon (B), 3 Fagotte, 3 Hörner (F), 2 Trompeten (B), 3 Posaunen, 1 Tuba, 1 Klavier, 1 Harfe, 1 Gitarre, 1 Celesta, 1 Akkordeon, 4 Pauken (2 Spieler), 1 Vibraphon, 2 Marimbaphone, 1 Xylophon, 1 Baßxylophon (ad lib.), 2 große Becken, 2 kleine Becken, Kleine Trommel, Große Trommel mit Becken, Große Trommel solo, Rührtrommel, Holztrommel, 4 kleine, 4 größere Tempelblocks, 3 Tomtoms (klein, mittel, groß), Tamburin, Kastagnetten, Hölzer, Peitsche, Rasselbüchse, Metallrassel, Rute, Knarre, Ratsche, 3 Autohupen (3 weitere auf

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Dazu schreibt mutmaßlich Paul Dessau in besagtem schlau­naiven Legitimations­ duktus im Angesicht von Brechts Denkmal: »Puntila Paul Dessau schrieb die Oper 1959 nach dem Volksstück ›Herr Puntila und sein Knecht Matti‹ von Bertolt Brecht. Die Textbearbeitung für die Opernfassung ist von Peter Palitzsch und Manfred Wekwerth. Die Bearbeiter haben Umstellungen und Kürzungen vorgenommen, die der Musikalisierung der Scenen dienen. Die Puntilafabel ist vollkommen erhalten geblieben. Sie wurde nur in eine andere Kunstgattung verpflanzt. Der Komponist fügt dem so für die Opernbühne vorbereiteten Textmaterial sein musikalisches Material hinzu, und zwar in sehr vielfältiger und eigenwilliger Weise; mit den einander widersprechendsten musikalischen Mit­ teln. Mit viel Respekt für den Text des Stückes, jedoch mit einer augenscheinlich neuartigen Deklamationsbehandlung transponiert Dessau die Fabel in eine neue musikalische Sprache. Dieses Transponieren gibt dem Stück eine neue Frischheit zurück, was durch Kürzungen weggenommen wurde und bereichert so Fabel und Figuren auf eine spezielle Weise. Die inne­ re Logik der Musik und die Einheitlichkeit der Komposition werden nicht von äußeren Mit­ teln bestimmt, sondern von der dramaturgischen Funktion der Musik. [Satz gestrichen] Diese werden zusammengehalten durch die innere Logik der Musik, die sich aus einer konsequenten musikdramaturgischen Konzeption des Komponisten ergibt. Man wird also in der Partitur kei­ ne äußeren Zusammenhalte oder Einheitlichkeit der Musik vorfinden, sondern eher eine merkwürdige Vielfalt der Mittel die aber, bei genauem Studium erkennen lassen, daß sie in einer direkten Weise mit dem Text wenn auch oft widersprüchlich verknüpft sind.« 26

Dessau breitet hier wie kaum noch einmal später in seiner auktorialen Theoriebil­ dung die Grundlangen einer polystilistischen Poetik und Ästhetik aus. Es handelt sich um ein frühes Zeugnis postmoderner Kompositionsästhetik, was die implizite These stützen würde, dass durch die von der UdSSR ausgehende Modernefeindlich­ keit in Verbindung mit der Forderung eines Komponierens, das sich gesellschaftlich einmischt, seit den Formalismusvorwürfen gegen Schostakowitsch im sogenannten Ostblock postmodernes Komponieren und Reflektieren von Musik früher einsetze als im Westen. Auch wenn das Regieteam einiges von Brechts Inszenierungspraxis, so etwa die Brecht­Gardine, einen die Szenerie eher enthüllenden als verbergenden Halbvor­ hang, übernahm, lässt sich aus der Inszenierungskonzeption deutlich der Wunsch he­ rauslesen, über Brecht hinaus zu gehen: »Diese Überlegungen führten zu unserer Regiekonzeption. Wurde das Brechtsche Stück durch die Musik ein ›Neues‹, so konnte die Regie + Bühnenbild auch nicht auf alten Erfahrungen al­ lein verharren. Ich benenne diese Struktur der Musik so genau, weil sie ein besonderes Ord­ nungssystem für die Oper schafft, das weil es musikdramaturgisch bedingt ist, unsere Spielart bestimmt oder uns jedenfalls auf diese unsere Spielart brachte. Der Vorgang der gezeigt wird, ist durch die Bearbeiter W. und P. auf eine relativ einfache Handlungsführung gebracht: Punti­

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Tonband), 2 Tamtams (groß und mittel), 2 Gongs (mittel und klein), verschieden gestimmte Gongs, Röhrenglocken, Herdengeläute, Sirene, Cymbeln, Schellen, 2 indische Glocken (ad lib.) (insg. 8 Schlagwerker), Streichquintett. Bühnenmusik: 5. Bild: 2 Es­Klarinetten, 2 Tromeben (B), 2 Posaunen, 1 Tuba, 1 kleine und große Trommel (mit Bck.), 8. Bild: 1 Piccoloflöte, 1 Akkordeon, 9. Bild: 1 Akkordeon. Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 277 (unpaginiert).

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MATTHIAS TISCHER la muß sich oder seinen Wald verkaufen, um die Mitgift für seine Tochter zu schaffen. Er han ­ delt sich eine Heuschrecke als Schwiegersohn, aber Ansehen in der Gesellschaft ein. Dieser relativ einfache Vorgang komprimiert in der Fabel sehr widerspruchsvolle komplizierte gesell­ schaftliche Situationen durch Verhalten von Menschen, die sich klassenmäßig feindlich gegen ­ überstehen. Dessau macht den nackten Handlungsablauf musikalisch nicht mit, er deutet ihn nicht aus. Das überläßt er ganz grob dem Text. Seine Musik stützt sich auf die Problematik der Handlung, des Vorgangs. Er dramatisiert die Geschichte nicht: Er kommentiert sie.« 27

Damit wendete sich der Komponist gegen den inhaltsästhetischen Dualismus, der sich seit den 60er Jahren in der DDR breitmachte, dem zufolge Zwölftönigkeit oder freies, nicht Grundton­bezogenes Komponieren für unerfreuliche Gehalte, tonal ge­ bundenes Komponieren hingegen zur Charakterisierung des Guten, Wahren und Schönen zu präferieren sei. Sowohl die dodekaphonen Passagen als auch jene im Volkston drohen im Puntila stets zu kippen: Die Gesangsakrobatik der Titelfigur hat zu ihrem einnehmenden Ton stets einen bösartigen Unterton, aber auch das tändeln­ de Pflaumenlied der Bräute steht schwankend gleichermaßen am klanglichen Ab­ grund. Beides Eindrücke, die wesentlich vom unvermittelten Gegenüber von Volks­ liedintonation und (Pseudo­)Dodekaphonie herrühren könnten. Dessau behält sich vor, in der Handhabung seiner Mittel ihnen (vieldeutigen) Sinn einzuschreiben, wo­ mit er jeglichen möglichen präformierten Deutungsansatz tonal=gut, dodekaphon=böse zum Tanzen bringt. Auktoriale Theoriebildung, die ästhetische und poetische Reflexion seitens der Autoren und Autorinnen waren in der DDR anteilig immer auch Rechtfertigung oder zumindest Absicherung gegenüber einer in künstlerischen Fragen unsicheren Kulturadministration, welche ästhetischen Veränderungen zumeist skeptisch gegen­ überstand. Deshalb klingen Dessaus und Berghaus’ Ausführungen auch ein wenig nach Bestrebungen, einen ›tadellosen Klassenstandpunkt‹ zu demonstrieren und gleichzeitig sowohl die für die DDR ungewöhnliche Musik zu legitimieren, als auch die anarchische Fabel und gleichwohl die zirzensische Inszenierung. Für Dessau und Berghaus war das Ästhetische immer auch zugleich das Politische, so erscheint es nur folgerichtig, dass sie eine komische Oper über den Klassenkampf auch als Refle­ xion über das Verhältnis von Weltbild und Notenbild lasen: »Die folkloristischen Intonationen im ›Puntila‹ heben sich einerseits von der zwölftönigen Um­ gebung ab und sind andererseits in sie integriert. Die Einwirkung der Reihe wirkt als Verzeich­ nung, was dramaturgisch begründet ist. Keineswegs ordnet sich Reihentechnik den negativen Figuren zu und Tonalität den positiven. Aber besteht doch ein Spannungsverhältnis; und wenn Puntila sich, durch den Suff zum Menschen bekehrt, auch musikalisch der Sprache sei­ nes Gesindes anzugleichen sucht, so deutet der gleichzeitig im Material aufbrechende Wider­ spruch auf das Scheinhafte, ja Gefährliche seiner Annäherung. Die Koketterie von Puntilas Tochter Eva, angestrengt­lächerlicher Kopie einer Filmdiva, hat Modeschlager aus den zwan­ ziger Jahren als musikalische Entsprechung: aber die Musik bietet sich, verzerrt, als Karikatur dar und übt so am Verhalten Kritik. Ihre Hohlheit wird ausgestellt und dadurch zugleich die Pose diffamiert.«28

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Ebd.

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Die dialektische Anlage der Figuren wurzelt demzufolge in der Dialektik von Dur­ Moll­Tonalität und Zwölftönigkeit, gepaart mit einer – man könnte sagen – Leitin­ strumentation: »Es ist naheliegend, daß der Darsteller des Puntila durch die Figur das Publikum für sich gewinnen möchte. Unsere Absichten aber sind ganz andere. Auch in der Trunkenheit muß der Mann gefährlich bleiben. Die Musik scheint uns da stellenweise in den Rücken zu fallen. Im Allgemeinen ist sie so konzipiert: Puntila ist sympathisch in der Trunkenheit, gefährlich, wenn er nüchtern wird. Der Sympathie des Puntila kontrapunktiert die Musik die Haltung des Matti. Dieser Widerspruch im musikalischen Gestus genügt nicht, hilft wenig um die Widersprüch­ lichkeit der Figur des Puntila zu zeigen. Also kann sich dem Gesang nicht hingegeben werden. Die aus der Situation gewonnenen Haltungen müssen auch den Gesangsgestus bestimmen. Wir finden in diesen Szenen, den Trunkenheitsszenen, in der Musik auffallend große Intervalle vor, Sprünge, die fast instrumentalen Charakter haben. Diese Behandlung des musikalischen Materials darf nicht als Artistik an sich vorgetragen werden, [beim Folgenden handelt es sich um handschriftliche Ergänzungen, vermutlich von Berghaus, MT] sondern es muß sein gesellschaftlicher Gestus durch die Interpretation hervorgehoben werden – wenn er, wie sich das bei der Arbeit gezeigt hat, auch manchmal schwer zu entdecken ist. Puntila muss Gesangsartistik zeigen, […] eine Artistik, die die Be mühungen und Kämpfe zeigt, wodurch der Gutsbesitzer seine Menschenähnlichkeit erringen will.« 29

Die grundsätzlichen poetischen, politischen und ästhetischen Überlegungen zur In­ szenierung des Puntila gewinnen zusätzlich an Plastizität durch die detaillierten Sze­ nenbeschreibungen, schließlich die klangliche Realisation und die Umsetzung auf der Bühne, wie im Folgenden an der Eingangsszene verdeutlicht werden soll, von der bedauerlicherweise zwar kein Filmmitschnitt existiert, wohl aber ein Klavierauszug mit detaillierten Regieanweisungen und eingeklebten Kontaktabzügen sowie ein großes Konvolut Vergrößerungen von Szenenbildern.

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»Wir müssen bei unserer Arbeit bedenken, daß Ausbeutung nicht gleich Hunger und Armut bedeutet, sondern wir müssen sie als gesellschaftliche Kategorie betrachten. Exploitation ist Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Der Besitz eines Fahrrads zum Beispiel (oder Autos) hebt die soziale Stellung des Besitzers nicht auf. Oder die geregelte Arbeitszeit ändert nichts daran, daß durch die Lohnarbeit Mehrwert produziert wird. Der restlos für den persönlichen Verbrauch des Kapitalisten verwendet wird.« Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­ Archiv, 277, Zur Lesart, 3. Fassung, Bl. 2. Archiv der AdK, Paul­Dessau­Archiv, Mikrofiche, 103.

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6. Szenenbeschreibungen »1. Bild. Umringt von Bierleichen und todmüdem Kellner überquert ein Mann einen riesigen Tisch, voll von Flaschen und Fleischplatten: Herr Puntila [Abb. 1]. Er behauptet, trockenen Fußes über das Meer gehen zu können, das nach seiner Meinung die Tischplatte ist. Er wird angesprochen von einem Mann, es ist Matti sein Schofför [Abb. 2], der hatte zwei Tag und zwei Nächte draußen im Wagen auf Puntila warten müssen und ist nicht gewillt, dem bösen Spiel länger zuzusehen. Puntila steigt herab zu dem Mann von den Höhen aus Flaschen und Rindsrücken, den Fremden mißtrauisch, wie ein seltsames Tier betrachtend. Puntila erkennt in ihm einen Menschen und stellt fest, daß es sein Schofför ist. Durch Anstrengungen, die mit ei­ nem Salto Mortale zu vergleichen sind, gewinnt Puntila in dem eben noch fremden Mann einen Freund. Puntila offenbart ihm das Geheimnis seiner furchtbaren Erkrankung: Immer wieder verfällt er nämlich in kaum ertragbare Zustände völliger Nüchternheit, die ihn aus ei ­ nem hochstrebenden Menschen in einen gewöhnlichen und nicht zu billigenden Gutsbesitzer verwandeln. Diese Probleme überhört sein Knecht, läßt sich aber für die nächsten Tage auf weitere gemeinsame Unternehmungen mit seinem Herrn ein: Puntila wird sich an eine Frau verkaufen, die man Klinkmann nennt, um die Mitgift für seine Tochter zu schaffen. Auf das Gespräch über Puntilas einzigen Wunsch, nichts zu besitzen, gibt der Freund aus begreiflichen Gründen keine Antwort: Er trägt auf Anweisung Puntilas den vom Alkohol vergifteten Ad­ vokaten, wie einen Verwundeten auf dem Buckel, damit dieser an Ort und Stelle den Verkauf des Waldes notariell beglaubigen kann [Abb. 3].«30

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Abb. 1: Szene 1, Puntilas Tanz auf dem Aquavit (Puntila: Reiner Süß, sämtliche Fotos der Insze­ nierung: Marion Schöne), Abdruck der Fotos mit freundlicher Genehmigung des Stadtmuseums Berlin

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Abb. 2: Szene 1, Herr Puntila findet einen Menschen (Matti: Kurt Rehm)

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Abb. 3: Szene 1, Matti und Puntila machen sich auf den Weg, um Puntilas Wald zu schätzen

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Abb. 4: Szene 2, Der Wald

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7. Hut ab, zwei Genies Selten im 20. Jahrhundert war Opernregie so präzise aus der Partitur entwickelt wie in den Zusammenarbeiten von Berghaus und Dessau, was nicht zuletzt daran lag, dass die Regisseurin seit dem Puntila die Entstehung der Partituren von der Wahl des Stoffes an begleitete. Wiederum hat selten seit der Zeit der Pasticci und Einlegearien ein Komponist so flexibel auf die Wünsche der Regie reagiert wie im Falle des Puntila. Die gesamte Zwischenaktmusik zur Errichtung des Hatelmaberges wurde nach­ komponiert, um dann für die Einspielung auf Schallplatte wieder gestrichen zu wer­ den und schließlich in der Orchestermusik Nr. 2 erneute Verwendung zu finden. Im Gegenzug steuerte Dessau immer wieder bis ins kleinste Detail Ideen zur Inszenie­ rung bei, so findet sich in einem Brief an seine Frau eine Skizze, wie das ge­ schlachtete Schwein für die Hochzeitsfeier von zwei Männern hängend an einer Stange zu tragen sei (vgl. Abb. 5). Die Musik­ und Tanztheaterarbeit von Berghaus und Dessau war gleichermaßen symbiotisch wie kongenial. Darüber hinaus stellte die Einheit von Lebens­ und Künstlerpartnerschaft die Keimzelle jenes Kreises von Künstlern und Intellektuellen im Haus des Paares in Zeuthen dar, in dem die kreativsten Köpfe der DDR (zu­ sammen mit Freunden aus dem Ausland) einen geschützten Raum im rauen kultur­ politischen Klima der DDR fanden. Im Zusammenhang mit einer späteren Zusammenarbeit (Einstein) schreibt Dessau an seine Regisseurin und Frau: »Dir nun Dank für Deine ungeheure, grandiose, fantasievolle Arbeit, die Schule und Furore machen wird! Du hast aus diesem Text und meinen Noten etwas zustande gebracht, was Dir so leicht keiner wird nachmachen können. Wiii froh bin ich , dass Dir meine Arbeit gehört, Dir allein, denn Niemand könnte ihr künstlerisch gerechter werden, Keiner sie so perfekt und er­ schütternd schön gestalten.«31

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Archiv der AdK, Paul­Dessau­Archiv, 2084, 1–a2, Paul Dessau an Ruth Berghaus, Zeuthen, 15.11.1974. Die lautmalerische Orthographie ist für Dessaus Briefstil vertrauten Menschen ge­ genüber typisch.

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Abb. 5: »für Ruth es wäre wohl vielleicht besser, wenn wir auf die seinerzeit gemachte kürzung der ›Heimkehr‹­Scene zurückgreifen würden? + wäre es nicht besser, wenn 2 Mann das Schwein auf einem Holzschlegel aufgeladen, tragen würden? P«. Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 871, maschinenschriftliches Blatt mit Zeichnung, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Maxim Dessau

Wie unter einer Glasglocke: Leonce und Lena von Dessau und Berghaus Nina Noeske Mit Rekurs auf den Philosophen Wolfgang Heise bezeichnete Ruth Berghaus einmal das Theater als »Laboratorium sozialer Phantasie«. 1 Vielleicht lässt sich das an keiner ihrer Inszenierungen besser zeigen als an der von Leonce und Lena, jener knapp ein­ stündigen Oper nach Georg Büchner in zwei Akten, die Paul Dessau im Januar 1978, basierend auf einem Libretto von Thomas Körner, als seine letzte Oper fertigstellte und die Ruth Berghaus wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes, im November 1979, auf die Bühne brachte. Die Geschichte ist bekannt und schnell erzählt: Zwei Königskinder, Prinz Leonce und Prinzessin Lena, er vom Reiche Popo, sie vom Land Pipi, sollen vermählt werden, ohne einander zu kennen. Daraufhin flüchten sie, um ihrem Schicksal zu entgehen, laufen einander aber unversehens in die Arme und verlieben sich ineinander – ohne zu wissen, um wen es sich jeweils handelt. Nach ­ dem sie schließlich doch geheiratet haben und Leonce neuer König geworden ist, bleibt jedoch – so jedenfalls im Libretto Thomas Körners – alles beim Alten, und das heißt in diesem Fall: trostlos. Die Fragen nach »Ruhm« (fama) und »Hunger« (fame), die zu Beginn und am Ende des Stücks gestellt werden und bei Dessau von den Bauern einmal mit »vivat«, einmal mit »vat? vi?« (was, wie?) kommentiert wer­ den, bleiben unbeantwortet. Weitere Figuren des Dramas sind Leonces frühere Geliebte Rosetta, die als eine der wenigen Gestalten dieser Geschichte Emotionen durchschimmern lässt, die Gouvernante Lenas sowie Leonces Diener und Gefährte Valerio, eine Gestalt in der Tradition Sancho Pansas, der es an Realitätssinn nicht mangelt und die dabei stets (auch) auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Eine Sphäre für sich bildet der aufgebläh ­ te Staatsapparat, die Höflinge um König Peter, die, gewissermaßen wie Maden im Speck, allein um ihrer selbst willen zu existieren scheinen. Ihre Funktion ist es aus­ schließlich, den König und seine Herrschaft zu bestätigen. Insgesamt ist das Minia­ turland mit seinen Spielzeugfiguren, mit denen sich zu identifizieren schwerfallen dürfte, durch seine bleierne Langeweile und Ereignislosigkeit charakterisiert, es wirkt statisch, nichts passiert. Dies empfinden vor allem die beiden Protagonisten und ihre jeweiligen Vertrauenspersonen. König Peter hingegen, der philosophierende Herrscher, der in seiner offensichtli­ chen Machtlosigkeit wie gelähmt erscheint, lebt in ständiger Angst vor seiner Unfä­ higkeit; er und sein Hofpersonal bilden gewissermaßen einen Staat im Staate, der den Kontakt zur Basis, zu den eigenen Untertanen, vollständig verloren hat. Auf der an­ deren Seite der Gesellschaft befinden sich die Bauern, bereits bei Büchner als bloße Staffage fungierend: Ihnen kommt einzig die Aufgabe zu, den Oberen zu huldigen und dabei gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Damit sie während der Hochzeit 1

Zit. nach Corinne Holtz: Ruth Berghaus. Ein Porträt, Hamburg 2005, S. 243.

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des hohen Paars fröhliche Gesichter zeigen, werden sie nicht nur mit Alkohol abge­ füllt, sondern auch so aufgestellt, dass ihnen Bratenduft in die Nase weht. Es liegt nahe, in der Fabel Büchners aus dem Jahr 1836 die Möglichkeit eines Gleichnisses für die Gesellschaft in der DDR um 1979 zu sehen: Eine These des vorliegenden Beitrags ist, dass hiervon nicht nur bei Paul Dessau, sondern auch – und vielleicht noch mehr – bei Ruth Berghaus auszugehen ist. Leonce und Lena erlebte, wie Berghaus’ ehemalige Assistentin Daniela Reinhold be­ richtet, nur zwei bis drei Aufführungen, danach verschwand das Stück von der Büh­ ne der Berliner Staatsoper. 2 Für die Regisseurin waren die Monate und Jahre nach Dessaus Tod insgesamt eine schwierige Phase. Kurz vor der Uraufführung von Leon­ ce und Lena wurde der erste Teil ihres geplanten Ring­Zyklus am selben Hause nach ähnlich kurzer Zeit aus bislang unbekannten Gründen abgesetzt. Doch auch die Zeit vor dem Tod ihres Mannes verlief nicht gänzlich unbeschwert. Während der Kom­ position der Oper Leonce und Lena etwa, die Dessau im Auftrag der Staatsoper in An­ griff nahm, gab es offensichtlich eine Diskussion mit dem Intendanten Hans Pischner, der damals das Haus leitete: In einem Brief an Dessau kritisierte dieser, dass in Körners Libretto die gesellschaftliche Konkretheit des Sujets zu Unrecht eli­ miniert sei, was er, wie es in einem Schreiben von 1976 an den Komponisten heißt, »angesichts Deiner sonstigen so ausgeprägten Parteilichkeit« doch »sehr bedauern« würde: »Vielleicht kannst Du in dieser Richtung unter Umständen gemeinsam mit Ruth das Libretto noch einmal unter Augenschein nehmen.« 3 Möglicherweise zielte Pischner mit seiner Kritik auf den Umstand, dass die Fabel Büchners im Libretto in genau umgekehrter Reihenfolge erzählt wird; Genaueres ist aus seinem Brief nicht zu erfahren. Ob und inwieweit das Ehepaar diesbezüglich mit Körner verhandelte oder gar das Libretto eigenständig modifizierte, ist nicht bekannt, doch gesellschaftliche Konkretheit lässt sich weder dem heute vorliegenden Libretto noch der Musik oder der Inszenierung absprechen. Allerdings geht diese möglicherweise in eine andere Richtung, als es Pischner vorschwebte. Hierauf weist jedenfalls – um ein wenig vorzugreifen – ein Bericht von Ralf­Ingo Bossan, damals Student der Opernregie an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler« Berlin, hin.4 Im Rahmen eines Kolloquiums zu Werk und Inszenierung von Dessaus Leonce und Lena, das Ende Januar 1980, als der Eindruck der Uraufführung noch frisch war, in Ostberlin stattfand, heißt es: »Der Zuschauer sieht zunächst Bauern, die sich entsprechend ihrer sozialen Lage im Feu­

dalismus verhalten. Vergangenheit, bei uns lange überwunden. Doch plötzlich blenden uns diese Bauern mit großen Spiegeln, halten sie uns den Spiegel vor. Bei mir bewirkte diese Aktion, daß mir ein Licht aufging, daß ich genauer hinsah. Und da kamen mir doch 2

3 4

Daniela Reinhold: Haupt­ und Staatsaktionen, in: Irene Bazinger (Hg.): Regie: Ruth Berghaus. Ge­ schichten aus der Produktion, Berlin 2010, S. 67–75, hier S. 169. Möglicherweise hängt dies mit der Republikflucht Thomas Körners im Jahr 1980 zusammen; Dokumente hierzu waren bislang nicht zu finden. Brief von Pischner an Dessau, 30.12.1976, Archiv der AdK, Paul­Dessau­Archiv, 1.74.2024.14. Vgl. http://www.carte­carriere.de/Ralf­Ingo_Bossan.html (16. September 2017).

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viele Verhaltensweisen der Bauern auf der Bühne plötzlich merkwürdig bekannt vor. […] Da ist ein Ländlein von wenigen Bauern zu bewirtschaften, mit einem ungeheuer aufgeblähten Hofstaat, zu nichts nütze, als dem König in allem beizupflichten. […] Jedes noch so winzige Gedankenbläschen des Königs wird aufgebläht zu einer riesigen Seifenblase, die mangels Substanz sofort wieder zerplatzt. […] Was die Obrigkeit sagt, wird kritiklos hingenommen, schlimmer, wird mit kriecherischer Gründlichkeit potenziert zu absoluter Sinnlosigkeit. […] Untertanengeist in Perfektion. […] Die Weite des Königsmantels läßt Vermutungen aufkommen: was alles kann man darunterziehen, was alles läßt sich mit ihm ›bemänteln‹?«5

Kein Zweifel – Bossan, interpretiert die Geschichte als Sinnbild für die Zustände im eigenen Lande. Ähnliches legt auch der westdeutsche Kritiker Reinhard Oehlschlägel in seinem Bericht für den Deutschlandfunk vom 27.11.1979 nahe. Zwar, so meinte der Journalist, handele es sich bei Dessaus und Berghaus’ Leonce und Lena fraglos auch um »Feudalismus­Kritik aus sozialistischer Sicht« sowie, ganz unverdächtig, um eine Form von »Bewahrung des kulturellen Erbes«. Andererseits aber heißt es in der Uraufführungs­Kritik, dass bei der Eröffnungsszene im Ostberliner Publikum merklich geschmunzelt worden sei, also in jener Szene, »in der das Volk, die Bauern, Spalier bilden, Vivat rufen sollen, für das von oben geplante Hochzeitsfest, Schmunzeln bei den Passagen der vom König verordneten Fröhlichkeit. Schmunzeln beim Bild des Staatrats voller langweiliger, fetter Hofschranzen.« 6 Dessaus erklärtes Anliegen war es, mit Leonce und Lena eine »Volksoper« zu schrei­ ben – ein Vorhaben, das nach Ansicht vieler Kritiker in letzter Konsequenz misslun­ gen ist, denn zu esoterisch seien Libretto und Musik. Tatsächlich kamen Oper und Inszenierung beim breiten Publikum nur mäßig an. Während einer Ostberliner Dis­ kussion mit dem Publikum um 1980 kritisierte ein anonymer Besucher, dass ihn ins­ besondere die erzählte Geschichte kalt gelassen habe: »Mir wäre […] wurst, ob die Sache vorwärts oder rückwärts erzählt wird. Mir wäre sogar [w]urst, ob [die] Figuren auf­ oder abgewertet würden, wenn ich an den Figuren interessiert bleibe und wenn ich einen Handlungsablauf bekomme. Aber in dieser Oper passiert ja keine Hand­ lung mehr, sondern nur noch ein Zustand wird geschildert. […] Man fragt: Warum der ganze Aufwand für eine Zustandsschilderung?« 7 Doch auch Autoritäten wie der Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt bemängelten u.a. die Kürze des Werkes, dem, so Stuckenschmidt, durchaus »Züge der Unfertigkeit« anhaften; er prophezeite die­ sem »kein langes Bühnenleben«. Berghaus’ Inszenierung sei teilweise »primitiv« gera­ ten und insgesamt ohne jede dramatische Kraft. 8 Ganz anders äußerte sich der west­ 5

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Ralf­Ingo Bossan: Diskussionsbeitrag zum Dessau­Kolloquium 1980, zum Werk »Leonce und Lena« und dessen Inszenierung durch Ruth Berghaus an der Dt. Staatsoper Berlin (gehalten am 29.1.1980), S. 2f. (Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 649). Reinhard Oehlschlägel: Bericht für »Kultur heute«, DLF, 27.11.1979, Archiv der AdK, Ruth­ Berghaus­Archiv, 749, S. 2f. Theaterklubdiskussion zur Inszenierung »Leonce und Lena« (1979/80), Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 19108, S. 11. Hans Heinz Stuckenschmidt: Dessaus Schwanengesang. Posthume Uraufführung der Oper ›Leonce und Lena‹ in Ost­Berlin, in: FAZ, 27.11.1979, Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 646, Bd. 1.

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deutsche Kritiker Wolfgang Burde, der die Inszenierung für nichts weniger als ein »Meisterwerk« hielt: »Die Szenarien und Kostüme […] sind von traumwandlerischer Prägnanz und faszinierender ästhetischer Qualität.« Dass die Bauern »kleine Weih­ nachtsbäume« in den Händen hielten, könne laut Burde als überzeugendes »Symbol ihrer Einfältigkeit und Gebrochenheit« gelten; besonders gelungen aber sei das »gleichsam porzellanene […] Rokoko­Bild – Damen und Höflinge in müd­rosa Seidenanzü­ gen –, dessen Glamour, Anmut und Madenhaftigkeit atemlos machen. Leonce und Lena hän­ gen gelegentlich wie erstarrte Schmetterlinge in langen Maschendrahtbahnen und wiegen sich in ihrem Puppentraum. Ruth Berghaus aber haucht solchen Bildern immer wieder auf stau­ nenswerte Weise Bewegungsleben ein […], löst für Momente die Starre des unglücklichen Be­ wußtseins in Sinnlichkeit und Gelöstheit auf.«9

Die Präsentation der lachsfarbenen rosa Höflinge wurde von fast allen Kritikern als eindrucksvoll hervorgehoben: Die Rede ist etwa von »puppenhaften, rosaweißen Höflinge[n]«, die sich »um ihren Herrscher drängeln.« 10 »König und Hofschranzen« präsentieren sich »marionettenhaft mit gepuderten und verzeichneten Gesichtern«, »in rosa Seide gekleidet, albern und durch Habitus und Gestus sich selbst denunzie­ rend.«11 Klaus Geitel, Westberliner Kritiker, nahm diesen Einfall gar als den »einzi­ gen Augenblick von höherem Witz« in der Aufführung wahr: »Plötzlich drängt sich eine Fülle von Höflingen, alle in überschwenglich rosafarbener Seide, auf engstem Raum zusammen, wie Lachse im Netz«12 (vgl. Abb. 1).

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Wolfgang Burde: Alterswerk und Jugendwerk. Dessau vertonte Büchner: ›Leonce und Lena‹ postum uraufgeführt, in: Der Tagesspiegel, 28.11.1979, Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 646, Bd. 1. Dietmar Fritzsche: Dominanz des Gesanglichen. UA von Paul Dessaus Büchner­Oper ›Leonce und Lena‹ an der Deutschen Staatsoper Berlin, in: Theater der Zeit (1980), H. 1, S. 32, Archiv der AdK, Ruth­ Berghaus­Archiv, 652. Ingeborg Keller: »Ruhm und Hunger. ›Leonce und Lena‹ – Oper von Paul Dessau«, in: Berliner Stimme, 1.12.1979, Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 646, Bd. 1. Klaus Geitel: »Wie ein poetisches Kreuzworträtsel. Paul Dessaus Altersoper ›Leonce und Lena‹ an der Ost­ Berliner Linden­Oper«, in: Berliner Morgenpost (Berlin­West), 27.11.1979, Archiv der AdK, Ruth­ Berghaus­Archiv, 646, Bd. 1.

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Abb. 1: Höflinge (Foto: Maria Steinfeldt), Abdruck mit freundlicher Genehmigung der AdK

Dessaus Postulat der »Volksoper« geht hier auf: Das Volk verlacht nach alter (mit­ telalterlicher) Tradition13 die Mächtigen. Zugleich wird es über seine eigene Unmün­ digkeit aufgeklärt, wie es etwa im Bild der brav Tannenzweige haltenden, mithin als nützliche Idioten fungierenden Bauern sinnfällig wird (vgl. Abb. 2). Berghaus fasste die Bauern als heimliche Protagonisten des Stückes, als tragende Säulen der Hand­ lung auf. In ihren Arbeitsnotizen heißt es, dass die Bauern gleichsam den »Fußbo­ den« bilden.14 Gleichzeitig handelt es sich um den Gegenpol zur verkommenen Sphäre des Hofes. Auf der ersten Seite eines Briefes des künstlerischen Betriebsbü­ ros der Staatsoper von 1979 an Ruth Berghaus findet sich die handschriftliche Notiz der Regisseurin: »Stück gegen die, die was tun könnten + nichts tun«, »Bauern be­ stimmen das Bild«.15

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14 15

Vgl. insb. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, übersetzt von Ga­ briele Leupold, hg. von Renate Lachmann, Frankfurt am Main 1995. Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 632, S. 7f. Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 640.

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Abb. 2: Bauern (Foto: Maria Steinfeldt), Abdruck mit freundlicher Genehmigung der AdK

Aus der Zeit von Februar bis März 1979 sind insgesamt 14 Protokolle von Konzep­ tionsbesprechungen zwischen Berghaus, der Bühnenbildnerin Marieluise Strandt, der Dramaturgin Sigrid Neef und dem Regieassistenten Klaus Bartels überliefert, aus de­ nen die zentrale Rolle der Bauern hervorgeht. Ihre ständige Anwesenheit auf der Bühne zeuge davon, dass in Leonce und Lena »Gesellschaft« widerhalle: So seien die Bauern der »unbewusste, nicht wahrgenommene Partner« des Schauspiels, wodurch die Einsamkeit der einzelnen Figuren »noch größer« (soll wohl heißen: noch besser sichtbar) werde.16 Dadurch, dass die Bauern auf der Bühne ständig präsent sind, wer­ de deutlich, dass die melancholischen Figuren Leonce und Lena alles andere als »geisteskrank« seien, sondern vielmehr einem sozialen Gesetz gehorchten; die Ge­ mütskrankheit sei gesellschaftlich bedingt.17 Bei den Bauern handele es sich gewisser­ maßen um die immer vorhandene und zugleich immer mahnende Realität: »Sie fallen vor Erschöpfung um, werden mit Branntwein betäubt und dann mit künstlichem Ra­ sen zugedeckt«.18 Bereits im ersten Konzeptionsgespräch heißt es: »Die Tannenzwei­ ge haltenden Bauern sind kein lustiger Gag, sondern [dies] zeigt ganz hart, wie die Bauern als Menschen mißachtet und wie Gegenstände benutzt wurden, in Dumpf­ 16 17 18

Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 632, S. 33. Ebd., S. 36. Ebd., S. 32.

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heit gehalten und dressiert. Sie stehen nicht da, weil sie jubeln wollen, sondern sie müssen mit den Zweigen dem erwarteten hohen Paar Schatten spenden.« 19 Später werden sie zum Teil des Inventars, zum Wald, zum Spiegelsaal. Zwei kurze Ausschnitte aus der Inszenierung – integriert in einem Bericht der Sendung Phon, der kurz vor Weihnachten 1979 im Zweiten Programm des Fernse­ hens der DDR ausgestrahlt wurde – können dies verdeutlichen; ein vollständiger Mitschnitt der Oper ist nach derzeitigem Kenntnisstand nicht (mehr) vorhanden. 20 In der ersten Szene des Berichts kommt zunächst der depressive Leonce zu dem Entschluss, sich das Leben zu nehmen, wird aber von seinem Gefährten Valerio davon abgehalten (vgl. Abb. 3). Auf der Bühne – die Inszenierung besteht nur aus ei­ nem einzigen, weitgehend unveränderten Bühnenbild – sind, teilweise bereits mit Gras überwucherte, parallel zum Publikum verlaufende Eisenbahnschienen zu sehen, die nirgendwohin führen und entsprechend dysfunktional sind, gleichzeitig aber auch einen Hinweis auf die (zeitlich entfernte) Entstehungszeit des Büchner’schen Lust­ spiels geben und in ihrer Fragmenthaftigkeit auf die Gefährdung jeglicher Zivili­ sation deuten. Nicht zuletzt deuten die stillgelegten Gleise zudem auf ein vom Fern­ verkehr abgeschnittenes Land hin.

Abb. 3: Leonce und Valerio, aus: Fernsehendung »Phon« vom 22.12.1979 (IDNR: 001443), Sign. 93876, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Rundfunkarchivs

Der Fortschritt, symbolisiert durch die Eisenbahn, wird behindert und in Frage ge­ stellt.21 Im Hintergrund wird Heu getrocknet, Hinweis auf landwirtschaftliche Pro­ duktion, die Papierrollen, Ausschnitte aus dem Hessischen Landboten, der Flugschrift 19 20

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Ebd., S. 4. Sendung »Phon« vom 22.12.1979 (IDNR: 001443), Deutsches Rundfunkarchiv (DRA), Sign. 93876. Erster Ausschnitt: 21’52’’­23’43’’, zweiter Ausschnitt: 25’26’’­26’25’’. Vgl. auch den Kommentar des »Gesprächsleiters« der Diskussion: »Daß da eine vollkommen nutzlose Schiene ist, ist ein Kommentar zur Nutzlosigkeit des Verhaltens der Figuren, die dort vorgeführt werden.« Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 19108, S. 36.

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Büchners, scheinen niemandem aufzufallen. Die Gewänder, die als Vogelscheuchen auf der Bühne aufgestellt sind oder herumgetragen werden (vgl. Abb. 3 im Hinter­ grund), lassen die Puppenhaftigkeit und Kopflosigkeit der Figuren assoziieren. Sicht­ bar sind außerdem die Bauern, die (einmal stehend, einmal liegend) als Wald in Er­ scheinung treten (vgl. Abb. 4) – dabei aber stets, ohne jeglichen Eigenwillen, nur auf das Geschehen reagieren, angetrieben durch die Aktionen der Aristokraten. (Als Re­ quisite erkennt man hier u.a., auf dem Boden liegend, den von Bossan erwähnten Spiegel [Abb. 5], den die Bauern dem Publikum bzw. dem Hofstaat vorhalten.)

Abb. 4: Bauern, aus: Fernsehendung »Phon« vom 22.12.1979 (IDNR: 001443), Sign. 93876, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Rundfunkarchivs

Abb. 5: Bauern, aus: Fernsehendung »Phon« vom 22.12.1979 (IDNR: 001443), Sign. 93876, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Rundfunkarchivs

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Zwar lässt sich die Darstellung der Bauern auch und vor allem im Sinne des Arbei­ ter­ und Bauernstaates interpretieren, doch wenn der ostdeutsche Kritiker Peter H. Mürell in der Nationalzeitung moniert, dass die Inszenierung der Bauern als »be­ wußtlose Masse«, »mit ihren Tannenbäumchen in den Händen und ihrem seltsamen Gebaren« keineswegs ein »angemessene[s] Bild eines Volkes« (d.h. des eigenen Volkes) abgebe,22 so verweist dies auf eine andere Nuance der Berghaus’schen Inter­ pretation.

Abb. 6: König Peter (Foto: Maria Steinfeldt), Abdruck mit freundlicher Genehmigung der AdK

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Peter H. Mürell: Vertrautheit und ein Gespür fürs Besondere. Ruth Berghaus inszenierte Paul Dessaus letzte Oper »Leonce und Lena«, in: Nationalzeitung, 30.11.1979, Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­ Archiv, 273.

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Noch deutlicher wird die Perspektive Berghaus’ mit Blick auf König Peter und sei­ nen »Staatsrath« (vgl. Abb. 6), hier umgeben von Spiegeln, die, dem Publikum zu­ gewandt, von den Bauern gehalten werden (und von Hans Werner Henze, ebenso wie die gesamte Inszenierung und im Gegensatz zur von ihm sehr geschätzten Musik, als ausgesprochen unangenehm empfunden wurden)23. Dessau selbst hat den König musikalisch­parodistisch konzipiert, mit Frank Schneider gesprochen: in Art eines »alptraumhafte[n] Scherzo auf frei dodekapho­ nem Fundament, sich überschlagend zur lärmenden Mechanik grotesker Polka­ und Marschhöllen, wo der makabre Stumpfsinn des höfischen Apparats zelebriert wird«.24 Oder, so Gerd Rienäcker 1980: »Marschmusik symbolisiert und denunziert das Zeremoniell«, es handele sich um die »Unangemessenheit großer Gebärde im Krähwinkel«, um peinlichen »Bombast«.25 Zum Auftritt König Peters heißt es im Protokoll einer Vorbesprechung des Berg­ haus­Teams: »Peter zeigt sich als total kaputt, fix und fertig. Er läuft von [sic] sich weg, vor den Menschen, hat soz. [gemeint ist wohl: sozial, NN] den Kopf an den Füßen. Er ist gezeichnet von den Narben des Herrschens. Überall zeigt sich Leer­ lauf, ein funktionierender Kreislauf. Dadurch ist Peter letztendlich völlig überflüssig […]. Die Szene ist gespenstisch. Der Zuschauer sollte erkennen, daß eine Ablösung hier nottäte.« Und weiter: »Denken heißt hier für ihn: Einhalten einer vorgesehenen Zeremonie zur Stabilisierung des Staatsmechanismus’. Die Menschen dürfen hier nur bewegliches Werkzeug sein.«26 Bei alledem solle Peter jedoch keineswegs als eine bloße Karikatur dargestellt werden – zwar sei er dem »Wahnsinn« nahe, aber in kei­ nerlei Hinsicht »schwachsinnig«: »Das Festhalten an einer überfälligen Staatsform wirkt sich immer mehr für andere aus[,] als für den, der es tut.« 27 Aufschlussreich ist ein Blick in den Klavierauszug, den Ruth Berghaus hand­ schriftlich kommentiert hat (vgl. Abb. 7).28 23

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Henze zufolge sei die Berghaus­Regie »zu betriebsam, es gab keinen ruhigen Augenblick, und mir mißfielen die Farben Grün und Weiß, war auch ein Staatsopernrosa dabei?[,] in blenden­ dem Licht durch zahlreiche Spiegel noch verstärkt, die von der Musik ablenkten, statt auf sie hinzuweisen. Vielleicht waren alle bei der Vorbereitung von der Sorge getragen, die Musik al ­ lein könne den Abend nicht halten? Ich denke, Ruth weiß jetzt besser, wie dies Stück ganz still und mit einem Minimum an Bewegung zu zeigen ist […]. Ja, ich werde alt: habe von ›Leonce und Lena‹ eine seit langer Zeit feststehende Vorstellung (ein Konzept!), jede Abweichung davon bringt mich durcheinander.« Hans Werner Henze: Die Englische Katze. Ein Arbeitstagebuch 1978–1982, Frankfurt/M. 1983, S. 63f. Frank Schneider: Neues am Rande der Szene. Beispiele und Anmerkungen zu kompositorischen Konzepten im Opernschaffen der DDR, in: Peter Petersen (Schriftleitung): Musiktheater im 20. Jahrhundert, Laa­ ber 1988, S. 271–283, hier S. 281. Gerd Rienäcker: Letzte Seite im Opernvermächtnis: Leonce und Lena (Dessau­Kolloquium 1980), 13 Seiten Typoskript, S. 9, Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 650. Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 632, S. 29. Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 43. Alle Beispiele aus dem annotierten Klavierauszug: Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 626, S. 68; Abdruck jeweils mit freundlicher Genehmigung von Maxim Dessau und der AdK.

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Abb. 7: Klavierauszug, S. 68, Archiv der Akademie der Künste, Ruth­Berghaus­Archiv, 626, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Maxim Dessau und der AdK

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Zum Auftritt des Königs heißt es ganz oben auf dem Blatt: »Hat den Kopf an den Füßen. Ist total fertig, läuft vor sich weg«. Im Protokoll der Vorbesprechung ist zu lesen, dass bereits die musikalische Einleitung in ihrer »Zerfahrenheit« den Herrscher charakterisiere.29 Im Anschluss an die Konfusion des Königs, musikalisch dargestellt durch eine halb­aleatorische Passage, kommt dieser auf die Idee zu »denken« (»Das ists, der Mensch muss denken«); daraufhin zu hören ist eine maschinenartig anmutende, gleichsam ›losratternde‹ Sechzehntelpassage. In dieser Situation tritt der »Staatsrath« auf. Ruth Berghaus notierte hierzu: »Eine Ordnung ist da: In vorgegebener Bahn sich bewegen.« (vgl. Abb. 7). Die Aufforderung Peters, dass der Staatsrat »symmemememetrisch« gehen solle, wird musikalisch durch klägliche Melodiefetzen kommentiert, der handschriftliche Eintrag hierzu lautet: »Aus dem Vorprogrammierten kommen nur noch Stichworte«, und schließlich gerät der König, so Berghaus, in »Angstschweiß« (musikalisch­ges­ tisch scheint er sich den Schweiß von der Stirn zu wischen). Eine chromatisch auf­ steigende, Tristan­artige Figur wird kommentiert durch: »Staatsrat macht alles zö­ gernd nach ganz langsam [sic]!« (vgl. Abb. 8).

Abb. 8: Klavierauszug S. 69, Archiv der Akademie der Künste, Ruth­Berghaus­Archiv, 626, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Maxim Dessau und der AdK 29

Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 632, S. 29.

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Im Anschluss wird König Peter ausgekleidet, bis er fast nackt ist. In diesem Zustand (gewissermaßen im Bild von Des Kaisers neue Kleider) weist er darauf hin, dass Unterta­ nen nicht »denken«; er selbst hingegen gibt sich der (hier: völlig haltlosen und sinnlo­ sen) idealistischen Philosophie hin: »denkt die Substanz ›an sich‹, ich«. Das Wort »ich« sprechen ihm seine Diener im Chor nach, der König ist auch in akustischer Hinsicht umgeben von seinem Spiegelbild (vgl. Abb. 6).

Abb. 9: Klavierauszug, S. 99, Archiv der Akademie der Künste, Ruth­Berghaus­Archiv, 626, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Maxim Dessau und der AdK

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Die Anspielung auf den Idealismus findet sich auch in der zweiten Königs­Szene (vgl. Abb. 9). Berghaus notiert hierzu handschriftlich: »Die Figur weiß nicht, wie überfällig die Staatsform ist, hält daran fest«, darunter: »große Tragik«, »Untergang«. Der königliche Beschluss, sich zu freuen, soll »sehr traurig« vorgetragen werden, und die folgende Polka sei dadurch gekennzeichnet, dass der König die Angst, wie Berghaus notiert, »überspielt«: »Gefahr wird nicht zur Kenntnis genommen.« Es handele sich um einen, so Berghaus, »Tanz auf dem Vulkan« (in den Notizen zur Vorbesprechung heißt es zusätzlich hierzu: »er weiß, daß er Tünche braucht«). Das »o bin ich froh« ist »jämmerlich« vorzutragen – darunter ist zu lesen: »Versucht sich mit den Bauern zu verbrüdern«, »er will jedem die Hand schütteln und das geht nicht« (vgl. Abb. 9). Auf der folgenden Seite (vgl. Abb. 10) ist zu lesen: »Eigentlich weiß niemand, was wirklich los ist: Kafkaisch, [w]ie ein schwarzes Loch«, und der panische König Peter sei »dem Wahnsinn nahe, spielt den König, müde Marionette«.

Abb. 10: Klavierauszug, S. 100, Archiv der Akademie der Künste, Ruth­Berghaus­Archiv, 626, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Maxim Dessau und der AdK

Der Verweis auf die »Dinghaftigkeit« des königlichen Worts (vgl. Abb. 11) wird kommentiert mit: »Bürgerlich­idealistische Philosophie wird für Absolutismus be­ nutzt. Büchner denunziert das: Es zerfällt in seine Teile«. Und darüber: »Spinoza: Das Ding in sich selbst.« Dazwischen: »Entfremdung von Staatsphilosophie«. Im Protokoll der Vorbesprechung ist hierzu außerdem zu lesen, dass das Wort »Ding« durch den Präsidenten (»dingelding«) bagatellisiert werde, und das Wort »nothing«

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des Staatsrates konfrontiere damit, dass das (idealistische) ›Ding an sich‹ letztlich »nichts mehr« sei.

Abb. 11: Klavierauszug, S. 101, Archiv der Akademie der Künste, Ruth­Berghaus­Archiv, 626, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Maxim Dessau und der AdK

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Abb. 12: Klavierauszug, S. 102, Archiv der Akademie der Künste, Ruth­Berghaus­Archiv, 626, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Maxim Dessau und der AdK

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Zur anschließenden, rein instrumentalen Polka schließlich (vgl. Abb. 12) gibt es zahl­ reiche Kommentare von Seiten der Regie: »Masken: Tod, Revolution, Messias von allen Seiten«, »Dämonischer Aufmarsch, kann alles sein«, »Anfang möglich, Hoff­ nung auf Jugend und es kommt nicht!« usw. Auf der folgenden Seite heißt es unter anderem: »Apokalypse«, »Figuren haben was [E]igenes, das zur Mechanik erstarren muß (kann keine Rev. [wohl: Revolution] sein)«, »sie spielen auch mit den revolutio­ nären Ursachen«, »Lena ist das Opfer«, usw. In einer Rezension zur Uraufführung ist zu lesen, dass König Peters »polkaderbe[r] Freudentanz« durch »skurriles Gezappel« charakterisiert war, das der »ganze Hof« nachahmte. 30 Im bereits erwähnten Publi­ kumsgespräch zur Inszenierung meldete sich ein Zuschauer zu Wort, der just in die­ ser Szene den »dichteste[n] Moment der Oper« erkannte, »einmal von der Musik, da wird es richtig komisch, zweitens von der Regie, da wird es tatsächlich spannend. Da war etwas los. Da hat man die reflektierenden Flächen gesehen. Er fing an zu tanzen, alles andere fing an zu tanzen. Da stimmt es. […] Da freute man sich.« 31 Doch auch die Freude des Königs war nicht umsonst. Tatsächlich heiraten Leon­ ce und Lena am Ende bzw. am Anfang (vgl. Abb. 13), wenn auch, wie aus Haltung und Kostümen hervorgeht, zutiefst beschädigt, gesichtslos, gleichsam als Teil eines Spieles, nämlich als Herz­Dame und zukünftiger Herz­König.

Abb. 13: Hochzeit (Foto: Maria Steinfeldt), Abdruck mit freundlicher Genehmigung der AdK 30

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Dietmar Fritzsche: Dominanz des Gesanglichen. UA von Paul Dessaus Büchner­Oper »Leonce und Lena« an der Deutschen Staatsoper Berlin, in: Theater der Zeit (1980), H. 1, S. 32f., Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 652. Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 19108, S. 21.

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Die Doppeldeutigkeit der Kritik, die (nicht nur) in den Szenen mit König Peter zum Tragen kommt, könnte man als für die DDR um 1980 beinahe typisch bezeichnen: Zwar fällt auf die Fürstenherrschaft um 1840 samt ihren ›rechtshegelianischen‹ Un­ terstützern ein grelles und entlarvendes Licht, überlagert wird diese Stoßrichtung aber durch Verweise auf aktuelle Wirklichkeit. Berghaus machte sich hier die Auffas­ sung Wolfgang Heises zu eigen, der in einem Vortrag vor Berghaus’ Team 1979 Leonce und Lena als »Parodie einer abgelebten Gesellschaft« bezeichnete, »eine Parodie, die Gesellschaft in ihrer eigenen Illusion trifft«. Die Menschen werden, so Heise, als »Marionetten eines Systems« dargestellt, »das als Ganzes die Individuen eingemeindet zu Maskenträgern, sie als solche fungieren läßt, das auch keine innere Möglichkeit zur Produktivität läßt.«32 Nur wenige Jahre später, 1981/82, wird der Komponist Reiner Bredemeyer Dessaus und Berghaus’ Konzept mit seiner Oper Candide (Libretto: Gerhard Müller) aufgreifen und bis in die einzelne Formulierung hinein auf ähnliche Weise Herrschaftskritik üben; König Peter ist bei ihm, in ebenso surrealistischer Szenerie, zu Friedrich II. verwandelt, der nach einem Erdbeben in Lissabon inmitten der Trümmer Flöte spielt. 33 Auch hier geht es möglicherweise letztlich um die DDR (aber auch um die BRD) – oder besser gesagt: um das Land Eldorado, das, ausgehend von ›Ostwestfalen‹, alle suchen und das sich als bloße Illu­ sion entpuppt. Dessaus König Peter und der rein dekorative »Staatsrath« wiederum haben einen prominenten Vorläufer in Fürst Gogo, dem infantilen Herrscher von Breughelland, den György Ligeti in seiner Oper Le Grand Macabre in den 1970er Jah­ ren zum (musikalischen) Leben erweckte. Leonce und Lena von Körner, Dessau und Berghaus ist ein Spiegelbild der DDR um 1980 – die Kritik des frühen Marxismus im 19. Jahrhundert an der Herrschaft einzelner Fürsten und Monarchen geht nahtlos über in die Kritik der ›wahren‹ Marxisten am real existierenden Sozialismus. Wer wollte, konnte dies verstehen, wie an einzelnen Reaktionen auf die Oper deutlich wird. Möglicherweise gibt ja sogar das spiegelverkehrte Libretto Thomas Körners einen Wink in diese Richtung: König Leonce, am Ende der neue König, ist eigentlich nur eine beliebige, letztlich sogar brutalere Ausgabe von König Peter, der Kreislauf beginnt (anders als bei Büchner) von vorn – Hoffnung scheint so kaum mehr auf, die Utopie ist zur Dystopie gewor­ den.

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Wolfgang Heise, in: Archiv der AdK, Ruth­Berghaus­Archiv, 640, S. 6. Vgl. Nina Noeske: Die beste aller möglichen Welten: Bredemeyers Candide (1981/82), in: Michael Berg, Albrecht von Massow und Nina Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, Köln u.a. 2004, S. 141–156.

Ruth Berghaus inszeniert Paul Dessau1 Gerd Rienäcker Vorüberlegungen Paul Dessau, mit dem Ruth Berghaus seit 1954 verheiratet war, 2 hatte seiner Frau mehrmals gesagt, sie möge seine Werke inszenieren, um hernach andere Regieaufträ­ ge zu bekommen3 – dies in Zeiten, als ihr nicht nur in der Staatsoper Berlin immense Schwierigkeiten bereitet wurden.4 Aber auch in den späten 1970er Jahren – sie hatte längst und mit großem Erfolg die Opern Der Barbier von Sevilla von Rossini und Mozarts La clemenza di Tito insze­ niert – kam Ruth Berghaus auf Werke von Paul Dessau zurück, und dies mit zuneh­ menden szenischen Modifikationen. Ihre ersten beiden Inszenierungen der Oper Die Verurteilung des Lukullus, die erste noch zusammen mit dem damaligen Oberspielleiter der Staatsoper Unter den Linden, Erhard Fischer, sind von der Interpretation der gleichen Oper in den frühen 80er Jahren weit entfernt, ohne dass die spätere Lesart der musikalisch­dramaturgischen Substanz des Werkes Abbruch getan hätte. 5 Mögli­ cherweise sind, wie zu zeigen sein wird, Tiefenschichten des Werkes kenntlicher geworden. Zwischen dem Lukullus der 60er und der frühen 80er Jahre stehen vier weitere Inszenierungen: Puntila (1966),6 Lanzelot (1969),7 Einstein (1974) und Leonce 1

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Die folgenden Überlegungen gehorchen persönlicher Erinnerung – noch weitab wirklicher Analyse, wiewohl ich seit Mitte der 70er Jahre mich analytisch nicht nur mit Werken von Paul Dessau, sondern auch mit Inszenierungen von Ruth Berghaus auseinandergesetzt hatte. Vgl. hierzu u.a. Gerd Rienäcker: »Einstein« – analytische Notate zur Oper von Paul Dessau, in: Musik und Gesellschaft 12 (1974), S. 711–716, ferner in Gesprächen mit Ruth Berghaus im Radio DDR Musikklub vom 11.3.1974 und 13.4.1984, schließlich in meinem Aufsatz Zu einigen Erfahrungs­ feldern von Ruth Berghaus, in: Gerd Rienäcker: Musiktheater im Experiment. 25 Aufsätze, Berlin 2004, S. 245–260. Vgl. außerdem Sigrid Neef: Das Theater der Ruth Berghaus, Berlin 1989; Corin­ ne Holtz: Ruth Berghaus. Ein Portrait, Hamburg 2005; Irene Bazinger (Hg.): Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion, Berlin 2010. Mehrfach wies Ruth Berghaus darauf hin, wie sehr Dessau anfangs ihre bisherigen Weltan ­ schauungen durcheinander geschüttelt, ins Wanken und schließlich zu Fall gebracht hätte. Dass sie seit den 1950er Jahren zur politischen Linken gehörte – sie war Mitglied der SED, ohne sich je unterzuordnen – verdankt sich der Begegnung, den kritischen Gesprächen, schließlich der jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit Dessau. So Ruth Berghaus im Gespräch mit Maxim Dessau, kurz vor ihrem Tode. Mir ist die fast durchweg negative, zumeist verständnislose Beurteilung ihrer Lesart der Elektra in der Berliner Staatsoper (1967) Erinnerung. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Lars Klingberg in diesem Band. Die Uraufführung im Jahre 1966 war Bestandteil eines Brecht­Zyklus, den der Intendant Hans Pischner installiert hatte – vielleicht um die zunehmend als vorbildlich gekennzeichneten Ar­ beiten der Komischen Oper zu kontrapunktieren im Sinne einer anderen Möglichkeit sozialis­ tisch­realistischen Theaters. Vgl. zu Puntila auch den Beitrag von Matthias Tischer in diesem Band.

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und Lena (1979)8. Es waren dies Lesarten, die, vielleicht Puntila ausgenommen, heftige Auseinandersetzungen nicht nur an der Berliner Staatsoper hervorriefen – Auseinan­ dersetzungen, die teilweise den Werken, 9 zunehmend jedoch dem szenischen Voka­ bular der Regisseurin galten, 10 Auseinandersetzungen, die sich noch zuspitzten, wenn Ruth Berghaus sich Werken des sogenannten Erbes zuwandte – das betrifft u.a. den Freischütz (1970),11 die Operette Die Fledermaus (1975),12 mehr noch das abgebrochene Ring­Projekt (1980)13 sowie das Dramma giocoso Don Giovanni (1985),14 Auseinander­ setzungen, die über die jeweilige Inszenierung hinaus Grundfragen des Musiktheaters in der DDR und damit zusammenhängend das Verhältnis zwischen Werk und Insze­ nierung berührten. Darüber, u.a. über die konzeptionellen Kontroversen zwischen Ruth Berghaus und den Regisseuren der Komischen Oper, bezogen aufs realistische Musiktheater,15 habe ich bereits anderen Ortes geschrieben. 16 7

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Die Oper hatte Dessau ausdrücklich dem zwanzigsten Jahrestag der Gründung der DDR ge­ widmet, und wie ich gezeigt habe, als kritische Gabe. Vgl. Gerd Rienäcker: Heiner Müller, Paul Dessau, Lanzelot. Festgabe oder Warnzeichen? in: Rienäcker: Musiktheater im Experiment (Anm. 1), S. 159–168. Vgl. zu Leonce und Lena den ersten Beitrag von Nina Noeske in diesem Band. Vor allem der Oper Lanzelot, deren musikalisches Vokabular gelegentlich dem Verdikt moder­ nistischer Gestaltung anheimfiel – so in Bekundungen Ernst Hermann Meyers, der konstatier­ te, dass das Werk uns nicht einen Schritt weiter zum Realismus führe. Teilweise überwinterte in den Aversionen jenes politische und ästhetische Misstrauen, das Brechts Theater seit den späten 40er Jahren hervorgerufen hatte. Ruth Berghaus radikalisierte seine Maximen, um sie durch Errungenschaften des internationalen Theaters der späten 50er bis frühen 80er Jahre zu erweitern. Der Inszenierung (übrigens in Konsultationen mit Paul Dessau entstanden) wurde vorgewor ­ fen, dass sie den Intentionen des Werkes zuwiderlaufe, schlimmer noch, einige Vorgänge ins Lächerliche ziehe. Joachim Herz warf ihr überdies, in einem Gespräch in der Akademie der Künste im Jahre 1970, Dilettantismus vor, und Angehörige des Studienganges Regie der Hochschule für Musik ›Hanns Eisler‹ monierten, dass Musik und Bühne beziehungslos neben­ einander liefen – man hätte zum szenischen Geschehen auch die 9. Sinfonie von Beethoven musizieren können (so ein damaliger Student der Opernregie im Gespräch mit dem Verfasser). Der Intendant Hans Pischner verteidigte Ruth Berghaus und meinte im Gespräch mit dem Verfasser, dass einigen Kritikern Unterweisung in Romantik zu geben sei. Ich erinnere mich des Entsetzens, das der Beginn des zweiten Aufzuges hervorrief: Wir sahen kostbar gekleidete Menschen, die sich über Geldscheine des Gastgebers Orlofsky gierig zu Bo­ den warfen. Nach wenigen Vorstellungen wurde Das Rheingold abgesetzt, dem Publikum jedoch mitgeteilt, es seien jeweils die Akteure krank. Ruth Berghaus erfuhr, wie mir mitgeteilt wurde, von der Absetzung nur durch die Bibliothekarin des Hauses, die sie aufforderte, ihr das Material zu ­ rückzugeben. Die Gründe für den Abbruch liegen immer noch im Dunkeln. Hier brach in der Tanzszene ein Tumult aus, der die Vorstellung fast zum Scheitern brachte, wobei ein politisches Motiv nicht auszumachen ist. Nicht so sehr Walter Felsenstein, der einige ihrer Inszenierungen akzeptierte. Seit jeher war er nicht geneigt, sich als Antipoden Bertolt Brechts zu sehen. Einige seiner Schüler, vor allem die Dramaturgen, waren da anderer Meinung. Vgl. Gerd Rienäcker: Zu einigen Erfahrungsfeldern von Ruth Berghaus, in: Rienäcker: Musiktheater im Experiment (Anm. 1), S. 245–260.

Ruth Berghaus inszeniert Paul Dessau

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Hier geht es um einige Besonderheiten von Berghaus’ Lesarten der Werke Paul Dessaus, an denen zentrale Maximen ihres Vokabulars wie in einem Brennglas kenntlich gemacht werden können. I Einstein – Oper von Karl Mickel und Paul Dessau17 Hier interessiert vor allem das Verhältnis zwischen Szene und Musik, dennoch mö­ gen einige szenisch­ und musikalisch­dramaturgische Besonderheiten skizzenhaft vergegenwärtigt werden. Die Oper hat drei Aufzüge, ihnen jeweils angeschlossen sind drei Intermezzi. Der erste Aufzug ist Einsteins Flucht aus Deutschland 1933, 18 der Zerstörung seiner Wohnung durch die SA gewidmet, hernach kriegerischen Aufmärschen und der Ver­ haftung des Einstein zugesellten jungen Physikers und schließlich der Begegnung der Physiker mit dem Führer, der sie für seine ›Wunderwaffe‹ benötigt. Der zweite Aufzug setzt ein mit Einsteins Ankunft an der Küste des Pazifiks. Hernach ist von seiner Entscheidung die Rede, durch eine Atombombe Hitlers ›Wunderwaffe‹ zuvorzukommen, sodann vom beschwerlichen Weg der Physiker zum Präsidenten der USA, endlich vom Auftrag, die Atombombe zu bauen, schließlich vom Abwurf dieser Bombe auf Hiroshima und Nagasaki. Der dritte Aufzug gilt den ersten Nachkriegsjahren, Einsteins Appell gegen Atomwaffen, dem Gericht über Einstein und seine Mitarbeiter, Einsteins Verurtei­ lung19 und schließlich seiner Verzweiflung. Wiederum stehen Einstein der alte und der junge Physiker zur Seite – der alte ein Opportunist, der bereit ist, ebenso Hitlers ›Wunderwaffe‹ wie die Atombombe in den USA mitzuentwickeln, der junge einer, der schon in Deutschland zu widersprechen suchte, der Gestapo ausgeliefert, dann jedoch aus dem Kerker geholt wurde, weil Hitler die Physiker braucht. Schließlich kehrt der junge Physiker, aus Deutschland geflohen, als US­amerikanischer Soldat zurück, um den alten Physiker zu verhaften, damit er in den USA am Bau der Atombombe mitwirkt. Der alte Physiker ist und bleibt Opportunist, der junge sucht nach Auswegen, nach Menschen, die eine andere, bessere Welt errichten könnten. In einer 1974 nicht aufgeführten Version sieht man Einstein und die beiden Physiker nach einem anderen Planeten suchen, um bei einer Atomkatastrophe zu

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Entstanden in den Jahren 1969 bis 1973. Ihr vorangehend die Bücher­Verbrennung auf dem Platz vor der Oper – sie betrifft auch Ein­ steins Werke. Anders als der alte und der junge Physiker distanziert er sich nicht von jenem Appell, den er geschrieben hat. Also soll er nicht für den Appell, sondern geradewegs für die Atombombe verehrt, in die Unsterblichkeit gehoben werden. Die Unsterblichkeit nun wird gezeigt als Ge­ spräch zwischen Giordano Bruno, Galileo Galilei und Leonardo da Vinci – unterlegt von Bachs Präludium in f­Moll aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers und dem Choral O Ewigkeit du Donnerwort –, die Einstein zum Biertrinken erwarten. Paul Dessau wies, in einem Gespräch mit mir, auf Traditionen der Totengespräche seit dem Mittelalter hin.

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überleben. Diese Fassung erlebte ich erst in den 90er Jahren am Greifswalder Thea­ ter. Den drei Aufzügen sind, wie schon erwähnt, drei Intermezzi zugesellt. In ihnen spielt der durch Auffressen vom Krokodil im Weiher zum Tode verurteilte Hans­ wurst drei Varianten der Exekution durch. Im ersten Intermezzo kann er fliehen, im zweiten wird er vom Krokodil verschluckt, im dritten Intermezzo, eigentlich dem Epilog, räsoniert er über Witze, die ihm nur im ersten Intermezzo die Flucht ermög­ lichten. Ein großes Rasiermesser tut sich auf, und Hanswurst tanzt darauf mit den Worten: »Sie sehen, meine sehr geehrten Damen und Herrn. Ich, ich lebe gern.« Es ist offensichtlich, dass Aufzüge und Intermezzi aufeinander Bezug nehmen. So gilt das erste Intermezzo der Flucht und dem Überleben, das zweite der Vernich­ tung, das dritte wiederum dem Versuch dennoch zu überleben. Aufzüge und Intermezzi unterscheiden sich in der Besetzung und in ihren stilis­ tischen Ausgangspunkten. Den Aufzügen steht, neben Bandzuspielungen, ein En­ semble von vier Flöten, vier Trompeten, drei Posaunen, zwei Flügeln, violinlosen Streichern, Pauken und Gitarre zur Verfügung, den Intermezzi und dem Epilog eine Besetzung, die entfernt an Mozarts Opernorchester erinnern sollte. Die stilistischen Differenzen – Cluster­Ballungen, teilweise Zwölftontechnik und vielerlei Zitate in den Aufzügen, die Intermezzi tonal bis polytonal, mit Anklängen an Mozart bis Wag­ ner durchsetzt – werden im Fortgang des Werkes teils ausdifferenziert, teils mini­ miert und partiell vermittelt.20 Ich erlebte nicht nur die Uraufführung und einige ihr vorausgehende Proben, son­ dern auch etliche Kontroversen, die teilweise der Musik, u.a. den Zitaten aus Werken von J. S. Bach21 bis Richard Strauss22, sowie teilweise gravierenden Differenzen zwi­ schen dem historischen Einstein und der gleichnamigen Opernfigur gewidmet wa­ ren.23 Mickel und Dessau waren diese Differenzen bewusst. Dessau verwies in Ge­ sprächen auf neuere Einstein­Monographien, die er gelesen habe; Mickel hatte für die Auseinandersetzung nur den Spruch »Dienst ist Dienst, Schnaps ist Schnaps« üb­ rig, damit andeutend, es gäbe nun doch verschiedene Wahrheiten, vor allem Unter­ schiede zwischen der Wahrheit von Kunstwerken und Geschichts­Darstellungen. Von hier aus sind Beschreibungen der angegebenen Szenen möglich; zunächst die von Karl Mickel und Paul Dessau angewiesenen, angedeuteten Vorgänge: »Beton­ bunker, Längsfront parallel zur Rampe. Grelle Sonne«, »Herein Junger Physiker, Al­ ter Physiker, Techniker, Leibwächter, nach einer Pause: Einstein. Junger Physiker 20

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Paul Dessau: Einstein. Oper in drei Akten, Prolog, zwei Intermezzi und einem Epilog. Libretto von Karl Mickel. Klavierauszug, Berlin 1973. Ein böser Witz lautete: »Ein Stein oder ein Schlag in den Bach«. Dessau reagierte darauf dahin­ gehend, dass er betonte, dass ihm Kontinuität wichtig sei. Den Kritikern war entgangen, dass die Direkt­ und Indirekt­Zitate verfremdet, mithin gebro­ chen waren. Ich erinnere mich eines Vortrags des Physikhistorikers Friedrich Herneck im Kulturbund Ber­ lin 1975. Als einer, der sich mit Dessaus Oper befasste, wurde ich als Fürsprecher dazu einge­ laden.

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(ins Publikum weisend): ›Dort wird es sein.‹ (Alle ab in den Bunker. Periskope schie­ ben sich über den Rand, ins Publikum blickend.) Lautsprecher: ›Zehn, neun, acht […]‹ (Die Sonne wird schwarz, Finsternis)«,24 Chorgesang, aus dem sich imitatorisch Knabenstimmen auf die Worte »Hiroshima, Nagasaki« herauslösen, Schweigen, und Einstein tritt laut Regieanweisung »hundertjährig« 25 an die Rampe, singt zunächst auf englisch, dann auf deutsch, dazu einzelne Instrumente. Dabei ist schon auf der Ebene der Partitur der Verzicht auf Naturalismen von In­ teresse. Wir hören keine Explosion, stattdessen Chorgesänge, die auf die zerstörten Städte verweisen. Überdies verhalten sich die Medien (Bühne und Musik) in gewisser Hinsicht alternativ zueinander. Zwischen Bühne und Musik finden mehrfache Wech­ sel, gleichsam Staffelstab­Übergaben statt. Die anfangs mit Akteuren besetzte, hell erleuchtete Bühne wird verwandelt in menschenleere Dunkelheit mit Chorgesang aus dem Off, welcher wiederum verebbt, wenn die Bühne aufs Neue sichtbar ist. Wenn Einstein die Szene betritt, so sind ihm die ersten Takte des Sprechens bzw. Singens übergeben, erst nach und nach setzen Instrumente ein, womit das Geschehen in den Orchesterraum übergeht. Auch das Geschehen auf der Bühne, im Dunkeln, wird ausdifferenziert – dem Bühnengeschehen ist anfangs Tanzmusik beigestellt; sie bricht ab, mutiert zum Zählen. Selbst die Chormusik differenziert sich aus von Vokalisen zu textiertem Singen. Verebbt beides, so herrscht Schweigen, erst danach wird Einstein einsetzen, sprechend, singend. Ruth Berghaus wollte dies umsetzen, erweitern: Zu sehen war eine leere, weiß ausge­ leuchtete Bühne mit weißem Rundhorizont. An der Rampe standen die Physiker mit Ferngläsern. Die Chorgesänge – Vokalisen, gesungene Worte (die Namen zerstörter japanischer Städte) – erklangen, wie im Werk angewiesen, in totaler Finsternis, wel­ che allmählich zurückgenommen wurde, am Horizont jedoch war eine schwarze Scheibe zu sehen, anzeigend, dass sich die Sonne angesichts der Helle der Explosion verfinstert hatte. Als Einstein an den Rand der Bühne trat, war die Bühne hell, die Scheibe weiterhin schwarz, Instrumente setzten nach und nach ein, Einstein begann zu sprechen, hernach zu singen, nach und nach entwickelte sich ein solistischer, viel­ stimmiger Orchestersatz. Klang, Bühne und Licht verbanden sich nicht zur Einheit. Der Staffelstab wurde übergeben von einem Medium zum anderen, dabei wurde die Aufmerksamkeit der Rezipienten von einem aufs nächste gelenkt: von der Bühne auf den Klang, auf Bühne und Scheibe, auf Einstein sprechsingend an der Rampe und auf einzelne Instrumente des Orchesters. Es sind dies die poetischen und ästhetischen Maximen des dramaturgischen Kontrapunkts zwischen Raum, Licht, Klang, Sprechen, Singen und Bühnenfigur, aber auch Kontrapunkte zwischen Klang und Sprechen bzw. Singen, Klang und Schweigen, Klang und Bewegung. Von der ›Trennung der Elemente‹ sprach Bertolt Brecht nicht nur im Kleinen Organon für das Theater von 1948. Ruth Berghaus hatte die­ 24 25

Dessau: Einstein (Anm. 20), S. 182. Ebd., S. 187.

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se Formulierung aufgenommen, in unzähligen Gesprächen repetiert, 26 hier nun, in der Bomben­Abwurf­Szene sinnfällig gemacht in fast buchstäblicher Übereinstim­ mung mit den Anweisungen der Partitur. Fast das Gleiche ereignete sich bereits im zweiten Bild. Einstein hat fliehend die Bühne verlassen, die SA kommt, flucht, zerstört das Mobiliar, dazu Orgelmusik aus dem Lautsprecher, überlaut der Beginn der Dorischen Tokkata von J. S. Bach, deren Laufwerk die brutale Zerstörung als Perpetuum mobile beigesellt war. Ruth Berghaus präzisierte: Nicht nur war dem Zerstörungswerk der SA das Perpetuum mobile der Orgel zugeordnet, sondern es wurde durch die Orgelmusik, durch die Ziselierung ih­ res Laufwerks dem bloßen Dreinschlagen enthoben, nobilitiert in unermüdliche Schnitz­Arbeit, als ob das Geschehen solch handwerklicher, gar kunsthandwerkli­ chen Art sei, beidem gemeinsam die Gründlichkeit, die Absicht, nichts auszulassen. Der Hauptteil der verkürzten Dorischen Tokkata mit dem grell verzerrten Kontra­ punkt des Chorals Vom Himmel hoch in höchster Lage erklingt bei dunkler Bühne. Die Aufmerksamkeit wird auf die Musik gelenkt, auf das Laufwerk der Tokkata mit der pervertierten Botschaft des dementsprechend harmonisch verzerrten Chorals. Nicht »vom Himmel hoch«, sondern von unten her kamen die Schläger und sie brachten wohl »neue«, aber nicht »gute Mär«, nämlich heraufziehende, um sich greifende Bar­ barei. Hier verhielten sich die Medien mehrfach komplementär: Der kunstvolle Satz der Orgelmusik gab dem brutalen Dreinschlagen der SA den Anschein ziselierten Schnitzwerks, eines Handwerks und einer Genauigkeit, der nichts entgehen sollte. Darin war Geschichte aufgehoben. Einige der Wächter in den Konzentrationslagern waren, wie mir in den 60er Jahren berichtet wurde, Lateinlehrer, die die Häftlinge wie Buchstaben und Wörter an sich vorbei ziehen ließen, als ob ihre ›Behandlung‹ der Deklination lateinischer Vokabeln gleichzusetzen sei. II. Die Verurteilung des Lukullus – Begräbnis und Totengericht Auf das Werk, auf seine Genese sowie auf szenisch­ und musikalisch­dramaturgische Besonderheiten kann hier ebenso wenig eingegangen werden wie auf die dornigen Wege seiner Rezeption.27

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Wohlgemerkt, ›Trennung der Elemente‹ meint nicht bloßes Nebeneinander. Musik, Raum, Be­ wegung, Licht etc. beziehen sich aufeinander, aber sie sollen einzeln wahrgenommen werden können, um jeweils für sich die Fabel zu erzählen. Vgl. hierzu u.a. Fritz Hennenberg: Dessau, Brecht. Musikalische Arbeiten, Berlin 1963; Gerd Rie­ näcker: Zu einigen Gestaltungsproblemen des Opernschaffens von Paul Dessau, in: Sammelbände zur Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik, hg. von Heinz Alfred Brockhaus und Kon­ rad Niemann, Bd. 2, Berlin 1971, S. 100–143; Joachim Lucchesi: Das Verhör in der Oper, Berlin 1995, ders.: Das Verhör des Lukullus, Die Verurteilung des Lukullus, in: Jan Knopf (Hg.): Brecht­ Handbuch, Bd. 1, Stuttgart 2001, S. 401–418; Thorsten Preuß: Brechts ›Lukullus‹ und seine Verto­ nungen durch Paul Dessau und Roger Sessions, Würzburg 2007.

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Verallgemeinernd ist Mehreres festzuhalten: Zum einen werden Spezifika des einstigen Hörspiels28 in allen Entwicklungsstadien der Oper bewahrt – den Akteuren sind mehrere Sprecher beigestellt, die nicht nur die einzelnen Situationen, sondern nachgerade jede Aktion, sowie die Beziehung der Akteure zueinander, selbst den Be­ ginn jeglicher Anrede29 kommentieren, so dass ein Gutteil der Aktionen doppelt stattfindet – als szenisch sichtbare Handlung und als deren Kommentar. Auch die Besetzung,30 vor allem die Aussparung des Orchester­Tuttis könnte mit den einstigen Obliegenheiten des Hörspiels zu tun haben; darüber hinaus spielen Brechts Maximen der Behandlung des Orchesters, auch einzelner Instrumente 31 eine Rolle, die Paul Dessau seit den 40er Jahren umzusetzen suchte. So schlug sich Brechts Abneigung gegen die Pose des Geigers in der violinlosen Orchestration des Deutschen Miserere wie auch des Lukullus nieder. Zum anderen werden Maximen des dramaturgischen Kon­ trapunkts aufgerufen. Sie gelten sowohl der Beziehung zwischen Szene und Musik als auch zwischen den einzelnen Elementen, Dimensionen und Parametern des sze­ nisch­musikalischen Geschehens.32 Damit hängt auch der weitgehende Verzicht auf musikalische Illustration zusammen. Zum Dritten geht es um idiomatische Hetero­ genität, dabei um den Verzicht auf jedwede Vermittlung, gar Verschmelzung der ver­ schiedenen Idiome. Was hier zusammenkommt, miteinander kontrastiert, mehrmals auch aufeinandermontiert wird, gehorcht einzig der Frage nach dramaturgischer Brauchbarkeit, gemäß der Brechtschen Maxime, es gehe nicht um alte oder neue, sondern um die jeweils geeignete Form.33 Zum Vierten und in Abgrenzung zu Wagners sogenannten Musikdramen, sind, ausgenommen die umfangreiche Introduktion, vor­ wiegend szenisch­musikalische Entitäten der sogenannten vorklassischen Oper auf­ genommen – Quasi­Secco­Rezitative, Arien und Chöre. Die einzelnen Formen bzw. Form­Teile sind voneinander ebenso strikt abgehoben wie die einander kontrapunk­ tierenden Bestandteile. Dies alles gilt der Demontage jener Helden­Figuren, Helden­Bilder, die mit ihren Folgen nicht erst in den Jahren des Krieges und der vorangegangenen faschistischen 28 29 30

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Bertolt Brecht bezeichnete sein Hörspiel im Jahre 1941 als Funkoper. Ein Beispiel: »Hier der Schöffe […] beugt sich vor und hat eine Frage«. 3 Flöten, gleichzeitig 3 kleine Flöten (die 3. auch Altflöte), 3 Trompeten, 3 Posaunen, Basstu­ ba, Violoncelli, Kontrabässe, zwei Klaviere (Hämmer mit Reißnägeln bespickt), Konzertflügel, Harfe, Akkordeon, Trautonium (ad. lib.), vielerlei Schlagzeug (insg. 10 Schlagwerker). Ausge­ spart sind Violinen und Violen, Oboen, Klarinetten, Fagotte und Hörner. Vgl. Eintragungen u.a. im Arbeitsjournal vom 30. Juli 1944, ihnen vorangehend Brechts Aufsatz Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater (1935/36), in: Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Über eine nicht­aristotelische Dramatik, zusammengestellt von Siegfried Unseld, Frank­ furt/M. 221993, S. 239–251. Vgl. außerdem Joachim Lucchesi und Ronald K. Shull: »Die Musik wird da viel ausmachen…«. Eine Einführung, in: dies. (Hg.): Musik bei Brecht, Berlin 1988, S. 11–63 sowie Gerd Rienäcker: Musik oder Misuk? Musiktheater im Zeichen Brechts, in: Brecht 100. Ringvorle­ sung aus Anlass des 100. Geburtstages Bertolt Brechts, Humboldt­Universität zu Berlin, Sommersemester 1988, hg. von Klaus Gehre, Berlin 1999, S. 203–215. Vgl. Hennenberg: Dessau, Brecht (Anm. 27). Vgl. Brechts Notiz­Sammlungen über Formalismus und Realismus, in: Bertolt Brecht: Schriften zur Li­ teratur und Kunst, Bd. 2 (1934–1956), Berlin 1966 u.a., S. 313ff., S. 523ff., S. 526f.

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Barbarei erfahrbar waren: Helden, von denen der Kinderchor In den Lesebüchern im vierten Bild handelt, deren Tun den Nachfahren zur Nachahmung empfohlen wird, damit auch sie zu blutigen Taten bereit sind. Für solche Demontage aber braucht es eine heutige Institution, die unabhängig ist von den bisherigen Institutionen der Herrschenden gestern. Diese Funktion übernimmt ein Totengericht, bestehend aus einigen der ehedem Entrechteten, vor dem sich der berühmte Feldherr zu verant­ worten hat. Spätestens hier wird das ineinander von Historie und Mythos offenbar, Lukullus’ Verhör vor diesem Gericht und schließlich seine Verurteilung 34 stehen im Zentrum. In der Inszenierung von Ruth Berghaus aus dem Jahre 1983 sind gegenüber ur­ sprünglichen Szenen­Anweisungen bedenkenswerte Änderungen in Augenschein zu nehmen.35 Zum einen war gegenüber früheren Aufführungen auch an der Berliner Staatsoper das Orchester an verschiedenen Orten der Bühne und seitlich der Bühne platziert. Dies entsprach großenteils den Anweisungen des Komponisten: Er hat vor allem die Bläser, namentlich die signalgebenden Instrumente, teils auf, teils hinter der Szene postiert. Dergestalt klingt Musik von verschiedenen Orten. Hatte ein Gutteil bisheriger Aufführungen die Instrumente mehrheitlich im Orchestergraben ver­ sammelt, waren die ursprünglichen Intentionen des Komponisten hier weitgehend wiederhergestellt. Die auffällig kargen szenischen Anweisungen Brechts und Dessaus verweisen in den ersten Szenen auf mehrere Ebenen des öffentlichen Raumes, 36 auf der einen Sei­ te die Zuschauer, an ihnen vorüberziehend der Trauerzug, von dem Ausrufer in grel­ lem Tone berichten. Hernach, nicht gesondert angewiesen, allenfalls durch die Sze­ nen­Überschrift ›Der Empfang‹ angedeutet, scheint es einen Vorraum des Gerichts unter der Eingangstüre zu geben, in dem der Feldherr wartet, worauf der Kommen ­ tator verweist. Die Szenenanweisung lautet: »sein eigenes Standbild«. Im gleichen Raum begegnet ihm eine alte Frau, die ihn in die Modalitäten des Gerichts einweist. Der Hauptraum des Totengerichts wird nur dadurch gekennzeichnet, dass rechts vom Zuschauer das Gestühl für die Schöffen und den Sprecher des Totengerichts sich befindet, während links der Feldherr hinter einer kleinen Barriere steht – karge Andeutungen eines Gerichtssaales mit Stühlen für die Schöffen und Barriere für den Angeklagten, möglicherweise mit einem Zeugenstand für die ins Leben gerufenen Gestalten des Frieses. Ruth Berghaus, die sich noch Mitte der 60er Jahre an derlei Anweisungen gehal­ ten hatte, entschied sich in den frühen 80er Jahren zu rigoroser Konkretion, folge­ 34

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Dass, nach einem Gespräch der Autoren mit dem Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, der Be­ griff ›Verhör‹ in ›Verurteilung‹ verändert wurde, verweist auf Prinzipielles: Nicht nur zu ›verhö­ ren‹, sondern zu ›verurteilen‹ sei der Feldherr. Hier konnte ich mich weitgehend auf bisher unveröffentlichte Protokolle verlassen, die 1983 Ralf­Ingo Bossan, damals Assistent von Ruth Berghaus, angefertigt hatte. Vgl. dazu seinen Aufsatz »Wer a sagt, der muss nicht b sagen…«, in: Bazinger: Regie: Ruth Berghaus (Anm. 1), S. 43– 57. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Lars Klingberg in diesem Band. Erst inmitten der ersten Szenen wird der Ort benannt: ›Straße‹, dazu wenige Anweisungen über den an den Passanten vorübergetragenen Fries.

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richtig zu Modifikationen des Ortes und der Physiognomie einiger Akteure. Zu se­ hen war nicht eine Straße per se, auch nicht eine Straße im antiken Rom, sondern eine längst nicht mehr befahrene Autobahn, dahinter ein zerstörter Bäckerladen. Auf der Straße hatten sich, ausgenommen wenige Akteure, von denen später die Rede ist,37 nicht die Passanten, sondern die Ausrufer versammelt, im schwarzen Habit der SS, und sie schrien ihre Kommentare als Durchhalte­Parolen, um sie mit Peitschen­ hieben zu untersetzen – im Angesicht des Kriegsendes, darin aller Ruhm zuschanden ging. Vor der Bühne aber, in den ersten Sitzreihen, hatten sich längst, bereits vor Be­ ginn der Musik, Zuschauer mit Programmheften in Abendgarderobe versammelt als inszenierter Teil des Staatsopern­Publikums. Freilich, die Zuschauer stießen seltsame Laute hervor: Laute des Heulens,38 bewundernden Staunens,39 später Wortsilben. Sie blätterten, lasen in Programmheften, in Wahrheit in Chorbüchern, darin der den Kommentatoren zugeordnete Chorgesang aufgezeichnet war. Die Zuschauer ent­ puppten sich als chorische Akteure. Wenige Passanten sind auf der Bühne, zwei Frauen und der Besitzer des zerstör­ ten Bäckerladens. Sie wurden von den Ausrufern zusammengeschlagen, um später die Szene zu betreten, teils als Zeugen, teils als Schöffen des Totengerichts. Die Op­ fer wurden Ankläger und Richter. Später zogen Kinder über die Szene, angeführt von einem Lehrer mit einem Buch in der Hand. Ursprünglich handelte es sich, vom Kommentator eingeführt, um eine Schulklasse, die zum Grabmal geführt wird, um die Heldentaten des Feldherrn auswendig zu lernen – in der Inszenierung von Ruth Berghaus aber trugen die Kinder abgetragene Soldatenmäntel und sie zogen schlep­ pend, da übermüde durch die Gegend. Bei näherem Hinsehen waren es jene Kinder, die Bertolt Brecht in seinem Gedicht Der Kinderkreuzzug vorgestellt hatte;40 irrende Kinder, suchend nach Heimat in fremder winterlicher Landschaft. Monoton repe­ tierten sie, was ihnen an Heldentaten und ›heldischem‹ Verhalten einst angetragen wurde, in einer Zeit, als davon nicht mehr die Rede sein kann. Lehrer und Kinder sollten denn auch versinken im Asphalt der Autobahn. Als Gestorbene kehrten sie wieder. Von der sechsten Szene an nahmen sie Platz im Zuschauerraum und waren hinfort die Sprecher im Totengericht. Sie untersetzten ihre zunehmend fordernden Kommentare mit Trommelschlägen, mehrfach drehten sie sich zum Publikum, um es anzublicken mit traurigen, fragenden Augen. 41 Mehrfach drohten sie den Raum zu 37

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Anwesend sind neben den drei Ausrufern eine Frau, der Besitzer des Bäckerladens und später ein Lehrer mit Kindern. Als Heulen der Wölfe konnten die Laute durchaus entziffert werden. Paul Dessau sprach gelegentlich von Lauten des »unterdrückten Erstaunens und der Ehr­ furcht«. Während der Proben hat die Schauspielerin Christine Gloger den Kindern Brechts Gedicht vorgelesen, damit sie es spielen. Vgl. hierzu Christine Gloger: »Was sie für richtig hielt, hat sie auch gemacht«, in: Bazinger: Regie: Ruth Berghaus (Anm. 1), S. 167–176, hier S. 169f. Die Kinder wurden von Ruth Berghaus dazu aufgefordert: »Ihr müsst die Zuschauer an ­ blicken!« – Ein Augenpaar konnte ich später entziffern, und zwar die Augen von Antje Bo­ gisch, in den 80er Jahren Studentin und Autorin einer eindringlichen Magisterarbeit, die sich mit eben dieser Inszenierung befasste. Vgl. Antje Bogisch: Ruth Berghaus inszeniert »Die Verurtei­

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verlassen, wenn es ihnen langweilig wurde. Und es drohte langweilig zu werden, wenn, zumal in der elften Szene, der Feldherr einige der Schöffen auf seine Seite zu bringen suchte, etwa wenn ein runder Tisch Lukullus mit seinen Fürsprechern zu vereinen schien. Und die Chorsänger des Anfangs bevölkerten als Schatten nach und nach die Vorräume des Totengerichts – kreideweiß ihr Antlitz, erschreckt ihr Blick, gestorben auch sie, zunächst vereinzelt, nach und nach in immer größeren Gruppen, am Ende massenhaft, da ein Massensterben begonnen zu haben schien. Wie war das Totengericht selbst gestaltet, sein Interieur? Unterhalb der Auto­ bahn – Kinder und Lehrer sind versunken – war eine zweigeschossige Wohnung zu sehen, aber nur die Hälfte, da der Krieg sie mitten durch getroffen hat. Oben befand sich eine Wäschekammer und eine Küche, unten zwei Zimmer mit zerstörten Mö­ beln, darunter der Raum für das Verhör, wie gesagt bestückt mit Stühlen, auf denen der Totenrichter und die Schöffen Platz genommen hatten. Davor ein Stuhl für den Lehrer, auf ihm nahm Lukullus Platz – scheinbar selbstverständlich stand ihm, dem Hochgestellten, dieser Platz zu, scheinbar hatte er immer noch das Sagen. Das be­ schädigte Klassenzimmer entpuppte sich nicht nur als Schulraum, sondern übergrei­ fend als Raum sozialer Hierarchien:42 oben der Feldherr, davor, gleichsam als Schü­ ler, der Totenrichter und die Schöffen. Zu ihnen gehörte der Lehrer, der zuvor die Kinder angeführt hatte und mit ihnen gestorben war, zu ihnen gehörte das Fisch­ weib, einst eine Passantin auf der Bühne, von den Kommentatoren zusammenge­ schlagen, dazu der getötete Bäcker, in dessen zerstörtem Laden die Autobahn mün­ det und der wie andere nunmehr als Schöffe wie als Kommentator dem Totengericht angehört. »Schatte, du sollst verhört werden« – so begann der Totenrichter, ein alter Mann, ehemals Häftling im Konzentrationslager. Er saß dem Feldherrn und ehemaligen Peiniger gegenüber, wobei es größter Anstrengung bedurfte, das Verhör zu führen. Was der Angeklagte am Lehrerpult ihm entgegenhielt, brachte ihn wieder und wieder aus der Fassung. Von richterlicher Würde konnte keine Rede sein, eher von der Mühe, den Herrschenden aus dem Sattel zu heben. Dies sollte scheitern. Nicht nur verführte Lukullus einige der Kinder zum Krieg­Spielen, sondern es wurde im zweiten Teil des Verhörs aus dem Lehrerstuhl des Klassenzimmers ein runder Tisch, an dem Lukullus vereint mit denen saß, die er auf seine Seite zu ziehen suchte: mit seinem Koch, mit dem Bäcker und dem Bauern, bis das Fischweib aufsprang, nach­ dem es am Ende der Erzählung zusammengebrochen war, im Zuschauerraum Platz genommen hatte, den Tisch umwarf, auf dass das Urteil gesprochen werden konnte: »Ins Nichts mit ihm«. Und doch, Lukullus verschwand mitnichten inmitten einer er­ bosten, ihn anklagenden Menschenmenge, bestehend aus Söldnern und Sklaven, sondern er kam wohlbehalten auf die Erde zurück, hinter einem großen Tuch, zu se­ hen als Schatten, zu sehen gleichzeitig ein Atompilz. Und sogleich mehrten sich die

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lung des Lukullus« von Paul Dessau, Staatsoper Berlin 1983, unveröffentlichte Magisterarbeit, Berlin 2005. Vgl. Bossan: »Wer a sagt, der muss nicht b sagen…« ( Anm. 35), S. 51f.

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Schatten im Vorraum. Das Massensterben im Gefolge der Bombe hatte offenbar be­ gonnen. Und die Chöre, die das Urteil des Richters und der Schöffen als schier end­ lose Schleife repetierten, sollten selbst untergehen. Dass die Chorrufe nach und nach verebbten, war nicht mehr dem Untergang des Feldherren – nach und nach ver­ schwand er in der anklagenden, verurteilenden Menschenmenge –, sondern dem sei­ ner Ankläger und Richter geschuldet. Das instrumentale Nachspiel, eine grelle Trau­ ermusik, die in Fanfaren ausläuft und sich darin leerläuft, erhielt neuen Sinn: als Me­ netekel, verweisend aufs Unerledigte. Mehrerlei wurde konkretisiert wie historisiert und dabei umgedeutet: die Straße und vermutliche Zuschauer­Balustrade in eine Autobahn, ringsum eine Leere, die auch ein Sumpf sein könnte, der Vorraum und Raum des Totengerichts mit Zeugen­ stand in Räume eines zerstörten zweigeschossigen Hauses – oben die Orte des Emp­ fangs, unten ein Klassenzimmer. Auch die Akteure veränderten ihren Status, ihre Physiognomie, und dies mit gutem Grund, weil sie schon zuvor anwesend waren als Opfer des verheerenden Krieges, als Opfer brutaler Willkür. Der Totenrichter ent ­ puppte sich als ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers, woraus nicht nur der Zorn erwuchs, ehemaligen Peinigern zu begegnen, sondern zugleich seine Hilflosig­ keit. Auch der Lehrer, der Bauer und der Bäcker waren Kriegsopfer. Vor allem: Das erhoffte Urteil wurde zurückgenommen – denn es gehörten (und gehören) die Krie­ ge und die Morde nicht der Vergangenheit an. Der Verurteilte erscheint nach wie vor als Sieger. Ruth Berghaus machte kenntlich, was in den frühen 80er Jahren in Zeiten des Wettrüstens aus dem einstigen Totengericht geworden war. Sie setzte in Szene, was dem Totengericht seit ehedem an Illusionen anhaftete. Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann der Kalte Krieg mit seinen heißen Kriegen in der damals sogenannten Dritten Welt. Freilich, was immer die Regisseurin, Chronistin veränderter, aber keineswegs friedfertigerer Zeiten den szenischen Akteuren und Vorgängen an Modifikationen angedeihen ließ, konnte nun doch großenteils auf Paul Dessaus Musik sich einlassen. Die Komposition geht offenbar in ehemaligen Zuordnungen nicht auf, da einige Passagen ihrer Zeit fast rätselhaft sein mochten – nicht erst das Verebben der Chor­ rufe »Ins Nichts mit ihm« und das grelle Nachspiel, dem die Tonfolge es­e­d, vom Komponisten als Aufruf »Seid einig, Deutsche« verstanden, eingeschrieben war. Ins Zentrum rückt nicht dieser Aufruf, sondern der zerfallende Schluss – Fanfaren, die zunehmend ins Leere laufen, ein verlöschender Dur­Klang.

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III. Leonce und Lena43 Über das Panorama der Bilder – einige davon kaum über eine Minute während – ist hier nicht zu reden.44 Auch die Inszenierung lässt sich kaum in wenige Worte fas­ sen.45 Hier interessieren zwei Momente, die bei näherem Hinsehen keineswegs peri­ pher sind. Zum einen jenes tote, überwachsene Bahngleis, das dem Bühnenbild zu­ grunde liegt und das Vergebliche der Suche auf den Nenner bringt: Wer flieht, wer sucht, aus dem Status quo der Reiche Pipi und Popo zu entkommen, gerät gerade­ wegs ins Allvertraute. Leonces Satz »Das war die Flucht aus dem Paradies« macht das Dilemma offenbar. Ihm folgen Spiele der Langeweile, die sich aber als unentweg­ te Peinigung der Bediensteten entpuppen – von Ruth Berghaus’ Lesart zugespitzt. Das bittere Fazit: Wer also in ein romantisch ›Anderes‹ zu gelangen sucht, entkommt dem ›Ist‹, d.h. auch dem Bahngleis, nicht. Er geht, so bereits die Konzeption des Werkes, nicht in die Ferne, sondern im Kreise. Folgerichtig ist der Schluss der Oper rückwärts gerichtet: Nicht »vivat« rufen die Bauern, sondern »vat, vi?«, solcherart fra­ gend nach dem Sinn, der abhanden gekommen ist. Dass sie, die Unteren und halb verhungert, herbeigerufen sind, König Peter oder auch seinem Sohn Leonce zu huldigen, gibt der vergeblichen Suche der ›Oberen‹ einen beklemmenden Horizont: Die Eskapaden finden auf dem Rücken der Unteren statt. Gerade dies wurde inszeniert. Nicht nur zu Anfang und zum Ende der Oper wa­ ren die Bauern anwesend, sondern unentwegt – freilich auf dem Rücken liegend, zit­ ternd vor Kälte. Das Zittern der Bauern, so Ruth Berghaus, sprach sarkastisch von Harmonien des Abends, auf die Lena hört. Was hörbar ist – der gleichsam zitternde, vibrierende Klang – wurde transformiert ins Sichtbare, dabei vom Himmel auf die Erde geholt, ins nackte Elend. Damit gab die Regisseurin einen Schlüssel fürs Ganze: Wer da sucht, ohne ins ›Andere‹ zu kommen, tut es auf Kosten der Anderen, denen nur ›vivat‹­Rufe zugedacht sind – oder, wie Dessau komponiert, deren Umkehrung zur Frage. Im Raume blieben der ›Ruhm‹ und der ›Hunger‹, wobei nicht geklärt ist, wer da sich rühmt oder gerühmt wird und wer da hungert. Über mehrere Jahrzehnte, spätestens seit den frühen 80er Jahren, befasste Ruth Berghaus sich mit denen, die unten liegen und zu schweigen, allenfalls Hochrufe auszustoßen haben; für die späte­ re Inszenierung der Oper Pelléas et Mélisande von Claude Debussy sollte dies eine 43

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Komponiert seit 1977, vollendet wenige Tage vor Dessaus Tod – Ruth Berghaus bat ihn, be­ vor er ins Krankenhaus fuhr, um zu sterben, um die Ouvertüre, so Ruth Berghaus in Gesprä­ chen kurz nach seinem Tod. Dessau komponierte sie. Über die Idee des Werkes zu handeln, verbietet sich, nur so viel sei gesagt, dass der Komponist alle seine Hoffnungen auf ein besse­ res Deutschland verloren hatte, also jegliche Wege aus dem Status quo als Gang im Kreise ent­ larvte. Kein Wunder, dass dem Werk nur wenige Aufführungen zuteil wurden – übrigens mit Dessaus Einverständnis im Wissen darüber, dass er da aufs Neue Grenzen überschritten hatte. Vgl. hierzu meinen Aufsatz Utopien, Illusionen, Desillusionen in Paul Dessaus Oper Leonce und Lena, in: Paul Dessau: Von Geschichte gezeichnet. Symposion Paul Dessau, Hamburg 1994, hg. v. Klaus Angermann, Hofheim 1995, S. 152–162. Vgl. hierzu den ersten Beitrag von Nina Noeske in diesem Band.

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Rolle spielen, insofern die Elenden, die Bettler übergroß zugegen sein sollten. Auch die Inszenierung der Oper Don Carlos von Giuseppe Verdi ist den Gepeinigten zu­ gewandt, mehr noch als es Verdi beabsichtigte. Es galt Brechts Frage, wer denn ›die Spesen‹ bezahle. So vereinten sich in Berghaus’ Inszenierung von Leonce und Lena Symbole des to­ ten Bahn­Gleises und der zitternden, weil frierenden Bauern zu einem Menetekel, dem niemand entkommen sollte. IV. Fazit Was den hier fragmentarisch behandelten Inszenierungen gemeinsam ist, lässt gewiss auf wenige Nenner sich nicht bringen. Daher mögen Andeutungen genügen. Deren Erste, die von Brecht und Berghaus oft apostrophierte ›Trennung der Elemente‹, ihr zufolge die Möglichkeit, ein jedes Element, ein jedes Medium könne für sich »die Fa­ bel erzählen«, hat ihre Konsequenz auch im Auseinandernehmen der Spielvorlage, gefolgt von der Frage, was von den Elementen bzw. Medien verbindlich sei, also halbwegs unangetastet sein müsse, und was verändert werden müsse. Verbindlich ist die Komposition im engeren Sinne, also die Musik mit der ihr eingesenkten Drama­ turgie. Sie ist beim Worte zu nehmen, gegebenenfalls wiederherzustellen, so, wie ge­ zeigt, die Musik in der Verurteilung des Lukullus, auch und gerade ihre quasi räumliche Struktur. Großteils verbindlich ist, da zur Partitur gehörig, der Worttext – er muss in aller Deutlichkeit artikuliert werden. Verbindlich sind die szenischen Vorgänge, inso­ fern es um deren Grund­Sätze geht – hier aber sind Modifikationen gestattet, ja, er­ forderlich, wenn die historische Zeit, in der das Werk inszeniert wird, eine andere ist als die der Entstehung.46 Freilich, die Regisseurin verwahrte sich gegen vordergründi­ ge Aktualisierung. Der Regisseur mitsamt den Darstellern müsse gleichsam in das Werk hineinsteigen, um den Widerspruch darin zu entdecken. Von hier aus ist das Bestehen auf helle Räume, auf deren übersichtliche Gestal­ tung, der Verzicht aufs Halbdämmern, aufs Zwielicht verstehbar – er gilt auch für die Inszenierung sogenannter romantischer Opern, für Wagner­Inszenierungen. Vom »vernünftigen Wald« sprach 1970 Wolfgang Lange in seiner Rezension von Der Freischütz47 mit halbem Respekt. Auch das Gewoge der Wasserschichten wurde in der Inszenierung von Das Rheingold 1979 ausgedünnt zu voneinander abgehobenen blau­ en Bändern, mit denen die halbwüchsigen Rheintöchter spielten. Von hier aus waren und sind Prinzipe des dramaturgischen Kontrapunkts ein­ sichtig, ihnen zur Seite stehen der komplementäre Einsatz der Medien bzw. ihrer ein­ zelnen Dimensionen oder auch Schichten und Schichtungen. Dass die Medien mit und ineinander verschmolzen werden sollen, bedurfte jenes Argwohns, den schon 46

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Solche Trennung der Verbindlichkeiten hat, zumal seit den 90er Jahren, der Regisseur Peter Konwitschny überdeutlich artikuliert. Wolfgang Lange: Montierte Collagen. Bemerkungen zu Webers »Freischütz« an der Deutschen Staatsoper, in: Theater der Zeit 10 (1970), S. 22–25.

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Bertolt Brecht in den 30er und 40er Jahren äußerte – und Richard Wagners Konzep­ tion des ›Gesamtkunstwerkes‹ anlastete.48 Was Ruth Berghaus jenem Theater Brechts entnahm, das sie während ihrer frü­ hen Arbeiten erfahren konnte, oder wiederum während ihrer Jahre der Intendanz am Berliner Ensemble, durfte nicht im Status des Überkommenen bleiben. Rechtens be­ rief die Berghaus sich auf szenische Vokabeln, die nach Brechts Tod aufkamen. Dass sie Heiner Müller, Einar Schleef und Bernhard Klaus Tragelehn an ihr Haus holte, damit diese experimentierten, gehört zur Sache ebenso wie ihr in den 70er Jahren kaum angemessen verstandener Rekurs auf den frühen Brecht. Es galt nicht Beste­ hendes zu repetieren, sondern daran anzuknüpfen. Die szenische Sprache später In­ szenierungen – u.a. Moses und Aron und Pelléas et Mélisande an der Staatsoper Berlin, Tristan und Isolde an der Staatsoper Hamburg sowie der Freischütz in Zürich, der von dem an der Staatsoper Berlin nicht unerheblich sich unterschied, machen dies offen­ bar. Wie sehr die Regisseurin ihrem Gatten Paul Dessau auch politisch verpflichtet war, zeigte ihr bitterer Hilferuf eingangs der 90er Jahre. Im persönlichen Gespräch mit dem Verfasser äußerte sie: »Mit Paul wäre die Wende nicht so gekommen!«, und als ich ihr widersprach, sich korrigierend: »Mit Paul wäre die Wende anders gekom­ men!« Ein Hilferuf nach ihm, der längst gestorben war?

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So in seinem Text Über Bühnenmusik von 1943: »Bismarck hatte das Reich, Wagner das Ge­ samtkunstwerk gegründet, die beiden Schmiede hatten geschmiedet und verschmolzen.« Zit. nach Lucchesi/Shull: Musik bei Brecht (Anm. 31), S. 208.

Ruth Berghaus and the Rise of post-Brechtian Opera Elaine Kelly Opera Production as a Political Barometer A clear hierarchy existed in the opera world of East Berlin in the 1950s and 1960s. While the Deutsche Staatsoper on the city’s Unter den Linden provided mostly traditional fare that privileged the quality of musical production over direction, the nearby Komische Oper was the state’s flagship theater. Here Walter Felsenstein served realistic interpretations of the classics for a new socialist Germany. By the time of Felsenstein’s death in 1975, however, the trailblazing status of the Komische Oper was less certain. The Staatsoper had gradually shed its conservative tendencies under the stewardship of Hans Pischner, who had been appointed manager in 1963, and was developing a reputation for innovative staging that reached beyond the borders of the DDR. Regarding the relationship between the two houses, the West German critic Gerhard Koch notably observed in the Frankfurter Allgemeine Zeitung in 1979 that: »Früher, in der Ära Felsenstein, galt die Komische Oper als Zentrum des theatralischen Fortschritts. Mittlerweile scheinen sich die Seiten fast zu verkehren.« 1 Crucially, while the Komische Oper continued to showcase the theatrical realism that had won it such plaudits in the 1950s, the Staatsoper had begun to explore modes of direction that resonated more with the Zeitgeist of late socialism. Particularly striking in this regard was Ruth Berghaus’s abstract and often absurdist production style, which thrived on the contradictions of romantic opera. Felsenstein’s domination of the opera scene in the 1950s owed much to the extent to which his production style was inextricably bound with the ideals of socialist modernism. His Stanislavskian mode of direction focused, like socialist realism, on exposing the reflective function of art and demanded a similar level of narrative co herence. As was the case with many intellectuals whose aesthetics chimed with SED policies in the early DDR, Felsenstein’s ethos was essentially conservative; his cutting-edge reforms were aimed at preserving rather than revolutionizing the operatic canon. He reinvigorated the content of historical works and made them relevant for contemporary audiences. Yet, he remained committed to nineteenth-century constructs of the Gesamtkunstwerk and Werktreue. Championing opera as a unified art form, he made no incursions on its fundamental structures. Instead, his focus was on making the score comprehensible and believable, a process that demanded the director respect the composer’s intentions and offer a faithful reproduction of the text.2 1

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Gerhard Koch: Pop kommt nach Ost-Berlin. Ruth Berghaus’ Rheingold-Inszenierung an der Deutschen Staatsoper, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.9.1979.

A useful introduction to Felsenstein’s production aesthetics can be found in Robert Braunmüller: Oper als Drama: das ›realistische Musiktheater‹ Walter Felsensteins, Tübingen 2002.

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Matthew Wilson Smith has described the Gesamtkunstwerk as »modernity’s polestar.«3 It reflects the preoccupations of modern society with community, unity, truth, and hope. As these ideals lost their resonance in the DDR, so too did the quest for the unified art work.4 There was a turn towards performance styles that celebrated disjunction, and the stage was used increasingly to expose rather than reconcile contradictions. Berghaus’s work at the Staatsoper, and later at Oper Frankfurt in the BRD epitomized this paradigm shift. Over the course of the 1970s and 1980s she evolved a style of post-Brechtian production, which served to shatter the illusions of totality associated with the opera experience. As this essay explores by focusing on three key productions – Der Freischütz (Deutsche Staatsoper, 1970), Das Rheingold (Deutsche Staatsoper, 1979), and Der Ring des Nibelungen (Oper Frankfurt, 1985-87) – Berghaus fragmented opera into its constituent parts, eschewed coherence as a dominating principle on stage, and abandoned the notion of a singular authoritative text. In the case of romantic opera, this approach had considerable ramifications. Berghaus’s unorthodox style enabled her to cast off the web of meanings in which the tradition was mired, and to consider afresh its function in a world where the ideals of modernity that it encoded were increasingly suspect. De-romanticizing Opera: Der Freischütz at the Deutsche Staatsoper The premiere of Berghaus’s Freischütz on 4. Juli 1970 provoked a heated reception from the Staatsoper’s usually placid audience. Writing in Der Morgen, the critic Manfred Haedler described how the Jungfernkranz-Szene had prompted »einen Theaterskandal – wie ich ihn noch nicht erlebt habe. Die Vorstellung stockte minutenlang, Buh-Chöre und schrille Pfiffe stritten mit Beifall und Bravorufen.« 5 The polarized response of the audience was mirrored in the press. Some critics embraced Berghaus’s attempt to overhaul the opera. Eckart Schwinger, for example, praised her production as a radical counteraction to the practices of »museale Pflege« and »steriler Traditionalismus« that had rendered Der Freischütz »eines der besonders gefährdeten Werke.«6 Others, in contrast, perceived her interpretation as a direct affront to the socialist canon. Hansjürgen Schaefer declared in Neues Deutschland that »Die von Lenin geforderte kritische Aneignung des Erbes, eine der Hauptaufgaben unserer sozialistischen Kultur, wurde hier in wesentlichen Punkten mißverstanden.«7 3 4

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Matthew Wilson Smith: The Total Work of Art: From Bayreuth to Cyberspace, New York 2007, p. 8. As Smith observes, even the apparently fragmented theater of Brecht had strong affinities with the underlying principles of the Gesamtkunstwerk. Smith, The Total Work of Art (see footnote 3), pp. 71–91. Manfred Haedler: Der Freischütz – Zitat oder Parodie?, in: Der Morgen, 9.7.1970, p. 4 . For a detailed account of the staging’s reception, including the consternation in official reports of the premiere, see Corinne Holtz: Ruth Berghaus. Ein Porträt, Hamburg 2005, pp. 257–58. Eckart Schwinger: Unbehagen an der Romantik? Zur Ruth-Berghaus-Inszenierung des Freischütz in der Staatsoper, in: Neue Zeit, 9.7.1970, p. 4.

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Until this point, the benchmark socialist interpretation of Der Freischütz had been Felsenstein’s 1951 production at the Komische Oper. Felsenstein located the essence of the opera in its historical setting. Reverting to the original uncut version of Friedrich Kind’s libretto, he steered attention away from the work’s romantic supernaturalism and focused instead on its insights into social and class relations in the aftermath of the Thirty Years War. The black magic of the Wolfsschluchtszene was rationalized in terms of the superstitions that flourished in response to the horrors of war. Similarly, the triumph of good over evil in the opera was presented as a victory not for Christian morals but for humanist idealism, the actions of the Hermit uniting the previously divided society into a high-minded community that was representative of the German Volk.8 Berghaus’s 1970 staging continued – on the surface at least – in this vein of historical realism. Once again, the impact of the Thirty Years War loomed large: her peasants bore the physical wounds of battle; the women noticeably outnumbered the men in the first-act dance; and the Wolf’s Glen was littered with the skeletons of those who had not survived.9 What set her staging strikingly apart from the Felsenstein tradition, however, and what disturbed her critics, was the fact that her attention to factual details served to stress the historical distance rather than contemporary relevance of the opera. Rejecting the prevailing Marxist view of canonic works as existing in a progressive continuum, the production enacted Brecht’s call for Historizität.10 Berghaus emphasized neither the enduring humanism nor timeless qualities of the opera. Instead, she sought to expose the disparate temporal planes separating the twentieth-century audience at the Staatsoper, the nineteenth-century perspectives of the opera’s librettist and composer, and the work’s seventeenth-century setting. These disjunctions were immediately apparent in Andreas Reinhardt’s costumes and sets, both of which emphasized the work’s nineteenth-century genesis. Reinhardt modeled the clothes of the hunters and Samiel on pictures from the first performance in 1821, and revived for his scenery the tradition of the Kulissenbühne that had dominated German theaters in the nineteenth century; both the forest and the Wolf’s glen were presented as painted constructions on tiered proscenium curtains. That this was no straightforward re-creation of the premiere, however, was brought to

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Hansjürgen Schäfer: Weber im Zwielicht. Zur ›Freischütz‹-Neuinszenierung der Deutschen Staatsoper, in: Neues Deutschland, 11.7.1970, p. 4. His conception of the work is documented in the production materials for his 1955 staging. See Materialien zu Walter Felsensteins Inszenierung Der Freischütz von Carl Maria von Weber an der Komischen Oper Berlin 1955, in: Heide Hess and Peter Liebers (eds.): Arbeiten mit der Romantik heute, Berlin 1978, pp. 81–84. Pictures of the staging are included in the production book which is held in the Akademie der Künste: Archiv der AdK, Inszenierungsdokumente 16a and 16b. An illustrated account of the production is provided in Sigrid Neef: Das Theater der Ruth Berghaus, Frankfurt/M. 1989, pp. 68–71, and an insightful description in Holtz: Ruth Berghaus (see footnote 5), pp. 256–66. See Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater, in: Sinn und Form, Sonderheft Bertolt Brecht 1 (1949), pp. 11–40.

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bear by Reinhardt’s color scheme; eschewing the green hues traditionally associated with such pastoral scenes, he cast both the hunters and the forest in blue. The extent to which Der Freischütz was a subjective interpretation of seventeenthcentury history was central to Berghaus’s conception. Her approach, she explained, involved taking seriously the time period in which the opera was written and that in which according to its authors it should be set. 11 To this end, she not only followed Felsenstein’s example in restoring the cuts that Weber had made to Kind’s original libretto, she also drew extensively in her dramaturgy on the ghost story by Apel and Laun on which Kind’s libretto was based. 12 This archeological approach peeled away the sanitized veneer of the opera. While Kind’s extended libretto dilutes the opera’s polarities of good and evil by situating its characters more clearly in terms of the complex aftermath of the Thirty-Years War, the original ghost story counters the opera’s utopian ending. Apel and Laun provide no redemption; the magic bullet kills the bride, her parents die shortly afterwards of grief, and the Max figure, here called Wilhelm, is condemned to a life of insanity. This perspective had profound implications for her interpretation of the opera’s principal roles, and her production was notably devoid of the uncomplicated positive heroes so venerated by socialist realist culture. For example, she treated Kaspar more sympathetically than usual, presenting him not as a comic-book villain but as a soldier returning from war, whose experiences set him apart from and rendered his presence uncomfortable to the closed bourgeois society of the hunters. As Berghaus made clear, Kaspar was only partially responsible for Max’s downfall. Equally complicit were those who perpetuated the segregating practice of the shooting trials, and Max himself, who coveted entry into their exclusive circle. Indeed, her depiction of Max was decidedly lukewarm, much to the chagrin of her critics. Ernst Krause in a review of the production for the Nationalzeitung notably complained of a Max, »der reif fürs Sanatorium ist,« 13 while Manfred Haedler described him as »schwächlich, dicklich, blaß und inaktiv.«14 Central to Berghaus’s interpretation was the innate passivity of Max and Agathe and their inability or unwillingness to break from the conventions of the society to which they are bound. Unlike the mythic positive heroes of socialist realism, they are not active agents of their shared destiny, but are entirely subservient to external forces. In the case of Agathe, her lot in life is to wait: she sits at home waiting for Max and waiting for the outcome of the shooting trial. 15 In Berghaus’s staging, this 11

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Archiv der AdK Inszenierungsdokumente 16a: Berghaus, »Schlußfolgerung für die Inszenierung,« p. 22. The story, also titled »Der Freischütz,« was published in their Gespensterbuch of 1810. It is recounted in full in John Warrack: Carl Maria von Weber, London 1968, pp. 203–05. Ernst Krause: Requiem auf eine klassiche Volksoper. Zum neuen Freischütz der Deutschen Staatsoper Berlin, in: Nationalzeitung, 8.7.1970, p. 4. Haedler: Der Freischütz – Zitat oder Parodie? (see footnote 5). Stephen Meyer argues that Agathe’s passivity is implicit in Weber’s music. See Stephen C. Meyer: Carl Maria von Weber and the Search for a German Opera, Bloomington and Indianapolis 2003, pp. 90–91.

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static existence was conveyed both through the Gestus and costume of Agathe, who was played by Jola Koziel. She was presented as an essentially motionless figure, who spent the second act seated on a kitchen chair.16 And far from being an icon of youthful sexuality, her appearance was that of someone older, someone who had spent her prime years waiting for life to begin. Wearing a prosthetic aging mask and dressed modestly in an outfit that revealed little flesh, Koziel played the role of a pe tit-bourgeoisie post-war bride whose marital value lay in her dowry rather than her looks. This portrayal met with widespread resistance; Götz Friedrich described her as »unerträglich,«17 Haedler as a »fade Hausfrau,« 18 and Dieter Kranz as a »zickige alter Jungfer.«19 The production’s critics were particularly concerned that the audience of the Staatsoper would find nothing with which to identify in this unattractive Agathe. Yet, as Berghaus argued in a radio interview with Kranz, there was no reason why they should. The ideals of beauty and the social circumstances of women in the seventeenth century were not those of women in the late twentieth-century DDR. She explained: »[E]in Mädchen von heute setzt sich nicht hin und wartet unentwegt auf einen Mann, der schon vier Wochen nicht kommt. Sie wartet dann in einer anderen Weise; sie wird etwas unternehmen, sie ist aktiver. Agathe tut das nicht, und ich glaube, dementsprechend muß sie auch gekleidet sein.« 20 Arguably, the most radical aspect of the production was the challenge it posed to the formal coherence of the work. Instead of creating an illusion of continuity between the sung and spoken numbers, Berghaus had the singers emphasize the disjointedness of the Singspiel by engaging in monotone recitations of the spoken text. 21 She explained: »Wir haben nicht versucht, sozusagen durch ein tönendes Sprechen einen Übergang zum Gesang zu finden, sondern wir haben harte Einschnitte gemacht.«22 Similarly, she created sharp divisions between the staging and score, treating the former as a counterpoint to rather than a reiteration of the latter. These methods were the subject of a sustained attack by Joachim Herz during a debate that was organized at the Akademie der Künste early in 1971 to discuss Berghaus’s staging. In a lengthy speech taking the production to task, he accused her of perpetrating »Opernunarten,« among which he included the »gelangweiltes Aufsagen von Text« in the production; the incongruities of staging, score, and libretto throughout; 16 17

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See Holtz: Ruth Berghaus (see footnote 5), pp. 38–41 and p. 263. Archiv der AdK, Inszenierungsdokumente, 16a: Protokoll Der Freischütz, Diskussion am 27. Juni 1971 in Berlin, p. 20. Haedler: Der Freischütz – Zitat oder Parodie? (see footnote 5). Archiv der AdK, Inszenierungsdokumente, 16a: Transcript of Ruth Berghaus and Andreas Reinhardt in interview with Dieter Kranz for the Berliner Rundfunk program »Berlin – Weltstadt des Theaters,« Juli 1970, p. 8. Ibid., p. 15. This split between spoken and sung texts looks forward to Hans Neuenfels 1998 production of Die Entführung aus dem Serail in Stuttgart, where the text was divided between actors and singers. See David Levin: Unsettling Opera: Staging Mozart, Verdi, Wagner, and Zemlinsky, Chicago 2007, pp. 99–136. Berghaus and Reinhardt in interview with Kranz (see footnote 19), p. 16.

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and isolated actions that were apparently unmotivated by the content of the opera – here he gave an example of Samiel picking something from his teeth during his pivotal dialogue with Max in the second act.23 Herz’s criticisms are revealing of the underlying tensions that fuelled the wider debates about the production in the press. Paul Dessau, who was also present at the meeting, argued that what Herz identified as »Opernunarten« were nothing of the sort but reflected a fundamental clash of »zwei grundverschiedene Dinge.« 24 Herz’s training with Felsenstein and Berghaus’s Brechtian methods were, Dessau declared, »schwer zu vereinen.« Indeed, he concluded, »[v]ielleicht sind sie gar nicht zu vereinen.«25 While Herz was committed to a mode of production that privileged realistic content, and harnessed form, action, and singing to render this content intelligible and credible, Berghaus perceived no such hierarchy. Like Brecht, she viewed form not as the servant of content but as an autonomous element in its own right. Illuminating in this regard is her response to Felsenstein’s maxim that opera characters sing because they are compelled to do so by the opera’s content. 26 She countered that the content »wird gesungen, weil eine Oper da ist, weil ein Komponist das komponierte und sich die Form wählte, die er für seinen Stoff brauchte.« 27 Late Socialist Aesthetics and the Rise of Post-Brechtian Theater Until this point, Brecht’s influence on stagings of opera in the DDR had been limited beyond the Staatsoper performance of his own collaboration with Paul Dessau, Die Verurteilung des Lukullus, in 1951. While Herz applied estrangement devices to considerable effect in his Leipzig productions, they were used in isolation rather than as part of an overarching dialectical method. The fourth wall was regularly broken in East German opera houses to rouse audiences from the stupor of passive viewing; events on stage, however, were designed to promote positive reflection rather than the active engagement that Brecht’s oppositional theater demands. The absence of Brecht’s major pedagogy from opera production can be ascribed to a number of factors. These included both his own ambivalence towards the genre, and the mismatch between his separation of elements and the principles of unity that dominated traditional opera performances.28 It also reflected his wider reception in mainstream 23

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The speech is reproduced in full as Klassikrezeption und epische Spielweise auf der Musikbühne: Gesprächsgrundlage für einen Abenddialog in der Akademie der Künste der DDR (Februar 1971) , in: Walter Felsenstein and Joachim Herz: Musiktheater: Beiträge zur Methodik und zu Inszenierungskonzeptionen, ed. by Stephan Stompor, Leipzig 1976, pp. 125–38. The criticisms cited here are listed on p. 133. Protokoll Der Freischütz (see footnote 17), p. 27. Ibid. Walter Felsenstein: Schriften zum Musiktheater, in: Felsenstein/Herz: Musiktheater (see footnote 23), p. 70. Neef: Das Theater der Ruth Berghaus (see footnote 9), p. 176. See Joy H. Calico: Brecht at the Opera, Berkeley and Los Angeles 2008; and Mary A. Cicora: Wagner’s Ring and German Drama: Comparative Studies in Mythology and History in Drama, Westport

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spoken theater. Appropriations of his method were selective outside of the Berliner Ensemble, his oppositional theater sitting uneasily with the essentially undialectical culture of the early DDR. As David Bathrick explains: »A theater tradition founded upon criticism and genuine contradiction cannot simply be recycled into a theater of affirmation, even when the intention is to affirm.«29 By the late 1960s, Brecht’s position had changed. In death he had transcended his status as an awkward elder statesman and had gained a place in the socialist heritage. Ironically, however, for many of the DDR’s avant-garde artists his rehabilitation had come too late; the timeliness of his modernism had past. The authoritarian didacticism of Brecht’s mature plays, and it was these that were canonized in the DDR, was discordant with the growing anti-Enlightenment tendencies, as was his subscription to a model of rational, progressive history that pivoted on the capacity of society to change. Marc Silberman remarks of Brecht’s dialectic that »its negative moment is the critique of bourgeois forms and their reactionary consequences, and its positive, most problematic moment is utopianism.« 30 While this had served well as a model for the transition from fascism to socialism, it was less compelling in the context of an established socialist society. That said, contrary to claims in the 1970s and 1980s of Brecht’s artistic death, the force of his theater was by no means spent. Divorced from the principles of Weimar modernism, Brecht’s dialectical method served as a springboard for a post-Brechtian mode of theater that was more attuned to the cultural concerns of the 1970s and 1980s. The artistic climate of late socialism was an equivocal one. Although the disillusionment that accompanied the demise of the utopian socialist dream was profound, the actual mechanics of late socialism proved productive for many artists. The sense of the absurd that accompanied the unrelentingly positive depictions in the public sphere of life under socialism and the increasing emphasis on form rather than content that the dissemination of this illusion necessitated, provided fertile grounds for new modes of creative expression. A key feature of late socialism in the Soviet Bloc was the normalization of ideology into what Alexei Yurchak has termed »authoritative discourse.«31 This phenomenon was characterized by the ever increasing uniformity and predictability of ideological representations in speeches, newspapers, ritual practices, and slogans. Devoid of an authorial voice, the form of ideological statements was »fixed and replicated – unchanged from one context to the next.« 32 This resulted in a shift of focus from the constative to the performative dimension of ideological acts; attention switched from what was being said to the manner in which it was being expressed. Yurchak explains: »It became increasingly more important to participate in the reproduction of the form of these ritualized acts of authoritative dis-

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1999, pp. 131–68. David Bathrick: »The Powers of Speech«: The Politics of Culture in the GDR, Lincoln 1995, p. 121. Marc Silberman: A Postmodernized Brecht?, in: Theatre Journal 45/1 (1993), pp. 1–19, here pp. 8–9. Alexei Yurchak: Everything Was Forever, Until It Was No More: The Last Soviet Generation, Princeton 2006, pp. 14–16. Ibid., p. 14.

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course than to engage with their constative meanings.« 33 Crucially, this did not mean that the significance of content diminished. Rendered uninterpretable as endless rounds of repetition unhinged it from its original contexts, it acquired a whole new set of meanings. The normalization of ideology prompted wide-scale engagement with the semantics of authoritative discourse in the arts. For example, in the case of sots art – the pop-art equivalent that emerged in a number of socialist states in the 1970s – iconic symbols such as the hammer and sickle were divested of their ideological meaning and freely juxtaposed with apparently incongruous images from popular and consumerist culture, thus exposing the hollowness of the rhetoric with which they were usually associated.34 With some exceptions, most notably Hans Ticha, artists in the DDR were drawn less to political rhetoric and more to the actual semiotic structures of authoritative discourse. Typical is the case of the Prenzlauer Berg poets in East Berlin, who turned to French post-structuralist theory and sought to reclaim power from the state by destabilizing the linguistic norms of socialist ideology. 35 Developments in East German theater can also be viewed in this light. The stylized mode of post-Brechtian performance that was forged by figures such as Berghaus, Benno Besson, and Heiner Müller reveled in the semiotic play of late socialism. Evincing a Sontagian flight from interpretation, this theater preferenced text over narrative, and eliminated both the author and the mythic notion of individual agency from the stage. David Barnett defines post-Brechtian performance as a theatrical style that is »about confronting a world in which the Marxist meta-narrative is no longer sovereign but in which dialectics are still considered a practicable tool for social analysis.«36 It differs from its predecessor in two significant respects. First, while Brechtian theater aims to replicate the conditions of industrial society, post-Brechtian theater is characterized by a rejection of heightened realism. It still adheres to the premise that individuals cannot function independently of society and is implicitly concerned with abstract political structures. It reflects on these, however, by focusing explicitly on the events and relationships that occur on the stage itself. Second, in contrast to Brechtian theater where the production of meaning is carefully controlled and the dialectical method is employed as a means of delivering a definitive interpretation, post-Brechtian theater confronts audiences with »open« dramatic forms that allow for multiple readings.37 It focuses on the conflicts that are highlighted by the dialect33 34

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Ibid., p. 25. See Aleš Erjavec (ed): Postmodernism and the Postsocialist Condition: Politicized Art under Late Socialism, Berkeley and Los Angeles 2003; and Mikhail Epstein: Postmodernism, Communism, and Sots-Art, in: Marina Balina, Nancy Condee, and Evgeny Dobrenko (eds.): Endquote: Sots-Art Literature and Soviet Grand Style, Evanston 2000, pp. 3–29. Dominic C. Boyer: Foucault in the Bush. The Social Life of Post-Structuralist Theory in East Berlin’s Prenzlauer Berg, in: Ethnos 66/2 (2001), pp. 207–36, here p. 216. David Barnett: Toward a Definition of Post-Brechtian Performance: The Example of In the Jungle of the Cities at the Berliner Ensemble, 1971, in: Modern Drama 54/3 (2011), pp. 333–56, here: p. 353. Jonathan Kalb: The Theatre of Heiner Müller, Cambridge 1998, p. 19.

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ical method rather than on their resolution. Additional gestures and signs illuminate complex networks of relationships and associations that emerge from the text. Crucially, however, as Barnett observes, »the reference system for decoding the signs onstage is no longer given.«38 Post-Brechtian Opera: Das Rheingold at the Staatsoper Berghaus was at the vanguard of post-Brechtian theater in the 1970s, honing her experimental style at both the Berliner Ensemble and the Staatsoper. 39 Her approach raised few eyebrows at the latter when she confined it to contemporary opera; her stagings of Dessau’s Einstein and Leonce und Lena in 1974 and 1979 respectively were warmly received.40 Far more controversial, however, was her application of postBrechtian aesthetics to Wagner. Here Berghaus challenged not only expectations about how opera should be presented; she also undermined Wagner’s status as a composer whose works channelled the founding ideals of the DDR. Her 1979 production of Das Rheingold stood in diametric opposition to Herz’s recent Leipzig Ring cycle, which following its premiere in 1976 had rapidly been labelled as the definitive socialist interpretation of the cycle. Berghaus viewed the tendency in socialist thought to equate Marxism with historical materialism as reductive, and argued with reference to Herz’s staging that »eine materialistische Ring-Deutung ist aber noch keine marxistische, denn Marxismus umfasst außer dem Materialismus auch die Dialektik.«41 Accordingly, for her own staging, she explained that: »[E]ine nur ökonomische Analyse des Ringes, wie sie Shaw bereits im 19. Jahrhunderts vornahm, kann uns allein nicht genügen.«42 Consequently, she expanded the focus of the cycle beyond a narrow tale of nineteenth-century industrialism to reflect on more universal themes of possession, be it possession of gold, power, people, or love. Having loosened the binds of history in her Freischütz production, here Berghaus cut them altogether, positioning the staging against the »historische Konkretisierung« that dominated the reception of the cultural heritage in the DDR. 43 Contending that the issues raised in Das Rheingold »nicht mehr nur an einer Kultur eines Jahrhunderts geprüft und entschlüsselt werden kann,« 44 she attempted to capture this on stage through references to multiple time periods and cultures. Thus, for example, Al38 39

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Barnett: Toward a Definition of Post-Brechtian Performance (see footnote 36), p. 344. Barnett cites her production of Brecht’s Im Dickicht der Städte (In the Jungle of the Cities) at the Berliner Ensemble in 1971 as the earliest identifiable example of post-Brechtian theater. See ibid., p. 335. Regarding their reception see Neef: Das Theater der Ruth Berghaus (see footnote 9), p. 51. Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 968/1: Auswertung: Berghaus, Strandt, Bartels, Neef am 13.12.79 für die geplante Sitzung des Beratenden Kollektivs des Intendanten am 17.12.79, pp. 5–6. Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 953: Konzeption »Ring des Nibelungen,« p. 2. Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 968/2: No title – comments on the post-production report in Ruth-Berghaus-Archiv, 968/1, p. 1. Ibid., p. 2.

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berich, who was dressed in animal pelts, signified an »urzeitlichen Jäger«; Fricka’s costume was that of a classical god, symbolizing her struggling »um den Erhalt der Familienbande«; and Freia, who Berghaus identified as the first example of »Menschenhandel« and who resembled a figure from a Botticelli painting, alluded to a time when »Natur und Natürlichkeit bereits als verlorenes, schmerzlich wiederersehntes Ideal erkannt sind.«45 Other characters belonged more clearly in the twentieth century. Wotan, with his long hair, multi-colored scarf and spear, and liberally exposed flesh, was an ageing lothario. Loge embodied both male and female genders; one side of his face resembled a blond movie star from the 1940s, while the other side was that of »ein tuntiger ältlicher Typ.« 46 Finally, the giants, with their flared trousers and side burns looked like hippies. This ahistorical approach was equally prominent in the set design. References to the nineteenth century were present in a kitschy postcard of Ludwig II’s Neuschwanstein Castle that hung at the back of the stage in the first and fourth scenes of the opera, and a plexiglass iceberg that dominated the stage throughout. The latter, as indicated in the program, was inspired by Caspar David Friedrich’s painting Das Eismeer in which a shipwreck is ominously enmeshed in broken ice. Beyond this, however, there was little to anchor the set historically. While the front of the stage was dominated by a vitrine-like stack of plastic boxes, which served as a cabinet for the gold, additional scenic requirements were met by the creative use of tulle and plastic materials. The flow of the Rhein, for example, was simulated by three plastic blue sheets in which the Rheintöchter rolled about while the rainbow leading to Walhalla consisted of many meters of colored tulle draped across the plexiglass iceberg.47 This freeing of the work from its nineteenth-century origins represented a significant deviation from the Lukácsian practice of analyzing a composition in terms of its composer’s Weltbild. While Herz endeavored to decode Wagner’s nineteenth-century signs for a contemporary audience, Berghaus was less concerned with interpreting Wagner’s authorial intent, conscious or otherwise. She viewed artworks as living entities and was skeptical of the value of grounding Wagner’s operas in terms of his own experiences and writings. As she observed to Heiner Müller: »Ich komme immer wieder mit dem Beispiel: ›Der Rhein fließt von rechts nach links.‹ Dann weiß ich, wo und wann das Werk komponiert wurde, weiß, daß Wagner von Frankreich nach Deutschland gesehen hat, und das heißt: Er hatte eine Distanz. Daraus folgt, daß ich Wagners Äußerungen zu politischen und kulturellen Fragen nicht blind vertrauen kann. Oder: Wenn ich ein Stück von dir inszeniere, kann ich nicht alles lesen, was du über Kulturpolitik in Zeitungen und so weiter gesagt hast, ich muß das Stück lesen.«48

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Auswertung: Berghaus, Strandt, Bartels, Neef am 13.12.79 für die geplante Sitzung des Beratenden Kollektivs des Intendanten am 17.12.79 (see footnote 41), p. 6. Jens Wendland: Es wallt jede Menge Meter auf Walhall. Haute Couture der Brecht-Gardine: Ruth Berghaus inszenierte in Ostberlin Das Rheingold, in: Süddeutsche Zeitung, 25.9.1979. Ibid. Neef: Das Theater der Ruth Berghaus (see footnote 9), p. 187.

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This Barthesian privileging of the text was central to the processes of foregrounding that featured so prominently in post-Brechtian theater. The resulting ambiguities served various functions. In some cases a shifting of emphasis served to detract attention from problematic texts. In other circumstances, the addition of gestures could render apparently innocuous texts more radical. Above all, semiotic treatments of the text enabled political theater to remain productive under the conditions of late socialism. Whereas mature Brechtian theater was primarily didactic, post-Brechtian theater shifted the onus of interpretation to the audience. The themes that were foregrounded illuminated problems that had yet to be resolved under socialism and the contradictions on stage were intended to prompt audiences into supplying their own solutions. As Berghaus observed in an interview in 1983: »Wo Widersprüche sind, ist Bewegung, ist Hoffnung.«49 Berghaus frequently unleashed these contradictions by recourse to comedy, and in the case of Das Rheingold she found ample opportunities in both the libretto and score. Interesting in this context is Gerd Rienäcker’s account of an exchange that took place between her and Patrice Chéreau at the Akademie der Künste in February 1989. In response to a statement by Chéreau in which he explained that he focused on the dramatic flow in his Bayreuth production of the Ring because the language seemed too absurd, Berghaus remarked: »Wagners Sprache ist so absurd wie die Wirklichkeit; sie ist also völlig richtig.«50 In her Staatsoper production she highlighted this absurdity through the addition of various playful and often quite literal signs. Some of these exposed the vanity of the gods and the emptiness of power. Thus, for example, Berghaus’s gods engaged in a variety of pseudo-heroic physical gestures; 51 whoever was in possession of the ring indicated his power by standing on the plexiglass;52 and the postcard of Neuschwanstein lit up when the Walhalla motif was played.53 Other gestures indicated the innocence of those motivated by love rather than power. When Loge sung of love in the second scene, Freia responded by playing catch with her ball-shaped apple of youth. Fasolt, meanwhile, who was depicted here as a besotted suitor rather than a hard-edged industrialist, fashioned a paper bouquet of flowers and threw them at Freia to indicate his love for her. A significant consequence of this comedic approach was the leveling effect it had on the characters. While the gods were removed from their heroic pedestals, Alberich, like Fasolt, was treated benignly; one reviewer described him as being Papageno-like.54 This hinted at the all-pervading power of the social problems highlighted in the opera. The 49

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Sigrid Neef: Regisseure im Gespräch: Ruth Berghaus, in: Theater der Zeit 38/6 (1983), pp. 28–31, here p. 28. Gerd Rienäcker: Für Ruth – Im Nachdenken über Ruth Berghaus, in: Werner Hintze, Clemens Risi, and Robert Sollich (eds.): Realistisches Musiktheater. Walter Felsenstein: Geschichte, Erben, Gegenpositionen, Berlin 2008, pp. 176–87, here p. 181. Wendland: Es wallt jede Menge Meter auf Walhall (see footnote 46). Rienäcker: Für Ruth – Im Nachdenken über Ruth Berghaus (see footnote 50), p. 182. Manfred Schubert: Rheingold in Regenbogenfarben. Vorabend von Wagners Ring in der Staatsoper, in: Berliner Zeitung, 25.9.1979, p. 6. Koch: Pop kommt nach Ost-Berlin (see footnote 1).

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production team explained that it was not possible to divide characters into simplistic categories of good and evil, or »Humanismus und Geldgier,« and concluded that »[d]ie Entscheidung zwischen Macht, Geld und Liebe alle Figuren [durchzieht].«55 East meets West: Berghaus in Frankfurt Just as Berghaus’s irreverent approach had proved too much for the conservative Brecht heirs at the Berliner Ensemble – she was removed from her position as manager there in 1977 – so her injection of levity into the grandiose world of Wagner rankled at the Staatsoper. As Gerhard Koch observed from the BRD of the fractious reception that greeted Berghaus’s Rheingold at its premiere: »In Sachen Wagner versteht man auch in der DDR keinen Spaß.« 56 Her staging of Das Rheingold was pulled after only two performances and subsequent plans for a complete Ring production were cancelled.57 While Berghaus continued to work at the Staatsoper throughout the 1980s, further productions of Wagner were reserved for the West. As was the case with many East German opera directors, Berghaus’s aesthetics had relevance far beyond the borders of the DDR. Where the theatrical realism of Götz Friedrich and Harry Kupfer found a home in Bayreuth, Berghaus’s style found strong resonances with the experimental ethos of Oper Frankfurt. Under the leadership of the conductor Michael Gielen and dramaturg Klaus Zehelein, Oper Frankfurt had emerged in the 1970s as a haven of aesthetic radicalism, showcasing the work of figures such as Hans Neuenfels and Jürgen Flimm who were at the forefront of the trend of socalled Regieoper.58 Gielen and Zehelein were committed to a model of production that had its center opera’s social relevance. They offered the opera canon up for whole-scale reconsideration and were utterly unsentimental in their treatment of it. Characteristic was the company’s 1981 staging of Verdi’s Aida, directed by Neuenfels, in which he forced the audience to engage with the contemporary relevance of the opera’s colonial themes by confronting them with an image of themselves on stage. Berghaus’s second attempt to stage Der Ring des Nibelungen followed in this vein. Her Frankfurt production explored the sociopolitical resonances of the cycle without recourse to realism or coherence. Focusing on the semiotic microstructures of the work, the production betrayed none of the heroic unifying trajectories that are usually associated with Wagner’s music dramas. Berghaus and the set designer Alex Manthey presented on stage a kaleidoscope of elusive and often contradictory details, of55 56 57

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Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 968/2: No title, p. 2. Koch: Pop kommt nach Ost-Berlin (see footnote 1). For details regarding the cancellation of the production see Holtz: Ruth Berghaus (see footnote 5), and Elaine Kelly: Composing the Canon in the German Democratic Republic: Narratives of Nineteenth-Century Music, New York 2014, pp. 187–90. Patrick Carnegy: Wagner and the Art of the Theatre, New Haven 2006, pp. 365–66.

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fering their audiences a theatrical experience that encoded the irony, alienation, and fragmentation of late modernity. The Frankfurt Ring cycle unfolded across multiple narrative planes. Berghaus explained: »Wir erzählen in der Tetralogie eine Göttergeschichte, eine Familiengeschichte, soziale und historische Vorgänge. [ . . . ] Aber ich würde es eine Beschädi gung Wagners nennen, wenn man sich nur für einen der genannten Prozesse entscheidet.«59 Wagner’s worldview, or as Berghaus called it, his »Distanz,« was implicit in the wavy white line representing the Rhein above the set at the opening of Das Rheingold, which moved from right to left. 60 That Berghaus had no intention of providing an authoritative interpretation was emphasized by the abstract nature of the costumes and set design, which encouraged a flexible reading. The Rheintöchter were suspended from the ceiling, attached to plinths that flashed red as they flirted with Alberich. A big red velvet stage curtain served both as the Rhein and the rope of the Norns. The gods wore white sheets and silver helmets that covered only half their heads, and Valhalla resembled a cylindrical space machine, the entry to which involved navigating a set of incredibly steep steps. Berghaus and Manthey did mark the transition from the mythic world of the first three operas to the human realm of Götterdämmerung. The Gibichung Hall was a large minimalist living room containing a suite of Florence Knoll armchairs that were lined up along the front of the stage. These faced an open door at the back of the stage in front of which was a telescope looking out on to the blackness of space. Any semblance of reality was undermined, however, by a high level of the absurd. Dominating the back wall, for example, was a larger-thanlife model of a hand. Siegfried meanwhile entered the living room through the back door in his sailing boat. Instead of translating Wagner’s semiology for the audience, the Frankfurt team added their own additional layers of signs. Spherical shapes featured prominently: the Rheingold was a gold ball; Erda rolled in front of her a globe of the earth in Das Rheingold and a globe of stars in Siegfried; and the Norns had globes under their enormous hooped dresses.61 Masks and puppets played an equally important role. When Freia was taken hostage by the giants, the aging of the gods was depicted in the traumatized faces of the large masks that they held up in front of them. Similar masks were used to represent the Nibelungen. The giants, who were clad in suits, were shadowed by two giant-sized puppets, and in Siegfried the dragon took the form of a circular mask of a nose and a mouth into which Siegfried climbed in order to kill it. Some of these signs served to highlight relations between the characters – in rehearsals Berghaus described how with the similarities between the masks of the gods 59 60

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Neef: Das Theater der Ruth Berghaus (see footnote 9), 158. Videos of the dress rehearsals for each of the cycle’s four operas are held in the Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv (uncatalogued). Further descriptions of the production are provided in Neef: Das Theater der Ruth Berghaus (see footnote 9), pp. 154–65; Tom Sutcliffe: Believing in Opera, Princeton 1996, pp. 146–58; Holtz: Ruth Berghaus (see footnote 5), pp. 245–56; and Carnegy: Wagner and the Art of the Theatre (see footnote 58), pp. 369–76. Carnegy: Wagner and the Art of the Theatre (see footnote 58), p. 370.

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and the Nibelungs »kollidieren zwei Welten.«62 Other signs foregrounded themes of power, love, and gender politics. The lofty status of the gods, for example, was encapsulated in the high cothurni on which they tottered about, their unstable gait symbolizing both their power and its constraints. They temporarily dismounted from their platforms when deprived of their golden apples, and by act two of Die Walküre, Wotan had dispensed of his altogether, entering in a black overcoat and plain black suit shoes. Fricka later reminded him of his duties by hanging the cothurni around his neck. Berghaus presented the characters of the Ring not as autonomous individuals but as cipher-like figures whose costumes and gestures reflected the external forces that were acting upon them. Thus the female characters in the cycle were governed by the effects of the transition from a matriarchal to patriarchal society. Fricka’s impotence in the male-dominated world of treaties was embodied in her silver handbag and the lipstick that she applied in the second act of Das Rheingold as she contemplated how she might keep Wotan at home. Subsequently, in Die Walküre she entered holding a golden kitchen chair from Valhalla like a weapon in front of her as she approached Wotan, a symbol perhaps of her misplaced hopes that the castle would serve as a means of controlling her wayward husband. Wotan responded by stroking the chair and Fricka as if the two were one, making no distinction between his material and human possessions. The implications of the prop were augmented at the end of the scene when the chair was inherited by Brünnhilde, an early sign of her impending domesticity. She took the chair with her as she went to rescue Siegmund and Sieglinde, and at the end of the opera was placed sitting on it by Wotan as he condemned her to sleep on top of the rock. Finally, Gutrune epitomized the fate of women in a society in which the transition from matriarchy to patriarchy was complete. She carried with her a doll that served to emphasize her own stilted and mechanical gestures. Beautifully coiffed, she and her fellow female Gibichungs were devoid of individuality, and moved around the stage like mannequins. 63 Berghaus’s antipathy to narrative interpretation was particularly manifest in the complex web of hand gestures that she introduced over the course of the cycle. Occurring variously in response to the action, the libretto, and the score, these gestures functioned to shift the locus of interpretation from the rational to the sensory. As Zehelein pointed out, they represented »eine andere Erzählweise,« one that was distinct to rational thought.64 In some cases they pointed at relationships between characters; both the Rheintöchter and Freia touched their erogenous zones and engaged in childish, excited hand movements such as nail biting. In others, as Berghaus explained, gestures were employed to reveal the »mythisch[e] Ambivalenzen, die sich 62 63

64

Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 988: Probenprotokoll Rheingold, p. 37. Sutcliffe describes them as Stepford wives. See Sutcliffe: Believing in Opera (see footnote 60), p. 157. Ruth Berghaus, Michael Gielen, Alex Manthey, Helga Neelmeyer, and Klaus Zehelein: Werkstattgespräch, in: Musiktheater-Hinweise: Informationen der Frankfurter Oper, November 1986, pp. 2–8, here p. 4.

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unabhängig von den Intentionen der Figuren in ihre Körper einschrieben.« 65 A dialectic of conscious and unconscious knowledge unfolded, for example, in the childish games through which Wotan and Brünnhilde explored their relationship in the second act of Die Walküre. The act opened in Brünnhilde’s playroom with Wotan on all fours and Brünnhilde riding him like a horse. Later, in the second scene, they played a mirror game; as Wotan narrated the back history to the cycle, the two moved in sync through a series of bizarre gestures. When Wotan reached the point in his story where he had gained the ring forcibly from Alberich and used it to pay for Valhalla, Brünnhilde abruptly ceased to mirror him, her body foreshadowing the actual break she would make from him later in the act. Undoubtedly the most prominent and complex gestures in the production were those associated with sight. Wotan covered his eye with his hand in Das Rheingold, a sign that was taken up by Siegmund und Sieglinde in Die Walküre, and by the wood bird, Siegfried, and Brünnhilde in Siegfried. The motif indicated relatedness, but also had unique connotations for each character. Berghaus saw in Wotan’s missing eye a lack of perspective. It hinted at the tunnel vision of the characters in the opera, of their insistence on seeing the world not as it is but as they want it to be. 66 Only Loge, who Berghaus notably bestowed with glasses, viewed the world in its dialectical entirety, embodying what she denoted as »das, was zwischen den Figuren gedacht werden könnte, aber nicht gedacht wird.« 67 For Siegmund and Sieglinde, the gesture was one of recognition and love, while in the case of the wood bird the gesture marked it as an agent of death. Berghaus explained: »Er ist ja in Wirklichkeit ein Todesvogel, kein liebes, kleines Vögelchen.«68 By Götterdämmerung, the gestures had lost their multilayered meanings. Berghaus explained that they had become trivialized und »auf Signalfunktionen reduziert.« 69 Particularly compelling in this regard was Brünnhilde’s use of the eye gesture when she arrived at the Hall of the Gibichungs. On seeing Siegfried, she walked towards him covering first her left eye with her left hand and then placing her right hand over his right eye. When Siegfried, who was enraptured with Gutrune, failed to register her presence, she placed herself between the couple and repeated the gesture. A watchful Gutrune took this in and tried the gesture out for size, holding up her arm playfully to Siegfried’s head. Siegfried, on the other hand, remained oblivious to Brünnhilde and her increasingly frantic eye signals. The vassals’ questioning of her sanity (»Was ist ihr? Ist sie entrückt?«) in this context was well placed. Having swapped her armor for Siegfried’s baggy white shorts suit, and sporting short peroxide-blonde curls, Brünnhilde stood starkly at odds with the robot-like women that 65

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Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 1050: Probennotate [Götterdämmerung], 15.1.87, 18.00 Uhr, p. 2. Neef: Das Theater der Ruth Berghaus (see footnote 9), p. 158. Interview with Berghaus on Südwestrundfunk, 21.6.1987; cited in Holtz: Ruth Berghaus (see footnote 5), p. 250. Neef: Das Theater der Ruth Berghaus (see footnote 9), p. 162. Archiv der AdK, Ruth-Berghaus-Archiv, 1050: Probennotate [Götterdämmerung], 15.1.87, 18.00 Uhr, p. 2.

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populated the Hall of the Gibichungs. Her manic repetitions of the eye gesture compounded this difference. Instead of signifying relatedness as it had earlier in the cycle, it now marked her out as speaking a language that no one else understood, and having a vision to which no one else was privy. Themes of perspective continued through to the end of the cycle, which closed unusually with Gutrune. After Valhalla had burnt and the Rhein had flooded its banks, she took a seat at the telescope, which was now pointed at the audience. Looking through it, she swept the scope from right to left – the direction of the Rhein – as the curtain fell in front of her. Berghaus described her gesture as »erwartungsvolle[n], einäugige[n], schreckliche[n] Blick ins All.«70 New beginnings perhaps but the metaphor of one-dimensional sight remained. Conclusion That Berghaus’s stagings had resonances for audiences on either side of the Berlin Wall reflects the extent to which her post-Brechtian aesthetics captured the features of late modernity that transcended political divides. Her refusal to present singular interpretations for easy consumption resonated with the rejection in both East and West of the totalizing narratives that had dominated in the post-war era. Equally, the cynicism, disillusionment, and ambivalence pervading her productions spoke to a wider malaise; it captured the rapidly diminishing faith in tropes of progress and the onward march of history. If socialist realist art had served as a map for how life should play out in a world where the future had already been envisioned, Berghaus’s aesthetics captured the essence of existence in a world where the future was no longer known.

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Neef: Das Theater der Ruth Berghaus (see footnote 9), p. 160.

Geteilt geboren durch den Eisernen (Schutz-)Vorhang – Berghaus’ Inszenierung von Siegfried Matthus’ Cornet (1985)1 Nina Noeske Siegfried Matthus’ Opernvision Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, im Februar 1985 in der Dresdner Semperoper unter der Regie von Ruth Berghaus uraufgeführt, war nicht nur ein großer Erfolg, sondern auch Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Diese zentrierten sich um einige wenige Fragen, nämlich erstens: Lässt sich die berühmte – und in ihrer Zeit überaus populäre – kurze Erzählung des damals erst 24-jährigen Rainer Maria Rilke, angeblich rauschhaft in einer einzigen Nacht des Jahres 1899 niedergeschrieben und 1912 als erster Band der Insel-Bücherei in einer Auflage von 10.000 Exemplaren erschienen, heute – Mitte der 1980er Jahre – sinnvoll aktualisieren? Falls ja, auf welche Weise? Zweitens, damit zusammenhängend: Worin liegt der Realitätsgehalt eines Stoffes, der sich weitgehend auf das psychische Innenleben des Protagonisten konzentriert, wobei Traum und Wirklichkeit häufig kaum voneinander unterscheidbar sind? Und, daran anschliessend, drittens: Ist es gelungen, Rilkes Cornet im Sinne der auch 1985 noch bestehenden kulturpolitischen Vorgaben ›realistisch‹ zu komponieren und in diesem Sinne auf die Bühne zu bringen, so dass die Oper zu einer Aussage gelangt, die über die bloße private Botschaft hinausgeht und gleichzeitig nicht in Verdacht gerät, den Krieg zu glorifizieren? Nicht von ungefähr galt das Buch in der DDR jahrzehntelang als problematisch, da für den Aufbau des Sozialismus ungeeignet. Kolportiert wird, dass im Ersten und Zweiten Weltkrieg unzählige Soldaten mit der Rilke’schen Dichtung ›im Tornister‹ in den Tod zogen; dem Autor wurde vielfach vorgeworfen, mit seiner Darstellung des Krieges den Heldentod zu glorifizieren. Rilke begegnete dem 1919 mit den Worten: »Da war nicht Krieg gemeint, da ich dies schrieb / in einer Nacht. Kaum Schicksal war gemeint, / nur Jugend. Andrang, Ansturm, reiner Trieb / und Untergang der glüht und sich verneint.«2 Wie es dazu kommen konnte, dass sich so viele junge Männer (nicht nur in Deutschland) mit dem Stoff identifizierten, wodurch ihnen, salopp gesagt, zugleich das Sterben leichter fiel, reflektierte der Dichter zu Lebzeiten nicht. Fest steht, dass die Erzählung – und sei es unfreiwillig – Teil einer umfassen den Kriegspropaganda wurde. Schauplatz der Handlung ist der sogenannte Türkenkrieg von 1663/64: Der junge, erst 18-jährige Adlige Christoph Rilke von Langenau zieht als Reiter in die Schlacht. Dort lernt er einen Marquis kennen, mit dem er zarte, erotisch getönte 1

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Grundlage des vorliegenden Beitrags ist ein Vortrag, den ich am 25.04.2014 im Rahmen des Weimarer Siegfried-Matthus-Symposions gehalten habe. In leicht geänderter Fassung ist er bereits online unter dem Titel »Weniger ist nicht möglich in unserem Land«. Matthus’ Cornet in der In­ szenierung von Ruth Berghaus (1985) in der multimedialen Festschrift für Beatrix Borchard (2016) veröffentlicht, vgl. http://mugi.hfmt-hamburg.de/Beatrix_Borchard/weniger-ist-nicht-moeglich-in-unserem-land (Zugang: 19. September 2017). Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Zweiter Band, Frankfurt/M. 1956, S. 236.

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Bande knüpft; dieser schenkt Rilke zum Abschied das Blatt einer roten Rose, eigentlich Erinnerung an seine daheimgebliebene Geliebte. Nach einem einsamen Ritt trifft der junge Soldat auf Spork, den General, der diesen zum Cornet, zum Fahnenträger, ernennt. Der junge Mann reitet weiter; unterwegs befreit er ein an einen Baum gefesseltes, wie es bei Rilke heißt, »junges Weib, blutig und bloß«, welches ihm durch ihre Blicke und Zähne Angst macht: »Ihn graust.« Daraufhin schreibt er einen Brief an seine Mutter, in dem es heißt: »[S]eid stolz: Ich trage die Fahne«; seine grausigen Erlebnisse verschweigt er. Den Brief steckt er zu seinem Rosenblatt. Er reitet weiter, über einen toten Bauern hinweg, in dessen offenen Augen sich »kein Himmel« spiegelt, und gelangt an ein Schloss. In diesem Schloss erwählt ihn die Gräfin zu ihrem Geliebten, beide verbringen eine rauschhafte Nacht miteinander. Noch vor Anbruch des Morgens wird das Schloss durch Flammen zerstört, der Cornet flieht mit seiner Fahne und fällt im Kampf mit den feindlichen Türken. In den Worten Rilkes: »[U]nd die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Eine lachende Wasserkunst.«3 Matthus betonte mehrfach, dass für ihn keinerlei Glorifizierung des Heldentodes in der Dichtung erkennbar sei; vielmehr, so der Komponist 1988 in einem Gespräch, handele es sich um eine Art Werther-Geschichte unseres Jahrhunderts, um die »Tragödie eines jungen Mannes«,4 um dessen pubertäre Nöte und existentielle Ängste. Dringend notwendig sei, wie der Komponist in einem Arbeitsgespräch über Werk und Inszenierung in der Akademie der Künste der DDR 1985 betonte, die gesellschaftliche Rehabilitierung und Reaktivierung eines Konzepts von Empfindsamkeit, denn, so Matthus: »Ich meine, daß es heute geradezu notwendig und revolutionär, avantgardistisch ist, sich in der Kunst auf die Entwicklung von Empfindsamkeit zu orientieren. Empfindsamkeit hat immer etwas mit Erfahrung zu tun, mit Einverleibung von Weltgeschehen.«5 Bereits die berühmten Anfangsworte der Dichtung: »Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag« enthalten für Matthus die Grundsituation der Erzählung, die er leicht kürzte und selbst als Libretto einrichtete, und schließlich auch seiner Oper. Deutlich werde hier, wie er 15 Jahre nach der Uraufführung (2000) notierte, der »andauernde Streß, die innere und äußere affektive Grundsituation […] – und nur diesen Affekt habe ich über weite Teile des Anfangs komponiert.«6

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Alle Zitate aus Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, Frankfurt/M. 22012. Siegfried Matthus im Gespräch mit Gerhard Müller, in: Komponieren zur Zeit. Gespräche mit Kom­ ponisten der DDR, hg. von Mathias Hansen, Leipzig 1988 (= Veröffentlichung der Akademie der Künste), S. 159–187, hier S. 183. »Cornet« oder Über die Kunst, zu erben. Ein Werkstattgespräch, 11 Seiten Typoskript, vermutlich von Daniela Reinhold verfasst, in: Archiv der AdK, Sigrid-Neef-Archiv, 233, Blatt 4. Siegfried Matthus: Warum komponiere ich heute Opern?, in: Oper im 20. Jahrhundert. Entwicklungsten­ denzen und Komponisten, hg. von Udo Bermbach, Stuttgart u.a. 2000, S. 640–646, hier S. 641.

Berghaus’ Inszenierung von Siegfried Matthus’ Cornet (1985)

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Tatsächlich scheint das Grundmaterial der Oper, eine achttönige Skala, die zu Beginn einen charakteristischen Moll-Dur-Dreiklang exponiert,

Abb. 1: Skala

genau jenes ruhelose ›Reiten durch Tag und Nacht‹ zu symbolisieren. An mehreren Stellen der Oper ist, entweder sukzessiv oder simultan, ein Schwanken zwischen Dur und Moll zu hören.7 Das wohl auffälligste Merkmal des Werkes aber ist die Einführung einer weiblichen »Gedankenstimme«, die den jugendlichen Cornet, ebenfalls dargestellt von einer Frau (Mezzosopran), gleichsam verdoppelt. Matthus selbst erinnert seine Figur an Mozarts hinsichtlich seines Geschlechts (noch) nicht eindeutig festgelegten, zwischen Mädchen, Junge und Mann schillernden Cherubino aus Le Nozze di Figaro.8 Sigrid Neef äußerte sich 1988 in einem Werkstattgespräch über Matthus’ Oper ebenfalls zu diesem Aspekt der geschlechtlichen Uneindeutigkeit: »[D]ie Ambivalenz des Sexuellen hat etwas Wichtiges für die Oper, etwas Utopisches. Die Festschreibung von uns auf Mann und Frau mit allen Konsequenzen von Rollenverhalten und stehenden Beziehungen der Geschlechter zueinander ist etwas ungeheuer Einengendes. Hier dagegen ist noch die Hoffnung, es ist alles möglich […].« 9

Der Komponist hatte das Prinzip der Rollendopplung, die hier auf einen auch in geschlechtlicher Hinsicht offenen Möglichkeitsraum verweist, schon in seiner Oper Der letzte Schuß (1967) eingeführt; im Cornet aber, bei einem Text, der über weite Passagen durch eine Art ›inneren Monolog‹ gekennzeichnet ist, drängt sie sich geradezu auf. In der Liebesnacht kommt eine weitere Gedankenstimme hinzu, nämlich jene der Gräfin, so dass das traditionelle Liebesduett zu einem Liebesquartett wird. Entgegen Matthus’ ursprünglichem Plan, die Gedankenstimmen aus dem ›Off‹ hinter der Bühne singen zu lassen,10 befinden sich in der Inszenierung von Ruth Berghaus – hierzu im Folgenden mehr – wie auch in allen anderen Inszenierungen der Oper 7

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Vgl. hierzu Siegfried Matthus: Über die Harmonik meiner ›Cornet‹­Oper. Aus einem Vortrag von Sieg­ fried Matthus, in: Musik und Gesellschaft 37/8 (1987), S. 404–407. Matthus: Gespräch mit Gerhard Müller (Anm. 4), S. 187. »Cornet« oder Über die Kunst, zu erben. Ein Werkstattgespräch, in: Archiv der AdK, SigridNeef-Archiv, 233, 11 Seiten Typoskript, hier S. 8f. »Etwas unüberlegt und voreilig habe ich am Beginn der Partitur durch eine Bemerkung gefordert, daß die Gedankenstimmen aus dem ›off‹ erklingen sollen. Merkwürdigerweise hat kein Regisseur sich daran gehalten und die Interpreten der Gedankenstimmen immer auf der Büh ne agieren lassen.« Siegfried Matthus: ›Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke‹. In­ terpretationserfahrungen, in: Wanderer zwischen Musik, Politik und Recht. Festschrift für Reinhold Kreile zum 65. Geburtstag, hg. von Jürgen Becker, Baden-Baden 1994, S. 403–407, hier S. 406.

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sämtliche vier Sänger auf der Bühne. Das erste ›Liebesduett‹ singt Cornet zunächst zusammen mit seiner Gedankenstimme, als er die Gräfin zaghaft fragt: »Bist du die Nacht?« Vernehmbar ist auch hier das für die Oper charakteristische Changieren zwischen Dur und Moll – hier: zwischen Fis-Dur im Gesang und (in enharmonischer Verwechslung) ges-Moll in den Harfenstimmen. Das Schwanken zwischen ais’ und a’ in den Gesangsstimmen, als Schillern zwischen den Tongeschlechtern, deutet ebenfalls auf das Verweigern eindeutiger geschlechtlicher Zuordnungen. 11

Abb. 2: »Bist du die Nacht?« (Cornet, Takt 1281)

Abb. 3: Ausschnitt aus der Inszenierung von Ruth Berghaus, Opernmitschnitt (Regie: Frank Schleinstein) vom 16. Februar 1985 (»Bist du die Nacht?«); Cornet: Angela Liebold, Gedanken stimme: Annette Jahns, Gräfin: Magdalena Falewicz. Deutsches Rundfunkarchiv (DRA), Archivnummer: StMM7197, Abdruck aller Film-Stills mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Rundfunkarchivs 11

Vgl. hierzu auch den kurzen Ausschnitt aus dem Opern-Mitschnitt in Noeske: »Weniger ist nicht möglich in unserem Land« (Anm. 1). Zum Dur-Moll-Gegensatz als Geschlechterdualismus vgl. Nina Noeske: Keine Spielerei? Dur und Moll im (und als) Gender­Diskurs, in: Dur vs. Moll, hg. von Hans Joachim Hinrichsen und Stefan Keym (im Druck).

Berghaus’ Inszenierung von Siegfried Matthus’ Cornet (1985)

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Insbesondere die Instrumentation verleiht der Oper – neben der Harmonik – eine charakteristische Färbung: Es handelt sich um ein sehr kleines Ensemble von nur zehn Instrumenten (wenn man das Schlagzeug als ein Instrument zählt), wie in Dessaus Die Verurteilung des Lukullus ohne Streicher, wobei das Horn eine exponierte Stellung einnimmt und neben der äußeren Signalfunktion gleichsam, wie Gerhard Müller vermutet, eine weitere (›innere‹), hier: instrumentale Gedankenstimme darstellt.12 Vor allem ein Motiv kehrt leitmotivisch durch die ganze Oper hindurch immer wieder, wobei auch hier das exponierte ›Moll-Dur‹ prägend ist:

Abb. 4: Cornet-Motiv

Die Harfen verleihen dem Klang zusammen mit dem Glockenspiel ein impressionistisch-surrealistisches, nächtlich-entrücktes Gepräge, während Schlagwerk und E-Bass auf der anderen Seite die Brutalität des Krieges, aber auch die Unerbittlichkeit des General Spork symbolisieren, der, in der Maske des Todes, niemals ohne rhythmisch scharf profilierte, militärische Trommel-Motivik auftritt und neben »Lies mir den Wisch!« einzig das Wort »Cornet« zu singen hat. Mit Matthus kann festgehalten werden: »Die Musik hat keine Diskussionsqualitäten, sie gibt den Texten und Emotionen nach.«13

Abb. 5: Motiv des General Spork

In diesen Cornet-Rufen, so die Dramaturgin der Dresdner Uraufführung, Sigrid Neef, »manifestiert sich fast schulmäßig das Über-Ich, das autoritäre Gewissen des 12 13

Gerhard Müller, in: Hansen: Komponieren zur Zeit (Anm. 4), S. 183. Matthus im Gespräch am 2.2.1984, vgl. Archiv der AdK, Sigrid-Neef-Archiv, 230, Notate zu Rilkes »Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«.

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Cornets«,14 und es ist offenbar kein Zufall, dass es ausgerechnet mit einem fallenden Tritonus, dem Teufelsintervall, beginnt, gefolgt von der kaum minder diabolischen großen Septime. Besonders markant aber ist der unsichtbare Chor, der in Dresden und Berlin 80 bis 100 Sänger umfasste und damit gewissermaßen eine Art zweites – großes – Orchester darstellt, das fast durchgehend mitspielt. Durch den Chor erhalten die einzelnen Stimmen Gewicht; er grundiert, verallgemeinert, kommentiert, gibt den Äußerungen eine konkrete Richtung und transformiert Gedanken in musikalische Substanz: »Der Chor multipliziert die Erlebnisse der [E]inzelnen, er ist Echo und Widerhall, überhöht und intensiviert Gedanken und Gefühle.« 15 So greift er beispielsweise im ersten Bild das für die Dichtung zentrale Wort ›Mutter‹ von der Gedankenstimme auf

Abb. 6: Chor (»Mutter«)

und betont hierdurch dessen zentrale Bedeutung. Auch hier ist die Spannung zwischen Dur und Moll – ergänzt durch die große Septime – deutlich hörbar. Doch auch in anderer Hinsicht erhält der Chor eine grundlegende Funktion: So wird Matthus’ Oper eingerahmt durch das Rilke-Gedicht In solchen Nächten (»war einmal Feuer in der Oper«); zum Uraufführungstermin am 13. Februar 1985 sollte dies an die Zerstörung der Dresdner Semperoper vor damals genau 40 Jahren erinnern. Gesungen werden die Worte von einem A-cappella-Chor, der das übergreifende, flächenbrandartige Züngeln der Flammen musikalisch veranschaulicht und schließlich in ein »Dies irae« übergeht. Letzteres, im Sopran gesungen auf das b­a­c­h-Motiv, beschließt nach etwa 90 Minuten die Oper – durch einen solchen ›Autorenkommentar‹ wird dem Missverständnis einer Glorifizierung von Krieg und Vernichtung vorgebeugt. Die Inszenierung Berghaus’, die – etwa während der sichtbaren Umbaupausen – gleichsam ihr Getriebe zeigt, 16 mithin im Brecht’schen Sinne ihr ›Gemachtsein‹, ihre 14

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Sigrid und Hermann Neef: Deutsche Oper im 20. Jahrhundert. DDR 1949–1989, Berlin u.a. 1992, S. 347. Ebd., S. 345. In diese Richtung äußerte sich 1985 Gerd Rienäcker: »Da gibt es einen Produktionsvorgang, der einem vorgeführt wird. Nämlich die Bilder entstehen vor unseren Augen, und die Bilder entstehen nicht nur als Ergebnisse, sondern gar die Maschine selbst, die die Bilder herstellt, ist sichtbar, das Getriebe ist zum großen Teil gezeigt.« Archiv der AdK, Sigrid-Neef-Archiv, 232,

Berghaus’ Inszenierung von Siegfried Matthus’ Cornet (1985)

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Künstlichkeit vor dem Publikum nicht verbirgt, war umstritten. Der Regisseurin wurde immer wieder vorgeworfen, dass ihre Arbeiten zu verschlüsselt, zu intellektuell seien; auch in diesem Fall stiegen einige Kritikerinnen und Kritiker der Dresdner Uraufführung innerlich aus: Insbesondere das Auftauchen einer Badewanne im dritten Bild konnten viele nicht nachvollziehen. 17 In der Badewanne liegt Cornet, der sich hier »die Gewalterfahrungen ab- und seine Gefühle und Wünsche freiwaschen konnte«,18 links daneben ist seine Gedankenstimme zu erkennen. Mögliche Assoziationen an das Gemälde Der Tod des Marat von Jacques-Louis David (1793) sind wohl kaum zufällig – Jean Paul Marat, bürgerliches Mitglied des Nationalkonvents, wurde im Nachgang der Französischen Revolution von der Adligen Charlotte Corday ermordet.

Abb. 7: Ausschnitt aus der Inszenierung, 3. Bild; Cornet: Angela Liebold, Gedankenstimme: Annette Jahns

Die meisten Kommentare aber zeugen von Begeisterung, in West wie Ost – nicht nur angesichts der Inszenierung, sondern auch mit Blick auf die Oper selbst sowie ihre Interpretinnen und Interpreten: Laut Friedrich Dieckmann etwa wurde in Dresden »das Erstaunliche Ereignis«, indem sich nämlich »der Umschlag des

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Werkstattgespräch zu »Cornet« am 21.9.1985, Bl. 15. In einer Radio-DDR-Sendung von Yvonne Herbert heißt es: »Als der Cornet und seine Gedankenstimme [...] in die Wanne steigen, bin ich ausgestiegen, mochte mir die bizarre Berg haus-Symbolik nicht weiter entschlüsseln. Andere mögen Freude dran empfunden haben.« Archiv der AdK, Sigrid-Neef-Archiv, 238, Sendung von Radio DDR am 18.2.1985, Blatt 2. Ernst Krause notierte kurz darauf mit Blick auf Berghaus’ Inszenierung: »Es werden Chiffren beschworen, die das Emotionale unterstreichen, exemplifizieren sollen. So auch durch [...] eine ärmliche Badewanne, die jedoch eher ab- als hinlenkt.« Ders.: Vision von Liebe und Tod als Appell zur Bewahrung des Lebens, in: Neues Deutschland 40/44, 21.2.1985, S. 4. Daniela Reinhold: Haupt­ und Staatsaktionen, in: Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion, hg. von Irene Bazinger, Berlin 2010, S. 67–75, hier S. 73.

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Theaterfernen ins Theatergemäße« vollzog.19 Dies sei Berghaus und ihrem Team – darunter besagte Dramaturginnen Sigrid Neef und Daniela Reinhold – insbesondere auch durch die Einbeziehung von Tänzerinnen und Tänzern der nahegelegenen Palucca-Schule (verantwortlich: Hanne Wandtke) gelungen, die Berghaus in den 1940er und 50er Jahren einst selbst besuchte.20 »[E]in Chorus weißer Traumgeister, wie von William Blake erfunden«, 21 »menschliche Engerlinge«,22 ein »Gewirr von lemurenhaften und gesichtslosen Wesen«, 23 »weißvermummte Puppenmenschen wie Larven«,24 um nur einige der Charakterisierungen aus der damaligen Presse herauszugreifen: Diese merkwürdigen Wesen sind fast immer anwesend und definieren dabei den Raum, den Cornet in der Oper erlebt (vgl. Abb. 8–10. Zugleich stellen sie, wie es gedeutet werden könnte, sein Unbewusstes wie auch das archaische kollektive Unbewusste einer verwirrten Menschheit dar, auf einer anderen Ebene schließlich das sich anziehende und abstoßende organische Leben, das in seinen Bewegungen mitunter an Algen erinnert. Die Tänzer, so Neef, »geben szenischen Chorus, Kontrapunkt und Figuration des Geschehens. Sie sind die Realität des Verdrängten, des Unbewußten, aber auch die Realität von Wünschen, Hoffnungen, Ängsten, sie mischen sich ein, wenden [sich] ab, befördern, durchkreuzen«.25 Erscheint Cornet das Leben wie ein Geschenk, präsentieren sie ihm Blumen (Abb. 9), ist es ihm ein Gefängnis, so erinnern sie skeletthaft an den Tod (aber auch an Fledermäuse, vgl. Abb. 10), und später fallen sie, mit Georg Friedrich Kühn zu sprechen, »wie Lurche« vom Maschendrahtzaun auf den Boden (Abb. 9). In Kühns dramaturgischer Konzeption heißt es: »Die Tänzer haben auf beide Realitätsebenen zu verweisen, sie haben das, was in Musik und Text nur angedeutet ist, sinnlich konkret zu machen.«26 Gleichzeitig müsse das »Embryonale« in ihrem Wesen sichtbar werden.27

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Friedrich Dieckmann: Die gefesselte Jugend. Rilkes ›Cornet‹ als Oper einer Vision, in: Weimarer Beiträge 32/6 (1986), S. 1028–1032, hier S. 1029. Vgl. hierzu die Beiträge von Gunhild Oberzaucher-Schüller und Claudia Jeschke in diesem Band. Ebd., S. 1031. Klaus Geitel: S. Matthus in Dresden: Rilkes ›Cornet‹ als Oper. Glück auf kalten Fliesen, in: Die Welt (West-Berlin), 19.2.1985. Matthias Frede: Visionen in aufregenden Bildern. ›Cornet‹­Uraufführung von Matthus/Berghaus in der Semperoper – eine empfindsame Antikriegsparabel, in: Der Morgen, 26.2.1985, S. 4. Wolfgang Schreiber: Traumbilder und Trugbilder. Opernpremieren und ein Liederabend in Dresdens Sem­ per­Oper, in: Süddeutsche Zeitung, 21.2.1985. Sigrid Neef: Das Theater der Ruth Berghaus, Berlin (Ost) 1989, S. 109. Archiv der AdK, Sigrid-Neef-Archiv, 229, 2. Archiv der AdK, Sigrid-Neef-Archiv, 231, 2.

Berghaus’ Inszenierung von Siegfried Matthus’ Cornet (1985)

Abbildungen 8–10: Tänzerinnen und Tänzer der Palucca-Schule

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Wie eng sich die Inszenierung an das Musikalische bindet, zeigt sich an vielen Stellen – so schrecken die Figuren mitunter beim Einsatz bestimmter Instrumente hoch, und die gewaltige Statur des Spork mit seinen langsamen Bewegungen entspricht präzise dessen gleichsam ›statischer‹ Brutalität auf musikalischer Ebene. 28 Viel gäbe es noch zu bemerken zu Oper und Inszenierung – vor allem auch zu den Bühnenbildern von Hans Joachim Schlieker, die mit überdimensioniertem Bett, dem Zug (erstes Bild), dem Maschendrahtzaun (zweites Bild) und der Badewanne (drittes Bild) die Extreme von Wärme und Kälte, Heimat und Fremde ausloten und dabei von einer bemerkenswerten Lichtregie in Szene gesetzt werden. Insbesondere das 1977/78 in Westdeutschland erschienene zweibändige Buch Männerphantasien von Klaus Theweleit, das anhand von Freikorpsliteratur aus der Zwischenkriegszeit die damals gängigen Frauenbilder unter Soldaten analysiert (Frauen als Mutter, Krankenschwester oder Hure), spielte bei der Konzeption der Inszenierung, wie Daniela Reinhold berichtet, eine bedeutende Rolle. Zitate aus jenem in der DDR auf dem Index stehenden Buch durften jedoch im Programmheft, das von Intendanz und Kulturministerium genehmigt werden musste, nicht abgedruckt werden. 29 Abschließend sei auf den politisch plakativen Beginn der Inszenierung hingewiesen, welcher die Geburt des Cornet beinhaltet und diesen mit seiner Gedankenstimme als Einheit, nämlich als eine Art siamesischen Zwilling darstellt. Durch den Eisernen Vorhang (des Theaters) wird ein geteiltes Wesen geboren – damit ist Cornet eine Deutschland-Metapher: vom Krieg fasziniert und vom Krieg zerstört. Gleichzeitig ist die Spaltung des Ich – im hegelschen Sinne – die Voraussetzung dafür, dass überhaupt etwas ›geschieht‹, dass Geschichte stattfindet, sowohl in der Welt als auch in der Oper. Der folgende Ausschnitt mit einem Kommentar Ruth Berghaus’ stammt aus einer Musikklub-Sendung von Radio DDR, aufgenommen am 1. März 1985: »Sie haben das ja gesehen, die Aufführung; wir beginnen ja mit einer Art Vorspiel, der Ei-

serne Vorhang ist unten, und eine elementare Bewegung setzt sich durch, durch die offene Tür des Eisernen Vorhangs, wo nur noch ein zartes Bäumchen kaum noch am Leben ist. Ein Weib sozusagen versucht sich aufzurichten und sich an dem Baum festzuhalten, um also wieder leben zu können, gegen dieses starre Eisentor. Die Introduktion hat uns ermöglicht, […] die Spaltung der Figur des Cornet – der Cornet hat eine Gedankenstimme, also es sind zwei Personen, die eine Figur darstellen – [darzustellen,] indem wir zeigten, der Cornet wird sozusagen geboren, und aus ihm oder hinter ihm erscheint ein zweiter Kopf, also die Gedankenstimme. Sie sagen, dass ich so vielfältige Dinge auf die Szene gebracht hätte; nun kommt das ja natürlich aus der Musik. Also schon wenn Sie den Titel nehmen, Opern-Vision, da fallen Ihnen ja unheimlich viele Begriffe ein, was eine Vision sein kann, und unheimlich viele Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn eine ›Gedankenstimme‹ komponiert ist, und eine Figur real handelt. Und das dann 28

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Vgl. hierzu auch den Filmausschnitt in Noeske: »Weniger ist nicht möglich in unserem Land« (Anm. 1). Reinhold: Haupt­ und Staatsaktionen (Anm. 18), S. 72f.; »So bildeten schließlich die surrealen Bildwelten von René Magritte und Max Ernst sowie philosophische Überhöhungen von Paul Nizan, Ernst Bloch und Walter Benjamin neben erläuternden Texten zu Rilkes Dichtung und Matthus’ Musik das Gerüst des Heftes«. Ebd., S. 74.

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auch noch insgesamt als Vision gibt natürlich eine Fülle von Anregungen, und die sind ja auch komponiert. Man muss ja nicht annehmen, dass der ›Blues‹ im ersten Teil […] einfach ein durchgehender ›Blues‹ ist, sondern er wird ja kontrapunktiert durch andere musikalische Formen und Gestalten. Die Struktur dieser Oper – und die Benennung auch dieser Oper als ›Opernvision‹ ist eine neue – […] braucht neue Mittel. Und wenn man zu feige ist, das zu machen, soll man’s lassen. Aber ich kann den Weg, den Matthus gegangen ist, nicht sozusagen weglassen und so tun, als hätte ich es mit einer Oper zu tun, wie wir schon viele hätten. Wir haben hier ’ne neue Oper, und da brauchen wir auch neue theatralische Mittel, um das zu erfüllen, was in der Oper von Matthus und in der Struktur dieser Oper angelegt ist. Unter dem geht es nicht. Es ist sicher das erste Angebot, und es wird sicher noch ein reicheres Angebot vielleicht eines Tages geben, aber wir mussten erstmal alles nehmen, was wir an Kunstformen vom Theater haben, wie wir sie kennen, und wir haben ja die besten Schulen in diesem Land, durch Felsenstein und Brecht, und auf keines der Mittel, die schon da waren, war zu verzichten. Hineingenommen wurde noch – und das ist ja auch die größte Tanzschule hier in der DDR – die Palucca-Schule, die Erfahrungen dieser Kunstform noch hinzugefügt der Bühne, und das muss sein. Weniger ist nicht möglich in unserem Land.«30

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Otto Zengel: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Eine Opernvision von Siegfried Matthus, Radio DDR-Musikklub vom 1.3.1985, mit O-Tönen von Ruth Berghaus, Siegfried Matthus, Hartmut Haenchen und Sigrid Neef, Deutsches Rundfunkarchiv (DRA), SMG4179, 76’47’’, Ausschnitt: 18’16’’–21’43’’. Mit freundlicher Genehmigung des DRA. Tonbeispiel eingebettet in: Noeske: »Weniger ist nicht möglich in unserem Land« (Anm. 1).

Die Autorinnen und Autoren Claudia Jeschke, Tanzwissenschaftlerin. Akademische Positionen in München (Pro­ motion), Leipzig (Habilitation), Köln, Salzburg. Gastprofessuren an europäischen, amerikanischen, asiatischen und südamerikanischen Universitäten. Claudia Jeschke arbeitet(e) zudem als Dramaturgin, Choreografin, Ausstellungsmacherin und Autorin von Fernsehsendungen zum Tanz. Autorin und Herausgeberin zahlreicher wissen­ schaftlicher Publikationen, in denen sie als ausgebildete Tänzerin die Tanzgeschichte vor allem unter bewegungsanalytischen und praxisorientierten Gesichtspunkten be­ leuchtet. Seit ihrer Pensionierung unterrichtet sie u.a. als Dozentin an der Anton­ Bruckner­Privatuniversität in Linz und der Wydział Teatru Ta ca PWST Krakow/Bytom (Polen). Elaine Kelly studierte Musik und Musikwissenschaft an der National University of Ireland, Maynooth sowie an der Queen’s University Belfast und wurde 2002 mit ei­ ner Dissertation über Brahms und die Alte Musik promoviert. Seit 2002 ist sie Lec­ turer in Music an der University of Edinburgh. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Romantik in der DDR, Erinnerungskultur und Kalter Krieg, Brahms und die Alte­Musik Bewegung, Nationalismus und Musik des 19. Jahrhunderts. Jüngste ver­ öffentlichte Monographie: Composing the Canon in the German Democratic Republic: Narra­ tives of Nineteenth­Century Music (Oxford University Press, 2014). Elaine Kelly ist Chair der American Musicological Society’s Cold War and Music Study Group. Lars Klingberg, geboren 1962 in Leipzig; studierte Musikwissenschaft an der Hum­ boldt­Universität zu Berlin; 1995 Promotion (Dissertation über musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR); bearbeitete mehrere For­ schungsprojekte zur Musik und Politik in den deutschen Diktaturen sowie zur frü­ hen Musikgeschichte der Region Berlin­Brandenburg; arbeitete zuletzt über die Re­ zeptionsgeschichte Händels im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Nina Noeske studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Musikpraxis in Bonn, Weimar und Jena. Promotion 2005 (Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumental­ musik in der DDR, Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2007), Habilitation 2014 (Liszts Faust. Ästhetik – Politik – Diskurs, Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2016). Nach Statio­ nen als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (2007–2011) und als Assistenzprofessorin an der Universität Salz­ burg (2012–2014) seit 2014 Professorin für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Herausgeberin mehrerer Sammelbände, Veröffentlichungen u.a. zu den Themen Musik und Politik, Ästhetik, Filmmusik, zu methodischen Fragen (Raumtheorie, Historiographie), Musik und Popularität sowie Musik und Gender. Schwerpunkt ist die Musikgeschichte des 19.–21. Jahrhunderts.

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Gunhild Oberzaucher­Schüller promovierte an der Universität Wien über Bronislawa Nijinska. Sie lehrte Tanzgeschichte an den Universitäten Wien, Bayreuth und Salz­ burg, war Mitglied des Forschungsinstituts für Musiktheater der Universität Bayreuth (1982–2002) und leitete die Derra de Moroda Dance Archives der Universität Salz­ burg (2003–2009). Sie ist Herausgeberin zahlreicher Publikationen zum Tanz. Gerd Rienäcker, geboren 1939 in Göttingen. 1959–1964 Studium der Musikwissen­ schaft mit Nebenfach Kunstgeschichte an der Humboldt­Universität Berlin bei Ernst Hermann Meyer, Georg Knepler, Walther Vetter. 1960–1964 Kompositions­ unterricht. 1964–1966 Musikdramaturg am Landestheater Eisenach. 1967–1985 wis­ senschaftlicher Assistent an der Humboldt­Universität Berlin. 1985 Dozent, 1988 Professor für Theorie und Geschichte des Musiktheaters an der Humboldt­ Universität. Seit 1996 dort Privatdozent und Titularprofessor, ab 1994 Lehraufträge an mehreren Universitäten und Hochschulen in Deutschland. Buchpublikationen: Richard Wagner. Aufsätze, (Berlin 1999); Richard Wagner. Nachdenken über sein Gewebe (Berlin 2001); Musiktheater im Experiment. 25 Aufsätze (Berlin 2004). Ca. 200 Aufsätze zur Theorie und Geschichte des Musiktheaters, zur Musikgeschichtsschreibung, zur älteren und neueren Musikgeschichte, zur musikalischen Analyse. Seit 1966 Lehrver­ anstaltungen zur Geschichte der Oper und Operette, zur älteren und neueren Musik­ geschichte, zur Analyse von Werken des 16. bis 20. Jahrhunderts. Gerd Rienäcker starb im Februar 2018 in Berlin. Matthias Tischer, geboren 1969 in München. Studium von Musik, Musikwissen­ schaft, Kunstgeschichte und Erziehungswissenschaft in München, Jena und Weimar. Tätig als Musiker in zahlreichen Ensembles. 2001 Promotion mit einer Arbeit über Musikästhetik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und 2008 Habilitation über Paul Dessau in der DDR. 1999–2004 Mitglied der Forschungsgruppe Musical Life in Europe der European Science Foundation. 2004–2008 Thyssen­, Feodor Lynen­ und Humboldtstipendiat. 2006–2007 Visiting Scholar am Center for European Studies und dem Music Department der Harvard University. Seit 2008 Gastwissenschaftler an der Humboldt Universität Berlin. Seit 2008 Gerda Henkel­Stipendium für die Stu­ die Musik im Kalten Krieg sowie Lehraufträge u.a. in Weimar, Hannover und Berlin. 2011 Professor für Ästhetik an der Hochschule Neubrandenburg, seit 2016 Vertre­ tungsprofessor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.