Räume und Wege: Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300-1800 9783050055909, 9783050043852

Die jüdische Geschichte als integralen Bestandteil des Alten Reiches zu verstehen und Gemeinsamkeiten und Differenzen jü

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German Pages 378 [380] Year 2007

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Räume und Wege: Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300-1800
 9783050055909, 9783050043852

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Rolf Kießling, Peter Rauscher, Stefan Rohrbacher, Barbara Staudinger (Hg.) Räume und Wege Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300-1800

Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg Colloquia Augustana Herausgegeben von Johannes Burkhardt, Theo Stammen und Wolfgang E. J. Weber

Band 25

Räume und Wege Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300-1800 Herausgegeben von Rolf Kießling, Peter Rauscher, Stefan Rohrbacher, Barbara Staudinger Redaktion: Anke Sczesny

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Bezirks Schwaben und der Stadt Augsburg

Einbandabbildung: Siegel der Augsburger Judengemeinde aus dem Jahre 1298. Stadtarchiv Augsburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004385-2

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Jochen Baltzer, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Vorwort

Nach den ersten beiden Bänden zur regionalen Geschichte der Juden folgt nun in der Reihe ,Colloquia Augustana' ein dritter, der sich diesem Thema zuwendet und gleichsam den zunehmend weiteren Horizont der Forschung spiegelt: War Band 2 noch auf Ostschwaben fokussiert (1995) und hatte Band 10 bereits den deutschen Südwesten im Blick (1999), so spannt der vorliegende Band 25 den Bogen über den gesamten Raum von den habsburgischen Ländern bis zur Nordschweiz. Der Band dokumentiert eine internationale wissenschaftliche Tagung, die vom 22. bis 24. Oktober 2004 am Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg abgehalten wurde, gefordert von der DFG und dem Österreichischen Kulturforum Berlin. Konzipiert und vorbereitet wurde sie gemeinsam vom Institut für Geschichte der Juden in Österreich in St. Pölten (Forschungsprojekt .Austria Judaica'), dem Institut für Jüdische Studien der Universität Düsseldorf (Forschungsprojekt ,Germania Judaica IV') und dem Lehrstuhl für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg. Einbezogen waren unter anderen die israelische Abteilung des Langzeitprojekts ,Germania Judaica' und das Ayre-Maimon-Institut für Geschichte der Juden an der Universität Trier sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Israel, Österreich, der Schweiz, der Tschechischen Republik und den USA. Augsburg war dabei gewissermaßen der Schnittpunkt sowohl der verschiedenen Institutionen und aktuellen Bemühungen um die Erforschung der Geschichte der Juden im Alten Reich als auch des untersuchten Raums. Geboren aus der einfachen Erfahrung, daß aufgrund der intensiven Beziehungen der süddeutschen Judenschaften zu Kaiser und Reich vielfach die gleichen Quellenbestände auszuwerten waren, konvergierten die Forschungen der Beteiligten so vielfältig, daß es nahe lag, sie zu einem Gedankenaustausch zusammenzufuhren und die Kräfte für die anstehenden Forschungen zu bündeln. Die Konzeption der Tagung sah neben den einzelnen Beiträgen verschiedene Diskussionsebenen vor: die Ergänzung und Kommentierung der Referate durch kompetente Experten ebenso wie die gemeinsame Reflexion über wichtige Problemfelder der deutsch-jüdischen Geschichte und die daran beteiligten Disziplinen. Es erwies sich freilich als zu schwierig, diese Mehrschichtigkeit adäquat zu dokumentieren, so daß die Herausgeber sich schließlich dafür entschieden haben, die Publikation auf die Referate zu beschränken - daß auch hier Lücken eintraten, war aufgrund der jeweiligen persönlichen Gegebenheiten der Autoren verständlich. Dennoch ist - so meinen wir - ein Band entstanden, der sowohl grundlegen-

de Aspekte diskutiert als auch wichtige neue Ergebnisse in die Forschung einbringt. Für die Herausgeber gibt er Anlaß Dank zu sagen: An vorderster Stelle den Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge zur Verfugung gestellt und die nötige Geduld aufgebracht haben, den etwas langwierig geratenen Prozeß der Drucklegung konstruktiv zu begleiten; dann dem Institut für Europäische Kulturgeschichte und ihrem derzeitigen geschäftsführenden Direktor Prof. Dr. Wolfgang E. J. Weber für die Unterstützung des Tagungsvorhabens sowie den Herausgebern der ,Colloquia Augustana' für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe; Dr. Anke Sczesny für die engagierte und umsichtige redaktionelle Betreuung; ferner Sebastian Zanke für das akribisch erstellte Orts- und Personenregister; dem Verlag und seinem Lektor Manfred Karras für die problemlose Kooperation bei der Herstellung des Buches. Nicht zuletzt aber danken wir der Stadt Augsburg und dem Bezirk Schwaben für die finanzielle Unterstützung, ohne die der Band nicht hätte erscheinen können. Rolf Kießling, Peter Rauscher, Stefan Rohrbacher, Barbara Staudinger

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

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Einfuhrung Rolf Kießling, Peter Rauscher, Stefan Rohrbacher, Barbara Staudinger

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Zur Entstehung von Landjudengemeinden im Nordwesten der heutigen schweizerischen Eidgenossenschaft (16. bis 18. Jahrhundert) Anna C. Fridrich

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Feinde der Städte, Diener des Adels? Die Entwicklung jüdischer Siedlungen in Niederösterreich (16. - 17. Jahrhundert) Peter Rauscher

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daß wür ebenfahlß Eur Hochgräffliche Excellenz gehorsame unterthanen seint. Partizipation von Juden an der Legislationspraxis des frühmodernen Staates am Beispiel der Grafschaft Oettingen 1637 - 1806 Johannes Mordstein

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Alltägliches Miteinander oder getrennte Gemeinden: Das Leben im Dorf am Beispiel der pappenheimischen Herrschaften Nathanja Hüttenmeister

107

Judenpolitik des Herzogtums Württemberg in der Frühen Neuzeit Stefan Lang

121

Die niederösterreichische „Landjudenschaft". Innerjüdische Organisationsformen im regionalen Vergleich. Barbara Staudinger

145

Politische Kommunikation und Schtadlanut denschaft Rotraud Ries

169

der frühneuzeitlichen Ju-

In die Jeschiwe und auf den Jahrmarkt: Jüdische Mobilität in Aschkenas in der Frühen Neuzeit Wolfgang Treue

191

Grenzerfahrung und Mobilität von Juden in der Vormoderne. Ein Problemaufriß J. Friedrich Battenberg

207

Das Leben im Grenzraum. Grenzräume zwischen Österreich, Ungarn und dem Osmanischen Reich in der Frühen Neuzeit - Die Grenze der Christenheit als Chance für die Juden? Reinhard Buchberger

217

Obrigkeitliche und innerjüdische Quellen: Ein untrennbares Miteinander Birgit E. Klein

253

...und anderfrume leute genuch, paide christen undjuden. Quellen zur christlich-jüdischen Interaktion im Spätmittelalter am Beispiel Österreichs Eveline Brugger / Birgit Wiedl

285

Judenbücher als Quellengattung und die Znaimer Judenbücher. Typologie und Forschungsstand Thomas Peter

307

Jüdinnen als Kategorie? judinne in obrigkeitlichen Urkunden des deutschen Spätmittelalters Martha Keil

335

Index der Orts- und Personennamen

363

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

378

Abkürzungsverzeichnis

AN AÖG AUR b BayHStA DA EDG EJ FÖSAH FÖWAH GB GJ GLA HA HALW HF HHStA HKA HKR HStA HZ HZAB JO JSB KA Konv. Kt. MBB

Brandenburg-Ansbach (Fürstentum) Archiv für Österreichische Geschichtsforschung Allgemeine Urkundenreihe Babylonischer Talmud Bayerisches Hauptstaatsarchiv Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters Enzyklopädie Deutscher Geschichte Encyclopaedia Judaica Fürstlich Oettingen-Spielbergisches Archiv Harburg Fürstlich Oettingen-Wallersteinisches Archiv Harburg Gedenkbuch Germania Judaica Generallandesarchiv Herrschafitsarchiv Fürstlich Liechtensteinisches Hausarchiv Wien Hoffinanz Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien Hofkammerarchiv Wien Hofkriegsrat Hauptstaatsarchiv Historische Zeitschrift Hofzahlamtsbuch Johanniterkommende Kleinerdlingen Judenschutzbrief Kriegsarchiv Wien Konvolut Karton Memorbuch der jüdischen Gemeinde Bonn

MIÖG MHJ N.F. NÖ Kammer NÖLA ÖB ÖÖ ÖS ÖW PB Privatuk. Prot. rer. res. REJ Rep. RGA RGA Jefe nof RGA Maharil RHR RKG QuGStW Sta StA StLA TopNÖ Ugb VSWG WDKP ZfG ZHF ZHVS

Mitteilungen des Instituts fur österreichische Geschichtsforschung Monumenta Hungariae Judaica/Magyar Zsido Okleveltär Neue Folge Niederösterreichische Kammer Niederösterreichisches Landesarchiv St. Pölten Oettingen-Baldern (Grafschaft) Oettingen-Oettingen (Grafschaft) Oettingen-Spielberg (Grafschaft) Oettingen-Wallerstein (Grafschaft) Protokollbuch Privaturkunde Protocolla rerum resolutarum Revue des Etudes Juives Repertorium Rechtsgutachten Rechtsgutachten Jefe nof des Isaak von See Responsa of Rabbi Yaacov Molin - Maharil Reichshofrat Reichskammergericht Quellen zur Geschichte der Stadt Wien Stadtarchiv Staatsarchiv Steiermärkisches Landesarchiv Graz Topographie von Niederösterreich. Hg. vom Verein für Landeskunde von Niederösterreich Untergewölbe Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Würzburger Domkapitelsprotokolle Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Historische Forschung Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg

Einführung Rolf Kießling, Peter Rauscher, Stefan Rohrbacher, Barbara Staudinger

Im Jahr 1612 erhielten Abraham Ries, seine Frau, Kinder, Schwiegersöhne und sonstige Brotgenossen von Kaiser Matthias ein Hofjudenprivileg, das es ihnen gestattete, in der kaiserlichen Residenzstadt Wien zu wohnen und dort mit dem Hof Handel zu treiben. 1 In der noch wenig zahlreichen Wiener jüdischen Gemeinde, die sich nach ihrer Auslöschung 1420/21 und verschiedenen Vertreibungen des 16. Jahrhunderts gerade erst wieder zu konsolidieren begann, nahm Abraham Ries bereits 1614 als einer von drei Deputierten, die für die gerechte Aufteilung der Steuer zu sorgen hatten, und später als Judenrichter leitende Funktionen ein. Nachdem die Wiener Juden 1624 in die Judenstadt, das Ghetto im Unteren Werd, verwiesen worden waren, erwarb er dort zwei Häuser. Geschäftlich engagierte sich Abraham Ries im Münzwesen und im Handel mit Tuchen und Wein. Seinem Wohlstand und sozialen Status entsprechend zeigte er sich als edler Spender, dessen Wohltätigkeit sogar eine Stiftung für fromme Gelehrte im fernen Jerusalem zu verdanken gewesen sein soll. Auch seine familiären Verbindungen reichten weit über Wien hinaus: Er war nicht nur mit führenden jüdischen Familien der Residenzstadt verschwägert, sondern auch mit der jüdischen Elite von Krakau, Prag und Frankfurt am Main, Zentren des aschkenasischen Judentums, verwandtschaftlich verbunden. Derart weit gespannte familiäre und wirtschaftliche Netzwerke waren kennzeichnend für die jüdische Oberschicht seiner Zeit. 2 Bezeichnend für die regiona-

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Zu Abraham Ries siehe Barbara Staudinger: „Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigistes Bitten." Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert. In: Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Berlin, Wien 2004. S. 143183, hier S. 158-160; Peter Rauscher: Langenlois - n1? Eine jüdische Landgemeinde in Niederösterreich im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Horn, Waidhofen a. d. Thaya 2004 (Schriftenreihe des Waldviertier Heimatbundes. Bd. 44). S. 9f., 55-57, 68-74; dort mit der älteren Literatur. Vgl. dazu exemplarisch: Rotraud Ries: Status und Lebensstil - Jüdische Familien der sozialen Oberschicht zur Zeit Glikls. In: Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der

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Rolf Kießling, Peter Rauscher, Stefan Rohrbacher, Barbara Staudinger

le Herkunft vieler Wiener jüdischen Familien ist der Beiname „Ries", der auf Süddeutschland verweist: Durch seinen Vater Model Oettingen wie auch durch seinen Urgroßvater, den sprichwörtlich reichen und hoch privilegierten Simon Günzburg3, war der Hofjude im Zentrum der habsburgischen Herrschaft in den östlichen Erblanden mit dem schwäbischen Raum verbunden. Anders als im Land unter der Enns (heute: Niederösterreich) bildete dort das Kaisertum einen (mit)bestimmenden Faktor der Judenpolitik, der - zumindest im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert - auch der habsburgisch-landesfürstlichen Politik Grenzen setzen konnte.4 Mit seiner Vielzahl reichsunmittelbarer Herrschaftsträger und sich überlappender Herrschaftsrechte unterschied sich das politisch kleingekammerte Schwaben wesentlich von den östlichen Erblanden - aller Schwächen habsburgischer Landesherrschaft im Erzherzogtum Österreich unter der Enns auch nach der Beseitigung der protestantischen Ständeopposition zum Trotz.5 Auch die Siedlungsstrukturen waren in Schwaben ganz andere: Nach den Vertreibungen aus den Reichsstädten im Verlauf des 15. Jahrhunderts6 waren die

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5

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Frühen Neuzeit. Hg. von Monika Richarz. Hamburg 2001 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der Deutschen Juden. Bd. 24). S. 280-306. Zu den Familienverbindungen vgl. David Kaufmann: Mordechai Model Oettingen und seine Kinder. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums 42 (N. F. 6). 1898. S. 557-567. Zu Simon Günzburg siehe Stefan Rohrbacher: Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit. In: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Hg. von Rolf Kießling. Berlin 1995 (Colloquia Augustana. Bd. 2). S. 80-109, hier S. 85-87; ders.: Ungleiche Partnerschaft. Simon Günzburg und die erste Ansiedlung von Juden vor den Toren Augsburgs in der Frühen Neuzeit. In: Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Hg. von Rolf Kießling, Sabine Ulimann. Berlin 1999 (Colloquia Augustana. Bd. 10). S. 192-219; Sabine Ullmann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fur Geschichte. Bd. 151). S. 136-138. Rolf Kießling: Zwischen Schutzherrschaft und Reichsbürgerschaft: Die schwäbischen Juden und das Reich. In: Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Rolf Kießling, Sabine Ullmann. Konstanz 2005 (Forum Suevicum. Bd. 6). S. 99-122; ders.: „Under deß Römischen Adlers Flügel". Die schwäbischen Judengemeinden und das Reich. In: Bilder des Reiches. Hg. von Rainer A. Müller. Sigmaringen 1997 (Irseer Schriften. Bd. 4). S. 221-255. Zur späteren Entwicklung vgl. Ullmann (Anm. 3) S. 66-151, v.a. S. 136-146. Zur Machtstellung des Adels in den böhmischen und österreichischen Ländern nach den 1620er Jahren siehe Thomas Winkelbauer: Fürst und Fürstendiener. Gundaker von Liechtenstein, ein österreichischer Aristokrat des konfessionellen Zeitalters. Wien, München 1999 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Erg.-Bd. 34). S. 39-46. Zu den Vertreibungen vgl. die entsprechenden Ortsartikel in: GJ III: 1350-1519. Teilbd. 1. Hg. von Arye Maimon in Zusammenarbeit mit Yacov Guggenheim. Tübingen 1987; Teilbd. 2. Hg. von Arye Maimon, Mordechai Breuer, Yacov Guggenheim. Tübingen 1995. Zusammenfassend analysiert bei: Michael Toch: Die Verfolgungen des Spätmittelalters (13501550). In: GJ III: 1350-1519. Teilbd. 3. Hg. von Arye Maimon, Mordechai Breuer, Yacov Guggenheim. Tübingen 2003. S. 2298-2327; ders.: Spätmittelalterliche Rahmenbedingun-

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schwäbischen Juden weitgehend auf ländliche Siedlungsorte beschränkt. In der Haupt- und Residenzstadt Wien, die nach dem Dreißigjährigen Krieg bereits auf ca. 50.000 Einwohner angewachsen war und bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ihre Bevölkerungszahl sogar verdoppeln sollte, 7 entwickelte sich dagegen ab den 1570er Jahren eine jüdische Gemeinde, die bis zu ihrer Vertreibung 1670 ca. 2.000-3.000 Personen umfaßte. Parallel dazu bildete sich in Niederösterreich ein dichtes Netz jüdischer Landgemeinden und Einzelsiedlungen - anders als in Schwaben keineswegs Folge einer Vertreibung aus den Urbanen Lebensräumen, sondern zumindest zum Teil das Ergebnis strategischer Überlegungen. Tatsächlich waren die Wiener jüdische Gemeinde und die Landgemeinden Niederösterreichs mit einander vielfältig verbunden. So trat der Wiener Holjude Abraham Ries als Gründer einer jüdischen Landgemeinde in Erscheinung, und die Landjudenschaft, die sich im 17. Jahrhundert als regionaler Verbund der jüdischen Gemeinden bildete, war dem Wiener Rabbinat untergeordnet. 8 In der Gestalt des Abraham Ries verbinden sich vor einem weiten Horizont, der die Zentren aschkenasischen Judentums in Mitteleuropa umspannt, städtische und ländliche Lebenswelt frühneuzeitlicher Juden. Als Holjude steht er zugleich für eine Personengruppe, die immer wieder das besondere Interesse der Historiker gefunden hat. 9 Insgesamt aber ist die jüdische Geschichte der Frühen Neuzeit lange weitgehend unerforscht geblieben. Erst in den letzten Jahren zeichnet sich hier ein deutlicher Wandel ab - in einer verstärkten und vermehrt systematischen Hinwendung an eine bislang vernachlässigte Epoche, und zugleich in der Entwicklung neuer Fragestellungen und Perspektiven. Insgesamt kennzeichnend für die jüngeren Tendenzen der Forschung erscheint die Abkehr von einer „Verfolgungs- und Opfergeschichte", die den komplexen und widerspruchsvollen Gegebenheiten eines - nicht zuletzt von Perioden relativ friedlichen Zusammenlebens geprägten - Neben- und Miteinanders von Juden und Nichtjuden nicht gerecht werden und somit als dominierendes Narrativ jüdischer Geschichte nicht befriedigen kann. Gerade die alltäglichen Beziehungen zwischen Juden und ihrer nichtjüdischen Umwelt, aber auch die Inanspruchnahme obrigkeitlicher Gerichte durch Juden oder das politische Agieren von Vertretern

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gen jüdischer Existenz: Die Verfolgungen. In: S. Hödl, P. Rauscher, B. Staudinger (Anm. 1) S. 19-64. Andreas Weigl: Residenz, Bastion und Konsumptionsstadt: Stadtwachstum und demographische Entwicklung einer werdenden Metropole. In: Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung - Gesellschaft - Kultur - Konfession. Hg. von Andreas Weigl. Wien, Köln, Weimar 2001 (Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte. Bd. 32). S. 31-105, hier S. 57; ders.: Frühneuzeitliches Bevölkerungswachstum. In: Die frühneuzeitliche Residenz (16.-18. Jahrhundert). Hg. von Karl Vocelka, Anita Traninger. Wien, Köln, Weimar 2003 (Wien - Geschichte einer Stadt. Bd. 2). S. 109-131, hier S. 110. Vgl. die Beiträge von Peter Rauscher und Barbara Staudinger in diesem Band. Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert. Hg. von Rotraud Ries, J. Friedrich Battenberg. Hamburg 2002 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der Deutschen Juden. Bd. 25), dort mit umfangreichen Literaturangaben.

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jüdischer Gemeinschaften auf Gemeinde-, Landes- oder Reichsebene sind vor diesem Hintergrund in wachsendem Maße in den Blick genommen worden. Im Anschluß an Forschungen zum Verhältnis christlicher Untertanen zu ihren Obrigkeiten nimmt eine solchermaßen geänderte Perspektive Juden nicht nur als Objekte obrigkeitlicher Politik, sondern auch als eigenständig handelnde Akteure wahr, ohne freilich die besonderen rechtlichen Rahmenbedingungen jüdischer Existenz und eine oft auch gewalttätige Judenfeindschaft zu übersehen. Eine solche Blickrichtung verbindet sich mit der Einsicht in die Notwendigkeit, jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit sowohl in ihrer Wechselbeziehung zur nichtjüdischen Umwelt als auch in ihrer Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit wahrzunehmen eine Aufgabe, bei deren Lösung geschichtswissenschaftliche und judaistische Ansätze einander ergänzen können. Wichtige Impulse gingen schließlich in den letzten beiden Jahrzehnten von der Frauen- und Geschlechtergeschichte auf die jüdische Geschichte aus, die lange Zeit von bedeutenden - männlichen - Geistesund Wirtschaftsgrößen dominiert worden war.10 Einer Bestandsaufnahme dieses vitalen Forschungszweigs und dem Ausloten bisheriger Defizite und zukünftiger Perspektiven diente eine Tagung über Gemeinsamkeiten und Differenzen jüdischen Lebens im Süden des Alten Reichs in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, die unter dem Titel „Juden zwischen Kaiser, Landesfürst und lokaler Herrschaft" vom 22. bis 24. Oktober 2004 am Institut für Europäische Kulturgeschichte in Augsburg abgehalten wurde. Ziel dieser Tagung war eine möglichst breite Debatte zu aktuellen Fragen vormoderner jüdischer Geschichte auch über die traditionelle Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit hinweg. Den Großteil der auf dieser Tagung gehaltenen Vorträge versammelt der vorliegende Band. Wenn der Titel der Tagung die frühneuzeitlichen Juden „zwischen Kaiser, Landesfürst und lokaler Herrschaft" verortet, so sind damit die konkurrierenden politischen Ebenen angesprochen, die für die Geschicke der jüdischen Gemeinschaften bestimmend waren, aber auch die (Herrschafts-)Räume, in denen sie sich 10

Vgl. u. a. Women of the word. Jewish women and Jewish writing. Hg. von Judith R. Baskin. Detroit 1994; Jewish women in historical perspective. Hg. von Judith R. Baskin. 2. Aufl. Detroit 1998; Judith R. Baskin: Midrashic women. Formations of the feminine in Rabbinic literature. Hanover u.a. 2002 (Brandeis series on Jewish women). Natalie Zemon Davis: Mit Gott rechten. Das Leben der Glikl bas Judah Leib, genannt Glückel von Hameln. Berlin 2003; dies.: Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l'Incarnation, Maria Sibylla Merian. Berlin 1996 [engl. Titel: Women on the margins. Three seventeenth-century lives. Cambridge/Mass. u.a. 1995]. Maßgeblich zu ,Glückel von Hameln' jetzt die hebräische Edition von Chava Turniansky: Glikel. Sichronot 1691-1719. Jerusalem 2006. Claudia Ulbrich: Schulamit und Margarethe. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar 1999 (Aschkenas. Beiheft 4) [engl. Titel: Shulamit and Margarete. Power, Gender, And Religion in a Rural Society in EighteenthCentury Europe. Boston, Leiden 2004 (Studies in Central European histories. Bd. 32); Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Kirsten Heinsohn, Stefanie Schüler-Springorum. Göttingen 2006.

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bilden und entwickeln konnten. Neben den größeren Territorien gerät hier insbesondere die Vielzahl von kleinen und kleinsten Herrschaftsgebieten in den Blick. Die regional unterschiedlichen Ausprägungen charakteristischer frühneuzeitlicher ,Muster' jüdischer Siedlung lassen allerdings auch eine eigene, „jüdische" Raumbildung erkennen, die sich nur bedingt und nicht von Anbeginn an den Herrschaftsräumen orientierte: 11 die Medinot (Länder), deren jeweiliger Einzugsbereich etwa durch historisch gewachsene Zusammenhänge oder durch die Funktion dominierender Rabbinatssitze als zentrale Orte mitbestimmt sein konnte. Freilich standen die politischen Intentionen der Herrschaftsträger jeder territorienübergreifenden Organisationsform zunehmend entgegen; die Verläufe der Entwicklung, die aus den Medinot „Landesjudenschaften" im Sinne einer territorialen Körperschaft werden ließen, sind jedoch noch näher zu untersuchen. Ein weiterer gewichtiger Grund steht einer allein auf die territoriale Ebene inklusive der Städte und Reichsritter gerichteten Sichtweise entgegen: Jüdische Geschichte in Aschkenas ist immer auch Reichsgeschichte. Die rechtlichen und herrschaftlichen Bezugsebenen zwischen den Territorien (was immer sich damit im Sinne der Landeshoheit' konkret verband) einerseits und dem Heiligen Römischen Reich und seinen institutionellen Instrumenten, nicht zuletzt aber dem Kaiser andererseits hatten sich zwar seit dem Mittelalter zugunsten der Landesherren verschoben; die Rolle von Kaiser und Reich war damit aber keineswegs außer Kraft gesetzt. Vielmehr waren die konkurrierenden Rechts- und Herrschaftsansprüche in einem komplexen Gefüge miteinander verzahnt 12 - und gerade für die Geschicke der jüdischen Minderheit war diese Konkurrenz von bestimmender, vielfach unheilvoller, häufig aber auch günstiger Bedeutung. So wie ein tieferes Verständnis jüdischer Geschichte ohne den Beitrag der Rechts- und Reichsgeschichte nicht erreicht werden wird, so ist es auch unerläßlich, die Diskurse, die Perspektiven und Methoden der jüdischen Geschichte mit der Judaistik und der ,allgemeinen Geschichte', der Landesgeschichte, der Geistesgeschichte und der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zusammenzuführen. Die 11

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S. Rohrbacher (Anm. 3); ders.: Organisationsformen der süddeutschen Juden in der Frühneuzeit. In: Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Robert Jütte, Abraham P. Kustermann. Wien, Köln, Weimar 1996 (Aschkenas. Beiheft 3). S. 137-149; Bernhard Purin: Die Juden in Vorarlberg und die süddeutsche Judenheit im 17. und 18. Jahrhundert. In: Studien zur Geschichte der Juden in Österreich. Bd. 1. Hg. von Martha Keil, Klaus Lohrmann. Wien, Köln 1994. S. 121-129. Vgl. etwa Friedrich J. Battenberg: Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlichsozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. In: HZ 245. 1987. S. 545-599; Peter Rauscher, Barbara Staudinger: Widerspenstige Kammerknechte. Die kaiserlichen Maßnahmen zur Erhebung von „Kronsteuer" und „Goldenem Opferpfennig" in der Frühen Neuzeit. In: Aschkenas 14. 2004. S. 313-363; R. Kießling (Anm. 4); Die Bedeutung des Reiches ganz in den Vordergrund stellend: Stephan Wendehorst: Imperial Spaces as Jewish Spaces. The Holy Roman Empire, the Emperor and the Jews in the Early Modern Period. Some Preliminary Observations. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 2. 2003. S. 437-474.

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Augsburger Tagung stand zugleich unter dem Vorzeichen der vergleichenden Betrachtung unterschiedlich strukturierter jüdischer Siedlungsräume - wobei die Feststellung wesentlich von einander abweichender Verhältnisse in den beiden habsburgisch beherrschten Räumen Schwaben und Österreich unter der Enns den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete. Dem Landjudentum im Süden des Reichs und seiner Randgebiete widmen sich die Beiträge von ANNA FRIDR1CH zur Entstehung der jüdischen Landgemeinden in der Schweiz, PETER RAUSCHER über die jüdischen Siedlungen in Niederösterreich und JOHANNES MORDSTEIN zur Partizipation von Juden an der Legislationspraxis der Grafschaft Oettingen. In ihrer vergleichenden Analyse zur Entstehung jüdischer Landgemeinden im Fürstbistum Basel und im eidgenössischen Stand Solothurn diagnostiziert Fridrich, daß in beiden Fällen keine stringente Judenpolitik seitens der Obrigkeiten festzustellen ist. Sie verweist auf die aktive Rolle der jeweiligen Gemeinden im Entscheidungsprozeß über die Ansiedlung von Juden und damit auf eine Ebene unterhalb des Territorialstaats. Nicht nur in ,territoria non clausa', auch in g e schlossenen' Territorien sind die lokalen Verhältnisse, das Agieren der christlichen Gemeinden, von eminenter Bedeutung für die Aufnahme oder Ablehnung jüdischer Gruppen oder Einzelpersonen. Daß die Landesherrschaft zwar über das prinzipielle Aufenthaltsrecht von Juden entscheiden konnte, die Bildung jüdischer Siedlungen von lokalen Herrschaftsträgern, in erster Linie der lokalen Herrschaft in Form der Grundherrschaft, abhängig war, belegt Rauscher am Beispiel Niederösterreichs. Hier waren es, soweit die schwierige Quellenlage Verallgemeinerungen erlaubt, einzelne, ökonomisch aktive Adelige, die besonders seit dem frühen 17. Jahrhundert aus wirtschaftlichem Interesse die Ansiedlung von Juden tolerierten oder sogar forcierten, während dies die autonomeren landesfürstlichen Städte und kirchlichen Herrschaften fast ausnahmslos ablehnten. Wie die Lage jüdischer Siedlungen in Niederösterreich an wichtigen Handelswegen und die Rolle einzelner Juden bei der Gründung von Gemeinden belegt, ist auch das Agieren der Juden selbst nicht aus den Augen zu lassen. Daß Juden im politischen Kräftespiel der ständischen Gesellschaft trotz ihres prinzipiellen rechtlichen Minderstatus' nicht nur Objekte obrigkeitlichen Handelns, „sondern politische Akteure mit beträchtlicher Durchschlagskraft" waren, zeigt auch Johannes Mordstein. Da die oettingische Herrschaft der Judenschaft nicht einseitig ihre fiskalischen Forderungen diktierte, sondern die Zustimmung der Juden zu erhalten versuchte und damit auf einen Konsens abzielte, eröffnete sich für die Juden ein Aktionsspielraum, den diese in der Regel durchaus zu nutzen wußten.13 Während die oettingischen Juden die sich ihnen bietenden Kom13

Allgemein zu diesem Phänomen vgl. knapp: Wolfgang Reinhard: Zusammenfassung: Staatsbildung durch „Aushandeln"? In: Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 2005. S. 429-438.

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munikationsmöglichkeiten mit ihrer Herrschaft intensiv wahrnahmen, bildete ein rigides einseitiges Vorgehen der Obrigkeit die Ausnahme. Dabei reagierten Juden nicht nur auf obrigkeitliche Ansprüche oder Herausforderungen der christlichen Ortsgemeinden, sondern ergriffen auch selbst die Initiative. Vorteilhaft war die spezifische Situation des Territorium non clausuni' der Grafschaft Oettingen, in der immer mehrere Herrschaftsträger miteinander in Konkurrenz standen und sich somit die Möglichkeit bot, deren divergierende Interessen gegeneinander auszuspielen. Trotz ihrer „selbstbewußten Untertänigkeit" verhinderten obrigkeitliche Judenfeindschaft bis Mitte des 18. Jahrhunderts die vollständige rechtliche Angleichung von christlichen und jüdischen Untertanen. Das Leben der jüdischen Bevölkerung in kleineren Landgemeinden oder in Siedlungen ohne Gemeindestruktur war nicht nur vom Verhältnis zur territorialen und lokalen Obrigkeit geprägt, sondern besonders von den alltäglichen Beziehungen zu den christlichen Nachbarn. Dieser jüdisch-christliche Alltag, der sich in den Quellen häufig nur aus Konflikten rekonstruieren läßt, die vor der obrigkeitlichen Justiz ausgetragen wurden und daher Niederschlag in den Gerichtsakten fanden, war besonders für die Epoche nach dem Dreißigjährigen Krieg in jüngster Vergangenheit Gegenstand intensiver historischer Forschung. 14 Anknüpfend an diese Studien untersucht NATHANJA HÜTTENMEISTER die christlich-jüdischen Alltagsbeziehungen in den über weite Teile Süddeutschlands verstreuten Pappenheimischen Herrschaften für die wesentlich quellenärmere Zeit von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Ein grundlegender Unterschied ist dabei zwischen individuellen und kollektiven Beziehungen festzustellen: Während Fälle von gemeinsamen Wirtshausbesuch, Nachbarschaftshilfe und Teilnahme von Christen an jüdischen Festen durchaus belegbare und wahrscheinlich keineswegs seltene Phänomene christlich-jüdischer Koexistenz darstellten, kam es aufgrund der latenten vormodernen Judenfeindschaft und der rechtlichen Trennung zwischen jüdischer und christlicher Gemeinde immer wieder zu strukturell bedingten ökonomischen und fiskalischen Konflikten. Vor allem die Nutzung der Allmende und der jüdische Fleischhandel, der die Verdienstmöglichkeiten der christlichen Metzger schmälerte, sowie die Aufteilung der Lasten der Einquartierung von Truppen bildeten Konfliktursachen zwischen beiden Gemeinden. Am Beispiel des Herzogtums Württemberg, das selbst keine Juden auf seinem Territorium duldete, zeigt STEFAN LANG, daß die Lebensbedingungen von Juden auch von externen Faktoren beeinflußt werden konnten. Weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus wirkte die antijüdische Politik von Fürsten und Landständen, die während der Regierung Herzog Christophs Mitte des 16. Jahrhunderts auf eine vollständige Ausweisung aller Juden aus dem Reich, zumindest aber aus dem Schwäbischen Reichskreis abzielte. Auch wenn sich diese Politik nicht umsetzen ließ, gelang es Württemberg als regionaler Vormacht durchaus, im Einzelfall Juden aus benachbarten Herrschaften zu vertreiben. Dieser judenfeindlichen 14

Vgl. grundlegend: S. Ulimann (Anm. 3).

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Politik Württembergs lagen religiöse Momente zu Grunde, wie sie sich in den persönlichen Glaubensüberzeugungen vor allem Herzog Christophs oder auch in einer breiten antijüdischen Polemik der lutherischen Geistlichkeit äußerten. Die im Reformationsjahrhundert gestellten Weichen der „Judenpolitik" hatten auch in der Folgezeit ihre Gültigkeit, auch wenn während des Dreißigjährigen Kriegs der Handel von Juden im Herzogtum zunahm, einzelnen Juden sogar kurzfristig die Ansiedlung in Stuttgart gelang, und im 18. Jahrhundert die Herzöge in den langwierigen Auseinandersetzungen mit der Landschaft auch auf die Dienste einzelner Hofjuden zurückgriffen. Territoriale und lokale Obrigkeiten waren auch an der Ausbildung innerjüdischer Strukturen auf gemeindlicher wie übergemeindlicher Ebene maßgebend beteiligt. Wie BARBARA STAUDINGER am Beispiel der niederösterreichischen Landjudenschaft zeigt, kann hier nicht von einem freiwilligen korporativen Zusammenschluß gesprochen werden. Vielmehr führte, wie auch in den Medinot Schwaben und Ries, erst das massive Drängen der Landesherrschaft auf eine effizientere Steuerorganisation, die in Österreich unter der Enns vorher von der Wiener jüdischen Gemeinde übernommen worden war, zu einem gemeindeübergreifenden Verbund der Landjudenschaft. Die Wiener Gemeinde und der Verbund der Landgemeinden bildeten in Niederösterreich die beiden Säulen der Organisation der jüdischen Gemeinden im Land, die einerseits die innerjüdischen Autonomierechte ausübten, andererseits als rechenschaftspflichtiger Ansprechpartner der Obrigkeit fungierten. Zu den kennzeichnenden Erscheinungen jüdischer Geschichte in der Frühen Neuzeit zählt zweifellos die zunehmende Integration von Juden in den territorialen Herrschaftsverband. Parallel zu den jüdischen Organisationsstrukturen auf regionaler und Landesebene traten bis in das 18. Jahrhundert nicht nur wichtige Gemeinden wie Prag oder Frankfurt, sondern auch einflußreiche Einzelpersonen immer wieder als Fürsprecher in Konfliktfallen zwischen Juden und der christlichen Obrigkeit auf. Eine Analyse der Tätigkeit solcher Schtadlanim nimmt ROTRAUD RIES vor. Auch das weitere Untersuchungsfeld „Reich" bestätigt die Befunde regionaler und lokaler Studien: Zwar war auch hier die politische Kommunikation zwischen Obrigkeit und Juden durch eine grundsätzlich „asymmetrische Struktur" geprägt, „Grenzen und Anlässe der Kommunikation (...) meist von außen vorgegeben" und „der Handlungsspielraum der Juden und das Handeln der Herrschaft durch die jeweiligen Kontexte definiert" (Ries), dennoch verfügten Juden über - im 18. Jahrhundert steigende - Chancen auf Durchsetzung fundamentaler Interessen. Die Ausnahmeerscheinung eines Josel von Rosheim, des „Befehlshabers" der Judenschaft im römisch-deutschen Reich zur Zeit Karls V.,15 fand in späteren Generationen keine Entsprechung mehr; seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert waren es dann vor allem einzelne Hoffaktoren, die als Fürspre15

The historical writings of Joseph of Rosheim, leader of Jewry in early modern Germany. Hg. von Chava Fraenkel-Goldschmidt. Leiden 2006.

Einfiihrung

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eher der Judenschaft fungierten. Am Kaiserhof traten in Krisensituationen, neben den Gesandten der beiden reichsstädtischen Judengemeinden von Frankfurt und Worms, die in einem besonderen Nahverhältnis zum Reichsoberhaupt standen, vor allem Vertreter der Wiener und Prager jüdischen Gemeinden als Fürsprecher auf. Ein eindrucksvolles Beispiel für die erfolgreiche Wahrnehmung der Interessen der gesamten Judenschaft des Reiches durch hoch angesehene Fürsprecher ist das gemeinsame Agieren der Hoffaktoren Samson Wertheimer und Leffrnann Behrens gegen die Publikation der judenfeindlichen Schrift „Entdecktes Judenthum" des Andreas Eisenmenger im Jahr 1700. Eine auf Räume gerichtete Betrachtung jüdischer Geschichte wird unweigerlich auch der Mobilität, der Bewegung in und zwischen Räumen, besondere Bedeutung zukommen lassen. Nicht zuletzt ist es der Besuch von Bildungseinrichtungen, der Juden in Mittelalter und Früher Neuzeit zur Migration und zum Überschreiten territorialer wie auch kultureller Grenzen bewegt. Das Phänomen der Bildungsreisen steht - neben Handelsreisen - im Mittelpunkt des Beitrags von WOLFGANG TREUE. Er greift damit zwei Aspekte von Mobilität und Ursachen für Migration auf, die den vergleichenden Blick auf die Verhältnisse in der christlichen Umwelt nahe legen: Auf ihren Bildungswegen unternahmen sowohl jüdische als auch christliche junge Männer oft weite und ausgedehnte Reisen zu den Orten der Lehre. Auch die häufigen Reisen zu Jahrmärkten, die christliche Kaufleute unternahmen, entsprachen jenen ihrer jüdischen Kollegen. Da Juden vielfach vom Handel lebten, dürfte, auch wenn quantitativ auswertbare Quellen fehlen, ein relativ hoher Anteil männlicher Juden die Erfahrung von Handelsreisen gemacht haben. In einigen Aspekten unterschied sich das Reiseverhalten von Juden allerdings deutlich von dem von Christen: Wegen der weiten Verbreitung der Handelstätigkeit war es für Juden nicht notwendig, ihren Nachwuchs zur kaufmännischen Ausbildung zu auswärtigen Geschäftspartnern zu schicken, ebensowenig wie für sie - da ihnen die jeweiligen Standesqualitäten fehlten Reisen als Handwerksgesellen und in Form der Grand Tour junger Adeliger in Frage kamen. Auch Wallfahrten spielten im Gegensatz zum christlichen Bereich im Judentum nur eine geringe Rolle. Während diese Reisemotive bei Juden entfielen, hatten die Mitglieder der jüdischen Unterschicht in der Frühen Neuzeit, und insbesondere nach dem Dreißigjährigen Krieg, einen deutlich überproportional hohen Anteil an der allgemeinen Mobilität: An keinen Grundbesitz gebunden, waren sie in besonderer Weise einem obrigkeitlichen Druck ausgesetzt, der auf die Begrenzung der Anzahl mittelloser Juden im jeweiligen Herrschaftsgebiet zielte. Trotz teilweise ähnlicher Mobilitätsursachen von Christen und Juden existierten damit spezifisch jüdische Erfahrungen von Mobilität und Migration, „die zugleich Lebensweise und Alltag prägten und mit Besonderheiten der europäischjüdischen Kultur im Gegensatz zur christlichen im Zusammenhang standen" (J. FRIEDRICH BATTENBERG).

Die Frage, inwieweit der Grenzraum zwischen habsburgischen Ländern und Osmanischem Reich - und die Überwindung dieses Grenzraumes - Chancen für

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Juden bot, diskutiert REINHARD BUCHBERGER und widmet sich damit nicht nur politischen, sondern auch kulturellen Grenzen und Übergangszonen. Auch sein Ergebnis bleibt ambivalent: Während Juden ihre ,neutrale' Stellung zwischen den verfeindeten Kulturen als Spione, Dolmetscher oder Kuriere durchaus zu nutzen verstanden, von ihren familiären Netzwerken auf beiden Seiten der Grenze profitierten und auch am Sklavenhandel partizipieren konnten, waren sie als ,Fremde' den Gefahren des Grenzraums - dem Misstrauen der Kriegsparteien, den gewaltsamen Übergriffen und auch dem Menschenhandel - besonders ausgeliefert. Jede Form wissenschaftlicher Geschichtsschreibung impliziert eine kritische Auseinandersetzung mit dem überlieferten Quellenmaterial. Für die Erforschung der jüdischen Kultur mit ihrer ausgeprägten Schriftlichkeit sind dabei grundsätzlich zwei Überlieferungsstränge zu berücksichtigen: Zum einen die aus der christlichen Gesellschaft, und insbesondere aus der obrigkeitlichen Verwaltungstätigkeit, herrührende Überlieferung von Urkunden und Akten, von publizistischen Erzeugnissen und anderen Dokumenten, die naturgemäß in erster Linie die Wahrnehmung und Behandlung der Juden aus dem Blickwinkel der christlichen Umwelt widerspiegelt und somit vornehmlich jene Bereiche und Belange jüdischer Existenz berührt, die für die Nichtjuden von Interesse waren; und zum anderen die quantitativ sehr viel weniger gewichtige, aber nicht weniger bedeutsame Überlieferung jüdischer Provenienz. Eine kritische Diskussion dieser beiden Quellenstränge jüdischer Geschichte steht im Zentrum der vier abschließenden Beiträge dieses Bandes. Daß es sich dabei keineswegs um ein Detailproblem der Erforschung jüdischer und jüdisch-christlicher Geschichte handelt, wurde allein durch die lebhaften Diskussionen während der Tagung offenkundig. In ihrer breit angelegten Studie analysiert BIRGIT E. KLEIN die Außen- und Binnenperspektive auf die jüdische Geschichte, und verdeutlicht beispielhaft, daß beide Seiten sich nicht nur ergänzen, sondern vielfach ineinander verwoben sind. Dies gilt für die Beurteilung der innerjüdischen Konflikte und ihrer politischen Folgen um den ,Verrat' der Frankfurter Rabbinerversammlung des Jahres 1603 ebenso wie für die Interpretation jüdischer Grabinschriften. Das komplementäre Heranziehen innerjüdischer wie obrigkeitlicher Quellen kann, wie an den Beispielen der Institution des eruw chazerot und des jüdischen Ehegüter- und Erbschaftsrechts gezeigt wird, verzerrte Sichtweisen, wie sie sich ansonsten aus den jeweiligen Quellen ergäben, korrigieren. Angesichts des Umfangs und der Vielgestaltigkeit der Überlieferung ist freilich aus pragmatischen Gründen eine Gesamtaufnahme aller Quellen nicht immer möglich. Auf die christliche Provenienz beschränkt sich daher ein von EVELINE BRUGGER und BIRGIT WIEDL am Institut für Geschichte der Juden in Österreich durchgeführtes Projekt zur Erschließung von Quellen zu den christlich-jüdischen Beziehungen fur das Gebiet des heutigen Österreich im Spätmittelalter. Neben normativen Quellen zur jüdischen Rechtsstellung berührt ein großer Teil der Überlieferung geschäftliche Beziehungen, von denen zunächst ausschließlich solche zwischen Angehörigen der christlichen und jüdischen Eliten schriftlich

Einführung

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fixiert wurden, während Bürger und Bauern erst im Verlauf des 14. Jahrhunderts als Geschäftspartner von Juden quellenmäßig greifbar werden. Die Form der Urkunden folgt - auch wenn sie im Einzelfall in hebräischer Sprache verfaßt wurden - den Normen der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Während in den Urkunden die wirtschaftlichen Kontakte greifbar sind, beinhalten die historiographischen Quellen fast ausnahmslos Berichte über Verfolgungen. Mit der Quellengattung der Judenbücher' am Beispiel der mährischen, an der Grenze zu Österreich gelegenen Stadt Znaim (Znojmo) beschäftigt sich THOMAS PETER. Solche von der obrigkeitlichen Verwaltung angelegten „Verzeichnisse von Dokumenten, die das Verhältnis zwischen Stadt- und Judengemeinde bzw. zwischen Grundherrn und Judengemeinde betreffen", sind erstmals für das 12. Jahrhundert in Köln nachweisbar, und auch ζ. B. für Erfurt, Rothenburg ob der Tauber oder Wiener Neustadt überliefert. Die sieben Znaimer Judenbücher, die den Zeitraum zwischen 1415 und 1438 umfassen, enthalten die Kreditgeschäfte einzelner jüdischer Geldverleiher - Männer wie Frauen - und ihrer christlichen Kundschaft und stellen somit eine bedeutende Quelle zur Geschäftstätigkeit der Znaimer Juden im ausgehenden Mittelalter dar. Der Befund für Znaim ergibt, daß Frauen zwar eine nicht unerhebliche Anzahl an Kreditgeschäften abwickelten, jedoch keinen eigenen Kundenstamm besaßen und damit ihrer Geschäftstätigkeit wohl nicht unabhängig von ihren Männern nachgingen, über die jeweils die höheren Kredite liefen. Mit der ökonomischen Bedeutung jüdischer Frauen beschäftigt sich der Beitrag von MARTHA KEIL, die damit sowohl an die bereits angesprochenen starken Impulse der Geschlechtergeschichte auf die jüdische Geschichte anknüpft als auch die Forderung nach Verbindung christlich-obrigkeitlichen Quellenmaterials mit der innerjüdischen Überlieferung aufnimmt. Aufgrund ihres Erfolgs als Geldleiherinnen und damit auch als Steuerzahlerinnen gelang im 14. und 15. Jahrhundert einzelnen Jüdinnen sogar der Aufstieg in Ämter wie Steuereinnehmerinnen oder sogar von Vorsteherinnen (Parnassot). Dieser Bedeutungsgewinn jüdischer Geschäftsfrauen, der einem allgemeinen Bedeutungszuwachs von Frauen in dieser Zeit entspricht, führte - so die These Keils - dazu, daß die Kategorie „Jüdinnen)" (judinne) in die obrigkeitliche Rechtssprache vermehrt Einzug fand. Die mit diesen Beiträgen ins Blickfeld gerückte Dichotomie der Überlieferungsstränge und der durch sie vermittelten Perspektiven verweist erneut auf die unabdingbare Notwendigkeit der Vernetzung verschiedener Fachgebiete zur Erforschung jüdischer Geschichte. Dabei sind allgemeine und verbindende Tendenzen der jüdischen wie der christlichen Gesellschaft und Kultur ebenso im Auge zu behalten wie eigenständige und eigengesetzliche Entwicklungen, überregional und .allgemein' in ähnlicher Weise Kennzeichnendes ebenso wie regionale und lokale Besonderheiten. Möge die interdisziplinär orientierte, vergleichende Betrachtung der Bedingungen und Ausprägungen jüdischer Existenz im Süden des Alten Reiches, wie sie auf der Augsburger Tagung vorgenommen wurde und in

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diesem Band ihren Niederschlag gefunden hat, einen weiteren Beitrag zu einem besseren Verständnis jüdischer Geschichte in der Vormoderne leisten.

Zur Entstehung von Landjudengemeinden im Nordwesten der heutigen schweizerischen Eidgenossenschaft (16.-18. Jahrhundert)1 Anna C. Fridrich

Als Konsens der Forschung kann gelten, daß es im Reich nach dem Dreißigjährigen Krieg zu einer - langsamen, asynchron verlaufenden, geographisch vielgestaltigen - Konsolidierung jüdischen Lebens kam, wobei sich ein Spektrum unterschiedlicher Siedlungsformen entwickelte. Neben der Reetablierung urbaner Kultur im Norden und der Entwicklung von ,Judendörfern' im Südwesten, bleibt die starke Zersplitterung der ländlichen Wohnorte charakteristisch.2 In der Schweiz dagegen stabilisierten sich die Siedlungsbedingungen für Juden nur in beschränktem Maß. Einzig in Lengnau und Endingen, in der Gemeinen Herrschaft Baden, 3 entstanden seit der Mitte des 17. Jahrhunderts jüdische Gemeinden, die das Ende des Ancien Regime überdauerten. Dennoch trifft die mehrfach reproduzierte Einschätzung nicht zu, Juden seien in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft einzig in den Gemeinen Herrschaften geduldet worden 4 - ein Faktum übrigens, das in der regionalgeschichtlichen jüdischen Historiographie

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Für Kritik und Anregungen danke ich Dorothea A. Christ und Robert Relling. J. Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 2001 (EDG 60). S. 97f. Angesichts der zugleich wachsenden Bedeutung jüdischer Wanderarmut ist zu relativieren, dass dieser Konsens nur soweit deutlich ist, als sich der Blick auf die Entwicklung jüdischer Ansiedlungen - und somit auf nur eine Form jüdischen Lebens - konzentriert. Zur jüdischen Armut, vgl. ebd., S. 45-47, 112-116 sowie Yacov Guggenheim: Von den Schalantjuden zu den Betteljuden. Jüdische Armut in Mitteleuropa in der Frühen Neuzeit. In: Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa. Hrsg. im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur von Stefi JerschWenzel et al. Köln 2000. S. 55-69. Gemeine Herrschaften sind Untertanengebiete, die von mehreren eidgenössischen Orten gemeinsam verwaltet wurden. Die Gemeine Herrschaft Baden wurde seit der Eroberung des Aargaus 1415 bis 1712 von den acht Orten (Zürich, Bern, Uri, Schwyz, Unterwaiden, Luzern, Glarus und Zug) regiert. Zuletzt J. F. Battenberg (Anm. 2) S. 33.

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Anna C. Fridrich

bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt war.5 Etwa gleichzeitig wie in der Gemeinen Herrschaft Baden entstand im Territorium des souveränen Standes Solothurn die Landjudengemeinde von Dornach, die rund 80 Jahre lang Bestand hatte.6 Seit dem 16. Jahrhundert existierten im Nordwesten der Schweiz, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Elsaß und zu Süddeutschland, unterschiedliche Formen jüdischen Lebens auf dem Land. Neben mobilen Existenzen in kleinsten Gruppen etablierten sich vereinzelt stabilere Siedlungen, die sich zu Gemeinden entwickeln konnten. Der Nordwesten der heutigen Schweiz bildete in der Frühen Neuzeit kein geschlossenes Territorium. Meine Untersuchung bezieht sich auf zwei benachbarte Staatswesen, das Fürstbistum Basel - zum Reich gehörend, aber seit 1579 mit den katholischen Orten der Eidgenossenschaft verbündet - sowie den eidgenössischen Stand Solothurn. Beide Gebiete gemeinsam zu untersuchen, rechtfertigt sich durch die grenzüberschreitenden Beziehungen der jüdischen Bevölkerung. Der Quellenlage folgend soll versucht werden, der Entstehung von jüdischen Landsiedlungen nachzugehen und aufgrund der Untersuchung verallgemeinernde Hypothesen über die Einflußfaktoren zu bilden. Dabei kommen Quellen obrigkeitlicher Provenienz, namentlich der Schriftverkehr zwischen herrschaftlicher Zentrale und ihren Vertretern vor Ort, zur Auswertung.7 Quellen wie beispielsweise Supplikationen, die den Blick auf Motive und Argumentationsmuster der jüdischen Menschen freigeben, sind äußerst spärlich überliefert. Das Untersuchungsgebiet im engeren Sinn, jene Region, in der sich Juden angesiedelt haben, liegt weit von den herrschaftlichen Zentren Pruntrut und Solothurn entfernt. Es handelt sich um die fürstbischöflichen Vogteien Zwingen, Birseck und Pfeffingen 8 sowie die solothurnische Vogtei Dorneck. Sie bildeten einen kleinteiligen, regionalen Wirtschaftsraum, in dem verschiedene kleinstädtische und dörfliche Märkte konkurrierten. Geprägt war die Gegend vom landwirtschaft-

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Achilles Nordmann hielt bereits 1917 fest: „Der Satz, dass Endingen und Lengnau im 17. und 18. Jahrhundert die einzigen Orte der Schweiz waren, wo eine sesshafte jüdische Bevölkerung geduldet wurde, ist überhaupt nicht uneingeschränkt richtig." Achilles Nordmann: Über Wanderungs- und Siedlungsbeziehungen zwischen elsässischem und schweizerischem Judentum. Gebweiler 1917 (Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte der Israeliten in Elsass-Lothringen 1917). S. 6. Die Arbeiten der jüdischen Historiker sind trotz ihrer hohen Qualität und ihrer teilweise modernen Fragestellungen nur wenig rezipiert worden. Neben Nordmann sind Augusta Weldler-Steinberg und Moses Ginsburger zu erwähnen. Vgl. Anna C. Fridrich: Juden in Dornach. Zur Geschichte einer Landjudengemeinde im 17. und frühen 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für solothurnische Geschichte 69. 1996. S. 7-40. Die Akten zur Geschichte der Juden im Fürstbistum Basel befinden sich im Archives de l'ancien Eveche de Bale in Porrentruy [AAEB] sowie im Staatsarchiv des Kantons BaselLandschaft [StABL] in Liestal, jene zu Dornach im Staatsarchiv Solothurn [StASO] in Solothurn. Mit den jüdischen Ansiedlungen in den deutschen Ämtern des Fürstbistums Basel beschäftigt sich ein Kapitel meiner Dissertation: Anna C. Fridrich: „... das einem das Guthe zu fliessen solle wie dass Bosse". Laufen - eine Kleinstadt in der Frühen Neuzeit. Liestal 2002.

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liehen System der Dreizelgenwirtschafit 9 und von der Birs als wichtiger Wasserstraße, die die Verbindung zur Großstadt Basel herstellte. Der Territorialisierungsprozeß war im Untersuchungszeitraum, dem 16. bis 18. Jahrhundert, weitgehend abgeschlossen. Allerdings fiel die Entstehung jüdischer Landsiedlungen im Fürstbistum Basel in die Zeit vor der erfolgreichen Rekatholisierung. 10 Die Juden ließen sich also in reformierten Gemeinden nieder, die sich bereits seit mehreren Jahrzehnten in konfessionellem Widerspruch zu ihrem Landesherrn befanden, und erlebten 1581 in Arlesheim die Rekatholisierung durch den Bischof mit, während Allschwil bis 1627 reformiert blieb. In Solothurn waren Obrigkeit wie Bevölkerung katholisch. Beide Staatswesen können als geschlossene' Territorien gelten, wobei sich diese Aussage allein auf die rechtliche Ausgestaltung, nicht jedoch auf das in beiden Fällen wenig kompakte Herrschaftsgebiet bezieht. In ihrer herrschaftlichen Struktur waren die beiden Staaten sehr unterschiedlich verfaßt. Im geistlichen Fürstentum verkörperte der Bischof, angesichts einer zunehmenden Schwächung von Domkapitel und Ständen, praktisch in alleiniger Machtvollkommenheit die Obrigkeit, während im Stadtstaat Solothurn ein patrizischer Rat regierte. Die Herrschaft vor Ort war an Landvögte delegiert. Die Funktion des fürstbischöflichen Vertreters entwickelte sich zunehmend zu einem erblichen Amt, das meist von einem Adligen bekleidet wurde. Im Vergleich mit seinem solothurnischen Amtskollegen, einem für eine zeitlich fixierte Amtszeit gewählten Bürgerlichen, besaß der fürstbischöfliche Vogt weitreichende Entscheidungskompetenzen; seine Aufgabe beschränkte sich nicht allein auf die Umsetzung obrigkeitlicher Verordnungen. Trotz des unterschiedlichen Charakters der beiden Staatswesen verfügten sie über vergleichbare kommunale Strukturen, die der Herrschaft klare Grenzen setzten." Wie zu zeigen sein wird, kam dem selbständigen Handeln der Gemeinden bei der Aufnahme von Juden eine bedeutende Rolle zu.

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Im System der Dreizelgenwirtschaft war die Ackerflur einer Gemeinde im Idealfall in drei annähernd gleich große Bereiche, die Zeigen, aufgeteilt, so daß jedes Ackerlandgrundstück zu einer dieser Zeigen gehörte. Kennzeichnend für die Dreizelgenwirtschaft war, daß jede Zeige im Laufe von drei Jahren abwechslungsweise mit Winterfrucht, Sommerfrucht und Brache bewirtschaftet wurde. Sämtliche Tätigkeiten in diesem System erforderten die Kooperation der Beteiligten und stellten eine der grundlegenden Tätigkeiten im Rahmen der dörflichen Selbstverwaltung dar. Zur Rekatholisierung vgl. Hans Berner: Gemeinden und Obrigkeit im fürstbischöflichen Birseck. Herrschaftsverhältnisse zwischen Konflikt und Konsens. Liestal 1994. S. 128-156. Zur Begrenztheit der Durchsetzungsmöglichkeit von Herrschaft vgl. Anna C. Fridrich: Herrschaft, Konflikt, Kommunikation. Zur Ausgestaltung herrschaftlicher Praxis in der fürstbischöflichen Stadt Laufen während der Frühen Neuzeit. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 54. 2004. S. 241-255. Zum Kommunalismus vgl. Peter Blickle: Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform. 2 Bde. München 2000.

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Abbildung 1:

Jüdische Ansiedlungen im Nordwesten der Schweiz in der Frühen Neuzeit

Zur Entstehung von

Landjudengemeinden

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1. Juden in den furstbischöflichen Vogteien Birseck und Zwingen Im deutschsprachigen Teil des Fürstbistums Basel, der heute zum Kanton BaselLandschaft gehört, lebten zwischen 1567 und 1694 Juden in verschiedenen ländlichen Gemeinden. Allerdings ist die Kontinuität fraglich, da zwischen 1612 und 1660 Belege fehlen. Seit 1567 fuhren die Vogteirechnungen von Birseck und Zwingen jährlich die Schirmgeldzahlungen von Juden auf, nach 1612 erscheint die Rubrik ,Judensatzgelder' zwar weiterhin, entsprechende Einnahmen fehlen jedoch. 12 Belegt ist für das Jahr 1612 der Wegzug des Juden Gumprecht und seiner Frau, wobei unklar bleibt, aus welchem Anlaß sie Allschwil verließen und ob nun keine Juden mehr in der Vogtei Birseck wohnten. 13 Nach 1660 verweisen Einzelbelege darauf, daß in Arlesheim, Allschwil, Oberwil und Schönenbuch Juden lebten. 14 Unter welchen Umständen sie im Fürstbistum Aufnahme fanden, ist nicht bekannt. Interessant ist, daß die kontinuierliche Ansiedlung von Juden im solothurnischen Dornach mit dem Jahr 1657 praktisch in die gleiche Zeit fällt. 15 Die Birsecker Jüdinnen und Juden hinterließen nach 1660 kaum Spuren in den Quellen, obwohl sich die Gemeinschaft mit 170 Personen um 1690 zu einer namhaften Größe entwickelt hatte. 16 Die jüdischen Siedlungen im Fürstbistum Basel wiesen unterschiedliche Strukturen auf: Neben kurzlebigen atomisierten Lebensformen entwickelten sich auch stabilere Gemeinschaften. In einem Einzelfall konnte sich eine Gemeinde konstituieren. Zunächst beschränkte sich die Ansiedlung auf Allschwil in der Vogtei Birseck, wo Mosse und Joseph 1567 für fünf Jahre in Schutz und Schirm aufgenommen wurden, später kamen Zwingen (1573), Röschenz (1574) und Blauen (1577), alle in der Vogtei Zwingen, dazu. Die Anfänge der Ansiedlungen liegen weitgehend im Dunkeln. Die Vertreibung der Juden 1573 aus Vorderösterreich 17 ist in einem Einzelfall als Grund für das Gesuch um Aufnahme im Fürstbistum Basel anzunehmen: Auf Supplikation des Vogts von Pfirt fand Leuw, der zuvor während 20 Jahren in Liebenswiller in der habsburgischen Herrschaft Pfirt im Elsaß gelebt hatte, zusammen mit seiner Frau, seinen Kindern und Dienstboten

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AAEB. Vogteirechnungen Zwingen. 1575-1581; StABL. Amtschaffneirechnungen Birseck. 1576-1612 (Mikrofilme Nr. 7451-7456). StABL. AA, L. 114. Bd. 611 C. Nr. 67. 4. September 1612. A. Fridrich (Anm. 8) S. 191. Vgl. unten. Die 170 Personen verteilten sich auf 23 Haushalte in Allschwil, drei oder vier in Oberwil und auf zwei in Schönenbuch. AAEB. Β 216, o. D. (von späterer Hand auf 1694 datiert) S. 146-148. Achilles Nordmann: Geschichte der Juden in Basel seit dem Ende der zweiten Gemeinde bis zur Einführung der Glaubens- und Gewissensfreiheit 1397-1875. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 13. 1913. S. 1-190, hier S. 18.

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Anna C. Fridrich

Aufnahme im Dorf Zwingen.18 Welche Überlegungen den Bischof dabei geleitet haben, keine Siedlungskonzentration anzustreben und Leuw eine Aufenthaltsbewilligung in Zwingen und nicht in Allschwil, wo bereits Juden gelebt haben, zu erteilen, darüber läßt sich nur spekulieren. Wollte er - angesichts des ohnehin labilen Gleichgewichts im Verhältnis zu Basel - einem weiteren Konflikt mit der Stadt ausweichen, die sich bereits 1567/68 ablehnend gegen Juden in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ausgesprochen hatte?19 Der Bischof beschränkte Leuws Bewilligung auf fünf Jahre und legte in einem Schutzbrief die finanziellen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen fest.20 An Leuws Biographie läßt sich aufzeigen, daß Familienverbindungen bei der Etablierung von jüdischen Ansiedlungen und bei deren Verlagerung von Bedeutung sind:21 1575, zwei Jahre nach Leuws Ankunft im Fürstbistum, zogen seine Schwiegersöhne nach Zwingen. 1577, im Jahr vor dem Ablauf seiner Aufenthaltsbewilligung, erkundigte sich Leuw beim Bischof, ob er mit einer weiteren Duldung rechnen könne, oder ob er sein Haus in Zwingen verkaufen und anderswo Schutz und Schirm suchen müsse, worauf er den Bescheid erhielt, daß er samt seinem völkhlin wie bisher hier bleiben könne. 1579 fragte Leuw nach, ob die Bewilligung auch für seine nach jüdischem Brauch bei ihm lebenden Schwiegersöhne gelte und bat darum, mit diesen zusammen bis zu seinem Tod geduldet zu werden. Die beiden Nachfragen verdeutlichen, daß er seine Situation als prekär einschätzte, obwohl er gemeinsam mit seiner Familie über gültige Schirmrechte verfugte. Ein Bescheid ist nicht erhalten, Leuws Aufenthaltsbewilligung scheint jedoch verlängert worden zu sein, denn er bezahlte bis 1580 in Zwingen Schirmgeld, danach siedelte er nach Arlesheim (Vogtei Birseck) über, wo er zwischen Herbst 1584 und Frühjahr 1586 starb.22 Seit 1581 lebte ebenfalls in Arlesheim ein weiterer von Leuws Schwiegersöhnen, Hirtz.23 Die jüdische Gemeinschaft in Arlesheim existierte nach Leuws Tod mindestens bis 1612 kontinuierlich weiter. 18 19

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AAEB. Β 216. 23. August 1573. S. 66. Zur ablehnenden Haltung Basels gegenüber Juden vgl. A. Nordmann (Anm. 17) S. 20f. Zum Verhältnis zwischen Basel und dem Fürstbistum vgl. Hans Berner: „die gute correspondenz". Die Politik der Stadt Basel gegenüber dem Fürstbistum Basel in den Jahren 1525-1585. Basel 1989. AAEB. Β 216. 14. Oktober 1573. S. 72. Ähnliches gilt für Michel, seinen Sohn Mathis und dessen Schwager Salomon, die sich zusammen 1574 in Röschenz niederließen. Von dort zog Mathis 1577 noch vor Ablaufseiner Aufenthaltsbewilligung ins solothurnische Metzerlen, wohin ihm sein Vater 1579 nachfolgte. Hier wurden sie nur kurzfristig geduldet, denn die solothurnische Obrigkeit forderte Mathis sowie einen weiteren Juden namens Fridlin auf, ihr Territorium bis Ostern 1580 wieder zu verlassen. Mathis' Schwager siedelte 1578 nach Blauen über, wo er bis 1581 blieb. A. Fridrich (Anm. 8) S. 187f. StABL. AA. L. 114 A. Bd. 641: Leuw trat am 16.4.1584 als Kläger in einem Prozeß auf. Weitere Verhandlungen, an denen Leuw anwesend war, fanden am 24.9.1584 und am 15.10.1584 statt. Am 20.3.1586 wurde die Witwe des Juden Leuw in Arlesheim, verbeistandet mit ihrem Sohn Schmol, als Antworterin vor Gericht geladen. A. Fridrich (Anm. 8) S. 187-190.

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Lediglich Einzelbelege verweisen auf die Tatsache, daß auch in der Vogtei Pfeffingen Juden gelebt haben, allerdings entwickelten sich im gesamten Untersuchungszeitraum keine auch nur vorübergehend stabileren Strukturen. 24 Die Motive des Bischofs, einzelne Gesuche abzulehnen, 25 während er andere bewilligte beziehungsweise den Aufenthalt von Juden duldete, lassen sich schwer nachvollziehen. Die Ablehnung von Anfragen während des Dreißigjährigen Kriegs mag damit zusammenhängen, daß der Bischof nicht einmal in der Lage war, der Bevölkerung des Bistums Schutz und Schirm zu bieten, geschweige denn den jüdischen Flüchtlingen. Von einer aktiven Ansiedlungspolitik der Bischöfe ist nicht auszugehen, zumal sie nicht versuchten, die Entwicklung von Siedlungen an dedizierten Orten zu kanalisieren. Vielmehr entstanden im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts mehrere kurzlebige und nur aus einzelnen Haushalten bestehende Ansiedlungen, zwischen denen eine hohe Mobilität herrschte. Was die Juden zur Wanderung zwischen den Gemeinden bewog, läßt sich nur vermuten. Sie dürfte Ausdruck der prekären Lebenssituation gewesen sein, die die Juden zu einer ständigen Suche nach möglichst günstigen Bedingungen für ihre rechtliche und ökonomische Existenzsicherung zwang. 26 Die Bedeutung religiöser Aspekte für die Etablierung jüdischer Siedlungen ist schwierig abzuschätzen; die Juden strebten zur Erleichterung des Kultus zunächst offenbar keine Siedlungskonzentration an und bewohnten Zwingen nach 1580 nicht mehr. In Zwingen befand sich von ca. 1573 bis 1673 der einzige jüdische Friedhof der Gegend. Fast kontinuierliche Beständigkeit (1567 bis mindestens 1612 sowie nach 1660 bis zur Vertreibung 1694) weist einzig Allschwil auf, wo sich zumindest in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine eigentliche Gemeinde entwickelte. Die etwa 120 Jüdinnen und Juden, die um 1690 hier lebten, stellten mit knapp einem

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Ein Verzeichnis von 1576 führt Leuw, Jud zu Pfeiffingen auf. AAEB. Β 216. Um 1576. S. 145. Näheres ist über ihn nicht bekannt. 1602 erhielt Salomon mit seiner Frau, seinen Kindern und Dienstboten einen Schutzbrief, der ihm den Aufenthalt in Aesch gestattete. Zwei Jahre später erteilte ihm der Bischof auf Anfrage die Erlaubnis, seinen Schwiegersohn Frey in seinen Haushalt aufzunehmen. AAEB. Β 216. 8. Dezember 1602. S. 126; 9. Juni 1604. S. 128. Während des Dreißigjährigen Kriegs (1636/37) versuchten jüdische Flüchtlinge in Aesch und Duggingen Aufnahme zu finden, wurden jedoch abgewiesen. Hirtz, ein Jude, der später nach Dornach zog, fand damals einige Jahre bei Junker Zipper von Angenstein im Schloß Aufnahme. A. Fridrich (Anm. 8) S. 192. Der Bischof lehnte die Gesuche von Lewel aus Häsingen sowie von M. Isaac, der Jud und zween seiner gevatteren auch Juden, die vorübergehend in Dornach Aufnahme gefunden hatten, ab. AAEB. Β 216. 29. Oktober 1636. S. 134f.; 15. Juni 1637. S. 136. Zur nicht durch Vertreibungen motivierten Wanderung seit dem späten 16. Jahrhundert vgl. Mordechai Breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: Mordechai Breuer, Michael Graetz: Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd. I: Tradition und Aufklärung 16001780. München 1996. S. 85-247, hier S. 86; zu den Auswirkungen der Instabilität auf die jüdischen Lebenswelten vgl. J. F. Battenberg (Anm. 2) S. 86f.

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Viertel der Dorfbevölkerung eine namhafte Minderheit dar.27 Im Vergleich mit der elsässischen Nachbarschaft war Allschwil damals eine der größten jüdischen Gemeinden, wenn nicht die größte.28 Weitere jüdische Siedlungen entstanden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch in den Birsecker Gemeinden Oberwil und Schönenbuch. Nachdem die Arlesheimer Siedlung bereits 1678 durch Ausweisung der Juden zerstört worden war,29 vertrieb der Bischof die Juden 1694 auch aus den drei anderen Ansiedlungen.30

2. Zur Entstehung der jüdischen Siedlung im solothurnischen Dornach In der solothurnischen Vogtei Dorneck lebten zwischen etwa 1633 und 1736 Juden, wobei die Dornacher Siedlung seit 1657 kontinuierlich bis zur Vertreibung 31

existierte. Von den 1630er bis in die frühen 1650er Jahren waren es vor allem elsässische und süddeutsche Flüchtlinge, die hier und im Fürstbistum Zuflucht suchten. Wiederum zeigt sich die Bedeutung familiärer Verbindungen: Lewel aus dem elsässischen Häsingen wurde durch den erschröckhlichen Kriegs Schwärmt von dannen veriagt und fand mit seiner Frau und seinem Kind zunächst in Metzerlen Unterschlupf. Nach drei Jahren Aufenthalt begab er sich im Frühling 1636 mit seiner Familie nach Dornach Dorf, wo sie sich bei einem Verwandten in einem Armuetseligen, offenen windtdurchstreichenden gebew, under dem tach [...] auffenthalten. Welches zwahr bey weherender wärmer und Sommers Zeitten, wol zue erdulden gewest, jetzt aber bei heranrückendem Winter sei es nicht mehr möglich, dort zu wohnen. In Dornach könnten sie keine Unterkunft finden, da alles bereits durch vertriebene[s] Volckh belegt sei. Leweis Gesuch um eine Aufenthaltbewilligung in Aesch lehnte der Fürstbischof von Basel ab und stellte es ihm anheim, beim Vogt von Dorneck um eine Unterkunft in einem anderen Dorf der Vogtei nachzusuchen.32 In den Jahren zwischen 1633 und 1638, als die Gegend nacheinander von schwedischen und französischen Truppen heimgesucht wurde, flüchteten viele 27

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Sabine Ulimann weist in ihrer Untersuchung über die burgauischen Judendörfer im 18. Jahrhundert Anteile von 16,6 für Pfersee, 32,4 für Binswangen, 40,6 für Buttenwiesen und ca. 57 Prozent für Kriegshaber nach. Sabine Ullmann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Bd. 151). S. 348. A. Fridrich (Anm. 8) S. 193. AAEB. A 13/17. 22. November 1678. Die Vertreibung aus Arlesheim steht in Zusammenhang mit dem Zuzug des Domkapitels aus Freiburg im Breisgau, wo es seit der Reformation in der Stadt Basel residiert hatte. Vgl. A. Fridrich (Anm. 8) S. 199-205. Auf Einzelbelege aus dem späten 16. Jahrhundert habe ich oben bereits hingewiesen. Vgl. dazu auch A. Fridrich (Anm. 6) S. 12. AAEB. Β 216. 29. Oktober 1636. S. 134f.

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Menschen nach Solothurn. In zahlreichen eindringlichen Einzelbelegen ist zu erfahren, daß sich nicht nur der Bischof zwischen Sommer 1637 und März 1643 beim Vogt von Dorneck in Sicherheit brachte, auch die Bevölkerung der Vogtei Zwingen suchte wiederholt Schutz in der solothurnischen Nachbarschaft und harrte monatelang dort aus. 33 Der solothurnische Rat begegnete den Juden mit einer außerordentlich wechselhaften Politik, in der faktische Duldung, formelle Schutzaufhahme und Landesverweisung sehr nahe beieinander lagen. Die Gründe für seine volatile Haltung sind unklar. Die solothurnische Obrigkeit drohte den Flüchtlingen zwischen 1633 und 1639 wiederholt die Ausweisung an, ihre Durchsetzung läßt sich jedoch bezweifeln. 34 Erst nachdem der solothurnische Rat Anfang November 1639 an der katholischen Tagsatzung in Luzern wegen der Juden zur Rede gestellt worden war, erinnerte er den Dornecker Vogt daran, daß er die beiden Ausweisungsbefehle von 1637 durchzusetzen habe. 35 Arglos, so scheint es, meldete der Landvogt wenige Tage später nach Solothurn zurück, daß die Juden aus der fürstbischöflichen Nachbarschaft stammten und sich ohne obrigkeitliche Bewilligung hier aufhielten. 36 Vieles spricht dafür, daß die Entstehung der Dornacher Siedlung auf Beziehungsnetze zurückging, die die Juden in den Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren aufbauen konnten. 1646 büßte die Obrigkeit Dornacher Juden mit 50 Pfund wegen eines Frevels in der Osterzeit. Gleichzeitig erhielt Isaak der Schwabe die Bewilligung, weiterhin mit seinem Gesinde in der Herrschaft Dorneck zu bleiben. Die Aufenthaltsbewilligung wurde an die Bedingung geknüpft, daß er keinen weiteren Dienstboten aufnehmen und keine jüdischen Exercity37 abhalten, seine Religion also nicht öffentlich, sondern lediglich im häuslichen Rahmen ausüben dürfe. Als der Rat vier Jahre später erneut die Vertreibung anordnete, fanden sich Jäggel und ein weiterer Abgeordneter im Namen aller Juden in der Vogtei Dorneck beim Rat ein, um einen Aufschub bis ins nächste Frühjahr zu erbitten, da in ihrem Herkunftsland noch kein Friede herrsche. Erwirken konnten

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Die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs im Untersuchungsgebiet ist noch weitgehend unerforscht. Die ausführlichen Regesten zum Bestand AAEB. Β 277 „Schwedischer Krieg" ermöglichen einen groben Überblick über die Ereignisse im Fürstbistum. Zu den Auswirkungen des Dreißigjährigen Kriegs in Basel und Umgebung vgl. Robert Stritmatter: Die Stadt Basel während des Dreißigjährigen Krieges. Politik, Wirtschaft, Finanzen. Diss. Basel. Bern 1977. Bes. S. 16-60; aus der Sicht Solothurns vgl. Hans Roth: Die solothurnische Politik während des Dreißigjährigen Krieges. Diss. Bern. Affoltem a. A. 1946. Ausweisungen sprach der solothurnische Rat 1633, zweimal 1637 und 1639 aus. A. Fridrich (Anm. 6) S. 13. StASO. Ratsmanual. 9. November 1639. S. 667f. StASO. Ratsmanual. 17. November 1639. S. 682. Ob die Vertreibung von 1639 vollzogen wurde, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Die Quellen erwähnen erst 1646 wieder Juden in Dornach. StASO. Concepten. Bd. 74. 10. April 1646. S. 23a.

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sie einen Aufschub bis zur Fastnacht. 38 Im März 1657 schließlich wurde Jäggel Schwöb aus Rheinfelden, zusammen mit Vater und Sohn in Dornach, wo er bereits vor dieser fristlosen Schutzaufnahme vorübergehend gelebt hatte, aufgenommen. 39 Obwohl sich nicht mit Sicherheit sagen läßt, daß Jäggel Schwöb mit dem Abgesandten Jäggel identisch beziehungsweise mit den 1646 des Frevels beschuldigten Issag und Hirtz die Schwaben40 verwandt war, ist denkbar, daß sie in Beziehung zueinander standen. Obwohl sich eine kontinuierliche Anwesenheit von Juden seit den 1630er Jahren nicht lückenlos nachweisen läßt, scheinen Verbindungen zwischen ihnen wahrscheinlich. Demnach beruhte die Entstehung der Dornacher Siedlung auf innerjüdischen Kontakten und kann wiederum nicht auf eine obrigkeitliche Ansiedlungspolitik zurückgeführt werden, obwohl seitens des solothurnischen Rates ökonomische Interessen - die Belebung des Handels in Dornachbrugg, wo sich seit 1621 ein Kaufhaus befand - möglich sind.41 Daß die Dornacher Siedlung bis 1736 kontinuierlich existierte, stützt sich für die Zeit zwischen 1657 und 1665 auf die regelmäßige Erwähnung von Jäggel Schwöb in den Quellen sowie auf den Einzug des Schirmgeldes, der fur die Jahre 1665 bis 1736 in den Dornecker Vogteirechnungen lückenlos verzeichnet ist. Zu präzisieren ist nun auch der Ort der jüdischen Ansiedlung: Jäggel Schwöb erhielt 1657 die Bewilligung, sich in Dornach als Schutzuntergebener aufzuhalten, ab 1660 wird er in den Quellen jedoch durchwegs als Jud zu Dorneck Bruckh bezeichnet. Nach 1676 sind Juden sowohl in Dornach Dorf, als auch in Dornachbrugg, ab 1680 nur noch in Dornach Dorf faßbar. 42 Anhand der Schirmgelder läßt sich die Entwicklung der jüdischen Ansiedlung von Dornach in ihrer Tendenz verfolgen: Was auf den ersten Blick wie ein leichtes, kontinuierliches Ansteigen der jüdischen Bevölkerung aussieht, ist relativ großen natürlichen und wanderungsbedingten Schwankungen unterworfen. Neben einem Kern von einer, später zwei Familiengruppen, der kontinuierlich belegt ist, gab es auch eine fluktuierende Gruppe von Einzelpersonen und Familien, die nach kürzerer Zeit weiterzog. Salomon zum Beispiel hielt sich nur rund zwei Jahre in Dornachbrugg auf: 1677 bezahlte er für fünf Monate, 1678 für ein Jahr und 1679 für sechs Monate Schirmgeld, danach verließ er das solothurnische Territorium. Zur selben Zeit hielt der Vogt auch für die in Dornach Dorf lebenden

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StASO. Ratsmanual. 20. November 1652. S. 813f. Ebd. 7. Februar 1653. S. 61: Erinnerung an den Vogt zu Dorneck, die Vertreibung zu vollziehen. A. Fridrich (Anm. 6) S. 13f. StASO. Dorneck Schreiben. Bd. 13. 7. April 1646. S. 20f. Zu den Bemühungen der Obrigkeit, Dornachbrugg zu einem Handelszentrum zu machen, vgl. Bruno Amiet, Hans Sigrist: Solothurnische Geschichte. Bd. 2. Solothurn 1976. S. 297f. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts strebte die Obrigkeit die Errichtung eines Wochenmarktes in Dornachbrugg an, der ab 1692 donnerstags stattfand. Seit wann er durchgeführt wurde und ob er über die Teuerungsjahre am Ende des 17. Jahrhunderts hinaus bestehen konnte, ist unklar. A. Fridrich (Anm. 6) S. 15, Anm. 38. A. Fridrich (Anm. 6) S. 14f.

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Juden fest, daß der mehere teill hinweg gezogen43 sei. Wie bereits während des Dreißigjährigen Kriegs fanden auch in den folgenden Jahren Flüchtlinge in Dornach Aufnahme: 1702, während des Spanischen Erbfolgekriegs, baten drei Juden aus Breisach, Isaak, Marx und Costell, um eine Aufenthaltsbewilligung in Dornach. Wie lange sie hier blieben, ist nicht bekannt. Genau beziffert wird die Größe der Ansiedlung 1692, als im Rahmen einer Erhebung der Nahrungsmittelvorräte auch 41 alte und acht junge (unter sechsjährige) Juden gezählt wurden. 44 Quantitativ unterschied sich Dornach kaum von den Siedlungen in der elsässischen Nachbarschaft: In Sierentz und Oberhagental lebten 1689 je drei, in Buschwiller zwei, in Blotzheim vier jüdische Familien. In Durmenach wohnte sogar nur eine Familie. Einzig Hegenheim war mit 14 Familien etwas größer 4 5 Zur Zeit der Vertreibung lebten vielleicht 55 Jüdinnen und Juden in Dornach. Ihr Anteil an der Dorfbevölkerung betrug damit etwa zehn Prozent.

Zu Abbildung 2 auf der folgenden Doppelseite: Zwei Herrschaften in Nachbarschaft thronen über ihren Untertanen, der Vogt von Birseck (links) über Arlesheim, jenseits der Grenze blickt der Vogt von Dorneck auf Domach Dorf hinunter. Unten an der Birs liegt Domachbrugg mit der Brücke über die Birs, der obrigkeitlichen Landschreiberei, dem Kaufhaus und dem Zoll. Copyright Staatsarchiv Solothurn. Domeck Akten, Bd. 3, AD 13,3. Grenzplan von W. Spengler 1665.

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StASO. Domeck Rechnungen. 1677-1679; vgl. auch jene von 1675, S. 294: [...] von übrigen Juden, deren der Eine bald kombt, und der ander hinwegzieht [...]. A. Fridrich (Anm. 6) S. 16-18. Georges Weill: L'Alsace. In: Histoire des Juifs en France. Publiee sous la direction de Bernhard Blumenkranz. Toulouse 1972. S. 137-192, hier S. 164-167. Zur Größe und Strukturjüdischer Haushalte vgl. J. F. Battenberg (Anm. 2) S. 78.

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3. ,Landjudengemeinden'? - Bezeichnungen und Charakteristika jüdischer Landsiedlungen Obwohl sich vereinzelt und vorübergehend eigentliche Gemeinden bilden konnten, blieb die ,Atomisierung' jüdischen Lebens im Nordwesten der heutigen Schweiz prägend. Insofern gilt es, den im Titel erwähnten Begriff der ,Landjudengemeinde' zu problematisieren. Angesichts der atomisierten Lebensweise ist eine Landjudengemeinde sozusagen per definitionem klein, als ,Gemeinde' setzt sie jedoch eine gewisse Größe voraus. Der Begriff verweist auf die überwiegend ländliche Lebensform der Juden während der Frühen Neuzeit sowie auf die Tatsache, daß die Juden, auch wenn nur wenige jüdische Haushalte an einem Ort lebten, von der sie umgebenden Gesellschaft als ,Gemeinde', als Gemeinschaft mit eigenem Recht und Status wahrgenommen wurden.46 Nach der weitgehenden Zerschlagung überkommener Siedlungsstrukturen durch die spätmittelalterlichen Vertreibungen aus den Städten und ihrer mühsamen allmählichen Rekonstituierung in der Frühen Neuzeit fehlten vielerorts die Voraussetzungen für die Etablierung jüdischen gemeindlichen Lebens. Inneijüdisch schlugen sich die veränderten Verhältnisse in einem Wandel der Begrifflichkeit, in einer Aufgabe von semantischen Differenzierungsmöglichkeiten, nieder: Noch im Spätmittelalter, so Stefan Rohrbacher, wußte man „fein zu unterschieden zwischen der kehilla, der vollgültigen, autonomen Gemeinde, der chawura, der Einwohnergemeinschaft, die über gewisse Binnenstrukturen und Institutionen verfügte, aber doch in wesentlichen Belangen (wie etwa der Benutzung eines Friedhofs) von der kehilla abhängig und dieser daher nachrangig blieb, und schließlich dem jischuw, der bloßen Ansiedlung von Juden an einem Ort ohne jegliche Gemeindestrukturen. In der Frühen Neuzeit war die Zwischenkategorie der chawura dagegen kaum noch geläufig und die Vorstellung dessen, was eine jüdische Gemeinde ausmachte, erheblich weniger klar konturiert."47

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So traten Abgesandte im Namen sämtlicher Juden auf, genau wie es in anderen Gemeinschaften auch geschah. Johannes Mordstein leitet aus der Tatsache, daß Juden ähnliche Rechte wie andere Gemeinschaften besaßen, meines Erachtens zu Recht, die These ab, die Juden seien namentlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Teil des Untertanenverbands gewesen. Vgl. den Beitrag von J. Mordstein in diesem Band. Stefan Rohrbacher: „Er erlaubt es uns, ihm folgen wir." Jüdische Frömmigkeit und religiöse Praxis im ländlichen Alltag. In: Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Wien 2004. S. 271-282, hier S. 274. Vgl. auch ders.: Organisationsformen der süddeutschen Juden in der Frühneuzeit. In: Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Robert Jütte, Abraham P. Kustermann. Wien 1996 (Aschkenas. Beih. 3). S. 137149; sowie ders.: Die jüdische Gemeinde in den Medinot Aschkenas zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. In: Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert. Hg.

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Versteht man unter ,Gemeinde' die Möglichkeit, den Minjan (die Zehnzahl, die für die Durchführung eines Gottesdienstes notwendig ist) ohne den Zuzug von Gästen zu realisieren, existierten in Allschwil im späten 17. Jahrhundert und in Dornach etwa seit der Wende zum 18. Jahrhundert je eine jüdische Gemeinde. Die anderen Siedlungen waren bedeutend kleiner. Politische, religiöse und soziale Strukturen scheinen sich jedoch auch in diesen Gemeinden nur in einem bescheidenen Maß und oft, wie die gemeinsame Nutzung des Friedhofs zeigt,48 in Kooperation über die Grenzen der Ortschaften und von Herrschaften hinaus entwikkelt zu haben. 49 Auf eine Integration der Landjuden im Untersuchungsgebiet in überregionale institutionelle Strukturen deutet auch die Tatsache hin, daß Lehmann Schwöb aus Dornach einen inneijüdischen Konflikt vor einem vermutlich elsässischen Rabbiner austragen wollte. Die anderen Dornacher Juden lehnten sein Ansuchen wegen der großen Kosten, die ein solches Verfahren verursachen würde, ab und baten bei der solothurnischen Obrigkeit um Schutz.50 Während sich religiöses Leben und individuelle Frömmigkeit nachweisen lassen, fehlen Belege für eine gemeindliche religiöse Organisation weitgehend: Einen eigenen Rabbiner besaß die Dornacher Gemeinde zum Beispiel wohl nie. 1714 baten die Juden deshalb darum, einen Rabbiner aus Hegenheim kommen lassen zu dürfen. Das Laubhüttenfest stehe vor der Türe und einige Frauen seien schwanger, sollten Söhne geboren werden, bräuchten sie den Rabbiner für die Beschneidung. 51 Allschwil war wohl die einzige Gemeinde, die - zumindest zeitweise - über einen Rabbiner verfügte. In den Akten des Hegenheimer Friedhofs ist der sehr ehrenwerte Herr Rabbi Jehoschuah Seligmann, Sohn des Rabbi Abraham aus Allschwyler im Mai 1692 als Delegierter seiner Gemeinde in der

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von Christoph Cluse, Alfred Haverkamp, Israel J. Yuval. Hannover 2003 (Forschungen zur Geschichte der Juden. Abt. A: Abhandlungen. Bd. 13). S. 451-463. Neben dem Band der Familien nennt Mordechai Breuer das „Band der Generationen", den Friedhof, als zweiten Faktor der Zusammengehörigkeit für die verstreut lebenden Juden. Mordechai Breuer: Jüdische Religion und Kultur in den ländlichen Gemeinden 1600-1800. In: Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. Hg. von Monika Richarz, Reinhard Rürup. Tübingen 1997 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck-Instituts. Bd. 56). S. 69-78, hier S. 75; vgl. auch J. F. Battenberg (Anm. 2) S. 66. Zu den Schwierigkeiten der religiösen Lebensführung unter derartigen Umständen vgl. Stefan Rohrbacher: Stadt und Land. Zur „inneren" Situation der süd- und westdeutschen Juden in der Frühneuzeit. In: Jüdisches Leben auf dem Lande (Anm. 48) S. 37-58; sowie ders. 2004 (Anm. 47). StASO. Dorneck Schreiben. Bd. 36. 16. März 1719. S. 201. Bei innerjüdischen Konflikten die christliche Obrigkeit anzurufen, war äußerst verpönt. Stefan Rohrbacher: Ungleiche Partnerschaft. Simon Günzburg und die erste Ansiedlung von Juden vor den Toren Augsburgs in der Frühen Neuzeit. In: Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Hg. von Rolf Kießling, Sabine Ullmann. Berlin 1999 (Colloquia Augustana. Bd. 10). S. 192-219, hier S. 214. StASO. Dorneck Schreiben. Bd. 33. 27. August 1714. S. 260.

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Friedhofsverwaltung erwähnt.52 Belegt ist überdies, daß 24 Familienoberhäupter aus Allschwil, zwei aus Schönenbuch und sechs aus Oberwil Bestattungsrechte am Hegenheimer Friedhof, der seit 1673 den Zwingener Friedhof ersetzte, besaßen.53 Inwiefern sich Hegenheim allein aufgrund des Friedhofs zu einem religiösen Zentrum für die Landjuden entwickeln konnte, wäre zu untersuchen. Die Kultgegenstände und zahlreichen hebräischen Bücher, die sich bei der Aufnahme des Inventars im Besitz von Lehmann Schwöb in Dornach fanden, zeugen von der Frömmigkeit und der Verankerung von Schriftlichkeit und religiöser Gelehrsamkeit bei den Landjuden. Ob der hebreische schuolMeister, der ihren Wert auf zusammen 425 Pfund schätzte, in Dornach lebte oder von außen zugezogen werden mußte, ist nicht bekannt.54 Materielle Zeugnisse der jüdischen Kultur im Fürstbistum Basel und in Solothurn sind, abgesehen von einem Grabstein aus Zwingen, keine erhalten.55 Welche Bedeutung religiösen Aspekten und Funktionen bei der Stabilisierung einzelner Siedlungen zukam, ist schwierig abzuschätzen. Daß Zwingen als jüdischer Wohnort nach wenigen Jahren aufgelassen wurde, obwohl sich dort der gemeinsam genutzte Friedhof - ein Symbol der Verbundenheit für die verstreut lebenden Juden - befand, spricht eher gegen religiöse Faktoren als stabilisierende Elemente. Die jüdischen Ansiedlungen im Nordwesten der heutigen Schweiz zeichneten sich durch eine Palette unterschiedlicher Lebensformen aus, in der es neben Kleinstgemeinschaften stabilere, langlebigere Gemeinden gab. Charakteristisch für diese weitgehend atomisierte Lebensweise sind die über die einzelnen Ortschaften hinausgehenden Verbindungen. Sie machten religiöses Leben und institutionelle Strukturen, wie beispielsweise eine jüdische Gerichtsbarkeit,56 erst möglich. Bemerkenswert ist, daß diese übergemeindliche Organisationsstruktur an territorialen Grenzen nicht haltmachte, weil sie sich, so Stefan Rohrbacher für das 16. und frühe 17. Jahrhundert, „an den historisch gewachsenen Siedlungszusammenhängen der Judenheit" orientierte.57 Der vorliegende Befund legt nahe, daß der Begriff der ,Landjudengemeinde' der Lebenswelt der Juden auf dem Land nicht gerecht wird: Die Landjuden orientierten sich, selbst wenn sie in einer Ortschaft leben, in der sich aufgrund ihrer Größe eine Gemeinde bilden konnte, nicht allein an dieser. Vielmehr waren die Landjuden in beständige übergemeind-

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Achilles Nordmann: Über den Judenfriedhof in Zwingen und Judenniederlassungen im Fürstbistum Basel. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 6. 1907. S. 120-151; zitiert nach einem Separatdruck aus dem Jahr 1906. S. 28. Zur Gründung und Geschichte des Friedhofs vgl. Achilles Nordmann: Der Israelitische Friedhof in Hegenheim in geschichtlicher Darstellung. Basel 1910. StASO. Dorneck Schreiben. Bd. 35. 7. Juli 1718. S. 230f. Bei den Kultgegenständen handelte es sich um drey Dafelen Moisis, Undt Zwey Vorhäng, Und Etliche kleine Vorhäng So von Siden Undt Mit Silber und Goldt gestickht. Er befindet sich heute wieder am Standort des ehemaligen Friedhofs in Zwingen. Zur Entwicklung derartiger Strukturen vgl. S. Rohrbacher 2003 (Anm. 47) S. 460f. S. Rohrbacher 2003 (Anm. 47) S. 461.

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liehe politische, religiöse und soziale Strukturen eingebunden. In welcher Art diese Verbindungen strukturiert und institutionell verfestigt waren, bedarf - das Vorhandensein entsprechender Quellen, beispielsweise der Friedhofsverwaltung, vorausgesetzt - weiterer Untersuchungen. 58

4. Überlegungen zur Entstehung jüdischer Ansiedlungen Eine entscheidende Rolle für die Entstehung jüdischer Ansiedlungen scheint die Lage zu spielen, denn die Siedlungen weisen ähnliche Charakteristika auf: Fast alle Orte mit jüdischer Bevölkerung befanden sich an der Landesgrenze; einige stießen gar an zwei verschiedene ausländische Territorien an. Daß sich Menschen, die wie die Juden in einer rechtlich prekären Situation lebten, in Grenzgemeinden niederließen, ist sicher kein Zufall. Die Grenzlage bot die Möglichkeit zu fliehen oder Zuflucht zu suchen, ohne die Kontakte zum früheren Wohnort völlig abbrechen zu müssen. Des Weiteren lagen die Gemeinden verkehrsgünstig und/oder auf Orte mit Zentrumscharakter ausgerichtet. 59 Teilweise verfügten die Gemeinden als Marktort oder Vogteisitz selbst über zentralörtliche Bedeutung, so Dornach, Zwingen und Arlesheim. Im Fürstbistum Basel fällt auf, daß sich die Wohnorte im Verlauf des Untersuchungszeitraums vom durch Hügelzüge eingeschlossenen Laufental nach Norden in die Ebene des Birstais und Richtung Sundgau verlagerten. Ob in einem Territorium Juden gezielt angesiedelt, unter äußerst restriktiven Bedingungen lediglich geduldet oder ausgewiesen wurden, hing von einer Vielzahl politischer, fiskalischer, ökonomischer und wohl auch individueller Motivationen einzelner Herrscherpersönlichkeiten ab. 60 Neuere Untersuchungen zur herrschaftlichen Judenpolitik weisen im Vergleich zwischen geschlossenen und nicht-geschlossenen Territorien überdies auf die Bedeutung herrschaftspolitischer Rahmenbedingungen hin. Während dem „landesherrlichen Impuls" 61 in geschlossenen Territorien eine wesentliche Rolle zukomme, werde die Judenpolitik in

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Überblicksmäßig zur kontrovers diskutierten Frage, ob und in welchem Ausmaß die Gemeindestrukturen seit dem späten 17. Jahrhundert durch die Regionen (medinot) und Landjudenschaften ersetzt werden, vgl. J. F. Battenberg (Anm. 2) S. 64f.; zur Funktion der Landjudenschaften nach den Dreißigjährigen Krieg vgl. ebd., S. 39-41, 105-107. Letzteres gilt besonders für Allschwil, das an der Peripherie der Großstadt Basel liegt, aber auch für Röschenz und Blauen, die auf dem Weg in die Stadt Laufen beziehungsweise nach Zwingen liegen. S. Ullmann (Anm. 27) S. 37. Thesen zur Entstehung von jüdischen Siedlungen auf dem Land unter starker Berücksichtigung der obrigkeitlichen Interessen formuliert J. Friedrich Battenberg: Aus der Stadt auf das Land? Zur Vertreibung und Neuansiedlung der Juden im Heiligen Römischen Reich. In: Jüdisches Leben auf dem Lande (Anm. 48). S. 9-35. J. F. Battenberg (Anm. 60) S. 34.

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nicht-geschlossenen Territorien, wie etwa der von Sabine Ullmann untersuchten Markgrafschaft Burgau, entscheidend von innerterritorialen Machtkonstellationen zwischen Ständen und Landesherrn bestimmt. Der Zusammenhang zwischen jüdischer Siedlungsgeschichte und obrigkeitlicher Territorialpolitik läßt sich in der Markgrafschaft Burgau besonders deutlich aufzeigen, stand hier doch der Streit um die Verfügung über das Judenregal im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung zwischen den Adelsherrschaften und dem Markgrafen als Inhaber der Landesherrschaft. Im Konflikt um die sich überlagernden Herrschaftsrechte wurden die Juden zu einem „machtpolitischen Prestigeobjekt".62 Inwiefern sich die Juden diese Konstellation bei ihrem Zuzug zu Nutzen machen konnten, scheint von untergeordneter Bedeutung zu sein. Aus dem Gesagten entsteht meines Erachtens der Eindruck, daß die Entstehung jüdischer Ansiedlungen - zugespitzt formuliert - fast ausschließlich das Ergebnis herrschaftlichen Willens und Handelns sei. Diese These läßt sich in meinem Untersuchungsgebiet jedoch nicht erhärten. Eine planmäßige obrigkeitliche Ansiedlungspolitik ist in beiden Territorien nicht erkennbar, dagegen wird der Einfluss der Gemeinden, in denen sich Juden ansiedeln, sowie der Juden selbst erkennbar. In beiden Staatswesen besaßen die Obrigkeiten die herrschaftlichen Voraussetzungen des Judenschutzes.63 Damit verfügten sie über ein vielseitig nutzbares finanzielles und politisches Hoheitsrecht, dem überdies als Merkmal der Landeshoheit ein symbolischer Stellenwert zukam. Es lag im alleinigen landesherrlichen Prärogativ, Juden den Aufenthalt zu gewähren oder zu verweigern. Auf herrschaftlichen Willen läßt sich die Entstehung der jüdischen Ansiedlungen dennoch keinesfalls zurückführen. Die Haltung der beiden Obrigkeiten gegenüber den Juden - mag man sie als positiv oder zumindest nicht ablehnend, vielleicht auch nur als gleichgültig charakterisieren - zeigt sich einzig in der Tatsache, daß Juden an verschiedenen Orten geduldet wurden. Nur vermuten läßt sich, daß dabei wirtschaftliche, allenfalls auch fiskalische, kaum jedoch territorial- oder herrschaftspolitische Interessen der Obrigkeit von Bedeutung waren. Die geringen Einnahmen der beiden Obrigkeiten aus dem Judenschutz64 - die Schirmgelder und die von ansässigen wie fremden 62 63 64

S. Ullmann (Anm. 27) S. 65f. Zu Territorialisierung und Judenschutz vgl. J. F. Battenberg (Anm. 2) S. 8f. Sowohl im Fürstbistum Basel als auch in Solothurn waren die obrigkeitlichen Einnahmen aus dem Judenschutzgeld gering. Im Fürstbistum schwankten sie zwischen 5 und 140 Pfund pro Jahr, wobei Jahre mit kleinen Einnahmen (unter 50 Pfund) deutlich überwiegen. StABL. Amtschaffiieirechnungen Birseck. 1569-1694 (Mikrofilme Nr. 7451-7456); AAEB. Vogteirechnungen Zwingen. 1569-1694. Zum Vergleich: Hans Berner (Anm. 10) S. 67, hat für die Vogtei Birseck die Einnahmen aus Bußen wegen kleiner Vergehen wie Holz- und Feldfrevel, Schlaghändel und Ehrverletzungen berechnet und ist für die Jahre 1560 bis 1619 - also denselben Zeitraum, in dem auch Schirmgeld von Juden erhoben wurde - auf einen jährlichen Wert von durchschnittlich 184,4 Pfund gekommen. Aus fiskalischer Sicht warf der Judenschutz relativ wenig ab, war aber im Vergleich mit dem vom Vogt ausgeübten Niedergericht auch weniger aufwendig. In der solothurnischen Vogtei Dorneck schwankten die Ein-

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Juden bezogene Zolleinnahmen - lassen für das Untersuchungsgebiet an der These zweifeln, das wesentliche Motiv für die Aufnahme von Juden sei die „Chance der Abschöpfung von Kapital"65 gewesen. Systematisierende Aussagen darüber, inwiefern makroökonomische Faktoren, beispielsweise kriegswirtschaftliche Bedürfnisse etwa während des Dreißigjährigen Kriegs 66 bei der Zulassung von Juden eine Rolle spielten, lassen sich im Moment allerdings nicht machen. Eine schriftlich fixierte, etwa in einer Judenordnung niedergelegte Judenpolitik existierte weder im Fürstbistum Basel noch in Solothurn. Lediglich aus dem Bistum sind sechs Schutzbriefe überliefert. 67 Sie stammen aus den Jahren 1567 bis 1602, rekurrierten teilweise 68 auf die im Reich geltende Frankfurter Reichspolizeiordnung von 1577 und regelten die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen jüdischen Lebens im Fürstbistum; sie legten die Höhe des Schirmgeldes fest und verboten es den Juden, bischöfliche Untertanen vor fremde Gerichte zu ziehen. Die Beschränkung auf lokale Gerichte zielte auf die Festigung des Territorialitätsprinzips und der bischöflichen Landesherrschaft ab. Völlig unberücksichtigt blieben in den Schutzbriefen Bestimmungen zur Gestaltung des religiösen Lebens, also beispielsweise auch die Berechtigung zu Schächten und zum Verkauf der für die Juden ungenießbaren hinteren Viertel der Rinder. 69 Nur selten markierte eine Supplikation mit anschließender Schutzaufnahme den Anfang einer Ansiedlung im Fürstbistum oder in Solothurn. 70 Eine Bittschrift

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nahmen von 1665 bis 1736 zwischen 15 und 121 Pfund, wobei Jahre mit Einnahmen von unter 50 Pfund genauso häufig vertreten sind wie solche mit Einnahmen von über 50 Pfund. StASO. Dorneck Rechnungen. 1665-1736. Besonders die Dornecker Rechnungen spiegeln weniger ein obrigkeitliches Fiskalinteresse als das langsame Anwachsen der Dornacher Landjudengemeinde, das jedoch immer wieder durch wanderungsbedingte Verluste unterbrochen wurde. J. F. Battenberg (Anm. 2) S. 72. Die Tätigkeit der Dornacher Landjuden als Lieferanten militärischer Reitpferde läßt sich für 1678 und 1732 nachweisen. A. Fridrich (Anm. 6) S. 21. Zur Bedeutung von Schutzbriefen für die Lebensgestaltung der Juden vgl. Andre Holenstein: Bitte um den Schutz: Staatliche Judenpolitik und Lebensführung von Juden im Lichte von Schutzsupplikationen aus der Markgrafschaft Baden(-Durlach) im 18. Jahrhundert. In: Landjudentum (Anm. 50) S. 97-153. Auf die Reichspolizeiordnung von 1577 wird nur in den seit 1596 entstandenen Schutzbriefen Bezug genommen. Zum Inhalt der Schutzbriefe vgl. A. Fridrich (Anm. 8) S. 196-199. Supplikationen um Schutzaufnahme im Fürstbistum beziehungsweise in Solothurn reichten 1573 Leuw aus der Herrschaft Pfirt (AAEB. Β 216. 23. August 1573. S. 66), Lewel aus Häsingen (AAEB. Β 216. 29. Oktober 1636. S. 134f.), Meister Isaak und zwei gevattern auch Juden (AAEB. Β 216. 15. Juni 1637. S. 136), Jäggel Schwöb (StASO. Ratmanual. 9. März 1657. S. 106f.), Isaak, Marx und Costell aus Breisach (StASO. Dorneck Schreiben. Bd. 29. 28. Dezember 1702. S. 162) ein. Joseph aus Allschwil bat 1596 wegen seines hohen Alters darum, daß Frau und Kinder nach seinem Tod weiterhin hier bleiben dürften (AAEB. Β 216. 28. August 1596. S. 124f.). Supplikationen um eine weitere Duldung richteten Meister Isaak (StASO. Dorneck Schreiben. Bd. 11. 14. November 1639. S. 46) sowie Jägel der Jud

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einzureichen, stellte offenbar nicht den üblichen Weg dar, im Untersuchungsgebiet Aufnahme zu finden. Meist lebten die Juden bereits vor Ort und supplizierten, wenn sie sich ihrer Duldung trotz einer gültigen Aufenthaltsbewilligung nicht sicher waren,71 wenn sie weitere Verwandte, beispielsweise den zukünftigen Schwiegersohn,72 bei sich aufnehmen wollten oder wenn ihnen die Vertreibung angedroht wurde.73 Insofern verweisen Supplikationen hier (anders als beispielsweise in Baden-Durlach) weniger auf einen gewöhnlichen Verwaltungsvorgang,74 in den Juden argumentativ eingreifen konnten, als auf prekäre Lebenssituationen, die es nach Möglichkeit abzuwenden galt.75 Eine abschreckende Wirkung auf Juden entfaltete die unklare Haltung der beiden Obrigkeiten offenbar nicht, denn in beiden Territorien zogen jüdische Menschen zu, ohne sich ihrer Aufnahme sicher sein zu können. Bei den individuellen Beweggründen der Jüdinnen und Juden, die sich fur kürzere oder längere Zeit im Untersuchungsgebiet niederließen, fällt die zentrale Bedeutung von Verwandtschaft und von Heiratsverbindungen auf. Bereits im 16. Jahrhundert läßt sich nachweisen, daß Siedlungen durch die Aufnahme des Schwiegersohns wuchsen oder daß der Vater seinem Sohn in eine neue Gemeinde nachfolgte. Nur ein einzelner Beleg betrifft den Zuzug einer Frau: Im frühen 18. Jahrhundert kam Sara, Tochter des Alexander aus dem elsässischen Niederhagental, nach Dornach, wo sie gemäß ihres Ehevertrags während zwei Jahren mit ihrem Mann Salomon Bloch bei dessen Eltern leben sollte.76 Mit aller Vorsicht darf deshalb gesagt wer-

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und sein Gespan und die überigen Juden (StASO. Ratsmanual. 20. November 1652. S. 813f.) an die solothuraische Obrigkeit. AAEB. Β 234/8. 29. Juni 1579. S. 286f. Leuw aus Zwingen berichtet dem Bischof über seine zwei Jahre zurückliegende erste Anfrage, ob er mit einer weiteren Duldung rechnen könne, und erkundigt sich nun, ob diese auch für seine Schwiegersöhne gelte. Joseph in Allschwil bittet um Schutz und Schirm fur seinen zukünftigen Schwiegersohn, AAEB. Β 216. 5. Oktober 1588. S. 120. Mathis und Fridlin bitten um Aufschub ihrer Ausweisung aus dem solothurnischen Territorium. StASO. Dorneck Schreiben. Bd. 2. 17. Februar 1580. S. 101. Vgl. auch ebd. Bd. 11. 14. November 1639. S. 46; ebd. Bd. 13. 7. April 1646. S. 20f. Vgl. A. Holenstein (Anm. 67). Zu Supplikationen als kommunikativem Prozess zwischen Obrigkeit und den Juden als „selbstbewussten Untertanen" vgl. den Artikel von J. Mordstein in diesem Band. Vgl. ζ. B. den oben zitierten Beleg, in dem Lewel aus Häsingen um Aufnahme in Aesch nachsuchte, weil er in Dornach kein wintertaugliches Quartier finden konnte. A. Fridrich (Anm. 6) S. 25f. Intensive Heiratsverbindungen mit dem Elsaß lassen sich zwar vermuten, jedoch nicht belegen. Α. A. Fraenkel: Memoire Juive en Alsace. Contrats de manage au XVIIF Siecle. Strasbourg 1997, führt zahlreiche Eheverträge vor allem von oberelsässischen Jüdinnen und Juden mit Männern und Frauen aus der Gemeinen Herrschaft Baden, nicht jedoch aus Dornach, auf. Bei über drei Vierteln dieser Ehen stammte die Ehefrau aus der Schweiz. Claudia Ulbrich weist nach, daß die meisten Ehen im Elsaß des 18. Jahrhunderts mit Partnerinnen und Partnern aus einer anderen elsässischen Gemeinde geschlossen wurden. Claudia Ulbrich: Eheschließung und Netzwerkbildung am Beispiel der jüdischen Gesellschaft im deutsch-französischen Grenzgebiet (18. Jahrhundert). In: Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien. Hg. von Christophe

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den, daß die Juden selbst durchaus einen wesentlichen Anteil an der Konstituierung neuer Siedlungen hatten. Der geringfügige Einfluß der Obrigkeiten bei der Entstehung jüdischer Siedlungen erschließt sich aus der Tatsache, daß diese oftmals lediglich nachvollzogen, was die Gemeinden, in denen Juden untergekommen waren, bereits (wenn nicht formell, so doch faktisch) entschieden hatten. Auf die entscheidende Rolle der Gemeinden als „Kristallisationspunkte der Integration von Minderheiten" haben jüngst Mark Häberlein und Martin Zürn hingewiesen. 77 Meines Erachtens bedarf die Frage, ob die Gemeinden dabei tatsächlich „meist im Interessengegensatz zur Landesherrschaft" standen, wie Häberlein/Zürn annehmen, im Einzelfall der Klärung. Die Ergebnisse meiner Untersuchung deuten auf einen gewissen Gleichklang obrigkeitlicher und kommunaler Interessen hin, denn die Obrigkeit stieß die gemeindliche Aufnahme von Juden genauso wenig um, wie die Gemeinden sich gegen obrigkeitliche Schutzaufnahmen zur Wehr setzten. Faktisch war es in der Tat die Gemeinde, die Fremde integrierte, sie zu ,Gemeindegenossen' werden ließ, rechtlich konnte allerdings nur die Obrigkeit sie zu Hintersassen machen. Wesentlich scheint es mir zu betonen, daß es nicht die Obrigkeit allein war, die die Aufnahme von Juden bewirkte oder verhinderte. Im Wechselspiel der Interessen, in dem die Juden nicht allein der obrigkeitlichen Schutzaufnahme bedurften, sondern auch der Gemeinde an ihrem Wohnort begegneten, war ein Bündel von Faktoren für die Konstituierung einer jüdischen Siedlung von Bedeutung. Noch kaum erforscht sind dabei die Beweggründe der Gemeinden, die den 78

Juden mit Akzeptanz begegneten und sie zumindest minimal integrierten. Die Entstehung jüdischer Ansiedlungen scheint weit stärker das Ergebnis einer Kooperation zwischen zuziehenden Juden und sie aufnehmenden Gemeinden

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Duhamelle, Jürgen Schlumbohm. Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte. Bd. 197). S. 315-340, hier S. 320. Mark Häberlein, Martin Zürn: Minderheiten als Problem der historischen Forschung. Einleitende Überlegungen. In: Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Integrations- und Ausgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum. Hg. von Mark Häberlein, Martin Zürn. St. Katharinen 2001. S. 9-39, hier S. 13 und S. 23. Der Themenkomplex ,innergemeindliches Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden' wird jüngst intensiv erforscht. Vgl. S. Ulimann (Anm. 27); Claudia Ulbrich: Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Köln, Wien, Weimar 1999 (Aschkenas. Beih. 4); Rolf Kießling, Sabine Ullmann: Christlich-jüdische „Doppelgemeinden" in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau während des 17./18. Jahrhunderts. In: Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext (Anm. 47) S. 513-533; Andre Holenstein, Sabine Ullmann: „Landgemeinde" und „Minderheiten" in der Frühen Neuzeit. Integration und Exklusion als Herausforderungen an ländliche kommunale Verbände. In: Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reichs während der Frühen Neuzeit. Epfendorf 2004 (Oberschwaben - Geschichte und Kultur. Bd. 12). S. 9-29; sowie den Artikel von Nathanja Hüttenmeister in diesem Band. Die Frage, wie das Zusammenleben im Spannungsfeld von Nachbarschaft und Konkurrenz, Integration oder Segregation, zu charakterisieren sei, wird kontrovers diskutiert. Vgl. J. F. Battenberg (Anm. 2) S. lOlf.

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gewesen zu sein als Ausdruck obrigkeitlicher Entscheidung. Bei der Zerstörung jüdischer Siedlungen hingegen war obrigkeitliches Handeln von zentraler Bedeutung. Die Initiative für die Vertreibung ging in Solothurn zwar ebenfalls von der Gemeinde Dornach aus, mit ihren Beschwerden bewegte sie den solothurnischen Rat jedoch ohne weiteres dazu, einen Ausweisungsbefehl aus Landesvätterlicher Vorsorg 9 auszusprechen und nach einer den Juden gewährten zweimonatigen Fristverlängerung durchzusetzen. Im Fürstbistum Basel nahm der Bischof einen einem durchreisenden Juden angelasteten Vorfall in Oberwil, der ihm von nicht näher bestimmbarer Seite zugetragen worden war, zum Anlaß, eine Untersuchung und ein Gerichtsverfahren gegen die Juden anzustrengen. Es endete in der Zerstörung der Siedlungen von Allschwil, Oberwil und Schönenbuch. Als Akteure erkennbar sind außer den beklagten Juden, die sich nach Kräften gegen die Vorwürfe zur Wehr zu setzen versuchten, einzig hohe bischöfliche Beamte. Weder die Wohngemeinden der Juden noch der Vogt von Birseck scheinen von sich aus aktiv geworden zu sein.80 Daß der Bischof die Juden vertrieb, für wirtschaftliche Kontakte jedoch explizit Türen offen ließ, belegt seine widersprüchliche, an Pragmatismus und ökonomischen Interessen orientierte Haltung. Die Entstehung und Konstituierung der jüdischen Siedlungen im Nordwesten der heutigen Schweiz sind das Resultat von Wanderungsbewegungen, deren Auslöser nur selten Vertreibungen waren. Die Migration war vielmehr geprägt durch die Suche nach günstigen Existenzbedingungen, ein Befund, der sich gut in die Forschungsergebnisse zu anderen Regionen einordnet.81 Das Untersuchungsgebiet gehört jedoch zu jenen Regionen, die Juden nur vorübergehend zuließen. Zur Frage, warum die eidgenössischen Orte die Ansiedlung von Juden fast vollständig unterbanden, verweisen Andre Holenstein und Sabine Ullmann auf die Bedeutung von Herrschafts- und Verfassungstypen: „Auf die Bedeutung des politischstaatlichen Faktors macht der Befund aufmerksam, daß die Relativierung des Homogenitätsparadigmas im Hinblick auf die konfessionelle Kultur eines Territoriums nicht überall gleich früh stattgefunden hat. Während in fürstlichen Territorien im Reich seit dem späten 17. Jahrhundert die lokale Koexistenz unterschiedlicher Konfessionsgruppen möglich wurde, bekundeten die kommunalistisch fundierten Orte der Eidgenossenschaft außerhalb gewisser Gemeiner Herrschaften bis zum Ende des Ancien Regime große Mühe dabei, in ihrem Gebiet neben der hegemonialen Konfession andere christliche Denominationen, geschweige denn Juden zuzulassen."82 An der Bedeutung herrschafts- und verfassungsrechtlicher Unterschiede ist nicht zu zweifeln. Allerdings möchte ich an die Überlegung von Holenstein und Ullmann mit der Frage anschließen: Ist es nicht weniger die

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StASO. Ratsmanual. 9. Januar 1736. S. 4f. Zu den Umständen der Vertreibungen und den vorgebrachten Beschwerden, vgl. A. Fridrich (Anm. 6) S. 35-39; sowie dies. (Anm. 8) S. 199-205. J. F. Battenberg (Anm. 2) S. 86f. A. Holenstein, S. Ullmann (Anm. 78) S. 26.

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kommunalistische Verfasstheit als eher das bis ins frühe 18. Jahrhundert labile konfessionelle Gleichgewicht innerhalb der Eidgenossenschaft, das die Orte in ihren Territorien die konfessionelle Homogenität betonen ließ? Denn bei aller Differenz in der Herrschaftslegitimation beeinflußten kommunale Strukturen die Herrschaftsverhältnisse nicht nur in der Eidgenossenschaft, sondern auch in Für83

stentümern nachhaltig. Die Untersuchung der beiden Territorien verweist meines Erachtens auf viele Ähnlichkeiten im Verhalten gegenüber Juden. 84 Beide Obrigkeiten betrieben keine planmäßige Ansiedlungspolitik. Die Aufnahme von Juden ist selten das Ergebnis einer Supplikation mit anschließender Schutzaufnahme. Vielmehr zogen Juden in Gemeinden zu, ohne sich ihrer Duldung sicher sein zu können. Obwohl die frühneuzeitliche Gesellschaft Fremden tendenziell ablehnend begegnete, 85 war die lokale Bevölkerung selbst in Zeiten großer Unsicherheit, wie während des Dreißigjährigen Kriegs, bereit, Juden aufzunehmen. Die Entstehung jüdischer Ansiedlungen kann demnach als Ergebnis jüdischer Eigeninitiative und einem gewissen Gleichklang obrigkeitlicher und kommunaler Interessen gedeutet werden. Bei der Vertreibung dagegen zeigen sich Unterschiede zwischen dem geistlichen Fürstentum, das die Juden nach einem selbst angestrengten Gerichtsverfahren auswies, und dem eidgenössischen Ort, in dem die Obrigkeit aufgrund von gemeindlichen Beschwerden gegen die Juden vorging. Diesen Befund in einer Hypothese zu generalisieren, scheint mir jedoch unzulässig. Für verallgemeinerbare Aussagen, warum Juden im Untersuchungsgebiet nur vorübergehend Aufnahme fanden, dann jedoch bei weiterer Tolerierung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit vertrieben wurden, scheint es mir noch zu früh zu sein. Ebenso offen bleiben muß die Frage, wie die Juden initial (vor den verwandtschaftlich motivierten Wanderungen) darauf aufmerksam wurden, daß sie im Fürstbistum Basel und in Solothurn Möglichkeiten für eine Existenz finden würden.

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Zum Einfluß kommunaler Organe auf die Möglichkeiten fürstlicher Machtentfaltung vgl. A. Fridrich (Anm. 11). Zur konfessionspolitischen Konfliktlage in der Eidgenossenschaft vgl. Francois de Capitani: Beharren und Umsturz (1648-1815). In: Geschichte der Schweiz und der Schweizer (Studienausgabe in einem Band). Red. Beatrix Mesmer. Basel 1986. S. 447526, hier S. 475-482. Der Vergleich zwischen Fürstbistum Basel und Solothurn erbringt keine Hinweise, die zur Beantwortung der im Übersichtswerk von J. F. Battenberg (Anm. 2) diskutierten Frage dienen können, ob Juden in geistlichen Territorien aus strukturellen Gründen bessere Lebensbedingungen vorfanden als in weltlichen. Vgl. Andre Schluchter: Die ländliche Gesellschaft und die Randgruppen im Ancien Regime. Überlegungen zur Ehrbarkeit und zum Fremdsein. In: Jahrbuch für solothurnische Geschichte 61. 1988. S. 169-188.

Feinde der Städte, Diener des Adels? Die Entwicklung jüdischer Siedlungen in Niederösterreich (16.-17. Jahrhundert) Peter Rauscher

Die Ausweisung aller Juden aus der Residenzstadt Wien und dem gesamten Land Österreich unter der Enns in den Jahren 1669 bis 1671 war ein Vorgang, der überregionale mediale Beachtung fand.1 In den Jahren zuvor zählte die Wiener Judenstadt, außerhalb der eigentlichen Stadt Wien im Unteren Werd, einem Teil der späteren Leopoldstadt, gelegen, neben dem wesentlich bevölkerungsreicheren Judenviertel in Prag, der Gemeinde in Frankfurt am Main und der Hamburger Judenschaft zu den bedeutendsten jüdischen Zentren im gesamten Heiligen Römischen Reich und bildete einen Anziehungspunkt fur auswärtige Reisende. 2 Doch nicht nur die Juden der kaiserlichen Residenzstadt, sondern auch die Juden in den zahlreichen Landgemeinden in Österreich unter der Enns, dem heutigen Niederösterreich, wurden durchaus beachtet. So berichtete der englische Arzt Edward

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Vgl. z.B. Diarium Europaeum. Continuatio XVIII (...). Frankfurt/Main 1669. S. 322; ebd. Continuatio XX (...). Frankfurt/Main 1670. S. 6. Flugblatt „Jüdisch neue Zeitung vom Marsch aus Wien und anderen Orten", o. O., o. D. Abgedruckt u. a. bei Max Grunwald: Geschichte der Juden in Wien. Vom Jahre 1625 bis zum Jahre 1740. In: Geschichte der Stadt Wien. Hg. vom Alterthumsvereine zu Wien, redigiert von Anton Mayer. Bd. 5: Vom Ausgange des Mittelalters bis zum Regierungsantritt der Kaiserin Maria Theresia, 1740 (II. Teil). Wien 1914. S. 65-99. Tafel III; Mordechai Breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: Mordechai Breuer, Michael Graetz: Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd. I: Tradition und Aufklärung 1600-1780. München 1996. S. 85-247, hier S. 103. Zur Vertreibung der Juden aus Wien vgl.: David Kaufmann: Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien und Niederösterreich. Ihre Vorgeschichte (1625-1670) und ihre Opfer. Wien 1889. Harald Tersch: Die Kategorisierung des Blicks. Städtische Identität in Wien-Berichten der frühneuzeitlichen Reiseliteratur. In: Frühneuzeit-Info 10. 1999. S. 108-133. S. 118-120. Zur jüdischen Geschichte in der Frühen Neuzeit siehe: M. Breuer (Anm. 1); J. Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (EDG 60). München 2001.

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Brown in seiner 1673 erschienenen Reisebeschreibung, daß es wenige Jahre vorher gantze Dörffer voll Juden in Oesterreich gegeben habe. 3 Im Gegensatz zur Aufmerksamkeit der Zeitgenossen fanden die niederösterreichischen Landjuden in der Geschichtsschreibung zum aschkenasischen Judentum in der Frühen Neuzeit kaum Beachtung. 4 Dies hängt wohl in erster Linie mit der Forschungslage zusammen. Innerhalb der österreichischen Geschichtswissenschaft spielte die Geschichte der Landjuden in der Frühen Neuzeit keinerlei Rolle. Nach einer Studie Walter Messings aus dem Jahr 1939 machte erst in den 1990er Jahren Sabine Hödl die Geschichte der niederösterreichischen Juden vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert zum Thema ihrer Diplomarbeit und dann ihrer Dissertation,5 die die Grundlage fur das mehrjährige Forschungsprojekt ,Austria Judaica' am Institut für Geschichte der Juden in Österreich bildete.6 Mit der Untersuchung von Leopold Moses zu den Landjuden in Niederösterreich im 17. Jahrhundert lag bereits seit längerem ein kenntnis- und detailreiches Werk vor, das jedoch wegen seines unübersichtlichen Aufbaus nur mühsam zu rezipieren ist.7 Erst im Jahr 2005 wurde auf Grundlage der Arbeiten von , Austria Judaica' durch Barbara Staudinger eine neue Gesamtdarstellung der jüdischen Geschichte Niederösterreichs vom Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur Vertreibung von 1671 publiziert, in dem auch die Siedlungsgeschichte der Juden im Land unter der ο

Enns umfassend dargestellt wurde. Der Grund, warum an dieser Stelle das Thema neuerlich aufgegriffen werden soll, liegt darin, daß hier - stärker als dies im Rahmen einer Gesamtdarstellung zur jüdischen Geschichte möglich ist - auf die das jüdische Leben in Niederösterreich bestimmenden sozio-politischen Rahmenbedingungen eingegangen werden kann. Die Beschäftigung mit den Fragen, wo und warum sich Juden an bestimmten Orten aufhielten, ist wegen der allgemein instabilen rechtlichen Lage der Juden und den damit zusammenhängenden häufigen Vertreibungen eines der Kernthe3

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Edward Brown: Auf genehmgehaltenes Gutachten und Veranlassung der Kön. Engell. Medicinischen Gesellschafft in Londen Durch Niederland / Teutschland / Hungarn / Serbien / Bulgarien / Macedonien / Thessalien / Oesterreich / Steiermark / Kärnthen / Carniolen / Friaul / etc. gethane gantz sonderbare Reisen (...). Nürnberg 1686. S. 219. Vgl. Peter Rauscher: Eine vergessene Geschichte. Die jüdischen Landgemeinden in Niederösterreich im 17. Jahrhundert. In: Unsere Heimat 75. 2004. S. 304-321. Vgl. P. Rauscher (Anm. 3). Sabine Hödl: Juden in Niederösterreich von 1493 bis 1555. Eine Suche nach jüdischen Zeugnissen in einer Zeit ohne Juden. Mit einem Überblick über die Situation im 15. Jahrhundert. Ungedr. Diplomarbeit Wien 1994; dies.: Zur Geschichte der Juden in Österreich unter der Enns 1550-1625. Ungedr. Diss. phil. Wien 1998. Peter Rauscher: 150 Jahre jüdisches Leben in Österreich. Das Forschungsprojekt Austria Judaica des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich (1998-2005). In: FrühneuzeitInfo 16. 2005. S. 81-86. Leopold Moses: Die Juden in Niederösterreich. (Mit besonderer Berücksichtigung des XVII. Jahrhunderts). Wien 1935. Barbara Staudinger: Gantze Dörffer voll Juden. Juden in Niederösterreich 1496-1670/71. Wien 2005.

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men der jüdischen Geschichte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit.9 Es geht in der Forschung unter anderem darum, Migrationswege zu beschreiben, grundlegende Veränderungen der Lebenswelten - angefangen vom Nahrungserwerb bis zur Religionsausübung aufzuzeigen wie dies durch die Formel ,νοη der Stadt auf das Land' plakativ ausgedrückt wird. Dabei kann die Frage, wohin sich Juden nach ihrer Ausweisung aus den Städten wandten, umformuliert werden in die Frage, wer ihre Ansiedlung außerhalb der Städte begünstigte. Geht man von ähnlichen Entwicklungen wie im benachbarten Mähren aus, spielte dabei der Adel die entscheidende Rolle. So stellte Vladimir Lipscher in seiner Studie zu den Juden in Böhmen und Mähren im 17. und 18. Jahrhundert fest: „Die vorhandenen Archivbestände zeigen, dass wirtschaftliche Ueberlegungen des Adels bei der Aufnahme der Juden auf seine Güter ausschlaggebend waren. Die Bedingungen, die er mit der Erlaubnis für Juden, sich auf seinen Besitzungen niederzulassen, verknüpfte, waren nämlich ausschließlich wirtschaftlicher Natur."10 Ganz anders erfolgte die Ansiedlung von Juden in der Markgrafschaft Burgau. Wie Sabine Ullmann ausführte, war es hier die Markgrafschaft, die die Niederlassung von Juden oft auch gegen den Widerstand der Ortsherrschaften begünstigte.11 Aus diesen entgegengesetzten Befunden wird deutlich, daß es kein einheitliches Muster von ,Judenförderern' und Judengegnern' gab, sondern von Region zu

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So bemerkte etwa Friedrich Battenberg im Jahr 1996: „Von den vielen ungelösten Problemen zur Geschichte der Juden im frühneuzeitlichen aschkenasischen Raum ist die Frage nach der Dimension, der räumlichen Verteilung, der sozialen Zusammensetzung und der beruflich-gewerblichen Struktur der jüdischen Bevölkerung noch am wenigsten erforscht." J. Friedrich Battenberg: Strukturen jüdischer Bevölkerung in Oberhessen im 17. Jahrhundert. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1996. S. 267-298. Zitat S. 267. Vgl. M. Breuer (Anm. 1) S. 86-90; J. Friedrich Battenberg: Aus der Stadt auf das Land? Zur Vertreibung und Neuansiedlung der Juden im Heiligen Römischen Reich. In: Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. Hg. von Monika Richarz, Reinhard Rürup. Tübingen 1997 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck-Instituts. Bd. 56). S. 9-35; F. Battenberg (Anm. 2) S. 10-13 und S. 76-79; Stefan Rohrbacher: Die Entstehung der jüdischen Landgemeinden. In: Mappot... gesegnet, der da kommt. Das Band jüdischer Tradition. Hg. von Annette Weber, Evelyn Friedlander, Fritz Armbruster. Osnabrück 1997. S. 35-41. Vladimir Lipscher: Zwischen Kaiser, Fiskus, Adel, Zünften: Die Juden im Habsburgerreich des 17. und 18. Jahrhunderts am Beispiel Böhmens und Mährens. Diss. phil. Zürich 1983. S. 75. Zur Zeit vor 1620 siehe Helmut Teufel: Zur politischen und sozialen Geschichte der Juden in Mähren vom Antritt der Habsburger bis zur Schlacht am Weißen Berg (1526-1620). Diss. phil. Erlangen-Nürnberg 1971. Zum Verhältnis zwischen Grundherrschaft und Juden im Burgenland siehe Gertrud Langeder: Die Beziehungen zwischen Juden und Grundherrschaft im Burgenland. Ungedr. Diss. phil. Wien 1946. Sabine Ullmann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte. Bd. 151). S. 66-73. Gemeinsam war beiden Räumen - dem vorderösterreichisch-schwäbischen, wie auch Mähren und Österreich unter der Enns, daß das Zugriffsrecht auf die Juden im Konflikt zwischen Landesfürst und Adel um die Durchsetzung der Landesherrschaft eine Rolle spielte.

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Region zu differenzieren ist. Für Niederösterreich scheint sich, wie im folgenden zu zeigen sein wird, ein drittes Modell herauszukristallisieren: Während im frühen 16. Jahrhundert die Ansiedlung von Juden - wenn auch in sehr engen Grenzen - durch das Landesfürstentum gefordert wurde, waren es spätestens zu Beginn des 17. Jahrhunderts einzelne Adelige, die auf ihren Grundherrschaften eine aktive Judenpolitik betrieben, auch wenn die Landesherrschaft bis zur Ausweisung von 1671 den rechtlichen Rahmen jüdischer Existenz im Land unter der Enns bestimmte. Offensichtlich ist, daß die jüdische Siedlungsgeschichte untrennbar mit politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen verbunden ist. Mangels entsprechender innerjüdischer Quellen ist die Rolle, die die Juden im Prozeß ihrer Niederlassung an einem bestimmten Ort spielten, schwer zu erfassen. Dennoch soll im folgenden versucht werden, die Handlungsspielräume von Juden zu skizzieren. Bei aller Angewiesenheit auf obrigkeitliche Duldung zeigt sich, daß auch von jüdischer Seite eine aktive Siedlungspolitik betrieben wurde.

1. Land und Herrschaftsträger Das heutige Niederösterreich, das im 16. und 17. Jahrhundert offiziell als Erzherzogtum Österreich unter der Enns bezeichnet wurde, bildete zu Beginn der Neuzeit nach der Formierung eines eigenständigen Landtags im benachbarten Österreich ob der Enns und den innerhabsburgischen Auseinandersetzungen zwischen Friedrich III. und Erzherzog Albrecht VI. im 15. Jahrhundert ein selbständiges Land.12 Die Landstände bestanden aus den Prälaten, dem in die beiden Kurien der Herren und Ritter aufgeteilten Adel und den landesfurstlichen Städten und Märkten.13 Als Landesfürst an der Spitze des Landes stand der regierende Erzherzog aus der Familie Habsburg bzw. dem ,Haus Österreich' (,Casa de Austria'). Abgesehen von der Epoche Rudolfs II., der das Land zunächst von einem Statthalter regieren ließ und es dann seinem Bruder Matthias überlassen mußte, war von

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Vgl. Alfred Hoffmann: Die oberösterreichischen Landstände und Landtage in alter Zeit. In: Verfassung und Verwaltung des Landes Oberösterreich vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Linz 1937. S. 5-34; Othmar Hageneder: Territoriale Entwicklung, Verfassung und Verwaltung im 15. Jahrhundert. In: Tausend Jahre Oberösterreich. Das Werden eines Landes. Katalog zur Ausstellung des Landes Oberösterreich, 29. April bis 26. Oktober 1983 in der Burg zu Wels. Bd. 1: Beitragsteil. Linz 1983. S. 53-63; Hermann Wiesflecker: Österreich im Zeitalter Maximilians I. Die Vereinigung der Länder zum frühmodernen Staat. Der Aufstieg zur Weltmacht. Wien, München 1999. S. 72. Zu den österreichischen Ständen siehe den Überblick von Herbert Hassinger: Die Landstände der österreichischen Länder. Zusammensetzung, Organisation und Leistung im 16.-18. Jahrhundert. In: Festschrift zum hundertjährigen Bestand des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich und Wien, geleitet von Karl Lechner. Wien 1964. Bd. II (Jahrbücher für Landeskunde von Niederösterreich. N. F. 36). S. 989-1035.

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1558 bis zum Ende unseres Untersuchungszeitraums der Landesfürst immer gleichzeitig auch Kaiser. Bis zu den Siegen der kaiserlichen Seite im Dreißigjährigen Krieg war die Macht des Landesfürsten in Österreich unter der Enns allerdings vergleichsweise gering. Trotz einiger Bemühungen zur Gegenreformation gelang es bis in die 1620er Jahre nicht, das im Augsburger Religionsfrieden festgeschriebene Prinzip des ,cuius regio, eius religio' gegen die großteils protestantischen Landstände durchzusetzen. Danach kam es zwar zu einer weitestgehenden Rekatholisierung des Landes, jedoch war es auch in der Folgezeit schwierig, landesfürstlichen Verordnungen gegen die Interessen einflußreicher Adeliger Geltung zu verschaffen. Dies kann etwa am Beispiel des landesherrlichen Verbots jüdischer Mautner, das längere Zeit nicht durchgesetzt werden konnte, gezeigt werden. 14 So wurde bereits von Alfred Hoffmann auf die Konkurrenz von Grundherrschaft und werdendem Staat hingewiesen. 15 Solche Konflikte waren freilich nicht Ausdruck grundsätzlichen ständischen Widerstands, wie er für die Zeit vor 1620 charakteristisch war, sondern der Tatsache, daß der kaisertreue Adel seit dem Sieg des Landesfürsten gegen die ständische Opposition im Dreißigjährigen Krieg seinen Einfluß wesentlich hatte steigern können. Es besetzte nicht nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe hochadeliger Großgrundbesitzer die politischen Schlüsselfunktionen im ,Habsburgerreich', die Unterstützung der Krone durch einen Teil der Aristokratie ging auch mit einer „Intensivierung der Grundherrschaft des Adels über den Großteil der habsburgischen Untertanen" einher. 16 Verwaltungstechnisch war das Land unter der Enns in vier Viertel aufgeteilt, im Süden der Donau in die Viertel ob und unter dem Wienerwald und nördlich der Donau in die Viertel ob und unter dem Manhartsberg. 17 Seit den Wahlen Ferdinands I. zum böhmischen und ungarischen König in den Jahren 1526/27 verfügte Österreich unter der Enns über keine Grenzen zu einem nichtshabsburgisch regierten Land. Im Westen stieß es an das Land ob der Enns, im Norden an Böhmen und Mähren, im Osten an Ungarn und im Süden an die Steiermark. Hinsichtlich seiner Bodengestalt ist das Land relativ vielfältig: Das nordwestliche Landesviertel ob dem Manhartsberg (VoMB) besteht nahezu vollständig aus einem Hochland mit entsprechenden rauhen klimatischen Bedingungen. Lediglich ein

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Vgl. Peter Rauscher: Den Christen gleich sein. Diskriminierung und Verdienstmöglichkeiten von Juden an österreichischen Mautstellen in der Frühen Neuzeit (16./17. Jahrhundert). In: Holjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Berlin, Wien 2004. S. 283-332. Alfred Hoffmann: Die Grundherrschaft als Unternehmen. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 6. 1958. S. 123-131, hier S. 131. Thomas Winkelbauer: Krise der Aristokratie? Zum Strukturwandel des Adels in den böhmischen und niederösterreichischen Ländern im 16. und 17. Jahrhundert. In: MIÖG 100. 1992. S. 328-353. Zitat S. 329. Zur Landesbeschreibung siehe: TopNÖ. Bd. 1: Das Land unter der Enns nach seiner Natur, seinen Einrichtungen und seinen Bewohnern. Wien 1877.

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schmaler Streifen an der Donau, die Wachau und einige kleinere Flußtäler, verfügen über ein mildes Klima, in dem Weinbau sehr gut möglich ist. Weniger hoch gelegen, aber hügeliger ist das östlich anschließende Viertel unter dem Manhartsberg (VuMB), so daß hier Weinbau in wesentlich größerem Umfang betrieben werden kann. Das südwestlich gelegene Viertel ob dem Wienerwald (VoWW) gehört noch zum Teil zum nördlich der Donau gelegenen Hochland. Die Gegend südlich der Hügelkette des Wagram bildet zusammen mit dem Tullner Boden das Kremser Becken, an das immer höhere Hügelketten anschließen, die bis hin zu den Hochalpen ansteigen.18 Der Südosten, das Viertel unter dem Wienerwald (VuWW), ist schließlich einerseits geprägt von Wienerwald und Wiener Becken, wo ebenfalls Weinbau betrieben werden kann, und andererseits von alpinen Regionen mit über 2.000 Meter Seehöhe, sowie dem Hochland der Buckligen Welt. Durchschnitten wird das Land von der Donau, seiner Hauptverkehrsachse in west-östlicher Richtung. Verwaltungs- und Siedlungszentrum war die Residenzstadt Wien. Groben Schätzungen zufolge könnte deren Einwohnerzahl „in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts von rund 20.000 auf 30.000 zugenommen haben."19 Zum Ballungsraum' Wien zählten noch die Vorstädte, in denen um 1650 ca. 20.000 Menschen gewohnt haben dürften.20 Weitere Siedlungsschwerpunkte lagen westlich von Wien entlang der Donau und im Norden auf beiden Seiten des Manhartsbergs bis hinauf nach Retz. Äußerst dünn besiedelt war nicht nur der Voralpen- und Alpenraum, sondern auch der westliche Rand des Viertels ob dem Manhartsberg und der äußerste Osten an der Grenze zu Oberungarn (heute: Slowakei).21 Entsprechend der innerständischen Machtverteilung befand sich der überwiegende Teil der Häuser auf dem Land in den Händen des Adels. Anhand der verfügbaren Zahlen aus dem Bereitungsbuch des ständischen Besitzes aus den Jahren 1590/91 ergibt sich in etwa folgende Verteilung:22 Herren- und Ritterstand zu18

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Zu den speziellen Eigenschaften dieses Viertels vgl. auch Otto Brunner: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 16121688. Salzburg 1949. S. 280-284. Andreas Weigl: Residenz, Bastion und Konsumptionsstadt: Stadtentwicklung und demographische Entwicklung einer werdenden Metropole. In: Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung - Gesellschaft - Kultur - Konfession. Hg. von Andreas Weigl. Wien, Köln, Weimar 2001 (Kulturstudien 32). S. 31-105, hier S. 54. A. Weigl (Anm. 19) S. 54. Zur Siedlungsdichte um 1590 siehe Kurt Klein: Der Häuserbestand Niederösterreichs um 1590. In: Unsere Heimat 47. 1976. S. 74-90. V. a. Karte 1. S. 78. Zu den genauen Zahlen siehe: Anton Eggendorfer: Das Viertel ober dem Manhartsberg im Spiegel des Bereitungsbuches von 1590/91, 2 Bde. Ungedr. Diss. phil. Wien 1974. Bd. 1. S. 177; Franz Graf: Das Viertel unter dem Manhartsberg im Spiegel des Bereitungsbuches 1590. Ungedr. Diss. phil. Wien 1972. S. 20 und 28; Ludwig Hansen: Das Viertel ober dem Wienerwald im Spiegel des Bereitungsbuches von 1591. Ungedr. Diss. phil. Wien 1974. S. 47; Helmut Nader: Das Viertel unter dem Wienerwald im Spiegel des Bereitungsbuches von 1590/91. Wien 1974 (Dissertationen der Universität Wien. Bd. 114). S. 209. Eine Zusammenfassung bieten: Anton Eggendorfer: Das Bereitungsbuch von 1590/91. In: Unsere Hei-

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sammen verfügten - gemessen an der Anzahl der Untertanenhäuser - je nach Landesviertel über 51,5% (VoWW) bis fast 80% (VuMB) des Landes, allerdings abgesehen von den Gütern des Landesfürsten. Im Landesdurchschnitt gehörten - das landesfürstliche Kammergut nicht mitberechnet - über zwei Drittel (68,3%) der Untertanenhäuser dem Adel. Der Prälatenstand besaß hingegen lediglich zwischen 10,2% der Häuser im Viertel unter dem Wienerwald und 26,9% im Viertel ob dem Wienerwald. Demgegenüber spielten die sonstigen Besitzer eine geringere Rolle. Von einiger Bedeutung, besonders für das Viertel ob dem Wienerwald, waren auswärtige Besitzer, vor allem geistliche Reichsfürstentümer, aber auch Klöster.23 Viertel VuWW 24 VoWW 25 VoMB 26 VuMB 2 ' Gesamt Tabelle 1:

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Herren Ritter Häuser % Häuser % 7447,0 45,5 3638,0 22,2 5071,0 22,9 6320,0 28,6 8387,7 42,6 6469,0 32,9 5853,5 27,9 10.824,5 51,7 31.730,2 40,1 22.280,5 28,2

Prälaten Häuser % 1668,0 10,2 5952,0 26,9 3302,3 16,8 3389,0 16,2 14.311,3 18,1

Sonstige Häuser % 3603 22,0 4769 21,6 1517 7,7 878 4,2 10.767 13,6

Gesamt Häuser % 16.356 99,9 22.112 100,0 19.676 100,0 20.945 100,0 79.089 100,0

Die Verteilung des Besitzes von Untertanenhäusern in Österreich unter der Enns um 1590 in Prozent unter weitgehender Nichtberücksichtigung des landesfürstlichen Kammerguts und nur teilweiser Berücksichtigung der landesfürstlichen Städte und Märkte 28

mat 47. 1976. S. 59-73; und Herbert Knittler: Adelige Grundherrschaft im Übergang. Überlegungen zum Verhältnis von Adel und Wirtschaft in Niederösterreich um 1600. In: Spezialforschung und „Gesamtgeschichte". Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frühen Neuzeit. Hg. von Grete Klingenstein, Heinrich Lutz. Wien, München (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit. Bd. 8). S. 84-111, hier S. 89. Da im Bereitungsbuch ζ. T. auch Besitzungen des Landesfürsten berücksichtigt sind, handelt es sich lediglich um ungefähre Werte. Vor allem die Bistümer von Freising, Passau und Regensburg. Vgl. L. Hansen (Anm. 22) S. 95 f. Zahlen aus: H. Nader (Anm. 22) S. 209; vgl. auch A. Eggendorfer: Bereitungsbuch (Anm. 22) S. 66. Die Gesamthäuserzahl beträgt etwa 16.382. Die Summe der einzelnen Gruppen von Hausbesitzern ist wegen Doppelzählungen geringer. Aufgrund unterschiedlicher Rundungen weichen die Prozentangaben von denen Naders ab. Zahlen aus: L. Hansen (Anm. 22) S. 47; vgl. auch A. Eggendorfer: Bereitungsbuch (Anm. 22) S. 67. Zahlen aus A. Eggendorfer: Viertel (Anm. 22) S. 177; ders.: Bereitungsbuch (Anm. 22) S. 68. Zahlen aus: F. Graf (Anm. 22) S. 16; vgl. A. Eggendorfer: Bereitungsbuch (Anm. 22) S. 67. Vgl. T. Winkelbauer (Anm. 16) Tabelle 3, S. 334. Die z.T. abweichenden Zahlen rühren daher, daß die Prozentangaben von mir selbst berechnet wurden, während Winkelbauer die Zahlen von A. Eggendorfer: Bereitungsbuch (Anm. 22) übernahm.

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Um die 3-4% der Häuser bzw. der Ortsobrigkeiten befanden sich in Händen von Bürgern und Städten, knapp 2% der Häuser in denen von Priestern. Anhand des Bereitungsbuches nicht zu ermitteln ist der landesfürstliche Besitz, da die landesfürstlichen Städte und Märkte nicht in die Bereitung einbezogen wurden (siehe Tabelle 1). Ein noch deutlicheres Bild ergibt sich bei der Verteilung der Ortsobrigkeiten. Hier dominierte ebenfalls der Adel mit 71,1%, gefolgt von den Prälaten mit 16,5% (siehe Tabelle 2). Viertel VuWWJU VoWW 31 VoMW 32 VuMB 33 Gesamt Tabelle 2:

Herren Ritter Prälaten Sonsti Anzahl % Anzahl % Anzahl % Anzahl 192,00 45,5 108 25,6 47,00 11,1 75 241 31,8 170,00 22,4 220,00 29,0 127 275 32,6 133,25 15,8 44 391,75 46,4 251,00 47,7 133 25,3 70,00 13,3 72 1054,75 41,4 318 757 29,7 420,25 16,5

Gesamt % Anzahl % 17,8 422 100,0 758 100,0 16,8 5,2 844 100,0 13,7 526 100,0 12,5 2550 100,1

Die Verteilung der Ortsobrigkeit der Stände in Österreich unter der Enns um 1590 unter weitgehender Nichtberücksichtigung des landesfürstlichen Kammerguts

Insgesamt wurde das Land also weitgehend vom Adel und der höheren Geistlichkeit beherrscht, wobei der Herrenstand die führende Rolle einnahm. Doch auch Adelsherrschaft war nicht gleich Adelsherrschaft: Im Verlauf des 17. Jahrhunderts kam es zu einem zunehmenden Konzentrationsprozeß des adeligen Besitzes im Land unter der Enns. Tendenziell wurden die Besitzungen der großen Grundherren aus dem Herrenstand noch größer, während der Besitz des Ritterstands stark abnahm.34 Um 1620 lebte daher ein Großteil der Untertanen auf den 29 30

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V. a. Priester, Städte und Bürger, Auswärtige, Landesfürst. Zahlen aus: H. Nader (Anm. 22) S. 210; vgl. A. Eggendorfer: Bereitungsbuch (Anm. 22) S. 66. Die Prozentangaben weichen von denen Naders ab. Zahlen aus: L. Hansen (Anm. 22) S. 47. Die Prozentangaben weichen von denen Hansens ab. Vgl. A. Eggendorfer: Bereitungsbuch (Anm. 22) S. 67. Zahlen aus: A. Eggendorfer: Viertel (Anm. 22) S. 177; ders., Bereitungsbuch (Anm. 22) S. 68. Zahlen aus: F. Graf (Anm. 22) S. 28, vgl. auch A. Eggendorfer: Bereitungsbuch (Anm. 22) S. 67. T. Winkelbauer (Anm. 16) S. 339 und S. 348f.; Karin J. MacHardy: Der Einfluß von Status, Konfession und Besitz auf das politische Verhalten des niederösterreichischen Ritterstandes 1580-1620. In: G. Klingenstein, H. Lutz (Anm. 22) S. 56-83; Eva Maria Havlik: Strukturwandel des ständischen Besitzes im Viertel unter dem Manhartsberg. Untersuchungen zum Herren- und Ritterstand aufgrund der Gültbücher 1571 bis 1701. Ungedr. Diss. phil. Wien 1982; Susanna Maria Moser: Strukturwandel des ständischen Besitzes im Viertel unter dem Wienerwald. Untersuchungen zum Herren- und Ritterstand aufgrund der Gültbücher 15711701. Ungedr. Diss. phil. Wien 1982. Zu den Enteignungen der protestantischen Adeligen siehe Rudolf Wolkan: Die Ächtung der Horner Konfoderierten und die Konfiskation ihrer Güter. Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation und des Städtewesens in Nieder-

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Herrschaften einer relativ kleinen Gruppe adeliger Grundherren aus dem Herrenstand. Lediglich 9,8% des Herrenstands waren Großgrundbesitzer mit mehr als 500 Untertanenhäusern, womit sie fast die Hälfte aller Untertanen (46,0%) des höheren Adels beherrschten. 35 Nur über wenig mehr Untertanenhäuser (48,3%) verfügte eine weniger vermögende Gruppe der Herren (30%), die im Besitz von zwischen 101 und 500 Untertanenhäusern war. Der Großteil des Herrenstands (60,1%) besaß jeweils nicht mehr als 100 Untertanenhäuser und herrschte zusammen lediglich über 5,6% der Untertanen des höheren Adels. Soweit eine knappe Charakteristik der Besitzverteilung in Niederösterreich. Es fehlt noch ein Wort zu den Herrschaftsrechten, das heißt zum Verhältnis von Grund- und Ortsobrigkeit: Nahezu das gesamte Bauernland in Österreich unter der Enns, w o der Erwerb von Eigengütern durch Bauern landrechtlich verboten war, wurde von Grundherren vergeben, wodurch ein Abhängigkeitsverhältnis des bäuerlichen Besitzers zum Grundherren entstand, dem der Bauer Treue und Gehorsam schuldete und dessen Gerichts-, Disziplinar- und Strafgewalt er unterworfen war. 36 Da es mehrere Grundherren in einem Dorf geben konnte, entwickelte sich im Land unter der Enns, der Steiermark und Teilen des Landes ob der Enns eine Ortsobrigkeit, die die Aufgabe hatte, die Dorfgerichtsbarkeit auszuüben und die Dorfgemeinde zu beaufsichtigen. 37 Gab es nur einen Grundherren im Dorf, übte dieser normalerweise auch die Ortsobrigkeit aus. 38 In Niederösterreich war dies jedoch eher selten der Fall. Da meistens mehrere Grundherren pro Dorf vorhanden waren, kam der Ortsobrigkeit deshalb erhebliche Bedeutung zu. Beson-

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österreich. Ungedr. Diss. phil. Wien 1913; Ignaz Hübel: Die Ächtung der Evangelischen und die Konfiskation protestantischen Besitzes im Jahre 1620 in Nieder- und Oberösterreich. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus im ehemaligen und im neuen Österreich 58. 1937. S. 17-28. Zahlen aus T. Winkelbauer (Anm. 16) S. 339, Tabelle 11. Die reichste Adelsgruppe von über 800 Untertanenhäuser bestand aus lediglich 1,6% des Adels, regierte aber über 13,6% der Untertanen. Helmuth Feigl: Die niederösterreichische Grundherrschaft. Vom ausgehenden Mittelalter bis zu den theresianisch-josephinischen Reformen. 2. Aufl. St. Pölten 1998 (Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich. Bd. 17). S. 29. Zu dem damit verbundenen Abhängigkeitsverhältnis des Bauern zum Grundherren siehe S. 32f.; Thomas Winkelbauer: Herren und Holden. Die niederösterreichischen Adeligen und ihre Untertanen im 16. und 17. Jahrhundert. In: Adel im Wandel. Politik - Kultur - Konfession 1500-1700. Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung, Rosenburg, 12. Mai-28. Oktober 1990. Horn 1990 (Katalog des NÖ Landesmuseums. N. F. 251). S. 73-79. H. Feigl (Anm. 36) S. 89f. Vgl. zum Folgenden H. Feigl (Anm. 36) S. 90; siehe auch F. Graf (Anm. 22) S. 27. Prinzipiell gab es vier Möglichkeiten, wie der Einfluß vor Ort aufgeteilt sein konnte: 1. Eine Herrschaft besaß allein sowohl die Grundherrschaft als auch die Ortsobrigkeit; 2. eine Herrschaft besaß die Ortsobrigkeit und die überwiegende Mehrzahl oder die relative Mehrheit der Untertanen; 3. eine Herrschaft besaß die Ortsobrigkeit, aber eine Minderheit der Untertanen; und 4. eine Herrschaft verfügte nicht über die Ortsobrigkeit, war also nur Grundherr unter mehreren anderen.

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ders in Weinbaugebieten waren Ortschaften mit zahlreichen Grundherrschaften üblich. In der agrarhistorischen Forschung wurden verschiedene Typen der Grundherrschaften entwickelt. Dabei wurde für das Land ob der Enns der Begriff der ,Wirtschaftsherrschaft' eingeführt, um damit ,jene eigentümliche Mittelstellung zwischen der alten Rentenherrschaft und dem neuen Typus der Gutsherrschaft zu bezeichnen,"39 ein Phänomen, das sich in eingeschränkter Form auch auf das Land unter der Enns übertragen läßt.40 Demnach versuchten die Grundherren, durch Zentralisierung der Abgaben, Verstärkung der Dienste der Untertanen, Schaffung eines geschlossenen Herrschaftskomplexes, Erwerb bisheriger landesfürstlicher Rechte und den Betrieb von Gewerbe sowie der Teilnahme am Handel ihre Herrschaft zu einem „autarken Produktionsgebiet und zu einem - wenigstens im lokalen Bereiche - monopolisierten Binnenmarkt" zu entwickeln.41 Tatsächlich stieg beispielsweise der Anteil der Einkommen der Herrschaften Gobelsburg am Kamp aus der Eigenwirtschaft bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts auf 60,4%, der der Herrschaft Grafenegg auf 60,1% an. Ein Jahrhundert vorher waren die Abgaben und Dienste der Untertanen noch wesentlich wichtiger für die Einkünfte der Herrschaften gewesen.42 Häufig weiteten die Herrschaften die absatzorientierte Schafzucht aus. So wurde die Schafzucht beispielsweise auf den Gütern der Grafen Hardegg „um 1660 auf fünf Höfen mit über 5.400 Stück Schafvieh betrieben."43 Die Abnahme und der Weiterverkauf von Schafswolle bildete einen der Schwerpunkte der Wirtschaftstätigkeit der niederösterreichischen Juden, die damit die Erzeugnisse der Grundherrschaften vermarkteten und so - wie auch bei-

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Alfred Hoffmann: Wirtschaftsgeschichte des Landes Oberösterreich. Bd. I: Werden Wachsen - Reifen: Von der Frühzeit bis zum Jahre 1848. Salzburg, Linz 1952. S. 98f., Zitat S. 98. Vgl. Herbert Knittler: Zwischen Ost und West. Niederösterreichs adelige Grundherrschaft 1550-1750. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4. 1993. S. 191217; ders.: Gewerblicher Eigenbetrieb und frühneuzeitliche Grundherrschaft am Beispiel des Waldviertels. In: Ders.: Nutzen, Renten, Erträge. Struktur und Entwicklung frühneuzeitlicher Feudaleinkommen in Niederösterreich. Mit einem Beitrag von Werner Berthold. Wien, München 1989 (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien. Bd. 19). S. 182-203; ders.: Adel und landwirtschaftliches Unternehmen im 16. und 17. Jahrhundert. In: Adel im Wandel (Anm. 36) S. 45-54; Andre Holenstein: Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg. München 1996 (EDG Bd. 38). S. 33. A. Hoffmann (Anm. 39) S. 99. Herbert Knittler: Zur Einkommensstruktur niederösterreichischer Adelsherrschaften 15501750. In: Adel im Wandel. Vorträge und Diskussionen des elften Symposions des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde. Horn 2.-5. Juli 1990. Hg. von Helmuth Feigl, Willibald Rosner. Wien 1991 (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde. Bd. 15). S. 1-15, hier S. 5f. H. Knittler (Anm. 42) S. 9, vgl. auch S. 7.

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spielsweise durch die Pacht einer Schnapsbrennerei in Hohenau 44 - zum Funktionieren der Wirtschaftsherrschaften beitrugen. 45 Darüber hinaus versorgten einzelne jüdischen Händler als eine Art ,Hofjuden' adelige Herrschafitssitze mit dort benötigten Waren, wie zum Beispiel Tuchen 46 Auch nach ihrer Ausweisung aus dem Land unter der Enns nahmen Juden am Handel mit Schafswolle in Niederösterreich teil und wurden sogar einige Zeit als ,Haus- und Hofjuden' auf einzelnen Grundherrschaften geduldet. 47 Gerade für einen Vergleich der östlichen habsburgischen Erbländer mit dem Südwesten des Reichs mit seinen reichsunmittelbaren Herrschaften ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß unterschiedliche Herrschaftsrechte in einer Ortschaft kein alleiniges Signum weiter Teile des oberdeutschen Raums waren. Dörfer, in denen mehrere Herrschaftsträger Rechte beanspruchten, waren auch in Österreich unter der Enns keine Seltenheit. Hält man sich vor Augen, daß auch dort im 17. Jahrhundert der Einfluß der Landesherrschaft gerade auf der Ebene der Grundherrschaften äußerst gering war, scheinen der Südwesten und der Südosten des Reichs nicht völlig verschieden gewesen zu sein. Im folgenden wird chronologisch vorgegangen. Zunächst wird die Judenpolitik des Landesfürsten und der übrigen Herrschaftsträger im 16. Jahrhundert bis zur neuerlichen Etablierung einer Judenschaft in der Residenzstadt Wien um 1600 betrachtet werden. In einem zweiten Teil wird ausgehend von den Steuerbüchern der Landjudenschaft um die Mitte des 17. Jahrhunderts untersucht werden, wo sich Juden ansiedelten und wie die Herrschaftsstrukturen dort aussahen.

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Vertrag zwischen Fürst Hartmann von Liechtenstein und dem Juden Lebl Abraham über dessen Ansiedlung in Hohenau und die Verpachtung des Branntweinhauses an ihn, o. O., 1654 September 29. HALW. H. 548. Konv. Juden. Unfol. Konzept. Zum Wollhandel und zur übrigen Wirtschaftstätigkeit der niederösterreichischen Juden siehe Staudinger (Anm. 8) S. 199-227; Peter Rauscher: Hoffaktoren und Kleinkrämer. Die Rolle der Juden im frühneuzeitlichen Handel am Beispiel der österreichischen Länder (in Vorbereitung, erscheint voraussichtlich 2007). In: Praktiken des Handels. Tagungsband zur 4. und 5. Tagung des Irseer Arbeitskreises für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Hg. von Mark Häberlein, Christof Jeggle (im Druck). Vgl. z.B. HALW. H. 76: HZAB 1610-1611. Fol. 20r und 30r; ebd. HZAB 1611 GeorgiMichaeli. Fol. 27r, 43r-44v. Zur Wiederansiedlung von Juden als „Haus- und Hofjuden" auf einigen Herrschaften siehe Befehl im Auftrag des Kaisers an die Niederösterreichische Regierung, die illegal auf einigen Herrschaften in Niederösterreich lebenden Juden festnehmen zu lassen und auszuschaffen sowie die Juden und Herrschaftsinhaber zu bestrafen, Wien, 1708 Januar 23. HALW. HA Feldsberg [Archiv noch ungeordnet: vorläufiger Karton 8]. Fol. 72r-73v. Vgl. z.B.: NÖLA. HA Stetteldorf. HS 38. Rentamtsrechnung der Herrschaft Juliusburg 1728. .Fol. 55; oder ebd., HS 40. Rentamtsrechnung der Herrschaft Stetteldorf 1787. Unfol.

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2. Von der unvollständigen Ausweisung im 15. Jahrhundert bis zur Formierung einer Gemeinde in Wien Das mittelalterliche Judentum endete in Österreich unter der Enns mit der sogenannten Wiener Geserah v o n 1420/21. 4 8 Obwohl kein generelles Aufenthaltsverbot erlassen wurde, sind danach nur noch sehr w e n i g e Juden im Land, vor allem in Wien, nachzuweisen. A u s den später sogenannten innerösterreichischen Ländern Steiermark, Kärnten und Krain und den Städten Neunkirchen und Wiener Neustadt wurden u m 1500 die Juden vollständig ausgewiesen. 4 9 Dabei handelte es sich eindeutig um eine Aktion, die zwar seitens des Landesfürsten gebilligt, jedoch v o n den Ständen forciert und erkauft worden war. D i e s e Maßnahme hatte letztlich auch Auswirkungen auf das Land unter der Enns. Ein Teil der Vertriebenen gelangte nach den Ausweisungen aus Steiermark und Kärnten 1496 in die v o n Österreich aus verwalteten, ehemaligen ungarischen Pfandherrschaften im Burgenland 5 0 nach Eisenstadt, Forchtenstein, Mattersdorf (heute: Mattersburg) und Güns (Köszeg). 5 1 Andere kamen ins Land unter der Enns: abgesehen von Wien auch nach Marchegg und Zistersdorf. 52 So z o g beispielsweise Hirschl v o n Graz u m das Jahr 1511 v o n Eisenstadt nach Zistersdorf weiter, w o sich ein Teil 48

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Vgl. Klaus Lohrmann: Österreich. In: GJ III. 1350-1519. 3. Teilbd. Hg. von Arye Maimon, Mordechai Breuer, Yacov Guggenheim. Tübingen 2003. S. 1977-1992, hier S. 1986-1988; Alois Niederstätter: Das Jahrhundert der Mitte. An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Wien 1996 (Österreichische Geschichte 1400-1522). S. 102-107. Zur Vertreibung der Juden aus Kärnten und der Steiermark siehe: Wilhelm Wadl: Die Geschichte der Juden in Kärnten im Mittelalter. Mit einem Ausblick bis zum Jahre 1867. 2. erw. Aufl. Klagenfurt 1992 (Das Kärntner Landesarchiv 9); Inge Wiesflecker-Friedhuber: Die Austreibung der Juden aus der Steiermark unter Maximilian I. In: Juden im Grenzraum. Geschichte, Kultur und Lebenswelt der Juden im Burgenländisch-Westungarischen Raum und in den angrenzenden Regionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Eisenstadt 1993 (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 92). S. 47-64; Stefan Laux: Dem König eine „ergetzlikhait". Die Vertreibung der Juden aus der Steiermark (1496/1497). In: Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung - Auslöschung - Annäherung. Hg. von Gerald Lamprecht. Innsbruck, Wien, München, Bozen 2004 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien. Bd. 5). S. 33-57. Hans Graf: Die westungarischen Grenzgebiete, vorwiegend von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Klärung der Streitfragen zwischen Österreich und Ungarn. Ungedr. Diss. phil. Wien 1926; Walter Messing: Beiträge zur Geschichte der Juden in Wien und Niederösterreich im 16. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 1. 1939. S. 11-49, hier S. 16. Aus Güns wurden die Juden 1540/44 wieder vertrieben. Istvän Bariska: Das Judentum und die Stadt und Herrschaft Köszeg [Güns] bis zur Vertreibung im Jahr 1540. In: Juden im Grenzraum (Anm. 49) S. 37-45, hier S. 45; Harald Prickler: Beiträge zur Geschichte der burgenländischen Judensiedlungen. In: Ebd. S. 65-106, hier S. 70; I. Wiesflecker-Friedhuber (Anm. 49) S. 62f. Zur Siedlungsgeschichte vgl. genauer B. Staudinger (Anm. 8). W. Messing (Anm. 50) S. 16-20; S. Hödl: Geschichte (Anm. 5) S. 92-131.

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seiner Familie niederließ. Auch in Marchegg sind Juden bereits seit dem späten 15. Jahrhundert belegt, als aus der Steiermark vertriebene Juden 1496 von König Maximilian I. das Recht erhielten, sich dort niederzulassen. 54 Im Jahr 1516 gestattete Maximilian auch den im Vorjahr aus Laibach (Ljubljana) vertriebenen Juden, sich vorübergehend in der landesfürstlichen Stadt Eggenburg im Viertel ob dem Manhartsberg anzusiedeln, 55 eine Maßnahme, die auf Widerstand der Stadt stieß. 56 Ab den 1540er bis zu den 1570er Jahren lebten auch in Wolkersdorf im Viertel unter dem Manhartsberg einzelne Juden. 57 Auch wenn keineswegs von einer planmäßigen , Besiedlungspolitik' seitens des Landesherrn gesprochen werden kann, so wurde eine dauerhafte, vollständige Vertreibung von Juden zumindest aus dem zentralen Herrschaftsraum unter der Enns - wie dies auch hier die Landstände vehement forderten 58 - offenbar nicht angestrebt. 59 Für die Regierungszeit Ferdinands I. und Maximilians II., also bis 1576, sind zwar immer wieder Ausweisungsdekrete überliefert, sie wurden jedoch 53

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Vgl. Artikel Zistersdorf. In: GJ III (Anm. 48). 2. Teilbd. Hg. von Arye Maimon, Mordechai Breuer, Yacov Guggenheim. Tübingen 1995. S. 1719f. Zu Hirschl und seiner Familie vgl. Sabine Hödl: Eine Suche nach jüdischen Zeugnissen in einer Zeit ohne Juden. Zur Geschichte der Juden in Niederösterreich von 1420 bis 1555. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 45. 1997. S. 271-296, hier S. 290-293; dies.: Juden (Anm. 5) S. 53-70; Arthur Rosenberg: Beiträge zur Geschichte der Juden in Steiermark. Wien, Leipzig 1914 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich. Bd. 6). S. 101 f.; Quellen z.T. abgedruckt bei David Herzog: Urkunden und Regesten zur Geschichte der Juden in der Steiermark (1475-1585). Graz 1934. S. 3-43, zu Hirschl und seine Familie auch ebd., S. XXXIXf. und S. 85; Erna Tschech: Maximilian und sein Verhältnis zu den Juden (1490-1519). Ungedr. Diss. phil. Graz 1971. S. 24-27. Maximilian I. an den Pfleger und die Stadt Marchegg, o. O., 1496 Dezember 11. HKA. GB 3a. Fol. 443v-444r (p. 896-897). Zu Marchegg vgl. Artikel Marchegg. In: GJ III/2 (Anm. 53) S. 848f.; L. Moses (Anm. 7) S. 138f.; W. Messing (Anm. 50) S. 16f.; I. WiesfleckerFriedhuber (Anm. 49) S. 62; S. Hödl: Juden (Anm. 5) S. 112; dies. (Anm. 53) S. 280 und 286f.; A. Rosenberg (Anm. 53) S. 101f.; H. J. Zeibig: Der Ausschuss-Landtag der gesamten österreichischen Erblande zu Innsbruck 1518. In: Archiv fur Kunde österreichischer Geschichts-Quellen 13. 1854. S. 201-366, hier S. 253, 302, 329f.; Johann Evangelist Scherer: Die Rechtsverhältnisse der Juden in den deutsch-österreichischen Ländern. Leipzig 1901 (Beiträge zur Geschichte des Judenrechtes im Mittelalter mit besonderer Bedachtnahme auf die Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie 1). S. 442-445; E. Tschech (Anm. 53) S. 71. Zu den Siedlungen im Burgenland siehe H. Prickler (Anm. 51); Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes. Hg. von Hugo Gold. Tel Aviv 1970. Ludwig Brunner: Eggenburg. Geschichte einer niederösterreichischen Stadt. Bd. 1: Urzeit und Mittelalter. Eggenburg 1933. S. 124-126. Vergleich zwischen der Stadt Eggenburg und dem landesfürstlichen Pfleger Ulrich von Hasibach durch eine landesfurstliche Kommission, o. O., 1516 März 7. HKA. Niederösterreichische Herrschaftsakten. Ε 18/A/l. Fol. 24r-53v, hier fol. 42v-43v. Zum Beleg aus den 1540er Jahren: S. Hödl (Anm. 53) S. 285f.; zu den 1560er und 70er Jahren: Moses (Anm. 7) S. 152. Zu den antijüdischen Forderungen der Landstände zwischen 1463 und 1611 siehe NÖLA. Ständische Akten B - l - 2 4 . Fol. 53r-80v. Zu diesem Ergebnis kommt auch W. Messing (Anm. 50) S. 17f.

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Peter Rauscher

längerfristig nicht vollständig umgesetzt. Dennoch war die jüdische Besiedlung sieht man vom österreichisch-ungarischen Grenzraum ab, wo beispielsweise auch in Kobersdorf Juden wohnten - äußerst sporadisch: außer in Eggenburg, Marchegg, Zistersdorf, Wolkersdorf, und im späten 16. Jahrhundert in GroßSchweinbarth,60 Achau und Hohenau; von anderen Siedlungen ist nichts bekannt.61 Was zeichnete die Orte aus, in denen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Juden lebten? Abgesehen von der Kuenringer Besitzung Groß-Schweinbarth, standen die vier anderen Ortschaften in einem gewissen Naheverhältnis zum Landesfürsten. Eggenburg war eine landsässige Stadt,62 Zistersdorf - seit 1487 ebenfalls eine landesfürstliche, allerdings nicht landsässige Stadt - , wurde im 16. Jahrhundert an unterschiedliche Personen verpfändet, bis Herrschaft und Stadt 1591 an Eustachius von Althan verkauft wurden.63 Wie ein Schutzbrief für Mendl und die Witwe Hirschls von Graz belegt, nahm der Landesfürst trotz der Verpfandung Einfluß auf die dort lebenden Juden.64 Wolkersdorf kam Mitte der 1530er Jahre an die Ehefrau Ferdinands I., Königin Anna, die die Herrschaft testamentarisch dem königlichen Hofspital vermachte.65 Marchegg gehörte zum landesfürstlichen Kammergut, war allerdings bis 1580 an die Familie Salm verpfändet. Bedeutsam für die Ansiedlung von Juden könnte die Verwüstung der Stadt durch die Osmanen im Zuge der Belagerung Wiens 1529 gewesen sein.66 Nach wechselnden Besitzern fiel der Ort dann von 1599-1621 an Sigmund von Landau und dessen Nachkommen. Nachdem die Herrschaft von den Freiherrn 60

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Helmuth Feigl: Der Besitz der Kuenringer zu Groß-Schweinbarth. In: KuenringerForschungen. Redigiert von Andreas Kusternig und Max Weltin. Wien 1981 (Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich. N.F. 46/47). S. 188-212; Gernot Heiß: Die Kuenringer im 15. und 16. Jahrhundert: zum Machtverlust einer Familie. In: Ebd. S. 227-260, hier S. 258. Zur besonderen Rechtsstellung der Juden in Groß-Schweinbarth im frühen 17. Jahrhundert siehe S. Hödl: Geschichte (Anm. 5) S. 122-125. Abgesehen von den westungarischen Pfandherrschaften (Burgenland) und Wiener Neustadt, wo sich um 1530 ein Jude aufhielt. Vgl. S. Hödl: Juden (Anm. 5) S. 85. Zur Siedlungsgeschichte siehe ausführlich B. Staudinger (Anm. 8). Einzelne Belege aus dem späten 16. Jahrhundert liegen darüber hinaus für Bockfließ, Matzen, Sitzendorf und Zwölfaxing vor, eine Siedlungskontinuität ist in diesen Fällen nicht wahrscheinlich. L. Brunner (Anm. 55). Hans P. Schad'n: Geschichte der Stadt Zistersdorf im Zeitalter der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges (1500-1650). Horn o. J.; Wilhelm Hauser: „Das Geschlecht derer von Althann". Ungedr. Diss. phil. Wien 1949. S. 62f.; Franz Hienert: Die landesfürstlichen Güter im Viertel unterm Manhartsberg vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. Ungedr. Diss. phil. Wien 1939. S. 204-210. Schutz- und Geleitbrief Ferdinands I. für Mendl und die Witwe des Hirschl von Graz, Wiener Neustadt, 1523 August 6. HKA. GB 20. Fol. 320r-v. F. Hienert (Anm. 63) S. 183f. Belegt ist jedenfalls, daß sich Gräfin Elisabeth von Salm um eine Wiederbesiedlung der zerstörten Stadt durch Schwaben bemühte. Ferdinand Opll: Stadt und Herrschaft. Eine Fallstudie zur niederösterreichischen Verfassungsgeschichte am Beispiel der Stadt Marchegg. In: Unsere Heimat 54. 1983. S. 3-15, hier S. 9.

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von Landau als Rebellengut eingezogen worden war, erwarb sie 1621 Graf Paul Pälffy, in dessen Eigentum sie schließlich 1630 überging. 67 Trotz der relativ engen Verbindungen der meisten Siedlungsorte von Juden im Land unter der Enns zum Landesfursten - wie dies besonders für Eggenburg und auch für die hier nicht behandelte Residenzstadt Wien 68 gilt - kann von einer durchgehenden Förderung der Juden durch die Habsburger im 16. Jahrhundert kaum gesprochen werden. Zwar konnten sich einige Juden, wenn sie unter dem Schutz des Landesfürsten standen, im Land niederlassen, andere waren jedoch ständig von der Ausweisung bedroht. Im Gegensatz zu den späteren Hoffaktoren hatten österreichische Juden im 16. Jahrhundert nahezu keinen Einfluß auf die kaiserlich-landesfürstlichen Finanzen. 69 Welche Rolle die Grundherren spielten, ob sie - gerade im Vorfeld der Ständeunruhen vor 1620 - versuchten, die Juden auf ihren Herrschaften gegen Ansprüche des Landesfürsten zu schützen, ist auf Basis des vorhandenen Quellenmaterials nicht eindeutig feststellbar. 70

3. Das österreichische Landjudentum im 17. Jahrhundert Für das dritte Viertel des 17. Jahrhunderts sind wir mit einem völlig anderen Befund konfrontiert. Die erste Quelle, die einen relativ guten Überblick über die jüdischen Siedlungen in Österreich unter der Enns gewährt, stammt aus dem Jahr 1652.71 Dabei handelt es sich um die Verteilung der Steuern der Landjudenschaft 67

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Marchegg. In: TopNÖ 6. Redigiert von Max Vancsa. Wien 1909. S. 100-119; F. Hienert (Anm. 63) S. 196-203. Zu Wien siehe: Alfred F. Pribram: Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien. Erste Abteilung, allgemeiner Teil 1526-1847 (1849) 2 Bde. Wien, Leipzig 1918 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Österreich. Bd. 8) hier Bd. 1; W. Messing (Anm. 50); S. Hödl: Geschichte (Anm. 5); Peter Rauscher: Ein dreigeteilter Ort: Die Wiener Juden und ihre Beziehungen zu Kaiserhof und Stadt in der Zeit des Ghettos (1625-1670). In: Ein zweigeteilter Ort? Hof und Stadt in der Frühen Neuzeit. Hg. von Susanne Claudine Pils, Jan Paul Niederkorn. Innsbruck 2005 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte. Bd. 44). S. 87-120. Sabine Hödl, Barbara Staudinger: „Ob mans nicht bei den juden [...] leichter und wolfailer bekommen müege?" Juden in den habsburgischen Ländern als kaiserliche Kreditgeber (1520-1620). In: Finanzen und Herrschaft. Materielle Grundlagen fürstlicher Politik in den habsburgischen Ländern und im Heiligen Römischen Reich im 16. Jahrhundert. Hg. von Friedrich Edelmayer, Maximilian Lanzinner, Peter Rauscher. München, Wien 2003 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Bd. 38). S. 246-269. Zu Konflikten zwischen Grundherren und Landesfürsten wegen der Juden in Marchegg und Zistersdorf siehe S. Hödl: Geschichte (Anm. 5) S. 111-121. Zu Groß-Schweinbarth siehe ebd. S. 123f. Das Original ist verschollen. Aus dem 19. Jahrhundert liegen zwei Abdrucke vor: Gerson Wolf: Statistik der Juden in Niederösterreich im Jahre 1652. In: Blätter für Landeskunde von Niederösterreich 2. 1866. S. 112-115; besser als diese sehr fehlerhafte Wiedergabe der

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Peter Rauscher

auf die einzelnen Gemeinden bzw. Familienoberhäupter. Aus Gründen, die hier nicht näher diskutiert werden müssen, liegen dann wieder für die Jahre 1662 bis 1671 ausführliche Steuerverzeichnisse, die sogenannten ,Anlagebücher', vor. Auch wenn im Einzelfall einige Orte, in denen Juden lebten, nicht in den Anlagebüchern zu finden sind, kann davon ausgegangen werden, daß wir mit diesen Verzeichnissen eine relativ vollständige Liste der jüdischen Siedlungen besitzen. Die Unterschiede zum 16. Jahrhundert sind deutlich: Zunächst einmal ist festzustellen, daß sich die Anzahl der Orte, in denen Juden wohnten, auf rund fünfzig vervielfacht hatte. Außerdem gibt es nahezu keine Kontinuität zur Situation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, von Marchegg, wo es offenbar eine dauerhafte jüdische Siedlung gab, einmal abgesehen. Die Juden lebten fast ausschließlich auf Besitzungen des Adels. Einzig in Langenlois hatte sich auf Initiative der beiden Wiener Hofjuden Abraham und Isak Ries eine größere jüdische Gemeinde in einem landsässigen Markt bilden können. In der ebenfalls landsässigen Stadt Stein an der Donau lebten nur einzelne Juden.72 Der generelle Befund für eine Reorganisation jüdischen Lebens im Reich nach dem Dreißigjährigen Krieg trifft für Niederösterreich nicht zu.73 Soweit dies quellenmäßig faßbar ist, entstanden die wichtigsten Gemeinden in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die genauen Entstehungsbedingungen für die einzelnen Gemeinden sind weitgehend unklar. Einen kaum zu überschätzenden Einfluß übte sicherlich die Etablierung einer jüdischen Gemeinde in der kaiserlichen Residenzstadt Wien zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus. Die dortige Judenschaft bildete das Gravitationszentrum jüdischen Lebens im Land unter der Enns, das auch erhalten blieb, als es Anfang der 1650er Jahre, nachdem sich die Wiener Judenschaft geweigert hatte, weiterhin die Verantwortung für die Einhebung der Steuern der Landjuden zu übernehmen, zu einer Ausbildung einer gewissen landesjudenschaftlichen Autonomie bei der Steuererhebung kam. Im Gegenzug zu ihren jährlichen Kontributionen erhielten die Landjuden nun ein Aufenthaltsrecht im

72

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Quelle ist die Edition in: Gerson Wolf: Die Juden in der Leopoldstadt im 17. Jahrhundert. Wien 1864. Beilage VI. S. 77f. Peter Rauscher: Langenlois - n1? Eine jüdische Landgemeinde in Niederösterreich im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Horn, Waidhofen a. d. Thaya 2004 (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes. Bd. 44); zu Stein bzw. Krems siehe: Hannelore Hruschka: Die Geschichte der Juden in Krems an der Donau von den Anfängen bis 1938. Ungedr. Diss, phil. Wien 1978, und Lydia Gröbl: „... auf wolgefallen ..., doch das er sich also der gebüer nach verhalte ...". Juden in Stein im 17. Jahrhundert. In: Unsere Heimat 71. 2000. S. 268278. Zur Mitte des 17. Jahrhunderts als Epochengrenze siehe F. Battenberg (Anm. 2) S. 59-61. Mordechai Breuer geht allerdings von einer Epochengrenze um 1600 aus, was dem Befund in Niederösterreich entsprechen würde. Vgl. M. Breuer (Anm. 1) S. 85f. Vgl. auch das Vorwort zum Gesamtwerk von Michael A. Meyer, ebd. S. 9-13, hier S. 11.

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Land unter der Enns und wurden hinsichtlich Religionsausübung und Handel privilegiert. 74

3.1 Die Verteilung der jüdischen Siedlungen in Österreich unter der Enns anhand der Steueranlagebücher von 1652 und 1662-1671 Angesichts der unterschiedlichen naturräumlichen Voraussetzungen und ungleichmäßigen Siedlungsdichte in den einzelnen Landesteilen Niederösterreichs erstaunt es nicht, daß sich auch die jüdische Bevölkerung verschieden konzentrierte. Abgesehen von einigen wenigen Orten am südlichen Ufer der Donau kam es im Viertel ob dem Wienerwald zu keiner Ansiedlung von Juden. Auch im (vor)alpinen Raum des Viertels unter dem Wienerwald ließen sich keine Juden nieder. Eine relativ dichte Besiedlung bestand in diesem Landesviertel aber im Süden von Wien entlang der Handelsverbindungen nach Ungarn. Mit Ebenfurth befand sich hier die größte Landgemeinde Niederösterreichs, aber auch Zwölfaxing und Achau waren mit um die zwanzig Familien Gemeinden in einer Größe, wie sie anderswo kaum erreicht wurde. 75 Im niederösterreichischen Vergleich ,mittelgroße' Siedlungen mit um die zehn Familien befanden sich in Rannersdorf, Oberwaltersdorf, Tribuswinkel, Frohsdorf und Wolfsthal, letzteres direkt an der Grenze zu Oberungarn. Mehr jüdische Siedlungen befanden sich im Viertel ob dem Manhartsberg, allerdings auch hier mit starker regionaler Schwerpunktbildung. Die höchste Dichte gab es direkt nördlich der Donau zwischen Kamptal und Krems-Stein, wobei hier sicherlich der Langenloiser Gemeinde die größte Bedeutung zukam. Größere und auch zahlreichere Gemeinden lagen im Norden und Nordwesten nahe der Grenze zu Mähren und Böhmen, während sich im gesamten Südwesten des Viertels abgesehen von Weitenegg an der Donau keine einzige jüdische Gemeinde findet. Hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl deutlich herausragend sind dabei Weitersfeld und Waidhofen an der Thaya. Die meisten jüdischen Siedlungsorte lagen im Viertel unter dem Manhartsberg, auch hier mit einem deutlichen Siedlungsschwerpunkt um den Manhartsberg an der Grenze zum Viertel ob dem Manhartsberg, entlang der Donau und dann vor allem im östlichen, grenznahen Bereich nach Ungarn im Osten und Mähren im

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Privilegienbestätigung für die niederösterreichischen Landjuden durch Ferdinand III. Wien, 1656 Dezember 18. P. Rauscher (Anm. 72) Quellenanhang Nr. 5. S. 141-144. Siehe dazu auch den Beitrag von Barbara Staudinger in diesem Band. Vgl. Stefan Rohrbacher: Organisationsformen der süddeutschen Juden in der Frühneuzeit. In: Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Robert Jütte, Abraham P. Kustermann. Wien, Köln, Weimar 1996 (Aschkenas; Beiheft 3). S. 137-149, hierS. 141.

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Peter Rauscher

Norden. Wichtige Gemeinden waren Groß-Schweinbarth, Bockfließ, Marchegg, Grafenwörth und Feldsberg (siehe Tabelle 3). Die Größe der jüdischen Siedlungen war äußerst unterschiedlich. Betrachtet man die Zahlen der Steueranlage für die Jahre 1669-1671 ergibt sich folgender Befund: Von den 54 angegebenen Siedlungen umfaßten lediglich sieben (13%) mindestens zwanzig Familien, in neun Orten lebten 10-19 Familien (16,7%), in 17 Orten 5-9 (31,5%). In der Mehrzahl der Ortschaften, in denen Juden wohnten, waren weniger als fünf jüdische Familien ansässig (38,9%). Große Gemeinden bildeten also die Ausnahmen, während vereinzelt lebende Juden oder Verbände von nur wenigen Familien die häufigste Siedlungsform darstellten. Stellt man noch in Rechnung, daß in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zahlreiche Mauten an einzelne Juden vergeben waren, dürfte in dieser Zeit der Anteil der Kleinstsiedlungen noch größer gewesen sein.76 Dieses Ergebnis deckt sich in seiner Tendenz also mit der von Michael Toch bereits für das späte Mittelalter getroffenen Feststellung: „there can be no doubt that the prevailing pattern consisted of minuscule and small Jewish communities".77 Abgesehen von dem Befund, daß Juden in dem ohnehin wenig bevölkerten voralpinen und alpinen Raum nicht siedelten und sich eine Konzentration jüdischer Gemeinden entlang der Donau feststellen läßt, was angesichts von deren Bedeutung als Verkehrsweg wenig erstaunt, bringt eine rein geographische Analyse der Siedlungsverteilung kaum weiterführende Ergebnisse. Wichtig ist vielmehr, die Herrschaftsstruktur genauer zu betrachten, also die Frage zu beantworten, wem die Grundherrschaften gehörten, auf denen Juden siedelten. Diese zentrale Frage für die Geschichte der niederösterreichischen Landjuden wurde bisher noch nicht gestellt. Ein Grund dafür ist sicherlich, daß trotz einer ganzen Reihe von Forschungen zu den Grundherrschaften im Land unter der Enns ein leichter Überblick über die Besitzverhältnisse bis heute nicht zu erhalten ist und sich jede Recherche dazu als relativ aufwendig erweist.78

76 77

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Zu den Mautstellen siehe P. Rauscher (Anm. 14). Michael Toch: Aspects of Stratification of Early Modern German Jewry: Population History and Village Jews. In: In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Hg. von Ronnie Po-Chia Hsia, Hartmut Lehmann. Cambridge, New York, Melbourne 1995 (Publications of the German Historical Institute Washington, D.C.). S. 77-89. ZitatS. 81. Die „TopNÖ" wurde leider nicht vollendet, der letzte Band erschien unter dem neuen Titel: Historisch-Topographisches Lexikon von Niederösterreich. Hg. vom Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 1. Bd.: Katastralgemeinden mit dem Anfangsbuchstaben P. 1. Lieferung: Paasdorf-Pframa. Redigiert von Helmuth Feigl. Wien 1988; die publizierten Artikel sind von unterschiedlicher Genauigkeit, geben jedoch im allgemeinen keine Hinweise auf die Verteilung der grundherrschaftlichen Rechte in einem Ort.

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Landesviertel Gemeinden Viertel ob dem Manhartsberg Weitersfeld Waidhofen/Thaya 79 Langenlois Spitz Heidenreichstein Greillenstein 80 Weitenegg Windigsteig Haindorf Stein Schrattenthal Eselstein (heute Hohenstein) Schrems81 Gobelsburg Kremsthal (Gänsweid) Viertel ob dem Wienerwald Nußdorf ob der Traisen Chorherrn Zwentendorf Schönbühel/Donau Mautern Viertel unter dem Manhartsberg Groß-Schweinbarth (Schweinburg) Bockfließ Marchegg Grafenwörth (und Haitzendorf) 82 Feldsberg (heute: Valtice) 83 Niederabsdorf Hohenau/March Sitzendorf*4 Matzen

79 80 81 82 83 84

1652 20 18 12 5 5 -

2 3 4 1 1

Anzahl der besteuerten Personen 1662/65 1666/67 1668 1669/71 21 18 12 5 5 4 2 3 4 1 1

-

-

-

-

21 18 12 5 5 4 4 3 2 1 1 3 1

21 18 12 5 5 4 4 3 2 1 1 3 1 1

33 23 15 8 4 6 5 3 3 3 2 3 2 4

-

-

-

2

2

-

-

2

2 3

4 3 4 3 2

11 5 5 4 3

-

-

-

2 2

2 2

4 3 4 3 2

16

16

16

16

22

16 16 11

16 16 11

16 16 13

16 16 13

21 17 18

9 6 6 8 6

9 6 7 9 6

7 4 7 7 6

7 4 7 7 6

14 10 8 6 7

-

1662/65, 1666/67 und 1668 mit Weitra, 1669/71 mit Groß-Taxen und Dobersberg. 1669-1671 mit Stockern. 1669-1671 mit Litschau. 1666/67, 1668 und 1669/71 nur Grafenwörth. 1662/65 mit Hauskirchen. 1662/65 mit Zellerndorf.

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Peter Rauscher

Michelstetten Stranzendorf Haugsdorf Schmida Stetteldorf/W agram Großwetzdorf Hollabrunn Loosdorf Straß im Straßertale Sierndorf Burgschleinitz Großkadolz Seebarn Jedenspeigen Wolfpassing (Bezirk Stockerau) Immendorf Neuaigen Oberfellabrunn Sachsengang (heute in Groß-Enzersdorf) Zellerndorf Viertel unter dem Wienerwald Ebenfurth Zwölfaxing Achau Oberwaltersdorf Wolfsthal Tribuswinkel Rannersdorf Frohsdorf Bad Deutsch-Altenburg Maria Enzersdorf Oberlaa Gesamtzahl der Steuersubjekte Gesamtzahl der Gemeinden Tabelle 3:

85

6 7 6 5 6 2 5 2 3 2 2

6 7 6 5 6 2 5 2 3 3 2

-

-

2 2

2 2 1

-

6 3 6 6 3 4 3 2 3 2 2 3 1 2 2

6 3 6 6 3 4 3 2 3 2 2 3 1 2 2

7 7 4 4 5 6 5 5 3 3 2 3 2

3

3

-

-

-

-

-

-

-

1

-

-

3 3 1

3 3 1

1

-

-

-

-

-

-

2

24 20 18 10 10 8 8 8 1 -

337 48

24 20 18 10 10 8 8 8 1 3 -

352 52

24 20 18 10 10 8 8 7 2 3 -

350 54

24 20 18 10 10 8 8 7 2 3 -

350 54

45 25 21 15 13 12 9 8 5 1 2 480 54

Die Wohnorte der Juden in Österreich unter der Enns zwischen 1652 und 1671 anhand der Steueranlagebücher der Landjudenschaft (geordnet Landesviertel und Größe)85

Tabelle aus B. Staudinger (Anm. 8). S. 51 f. Tabelle 2. Wegen einiger Veränderungen der Familienzahlen ist keine absolute Ordnung der Wohnorte der Landjuden nach Gemeindegröße möglich.

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Auch im folgenden kann ich nicht alle der mehr als fünfzig Orte, in denen Juden lebten, eingehend analysieren. Um trotzdem ein möglichst aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten, nähere ich mich der Frage folgendermaßen an: Erstens werde ich mit dem Viertel unter dem Manhartsberg das Landesviertel näher betrachten, in dem die meisten jüdischen Siedlungen lagen. Zusätzlich werden die Herrschaftsverhältnisse in den Orten mit den größten jüdischen Gemeinden, also Ebenfurth, Zwölfaxing, Achau, Weitersfeld und Waidhofen an der Thaya untersucht.

3.2 Die jüdischen Siedlungen im Viertel unter dem Manhartsberg In den Anlagebüchern der Jahre 1669 bis 1671 sind im Viertel unter dem Manhartsberg insgesamt 182 jüdische Steuersubjekte, verteilt auf 24 Orte aufgeführt. Die durchschnittliche Anzahl der steuerpflichtigen Familienoberhäupter betrug damit 7,6 Personen pro Ort. Die Abweichungen von diesem Durchschnittswert sind allerdings beträchtlich. Eine Größe von zwischen fünf und neun Steuersubjekten weisen mit Großwetzdorf (6), Stranzendorf (7), Sitzendorf (6), Hohenau (8), Matzen (7) und Michelstetten (7) lediglich neun jüdische Siedlungen auf. Unterhalb einer Größe von fünf Familienoberhäuptern lagen insgesamt neun Siedlungen, davon vier mit lediglich zwei bzw. in Wolfpassing einem Steuersubjekt. Überdurchschnittlich große Gemeinden gab es nur in GroßSchweinbarth (22), Bockfließ (21), Grafenwörth (18), Marchegg (17), Feldsberg (14) und Niederabsdorf (10). In mehr als einem Drittel der Siedlungen lebten also, zumindest laut den Steuerlisten, höchstens vier Familien, in der Hälfte nicht mehr als fünf. Ungeklärt ist bisher die Stabilität dieser Kleinsiedlungen. Dazu einige Bemerkungen, die auf Beobachtungen zum gesamten Land Österreich unter der Enns beruhen. Schon allein die erhaltenen Anlagebücher legen nahe, daß besonders jüdische Kleinsiedlungen ständig von Auflösung bedroht waren, denn allein im Jahrzehnt von 1662 bis 1671 wurden acht Orte aus den Steuerlisten entfernt. 86 Über die einzelnen Gründe für den Abzug der Juden sind wir oft nicht informiert. In Gobelsburg - keineswegs eine Kleinsiedlung - verbuchte der dortige Pfleger für das Jahr 1644 noch die Abgaben der alhieig gewesten judenschaft von neun jüdischen Ehepaaren, dem alten Moses Helmb sowie von dem erst ein Vierteljahr anwesenden Moses Kain, die nach jahrelangem Verbleib in der Herrschaft diese offenbar vollständig wieder verlassen hatten. 87 86

87

Haitzendorf, Kremsthal, Neuaigen, Oberfellabrunn, Immendorf, Jedenspeigen, Sachsengang und Hauskirchen. Schlossarchiv Steyersberg. HA Gobelsburg. Bücher Nr. 5 [alt Nr. 48]: Abrechnung des Pflegers Wolf Aigner für das Jahr 1644. Fol. 18v-19v, 13 lv. In den folgenden Rechnungen scheinen keine Einnahmen von den Juden mehr auf. Die Juden von Grafenwörth wurden

68

Peter Rauscher

Groß-Schweinbarth

22

Bockfließ

21

Grafenwörth

18

Marchegg Feldsberg (heute: Valtice, CZ)

17 14

Niederabsdorf Hohenau/March

10 8

Matzen Michelstetten Stranzendorf Großwetzdorf Sitzendorf Hollabrunn Loosdorf Stetteldorf/W agram Haugsdorf

6 5 5 5 4

Schmida

4

Großkadolz Sierndorf

3

Straß Burgschleinitz Seebarn Zellerndorf Wolfpassing (Bezirk Stockerau) Gesamt Tabelle 4:

7 7 7 6

3 3 2 2 2 1 182

Die Anzahl der Steuersubjekte pro Gemeinde im Viertel unter dem Manhartsberg 1669-1671 geordnet nach Größe und Alphabet

Wir besitzen auch einige Hinweise, daß sich einzelne Juden im 17. Jahrhundert länger an Orten aufhielten, die sich nicht in den Anlagebüchern finden. 1631 klagte zum Beispiel das Stift Herzogenburg gegen den gleichnamigen Unteren Markt, weil dort einem Juden der Kauf eines Hauses gestattet worden war. 88 Auch

88

angeblich 1646 vertrieben, später jedoch wieder aufgenommen. Vgl. TopNÖ. Bd. 3/2. Wien 1893. S. 641-656, hier S. 656. Stiftarchiv Herzogenburg, H.l.n.859, 1631 Dezember 23. Ich danke Frau Mag. Helga Penz für diesen Hinweis.

Feinde der Städte, Diener des Adels?

69

in der Stadt Horn hielten sich offenbar in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer wieder einzelne Juden auf. 89 Ursachen für den Abzug von Juden konnten die Kriegshandlungen im Land unter der Enns in der Endphase des Dreißigjährigen Krieges sein. Der Rentmeister der Herrschaft Grafenegg, Georg Perger, teilte beispielsweise seiner Herrschaft mit, er habe das Schutz- und Vogtgeld der Juden am Eselstein für das Jahr 1645 nicht eingenommen, da diese wegen des Kriegs die Herrschaft verlassen hätten und erst im folgenden Jahr wieder zurückgekehrt seien. 90 Ein anderes Beispiel, wie jüdische Kleinsiedlungen schrumpfen konnten, bieten die Juden aus Schönbühel. 1662 berichtete der dort wohnende Joseph Veit, daß die Schönbüheler Juden ihre Steuerquote deshalb nicht leisten könnten, weil das wohlhabendste Ehepaar vor wenigen Jahren ermordet worden sei und drei andere Juden heimlich entflohen wären. Lediglich er selbst und ein anderer Jude seien in Schönbühel zurückgeblieben. Auch der Steuereinnehmer der Landjuden Hirschl Mayr verwies gegenüber den kaiserlichen Behörden darauf, daß arme Juden angesichts der Steuerforderungen nicht selten aus dem Land fliehen würden. 91 Tod oder Abzug hatten also besonders bei den kleinen Siedlungen - von Gemeinden kann hier freilich keine Rede sein - erhebliche Auswirkungen auf deren Bestand. Zurück zum Viertel unter dem Manhartsberg und zu der Frage, auf welchen Grundherrschaften Juden wohnten: Genau hier liegt ein grundsätzliches Problem für die Erforschung der niederösterreichischen Landjuden. Wichtig ist es nämlich erstens zu wissen, zu welcher Herrschaft ein Ort mit jüdischer Besiedlung gehörte, das heißt, wer die Ortsobrigkeit besaß, zweitens ist die Frage zu klären, welche Grundherren die Häuser hatten, in denen die Juden lebten. Die Mehrheit der Orte, in denen Juden siedelten, waren, wie angesichts der Besitzverteilung im Land unter der Enns auch nicht anders zu erwarten ist, Teil größerer Herrschaften im Besitz des höheren Adels (Herrenstand). Angesichts der hohen Fluktuation der Herrschaftsbesitzer in den letzten Jahrzehnten des 16. und den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts kam es nach dem Sieg des Kaiserhauses und des loyalen katholischen Adels und den daran anschließenden um89

90

91

L. Moses (Anm. 7) S. 132f.; Erich Rabl: Die Juden in Horn. In: „Die Erinnerung tut zu weh". Jüdisches Leben und Antisemitismus im Waldviertel. Hg. von Friedrich Polleroß. Waidhofen a. d. Thaya 1996 (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes. Bd. 37). S. 183-220, hier S. 184. Ein Nathan von Horn ist belegt in: KA. Wien. Protokolle des Hofkriegs 288 (1643 E). Fol. 541r. Lediglich auf die Steuerliste von 1652 hinweisend, in der Horn nicht vorkommt: Gerson Wolf: Die israelitische Cultusgemeinde in Horn in Niederösterreich. In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen 28. 1888. S . 2 6 f . , S . 45-47. Erläuterung der Mängel in der Rentamtsabrechnung der Jahre 1645/46 durch den Rentmeister Georg Perger, Grafenegg, 1648 April 20. HHStA. Schloßarchiv Grafenegg. Karton 248. Konv. 3. Unfol. Zum Einfall der Schweden und der Eroberung des Schlosses Grafenegg siehe: Grafenegg. In: TopNÖ 3/2 (Anm. 87) S. 625-637, hier S. 632. P. Rauscher (Anm. 72) S. 43f.

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Peter Rauscher

fangreichen Besitzumschichtungen erst ab den 1630er Jahren auch im Viertel unter dem Manhartsberg zu einer Konsolidierungsphase. 92 Mitte der 1630er Jahre waren die sechs großen jüdischen Siedlungen des Viertels unter dem Manhartsberg folgendermaßen verteilt: Außer der Herrschaft Niederabsdorf, die der Mautner von Ybbs, Wolfgang Fazi, erworben hatte und die erst ca. 1650 an die Grafen von Hohenfeld fiel, 93 waren alle übrigen fünf Orte im Besitz des hohen Adels: Bei weitem den höchsten Anteil von Juden auf seinen Gütern hatte ab den 1660er Jahren mit Bockfließ und Groß-Schweinbarth Ernst von Abensperg-Traun, der Leiter des kaiserlichen Generalkriegskommissariats.94 Während in Bockfließ die Traun selbst für den Bau von ,Judenhäusern' gesorgt und den Zuzug von Juden forciert hatten, übernahm Ernst von Traun mit der Herrschaft Groß-Schweinbarth eine bereits bestehende Gemeinde. Die Besitzrechte der in brandenburgische und landesfürstliche Lehen sowie etliche Alloden dreigeteilten Herrschaft waren nach dem kinderlosen Tod Hans Laßlas von Kuenring 1594 nahezu ein halbes Jahrhundert lang umstritten. Nachdem Hans Wilhelm von Schönkirchen zunächst die Herrschaft erworben hatte, mußten die Brandenburger Lehen mehrmals an den Markgrafen zurückgegeben werden, wurden jedoch zweimal wegen Steuerschulden seitens der Landstände wieder eingezogen. Nachdem seit 1649 die Landschaft die Verwaltung der Güter übernommen hatte, wurden diese schließlich 1658 an Ernst von Traun verkauft. 1661 erwarb Graf Traun dann auch die landesfürstlichen Lehen, die seit 1622 Graf Hans Wilhelm von Hardegg und ab 1634 die Freiherrn von Schönkirchen inne hatten.95 Bereits

92 93 94

95

Vgl. Ε. M. Havlik (Anm. 34) S. 118. Absdorf (Nieder-Absdorf). In: TopNÖ 2/1. Wien 1879-1885. S. 3f. Nichts zu den Gütern der Familie Abensperg-Traun enthält die Arbeit von Zdislava Röhsner: Geschichte der Familie Abensperg und Traun. Von den ersten urkundlichen Erwähnungen bis zum Ende der Monarchie. Ungedr. Arbeit. Wien 1995. Zur politischen Rolle Emsts von Traun siehe: Philipp Hoyos: Ernst von Traun, Generalkriegskommissär, und die Abdankung der kaiserlichen Armee nach dem 30-jährigen Krieg. Ungedr. Diss. phil. Wien 1971, zu den Juden: S. 78-80; Thomas Winkelbauer: Fürst und Fürstendiener. Gundaker von Liechtenstein, ein österreichischer Aristokrat des konfessionellen Zeitalters. Wien, München 1999 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Erg.Bd. 34). S. 240f. und 243f. Zu den Juden in Bockfließ siehe Otto Eigner: Die „Judenstadt" in Bockfließ. In: Monatsblatt des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich 5. 19101911. S. 374-377; Edgar Weyrich: Der politische Bezirk Floridsdorf-Umgebung. Ein Heimatbuch. Wien, Leipzig, New York 1924 (Lehrerbücherei. Bd. 49). S. 159; danach: Norbert Inhausen Die Flurnamen des Gebietes um Wolkersdorf und Bockfließ (Bezirk Mistelbach, NÖ). Ungedr. Diss. phil. Wien 1978. S. 46; Hermine Loderer: Bockfließ. Heimatkundliche Beiträge. Bockfließ 1978. S. 337-341. H. Feigl (Anm. 60) S. 191-194; Ε. M. Havlik (Anm. 34) S. 122. Zu den brandenburgischen Lehen in Niederösterreich siehe: Otto Prausnitz: Feuda extra curtem. Mit besonderer Berücksichtigung der Brandenburgischen Lehen in Österreich. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie zur Entstehung des modernen Staates mit Beiträgen zur Geschichte des Prozeßrechts und des Kirchenrechts. Weimar 1929 (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit. Bd. 6/3), zu Groß-Schweinbarth: S.

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für das späte 16. Jahrhundert sind Juden in Groß-Schweinbarth nachzuweisen, ob seit dieser Zeit eine ununterbrochene jüdische Besiedlung bestand, ist unklar; wie es scheint, lebten die Juden sowohl auf den brandenburgischen, wie auch auf den landesfürstlichen Lehen. Festzuhalten ist jedenfalls, daß die Besitzrechte der Herrschaft gerade in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, also in der Zeit, als sich eine größere Gemeinde entwickelt haben dürfte, äußerst umstritten waren. Die drittgrößte Siedlung lag in der Herrschaft Grafenwörth des Hofkanzlers Ferdinands II., Johann Baptist Verda von Werdenberg, der 1628 Grafenwörth erworben und in die Herrschaft Grafenegg integriert hatte. 96 Ebenfalls im Besitz der Familie Werdenberg befanden sich Haitzendorf und Neuaigen, w o sich ebenfalls zeitweilig Juden aufhielten, sowie seit 1664 Seebarn. 97 Die Familie Liechtenstein verfügte nicht nur über zahlreiche jüdische Siedlungen in Mähren, sondern auch - gemessen an den Steuerverzeichnissen von 1669/71 - mit Feldsberg über die fünftgrößte jüdische Gemeinde des Landes unter der Enns und außerdem mit Hohenau an der March über die siebtgrößte. 98 Die viertgrößte Siedlung, Marchegg, befand sich im Besitz des Grafen Pälffy, auf dessen Besitzungen in Preßburg ebenfalls Juden wohnten. 9 9 In den 1660er Jahren herrschten nach der Übernahme von Groß-Schweinbarth durch Ernst von Traun lediglich fünf Herrschaftsbesitzer im Viertel unter dem Manhartsberg über mehr als 60% der gesamten dort ansässigen Landjuden, an der Spitze die Familie

96

97 98

99

25-28; dazu: Karl Lechner: Zur Geschichte und Bedeutung der Brandenburger Lehen in Österreich. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich. N.F. 24. 1931. S. 259-270. Zu den Grafenwörther Juden siehe [Lambert Pekarek]: Markt Grafenwerd. Ein Heimatlesebuch. Grafenwörth, Krems 1978. S. 53f. Zur frühneuzeitlichen Herrschaftsentwicklung: Grafenwörth. In: TopNÖ 3/2 (Anm. 87) S. 653-655; [Christian Ritter] d' Elvert: Die Grafen von Werdenberg. In: Notizen-Blatt der historisch-statistischen Section der kais. königl. mährisch-schlesischen Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaues, der Natur- und Landeskunde 9. 1876. S. 65-68. L. Moses (Anm. 7) S. 70. Vgl. unten Anm. 105. Zu Hohenau siehe Anton Schultes: Heimatbuch der Marktgemeinde Hohenau a. d. March. Erweiterte Neuauflage der 1934 erschienenen Beiträge zur Heimatkunde von Hohenau. Bearb. und ergänzt von Robert Franz Zelesnik. Hohenau/March 1968. S. 411-414 und passim; Anton Schultes: Ein Hohenauer Ghetto? In: Unsere Heimat 25. 1954. S. 171-173. Nicht ergiebig für die jüdische Gemeinde in Feldsberg: Erich Kippes: Feldsberg und das Haus Liechtenstein im 17. Jahrhundert. Die Gegenreformation im Bereich der fürstlichen Herrschaft. Wien, Köln, Weimar 1996, zu den Juden siehe S. 41 und S. 70, wo von einer Ausweisung von 1651 die Rede ist. Allgemein zu Feldsberg: Karl Höß: Geschichte der Stadt Feldsberg. Feldsberg 1902. Zum Besitz des Hauses Liechtenstein siehe Ingeborg Bogner: Die Liechtensteinischen Herrschaften und ihre Untertanen in der Nordostecke von Niederösterreich 15.-19. Jahrhundert. Ungedr. Diss. phil. Wien 1953. Emil Mück: Die Geschichte von Marchegg. Heft 3. Gänserndorf o. J. [1959], S. 49-53; Marchegg. In: TopNÖ 6/5. Wien 1909. S. 100-119, zur frühneuzeitlichen Herrschaftsentwicklung: S. 107-110, zu den Marchegger Juden: S. 115f.; Samuel Bettelheim: Das Preßburger Ghetto. Geschichte der Juden in Preßburg. In: Geschichte der Stadt Preßburg - Bratislava. Hg. von Emil Portisch. Bd. 1. Preßburg/Bratislava 1933. S. 301-325.

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Peter Rauscher

Abensperg-Traun, auf deren Besitzungen allein fast ein Viertel aller Juden wohnten (siehe Tabelle 5). Adelsfamilie

Orte

Abensperg-Traun (ab ca. 1660; vorh. Schönkirchen) Abensperg-Traun Liechtenstein

GroßSchweinbarth Bockfließ Feldsberg, Hohenau Grafenwörthlüü Marchegg Niederabsdorf

Werdenberg Pälffy Fazi/Hohenfeld Gesamt Tabelle 5:

Jüdische Steuerzahler / Familien 22

Anteil an der Gesamtzahl der jüdischen Steuerzahler im VuMB 12,1

21 22

11,5 12,1

18 17 10 110

9,9 9,3 5,5 60,4

Die Adelsfamilien mit den meisten jüdischen Untertanen im Viertel unter dem Manhartsberg in den Jahren 1669/71

Daß es im Zuge einer Herrschaftsübernahme zu einer Vertreibung von bereits ansässigen Juden kam, ist nicht bekannt. Eine Bedrohung für die Juden ging nicht vom Adel, sondern von Seiten des Landesfürsten aus. Im Zuge der Auseinandersetzungen mit einigen Adeligen um deren jüdische Mautner hatte Ferdinand II. 1627 verboten, Juden ohne landesfurstliche Erlaubnis auf den Herrschaften zu dulden. Unter anderem auf Intervention der Wiener Gemeinde wurde die drohende Ausweisung 1629 allerdings wieder zurückgenommen und die Landjuden unter den Schutz des Landesfürsten gestellt.101 Weitgehend unklar ist, ob die Juden im Einzelfall in Häusern der Ortsobrigkeit oder in denen anderer Hausbesitzer am Ort wohnten. Feldsberg gehörte vollständig der Familie Liechtenstein, hier waren also für die Juden Ortsobrigkeit und Grundobrigkeit identisch. Für Bockfließ, das neben dem herrschaftlichen Teil zum landesfürstlichen Kammergut gehörte, wissen wir, daß sich die dortige J u denstadt' auf herrschaftlichem Grund befand.102 Bockfließ zählte zum eingangs geschilderten Typ einer wirtschaftlich modern geführten Herrschaft, aus der der größere Teil der Einkünfte nicht aus den Abgaben der Untertanen bestand, sondern von der Grundherrschaft selbst in Eigenregie erwirtschaftet wurde.103 Die 100

101

102 103

Der Markt Grafenwörth war Teil der Herrschaft Grafenegg. Zu ihr gehörten u. a. Straß, im Viertel unter dem Manhartsberg und Mollands im Viertel ob dem Manhartsberg, wo sich ebenfalls Juden aufhielten. Vgl. Grafenegg. In: Franz Xaver Schweickhardt von Sickingen: Darstellung des Erzherzogthums Oesterreich unter der Enns (...). Viertel unterm Manhartsberg. Bd. 2. Wien 1834. S. 154-164, hier S. 156f. Kaiserliche Resolution an die Judenschaft mit der Erlaubnis, weiterhin im Land zu bleiben, o. O., 1629 Mai 8. HHStA. Schlossarchiv Grafenegg. Karton 670. Konv. 2. Unfol.; L. Moses (Anm. 7) S. 22; A. F. Pribram (Anm. 68) Bd. 2. S. 579f.; P. Rauscher (Anm. 3) S. 313. Eigner (Anm. 94) S. 375. Ph. Hoyos (Anm. 94) S. 73-80.

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Ansiedlung von Juden in Bockfließ war alles andere als Zufall, sondern entsprang rein ökonomischem Kalkül. Im Jahr 1636 siedelte Sigmund Adam von Traun drei Juden aus dem Reich in Bockfließ an, zwei Jahre später folgten zwei weitere. Unter dem Sohn Sigmund Adams, Ernst von Traun, begann dann eine regelrechte Ansiedlungspolitik. Als Gegenleistung für den Bau von Häusern für die Juden, verpflichteten sich diese, den Wohnraum mit weiteren Abgaben leistenden Juden zu füllen. Dieses Geschäft, das zu einem raschen Anwachsen der jüdischen Gemeinde führte, wirkte sich äußerst positiv auf die Herrschaft aus. Sie erzielte im Jahr 1668 von ihren Schutzjuden Einnahmen in Höhe von 526 fl., von ihren christlichen Untertanen lediglich Kontributionen in Höhe von 409 fl. 104 Auch wenn zu vermuten ist, daß auch in den anderen Orten, in denen Juden wohnten, die Ortsobrigkeit für deren Ansiedlung entscheidend war, muß einen genauere Klärung dieser Frage zunächst offen bleiben. Zumindest anhand einiger Beispiele soll kurz auf die Herrschaftsbesitzer jüdischer Kleinstsiedlungen eingegangen werden. Bleiben wir beim Viertel unter dem Manhartsberg: In den Steuerlisten von 1669/71 ist für Wolfpassing nur ein Steuersubjekt eingetragen. Dieser Ort befand sich, wie auch Großkadolz (ab 1629), im Besitz der Grafen Hardegg, denen längere Zeit auch die zweitgrößte jüdische Gemeinde Niederösterreichs in Weitersfeld gehört hatte. 105 Offenbar präferierten also einzelne Adelige, wie die Abensperg-Traun, die Liechtenstein oder eben die Hardegg die Ansiedlung von Juden auf ihren Gütern.

3.3 Die übrigen großen jüdischen Gemeinden in Österreich unter der Enns Inwieweit decken sich nun diese anhand des Viertels unter dem Manhartsberg erzielten Ergebnisse mit dem übrigen Land unter der Enns? Hierzu sollen die -

104 105

Ph. Hoyos (Anm. 94) S. 79. Wolfpassing (a). In: Schweikhardt von F. X. Schweickardt von Sickingen (Anm. 100). Viertel unterm Manhartsberg. Bd. 7. Wien 1835. S. 240-243. Kadolz, Groß-, In: TopNÖ. Bd. 4/5. Wien 1903. S. 1-3, hier S. 2f. Die anderen Besitzer der kleinsten jüdischen Siedlungen im Viertel unter dem Manhartsberg waren die Familie Herberstein (bis 1635)/Kollonitsch (Sierndorf), Kuefstein (Burgschleinitz, ab 1624), Auersperg/Werdenberg (ab 1664) (Seebarn) und Dillher von Althen (ab 1626/27) (Zellerndorf). Zu Burgschleinitz: Burghard Gaspar: Zur Geschichte der Burg in Burgschleinitz. In: Aus der Vergangenheit unserer Gemeinde. Festschrift anläßlich der Überreichung der Markterhebungsurkunde am 10. Juli 1988. Hg. von Burghard Gaspar. Burgschleinitz 1988. S. 113-130, hier S. 125; Karl Graf Kuefstein: Studien zur Familiengeschichte in Verbindung mit der Landes- und Kulturgeschichte. 3. Teil: 17. Jahrhundert. Wien, Leipzig 1915. S. 200-202. Zu Seebarn und Sierndorf siehe: F. X. Schweickardt von Sickingen (Anm. 100). Viertel unterm Manhartsberg. Bd. 6. Wien 1835. S. 131-134 und S. 159-167; zu Zellerndorf: Ebd. Bd. 7. Wien 1835. S. 280-283; Christina Mochty-Weltin: Die Marktgemeinde Zellerndorf 1500-1700. In: Heimat Zellerndorf. Hg. von Christina Mochty-Weltin, Ernst Bezemek, Wilhelm Ostap. Zelllerndorf 2000. S. 49-72, hier S. 52f.

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Peter Rauscher

abgesehen von Groß-Schweinbarth und Bockfließ - fünf größten Landgemeinden Niederösterreichs näher untersucht werden. Diese fünf , Großgemeinden' beherbergten zusammen mehr als 30% der gesamten jüdischen Bevölkerung in Österreich unter der Enns (siehe Tabelle 6), rechnet man noch Bockfließ und GroßSchweinbarth hinzu, wohnten in nur sieben Ortschaften knapp 40% aller Juden im Land. Herrschaft

Ort

Unverzagt106 Hardegg/St. Julien (ab 1656)107 Pucher von Meggenhausen108 Mollart/Sprinzenstcin109

Ebenfurth Weitersfeld

Grappler von Trappenbürg110 Gesamt Tabelle 6:

106

Anzahl der Familien (1669/71) 45 33

Anteil an der jüdischen Bevölkerung in ÖuE in % 9,4 6,9

Zwölfaxing

25

5,2

Waidhofen/Thaya (inkl. Dobersberg und Groß-Taxen) Achau

23

4,8

21

4,4

147

30,7

Die Herrschaftsbesitzer der fünf größten jüdischen Siedlungen in Österreich unter der Enns (ohne das Viertel unter dem Manhartsberg)

Ebenfurt. In: TopNÖ 2/1 (Anm. 93) S. 400-406, hier S. 405. Zu den Juden in Ebenfurth siehe mit einigen Ungenauigkeiten auf Basis der Literatur: Anton Philapitsch: Die Juden in Ebenfurth. In: David. Jüdische Kulturzeitschrift 7. Jg./Nr. 26. September 1995. S. 12f. 107 Weitersfeld war Teil der Herrschaft Prutzendorf. A. Eggendorfer: Viertel (Anm. 22) Bd. 2. S. 335; L. Moses (Anm. 7) S. 182, Anm. 210. 108 Laut S. M. Moser (Anm. 34) S. 130, war das Gut Zwölfaxing bis 1639 im Gültbuch unter Dr. jur. Veit Sieß (Bürgerstand) verzeichnet, der es an Johann Pucher von Meggenhausen (Ritter) verkaufte; dieser wurde 1640 Hofkriegsrat, 1652 Freiherr und 1655 in den Herrenstand aufgenommen. Siehe Dagmar Schöpf: Die im Zeitraum von 1620-1740 erfolgten Neuaufnahmen in den nö. Herrenstand. Ungedr. Diss. phil. Wien 1966. S. 284. 109 Die Darstellungen der Geschichte der Juden in Waidhofen a. d. Thaya beruht weitgehend auf: Alois Plesser: Beiträge zur Geschichte der Pfarre Waidhofen an der Thaya. In: Geschichtliche Beilagen zum St. Pöltener Diözesanblatt 10. 1928. S. 281-636; und Heinrich Rauscher: Juden in Waidhofen an der Thaya. In: Das Waldviertel 3. 1930. S. 89-95. Danach: Franz Dammerer: Die Zeit der Reformation und Gegenreformation. In: Waidhofen a. d. Thaya. Werden und Wandel einer Stadt. Waidhofen a. d. Thaya 1980. S. 30-43, hier S. 42; Erwin Pöppl: Der Ausbau im Merkantilismus und Barock. In: Ebd. S. 43-58, hier S. 49f.; Eduard Führer, Harald Hitz: Juden in Waidhofen an der Thaya. In: F. Polleroß (Anm. 89) S. 301-342. Zum Erwerb der Herrschaft Waidhofen durch Simon Hieronymus Freiherr von Sprinzenstein im Jahr 1618 siehe August Zöhrer: Aus der Geschichte der Familie der Grafen von Sprinzenstein. In: Oberösterreichische Heimatblätter 18. 1964. S. 61-66, hier S. 65. 110 Bis 1623 im Besitz der Breuner, dann bis 1732 in dem der Grappler von Trappenburg, siehe: Achau. In: TopNÖ 2/1 (Anm. 93) S. 4f. Josef Kogler: Unsere Heimat Achau. Achau 2003. S. 29; einige, ζ. T. fehlerhafte Ausführungen zu den dortigen Juden auf S. 12.

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Bei diesen Herrschafitsbesitzern handelt es sich - wie auch bei der Mehrheit der Förderer größerer jüdischer Gemeinden im Viertel unter dem Manhartsberg um keine Inhaber absoluter Toppositionen am Kaiserhof. 111 Aus diesem Grund und weil sich viele Adelsarchive in Niederösterreich noch in Privatbesitz befinden und damit der Zugang vielerorts schwierig ist, fehlen Forschungen zu diesen Familien und ihrer Wirtschaftsführung. 112 Eine besondere Rolle spielten jedenfalls die Grafen Hardegg (Prueschenk). Neben der zweitgrößten jüdischen Gemeinde in Weitersfeld gehörte dieser Familie auch Stetteldorf, Schmida und Kadolz. 113 Wirtschaftspolitische Überlegungen dürften auch in den anderen Landesvierteln bei der Ansiedlung von Juden entscheidend gewesen sein. So wird beispielsweise davon ausgegangen, daß in Niederthal auf der Herrschaft Waidhofen an der Thaya nach der Pest von 1615 planmäßig Juden angesiedelt wurden, um die leerstehenden Häuser zu füllen und damit die Einkommen der Herrschaft zu stabili114

sieren. Die Defizite der Adelsforschung wurden auch durch die in den letzten Jahrzehnten intensive wirtschaftsgeschichtliche Forschung zum Land unter der Enns nicht beseitigt. 115 Zwar war die niederösterreichische Grundherrschaft immer wieder Gegenstand der Wirtschaftsgeschichte, diese konzentrierte sich jedoch in erster Linie auf quantitative Daten und deren Interpretation, während die handelnden Personen keine Rolle spielten. Ohne genauere Erforschung der wirtschaftlichen Vorstellungen der Herrschaftsbesitzer, ihrer Besitzungen innerhalb und außerhalb des Landes unter der Enns und ihren sonstigen Tätigkeiten (Hofdienst, Kriegsdienst, Dienst für die Landschaft etc.) kann die Frage, warum manche Familien offenbar sehr gern auf jüdische Untertanen zurückgriffen, viele andere aber keine Juden auf ihren Herrschaften duldeten, nicht endgültig beantwortet werden. Die einfache Erklärung, daß der Ansiedlung von Juden ökonomische Motive zu Grunde lagen, reicht nicht aus, weil damit die Frage, warum auf vielen Herrschaften keine Juden lebten, nicht beantwortet werden kann. Eine wie auch immer definierte jüdische Geschichte' kann solche Untersuchungen allein nicht leisten. Dies muß Aufgabe regionalgeschichtlicher Forschungen sein. Je mehr über die lokalen Herrschaftsverhältnisse - die Herrschaftsträger, wie auch 111

Vgl. dazu http://www.univie.ac.at/geschichte/wienerhof. Eine Ausnahme stellt ζ. B. der Tuchverlag des Grafen Kurz in der Stadt Horn dar. Vgl. Margarete Klein: Beiträge zur Geschichte des Tuchmacherhandwerks in Horn mit besonderer Berücksichtigung der Umorganisation durch Ferdinand Sigmund Graf Kurtz in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Ungedr. Diss. phil. Wien 1956; Thomas Winkelbauer: Manufaktur und Gewerbe: Die Horner Tucherzeugung im 17. Jahrhundert und die Tuchmachereisiedlung in der „Öttinger Vorstadt". In: Eine Stadt und ihre Herren. Puchheim, Kurz, Hoyos. Ausstellung der Stadt Horn im Höbarthmuseum, 9. Mai bis 29. September 1991. Horn 1991. S. 55-67. 113 Siehe L. Moses (Anm. 7) S. 69f. 114 E. Führer, H. Hitz (Anm. 109) S. 301. 115 Zu nennen sind vor allem die Forschungen Herbert Knittlers. Vgl. u. a. oben Anm. 40. 112

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Peter Rauscher

die christlichen Untertanen - bekannt ist, umso klarer wird man auch die Rolle der Landjuden beschreiben können.

Zusammenfassung Obwohl in Österreich unter der Enns im 16. Jahrhundert nur wenige, meist nur fur relativ kurze Zeit bestehende jüdische Siedlungen nachzuweisen sind, entwickelte sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein verhältnismäßig dichtes jüdisches Siedlungsnetz. Da Juden in der Regel der Zuzug in die Städte verwehrt blieb, bildete die adelige Herrschaft, die ihnen die Ansiedlung gestattete, den typischen Lebensraum. Die Größe der jüdischen Siedlungen war sehr unterschiedlich: Sie reichte von vereinzelt lebenden Personen bis zu einer Gemeinde im Umfang von bis zu über vierzig steuerzahlenden Familienoberhäuptern. Große Landgemeinden mit über zwanzig Familien bildeten dabei eher die Ausnahme, wesentlich häufiger waren Ortschaften, an denen maximal vier jüdische Steuerzahler lebten. Diese Kleinstsiedlungen hatten aufgrund von Abzug oder Todesfällen oft nur für kurze Zeit Bestand, so daß trotz des scheinbar statischen Bildes, das durch die überlieferten Steuerverzeichnisse vermittelt wird, von einer hohen Mobilität der Juden in Österreich unter der Enns ausgegangen werden muß, wie dies im Fall von Gobelsburg belegt werden kann.116 Trotz des Vorherrschens von eher kleineren Siedlungen kann von einer vollständigen ,Atomisierung' jüdischen Lebens in Niederösterreich nicht die Rede sein. Der Prozeß der Reorganisation jüdischen Lebens auf dem Land, der bis zur Ausweisung aller Juden aus Wien und Niederösterreich um 1670 andauerte, fand parallel zur Etablierung der jüdischen Gemeinde in der Residenzstadt Wien und im Gegensatz zu anderen Regionen des Reiches bereits weit vor dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs statt. Die landesfürstliche Judenpolitik war äußerst ambivalent. Während in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts einige aus Innerösterreich vertriebene Juden in Österreich unter der Enns und den ungarischen Pfandherrschaften angesiedelt wurden, kam es im weiteren Verlauf des Jahrhunderts immer wieder auch zu Ausweisungsbefehlen. Die Privilegierung der Landjuden in den 1650er Jahren brachte zwar eine rechtliche Besserstellung, änderte aber nichts daran, daß auch die Juden auf dem Land 1670 das Schicksal der Wiener Judenschaft teilten und auf kaiserlichen Befehl Niederösterreich verlassen mußten. Obwohl der Landesfürst im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts sein Judenregal gegen die adeligen Herrschaftsbesitzer durchsetzen konnte, blieben die adeligen Grundherren die entscheidende Instanz, die Juden die Niederlassung auf ihren Herrschaften gestatten oder verbieten konnte. Ein Blick auf das Landesviertel mit der dichtesten jüdischen Besiedlung, dem Viertel unter dem Manhartsberg, zeigt, 116

Siehe dazu ausführlich B. Staudinger (Anm. 8) S. 95-98.

Feinde der Städte, Diener des Adels?

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daß fast zwei Drittel aller Juden auf den Herrschaften von nur wenigen Adeligen wohnten. Da nicht selten Herrschaftsbesitzer in mehreren Orten die Ansiedlung von Juden gestatteten oder sogar forderten, ist davon auszugehen, daß sich die meist adeligen Grundherren über den wirtschaftlichen und fiskalischen Nutzen der Juden bewußt waren. Eine schwierige Quellenlage, Defizite in der landesgeschichtlichen topographischen Forschung und die relativ häufigen Besitzverschiebungen machen es äußerst schwierig, die Entstehung der jüdischen Gemeinden und die damit verbundenen Motive aller Beteiligten klar beschreiben zu können. Es liegt jedoch nahe zu vermuten, daß besonders ökonomisch moderne Wirtschaftsherrschaften die Ansiedlung von Juden, die den Absatz vor allem der auf den Grundherrschaften produzierten Wolle forderten und als eine Art Hoijuden den Herrschaftssitz mit Produkten wie zum Beispiel Tuchwaren versorgten, begünstigten. Nicht zuletzt deshalb duldeten offenbar einige Herrschaftsinhaber auch nach der Ausweisung von 1670 Juden auf ihren Gütern und ließen ihre Wolle weiterhin von jüdischen Händlern absetzen.

daß wür ebenfahlß Eur Hochgräffliche Excellenz gehorsame unterthanen seint. Partizipation von Juden an der Legislationspraxis des frühmodernen Staates am Beispiel der Grafschaft Oettingen 163718061 Johannes Mordstein

Graf Franz Albrecht von Oettingen-Spielberg kannte keine Gnade. Nachdem seine finanziellen Forderungen nicht erfüllt worden waren, kündigte er 1728 kurzerhand den Judenschutz auf, ließ die Synagoge der Residenzstadt Oettingen sperren und die Vorsteher der jüdischen Gemeinde verhaften. Erst als die Juden sich bereit erklärten, auf alles ein[zu]gehen [...], was g[ni\d[i\ge Herrschaft] von Ihnen verlangen thäte, erneuerte er den Schutz und ordnete die Wiedereröffnung des Gebetshauses sowie die Freilassung der Gefangenen an.2 Die Rigorosität .absolutistischer' Landesherren scheint für die Judenpolitik des frühmodernen Staates in der Phase zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 und der Mediatisierung 1806 symptomatisch zu sein. Die historische Forschung hat das qualitative Beziehungsgefuge zwischen Obrigkeit und Juden in dieser Epoche mit den folgenden Schlagworten auf den Punkt gebracht: Fiskalisierung, ökonomischer Utilitarismus, Kontrolle aller Lebensbereiche durch den aufstrebenden Obrigkeitsstaat, Beibehaltung der als gottgegeben betrachteten ständischen Grundordnung (einschließlich des damit verbundenen rechtlichen und sozialen Minderstatus der jüdischen Minorität), Virulenz antijüdischer Stereotype.

2

Der folgende Aufsatz stellt eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Thesen meiner Dissertation dar. Vgl. Johannes Mordstein: Selbstbewußte Untertänigkeit. Obrigkeit, christliche Untertanenschaft und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637-1806 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte 2). Epfendorf 2005. FÖSAH. RegReg Κ 62. Protokolle der Regierung Oettingen-Spielberg vom 8.11.1728, 12.11.1728 (Zitat) und 15.11.1728.

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Johannes Mordstein

Die Juden konnten nur dann mit einer längerfristigen Duldung rechnen, wenn der Judenschutz für die Herrschaft von fiskalischem und wirtschaftlichem Nutzen war. Neben diesem primären obrigkeitszentrierten Motivkomplex durfte die Existenz jüdischer Gemeinden zudem nicht der christlichen Untertanenschaft zu Nachteil und Schaden gereichen. Auf diese Weise sollte der zentrale Staatszweck, der auf die Einrichtung und Erhaltung einer umfassenden, guten Policey ausgerichtet war, realisiert werden. Die normativen Konsequenzen dieser Grundgegebenheiten lassen sich an den Judenordnungen und Schutzbriefen der Epoche ablesen: Die Tolerierung mußte von den Juden durch hohe Abgabenleistungen regelrecht ,erkauft' werden, die jüdische Wirtschaftstätigkeit wurde angesichts des auch von der Obrigkeit allgemein akzeptierten pauschalen Betrugs- und Wuchervorwurfs und virulenter Konkurrenzängste christlicher Handels- und Gewerbetreibender durch eine Vielzahl von Restriktionen eingeschränkt. Konnten die Juden die an sie gestellten fiskalischen Erwartungen nicht erfüllen oder glaubten herrschaftliche Entscheidungsträger, auf deren ökonomische Funktion verzichten zu können, hatte dies nicht selten finanzielle ,Erpressungsversuche', weitere wirtschaftliche Auflagen und im ungünstigsten Fall Ausweisungsvorhaben zur Folge. Der obrigkeitlich bewilligte Schutz zählte somit für die Juden in rechtlicher Hinsicht zur zentralen Lebensgrundlage. Jüdische Existenz war ohne herrschaftliche Tolerierung nicht denkbar, der absolutistische' Staat war einer der wesentlichen Angelpunkte des jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit.3 Das oettingen-spielbergische Eingangsbeispiel von 1728 sowie die folgenden Ausführungen belegen, daß dieses Kräftefeld auch in der Grafschaft Oettingen gültig war, die sich somit in das Gesamtbild einfügt, das die Forschung bislang vom Beziehungskomplex zwischen Obrigkeit und Juden im 17. und 18. Jahrhundert gezeichnet hat. Die meisten Darstellungen nehmen hierbei eine dezidiert obrigkeitliche Sichtweise ein. Bedingt durch die Überlieferungssituation kommen in den Quellen fast ausschließlich obrigkeitliche Verfahrensbeteiligte zu Wort. Aufgrund ihres Minderstatus scheinen die Juden bei der Ausgestaltung ihrer rechtlichen Rahmenbedingungen eine marginale Rolle gespielt zu haben, die angesichts der ,Allmacht' des frühmodernen Staates vernachlässigt werden konn-

3

4

J. Friedrich Battenberg: Zur Rechtsstellung der Juden am Mittelrhein in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: ZHF 6. 1979. S. 129-183; ders.: Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlich-sozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: HZ 245. 1987. S. 545-599; Mordechai Breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600-1780. Hg. von ders., Michael Graetz. München 1996. S. 85-277, hier S. 132-140; Arno Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1997. S. 114-126. Um nur einige willkürlich ausgewählte Beispiele jüngerer Publikationen zu nennen, in denen eine eher obrigkeitliche Sichtweise eingenommen wird und die Aktionsspielräume

Partizipation von Juden an der

Legislationspraxis

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Die nachfolgenden Überlegungen versuchen an dieser Stelle einzuhaken. Hatten die Juden gegenüber ihrer Schutzherrschaft nicht doch einen politischen Aktionsspielraum? Wurden Judenordnungen und Schutzbriefe obrigkeitlich oktroyiert oder konnten die Juden zumindest gewisse Partizipationsmöglichkeiten ausnutzen und ihre eigenen Interessen artikulieren? Diesen Fragen wird im folgenden in drei Schritten nachgegangen. In einem einführenden Abschnitt werden zunächst das Untersuchungsgebiet - die Grafschaft Oettingen - vorgestellt, die wichtigsten Strukturelemente der jüdischen Geschichte in diesem schwäbischen Kleinterritorium beleuchtet sowie die verschiedenen Phasen der Judenpolitik veranschaulicht (I). In einem zweiten Schritt werden anhand einiger Beispielfälle Kommunikationsmöglichkeiten und Handlungsstrategien der oettingischen Judengemeinden einer Analyse unterzogen, wobei das normative Leitmedium der Judenschutzbriefe im Mittelpunkt steht (II). Basierend auf den wichtigsten Ergebnissen dieser Ausführungen werden abschließend weiterführende Thesen zum grundlegenden Verhältnis zwischen Obrigkeit und Juden angedacht (III).

I. Grundstrukturen der jüdischen Geschichte in der Grafschaft Oettingen Die Grafschaft Oettingen 5 zählte bislang zu den weißen Flecken auf der jüdischen Landkarte der Frühen Neuzeit.6 Sie umfaßte in etwa das Gebiet des Nörd-

5

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der jüdischen Normadressaten nicht systematisch analysiert werden: Cilli Kasper-Holtkotte: Juden im Aufbruch. Zur Sozialgeschichte einer Minderheit im Saar-Mosel-Raum um 1800 (Forschungen zur Geschichte der Juden. Abteilung A: Abhandlungen 3). Hannover 1996; Rochus Scholl: Juden und Judenrecht im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte eines deutschen Kleinstaates am Ende des alten Reiches (Rechtshistorische Reihe 139). Frankfurt a.M. 1996; Imke König: Judenverordnungen im Hochstift Würzburg (15.-18. Jahrhundert) (Studien zu Policey und Policeywissenschaft). Frankfurt a.M. 1999; Bernd-Wilhelm Linnemeier: Jüdisches Leben im Alten Reich. Stadt und Fürstentum Minden in der Frühen Neuzeit (Studien zur Regionalgeschichte 15). Bielefeld 2002. Vgl. zur Herrschaftsstruktur der Grafschaft Oettingen: Dieter Kudorfer: Die Grafschaft Oettingen. Territorialer Bestand und innerer Aufbau (Historischer Atlas von Bayern. Teil Schwaben II/3). München 1984. Einen ersten Ansatz zur Darstellung der jüdischen Geschichte im Ries und in der Grafschaft Oettingen bietet die Arbeit von Ludwig Müller: Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Riess [!]. 2 Teile. In: ZHVS 25. 1898. S. 1-124; ZHVS 26. 1899. S. 81-182. Lediglich die Gemeinde Harburg hat durch die Arbeiten Reinhard Jakobs wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Vgl. Reinhard Jakob: Die jüdische Gemeinde von Harburg (1671-1871). Nördlingen 1988; ders.: Frühneuzeitliche Erwerbsund Sozialstrukturen der schwäbischen Judenschaft. Dargestellt vornehmlich am Beispiel der oettingischen Stadt Harburg an der Wörnitz. In: Aschkenas 3. 1993. S. 65-84; ders.: Konflikt und Stereotyp. Die Beschwerden von Rat und Bürgerschaft in Harburg und Monheim über die jüdischen Mitbewohner (1671-1741). In: Nachbarn, Gemeindegenossen und

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linger Rieses, ca. 60 Kilometer nördlich von Augsburg im nördlichen Teil des heutigen Regierungsbezirks Bayerisch-Schwaben gelegen. Die statistischen Daten - Größe: 850 km2; Einwohner: 60 000 - deuten bereits ein erstes Strukturmerkmal an: die Kleinräumigkeit des Untersuchungsgebiets, das ein typisches Kleinterritorium im herrschaftlich zersplitterten Schwaben war. Dieser Faktor wurde durch die dynastische Teilung des Grafenhauses in vier Linien verstärkt: Die in der Stadt (Dettingen residierende protestantische Linie Oettingen-Oettingen hatte in den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg die stärkste Machtposition inne. Nach dem Aussterben dieser Teildynastie 1731 wurde die Erbschaft 1740/41 unter den beiden katholischen Linien Oettingen-Wallerstein (Residenz: Wallerstein) und Oettingen-Spielberg (Residenz: Oettingen) aufgeteilt, so daß ab diesem Zeitpunkt diese beiden Familienzweige zu den tonangebenden Herrschaftsträgern im Ries aufstiegen. Die vierte Linie Oettingen-Baldern (katholisch; Residenz: Baldern) nahm demgegenüber eine untergeordnete Stellung ein; ihr Territorium entsprach in seiner Größe eher einer Reichsritterschaft. Nach dem Tod des letzten Balderer Grafen 1798 trat Oettingen-Wallerstein die Nachfolge an. Die vier oettingischen Teillinien standen in ständiger herrschaftspolitischer Konkurrenz zueinander. Innerdynastische Streitigkeiten über Hoheitsrechte und Erbschaftsansprüche prägten das Verhältnis der Familienzweige während des gesamten Untersuchungszeitraums. Konflikte waren jedoch nicht nur innerhalb der Dynastie an der Tagesordnung, sondern gehörten auch im Beziehungsgefüge zu mediaten und immediaten Nachbarn und Einliegern zum herrschaftlichen Alltag. Unklare Grenzdefinitionen sowie vermischte, geteilte und gemeinsam ausgeübte Herrschaftsrechte boten Anlaß zu jahrzehntelangen Auseinandersetzungen. Die Grafschaft Oettingen gehörte somit zu den ,territoria non clausa', die für den Südwesten des Alten Reiches charakteristisch waren. Diese Strukturmerkmale hatten direkte Auswirkungen auf die in der Grafschaft Oettingen von allen vier Linien geduldeten Juden (vgl. Tabelle: Judengemeinden in der Grafschaft Oettingen 1637-1806). Nur die Gemeinden Oettingen (Oettingen-Spielberg), Pflaumloch und Wallerstein unterstanden während des gesamten Untersuchungszeitraums ohne Änderungen ein und derselben Schutzherrschaft, alle anderen Judenschafiten machten einen oder gar mehrere Herrschaftswechsel mit. Besonders charakteristisch war die herrschaftliche Teilung einiger Gemeinden. Den berühmtesten, sogar in Handbüchern7 erwähnten Fall stellt die Residenzstadt Oettingen dar, die seit dem Spätmittelalter zwischen den Linien Oettingen-Oettingen und Oettingen-Spielberg aufgeteilt war. Dies führte im Endergebnis zu einer Doppelung zahlreicher obrigkeitlicher und kommunaler Institutionen

7

die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 12). Hg. von Andre Holenstein, Sabine Ullmann. Epfendorf 2004. S. 325-356. M. Breuer (Anm. 3) S. 101.

Partizipation von Juden an der Legislationspraxis

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wie Regierung, Rentkammer, Schloß, Zünfte etc. Die Oettinger Judenschaft machte hierbei keine Ausnahme, denn es existierten nebeneinander zwei getrennte Judengemeinden mit je eigenem Rabbiner, gesonderten kommunalen Strukturen und Synagoge. Der Einfachheit halber setzte sich im Sprachgebrauch entsprechend der konfessionellen Ausrichtung der lokalen Schutzherrschaften die Bezeichnung ,evangelische' und ,katholische Juden' durch. Erst die Fusion beider Gemeinden infolge des erbweisen Anfalls der oettingen-oettingischen Stadthälfte an Oettingen-Spielberg brachte 1743 eine herrschaftliche Bereinigung. Konkurrierende Schutzherrschaften waren auch für die beiden Judenschaften Kleinerdlingen und Schopfloch charakteristisch. In Kleinerdlingen übte die mediate Johanniterkommende Kleinerdlingen neben Oettingen-Spielberg Schutzrechte über die von ihr aufgenommenen Juden aus. Die strittige Definition und Abgrenzung der jeweiligen Herrschaftsbefugnisse hatten jahrzehntelange Konflikte zwischen dem Ritterorden und Oettingen-Spielberg zur Folge. Angesichts der schwachen Machtposition der Johanniter im Ries konnte die regionale Vormacht Oettingen ein deutliches Übergewicht gewinnen. Mit anderen Vorzeichen wiederholte sich diese Konstellation in Schopfloch. In dieser aus oettingischer Sicht abgelegenen Exklave mußte sich Oettingen-Spielberg gegenüber dem für regionale Verhältnisse mächtigen und dominanten Gegenspieler BrandenburgAnsbach mit der Rolle des Juniorpartners' zufriedengeben. Ein weiteres wesentliches Charakteristikum der jüdischen Geschichte in der Grafschaft Oettingen besteht in einer Siedlungsstruktur, die zur Bildung relativ großer und stattlicher Gemeinden führte. Um 1800 lebten in den kleinsten Judendörfern' Mönchsroth und Aufhausen 31 bzw. 36 jüdische Familien und damit wesentlich mehr als ζ. B. in den jüdischen Kleinsiedlungen Hessens. 8 Sämtliche oettingische Judengemeinden verfügten über eine eigenständige kommunale Struktur mit Vorstehern (Parnassim), Finanzverwaltung, Armenpflege und eigenen Synagogen. Die inneijüdischen Strukturen des ,Medinats Ries' wurden eindeutig obrigkeitlich dominiert. Der Landesherrschaft gelang es in allen oettingischen Teilgrafschaften (Ausnahme: Oettingen-Baldern), die Landesrabbinate mit dem jeweiligen Territorium in Deckung zu bringen. Diese Entwicklung hatte etwa 1743 zur Folge, daß mit der Vereinigung der beiden Oettinger Judenschaften zu einer Einheitsgemeinde auch eines der bis dahin existierenden Landesrabbinate aufgelöst wurde. Zu diesem Befund paßt auch die Feststellung, daß während des gesamten Untersuchungszeitraums überregionale Verbindungen zu den zentralen auswärtigen jüdischen Autoritäten und Institutionen (Fürth, Worms, Frankfurt, Prag u. a.) 8

Zur jüdischen Siedlungsgeographie in der Frühen Neuzeit vgl. allgemein A. Herzig (Anm. 3) S. 97-102; J. Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 2001 (EDG 60). S. 10-13, 32-36; zu Hessen: Wolfgang Treue: Eine kleine Welt. Juden und Christen im ländlichen Hessen zu Beginn der Frühen Neuzeit. In: Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Berlin, Wien 2004. S. 251-269.

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nur in Einzelfallen ausgemacht werden können. In ähnlicher Weise trat die in anderen Territorien immer wieder aktivierte oberste kaiserliche Schutzhoheit über die Judenschaft gegenüber der Landesherrschaft in den Hintergrund. Der kaiserliche Judenschutz spielte in Rechtspraxis und Judenpolitik der Grafschaft (Dettingen nur eine marginale Rolle.9 Nach der Vorstellung der wichtigsten Strukturmerkmale der Judengemeinden in der Grafschaft Oettingen soll im folgenden in knapper Form der Versuch unternommen werden, die wichtigsten Phasen der oettingischen Judenpolitik zu beschreiben. Als Quellengrundlage dienen hierfür die für alle Gemeinden erteilten Judenschutzbriefe, die - vergleichbar mit den Judenordnungen anderer Territorien - das zentrale Leitmedium zur Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen der in der Grafschaft (Dettingen lebenden Juden darstellten. Thematisch umfaßten sie nahezu alle Lebensbereiche: obrigkeitlichen Judenschutz, Abgabenbelastung, Erwerbstätigkeit, jüdische Autonomierechte, ,gute Policey'. 10 Die oettingischen Judenschutzbriefe werden von einem Spezifikum geprägt, das ihre inhaltliche Auswertung besonders lohnend macht: Sie wurden befristet für eine Laufzeit von drei bis 18 Jahren ausgestellt. Am Laufzeitende mußte ein neuer Schutzbrief erlassen werden. In allen vier oettingischen Teilgrafschaften entstanden auf diese Weise regelrechte Serien von Judenschutzbriefen mit insgesamt 93 Exemplaren aus dem Zeitraum von 1637 bis 1806. Diese Quellengrundlage erlaubt es somit, über mehr als 150 Jahre Entwicklungstendenzen und qualitative Veränderungen nachzuvollziehen. Aufgrund der reichhaltig überlieferten Akten zum Ausstellungsverfahren dieser zentralen normativen Quellen, den sog. Schutzlosungsakten, ist es zudem möglich, einen Blick hinter die ,Kulisse' des bloßen Normtextes zu werfen. Die Schutzlosungsakten enthalten eine Vielzahl unterschiedlicher Dokumente: Resolutionen des Landesherm; Gutachten der mit der Schutzbriefausstellung beauftragten Regierungsmitglieder und Oberamtmänner; Statistiken zur sozialen, finanziellen und wirtschaftlichen Situation der Judengemeinden; Supplikationen nichtjüdischer Interessengruppen; Bittgesuche der Judengemeinden. Durch die Einbeziehung dieser Quellengruppe können die politischen, gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und religiösen Verhältnisse des Untersuchungsgebiets Berücksichtigung finden. Insgesamt lassen sich drei Phasen der Judenpolitik in der Grafschaft (Dettingen ausmachen.11 In den drei bis vier Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg stand das Motiv der ,Peuplierung' des kriegsverwüsteten Landes im Mittelpunkt.

10 11

Vgl. Rolf Kießling: Zwischen Schutzherrschaft und Reichsbürgerschaft: Die schwäbischen Juden und das Reich. In: Das Reich in der Region während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von ders., Sabine Ulimann. Konstanz 2005 (Forum Suevicum. Bd. 6). S. 99-122. Zu einer der wenigen Belegstellen eines Reichs- und Kaiserbezugs der oettingischen Judenschaft vgl. unten Anm. 31. Vgl. hierzu ausfuhrlich J. Mordstein (Anm. 1) S. 43-120. Vgl. zum folgenden: J. Mordstein (Anm. 1) S. 180-203.

Partizipation von Juden an der Legislationspraxis

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Die Neugründung jüdischer Gemeinden (ζ. B. 1671 Harburg, 1684 Mönchsdeggingen) und die Neuansiedlung von Juden in bereits existierenden Niederlassungen dienten in erster Linie der fiskalischen Prämisse der Landesherrschaft. Die auch in dieser Phase vorhandenen antijüdischen Stereotype nahmen gegenüber diesem dominierenden Motiv nur eine untergeordnete Stellung ein. Dies sollte sich in der zweiten Periode von 1680/90 bis ca. 1750 ändern: Die ökonomische Erholung des Landes war abgeschlossen, ein andauernder demographischer Wachstumsprozeß der christlichen und jüdischen Bevölkerung ließ den wirtschaftlichen Konkurrenzdruck anwachsen. Der Schädlichkeitstopos trat nun in den Vordergrund. Der Betrugs- und Wuchervorwurf motivierte Judenvertreibungsvorhaben. Die Folge davon war eine äußerst labile Situation (vgl. das Eingangsbeispiel von 1728): Je nachdem, ob antijüdische Stereotype oder finanzpolitische Erwägungen das Übergewicht bei den obrigkeitlichen Entscheidungsträgern erlangten, wechselten sich Ausweisungsprojekte und Schutzverlängerungen ab. Meist wurde versucht, einen Mittelweg zu beschreiten: Die Juden wurden gegen hohe Abgabenzahlungen weiterhin im Land geduldet, durch Handelsverbote und -beschränkungen sowie amtliche Aufsicht sollten die vermeintlichen Risiken des jüdischen Handels für die christliche Einwohnerschaft minimiert werden. In der dritten Phase von ca. 1750 bis 1806 traten die bislang entscheidungsrelevanten antijüdischen Stereotype zurück und machten einer eher pragmatischen Sichtweise Platz. Die Erwerbstätigkeit der Juden wurde nun als ökonomisch nutzbringend oder zumindest nicht mehr als verderblich angesehen. Ohne ein gewisses Mißtrauen gegenüber dem jüdischen Handel völlig aufzugeben und auf das Instrument der obrigkeitliche Kontrolle zu verzichten, wurden nun vielfältige Handelserleichterungen in die Tat umgesetzt. Da auch die fiskalische Prämisse weiterhin nichts von ihrem Gewicht eingebüßt hatte, wurden den Juden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wesentlich sicherere Existenzbedingungen gewährt. Ausweisungsvorhaben wurden nun nicht mehr projektiert.

II. Keine ohnmächtigen Opfer, sondern politische Akteure: Die Partizipationsmöglichkeiten der Juden bei der Ausgestaltung des ,Judenrechts' Wie bereits in der Einleitung knapp umrissen wurde, fügen sich die Phasen der oettingischen Judenpolitik nahtlos in die Ergebnisse der historischen Forschung ein. Ohne sicherlich erforderliche regionale und lokale Differenzierungen vernachlässigen zu wollen, läßt sich ein vergleichbarer Befund in einer Vielzahl anderer Territorien ausmachen. Die maßgeblichen Maximen der Judenpolitik

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wurden von der Obrigkeit definiert. Die rechtlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Juden waren fremdbestimmt.12 Ein erstes Fragezeichen hinter diese vermeintliche Grundvoraussetzung jüdischer Existenz in der Periode zwischen dem Dreißigjährigem Krieg und dem Ende des Alten Reiches setzt das Eingangsbeispiel von 1728, das im folgenden etwas ausfuhrlicher geschildert werden soll. Die der Omnipotenz eines .absolutistischen' Landesherrn würdigen rigorosen Maßnahmen (Schutzaufkündigung, Sperrung der Synagoge, Verhaftung der Parnassim) waren nämlich eine Reaktion auf die purr auffzüglichkeiten und gebrauchten Chiccanen,13 mit denen die jüdischen Gemeindevorsteher die Regierung im Laufe des Schutzlosungsverfahrens von 1728 in Rage versetzt hatten. Im Rahmen der Neuausstellung des Schutzbriefes kam es der Herrschaft in erster Linie auf eine Abgabenoptimierung an: Zahlungssäumige Juden sollten aus dem Land gewiesen, das Konsensgeld (finanzielle Gegenleistung der Juden für die Schutzerneuerung) auf extrem hohe 1.500 fl.14 festgesetzt und eine bislang nicht praktizierte Besteuerung von in auswärtige Territorien transferierten Heiratsgütern (Nachsteuer) eingeführt werden.15 Zur Bekanntgabe des obrigkeitlichen Ansinnens wurden die Vorsteher der jüdischen Gemeinde Oettingen am 29. Oktober 1728 zur Regierungskanzlei vorgeladen und von ihnen ihre endtliche erclärung auf die ra[ti]o[n]e des künfftigen Schuzes ihnen gesezte Conditiones verlanget. Die Parnassim erläuterten jedoch ihr Unvermögen, auf diese Bedingungen eingehen zu können. Daraufhin versuchte die Regierung, die Juden unter Druck zu setzen: Den Vorstehern wurde eine viertelstündige Bedenkzeit unter der Voraussetzung eingeräumt, daß es bey denen gesezten conditionen absolute bewendten müeste. Trotz dieses Ultimatums beharrten die Juden auf der Unmöglichkeit, die an sie herangetragenen finanziellen Forderungen erfüllen zu können.16 Daraufhin wurde dieser Termin ergebnislos abgebrochen. Einige Tage später, am 4. November 1728, verschärften die herrschaftlichen Verfahrensbeteiligten die Tonlage: Falls die Juden nicht bereit seien, die fiskalischen Bedürfnisse der Schutzherrschaft zu befriedigen, werde die Synagoge gesperrt.17 Jedoch fruchtete auch diese Drohung nicht, denn am 8. November 1728 lag immer noch keine Einverständniserklärung der Judenschaft vor. Immerhin war die Herrschaft nun zu einem Kompromiß bereit: Während an der Konsensgeldforderung von 1.500 fl. nicht gerüttelt wurde, wolle Graf Franz Albrecht von Oettingen-Spielberg sich bei der Nachsteuer auf Heiratsgüter lei12 13 14

15

16 17

Vgl. die in Anm. 3 angeführte Literatur. FÖSAH. RegReg Κ 62. Protokoll der Regierung Oettingen-Spielberg vom 12.11.1728. Zum Vergleich: Im oettingen-spielbergischen Judenschutzbrief von 1714 (FÖSAH. RegReg Κ 62) wurde ein Konsensgeld von 1.060 fl. festgesetzt. FÖSAH. RegReg Κ 62. Dekret des Grafen vom 2.8.1728; Gutachten zu Judenschutzbrief (undatiert; ca. August/September 1728); Protokolle der Regierung Oettingen-Spielberg vom 4.11.1728, 8.11.1728 und 12.11.1728. FÖSAH. RegReg Κ 62. Protokoll der Regierung Oettingen-Spielberg vom 29.10.1728. FÖSAH. RegReg Κ 62. Protokoll der Regierung Oettingen-Spielberg vom 4.11.1728.

Partizipation

von Juden an der

Legislationspraxis

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dentl[ich] [...] abspeissen lassen, denn diese Abgabe sollte gestaffelt nach dem Vermögen der Juden eingezogen werden. Dies sei jedoch das letzte Wort in dieser Sache: Dagegen solle von niemanden die geringste Widerred gemachet werden, wo ansonsten derselbe des schuzes ipso facto verlurstiget und nimmermehr föhig sein solle, darin widerumb recipieret zuwerden}8 Diese Mischung aus angedrohten Zwangsmaßnahmen und Entgegenkommen zeigte nicht den gewünschten Erfolg: Vier Tage später erschienen sämtliche spielbergischen Juden in der Kanzlei und erklärten, daß sie trotz des Angebots des Grafen mit der Besteuerung der Heiratsgüter nicht einverstanden seien. Diese erneute Weigerung wertete die Regierung als die zitierten purr auffzüglichkeiten und gebrauchten Chiccanen. Nach Rücksprache mit dem Landesherrn erfolgten nun die bereits bekannten rigorosen Anordnungen. 19 Wendet man den Blick von den bloßen Ergebnissen dieser Schutzerneuerung ab und rückt das Verfahren selbst in den Mittelpunkt, ergeben sich interessante Einblicke. Das gesamte Schutzlosungsverfahren war auf Kommunikation angelegt. Trotz der rigiden Vorgehensweise der Obrigkeit oktroyierte die Herrschaft nicht ihre Normvorstellungen, denn dazu hätte eine Publikation der einseitig beschlossenen Dekrete über das Konsensgeld und die Nachsteuerpflicht ausgereicht. Statt dessen versuchte die Obrigkeit, die Juden zur Zustimmung zu bewegen. Zu diesem Zweck wurden zwar Drohungen und Zwangsmittel eingesetzt, aber ebenso ein Kompromißangebot, das den Bedenken der jüdischen Zahlungspflichtigen zumindest zum Teil entgegenkam. Die Intention der federführenden Regierungsräte bestand also in einem Konsens der Juden zu den anvisierten Maßnahmen. Erst die hartnäckige und offenbar unerwartete Widersetzlichkeit der Parnassim setzte die unerbittliche obrigkeitliche Zwangsmaschinerie in Gang, der sich die Juden schließlich beugen mußten. Von dieser Entwicklung waren offensichtlich auch die Juden überrascht. Ihr gesamtes Verhalten - in erster Linie das wiederholte Nichteingehen auf die finanziellen Forderungen der Schutzherrschaft - verweist in aller Deutlichkeit darauf, daß die jüdischen Gemeindevorsteher auf Verhandlungen und Kompromisse zur Abgleichung der divergierenden Vorstellungen setzten. Sie gingen offenbar von der Möglichkeit eines weiteren Nachgebens der Regierung und des Grafen aus und rechneten nicht mit dem tatsächlichen Einsatz der Zwangsmittel des frühmodernen Staates. Sie hatten die Entschlossenheit der Obrigkeit und die inzwischen dominierenden antijüdischen Momente der Judenpolitik falsch eingeschätzt. Statt der erwarteten Kommunikation erfolgte eine von oben dekretierte Oktroyierung. Trotz dieses gescheiterten Verhandlungsversuchs sind die sich dabei herauskristallisierenden Verfahrensgrundsätze bemerkenswert: Beide Seiten - sowohl Obrigkeit als auch Oettinger Judengemeinde - gingen vom Axiom einer kommunikativen Problemlösung aus. Diese mißlang zwar im vorliegenden Fall, dennoch 18 19

FÖSAH. RegReg Κ 62. Protokoll der Regierung Oettingen-Spielberg vom 8.11.1728. FÖSAH. RegReg Κ 62. Protokoll der Regierung Oettingen-Spielberg vom 12.11.1728.

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lassen sich Spuren eines Aushandelns normativer Vorgaben auch 1728 deutlich erkennen. Das Angebot des Grafen auf eine Vermögensstaffelung bei der Besteuerung von Heiratsgütern wurde nicht etwa angesichts der erfolgreichen Omnipotenz der Landeshoheit zurückgenommen, sondern in den Judenschutzbrief von 1728 einverleibt.20 Der jüdische Widerstand und das Beharren auf Kommunikation hatte zumindest in diesem Punkt deutlich feststellbare Auswirkungen. Noch deutlicher wird die auf Kommunikation angelegte Herrschaftspraxis, wenn man die Intention der Schutzherrschaft betrachtet, vermögenslosen und zahlungssäumigen Juden die Erneuerung des Schutzes zu verweigern - eine der Hauptprämissen des Verfahrens von 1728.21 Entsprechend dieser Maximen wurde der Schutz nur für 23 Oettinger Judenfamilien verlängert, während neun Schutzjuden hinweggeschafft werden sollten.22 Die gegen dieses Vorgehen gerichteten Supplikationen der Juden hatten schließlich Erfolg: Wegen des beständigen anlauffen[s] und [der] villen so schrüfft- als mündtlichen beschechenen lamentablen Vorstellungen und Suppliciren beschloß der Graf am 28. April 1729, die Schutzaufkündigung wieder zurückzunehmen. Voraussetzung für diese ,Gnade' war die sofortige Begleichung der Abgabenrückstände sowie eine zusätzliche Zahlung von einmalig 20 fl.23 Zwar bricht die Überlieferung zu diesem Schutzlosungsverfahren kurz danach ab, aber mit guten Gründen kann man annehmen, daß die anvisierte Teilausweisung nicht in die Tat umgesetzt wurde. Zumindest ergibt sich bei der Analyse der jüdischen Bevölkerungsentwicklung in der Residenzstadt Oettingen für dieses Jahr kein erheblicher Rückgang.24 Auch die lange Verfahrensdauer - die Schutzaufkündigung erfolgte am 24. November 1728; die ausgewiesenen Juden befanden sich im Juni 1729 noch immer im Land25 - deutet darauf hin, daß die jüdischen Bittgesuche in dieser Sache ein rigoroses Durchgreifen der Herrschaft verhinderten. Das beispielgebende Schutzbriefverfahren von 1728 stellt ein Muster dar, das typische und untypische Elemente enthält. Das rigide Vorgehen der Obrigkeit unter Einsatz der zur Verfügung stehenden herrschaftlichen Zwangsmittel wiederholte sich bei keiner anderen Schutzerneuerung. Die Ereignisse von 1728 sind diesbezüglich nicht repräsentativ. Durchaus vergleichbar mit anderen Schutzlosungen ist jedoch die Vorgehensweise der federführenden Regierungsräte: Während des gesamten Untersuchungszeitraums wurden jüdische Supplikationen als 20 21

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FÖSAH. RegReg Κ 62. JSB 1728 ÖS Art. 11. FÖSAH. RegReg Κ 62. Dekret des Grafen vom 2.8.1728; Schreiben der Regierung Oettingen-Spielberg an die Regierung Oettingen-Oettingen vom 16.11.1728; Dekrete an das Oberamt Oettingen vom 24.11.1728 und 8.4.1729. FÖSAH. RegReg Κ 62. Dekret an das Oberamt Oettingen vom 24.11.1728; Spezifikation der Juden in Oettingen und Hainsfarth, deren Schutz verlängert werden soll (undatiert; vermutlich 28.11.1728). FÖSAH. RegReg Κ 62. Dekret an das Oberamt Oettingen vom 28.4.1729 und 5.5.1729. J. Mordstein (Anm. 1) S. 179-180. FÖSAH. RegReg Κ 62. Dekret an das Oberamt Oettingen vom 4.6.1729.

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integraler Verfahrensbestandteil behandelt. Es läßt sich kein einziger Fall benennen, in dem das Bittgesuch einer jüdischen Gemeinde mit dem Hinweis auf die ,potestas legislatoria' der Landesherrschaft abgewiesen wurde. Jüdische Interessenartikulationen wurden nicht als unstatthafter Eingriff in die Normsetzungsgewalt der Obrigkeit gewertet, sondern als legitimer Versuch, im Rahmen von kommunikativen Aushandlungsprozessen die eigenen Belange geltend zu machen. Jüdische Supplikationen wurden in allen Fällen in den weiteren Verfahrensfortgang eingebunden und lösten in der Regel langwierige intern-obrigkeitliche Diskussionen aus, in denen die Anträge der Judenschaft nicht von vornherein als obsolet und unmaßgeblich behandelt, sondern einer ernsthaften Prüfung unterzogen wurden. Falls - was jedoch nur sehr selten vorkam - jüdische Bittgesuche in einem Verfahren nicht eingereicht wurden, holten die federführenden Beamten die Stellungnahme der jüdischen Gemeindevorsteher von Amts wegen ein: Diese wurden zum Zweck der Anhörung vorgeladen und über ihr Anliegen ein Protokoll verfaßt. 26 Die Juden partizipierten mit großer Intensität an den zur Verfügung stehenden Kommunikationsmöglichkeiten. Die von ihnen verfolgten Handlungsstrategien sollen im folgenden anhand zweier Beispiele illustriert werden. 1655 plante die aufgrund dynastieinterner Streitigkeiten in der Teilgrafschaft OettingenWallerstein eingesetzte kaiserliche Sequestrationsregierung die Einführung einer Protokollierungspflicht auf alle von Juden abgeschlossenen Darlehensverträge und verzinsliche Ratenkäufe. Auf diese Weise sollten die geschäftsunerfahrenen christlichen Einwohner vor dem vermeintlichen jüdischen Wucher und Betrug geschützt werden. 27 Die oettingen-wallersteinische Judenschaft leistete gegen diese Neuerung heftigen Widerstand. Als die jüdischen Einwohner des Residenzorts Wallerstein am 5./6. Dezember 1655 zur Annahme des neuen Schutzbriefs aufgefordert wurden, erhielt der Oberamtmann unisono die gleiche Antwort: Moisele erklärte, er khönne disen wegen gewisser puncten nicht eingehen, wobei er in erster Linie auf die nach seiner Ansicht inakzeptable Protokollierungspflicht anspielte. Noch deutlicher wurde Henle, der seine Zustimmung zum Schutzbriefentwurf mit der Begründung versagte, daß Er dergleichen zum prothocollieren nicht vermögen khann, da er ansonsten seine Familie nicht ernähren könne. 28 Die Juden beschränkten sich jedoch nicht auf eine direkte Kommunikation mit ihrer Landesherrschaft. In einer Reihe von Suppliken ersuchten sie Herzog Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg, Graf Ernst II. von Oettingen-Wallerstein, Gräfin Isabella Eleonore von Oettingen-Baldern und Graf Johann Franz von Oettin-

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Vgl. hierzu ausführlich J. Mordstein (Anm. 1) S. 153-176. FÖWAH. III. 18.5a-l. JSB 1655 ÖW Art. 7. Der Vorgängerbrief von 1652 (FÖWAH. III. 18.5a-1) kannte dagegen keine amtliche Protokollierung von jüdischen Handelsgeschäften. FÖWAH. III. 18.5b-1. Consignation der Judengemeinde Wallerstein vom 5./6.12.1655.

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gen-Spielberg um Interzession zu ihren Gunsten. 29 Sie wandten sich damit genau an diejenigen einflußreichen Herrschaftsinhaber, von denen am ehesten eine effektive Hilfe zu erwarten war. Der Pfalz-Neuburger Herzog fungierte als Prinzipalkommissar der kaiserlichen Interimsregierung, ihm waren die Sequestrationsräte vor Ort in Wallerstein unterstellt, so daß ein Machtwort von ihm zugunsten der Juden entscheidungsrelevant gewesen wäre. Die drei Oettinger Grafen waren Konfliktparteien in den dynastieinternen Auseinandersetzungen. Sie intervenierten im vorliegenden Fall zugunsten der Juden, um ihre umstrittenen Herrschaftsansprüche über die Judenschaft gegenüber den Konkurrenten zu demonstrieren. Die Intervention des Markgrafen Wilhelm von Baden-Hochberg 30 sowie ein wenn auch nur über Indizien greifbares - Bittgesuch an den Kaiser31 verweisen zudem darauf, daß die oettingen-wallersteinische Judenschaft bei der Aktivierung eines potenten Unterstützerkreises regionale und überregionale Verbindungen ausnutzte und auch den Gang zum Kaiserhof nach Wien nicht scheute. Letztlich hatte das von Selbstbewußtsein und Kenntnis der lokalen Machtstrukturen geprägte Vorgehen der Juden Erfolg: Herzog Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg wies die ihm nachgeordnete Sequestrationsregierung in Wallerstein an, die Juden in der Teilgrafschaft Oettingen-Wallerstein bey ihrem vorigen schutzbrief [zu] manuteniren und darwider nit [zu] beschwehren,32 Die im Konzept-Schutzbrief anvisierte Protokollierung von jüdischen Darlehensverträgen erlangte somit keine Rechtskraft, es verblieb bei der Möglichkeit, derartige Kontrakte ohne obrigkeitliche Kontrolle abzuschließen. Der nächste Beispielsfall datiert aus den Jahren 1739/40.33 Er betrifft die Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen, die bis 1731 der Schutzherrschaft der Fürsten von Oettingen-Oettingen unterstanden. Nach deren Aussterben entbrannte zwischen den beiden Prätendenten OettingenWallerstein und Oettingen-Spielberg ein erbitterter Erbschaftskonflikt, der erst 1740/41 auf dem Kompromißweg bereinigt werden konnte. Im Mittelpunkt der 29

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FÖWAH. III. 18.5a-1. Schreiben der Judenschaft an Herzog Philipp Wilhelm von PfalzNeuburg vom 10.12.1655 und 27.1.1656; FÖWAH. III.18.5a-2. Schreiben der Judenschaft an Graf Ernst II. von Oettingen-Wallerstein vom 10.12.1655; FÖWAH. III.18.5b-l. Schreiben der Gräfin Isabella Eleonore von Oettingen-Baldern an die Sequestrationsregierung vom 30.12.1655; Schreiben des Grafen Johann Franz von Oettingen-Spielberg an die Sequestrationsregierung vom 3.1.1656; Schreiben der Judenschaft an Gräfin Isabella Eleonore von Oettingen-Baldern (undatiert, ca. 1655/56). FÖWAH. III. 18.5b-1. Schreiben der Judenschaft an Gräfin Isabella Eleonore von OettingenBaldern (undatiert, ca. 1655/56). Vgl. FÖWAH. III. 18.5b-1. Protokoll des Oberamts Wallerstein vom 5./6.12.1655, in dem das Gesuch eines Wallersteiner Juden um eine .&y[serliche] Resolution erwähnt wird. FÖWAH. III.l8.5a-l. Schreiben des Herzogs Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg an die Sequestrationsregierung vom 11.12.1655. Vgl. hierzu ausführlich Johannes Mordstein: Ein Jahr Streit um drei Klafter Holz. Der Konflikt zwischen Bürgerschaft und Judengemeinde im schwäbischen Harburg um die Teilhabe der Juden an den Gemeinderechten 1739/40. In: A. Holenstein, S. Ulimann (Anm. 6) S. 301-324; ders. (Anm. 1) S. 278-297.

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Auseinandersetzungen stand u.a. die ehemalige oettingen-oettingische Judenschaft, fur die der das Haupterbe beanspruchende Graf Johann Friedrich von Oettingen-Wallerstein am 8. September 1740 einen Schutzbrief erließ, der ohne gravierende Änderungen die Bestimmungen seines Vorgängers von 1733 im wesentlichen wiederholte. 34 Hinter diesem scheinbar einfachen und unspektakulären Konfirmationsvorgang verbirgt sich jedoch ein komplexes und langwieriges Ausstellungsverfahren, dessen wichtigste Stationen im folgenden geschildert werden sollen. Mit dem Konzept-Schutzbrief vom 22. März 1740 wurden erste Weichenstellungen getroffen, die entsprechend der von antijüdischen Stereotypen geprägten Judenpolitik dieser zweiten Phase aus einer Vielzahl von Rechtsminderungen bestanden: Die Anzahl der Schutzjuden sollte von 176 auf 100 herabgesetzt werden, den überzähligen' Familien drohte die ,Ausschaffung', das Schutzgeld wurde drastisch erhöht, der Harburger Judengemeinde wurde die weitere Partizipation an den Holznutzungsrechten im Gemeindewald verwehrt. 35 Maßgeblich für diese restriktiven Maßnahmen war zum einen die individuell judenfeindliche Einstellung des Landesherrn Johann Friedrich von Oettingen-Wallerstein, der nach eigener Aussage nicht länger dulden wollte, unsere lande von einer so großen anzahl unsere ehrlichen w[nd] lieben bürger «[nd] unterthanen biß auff das bluth durch allerhand Räncke und betrügereyen außsaugenden meist bettel: undt schnurJuden beschwert zu sehen. Fiskalisches Nutzdenken wies er weit von sich. Er wolle nicht mit denen seüffzern unserer unterthanen unsere einkünffte [...] vergrößern. 36 Zum anderen folgte der Konzept-Schutzbrief in weiten Teilen der Argumentation antijüdischer Supplikationen, die von christlichen Interessengruppen unter Ausnutzung der gesamten Bandbreite religiös und ökonomisch motivierter judenfeindlicher Einstellungen eingereicht worden waren 37 - oftmals glichen sich sogar Formulierung von Supplik und Schutzbriefentwurf. Der folgende Verfahrensabschnitt wurde durch eine Vielzahl jüdischer Bittgesuche geprägt, 38 in denen die oettingischen Judengemeinden erklärten, daß Wir

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FÖWAH. III. 18.6a-1. JSB 1733 ÖÖ; FÖWAH. III. 18.5a-1. JSB 1740 ÖÖ. FÖWAH. III. 18.6a-l. Konzept-JSB für die ehemalige oettingen-oettingische Judenschaft vom 22.3.1740; zum Konflikt um den Harburger Gemeindewald vgl. J. Mordstein (Anm. 33). FÖWAH. III. 18.6a-1. Schreiben des Grafen Johann Friedrich von Oettingen-Wallerstein an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 23.3.1740. FÖWAH. III. 18.6a-1. Schreiben des Rats und der Bürgerschaft Harburg an den Grafen vom 24.9.1739; Schreiben des Superintendenten Haas an den Grafen vom 25.9.1739; Schreiben der Dorfgemeinde Mönchsdeggingen an den Grafen vom 29.9.1739; Übersendung dieses Gesuchs an die Regierung Oettingen-Oettingen am 14.10.1739; Schreiben des Oberamts Harburg an den Grafen vom 14.10.1739. Vgl. hierzu auch R. Jakob (2004) (Anm. 6). FÖWAH. III. 18.6a-1. Schreiben der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen an den Grafen vom 11.4.1740; Schreiben der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen an den Grafen vom 27.4.1740; Schreiben

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die in publicirten Schutzbrief [vom 22. März 1740] enthaltene conditiones ohne unseren besorgenden völligen ruin ohnmögl[ich] beobachten und darnach leben können?9 Das Ziel bestand darin, den Schutzbrief nach denen vorigen einrichten zu lassen,40 d.h. die Juden gingen in breiter Front gegen sämtliche von Graf und Regierung anvisierten Rechtsminderungen vor. Diese regelrechte ,Supplikationsoffensive' konnte auch durch die markigen Worte des Grafen Johann Friedrich nicht unterbunden werden, der bereits im Vorfeld angekündigt hatte, im Falle des Widerstands gegen die neue Rechtsgrundlage nicht gewillt zu sein, mit den Juden überhaubt unß lang auffzuhalten oder eine besondere Capitulation anzugehen, sondern einem jeden nach verfließung 4. Wochen cet[e]ris paribus das emigrations-recht mit vergnügen angedeyen zu laßen.41 Diese demonstrativ manifestierte absolutistische' Herrschaftsauffassung stand jedoch im krassen Widerspruch zum tatsächlichen Verhalten des Landesherrn und seiner nachgeordneten Regierungsräte. Die jüdischen Supplikationen wurden in den weiteren Verfahrensfortgang eingebunden, veranlaßten neuerliche Gutachten und Überlegungen - und führten schließlich sogar durch das erläuterungs undt modifications-Rescript des Grafen vom 18. Juni 1740 zu einer Teilrücknahme der geplanten Restriktionen, nämlich die Herabsetzung des erhöhten Schutzgelds auf den alten Stand und die Wiederzulassung der Harburger Juden zum kommunalen Holznutzungsrecht.42 Dieser Teilerfolg bedeutete jedoch noch nicht das Ende der Schutzlosung von 1739/40. Vielmehr Schloß sich eine zweite Runde an, die deutliche Parallelen zur ersten aufwies: Wieder gebärdete sich der Landesherr absolutistisch', denn er wolle sich auff keine andere conditionen, alß welche in [...] diesen erläuterungs

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der Judengemeinde Harburg an den Grafen vom 28.4.1740; Schreiben der hausbesitzenden Juden von Harburg an den Grafen vom 13.6.1740. FÖWAH. III.18.6a-l. Schreiben der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen an den Grafen vom 11.4.1740. FÖWAH. III.18.6a-l. Schreiben der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen an den Grafen vom 11.4.1740. FÖWAH. III. 18.6a-1. Schreiben des Grafen Johann Friedrich von Oettingen-Wallerstein an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 23.3.1740. FÖWAH. III. 18.6a-1. Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an den Grafen vom 16.4.1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an die Judenschaft vom 16.4.1740; Schreiben des Grafen an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 23.4.1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an den Grafen vom 30.4.1740; Notamina der Regierung Oettingen-Oettingen vom 30.4.1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an das Oberamt Harburg vom 13.6.1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an das Oberamt Harburg vom 16.6.1740; Schreiben des Grafen an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 18.6.1740; Protokoll des Oberamts Harburg vom 20.6.1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an das Oberamt Harburg vom 27.6.1740; Protokoll der Regierung Oettingen-Oettingen vom 30.6.1740; Protokoll der Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 12.7.1740; Schreiben von Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen an den Grafen vom 15.7.1740.

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undt modifications-Rescript enthalten sindt [...] einiaßen n Erneut zeigten sich die Juden davon unbeeindruckt und beharrten auf ihrem bisherigen Standpunkt.44 Von den jüdischen Supplikationen dieser Phase ist insbesondere das separate Bittgesuch des vermögenden Oettinger Juden Jacob Meyerle 45 hervorzuheben, in dem dieser nicht nur seine eigenen Interessen vertrat, sondern als eine Art ,Fürsprecher' für die gesamte Judenschaft fungierte. Meyerle wies zunächst auf seine für die gesamte Grafschaft bedeutende ökonomische Potenz hin: Durch seine intensive Handelstätigkeit habe er der Herrschaft durch Zoll und Abgaben nicht ein geringes eingetragen. Zudem habe er den Untertanen stets alles Liebes und Gutes erwiesen und 200 bis 300 Personen ehrl[ich] ausgeholffen. Durch den restriktiven Konzept-Schutzbrief vom 22. März 1740 sehe er sich jedoch veranlaßt, seine Kinder außerhalb des Landes in auswärtige Territorien zu verheiraten, was unweigerlich zu einer erheblichen Vermögensabwanderung aus der Grafschaft Oettingen-Wallerstein führen werde. 46 Zwischen den Zeilen enthält dieses Bittgesuch die Androhung einer Emigration zum Schaden der derzeitigen Schutzherrschaft. Im vorliegenden Fall ist ,Emigration' jedoch nicht unbedingt als faktischer Vorgang einer geographischen Mobilität zu verstehen, sondern hätte unter Beibehaltung des bisherigen Wohnorts Oettingen durch eine Schutzaufnahme beim Herrschaftskonkurrenten OettingenSpielberg bewerkstelligt werden können. Ein vermögender Jude wie Jacob Meyerle wäre Spielberg aus fiskalischen Motiven sicherlich willkommen gewesen. Dies gilt um so mehr, da angesichts des Höhepunkts der Auseinandersetzungen zwischen Wallerstein und Spielberg um die oettingen-oettingische Erbschaft in den Jahren 1739/40 der Herrschaftswechsel des angesehensten Mitglieds der jüdischen Gemeinde eine einmalige Gelegenheit für Spielberg gewesen wäre, das Judenregal über die ,streitbefangenen' Judengemeinden auszuüben und sich als tatsächlicher Herrschaftsinhaber zu gerieren.47 43

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FÖWAH. III. 18.6a-l. Schreiben des Grafen an die Regierung und Rentkammer OettingenOettingenvom 18.6.1740. FÖWAH. III. 18.6a-1. Schreiben der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen an den Grafen vom 7.7.1740; Schreiben des Oettinger Schutzjuden Jacob Meyerle an den Grafen vom 7.7.1740; Protokoll der Regierung und Rentkammer OettingenOettingenvom 12.7.1740. Bei Jacob Meyerle handelte es sich um den mit Abstand reichsten Juden unter oettingischer Schutzherrschaft. Sein Vermögen betrug allein 2 5 . 4 0 0 fl. Damit verfügte er über ca. ein Drittel des Gesamtvermögens aller 47 .evangelischen' Juden in Oettingen. Vgl. FÖWAH. III. 18.6a-l. Spezifikation über Anzahl, Hausbesitz und Vermögen der Juden in Oettingen und Hainsfarth vom 9.10.1739. FÖWAH. III. 18.6a-1. Schreiben des Oettinger Schutzjuden Jacob Meyerle an den Grafen vom 7.7.1740. Dies war auch der Grund, warum Oettingen-Spielberg versuchte, die ehemaligen oettingenoettingischen Juden davon abzubringen, bei Oettingen-Wallerstein den Schutz zu lösen. Vgl. FÖWAH. III. 18.6a-1. Schreiben der Regierung Oettingen-Spielberg an die ehemalige oettingen-oettingische Judenschaft vom 5.7.1740; Schreiben der Regierung OettingenSpielberg an den Oettinger Schutzjuden Jacob Meyerle vom 7.7.1740.

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Meyerles Andeutungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie trafen gezielt einen wunden Punkt der labilen Herrschaftskonstellation des Rieses und beweisen, wie gut die Juden über die politische Situation der territorial kleingekammerten Struktur des nördlichen Schwabens unterrichtet waren. Als Reaktion auf Meyerles Supplik führten Regierung und Rentkammer am 15. Juli 1740 ihrem Landesherrn die negativen fiskalischen und politischen Folgen einer Abwanderung der vermögenden Juden vor Augen.48 Noch bevor Graf Johann Friedrich, der sich zur fraglichen Zeit am Kaiserhof in Wien aufhielt, über die Stellungnahme seiner Zentralbehörden entscheiden konnte, war das Schutzbriefverfahren in eine neue Phase eingetreten. Die oettingen-oettingische Judenschaft begnügte sich nämlich nicht damit, schriftliche Bittgesuche an den Landesherrn zu verfassen, sondern fuhr zweigleisig. Gleichzeitig wurden Wiener Glaubensgenossen beauftragt, mit dem Grafen direkt über die oettingische Schutzbriefangelegenheit zu verhandeln. Am 21. Juli 1740 schloß der oettingische Kanzler Sahler mit dem privilegierten Wiener Juden Herz Low Manasses49 nahmens berührter Oettingischer Judenschafft eine endliche abrede undt Vergleichung ab. In dieser Vereinbarung gelang es den Juden, eine ihrer wichtigsten Forderungen zu erfüllen: Die Landesherrschaft verzichtete auf die anvisierte Reduzierung der Anzahl der Schutzjuden, die bisherige Familienzahl wurde unverändert beibehalten.50 Nachdem sich Graf Johann Friedrich von den am 15. Juli 1740 geäußerten Bedenken seiner Regierungs- und Kammerräte hatte überzeugen lassen, schien sich die konfliktträchtige Schutzlosungsangelegenheit in Wohlgefallen aufzulösen. Der Graf ordnete an, den neuen Schutzbrief entsprechend diesem Gutachten und dem Vergleichsinhalt auszuformulieren.51 Wider Erwarten wurde der jüdische Widerstand durch dieses Entgegenkommen nicht beendet. Als die landesherrlichen Entschließungen in Oettingen bekannt gegeben wurden, verweigerten die Sprecher der jüdischen Gemeinden weiterhin ihre Zustimmung. Der von Manas48

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FÖWAH. III. 18.6a-1. Protokoll der Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 12.7.1740; Schreiben von Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen an den Grafen vom 15.7.1740. Herz Low Manasses war als privilegierter Jude Mitglied der Wiener Judengemeinde und verschwägert mit der Hofjudenfamilie Oppenheimer. Vgl. Alfred Francis Pribram: Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien. 1. Abteilung, allgemeiner Teil: 15261847 (1849). Wien, Leipzig 1918 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 8/1-2). Bd. I. S. 300-301, 331, 339-340; Bd. II. S. 585. Über seine Beziehungen zur Grafschaft Oettingen können bislang keine Aussagen getroffen werden. Er scheint jedoch in den 1750er Jahren in Kreditbeziehungen zur oettingen-wallersteinischen Herrschaft Seifriedsberg in Mittelschwaben gestanden zu haben. Vgl. Martina Haggenmüller, Peter Steuer (Bearb.): Vorderösterreichische Regierung und Kammer 1753-1805. Oberämter Günzburg und Rothenfels. München 2004 (Bayerische Archivinventare 52). Nr. 305. FÖWAH. III. 18.6a-l. Vereinbarung zwischen Kanzler Sahler und Herz Low Manasses vom 21.7.1740; Approbation des Grafen vom 26.7.1740. FÖWAH. III. 18.6a-l. Schreiben des Grafen an die Regierung und Rentkammer OettingenOettingen vom 26.7.1740.

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ses getroffene Vergleich gehe weit über dessen Vollmachten hinaus und könne daher nicht akzeptiert werden. Die oettingischen Juden bestanden auf der unveränderten Konfirmation des bisherigen Schutzbriefs, die Kompromißvorschläge reichten ihnen nicht aus. Immerhin boten sie an, bei Erfüllung ihrer Forderungen eine einmalige Sonderzahlung von 400 fl. zu entrichten. 52 Graf und Regierung gaben schließlich endgültig nach: Der am 8. September 1740 erlassene Schutzbrief gleicht seinem Vorgänger bis auf wenige Ausnahmen. Zwar konnte die Obrigkeit die Erhöhung des von den Juden angebotenen freywillige[n] geschenkh[s] auf 500 fl. erreichen, dies war jedoch angesichts der herrschaftlichen Zugeständnisse nur eine Marginalie. 53 Gerade der Beispielsfall von 1739/40 belegt auf eindringliche Weise das selbstbewußte Agieren der oettingischen Judengemeinden, das im folgenden durch eine zusammenfassende Analyse der jüdischen Handlungsstrategien verallgemeinert werden soll.54 Die Juden waren zunächst bestrebt, einen internen Konsens über ihr Vorgehen unter Abgleichung divergierender Interessen zu erzielen. Innerjüdische Konflikte, innergemeindliche Brüche und Probleme im Verhältnis der Gemeinden untereinander tauchen daher in den Schutzlosungsakten so gut wie nie auf. 55 Auch die jüdische Elite trug die gemeinschaftlichen Initiativen mit. Vornehme und vermögende Gemeindemitglieder, die häufig als Parnassim eine gesellschaftliche hervorgehobene Position innehatten, fungierten zwar oft als Wortführer, handelten jedoch stets im Einvernehmen mit der Gesamtgemeinde (vgl. das Bittgesuch Jacob Meyerles 1740). Die ,selbstbewußte Untertänigkeit' der Juden war keine Angelegenheit einiger weniger Glaubensgenossen der Elite, sondern basierte auf einer von allen Familien unterstützten genossenschaftlichen Aktion. 56 Die auf diese Weise zustande gekommene gemeinsame Haltung aller betroffenen Judengemeinden wurde schließlich in einer Supplik an den Landesherrn ausformuliert. In der Regel wurde dabei ein juristisch geschulter Advokat beauftragt, der die jüdischen Argumente in die verfahrensrechtlich korrekte Form brachte. Inhaltlich betrafen die Bittgesuche alle in den Judenschutzbriefen normierten 52

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FÖWAH. III. 18.6a-1. Protokoll der Regierung Oettingen-Oettingen vom 8.8.1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an den Grafen vom 9.8.1740. FÖWAH. III. 18.5a-1. JSB 1740 ÖÖ. Vgl. zum folgenden ausführlich J. Mordstein (Anm. 1) S. 153-177. Während des gesamten über 150jährigen Untersuchungszeitraums wurden irmeijüdische Konflikte nur ein einziges Mal im Rahmen von Schutzlosungsverfahren an die Obrigkeit getragen. 1794 sprach sich die ,Oberschicht' der Judengemeinde Harburg gegen einen pauschalen Schutzgeldansatz ohne Berücksichtigung des Vermögens aus, während ihre weniger vermögenden Glaubensgenossen dies befürworteten. Vgl. FÖWAH. III. 18.18a-2. Protokoll des Oberamts Harburg vom 26.3.1794. Zu den Suppliken der jüdischen Elite in Verfahren vor dem Reichshofrat vgl. Barbara Staudinger: „Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigistes Bitten". Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert. In: S. Hödl, P. Rauscher, B. Staudinger (Anm. 8) S. 143-183.

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Regelungsbereiche. Die grundlegende Bitte um Schutzverlängerung war ebenso ein Thema wie die Herabsetzung der Abgabenbelastung, die Vorschriften zum jüdischen Erwerbsleben (ζ. B. Protokollierung von Handelsverträgen, Verkauf von geschächtetem Fleisch), die Partizipation an den Gemeindegerechtigkeiten und die Verordnungen zur ,guten Policey' sowie zu inneijüdischen Autonomierechten. Die Juden reagierten nicht nur auf obrigkeitliche Anordnungen und Dekrete, sondern ergriffen in einigen Fällen selbst die Initiative. So schlugen sie etwa 1755 vor, im aufgelassenen Kloster Zimmern die Ansiedlung von Juden zu erlauben, um auf diese Weise eine Art frühneuzeitliches ,Gewerbegebiet' einzurichten, das der Wirtschaftskraft der gesamten Grafschaft nützlich gewesen wäre. 57 Dreißig Jahre später übergaben die oettingen-wallersteinischen Judengemeinden eine Supplik, in der sie detailliert das von ihnen entworfene Project über eine ewige Schutzloßung erläuterten: Ohne Nachteil für den Fiskus sollte der landesherrliche Schutz fortan unbefristet gewährt werden, wobei das bisherige bei jeder Schutzbriefausstellung fallige Konsensgeld durch regelmäßige Zahlungen abgegolten werden sollte.58 Die Argumentation der jüdischen Supplikationen verweist darauf, daß die Juden mit den herrschaftspolitischen Gegebenheiten ihres Heimatterritoriums bestens vertraut waren. Sie kannten die ,wunden Punkte' ihrer Schutzherrschaft und zielten mit ihren Beschwerden und Angeboten genau auf diese Schwachstellen. Wie ein Großteil der frühneuzeitlichen Herrscher waren auch die Grafen und Fürsten von Oettingen meist hoch verschuldet - jüdischen Offerten für finanzielle Sonderleistungen konnten sie daher nur selten widerstehen. Trotz der von christlicher Seite allgemein geteilten antijüdischen Stereotype verfehlte auch der Hinweis auf die ökonomische Bedeutung des jüdischen Handels und Wandels nicht seine Wirkung, wie sich aus der bereits zitierten Aussage Jacob Meyerles ergibt, 200 bis 300 Personen ehrl[ich] ausgeholffen zu haben. Insbesondere nutzten die Juden geschickt die machtpolitischen Schwächen des Territorium non clausuni' der Grafschaft Oettingen aus. Angesichts ständiger Konflikte der regionalen Herrschaftsträger sowie komplexer Konkurrenzsituationen konnten v.a. vermögende Juden durch gezielt piazierte Emigrationsdrohungen die verschiedenen Territorialherren gegeneinander ausspielen. Dies gilt um so mehr, als eine Auswanderung' - wie bereits ausgeführt - de facto durch einen bloßen Herrschaftswechsel ohne tatsächliche Ortsveränderung auf denkbar einfache Weise zu bewerkstelligen war. Da dadurch in den machtpolitischen Streitigkeiten Vorteile zu erwarten waren, ließ sich eine neue Schutzherrschaft angesichts

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FÖWAH. III.18.6a-l. Schreiben des Grafen Philipp Karl von Oettingen-Wallerstein an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Wallerstein vom 16.8.1755; Gutachten der Regierung und Rentkammer Oettingen-Wallerstein vom 21.8. 1755. FÖWAH. III. 18.18a-1. Schreiben der Judengemeinden Harburg, Mönchsdeggingen, Wallerstein und Pflaumloch an den Fürsten vom 22.1.1787.

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der zahlreichen Auseinandersetzungen auf obrigkeitlicher Ebene mühelos finden. Von Seiten der Herrschaft angekündigte Ausweisungen verliefen aus dem gleichen Grund oft im Sand: Angesichts der Kleinräumigkeit und Offenheit der politischen Landschaft hätten die ,ausgeschafften' Juden ohne Probleme in der unmittelbaren Nachbarschaft eine neue Bleibe gefunden. Da die betroffenen Juden ihre Handelsgeschäfte ungehindert in ihrem ehemaligen Heimatterritorium hätten fortführen können, wären die erhofften ,Vorteile' der Vertreibung somit unweigerlich ausgeblieben. 59 Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, daß die jüdischen Bittgesuche nicht selten der eigentliche Anlaß waren, geplante Rechtsminderungen zurückzunehmen und Kompromisse einzugehen. Ausweisungen gesamter Gemeinden kamen im Untersuchungszeitraum nur einmal vor (1658/59 Baldern und Neresheim), ,Teilausschaffungen' einzelner (in der Regel vermögensloser und zahlungssäumiger) Gemeindemitglieder lassen sich nur zweimal belegen. Statt dessen weist die demographische Kurve der oettingischen Judenschaft stets nach oben, bereits beschlossene Ausweisungsvorhaben mußten nicht selten aufgrund des jüdischen Widerstands zurückgenommen werden (vgl. den Beispielfall von 1739/40). 60 Auf der gleichen Ebene bewegt sich der fiskalische Befund: 61 Trotz der ständigen Geldnot der Landesherrschaft und der nicht zu unterschätzenden Bedeutung der jüdischen Abgaben dominierte auch auf diesem Gebiet keine obrigkeitliche Oktroyierung, sondern ein gegenseitiges Nachgeben. Die zurückgenommene Schutzgelderhöhung 1739/40 ist hierfür ein Beispiel. Noch deutlicher wird diese Beobachtung, wenn man sich die Modalitäten der Konsensgeldfestsetzung betrachtet. Dieser fiskalisch wichtige Einnahmeposten war meist das Ergebnis langwieriger Verhandlungen zwischen Obrigkeit und Judengemeinden. 1714 wurde das ,Schutzlosungsquantum' für die Judengemeinden Oettingen und Hainsfarth von 1.500 fl. auf 1.060 fl. ermäßigt; 1719 erreichte die Oberdorfer Judenschaft eine Halbierung des Ansatzes von 400 fl. auf 200 fl.; 1757 forderte Oettingen-Spielberg von den mediaten Juden der Johanniterkommende Kleinerdlingen einen Betrag von 1.409 fl., konnte aber nach langwierigen Gesprächen nur 730 fl. realisieren; 1785/86 beabsichtigte die oettingen-spielbergische Regierung die

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An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert regte die oettingen-wallersteinische Regierung ein Projekt aller regionaler Machthaber an, die Juden gemeinschaftlich aus allen Herrschaftsgebieten des Rieses und des Umlandes auszuweisen. Dieses Vorhaben blieb jedoch auf der Ebene der Vorüberlegungen stecken und konnte angesichts der konkurrierenden Interessen der einzelnen Territorien nicht verwirklicht werden. Vgl. FÖWAH. III. 18.5a-2. Schreiben der Regierung Oettingen-Wallerstein an den Grafen vom 24.7.1692; Gutachten des Hofrats Weibel vom 16.3.1703; Schreiben der Regierung Oettingen-Wallerstein an den Grafen von Oettingen-Spielberg vom 26.8.1707; FÖWAH. III.18.5a-l. Gutachten (unbekannter Autor, vermutlich Hofrat Kirsinger) vom 20.10.1707 und 9.1.1708. Vgl. hierzu ausführlich J. Mordstein (Anm. 1) S. 180-190. Vgl. hierzu ausfuhrlich J. Mordstein (Anm. 1) S. 203-226, insbes. S. 366-368 (Tab. 19).

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Gebühr für die Schutzbriefausstellung auf 39.286 fl. festzuschreiben, nach Suppliken der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth und Mönchsroth wurde die Summe schließlich auf weniger als die Hälfte reduziert (16.800 fl.). Gegenüber den immediaten Kleinerdlinger Juden wurde in diesem Verfahren eine raffinierte Taktik angewendet, die ein bezeichnendes Schlaglicht auf den Charakter der Konsensgeldfestsetzung wirft. Die Regierungsräte gingen nämlich mit weit überzogenen Vorstellungen (350 fl.) in die Verhandlungen mit den Juden. In der sicheren Erwartung, für einen derart hohen Betrag niemals das Einverständnis der Juden zu erhalten, sollte durch diesen Schachzug Spielraum für Zugeständnisse geschaffen werden, um auf diese Weise wenigstens das Minimalziel von 300 fl. in die Tat umsetzen zu können. Diese Rechnung ging auf: Auf lang und viel Anhalten erteilten die Juden der Summe von 300 fl. ihre Zustimmung.62 Das Konsensgeld bedurfte demnach des ,Konsenses' der Juden, es wurde nicht dekretiert, sondern ausgehandelt. Die in der Regel mehrfach und hartnäckig vorgetragenen jüdischen Suppliken waren ein fester Bestandteil dieses Systems und veranlaßten die Schutzherrschaft in vielen Fällen zur Rücknahme überhöhter Geldforderungen. Ähnlicher Erfolg war den jüdischen Bittgesuchen zu den anderen Regelungskomplexen der Schutzbriefe beschieden. Geplante Protokollierungspflichten von Handelsverträgen konnten die Juden mit dem Hinweis abwehren, daß diese Beschränkung Handel und Wandel zum Erliegen brächte und keineswegs dem Schutz des christlichen Geschäftspartners diente. Die Bauern und Handwerker würden nämlich aus Zeit- und Kostengründen den Gang zum Amt scheuen und ihre Käufe und Verkäufe lieber bei auswärtigen Handelsleuten und Juden tätigen, so daß eine obrigkeitliche Kontrolle durch oettingische Beamte nicht mehr möglich sein werde.63 Die Vorschriften zum Fleischverkauf unterlagen während des Untersuchungszeitraums zahlreichen Veränderungen. Den Juden wurde den Handel mit dem Fleisch geschächteter Tiere verboten, einige Jahre später ohne Einschränkungen erlaubt, anschließend durch Auflagen (Mengenbegrenzung, Fixpreis) wieder eingeengt, nur kurze Zeit später folgten weitere Neuerungen in dieser Sache. Meist wurden diese Verordnungen von Bittgesuchen der Metzgerzünfte und der jüdischen Fleischhändler initiiert. In diesem Interessenkonflikt war die Obrigkeit stets bestrebt, Lösungen zu finden, durch die der Fleischbedarf der Bevölkerung sichergestellt wurde. Der jüdische Fleischhandel fungierte dabei als Regulierungsinstrument. Die Bittgesuche der Juden waren ein integraler Bestandteil des Versuchs, die verschiedenen Interessen auszutarieren.64 Gleiches gilt für die Partizipation der Juden an den Gemeindegerechtigkeiten. Immer wieder versuchten christliche Ortsgemeinden, die Juden vom genossen62 63 64

FÖSAH. RegReg Κ 64. Protokoll der Schutzlosungsdeputation vom 19.1.1786. Vgl. hierzu ausführlich J. Mordstein (Anm. 1) S. 229-239. Vgl. hierzu ausführlich J. Mordstein (Anm. 1) S. 239-256.

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schaftlichen Genuß von Weide, Wasser und Wald abzuhalten - in der Regel jedoch ohne Erfolg. Die Juden beharrten in ihren Supplikationen auf die Teilhabe an den kommunalen Nutzungen v.a. mit dem Argument, daß die Gemeinderechte ein Konnex des Hausbesitzes seien und damit unabhängig von Glauben und Konfession garantiert werden müßten. Diese rechtliche Beweisführung wurde von der Obrigkeit geteilt, die den Juden in allen oettingischen Gemeinden die Partizipation an den Gemeindegerechtigkeiten ohne Einschränkungen gestattete. Die Beschwerden der christlichen Stadt-, Markt- und Dorfbewohner, eine ideologische Beurteilung des Problems durchzuführen - d.h. die Interessen der Christen grundsätzlich vor die der Juden zu stellen - scheiterten in allen Fällen am Vorrang dieses juristischen Standpunkts. 65

III. Resümee: Jüdische Untertanen? Das in allen Aktionsfeldern des ,Judenrechts' deutlich gewordene selbstbewußte Agieren der Juden als Kommunikationsteilnehmer am Legislationsverfahren ist vor dem Hintergrund der historischen Supplikationsforschung und neuerer Arbeiten zum Alltag der Herrschaftsausübung des frühmodernen Staates keine Überraschung. So kommen etwa Rosi Fuhrmann, Beat Kümin und Andreas Würgler in ihrer Untersuchung über ,Supplizierende Gemeinden' zu folgendem Fazit: „Suppliken waren [...] ein Mittel, mit dem die Gemeinden und Untertanen direkt auf die Gesetzgebung einwirken konnten, indem sie die Ausformulierung von Edikten und Verordnungen überhaupt anregten und inhaltlich oft deutlich mitprägten." 66 Bittgesuche und Beschwerdeschreiben waren nach Andre Holenstein ein „integraler Bestandteil der Gesetzgebungs- und Gesetzespraxis." 67 Lothar Schilling bringt diese Zusammenhänge bereits im Titel seines programmatischen Aufsatzes „Gesetzgebung als Kommunikation" zum Ausdruck. 68 Nach dem eindeutigen Befund der oettingischen Quellen partizipierte die jüdische Minorität trotz des niemals bestrittenen rechtlichen Minderstatus an dieser auf Supplikationen basierenden frühneuzeitlichen Herrschaftspraxis - ein Aspekt, 65 66

67

68

Vgl. hierzu ausführlich J. Mordstein (Anm. 33); ders. (Anm. 1) S. 278-297. Rosi Fuhrmann, Beat Kümin, Andreas Würgler: Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung. In: Gemeinde und Staat im Alten Europa. Hg. von Peter Blickle. München 1998 (HZ. Beihefte NF 25). S. 267-323, hier S. 320. Andre Holenstein: Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung. Zur Praxis .guter Policey' in Gemeinde und Staat des Ancien Regime am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach). In: P. Blickle (Anm. 66) S. 325-357, hier S. 350. Lothar Schilling: Gesetzgebung als Kommunikation. Zu symbolischen und expressiven Aspekten französischer ,ordonances de reformation' des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch. Hg. von Helmut Neuhaus, Barbara Stollberg-Rilinger- Berlin 2002 (Historische Forschungen 73). S. 133-165. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Achim Landwehr: ,Normdurchsetzung' in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs. In: ZfG 48. 2000. S. 146-162.

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der bislang in der historischen Forschung nur am Rande Beachtung fand. Lediglich Andre Holenstein widmete jüdischen Supplikationen am Beispiel der Markgrafschaft Baden-Durlach eine ausführliche Analyse. Sein Ergebnis deckt sich weitgehend mit der hier vorgestellten ,selbstbewußten Untertänigkeit': Schutzgesuche von Juden waren ein konstitutiver Verfahrensbestandteil. Bei vorausgegangenem Mißerfolg wurden die Suppliken oft mehrmals in der gleichen Sache und von den gleichen Personen eingereicht und führten schließlich in nahezu allen Fällen zum gewünschten Ziel, der Gewährung des landesherrlichen Schutzes.69 Auch wenn andere Untersuchungen ihren Fokus nicht auf dieses Moment richten, läßt sich beim ,Querlesen' willkürlich ausgewählter Darstellungen zur jüdischen Geschichte eine Vielzahl weiterer Belegstellen anfuhren: In den Fürstentümern Brandenburg-Ansbach und Pfalz-Zweibrücken sowie im Hochstift Würzburg wurden zahlreiche Judenverordnungen von den Juden selbst initiiert.70 Die gleiche Beobachtung wurde am Beispiel der Judengemeinden in der Markgrafschaft Burgau gemacht.71 Im Kurfürstentum Trier fanden Verhandlungen zwischen Obrigkeit, Metzgerzünften und Judenschaft über die Zulassung des jüdischen Fleischverkaufs statt.72 In die gleiche Richtung weist die Mitwirkung der jüdischen Schutzverwandten bei der Ausgestaltung der ,Schutzkontrakte', die in den adeligen Gütern Böhmens und Mährens die rechtliche Grundlage jüdischen Lebens darstellten.73 Vergleichbare ,Judenschutzverträge' regelten auch die Rahmenbedingungen der jüdischen Gemeinden in Laupheim (bei Ulm) und Moisling (bei Lübeck).74 69

70

71

72 73

74

Andre Holenstein: Bitten um den Schutz. Staatliche Judenpolitik und Lebensführung von Juden im Lichte von Schutzsupplikationen aus der Markgrafschaft Baden(-Durlach) im 18. Jahrhundert. In: Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Hg. von Rolf Kießling, Sabine Ullmann. Berlin 1999 (Colloquia Augustana 10). S. 97-153; ähnlich auch ders. (Anm. 67) S. 327, 333, 336, 341, 343. Vgl. auch die Analyse von Bittgesuchen der jüdischen Elite in Verfahren vor dem Reichshofrat bei B. Staudinger (Anm. 56). Gerhard Taddey: Kein kleines Jerusalem. Geschichte der Juden im Landkreis Schwäbisch Hall. Sigmaringen 1992 (Forschungen aus dem Württembergischen Franken 36). S. 33; Dieter Blinn: Judenrecht im Fürstentum Pfalz-Zweibrücken. Quellen zum Recht für Juden eines Reichsterritoriums vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Eine Dokumentation. In: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 42. 1994. S. 31-114, hier S. 47; I. König (Anm. 4) S. 277. Rosemarie Mix: Die Judenordnung der Markgrafschaft Burgau von 1534. In: R. Kießling, S. Ullmann (Anm. 69). S. 23-57; Susanne Höhnle: Ortsherrschaft und jüdische Gemeinde als Vertragspartner: Der Burgauer Rezeß von 1717 für Ichenhausen. In: R. Kießling, S. Ullmann (Anm. 69) S. 58-79. C. Kasper-Holtkotte (Anm. 4) S. 161-171. Vladimir Lipscher: Jüdisches Leben in Böhmen und Mähren im 17. und 18. Jahrhundert (bis zum Ausweisungsbefehl Maria Theresias). In: Die Juden in den böhmischen Ländern. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 27.-29. November 1981. München, Wien 1983 (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 5). S. 73-86, hier S. 75, 82. Johann Albert Aich: Laupheim 1570-1870. Beiträge zu Schwabens und Vorderösterreichs Geschichte und Heimatkunde. 3. und 4. Aufl. Laupheim 1921. S. 98-99; Peter Guttkuhn:

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Die vorgestellten Einzelfunde decken nahezu das gesamte Reichsgebiet ab. Trotz der spezifischen lokalen und regionalen Herrschafts- und Siedlungsstrukturen der Grafschaft Oettingen stellt somit die intensive Partizipation der Schutzjuden an der Ausgestaltung des Judenrechts' keinen singulären Fall dar, sondern war repräsentativ für das qualitative Verhältnis zwischen Obrigkeit und Judengemeinden während der Frühen Neuzeit. Juden waren demnach nicht die wehrlosen und ohnmächtigen Opfer der Willkürpolitik ihrer Schutzherren, sondern politische Akteure mit beträchtlicher Durchschlagskraft. Diese These ist der Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen. Die Stellung der Juden als integraler Bestandteil der Legislationspraxis unterschied sich nicht vom Verfahrensstatus der christlichen Untertanenschaft, die sich nach den bereits referierten Ergebnissen der historischen Supplikationsforschung ebenso wie ihre jüdischen Nachbarn rege und konfliktfreudig durch Bittgesuche und Beschwerdeschreiben zu Wort meldeten, um den Wortlaut von Landesordnungen und Dekreten zu ihren Gunsten zu beeinflussen. 75 Parallelen zwischen christlichen und jüdischen Einwohnern sind jedoch nicht nur in formeller Hinsicht erkennbar, sondern auch im Bereich der materiellen Rechtsausgestaltung. Zu den Zentralvorgängen der Frühen Neuzeit gehört ohne Zweifel eine alle Lebensbereiche der Untergebenen erfassende Intensivierung der Herrschaft. Auf dem Gebiet der Rechtssetzung beförderte eine Flut von Verordnungen und Dekreten diese fundamentale Entwicklung, durch die der frühmoderne Staat bestrebt war, bis ins Detail auch die alltäglichsten Lebenskonstellationen der Untertanen zu normieren. 76 Dieser Prozeß umfaßte auch die Judenschaft. Während die oettingischen Judenschutzbriefe sich in der ersten Phase unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg auf wenige, mit knappen Worten umrissene Regelungskomplexe (v.a. Abgaben) beschränkten, stießen ihre Pendants aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Sphären vor, die bislang normativ nicht berührt worden waren. Dies läßt sich v. a. auf dem Gebiet der ,guten Policey' veranschaulichen, das die frühen Schutzbriefe nur am Rande tangierten. Der oettingen-wallersteinische Schutzbriefentwurf von 1794 enthält demgegenüber ausführliche Artikel zum (bislang angeblich vernachlässigten) Gartenanbau der Juden, zur Instandhaltung der Häuser in jüdischem Besitz, zur ordentlichen Haushaltsführung der jüdischen

75 76

Die Geschichte der Juden in Moisling und Lübeck. Von den Anfängen 1656 bis zur Emanzipation 1852. Lübeck 1999 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck. Reihe B: Dokumente 30). S. 27-31. Vgl. die in Anm. 66-68 angeführten Darstellungen. Vgl. hierzu die mittlerweile sieben Bände des „Repertoriums der Policeyordnungen", in den für ausgewählte Territorien die erlassenen Verordnungen schlagwortartig aufgelistet werden, deren Anzahl meist mehrere Hundert oder gar Tausend umfaßt: Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit. Bde. 1-7. Hg. von Karl Härter, Michael Stolleis. Frankfurt a.M. 1996-2006, insbes. die von den beiden Herausgebern verfaßte Einleitung in Bd. 1. S. 1-19.

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Familien sowie zur Reinigung von Straßen und Wegen, für die eigens eine regelrechte ,Kehrwoche' eingeführt wurde.77 Für diesen Prozeß der Nonnintensivierung und -differenzierung ist allein schon der bloße Wortumfang der Schutzbriefe bezeichnend: Während der erste oettingen-spielbergische Brief von 1637 sich mit 170 Wörtern begnügt, benötigt sein Nachfolger von 1785 insgesamt 6.320 Wörter, d.h. der Umfang vervielfältige sich um den Faktor 37.78 Die angesprochene ,Kehrwoche' verweist darauf, daß die inhaltlichen Bestimmungen der ,guten Policey' sowohl für Christen als auch Juden Gültigkeit beanspruchten. Auch nichtjüdische Stadt-, Markt- und Dorfbewohner mußten die an ihrem Haus vorbeiführenden Wege wöchentlich reinigen. Der einzige Unterschied zwischen christlicher Mehrheit und jüdischer Minderheit bestand im dazu vorgesehenen Tag: Während Christen am Samstag zu kehren hatten, mußten Juden wegen des Arbeitsverbots am Sabbat diese Pflicht bereits am Freitag erfüllen. Ähnliche Parallelen lassen sich auch in anderen Materien des ,Policeyrechts' ausmachen: Qualitative Unterschiede zwischen Christen und Juden wurden weder 79

inhaltlich noch beim angedrohten Strafmaß gemacht. Weitere Indizien für eine Gleichbehandlung der beiden Bevölkerungsgruppen wurden bereits angedeutet. Juden partizipierten in der Grafschaft Oettingen ebenso wie in zahlreichen anderen Territorien des Alten Reiches gleichberechtigt an den Gemeinderechten. Die Trennlinie zwischen Berechtigten und Nichtberechtigten wurde juristisch und nicht religiös definiert. Sie entsprach der Grenze zwischen Hausbesitzern und Hausgenossen, andere Faktoren - etwa der rechtliche 80 Minderstatus der Juden - spielten dabei keine Rolle. Der Streit zwischen christlichen und jüdischen Metzgern wurde auf einer ähnlichen rechtlichen Basis entschieden: Maßgeblich war allein der Fleischbedarf der Bevölkerung, der subsidiär auch von Juden durch Restprodukte des Schächtvorgangs gedeckt werden durfte. Das religiöse Bekenntnis des Fleischhändlers war demgegenüber nebensächlich.81 Weitere Indizien kommen hinzu: Handelsbeschränkungen und -verböte gehörten zu den üblichen Instrumenten der frühneuzeitlichen .Wirtschaftspolitik', die nicht primär auf dem Grundsatz des freien Warenverkehrs basierte, sondern vorwiegend auf bestimmten Gruppen eingeräumten Konzessionen. Die den Juden in den oettingischen Judenschutzbriefen und den Judenordnungen zahlreicher anderer Territorien auferlegten ökonomischen Schranken galten daher in ähnlicher Weise auch gegenüber christlichen Gewerbe- und Handelstreibenden. Schuhmacher durften nur Schuhe verkaufen, der Vertrieb des hierfür benötigten Rohpro77

78 79 80 81

FÖWAH. III. 18.5a-l. JSB 1770 ÖW, JSB 1779 ÖÖ, Konzept-JSB 1794 ÖW, JSB 1806 ÖW; FÖWAH. III.18.9a-2. JSB 1780 ÖW. Vgl. hierzu ausführlich J. Mordstein (Anm. 1) S. 257-278. J. Mordstein (Anm. 1) S. 110-119, insbes. Diagramm S. 358. J. Mordstein (Anm. 1) S. 275-278. Vgl. J. Mordstein (Anm. 33); ders. (Anm. 1) S. 278-297. J. Mordstein (Anm. 1) S. 239-256.

Partizipation

von Juden an der

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dukts Leder war den Gerbern zugeteilt, ein Durchbrechen dieser engen Grenzen wurde in den Zunftordnungen unter Strafe gestellt. 82 Die binnenjüdische Gerichtsbarkeit unterlag während des Untersuchungszeitraums in der Grafschaft Oettingen einer deutlichen Tendenz der Bagatellisierung und der Territorialisierung. Der Rechtsprechung von Rabbinern und Parnassim wurde auf klar definierte ,Zeremonialfälle' beschränkt, d.h. im wesentlichen auf innerjüdische Angelegenheiten. Appellationen an anerkannte rabbinische Autoritäten außerhalb des Territoriums wurden zugunsten des landesherrlichen Instanzenzuges verboten. 83 Auch dieser Prozeß findet in Rechtsetzungsfeldern primär für christliche Untertanen seine Entsprechung. Beispielsweise begrenzten die Handwerksartikel die innerzünftische Jurisdiktion auf einige wenige, eindeutig gewerberechtlich und genossenschaftlich geprägte Vergehen. Berufungen an zünftische Gerichte außerhalb des Territoriums wurden untersagt. Die Parallelen gingen sogar so weit, daß sowohl jüdische als auch zünftische Gerichte jeweils die Hälfte der von ihnen verhängten Strafgelder an den Fiskus abzugeben hat.

84

ten. Diese Beobachtungen lassen sich mit den Ergebnissen der Forschungen J. Friedrich Battenbergs in Verbindung bringen. Nach Battenberg hatte das durch Judenordnungen und Judenschutzbriefe statuierte ,Judenrecht' lediglich supplementären Charakter. Weite Bereiche des Rechtslebens wie Vertrags-, Handels-, Familien-, Straf-, Vormundschafts- und Nachlaßrecht wurden darin nicht thematisiert. Für diese wesentlichen Materien galt das in den Landesordnungen und Einzeldekreten für alle Untertanen - auch den jüdischen - festgeschriebene allgemei-

82

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84

Ein willkürlich ausgewähltes Beispiel: Die Zunftordnung der Schuhmacher im Markt Dinkelscherben (Domkapitel Augsburg) von 1657 (StA Augsburg. Hochstift Augsburg. NA Akt 4143) brachte die normativ angeordnete (in der Lebenspraxis freilich oftmals verwischte) klare Abgrenzung der Handwerksberufe folgendermaßen auf den Punkt: Zum andern So sollen die Schuechmacher allein ihr vnd khein and [er] Handtwerckh treiben od[er] Jemandts and[er]n verhünd[er]lich eingreiffen. Vgl. Andreas Gotzmann: Strukturen jüdischer Gerichtsautonomie in den deutschen Staaten des 18. Jahrhunderts. In: HZ 267. 1998. S. 313-356; Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann, Stephan Wendehorst: Von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis: Ein neuer Zugang zur Rechtsgeschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich? Eine Projektbeschreibung. In: Aschkenas 11. 2001. S. 39-58. Zur Grafschaft Oettingen vgl. J. Mordstein (Anm. 1) S. 297316. Vgl. hierzu als willkürlich ausgewähltes Beispiel die Zunftordnung der Schuhmacher im Markt Obergünzburg (Fürststift Kempten) von 1754 (StA Augsburg. Fürststift Kempten. Handwerksordnungen 51), in der ,Pfuschern' und ,Störern' verboten wurde, im Markt Obergünzburg das Schuhmacherhandwerk zu treiben. In diesem Kontext verhängte Strafgelder sollten halb der Herrschaft und der andere halbe theil Gemeinem Handtwerckh in die Laad gehörig sein. Auf ähnliche Weise ordnete der oettingen-wallersteinische Judenschutzbrief von 1752 (FÖWAH. III. 18.5a-l) an, daß im Rahmen der innerjüdischen Jurisdiktion Verurteilte die Helffte sothaner Geld Straf zu gn\&]d\cm\ Amt zu zahlen hatten.

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ne Recht. 85 Auch der oftmals beschriebene Status der Juden als ,römische Bürger', der etwa bewirkte, daß jüdischen Prozeßbeteiligten vor Gericht die gleichen Rechte eingeräumt wurden wie christlichen Streitparteien, gehört in diesen Kontext einer Gleich- oder zumindest Ähnlichbehandlung von Christen und Juden. Versucht man die verschiedenen Indizien zusammenzufuhren, ergeben sich eindeutige Tendenzen. Ohne durchaus vorhandene und im Einzelfall konstitutive segregative Momente übersehen zu wollen, 86 betrachtete der frühmoderne Staat die von ihm tolerierten Juden nicht als von der übrigen Bevölkerung abgespaltene Sondergruppe, sondern war bestrebt, die jüdische Minderheit in den Herrschaftsverband zu integrieren. Vor diesem Hintergrund kann man mit einiger Berechtigung von jüdischen Untertanen' sprechen, so wie es 1677 die Wallersteiner Judengemeinde in einer Supplik auf den Punkt brachte: [...] daß wür ebenfahlß Eur 87

Hochgräffl[ic\\o] £xc[e]//[enz] gehorsame unterthanen seint. Die Juden unterlagen im wesentlichen den gleichen Fundamentalvorgängen der Epoche wie die christlichen Untertanen. Für beide Gruppen galt über weite Strecken das gleiche Recht. In der Phase zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Mitte des 18. Jahrhunderts verhinderten die auch von der Obrigkeit weitgehend geteilten antijüdischen Stereotype, daß diese Entwicklung zum endgültigen Durchbruch kam. In dieser Periode gab es daher immer wieder die entgegengesetzten Bemühungen, die Juden als Sondergruppe zu behandeln und sie in Rechtssetzung und -Wirklichkeit von der sonstigen Untertanenschaft abzutrennen. Nach 1750 nahm die Virulenz der judenfeindlichen Einstellungen bei Landesherren und Regierungen ab, gleichzeitig näherte sich der Aufbau der modernen Staatlichkeit mit allumfassendem Wirkungsanspruch gegenüber allen Landesbewohnern der Vollendung, so daß keine ideologischen Barrieren mehr bestanden, die Juden nicht in den gewöhnlichen' Untertanenverband einzugliedern. Auf diese Weise wurde ein pragmatischer Weg beschritten, der für Juden in der Grafschaft Oettingen im 17. und 18. Jahrhundert in weiten Teilen eine 85

86

87

J. Friedrich Battenberg: Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium. In: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Hg. von Rolf Kießling. Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2). S. 53-79, hier S. 54-55; ders.: Die Privilegierung von Juden und der Judenschaft im Bereich des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. In: Das Privileg im europäischen Vergleich. Hg. von Barbara Dölemeyer, Heinz Mohnhaupt. Frankfurt a.M. 1997 (Ius Commune 93). S. 139190, hierS. 146-150. Vgl. hierzu J. Friedrich Battenberg: Zwischen Integration und Segregation. Zu den Bedingungen jüdischen Lebens in der vormodernen christlichen Gesellschaft. In: Aschkenas 6. 1996. S. 421-454; ders.: Grenzen und Möglichkeiten der Integration von Juden in der Gesellschaft des Ancien Regime. In: Migration und Integration. Aufnahme und Eingliederung im historischen Wandel. Hg. von Mathias Beer, Martin Kintzinger, Marita Krauss. Stuttgart 1997 (Stuttgarter Beiträge zur Migrationsforschung 3). S. 87-111. FÖWAH. III. 18.9b-1. Schreiben der Judengemeinde Wallerstein an den Grafen (undatiert, präsentiert 28. 12. 1677).

Partizipation von Juden an der Legislationspraxis

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Gleichbehandlung mit ihren christlichen Nachbarn mit sich brachte. Eine Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit wurde dadurch jedoch nicht angedacht. An den Grundprinzipien der Ständegesellschaft wurde nicht gerüttelt. Als Prämisse des staatlichen Handelns blieb der rechtliche Minderstatus der Juden unberührt. Innerhalb dieser niemals hinterfragten Axiome wurde der Boden für die im 19. Jahrhundert einsetzende rechtliche Emanzipation der Juden bereitet.

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Judengemeinde Aufhausen Hainsfarth Harburg

Kleinerdlingen Oberdorf

Oettingen (ÖÖ)

Johannes

Schutzherrschafit

Anzahl jüdischer Familien (Jahr) ÖB 7(1661) 1798 ÖW 36(1806) ÖÖ und ÖS (geteilt) 52 (1729/39) 1740/41 ÖS 81 (1785) ÖÖ 5(1671) 1731 ÖW 80(1800) ÖÖ (bis 1717), ÖS und JO (geteilt) ÖW 1657 ÖB 1671 ÖW 1764 ÖB 1798 ÖW ÖÖ 1740/41 ÖS

49(1728) 40(1785) 4(1684) 77(1793)

Mordstein

innerjüdische Gemeindestrukturen Friedhof Synagoge Synagoge Unterrabbiner Friedhof Synagoge Unterrabbiner Synagoge Synagoge

22-28 (1670/79) Landesrabbinat 84 (1785; incl. ÖS) (bis 1743) Synagoge (bis 1743) Oettingen (ÖS) ÖS Landesrabbinat 22-28 (1670/79) 84 (1785; incl. ÖÖ) Synagoge Mönchsdeggingen ÖÖ 4(1694) Synagoge 1731 ÖW 40(1792) Mönchsroth ÖÖ 17-23 (1755/57) Synagoge (incl. Regelsweiler) 1713/15 Ritterschaft 31 (1785) 1749 ÖS 15 (1684) Synagoge Pflaumloch ÖW 29 (1792) Schopfloch ÖS und AN (geteilt) 29 (1708; nur ÖS) Rabbiner (nur AN) 1796 AN (Preußen) 61 (1785; nur ÖS) Friedhof Synagoge Wallerstein 43 (1684) Landesrabbinat ÖW 56 (1792) Friedhof Synagoge Tabelle: Judengemeinden in der Grafschaft (Dettingen 1637-1806 88

88

J. Mordstein (Anm. 1) S. 23-42. In der Tabelle blieben die Judengemeinden unberücksichtigt, die der oettingischen Schutzherrschaft nicht während des gesamten Untersuchungszeitraums unterstanden: Baldern (Oettingen-Baldern; Vertreibung 1658/59), Neresheim (Oettingen-Wallerstein; Vertreibung 1658/59), Ederheim (Oettingen-Oettingen; 1706/09 Veräußerung), Steinhart (1796 von Brandenburg-Ansbach an Oettingen-Spielberg abgetreten).

Alltägliches Miteinander oder getrennte Gemeinden: Das Leben im Dorf am Beispiel der pappenheimischen Herrschaften Nathanja Hüttenmeister

Die rechtlichen Rahmenbedingungen ebenso wie die alltäglichen jüdischchristlichen Beziehungen im Territorium non clausum', unter den spezifischen Bedingungen des von überlappenden und zersplitterten Herrschaftsrechten geprägten schwäbischen Raums bilden vor allem seit den 1990er Jahren einen Schwerpunkt der Forschungen zum frühneuzeitlichen Judentum im Heiligen Römischen Reich. 1 Als Besonderheit dieser Region beschrieb Sabine Ulimann in ihrer Untersuchung über Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau mit der sogenannten christlich-jüdischen ,Doppelgemeinde' „eine Sonderform der Gemeindebildung [...], die den spezifischen Bedingungen der christlichjüdischen Koexistenz auf dem Lande entsprach." 2 Damit ist eine kommunale

2

Zu Schwaben: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Hg. von Rolf Kießling. Berlin 1995 (Colloquia Augustana. Bd. 2); Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Hg. von Rolf Kießling, Sabine Ulimann. Berlin 1999 (Colloquia Augustana. Bd. 10). Sabine Ullmann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151). Johannes Mordstein: Selbstbewußte Untertänigkeit. Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oeningen 1637-1806. Epfendorf 2005 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft. Reihe 11: Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens. Bd. 2). Vgl. auch den Beitrag von Johannes Mordstein in diesem Band. Rolf Kießling: Zwischen Schutzherrschaft und Reichsbürgerschaft: Die schwäbischen Juden und das Reich. In: Das Reich und die Region während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Rolf Kießling, Sabine Ullmann. Konstanz 2005 (Forum Suevicum. Bd. 6). S. 99-122. Zum Bodenseeraum: Karl Heinz Burmeister: Medinat bodase. Bd. 3: Zur Geschichte der Juden am Bodensee 1450-1618. Konstanz 2001. S. Ullmann (Anm. 1) S. 382f. und S. 392. Vgl. auch Rolf Kießling, Sabine Ullmann: Christlich-jüdische „Doppelgemeinden" in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau während des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von

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Konstruktion aus zwei religiösen bzw. politischen Gemeinden mit parallelen Verwaltungsstrukturen, aber einer Nutzungsgemeinde gemeint. Ein weiteres Beispiel für einen nicht geschlossenen Herrschaftsraum bieten die Besitzungen der schwäbisch-fränkischen Herren von Pappenheim. Anhand der Pappenheimer Juden soll untersucht werden, in wie weit es dort - trotz unterschiedlicher konfessioneller und rechtlicher Situation - ein alltägliches Miteinander zwischen Juden und Christen in der Frühen Neuzeit gegeben hat und in wie weit sich die Verhältnisse mit den Ergebnissen der Forschungen zur jüdischen Geschichte in Schwaben vergleichen lassen.3 Zunächst sollen die Siedlungsbedingungen der Juden unter den Herren von Pappenheim in aller Kürze skizziert werden - beschränkt auf den Zeitraum zwischen der Mitte des 16. und der Mitte des 17. Jahrhunderts. Die Familie der Herren von Pappenheim war seit spätestens Mitte des 14. Jahrhunderts im Besitz des kaiserlichen Privilegs, Juden in ihren Gebieten ansiedeln zu dürfen. Dieses Privileg war ihnen verliehen worden im Zusammenhang mit dem Amt des Reichserbmarschalls, das jeweils vom Ältesten der in mehrere Linien gespaltenen Familie ausgeübt wurde.4 Die Pappenheimer waren vor 1650 im Besitz einer Reihe kleiner Herrschaften und Güter, verstreut über den ganzen Süden Deutschlands, die im Laufe des 17. Jahrhunderts durch Aussterben einzelner Linien oder Verkauf größtenteils in andere Hände übergingen. In den meisten dieser Herrschaften ist die Ansiedlung von Juden belegt. Die wichtigsten in dieser Beziehung sind die zwischen Nürnberg und Augsburg gelegene Herrschaft Pappenheim, die angrenzende Herrschaft Treuchtlingen, die 1647 an die Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach fiel, die Drittelvogtei5 in Eibelstadt südlich von Würzburg, die 1619 an das Würzburger Domkapitel verkauft wurde, sowie die Landgrafschaft Stühlingen nahe der Schweizer Grenze, die 1639 an die von Fürstenberg vererbt wurde. Aufgrund der verschiedenen Herrschaftsverhältnisse waren die Lebensbedingungen für die Juden an den jeweiligen Orten recht unterschiedlich. Die Größe

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Christoph Cluse, Alfred Haverkamp, Israel J. Yuval. Hannover 2003 (Forschungen zur Geschichte der Juden. Abt. A: Abhandlungen. Bd. 13). S. 513-534. Die Erforschung der Geschichte der Juden unter den Herren von Pappenheim erfolgte im Rahmen des von der DFG finanzierten, deutsch-israelischen Gemeinschaftsprojektes „Germania Judaica IV" zur Geschichte der Juden im Alten Reich an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf unter Leitung von Prof. Dr. Stefan Rohrbacher für den Zeitraum von 1520 bis 1650. Diese Zeit ist quellenmäßig weitaus weniger dicht belegt, so daß sich vieles, was Ullmann für die Markgrafschaft Burgau klar herausarbeiten konnte, hier nur angedeutet findet oder gar nicht berücksichtigt werden konnte, wie z.B. die innerjüdischen Organisationsformen. Siehe dazu Wilhelm Kraft: Zur Geschichte der Juden in Pappenheim: Von den Reichsmarschällen zu Pappenheim in ihren Beziehungen zu den Juden im allgemeinen. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 70. 1926. S. 277-283. In Eibelstadt teilten sich die Pappenheimer die Herrschaft mit dem Würzburger Dompropst und dem Würzburger Domkapitel.

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der Ansiedlungen schwankte deutlich. In der Stadt Pappenheim war die Zahl der zugelassenen jüdischen Familien Mitte des 16. Jahrhunderts auf drei begrenzt worden, 6 in der umliegenden kleinen Herrschaft und auf nahegelegenen Gütern gab es jedoch weitere Juden. Im nahen Markt Treuchtlingen waren 1596 neun Häuser und Güter von Juden bewohnt. 7 Die recht ansehnliche jüdische Gemeinde in Eibelstadt umfaßte 1619, beim Verkauf der Drittelvogtei an das Würzburger Domkapitel, sechs Familien, 8 1630 bereits 101 Personen in neun Häusern, 9 und 1641 14 Familien. 10 Seit 1625 war Eibelstadt auch Sitz des Landesrabbiners des Hochstifts Würzburg. 11 Anfang der 1650er Jahre erfolgte jedoch schließlich die sich schon lange abzeichnende endgültige Vertreibung der Juden aus Eibelstadt. 12 In der Landgrafschaft Stühlingen gab es 1622 neun jüdische Haushalte mit insgesamt 13 Familien, die größtenteils in Stadt und Dorf Stühlingen selbst lebten. 13 Im zum Rittergut Schnodsenbach gehörenden Ort Burgambach lebten dagegen 1599 nur zwei Juden, 14 und 1607 gab im Verhör wegen der Frankfurter Rabbinerversammlung 15 der Jude Isaak in Zell im Allgäu in der Herrschaft Grönenbach unter Alexander von Pappenheim zu Protokoll, er wohne weit von Jüden und er komme nit an einem gantzen jar bey Juden}6 Allerdings sind in den Jahren davor und danach weitere einzelne Juden in Zell belegt. 17 Auch wenn hinter einem einzelnen genannten Juden oft eine mehr oder weniger große Familie stand, handelte es sich doch insgesamt um ziemlich kleine jüdische Gemeinschaften. Das tägliche Leben inmitten der christlichen Gesellschaft

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Verbesserter Artikel 16 des pappenheimischen Burgfriedens. Otto Rieder: Geschichte der ehemaligen Reichsstadt und Reichspflege Weißenburg am Nordgau (bearb. von Reiner Kammerl). Weißenburg 2002 (Weißenburger Heimatbücher. Quellen und Forschungen zur Geschichte von Stadt Weißenburg und Weißenburger Land. Bd. 10). S. 1062. Siehe Friedrich Eigler: Treuchtlingens Entwicklung seit der Römerzeit. In: Heimatbuch Treuchtlingen. Treuchtlingen 1984. S. 31-147, hier S. 67 und 106. StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Akten Nr. 905 (Rechnung des Papp. Vogts, 1619/20, ohne Seitenangaben). Sta Eibelstadt. Ratsprotokollbuch. Bd. 158. S. 30. Franz Schickelberger: Aus der Geschichte der Juden in Eibelstadt (Heimatbogen. Bd. 13). Eibelstadt 2003. S. 148. StA Würzburg. WDKP 1625. Fol. 126v-127r, 133v. F. Schickelberger (Anm. 10) S. 152-156. Aufgrund der kurzen Zeitspanne zwischen Verkauf der Drittelvogtei an das Würzburger Domkapitel bis zur endgültigen Vertreibung der Juden wird diese Zeit hier mitbehandelt, auch wenn die Eibelstädter Juden nach 1619 nicht mehr den Herren von Pappenheim unterstanden. GLA Karlsruhe. Sig. 109/180 (Handel der Juden in der Grafschaft Bonndorf). BayHStA München. RKG. Nr. 10027/I-II. Siehe z.B. Birgit Klein: Die „Frankfurter Rabbinerversammlung" von 1603: Vorgeschichte, Verordnungen, Folgen. In: Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Fritz Backhaus, Gisela Engel, Robert Liberies, Margarete Schlüter. Frankfurt 2006. S. 161-170. Sta Frankfurt/Main. Juden. Akten Nr. 405 (alt: Ugb Ε 46 Κ. Bd. I). Fol. 154v-155v. Siehe z.B. StA Augsburg. Fürststift Kempten. Archiv. Akten 3510 (1591: drei Juden, darunter Seligmann) sowie Akten 3512 (1609: Mosse/Moiß, Caiman und Eyselin zu Zell).

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war stark geprägt von einem engen Mit- und Nebeneinander in den meist kleinen Orten, in denen - wie zum Beispiel in Pappenheim - teils schon seit Jahrhunderten Juden lebten und in denen jeder jeden kannte. Vielerorts wurde den Juden im 16. Jahrhundert auferlegt, sich (durch einen gelben Ring o.ä. an der Kleidung) zu kennzeichnen, um eine Verwechslung mit Christen zu vermeiden. Im 17. Jahrhundert war diese Kennzeichnungspflicht für Juden, wo sie bestanden hatte, meist nach und nach aufgehoben worden,18 so zum Beispiel in Eibelstadt im Jahr 162319 - in den kleinen Orten wußte man auch ohne Kennzeichnung genau, wer ein Jude war und wer nicht, wie die Eibelstädter Juden selber betonten. Eigene abgegrenzte Wohngebiete für Juden blieben in den überschaubaren Ortschaften die Ausnahme. In ihrer Untersuchung über die Markgrafschaft Burgau hat Sabine Ulimann in den dortigen Dörfern die „Durchkreuzung von jüdischen und christlichen Siedlungen" als charakteristisch festgestellt,20 und dieser Befund läßt sich auch auf die pappenheimischen Gebiete übertragen. Meist lagen die von Juden bewohnten Häuser - soweit dies heute noch nachvollziehbar ist verstreut zwischen denen der Christen. Dies läßt sich zum Beispiel in Treuchtlingen anhand des Salbuches von 1596 nachvollziehen. In jenem Jahr waren dort acht Häuser von Juden bewohnt: Löwlein lebte im Wohnhaus des Mayerhofes (Haus Nr. 74), während die Herrschaft die dazugehörigen Felder bewirtschaftete. Den Juden Eissing und Itzing gehörte jeweils ein Köblergut21 mit den dazugehörigen Äckern (Nrn. 67, 90), der Jüdin Büberlein ein Köblergut ohne Äcker (Nr. 22). Latzarus, Abraham, Mayerlein und Lew bewohnten Hofstätten, zu denen keine Äcker, sondern nur 'Krautbeete', d.h. wohl Gemüsegärten gehörten (Nrn. 21, 65, 66, 71).22 Einer anhand dieses Salbuchs erstellten Karte kann man entnehmen, daß die von Juden bewohnten Häuser nicht alle nebeneinander lagen, sich aber in der Ortsmitte konzentrierten und an herrschaftliche wie kirchliche Gebäude grenzten, obwohl vielerorts die Bestimmungen der Judenordnungen den

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Siehe ζ. B. die kurkölnische Judenordnung von 1592. H. Dinstühler: Die erste kurkölnische Judenordnung von 1592. Zur Situation der Juden in Kurköln am Ende des 16. Jahrhunderts. In: Geschichte der Juden im Kreis Viersen (Schriftenreihe des Kreises Viersen. Bd. 38). Viersen 1991. S. 25-38, hier S. 34-38, § 3 (in der Judenordnung von 1599 bereits gestrichen). Zur Situation in Niederösterreich vergleiche auch Barbara Staudinger: „Gantze Dörffer voll Juden". Juden in Niederösterreich 1496-1670. Wien 2005. S. 32-34. StA Würzburg. WDKP 1623. Fol. 198r-198v und 20lr. Siehe S. Ulimann (Anm. 1) S. 357. Ein Köbler war ein Dorfbewohner, der ein kleines Haus (Kobel) ohne oder nur mit wenig Land besaß und Feldwirtschaft betrieb, aber in der Regel kein eigenes Gespann hatte und häufig um Taglohn arbeitete; der Begriff war vorwiegend in der Oberpfalz und Franken gebräuchlich. Siehe Artikel „Köbler" im Deutschen Rechtswörterbuch (DRW) (http://www.deutsches-rechtswoerterbuch.de/). Siehe F. Eigler (Anm. 7) S. 31-147, darin u.a. S. 64: Abbildung einer Karte über Treuchtlingens Bausubstanz nach dem Salbuch von 1596.

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Juden das Wohnen in der Nähe von Kirchen untersagten. 23 Einigen Juden waren wohl von der Herrschaft grundherrliche Güter zugewiesen worden, sie hatten (alte) Hausstätten mit den dazugehörigen Nutzungsrechten erwerben können, andere saßen auf (wohl jüngeren) Hofstätten ohne dazugehöriges Land oder hatten ein Haus auf Gemeindebesitz gebaut. Wo eigene, abgegrenzte jüdische Wohngebiete bestanden, wie zum Beispiel der sogenannte Turmhof in Eibelstadt, hatte dies eher übergeordnete politische Ursachen, und sie waren nicht mit der Absicht eingerichtet worden, Juden von Christen zu trennen. Der erwähnte Turmhof war als ehemaliger kaiserlicher Freihof der einzige Ort in der ganzen Stadt, an dem die Pappenheimer das alleinige Sagen hatten und sich nicht die Herrschaft mit dem Würzburger Dompropst und Domkapitel teilen mußten. 24 Somit bot nur er die Voraussetzung für die zwischen den verschiedenen Herrschaften heftig umstrittene Ansiedlung der Juden, deren Rechtmäßigkeit letztendlich erst vor dem Reichskammergericht entschieden wurde. 25 Zwar drohten in den ersten Jahren die Würzburger damit, jeden Juden, der es wagen sollte, den mitten in der Stadt gelegenen Hof zu verlassen, sofort wegen Betreten fremden Bodens festzusetzen, 26 doch wurde dies kaum konsequent umgesetzt, denn dies hätte den weiterhin in Eibelstadt belegten Juden eine Existenz dort unmöglich gemacht. In den späteren Jahren läßt sich sogar eine Ausdehnung der jüdischen Ansiedlung auch über die Mauern des Turmhofs hinaus beobach27

ten. Von den jeweiligen Herrschern erlassene Judenordnungen verboten in der Regel - soweit sie bestanden - das Wohnen von Christen und Juden unter einem Dach. 28 Im Dezember 1610 vermietete jedoch Götz von Eibelstadt einen Teil seines Hauses in der Stadt Pappenheim an den dortigen Bürger Urban Conradt, wobei er sich die obere Stube und Kammer sowie die beiden Kammern auf dem oberen 23

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Vergleiche ζ. B. die kurkölnische Judenordnung von 1592, § 5 (H. Dinstühler (Anm. 18) S. 34-38). Die entsprechenden Bestimmungen wurden in den kurkölnischen Judenordnungen von 1599 und 1614 wiederholt; siehe A. Bruns (Bearb.): Die Juden im Herzogtum Westfalen. Dokumentation der zentralen Quellen. Fredeburg 1994 (Schriftenreihe des Hochsauerlandkreises. Bd. II). S. 38-47. Für die Pappenheimischen Gebiete ist eine solche Judenordnung allerdings nicht bekannt. F. Schickelberger (Anm. 10) S. 8f.; Matthias Wieser: Der Turmhof zu Eibelstadt. Eine staufferzeitliche Anlage. Eibelstadt 1992. BayHStA München. RKG. Nr. 646 (1587-1593). Siehe ζ. B. StA Würzburg. WDKP 1583. Fol. 268r: Das Domkapitel befiehlt den in Eibelstadt unter Schutz der Pappenheimer stehenden Juden, in ihren Häusern zu bleiben unter Androhung von Arrest und Strafe, falls sie die unter der Herrschaft von Domkapitel und Dompropst stehende Vogtei betreten sollten. Dem Landesfursten soll geschrieben werden, er werde wohl Wege zu finden wissen, die Juden wieder abzuschaffen. F. Schickelberger (Anm. 10) S. 79f. So zum Beispiel in den kurkölnischen Gebieten (Judenordnungen von 1599 und 1614, siehe A. Bruns (Anm. 23) S. 38-47, § 6). Für die pappenheimischen Herrschaften sind solche Bestimmungen nicht überliefert.

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Boden als Wohnung für sich oder seine Mutter und seine kleine Tochter vorbehielt. Götz übernahm die Steuern, ansonsten sollte Conradt gegen eine jährliche Miete von 6 fl. das Haus samt Garten und Gemein Nutzung gebrauchen, jedoch für jeglichen Schaden mit Feür, dreckh und Andern selbst verantwortlich sein und Wachgeld, Dienst und eventuelle andere (städtische) Abgaben übernehmen.29 Allerdings übte Götz dieses sich vorbehaltene Wohnrecht wenn überhaupt dann nur vorübergehend aus, denn er war nicht in Pappenheim, sondern in Eibelstadt ansässig, wo er 1614 als erster Jude ein bürgerliches Haus in der Stadt erwarb und aus dem Turmhof auszog. Das Haus in Pappenheim hatte er vermutlich von seinem Vater Isaak geerbt, welcher zwar 1583 der Begründer der Eibelstädter Gemeinde gewesen war, sich jedoch 1590 vor einem Prozess vor dem Würzburger Domkapitel wegen Vergewaltigung seiner Magd unter den Schutz seiner Herren nach Pappenheim geflüchtet hatte und dort im Frühjahr des Jahres 1610 verstorben war.30 Jedenfalls scheint sich hier keine (weltliche oder geistliche) Obrigkeit daran gestört zu haben, daß - zumindest theoretisch - Juden und Christen unter einem Dach wohnten. Die Juden hatten Teil an den meisten Rechten und sowie an den Pflichten, die das Zusammenleben in der dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaft mit sich brachte. So war zum Beispiel im Schutzbrief für die Eibelstädter Juden von 1602 festgehalten, daß sie Frohn, Dienst, Steuer, Wach und Andern gemeinen beschwerden ebenso leisten sollten wie die Vorbewohner des Turmhofes.31 In Pappenheim gehörte zu diesen gleichermaßen auf Christen wie Juden verteilten Pflichten gegenüber der Herrschaft auch das Halten eines Jagdhundes für den Herrn. Als 1616 die Herrschaft dem Juden Mayer sehr zu seinem Unbehagen das Halten eines zweiten Hundes auferlegen wollte, obwohl doch in der ganzen statt Papenheim sonsten weder Christ oder Jude 2 Hundt unterhalten mußte, setzte sich der Verweser für Mayer ein, vor allem um einer Consequiration vorzubeugen, d.h. mit Mayer keinen Präzedenzfall zu schaffen.32 Wo die Juden aufgrund ihrer religiösen oder rechtlichen Stellung von der Ausübung bestimmter Pflichten befreit waren, wie zum Beispiel die Stühlinger Juden, die laut ihres Schutzbriefes von 1615 von Fron, Wachen, Steuern, Reisen, Abzug,

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StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Akten Nr. 899 (Amtsprotokoll von Eibelstadt, 1610/22). 1610 Dezember 19. Siehe dazu Evi Butzer, Nathanja Hüttenmeister, Wolfgang Treue: „Ich will euch sagen von einem bösen Stück ...". Ein jiddisches Lied über sexuelle Vergehen und deren Bestrafung aus dem frühen 17. Jahrhundert. In: Aschkenas 15. 2005. S. 25-53, hier S. 41-43. StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Urkunden. 1602 II 12, Nr. 16. Ähnlich war bereits im Schutzbrief von 1583 formuliert worden; StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Akten Nr. 4692 (I+II), Teil I. StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Akten Nr. 8121. Fol. lr-2v.

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auch allen anderen bürgerlichen Diensten und Abgaben enthoben waren, 33 galten sie diese durch zusätzliche Zahlungen ab. Auch im Wirtschaftsleben bestand eine enge Verflechtung. Da den Juden der Grunderwerb und damit die Landwirtschaft meist versagt blieb und sie auch keinen Zugang zum zunftgebundenen Gewerbe hatten, waren neben innergemeindlichen Tätigkeiten vor allem das Geld- bzw. Pfandgeschäft und der Handel, hier vor allem Viehhandel, die vornehmlichen Betätigungsfelder der Juden. Beides erforderte einen täglichen Umgang der beiden Bevölkerungsgruppen, und insbesondere der Geld- und Pfandhandel führte oft zu langjährigen, regelmäßigen Kontakten. 34 Man handelte auf der Straße und auf Märkten, kam aber auch in Privaträumen zusammen, auch in denen der Juden. Auch im Wirtshaus traf man aufeinander,35 und nicht selten endete eine Verhandlung oder ein Geschäftsabschluß mit einer gemeinsamen Zecherei. So waren zum Beispiel der Jude Mayr von Treuchtlingen und Hans Lange von Dietfurth im Jahr 1595 wegen eines Roßtausches im Wirtshaus in Streit geraten, der, als der Wirt die beiden hinauswerfen wollte, offensichtlich zu einer Massenschlägerei ausartete. Bei der späteren Zeugenvernehmung gaben beide Seiten zu Protokoll, so betrunken gewesen zu sein, daß sie sich an nicht mehr viel erinnern könnten, und wurden jeweils mit einer geringen Geldstrafe bedacht. 36 Das Beispiel einer anderen Rauferei zeigt, daß die Grenze zwischen Spiel und Ernst oft fließend war: 1637 klagte der Jude Jecoff aus Stühlingen gegen Jacob Aichkorn, dieser habe zwei Jahre zuvor dem Sohn seines Bruders beim Ringen einen Arm gebrochen. Nun verlangte er eine Entschädigung. Aichkorn rechtfertigt sich damit, daß der Jude zuerst daß ringen Ihme angemuthet, auch Ihne Aichkorn erstens niedergeworfen. Offensichtlich hatten beide Seiten schon öfter miteinander gerungen, und es war auch schon zuvor zu Verletzungen gekommen, doch hatte es sich bisher wohl eher um ein übermütiges Kräftemessen gehandelt als um eine gewalttätige Auseinandersetzung. Und so ist die Ursache dafür, daß

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Fürstlich Fürstenbergisches Archiv Donaueschingen. Politica. Amte Stühlingen. Divisio 1. Subdiv. 1 (Schutzbrief für die Stühlinger Juden, 1615). Abdruck siehe auch bei Berthold Rosenthal: Heimatgeschichte der badischen Juden seit ihrem geschichtlichen Auftreten bis zur Gegenwart. Bühl/Baden 1927 (Reprint Stuttgart 1981). S. 75-77; sowie bei Franz Ludwig Baumann, Georg Tumbült: Mitteilungen aus dem F. Fürstenbergischen Archive. 1. Band: Quellen zur Geschichte des F. Hauses Fürstenberg und seines ehedem Reichsunmittelbaren Gebietes 1510-59. Tübingen 1894; 2. Band: Quellen [...] 1560-1617. Tübingen 1902. Nr. 1276 (S. 937-939). Dies betont auch schon S. Ullmann in ihrer Untersuchung über die Markgrafschaft Burgau (Anm. 1) S. 445. Das gesellige wie geschäftliche Zusammentreffen von Juden und Christen im örtlichen Wirtshaus war auch in der Markgrafschaft Burgau durchaus üblich; siehe dazu S. Ullmann (Anm. 1) S. 446f. StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Akten Nr. 4638 (Verhörbuch 1593-1599). 1596 September 16.

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die Beschuldigung Jecoffs erst zwei Jahre später erhoben wurde, wohl eher in anderen Streitigkeiten zu suchen. 37 Vielfaltige Begegnungen im öffentlichen Raum waren aufgrund der beschriebenen Wohnverhältnisse und wirtschaftlichen Verflechtungen unumgänglich, alltäglich und selbstverständlich. Kam es jedoch zu Konflikten, wurde oft schnell deutlich, welch große Rolle im gesellschaftlichen Umgang miteinander die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Gruppe spielte. 1631 berichtet der Stühlinger Jude Meierle von folgendem Fall: Er war in Begleitung eines anderen Juden auf dem Weg nach Stühlingen gewesen, als sie Caspar Zimmermann trafen, der mit seinem Pferdekarren in dem kleinen Flüsschen Wutach stecken geblieben war. Zimmermami bat die beiden Juden, ihm mit den vorderen Pferden zu helfen, um den Karren aus dem Wasser zu ziehen. Als jedoch der Karren umkippte, gab Zimmermann den Juden die Schuld - laut Meieries Aussage ungerechtfertigter Weise - und schlug auf sie ein, bis Meierle schließlich vom Pferd fiel und fünf Maß Brandtwein verschüttete. Inzwischen hatten sich wohl weitere vier Juden eingefunden, von denen einer angeblich einen Stein in der Hand hielt. Und so rechtfertigte Zimmermann seine Prügel auch mit Selbstverteidigung gegen eine vage jüdische Bedrohung, bekam jedoch eine 38

Geldstrafe auferlegt. Seltener gibt es auch Hinweise auf gemeinsame Feiern. So hatte zum Beispiel im Jahr 1601 in Pappenheim auf einer jüdischen Hochzeit ein Christ einem jüdischen Gast aus Prag ohn ursach ein Mauldaschen geben und zu boden geworffen, wofür er mit einer Geldstrafe belegt wurde. 39 Ob der Täter Georg Kefferlein aus Pappenheim der Hochzeit als geladener Gast beigewohnt hatte, läßt sich der Quelle nicht eindeutig entnehmen, doch befand er sich noch nachts um drei während der Hochzeitsfeierlichkeiten im Hause des Brautvaters Mayr, denn auch dem Totengräber Abraham wird eine Geldstrafe auferlegt, nachdem er sich mitten in der Nacht mit Kefferlein angelegt hatte. 40 Daß Christen jüdischen Festen beiwohnten, kam sicherlich häufiger vor und war auch in der Markgrafschaft Burgau üblich, sonst wäre in Binswangen nicht 1659 ein Befehl ergangen, der den Christen den Besuch von jüdischen Festen ausdrücklich untersagte.41

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GLA Karlsruhe. 61/12659. S. 33 (1637 Juni 18). GLA Karlsruhe. 61/12658. Fol. 359 (1631 Juni 26). StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Akten Nr. 4638 (Verhörbuch 1599-1604). 1601 Oktober 1. Diese Quelle deutet auch das weitgespannte Netz familiärer Beziehungen der Juden jener Zeit an, wenn Gäste aus Prag anreisten, um einer Hochzeit in Pappenheim beizuwohnen. StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Akten Nr. 4638 (Verhörbuch 1599-1604). 1601 September 10. S. Ulimann (Anm. 1) S. 413 und S. 443f.

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Aber nicht nur die Teilnahme von Christen an jüdischen Festen, auch die Störung christlicher Feste, insbesondere der hohen kirchlichen Feiertage, durch Juden war immer wieder ein Thema. 42 1620 wurden die Eibelstädter Juden beschuldigt, das Weihnachtsfest durch Spielen, Juchzen, schreyen undt unzimblichen Uedem singen biß an hellen tag gestört zu haben. Dies sei ihm, wie der Keller sagte, nur deswegen aufgefallen, weil er gerade in dem Werk eines Neuen Aufhöre gelesen habe, daß diese der Juden mißhandtlung gantz gemeß, d.h. üblich sei. Dazu erklärte der Jude Nathan, der anläßlich von Chanukka gemeinsam mit zwei Gästen bis nachts um elf Uhr gespielt und sich lustig erzaigt hatte, daß der Herr Pfarrer und andere ehrliche Nachbarn bezeugen könnten, daß kein üppig liedtlein, od(er) andere laichtfertigkeiten [...], so der Christenheit zu unrecht geschehen sein solt, gehört od(er) im wenigsten vernommen wurden; es sei schon seit den alten Zeiten Brauch bei der Judenschaft, daß man dieses Fest fröhlich begehe, und selbst der Herr Pfarrer und die vorherigen Beamten seien früher zu ihnen, den Juden, gekommen und mit ihnen lustig gewesen. 43 Die unterschiedliche Religion war natürlich in einer Gesellschaft, die sich maßgeblich über das Christentum definierte, der wichtigste Trennungsfaktor. Allerdings waren auch auf religiöser Ebene die Grenzen, insbesondere bei der einfachen Bevölkerung, nicht so scharf, wie es manchmal den Anschein hat. Nicht nur die Nachbarn, sondern sogar der Eibelstädter Pfarrer pflegte offensichtlich als Gast an den Chanukka-Feiern der dortigen Juden teilzunehmen. Ein paar Jahre später war es allerdings wiederum der Pfarrer, der sich darüber beklagte, daß die Juden zu Eibelstadt aberglaubige Amulette in hebräischen Buchstaben an die Christen verkauften und dieser Handel in letzter Zeit überhand nehme. 44 Mit einem friedlichen Miteinander war es auch dann schnell vorbei, wenn die Juden als Konkurrenz im täglichen Kampf um althergebrachte Rechte oder wirtschaftliches Überleben empfunden wurden. 45 „Zu den zentralen, geradezu klassischen Kontroversen zwischen Christen und Juden zählten die Auseinandersetzungen um die Weideanteile", wie Sabine Ull-

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Schon die kurkölnische Judenordnung von 1592 beispielsweise verbot den Juden, an hohen christlichen Feiertagen das Haus zu verlassen aufgrund vielfältiger Klagen christlicher Nachbarn über ,übles und zänkisches Verhalten' von Juden, die sich auch gegenüber Christen auf dem Kirchgang und beim Gottesdienst , ärgerlich und hinderlich' gezeigt, sie verspottet hätten sowie Brunnen verunreinigt haben sollen; siehe H. Dinstühler (Anm. 18) S. 34-38. Siehe auch S. Ullmann (Anm. 1) S. 413-415. StA Würzburg. WDKP 1621. Fol. 9r-v und 20r-v (1621 Januar 14, 28, Würzburg). StA Würzburg. WDKP 1624. Fol. 162r-162v (1624 November 16). Ullmann spricht in diesem Zusammenhang vom Dorf als einer „Konfliktgemeinschaft", in der um die knappen, gemeindeeigenen Ressourcen an Wasser, Weide oder Holz heftig gerungen wurde, einem allgemeinen strukturellen Problem und keineswegs ein Spezifikum christlich-jüdischer Koexistenz, S. Ullmann (Anm. 1) S. 401.

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mann für die Juden und Christen in der Markgrafschaft Burgau feststellte.46 Durch Hauserwerb waren einzelne jüdische Familien auch in den Besitz der meist an älteren Hausstellen haftenden Allmenderechte gekommen, insbesondere an das Recht, Vieh auf die dörfliche Viehweide zu stellen. So beschwerte sich 1622 auch die Gemeinde Alesheim, daß die Juden, die sich dort unter anderem als Pferdehändler betätigten, zu viele Pferde auf die Weide stellten und somit die Rechte der anderen Dorfbewohner schädigten. Die Juden dagegen wandten ein, sie hätten genau wie die anderen Dorfbewohner Teil an der Weide, und was sie nicht an (gemeinnütziger) Arbeit leisteten, glichen sie mit Geld aus. In einem Kompromiss wurde dem klagenden Juden Mamle erlaubt, jeweils nicht mehr als zwei Pferde auf die Weide zu stellen.47 In engem Zusammenhang mit dem Viehhandel steht auch der Handel mit geschächtetem Fleisch. Meist war den Juden der Verkauf der für sie aufgrund der jüdischen Speisevorschriften (Kaschrut) zum Genuß verbotenen Hinterviertel geschlachteter Rinder gestattet, was jedoch immer wieder zu Konflikten mit den örtlichen Metzgern führte, wie zum Beispiel 1624 im naheliegenden Treuchtlingen 48 Auch in Stühlingen, wo die Juden ebenfalls vornehmlich im Viehhandel beschäftigt waren, sorgte diese Praxis für ständige Auseinandersetzungen.49 Demnach handelte es sich, wie die wenigen Beispiele bereits gezeigt haben, um einen brüchigen Frieden, der häufig gestört wurde durch kleinere und größere Konflikte. Gerade der Geld- und Viehhandel der Juden war mit einem hohen Konfliktpotential behaftet, wovon die Fülle von kleinen Prozessen, vor allem von Juden gegen Christen, in den überlieferten Akten zeugt. Andererseits muß an dieser Stelle noch einmal betont werden, daß unser Bild heute auch stark geprägt ist von der Art der überlieferten Quellen, die eben in erster Linie nicht das friedliche Miteinander, sondern gerade die Störung dieses Friedens zum Inhalt haben, die unter den Christen nicht seltener war als zwischen Christen und Juden.

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S. Ullmann (Anm. 1) S. 393. Siehe auch dies.: Der Streit um die Weide. Ein Ressourcenkonflikt zwischen Christen und Juden in den Dorfgemeinden der Markgrafschaft Burgau. In: Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.-18. Jahrhundert). Hg. von Mark Häberlein. Konstanz 1999. S. 99-136. StA Nürnberg. Fürstentum Brandenburg-Ansbach. Ritterorden 205/1.1: Deutscher Orden, Landkommende und Kommende Ellingen. Nr. 5: Beschwerde der Gemeinde Alesheim gegen die Judenschaft wegen Viehweide, 1622-74. StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Akten Nr. 4638 (Verhörbuch 1621-1624 [Treuchtlingen]). Fol. 158r-v (1624 Juni 8/18). Siehe ζ. B. GLA Karlsruhe. 61/12658 (Stühlingen. Oberamtsprotokolle, Reinschriften 16281634). Fol. 467-469 (1632 Januar 15). Zu den Auseinandersetzungen zwischen Juden und Metzgern siehe u.a. Peter Rauscher: Langenlois - Tlb Eine jüdische Landgemeinde in Niederösterreich im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Horn, Waidhofen a. d. Thaya 2004 (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes. Bd. 44). S. 88, Anm. 320, dort mit weiterer Literatur.

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Neben der religiösen Differenz und der Konkurrenz im Wirtschaftsleben führte auch die Instrumentalisierung der Juden im Kampf der jeweiligen Obrigkeiten um die Erhaltung und Durchsetzung ihrer althergebrachten Rechte zu einer Abgrenzung zwischen den beiden Gruppen. So verursachte zum Beispiel 1599 ein Konflikt zwischen den Pappenheimern und dem Grafen von Schwarzenberg um die Frage der Zugehörigkeit der Behausung von zwei pappenheimischen Juden zu Burgambach zum Zehnt- bzw. Gerichtsgebiet des von Schwarzenberg die Inhaftierung und tagelange Festsetzung dieser beiden Juden. 50 Manchmal konnten sich in so einer Auseinandersetzung auch die Vorzeichen verkehren und die Grenzen zwischen geistlichen und weltlichen Interessen verschieben. Im Jahr 1625 kam es zwischen den Herren von Pappenheim und dem Deutschen Orden zu Ellingen zu einem Streit bezüglich der Verteilung der sogenannten Heiligen-Lose zu Alesheim. Alesheim lag im Fürstentum Ansbach, die niedere Gerichtsbarkeit sowie die Pfarre unterstanden jedoch den Herren von Pappenheim. Lange hatten dort auch pappenheimische Schutzjuden gelebt, 1625 waren es jedoch offensichtlich (vornehmlich?) Juden, die unter dem Schutz des Deutschen Ordens zu Ellingen standen. Als im Jahr 1625 eine erneute Verteilung der Heiligen-Lose anstand, wohl Grundstücke oder Erträge aus religiösen Stiftungen, kam es zwischen dem Deutschen Orden und den Pappenheimern zum Konflikt. Der Deutsche Orden zu Ellingen beschwerte sich bei den Pappenheimern darüber, daß der Pfarrer zu Alesheim die Heiligen-Lose ausgeteilt habe, ohne dabei die Juden zu berücksichtigen, obwohl die Lose doch seit alters her (und auch zu Zeiten, als Alesheim noch den Pappenheimern gehörte) abhängig von den Gütern und ohne Berücksichtigung der Person verteilt wurden und damit auch den Juden zuständen, die ja auch dem Pfarrer den kleinen Zehnten zahlten. Die Pappenheimer erklärten dagegen, daß die Heiligenlose von den Vorfahren zugunsten ihrer christlichen Nachfahren und nicht der Juden eingerichtet worden seien. Auch wandten sie sich gegen eine Berücksichtigung der Juden insbesondere angesichts der Tatsache, daß die Zahl derselben in Alesheim in letzter Zeit stark angestiegen sei, der Zehnte dagegen sei von jeder Person zu zahlen. Die Pappenheimer erklären sich schließlich bereit, um der guten Nachbarschaft willen, doch unter Vorbehalt ihrer Rechte und Gerechtigkeiten, die Verteilung der Heiligenlose auch an die Juden noch dieses letzte Mal zu dulden, da der Deutsche Orden angeblich beabsichtige, die Mengen der Juden in Alesheim in naher Zukunft zu cassiren, und obwohl es doch es bei verstendigen leuthen einen seltzamen nachclang habe.51 Hier wird also ein Fall beschrieben, bei dem sich der Deutsche Orden gegen die Herren von Pappenheim als weltliche Herrschaft, der hier auch die geistliche 50 51

BayHStA München. RKG. Nr. 10027/I-II (1599-1613). StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Akten Nr. 80.

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Gewalt unterstand, dafür einsetzte, auch die Juden von den Erträgen einer religiösen Stiftung profitieren zu lassen. Zwar hätte eine religiöse Institution wie der Deutsche Orden eher ein Interesse daran haben müssen, gerade die Juden von der Teilhabe an einer christlich-religiösen Stiftung auszuschließen. Doch wogen hier die Interessen des Ordens stärker, die unter seinem Schutz stehenden und ihm damit auch abgabepflichtigen Juden an den Erträgen der Heiligenlose teilhaben zu lassen und damit indirekt auch den eigenen Besitzstand zu wahren und zu stärken. In schwierigen Zeiten, wie zum Beispiel während des Dreißigjährigen Krieges, verbreiterte sich die Kluft zwischen beiden Gruppen. Zwar hatten auch die Juden wie alle anderen und vielleicht sogar noch mehr unter den Folgen des Krieges zu leiden und waren insbesondere im Pfandhandel von Plündereien bedroht, andererseits wurden sie wiederholt beschuldigt, durch Handel und Hehlerei mit Soldaten auf Kosten der Christen vom Krieg zu profitieren. Weniger als die Christen an Haus und Hof gebunden, waren die Juden meist bestrebt, sich bei drohender Gefahr durch näher rückende Soldaten durch Flucht in Sicherheit zu bringen. So waren zum Beispiel 1648 von vier Schutzgeld zahlenden Juden in Treuchtlingen zwei der Kriegsunruh halber hinweg gezogen,52 Dies konnte sich aber nicht jeder leisten und wurde auch nicht immer gern gesehen. 1622 erklärte zum Beispiel Götz von Eibelstadt, einer der reichsten und einflußreichsten Juden der Stadt, bey laider ietzo überall schwebender großer undt gefehrlicher kriegsempörung seien Sie Arme Juden bey Menniglich sehr vehast undt angefeindet, auch von denen sowohll hin undt wieder rayßenden, alß an ort undt Enden einquartirten Soldaten hefftig angeloffen, rantionirt undt umb daß Ihrig gebracht werden, gestalt man bey iungst zu Eivelstatt vorgangener fünfftägiger einlosirter Reüterey, wie in dem Judenhoff sey grassirt worden, augenscheinlich befunden habe. Da er als alter Mann noch mehr verhasst sei als die anderen Juden und ganz besonders durch die Einquartierungen gefährdet, habe er sich für ein Viertel Jahr eine Stube im nahegelegenen Ochsenfurt gemietet und bat nun darum ihm zu gewähren, sich mit seiner Frau dort aufhalten zu dürfen, bis die Kriegsgefahr nachlasse. Dies wurde ihm jedoch abgeschlagen, da im Moment der Durchzug vorbei sei und andere Juden es ihm nachmachen könnten, er werde jedoch im Gefahrfall wieder rechtzeitig benachrichtigt werden und könne sich dann nach Ochsenfurt retten.53 Konnte man sich selbst schon nicht in Sicherheit bringen, versuchte man wenigstens, seine Wertgegenstände vor den plündernden und marodierenden Soldaten in Sicherheit zu bringen. So hatte zum Beispiel Mitte des 16. Jahrhunderts der Jude Mendel zu Wallerstein sein Zinn- und Kupfergeschirr in einem Brunnen versteckt, um es vor einem drohenden Kriegszug des Markgrafen Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach zu schützen, auß forcht und dhweil die Juden bey solchem Kriegs volckh wenig gnadt erlangen oder auch etwas behalten mö52 53

StA Nürnberg. Rep. 122. Fürstentum Ansbach. Salbücher Nr. 273/3. S. 2. StA Würzburg. WDKP 1622. Fol. 135v-136r (1622 Juli 21).

Alltägliches Miteinander oder getrennte

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gen. Dort wurde es jedoch von drei Bürgern aus Wallerstein und Munzingen gefunden und entwendet, und Mendel, inzwischen zu Pappenheim, ging bis vor das Reichskammergericht bei dem Versuch, seinen Besitz wiederzuerlangen. 54 Der Jude Elia zog es dagegen 1632 vor, ein Halsband von edlen Steinen umb dieser geferlichen Kriegsleufft willen bei Erbmarschallin Anna Maria, geb. Güss von Güssenberg, in Verwahrung zu geben. 55 Zu Konflikten zwischen Juden und Christen kam es auch, wenn es um die Frage der Einquartierungen von Soldaten und der Beteiligung der Juden an der Dekkung der hohen Kriegskosten ging. Soldaten, die man zum Schutz in eine Stadt rief, wurden in die Häuser der Bürger einquartiert und mußten auf Kosten der Gemeinschaft verpflegt werden. Die Juden versuchten in der Regel, jedoch nicht immer erfolgreich, Einquartierung von Soldaten durch Geldleistungen abzuwenden, und dies aus gutem Grund. 1622 wurden zum Beispiel die Eibelstädter Juden durch die dort einquartierte Reiterei geplündert, wobei die ,Salva Guardia', die von den Juden zu ihrem Schutz bestellte und mit 400 Gulden und Wein bezahlte Schildwache, sich als erste an jüdischem Besitz vergriff. Die spätere Schadensrechnung belief sich auf über 10.000 Gulden. 56 Die Juden selber hatten sich rechtzeitig ins nahe Ochsenfurt flüchten können. Sie erklärten später, es sei allgemein üblich, daß man die Juden bei einfallendem Kriegsvolk rechtzeitig warne, damit sie fliehen könnten. Dies war auch in diesem Fall geschehen, wofür man sich bedankte. Allerdings sahen die Juden keinen Grund, sich wie gefordert mit.2 000 Gulden an der Behebung des Schadens zu beteiligen, den die Christen unabhängig von den Juden erlitten hatten. Mit dieser Argumentation hatte die Judenschaft allerdings keinen Erfolg und musste daher anteilsmäßig den Schaden der christlichen Gemeinde Eibelstadts mittragen. 57 Gegen Ende des 30jährigen Krieges spitzte sich die Lage in Eibelstadt zu, und im März 1648 kam es hier zu gewalttätigen Übergriffen von Christen auf Juden. Diese wurden beschuldigt, den einquartierten Soldaten zum Nachteil der christlichen Bürger gestohlenes Zinn- und Kupferwerk abgekauft und damit Profit gemacht zu haben. Die Bürger drangen in den von den Juden bewohnten Turmhof ein, in dem ein Teil des Diebesguts verwahrt war, und verwüsteten ihn so, daß er teilweise unbewohnbar wurde. Der Rat befürchtete daraufhin, bei folgenden Einquartierungen könnten die Juden sich mit Hilfe der Soldaten an den Bürgern rächen. 58 Es zeigt sich - wie auch schon in der Markgrafschaft Burgau - , daß die Juden weitgehend in das dörfliche oder kleinstädtische System integriert waren. Sie

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BayHStA München. RKG. Nr. 9832. StA Nürnberg. Herrschaft Pappenheim. Urkunden. 1632 III 25, Nr. 3351. StA Würzburg. WDKP 1622. Fol. 134r-135r (1622 Juli 21). StA Würzburg. WDKP 1622. Fol. 142v-143r (1622 Juli 28). StA Würzburg. WDKP 1648. Fol. 169.

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lebten als kleine Gemeinschaften teils schon seit Jahrhunderten in den Dörfern, Märkten und Städtchen, in denen jeder jeden kannte, in enger Nachbarschaft mit den Christen, und sie hatten Teil an den meisten Rechten sowie den Pflichten, die das Zusammenleben mit sich brachte. Auch die enge wirtschaftliche Verflechtung führte zu einem täglichen Umgang von Juden und Christen, der sich nicht nur auf den öffentlichen Raum beschränkte. Allerdings wurde dieser oberflächliche Frieden immer wieder durch verbale und manchmal auch gewalttätige Auseinandersetzungen gestört, wobei vielleicht häufiger ein judenfeindlicher Hintergrund zu unterstellen ist, als die Quellen belegen lassen, doch handelte es sich wohl meist um nachbarschaftliche Querelen, wie sie auch innerhalb der jeweiligen Gruppen an der Tagesordnung waren. Zugleich wurden die Juden immer als eigenständige Gruppe wahrgenommen, von sich selbst wie von den anderen, durch die jeweilige Definierung der beiden Gruppen über die Religion, die eine größere Annäherung oder gar Vermischung unmöglich machte, als Konkurrenz im Wirtschaftsleben und bei der Verteilung der knappen Ressourcen, sowie aufgrund der unterschiedlichen Rechtsstellung. Dies wurde verstärkt dadurch, daß die Juden immer wieder als Spielball im Kampf um die Durchsetzung althergebrachter obrigkeitlicher Gerechtigkeiten instrumentalisiert wurden. Juden und Christen bildeten demnach auf religiösem Gebiet getrennte Gemeinden, wirtschaftlich jedoch waren sie eng miteinander verflochten durch täglichen Umgang, gegenseitigen Abhängigkeiten und Konkurrenz. Auch gesellschaftlich bildeten sie zwar getrennte Gemeinden, die jedoch immer wieder Berührungspunkte aufweisen konnten, wenn man zum Beispiel gemeinsam im Wirtshaus zechte oder eine Hochzeit feierte. Politisch existierten beide Gemeinschaften aufgrund unterschiedlicher Rechtsstellung nebeneinander, wobei die Obrigkeiten in ihrem Bestreben, althergebrachte Rechte zu wahren, eher als spaltender denn als integrierender Faktor zu sehen sind. So zeigt sich das Bild eines alltäglichen Miteinanders, wo es das enge Zusammenleben und die Bedürfnisse des täglichen Handels und Wandels erforderten, meist aber eher das eines Nebeneinanders von privaten (familiären und religiösen) Bereichen, die sich nur ausnahmsweise und vorübergehend berührten, und oft auch, insbesondere in Zeiten von Krieg und Not, ein klares Gegeneinander im Kampf um die jeweils eigenen Interessen.

Die Judenpolitik des Herzogtums Württemberg in der Frühen Neuzeit Stefan Lang

Am 10. Juni 1615 erhielt Herzog Johann Friedrich von Württemberg eine Supplikation seines Kanzlers und einiger Räte. Der Grund für die Fürbitte war folgender: Der ehemalige Tübinger Bürgermeister Georg Calwer, ein alter Mann von etwa 80 Jahren, hatte bei einem Juden in Pfäffingen (Landkreis Tübingen) gegen Pfand einen Kredit von 50 fl. aufgenommen, für den er bis zur Rückerstattung zwei Pfennig Zins wöchentlich bezahlte. Damit hatte Calwer gegen die württembergische Landesordnung verstoßen, welche Geld- und Pfandleihe der herzoglichen Untertanen bei jüdischen Kreditgebern als strafwürdiges Vergehen definierte. Gegen die drohende harte Bestrafung Calwers mit Haft und Landesverweis wandten die Räte ein: Nun ist zwar die landtsordnung, so dazumahl, alß die juden im landt noch etwas gemeins geweßen, uffgericht, in diesem fall [..] aber sehr scharjf, in dem, da einer den juden klayder, kleinater [Kleinode] oder anders dergleichen pfandtsweyß ze stellen wurde, die straff im thurm am boden unndt die relegation [Verbannung] daruff gesetzt ist. Statt der festgeschriebenen Strafe wollte man in Anbetracht des hohen Alters des Beschuldigten und seiner Verdienste als ehemaliger Amtsträger nur eine Geldbuße von 10 fl. einfordern oder ihn gänzlich begnadigen, was der Herzog schließlich auch bewilligte. Außerdem gab man Anweisung, Hans von Gültlingen, dem Ortsherren von Pfäffingen, zu schreiben, daß dieser den Juden, der Calwer den Kredit gegeben hatte, zügig ausweisen solle, denn sein Besitz sei württembergisches Lehnsgut und daher dort kein Jude zu dulden. 1 Was kann man dieser kleinen Episode entnehmen? Juden durften nicht auf württembergischem Boden leben und handeln, die Geld- und Pfandleihe württembergischer Untertanen bei Juden war verboten, aber vor allem eines: Juden waren Anfang des 17. Jahrhunderts in Württemberg nichts ,gemeines', nichts Alltägliches mehr. Einige Jahrzehnte zuvor, als die Landesordnungen mit den entsprechenden Judenparagraphen erlassen wurden, sah dies offenbar noch anders

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HStA Stuttgart. A 206. Bü 4722.

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aus. Wie kam es zu diesem Verschwinden der Juden aus dem württembergischen Umfeld?

1. 1492-1534: Vom Testament Eberhards im Bart bis zur Rückkehr Herzog Ulrichs Die Jahrzehnte um 1500 bildeten bereits einen großen Einschnitt in die jüdische Besiedlung des württembergisch dominierten niederschwäbischen Raumes. In seinem 1492 verfaßten Testament hatte der erste württembergische Herzog Eberhard im Bart die künftige Ausweisung der Juden aus seinem Territorium verfügt.2 Eberhard, Gründer der Universität Tübingen, war wohl ein Vertreter der humanistischen Judenfeindschaft, bei dem sich landesherrliche Interessen, der Einfluß der Landstände und persönliche Ressentiments ergänzten. 1495, im Jahr der Erhebung Württembergs zum Herzogtum, erließ Eberhard die erste Landesordnung für sein Fürstentum, in der auch ein Verbot der Kreditnahme zu Wucherzinsen und der Verpfändung liegender Güter an Juden enthalten war.3 Eberhards Handeln stellte in der Region jedoch keine singuläre Maßnahme dar, denn auch die großen Reichstädte Niederschwabens wie Ulm, Schwäbisch Gmünd, Nördlingen, Heilbronn oder Reutlingen hatten um 1500 ihre Judengemeinden vertrieben. Nachdem Eberhards gleichnamiger Vetter und Nachfolger bereits 1498 wegen Unfähigkeit von den einflußreichen Landständen Württembergs in Kooperation mit Kaiser Maximilian wieder abgesetzt worden war, erließen die Stände im gleichen Jahr eine Regimentsordnung. In dieser hielt man in Anlehnung an Eberhards Testament daran fest, die Juden, welche Gott dem allmechtigen, der natur und cristenlicher Ordnung hefftig verschmecht und zuwider, ouch dem gemainen arm mann und underthanen verderplich und unlydenlich wären, weiterhin aus Württemberg auszuschließen, von gemains nutz wegen, das dise nagenden würm die Juden in disem fiirstenthumb nit gehalten. Darüber hinaus sollte ouch desselben anstoessern und nachpurn bittlich geschriben werde[n], die juden ouch nit zuhal-

ten.4 Daß diese Vorhaben nicht nur bloße Ankündigungen waren, belegen Quellen aus der ersten Regierungszeit Herzog Ulrichs (1503-1519). Beispielsweise bestätigt ein Schreiben des fränkischen Niederadeligen Philipp Stumpf von Schweinsberg an Herzog Ulrich vom Mai 1517 eindeutig, daß dieser keine Juden in Württemberg duldete, ebenso wenig wie seine adeligen Räte und Dienstleute.5 Auch die Klagepunkte der Landstände bei den Verhandlungen zum Tübinger Vertrag 1514 belegen, daß Juden - im Gegensatz zu den folgenden Jahrzehnten 2 3 4

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HStA Stuttgart. A 602. Nr. 363. HStA Stuttgart. A 602. Nr. 3762. August Ludwig Reyscher: Sammlung der württembergischen Gesetze. 2. Band. Stuttgart, Tübingen 1829. S. 7-14. HStA Stuttgart. A l . B ü l .

Die Judenpolitik des Herzogtums

Württemberg

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zu diesem Zeitpunkt noch kein Problem darstellten, für das die Untertanen ihren Landesherrn verantwortlich machten. Kurz: die Juden waren kein Verhandlungsthema. 6 Ein Bericht des Juden Abraham von Niefern (Enzkreis) aus dem Jahr 1530, geäußert im Zusammenhang mit einer Zollstreitigkeit, ist in diesem Zusammenhang hochinteressant: War ist, das vor etlichen jaren ain patt gemacht worden mit dem jursten und adel im fiirstenthumb miteinander veraynigt, die juden uß dem lanndt Wirtemberg zu vertreiben [...].7 Diesen ,Pakt' oder zumindest seine Intention kann man in den Bestimmungen der Regimentsordnung von 1498 erkennen. Abraham und seine Familie waren anscheinend die Ausnahme, welche die Regel bestätigte: Damals aber mein vatter, als vil gnad bey dem fiirsten und adl im landt gefunden und erlangt hat, [...] 35 jarn darnach im landt wonhafft bliben ist, auch ich und mein bruder darinn erzogen und geborn sein, sonnst kein jud,8 Daher ist auch für die Zeit von 1498 bis 1519 die Aufnahme von Juden durch württembergische Lehnsleute bislang kaum nachweisbar. Der ,Pakt' mit dem Adel schien für denselben allerdings erloschen, als Herzog Ulrich 1519 nach zahlreichen Vergehen - den Höhepunkt bildete die Einnahme der Reichsstadt Reutlingen - durch den Schwäbischen Bund vertrieben wurde und Württemberg unter habsburgische Oberhoheit fiel.9 Schon bald danach scheinen wieder Juden in das Herzogtum gekommen zu sein, in welchem Umfang und an welche Orte ist allerdings noch nicht gänzlich geklärt.10 Man kann jedoch mit relativ großer Sicherheit davon ausgehen, daß die Juden nicht in den württembergischen Städten, sondern hauptsächlich in Dörfern der württembergischen Adelsklientel aufgenommen wurden. Für ihre Existenz spricht in jedem Fall, daß am 15. Oktober 1520 eine württembergische Gesandtschaft bei Kaiser Karl V. sich alle Rechte und Freiheiten fur das Herzogtum bestätigen ließ und mit diesem für den 9. Dezember desselben Jahres einen Landtag festlegte, bei dem Beschwerden der Landschaft, unter ande-

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Andreas Schmauder: Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad 1514. Ein Beitrag zum bäuerlichen und städtischen Widerstand im Alten Reich und zum Territorialisierungsprozess im Herzogtum Württemberg an der Wende zur frühen Neuzeit. Leinfelden-Echterdingen 1998 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde. Bd. 21). S. 210-214. Η StA Stuttgart. A 56. Bü 2. Η StA Stuttgart. A 56. Bü 2. Franz Brendle: Dynastie, Reich und Reformation. Die württembergischen Herzöge Ulrich und Christoph, die Habsburger und Frankreich. Stuttgart 1998 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B. Bd. 141). S. 44-75; Dieter Mertens: Württemberg. In: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Bd. 2. Stuttgart 1995. S. 1-164, S. 66-78. Karl Pfaff: Geschichte des Fürstenhauses und Landes Wirtemberg. 1. Teil. Stuttgart 1839. S. 45 3 f. Pfaff gibt auch an, daß über 20 Personen wegen der Juden ihr Vermögen verloren hätten.

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rem auch über die Juden, vorgebracht wurden.11 Die Konsequenz dieser Klagen ist wohl in dem kaiserlichen Erlaß vom 25. Juni 1521 zu sehen, der mit den Worten, nachdem die judischeit, in unserm furstentumb Wirtemberg gesessen, unnsern lanndtsessen und underthanen daselbs bisher auf ligende guetter zynnßs, und güllt, umb wucher gellt gelihen, beginnt und der ein generelles Handelsverbot mit Juden beinhaltet.12 Zwei Tage darauf folgte ein weiterer Erlaß, der die Aufnahme von Krediten bei Juden unter Verbot stellte. Jüdische Schuldbriefe, die künftig gegen das Mandat verstießen, wurden für ungültig und wirkungslos erklärt. Württembergs Landstände hatten zwar eine direkte Rückkehr der Juden in das Herzogtum verhindern können, doch die angrenzenden Adelsherrschaften und der württembergische Lehnsadel nahmen ab 1520 nun in steigender Zahl jüdische Untertanen in ihren Schutz. Die Herren von Rechberg zu Hohenrechberg hatten beispielsweise lange Zeit in württembergischen Diensten gestanden. Als jedoch Herzog Ulrich ins Exil mußte, wechselte Wolf von Rechberg, zuvor württembergischer Obervogt von Blaubeuren, auf die habsburgische Seite und nahm ab dem 13

Sommer 1520 Juden in seinen Dörfern auf. Deutlich wird diese Entwicklung der frühen 1520er Jahre im Rahmen der Verhandlungen des Landtags vom 16. März 1523. Hier brachten die Landschaftsvertreter folgendes vor: Item so hat kayserlich Mayestät, unser allergnedigster herr, die landtschafft hievor der juden halb gnediglich gefreyet, da diese in diesem fürstenthumb nicht sollen gehalten werden. Aber dasselbig unangesehen, sein etlich vom adel in disem fürstenthumb geseßen, die an vil orthen juden ufnemmen, zu merklichem schaden und verderben der underthanen diß fürstenthumbs. Ist der praelaten und landschafft underthönigst bitt, bey demselben [den Adligen] auch gnädigst zuefurkommen, damit die juden ußgetriben, das land gesäubert und sovihl müglich ihrenthalb vor schaden verhüett werden,14 Im Juni 1524 wiederholten die Landstände erneut diese Beschwerden. Die Juden würden weiter durch ihre Pfandgeschäfte die Zunahme von Verbrechen wie Diebstahl, vor allem Kirchenraub, fordern und obwohl ain gemeine landschafft dar inn [gegen die Juden] ain sonderliche fryhait erlanngt hat, so würdt doch denselben nit gelebt, sonnder täglichs darwider gehanndellt.15 Diese Verstöße gegen die Judenfreiheit von 1521 spiegeln sich zudem in einer großen Anzahl erhaltener Urfehden württembergischer Untertanen wider, die sich geschäftlich mit den Juden eingelassen hatten. 11

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Ludwig Friedrich Heyd: Ulrich, Herzog zu Württemberg: ein Beitrag zur Geschichte Württembergs und des deutschen Reichs im Zeitalter der Reformation. Bd. II. Tübingen 1844. S. 73-77. August Ludwig Reyscher: Sammlung der württembergischen Gesetze. 4. Bd. Stuttgart, Tübingen 1831. S. 50-52. Stefan Lang: Landjudentum und Niederadel. Jüdisches Leben unter den Herren von Rechberg zu Hohenrechberg und Heuchlingen im 16. Jahrhundert. Ungedr. Magisterarbeit. Tübingen 2003. S. 17. HStA Stuttgart. L 5. Bd. 1. S. 313f. HStA Stuttgart. A 34. Bü 4. Q 20.

Die Judenpolitik

des Herzogtums

Württemberg

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Die Dokumente belegen zwar die strafrechtliche Verfolgung dieser Kontakte durch die österreichische Regierung, aber auch, daß offenbar nicht sonderlich effektiv dagegen vorgegangen wurde. Das Anwachsen der Prozesse von jüdischen Gläubigern gegen säumige Schuldner am Hofgericht Rottweil belegt ebenfalls eine Zunahme der Juden in der Region. Ende der 1520er Jahre nahm sogar die Reichsstadt Esslingen wieder eine Anzahl jüdischer Familien auf, 1535 sind allein 13 jüdische Geldverleiher in der Stadt nachzuweisen. 16 Die dadurch vorhandenen Möglichkeiten, bei den Juden kurzfristige Kredite aufnehmen zu können, wurden trotz der obrigkeitlichen Strafandrohungen immer häufiger von württembergischen Untertanen genutzt. Am 13. Juli 1529 bestätigte Ferdinand I. erneut das Verbot des Aufenthalts von Juden im Herzogtum und den geschäftlichen Verkehr mit ihnen. Lediglich der Durchzug unter Geleit blieb gestattet. Wiederum hatten sich Regierungsvertreter, Räte, Prälaten und Gesandte der Landschaft auf einem Landtag über die Juden beklagt.17 Doch diese Maßnahme schien nur wenig zu fruchten. Im Herbst des folgenden Jahres stellten die Räte fest, daß aufgrund der Verstöße gegen das Verbot demnechst in tappffer annzal bis in die iiii C [400] geächt [geächtete Untertanen] usser lannds ziehen muessen. Daraus könnten der Regierung dann allerlei unrat und nachteil erwachsen, denn etliche dieser Personen würden sich möglicherweise den Lutheranern oder den Anhängern des vertriebenen Herzogs Ulrich anschließen oder sonst ain empörung im Herzogtum anzetteln.18 Die Erfahrungen des Bauernkriegs und seines Vorläufers, des ,Armen Konrads' (1514), waren in Württemberg noch sehr präsent. Abgesehen von den genannten 400 Personen gebe es auch noch etliche weitere Untertanen, die sich gegen das Verbot mit Juden eingelassen hätten. Die Juden, die unerlaubterweise durch das Herzogtum wanderten, brächten durch zahlreiche Prozesse am Rottweiler Hofgericht die Habe und Güter von Untertanen in ihren Besitz, was tägliche Klagen mit sich brächte. Die in die Acht erklärten Schuldner müßten außer Landes ziehen, was erhebliche finanzielle Schäden nach sich ziehe, zumal sogar ganze Flecken und Dörfer verklagt würden, wenn sie geächtete Personen beherbergten oder versorgten. Diese Bedenken führten zu einem neuen kaiserlichen Privileg, welches am 15. Oktober 1530 in Kraft gesetzt wurde. Es bestimmte zusätzlich zu den bisherigen antijüdischen Maßnahmen, daß nur noch württembergische Gerichte für Klagen gegen Württemberger zuständig sein sollten und Schuldbriefe der Juden vor Gericht nicht als Beweismittel anzuerkennen seien. Außerdem wurde eine alte Freiheit des Herzogtums erneuert, indem es das Recht erhielt, geächtete Personen aufnehmen zu dürfen. Dieser Punkt war hauptsächlich für Untertanen gedacht, die sich in der Rottweiler Acht befanden. 19 16 17 18 19

HStA Stuttgart. A 56. Bü 3. Reyscher (Anm. 12) S. 57-59. HStA Stuttgart. A 56. Bü 2. HStA Stuttgart. A 81. U 2.

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2. 1534-1550: Die Rückkehr Herzog Ulrichs und die Verschärfung der Judenpolitik Trotz all dieser Maßnahmen stellte Herzog Ulrich, der das Herzogtum 1534 zurückerobert hatte, in der vierten württembergischen Landesordnung von 1536 fest, daß in seiner rund 15-jährigen Abwesenheit die Juden mercklich eingerissen seien und viele württembergische Untertanen durch gefälschte Schuldbriefe ins 20

Verderben gestürzt hätten. Dies würde noch zunehmen, wenn kein entschiedenes Eingreifen seinerseits geschehe. Wenn Juden sich in Württemberg ohne schriftliche Ausnahmegenehmigung bewegten, seien sie unverzüglich festzunehmen und einzusperren. Danach sollte eine Mitteilung an die fürstliche Kanzlei erfolgen und ein Bescheid abgewartet werden. Eine Geleitserlaubnis durfte einzig die Kanzlei und dies nur im Falle unvermeidlicher Notwendigkeit ausstellen. Den Untertanen wurde bei strengen Strafen jeder geschäftliche Kontakt mit Juden verboten, Forderungen an ausländische Gerichte wegen Schulden bei Juden sei ebenso wenig Folge zu leisten, wie die Urteile oder Achtbriefe derselben bezüglich dieser Angelegenheiten anzuerkennen.21 Tatsächlich hatte, wie die immer noch zahlreichen Urfehden und Urteile des Hofgerichts Rottweil bestätigen, das Privileg von 1530 nichts Grundlegendes bewirkt. Die Rückkehr Herzog Ulrichs scheint dennoch eine Zäsur in der württembergischen Judenpolitik bedeutet zu haben, da sie seit diesem Zeitpunkt an Konsequenz und Schärfe zunahm. Im November 1536 richtete zum Beispiel der Großeislinger Jude Coppelmann, der seit 1530 unter Wolf von Rechberg lebte, ein Schreiben an den Göppinger Obervogt. Inhalt war eine Schuldforderung gegen den Göppinger Bürger Hans Schuler wegen eines zinslosen Darlehens von 3 fl., welches der Jude diesem, wie er betonte, vor der Rückkehr Herzog Ulrichs gewährt und das Schuler trotz Ablauf der Frist nicht beglichen habe.22 Hier wird eine Differenzierung zwischen Geschäften erkennbar, die vor oder nach der Rückeroberung Württembergs und dem Erlaß der vierten Landesordnung geschlossen wurden. Durch den Verweis auf den während der österreichischen Regentschaft abgeschlossenen Vertrag hoffte Coppelmann möglicherweise auf eine für ihn günstigere Rechtsposition. Am 3. Mai 1541 ließ sich Ulrich erneut das Exemtionsprivileg Württembergs gegen ausländische Gerichte, vorrangig Rottweil, bestätigen, welches das Herzogtum erstmals 1495 verliehen bekommen hatte. Wiederum wurde festgehalten, daß Juden sich nicht in Württemberg aufhalten, den dortigen Untertanen nichts leihen dürften und daß ihre Schuldbriefe ungültig seien. Das Privileg wurde zudem auf

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HStA Stuttgart. A 38. Bü 1. Zur Rückkehr Herzog Ulrichs: Brendle (Anm. 9) S. 143-174. HStA Stuttgart. A 38. B ü l . HStA Stuttgart. A 56. Bü 5.

Die Judenpolitik des Herzogtums Württemberg

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die elsässischen Besitzungen Württembergs, Horburg und Reichenweier, die Ulrichs Bruder Graf Georg regierte, ausgedehnt. 23 In der zweiten Regierungszeit Herzog Ulrichs findet man ein neues Element der württembergischen Judenpolitik: die direkte Einflußnahme auf benachbarte Territorien, die Juden bereits aufgenommen hatten. Zwar hatte Ulrich bereits 1514-1517 regelmäßig beim Grafen von Hohenzollern-Hechingen Klage wegen der Geldleihe zollerischer Schutzjuden an württembergische Untertanen geführt. 24 Eine seit den 1520er Jahren deutlich veränderte Situation verlangte aber nun aus der herzoglichen Sichtweise ein weitaus aktiveres und entschiedeneres Vorgehen. Die Esslinger Judengemeinde, zusammen mit der Hechinger wohl die größte in der württembergischen Nachbarschaft, war das erste Ziel. Unmittelbar an die zentralen württembergischen Ämter Stuttgart, Cannstatt und Schorndorf angrenzend, konnten die Esslinger Juden eine Vielzahl potentieller württembergischer Kunden erreichen. Schuldenlisten aus der Mitte der 1530er Jahre belegen die enorme Anzahl von Krediten, die ungeachtet aller Privilegien an Untertanen des Herzogtums vergeben wurden. Zwar handelte es sich zumeist um kleinere Summen - selten gingen Kredite über die 100 fl.-Grenze hinaus - doch selbst diese konnten bei nicht erfolgter Rückzahlung mögliche Auslöser eines rottweilischen Prozesses, verbunden mit anschließender Acht und Anleite sein. Daher konnte die Gesamtsumme der von Juden an württembergische Untertanen vergebenen Kredite, immerhin knapp 6.900 fl., das Potential für langwierige Rechtshändel und soziale Spannungen in sich tragen. 25 Konsequent hartes württembergisches Vorgehen war die Folge. Man versuchte einerseits, den Juden ihre wirtschaftlichen Kontakte so schwer wie möglich zu machen, beispielsweise durch die Verweigerung oder die extrem schleppende Gewährung von Geleit durch das Herzogtum. Hatten jüdische Durchreisende kein solches Geleit, war die Gefahr sehr groß, daß sie sich in einem württembergischen Gefängnis wieder fanden und erst nach erfolgter Fürsprache, der Leistung einer Urfehde, der Zahlung einer stattliche Geldsumme sowie weiteren Zusagen, wie beispielsweise dem Versprechen der Abstellung sämtlicher in Rottweil laufenden Verfahren, wieder auf freien Fuß gesetzt. Andererseits wurde auch die Obrigkeit der Juden dazu angehalten, diese um der Beibehaltung eines guten nachbarschaftlichen Verhältnisses willen baldmöglichst zu entfernen. Die Jahre 1536 bis 1544 waren von diesen Verhandlungen über die Ausweisung der Juden aus Esslingen geprägt. Mehrfach wurde die ohnehin wirtschaftlich stark von Württemberg abhängige Reichsstadt unter Druck gesetzt. Die gleichfalls nicht unerhebliche Verschuldung Esslinger Bürger bei Juden trug aber dazu bei, daß sich dieses Vorhaben noch über einige Jahre hinzog. Am 13. Januar 1544 verließen die letzten jüdi-

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HStA Stuttgart. A56. Bü 6. HStA Stuttgart. A 220. Bü 294. HStA Stuttgart. A 56. Bü 3.

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sehen Familien, insgesamt 56 Personen, die Reichsstadt. Schon zuvor hatten einige Juden ihre Zelte in Esslingen abgebrochen.26 Als nächstes Ziel wurden die Schutzjuden der umliegenden Adelsherrschaften ins Visier genommen. Anfang 1544 befahl Ulrich seinen Amtleuten in Erfahrung zu bringen, in welcher Anzahl, wo und seit wann sich Juden in benachbarten Gebieten sowie beim Lehnsadel aufhielten. Diese Erhebung stellt eine Quelle von einzigartigem Wert dar und erlaubt einige Rückschlüsse für die Frage nach der jüdischen Besiedlung der Region. Einerseits wird deutlich, daß mit Ausnahme der bis ins späte 15. Jahrhundert zurückreichenden Ansiedlungen Hechingen und Aach im Hegau fast alle Juden vor rund 20 Jahren aufgenommen worden waren, also in den bereits schon mehrfach genannten 1520er Jahren und der Folgezeit, als der ,Pakt' des Herzogtums mit dem Adel gegen die Juden offensichtlich als hinfällig betrachtet worden war. Die Übernahme der Herrschaft durch die Habsburger hatte die Ansiedlungsmöglichkeiten für Juden deutlich verändert und an andere vorderösterreichische Gebiete wie die an Württemberg grenzende Herrschaft Hohenberg angeglichen. Weiter läßt sich erkennen, in welche Regionen Niederschwabens sich verstärkt Juden niederließen: zum einen im Grenzgebiet zur Pfalz, fast durchgehend entlang des Neckars, vor allem in den Weinbauregionen, sowie an verkehrstechnisch günstig gelegenen Positionen wie im Filstal, durch das sich ein Teil des am meisten befahrenen Fernwegs zwischen Italien und den Niederlanden zog. Gebiete wie der Schwarzwald waren dagegen wohl nicht wirtschaftlich attraktiv genug, um sich dort anzusiedeln. Beispielsweise gaben die Ämter Dornstetten, Neuenbürg und Wildberg Negativbescheide ab, Calw und Nagold machten lediglich Angaben, die sich auf die altbekannten hohenbergischen Gebiete bezogen.27 Die größten 1544 genannten Judengemeinden umfaßten etwa fünf bis zehn Familien. , Spitzenreiter' waren wohl Esslingen und Hechingen mit über zehn Familien und über 100 Personen. Oftmals handelte es sich aber nur um ein bis zwei Familien, die sich auf den Gebieten adeliger Schutzherren, darunter auch einiger württembergischer Amtsträger wie dem Nagolder Obervogt Sebastian von Ehingen zu Obernau, angesiedelt hatten. Die 1544 am häufigsten von den württembergischen Amtleuten erwähnten Gemeinden waren die zu Hechingen, die hohenrechbergischen zu Großeislingen und Straßdorf (seit 1520) und die zu Beihingen unter Ludwig von Freyberg (seit 1532/33). Letztgenannter Ludwig von Freyberg sollte einer der ersten württembergischen Lehnsleute sein, der auf Betreiben des Lehnsherrn seine von den Amtleuten auf etwa 50 Personen geschätzten Juden wieder auswies. Im Februar 1546 schrieb er den württembergischen Räten, daß ich meinem gnedigen fürsten und heren zu underthenig gefallens die juden geurlaubitt, hinweg zu ziehen und daß man ihnen

deshalb wenigstens kostenloses Geleit geben solle, da es sich um überwiegend 26 27

HStA Stuttgart. A 56. Bü 7. HStA Stuttgart. A 56. Bü 8.

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Württemberg

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arme Leute handle. Anfang Mai erhielten die Juden das Geleit und zogen in Richtung Rottenburg davon. Die im Vorjahr erfolgten Verhandlungen über die Ausschaffung belegen eindrücklich die von Württemberg vorgenommen Maßnahmen. So gaben die herzoglichen Räte dem zunächst widerstrebenden Ludwig von Freyberg deutlich zu Erinnerung, welche Schäden die Juden, die in den vergangenen Jahren in Esslingen und anderen Nachbarterritorien gesessen seien, den württembergischen Untertanen zugefügt hätten und daß der Herzog samt seinem Fürstentum vom Kaiser gegen sie privilegiert sei. Deshalb habe man eine Aussendung von Mandaten und Ordnungen vorgenommen, daß die Juden im Land nicht geduldet werden und die Untertanen sich bei schwerer Strafe nicht mit ihnen einlassen sollten: und damit die armen underthonen von sollichen nagenden bösen würmen nit ersogenn, auch diesen weg gesucht, das von denen von der ritterschaft des fiirstenthumbs und desselbigen nachpaurn sie, die juden, nit geduldet würden, hab inen fl. Gn. [fürstliche Gnaden] habender freyhait dagegen und daruff ußgangener mandaten copien zuegeschickt, an sie genedig und nachpaurlich begert, sie wolten inn ansehung des verderblichen schadens, so i[hre].fl. Gn. und ihre underthanen und hindersassen von den juden haben, sie, die juden, verweisen und nit länger gedulden. Welcher schreyben, mandaten und Privilegien wider die juden der von Freybergk als hochgemelter meins g. f . und herrn lehenman nit allein zukomen, sonder ist er auch des mehrmals bey der cantzeley [...] woll erinnert worden. Aber über solliche mandate und erinnerung hat im von Freybergk als hochbestimmter meines gn. hn. lehensman uff seiner fl. Gn. eigenthumb und irer beider, des von Sachsenhaim [Die Herren von Sachsenheim waren die zweite Ortsherrschaft zu Beihingen] und Freybergk lehen, wider gedachte mandate und Privilegien zu haben nit gepürt, sonder er vill mher denselbigen vor Gott und der weit zu pariren schuldig, dawider die juden nit verweisen wollen, sonder bis uff 28

diesen tag uffenthalten. Die folgenden vier Jahre bis zum Tod Herzog Ulrichs 1550 sollten dann vor allem durch rechtliche Auseinandersetzungen mit den Hechinger Schutzjuden gekennzeichnet sein, die massiv in Rottweil gegen württembergische Bürger und Gemeinden vorgingen. Generell sind zwei Hauptvarianten der rottweilischen Prozesse zu beobachten: 1. der Ächtungsprozeß gegen einen säumigen Schuldner; 2. der Prozeß gegen eine Gemeinde und/oder deren Amtsträger (Vogt, Schultheiß), wenn diese nicht die aus der Acht resultierende Einsetzung (Anleite) eines Juden in die Güter eines Geächteten durchführen wollten. Beide Verfahren nahmen in der Regel einen ähnlichen Verlauf, der deutlich machte, wie wenig die württembergischen Privilegien in der Praxis nutzten: Der jüdischen Klage am Hofgericht folgte zunächst eine Appellation Württembergs, um den Fall vor das jeweilige Stadt- oder Dorfgericht, das für den Beklagten zuständig war, zurückzuholen. Wenn dieser Einspruch wirkungslos blieb, folgte ein Verweis auf die gesammelten Privilegien des Herzogtums bezüglich der Juden und des Hofge28

StA Ludwigsburg. Β 91 b II. Bü 396.

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richts. Bei Fall 1 wurden diese meistens für nichtig erachtet, weil die Schuldner in ihrem Schuldbrief einen Privilegien- oder Freiheitsverzicht mit unterzeichnet hatten. Bei Fall 2 war eine weitere Ehafite (Ausnahmeregelung) des Hofgerichts betroffen, die sogenannten ,erlangten und erfolgten Rechte', d.h. die Privilegien waren ungültig, wenn man in Rottweil schon einmal ein Urteil gesprochen hatte. Oftmals konnte die württembergische Obrigkeit auch gar nicht mehr schnell genug eingreifen, in diesem Fall warf man den Juden ,geschwinde', also unangebracht schnelle Klagen vor. So mußten sich die herzoglichen Rechtsvertreter in einem Prozeß gegen Lemlin Jud zu Hechingen aus dem Jahr 1549 anhören, daß der württembergische Einspruch nichtig sei, weil die Sache bereits versaumpt und verschlaffen wäre und so kement die recht den wachenden zu hilff und nit den schlaffenden,29 Als letztes Mittel gegen die Rottweiler Urteile versuchte man eine Appellation an das Reichskammergericht, in dessen Vorakten eine große Anzahl der Urteilsbriefe des Hofgerichts überliefert sind. Doch auch hier war eine Aussicht auf Erfolg eher dürftig. Einerseits konnte man damit zwar eine gewisse Verzögerung erreichen, andererseits warfen die Prozesse an beiden Gerichten nicht unerhebliche Kosten auf.

3. Herzog Christoph (1550-1568) Herzog Christoph erbte diese zahlreichen Rechtsstreitigkeiten von seinem Vater und setzte auch dessen judenfeindliche Politik fort - allerdings noch konsequenter und durchdachter.30 Die Juden konnten zwar vor den Reichsgerichten ihre Position zumeist erfolgreich behaupten, doch Württemberg besaß einen wichtigen Vorteil: die Geleit- und Reiserechte durch das Herzogtum. Christoph verweigerte, wie schon sein Vater am Ende seiner Regierungszeit, den Juden den freien Durchzug durch Württemberg, Ausnahmen wurden nur nach langen Verhandlungen gewährt. Seit Anfang 1551 hatte daher Josel von Rosheim als Vertreter der Juden im Reich Verhandlungen mit Württemberg aufgenommen. Dabei berief er sich auf das 1548 erneut bestätigte umfassende Privileg, das Karl V. den Juden im Reich 1544 ausgestellt hatte. Württemberg sollte sich, so Josel, mit seinem Geleitrecht an andere Fürsten des Reiches, wie Bayern oder die Kurpfalz, angleichen.31

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HStA Stuttgart. A 56. U 13. Zu Herzog Christoph: Eberhard Fritz: Herzog Christoph von Württemberg (1515-1568). In: Reformationsgeschichte Württembergs in Porträts. Hg. von Siegfried Hermle. Holzgerlingen 1999. S. 226-253; Volker Press: Herzog Christoph von Württemberg (1550-1568) als Reichsfürst. In: Aus südwestdeutscher Geschichte. Festschrift für Hans-Martin Maurer. Hg. von Wolfgang Schmierer. Stuttgart 1994. S. 367-382. Außerdem sei auf die demnächst erscheinende und vielversprechende Dissertation von Matthias Langensteiner (Regensburg) zu Herzog Christophs Reichs- und Konfessionspolitik verwiesen. HStA Stuttgart. A 56. Bü 9.

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Josel versprach als Gegenleistung, dafür zu sorgen, daß württembergische Untertanen nicht länger mit ausländischen Gerichten behelligt werden sollten. Dies bestätigten auch Joseis Kontaktleute in Frankfurt, die sich offenbar in der Lage sahen, für die gemeine Judenschaft des Reiches zu sprechen. Würden weiter Juden gegen Württemberger außerhalb der zuständigen herzoglichen Gerichte Klage führen, könnten sie von ihren Glaubensgenossen keine Unterstützung erwarten, sondern würden zur Strafe mit dem jüdischen Bann belegt werden. Denn das württembergische Judenprivileg, so die Juden zu Frankfurt, sei nach unser erfarung nit anders, dan für die juden, die noch umb das land wonen, wucherisch contract zu üben, deß aber ain gemaine jüdischait nitt begert. Auf dem letzten Reichstag sei beschlossen worden, daß die Juden uffrichtige handeil, kauffen und verkaujfen, jar und wochen und fry margten suchen und bassieren dürften. Deshalb baten sie, diewyll wir auch von Gott dem almechtigen uff der erden menschen beschaffen sein, bey den lytten zewonen, um eine günstige Vermittlung, damit sie durch Württemberg ebenso wie durch andere Fürstentümer reisen könnten.32 Eine Aufzählung der im August 1551 anhängigen Verfahren ergab, daß zu diesem Zeitpunkt 19 Appellationen Württembergs am Reichskammergericht und zwei Hofgerichtsprozesse im Gange waren. Ein Zusatz war allerdings noch angefügt: Was aber mer Sachen am chamer gericht und hofgericht Rotweil hangen, mag man jetzo nit wissen.33 Man rechnete offensichtlich noch mit einer erheblichen Dunkelziffer. Der Vertrag, der am 11. August 1551 letztendlich von Herzog Christoph und Josel von Rosheim unterzeichnet wurde, umfaßte folgende Punkte: Die Juden sollten alle Prozesse am Rottweiler Hofgericht und am Reichskammergericht einstellen, die Schlichtung der bereits begonnenen Verfahren würde eine Aufgabe der württembergischen Amtleute. Dafür erhielten die Juden wieder das Durchzugsrecht durch Württemberg. Beim Betreten des Herzogtums mußten sie sich an den nächsten erreichbaren Amtmann wenden, von dem sie gegen eine bestimmte Summe ein Personengeleit zugewiesen bekamen. Arme Juden durften sich eines schriftlichen Geleitbriefes bedienen. Der Handel blieb beim Durchzug weiterhin untersagt, die Ausnahmen waren Käufe und Verkäufe gegen Bargeld auf Messen sowie freien Märkten. Generell scheint auch der Zugang und die Möglichkeit zur ungehinderten Reise zu den Messen nach Frankfurt und Nördlingen für die Juden von großer Bedeutung gewesen zu sein, da die Notwendigkeit hierfür während der Verhandlungen immer wieder betont wurde. 34 Betrachtet man die Anzahl der jüdischen Prozesse am Hofgericht Rottweil und am Reichskammergericht, kann man einen klaren Rückgang nach Abschluß dieses Vertrags erkennen. Nur noch sehr selten appellierte Württemberg in der zwei32 33 34

HStA Stuttgart. A 56. Bü 9. HStA Stuttgart. A 56. Bü 9. HStA Stuttgart. A 56. Bü 9.

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ten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegen ein Urteil des Rottweiler Hofgerichts, in jedem dieser Prozesse wurde dann auch das Abkommen von 1551 instrumentalisiert.35 Christoph betrieb dennoch in den Folgejahren eine stark antijüdische Politik. Mehrfach schlug er vor, darunter auf den Reichstagen von 15 5 636 und 15 5 937, alle Juden aus dem Reich zu vertreiben. Auch gerieten erneut die Judengemeinden der Nachbarn und Lehnsleute in den Blickpunkt. Auf seine Veranlassung mußten ab 1553 die Juden unter den württembergischen Erbmarschällen von Thumb zu Neuburg aus den Dörfern Aichelberg und Stetten im Remstal ausziehen - immerhin 38 Personen - von denen einige erst im Vorjahr aufgenommen worden wa38

ren. Im Februar 1554 ergab sich die für Christoph günstige Gelegenheit, die Schutzjuden der Herrschaft Hohenrechberg zu vertreiben. Ulrich von Rechberg, dessen bereits genannter Vater Wolf 1519/20 aus württembergischen in habsburgische Dienste gewechselt war, hatte innerhalb des Getümmels einer Wirtshausschlägerei im württembergisch-rechbergischen Kondominatsdorf Großeislingen den Göppinger Geleitsknecht und einen württembergischen Leibeigenen erstochen. Wenige Tage später besetzten einige Hundertschaften württembergischer Landesknechte Burg und Herrschaft Hohenrechberg. Ulrich von Rechberg entzog sich einer Bestrafung zunächst durch Flucht. Bischof Otto von Augsburg und die einflußreiche adelige Verwandtschaft des Rechbergers handelten am 5. April 1554 in Dillingen einen Vertrag aus, zu dessen Bedingungen Ulrich von Rechberg seine Herrschaft wiedererlangen sollte. Neben finanziellen Entschädigung und einigen weiteren Zugeständnissen mußte Ulrich vor allem auch die Ausweisung seiner Schutzjuden innerhalb einer dreimonatigen Frist geloben. Als Grund hatte man den Juden eine - wie die Untersuchungsakten zu den beiden Totschlägen einwandfrei belegen - frei erfundene und nicht einmal präzisierte Mitschuld an den Vorgängen, die zur Besetzung der Herrschaft geführt hatten, angedichtet.39 Viel entscheidender ist jedoch die Aufnahme einer Textstelle in den Vertrag, welche auf eine Schuld der Juden an früheren Konflikten zwischen Württemberg und Hohenrechberg hindeutet. Dies war dann auch der wahre Grund der Ausweisung: dieweil die Juden, [...] under gedachtem Utzen von Rechberg gesessen, nit allain an solchen beden enntleibungen, nit wenig schuldig, sunnder auch vormalß

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38 39

HStA Stuttgart. C 3. 4907. Briefwechsel des Herzogs Christoph von Württemberg. Im Auftrag der Kommission für Landesgeschichte hg. von Viktor Ernst. 4. Bd.: 1556-1559. Stuttgart 1907. S. 125. Antwort Kurfürst Ottheinrichs auf einen Vorschlag Christophs. Göppingen, 1556 August 6. Briefwechsel (Anm. 36) S. 599. Instruktion Christophs an seine Räte auf dem Reichstag zu Augsburg. Stuttgart, 1559 Januar 28. HStA Stuttgart. A 44. U 6038, U 6039 und A 56. Bü 9. S. Lang (Anm. 13) S. 64-72.

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allerlay Widerwillens zwischen seins herzogs Christoffs lieb und gemeltem von Rechberg gemacht40 Allerdings setzten sich die Juden am Reichskammergericht gegen ihre Vertreibung zur Wehr und versuchten, zumindest Schadensersatz wegen Bruchs ihrer gültigen Schutzverträge von Ulrich von Rechberg zu erhalten. Der Prozeß zog sich bis 1564 hin, sein Ausgang ist allerdings nicht gänzlich zu klären. Es ist aber zu vermuten, daß die Juden auch im Falle eines Urteils zu ihren Gunsten keine Entschädigung erhalten hätten.

4. Judenpolitik im Schwäbischen Reichskreis der 1550er und 1560er Jahre Es wurde bereits erwähnt, daß Christoph bereits in den 1550er Jahren wiederholt versucht hatte, eine reichsweite Ausweisung der Juden zu erreichen. Württemberg stellte zudem die dominierende und ausschreibende weltliche Macht des Schwäbischen Reichskreises dar. Lassen sich daher ähnliche Bestrebungen auch in der Politik des Schwäbischen Kreises erkennen? Sabine Ulimann hat bereits auf die seit 1556 formulierten Absichten, die Juden aus dem Kreisgebiet zu entfernen, hingewiesen. 41 In einem am 12. November 1563 formulierten Schreiben an den Kaiser über den Abschied des Kreises der Juden halber vom April desselben Jahres, wurde dargelegt, daß dem jüdischen Wucher und der Belastung der Untertanen nicht anders beigekommen werden könne, dann da sie [die Juden] bey denn oberkeiten in diesem kreis durch aus gar ußgeschafft werden. Weiter baten die Kreisstände den Kaiser, die Juden nicht nur aus den unmittelbar habsburgischen Gebieten auszuweisen, sondern auch mit der ritterschaft ernstliche hanndlung deßhalben uflegen lassen, das sie die Juden gleichergestalt auch abschaffen und dem armen man dises loss und verderplich beschwernus abhelffen wellen,42 Die Beschwerden des Schwäbischen Kreises an den Reichskanzler, die auf dem Kreistag zu Augsburg im April 1566 formuliert wurden, werfen ebenso ein aufschlußreiches Schlaglicht auf die damalige Situation bezüglich der Juden. Man klagte, daß trotz des Reichsabschieds von 1551, in welchem festgeschrieben worden war, daß Verschreibungen bei Juden nur vor der zuständigen Obrigkeit des Schuldners Rechtsgültigkeit besäßen, die Realität von der erwünschten Norm doch stark abweiche. Auch wäre die beschwerlich erfarung zuvernemen, das nit 40 41

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HStA Stuttgart. A 184. Bü 2. Q 24a. Sabine Ulimann: Zwischen Pragmatismus und Ideologie - Entwicklungslinien der Judenpolitik des Schwäbischen Reichskreises". In: Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise. Hg. von Wolfgang Wüst. Stuttgart 2000 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens. Bd. 7). S. 211-231. HStA Stuttgart. C 9. Bd. 185. Bü 3. S. 142.

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allain die wuchernden juden im reich bei vilen Stenden und zu gleich bei denen vom adel geduldet werden, auch wol bei wenig jaren erst von etlichen Stenden aufgenommen unnd zu der benachbarrten höchsten verderben, an erd und ort geschezt worden, da in ewig zeit zuvor kheine juden nie gesessen seind. Besonders das Landgericht Schwaben erkenne dem Reichsabschied zuwiderlaufende Verschreibungen als Beweismittel in Prozessen gegen Untertanen aus dem Kreisgebiet an. Als Ideallösung gab man folgendes zu bedenken: Nun were das best, nützlichest und gemeinen Stenden deß reichs das fiirträglichest, die juden würden zuverhiettung dergleicher verderblicher proceß, rechtfertigungen und ires wucherlichen besuchs, durch den sie sich [...] in faulcheit und mißigang erhalten, gar uß dem r. reich [Römischen Reich] abgeschafft und ußgetrieben. Wir haben auch nit underlassen bei [...] der nechstverstorbenen kay. Mt. [kaiserlichen Majestät] [...] derwegen etlichmal underthenigst durch missiven anzusuchen und zu bitten, das ir Mt. die juden in iren österreichischen gebütten, unnserem krais zugethon, nit gedulden unnd bei denen vom adel dergleichen auch verfugen wolle. Dann wir nichts liebers gesehen hetten [...], das alle stend im hl. [heiligen] reich disen grewel unnd gemeinen hagel der armen christen ab und ußschaffen. Darzu wir unnseres theils willig und mit ernst gern verhelffen wollend Auch auf dem Augsburger Reichstag von 1566 brachte der Schwäbische Kreis eine entsprechende Supplikation an die Reichsstände vor. Trotz der Bestimmungen der Reichspolizeiordnung von 1530 und des Reichsabschieds 1551 würden die Juden weiterhin im Reich geduldet und ihre Schuldklagen am Hofgericht Rottweil sowie am Landgericht Schwaben zugelassen, obwohl der Judenwucher generell untersagt sei und legitime Verträge nur vor der Obrigkeit des Schuldners abschlossen werden könnten. Daher forderte man die Austreibung der Juden aus dem Reich, es sei denn, man werde sich künftig an die Bestimmungen der Reichsordnungen halten. 44 Man war sich wohl darüber im klaren, daß eine Vertreibung aus dem gesamten Reich eine nicht zu erfüllende - obwohl mehrfach angedachte - Maßnahme darstellte und versuchte daher, wenigstens gewisse Zugeständnisse zu erreichen. Dabei wird wiederum deutlich, daß das Modell der Einflußnahme der großen Landesherrschaften auf die zugehörige Adelsklientel im Bezug auf die Ansiedlung oder Ausweisung von Juden eine probate Handlungsmöglichkeit darstellte. Württemberg hatte so gehandelt und setzte diese Politik auch in der Zukunft weiterhin fort. Der Schwäbische Kreis forderte von Habsburg eine ähnliche Vorgehensweise. Dabei hatten die Kreisstände durchaus übereinstimmende Interessen,

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HStA Stuttgart. C 9. Bd. 186. Fasz. 4. S. 141. Supplikation der Stände des Schwäbischen Kreises an die Reichsstände (lectum Reichsrat 18. April 1566; scriptum Reichsrat 25. April 1566). In: Der Reichstag zu Augsburg 1566. Bearb. von Maximilian Lanzinner und Dietmar Heil. 2. Teilbd. München 2002 (Deutsche Reichstagsakten: Reichsversammlungen 1566-1662). Nr. 435, S. 1454.

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stießen aber auch auf vergleichbare Probleme bei der Durchführung der gewünschten Maßnahmen. Kaiser Ferdinand I. hatte nämlich bereits auf ein Gutachten der Innsbrucker Regierung aus dem Jahr 1558 geschrieben, daß er gesonnen sei, die Juden aus ir Mt. [ihrer Majestät] vorlannden und den schwebischen herrschafften zuvertreiben, dem stehe aber im Weg, das umb die ort alda in derselben vorlannden und gepieten juden wonen, von den nachpaurn, als grafen, herren, adel und Stetten auch juden underhalten werden, die etwa ir Mt. underthanen mer verderben würden, als die, so ir Mt. verjagt hetten. Nach einer erneuten Beratschlagung sah man 1566 keinen anderen Weg, als daß der Kaiser den umliegenden Fürsten, Grafen, Adligen und Städten vom Hof aus schriftlich und ausführlich darlegte, warum er die Juden vertreiben wollte und sie ansuchte, dies gleichfalls zu tun. Auch dürfte den ausgewiesenen Juden der österreichischen Gebiete kein Unterschlupf gewährt werden: Dieweil aber zubesorgen, das solches bey den benachpaurten stennden nitzu erlangen sein würde, so haben wir irer Mt. weitter geratten, das ir Mt. [ihre Majestät] das neben beschehen auspot der juden alßdann in derselben vorlannden und schwebischen herrschafften mandat ausgeen und bei schwerer straff und Verweisung des lands darinnen verpieten Hessen, das yemannd (...) mit khainem außlenndischen oder under frembden herrschafften und gerichten gesessen juden contrahieren oder gewerb treib. Das auch ir Mt. den nachgesetzten obrigkhaiten darinnen ernstlich auferlegt hetten, ob berürten mandaten zu halten etc. Derhalben wir nit gedennckhen khinden, das dem hochlöblichen hauß Osterreich beschwerlich fallen, vil oder wenig daran gelegen, da gleich die schwebischen craiß stennd die begerte ausschaffung der juden oder die erleuterung der angezogenen anno 51 aufgerichten reichs constitution [Reichsabschied 1551] erlanngen sol45

ten. Die letztlich 1573 verfügte, allerdings nicht dauerhafte Ausweisung der Juden aus Vorderösterreich ist daher sicherlich nicht nur auf das stetige Betreiben der Landstände zurückzuführen, sondern auch aus der Perspektive einer Parallelentwicklung auf der Ebene des Schwäbischen Kreises zu sehen. Die große Anzahl antijüdischer Privilegien aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, besonders aus der Regierungszeit Ferdinands I., darunter für die schwäbische Reichsritterschaft aus dem Jahr 1559 - übrigens das erste für eine ritterschaftliche Korporation - , weisen auf die judenpolitischen Bemühungen in Schwaben hin. Friedrich Battenberg hat gezeigt, daß die meisten der antijüdischen Privilegien auf die mindennächtigen Stände des ober- und mittelrheinischen, des fränkischen und des schwäbischen Raumes entfielen 46 Das Erreichen eines sol45 46

GLA Karlsruhe. 79 Ρ 12. Nr. 20. S. 315f. J. Friedrich Battenberg: Die „privilegia contra Iudaeos". Zur Privilegienpraxis der römischdeutschen Kaiser in der Frühen Neuzeit im europäischen Vergleich. In: Das Privileg im europäischen Vergleich. Hg. von Barbara Dölemeyer und Hans Mohnhaupt. Frankfurt a.M. 1999 (Ius Commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechts-

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chen Privilegs konnte, genau wie die Aufnahme von Juden, als legitimierender Bestandteil der Reichsunmittelbarkeit einer Adelsherrschaft angesehen werden, aber auch - vor allem wenn Lehns- oder Dienstverhältnisse bestanden - , als eine ideologische und politische Angleichung an die bestimmenden Landesherrschaften einer Region. Die Rolle Württembergs sollte in diesem Zusammenhang nicht überbewertet, jedoch hinsichtlich ihres Vorbildcharakters auch nicht unterschätzt werden. Zumindest bei Herzog Christoph als überzeugtem Lutheraner kann man auch eine deutliche religiöse Komponente nicht von der Hand weisen, denn nach dem Vertrag mit der Judenschaft im Reich von 1551 kann von einer größeren Belastung von Württemberg selbst durch rottweilische Prozesse oder vergleichbare Verfahren kaum mehr die Rede sein. In Christophs Leichenpredigt und zeitgenössischen Lebensbeschreibungen wird hingegen sein Kampf gegen Ungläubige und Sektierer besonders hervorgehoben, die Juden stehen dabei an erster Stelle: Also seien ir f . G. [Herzog Christoph] gern jedermans diener und freund, aber den verfluchten verstockten juden, auch aller abgötterey, aberglauben, zauberey, ketzereien, schwermereien, gottslösterung und betriebung der kirchen von hertzen feind und zum höchsten zuwider gewesen?1 Noch knapp 200 Jahre nach seinem Tod wurde überliefert, daß es Politiker gegeben habe, die dem Herzog aus finanziellen Erwägungen zur Aufnahme von Juden geraten hätten. Christophs Antwort sei gewesen: Wann sie, die juden, schon sein land voll geld machen könnten, er wolle sie dennoch nicht dulten: dann wie sie ihm getreu seyn und bleiben könnten, da sie doch seinen lieben heyland Jesu Christo treulos worden, und ihn noch täglich so grausam lästerten,48 Nach seinem Tod 1568 erlahmte die antijüdische Aktivität im Schwäbischen Kreis deutlich, da mit ihm offensichtlich die treibende und einflußreichste Kraft weggefallen war. Die Konzentration der Kreisstände in dieser Thematik richtete sich in den folgenden Jahrzehnten weitgehend gegen das Rottweiler Hofgericht, das durch Boykotte und Visitationen erheblich an Kompetenzen einbüßte und trotz vereinzelter jüdischer Schuldklagen nicht mehr an die starke Frequentierung der 1520er bis 1560er Jahre anknüpfen konnte. Darüber hinaus hatten die zeitweiligen Vertreibungen der Juden aus Vorderösterreich 1573 und der Grafschaft Hohenzollern-Hechingen (1576-1634) zu einer weiteren Verminderung des Konfliktpotentials beigetragen. Die Untersuchung der Reichsstadt Reutlingen hinsichtlich der Frequenz rottweilischer Klagen und der Bestrafung von Untertanen wegen verbotenen Geschäften mit Juden zeigt

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geschichte Frankfurt am Main, Sonderhefte. Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte. Bd. 93). S. 85-115. Balthasar Bidembach: Kurzer und wahrhaffter Bericht von dem hochlöblichen und christlichen Leben, auch seligem Absterben Herzog Christophen zu Würtemberg. Tübingen 1570. S. 44. Andreas Christoph Zeller: Ausfuhrliche Merckwürdigkeiten der hochfürstlichen würtembergischen Universitaet und Stadt Tübingen. Tübingen 1743. S. 730.

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einen markanten Rückgang bereits für die 1560er Jahre - sicherlich unterstützt durch ein neues antijüdisches Privileg von 1561 - und ein fast gänzliches Verschwinden dieses Themenkomplexes für den Rest des Jahrhunderts. Die Ausweisung einzelner weniger Schutzjuden des Adels aufgrund württembergischer Initiative, beispielsweise 1583 aus dem Dorf Dürnau (Landkreis Göppingen) der Herren von Zillenhard oder aus dem heimgefallenen Lehen Rhot unter Rietburg (Landkreis Landau-Bad Bergzabern), sind auch noch für die Zeit Herzog Ludwigs (1568-1593) belegbar, doch handelt es sich dabei eher um marginale Vorgänge. Anders als bei seinem Vater Christoph taucht in Ludwigs Lebensbeschreibungen und Leichenpredigten das Thema J u d e n ' nicht mehr auf.

5. Die Rolle der württembergischen Kirche seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Die württembergische Kirche trug ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der Übernahme und Fortführung der lutherischen Judenlehre verstärkt zur religiös-ideologischen Untermauerung der judenfeindlichen Politik des Herzogtums bei. Besonders die protestantischen Theologen der zweiten Generation traten hierbei hervor, beispielsweise Jakob Andreae, der Vater der Konkordienformel, von 1562-1590 Rektor der Universität Tübingen und einer der einflußreichsten Theologen seiner Zeit. Im Jahr 1565 war er beispielsweise als Prediger in (Dettingen zu Gast, einer Stadt, in der zu dieser Zeit Protestanten, Katholiken und Juden lebten. Ein Zitat aus der Einleitung seiner Predigt sei hier aufgeführt: Von den juden daselbsten würdt unser herr Christus täglich auff das hefftigest gelästert, geschendt und verflucht, den sie ein gehenckten, verfluchten galgensprissel nennen, der sein lehr und wunderwerck durch den teüffel furgetriben und außgebracht habe. Dise leüt sollen under den christen platz, schütz und schirm haben?49 Diese Koexistenz lehnte Andreae entschieden ab, abgesehen davon, daß die Katholiken im Folgenden noch schärfer attackiert wurden. Jahre später holte er im Rahmen der Vier Christlichen Predigten vom Wucher vehement gegen die Juden aus und brachte die üblichen Anschuldigungen vor, wobei die Gotteslästerung erneut an erster Stelle stand. Verbunden war die Attacke mit einer klaren Empfehlung an die Obrigkeiten, keine Juden in ihren Territorien aufzunehmen. Der zusätzliche Vorwurf der Teufelsanhängerschaft der Juden wurde im Zusammenhang mit ihrer Glaubenseinheit geäußert: Dann wo findet man grösser und beständiger einigkeit im glauben, als bey den Juden? Es komme ein jude auß Hispania, Welschland, auß Constantinopel, Jerusalem, woher er wolle, so ist ein jude ein jude, und würdt die wenigste Uneinigkeit im glauben unter inen nicht 49

Jakob Andreae: Vier christliche Predigten. Vom Leiden Christi. Vom Fußwaschen. Von der Aufferstehung Christi. Von der Meß und Gebrauch einer Gestalt des Sacraments. Gehalten zu Öttingen. Tübingen 1565. (Ohne Seitenangabe).

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gehöret. Sollte aber darumb der jüdisch glaube der recht glaube sein? Nein, es folget nicht, und warum soll sie der Teuffei im glauben uneins machen? Dann sie dienen ihme nach allem seinen willen.50 Die kontinuierliche theologische Untermauerung der Judenfeindschaft in Württemberg wird anschaulich durch eine Episode aus der Regierungszeit Herzog Friedrichs (1593-1608) dokumentiert, dem ersten württembergischen Vertreter eines merkantilistisch orientierten Frühabsolutismus. Friedrich, der selbst öfter Kredite von jüdischen Geldgebern aufnahm, plante 1598 die Handelsgesellschaft des italienischen Juden Maggino Gabrieli, zunächst in Stuttgart und dann, nach erheblichen Protesten, im Dorf Neidlingen anzusiedeln.51 Der Herzog beabsichtigte mit dieser Maßnahme wirtschaftliche Impulse - insbesondere im Hinblick auf Luxusgüter - zu setzen. Obwohl strenge Vorkehrungen und Reglementierungen der ,hebräischen Kaufleute' - man versuchte von herzoglicher Seite das Reizwort ,Juden' tunlichst zu vermeiden - getroffen wurden, liefen Landstände, Räte und vor allem die Kirche Sturm gegen Friedrichs Pläne. Die Handelsgesellschaft umfaßte sieben Juden mit ihren Familien und Dienstboten. Die geistlichen Räte und Prälaten warnten im März 1598 dennoch vor Brunnenvergiftung, Ritualmorden, Wucher und wiederum besonders der Gotteslästerung. Luther habe drei Jahre vor seinem Tod das Buch ,Von den Juden und ihren Lügen' geschrieben, eine Warnung an Herrschaft, Kirchendiener und alle Christen, sich vor den Juden zu hüten. Obrigkeiten, bei denen sich Juden einnisten wollten, sollten dieses Buch mit Fleiß lesen. Darum baten die Geistlichen um des Blutes Christi Willen, welches die Juden vergossen hätten und noch auf ihrem Hals tragen würden, die Gotteslästerung in Stadt und Land abzuschaffen, damit Gott nicht allerley fluch schickhe.52 Am heftigsten protestierte der Adelberger Prälat Lucas Oslander. Seine umfangreichen Ausführungen sind gewissermaßen eine Zusammenfassung der antijüdischen Stereotype der Epoche und stehen im Kontext der Polemiken um die ,Toldot Jeschu'-Darstellungen, in denen aus jüdischer Perspektive das Leben und die Wunder Jesu in parodistischer Form interpretiert wurden:53 Die Juden seien die erklärten Feinde Christi, lästerten ihn (wie Konvertiten in Druckwerken berichteten), lehrten ihren Weibern und Kindern, daß Jesus ein Hurenkind und Maria eine Hure sei, die Jesus während der Menstruation empfangen habe. Die Wunder Christi betrachteten sie als Zauberei, wegen seiner bösen Stücke habe

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Jacob Andreae: Vier Christliche Predigten vom Wucher. [...]. Tübingen 1589. S. 173. Paul Sauer: Herzog Friedrich I. von Württemberg 1557-1608. Ungestümer Reformer und weltgewandter Autokrat. München 2003. HStA Stuttgart. A 56. Bü 11. Fasz. 1. Ql. Vgl. Manuela Niesner, Einführung. In: Das jüdische Leben Jesu - Toldot Jeschu. Die älteste lateinische Übersetzung in den Falsitates Judeorum von Thomas Ebendorfer. Kritisch hg., eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Brigitta Callsen, Fritz Peter Knapp, Manuela Niesner und Martin Przybilski. Wien; München 2003 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Bd. 39). S. 13-33. V. a. S. 13-18, dort mit weiterer Literatur.

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man ihn ans Kreuz gehängt und so würden ihn die Juden ,den Gehenkten' nennen. Am Rand hatte er notiert: Nota. Wann e. f . Gn. wollen wissen, was die juden fiir leut seyen, so mögen sie lesen Doctor Luthers zwey büchlin, von den juden unnd iren lügen und von der juden Schemhamphoras. Weiter seien die Juden sogar schlimmer als die Türken, die Christus immerhin für einen hohen Propheten hielten und die Jungfrauengeburt glaubten: Darumb siend auch die juden ein verflucht, vermaledeit und von Gott ein verworffen und verdambt volck, des teufels leibaigen mit leib und seel und dermassen [...] verblendet und verstockt, das under vil tausenden, kaum ainer sich zu recht und wahrhafftig zu Christo bekheret,54 Ein Christ, der mit Juden Gemeinschaft pflege und Geschäfte mache, geselle sich zu den Feinden des Erlösers und mache sich ihrer Gotteslästerung sowie ihrer teuflischen Bosheit teilhaftig. Damit zielte Oslander eindeutig auf den Herzog. Weiter empfahl er: Darumb soll man ein juden halten, wie einen juden: das ist wie ein mancipium [Eigentum/Sklave] und leibaigenen gefangenen mann des heiligen römischen reichs. Die juden sind allen christen spinnen feind und wann sie stark gnug weren, würden sie sich umbsehn, alle christen vom erdboden zu vertilgen. Auch wies er nachdrücklich auf die von Chronisten überlieferten Exempel jüdischer Ritualmorde und Brunnenvergiftungen hin. Wer sein Leben daher einem Juden anvertraue, vertraue es seinem ärgsten Feind an. Wo sich die Juden in einem Land einnisteten, verdürben sie es überdies grundsätzlich mit ihrem Wucher und brächten das Volk an den Bettelstab. Die Konsequenz war klar: Wer nun die lesterer unsers herrn und hailands christi und der christen und schinder des armen manns, auch verrether der Christenheit, in seinem land haben will, der mag den juden underschlauff geben.55 Diese Denkschrift erregte - nicht gerade überraschend - Herzog Friedrichs erheblichen Zorn, Oslander wurde mit höchster Ungnade in den Ruhestand versetzt, doch aufgrund immer weiterer Einschränkungen scheiterte dann auch die längerfristige Niederlassung der jüdischen Handelsgesellschaft in Neidlingen.

6. Vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des Alten Reichs Die eingangs aufgeführte Episode aus dem Jahr 1615 verdeutlichte bereits das weitgehende Verschwinden der Juden aus dem direkten württembergischen Umfeld zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Tauchen in württembergischen Quellen aus dieser Zeit dennoch Juden auf, so kamen diese zumeist aus dem bayerischschwäbischen Raum oder der Grafschaft Oettingen. Erst im Zeithorizont des Dreißigjährigen Krieges gerieten die Juden in Württemberg wieder verstärkt in den Blickpunkt. Am 28. Mai 1629 wies die Regie54 55

HStA Stuttgart. A 56. Bü 11. Fasz. 3. Q 1-3. HStA Stuttgart. A 56. Bü 11. Fasz. 3. Q 1-3.

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rung in einer Generalausschreibung der Juden halber an Amtleute, Bürgermeister und Gericht darauf hin, daß trotz Landesordnung und Verboten der Handel sowie die Leihe mit Juden wieder zunehme, was man nicht länger zu tolerieren gewillt sei. Der Befehl an die Amtleute lautete, in den Städten und Dörfern die entsprechenden Verbotsmandate öffentlich zu verlesen und die drohenden Strafen hervorzuheben. Juden dürften nach wie vor nur unter Geleit durchreisen, ohne unterwegs Handel zu treiben. Ein Aufenthalt sei nur zu gegebenen Zeiten und mit patenten oder pass gestattet, die bei Zuwiderhandlungen abzufordern seien und an die Kanzlei überschickt werden müßten.56 Wieder hatten Prälaten und Landstände über die Juden geklagt. Hintergrund war dabei auch ein von Herzog Johann Friedrich ausgestelltes Patent zur Silberbeschaffung für Wolf Jud zu Poltringen (Ammerbuch-Poltringen, Lkr. Tübingen) vom 22. Oktober 1625. Johann Friedrich hatte den Juden beauftragt, für unsere müntz stett in St. Christophstal allerhandt silber, so wohl in unserem herzogthumb Würtemberg, alß auch anderer orten ußerhalb landts zuerkhaufen und aufzubringen, dergestalten, daß er aller erhandelt und aufgebracht silber einig und allein zubesagter unserer müntzstett St. Christophsthal anliefern soll.51 Gestützt auf dieses Patent und aufgrund der in Württemberg seit 1634 kriegsbedingten, bisweilen chaotischen Zustände,58 konnte sich eine gewisse Zahl von Juden in Stuttgart ansiedeln. Noch im November 1640 beklagten die Stuttgarter Bürger sich zum höchsten über die weiterhin in der Stadt wohnenden Juden, verwiesen auf das mehrfache Ansuchen des großen Landschaftsausschusses und baten um die Ausschaffung. 59 Die Landschaftsvertreter hatten sich bereits zwei Jahre zuvor mit den Juden befaßt, welche sich in zeit gemehrter kay. [kaiserlicher] Regierung eingeschlichen, die also während der kaiserlichen Besatzungszeit teilweise auch wegen der großen Kriegsgefahr nach Stuttgart geflüchtet waren.60 Ein abschließender Blick ins frühe 18. Jahrhundert belegt, daß einerseits die traditionelle Judenpolitik fortgeführt wurde, andererseits aber sich eine kleine Zahl Juden aufgrund besonderer Begünstigung der Herzöge längerfristig in der Nähe der Residenzen sowie in einigen Kammerschreibereiorten halten konnte.61 Am 2. November 1706 verwies die Regierung dennoch in einer gedruckten Generalausschreibung auf die entsprechenden Paragraphen der Landesordnung sowie 56 57 58

59 60 61

HStA Stuttgart. A 34. Bü 45b. Lit F. Nr. 9. HStA Stuttgart. L 5. Bd. 39. S. 478. Herzog Eberhard III. war nach der Schlacht von Nördlingen aus dem Land geflohen und erhielt nach seiner Rückkehr zunächst nur einen Teil desselben zurück. Vgl. D. Mertens (Anm. 9) S. 125-130. HStA Stuttgart. L 5. Bd. 40. S. 154f. HStA Stuttgart. L 5. Bd. 39. S. 471 f. Siehe dazu ausführlich: Martin Jung: Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1675-1780). Berlin 1992. Kammerschreibereiorte waren Dörfer, die von Württemberg erworben und nicht in das Herzogtum inkorporiert wurden, also nicht in den Zuständigkeitsbereich der Landschaft fielen. Unter anderem waren dies Gochsheim, Affaltrach, Horkheim, Freudental, Aldingen, Zaberfeld und Hochberg. Vgl. Jung S. 105-113.

Die Judenpolitik des Herzogtums

Württemberg

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die Judenbestimmungen der Reichsabschiede des 16. Jahrhunderts und stellte fest, daß nach diesen Gesetzen nur allzu wenig gelebt würde und sie nach und nach [...] fast aufgebebt und annulliert zu seyn scheinen wollen, dergestalten, daß sowohl unsere unterthanen als die juden die gedancken gekommen, als ob der freye ungehinderte wandel zwischen ihnen erlaubt wäre.62 Die Umsetzung solcher Ausschreiben wurde allerdings meistens eher moderat gehandhabt. Ende 1712 wandte sich der große Landschaftsausschuß gegen die Aufnahme von Juden durch den Herzog bay dero hofstaat und residenz63 Man befürchtete, daß die anscheinend in Stuttgart und Marbach wohnenden Juden schädliche consequentien und wirkhungen, ja gar ein damnum irreparabile durch derselben wucherlich und betrüglich gewerb und handthierungen, im kaufen und verkaufen, [...] denen verburgerten kauf- und handelsleuthen im land mit sich bringen würden. Auch im Folgejahr versuchten die Ausschußvertreter, dieses schädliche juden geschmeiß aus dem land zuschaffen, zudem hätten die Juden durch besondere Patente eine Befreiung von Zoll, Maut, Geleit und anderen Beschwerden. Solche Privilegien seien keinem Christen gegeben und gingen auch der heylsamlich eingeführten landtsordung schnurstracks entgegen64 Daß dieses Ansinnen beim Herzog offenbar nicht zum gewünschten Erfolg führte, zeigen die im August 1715 angebrachten, hauptsächlich ökonomisch begründeten Beschwerden des kleinen Ausschusses über die fortgesetzte Duldung der Juden, die wider eitern, von ihro kayß. Mayt. [kaiserlichen Majestät] selbsten confirmierte landtsordnung für große beschwernußen bey der christen handelschafft, sonderlich allhier in Stuttgardt, causiert [verursacht] werden, in dem sie nicht allein öffentlich allhier herum vagiren, haußieren und [...] mit warheith sogenanten schädliche würme sich bezeugen, sondern auch [...] in dem land dergleichen thun und die leuthe außzusaugen, [...] mit welchen doch zu commercirn außer denn ofentlichen jahrmärckten [...] bey strafe leib undguths verbotten ist.65 Der Konflikt zwischen den Herzögen und den um ihr schwindendes Mitspracherecht besorgten Landständen über die Duldung von Hoijuden zog sich weit ins 18. Jahrhundert hinein und gipfelte im Justizmord an Joseph Süß Oppenheimer. Er diente den Landständen als Sündenbock für die gegen ihre Interessen laufende Politik Herzog Karl Alexanders. 66 Doch selbst dieses Ereignis verhinderte nicht, dass auch danach Juden für den württembergischen Hof tätig waren. Zusammen mit den Kammerschreibereiorten ergab sich sogar zeitweilig eine jüdische Bevölkerung von über 300 Personen, was aber für die Gesamtbevölkerung Altwürttembergs (787.000 Menschen im Jahr 1803) einen äußerst geringen Anteil ausmachte. 67 Trotzdem verhinderten 62 63 64 65 66 67

HStA Stuttgart. L 5. Bd. 116b. S. 128-130. HStA Stuttgart. L 5. Bd. 124. S. 636-639. HStA Stuttgart. L 5. Bd. 125. S. 415-417. HStA Stuttgart. L 5. Bd. 126. S. 479f. Jung(Anm. 61) S. 174-184. Jung(Anm. 61) S. 277-288.

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noch 1798 die Ständevertreter durch ihren Widerstand das Wohn- und Aufenthaltsrecht der Hoffaktorenfamilie Kaulla in Stuttgart.68 Das Negativbild der ,nagenden Würmer' hatte sich in Württembergs Landständen und Kirche von seiner ersten Formulierung 1498 an kontinuierlich gehalten und wirkte bis zum Ende des Alten Reiches fort. Erst spät und nur in wenigen Fällen, wie beispielsweise in Jebenhausen (1777) oder Wankheim (1776) konnten sich Juden in größerem Umfang unter württembergischen Lehnsleuten bzw. in württembergischen Kerngebieten ansiedeln.

7. Zusammenfassung Anhand dieses Aufsatzes sollte gezeigt werden, daß auch Landesherrschaften, die selbst keine Juden innerhalb ihrer Grenzen duldeten, erheblichen Einfluß auf das jüdische Leben einer Region besitzen konnten. Württemberg war hier sicherlich kein Einzelfall, gerade ein Vergleich mit Bayern könnte im Hinblick auf diese Fragestellung weitere Erkenntnisse bringen. Auch eine intensive Analyse der landesherrlichen Politik der Habsburger in den österreichischen Vorlanden ist bei der Bearbeitung dieses Themenkomplexes von Bedeutung, besonders auch im Blick auf den Lehns- und Dienstadel. Für den niederschwäbischen Bereich ist klar erkennbar, daß eine Aufnahme von Juden größtenteils erst ab den 1520er Jahren erfolgte, ein Indikator für die zunehmende Emanzipation des Adels aus den Territorien in die Reichsunmittelbarkeit. Die restriktive Einwirkung regional dominanter Landesherrschaften auf jüdische Ansiedlungen in kleineren Nachbarterritorien und bei der Adelsklientel wird am Beispiel Württemberg sowohl in aktiv politischer als auch in ideologischer Weise deutlich. Bei den antijüdischen Bestrebungen des Schwäbischen Kreises war Herzog Christoph von Württemberg ferner die treibende und koordinierende Kraft. Seine Versuche, die Idee einer reichsweiten Austreibung auf die Agenda des Reiches zu bringen, waren freilich unrealistisch und wurden nach seinem Tod nicht fortgeführt. Zentraler Konfliktpunkt mit den Juden war bis etwa zu den 1580er/1590er Jahren deren Klagemöglichkeit vor dem Hofgericht Rottweil und die häufig damit verbundenen Folgeprozesse vor dem Reichskammergericht. Der Rückgang jüdischer Klagen aus dem niederschwäbischen Gebiet ist durch einen Bedeutungsverlust der Gerichte im Fortgang des 16. Jahrhunderts, eine zeitweilige starke Reduzierung der jüdischen Ansiedlungen in der Region und der zunehmenden Territorialisierung der Juden erklärbar.

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Kerstin Hebell: Madame Kaulla und ihr Clan - Das Kleinterritorium als individuelle Nische und ökonomisches Sprungbrett. In: Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert. Hg. von Rotraud Ries und J. Friedrich Battenberg. Hamburg 2002 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden. Bd. XXV). S. 332-348, hierS. 341.

Die Judenpolitik

des Herzogtums

Württemberg

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Am Herzogtum Württemberg kann man aber auch erkennen, welche Faktoren für Zielrichtung, Fortdauer und Konsequenz der Judenpolitik bestimmend waren: die in Württemberg traditionell sehr einflußreichen Landstände als kontinuierlicher Motor der Judenfeindschaft, die württembergische Kirche, die verstärkt nach der Einführung der lutherischen Reformation eine religiös-ideologische Untermauerung lieferte und die Persönlichkeiten der jeweiligen Herzöge. Diese teilten, wie vor allem Christoph und Ludwig, ohnehin die Meinung von Landschaft und Kirche oder beugten sich wie Friedrich dem Druck, der jede Abweichung von den bisherigen Richtlinien nahezu unmöglich machte. Im 17. und 18. Jahrhundert bildete die Duldung von Juden einen der zahlreichen Streitpunkte zwischen den um ihre alten Mitbestimmungsrechte besorgten Landständen und den absolutistischen Herzögen, die ihrerseits auf die Dienste von Hofjuden nicht verzichten wollten. Diese Auseinandersetzungen sind immer auch als Machtprobe zwischen dem Regenten und den Ständen sowie der auf diesem Feld eindeutig eine antijüdische Position beziehenden Kirche zu betrachten. Eine generelle Wiederaufnahme von Juden war undurchsetzbar und von den Regenten wohl nie wirklich angestrebt, doch eine Etablierung von Hofjuden im Herzogtum sowie die Duldung jüdischer Bewohner in einigen Kammerschreibereiorten konnten auch die Stände nicht dauerhaft unterbinden. 69 Dennoch blieb Württemberg, wie auch die Mehrheit der benachbarten südwestdeutschen Reichsstädte, den Juden bis zum Ende des Alten Reiches als Siedlungsgebiet weitgehend verschlossen.

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Eine Untersuchung der württembergischen Hofjuden vor und nach Joseph Süß Oppenheimer stellt noch ein großes Forschungsdesiderat dar.

Die niederösterreichische „Landjudenschaft". Innerjüdische Organisationsformen im regionalen Vergleich Barbara Staudinger

1. Voraussetzungen: Die jüdischen Landgemeinden in der Frühen Neuzeit Nach den spätmittelalterlichen Vertreibungen änderten sich die Lebensbedingungen für die Juden im Heiligen Römischen Reich grundlegend. Mehrheitlich wohnten sie nun nicht mehr in städtischen Gemeinden, sondern auf dem Land, in Kleinstädten, Märkten und Dörfern, zumeist in Klein- und Kleinstsiedlungen ohne oder mit nur rudimentären gemeindlichen Strukturen. 1 So dicht das Gemeindenetz in den jüdischen Siedlungszentren des Heiligen Römischen Reichs im 16. und 17. Jahrhundert, Schwaben, Franken und Niederösterreich, auch scheinen mag, zumeist lebten nur wenige Familien an einem Ort. Sogenannte Judendörfer', in denen Juden einen wesentlichen Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmachten und sogar die Zahl der Christen übersteigen konnten, waren erst ein Phänomen des späten 17. und 18. Jahrhunderts, besonders im vorderösterreichisch-schwäbischen, aber auch im fränkischen Raum. 2 Davor erreichten nur

2

Zum Landjudentum vgl. ζ. B. Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Hg. von Rolf Kießling, Sabine Ulimann. Berlin 1999 (Colloquia Augustana. Bd. 10); Stefan Rohrbacher: Die Entstehung der jüdischen Landgemeinden. In: Mappot ... gesegnet, der da kommt. Das Band jüdischer Tradition. Hg. von Annette Weber, Evelyn Friedlander, Fritz Armbruster. Osnabrück 1997. S. 35-41; J. Friedrich Battenberg: Aus der Stadt auf das Land? Zur Vertreibung und Neuansiedlung der Juden im Heiligen Römischen Reich. In: Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. Hg. von Monika Richarz, Reinhard Rürup. Tübingen 1997 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck-Instituts 56). S. 9-35. Vgl. Rolf Kießling, Sabine Ulimann: Christlich-jüdische „Doppelgemeinden" in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau während des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Jüdische Ge-

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Barbara Staudinger

wenige jüdische Gemeinden eine Größe von über 20 Haushalten - in Niederösterreich, wo in den Jahren 1669/71 ca. 54 Orte mit jüdischer Bevölkerung existierten, waren dies mit Waidhofen an der Thaya, Weitersfeld, Groß-Schweinbarth, Bockfließ, Achau, Zwölfaxing und Ebenfurth gerade einmal sieben Orte, wobei von der Residenzstadt Wien abgesehen - allein letztere Gemeinde mit 45 Haushalten fast zehn Prozent der jüdischen Bewohner des Landes umfaßte.3 Die Mehrzahl der Ansiedlungen kam hingegen nur auf eine Zahl von bis zu zehn Familien. In Schwaben war die Siedlungsstruktur ähnlich. Dort konzentrierte sich die jüdische Bevölkerung erst im Verlauf des 17. Jahrhunderts auf mehrere größere Gemeinden.4 Insbesondere im 16., aber auch noch im 17. Jahrhundert waren hingegen zahlreiche Siedlungen nicht einmal imstande, selbständig einen Minjan, also mindestens 10 erwachsene Männer für den Gottesdienst, zustande zu bringen. Zumindest an den hohen Feiertagen ging man daher zur nächstgelegenen größeren Siedlung oder zu einem Ort, an dem mehrere Juden zusammenkamen. Und wahrscheinlich mußten häufig ähnlich pragmatische Lösungen getroffen werden wie in einem Mauthaus in der Nähe des niederösterreichischen Wilfersdorf, in dem das Gebet der zum Fast- und Trauertag Tisch 'a be-Aw Versammelten wegen der Arbeit des (jüdischen) Mautners immer wieder unterbrochen werden mußte.5 Dieses Beispiel könnte durch andere ergänzt werden, was es aber deutlich zeigt, ist eine Struktur der frühneuzeitlichen Landgemeinde (oder auch oft gerade das Fehlen einer solchen), die sich von ihren mittelalterlichen Vorgängerinnen grundsätzlich unterschied. Zwar waren Tradition und Funktion der religiösen Gemeinde weitgehend gleich geblieben, sie war weiterhin zentraler Baustein für das religiöse wie das soziale und politische Leben der Juden, doch hatten sich die Rahmenbedingungen radikal geändert. Schon allein aufgrund der mangelnden Größe konnten in den meisten Landgemeinden die Strukturen und Institutionen

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meinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von Christoph Cluse, Alfred Haverkamp, Israel J. Yuval. Hannover 2003 (Forschungen zur Geschichte der Juden. Abt. A: Abhandlungen 13). S. 513-534; Sabine Ullmann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650-1750. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 151). Vgl. zu Niederösterreich: Barbara Staudinger: „Gantze Dörffer voll Juden". Juden in Niederösterreich 1496-1670. Wien 2005, v.a. Tabelle 2, S. 51f. Vgl. auch den Beitrag von Peter Rauscher in diesem Band. Vgl. den Überblick bei Barbara Staudinger: Die Zeit der Landjuden und der Wiener Judenstadt 1496-1670/71. In: Eveline Brugger, Martha Keil, Albert Lichtblau, Christoph Lind, Barbara Staudinger: Geschichte der Juden in Österreich. Wien 2006 (Österreichische Geschichte). S. 229-337, hier S. 242-245. Vgl. auch Stefan Rohrbacher: Organisationsformen der süddeutschen Juden in der Frühneuzeit. In: Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Robert Jütte, Abraham P. Kustermann. Wien, Köln, Weimar 1996 (Aschkenas. Beiheft 3). S. 137-149, hier S. 141. B. Staudinger (Anm. 3) S. 277. Stefan Rohrbacher: Stadt und Land. Zur „inneren" Situation der süd- und westdeutschen Juden in der Frühneuzeit. In: Jüdisches Leben (Anm. 2) S. 3758.

Die niederösterreichische

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„Landjudenschaft"

einer idealtypischen jüdischen Gemeinde mit Synagoge, Friedhof, Mikwe, Fleischbank etc. nur rudimentär ausgebildet werden. 6 Während daher noch im Spätmittelalter genau zwischen einer vollgültigen Gemeinde (Kehilla), einer Gemeinschaft ohne vollen Rechtsstatus (Chawura) und einer bloßen Ansiedlung (Jischuw) unterschieden werden konnte, wurde diese Differenzierung in der Frühen Neuzeit, in der vollwertige Gemeinden eine Minderheit darstellten, aufgegeben. Als Kehilla wurden nun auch Siedlungen, die offensichtlich nur über einen geringen Institutionalisierungsgrad verfugten, bezeichnet. Die religiöse Gemeinde, auch wenn sie nicht in einem mittelalterlichen Sinne bestand, blieb jedoch das Rückgrad jüdischen Lebens. Daher war man in einer Zeit, in der die Mehrzahl der Juden auf dem Land lebte und wenig Gemeinden in größeren Ansiedlungen existierten, mehr denn je auf überkommunale Zusammenschlüsse angewiesen, um jüdisches Leben aufrecht erhalten zu können. Nicht nur die Tatsache, daß Friedhöfe oder Synagogen von mehreren Gemeinden genutzt wurden, weist auf die Alltäglichkeit von zwischengemeindlichem Austausch und Kooperation hin, auch hebräische Selbstzeugnisse wie die Memoiren des Ascher Levy aus dem elsässischen Reichshofen, der - wie viele andere auch - zum Studium seine Heimat verließ 7 oder eine hebräische Chronik aus Groß-Schweinbarth belegen, daß die Mobilität zwischen den Landgemeinden in der Frühen Neuzeit 8

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groß war. Doch hatte ein Austausch in dieser Form in der Regel keinen institutionellen Rahmen, sondern orientierte sich vielmehr entweder an Familienverbindungen bzw. an - sich oft damit überschneidenden - wirtschaftlichen Beziehungen oder schlicht an der geographischen Lage bzw. politischen Notwendigkeiten.

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Grundlegend zur mittelalterlichen Gemeinde: Mordechai Breuer, Yacov Guggenheim: Die jüdische Gemeinde, Gesellschaft und Kultur. In: GJ III/3: 1350-1519. Hg. von Arye Maimon, Mordechai Breuer, Yacov Guggenheim. Tübingen 2003. S. 2079-2138. Zur Frühen Neuzeit: Stefan Rohrbacher: Die jüdischen Gemeinden in den Medinot Aschkenas zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. In: Jüdische Gemeinden (Anm. 2) S. 451-463; S. Rohrbacher (Anm. 4); Rolf Kießling: Religiöses Leben in den Judengemeinden. In: Kirchengeschichte und Volksfrömmigkeit. Hg. von Walter Pötzl. Augsburg 1994 (Der Landkreis Augsburg. Bd. 5). S. 327-343. Vgl. Die Memoiren des Ascher Levy aus Reichshofen im Elsaß (1598-1635). Hg. von Moses Ginsburger. Berlin 1913. Zur Chronik siehe Kobez al Yad. Minora Manuscripta Hebraica. Bd. XVIII (XXVIII). Jerusalem 2005 (hebr.). Viele weitere Beispiele für diese Mobilität finden sich etwa bei Stefan Rohrbacher, „Er erlaubt es uns, ihm folgen wir". Frömmigkeit und religiöse Praxis im ländlichen Alltag. In: Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Berlin, Wien 2004. S. 271-282; Stefan Rohrbacher: Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit. In: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Hg. von Rolf Kießling. Berlin 1995 (Colloquia Augustana. Bd. 2). S. 80-109, hier S. 93-95, sowie in dem Beitrag von Wolfgang Treue in diesem Band.

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2. Überregionale Zusammenschlüsse: Die Gemeine Judenschaft des Reiches Bevor sich mit den Landesjudenschaften auf regionaler oder übergemeindlicher Ebene wirksame Einheiten verfestigen konnten, existierte bereits eine andere Organisationsform, nämlich die der , Gemeinen Judenschaft' als Vertretung aller Juden im Heiligen Römischen Reich. Zu den geschilderten siedlungsgeschichtlichen Voraussetzungen kamen in der Frühen Neuzeit auch veränderte rechtliche Rahmenbedingungen, die das Leben der Juden in Aschkenas wesentlich prägten.9 Neben die kaiserliche Schutzherrschaft, die aus der mittelalterlichen Kammerknechtschaft der Juden resultierte, traten spätestens ab dem 16. Jahrhundert die Territorialfürsten, die als Inhaber des Judenregals eigenständig Judenpolitik betrieben und fiskalischen Nutzen von den in ihren Ländern ansässigen Juden zogen. Auch wenn die habsburgischen Kaiser ihren Anspruch auf die oberste Schutzherrschaft über die Juden des Reiches grundsätzlich nicht aufgaben und ihn auch mittels Privilegien (wie etwa durch das Speyrer Privileg von 1544) durchzusetzen versuchten, erfolgte der konkrete Judenschutz in der Frühen Neuzeit auf der Ebene der Territorien. 1544 war auf dem Reichstag in Speyer ein kaiserliches Privileg auf Initiative des unterelsässischen Vorstehers (Parnaß) Josel von Rosheim (ca. 1478-1554),10 ,Befehlshaber' und Fürsprecher der ,Gemeinen Judenschaft', erwirkt worden. Unter ihm gelang es - nicht ohne Anlehnung an mittelalterliche Vorläufer - , eine reichsweite Organisation der Juden aufzubauen, deren Gesandte die Rechte der Judenschaft - nicht zuletzt durch intensive Inanspruchnahme der Reichsgerichte gegenüber dem Kaiser vertreten sollten.11 In ihrer internen Organisation wurde die Gemeine Judenschaft im 16. Jahrhundert nicht nur durch die starke Fürspre-

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Dazu ausführlich Friedrich Battenberg: Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühen Neuzeit zwischen Reich und Territorien. In: Judengemeinden (Anm. 8) S. 5379; ders.: Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlich-sozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und früher Neuzeit. HZ 245. 1987. S. 545-599. Dort mit weiterer Literatur. Zu kaiserlichen Versuchen fiskalischen Nutzen aus den Juden des Reiches zu ziehen, vgl. Peter Rauscher, Barbara Staudinger: Widerspenstige Kammerknechte. Die kaiserlichen Maßnahmen zur Erhebung von „Kronsteuer" und „Goldenem Opferpfennig" in der Frühen Neuzeit. In: Aschkenas 14. 2004. S. 313-363. Zur Person und Wirkung Joseis: Ludwig Feilchenfeld: Rabbi Josel von Rosheim. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland im Reformationszeitalter. Straßburg 1898; Selma Stern: Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Stuttgart 1959; J. Friedrich Battenberg: „Rosheim, Josel von". In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 29. Hg. von Gerhard Müller. Berlin, New York 1998. S. 424-427; Edition: Joseph of Rosheim: Historical Writings. Hg. von Chava FraenkelGoldschmidt. Jerusalem 1996 (hebr.). Beispiele bei S. Stern (Anm. 10) bes. S. 189-206; L. Feilchenfeld (Anm. 10) passim. Vgl. den Beitrag von Rotraud Ries in diesem Band.

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„Landjudenschaft"

cherschaft Joseis, sondern auch durch die Einsetzung eines Reichsrabbiners, der 12

den Rabbinaten der Länder vorstand, gestärkt. Der Einfluß der reichsweiten Organisation der Judenschaft war allerdings nur von relativ kurzer Dauer. Nach dem Tod Joseis bestand sie zwar noch einige Jahrzehnte fort, erlangte jedoch nicht mehr ihre frühere Bedeutung.13 Ihr Ende nahm sie schließlich im jahrzehntelangen Konflikt um die sogenannte frankfurter Rabbinerversammlung' (,Rabbinerverschwörung') von 1603.14 In der Folge verlagerten sich innerjüdische Organisationsformen von der Reichs- auf die territoriale Ebene, von der Gemeinen Judenschaft auf die Landesjudenschaften. Während noch Ende des 16. Jahrhunderts zeitweise die Prager Ältesten die Vertretung der ,Gemeinen Judenschaft' übernommen hatten, beanspruchten in der Folge zwar die Judenschaften von Frankfurt und Worms eine ähnliche Stellung für die Juden des Reiches, konnten sich damit aber nicht vollständig durchsetzen.15 Diese Schwächung der internen Organisation der Judenschaft des Reiches korrespondierte mit der kaiserlichen Judenpolitik in der Frühen Neuzeit. Hatten die habsburgischen Kaiser im 16. Jahrhundert ζ. B. mit dem Speyrer Privileg noch 12

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Vgl. Yacov Guggenheim: „A suis paribus et non aliis iudicentur": Jüdische Gerichtsbarkeit, ihre Kontrolle durch die christliche Herrschaft und die „obersten rabi gemeiner Judenschafft im heiigen Reich". In: Jüdische Gemeinden (Anm. 2) S. 405-439, hier S. 412-424, 435-437 (zur mittelalterlichen Autonomie und Vertretung); Moritz Stern: Die Wormser Reichsrabbiner Samuel und Jakob, 1521-1579. Berlin 1937; Eric Zimmer: Jewish Synods in Germany During the Late Middle Ages (1286-1603). New York 1978. Rotraud Ries: Alte Herausforderungen unter neuen Bedingungen? Zur politischen Rolle der Elite in der Judenschaft des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. In: Hofjuden (Anm. 8). S. 91-141, hier S. 106f. Zu den Vertretern nach Josel siehe Stefan Litt: Joachim Ferber von Nordhausen - Gesandter der deutschen Juden am kaiserlichen Hof? In: Aschkenas 9. 1999. S. 145-150; Daniel J. Cohen: Cosman zum Rade - Emmissary of the Jews of Germany in the 1560's. In: Zion 35. 1970. S. 117-126 (hebr.); Bernhard Brilling: Die Prager jüdische Gemeinde als Fürsprecherin und Vertreterin des deutschen Judentums im 16. und 17. Jahrhundert. In: Theokratia. Jahrbuch des Institutum Judaicum Delitzschianum 3. 1973-1975. Leiden 1979. S. 185-198; Arno Herzig: Die Judischheit teutscher Nation. Zur Krise der deutschen Juden im Reich im 16. und 17. Jahrhundert. In: Aschkenas 4. 1994. S. 127-132. Birgit Klein: Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich. Hildesheim, Zürich, New York 2003 (Netiva 5); ältere Darstellungen: Marcus Horovitz: Die Frankfurter Rabbinerversammlung vom Jahre 1603. Frankfurt/Main 1897; Volker Press: Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluß der deutschen Judenheit. Die sogenannte Frankfurter Rabbinerverschwörung von 1603 und ihre Folgen. In: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Alfred Haverkamp. Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 24). S. 243-293; Mordechai Breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: Mordechai Breuer, Michael Graetz: Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd. I: Tradition und Aufklärung 1600-1780. München 1996. S. 85-247, hier S. 91-94. Zu Frankfurt und Worms siehe A. Herzig (Anm. 13) S. 130f. Zur Prager Gemeinde: B. Brilling (Anm. 13); zu Wien ebd. S. 194; danach S. Litt (Anm. 13) S. 146. Andere Einschätzung bei Barbara Staudinger: „Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigistes Bitten". Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert. In: Hofjuden (Anm. 8) S. 143-183, hier S. 155.

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Akzente in der Gesetzgebung gegenüber den Juden des Reiches gesetzt, so wurde dieses Privileg zwar von den folgenden Kaisern immer wieder bestätigt, jedoch nicht weiter ausformuliert. Grund dazu hätte es etwa anläßlich der Vertreibung der Frankfurter Juden im Zuge des sogenannten ,Fettmilch-Aufstandes' und der nahezu zeitgleichen Vorfalle in Worms, die nur durch das Einschalten des Kaisers verhindert werden konnten,16 im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts durchaus gegeben. Die Bereitschaft des Kaisers, zwar in Einzelfallen - oft auch über die Reichsgerichte - zugunsten der Juden des Reiches einzuschreiten oder auch Einzelpersonen zu privilegieren, allerdings auf eine intensivere Judenpolitik zu verzichten, verfestigte schließlich die Rechtsstellung der Juden in ihrer Abhängigkeit von der territorialen Gesetzgebung. Ansprechpartner für die einzelnen jüdischen Gemeinden oder auch Einzelpersonen war daher in Folge auch weniger der Kaiser, der vor allem für die reichsstädtischen Judenschaften oberster Schutzherr blieb, als die Landesherren, mit denen die Rechtstellung der ansässigen Juden auszuhandeln war.17 Dies war, ähnlich wie auf Reichsebene, leichter, wenn statt Einzelpersonen die Juden einer Region als Korporation auftraten. Um einen solchen Zusammenschluß bilden zu können, bedurfte es freilich des Willens der einzelnen Gemeinden sowie eines gewissen Maßes gemeinsamen Bewußtseins. Ihren organisatorischen Rahmen bekamen diese gemeindeübergreifenden Initiativen in der Landesjudenschaft, die im Unterschied zur Gemeinen Judenschaft des Reiches zu der innerjüdischen Korporation der Frühen Neuzeit wurde. Die Entwicklung der Landesjudenschaften vollzog sich asynchron in den verschiedenen Regionen des Heiligen Römischen Reichs. Während ihre Blüte im 18. Jahrhundert liegt, gab es, insbesondere im bevölkerungsstarken Süden des Reiches Vorläufer, deren Anfänge in das 16. Jahrhundert zurückreichen. 16

17

Zum „Fettmilch-Aufstand" siehe Robert Brandt, Olaf Cunitz, Jan Ermel, Michael Graf: Der Fettmilchaufstand. Bürgerunruhen und Judenfeindschaft in Frankfurt am Main 1612-1616. Frankfurt/Main 1996; Christopher R. Friedrichs: Politics or Pogrom? The Fettmilch Uprising in German and Jewish History. In: Central European History 19. 1986. S. 186-228; Rainer Koch: 1612-1616. Der Fettmilchaufstand. Sozialer Sprengstoff in der Bürgerschaft. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 63. 1997. S. 59-79; Isidor Kracauer: Geschichte der Juden in Frankfurt a. M. (1150-1824). Bd. 1. Frankfurt/Main 1925; Matthias Meyn: Die Reichsstadt vor dem Bürgeraufstand 1612 bis 1614. Struktur und Krise. Frankfurt/Main 1980 (Studien zur Frankfurter Geschichte. Heft 15); Turmoil, Trauma, and Triumph. The Fettmilch Uprising in Frankfurt am Main (1612-1616) according to the Megillas Vintz. A Critical Edition of the Yiddish and Hebrew Text including an English Translation. Hg. von Rivka Ulmer. Frankfurt/Main u.a. 2001; zu den Wormser Unruhen: Christopher R. Friedrichs: Anti-Jewish Policy in Early Modern Germany: The Uprising in Worms, 161317. In: Central European History 23. 1990. 91-152. Zusammenfassend: Ders.: Jews in the Imperial Cities: A Political Perspective. In: In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Hg. von Ronnie Po-Chia Hsia, Hartmut Lehmann. Cambridge, Washington, D.C. 1995 (Publications of the German Historical Institute Washington, D.C.). S. 275-288. Vgl. ζ. Β. den Beitrag von Johannes Mordstein in diesem Band.

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Nach der Definition Yitzhak (Fritz) Baers, die später von maßgeblichen Forschern übernommen wurde, war die , Landjudenschaft' eine „aus freiem Willen der Mitglieder entstandene, vom Staat anerkannte, geschlossene und einheitliche Gemeinde, welche durch die Fiktion eines Kontraktes mit dem Staate ihren Mitgliedern das Aufenthaltsrecht erwirbt und darüber hinaus zugunsten fremder jüdischer Bewerber verfügt. Sie besitzt wie jede andere jüdische Gemeinde der Zeit [also etwa eine Gemeinde in den Freien und Reichsstädten] die Autonomie der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung, die zwar im Laufe des 18. Jahrhunderts durch den Staat eingeschränkt, aber erst durch die bürgerliche Gleichstellung der Juden wirklich aufgehoben wird." 18 Wie nicht nur am Beispiel Niederösterreichs, sondern auch im Vergleich zu den ebenfalls habsburgisch regierten Ländern Böhmen und Mähren sowie der Markgrafschaft Burgau zu zeigen sein wird, gingen Landesjudenschaften durchaus auf unterschiedliche Initiativen zurück - seitens der Juden wie auch seitens der Obrigkeit - und hatten weder die gleichen Ursprünge noch nahm ihre Entwicklung denselben Verlauf. So erfolgte ein organisatorischer Zusammenschluß in Niederösterreich nicht aus freiem Willen, sondern auf explizites Drängen der Landesherrschaft, die an einer Organisation zur Einhebung von Steuern interessiert war. 19 Die durch die Frage der Umlage der Steuer auf die einzelnen Gemeinden und Gemeindemitglieder notwendig gewordenen Zusammenkünfte der Vertreter der Gemeinden des .Landes' gaben schließlich den entscheidenden Impuls für die weitere Entwicklung gemeindeübergreifender Strukturen. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht ein vergleichender Blick auf innerjüdische Organisationsformen zwischen Gemeinde und Landesjudenschaft in den habsburgischen Ländern. Anders als in den Studien von Yitzchak Baer und Daniel Cohen wird damit der Fokus auf die ,Frühzeit' der Landesjudenschaften im 16. und 17. Jahrhundert gerichtet. Dabei soll nicht nur die Vielfalt des Phäno18

19

Fritz Baer: Das Protokollbuch der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve. Bd. 1: Die Geschichte der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve. Berlin 1922 (Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums. Hist. Sektion 1). S. 81. Diese Definition übernahm Daniel Cohen für seine Untersuchungen zur Landjudenschaft. Vgl. Die Landjudenschaften in Deutschland als Organe jüdischer Selbstverwaltung von der frühen Neuzeit bis ins neunzehnte Jahrhundert. Eine Quellensammlung. Hg. von Daniel J. Cohen. 3 Bde. Jerusalem 1996-2001 (Fontes ad Res Judaicas Spectantes), hier Bd. 1. S. XIII. Vgl. Daniel J. Cohen: Die Entwicklung der Landesrabbinate in den deutschen Territorien bis zur Emanzipation. In: Zur Geschichte der Juden (Anm. 14) S. 221-242, hier S. 229; S. Ullmann (Anm. 2) S. 208f.; Stefan Litt: Territoriale Organisationsformen der Juden in Thüringen während der Frühen Neuzeit. Aschkenas 10. 2000. S. 245-253, hier S. 247, Anm. 11; zusammenfassend: J. Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 2001 (EDG 60). S. 105f. Siehe dazu auch S. Rohrbacher (Anm. 4) S. 145f. Zu Niederösterreich siehe B. Staudinger (Anm. 3) S. 188-198; Peter Rauscher: Langenlois - n1? Eine jüdische Landgemeinde in Niederösterreich im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Horn, Waidhofen/Thaya 2004 (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes. Bd. 44). S. 42; ders.: Eine vergessene Geschichte. Die jüdischen Landgemeinden in Niederösterreich im 17. Jahrhundert. In: Unsere Heimat 75. 2004. S. 304-321.

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mens ,Landesjudenschaft' analysiert, sondern auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede jüdischer Siedlungslandschaften diskutiert werden.

3. Die Entstehung der Landesjudenschaften Landesjudenschaften als jüdische Gebietskörperschaften auf übergemeindlicher Ebene entwickelten sich vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg in verschiedenen Regionen und Territorien des Heiligen Römischen Reichs. Die ,Länder' (Medinot), die durch die Landesjudenschaften vertreten wurden, konnten sich dabei - wie etwa im Fall von Niederösterreich, aber auch von Böhmen und Mähren - mit den Herrschaftsgrenzen decken, mußten es aber nicht, sondern konnten auch, wie etwa in Schwaben, das keine politische Einheit darstellte, traditionelle Siedlungszusammenhänge widerspiegeln.20 Zusammen mit dem Landesrabbinat war die Landesjudenschaft besonders im späten 17. und 18. Jahrhundert die innerjüdische Organisationsform mit Vertreterfunktion gegenüber der Obrigkeit, ihre Wurzeln reichen jedoch weit zurück und hatten vielfach auch mittelalterliche Vorbilder.21 Strukturell wie institutionell waren die Organisationsformen des 16. und 17. Jahrhunderts allerdings zumeist noch nicht gefestigt, auch wenn auf den - im Unterschied zu den später in Erscheinung tretenden regelmäßig abgehaltenen ,Judenlandtagen' - sporadisch stattfindenden Versammlungen der Gemeindevertreter neben der Verteilung der Steuerlast auch verschiedene Funktionsträger gewählt sowie gegebenenfalls Ordnungen verabschiedet werden konnten.22 Positionen und Funktionen innerhalb der Landesjudenschaft waren noch nicht klar abgegrenzt, der Einfluß und nicht zuletzt das materielle Vermögen einzelner Vertreter in der Kommunikation mit der Obrigkeit wichtiger als das ihnen anvertraute Amt. Dieses war demnach auch keine fixe Position, als Fürsprecher (Stadlern) der Juden des ,Landes' wirkten vielmehr einzelne Persönlichkeiten fallweise und punktuell in einer konkreten .diplomatischen Mission', wie dies auch für die Gemeine Judenschaft des Reiches gegolten hatte. Neben diesen mehr oder weniger offiziell bestellten Vertretern fungierte der Landesrabbiner als religiös-rechtliche Autorität. Er war Vorsitzender des rabbinischen Gerichtshofes des ,Landes', auch wenn seine Zuständigkeitsbereiche angesichts der Ausstrahlungskraft der rabbinischen Zentren Frankfurt am Main und 20 21

22

Vgl. ζ. B. S. Rohrbacher (wie Anm. 8). Vgl. S. Rohrbacher (Anm. 4) S. 149; Vladimir Lipscher: Zwischen Kaiser, Fiskus, Adel, Zünften. Die Juden im Habsburgerreich des 17. und 18. Jahrhunderts am Beispiel Böhmens und Mährens. Zürich 1983. S. 125-128; D. Cohen (Anm. 19) S. 230-233; Landjudenschaften (Anm. 18). Zum Mittelalter insbesondere auch: Eric Zimmer: Harmony and Discord: An Analysis of the Decline of Jewish Self Government in 15th Century Europe. New York 1970; E. Zimmer (Anm. 12). Vgl. S. Rohrbacher (Anm. 4) S. 146-149.

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Prag zuweilen durchaus umstritten waren. 23 Neben der Rechtsprechung unterstand dem Landesrabbiner die Leitung einer weiteren Institution des ,Landes', der Talmudschule (Jeschiwa). Und schließlich war der Landesrabbiner prinzipiell für Heiratsgenehmigungen innerhalb des ,Landes' zuständig und konnte auch allgemeine Führungsaufgaben innerhalb der Gemeinden übernehmen. 24 Doch waren das im 16. und 17. Jahrhundert oft nur theoretische Kompetenzen, die zumeist in der Praxis nicht nachweisbar sind. Strukturen waren trotz aller regionalen Unterschiede gerade in der Frühzeit der Landesjudenschaften, wie wir auch anhand der einzelnen Beispiele sehen werden, zumeist nur schwach ausgebildet und wurden erst langsam - vor allem im Westen des Reiches - nach dem Dreißigjährigen Krieg gefestigt und ausgebaut. Die Blütezeit der Landesjudenschaften lag schließlich im 18. Jahrhundert, in einer Zeit, als die Juden aus Niederösterreich bereits vertrieben waren und im habsburgischen Südwesten sich der Typus des Judendorfes mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil etabliert hatte. Dies verweist darauf, daß nicht nur die Entstehungsgeschichte der Landesjudenschaft unterschiedlich war, sondern auch, entsprechend der deutlich von einander abweichenden Lebensbedingungen für Juden in verschiedenen Regionen des Alten Reichs, ihre weitere Entwicklung. Wurde die Landesjudenschaft im 18. Jahrhundert im Medinat Schwaben organisatorisch weiter ausgebaut, fand sie in Niederösterreich mit der Vertreibung der Juden in den Jahren 1669 bis 1671 bereits am Anfang ihrer Entwicklung schon wieder ihr Ende.

4. Die niederösterreichische Landesjudenschaft und die Wiener Gemeinde In Niederösterreich war es der Landesfürst, der die Verantwortung für die Umwälzung und Einhebung der von ihm geforderten Steuern an die Judenschaft übertragen hatte und somit die entscheidende Initiative zum Aufbau einer partiell autonomen Verwaltung der niederösterreichischen Landjuden setzte. 25 Anders als etwa in Schwaben gab es - schon allein mangels einer längeren Siedlungstradition - keine älteren Anknüpfungspunkte an eine jüdische Selbstverwaltung. Bereits seit dem 16. Jahrhundert hatten die Landesfürsten zwar immer wieder Kontributionen von den wenigen niederösterreichischen Juden gefordert, die Einhebung 23

24 25

Siehe etwa die Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Günzburger und dem Frankfurter Rabbinat in der Auseinandersetzung Simon Günzburgs mit Nathan Schotten. Siehe dazu Stefan Rohrbacher: Ungleiche Partnerschaft. Simon Günzburg und die erste Ansiedlung von Juden vor den Toren Augsburgs in der Frühen Neuzeit. In: Landjudentum (Anm. 1) S. 192219. S. Rohrbacher (Anm. 4) S. 148; D. Cohen (Anm. 19) S. 237. Zum Folgenden vgl. ausführlich B. Staudinger (Anm. 3) S. 188-198; Rauscher, Langenlois (Anm. 19) S. 40-46.

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einer regelmäßigen Steuer konnte jedoch zunächst nicht durchgesetzt werden. Bis ins frühe 17. Jahrhundert erstreckten sich die landesfurstlichen Forderungen auf punktuelle Kontributionsleistungen. Demgemäß kann auch ein korporatives Auftreten der Juden des Landes in den Akten nicht festgestellt werden. Nur einmal, im Jahr 1568, kamen die Juden von Österreich beim Kaiser um die Beförderung ihrer Angelegenheiten ein, allerdings ist unklar, ob damit die Landjuden in Österreich unter der Enns oder auch die Wiener Juden gemeint waren.26 In den folgenden Jahrzehnten agierten vor der rechtlichen Anerkennung der Wiener Gemeinde 1624/25 einzelne Personen als Fürsprecher einer sich ab den 1580er Jahren konsolidierenden Wiener Judenschaft. Eine solche Rolle übernahmen zum Beispiel Einzelpersönlichkeiten aus Wien, wie etwa der besonders privilegierte Veit Münk, oder mit Isak Buchdrucker, der sich 1614 für die vertriebenen Wiener Juden einsetzte, ein Vertreter der mit Wien eng verbundenen Prager Gemeinde.27 Diese Situation änderte sich grundlegend, nachdem die Judenschaft in Wien gewachsen war und für den Landesfürsten eine fiskalische Größe darstellte. Im Gegenzug zu immer häufigeren Zahlungen der Wiener Juden an den Kaiser fand sich dieser bereit, die jüdische Gemeinde, die sich in der Residenzstadt etabliert hatte, auch rechtlich anzuerkennen: In seiner Funktion als Landesherr nahm der neue Kaiser Ferdinand II. die Wiener Juden 1619 erstmals in seinen persönlichen Schutz. Ein Jahr später durften bereits eine obrigkeitlich anerkannte Gemeinde mit Synagoge, Lehrhaus und Rabbinatsgericht eingerichtet und die Gemeindeämter bestallt werden.28 Damit war die Gemeinde nicht nur institutionell ausgebaut worden, sondern konnte auch gegenüber dem Landesfürsten als Einheit auftreten. Noch größere Autonomie erlangte die Wiener Judenschaft 1624 anläßlich ihrer " 29 Ubersiedlung in das außerhalb der Stadt im Unteren Werd gelegene Ghetto. So 26

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Siehe HHStA. RHR. Prot. rer. res. XVI/29. p. 211. 1568 März 30. Barbara Staudinger: Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats als Quelle zur jüdischen Geschichte. In: Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Hg. von Anette Baumann, Siegrid Westphal, Stephan Wendehorst, Stefan Ehrenpreis. Köln, Weimar, Wien 2001 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Bd. 37). S. 119-140, hier S. 137. Vgl. Sabine Hödl, Barbara Staudinger: „Ob mans nicht bei den juden [...] leichter und wolfailer bekommen müege?" Juden in den habsburgischen Ländern als kaiserliche Kreditgeber (1520-1620). In: Finanzen und Herrschaft. Materielle Grundlagen fürstlicher Politik in den habsburgischen Ländern und im Heiligen Römischen Reich im 16. Jahrhundert. Hg. von Friedrich Edelmayer, Maximilian Lanzinner, Peter Rauscher. Wien, München 2003 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Bd. 38). S. 246-269, hier S. 264f. Zu Veit Münk vgl. Sabine Hödl: Zur Geschichte der Juden in Österreich unter der Enns 1550-1625. Ungedr. Diss. phil. Wien 1998. S. 137-163. Patent Ferdinands II., Wien, 1620 Juli 25. In: Alfred F. Pribram: Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien. Erste Abteilung, allgemeiner Teil 1526-1847 (1849). Bd. 1. Wien, Leipzig 1918 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Österreich. Bd. 8/1). Nr. 37, S. 58-61. Patent Ferdinands II., Wien, 1624 Dezember 6. In: A. Pribram (Anm. 28) Nr. 52, S. 84-88; Patent Ferdinands II., Wien, 1625 März 8. In: Ebd. Nr. 56, S. 93-96. Zur Judenstadt siehe

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wurden die Juden weitgehend von allen städtischen Abgaben sowie der Kennzeichnungspflicht befreit und rechtlich dem Obersthofmarschallamt und damit der Jurisdiktion des Kaiserhofes unterstellt. In den folgenden Jahren wurde die Gemeindeorganisation noch weiter gestärkt. Wichtig in unserem Zusammenhang ist ein weiteres kaiserliches Privileg aus dem Jahr 1632, das dem Rabbinatsgericht, das ausschließlich für innerjüdische Streitigkeiten, die das Religionsgesetz betrafen, zuständig war, größere Freiheiten zugestand und der Gemeinde durch die Erlaubnis zum Bau eines Gefängnisses auch die Exekution der Urteile übertrug. 30 Nachdem die Wiener Judenschaft spätestens ab 1624 ihre Rechtsstellung durch Privilegien abgesichert hatte, vertrat sie gegenüber dem Kaiser nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern auch die der auf dem Land lebenden Juden. Dies erklärt sich aus der Entwicklung der landesfürstlichen Steuerforderungen, die sich zunächst formell ausschließlich auf die Wiener Judenschaft beschränkt hatten. 31 Auch wenn hierfür keine Quellen vorliegen, kann vermutet werden, daß auch die wenigen Landjuden einen Anteil zu diesen Zahlungen zu leisten hatten. Nachdem die Wiener Gemeinde in den 1620er Jahren stark angewachsen war, stieg nicht zuletzt aufgrund des Geldbedarfs für den Dreißigjährigen Krieg der landesfürstliche Druck auf die Juden, regelmäßige Abgaben zu entrichten. Ab 1629 mußte schließlich die Wiener Judenschaft eine jährliche Steuer in Höhe von 10.000 fl. entrichten, zu der auch die Landjuden beizutragen hatten. Der landesfürstliche Zugriff auf die Landjuden beschränkte sich nicht nur auf fiskalische Forderungen, sondern bestand in einer generellen Intensivierung der Herrschaftsrechte über die

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grundlegend: Ignaz Schwarz: Das Wiener Ghetto. Seine Häuser und seine Bewohner. Wien, Leipzig 1909 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich. Bd. 2). Lydia Gröbl, Sabine Hödl, Barbara Staudinger: Steuern, Privilegien und Konflikte. Rechtsstellung und Handlungsspielräume der Wiener Juden von 1620 bis 1640. Quellen zur jüdischen Geschichte aus den Beständen des Österreichischen Staatsarchivs. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. 2000. S. 147-195, hier S. 172-176; David Kaufmann: Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien und Niederösterreich. Ihre Vorgeschichte (1625-1670) und ihre Opfer. Wien 1889. S. 7-16, 27-31; S. Hödl (Anm. 27) S. 166f. Supplikation der Ältesten und Judenrichter an Ferdinand II., o. O., 1632 September 2. In: A. Pribram (Anm. 28) S. 116 f., Anm. 1.; Bericht des Obersthofmarschalls, 1632 September 30. In: Ebd. 118, Anm. 3; Patent Ferdinands II., Wien, 1632 November 23. In: Ebd. Nr. 72, S. 113-119, hier S. 114; zusammenfassend L. Gröbl, S. Hödl, B. Staudinger (Anm. 29) S. 175; D. Kaufmann (Anm. 29) S. 28f.; Hans Rotter, Adolf Schmieger: Das Ghetto in der Leopoldstadt. Wien 1926 (Libri Patriae. Geschichte - Kunst - Landschaft 1). S. 50f. Zur Stellung der Wiener Juden zwischen Hof und Stadt vgl. Peter Rauscher: Ein dreigeteilter Ort: Die Wiener Juden und ihre Beziehungen zu Kaiserhof und Stadt in der Zeit des Ghettos (1625-1670). In: Ein zweigeteilter Ort? Hof und Stadt in der Frühen Neuzeit. Hg. von Susanne Claudine Pils, Jan Paul Niederkorn. Innsbruck, Wien, Bozen 2005 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte. Bd. 44). S. 87-120. Vgl. Walter Messing: Die Kontributionen der Wiener Judenschaft im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 3/4. 1942. S. 14-72; L. Gröbl, S. Hödl, B. Staudinger (Anm. 29) S. 155-168, für die Zeit von 1620 bis 1640.

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Juden im Land unter der Enns. So versuchte Ferdinand II. auch gegen die Interessen einflußreicher Adeliger das Verbot jüdischer Mautner durchzusetzen.32 1632 wurde bezüglich der Rechtsbefugnisse der Wiener Judenschaft festgehalten, daß sie auf alle nicht allein alhie zu Wien in ihrer Wohnstatt anwesende, sondern auch auf die in Land wohnende Juden, under was Herrschaften und Gebieth dieselben gesessen, niemands ausgenomben, wegen gedachter jährlicher Contribution ein gewiese quotam und Portion, soviel ihr Vermügen ertragen kan, schlagen und einfordern mügen, dieselb auch von männiglich aus denen Juden ohne einige Verweigerung oder etwo suchenden Schutz ihrer Obrigkeiten, darunter sie wohnen, denen Rabinern, Richtern und Eltisten der alhiesigen, befreyten Judenschaft zu erlegen schuldig und verbunden sein.33 Um die Einnahme der Steuern von den Landjuden durchsetzen zu können, war der Wiener Judenschaft damit die Anwendung von Zwangsmaßnahmen erlaubt worden. Die Wiener Gemeinde war als einzige städtische Gemeinde Österreichs unter der Enns nicht nur geistiges und kulturelles Zentrum der niederösterreichischen Landjuden, sondern übernahm auch die Organisation und Einhebung der Steuern. Neben dieser verwaltungsmäßigen Unterstellung waren die Landgemeinden auch dem Wiener Rabbinat zugeordnet, waren also auch jurisdiktioneil nicht von der Wiener Judenschaft unabhängig. Damit hatte die Wiener Gemeinde eine ähnliche Bedeutung für die niederösterreichischen Landjuden wie die Prager für die böhmischen Juden, wo ebenfalls die Ältesten die Steuerverwaltung der Landjuden übernommen hatten.34 Die finanziellen Ansprüche des Kaisers gegenüber den Wiener Juden nahmen auch nach dem Westfälischen Frieden nicht ab, im Gegenteil: Die militärischen Niederlagen der 1640er Jahre und die Abwicklung der Kriegskosten hatten zu neuerlichen Belastungen und daher auch zu weiteren Geldforderungen des Kaisers geführt.35 Die Einhebung des Beitrags der Landjuden zu den regelmäßigen Steuern gestaltete sich jedoch schwierig, auch wenn im Privileg der Wiener Judenschaft von 1645 die Pflicht der Landjuden, ihren Steueranteil zu bezahlen, 32

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Zu den Mauten vgl. Peter Rauscher: Den Christen gleich sein. Diskriminierung und Verdienstmöglichkeiten von Juden an österreichischen Mautstellen in der Frühen Neuzeit (16-/17. Jahrhundert). In: Hofjuden (Anm. 8) S. 301-308. Patent Ferdinands II., Wien, 1632 November 23. In: A. Pribram (Anm. 28) S. 114f. Vgl. etwa Anna M. Drabek: Das Judentum der böhmischen Länder vor der Emanzipation. In: Prag - Czernowitz - Jerusalem. Der österreichische Staat und die Juden vom Zeitalter des Absolutismus bis zum Ende der Monarchie. Hg. von Anna M. Drabek, Mordechai Eliav, Gerald Stourzh. Eisenstadt 1984 (Studia Judaica Austriaca 10). S. 5-30, S. 15. Siehe etwa W. Messing (Anm. 31) S. 55. Vgl. die Intimation der NÖ Regierung im Auftrag des Kaisers an den Magistrat der Stadt Wien, Wien, 1649 Juli 5. In: A. Pribram (Anm. 28) Nr. 95. S. 155-158. Zur Finanzsituation des Kaiserhofs vgl. Thomas Winkelbauer: Finanznot und Friedenssehnsucht. Der Kaiserhof im Jahre 1645. In: „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergefollen nicht hernemben khönnen...". Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Wien 1997 (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Sonderbd. 3). S. 1-15.

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ebenso wie die Sanktionen, die von der Wiener Judenschaft gegen Zahlungsunwillige verhängt werden konnten, noch einmal herausgestrichen wurden. 36 Einige einflußreiche Persönlichkeiten aus dem Kreis des Gemeindevorstandes hatten offenbar die weitgehenden Rechte der Wiener Judenschaft über die Landjuden zu ihrem finanziellen Vorteil ausgenutzt. 37 Nachdem bereits 1647 durch eine kaiserliche Untersuchungskommission Steuerbetrug festgestellt worden war, folgten Strafen an sechs führende Personen der Wiener Gemeinde. 38 Offenbar war jedoch die Spaltung innerhalb der Gemeinde so tief, daß das System von gegenseitiger Denunziation und Beschwerden nicht abriß. 1652 sah sich jedenfalls der Landesfürst gezwungen, den bisherigen Modus der Steuereinhebung zu ändern und die Steuern der Landjuden von den Zahlungen der Wiener Gemeinde zu trennen. Da sich die Wiener Judenschaft weigerte, wegen der mangelnden Zahlungsmoral der Landjuden wie bisher die Einhebung der Landjudensteuern zu übernehmen, kam es auch zu einer organisatorischen Abtrennung der Steuerverwaltung der Landesjudenschaft von der Wiener Gemeinde. Durch den starken Zuwachs der Landgemeinden, in denen schließlich insgesamt etwa 2.000 Personen lebten, stellte auch ihr Steueraufkommen keine vernachlässigbare Größe mehr dar. Während die Wiener Juden ab 1652 für die jährliche Steuer von 10.000 fl. alleine aufzukommen hatten, mußten die Landjuden ebenfalls eine regelmäßige Steuerleistung zusagen. Im Gegenzug zur Zahlung einer Steuer von 4.000 fl. pro Jahr und eines einmaligen Toleranzgeldes in Höhe von 35.000 fl. wurde ihnen nicht nur erlaubt im Land zu bleiben, sondern auch ein Privileg in Aussicht gestellt, auf das sie allerdings vier Jahre warten mußten. Erst nachdem die Landesjudenschaft sich an Graf Ernst von Traun gewandt und für dessen Vermittlung 2.400 Gulden gezahlt hatte, wurde es 1656 schließlich ausgestellt. 39 Die Steuerleistung der Landjuden wurde in der Folge zunächst verpachtet, nach Skandalen um den Wiener Hofjuden und Steuerpächter Hirschl

36

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Privileg Ferdinands III. fur die Wiener Judenschaft, Linz, 1645 Januar 12. In: A. Pribram (Anm. 28) Nr. 92. S. 145-151, hier S. 149. W. Messing (Anm. 31) S. 52-57. Es handelte sich hierbei um folgende Personen: Zacharias Mayr, Jakob Fränkl, Salomon Wolf, Abraham Epstein (Hecht), Joel Herlinger und Enoch Benisch. Aufzählung mit Namensvarianten bei W. Messing (Anm. 31) S. 56. Vgl. Obligation Hirschl Mayrs und der niederösterreichischen Landjuden für Ernst Graf von Abensperg-Traun über 2.400 fl., Wien, 1657 Januar 5, HKA. NÖ Kammer. Akten, rote Nr. 339. Konv. August. Unfol. 1625 hatten „N. und N. die im Landt Unterösterreich wohnenden Juden" 1652 in einem Schreiben an den Obersthofmarschall Graf Heinrich Wilhelm von Starhemberg um einen Schutzbrief gebeten, der ihnen den weiteren Aufenthalt und Handel in Österreich unter der Enns gewähren sollte. Supplikation der niederösterreichischen Landjuden an Heinrich Wilhelm von Starhemberg, o. O., o. D. [nach Juni 1652]. Abgedruckt in: Leopold Moses: Die Juden in Niederösterreich (Mit besonderer Berücksichtigung des XVII. Jahrhundert). Wien 1935. S. 25f., Zitat S. 26. Diese Bitte wurde von der Landjudenschaft am 10. August 1652 wiederholt. Ebd., S. 29. Zum Kontext auch D. Kaufmann (Anm. 29) S. 63.

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Mayr aber schließlich Anfang der 1660er Jahre dem niederösterreichischen Vizedom zugeordnet.40 Die Privilegierung der Landjuden und die Entwicklung einer regelmäßigen Abgabe an den Landesfürsten durch die Judenschaft führte Mitte des 17. Jahrhunderts zwar zu einer organisatorischen Verdichtung der Landesjudenschaft und einer Loslösung von der Wiener Gemeinde, nicht jedoch zu einer vollständigen Autonomie der niederösterreichischen Juden. Vielmehr behielt die Wiener Judenschaft bis zur Ausweisung in den Jahren 1669 bis 1671 mit dem Rabbinat die jurisdiktioneile Gewalt über die niederösterreichischen Landjuden. Hingegen konnte zumindest partiell eine eigene Vertretung der Landjuden etabliert werden.41 Insgesamt kann man aufgrund dieser Entwicklung für Niederösterreich von einer partiellen Ausbildung landesjudenschaftlicher Strukturen sprechen. Mit der internen Organisation der Steuerverwaltung war eine wichtige Weiche für eine landesübergreifende Organisation gestellt worden, weitere korporative Strukturen entwickelten sich jedoch nur mehr teilweise. In den angrenzenden Ländern Böhmen und Mähren lief die Entwicklung unterschiedlich: Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts hatte sich in dem im Gegensatz zu Niederösterreich von Juden relativ dicht besiedelten Mähren mit der Organisation der Landesjudenschaft auch ein eigenes Landesrabbinat etabliert. Den Landjuden war es hier verglichen mit den angrenzenden Ländern früh gelungen, eine Organisationsstruktur aufzubauen, die sich in der Bestellung des Landesrabbiners sowie eigener politischer Vertreter manifestierte. In Böhmen wurde dagegen erst ab der Mitte des 17. Jahrhundert der Ablösungsprozeß von der dominierenden Prager Gemeinde angestoßen, der wie in Niederösterreich mit der Teilung der Steuerzuständigkeiten und der Einsetzung eigener Deputierter begann. Nachdem traditionell das Prager Rabbinat auch den böhmischen Landesrabbiner gestellt hatte, wurde schließlich nach harten Auseinandersetzungen mit der Prager Gemeinde 1689/90 ein eigener Landesrabbiner eingesetzt.42 Ähnlich 40

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Ausführlich dazu bei P. Rauscher, Langenlois (Anm. 19) S. 117-125; B. Staudinger (Anm. 3) S. 164-170. Vgl. dazu unten Abschnitt 5. Zu Mähren vgl. Albert Low: Zur Geschichte des mährischen-schlesischen Landesrabbinates in Nikolsburg 1553-1884. In: Die Neuzeit 34. 1894. Nr. 17, S. 172f.; Helmut Teufel: Zur politischen und sozialen Geschichte der Juden in Mähren vom Antritt der Habsburger bis zur Schlacht am Weißen Berg (1526-1620). Erlangen 1971. S. 306-310; ders.: Die Juden im Ständestaat. Zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Geschichte der Juden in Mähren zwischen 1526 und 1620. In: Die Juden in den böhmischen Ländern. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 27. bis 29. November 1981. Hg. von Ferdinand Seibt. München, Wien 1983 (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum). S. 57-72, hier S. 69-71, dort mit weiterer Literatur; Alfred Willmann: Die mährischen Landesrabbiner. In: Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart. Hg. von Hugo Gold. Brünn 1929. S. 45-52, hier S. 45, 49. Zu Böhmen: V. Lipscher (Anm. 21) S. 124-134; Tobias Jakobovitz: Das Prager und böhmische Landesrabbinat Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Geschichte der Juden in der Cechoslovakischen Republik 5. 1933. S. 79-136; Bendnch Nosek: Soziale Differenzie-

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wie in Wien bedeutete dies freilich nicht, daß die Prager Gemeinde jeglichen Einfluß auf die Bestallung des Landesrabbiners verlor.

5. Die innere Organisation der niederösterreichischen Landjuden Ausdruck fand die Teilautonomie der niederösterreichischen Juden von der Wiener Gemeinde zunächst in den erwählten Deputierten, die sich in erster Linie um die Steuerverteilung auf die einzelnen Landgemeinden zu kümmern hatten, in zweiter Linie aber wohl auch gemeinsame Anliegen der Landjuden vor der jeweiligen Obrigkeit vertraten. Bereits aus dem ersten Steuerverzeichnis der Landesjudenschaft von 1652 sind die Namen der ernannten Deputierten, die den Steueranschlag unterschrieben, bekannt. 43 Dabei handelte es sich um Selke aus Langenlois (Salomon Samson), 44 Hirsch Ries aus Weitersfeld, Salomon aus Bockfließ, Phöbus aus Ebenfurth, Moses aus Mautern, Jakob (Aschkenasi) aus Tribuswinkel und Hirsch aus Marchegg. 45 Alle Landesviertel von Österreich unter der Enns waren damit unter den Deputierten vertreten. Sie stammten mit Ausnahme von Mautern, das in dem von Juden nur sehr sporadisch besiedelten Viertel ob dem Wienerwald lag und im Anlagebuch mit nur zwei Steuersubjekten geführt wurde, 46 durchwegs aus größeren und bedeutenderen Gemeinden, zum Teil aber auch, wie vor allem fur Salomon Samson aus Langenlois nachgewiesen werden kann, aus durchaus prominenten Familien. Denn Salomon Samson gehörte zum weiteren Kreis der Familie Oettingen-Ries, einer der führenden Holjudenfamilien in Wien, unter deren Ahnen der wegen seines Reichtums und Gelehrsamkeit bekannte burgauische Jude Simon Günzburg war. 47 Festzuhalten ist also, daß die jüdische Oberschicht auf dem Land, die auch die Deputierten der Landesjudenschaft stellte, familiär, aber auch aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeiten mit der Wiener Gemeinde verbunden blieb. Die überlieferten Anlagebücher der Steuern für die Jahre 1662 bis 167 1 48 sowie die dazugehörigen Akten geben einen weiteren Einblick in die organisatori-

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rungen und Streitigkeiten in jüdischen Kultusgemeinden der böhmischen Länder im 17. Jahrhundert und Entstehung der „Landjudenschaft". In: Judaica Bohemiae 12. 1976. S. 5992. Zu den einzelnen Deputierten siehe auch P. Rauscher, Langenlois (Anm. 19) S. 43; Gerson Wolf: Statistik der Juden in Niederösterreich im Jahre 1652. In: Blätter für Landeskunde von Niederösterreich 2/4. 1866. S. 112-115, hier S. 113; L. Moses (Anm. 41) S. 105; B. Staudinger (Anm. 3) S. 192-194. Vgl. zur Identität P. Rauscher, Langenlois (Anm. 19) S. 106. P. Rauscher, Langenlois (Anm. 19) S. 43; G. Wolf (Anm. 43) S. 113; L. Moses (Anm. 41) S. 105 (dort Moses statt Jakob aus Tribuswinkel). Zu Mautern: B. Staudinger (Anm. 3) S. 115 Zu Simon Günzburg vgl. S. Rohrbacher (Anm. 8) S. 84-87. HKA. Vizedomamt. Bücher 518-525.

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sehe Entwicklung der Landesjudenschaft: 1662, also im ersten erhaltenen Anlagebuch, das nach dem Ende der Steuerpacht von Hirschl Mayr entstand, wurden bereits einige Änderungen im Verfahren der Steueraufteilung vorgenommen. Während früher zumindest theoretisch alle Landjuden in Wien zusammenkommen sollten, um gemeinsam über die Aufteilung der Steuer zu beraten, wurde dies nun aus Kostengründen anders geregelt: Künftig sollte jede Gemeinde lediglich ihren Vorsteher sowie eine weitere Person als Abgeordnete schicken, während aus kleinen Ansiedlungen nur mehr ein Vertreter entsandt werden sollte.49 Diese Vertreter hatten nun einen Ausschuß von insgesamt 13 Personen zu wählen, der sich mit der Erstellung des neuen Steueranlagebuches und damit mit der Umlage der Steuern auf die Gemeinden zu befassen hatte. Wiederum sollten alle Landesviertel vertreten sein: Jeweils vier Personen sollten aus den Vierteln ob und unter dem Manhartsberg und unter dem Wienerwald kommen, während das Viertel ob dem Wienerwald, wo ohnehin kaum Juden wohnten, nur mit einem Deputierten vertreten war. Darüber hinaus wurde festgelegt, daß die Anlagebücher alle zwei Jahre zu aktualisieren, das heißt die Steuerquoten neu festzulegen seien, damit auch bei Bevölkerungsverschiebungen eine gerechte Verteilung der Steuern gewährleistet werden konnte. Im Juli 1662 kam es schließlich zu einer Versammlung von über einhundert Abgeordneten der niederösterreichischen Gemeinden in Wien, auf der 13 Vertreter der Landesjudenschaft gewählt wurden.50 Für die Erstellung der Steuerumlage wurde jedoch ein noch kleinerer Kreis von sieben Deputierten bestimmt, die wiederum aus allen Landesvierteln kamen. Abgesehen von der geographischen wurde auch auf die soziale Herkunft der Deputierten Wert gelegt, um ihre Ausgewogenheit bei der Steueraufteilung zu gewährleisten.51 So wurden Vertreter der ^eichen', ,mittleren' und ,armen' Landjuden gewählt, ohne daß für uns nachvollziehbar wäre, wie groß das Vermögen des Einzelnen sein mußte, um in eine dieser Kategorien zu fallen. 49

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Vgl. zum Folgenden: Supplikation eines Teils der Landjuden an die Hofkammer um ein strafferes Verfahren zur Herstellung der Anlagebücher, o. O., o. D. [1662]. HKA. NÖ Kammer. Akten, rote Nr. 358. Konv. Oktober. Unfol.; vgl. dazu auch P. Rauscher, Langene i s (Anm. 19) S. 43. Vgl. Relation des Vizedoms an die Hofkammer bzgl. des neuen Anlagebuchs der Steuern der Landjudenschaft, o. O., o. D. [vor 1662 August 25], HKA. NÖ Kammer. Akten, rote Nr. 358. Konv. Oktober. Unfol. Vgl. P. Rauscher, Langenlois (Anm. 19) S. 44. Armut war ein weit verbreitetes Phänomen innerhalb der niederösterreichischen Landjuden. Bereits der Steuerpächter Hirschl Mayr hatte darauf hingewiesen, daß unvermögende Juden sich häufig durch Flucht einer Steuereinhebung zu entziehen versuchten. Siehe dazu den Bericht des NÖ Kammerprokurators an die Hofkammer, o. O., o. D. [1654 Januar 10], HKA. NÖ Kammer. Akten, rote Nr. 315. Konv. Januar. Unfol. Zur Einteilung der Steuerpflichtigen in Vermögensklassen vgl. Martha Keil: Gemeinde und Kultur - Die mittelalterlichen Grundlagen jüdischen Lebens in Österreich. In: Geschichte der Juden in Österreich (Anm. 4) S. 15-122, hier S. 52-55; Breuer, Guggenheim (Anm. 6) S. 2097.

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Folgende Personen wurden gewählt: 52 Unter die Rubrik ,Reiche' fielen Simon Aaron aus Langenlois (Simon bar Aaron) und Heinrich Schweizer aus Grafenwörth (Elchanan ben Rabbi Jehuda), ,Mittlere' waren Lebl Spitz aus Spitz (Löb ben Rabbi Schneor) 53 , Hirsch Lazarus aus Groß-Schweinbarth (Zwi ben Elieser Schleif) 54 und Michael Samuel aus Ebenfurth (Michael bar Samuel), während Joseph Veit aus Schönbühel (Josef ben Rabbi Nathan Aschkenas) und Salomon Moses aus Oberwaltersdorf (Schalom bar Mosche) die ,Armen' vertraten. Insgesamt gab es also jeweils zwei ,Reiche' und ,Arme' und drei ,Mittlere'. Jeweils zwei Deputierte stammten aus dem Viertel ob (Simon Aaron und Lebl Spitz) und unter dem Manhartsberg (Heinrich Schweizer und Hirsch Lazarus) sowie dem Viertel unter dem Wienerwald (Michael Samuel, Salomon Moses), einer (Joseph Veit) aus dem Viertel ob dem Wienerwald. Auch wenn über die einzelnen Personen nur wenig bekannt ist, so ist festzuhalten, daß zwar wie 1652 Langenlois als die reichste und Ebenfurth als die größte Gemeinde vertreten waren, die anderen Deputierten jedoch aus anderen Gemeinden kamen. Ob dies am Wachstum dieser Gemeinden lag oder an den Einzelpersonen bzw. deren Familien, kann nicht festgestellt werden. Jedoch hatte man mit Lebl Spitz, der wahrscheinlich der Familie Spitz (Rabitz) aus dem gleichnamigen Ort angehörte, wiederum einen Vertreter einer prominenten Landjudenfamilie gewählt, die beste Kontakte in die Wiener Judenstadt unterhielt. 55 Wie im Fall von Heinrich Schweizer, der zu Beginn der 1660er Jahre Vorsteher der Gemeinde von Grafenwörth war, 56 kann vermutet werden, daß es sich auch bei anderen Deputierten um Amtsträger aus den Landgemeinden handelte. Im nächsten Anlagebuch aus dem Jahr 1666, das einen von den Abgeordneten verfaßten hebräischen Teil und daher die Unterschriften der Deputierten der Landesjudenschaft enthält, werden die gleichen sieben Vertreter wie im Jahr 1652

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Die folgenden Namen sind in ihrer deutschen Form nach der Relation des Vizedoms an die Hofkammer bzgl. des neuen Anlagebuchs der Steuern der Landjudenschaft, o. O., o. D. [vor 1662 August 25], HKA. NÖ Kammer. Akten, rote Nr. 358. Konv. Oktober. Unfol., wiedergegeben; vgl. dazu: P. Rauscher, Langenlois (Anm. 19) S. 45. Die hebräischen Namen orientieren sich an der Transkription von L. Moses (Anm. 41) S. 59, mit Übersetzung auf S. 60. Die Zuordnung der jeweiligen deutschen zu einer hebräischen Namensform wurde von der Autorin vorgenommen. Da Moses die Relation des Vizedoms nicht vorlag, sind seine Vorschläge zur Identifizierung der hebräischen Namen nicht richtig. Vgl. ebd., S. 181, Anm. 180-183. Leopold Moses gibt als weitere Lesart „Senior" an. L. Moses (Anm. 41) S. 59f. Abweichende Interpretation bei Moses, der „Schallt" („der viele gute Tage erleben möge") liest. L. Moses (Anm. 41) S. 59. Zur Familie kurz Jakob Bronner: Ein Thoraweiser als Zeuge jüdischer Vergangenheit in Oesterreich. In: Jüdisches Archiv. Zeitschrift für jüdisches Museal- und Buchwesen, Geschichte, Volkskunde und Familienforschung 1. Heft 1. 1927. S. 14-17. 1 65 9 stellten die Juden von Grafenwörth ihren neuen „Richter" Heinrich Schweizer bei der Herrschaft vor; vgl. HHStA. Schlossarchiv Grafenegg. Buch 24: Verhörprotokoll 16561666. Fol. 52r.

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aufgeführt. 57 Warum vier Jahre nach der Anlage von 1662 wiederum die Deputierten des Jahres 1652 gewählt wurden, liegt aufgrund fehlender Akten im Dunkeln. Allein eine beigefügte Erklärung des Wiener Rabbiners, der ebenfalls die Steueranlage zu unterzeichnen hatte, kann als Hinweis gelten, daß wohl einige Personen mit der Steuerverteilung von 1662 nicht glücklich gewesen waren: Die oben genannten Schätzungsdeputierten [...] wurden von allen [jüdischen] Einwohnern des Landes erwählt, um im Wege freiwilliger Verpflichtung einen Vergleich zu erzielen, um dadurch den minder zahlungsfähigen Einwohnern, die noch imstande waren, die ihnen in den letzten vier Jahren auferlegten Abgaben zu erschwingen, zu helfen 5% Die Steuerbelastung war also für einzelne Gemeinden zu hoch, Schulden hatten sich angehäuft, die durch eine zusätzliche Zahlung der Vermögenderen getilgt werden sollten. Vielleicht liegt darin die Erklärung zur Rückkehr zu den Deputierten des Jahres 1652. In dieser Vorgehensweise der Steuerumverteilung, die letztendlich auch von den kaiserlichen Behörden gebilligt worden war, steckt jedoch noch mehr: Bereits Leopold Moses interpretierte gerade die landesfürstliche Billigung der Kompetenzen der Deputierten als Zeichen „für die Anerkennung der inneren Autonomie der Juden"59 und somit als Nachweis für die Existenz landesjudenschaftlicher Strukturen in Österreich unter der Enns. Drei Jahre später sind mit dem Anlagebuch von 1669, nachdem der Verfahrensmodus wiederum geändert worden war, neue Deputierte belegt. Statt der sieben Abgeordneten der letzten Jahre wurden nun zwölf Deputierte (drei aus jedem Landesviertel) zur Vertretung der Landjuden gewählt.60 Im Gegensatz zu den anderen Steuerverzeichnissen sind hier allerdings die Unterschreibenden bis auf eine Ausnahme nicht eindeutig zu identifizieren. Bei Gumprecht ben Jechiel, handelt es sich um Jakob Gumprecht aus Langenlois, wahrscheinlich einem angeheirateten Mitglied der Familie Ries, der 1671 und vielleicht auch früher Vorsteher der Gemeinde war.61 Bei Aaron bar Jakob Rebitz dürfte es sich um ein Mit57

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Vgl. L. Moses (Anm. 41) S. 65, 105. Hier nur die transkribierten Namensformen: Selke, Sohn des Rabbi Samson sei. Andenkens aus Lois (Selke aus Langenlois = Salomon Samson); Meschulam, Sohn des Mosche (Phöbus/Feibus aus Ebenfurth); Naftali, Sohn des Menachem sei. Andenkens (Hirsch Ries aus Weitersfeld oder Hirsch von Marchegg); Mosche, Sohn des Jehuda sei. Andenkens (Moses aus Mautern); Zwi Hirsch, Sohn meines Herrn und Vaters Reuben sei. Andenkens (Hirsch aus Weitersfeld oder Hirsch von Marchegg); Salomo, Sohn des Simon sei. Andenkens (Salomon aus Bockfließ); Jakob, Sohn meines Herrn und Vaters Meir sei. Andenkens Aschkenasi Tribus[winkel] (Jakob aus Tribuswinkel; evt. auch als „Trewes" zu lesen). Zur Identifizierung der Personen siehe ebd., mit Anm. 198-202 und S. 66. Übersetzung nach L. Moses (Anm. 41) S. 65f. L. Moses (Anm. 41) S. 66. Vgl. zum Folgenden L. Moses (Anm. 41) S. 7, 184, Anm. 244; P. Rauscher, Langenlois (Anm. 19) S. 45. Vgl. P. Rauscher, Langenlois (Anm. 19) S. 106; Verzicht der Langenloiser Juden auf alle ihre Privilegien, Langenlois, 1671 März 3. In: Ebd., Nr. 7, S. 146f., hier S. 146; D. Kaufmann (Anm. 29) S. 214.

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glied der Familie Spitz (Rabitz) handeln, 62 alle anderen 63 können keinen bekannten Personen zugeordnet werden, so daß unklar ist, aus welchen Gemeinden sie stammten. Da Ebenfurth als größte Landgemeinde in den Jahren 1652, 1662 und 1666 jeweils einen Deputierten stellte, kann allerdings davon ausgegangen werden, daß auch 1669 ein Vertreter aus dieser Gemeinde kam. Es war wohl nicht allein die Gemeindegröße entscheidend, ob aus dem betreffenden Ort ein Deputierter entsandt wurde oder nicht. Vielmehr dürfte auch ökonomisches und politisches Gewicht der Gemeinden sowie der Einzelpersonen eine Rolle gespielt haben, wie dies etwa für Langenlois gezeigt werden kann. Aus dieser mittelgroßen, jedoch aufgrund der vielfältigen Kontakte zur Oberschicht in der Wiener Judenstadt sehr einflußreichen und nicht zuletzt weit überdurchschnittlich wohlhabenden Gemeinde Niederösterreichs kam regelmäßig ein Vertreter der Landesjudenschaft. Mit den Deputierten waren Funktionsträger einer Landesjudenschaft gewählt worden, die eine übergemeindliche organisatorische Einheit gegenüber den finanziellen Forderungen des Landesfürsten darstellten und die Landjuden gegenüber der Obrigkeit vertraten. Zur Bestellung eines vom Wiener Rabbinat unabhängigen Landesrabbiners kam es in Österreich unter der Enns jedoch nicht, vielmehr blieben die Landjuden der Jurisdiktion des Wiener Rabbinats, die Landgemeinden dem Zentrum des ,Landes' zugeordnet. Diese Unterordnung der Landjuden unter das Wiener Rabbinat war im Privileg der Landjuden von 1656 mit folgenden Worten bestätigt worden: Daß sie [die Landjuden] nemblichen in dergleichen vorfallenden civilsachen dem rabiner der wienerischen judenschaft in allweeg unterworfen sein undt derselbe in allem durch güete oder mit der schärfe nach genuegsamber anhörung der Sachen vermüg ihres mosaischen gesezes undt jüdischen ceremonien dergestalt verfahren solle, damit daß unrecht mit gebührender straff abgestöldt undt alle guete ordtnung unter ihnen erhalten werdten möge.64 Aus diesem Grund unterschrieben auch die Wiener Rabbiner, die in einer Doppelfunktion als Landesrabbiner von Niederösterreich fungierten, 65 die Steueranlage. 1662 geschah dies durch den Wiener Gemeinderabbiner Aije Löb und ab 1666 durch den berühmten Gerson Ulif Aschkenasi, 66 der sich ausdrücklich Landesrabbiner (Aw bet din ha-medina) nannte. 67

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Vgl. L. Moses (Aran. 41) S. 79, mit Anm. 245. Uri Schaga (= Phöbus) bar Israel, Mosche ben Rabbi Isak, Gabriel, Sohn des Eliakum, Abraham, Sohn des Rabbi Meschulam, Eli [Elias] bar Nathan, Michael, Abraham ben Rabbi Mosche, Nathan bar Jakob, Jakob ben Rabbi Eliakum und Jehuda bar Nachum. Privileg Ferdinands III. für die niederösterreichischen Juden, Wien, 1656 Dezember 18. In: P. Rauscher, Langenlois (Anm. 19) Nr. 5, S. 141-144, Zitat S. 143. Siehe L. Moses (Anm. 41) S. 105f.; P. Rauscher, Langenlois (Anm. 19) S. 45; ungenau bei Karl Gutkas: Geschichte des Landes Niederösterreich. 6. Aufl. St. Pölten 1983. S. 274. Zu seiner Person siehe: Isaac Gastfreund: Die Wiener Rabbinen seit den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Wien 1879. S. 59-78; Alfred Willman: Famous Rabbis of Vienna. In: The Jews of Austria. Essays on their Life, History and Destruction. Hg. von Josef Fraenkel.

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Zur Ausbildung einer von Wien autonomen Landesjudenschaft war es also in Österreich unter der Enns vor 1670 nicht gekommen, auch wenn in Ansätzen eine eigene Finanzorganisation und Vertretung nach Außen bestanden hatte. Durch die Ausweisung der Jahre 1669/71 wurde die weitere Entwicklung einer Landesjudenschaft abgebrochen, das Medinat Austreich (= Österreich), wie es in den Quellen genannt wurde, gab es nicht mehr.

6. Ein Vergleich: Jüdische Selbstorganisation im ,Medinat Schwaben' Wie entwickelte sich eine übergemeindliche Korporation im herrschaftlich zergliederten Schwaben, das vor allem mit der Markgrafschaft Burgau zumindest teilweise unter österreichischer Landeshoheit stand? Bereits die Siedlungsgeschichte und gemeindliche Voraussetzungen unterschieden sich wesentlich von Österreich unter der Enns: Zwar war es auch in Schwaben im Spätmittelalter zu Vertreibungen gekommen,68 bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts siedelten sich jedoch wieder Juden vor allem in der Nähe der Reichsstadt Augsburg, die Juden den Aufenthalt weiterhin verweigerte, an. Ab den 1560er Jahren, nachdem 1559 die Markgrafschaft aus der Pfandherrschaft der Augsburger Bischöfe ausgelöst worden war, unterstützten die habsburgischen Landesherren schließlich die Ansiedlung von Juden in dem von überlappenden Herrschaftsrechten geprägten territorium non clausum.69 Landeshoheit sollte unter anderem auch über die Judenpolitik durchgesetzt werden. Bis zum 17. Jahrhundert hatten sich daher eine Vielzahl von Gemeinden in Schwaben bilden können - eine im Vergleich zu Niederösterreich frühere Entwicklung. Ebenfalls anders als in Niederösterreich konnte auch zumindest teilweise an ältere Traditionen angeknüpft werden. Die lang zurückreichende Siedlungsgeschichte und die zahlreichen Siedlungsorte dürften trotz - oder vielleicht in diesem Fall gerade wegen - der schwachen Landesherrschaft dafür verantwortlich gewesen sein, daß sich im ,Medinat', also im ,Land' Schwaben mit der Markgrafschaft Burgau als Zentrum schon früh Ansätze einer Landesjudenschaft entwik-

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London 1967. S. 319-326, hier S. 32If.; Max Grunwald: Vienna. Philadelphia 1936 (Jewish Community Series). S. 99f. Vgl. D. Kaufmann (Anm. 29) S. 86, Anm. 3; L. Moses (Anm. 41) S. 106. Michael Toch: Die Verfolgungen des Spätmittelalters (1350-1550). In: GJ III/3 (Anm. 6) S. 2298-2327. Vgl. ζ. B. Wolfgang Wüst: Die „partielle Landeshoheit" der Markgrafen von Burgau, in: Landeshoheit. Beiträge zur Entstehung, Ausformung und Typologie eines Verfassungselements des Römisch-Deutschen Reiches. Hg. von Erwin Riedenauer. München 1994 (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 16). S. 62-92.

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kelten. 70 Der Zusammenhalt der schwäbischen Judenschaft war in weiten Teilen Ergebnis eines gemeinsamen Selbstverständnisses, der Verbundenheit mit den untergegangenen Zentren jüdischen Lebens Augsburg und Ulm. Familien, wie die Ulma-Günzburg (Ulmann), einer der vornehmsten Familien im Aschkenas des 16. und 17. Jahrhunderts, pflegten die Erinnerung an ihre städtische Herkunft Ulm auch noch im 18. Jahrhundert. Weiterer Zusammenhalt erwuchs der schwäbischen Landesjudenschaft auch aus dem wahrscheinlich schon im Spätmittelalter entstandenen Minhag Schwaben, einem regional spezifischen Brauchtum, das die jüdischen Gemeinden der Markgrafschaft - aber auch darüber hinaus - eng miteinander verband. 71 Daneben standen die schwäbischen Gemeinden in Kontakt zu den jüdischen Zentren Polens und Norditaliens, was sich unter anderem durch Familienbeziehungen, vor allem aber durch die Bestellung von Rabbinern aus diesen Regionen belegen läßt. 72 Insgesamt erfolgte in Schwaben die Bildung einer übergemeindlichen Selbstorganisation relativ früh. Ab ca. 1525 sind mit Rabbi Jona ben Jakob Weil ein 73

Landesrabbiner sowie regionale Ausschüsse faßbar. Der Rabbinatssitz wurde in den folgenden Jahrzehnten mehrere Male, entsprechend der Entwicklung der einzelnen Gemeinden, verlegt. Befand sich der Landesrabbiner zunächst im Kameralort Günzburg, wechselte er zu Beginn des 17. Jahrhunderts nach Thannhausen, das sich bis 1618 zur größten Gemeinde in Schwaben entwickelte. 74 Um die Mitte des 17. Jahrhunderts amtierte der Landesrabbiner schließlich unter maßgeb75 lichem Einfluß der Familie Ulmann in Pfersee. Zwar hatten die organisatorischen Strukturen in Schwaben im 16. Jahrhundert bereits einen relativ hohen Organisationsgrad, von der späteren Landesjudenschaft sind sie jedoch zu unterscheiden. 76 Die Schutzherren interessierten sich 70

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Zum Folgenden: S. Ulimann (Anm. 2) S. 207-209; S. Rohrbacher (Anm. 8); S. Rohrbacher (Anm. 4). Daneben: Bernhard Purin: „Der Teufel hat die Juden ins Land getragen." Juden und Judenfeindschaft in Hohenems. In: Antisemitismus in Vorarlberg. Regionalstudie zur Geschichte einer Weltanschauung. Hg. von Werner Dreier. Bregenz 1988 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 4). S. 65-83. Siehe S. Rohrbacher (Anm. 8) S. 84; R. Kießling (Anm. 6) S. 330; S. Rohrbacher (Anm. 4) S. 146 mit Anm. 23, Bernhard Purin: Die Juden in Vorarlberg und die süddeutsche Judenheit im 17. und 18. Jahrhundert. In: Studien zur Geschichte der Juden in Österreich. Hg. von Martha Keil, Klaus Lohrmann. Wien, Köln, Weimar 1994 (Handbuch zur Geschichte der Juden in Österreich. Reihe B, 2). S. 121-129, hier S. 124; ders.: Landjudentum im süddeutschen Raum. Die jüdische „Landschaft" im 17. und 18. Jahrhundert. In: „... eine ganz kleine jüdische Gemeinde, die nur von den Erinnerungen lebt!" Juden in Hohenems. Hg. von Eva Grabherr. Ausstellungskatalog. Hohenems 1996. S. 23-28, hier S. 24f. S. Rohrbacher (Anm. 4) S. 148. Vgl. S. Rohrbacher (Anm. 8) S. 81 f. Bernhard Stegmann: Aspekte christlich-jüdischer Wirtschaftsgeschichte am Beispiel der Reichsgrafschaft Thannhausen. In: Landjudentum (Anm. 1) S. 336-362, hier S. 340-344; Rohrbacher (Anm. 8) S. 101. Vgl. R. Kießling (Anm. 6) S. 334. So S. Ulimann (Anm. 2) S. 208.

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zunächst kaum für die internen Belange der Judenschaft. Erst als die Landesherrschaft mit dem Interesse einer möglichst intensiven Nutzung des Judenregals zunehmend auf die Korporationen einzuwirken begann, bildeten sich diese auch um und verfestigten sich zu einer Landesjudenschaft. Im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts finden sich daher nur sporadische Hinweise auf die Existenz landesjudenschaftlicher Strukturen.77 Ähnlich wie in Österreich unter der Enns wurde die Landesjudenschaft allerdings in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der Umlage der landesherrlichen Steuerforderungen betraut, eine Aufgabe, welche eine regelmäßige Zusammenkunft der Vertreter der einzelnen Gemeinden des Landes erforderlich machte. Etwa um die gleiche Zeit trat der Ausschuß der Juden des ,Landes' bereits, wenn auch nur sporadisch, als Fürsprecher der einzelnen Gemeinden gegenüber der Obrigkeit auf.78 Gemeinsam mit dem Landesrabbinat, das in Schwaben nicht nur früh belegt ist, sondern auch als weit ausstrahlendes geistiges Zentrum die einzelnen Gemeinden zusammenhielt,79 wurde damit langsam eine Korporation auf der Ebene des ,Landes' greifbar. Sind mit den landesfürstlichen Steuerforderungen und der politischen Vertretung Vergleiche zur Entwicklung landesjudenschaftlicher Strukturen in Niederösterreich zu ziehen, verlief die weitere Geschichte der schwäbischen Landesjudenschaft aufgrund der politischen Rahmenbedingungen anders: Nachdem die zunächst etablierten Strukturen im Dreißigjährigen Krieg weitgehend zerstört worden waren, kam es zu einer neuen Blüte und institutionellen Verfestigung der Landesjudenschaft gegen Ende des 17. Jahrhunderts, bevor ihre Organisation im 18. Jahrhundert durch eine Verdichtung der Verwaltung, die nicht zuletzt durch den weiteren Anstieg der jüdischen Bevölkerung auf dem Land nötig geworden war, weiter ausgebaut wurde.80

7. Resümee Gegenüber der reichsweiten Organisation der Gemeinen Judenschaft, deren Durchsetzungsfahigkeit zeitlich begrenzt war, wurden in der Frühen Neuzeit die Landesjudenschaften die innerjüdischen übergemeindlichen Korporationen, denen auf der Ebene der Territorien die entscheidende Bedeutung zukam. Mit dem Zurückweichen der kaiserlichen Judenpolitik waren es schließlich die Territorialherren, die über den weiteren Verbleib der Juden, ihre Rechte und Pflichten zu entscheiden hatten. Dementsprechend verschob sich das politische Engagement der 77 78

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Beispiele und Quellennachweise bei S. Ulimann (Anm. 2) S. 208f. Zum 16. und frühen 17. Jahrhundert vgl. S. Rohrbacher (Anm. 4) S. 145-147; ders.: Stadt und Land. Zur „inneren" Situation der süd- und westdeutschen Juden in der Frühneuzeit. In: Jüdisches Leben auf dem Lande (Anm. 1) S. 37-58, hier S. 56f.; zur späteren Entwicklung mit Beispielen und Quellennachweisen: S. Ullmann (Anm. 2) S. 208f. Zu den einzelnen Landesrabbinern vgl. S. Ullmann (Anm. 2) S. 196-200. Vgl. S. Ullmann (Anm. 2) S. 209-214.

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Juden von der Reichs- auf die territoriale Ebene. Übergemeindliche Strukturen, die schon allein aus dem Grund gebraucht wurden, um das religiöse Leben in den oft nur kleinen Siedlungsorten zu gewährleisten, verdichteten sich - oft begleitet von landesfurstlichen Steuerforderungen - auf der Ebene der , Länder'. Die auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Entwicklungen innerjüdischer Kooperation auf übergemeindlicher Ebene im Westen und Osten der habsburgischen Erbländer sollen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es auch durchaus vergleichbare bzw. ähnliche Strukturen gab. So war etwa bei beiden Landesjudenschaften in Schwaben und Niederösterreich die Einhebung der landesfürstlichen Steuer eine der wesentlichsten Aufgaben, die auch die Ausbildung interner Strukturen bestimmte. Mit der Ersetzung der Vollversammlung durch Deputierte, die die Landesjudenschaft vertraten, wurde im Medinat Schwaben wie auch in Niederösterreich die Bildung einer überregionalen Elite gefordert bzw. diese gestärkt. Durch die regionale und soziale Herkunft kann nicht nur diese Elite umrissen, sondern auch eine hierarchische Struktur zwischen den einzelnen Gemeinden, wie etwa das Beispiel Langenlois gezeigt hat, festgestellt werden. Jedoch, und hier unterscheiden sich die niederösterreichischen von den schwäbischen Verhältnissen, war im Osten der Erbländer die politische Funktion der Landesjudenschaft, etwa als Vertreterin in Supplikationsverfahren, nicht ausgeprägt. Förderte die landesfürstliche Steuerforderung generell den Zusammenschluß der Judenschaften auf der einen Seite, so hatten die lokalen Schutzherren wenig Interesse daran, daß die Juden auch in die landesfurstlichen Kassen Steuern zu zahlen hatten. Neben den fiskalischen Interessen spielte der grundsätzliche Herrschaftskonflikt zwischen Landesfürst und Adel auch in der Frage um die Oberhoheit über die Juden eine wichtige Rolle. Über die Organisation der Landesjudenschaft versprach sich der Landesfürst daher nicht nur regelmäßige Steuereinnahmen, sondern auch mit der Durchsetzung des Judenregals eine Stärkung der landesfürstlichen Macht. Im Gegensatz zu Niederösterreich, wo sich die Landesherrschaft im 17. Jahrhundert behaupten konnte, zog sie sich in Vorderösterreich schließlich zurück. Dies spiegelte sich auch in der Judenpolitik wider: Während die Landesjudenschaft in Niederösterreich mit der Vertreibung der Juden in den Jahren zwischen 1669 und 1671 endete, erstarkten im territorium non clausum der Markgrafschaft Burgau die innerjüdischen Strukturen ab dem späten 17. Jahrhundert. Auf dieser Ebene waren also die Landesjudenschaften sicherlich Spiegelbild der territorialpolitischen Verhältnisse. 81 Während es in Vorderösterreich trotz einer schwachen Landesherrschaft zur Bildung einer Landesjudenschaft kam, war es in Niederösterreich gerade umgekehrt. Hier drängte gerade die erstarkende Landesherrschaft auf den Zusammenschluß der Judenschaft, auch wenn sie diese Entwicklung schließlich durch Ausweisung beendete. 81

Vgl. S. Ulimann (Anm. 2) S. 207.

Politische Kommunikation und Schtadlanut der frühneuzeitlichen Judenschaft Rotraud Ries

Vor gut zehn Jahren hat Yosef Hayim Yerushalmi in einem an eher entlegener Stelle publizierten Essay „Diener von Königen und nicht Diener von Dienern" zum ersten Mal in systematischer Weise jüdische Interessenvertretung und jüdische Politik thematisiert. In einer Perspektive der longue duree zeigte er, welch zentrale Bedeutung die vertikale politische Orientierung und Assoziierung seit Beginn der Diaspora für die Juden hatte. Nur die höchsten Herrschaftsträger schienen für ihre Sicherheit als religiöse und soziale Minderheit sorgen zu können, die ökonomische Nützlichkeit der Juden bot das Motiv dafür.1 Hierarchische Orientierung und politische Kommunikation erweisen sich damit - ohne das asymmetrische Verhältnis zwischen den Kommunikationspartnern nivellieren zu wollen - als Schlüsselbegriffe im Verhältnis zwischen Judenschaft und Herrschaftsträgern. Zwei Gründe gibt es, warum dies in der bisherigen Forschung nicht entsprechend konzeptualisiert wurde: Deren vorherrschende Opferperspektive ließ keinen Raum für eigenständig politisch handelnde Individuen oder Gruppen. Zum anderen stand auch das Verständnis der klassischen Politikgeschichte einer Berücksichtigung der Juden im Wege, weil diese an Macht- und Yosef Hayim Yerushalmi: „Diener von Königen und nicht Diener von Dienern". Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden. Vortrag gehalten in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung am 19. Oktober 1993. München 1995 (Carl Friedrich von Siemens Stiftung - Themen 58); verhaltene Ansätze einer jüdischen Politikgeschichte bzw. einer Geschichte jüdischer Politik mit ersten ,Probebohrungen' reichen zurück in die 1970er Jahre. Sie sind konzentriert auf die Politik innerhalb der jüdischen Gesellschaft(en) und ihre v.a. normativen Grundlagen, siehe: Jewish Political Organization. The Jewish Polity from Biblical Times to the Present. Hg. von Daniel J. Elazar, Stuart A. Cohen. Bloomington 1985; Kinship and Consent. The Jewish political tradition and its contemporary uses. Hg. von Daniel J. Elazar. 2. neu bearb. und erg. Aufl. New Brunswick, London 1997; nach wie vor fuhrt die jüdische Politikgeschichte aber eher eine Nischenexistenz. Einen Versuch, dies zu ändern, stellt die neue Zeitschrift „Hebraic Political Studies" dar, deren erstes Heft im Frühjahr 2005 erschien und deren Herausgeber sich zum Ziel gesetzt haben, die „hebraic political tradition innerhalb der politischen Theorie und Ideengeschichte zu rekonstruieren" (siehe die Rezension von Harald Lordick. In: Kalonymos 8,3. 2005. S. 10).

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Verfassungsfragen orientiert für das Handeln der jüdischen Minderheit keinen Anknüpfungspunkt bot. Aus dem gleichen Grund war die Geschichte des Politischen in der jüdischen Perspektive lange kein Thema; die Diaspora-Situation ohne eigenen Staat und ein eher pragmatisches, kommunikatives Verständnis des Politischen boten keinen Ansatz für die an politischer Theorie interessierten, geistesgeschichtlichen Zugänge.2 Die Umorientierung der letzten Jahre zu einer kommunikations- und kulturgeschichtlichen Perspektive auf das Politische3 hat nicht zuletzt den Zusammenhang zwischen Herrschaft und Kommunikation betont4 sowie die Kommunikation 2

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Vgl. Bernard Süsser, Eliezer Don-Yehiya: Prolegomena to Jewish Political Theory. In: Kinship (Anm. 1) S. 117-138, hier S. 121; ähnlich Amos Funkenstein: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen. Aus dem Englischen von Christian Wiese. Frankfurt a.M. 1995. S. 131 f. Siehe einführend Ute Frevert: Neue Politikgeschichte. In: Kompaß der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch. Hg. von Joachim Eibach, Günther Lottes. Göttingen 2002 (UTB für Wissenschaft 2271). S. 152-164, 176f.; Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Hg. von Barbara Stollberg-Rilinger. Berlin 2005 (ZHF. Beiheft 35) und darin bes. die Einleitung der Herausgeberin, S. 9-24; Inklusion und Partizipation. Politische Kommunikation im historischen Wandel. Hg. von Christoph Gusy, Heinz-Gerhard Haupt. Frankfurt, New York 2005 (Historische Politikforschung 2), leider ohne Einbeziehung von Mittelalter und Früher Neuzeit; eine Mikrostudie zum 16. Jahrhundert: Christine Pflüger: Kommissare und Korrespondenzen. Politische Kommunikation im Alten Reich (1552-1558). Köln, Weimar 2005 (Norm und Struktur 24); zu kommunikationsgeschichtlichen Ansätzen siehe beispielhaft: Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft. Referate der 12. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 22.-25.4.1987 in Siegen. Hg. von Hans Pohl. Stuttgart 1989 (VSWG. Beihefte 87); Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Internationaler Kongreß Krems an der Donau, 9. bis 12. Oktober 1990. Wien 1992 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Sitzungsberichte 596); Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994; Carl A. Hoffmann: Öffentlichkeit' und ,Kommunikation' in den Forschungen zur Vormodeme. Eine Skizze. In: Kommunikation und Region. Hg. von Carl A. Hoffmann, Rolf Kießling. Konstanz 2001 (Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 4). S. 69-110; Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte. Hg. von Georg Mölich, Gerd Schwerhoff. Köln 2000 (Der Riß im Himmel. Clemens August und seine Epoche 4); Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. Hg. von Johannes Burkhardt, Christine Werkstetter. München 2005; mit einem Schwerpunkt auf der materiellen bzw. technischen Seite der Kommunikation (Reisen, Post, Druckwesen) Peter Burke: Urbanisierung und Kommunikation. Die vorindustrielle Stadt als Informationszentrale. In: Freibeuter 68. 1996. S. 3-18; Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 189); Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts. Hg. von Michael North. 2. Aufl. Köln 2001. Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preußen 1600-1850. Hg. von Ralf Pröve, Norbert Winnige. Berlin 2001 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für die Geschichte Preußens e.V. 2); Inklusion und Partizipation (Anm. 3); implizit geht es um politische Kommunikation in einem auch auf die Interessenvertretung der Juden anwendba-

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zwischen Untertanen und Obrigkeiten zum Thema werden lassen.5 Auch in Hinblick auf die jüdische Bevölkerung des Reiches ist eine solche Perspektive bereits punktuell zum Tragen gekommen in der Analyse von Aushandlungsprozessen verschiedener Herrschaftsträger und Interessengruppen in bezug auf den jeweils durchsetzbaren judenpolitischen' Kurs.6 Der jüdische Anteil an diesen Kommunikationsprozessen, Fürsprache und Interessenvertretung einzelner Juden oder jüdischer Gemeinden harrt jedoch noch einer systematischen Untersuchung. Der Kommunikations- und Handlungsspielraum der in politische Entscheidungsprozesse involvierten Juden könnte sich dabei als ein Indikator des Politischen insgesamt erweisen, weil er angesichts des höheren Verhandlungsgrades der nicht

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ren Sinne in: Gemeinde und Staat im Alten Europa. Hg. von Peter Blickle unter Mitarbeit von Rosi Fuhrmann (u.a.). München 1998 (HZ. Beihefte. N.F. 25); Forme della comunicazione politica in Europa nei secoli XV-XVIII. Suppliche, gravamina, lettere / Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15. bis 18. Jahrhundert. Bitten, Beschwerden, Briefe. Hg. von Cecilia Nubola, Andreas Würgler. Bologna, Berlin 2004 (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento/Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient. Contributi/Beiträge 14); Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.-18. Jahrhundert). Hg. von Cecilia Nubola, Andreas Würgler. Berlin 2005 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 19). Nicht alle Supplikationen tragen einen politischen Charakter; doch sie bieten neben Gravamina u. ä. eines der zentralen Medien, in denen politische Anliegen von Untertanen artikuliert wurden; Helmut Neuhaus: Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert. T. [l-]2. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28. 1978. S. 110-190; 29. 1979. S. 63-97; Otto Ulbricht: Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel. In: Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte. Hg. von Winfried Schulze. Berlin 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2). S. 149-175; Rosi Fuhrmann, Beat Kümin, Andreas Würgler: Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung. In: Gemeinde und Staat (Anm. 4) S. 267-323; Renate Blickle: Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat. In: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne. Hg. von Werner Rösener. Göttingen 2000 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 156). S. 263-317; Gerd Schwerhoff: Das Kölner Supplikenwesen in der Frühen Neuzeit. Annäherungen an ein Kommunikationsmedium zwischen Untertanen und Obrigkeit. In: Köln als Kommunikationszentrum (Anm. 3) S. 473-496; Rudolf Schlögl: Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt. In: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt. Hg. von Rudolf Schlögl. Konstanz 2004 (Historische Kulturwissenschaft 5). S. 9-60. Rotraud Ries: Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert. Hannover 1994 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 35) (Quellen und Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit 13). S. 356-359, 376-380; Stephan Laux: Gravamen und Geleit. Tendenzen und Konsequenzen ständischer Einflußnahme auf die Judenpolitik' im Herzogtum Westfalen (ca. 1600-1850). In: Politisch-soziale Praxis und symbolische Kultur der landständischen Verfassungen im westfälischen Raum. Hg. von Barbara Stollberg-Rilinger. Münster i.W. 2003 (Westfälische Forschungen 53). S. 131-158; Jutta Braden: Hamburger Judenpolitik im Zeitalter lutherischer Orthodoxie, 1590-1710. Hamburg 2001 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 22).

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selbstverständlichen Duldung und normativen Regulierung der religiösen Minderheit wie unter dem Mikroskop Machtverhältnisse und -strukturen offenlegt.7 Wie Politik und politische Kommunikation gerade vor Ort funktionierten, welch eminente Bedeutung Aushandlungsprozesse in einer häufig reaktiven, primär dem Interessenausgleich, dem lokalen Frieden sowie insgesamt dem „gemeinen Nutzen" verschriebenen Politik hatten,8 zeigt sich nicht zuletzt an dem kommunikativen Spielraum, der den Juden gewährt wurde. Ausgehend von Yerushalmi und seiner sehr überzeugenden These möchte ich mich im folgenden nach einem kurzen Blick auf den Forschungsstand seiner Leerstelle zuwenden, dem aschkenasischen, genauer dem deutschsprachigen Raum, und die Strukturen der politischen Kommunikation der Juden dem Grundmodell der Kommunikationstheorie folgend aufschlüsseln. Genauer eingehen werde ich sodann auf die Phase von Krise, Vorläufigkeit und Rekonsolidierung der jüdischen Gemeinschaft zwischen 1500 und 1800 und die Gestaltung politischer Kommunikation im allgemeinen und Schtadlanut im besonderen. Leitfragen dabei sollen sein: Was ist, warum gibt es, wie funktioniert und wie weit reicht Schtadlanut, wer ist Schtadlan und warum? Die Skizze, die ich damit vorlege, stellt nicht das Ergebnis abgeschlossener Forschungen dar, sondern versteht sich eher als programmatischer Entwurf für ein lohnendes und überdies aktuelles Forschungsfeld. Zwei grundsätzliche Überlegungen muß ich jedoch noch vorweg schicken: Christen und Juden der Frühen Neuzeit lebten gleichermaßen in einer Face-toFace-Gesellschaft, deren Einflußmöglichkeiten gebunden waren an persönliche oder wenigstens persönlich vermittelte Beziehungen. Auch politische Kommunikation funktionierte nach diesen Spielregeln.9 Zweitens ist zu erinnern an die zentrale Dualität jüdischer Existenz im Reich der Frühen Neuzeit, den Unterschied zwischen kaisernahen und kaiserfernen Regionen; nicht selten fiel die Kaisernähe mit einer größeren Zahl von und damit konkurrierenden Schutzherren 7

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Dies gilt z.B. auch für die Judenpolitik, an der sich nicht selten das Kräfteverhältnis konkurrierender Herrschaftsträger ablesen läßt; vgl. Sabine Ulimann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151). S. 146-151. Schlögl (Anm. 5) bes. S. 39-43; Georg Mölich, Gerd Schwerhoff: Die Stadt Köln in der Frühen Neuzeit. Kommunikationszentrum - Kommunikationsraum - politische Öffentlichkeit. In: Köln als Kommunikationszentrum (Anm. 3) S. 11-38; in bezug auf Judenpolitik, aber in beiden Fällen ohne Kommunikations- und Handlungsspielraum der betroffenen Juden Rotraud Ries: Zum Zusammenhang von Reformation und Judenvertreibung: Das Beispiel Braunschweig. In: Civitatum Communitas. FS Heinz Stoob zum 65. Geburtstag. Hg. von Helmut Jäger, Franz Petri, Heinz Quirin. Köln, Wien 1984 (Städteforschung A 21). S. 630-654; dies.: Phibes Heilbot und die Judenpolitik der Stadt Hannover gegen Ende des 16. Jahrhunderts. In: Gedenkschrift für Bernhard Brilling. Hg. von Peter Freimark, Helmut Richtering. Hamburg 1988 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 14). S. 90-120. Schlögl (Anm. 5).

Politische Kommunikation

und

Schtadlanut

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in meist eher ländlichen Siedlungsformen zusammen, die ein breiteres Feld für politische Kommunikation eröffneten als in kaiserfernen Regionen. Dort finden sich dagegen mehr städtische Siedlungen, in denen jenseits der Normativität der Schutzrechte auch die Stadtmagistrate über das Schicksal der Juden mit bestimmten. Gleiches gilt für die (wenigen) Reichsstädte mit großen jüdischen Gemeinden, in denen wie in Frankfurt am Main und Worms ebenfalls mehrere konkurrierende Gewalten am Judenschutz beteiligt waren. 10 Unabhängig davon gilt es in Hinblick auf politische Handlungsspielräume den strukturellen und politischen Unterschied zwischen großen und kleinen Siedlungen bzw. Gemeinden zu beachten: Das kommunikative Gewicht einzelner, noch nicht einmal in einer Gemeinde organisierter jüdischer Familien an einem Ort ist verständlicherweise nicht zu vergleichen mit dem etwa der jüdischen Gemeinde Frankfurts oder einer jüdischen Dorfgemeinde, die einen Bevölkerungsanteil von 50 Prozent stellte. 11 Die bislang wichtigste Studie zur politischen Interessenvertretung von Juden im deutschsprachigen Raum ist der zeitgleich mit Yerushalmis Essay erschienene Aufsatz von Friedrichs, in dem zentrale Beobachtungen zur jüdischen Politik in den Reichsstädten Frankfurt am Main und Worms zu finden sind; Friedrichs machte bereits auf das Forschungsdesiderat aufmerksam - eine Feststellung, die heute nicht viel weniger aktuell ist. 12 Die ältere Forschung hatte sich v.a. auf die Gesandten der Judenschaft(en) des 16. Jahrhunderts im Gefolge Joseis von Rosheim konzentriert,13 auch Bernhard Brillings Studie ist in diesem Kontext zu se-

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Stefan Rohrbacher: Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit. In: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Hg. von Rolf Kießling. Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2). S. 80-109; Christopher R. Friedrichs: Jews in the Imperial Cities: A Political Perspective [Worms, Frankfurt], In: In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Hg. von Ronnie Po-Chia Hsia, Hartmut Lehmann. Washington, Cambridge 1995 (Publications of the German Historical Institute Washington, D.C.). S. 275-288. Zur Siedlungsgeschichte J. Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 2001 (EDG 60). S. 10-13, 32-36; die Bedeutung der Siedlungsdifferenzen für das jüdische Leben in der Frühen Neuzeit harrt noch einer systematischen Erforschung; siehe Stefan Rohrbacher: Die jüdischen Gemeinden in den Medinot Aschkenas zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. In: Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung, von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von Christoph Cluse, Alfred Haverkamp, Israel J. Yuval. Hannover 2003 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 13). S. 451-463; Rotraud Ries: Die Mitte des Netzes: Zur zentralen Rolle Frankfurts für die Judenschaft im Reich (16.-18. Jahrhundert). In: Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Fritz Backhaus, Gisela Engel, Robert Liberies, Margarete Schlüter. Frankfurt a.M. 2006 (Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main 9). S. 118-130, 306313. Friedrichs (Anm. 10), zum Forschungsdesiderat S. 276. Siehe die in Anm. 31 zitierte Literatur.

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hen.14 Zum 18. Jahrhundert und seinen jüdisch-diplomatischen Möglichkeiten und Fähigkeiten liegen die wichtigen Untersuchungen von Baruch Mevorah vor;15 hieran knüpfte Michael Graetz mit seiner in die Moderne reichenden Perspektive an, die ihm Anlaß gab, das Verhältnis zur Politik im Judentum einleitend zu bestimmen.16 Auf die Fürsprecherfunktion der Hofjuden geht systematisch v.a. Selma Stern ein, Graetz hat sie in seinem einleitenden Essay im Ausstellungsband ,Court Jews' ebenfalls thematisiert.17 Verstreute Informationen, meist ohne systematische Analyse, liegen wie für viele andere Themen auch in der lokal- und regionalhistorischen Literatur vor, die hier nicht im einzelnen genannt werden kann. Erst in jüngster Zeit scheint das Interesse an jüdischer Politik im konzeptionellen Sinne zu wachsen, sei es in einer auf die interne politische Konstruktion der jüdischen Gemeinde bezogenen Perspektive,18 sei es mit der Thematisierung jüdischer Interessenvertretung im lokalen, territorialen oder reichsweiten Rah-

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Bernhard Brilling: Die Prager jüdische Gemeinde als Fürsprecherin und Vertreterin des deutschen Judentums im 16. und 17. Jahrhundert. In: Theokratia. Jahrbuch des Institutum Judaicum Delitzschianum 3. 1973-1975 [1979], S. 185-198. Baruch Mevorah: Die Interventionsbestrebungen in Europa zur Verhinderung der Vertreibung der Juden aus Böhmen und Mähren, 1744-1745. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Tel Aviv 9. 1980. S. 15-81; bereits 1963 war dieser Aufsatz in einer hebräischen Fassung erschienen: Jewish Diplomatie Activities to Prevent the Expulsion of Jews from Bohemia and Moravia, 1744-1745. In: Zion 28. 1963. S. 125-164. Michael Graetz: Judentum und Moderne. Die Rolle des aufsteigenden Bürgertums im Politisierungsprozeß der Juden. In: Judentum im deutschen Sprachraum. Hg. von Karl E. Grözinger. Frankfurt a.M. 1991 (Edition Suhrkamp N.F. 613). S. 259-279. Selma Stern: Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert [1. Aufl. Philadelphia 1950]. Aus dem Englischen übertragen, kommentiert und hg. v. Marina Sassenberg. Tübingen 2001 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 64). S. 162-190; Michael Graetz: Court Jews in Economics and Politics. In: From Court Jews to the Rothschilds. Art, Patronage and Power 1600-1800. Hg. von Vivian Mann, Richard I. Cohen. Munich, New York 1996. S. 27-43, hier S. 39-41. Andreas Gotzmann: Gemeinde als Gemeinschaft? Politische Konzepte der deutschen Juden im Absolutismus [betr. Karlsruhe]. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 1. 2002. S. 375-427. Rolf Kießling, Sabine Ullmann: Christlich-jüdische „Doppelgemeinden" in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau während des 17./18. Jahrhunderts. In: Jüdische Gemeinden (Anm. 11) S. 513-534; Rotraud Ries: Alte Herausforderungen unter neuen Bedingungen? Zur politischen Rolle der Elite in der Judenschaft des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. In: Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Berlin, Wien 2004. S. 91-141; Barbara Staudinger: „Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigistes Bitten". Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert. In: Ebd., S. 143-183; Peter Rauscher, Barbara Staudinger: Widerspenstige Kammerknechte. Die kaiserlichen Maßnahmen zur Erhebung von „Kronsteuer" und „Goldenem Opferpfennig" in der Frühen Neuzeit. In: Aschkenas 14/2. 2004. S. 313-363; demnächst: Rebekka Voß: „Habe die Mission treu erfüllt und begehre meinen Lohn darum". Frühneuzeitliche Definitionen von Amt, Funktion

Politische Kommunikation und Schtadlanut

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Die Kommunikationswissenschaft unterscheidet im vereinfachten Modell im Kommunikationsprozeß die Parameter Sender, Empfänger, Medien und Nachricht bzw. Inhalt. 20 Von diesen möchte ich Sender und Empfänger in meinem Strukturmodell gemeinsam benennen, um sogleich mit beiden Partnern eine kommunikative Beziehung als Ganzes zu definieren. Sechs nach Anzahl der Kommunikationspartner und Hierarchie differente Konstellationen sind im vorliegenden Zusammenhang zu nennen: • Individuum - Schutzherr und/oder politische Führung am Wohnort; • Gemeinde/Landjudenschaft - Schutzherr und/oder politische Führung am Wohnort; • Gemeinde/Landjudenschaft - andere Gemeinde/Landjudenschaft; • Gemeinde/Landjudenschaft - Schtadlan und umgekehrt; • Individuum/Schtadlan - oberste Herrschaftsebene; • Gemeinde/Landjudenschaft - oberste Herrschaftsebene. Die Kommunikationspartner sind also zu unterscheiden in individuelle, kollektive (vertreten durch einen oder mehrere Sprecher bzw. Repräsentanten) und vermittelte bzw. delegierte. Je weiter Sender und Empfanger räumlich und hierarchisch von einander getrennt sind, desto wahrscheinlicher ist die Einschaltung eines Abgesandten oder Fürsprechers, der eine indirekte Sender-Rolle einnimmt. Als Medien kommen je nach Situation und Erreichbarkeit infrage: mündliches Gespräch, schriftliche Nachrichtenübermittlung, Supplikation und - als indirekte Kommunikation - Interzession eines Herrschaftsträgers. Auf die interessante technische Seite des Themas, nämlich die Beförderung von Nachrichten und Supplikationen im Zeitalter der sog. „Kommunikationsrevolution", sei für die jüdi21

sehe Bevölkerung als Forschungsdesiderat nur am Rande verwiesen. Ohne zwischen Sendern und Empfängern zu differenzieren, lassen sich folgende zentrale Themen der politischen Kommunikation benennen: • Schutz, Ansiedlung, Privilegien • Steuern • Normen • juristische Konflikte vergleichbar denen der Nicht-Juden • spezifisch antijüdische Rechtsbrüche, Vertreibungen und Verfolgungen.

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und Titel des Schtadlan im Konflikt. In: Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente frühneuzeitlicher Juden in Aschkenas - Beispiele, Methoden und Konzepte. Hg. von Birgit E. Klein, Rotraud Ries. Berlin 2007 (im Druck); Eva Wiebel: Korporative Modelle in der Selbst- und Fremddarstellung der jüdischen Gemeinde Breisachs im 17. und 18. Jahrhundert. In: Ebd. Roland Burkart: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. 3. Überarb. u. akt. Aufl. Wien, Köln, Weimar 1998 (Böhlau-Studien-Bücher). Einfuhrend S. 15-162, zur Kommunikationswissenschaft und ihren Modellen S. 401-478. Behringer (Anm. 3); daß Juden mindestens in besonders vertraulichen oder dringenden Fällen auf eigene Transport-Ressourcen zurückgriffen, scheint z.B. bei Mevorah (Anm. 15) verschiedentlich auf.

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Die Art der Beziehungen zwischen den potentiellen Kommunikationspartnern im diachronen Überblick erweist sich als abhängig vom Stand der Siedlungsentwicklung. Die frühmittelalterliche Stufe, in der es um Privilegien für einzelne Fernhandelskaufleute ging, ist gekennzeichnet durch individuelle Verhandlungen, die sich in kaiserlichen Privilegien greifen lassen. Familiäre oder Clan-Strukturen dürften im Einzelfall bereits hinter diesen Individuen gestanden haben. Im Zuge der Siedlungsverdichtung, der Entstehung der ersten Gemeinden in den Bischofsstädten, treten für das Hoch- und Spätmittelalter korporative Modelle in den Vordergrund: Führende Mitglieder - auch hier dominiert noch lange der Einfluß einiger weniger Familien - der neuen Gemeinden verhandeln in deren Namen um Privilegien; als relevante hochrangige Herrschaftsträger treten neben den Kaiser, aber hinter ihm immer noch an höchster Stelle in der Hierarchie, die Bischöfe als Stadtherren der rheinischen Bischofsstädte und potentielle Garanten der Sicher22

heit vor Ort. Punktuell lassen sich Geschäftsbeziehungen zwischen Herrschaftsträgern und Angehörigen der jüdischen Elite nachweisen, die ein dichteres Kommunikationsverhältnis zwischen beiden Parteien konstituierten. Der Funktion nach waren diese Männer ,Hofjuden', die, wie Yerushalmi und Yosef Kaplan auch und gerade für den muslimischen und spanischen Raum bis 1492 gezeigt haben, in besonderer Weise geeignet waren, die Interessen der Judenschaft und/oder ihre eigenen - zu Gehör zu bringen.23 Angesichts der doch eher vereinzelten Tätigkeit solcher ,Hofjuden' nördlich der Alpen im Mittelalter konnte es hier allerdings nicht zu einer systematischen Nutzung entsprechender Kommunikationskanäle kommen.24 Im Zuge der Ausweitung jüdischer Siedlungstätigkeit in kaiserferne Regionen seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stieg die Bedeutung regionaler Herrschaftsträger über die Subsidiarität zum Reichsoberhaupt hinaus. Es entstanden jüdische Gemeinden, die allein unter dem Schutz von Landesherren und/oder Städten standen und die folglich allein mit diesen über die Konditionen ihrer 25 Siedlung verhandelten. Die Initiative dazu dürfte in der Regel zuerst von Individuen ausgegangen sein. Ähnlich individuell bzw. kleingruppenorientiert gestalteten sich die Verhandlungen zur Wiederaufnahme von Juden nach den verheerenden Verfolgungen von 1348/50 und der Vernichtung der meisten jüdischen Ge22

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Michael Toch: Die Juden im mittelalterlichen Reich. München 1998 (EDG 44). S. 5-8, 1622; Arno Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1997. S. 24-27; Yerushalmi (Anm. 1) S. 21-33. Yerushalmi (Anm. 1) S. 33-37; Yosef Kaplan: Court Jews before the Hofjuden. In: From Court Jews to the Rothschilds (Anm. 17) S. 11-25. Rotraud Ries: Juden als herrschaftliche Funktionsträger. In: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe. Hg. von Werner Paravicini, bearb. von Jan Hirschbiegel, Jörg Wettlaufer. T. 1-2, 1: Begriffe. Sigmaringen 2005 (Residenzenforschung 15.11, Τ. 1). S. 303-306. Toch (Anm. 22) S. 10-13; GJ II/1-2: Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Hg. von Zvi Avneri. Tübingen 1968 (Veröffentlichungen des Leo Baeck Instituts). S. XXIII-XXVI.

Politische Kommunikation

und

Schtadlanut

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meinden. Der Konzentrationsprozeß der an Zahl erheblich verminderten Judenschaft ließ jedoch an den alten Zentren jüdischer Siedlung bald wieder Gemeinden entstehen; an die bislang gebrauchten korporativen Kommunikationsmodelle konnte also wieder angeknüpft werden, bevor seit dem Ende des 14. Jahrhunderts mit der Konfiszierung jüdischer Vermögen, der Verarmung der Juden und nachlassender Wirtschaftskraft die ökonomisch-fiskalischen Anreize für konstruktive politische Kommunikation schwanden und die Vertreibungen mit den Gemeinden auch deren Kommunikationsnetze vernichteten. 26 Ob es infolgedessen auch zu einem Wissens- und Erfahrungsbruch im 15. Jahrhundert kam und ob Herrschernähe als Ergebnis der in der Regel von den politischen Gewalten durchgeführten Vertreibungen möglicherweise negativ umgewertet wurde, bedarf erst noch einer genaueren Untersuchung. 27 Anzeichen hierfür gibt es jedenfalls. Am Anfang des 16. Jahrhunderts steht paradigmatisch der eher dilettantische Versuch der Frankfurter Gemeinde, andere Gemeinden zum gemeinsamen Kampf gegen den Konvertiten Johannes Pfefferkorn und seine Bücherkonfiskation zu mobilisieren und mehr noch die Interessen der Gemeinde am Kaiserhof zu Gehör 28

zu bringen. Hundert Jahre später, im Zuge der innerstädtischen Unruhen und der Austreibung aus Frankfurt wie aus Worms (1612-1616 bzw. 1613-1617) ist der politische Kompetenzgewinn beider Gemeinden bereits unübersehbar. 29 Parallel zu korporativen Vertretungen seit dem 16. Jahrhundert ist in der Person Joseis von Rosheim ein individueller Kompetenzgewinn zu verzeichnen. Er lebte die Effizienz der direkten politischen Kommunikation vor und erzielte in zahllosen politischen Vertretungen und v.a. mit den kaiserlichen Privilegien seit 1544 langfristige Fortschritte in bezug auf die Rechtssicherheit der Juden. 30 Sein Vorbild 26

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Rosemarie Kosche: Erste Siedlungsbelege nach 1350 - Siedlungsnetz und Jüdische" Raumperzeption. In: Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den Südalpen. Kommentiertes Kartenwerk. Hg. von Alfred Haverkamp, bearb. von Thomas Bardelle u. a. T. 1-3, 1: Kommentarband; 2: Ortskatalog; 3: Karten. Hannover 2002 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 14/1-3). Τ. 1. S. 243-247, hier S. 245-247; Toch (Anm. 22) S. 12f„ 17f.; Ries (Anm. 24). Zur begrenzten Präsenz (nicht genutzten) politischen Wissens am Beispiel aufständischer Untertanen siehe Andreas Suter: Kulturgeschichte des Politischen - Chancen und Grenzen. In: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Anm. 3) S. 27-55, hier S. 39f. Eric Zimmer: Jewish Synods in Germany during the Late Middle Ages (1286-1603). New York 1978. S. 44-46, 57; Arye Maimon: Tagungen von Judenschaften in Westdeutschland im frühen 16. Jahrhundert. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 5. 1979. S. 7182, hier S. 71-75; Ries (Anm. 19) S. lOlf. Friedrichs (Anm. 10) S. 279, 281-283. Ludwig Feilchenfeld: Rabbi Josel von Rosheim. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland im Reformationszeitalter. Straßburg 1898. bes. S. 58-63; Selma Stern: Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Stuttgart 1959; zusammenfassend: J. Friedrich Battenberg: Rosheim, Josel von (ca. 1478-1554). In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller. Bd. 29. Berlin, New York 1998. S. 424-427; zu den Schriften Joseis: Iosephi de Rosheim: Sefer Hammiknah. Ex autographo auctoris descripsit, prolegomenis et annotationibus instruxit [hebr.].

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dürfte die Rolle mancher ihm folgender Gesandter am Kaiserhof inspiriert haben, die wie Josel selbst noch außerhalb utilitaristischer Denkkategorien ihre politischen Verhandlungen geführt zu haben scheinen. Was letztlich jedoch den Kaiser und andere Herrscher vor der finanziellen, ökonomischen und organisatorischen , Abhängigkeit' von den Hofjuden motivierte, auf Bitten und Wünsche der Juden einzugehen, bedarf erst noch einer genaueren Untersuchung; finanzielle Erwägungen sind in der ein oder anderen Weise immer im Spiel gewesen, möglicherweise spielten aber gerade im unruhigen 16. Jahrhundert, in dem sich die Gesellschaft des Reiches konfessionspolitisch neu aufstellte, auch politische Überlegungen eine nicht unerhebliche Rolle. Dann wäre es, so kann man aus der Rückschau feststellen, dem Kaiser gelungen, die Juden auf seine, die katholische Seite zu ziehen und seine Position ihnen gegenüber zu behaupten. Zumindest der Erfolg Joseis scheint daneben nicht unerheblich auf einer Ebene ganz persönlicher Vernetzung und Wirkung angesiedelt gewesen zu sein - ein Faktor, der in dem kaum institutionalisierten Rahmen dieses politischen Wirkens nicht zu imitieren war. Daß es sich bei allen bekannten, ihm folgenden Gesandten, so wenig wir auch über sie wissen, nicht um No-Names der jüdischen Gesellschaft handelte, versteht sich von selbst; doch keinem gelang es, an das effektive Kommunikationsnetz Joseis wieder anzuknüpfen. Der zentrale Gesandte der Juden des Reiches konnte sich zeitgleich mit den ersten Anzeichen einer nicht gelingenden reichsweiten Vereinigung der Juden als Modell professioneller politischer Vertretung nicht durchsetzen. 31 An seine Stelle traten für einen gewissen Zeitraum eher korporative Muster politischer Interessenvertretung, die in den in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stark gewachsenen und nun mit institutionalisiertem Gewicht versehenen führenden und kaisernahen Gemeinden Prag und Frankfurt angesiedelt waren. Die Prager Vorsteher verwandten sich seit den 1590er Jahren verschiedentlich v.a. für norddeutsche jüdische Gemeinden, sprachen dabei aber z.T. explizit im Interesse

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Bearb. von Chava Fraenkel-Goldschmidt. Jerusalem 1970; Joseph of Rosheim, Historical Writings [hebr.]. Hg. von Chava Fraenkel-Goldschmidt. Jerusalem 1996; Ries (Anm. 19) S. 106-108; demnächst dies.: Individualisierung im Spannungsfeld differenter Kulturen: Positionsbestimmungen und experimentelle Neudefinitionen in der jüdischen Minderheit. In: Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive (15.-19. Jahrhundert). Hg. von Kaspar von Greyerz. München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs) (im Druck). Ries (Anm. 19) S. 108; Yacov Guggenheim: „A suis paribus et non aliis iudicentur": Jüdische Gerichtsbarkeit, ihre Kontrolle durch die christliche Herrschaft und die „obersten rabi gemeiner Judenschafft im heiigen Reich". In: Jüdische Gemeinden (Anm. 11) S. 405-439, hier S. 421-424; Daniel J. Cohen: Cosman zum Rade - Emmissary of the Jews of Germany in the 1560's [hebr., mit engl. Zusammenfassung]. In: Zion 35. 1970. S. 117-126; Moritz Stern: Die Wormser Reichsrabbiner Samuel und Jakob, 1521-1574. Berlin 1937; Salomon Stein: Eine wichtige Urkunde. In: Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft 9. 1911. S. 305-317; Max Freudenthal: Zur Geschichte des Judenprivilegs Kaiser Maximilians II. auf dem Reichstag zu Augsburg 1566. In: Zeitschrift fur die Geschichte der Juden in Deutschland 4. 1932. S. 83-100; Stefan Litt: Joachim Ferber von Nordhausen - Gesandter der deutschen Juden am kaiserlichen Hof? In: Aschkenas 9. 1999. S. 145-150.

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der Juden des Reiches. 32 Ihr politischer Kommunikations- und Handlungsspielraum schrumpfte jedoch schnell wieder zusammen in dem Moment, als der Hof nach Wien wechselte, wo es keine Gemeinde von entsprechendem institutionellen Gewicht gab, die ihre Rolle hätte übernehmen können. Gleichzeitig sank im Zuge der juristischen Stabilisierung und der Möglichkeit, Konflikte über die Reichsgerichte zu lösen, der politische Kommunikationsbedarf. 33 Die Frankfurter Gemeinde baute zur eigenen Interessenvertretung im Laufe der Zeit direkte Kommunikationskanäle zum Kaiserhof auf und bot jedenfalls in der Mitte des 17. Jahrhunderts an, diese auch im Interesse anderer Gemeinden zu nutzen. 34 Auch unterhalb der Reichsebene zeigen sich in punktuellen Organisierungen, in einmaligen Delegationen und experimentellen Formen der Interessenvertretung die Schwierigkeiten der Juden, neue, stabile Organisations- und Kommunikationsformen zu entwickeln und aufzubauen. So agierten die Juden der vereinigten Herzogtümer Braunschweig-Wolfenbüttel und -Calenberg zwar korporativ, aber hilflos angesichts des Herrscherwechsels 1589. Ihr Geschenk an den neuen Herzog Heinrich Julius wies dieser in einer Szene von hohem Symbolgehalt mit Abscheu zurück. 35 Zwei Jahre später hatten sie aus diesen Erfahrungen gelernt: Auf die Vertreibung reagierten sie zwar auch mit Supplikationen an den Herzog; doch parallel hierzu gewannen sie die Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Prag als Fürsprecher. 36 Im burgauischen Thannhausen suchte man 1611 verzweifelt einen Unterhändler, der für die Gemeinde mit dem Schutzherrn in Prag verhandelte. Nach längerer Suche und Verhandlungen, in denen es v.a. um den Preis der Mission ging, wurde ein Vertrag mit dem Unterhändler Kafman geschlossen. Als dieser nicht mit dem gewünschten Ergebnis zurückkehrte, kam es über sein Vorgehen, die Nutzung seines Handlungsspielraums und daraus folgend über die Bezahlung zum Konflikt und zum Prozeß vor einem jüdischen Schiedsgericht. 37 So fließend und experimentell die Formen der Delegation, so auch ihre Benennung: Der für einen Auftrag gedungene Gesandte wurde als Schtadlan bezeichnet, mithin mit einem Begriff belegt, der erst um diese Zeit eine neue Bedeutung entwickelte, die zentral auf die Fürsprache-Funktion abhob, sei sie nun in der Form eines konkreten, auch einmaligen Auftrags, eines Ehrentitels für die freiwillige 32

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Brilling (Anm. 14); Ries (Anm. 6) S. 330-332; Jan Lokers: Die Juden in Emden 1530-1806. Eine sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studie zur Geschichte der Juden in Norddeutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zur Emanzipationsgesetzgebung. Aurich 1990 (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 70). S. 43. Friedrichs (Anm. 10) S. 280; Staudinger (Anm. 19) S. 150. Isidor Kracauer: Geschichte der Juden in Frankfurt a.M. (1150-1824). 2 Bde. Frankfurt a.M. 1925/27 (Repr. o. J.). Bd. 2. S. 74; siehe dazu unten, S. 12f. Ries (Anm. 6) S. 496. Brilling (Anm. 14) S. 189-191; Ries (Anm. 19) S. 122f. Stefan Rohrbacher: Organisationsformen der süddeutschen Juden in der Frühneuzeit. In: Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Robert Jütte, Abraham P. Kusterman. Wien, Köln, Weimar 1996 (Aschkenas, Beiheft 3). S. 137-149, hier S. 147; eingehender Voß (Anm. 19).

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Verpflichtung gemäß der traditionellen Ethik der einflußreichen jüdischen Oberschicht oder in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit als Amt.38 Die Thannhausener Juden jedenfalls wurden mit ihrem gedungenen Gesandten nicht recht glücklich, dessen wesentliche Qualifikation in der Bereitschaft bestanden zu haben scheint, den Auftrag gegen Bezahlung zu übernehmen. Sowohl ihnen wie ihrem Gesandten fehlte es an politischer kommunikativer Kompetenz. Darin qualifizierten sich allmählich andere: Nämlich die Juden, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts - wenn auch wie im Mittelalter zunächst vereinzelt - in Kontakt zu höfischen Herrschaftszentren traten. Der verhaltene Umschwung in der Judenpolitik seit etwa 1570 zugunsten einer erneuten Duldung aus ökonomischen oder fiskalischen Motiven öffnete diesen Männern neuen kommunikativen Spielraum, den sie allerdings zunächst vorwiegend im eigenen Interesse nutzten.39 Die Judenschaft quittierte dies und die Gefahr verheißende neue Nähe zwischen dem Herrscher und seinem Juden (ζ. B. Münzmeister Lippold in Brandenburg, Levi von Bonn in Kurköln) mit Ablehnung und Feindseligkeit.40 Auch erwies sich die Funktionalisierung dieser ,Hoijuden' als Aufseher gegen den Willen der Judenschaft nur bedingt als Erfolgsmodell (Berend Levi, Elkan Frankel).41 Der Lernprozeß in puncto politischer Kommunikation betraf also durchaus beide Seiten. Auf Reichsebene, wo im 16. Jahrhundert die Frankfurter Gemeinde innerhalb der Judenschaft faktisch Führung und Initiative übernommen hatte,42 blieb ihre Vorrangstellung auch nach der politisch als Hochverrat kriminalisierten sog. Rabbinerversammlung von 1603 latent erhalten: An ihren Verhandlungsergebnissen 38

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Voß (Anm. 19); genauer dies.: Amt, Funktion und Titel: Zur Organisationsstruktur der jüdischen Gemeinde und ihrer Entwicklung in der Frühneuzeit. Ungedr. Magisterarbeit. Universität-GH Duisburg 2001. Jonathan I. Israel: European Jewry in the Age of Mercantilism 1550-1750. 2. Aufl. Oxford 1989. S. 35-44; Ries (Anm. 19) S. 103f„ 126f.; dies. (Anm. 24); als Beispiel: Birgit Ε. Klein: Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich. Hildesheim, Zürich, New York 2003 (Netiva 5); Ries (Anm. 30) Kap. 3. Klein (Anm. 39) bes. S. 108-114; zu Münzmeister Lippold: Heinrich Schnee: Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus. Nach archivalischen Quellen. Bd. 1: Die Institution des Hoffaktorentums in Brandenburg-Preußen. Berlin 1953. S. 38-46. Ries (Anm. 30); dies.: Bilder und Konstruktionen über einen Grenzgänger. Der Prozeß gegen den Ansbacher Hofjuden Elkan Fränkel 1712. In: Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der frühen Neuzeit. Integrations- und Abgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum. Hg. von Mark Häberlein, Martin Zürn. St. Katharinen 2001. S. 317-338; Klein (Anm. 39) S. 409-417 zu Berend Levi, mit einer kritischen Würdigung des tendenziösen Bildes in der Forschung: David Kaufmann, Max Freudenthal: Die Familie Gomperz. Frankfurt a.M. 1907. S. IX-XVI; Fritz Baer: Das Protokollbuch der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve. Τ. 1: Die Geschichte der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve [mehr nicht ersch.]. Berlin 1922 (Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums, Hist. Sekt. 1). S. 22. Zimmer (Anm. 28) S. 48-56; Ries (Anm. 19) S. lOlf.

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mit der kaiserlichen Administration orientierten sich andere Gemeinden; sie regte 1659 nach dem Herrscherwechsel in Wien eine Versammlung regionaler Gemeindevertreter aus Worms, Mainz, Bingen, Friedberg, Fulda und Würzburg zu Beratungen über die Erlangung von Privilegien „für die deutschen Juden" an, die am 1. Dezember desselben Jahres stattfand; und sie versuchte - allerdings vergeblich - 1660 bei den Verhandlungen über ihre und die Privilegien der Juden im Reich andere große Gemeinden zu einem gemeinsamen Vorgehen in Wien zu bewegen und bot sogar an, für diese mitzuverhandeln. 43 Und letztlich hatten die Baumeister (Vorsteher) der Gemeinde bei den regelmäßigen Aufenthalten des Reichsoberhauptes oder wenigstens seiner Kommissare in Frankfurt mehr als andere die Gelegenheit, sich direkt an ihren obersten Schutzherrn zu wenden. 44 Erst seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts, als das ,Modell Hofjude' sich am Kaiserhof in Wien, in Hannover, in Berlin und anderswo dauerhaft durchzusetzen begann, 45 entstanden auch die Voraussetzungen für eine professionelle und dauerhafte Schtadlanut. Es lag in der Struktur des Reiches und der Verteilung der jüdischen Siedlung, daß v.a. die Wiener Hofjuden als Diplomaten und Berater in jüdisch-politischen Angelegenheiten gefragt waren. Denn zum einen lebte die Mehrzahl der Juden in den kaisernahen Regionen, unterstand direkt oder indirekt der Herrschaft und v.a. den Steuerforderungen des Kaisers. Zum anderen galt der Kaiser immer noch als oberster Schutzherr aller Juden des Reiches, womit ihm in dem von Yerushalmi skizzierten Sinne eine besondere politische Bedeutung zukam. 46 Die Residenzstadt des Reiches wurde damit auch zum Zentrum der politischen Kommunikation der Juden des Reiches, mindestens aber der in den kaisernahen Gebieten. Greifbar werden Einfluß, Vermittler- und Beratertätigkeit von Hofjuden in Wien ζ. B. für die beiden großen reichsstädtischen Gemeinden in Frankfurt und Worms, die mit ihrem kaiserlichen Schutzherrn in der Regel über dessen Steuer43

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Rauscher, Staudinger (Anm. 19) S. 3 5 l f . ; Kracauer (Anm. 34) Bd. 2. S. 74; Leopold Löwenstein: Das Rabbinat in Hanau nebst Beiträgen zur Geschichte der dortigen Juden. In: Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft 14. 1921. S. 1-84, hier S. 13, dort auch das Zitat. Kaiserliche Kommissare bzw. ihre Delegierten hielten sich ζ. B. anläßlich des FettmilchAufstandes in Frankfurt auf, siehe Christopher R. Friedrichs: Politics or pogrom? The Fettmilch uprising in German and Jewish History. In: Central European History 19. 1986. S. 186-228, hier S. 191-194; eher implizit Kracauer (Anm. 34) S. 361-399; zu einer Audienz beim Kaiser 1764 siehe Elias Ulimann: Aus dem Gemeindebuch der hiesigen israelitischen Gemeinde. In: Mittheilungen an die Mitglieder des Vereins für Geschichte und Alterthumskunde in Frankfort 3. 1865-1868. S. 283-288. Battenberg (Anm. 11) S. 41-45; zum Ganzen: Graetz (Anm. 17); Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert. Hg. von Rotraud Ries, J. Friedrich Battenberg. Hamburg 2002 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der Deutschen Juden 25). Rauscher, Staudinger (Anm. 19); Battenberg (Anm. 11) S. 72-76; Rolf Kießling: „Under deß Römischen Adlers Flügel...". Das schwäbische Judentum und das Reich. In: Bilder des Reiches. Hg. von Rainer A. Müller. Sigmaringen 1997 (Irseer Schriften 4). S. 221-253.

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forderungen und ihren Wunsch nach Privilegienbestätigung verhandelten.47 Hatte die Frankfurter Gemeinde im Laufe des 17. Jahrhunderts sehr flexibel agiert, sich mal auf die Abwehr der kaiserlichen Finanzforderungen durch den Rat verlassen, mal für begrenzte Zeiträume parallel zu denen der Stadt oder in Opposition zu 48

dieser (ständige) Gesandte zur Verhandlung nach Wien geschickt, so verwandelte sich das Haus Samson Wertheimers schon bald nach dessen Tätigkeitsbeginn am Kaiserhof (1684) zur diplomatischen Zentrale der Frankfurter jüdischen Gemeinde - und vermutlich weiterer Gemeinden und Delegationen. Auch andere Wiener Hofjuden vermittelten in jüdisch-politischen Angelegenheiten.49 Waren Wertheimer oder später seine Söhne nicht anwesend, blieben alle Memoranden liegen; sein Rat, seine politische Erfahrung waren unentbehrlich.50 Sein Engagement für Frankfurt ging auf persönliche Beziehungen in die Kaiserstadt zurück: Eine Tochter war in Frankfurt verheiratet, er hatte dort ein Lehrhaus gestiftet und besaß ein Haus in der Judengasse.51 Noch vor seinem Tod 1724 übernahm vor allem sein Sohn Wolf die diplomatischen Aufgaben, wurde ζ. B. 1722 gegen die Forderungen von Kronsteuer und Opferpfennig auch von den Gemeinden in Worms und Hamburg um Hilfe gebeten. Auch die Wormser Juden verfügten über unmittelbare Beziehungen zu den beiden einflußreichsten Juden am Kaiserhof, eine Tatsache, die die Stadt von vornherein in ihrem Handeln berücksichtigte. Samson Wertheimer stammte aus Worms, nahe Angehörige von ihm wie von Samuel Oppenheimer lebten dort (der Vater und zeitweilig ein Bruder Wertheimers, ein Bruder Oppenheimers).52 Abraham zur Kante, der selbst einflußreiche Bruder Oppenheimers, schien dem lutherischen Dreizehnerratsmitglied Johann Friedrich Seidenbender in seinen „Vorschläge^] für die Wiederaufrichtung der Stadt Worms" nach der Zerstörung von 1689, in denen er u. a. zur Judenpolitik Stellung bezog, wichtig genug, die Ablehnung der Wiederaufnahme, wie sie ihm eigentlich sein lutherisches Gewissen gebot, gar nicht erst in Erwägung zu ziehen.53 Man brauchte die Finanzkraft und 47 48 49

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Rauscher, Staudinger (Anm. 19) S. 339-342. Kracauer (Anm. 34) Bd. 2. S. 159. Zum Ganzen David Kaufmann: Urkundliches aus dem Leben Samson Wertheimers. Wien 1892. S. 96-103, 108-110. Kaufmann (Anm. 49) S. 96f. David Kaufmann: Samson Wertheimer, der Oberhoffactor und Landesrabbiner (1658-1724) und seine Kinder. Wien 1888 (Zur Geschichte jüdischer Familien 1). S. 72. Fritz Reuter: Warmaisa. 1000 Jahre Juden in Worms. Worms 1984 (Der Wormsgau, Beiheft 29). S. 122f.; Kaufmann (Anm. 51) S. 73-76; Max Grunwald: Samuel Oppenheimer und sein Kreis. Ein Kapitel aus der Finanzgeschichte Österreichs. Wien, Leipzig 1913 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 5). S. 37f. Johann Friedrich Seidenbender's Vorschläge für die Wiederaufrichtung der Stadt Worms nach der Zerstörung derselben durch die Franzosen i. J. 1689. Hg. von August Weckerling. Worms 1894. S. IXf., 9, 34f.; Reuter (Anm. 52) S. 124f. Ich danke Ursula Reuter, die mich als Bearbeiterin der Wormser Gemeinde im Rahmen von Germania Judaica IV an ihrem Wissen über die Wormser jüdische Geschichte hat teilhaben lassen und mir die nötige Literatur beschaffte.

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folglich das Wohlwollen der großen Wiener Hofjuden; und Samson Wertheimer nutzte diese Stellung, um die Position der Wormser Juden in den Verhandlungen über die Wiederaufnahme in die Stadt zu stärken: Die Leibeigenschaft wurde in dem 1699 abgeschlossenen Vergleich zwischen Stadt und Judenschaft abgeschafft und die gegenseitigen Schuldforderungen annulliert. Als der Gemeinde wenige Jahre später (1702) die Exekution wegen neuer Forderungen drohte, sicherte Wertheimer ihr die Unterstützung durch den Reichshofrat und den mit ihm befreundeten Wormser Bischof zu. 54 Das Wirken und die Professionalisierung jüdischer Diplomatie, zugleich aber auch deren Grenzen, lassen sich an drei ,Großeinsätzen' verfolgen, die im Gefahrenpotential und in der Dramatik des (drohenden) Geschehens von höchster Bedeutung waren: die Vertreibung der großen jüdischen Gemeinde aus Wien 1670/71, das bevorstehende Erscheinen von Eisenmengers Buch „Entdecktes Judenthum" im Jahr 1700 und die Vertreibung der Juden aus Prag, Böhmen und Mähren 1744/45. Der, abgesehen von den diplomatischen Versuchen der örtlichen Judenschaft selbst, relativ einsame Kampf des Hamburger Residenten Manuel Teixeira gegen die Vertreibung aus Wien 1670/71 scheiterte trotz allen persönlichen Engagements: Er aktivierte zwar seine Beziehungen nach Spanien und veranlaßte Königin Christina von Schweden und indirekt den Papst zu Interventionen in Wien. Doch es gab neben ihm zu wenige einflußreiche Juden, die ihr Gewicht an den verschiedenen Höfen hätten in die Waagschale werfen können, der Appell an Milde und Gunst reichte nicht. 55 Und ob die Herrscher zu dieser Zeit in der gewünschten Weise reagiert hätten, muß offen bleiben. Als Frankfurter Juden im Jahr 1700 Samson Wertheimer darüber unterrichteten, daß ein Buch mit erheblichem judenfeindlichen Potential kurz vor der Publikation stand, wandte sich dieser namens der gesamten Judenschaft im Reich persönlich in einer gut begründeten Supplikation an den Kaiser und verlangte nicht weniger als die Konfiskation der gesamten Auflage. Da das Buch auf Deutsch geschrieben war, so seine Argumentation, schien der nach antijüdischen Ausschreitungen in Franken gerade erst wiederhergestellte Friede im Land in Gefahr. Wertheimer verließ sich jedoch nicht allein auf seine eigene Überzeugungskraft, sondern mobilisierte einen weiteren, in der Hierarchie der Zeit hoch angesehenen

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Kaufmann (Anm. 49) S. 4f.; Reuter (Anm. 52) S. 125-128, 136; Adolf Kober: Die deutschen Kaiser und die Wormser Juden. In: Zum 900jährigen Bestehen der Synagoge zu Worms. Eine Erinnerungsgabe der Vorsteher der Israelitischen Religionsgemeinde Worms 1934. Berlin 1935 (Sonderheft der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 5). S. 54-71, hier S. 64f. [erschienen auch in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschlands. 1935. S. 134-151.] Stern (Anm. 17) S. 185; Hermann Kellenbenz: Diego und Manoel Teixeira und ihre Hamburger Unternehmen. In: VSWG 42. 1955. S. 289-352, hier S. 347f.; zur Vertreibung siehe David Kaufmann: Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien und Niederösterreich. Ihre Vorgeschichte (1625-1670) und ihre Opfer. Wien 1889.

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Hofjuden eines wichtigen Kurfürsten: Leffmann Behrens in Hannover. Dieser bat unter Verweis auf die Supplikation Wertheimers seinen Fürsten ebenfalls um eine Interzession in Wien. Beide Schtadlanim zusammen hatten trotz der Proteste anderer Territorialfürsten Erfolg.56 Ende 1744 kündigte Königin Maria Theresia die Ausweisung der Juden aus Prag an, wenig später ergänzt um einen ebensolchen Befehl für die Juden in den böhmischen und mährischen Kronländern - eine politische Maßnahme, die auch von vielen ihrer Regentenkollegen als unzeitgemäß betrachtet wurde. Dies erleichterte die Wirkung einer fieberhaften und beispiellosen diplomatischen Aktion, die zunächst einmal in der schnellstmöglichen Verbreitung der Nachricht an alle bedeutenderen jüdischen Gemeinden Europas bestand. Hier zeigte sich die gewachsene kommunikative Kompetenz jüdischer Gemeinden, die angesichts der Bedrohung der wichtigsten aschkenasischen Gemeinde im Schneeball-System für den Informationsfluß sorgten und auf dezentrale Abwehrmaßnahmen setzten. Im Mittelpunkt der koordinierten diplomatischen Maßnahmen stand jedoch Samson Wertheimers Sohn Wolf, der einflußreiche Männer, oft seine Hofjuden-Kollegen in West- und Mitteleuropa und die wichtigsten jüdischen Gemeinden wie ζ. B. die in Amsterdam und London mobilisierte, ihre Regierungen und Souveräne um Interventionen in Wien zu bitten.57 Er verfügte über die nötigen diplomatischen Erfahrungen, um ihnen Methoden zur Erlangung von Interventionsschreiben vorschlagen zu können und ihnen Argumente - v.a. ökonomische und naturrechtliche - für die Formulierung der zu erbittenden Interventionsbriefe zu liefern. Er empfahl eine Kombination aus Memoranden und persönlicher Vorstellung beim Herrscher, hinterher Nachforschungen bei den Ministern, ob und wie der Herrscher gehandelt hatte. Viele Herrscher kamen der Bitte um Intervention nach, doch über Monate schien es, als sei die Königin nicht zu erweichen. Die Prager Juden mußten im März 1745 ihre Stadt verlassen. Erst im Mai 1745 wurde das Ausweisungsedikt für die Kronländer überraschend widerrufen - möglicherweise als Folge der geänderten politischen Konstellationen und der geheimen Friedensverhandlungen mit Bayern im April in Augsburg. Der zu der Zeit dort lebende Wolf Wertheimer, der jahrzehntelang seine Kontakte zum mitteleuropäischen Hochadel u. a. auf von ihm selbst veranstalteten Jagdgesellschaften gepflegt hatte, dürfte im 56

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Kaufmann (Anm. 51) S. 10-16; Bernd Schedlitz: Leffmann Behrens. Untersuchungen zum Hofjudentum im Zeitalter des Absolutismus. Hildesheim 1984 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 97). S. 144f.; Stern (Anm. 17) S. 183f.; Druck der Supplikation: Meir Wiener: Des Hof- und Kammeragenten Leffmann Berens Intervention bei dem Erscheinen judenfeindlicher Schriften. In: Magazin für die Wissenschaft des Judentums 6. 1879. S. 48-63, hierS. 59-62. Schwaben, Bayern, Franken, Sachsen, Braunschweig, Berlin, Hannover, Holland, England, Dänemark, Italien, daneben noch weitere kleine Territorien; Mevorah (Anm. 15) bes. S. 3958; Stern (Anm. 17) S. 185-190; Graetz (Anm. 16) S. 266-268; die Korrespondenzen sind abgedruckt bei Sfalomo] H[ugo] Lieben: Briefe von 1744-1748 über die Austreibung der Juden aus Prag. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Geschichte der Juden in der Czechoslovakischen Republik 4. 1932. S. 353-479.

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Hintergrund fieberhaft bei seinen ,alten Bekannten' für sein Anliegen geworben haben. 1748 durften die Prager Juden in ihre Stadt zurückkehren. 58 Soweit zu den vermittelten, meist schriftlich und mündlich vorgetragenen Formen politischer Kommunikation, der Schtadlanut. Die im eher kleinräumigen Interaktionszusammenhang gebrauchten, vielfältigen direkten Kommunikationsformen möchte ich im folgenden eher streiflichtartig beleuchten. Ihre Zahl ist nicht zu messen, denn es handelte sich um die alltäglichen Versuche, die von außen gesetzten Lebensbedingungen erträglicher zu gestalten und sich im Konfliktfall, meist mit Christen, obrigkeitlicher Hilfe zu versichern. Es ist davon auszugehen, daß diese Kommunikation zu einem großen Teil mündlich stattfand; 59 angesichts erhöhter Schutzbedürftigkeit und fortschreitender Verschriftlichung politischer und administrativer Prozesse ist jedoch anzunehmen, daß gerade Juden eher als ihre christlichen Nachbarn dazu übergingen, ihre Anliegen zumindest subsidiär schriftlich vorzubringen und sich damit größere Erfolgschancen zu sichern. Die Formen mündlicher Kommunikation zeichnen sich durch eine hohe Flexibilität in Anpassung an die jeweilige politische Konstellation aus, es gibt also höchst unterschiedliche Formen lokaler Interessenvertretung und Aushandlungsprozesse nebeneinander: So zum Beispiel die in ihrer Alltagspragmatik eindrucksvollen sog. schwäbischen ,Doppelgemeinden', in denen v.a. seit dem Ende des 17. Jahrhunderts das Zusammenleben und die zahlreichen Ressourcenkonflikte von zwei einigermaßen gleich großen, in je eigenen Gemeinden organisierten Bevölkerungsteilen nach intensivem Kommunikationsprozeß vertraglich geregelt wurden. Vertreter der jüdischen Gemeinde waren überdies bei den Verhandlungen des Gemeinderates zugegen. 60 Die Wormser Juden, so der bereits erwähnte Ratsherr Seidenbender, verfügten über ein Informationssystem, das die guten Beziehungen einiger Gemeindemitglieder zu Ratsherren zu nutzen wußte, um aus erster Hand von politischen Beschlüssen zu erfahren. 61 Viele Frankfurter Juden votierten aus pragmatischen Gründen ebenfalls für gute Arrangements vor Ort und kritisierten deshalb die aufwendigen diplomatischen Vertretungen der Ge-

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Mevorah (Anm. 15) S. 73-77; zu Wolf Wertheimer ders.: The Imperial Court-Jew Wolf Wertheimer as Diplomatie Mediator (during the War of the Austrian Succession). In: Scripta Hierosolymitana 23. 1972. S. 184-213; zuletzt Friedrich Battenberg: Ein Hofjude im Schatten seines Vaters - Wolf Wertheimer zwischen Wittelsbach und Habsburg. In: Hofjuden (Anm. 45) S. 240-255. Zur mündlichen Kommunikation siehe: Mölich, Schwerhoff (Anm. 8) S. 28; Schlögl (Anm. 5) S. 53-57; Bob Scribner: Mündliche Kommunikation und Strategien der Macht in Deutschland im 16. Jahrhundert. In: Kommunikation und Alltag (Anm. 3) S. 183-197; Gerd Schwerhoff: Kommunikationsraum Dorf und Stadt. Einleitung. In: Kommunikation und Medien (Anm. 3). Ulimann (Anm. 7) S. 382-411; Kießling, Ulimann (Anm. 19) bes. S. 516, 531-534. Seidenbender (Anm. 53) S. 35.

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meinde in Wien als überflüssig.62 Und die Juden der Reichsburg Friedberg bedienten sich der lokalen Kommunikationsmöglichkeiten zur nahegelegenen Burg; einen noch dazu geltungssüchtigen Holjuden als Schtadlan brauchten sie nicht.63 Die lokal eingesetzte schriftliche Kompetenz der Interessenvertretung läßt sich z.B. anhand der noch jungen und kleinen jüdischen Gemeinde in Breisach im 18. Jahrhundert nachvollziehen, deren wachsende politische Fähigkeiten abzulesen sind an einer anspruchsvollen, empfängerzentrierten Argumentation.64 Und schließlich ist die individuelle Interessenvertretung zu erwähnen, Kommunikationsprozesse einzelner Juden mit ihren Obrigkeiten, die uns v.a. in Form von Supplikationen überliefert sind. Darunter finden sich, ζ. T. verfahrenstechnisch vor- und von Amtspersonen geschrieben, überwiegend Bitten in Schutzangelegenheiten, die gleichwohl etwas ahnen lassen von den Kompetenzen der Supplikanten im Umgang mit Behörden und ihren Funktionsweisen oder die wenigstens von der Fähigkeit zeugen, sich kompetenter Hilfe zu versichern.65

Fazit In meinen eher skizzenhaften Überlegungen zu einem breiten Forschungsthema ging es nicht um Politik als staatliches Handeln, sondern um kommunikative Prozesse von Juden und Judenschaft mit verschiedenen Obrigkeiten mit dem Ziel, das eigene Kollektiv betreffende Entscheidungen günstig zu beeinflussen. Diese Kommunikation ist Teil der für die Zeit charakteristischen politischen Prozesse.66

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Die internen politischen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte der jüdischen Gemeinde, in deren Rahmen diese Stellungnahmen gefallen sind, werden u. a. im Rahmen des Projektes „Die jüdische Bevölkerung von Frankfurt am Main. Wechselwirkungen von ökonomischem und sozialem Handeln im 16.-18. Jahrhundert" (Prof. A. Gotzmann, Prof. M. Stolleis) von Cilli Kasper-Holtkotte bearbeitet; ich danke ihr für diese Information. Eher implizit: Cilli Kasper-Holtkotte: Jüdisches Leben in Friedberg, 16.-18. Jahrhundert. Friedberg 2003 (Kehilat Friedberg 1) (Wetterauer Geschichtsblätter 50). S. 2, 11-15. Wiebel (Anm. 19). Andre Holenstein: Bitten um den Schutz: Staatliche Judenpolitik und Lebensführung von Juden im Lichte von Schutzsupplikationen aus der Markgrafschaft Baden(-Durlach) im 18. Jahrhundert. In: Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Hg. von Rolf Kießling, Sabine Ulimann. Berlin 1999 (Colloquia Augustana 10). S. 97-153; Doreen Levermann: Supplizieren jüdischer Untertanen in Preußen: Auf der Grenze zwischen Selbst- und Fremddarstellung (1648-1812). In: Ego-Dokumente (Anm. 19); kursorisch, aber nicht unter kommunikationsgeschichtlichen Gesichtspunkten werden Supplikationen auch in der lokalgeschichtlichen Literatur vorgestellt. Siehe dazu instruktiv Schlögl (Anm. 5); ders.: Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung. In: Geschichte und System-

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Das Kommunikationsverhältnis ist gekennzeichnet durch eine asymmetrische Struktur (Bittsteller - (gnädige) Herrschaft), Grenzen und Anlässe der Kommunikation sind meist von außen vorgegeben, der Handlungsspielraum der Juden und das Handeln der Herrschaft durch die jeweiligen Kontexte definiert. Angesichts des Wandels judenpolitischer Leitvorstellungen seit dem Merkantilismus (Attraktivität der Duldung von Juden aus ökonomischen, finanziellen und politischen Gründen, Desavouierung der Vertreibung als politisches Mittel) stiegen im 18. Jahrhundert tendenziell die Chancen fiir Juden, im Zuge politischer Kommunikation ihre Interessen zu Gehör zu bringen. Dies galt jedoch nur für den wohlhabenden, arrivierten Teil der jüdischen Bevölkerung, während die wachsende Masse der Armen und/oder Vagierenden immer weiter ausgegrenzt und in die Sprachlosigkeit abgeschoben wurde. Die Neukonstituierung der korporativen Organisierung und politischen Vertretung der Juden im 16. Jahrhundert erweist sich angesichts der fragilen Rahmenbedingungen als langwieriger und mühsamer Lernprozeß von mitunter experimentellem Charakter, mit Schtadlanim in Delegation von Fall zu Fall, mit der Fürsprache hofhaher Gemeinden (v.a. Prag) und mit ζ. T. recht egoistischen hofnahen Führungsfiguren. Die nach 1603 endgültig gescheiterten Versuche zur Organisierung der jüdischen Gemeinden auf Reichsebene sowie die Territorialisierung der Judenschutzrechte setzten auch der politischen Interessenvertretung der Juden einen vorwiegend territorialen Rahmen. 67 In diesem Raum gelang es seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vor allem den an den jeweiligen Höfen tätigen Juden, sich zum Anwalt jüdischer Interessen zu machen, weil sie über die entscheidende kommunikative Nähe am Hof verfügten. Auch der Kaiser war meist in seiner Rolle als oberster Schutzherr der reichsstädtischen Juden oder als Territorialherr gefragt, fiir den Alltag und die Lösung alltäglicher Konflikte hatte jedoch die politische Kommunikation mit der Obrigkeit vor Ort eindeutige Priorität. Schtadlanut funktionierte nach den gleichen Prinzipien wie das politische System der Gesamtgesellschaft: Die Möglichkeit zur Einflußnahme beruhte auf persönlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen, auf der Aktivierung von empfängerzentrierten Utilitaritätsmustern oder gelegentlich ethisch-moralischen Appellen und naturrechtlichen Argumenten. Daß Juden zur Aktivierung von Beziehungen gegebenenfalls mehr in die Waagschale werfen mußten als Christen, ist eine plausible Vermutung, die der weiteren Untersuchung bedarf. Mit der wachsenden Zahl nützlicher' Hofjuden verstärkte sich also der Kommunikationsspielraum der Judenschaft, diesen selbst gelang im Zuge ihrer höfischdiplomatischen Erfahrungen und ihrer politischen Vernetzungen eine deutliche

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theorie. Exemplarische Fallstudien. Hg. von Frank Becker. Frankfurt a.M. 2004 (Campus Historische Studien 37). S. 185-225. Ries (Anm. 19) S. 126f.

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Rotraud Ries

Professionalisierung, die die wichtige Kenntnis der materiellen Seite der Kommunikation einschloß.68 Im Zuge der Verschärfung der sozialen Lage weiter Teile der jüdischen Gesellschaft sowie wachsender Unfähigkeit bzw. punktuell auch Unwillens, dieses Problem aus eigenen Kräften zu lösen, wurde jedoch zugleich ein nicht unerheblicher Teil der Judenschaft aus diesen Kommunikationsprozessen ausgegrenzt und den Abwehrmaßnahmen der Obrigkeit ohne legale Möglichkeit sich zu wehren ausgeliefert. Ihre wort- und ausweglose Reaktion war nicht mehr verhandelbar: Bettelwesen und Kriminalität.69 An welcher Stelle genau die Grenze politischer Kommunikationsfähigkeit sozial definiert war, gilt es jedoch erst noch zu eruieren. Ein entscheidender Punkt dabei dürfte das Kriterium der Seßhaftigkeit gewesen sein. Der Schtadlan war ein Vermittler, ein Fürsprecher; er stand zwischen zwei Parteien, die nicht direkt kommunizieren konnten oder wollten. Voraussetzung für seine Tätigkeit war die Nähe zu beiden Seiten, d.h. Juden oder jüdische Gemeinden wandten sich an einen in der christlichen Welt an der entscheidenden Stelle einflußreichen Glaubensgenossen, mit dem sie etwas verband: Verwandtschaft - auch weitläufig - , Herkunft aus dem betreffenden Ort, räumliche oder personale Nähe zum Fall oder ähnliches.70 Zum anderen mußte die Stellung des Schtadlan in der gesellschaftlich-sozialen Hierarchie für den Fall passend bzw. optimal sein; die höchste und am weitesten reichende Stellung in der Hierarchie der Schtadlanim hatte der inne, der aufgrund von Herkommen, Gelehrsamkeit und ethischem Verhalten in der jüdischen Gesellschaft höchstes Ansehen genoß und zugleich am nächsten zum obersten

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Wie Juden Geschenke als politisches Mittel einsetzten, wäre ein eigenes Forschungsthema; dazu vorerst Valentin Groebner: Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit. Konstanz 2000 (Konflikte und Kultur 3). bes. S. 115f., 131; anregend, wenn auch fast ausschließlich dem Mittelalter gewidmet: Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange. Hg. von Gadi Algazi, Valentin Groebner, Bernhard Jussen. Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fur Geschichte 188). Am breitesten hierzu immer noch Rudolf Glanz: Geschichte des niederen jüdischen Volkes in Deutschland. Eine Studie über historisches Gaunertum, Bettelwesen und Vaganten. New York 1968; ein neuer Blick bei Yacov Guggenheim: Von den Schalantjuden zu den Betteljuden. Jüdische Armut in Mitteleuropa in der Frühen Neuzeit. In: Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa. Hg. von Stefi Jersch-Wenzel in Verbindung mit Frangois Guesnet u. a. Köln, Weimar, Wien 2000. S. 55-69, der das Forschungsdesiderat betont, S. 55, Anm. 1. Der mährische Landesrabbiner David Oppenheimer wandte sich ζ. B. 1699 für die Juden in Kremsier an seinen Schwiegervater Leffmann Behrens in Hannover mit der Bitte, die von dort angereisten Vorsteher kompetent zu unterstützen. Denn deren stellvertretender Schutzherr, der Bischofsadministrator in Olmütz, versuchte die Abwesenheit des Bischofs Karl von Lothringen für eine Judenvertreibung aus Kremsier zu nutzen. Karl, seit 1699 zugleich Bischof von Osnabrück, hielt sich in Norddeutschland auf, wo Leffmann Behrens an den meisten Höfen über gute Kontakte verfügte; Schedlitz (Anm. 56) S. 145f.

Politische Kommunikation

und

Schtadlanut

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Schutzherrn, d e m Kaiser stand. V i e l l e i c h t in Idealform verkörperte d i e s e R o l l e nur einer: der verehrte G a o n und „Judenkaiser" S a m s o n Wertheimer. 7 1

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Kaufmann (Anm. 51) S. 8-10, 53-56; noch in der Grabinschrift seines Enkels Isaac Josel Wertheimer werden 1782 - eher unüblich - die Verdienste und Titel des Großvaters aufgeführt, siehe Birgit Klein, Rotraud Ries: Zu Struktur und Funktion der jüdischen Oberschicht in Bonn und ihren Beziehungen zum kurfürstlichen Hof. In: Eine Gesellschaft zwischen Tradition und Wandel. Alltag und Umwelt im Rheinland des 18. Jahrhunderts. Hg. von Frank Günter Zehnder. Köln 1999 (Der Riß im Himmel. Clemens August und seine Epoche, Bd. 3). S. 289-315, hier S. 291 f.

In die Jeschiwe und auf den Jahrmarkt: Jüdische Mobilität in Aschkenas in der Frühen Neuzeit Wolfgang Treue

Der Titel dieses Beitrags nennt bereits zwei wesentliche Motive für Mobilität: den Erwerb von Bildung, das Lernen, und die wirtschaftliche Tätigkeit, den Handel und er wirft zugleich eine zentrale Frage auf: Gab es eine spezifisch jüdische Mobilität in der Frühen Neuzeit, die sich von derjenigen der christlichen Umgebung unterschied? Diese Frage läßt sich im Hinblick auf die erzwungene Mobilität durch Vertreibungen und andere obrigkeitliche Zwänge schnell und eindeutig beantworten, da die christliche Bevölkerung, solange sie dem Grundsatz ,cuius regio eius religio' folgte, auch im Zeitalter der Konfessionalisierung kaum von derartigen Aktionen betroffen war. War dies nicht der Fall, konnte es zu Ereignissen wie der Vertreibung der salzburgischen Protestanten oder der französischen Hugenotten kommen, die für die Betroffenen von großer Tragweite waren. Sie stellten insgesamt aber doch Einzelfälle dar, die sich weniger prägend auf die Mentalität auswirkten als die immer wieder diskutierten, angekündigten und gelegentlich auch durchgeführten Vertreibungen von Juden, die - etwa in Form der NichtVerlängerung der Aufenthaltserlaubnis - keiner weitgehenden Legitimation bedurften und daher, selbst wenn sie nicht zur Ausführung gelangten, über lange Zeit hinweg als ständige Bedrohung im Raum standen. Da die Unterschiede hier gar zu offensichtlich sind, soll dieser Aspekt im Folgenden nur am Rande gestreift werden, während die freiwillige Mobilität vor allem in Form von Reisen, ihre verschiedenen Ausprägungen und Motive im Mittelpunkt stehen. Dabei treten zunächst einige Gemeinsamkeiten hervor, was etwa die materielle Seite des Reisens betrifft. Christen wie Juden benutzten nicht nur dieselben Straßen, sondern auch dieselben Transportmittel, deren Verfügbarkeit eher vom Geldbeutel als von der Religionszugehörigkeit abhing. Wer mit geringen finanziellen Mitteln reiste, tat dies zu Fuß, wer es sich leisten konnte, zu Pferd, zu Schiff,

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mit der Postkutsche oder gar im eigenen Wagen.1 Christen und Juden stiegen in denselben Gasthäusern ab, die in der Regel von christlichen Wirten geführt wurden, oder übernachteten bei Privatpersonen, die ihnen bekannt oder an die sie empfohlen worden waren. Ein gewisser Unterschied bestand darin, daß innerhalb der jüdischen Gesellschaft, bedingt durch ihren minoritären Status, eine engere Vernetzung und nicht selten auch ein größerer Zusammenhalt vorhanden war, ein Aspekt, auf den noch zurückzukommen sein wird. In weiten Teilen ähnlich sind - im Hinblick auf eine vergleichende Mobilitätsforschung - auch die Probleme der Überlieferung: So fehlt es ebenso für Christen wie für Juden an seriellen Quellen, die genaue Aussagen über die Quantitäten der verschiedenen unterwegs befindlichen Menschen erlauben. Wie hoch lag der Prozentsatz der Reisenden und Gereisten in den unterschiedlichen sozialen Gruppen, und wie groß war die Zahl der Nichtseßhaften? Selbst wenn vereinzelte Zollregister und ähnliche Quellen vorliegen, erlauben sie keine befriedigenden Antworten auf diese Fragen, da sie meist nicht konsequent geführt wurden oder nur bestimmte Reisende berücksichtigten. Zwar war die Erfassung von Juden hier tendenziell vollständiger, da sie im Gegensatz zu den Christen meist einen Leibzoll zu zahlen hatten, aber ungeklärt bleibt die Zahl derer, die die Zollstellen umgingen, und wer hatte dazu stärkere Motive als ein mittelloser Jude, der trotz seiner Armut den Leibzoll entrichten sollte? Quantifizierende Aussagen sind aus diesen Gründen nur in sehr begrenztem Umfang möglich. Dies bedeutet jedoch nicht, daß ein Mangel an Quellen zum behandelten Thema bestünde, nur handelt es sich dabei überwiegend um individuelle Texte, die in den Bereich der Selbstzeugnisse oder Ego-Dokumente fallen und sich nur durch eine qualitative Analyse erschließen lassen.2 Reiseberichte und autobiographische Gesamtdarstellungen, in denen auch Reisen thematisiert wird, sind aus der Frühneuzeit in großer Zahl überliefert, allerdings von jüdischer Seite in erheblich geringerem Umfang als von christlicher. Noch größer sind die Unterschiede hinsichtlich des Geschlechts der Autoren, da Frauen nicht nur weniger reisten als Männer, sondern auch durch Ausbildung und Rollenverständnis seltener in eine Position gerieten, die zu autobiographischem Schreiben animierte. Um so wertvoller ist daher ein Werk wie die ,Memoiren' der 1646 geborenen jüdischen Kauffrau Glikl von Hameln, in dem

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Zu den materiellen Aspekten des Reisens siehe maßgeblich Holger Th. Gräf, Ralf Pröve: Wege ins Ungewisse. Reisen in der Frühen Neuzeit. 1500-1800. Frankfurt a.M. 1997; Norbert Ohler: Reisen im Mittelalter. 3. Aufl. München 1993. Zur Diskussion um die Begriffe „Autobiographie", „Selbstzeugnis" und „Ego-Dokument" siehe etwa Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2. 1994. S. 462-471, sowie Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hg. von Winfried Schulze. Berlin 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2).

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Reisen aus den verschiedensten Blickwinkeln geschildert und reflektiert wird.3 Eine eindeutig auf die eigene Reisetätigkeit begrenzte Perspektive findet sich dagegen in der von ihrem Herausgeber ebenfalls als ,Memoiren' bezeichneten Autobiographie des etwa eine Generation älteren Ascher Levy von Reichshofen: Am 6. Elul 372 [= 1612] ging ich fort aus dem Hause meines Vaters in Bizingen und begab mich in ein anderes Land, um , Wasser zu schöpfen aus dem Brunnen des Lebensum zu verkehren mit den Großen der Welt, mich an den Staub ihrer Füße zu heften 4 So beschreibt Ascher Levy seinen Aufbruch aus dem Elternhaus im Alter von 14 Jahren, um dann fortzufahren: Und viele Leiden kamen über mich, bis ich nach Prag gelangte. Hier fand er gastliche Aufnahme im Hause eines Onkels und konnte sich in der folgenden Zeit dem Lernen, dem Studium, widmen, bis ihn der Ausbruch der Pest in Prag nach einem knappen Jahr zur Flucht nach Deutschland veranlaßte. Doch kehrte er nicht bis in seine lothringische Heimat zurück, sondern verdingte sich für ein halbes Jahr als Kinderlehrer in Heusenstamm bei Frankfurt am Main, um möglichst bald wieder nach Prag aufzubrechen. Als die Pest nachgelassen hatte, machte er sich sofort auf den Weg, wurde jedoch unterwegs von Räubern überfallen und ausgeplündert, weshalb ihn die materielle Not vorübergehend zur Annahme einer weiteren Lehrerstelle nötigte. Im Herbst 1614 erreichte er schließlich die böhmische Hauptstadt, setzte sein Studium zunächst hier, später an anderen Talmudschulen in Böhmen und Mähren fort und erlangte schließlich ein Befähigungszeugnis zum Schochet.5 1617 finden wir ihn wiederum in Deutschland, wo er nach kurzer Tätigkeit als Kinderlehrer in Atzbach bei Gießen und Wetzlar schließlich - wie er präzisiert nach einer Abwesenheit von fünf Jahren und 15 Tagen in sein Elternhaus zurückkehrte. Wenig später heiratete er und unternahm fortan nur noch kleinere ge3

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Die Memoiren der Glückel von Hameln. Aus dem Jüdisch-Deutschen von Bertha Pappenheim. Wien 1910. Neudruck Weinheim 1994. Zur Person Glikls siehe auch: Die Hamburger Kauffrau Glikl: jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit. Hg. von Monika Richarz. Hamburg 2001. Die Memoiren des Ascher Levy aus Reichshofen im Elsaß (1598-1635). Hg. von Moses Ginsburger (hebr./dt.). Berlin 1913. S. 4, 11; zum folgenden S. 4-7, 11-16. Siehe hierzu auch Stefan Rohrbacher: Stadt und Land: Zur "inneren" Situation der süd- und westdeutschen Juden in der Frühneuzeit. In: Juden auf dem Lande. Ein vergessenes Kapitel deutschjüdischer Geschichte. Hg. von Monika Richarz, Reinhard Rürup. Tübingen 1997. S. 37-58, hier S. 44. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland erhielt Ascher vom Metzer Rabbiner Josef Aschkenasi noch ein weiteres Zeugnis, das ihn darüber hinaus zur rituellen Fleischbeschau autorisierte: Ascher Levy (Anm. 4). S. 7, 16. Weitere akademische Qualifikationen erlangte er offenbar nicht. Wenn er auch später verschiedene Aufgaben innerhalb seines jeweiligen jüdischen Umfelds wahrnahm und beispielsweise gelegentlich als Vorbeter, Mohel und Schreiber fungierte, ist es doch eine Fehleinschätzung, wenn Ernest Kallmann ihn in der Einleitung zu seiner französischen Übersetzung der Autobiographie als elsässischen Rabbiner bezeichnet: Les Memoires d'Ascher Levy de Reichshoffen (1598-1635). Übers, von Ernest Kallmann. Paris 2003. S. 5.

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schäftliche und familiäre Reisen in einem relativ engen Radius, die allein durch die Zeitumstände - die Gefahren des Dreißigjährigen Krieges, die gerade für reisende Juden außerordentlich hoch waren - eine gewisse Dramatik gewannen. Ascher Levys Bericht ist um so interessanter, als er den Bildungsgang eines Mannes aufzeigt, der weit davon entfernt war, zu den bedeutenden Gelehrten seiner Zeit zu gehören, weshalb die zitierte toposhafte Formulierung um zu verkehren mit den Großen der Welt, mich an den Staub ihrer Füße zu heften hier einen erhöhten Realitätsgehalt gewinnt. Es war ihm ein wichtiges Anliegen, durch Aufzählung ihrer Namen immer wieder auf seine Kenntnis dieser Großen hinzuweisen. Oft nennt er ihre Todesdaten oder widmet ihnen sogar einen kurzen Nachruf. Auch die Abfassung des Berichts in hebräischer Sprache diente nicht zuletzt zur Demonstration der im Kontakt mit ihnen erworbenen Bildung. Ähnlich wie Ascher betraten auch viele christliche Jugendliche den dornigen Weg zur Gelehrsamkeit, der - in Anbetracht der unterschiedlichen Bildungssysteme - entweder auf auswärtige Lateinschulen oder gleich auf eine der seit dem Spätmittelalter aufblühenden Universitäten führen konnte. Besonders bekannt sind die Erfahrungsberichte des Schweizers Thomas Platter und des aus Miltenberg in Hessen stammenden Johannes Butzbach, die sich etwa ein Jahrhundert früher in Bewegung setzten, um als sogenannte , fahrende Schüler' Bildungseinrichtungen ihrer Zeit aufzusuchen. 6 Beide gelangten ebenfalls nach Osten, der eine ins heutige Polen, der andere nach Böhmen. Allerdings verlief ihr Weg weniger gradlinig als der Aschers, da sie in noch zarterem Alter in Begleitung älterer Schüler aufbrachen und sich ihre Mentoren rasch als Taugenichtse entpuppten, die alles andere als Bildung im Sinn hatten, von Ort zu Ort vagierten und ihre Schützlinge mißbrauchten, um Geld oder Naturalien für ihren Lebensunterhalt und ihre Gelage zu erbetteln. Von vergleichbaren Erfahrungen blieben im übrigen auch jüdische Schüler nicht verschont. So schickte zum Beispiel Glikl von Hameln ihren Sohn Josef von Hamburg aus mit einem gelehrten jungen Mann, der einen überaus vertrauenswürdigen und selbstlosen Eindruck machte, zum Talmudstudium nach Polen. 7 Auf erste Briefe, die Fortschritte im Studium meldeten, folgte ein weiterer mit der Bitte um Zusendung von Geld, und kurz darauf traf ein alarmierendes Schreiben ein, das von einer beabsichtigten Geiselnahme der deutschen Schüler seitens der polnischen Behörden berichtete, die nur durch ein hohes ,Lösegeld' abzuwenden sei. Wie sich schließlich herausstellte, hatte der sympathische junge Lehrer, nachdem er seine Zöglinge zunächst regelrecht ausgeplündert hatte, diese Briefe aufgesetzt, um Geld von ihrer Verwandtschaft zu erpressen, womit das Auslandsstudium ein unerfreuliches Ende fand. 6

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Thomas Platter: Lebensbeschreibung. Hg. von Alfred Hartmann. Basel 1944; Johannes Butzbach: Odeporicon. Zweisprachige Ausgabe. Übers, u. hg. von Andreas Beriger (lat./dt.). Weinheim 1991. Glückel von Hameln (Anm. 3) S. 218-221.

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Im Fall der erwähnten fahrenden Schüler' Platter und Butzbach vergingen Jahre, bis sie Gelegenheit erhielten, den Schulbetrieb von innen kennenzulernen, was sie dann zwar mit einigem Erfolg taten, doch wurden auch sie - wie Ascher Levy - nicht zu fuhrenden Gelehrten ihrer Zeit, sondern allenfalls zu Wegbereitern für die folgende Generation. Andere christliche Jugendliche wurden nach Absolvierung der örtlichen Lateinschule von ihren Erziehungsberechtigten direkt auf eine Universität geschickt. In Anbetracht der damit verbundenen Kosten, machten auch sie von verwandtschaftlichen Beziehungen oder sozialen Netzwerken Gebrauch. So fand etwa der spätere Bürgermeister von Windsheim Melchior Adam Pastorius 1644 durch Vermittlung seines an der Kurie tätigen Bruders Aufnahme im Deutschen Kolleg in Rom. 8 Der Hildesheimer Joachim Brandis, der hernach ebenfalls zum Bürgermeister seiner Heimatstadt avancierte, konnte 1573 in deren eigenem Kolleg in Erfurt Wohnung nehmen, 9 und das Medizinstudium der Baseler Halbbrüder Felix und Thomas II. Platter in Montpellier wurde durch einen Studentenaustausch ermöglicht. 10 Viele Lehrende, so etwa der Vater der beiden Platter, der bereits als fahrender Schüler' in Erscheinung getretene Thomas der Ältere, boten Studenten als sogenannte , Tischgänger' relativ günstige Unterkunft in ihrem Haus, ein Verfahren, wie es ähnlich auch in jüdischen Jeschiwot praktiziert wurde. Wenn den Eltern des Studenten mit der Zeit das Geld ausging, so bot sich hier unter Umständen die Möglichkeit, das Fehlende durch Übernahme von Dienstleistungen zu kompensieren, was allerdings den schmerzlichen Statuswechsel vom zahlenden Gast zum Dienstboten zur Folge hatte, wie beispielsweise der Greifswalder Bürgerssohn Bartholomäus Sastrow - noch ein künftiger Bürgermeister, in diesem Fall von Stralsund - Anfang der 1540er Jahre erfahren mußte." Ähnliche ,Studentenjobs' hat Carsten Wilke in seinem Buch über die Rabbinerausbildung im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts beschrieben, doch dürften sie in kaum veränderter Form auch im Mittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit existiert haben. 12

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Des Melchior Adam Pastorius von 1670-1696 Bürgermeisters der Reichsstadt Windsheim Leben und Reisebeschreibungen von ihm selbst erzählt und nebst dessen lyrischen Gedichten als Beitrag zum deutschen Barock. Hg. von Albert R. Schmidt. München 1968. S. 27f. Joachim Brandis' des Jüngeren Diarium, ergänzt aus Thilo Brandis' Annalen. 1528-1609. Hg. von M. Buhlers. Hildesheim 1902. Neudruck Hildesheim 1994. S. 119. Siehe etwa Felix Platter: Tagebuch (Lebensbeschreibung). 1536-1614. Hg. von Valentin Lötscher. Basel, Stuttgart 1976, v. a. S. 127-129. Bartholomäi Sastrowen Herkommen, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens/ auch was sich in dem Denkwerdiges zugetragen, so er mehrenteils selbst gesehen und gegenwärtig mit angehöret hat, von ihm selbst beschriben. Hg. von Gottlieb Christian Friedrich Mohnike. 3 Bde. Greifswald 1823/1824. Bd. 1. S. 188-190. Siehe Carsten Wilke, „Den Talmud und den Kant". Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne. Hildesheim u.a. 2003. S. 153-170, zu den ,Studentenjobs' v. a. S. 155.

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Manche Eltern - wie die des Wolfgang Ammon, der später Pfarrer in Marktbreit wurde - vertraten sogar die Ansicht, daß es ihrem Sproß gut tue, sich seine Ausbildung nach Art der fahrenden Schüler' durch Singen zu erbetteln, was in diesem Fall aber durch ein Stipendium der Obrigkeit seiner Heimatstadt, der Herren von Seinsheim, abgemildert wurde. 13 Derartige Formen von Patronage, die den Empfänger nach Abschluß der Ausbildung zumindest moralisch zum Engagement vor Ort verpflichteten, waren im jüdischen Bereich eher selten, was zum einen daran lag, daß sich christlichen Akademikern vielfältigere Berufsfelder eröffneten als den Absolventen der Jeschiwot, zum anderen aber auch an der beispielsweise in Frankfurt am Main verbreiteten Praxis, Rabbiner von außerhalb zu berufen, um Verstrickungen in die internen Strukturen zu vermeiden. Eine Gemeinsamkeit der bisher geschilderten Reisen - von Juden wie Christen - ist, daß sie ein Spezifikum einer bestimmten Altersstufe, der Adoleszenz, darstellten. Sie dienten primär der Ausbildung, der Qualifikation fur bestimmte Tätigkeiten, wobei allerdings nicht vergessen werden darf, daß dem Lernen im jüdischen Bereich - zumindest idealiter - auch ein von der Berufswahl unabhängiger, eigenständiger Wert zukam. Zugleich besaßen diese Reisen die Funktion eines ,rite de passage' auf dem Weg von der Jugend zum Erwachsenendasein. Dies gilt teilweise auch für die zweite genannte Wurzel von Mobilität, das Reisen zum Zweck des Handels. Wie der Schweizer Andreas Ryff in seiner 1592 verfaßten Autobiographie berichtet, zeigte er schon in früher Kindheit wenig Neigung zum Studieren (was er später bedauerte), dafür um so mehr zum Handel, weshalb ihn sein Vater, ein Baseler Kaufmann, zunächst auf Messen und Jahrmärkte mitnahm und dann bei einem Strasbourger Handelsherren in die Lehre gab. 14 Ähnlich berichtet auch Glikl von Hameln ein Jahrhundert später über ihren Sohn Sanwil, dem die Neigung zum Lernen ebenfalls abging, und den sie daraufhin mit auf die Messen nahm, um das Handelsgeschäft kennenzulernen, während sie den nächstfolgenden Sohn, Moses, der größeres Interesse am Studium erkennen ließ, nach Frankfurt in die Jeschiwe schickte.15 Für christliche Kaufmannssöhne stellte die Lehre zumeist bei einem auswärtigen Geschäftspartner ihres Vaters - bei Süddeutschen oft in Norditalien - einen weitgehend normalen Schritt auf dem Weg zur selbständigen Tätigkeit dar. So absolvierten etwa die Augsburger Matthäus und Veit Konrad Schwarz, Vater und Sohn, die vor allem durch ihre einzigartige Autobiographie in kommentierten Kostümbildern bis heute bekannt sind, eine Lehre in Mailand und Venedig bzw. 13

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Selbstbiographie des Stadtpfarrers Wolfgang Ammon von Marktbreit (gest. 1634). Hg. von Franz Hüttner. In: Archiv für Kulturgeschichte 1. 1903. S. 50-98, 214-239, 284-325, hier S. 67. Selbstbiographie des Andreas Ryff bis 1574. Hg. von Wilhelm Vischer im Anhang zu Andreas Heusler-Ryhiner: Andreas Ryff. 1550-1603. Vortrag gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel, den 4. November 1867. Beilage A. In: Beiträge zur vaterländischen Geschichte. Hg. von der historischen Gesellschaft in Basel 9. 1870. S. 37-121, hier S. 48. Glückel von Hameln (Anm. 3) S. 234.

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in Verona, um nach der Rückkehr als Buchhalter des Handelshauses Fugger tätig zu sein.16 Bei Juden sind ähnliche Ausbildungsverhältnisse unter der nicht akademisch gebildeten Ärzteschaft nachweisbar, obwohl auch hier die Weitergabe des professionellen Wissens in der Familie vom Vater auf den Sohn dominierte 17 , nicht dagegen bei Kaufleuten. Innerhalb der jüdischen Führungsschicht war der Kaufmannsberuf - abgesehen von der kleinen Gruppe der Berufsgelehrten - eine weitgehende Selbstverständlichkeit, weshalb eine entsprechende Ausbildung auch nicht Voraussetzung für eine Eheschließung war. Die vielzitierte Jüdische Frühehe" wurde in vermögenden Familien - allerdings wohl auch nur dort - tatsächlich praktiziert, und die Jungverheirateten Ehemänner hatten danach, im elterlichen oder im schwiegerelterlichen Hause, Gelegenheit, Erfahrungen im geschäftlichen Bereich zu sammeln. 18 Kaufmännische Reisen waren in diesen Kreisen somit ein Phänomen, das in erster Linie das Stadium des Erwachsenseins und der beruflichen Selbständigkeit bestimmte. Chajjim Hameln etwa besuchte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts völlig selbstverständlich sämtliche Frankfurter Messen, und ebenso selbstverständlich war später für seine Witwe Glikl die Anwesenheit auf den Leipziger und Braunschweiger Messen. Auch der erwähnte Baseler Kaufmann Andreas Ryff konstatiert in seinem „Reisbüchlein" für die Zeit von 1569 bis 1597 den Besuch von insgesamt 53 Frankfurter und 55 Strasbourger Messen, was bei zwei Messen im Jahr bedeutet, daß er kaum eine von ihnen versäumte. 19 Dasselbe gilt etwa für seinen Zeitgenossen, den Nürnberger Balthasar Paumgartner den Jüngeren, wie dessen erhaltener Briefwechsel mit seiner Frau Magdalena aus den Jahren 1583 bis 1597 eindrucksvoll belegt. Daß es sich dabei um eine nicht immer angenehme Pflicht handelte, zeigen gelegentliche Klagen, so etwa 1586, als er seiner Frau schrieb: Wann mir nun der lieb Gott bald widerumb aus diesem Franckforttischen fegfeür zu dir heimb nach hauß verhülffe, wan ich ditz Franckfortts abermals schon so

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Die Schwarzschen Trachtenbücher. Hg. von August Fink. Berlin 1963: Matthäus Schwarz Abb. 20-26, Veit Konrad Schwarz Abb. 15-25. Siehe auch: Un banquier mis ä nu. Autobiographie de Matthäus Schwarz bourgeois d'Augsbourg. Hg. von Philippe Braunstein. Paris 1992 (farbige, aber leider auf einem unvollständigen Manuskript basierende Edition). Siehe hierzu etwa die Beispiele aus dem 15. bis 17. Jahrhundert bei Wolfgang Treue: Lebensbedingungen jüdischer Ärzte in Frankfurt am Main während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Robert-BoschInstituts für Geschichte der Medizin 17. 1999. S. 9-55, v. a. S. 43f. Zur Praxis der Frühehe, die innerhalb der frühneuzeitlichen aschkenasischen Gesellschaft insgesamt wohl eher ein Ideal als den Regelfall darstellte, siehe etwa Jacob Katz: Tradition and Crisis. Jewish Society at the End of the Middle Ages. New York 1993. S. 139; Elliott Horowitz: Jüdische Jugend in Europa: 1300-1800. In: Giovanni Levi, Jean-Claude Schmitt: Geschichte der Jugend. Bd. 1: Von der Antike bis zum Absolutismus. Frankfurt a.M. 1996. S. 113-165, hierS. 125f. Andreas Ryff: Reiss Biechlin. Hg. von Friedrich Meyer. In: Basler Zeitschrift 72. 1972. S. 5-135, hierS. 40f.

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gnueg, alls wann mit löfein darvon geessen hett.20 Und 1592 konstatierte er: Will mir allso ditz Franckforttye lenger ye mehr erlayded werdenn.21 Ein völlig anderes Licht auf die Frage der jüdischen Mobilität wirft das Verhalten der Mittel- bis Oberschicht in ländlichen Gebieten mit eher verstreuter jüdischer Ansiedlung, wie es etwa in der Landgrafschaft Hessen-Marburg oder der Grafschaft Hanau deutlich wird. So war beispielsweise Michel von Biedenkopf, einer der bestdokumentierten hessischen Juden des ausgehenden 16. Jahrhunderts, relativ häufig auf den Frankfurter Messen vertreten, was in Anbetracht der geringen Entfernung vom Wohnort kaum überrascht.22 Den erhaltenen Zolllisten zufolge, war er einer der wenigen hessischen Juden, die den Weg dorthin zu Pferd zurücklegten, während Frau und Sohn - wie zumindest in einem Fall belegt ist - zu Fuß gehen mußten. Daneben besuchte Michel gelegentlich den Markt im benachbarten Wetter, wo er Tuch en detail verkaufte, oder suchte Schuldner in nahegelegenen Orten auf, um Zahlungen einzufordern. Wie bei vielen seiner Zeitgenossen auf dem Lande basierte sein bescheidener Wohlstand auf einer Kombination verschiedener Geschäftszweige, darunter Geld- und Warenhandel, Verkauf von Branntwein sowie die Belieferung der Eisenhütten zu Biedenkopf und Frankenau mit Brenn- und Schmierstoffen. Eine besonders gut dokumentierte Sparte seiner Tätigkeit ist der Handel mit Fellen und Häuten, die er an Kürschner und Aufkäufer aus Hessen, dem Sauerland und vor allem aus dem erheblich weiter entfernten Köln verkaufte. Soweit sich aus den Quellen erkennen läßt, waren hierzu aber kaum Reisen erforderlich, da die Geschäfte in der Regel im heimischen Biedenkopf abgewickelt wurden. Nach Michels Tod im Jahre 1610 setzte sein Sohn Salomon diesen Handel fort, der aber seinen Vater nur um kurze Zeit überlebte. Drei Jahre später ist dann ein Jude namens Mannes als Steuerzahler in Biedenkopf belegt, der wahrscheinlich ein Enkel von Michel war und den Lederhandel in den folgenden Jahrzehnten in ungleich größerem Stil fortführte. Wie seine Vorgänger betrieb auch er seine Geschäfte vorwiegend von Biedenkopf aus, so daß sich insgesamt das Bild einer über Generationen hinweg eher seßhaften Lebensform ergibt, die sowohl die Wohnverhältnisse als auch die Geschäftspraxis umfaßte. Derselbe Befund läßt sich auch für zahlreiche andere jüdische Familien auf dem hessischen Land gewinnen und steht in deutlichem Kontrast zu der verbreiteten Vorstellung von jüdischem Leben, die im Bild des juif errant, des auf ewiger Wanderschaft befindlichen Juden, ihren Niederschlag findet. Allerdings bewegen wir uns im Fall der Nachkommen Michels von Biedenkopf bereits in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die quellenmäßig schlechter 20

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Briefwechsel Balthasar Paumgartners des Jüngeren mit seiner Gattin Magdalena, geb. Behaim (1582-1598). Hg. von Georg Steinhausen. Stuttgart 1895. S. 78. Briefwechsel Balthasar Paumgartners (Anm. 20) S. 176. Zum folgenden siehe Wolfgang Treue: Die Geschichte der Juden in der Landgrafschaft Hessen-Marburg zu Beginn der Frühen Neuzeit 1520-1650. GJ IV/1 (im Druck, erscheint 2007).

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dokumentiert ist, da Teile der bisherigen Verwaltungstätigkeit auf Grund der Kriegsereignisse zum Erliegen kamen und Institutionen wie das landesherrliche Judengeleit, die in der vorausgehenden Epoche für reichhaltiges Aktenmaterial sorgten, in diesen Krisenzeiten weitgehend ihre Funktion verloren, da die Sicherheit auf den Straßen in ihnen nicht zu gewährleisten war. Darüber hinaus führten die Kriegshandlungen zu einer erzwungenen Mobilität bestimmter sozialer Gruppen, zu denen neben einem großen Teil der jüdischen Landbevölkerung beispielsweise auch Ordensgeistliche zählten. Auf Grund der schlechten Versorgungslage sahen sich viele Klöster genötigt, jüngere und gesundheitlich robustere ihrer Mitglieder in die Fremde zu entlassen, sei es um auf sogenannten ,Terminei-Reisen' Unterstützung für ihre Konvente einzuwerben, sei es auch nur, um den Klosteretat zu entlasten, indem sie sich eine Bleibe in einem weiter vom Kriegsgeschehen entfernten Kloster oder einen Broterwerb etwa als Hilfsgeistliche suchten. 23 Ebenso verloren viele der jüdischen Kleinhändler gerade im ländlichen Raum wesentliche Elemente ihrer Existenzgrundlage und waren daher zu vermehrter Reisetätigkeit genötigt. Beiden Gruppen ist zudem gemeinsam, daß sie bevorzugte Opfer für die marodierenden Söldner aller Parteien darstellten, da sie einerseits als besonders wehrlos galten, andererseits aber auch tradierte Feindbilder bedienten, die nicht zuletzt auf der Überzeugung von ihrem unerschöpflichen - und auf Kosten der Allgemeinheit erworbenen - Reichtum beruhten. Da die dörflichen Verhältnisse - ebenso wie die in den isoliert gelegenen Klöstern mancher Orden wenig Schutz boten, kam es während des Krieges zu einer Migrationsbewegung vieler ländlicher Juden in die Städte, die jedoch kaum als ein Anzeichen genereller Mobilität zu bewerten ist. Eine Gruppe, die auch außerhalb solcher Krisenzeiten zu einer erhöhten Mobilität gezwungen war, waren die Armen und unter ihnen an erster Stelle die wirklichen Betteljuden, ein Terminus, der sich im übrigen, wie Yacov Guggenheim gezeigt hat, als Gruppenbezeichnung erst relativ spät durchsetzte. 24 Sie lebten in der Regel ohne feste Einbindung in ein lokales oder regionales Netzwerk und waren daher gezwungen, von Ort zu Ort zu ziehen, um von der lokalen Bevölkerung, Juden oder - wie verstreute Indizien nahelegen - auch Christen, Almosen zu erbetteln. Ungeachtet des traditionell hohen Ansehens von Bildung im Judentum bot auch sie keine vollständige Garantie für ein Leben in Wohlstand und Seßhaftigkeit. Was für Heranwachsende wie Ascher Levy einen zeitlich begrenzten Lebensabschnitt darstellte, das unstete Umherziehen als Wanderlehrer, der rasch auch zum Almosenempfänger werden konnte, konnte sich unter Umständen 23

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Siehe hierzu demnächst Wolfgang Treue: Aus dem Kloster hinaus in die Welt: Die Wanderungen und Schicksale zweier Ordensgeistlicher in der Zeit des 30jährigen Krieges (in Vorbereitung). Yacov Guggenheim: Von den Schalantjuden zu den Betteljuden. Jüdische Armut in Mitteleuropa in der Frühen Neuzeit. In: Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa. Hg. von Stefi Jersch-Wenzel. Köln, Weimar, Wien 2000. S. 55-69.

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auch zu einem Dauerzustand ausweiten. So empfanden dies zumindest einige Gelehrte des 16. Jahrhunderts, die eine Tendenz zur Verelendung ihres Standes diagnostizierten. Der Friedberger Rabbiner Chajjim b. Bezalel etwa vermerkte um das Jahr 1578: Es kommt täglich vor, daß man gelehrte Männer von Stadt zu Stadt wandern sieht, ohne Ruhe zu finden, verzweifelt und hilflos25 Noch schwieriger faßbar ist die sicher noch größere Schicht derer, die zwar einen Wohnsitz, aber keinen obrigkeitlichen Schutzbrief besaßen, mit Hilfe häufig wechselnder Tätigkeiten ihren Lebensunterhalt bestritten und in besonders hohem Maße von konjunkturellen und politischen Schwankungen betroffen waren, ohne dabei auf die volle Solidarität der etablierten jüdischen Gemeinwesen zählen zu können. Eine Analyse typischer Verhaltensmuster dieser Gruppe erweist sich selbst mit dem Instrumentarium der modernen Armutsforschung als äußerst heikel, da sie in den Quellen wenig präsent sind, weshalb sich genauere Aussagen über ihre zweifellos nicht unbeträchtliche Mobilität kaum machen lassen. Die Feststellung, daß Bedürftigkeit und Armut tendenziell zu einer verstärkten Mobilität führten, gilt natürlich ebenso im jüdischen wie im christlichen Bereich und ist im übrigen zu banal, um einen wirklichen Erkenntnisgewinn darzustellen. Es bleibt damit die eingangs gestellte Frage nach einer spezifisch jüdischen Mobilität, auf die vor dem Hintergrund der angeführten Beispiele zunächst eine negative Antwort naheliegt, die jedoch bei genauerem Hinsehen zumindest einiger Differenzierungen bedarf. So fehlen zum Beispiel - betrachtet man den Bereich der Fernreisen - auf jüdischer Seite zwei wesentliche Reisemotive, die Scharen junger Männer aus verschiedenen Ständen der Christenheit auf die Straße führten, nämlich die Gesellenwanderung und die Grand Tour der jungen Adligen bzw. deren bürgerliches Pendant, die Bildungsreise. Erst unter dem Einfluß der Haskala kam es in geringem Umfang zu vergleichbaren Reisen von Männern aus der jüdischen Oberschicht. Ein deutlicher Unterschied bei den nicht erwerbsorientierten Fernreisen lag, wie Michael Harbsmeier dargelegt hat, im Erkenntnisinteresse und - daraus resultierend - in der Art der Wahrnehmung.26 Die wenigen durch Berichte ihrer Protagonisten dokumentierten Reisen von Juden dienten nicht so sehr der Suche nach dem ,Fremden', dem ,Anderen', sondern im Gegenteil der nach dem ,Eigenen' in der ,Fremde'. Das zeigen mit besonderer Deutlichkeit die vielzitierten Werke eines Benjamin von Tudela oder eines Petachja von Regensburg, die sich im wesentlichen auf die stereotype Auflistung der besuchten Diaspora-Gemeinden beschränken. Allerdings ist die Zahl der vorhandenen Berichte jüdischer Provenienz zu gering, um ein definitives Urteil zu erlauben.

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Chajjim b. Bezalel, Sefer ha-Chajjim, zitiert nach S. Rohrbacher (Anm. 4) S. 45. Michael Harbsmeier: Reisen in der Diaspora. Eigenes in der Fremde in der jüdischen Reiseliteratur des Mittelalters. In: Fernreisen im Mittelalter. Hg. von Folker Reichert (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Zeitschrift des Mediävistenverbandes 3/2). 1998. S. 63-80.

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Auch das Motiv der Pilgerfahrt spielte im Judentum eine vergleichsweise geringe Rolle. Zwar gab es Reisen ins Heilige Land, um die Gräber der Erzväter zu besuchen, und viele Juden träumten - besonders unter dem Einfluß der verschiedenen messianischen Bewegungen - davon, eine letzte Reise dorthin zu unternehmen, um die Ankunft des Messias zu erwarten oder wenigstens in heiliger Erde bestattet zu werden, doch war die Zahl derer, die diese Absicht in die Tat umsetzten, eher gering. Immerhin verzeichnet Ascher Levy in einer seiner Aufzählungen bedeutender Rabbiner, daß der zuvor in Frankfurt am Main und Prag tätige Jesaiah Halevi Horovitz 1618 nach Jerusalem gegangen sei und dort eine Jeschiwa gegründet habe. 27 Anläßlich einer gereimten Betrachtung über die Sündhaftigkeit der Welt und den Tod seines Vaters äußert er den Wunsch, selbst ins Heilige Land zu ziehen, um sich durch den Anblick von Jerusalem und Zion zu trösten. 28 Auch Glikl von Hameln bedauert an einer Stelle rückblickend, daß sie nicht ihrem Impuls gefolgt war, nachdem sie die meisten ihrer Kinder versorgt hatte, ihren Lebensabend im Heiligen Land zu verbringen, sondern sich statt dessen auf eine zweite Ehe mit einem ziemlich desastreusen Partner eingelassen hatte. 29 In beiden Fällen kommt aber wohl eher eine Erlösungssehnsucht als eine tatsächliche Reiseabsicht zum Ausdruck. Die weitgehende Abwesenheit so wesentlicher Reisemotive rechtfertigt die im vorliegenden Beitrag vorgenommene Konzentration auf die beiden bereits im Titel angeführten Aspekte von Mobilität - das Lernen und den Handel. Und auch hier finden sich einige deutliche Unterschiede. Wie bereits ausgeführt, war der Qualifikationsnachweis durch eine Handelslehre für jüdische Kaufmannssöhne im Gegensatz zu christlichen - keine Voraussetzung für eine Eheschließung und damit für den Weg in eine mehr oder weniger selbständige Existenz. Gleichzeitig war jedoch die kaufmännische Betätigung innerhalb der jüdischen Mittel- bis Oberschicht so dominant, daß sie nahezu das ausschließliche Gewerbe dieser sozialen Gruppe bildete, und der Handel führte ab einer bestimmten Größenordnung notwendig zum regelmäßigen Besuch von Messen und anderen geschäftlichen Reisen. Dies galt vor allem für die in den Städten konzentrierten Kaufleute, während jüdische Händler auf dem Lande mit einem geringeren Geschäftsvolumen, wenn sie sich einmal etabliert hatten, ihre Tätigkeit - wie am Beispiel des Michel von Biedenkopf und seiner Familie dargestellt - eher vom Heimatort aus betreiben konnten. Eine erhöhte Mobilität ist ferner für die jüdische Unterschicht, und hier nicht nur für die wirklichen Betteljuden, festzustellen. Gerade die knapp oberhalb der 27

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Ascher Levy (Anm. 4) S. 20. Nach Markus Horovitz: Frankfurter Rabbinen. Ergänzungen von Josef Unna. Jerusalem 1969. S. 44-47, wäre Jesaiah Horovitz erst 1621 oder 1622 ins Heilige Land gelangt, wo er 1630 starb. Diese in der deutschen Übersetzung von Ginsburger weggelassene Passage findet sich in französischer Übersetzung in der Edition von Ernest Kallmann: Ascher Levy (Anm. 5) S. 100, Anm. 192. Glückel von Hameln (Anm. 3) S. 258.

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Armutsgrenze lebende Schicht war durch konjunkturelle Schwankungen und darauf reagierende obrigkeitliche Maßnahmen zur ,Minderung' jüdischer Präsenz, d.h. Ausweisungen der weniger begüterten und rechtlich abgesicherten Juden, zu einer verstärkten Flexibilität genötigt.30 Durch das Verbot von Grundbesitz verfügte sie über eine geringere Ortsbindung als ihr christliches Pendant, Kätner, Kleinbauern und Kleinhandwerker, die häufig über einen - wenn auch minimalen und zur Subsistenz unzureichenden - Grundbesitz verfugten. Ein vor allem die Ober- und Mittelschicht betreffendes Phänomen war dagegen der Besuch von auswärtigen Bildungseinrichtungen, Jeschiwot bzw. Lateinschulen und Universitäten. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß auch jüdische Studierende die medizinischen Fakultäten christlicher Hochschulen frequentierten, was ihnen seit dem Mittelalter in Italien, und hier besonders in Padua, im 17. Jahrhundert dann auch an einigen niederländischen und im 18. schließlich an einer wachsenden Zahl deutscher Universitäten ermöglicht wurde.31 Auch wenn man von dieser vergleichsweise kleinen Gruppe absieht, ist davon auszugehen, daß der Prozentsatz der jüdischen , Studierenden' deutlich höher lag als der der christlichen, da im Judentum - wie gesagt - das Lernen ein über die Berufsorientierung hinausgehendes Lebensideal darstellte. Als Korrelativ hierzu kann vielleicht die christliche Bildungsreise angesehen werden, doch läßt sich im gesamtgesellschaftlichen Kontext - bezogen auf die Motive Bildung und Handel - feststellen, daß sicherlich prozentual mehr Juden als Christen unterwegs waren. Gelegentlich konnte es im übrigen auch zu einer Vermischung beider Motive kommen. So schildert der unbekannte Schreiber eines hebräischen Briefes, der zwar nicht datiert ist, aber, nach den Begleitumständen zu urteilen, um die Mitte des 15. Jahrhunderts verfaßt wurde, die Attraktivität einer Stadt, bei der es sich

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So finden sich etwa in den Frankfurter Ratsprotokollen mit Regelmäßigkeit Einträge, in denen die Absicht bekundet wird, die Zahl der ansässigen Juden auf die Dauer zu senken. 1536 wurde der Entschluß gefaßt, besonders streitsüchtige und in einem zweiten Schritt auch arme Juden aus der Stadt zu weisen, der teilweise in die Tat umgesetzt wurde: Frankfurt. Institut für Stadtgeschichte. Bürgermeisterbücher 1536. Fol. 20r, 26v, 37v, 39r, 56r, 62r-v, 68r, 75r-v. Auch 1613, im Zuge der Bürgerunruhen, wurde eine Deputation zur Verringerung der Anzahl der Juden gebildet, die zunächst die Ärmeren vorlud, um ihre Ausweisung einzuleiten: Institut für Stadtgeschichte. Juden Akten 466. S. 1-42. In beiden Fällen richtete sich das Vorgehen gegen Juden, die Stättigkeit (= Aufenthaltsgenehmigung) besaßen. Andere, die nicht über diesen Status verfügten, konnten ohne bürokratischen Aufwand sofort aus der Stadt gewiesen werden. Zu diesem Prozeß siehe Wolfgang Treue: Zwischen jüdischer Tradition und christlicher Universität: Die Akademisierung der jüdischen Ärzteschaft in Frankfurt am Main in der Frühen Neuzeit. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 17. 1998. S. 375-397; Wolfgang Treue: Verehrt und angespien: Zur Geschichte jüdischer Ärzte in Aschkenas von den Anfängen bis zur Akademisierung. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 21. 2002. S. 139-203.

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um Erfurt handeln dürfte, und nennt in diesem Zusammenhang ebenso die Jeschiwa wie den Messebetrieb. 32 Hinzu treten aber noch zwei weitere Mobilitätsfaktoren, nämlich zunächst die erzwungene Migration durch Vertreibungen, die nicht immer von einem förmlichen Ausweisungsbefehl eingeleitet sein mußten, sondern ebenso gut durch eine schleichende Verschlechterung der Lebensbedingungen zustande kommen konnten. Dieser Aspekt einer fremdgesteuerten Mobilität ist hier - wie eingangs gesagt - bewußt ausgeklammert worden, muß aber zumindest in seinen möglichen Konsequenzen bedacht werden. Selbst in einem Territorium wie der Grafschaft Hanau, in dem es nicht zu einer Vertreibung kam, konnte über Jahrzehnte hinweg eine diesbezügliche Diskussion, verbunden mit einzelnen repressiven Maßnahmen wie etwa der zeitweiligen Schließung der Synagoge zu Windecken, geführt werden, die sicher nicht ohne Einfluß auf die emotionale Befindlichkeit der jüdi33

sehen Bevölkerung blieb. Das verbreitete Bild vom ,stets gepackten Koffer' verweist zwar schon auf Grund dieses in der Frühneuzeit noch wenig gebräuchlichen (Hand-)Gepäckstücks auf eine spätere Epoche, die dadurch charakterisierte Lebenseinstellung war aber zweifellos in manchen Teilen von Aschkenas - wenn auch sicher nicht in allen - schon in früherer Zeit häufig anzutreffen. Der zweite Mobilitätsfaktor beruht auf der minoritären Situation der Juden, die zu Beginn der Frühen Neuzeit auf dem Lande in der Regel verstreut über Dörfer und kleine Städte lebten und auch in den größeren Städten, in denen sie geduldet wurden, meist nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachten. 34 Da Eheschließungen und andere soziale Kontakte in der jüdischen Gesellschaft 32

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Siehe Israel Jacob Yuval: Scholars in their time. The religious leadership of German Jewry in the Late Middle Ages (Hebr.). Jerusalem 1988. S. 34 mit Anm. 68. Bemerkenswert ist nicht zuletzt die Überlieferungsgeschichte des Briefes, der zunächst in eine 1535 in Augsburg publizierte Briefsammlung gelangte und später nochmals in der Institutio epistolaris hebraica von Johannes Buxtorff (Basel 1629, S. 160f.) abgedruckt wurde. Den terminus ante quem seiner Entstehung bildet die Vertreibung aus Erfurt in den Jahren 1453/5454. Für den Hinweis danke ich Israel Jacob Yuval, Jerusalem. Die besondere politische Instabilität in der Grafschaft Hanau beruhte nicht zuletzt auf den extrem kurzen Regierungszeiten der Grafen, die mit langen Regentschaftsphasen durch konfessionell unterschiedlich besetzte Vormundschaftsräte alternierten. Daß diese häufig wechselnden Konstellationen zu keinem Zeitpunkt zu einer tatsächlichen Ausweisung der hanauischen Juden führten, verdient umso mehr Beachtung. Siehe hierzu demnächst Wolfgang Treue: Die Geschichte der Juden in der Grafschaft Hanau zu Beginn der Frühen Neuzeit 1520-1650. GJ IV (in Vorbereitung). Die Verhältnisse in der Reichsstadt Frankfurt am Main mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 12-15% (bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 21.000 zu Beginn des 17. Jahrhunderts) sind in dieser Hinsicht ganz sicher eine Ausnahme. Zu den Zahlen siehe etwa Bothe: Die Entwicklung der direkten Besteuerung in der Reichsstadt Frankfurt bis zur Revolution 1612-1614. Leipzig 1906 (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen. Bd. 26). S. 142, oder Michael Toch: Wirtschaft und Geldwesen der Juden Frankfurts im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Jüdische Kultur in Frankfurt am Main von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Karl E. Grözinger. Wiesbaden 1997. S. 25-46, hier S. 25.

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ebenso wie in der christlichen - vorwiegend innerhalb der eigenen sozialen Gruppe stattfanden und diese am Wohnort oft nur schwach vertreten war, machte dies eine dichtere überregionale Vernetzung notwendig, wie - im Hinblick auf die wohlhabende Kaufmannsschicht - etwa die über ganz Deutschland reichenden Beziehungen der Familie Hameln erkennen lassen. Diese Vernetzung führte auch zu einem verstärkten Informationsaustausch, bei dem natürlich nicht nur Nachrichten von unmittelbar praktischer Relevanz übermittelt wurden. Durch die indirekte Kommunikation mit Hilfe von Briefen oder schon direkter - von Boten entstand eine Art überregionale Öffentlichkeit, die auch für die Frage der Mobilität von Bedeutung ist, da der Reisende oft bereits vor seiner Ankunft an einem Ort über wichtige Einblicke in die lokalen Verhältnisse verfügte. Ein interessantes Beispiel für den Zusammenhang zwischen Kommunikation, Öffentlichkeit und Mobilität liefert eine ungewöhnliche Quelle, die hier abschließend behandelt werden soll. Es handelt sich dabei um ein Lied in jiddischer Sprache, das kurz nach 1600 entstanden sein muß und in der zeitgenössischen Liedersammlung des Eisik Wallich aus Worms überliefert ist.35 Literaturhistorisch läßt sich der Text der Gattung der chiduschim Uder (NeuigkeitenLieder) zuordnen, doch wird darin - im Gegensatz zu anderen Vertretern dieses Genres - nicht ein einzelnes spektakuläres Ereignis behandelt, sondern eine ganze Reihe von Vorfällen, die sich an verschiedenen Orten in einem Raum abspielten, der von der Bodenseegegend bis nach Hessen reicht. Thema sind die sexuellen Verfehlungen etlicher namentlich genannter jüdischer Männer, außereheliche Kontakte zu christlichen oder jüdischen Frauen, die in ein bis zwei vierzeiligen Strophen wenig detailliert geschildert werden, wobei der voyeuristische Aspekt durch einen deutlich moralischen Impetus (die Kritik der Jungen, vertreten durch den Sänger, am unmoralischen Verhalten der Alten) aufgefangen wird. Auf Grund unserer Forschungen im Rahmen des Projekts ,Germania Judaica IV' ist es Nathanja Hüttenmeister und mir gelungen, mehrere der genannten Personen zu identifizieren und teilweise auch Belege für die ihnen zur Last gelegten Vergehen in der archivalischen Überlieferung ausfindig zu machen. 36 Mit Hilfe weiterer Recherchen wäre es sicher möglich, auch die meisten anderen ,Protagonisten' historisch zu dokumentieren, doch läßt bereits der bisherige Befund erkennen, daß 35

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Oxford. Bodleian Library. Ms. opp. add. 4° 136. Eine vollständige Edition des jiddischen Textes gibt Evi Butzer: Die Anfänge der jiddischen purim-shpiln in ihrem literarischen und kulturgeschichtlichen Kontext. Hamburg 2003. S. 217-224. Zum folgenden siehe Evi Butzer, Nathanja Hüttenmeister, Wolfgang Treue: „Ich will euch sagen von einem bösen Stück ..." Ein jiddisches Lied über sexuelle Vergehen und deren Bestrafung aus dem frühen 17. Jahrhundert. In: Aschkenas 15. 2005. S. 25-53. Ziel des deutsch-israelischen Gemeinschaftsprojekts Germania Judaica IV ist die Erforschung der Geschichte der Juden auf dem Boden des Deutschen Reiches zu Beginn der Frühen Neuzeit (1520-1650). Die hier angesprochenen Untersuchungen betreffen die Herrschaft Pappenheim (Nathanja Hüttenmeister) sowie die Grafschaft Hanau und die Reichsstadt Frankfurt am Main (Wolfgang Treue). Die Ergebnisse dieser Teilprojekte sind in den nächsten Jahren zur Veröffentlichung vorgesehen.

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es sich bei den im Lied aufgeführten Männern keineswegs um fiktive Gestalten handelt sondern um real existierende Personen, die überdies der lokalen Führungsschicht an ihren Heimatorten angehörten. Über die Art der Verwendung des Liedes lassen sich keine gesicherten Aussagen machen, doch spricht vieles dafür, daß es zum mündlichen Vortrag bestimmt war, der eigentlich nur bei einem Publikum auf Interesse stoßen konnte, dem zumindest ein Teil der genannten Personen namentlich oder gar persönlich bekannt war. Man sollte sich daher wohl einen umherreisenden Sänger vorstellen, der - wie andere jüdische Spielleute auch, von denen es nicht wenige gab - sein Lied an verschiedenen Orten vortrug, vielleicht gelegentlich eine im lokalen Kontext allzu anstößig wirkende Strophe ausließ, aber im wesentlichen doch das ganze Lied zu Gehör brachte, das erst durch die Häufung ähnlicher Verfehlungen und die Vertrautheit mit den behandelten Personen seine Wirkung entfalten konnte, einen Reisenden also, der auf die überregionale innerjüdische Öffentlichkeit rekurrierte und ihr zugleich durch seine Darstellung neue Nahrung lieferte. Im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage läßt sich zusammenfassend feststellen, daß zwar kaum von einer spezifisch jüdischen Mobilität gesprochen werden kann, die Mobilität von Juden aber erheblich größer war als die der christlichen Vergleichsgruppen und damit ein gesellschaftlich weitaus prägenderes Element darstellte. Neben dem hohen Stellenwert von Bildung und der verbreiteten Spezialisierung im Handel spielte dabei die überregionale Vernetzung innerhalb der sozialen Gruppen eine wichtige Rolle, die zur Entstehung einer Öffentlichkeit beitrug, die in einigen Bereichen (Jeschiwot/Bildung) ganz Aschkenas, in anderen (Chiduschim/Klatsch) zumindest einen weit über die eigene Stadt und Gemeinde hinaus reichenden geographischen Radius umfasste.

Grenzerfahrung und Mobilität von Juden in der Vormoderne. Ein Problemaufriß* J. Friedrich Battenberg

Die Erfahrung räumlicher Einschränkung durch Grenzen und die Möglichkeiten ihrer Überschreitung und Überwindung beeinflußten auch das Leben von Juden in der vormodernen Gesellschaft. Damit in engem Zusammenhang steht die Frage der Mobilität und Migration, die erzwungen sein konnte, aber auch unabhängig davon Chancen der kulturellen Kommunikation eröffnete und Erfahrungswelten zugänglich machte, die der christlichen bzw. - im Südosten Europas auch - muslimischen Bevölkerung im allgemeinen verschlossen blieben. Gab es also Szenarien in der europäischen Geschichte, die nur im Zusammenhang mit Minderheiten oder gar nur mit Juden denkbar waren? Gab es spezifisch jüdische Erfahrungen der Grenzüberschreitung, die zugleich Lebensweise und Alltag prägten und mit Besonderheiten der europäisch-jüdischen Kultur im Gegensatz zur christlichen im Zusammenhang standen? 1 Mit diesen Fragen beschäftigen sich die folgenden Überlegungen. Grenzerfahrung und Mobilität von Juden konnten sich in völlig unterschiedlichen Szenarien vollziehen. Im christlich-muslimischen Grenzraum zwischen den kaiserlichen Erblanden und dem Osmanischen Reich, also zwischen dem christlichen Kulturraum und dem Herrschaftsgebiet des aus der Sicht des Reichs mächtigen und bedrohlichen Erbfeinds, der geradezu als flagellum Dei galt,2 entstand

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Vgl. zu den folgenden Überlegungen die Beiträge von Reinhard Buchberger und Wolfgang Treue in diesem Band. Kurze Zusammenfassung kultureller Spezifika der Judenheit in der Spätzeit des Alten Reiches bei Peter Claus Hartmann: Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806. Verfassung, Religion und Kultur. Wien, Köln, Weimar 2001. S. 263-267. Martin Wrede: Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg. Mainz 2004 (Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches. Bd. 15). S. 21 lf.; Margret Spohn: Das Türkenbild der Deutschen. In: Interkulturell. Forum für interkulturelle Kommunikation, Erziehung und Beratung 1/2. 1992. S. 159-180.

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durch die Wiederaufnahme der Türkenkriege unter Leopold I. 16633 eine Situation, die ,Grenzüberschreitungen' zum gefährlichen, aber auch profitablen Geschäft machen konnten. Die Absicherung des alltäglichen Lebensunterhalts und ebenso die Erfüllung religiöser Pflichten konnten Motive der Reisetätigkeit im Innern des Heiligen Römischen Reichs sein; Reisen wurden so, obwohl gewiß keine jüdischen Eigentümlichkeiten, zu wichtigen Bestandteilen des täglichen Lebens.4 Ein drittes Beispiel bildet der elsässische Kulturraum, der - ursprünglich eines der Kernländer des Reichs - spätestens seit Richelieu unter starken französischen Einfluß geriet.5 Die dort lebenden Juden, obwohl als Schutzjuden auf das Heilige Römische Reich fixiert und deshalb kulturell mit der aschkenasischen Judenschaft Mittel- und Osteuropas eng verbunden,6 brachten doch in Gebiete französischen Einflusses ein neues Element und wurden so letzten Endes zu Trägern eines weit reichenden Kulturtransfers.7 Auch wenn die Frage des Kulturtransfers bisher im allgemeinen nur für die Bürgerliche Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts diskutiert wurde,8 so wird inzwischen doch auch die Frage gestellt, ob sich in der Frühen Neuzeit nicht bereits unterschiedliche Kulturräume (,espaces culturels') entwickelten und gegeneinander abgrenzten, in denen Transferprozesse zustande kommen konnten.9 Der Raum Elsaß ist ein geradezu exemplarisches Gebiet zur Beantwortung dahingehender Fragen, zumal bei der dort sehr beträchtlichen jüdischen Bevölkerung. Um den behandelten Problemkreis angemessen umreißen zu können, bedarf es zunächst einmal des Nachdenkens über den Begriff und die Realität von Grenzen: Natürlich gab es schon immer das Bedürfnis nach Abgrenzung des eigenen Herrschaftsraums, eines befreiten Raums oder einer Muntat nach außen hin. Dieses Raums mußte man sich im Mittelalter ebenso wie in der Frühen Neuzeit in regelmäßigen Abständen durch rituelle, symbolträchtige Handlungen wie etwa den 3

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Hierzu die Kurzdarstellung bei Robert A. Kann: Geschichte des Habsburgerreiches 1526 bis 1918. 3. Aufl. Wien, Köln, Weimar 1993. S. 68-75, v.a. S. 69. Ausführlich: Thomas Winkelbauer: Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter. 2 Teile. Wien 2003 (Österreichische Geschichte 1522-1699). Robert Liberies: An der Schwelle zur Moderne: 1618-1780. In: Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945. Hg. von Marion Kaplan. München 2003. S. 19-122, hier S. 36f. Siehe den Überblick über die einschlägige Forschung bei J. Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 2001 (EDG 60). S. 63-67. Rainer Babel: Deutsch-französische Geschichte 1500 bis 1648. Darmstadt 2005. S. 168f. Paula E. Hyman: The Emancipation of the Jews of Alsace. Acculturation and Tradition in the Nineteenth Century. New Haven, London 1991. S. 11. Hierzu ist demnächst eine an der Technischen Universität Darmstadt erarbeitete Dissertation von Ulrike Kolbmann zu erwarten. Katharina Midell, Matthias Midell: Forschungen zum Kulturtransfer. Frankreich und Deutschland. In: Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik 1. 1994. S. 107-122. Wolfgang Schmale: Einleitung - Das Konzept,Kulturtransfer' und das 16. Jahrhundert. In: Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert. Hg. von Wolfgang Schmale. Innsbruck, Wien 2003. S. 41-61.

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Markumgang oder die Grenzumgehung vergewissern, um nicht von der Realität überholt zu werden. 10 Seit karolingischer Zeit wurden Marken und Centen, Pfarrsprengel und Grafschaften nach geographischen Merkmalen wie Fluß- und Bachläufen, Höhenzügen und Siedlungen in Grenzbeschreibungen festgehalten," um damit Realitäten in den Akten und sichere Rechtstitel für etwaige forensische Auseinandersetzungen zu schaffen. Soweit eine Abwehr äußerer Feinde nötig war oder Handelsrouten gesichert werden mußten, konnten auch Grenzbefestigungen errichtet werden. 12 Grenzsteine, deren unberechtigte Versetzung unter schwerer Strafe stand, versuchten die geographischen Räume unterschiedlichen Rechts oder verschiedener Herrschaften auch äußerlich sichtbar zu machen. 13 Überschaubare Kleinräume, wie herrschaftliche Hofbezirke oder Dörfer, wurden durch einen eher symbolisch wirkenden Hof- oder Dorfetter eingegrenzt - doch auch hier nicht, um die Bewohner des Bezirks am Überschreiten zu hindern, sondern um damit einen Rechts- und Friedensbezirk zu schaffen. 14 All dies macht bereits deutlich, wie schwer es der vormodernen Gesellschaft fiel, Grenzverläufe eindeutig zu bestimmen oder gar nach rationalen Gesichtspunkten festzulegen. Auch wenn es das Wort und den Begriff der Grenze seit dem Hohen Mittelalter ohne Zweifel gab, fehlte dieser ganz offensichtlich die Stabilität in unserem heutigen Sinne. 15 Sie wurde nicht selten durch einseitige Rechtsakte festgelegt, von unterschiedlich Berechtigten unterschiedlich gezogen, war aber immer das Ergebnis eines Demarkierungsprozesses, der vielfach weit in die Vergangenheit zurückreichen konnte. 16 Grenze im historischen Sinne war etwas anderes als Grenze im modernen Sinne. Die Grenze der Vergangenheit bedurfte, um Bestand zu haben, der steten Erneuerung und Legitimation; sie konnte wegfallen, wenn die hinter ihr stehenden Interessen einer Rechtsabgrenzung, einer Absiche-

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Karl-Sigismund Kramer: Art. „Grenzumgang". In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. Berlin 1971. Sp. 1804-1806. Wolfgang Metz: Art. „Grenze". In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 4. München, Zürich 1989. Sp. 1700f. Karl S. Bader, Gerhard Dilcher: Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt - Bürger und Bauer im Alten Europa. Berlin u.a. 1999 (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft: Abt. Rechtswissenschaft). S. 276f.; Reinhard Schneider: Grenzen und Grenzziehungen im Mittelalter. In: Probleme von Grenzregionen. Hg. von Wolfgang Brücher, Peter Robert Franke. Saarbrücken 1987. S. 9-27; Joachim Ehlers: Art. „Reichsgrenze". In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. München 1995. Sp. 619f. Gernot Kocher: Zeichen und Symbole des Rechts. Eine historische Ikonographie. München 1992. S. 39, 116f. Karl Siegfried Bader: Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich. 3. Aufl. Köln, Wien 1981. S. 74, 91, 103, 167f. u.a. Gerhard Köbler: Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte. München 1997. S. 208 (Art. „Grenze"); ders.: Zielwörterbuch europäischer Rechtsgeschichte. Gießen 2004 (Arbeiten zur Rechts- und Sprachwissenschaft 2004). S. 236 (Art. „Grenze"). Harald Kleinschmidt: Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele historischer Migrationsforschung. Göttingen 2002. S. 15.

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rung von Handelsrouten oder der Durchsetzung merkantilistischer Konzepte des Fürstenhofes entfielen. Es kann deshalb hier die These aufgestellt werden, daß es Grenzen in unserem heutigen Sinne noch nicht gab, und daß folglich das, was uns historische Atlanten vorgaukeln, im Grunde auf Fiktionen und Konstruktionen moderner Historiker beruht. Was aber gab es statt dessen, und wie wirkte die so definierte Grenze auf den von ihr betroffenen Menschen? Einerseits gab es vielerorts in dichter Folge einschneidende Hindernisse wie Zoll- und Mautstätten ebenso wie auch den rechtlich abgesicherten Zwang zur Benutzung bestimmter Geleitstraßen und Umschlagplätze. Das von den Territorialjuristen im 16. Jahrhundert konstruierte territorium clausuni, in dem es eine einheitliche und von allen Fremden abgegrenzte Untertanenschaft unter einer klar definierten Obrigkeit geben sollte,17 existierte im Grunde nur für die Advokaten und Richter, die Konflikte durch die Abgrenzung von Rechten und die Bildung von Zuständigkeiten zu lösen hatten. Nicht die Grenze konstituierte die Untertanenschaft, sondern erst deren allmähliche Ausformung führte zur Abgrenzung von fremden Untertanenschaften und damit tendenziell zur festen Grenze.18 Das von den Kurfürsten von der Pfalz nach dem Dreißigjährigen Krieg in Anspruch genommene Wildfangrecht, durch das ihm das Recht des ersten Zugriffs auf herrenlose Untertanen zustand, um sie unter kurpfälzische Botmäßigkeit zu nehmen,19 beweist gerade, daß noch in der Spätzeit des Alten Reiches erhebliche Unsicherheiten in der Abgrenzung und Zuordnung von Herrschaftsbereichen bestanden. Geographische Karten und Lagepläne mußten demnach, wie sich aus zahlreichen einschlägigen Prozessen um Grenzen und grenzüberschreitende Berechtigungen des Reichskammergerichts ergibt, immer wieder neu gezeichnet und umgeschrieben werden. Andererseits sind aber diese Kleingrenzen zunehmend durch normierte Zollund Geleittarife für jedermann mit rechtlichen Mitteln (Pässe und Geleitbriefe) sowie ökonomischer Potenz (Zahlung von Zollgebühren und Geleitgeldern) überwindbar geworden - schwieriger freilich vielfach für Juden, die zusätzlich den berüchtigten Leibzoll zu erlegen hatten oder anderen Hemmnissen ausgesetzt waren.20 So entstanden wieder eine gewisse Offenheit und Durchlässigkeit. Dabei 17

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Dietmar Willoweit: Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit. Köln, Wien 1975. S. 286295. Peter Blickle: Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland. München 2003. S. 102f. P. Blickle (Anm. 18) S. 106-118. Der Streit um die Aufhebung des „Judenleibzolls" hatte eine außerordentliche Bedeutung für die „Bürgerliche Verbesserung" der Juden, siehe Bernhard Post: Judentoleranz und Judenemanzipation in Kurmainz 1774-1813. Wiesbaden 1985 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen. Bd. 7). S. 426-449; David Feuerwerker: L'emancipation des Juifs en France de l'Ancien Regime ä la fin du Second Empire. Paris 1976. S. 348 (hinsichtlich des Leibzolls, peage corporel, im Elsaß). Insgesamt dazu: Friedrich Batten-

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ist daran zu erinnern, daß der Umzug der Glikl von Hameln zu ihrem zweiten Ehemann nach Metz von ihr als völlig problemlos geschildert wurde, als ob die Autorin verdrängt hätte, daß hier nicht mehr dem Kaiser, sondern dem französischen König die Oberhoheit zukam. 2 ' Wer über die notwendigen Geleitbriefe verfügte und die von ihm geforderten Zoll- und Geleitgebühren entrichtete, konnte etwaige Grenzen ohne Weiteres überschreiben, Handel betreiben ebenso wie entferntere Märkte und Messen besuchen. 22 Ja selbst die Anwesenheit an Stätten, von denen Juden kraft eines Privilegium de non tolerandis iudaeis ausgeschlossen waren, 23 war unter diesen Voraussetzungen möglich, wie der für die Jahre 1675 bis 1764 namentlich genau registrierte Besuch der Leipziger Messen durch Juden belegen kann. 24 Ist also das Überschreiten von Grenzen in der Vormoderne überhaupt ein Problem, oder ist nicht vielmehr die Fragestellung selbst schon anachronistisch? Ein neuer Zugang läßt sich zu diesem Problem gewinnen, wenn man sich vollständig von modernen Sichtweisen löst und statt dessen die zentrale Frage auf das Problem Überwindung von räumlichen wie auch rechtlichen Hindernissen richtet, die durch das lang- oder kurzfristige Überwechseln von einer geographisch definierten Lebenssphäre in eine andere bestanden. Diese Art von Grenzüberschreitung war dem zeitgenössischen Akteur oder auch Beobachter durchaus bewußt: Er definierte all das, was außerhalb seines Gesichtskreises war, als Ausland oder gar als die Fremde, auch wenn damit das Dorf in einigen Kilometern Entfernung gemeint war. Diesbezüglich kann etwa auf das Beispiel der Chronik eines Ratsherrn der Reichsstadt Friedberg aus dem Dreißigjährigen Krieg verwiesen wer-

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berg: Die Französische Revolution und die Emanzipation der Juden im Eisass und in Lothringen. In: Die Französische Revolution und die Oberrheinlande (1789-1798). Hg. von Volker Rödel. Sigmaringen 1991 (Oberrheinische Studien. Bd. 9). S. 245-273, hier S. 255. Zu diesem Thema Juden und Zollgrenzen' vgl. auch Peter Rauscher: Den Christen gleich sein. Diskriminierung und Verdienstmöglichkeiten von Juden an österreichischen Mautstellen in der Frühen Neuzeit (16./17. Jahrhundert). In: Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Berlin, Wien 2004. S. 283-332. Die Memoiren der Glückel von Hameln. Aus dem Jüdisch-deutschen von Bertha Pappenheim, mit einem Vorwort von Viola Roggenkamp. Weinheim 1994. S. 291-313. Jonathan Israel: Handelsmessen und Handelsrouten - Die Memoiren der Glikl und das Wirtschaftsleben der deutschen Juden im späten 17. Jahrhundert. In: Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit. Hg. von Monika Richarz. Hamburg 2001 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden. Bd. 24). S. 268-279. Vgl. Friedrich Battenberg: Die ,privilegia contra Iudaeos'. Zur Privilegienpraxis der römisch-deutschen Kaiser in der Frühen Neuzeit. In: Das Privileg im europäischen Vergleich. Hg. von Barbara Dölemeyer, Heinz Mohnhaupt. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1999 (Ius Commune. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Bd. 125). S. 85-115. Max Freudenthal: Leipziger Messgäste. Die jüdischen Besucher der Leipziger Messen in den Jahren 1675 bis 1764. Frankfurt a.M. 1928 (Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums. Nr. 29). Übersicht S. 21 f.

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den,25 in der die Fremde nicht nach geographischen Kriterien definiert wurde, sondern nach dem jeweiligen Bezug zum Lebensalltag des Chronisten. Nicht die nach Tagesreisen gemessene geographische Entfernung war demnach maßgebend; mehr kam es auf die persönliche Erreichbarkeit im Rahmen ständischer Zugehörigkeit und herrschaftlicher Gebundenheit an. Wer einen , Migrationsgrund' hatte, fand Mittel und Wege der grenzüberschreitenden' Wanderung. Dies galt fur die wandernden Handwerksgesellen, die Studierenden der Universitäten, die Almosen sammelnden Bettelmönche und Pfarrer ebenso wie für die , Schattenwelt' der Nichtseßhaften und Gauner,26 aber auch für die mangels Schutzverhältnissen zur Wanderschaft gezwungenen Betteljuden ebenso wie für die Handelsjuden und Hoffaktoren. Alles das, was sich außerhalb dieses engen Gesichtskreises befand, was nicht zur Alltäglichkeit des Handelsreisenden gehörte, zählte zum Exotischen und wurde zum Gegenstand des Erstaunens und damit zum dankbaren Objekt für Reiseberichte aller Art,27 die schließlich in einen „Mythos des Reisens" mündeten.28 Die welschen Lande wie besonders Italien waren nicht deswegen für die meisten unerreichbar, weil sie durch einen Grenzverlauf vom Kernbereich des römischdeutschen Reiches abgetrennt waren, sondern weil nur wenige die schwierigen Verkehrswege nutzen konnten und das geeignete Verkehrsmittel besaßen.29 Der jeweilige Organisationsgrad der Kommunikation, der Einfluß natürlicher Hindernisse - der oft genug zum Anlaß für die Ideologie von den natürlichen Grenzen' wurde und schließlich historische Zugehörigkeiten waren für die Zuordnung der Regionen zum Eigenen und damit Beherrschbaren oder zum Fremden maßgebend.30 Die Durchlässigkeit der ,Grenzen' wurde seit dem späten 16. Jahrhundert durch Reisehandbücher erhöht, in denen Itinerarien mit der Beschreibung von Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten verbunden wurden.31 Doch gerade dies, ebenso wie die neuen Möglichkeiten der Beförderung, schärfte den Blick für die Wahrnehmung von Unterschieden und bot Raum für eine neue „Differenzwahr25 26

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StA Darmstadt. C 1 C Nr. 70. Klaus J. Bade: Das Eigene und das Fremde - Grenzerfahrungen in Geschichte und Gegenwart. In: Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Klaus J. Bade. München 1992. S. 15-25, hier S. 20f. Exemplarisch dafür die Untersuchung von Annegret Pelz: Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften. Köln, Weimar, Wien 1993 (Literatur - Kultur - Geschlecht. Bd. 2). Peter J. Brenner: Der Mythos des Reisens. Idee und Wirklichkeit der europäischen Reisekultur in der Frühen Neuzeit. In: Neue Impulse der Reiseforschung. Hg. von Michael Maurer. Berlin 1999 (Aufklärung und Europa. Beiträge zum 18. Jahrhundert). S. 13-61. Josef Riedmann: Verkehrswege, Verkehrsmittel. In: Kommunikation und Mobilität im Mittelalter. Begegnungen zwischen dem Süden und der Mitte Europas (11.-14. Jahrhundert). Hg. von Siegfried de Rachewiltz, Josef Riedmann. Sigmaringen 1995. S. 61-75. Wim Blockmans: Geschichte der Macht in Europa. Völker, Staaten, Märkte. Frankfurt a.M., New York 1998. S. 46-54. Wolfgang Behringer: Reisen als Aspekt einer Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit. In: Neue Impulse (Anm. 28) S. 65-95, hier S. 82f.

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nehmung", 32 die schließlich auch den die Grenze hinter sich lassenden Kulturtransfer bewußter gestalten ließ. Sowohl die vernetzte Gemengelage im Balkan zwischen christlichem und türkischem Reich, wie auch die - wiewohl rechtlich definierte, aber doch in der Realität - merkwürdige Grauzone im Bereich zwischen der befestigten Stadt, dem unmittelbaren und weiteren Umland, oder die von machtpolitischen Gegebenheiten, der Schwäche oder auch Stärke des römisch-deutschen Reiches abhängige Einflußzone am linken Oberrhein waren jeweils in ihrer Weise Grenzräume in diesem Sinne: Sie verschufen demjenigen, der dort lebte, hier handelte oder sie überqueren mußte, ein allmählich stärker werdendes Bewußtsein dessen, den gewohnten kulturellen Gesichtskreis verlassen und einen neuen erfahren zu haben. Anhand des Beispiels ottomanischer Melodik und hebräischer Synagogengesänge konnte etwa festgestellt werden, daß seit dem 16. Jahrhundert der türkische Einfluß auf die jüdische Kultur erheblich war und über die bestehenden Grenzen vermittelt wurde. 33 Für das Osmanische Reich gilt überdies ein zusätzlicher Gesichtspunkt: Frieden im Sinne einer pax perpetua und Gemeinschaftserfahrung waren nach der Anschauung der Zeit nur im Rahmen der christlichen Gesellschaft möglich, da Friedensgedanke und Friedensstiftung in der vormodernen Gesellschaft immer zugleich eine religiöse Dimension hatten. 34 Mit Muslimen und allen anderen Nichtchristen konnte man sich folglich grundsätzlich nur vertraglich und auf Zeit im Rahmen der Möglichkeiten des entstehenden Völkerrechts arrangieren. 35 Daß man gelegentlich doch Frieden mit der Hohen Pforte schloß - wie schon 1664 in Eisenstadt 36 - , beweist nur, daß man eine pragmatische Politik einschlagen konnte, wenn es den Interessen des habsburgischen Hauses diente. Eine Ausnahme wurde bemerkenswerter Weise gegenüber den Juden gemacht, da auch diese in den Frieden, den Gott durch seinen Sohn mit der Menschheit geschlossen hatte, einbezogen worden seien. 37 Wer diese ideologisch-dogmatische Festlegung über-

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Ekkehard Witthoff: Grenzen der Kultur. Differenzwahrnehmung in Randbereichen (Irland, Russland) und europäische Identität in der Frühen Neuzeit. In: Neue Impulse (Anm. 28) S. 267-284. Andreas Tietze, Joseph Yahalom: Ottoman Melodies, Hebrew Hymns. A 16th Century Cross-Cultural Adventure. Budapest 1995 (Bibliotheca Orientalis Hungarica. Vol. 43). V.a. S. 43-45. Klaus Schreiner: ,Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküsst' (Ps. 84, 11). Friedensstiftung durch symbolisches Handeln. In: Träger und Instrumentarien des Friedens im Hohen und Späten Mittelalter. Hg. von Johannes Fried. Sigmaringen 1996 (Vorträge und Forschungen. Bd. 43). S. 37-86, hier S. 48. Fritz Dickmann: Krieg und Frieden im Völkerrecht der Frühen Neuzeit. In: Ders.: Friedensrecht und Friedenssicherung. Studien zum Friedensproblem in der neueren Geschichte. Göttingen 1971. S. 116-139 und S. 182f. Hierzu M. Wrede (Anm. 2) S. 125f. K. Schreiner (Anm. 34) S. 48.

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schritt, geriet in ein rechtliches Niemandsland, das nur als gefahrvoll und riskant erfahren werden konnte. Wie aber gingen die aschkenasischen Juden mit diesen Grenzerfahrungen um? Waren sie in gleicher Weise wie ihre christlichen Nachbarn an herrschaftliche und damit zugleich rechtliche Grenzziehungen gebunden? Waren sie als Außenseiter sozusagen die geborenen Vermittler? Man denkt an Betteljuden, die als Informationsträger für Gemeinden und auch christliche Obrigkeiten dienten, weil sie von Ort zu Ort und von Herrschaft zu Herrschaft zogen; man denkt auch an die landesherrlichen und kaiserlichen Hofjuden, die verwandtschaftlich und geschäftlich untereinander vernetzt waren, und allein mit diesem Kommunikationsnetz einen großen geographischen Raum erfassen konnten.38 Eine derzeit an der Technischen Hochschule in Darmstadt entstehende Dissertation zur jüdischen Wirtschaftselite in Metz wird zeigen, daß selbst die Grenzen des Reichs oder des französischen Königtums für diese Personengruppe offenbar nicht bestanden.39 Man denkt weiter an die vielen jüdischen Kaufleute, die regelmäßig zu den Frankfurter oder Leipziger Messen reisten und dabei ganz selbstverständlich große Strecken überwanden. Man denkt an das Wohlfahrtssystem der Pletten (Billette), durch das viele jüdische Gemeinden durchreisenden und mittellosen Juden Quartier und Kost verschufen, also davon ausgingen, daß die Mobilität ihrer Glaubensbrüder ganz selbstverständlich zum Alltag gehörte.40 Man macht es sich indes zu einfach, wenn man aus diesen Phänomenen schließt, die Juden seien als Außenseiter der christlichen Gesellschaft eine gleichsam von Geburt an mobile Bevölkerungsgruppe gewesen, gleich Ahasver zur rastlosen und ewigen Wanderschaft verdammt.41 Gerade neuere Forschungen haben ergeben, daß trotz kulturell-religiöser Differenz zwischen Christen und 38

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Rotraud Ries: Hofjuden - Funktionsträger des absolutistischen Territorialstaates und Teil der jüdischen Gesellschaft. Eine einführende Positionsbestimmung. In: Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert. Hg. von Rotraud Ries, J. Friedrich Battenberg. Hamburg 2002 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden. Bd. 25). S. 11-39. Hierzu siehe auch: Pierre-Andre Meyer: La communaute juive de Metz au XVIIIe siecle. Histoire et demographie. Nancy 1993 (Collection Les Juifs de Lorraine). S. 65-71, 171-180. Zu diesem System im einem reichsgräflichen „Judendorf' siehe Friedrich Battenberg: Im Schutz der Burg Reichenberg im Odenwald. Der Marktflecken Reichelsheim im Gersprenztal als Cent- und ,Juden'-Ort in vormoderner Zeit. In: Archiv für hessische Geschichte. N.F. 61.2003. S. 1-20, hier S. 17-19. Zu diesem Stereotyp siehe Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek bei Hamburg 1991 (Rowohlts Enzyklopädie. Abt. Kulturen und Ideen). S. 246-252. Zur Nachwirkung des Bilds von Ahasver in der Zeit der Romantik siehe Hans-Gerd Winter: Der geldgierige Nathan und der Bekehrer Ahasver. Aspekte der Judenfeindschaft in der deutschen Romantik am Beispiel Achim von Arnims. In: Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Festgabe für Arno Herzig zum 65. Geburtstag. Hg. von Jörg Deventer, Susanne Rau, Anne Conrad. Münster u.a. 2002 (Geschichte. Bd. 39). S. 163-180, hier S. 176-180.

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Juden letztere doch vielfach in enger Nachbarschaft und bisweilen in hohem Maße miteinander integriert lebten.42 Die in den Quellen deutlich werdende größere Mobilität der Juden hatte also gesellschaftliche Ursachen. Sie war vielfach eine Konsequenz der „atomisierten" Wohnweise, um ein Wort Fritz (Jitzchak) Baers aufzugreifen.43 Sie war auch eine Folge dessen, daß Juden notwendigerweise über größere Entfernungen hinaus Kontakte aufrecht erhalten mußten, um ein Auskommen zu haben, aber auch um Erfahrungen auszutauschen und um dem Druck der christlichen Obrigkeiten gegebenenfalls ausweichen zu können. Auswanderungen von Juden waren in der vormodernen Gesellschaft nicht die Ausnahme, sondern waren eine Folge des ständig sich vergrößernden Druckes, der durch die meist repressive Politik der Obrigkeiten entstand.44 Hofjuden und ihr Anhang etwa mußten sich ihre Beweglichkeit durch Privilegien und Geleitbriefe erkaufen, und auch dies waren zumeist Berechtigungsdokumente, die Juden nur das gewährten, was christlichen Kaufleuten ganz selbstverständlich zustand.45 Wenn es überhaupt eine spezifisch jüdische Kaufmannskultur in der vormodernen Gesellschaft gab, für die die Handelsreise unabdingbar erschien, so war diese keineswegs mit einer besonderen ,Profitgier' verbunden, sondern allenfalls mit einem sehr ernst genommenen Ehrgefühl (koved), mit dem das Streben nach Reichtum und Ansehen eng verbunden war.46 Das geschäftliche Interesse konnte nicht von den Angelegenheiten der Familie und dem religiösen Lernen losgelöst werden: Familie, Geschäft und Religion waren für die Juden der Zeit eng miteinander verwoben.47 Die durch die Reisen entstehenden Kommunikationsnetze schufen für viele jüdische Gemeinden und die ihr angehörenden Juden erst diejenige Stütze, die sie zum Überleben als Minderheit in christlicher bzw. muslimischer Umgebung dringend benötigten. 42

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J. Friedrich Battenberg: Zwischen Integration und Segregation. Zu den Bedingungen jüdischen Lebens in der vormodernen christlichen Gesellschaft. In: Aschkenas 6. 1996. S. 421454; F. Battenberg (Anm. 4) S. 101-104. Fritz Baer: Das Protokollbuch der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve. Berlin 1922 (Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums. Historische Sektion). S. 82. Ihm folgend Daniel J. Cohen: Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt bis zur Emanzipation als Organe der jüdischen Selbstverwaltung. In: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Wiesbaden 1983 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen. Bd. 6). S. 151-214, hier S. 152. Hiltrud Wallenborn: Bekehrungseifer, Judenangst und Handelsinteresse. Amsterdam, Hamburg und London als Ziele sefardischer Migration im 17. Jahrhundert. Hildesheim u.a. 2003 (Haskala. Wissenschaftliche Abhandlungen. Bd. 27). V.a. S. 89-96. J. Friedrich Battenberg: Die Privilegierung von Juden und der Judenschaft im Bereich des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. In: Das Privileg im europäischen Vergleich (Anm. 23). Bd. 1. Frankfurt a.M. 1997 (Ius commune. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Bd. 93). S. 139-190, hier S. 144-150. Natalie Zemon Davis: Lebensgänge. Glikl - Zwi Hirsch - Leone Modena - Martin Guerre Ad me ipsum. Berlin 1998. S. 23-25 (am Beispiel der Glikl von Hameln und in Auseinandersetzung mit Werner Sombart). N. Zemon Davis (Anm. 46) S. 30-32.

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Es ist Aufgabe detaillierter Fallstudien, zu überprüfen, welche Konsequenzen diese durch die Lebensumstände gesteigerte Mobilisierung der Juden für die Realisierung kultureller Chancen hatte, ob der damit unter Umständen angehäufte kulturelle Erfahrungsschatz ihren Habitus oder zumindest ihre Einstellung in alltäglichen Lebenssituationen veränderte. Es ist auch zu prüfen, ob und inwieweit die Ausweitung des kulturellen Gesichtskreises Gefahrenmomente einschloß, die auf lange Sicht die Auflösung der jüdischen Gemeinschaft als einer autonomen sozialen Gruppe mit sich bringen konnte. Wer über soziale und kulturelle Integration, über Mobilität und Migrationschancen der Juden redet, muß auch die Kehrseite der Medaille im Auge behalten, nämlich den Auflösungsprozeß, und damit verbunden den Akkulturationsprozeß bis hin zur heutigen Diskussion um das Zuwanderungs- und Asylrecht.

Das Leben im Grenzraum. Grenzräume zwischen Österreich, Ungarn und dem Osmanischen Reich in der Frühen Neuzeit - Die Grenze der Christenheit als Chance für die Juden? Reinhard Buchberger

Mit der Schlacht von Mohäcs (1526) war für Ungarn ein Zeitalter des Krieges angebrochen, das oft mit dem Begriff ,Türkenkriege' zusammengefaßt wird, ein Zeitalter, das auch im Zustand offiziellen Friedens keinen wahren Frieden kannte. „Wo wir auch die Chronik jener Zeitepoche aufschlagen überall nimmt, auf der ganzen Linie vom Mätra-Gebirge bis zur Adria, der Guerillakampf seinen Fortgang", urteilte ein ungarischer Historiker des 19. Jahrhunderts. 1 Unter diesen Bedingungen mußte ,Grenze' zu einem sehr relativen Begriff werden: in der Theorie eine Linie durch die pannonische Landschaft, auf die etwa die Gesandten beider Staaten in beinahe ritueller Präzision zureiten konnten, um genau am Schlagbaum aufeinander zu treffen; in der Praxis aber ein breiter Gürtel aus zerstörten und entvölkerten Dörfern und unklaren Zugehörigkeitsverhältnissen, der regelmäßig von Freischärlern und regulären Truppen heimgesucht - eher an die ,Grenzöden' der zentralasiatischen Nomadenreiche als an ,Grenzen' im modernen Sinne erinnert. Diese Situation setzte auch den Juden der Region stark zu. Im folgenden wird zu zeigen sein, welche Probleme sich aus dem Krieg und der Allgegenwart räuberischen Kriegsvolks für jüdisches Leben im Grenzbereich ergaben, wobei wir es bedingt durch den Akzent auf das dynamische Moment der Grenze sowie deren Überwindung - vor allem mit jüdischen Händlern zu tun haben werden; ebenso soll aber auch gezeigt werden, welche Chancen sich für die hier aktiven Juden ergaben, beziehungsweise welche Strategien sie entwickelten, um in die ökonomischen Nischen vorzustoßen, die sich immer wieder auftaten. Franz Salamon: Ungarn im Zeitalter der Türkenherrschaft. Ins Deutsche übertragen von Gustav Juräny. Leipzig 1887. S. 95.

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Reinhard Buchberger

Grundlage für diese Arbeit bilden Archivstudien, die im Rahmen des Projektes ,Hungaria et Slovakia Judaica' 2 in den Zentralarchiven von Wien und Budapest angestellt wurden. Es traten dabei viele neue Quellen zu Tage, die die bereits bekannten ergänzen und so oft erst verständlich machen. Freilich sind wir erst auf halbem Weg angelangt; nicht zuletzt die (teilweise sehr umfangreichen) Archive der osmanischen Behörden harren noch einer gezielten Erforschung in Hinblick auf jüdische Geschichte des ostmittel- und südosteuropäischen Raumes.3

1. Grundvoraussetzungen: die jüdische Siedlung in Ungarn Aufgrund seiner angesprochenen Lage als Grenzzone zweier verfeindeter Reiche kann das frühneuzeitliche Ungarn keineswegs als sicherer Lebensraum bezeichnet werden. Dies galt nicht zuletzt auch für Juden. Es ist kaum verwunderlich, daß sich in den Dörfern und Militärstädten des eigentlichen Grenzraumes praktisch keine jüdischen Siedlungen auf Dauer etablieren konnten. Die ersten Ansätze zu jüdischen (Neu-)Ansiedlungen und Gemeindegründungen auf dem Boden des habsburgischen Ungarns lagen folgerichtig in relativ großer Distanz zur Grenze: vor allem im Bereich des heutigen Burgenlandes sowie im Großraum der Hauptstadt Preßburg (ung. Pozsony, heute Bratislava).4 In allen 2

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Durchgeführt wurde das Projekt am Institut für Geschichte der Juden in Österreich (St. Pölten) in den Jahren 2002 bis 2004. Die Finanzierung erfolgte dankenswerterweise aus Mitteln des Hochschuljubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank. Für das vorliegende Thema kamen besonders die Bestände ,Hoffinanz Ungarn' (HF Ungarn) sowie die zugehörigen Protokollbücher des HKA, die ,'Turcica' der Staatenabteilung des HHStA sowie nicht zuletzt die Protokollbücher des HKR im KA in Betracht, die für den gesamten Zeitraum zwischen 1557 und 1699 - meines Wissens erstmals durchgängig - auf Judaica durchsucht wurden. Genannt sei hier allen voran das Ba§bakanhk Osmanh ar§ivi in Istanbul. In den meisten zusammenfassenden Werken über jüdische Geschichte in Ungarn wird die frühneuzeitliche Epoche als , düsteres Zeitalter' zwischen dem glanzvollen Mittelalter und dem Neubeginn im späten 18. Jahrhundert mit wenigen Worten nur am Rande behandelt. Eine umfassende Darstellung der Zeit zwischen 1526 und 1686 ist daher weiterhin als Forschungsdesiderat zu betrachten. In krassem Gegensatz dazu liegt für Ungarn eine sehr umfangreiche Quellenedition vor: MHJ (Magyar Zsidö Okleveltär). 19 Bde. Budapest 19031980. Zu Ungarn im allgemeinem und dem habsburgischen Landesteil im besonderen vgl.: Lajos Venetianer: A magyar zsidösäg törtenete. Különös tekintettel gazdasagi es müvelödesi fejlödesere a XIX. szäzadban [Geschichte des ungarischen Judentums. Mit besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung im 19. Jahrhundert]. Budapest 1922; Ladislaus Martin Päkozdy: Juden und Christen in Ungarn nach 1526. In: Kirche und Synagoge. Bd. 2. Hg. von Karl Heinrich Rengstorf, Siegfried von Kortzfleisch. Stuttgart 1970. S. 569-605; Raphael Patai: The Jews of Hungary. History, Culture, Psychology. Detroit 1996, besonders S. 108-186; Läszlö Gonda: A zsidosag Magyarorszagon 1526-1945 [Das Judentum in Ungarn 1526-1945], Budapest 1992. Zu den Siebengemeinden im Burgenland: Harald Prickler: Beiträge zur Geschichte der burgenländi-

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anderen Gegenden des königlichen Ungarns treffen wir zwar auf vereinzelte jüdische Kaufleute oder Streusiedlungen, diese dürften aber im 16. und 17. Jahrhundert im Normalfall weder zu Gemeindebildungen noch zu überregionalen Korporationen gereicht haben. Einzelne solcher Siedlungen könnten an der adriatischen Küste entstanden sein, w o Handelstätigkeit von Juden aus dem Veneto nachweisbar ist. Ähnliches gilt auch für den besonders unruhigen oberungarischen Raum: 5 obwohl sich im benachbarten Polen in unmittelbarer Grenznähe größere jüdische Siedlungen befanden, konnten Juden in diesem Landstrich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und besonders nach 1686 langsam Fuß fassen und mit Munkäcs (Mukacevo) und Ungvär (Uzhorod) vermutlich auch erste Gemeinden bilden. Ansonsten blieben die Siedlungen aber auch hier marginal, wie eine Aufstellung aus dem Jahr 1699 beweist: Für den Einflußbereich der Zipser Kammer sind 42 angesiedelte Pächter (Familienoberhäupter) nachweisbar, die auf 32 verschiedene adelige Herrschaften verteilt lebten, wobei allein in der Räkoczischen Stadt Munkacs acht männliche Personen genannt werden. 6 Ähnlich sieht die Lage im Fürstentum Siebenbürgen aus. Hier herrschte zwar eine verhältnismäßig tolerante Grundstimmung in religiösen Fragen, und in der Hauptstadt Karlsburg (früher auch: Weißenburg; rum. Alba Iulia; ung. Gyulafehervär) sind tatsächlich Juden mehrfach belegt: 1662 haben wir hier sogar den bemerkenswerten Fall, daß eine ganze Herrschaft an einen Juden, den Übersetzer

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sehen Judensiedlungen. In: Juden im Grenzraum. Geschichte, Kultur und Lebenswelt der Juden im Burgenländisch-westungarischen Raum und in den angrenzenden Regionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Rudolf Kröpf. Eisenstadt 1993. S. 65-104; Wolfgang Häusler: Probleme der Geschichte des Westungarischen Judentums in der Neuzeit. 2 Teile. In: Burgenländische Heimatblätter 42, 1-2. 1980. S. 32-38 und S. 69-100; Johannes Reiss: Geschichte der Juden und jüdische Geschichte im Burgenland. In: Juden in der Stadt. Hg. von Fritz Mayrhofer, Ferdinand Opll. Linz 1999 (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 15). S. 1-20. Unter dem Begriff ,Oberungarn' (Felsö Magyarorszäg, Hörne Uhersko) ist hier der östliche Landesteil des königlichen Ungarn zu verstehen, der von den Komitaten Zips und Gömör bis hin zur siebenbürgischen Grenze reichte, sein Verwaltungszentrum in Kaschau hatte und im Gegensatz zum westlich angrenzenden ,Niederungarn' (mit Zentrum Preßburg) zu sehen ist. Die Bezeichnung ,Oberungarn' für das gesamte Gebiet der modernen Slowakei (Ungarisch auch: Felvidek) ist jüngeren Datums. Vgl. Magyar Nagylexikon [Großes ungarisches Lexikon]. Bd. 7. Budapest 1998. S. 811. Konskriptionsliste der Zipser Kammer, Kaschau, 1699 März 19. HKA. HF Ungarn, rote Nr. 400. Konv. Juli. Fol. 80r-81r. In überwiegendem Ausmaß lebten diese Pächter vom Polenhandel für ihre adeligen Grundherrschaften, von landwirtschaftlicher Produktion (Viehzucht), sowie von Erträgen landwirtschaftlich-gewerblicher Pachten (Branntweinherstellung, Mauten etc.). Das Namensmaterial (z.B. Mosko Samuelovicz, Jsaacus Jelenkovicz u.ä.) deutet durchwegs auf eine Herkunft aus dem benachbarten Polen. Zur Siedlungsgeschichte in Oberungarn vgl. Fülöp Grünvald, Sändor Scheiber: Adalekok a magyar zsidosäg települestörtenetehez a XVIII. szäzad elsö feieben [Beiträge zur Siedlungsgeschichte der ungarischen Juden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts]. In: MHJ 7. 1963. S. 5-48, besonders S. 19-22.

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bei Hof Juda Meiemet, verpfändet wurde.7 Außerhalb der Stadt fehlen jüdische Siedlungen aber völlig, und die seit 1658 erlassenen Aufenthaltsverbote außerhalb Karlsburgs und sonstige Restriktionen sollten derartige Bestrebungen im Keim ersticken.8 Etwas anders lagen die Verhältnisse im osmanischen Teil Ungarns.9 Mit Ofen (Buda), der Hauptstadt des gleichnamigen Vilayet (Provinz), lag hier eine gewaltige Festung in unmittelbarer Grenznähe, die auch die größte Judengemeinde des frühneuzeitlichen Ungarns beherbergte.10 Die massenhafte Umsiedlung in die Kerngebiete des Reiches nach 1526 11 wirkte sich dabei keineswegs nachteilig aus: Sie weitete den Handlungshorizont über die gesamten Balkanprovinzen bis in die großen jüdischen Zentren Konstantinopel (Istanbul), Thessaloniki oder Bursa aus und schuf somit Beziehungsgeflechte, die den Betroffenen auch nach der Reinstallation der Gemeinde von Ofen (1541) zugute kamen. Der große Wirtschaftsraum, der sich nun nach Süden auftat, belebte die jüdische Gemeinde gleichermaßen wie die Hauptstadt selbst: 1686, bei ihrer Zerstörung, hatte die jüdische Gemeinde von Ofen geschätzte 1.000 Mitglieder. 12 Daneben ist die sprichwörtliche religiöse Toleranz der Osmanen nicht bloß historiographischer Topos, sondern sorgte für verhältnismäßig günstige Bedingungen für Juden.13 So ist durchaus wahrscheinlich, daß sich im ungarischen Zentral7 8

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MHJ2. Nr. 125. S. 112-113. R. Patai (Anm. 4) S. 155. Zu Siebenbürgen vgl. Angelika Schaser: Die Juden Siebenbürgens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Südostforschungen 49. 1990. S. 57-94, hier S. 59-63; R. Patai (Anm. 4) S. 156f. Zum osmanischen Ungarn noch immer grundlegend: Sändor Büchler: Α zsidök törtenete Budapesten. A legregibb idöktöl 1867-ig [Geschichte der Juden in Budapest. Von den ältesten Zeiten bis 1867]. Budapest 1901. Neuere Publikationen: Kinga Frojimovics, Geza Komoröczy, Viktoria Pusztai, Andrea Strbik: Jewish Budapest. Monuments, Rites, History. Budapest 1999, besonders S. 7-40; Tamäs Raj, Peter Vasadi: Zsidök a törökkori Budän [Juden im türkenzeitlichen Buda]. Budapest 2002. Genaugenommen waren es drei Gemeinden: eine aschkenasische, eine sefardische (mit separaten Synagogen auf dem Burgberg von Ofen) und eine syrische. K. Frojimovics, G. Komoröczy, V. Pusztai, A. Strbik (Anm. 9) S. 26; L. M. Päkozdy (Anm. 4) S. 574. Die historische Forschung ist sich in der Beurteilung der Ereignisse alles andere als einig. Die Auffassungen reichen von Massakern und Zwangsumsiedlung (1529-1541) bis hin zum freudigen Empfang der siegreichen Osmanen durch die Juden und deren Privilegierung. Vgl. dazu: T. Raj, P. Vasadi (Anm. 9) S. 10-23. Sändor Scheiber: Jewish Inscriptions in Hungary. From the 3rd Century to 1686. Budapest 1983 (Corpus inscriptionum Hungariae Judaicarum). S. 185. Im 16. Jahrhundert schwankte die Anzahl der Juden in der Stadt zwischen 72 und 122 Haushalten (504-854 Personen). Stanford J. Shaw: The Jews of the Ottoman Empire and the Turkish Republic. London 1991. S. 38. Aus der umfangreichen Literatur zum osmanischen Judentum siehe: Salo Wittmayer Baron: Α Social and Religious History of the Jews. Late Middle Ages and Era of European Expansion 1200-1650. Bd. 18: The Ottoman Empire, Persia, Ethiopia, India and China. New York 1983; Marc Alan Epstein: The Ottoman Jewish Communities and Their Role in the Fifteenth and Sixteenth Centuries. Freiburg 1980 (Islamkundliche Untersuchungen 56); Ber-

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räum - gleichsam unter dem Schutz der Festung Ofen im Norden - zahlreiche jüdische Siedlungen entwickeln konnten. Wir wissen etwa von Juden in Stuhlweißenburg (Szekesfehervär), Waitzen (Väc), Gran (Esztergom), Räckeve auf der Csepel-Insel oder Tolna; im Süden wäre noch besonders die Gemeinde von Belgrad zu nennen, die von Reisenden des 17. Jahrhunderts erwähnt wird.14 Von diesen Zentren aus besuchten jüdische Händler die Jahrmärkte auf dem Lande und konnten in der Folge - ohne die stark antijüdischen Ressentiments der Stadträte, die in den habsburgischen Städten Ungarns (Ödenburg, Preßburg, etc.) jüdisches Leben über Jahrhunderte blockierten - zuweilen Fuß fassen. Zum Nukleus solcher Kleingemeinden konnten etwa Steuerpachten werden, die ein oder mehrere Juden gemeinsam von den osmanischen Steuerbehörden übernahmen und von denen im Untersuchungszeitraum mehrere urkundlich belegt sind.15 Zweifellos waren sie unvergleichbar einträglicher und sicherten somit mehreren Personen den Unterhalt als die Mautpachten, mit denen Juden im habsburgischen Landesteil ihren Lebensunterhalt bestreiten mußten.16 Bei rechtlichen Problemen oder Überfällen durch christliche Streifer, die selbst an der unteren Donau noch vorkamen, fungierte die Gemeinde von Ofen als Fürsprecherin für diese kleineren Siedlungen, die sich nicht nur an den Pascha von Ofen, sondern nachweislich

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nard Lewis: The Jews of Islam. Princeton 1984; Aryeh Shmuelevitz: The Jews of the Ottoman Empire in the Late Fifteenth and the Sixteenth Centuries. Administrative, Economic, Legal and Social Relations as Reflected in the Responsa. Leiden 1984; Benjamin Arbel: Trading Nations. Jews and Venetians in the Early Modern Eastern Mediterranean. Leiden 1995; Sneschka Panova: Die Juden zwischen Toleranz und Völkerrecht im Osmanischen Reich. Die Wirtschaftstätigkeit der Juden im Osmanischen Reich (die Südosteuropaländer) vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Frankfurt 1997 (Europäische Hochschulschriften. Reihe III. Bd. 752); The Jews of the Ottoman Empire. Hg. von Avigdor Levy. Princeton 1994; Minna Rozen: A History of the Jewish Community in Istanbul. The Formative Years, 14531566. Leiden, Boston 2002 (The Ottoman Empire and its Heritage. Bd. 26); S. J. Shaw (Anm. 12); Päl Fodor: Együttmüködes es välsag a 15-17. szäzadi osmän-zsidö kapcsolatokban [Zusammenarbeit und Krise in den osmanisch-jüdischen Beziehungen vom 15.-17. Jahrhundert]. In: Szäzadok 131/4. 1997. S. 895-922. Zur osmanischen Geschichte im allgemeinen: Halil Inalcik: The Ottoman Empire. The Classical Age. 1300-1600. London 1973; Josef Matuz: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt 1985; An Economic and Social History of the Ottoman Empire. Vol. 1: 1300-1600. Vol. 2: 16001914. Hg. von Halil Inalcik, D. Quataert. Cambridge 1994. Heinrich Ottendorf berichtet 1663 von einem dreistöckigen Haus in der Belgrader Judenstadt, in dem angeblich 800 Personen lebten und das in der mitten ihre Schuelen hatt. MHJ 8. Nr. 354. S. 280. Zu der Situation der Juden von Belgrad nach 1688 siehe: Dusan J. Popovic: Beograd kroz vekove [Belgrad durch die Jahrhunderte]. Beograd 1964. S. 79-81. Als Beispiel etwa 1567 in Paks, südlich von Ofen. MHJ 2. Nr. 33. S. 16. Zu jüdischen Mautnern auf habsburgischem Territorium vgl. F. Grünvald: Zsidö vämosok magyar földön a XVII. es XVIII. szäzadban [Jüdische Mautner auf ungarischem Boden im 17. und 18. Jahrhundert], In: MHJ 11. Hg. von Sändor Scheiber. Budapest 1968. S. 17-28; Peter Rauscher: Den Christen gleich sein. Diskriminierung und Verdienstmöglichkeiten von Juden an österreichischen Mautstellen in der Frühen Neuzeit (16./17. Jahrhundert). In: Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Berlin, Wien 2004. S. 283-332.

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auch direkt an die Hohe Pforte um Schutz wenden konnte; wie ein Beispiel aus dem Jahre 1582 belegt, konnte auf diese Weise auch auf die lokalen osmanischen Behörden gehöriger Druck ausgeübt werden.17

2. Auswirkungen der Türkenkriege auf das jüdische Leben: Berührungspunkte zwischen Juden und der Armee Der permanente Kriegszustand im frühneuzeitlichen Ungarn war auch für das Leben der Juden das prägende Moment schlechthin. In direktem Zusammenhang mit militärischen Aktionen standen zum einen die großen Ereignisse, die sich als historische Marksteine im Gedächtnis der Juden Ungarns festschrieben: die Vertreibungen der Juden aus Preßburg und Ödenburg (Sopron) nach der Schlacht von Mohäcs (1526), die Eroberung Ofens durch die Osmanen (1529/41), die Plünderung der Ofener Judengasse (1602)18 und schließlich die neuerliche Eroberung der Stadt (1686), in der ein großer Teil der Juden ums Leben kam, der Rest in die Sklaverei verschleppt und andernorts neuangesiedelt wurde.19 Zum anderen brachte der Krieg aber auch Maßnahmen mit sich, die vielleicht weniger drastische Auswirkungen hatten oder nur einzelne Individuen betrafen: Schikanen wie Hausdurchsuchungen bei den Juden (und Christen) Ofens im Jahre 1604, als diese von den Janitscharen verdächtigt wurden, feindliche Soldaten in ihren Kellern zu verstecken,20 oder auch die justificirung [= Verurteilung] der türkhischen gefangenen Juden21 Diese Ereignisse schlugen kaum Wellen in militärisch17

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Stephan Nyäry von Bedegh an Kaiser Rudolf II., o. O., o. D. (ad 1582 September 13), HHStA. Turcica. Kt. 47/Konv. 1. Fol. 18r-v. Auch innerjüdische Quellen berichten darüber. Vgl. T. Raj, P. Vasadi (Anm. 9) S. 37f; S. Büchler (Anm. 9) S. 119f. Mit dem Datum (16. Oktober 1602) dürfte sich Büchler übrigens geirrt haben, vorausgesetzt, daß die Plünderung des Judenviertels nicht als .Schlechtwetterprogramm' eingeschoben wurde: ein unbekannter Zeitzeuge aus dem christlichen Feldlager berichtet zu dem Datum jedenfalls Gestrigen tags, den 16. Octob[ris], weilln es vor mittag sehr geregnet, ist nichts sonders ßirgeloffen. HHStA. Hungarica. Kt. 143/Konv. A. Fol. 7r (1602 Oktober 17). Zu den Ereignissen im Jahre 1686 und den Freikäufen durch Alexander Taussig und Samuel Oppenheimer vgl. Jenö Häzi: A Budai zsidök sorsa 1686-ban. Mikent ünnepelte meg Sopron Buda visszafoglaläsät? [Das Los der Ofener Juden im Jahre 1686. Auf welche Weise feierte Ödenburg die Rückeroberung Ofens?]. In: MHJ 17. Hg. von Sandor Scheiber. Budapest 1977. S. 9-18. Bericht aus der Delegation des Grafen Althan, Pest, 1604 Februar 14. HHStA. Turcica. Kt. 87/Konv. 3. Fol. 63r. KA. HKR. PB 137. Unfol. (1602 August 19). Vermutlich besteht hier ein Zusammenhang zu der glücklosen Belagerung Ofens (1602), womöglich aber auch zu jenen 22 Juden, die nach der Eroberung Stuhlweißenburgs (1601) ranzioniert und nach Wien verschleppt worden waren. S. Büchler (Anm. 9) S. 119.

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diplomatischen Kreisen, für die Betroffenen werden sie nichts Gutes bedeutet haben. Nicht zuletzt muß auf die ökonomische Belastung durch den Dauerkrieg hingewiesen werden, die in hohem Ausmaß den Juden aufgebürdet wurde.

2.1 Beiträge zu den Kriegskosten Von Anfang an wurden die Juden der habsburgischen Länder zu Türkenkriegskontributionen herangezogen. Besonders im 17. Jahrhundert wurde ihnen eine stets größer werdende Finanzlast aufgebürdet, wobei als Druckmittel die Nichtbestätigung ihrer Privilegien bis hin zur Androhung sofortiger Ausweisung in den 22

Raum gestellt wurde. Was den Zahlungsmodus betrifft, hinterlegten etwa die Wiener Juden die gesamten 1650er Jahre hindurch ihr jährliches Toleranzgeld in Form von Tuchen oder fertigen Soldatenkleidern für die ,kanisische und banalische Grenzbezahlung', 23 wodurch der enge Konnex zum Türkenkrieg deutlich wird. Ähnliches gilt für die 1668/69 fälligen Strafgelder der Wiener Judenschaft, die direkt für Fortifikationsarbeiten an der neu errichteten Festung Leopoldstadt (Leopoldov) verwendet wurden. Zu diesen gewaltigen, in ihrer erpresserischen Regelmäßigkeit verhältnismäßig kalkulierbaren Zwangszahlungen konnten im Kriegsfall zusätzliche Lasten kommen: die Zwangsrequirierung von Lebensmitteln 24 oder auch nur die Einquartierung von Soldaten, die für einen mittellosen Haushalt ruinöse Folgen haben konnten. 25

2.2 Fortifikationsarbeiten an der Grenze Anhand der Quellen läßt sich nicht entscheiden, ob im Kriegsfall auch ortsansässige Juden zu zwangsweise Bau- und Fortifikationsarbeiten herangezogen wur-

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Sabine Hödl, Barbara Staudinger: „Ob mans nicht bei den juden [...] leichter und wolfailer bekommen miiege?". Juden in den habsburgischen Ländern als kaiserliche Kreditgeber (1520-1620). In: Finanzen und Herrschaft. Materielle Grundlagen fürstlicher Politik in den habsburgischen Ländern und im Heiligen Römischen Reich im 16. Jahrhundert. Hg. von Friedrich Edelmayer, Maximilian Lanzinner, Peter Rauscher. Wien, München 2003 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 38). S. 246-269. Gemeint sind hier die Banalgrenze entlang der Kulpa unter der Führung des Bans von Kroatien und der sogenannte ,kanisische' Abschnitt der Türkengrenze mit den Hauptfestungen Kanischa (Kanizsa) bzw. (ab 1600) Egerszeg. Zur Türkengrenze vgl. Geza Pälffy: Die Türkenabwehr in Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert - ein Forschungsdesiderat, in: Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse 137. 2002. S. 99-131 (v. a. S. 112f.), dort mit weiterer Literatur. So wurden etwa 1605 bei Beczkö (Beckov) Ochsen von Juden durch die Truppen Stephan Bocskays konfisziert. MHJ 8. Nr. 288. S. 240f. 1684 wurden etwa dem (freilich nicht ganz mittellosen) Münzlieferanten Jakob Prager vier Soldaten in seinem Haus in Preßburg einquartiert, worüber sich dieser beschwert, da er nicht Bürger der Stadt sei. Magyar Orszagos Leveltär (MOL, Ungarisches Staatsarchiv). Ε 41. Csomo 78 (1684/2). Nr. 367. Unfol.

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den, wie dies auf osmanischer Seite aus dem Jahr 1663 belegt ist. 26 Der gewaltige Bedarf an ,MenschenmateriaP zur Verteidigung der Türkengrenze brachte aber im Laufe des 17. Jahrhunderts in den habsburgischen Erbländern zunehmend die Praxis mit sich, straffällig gewordene Personen zu langjährigen Zwangsarbeitsstrafen in den Grenzfestungen zu verurteilen. Dies traf nicht nur Soldaten, die unter anderem auch wegen Übergriffen an Juden27 - zu unbesoldetem Kriegsdienst verurteilt wurden, sondern auch Juden selbst, die man in erster Linie zu Fortifikationsarbeiten heranzog. Im Stadtgraben der Residenzstadt Wien gleichsam erprobt,28 führte diese Praxis später auch Wiener Juden unfreiwillig an die Türkengrenze. Im April 1659 etwa sind es Salomon Hahn und Philipp Auscher Lipmann, die nach Raab (Györ) verurteilt, jedoch bereits im Oktober des Jahres wieder auf freien Fuß gestellt wurden; Hahn wird im Mai 1662 umb seiner verüebten müßhandlung willen auf sein lewenlang nach Raab zurückkehren. 29 1665 folgten drei Juden auf sechs Jahre in die neu errichtete Festung Leopoldstadt, 30 in Zusammenhang mit den Turbulenzen in Wien im Jahre 1670 trifft es dann den bereits konvertierten Hans Georg Krakau (Februar),31 wegen eines begangenen falsi den Isaak Manisch (Juni)32 sowie den Abraham Jakob von Achau (Dezember; alle drei nach Raab).33 Im August 1674 heißt das Urteil für zwei zollflüchtige 26

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Nach dem Bericht des Johann von Goeß und Johann Philipp Beris seien Juden und Christen unter Stockschlägen zum Bau einer Brücke über die Save angehalten worden. Temesvar, 1663 März 1. HHStA. Turcica. Kt. 135/Konv. 2. Fol. 32v-33r. Aus den Beständen des Hofkriegsrates ist mir nur ein Fall aus Groß-Glogau (Schlesien) bekannt, in dem zur anhaltung der Judenschafft zu erbawung gewißer baraquen aufgefordert wird, wobei freilich auch die Aufbringung der entsprechenden Geldmittel gemeint sein kann. KA. HKR. PB 314. Fol. 177r (1656 April 15). 1595 traf Dominik Bosketi wegen Totschlags an einem Prager Juden das Urteil eines zehnjährigen unbesoldeten Kriegsdienstes in Kanischa. Prag, 1595 April 17, HKA. Gedenkbücher (GB) 407. Fol. 89r-v. 1618 wurden die beiden jungen Edelleute Istvän Wessey und Andräs Horväth, die Juden in Kobersdorf überfallen und ausgeraubt hatten und dafür von Obergespan Paul Nädasdy zum Tode verurteilt worden waren, von König Matthias zu zwei Jahren Kriegsdienst an der Grenze begnadigt. MOL. A 57, Bd. 6. Fol. 727-728 (Wien, 1618 Dezember 11). Schon 1635 forderte Leonhard von Harrach, den Hofjuden Gerstl Ascher solange zur Arbeit im Stadtgraben anzuhalten, bis er seine Schulden bezahlt habe. KA. HKR. PB 273. Fol. 463r (1635 Oktober 22). Drei Jahre darauf wurde der jüdische Diener Mändl dann tatsächlich in den Stadtgraben verurteilt. KA. HKR. PB 279. Fol. 132r (1638 März). KA. HKR. PB 325. 1662. Fol. 189r (1662 Mai 19). Vgl. dazu auch: KA. HKR. PB 326. Fol. 109r-v (1662 Mai 27). KA. HKR. PB 329. 1665. Fol. 581v (1665 Dezember). KA. HKR. PB 337. Fol. 72r (1670 Februar 11); KA. HKR.PB 338. Fol. 34r (1670 Februar 14). Waren es im Februar noch fünf, so war im Juli nur mehr von drei Jahren die Rede. KA. HKR. PB 337. Fol. 374v (1670 Juli 11); KA. HKR. PB 337. Fol. 405r (1670 Juli 4). KA. HKR. PB 337. Fol. 332r (1670 Juni); KA. HKR. PB 338. Fol. 215r (1670 Juni 14); KA. HKR. PB 338. Fol. 218v (1670 Juni 18). Auch er war ursprünglich zu fünf Jahren in Eisen verurteilt worden, kam allerdings bereits im Februar 1671 wieder frei. KA. HKR. PB 339. Fol. 73r (1671 Februar); KA. HKR. PB 340. Fol. 43v (1671 Februar 4). KA. HKR. PB 337. Fol. 685r (1670 Dezember). Grund ffir seine Verurteilung war, daß er

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Juden aus Prag ebenfalls: schantzarbeith [...] zu Raab,34 Daß die Strafe von Schanzarbeiten unter der Sonne Pannoniens schon allein physisch extrem belastend gewesen sein mußte, läßt sich unschwer ermessen; für die jüdischen Häftlinge kam noch die psychische Belastung hinzu, fern der gewohnten sozialen und kulturellen Strukturen unter mehrheitlich christlichen Gefangenen leben und überleben zu müssen.

2.3 Schuldsachen mit Angehörigen der Armee Hauptberührungspunkt von Juden zu Belangen der Armee, wie sie sich in den Protokollen des Hofkriegsrates darstellen, war aber das weite Feld der Schuldsachen. Die entsprechenden Fälle von Juden, die beim Hofkriegsrat um Begleichung ihrer Außenstände bei der Soldateska einkamen, gehen im Zeitraum des 16. und 17. Jahrhunderts in die Dutzende, wobei freilich nur wenige Fälle überhaupt an die oberste Instanz der Militärgerichtsbarkeit gelangten und somit aktenkundig wurden. Im Extremfall, wie etwa im Rechtsstreit des Isaak Hess von Jungbunzlau (Mladä Boleslav) gegen Apolonia Ziegelmayr (5. März 1644 bis 17. November 1646),35 konnten sich solche Schuldprozesse über mehrere Jahre hinziehen, wobei von beiden Seiten eine wahre Flut an Suppliken eingebracht wurde. In der Regel endeten sie jedoch, sofern freilich die Ansprüche des Gläubigers berechtigt waren, schon nach wenigen Wochen bzw. Monaten mit der Verurteilung des Schuldners, die bei dessen Zahlungsunfähigkeit die Pfändung seines Solds zur Folge hatte. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf gelegentliche Fälle, in denen umgekehrt Militärpersonen als Gläubiger gegen zahlungssäumige Juden vor dem Hofkriegsrat einkamen. 36 Da der Hofkriegsrat auch für militärische Baufragen zuständig war, gelangten gelegentlich sogar inneijüdische Konflikte vor die oberste Militärbehörde. 37 Trotz der Tatsache, daß der Hofkriegsrat im Jahre 1556 explizit zur Koordinierung des Kampfes gegen die Türken geschaffen worden war 38 und auch die gesamte Frühe Neuzeit hindurch in überwältigendem Ausmaß mit ,Turcica' beschäftigt war, entfällt das Gros der genannten Schuldsachen aber auf andere Re-

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dem Weikhard Achilles von Pollheim 50 fl. schuldig geblieben war. ΚΑ. Η KR. PB 338. Fol. 563r,v (1670 Dezember 29). KA. HKR. PB 345. Fol. 453r (1674 August 9); ΚΑ. Η KR. PB 345. Fol. 475v (1674 August); KA. HKR. PB 346. Fol. 435r (1674 August 9). KA. HKR. PB 290-295, passim. Vgl. Anm. 28. Im Jahr 1625 dekretiert der Hofkriegsrat an die Judenrichter von Wien, nachdem es zwischen Abraham Ries und Abraham Marburg offenbar zu einem Konflikt um ein Haus gekommen war. KA. HKR. PB 254. Fol. 271 ν (1625 August 11). Die Österreichische Zentralverwaltung. 1. Abteilung: Von Maximilian I. bis zur Vereinigung der Österreichischen und Böhmischen Hofkanzlei (1749). 1. Bd.: Geschichtliche Übersicht. Hg. von Thomas Fellner, Heinrich Kretschmayr. Wien 1907 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs. Bd. 5). S. 240.

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gionen der Habsburgermonarchie - allen voran die Böhmischen Länder und Wien (mit Niederösterreich). Abgesehen von einigen Gläubigern, die aus dem osmanischen Herrschaftsgebiet stammten,39 fehlen jüdische Geldgeber aus Ungarn völlig. Dieser überraschende Umstand geht Hand in Hand mit der nicht weniger bemerkenswerten Tatsache, daß trotz der gewaltigen logistischen Probleme, die die Türkenkriege aufwarfen, Juden auch als Armee- bzw. Waffenlieferanten verhältnismäßig selten nachzuweisen sind (siehe dazu auch unten Kap. 3.2.2). Der Hauptgrund für dieses Phänomen dürfte in der allgemein schwachen ökonomischen Lage der in Ungarn angesiedelten Juden zu sehen sein. Erst mit dem Auftreten Samuel Oppenheimers gegen Ende der Epoche sollte sich dies schlagartig ändern. Der , Große Türkenkrieg' (1683-1697) brachte eine „rapid extension of the central European Jewish financial and communal network right across Hungary,"40 durch die auch in Ungarn ein finanzieller Berührungspunkt zwischen Armee und einzelnen ihrer Angehörigen auf der einen und den Juden auf der anderen Seite entstehen konnte. Gleichsam im Windschatten von ,Magnaten' wie Samuel Oppenheimer, Simon Michael oder Lazarus Hirschel werden nun auch finanziell weniger potente Juden in Ungarn als Kreditgeber für die Armee und ihre Angehörigen historisch greifbar: Jakob Simon von Schoßberg (Sastin, Sasvär),41 Moses Simon von Preßburg42 oder Veit Hirschl und Jakob Natl aus der Ofener Wasserstadt (heute der Budapester Stadtteil Viziväros)43 seien hier nur als Beispiel für viele andere genannt.

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Zu erwähnen wären hier die unten noch zu behandelnden Abraham Levi von Ofen (Anm. 69) und Jakob/Israel von Ofen (Anm. 78), sowie ein gewisser Abraham Mayr ebenfalls von Ofen, der in den Jahren 1646/47 als Händler zwischen Wien und Ofen auftrat und in Zusammenhang damit auch Forderungen gegen Schuldner einbrachte. KA. HKR. PB 294. Fol. 54v (1646 Februar 10, gegen einen gewissen Haimbrunner); KA. HKR. PB 296. Fol. 479v480r (1647 Februar 12, gegen Oberstleutnant Lorenz Ottersbach) Jonathan Irvine Israel: European Jewry in the Age of Mercantilism, 1550-1750. Oxford 1985. S. 125. Klage gegen Rittmeister Groner wegen Bezahlung eines türkischen Messers [!]. KA. HKR. PB 390, 1692. Fol. 8r (1692 Januar 30). Vermutlich ist er identisch mit jenem Jakob Simon, der schon für 1667 in Wien belegt ist, als er gemeinsam mit Samuel Mayr um einen Paß in die Türkei ansuchte, um bei freundten seine Schwester zu verheiraten. KA. HKR. PB 332, 1667. Fol. 252r (1667 Mai). Weiter mit jenem Jakob Simon von Nikolsburg, der 1690/91 in Sachen Belgradhandel in Kontakt mit dem Hofkriegsrat stand. KA. HKR. PB 384. Fol. 578r (1690 Dezember 2); KA. HKR. PB 386/2, 1691. Fol. 70v (1691 Mai 29). Zum Belgradhandelsprivileg Jakob Simons vgl. auch MHJ 18. Nr. 111. S. 81. Klagen gegen Hauptmann Stephan Waters. KA. HKR. PB 405. Fol. 375r (1699 Juli); KA. HKR. PB 405. Fol. 433r (Wien, 1699 September 1); KA. HKR. PB 406. Fol. 520r-v (Wien, 1699 Oktober 2). Klage gegen Rittmeister Bernardin Vernier. KA. HKR. PB 390, 1692. Fol. 26r (1692 März 7). Klage gegen Baron von Frankenberg. KA. HKR. PB 403. Fol. 766v (Wien, 1698 Dezember 16); KA. HKR. PB 405. Fol. 353v (1699 Juni 23).

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2.4 Juden in der kämpfenden Truppe? Entgegen älteren Auffassungen stand der Besitz von Waffen Juden in der Frühen Neuzeit durchaus offen und war auch in Europa verbreitet. 44 Nicht zuletzt gilt dies für Ungarn, wo allein schon die Unsicherheit der Wege ein bewaffnetes oder zumindest eskortiertes Reisen unerläßlich machte. Die Selbstverständlichkeit, mit der etwa in einer Ödenburger Quelle über die Bewaffnung eines am Stadttor aufgegriffenen Juden hinweggesehen wurde 45 oder der Fall des in Wien verhafteten, in Konstantinopel ansässigen ,deutschen' Juden namens Simon, der eine spada et altre arme bei sich hatte, 46 spricht zusammen mit dem Umstand, daß Juden im Kriegsgebiet auch Handel mit Waffen betrieben (siehe dazu unten Kap. 3.2.2), für eine weite Verbreitung von Waffen auch unter den Juden Ungarns. Freilich können aus dem bloßen Umstand der Bewaffnung noch keine direkten Schlüsse auf militärische Karrieren von Juden gezogen werden. Diese waren schließlich nicht nur von der eigenen Wehrfähigkeit, sondern vor allem auch von der Akzeptanz durch die christliche Soldateska bestimmt. So konnten - anders als etwa in Polen, w o jüdische Soldaten in den Kriegen des 17. Jahrhunderts mehrfach belegt sind, 47 im Deutschland des Dreißigjährigen Krieges 4 8 oder vereinzelt auch in der Habsburgermonarchie 49 - auf dem ungarischen Kriegsschauplatz 44

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Vgl. dazu Christine Magin: „Waffenrecht" und „Waffenverbot" für Juden im Mittelalter. In: Aschkenas 13/1. 2003. S. 17-33; Markus J. Wenninger: Von jüdischen Rittern und anderen waffentragenden Juden im mittelalterlichen Deutschland. In: Aschkenas 13/1. 2003. S. 3582; Stefan Litt: Juden und Waffen im 16. und 17. Jahrhundert - Anmerkungen zu einem Alltagsphänomen. In: Aschkenas 13/1. 2003. S. 83-92; J. Friedrich Battenberg: „... gleich anderen dero Diener einen Degen zu tragen ...". Reflexionen zum sozialen Rang der Hofjudenschaft in vormoderner Zeit. In: Aschkenas 13/1. 2003. S. 93-106. Einem jüdischen Untertanen des Paul Esterhäzy war beim widerrechtlichen Betreten der Stadt Ödenburg im Juli 1676 das Gewehr (puska) abgenommen worden. MHJ 10. Nr. 292. S. 252. Schreiben Sultan Selims II., o. O., 1574 November 6-15 (A.H. 982 Recep Letzter), HHStA. Turcica. Kt. 30/Konv. 5. Fol. 8a r-8b v. Auch in: Ernst Dieter Petritsch: Regesten der osmanischen Dokumente im Österreichischen Staatsarchiv. Bd. 1 (1480-1574). Wien 1991 (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Erg.-Bd. 10/1). Nr. 762. S. 253. In einem Schreiben des Orators David Ungnad aus Konstantinopel (1575 November 30) wird er als landtleuffer bezeichnet, auf die künftig gutte achtung zu verordnen sei, worin vermutlich der Grund seiner Verhaftung zu sehen ist. HHStA. Turcica. Kt. 32/Konv. 1. Fol. 133v-134r, 138v. Vgl. Dieter Fettke: Juden und Nichtjuden im 16. und 17. Jahrhundert in Polen. Soziale und ökonomische Beziehungen in Responsen polnischer Rabbiner. Frankfurt am Main, Bern 1986. S. 154-158. S. Litt (Anm. 44) S. 90f. Im Jahre 1643 hören wir von einem Nathan Jud von Horn, der beim Hofkriegsrat in ansehung seiner 10 iehrigen geieisten kriegsdiensts umb ertheilung eines protectorij einkommt. Worin seine Kriegsdienste konkret bestanden hatten, verschweigt uns die protokollarische Notiz freilich. KA. HKR. PB 288. Fol. 54 lr (1643 Juli). Ebenso unklar ist, wie ernst die Verhandlungen mit der Judenschaft von Prag um Stellung eines Judencontingent zu nehmen sind, die sich von 1689 bis 1696 hinzogen. Da sich die Anzahl der von den Juden zu stel-

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bisher keine eindeutigen Hinweise für Juden in den Reihen der Armee gefunden werden - sieht man von dem Marketender Salomon ab, der im Kriegsjahr 1686 mit seinem Regiment gegen die Privilegien der Stadt in Tyrnau (Trnava, Nagyszombat) eingezogen war.50 Um so bemerkenswerter erscheint der Schritt, den ein gewisser Michael Markovics, Holjude in der Moldau, nach dem Sieg der habsburgischen Truppen in den Jahren nach 1686 zu setzen suchte. Durch den Untergang des Fürstentums Siebenbürgen gleichsam entwurzelt, kam er noch im Dezember 1690 beim Hofkriegsrat um Außenstände in der Höhe von 3.000 fl. ein. Da er sein Geld wohl kaum wiedergesehen haben wird, suchte der nunmehr gewest[te] Hoffjudt in Moldau kurz darauf um amployerung zu khriegsdiensten an. Ob er tatsächlich in die oberangarischen Truppen aufgenommen wurde, wissen wir nicht. Jedenfalls wirft der Fall ein interessantes Licht auf die Breite des Spektrums von tatsächlichen bzw. vermeintlichen Optionen, die sich für Juden in Ausnahmesituationen bieten konnten.51

3. Jüdische Händler im osmanisch-habsburgischen Grenzraum Auch wenn sich die Siedlungsverhältnisse im unmittelbaren Grenzbereich für Juden alles andere als günstig gestalteten, ist die Stellung jüdischer Kaufleute im Balkanhandel keineswegs als marginal anzusehen: in den Jahren zwischen 1571 und 1580 betrafen etwa am Ofner Zollamt 3,4 bis 7,1 Prozent aller Verzollungsfälle jüdische Händler, von den Zollbeträgen her waren sie mit 7,7 bis 19 Prozent sogar noch stärker vertreten.52 Im späten 16. und im 17. Jahrhundert machten sich im Osmanischen Reich freilich bereits wirtschaftliche Strukturschwächen bemerkbar, die die Juden besonders hart trafen. Die osmanischen Märkte wurden zusehends von westlichen Händlern erobert, gleichzeitig drängte eine sich konsolidierende osmanisch-muslimische Oberschicht die Juden auch aus einflußreichen Staatspositionen.53 Die Juden Südosteuropas (ab oppido Waacz usq\ue] ad oppi-

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lenden Landrekruten von ursprünglich 110 Mann beständig senkte (zunächst auf 89, dann 29 Mann), um schließlich gegen eine Abschlagszahlung ganz aufgehoben zu werden, liegt die Vermutung nahe, daß es der Hofkriegsrat von Anfang an eher auf die Finanzkraft als auf die Wehrfähigkeit der Prager Juden abgesehen hatte. KA. HKR. PB 379-Nr. 398. passim. MHJ 2. Nr. 155. S. 143; MHJ 2. Nr. 159. S. 145-147; KA. HKR. PB 372. Fol. 252r (1686 Juni). Zu Michael Markovics siehe: KA. HKR. PB 384. Fol. 603v (1690 Dezember 17); KA. HKR. PB 385. Fol. 65v (1691 Januar); KA. HKR. PB 385. Fol. 92v (1691 Februar). Ludwig Fekete: Ofener Kaufleute zur Zeit der Türkenherrschaft. In: Die Welt des Islam. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Islamkunde. Sonderbd. 1941. S. 98-108, hier S. 105f. Daniel Goffman: Jews in Early Modern Ottoman Commerce. In: Jews, Turks, Ottomans. A Shared History, Fifteenth through the Twentieth Century. Hg. von Avigdor Levy. Syracuse, New York 2002. S. 15-34, hier S. 15f.

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dum Album Nandor - ,νοη Waitzen bis Belgrad') dürften die lahmende Konjunktur schon früher gespürt haben, als sie 1582 dem Kaiser vorschlugen, die Handelsrouten, die über Venedig führten, ausschließlich auf den Balkan zu verlegen. 54 Abgesehen von der Undurchfuhrbarkeit derart weitgehender wirtschaftspolitischer Maßnahmen, war Venedig längst nicht mehr der Hauptkonkurrent: Das , Goldene Zeitalter' der Juden im Osmanischen Reich ging seinem Ende entgegen. Auf der anderen Seite spielten im 17. Jahrhundert aber - parallel zum Erstarken der jüdischen Gemeinde von Wien - die Wiener Juden eine immer größer werdende Rolle als Ausgangs- und Zielpunkt der Handelswege. Besonders in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg scheint der Reiseverkehr von Wien ins Osmanische Reich in Schwung gekommen zu sein. Die Reisen erfolgten nicht nur in ökonomischen Angelegenheiten: 1611 wissen wir von einem Wiener Juden, ein befreünder der Gertraud Münk aus Wien, der als Goldschmiedelehrling nach Konstantinopel gereist war. 55 1 654 langten beim Hofkriegsrat die ersten Paßgesuche ausreisewilliger Juden nach Jerusalem ein, gegen Ende der 1650er Jahre sowie zwischen 1666 und 1670 erreichte dieser Trend seine Spitzen. 56 Die Beschreibung des Reisewesens und der Handelsbeziehungen wirft eine Reihe von Fragen auf, die sich durch die uns zur Verfügung stehenden Quellen nur schwer beantworten lassen. Wir stoßen dabei auf das methodische Problem, daß das Gros der Quellen eben nicht den normalen Ablauf der alltäglichen Handelsgeschäfte dokumentiert, sondern im Gegenteil dazu tendiert, die von der Norm abweichenden Fälle hervorzuheben. So verfügen wir über zahlreiche Nachrichten von Verschleppungen, Beraubungen und Ermordungen jüdischer Händler, die sich in den Quellen als Suppliken, Gravamina etc. niederschlagen, während die weitaus alltäglichere, reibungslose' Abwicklung des Handels nur ausnahmsweise Niederschlag in den Quellen findet. Selbst die gelegentlich auftauchenden Paßbriefe (oder auch nur Ansuchen um solche) lassen nicht auf den wahren Umfang des Handels schließen: Einerseits hat ein ausgestellter Paßbrief nur bedingte Aussagekraft über die tatsächliche Abwicklung eines Geschäfts, weiters ist an der Türkengrenze mit einem Überhang von illegalen Grenzübertritten (Konterbande) zu rechnen, und schließlich deutet das Auftauchen eines Originalpaßbriefes in einer Behördenregistratur eben erst recht darauf hin, daß die Waren ihren Bestimmungsort wohl nicht erreicht haben werden. Was die Reisemodalitäten betrifft, so wissen wir, daß jüdische Händler im Grenzbereich, um die Gefahr von Räubern zu minimieren, meist im Konvoi un-

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Stephan Nyäry von Bedegh an Kaiser Rudolf II. (Anm. 17). Michael Starzer an den Hofkriegsrat, Konstantinopel, 1611 September 19. HHStA. Turcica. Kt. 93/Konv. 3. Fol. 61v-62r, 63r-v. KA. HKR. PB 307-Nr. 341. passim. Freilich muß gesagt werden, daß die gesteigerte bürokratische Durchdringung der Grenzverwaltung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sowie die daraus resultierende Verdichtung des überlieferten Quellenmaterials nicht unbeträchtlichen Anteil an diesem Bild trägt.

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terwegs waren, wie das auch in anderen Regionen durchaus üblich war.57 Zumeist schlossen sich die jüdischen Händler dabei Gruppen von christlichen oder auch türkischen Kaufleuten oder Gesandtschaften an. Ein gutes Beispiel dafür sind die tatarischen Gesandtschaften, die im 17. Jahrhundert mehrmals Wien erreichten, deren Zweck aber in erster Linie das Einkaufen war. Juden sind dabei mehrfach erwähnt.58 Ob es bei solchen Zweckpartnerschaften auch zu Kontakten gekommen ist, die über die bloße Notwendigkeit des Schutzes hinausgehen, und wie sich diese Gruppen zusammensetzten, wissen wir nicht. Jedenfalls mußten die osmanischen Gesandten um ihrer jüdischen Reisegefährten willen so manchen Spott von Seiten der ungarischen Soldateska hinnehmen.59 Auch die Unterbringung unterwegs scheint einige Schwierigkeiten aufgeworfen zu haben. Im Fall des Lebl Höschl wissen wir, daß der kaiserliche Spion und sein Gehilfe 1681 in der Grenzfestung Totis (Tata) untergebracht waren, doch ist gerade dieser Fall nicht ein Beispiel guter Gastfreundschaft. In Komorn, damals wie heute ein wichtiger Donauhafen,60 verfügte Lebl über ein eigenes Warenlager und vielleicht war es komfortabel genug, eine kleinere Reisegruppe auf der Durchreise zu beherbergen.

3.1.1 Ausgeraubt, entführt, niedergehauen - Übergriffe der Soldateska auf jüdische Händler im Grenzraum Sehr viel anschaulicher werden die Quellen, wenn es sich um Entführung und Lösegeldforderungen, Raub, Mord und Totschlag handelt. Besonders in Kriegszeiten häuften sich die Fälle von Entführungen von Juden, die nach dem Muster von Kriegsgefangenen ,ranzioniert', das heißt mit einer Lösegeldsumme festgesetzt wurden, die sie zu ihrer Freilassung aufzubringen hatten.61 Überaus viele 57

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Im Jahre 1633 wurden etwa Juden aus Eisenstadt, die in Mähren Tuche einkauften, von Musketieren Nikolaus Esterhäzys eskortiert, wobei es beinahe zu einer Auseinandersetzung mit niederösterreichischen Überreitern (Dienstleute des für die Kontrolle des Handels zuständigen Hansgrafen) gekommen wäre. HKA. HF Ungarn, rote Nr. 147. Konv. Februar. Fol. 5r-23r. Laut einem Bericht des kaiserlichen Dolmetschers Giorgio Rudolfo Aleppino (Adrianopel, 1673 Januar 26) hatte sich 1670 im Anhang einer tatarischen Botschaft ein verkleideter Jude sogar nach Schweden begeben, um Kontakte zum Osmanischen Reich anzubahnen. HHStA. Turcica. Kt. 144/Konv. 3. Fol. 86v-88r. Per Verordnung vom 11. August 1659 durften die Gesandtschaften deshalb nicht mehr von ungarischen Husaren begleitet werden. Sandor Takäts: A kalauzok es a kemek a török vilagban [Die Führer und Spione in der türkischen Welt]. In: Rajzok a török vilägböl. Bd. 2. Budapest 1915. S. 133-212, hier S. 205. Schon 1583 hatte ein gewisser Josias von Waitzen um Genehmigung zur Errichtung einer Niederlage in der Stadt angesucht. KA. HKR. PB 174. Fol. 250v (1583 September 12). Zum Thema Ranzionierung siehe: G. Pälffy: A rabkereskedelem es rabtartas gyakorlata es szokäsai a XVI-XVII. szäzadi török-magyar hatär menten (Az oszmän-magyar vegväri szokäsjog törtenetehez) [Praxis und Gebräuche des Sklavenhandels und Sklavenhaltung im türkisch-ungarischen Grenzgebiet des 16. und 17. Jahrhunderts (Zur Geschichte des osma-

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dieser Fälle sind uns aus den 1560er Jahren, der letzten Phase des Kriegs unter Süleyman dem Prächtigen (1520-1566), überliefert. Für die jüdischen Gemeinden stellten diese erpresserischen Entführungen eine ganz besondere Herausforderung dar, da Solidarität mit in Not geratenen Glaubensgenossen verpflichtend war; 62 selbst aus dem benachbarten Polen sind rabbinische Rechtsgutachten (Responsen) überliefert, die sich mit der Frage des Freikaufs von Personen, die auf osmanisches Gebiet verschleppt wurden, beschäftigen. 63 Von besonderem Interesse werden in den Fällen, die ich im folgenden kurz skizzieren möchte, die Strategien sein, die von den Betroffenen zu ihrer Befreiung angewandt wurden. Um das Jahr 1560/61 verschwand der Ofener Kaufmann Salomon Socorro in der Nähe von Paks, einem Dorf an der Donau. Sein Vater Samuel stellte Nachforschungen an, wobei sich herausstellte, daß sich sein Sohn angeblich in Gefangenschaft eines gewissen Stefan Sotth (auch: Zoltay) in der Festung Erlau (Eger) befand. Im November 1563 versprach er über die diplomatische Vertretung in Konstantinopel, für die Freilassung zweier Christen einzutreten, sollte sein Sohn freigelassen werden, und im Mai des folgenden Jahres bemühten sich auch die beiden Gefangenen selbst um den Juden, der sich nun angeblich in Szendrö befand. Doch der wiederaufkeimende Krieg machte diese Pläne zunichte. Erst weitere vier Jahre später - inzwischen war offiziell Frieden geschlossen und somit der Weg für Gefangenenaustausch geebnet worden - hören wir von einer neuen Initiative zur Befreiung Socorros. Joseph Nasi (auch Juan Miques, ca. 15241579),64 der inzwischen mächtig gewordene Friedensunterhändler, bot einige gefangene deutsche Soldaten zum Austausch fair Socorro an. Der kaiserliche Orator Albert de Wys empfahl die Freilassung des Juden mit dem Hinweis, man solle sich Nasi bei guter Laune halten, denn dieser sei ein vir urbanus et aulicus, principe Turchar[um] valde charus, apud quem m[aiesta]/zs v[estrae] negocia in occulto progressu temporis non parum promovere poterit (1568 Mai 11, Konstantinopel). Es folgten fieberhafte Nachforschungen nach dem Verbleib Socorros. Schließlich fiel der Verdacht auf Christoph Kerecsenyi, den Sohn des ehemaligen Kommandanten von Gyula, Ladislaus Kerecsenyi, und derzeitigen Pfandinhaber der südmährischen Herrschaft Nikolsburg (Mikulov). Die schnippische Antwort des ungarischen Adeligen, der ja selbst Grundherr einer großen Judengemeinde

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nisch-ungarischen Gewohnheitsrechts der Grenzfestungen)]. In: Fons 4/1. 1997. S. 5-78; Sergij Vilfan: Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Türkenkriege aus der Sicht der Ranzionierung, der Steuern und der Preisbewegung. In: Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Türkenkriege. Hg. von Othmar Pickl. Graz 1971 (Grazer Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte). S. 177-199. „Thousands of Jewish captives were ransomed in Hungary and Moravia, the money being channelled from all sides via Prague, Vienna, Livorno, and Venice." J. I. Israel (Anm. 40) S. 206. Die Hauptlast der Freikäufe auf dem Balkan trugen aber die Juden von Konstantinopel. S. J. Shaw (Anm. 12) S. 73f. D. Fettke (Anm. 47) S. 207f. EJ 12. Jerusalem 1971. Sp. 837-839.

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war, ist bezeichnend: Zwar habe er einen gefangenen Juden namens Salomon bei sich, der zur fraglichen Zeit aus Ungarn entführt worden war, nur nenne sich dieser Altabech und stamme aus Nikopolis (Nikopol), könne also unmöglich mit dem gesuchten Socorro identisch sein. Seltsam genug, aber die Behörden gaben sich mit dieser Antwort zufrieden. Im Juni 1569 schließlich bat Joseph Nasi erneut um Socorro, der sich nun angeblich in Gefangenschaft eines gewissen Johannes Fanci in Onod befand. Darauf verlieren sich die Spuren des Salomon Socorro; ob er frei kam, wissen wir nicht.65 Ähnliche diplomatische Wellen schlug die Entführung des reichen Ofner Kaufmannes Moses. Dieser ungleich besser dokumentierte, auch in der Literatur behandelte Fall ist besonders durch die planmäßige Vorgehensweise der Entführer interessant: Demzufolge einigten sich Baron Simon Forgacs, einer der meist gefürchteten Grenzhauptleute seiner Zeit, und Gregor Szücs, ein Einwohner der im osmanischen Landesteil gelegenen Stadt Räckeve, am 11. Juli 1567 - also bereits nach dem Friedensschluß zwischen Wien und der Hohen Pforte - vertraglich über die Aufteilung der Ranzion für den Juden Moses, den Szücs darauf aus Räckeve entführte und zu Forgacs brachte. Es folgte eine Flut von Protesten türkischerseits und Nachforschungen nach dem Verbleib Moses von Seiten des Kaiserhofes, die durch den Umstand erschwert wurden, daß Forgacs, als auch das Abstreiten nichts mehr nützte, den Juden kurzerhand außer Landes nach Siebenbürgen verschaffte, wie Moses selbst in einem sehr persönlichen Schreiben an den Hof in Wien berichtet. Parallel zu den Gravamina der Wesire (Beglerbegs) von Ofen wurde die dortige jüdische Gemeinde aktiv: Im Februar 1569 meldete der Gesandte Georg Hosszuthoty, es bestünde Gefahr, daß die Ofner Juden die Sache vor den Sultan brächten, wenn nicht bald die Freilassung Moses' erwirkt werde. Obwohl die Begleitumstände etwas unklar erscheinen, kam Moses noch 1569 unzweifelhaft gegen eine Summe von 9.000 fl. Lösegeld frei.66 Was bislang aller65

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Zu dem Fall findet sich eine reiche Dokumentation in den .Turcica': Orator Albert de Wys an Ferdinand I., Konstantinopel, 1563 November 13. HHStA. Turcica. Kt. 17/Konv. 5. Fol. lOOr; Albert de Wys an Maximilian II., Konstantinopel, 1568 Mai 11. HHStA. Turcica. Kt. 24/Konv. 2. Fol. 39v-40v; Christoph Kerecsenyi an Maximilian II., Nikolsburg, 1568 Juni 24. HHStA. Turcica. Kt. 24/Konv. 3. Fol. 197r-v; Maximilian II. an Albert de Wys, Wien, 1568 Juli 6. HHStA. Turcica. Kt. 24/Konv. 4. Fol. 6r-v. Undatiertes Regest des Hofkriegsrates, HHStA. Turcica. Kt. 25/Konv. 1. Fol. 137r; Albert de Wys an Maximilian II., Konstantinopel, 1569 Juni 4. HHStA. Turcica. Kt. 25/Konv. 3. Fol. 26r. Vgl. dazu weiters: KA. Η KR. PB 143. Fol. 46r (1564 April) und fol. 56v (1564 Mai); KA. HKR. PB 144. Fol. 33v (1564 Mai). Vgl. S. Takäts: Α török es a magyar raboskodäs [Das türkische und ungarische Gefangenenwesen]. In: Rajzok a török vilägbol. Bd. 1. Budapest 1915. S. 160-303, hier S. 229; S. Takäts: Α török hödoltsäg koräbol [Aus der Zeit der türkischen Huldigung]. Budapest 1918 (Rajzok a török vilägbol. Bd. 4). S. 310; S. Takäts: A regi Magyarorszäg jökedve [Vergnügtheit des alten Ungarn], Budapest 1921. S. 206-212, auch in: MHJ 18. Nr. 78. S. 62-65. R. Patai (Anm. 4) S. 168-170. Publizierte Quellen zu Moses von Ofen: MHJ 2. Nr. 35-37. S. 17-19; MHJ 2. Nr. 43. S. 24f.; Nr. 46-47. S. 27-30; Nr. 49-50. S. 31f; MHJ 5/1. Nr. 410. S. 200. E. D. Petritsch (Anm. 46) Nr. 545. S. 185-186; Nr. 563. S. 192; Nr. 587-598. S. 199f.;

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dings wenig Beachtung fand: Im Jahre 1582 hören wir erneut von einem Juden, der abermals von einem Bürger aus Räckeve entfuhrt worden war. Hatten Forgäcs und Szücs ihren Coups wiederholt? War wieder Moses von Ofen das Opfer, das sich nun in Gewahrsam von General Hans Rueber befand? Jedenfalls reagierte die jüdische Gemeinde von Ofen diesmal bereits äußerst gereizt, und es werden auch erstmals Bruchlinien innerhalb der Gemeinde bezüglich der Gangart erkennbar: Während eine Fraktion die Hinrichtung von 60 Bürgen des Entfuhrers empfahl, setzten die anderen auf Geiselaustausch gegen 200 (!) christliche Gefangene zu je 40 bis 50 Taler, was für eine sehr hochstehende jüdische Person spricht. 67 Im selben Schreiben ist übrigens von drei anderen Juden die Rede, die in die Grenzfestung Palota verschleppt wurden, wo sie auf ihre Freikaufung warteten. Ein ähnliches Schicksal ereilte Abraham Levi von Ofen. Seit etwa 1577 ist seine Handelstätigkeit auf habsburgischem Territorium durch diverse Schuldangelegenheiten im Raum Komorn (Komärno, Komärom) und vermutlich auch Tyrnau belegbar. 1582 suchte er mehrmals um Handelskonzessionen nach Tyrnau und Preßburg an, im September des Jahres oder kurz danach dürfte er entführt und mit 620 Taler ranzioniert worden sein. Es gelang ihm, sich mit Hilfe eines Bürgen recht schnell der Gefangenschaft zu entziehen und es wurde ihm gestattet, sich nach Hause zu begeben, um die Ranzionssumme selbst aufzustellen - eine Praxis, die dem Grenzbrauch entsprach und von beiden Seiten akzeptiert wurde (und im Fall der Nichteinhaltung des Versprechens auch mit Auslieferung des Flüchtigen geahndet werden konnte). 68 Genau das dürfte Abraham Levi zugestoßen sein: Im Dezember war er noch nicht nach Komorn zurückgekehrt, im Juli des folgenden Jahres finden wir ihn bereits als jüdischen Gefangenen namens Abraham' des Andreas Kielmann, Oberhauptmanns von Komorn (Kielman Andrasnak [...] Abraham neuw sido rabia). Offenbar hatte er Holzschwellen (talpakatt) für die Grenzfestung Gran zu liefern. 69

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Nr. 607. S. 205. Weitere (unedierte) Quellen: Hofkriegsrat an Albert de Wys, Wien, 1568 Juni 19. HHStA. Turcica. Kt. 24/Konv. 3. Fol. 191 v; Türkischer Orator (in Wien?) an den Obersthofmeister (Hans Trautson), 1568 Juni 28. HHStA. Turcica. Kt. 24/Konv. 3. Fol. 217r-218v; Kaiserlicher Gesandter in Ofen Georg Hosszüthoty an den Hofkriegsrat, o. O., ca. 1569 Februar 15. HHStA. Turcica. Kt. 25/Konv. 2. Fol. 85v. Für das Jahr 1562 ist in Ofen übrigens ein Musa Kethüda belegt, der durchaus mit unserem Moses von Ofen identisch sein könnte. MHJ 16. Nr. 9. S. 378. Vgl. Gyula Käldy-Nagy: A budai zsidok negy törökkori összeiräsa [Die vier türkenzeitlichen Konskriptionen der Ofener Juden]. In: MHJ 16. Hg. von Sändor Scheiber. Budapest 1974. S. 7-10. Gesandter Stephan Nyäry von Bedegh an Kaiser Rudolf II. (Anm. 17). Siehe dazu auch. MHJ 2. Nr. 62. S. 41f; MHJ 18. Nr. 81, S. 66f. Patai urteilte über die Umstände von Moses' Freilassung 1569: „From this point the documentary evidence is confusing", kommt aber nicht zu dem Schluß, daß der 1582 entführte Jude mit Moses identisch sein könnte. R. Patai (Anm. 4) S. 169f. Vgl. dazu G. Pälffy (Anm. 61) S. 30-46. Verzeichnis der zu Ranzionsaufstellung ins Osmanische Reich entlassenen Gefangenen zu Komorn, o. O., o. D. (ad 1582 Dezember 1). HHStA. Turcica. Kt. 47/Konv. 2. Fol. 93r, 93v. Verzeichnis von Gefangenen, die ihre Ranzionen schuldig geblieben sind, o. O. (Wien?),

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Ein Fall aus dem Jahre 1562 zeigt eine ganz andere, schmerzlose Möglichkeit, wie eine solche Entführung enden konnte. Von Erlauer Soldaten wurden vom Marktplatz in Foktö an der Donau - also bereits ziemlich tief im osmanischen Hinterland - 18 als Türken bezeichnete Personen verschleppt, unter denen sich auch ein Jude befand. Dieser konnte - anders als Salomon Socorro und Moses von Ofen - die gewaltige Ranzionssumme von 1.000 Talern selbst aufbringen und sich so aus der Gefangenschaft freikaufen. Wir wissen, daß er 1568 wieder als freier Mann in Tolna lebte. Astronomisch hohe Ranzionssummen wie in den genannten Fällen dürften bei jüdischen Gefangenen nicht selten gewesen sein. Auch wenn die diesbezügliche Quellenlage sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr zu wünschen übrig läßt, kann man davon ausgehen, daß die Summen bei jüdischen Gefangenen generell erheblich höher lagen, als bei Christen oder Muslimen.70 Ebenso gefahrlich wie auf dem Lande gestalteten sich für jüdische Händler in der Frühen Neuzeit die Handelsrouten zu Wasser. Waren auf dem ungarischen Kriegsschauplatz Husaren und Heiduken zum Sinnbild der staatlichen Ohnmacht gegenüber selbständig aktiven Truppenkörpern geworden, so übernahmen an den Küsten des adriatischen Meeres die sog. Uskoken diese Rolle. Zengg (Senj) wurde zum Zentrum dieses frühneuzeitlichen Piratenwesens, Raub und Ranzionshandel gehörten zu deren vorzüglichsten Finanzierungsquellen.71 Unter den zahlreichen Opfern befanden sich auch Juden, die - zumeist auf italienischen oder türkischen Handelsgaleeren reisend - maßgeblichen Anteil am Mittelmeerhandel hat.

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ten. Einer dieser Schiffsüberfalle, die auch an die kaiserlichen Behörden herangetragen wurden, ereignete sich im Jahre 1553. Trotz mehrmaliger Ermahnung von oberster Stelle, der durch eine Beschwerde von Papst Julius III. (1550-1555) an den habsburgischen Hof sowie einer Abordnung der Stadt Ancona nach Fiume (Rijeka) zusätzlich Nachdruck verliehen wurde, war der Kommandant von Zengg, Hans Lenkowitsch, offenbar nicht gewillt oder in der Lage, die Freilassung der

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1583 Juli 25. HHStA. Turcica. Kt. 49/Konv. 1. Fol. 135r, 135v. Weitere Quellen zu Abraham Levi: HKA. HF. PB 329. Fol. 175r (1577 Mai 18-Juni 3); KA. HKR. PB 164. Fol. 143r (1577 Mai 21); KA. HKR. PB 164. Fol. 150 (1577 Juni 22); KA. HKR. PB 165. Fol. 159r (1577 Juni 22); KA. HKR. PB 165. Fol. 165v (1577 Juli 12); KA. HKR. PB 171. Fol. 278v279r (1582 September 11); KA. HKR. PB 172. Fol. 205r (1582 Februar 8). Die Lösegelder lagen (um 1610) selten unter 400 Taler, bei überdurchschnittlichen' Personen (v. a. Adeligen) konnten sie auch bis zu 1.000 oder 2.000 Taler betragen. S. Vilfan (Anm. 51) S. 191. Vgl. Catherine Wendy Bracewell: The Uscoks of Senji. Piracy, Banditry, and Holy War in the Sixteenth-Century Adratic. Ithaca, London 1992. Aus der umfangreichenden Literatur zu Juden im Mittelmeerhandel: B. Arbel (Anm. 13); The Mediterranean and the Jews. Bd. 1: Banking, Finance and International Trade (XVIXVIII Centuries). Hg. von Ariel Toaff, Simon Schwarzfuchs. Ramat-Gan 1989. Bd. 2: Society, Culture and Economy in Early Modern Times. Hg. von Elliott Horowitz, Moises Orfali. Ramat-Gan 2002.

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türkischen und jüdischen Geiseln, die von Ancona aus das Mittelmeer Richtung Osmanisches Reich überqueren wollten, sowie die Restitution ihrer Güter zu erwirken. 73 Mit dem Kommandanten Lenkowitsch versuchte man freilich, den Bock zum Gärtner zu machen: Er selbst profitierte von den zweifelhaften Usancen und hatte auch persönlich auf offener See gekaperte Juden als Gefangene übernommen und deren Angebot auf Freikaufung ausgeschlagen, da er ain merers von inen zu erlanngen verhofft.14 Ein vergleichbarer Piratenakt ereignete sich im März 1566. Bereits zu Zeiten offiziellen Friedens wurde eine Handelsbrigantine zum Opfer der Uskoken, und wieder war Lenkowitsch involviert. Die Ladung der türkischen und jüdischen Händler wurde auch nach (diesmal rasch) vonstatten gegangener Freilassung der Gefangenen {parte di loro furono appichati a requesitione della signoria di Venetia) nicht restituiert: Noch im Mai 1568 bemühte sich Emanuel Brudus, jüdischer Doktor der Medizin, um seine Waren: durchwegs teure Tuche. 75 Eine sehr viel ausführlichere Warenliste jüdischer Händler hat sich von einem Schiffsraub erhalten, der sich im Januar oder Februar des Jahres 1575 zwischen Zara (Zadar) und Zengg zutrug. Das aus Ancona kommende und vor dem Dorf Pescatori ankernde Handelsschiff ,S. Jacomo' war von 60 Uskoken aus Zengg gemeinsam mit etwa 30 venezianischen Untertanen auf insgesamt sieben Booten überfallen worden. Zwei der 25 dabei ,versklavten' Kaufleute wurden am 24. Mai auf Bürgschaft freigelassen, darunter der jüdische Kaufmann Chaim. Seine Beschwerde in Konstantinopel führte zu schweren diplomatischen Verstimmungen mit Wien, dem auch der venezianische Bailo Antonio Tiepolo, der sich gerade in Friedensverhandlungen mit der Hohen Pforte befand, die Hauptschuld an dem Vorfall gab. Wohl aufgrund dieses hohen diplomatischen Drucks auf den kaiserlichen Orator in Konstantinopel, David Ungnad, kamen die Gefangenen schon im Mai frei oder wurden gegen in Konstantinopel gefangene Christen ausgetauscht. Die Waren waren jedoch auch zu Jahresende noch nicht restituiert: Es handelte sich dabei um eine Ladung kostbarer, vorwiegend italienischer Tuche, wobei der Gesamtwert der Waren im Besitz jüdischer Händler mit 56.000 Dukaten den der muslimischen Händler (knapp über 30.000 Dukaten) bei weitem überstieg.76 73

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Ferdinand I. an Hans Lenkowitsch, Wien, 1553 Oktober 31. HHStA. Turcica. Kt. 10/Konv. 2. Fol. 81r-82r. Kaiser an Papst um Genehmigung zur Ranzionierung von neun Juden durch Hans Lenkowitsch, o. D. (1553 oder 1575?). HHStA. Turcica. Kt. 40/Konv. 3. Fol. 274r-275v, 273r276r. Auch im Jahre 1557 hatte sich Lenkowitsch zwei Juden freikaufen lassen. MHJ 2. Nr. 21. S. 10. Erzherzog Karl an Maximilian II. in Sachen Hans Lenkowitsch, Preßburg, 1566 März 16. HHStA. Turcica. Kt. 21/Konv. 2. Fol. 215r-v; Orator Albert de Wys an Maximilian II. in Sachen Emanuel Brudus, Konstantinopel, 1568 Mai 11. HHStA. Turcica. Kt. 24/Konv. 2. Fol. 39v-40v; Referat an Anton Verancsics, Bischof von Erlau, über die Warenliste des Emanuel Brudus, o. O., o. D. (1568). HHStA. Turcica. Kt. 25/Konv. 1. Fol. 138r. Supplik und Warenliste der geschädigten Juden, o. O., o. D. (1575). HHStA. Turcica. Kt. 32/Konv. 2. Fol. 11 lr-112r.

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Nicht nur auf hoher See hatte man ein Zusammentreffen mit Seeräubern zu fürchten. Im Dezember 1656 hören wir von einem Vorfall von Piraterie an der habsburgisch-osmanischen Donaugrenze, der mit der Ermordung von 35 raizischen und jüdischen Händlern endete. Schenkt man den Beschwerden des Pascha von Ofen, Fasli, seines Stellvertreters Mahmud Aga sowie des Begs von Gran, Omer, Glauben, so war folgendes geschehen: Einige Kaufleute, hauptsächlich Kürschner aus Ofen, die umb ihrer trafikhen willen nach Wien gereist waren, waren von einer Eskorte von Komorn bis zu einem Dorf namens Gurat begleitet worden. Nachdem die Wachmannschaft nach Komorn zurückgekehrt war und sie [die Kaufleute] nun gegen den Kranerischen gränizen naheten, wie die Quelle den Übertritt ins rechtsfreie Niemandsland beschreibt, gerieten sie bei Süttö an der Donau in einen Hinterhalt von etwa 60 Heiduken, die sich auf drei Schiffen in Ufernähe versteckt hatten, um die Kaufleute zu überwältigen und auszurauben. Das Besondere an dem Vorfall war nicht nur das Ausmaß an Opfern, das der ungleiche Kampf gefordert hatte, sondern vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der die geraubten Waren von den Raubmördern weggeschafft und am folgenden Tag in Komorn öffentlich ausgeladen wurden. Offenbar war man auch im Hofkriegsrat ehrlich bestürzt über diesen Zwischenfall: In dreyßig undt mehr jähren [war] nicht erhöhret worden, d[&]z auf d[Qr] Thonau unsicher zue raisen gewesen. Die Täter waren aufgrund ihrer Unverfrorenheit rasch ausfindig gemacht, und entsprechend hart fielen die Strafen aus: Pfählung an der Stelle des Vergehens, damit sie [die Türken] sehen, d[a]z die übelthäter gestraffet undt an seithen e[uer] kaiserlichen] m[ajestät] nichts gestattet werde, w[a]z die gemaine ruhe undt den frieden turbieren khönte.71

3.1.2 Rechtssicherheit im Grenzraum? Spricht man über die Schwierigkeiten, denen sich Händler im Grenzraum ausgesetzt sahen, so darf man auch die Frage der Durchsetzbarkeit rechtlicher Ansprüche auf dem Territorium des benachbarten Staates nicht außer acht lassen. Die Abwicklung bargeldloser Handelsgeschäfte erfordert ein Mindestmaß an Gewährleistung der Einklagbarkeit finanzieller Forderungen auf dem fremden Herrschaftsgebiet. Unter den Voraussetzungen der habsburgisch-osmanischen Grenze

77

Fasli Pascha, Wesir (Beglerbeg) von Ofen, an Adolf von Puchheim, Oberst von Komorn, Ofen, 1656 Dezember 7 (1066 Sefer 17). HHStA. Turcica. Kt. 128/Konv. 2. Fol. 135r-v, 137r-v; Omer, Beg von Gran, an Adolf von Puchheim, Ofen, 1656 Dezember 15/16 ante (1656 Dezember 7?). HHStA. Turcica. Kt. 128/Konv. 2. Fol. 138r-v; Mahmud Aga von Ofen, an Adolf von Puchheim, Ofen, 1656 Dezember 7 (1066 Sefer 17). HHStA. Turcica. Kt. 128/Konv. 2. Fol. 140r-v; Antwort des Hofkriegsrates an Fasli Pascha von Ofen, Wien, 1656 Dezember 21. HHStA. Turcica. Kt. 128/Konv. 1. Fol. 143r; Ferdinand III. an Philipp Graf Mansfeld, Oberst von Raab (Györ), Wien, 1657 Januar 10. MHJ 2. Nr. 124. S. llOf; vgl. weiters KA. HKR. PB 317. Fol. 4v (1657 Januar 10); KA. HKR. PB 317. Fol. 5r (1657 Januar 10); KA. HKR. PB 317. Fol. 22r-v (1657 Januar 23).

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konnte dies aber auf erhebliche Probleme stoßen. Es sind uns zahlreiche Fälle überliefert, die an einer ,grenzübergreifenden Rechtssicherheit' (sofern dieser Terminus für die Frühe Neuzeit zulässig ist) in dieser Region zweifeln lassen. Davon waren natürlich auch jüdische Händler betroffen, die in grenzübergreifende Geschäfte involviert waren. Ihre Fälle dokumentieren nicht nur die Schwierigkeit, Forderungen jenseits der Grenze durchzusetzen, sondern liefern auch einzigartige Informationen über den ,kleinen Grenzhandel'. Ein Rechtsstreit konnte etwa entstehen, wenn sich ein Schuldner auf das Territorium des Nachbarstaates absetzte, wie das im Fall des Jänos Trombitäs aus Nagymaros der Fall war, der dem Ofener Juden Jakob, Sohn des Bereczk, auch Israel genannt, 1.300 Gulden für gelieferte Waren schuldete. Vor Rückzahlung der Schuld flüchtete Trombitäs 1579 nach Tyrnau, w o er sich schon bald als Bürger (civis, ca. 1582) bezeichnet und schließlich zum Hofrichter in Komorn avancierte. Der Streit mit Jakob/Israel entstand daraus, daß Trombitäs und Jakob in dem Schuldbrief eine Hypothek auf das Nagymaroser Haus und den Weingarten des Trombitäs festgelegt hatten, die aber nach osmanischem Recht durch Trombitäs' Flucht dem osmanischen Fiskus verfallen waren. Über mindestens zehn Jahre hinweg (bis 1589) zog sich ein Rechtsstreit, der von zahlreichen Suppliken des Juden, Beschwerden, Drohungen der Wesire von Ofen bei den habsburgischen Hofstellen in Graz und Wien sowie Gegendarstellungen des Trombitäs geprägt war. Ob Trombitäs, der im Januar 1592 wegen Verrats hingerichtet wurde, zum Zeitpunkt seines Todes die Schulden abbezahlt hatte oder ob der Jude Jakob durch sog. ,Exekutionen' ausreichend befriedigt worden war, ist nicht bekannt. 78 78

Schreiben des Jänos Trombitäs, o. O., 1578 Januar 31. HHStA. Turcica. Kt. 46/Konv. 3. Fol. 253r; Supplik des Priesters von Nagymaros an Orator in Konstantinopel, Joachim von Sinzendorf, o. D. (ca. 1580 Januar). HHStA. Turcica. Kt. 42/Konv. 1. Fol. 200r; Jänos Trombitäs an den Hofkriegsrat, o. D. (ca. 1580 Dezember 15). HHStA. Turcica. Kt. 43/Konv. 1. Fol. 189r; Ali Pascha, Wesir von Ofen, an Erzherzog Ernst, Ofen, 1581 Juli 4. HHStA. Turcica. Kt. 44/Konv. 3. Fol. 75r (ediert in: MHJ 2. Nr. 59. S. 40f); Ali Pascha an Erzherzog Ernst, Ofen, 1581 August 19. HHStA. Turcica. Kt. 44/Konv. 4. Fol. 72r-v (ediert in: MHJ 2. Nr. 60. S. 41); Ali Pascha an Rudolf II., Ofen, 1582 Juni 14. HHStA. Turcica. Kt. 46/Konv. 3. Fol. 20r (ediert in: S. Takäts, Ferenc Eckhart, Gyula Szekfu: A budai basäk magyar nyelvü levelezese. Bd. 1. 1553-1589. Budapest 1915. Nr. 218. S. 248f; MHJ 5/1. Nr. 440. S. 218f); Schreiben des Ali Pascha, Ofen, 1582 Juli 31. HHStA. Turcica. Kt. 46/Konv. 3. Fol. 123r (ediert in: S. Takäts, F. Eckhart, Gy. Szekffi (Anm. 78) Nr. 224. S. 252; MHJ 5/1. Nr. 441. S. 219); Jänos Trombitäs an Hofkriegsrat, o. D. (1582). HHStA. Turcica. Kt. 46/Konv. 3. Fol. 124r; Ali Pascha an Erzherzog Ernst, Ofen, 1582 Juli 31. HHStA. Turcica. Kt. 46/Konv. 3. Fol. 125r; Schreiben des Ali Pascha, Ofen, 1582 August 30. HHStA. Turcica. Kt. 46/Konv. 3. Fol. 252r-v, 262r (ediert in: S. Takäts, F. Eckhart, Gy. Szekffi (Anm. 78) Nr. 228. S. 256-257; MHJ 5/2. Nr. 442. S. 219); Sinan Pascha, Wesir von Ofen, an Erzherzog Ernst, Ofen, 1584 Mai 22. HHStA. Turcica. Kt. 51/Konv. 1. Fol. 105rv, 108r-v (ediert in: MHJ 17. Nr. 6. S. 24); Supplik des Jänos Trombitäs an Erzherzog Ernst, o. O., o. D. (1582 August 20 ante; ad 3. August 1584). HHStA. Turcica. Kt. 52/Konv. 1. Fol. 194r-v; Antwort an Erzherzog Ernst, 1584 August 3. HHStA. Turcica. Kt. 52/Konv. 1. Fol. 195r; Erzherzog Ernst an Sinan Pascha, Wien, 1584 August 26. HHStA. Turcica. Kt. 52/Konv. 1. Fol. 233r-v; Sinan Pascha an Erzherzog Ernst, Ofen, 1585 Januar 24. HHStA.

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Eine der wichtigsten Strategien der Streitparteien in derlei Schuldsachen war, die Verhandlungen vor ein heimisches Gericht zu ziehen. Besonders deutlich wird dies im Fall des Ofner Juden Chaim, der im Jahre 1589 Forderungen gegenüber drei ehemaligen Ladenbesitzern aus Pest anmeldete, die sich nun in Preßburg (Jänos Horvath) und Tyrnau (Caspar Horvath und Josua Bornemisza) aufhielten. Offenbar dem Wesir von Ofen, Ferhat Pascha nahestehend (unns zuegehörig heißt es in dem Schreiben des Wesirs), erwirkte der Jude beim Pascha für die drei Flüchtigen freies Geleit nach Ofen. Doch weder die christlichen Schuldner, noch deren neue Heimatstädte zeigten sich gewillt, auf den Vorschlag des Gläubigers einzugehen: wenn er zu seinem Geld kommen wolle, so solle der Jude einen christlichen Unterhändler auf königliches Territorium schicken, ließen die Städte Preßburg und Tyrnau dem Pascha von Ofen über Erzherzog Ernst ausrichten.79 Man kann davon ausgehen, daß der Jude diesen für ihn nachteiligen Verfahrensmodus gleichfalls ablehnte. Vor dem Hintergrund der militärischen Pattstellung an der habsburgischosmanischen Grenze entstand aus derartigen Streitereien eine Situation der Ohnmacht, die einseitige, radikale Maßnahmen zur Androhung und nicht selten auch zur Ausführung brachte. Das letzte Mittel zur Gläubigerbefriedigung war die Exekution an beliebigen Kaufleuten aus dem jeweils benachbarten Territorium im Fall des Jänos Trombitäs etwa traf es seinen Mitbürger aus Tyrnau, Caspar Pesty. Der Sprengkraft dieser Maßnahmen für den Handel war man sich zwar generell durchaus bewußt, und man wurde nicht müde zu betonen, daß allein die Gegenseite durch mangelnde Kooperation diese Maßnahmen zu verantworten habe. Wie sehr dem Handel dadurch aber langfristig geschadet wurde, konnten die Akteure nicht abschätzen.

3.2 Die Chancen: hohe Gewinnspannen Die skizzierten Probleme im grenzübergreifenden Handel und dessen daraus resultierende Stagnation mußten zwangsläufig zu größeren Preisunterschieden diesund jenseits der Grenze führen. Besonders gilt das für Güter des gehobenen Konsums, die auf heimischen Märkten nicht oder nur schwer zugänglich waren, wie etwa orientalische Gewürze in Europa oder feinmechanische Erzeugnisse im Osmanischen Reich. Die Nachfrage nach Waren dieser Art konnte kaum jemals befriedigt werden. Aber auch bei alltäglichen Waren aus landwirtschaftlicher und

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Turcica. Kt. 54/Konv. 1. Fol. 129r-v, 131v (ediert in: MHJ 2. Nr. 65. S. 43f); Ferhat Pascha, Wesir von Ofen, an Erzherzog Ernst, Ofen, 1589 April 13. HHStA. Turcica. Kt. 70/Konv. 2. Fol. 126r-v (ediert in: MHJ 2. Nr. 67. S. 45f); Referat über ein Schreiben des Ferhat Pascha, 1589 Juli 26 ante. HHStA. Turcica. Kt. 70/Konv. 2. Fol. 128r-v; Erzherzog Ernst an Ferhat Pascha, Wien, 1589 Mai 16. HHStA. Turcica. Kt. 70/Konv. 3. Fol. 33r-v; Erzherzog Ernst an Ferhat Pascha, Wien, 1589 Juli 26. HHStA. Turcica. Kt. 71/Konv. 1. Fol. 62r-v. Erzherzog Ernst an Ferhat Pascha, Wien, 1589 Juli 8. HHStA. Turcica. Kt. 71/Konv. 1. Fol. 46r-v. Vgl. auch MHJ 10. Nr. 77f. S. 106f.

Das Leben im Grenzraum

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gewerblicher Produktion werden mehr oder weniger hohe Preisschwankungen eingetreten sein. Die vergleichsweise hohen Gewinnspannen mußten auf Kaufleute natürlich verlockend wirken und sorgten letztlich dafür, daß der Handel im Grenzraum nicht zum Erliegen kam.

3.2.1 Tuche, Ochsen, Uhren - die Handelswaren Die von Juden im Raum Ungarn gehandelten Waren entsprechen weitestgehend der Stellung des frühneuzeitlichen Ungarn in der europäischen Wirtschaft. Wohl das wichtigste Exportgut des Landes waren Ochsen bzw. Rinderhäute, und es verwundert nicht, daß wir auch zahlreiche Belege dafür haben, daß Juden mit Rindern, sowohl lebenden als auch in Form gegerbter Felle, gehandelt haben. 80 Damals wie heute wichtig fur die ungarische Landwirtschaft ist der Weinbau. Ungarischer Wein dürfte auch zur Versorgung der jüdischen Gemeinden von Wien mit Koscherwein eine wichtige Rolle gespielt haben, wobei eine zusammenfassende Darstellung dieses Themas leider noch aussteht; und im Falle Oberungarns wird der Weinexport nach Polen überhaupt eines der Hauptmomente dafür darstellen, daß jüdische Kaufleute aus den südpolnischen Gemeinden auf Dauer nach Ungarn zogen. 81 Daß dabei auch tatsächlich koscherer Wein produziert und gehandelt wurde, wissen wir aus den Quellen. 1609 ist etwa Koscherweinproduktion in Mäd (unweit der berühmten Weinstadt Tokaj) belegt, 82 1633 kommt es in Eperies (Presov) zu einer Auseinandersetzung wegen verdorbenen Weins, wobei die Umstände auf eine Verunreinigung im Sinne der halachischen Speisevorschriften hindeuten. 83 Außerdem sind jüdische Bier-, Wein- und Branntweinschenken in Oberungarn mehrfach belegt. 84 Wie es mit der Koscherweinversorgung der Juden unter osmanischer Herrschaft aussah, ist auch aus interreligiöser Sicht eine interessante Frage; freilich spricht nichts dagegen, daß Weinbau und -produktion auch unter den Osmanen ungehindert stattfinden konnte (was übrigens auch bei den Zeitgenossen Erwähnung findet 85 ) bzw. daß Wein auch über die Grenze gehandelt wurde. 80

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Istvän N. Kiss: Die Bedeutung der ungarischen Viehzucht für Ungarn und Mitteleuropa vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: Internationaler Ochsenhandel (1350-1750). Hg. von Ekkehard Westermann. Stuttgart 1979. S. 83-123; weitere Literatur bei Istvän Kenyeres: Die Finanzen des Königreichs Ungarn in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: F. Edelmayer, M. Lanzinner, P. Rauscher (Anm. 22) S. 84-122, hier S. 94f. Witwe des Steuerpächters Israel Markovics von Homenau (Humenne, Homonna) an die Zipser Kammer, Homenau, 1682 März 15. MOL. Ε 254. Fasz. 91/März, Nr. 57. Fol. 114r115v. Die Witwe, die selbst der ersten Einwanderergeneration angehörte, lebte nicht zuletzt vom Weinexport in ihre alte Heimat Polen. Vgl. MHJ 8. Nr. 292. S. 242. MHJ 5/1. Nr. 548. S. 285-287. F. Grünvald, S. Scheiber (Anm. 6) S. 19f. Hans Dernschwamm's Tagebuch einer Reise nach Konstantinopel und Kleinasien (1553/1555). Hg. von Franz Babinger. München, Leipzig 1923 (Studien zur Fuggerge-

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Eine gefragte Handelsware, die aus dem Osmanischen Reich ins königliche Ungarn exportiert wurde, waren Gewürze. Trotz der quasi Monopolstellung von Antwerpen oder Amsterdam kamen die Direktimporte - zumindest zur Versorgung der lokalen Märkte - auch im späten 16. Jahrhundert nicht zum Erliegen. Die Summen, um die es dabei ging, waren keineswegs unbedeutend. Der uns bereits bekannte Ofner Jude Jakob/Israel, Sohn des Bereczk, hatte seinem Kontrahenten Janos Trombitäs Pfeffer und andere Gewürze im Wert von 1.300 fl. geliefert.86 Nicht weniger interessant ist die Tauschware des Trombitäs: Kupfer im Ausmaß von 100 Zentnern. Metalle aus den oberungarischen Bergstädten zählten bekanntlich zu den wichtigen Exportrohstoffen des Königreichs Ungarn, die ihren Weg nicht nur nach Westen fanden, sondern auch nach Polen und ins Osmanische Reich exportiert wurden. Für die Juden wurde die Partizipation an diesem Handelszweig allerdings sowohl durch eine Verordnung aus den Zeiten König Ludwigs des Großen (1342-1382), laut derer sie sich innerhalb eines Umkreises von sechs Meilen um die Königlichen Bergstädte nicht aufhalten durften, als auch durch die Handelsmonopole christlicher Firmen praktisch unmöglich gemacht. Wahrscheinlich waren, wie im geschilderten Fall, christliche Zwischenhändler erforderlich, um an die wertvollen Metalle heranzukommen. Aus den habsburgischen Ländern waren es meist Tuche, die ihren Weg ins Osmanische Reich fanden. Zum überwiegenden Teil stammten diese aus den böhmisch-schlesischen Produktionsgebieten und wurden direkt oder über jüdische Kaufleute in Wien weiterverkauft. Ein gutes Beispiel für die Vielfalt der möglichen Handelswaren ist der jüdische Kaufmann Lebl Höschl, der seit 1670 in Ofen lebte (zu seiner Rolle als kaiserlicher Spion siehe unten). Zwischen 1666 und seinem Tod 1681 war er im Handel zwischen Wien und Ofen engagiert; das Warenspektrum reichte dabei von diversen Tuchsorten, Pelzen und Rinderhäuten über Galanterie- und Metallwaren, sowie feinmechanische Produkte (Uhren, ein besonders beliebter Artikel auf den osmanischen Märkten87) bis hin zu einer großen Menge an Steinsalz, das offenbar für die habsburgische Armee bestimmt war.88

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schichte. Bd. 7). S. 101. Ediert auch in: MHJ 2. Nr. 14. S. 7f. Beschwerde des Ferhat Pascha von Ofen in Sachen des Jakob (Anm. 78). Vgl. auch MHJ 2. Nr. 67. S. 45f. Im Dezember 1668 hatte die jüdische Gemeinde von Ofen bei ihm ein Prachtmodell einer Standuhr aus Wien bestellt, um sie dem neuen Wesir von Ofen zum Regierungsantritt zu verehren. Schreiben des Isaak £elebi, supremus caraf passa des Wesirs von Ofen, Ofen, 1668 Dezember 23. HHStA. Turcica. Kt. 141/Konv. 1. Fol. 3r. Zur Stellung der Uhren bei den Osmanen vgl. auch: Österreich und die Osmanen. Gemeinsame Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek und des Österreichischen Staatsarchivs im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek. 31. Mai bis 30. Oktober 1983. Katalog (Gesamtredaktion: Rudolf Neck, Helmut Nader, Christine Vonwiller, E. D. Petritsch). Wien 1983. S. 65f und S. 112. Vgl. die Zusammenstellung in: Reinhard Buchberger: Lebl Höschl von Wien und Ofen:

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3.2.2 Handel mit Armeewaren, Waffenhandel Ein wichtiger Exportartikel der habsburgischen Länder ins Osmanische Reich waren Metallwaren - in erster Linie Sensen und Messer aus den stahlverarbeitenden Zentren Süddeutschlands sowie der oberösterreichischen Eisenwurzen. Ihr Export unterlag seit 1544 einem landesfiirstlichen Verbot, das auch vom Hofkriegsrat scharf überwacht wurde. Dennoch fanden sie nicht nur über den Umweg über Venedig oder Polen 89 ins Osmanische Reich, sondern wurden auch direkt gehandelt, wobei auch Juden beteiligt waren. 90 Das Thema der verbotenen Metallwaren legt die interessante Frage nahe, inwieweit Juden aus dem militärischen Chaos der Türkenkriege Nutzen ziehen konnten, indem sie in den Handel von Waffen und anderen kriegswichtigen Erzeugnissen einstiegen, 91 bzw. inwieweit es jüdischen Händlern gelang, die oft eklatanten Probleme der Armee bei der Bewältigung logistischer Erfordernisse wie der Truppenverpflegung zu nutzen und als Armeelieferanten aufzutreten. In den Quellen, die sich auf die Türkengrenze beziehen, werden Juden mehrfach in Zusammenhang mit Waffenhandel genannt. Der bereits erwähnte Chaim etwa hatte 1589 mit seinen christlichen Schuldnern eine Zahlung in Blei und Messern vereinbart, 92 und schon 1554 hören wir von zahlreichen Waffen im Haus eines Ofener Juden 93 - vermutlich weniger ein Waffenarsenal, als das Warenlager eines Waffenhändlers. 1636 überlegte die Stadt Kaschau, von zwei namentlich nicht genannten Juden 600 bzw. 400 Musketen samt Riemen zu kaufen. 94 1646 ist im burgenländischen Raum der jüdische Pulvermacher Isaak Jakob belegt, 95 und die Stadt Ödenburg - wie Kaschau übrigens eine Königliche Freistadt, die der Aufnahme bzw. Duldung von Juden besonders negativ gegenüberstand - kaufte in den folgenden Jahren mehrmals Schwarzpulver bei Juden für das städtische Arsenal. 96

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Kaufmann, Holjude und Spion des Kaisers. In: S. Hödl, P. Rauscher, B. Staudinger (Anm. 16) S. 217-250, hier S. 224f. Franz Fischer: Die Sensenausfuhr aus Österreich nach dem Norden und Osten 1450-1650. In: Der Außenhandel Ostmitteleuropas 1450-1650. Hg. von Ingomar Bog. Wien 1971. S. 286-319, hierS. 305f. Im Fall des Juden Chaim waren es 1589 ebenfalls Metallwaren. HHStA. Turcica. Kt. 70/Konv. 2. Fol. 131r-132r. Zum Waffenhandel von Juden in Deutschland siehe S. Litt (Anm. 44) S. 90-91. Ferhat Pascha von Ofen an Hofkriegsrat, Ofen, 1589 April 2 (Anm. 90). M H J 5 / l . N r . 393. S. 193. Undatierte Beilage zu einer mehrseitigen Schrift über militärische Belange der Stadt Kaschau, Kaschau, 1636 Oktober 17. MOL. Ε 41. Csomö 35/Konv. 1636. Nr. 132. Unfol. Als Nädasdyscher Untertan hatte Isaak Jakob Schießpulver an das Wiener Zeughaus geliefert. KA. HKR. PB 294. Fol. 216v (1646 Mai). Zur Salpetererzeugung im Burgenland siehe Harald Prickler: Zur Geschichte der Salpetererzeugung im burgenländisch-westungarischen Raum. In: Burgenländische Heimatblätter 31/1. 1969. S. 19-42. Im Jahre 1647 von einem gewissen Juden Häindl 39 Pfund. MHJ 6. Nr. 48. S. 51. 1655 von einem nicht genannten Lackenbacher Juden 43 Pfund. MHJ 6. Nr. 63, S. 57. Offenbar ste-

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Die Betätigung von Juden in einem sensiblen Bereich wie dem Waffenhandel mußte das Mißtrauen der Armee hervorrufen, standen Juden doch stets im Verdacht, der jeweils anderen Kriegspartei zuzuarbeiten. So fehlt es auch nicht an Maßnahmen, die diese als gefahrlich eingestuften Handelspraktiken einzudämmen trachteten. 1650 empfahl etwa Rudolph Schmidt von Schwarzenborn anläßlich einer eintreffenden osmanischen Gesandtschaft in Wien der gesamten Judenschafit einschließlich der Hofbefreiten ein strenges Verbot (bey confiscation und leibstraff) auszusprechen, um die einkhauffung der verbottenen wahren, püxen und sachen, so viel möglich zu verhindern.97 1655 findet sich unter Punkt 6 auf einer Liste des Hofkriegsrates für den nächsten ungarischen Landtag die Verschwerzung des saliters und verhüettung, d[a]z denen Türkhen durch die Räzen, Armenier und Juden keine armaturn od\er] darzue gehörige materialien zuegeführt werd[en].98 Zwei Jahre später ermittelte das Komitat Neutra (Nitra) gegen ein jüdisch-christliches Handelskonsortium, daß Zinn an die Türken lieferte.99 Im Türkenkrieg 1663/64 entschloß man sich gar, denen Wiener Juden ihre comertien in die Türckhey genzlich einzustellen, noch vielmehr aber ihre hinabraiße bey lebensstraff zu verbietten00 - eine Sicherheitsvorkehrung, die auf mögliche Waffenlieferungen der Juden nicht weniger abzielte, als auf befürchtete Spionagetätigkeit. Wie die Beispiele zeigen, waren Juden - wenn vielleicht auch nicht in überwältigendem Ausmaß - im Waffenhandel engagiert. Viel weniger Belege gibt es allerdings für Zuliefeltätigkeit von Juden für die habsburgische Armee im ungarischen Grenzraum: Erst gegen Ende der Epoche treffen wir auf Fälle von Juden, die Waren zur Versorgung der Armee lieferten.101 Dieses Fehlen jüdischer Ar-

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hen diese Ankäufe in Zusammenhang mit dem zuvor genannten Isaak Jakob. Rudolph Schmidt von Schwarzenborn an den Hofkriegsrat, o. O., o. D. (1650). HHStA. Turcica. Kt. 123/Konv. 1. Fol. 254r. Die Textpassage stammt aus der deutschen Zusammenfassung auf fol. 4r. Im lateinischen Original findet sich noch der Zusatz betreffend der möglichen Exekution: De ultanda salis nitri extractione, nene Turcis materia vel instrumenta aliqua ad armaturam spectantia subveharttur, sed ut per regni fideles incolas diligenter advectatur, ne Rascianis, Armenis vel Judaeis aliquid eiusmodi rerum devehi permittatur, quod ipsum tarn supremis confiniorum praefectis, quam etiam telonariis et tricesimatoribus iniunctum est. (o. O., 1655 Januar 22). KA. HKR. Akten. Kt. 62, 1655 Januar, Nr. 59. Fol. 3v, 4r. Vorrangig ging es dabei um Konterbandefragen, der Umstand der Lieferung an die Türken war aber wichtiger Punkt im Verhör der Zeugen. MHJ 5/1. Nr. 673. S. 355-365 (1657 März 5). Schon 1655 hatte ein gewisser Israel von Ofen um Exportgenehmigung für 20 Zentner Zinn beim Hofkriegsrat angesucht. KA. HKR. PB 311. Fol. 39v (1655 Februar 16); KA. HKR. PB 311. Fol. 58v (1655 Februar). Leopold I. an die Geheimen Räte, Regensburg, 1664 Januar 26. HKA. GB 427. Fol. 21v22v. Paßbrief für den Hofjuden Salomon Wurm auf 250 Stück Tuch aus Mähren für die kaiserliche Armee in Ungarn, 1661 August 30. HKA. HF. PB 863. Fol. 442r. Getreidelieferungen des Herz Coma an das Proviantamt (zur Versorgung der Garnisonen in Neustädtel, Novigrad). HKA. HF. PB 865. Fol. 744v (1662 Dezember 7); HKA. HF. PB 869. Fol. 201r

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meelieferanten mag paradox erscheinen. Der Zustand wurde einmal mehr durch die Tätigkeit Samuel Oppenheimers und seines ,Kreises' 1 0 2 beseitigt. In der Fülle v o n Geschäften von Juden mit der kaiserlichen Armee, die sich im Gefolge ihrer Proviantlieferungen etablierten, fehlt es dann auch am Handel mit schweren Geschützen nicht. 1 0 3

3.2.3 Eine besondere Handelsware des Grenzraums: Sklaven Ein weiteres, für die osmanisch-habsburgische Militärgrenze sehr spezifisches Gewerbe war der Handel mit Sklaven. Dabei gerät man unwillkürlich in das weite Feld der Debatte um die Stellung der Sklaverei im Osmanischen Reich 1 0 4 sowie

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(1663 März 6); HKA. HF. PB 869. Fol. 236v-237r (1663 April 7). Siehe auch das Geschäft des Lebl Höschl (Anm. 88) mit Salzstöcken, die vermutlich für die Armee bestimmt waren. Zur Tätigkeit der Firma Samuel Oppenheimer vgl. Max Grunwald: Samuel Oppenheimer und sein Kreis. (Ein Kapitel aus der Finanzgeschichte Österreichs). Wien, Leipzig 1913 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 5); Ferenc Szakäly: Oppenheimer Samuel müködese, különös tekintettel magyarorszägi kihatäsaira [Die Tätigkeit Samuel Oppenheimers unter besonderer Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf Ungarn], In: MHJ 14. Hg. von Sändor Scheiber. Budapest 1971. S. 31-78; Jenö Häzi: Nehany adat Oppenheimer Samuel hadseregszällitö magyarorszägi müködesehez [Einige Angaben zu Samuel Oppenheimers Tätigkeit als Militärlieferant in Ungarn]. In: MHJ 16. Hg. von Sändor Scheiber. Budapest 1974. S. 371-374. Ascher Tröstl von Prossnitz (Prostejov), der bei Konterbande von in Tyrnau erkauften Geschützen nach Olmütz (Olomouc) aufgegriffen wurde; offenbar ging es dem Händler nur um den Rohmetallwert der ausrangierten Geschütze, wohingegen von militärischer Seite der Standpunkt vertreten wurde, daß mit stücken oder artillerie sacAfen] zu traflquiren generaliter verbotten sei. Vgl. dazu ΚΑ. Η KR. PB 376/2. Fol. 810v (1688 Dezember 13); KA. Η KR. PB 378. Fol. 147r (1689 März); ΚΑ. Η KR. PB 378. Fol. 172r (1689 März); KA. Η KR. PB 378. Fol. 242r (1689 April 4); ΚΑ. Η KR. PB 379. Fol. 140v (1689 März 23); KA. Η KR. PB 379. Fol. 200r (1689 April 29). 1698 lieferte der Nikolsburger Jude Salomon Koppel Deutsch gleich 100 Geschütze an das Wiener Zeughaus. KA. HKR. PB 403. Fol. 765v (Wien, 1698 Dezember 19). Weitere Fälle von Waffenhandel: Jakob Simon von Schossberg für ein geliefertes Messer (Anm. 41). Für das Osmanische Reich war Sklaverei, trotz zahlreicher, geradezu folkloristischer zeitgenössischer Belege, von der historischen Forschung lange Zeit bestritten worden; erst in den letzten Jahrzehnten hat man sich zu ihrer Anerkennung vollinhaltlich durchgerungen: „Slavery and the slave trade were an integral part of Ottoman society from inception to demis. Though less important economically, slavery was a vital social, cultural and political component of Ottoman life." Ehud R. Toledano: Representing the Slave's Body in Ottoman Society. In: Slavery and Abolition 23/2. 2002. S. 57-74, hier S. 57. Zur Sklaverei im Osmanischen Reich siehe weiters: Halil Inalcik: Servile Labor in the Ottoman Empire. In: The Mutual Effects of the Islamic an Judeo-Christian Worlds. The Eastern European Pattern. Hg. von Abraham Ascher. Brooklyn 1979. S. 25-52; Alan Fisher: Chattel Slavery in the Ottoman Empire. In: Slavery and Abolition 1/1. 1980. S. 25-45; Joseph C. Miller: Muslim Slavery and Slaving: A Bibliography. In: Slavery and Abolition 13/1. 1992. S. 249-271. Zur Sklaverei im frühneuzeitlichen Europa und im Mittelmeerraum siehe: Charles Verlinden: L'esclavage dans l'Europe medievale. Bd. 2: Italie - Colonies italiennes du Levant - Levant

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im besonderen der Haltung von Juden zum Menschenhandel.105 Problematisch erscheint auch die terminologisch nicht eindeutige Grenzziehung zwischen Sklaverei im eigentlichen Sinn und Kriegsgefangenschaft nach dem Muster des Ranzionswesens: So konnte der Begriff des ,Sklaven' vom quasi Hausangestellten über den Kriegsgefangenen bis hin zum tatsächlich frei veräußerbaren Sklaven reichen. Analog dazu ist die Grenze zwischen einem Agenten in Lösegeldübergabe zum tatsächlichen Sklavenhändler fließend. Trotz eindeutiger Belege wird man also urteilen können, daß Sklaverei im Handelsleben der Juden des osmanischhabsburgischen Grenzraums eine - wenn auch interessante - Randerscheinung darstellte. Von Seiten der Behörden fehlte es keineswegs an Versuchen dieses Geschäft zu beschränken. Für den habsburgischen Landesteil wurde auf dem ungarischen Landtag von 1567 generell der Handel mit christlichen Sklaven bei Todesstrafe verboten,106 und auch auf osmanischer Seite stand man jüdischen Sklavenhändlern weitgehend ablehnend gegenüber.107 Nichtsdestotrotz hören wir 1589 von dem Juden Abraham, der bei zwei christlichen Soldaten einen Sklaven gegen ein Pferd erhandelte - über die Identität des Gefangenen schweigt die Quelle.108 1666 ist der siebenbürgische Jude Samuel von Karlsburg als Mittelsmann in einem Freikaufsgeschäft nachzuweisen: Ein Bürger von Torda versprach ihm 200 Taler, sollte es ihm gelingen, die Frau eines gewissen Andras Komaromi aus Kis-Petri im Komitat Klausenburg (Cluj Napoca, Kolozsvär) namens Judit sowie deren kleinen Sohn aus der Gefangenschaft in Belgrad auszulösen. Tragisches Detail: bereits im Vorhinein wurde auch die Summe vereinbart, falls der Freikauf des Sohnes nicht gelingen sollte. Es steht außer Zweifel, daß es sich hier um Menschenhandel handelte und auch der ,Transport' der Gefangenen aus dem osmanischen auf siebenbürgisches Territorium - so er denn jemals stattgefunden hat -

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latin - Empire byzantin. Gent 1977, besonders S. 1020-1046; Pal Fodor: Mältai kalözok, török rabok es francia kereskedök a Földközi-tengeren a 17. szäzad elejen [Maltesische Piraten, türkische Sklaven und französische Kaufleute im Mittelmeer zu Beginn des 17. Jahrhunderts], In: Törtenelmi Szemle 41/3-4. 1999. S. 369-385. Unter ganz anderen Umständen hat diese Thematik zu einer äußerst heftigen Debatte in den USA geführt, nämlich um die Frage nach dem Anteil von Juden am Handel mit schwarzen Sklaven in der Karibik. Von der antijüdischen Historiographie wurde der Anteil der Juden an der als unmenschlich empfundenen Sklaverei überproportional hoch dargestellt, wogegen die Gegenseite die Zahlen herunterzuspielen versuchte. Erst in jüngster Zeit haben statistische Analysen auch hier zu einem ausgewogeneren Bild geführt, das besagt, daß der Anteil der jüdischen Sklavenhalter ungefähr dem der christlichen entsprochen habe. Einen Überblick über die Debatte gibt: Eli Faber: Jews, Slaves, and the Slave Trade. Setting the record straight. New York 1998. S. 1-9. G. Pälffy (Anm. 61) besonders S. 11, 15. „The Ottoman authorities opposed Jewish participation in the slave trade, but one exception occurred during the 1571 war against Cyprus when Jewish slave traders were required to pay a special state tax." Stichwort,Slave trade'. In: EJ 14. Jerusalem 1971. Sp. 1660-1664, hier Sp. 1662. MHJ 2. Nr. 70. S. 48f.

Das Leben im Grenzraum

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sklavereiähnliche Formen angenommen haben wird. 109 Wenig später, in den 1680er Jahren, tauchte unter den Raaber Händlern im Zusammenhang mit Fernhandel von Galeerensklaven nach Italien mehrmals der Händler Mihäly Fördös auf, dessen Metier als Sido szokasu, also ,nach jüdischer Gewohnheit', bezeichnet wurde. 110 Vermutlich waren es die massenhaften Freikäufe gefangener Juden durch Leute wie Samuel Oppenheimer und Alexander Taussig, die in den Augen der christlichen Zeitgenossen einen jüdischen Brauch des Sklavenhandels entstehen ließen und zu seiner Bezeichnung als jüdische Gewohnheit' führten. Zu ergänzen wäre noch, daß auch die Responsen des Ephraim ha-Kohen, eines Rabbiners aus Wilna, der 1666 nach Ofen berufen worden war, Anweisungen zum Thema Sklavenhaltung beinhalten. 111 „Es gibt Zeugnisse dafür, daß Christen und Türken in die jüdische Gemeinde aufgenommen worden sind, mehrheitlich Frauen aus dem Sklavenstand". 112 Wie es bei Sklavengeschäften mitunter zugehen konnte, illustriert folgendes Beispiel. Im Jahre 1677 kaufte Janos Almässy, ein christlicher Untertan aus Waitzen, von einem namentlich nicht genannten Juden der Gegend eine in osmanische Gefangenschaft gefallene Frau und deren Sohn. Er brachte die beiden daraufhin in ihre Heimatstadt Ponik (Poniky) zurück, um dort das Lösegeld für sie zu fordern. Der Fall kam vor Gericht, weil der Mann seine Gefangene, die er als sein .freies Eigentum' (expressum dicendo, se eandem cum anima et corpore emisse, ex eoque potestatem in ipsam habere) betrachtete, unterwegs zu vergewaltigen versuchte (ipsam violare et ad scelus adulterii cogere voluisset). Die sexuelle Konnotation, die der Fall durch das Vergehen Almässys angenommen hatte, fiel dabei in Form besonders judenfeindlicher Äußerungen des Gerichts auch auf den jüdischen Händler zurück: Man sprach von unerhörtem Handel mit christlichem Blut (quaestum cum christiano sanguine), dessen sich der ,ruchlose' (nefandus) Jude schuldig gemacht habe. Dem Sohn der Frau habe er die Haut zerkratzt und sich im Blut des Jungen das eigene Gesicht gewaschen - ein Vorwurf, der in Zusammenhang mit den verbreiteten Ritualmordbeschuldigungen zu sehen ist. Schließlich kam bei der Untersuchung noch ein weiterer Umstand ans Tageslicht, der uns einen verblüffenden Einblick in die Realität der Grenze und das vielfaltige Bild 109

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MHJ 2. Nr. 128. S. 114f (1666 August 6); ebenso in MHJ 5/1. Nr. 702. S. 380f (dort fehlerhaft: 1669 August 6). R. Patai (Anm. 4) S. 156. Zitiert nach G. Pälffy (Anm. 61) S. 17, Anm. 43. Samuel Kohn: Heber kutforrasok es adatok Magyarorszäg törtenetehez [Hebräische Quellen und Materialien zur Geschichte Ungarns]. In: Törtenelmi Tär 3. 1880. S. 554-560; zu Ephraim ben Jacob Ha-Kohen siehe auch: S. Büchler (Anm. 9) S. 147-155; K. Frojimovics, G. Komoröczy, V. Pusztai, A. Strbik (Anm. 9) S. 31f.; EJ 6. Jerusalem 1971. Sp. 812f. L. M. Päkozdy (Anm. 4) S. 574; vermutlich waren diese Sklavinnen als ,Schabbes-Gojim' vor allem für Arbeiten im Haushalt zuständig. Von seiner ,Magd' wurde auch Isaak Schulhof bei der Eroberung Ofens das Leben gerettet. Izsäk Schulhof: Budai kronika (1686). Aus dem Hebr. ins Ungar, übers, von Läszlö Jolesz. Budapest 1981. S. 45. Über den umstrittenen rechtlichen Status von Sklaven im talmudischen Gesetz vgl. Art. ,Slavery' in: EJ 14 (Anm. 107) Sp. 1655-1660, besonders Sp. 1657-1660.

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ihrer Handlungsstrategien gewährt: daß nämlich Almässy und der Jude Geschäftspartner waren.113 Daraus läßt sich folgendes symbiotische Arbeitsmodell rekonstruieren: Der Jude kaufte die Frau im osmanischen Hoheitsgebiet und übergab diese - eben um nicht dem Vorwurf eines quaestum cum christiano sanguine ausgeliefert zu sein - in einer grenznahen Stadt (in diesem Fall Waitzen) seinem christlichen Partner, der wiederum die Gefangene durch christliches Territorium nach Hause zu bringen hatte. Sehr viel stärker als der eigentliche Umfang des Sklavengeschäfts waren die judenfeindlichen Ressentiments, die sich auf ,christlicher Seite' dadurch aufstauten. 1624 wettert Michael Starzer, seines Zeichens kaiserlicher Unterhändler in Sachen Gefangenenfreikauf in Ofen, gegen die Juden: Schon die Türken ließen sich ihm zufolge die Gefangenen teuer bezahlen, aber noch schwehrer [...] kann man dieselben von denen [wer]flu[c]hten Juden bekumben, undt ist mihr die zeitt zu kurz [...] zu erzählen, [...] wie sehr spöttlich undt [verächtlich d[&]z arme christenblut von denßelben tractiert wierdt, d[a]z es ja einmal einen stäin erbarmen ·. .114 must. Derart kräftige Ausfälligkeiten gegen die Juden des Grenzraumes sind übrigens auf beiden Seiten alles andere als selten. In eine ähnliche Kerbe wie Starzer schlug der Preßburger Bürger Johann Ferdinand Auer, der 1664 als Gefangener in Ofen die Erlaubnis erhielt, in der Stadt um Almosen zu betteln und es dabei mit ,hartherzigen' Juden zu tun bekam: von anderen Türken aber und Juden, [erhielt ich] anstatt der Almosen üble Worte, oder bisweillen auch gar Schläg.115 Von osmanischer Seite schreibt ein Beglerbeg an sein christliches Gegenüber, ein gewisser Beg sei ein Jude und Verräter, schlechter als eine Frau."6 Auf der Basis gemeinsamer Feindbilder, der Frauen- und Judenfeindschaft, finden hier die Streitparteien zu einer gemeinsamen Sprache der Verständigung. Doch es finden sich auch versöhnliche Töne, in denen dem Judentum geradezu eine positive Vermittlerrolle zwischen den verfeindeten Religionen, dem Christentum und dem Islam zukommt: Dann ob er wohl aines and[er]n glaubens alls ir