240 55 4MB
German Pages 292 Year 2020
Julia Kubin Ruderale Texturen
Rurale Topografien | Band 11
Editorial Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt. Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können. Auch in ihren literarischen Verdichtungsformen und historischen Entwicklungslinien können sie als narrative und diskursive Reaktions-, Gestaltungs- und Experimentierfelder verstanden werden, die auf zentrale zeitgenössische Transformationsprozesse der Koordinaten Raum, Zeit, Mensch, Natur und Technik antworten. Damit wird auch die Frage berührt, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein soll. Die Reihe Rurale Topografien fragt aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach dem Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung und -planung, aber auch nach Möglichkeiten der Erfahrung und Gestaltung. Indem sie die Verflechtungen kultureller Imaginations- und Sozialräume fokussiert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse der lebensweltlichen Funktionen literarisch-künstlerischer Gestaltungsformen. Ziel der Reihe ist die interdisziplinäre und global-vergleichende Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse zeitgenössischer und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen imaginärer und auch erfahrener Ländlichkeit verbunden sind. Die Reihe wird herausgegeben von Werner Nell und Marc Weiland. Wissenschaftlicher Beirat: Friederike Eigler (Washington, D.C.), Kerstin Gothe (Karlsruhe), Dietlind Hüchtker (Leipzig), Sigrun Langner (Weimar), Ernst Langthaler (Linz), Magdalena Marszalek (Potsdam), Claudia Neu (Göttingen), Barbara Piatti (Basel), Marc Redepenning (Bamberg), Bernhard Spies (Mainz) und Marcus Twellmann (Konstanz)
Julia Kubin, geb. 1989, promovierte in Literaturwissenschaft an der Universität Kon stanz und war wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungsprojekts »Experimentierfeld Dorf«.
Julia Kubin
Ruderale Texturen Verfall und Überwucherung in (post-)sozialistischen Erzählungen
Dissertation der Universität Konstanz Tag der mündlichen Prüfung: 19.09.2019 Referentinnen/Referenten: PD Dr. Marcus Twellmann, Prof. Dr. Werner Nell, Prof. Dr. Juliane Vogel Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Volkswagenstiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Sven Fennema aus dem Buch »Neuland«, © Sven Fennema, Christoph Gunkel, erschienen 2017 bei Frederking & Thaler in der Bruckmann Verlag GmbH, München Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5410-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5410-7 https://doi.org/10.14361/9783839454107 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
1.
Ruderale Texturen. Erzählungen von den Rändern ........................................ 7
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte ....................................... 2.1. Diesseits und jenseits der Alpen: Rohs ›Nachexpressionismus‹ und Bontempellis ›réalisme magique‹ ..................................................................... 2.2. Magischer Realismus als Realismus der späten Moderne .................................. 2.3. Unberühmte Orte: der Magische Realismus und die Ruderalfläche ......................... 2.4. Authentischer Ausdruck: der Magische Realismus lateinamerikanischer Prägung .......... 2.5. Narrative Strategien: magisch-realistische Bildwelten im Kontext aktueller Traumadiskurse ....................................................
30 37 43 47
Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980) .......................................... Literarische Kontexte: Literatur nach Plan ............................................... »Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt«.................................. Gespräche über Literatur ................................................................ »Auf den öligen Wassern der ausgekohlten Tagebaue« ...................................
65 69 75 82 90
3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
25
54
4. Stagnation: Niederungen (1982/84) ..................................................... 101 4.1. Eine »Kiste in der Landschaft«: Müllers Arbeiten im historischen, kulturellen und literarischen Kontext .........................................................................105 4.2. »Totenmaskenball«...................................................................... 118 4.3. Wilder Pflanzengeruch .................................................................. 123 4.4. Sozialistische Maisfelder................................................................. 129 4.5. Zwischen Abbildungsbegehren und Sprachkritik ......................................... 135 4.5.1. Poetik des Details: das Collagenwerk ............................................. 136 4.5.2. Das »Millimeterpapier der Erinnerung«........................................... 138 5. 5.1. 5.2. 5.3.
Verfall: Alte Abdeckerei (1991) ...........................................................145 »Ödland… Schlafland… toter Boden«: die Inszenierung der Abraumlandschaften .......... 151 »Keineswegs war es fester Untergrund«: Abraum, Ruinen und Schutt .....................164 Wilde Semiose: Sprachformationen ..................................................... 180
6. Erinnerung: Katzenberge (2010) ....................................................... 189 6.1. Literarische Kontexte: Wiederaneignungen Osteuropas in magisch-realistischer Schreibweise ............................................................................ 192 6.2. Rückerinnerungen ...................................................................... 200 6.2.1. Zwischen Bug und Berlin: verschränkte Bewegungslinien ..........................201 6.2.2. Verlorene und neu-imaginierte Heimat: diskursive und räumliche Praktiken ....... 206 6.2.3. Erd-Spuren ...................................................................... 220 6.3. Vom Trauma zum Tabu ................................................................. 224 6.4. »Hic sunt dracones«: Semantisierungen des Ostens ..................................... 229 6.5. Narrative Unabgeschlossenheit ......................................................... 235 7.
»Sand und Ewigkeit«: Andrzej Stasiuks Reisen im Osten................................ 241
8.
»Blütenstaub oder Aschestaub«: ein Fazit ............................................. 253
Literaturverzeichnis......................................................................... 263 Dank ........................................................................................ 289
1. Ruderale Texturen. Erzählungen von den Rändern »Sand, alter Beton, Unkraut.« Andrzej Stasiuk: Der Stich im Herzen In seinem 2015 in deutscher Übersetzung erschienenen Reisebericht Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh (poln. Nie ma ekspresów przy żółtych drogach, 2013) schreibt der polnische Autor Andrzej Stasiuk über den globalen Osten, dieser bestehe aus »Sand, alte[m] Beton, Unkraut« (Stasiuk 2015: 7). Damit weist er nicht nur auf ein landschaftliches Phänomen hin – die Tatsache, dass die postkommunistische Welt Ostmitteleuropas und die Betonbauten des Realsozialismus allmählich verfallen1 –, sondern rekurriert überdies mit dem ›Unkraut‹ auf ein Motiv, das in verschiedenen Texten der (post-)sozialistischen Ära auf unterschiedliche Weise prominent inszeniert wird. So spricht nicht nur Stasiuk in seinen Betrachtungen des Ostens von Unkraut, auch Herta Müller verwendet in ihrer autofiktionalen Erzählung Niederungen (1984) das Bild »grüne[r] Kelchblätter«, die den Kulturraum Dorf »zudecken und überwuchern« (N 23), um die Einsamkeit und Abgeschiedenheit ihres rumäniendeutschen Heimatdorfs bildlich zu fassen. In Wolfgang Hilbigs Erzählung Alte Abdeckerei (1991) sind die Überreste der deutschen Geschichte in den aufgelassenen Tagebauen der sächsischen Landschaft von »Wirren von Gräsern und Gestrüpp« (A 189) bedeckt und in seiner Erzählung Die Kunde von den Bäumen (1992) wird von einer Mülldeponie berichtet, die von einem »Dschungel von Gewächsen« überzogen ist: »schäbiger Rainfarn, schmutzige Goldruten, deren Dickicht auf dem Unfruchtbaren besser gedieh als auf fruchtbarem Boden« (Hilbig 2010a: 237). Auch Erwin Strittmatters Roman-Trilogie Der Wundertäter (1957, 1973, 1980) erkundet anhand des Braunkohleabbaus und einer von Kohlenstaub »schwarzgrau überpudert[en]« (WIII 120) Ruderalvegetation Vergangenheit. Reinhard Jirgl wiederum beschreibt in seinem Roman Hundsnächte (1997) den 1
Dieser Prozess hat inzwischen zu einer eigenen Ästhetik geführt, wie bspw. der 2006 erschienene Band Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas von Raabe/Sznajderman, aber auch verschiedene Bildbände, wie etwa der im Mitteldeutschen Verlag erschienene Band Die Welt der verlassenen Orte (2014) oder auch der DuMont-Band Stillgelegt (2016) zeigen. Auch der in der Documents of Contemporary Art-Reihe erschienene Band Ruins (2011) ist in diesem Zusammenhang zu nennen.
8
Ruderale Texturen
ehemaligen Grenzstreifen zwischen den beiden deutschen Teilstaaten als einen Ort, an dem alles »von Schimmel u Pilzen u Moos überwuchert[]« (Jirgl 1997: 12) ist und Wulf Kirsten spricht in Die Erde bei Meißen (1987) von »hundskamille« und »wild wuchernde[m] grasfilz« (Kirsten 1987: 39). Der Roman Mitternachtsblüte (dt. 2015, ukr. 2013) der ukrainischen Autorin Maria Matíos nutzt die Beschreibungen einer übermächtigen Natur nicht zuletzt, um ein Bild der Bukowina während deutscher wie sowjetischer Besatzung zu zeichnen und die bislang tabuisierten Ereignisse des 20. Jahrhunderts in den Erinnerungsdiskurs einzuschreiben. In all diesen Beispielen wird im Rückgriff auf eine Metaphorik des Ruderalen eine Frage angesprochen, die seit der Simonides-Episode in der Rhetorik zu den Grundfragen der Literatur gehört2 : Was bleibt, wenn etwas verschwunden ist? Hinsichtlich des 20. Jahrhunderts wird diese Frage nun oftmals im Rekurs auf den Umgang mit Fotografien oder abstrakten Erinnerungskonzepten beantwortet und der Fokus auf diese Weise auf die Idee einer ›Spur‹ oder die Rekonstruktion abwesender Geschichten gerichtet.3 Allerdings lässt sich an Stasiuks Zitat noch etwas anderes ablesen: Das, was hier nach dem Verfall, der Zerstörung, dem Verschwinden zurückbleibt, manifestiert sich in einer ganz konkreten Form des eigensinnigen Wachstums: der Ruderalität. An dieser lässt sich nun – so die hier verfolgte Leitthese – nicht nur ein bestimmter Umgang mit Geschichte und Geschichtlichkeit ablesen, sie erweist sich auch als konstitutiv für die Art und Weise, wie die Texte wahrgenommen werden wollen. Den Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen bildet die Beobachtung, dass verschiedene aus der Zeit des Sozialismus stammende oder sich auf diese Zeit beziehende Erzähltexte zur Bestimmung des historischen Charakters peripherer Räume eine vegetative Metaphorik verwenden. Die ruderale Flora ist also die Allegorie einer historischen Situation. In den Texten aus der oder über die (post-)sozialistische Peripherie wachsen Melde, Rainfarn, Brennnesseln, Huflattich und Gras im Überfluss. Es erweist sich insofern als eine bemerkenswerte Eigenschaft dieser Texte, dass das Erzählen von der Peripherie mit einem Rekurs auf eine spezifische Pflanzenwelt einhergeht und die Ruinenfelder und Brachlandschaften des sozialistischen Systems als paradigmatischer Ort von Brennnesseln und anderen sogenannten ›Unkräutern‹ entworfen werden. Dabei hat die Gedankenfigur einer sich einen Kulturraum zurückerobernden Pflanzenwelt eine eigene Geschichte: Sie ist aus den magisch-realistischen Schreibweisen der 1920er Jahre bekannt. Der Magische Realismus bildet insofern einen wichtigen theoretischen Kontext und fungiert zugleich als Übersetzungsschritt zwischen den Texten vor und
2
3
Siehe hierzu Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens (1997) sowie Aleida Assmann: Erinnerungsräume (1999). Die Trümmerlandschaft, auch das zeigt diese Urszene der Gedächtniskunst, ist der Augenblick, an dem Literatur wichtig für die Überlebenden wird. Siehe dazu bspw. die Arbeiten Bernd Stieglers: Theoriegeschichte der Photographie (2006) sowie Montagen des Realen (2009). In Stieglers Bilder der Photographie (2006) heißt es prägnant: »Der Blick auf das Bild entdeckt dort Spuren der Zeit, eine stillgestellte, eingefrorene, kristallisierte Zeit« (Stiegler 2006: 217) bzw. »[d]ie Photographie wird zur Spur der Vergangenheit, aber zu einer Spur, die […] als Index lesbar wird« (ebd.: 218). Zum Umgang mit Erinnerungskonzepten im Zusammenhang mit dem Ende des Realsozialismus siehe bspw. Clarke/Wölfel (2011), Blacker/Etkind/Fedor (2013) und den darin enthaltenen Aufsatz von Michael Rothberg sowie den von Carsten Gansel herausgegebenen Band Rhetorik der Erinnerung (2009).
1. Ruderale Texturen. Erzählungen von den Rändern
nach 1945 wie auch vor und nach 1989. Über die Gründe will diese Studie Auskunft geben. Ausgehend von der mannigfaltigen Geschichte des Magischen Realismus lassen sich anschließend konkrete Textbeispiele aus der Zeit des Sozialismus wie Postsozialismus vor dem Hintergrund einer Poetik der Ruderalität in den Blick nehmen. Als einführendes Beispiel soll ein Ausschnitt aus Reinhard Jirgls Roman Hundsnächte dienen, der, wie eine Vielzahl der im Folgenden betrachteten Texte, auf eine ruderale Metaphorik rekurriert, um nicht zuletzt auch sein eigenes textgenetisches Prinzip zu verdeutlichen. Der 1997 veröffentlichte Roman berichtet von einem verlassenen Dorf, das sich auf dem ehemaligen Grenzstreifen der innerdeutschen Grenze, dem sogenannten ›Todesstreifen‹, befindet. Das Dorf war schon zu DDR-Zeiten evakuiert und soll nun nach der Wende vollständig abgerissen werden. In diesem Niemandsland haust allerdings ein namenloser Protagonist, ein, wie der Text Auskunft gibt, ehemaliger Anwalt, der sich in den Ruinen verbarrikadiert hat, um zu schreiben und zugleich den Abrisskolonnen Widerstand zu leisten. »Ruinen, zu Ruinen verfallen –, Restegemäuer von einem vor Jahrzehnten evakuierten Dorf inmitten der Iöde, von Schlingpflanzen Baumwerk Weinranken & Büschen im Griff wie unter einer unendlich langsam sich schließenden Faust, Holunderblüten im Dunkel, fahle Nägel & Krallen an den Klauen pflanzlicher Wesen, die mit der unfaßbaren Geduld aller Pflanzen auf das Verschwinden von Zeit lauern, Zeit die sie, die Pflanzen, seit Anbeginn in Bann geschlagen hält, um dann im Augenblick des Lösens von dieser Fessel in I Explosion von Wachstum vorschnellend über die schäbigen Gemäuerreste u die gesamte Landschaft herzufallen, der Menschen u der übrigen Albträume sich bemächtigend« (Jirgl 1997: 10, Herv. i.O.). Die hier zitierten Sätze erzeugen eine Bildlichkeit, die die Aspekte von Ruderalität, Präsenzerfahrung und Textgenese paradigmatisch in sich verschränkt. Schlingpflanzen und Weinranken haben das verödete Dorf und seine Gebäudereste fest im Griff. Der durch die Beschreibung der ›pflanzlichen Wesen‹ erzeugte vitale, sexualisierte Druck wird von der Beschreibung der Flora auf den Text selbst übertragen: Das Wuchern der Schlingpflanzen wird zur Textbewegung. Der sich über mehrere Zeilen erstreckende Satz beginnt mit der Einführung der Ruinen, die, als Subjekt des Satzes, zunächst im Mittelpunkt stehen. Auf eine nähere Bestimmung dieses Subjekts, die zugleich eine Art Vorgeschichte liefert – ›zu Ruinen verfallen‹ –, folgt ein Einschub, der die verfallenen Ruinen noch einmal genauer fasst, dabei jedoch von der Beschreibung der Gebäudereste wegführt und den Fokus auf die Pflanzenwelt richtet. Die Bewegung der Schlingpflanzen nachbildend, die in der Biologie auch als ›Winder‹ bezeichnet werden, da sie mit Hilfe eines windenden Sprosses an einer Stütze hinaufklettern, windet sich der Satz anschließend durch ›Baumwerk‹, ›Weinranken‹ und ›Büsche‹. Dabei weiten sich die Schlingpflanzen mit ihren Wucherungen auch auf die Prosa aus und lassen auf diese Weise verschlungene Satzgebilde entstehen. Die Aneinanderreihung der verschiedenen Pflanzen führt überdies zu einem Verdunklungseffekt, der sich auch auf der sprachlichen Ebene zeigt: Die Ruinen, das Satzsubjekt, sind längst unter den Wucherungen der ›pflanzlichen Wesen‹ verschwunden, sie liegen sowohl auf der Beschreibungsebene als auch auf der Ebene der Satzstruktur zusammen mit den Holunderblüten im ›Dunkel‹. Die Pflanzen fallen mit ›Nägeln‹ und ›Krallen‹ an ihren ›Klauen‹ förmlich über ihre Um-
9
10
Ruderale Texturen
gebung her und erobern die verlassenen Ruinen. Diese schnelle Besiedlung der Trümmer durch die Schlingpflanzen wird schließlich auch in der Orthografie aufgegriffen, etwa wenn der Begriff ›Einöde‹ zu ›Iöde‹ abgekürzt oder die Konjunktion ›und‹ durch ein ›u‹ oder das – schlingpflanzenartig verschlungene – Ersatzzeichen ›&‹ ersetzt wird. Hundsnächte beschreibt hier gleich zu Beginn seine eigene Poetik: Die vegetative Dynamik der Schlingpflanzen lässt sich auch als eine Textbewegung verstehen, die deutlich macht, weshalb die auf diese einleitende Passage folgende Geschichte erzählt werden muss. Darüber hinaus zeigt sich Jirgls Erzählung von einer Rückeroberung durch die Natur fasziniert, die nicht nur in einer Übermacht von ›Baumwerk und Holunder‹ gründet, sondern auch jedes Zeichen einer menschlichen Existenz, ja jede Spur von Politik und Geschichte, in den aufgegebenen Gebieten tilgt. Während der Protagonist im Trümmerhaufen (der Geschichte) verschwindet, übernimmt das Unkraut die Führung im ehemaligen Grenzgebiet wie auch im Erzählfluss des Romans. Jirgls Rekurs auf die vegetative Metaphorik lässt sich auf zweierlei Weise verstehen. Zum einen suggeriert das Unkraut auf der inhaltlichen Ebene eine Form von Vitalität, die die Ruinenfelder des Grenzstreifens überwuchert und dadurch auch von ihnen Besitz ergreift. Der Text verleibt sich die Geschichte quasi ein, um daran zu wachsen. In der Gedankenfigur der Schlingpflanzen wird gezeigt, dass trotz der vorherrschenden Ruinenlandschaften noch etwas da ist. Indem die anthropomorphisierte Pflanzenwelt die »Menschen« und die »übrigen Alpträume […] wie Knüllpapier von-sich schleuder[t]« (ebd.) wird sie schließlich selbst zur Protagonistin des Romans. Zum anderen verfolgt Jirgl eine Poetik des Ruderalen, die den Text selbst als Unkraut – sozusagen als Schlingpflanze, die über die verkommenen Landschaften herfällt – versteht. Ruderalität lässt sich insofern auch als ein textgenetisches Prinzip begreifen: In den Randzonen der Zerstörung entsteht eine Literatur, die ›wild wuchernd‹ all jene Abbraumhalden, Grenzstreifen und Brachlandschaften neu besetzt, die das sozialistische System nach 1989 hinterlassen hat. In Jirgls Fall dient dies einem konkreten Zweck: »Alles schon Getilgte, Weggeworfne & Zerstörte […] noch 1 Mal von-vorn beginnen zu lassen« (Jirgl 1997: 10). Der für die Textanalyse verwandte Begriff ›Ruderalfläche‹ stammt ursprünglich aus der Botanik und bezeichnet dort »die krautige Vegetation anthropogen stark veränderter und/oder gestörter Wuchsplätze, sofern diese weder land- noch forstwirtschaftlich genutzt werden« (Brandes 1988: 7). Das Wort leitet sich vom Lateinischen rudus (Schutt/Trümmer) ab. Im ursprünglichen Sinn meint Ruderalvegetation den »kurzlebigen stickstoffliebenden Bewuchs der Schutthaufen« (ebd.). Die ruderale Flora zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, »gestörte bzw. in der Naturlandschaft nicht vorhandene Wuchsorte zu besiedeln« (ebd.). Als eine Halbkulturpflanze kann die Ruderalpflanze nur im Gefolge des Menschen gedeihen, wobei ihr Wachstum von den entsprechenden, durch Zutun des Menschen erzeugten ökologischen Bedingungen abhängig ist: Sie wächst »auf nicht bewirtschafteten, aber ebenfalls vom Menschen beeinflußten Standorten wie Wegrainen, Müll- und Schuttplätzen sowie Bahn- und Industrieanlagen« (Hofmeister/Garve 1986: 127). In der Biologie wird zum Teil noch einmal zwischen Ruderalflora und Unkraut unterschieden. Während mit ›Unkraut‹ meist solche Pflanzen bezeichnet werden, »die die angebauten Kulturgewächse schädigen, indem sie ihnen Platz, Licht und Nährstoffe wegnehmen« (Weber 1961: 7), meint der Begriff ›Ruderal-
1. Ruderale Texturen. Erzählungen von den Rändern
pflanze‹ vor allem solche Pflanzen, »die die Kulturpflanzen nicht schädigen, vom Menschen daher meist geduldet werden, andererseits aber auch nur in seinem Gefolge gedeihen können« (ebd.: 8). Im Zusammenhang mit den hier betrachteten Textbeispielen wird der Begriff ›Ruderalflora‹ etwas weiter gefasst und damit all jene Pflanzen bezeichnet, die »ohne bewußtes Zutun des Menschen auftreten« (Hofmeister/Garve 1986: 127), die zugleich aber mit den vom Menschen (ehemals) besiedelten Räumen in Verbindung stehen. Die biologische Definition der Ruderalflora, so der an dieser Stelle spannende Punkt, lässt sich nun auch als Beschreibung der Textpraxis verstehen, die von den ausgewählten Texten verfolgt wird. Ohne den Grund, auf dem sich diese bewegen, zu ›schädigen‹, entstehen sie im ›Gefolge‹ gewisser historischer Anordnungen wie den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs oder dem Fall der Berliner Mauer. Anders formuliert: Die Texte wollen als ein vitales Medium wahrgenommen werden, das aus einer bestimmten historischen Konstellation entwächst. Dabei loten sie Positionen eines Schreibens aus, das sich zwischen dem radikalen Subjektivismus aktivistischer Literatur und dem selbstbezüglichen Erzählgestus belletristischer Bestseller verortet. In dieser Zwischenposition gründet auch ihr dezidiert politischer Anspruch: Die historische Situation abzubilden, sie sich im Bild des Wucherns förmlich einzuverleiben, ohne sie allerdings verändern zu wollen. Jirgls Ruinen-Dorf erweist sich, so gesehen, als Ruderalfläche par excellence. Gleichzeitig wird an dieser Stelle bereits deutlich, dass sich im Medium des Ruderals auch genealogische Aspekte in den Blick nehmen lassen: Jirgl schreibt sich hier in eine (nicht nur literarische) Traditionslinie ein, in der die anthropomorphisierte Pflanzenwelt zum präferierten Schauplatz avancierte.4 Darüber hinaus lassen sich hinsichtlich jener Wegraine, Müll- und Schuttplätze Parallelen zur klassischen Moderne ziehen, schließlich gehört es spätestens seit Walter Benjamins Überlegungen zur Figur des Lumpensammlers zur deren Topik, dass die wirkliche Geschichte vor allem in Müll und Schutt beobachtet werden kann.5 Als eine ›lebendige Metapher‹ im Sinne Paul Ricœurs fungiert die Ruderalität nun als eine Möglichkeit, die auf Satz- bzw. Textebene erzeugte Bildlichkeit vor dem Hintergrund der jeweiligen Kontexte zu betrachten und so eine innovative Neubeschreibung der (Text-)Wirklichkeit zu leisten. In seiner 1986 erschienenen Studie Die lebendige Metapher widmet sich Ricœur nicht nur der »sprachimmanenten Erweiterung durch die metaphorische Sinnschöpfung« (Ricœur 1986: III), sondern zeigt zugleich auf, inwiefern durch Metaphernbildungen innovative Semantiken entstehen können. Die Metapher, so der Ansatz, ermögliche eine Neubeschreibung der Wirklichkeit, indem sie 4
5
Man denke bspw. an Horst Langes Roman Ulanenpatrouille (1940) oder an Elisabeth Langgässers Gang durch das Ried (1936), ebenso wie an die Urwaldbilder Henri Rousseaus (1844-1910), in denen der Gegensatz zwischen einer gezähmten westlichen Welt und einer ungezähmten imaginären ausgestaltet wird. Mit seiner Textpraxis der ›Verdichtung‹ wiederum beerbt Jirgl Arno Schmidt und dessen eigenwillige Orthografie und Interpunktion. So lautet denn auch ein Motto Benjamins im Passagen-Werk: »Créer de lʼhistoire avec les détritus même de lʼhistoire.« (Benjamin 1982: 674) Zu dieser Analogie von Müll und Archiv siehe außerdem Georges Didi-Hubermann (2002: 53-65) sowie Aleida Assmanns Ausführungen in ihrer einschlägigen Studie Erinnerungsräume (Assmann 2010: 384-390).
11
12
Ruderale Texturen
einerseits an bestimmten Regeln partizipiere, diesen jedoch andererseits auch einen schöpferischen Ausdruck entgegensetze, der sich von konkreten Vorgaben löse. Diese Beobachtung beschreibt im Grunde auch die zentrale Selbstbehauptung der ruderalen Texte. In diesem Zusammenhang rückt vor allem das von Ricœur als ›heuristische Funktion‹ bezeichnete Potential des metaphorischen Ausdrucks in den Fokus: Aus der Metapher lasse sich ein Erkenntnisgewinn ziehen; sie werde als Mittel einer »Heuristik des Denkens« (ebd.: 28) lesbar. Indem, so beobachtet Ricœur, die Metapher vor dem Hintergrund eines konkreten Kontexts betrachtet werde, erweise sie sich als eine Möglichkeit, eine »andere Dimension der Wirklichkeit« aufzudecken und damit auch eine »neue Deutung der Welt« (ebd.: VII) freizusetzen. Ricœur plädiert an dieser Stelle für eine »aufdeckende Funktion der Literatur« (ebd.: III).6 Diese Öffnung der literarischen Analyse auf eine ›weltliche‹ Referenz hin lässt sich nun auch für die Analyse der im Folgenden betrachteten Werke produktiv machen. Indem Ricœurs Begrifflichkeit für die eigene Textanalyse adaptiert wird, kann gezeigt werden, inwiefern das Konzept der Ruderalität genau das leistet, was Ricœur unter innovativer Semantik und metaphorischer Sinnschöpfung versteht. Ruderalität erweist sich dann als metaphorischer Ausdruck und heuristisches Mittel – als eine ›Heuristik des Denkens‹ – zugleich. Auf diese Weise lassen sich auch die Poetiken der einzelnen Texte beschreiben, deren ›aufdeckende Funktion‹ nicht zuletzt in ihrem ganz eigenen politischen Anspruch an die Literatur gründet. Diese Literatur gilt es, in ihren jeweiligen Strukturen zu betrachten, aus denen sich Potenz und Potential der Ruderalität erst eigentlich speisen. Dabei ist die Idee einer ›Lebendigkeit‹ dem Konzept der Ruderalität durch die Bildlichkeit von Wachsen und Wuchern grundsätzlich eingeschrieben. Die vegetative Eigenlogik des ›Selber-Wachsens‹ lässt sich als jene Textbewegung verstehen, die nach Ricœur zu innovativen Semantiken führt. Die Unkrautszenarien stehen hier in engem Zusammenhang mit der Erzeugung einer Diegese und werden zugleich als poetologische Annäherung an die in den Texten verhandelten Themen beschreibbar. Das Ruderal mit seinen Bildbereichen hat insofern eine poetologische Funktion, während es sich gleichzeitig jedoch auch als ein literaturwissenschaftliches Konzept verstehen lässt. Die am Beispiel von Jirgls Erzählung aufgezeigten Bedeutungshorizonte der Ruderalität lassen sich nun an verschiedenen anderen Erzähltexten der (post-)sozialistischen Zeit nachzeichnen. Wie auch bei Jirgl wird in diesen die Vorstellung einer wild wuchernden Flora mit den zerstörten Räumen des dysfunktionalen sozialistischen Systems und seinen (industriellen) Brachlandschaften zusammengedacht. Vor dem Hintergrund devastierter Landschaften und verlassener Siedlungsgebiete entfalten die Erzähltexte Schreibweisen, deren vegetative Metaphoriken sowohl aus einer inhaltlichen als auch aus einer produktionsästhetischen Perspektive von Relevanz sind. Ihnen liegt eine bestimmte symbolische Ordnung zugrunde: ein Nexus zwischen Zerstörung und Neu-Imagination. Auf den durch die Industrialisierung, die beiden Weltkriege wie auch durch die sozialistischen Modernisierungsmaßnahmen des Agrarsektors zerstörten Flächen, auf den Schutthalden des 20. Jahrhunderts also, entsteht mit der 6
Der Begriff der Aufdeckung (révélation) wird von Ricœur dabei in einem doppelten Sinne verwandt: als Entdecken und als Verwandeln (vgl. Ricœur 1986: III).
1. Ruderale Texturen. Erzählungen von den Rändern
Ruderalflora etwas, das einen Neuanfang signalisiert und zugleich immer schon auf den Boden, auf dem es wächst, zurückverweist. Die Schlingpflanzen Jirgls binden die Brachen und Gebäudereste damit einerseits an die deutsche Geschichte zurück und überführen sie andererseits in eine zu diesem Zeitpunkt noch unbestimmte Zukunft. Zugleich handelt es sich bei den Ruderalpflanzen um vorübergehende Existenzen, die – auch aus einer poetologischen Perspektive betrachtet – auf eine Art Zwischenstadium verweisen7 : Als Interimsphänomen markieren sie stets ein Stadium zwischen dem bereits Vergangenen und einer noch nicht eingetretenen Zukunft.8 Nimmt man das Bild der lebendigen Metapher in seiner Semantik ernst, so zeigt sich, dass die Wucherungsbewegungen der Ruderalflora eine enge Verbindung mit den Strukturbedingungen ihrer Zeit eingehen. Der Verdacht liegt nahe, dass der vitale Druck, der am Beispiel von Hundsnächte deutlich wurde, in einem Artikulationsbedürfnis gründet, das einzig im Bild der übergriffigen Schlingpflanzen einen adäquaten Ausdruck finden kann. Anders formuliert: Hier werden Ruderalität und Textgenese auf eine Weise verknüpft, die Aussagen über den Umgang der Erzählungen mit Politik und Geschichte und damit auch über die Dringlichkeit von Literatur erlaubt.
Transformation der Peripherie Das »Einsammeln zerstreuter Reste« (Assmann 2010: 360), dem sich die Literatur im 20. und 21. Jahrhundert widmet, vollzieht sich im Osten auf durchgearbeiteten Flächen. Im Zuge der sozialistischen Modernisierungsbestrebungen veränderte sich das Landschaftsbild der ostdeutschen und osteuropäischen Länder in den letzten 60 Jahren umfassend. Ausschlaggebend dafür waren verschiedene wirtschaftliche wie politische Transformationsprozesse, insbesondere die Modernisierung des Agrarsektors, der Auf- und Ausbau industrieller Areale sowie die Verödung ganzer Landstriche nach dem Ende der realsozialistischen Systeme. Während die (städtischen) Zentren der Moderne9 Entscheidungen trafen, wurden in den (ländlichen) Peripherien tiefgreifende Transformationen vorgenommen. Die im Folgenden skizzierten gesellschaftlich-historischen Entwicklungen und Lagen rücken insofern sowohl die Signaturen einer Industriemoderne im Allgemeinen als auch die Entwicklungslinien der staatsozialistischen
7
8
9
Diese Vorstellung von einer Art ›ausbalanciertem Zwischenstatus‹ hat Georg Simmel in seinem kleinen Aufsatz Die Ruine (1907) präzise gefasst. Seine Beobachtungen bezüglich der Ruine lassen sich auf den Interimsstatus des Ruderals übertragen. Wenn Simmel über die Ruine schreibt, an ihr würden zwei »Weltpotenzen« deutlich, »das Aufwärtsstreben und das Abwärtssinken«, und diese fänden in ihr zu einem »ruhenden Bild« (Simmel 1986: 122) zusammen, so bezeichnet er genau jenen Moment des Dazwischen-Seins, der auch am Ruderal deutlich wird. Dass der Ort des Ruderals letztlich jedoch einer des Dazwischen ist bzw. dass es sich bei der Ruderalität um ein Interimsphänomen handelt, zeigt das Ende von Hundsnächte anschaulich. Die verfallenen Dorfruinen werden am Ende durch eine Explosion der dort vergrabenen Chemikalien zerstört, durch die Altlasten der Vergangenheit also, die sowohl die Überreste der ehemaligen DDR als auch das dort siedelnde Unkraut hinwegreißen. Der Begriff ›Moderne‹ verweist hier auf die Ereignisse des 20. Jahrhundert als einem ›Zeitalter der Extreme‹ (Hobsbawm). Zum ›Konzept Moderne‹ siehe Graevenitz (1999).
13
14
Ruderale Texturen
Gesellschaft nach 1945 im Besonderen ins Blickfeld.10 Inwiefern die Literatur auf die Transformationen des global east reagiert, soll einführend an drei Beispielen schlaglichtartig illustriert werden: An den Prozessen von Bodenreform und Kollektivierung, am Vorgang der Braunkohlegewinnung sowie an der Abwanderung der Bevölkerung aus abgelegenen Regionen nach der politischen Wende der 1990er Jahre. Umstrukturierung der Landwirtschaft Durch den Übergang zur Kollektivierung der Landwirtschaft fand im 20. Jahrhundert in zahlreichen unter sowjetischer Herrschaft stehenden Ländern eine Neuordnung der ruralen Gebiete statt, die die vorhandenen Strukturen zerschlug und durch neue ersetzte. Im Zuge der Umsetzung der marxistisch-leninistischen Ideologie sollte die Gesellschaft in eine neue Ordnung überführt und auch der ländliche Raum im sozialistischen Sinne umgestaltet werden. Bauern, die im Besitz von ›Produktionsmitteln‹ waren und über Ackerfläche verfügten, galten demnach als eine zu bekämpfende Klasse. In der Sowjetunion wurde daher schon 1917, unmittelbar nach dem bolschewistischen Umsturz, eine Politik umgesetzt, die, in Übereinstimmung mit den marxistisch-leninistischen Theorien, besagten Zweischritt durchführte: Auf die Enteignung und Vertreibung der Groß- und Mittelbauern zugunsten von Kleinbauern (Bodenreform, 1918-1921) folgte die Enteignung des gesamten Bauernstands (Kollektivierung, 1929-1932). Das Ziel der brutal umgesetzten Kampagne war die Proletarisierung des Bauernstands und die hierfür erforderliche Konzentration und Industrialisierung der gesamten Landwirtschaft. Zudem sollten jegliche Reste einer ›kapitalistischen‹ Gesellschaftsordnung beseitigt werden. »Dieser Plan sah nichts anderes vor, als die komplette Liquidierung der selbstständigen Bauern als Klasse«, konstatiert der Historiker Michael Beleites (2011: 9). Dem sowjetischen Beispiel folgend, wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch in all jenen Staaten Ostmitteleuropas, die unter sowjetische Besatzung gerieten, der Versuch unternommen, Bodenreform und Kollektivierung entsprechend den Vorgaben der marxistisch-leninistischen Ideologie umzusetzen und auf diese Weise eine ›proletarische Revolution‹ zu forcieren. Der UdSSR kam dabei eine Modellfunktion zu. Auch in der DDR wurde zwischen 1945 und 1948 die Forderung ›Junkerland in Bauernhand‹ durch Enteignungen erfüllt, die landwirtschaftlichen Großbetriebe wurden im Zuge der Bodenreform aufgelöst. »Zu keinem anderen Zeitpunkt«, so beobachtet der Historiker Jens Schöne (2011: 18), »erlebte die Landwirtschaft zwischen Elbe und Oder derart dramatische Veränderungen wie in den Jahren 1945 bis 1960«. Die anschließende Kollektivierung überführte zwischen 1952 und 1960 die noch bestehenden beziehungsweise neu entstandenen kleinen und mittleren Bauernwirtschaften in neu geschaffene Großbetriebe. Die zum Teil noch privaten Landwirtschaftsbetriebe mussten sich zu sogenannten ›Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften‹ (LPGs) zusammenschließen. Diese flächendeckenden Maßnahmen hatten in den verschiedenen Bezirken der DDR unterschiedliche Auswirkungen, die Zerstörung der selbstständigen Bauernwirtschaft wirkte sich jedoch überall auf die Beziehung der Landbevölkerung zu Grund 10
Die sozialistischen Transformationsbemühungen lassen sich insofern auch als Teil eines globalen Geschehens verstehen, das die Welt in eine Ressource umwandelte und Stadt und Land in neue Beziehungen zueinander treten ließ.
1. Ruderale Texturen. Erzählungen von den Rändern
und Boden aus und vernichtete die Basis dessen, was die gewachsenen Strukturen im ländlichen Raum geprägt hatte. Dabei wurden die mit massiver Gewalt verbundenen Prozesse als »historische Notwendigkeit« (ebd.) bezeichnet und unter dem Deckmantel der Entnazifizierung und Modernisierung umgesetzt.11 Die durch die friedliche Revolution von 1989 in den Ostblockstaaten angestoßene postsozialistische Transformation und der Weg von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft führten dazu, dass die sozialistische Planökonomie nach der Wende ihre Berechtigung verlor. In Ostdeutschland bzw. Osteuropa sind die Folgen der agrarpolitischen Maßnahmen jedoch bis heute sichtbar. Die während des Sozialismus geschaffenen Flächen zeugen in ihren Ausmaßen deutlich vom agrarideologischen Anspruch der sozialistischen Regime. Sie verweisen auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Agrarpolitik der sowjetischen Länder zurück und machen noch einmal deutlich, inwiefern das Private dem Kollektiven weichen musste. Die Literatur, die das sozialistische Modernisierungsexperiment begleitete, schwankt zwischen (blinder) Affirmation und (radikaler) Dissidenz. Der im dritten Kapitel betrachtete DDR-Autor Erwin Strittmatter und sein Umgang mit den zeitgenössischen Diskursen und den gleichermaßen politischen wie ästhetischen Vorgaben steht hier exemplarisch für eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Strittmatters Romane berichten von den mit den sozialistischen Transformationsmaßnahmen verbundenen gesellschaftlichen Konflikten und loten dabei verschiedene Positionen aus, etwa wenn sein Roman Ole Bienkopp (1963) die forcierte Kollektivierung durchaus kritisch beleuchtet und in der titelgebenden Romanfigur einen eigensinnigen Helden entwirft, der sich den strikten parteilichen Vorgaben entgegenstellt. Braunkohleabbau Nach 1945 entstanden zudem verstärkt Industriegebiete, die das Landschaftsbild Osteuropas ebenfalls nachhaltig verändern sollten. In der DDR wurde vor allem Braunkohle zum wichtigen Energielieferanten: Während ihres 40-jährigen Bestehens waren die Fördermengen zwischenzeitlich die höchsten der Welt.12 Die Landschaft war danach nicht wiederzuerkennen. Hatte sich mit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert der ehemalige bäuerliche Nebenerwerb zum Industriezweig entwickelt, so bestimmte in den 1970er und 1980er Jahren die Montanindustrie das Landschaftsbild Mitteldeutschlands und der Lausitz. Zum Zweck industrieller Nutzung wurden die Erdschichten in den Braunkohlerevieren systematisch abgetragen und die Kohleflöze ausgebaggert. Braunkohle stellte ab den 1970er Jahren den Hauptenergielieferanten der DDR dar. So wurde beispielsweise im Gaskombinat Schwarze Pumpe bei Spremberg 11
12
In seiner Studie Das sozialistische Dorf (2011) zeigt der Historiker Jens Schöne, dass die beiden oft als gegenläufig verstandenen Maßnahmen zusammengehörten und als zwei Teile eines Plans betrachtet werden müssen, in dessen Zentrum letztlich die Vernichtung des Bauerntums als Klasse stand. Nichtsdestotrotz wurde besonders die Bodenreform oftmals als Beitrag zur Entnazifizierung verstanden, da v.a. den Großbauern eine Nähe zum Nationalsozialismus unterstellt wurde. Die Kollektivierung wiederum sollte dem Aufbruch in eine neue, moderne Welt dienen. Zur sozialistischen Umgestaltung des ländlichen Lebensraums und der Idee eines ›Sozialismus auf dem Lande‹ siehe neben Schöne (2011) bspw. Bauerkämper (2000). Zur Braunkohleindustrie in Mitteldeutschland vgl. Wagenbreth (2011).
15
16
Ruderale Texturen
in der Oberlausitz, dem bis 1989 größten Braunkohleveredlungsbetrieb der Welt, ab 1959 ein Großteil der Energieträger der DDR produziert. Der rücksichtslose Braunkohleabbau und die ausbleibende Modernisierung der überholten Anlagen ging dabei auf Kosten der Region und ihrer Bevölkerung. Die unter dem Deckgebirge befindlichen Erdschichten wurden abgetragen und so zunächst Massen an Abraum produziert. Das Grundwasser musste abgepumpt und weggeleitet werden. ›Schwarze Pumpe‹ nahm massive Eingriffe in die Landschaft vor und zeigt bis heute den langfristigen Effekt, den die Braunkohlegewinnung auf eine Region hat13 : Mondlandschaften ohne jegliche Vegetation kennzeichnen das Landschaftsbild. Spätestens ab den 1960er Jahren entwickelten sich allerdings ökologische Umweltbewegungen und eine damit zusammenhängende politische Öffentlichkeit. Angeprangert wurden neben den Eingriffen des Tagebaus in die Natur auch die Waldschäden im Erzgebirge und die Luftverschmutzung um Bitterfeld.14 Ab circa 1980 schwand in den ostdeutschen Braunkohlerevieren schließlich die Raumdominanz der Industrie; die Produktion wurde ausgelagert und die einstigen Industrieareale entweder rückgebaut oder dem allmählichen Verfall preisgegeben. Die nach der Ausbeutung der Umwelt zurückgebliebenen, weitläufigen Abbaugebiete der Braunkohlegewinnung bestimmen jedoch bis heute das Bild der Regionen: Restlöcher und Brachen, aufgelassene Industrieruinen, Schlacken, Abraum und Schutt beherrschen die, so eine Formulierung Rainer Gruenters (1993: 164), »rostdunkle Landschaft einer geschichtlich und technisch zu Ende gekommenen Industrie«. Die Modernisierungsbemühungen im landwirtschaftlichen wie industriellen Bereich veränderten den Raum nachhaltig und hinterließen ihre Spuren in der intensiv genutzten Landschaft. Bis zum Ende der DDR wurden keine flächendeckenden landschaftlichen Rekultivierungsmaßnahmen umgesetzt und auch der Umweltschutz spielte nur eine marginale Rolle. Die Anlagen der alten Industriesysteme waren überholt und der hohe Preis der autarken Energieversorgung der DDR zeigt sich noch heute in verödeten Gegenden und allmählich verfallenden LPG-Arealen. Als Resultat der langjährigen Transformationsprozesse bestimmen gigantische Felder, überflüssige Industrieanlagen und verbrauchte Kohleabbaugebiete das Landschaftsbild.15 Die allgegenwärtige Verschmutzung und Zerstörung, die maroden Stätten der Arbeit und weiten Tagebauflächen, die Verwerfungen und Löcher gehen mit den ungenutzten Fabrikhallen eine enge Verbindung ein. Der industrielle Braunkohleabbau hinterließ versehrte und für lange Zeit nicht nutzbare Kulturlandschaften, die ihren kulturtechnischen Funktionen, wie etwa Besiedlung und Landwirtschaft, enthoben sind und auch ihrer primären ästhetischen Eigenschaft, Naturausschnitt zu sein, entbehren (vgl.
13 14 15
Nach der Wende wurde das Braunkohlewerk auf der Grundlage neuer, z.T. umweltschonenderer Technologien neu errichtet und produziert heute als LEAG-Kraftwerk. Zu Umweltgeschichte und -politik der DDR siehe die Arbeiten von Tobias Huff (2014, 2015). Die in den 1980er und 1990er Jahren aufkommende Beschäftigung mit der zurückbleibenden postindustriellen Landschaft führte allerdings v.a. in Ostdeutschland auch zu Umnutzungen und Umgestaltungen. So entstanden bspw. im Süden Leipzigs und in der Niederlausitz Naherholungsräume mit Seenlandschaften. Insgesamt wurden jedoch nur circa 50% der in der DDR für den Braunkohleabbau in Anspruch genommenen Landschaften wieder rekultiviert, dies z.T. mit erheblichen ökologischen Mängeln (vgl. Wagenbreth 2011: 155).
1. Ruderale Texturen. Erzählungen von den Rändern
Probst 2017: 169). Trotz der in einigen Gebieten vorgenommenen Rekultivierungsmaßnahmen wird es lange dauern, bis eine künftige Vegetation den unfruchtbaren Boden neu besiedelt hat. Die Literatur reagiert auf diese veränderten Landschaften. So finden sich beispielsweise in den Texten des sächsischen Autors Wolfgang Hilbig verschmutze Gewässer und verseuchte Barackensiedlungen, leerstehende Fabrikareale und gigantische Mülldeponien, eine allgegenwärtige Zerstörung also, die auch die prekäre ökonomische Situation der späten DDR deutlich macht. Die Protagonisten seiner Erzählungen bewegen sich an den Abbruchkanten, auf »schmale[m] Grat über der Leere« und durch »bodenloses Terrain« (Hilbig 2009b: 471). Dabei gehen die verödeten Abraumhalden mit den nicht mehr bewirtschafteten Feldern – »seit unbekannten Zeiten brachliegend« (Hilbig 2009c: 485) – eine enge Verbindung ein. Wenn Hilbig (1992a: 195) schreibt, dass »auf dieser wüsten Fläche […] für viele Jahrzehnte nichts oder kaum etwas wachsen [wird], denn der Abraum stammt aus dem Innern der oberen Erdschichten, er ist totes Geröll, Sand, Kies, völlig unfruchtbare Materie«, dann zielt er auf eben jene irreparable Zerstörung der Gebiete ab. Dass diese brachliegenden Flächen den tradierten Definitionen und Vorstellungen des literarischen Landschaftsbegriffs zuwiderlaufen, bemerkt auch Inga Probst in ihrer 2017 erschienenen Studie Vakante Landschaft. Sie lassen sich insofern auch als »Anti-Landschaften« (Probst 2017: 15) bezeichnen. Eine Betrachtung dieser industriellen Räume als Landschaften fordert somit eine Nachjustierung des literaturwissenschaftlichen Landschaftsbegriffs ein, der von der standardisierten Vorstellung einer schönen und idealen Landschaft abweicht und auch die zerstörten Gegenden einstiger Industriestandorte miteinbezieht. Indem der ästhetische Landschaftsbegriff so um die Komponente der postindustriellen Landschaft erweitert wird, lassen sich jene einstigen Kernzonen industrieller Produktion sowie landwirtschaftlicher Exploitation trotz ihrer offensichtlichen Divergenz zum ästhetischen Idealbild von Landschaft in den Blick nehmen.16 Als weitaus spannender erweist sich in diesem Zusammenhang jedoch die Frage, wie diese ›Anti-Landschaften‹ aus ihrem defizitären Status gelöst werden und wieder einen ästhetischen Eigenwert gewinnen können. Dies zeigen die im Folgenden betrachteten Texte. In seiner Erzählung Die Kunde von den Bäumen entwirft Hilbig schließlich das Szenario einer Neubesiedlung der devastierten Landschaften durch eine ruderale Flora. Auf den planierten Flächen der Braunkohlegebiete breiten sich nach dem Rückzug der Bagger »trockenes hartes Gras, Kletten, Röhricht […], schäbiger Rainfarn, schmutzige Goldruten« (Hilbig 2010a: 237) aus. Die Wildpflanzen erobern die weiten Brachflächen zurück und überführen die ausgekohlten Gebiete dabei in eigentümliche Räume einer sekundären Nach-Natur. Die invasiven Pflanzen werden von Hilbig dabei explizit
16
Probst bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den von dem französischen Soziologen Alain Touraine geprägten Begriff der ›Postindustrie‹ und dessen Werk Die postindustrielle Gesellschaft (franz. 1969, dt. 1972). Mit Kerstin Hensels Roman Im Spinnhaus (2003) und Volker Brauns Schelmenerzählung Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer (2008) hat Probst in ihrer Arbeit zwei weitere Beispiele untersucht, die die postindustriellen Landschaften literarisch aufarbeiten und zur Darstellung bringen.
17
18
Ruderale Texturen
als Unkräuter der Brachen gekennzeichnet. Es handelt sich um Pflanzen, »deren Dickicht auf dem Unfruchtbaren besser gedieh als auf fruchtbarem Boden« (ebd.). Ein ähnliches Phänomen beschreibt auch Monika Maron in ihrem 2009 erschienenen ›Bericht‹ Bitterfelder Bogen, der den Wandel der Region um Bitterfeld nachzeichnet: Wo »vorher rußgeschwärzte Fabrikhallen dicht nebeneinander die Straßen der Werkgelände säumten, breiteten sich nun steppenähnliche, von Gräsern und Wildblumen bewachsene Flächen« (Maron 2009: 43) aus. Dort also, wo die Transformationsprozesse einer auf Fortschritt ausgelegten Moderne besonders brutal umgesetzt wurden, lässt sich nun in der Literatur, so legen die beiden Beispiele nahe, der Rekurs auf eine die öden Gegenden neu besiedelnde Flora beobachten. Leere Landschaften Seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und den damit einhergehenden Veränderungen in Mittel- und Osteuropa zeigt sich noch ein dritter Effekt. Die Spuren der diktatorischen Regime verschwinden nach und nach und hinterlassen zeichenhafte Reste, die an die vergangenen Systeme zurückerinnern: alte Barackensiedlungen, kaputte Gebäude, leerstehende Mehrfamilienhäuser. Während sich die Postindustrialisierungsprozesse Westeuropas und die postsozialistische Übergangsphase der DDR größtenteils im Zuge einer langfristigen und systematischen Verschiebung auf den Dienstleistungssektor ereigneten, die produzierende Industriearbeitsgesellschaft sich also nach und nach zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft wandelte, führten dieselben Prozesse in Ostmitteleuropa zum ökonomischen Zusammenbruch. Arbeitslosigkeit, Verödung und Abwanderung waren die Folge.17 Der Zerfall der Sowjetunion hinterließ folglich ein Schuttfeld, eine postindustrielle Ruinenlandschaft, in der die Relikte der totalitären Systeme – und dies ist der Einsatzpunkt für die Lesart, zu der die hier vorgelegte Studie Vorschläge unterbreiten möchte – eine enge Verbindung mit einer sich ausbreitenden ruderalen Flora eingehen. So konstatiert Andrzej Stasiuk in immer wieder neuen Formulierungen, die »materiellen Symbole des gescheiterten Kommunismus« seien »bröckelnder Beton, rostendes Eisen und Unkraut, das aus den Ritzen der geborstenen Mauern wächst« (Stasiuk 2015: 61). Die Reisen des polnischen Autors, die dieser in literarischen Erzählungen ebenso verarbeitet wie in poetischen Reiseberichten, widmen sich der Erkundung dieses ›verwucherten‹ Raums. In Der Osten (dt. 2016, poln. Wschód, 2015) berichtet Stasiuk von seinen Reisen von Polen über Russland bis nach China. Sein Ziel: Dem Sowjetkommunismus, unter dem er seine Kindheit verbrachte, nachzuspüren. Die Landstriche, die er passiert, sind wüst und leer, es sind verödete Gegenden, in denen nur noch die Reste des sowjetkommunistischen Systems zu finden sind: »Reste 17
Marszałek/Nell/Weiland (2018: 22) halten in diesem Zusammenhang fest: »Zwar verschwinden seine Spuren [die des sozialistischen Modernisierungsexperiments, Anm. J.K.] heute überall in Folge marktwirtschaftlicher Transformationsprozesse; diese verlaufen aber keineswegs einheitlich und hinterlassen in unterschiedlicher Weise nicht nur Überreste, sondern auch durchaus merkwürdig heterogene Neubildungen. Osteuropäische ländliche Provinzen stellen deshalb heutzutage meist hybride Landschaften dar, die Gegensätzliches verbinden: die alte und neue Armut mit dem neuen Kapital, Entvölkerung mit Tourismus, Zerfall von Infrastrukturen und sozialen Zusammenhängen mit insularen ökologischen Initiativen, Reste dörflicher Gemeinden mit elektronisch vermittelten und räumlich zerstückelten Netzwerkbildungen etc.«
1. Ruderale Texturen. Erzählungen von den Rändern
von Backsteinpfosten, Überbleibsel der Gebäude« (Stasiuk 2017: 12), »postkommunistische[] Ruinen« (ebd.: 260), »Sand und Ewigkeit« (ebd.: 72). Die transbaikalische Wirklichkeit, das ist »Staub, zerbröckelter Asphalt, das Grau der bröselnden Mauern, Elend und Verfall der Materie« (ebd.: 140). Die Menschen haben die Regionen längst verlassen, sie sind in die Städte oder in den Westen gezogen. »Die Häuser verrotten.« (Ebd.: 38) Stasiuk spricht diesbezüglich auch von einer »Poetik der Entvölkerung« (ebd.: 31) und greift damit eine Gedankenfigur auf, die er in dem 2006 erschienenen Band Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas bereits formuliert hat: Die Vorstellung von einer ›melancholischen Geografie‹18 . In den verlassenen Landschaften des Ostens verharre die LPG in einem »Dämmerzustand«, man begegne nur »Gräbern und Überresten«, die »Brunnen wuchsen mit Gras zu« (Stasiuk 2017: 16), überall »Pappeln und Unkraut« (ebd.: 33). Es ist eben jenes Unkraut, dem in diesem Hinterland eine besondere Bedeutung zukommt. Schnell wird deutlich, dass in Stasiuks Beschreibungen des Ostens die Ruderalvegetation omnipräsent ist: »Ein paar armselige Baracken, viel Stacheldraht und an den Ecken verrostete Türmchen. Ringsum wuchs üppiges Unkraut.« (Ebd.: 141)19 Im Zug sitzend beobachtet der Autor »[d]raußen vor den Fenstern dieses triste Zeug, das man kaum als Flora bezeichnen kann« (ebd.: 127), in den abgelegenen Gebieten könne man zusehen, »wie der Beton barst, wie das Unkraut wuchs und die Häuser langsam im Dauerfrostboden versanken« (ebd.: 261). Alles wächst zu: »In den Dörfern lag rotes Katzenkopfpflaster, das allmählich mit Gras zuwuchs.« (Ebd.: 110) Kurz: »Das Gras wächst nach.« (Ebd.: 216)
Ruderalität Die drei hier genannten Phänomene – die Kollektivierungsmaßnahmen der 1960er Jahre, der Aufbau und anschließende Verfall industrieller Areale sowie die mit dem Aufbrechen des Ostblocks in Ostmitteleuropa einhergehende Entvölkerung ganzer Regionen – stehen exemplarisch für die Transformationen der ehemaligen Ostblockstaaten nach 1945 und 1989 und bilden den Hintergrund der betrachteten Texte. Die vorliegende Arbeit fragt nun, wie die Literatur auf die Transformationen des Ostens reagiert, wobei ein besonderes Augenmerk der Landschaft und ihrem Wandel gilt. Den Texten ist eine metaphorische Gemeinsamkeit eigen, die sich im Umgang mit den brachen Flächen und leeren Räumen zeigt. Dabei bildet das sich auf den Trümmern und Resten ansiedelnde Unkraut ein Dreifaches ab: Die Brennnesselwälder und der schmutzige Rainfarn verweisen, erstens, auf die magisch-realistische Schreibweise, die sich im 20. Jahrhundert sowohl in Europa als auch in Lateinamerika herausbildete und als deren paradigmatischer Topos die Rückeroberung von ›Kulturgut‹ durch die Natur gilt. 18
19
Eine »melancholische Geographie unseres Kontinents« beinhaltet für Stasiuk »Orte […], die keiner besucht, Orte, deren Gegenwart die Vergangenheit ist, Orte, die man der Zeit zum Fraß vorgeworfen hat« (Stasiuk 2006: 319). Die auf diese Verunkrautung vorausgehende Phase der Industrialisierung fasst Stasiuks in einer Beschreibung der Geldnoten: »Auf dem roten Hunderter qualmten in einer düsteren, blutigen Landschaft schwarz die Schornsteine, und quer über die Banknote fuhr eine altmodische Lokomotive. […] Auf der Rückseite des graubraunen Fünfhunderters wühlten Arbeiter mit Spitzhacken in einem Haufen Kohle« (Stasiuk 2017: 251).
19
20
Ruderale Texturen
Die ruderale Topik ist insofern, und dies ist auch der Einsatzpunkt für die hier vorgeschlagene Lesart, seit Oskar Loerkes kleiner Erzählung Die Puppe (1919) immer schon mit magisch-realistischen Schreibweisen verknüpft. Dass auch die ausgewählten Erzählungen aus der und über die (post-)sozialistische Peripherie Beziehungen zu diesen unterhalten, gründet, so ließe sich eine erste Vermutung aufstellen, in einer Affinität von bestimmten historischen Situationen zu bestimmten literarischen Ausdrucksweisen. Dabei erfährt der Magische Realismus vor dem Hintergrund des Totalitarismus noch einmal eine Aktualisierung. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Rekurs auf die ruderale Vegetation zweitens jedoch auch – so das zentrale Argument dieser Studie – als eine thematische Zäsur verstehen. Die Schriftsteller/-innen greifen nicht einfach auf die Schreibweisen des Magischen Realismus zurück, sondern modifizieren diese vor dem Hintergrund der Ereignisse des 20. Jahrhunderts. In der Ruderalität entwickeln die hier betrachteten Erzählungen ein spezifisches Geschichtsbild: Indem sie plane Flächen und vakante Landschaften beschreiben, in die die ruderale Flora allmählich Einzug hält, verdeutlichen sie erst eigentlich die Zäsur, die dieser vegetativen Bewegung vorausgegangen sein muss. Der Boden, auf dem das Unkraut wächst, ist ein anderer als noch um 1920. Die ruderale Flora fungiert daher als eine Art ›Schicht‹, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart liegt. Sie lässt sich insofern als ein Zeichen verstehen, das sowohl die Überreste der Vergangenheit (noch) deutlich zeigt – schließlich handelt es sich bei den verödeten Flächen und brachliegenden Industriearealen um die idealtypischen Lebensräume der Gewächse – als auch die inzwischen vergangene Zeit deutlich macht: Auf den Ruinen wuchert es wieder. Damit fungiert die räumliche Anordnung der Texte auch als eine zeitliche Behauptung – wo Melde und Rainfarn wachsen, ist die Geschichte gleichzeitig noch und bald nicht mehr sichtbar. Drittens bietet der inhaltliche Rekurs auf das Ruderal der Literatur eine Möglichkeit, durch die ihm inhärente Vitalität dort etwas entstehen lassen, wo nur (noch) Stagnation, verödete Flächen beziehungsweise Schutt, Asche und Abraum zu finden sind. Ruderalität lässt sich insofern auch als ein textgenetisches Prinzip verstehen, das die Entstehungsbedingungen der Texte offenzulegen vermag: Sie zeigt, wie nach der Zerstörung Texte und ihre Poetiken motiviert werden können. Indem die Erzählungen auf eine ruderale Metaphorik rekurrieren, die die planen Flächen und aufgegebenen Industrieareale neu belebt, führen sie sie nicht nur inhaltlich ein ›Wachsen‹ vor, sondern reflektieren zugleich den Modus ihres Entstehens mit. Kurz: Die Besiedlung peripherer Räume durch sogenanntes ›Unkraut‹ erweist sich als Hinweis auf den Produktionsprozess der von ihm handelnden Literatur. Vor dem Hintergrund dieser drei Aspekte kann der Status des Ruderals noch einmal genauer gefasst werden. Seine Wucherungsbewegungen fungieren dann einerseits als Fortschreibung bekannter Ansätze des frühen 20. Jahrhunderts, wie sie im Vitalismus und Magischen Realismus ihre Ausprägung gefunden haben, andererseits markiert die vegetative Eigenlogik jedoch auch einen Neueinsatz, dessen innovatives Potential gerade in ihrer Lebendigkeit gründet. Indem das eigendynamische Wachstum des Unkrauts zum textgenetischen Prinzip avanciert, erfährt der Magische Realismus eine Aktualisierung.
1. Ruderale Texturen. Erzählungen von den Rändern
In der Beobachtungslogik der Ruderalität wird das literarische Phänomen des Magischen Realismus und seine Affinität zu ruderalen Metaphoriken insofern mit einem Schreiben über die Peripherie des globalen Ostens verknüpft.20 Die folgenden Ausführungen verstehen sich als der Versuch, die oben genannten Aspekte – die ruderale Flora, den Magischen Realismus und die jeweils textspezifischen poetologischen Dimensionen – zusammenzuführen. So soll zum einen die Geschichte des Magischen Realismus um ihre ›östliche Komponente‹ erweitert21 und zum anderen die Gedankenfigur des Ruderals aufgegriffen werden, um auf diese Weise deutlich zu machen, inwiefern sich Zeit und Zeitgeschichte hier in ein konkretes poetologisches Konzept einschreiben. Auf diese Weise kann eine produktive Neuperspektivierung der ausgewählten Erzähltexte vorgenommen werden. Zum ersten Mal werden hier intertextuelle Bezugspunkte erschlossen, die die Interpretation und Einordnung der Textbeispiele in einen größeren Zusammenhang erlauben. Dabei verfolgt die Studie das Anliegen, eine exemplarische Textauswahl aus der sozialistischen wie postsozialistischen Zeit zur Verfügung zu stellen, um auf diese Weise schlaglichtartig erste Ergebnisse einer ›ruderalen Forschungsperspektive‹ vorzustellen und so das Feld in seiner räumlichen und zeitlichen Extension allererst kenntlich zu machen. Sie versteht sich daher nicht als Abschluss, sondern als Anfang, der neue Frage- und Forschungshorizonte eröffnen soll. Die Studie ist materialorientiert und verfährt induktiv. Eine theoretische Rahmung erhält sie durch die Verortung der ausgewählten Texte im Zusammenhang mit dem Magischen Realismus, einer ästhetischen Kategorie und einem Erzählstil, der sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer weltweiten Erscheinung entwickelt hat. Im zweiten Kapitel wird der Magische Realismus daher literaturwissenschaftlich verortet und in seinen verschiedenen Spielarten überdacht und somit auch begrifflich geschärft. Magisch-realistische Erzählungen funktionieren, so lässt sich vereinfacht zusammenfassen, über ein paradoxes Grundschema: Sie greifen auf ein wunderbares Realitätssystem zurück, das jedoch immer auf einer realistischen Grundvoraussetzung basiert. Peter Arnds formulierte diesbezüglich die folgende Minimaldefinition: »Magical Realism is a genre in which magical elements appear seamlessly within a realistic setting.« (Arnds 2009: 52) Neben einem Überblick über die Begriffsgeschichte, an der deutlich wird, dass eine solche Minimaldefinition im konkreten Einzelfall zu kurz greift, widmet sich das Kapitel auch dem Topos einer sich einen Kulturraum (zurück-)erobernden Pflanzenwelt. Dies geschieht unter Bezugnahme auf einige unter systematischen Gesichtspunkten wichtige Sachverhalte der Begriffsgeschichte. Um die ausgewählten Tex-
20
21
Die in dieser Untersuchung vorgenommene Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie bzw. die Rede von sog. ›Rändern‹ erfordert eine Einbettung der Analysen in raumtheoretische Überlegungen. Als produktiver Ansatz erweist sich in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass Raum immer erst durch Bewegung eröffnet und ausgerichtet wird (vgl. Böhme 2009: 197f.). Gleichzeitig fungiert Raum, besonders in den Arbeiten Jurij Lotmans, als eine mit Sprachzeichen erzeugte Konstruktion (vgl. Lotman 2010: 163-290). Damit ist mit der Rede von Zentrum, Rand, Peripherie oder Grenze stets ein dynamisches Moment verknüpft, ein Moment, das hinsichtlich des Ruderals im Begriff des ›Sich-Herausbildens‹ seinen Ausdruck findet. Zum Magischen Realismus als literaturwissenschaftliches Konzept in den slawischen Literaturen siehe Rebekka Wilperts 2017 erschienene Dissertation Metamorphosen, Phantastisches und Wunderbares. Zum Magischen Realismus in der russischen und polnischen Literatur.
21
22
Ruderale Texturen
te und ihre Semantisierungen der Ruderalität präzise analysieren zu können, wird die literarische Tradition, vor deren Hintergrund sie entstehen, dargestellt und hinsichtlich der in ihr angelegten Ansatzpunkte rekapituliert. Anschließend kann nach den spezifischen Modifikationen gefragt werden, die die ausgewählten Werke vornehmen. Neben einer Re-Lektüre bekannter magisch-realistischer Texte deutscher wie lateinamerikanischer Herkunft werden dazu einschlägige literaturtheoretische Arbeiten rezipiert und für die Textanalyse fruchtbar gemacht.22 Verstanden als eine Art ästhetische Kategorie, wurde der Magische Realismus lange Zeit vor allem mit den Werken bekannter lateinamerikanischen Autoren wie Gabriel García Márquez oder Isabel Allende in Verbindung gebracht. Im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts hat er sich jedoch zunehmend zu einer globalen Erscheinung entwickelt. So konstatierte etwa Mario Siskind 2012 in seinem Artikel The Genres of World Literature, der Magische Realismus sei »one of the most established aesthetic forms. But only recently has magical realism been construed as a world literary genre, when it was identified as an aesthetic strategy of postcolonial literary fields« (Siskind 2012: 349).23 Diese Deutungsweise lässt sich nun im Hinblick auf die unter totalitären Regimen entstandene Literatur erweitern. Verstanden als »a means of interrogating ideas about history, culture and identity« (ebd.: 353) ist der Magische Realismus, und dies fand bislang kaum Eingang in die Geschichte dieser globalen Erzählweise, mit den brutalen Bedingungen kolonialer Besatzung ebenso verknüpft wie mit den Repressalien totalitärer Systeme. Die anschließenden Kapitel drei bis sieben widmen sich der Analyse exemplarischer Erzähltexte. Als Gegenstand der Untersuchung dienen Erwin Strittmatters Romantrilogie Der Wundertäter (1957, 1973, 1980), Herta Müllers Erzählung Niederungen (1982/84) sowie ihre ab 1991 entstehenden Collagen, Wolfgang Hilbigs Erzählung Alte Abdeckerei (1991) und der Gegenwartsroman Katzenberge (2010) der deutsch-polnischen Autorin Sabrina Janesch. Abgerundet werden die Einzelanalysen durch ein Kapitel zu den Reiseberichten und literarischen Erzählungen Andrzej Stasiuks, die sowohl die Ruderalität als auch den Osten noch einmal neu entdecken und anhand derer sich die in den vorausgehenden Kapiteln erarbeiteten Aspekte abschließend in einem größeren Kontext verorten lassen. Mit den ausgewählten Texten liegen verschiedene Varianten eines ›ruderalen Erzählens‹ vor. Die Zusammenschau der fünf Autorinnen und Autoren und ihrer Texte schafft insofern einen Kontext, in dem sich das Phänomen der Ruderalität besser sichtbar machen lässt, als dies im Rahmen einer Einzeluntersuchung möglich wäre. Die Bedeutung der Ruderaltiät wird, auch in ihrer poetologischen Dimension, je neu bestimmt und die literarischen Landschaftsdarstellungen werden in ihrer jeweiligen Eigentümlichkeit kenntlich gemacht. Die Anordnung der Analysekapitel folgt der historischen Chronologie, wobei der Fokus auf die Ruderalität die Bildung einer ungewöhnlichen 22
23
Die Bezugnahmen auf den Magischen Realismus erweisen sich in den (post-)sozialistischen Texten als äußerst heterogen: Sie changieren zwischen konkreten Verweisen auf magisch-realistische Prätexte und Formen einer metaphorologischen Ähnlichkeit, die sich wiederum nicht über genealogische Bezugnahmen herleiten lässt. So bezeichnete Homi Bhabha (1990: 7) den Magischen Realismus als »literary language of the emergent postcolonial world«.
1. Ruderale Texturen. Erzählungen von den Rändern
Reihe ermöglicht. Dabei ist die Zusammenführung der erkenntnisleitenden Konzepte und Leitvorstellungen im Sinne einer ›losen Kopplung‹ (Dirk Baecker) zu verstehen ist. Durch die Zusammenstellung durchaus heterogener Zugänge sollen die Textbeispiele sowohl in ihrer Eigenart als auch in einer bestimmten Konstellation erkennbar gemacht werden. Dazu werden historische und gesellschaftsdiagnostische Fragen mit literarischen und literaturhistorischen Fragen verkoppelt und auf die Analyse und Gestaltung der herangezogenen Texte – im Sinne einer Poetik – bezogen. Den Hintergrund der ausgewählten Werke bilden die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, die gewaltsame Umsetzung sozialistischer Modernisierungsmaßnahmen, die doktrinären Vorgaben des sogenannten ›Sozialistischen Realismus‹ sowie die Omnipräsenz eines totalitaristischen Regimes. Die Texte berichten von den Auswirkungen von Kollektivierung und Totalitarismus (Müller), der forcierten Industrialisierung, dem Ausbau eines ideologisch-restriktiven Literatursystems (Strittmatter) und den Spuren, die das sozialistische System hinterlassen hat (Hilbig). Mit dem 2010 erschienenen Roman Katzenberge wird darüber hinaus ein Text in den Blick genommen, der die Auswirkungen von Deportation und Vertreibung in Folge des Zweiten Weltkriegs und die Erinnerung daran beschreibt und somit zugleich eine Vor- und Nachgeschichte des Sozialismus erzählt. Diese Nachgeschichte wird zuletzt auch in den Reiseberichten und kleinen Erzählungen Stasiuks noch einmal ausgestaltet, wenn diese ein Bild der postsozialistischen Peripherie als allmählich untergehendes Hinterland entwerfen. Die Arbeit argumentiert dabei auf drei Ebenen: Sie widmet sich erstens der realhistorischen Veränderung der Landschaft im Zuge sozialistischer Zwangsmodernisierung, analysiert zweitens die Abbildung dieser Prozesse im literarischen Text und richtet dabei drittens den Blick auf die Selbstreflexion des Literarischen in diesem Bild. Der Fokus der Analysen liegt überdies auf den Aspekten, Themen und Konzepten, die im Zusammenhang mit dem individuellen Text von Relevanz sind, das heißt auf poetologischen Fragestellungen, die sich in Text-Kontext-Relationen ergeben. Die betrachteten Texte werden einem close reading unterzogen, wobei es nicht darum geht, eine starke diskursive Traditionslinie zu identifizieren, sondern die Texte als einzigartige Ausprägung einer an verschiedener Stelle zu beobachtenden Konstellation zu verstehen. Damit ist ein weiterer Aspekt verknüpft: Die topografischen Markierungen von Ost und West sollen im Kontext der Analysekapitel weitestgehend offengehalten werden. Abgegrenzt werden die beiden Räume vor allem durch die ehemalige Trennlinie des sogenannten ›Eisernen Vorhangs‹, denn, wie Nataša Kovačević in ihrer Studie Narrating Post/Communism (2008) konstatiert: »In the communist and post-communist periods, Eastern Europe has been geographed as the lands behing the Iron Curtain« (Kovačević 2008: 9). Bislang existieren keine monografischen Studien zu diesem Thema, allerdings kann auf verschiedene kleinere Vorarbeiten zurückgegriffen werden. So widmet sich Burkhard Schäfers Studie Unberühmter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur (2001) dem Zusammenhang zwischen Ruderalfläche und Magischem Realismus und zeigt anhand verschiedener Beispiele aus Prosa und Lyrik die enge Verbindung zwischen den beiden auf.24 Schäfer betrachtet unter 24
Die Bezeichnung ›unberühmter Ort‹ bezieht sich auf ein Gedicht Wilhelm Lehmanns aus dem Jahr 1952, siehe Lehmann (1982: 215). Der Begriff ›Trümmerliteratur‹ bezeichnet die deutsche Literatur
23
24
Ruderale Texturen
anderem auch Hilbigs Erzählung Die Kunde von den Bäumen (1992) und konstatiert recht allgemein, dass Wolfgang Hilbig vor allem in seinen Darstellungen der Ruderalfläche den Magischen Realismus »wie kein anderer […] beerbt […], wieder eingeblendet und konsequent zuende geschrieben« (Schäfer 2001: 193) habe. Darüber hinaus liegt zu Janeschs magisch-realistischer Erzählweise in Katzenberge bereits ein Artikel von Sabrina Egger (2014) vor. Zu Müller und Strittmatter existiert diesbezüglich bislang keine Forschungsliteratur. Der Magische Realismus hingegen erweist sich als gut erforscht, wie der folgende Überblick zeigt.
der frühen Nachkriegszeit und ihr Bestreben, nach der ›Stunde Null‹ auf den Trümmern Deutschlands einen neuen Anfang zu finden (vgl. Wilpert 2001: 855); siehe dazu auch Heinrich Bölls Aufsatz Bekenntnis zur Trümmerliteratur aus dem Jahr 1952, der den Begriff begründete. Schäfer (2001) hat gezeigt, dass die Trümmerliteratur als eine Weiterführung des Magischen Realismus verstanden werden kann, die auch nach 1989 aktuell bleibt.
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
»eine moosige Vegetation, die üppig wucherte und die, kaum daß die Hufe die Grasnarbe vom Weg abgerissen hatte, die schwarze Erde schon wieder überkeimte, beblühte und besämte« Horst Lange: Ulanenpatrouille Seit den 1920er Jahren rekurrieren verschiedene, mit magisch-realistischen Schreibweisen assoziierte Autorinnen und Autoren auf eine ruderale Metaphorik, die sich in Bildern eines üppig wuchernden Unkrauts und einer anthropomorphisierten Pflanzenwelt manifestiert. Unkraut und Magischer Realismus erweisen sich in diesem Zusammenhang als immer schon miteinander verknüpft.1 Dabei fungiert das Unkrautmotiv in den deutschsprachigen Texten grosso modo als Reaktion auf eine fortschreitende Technisierung und Industrialisierung und die mit ihr verbundene Literatur,2 auf die Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkriegs und die zurückgelassenen Ruinen und Trümmer sowie als Antwort auf die Umbrüche und Zäsuren nach 1945 und 1989.3 Der inhaltliche Rekurs auf ein anarchisches Wachstum lässt sich, dies vorab, überdies als Reaktion auf die strikten Programmatiken sozialistischer Kulturpolitiken verstehen. Um die Gedankenfigur eines in peripheren Zwischenräumen, auf Müllhalden und Schuttplätzen, auf planen Flächen und in stillgelegten Industriearealen, kurz: in den Randzonen der Zerstörung wuchernden Unkrauts in ihren verschiedenen Ausprägungen präzise zu fassen und in ihrer Verbindung zum Erzählverfahren des Magischen
1
2
3
Diesen Zusammenhang hat Schäfers Studie Unberühmter Ort (2001) noch einmal anhand zahlreicher Textbeispiele verdeutlicht, weshalb Kapitel 2.3 Schäfers Thesen resümiert und für die anschließenden Textanalysen fruchtbar macht. So reagiert der frühe Magische Realismus auf Texte wie etwa Bernhard Kellermanns Bestseller Der Tunnel (1913), der die Technikbegeisterung seiner Epoche aufgreift und Industrie als ein großes Abenteuer feiert. In Der Tunnel möchte ein Ingenieur einen Tunnel zwischen den USA und Europa bauen, und damit den Weltverkehr und die wirtschaftliche und politische Ordnung nachhaltig verändern. Der Text entfaltet eine Zukunftsvision, die auf dem Vertrauen auf Technik und der Idee eines linearen Fortschritts aufbaut. Schäfer (2001: 13) konstatiert diesbezüglich: »Die Bedeutung der Ruderalfläche hat sich bis in die westdeutsche Literatur der Gegenwart hinein gehalten und ist vor allem in der Literatur der (ehemaligen) DDR immer aktuell geblieben.«
26
Ruderale Texturen
Realismus nachzuvollziehen, werden im Folgenden schlaglichtartig die unter dem Aspekt eines ›Realismus des Unkrauts‹ relevanten Sachverhalte der Begriffsgeschichte rekapituliert. In diesem Zusammenhang soll außerdem der Ursprung des Begriffspaars geklärt und die globale Dimension magisch-realistischen Schreibens betrachtet werden. Versucht man, die Genealogie des Oxymorons zu rekonstruieren, so zeigt sich, dass der Magische Realismus in bestimmten historischen Situationen als eine Artikulationsform in den Blick rückt, die es dem schreibenden Subjekt gestattet, eine konkrete Haltung gegenüber der historischen Situation einzunehmen und Positionen zwischen politischer Partizipation und eigener Subjektivität auszuloten. Indem der Magische Realismus als eine kulturelle Ressource verstanden wird, auf den die ausgewählten Texte des (Post-)Sozialismus zugreifen, lassen sich einerseits Verbindungslinien zu den paradigmatischen Werken deutscher wie lateinamerikanischer Provenienz aufzeigen, während andererseits die spezifischen Neukonfigurationen, die vor dem Hintergrund der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts vorgenommen werden, betrachtet werden können. Der Rekurs auf den Begriff des Magischen Realismus ist auch immer ein Versuch einer Begriffsbestimmung. Dies zeigt sich schon in der 1990 erschienenen, noch immer einschlägigen Arbeit Michael Scheffels, die den Untertitel Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung trägt. Die im Folgenden vorgenommene Konzeptualisierung könnte eine ähnliche Überschrift tragen – auch hier soll es sowohl um eine Begriffsgeschichte als auch um einen Bestimmungsversuch gehen. Nichtsdestotrotz liegt hier der Fokus weniger en detail auf dem divergenten historischen Gebrauch des Begriffs als vielmehr auf einem mit diesem immer wieder verknüpften poetologischen Prinzip einer adäquaten Darstellung von Wirklichkeit. Verstanden als eine besondere Poetik oder als literarischer Ausdruck einer bestimmten Wirklichkeitsperzeption, verbindet er Realismus und Fantastik mit Elementen des Wunderbaren auf eine spezifische Weise.4 Diese Auffassung herrscht auch in der jüngeren Forschung vor, die den Magischen Realismus oftmals »as a mode of writing and not as a canonical genre« (Arva 2011: 3) versteht. Die zugleich vieldeutige und dennoch, so Julien Green (1974: 4
Während die fantastische Literatur nicht unbedingt an die Wirklichkeit rückgebunden ist, entsteht der Magische Realismus erst eigentlich aus dieser. Die Literaturwissenschaftlerin Wendy B. Faris beschreibt diesen Zusammenhang im Rückgriff auf ein Bild des organischen Wachstums – das Wunderbare erwachse aus dem Alltäglichen: »Very briefly defined, magical realism combines realism and the fantastic so that the marvelous seems to grow organically within the ordinary, blurring the distinction between them.« (Faris 2004: 1) Überdies hat Amaryll Chanady in ihrer Studie Magical Realism and the Fantastic: Resolved Versus Unresolved Antinomy (1985) eine bis heute gültige Unterscheidung getroffen. Sie differenziert anhand der Art und Weise, in der das Wunderbare durch den Erzähler vermittelt wird, zwischen fantastischer und magisch-realistischer Literatur: »In magical realism, the supernatural is not presented as problematic.« (Chanady 1985: 23) Die Texte des Magischen Realismus zeigen Wunder und Übernatürliches als alltägliche Erfahrungen, die keiner Erklärung bedürfen. Besondere Bedeutung komme dabei der Rolle des Erzählers zu: Sobald dieser distanziert beschreibe, weshalb die Figuren an das Wunderbare oder Übernatürliche glauben, verliere dieses seine Gültigkeit und werde implizit in Zweifel gezogen. Das Fantastische hingegen konzipiert sich durch einen Moment der hésitation, des Zweifels und der Ungewissheit. Tzvetan Todorovs Aussage, das Fantastische liege »im Moment dieser Ungewißheit« (Todorov 1992: 26) hat diesbezüglich nach wie vor Gültigkeit.
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
86), »ungewöhnlich geglückte Formulierung« beschreibt in diesem Sinne ein poetologisches Prinzip, das einerseits literaturgeschichtlich bestimmbare Schwerpunktsetzungen erlaubt – so etwa den berühmt gewordenen Magischen Realismus Lateinamerikas –, andererseits jedoch ein poetisches Schreibverfahren bezeichnet, das geokulturelle, literarische und historische Grenzen überschreitet. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die magisch-realistische Schreibweise überdies oft verwandt, um von Grenzregionen, Gebieten der Zerstörung oder traumatischen Ereignissen zu berichten und Wandlungsprozesse, Umbrüche und gewaltsame Zäsuren beschreibbar zu machen. Im Folgenden soll es vor allem darum gehen, die Begriffsgeschichte auf konstitutive Formen und Eigenschaften hin zu untersuchen. Die hervorgehobenen Charakteristika werden anschließend zur Analyse der ausgewählten Erzählungen verwandt. Der Fokus liegt dabei jedoch nicht auf einer erschöpfenden Gesamtdarstellung der Begriffsgeschichte, vielmehr werden schlaglichtartig die im Zusammenhang mit einer Poetik der Ruderalität relevanten Entwicklungen nachgezeichnet, um anschließend nach spezifischen Modifikationen zu fragen. Ein Bestimmungsversuch wird dabei insofern unternommen, als bereits in den am Anfang der Begriffsgeschichte stehenden Arbeiten des deutschen Kunsthistorikers Franz Roh jener Anspruch auf Wirklichkeitsabbildung artikuliert wird, der den Magischen Realismus bis ins 21. Jahrhundert konstant begleitet. Als eine Art Medium, das die Hoffnung impliziert, Wirklichkeit adäquat abbilden zu können, liegt dem Magischen Realismus immer schon ein spezifischer Anspruch auf eine besondere Wirklichkeitstreue zugrunde: der Versuch, eine ›wesentliche‹ Wirklichkeit abzubilden. Somit rückt vor allem die Frage nach der Umsetzung dieser Wirklichkeitswiedergabe in den Blick, die sich im Kontext der verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs je neu beantworten lässt.5 Der Rekurs auf Bildbereiche des Pflanzlichen bildet dabei von Anfang an ein paradigmatisches Merkmal des Magischen Realismus, das sich von den frühen Texten der Magischen Realistinnen und Realisten der Zwischen- und Nachkriegszeit über die Romane der lateinamerikanischen magischrealistischen Autorinnen und Autoren bis in die Gegenwartsliteratur des 21. Jahrhunderts hinein nachvollziehen lässt. Der Magische Realismus, der seinen Ursprung in den 1920er Jahren hat, vereint verschiedene Phänomene und Elemente und ist »mit seiner starken und diffusen Aura vielseitig wirksam geworden« (Scheffel 1990: 1), sodass der Begriff sowohl in der Literaturals auch in der Kunstgeschichte verschiedenste Werke unterschiedlichster Provenienz zu bezeichnen vermag. Die inhaltliche Vagheit des Begriffs lädt zu unterschiedlichen Semantisierungen ein. Scheffel spricht 1990 von einer »Inflationierung des Begriffes« (ebd.), die Häufigkeit des Gebrauchs stehe »im umgekehrten Verhältnis zur Klarheit seiner Bedeutung« (ebd.) und auch Uwe Durst hält 2008 in seiner Studie Das begrenzte 5
Auch diese Studie bietet keine Lösung für den »prinzipienlosen Impressionismus« (Durst 2008: 219), mit dem sich die Literaturwissenschaft dem Begriff zum Teil nähert. Ein detaillierter komparatistischer Vergleich, der den Rahmen der Arbeit sprengen würde, müsste auch den sehr unterschiedlichen historischen Kontext der verschiedenen Traditionen magisch-realistischen Schreibens berücksichtigen. Insbesondere der Sammelband von Zamora/Faris (1997) bietet hier detaillierte Einblicke. Darüber hinaus bieten u.a. Scheffel (1990), Schäfer (2001), Durst (2008) sowie Bowers (2005) einen Überblick über die Begriffsgeschichte.
27
28
Ruderale Texturen
Wunderbare fest, dass bis heute keine allgemein akzeptiere Definition dessen existiere, was unter dem Begriff des ›Magischen Realismus‹ zu verstehen sei (vgl. Durst 2008: 219)6 . Die Geschichte des Begriffs sei, so Durst, seit seiner Erfindung durch den deutschen Kunsthistoriker Franz Roh, von »terminologischer Anarchie« (ebd.: 221) geprägt, der Ausdruck ›Magischer Realismus‹ diene als alternative Bezeichnung für eine literarische Strömung und zugleich als ein darüber hinausgehender Stilbegriff. Zudem handelt es sich bei dieser auch in der Populärliteratur sehr präsenten Schreibweise um einen »cultural hybrid« (Faris 2004: 4).7 Gemeinsam ist den verschiedenen Definitionen meist der Verweis auf eine ›Chiffrierung‹ der Wirklichkeit, auf Doppeldeutigkeit und die Nähe zum Übersinnlichen. Die literaturwissenschaftliche Forschung spricht in diesem Zusammenhang nicht ganz unbegründet von einem ›magischen Hintersinn‹ der Texte (vgl. Schäfer 2001: 68), die sich auf die Suche nach einer Bedeutung jenseits der realistischen Zeichen begeben. Der Magische Realismus trifft eine ontologische Unterscheidung zwischen einer oberflächlichen Wirklichkeit und einer ›eigentlichen‹ Wirklichkeit (einem ›Geheimnis hinter den Dingen‹), die es einerseits zu ergründen gilt, die sich aber zugleich, von den Reflexionen der sprach- und erkenntniskritischen Moderne begleitet, als problematisch erweist.8 Diese Idee eines ›magischen Hintersinns‹
6
7
8
Dursts Studie zu wunderbaren Episoden in realistischen Erzähltexten und Texten des Magischen Realismus hebt die verschiedenen Periodisierungsversuche hervor, um auf die Zufälligkeit und Prinzipienlosigkeit bei der Definition des Magischen Realismus hinzuweisen. Eine durchaus kritisch zu betrachtende epochenübergeifende Definition des Magischen Realismus liefern bspw. Zamora/Faris (1997a), die ihn als ein Phänomen betrachten, dessen Geschichte bis in die Antike zurückreiche. Da eine solche Rückprojektion aktueller literarischer Verhältnisse auf zurückliegende Epochen mit Konzepten operiert, die zu diesen früheren Zeiten nicht in dieser Form existierten und da sich der Realismus und das Spektrum narrativer Realitätssysteme erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts herausbildeten, ist dieser Auffassung allerdings nicht zuzustimmen (vgl. dazu auch Durst 2008: 199f.). In der 2001 erschienenen Ausgabe von Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur wird zwischen einer europäischen und einer lateinamerikanischen Ausprägung des Magischen Realismus unterschieden, wobei erstere definiert wird als eine »im 2. Weltkrieg aus Neuer Sachlichkeit und Surrealismus ausgebildete moderne Form des →Realismus, die die konkreten Erscheinungen, Bilder und Figuren der Wirklichkeit als Chiffren e. geheimen Sinnes, Symbole des Elementaren auffaßt und den realistisch hergestellten Befund ins Innere umschlagen läßt zu e. seltsamen metaphys. Angsttraum-Transparenz«. Die zweite Ausprägung wird definiert als »Strömung der mod. hispanoam. Lit., die im Neben- und Ineinander versch. Wirklichkeitsebenen unvermittelt irrationale, phantast.-myth. und bedrohl. Elemente in den realist. Erzählgang einbrechen lässt« (Wilpert 2001: 498f.). Die magisch-realistischen Texte knüpfen insofern inhaltlich an den Poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts an und treffen auf ähnliche Weise eine Unterscheidung zwischen jenen beiden Wirklichkeitsebenen. Während aber der Realismus des 19. Jahrhunderts eine ideale Ordnung des Wahren hinter den Dingen vermutet, erfährt das magisch-realistische Erzählen unter den Bedingungen der Moderne zentrale Modifikationen: Nicht nur erscheint das realistische Verfahren im 20. Jahrhundert als grundsätzlich brüchig, auch die hinter der ›oberflächlichen‹ Wirklichkeit liegende Ordnung erweist sich als ambivalent, ein epistemologischer Zugriff auf eine jenseits der alltäglichen Erfahrung liegende Ordnung wird folglich selbst fraglich. Diesen Zusammenhang zwischen Poetischem und Magischem Realismus hat Leine in seiner Studie Magischer Realismus als Verfahren der späten Moderne herausgearbeitet, vgl. dazu v.a. Leine (2018: 25-28).
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
findet sich auch in Scheffels Eintrag im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (2000). Dort definiert er den Magischen Realismus als eine »Darstellung von Wirklichkeit, welche die Konzepte von Realismus und Magie (im Verständnis des 20. Jhs.) zu verbinden sucht« (Scheffel 2000: 526), wobei das Epitheton ›magisch‹ von Scheffel sehr vage gefasst wird und sowohl in der Bedeutung ›rätselhaft‹ als auch in der Bedeutung ›auf geheime Weise Gegensätze zusammenbindend‹ verstanden werden kann.9 Die relativ vage gehaltene Definition resultiert aus der fehlenden Begriffsschärfe, die den Magischen Realismus – als einen Sammelbegriff für all jene Schreibformen, die um eine ›rätselhafte‹ Wirklichkeitswahrnehmung und um die Darstellung einer hinter dieser Wirklichkeit verborgenen Ordnung kreisen – seit den 1920er Jahren begleitet. Der Begriff schöpft sein Potential insofern in gewisser Weise auch aus seiner Vagheit. Ein genauerer Blick auf die Kontexte, in denen sich ein magisch-realistisches Schreiben herausbildet, zeigt allerdings, dass es sich zwar um ein heterogenes und diffuses Phänomen handelt, das sich jedoch in strukturell ähnlichen historischen Rahmenbedingungen zeigt. In den letzten Jahren sind mit den Arbeiten Burkhard Schäfers (Unberühmter Ort, 2001), Uwe Dursts (Das begrenzte Wunderbare, 2008) und Torsten Leines (Magischer Realismus als Verfahren der späten Moderne, 2018) überdies neue Perspektiven auf das magisch-realistische Erzählverfahren entstanden, denen in den einzelnen Unterkapiteln Rechnung getragen wird. Die Geschichte des Magischen Realismus lässt sich durch zwei Beobachtungen strukturieren: Magisch-realistische Erzählweisen fungieren zum einen oftmals als der Versuch einer Rückkehr zu realistischen Schreibweisen. Diese stehen in den 1920er Jahren im Gegensatz zu den Pathosformeln des Expressionismus, antworten in der Zwischen- und Nachkriegszeit auf die faschistische Blut-und-Boden-Literatur des Nationalsozialismus und bilden nach 1945 einen Gegenentwurf zu den ideologischen Imprägnierungen in der von staatlicher Seite angeordneten Poetik des Sozialistischen Realismus, dessen Name ihn zwar als ›Realismus‹ ausweist, der jedoch ebenfalls mit Pathosformeln hantiert. So gesehen weisen die durchaus heterogenen Ausprägungen magisch-realistischen Schreibens eine strukturelle Ähnlichkeit auf, die in einem spezifischen Zusammenhang von Pathos-Anspruch und Realismus-Bedürfnis gründet. Allerdings, so der zweite Punkt, rekurrieren die Autorinnen und Autoren zwar auf den ›klassischen‹ Realismus des 19. Jahrhunderts, verwenden dessen realistische Schreibweisen jedoch in abgewandelter Form.10 Der Realismus des Magischen Realismus zeigt
9
10
Auf die Problematik einer Orientierung am Begriff des ›Magischen‹ weist auch Leine (2018: 32f.) hin. Um dieses zu bestimmen, greife Scheffel auf die Idee einer prälogischen Denkweise zurück und verorte den Magischen Realismus damit im Kontext der zeitgenössischen Anthropologie. Verstehe man das Magische jedoch ausschließlich als antirationales Wissen, so verschwimme die Grenze zu anderen, ebenfalls dem Antirationalismus verpflichteten Poetiken der Moderne (Surrealismus, Symbolismus, Expressionismus). Der Begriff ›Realismus‹ beschreibt zum einen eine als authentisch empfundene Darstellung von Wirklichkeit und bezeichnet zum anderen eine literaturgeschichtliche Epoche des 19. Jahrhunderts. Während sich die realistische Kunst aus produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive über das Merkmal der Authentizität bzw. Wahrscheinlichkeit definieren lässt und in diesem Sinne das als realistisch gilt, was einer bestimmten Anschauung von Welt besonders nahekommt, gilt
29
30
Ruderale Texturen
sich als von den Verfahren der klassischen Moderne geprägt, er wird modifiziert und agiert innerhalb der entsprechenden semantischen Umbesetzungen, die die Texte des 20. Jahrhunderts als Antwort auf die Avantgarden ebenso wie auf die Ereignisse der beiden Weltkriege vornehmen. Dabei zeigt der Name bereits an, dass es sich immer um »a correction, an amendment« (Arva 2008: 77) realistischer Schreibweisen handelt.
2.1.
Diesseits und jenseits der Alpen: Rohs ›Nachexpressionismus‹ und Bontempellis ›réalisme magique‹
›Gegenstandsverschärfung‹ Der erstmalige Gebrauch des Begriffs ›Magischer Realismus‹ ist datierbar. Er wird zum ersten Mal in der Kunstgeschichte und im historischen Umfeld der 1920er Jahre verwandt, »als sich neben dem gefühlsbetonten Überschwang expressiver und experimenteller Malstile zunehmend eine überraschend kühle neue Ordnung und präzise Kunstfertigkeit etablierte: ›Retour à l’ordre‹ lautete die Devise« (Klengel 2014: 2f.). Franz Roh etablierte den Magischen Realismus als Stilbegriff und bezeichnete mit ihm die ein neues Stilphänomen: die Kunst des Nachexpressionismus, das heißt die Rückwendung der europäischen Malerei zum Realismus nach den Formexperimenten der Avantgarden. Verwendet wurde der Begriff erstmals 1923 in einem Aufsatz über den Maler Karl Haider, an dessen Landschaftsbildern Roh die für den Nachexpressionismus bezeichnenden Elemente illustrierte: »Eine Bewegung nun, die seit 1920 in allen europäischen Ländern hervorkeimt, sei Nachexpressionismus genannt, womit ich sagen will, daß sie gewisse metaphysische Bezüge des Expressionismus behält, diese andererseits aber zu etwas durchaus Neuem wandelt. Der Begriff des ›magischen Realismus‹, der für die einsetzende Epoche ebenfalls angewandt werden kann, deutet das Neue an, verzichtet dafür aber auf den Ausdruck der Kontinuität.« (Roh 1923: 598ff.) Roh meint, in der neu entstehenden Kunst eine »neue Gegenstandswelt« (Roh 1925b: 25) zu entdecken, die »dem gewöhnlichen Begriffe des Realismus fremd bleibt« (ebd.).
der literarische Realismus des 19. Jahrhunderts spätestens seit den Arbeiten Richard Brinkmanns nicht als Darstellung ›objektiver‹ Wirklichkeit. Nach Christian Begemann lässt sich Realismus auch wie folgt definieren: »Mit ›Realismus‹ − abgeleitet vom lateinischen ›realis‹, das so viel bedeutet wie eine ›res‹, eine Sache betreffend − verbindet sich landläufig die Vorstellung einer irgendwie ›angemessenen‹ Beziehung zur Realität. ›Realistisch‹, das ist das Erwartbare und Wahrscheinliche, das, was mit unseren Vorstellungen von dem übereinstimmt, was wir für ›real‹ halten.« (Begemann 2011: 14) Weiterhin heißt es bei Begemann: »›Realistische‹ Literatur scheint sich der Realität anders, stärker und adäquater zuzuwenden als etwa ›romantische‹ oder ›symbolistische‹, so dass wir das Dargestellte nicht nur wiedererkennen, sondern ihm selbst eine Form von Wirklichkeit zuzusprechen geneigt sind.« (Ebd.:14f.) Dieser adäquaten Zuwendung ist im Poetischen Realismus nun eine bestimmte Wirkintention unterlegt: Die Simulation der Realität steht zur abgebildeten Wirklichkeit in einem »similaren, genauer: selektiv-verdichtendem Bezug« (Plumpe/McInnes 1996a: 10), weshalb auch von einer »Poetik der Verklärung oder Idealisierung« (ebd.) gesprochen wird, die den »Schein einer gültigen Orientierung« (Plumpe 1996: 26) zu vermitteln vermag.
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
Obgleich sie »reinste Gegenständlichkeit« (Roh 1923: 601) aufweise und mit »minutiöser Zeichnung« (ebd.) arbeite, beinhalte sie noch »gewisse metaphysische Bezüge des Expressionismus« (ebd.: 598ff.). Dadurch werde »jene Magie […], jenes Geistige, Unheimliche« (Roh 1925b: 30) herbeigeführt, eine »Magie der Gegenständlichkeit« (Roh 1925a: 10), die sich für Roh aus der Synthese expressionistischer Formexperimente und dem Versuch einer neuen »Gegenstandsverschärfung« (ebd.: 12) ergibt. Die synonym gebrauchten Begriffe ›Nachexpressionismus‹ und ›Magischer Realismus‹ beschreiben hier eine zu Beginn der 1920er Jahre einsetzende Epoche, die ihr Profil für Roh vor allem in der Abgrenzung zu ihrem Vorgänger, dem Expressionismus, gewinnt. Im Zentrum steht dabei eine Rückkehr zu realistischen Schreibweisen, wobei ›realistisch‹ in diesem Zusammenhang auch so viel bedeutet wie ›nüchtern‹. Gegensätzliches soll von der als »Zauberer« (Roh 1923: 602) bezeichneten Figur des Künstlers zu einer neuen Ganzheit zusammengeführt werden.11 Auf diese Weise rückt das »Gesamtgefüge« (Roh 1924: 716) wieder in den Vordergrund der Kunstbetrachtung, ganz im Gegensatz zu den Praktiken der Formauflösung in der Kunst der Avantgarden. Die Gegenstandsverschärfung der neuen Kunstrichtung löst die abstrakten Formen der Avantgardisten ab und reagiert auf deren »Ding-Entfremdung« (Roh 1952: 7). Rohs 1925 veröffentlichte, unter dem Titel Magischer Realismus bekanntgewordene Studie sowie die in diesem Zusammenhang publizierten Artikel diagnostizieren für die sich ab 1920 herausbildende Kunst folglich eine Rückwendung zu realistischen Tendenzen.12 Während der Expressionismus sich gegen den Naturalismus richtet und eine genaue Wiedergabe der Wirklichkeit in der Kunst negiert, die Form absolut setzt, Objekte deformiert – dabei »die Formen untereinander in gewaltigen Kampf und Taumel bringend und das gesamte Leben als Vulkanismus sich widerstrebender Strebungen und Kräfte verstehend« (Roh 1925a: 10) – wird die von Roh unter dem Begriff ›Magischer Realismus‹ gefasste Kunst wieder stärker zum »Spiegel des greifbaren Außen« (Roh 1925b: 27). Es handelt sich hierbei jedoch keineswegs um einen Realismus im Sinne des 19. Jahrhunderts, den Roh als »älteren, unkonstruktiven Realismus« (Roh 1924: 715) bezeichnet. Die neue Gegenstandswelt beinhalte, trotz ihrer Wirklichkeitstreue in der Darstellung »stets etwas still Abgründiges« und »Entlegenes«, durch »geheime Umdeutung oder magische Angleichungen« (Roh 1927: 112). Das Epitheton ›magisch‹ meint bei Roh vor allem eine Form der Darstellung, bei der die nüchterne und präzise Wiedergabe und das Vor-Augen-Führen eines gehei-
11 12
Roh (1923: 602) schreibt: »[E]in Zauberer, der uns geheime Bindungen von Gegensätzen, die uns auseinanderfielen, lehrt«. Rohs 1925 veröffentlichte Studie Nachexpressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei verwendet den Begriff allerdings nur noch als weitaus unschärfere Alternative für die Bezeichnung ›Nachexpressionismus‹ als die vorab veröffentlichten Aufsätze. So lautet das Vorwort: »Auf den Titel ›Magischer Realismus‹ legen wir keinen besonderen Wert. Da das Kind einen wirklichen Namen haben mußte und ›Nachexpressionismus‹ nur Abstammung und zeitliche Beziehung ausdrückt, fügten wir, nachdem das Buch längst geschrieben war, einen zweiten hinzu.« (Roh 1925b: o.S.) Roh nimmt hier auch weitere Abgrenzungen vor und erklärt, der Begriff scheine zumindest treffender als idealer Realismus, Verismus oder Neuklassizismus, da diese jeweils nur einen Teil dieser Bewegung darstellten. Auch verstehe man unter surrealisme etwas anderes.
31
32
Ruderale Texturen
men, hintergründigen Sinns Hand in Hand gehen. Konkreter geht dies noch einmal aus seinem 1952 veröffentlichtem Rückblick auf den Magischen Realismus hervor. »So setzte denn seit Ende des Ersten Weltkrieges jene […] restaurative Bewegung ein, die auf eine neue Ding-Verschärfung hinzielte« (Roh 1952: 7), heißt es dort und diese Bewegung, so fährt Roh fort, entdeckte (erneut) den »Tiefenreiz der Gegenstandsbetonung« und »die Eigengesetzlichkeit der Objekte unserer Umwelt«. Rohs Rückblick enthält hinsichtlich dieser Konzentration auf die Gegenständlichkeit der Dingwelt einen für den Magischen Realismus grundlegenden Satz, an dem deutlich wird, dass es hier auch um ein genaues Hinsehen geht: »Man staunte die Dinge derart an, daß sie vorübergehend einen neuen, geheimen Bildsinn erhielten.« (Ebd.) ›Magie‹, das ist für Roh dann vor allem eine Form von Neuartigkeit, die durch Klarheit und den künstlerischen Fokus auf kleinste Einzelheiten entsteht. Wird das heute gebräuchliche, von den lateinamerikanischen Werken beeinflusste Verständnis des literarischen Magischen Realismus vergleichend auf Rohs Arbeiten rückbezogen, zeigt sich hier eine wichtige Differenz: Magisch wird im Kontext der lateinamerikanischen Werke vor allem als das Gegenteil von realistisch verwandt, als ontologischer Status der dargestellten Welt, die eben nicht realistisch, sondern magisch-wunderbar gedacht wird. Wenn Roh die beiden Komponenten ›magisch‹ und ›Realismus‹ erstmals zusammenfügt, so geschieht dies nicht aufgrund einer präzisen Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Semantiken. Roh hat vor allem keinen distinkten Begriff von Magie, obgleich gerade jenes Konzept zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem durch die Primitivismus-Debatten omnipräsent war.13 Vielmehr fungiert ›Magischer Realismus‹ hier als eine normative und zugleich unpräzise Bezeichnung, die keinen Bezug zu den anthropologischen Debatten der Zeit aufweist. In seinem Rückblick auf den Magischen Realismus stellt Roh selbst noch einmal dezidiert heraus, das Wort ›magisch‹ sei hier »freilich nicht im Sinn der Völkerkunde« (Roh 1952: 7) gemeint. Kurz: Am Anfang der Begriffsverwendung steht keine bewusste Begriffsverwendung, eine Auseinandersetzung mit den beiden Konstituenten findet nicht statt. Da sich für die von Roh beschriebene Kunst bald noch ein dritter Begriff einbürgerte, die Hartlaub’sche Bezeichnung ›Neue Sachlichkeit‹14 , werden bis heute häufig
13
14
Dass der Primitivismus-Diskurs in den 1920er Jahren in der Kunst(-wissenschaft) ebenso wie in der Ethnologie, der Entwicklungspsychologie und der Psychopathologie omnipräsent war, zeigen u.a. die Beiträge des Bandes Literarischer Primitivismus (2012) sowie Nicola Gess’ Studie Primitives Denken (2013). Die Figur des Primitiven fungiert in diesen Kontexten auch als eine Figur der Alterität, die sich durch ein bestimmtes Denken auszeichnet: Ein »Denken in alogischen Beziehungsnetzen« (Gess 2013: 5), das auch mit Adjektiven wie magisch (Piaget), mythisch (Cassirer) oder prälogisch (Lévy-Bruhl) gefasst wurde. Aus einer anthropologischen Perspektive meint Magie daher v.a. eine bestimmte Form von Weltanschauung, die sich durch ein von jeglicher ratio losgelöstes Denken auszeichnet. Am 14. Juli 1925 eröffnete Gustav Friedrich Hartlaub, der Direktor der Städtischen Kunsthalle Mannheim, eine entsprechend betitelte Ausstellung nachexpressionistischer Kunst. Da diese anschließend auf Deutschlandtournee ging, setzte sich die Bezeichnung ›Neue Sachlichkeit‹ schnell durch (vgl. Durst 2008: 221). Roh berichtet rückblickend, er selbst habe den Ausdruck vermieden, »um anzudeuten, daß es sich nicht etwa um den neutraleren Realismus eines Courbet oder Leibl handle« (Roh 1952: 7, Herv. i.O.), sondern eher um einen Anschluss »an die eigenwillige, fast penetrante Dingschärfe des ausgehenden Mittelalters« (ebd.).
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
alle drei Begriffe, trotz ihrer durchaus unterschiedlichen Semantiken, parallel verwendet: Nachexpressionismus, Magischer Realismus und Neue Sachlichkeit.15
Abb. 1: Karl Haider: Herbstlandschaft
Roh 1923: 599
Obgleich sich die Gedankenfigur der Ruderalität bei Roh noch nicht findet, sei an dieser Stelle dennoch auf eine Textpassage seines Haider-Aufsatzes verwiesen, die Magischen Realismus und Naturdarstellung bereits 1923, sozusagen avant la lettre, miteinander verknüpft. Roh schreibt über eine Herbstlandschaft Karl Haiders: »Seltsame, igelartige Waldballungen scheinen seitlich und von hinten angekrochen, drohend still und breit gelagert auf den zarten Wiesenflächen. […] Kein Mensch und kein Getier regt sich, nur Erde wellt und dehnt sich in die Weite. Erde, die überwuchert ist mit Pflanzenvielfalt.« (Roh 1923: 601) Diese Pflanzenvielfalt, das ist das Bemerkenswerte, ist nun schon bei Roh eine ambivalente: Der Tod scheint »dunkel im erstarrten Geäst zu stehen« (ebd.: 602), während zugleich »das zart sich spreizende Leben der Zweiglein und Wipfel« im Vordergrund des Bildes von einem Neuanfang kündet. Bis in die Gegenwartsliteratur hinein wird diese Ambivalenz die Naturdarstellungen magisch-realistischer Schreibweisen begleiten.16 15
16
Besonders im Bereich der Malerei wird der Magische Realismus oft der Neuen Sachlichkeit zugerechnet und umfasst dort divergente Künstler wie Otto Dix, Max Beckmann, Carl Grossberg, Franz Radziwill oder Georg Scholz. Natürlich handelt es sich bei dieser Pflanzenwelt wie auch bei den zahlreichen anderen Naturabbildungen aus der Zeit um 1920, insbesondere der Darstellung des Urwalds, um eine beliebte Motivik avantgardistischer Kunst. So bemerkt auch Roh, dass aus den Urwaldbildern Henri Rousseaus
33
34
Ruderale Texturen
Literatur als ›magische Praxis‹ Während sich die kunsthistorische Forschung vor allem auf Franz Roh bezieht, finden sich in der literaturwissenschaftlichen Forschung auch andere Urheber der Wortneuschöpfung. Zu diesen gehört unter anderem der Italiener Massimo Bontempelli. Bontempelli fordert – mutmaßlich unabhängig von Roh – in der 1926 von ihm gegründeten französischsprachigen Zeitschrift 900 (Novecento)17 ein Kunstprogramm unter dem Namen réalisme magique, das mit dem Versuch verzahnt wird, eine spezifische Literatur der Moderne zu begründen. Bontempellis literarisches Programm liegt dabei in dem Anspruch an die Literatur begründet, eine géometrie spirituelle zu erschaffen, die dem als desorientiert empfundenen Menschen der Moderne wieder eine geistige Heimat geben soll, indem ihm durch die Kunst, und hier besonders durch die Literatur, neue Mythen zur Verfügung gestellt werden. Aus dieser Perspektive wird die erzählende Literatur als eine wirklichkeitsverändernde und in diesem Sinne magische Praxis begriffen18 , durch deren produktive Kraft erneut Sinn gestiftet werden könne. »Das ursprüngliche Ziel […] ist die theoretische Begründung und praktische Verbreitung einer Form von Literatur, die der besonderen geistesgeschichtlichen Situation im Europa des Zwanzigsten Jahrhunderts Rechnung tragen soll«, fasst Scheffel (1990: 13) zusammen.19 Anders formuliert: Die Aufgabe der Kunst und hier vor allem der Literatur ist es, neue Mythen und Legenden zu erfinden. Diese, so hofft Bontempelli, lösen sich vom literarischen Text, werden Allgemeingut und stiften so eine neue Form von Verbindlichkeit. Den Stoff dieser neuen Mythen meint Bontempelli in der prosaischen, alltäglichen Welt zu entdecken; über die Annäherung an die empirisch-fassbare Alltagswelt soll eine tiefere Schicht der Wirklichkeit (merveilleux nouveau) sichtbar gemacht werden. Diese Idee eines Sichtbarmachens einer tieferen Wirklichkeitsschicht gilt es im Blick zu behalten. Bontempelli bezeichnet mit der Wortschöpfung einen Erzählstil, der den Anspruch auf realistische Abbildung mit einem erweiterten Wirklichkeitsbegriff verknüpft, wobei er ›Magie‹ in diesem Zusammenhang sehr allgemein als »l’art de dominer la nature« (Bontempelli 1926: o.S., zit. n. Scheffel 1990: 120) definiert. ›Magisch‹ ist insofern in einem doppelten Sinne zu verstehen: Einerseits als das Andere, das Rätselhafte und Unerklärbare, »das hinter den Dingen steht und das durch eine besonders präzise Art der Darstellung von Wirklichkeit sichtbar gemacht werden soll« (Scheffel 1990: 16), andererseits als eine produktive Kraft, das heißt als »die Fähigkeit des Künstlers, Verbin-
17 18
19
»der neue Exotismus« spräche, »der gegen Ende des 19. Jahrhunderts so gut in Versen Whitmans als in Bildern und dem Südseeleben Gauguins hervorbricht« (Roh 1924: 715). Redaktionsmitglieder waren unter anderem Georg Kaiser, James Joyce und Pierre Mac Orlan. Dabei soll die Sprache nicht Zweck, sondern Mittel sein. Für Bontempelli fungiert daher auch die potentielle Übersetzbarkeit eines Texts als herausragendes Merkmal eines literarischen Werks der Moderne (vgl. Scheffel 1990: 14). Dies zeigt sich auch daran, dass die Zeitschrift nicht auf Italienisch, sondern auf Französisch erschien und es sich bei den meisten Beiträgen folglich um Übersetzungen handelte. Auf der Suche nach einem Namen für diese neue Art von Literatur stößt Bontempelli auf die Maler des Quattrocento, d.h. auf eben jene Maler, die auch Roh als Vorbilder anführt. Die Maler des Quattrocento, so Bontempellis Ausgangsbeobachtung, dringen zu einer Welt hinter den sichtbaren Erscheinungen vor, zu einer Form des unsichtbaren Transzendenten. Den Grund dafür meint Bontempelli im Interesse dieser Maler an der minutiösen Erfassung der Welt und der sich ihnen offenbarenden Erscheinungen zu erkennen (vgl. Scheffel 1990: 15).
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
dungen zwischen auseinanderliegenden Dingen zu knüpfen, Sinn zu stiften« (ebd.). Die Literatur selbst, so die zugrundeliegende Idee, wird zur magischen Praxis, da sie die Wirklichkeit durch imaginative Praktiken zu verändern vermag. Bontempelli leitet aus diesem zweiten Verständnis die Möglichkeit ab, Mensch und Welt wieder (neu) aufeinander zu beziehen. Der Magische Realismus nimmt, so gesehen, keine Abbildfunktion ein, sondern steht für ein lebensweltliches Projekt. In der Idee von Verwandlung und Wiederverzauberung zeigt sich überdies eine Reaktion auf eine Zeitdiagnose, die mit dem Gefühl der Selbstentfremdung und der Beobachtung einer zunehmenden Rationalisierung und Intellektualisierung verknüpft ist. Der Begriff firmiert insofern als programmatische Antwort auf ein Fortschrittsdenken, das der Ökonom und Soziologe Max Weber 1917 bekanntermaßen als ›Entzauberung der Welt‹ beschrieben hat.20 Durch die doppelte Vaterschaft des Begriffs diesseits und jenseits der Alpen ist der Begriff von Beginn an auf unterschiedliche Weise konnotiert: Während Roh vor allem die bildende Kunst in den Blick nimmt und den Magischen Realismus als Klassifikationsinstrument verwendet, entwickelt Bontempelli ein literarisches Programm und nutzt ihn als programmatische Überschrift (vgl. Scheffel 1990: 16; Durst 2008: 222f.). Gemeinsam ist Roh und Bontempelli die Bezugnahme auf die Maler des Quattrocento, das Sprechen über Gegensätze, die auf eine ›magische‹ Weise verbunden werden sowie die Verbindung von Präzision in der Darstellung und einer ›magischen Atmosphäre‹. Das Epitheton ›magisch‹ beschreibt bei beiden eine produktive Kraft, die, indem sie Gegensätzliches zusammenführt, (neue) Verbindungen herzustellen vermag. Hier zeigen sich bereits verschiedene Auffassungen des Magischen, wenn sich im Hinblick auf die Verwendung des Wortes bei Roh und Bontempelli zwei unterschiedliche Konzepte identifizieren lassen: Ein instrumenteller und technischer Charakter von Magie einerseits – die produktive Kraft des Künstlers, Verbindungen herzustellen – sowie die Vorstellung von etwas hinter der Wirklichkeit Verborgenem andererseits, das erst durch seine Darstellung in der Kunst zu Tage tritt. Im Anschluss an Roh und Bontempelli taucht der Begriff in verschiedenen Kontexten auf, er wandert im wahrsten Sinne des Wortes von Kontinent zu Kontinent und wird vielfach interpretiert. Dabei wird er, ganz im Sinne jener früh angelegten Dichotomie, einerseits aufgegriffen, um in programmatischer Absicht ein Vorhaben begrifflich zu fassen und andererseits als klassifizierende Beschreibungskategorie eines Zustands herangezogen. Es ist vor allem Rohs Begriffsbestimmung, die zum Ausgangspunkt des lateinamerikanischen Magischen Realismus avanciert und auch in der deutschen Tradition wird immer wieder aufs Rohs ›Gründungstext‹ verwiesen. Bei späteren Defini20
Siehe dazu Max Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf: »Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.« (Weber 1994: 9, Herv. i.O.)
35
36
Ruderale Texturen
tionsversuchen handelt es sich insofern meist um an Roh angelehnte Beschreibungen, die auf die Idee einer Abbildbarkeit einer ›wesentlichen‹ Wirklichkeit abzielen. Erweitert wird ein solches Verständnis oftmals um die Kategorie des Unbewussten, wie eine bestimmte Ausprägung des Magischen Realismus in den Niederlanden zeigt.
Darstellung eines kollektiven Unbewussten Die Traditionslinie eines flämischen magisch-realisme sei nur kurz erwähnt, da sich an ihr eine leichte Fokusverschiebung auf das Irrationale und Unbewusste nachzeichnen lässt. Der Autor und Filmkritiker Johan Daisne führt den Magischen Realismus nach einer Bontempelli-Lektüre 1943 in den Niederlanden ein und definiert die magisch-realistische Schreibweise, so fasst Scheffel (1990: 24) zusammen, »als harmonisches Gleichgewicht verstandene ›Zweieinheit‹ von Traum und Wirklichkeit«.21 Daisne erweitert den Realismusbegriff dabei um eine der realen Welt zugerechnete Traumdimension und verschreibt sich, im Rekurs auf die Tradition der Romantik, dem Anspruch, verschiedene Wirklichkeitsebenen im Kunstwerk zusammenzuführen. Wie auch Bontempelli versteht Daisne die alltägliche Wirklichkeit dabei als eine Art Nährboden der Literatur – das Fantastische sei in der Realität selbst zu entdecken – wodurch er sich von der arbiträren Fantastik der Märchenerzählungen abgrenzt.22 1972 entwickelt der flämische Autor Hubert Lampo, zum Teil von Daisne beeinflusst, sich auch zum Teil von diesem abgrenzend, in De Zwanen van Stonehenge. Een Leesboek over Magisch-Realisme en fantastische Literatuur ein Verständnis des Magischen Realismus als eine Literaturform, in der keine psychologisch-kausale Erklärbarkeit der im Text geschilderten Ereignisse zu erkennen sei. Sie markiere damit einen von zwei Grundtypen (psychologisch-realisme versus magisch-realisme) und zeichne sich durch die Beschäftigung mit dem Unterbewussten und Irrationalen aus. Während der psychologisch-realisme das Geschehen in der Alltagswelt situiere und kausal motiviere, widme sich der magisch-realisme dem empirisch nicht Fassbaren. Lampo verwendet den Begriff dabei epochenübergreifend und sehr allgemein. Das Verhältnis zwischen Diegese und realer Erfahrungswirklichkeit wie auch die Abgrenzungskriterien zur fantastischen Literatur bleiben bei ihm ungeklärt. Allerdings lässt sich hier ein interessanter Verflechtungsprozess beobachten: Lampo entwickelt aus der Lektüre der Arbeiten Daisnes und den Schriften C.G. Jungs ein neues Verständnis des Magischen Realismus. Insbesondere unter Rückgriff auf Jungs Begriff des kollektiven Unbewussten
21
22
Die für Roh und Bontempelli relevante Spannung zwischen Präzision und Klarheit in der Darstellung und Hintergründigkeit der dargestellten Welt scheint für Daisne unbedeutend zu sein. Daisne gebraucht die Wortverbindung zudem weder im Sinne eines klassifikatorischen Begriffs noch als programmatische Forderung, sondern charakterisiert damit das Phänomen der Kunst schlechthin. Es geht ihm damit nicht um eine bestimmte Art und Weise der ästhetischen Abbildung von Welt, sondern um eine Funktion von Kunst als sinnstiftender Praxis gegenüber einer als chaotisch verstandenen Wirklichkeit (vgl. Scheffel 1990: 51). Daisne geht von einer Zweiteilung der Realität aus: einer ersten Ebene, der konkreten menschlichen Alltagswelt, und einer (dieser übergeordneten) Ebene des Metaphysischen, d.h. einer Ebene der Träume und Hoffnungen. Die Literatur des Magischen Realismus vermöge es, beide Ebene zu berücksichtigen und so eine volledige realiteit darzustellen (vgl. Scheffel 1990: 54).
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
diagnostiziert er für die Werke des magisch-realisme einen elektrisierenden, initiierenden Kontakt (mythische oorsprung) zwischen dem individuellen Autorbewusstsein und einem ihn stimulierenden kollektiven Unbewussten, der als mythischer Ursprung des Werks eine Öffnung zum Irrationalen und Unbewussten erst ermögliche (vgl. Scheffel 1990: 27, 54). Die psychologische Komponente magisch-realistischen Schreibens, die schon durch Daisnes Rekurs auf die als real betrachteten Traumwelten eine Zuspitzung erhält, wird durch Lampos Hinweis auf ein kollektives Unbewusstes erstmalig explizit mit dem Magischen Realismus verknüpft. Dabei geht es im Grunde genommen auch um die Idee einer Vollständigkeit der Darstellung: Das Sichtbare und das dahinter Verborgene sollen gleichermaßen abgebildet werden. Dieser Verweis auf ein den magisch-realistischen Schreibweisen zugrundeliegendes irrationales Moment verbindet, dies vorab, die Arbeiten der beiden flämischen Autoren mit aktuellen Traumatheorien, die dem Magischen Realismus einen literarischen Umgang mit individuellen wie kollektiven Traumata attestieren und ihn als Versprachlichung nicht oder nur schwer narrativ artikulierbarer (auch kollektiv erfahrener) Ereignisse verstehen. Gleichzeitig zeigt sich in der Vorstellung eines nicht ganz klar definierten ›Kontakts‹ zwischen Autor/-in und Kollektiv ein Aspekt, der den Magischen Realismus bis ins 21. Jahrhundert hinein begleiten wird. Seine Schreibweisen fungieren als Ausdruck eines Wechselspiels zwischen der Selbstverortung eines schreibenden Subjekts und einer konkreten historischen Situation. Bevor der Fokus jedoch auf jene Zusammenhänge zwischen Autor/-in, Erzählbarkeit und magisch-realistische Bildwelten gerichtet wird, rückt mit den Autorinnen und Autoren der sogenannten ›jungen Generation‹ zunächst eine Ausprägung des Magischen Realismus in den Blick, die ihn als Schreibweise deutscher Schriftsteller/-innen zeigt und die ihn – als Reaktion auf die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs – schließlich auch mit der eingangs erwähnten Vorstellung einer anthropomorphisierten Pflanzenwelt zusammendenkt.
2.2.
Magischer Realismus als Realismus der späten Moderne
Ende der 1920er Jahre entsteht in Deutschland auch in der Literatur eine magisch-realistische Bewegung.23 Eine Gruppe junger Dichter wendet sich »gegen den Glauben an eine rational erfaßbare Welt, begreift die magische Denkweise als Vorbild und fordert einen neuen Realismus, der Sachlichkeit und Wunder, Rationalität und Irrationalität in programmatisch paradoxer Weise vereint« (Scheffel 2000: 527). Auch hier geht es folglich um eine Syntheseleistung, die zwischen Gegensätzen vermitteln und Dualismen auflösen soll. Die um die Zeitschriften Die Kolonne (1929-1932) und Der weiße Rabe (1932-1934) gruppierten Schriftsteller/-innen verbinden Elemente der Romantik mit der zeitgenössischen neusachlichen Ästhetik. Ihre Texte arbeiten dabei mit ähnlichen
23
Ernst Jünger ist einer der wenigen, der den Begriff für seine seit den 1930er Jahren verfassten Texte reklamiert, wenn er seine 1929 erschienene Sammlung von Prosatexten Das abenteuerliche Herz 1962 rückblickend als »Beispiel […] für die Ablösung von expressionistischen durch magischrealistische Tendenzen« (Jünger 1983: 476) beschreibt.
37
38
Ruderale Texturen
Spannungsmomenten wie die von Roh betrachten Bilder des Nachexpressionismus: Die dargestellte alltägliche Gegenstandswelt ist rational und irrational zugleich, sie ist rätselhaft im Roh’schen Sinne und verbindet eine konkrete Form von Sachschärfe mit einer unheimlichen Düsterkeit, die von den Figuren zumeist überdeutlich wahrgenommen wird.24 Beispielhaft kann diese bis in die 1950er Jahre hineinreichende Darstellungsweise anhand des Romans Ulanenpatrouille (1940) von Horst Lange vor Augen geführt werden. Ulanenpatrouille erzählt die Geschichte des Leutnants Friedrich von G., der ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sein Reiterbataillon in das nordöstliche Schlesien führt. Als der Protagonist nach einer verhängnisvollen Liebesnacht ein fremdes Gut verlässt, »glaubte er vor der toten Ödnis dieser Parklandschaft, die er sich ganz anders und viel lieblicher vorgestellt hatte, zurückprallen zu müssen. […] Zwischen den Baumgruppen und Sträuchern, die platt und reglos, wie mit der Schere ausgeschnitten, dastanden, schien sich keine Luft zu befinden. Jedes Ding war vereinzelt, und es gab kein Rieseln und Fließen, keinen wehenden Hauch und kein huschendes Licht, um das eine mit dem anderen zu verbinden. Selbst das Schloß wirkte wie eine aus Pappe gestanzte und geschickt bemalte Kulisse.« (Lange 1986: 248f.) An dieser Passage wird eine seltsame Unwirklichkeit und Unheimlichkeit der Alltagswelt deutlich. Erzeugt wird diese Verfremdung der alltäglichen Gegenstandswelt durch die überdeutliche Wahrnehmung des Protagonisten. Bäume und Sträucher der Parkanlage erscheinen ihm wie ausgeschnittene Schablonen und das Schloss, das er soeben verlassen hat, wird ihm zur Kulisse. Der Protagonist ist unfähig, die einzelnen Gegenstände zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, es fehlt ihm ein verbindendes Element wie etwa ein ›huschendes Licht‹ oder ein ›wehender Hauch‹. Der Roman rekurriert an dieser Stelle auf die Cut Up-Technik der Avantgarden und paart die besondere Aufmerksamkeit gegenüber dem Einzelnen anschließend mit einem rätselhaften und irritierenden Hintersinn. Die Eigengesetzlichkeit der Dingwelt verleiht der Parklandschaft etwas ›still Abgründiges‹ (Roh). Darüber hinaus zeigt sich an der Szenerie jener Reiz des Statischen, den Roh 20 Jahre zuvor für die nachexpressionistischen Werke konstatierte (vgl. dazu auch Scheffel 1990: 96f.). Allerdings lässt sich Langes magisch-realistisches Schreibverfahren noch an einem weiteren, für den hier verfolgten Ansatz weitaus zentraleren Punkt festmachen. Die Überschreitung der Oder wird im Roman als Eintritt in einen Naturraum dargestellt, in dem jegliche Spur von Kultur getilgt ist. Hinter der Flussgrenze stößt der Protagonist auf eine wild wuchernde Wildnis: »Die sumpfigen Landschaften nördlich des Flusses schienen ein anderes Klima zu haben, – weiche, gärende Luft auf den schilfigen Wiesen, schwerer Brodem, der mit den 24
Zu den poetischen Visionen der Gruppe junger Lyriker/-innen um die Dresdner Zeitschrift Die Kolonne zählten u.a. mythisch-antike wie naturhafte Gegenwelten. Die magisch-realistische Schreibweise ist zu dieser Zeit daher auch eng mit der sog. ›Naturmagischen Schule‹ verknüpft, wie Erzähltexte und Gedichte von Autorinnen und Autoren wie Ernst Jünger, Hermann Kasack, Friedo Lampe, Oskar Loerke, Elisabeth Langgässer oder Wilhelm Lehmann verdeutlichen (vgl. Scheffel 2000: 527).
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
dumpfigen Gerüchen nach stehendem Wasser vollgesogen war, – eine moosige Vegetation, die üppig wucherte und die, kaum daß die Hufe die Grasnarbe vom Weg abgerissen hatten, die schwarze Erde schon wieder überkeimte, beblühte und besämte, so, als wollte der saftige Pflanzenwuchs es nicht dulden, daß der fruchtbare Schwemmboden auch nur für Minuten freilag. Weiden und Erlen, die da und dort in Gruppen standen, waren von Schlinggewächs umstrickt, Netze aus spiralig gedrehten und geknüpften Ranken hingen zwischen den Stämmen […]. Die dichtgewebte Matte aus Kräutern, Gras und Wurzelwerk war über eine unermeßliche Tiefe gelegt, in der die feuchten Kräfte sich zu wälzen schienen« (Lange 1986: 43). Der östliche Naturraum wird in dieser Beschreibung nicht nur gegenüber der artifiziellen und strukturierten Parklandschaft abgegrenzt, sondern auch als ein in sich geschlossener und eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegender Kosmos gezeigt, als ein strukturloser Raum, in dem das Wuchern der Pflanzen jegliche Möglichkeit einer (visuellen) Orientierung unmöglich macht (vgl. dazu auch Leine 2018: 259f.).25 Auf dem weichen Untergrund wird jede Spur sofort getilgt, zugleich erschweren dicht verwobene Schlingpflanzen die Sicht. Die ›weiche gärende Luft‹ und der ›schwere Brodem‹ lassen gleichermaßen erahnen, dass sich jede Form der Bewegung durch den Raum beschwerlich gestaltet. Langes Roman greift in seiner räumlichen Darstellung einen im Magischen Realismus immer wieder verhandelten Antagonismus zwischen Natur und Kultur auf und entwirft gleichzeitig ein Bild eines Ostens, das diesen als wildes und unstrukturiertes terrain vague zeigt. Ulanenpatrouille, dies werden die folgenden Ausführen zeigen, schreibt sich hier in eine literarische Tradition ein, die den Osten seit Beginn des 19. Jahrhunderts als wild-gefährlichen und zugleich geheimnisvoll-magischen Raum imaginiert.26 Gleichzeitig antizipiert Langes Roman spätere Ost-Imaginationen, so beispielsweise die zu einiger Berühmtheit gelangte Darstellung der sogenannten ›Zone‹ in Andrej Tarkowskijs Film Stalker (1979). Aufgrund seiner dualistischen Darstellungsweise lässt sich Ulanenpatrouille überdies als ein Text verstehen, der die noch in den magisch-realistischen Werken der 1920er und 1930er Jahren verhandelten Paradoxien festschreibt. In seiner 2018 veröffentlichten Studie Magischer Realismus als Verfahren der späten Moderne. Paradoxien einer Poetik der Mitte hat der Germanist Torsten Leine eine spezifische Poetik des Ausgleichs als zentrales Merkmal der magisch-realistischen Werke der Zwischenkriegszeit herausgearbeitet. Seit den 1920er Jahren, so kann Leine 25
26
Der Nordosten Schlesiens lässt sich insofern, darauf weist auch Leine (2018: 260) hin, als eine außerhalb der kulturellen Sphäre liegende ›Anti-Welt‹ im Sinne der Kultursemiotik Jurij Lotmans verstehen. In Die Innenwelt des Denkens schreibt Lotman (2010: 188, Herv. i.O.): »Bestimmte Elemente liegen aber generell außen. Wenn die innere Welt den Kosmos reproduziert, dann liegt jenseits ihrer Grenze das Chaos, die Antiwelt, eine von Ungeheuern, infernalischen Kräften und mit ihnen verbündeten Menschen bevölkerter, unstrukturierter Raum«. Als eine Art Effekt verschiedener Praktiken und Diskurse stellt der Osten daher immer schon eine Projektion der westlich von ihm liegenden Gebiete dar (vgl. Gebhard/Geisler/Schröter 2010), wobei er meist wild und unzivilisiert gezeichnet wird. Siehe dazu auch die Arbeiten von Larry Wolff, u.a.: Inventing Eastern Europe. the Map of Cilivization on the Mind of The Enlightenment (1994) sowie Die Erfindung Osteuropas: Von Voltaire zu Voldemort (2003). Dieser Aspekt wird in Zusammenhang mit Janeschs Roman Katzenberge in Kapitel 6 aufgegriffen.
39
40
Ruderale Texturen
zeigen, erprobt der Magische Realismus Schreibweisen, die formal und inhaltlich einer vermittelnden, Maß haltenden Ästhetik entsprechen wollen. Dabei werden konträre literarische Verfahren wie auch gegensätzliche Positionen der Moderne zusammengeführt. Dies zeigt sich besonders an der historischen und systematischen Position, die die Texte zwischen Schreibweisen des Realismus und Expressionismus sowie zwischen Traditionalismus und Moderne einnehmen (wobei aus einer solchen Dichotomie keinesfalls eine Gleichsetzung von Realismus und Traditionalismus abgeleitet werden soll). Die in der deutschen Literatur der Zwischenkriegszeit entstehenden Texte unterscheiden sich, dies wurde bereits erwähnt, von den Formexperimenten der Avantgarden insofern, als sie zu einem Erzählen zurückkehren, welches als »im Ansatz realistisch« (Scheffel 1990: 111) bezeichnet werden kann: Es weist einen Bezug zur zeitgenössischen alltäglichen Erfahrungswelt auf.27 Dabei greifen sie auf den Realismus des 19. Jahrhunderts zurück und stellen so dem Expressionismus »eine komplementäre Poetik an die Seite«, die »eine vermeintlich entgleiste Ästhetik in ein gemäßigtes Verfahren überführen soll« (Leine 2018: 16).28 Zugleich wird jedoch das realistische Verfahren, das nahezu alle zu dieser Zeit entstehenden magischrealistischen Texte im Ansatz bestimmt, in keinem Fall konsequent durchgesetzt. Leine verdeutlicht am Beispiel paradigmatisch magisch-realistischer Erzählungen (wie etwa Loerkes Die Puppe (1919) und Der Oger (1921), Langgässers Gang durch das Ried (1936) und Langes Ulanenpatrouille (1940)), inwiefern der Magische Realismus in diesem Zusammenhang sowohl das Verfahren des literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts als auch eine spezifische, idealistisch begründete Poetologie des Poetischen Realismus bemüht, während er zugleich auf die experimentellen Verfahren der ästhetischen Moderne rekurriert. Das realistische Verfahren ist in den magischrealistischen Texten »grundsätzlich brüchig«, die »Aktualisierung der literarischen Tradition [wird] von den kritischen Reflexionen der sprach- und erkenntniskritischen Moderne begleitet« (Leine 2018: 26). Diese Stellung des Magischen Realismus in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zwischen Realismus und literarischer Moderne lässt ihn, so Leine, als »einen (poetischen) Realismus der Spätmoderne« (ebd.: 16) lesbar werden.29 Besonderes Augenmerk sei an dieser Stelle auf die Vorstellung jenes 27 28
29
Dabei wird der Rückgriff auf realistische Zeichengebungsverfahren im Moment ihrer Verwendung allerdings problematisch (vgl. Leine 2018: XVI). Die Voraussetzung für eine solche idealistisch-dialektische Position bildete die Historisierung der Avantgarden und ihre Re-Integration in ein übergreifendes Kulturschema, wodurch sie als Ausdruck einer wiederkehrenden revolutionären Instanz gefasst werden konnten (vgl. Leine 2018: 9). Der Magische Realismus knüpft hier in doppelter Weise an den Realismus des 19. Jahrhunderts an. An dieser Stelle sei Leines Zusammenfassung in extenso zitiert, da sie die verschiedenen Bezugspunkte deutlich macht: »Auf Verfahrensebene aktualisieren die magisch-realistischen Texte gegenüber den metaphorisch dominierten Verfahren der literarischen Moderne (Symbolismus, Expressionismus, Dadaismus) das metonymische Verfahren des literarischen Realismus. Der Rückgriff auf den Realismus richtet sich in spezifischer Weise gegen ein zu Allgemeinplätzen erstarrtes Formelrepertoire des Spätexpressionismus (Oh-Mensch-Pathos), gegen eine Kunst, die sich vermeintlich in formalen Experimenten erschöpft, aber auch gegen eine ideologische Vereinnahmung von Literatur. Dabei geht es nicht darum, die Entwicklung der literarischen Moderne rückgängig zu machen, sondern diese in einer Vermittlung von Kunst und Leben, Formauflösung und Formwahrung, Realismus und ästhetischer Moderne neu auszurichten. Indem die Texte des Ma-
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
bereits erwähnten ›Geheimnisses hinter den Dingen‹ gelenkt. Während die ›hinter den Dingen‹ liegende Wirklichkeit im Poetischen Realismus oftmals als eine ideale Ordnung des Wahren und zugleich als eine Ordnung des Schönen und sittlich Guten in Erscheinung tritt, zeigt sie sich im Zuge der literarischen Moderne als eine ambivalente Ordnung, der ein bedrohliches Potential zugeschrieben wird und die sich einem epistemologischen Zugriff, der im 19. Jahrhundert noch möglich zu sein scheint, entzieht (vgl. ebd.: 26f.).30 Vor diesem Hintergrund zeigt Leines Arbeit, dass die magisch-realistischen Texte der Zwischen- und Nachkriegszeit eine Neubewertung des ›Konzepts der Mitte‹ vornehmen und dazu auf eine kulturelle Energie liminaler Entwürfe rekurrieren, die sich im Übergang von Expressionismus zum Nachexpressionismus erst entfaltet. Im Zentrum der Texte stehen Ausgleichsbewegungen und Übersetzungsfiguren, die um eine schöpferische Mitte angeordnet werden, wobei diese Mitte »als Grenzgebiet zwischen Extremen, das vermittelnde Funktion übernimmt« (ebd.: 8), ausgedeutet wird. Auch auf der Ebene der Diegese werden Zwischenräume entworfen. So erweist sich etwa das in Elisabeth Langgässers Roman Gang durch das Ried beschriebene französische Lager in mehrfacher Hinsicht als ein Grenzraum. Beschrieben wird ein Lager, »das früher ein deutsches gewesen war und sich zwischen der hessischen Hauptstadt, umschließenden Tannen- und Birkenwäldern und dem großen Sande dahinzieht« (Langgässer 2008: 7). Es handelt sich bei diesem Ort um ein nationales und demografisches und zugleich auch zwischen Natur- und Kulturraum angesiedeltes Grenzgebiet, das allmählich wieder von der Natur zurückerobert wird: »Auf den breiten Kasernenstraßen, die durch leere Barackenreihen, an Stallungen, Vorratshäusern und Kantinen vorbeiführten, wuchs dichtes grünbraunes Gras, das jeden Schritt verschluckte« (ebd.). Durch Übersetzungsfiguren dieser Art, so der Ansatz Leines, könne die prekäre Beschaffenheit von Grenzräumen nun neu kodiert werden. Magisch-realistische Texte zwischen 1920 und 1950, so lässt sich Leines Studie in aller Kürze zusammenfassen, verhandeln in dieser Hinsicht dualistische Konstellationen und fordern dabei eine gemäßigtere Poetik ein. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei Ulanenpatrouille dann um einen Text, der keine Ausgleichsbewegung mehr versucht, sondern den Ost-West-Dualismus deutlich festschreibt. Leines Arbeit nimmt nicht nur die Konfigurationen in den Blick, an denen der Magische Realismus im Sinne eines direkt auf den Expressionismus folgenden ›Nachex-
30
gischen Realismus die Vermittlungsidee aktualisieren, knüpfen sie zudem an die spezifische Programmatik des deutschen Poetischen Realismus an. Wie der Poetische Realismus auf formaler Ebene eine Vermittlung zwischen ›Naturalismus‹ (Mimesis) und ›Idealismus‹ (Symbol) ansteuert, zeigt sich sowohl in den programmatischen als auch den literarischen Texten des Magischen Realismus die Tendenz zu einer Vermittlung spezifisch realistischer und avantgardistischer Schreibweisen. Darüber hinaus knüpfen die magisch-realistischen Texte auch inhaltlich an den Poetischen Realismus an. Denn auch der Magische Realismus trifft eine ontologische Unterscheidung zwischen einer oberflächlichen Wirklichkeit und einer eigentlichen Wirklichkeit, einem ›Geheimnis hinter den Dingen‹. Was jedoch auf den ersten Blick als schlichte Wiederholung der poetischrealistischen Poetik erscheint, erfährt unter den Bedingungen der späten Moderne einige zentrale Modifikationen« (Leine 2018: 25f.). Leine spricht hier von einem ›doppelten Dilemma‹: Der emphatische Realismusbegriff des 19. Jahrhunderts wurde noch von einem emphatischen Begriff des Wahren begleitet, während beiden Konzepten im Magischen Realismus ein prekärer Status zukommt (vgl. Leine 2018: 27).
41
42
Ruderale Texturen
pressionismus‹ (Roh) partizipiert: Jene Poetik der Mitte lässt sich bis in die 1950er Jahre hinein beobachten. Es scheint kaum verwunderlich, dass dem Begriff in Deutschland vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg im Kontext einer Neubestimmung der Literatur erneut eine besondere Bedeutung zukommt. Unmittelbar nach 1945 fordern Autoren wie Wolfdietrich Schnurre und Hans Werner Richter einen neuen, ›magischen‹ Realismus. In der Diskussion um eine neu zu erschaffende Literatur und deren zukünftige Gestalt bezeichnen Autorinnen und Autoren der sogenannten ›jungen Generation‹ diese Literatur mit der Wortschöpfung ›Magischer Realismus‹, ohne jedoch dabei ein ausgearbeitetes Programm – wie beispielsweise Bontempelli – im Blick zu haben. Alfred Andersch, der zusammen mit Hans Werner Richter eine führende Rolle in den Diskussionen um einen neuen literarischen Stil einnimmt, spricht von einer »Tabula rasa« und der »Notwendigkeit, in einem originalen Schöpfungsakt eine Erneuerung des deutschen geistigen Lebens zu vollbringen« (Andersch 2004: 210).31 Zu verstehen ist diese Rede vom Magischen Realismus hier vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund der Nachkriegszeit und dem Wunsch nach einem Neuanfang und einer Standortbestimmung. Die Forderung nach Nüchternheit und einem sparsamen Umgang mit Worten, die Absage an Pathos, Schwulst und alles, was mit der Barbarei des Faschismus zu tun hat, geht mit der Forderung nach einer sachlichen und unverstellten Darstellung der Wirklichkeit einher. Die Entdeckung eines ›magischen‹ Realismus geschieht paradoxerweise im Zuge dieser nüchternen Suche nach Objektivität. Ein sachlicher Weltzugang soll über eine neue Art von Realismus erreicht werden, den die deutschen Autoren beispielsweise bei John Steinbeck, William Faulkner oder Ernest Hemmingway finden. Andersch entwickelt und beschreibt das Ideal des neuen Stils anhand von Hemmingways A Farewall to Arms (1929): »Dieses Buch […] ist realistisch, mit asketischer Härte gibt es nur Tatsachen, verzichtet auf Deutung, auf das Reden über die Dinge. Aber merkwürdig ist es, wie gerade in dieser Sparsamkeit die Magie der Welt sichtbar wird. Der Realismus bleibt, aber er verschafft sich den Zugang in die Zone, in der deutlich wird, dass die Dinge nur Hieroglyphen der Schrift sind, mit denen sich der grosse uralte Zauber in die Wirklichkeit schreibt.« (Andersch 1945: o.S.) Changierend zwischen dem Anspruch auf Objektivität, auf Sparsamkeit bei der Wortwahl und asketischem Ausdruck einerseits und dem Aufzeigen einer ›magischen Welt‹ andererseits, verbindet der Magische Realismus der Nachkriegsautoren die Gegenständlichkeit der amerikanischen Schriftsteller mit Elementen des Surrealismus. Durch den Zusatz ›magisch‹ erhält dieser Stil eine Qualität, die ihn sowohl vom Realismus des 19. Jahrhunderts als auch vom Naturalismus der Jahrhundertwende abgrenzen soll. Besonders die Verfahren des Poetischen Realismus erscheinen den Autoren überholt:
31
Die Diskussionen um eine neu zu erschaffende Literatur und der Versuch, Probleme der politischen wie literarischen Situation Deutschlands kritisch zu klären, fand v.a. in der im amerikanischen Kriegsgefangenenlager entstandenen Zeitschrift Der Ruf statt. Nachdem Andersch und Richter aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren, gründeten sie 1946 einen deutschen Ruf, aus welchem schließlich u.a. die Gruppe 47 hervorging.
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
»Ihn zu restaurieren, hieße mit verbundenen Augen an den wirklichen Erlebnissen unserer Zeit vorübergehen«, heißt es bei Richter (1947: 10).32 Das Kennzeichen dieser Zeit ist für Richter die Ruine: »Sie umgibt unser Leben. Sie umsäumt die Straßen unserer Städte. Sie ist unsere Wirklichkeit. In ihren ausgebrannten Fassaden blüht nicht die blaue Blume der Romantik, sondern der dämonische Geist der Zerstörung, des Verfalls und der Apokalypse.« (Ebd.: 11) Der neue Realismusbegriff baut auf diesem Bild auf und wird insofern um eine irrationale Dimension erweitert.33 Es handelt sich um einen »gegenständlichen und gefühlsarmen, aber ›magischen‹ Realismus« (Wehdeking 1971: 141f.), der von den Autoren als ein »Weg aus dem Vakuum unserer Zeit zu einer neuen Wirklichkeit« (Richter 1947: 11) gedacht wird. Nicht die blaue Blume der Romantik, nicht die Sehnsucht nach etwas Fernem also, sondern das, was aus Verfall, Zerstörung und Apokalypse entsteht, das heißt die konkrete Materialität der Wirklichkeit, rückt in den Fokus der Literatur. Eine besondere Ausprägung der sich hier neu formierenden Schreibweise stellt die sogenannte ›Trümmerliteratur‹ dar, die ihren Ausgangspunkt in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs nimmt. Auch sie arbeitet mit Metaphoriken der Verunkrautung und weist dabei auf die Ruderalität der (post-)sozialistischen Texte voraus.
2.3.
Unberühmte Orte: der Magische Realismus und die Ruderalfläche
Eine besonders weiterführende Darstellung magisch-realistischer Literatur legte Burkhard Schäfer in seiner 2001 veröffentlichten Studie Unberühmter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur vor. Mit dem Fokus auf die konstitutive Rolle der Ruderalfläche für den deutschen Magischen Realismus wie auch für die Trümmerliteratur34 setzt Schäfer einen Akzent, der auch für die hier betrachteten Texte von herausragender Bedeutung ist. Die doppelte These Schäfers lautet: »Die Trümmerliteratur nach 1945 und 1989 (Mauerfall) ist eine Weiterfüh-
32
33
34
»Realismus, das Wort ist abgenützt und verbraucht wie alle Worte, die eine Literaturströmung der Vergangenheit bezeichnen und dennoch besitzt es eine magische Anziehungskraft auf uns. Das, was wir wollen, liegt unmittelbar in seiner Nähe und dennoch ist es ein anderes als jener Realismus vergangener Tage. Es ist das blutige Erlebnis unserer Zeit und unseres Lebens, es ist die Fragwürdigkeit unserer geistigen Existenz und es ist die Unsicherheit unserer seelischen Verwirrung, die ihn aus der bloßen Wahrnehmung des Objektiven ins Magische erhebt« (Richter 1947: 10). So heißt es bspw. bei Richter, der Magische Realismus solle »in der unmittelbaren realistischen Aussage dennoch hinter der Wirklichkeit das Unwirkliche, hinter der Realität das Irrationale […] sichtbar werden lassen« (Richter 1947: 11). Die Wortverbindung beschreibt somit auch hier ein Paradox, das schon Roh und Bontempelli versuchten auf einen Begriff zu bringen, denn »gerade eine besonders präzise, nüchterne, photographisch objektivierende Abbildung der alltäglichen Wirklichkeit schien ihnen den Effekt zu haben, daß diese vom Betrachter als hintergründig und rätselhaft empfunden wird« (Scheffel 1990: 56). Schäfer verwendet den Begriff ›Trümmerliteratur‹ unter Vorbehalt im Sinne Heinrich Bölls, zur Bezeichnung einer Literatur, die hauptsächlich von Krieg und Heimkehr berichtet. Böll schreibt 1952 in seinem Bekenntnis zur Trümmerliteratur: »[W]ir kehrten heim aus diesem Krieg, wir fanden Trümmer und schrieben darüber« (Böll 1961: 339).
43
44
Ruderale Texturen
rung und Radikalisierung des Magischen Realismus. […] Im Magischen Realismus ist die Trümmerliteratur immer schon latent verborgen.« (Schäfer 2001: 13) Die Ruderalfläche verknüpft insofern den Magischen Realismus mit der Trümmerliteratur und fungiert auf diese Weise als verbindendes Element zwischen den beiden Schreibweisen. Dabei versteht Schäfer den Magischen Realismus nicht als historische Epoche oder als Sammelbegriff für ausgewählte Werke nicht-emigrierter Autoren, sondern beschreibt ihn als eine Art ›Zwischenmoderne‹. Gemeint ist damit »die Zeit zwischen der ›Entdeckung der Textur‹ (1910-1916) und ihrer ›Wiederentdeckung‹ (um 1960)« (ebd.: 77, Herv. i.O.), das heißt zwischen einer in den avantgardistischen Strömungen vorherrschenden Autonomie des Sprachmaterials, die bis zur Unverständlichkeit der Texte führte, und einer Wiederentdeckung dieser modernen Verfahren um 1960. Im Magischen Realismus, so Schäfer, lasse sich insofern ein besonderer »Interim-Charakter und die hybride Koinzidenz von Modernität und Traditionalismus« (ebd., Herv. i.O.) beobachten. Dieses »hybride Zugleich von emphatischer Modernität (›Textur‹) und nach-avantgardistischen Textverfahren (Struktur)« (ebd.: 80, Herv. i.O.) sei charakteristisch für zahlreiche Texte des Magischen Realismus. Es finde, so die Annahme Schäfers, seinen Ausdruck nun in der vorherrschenden poetologischen Reflexionsfigur: der Ruderalfläche. ›Unkräuter‹, so Schäfers These, seien die »magisch-realistischen Pflanzen schlechthin« (ebd.: 310). Seit Oskar Loerkes kurzer Erzählung Die Puppe (1919) wuchere es in den Texten der deutschen Autorinnen und Autoren der Zwischen- und Nachkriegszeit. Während Loerke (2015: 275) für Die Puppe die Kulisse eines »Unlandstücke[s]« voller »Brennesselwälder[]« wählt, berichtet Langgässers (2008: 28) Roman von »Nesseln, Wollkraut und Gras«, Karl Krolow (1989: 101) spricht von einer »Kamillenwildnis« und bei Georg Britting (1993: 166) ›wogen‹ 1937 die Brennnesseln und es wächst ein »Wäldchen von Sonnenblumen«. Wie im Falle der Puppe überwuchert das Unkraut dabei vom Menschen beeinflusste Gebiete, dort »[k]ahle Flecken« (Loerke 2015: 275) auf dem »leere[n] Bauland Wilmersdorfs« (ebd: 273), »draußen abseits der Stadt« (ebd.). Brittings Gedicht Verwilderter Bauplatz (1937) berichtet auf ähnliche Weise von einer ehemaligen Baustelle, auf der Unkraut (Disteln, Winden, Gräser und Büsche) und Ungeziefer (Ameisen, Mäuse, Fliegen) verschiedene Trümmer und Bruchstücke (Bretter, Ziegeltrümmer, Schutt und Sand, Mauerreste) zurückerobern.35 Die magisch-realistische Literatur der 1930er bis 1950er Jahre berichtet en masse von jenen Pionierpflanzen, die Einzug in ehemals bebaute Flächen halten und dabei die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur in Frage stellen. Was Schäfer hier diagnostiziert, ist im Grunde die auch schon von Scheffel bemerkte und später von Leine aufgegriffene Rückwendung magisch-realistischer Texte zu realistischen Schreibweisen und deren Verschränkung mit den Formexperimenten der Moderne. Als innovativ an Schäfers Studie erweist sich die Zusammenführung dieser 35
Zu einer Interpretation von Brittings Gedicht siehe Schäfer (2001: 133). Schäfer arbeitet heraus, dass der Versuch, Verwilderung herbeizuführen, hier zum Scheitern verurteilt ist (»Aus der Baustelle ist fast ein Garten geworden.« (Britting 1993: 164)) und zeigt zudem, inwiefern Verwilderter Bauplatz an jenen zeitgeschichtlichen Diskursen partizipiert, die im ›braunen Modern der Bretter‹ angedeutet werden. Das Gedicht weist aus dieser Perspektive eine gewisse Ambivalenz auf, berichtet es doch auch von »Bruch und Schutt und Zerfall« (ebd.: 166) und »unaufhaltsamen Siegen« (ebd.), die durchaus positiv konnotiert sind.
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
ästhetischen Praxis mit dem Topos der Ruderalflora. Zahlreiche der bereits im Zusammenhang mit einer ›Poetik der Mitte‹ erwähnten Werke tauchen auch bei Schäfer auf. Überdies stellt er eine Verbindung zwischen den (deutschen) Schreibweisen der Zwischen- bzw. Nachkriegszeit wie auch der Zeit nach der ›Wende‹ her. Ausgehend von Loerkes Puppe, an der er sein Argument entwickelt36 , zeigt Schäfer anhand von Texten Friedrich Hölderlins, Adalbert Stifters und Wilhelm Raabes die historischen Voraussetzungen der Ruderalfläche auf, um anschließend mit Autorinnen und Autoren wie Elisabeth Langgässer, Wolfgang Hilbig und Wulf Kirsten eine Traditionslinie nachzuzeichnen, die das magische Wuchern der Pflanzenwelt immer schon mit Trümmern, Schutt und Asche zusammendenkt und den Magischen Realismus damit über die 1960er Jahre hinaus in der deutschen Literaturtradition verortet. Schäfers Verständnis der Ruderalfläche als eine systematische und poetologische Reflexionsfigur der magisch-realistischen Texte wird auch in dem hier erarbeiteten und verfolgten Ansatz unterstützt. Um mögliche Aktualisierungen und Modifikationen, die die Gedankenfigur der Ruderalfläche in den ausgewählten Texten erfährt, präzise analysieren zu können, sollen an dieser Stelle die von Schäfer herausgearbeiteten Merkmale in aller Kürze resümiert werden (vgl. dazu Schäfer 2001: 78f.). Bei der Ruderalfläche, so der erste Punkt, handelt es sich um eine Sekundärwildnis, um einen Zwischen-Raum, einen Unort zwischen Natur- und Kulturraum, um einen Ort, der vom Menschen nicht (mehr) genutzt, jedoch stark von ihm beeinflusst wird. Dieser Ort ist, zweitens, semantisch unbestimmt und fungiert insofern oftmals als Projektionsfläche. Drittens sind die abgenutzten Rudimente und Reste, die an diesem Ort zu finden sind, dem alltäglichen Gebrauch entzogen und führen dort eine Art gespenstisches Nachleben, ein Charakteristikum, das die Ruderalfläche viertens zu einer Topografie des Erinnerns und Vergessens macht. Dieser Ort befindet sich, fünftens, per definitionem in der Peripherie und ist entzeitlicht und aus dem herrschenden Diskurs ausgegrenzt. Schäfers sechster Punkt beschreibt diese paradoxe Zeitlichkeit der Ruderalfläche: Sie bewahrt die Dinge einerseits und gibt sie zugleich dem unkontrolliert wuchernden Unkraut preis.37 Als terrain vague fungiert sie siebtens als Gegenwelt zur reglementierten Alltagwelt und weist achtens eine Art double-bind auf: Sie ist – als Trümmerfeld und Wunde – abstoßend und – als Grünfläche und Narbe – anziehend zugleich. Als verunkrautetes Niemandsland antizipiert die Ruderallandschaft einen Zustand nach der menschlichen Zivilisation und ist insofern neuntens gleichermaßen postmodern und archaisch. Dabei entsprechen die postmodernen Gebiete auch posthumanen Landschaften. Schäfers letzter Punkt schließlich beschreibt die Literarisierung dieser Flächen, wenn er sie als einen »Text«
36
37
Loerkes Erzählung ist nicht nur einer der ersten deutschsprachigen Texte, in dem eine Ruderalfläche nicht nur beschrieben, sondern auch poetologisch und strukturell relevant wird, er stellt darüber hinaus auch das missing link zwischen emphatischer Moderne und Magischem Realismus dar: Die Puppe partizipiert einerseits noch am (Spät-)Expressionismus, hat aber andererseits schon mit den radikalen Formexperimenten der emphatischen Moderne gebrochen (vgl. Schäfer 2001: 76). Die Ruderalfläche zeigt die Dinge in der Vergessenheit, als halb bewahrte, halb verschwundene Rudimente. Sie erinnert insofern, darauf weist auch Schäfer hin, an Walter Benjamins Beschreibung eines kafkaesken Phänomens: »Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt« (Benjamin 1981: 31).
45
46
Ruderale Texturen
fasst, in den sich eine »kontingente Natur-Sprache« (ebd.: 79) eingeschrieben habe, als ambigen und paradoxen Text, der jedoch nicht ›texturiert‹ sei. Dieser letzte Punkt ist für Schäfers Arbeit relevant, muss jedoch hinsichtlich der in dieser Studie analysierten Texte differenziert betrachtet werden. Gemeint ist bei Schäfer, dass die magisch-realistischen Texte, die auf den Expressionismus folgen, zu einer ›Verständlichkeit‹ zurückfinden, die die radikal-avancierten Schreibweisen der Avantgarden entbehrten. Die Entdeckung der Textur in den 1920er Jahren führte, das hat unter anderem Moritz Basler in seiner Studie Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916 (1994) herausgearbeitet, zu einer Verdichtung von Sprache und Inhalt. Der Magische Realismus löst diese ›Texturierung‹ nun auf und findet zu einer Schreibweise zurück, die zwar noch an den Praktiken der modernen emphatischen Literatur partizipiert, diese jedoch mit einer realistischen Erzählweise verknüpft. Im Magischen Realismus wirken demnach Modernismus und realistische Schreibweisen zusammen. Damit wandere, so nun die These Schäfers, die Textur von den Textverfahren in den Inhalt, wo sie vor dem Hintergrund der verwilderten Unorte thematisiert werde. Nicht das Erzählverfahren sei unverständlich, geheimnisvoll oder texturiert, sondern die Ruderalfläche, in der die Textur der Avantgarden konserviert werde.38 Kurz: Nicht der Text ›wuchert‹, sondern die Pflanzenwelt.39 Schäfers Beobachtungen lassen sich an den in den 1920er und 1930er Jahren entstandenen Texten nachvollziehen. Für den hier verfolgten Ansatz bildet Schäfers These von der Ruderalfläche als poetologische Reflexionsfigur einen wichtigen Hintergrund, der allerdings um eine Beobachtung erweitert werden muss: In den nach 1945 entstandenen Texten dient die Ruderalfläche nicht (nur) der poetologischen Konservierung von Modernität und verweist in diesem Sinne auf die Literatur der Avantgarden zurück, sondern sie fungiert vor allem auch als eine thematische Zäsur. Während die Ruderalfläche der Texte Loerkes, Langgässers oder Lehmanns noch eng mit den Schreibweisen der Moderne und hier insbesondere des Expressionismus verbunden ist, zeigt der Rekurs auf die ruderale Flora in den (post-)sozialistischen Texten an, dass ein naiver Rückgriff auf die magisch-realistische Tradition nach 1945 bzw. 1989 nicht möglich ist: Das Unkraut wächst nun auf einem Boden, dessen Grundkonstitution sich geändert hat. Damit wird in der Literatur nach 1945 nicht nur, wie es Schäfer beobachtet, »die Moderne zitathaft re-inszeniert« (ebd.: 81, Herv. i.O.), sondern auch auf eine veränderte Ausgangslage verwiesen, die sowohl den Inhalt als auch die Poetik der Texte berührt. Kurz: Während Schäfer die ruderale Flora als Allegorie einer Schreibweise (der texturierten Schreibweise der Avantgarden) fasst, wird sie im Kontext dieser Studie als Allegorie einer historischen Situation verstanden. 38
39
Die These Schäfers lautet: »Die Modernität, die den Texten des Magischen Realismus im allgemeinen [sic!] abgesprochen wird, ist den stillgelegten Ödflächen gleichsam eingeschrieben und ›überwintert‹ dort als Moderne-Topos. Die Autorinnen und Autoren des Magischen Realismus beerben zwar inhaltlich ›die‹ Avantgarde, aber sie inszenieren deren emphatische Modernität in ihren Textverfahren nicht mehr, sondern konservieren sie in der poetologischen Reflexionsfigur der Ruderalfläche.« (Schäfer 2001: 80f., Herv. i.O.) Diese Formulierung findet sich auf ähnliche Weise bei Baßler, der vom »Wuchern der Textur« (Baßler 1994: 60) spricht und so eine Wachstumsmetapher verwendet, die sich – unmetaphorisch – auf die Ruderalflora übertragen lässt (vgl. Schäfer 2001: 80).
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
2.4.
Authentischer Ausdruck: der Magische Realismus lateinamerikanischer Prägung
Während die Studien von Durst, Schäfer und Leine den Fokus auf die deutsche Traditionslinie des Magischen Realismus richten, rückt, auch unter dem Vorzeichen der Ruderalität begriffen, noch eine andere Spielart magisch-realistischer Schreibweisen in den Blick. Unter dem maßgeblichen Einfluss bedeutsamer Werke wie Gabriel García Márquez Cien años de soldedad (1967, dt. Hundert Jahre Einsamkeit, 1970) oder Isabel Allendes La casa de los espíritus (1982, dt. Das Geisterhaus, 1984) wurde der realismo mágico oftmals als ein vorwiegend lateinamerikanisches Genre betrachtet, das der aus Kolumbien stammende Roman Hundert Jahre Einsamkeit erst eigentlich auf die internationale literarische Landkarte brachte. Die lateinamerikanischen Texte erweitern die bislang poetologisch-ästhetisch gedachten Konzeptionen magisch-realistischer Schreibweisen um eine anthropologische Perspektive und schreiben mit ihren Darstellungen der tropischen Urwaldlandschaften (Gabriel García Márquez) und des wuchernden Unkrauts (Juan Rulfo) das Bildmotiv einer sich eine Kulturlandschaft zurückerobernden Pflanzenwelt prominent in den Magischen Realismus ein. Rohs Buch Nach-Expressionismus: Magischer Realismus wurde 1927 ins Spanische übersetzt und erschien in Auszügen in der Zeitschrift Revista de Occidente.40 Der Magischer Realismus fand in den literarischen Zirkeln von Buenos Aires große Beachtung und wurde bald auf literarische Werke übertragen und mit europäischen Autoren in Verbindung gebracht. Die Gruppe der Autoren, auf die der Begriff appliziert wurde, war allerdings »bunt zusammengewürfelt« (Scheffel 1990: 41): Sie umfasste Literaten wie Gilbert Keith Chesterton, Franz Kafka oder Jean Cocteau.41 Nach kurzer Popularität verschwand die magisch-realistische Schreibweise schließlich wieder von der Bildfläche und wird, darauf hat Anne C. Hegerfeldt hingewiesen, erst um 1948 erneut verwendet, als »re-cycling of an eye-catching label« (Hegerfeldt 2005: 16). Arturo Uslar Pietris in diesem Jahr erscheinendes Buch Letras y Hombres de Venezuela (1948) nutzt den Begriff das erste Mal als Beschreibungskategorie für die lateinamerikanische Literatur. Roh wird mit keinem Wort erwähnt, weshalb bis heute unklar ist, woher Uslar Pietri den Begriff kannte.42 Ebenso unklar ist Uslar Pietris literaturwis40
41 42
Es erscheint in Revista de Occidente unter dem Titel Realismo mágico: Problemas de la pinture europea más reciente. Im selben Jahr wird es unter dem Titel Realismo mágico. Post expresionismo auch als Buch veröffentlicht. Die Reviste de Occidente ist zu dieser Zeit eines der wichtigsten geistigen Bindeglieder zwischen den Kulturen Europas und Lateinamerikas (vgl. Scheffel 1990: 41). Auch Bontempellis Programm wird von Intellektuellen wie Arturo Uslar Pietri oder José Carlos Maríategui zur Kenntnis genommen (vgl. Scheffel 1990: 41f.). Hegerfeldt konstatiert diesbezüglich, dass der Begriff in den 1930ern zwar durch die Übersetzung von Rohs Buch im lateinamerikanischen Raum präsent war, eigentlich jedoch erst nach 1948 als eine prominente Literaturbezeichnung auftauchte. Sie kritisiert die Forschungsneigung, Brüche und Diskontinuitäten in der Terminologie zu ignorieren. So ist Rohs Begriffsverständnis für Hegerfeldt mit dem literarischen Phänomen des Magischer Realismus inkompatibel, denn Roh bezeichne mit dem Begriff Magie »the sense of newness with which quotidian reality is endowed through painterly emphasis on claritiy and clinical detail« (Hegerfeldt 2005: 13), während ›magisch‹ im Sinne des lateinamerikanischen Magischen Realismus vor allem das Gegenteil von ›realistisch‹ meine.
47
48
Ruderale Texturen
senschaftliche Definition. Er versteht unter dem Magischen Realismus eine Literatur, die sich durch »la consideración del hombre como misterio en medio de los datos realistas« (o. A., zit. n. Scheffel 1990: 55), das heißt durch eine Betrachtung des Menschen als mysteriöses Wesen inmitten der objektiven Realität, auszeichne. Pietris Werk bildet auch den Ausgangspunkt für die spätere Aneignung des Begriffs durch lateinamerikanische Schriftsteller/-innen und Intellektuelle, die sich von den ästhetischen, in PostExpressionismus und Avantgarde verankerten Diskussionen entfernen und den realismo mágico als Ausdruck einer spezifischen kulturellen Identität, basierend auf bestimmten anthropologischen Voraussetzungen, verwenden (vgl. Arva/Roland 2014a: 8). Durch Angel Flores Aufsatz Magical Realism in Spanish American Fiction (1955) wird der Begriff schließlich dauerhaft im theoretischen Diskurs etabliert. Flores untersucht Form und Inhalt der modernen lateinamerikanischen Literatur auf Gemeinsamkeiten und bezeichnet mit dem Magischen Realismus einen spezifischen südamerikanischen Stil, dessen Beginn für ihn Jorge Luis Borges Historia universal de la Infamia (1935) markiert.43 Die von Borges begründetet Schule stilistischer Nüchternheit und ihre Orientierung an einem kafkaesken Stil bilde, so Flores, den Ausgangspunkt der magisch-realistischen Werke.44 Flores beschreibt mit dem Begriff eine Literaturform, in der sich Realismus und fantastische Elemente mischen, klärt jedoch weder die Abgrenzung des Magischen vom Fantastischen noch den Unterschied zwischen den lateinamerikanischen Autorinnen und Autoren und den europäischen Vorbildern. Darüber hinaus versteht Flores den Magischen Realismus auch als eine Form der Erzählliteratur, die in Europa während des Ersten Weltkriegs Verbreitung fand und die als eine Reaktion auf die Unzulänglichkeiten eines nur abbildenden Realismus zu verstehen sei: »Finding in photographic realism a blind alley, all the arts – particularly painting and literature – reacted against it and many notable writers of the First World War period came to rediscover symbolism and magical realism.« (Flores 1997: 111) Diese Idee des ›photographic realism‹ als ›blind alley‹ verbindet Flores Überlegungen, sozusagen avant la lettre, mit aktuelleren Theorien, die den Magischen Realismus mit der Versprachlichung kultureller Traumata verknüpfen und ihn als einen Erzählstil postkolonialer und postmoderner Literaturen betrachten, die sich mit der Aufarbeitung kollektiver Traumata und mit Erinnerungsprozessen beschäftigten. Auf diese Verbindung wird zurückzukommen sein. Der Literaturkritiker Luis Leal vertritt in seinem Aufsatz Magical Realism in Spanish American Fiction (1967) eine vollkommen andere Position als Flores: Seine Position steht exemplarisch für die verbreitete Auffassung, der Magische Realismus sei konstitutiv mit der lateinamerikanischen Wirklichkeit verbunden. Leal beschreibt den Magischen Realismus als eine Möglichkeit, die mysteriösen Beziehungen, die zwischen 43
44
Der Begriff leistet für Flores auch Klassifikationsarbeit, wenn er glaubt, »einen der bis dahin vermißten klassifikatorischen Begriffe zur beschreibenden Erfassung des Gegenstandsbereiches gefunden zu haben« (Scheffel 1990: 43). Borges trat darüber hinaus als Kafka-Übersetzer in Erscheinung, dessen Stil die lateinamerikanische Literatur z.T. übernommen hat. Die gerne zitierte Bestimmung des Magischen Realismus als »amalgamation of realism and fantasy« (Flores 1997: 112) lässt sich aus dieser Perspektive auf Kafkas Stil und auf dessen Technik, »die eintönige Wirklichkeit mit Albträumen zu mischen« (Durst 2008: 225), zurückführen.
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
dem Menschen und seiner Umwelt bestehen, offenzulegen und betrachtet ihn insofern nicht als Schreibweise oder Genre, sondern als eine im literarischen Text dargestellte Wirklichkeitsvorstellung, als ›wunderbare Wirklichkeit‹. Damit stehen weder die nachexpressionistischen Maler noch die Literatur Kafkas am Anfang des Magischen Realismus, sondern eben jene Wirklichkeit, die als dem Schreiben vorgängig begriffen wird: »The existence of the marvelous real is what started magical realist literature, which some critics claim is the truly American literature.« (Leal 1997: 122, Herv. i.O.) Während Flores den Magischen Realismus als einen besonderen Stil Lateinamerikas betrachtet, macht ihn Leal folglich an einer bestimmten Haltung gegenüber der Wirklichkeit fest. Diese Vorstellung geht wiederum auf Alejo Carpentiers und dessen Ausführungen über die haitianische Voodoo-Kultur zurück. Im Vorwort zu seinem Roman El reino de este mundo (1949) bezieht Carpentier die lateinamerikanische Kultur und lo real maravilloso aufeinander und diagnostiziert für die einheimische Literatur einen besonderen, rationale wie irrationale Momente vereinenden Stil, der seinen Ausgangspunkt von einem von magischen Vorstellungen geprägten Wirklichkeitsverständnis nehme. Die Idee einer wunderbaren Wirklichkeit bildet dann die Voraussetzung des realismo mágico und markiert zugleich eine kulturelle Differenz zwischen Altem und Neuem Kontinent. Scheffel (1990: 48) konstatiert in Bezug auf die Überlegungen Carpentiers: »Das moderne, abendländische Weltbild stehe hier dem von magischen Vorstellungen geprägten Wirklichkeitsverständnis der eigentlichen Ureinwohner, der Indios, entgegen und beides sei mit Resten der afrikanischen Kulturen und des alten, wundergläubigen Katholizismus aus der Zeit der ›Conquistadores‹ zu einem neuen, spannungsvollen Ganzen verschmolzen.« Der von Carpentier erstmals verwendete Ausdruck lo real maravilloso fängt die stereotyp stilisierte Differenz zwischen aufgeklärten Europäern und einer wunderbaren Alltagswelt Lateinamerikas ein und erklärt zugleich die Produktion magisch-realistischer Literatur zu einem lateinamerikanischen Privileg. Die wunderbare Wirklichkeit, so das kulturpatriotische Moment der Überlegungen Carpentiers, könne nur von Südamerikanern künstlerisch eingefangen werden: »Und es mußte ein Maler aus Amerika sein, Wilfredo Lam, der uns […] die Magie der tropischen Vegetation […] vor Augen führte.« (Carpentier 1980: 134) Damit errichtet der Autor keine imaginären Welten, sondern überführt das Wunderbare der menschlichen Erfahrungswirklichkeit in die Literatur.45 Chanady (1997: 133) fasst zusammen: »The existence of a marvelous reality legitimated and territorialized a literary marvelous, which Carpentier opposed to the literary artifice of European writers of fantastic and surrealist literature.« Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet fungiert der realismo mágico demnach als ein authentisches Ausdrucksmittel für eine wunder- und magiegläubige Kultur,46 45
46
Diese Vorstellung verbindet Leal mit Bontempelli, der allerdings nicht genannt wird. Mit der Idee, das Wunderbare sei als Teil der Wirklichkeit hinter den Dingen verborgen, bezieht sich Leal zudem auch explizit auf den Ursprung des Begriffs bei Roh. Dieser schreibt: »Mit ›magisch‹ im Gegensatz zu ›mystisch‹ sollte angedeutet sein, daß das Geheimnis nicht in die dargestellte Welt eingeht, sondern sich hinter ihr zurückhält« (Roh 1925b: o.S., vgl. auch Durst 2008: 229f.). Diese Auffassung stieß immer wieder auf Kritik: Scheffel (1990: 46) moniert, Leal erhebe eine bestimme Wirklichkeitsvorstellung zum literaturwissenschaftlichen Klassifikationskriterium, re-
49
50
Ruderale Texturen
aber mehr noch: Seine Popularität und der anschließende Rückimport des Begriffs nach Europa zeigen hier eine interessante Wechselwirkung zwischen ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹. Die Konjunktur der lateinamerikanischen Literatur und der außergewöhnliche Boom, den der Magische Realismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr, beruhten auf einer »innovative[n] Inszenierungsweise« (Durst 2008: 225), die schließlich dazu führte, dass Europa den Erzählstil Lateinamerikas adaptierte. Das Zentrum beginnt also, die Peripherie zu imitieren, gleichzeitig werden auf diese Weise die Zuschreibungen vertauscht: Lateinamerika erscheint als Zentrum, Europa wird zur Peripherie.47 »Als ein ›Authentizität‹ verheißendes Schlagwort für eine bewußt von europäischen Vorbildern sich abgrenzende Kunst […] ist der ursprünglich aus Deutschland stammende Terminus ›magischer Realismus‹ dann in die deutsche Diskussion vor allem der sechziger und siebziger Jahre zurückgelangt.« (Scheffel 1990: 55f.)48 Diese Möglichkeit einer produktiven Neukonzeption von Literatur erhält im Kontext der Postcolonial Studies eine neuerliche Zuspitzung. Seit einiger Zeit gilt das magisch-realistische Erzählen als eine ästhetische Strategie postkolonialen Schreibens (vgl. bspw. Siskind 2012: 349 sowie Bowers 2005: 95-102). Bowers (2005: 95) schreibt: »The majority of magical realist writing can be described as postcolonial.« Dabei denken die Postcolonial Studies den Magischen Realismus oftmals mit der literarischen
47
48
flektiere dabei aber das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion nicht weiter. Der ontologische Begriffsstatus (ästhetische Kategorie oder Erfahrungswirklichkeit) bleibe letztlich ungeklärt. Für Durst (2008: 240) erweist sich die These, der Magische Realismus müsse als authentischer Ausdruck einer wundergläubigen Kultur angesehen werden, als nicht stichhaltig. Die Gleichsetzung einer geglaubten Wirklichkeit des Wunderbaren und dem System literarischer Fiktion lasse sich theoretisch nicht rechtfertigen (vgl. ebd.: 230). Darüber hinaus stecke in Carpentiers Argumentation ein logischer Widerspruch. So heißt es dort: »Here the strange is commonplace, and always was commonplace.« (Carpentier 1997: 104) Um aber das vermeintlich Alltägliche in einem ersten Schritt als seltsam wahrzunehmen, muss der Betrachter einen bestimmten Blickpunkt, in diesem Fall eine europäisch geprägte Sichtweise, auf das, was als alltäglich gilt, einnehmen. Lateinamerika kann insofern nur als wunderbar erscheinen, indem ein eurozentrisch geprägter Blick als Norm fungiert: Wäre das Wunderbare eine Glaubensfaktizität, d.h. ›wirklich‹, müsste ein magisch-realistischer Text dem lateinamerikanischen Leser realistisch erscheinen. Die magisch-realistische Literatur Lateinamerikas basiere daher nicht auf der dort vorzufindenden Wirklichkeit, sondern letzten Endes auf den Konventionen des europäischen Realismus. Ähnlich formuliert es auch Chanady (1985: 23): »[D]istancing is essential for the perception of the marvellous«. Dies zeigt sich auch an Carpentier selbst, der von 1927 bis 1939 in Paris, dem Zentrum der künstlerischen Avantgarde Europas, gelebt hatte. Darüber hinaus sind hier literaturtheoretische Einwände einzubringen: Auch ein realistischer Text muss die Welt nicht zwangsläufig wahrheitsgetreuer abbilden als anderer Textsorten (vgl. Hegerfeldt 2005: 28). Spricht man freilich von einem Re-Import, so geschieht dies wiederum vor dem Bild eines zentralen Europas. Indem sich Zuschreibungen dieser Art von Kategorien – Zentrum, Peripherie – allerdings als flexibel erweisen, entfaltet das magisch-realistische Erzählen sein gerade im Kontext postkolonialer Literaturen immer wieder hervorgehobenes Potential, feste Kategorien aufzulösen. Auch Bowers (2005: 1) konstatiert: »What the narrative mode offers is a way to discuss alternative approaches to reality to that of Western philosophy, expressed in in many postcolonial and nonWestern works of contemporary fiction by, most famously, writers such as Gabriel García Márquez and Salman Rushdie. It is this aspect that has made it most pertinent to late twentieth-century literature.«
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
Verhandlung von Identität zusammen. Indem er in Lateinamerika als »a source of strength in the definition of a continental literary identity« (Faris 2004: 37) auf den Plan trat, beförderte er dort zu Beginn des Literatur-Booms ein Gemeinschaftsgefühl und lotete Konzepte von Identität und Alterität aus.49 Susanne Klengel hat die Rolle der lateinamerikanischen Literatur in einem Nachruf auf García Márquez folgendermaßen zusammengefasst: »García Márquez ist bekanntlich kein Märchenerzähler, sondern ein politischer Autor, dessen Schreibstil auch jenseits Lateinamerikas vielerorts aufgegriffen wurde, um eigene gesellschaftliche Zustände und Prozesse neu zu erzählen […]. Diese Entwicklung wurde mit Interesse weltweit zur Kenntnis genommen und im Kontext der epistemologischen Revisionen der Postcolonial Studies und der komparatistischen Literaturwissenschaft analysiert. Zwar war der Magische Realismus in der Literatur nie ein ausschließlich lateinamerikanisches Phänomen, doch hat er in seiner lateinamerikanischen Version ein geeignetes Instrumentarium geliefert, um besondere gesellschaftliche Übergangssituationen ästhetisch zu fassen. Diese haben meist mit den ZwischenRäumen, mit komplexen Schwellensituationen zwischen Tradition und Moderne bzw. mit den Prozessen der Modernisierung in den Regionen des ›Global South‹ zu tun, so unterschiedlich diese in den verschiedenen kulturellen Kontexten auch sein mögen.« (Klengel 2014: 4) Klengels hier in extenso zitierte Ausführungen geben Aufschluss über verschiedene, durch ein magisch-realistisches Erzählen eröffnete Möglichkeiten, die auch im Hinblick auf die ausgewählten (post-)sozialistischen Erzählungen relevant werden: Der Magische Realismus Lateinamerikas stelle ein ›Instrumentarium‹ bereit, das es ermögliche, gesellschaftliche Transformationen narrativ zu fassen. ›Zwischenräume‹ sowie ›komplexe Schwellensituationen zwischen Tradition und Moderne‹, das heißt all jene mit den Vorgängen der Modernisierung verbundenen Entwicklungen würden durch ein magisch-realistisches Erzählen beschreibbar. Was hier auf die Regionen des global south bezogen wird, kann, dies sei an dieser Stelle bereits angemerkt, auch auf Regionen des global east übertragen werden.50 49
50
Es ist eben jene Fähigkeit, die ihn auch zu einem wirksamen Mittel der Dekolonialisierung macht (vgl. Faris 2004: 36). Die Popularität magisch-realistischer Texte in den 1970er und 1980er Jahren führte nicht nur dazu, dass europäische Autorinnen und Autoren begannen, die lateinamerikanische Schreibweise zu adaptieren, sie ließ auch intertextuelle Verflechtungsprozesse zwischen den ehemals kolonialisierten Gebieten entstehen. Der Magische Realismus Lateinamerikas gehöre dabei, so Faris »in the second wave […] of ›postrealist writing, postnativist politics, a transnational rather than a national solidarity − and pessimism […]‹, a wave that is continued but changed in nature by the general swift toward the documentary realism that has followed magical realism in Latin America« (ebd.). Das Präfix post wird in diesem Sinne nicht nur als ein zeitliches Danach, sondern auch als eine Herausforderung vergangener Legitimationsnarrative verstanden. An dieser Stelle sei allerdings angemerkt, dass sich seit den 1990er Jahren in Lateinamerika eine literarische Szene entwickelt hat, die sich dezidiert von der stilistischen Hegemonie des Magischen Realismus und dem Weltbild der Väter und Großväter abwendet und auf die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte reagiert, wie u.a. die 1996 von den beiden chilenischen Schriftsteller Alberto Fuguet und Sergio Gómez herausgegebene Anthologie jüngerer Autorinnen und Autoren mit dem programmatischen Titel McOndo zeigt. Der Titel spielt auf den mythisch überhöhten fik-
51
52
Ruderale Texturen
Mit der Idee eines ›Neu-Erzählens‹ ist ein weiterer Aspekt verknüpft. Eine postkoloniale Lesart, wie sie beispielsweise Faris (2004) bietet, kontrastiert die magisch-realistische Schreibweise mit einer realistischen. Magisch-realistisches Erzählen wird dann nicht nur als eine Erweiterung realistischen Erzählens – unter Einbezug von irrationalen Momenten, Träumen oder übernatürlichen Erscheinungen – betrachtet, sondern auch als eine Art Subversion des realistischen Modus verstanden. Die postkolonialen Werke, so die Überlegung Farisʼ, untergraben durch ihre besondere Erzählweise die literarische Autorität des sogenannten ›Westens‹.51 Die Resistenz des Magischen Realismus gegenüber der narrativen Autorität, die die westliche Literatur dem europäischen Realismus des 19. Jahrhunderts zugesprochen hatte, führe dazu, so auch das Argument Arvas (2008: 77), die realistische Darstellungsweise generell in Frage zu stellen und neue, experimentellere literarische Formen zu verwenden. Und mehr noch: Faris attestiert dem Magischen Realismus hier ein beinahe parasitäres Moment: »Magical realism has mastered the European discourse of realism and now uses it […] to undermine some of its masters assumptions. […] It challenges the assumptions of realistic representation but is enraptured with its practices.« (Faris 2004: 28) Aus der westlichen Tradition realistischen Erzählens werde demnach ein Instrumentarium gewonnen, das anschließend genutzt werden könne, um gegen eben diese Tradition anzuschreiben. Der Realismus glaube nicht an Wunder, stelle dem Magischen Realismus aber sozusagen die Mittel zur Verfügung, um diese zu beschreiben. Die sprachlichen Strategien magisch-realistischen Schreibens unterwandern dabei, so die Idee, subversiv den Kanon.52 Diese bei Arva und Faris formulierte Denkfigur eines Writing Back entwickelte sich vor allem in den 1990er Jahren zu einem der Paradigmen der postkolonialen Literaturwissenschaft. Als eine »griffige Formel für gegendiskursives Schreiben« (Gymnich 2017: 235) bezeichnet der Begriff die kritische Auseinandersetzung der (ehemaligen) kolonialen ›Peripherie‹ mit dem (ehemaligen) imperialen ›Zentrum‹. Da sich allerdings die Vielfalt postkolonialen Schreibens nicht auf ein solch binär ausgerichtetes Paradigma reduzieren lässt und überdies in der ›Peripherie‹ nicht ausschließlich moderne Schreibweisen, als Subversion eines realistisch-imprägnierten Schreibens des Imperialismus, verwendet wurden, erfuhr das Konzept in jüngerer Zeit zunehmend Kritik. Die Idee, dass die postkolonialen Literaturen sich insbesondere durch eine Strategie des ›Zurückschreibens‹ an die ehemaligen kolonialen Zentren konstituieren, gilt hauptsächlich für die frühe Phase der postkolonialen Literatur. Darüber hinaus birgt auch der Realismus ein subversiv-kritisches Potential, das durch die dichotome Gegenüberstellung von Magischem Realismus (Kolonie) und Realismus (Europa) unterschlagen wird. Nichtsdestotrotz lässt sich aus den Überlegungen der Postkolonialen Studien ein auch für die
51 52
tiven Ort Macondo an und verortet die Literatur in der amerikanisierten Umwelt von Macintosh und McDonalds (vgl. https://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-09/magischer-realismus-literaturlateinamerika/seite-2). »And because its narrative mode destabilizes the dominant mode of realism, it implicitly attempts to abolish the ethnographic literary authority of Western representation.«(Faris 2004: 4) Auch Zamora/Faris (1997a: 3) heben hervor: »In magical realist texts, ontological disruption serves the purpose of political and cultural disruption: magic is often given as a cultural corrective, requiring readers to scrutinize accepted realistic conventions of causality, materiality, motivation.«
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
ausgewählten (post-)sozialistischen Texte fruchtbarer Aspekt ableiten. Der Magische Realismus steht hier wie dort in engem Zusammenhang mit Momenten von Widerstand und Selbstermächtigung. Diese Idee einer Widerständigkeit gegen vorherrschende (literarische) Ordnungen findet sich auch bei Bowers (2005), die sie noch einmal weiter fasst. Der Magische Realismus stelle eine Möglichkeit dar, vorherrschende Diskurse in Frage zu stellen und insbesondere in totalitären Gesellschaften eine Möglichkeit der Artikulation zu finden: »[I]t offers to the writer wishing to write against totalitarian regimes a means to attack the definitions and assumptions which support such systems (e.g. colonialism) by attacking the stability of the definitions upon which these systems rely« (Bowers 2005: 4). An dieser Stelle sei ein kurzes Zwischenfazit gezogen. In Deutschland wird in den 1920er Jahren im Kontext der nachexpressionistischen Malerei wie auch im Hinblick auf eine Elemente von Realismus und Expressionismus vereinende Literatur von einem Magischen Realismus gesprochen. Nach dem Zweiten Weltkrieg findet der Begriff überdies Anwendung in den Diskussionen der jungen Generation um eine neu zu erschaffende ›nüchterne‹ Literatur. Auch im italienischen und flämischen Raum entstehen ab den 1920er Jahren Diskussionen um einen auf verschiedene Weise gedachten Magischen Realismus und insbesondere in Lateinamerika gelangt der Begriff schließlich zu großer Berühmtheit. Während er im Fall der Malerei zur Beschreibung eines Zustands verwendet wird, zieht ihn die Literatur zum Teil auch als programmatische Überschrift eines noch zu realisierenden Vorhabens heran. Als Klassifikationsbegriff und ästhetische Kategorie beschreibt er in der Literaturwissenschaft dann entweder einen (Erzähl-)Stil innerhalb einer Epoche oder ein epochenunabhängiges Genre. Allerdings bestehen signifikante Differenzen sowohl in der zeitlichen Lokalisierung als auch in der konkreten Definition des Magischen Realismus: Der Begriff kann eine Wahrnehmungsweise und Haltung gegenüber der Realität meinen, eine Erfahrungswirklichkeit oder aber auch den ästhetischen Umgang mit der Wirklichkeit in Form von Malerei oder Literatur. Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen diesen drei Möglichkeiten der Begriffsverwendung gestaltet sich zum Teil schwierig, denn seit der parallelen Entstehung des Begriffs in der Kunst- und Literaturwissenschaft in den 1920ern ist diese Begriffsunschärfe dem Magischen Realismus latent eingeschrieben. Hier liegt auch die Gefahr einer unreflektierten Begriffsverwendung, die, so die Kritik Hegerfeldts, dazu führen könnte, dass der Magische Realismus nur noch als ein »fashionable and essentially meaningless passe-partout« (Hegerfeldt 2005: 11, Herv. i.O.) fungiert. Versteht man ihn als ein einheitliches Phänomen, das im 20. und 21. Jahrhundert verschiedene, durchaus divergente Spielarten ausgebildet hat, so gilt es, die verbindenden Elemente – der Rekurs auf irrationale Elemente, das Bildfeld der Ruderalität, die Idee eines subversiven Moments – deutlich hervorzuheben.
53
54
Ruderale Texturen
2.5.
Narrative Strategien: magisch-realistische Bildwelten im Kontext aktueller Traumadiskurse
Der bereits erwähnte Roman Hundert Jahre Einsamkeit des kolumbianischen Autors García Márquez erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Niedergang der Familie Buendía und des von ihr gegründeten Dorfes Macondo. Macondo, zunächst als ein paradiesischer Ort entworfen, entwickelt sich im Laufe des Romans zu einem Ort des Verfalls, abgeschnitten vom Rest der Welt durch Sümpfe, dichten Urwald und eine undurchdringliche Sierra. Vor dieser fiktiven Kulisse wiederholen sich nun synekdochisch alle Träume, Alpträume und Entdeckungen der Menschheit. Zugleich nimmt der Roman auch auf realhistorische Ereignisse Bezug und passiert alle zentralen Stationen lateinamerikanischer Geschichte: Auf die Gründung in den Sümpfen folgt die politische Einbindung des Dorfes in das Gesamtsystem des Landes sowie dessen Kolonialisierung, Industrialisierung und Modernisierung, die Wirtschaftskrise und der anschließende Untergang. Macondo wird als ein Mikrokosmos lesbar, anhand dessen die Tragödie Lateinamerikas exemplarisch vorgeführt wird. Gerade die Phase der Industrialisierung wird dabei als eine Zeit von Gewalt und Unterdrückung entworfen, die im Medium der Literatur retrospektiv in den Blick genommen werden kann. Dies lässt sich exemplarisch anhand eines als Massaker endenden Arbeiterstreiks nachvollziehen. Hundert Jahre Einsamkeit reagiert hier auf ein realgeschichtliches Ereignis und greift dessen traumatisierende Implikationen in narrativer Form auf. Den realgeschichtlichen Hintergrund der Episode bildet ein Vorfall, der sich am 5. Dezember 1928 auf dem Marktplatz von Ciénaga zutrug. Etwa 2500 kolumbianische Bananenarbeiter hatten zuvor Forderungen an die United Fruit Company gestellt, die unter anderem die Verbesserung der Gesundheits- und Wohnverhältnisse und eine Lohnerhöhung beinhalteten. Die Forderungen wurden ignoriert, woraufhin es zu Unruhen kam, die in einen Streik mündeten. Der Militärbefehlshaber der Zone, General Cortés Vargas, erklärte schließlich alle Aufständischen zu Kriminellen, woraufhin das Militär auf eine Masse von Streikenden feuerte, die sich auf dem Marktplatz versammelt hatten. Die streikenden Arbeiter wurden, so schreibt der Historiker Hans-Joachim König (2008: 117) »blutig zusammengeschossen«. Dieses »Massaker in der Bananenzone« (ebd.) erregte das ganze Land, wurde jedoch nie richtig aufgearbeitet und in den öffentlichen Diskurs integriert.53 Hundert Jahre Einsamkeit greift diese Ambivalenz des zwar als Narrativ zirkulierenden, im offiziellen Diskurs jedoch kaum thematisierten Vorfalls nun auf. Der Roman erzählt, zunächst recht nüchtern, vom ausbrechenden Massenstreik, von der Versammlung auf dem Bahnhofsplatz und der Eröffnung des Feuers, um dann anschließend die Wucht und Gewalt des Geschehenen in bildhafter Sprache wiederzugeben: »Niedergemäht von den Maschinengewehrsalven, hatten die ersten Reihen es bereits getan. Doch statt sich auf die Erde zu werfen, drängten die Überlebenden auf den kleinen Platz zurück, und nun warf die Panik sie mit einem Drachenschweifschlag in Form 53
Insbesondere auch aufgrund der Unsicherheit über das numerische Ausmaß des Blutbades blieb dieses im kollektiven Gedächtnis präsent. Ein 1980 erschienenes Überblickswerk nennt »[h]underte von Arbeitern« (Meschkat/Rohde/Töpper 1980: 106).
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
einer kompakten Welle gegen die andere kompakte Welle, die in entgegengesetzter Richtung floh, angetrieben von dem Drachenschweifschlag der gegenüberliegenden Straße, wo die Maschinengewehre gleichfalls erbarmungslos feuerten. So waren sie eingepfercht und kreisten in einem riesenhaften Wirbel, der allmählich auf seinen Schwerpunkt schrumpfte, weil seine Ränder von den unersättlichen, methodischen Scheren der Maschinengewehre rundherum systematisch geschält wurden wie eine Zwiebel.« (García Márquez 2017: 364f.) Die »mehr als dreitausend Personen, darunter Arbeiter, Frauen und Kinder« (ebd.: 362) werden auf dem Bahnhofsplatz hin und her geworfen, bis schließlich alle bis auf einen aus der panischen Menschenmasse den Maschinengewehren zum Opfer gefallen sind – ein Ende, das der Roman im Bild der systematisch geschälten Zwiebel einfängt. Am Beispiel von José Arcadio Segundo, der das Massaker als Einziger überlebt, illustriert der Roman dabei die Diskrepanz zwischen der schockierenden Realität dieses Vorfalls, die es zu erinnern gilt, und einem Vergessen, das von den staatlichen Autoritäten angeordnet wird. Gerade die Ereignisse nach der Erschießung – sowohl der Umgang mit den Leichen als auch die Unmöglichkeit der Artikulation des Erlebten – erweisen sich dabei als traumatisch für den Protagonisten. Arcadio Segundo erwacht in einem fahrenden Zug, gebettet auf den Opfern des Massakers. Es ist »kein Fleckchen frei« (ebd.: 365) und die Toten haben »die Temperatur von Gips im Herbst […], dazu die Festigkeit von versteinertem Schaum«. »[W]ohlgeordnet wie Bananenbüschel« liegen sie in den Güterwaggons. Als Arcadio Segundo den Zug durchquert, sieht er »die toten Männer […], die toten Frauen, die toten Kinder, die wie Abfallbananen ins Meer geworfen werden sollten« (ebd.: 365f.). Der Vergleich der Toten mit wertlosem Obst, das entsorgt werden soll, verdeutlicht die Stellung der kolumbianischen Arbeiter sowie der einheimischen Bevölkerung insgesamt. Arcadio Segundo kann vom vorderen Teil des Zuges abspringen und wird so einmal mehr Zeuge der immensen Ausmaße der Erschießung, die sich an den Dimensionen des ›Leichenzuges‹ ablesen lassen: »Es war der längste, den er je gesehen hatte, mit nahezu zweihundert Güterwagen, mit je einer Lokomotive am Anfang, in der Mitte und am Ende.« (Ebd.: 366) Als er jedoch nach Macondo zurückkehrt, ist jede Erinnerung an das blutige Massaker aus dem Gedächtnis der Dorfbewohner verschwunden. Die erste Begegnung mit einer Frau am Dorfrand weist aus dieser Sicht exemplarischen Charakter auf: »›Es werden dreitausend sein‹, murmelte er. ›Was?‹ − ›Die Toten‹, erläuterte er. ›Es werden wohl alle sein, die am Bahnhof waren.‹ Die Frau musterte ihn mit bedauerndem Blick. ›Hier hat es keine Toten gegeben‹, sagte sie.« (Ebd.: 367) Auch auf dem Bahnhofsplatz findet Arcadio Segundo »keine Spur eines Gemetzels« (ebd.) und selbst sein Bruder, Aureliano Segundo, »glaubte die Lesart von dem Gemetzel nicht, nicht den Alptraum des mit Toten beladenen Güterzugs« (ebd.: 368). Der Roman liefert auch gleich die Erklärung für das Verhalten der Bewohner Macondos: »In der vergangenen Nacht war eine Sonderbekanntmachung der Regierung veröffentlicht worden, nach der die Arbeiter dem Befehl, den Bahnhofsplatz zu räumen, nachgekommen waren und sich in friedlichen Kolonnen nach Hause begeben hatten.« (Ebd.: 368) Diese offizielle Schilderung des Vorfalls ersetzt das eigentliche Geschehen und tilgt jegliche Spur: »Die offizielle, tausendmal wiederholte und von der Regierung
55
56
Ruderale Texturen
im ganzen Land durch alle ihr zur Verfügung stehenden Informationsmedien wiedergekäute Lesart setzte sich schließlich durch« (ebd.: 369). Der ungehörte Augenzeuge Arcadio Segundo aber zieht sich in eine unbenutzte Kammer des Hauses seiner Familie zurück, wo er zuletzt von den Familienmitgliedern vergessen wird. Mit ihm vergessen wird seine Version des Ereignisses, dessen letzte Spuren im Roman schließlich von einem sintflutartigen Regen ›hinweggespült‹ werden, der »vier Jahre, elf Monate und zwei Tage« (ebd.: 375) andauert. Jener Regen, der einsetzt, als Arcadio Segundo seinen Fußmarsch zurück nach Macondo beginnt, ein »Sturzregen« (ebd.: 366) mit »sintflutartige[n] Regengüsse[n]« (ebd.: 375), schwemmt sowohl die blutigen Spuren als auch die Erinnerung an den Aufstand hinweg und beendet zugleich die Zeit des »Bananenfiebers« (ebd.: 394). Als der Regen schließlich nachlässt, ist Macondo eine Ruine, es ist Sumpfland und Morast und somit auch bedeutungsloses Ödland für die Bananengesellschaft, die sich aus Macondo zurückzieht. Hundert Jahre Einsamkeit greift hier ein gewaltsames Ereignis auf und demaskiert durch dessen literarische Darstellung den offiziellen Geschichtsdiskurs, indem der Roman das volle Ausmaß des Geschehenen veranschaulicht und zugleich den offiziellen Umgang mit diesem vorführt. Im Schicksal José Arcadio Segundos bündelt García Márquez synekdochisch den Umgang mit einem realgeschichtlichen Ereignis, das im kollektiven Gedächtnis Kolumbiens einerseits präsent war, andererseits jedoch aus dem öffentlichen Diskurs ausgeklammert wurde. Was sich an dieser Szene zeigen lässt, ist eine Verknüpfung von magisch-realistischen Schreibweisen und der Narration und literarischen Aufarbeitung eines traumatischen Ereignisses. Indem García Márquez den Massenmord in eine magisch-realistische Bildwelt überführt, macht er ihn in seinen Auswirkungen nachvollziehbar. Das erscheint auf den ersten Blick paradox, denn nicht nur die exakte Anzahl der Toten, obgleich sie eine numerische Ahnung des Ausmaßes der Gewalt vermitteln würde, rückt in den Hintergrund, auch wird das Geschehen in gewisser Weise verfremdet. Im Zentrum steht das überwältigende Gefühl von Angst und Horror. Dazu tragen die zahlreichen Leichen mit der ›Temperatur von Gips und der Festigkeit von versteinertem Schaum‹ ebenso bei wie der überdimensional lange Güterzug, der unbeleuchtet durch die Nacht gleitet und ›wohlgeordnete‹ Leichen transportiert. Die kafkaeske Reaktion der Bewohner Macondos schließlich führt das Verstummen des einzigen Augenzeugen vor, der sich in eine groteske Kammer zurückzieht, um dort schließlich vergessen zu werden. Dabei wird sein Verstummen durch einen Prozess der Verwahrlosung verstärkt: Das Zimmer verströmt schließlich den »Pestgestank der auf dem Fußboden stehenden und mehrmals benutzten Nachttöpfe« (ebd.: 373), Arcadio Segundo ist »aufgefressen von der Tanninbeize, gleichgültig gegen die von den widerwärtigen Dämpfen verdorbene Luft« (ebd.), einzig fähig, den traumatischen Moment wieder und wieder zu rekapitulieren: »›Es waren mehr als dreitausend‹, war alles, was José Arcadio Segundo sagte.« (Ebd.: 374) Der Roman zeigt, dass die Unmöglichkeit einer Artikulation den Augenzeugen dahinsiechen lässt. Sie gründet zum einen in der Weigerung der Dorfbewohner, von der staatlich verordneten Version abzuweichen, und resultiert zum anderen aus der Unfähigkeit Arcadio Segundos, das Erlebte in Worte zu fassen. Der Roman führt insofern eine Dopplung der problematischen Aufarbeitung vor: Nicht nur die Verbalisierung des traumatischen Ereignisses wird hier zum Problem, vielmehr fehlt jegli-
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
che Form eines empfänglichen Zuhörers. Die Auswirkungen dieser gescheiterten Versprachlichung, die Hundert Jahre Einsamkeit zu protokollieren sucht, zeigen sich im Fall Arcadio Segundos in Einsamkeit und physischer Verwahrlosung. Aber mehr noch: Als Abgesandte des Militärs das Haus der Buendías nach dem Überlebenden durchsuchen, nehmen sie Arcadio Segundo in der Kammer gar nicht zur Kenntnis. »Er [der Offizier, Anm. J.K.] ließ den Blick auf dem Raum haften, wo Aureliano Segundo und Santa Sofía von der Frömmigkeit noch immer José Arcadio Segundo sahen, und auch dieser merkte, daß der Militär ihn anblickte, ohne ihn zu sehen.« (Ebd.: 372) Arcadio Segundo ›verblasst‹ und entschwindet aus dem Fokus der staatlichen Autoritäten wie auch aus dem Diskurs. Seine Erzählung der Geschehnisse auf dem Bahnhofsplatz wird weder gehört noch schriftlich festgehalten. Dieses Fehlen jeglicher Verbalisierung wird im Rauschen des sintflutartigen Regens metaphorisch gespiegelt: Wie auch das Rauschen hier ein Geräusch ohne Sprache ist, präsent und doch ohne inhaltliche Aussagekraft, so ist auch Arcadio Segundo geisterhaft präsent und doch ohne Sprache. Zugleich stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer Verbalisierung – würde doch jede Äußerung vom Rauschen des Regens überschrieben werden.54 So gesehen, eröffnet der Roman durch den Blick auf Arcadio Segundos Schicksal die Darstellung eines in seiner Darstellung problematischen realhistorischen Ereignisses, er zeigt das ›Verblasste‹ in kräftigen Farben und verweist gleichzeitig auf dessen problematische Artikulation. Die am Beispiel Arcadio Segundos vorgeführte problematische Artikulation eines traumatisierenden Ereignisses geht nun, das hat die Literaturwissenschaft an verschiedener Stelle bemerkt, oftmals mit einer magisch-realistischen Erzählweise einher. Hier wird eine ganz bestimmte Lesart des Magischen Realismus deutlich. So versteht beispielsweise Eugene L. Arva in seiner Studie The Traumatic Imagination. Histories of Violence in Magical realist Fiction (2011), die sich dem Nexus von magischrealistischem Erzählen und posttraumatischen Strukturen widmet, das magisch-realistische Schreiben als eines der effektivsten Mittel »of re-creation, transmitting, and ultimately coping with painful traumatic memories« (Arva 2011: 5). Arva löst den Magischen Realismus auf diese Weise von jeglicher geografischen und zeitlichen Fixierung und beschreibt ihn als eine unter bestimmten historischen Bedingungen zu Tage tretende Schreibweise: »Magical realism, as a mode of writing and not as a canonical genre restricted to a certain geography, culture, or literary trend, has become one of the most effective, albeit controversial, artistic media to re-present extreme events since its beginnings in the early twentieth century.« (Ebd.: 3) Auch das von Arva herausgegebene e-Journal Interférences littéraires versammelt unter dem Titel Magical Realism as Narrative Strategy in the Recovery of Historical Traumata (2014) verschiedene Aufsätze, die den Magischen Realismus als ein poetisches Schreibverfahren begreifen, das der Aufarbeitung und literarischen Darstellung traumatischer Ereignisse diene. Dabei überschreite das magisch-realistische Verfahren geo-kulturelle, literarische wie auch seine eigenen historischen Grenzen. Es gehe, so der Ansatz, um
54
Das Rauschen des Regens beschreibt hier ein ähnliches Phänomen wie es Michel Foucault in seinem mit dem Titel Botschaft oder Rauschen überschriebenen Vortrag (1966) berühmt gemacht hat. Aus dem Rauschen müsste der Hörer (bei Foucault der Arzt) »die Elemente einer Botschaft« (Foucault 1994: 142) heraushören (können).
57
58
Ruderale Texturen
das (Er-)Schreiben des Realen, um Re-Konstruktion und Re-Präsentation. Indem die nicht artikulierbaren Elemente traumatisierender Ereignisse in Geschichte(n) und Bilder verwandelt werden, werden sie, so die These, erst eigentlich erzählbar gemacht.55 Diese Interpretation magisch-realistischer Literatur ist durchaus nicht unpopulär und erweist sich auch im Zusammenhang mit den (post-)sozialistischen Texten als ein möglicher Zugang. Allerdings muss der Traumabegriff in diesem Zusammenhang differenziert betrachtet werden. Texte unter dem Vorzeichen traumatisierender Erlebnisse zu analysieren, ist vor allem in den letzten Jahren besonders en vogue. Die Literaturwissenschaft stellt in Anlehnung an die Erkenntnisse der Psychotraumatologie Erwartungen an die narrativen Strategien der Texte, die in einer Auffassung von Trauma als einem ›Nicht-Erzählbaren‹ gründen. Traumatische Ereignisse würden in den literarischen Texten, so der Ansatz, beispielsweise in Form von Leerstellen umgesetzt. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass oftmals davon ausgegangen wird, dass sich das schreibende Subjekt durch die Literarisierung eines Ereignisses von dessen traumatischen Implikationen löse. In letzter Konsequenz würde dies auch bedeuten, dass alle magisch-realistischen Autorinnen und Autoren eine Art Trauma verarbeiten. Dass eine solche Interpretationsweise zu kurz greift, liegt auf der Hand. Auch evoziert die Einschränkung auf die Narration traumatischer Ereignisse ein bestimmtes Analyseverhalten der Literaturwissenschaft, das den jeweiligen Text zu verfehlen droht. Geht man davon aus, dass dem magisch-realistischen Bildvorrat eines Texts stets ein traumatischer Akt zugrunde liegt, so dient die Analyse im Grunde genommen immer der Darstellung eben dieses Akts. Die Textinterpretation verharrt damit in einer hermeneutischen Lesart, die oftmals zu simpel erscheint. Denn obgleich der Magische Realismus, als eine spezifische Schreibweise der ehemaligen Kolonien56 wie auch durch seine Verbindung zu den Ereignissen des Ersten Weltkriegs, auf gewisse Weise mit dem Traumadiskurs verknüpft ist, ist ein traumatischer Akt nicht seine conditio sine qua non. Der Blick auf die biografischen Hintergründe ist vielmehr nur eine Möglichkeit, Literatur zu betrachten. Beispielhaft zeigt dies Hundert Jahre Einsamkeit. Dort überschneiden sich zwei verschiedene Ebenen: So lässt sich einerseits auf der intradiegetischen Ebene die Augenzeugenschaft der Romanfigur als traumatisierendes Ereignis begreifen, andererseits kann jedoch auch die Biografie des Autors mit dem realhistorischen Ereignis in
55
56
Die Beiträge befassen sich mit der literarischen Bearbeitung von historischen Traumata wie den Folgen der beiden Weltkriege, transgenerationellen Traumata, so etwa die Auswirkungen auf die Nachfahren der Holocaust-Überlebenden, sowie dem Trauma der Vertreibung, insbesondere infolge des Zweiten Weltkriegs. Die Ausgangsbeobachtung lautet: »Where factual representation of a violent reality fails because of the crisis of meaning, magical imagery takes over.« (Arva/Roland 2014a: 5) Um einem Bedeutungsverlust durch die pluralen – zum Teil widersprüchlichen – Forschungstraditionen vorzubeugen, streben Arva/Roland eine generelle Definition des Magischen Realismus an und rücken dazu dessen psychologische und sozio-politische Relevanz in den Vordergrund, indem sie ihn v.a. als »artistic media to represent extreme events« (ebd.: 9) betrachten. Beispiele hierfür wären etwa die Romane des südamerikanischen Autors André Brink (Imaginings of Sand (1996), Devil’s Valley (1998)), Salman Rushdies Roman Midnight’s Children (1981) sowie Arundhati Roys Roman The God of Small Things (1997).
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
Verbindung gebracht werden, das García Márquez durch Erzählungen bekannt war. In Leben, um davon zu erzählen (2002) berichtet dieser: »›Schau‹, sagte sie, ›dort ist die Welt untergegangen.‹ Ich folgte ihrem Zeigefinger und sah den Bahnhof […] und davor eine leere, kleine Plaza, auf der allenfalls zweihundert Personen Platz gefunden hätten. Dort hatte, wie meine Mutter an jenem Tag präzisierte, das Heer 1928 eine nie geklärte Zahl von Tagelöhnern der Bananengesellschaft erschossen. Ich kannte diese Episode, als hätte ich sie selbst erlebt, da ich sie, seitdem ich mich erinnern konnte, tausendmal von meinem Großvater erzählt bekommen hatte« (García Márquez 2002: 22f.). Im Falle des in Hundert Jahre Einsamkeit geschilderten Massenmords fungiert die magisch-realistische Bildsprache als eine Möglichkeit, die unartikulierbaren Ereignisse in ein Narrativ zu überführen und in ihrer brutalen Dimension erfahrbar zu machen. Das Zitat zeigt, dass in Hundert Jahre Einsamkeit ein Ereignis aufgearbeitet wird, das für den Autor einerseits präsent war, während er es andererseits selbst nicht erlebt hatte. Seine literarische Umsetzung der Thematik greift auf ein magisch-realistisches Bildrepertoire zurück, das dieses Problem einer Nicht-Zeugenschaft durch einen Protagonisten exponiert, der selbst als Augenzeuge unglaubwürdig wird. Nimmt man eine solche Differenzierung zwischen Autor/-in, Protagonist/-in und Text vor, erweist sich die traumatologische Interpretation magisch-realistischen Schreibens durchaus als ein fruchtbarer Ansatz, der nicht zuletzt auch im Hinblick auf die ausgewählten (post-)sozialistischen Erzählungen einen Mehrwert verspricht. Hier wird ein kurzer Blick auf die Erkenntnisse der Psychotraumatologie und ihre Verbindung mit literaturwissenschaftlichen Ansätzen notwendig. Das Wort ›Trauma‹ kommt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich ›Wunde‹. Seit langem mit der allgemeinen Bedeutung ›Verletzung‹ in der Medizin etabliert, wird der Begriff inzwischen vor allem mit einer psychischen Wunde, die eine rätselhafte Symptomatik hervorbringt, verbunden. Seit Ende des 19. Jahrhunderts in psychiatrischen Kreisen verwendet, wurde es erst 1980 ins Amerikanische Handbuch der Psychiatrie eingetragen, ausgelöst von den politischen und sozialen Folgen des Vietnamkriegs. Im Verständnis der Psychotraumatologie übersteigen Traumata den bisherigen Erfahrungshorizont eines Individuums und führen zu einem massiven Kontrollverlust. Diese Art des psychischen Traumas, so konstatiert die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann (2006: 93),57 »geht auf lebensbedrohende und die Seele tief verwundende Erfahrungen von extremer Gewalt zurück, deren Wucht den Reizschutz der Wahrnehmung zerschlägt und 57
Assmann verwendet den Traumabegriff dabei, im Unterschied zu bspw. dem Soziologen Bernhard Giesen, ausschließlich im Hinblick auf spezifische Opfererfahrungen, d.h. als eine Bezeichnung für »das Erleiden psychischer Gewalt und psychischer Bedrohung« (Assmann 2006: 95). Für Giesen entsteht das der Opfererfahrung entgegengesetzte Tätertrauma, wenn eine »Allmachtsphantasie« bzw. eine »selbst gesetzte absolute Subjektivität« (Giesen 2004: 22) unerwartet »mit der Realität konfrontiert wird« (ebd.). Auch Sigmund Freud brachte den Traumabegriff vorwiegend mit Tätern in Verbindung, so bspw. in seinen Studien Totem und Tabu und Der Mann Moses und die monotheistische Religion, die sich mit dem Trauma der Ermordung des Urvaters durch die Brüder und die Wiederholung dieses Urmordes an Moses befassen. »Am Anfang der Kultur und Religion steht für Freud das schlechte Gewissen in Form eines Tätertraumas.« (Assmann 2006: 95)
59
60
Ruderale Texturen
die aufgrund ihrer fremdartigen und identitätsbedrohenden Qualität psychisch nicht verarbeitet werden können«. Der meist mit einem psychischen Trauma verbundene Abwehrmechanismus, eine als ›Dissoziation‹ bezeichnete unbewusste Strategie der Abspaltung, hält das bedrohliche Ereignis vom Bewusstsein der Person fern und dient dem Überleben der traumatisierten Person. »Was in solcher Abspaltung weder erinnert noch vergessen werden kann, wird vom Bewusstsein eingekapselt, was bedeutet, dass es in einen Zustand der Latenz versetzt wird, in dem es lange Zeit unterschwellig und unauffällig bleiben kann, bis es sich durch eine Sprache der Symptome wieder bemerkbar macht.« (Ebd.: 94)58 Auf ähnliche Weise definiert der Psychologe Gottfried Fischer das psychische Trauma, wenn er es als »ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten« beschreibt, »das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht, und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt« (Fischer 2000: 11f.). Weil ein Erlebnis im Moment des Erlebens nicht ausreichend verarbeitet werden kann, kehrt die traumatische Erfahrung in Form von sogenannten Flashbacks zurück. Oftmals, so ist sich die Traumaforschung einig, versiegt unter der Bedingung physischer wie auch psychischer Gewalteinwirkung die Sprache. Sie ist nicht in der Lage, das Erlebte ›realitätsgetreu‹ wiederzugeben; die Artikulation scheint, wenn es denn überhaupt zu einem Aussprechen kommt, der Erfahrung nicht angemessen.59 Das traumatisierende Ereignis kann nicht sprachlich erinnert und verinnerlicht, das heißt auch nicht in die Sprache zurückgeholt werden. Eine zentrale Signatur von Traumaerzählungen zeigt sich daher gerade im Ausschluss einer wirklichkeitsgetreuen Repräsentation der gewalttätigen Realität und, damit verknüpft, im Rückgriff auf andere Möglichkeiten der Darstellung. Diese können sich auch auf die Struktur des Erzähltexts auswirken und werden oftmals qua narrativ-ästhetischer Darstellungsformen verhandelt. Fischer hält fest: »Oft wird der Ausdruck traumatischer Erfahrungen durch eine Revolution ästhetischer Kategorien, durch programmatische stilistische Innovation erst ermöglicht, wie sich am Surrealismus, an einer Stilrichtung, die den Ausdruck traumatischer Erfahrungen historisch in besonderer Weise gefördert hat, zeigen läßt.« (Fischer 2000: 16) Diese von Fischer aus der Sicht der Psychologie für den Surrealismus getroffene Beobachtung verknüpft die Artikulation traumatischer Ereignisse mit einer spezifischen Schreibweise der Avantgarden. Arva und Roland argumentieren vom Standpunkt der Literaturwissenschaft aus auf eine ähnliche Weise: Verstanden als eine spezifische Ausdrucksweise traumatisierender Ereignisse wird der Magische Realismus, besonders die
58
59
Oftmals ist die Erinnerung, die nicht ins Bewusstsein findet, im Körper eingeschrieben, wie u.a. an den Gesichtszuckungen und Bewegungsstörungen demoralisierter Soldaten des Ersten Weltkriegs festgestellt wurde (vgl. Assmann 2006: 94). Bekanntermaßen hat insbesondere die Dichtung während und nach der Shoah versucht, der Verzweiflung über die Unsagbarkeit, die mit der Unfassbarkeit des Geschehenen einhergeht, eine Sprache abzuringen. Auch hier zeigt sich die zweifache Problematik einer Unangemessenheit jeden Sprechens und jeden Ausdrucks einerseits sowie einer inneren Zerstörung der Sprache, geknüpft an die Zerstörung der Psyche andererseits, d.h. einem Scheitern der sprachlichen Repräsentation.
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
Werke der postkolonialen Literatur, an zeitgenössische Traumatheorien zurückgebunden, während die Texte als spezifische Artikulationsformen gelesen werden, die auf die brutalen Transformationsprozesse und Eingriffe des Kolonialismus antworten. Der Magische Realismus als eine textuelle Repräsentationsform ermögliche dann, so der Ansatz, die Darstellung des eigentlich nicht Repräsentierbaren. So liest man bei Arva (2008: 67): »Signification becomes particularly important when its object is the unpresentable, a reality of extreme events which, by their traumatic nature, resist representation.« Dies, so der von Arva unterbreitete Vorschlag, könne der traditionelle Realismus im Kontext eines Traumas nicht leisten: »Yet it is curious that fantastic re-presentation (imaginative reconstitution) works where realistic representation (descriptive mimesis) has apparently failed.« (Ebd.: 61, Herv. i.O.) Dem Magischen Realismus komme daher eine besondere Funktion zu, da das traumatisierte Subjekt und die gewählte Schreibform dieselbe ontologische Ausgangsbedingung teilen: Das Subjekt sei nicht in der Lage, von den quälenden Erfahrungen zu berichten – das Reale könne nicht erzählt werden. Die magisch-realistische Schreibweise allerdings versuche erst gar nicht, die Darstellung einer Realität in der Erzählung zu leisten: Sie setze der mimetischen Abbildung realistischen Schreibens eine schöpferische Fantasie entgegen, die ihren Ausgangspunkt zwar in der Realität nehme, diese dann jedoch imaginativ ausgestalte und erweitere.60 Arvas These, dem Magischen Realismus gelinge es daher im Gegensatz zum Realismus, traumatische Ereignisse zu artikulieren, ist zu pauschal, um eine erkenntnisoffene Literaturwissenschaft zu verfolgen. Allerdings lässt sich aus dieser Interpretationsweise ein interessanter Aspekt ableiten: Geht man davon aus, dass die Verfasser/-innen magisch-realistischer Texte gerade deshalb auf den Magischen Realismus zurückgreifen, weil sie die Intention haben, ein traumatisches Ereignis literarisch zu gestalten und in der Literatur neu zu erfinden, lassen sich neue, produktive Fragen aufwerfen. In diesem Fall rücken die Mittel, die dazu verwandt werden, in den Fokus. Im Anschluss an diese Überlegungen hinsichtlich der Literarisierung einer in gewisser Weise nicht (mehr) existenten Realität sei abschließend auf einen letzten Aspekt hingewiesen, der auch zu den im Folgenden betrachteten Erzählungen überleitet. Die Problematik des Nicht-Vorhandenseins, das heißt das Fehlen der Augenzeugenschaft oder die Unmöglichkeit, das Gesehene abzurufen, wird im Zusammenhang mit den im 20. Jahrhundert von der Landkarte verschwundenen Landschaften östlich der OderNeiße-Linie noch einmal auf eine andere Weise virulent. Die Überlegungen hinsichtlich der Darstellungsmöglichkeiten magisch-realistischen Schreibens lassen sich somit im Kontext der (post-)sozialistischen Texte noch einmal anders wenden. Die im Zusammenhang mit dem Holocaust, den unter Stalin durchgeführten Terrorkampagnen und dem Hungerkrieg gegen die Kriegsgefangen und die nichtjüdische Bevölkerung verschwundenen Landschaften zwischen Deutschland und Russland weisen eine doppelte Verlusterfahrung auf: Nicht nur sind die historischen Landschaften nicht mehr exis-
60
»Magical realism undermines the ontological integrity of a realist text by including irrational elements, breaks the logic of subordination, and ultimately creates a new reality framework, which seems to favor fresh critical approaches to historical and contemporary events by relying primarily on the creative and healing power of imagination.« (Arva/Roland 2014a: 14)
61
62
Ruderale Texturen
tent, auch die diese bevölkernden Menschen sind verschwunden.61 Der Komparatist Werner Nell hat diesen Aspekt nun mit dem magisch-realistischen Erzählverfahren in Verbindung gebracht. Hinsichtlich der Wiederentdeckung einer bestimmten Region in der Literatur nach 1990, die Rede ist von Galizien, erweisen sich diese Verfahren auch im Kontext einer »literarisch und erkenntnistheoretisch reflektierten Bezugnahme auf eine nicht mehr vorhandene, allenfalls im Rekurs auf Traumwelten, Imaginationen und Traumata rekonstruierbare Landschaftsgeschichte« (Nell 2010: 457) als geeignet. Diese untergegangene Welt wird, wie etwa in einem Roman der polnischen Autorin Anna Bolecka – Biały Kamień (1994, dt. Der Weiße Stein, 1998) –, durch mystisches Erleben, Geistererscheinungen und Erinnerung sozusagen nachgebildet – ohne allerdings eine noch real existente Vorlage zu besitzen. Ähnlich dem von Arva formulierten Gedanken, magisch-realistisches Erzählen könne auf etwas Abwesendes verweisen, findet sich auch in Boleckas Erzählung die Rekonstruktion einer untergegangenen Welt, deren ursprüngliche Referenz nicht mehr auffindbar ist. In den folgenden Analysekapiteln werden nun verschiedene literarische Entwürfe untergehender bzw. untergegangener Welten betrachtet, die auf Elemente des Magischen Realismus rekurrieren. Dieser, dies sollte deutlich geworden sein, lässt sich auf zweifache Weise verstehen. Einerseits als eine begriffsgeschichtliche Strömung, die je nach Zeit und Ort unterschiedliche Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen aufweist, die jedoch im Grunde genommen als ein einheitliches Phänomen verstanden kann oder, andererseits, als ein heterogenes Ensemble divergenter Phänomene, die nur durch den gemeinsamen Begriff zusammengehalten werden. Die erste Lesart, die auch in dieser Studie verfolgt wird, lässt sich anhand von drei Merkmalen plausibilisieren: der Motivik, der Erzählweise und den Kontexten, in denen der Magische Realismus auftaucht. Das Bild einer sich zuvor kultiviertes Terrain zurückerobernden Pflanzenwelt begleitet die Geschichte des Begriffs in unterschiedlicher Ausprägung. Während der Rekurs auf eine potente Natur in den frühen Theorien Rohs und Bontempellis keine Rolle spielt, stellt diese in den zeitgleich entstehenden literarischen Werken einen paradigmatischen Topos dar. Das Unkraut der Erzählungen Loerkes, Langgässers oder Lehmanns markiert oftmals einen Interimsstatus: Es wächst in topografischen Zwischenräumen, wie etwa in Langgässers verlassenem deutsch-französischem Lager, und zeigt zugleich, eingefangen in der poetologischen Reflexionsfigur der Ruderalfläche, die hybride Existenz der Texte zwischen Realismus und Moderne an. Die deutsche Trümmerliteratur nach 1945 rekurriert ebenfalls auf Unkraut, wenn sie von Ruinen und Schutt berichtet, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch Pflanzen wie Huflattich und Brennnesseln wieder neu belebt werden. Das Wachstum der Pflanzen markiert dort eine inhaltliche Dynamik, die zugleich als textgenetisches Prinzip verstanden werden kann: An und aus den Orten der Zerstörung entsteht eine Literatur, deren conditio sine qua non die zerbombten Städte und zerstörten Landschaften der Nachkriegszeit darstellen. Gleichzeitig markiert das Unkraut dort eine eigenwillige Kontinuität von 61
Der Historiker Timothy Snyder bezeichnet jene Räume, in denen sich die Gewaltpotenzen des 20. Jahrhunderts entfalteten, als Bloodlands. Ihr Gebiet »erstreckt sich von Zentralpolen bis Westrussland, einschließlich der Ukraine, Weißrusslands und der baltischen Staaten« (Snyder 2014: 9).
2. Realismus des Unkrauts: Theorien und Kontexte
Vergangenheit und Gegenwart und fungiert überdies als Zeichen für den vorübergehenden Status der Trümmer: Auf die Trümmer- folgt im sozialistischen Teil Deutschlands schließlich die Aufbauliteratur, in der der Zerstörung ein Fortschrittsoptimismus entgegengesetzt wird, der die ›verwucherten‹ Orte in Industrieareale und Betonbauten umwandelt. In abgewandelter Form tauchen die Brennnesseln Loerkes zuletzt auch in den lateinamerikanischen Werken des Magischen Realismus auf, wo eine sich Kulturgut zurückerobernde Pflanzenwelt quasi zur Grundausstattung magisch-realistischen Erzählens gehört. Bei dieser handelt es sich jedoch um eine tropische Vegetation, die eher an Horst Langes ›weiche gärende Luft‹, den ›schweren Brodem‹, und die ›moosige Vegetation‹ jenseits der Oder erinnert, als an Loerkes Brennnesselwälder oder Günter Eichs Huflattich. Erzählt wird von den ›verunkrauteten‹ Gebieten in einem Modus, der Elemente einer realistischen Erzählweise mit Verfahren der Avantgarden zusammenführt. Der Magische Realismus lässt sich insofern als ein spezifischer Realismus des 20. und 21. Jahrhunderts verstehen, der immer wieder eine Schreibweise zwischen realistischem Abbildungsbegehren und moderner Sprachskepsis markiert, die sowohl die Wirklichkeit als auch eine dahinterliegende Dimension abzubilden sucht. Seit seinem Ursprung in den 1920er Jahren stellt das magisch-realistische Erzählen überdies eine Möglichkeit dar, Umbrüche erzählbar zu machen und auf etwas nicht (mehr) in der Realität Vorhandenes zu rekurrieren. Es lässt sich daher auch beobachten, dass das magisch-realistische Schreiben gerade dann als eine literarische Artikulationsform in den Blick rückt, wenn von Zäsuren, Veränderungen und Restbeständen berichtet wird. Das Ruderal, verstanden als ein paradigmatisches Motiv des Magischen Realismus, ermöglicht es nun, diese motivischen Ähnlichkeiten näher zu beschreiben und die Geschichte der magisch-realistischen Schreibweise um ihre ›östliche‹ Komponente zu erweitern. Die »Erfolgsgeschichte« des Magischen Realismus, so beobachtet Baßler (2015: 374), »geht auch nach 1945 ungebrochen weiter«, eine Geschichte, die sich anhand des Rückgriffs auf eine ruderale Metaphorik erzählen lässt, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen.
63
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980) »Laßt nicht Gras wachsen« Volker Braun: Die Mauer Als Stanislaus Büdner, der Protagonist aus Erwin Strittmatters Wundertäter-Trilogie, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Kleinstadt Kohlhalden eine Stelle als Redakteur annimmt, ist dort alles »schwarzgrau überpudert von Kohlenstaub« (WIII 120). Dieser Staub bedeckt nicht nur die Maschinen der das Stadtbild bestimmenden Montanindustrie, sondern auch die gesamte, nur noch spärlich vorhandene Natur: »[S]elbst die zähen Goldruten an den Bahndämmen und der Mauerpfeffer an den Schwellen der Grubenbahnen schienen dunkler zu blühen, und von den Blättern des Rotdorns in der Puschkinstraße und denen der Linden in der Bahnhofstraße konnte man nur vermuten, daß sie unterm Kohlenstaub noch grün waren« (ebd.), heißt es zu Beginn des dritten Bandes. Unter dieser Kohlenstaubschicht kann nun, so die hier verfolgte Leitthese, nicht nur die Farbvielfalt einer noch intakten Natur vermutet, sondern auch die Funktionsweise des sich ab 1945 im östlichen Teil Deutschlands neu etablierenden politischen Systems rekonstruiert werden. Zwischen Strittmatters spärlich eingesetzten Bildern einer den vormals kultivierten, jedoch zerstörten oder brachliegenden Raum besiedelnden Pflanzenwelt und der Darstellung der das Landschaftsbild Ostdeutschlands bestimmenden Montanindustrie spannt sich ein Diskursfeld auf, in dem sowohl die ästhetischen Vorgaben der sozialistischen Kulturpolitik als auch die Antworten der Literatur auf diese verortetet werden können. In der Darstellung des Braunkohleabbaus laufen daher verschiedene Diskurslinien zusammen: die Veränderung der Landschaft im Zuge der forcierten Industrialisierung, die Verdrängung der Vergangenheit, die ›Brüchigkeit‹ der auf dieser aufgebauten Gegenwart, die Idee von Erde als einem Speicherort von Geschichte(n), die Literarisierung von Erinnerung sowie die Rückbindung dieser Aspekte an die spezifische Metaphorik einer abseitig wachsenden Pflanzenwelt, die sich im Wundertäter vor allem im Bild der sorbischen Heidelandschaft zeigt. Die Erzählungen des sorbischen Autors Erwin Strittmatter (1912-1994) bilden ein prägnantes Beispiel für den literarischen Umgang mit den gesellschaftspolitischen, sozialökonomischen wie auch literaturtheoretischen Veränderungen in der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik. An seiner Wundertäter-Trilogie, die in
66
Ruderale Texturen
den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt steht, lässt sich jener Fortschrittsoptimismus aufzeigen, im Kontext dessen die zerstörten Orte des Zweiten Weltkriegs in innovative Industrieareale umgewandelt wurden. Der Wundertäter, veröffentlicht 1957, 1973 und 1980, erzählt den Bildungsweg des ostdeutschen Jungen Stanislaus Büdner vom dichtenden Bäckergesellen hin zum kritischen Schriftsteller und entwirft dabei ein Zeitpanorama des 20. Jahrhunderts. Dabei bewegt sich der mit pikaresken Zügen ausgestattete Protagonist in seinen ›Lehr- und Wanderjahren‹ durch verschiedene Gesellschaftsschichten, beschreibt den Aufbau des Sozialismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und reflektiert zugleich die kulturpolitischen Normen, die die Literatur Ostdeutschlands nach 1945 maßgeblich bestimmten. Obgleich der Titel der Trilogie – Der Wundertäter – darauf schließen ließe, enthält der Text allerdings nicht die im vorhergehenden Kapitel herausgearbeiteten Merkmale eines magisch-realistischen Schreibens. Auch das als prototypisch magisch-realistisch identifizierte Unkraut wird im Wundertäter weitaus weniger prominent inszeniert. Ganz im Gegenteil: Strittmatters Schreiben ist vor allem von der Poetik eines dezidiert ›sozialistisch‹ gedachten Realismus geprägt, der ab 1949 unter der Führungsrolle der Sowjetunion auch im östlichen Teil Deutschlands etabliert wurde. Der Sozialistische Realismus zeichnete sich durch das Fehlen von Abstraktion und Ästhetisierung, durch eine starke Wirklichkeitsnähe sowie durch eine Themenwahl aus dem sozialistischen Arbeitsalltag und damit verbundenen Motiven aus Technik und Industrie aus. Dies führte unter anderem dazu, dass das Wunderbare in den Texten ausgespart und jegliche Form von Irrationalität, Mehrdeutigkeit und Magie ausgeklammert wurde. ›Wunderbarkeit‹ wurde in das Paradigma des Sozialismus überführt; die Welt sollte logisch und technisch erklärbar sein. Die Aufnahme der drei Romane in das Textkorpus dieser Arbeit ist daher auf andere Weise motiviert: Der Wundertäter, so die Lesart, zu der die folgenden Ausführungen Vorschläge unterbreiten möchten, führt vor, inwiefern sich die ›Ränder‹, an denen sich das magisch-realistische Unkraut und die ruderale Literatur schließlich ansiedeln, nach 1945 sowohl kulturpolitisch als auch motivisch herausbilden. Anders formuliert: An den drei Bänden lässt sich illustrieren, inwiefern das Wuchern von Ruderalflora und Text als Antwort auf die dogmatischen Vorgaben der sozialistischen Kulturpolitik wie auch auf die Ausbeutung der Landschaft durch die Industrie verstanden werden kann. Strittmatter versucht in seinen Romanen einen literarischen Neuansatz, der vor den Erfahrungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg eine spezifische Stoßrichtung erhält. Dabei werden zwischen dem literarischen Entwurf eines individuellen Bildungswegs, der Darstellung des sozialistischen Aufbaus und den Reflektionen über ein ›angemessenes‹ Schreiben verschiedene affirmative wie auch subversive Positionen ausgelotet, die sowohl den Inhalt als auch den Modus des Erzählens berühren. Indem nun der Fokus auf die Darstellung peripherer Orte und das Bildfeld der Ruderalität gelegt wird, können die drei umfangreichen Bände gesamthaft betrachtet und hinsichtlich einer übergreifenden Fragestellung analysiert werden. Die im Zusammenhang mit der Darstellung des Braunkohleabbaus formulierten Ausschlüsse und Verwerfungen weisen dabei auf die Erzählungen des sächsischen Autors Wolfgang Hilbig voraus und fungieren insofern auch als Folie, vor der dessen im fünften Kapitel analysierte Erzählung Alte Abdeckerei noch einmal an Kontur gewinnt.
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
Um diese Zusammenhänge darstellen zu können, widmet sich das Kapitel zunächst der »künstlerische[n] Strategie« (Emmerich 1996: 119) des Sozialistischen Realismus und den kulturpolitischen Vorgaben, die die Entstehungsgeschichte der Wundertäter-Trilogie begleiteten. Dadurch soll der Blick auf die Herausbildung jener Strukturbedingungen gelenkt werden, vor deren Hintergrund die Rede von einem die ›Ränder‹ besiedelnden Unkraut erst an Kontur gewinnen kann. Die ersten beiden Teile der Trilogie, erschienen während des Wechsels von der sogenannten ›Aufbau-‹ (1950-1961) zur ›Ankunftsliteratur‹ (1961-1971), schrieben sich in bestimmte Genrekonventionen ein, die parteilichen Zielsetzungen und ästhetischen Richtlinien unterworfen waren. Die Aufbauromane dienten der Herausbildung einer sozialistischen Nationalliteratur und sollten die demokratische Neuordnung der neu errichteten Republik mitgestalten. Seit ihrem Entstehen wird ihnen daher von der Literaturkritik ein »unterschiedslose[r] ›Schematismus‹« (Aumüller 2015: 12) attestiert: »Ihre Bücher folgten allesamt dem gleichen Romanschema, demzufolge ein positiver Held nach mannigfachen Konflikten und Schwierigkeiten glücklich im Sozialismus ankommt«, konstatiert beispielsweise der Germanist Theo Buck (2002: 15).1 Der Wundertäter, dessen Inhalt um eben jene Integration in die sozialistische Gesellschaft kreist, firmiert aus dieser Perspektive als ein Beispiel der literaturästhetischen Vorgaben, die den Kulturbetrieb der DDR maßgeblich bestimmten. Eine solche Zuordnung erweist sich jedoch als problematisch: Mit ihr führt man letztlich Forschungspositionen fort, die spätestens seit dem deutsch-deutschen Literaturstreit nicht mehr angemessen sind. Sowohl vor als auch nach 1989 ließ sich in der Betrachtung der DDR-Literatur eine bestimmte Primatsetzung des Gesellschaftlich-Politischen gegenüber dem Ästhetischen beobachten. Seit dem Ende der DDR hat sich die Literaturgeschichtsschreibung nun wiederholt mit der Frage beschäftigt, inwiefern die DDR-Literatur zum Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Betrachtung werden könne. Nach der Politisierung der DDR-Literatur-Forschung vor 1989 und dem um 1990 verfolgten Ansatz, die politische Haltung einzelner Autorinnen und Autoren zu den Qualitäten ihrer Werke in Verbindung zu setzen, erweist sich die in seiner einschlägigen Kleinen Literaturgeschichte der DDR (1996) formulierte Forderung Wolfgang Emmerichs, die literarischen Texte auch als Texte zu untersuchen, die Kategorie des Ästhetischen also gleichberechtigt neben die des Politischen treten zu lassen, als ein literaturwissenschaftlich produktiver Ansatz (vgl. Emmerich 1996: 17f. sowie Max 2013: 11). Diesem
1
Zu einer produktiven Analyse der Aufbau- und Ankunftsliteratur siehe Aumüller (2015). Aumüller analysiert die Vorbildfunktion der sowjetischen Aufbauromane für die Literatur der DDR und beleuchtet den literarhistorischen Zusammenhang, in dem die Aufbauromane in den 1960er Jahren entstehen. Die als Vorwurf formulierte Reduktion auf ein bestimmtes Schema und eine damit verknüpfte ästhetische Minderwertigkeit ließen die Aufbauromane in der Literaturwissenschaft lange Zeit ein Schattendasein führen. Aumüllers Studie beleuchtet nun Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Werken und fragt nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Aufbau- und Ankunftsliteratur. Dabei versteht er die paradigmatischen Eigenschaften der Aufbauliteratur – Schematismus, Handlungsfülle, Monovalenz und Transparenz – als Elemente eines besonderen literarischen Programms und leitet aus ihnen eine ›minimalistische Poetik‹ ab.
67
68
Ruderale Texturen
Ansatz folgend, sollen Strittmatters Romane gleichermaßen im Kontext der historisch-politischen Zeitumstände wie auch hinsichtlich ihrer ästhetischen Merkmale betrachtet werden.2 Dafür wird in einem ersten Schritt die Agenda des Sozialistischen Realismus skizziert (3.1), um anschließend eine produktive Neuperspektivierung zu erproben, die den Wundertäter im Kontext einer Theorie ruderaler Texturen analysiert. Diese Perspektive auf die Romane lässt sich anhand der verschiedenen Stationen, die der Protagonist auf seinem Weg in den Sozialismus durchläuft, verfolgen.3 Hier rücken exemplarische Aufbauszenarien in den Fokus, an denen sich illustrieren lässt, inwiefern der Stagnation (Müller) und Zerstörung (Hilbig) des späten Sozialismus hoffnungsvolle und utopische Zukunftsimaginationen vorausgehen, die eng mit der im ersten Band des Wundertäters dargestellten faschistischen Vergangenheit Deutschlands und den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs verzahnt sind. In den drei Bänden wird beschrieben, wie sowohl der ländliche als auch der städtische Raum im Rahmen der sozialistischen Modernisierungsexperimente umgestaltet werden, wie also aus den verunkrauteten Flächen der Nachkriegslandschaften jene Industrieareale und Kohlegruben erst entstehen, die ein Autor wie Wolfgang Hilbig 20 Jahre später wiederum demontieren wird. Strittmatters Roman zeigt die großen Pläne und damit verbundenen Hoffnungen auf, die Verfall, Rückbau und Stagnation vorausgehen, und führt den Aufbau jener Industriekomplexe vor, die dem Leser in Hilbigs Texten als Ruinen und Brachflächen begegnen. Auch hinsichtlich der Darstellung der zerstörten Nachkriegslandschaften, dem damit verbundenen Wunsch nach Aufbau, dessen Umsetzung im industriellen Sektor und dem Rekurs auf die kulturpolitischen Prämissen eines positiv-utopischen Schreibens lässt sich Der Wundertäter insofern auf den ersten Blick als ein Beispiel für die klassische Aufbauliteratur der frühen DDR verstehen (3.2). Allerdings wird deren Fortschrittsoptimismus durch die Darstellung des Protagonisten als naiv-schelmische und zugleich apolitische Figur immer wieder ironisch gebrochen, während zugleich die Programmatiken, Vorgaben und Neuerungen des totalitären Regimes ab dem zweiten Band hinterfragt werden. Der Wundertäter, obgleich
2
3
Allerdings, das bemerkt auch Emmerich, befindet sich die Literaturwissenschaft im Zusammenhang mit der DDR-Literatur oftmals in einer aporetischen Situation. Da diese von der SED entschieden als eine nicht-autonome Literatur definiert wurde, erweisen sich Ästhetik und Politik in ihr als grundsätzlich miteinander verflochten. Selbst dort, wo sich die Autorinnen und Autoren dieser Definitionsmacht zu entziehen versuchten, blieben ihre Texte den Systemvorgaben insofern verhaftet, als sie versuchten, eben gerade nicht die kulturpolitischen Prämissen zu erfüllen. Indem sich diese Texte an der Definitionsmacht abarbeiteten, bewegten sie sich folglich weiterhin in ihrem Bannkreis und traten nicht als autonome Literatur in Erscheinung. Dass diese episodenartig angelegte Struktur zum festen Inventar des Pikaroromans gehört, zeigen u.a. die Arbeiten von Hoffmeister (1986, 1987), Jacobs (1986), Parker (1988) sowie Malkmus (2014). Jacobs (1986: 18) beschreibt diesen als einen »in Spanien während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandene[n] Romantypus, der meist in autobiographischer Erzählform die Lebensgeschichte eines bindungslosen, vagabundierenden Außenseiters schildert, der sich in einer locker gefügten Folge von Episoden mit Gewitztheit und moralisch nicht unbedenklichen Mitteln gegen eine feindliche und korrupte Welt behauptet, wobei von dieser Welt ein satirisch gezeichnetes Panorama entworfen wird«.
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
mit den grundlegenden Charakteristika sozialistisch-realistischen Schreibens ausgestattet, unterläuft auf diese Weise von Anfang an die doktrinäre Poetik des Sozialistischen Realismus und führt vor, inwiefern im Zusammenhang mit den sozialistischen Literaturprogrammatiken auch Ränder und Zwischenräume entstehen. Hier zeigt sich, dass Kunst, zu der auch die Literatur gehört, nicht von offizieller Seite geplant werden kann, ein Sachverhalt, der vor allem im zweiten und dritten Wundertäter-Band auch reflektiert und diskutiert wird (3.3). Anhand der Darstellung der Tagebaue im Wundertäter III lässt sich zuletzt zeigen, wie Umweltverschmutzung und -zerstörung in den 1980er Jahren auch in der Literatur aufgegriffen und verhandelt werden. Darüber hinaus avanciert der Aufenthalt des Protagonisten in den Kohleminen zu einer Metapher für den Blick in die unbearbeitete Vergangenheit des realsozialistischen Staats. In der sorbischen Heidelandschaft erfährt Stanislaus die Geschichte eines von sowjetischen Soldaten vergewaltigten und getöteten Mädchens, woraufhin er eine daran angelehnte Kurzgeschichte verfasst. Diese literarische Annäherung an ein von staatlicher Seite verhängtes Tabu führte nicht nur im Roman selbst, sondern auch im Zusammenhang mit der realhistorischen Publikationsgeschichte des Wundertäter III zu einer ›Störung‹ (Gansel 2012) im Literatursystem (3.4). Die Wundertäter-Trilogie führt also, so der relevante Punkt, exemplarisch vor, wie unter dem Druck einer planenden Moderne zugleich Zentren und Ränder, Strukturbedingungen und Freiräume entstehen und sich Aneignungen und Verwerfungen herausbilden. Die drei Romane bilden somit ein Zweifaches ab: Sie zeigen einerseits, wie nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ein (auch) literarischer Neuansatz versucht wird, der den devastierten Landschaften und Städten die Erzählung eines optimistischen Aufbauvorgangs entgegensetzt. Andererseits lässt sich an den drei Bänden jedoch auch ablesen, inwiefern die strengen ideologischen Reglementierungen, die der Imagination eines hoffnungsvollen Zukunftsentwurfs zugrunde liegen, immer auch Abweichungen und Brüche erzeugen. Diese historischen Prozesse bedürfen der Rahmung und Deutung, der ästhetischen Umsetzung und Aufarbeitung. Strittmatters Wundertäter lässt sich insofern als Beschreibung eines Kulturalisierungsprozesses verstehen, in dessen Fluchtlinien die Verwerfungen der zivilisatorischen Entwicklung und der engen Vorgaben des herrschenden Regimes immer schon mitgedacht werden.
3.1.
Literarische Kontexte: Literatur nach Plan
Vor dem Hintergrund des Bemühens um eine antifaschistisch-demokratische Neuordnung in der neugegründeten Deutschen Demokratischen Republik wurde auch die Literatur umfassend funktionalisiert und an die Vorstellungen von sozialistischem Aufbau und Fortschritt angepasst.4 Literatur wurde zum Planfaktor und der erstmals 1932 in
4
Siehe dazu bspw. den Aufruf zur Gründung des »Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« (o.A. 1945). Der Kulturbund, eine Organisation der SBZ, wurde 1945 von Johannes R. Becher und anderen Intellektuellen ins Leben gerufen. Der Aufruf fordert u.a. einen Beitrag zur »geistigen, kulturellen Erneuerung Deutschlands« (6) sowie die »Vernichtung der Na-
69
70
Ruderale Texturen
der Sowjetunion formulierte Sozialistische Realismus zur verbindlichen Doktrin.5 Von Johannes R. Becher 1952 auf der II. Parteikonferenz der SED als »die einzige schöpferische Methode, welche zum Aufstieg einer großen deutschen nationalen Kunst führen kann« (zit. n. Jäger 1994: 37), bezeichnet, steht der Sozialistische Realismus insofern von Anfang an im Dienste des Aufbaus des Sozialismus auf dem Gebiet der DDR.6 Als eine künstlerische Strategie wurde er zur ästhetischen Leitlinie erhoben. Der sozialistisch-realistische Künstler sollte, so fasst Emmerich (1996: 120) zusammen, »die objektive Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung darstellen«, wobei die »wahrheitsgetreue und historisch konkrete künstlerische Darstellung mit der Aufgabe verbunden werden [muß], die werktätigen Menschen im Geiste des Sozialismus ideologisch umzuformen und zu erziehen« (ebd.). Im Zentrum der Werke stehen konkrete Produktionsprozesse und ein positiver Held, der eine Vorbildfunktion einnehmen und zur Identifikation und Nachahmung einladen soll. Die wesentlichen Forderungen dieser umfassenden Kunst- und Literaturtheorie lassen sich in vier Punkten zusammenfassen (vgl. Wilpert 2001: 769). Während erstens ›Lebensechtheit‹ und ›Volksverbundenheit‹ die Werke auszeichnen sollten, das heißt die Abbildung der Wirklichkeit und deren Vereinfachung bis hin zur Banalität, stand zweitens die Darstellung des sozialistischen Kampfes um den Fortschritt im Vordergrund, wobei es galt, die Übereinstimmung mit der Weltanschauung des Kommunismus hervorzuheben. Gleichzeitig hatte jedes Werk eine spezifische Form von Parteilichkeit aufzuweisen, was sich auch an der eingeschränkten Themenwahl zeigte. Den Werken wurde überdies drittens ein besonderer Gehalt an sozialistischem Optimismus, verknüpft mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, abverlangt, was viertens einen positiven Helden implizierte. An diesen wurde die Darstellung des sogenannten ›Typischen‹ geknüpft, mit dem eine idealisierte Ausnahmeerscheinung gemeint war, die eine idealtypische Wirklichkeit zeigen sollte soll. »Kunst heißt künden«, formuliert der Schriftsteller und Parteifunktionär Otto Gotsche 1949
5
6
ziideologie« (7). Es gelte »aus Ruinen und Schutthaufen ein neues deutsches Leben emporsteigen zu lassen und die erste feste geistige Grundlage zu schaffen für die Neugeburt unseres Volkes« (9). Die Begriffsbildung erfolgte in der Sowjetunion im Kontext eines ZK-Beschlusses vom 23.04.1932 über die Umbildung der Literatur- und Kunstorganisationen. Die ideologische Ausrichtung auf eine einzige literarische Methode stand dabei im Zusammenhang mit verschiedenen weiteren politischen Maßnahmen. Als Urheber des Sozialistischen Realismus werden meist Joseph Stalin und Maxim Gorki genannt: Gorki wandte in seinem Roman Die Mutter (1906/07) ohne theoretische Vorgaben das an, was Stalin später aus Gorkis Werk und anderen Texten, die sich an diesem orientierten, definitorisch ableitete. So entstand der Eindruck, Stalin fasse nur zusammen, was die Literaten der Sowjetunion schon ohne Vorgaben geleistet hatten (vgl. Jäger 1994: 38f.). Die zwei verschiedenen Spielarten des Sozialistischen Realismus sind insofern von Anfang an in ihm angelegt: eine von staatlicher Seite vorgegebene Doktrin und eine in der Literatur ausgebildete Form. Zur Rolle des Sozialistischen Realismus und seinen verschiedenen Spielarten in der Sowjetunion sowie zum Einfluss der sozialistisch-realistischen Werke der 1920er auf die Begriffsbildung unter Stalin siehe Katerina Clarks Studie The Sovjet Novel. History as a Ritual (1981). So stammt denn auch einer der frühen, paradigmatisch sozialistischen Romane von Becher selbst: Abschied, erschienen 1940 in Moskau, erzählt die Entwicklung eines bürgerlichen Protagonisten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in dem er als Kriegsdienstverweigerer die von den kommunistischen Parteien geforderte Vorbildfunktion übernimmt. Anschließend wird die Wandlung des Protagonisten zum politisch bewussten Menschen und der Übergang vom Bürgertum zum Sozialismus literarisch ausgestaltet.
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
hinsichtlich dieses von der Literatur geforderten literarischen Programms: »Das Schaffen unserer Schriftsteller und Dichter, muß gemessen werden an ihrem Beitrag zum Aufbau und an der Sicherung unserer demokratischen Ordnung.« (Gotsche 1970: 216) Vor diesem Hintergrund ist der Sozialistische Realismus im Grunde genommen nicht als eine ästhetische Theorie, sondern als »Zweckbestimmung der Lit. als polit.ideolog. Beeinflussungsmittel und Gebrauchsmuster« (Wilpert 2001: 769) zu verstehen, die auf den Klassen- bzw. Parteistandpunkt festgelegt war und dabei die Freiheit und Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen stark einschränkte. Ohne Parteilichkeit kein Sozialistischer Realismus und umgekehrt. Dies geht auch aus einem 1905 veröffentlichtem Aufsatz Lenins hervor, an dem sich auch die ideologische Ausrichtung der DDR-Kulturpolitik orientierte. In Parteiorganisation und Parteiliteratur heißt es: »Die literarische Betätigung muß ein Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinigten sozialdemokratischen Parteiarbeit werden.« (Lenin 1964: 31) Etwas stärker formuliert bedeutet dies für Lenin: »Nieder mit den parteilosen Literaten!« (Ebd.: 30) Mit dieser Auffassung von Literatur konform, übertrug die SED der Literatur zentrale sozialpädagogische Aufgaben, wie sie in der Rede vom Autor als ›Erzieher‹ und der DDR als ›Leseland‹ ihren Ausdruck gefunden haben. Besonders die frühen Texte zeigten das gesellschaftlich-politische System im Wandel und propagierten einen dogmatischen Fortschrittsbegriff, der geschichtsphilosophischen Wunschbildern aufruhte. Die Literatur erhielt eine normative Funktion und der Autor – als »Ingenieur der menschlichen Seele« (Stalin) – einen Auftrag. ›Parteilichkeit‹ und ›Perspektivebewusstsein‹ lauten die in diesem Kontext wichtigen Vokabeln, die die Übereinstimmung des Literaten mit der jeweiligen Parteipolitik und dem von der Partei gesteuerten historischen Prozess garantieren sollten. Die gängige Unterteilung in Aufbau- und Ankunftsliteratur suggeriert dabei einen kontinuierlichen Verlauf von einer Phase der Staat und Literatur gleichermaßen betreffenden Konstituierung hin zu einer daran anschließenden Stabilisierungsphase. Dabei orientieren sich vor allem die Aufbauromane noch deutlich an den sowjetischen Vorbildern und an deren Schematismus.7 Dort lassen sich verschiedene Ausformungen sozialistisch-realistischen Erzählens identifizieren, wobei vor allem der Kollektivierungs- und Industrialisierungsroman eine wichtige Rolle spielten. Beide Romanformen propagierten einen unhinterfragten Aufbau-Enthusiasmus, der von der DDR-Literatur übernommen und weitergeführt wurde. 7
In den sozialistischen Ländern zeichnete sich nach Stalins Tod 1953 allerdings die sog. ›Tauwetter‹Periode ab. Sie war gekennzeichnet von kulturellen Liberalisierungstendenzen und einer Emanzipation von der ideologischen Zensur. In diesem Zusammenhang wurde auch der Sozialistische Realismus als ideologische Ästhetikvorgabe hinterfragt, während zugleich Modifikationen des Begriffs vorgenommen wurden. In der Sowjetunion fand eine Rückbesinnung auf die russische Erzähltradition statt, gleichzeitig wandte man sich gegenwärtigen Problemen und Konflikten zu. Die Ära Gorbatschow brachte unter den Stichwörtern Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau) schließlich eine neue und erweiterte Liberalisierung (vgl. Wilpert 2001: 813). Obgleich die strikten Vorgaben in der Sowjetunion insofern bereits ab 1950, insbesondere aber nach der ›Tauwetter‹-Periode ab 1956 kritisiert wurden, galt die in die DDR importierte Literaturdoktrin dort in den 1950er Jahren als einzige adäquate Schreibweise. Auch die Ankunftsliteratur der 1960er Jahre war noch, so beobachtet etwa Emmerich, »von einem krassen Schematismus der Fabelkonstruktion, der Heldenwahl und der Personendarstellung geprägt«. Sie lasse sich insofern als ein »Schulbeispiel außengelenkter Ästhetik« (Emmerich 2008: 530) verstehen.
71
72
Ruderale Texturen
Der aus der Sowjetunion übernommene Sozialistische Realismus avancierte insbesondere in seiner Kombination mit der Literaturtheorie Georg Lukácsʼ (1885-1971), die ästhetisch an die Normen der Klassik und des bürgerlichen Realismus anknüpfte, zur ästhetischen Leitlinie und dominierte als »kulturpolitisches Losungswort« (Jäger 1994: 37) die verschiedenen Bereiche der Kunst. Lukácsʼ in den 1930er Jahren ausgearbeitete Theorie attestierte den Darstellungsweisen der bürgerlichen Kunstproduktion des 18. und 19. Jahrhunderts einen zeitlosen, überhistorisch gültigen Wert und formulierte davon ausgehend für die Kunst des 20. Jahrhunderts konkrete, am bürgerlich-humanistischen Kulturerbe ausgerichtete Richtlinien. Der Zentralbegriff dieser Theorie lautet ›Widerspiegelung‹. Das Kunstwerk sollte als eine »Totalität des Lebens« (Lukács 1987: 51) erscheinen, als in sich geschlossenes und objektives Werk. Die epistemologische Grundlage für diesen Ansatz bildet die Vorstellung von einer Determiniertheit aller Lebensumstände. Vorlagen fand Lukács in der Literatur des bürgerlichen Humanismus, besonders bei Goethe, Schiller, Heine sowie bei Tolstoi. Diese Idee eines ›klassischen Erbes‹ wurde nun auch in der Literatur- und Kulturpolitik der DDR verfolgt. Es galt, das klassische Erbe anzutreten und es sich anzuverwandeln, es unter den neuen Bedingungen und im Sinne des Sozialismus weiterzuentwickeln. Die von diesen Prinzipien abweichende Kunst, meist unter den Begriff ›Formalismus‹ subsumiert, wurde mit und seit Lukács abgelehnt, nachdem dieser in der sogenannten ›Expressionismusdebatte‹ der 1930er Jahre die expressionistische Lyrik zum Vorreiter des Faschismus erklärt hatte. Formalismus, so die an Lukács anschließende Kritik der führenden Kulturpolitiker der DDR, bedeute »Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst« (zit. n. Schnell 2003: 111). Überdies läge die entscheidende Bedeutung in den formalistischen Arbeiten nicht im Inhalt eines Werks, sondern in seiner Form.8 In den sozialistisch-realistischen Texten sollte jedoch die Handlung, nicht ihre narrative Vermittlung im Vordergrund stehen. Wo die Form im Vordergrund stehe, verliere die Kunst ihren humanistischen Charakter. Verworfen wurden damit all jene künstlerischen Tendenzen, die dem sozialistisch-realistischen Totalitätspostulat zuwiderliefen: Verfremdungstechniken, Montageformen, Fragmentierungen und mit ihnen bedeutende Autorinnen und Autoren der Weltliteratur wie etwa Franz Kafka oder James Joyce. Die Stilexperimente der historischen Avantgarden und ihre perspektivischen Erzählformen waren ebenso ungern gesehen wie das kaleidoskopartig-episodische Erzählen des Großstadtromans oder die an die Reportage angelehnten Mischformen. Der Sozialistische Realismus der DDR markiert hier offensichtlich eine paradoxe Fusion zweier divergenter Bereiche: Er orientiert sich einerseits – ästhetisch – am Formenkanon einer bestimmten Entwicklungsetappe bürgerlicher Kunst, während er jedoch gleichzeitig – ideologisch – einer sehr spezifischen materialistischen Geschichts8
Als Beispiel für die Ablehnung des sog. ›Formalismus‹ mag folgende Äußerung aus dem Kontext der 5. Tagung des ZK der SED (1951) dienen, an der auch deutlich wird, welche kulturpolitische Spannweite die Diskussion um ein ›angemessenes‹ Schreiben entfaltete: »Das wichtigste Merkmal des Formalismus besteht in dem Bestreben, unter dem Vorwand oder auch der irrigen Absicht, etwas ›vollkommen Neues‹ zu entwickeln, den völligen Bruch mit dem klassischen Kulturerbe zu vollziehen. Das führt zur Entwurzelung der nationalen Kultur, zur Zerstörung des Nationalbewußtseins, fördert den Kosmopolitismus und bedeutet damit eine direkte Unterstützung der Kriegspolitik des amerikanischen Imperialismus« (Einheit H 8-9 1951: 180).
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
auffassung folgt. Der bevorzugte Gebrauch von Metaphern wie ›Abschied‹, ›Aufbau‹, ›Ankunft‹ oder auch ›Reife‹ zeigt überdies, inwiefern hier aus der Geschichte ein offizielles Narrativ herausdestilliert wurde. Indem sowohl der soziohistorisch-gesellschaftlichen als auch der literarischen Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit attestiert wurde, die jegliche Form von Uneindeutigkeit und Vielheit ausschloss, bildeten sich starre Strukturen heraus, in denen mögliche Spuren von Abweichung und Ambivalenz vordergründig getilgt schienen. Brüche und alles, was, metaphorisch gesprochen, unkontrolliert ›wuchert‹, so der im Zusammenhang mit einer Poetik der Ruderalität spannende Punkt, hatten in dieser Vorstellung keinen Platz. An dieser Stelle wird bereits deutlich, inwiefern sich die modernistischen Erzählformate Hilbigs und Müllers von den ästhetischen Vorgaben der jeweiligen politischen Systeme distanzieren und emanzipieren. Doch auch Strittmatter erzeugt in seinem Wundertäter durchaus Inkonsistenzen und Brüche, die allerdings weniger in der Form als im Inhalt liegen, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Die sozialistischen Bildungs- und Entwicklungsromane, zu denen auch der Wundertäter gehört, sind vor dem Hintergrund dieses spezifischen Anspruchs an die Literatur zu sehen. Sie fungieren oftmals als Antwort auf den kulturpolitisch begünstigten Traditionalismus und das Verbot moderner Neuerungen und bilden die gewünschte Totalität des gesellschaftlichen Lebens ab. Obgleich von Seiten der Kulturpolitik vor allem Gesellschaftsromane gefordert wurden, setzte sich die Gattung des Entwicklungsromans durch. Der sorbische Schriftsteller Jurij Brĕzan hat in einem Gespräch erläutert, warum er seine Felix Hanusch-Trilogie (1958, 1960, 1964) nicht als Gesellschafts-, sondern als Entwicklungsroman anlegte: »Es war ein Lösungsschema vorgegeben, worin der möglichst positive Held und der Ausblick in eine rosarote Zukunft das Allerwichtigste waren. Ich hatte das Gefühl, ich könnte mich aus dieser Zwangsjacke der Vorschriften nicht anders befreien als durch die Konzentration auf eine Figur und deren Entwicklung« (zit. n. Küntzel 1981: 6). Aus dieser ›Zwangsjacke der Vorschriften‹ resultiert die teleologische Entwicklungslinie der stereotyp angelegten Romane. Am Beispiel eines positiven Helden wird in den Entwicklungsromanen die Ausbildung einer proletarischen Gesinnung und der Eintritt in die sozialistische Gesellschaft nachgezeichnet. In den meisten Fällen, so beispielsweise auch im Fall des Felix Hanusch, aber auch in Strittmatters Wundertäter, setzen die Texte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein und zeigen die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs und der NS-Zeit, um anschließend eine positive sozialistische Zukunft zu entwerfen, auf die der proletarische Held zuschreitet. Im Zusammenhang mit dessen Bildungsweg demonstrieren sie überdies den technischen Fortschritt und die Errungenschaften der sozialistischen Modernisierungsvorgänge. Dies lässt sich beispielhaft am Wundertäter II illustrieren. Nicht zufällig wird dort ein Bild des zerstörten Nachkriegsdeutschland entworfen, dem es konstruktive Aufbauszenarien entgegenzusetzen gilt. Als der Protagonist Stanislaus Büdner aus dem Krieg zurückkehrt, bietet sich ihm folgender Anblick: »Im ersten Stock eines Hauses konnte zum Beispiel ein muskelroter Kachelofen auf einem Dielenrest stehen und aussehen wie ein freigelegtes Hausherz. Es gab Stuben, die von Bomben zerschnitten waren, und es keimte Unkraut, wo einmal Ehebetten gestan-
73
74
Ruderale Texturen
den hatten. Aus den Dielenritzen einer zerplatzen Kammer wuchs eine kleine Birke, und aus dem Rest eines versotteten Schornsteins sproß ein Holunderstrauch.« (WII 11) Die hier zitierte Passage bildet eine der wenigen Stellen, an denen von einer sich einen Kulturraum – in diesem Fall die zerbombte Nachkriegsstadt – zurückerobernden Natur berichtet wird. Sie eignet sich daher besonders gut als Einstieg in die Textanalyse. Die Bildlichkeit des ›muskelroten‹ Ofens, der einem ›freigelegten Herz‹ ähnelt, zeigt die Auswirkungen des Krieges, der nicht nur eine Trümmerlandschaft hinterließ, sondern – im Bild des Herzens eingefangen – auch zahlreiche menschliche Opfer forderte. Die Beschreibung der zerstörten Wohnräume impliziert nicht zuletzt auch die zahlreichen auseinandergerissenen Familien und Witwen und Waisen in Folge des Krieges: circa acht Millionen Kriegstote in Deutschland, sechzig Millionen als Folge des Krieges in Europa und Übersee (vgl. Schnell 2003: 62). In einer beinahe surrealistischen Beschreibungsweise, die durch den Verweis auf die ›zerschnittenen‹ Räume auch in die Nähe der Montagetechniken der Weimarer Republik rückt, wird nun eine Neubesiedelung dieser Trümmerlandschaft vorgeführt: ›Keimendes Unkraut‹, ›Birke‹ und ›Holunderstrauch‹ wachsen aus ›zerplatzen‹ Kammern und ›versotteten‹ Schornsteinen. Strittmatters Wundertäter rekurriert an dieser Stelle auf eine spezifische Motivik der Trümmerliteratur9 , wie sie in den Werken Heinrich Bölls (Der Engel schwieg, 1949/50, erschienen posthum 1992) oder Wolfgang Borcherts (Draußen vor der Tür, Nachts schlafen die Ratten doch, beide 1947) ihren Ausdruck gefunden hat. Schutt und Ruinen, Trümmer und die Realität von Krieg, Tod und Überleben inmitten dieser Trümmer prägten die nach 1945 entstandenen Texte in Ost und West. Das Ruderal erweist sich als eng verzahnt mit dieser spezifischen literarischen Ausrichtung und ihrem Bestreben, nach der sogenannten ›Stunde Null‹ auf den Trümmern Deutschlands einen neuen Anfang zu finden. Bezeichnenderweise findet sich die zitierte Passage im Wundertäter II eben dort, wo von den Trümmern des Zweiten Weltkriegs berichtet wird. Dort, wo nach dem Krieg Unkraut keimt, wo Bäume und Sträucher in zerstörten Häusern wachsen, wird der Aufbaupathos des Sozialismus ansetzen. Um diesen literarisch umzusetzen, orientierten sich die frühen Texte der DDR an den sowjetischen Vorbildern, so etwa an Fjodor Glatkows fortschrittsoptimistischem Roman Zement (1925), der bereits 1927 ins Deutsche übersetzt wurde und in der Übersetzung von Wera Rathfelder 1949 in der DDR erschien, wo er als vorbildlich für den Sozialistischen Realismus galt. Glatkows Roman beginnt mit der Beschreibung eines stillgelegten Firmengeländes, das erste Großkapitel trägt die Überschrift Das verödete Werk. Die undisziplinierte Verwahrlosung dieses verödeten Werks gilt es nun rückgängig zu machen, das Werk wird im Laufe der Erzählung rekonstruiert und erstrahlt zuletzt im ›sozialistischen Glanz‹: »Ja die Fabrik! Wieviel Kraft, wieviel Kämpfe hatte sie schon gekostet! Da stand sie nun – wie ein kraftvoller, schöner Recke. Noch vor kurzem ein regloser Leichnam, ein Schuttplatz und ein wüstes Rattenloch, hatten sie sie nach
9
Die Trümmerliteratur ist geprägt durch die Realität von Ruinen und Schutt, nicht nur der Häuser bzw. Städte, sondern auch der Ideale und Ideologien (vgl. Schnell 2003: 81 sowie Wilpert 2001: 855); siehe dazu auch Heinrich Bölls Aufsatz Bekenntnis zur Trümmerliteratur aus dem Jahr 1952, der den Begriff begründete.
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
und nach mit dem lebendigsten Leben gefüllt.« (Gladkow 1972: 299) Kurz zuvor heißt es: »Am Fuße des Turmes zogen sich nach rechts und links wie eine Reihe von lodernden Feuern rote Fahnen, die auch den Turmgipfel schmückten. Die Fahne der Werkzelle floß über das Geländer hinweg und schien auf die unten wogenden Fahnen und die umherstehenden Menschenmassen hinabzutropfen. Auf der anderen Seite der Plattform […] wehte die Fahne der Bauarbeitergewerkschaft. […] Die Menschenmassen waren in ständiger Bewegung; überall waren rote Armbinden […] zu sehen […]. Menschen wimmelten auch auf dem Felsen unmittelbar am Rande des Abgrundes. Sie deckten die abschüssige Felskante und die Hänge und stiegen immer höher hinauf, bis an die Berggipfel, wo ebenfalls Fahnen und Transparente wie Tausende von Mohnblüten glühten.« (Ebd.: 298f.) Wie eine ›Reihe von lodernden Flammen‹ wirken die bis ans Ende der Sichtlinie angeordneten roten Fahnen auf den Betrachter. Die durch die rote Farbgebung der Armbinden als zusammengehörende Einheit gekennzeichneten Menschenmassen reihen sich in dieses Spektakel ein. Als ein ›kraftvoller Recke‹ wird die Fabrik zum Schauplatz eines monumentalen Neubeginns. Zement führt hier vor, wie aus Schutt und Ruinen ein neues, ›lebendigstes Leben‹ entstehen kann, wenn keine ›Kämpfe‹ gescheut und optimistisch in die Zukunft geblickt wird. Dieses prototypisch entworfene Panorama einer die zerstörten Hallen beinahe in Form einer Naturgewalt überkommenen ›roten‹ Erneuerung bildet den Hintergrund, vor dem die Aufbauszenarien der DDR-Texte zu verstehen sind. Der Wundertäter wartet nun jedoch erst einmal nicht mit einem solch fulminanten Erneuerungspathos auf. Die Neugestaltung des zerstörten Nachkriegsdeutschland geschieht weitaus nüchterner und wird in einzelnen kleineren Etappen vorgeführt. Auf die zitierte Passage, die von den Trümmern des Zweiten Weltkriegs berichtet, folgt die Beschreibung einer Zementfabrik. Hier nun kann das (sozialistische) Abenteuer des Helden beginnen, wie der Erzähler auch in optimistisch-feierlichem, fast schon pathetischem Ton ankündigt: »Stanislaus zog sich die Leihjacke aus, hängte sie an einen verstaubten Holunderstrauch, nahm die Schaufel, warf den mit Zement verheirateten Sand in den Betonmischer und begann sein Nachkriegsleben.« (WII 37)
3.2.
»Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt«
Stanislaus, dessen Kindheit und Jugend im ersten Band noch von einer fantastisch belebten Natur und einer Affinität zu ›wundertätigen‹ Praktiken gekennzeichnet ist, findet im zweiten Band allmählich Eingang in die Ideenwelt des sozialistischen Aufbaus und dessen Neukonzeption von Gesellschaft. An humanistisch-bürgerlichen Entwicklungsromanen wie Goethes Wilhelm Meister (1796/1821) und Kellers Der grüne Heinrich (1855) ebenso geschult wie am barocken Vorbild des Schelmenromans, Grimmelshausens Simplicissimus (1669), entwickelt Strittmatter einen Handlungsgang, der seinen Protagonisten über verschiedene Stufen in die ›Turmgesellschaft Sozialismus‹
75
76
Ruderale Texturen
einführt.10 Ganz im Einklang mit den Maßgaben sozialistisch-realistischen Erzählens wollte Strittmatter, so lässt sich einer Zeitungsnotiz aus seinem Nachlass entnehmen, mit der Erzählung von Stanislaus Büdner den Lesern ein neues Verständnis von ›Wundern‹ vermitteln. In einer Ausgabe der Wochenpost, die 1955 vorab eine Szene aus dem ersten Band abdruckte, richtete sich Strittmatter mit den folgenden Worten an seine Leserschaft: »Liebe Leser der Wochenpost! Sie bekommen mit dem nachfolgenden Abdruck einen kleinen Teil aus der Kindheit eines Romanhelden zu Gesicht. Nehmen Sie diesen Blick in meine Werkstatt wie den Besuch einer Theaterprobe, die die Ungeduld vermittelt, den Helden und sein Leben ganz kennenzulernen, jedoch noch keinen Anspruch auf fertiges Theater erhebt. Jawohl, denken Sie beim Lesen an eine Probe! Der fertige Roman wird wahrscheinlich den Titel Der Wundertäter tragen. Ich unternehme darin, eine landläufig als Wunder bezeichnete Vorstellung zu zerstören. Doch keine voreilige Angst; denn ich habe nicht die Absicht, nur zu zerstören, sondern mir auch vorgenommen, zu zeigen, wo die wirklichen Wunder für den Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts liegen. Man erkennt Sie übrigens am besten, wenn man die dunkle Brille des Aberglaubens ins Gerümpel wirft. Viel Vergnügen! Ihr Erwin Strittmatter« (Strittmatter 1955: o. S.) Auf diese kurze Einführung folgte ein Auszug aus dem ersten Band, in dem Stanislaus als Kind einer Gräfin vom Seitensprung ihres Mannes berichtet. Während die betrogene Gräfin und andere Figuren dem Protagonisten daraufhin hellsichtige Fähigkeiten attestieren, zeigt der auktoriale Erzähler deutlich auf, dass das Wissen um den Betrug einzig aus dessen aufmerksamer Beobachtungsgabe resultiert. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und konnte den Grafen bei seiner Verabredung mit der Erzieherin aus einem Versteck heraus beobachten. Im Laufe des ersten Bandes wird diese scharfsinnige Beobachtungsgabe von den anderen Figuren immer wieder als Zeichen eines zweiten Gesichts interpretiert. Nachdem Stanislaus überdies die Schwangerschaft seiner Schwester prophezeit und bei der Aufklärung eines Mordes hilft, befürchtet Stanislausʼ Mutter, ihr Sohn sei »hintergesichtig« (WI 42). Die Dorfbewohner wollen daraufhin »ein wenig mit den Kräften in Berührung kommen, die in diesem Jungen tätig waren« (WI 46); Stanislaus wird in »das Amt eines Wundertäters hinaufgerissen« (WI 65). Einzig der Dorflehrer erkennt, welche Qualitäten wirklich hinter Stanislausʼ besonderer Gabe stecken. Er bemerkt, »daß eine gute Beobachtungsgabe, gepaart mit enormer Phantasie [...] eine Art von Hellsichtigkeit an den Tag fördern kann« (WI 46), 10
Indem Strittmatter auf die Gattung des Schelmenromans zurückgreift, um den Bildungsweg des Protagonisten vor dem Hintergrund der Ereignisse des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen, schreibt er sich in eine Tradition ein, die ihren Ursprung im Spanien des 16. Jahrhunderts nimmt und von dort über den anonym veröffentlichten Roman La vida de Lazarillo de Tormes (1554), Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache (1599/1604) und Francisco de Quevedos El Buscon (1626) zu Miguel de Cervantes Don Quijote (1605/1615), Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1668), Voltaires Candide (1759) und Laurence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy (1759-1767) führt. Zum Schelmenroman siehe neben den bereits genannten bspw. Bauer (1993, 1994), Ehland/Fajen (2007) sowie, im Zusammenhang mit den Schelmenromanen der DDR, v.a. Mirjam Gebauers Studie Wendekrisen (2006).
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
eine Begründung, die von den anderen Romanfiguren ignoriert, von den Kommentaren der auktorialen Erzählinstanz hingegen unterstützt wird. Stanislaus, der sich für die Vorgänge im Wald und auf den Feldern interessiert, sieht und hört mehr als seine Mitmenschen. Strittmatters Ankündigung in der Wochenpost scheint auf jene Fehldeutung der aus einer guten Beobachtungsgabe resultierenden Fähigkeiten abzuzielen. Indem der Glaube an diese Fähigkeiten als Aberglaube entlarvt wird, soll der Roman Platz machen für die ›wirklichen Wunder für den Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts‹, die für Strittmatter, so lässt die Zeitungsnotiz vermuten, in anderen Bereichen liegen.11
Industrieller Aufbau Vor dem Hintergrund, dass der Romantitel für den Autor nicht in Zusammenhang mit den hellseherischen und hypnotischen Fähigkeiten steht, von denen der Protagonist im ersten und zweiten Band immer wieder Gebrauch macht, richtet sich der Blick auf die anderen Bereiche, die in den drei Bänden thematisiert werden. Im Sinne der in der Wochenpost formulierten Vorstellung von ›wirklichen Wundern‹ und zugleich dem kulturpolitischen Anspruch an die Literatur geschuldet, Betriebs- und Industriethemen aufzugreifen, berichten der zweite und dritte Band vom Aufbau verschiedener Industriezweige sowie von der Umgestaltung ruraler Gebiete nach 1945. Anhand der aus der Gattung des Schelmenromans entlehnten Episodenstruktur werden dabei unterschiedliche Schauplätze der Reihe nach in den Vordergrund gerückt. An dreien davon sollen im Folgenden die sich herausbildenden Strukturen und damit verbundenen Diskurse und Konzepte exemplarisch verdeutlicht werden. Zusammen mit seinem Kameraden Johannis Weißblatt gelangt Stanislaus nach Kriegsende nach Dinsborn am Niederrhein, wo er im Unternehmen der Familie Weißblatt, der bereits erwähnten Zementfabrik, Arbeit findet. Die Gräueltaten des Krieges, die Nachkriegslandschaft der 1950er Jahre und die Verstrickungen des Besitzers der Zementfabrik in die faschistische Vergangenheit werden dort – die Fabrik liegt bezeichnenderweise auf dem Gebiet der BRD – gleichermaßen vom Zementstaub übertüncht: »[G]rüngraue Äste, und das vorjährige Gras war mit graugrünem Staub bedeckt; die Wegpfützen hatten eine graugrüngraue Haut, und der Wind, der vom Rhein heraufwehte, sättigte sich mit Zementstaub und trug den Grundstoff für ganze Betonhäuser davon« (WII 35). Gezeigt wird eine industrielle Zementidylle, in der Fortschritt und Fleiß gleichermaßen präsent sind:
11
Allerdings stattet Strittmatter seinen Protagonisten auch im zweiten Band noch mit besonderen Kräften aus. Stanislaus entwickelt dort hypnotische Fähigkeiten und kann seine Mitmenschen in eine Art Trance versetzen. Diese Fähigkeiten spielen jedoch keine besondere Rolle und werden im dritten Band schließlich als »Schaubudenkünste« (WIII 44) bezeichnet. Strittmatter selbst schien sich nicht ganz sicher zu sein, wie ›wundertätig‹ er seinen Protagonisten konzipieren wollte. In seinem autobiografischen Text Vor der Verwandlung (1995) konstatierte er bezüglich dieser Anlage seiner Hauptfigur: »Jedenfalls rutschte ein wundertätiges Kind in meine Schreiberei hinein, und das war der Held und der Wundertäter selber, der die Menschen […] vorübergehend mit psychischen Kräften heilte, von deren Existenz er nichts wußte« (Strittmatter 2009b: 22).
77
78
Ruderale Texturen
»Hinter den Hochöfen von Humborn ging die Sonne auf, und in den flachen Fabrikhallen schienen hundert stallmutige Pferde zu stampfen. Verstaubte Männer zwangen Betonbrei in unnachgiebige Metallformen, und auf dem ehemaligen Ackerland, das die Dächer der Hallen überspannte, wuchsen, anstelle von Weizen und Zuckerrüben, Kaminschieber, Schornsteinaufsätze, Kaninchenfreß- und Hundesaufnäpfe.« (WII 35f.) Die Textpassage signalisiert den Aufbruch in ein neues, industrielles Zeitalter, das die Zerstörungen des Weltkriegs mit Zementstaub bedeckt und in der progressiven Produktionsleistung der Fabrik eine optimistische Zukunftsvision entwirft. Anstelle traditioneller Ackergewächse finden sich nun Nutzgegenstände aus Zement auf den Ackerflächen. Industrie und Natur gehen eine neue Verbindung ein: »Die Sonne hatte die Höhe der feuerspeienden Hochöfenschlünde erreicht. In den verstaubten Holunderbüschen am Rande des Werksgeländes pinkten die Kohlmeisen, und vom Rhein her brummten die Schleppdampfer wie satte Kühe.« (WII 41) Gladkows Zement ist hier nicht weit. Überall, so macht der Text deutlich, wird das Alte erneuert und durch Neues ersetzt: »Alles ringsumher erneuerte sich schwungvoll. Es wurde entworfen, konstruiert und gebaut. Man stopfe die Landschaft voll neuer Zweckbauten und Industrien.« (WII 360) Zu den neuen Industriezweigen gehört auch die Zellwollfabrik, in der Stanislaus etwas später im Roman für kurze Zeit Arbeit findet. Auch die Zellwollfabrik wird mit Attributen des Feuers beziehungsweise Feuerspeiens ausgestattet und erscheint dadurch fortschrittlich und beängstigend zugleich: »Dort, wo der Fluß einen Bogen machte, lag ein dicker Felsen, in den tausend glühende Vierecke eingelassen waren; es rumpelte und schrummte in seinem Innern, und graugelbe Dampfschwaden drangen aus ihm wie aus einem feuerspeienden Berg, der sich auf einen Ausbruch vorbereitet.« (WII 231) Dieser ›feuerspeiende Berg‹ wird für Stanislaus zum Prüfstein für eine mögliche proletarische Karriere, wobei der Roman an dieser Stelle mit allen Elementen eines Aufbauromans aufwartet: Der Held muss sich als billiger Hilfsarbeiter bewähren, trifft auf einen kommunistisch denkenden Wortführer, einen »guten Menschen« (WII 265), und nimmt schließlich an einem Streik teil, der zugunsten der Zellwollarbeiter endet. Dabei werden konkrete Produktionsprozesse ebenso beschrieben wie die Probleme des Protagonisten, eine gefährliche Arbeit auszuführen, die ihn unter anderem mehrfach erblinden lässt, sodass er schließlich bemerkt: »Nicht leicht, Proletarier zu werden!« (WII 233) Nachdem die Produktionsbedingungen schließlich verbessert wurden, verlässt Stanislaus die Fabrik, um in die sich im Gründungsprozess befindende DDR umzusiedeln. Die Zellwollfabrik nimmt insofern eine Scharnierfunktion ein: An ihr wird illustriert, weshalb eine Neukonfiguration der Gesellschaft unter sozialistischen Vorzeichen notwendig ist, bevor Stanislaus ›dort, wo der Fluss einen Bogen machte‹, eine neue Richtung einschlägt.
»Lasst uns pflügen, lasst uns bauen« Am Beispiel des Heimatdorfs des Protagonisten werden anschließend die Hoffnungen aufgezeigt, die mit dem Aufbau des Sozialismus auf dem Gebiet der DDR verbunden waren. Als Stanislaus nach Kriegsende in sein Heimatdorf zurückkehrt, das nun in der sowjetischen Besatzungszone liegt, trägt sein Vater das SED-Abzeichen am zerschlissenen Anzug: »Es begrüßten sich darauf zwei rechte Hände mit Handschlag.« (WII 281)
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
»Wir fangen hier etwas Neues an, was Sozialismus heißt, um es nicht direkt Kommunismus zu nennen« (WII 287), berichtet er seinem Sohn. Das Dorf selbst erstrahlt in kommunistischem Rot: »Die Papiernelken in den Knopflöchern leuchteten; die roten Fahnen wanderten durch das Maiblättergrün.« (WII 298) Der graue Zementstaub wird durch ein sozialistisches Rot ersetzt. Vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Hungers – der Bruder ist »prasseldürr« (WII 272), die Mutter »eine Mumie« (WII 276) – erhält dieser Neuanfang eine existentielle Bedeutung. Der optimistische Gestus des politischen Neubeginns wird dabei im Bild des Frühlings eingefangen: »Es blieb nicht bei Grüngrasflecken an geschützten Stellen. Der Huflattich blühte am Bachufer und an der kleinen Brücke, über die man ins Dorf ging. In den Wiesen versuchten die Sumpfdotterblumen zu blühen, aber sie waren Nachkriegsgeschädigte: Man zupfte ihnen die Knospen ab, bevor sie aufblühten, legte sie in Essig und nannte sie ›deutsche Kapern‹. […] Es wuchsen dort Leberblümchen und Buschwindrosen und im April sogar einige Märzveilchen.« (WII 284) Während das in den zertrümmerten Häusern der Stadt wachsende Unkraut zu Beginn des zweiten Bandes noch auf die Schrecken des Krieges und die allumfassende Zerstörung aufmerksam machte, wird der Huflattich in dieser Passage zum Hoffnungsboten. Im Bild von Gras, Huflattich und Sumpfdotterblumen wird der Aufschwung des ländlichen Raums eingefangen. Die ›blühende Wiesen‹ kennzeichnen den ideologischen Neubeginn – nicht umsonst nennt Strittmatter in seinem 1963 veröffentlichen Roman Ole Bienkopp die von dessen Protagonist neu ins Leben gerufenen LPG ›Blühendes Feld‹. Mit dieser Darstellung der sozialistischen Umgestaltung des Heimatdorfs des Protagonisten partizipiert Strittmatter an einer spezifisch sozialistischen Ausformung der Dorfgeschichte, die in der DDR nach 1945 als eine Form der ästhetischen Umsetzung historischer Erfahrungen in Erscheinung trat. Der Wundertäter nimmt hier Gattungsmerkmale dieser aus dem 18. Jahrhundert stammenden Erzählform auf und bindet sie an die zeitgenössischen Diskurse zurück12 , denn die ›sozialistische Moderne‹, als eine besondere Variante der Industriemoderne13 , brachte neben den Betriebs- und Industrieromanen auch eine spezifische Form der Dorfliteratur hervor. Erneut kam der UdSSR in literaturgeschichtlicher Hinsicht eine Modellfunktion zu: Eine bestimmte Form von Dorfprosa bildet sich zuerst in der Sowjetunion, später dann auch in anderen Ländern des sozialistischen Staatenbundes heraus.14 12
13 14
Der Wundertäter wie auch Strittmatters Dorferzählungen im Allgemeinen können hier in einem Diskursfeld situiert werden, das von den Dorfgeschichten des Vormärz zu Beginn des 19. Jahrhunderts über die Heimatliteratur der Jahrhundertwende bis hin zu aktuellen Neuerscheinungen reicht. Zu einem Überblick über die Gattungsgeschichte siehe v.a. die Arbeiten von Neumann/Twellmann (2014a, 2014b). Darüber hinaus gibt Twellmann in Dorfgeschichte. Wie die Welt zur Literatur kam (2019) einen Überblick über die Gattung. Daneben sind u.a. die Arbeiten Uwe Baurs (Dorfgeschichte, 1978) sowie Bettina Wilds (Topologie des ländlichen Raums, 2011) zu nennen. In den letzten Jahren wurde die Forschung zur Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts außerdem durch Arbeiten zur aktuellen Gegenwartsliteratur erweitert, siehe dazu Nell/Weiland (2014) sowie Marszałek/Nell/Weiland (2018). Siehe dazu bspw. Doering-Manteuffel (2007) sowie Twellmann (2016). Richtet man den Fokus auf die DDR, wird deutlich, dass sich besonders die frühen Texte an sowjetischen Vorlagen orientieren: Zwischen 1950 und 1970 haben russische Texte von Autorinnen
79
80
Ruderale Texturen
Die Besonderheit der ländlichen Gebiete Mittel- und Osteuropas liegt neben ihrer langen Geschichte der feudalen Herrschaft im sozialistischen Modernisierungsexperiment begründet, das das Dorf nachhaltig verändert hat. Sofort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Forderung ›Junkerland in Bauernhand‹ auch in der SBZ durch Enteignungen erfüllt. Auf diese 1948 abgeschlossene sogenannte ›Bodenreform‹ folgte kurze Zeit später die Kollektivierung der Landwirtschaft. Die ostdeutsche bzw. osteuropäische Gesellschaft sollte in eine neue Ordnung überführt und der ländliche Raum im sozialistischen Sinne umgestaltet werden. Im Zuge dieser nach 1945 eingeleiteten Modernisierungsmaßnahmen avancierte die Dorfgeschichte in den Ländern östlich der Oder-Neiße-Linie zu einer gesellschaftspolitisch relevanten Erzählform. Sie wurde instrumentalisiert und diente einer operativen Absicht: Das Erzählen vom Dorf sollte zur Transformation der Agrargesellschaften beitragen und den sozialistischen Umbau des Dorfes begleiten. Die von den die Gesellschaft bestimmenden Institutionen angestrebten sozialen und ökonomischen Entwicklungen sollten in der Dorfgeschichte modellhaft vorgestellt werden. Das Genre wurde daher im Zuge der Umgestaltung ländlicher Besitz- und Produktionsverhältnisse neu interpretiert und an die Zeitumstände angepasst.15 So formulierte beispielsweise Bodo Uhse auf dem II. Schriftstellerkongress 1950 folgende Kritik an der Prosa des neu entstandenen Staates: »Das Leben auf den Feldern der Neubauernhöfe, in den volkseigenen Betrieben, in Planungsämtern und auf Maschinenausleihstationen, also die durch Bodenreform, Umsiedlung, Enteignung wichtiger Industrieanlagen und ihre Überführung in Volkseigentum hervorgerufenen Umwälzungen und ihr Echo im Bewußtsein unserer Menschen, haben bisher, mit der Ausnahme einiger Versuche, keinerlei Gestaltung erfahren.« (Uhse 2008: 124) Dieser Forderung galt es, durch das Verfassen von Dorfgeschichten nachzukommen, die die sozialistischen Umgestaltungen auf dem Land in den Mittelpunkt der Handlung rückten. Gleichzeitig wurde die Entwicklung auf dem Land mit der Idee einer proletarischen Revolution verschränkt: »Die politische Grundfrage, nämlich die Frage nach der historisch notwendigen führenden Rolle des Proletariats im Klassenbündnis mit den Werktätigen auf dem Lande, ist auch die entscheidende ästhetische Frage in der Landliteratur unserer Epoche«, konstatierte der ostdeutsche Literaturwissenschaftler Hans Jürgen Geerdts (1958: 109), der in diesem Zusammenhang auch von einer »Kulturrevolution« (ebd.) sprach. Der ländliche Raum avancierte zum Austragungsort der zeitgenössischen Diskurse, denn, so Geerdts weiter: »Die Umwälzung auf dem Lande hat Besonderheiten, die es dem Schriftsteller prinzipiell leichter machen, die Klassen-
15
und Autoren wie Michail Scholochow, Leonid Leonow oder Lidija Seifullina Vorbildcharakter für die neu entstehende Dorfliteratur. Für einen Einblick in den Anteil des Erzählens an dem heterogenen Ensemble von Praktiken, das die Kollektivierung hervorrief, siehe bspw. Twellmann (2016). Twellmann betrachtet einen konkreten Kollektivierungsakteur, Otto Gotsche, und analysiert dessen Sinnhorizont und die soziokulturelle Eingebettetheit seines Tuns anhand des Romans Tiefe Furchen. Roman des deutschen Dorfes (1949).
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
kämpfe unserer Zeit zu durchschauen, als wenn er die sozialen Bewegungen in der Stadt verfolgt.« (Ebd.: 110)16 Ein bestimmtes Dorfkonzept geht hier in ein politisches Programm der landwirtschaftlichen Neuordnung ein, mit dessen Implementation das Erzählen verzahnt ist: Teils propagiert es die gesellschaftliche Transformation, teils registriert es die daraus resultierenden Verwerfungen. Die in den ehemals sozialistischen Ländern entstandenen Dorfgeschichten weisen daher vor allem in ihrer frühen Phase ein besonderes Profil auf. Sie lassen sich als eine »Schwellengattung des Modernisierungsgeschehens« verstehen, wie es Neumann/Twellmann (2014a: 43) bereits für die Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts formuliert haben. Das Erzählen vom Dorf avanciert zum Austragungsort gesellschaftlich relevanter Fragen und erreicht daher einen Stellenwert, der es von den übrigen deutschsprachigen Literaturen nach 1945 deutlich unterscheidet. Es ist eng mit den Veränderungen in Osteuropa verbunden und begleitet die Prozesse der sogenannten ›sozialistischen Modernisierung‹, von denen die Texte Strittmatters, aber beispielsweise auch Herta Müllers berichten. Strittmatters Schreiben ist beeinflusst von den hier skizzierten Diskursen. Zahlreiche seiner Werke thematisieren die Idee einer sozialistischen Utopie und die mit ihrer Errichtung verbundenen Probleme im dörflichen Mikrokosmos. Insbesondere seine Romane Tinko (1954) und Ole Bienkopp (1963) entwerfen ein Portrait der Anfangsjahre der DDR und gestalten den Wechsel von Bodenreform zu Kollektivierung in narrativer Form. So setzt Ole Bienkopp mit der Einführung der Bodenreform ein, um anschließend die daraus resultierenden Probleme und Widerstände darzustellen. Als der Protagonist des Romans Ole Hansen, genannt Bienkopp, versucht, seine eigenen Vorstellungen von gesellschaftlicher Entwicklung umzusetzen, stößt er mit seinen kreativen Ideen an die Grenzen der ideologischen Vorgaben. Die von Bienkopp schließlich eigenmächtig gegründete Bauerngemeinschaft ›Blühendes Feld‹, mit der er den durch die Bodenverteilung neu entstandenen Ungerechtigkeiten zu begegnen versucht, erweist sich zwar als wirtschaftlich rentable, wird jedoch von den Parteifunktionären kritisch betrachtet. Die Kollision von Bienkopp und der Partei endet schließlich mit dem Tod des Protagonisten, der im Alleingang die Nützlichkeit seiner Vorschläge nachweisen möchte. Der Roman artikuliert hier ein grundsätzliches Problem der DDR: Die Ideologisierung von Funktionen, durch die die Bewegungsfreiheit einzelner Teilsysteme (hier: der LPG) eingeschränkt wird (vgl. Gansel 2014: 213). Er führt somit die in den 1960er Jahren virulenter werdenden Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft vor Augen. Ole Bienkopp stieß daher auch auf die Ablehnung der offiziellen Kritik, die dem eigensinnigen »Wegsucher[] und Spurmacher[]« (Strittmatter 2009a: 233) unter anderem vorwarf, er entbehre der erforderlichen Parteidisziplin und benötige einen positiven Gegenspieler (vgl. Bernhardt 1996: 399). Diese kritische Aufnahme des Romans durch
16
An Geerdts Aufsatz lässt sich exemplarisch die Vorbildfunktion der sowjetischen Literatur aufzeigen. So erwähnt Geerdts Scholochows Roman Neuland unterm Pflug (russ. 1932, dt. 1934) als ein Werk, in dem »gerade das Element des proletarischen Internationalismus in künstlerisch hervorragender Weise« (Geerdts 1958: 116) erscheine. Der Roman gebe »den Klassenkämpfen auf dem Dorf eine Perspektive […], die nicht nur geschichtlich, sondern auch ästhetisch zu fordern« (ebd.: 116f.) sei.
81
82
Ruderale Texturen
die SED-Führung, die anhaltende Diskussion um die Darstellung der Partei und das tragische Ende des Romans zeigen bereits, dass Strittmatter sich den zeitgenössischen Diskursen durchaus nicht ohne Widerspruchsgeist widmete.17 Indem nun im Wundertäter II gezeigt wird, wie sich der dörfliche Mikrokosmos im Kontext der ›Umwälzungen auf dem Lande‹ (Geerdts) verändert, werden die bereits in Ole Bienkopp dargestellten Transformationsprozesse noch einmal alludiert und zugleich ironisch hinterfragt. Der Fahnenumzug, der Stanislaus an eine »Fronleichnamprozession« (WII 298) erinnert, und die angemalten Papierblüten wirken wie billige Staffage und sind keinesfalls mit den ›wimmelnden Menschenmassen‹ und ›Tausenden von Mohnblüten‹ aus Gladkows eingangs zitiertem Aufbauroman zu vergleichen. Erschienen 1973, wird im Wundertäter II eine deutlich nüchternere Perspektive auf die Modernisierungsbemühungen der Landwirtschaft und die Neuformierung der Gesellschaft eingenommen. Die ironische Distanz zur idealtypischen sozialistischen Dorfgeschichte zeigt sich schließlich auch an einer später im Roman geschilderten Sitzung des Schriftstellerverbands. Dort wird ein Stück mit dem Titel Wassernot in Katzenstedt18 diskutiert, in dem es um einen Konflikt zwischen Bauern und Bergmännern geht. Da den Bauern durch die Braunkohlegruben das Grundwasser entzogen wurde, verdorren ihnen die Felder: »Kurz und gut, ein Konflikt zwischen Industrie und Landwirtschaft, und von diesem ökonomischen Konflikt war Hartholz [der Autor, Anm. J.K.] ausgegangen, und er erfand zu ihm passende Menschen, die mit ihm fertig zu werden vermochten« (WIII 443). Durch die Zusammenarbeit zwischen einem Kleinbauern und einem Bergbau-Ingenieur kann schließlich ein Klärsystem entwickelt werden, das das Grubenwasser wieder für die Landwirtschaft nutzbar macht. Diese für den Sozialistischen Realismus paradigmatische Dorfgeschichte wird von den anwesenden Schriftstellern unterschiedlich aufgenommen, wobei vor allem das verklärte Ende – »junge Bergarbeiter und Bauern träumen, wie sie Hecken anlegen und im Schutz dieser Hecken Früchte wie Baumwolle und Melonen ernten werden« (WIII 444f.) Anlass zur Diskussion bietet. Die auf diese Weise in den Roman eingespeisten kulturpolitischen Diskurse werden dabei, dies zeigen die folgenden Ausführungen, durch einen ironischen Erzählgestus konterkariert, während zugleich anhand des Protagonisten die Sackgassen einer zum Planfaktor erhobenen Literatur vorgeführt werden.
3.3.
Gespräche über Literatur
Die drei geschilderten Beispiele – die Zementfabrik, die Zellwollfabrik und die Neugestaltung ruraler Gebiete – stehen exemplarisch für die strukturellen Veränderungen, die den Hintergrund der Wundertäter-Trilogie bilden. Auch ihr Protagonist durchläuft auf seinem Bildungsweg eine Art Transformation und entwickelt sich, ganz im Sinne 17
18
Nichtsdestotrotz galt Ole Bienkopp als der Bauernroman der DDR-Literatur schlechthin und avancierte zur Schullektüre. Zu den Diskussionen um den Roman und dessen Rolle im Deutschunterricht siehe Dahlke (2012). Parallelen zu Strittmatters eigenem Stück Katzgraben (1954), das dieser zusammen mit Bertolt Brecht und seinen Mitarbeitern schrieb und das 1953 am Berliner Ensemble inszeniert wurde, liegen auf der Hand.
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
des sozialistischen Entwicklungsromans, vom naiven Bäckerlehrling hin zum ideologisch ausgebildeten Parteimitglied. Allerdings verweist die Ausgestaltung dieses auf den ersten Blick prototypischen Bildungswegs im Laufe der drei Bände auf veränderte Horizonte. Dass sich das neu aufzubauende System nicht als utopisch-teleologische Entwicklungslinie ohne Ausschlüsse darstellen ließ, griff Strittmatter bereits in Ole Bienkopp auf. Seit dessen Veröffentlichung, dies beobachtet auch Dieter Schlenstedt (2009: 537), ließ der Autor die »Webfehler« des realsozialistischen Systems in seinen Werken sichtbar werden. Die drei Wundertäter-Bände reflektieren die im Zuge der sozialistischen Modernisierungseuphorie und industriellen Aufbauemphase entstandenen Verwerfungen durchgängig mit und enttarnen gleichzeitig auch das Schreiben über jene Prozesse als ideologische Farce. Dabei werden die von Schlenstedt als ›Webfehler‹ bezeichneten Themen in den Wundertäter-Romanen auf zweierlei Weise sichtbar. Die Absurdität allumfassender parteilicher Vorgaben, zu denen auch die Prämissen eines vorgegebenen Schreibprogramms gehören, wird, so der erste Punkt, durch die naive Sichtweise des Protagonisten und seine Darstellung als pikaresker und gleichsam apolitischer Träumer vorgeführt, während die programmatischen Richtlinien durch den selbst als eine Art Schelm in Erscheinung tretenden Erzähler durchgängig konterkariert werden. Die Darstellung der Braunkohleindustrie, so der zweite Punkt, führt überdies vor, dass das sozialistische System auf ›brüchigem Untergrund‹, das heißt auf den Resten einer unbearbeiteten Vergangenheit, errichtet wurde. Auf den ersten Blick schlägt der Protagonist der Wundertäter-Romane den Weg vom unbedarften Dorfkind zum politisch gebildeten ›Proletarier‹ ein, der in der für die Entwicklungsromane der DDR typischen Dreiteilung der Lebensgeschichte angelegt ist. Die ›Turmgesellschaft Sozialismus‹, die bereits im ersten Band in Erscheinung tritt, lässt einen solchen Erzählgang vermuten und auch Strittmatters Ankündigung in der Wochenpost legt dies nahe. Allerdings lässt sich ab dem zweiten Band eine deutliche Abkehr von den inhaltlichen und darstellerischen Konventionen des Sozialistischen Realismus beobachten. Obgleich der dramaturgische Bogen einer proletarischen Entwicklungslinie in Ansätzen vorhanden ist, schert die Hauptfigur aus dem schablonenhaften Weg eines ›guten Proletariers‹ aus und kann sich zuletzt weder für die Arbeit in der Fabrik noch für das Schreiben darüber begeistern. Statt als proletarischer Aufsteiger wird Stanislaus dem Leser vor allem im ersten Band als eine indifferente Figur präsentiert, die sowohl Züge des klassischen Schelms als auch des romantischen Taugenichts trägt. Ganz in der Tradition des Schelmenromans wird er zum »Spielball der Verhältnisse« (Hofmeister 1986a: 6). Er war, so berichtet der Erzähler, »umhergetaumelt und hatte leider über sein Verhältnis zur Welt und zum Leben nachgedacht, statt geschickt zu lernen, wie man mit einem neuen politischen Vokabular umging« (WII 338). Indem er sich im Laufe der drei Bände schließlich als vollkommen apolitisch erweist, löst er den obligaten positiven Helden durch eine politisch-indifferente Figur ab, die nicht nur das Zeitgeschehen, sondern auch das Schreiben darüber unkritisch begleitet. Die lähmende Wirkung des ›neuen politischen Vokabulars‹ und der apodiktischen Regularien zeigt schließlich der dritte Band, in dem nicht nur ein Wechsel in Erzählhaltung und Figurenzeichnung zu beobachten ist, sondern auch thematisch eine neue Richtung eingeschlagen wird.
83
84
Ruderale Texturen
Der proletarische Bildungsweg wird vorbereitet, indem anhand des ›umhertaumelnden‹ Helden im Wundertäter I eine gesellschaftliche Vorkriegslandschaft entworfen wird. Anhand verschiedener kleinerer Episoden führt der Roman vor, weshalb ein neues politisches Vokabular überhaupt benötigt wird. Dieses wird dann sukzessive in den Erzählgang eingespeist. Schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs begegnet Stanislaus verschiedenen Figuren, die ihn mit dem kommunistischen Gedankengut vertraut macht. Sein Schwager Reinhold Steil sowie der Altgeselle Gustav Gerngut, dem Stanislaus in einer der Backstuben, in der er auf seiner Wanderschaft Arbeit findet, begegnet, äußern sich nicht nur kritisch über die nationalsozialistischen Tendenzen der Vorkriegszeit, sondern stehen auch für einen versteckten Widerstand, der den Kommunismus als Lösung der gesellschaftlichen Problemlage begreift. Steil wird im Laufe der drei Bände zum prototypisch sozialistischen Helden stilisiert, der alle Elemente, die auch das politische Selbstverständnis der DDR auszeichnen sollten, mit sich bringt. In seinem Beitrag zu dem 2002 erschienenen Sammelband Sozialistische Helden nennt Rainer Gries »die zur politischen Herrschaft gelangte Arbeiterklasse, die parteikommunistische Sozialisation, de[n] aktive[n] Antifaschismus und das Leiden unter dem nationalsozialistischen Terror sowie nicht zuletzt die Bindung an die Sowjetunion« (Gries 2002: 85)19 als maßgeblich. Steil dient dabei als Kontrastfolie, vor der Stanislaus’ naiv-unpolitische Haltung immer wieder deutlich zu Tage tritt. Doch auch in einem noch vor Kriegsbeginn geführten Gespräch mit Gustav zeigt sich die apolitische Haltung des Protagonisten, wenn dieser über seinen Bezug zur politischen Führungsriege der Zeit bemerkt: »Er hatte nichts mit ihnen zu schaffen. Sie standen in der Zeitung und er in seinem vertrackten Leben.« (WI 261) Auch der zweite Band zeigt Stanislaus als einen politisch desinteressierten Menschen, doch wird der durch die beiden väterlichen Identifikationsfiguren angeregte Erstkontakt zum Kommunismus erneut aufgegriffen und ausgestaltet. Die kommunistische Ideologie begegnet Stanislaus nun in Form der Liebe, denn das Hausmädchen Rosa, in das er sich während seines Aufenthalts in der Zementfirma verliebt, ist eine »Kommunardin« (WII 79), die Stanislaus vorwirft: »Du interessierst Dich nicht für mein geistiges Zuhause.« (WII 230) Die auf diese Weise angeregte Wandlung des Protagonisten zum politisch bewussten Menschen gestaltet sich jedoch als schwierig. Stanislaus, so bemerkt auch Klaus Jarmatz (1989: 69), ist keine »Entwicklungsfigur im landläufigen Sinne«. Durchaus widerspenstig beschwert er sich bei Rosas Onkel Osero: »Die Hitlers wollten mich arisch, ihr wollt mich proletarisch!« (WII 291), bevor er schließlich doch eine Arbeit in der Zellwollfabrik annimmt, um aus Liebe zu Rosa eine »Proletarierlaufbahn« (WII 259) einzuschlagen. An diesem Beispiel lässt sich exemplarisch verdeutlichen, inwiefern die Entscheidungen des Protagonisten von äußeren Faktoren abhängen; Stanislaus steht hier keinesfalls, dies wurde bereits früh bemerkt, auf der geforderten »Höhe des historischen Bewußtseins« (Küntzel 1981: 7). Er wird nicht nur von seinen Arbeitskollegen als »politische[r] Eulenspiegel« (WIII 11) betrachtet, sondern erhält zuletzt auch den Ruf eines »politischen Wechselbalges« (WIII 496). Im Grunde genommen ist er, und dies deckt sich mit einer Aussage, die Strittmatter in einem Interview über sich selbst getroffen hat, »ein poetischer und kein politischer Mensch« (Berger 1992: 19
Gries bezieht sich hier wiederum auf Sywottek (2000: 69).
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
58).20 Nicht zuletzt lässt sich Stanislaus ambivalentes Verhältnis zur ›Partei‹ über sein Verhältnis zu zwei Frauenfiguren darstellen. So lehnt er einen Parteieintritt zunächst auch deshalb ab, weil seine ehemalige Geliebte Lilian Pöschel, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg mit der nationalsozialistischen Ideologie sympathisierte, sich inzwischen jedoch zu einer eifrigen Genossin entwickelt hat, ebenfalls in der Partei ist. Die Liebe zu Rosa lässt ihn jedoch schließlich über einen möglichen Parteieintritt nachdenken: »Wenn er dieser Partei nun beitrat, was trennte ihn dann noch von dieser verfluchten Rosa, die er nicht vergessen konnte?« (WII 315) Die mit einem Augenzwinkern erzählte Bildungsgeschichte des Protagonisten umgeht die Prämisse einer positiv-optimistischen Entwicklungslinie und rückt eine Figur in den Mittelpunkt der Erzählung, die den sozialistischen Neuerungen eine kindliche Naivität entgegenbringt.21 Die pikareske Gattung diente Strittmatter dabei auch als Möglichkeit einer leisen Kritik. »In der Tat«, so bemerkt auch Gansel (2012: 184) »hatte Strittmatter sich mit der Anlage der Hauptfigur die Möglichkeit geschaffen, hinter der Maske des Schelms ›Wirklichkeit‹ auf eine Weise zu erkunden, die es ausgesprochen
20
21
Ähnlich klingt es in einem Interview aus dem Jahr 1993: »Ich bin in Wirklichkeit ein apolitischer Mensch. Aber da war die große Schuld, der Wiedergutmachungszwang gegenüber der Sowjetunion. Ich habe mich der Sache vertrauensvoll angeschlossen und bin eine Weile in die Politik hineingerutscht. In Wirklichkeit bin ich apolitisch, ein poetischer Mensch.« (Festner 1993: 479) An dieser Aussage erweist sich nicht nur die Gleichsetztung apolitisch/poetisch als problematisch. Dass Strittmatters Äußerung nicht nur als eine vermeintliche Entschuldigung, sondern auch als schwere Belastung verstanden werden kann, hat die Diskussion um Strittmatters eigene SS-Vergangenheit gezeigt. Einen Überblick bietet hier der von Gansel/Braun herausgegebenen Sammelband Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung (2012). Die naive Erzählweise und die Darstellung des Protagonisten als umherwandernder Taugenichts, insbesondere im ersten Band, fiel natürlich auch der zeitgenössischen Kritik auf. Die Gattungsbezeichnung ›Schelmenroman‹ wurde daher auch bereits im Zusammenhang mit der Erstveröffentlichung des Wundertäter I verwandt. Strittmatter berichtet, sein Lektor habe die Gattungsbezeichnung hinzugefügt, um auf diese Weise das Problem der fehlenden sozialistisch-realistischen Elemente zu lösen: »Da man nicht wußte, wie und wo man den ersten Band des Wundertäter ›einreihen‹ sollte, weil er nicht ›sozialistisch-realistisch‹ war, keinen ›positiven Helden‹ hatte und keine ›Anleitung zum Handeln‹ enthielt, fand mein damaliger Lektor einen Ausweg und nannte die Arbeit einen Schelmen-Roman.« (Festner 1993: 488) Dabei ist Strittmatter nicht der einzige DDRAutor, der auf die pikareske Gattungstradition zurückgreift. Auch in Texten von Irmtraud Morgner (Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, 1974), Jurek Becker (Jakob der Lügner, 1968), Fritz Rudolf Fries (Die Nonnen von Bratislava, 1994) oder Jens Sparschuh (Der Zimmerspringbrunnen, 1995) tauchen eulenspiegelhafte Figuren auf. Es ist bemerkenswert, dass sich gerade an diesem Genre Gegenentwürfe zu einem von staatlicher Seite forcierten, schablonenhaften Erzählen beobachten lassen, die mit neuen Zügen origineller Autorschaft und Alternativen zum positiven Helden aufwarten. Diese Sorte Held stieß daher auch auf Kritik. So durfte beispielsweise Friesʼ sowohl am Schelmenroman als auch an den Texten der BeatGeneration orientierter Roman Der Weg nach Oobliadooh in der DDR nicht erscheinen, da er im Verdacht stand, eine (zu) kritische Perspektive auf die DDR-Gesellschaft einzunehmen. Erst 1966 wurde Der Weg nach Oobliadooh bei Suhrkamp verlegt, 1989 erschien er in der DDR. Darüber hinaus tauchen Schelmenromane, darauf weist Gebauer in ihrer Studie Wendekrisen (2006) hin, in der DDR-Literatur v.a. um 1990 auf. Sie lassen sich dort als »Antwort auf Problemstellungen der Nachwendezeit und insbesondere auf Redegegenstände und Regularitäten des Diskurses dieser Periode« (Gebauer 2006: 12) verstehen.
85
86
Ruderale Texturen
schwer machte, ihn als Autor für das Dargestellte ›verantwortlich‹ zu machen«. Diese Freiheit gründet in der besonderen Erzählhaltung: »Der naive Blick bot Büdner – wie dem Autor Strittmatter – die Chance, sich freier zu bewegen.« (Ebd.) In der naiven Figuren- wie auch Erzählergestaltung zeigt sich ein Charakteristikum des Strittmatter’schen Schreibens, das oftmals kindlich-naive Figuren in den Mittelpunkt rückt.22 So nimmt sich Stanislaus beispielsweise die Freiheit heraus, die kommunistischen Überzeugungen von Rosas Vater Leo Lupin mit spiritistischen Äußerungen zu vergleichen. Als dieser versucht, ihm die Idee einer revolutionären Übergangsgesellschaft unter der Herrschaft des Proletariats zu vermitteln, bemerkt Stanislaus: »Ihr müßt große Hypnotiseure bei den Kommunarden haben« (WII 203). Ihm schien, so berichtet der Erzähler, »als ob ein fremder Geist aus dem Kommunarden Leo spräche« (ebd.). An dieser Stelle mischt sich auch der im zweiten Band immer stärker in Erscheinung tretende auktoriale Erzähler mit einem Kommentar an den impliziten – ideologisch gebildeten – Leser des Romans ein: »Verübeln wir Stanislaus die dumme Frage nicht, Brüder des Wissenschaftlichen Jahrhunderts. Wir sind durch so viele Schulen und Schulungen gegangen […], während Stanislaus auf den abseitigen Wegen der Philosophie und der Kunst herumzappelte. Trösten wir uns mit der Aussicht, daß wir an dem jetzt noch so dümmlich wirkenden Helden weiter hinten im Buch unsere Freude haben werden.« (WII 203, Herv. i.O.) ›Weiter hinten‹ jedoch wechselt die Erzählhaltung und mit ihr die Darstellung des Protagonisten als anpassungsfähiger Schelm. Spätestens ab Stanislaus Eintritt in die Zellwollfabrik werden die vordergründig dem sozialistischen Schema des proletarischen Bildungsplans folgenden Versatzstücke sowohl durch den sich immer wieder kritischironisch einschaltenden Erzähler als auch durch das Verhalten des Protagonisten konterkariert. Dies zeigt sich unter anderem an den in das Narrativ eingeflochtenen Gesprächen und Reflexionen über Literatur, an denen deutlich wird, inwiefern durch die strengen Programmatiken des sozialistischen Literaturbetriebs Individualität und Fantasie gleichermaßen unterbunden wurden. An Stanislaus lässt sich dies exemplarisch vorführen, denn der Protagonist der Trilogie will ein »Dichter« (WII 54) werden: »Ohne zu schreiben, müßt ich verkümmern wie ein Baum ohne Wasser« (WIII 286). Es ist Rosa, die Stanislaus eine erste Einführung in ein ›zeitgemäßes‹ Schreiben vermittelt. Gedichte, so belehrt sie ihn, hätten »vor allem soziale Ungerechtigkeiten anzuprangern« (WII 85). Als Germanistikstudentin und Zögling der idealtypisch-kommunistisch gezeichneten Figur Osero, wird Rosa von den sogenannten ›Kommunarden‹ »in Sachen Literatur« (WII 103) ausgebildet: »Die Literatur gehöre […] zur Ideologie, sie wäre eine anfällige Blüte des Überbaus«, lernt sie bei ihrem Onkel; falls sie »überhaupt in Frage käme, müßte sie nützlich sein; jedes zehnte Wort klassenwirksam, sonst wäre sie nichts als kritischer Realismus und verdammter Formalismus« (WII 103). Die über
22
Strittmatter selbst hat sich zu diesem Erzählverfahren bekannt und die naiven Erzähler als Spiegelungen seiner selbst beschrieben: »Wenn Sie zum Beispiel Tinko nehmen und Bienkopp, so sind sie meilenweit voneinander entfernt in den stilistischen Mitteln, und trotzdem schimmert vielleicht etwas durch, was mir eigen ist, eine gewisse naive Sicht, die mir aber als eine sehr interessante Sicht erscheint« (Strittmatter 1977: 237).
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
die Figur Rosas in den Roman eingespeisten formalästhetischen Vorgaben begleiten Stanislaus von diesem Zeitpunkt an durchgängig. Indem Stanislaus Gedichte, Essays und Theaterstücke verfasst und sich von Zeit zu Zeit an einem Roman versucht, wird im Wundertäter immer wieder über das, was Dichtung sein kann, nachgedacht. Seine eigenen Ansichten hält Stanislaus in sogenannten ›Groschenheften‹ fest, aus denen, in Anlehnung an die Archivfiktion des Wilhelm Meister, immer wieder von der Erzählerinstanz ausgewählte Passagen in den Erzählfluss integriert werden. Während er es anfänglich noch als »ungeheuerlich« empfindet, »daß im zwanzigsten Jahrhundert Regierungen bestimmten, was der einzelne lesen dürfte und was nicht« (WII 175), versucht er sich gegen Ende des zweiten Bandes schließlich an einem ideologisch ausgerichteten Roman.23 Hinsichtlich Stanislausʼ früherer Versuche bemerkt der Erzähler: »Der Held mußte optimistisch leuchten wie ein Osterei. Seinem marxistisch ungebildeten Helden war eben die Zukunft verschlossen.« (WII 417) Es ist vor allem dieser oftmals satirisch anmutende Erzähler, der den Dialog mit dem Leser sucht und Stanislaus’ Handeln im Kontext des kommunistisch-utopischen Denkens und dessen Schreibprogramm verortet. Der Erzähler ist dem Protagonisten in ›Sachen Sache‹ voraus. Immer wieder mischt er sich mit entschuldigenden Kommentaren ein, in denen er die in ›Sachen Literatur‹ mangelhafte Bildung des Protagonisten erklärt: »Er hat weder von Shakespeare gelernt, noch hat er sich in Liebesdingen etwas von Brecht abgeguckt.« (WII 83) Die Erzählung einer Liebesgeschichte, die Stanislausʼ Eintritt in die Partei narrativ aufschiebt, wird folgendermaßen anmoderiert: »Jene, die den Roman voreingenommen lesen und beim Studieren Zornkerben über der Nasenwurzel zur Schau tragen, werden sagen: Welche Fisimatenten nun wieder, nachdem der Held davorsteht, den wichtigsten Schritt in seinem Leben, den Eintritt in die Partei, zu vollziehen? – Geduld, der Autor verspricht ihnen, keine Mühe zu scheuen, den Helden dorthin zu bringen, wohin er gehört.« (WII 316) Dorthin, ›wohin er gehört‹, nämlich in die Partei, bringt der sich zwischendurch selbst als ›Autor‹ oder ›Verfasser‹ titulierende Erzähler seinen Helden jedoch gerade nicht. Nachdem Stanislaus im zweiten Band die Landesparteischule besucht und sich mit Äußerungen wie »Du solltest achtgeben, daß du nicht hinter den Ansichten deiner Partei zurückbleibst!« (WII 413) als ein lernwilliger Genosse erwiesen hat, wird er im dritten Band schließlich als ein frustrierter Journalist vorgestellt, der ausschließlich von Belanglosigkeiten und Lappalien berichtet. Seine Begeisterung für Literatur hat er auf der Landesparteischule eingebüßt: »War er aus Parteidisziplin flach geworden?« (WIII 48), fragt sich der nun ›Stabü‹ genannte Protagonist im Zusammenhang mit seinen literarischen Fähigkeiten. Als Lokalredakteur in Kohlhalden verfasst er Berichte, die er selbst als »hölzern, doch ›politisch bedeutungsvoller‹« (WIII 19) empfindet. Auch seine privat niedergeschriebenen Gedichte haben jegliches poetisches Element eingebüßt: »[D]ie gestanzten Wendungen waren austauschbar, es sang nicht zwischen und es summte
23
Die Gespräche über Literatur werden darüber hinaus durch eine seltsam-fantastische Figur erweitert: Der sogenannte ›Meisterfaun‹, eine an Mephisto angelehnte, dem Protagonisten von Zeit zu Zeit in unterschiedlicher Gestalt erscheinende Figur, gibt Stanislaus Ratschläge in Sachen Kunst und Liebe.
87
88
Ruderale Texturen
nicht über den Zeilen« (WIII 48).24 Zuletzt versucht er sich erneut an einem Roman mit dem sentimentalen Titel Damals in der Kindheit. Mit dieser »Erzählung innerhalb der Erzählung« (Strittmatter 1990: 32) führt Strittmatter eine »Linie« (ebd.) fort, die schon im Wundertäter II angelegt war. Die Abgrenzung des persönlichen Texts von der als Journalist zu verfassenden ideologisch-konformen Parteiliteratur geschieht dabei interessanterweise über einen Pflanzenvergleich. Stanislaus setzt seinen Roman zu verschiedenen Sträuchern und Bäumen in Beziehung: »Was wird das nun, was du schreibst? fragte er sich, ein knorriger Baum, jeder Zweig gebogen und gewinkelt, eine Robinie vielleicht, oder wird es ein Strauß aus Wermut, ein Bündel Strohblumen oder gar ein Besen aus stacheligem Wacholder?« (WIII 114) Ob Robinie, Wermut oder Strohblume, in jedem Fall soll der Text eines nicht sein: flach, gerade und regelmäßig, mit einem Wort: konform. Der fertige Roman wird von dem zuständigen Kulturredakteur, der den sprechenden Namen Mehrlesen trägt, auf sein sozialistisch-realistisches Potential hin überprüft und passiert anschließend verschiedene weitere Instanzen, bevor er unter dem ideologisch angepassten Titel Schwer war die Jugend vergangener Zeiten veröffentlicht werden soll. Mehrlesens Umgang mit dem Manuskript sei an dieser Stelle exemplarisch für dessen ironisch dargestellten Weg durch die Zensurinstanzen zitiert: »In seinen Notizen stieß er auf die Faustregel, nach der sie festgestellt hatten, ob ein Kunstwerk dem Sozialistischen Realismus zuzurechnen wäre oder nicht. ›Sozialistischer Realismus ist die Weiterentwicklung des Kritischen Realismus‹, hatte er sich notiert, ›und seine Kriterien sind, ein Kunstwerk muß zeigen, wie die Dinge, die Menschen und die Verhältnisse waren, wie sie sind und wie sie sein werden!‹« (WIII 147) Mit »Lineal, Schublehre und Bandmaß« (WIII 296) wird hier Literatur analysiert. Da sich der Kulturredakteur bezüglich der sozialistisch-realistischen Elemente in Büdners Roman unsicher ist, wird dieser weiteren Parteimitgliedern vorgelegt, bevor er schließlich in Ausschnitten in der Lokalzeitung Volksblatt veröffentlicht werden kann. Diese Korrekturschleifen bilden in einer ironischen mise en abyme-Szene die reale Publikationsgeschichte des Wundertäter III ab, denn auch dieser entpuppte sich als ›stacheliger Wacholder‹. Strittmatter selbst bemerkte in einem Tagebucheintrag vom 26. September 1973, der Wundertäter III sei »politisch, kritisch und philosophisch viel gefährlicher« (Strittmatter 1990: 34, Herv. i.O.) als beispielsweise Ole Bienkopp, er sei,
24
Aus Strittmatters späten Tagebüchern geht hervor, dass er nach anfänglicher Euphorie der Vereinnahmung der Kunst durch die Politik durchaus kritisch gegenüberstand, siehe bspw. den Tagebucheintrag vom 10. Dezember 1973: »Die Dichter müssen systemlos philosophieren, sobald sie einem System anhangen [sic!], verraten sie die Kunst« (Strittmatter 1990: 37). Seine Abneigung gegenüber einer schematischen Literatur hat Strittmatter auch in verschiedenen Gesprächen artikuliert. So äußerte er beispielsweise den Anspruch, seine Figuren »nach den inneren Gesetzen der Individualität« (Strittmatter 1977: 241) zu gestalten: »Jeder erlebt doch das, was sein Charakter ihm vorschreibt, oder anders ausgedrückt: Es stößt den Helden nur etwas zu, was ihrem Charakter entspricht« oder, deutlicher formuliert: »Nichts ist schädlicher für die Literatur als Schematismus.« (Ebd.) Ein gewisser Schematismus ist in dieser Aussage aus dem Jahr 1973 allerdings dann doch zu erkennen, wenn Strittmatter hinzufügt: »Einiges ist für mich aber unumstößlich, so: Ein Held, der bei uns lebt, muß irgendwo einmal der Partei begegnen«.
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
so heißt es am 4. April 1978, »Sprengstoff […], wenn mans von den Dogmatikern her sieht« (ebd.: 154). Er schreibe, so notiert Strittmatter am 24. Januar 1977, »zum ersten Male von der Position aus, daß nicht veröffentlicht werden wird, was ich schreibe, und auch, was ich dann schreiben werde, wird aus politischen Gründen nicht veröffentlicht werden« (ebd.: 141).25 Die langwierige Publikationsgeschichte und die zahlreichen Umformulierungen und Veränderungen, die Strittmatter vornehmen musste, bevor der Roman schließlich veröffentlicht wurde, sind in Carsten Gansels Artikel »weil es sich um sogenannte heiße Eisen handelt« (2012) nachzulesen. An dieser Stelle sei lediglich erwähnt, dass die Drucklegung immer wieder verhindert und hinausgezögert wurde, obgleich die zahlreichen Gutachten den Roman durchaus positiv beurteilten. Strittmatter selbst spricht in seinem Tagebuch von einem »Kraftaufwand, ihn schließlich gedruckt zu bekommen« und einer »Hinterhältigkeit, mit der man seine Verbreitung bremste« (Strittmatter 1990: 242).26 Die ostdeutsche Professorin Anneliese Löffler schrieb damals sehr treffend in ihrem Gutachten, Strittmatter habe »im Manuskript recht genau den Weg beschrieben, den ein nicht einfaches Manuskript bei uns nimmt« (zit. n. Gansel 2012: 187).27 Das langwierige Druckgenehmigungsverfahren stand dabei in einem engen Zusammenhang mit einer im dritten Band geschilderten Episode, die nun abschließend im Vordergrund stehen soll. Eingeleitet wird diese durch die kritische Aufnahme des Romans im Roman. Trotz der akribischen Überprüfung durch diverse Parteimitglieder wird dessen Nonkonformität seinem Autor schließlich zum Verhängnis. Eines der vorab in der Lokalzeitung publizierten Kapitel erregt durch die unrealistische Schilderung eines Fiebertraums Anstoß bei der Leserschaft. Darüber hinaus wird eine Episode kritisiert, in der ein noch im Mutterleib befindlicher Säugling bereits fähig ist, seine Umgebung wahrzunehmen.28 Der Roman gerät unter Formalismus- beziehungsweise Naturalismusverdacht, woraufhin sich die Kulturfunktionäre von Stanislaus distanzieren. Ihm wird vorgehalten, er habe »sich in die Funktion des Parteischriftstellers vorgewagt, ohne ausreichende
25
26
27
28
In diesem Zusammenhang sei auch auf das Motto verwiesen, dass Strittmatter dem Wundertäter III anfänglich voranstellen wollte. Es stammt von Michail Lermontow, einem der Hauptrepräsentanten der russischen Romantik: »Sie haben mich gepeinigt, weil ich zu denken wagte, sie haben mich gesteinigt, weil ich mein Denken sagte, weil ich es sang in Liedern, voll Wahrheit und voll Glut. Sie konnten nicht erwidern, daher die ganze Wut« (Strittmatter 1990: 157). Die Rolle, die der dritte Band für Strittmatter spielte, lässt sich folgender Aussage entnehmen: »Der Entschluß, den Wundertäter III ohne Rücksicht auf parteipolitische Konvention und so zu schreiben, daß er einzig der Wahrheit dient […], leitete einen neuen Abschnitt in meinem Leben und in meiner Arbeit ein« (Strittmatter 1990: 118). Den Einfluss des von staatlicher Seite vorgegebenen Literaturverständnisses und die Bindung an das Lesepublikum beschreibt Strittmatter in seinem Rückblick Vor der Verwandlung mit den folgenden Worten: »Soll ich mir denn nachsagen lassen müssen, es habe in meinem Schriftstellerleben Zeiten gegeben, in denen ich das, was ich schrieb, nach dem augenblicklich herrschenden Geschmack der Käufer hinausschickte? Vielleicht doch ein klein bißchen immer wieder, alter Schwede« (Strittmatter 2009b: 45). Diese Episode wie auch die Gattung des Schelmenromans verbindet den Wundertäter auf gewisse Weise mit einem berühmten Nachfolger: Günter Grass’ zwei Jahre später (1959) veröffentlichtem Roman Die Blechtrommel.
89
90
Ruderale Texturen
Kenntnisse dafür zu besitzen« (WIII 214). Diese Kenntnisse gilt es nun nachzuholen. Den realhistorischen Vorgaben des sogenannten ›Bitterfelder Weges‹ getreu, der die Trennung zwischen Kunst und Leben aufheben sollte, wird die Romanfigur Stanislaus in ein nahegelegenes Bergwerk geschickt, denn: »Er hatte sich, wie festgestellt wurde, von den Werktätigen gelöst, hat sich ideologisch entfernt. Er saß schon zu lange in der Redaktion.« (WIII 222) Mit Stanislaus Eintritt in die Welt des Bergbaus beginnt der wohl kritischste Teil des Wundertäters.
3.4.
»Auf den öligen Wassern der ausgekohlten Tagebaue«
Die von Schlenstedt als ›Webfehler‹ bezeichneten neuralgischen Punkte zeigen sich auch an der Darstellung der Tagebaulandschaften, die im dritten Band eine zentrale Stellung einnehmen. An der »Kohlenwüste« (WIII 155) Kohlhalden wird deutlich, welche Auswirkungen der von staatlicher Seite forcierte Ausbau der Montanindustrie auf die an die Tagebaue angrenzenden Siedlungsgebiete hatte. Gleichzeitig fungiert der Braunkohleabbau hier jedoch auch als eine Metapher für einen Blick unter die Oberfläche: Der Blick in die Tagebaukippen erweist sich als ein Blick in die unbewältigte Vergangenheit des ostdeutschen Teilstaats. Diese kann, dies stellt der Roman deutlich aus, aufgrund parteilicher Vorgaben nicht aufgearbeitet und unter den Maßgaben des sozialistisch-realistischen Schreibprogramms auch nicht in Literatur überführt werden. Wie auch die Flöze lagert die Geschichte, die »nicht erzählt werden sollte« (WIII 245), in der Erde, bis sie schließlich in einem der Braunkohlegewinnung ähnlichen Vorgang von Stanislaus geborgen und aufgeschrieben wird.
Kohlenstaub Während im zweiten Band noch in grundsätzlich optimistischer, wenn auch zum Teil ironisch distanzierter Weise von den technischen Neuerungen wie etwa einer neuen Maschine für die Zellwollfabrik berichtet und durch den Rekurs auf Feuer und Sonne ein Bild des Fortschritts entworfen wurde, zeigt der 1980 publizierte und in den 1950er Jahren angesiedelte dritte Band eine in Kohlenstaub gehüllte Industrielandschaft, die im »Dunst der beleuchteten Tagebaulöcher« (WIII 54) zu versinken droht. Die zu Beginn des zweiten Bandes beschriebenen Trümmer des Zweiten Weltkriegs und die diese besiedelnde Natur sowie der daran anschließende optimistische Aufbau industrieller Areale sind im dritten Band einer omnipräsenten Dunkelheit gewichen: »Der Schnee war gefroren, war still, hart und schwarz; und der Wind fegte immer mehr Kohlenstaub von den Tagebaukippen in die Stadt und pfiff wollüstig um die Ecken grauer Kleinstadthäuser. Es roch nach Schwefel und tertiären Erd-Innereien. Am Stadtrand murrten Brikettfabriken, und Bagger schrien von Zeit zu Zeit wie gepeinigte Raubtiere herüber.« (WIII 7) Mit dieser Schilderung eines städtischen Industriepanoramas setzt der dritte Band des Wundertäters ein. Die gesamte Stadt Kohlhalden, der Name ist hier Programm, ist vom Braunkohleabbau geprägt: Schwarz gefärbter Schnee, Schwefel- und Erdgeruch sowie die Geräusche der Montanindustrie bestimmen das städtische Erscheinungsbild.
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
Das personifizierte ›Murren‹ der Fabriken und die ›Schreie‹ der Bagger ersetzen die Laute realer Tiere, die die Stadt verlassen haben. Die Wildgänse, so bemerkt Stanislaus beinahe verwundert, weigern sich, »auf den öligen Wassern der ausgekohlten Tagebaue niederzugehen« (WIII 61), einem Wasser, das »gelb und ockerig« ist und in dem »die Krebse ausgestorben, die Frösche ausgewandert« (WIII 299) sind. Unberührte Natur und ökologische Nischen sucht man hier vergeblich, selbst »das Schilf an den Bachrändern [war] vom sauren Grubenwasser ausgeätzt« (WIII 299). Immer wieder wird in kurzen Passagen auf die Omnipräsenz der Montanindustrie hingewiesen: »Wuchtige Maschinen wurden in die Welt gesetzt, neue Tagebaue ins Erdreich getrieben; die Erdhaut wurde abgerollt, Felder und Dörfer von Abraumbaggern weggeschleppt. Man erntete die gepressten Urpflanzen, verbrannte und vergaste sie, ihre Abgase stiegen in die Lufthüllte des Planeten und schienen sich dort zu verlieren. Auf der Erdoberfläche entstanden Löcher von zehn Quadratkilometern und mehr, und es sammelte sich Wasser auf ihrem Grunde.« (WIII 76)29 Beschrieben wird diese Industrielandschaft in Abgrenzung zu den umliegenden ›Heidedörfern‹, in denen noch der Jahreszeitenwechsel erlebt und eine Beziehung zur Natur aufgebaut werden kann. Die Naturphänomene, die auf dem Land noch die verschiedenen Sinne – olfaktorisch, auditiv, visuell – ansprechen, sind in Kohlhalden einer grotesken Nach-Natur gewichen: »Über den Wäldern stand der blaue Himmel, und die Eichkatzen raspelten in den Haselbüschen; in Kohlhalden aber fiel Ruß vom Himmel, die Brikettfabriken murrten, und die Bagger schrien wie alle Tage« (WIII 136). Der »Herbstgeruch von Nußbaumlaub«, das »farbige[] Geblüh der Astern« und der »Herbstgesang der Stare« weicht dem »Geruch von überaltertem Preßtorf« und dem »Flug von Kohlenstaub« (WIII 154). Statt dem ›Raspeln‹ der Eichkatzen ist das ›Murren‹ der Fabriken zu hören, der blaue Himmel ist von schwarzem Ruß bedeckt, der schneeähnlich vom Himmel fällt und dabei jegliche Farbgebung verschluckt, und über der Stadt liegt der erdige Geruch der Abraumhalden. Diese Dichotomie wird durch den Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart noch einmal verstärkt. Früher, so reflektiert Stanislaus, hatte man »die Erde zu Fruchtbarkeit und Produktion angehalten […], während man ihr hier in Kohlhalden den Leib aufriß, sie ausweidete und ertaubt liegenließ« (WIII 64). Die bildliche Metaphorik des Leib-Aufreißens, Ausweidens und betäubt Liegenlassens imaginiert die Erde als einen lebendigen Körper, der durch die Prozesse der Braunkohlegewinnung geschunden und leblos zurückgelassen wird. Der Wundertäter wartet 29
Strittmatter antizipierte aktuelle Probleme, vor deren Hintergrund die Schilderung des Braunkohleabbaus noch einmal an Brisanz gewinnt. So äußert Stanislaus Bedenken, dass die Braunkohlevorräte eines Tages zu Ende gehen könnten, ein Einwand, der vom Kollektiv ›Parteigruppe‹ mit den folgenden Worten abgetan wird: »Was hast du gesagt, Junge, die Braunkohlebestände könnten zu Ende gehen, hast du gesagt, Junge? Bist du dir bewußt, Junge, daß du damit eine Unterschätzung unserer technischen Intelligenz vornimmst, die Tag und Nacht damit beschäftigt ist, neue Vorräte und Mutungen aufzuspüren?« (WIII 78) In Strittmatters Tagebuch findet sich am 17. März 1973 folgender Eintrag: »Ich sehe nicht mehr, daß der Mensch die Erde beherrscht, sondern sehe nur, daß er sich in seiner Überheblichkeit in die Funktionen der Erde einmischt und deren Ablauf stört. Die Erde ist weiser als wir. Eines Tages wälzt und schüttelt sich dieses weise Ungeheuer und zerquetscht seine menschlichen Parasiten« (Strittmatter 1990: 12).
91
92
Ruderale Texturen
in diesem Zusammenhang überdies mit einer Gedankenfigur auf, die in Hilbigs Erzählung Alte Abdeckerei noch einmal aufgegriffen und zu Ende gedacht werden wird: Wenn Kohlhalden »wie eine Stadt an der Meeresküste« erscheint – »Nebel, allenthalben Nebel, und die Signalhörner von Baggern und Elektrolokomotiven klangen wie Schiffssignale« (WIII 173) – so wird hier ein Bild der Braunkohlelandschaft entworfen, in dem Kohlegewinnung und Meersemantik auf eine spezifische Weise verknüpft sind. Diese Verbindung gilt es hinsichtlich der Alten Abdeckerei im Blick zu behalten, in der die ausgeweideten Restlöcher schließlich in einer allumfassenden Meeresflut versinken. Zu Beginn des Wundertäter III hat der Protagonist nun in dieser mit allen Attributen der Düsterkeit ausgestatteten Stadt eine Stelle als Zeitungsredakteur angenommen. Die Zeitungsredaktion des Volksblatts liegt in »Knappenruh, einer vormaligen Herberge für Kohlengräber« (WIII 8, Herv. i.O.) und auch sie ist geprägt von der nahen Montanindustrie. Die Arbeit der Redakteure wird immer wieder von den vorbeifahrenden Kohlenzügen unterbrochen: »Ein Kohlenzug krachte heran; die Dämmerung in der Redaktion steigerte sich zur Dunkelheit, Ramona schaltete das Licht an, und der Raum war voll Rollen, Klirren und Achsenschlagen, dann verdünnte sich die Dunkelheit zur Dämmerung, der Zug war vorüber« (WIII 9). Doch nicht nur die Textproduktion selbst wird durch die Nähe zu den Abbaugebieten erschwert, auch als Stanislaus aus einer seiner in den Nächten verfassten Geschichten vorlesen möchte, »murrten die Brikettfabriken, und die Bagger schrien in seine Geschichte hinein« (WIII 68). Die Kohlegewinnung und das Schreiben, Industrie und Literatur, sind hier so eng miteinander verflochten, dass die kreative Arbeit des Schriftstellers durch die Omnipräsenz des Tagebaus gehemmt wird. Das Gefühl von Enge wird räumlich im Bild eines in die Kippen übergehenden Privathauses gefasst: »Der Salon selber verlor sich in einen fensterlosen Gang und schien in den Tagebaukippen hinter dem Hause zu versickern« (WIII 40). Dass es in dieser Umgebung ›nicht sang und summte zwischen den Zeilen‹ scheint kaum verwunderlich, denn die Kohlenstaubschicht bedeckt nicht nur die Stadt, sondern auch die Fantasie. Ein kreatives, poetisches Arbeiten ist Stanislaus in dieser Umgebung nicht möglich. Die ungute Verstrickung von Industrie und Poesie wird auch an der Darstellung des die Wegränder und Bruchkanten bevölkernden Unkrauts deutlich. So ist einer der »schönsten Sommer-Abende Mitteleuropas […] schwarzgrau überpudert von Kohlenstaub« und dieser Staub bedeckt nun auch die gesamte, nur noch spärlich vorhandene Natur: »[S]elbst die zähen Goldruten an den Bahndämmen und der Mauerpfeffer an den Schwellen der Grubenbahnen schienen dunkler zu blühen« (WIII 120). Goldrute und Mauerpfeffer, ruderale Gewächse par excellence, die hier an ihren prototypischen Standorten, Bahndämmen und Schwellen, wachsen, stehen in ihrer dunklen Einfärbung, so lautet eine erste Lesart, sinnbildlich für die allumfassende Verschmutzung der Industriestadt. Sie verweisen auf die massiven Eingriffe, die mit der Braunkohlegewinnung einhergehen und machen deutlich, inwiefern Kultur und Natur in den Abbaugebieten eine ungesunde Verbindung eingehen. Setzt man sie, so die zweite Lesart, mit jenem eingangs skizzierten Topos eines magisch-realistischen Unkrauts in Verbindung, der den auf Abraum und Schutt wachsenden Pflanzen ein poetologisches Potential anerkennt, so wird deutlich, dass Strittmatters rußbedecktes Unkraut jeder potentiellen poetologischen Kraft beraubt zu sein
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
scheint. In einer Umgebung, in der ›selbst die zähen Goldruten‹ von den beim Abbauvorgang freigesetzten Stoffen überdeckt sind, ist Kreativität kaum möglich. Die Vitalität, die die vegetative Metaphorik der Ruderalgewächse verspricht, kann sich vor dem Hintergrund der devastierten Landschaften ebenso wenig entfalten wie vor den apodiktischen Strukturbedingungen des Sozialistischen Realismus. Strittmatters Unkraut ist an dieser Stelle, und dies unterscheidet ihn auf den ersten Blick von den anderen hier untersuchten Texten, ein Unkraut ohne ›magischen‹ Hintersinn. Dieser Gedanke lässt sich durch einen kurzen Exkurs zu Hilbigs zwölf Jahre später veröffentlichter Erzählung Die Kunde von den Bäumen (1992) verdeutlichen. Auch diese kennt das Motiv der »schmutzige[n] Goldruten« (Hilbig 2010a: 237), doch bildet die Beschreibung des Gewächses dort einen Erinnerungsvorgang ab, wenn sich der Protagonist Waller seinen Weg durch das »meterhoch« stehende Unkraut und den »Dschungel von Gewächsen« (ebd.) bahnt. Hilbigs Goldrute lässt sich als eine Metapher für die »Trauer-arbeit« (Schäfer 2001: 200) verstehen, die der Proletarier Waller auf den Aschefeldern der ehemaligen Braunkohlegebiete leistet. »Sie hat ihren ›Grund‹ in den Rudimenten und Exkrementen, die eine zwar fortschrittliche, aber vergeßliche Zivilisation hinter sich gelassen hat«, konstatiert Schäfer (ebd.). Hilbigs Goldruten markieren folglich den prekären Status einer Gegenwart, die auf den Trümmern einer Vergangenheit aufbaut, die unbearbeitet unter dem ausgelagerten Abfall der Gesellschaft und dem sich darauf ausbreitenden Unkraut verborgen ist. Während sich Waller auf der von Unkraut überwucherten Mülldeponie demnach auf Spurensuche nach seiner Erinnerung macht, fungieren die staubbedeckten Pflanzen im Wundertäter, so könnte man meinen, einzig als Zeichen einer fortschreitenden Umweltverschmutzung, die weder der Protagonist noch der auktoriale Erzähler kritisch reflektieren. Allerdings greift eine solche Lesart zu kurz. Obgleich Strittmatters Goldruten vom Kohlenstaub bedeckt sind, lohnt ein zweiter Blick auf die ›zähen‹ Gewächse abseits der Stadt. Auch in Strittmatters Beschreibung der Ruderalflora steckt ein poetologisches Potential, das sich durch den Vergleich mit Hilbigs Erzählung nun konkreter fassen lässt. Das ›dunkle Blühen‹ markiert nicht nur die allgegenwärtige Umweltverschmutzung, sondern verweist außerdem auf eine weitere, dritte Lesart, die unter der Rußschicht verborgen ist. Denn wie auch Hilbigs Protagonist Waller muss sich Stanislaus in die Industrieperipherie begeben, um wieder einen Erzählanlass, ein Sujet, zu finden und ›Trauerarbeit‹ zu leisten. Zwischen »Brombeersträuchern und Heidekraut« (WIII 227) stößt er schließlich auf eine »Geschichte, die niemand mehr hören wollte, weil sie nicht erzählt werden sollte« (WIII 245).
Unter Tage Nach seinem missglückten Romanversuch wird Stanislaus für eine kurze Zeit Bergmann in der Kleinstadt Finkenhain. Der Ort steht nicht nur durch seinen Namen im Gegensatz zu Kohlhalden, auch die Perspektive verändert sich: Nicht mehr die Redaktion und ihre Strukturen stehen im Vordergrund, sondern die peripheren Räume der Montanindustrie. Es handelt sich bei diesem Blick unter die Erde um eine zentrale Episode des dritten Bandes, die jene eingangs als ›Brüche‹ bezeichneten Ausschlüsse und Abweichungen in die Erzählung einspeist, sie wortwörtlich ›ans Tageslicht holt‹. Der
93
94
Ruderale Texturen
reale Vorgang der Braunkohlegewinnung wird mit einem Blick in die Vergangenheit verknüpft, der deutlich macht, auf welchen ›brüchigen Streben‹ das realsozialistische System aufgebaut war. Stanislausʼ Aufenthalt im Braunkohlebetrieb und die daran anschließende Überführung des Erlebten in Literatur entsprächen vordergründig den Vorgaben des ›Bitterfelder Weges‹. Um die Trennung von Kunst und Leben aufzuheben und die Arbeitsteilung zwischen Kulturschaffenden und Produktionsarbeitern zu überwinden, wurde auf der am 24. April 1959 durchgeführten Bitterfelder Konferenz festgelegt, dass die sozialistische Kulturrevolution von zwei Seiten angegangen werden sollte: Unter dem Slogan ›Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalliteratur braucht dich‹ sollten die Schriftsteller in die Betriebe gehen, während die ›Kumpel‹ die Kämpfe und Fortschritte im Produktionsbereich protokollieren, also ›zur Feder greifen‹ sollten. In den Worten des Arbeiterschriftstellers und Parteifunktionärs Otto Gotsche meint diese programmatische Vorgabe »in die Betriebe zu kommen, auf die Bauplätze des Sozialismus zu gehen und in Romanen, Erzählungen, Bühnenwerken und Gedichten das Heldentum der Arbeit zu feiern« (Gotsche 1969: 237ff., zit. n. Jäger 1994: 87). Diese ›Feier‹ markierte im Grunde genommen eine kulturpolitische Offensive, die den kulturellen ›Überbau‹ mit der ökonomischen ›Basis‹ verschränken sollte. Es handelte sich »primär um eine bis ins Kleinste von oben initiierte Kampagne zur ideologisch-politischen Abstützung eines Wirtschaftsprogramms und zur Mobilisierung der Arbeiterschaft, im sozialistischen Wettbewerb Höchstleistungen zu vollbringen« (Braun 2012: 119f.). An Stanislaus wird dieser Ansatz nun sozusagen in Reinform vorgeführt: Der Schriftsteller kommt in die Betriebe und geht auf die Bauplätze des Sozialismus. Allerdings entspricht die Erzählung, die er anschließend verfasst, nicht den auf der Konferenz formulierten Vorstellungen einer positiven Darstellung der Arbeitswelt beziehungsweise der von Gotsche erwähnten ›Feier des Heldentums der Arbeit‹. Der Slogan ›Greif zur Feder, Kumpel!‹ wird so zwischen den Zeilen ad absurdum geführt.30 Der Roman arbeitet hier mit verschiedenen räumlichen Semantiken. So liegt die Kohlegrube, der Stanislaus zugeteilt wird, auf »einem Kahlschlag zwischen Brombeersträuchern und Heidekraut« (WIII 227) inmitten einer winterlichen Heidelandschaft. Durch ein »Häuschen von der Größe eines Kaninchenstalles« und über eine »eiserne Leiter« gelangt man in »die in das Flöz gehauenen Stockwerke« (WIII 227). Gearbeitet wird in einem »Loch im Flöz, und das sah aus wie der Querschnitt durch ein Grab« (WIII 229). An diesem heterotopen Ort trifft Büdner auf den Bergmann Rudolf Risse. Diesem, so erfährt Büdner und mit ihm der Leser, wurde ein tragisches Schicksal zuteil: Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Risses Tochter Emmchen vor den Augen der Mutter von drei sowjetischen Soldaten vergewaltigt: »Der eine Soldat stellte sich vor die Rissin und hielt sie mit der Maschinenpistole beiseite; die beiden anderen banden dem Emmchen die Röcke überm
30
Strittmatter, der in seiner Rolle als Kulturfunktionär die Ansätze der Bitterfelder Konferenz anfänglich noch äußerst positiv beurteilte, distanzierte sich bald von den apodiktischen Regularien und der Scheinhaftigkeit des Konzepts. In den 1960er Jahren schrieb er an Franz Fühmann: »Ich weiß jetzt, was der Bitterfelder Weg ist: Man geht hinaus, sieht sich alles gründlich an, und in Berlin kriegt man mitgeteilt, was man gesehen hat« (zit. n. Drommer 2001: 171, Herv. i.O.).
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
Kopf zusammen, und sie wurden gieriger und gieriger.« (WIII 259) Die Tochter kommt dabei um, Risses Frau zerbricht an den Ereignissen und wird in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Risse selbst wird Alkoholiker und nimmt in betrunkenem Zustand private Rache: Er lässt Luft aus den Motorradreifen der Sowjetsoldaten, uriniert in ihre Benzintanks oder setzt die Manövermarkierungen der Panzer um. Die tabuisierte Vergangenheit des realsozialistischen Systems tritt hier in Gestalt eines sorbischen Bergarbeiters und dessen Familiengeschichte auf den Plan. Aus Risses sprechendem Namen lassen sich drei Lesarten des Geschehens ableiten, die noch einmal deutlich machen, inwiefern die kurze, sich nur über wenige Seiten erstreckende Episode an den Grundfesten des sozialistischen Regimes rüttelte. Seinem Namen gemäß verweist der Braunkohlekumpel auf die Brüche und Risse im System. Die Vergewaltigungsthematik wie auch die kritische Darstellung der Sowjetsoldaten gehörten zu den zentralen Tabus der DDR, über die ein Erinnerungsverbot und Schweigegebot verhängt war. Indem die Risse-Geschichte nun nicht nur erzählt, sondern von Stanislaus auch verschriftlicht und vor Publikum – dem Braunkohlekumpel Friede Zaroba und seiner Frau sowie deren bei der Staatssicherheit arbeitendem Sohn – vorgetragen wird, wird sie auf der Mikroebene vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis überführt.31 Mit dieser Integration der Geschichte in den Diskurs hängt auch die zweite Lesart zusammen: Substituiert man den Buchstaben ›i‹ durch ein ›u‹, so wird aus dem Eigennamen ›Risse‹ die Bezeichnung ›Russe‹: Es handelt sich um eine ›RussenGeschichte‹. Die politische Brisanz einer derartigen Darstellung wird unter anderem an einer Bemerkung Reinhold Steils deutlich: »Es macht nur böses Blut, so wie die Lage ist.« (WIII 455) Eine dritte Bedeutung ergibt sich, sobald man das ›i‹ durch ein ›a‹ ersetzt. Die Risse-Geschichte im Kontext des nationalsozialistischen Rasse-Diskurses zu lesen, wird im Roman selbst vorgeschlagen. Auf die Braunkohleepisode folgt der Aufenthalt des Protagonisten in Berlin, wo er auf Lukian List, einer Bertolt Brecht nachempfundenen Figur, trifft. List und Büdner entwickeln die Risse-Geschichte nun gemeinsam weiter, sodass, so bemerkte auch Heinz Plavius seinerzeit in einem Gutachten bezüglich der Veröffentlichung des dritten Bandes, die Geschichte noch einmal eine andere Stoßrichtung erhält: »[I]m Zuge der dialektischen Verfremdung« werde »aus der Risse- die Rassegeschichte« (zit. n. Gansel 2012: 183), sie werde »intellektualistisch«. In der von Stanislaus und List entworfenen Fassung wird die Vergewaltigungsszene durch eine Art Vorspiel erweitert, das nicht nur die Verbrechen des Nationalsozialismus, sondern auch die Ereignisse des Kalten Krieges miteinbezieht, um auf diese Weise eine von der List-Brecht-Figur verfolgte ›Dialektik‹ deutlich zu machen. So soll weniger das individuelle Schicksal der Tochter als vielmehr ein Zusammenhang der Ereignisse des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet werden. Diese Verschiebung in der Interpretationsweise hängt nicht zuletzt mit den Zensurbedigungen zusammen, die das Erscheinen des Romans begleiteten.
31
Das kommunikative Gedächtnis umfasst in einer frühen Definition durch nach Jan Assmann »Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen« (Assmann 1999: 50), das heißt Erinnerungen, »die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt« (ebd.). Das kulturelle Gedächtnis hingegen ist nicht an einen kommunikativen Austausch gebunden. In ihm werden Erinnerungen niedergeschrieben und somit für die Nachwelt konserviert.
95
96
Ruderale Texturen
Die Beschäftigung mit der Risse-Geschichte löst Stanislausʼ Schreibblockade. Um die Verstrickung von subjektivem Unbehagen, historischer Schuld und ideologischem Druck zu lösen, überführt er die mündliche Erzählung in Literatur. »Ich bin nicht anders mit dem fertig geworden, was ich über Risses Vorleben erfuhr, ich mußte es aufschreiben; eine innere Pflicht, wenn du das verstehst« (WIII 342), gibt er später bei einer Befragung durch ein Mitglied der Staatssicherheit an. Die Problematik einer solchen Aufarbeitung der Vergangenheit wird im Roman reflektiert, denn der Protagonist ist sich durchaus bewusst, dass die kurze Erzählung über den Bergmann gegen die apodiktischen Regularien einer optimistischen Literatur ebenso verstößt wie gegen die von ›Oben‹ verordnete Freundschaft mit der russischen Bevölkerung. Nachdem Stanislaus die Erzählung abgeschlossen hat, überfallen ihn daher Schuldgefühle: »Und hatte er, Büdner, nicht schon wieder Schuld auf sich geladen, weil er niederschrieb, was mit Risses Tochter geschah, weil in Parteikreisen über derlei Vorkommnisse nicht gesprochen werden sollte?« (WIII 310) Das Nicht-Sprechen-Über markiert ein Tabu, an dem durch die Verschriftlichung der Erzählung und ihr Vorlesen vor Publikum gerührt wird. Der damit verknüpfte Tabubruch wird im Bild eines einbrechenden Kohlestollens eingefangen, der kurz nach der Fertigstellung der Erzählung über dem Protagonisten zusammenstürzt: »[D]a bebte die Erde« (WIII 312), »der Stollen wankte und krachte« (WIII 313). Die Artikulation der verdrängten Vergangenheit und das Rühren an einem gesellschaftlichen Tabu führt hier zu einer Aufstörung, deren Wirkung im Beben der Erde und dem Einbruch des Stollens bildlich gefasst wird. In Strittmatters brüchigen Stollen, dies vorab, werden insofern auch Hilbigs dämonische Abraumlandschaften präfiguriert. Bezeichnenderweise verliert Stanislaus durch den Einsturz zwei Finger an seiner Schreibhand und muss erst wieder lernen, einen Stift zu halten. Auch Strittmatter selbst, dies zeigt ein erneuter Blick auf die Publikationsgeschichte des Wundertäter III, rührte mit der Risse-Geschichte an einem Tabu. Die Ablehnung des Romans durch führende Kulturpolitiker und die immer wieder herausgezögerte Druckgenehmigung gründeten neben der ironischen Darstellung der Partei vor allem in der Vergewaltigungsszene. Am 4. Februar 1974 notierte Strittmatter in sein Tagebuch: »Wir ostdeutschen Schriftsteller sind gehalten, diese Tatsachen zu verschweigen. Man nennt das klassenmäßiges Verhalten« (Strittmatter 1990: 44). Insbesondere Kurt Hager, Leiter der Kulturabteilung des ZK, sowie Klaus Höpcke, stellvertretender Minister im Ministerium für Kultur, führten mehrere Gespräche mit Strittmatter, in denen es darum ging, die Geschichte zu entschärfen und kritische Textstellen zu streichen. Strittmatter, dies sei ohne moralische Wertung erwähnt, ließ sich zuletzt zur Selbstzensur bewegen. Die Episode wurde auf wenige Seiten geschrumpft, zugleich stellte er ihr eine Art Rechtfertigung voran, indem er Stanislaus in einer überarbeiteten Version eine Vorgeschichte der Vergewaltigung erzählen lässt: »Bevor Büdner auf das einging, was nicht ungeschehen gemacht werden konnte, beschrieb er verständnisvoll die Umstände, die das Begehren der Sowjetsoldaten hervorgebracht hatten, ihren Haß auf die Deutschen, die ihnen die Heimatdörfer zur Trümmerwüste gemacht hatten, den langen Feldzug ohne Urlaub, schließlich die Sieges- und die Sinnenfreude. Gewiß war jeder von den drei Jungsoldaten in seinem
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
Heimatdorf ein zwar wilder, aber doch lieber Junge gewesen […]. Schuldlose brachten eine Schuldlose um! Menschlich war die Handlung knapp zu verstehen« (WIII 340). Der Krieg und damit letztlich der Nationalsozialismus, so der Subtext, hatte die Soldaten zu »Böcken werden lassen« (WIII 340), sie seien ›schuldlos‹. Als sei die Tat damit noch nicht ausreichend gerechtfertigt, wird anschließend noch eine andere – im Westen angesiedelte – Vergewaltigungsgeschichte erzählt. Ein aus der westlichen Besatzungszone zurückgekehrtes Mädchen berichtet, sie sei von »vier Amerikaner[n], Neger[n]« vergewaltigt worden. Die Stoßrichtung dieser eingeschobenen Episode ist klar: Der Krieg erzeugte in Ost und West gleichermaßen Grausamkeiten, die sowjetischen Soldaten sind somit ebenso schuldig – oder eben auch unschuldig – wie die amerikanischen. »Es ist eben alles so gekommen, weil wir den Krieg angefangen haben, wir Deutschen« (WIII 322), beendet das Mädchen seine Erzählung. Stanislaus’ Aufenthalt in Kohlhalden (über Tage) und Finkenhain (unter Tage) dient einer zweifachen Absicht: Er zeigt einerseits die ökologischen Implikationen der forcierten Industrialisierung auf und fördert andererseits die tabuisierte Vergangenheit zutage, die verborgen zwischen Heidekraut und unter Kohleflözen lagert. Das Unkraut dient im Wundertäter somit als Spur einer tabusierten Vergangenheit, die die Erzählung vergegenwärtigen will; seine Stagnation liegt in einer Verdrängung begründet. Mit Stanislausʼ Abschied von den Kohlegruben ist ein dritter, ebenfalls kritischer Aspekt verbunden, denn anhand des Jahreszeitenwechsels wird die befreiende Wirkung, die die Verschriftlichung der Risse-Geschichte auf Stanislaus hat, bildlich gefasst. Noch immer liegt die Brikettfabrik »[v]erstaubt und dunkelbraun […] im niedrigen Kiefernwald«, doch nun »vermischte sich das Pochen der Brikettpressen mit dem Klopfen der Spechte«. Selbst »im Wald, hinter den Klärteichen, wo das Schmieröl bunt aufblühte«, ist der »Vorfrühling« (WIII 358f.) angekommen. Dieses Aufblühen (im Kleinen) fällt nun mit einem weiteren Ereignis (im Großen) zusammen: dem Tod Stalins. Die einschneidende Wirkung dieses Ereignisses deutet der Roman anhand der Beschreibung der Gedenkfeier der Kohlekumpel an: »Der Volkschor sang das Arbeiterlied ›Brüder, zur Sonne, zur Freiheit …‹. In den akustisch unausgefüllten Raum hinter jeder Liedzeile drängte sich das Mauzen eines Mäusebussards, der am blauen Märzhimmel sein Weibchen umbalzte; es wurde Frühling.« (WIII 363) In dieser Schilderung wird nicht nur das Ende eines autoritären und zugleich bürokratischen Systems als Möglichkeit angedeutet, sondern auch der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 präfiguriert. Stanislaus verlässt das Braunkohlewerk unter diesem blauen Himmel, um – dies ist die letzte Etappe seines Bildungswegs – zuletzt in Berlin anzukommen, wo er an der Verfilmung seines am Ende schließlich doch veröffentlichten Romans mitwirken soll.
Saatzeilen Die Beschreibung seiner Ankunft in Berlin rekurriert erneut auf den Bildbereich des Ruderalen: »Er [der Protagonist, Anm. J.K.] ging zu Fuß zu Volksfilm und freute sich unterwegs am Gestrüpp auf den Trümmer-Inseln: Huflattich, Taubnessel, Schöllkraut und Klee, Holunder, Robinien und Birken waren vom Land hereingekommen und willens, die Stadt in Besitz zu nehmen« (WIII 397, Herv. i.O.). An dieser Beschreibung von Stanislaus’ Weg durch die Großstadt Berlin lässt sich zweierlei aufzeigen. Indem der
97
98
Ruderale Texturen
Text die Neu-Besiedlung der Trümmer durch paradigmatische Ruderalgewächse wie Schöllkraut und Huflattich beschreibt, macht er deutlich, dass seit dem Ende des Krieges zwar Zeit vergangen ist, in diesem Fall circa sieben Jahre, die Trümmerfelder jedoch noch deutlich sichtbar sind. Anders als der Holunderstauch zu Beginn des zweiten Bandes, der in den von Bomben zerstörten Wohnhäusern wächst, markierten die Gewächse hier allerdings einen Neubeginn, an dem sich der Protagonist ›erfreut‹. Darüber hinaus fungiert die Präsenz der Schuttpflanzen auch als Zäsur zwischen der Braunkohleepisode und der nun folgenden Berliner Zeit, die vor allem um die Zusammenarbeit mit Lukian List kreist. Stehen in dieser Episode hauptsächlich List und sein soziales Umfeld sowie die Rolle der Partei im Vordergrund, so rückt mit dem Ende des Romans noch einmal das Ruderal in den Fokus, denn der Roman endet mit einem erneuten Blick ins Unkraut. Hier lassen sich zentrale Themen der Trilogie noch einmal vor Augen führen. Stanislaus leidet aufgrund eines Schusswechsels mit einer westdeutschen Agentin – so das etwas seltsam anmutende Ende des dritten Bandes – an Gedächtnisschwund und wohnt nach seinem Aufenthalt im Krankenhaus bei Friede Zaroba, jenem Braunkohlekumpel aus Finkenhain. Dem Leser wird hier ein Abschlusstableau präsentiert, in dem die beiden zusammen auf Zarobas Feld Unkraut jäten: »Später kniete er mit Friede auf dem Möhrenfeld, wie er früher neben Mutter Lena oder Schwester Elsbeth gekniet und gejätet hatte.« (WIII 634) An diesem Bild lassen sich nun verschiedene Lesarten illustrieren. Die Vorstellung, aus einem wohlgeordneten Beet werde etwas Überflüssiges entfernt, verbindet den Vorgang des Jätens mit den eingangs skizzierten Prämissen des Sozialistischen Realismus und damit auch mit dem sozialistischen System insgesamt. Das Jäten lässt sich als eine Metapher dafür verstehen, dass weder die Gesellschaft noch die Literatur des Sozialismus Raum für Individualismus boten: Alles, was nicht der politischen wie auch ästhetischen Norm entsprach, wurde entfernt. Der Sozialismus und seine Literatur werden sozusagen als ein ›wohlgeordnetes Beet‹ imaginiert. Wie die Publikationsgeschichte des Wundertäter III zeigt, handelt es sich beim ›Ausjäten‹ daher nicht nur um eine relativ normale, den Entstehungsprozess eines literarischen Werks begleitende Handlung des jeweiligen Schriftstellers, sondern auch um einen durchaus übergriffigen Vorgang, der von den jeweiligen Kontrollinstanzen vorgenommen wurde. Der Roman fängt dieses ›Strukturprinzip‹ im Bild der gejäteten Beikräuter ein. Dieser Lesart lässt sich allerdings entgegenhalten, dass sich die Kulturpflanzen des Beets, in diesem Fall sind es Möhren, durch das Entfernen des Unkrauts erst voll entfalten können: »Er [Stanislaus, Anm. J.K.] zupfte Klatschmohn- und Knopfkrautpflänzchen und die Keimlinge der Grauen Melde aus den Saatzeilen und hörte die Möhrenpflanzen aufatmen.« (WIII 634) Obgleich die Vorstellung eines gepflegten Beets in Reih und Glied folglich auf die Normdiktionen des sozialistischen Regimes hindeuten könnte, wird hier noch eine andere Lesart deutlich: Das ›Aufatmen‹ der Möhren signalisiert auch, dass das Jäten zum Gemüseanbau dazugehört und dort positive Effekte erzielt. Die personifizierten Möhren, die ›aufatmen‹, sobald sie wieder Licht bekommen, stehen dabei einerseits im Gegensatz zu den ›ausgeweideten‹ Tagebauen und der industriellen Braunkohlegewinnung und fungieren andererseits auch als Bild für die Ruhe, die in Zarobas Garten für Stanislaus einkehrt. Das konstruierte Ende des Romans ließe sich insofern als literarischer Trick Strittmatters verstehen: Indem Stanislaus durch den Schusswechsel sein Gedächtnis verliert, verliert er auch die Möglichkeit, das auf
3. Austilgung: Der Wundertäter (1957, 1973, 1980)
der Parteischule erworbene Wissen (endlich) in jenen sozialistischen Roman zu überführen, der ab dem Wundertäter II als Möglichkeit im Raum steht. In Zarobas Garten treten die kulturpolitischen Vorgaben in den Hintergrund und der verschlungene Bildungsweg des Protagonisten wird an ein Ende geführt und zwar, und dies ist wichtig, an ein Ende, das den Prämissen eines positiven Entwicklungsromans entgegensteht, ohne dies jedoch deutlich zu zeigen. Es ist kein Zufall, dass es sich bei dem Gemüsebeet um das Beet Friede Zarobas handelt, der von Anfang an mit allen Eigenschaften eines ›guten Menschen‹ ausgestattet wurde. Er verkörpert, darauf weist Strittmatter selbst hin, das von Goethe in Das Göttliche formulierte klassische Ideal: »Edel sei der Mensch, / Hilfreich und gut« (Goethe 1989: 147). Zaroba, so schreibt Strittmatter in seinem Tagebuch, sei eine Figur, »die vorlebt, was ich für richtig halte« (Strittmatter 1990: 75), er sei der »Versuch meines Idealmenschen« (ebd.: 86). Das gemeinsame Jäten im Garten dieses ›Idealmenschen‹ demonstriert einen natürlichen Umgang mit allem, was ›wuchert‹: einen besonnenen und an individuelle Umstände angepassten – einen ethischen Umgang. Vor diesem Hintergrund wird in Zarobas Garten insofern auch ein Kreislaufgedanke ausgestellt, der Stanislaus zurück zu seinen ›Wurzeln‹ bringt. Die Szene führt zurück in den ersten Band: ›Wie früher‹, so heißt es, kniete er im Beet und ›wie früher‹ widmet er sich der Naturbetrachtung. Diese im Bild des ›Aufatmens‹ und der Idee einer Rückkehr zur eigenen Herkunft eingefangene contemplatio führt, und dies ist der dritte Punkt, dazu, dass Stanislaus am Ende des Romans noch einmal zu schreiben beginnt. Nicht zuletzt scheint dieser erneute Versuch der schriftstellerischen Tätigkeit aus dem Gemüsebeet zu entwachsen, ist doch die Rede hier nicht von Ackerfurchen, sondern von Saatzeilen. Aus diesen Zeilen wird nun am Ende der drei Bände die Inspiration für einen neuen Roman gewonnen, der, so ließe sich vermuten, andere Inhalte aufweisen wird als die eingangs skizzierten sozialistisch-realistischen Themen. So lässt sich zuletzt auch die Frage nach dem Titel des Romans beantworten. ›Wundertäterei‹, und diese Deutung legt Strittmatter einer der vielen Nebenfiguren in den Mund, bedeutet, die vielen kleinen Geschichten zu erzählen, die sich fernab der großen Geschichte ereignen. So äußert sich ein Waldarbeiter gegenüber Stanislaus: »Mir bleibt und bleibt ein Wunder, wie ein Mensch zustande bringt, zu erraten und aufzuschreiben, was andere Menschen denken. Man hat dies und das von der Kunst gehört, und wenn das, was du aufschriebst, Kunst ist, so ist die Kunst ein Wunder.« (WIII 293f.)32 Wundertätig sein, das meint, um im Ruderalbild zu bleiben, den Blick auch auf die Gewächse abseits des Weges zu richten. Es meint allerdings auch eine besondere Praktik: das ›Sich-wundern‹ und in diesem Sinne die Fähigkeit, einen unvoreingenommenen Blick auf die Welt einzunehmen. Diese semantische Verschiebung des Wortes ›Wunder‹ von einem mit Elementen des Zauberns verknüpften Verständnis hin zu einer Vorstellung eines offenen Blicks wird im zweiten Band en passant artikuliert: »Es schien, als sollte ihm gelingen, das große Wundern aus der Kindheit in sein jetziges Leben zurückzuholen.« (WII 327)
32
Auch Stanislaus erkennt gegen Ende des dritten Bandes: »Richtig gut schreiben kam mir immer vor wie zaubern« (WIII 499).
99
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
»Loyalität dem Wirklichen gegenüber und Versessenheit aufs Flirren gehören im Satz zusammen.« Herta Müller: Die Anwendung der dünnen Straßen Mit dem Prosaband Niederungen betritt Anfang der 1990er Jahre eine Autorin die literarische Bühne, die, so kündigte Friedrich Delius in einer der ersten Rezensionen im Spiegel an, »trotz ihres unauffälligen Namens, trotz ihres bescheidenen Buchtitels, trotz ihrer unmodischen Schreibweise nicht übersehen werden« (Delius 1984: 119) könne. In den letzten 20 Jahren wurde dies durch die Fülle an Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Arbeiten zu Müllers Œuvre bestätigt und nicht zuletzt die Verleihung des Nobelpreises für Literatur rückte die Autorin erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit. Im Folgenden sollen die Niederungen hinsichtlich einer Poetik der Ruderalität noch einmal neu betrachtet und mit Müllers poetischem Prinzip »Loyalität dem Wirklichen gegenüber« und »Versessenheit aufs Flirren« (Müller 2013e: 115) zusammenzudenken, verbunden werden.1 An dieser Aussage zeigt sich bereits die ambivalente Schreibweise Müllers, einerseits einem realistischen Anspruch verhaftet zu sein und andererseits ein ›magisches‹ Schreiben und damit auch Wahrnehmen und Denken zu verfolgen. In ihrem Werk wird eine von Müller selbst als ›fremder Blick‹ bezeichnete Sichtweise etabliert, die als ein Deutungsmuster des Wirklichen fungiert, als »Medium und Vehikel einer sprachlichen Überbietung der Realität, die der Phantasie, dem Wunsch und dem Schrecken Platz macht« (Eke 1997: 495). Fantasie, Wunsch und Schrecken werden in den Niederungen, so die Leitthese dieses Kapitels, vor allem durch eine spezifische Beschreibung von Naturphänomenen erzeugt: Das Pendant zu einer in der Fantasie der Protagonistin unkontrolliert wachsenden Pflanzenwelt bilden die sterilen Maisfelder der sozialistischen Planwirtschaft,
1
Die in den Unterkapiteln 4.1 bis 4.4 präsentierten Überlegungen und Ergebnisse wurden in verkürzter Form bereits in folgendem Aufsatz publiziert: Julia Kölling (2018): »›Ich stülpe am Dorfrand die grünen Kelchblätter um, damit sie das Dorf nicht zudecken‹. Herta Müllers Poetik des Verschwindens«, in: Martin Ehrler/Marc Weiland (Hg.), Topografische Leerstellen. Ästhetisierungen verschwindender und verschwundener Dörfer und Landschaften, Bielefeld: Transcript, S. 215-235.
102
Ruderale Texturen
die Müller vor allem in ihren autobiografischen Essays und Reden thematisiert hat; reguliertes Wachstum steht hier neben wildem. Anhand dieser Dichotomie lässt sich nun nicht nur der Inhalt des Prosabands strukturieren, sondern auch Müllers Umgang mit der eigenen Biografie sowie die ihr gesamtes Œuvre prägende Aufarbeitung von Zeitgeschichte in den Blick nehmen. Für den hier verfolgten Ansatz erweisen sich dabei drei Aspekte als relevant. Erstens: Niederungen führt anhand eines kleinen Realitätsausschnitts das Gefühl von gesellschaftlicher wie auch politischer Stagnation in den 1970er und 1980er Jahren in Rumänien vor. Die Euphorie des frühen Sozialismus ist hier dem Gefühl eines in allen Lebensbereichen spürbaren Stillstands gewichen. Die noch bei Strittmatter deutlich zu beobachtenden Strukturierungsprozesse, die im Bild der Austilgung von Ruderalität metaphorisch eingefangen wurden, bilden in den Niederungen zwar noch den historischen Hintergrund, haben jedoch an Dynamik eingebüßt. Die abseitig wachsenden Goldruten Strittmatters werden durch überdimensionierte »Kelchblätter« (N 23) ersetzt, die sich ebenfalls als Ausdruck einer bestimmten historischen Situation deuten lassen. So gründet das Gefühl von kulturellem wie politischem Stillstand für die Ich-Erzählerin zweitens nicht nur in der Abgeschiedenheit des banatschwäbischen Dorfes, sondern ebenso in einer unter der Oberfläche schwelenden unbearbeiteten Vergangenheit: der Beteiligung der Vätergeneration am Zweiten Weltkrieg sowie den daran anschließenden stalinistischen Deportationen. Mit dem Eindruck einer allumfassenden Überwachung durch den repressiven Kontrollapparat Nicolae Ceauşescus (1918-1989) rückt schließlich noch ein dritter Aspekt in den Blick, der nicht zuletzt, dies wird zu zeigen sein, auch Auswirkungen auf die formalen Aspekte des Müller’schen Œuvres hat. Die subjektive Wahrnehmung des schreibenden Ich wird der von staatlicher Seite vorgegebenen Wirklichkeitsperzeption entgegengesetzt und die von den Autoritäten geforderte Struktur in einem Akt der Selbstermächtigung für das eigene Schreiben verfremdet. Die Kapitelaufteilung trägt diesen Zusammenhängen Rechnung. Nach einem einführenden Überblick über die historischen, kulturellen und literarischen Kontexte, die das Erscheinen von Müllers Erstlingswerk begleiten (4.1), rücken die in den Niederungen entworfenen Verfallsszenarien in den Blickpunkt (4.2). Daran anschließend wird eine im Zusammenhang mit einer Poetik der Ruderalität interessante Gedankenfigur in den Blick genommen: Im Bild überdimensionierter Blätter und eines sukzessive in das Dorf eindringenden Himbeerstrauchs wird die unbearbeitete nationalsozialistische Vergangenheit der deutschen Dorfbevölkerung ebenso eingefangen wie die Vorstellung, diese könne – sozusagen unkontrolliert – in die Gegenwart der Protagonistin ›hineinwuchern‹ (4.3). Allerdings entbehrt die ruderale Metaphorik in Müllers Dorfgeschichten jeglicher schöpferischen Kraft und firmiert insofern als Antwort auf die historischen Umstände, unter denen Müllers literarisches Werk entsteht. Diese Umstände gilt es in den Blick zu nehmen. Hier bietet sich ein Blick auf Müllers Essays und Reden an. An diesen wird der Eindruck gesellschaftlicher Konformität und allumfassender Überwachung unter anderem im Bild flächendeckender Maisfelder gefasst. An den Feldern lässt sich daher auch illustrieren, inwiefern bereits in den Niederungen nicht nur der Zweite Weltkrieg, sondern auch die totalitäre Diktatur Ceauşescus aufgegriffen wird (4.4). Zuletzt soll unter Einbezug des Collagenwerks das Augenmerk auf Müllers fragmentierte Erzählweise wie auch auf ihren poetischen Umgang mit dem Detail gerich-
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
tet werden. In den Collagen artikulieren sich die Erfahrungen von Überwachung und Repression auch formal. An ihnen lässt sich daher zeigen, inwiefern sich Müllers ›poetische Erinnerungstexturen‹2 immer wieder dem Versuch einer adäquaten Abbildung von Wirklichkeit widmen und sich zugleich als »memory from the margins« (Bauer/et al. 2020: 5) in die Meistererzählungen deutscher wie rumänischer Erinnerungskulturen einschreiben (4.5). Die nachgeholte Moderne des rumänischen Literaturbetriebs, die hier im Rückgriff auf Verfahren der klassischen Moderne deutlich wird, lässt sich schließlich noch einmal mit dem Prinzip der Ruderalität zusammenführen: Ruderalität und Epigonalität erweisen sich hier als deckungsgleich. Eine Analyse von Müllers literarischem Werk sieht sich mit zwei Problemfeldern konfrontiert: Erstens kann der Sinnhorizont der poetischen Sprache kaum mit wissenschaftlichen Begriffen gefasst werden, weshalb in der Sekundärliteratur oftmals auf Müllers eigenes Vokabular zurückgegriffen wird – Müller wird folglich mit Müller analysiert. Damit ist ein zweiter Punkt verknüpft: In Müllers Œuvre lassen sich zwar verschiedene Gattungen identifizieren, doch greift sie sowohl in ihren literarischen Texten wie auch in ihren Essays, Interviews und Reden auf eigene Erinnerungen zurück und schafft so fließende Übergänge zwischen den einzelnen Werken. Da auch ihre ›faktualen‹ Texte eine poetische Sprache aufweisen, sieht sich der Rezipient mit einer netzartigen Werkstruktur konfrontiert. Unter anderem hat Gudrun Lörincz darauf hingewiesen, dass Müllers Prosaarbeiten in ihren Essays nicht nur auf einer Metaebene erläutert, sondern auch weitergeführt werden und es sich in beiden Fällen um »hybride, zwischen Fakten und Fiktion verortete Textsorten« (Lörincz 2016: 13) handelt. Die enge Verbindung zwischen Fakt und Fiktion fordert den Blick auf die Biografie der Autorin einerseits geradezu heraus, andererseits besteht dadurch auch die Gefahr, durch eine autorzentrierte Lesart die textimmanenten Strukturen in den Hintergrund treten zu lassen. Diesem Zusammenspiel von Wahrheit und Erfindung kann mit dem epistemologischen Modell der Autofiktionalität Rechnung getragen werden. Der 1997 von dem französischen Schriftsteller und Literaturkritiker Serge Doubrovsky in Rückbezug auf die Überlegungen Philipp Lejeunes zur Autobiografie geprägte Begriff erlaubt es, mit dem Anspruch auf Authentizität versehene Selbst-Abbildungen als fiktionale SelbstEntwürfe zu verstehen (vgl. Eke 2017a: 3). Der Begriff ermöglicht aus einer literaturwissenschaftlicher Perspektive die Beschreibung der kreativen Überarbeitung der eigenen Erfahrungen und der Fiktionalisierung einzelner Teile des eigenen Lebens.3 Autofiktionalität als »eine grenzüberschreitende Praxis, die biographisches Material durch das Einschreiben in einen literarischen Diskurs fiktionalisiert« (Mahrdt/Lægreid 2013a: 9), 2
3
Diese Bezeichnung stammt aus Norbert Otto Ekes Einführungsvortrag zu der am 21./22.09.2017 an der UCL London stattfindenden Konferenz Herta Müller and the Currents of European History. Er ist der Beobachtung geschuldet, dass moderne Autobiografien das erzählte Subjekt kaum noch in kohärenter und in sich geschlossener Weise erzählen. Vielmehr handelt es sich bei den zuletzt erschienenen autobiografischen Werken um Texte, die Fragmente und Einzelteile, Fluchtlinien und Risse beschreiben und diese poetisieren und fiktionalisieren. Dabei ist natürlich diskutabel, inwiefern Autofiktionalität als gegensätzliche Strömung zur Autobiografie gefasst werden kann: Jedes fiktionale Werk kann autobiografisch geprägt sein, umgekehrt ist aber auch ein autobiografischer Text immer schon in gewisser Weise fiktional.
103
104
Ruderale Texturen
fungiert für Müller als ein Kunstgriff, der es ihr ermöglicht, eigene Erfahrungen mit erfundenen Bildern und (ästhetischen) Reflexionen zu verbinden und zu deuten.4 Müller selbst hat immer wieder auf den Konstruktionscharakter von Erinnerung als Deutungsversuch der Vergangenheit hingewiesen und zugleich herausgestellt, inwiefern der Schreibprozess auch als eine Distanzierung vom eigenen Ich zu verstehen ist: »So kommt es, daß selbst Autobiographisches, Eigenes im engsten Sinne des Wortes, nur noch vermittelt, nur noch im weitesten Sinne des Wortes mit meiner Autobiographie zu tun hat. Schon aus dem einfachen Grund, daß ich selber nur noch vermittelt mit mir zu tun habe, wenn ich über mich schreibe« (Müller 1991b: 43), konstatiert sie in Der Teufel sitzt im Spiegel. In diesem Sinne sind ihre Texte nicht als Spiegelung der Wirklichkeit zu verstehen, sondern dienen in hohem Maße einer Reflexion auf diese.5 Der Anspruch, ›Loyalität dem Wirklichen gegenüber‹ mit einer ›Versessenheit aufs Flirren‹ zu verbinden, kann somit auch als ein poetologisches Prinzip Müllers verstanden werden. Im Zuge einer autorzentrierten Lektüre ihres Œuvres wird in der Sekundärliteratur überdies oftmals mit einem spezifischen Begriff operiert. Als eine Reaktion auf die repressiven Lebensverhältnisse unter dem Regime Ceauşescus wie auch auf die nationalsozialistische Vergangenheit der Elterngeneration und die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg stattfindenden Deportationen wird Müllers Erstlingswerk immer wieder im »Zeichen des Traumas« (Köhnen 2016) gedeutet. Besonders im angelsächsischen Raum wird der Traumabegriff in der Forschung beinahe ubiquitär verwendet.6 Mül4
5
6
Müller selbst beschreibt ihre poetische Praxis in Anlehnung an den Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt mit dem Begriff der ›Autofiktionalität‹ (vgl. Müller 2009I: 21), um so die Beziehung zwischen Leben und Literatur zu erfassen, die in ihren Essays und literarischen Werken immer wieder hergestellt wird. Eke (2017a: 2, Herv. J.K.) schreibt: »Auch die von Müller immer wieder aufs Neue entfaltete Kindheitsgeschichte eines Lebens im abgeschotteten Raum des banatschwäbischen Dorfes ist das Ergebnis einer sorgfältigen literarischen Formung der Erinnerung, deren Konstruktionscharakter dort deutlich wird, wo ihr Varianten ›unterlaufen‹, die im Kern dieselbe Aussage transportieren.« Spätestens seit der Veröffentlichung ihres Romans Atemschaukel (2009), in dem Müller mit der Deportation und Zwangsarbeit der rumäniendeutschen Minderheit im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg ein in Rumänien jahrzehntelang tabuisiertes Thema aufgriff, rückte die Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen in und durch Müllers literarische Texte in den Fokus der Aufmerksamkeit. In den letzten Jahren haben v.a. Eddy (2000), Haines (2002), Haines/Marven (2013a), Marven (2005, 2006) sowie Köhnen (2006, 2016) Müllers literarisches Werk mit aktuellen Traumatheorien verbunden. Eddy (2000) zeigt, dass in Herztier (1994) sowohl ein Bild der eingeschränkten und individuellen Zeugenschaft eines einzelnen Individuums entworfen wird als auch Traumanarrative nachgezeichnet werden, die in einem weiteren historischen und nationalen Kontext zu verorten sind. Die Entwicklung von der individuellen Zeugenschaft hin zu weiter gefassten Konzepten werde durch bestimmte Schreibstrategien, so bspw. die Wahl des Pronomens und des Tempus wie auch durch konkrete Bilder markiert. Haines (2002) widmet sich Müllers Roman Reisende auf einem Bein (1989) und zeigt, dass die Darstellung von postmoderner Subjektivität hier in der Erfahrungswelt der traumatisierten Protagonistin wurzelt. Der Stil des Romans wie auch die Darstellung der Psyche Irenes können auf die kollektiven Traumata Rumäniens rückbezogen werden. Marven (2005: 396ff.) beschreibt die parallele Entwicklung verschiedener künstlerischer Produktionsweisen in Müllers Werk und nimmt v.a. die ästhetische(n) Strategie(n) der Collagen in den Blick. Diese können als künstlerische Repräsentation der Effekte einer Traumatisierung gelesen werden. Marven argumentiert, Müllers Prosa befasse sich mit dem Inhalt, die Collagen mit der Form von
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
ler, so argumentiert beispielsweise Friederike Reents in dem 2017 erschienenen Herta Müller-Handbuch, setze »den schlimmen Ereignissen eine eigene Sprache entgegen, die wirkungsästhetisch die traumainduzierten mentalen Zustände abbildet bzw. diese verdrängt« (Reents 2017: 229). Eine Analyse des Müller’schen Œuvres kommt daher kaum umhin, sich mit diesem Deutungsmuster auseinanderzusetzen. ›Trauma‹, so die hier vorgeschlagene Lesart, lässt sich als ein Topos verstehen, der auf der Rezeptionsebene Authentizität generiert. Eine solche Lesart erscheint dann plausibel, wenn überwiegend ein Bild von den Texten Müllers vermittelt wird, das vor allem auf die Darstellung der Diktatur und ihre Bedeutung im Alltag der Individuen abzielt. Die Texte werden so als Möglichkeit einer Zeugenschaft lesbar, die – unter den aus der Psychologie abgeleiteten Prämissen der Traumaliteratur – auf die narrative Manifestation eines ›Unsagbaren‹ abzielt. Der traumatologische Ansatz bildet demnach einen wichtigen Zugang zu Müllers Werk, gibt jedoch zugleich eine zu spezifische, da autorzentrierte, Lesart der Texte vor. Die realhistorische wie auch subjektive Wirklichkeitserfahrung, so lässt sich allgemein feststellen, wird für Müller zwar zum Ausgangspunkt ihrer literarischen Arbeit, doch bilden die Texte Ordnungen eigenen Rechts aus und dekonstruieren auf diese Weise nicht zuletzt auch potentiell traumatisierende Einflüsse.7
4.1.
Eine »Kiste in der Landschaft«: Müllers Arbeiten im historischen, kulturellen und literarischen Kontext
Müllers Prosaband Niederungen (1982/84), in dem die titelgebende Erzählung an zentraler Stelle enthalten ist, besteht aus 19 Einzelerzählungen unterschiedlicher Länge. Mit kaleidoskopischem Blick berichten diese in knapper, lakonischer Sprache größtenteils von den Erinnerungen an eine Kindheit in einem schwäbischen Dorf im Banat. Zum Zeitpunkt ihrer Erscheinung erschlossen die Erzählungen der Niederungen einen, so bemerkte Delius 1984 im Spiegel, »weißgrauen Fleck auf der Landkarte« (Delius 1984: 119) und damit eine Welt, die den wenigsten Deutschen bekannt oder gar vertraut war und deren Rezeption daher auch oft im Zeichen des Exotismus stand. Norbert Otto
7
Traumata, d.h. die Romane beschreiben traumatische Ereignisse und den Prozess der Traumatisierung, die Collagen hingegen kodifizieren die Effekte von Traumatisierung, die Strukturen der Fragmentierung und Zersplitterung des Ich. Zu einem aktuellen Überblick über den Traumadiskurs in Müllers Werk siehe Reents (2017). Köhnen (2016) hebt ebenfalls hervor, dass von einem persönlichen Trauma im strikten Sinne bei Müller nur unter Vorbehalt gesprochen werden könne. Der Begriff sei daher zu präzisieren. Er rückt daher weniger die Autorin als Person als vielmehr ein ›Erfahrungsmodell Trauma‹ in den Blick, das mit spezifischen sprachlichen Merkmalen einhergehe. Rossi (2016) schlägt einen weiterführenden Interpretationsansatz der Collagen Müllers vor, der insofern von den etablierten Lesarten abweicht, als er die Strukturiertheit der Collagen nicht als traumatextuelle Referenz versteht, sondern sie unter den Prämissen eines literarisierten Tabus liest, in dessen Mittelpunkt ein um einen sprachlichen Ausdruck ringendes Subjekt steht, dessen Konstitution fortwährend problematisiert wird. Die Collagen wenden sich gegen totalitäre Machtstrukturen und dekonstruieren somit auf subversive Weise potentiell traumatisierende Einflüsse. Müllers Collagenarbeit repräsentiert insofern auch einen mentalen Prozess, der dem autonomen Subjekt Selbstkontrolle und -erhalt garantiert.
105
106
Ruderale Texturen
Eke verweist in seinem Aufsatz Herta Müllers Werke im Spiegel der Kritik daher auch darauf, dass die Rezeption der Niederungen »von zwei miteinander korrespondierenden Impulsen getragen wurde: dem Reiz des Exotischen […] und der Faszination einer poetischen Sprachgebung« (Eke 1991b: 117).8 Von exotisch-idyllischer Verklärung ist Müllers Dorfprosa jedoch weit entfernt. Sie verfasst mit den Niederungen keine »wehmütige Heimatpastorale« (Herbert 1984: 132), sondern zeichnet, das hat unter anderem auch das Nobelpreiskomitee hervorgehoben, ›Landschaften der Heimatlosigkeit‹9 . Die Texte, so hält beispielsweise Julia Müller fest, »zeigen eine enge, von Sprachlosigkeit, moralischer Verkommenheit und Gewalt bestimmte Dorfwelt, in der die unbewältigten historischen Erfahrungen als Täter im Zweiten Weltkrieg und als Opfer von Deportation und Vergeltung unter der brüchigen Oberfläche schwelen« (Müller 2017a: 14). Zugleich würden »mit dünkelhaftem Stolz deutsches Brauchtum und vermeintlich deutsche Tugenden gepflegt« (ebd.). Die titelgebende Erzählung, die in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt steht, schildert einen abgeschiedenen und erstarrten Mikrokosmos kurz vor seinem Verschwinden und rückt ein Untergangsszenario in den Blick, dessen Ursache in einem ›Faulen von innen heraus‹ begründet liegt. Martin Walsers Satz »Nichts kann deutlicher sein als ein Dorf, das es nicht mehr gibt« (Walser 1999: 121), lässt sich mit Müller modifizieren: Nichts kann deutlicher sein als ein Dorf, das es gerade noch gibt. Dieses Gerade noch ist für das Erzählen von großer Bedeutung. Analytisch genau werden die imaginierten Untergangsszenarien der Dorfwelt mit gesellschaftlicher Stagnation und Semantiken der Peripherie in Verbindung gesetzt. Dabei entwirft die Erzählung einen Schwellenraum, in dem die Erfahrungen eines Lebens unter repressiven Gesellschaftsstrukturen ausgestellt werden und jede Reminiszenz an eine harmonische Gemeinschaft im Erzählen vernichtet wird.10 Der Titel ›Niederungen‹ verweist in diesem Sinne metaphorisch auf die menschlichen ›Niederungen‹ der Engstirnigkeit, Spießigkeit und des Nationalismus (vgl. Nubert 2011: 100). Das Wort fungiert zudem als Ortsmetonymie und hat eine historisch-geografische Bedeutung: die sumpfige Landschaft des Banats und die mit der Urbarmachung dieser Region verknüpfte Geschichte der Banater Schwaben. Ihr subversives Potential entfaltet Müllers Darstellung des dörflichen Raums daher besonders auch vor dem Hintergrund der banatschwäbischen Dorfliteratur. Ein Blick auf diese literarische Traditionslinie macht deutlich, inwiefern Müller in den Niederungen mit vertrauten Bilder operiert, um diese radikal zu verfremden und auf diese Weise einen bestimmten ästhetischen Effekt zu erzeugen.
8
9 10
Die Wertschätzung, die Müller in der BRD erfuhr, gründete v.a. in ihrem in verschiedenen Rezensionen hervorgehobenen hohen Sprachniveau, welches in Zusammenhang mit einer durch die Sprachinselsituation geschärften Sensibilität für Sprache gebracht wurde, sowie einem faszinierten und faszinierenden Blick auf das ›Fremde‹ (vgl. Kegelmann 1995: 60ff.). http://www.spiegel.de/kultur/literatur/herta-mueller-nobelpreis-fuer-das-drama-ihres-lebens-a653998.html. Das Dorf bzw. die Provinz, so bemerkt Eke (1997: 492), erweise sich hier weniger als ein geografischer Raum, sondern markiere vielmehr »ein mentales Muster innerhalb der Stadt und Land umspannenden Topographie des Terrors«.
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
Niederungen wurde 1982 erstmals in dem deutschsprachigen Verlag Kriterion in Bukarest veröffentlicht. Da die rumänische Zensur erhebliche Eingriffe vornahm, erschienen die Erzählungen zuerst – mit Müller gesprochen – »stilistisch entstellt und inhaltlich verkrüppelt« (Müller 2016I: 41). Der Erzählband gab von Anfang an Anlass zur Diskussion und auch die Aggressionen, die die Erzählungen bei der einheimischen Bevölkerung auslösten, waren vor allem zu einem frühen Zeitpunkt der Publikations- und Rezeptionsgeschichte spürbar. Besonders die 1981 vorab in der Neuen Banater Zeitung veröffentlichte Erzählung Das schwäbische Bad brachte Müller »in den Blättern der deutschen Minderheit wüste Beschimpfungen im Vokabular des gesunden Volksempfindens ein« (Apel 2010: o.S.). Der Text löste Ablehnung und Verleumdungen bei der banatschwäbischen Leserschaft aus.11 Durch diese vor allem politisch motivierten Diskussionen wurde Herta Müller − wie auch Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard, der auch als eines ihrer literarischen Vorbilder gelten darf − zunächst als Verfasserin sogenannter ›Anti-Heimatliteratur‹12 wahrgenommen. Zugleich lassen sich an ihnen bereits jene beiden Wahrnehmungsweisen von Modernisierung ablesen, die die Rezeption des Niederungen-Bandes kontinuierlich begleiten und die auch konstitutiv für seinen Entstehungsprozess sind. Zwischen dem Wunsch nach der Konservierung des dörflichen Lebens in idyllischer Landleben-Literatur und dem diesen seit der klassischen Moderne entgegengesetzten, Moderne und Modernisierung emphatisch fassenden Anspruch, überkommene Traditionen zu revidieren, spannt sich ein Diskursfeld auf, in dessen Fluchtlinien Müllers Dorfprosa zu verorten ist. Um diesen Sachverhalt deutlicher bestimmen zu können, werden im Folgenden zunächst die weiteren wichtigen Eckpunkte der Publikationsgeschichte skizziert, um anschließend sowohl die Einflüsse der konservierenden Tradition, wie sie etwa in den Schriften des Banater Autors Adam
11
12
Schuller hat 1984 darauf aufmerksam gemacht, dass Literatur in der Banater Region und von den dort Einheimischen seit den 1960er Jahren nicht mehr so wichtig genommen wurde, wie Müllers Texte aus dem schwäbischen Dorfmilieu (vgl. Müller/Schuller 1984: 123). Müller selbst hält fest: »Wer mich verleumdete, bewies seine Heimatliebe. Die Landsmannschaft hat ihre Brauchtumspflege erweitert durch meine Verleumdung.« (Müller 2013b: 66) Vorgeworfen wurde Müller u.a. ›Fäkaliensprache‹ und ›Urinprosa‹; sie wurde als ›Parteihure‹ und ›Nestbeschmutzerin‹ bezeichnet (vgl. ebd.: 65). Zum Literaturskandal um Müller siehe außerdem Kegelmann (1995: 45-51, 59-62). Zur Gattung der Anti-Heimatliteratur siehe bspw. Rabenstein-Michel (2008) sowie Juliane Vogels Aufsatz Apfelgarten und Geschichtslandschaft (2014). Die literarische Reaktion auf zwei fragwürdige österreichische Nachkriegsstrategien – die Tabusierung der störenden Vergangenheit und die undistanzierte Übernahme eines überholten und missbrauchen Heimatkonzepts – führte in Österreich zur Ausbildung dieser eigenständigen Gattung, wie sie v.a. in den Werken von Thomas Bernhard, Josef Winkler oder Elfriede Jelinek ihre Ausprägung gefunden hat. Eine strukturell ähnliche Entwicklung lässt sich auch für den Autorenkreis um die sog. ›Aktionsgruppe Banat‹ konstatieren, mit der Müller in Verbindung stand. Hier wie dort entstand diese Art von Literatur als Reaktion auf die Tabuisierung und Ausblendung der Vergangenheit und macht es sich zur Aufgabe, diese in der Kunst wieder aufleben zu lassen. Im Prozess der provokativen Wiederherstellung von Erinnerung wird der Heimatbegriff kritisch hinterfragt und dessen fragwürdige Neuinszenierung nach dem Zweiten Weltkrieg abgelehnt. Müller schreibt in Cristina und ihre Attrappe: »Seit ihrer Gründung 1950 hat sie [die Landsmannschaft, Anm. J.K.] sich eine Kopfheimat aus Blasmusik, Trachtenfesten, schmucken Bauernhäusern und geschnitzten Holztoren geschaffen. Die Diktaturen Hitlers und Ceauşescus wurden immer ausgeblendet« (Müller 2013b: 69).
107
108
Ruderale Texturen
Müller-Guttenbrunn ihren Ausdruck findet, als auch die für Herta Müller prägenden Schreibweisen der Avantgarden in den Blick zu nehmen. 1984 erschien der Niederungen-Band in Deutschland im Westberliner Rotbuch Verlag, auch hier mit Eingriffen, die so von Müller selbst nicht vorgesehen waren. Es wurden vier Erzählungen herausgenommen, die Texte selbst gekürzt und die Reihenfolge verändert. Die Rotbuch-Ausgabe war »durch die Hände einer Lektorin gegangen, die durch ihr Lektorat die Exotik des banatdeutschen Handlungsraumes unterstrich«, beobachtet Julia Müller (2017a: 15). Die Ausgabe fokussierte das Thema des Dorfes und, darauf hat Lörincz (2016: 17) hingewiesen, veränderte dementsprechend sowohl die Auswahl der Erzählungen als auch das Buch-Cover: Sie ersetzte das auf der Erstausgabe gezeigte Bild eines Froschs durch ein Schwarz-Weiß-Bild von einem Haus in Nitzkydorf. Die sozialgeschichtlich-realitätsbasierte Rezeption Müllers in den 1990er Jahren sowie die Lesart ihrer Texte als Anti-Heimatliteratur sind unter anderem dieser Publikationsentscheidung geschuldet.13 Bei der 2010 im Hanser Verlag erschienen Fassung handelt es sich um eine dritte Fassung, die zwar die gestrichenen Kapitel der vorhergehenden Ausgaben wieder einfügte, gleichzeitig aber nicht alle Kürzungen wiederherstellte. Damit bleiben die Niederungen in gewisser Weise fragmentarisch und bilden in ihren Veröffentlichungsstadien die verschiedenen Eingriffe ab. Sie sind dadurch von besonderem literaturwissenschaftlichem und kulturwissenschaftlichem Interesse: An ihnen lassen sich die historischen Bedingungen des diktatorischen Regimes sowie der individuelle Umgang eines Subjekts damit aufzeigen – und nicht zuletzt die damit verbundenen gesellschaftlichen Wirkungen und Reaktionen. Die am Beispiel der Niederungen deutlich werdenden Umschreibungen und Verschiebungen weisen außerdem auf ein Strukturmerkmal des Müllerʼschen Œuvres hin. Müllers Texte sind nicht nur aufgrund der Zensurbedingungen einem steten Wandeln unterworfen. Die wiederkehrenden Motive, Passagen und Formulierungen verknüpfen die Texte unterschiedlichster Gattungsart intra- wie intertextuell und zeigen immer auch ein Ringen mit und um Sprache. Ein literaturwissenschaftliches Interesse an den Niederungen kann folglich zwei Themenbereiche erhellen: Zum einen spiegeln sich in der Publikationsgeschichte des Erzählbands die realgeschichtlichen Eingriffe der rumänischen Zensur wie auch die unterschiedlichen Aufnahmebedingungen und Rezeptionshaltungen wider. Zum anderen – und dieser Aspekt steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen – bilden die spezifischen Erfahrungen des Totalitarismus und das Leben in einer Diktatur eine Schreibweise aus, in der sowohl die eigene subjektive Wahrnehmung als auch die Idee einer allgemeingültigen Ästhetik – Bauer et al. (2020: 6) sprechen in diesem Kontext von »anti-totalitarian aesthetics« – in den Mittelpunkt rücken. Müllers Texte wie auch ihre Collagen erproben hier Schreibweisen, die verschiedene, mit den besonderen historischen Rahmenbedingungen verknüpfte Einflüsse und Erfahrungen in sich aufnehmen und sowohl in ihrer Form als auch in ihrem Inhalt an diese zurückgebunden werden.
13
Für die Westberliner-Ausgabe von 1984 wurden v.a. die politischeren Texte (u.a. Die Meinung, Herr Wultschmann) gestrichen sowie die Erzählung Niederungen um mehrere Seiten gekürzt. Die gekürzten Stellen wurden inzwischen z.T. als Paralipomena bereitgestellt.
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
Dorfgeschichten Der Ort, an dem Müller eine Vielzahl ihrer Texte ansiedelt, das Dorf, rückt, so beobachtet unter anderem Eke (1991a: 15), weniger als »authentischer Ort im Sinne einer mit dem Dokumentarischen verwechselten Widerspiegelungsästhetik«14 in den Blick, vielmehr handelt es sich hier um Kunstwelten, die im Fall Müllers eine zweifache Dekonstruktion vollziehen: Die Dekonstruktion »des Mythos vom Dorf und der von ihm zehrenden Dorfgeschichte« (ebd.: 16). Eke hat Müllers Erzählungen in Anlehnung an eine Aussage Peter Motzans daher auch als »Kontrafaktur der banat-schwäbischen und siebenbürgisch-sächsischen Dorfgeschichte« (ebd.: 17)15 bezeichnet. Ein kurzer Blick auf die Funktionen des regionalen Erzählens im Kontext der banatschwäbischen Literaturtradition lohnt an dieser Stelle, denn die ›provinzielle Literatur‹ des deutschsprachigen Banats16 bildet den kontrastiven Hintergrund, vor dem Müllers Dorfgeschichten noch einmal an Kontur gewinnen. Die deutschsprachige literarische Produktion der Banater Schwaben blickt auf eine recht kurze Geschichte zurück. Sie setzte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein, als, wie unter anderem Olivia Spiridon herausgearbeitet hat, »identitätsstiftende literarische Texte als Teil eines politischen und kulturpolitischen Projekts entstanden, die das Deutschtum dieser Kolonistengesellschaften thematisierten« (Spiridon 2014: 69). Die Dorferzählungen partizipierten dabei an einer Kulturpolitik, die eine Verbindung zwischen dem Deutschen Reich und den Donauschwaben herzustellen suchte und der Gemeinschaftsbildung in den deutschsprachigen Dörfern diente. Ab circa 1890 und bis in die 1920er Jahre bemühten sich schwäbische intellektuelle Eliten um die Herausbildung einer ›banatdeutschen Identität‹, wie sich anhand populärwissenschaftlicher Texte in Kalendern, Zeitungen und Zeitschriften nachweisen lässt. Durch diese Gründungserzählungen17 vergewisserten sich die Banater Schwaben ihrer Identität, legitimierten diese und stabilisierten sie. Der bekannteste Vertreter der Banater Regionalliteratur, der Schriftsteller und Publizist Adam Müller-Guttenbrunn (1852-1923), der in Wien einem Kreis politisch-engagierter Donauschwaben angehörte, griff dieses Projekt ab 1908 auf. Seine historischfiktionalen Romane lassen sich als Herkunftsnarrative begreifen, die Panoramabilder der deutschen Siedler entwerfen und die Urbarmachung des zuvor öden Landes durch die eingewanderten ›Schwaben‹18 zeigen. Diese verbreitete er unter anderem auch in 14 15 16 17
18
Müller erklärt selbst: »Das Dorf gibt es nur in den Niederungen« (Müller 1991a: 17). Eke bezieht sich hier auf Motzan (1983: 68). Zur Geschichte des Banats siehe beispielsweise Hausleitner (2014) sowie Höhne (2017). Zur Logik kultureller Gründungserzählungen siehe Koschorke (2007, 2012). Mit dem Erzählen von Anfängen ist immer auch »eine Entscheidung darüber verbunden, was unter den jeweiligen kulturellen Vorzeichen nicht oder nur mit einer immensen (und selten kollektivierbaren) Anstrengung gedacht werden kann« (Koschorke 2007: 11, Herv. i.O.). Zugleich dienen Ursprungsmythen auch dazu, »Vergangenheitsbezüge, alte Verwandtschaften und Nachbarschaften zu tilgen und Grenzen um den kulturellen Erzählraum aufzurichten« (ebd., Herv. i.O.). Ihre suggestive Kraft besteht insofern auch darin, dass man zur Stabilisierung einer eigenen kollektiven Identität immer wieder auf sie Bezug nehmen könne: »Sie geben dem kollektiven Imaginären eine Fassung und unterlegen ihm ein nachträgliches Fundament« (ebd.: 12). Das ehemalige Siedlungsgebiet der Habsburger Krone – das Temescher Banat – wurde in drei großen Migrationsbewegungen, auch als ›Schwabenzüge‹ bekannt, besiedelt. Die erste Migrationswelle (1722-1726) diente v.a. als Peuplierungsmaßnahme der Gebietsstreifen, die als Militär-
109
110
Ruderale Texturen
den von Bauern gelesenen Kalendern, so beispielsweise in dem von ihm unter dem Pseudonym Vetter Michel herausgegebenen Kalender Der schwäbische Hausfreund (1912-1923)19 . Der Kalender beinhaltete eigene Romanausschnitte Müller-Guttenbrunns und vermittelte das Bewusstsein von deutscher Herkunft und deutscher Kultur, von Zivilisation und Arbeitsethos, wie auch folgender Ausschnitt aus dem Banater Schwabenlied Müller-Guttenbrunns exemplarisch zeigt: »Von deutscher Erde sind wir abgeglitten / auf diese Insel weit im Völkermeer. / Dort wo des Schwaben Pflug das Land durchschnitten, / ward deutsch die Erde und er weicht nicht mehr. […] Aus einer Wüste ward ein blühend Eden, / aus Sümpfen hob sich eine neue Welt. / Von diesem Land lasst deutsch und treu uns reden, / verachten den, der’s nicht in Ehren hält.« (Valentin 1959: 114) Müller-Guttenbrunns Intentionen waren durchaus pädagogisch: Die Texte boten den schwäbischen Gemeinden, die Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem von Entnationalisierungstendenzen durch die Magyaren bedroht waren, identitätsstiftende Elemente an (vgl. Marişescu 2010: 72)20 und schlossen, vielleicht noch wichtiger, unerwünschtes Handeln aus. So wurde eine Einheit nach innen und eine Abgrenzung nach außen
19
20
grenze und Schutzgürtel gegen das Osmanische Reich fungierten. Unter vielen deutschsprachigen Siedlern fanden sich auch zahlreiche Ungarn, Serben, Rumänen und Bulgaren. Die zweite Welle (1763-1772) entsprang dem ökonomischen Interesse der Habsburger Krone: Die durch den Siebenjährigen Krieg stark belastete Staatskasse sollte durch ertragreiche Steuergelder von Neusiedlern im Banat aufgefüllt werden. Es wurden daher vor allem Kolonisten mit agrarwirtschaftlichen Vorkenntnissen angeworben, die mehrheitlich aus Rheinpfalz, Franken, Württemberg, Hessen und Bayern stammten, was zu der späteren Selbstbezeichnung ›Donauschwaben‹ führte. Die dritte Welle (1782-1786) brachte schließlich noch einmal eine Vielzahl pfälzischer Siedler, darunter auch erstmals Lutheraner, ins Banat, die durch das kaiserliche Toleranzpatent ihr Recht auf uneingeschränkte Religionsausübung geltend machen konnten. Insgesamt belief sich die Gesamtzahl der Neuankömmling im Zuge der großen Migrationswellen auf 100.000 bis 120.000 Einwanderer. Im Laufe von zwei bis drei Generationen glichen sich Lebensstil und Sprechweise der Aussiedler an und aus den verschiedenen deutschen Mundarten entwickelte sich bis ins 19. Jahrhundert hinein ein regionalspezifischer Dialekt, der als ›Schwäbisch‹ bezeichnet wurde (vgl. Hausleitner 2014: 23-25). Müller-Guttenbrunn bediente sich hier wahrscheinlich der literarischen Vorlage Johann Peter Hebels (1760-1826), der v.a. für seine in Mundart verfassten Alemannischen Gedichte sowie für zahlreiche Kalendergeschichten bekannt ist, die von ihm zu einer literarischen Gattung entwickelt wurden. Hebel reformierte den seit vielen Jahrzehnten etablierten baden-durlachischen Landkalender, der ab 1807 unter dem Namen Der Rheinländische Hausfreund (1807-1834) erschien. Er selbst verfasste zahlreiche der dort veröffentlichten Geschichten, die einerseits der Unterhaltung dienten, andererseits auch eine Lehre vermitteln sollten. Müller-Guttenbrunns Rückgriff auf die mit dem Namen Hebel verknüpfte Gattung der Kalendergeschichte verweist insofern auch auf eine ähnliche Wirkungsintention: Wie auch bei Hebel, den Robert Minder (1966: 138) als »Klassiker der Koexistenz« bezeichnet hat, rückt in den Texten Müller-Guttenbrunns das Motiv eines versöhnlichen Gemeinschaftsgefühls in den Vordergrund. Dabei bedienten die von Müller-Guttenbrunn mit ethnologischem Eifer skizzierten und idyllisch verklärten Zustände der südostdeutschen Dörfer sicherlich auch deutschnationale Wunschvorstellungen im Deutschen Reich. Insbesondere die sog. ›Heimatkunstbewegung‹ nahm diese programmatisch auf (vgl. Spiridon 2014: 73).
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
vollzogen, die potentielle Fremdheit im Eigenen markierte und Ausschlusskriterien formulierte. Neben Müller-Guttenbrunns literarischem Werk waren überdies die Gemälde Stefan Jägers (1877-1962), eines ebenfalls aus dem Banat stammenden Malers, von Relevanz für die Konsolidierung des deutschen Gemeinschaftsgefühls in den banatschwäbischen ›Kolonien‹.
Abb. 2: Stefan Jäger: Die Einwanderung der Schwaben
Krier 2012: 6f.
Die »realistisch anmutenden Kolonistenbilder« (Spiridon 2014: 71) Jägers entsprachen dem in den Köpfen verankerten Einwanderungsbild, das »eine Brückenfunktion zwischen dem Deutschen Reich und den im Südosten der Donaumonarchie angesiedelten Deutschen erfüllte« (ebd.). Diese öffentliche Inszenierung eines sich auf deutsche Identität stützenden ›kulturellen Gedächtnisses‹21 lässt sich sowohl vor als auch zwischen den Weltkriegen feststellen. Sie beruht auf Bildern von Einwanderung und Ansiedlung sowie auf Bildern des dörflichen Lebens und auf der Vorstellung einer »zivilisatorischen Leistung der Schwaben im Südosten der Donaumonarchie« (ebd.: 70). Insbesondere die Trockenlegung der Sümpfe steht dabei metaphorisch für die Leistungen der Neuansiedler in den neu erschlossenen Gebieten ein.22 Um neue Ackerflächen für 21
22
Grundlegend sind hier Aleida Assmanns Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis. Assmann definiert das kulturelle Gedächtnis durch Begriffe wie ›Tradition‹, ›Überlieferung‹ oder ›kulturelles Erbe‹, die den Willen zu Verewigung und Tradierung als zentrales kulturelles Projekt betonen. Dabei tritt im Begriff des kulturellen Gedächtnisses auch die Dynamik von Erinnerung und Vergessen in Erscheinung: »Die Bestandssicherung schließt immer auch ihr Gegenteil, die Aufschließung, Verwerfung und Vernichtung mit ein, sowie die schwächeren Formen des Vergessens in Gestalt von Vernachlässigung, Auflösung und Verlust.« (Assmann 2006: 52f.) Das kulturelle Gedächtnis ist transgenerationell, konstituiert sich durch materielle Träger, beruht auf Symbolen und wird bspw. an Monumenten, Jahrestagen oder Riten deutlich (vgl. ebd.: 54). Die Trockenlegung der Sümpfe spielte in der Einwanderungsgeschichte eine große Rolle. So wird bspw. in einem von der Landsmannschaft der Banater Schwaben herausgegebenen Band berichtet, die im Mittelbanat ansässig gewordenen Einwanderer hätten unter ›Sumpffieber‹ gelitten, »die Trockenlegung des Ilantscher und Alibunarer Sumpfes südlich von Temeschburg« (Valentin 1959: 42) sei daher ein »sanitäres und wirtschaftliches Gebot« (ebd.) gewesen. In stolzem, lokal-
111
112
Ruderale Texturen
die Kolonisten zu gewinnen, wurden die Sumpflandschaften des Banater Gebiets durch ein umfangreiches Kanalsystem trockengelegt (vgl. Hausleitner 2014: 24). Das daraus entstandene fruchtbare Heideland wurde an verschiedenen Stellen als Kulturleistung der Kolonisten hervorgehoben, so beispielsweise auch bei Müller-Guttenbrunn, dessen Roman Die Glocken der Heimat (1911) vom »Gären und Kochen in der feuchten Luft«, vom »Werden und Reifen der Saaten und aller Früchte« (Müller-Guttenbrunn 1977: 44) berichtet. Das in diesen literarischen wie künstlerischen Praktiken entworfene positive Selbstbild der Banater Schwaben konstituierte sich insofern durch nachträgliche Gründungserzählungen und Imaginationen dörflichen Lebens. In der traditionellen Heimatliteratur wurden Identifikationsangebote unterbreitet, die unter anderem den Modernisierungsprozessen des 19. und 20. Jahrhunderts eine Form der Konservierung entgegensetzten, die ihren Ausdruck in idyllischen Darstellungen fand.
Abb. 3 : Stefan Jäger: Banater Sumpfland zur Ansiedlungszeit
Krier 2012: 14
Herta Müllers Texte sind vor diesem Hintergrund zu lesen. Sie besitzen vor allem in Müller-Guttenbrunns Darstellungen des dörflichen Lebens eines ihrer Referenznarrative und führen vor, wie das aus dem 19. Jahrhundert übernommene Dorfsujet mit modernistischen Schreibverfahren angereichert und verfremdet wird. Während MüllerGuttenbrunn seine Texte als identitätsstiftende Herkunftsnarrative entwirft, die Panoramabilder deutscher Siedler zeigen, verwendet Müller eben jene Topoi von Heimat und Kolonisation, um von ihnen ausgehend Gegendarstellungen zu skizzieren, die das patriotischem Ton heißt es weiter: »Die Siedler hatten im Banat Ackerland übernommen, das seit Jahrhunderten vernachlässigt und verwildert, mit Gestrüpp überwuchert oder erst kürzlich ausgetrocknetes, ehemaliges – vielleicht Jahrtausende altes – Sumpfland war.« (Ebd.: 43) Der in Temeswar geborene Schriftsteller Dorian Catalin Florescu legt in seinem Roman Jacob beschließt zu lieben (2011) einem seiner Protagonisten die Worte in den Mund: »[O]hne uns wäre dieses Land nicht das, was es ist. Wir haben hier Sümpfe und Morast vorgefunden, ein unwirtliches, menschenleeres Land« (Florescu 2012: 166).
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
Selbstbild der Banater Schwaben in Frage stellen und traditionelle Identitätsentwürfe demontieren.23 Sie zerlegt die Idealbilder der Heimatromane und verabschiedet so den Gründungsmythos der Banater Schwaben von der Urbarmachung des öden Landes und der Trockenlegung der Sümpfe.24 Müllers Prosa steht hier für ein Schreiben ein, das den in der Heimatliteratur ausgeprägten Konservierungstendenzen ein emphatisches Modernisierungskonzept entgegensetzt, welches sich an den Praktiken der Idyllisierung abarbeitet. Gefiltert durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs prangern ihre Texte die idyllischen Darstellungen von Brauchtum und Konservierung des Eigenen als geistige Enge und Fremdenfeindlichkeit an und zeigen brüchige Stellen im Identitätsgefüge der Banater Schwaben auf. Besonders in ihren essayistischen Texten verweist sie auf die Problematik einer ›kulturellen Stagnation‹. In einem Interview führt sie aus: »[F]ür mich ist der Gedanke unheimlich, daß Menschen vor dreihundert Jahren mit einem Repertoire in eine Gegend kamen, und dieses Repertoire nichts verloren und nichts dazugekriegt hat. Ein Leben in einer Konserve.« (Eddy 1999: 335) Müllers in der Tradition der Anti-Heimatliteratur stehende Erzählungen negieren in dieser Hinsicht jede Verwandtschaft mit folkloristischer oder auf Harmonie zielender Dorfprosa. Das von ihr entworfene Dorfbild ist daher nicht (nur) Kritik realer Zustände, sondern auch »Demontage der durch verschiedene Medien wandernden Topoi, die das Selbstbild der Banater Schwaben geprägt hatten« (Spiridon 2014: 72).25
Epigonale Moderne Die anti-idyllische Darstellung des Dorflebens ist bereits Gegenstand verschiedener Studien26 , weshalb das Augenmerk an dieser Stelle auf einen anderen relevanten Aspekt gelenkt werden soll: Müllers Bruch mit der donauschwäbischen Literaturtradition vollzieht sich sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene. Ihre Texte verfremden das dörfliche Sujet und orientieren sich dabei auch an modernistischen Schreibweisen, mit denen Müller über verschiedene Autoren in Berührung kam. Den der Tradition des 19. Jahrhunderts verhafteten Schreibstilen standen im 20. Jahrhundert auch in Rumänien avantgardistische Bewegungen entgegen, die ihren Ausdruck beispielsweise in den Werken Tristan Tzaras, Eugène Ionescos oder Benjamine Fondanes fanden. Herta Müller kennt die Werke dieser aus Rumänien stammenden Autoren, wie auch das des in Czernowitz geborenen Paul Celan, den sie »zum politischen wie ästhetischen Fixpunkt 23
24
25
26
U.a. haben Spiridon (2014) und Marişescu (2010) diesen Zusammenhang herausgearbeitet. Marişescu zeigt, dass sich die intertextuellen Bezüge v.a. in der Darstellung des Raums konkretisieren. In der 1982 in Bukarest erschienenen Ausgabe der Niederungen nimmt Müller darauf Bezug: »Irgendwann war das Land voller Sumpf, voller Wald, voller Gestrüpp gewesen. Dann haben sie [d.h. die deutschen Kolonisten, Anm. Spiridon] die Bäume gefällt und von irgendwo ein Dorf hergebracht, und das Land festgetreten mit ihren Wagen« (zit. n. Spiridon 2014: 72). Zu diesen gehören auch Traditionslinien der rumänischen Literatur, die in ihrer Darstellung des ländlichen Lebens der deutschen Heimatliteratur ähnelt. Alex Drace-Francis beschreibt diesen Zusammenhang folgendermaßen: »Romanian literature has a tradition of somewhat saccharine descriptions of rural life, in approximate consonance with German Heimatdorf literature.« (DraceFrancis 2013: 42, Herv. i.O.) Die Grundzüge der rumänischen Heimatliteratur hat Drace-Francis v.a. in seiner Studie The Traditions of Invention (2013) herausgearbeitet. Siehe dazu bspw. Dawidowski (1997), Götz (1985) sowie Zierden (2002).
113
114
Ruderale Texturen
ihrer Poetik erklärt« (Patrut 2017: 152) hat. Auch Künstler wie der rumänische Schriftsteller Gellu Naum, der 1941 einen surrealistischen Kreis in Rumänien ins Leben rief, hinterließen Spuren in Müllers Œuvre.27 Müllers Schreibweisen sind an denen der hier genannten Autoren geschult, übernehmen diese und verfremden sie. Wie auch der aus Transsylvanien stammende Dichter Oskar Pastior, mit dem Müller eine lebenslange Freundschaft verband und der auch maßgeblich an der Entstehung des Romans Atemschaukel beteiligt war28 , knüpft sie an die avantgardistischen Strömungen an und erprobt experimentelle Verfahren im Umgang mit ihrem Material. In ihrer ersten Collagenarbeit, Der Wächter nimmt seinen Kamm. Vom Weggehen und Ausscheren (1993), versammelt sie in einer Pappschachtel einzelne Bild-Collagen.29 Eine solche kombinatorische Poetik hinsichtlich der Publikationsform wird vor allem von der mit surrealen Schnitten arbeitenden Collagetechnik Müllers begleitet, die aus der Linearität geschriebener Texte ausbricht. Müller entwickelt so eine Texträumlichkeit, die multiple Lesarten ermöglicht.30 Texträumlichkeit meint hier zum einen die Inszenierung der Gedichte an der Grenze zum Bild, zum anderen die Möglichkeit, die Reihen sowohl horizontal als auch vertikal zu erfassen. Der Dreischritt von Dekomposition, Entkontextualisierung und Rekomposition, den die zuerst ausgeschnittenen und dann aufgeklebten Collagen-Bausteine vollziehen, führt zu einer intermedialen Verschränkung von Text 27
28 29
30
In Bukarest war bspw. seit 1941 eine Rumänische Surrealistische Gruppe entstanden; Oskar Pastior hatte die frühen Gedichte Tristan Tzaras übersetzt und verfasste Anagrammgedichte, die Vergleichspunkte zu Müllers Arbeiten bieten. Der (in)direkte Einfluss verschiedener avantgardistischer Künstler/-innen auf Müller lässt sich an drei Beispielen knapp illustrieren: Erstens bildet Eugène Ionescos Stück Le Roi se meurt (1962) wahrscheinlich den Ausgangspunkt für Müllers Essayband Der König verneigt sich und tötet (2003). Es handelt sich jedoch hier nicht um einen völlig ausgearbeiteten Intertext, sondern eher um ein Spiel mit Titeln (vgl. Drace-Francis 2013: 43). Zweitens weist Drace-Francis darauf hin, dass Paul Celans Todesfuge im Rumänischen als Tangoul morţii (›Todestango‹) übersetzt wurde. Dieser Titel könne, so Drace-Francis, als Inspiration für Müllers Erzählung Drückender Tango gedient haben. Zu Celans Einfluss auf Müller siehe v.a. Patrut (2006, 2017). Drittens könnte der Titel einer der Sammlungen Gellu Naums, Copacul-animal (1971, dt. Das Baum-Tier) Müllers Roman Herztier beeinflusst haben, der als Epigraph einen Auszug aus Naums Gedicht Lacrima (1941) beinhaltet. Das Gedicht wurde, wie Herztier Auskunft gibt, von Müllers Freund Oskar Pastior übersetzt und verweist auf die Unmöglichkeit einer Freundschaft in einer Welt voller Schrecken (vgl. Drace-Francis 2013: 43). Darüber hinaus leitet sich das Wort auch aus dem Gleichklang im Rumänischen her: ȋnima bedeutet Herz, animal Tier. Pastior war nicht nur beteiligt, sondern tritt auch als Protagonist in Erscheinung. Zur Beziehung zwischen Müller und Pastior siehe Eke (2017b). Müller hatte schon in den Poetikvorlesungen Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet (1991) einige Collagen angeführt. Unter Der Wächter nimmt seinen Kamm. Vom Weggehen und Ausscheren veröffentlichte sie in einer an surrealistische Schachtel-Werke erinnernden Box 94 postkartengroße Collagen-Gedichte. Insgesamt sind bislang sechs Collagensammlungen erschienen: Nach Der Wächter nimmt seinen Kamm (1993) erschien Im Haarknoten wohnt eine Dame (2000) sowie Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2005), gefolgt von Vater telefoniert mit den Fliegen (2012), letztere enthält erstmals eine Paginierung und Zwischenüberschriften. 2005 veröffentlichte Müller darüber hinaus eine Collagensammlung auf Rumänisch: Este sau nu este Ion. 2019 erschien außerdem ein Kalender mit zwölf Collagen der Autorin sowie der Band Im Heimweh ist ein blauer Saal.
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
und Bild: Die Collagen können als Bilder betrachtet und als Texte gelesen werden und ermöglichen so eine doppelte Rezeptionshaltung. Sie eröffnen serielle Reihen und vervielfältigen Bedeutungszuschreibungen. Als objets trouvés werden die ausgeschnittenen Worte in den Collagen zu neuen Bedeutungen zusammengesetzt, wie etwa das Wort ›Birnenpfoten‹ in der abgebildeten Beispielcollage zeigt.31
Abb. 4: Beispielcollage aus Im Haarknoten wohnt eine Dame
Müller 2000: o.S.
Die Nummerierungen auf den Kartenrückseiten beziehungsweise die Anordnung dieser Karten in einem Künstlerbuch lassen dabei nur scheinbar eine Serie entstehen: 31
Die so entstehende Montage ist dadurch doppelt codiert und erinnert an Umberto Ecos Konzeption des offenen Kunstwerks, in dem Unabgeschlossenheit und Fragmentarizität zum Programm erhoben werden (vgl. Eco 1985). Als interessant erweist sich in diesem Zusammenhang Richard Wagners rückblickende Feststellung, Das offene Kunstwerk sei ein »zentrales Buch« für ihn gewesen, auch aufgrund des »darin festgelegten Ziel[es], eine Ästhetik anzustreben, die offen ist und die mehreres zulässt, sodass nicht von vornherein alles festgeschrieben ist« (Wagner/Rossi 2017: 65). Der Einfluss, den Wagner zu Beginn auf Müllers literarisches Schaffen hatte, legt nahe, dass auch sie mit dieser Idee einer offenen Ästhetik vertraut war.
115
116
Ruderale Texturen
Bereits in der Veröffentlichung der Karten als Einzelstücke liege, so beobachtet Klaus Schenk (2016: 332), ein »textuelles Mobile« vor. Eke wiederum betont, dass der Zusammenhang des Wort-Bild-Materials nicht durch die Abfolge gestiftet werde, »sondern ein rhizomatisches Geflecht wiederkehrender Bilder, Themen und Motive« (Eke 2007: 275) die Collagen untereinander verknüpfe. Die Lücken zwischen den einzelnen Wörtern heben darüber hinaus den fragmentarischen Charakter der Text-Bilder hervor und verweisen auf etwas Abwesendes, das zwischen den einzelnen, aufgeklebten Textelementen hervorscheint. Es ist unter anderem eben diese Lücke, die zum verbindenden Glied zwischen Collagen und Prosaarbeiten avanciert. Müllers Umgang mit den avantgardistischen Verfahren ist insofern relevant, als sich in den Niederungen die Zersplitterung und Fragmentarisierung des Materials, die sie in den Collagen später aufgreift, bereits andeutet.32 Auch der genannte Dreischritt und das Spiel mit Bedeutungen ist den Niederungen bereits eingeschrieben, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden.33 Das Erzählen vom Dorf bildet hier eine Voraussetzung für das avantgardistische Schreiben, Schneiden und Kleben in Müllers Werk. Der Blick auf Müllers Umgang mit modernistischen Schreibverfahren ermöglicht insofern eine retrospektive Lesart der Niederungen von der Collagetechnik her und erleichtert so das Textverständnis. Zudem können im Rückgriff auf die Formexperimente der Collagen die Ambivalenzen zwischen Traditionalismus und avantgardistischen Experimenten stärker herausgearbeitet werden, denn Herta Müller löst die Problematik einer ›Unbeschreibbarkeit‹ von Erfahrung durch eine Konfiguration, die den ›brüchig‹ gewordenen Realismus des 19. Jahrhunderts mit einer gemilderten Form der modernen Sprachkrise zusammendenkt. Die Realität markiert den Ausgangspunkt ihrer Texte und wird anschließend verfremdet; sie wird surreal im avantgardistischen Wortsinn. Doch geht ihre Poetik »insofern über den Surrealismus hinaus, als sie sich nicht im Traum oder im Phantastischen erschöpft, sondern im Zuge der Verknüpfung von surrealen Bildern phänomenologisch sein und erlebte Realität treffen will« (Patrut 2017: 152).
32
33
Die Collagen werden oftmals mit Traumastrategien der Fragmentierung, Verfremdung und Unterbrechung in Verbindung gebracht (vgl. Marven 2005). Allerdings ist hier Rossi (2016) zu folgen, die darauf hinweist, dass Fragmentierung per se als Technik des Collagierens den Collagen zwar vorausgeht, diese allerdings v.a. vom Gegenteil der Fragmentierung, nämlich der neuen Zusammensetzung, leben. Die Collagenbilder zeigen sich daher als beides: als Einzelnes und als Ganzes, als Einheit und ›Zweiheit‹. In ihnen wird der Versuch unternommen, durch Wortschöpfungen die Wirklichkeit zu benennen. Die ›Lücke‹ benennt dann nicht zwangsläufig ein Trauma, sondern bezieht sich nach Rossi auch auf einen Zustand der Entfremdung, »einen Zustand des eigenen Fremdseins in einer bestimmten Umgebung« (Rossi 2016: 252), für welchen treffende Worte gefunden werden müssen. Für Eke zieht Müller mit den Collagen die Konsequenz aus ihren poetologischen und ästhetischen Prämissen: Die Collagen verweigern sich in der Verbindung von brüchigen Texten und visuellen Bildelementen einer utopischen Aussöhnung im ästhetischen (Vor-)Schein und stellen als »polyseme Bruch-Stücke« (Eke 2007: 274, Herv. i.O.), das aus, was sonst im Duktus des Erzählens noch verhüllt werden könnte: Der Umgang mit dem künstlerischen Material lässt sich nicht mehr mit einem aufs Ganze zielenden ästhetischen Anspruch vereinen. Jede Karte ist ein Werk aus Fragmenten. Dazu Eke: »[D]ie Schrift selbst ist zerschnitten zum Gitterwerk, der Text nicht mehr als Steinbruch, Worthalde, Trümmerwerk, in dem die von Müller obsessiv umkreisten Themen und Motive in bedrängter Form wiederkehren« (ebd.: 275).
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
Herta Müller ist nicht die einzige Autorin, die Kritik an der banatschwäbischen Dorfgemeinschaft äußert und dazu modernistische Schreibformen bemüht. Ihre Beschäftigung mit den Autorinnen und Autoren der Avantgardebewegungen steht in einem größeren kulturhistorischen Zusammenhang. Im Zuge einer in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre stattfindenden Liberalisierungsphase blühten nicht nur die Traditionen der Zwischenkriegszeit wieder auf, es kam auch zur Adaption und kritischen Auseinandersetzung mit der Literatur Westdeutschlands. Der Kanon deutschsprachiger Literatur wurde in Rumänien neu rezipiert. Dieses ›Tauwetter‹ im rumänischen Literaturbetrieb eröffnete für einen kurzen Zeitraum neue Möglichkeiten für junge Autorinnen und Autoren der rumänischdeutschen Minderheiten, die ihren Ausdruck in institutionellen Reformierungen und Bemühungen um die Produktion literarischer Texte außerhalb der normativen Forderungen des Sozialistischen Realismus fanden (vgl. Spiridon 2014: 61). Durch die Ausweitung des kulturellen Entfaltungsspielraums sollte nicht nur der Staatsverdrossenheit und dem Wunsch, in ein idealisiertes Sehnsuchtsland – die Bundesrepublik Deutschland – auszuwandern, entgegengewirkt, sondern auch ein Prestigegewinn im westlichen Ausland erzielt werden.34 Der deutschsprachige Literaturbetrieb wurde daher schrittweise zu einem funktionierenden Subsystem ausgebaut und die restriktiven Prämissen des Sozialistischen Realismus wurden für einen kurzen Zeitraum verworfen. Verschiedene Mitglieder der Aktionsgruppe Banat (1972-1975), einer der wichtigsten Dissidentengruppen dieser Region, veröffentlichten im Zuge dessen Gedichte und Kurzgeschichten, in denen sie den provinziellen Charakter der Heimatliteratur hervorhoben und die Eigenarten der Banater Schwaben anprangerten.35 Gerade durch Tabubrüche sollten neue Identitätskonstruktionen angeregt werden. Es lässt sich diesbezüglich, so konstatiert auch Julia Müller (2017b: 68), von einer »epigonale[n] Moderne« sprechen, in der die kulturellen Eliten die Neudefinierung der Region forcierten, indem sie Traditionen demontierten und sich zeitgenössischen literarischen Vorbildern zuwandten. Sie entwickelten »Vorstellungen von einer gleichermaßen ästhetisch avancierten, realitätsverankerten und wirkungsorientierten Literatur, in der Kunst- und Gebrauchswert als Partner zusammenfinden müssten« (Motzan 2007: 734). Beeinflusst wurde die Gruppe vor allem von zeitgenössischen Entwicklungen und linksorientierter politischer Literatur aus Deutschland, Österreich und dem Westen allgemein (dazu gehörten vor allem Bertolt Brecht, Volker Braun, die Wiener Gruppe, die Beat-Poeten sowie die sogenannte ›68er Generation‹).36 Der Schriftsteller 34
35
36
Durch die Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre wurden die deutschen Minderheiten auseinandergerissen und ihre Existenzgrundlagen durch Enteignung und Entrechtung (Kollektivierung der Landwirtschaft), gezielte Bevölkerungsumverteilung sowie forcierte Industrialisierung zerstört (vgl. Motzan 2007: 732). Herta Müller war kein Mitglied der Aktionsgruppe Banat, ihr literarischer Werdegang ist allerdings eng mit dieser verknüpft. In ihrer Tischrede nach der Verleihung des Nobelpreises betont sie, wie wichtig die Verbindung zu dieser Gruppierung für sie war: »Ohne sie hätte ich keine Bücher gelesen und keine geschrieben. Noch wichtiger ist: Diese Freunde waren lebensnotwendig. Ohne sie hätte ich die Repressalien nicht ausgehalten.« (Müller 2013a: 23) Motzan (2007: 732f.) bemerkt: »Die langjährig vergitterten Traditionen der Zwischenkriegszeit befreite man zu neuem Leben, marginalisierte und verfemte Autoren konnten wieder in Erscheinung treten, zahlreiche junge Autoren drängten an die Öffentlichkeit. […] Der Eiserne Vorhang öffnete sich einen Spalt breit, die auf Hochtouren laufende Rezeption moderner westeuropäischer Li-
117
118
Ruderale Texturen
Richard Wagner äußert sich rückblickend über die Aktionsgruppe Banat: »Wir wollten eine zeitgemäße Literatur schreiben, die sich mit der deutschen Gegenwartsliteratur messen konnte. […] Unsere Literatur wurde zum Versuch, die Umklammerung der Provinz und das kommunistische Verbot gleichzeitig zu überwinden.« (Wagner 1992: 226) Es ging den Autorinnen und Autoren dieser Generation dezidiert um die Abkehr von traditionellen rumäniendeutschen literarischen Modellen, sie positionierten sich gegen die Banater Regionalliteratur und schrieben gegen die rumäniendeutsche Literaturgeschichte an. Herta Müller berichtet, die Mitglieder der Aktionsgruppe hätten »ein Programm formuliert, das die dienende Literatur jeder Couleur ablehnte: die Heimatliteratur, die Nazi- und Stalindienerei, den sozialistischen Realismus«37 . Besonders die Lyrik wurde zu einem wichtigen Bestandteil dieser ›nachgeholten Moderne‹. Die rumäniendeutsche Lyrik schrieb sich nicht nur aus der »Sackgasse des Sozialistischen Realismus und dem Korsett regionaler Traditionen« (Motzan 2007: 733) hinaus, sondern vor allem auch in eine westlich-moderne Literaturtradition hinein. Es entstand eine »zeitverschobene Ausprägung der literarischen Moderne« (ebd.). Ab circa 1971 kam es allerdings zu einer neuerlichen Verhärtung der rumänischen Kulturpolitik. Die Zensur wurde unter dem Deckmantel ihrer Reformierung verschärft und die ›ideologische Lockerung‹ des »Reformkommunismus« (Wagner/Rossi 2017: 40) wieder eingeschränkt. Die sogenannten ›Juli-Thesen‹, die Ceauşescu der literarischen Vielfalt entgegensetzte, markierten das Ende der Liberalisierungsphase (vgl. Spiridon 2014: 66). Im August 1983 forderte Ceauşescu schließlich auf einer ›Arbeitsberatung‹ die bedingungslose Unterwerfung der Künstler/-innen und Schriftsteller/-innen. Der Ort der Tagung, der Küstenort Mangalia, brachte dieser Einschränkung in Literaturkreisen den Namen ›Mangalia-Effekt‹ ein (vgl. Motzan 2007: 738). Müllers Werk entsteht insofern im Nachgang einer zeitverschobenen Moderne und zugleich vor dem Hintergrund der bedingungslosen Unterordnung unter eine allumfassende Zensur.
4.2.
»Totenmaskenball«
Vor dem Hintergrund dieses kritischen Rollenverständnisses von Literatur beschreiben Müllers Niederungen nun die prekäre Lage einer verschwindenden Dorfwelt. Den Ausgangspunkt der Erzählung bilden die negativen Affekte einer autodiegetischen Erzählerin, die diese in parataktischen Reihungen für den Leser protokolliert. Hass, Wut und Ekel der kindlichen Protagonistin fungieren als poetogenes Moment – aus ihnen entsteht der Text. So gesehen eröffnet der Blick auf den Prosaband eine eigentümliche Kunstwelt, die nicht (nur), wie bislang zum Teil in der Forschung angenommen, das realgeschichtliche Verschwinden einer überkommenen Lebensform portraitiert, sondern
37
teratur bescherte Überraschungen, rief Minderwertigkeitskomplexe hervor, weckte Nachholbedürfnisse, verführte zur Imitation, setzte aber auch Lernprozesse, Reflexionen über die eigenen Möglichkeiten und Grenzen in Gang.« Zu jener kurzen Tauwetter-Phase und der in dieser Zeit entstehenden rumäniendeutschen Lyrik siehe außerdem Motzan (1994). https://www.deutscheakademie.de/de/akademie/mitglieder/herta-mueller/selbstvorstellung.
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
auch die dörfliche Lebenswelt im Erzählen selbst vernichtet.38 Dieser Lesart sei eine zweite zur Seite gestellt: Aus einer biografischen Perspektive bietet die Erzählung Müller die Möglichkeit, Erlebtes zu artikulieren und die Vergangenheit zugleich im Erzählen zu modifizieren und zu verabschieden. Wie auch der österreichische Schriftsteller Josef Winkler, der vor allem auch hinsichtlich seiner Anti-Heimatliteratur als eines ihrer literarischen Vorbilder gelten darf, lässt Müller in den Niederungen die verhasste dörfliche Sphäre im Akt des Erzählens zugrunde gehen.39 Der Eindruck von Repression, Stagnation und einer beinahe grotesken Abgeschiedenheit der dörflichen Gemeinschaft wird in den Niederungen durch verschiedene Bildmotive erzeugt. Dabei ermöglicht die kindliche Perspektive eine zugleich nüchterne wie auch fantasievolle Beobachtung des Alltags und bildet die Grundlage für Müllers (Re-)Konstruktion von Erinnerung. Die in Agonie verharrende Dorfgemeinschaft, so macht der kindliche Blick deutlich, krankt in ihrer Substanz, denn der Verfall familiärer und gemeinschaftlicher Beziehungen erfolgt aus inneren Ursachen. Dies zeigt sich unter anderem an den alltäglichen Handlungen der Dorfbewohner, denen eine Form der Wiederholung eingezeichnet ist, die diese nicht als sinnvolle Routine zeigt, sondern einen Leerlauf protokolliert, dem jede Entwicklungsmöglichkeit abgesprochen wird.40 Das Dorf verharrt im ritualisierten Alltag einer repressiven Normalität. Verschiedene wiederkehrende Ereignisse wie Kirchgang, Begräbnis, Weihnachten oder Kirchweih »rollen in gespenstischer Sinnlosigkeit für die Beteiligten ab« (Götz 1985: 101). Die rituellen Ereignisse stellen kein Gemeinschaftserlebnis mehr dar, sondern zeigen sich als gespenstischer Ablauf sinnentleerter Riten. Das Dorf wird zum ›Totenmaskenball‹ (Thomas Bernhard). Vor diesem Hintergrund offenbaren sich verschiedene Tugenden wie Ordnung, Fleiß, Sauberkeit oder Frömmigkeit als degenerierte Alltagspflichten: »Der 38
39
40
Lörincz etwa verweist darauf, dass Müllers Texte »oft mit Betroffenheit und als Chronik des Minderheitenlebens in der Ceauşescu-Zeit Rumäniens rezipiert« (Lörincz 2016: 11) werden und die Autorin zum Teil »als eine der glaubwürdigsten Schriftstellerinnen der Gegenwart« (ebd.) bezeichnet wird. Bauer zeigt ebenfalls, dass Müllers Werk oftmals als »eng fokussiert auf ihre Vergangenheit in Ceauşescuʼs [sic!] Rumänien und das dörfliche Leben der deutschen Minderheit im Banat« (Bauer 2011: 63) und als »exotische Minderheitsliteratur« (ebd.) betrachtet wird. Für eine detaillierte Rezeptionsgeschichte siehe bspw. Brandt/Glajar (2013a), Haines/Marven (2013a) sowie Lörincz (2016). Winkler veröffentlichte kurz vor den Niederungen die ersten beiden Teile der Trilogie Das wilde Kärnten (1979, 1980), der letzte Teil erschien 1982. Die Texte ähneln einander in ihrer surrealen, grotesk-verzerrten Erzählweise, in ihrer Verwendung übergroßer Details sowie hinsichtlich der Perspektive eines sich selbst auflösenden Subjekts (vgl. Spiridon 2014: 76). Müllers Parallelen zu anderen Autoren der Anti-Heimatliteratur haben u.a. Bozzi (1998) und Predoiu (2001) herausgearbeitet. Auch Franz Innerhofer und seine schonungslose Aufarbeitung der eigenen Kindheit stellt eine wichtige Referenz dar. Zu den Affinitäten zwischen Thomas Bernhard und Herta Müller siehe außerdem Haupt-Cucuiu (1996). Nicht nur finden beide ähnliche Antworten auf die Beteiligung der Vätergeneration am Zweiten Weltkrieg und die daran anschließende Tabusierung der Vergangenheit, es lassen sich auch stilistische Gemeinsamkeiten nachweisen. Tatsächlich gewährleisten jene strikt ritualisierten Abläufe allerdings den Zusammenhalt der übrig gebliebenen Dorfbewohner, wie bspw. die ebenfalls im Band enthaltene Erzählung Der deutsche Scheitel und der deutsche Schnurrbart zeigt: Hier wird das die Dorfbewohner verbindende − und Fremde zugleich ausschließende − Ritual synekdochisch in Form des Haareschneidens beim Friseur vorgeführt.
119
120
Ruderale Texturen
Arbeitseifer wird zur Manie der Selbstentfaltung und der übertriebene Ordnungssinn verwandelt sich in Starrsinn«, konstatiert Nubert (2011: 103). Die Personen wirken dadurch entindividualisiert und erscheinen als namenlose Funktionen beziehungsweise Funktionselemente einzelner Vorgänge. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass sie bis auf wenige Ausnahmen keine Namen tragen.41 Gebündelt wird der übertriebene Arbeitseifer in der Figur der Mutter, deren Putzzwang manische Züge annimmt. So beobachtet die Ich-Erzählerin: »Mutter rutscht auf den Knien über die Dielen hin. Ich erkenne sie nicht, weil sie immer mehr sie selber, immer mehr ein Vorgang wird. Die Fußbodenbretter glänzen sauber vor ihr. […] Mutter hätte schöne stille Augen, wenn sie nicht den ganzen Tag ein Vorgang wär.« (N 75) Die mit diesen ›Tugenden‹ verbundenen, von der Protagonistin als normierend empfundenen traditionellen Wertvorstellungen, werden schließlich in Bilder von Naturphänomenen gekleidet und als Bedrohung gefasst. In der kindlichen Fantasie erdrücken die Röcke der schwäbischen Trachten das Dorf unter ihrer imaginären Last: »Auf dem Pflaster gehen die Mütter in schwäbischen Röcken, die aus ganzen Ballen Stoff genäht sind, deren Falten beim Gehen Baumkronen gleichen, die auf den Hausdächern lümmeln und das Dorf ins Gras drücken, die, wenn Wind geht, aufs Dach schlagen und die Ziegel zerbrechen.« (N 66) Diese Dorfwelt, so zeigt sich schnell, ist geprägt von »kollektivem Anpassungsdruck mit gleichmacherischen Tendenzen« (Zierden 2002: 35). Dass die Autorin an dieser Stelle eigene Erfahrungen literarisiert, hat auch Julia Müller (2017a: 14) festgehalten: »Mit diesem starren Festhalten an den überlieferten Orientierungsmustern soll der Erosion einer Minderheitenkultur auch unter politischem Druck begegnet werden.« Der Titel Niederungen ist in dieser Hinsicht nicht nur als topografische Beschreibung zu lesen, sondern auch Bild für einen genauen Blick auf das Zusammenleben der deutschen Minderheit.42 Im Titel Niederungen kulminieren augenscheinlich zwei Bedeutungshorizonte: niedere Topografien einerseits, geistige und emotionale Abgründe andererseits.43
41
42
43
Einzig Außenseiterfiguren wie der stotternde Nachbarsjunge Wendel oder der Orgelspieler Lorenz, der sein Gebiss beim Lachen verliert, erhalten Eigennamen. Wer nicht in der Konformität aufgeht, erhält so eine sprachliche Markierung. Dabei gehören Randfiguren zum wiederkehrenden Personal. Herta Müller hat ihre eigene Auffassung des Wortes u.a. in einem Gespräch mit Gebhard Henke hervorgehoben: Es »bedeutet im übertragenen Sinn das niedrige Bewußtsein, die niedrige Beschäftigung, das Abgegrenztsein, das Nicht-über-sich-hinausschauen-Können« (Henke 1984: 13, zit. n.: Nubert 2011: 100f.). Laut Grimmschem Wörterbuch hat das Adjektiv ›nieder‹ u.a. in eigentlicher, sinnlicher Bedeutung den Bedeutungsgehalt von »unter, unterhalb befindlich, tiefer liegend« (Grimm 1999: 745), aber auch »von geringer höhe (nicht so hoch als etwas anderes), niedrig, kurz, klein, oft mit dem nebenbegriffe des ärmlichen« (ebd.). In übertragener Bedeutung meint es auch erstens »an werth, ansehen, rang, stand und würde zurückstehend, geringer als anderes seiner art« (ebd.: 746) wozu auch »überhaupt niedriger stehend, untergeordnet« (ebd.: 747) gehört sowie zweitens nieder »in bezug auf innern werth und gehalt, auf das innere geistige leben und empfinden« (ebd.: 747) dazu gehört auch »auf tiefer stufe stehend, unedel, gemein, roh, besonders in sittlichem verstande« (ebd.: 747). Das Adverb meint u.a. »nicht hoch, niedrig, tief unten« (ebd.: 748) sowie »niedrig in bezug auf geburt, stand, ansehen, rang und würde« (ebd.). Das Substantiv ›Niederungen‹ hat die Bedeutung von »herablassung, erniedrigung, humilitas« (ebd.: 810), »erniedrigung, humilitatio« (ebd.) sowie »etwas nieder gemachtes, niedrig liegendes« (ebd.). Zudem bedeutet es »eine
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
Um den kulturellen Stillstand und die hermetische Abgeschlossenheit der Dorfgemeinschaft zu verdeutlichen, werden überdies verschiedene Konfigurationen einer Spiegelbild-Metapher verwandt, etwa wenn der kindliche Blick im Naturphänomen der Eiszapfen das Dorf wortwörtlich als gespiegelt erkennt: Wie »große Spiegel« tragen die Eiszapfen ein »eingefrorenes Bild« (N 44) in sich.44 Auch am Frühjahrsputz der Mutter wird der Eindruck eines allumfassenden Stillstands noch einmal illustriert: »Mutter hebt die Fensterflügel aus und wäscht sie in einer großen blechernen Wanne. Sie sind so sauber, dass man das ganze Dorf darin sieht, wie im Spiegel des Wassers. […] Man wird schwindlig, wenn man lange das Dorf in der Scheibe ansieht.« (N 80) Die frisch geputzten Fensterscheiben spiegeln das Dorf metonymisch wider und fungieren als Metapher für einen ungesunden Zustand der Selbstbespiegelung (vgl. Marişescu 2010: 78). Dieser Metaphorik einer beinahe narzisstischen Isolation wird eine weitere zur Seite gestellt. Im Bild strickender Frauen zeigt sich eine paradoxe Zeitlichkeit. So verharren diese in einer einerseits niemals endenden und andererseits zuletzt mit dem Tod endenden Tätigkeit: Sie »stricken sich selber mit hinein in ihre Strümpfe aus kratziger Wolle, die immer länger werden und so lang sind wie der Winter selbst« (N 36). Ihr Stricken dauert an, bis »sie mit dem Altern fertig sind, dann gleichen sie den Männern und entschließen sich zu sterben« (N 37).45 Die Texte beschreiben hier eine paradoxe Situation: Der Stillstand des Dorfes wird sowohl zum Vorboten des Untergangs als auch zur Nachwehe einer bereits verstorbenen Welt. Die beschriebene Lebenswelt erweist sich als tot und auf eine unangenehme Weise lebendig zugleich. Auch für diesen Zustand findet der Text ein Bild. Die eigentümliche Zeitlichkeit wird im Bild langsam am Fenster abtauender Eisblumen gefasst: »Auch die Eisblumen verschlingen ihre eigenen Blätter, sie haben das Gesicht milchig blinder Augen.« (N 47) Das im Kinderblick fokussierte Kompositum ›Eisblume‹ beinhaltet ein semantisches Paradoxon: Während ›Blume‹ allgemein mit Wachstum assoziiert wird, steht ›Eis‹ sinnbildlich für Erstarrung und Bewegungslosigkeit ein.46 Indem die Eisblumen während des Abtauens sinnbildlich ihre eigenen Blätter verschlingen, dynamisieren sie einerseits die ›gefrorene Zeit‹ des Dorfes und zeigen andererseits ein damit
44
45
46
im verhältnis zum gebirge, zur hochebene oder zum wasserspiegel niedrig gelegene ebene oder gegend, das tiefland« (ebd.). Zu Figuren der Stillstellung und des Einschlusses siehe vor allem Johannsen (2008: 165-173). Johannsen verbindet ihre topologischen Analysen verschlossener Räume im Kontext des Dorfes sowohl mit der bedrückenden mentalen Enge im Dorf als auch mit der realgeschichtlichen Stillstellung der aussterbenden Ortschaften im Banat. Zudem schlägt sich die ständige Überwachung durch den Staat und das daraus resultierende Gefühl von Enge in zahlreichen Texten Müllers in Figurationen des Einschlusses nieder. Im Bild der fortwährend strickenden Frauen wird überdies eine der Müller’schen Metaphern für die Abgeschiedenheit des Dorfes poetisch umgesetzt. In dem unter dem Titel Mein Vaterland war ein Apfelkern (2014) veröffentlichten Interview konstatiert sie: »Gerade damals in der Kindheit dachte ich, wir sind hier im einsamen, windigen Dreck der Felder, an den Fransen der Welt, der Teppich ist aus Asphalt und in der Stadt.« (Müller 2016I: 48f.) Der Logik dieser Metapher folgend, stricken die alten Dorffrauen auch an jenen Fransen der Welt, die das Dorf immer weiter von einem möglichen Zentrum entfernen. Simone Merk (2011: 179) hat hinsichtlich eines Gedichts von Rose Ausländer auf dieses Paradox hingewiesen.
121
122
Ruderale Texturen
verbundenes Opfer auf: Wenn der Stillstand in Bewegung gerät, wird er zugleich einem Verschwinden anheim gegeben. Diesen Zusammenhang gilt es im Blick zu behalten.47 Die Arretierung48 des Gemeinschaftslebens weist in den Niederungen schließlich auch eine textstrukturelle Dimension auf: Der parataktische Stil spiegelt in seiner formalen Starre die dörflichen Strukturen wider. Parataxen reihen die einzelnen Sätze unverbunden aneinander und verleihen ihnen so auf der syntaktischen Ebene den Charakter separater Elemente. Sie verdeutlichen so nicht nur die Einsamkeit der Dorfbewohner, die keinerlei Bindung zueinander eingehen, sondern verleihen dem Text auch etwas Absolutes, das auf den normativen Druck des Kollektivs zurückverweist. Diese düstere Morbidität findet sich nicht nur in Müllers Prosa. Auch die zeitgenössische Lyrik deutschsprachiger Autoren aus dem Banat und aus Siebenbürgen weist die abgelegenen Dörfer als Orte ›kurz vor dem weltuntergang‹ aus, wie das Gedicht sächsisches dorf im unterwald des aus Siebenbürgen stammenden Schriftstellers Franz Hodjak exemplarisch andeuten soll: »den kirchberg herunter kommen grabsteine, heuschober und verlaufne hunde. durchs blattwerk schimmert verwitterte andacht. das dorf klebt wie ein kaugummi hinterm ohr des bergs. oben, im nichts, schlagen lerchen purzelbäume und stürzen dunkel in den wald. an sauber geweißten häuserfronten deuten jahreszahlen in die goldne vergangenheit der zukunft. 47
48
Stillstand und Tod, dies sei nur am Rande erwähnt, sind auch in den anderen Erzählungen des Prosabands omnipräsent; immer wieder wird der dörfliche Mikrokosmos als ein verfallener, zerstörter, als ein totgesagter Ort imaginiert. So dient bspw. in den beiden Erzählungen Drückender Tango und Die Grabrede der Friedhof als Hauptschauplatz der Handlung, dessen morbide Atmosphäre durch die Bewegungslinien der Protagonisten auf das Dorf übertragen wird: »Wir gehen durch das Friedhofstor. Das Dorf sinkt in sich ein und riecht nach Tannengrün und Farn, nach Chrysanthemen und nach wächsernem Gestrüpp. […] Das Dorf ist schwarz. Die Wolken sind aus schwarzem Damast.« (Müller 2015Ia: 117) Immer wieder verbinden Herta Müllers Erzählungen eine statische und ›endzeitlichte‹ Zeitdimension mit einer als ›Unort‹ entworfenen Einöde und entwerfen auf diese Weise das Panorama eines Brachlands, dem jede Entwicklungsmöglichkeit abgesprochen wird. Im Zusammenhang mit dem arretierten Dorfleben rückt überdies noch eine weitere Traditionslinie in den Blick. Indem sie die Dorfbevölkerung als totenstarre Leichenversammlung zeigt, führt Müller ein Konzept ad absurdum, das gerade auch hinsichtlich des Banats lange Zeit historisch virulent war. In der von Walter Kuhn um 1930 begründeten Tradition der Sprachinselforschung stellte das agrarisch geprägte Banat ein Untersuchungsobjekt par excellence dar. Die Niederungen nehmen nun Bezug auf diese Idee einer abgeschiedenen, ältere Zustände des Deutschen konservierenden Siedlungseinheit, verweisen dabei jedoch auf veränderte Horizonte. Aufgrund der deutschen Geschichte verändert sich das Konzept der Sprachinsel; die noch bei Kuhn angelegte Idee einer positiven Kontinuität schlägt ins Negative um. Eine ›rein erhaltene Volkskultur‹ vorzufinden, meint hier nicht mehr, eine schützenswerte Minderheitensprache sowie besondere historische, kulturelle und ethnische Merkmale erkennen zu können, sondern impliziert stets auch die lange Zeit tabuisierte SS-Vergangenheit der Vätergeneration, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Dörfer zurückkehrten und auf diese Weise von einer moralisch aufgeladenen und höchst prekären Kontinuitätslinie zeugen.
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
[…] keine fremde Seele verliert sich hierher, nur die zeitung. die stille abends ist so tief wie kurz vor dem weltuntergang« (Hodjak 1988: 90) Hodjaks sächsisches Dorf erweist sich als ebenso abgelegen wie Müllers banatschwäbischer Mikrokosmos. Weltuntergangsszenarien werden hier mit Semantiken der Peripherie und dem Eindruck eines allgegenwärtigen Stillstands verschränkt. Nur noch »verlaufne hunde« und die »zeitung« verirren sich in das von dichtem Wald umgebene Dorf »hinterm ohr des bergs«; »grabsteine« und »heuschober« kennzeichnen sein Erscheinungsbild. Die Vergangenheit liegt verborgen hinter »blattwerk«; die Zukunft ist ohne Perspektive. Einen ähnlichen Zustand beschreiben auch die Niederungen. Die unangenehme Verbindung von allgegenwärtiger Stagnation und starrer Normdiktion wird in Müllers Erzählung nun durch eine ruderale Flora angereichert, die sich schließlich als ebenso ambivalent entpuppt wie die Tugendhaftigkeit der Dorfbevölkerung. Der Verdacht liegt erst einmal nahe, dass die in den Niederungen vorgenommenen Naturbeschreibungen auf den allgegenwärtigen Stillstand reagieren, wenn anhand einer bestimmten Motivik der Pflanzenwelt ein dynamisches Moment erzeugt und imaginäre Untergangsszenarien des erzählten Dorfes entworfen werden.
4.3.
Wilder Pflanzengeruch
Der brachliegenden Dorfgemeinschaft, die in überkommenen Ritualen um eine leere Mitte kreist, werden in der kindlichen Fantasie Szenarien einer wuchernden Natur entgegengesetzt, die sich den kultivierten Raum allmählich wieder zurückerobert und ihn auf diese Weise dem Verschwinden anheimgibt. Gleichzeitig fungieren die Pflanzenwelten jedoch auch als Metapher für eine unter dem Deckmantel der Normalität schwelende Existenz einer unbearbeiteten Vergangenheit, die, so lautet die hier vorgeschlagene Lesart, unkontrolliert in die Gegenwart der Ich-Erzählerin hineinwuchert. Zuletzt stehen die ›Kelchblätter‹ auch im Kontrast zu den in Müllers Essays und Reden beschriebenen überdimensionierten sozialistischen Maisfeldern, die nicht nur auf die Transformationen der Landwirtschaft und ihre Auswirkungen auf die deutsche Minderheit, sondern auch auf das repressive Regime Ceauşescus verweisen. Im Folgenden werden diese drei Lesarten aus der Textanalyse heraus entwickelt, bevor mit dem Blick auf Müllers essayistische Schriften anschließend eine Fokusverschiebung auf die Biografie der Autorin vorgenommen wird.
Poetik des Verschwindens In den Niederungen wird Natur, aus der Perspektive eines Kindes betrachtet, als eine bedrohlich-lebendige Kraft imaginiert, die durch ihre Wucherungen die stillgestellte Zeit zu dynamisieren vermag. Es fliegen »Blattschrumpfungen […] durch die Luft wie unsichtbare Pilze« (N 24), das ganze Dorf ist erfüllt von »wilde[m] Pflanzengeruch« (N 70) und manche Pflanzen sind so »dicht und hoch«, dass sie »mit ihren Stengeln
123
124
Ruderale Texturen
das Haus [überragten]« (N 76). Salat »raschelt[] wie Papier« (N 43) und die »wilden Gräser schließen ihre leuchtendgelben Blüten« (N 69). Durch die Beschreibungen des Wucherns dieser eigentümlichen Pflanzenwelt erzeugt der Text eine der kulturellen Stasis entgegenwirkende Dynamik: Im dörflichen Lebensraum der Niederungen ist das Gemeinschaftsleben erstarrt, während die Flora weiterwächst. Aus der kindlichen Perspektive betrachtet, nimmt diese Pflanzenwelt nun überdimensionierte Ausmaße an: »Vom Feld her wuchert Puppengras ins Dorf. Ich stülpe am Dorfrand die grünen Kelchblätter um, damit sie das Dorf nicht zudecken und überwuchern, wenn die Leute ahnungslos sind.« (N 23) Hier zeigt sich eine Spannung zwischen kindlicher Imagination und Realität. In der kindlichen Fantasie wird die Möglichkeit einer Dynamisierung des dörflichen Lebens wie auch dessen Verschwinden in Bildern von ›Puppengras‹ und ›grünen Kelchblätter‹ gefasst. Die Natur ›nagt‹ sozusagen schon an den Rändern des Kulturraums. Dies lässt sich auch an den alten Kulturgütern, die die Dorfbewohner am Dorfrand entsorgen, ablesen: »Am Dorfrand liegt das alte Geschirr. Abgewirtschaftete, verbeulte Töpfe ohne Böden, verrostete Eimer, Sparherde mit zerbrochenen Platten und ohne Füße, durchlöcherte Ofenrohre. Aus einer Waschschüssel ohne Boden wächst Gras mit leuchtendgelben Blüten.« (N 38) Und mehr noch: Die Erzählung stellt der wuchernden Pflanzenwelt eine Entwicklung zur Seite, die die Verwilderung des Kulturraums mit Transformationen auf Seiten der Dorfbewohner verbindet. Diese nähern sich in den Beschreibungen der Protagonistin in ihrer Gestalt den die Banater Gegend bevölkernden Pflanzen und Tieren an. So weist beispielsweise die seit ihrer Kindheit an Schlafmohnsamen gewöhnte Großmutter bereits pflanzenähnliche Züge auf, wenn sie »die weißen Blütenblätter in den Augen« (N 91) trägt und mit dem von ihr angebauten Mohn verschmilzt: »Und sie hat hundert Beete voller Mohn im Gedächtnis, und alle weißen Blüten, die es je im Garten gab, welken auf ihrem Gesicht und fallen zur Erde. Und alle schwarzen Mohnkörper rieseln herab aus ihren Röcken, die so schwer sind, dass sie vor lauter Mohn kaum noch gehen kann.«49 (N 92) Der Mensch wird hier zur Natur. Mensch und Natur, man könnte auch sagen, Kultur und Natur, werden so in ein reziprokes Verhältnis gesetzt.
Prekäre Vergangenheiten Mit diesem Nexus zwischen Mensch und Natur ist ein weiterer Aspekt verknüpft. Den Entwürfen einer lebendigen Natur stehen solche entgegen, die den Naturraum als Spiegelbild der Gesellschaft begreifen. Die Pflanzenwelt wird insofern auch als Ausdruck einer deformierten Kultur lesbar. Ein genauer Blick zeigt, dass die Flora der Niederungen zwischen Sterilität oder bösartige Fruchtbarkeit changiert: Sie frisst alles Lebende oder zeigt sich als tote Brachfläche. Die Aprikosenbäume des Dorfes sind krank und »der Gestank von tausend toten kleinen Tieren« (N 100) liegt in der Luft. »Den Kamillen 49
Müller zitiert mit dieser Formulierung Paul Celans Gedichtband Mohn und Gedächtnis (1952). Der Buchtitel entstammt dem Gedicht Corona, und weist u.a. auf Celans Anspruch hin, aus dem ›Gedächtnis‹ heraus Neues zu erschaffen. Die betreffende Gedichtzeile lautet: »Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: / wir sehen uns an, / wir sagen uns Dunkles, / wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis« (Celan 2003: 39). Dabei spannt sich zwischen den Begriffen ›Mohn‹ und ›Gedächtnis‹ ein Feld auf, auf dem sich Begriffspaare wie ›Leben und Tod‹ ›Traum und Rausch‹ oder ›Vergessen und Erinnern‹ als Koordinaten eintragen lassen (vgl. Seng 2012: 59).
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
fallen die feinen weißen Zähne aus« (N 95). »Im Inneren des Strauches sind die Blätter am Ersticken. Die Zweige wachsen in langen spitzen Stacheln zu Ende und krümmen sich auf der Suche nach Licht« (N 38). Im Traum sieht die Protagonistin schließlich einen »Strohschober mit seinen regenfaulen Halmen wie Schlamm. Lange schwarze Schlangen wühlen sich in ihn hinein« (N 40). Im Bild der im Dorf wachsenden Pappeln, die ihre grünen und gesunden Blätter verlieren, verweist der Text schließlich noch einmal auf die Herkunftsnarrative Müller-Guttenbrunns zurück. Dessen Roman Die Glocken der Heimat (1911) zeigt die Kirche als topografisches Ortszentrum und Identifikationsmarker und hebt ihre Bedeutung als Institution, die die Werte der Banater Gemeinschaft bewahrt, klar hervor. In den Niederungen wird der Blätterverlust der Bäume nun an eben jene Werte und Identität verkörpernde Institution geknüpft, die seit der Zeit Müller-Guttenbrunns im wahrsten Sinne des Wortes Rost angesetzt hat. So berichtet die Ich-Erzählerin: »Der Bürgermeister sagt, dass der Blätterfall mitten im Sommer vom Läuten der großen Glocke herrührt, die seit Jahren verstimmt ist, vom Rost, der sich auf ihr angesetzt hat.« (N 54) Das noch bei Müller-Guttenbrunn beschriebene »Werden und Reifen der Saaten und aller Früchte« (Müller-Guttenbrunn 1977: 44) hat sich in den Niederungen in sein Gegenteil verkehrt. Müllers bösartig-wuchernde Natur fungiert hier als Ausdruck eines bestimmten Geschichtsverständnisses. Zwischen den noch vor dem Ersten Weltkrieg verfassten Heimatromanen Müller-Guttenbrunns und Müllers Anti-Heimatliteratur liegen nicht nur die beiden Weltkriege, sondern auch der Nationalsozialismus sowie die auf das Ende des Zweiten Weltkriegs folgenden Deportationen. Während Müllers Essays und Reden diesen Sachverhalt immer wieder hervorheben, bleibt er in den Niederungen allerdings seltsam unterbelichtet. Die SS-Vergangenheit des Vaters lässt sich nur erahnen50 und dass die Mutter nach 1945 deportiert wurde, wird in der Erzählung ausschließlich durch einen Traum der Protagonistin angedeutet: »Ich sah Mutter nackt und erfroren in Russland liegen, mit zerschundenen Beinen und grünen Lippen von Futterrüben. Ich sah Mutter durchsichtig vor Hunger, ausgezehrt und faltig wie ein müdes, bewusstloses Mädchen.« (N 102) Beides, die nationalsozialistische Vergangenheit der Vätergeneration und der Aufenthalt der Mutter im Arbeitslager, steht in der Dorfgeschichte als Tabuthema im Raum.51 An dieser Stelle werden die eingangs skizzierten Zusammenhänge deutlich. Ein Blick auf Müllers essayistische Arbeiten zeigt, dass die Autorin hier Aspekte der eigenen Biografie aufgreift und diese durch ein autofiktionales Erzählverfahren in Literatur überführt. Müllers Vater war im Alter von 17 Jahren in die Waffen-SS eingetreten und hatte in der 10. SS-Panzer-Division Frundsberg am Zweiten Weltkrieg teilgenommen (vgl. Eke 2017a: 4). Sie habe, so berichtet Müller in So ein kleiner Körper und so ein großer Motor »von Anfang an und dann immer wieder« (Müller 2013c: 85) über
50 51
Die prekäre Vergangenheit des Vaters wird einzig in der ebenfalls im Prosaband enthaltenen Erzählung Die Grabrede deutlich ausgestellt. In der Zürcher Poetikvorlesung Gelber Mais und keine Zeit (2007) macht Müller deutlich, dass dieses Schweigen natürlich auch mit einem von der Regierung verhängten Verbot in Zusammenhang stand: »Aber geredet wurde über die Lager nur im Flüsterton, weil es verboten war.« (Müller 2013f: 125)
125
126
Ruderale Texturen
ihren Vater geschrieben: »Das hatte damit zu tun, dass ich wusste, ich müsste ihn lieben, obwohl ich es nicht konnte – und gleichzeitig wusste, dass ich ihn liebte, obwohl ich es nicht wollte. Dieses Unlösbare hatte zu tun mit dem Oberscharführer, mit der Waffen-SS.« (Ebd.)52 Dieser autobiografischen Aussage lässt sich ein Zitat aus Müllers Roman Herztier (1994) zur Seite stellen. Der Roman berichtet von einer schuldigen, nach Kriegsende jedoch unbestraft gebliebenen Vaterfigur: »Der Vater mußte nie fliehen. Er war singend in die Welt marschiert. Er hatte in der Welt Friedhöfe gemacht und die Orte schnell verlassen. Ein verlorener Krieg, ein heimgekehrter SS-Soldat, ein frischgebügeltes Sommerhemd lag im Schrank, und auf dem Kopf des Vaters wuchs noch kein graues Haar.« (Müller 2015: 21)53 Immer wieder, so lässt sich beobachten, thematisieren Müllers Texte das nationalsozialistische Erbe des banatschwäbischen Dorfes. Schreiben, darauf weist auch Patrut (2017: 153) hin, versteht sich hier auch »als Stellungnahme zu diesem Erbe«. Doch nicht nur die nationalsozialistische Vergangenheit der Elterngeneration hinterließ Spuren im Gedächtnis der rumänisch-deutschen Bevölkerung. Ein weiteres Ereignis schwingt in Müllers Dorfgeschichten mit: Am 12. Januar 1945 begann die Deportation der Frauen zwischen 18 und 35 Jahren sowie der nicht eingezogenen Männer zwischen 17 und 45 Jahren zur Zwangsarbeit in der Sowjetunion, um dort Reparationen für die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zu leisten. Zwischen 1945 und 1949 wurden circa 75.000 Rumäniendeutsche – die genaue Zahl ist unbekannt – aufgrund ethnischer Kriterien in den Kaukasus und die Ukraine deportiert, darunter auch Herta Müllers Mutter.54 In ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur, Die Anwendung der dünnen Straßen, berichtet Müller über ihre Mutter: »Mit zwanzig wurde sie zu fünf Jahren Zwangsarbeit deportiert ins Lager in die heutige Ukraine. Dort grassierte der wilde Hunger, einer, der sich von unserem täglich zahmen grundlegend unterscheidet. Und der wilde Frost und das militärische Kommando.« (Müller 2013e: 120) Das Trauma der Mutter, so beobachtet die Autorin rückblickend, überschattet die eigene Kindheit: »[D]ie Deportation steckte noch in ihr und streute sich in meine Kindheit. Wenn ich essen sollte, sprach sie vom grausigen Hunger in Russland, bis mir kein Essen mehr schmeckte. Wenn sie mich kämmte, redete sie vom Kahlscheren im Lager, bis ich kein Recht mehr auf meine Haare hatte. Wenn ich abends schlafen sollte, erwähnte sie den gefrorenen Mond über der Steppe, bis mich keine Decke und kein Ofen mehr wärmten. Ich verstand die Inhalte nicht, aber der Schrecken übertrug sich um so mehr. Schrecken 52
53
54
In So ein großer Körper und so ein kleiner Motor wird der Tod des Vaters von Müller als eine Art Urzene ihres Schreibens entworfen: »Und es fing etwas ganz Neues an, als das Leben meines Vaters zu Ende war – ich fing ein paar Tage später an zu schreiben« (Müller 2013c: 85). Herztier trägt auch insofern autobiografische Züge, als Müller in ihm u.a. den Selbstmord Rolf Bosserts verarbeitet. Der Roman bildet, zusammen mit Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992) und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997) eine Trilogie traumatischer Beschädigungen, die aus den Aktionen des totalitären Überwachsungsstaats resultieren: Alle zwischenmenschlichen Beziehungen werden unterhöhlt und zerstört, das Recht auf Privatheit wird außer Kraft gesetzt (vgl. dazu Mahrdt 2013: 35f.) Zum autobiografischen Hintergrund von Herztier siehe Müller (2016I: 95-121). Zu einem Überblick über die Deportation Rumäniendeutscher in die Sowjetunion siehe bspw. Dobrincu (2005) sowie Klein (2005).
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
ohne Inhalt alarmiert ein Kind unverantwortlich. Ich verstand nicht, worum es geht. Aber schwelend tat es mir weh.« (Ebd.) Immer wieder wird die eigene Biografie auf diese Weise in den essayistischen, fast immer autobiografisch geprägten Arbeiten betrachtet und zugleich in den fiktionalen Texten bearbeitet. Müllers Texte erschrecken und irritieren; sie verwundern und verwunden gleichermaßen. Diese »Ästhetik der Verwund(er)ung« (Eke 2002: 66) verweist auf eine Funktion der Literatur, die sich mit Begriffen des ›therapeutischen Schreibens‹, der ›Aufarbeitung‹ oder ›Zeugenschaft‹ fassen lässt. Erzählen hat dann eine bestimmte Wirkungsintention: Es bietet die Möglichkeit, Vergangenheit zu überwinden und, eventuell, Wunden zu heilen. Müller bemerkt in ihrem Essayband Der König verneigt sich und tötet: »Ich muß mich im Schreiben dort aufhalten, wo ich innerlich am meisten verletzt bin« (Müller 2010f: 185). Diese Idee einer möglichen Art von Wundheilung durch das Schreiben bzw. ›im Schreiben‹ wird in ihrer Rede Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel noch einmal anders gewendet. Dort heißt es: »Was ich schreib, muss ich essen, was ich nicht schreib – frisst mich.« (Müller 2013d: 109) ›Fressen oder gefressen werden‹, so könnte man plakativ formulieren, bilden hier zwei Pole ab, die eine Entscheidung erforderlich machen und in ihrem Verweis auf die Körperlichkeit dieser beiden Vorgänge zwar noch einmal auf das Motiv der Wunde zurückverweisen, ihnen jedoch zugleich auch ein aggressives Potential unterlegen. Literatur wird hier sozusagen zum Therapeutikum, zu, so schreibt Müller in Lebensangst und Worthunger, »einer Art, mit sich selbst zurechtzukommen« (Müller 2013I: 7), zu einer rückwirkend produktiv werdenden Darstellung der Vergangenheit und »zu einer Art Wirklichkeit« (ebd.), der eine ergänzende und produktive Funktion anerkannt wird: »Was bei der Tatsache nicht geschehen ist, es passiert bei ihrer Rekonstruktion.« (Müller 2009I: 23) Müllers Texte erproben folglich Schreibweisen, die das bereits Geschehende be-, um- und überschreiben. Das ostentative Umkreisen der Vergangenheit in Müllers essayistischen Arbeiten verweist auf den realhistorischen Hintergrund, vor dem nun auch die Niederungen noch einmal an Kontur gewinnen.55 Im fiktiven Dorfkosmos allerdings ist ein Schweigegebot über die Vergangenheit verhängt. Einzig im Bild des Unkrauts erweist sich diese als präsent. Das in die Gegenwart der Ich-Erzählerin hineinwuchernde Unkraut lässt sich insofern als eine Art ›Rest‹ aus der Vergangenheit verstehen, wie sich am Beispiel eines das Dorf sukzessive durchdringenden Himbeerstrauchs illustrieren lässt: »Zwischen uns und den Nachbarn ist der Garten voller Himbeeren. Sie sind so reif, dass man sich die Finger blutig pflückt. Vor ein paar Jahren hatten wir keine Himbeeren, nur der Nachbar hatte ein paar Stauden in seinem Garten. Jetzt sind sie herübergekommen in unseren Garten, und bei ihm steht keine einzige Staude mehr. Sie wandern. Der Nachbar sagte mir einmal, dass auch er sie nie gepflanzt hat, sie sind allein gekommen aus einem anderen Garten. In ein paar Jahren werden auch wir keine mehr haben,
55
An dieser Stelle setzen auch jene eingangs geschilderten traumatologischen Lesarten an. Reents (2017: 228) konstatiert diesbezüglich: »Produktionsästhetisch bildet dabei das individuell schmerzlich Erfahrene den Anlass zum Schreiben, die Texte selbst literarisieren das erlebte Trauma und den Versuch von dessen Bewältigung.«
127
128
Ruderale Texturen
sie werden weitergewandert sein. Iss dich jetzt satt, denn das Dorf ist klein, und sie wandern zum Dorf hinaus.« (N 101f.) Im Bild der Himbeeren wird die Vorstellung einer unkontrollierbaren Vergangenheit gebündelt, die durch die Gegenwart der Ich-Erzählerin ›wandert‹ und auch die Gegenwart des schreibenden Ich erfasst. Diese Gedankenfigur eines ›deutschen Erbes‹, welches (unkrautartig) Besitz von der erzählten Welt nimmt und die Gegenwart ›überwuchert‹, funktioniert dabei in struktureller Ähnlichkeit zu den am Dorfrand wachsenden überdimensionierten Kelchblättern. Wie das Kind den dörflichen Raum, so vermag es auch der Text selbst kaum, sich davon freizuhalten. Gleichzeitig zeigt die vegetative Dynamik auch, dass die Vergangenheit, sofern sie nicht literarisiert oder auf andere Weise festgeschrieben wird, dem Vergessen geweiht ist. Die Aussage ›in ein paar Jahren werden auch wir keine mehr haben‹ zeigt diesen prekären Status einer Vergangenheit an, die nicht erinnert werden will, zugleich jedoch erinnert werden muss. Folgt man der Logik dieser Metapher, so erklärt sich auch die morbide und unfruchtbare Konnotation der Pflanzenwelt: Auf einem Boden, in dem die Spuren der nationalsozialistischen Gräueltaten und der Shoah noch präsent sind, kann nichts Fruchtbares und Kraftvolles mehr gedeihen. Die prekäre Vergangenheit zeigt sich in Bildern ›regenfauler Halme‹ und ›erstickender Blätter‹. Müllers Literatur agiert hier innerhalb der entsprechenden semantischen Umbesetzungen. Während sich einerseits von einer Poetik der Archivierung sprechen ließe, die den totgesagten Ort im literarischen Text konserviert, wird andererseits schnell deutlich, dass die kraftlosen Wucherungsformen der Ruderalvegetation auch poetologische Konsequenzen haben. Wie die Himbeeren, so entstehen auch Müllers Erzählungen im bzw. aus dem peripheren Nirgendwo. Sie erscheinen als eine ›wuchernde‹ Textur, an der man sich, um im Bild zu bleiben, ›die Finger blutig pflückt‹. Damit ähneln sie in gewisser Weise den von Kohlenstaub bedeckten Goldruten in Strittmatters Wundertäter oder der im nächsten Kapitel betrachteten, auf Abraum wachsenden »Wildnis mannshoher Brennesseln« (A 127) in Hilbigs Erzählung Alte Abdeckerei. Die unkontrolliert wachsende Natur fungiert durch die ihrer vegetativen Metaphorik inhärente Vitalität als eine Möglichkeit, dort etwas entstehen lassen, wo nur (noch) Stagnation, Verfall oder Zerstörung zu finden sind. Gleichzeitig hat die ›lebendige Metapher‹ (Ricœur) in Müllers Fall allerdings ihre ›Lebendigkeit‹ eingebüßt: Zwar lässt sich Ruderalität noch als ein metaphorologischer Ausdruck verstehen, der innovative Semantiken ermöglicht, doch entpuppt sich das, woraus die Metapher selbst besteht, das Unkraut, als tot und unfruchtbar. Anders formuliert: Der Rekurs auf das Ruderal ermöglicht Müller zwar einen sprachlichen Ausdruck, doch erweist sich das Ruderal selbst als von den Ereignissen, von denen die Texte berichten, gekennzeichnet. Problematisiert werden auf diese Weise nicht nur die deutsche Vergangenheit, sondern auch die nach 1945 wechselnden Machtverhältnisse, die Müller in einem Gespräch mit Beverly Driver Eddy als neuralgischen Punkt in der Geschichte der Banater Schwaben bezeichnet hat: »Da war der Nationalsozialismus, dann war Stalinismus. Die waren plötzlich in einem sozialistischen Land.« (Eddy 1999: 335) Dieser Wechsel, so die vorgeschlagene Lesart, wird in Müllers Werk durch die Dichotomie von wuchernder Natur und sterilem Mais markiert. Auch hier bietet sich ein Blick auf Müllers essayistisch-
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
poetologische Arbeiten an. In einer Vielzahl ihrer Essays, Reden und Interviews rekurriert die Autorin auf das Bild überdimensionierter Maisfelder und zeigt sich insofern dezidiert interessiert an einem Naturverständnis, dem nicht die oben skizzierte ›wilde‹ Pflanzenwelt, sondern die sterilen Landschaften der sozialistischen Planwirtschaft zugrunde liegen. An dieser Stelle verlangen Müllers Naturentwürfe auch nach einer historischen Kontextualisierung.
4.4.
Sozialistische Maisfelder
Müllers Niederungen wurden immer wieder als eine literarische Reaktion auf die Kindheit der Autorin im banatschwäbischen Dorf gelesen. Der literarische Entwurf eines Verfallsszenarios gründet allerdings auch in einem Zusammenhang. Das Leben unter der »doppelte[n] Herkunftslast zweier Diktaturen« (Eke 2017a: 2), »im Schlagschatten des Nationalsozialismus als väterlichem Erbe und des Stalinismus als Hinterlassenschaft des anderen, des sozialistischen Über-Vaters Stalin« (ebd.) schreibt sich kontinuierlich in Müllers Œuvre ein. Richtet man den Fokus auf jene nur implizit in der Erzählung anklingenden historischen Rahmenbedingungen – die SS-Vergangenheit vieler Banater Schwaben, die Stalinistischen Deportationen im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg, die Überwachung durch die Securitate – so wird deutlich, dass Müller nicht nur ihre eigene Kindheit und die Verstrickung der deutschen Bevölkerung in die Grausamkeiten des Holocaust, sondern auch die repressiven Strukturen des diktatorischen Ceauşescu-Regimes literarisch aufarbeitet. Die mit dem Leben in einer Diktatur verbundenen Gefühle von Überwachung, Unterdrückung und Hörigkeit finden ihren Ausdruck nun im Bild steriler Maisfelder. Deren realhistorische Omnipräsenz wiederum gründet in den mit den sozialistischen Modernisierungsbestrebungen verbundenen Prozessen landwirtschaftlicher Umgestaltungen. Obgleich der Maisanbau schon immer die Hauptnahrungsquelle der Banater Schwaben darstellte, lässt sich in den Erzählungen Müllers eine semantische Verschiebung in seiner Bedeutung feststellen. Wie in anderen Staaten des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wurde der Maisanbau in Rumänien in den 1970er Jahren gesteigert, in Müllers Erinnerung »liefen die Maisfelder um die ganze Welt« (Müller 2016I: 7). Die expandierende Ordnung, die in den literarischen Erzählungen allerdings nur zwischen den Zeilen thematisiert wird, lässt sich genauer fassen: Rumänische Dörfer, so auch die des Banats, wurden in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Rahmen sozialistischer Modernisierungsbestrebungen umgestaltet. Die bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte Bodenreform und die daran anschließenden Kollektivierungsmaßnahmen leiten in Rumänien – wie auch in anderen osteuropäischen Staaten – eine tiefgreifende Transformation des ländlichen Raums ein.56 Auch das Banat geriet unter sowjetischen Einfluss. Unter Gheorghe Gheorghiu-Dej, dem Parteichef der Rumänischen Kommunistischen Partei, wurde 1945 die sogenannte Agrarreform, 56
Dieser Transformationsprozess Osteuropas wurde in letzter Zeit v.a. in der Geschichtswissenschaft vergleichend und mit Rücksicht auf transnationale Verflechtungen untersucht, siehe dazu bspw. Bauerkämper/Iordachi (2014).
129
130
Ruderale Texturen
die Enteignung der deutschen Landwirte57 , umgesetzt. Alle Angehörigen der deutschen Volksgruppe, gegen die sich das Agrarreformgesetz in seiner nationalpolitischen Ausrichtung wandte, verloren im Zuge der sozialistischen Umgestaltung Rumäniens ihre Häuser und Höfe. Nachdem diese Bodenreform, die die landwirtschaftlichen Großbetriebe zugunsten von Kleinbauern zerschlug, abgeschlossen war, wurden bereits 1949 die ersten Kollektivwirtschaften gegründet, die wiederum die kleinen und mittleren Bauernwirtschaften zerstörten und in neu geschaffene Großbetriebe hineinzwangen. Im Frühjahr 1962 war das Ziel der Kollektivierungskampagne erreicht: Grund und Boden sowie die Ausstattung an landwirtschaftlichen Maschinen und das Großvieh gingen bei der Vergenossenschaftung in Gemeinschaftseigentum über.58 Mit dieser Zwangsmodernisierung war ein tiefgreifender Wandel verbunden: Die alten ökonomischen und politischen Strukturen und Beziehungen wurden aufgelöst, neue, bislang unerprobte Sozialformen dafür eingeführt. War die Sozialordnung des Dorflebens alter Prägung durch Familienwirtschaft und individualistische Produktionsweisen bestimmt, so verloren die Bauern nicht nur das Verfügungsrecht über die Produktionsmittel, sondern sahen sich auch mit einem Wandel der Sozialordnung konfrontiert: »Das Selbstverständnis der Gruppe und das Gefüge ihrer Normen und Werte geriet ins Wanken.« (Schenk 1992: 171) Mit der Zerschlagung der selbstständigen Bauernwirtschaften gerieten die gewachsenen Strukturen im ländlichen Raum unter Druck und das Verhältnis der Menschen untereinander und zu ihrer Heimat veränderte sich.59
57
58
59
Das Agrarreformgesetz vom 23.03.1945 bestimmte, dass privater Grundbesitz von mehr als 50 Hektar entschädigungslos zu enteignen war. Der Bodenbesitz von »Kollaborateuren mit dem nazistischen Deutschland, von Kriegsverbrechern und von für das Unglück des Landes Verantwortlichen« (Schenk 1992: 165) wurde eingezogen. In der Folgezeit wurde diese Verstaatlichung auch auf weniger als 50 Hektar ausgeweitet, im März 1949 war die Bodenreform abgeschlossen. 1956 erhielten die Deutschen in Rumänien ihre Häuser zwar zurück; zu diesem Zeitpunkt hatte allerdings schon eine soziale Umstrukturierung stattgefunden: Waren 1944 noch etwa 75% der Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen in der Landwirtschaft tätig gewesen, so waren es 1956 nur noch 22%, 71% hingegen waren Arbeiter oder Angestellte (vgl. ebd.: 167). Da die ehemaligen Bauern durch ihren Eintritt in die Produktionsgenossenschaften die Möglichkeit erhielten, in den Dörfern wieder einer geregelten Tätigkeit nachzugehen – durch den Beitritt zur Cooperativă Agricolă de Producţie (CAP, dt: die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften) erhielten sie wieder Ackerfläche − , schritt die Vergenossenschaftung in Gegenden mit deutschen Einwohnern schneller voran. Natürlich ist dieser Überblick stark verkürzt: Eine präzise Beschreibung der landwirtschaftlichen Umgestaltungen müsste auch die rumänische Bevölkerung miteinbeziehen. Einen Überblick bieten hier u.a. Kligman/Verdery (2011), Thelen (2003) sowie Schenk (1992). Laut Schenk bearbeiteten in den 1970er Jahren die CAP über 61% der landwirtschaftlichen Nutzfläche, den Ĭntreprindere Agricolă de Stat (den Staatsfarmen des staatlichen Agrarsektors) standen circa 30% zur Verfügung. In den Gebirgsgegenden, wo die Bodenbearbeitung durch Maschinen auf Schwierigkeiten stieß, existierten zudem noch private Bauernwirtschaften (vgl. Schenk 1992: 166). Bei Kligman/Verdery (2011: 3) heißt es diesbezüglich: »For many, however, collectivization was the major trauma of the socialist period. Because 77 percent of the population resided in rural areas as late as 1948, this one traumatic policy was more far-reaching and effected more Romanian citizens – twelve million out of sixteen million – than any other single act of the entire communist period.«
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
Auch Müllers Familie hatte nach Kriegsende ihren Besitz durch die Verstaatlichung verloren. Auf der 2009 herausgegebenen Audio-CD Die Nacht ist aus Tinte gemacht (2009) berichtet die Autorin von ihrem Großvater mütterlicherseits, einem Kolonialwaren- und Getreidehändler, der vor dem Zweiten Weltkrieg große Ackerflächen besessen hatte, die nach 1945 in Staatseigentum übergingen. Als Müllers Mutter aus dem sowjetischen Arbeitslager zurückkehrte, musste sie auf dem ehemaligen Gut ihrer Familie als Landarbeiterin für den Staat arbeiten. Diese entwürdigende Situation fängt Müller in einem sich regelmäßig zutragenden Dialog zwischen dem Großvater und seiner Tochter ein, der um den ehemaligen Acker der Familie kreist und stets mit der Bitte der Tochter endet: »Vater, lass das sein. Er gehört uns nicht mehr.« (Müller 2009: 1:13) Die Großeltern, so beschreibt es Müller rückblickend, wurden »aus ihrer Biografie hinauskatapultiert« (ebd.: 1:16). Diese Überführung des Privateigentums in Kollektivwirtschaften bildet den realhistorischen Hintergrund der Maisfelder, die für den hier verfolgten Ansatz besonders in ihrer Funktion als metaphorischer Ausdruck für einen gesellschaftlichen Zustand von Interesse sind. Sie als Bild für die allumfassende gesellschaftliche wie politische Stagnation zu verstehen, mag erst einmal paradox erscheinen, da die sozialistische Planwirtschaft primär Vorstellungen von technischem Fortschritt und landwirtschaftlicher Modernisierung evoziert. Für Müller bündelt sich im Bild der überdimensionierten Felder jedoch die Kraftlosigkeit und tödliche Konformität der Dorfgemeinschaft. Den Feldern und dem Gemeinschaftsleben des Dorfes ist gleichermaßen jedes Entwicklungspotential abhandengekommen. In ihrer Vorlesung In jeder Sprache sitzen andere Augen werden die Maisfelder zur Personifikation des Todes stilisiert: »Ich haßte das sture Feld, das wilde Pflanzen und Tiere fraß, um gezüchtete Pflanzen und Tiere zu füttern. Jeder Acker war das randlos ausgebreitete Panoptikum der Todesarten, ein blühender Leichenschmaus. Jede Landschaft übte den Tod.« (Müller 2010a: 12) Wildes Wachstum weicht gezüchtetem, die Individualität der Konformität. Die Maisfelder verweisen in der Metaphorik Müllers insofern auch auf jede Art von Hörigkeit, Abhängigkeit und Unmündigkeit, die die Autorin sowohl in der nationalsozialistischen Ausrichtung der Banater Schwaben vor dem Krieg als auch in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfassung unter Ceauşescu erkennt. Damit steht der Mais auch für eine mit dem Sozialismus assoziierte Konformität ein. So heißt es bei Müller: »Mais ist für mich die sozialistische Pflanze schlechthin: er hat Fahnen, wächst in Kolonnen, raubt den Blick, und seine Blätter schneiden bei der Arbeit in die Hände.«60 Die Machtstrukturen, die den städtischen und ländlichen Raum gleichermaßen beherrschen, greifen auch auf den Naturraum über, der gerade in seiner Starrheit und Unveränderlichkeit einen unangenehmen Effekt auf den Betrachter ausübt. Es lässt sich vermuten, dass sich das organische Wachstum in den Niederungen aus der Omnipräsenz der sterilen sozialistischen Maisfelder speist. Die Verbindung dieser beiden Sphären rückt eine besondere Konfiguration in den Blick: Der Wunsch nach einer ideologiefreien Zone – sowohl in der dörflichen als auch in der staatlichen Lebenswelt – ruft Metaphoriken des Ursprünglichen und Vegetativen auf den Plan. Die alles überwuchernde und überdauernde Natur bringt eine Hoffnung auf Veränderung mit 60
https://www.deutscheakademie.de/de/akademie/mitglieder/herta-mueller/selbstvorstellung.
131
132
Ruderale Texturen
sich. Müller greift damit die eingangs beschriebenen Muster auf: Auch die deutschen magisch-realistischen Texte der 1920er bis 1950er Jahre schreiben dem Unkraut eine schöpferische Kraft zu, die repressiven Kultivierungsmaßnahmen entgegenzuwirken vermag. Hier lässt sich nun eine interessante Verschiebung beobachten. Müllers Erzählung steht für einen Umschlag ein, der im Vergleich mit den magisch-realistischen Texten deutlich zu Tage tritt. Das schöpferische Unkraut Horst Langes oder Wilhelm Lehmanns sucht man in Müllers tristen Erzählungen vergeblich61 und auch Gabriel García Márquez tropische Vegetation findet kein Pendant in der banatschwäbischen Dorfwelt. Die wuchernde Natur hat in den Niederungen jegliche Form von Fruchtbarkeit und magischer Kraft eingebüßt. Inwiefern Müllers Literatur hier innerhalb der entsprechenden semantischen Umbesetzungen agiert, lässt sich im Vergleich mit einer Passage aus Wilhelm Lehmanns Erzählung Der Bilderstürmer von 1917 illustrieren. Der Bilderstürmer berichtet von der Gründung einer Reformschule in ländlicher Umgebung und rückt mit dem Schulgründer Ernst Magerhold eine Figur ins Zentrum des Geschehens, die das Ziel verfolgt, die Schüler auf ihre persönliche Ideologie einzuschwören und so eine autoritär organisierte Gemeinschaft heranzuziehen, die über Ausschluss dessen, was nicht dem normierten Kulturideal entspricht, funktioniert. Torsten Leine hat auf den Zusammenhang zwischen dem Ziel einer von allen Unterschieden bereinigten Gemeinschaft und dem dieser entgegengesetzten Vorstellung eines ›unberührten‹ Naturraums aufmerksam gemacht. »In der Gebärde des Unkrautzertretens«, heißt es bei Leine, »wird die Kulturtechnik einer normativen Rhetorik als Kultivierungstechnik sichtbar, die nicht zuletzt auch rassenideologisch aufgeladen ist.« (Leine 2018: 118f., Herv. i.O) Der Text setzt Magerhold, der »mit dem Fuße das Einzelne aus[trat], das unter seiner Sohle emporglimmen wollte« (Lehmann 1984: 73), am Ende ein Naturszenario entgegen, das eine von Normen und Ideologie verschonte Sphäre evoziert und zugleich in seiner Konfiguration als genuin Anderes die Denkprozesse des ideologischen Reformers destabilisiert. Lehmanns Erzählung rebelliert hier gegen Totalitarismus und kollektiven Zwang und entwirft Natur schließlich als eine schöpferische Kraft, personifiziert in der Figur des Südwestwinds, die am Ende des Texts den zuvor in einem restriktiv ideologischen Sinne kultivierten Raum wieder neu befruchtet: »Er [der Wind, Anm. J.K.] bestrich die Tür mit den Flächen seiner Hände und langte dann in die bauschigen Taschen seines braunen Mantels. Aus ihnen holte er Schöllkraut und Wucherblumensamen hervor und stopfte ihn in die Ritzen des Bodens. […]
61
Schäfer kann am Beispiel verschiedener zwischen circa 1933 und 1945 erschienener Texte zeigen, dass diese die vom Unkraut überwucherten Rudimenten in das emphatische Vorhaben einbinden, »aus dem offenbar Sinnlosen noch Sinn zu ziehen« (Schäfer 2001: 128). Damit verknüpft ist oftmals ein »dezidierte[r] Anspruch auf ›Abendland‹« (ebd.: 129). Im ruderalen Vokabular werde der »Wiederanschluss an die basalen Grundlagen des (griechisch-römisch-christlich geprägten) Abendlandes« (ebd.: 127) geleistet. In den Ruderalflächen überwintern große Namen (Demeter, Persephone, Aurora, Cäsar, Alexander, Goethe), die das Unkraut in einem doppelten Sinne birgt: Es ver-birgt, d.h. versteckt, und birgt, d.h. rettet, jene für die Werte des Abendlands einstehenden Instanzen. »Während die Zentren der berühmten Städte wie Berlin und Dresden von den alliierten Streitkräften in Schutt und Asche gelegt werden«, so Schäfer, »bewahren die dezentralen und unberühmten Peripherien die kulturellen Werte.« (Ebd.: 128)
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
Der Boden quoll auf. Wie nach einem Siechtum hob er sich. Die welken Arme der umstehenden Bäume richteten sich in die Höhe […]. Auf dem ganzen Hof wellte sich die Erde mit Sprudeln.« (Lehmann 1984: 113) Herta Müllers Naturszenarien lassen diese schöpferische Kraft kaum noch erahnen, selbst das Motiv einer fruchtbaren Pflanzenwelt verwehrt sich als poietische Bildquelle. Die Möglichkeit einer Vermittlungsleistung zwischen ideologischen Kultivierungstendenzen und diesen entgegenstehenden Freiheitsansprüchen kann vor dem Hintergrund der Ereignisse des 20. Jahrhunderts nicht mehr bestehen. Wo in Lehmanns 1917 veröffentlichter Erzählung ›Schöllkraut‹ und ›Wucherblumensamen‹ den Boden ›aufquellen‹ lassen und sich die ›Erde mit Sprudeln wellt‹, zeigen die Niederungen 1982 am Ende eine allumfassende Sumpflandschaft. In diesem Schlusstableau wird die Vorstellung einer prekären historischen Kontinuität bildlich gefasst und zugleich jegliche Hoffnung auf einen Neubeginn negiert. Die Erzählung endet somit mit dem Sumpf, mit dem die Geschichte der Banater Schwaben vor dreihundert Jahren begann. Wenn die Ich-Erzählerin berichtet, sie »hatte an diesem Abend das Gefühl, dass der Hügel, auf dem sich das Dorf befindet, tiefer liegt als das Tal und dass das Grundwasser langsam und kalt in die Straßen steigt« (N 100), so deutet sich hier ein Ende an, das die gesamte dörfliche Welt zuletzt im sumpfigen Gebiet versinken lässt: »Draußen stieg das Wasser in den Tümpeln. Es war kein Mond im Dorf, und das Wasser war blind und geronnen.« (N 102) Diese in der Fantasie der Protagonistin evozierte Rückkehr des einst trockengelegten Sumpfgebiets führt die zivilisatorische Leistung der Einwanderer ad absurdum. In den Paralipomena wird das Ausmaß dieser Sumpflandschaft noch einmal verdeutlicht: »Die Tümpel waren so lang wie das Dorf […]. Die Häuser und Bäume standen darin auf dem Kopf, und zwischen den Telegrafenstangen hüpften große welke Frösche hin und her.« (Müller 1990: 74) Das Ende der Niederungen zeigt: Der Sumpf hat sich die Region längst wieder zurückerobert und das Wasser in den Tümpeln steigt unaufhörlich. ›Blind und geronnen‹, so lässt sich diese Stelle ebenfalls lesen, ist auch das Leben, das allmählich versickert und versiegt. Im (menschlichen) Sumpf der Geschichte findet sich keine schöpferische Kraft mehr, keine magische Kraft des Bodens. Niederungen zeigt ihn als ein kontaminiertes Gebiet. An dieser Stelle bietet sich ein Blick auf Müllers Rede anlässlich der Verleihung des Kleist-Preises 1994 an, die den Titel Von der gebrechlichen Einrichtung der Welt trägt. Müller führt dort die realhistorischen Umstände ihrer Literatur mit Kleists ästhetischen Prämissen zusammen. Bei Kleist, so lautet ein erster Vergleichspunkt, erfahre man »wie die Welt weder im Wissen noch im Fühlen zu erfahren« (Müller 2016a: 7) sei. Alles sei »aufeinander hilflos angewiesen und einander ausgeliefert« (ebd.). Und – so der hier relevante Punkt – dieses ›Alles‹ sei nicht greifbar, es lasse sich nicht fassen, nicht beschreiben, jede Artikulation scheitere letztlich in ihrer Intention: »Es gibt für das, was das Leben ausmacht, keinen Durchblick. Nur gebrechliche Einrichtungen des Augenblicks.« (Ebd.) Diese Position wird von Müller nun auf den Entstehungshintergrund ihres Œuvres übertragen. Die Problematik einer Unbeschreibbarkeit von Welt verweist in diesem Zusammenhang einerseits auf einen Kontext, der hinsichtlich der Collagen bereits anklang und vor welchem Müllers Texte grundsätzlich zu le-
133
134
Ruderale Texturen
sen sind: Die Schwierigkeit, eine Sprache zu finden, stellt − spätestens seit Hugo von Hofmannsthals Ein Brief (1902) – schlicht das Grundproblem der Moderne dar und kulminiert in der sogenannten ›Sprachkrise‹, die auch Müllers Texten als Folie unterlegt ist.62 Die berühmte Klage des Lord Chandos lautet: »Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.« (Hofmannsthal 1991: 48f.) Problematisch wird nach 1945 jedoch andererseits auch, und dies stellt zugleich den zweiten Vergleichspunkt zu Kleist dar, die unvoreingenommene, das heißt unschuldige Wahrnehmung der Welt, wie sie für Kleist noch, so fasst Eke (2007: 268) zusammen, in der »Vorstellung eines erkenntnistheoretischen Frei-Raums vor der Erlangung des Bewusstseins« verborgen lag. In ihrer Rede schreibe Müller »das Schöne in das Koordinatenfeld einer historischen Erfahrung ein, die nicht zuletzt auch die geschichtsphilosophische Perspektive von Kleists Kunsttheorie habe haltlos werden lassen« (ebd.). Kleists Vorstellung erfährt für Müller im 20. Jahrhundert eine entscheidende Modifikation: Sie habe sich »ihre Gültigkeit selber abgesprochen« (Müller 2016a: 10). Während Kleist in seinem Aufsatz Über das Marionettentheater (1810) noch von einer Rückkehr der ›Grazie‹ – als Versöhnungsmoment der Pole Sinnlichkeit und Vernunft beziehungsweise Natur und Freiheit – träumen konnte, die für ihn auch mit einer »›unschuldigen‹ Welt-Wahrnehmung« (Eke 2007: 268) einherging, so ist diese Idee einer ›unschuldigen‹ Wahrnehmung für Müller nicht mehr möglich: »Wo sich bei Kleist, ›wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder einfindet‹, da gelangte die Welt nach dem Nationalsozialismus und nach dem Stalinismus nie mehr hin.« (Müller 2016a: 10) Müller fährt fort: »Ich hätte auf die Suche nach dieser Unschuld gehen können, aber sie hätte nichts genützt. Denn gezeugt worden war ich nach dem Zweiten Weltkrieg von einem heimgekehrten SS-Soldaten. Und hineingeboren worden war ich in den Stalinismus. Der Vater und die Zeit – beides Tatsachen, die das Sich-wieder-Einfinden der Grazie unwiederbringlich machen.« (Ebd.) Vor dem Hintergrund der Verbrechen des Dritten Reichs, dem Zivilisationsbruch von Ausschwitz, den Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs sowie dem Terror der Stalinistischen Ära – kurz: vor dem Hintergrund der Ereignisse des 20. Jahrhunderts als einem ›Zeitalter der Extreme‹ (Eric Hobsbawm) – ist ein Zurück nicht mehr möglich. So heißt es auch in Müllers Rede: »Es ist immer noch so, wie Kleist sagt: Vorne ist ›das Paradies verriegelt‹, und ›wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist‹. Ja, wir müssen. Aber da, wo vorne Diktatur ist, kann auch irgendwo hinten nichts mehr offen bleiben.« (Müller 2016a: 15)63
62 63
Ausführungen zu dieser Sprachskepsis finden sich u.a. in Müllers Essayband Der König verneigt sich und tötet (2003). Diese Beobachtung konvergiert mit der Kennzeichnung des 20. Jahrhunderts als ›Zeitalter des Traumas‹ (age of trauma, Miller/Tougaw 2002: 1) bzw. als ›katastrophisches Zeitalter‹ (catastrophic age, Caruth 1995: 11), wodurch ›Trauma‹ auch als »neues Deutungsmuster für Moderne und Modernität allgemein« (Bronfen/Erdle/Weigel 1999: VII) greifbar wird (diese Zitate finden sich auch bei Reents (2017: 227).
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
Die hier in Anlehnung an Kleist formulierte Weltsicht erzeugt nun, und dieser Aspekt soll abschließend im Vordergrund stehen, eine besondere Poetik, die darauf reagiert, dass hier Wahrnehmung selbst zum Problem wird: »Unwiderruflich in die Geschichte verwiesen«, so hält Eke fest, »produziere das Auge nicht mehr unschuldige, ›wahre‹, sondern ver-rückte, das heißt von Diskursen durchzogene, besetzte Bilder.« (Eke 2007: 268, Herv. i.O.) Müllers poetisches Schreibprogramm trägt dieser Problematik ›besetzter‹ Bilder nun ebenso Rechnung wie der Vorstellung von einer ›gebrechlichen Einrichtung des Augenblicks‹.64
4.5.
Zwischen Abbildungsbegehren und Sprachkritik
Die anthropomorphe Pflanzenwelt des Magischen Realismus hat in den Niederungen ihr schöpferisches Potential eingebüßt. Ruderalität wird hier zum Ausdruck der historischen Situation, aus der heraus Müllers Erzähltexte entstehen. Nicht nur der Boden ist ein anderer als vor 1945, auch das Unkraut selbst hat sich verändert und damit die von ihm angesprochenen Bildbereiche und Metaphoriken. Vor diesem Hintergrund entwickelt die Autorin nun eine Schreibweise, die sowohl die disharmonische Wirklichkeit des Totalitarismus als auch die damit verbundenen subjektiven Befindlichkeiten einzufangen sucht. In der Müller-Forschung, dies vorab, herrscht weitgehend Einverständnis darüber, dass es sich bei Müllers Werken nicht um eine mimetisch-realistische Literatur handelt, sondern dass vielmehr von Transzendierungsformen des Realen oder nichtmimetischen Palimpsesten gesprochen werden kann (vgl. Eke 2008: 253). Dagmar von Hoff hält fest, Müllers Literatur löse »eine realistische Schreibweise durch assoziierte Montage auf, in der Wirklichkeitspartikel neben Erinnerungen, Gedanken, Bildern und Träumen stehen« (von Hoff 1998: 99) und John White nennt Müllers Texte »in many respects more palimpsests of the political than overtly mimetic reflections of the totalitarian world« (White 1998: 76). In Müllers Werken wird die Wirklichkeit, so lässt sich zusammenfassen, zum Ausgangspunkt verschiedener Transgressionen. Immer wieder kreist Müllers Schreiben um die Frage nach der Abbildbarkeit der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung. Besonders eindrücklich lässt sich dies an den ab 1991 entstehenden Collagen nachvollziehen. Sie verfolgen ein poetisches Prinzip, das auf eine adäquate Abbildung von Wirklichkeit zielt und attestieren dabei dem konkreten Wortmaterial ein magisches Potential. Darüber hinaus lassen sich an den Collagen inhaltliche und formale Bezüge erkennen, die über sie hinausgehen und sie sowohl mit dem Prosawerk verbinden lassen als auch Rückschlüsse über Müllers Weltwahrnehmung ermöglichen. Müllers kritisches Verhältnis zur Abbildbarkeit der eigenen sub64
Indem Müller in ihren Essays auf Georges-Arthur Goldschmidt, aber auch auf Ruth Klüger, Inge Müller, Paul Celan oder Jorge Semprún verweist, verortet sie sich im Kontext verschiedener autobiografischer Schreibformen, die alle nach dem Zweiten Weltkrieg und als Reaktionen auf den nationalsozialistischen Faschismus entstanden. Insbesondere die Celan-Rezeption erweist sich als konstitutiv für Müllers Poetik und ist u.a. auch ausschlaggebend für die Haltung prüfender Distanz gegenüber der banatschwäbischen Gemeinschaft (vgl. bspw. Patrut 2017). Müller stellt für ihr Schreiben auf diese Weise eine »differente Traditionslinie« (von Hoff 1998: 99) her, die sie innerhalb einer Literatur verortet, die dezidiert gegen das Vergessen anschreibt.
135
136
Ruderale Texturen
jektiven Wahrnehmung wie auch zur Sprache im Allgemeinen äußert sich in einem Schreiben, das auf die Formexperimente der historischen Avantgarden zurückgreift. Ihre Arbeiten, die den Prozess der Verwandlung von Wahrnehmung in Literatur auf verschiedene Weise reflektieren, verdeutlichen auf formaler wie inhaltlicher Ebene ein Spannungsverhältnis von Abbildungsbegehren und Sprachkritik, wobei es Müller nicht um Abbildbarkeit im realistischen Sinne geht, sondern vielmehr um einen Blick hinter die objektive Wirklichkeit, um eine Darstellung von unkonventionellen Perspektiven und einem ›magischen Hintersinn‹, der durch subjektive Wahrnehmungsprozesse erzeugt wird. In diesem Zusammenhang erfährt auch das surrealistische Verfahren des frühen 20. Jahrhunderts eine Modifikation: Es wird auf die Dinge verlagert, die für Müller so zum verbindenden Glied zwischen Realität und Fiktion avancieren.65 Zu Müllers Collagenwerk existieren innerhalb der Forschung zwei verschiedene Deutungsansätze. Die in den Collagen vorgenommene Parzellierung von Wirklichkeit wird oftmals in der Tradition der Avantgarden, insbesondere des Surrealismus, verortet66 und der Prozess der bricolage als Ausdruck eines Abbildungsbegehrens verstanden, das die disharmonische Wirklichkeit durch künstlerische Fragmentierungsprozesse einzufangen sucht. Vor allem in der anglophonen Forschung steht diesem Verständnis jene bereits eingangs erwähnte Interpretation entgegen, die Müllers Erzählen in Brüchen und Rissen als Ausdruck einer Traumatisierung liest und ihr fragmentarisches Schreiben mit einem autofiktionalen Schreibgestus erklärt. Beide Interpretationsweisen werden dabei auch auf Müllers narrative Texte ausgeweitet und zur Erfassung der dissoziativen Schreibstrategien der Autorin herangezogen. Sie überschneiden sich an verschiedenen Stellen, so beispielsweise im Hinblick auf Müllers Umgang mit der eigenen Erfahrung und Wahrnehmung.
4.5.1.
Poetik des Details: das Collagenwerk
In Herta Müllers 1989 veröffentlichtem Roman Reisende auf einem Bein kauft die Hauptfigur Irene eine Ansichtskarte, auf der ein Schwimmbad, ein Schachbrett und einige Schachspieler zu sehen sind. Etwas abseits davon ist zudem ein Mann abgebildet, über den es heißt, der Fotograf habe ihn wohl »nicht wahrgenommen«, er »gehörte nicht ins Bild« (Müller 2010I: 48). Diesem Mann kommt für die Protagonistin eine besondere Bedeutung zu: »Die Karte der Schachspieler war für Irene die Karte des Mannes, der abseits saß. Nur so wurde die Karte ein Geschehen, das nicht zu Ende war.« (Ebd.) Dieser abseits sitzende Mann, darauf hat Dunker (2017) hingewiesen, lässt sich mit Roland Barthes als punctum begreifen, als ein Element, »welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt« (Barthes 2008: 36). »Das punctum einer Photographie«, heißt es bei Barthes, »das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch 65
66
Diese ›Ding-Verschärfung‹ lässt sich auch zu García Márquez Credo »Die Dinge haben ihr Eigenleben […] es kommt nur darauf an, ihre Seelen zu erwecken.« (García Márquez 2017: 7) in Beziehung setzen, welches dieser in Hundert Jahre Einsamkeit dem für das Wunderbare zuständigen Zigeuner Melchíades in den Mund legt. Dass Müller mit dem Roman vertraut ist, haben Nubert (2008) und Opitz (2012) gezeigt. Zur Verortung Müllers im Kontext avantgardistischer Schreibweisen siehe bspw. Eke (2002), Eddy (2013) sowie Schenk (2016).
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
verwundert, trifft)« (ebd., Herv. i.O.). Die Protagonistin schneidet den Mann, das sie ›bestechende‹Detail, aus und schickt ihn per Brief an einen Freund. Anschließend legt sie den Rest der Postkarte neben unterschiedliche Abbildungen, woraufhin verschiedene Collagenformationen entstehen: »Ein großer Daumennagel neben einem fahrenden Bus. […] Ein Riesenrad mit fliegenden Leuten neben einem fernen Wasser. […] Ein Gesicht, das flog von der Geschwindigkeit neben einem Mädchen im Schaukelstuhl. […] Eine Drehtür im steinigen Gebirge.« (Müller 2010I: 49) Nach diesen zufällig entstehenden Bildkompositionen schneidet Irene schließlich Fotos aus Zeitungen aus und klebt sie »auf einen Bogen Packpapier nebeneinander« (ebd.: 50). Der hier in einem narrativen Text beschriebene Vorgang des Collagierens steht am Anfang von Müllers produktiver Auseinandersetzung mit der Form der Collage. Er gibt insofern nicht nur Auskunft über das von der Protagonistin im Roman angewandte Verfahren, sondern lässt auch Rückschlüsse auf Müllers eigene Arbeiten zu. Wenn es in Reisende auf einem Bein heißt: »Sie mußte lange suchen und vergleichen, bis zwei Photos zusammenfanden. Fanden sie einmal zusammen, taten sie das von selbst« (ebd.), so wird hier erstens eine Form der Interaktion zwischen Irene und dem Material deutlich, die aktiv und passiv zugleich ist. Irenes Umgang mit den ausgeschnittenen Bildfragmenten offenbart eine eigenartige Gegensätzlichkeit zwischen einem aktiven Suchen der Protagonistin und einer Selbstständigkeit des Materials, die Müller auch für ihr eigenes Collagenwerk beansprucht. In dem 2014 erschienenen Interviewband Mein Vaterland war ein Apfelkern konstatiert sie, in den Collagen entstehe für sie eine Form von »Leichtigkeit, weil ich das Gefühl habe, ich bin es gar nicht, die den Text mit den ausgeschnittenen Wörtern macht, das machen die Wörter selbst« (Müller 2016I: 231). »Überall«, so heißt es dort, »haben Wörter gewartet, ich habe sie nur ausschneiden müssen« (ebd.: 222).67 Der handwerkliche Vorgang des Collagierens zeigt sich insofern, sowohl für die Protagonistin als auch für die Autorin, als ein von Zufall und Struktur gleichermaßen bestimmtes Verschieben und Neu-Kombinieren, das dem klebenden Subjekt und dem verarbeiteten Material gleichermaßen Handlungspotential zuspricht. Das zu einer neuen Einheit zusammengefügte Material zeigt sich in Reisende auf einem Bein zweitens als »ein einziges fremdes Gebilde« (Müller 2010I: 50), denn, so bemerkt Irene, die »Verbindungen, die sich einstellten, waren Gegensätze« (ebd.). Auch Müllers eigene Collagen, alle bestehend aus einem Text- und einem Bildteil, arbeiten mit mehrdeutigen und schwer zu entschlüsselnden semantischen, medialen oder visuellen Bezügen und erschaffen auf diese Weise eben jene ›gegensätzlichen Verbindungen‹, die schon die Romanfigur Irene beobachtet. Wie Reisende auf einem Bein zeigt, eröffnen allerdings gerade jene schiefen Zusammenstellungen neue Perspektiven auf die Wirklichkeit: »So fremd war das Gebilde, daß es den Punkt traf, an dem das
67
Inwiefern dieser Findungsprozess der Wörter auch mit Müllers literarischer Textproduktion verknüpft ist, zeigt die folgende Aussage: »Doch bevor ich den Satz schreibe, beobachtet mich der Satz.« (Müller 1991b: 35) Wie auch das ausgeschnittene Wort wird hier der Satz, das Sprachmittel, als vorgängig beschrieben. Der Signifikant geht dem Signifikat voran. Als Ziel formuliert Müller daher: »Immer neue Worte und immer neue Reihenfolgen in den Worten suchen, um das zu treffen, woraus der Satz besteht. Um den Satz so zusammenzukriegen, wie er sich selber sieht.« (Ebd.)
137
138
Ruderale Texturen
Lachen des Mädchens im Schaukelstuhl denselben Abgrund auftat wie der Tote im Anzug.« (Ebd.: 50) An dieser Beobachtung lässt sich ein Wirkungspotential der Collagen erkennen, das Müller auch in ihren literarischen Texten verfolgt. Indem das Material fragmentiert und anschließend neu zusammengesetzt wird, kann ein ›neues Sehen‹ generiert werden, das die Autorin aus den historischen Avantgarden übernimmt. Mit den Theorien des ›neuen Sehens‹ der literarischen Moderne ist Müller zweifellos vertraut. »Bilder des Sehens«, so bemerkt auch Köhnen (2017: 191), »werden für die Autorin zu einer Heuristik des Schreibens«, »Verfremdungsstrategien, Maßgaben des ungewöhnlichen, die Denkordnungen entregelnden Blickes« bestimmen die Wahrnehmungsordnungen von Müllers Collagen und Erzählungen.
4.5.2.
Das »Millimeterpapier der Erinnerung«
Das Vorgehen der Figur Irene in Reisende auf einem Bein weist bereits auf die Schneide- und Klebepraktiken der Wortmontagen hin, noch bevor Herta Müller beginnt, in ihrem zwei Jahre später erscheinenden Vorlesungsband Der Teufel sitzt im Spiegel: Wie Wahrnehmung sich erfindet (1991) erste Collagen zu veröffentlichen. Das meist aus Medien wie Zeitungen und Zeitschriften stammende Material wird dabei, ganz in der Tradition der Gestaltungsweisen und Formprinzipien der historischen Avantgarden, fragmentiert und anschließend zu etwas Neuem zusammengefügt68 , zugleich geht Müller über die Praktiken der Avantgarden hinaus und codiert diese neu.69 Ihre Beschäftigung mit den Avantgarden steht in Zusammenhang mit der eingangs skizzierten Liberalisierungsphase in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und der epigonalen Moderne des banatschwäbischen Literaturbetriebs. 20 Jahre nach dem Ende dieser kurzen ›Tauwetter‹-Periode entstanden, werden die Collagen zudem als eine Reaktion auf die realhistorischen Umstände unter dem Regime Ceauşescus lesbar. Schreiben und Schneiden lassen sich als eine Reaktion auf den Totalitarismus verstehen. Die Zergliederung des Wirklichkeitsmaterials dient auch als Ausdruck eines Widerstands, der sich vor allem auf formaler Ebene artikuliert. Damit ist ein bestimmter ästhetischer Effekt verknüpft: Obgleich durch das Format der Karte zwar gerahmt, erscheinen die Collagen – »Stück-Werk aus heterogenem Wirklichkeitsmaterial« (Eke 1997: 483)70 – nicht als glattes, geschlossenes Artefakt und nehmen dem Sprachkunstwerk so seine Selbstverständlichkeit. Damit entziehen sie 68
69
70
Das so entstehende Kunstwerk ist dadurch zweifach codiert. So tragen in Reisende auf einem Bein die eingefügten Schnipsel und Bruchstücke noch die Spuren ihrer Herkunft: »Wo Irenes Hand gezittert hatte, sah der Rand so aus, als nehme die Zeitung das Photo zurück ins Papier.« (Müller 2010I: 50) Zugleich bilden sie aber auch einen neuen Zusammenhang: die zuletzt an der Küchentür befestigte Collage. Für Köhnen (2017: 193) sind die Collagen »zwischen Schwittersʼ Merzbildern mit ihren AlltagsTextschnipseln, William Burroughsʼ für den Untergrund umfunktionierter cut-up-Technik und RolfDieter Brinkmannns Foto-Text-Collagen verortbar«. Allerdings reduziert Müller v.a. in ihren neueren Collagen die Zeitungsausschnitte auf kleinste semantische Einheiten und verwendet insofern vor allem Wort-Material, wodurch der für die Collage konstitutive Eindruck der Disparatheit weniger auf einer Materialebene als auf einer semantischen Ebene erzeugt wird (vgl. Eke 2017a: 11). Das Sprachmaterial Müllers ist dabei die »Sprache des Alltags, der Zeitungen und Prospekte« (Hedayati-Aliabadi 2012: 5).
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
sich jeglicher Form konventionalisierter Wahrnehmungssysteme. Indem sie Bruchstücke ausstellen, die niemals ganz zu einer Einheit verbunden werden können, bleibt ihnen darüber hinaus etwas Widerständiges eingeschrieben.71 Dieses Widerstandsmoment hat einen realhistorischen Hintergrund. Es speist sich aus Müllers Unbehagen an Ganzheiten und Kontinuitäten und resultiert aus ihrem Misstrauen gegenüber utopischen Gesellschaftsentwürfen. In einem unter dem Titel Zehn Finger werden keine Utopie veröffentlichten Vortrag bemerkt sie: »Die Ideologie des Sozialismus war eine angewandte Utopie. Die angewandte Utopie ergab eine Diktatur.« (Müller 2016b: 53) Dem umfassenden Anspruch dieser ›angewandten Utopie‹ setzt Müller mit ihrer Poetik des Details ein Format entgegen, zu dessen konstitutiven Eigenschaften es gehört, jeglichen Zusammenhang aufzulösen. In ihrem Essayband Der Teufel sitzt im Spiegel (1991) findet Müller ein Bild für den epistemologischen Wert der fragmentierten Form. Während die dort zitierte Redewendung ›Der Teufel sitzt im Spiegel‹ im Alltagsgebrauch eine Warnung der Großmutter vor eitler Selbstbespiegelung meint, ein Gebot, das vor Eitelkeit und Selbstzufriedenheit schützen soll, zeigt sie auch das Verbot, genau hinzusehen, ein Verbot, das im Kontext des totalitaristischen Regimes nicht nur das Dorfleben, sondern auch die diktatorischen Machtpositionen betraf.72 Diese Interpretation der Sentenz markiert dann ein genaues Hinsehen, durch das sich die Einzelheiten klar erkennen lassen. Das »harmlose[], sogar poetisch klingende[] Verbot vor dem Spiegel« (Müller 1991a: 22), entpuppt sich so in einer ersten Lesart als Paraphrase eines fragmentierenden Sehens, das zur Aufsplitterung von Totalität führt: »Der Spiegel ist destruktiv.« (Ebd.: 24) »Der Eindruck, daß genaues Hinsehen zerstören heißt, verdichtet sich mehr und mehr. Der Satz ›Der Teufel sitzt im Spiegel‹ wußte das. Wenn man Menschen, auch, wenn sie einem nahestehen, ansieht, wird man schonungslos. Man zerlegt sie. Das Detail wird größer als das Ganze. Man schaut in sie hinein.« (Ebd.: 25f.) Der ästhetischen Wahrnehmung wird hier eine »gleichsam anarchische Sprengkraft« (Eke 1997: 481) zugeschrieben; das Detail wird – als Mittel einer ›Zergliederung‹ – als destruktiv und zerstörerisch lesbar. Als Umkehrung dieser Denkfigur ergibt sich jedoch zweitens auch die Möglichkeit, ›in etwas hineinzuschauen‹ und so scheinbar wah-
71
72
Zu einer sehr fruchtbaren Lesart des Collagenwerks siehe die Arbeiten von Christina Rossi (2016, 2019). Mit Rossis Dissertation erschien 2019 erstmals eine Monografie, die sich ausschließlich Müllers Collagenwerk widmet. Rossi stellt hier v.a. die Frage nach Rezeptionsmöglichkeiten der Collagen und zeichnet wiederkehrende dominante Strukturen nach. Dabei kann sie, trotz des weiten Arbeits- und Publikationszeitraums und des großen inhaltlichen Spektrums, strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Collagen aufzeigen. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Rede zur Verleihung des Kleist-Preises verwiesen, in der Müller schildert, wie anlässlich eines Arbeitsbesuches Ceauşescus die Klatschmohnblüten aus den Weizenfeldern entfernt und die Kühe mit Waschmittel gesäubert wurden: »Wenn man jedoch durch das saubere Fell, weil die Kühe so mager waren, alle Knochen sah, wurden die Kühe versteckt. Es gab für alle Besuche des Herrschers eine gutgenährte Herde, die, kurz bevor er kam, auf die Weide gestellt wurde.« (Müller 2016a: 11f.) Kam der Diktator in die Städte, so wurden »im Spätsommer die ersten gelben Blätter der Linden mit grüner Farbe gespritzt« (ebd.: 12).
139
140
Ruderale Texturen
re (Ab-)Bilder zu hinterfragen.73 Es geht der Autorin auch nach eigener Aussage immer wieder um ein »Hinsehen« (Müller 2010b: 49), das nicht zuletzt auch eine gesellschaftliche Dimension aufweist.74 Müllers Poetik des Details ist diesem doppelten Blick verpflichtet. Sie bietet einerseits die Möglichkeit, utopische Ganzheitsentwürfe aufzulösen und zu dekonstruieren, und diesen andererseits zugleich etwas entgegenzusetzen. Der zergliedernde Blick ermöglicht demnach eine folgenreiche Verschiebung – seine destruktive Kraft kann in ein epistemologisches Potential umgewandelt werden. Müllers Texte rebellieren hier auch gegen die präskriptiven Normen des Sozialistischen Realismus und die utopischen Meta-Narrative, unter denen die Autorin aufwuchs. Sie widersetzen sich künstlichen Panoramabildern und systemtreuen Chronologien, die, so konstatiert Müller in ihrem Essayband Der König verneigt sich und tötet (2010c: 87) »lediglich neue Varianten der vorhandenen Fertigteile aus[loten]«. Auf diese Weise unterlaufen sie jene totalitäre Gesellschaften und Ideologien in Sprache und Praxis kennzeichnenden Sinn- und Ganzheitsversprechen. Damit stehen sie in klar markiertem Gegensatz zu den utopischen Meistererzählungen totalitärer Staaten, deren konstitutive Konzepte imaginierten Utopie-Entwürfen von Frieden und Fortschritt aufruhen. Als Widerstand gegen unmenschliche soziale, politische wie auch kulturelle Ordnungen stellt das hartnäckige Bedienen des Partikularen ein zentrales Verbindungsstück zwischen Müllers Essays, Prosatexten und Collagen dar: »Wer mit dem Detail nicht leben kann«, so formuliert sie prominent, »wer es verbietet und verachtet, wird blind« (Müller 2016b: 65). Müllers von Eugène Ionesco übernommene75 Vorstellung von einem Leben ›im Detail‹ kann folglich sowohl als existenzielles als auch als ästhetisches Programm verstanden werden76 : ihre Sammlung einzelner Wortsegmente in zahlreichen Schubladen als Rebellion gegen totalitäre Schreibvorgaben: »Denn Wortbesitz im Überfluss ist das Gegenteil von früher, von Zensur.« (Müller 2016I: 231)77
73
74
75 76
77
In Herztier, darauf weist auch Eke (2007: 272) hin, wird das Ungenügen an scheinbar wahren (fotografischen) Abbildern thematisiert. Dort zeigt die Fotografie des Peinigers Pjele nicht den Schrecken, den dieser im System der Staatsmacht verbreitet, sondern einen harmlosen Mann, d.h. nur den äußeren Schein. Müller inszeniert hier eine Erfahrung des 20. Jahrhunderts, die sich mit Hannah Arendt als ›Banalität des Bösen‹ beschreiben lässt. In Die rote Blume und der Stock schreibt Müller: »Sich als einzelner zu begreifen und von diesem Punkt aus die Details an sich und den Dingen auszuhalten, wie es zu einer zivilen Sozialisation gehört, das wurde nicht zugelassen.« (Müller 2010e: 156) »Ich halte mich daran fest, dass Eugène Ionesco schreibt: ›Leben wir also. Aber man lässt uns nicht leben. Leben wir also im Detail.‹« (Müller 2016b: 65) Diese Sichtweise findet sich auch bei Richard Wagner, der Müllers literarisches Werk maßgeblich beeinflusst hat. In Poetologik (2017) konstatiert Wagner, die Literatur müsse »vom Detail ausgehen und nicht vom Ganzen« (Wagner/Rossi 2017: 58). Die (Re-)Konstruktion der Texte aus Details und Fragmenten, ihre Formprinzip einer Zergliederung in einzelne Parzellen, in kurze und kürzeste Abschnitte, steht darüber hinaus auch in engem Zusammenhang mit der oftmals deutlichen Präzision, die die Opfer totalitärer Regime als künstlerisches Mittel verwenden: Indem sie minuziöse Beobachtungen und augenscheinlich unzusammenhängende Aspekte ihrer Umgebung protokollieren, versuchen sie, die Kontrolle über unkontrollierbare Begebenheiten zurückzuerlangen (vgl. Haines/Marven 2013a: 5). Müller selbst schreibt: »Ich glaube, Genauigkeit ist Selbstschutz. Man schützt sich, indem man sich soviel wie möglich bewußtmacht.« (Müller 2013I: 24)
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
In diesem Zusammenhang wird noch ein weiterer Aspekt relevant. Die an den Collagen deutlich werdende Technik einer Selbstanonymisierung lässt die geklebten Karten als Kassiber erscheinen, als heimliche Botschaften und konkrete Artikulationsmöglichkeiten. Damit rückt weniger der Zufall beziehungsweise die Selbstständigkeit des Materials als vielmehr das klebende Subjekt in den Vordergrund. Die am Beispiel von Reisende auf einem Bein verdeutlichte Funktion des Zufalls tritt dann zurück zugunsten eines akribisch arbeitenden Subjekts, dessen präzise zusammengefügte Wortkombinationen durch das starre Format der Karte eine immer gleiche Rahmung erhalten. Die beiden Lesarten schließen sich allerdings nicht aus: So entfaltet das Material der Collagen einerseits eine bestimmte Wirkung auf das betrachtende Subjekt, während dieses wiederum andererseits eine präzise Technik entwickelt, um aus den Einzelheiten ein Ganzes zu erschaffen.
Zusammenhänge auflösen Das hier artikulierte, auch poetologisch gedachte Interesse am Detail zeigt sich in Müllers Œuvre auf verschiedene Weise. Als eine zentrale Signatur ihrer Prosa verweisen die zusammengefügten Wirklichkeitspartikel und Wahrnehmungsmomente dabei immer wieder auf eine Brüchigkeit, die das Kunstwerk als Abbild einer ›brüchigen‹, nur scheinbar kohärenten und in diesem Sinne auch nur scheinbar verständlichen Wirklichkeit kennzeichnet. An dem in Reisende auf einem Bein geschilderten Vorgang des Ausschneidens und Aufklebens lässt sich dies noch einmal vor Augen führen: Indem die Protagonistin Irene den abseits sitzenden Mann ausschneidet und sowohl ihn als auch den Rest der Karte in einen neuen Kontext einbettet, rückt sie einerseits das Einzelne und andererseits das Ganze in den Vordergrund, wobei die ›Risse‹ zwischen den neu zusammengesetzten Elementen stets präsent bleiben. In ihrer Vorlesung Einmal anfassen – zweimal loslassen (2000) hat Müller dieses Prinzip folgendermaßen beschrieben: »Es treffen immer neue Details aufeinander, sie paaren sich neu, sehen in jeder Paarung anders aus.« (Müller 2010d: 107) Dieses Auflösen von Bedeutungszusammenhängen, sinnbildlich in den Text-BildCollagen als ein ›Schreiben mit der Schere‹ gefasst, lässt sich nun auch an den Niederungen noch einmal verdeutlichen. In parataktischen Reihungen werden dort Erinnerungsfetzen und Bruchstücke einer Kindheit zu mosaikartigen Bildwelten angeordnet. Die kaleidoskopartige Wahrnehmung der Ich-Erzählerin zerlegt die Wirklichkeit in Einzelheiten: »Die lila Blüten neben den Zäunen, das Ringelgras mit seiner grünen Frucht zwischen den Milchzähnen der Kinder. […] Der Käfer, der mir ins Ohr kroch.« (N 17) In struktureller Ähnlichkeit wird auch das Spiel der Kinder in einzelnen Sequenzen wiedergegeben: »Maispuppen, Lieschenzöpfe geflochten. Maishaar fühlt sich kühl und spröde an.« (N 18) Alle Eindrücke basieren dabei auf einem Modus des Augenblickhaften, der für die Autorin nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch das Schreiben bestimmt. Müllers Schreiben zielt darauf ab, dieses Prinzip zu verdeutlichen. Es gilt ihr, jeglichen Verblendungszusammenhang aufzulösen und den Fokus auf den Augenblick zu richten, das heißt auf einzelne Wahrnehmungsmomente und kleinste Details: »Der Eindruck, daß genaues Hinsehen zerstören heißt, verdichtet sich mehr und mehr.« (Müller 1991a: 25) Das Prinzip von Montage und (Re-)Kombination einer parzellier-
141
142
Ruderale Texturen
ten Gesamtwahrnehmung erweist sich hier als konstitutiv für Müllers Gesamtwerk.78 Schreiben, Schneiden und Kleben bedingen sich gegenseitig und verfolgen gleichermaßen ein Prinzip, das auf eine adäquate Abbildung der eigenen Wahrnehmung und Wirklichkeit zielt. Das durch die ausgeschnittenen und aufgeklebten Wörter erschaffene Collagenkunstwerk zeigt die auch Müllers Erzählungen unterlegte Parzellierung der Wirklichkeit. Indem Müllers Texte die Wahrnehmung in der Sprache zergliedern, verschreiben sie sich einer Form von Analyse, die sich als »Entkleidung der Wahrnehmung« (Müller 1991c: 84) versteht. Kontinuitäten und Chronologien gilt es laut der Autorin zu »zerreißen«, um das »Hintereinander und all die Brüche« (ebd.: 81) zu erfassen, mit denen sich das schreibende Subjekt konfrontiert sieht. Es ist unter anderem auch eben jene Idee eines ›Bruchs‹ beziehungsweise einer ›Lücke‹, die zum verbindenden Element zwischen Collagen und Prosaarbeiten avanciert. In Der Teufel sitzt im Spiegel (1991) heißt es: »Man zerrt am Geflecht der Sätze, bis sie durchsichtig werden, bis in der Reihenfolge der Worte im Satz und in der Reihenfolge der Sätze im Text die Risse durchscheinen.« (Ebd.: 81) Müllers Texte tendieren daher zum Fragmentarischen und Kleinteiligen und rücken einzelne Wahrnehmungssplitter in den Vordergrund, die ihre Entsprechung in parataktischen Reihungen und »synkopisch geschnittenen Bildfügungen und abrupten Bildbrüchen« (Eke 1997: 482) finden. Dabei steht dieses mit einzelnen Wahrnehmungspartikeln arbeitende Schreibkonzept in engem Zusammenhang mit Müllers an verschiedener Stelle formulierten Konzepten einer ›erfundenen Wahrnehmung‹ und eines ›fremden Blicks‹.79 Beides zielt ab auf eine Verwandlung des bloßen Sehens in ein Hinsehen, welches für die Autorin zum Ausgangspunkt einer neuen Erfahrung des Realen durch die Literatur beziehungsweise Kunst avanciert (vgl. Eke 2008: 256). Ihre immer wieder erhobene Forderung nach Präzision des sprachlichen Ausdrucks steht diesem Anspruch keinesfalls entgegen: Die Zertrümmerung ästhetischer Oberflächen und die Genauigkeit der sprachlichen Notation lassen sich in einer ästhetischen Programmatik zusammenführen, die in der literarischen Tradition einer Sprachskepsis steht, die von Italo Calvino über Peter Weiss und Thomas Bernhard zu Herta Müller führt (vgl. Eke 1997: 482).80
78 79
80
Motzan (1983: 68) bezeichnete Müllers Schreibtechnik daher bereits 1983 mit dem treffenden Begriff der »kombinatorischen Demontage«. Zu Müllers Konzept der ›erfundenen Wahrnehmung‹ siehe: Herta Müller: Wie Wahrnehmung sich erfindet (1991) sowie bspw. Eke (1991a). Zum ›fremden Blick‹ siehe: Herta Müller: Der Fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne (2003) sowie u.a. Schulte (2017), Bozzi (2005) und Eke (2008). Schon in ihren frühen Gedichten, insbesondere in Allerweltpronomen (1976), denkt die Autorin über die sprachlichen Mittel eines authentischen Ausdrucks nach und überprüft deren Voraussetzungen und Möglichkeiten. Bereits hier lässt sich ein Beharren auf den Versuch eines authentischen Ausdrucks der eigenen subjektiven Wahrnehmung erkennen. Die sprachskeptische Position Müllers bildet ein charakteristisches Stilmittel ihrer Prosa. Die diesem Prozess zugrundeliegende Intention, Alltagsbeobachtungen unverfälscht wiederzugeben, kollidiert mit der Beobachtung, dass sich die Wahrnehmung der Realität immer schon als sprachlich präformiert und vermittelt zeigt. Die Verwendung der ausgeschnittenen Wörter reflektiert den Charakter von Sprache als »einem immer schon gebrauchten und daher einerseits korrumpierten und gefährlichen, andererseits aber eben zugleich als einem gesellschaftlichen Material« (Patrut 2016: 225, Herv. i.O.). Zu Müllers früher Lyrik siehe den Eintrag von Julia Müller (2017b) im Herta Müller-Handbuch.
4. Stagnation: Niederungen (1982/84)
Darüber hinaus sind die erzählerischen Konfigurationen einer Poetik der Diskontinuität und des Details eng mit Müllers Ästhetik einer ›gebrechlichen Einrichtung des Augenblicks‹ verflochten. Dies wird unter anderem in den seltsamen Wohnorten, die in den Collagen auftauchen, noch einmal gespiegelt; allesamt aus fragilem Material geschaffen (Haar, Federn, Fell oder Laub) drohen diese, sich bei geringsten Erschütterungen aufzulösen. Besonders eindrücklich zeigt dies beispielsweise die Collage Im Haarknoten wohnt eine Dame: »Im Federhaus wohnt ein Hahn / im Laubhaus die Allee / ein Hase wohnt im Fellhaus / im Wasserhaus ein See / im Eckhaus – die Patrouille / stößt einen vom Balkon dort / über dem Holunder / dann war es wieder Selbstmord / im Papierhaus wohnt die Stellungnahme / im Haarknoten wohnt eine Dame« (Müller 2000: Nr. 76). Das fragile Material verweist noch einmal auf die prekäre Flüchtigkeit des Moments wie auch auf die skeptische Haltung Müllers gegenüber der Sprache (vgl. Solte-Gresser 2009: 566).
Reflexionen auf die Wirklichkeit In Herta Müllers Erzählung Die große schwarze Achse (1987) berichtet eine kindliche Ich-Erzählerin von einem Dorfbrunnen. Dieser Brunnen sei »kein Fenster und kein Spiegel«, durch ihn sähe man, »wie die große schwarze Achse unterm Dorf die Jahre dreht«, ein Vorgang, der in der kindlichen Fantasie von den Toten ausgeführt wird: »Die Toten drehn die Achse rundherum.« (Müller 1987: 6) Der Brunnen, dessen Wasseroberfläche weder den Schein der Wirklichkeit zurückspiegelt noch, einem Fenster gleich, einen unverstellten Blick auf etwas Dahinterliegendes ermöglicht, offenbart eine unter der Oberfläche liegende Schicht, die für etwas Drittes einsteht. Der Blick durch den Brunnen kann, so die hier vorgeschlagene Lesart, als eine poetologische Metapher Müllers verstanden werden: Er zeigt eine Wirklichkeit, die gleichermaßen unwirklich und wirklich, wahr und falsch, real und erfunden ist. Er zeigt insofern die erfundene Wahrnehmung, die Müllers Werke generell abzubilden suchen. Ihre faktualen wie fiktionalen Texte sind in diesem Sinne nicht als Spiegelung der Wirklichkeit zu verstehen, sondern dienen in einem hohen Maße einer Reflexion auf diese. Müllers Anspruch, »Loyalität dem Wirklichen gegenüber« mit einer »Versessenheit aufs Flirren« (Müller 2013e: 115) zu verbinden, lässt eine Literatur entstehen, die nicht Abbild, sondern Sinnbild sein möchte. Vergangenheit und Gegenwart werden in der »poetischen Nach-Schrift der Erinnerung« (Eke 2017a: 3) in eine neue Beziehung gesetzt und konvergieren in ihrer gegenseitigen Durchdringung.81 Die Wirklichkeit wird zum Ausgangspunkt der Texte und anschließend verfremdet; sie wird surreal im avantgardistischen Wortsinn. Ihre Wörter, so die diesbezügliche Selbstaussage Müllers, »nutzen das Anbinden ans Reale, um sich loszumachen«, »auf dem Weg zur sprachlichen Zuspitzung hebt das Normale ab« und »wenn es sich wieder hinsetzt, muss man dem Willen des Surrealen gehorchen« (Müller 2013f: 136). Doch geht ihre Poetik, das bemerkt unter anderem Patrut (2017: 152), »insofern über den Surrealismus hinaus, als
81
Müller selbst hat dafür folgenden Ausdruck gefunden: »Die erinnerte Zeit von damals und die heutige, die ja an jedem nächsten Tag auch schon erinnerte ist, streunt nicht chronologisch durchs Gedächtnis, sondern als Facetten von Dingen. […] Ich könnte sagen: Ich treffe meine Vergangenwart in der Gegenheit im Hin und Her vom Anfassen und Loslassen.« (Müller 2010d: 107)
143
144
Ruderale Texturen
sie sich nicht im Traum oder im Phantastischen erschöpft«. Es geht hier nicht um eine Verknüpfung surrealer Bildwelten, sondern um eine phänomenologische Ausrichtung, die Wirklichkeit abbilden will. Diese Wirklichkeit allerdings zeigt sich erst im genauen Hinsehen. Das »Hinsehen bringt Unruhe« (Müller 1991a: 26), es zeigt etwas Verborgenes – eine ›große schwarze Achse‹ – eine unkonventionelle Perspektive auf die Wirklichkeit, ein von vorgegebenen Denkstrukturen abweichendes Weltbild. Müllers Schreiben wird mit der Frage nach der Abbildbarkeit einer solchen Wirklichkeit verknüpft, während die eigenen sprachlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten einer Überprüfung unterzogen werden. Insbesondere an Müllers Collagen, die das Changieren zwischen Abbildungsbegehren und Sprachkritik in einer Aneinanderreihung einzelner Wahrnehmungspartikel und Wirklichkeitsschnipsel vorführen, wird dieser Vorgang auch auf einer formalen Ebene deutlich. Im Bildfeld der Ruderalität lässt sich Müllers Rückgriff auf die avantgardistischen Praktiken des Schneidens und Klebens und deren Modifikation nun zuletzt noch einmal anders fassen. An dieser Stelle wird eine weitere, bislang noch unbeachtete semantische Dimension der Ruderalität deutlich. Die wuchernde Pflanzenwelt, dies zeigte der erste Teil dieses Kapitels, fungiert in Müllers Dorfgeschichte als Ausdruck dafür, dass noch etwas da ist, das noch nicht zur Sprache gebracht wurde. Die in der kindlichen Fantasie überdimensional erscheinenden Kelchblätter entstehen im Gefolge einer bestimmten historischen Anordnung und bilden den Einfluss vergangener Ereignisse auf die Gegenwart der Ich-Erzählerin ab. Sie verkörpern insofern ein vegetatives Prinzip, an dem auch die Notwendigkeit der Verschriftlichung ablesbar wird. Erneut erweist sich Ruderalität hier als Ausdruck einer bestimmten historischen Situation. Sie ist dies allerdings auch noch in einem anderen Sinne: Die epigonalen Schreibweisen der banatschwäbischen Literatur in den 1970er Jahren und Müllers an den Ismen des frühen 20. Jahrhunderts geschulte Darstellungstechniken erweisen sich dem Prinzip des ruderalen Wachstums als strukturell ähnlich: Beide markieren einen Status nach der Kultur. Die Epigonendichtung, eine »auf große schöpferische Epochen folgende Dichtung einer Spätzeit« (Wilpert 2001: 218), tritt das Erbe vorausgehender Epochen an, nimmt bewährte Stile und Techniken auf und versucht mitunter, die großen Vorbilder zu überwinden. Sie lässt sich insofern als ein Phänomen beschreiben, das auf besondere kulturelle Leistungen und Ausdrucksweisen folgt. Ruderalität wiederum fungiert als ein bildlicher Ausdruck für genau dieses Vorgehen: Das eigensinnige Wuchern der Sekundärpflanzen markiert immer schon einen Status des Danach und die Besiedlung kultivierter Räume wird zum metaphorischen Ausdruck eines Einverleibens und Überbietens des Vorausgegangenen. Kurz: Epigonalität und Ruderalität sind hier deckungsgleich. Folgt man dieser Spur, so rückt mit der im Anschluss betrachteten Erzählung Alte Abdeckerei (1991) des sächsischen Autors Wolfgang Hilbig ein paradigmatisches Beispiel für die Darstellung einer unter der Oberfläche schwelenden Vergangenheit in den Blick, deren literarische Aneignung nicht nur auf das Bildfeld der Ruderalität zurückgreift, sondern in ihrer Darstellung der sozialistischen fleur du mal auch eben jenen Vorgang des Einverleibens und Überbietens berühmter Vorgänger ausstellt.
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991) »im wüsten Feld war ich allein und hörte schon die See« Wolfgang Hilbig: Saturnische Ellipsen Wolfgang Hilbigs 1980 begonnene und 1990 fertig gestellte Erzählung Alte Abdeckerei entwirft das Bild einer Industrieperipherie, die, geprägt von den ungenutzten Abraumhalden der Braunkohlewerke und einer allmählich einsetzenden Überwucherung der inzwischen leerstehenden Industriegebäude, zum Schauplatz eines apokalyptischen Untergangsszenarios wird. Dabei rekurriert die Erzählung immer wieder auf eine ruderale Flora, die durch ihre Vorliebe für anthropogen veränderte Standorte eine enge Verbindung mit der postindustriellen Landschaft der städtischen Randzonen eingeht. Zugleich verweist das Unkraut auch kontinuierlich auf eine in diesem zerstörten Landschaftsraum aufgespeicherte Vorgeschichte. Alte Abdeckerei entwirft das Panorama einer peripheren Industriebrache, die sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn als brüchiges und unsicheres Terrain zu gelten hat. Wie auch in den bisher betrachteten Texten erweist sich die Ruderalität dabei als Ausdruck einer spezifischen historischen Situation: »Es war eine Vegetation, typisch für diese Gegend, fähig auf ausgelaugtem Abraum und zerbröckeltem Schrott zu wachsen, weder nützlich noch schön, war sie offenbar nur entstanden, um die Wunden des Geländes zu bedecken« (A 161). An diesem Zitat lassen sich einleitend drei Aspekte illustrieren: Basierend auf der Feststellung, dass Alte Abdeckerei beinahe ostentativ ein ruderales Vokabular verwendet, kann konstatiert werden, dass sich die Erzählung in ihrer Darstellung der verkommenen Abraumlandschaften in die magisch-realistische Tradition und deren Ruderaltopos einschreibt.1 Die Darstellung der verunkrauteten Flächen wird ferner dazu
1
Endler hat bereits 1992 auf die Nähe Hilbigs zu den Schreibweisen des lateinamerikanischen Magischen Realismus hingewiesen: »Auf Zwischenstationen der Entwicklung Wolfgang Hilbigs vermag man Elemente auszumachen, die an den ›magischen Realismus‹ der Lateinamerikaner erinnern« (Endler 1992: 333). Auch Schäfer beobachtet eine Verbindung zwischen Hilbig und dem Magischen Realismus, meint in diesem Zusammenhang aber dessen deutsche Ausprägung: Wie kein anderer Autor habe Hilbig den Magischen Realismus »beerbt […], wieder eingeblendet und konsequent zuende geschrieben« (Schäfer 2001: 193).
146
Ruderale Texturen
verwandt, die marode und irreparable Industriegesellschaft zu charakterisieren und dabei die Vergangenheitsschichten der Landschaft offenzulegen. Zu den historischen Schichten, die im Laufe der Erzählung aus der gegenwärtigen Industrielandschaft geborgen werden, gehören der Sozialismus und Nationalsozialismus ebenso wie die Industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts. Als einstige Kernzone industrieller Produktion wird das Gebiet um Meuselwitz bei Hilbig zum kontaminierten Abraum. Dieser postindustrielle Raum leitet sich im Falle Hilbigs nicht vom wirtschaftlichen Ende der DDR her, vielmehr geht diesem, hier ist Inga Probst (2017: 22) zu folgen, »eine lange Agonie des Fabrikzeitalters als Ganzem« voraus.2 In einer phantasmagorischen Überhöhung der Ruinen verschmelzen Kriegs- und Industrielandschaft zu einem uneindeutigen Vergangenheitskonglomerat. Vor dem Hintergrund der in der Landschaft präsenten zeichenhaften Reste fungiert die ruderale Flora nun als eine bedeutsame Zäsur. Sie schreibt Hilbigs Text einerseits in die magisch-realistische Tradition der 1920er Jahre ein und legt gleichzeitig offen, dass das Schreiben nach 1945 ein anderes ist. Die grundlegende Eigenschaft des Unkrauts, das Wachsen auf Abraum und Schutt, zeigt, dass die gegenwärtige Landschaft eng mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und dem Terror des sozialistischen Regimes verbunden ist. Kurz: Der Schutt ist ein anderer als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Melde, Rainfarn und Brennnesseln bestimmen insofern den historischen Charakter des peripheren Raums. Sie wachsen auf dem Nachlass der Vergangenheit, auf den ›Wunden des Geländes‹ – auf eben jenen planen Flächen, verkommenen Ruinen und brachliegenden Feldern, die auf die Ereignisse des 20. Jahrhunderts zurückverweisen. Basierend auf dieser Diagnose einer Perspektivlosigkeit einer von der Historie infizierten Gegenwart lässt sich eine weitere These aufstellen. Hilbigs Erzählung entwirft die Möglichkeit eines Fortbestehens im Rekurs auf Sprache und damit auch auf Literatur: Der Text selbst wird zur Spur, die, dem Unkraut gleich, auf Vergangenes zurückverweist; gleichsam zeigt die Erzählung die Möglichkeit einer Sprache auf, die aus der postindustriellen Brachlandschaft heraus neu zu entstehen und die Trümmerlandschaft in eine neue sprachliche Ordnung zu überführen vermag. Das Panorama der peripheren Industriebrachen wird hier aus zwei divergenten Bildmotiven zusammengefügt: Zum einen arbeitet Hilbig mit Bildern verkommener Landschaften3 , die von einem aus dem Magischen Realismus übernommenen, jedoch völlig entstellten Unkraut allmählich überwuchert werden. Zum anderen scheint jedoch am Ende der Erzählung ein Hoffnungsgedanke auf, der die apokalyptischen Landschaften nicht nur in eine neue Ordnung überführt, sondern sie zugleich auch mit einer neuen Sprache ausstattet.
2
3
Außerhalb der Texte Wolfgang Hilbigs und Volker Brauns wurde die Braunkohlelandschaft nur selten literarisiert. In Reinhard Jirgls Roman Die Stille (2009) spielt ein Handlungsstrang in einem zur Abbaggerung freigegebenen Dorf und Patrick Hofmanns Die letzte Sau (2009) lässt eine karnevalesk erzählte Hausschlachtung direkt an der Tagebaukante der Leipziger Braunkohleabbaugebiete stattfinden (vgl. Probst 2017: 20). Dass diese Landschaften an verkommenen Ufern angesiedelt sind, lässt Alte Abdeckerei auch in die Nähe von Heiner Müllers 1983 uraufgeführtem ›Triptychon‹ Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten rücken, welches ebenfalls die düstere und katastrophische Vision einer Endzeitzivilisation entwirft.
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
Durch diese Engführung der zerstörten Landschaften eines Danach mit einem beinahe utopischen Hoffnungsgedanken partizipiert Hilbig, auch das sollen die folgenden Ausführungen zeigen, an einer Imagination post-katastrophaler Landschaften, wie sie im Zusammenhang mit den verlassenen Landstrichen Ostmitteleuropas an verschiedener Stelle künstlerisch ausgestaltet wurden. Hier ist nicht nur an die im 7. Kapitel betrachteten Erzählungen des polnischen Autors Andrzej Stasiuks zu denken, auch der Film Stalker (1979) des sowjetischen Regisseurs Andrej Tarkowskij erweist sich als ein spannender Referenzpunkt, denn auch in Stalker wird das Bildfeld der Ruderalität prominent inszeniert. Hilbig erweitert diese Imaginationen allerdings überdies um ein Moment, das die Möglichkeit eines Neubeginns nach der Katastrophe explizit an das Medium der Sprache und damit letztlich auch an die Literatur zurückbindet. Er nimmt insofern eine folgenreiche Verschiebung vor, die nicht nur das Bewusstsein für den peripheren Raum verändert, sondern auch den Modus des Erzählens berührt: So ist es am Ende der Text selbst, der nach der imaginierten Katastrophe zu bestehen vermag. Die Kapiteleinteilung trägt diesen drei Beobachtungen Rechnung. Um das Diskursfeld abzustecken, in das sich Alte Abdeckerei einschreibt, wird nach einer kurzen Einführung in einem ersten Schritt der Inhalt der Erzählung rekapituliert und in diesem Zusammenhang vor allem die Landschaftszeichnung genauer betrachtet. Besonderes Augenmerk gilt dabei der ruderalen Flora, deren konstante Überwucherungsbewegung in einem engen Zusammenhang mit den unterhöhlten (Industrie-)Gebieten der verödeten Gegenden steht. Die in Alte Abdeckerei artikulierte Dimension von Zeitlichkeit changiert zwischen einer Bewegung der Entzeitlichung und einer Vorstellung von Regression, die zuletzt eine apokalyptische Signatur erhält (5.1). Darauf aufbauend, werden die der ruinösen Industrielandschaft eingeschriebenen imaginären Vergangenheitsschichten betrachtet. Hilbigs Prosa zeigt sich von einer Permanenz der Ruinen bestimmt, die sowohl die postindustriellen »Ruins of Modernity« (Hell/Schönle 2010) als auch die Ruinen der nationalsozialistischen Vergangenheit umfasst. Die Wanderungen des Erzählers werden als Bewegungen durch Raum und Zeit inszeniert; die ruderalen Gewächse erweisen sich als Spuren jüngster Vergangenheiten. Das vor dem Hintergrund der verkommenen Flora inszenierte Untergangsszenario führt die verschiedenen Zeitebenen zuletzt noch einmal zusammen und bildet so eine Zeitlichkeit ab, die jede Idee von Anfang und Ende kollabieren lässt (5.2). Mit Hilbigs Sprache soll abschließend ein Aspekt in den Blick genommen werden, der das magisch-realistische Motiv des Unkrauts auf der formalen Ebene noch einmal aufgreift und so die Eigenlogik der Ruderalität erst eigentlich sichtbar macht. Hilbigs Erzählung zeigt, wie der magischrealistische Topos eine Dynamik entfaltet, die den Text selbst zuletzt als einen Effekt des Vegetativen kennzeichnet. So wuchert nicht nur die kontaminierte Pflanzenwelt, sondern auch die Syntax des Erzählflusses, bis schließlich auch die Grammatik in sich zusammenfällt. Doch zeigt sich das Erzählen als ein reinigender Sprachfluss, an dessen Ende eine Neu-Bestimmung von Sprache steht, die ihren Ausdruck in einem Erzählen findet, das die Objekte selbst zu Wort kommen lässt. Unkraut, Sprache und Wasser ist dabei eine vergleichbare Wirkung eigen: Sie dienen der Heilung der geschundenen Landschaft und des geschundenen Ich des Protagonisten (5.3).
147
148
Ruderale Texturen
Waste Land Alte Abdeckerei lässt sich weder einem dörflichen noch einem städtischen Raum zuordnen, vielmehr beschreibt die Erzählung ein peripheres Waste Land, das den Erzähler seit seiner Kindheit magisch anzieht. Dieser Raum ermöglicht dem Erzähler den Rückzug aus der Gesellschaft sowie die eigene Identitätskonstitution, die mit mythischen Erfahrungen verbunden wird. Indem sich das erzählende Ich an ausschweifende Erkundungsgänge zu den Industriebrachen am Rande der Stadt erinnert, wird die halb historische, halb fantastische Landschaft der Kindheit aus der Erinnerung heraufbeschworen, wobei diese Rückbesinnungen weder zeitlich noch räumlich genau verortet werden. Alles »liegt im Dunst der immer trüberen Tage« (A 117), das ehemalige Braunkohleabbaugebiet ist längst von Unkraut überzogen, die Gebäude sind verfallen und unter der Erde liegen die Reste der deutschen Geschichte vergraben. Die Erzählung kreist hauptsächlich um das Gebäude einer ehemaligen Brikettfabrik, die schließlich, zusammen mit den von Schächten durchzogenen, von »Wirren von Gräsern und Gestrüpp« (A 189) bewachsenen, »müden Ebenen« (A 185) in einer apokalyptischen Szene im Erdboden versinkt. Während die in der frühen DDR entstandene Texte noch von der Instandsetzung verkommener Topografien, zerstörter Industrieanlagen und brachliegender Landschaften erzählten und unter dem Telos ›Aufbau‹ eine Herangehensweise propagierten, die die undisziplinierte Verwahrlosung in Struktur und Ordnung überführen sollte, greift Hilbig mit den verödeten Werken in der Alten Abdeckerei einen von Altlasten nachhaltig kontaminierten Abraum auf, der sich gerade durch das unkontrollierte Wachstum der Ruderalflora und die allmähliche Verödung einstiger Industriebauten auszeichnet. An dieser Stelle sei noch einmal auf Fjodor Glatkows bereits im Zusammenhang mit dem Wundertäter erwähnten fortschrittsoptimistischen Roman Zement verwiesen, der als vorbildlich für den Sozialistischen Realismus galt. Dort weicht die undisziplinierte Verwahrlosung eines stillgelegten Werks einer zukunftsgewandten Neustrukturierung. Bei Hilbig kehrt das »wüste[] Rattenloch« (Gladkow 1972: 299) nun sozusagen zurück. Hilbig zeige, so konstatiert auch Probst (2017: 148), eine »eintönige, ebene oder tief eingeschnittene Fläche, die bestenfalls von (ruinösen) Industriekomplexen durchbrochen wird oder in die Weiten der Tagebauflächen führt«. Alte Abdeckerei bildet insofern das Gegenteil zum Aufbau-Pathos des Sozialismus und firmiert als »(prä-) postkommunistische Antwort[]« (Schäfer 2001: 74) auf dessen Fortschrittsoptimismus. Burkhard Schäfer bemerkt, dass sich in Hilbigs Erzählung der Traum vom sozialistischen Fortschritt in einen »quälenden Alptraum von einem nach-industriellen Waste Land pervertiert [hat], auf dem ›Es‹ wieder sekundär ›wuchert‹« (ebd.: 75, Herv. i.O.). Schäfer beschreibt damit einen konstitutiven Aspekt der Erzählung.4 Hilbig zeigt sich von einer Rückeroberung der verlassenen Gebäude durch die Natur fasziniert, die ihren Ausdruck in einer »Wildnis mannshoher Brennesseln« (A 127), im Wuchern von »Unkraut und Kletten« (A 161) und »wilden Verwachsungen«
4
Die Omnipräsenz der Ruderalfläche als Topos und Reflexionsfigur führte Schäfer zu der These: »Sämtliche Kriterien, die Michael Scheffel zur stilistischen Bestimmung des Magischen Realismus zusammengetragen hat, werden von Hilbig sozusagen mit Bravour erfüllt und exzessiv ausgeschrieben.« (Schäfer 2001: 183f.)
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
(A 160) findet. Die Wanderungen des Erzählers durch dieses Dickicht lassen sich nun auch als Rückwärtsbewegungen in das abgelegte Material der Literaturgeschichte verstehen. Mit den Bildwelten eines sekundären Wucherns schließt Hilbig an die literarische Strömung des Magischen Realismus an und codiert diese Traditionslinie vor dem Hintergrund der verseuchten Landschaften der Braunkohleabbaugebiete um Meuselwitz noch einmal neu. Zugleich rekurriert er auf Verfahren der klassischen Moderne, insbesondere auf Elemente des Surrealismus und Expressionismus, und orientiert sich überdies am ästhetischen Anspruch des fin de siècle.5 Die Beschreibung der eigensinnig wuchernden Natur lässt sich hier auch als eine Reaktion auf die strikten Programmatiken verstehen, die den Literaturbetrieb der DDR bestimmten. Indem der Literatur ein vegetatives Element unterlegt wird, kann sie Zwischenräume und Randgebiete abseits der Strukturbedingungen besetzen. Das Provokationspotential der Moderne, aufgespeichert durch die restriktiven kulturpolitischen Vorgaben des sozialistischen Systems, wird insofern um 1990 noch einmal aufgegriffen und entlang der Bewegungsachsen des Protagonisten entfaltet, wobei die sozialistischen Landschaften in »ungute[] Orte[]« (A 162) überführt werden. Alte Abdeckerei lässt sich daher auch mit jenen Texten in Verbindung bringen, die das Ruderal als magisch-realistischen Topos entdeckten und über Bilder der Verwilderung beziehungsweise Verunkrautung ambivalente Erinnerungsräume entstehen ließen. Von Oskar Loerkes Die Puppe und Elisabeth Langgässers Gang durch das Ried führt sozusagen eine ›ruderale Spur‹ zu Wolfgang Hilbig.6 An Hilbigs Erzählung lässt sich darüber hinaus nicht nur eine Kontinuitätslinie avantgardistischen Schreibens nachzeichnen, sondern auch ein spezifischer Umgang mit dem ländlich-peripheren Raum beobachten. Alte Abdeckerei zeigt die Folgen des brutalen Umgangs mit diesem auf und bildet in seiner metaphorischen Schreibweise die ›Verwundungen‹ ab, die die Region um Leipzig durch die Industrialisierung und den Braunkohleabbau erfuhr. Bei den »Anti-Landschaften« (Probst 2017: 15) Hilbigs handelt es sich um einstige Kernzonen industrieller Produktion, die nach ihrer ökonomischen Erschließung und Ausbeutung aufgegeben wurden und nun brach und verlassen da-
5
6
So bemerkt auch Schäfer (2001: 183): »Hilbigs Methode […] orientiert sich einerseits an den Vorbildern der klassischen Moderne, aber andererseits ist sie auch – sozusagen bis in die ›wüsten‹ Ruderalflächen hinein – von der Ästhetik des Magischen Realismus infiziert«. Zum Einfluss der klassischen Moderne französischer wie englischer Provenienz siehe Kolbe (2008: 517). Als ein weiterer wichtiger intertextueller Referenzrahmen hat zudem die sprachreflexive und -kritische Literatur der Frühromantik zu gelten, insbesondere E.T.A. Hoffmanns Konzept des Irrealen, Schaurigen und Unheimlichen und, damit verknüpft, das Doppelgängermotiv (vgl. Probst 2017: 160). Ob und in welchem Ausmaß die magisch-realistischen Texte der Zwischenkriegszeit von den sozialistischen Autorinnen und Autoren rezipiert wurden, lässt sich an dieser Stelle nur schwer beantworten. Offensichtlich beerben zahlreiche Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit, allen voran die der sog. ›Trümmerliteratur‹, verschiedene Topoi magisch-realistischer Schreibweisen und greifen Motive und Formulierungen des Magischen Realismus in ihren Texten auf. Schäfer (2001: 295) konstatiert hinsichtlich der Vorbildfunktion von Langgässers Roman Gang durch das Ried, allerdings ebenfalls ohne konkrete Verflechtungsprozesse nachzuzeichnen: »Denn alle Trümmertexte, die nach dem Ried-Roman entstanden sind, beerben (mehr oder weniger bewußt, also eher unbewußt) Langgässers exeptionelles Buch«.
149
150
Ruderale Texturen
liegen.7 Inwiefern diese Landschaften nun aus ihrem defizitären Status gelöst werden und wieder einen ästhetischen Eigenwert gewinnen können, soll im Folgenden gezeigt werden. Wie die Manuskriptunterlagen aus den 1970er und 1980er Jahre nahelegen, hatte sich Hilbig mit Stoff und Thema der Erzählung schon längere Zeit befasst, beides sozusagen »dauernd umkreist« (Hilbig 1995: 105). Hilbigs Bücher, die sich inhaltlich eines aus dem anderen entwickeln, finden hier insofern einen apokalyptischen Höhepunkt.8 Zugleich ist diesem endlos sich entgrenzenden Erzählen ein iteratives Moment unterlegt, wenn sich, hier ist Probst (2018: 279) zu folgen, in Hilbigs Œuvre »nur gering variierte Themen, Motive, Handlungsstränge und strukturelle Bau- und Sprechweisen beständig wiederholen«. Probst (2017: 165) spricht daher auch von Hilbigs Werk als »einer einzigen ›großen Erzählung‹«. An der Alten Abdeckerei können insofern beispielhaft grundlegende Tendenzen seines Œuvres vor Augen geführt werden. So steht, wie auch in den der Erzählung vorausgehenden Texten, auch hier das Verschwinden und die Auslöschung, die Abwesenheit, die Dunkelheit und die Müdigkeit im Mittelpunkt. Der Text inszeniert die Hilbigʼschen Themen noch einmal prominent vor dem Hintergrund der Hilbigʼschen Landschaft: vor den unterhöhlten Tagebauten in der Gegend um Meuselwitz bei Altenburg, jener sächsischen Landschaft, in der der Autor seine Kindheit verbrachte.9 Diese Aspekte lassen sich noch einmal an Hilbigs Gedicht die peripherie illustrieren, in dem es heißt: »wälder brusthoch / dächer in unbekanntem schlafbefall kirchtürme / lautlos hinter glutdunst« (Hilbig 2008: 220). Die Rede ist hier einerseits von den ›brusthohen Wäldern‹ einer überdimensionierten Pflanzenwelt, während andererseits von ›Dächern‹ und ›Türmen‹ berichtet wird, von den Spuren einer Zivilisation also, die jedoch, vom ›Glutdunst‹ verdeckt, nur noch erahnt werden kann. Das Bild brusthoher Wälder verbindet Die Peripherie mit der kindlichen Perspektive, die auch in Alte Abdeckerei zur Beschreibung der verödeten Gegenden und ihrer ›Brennnesselwälder‹ verwandt wird. Beide beschreiben einen Raum, der auf eigentümliche Weise sowohl die Zeichen einer menschlichen Kulturleistung in sich trägt als auch eine Rückbewegung zur Natur deutlich macht. Das Gedicht partizipiert damit an jenen schon Herta Müllers Texten abgelesenen Darstellungsweisen einer verschwindenden Peripherie, zugleich konturieren die zitierten Zeilen jedoch auch noch etwas anderes. Das Bild des ›Glutdunsts‹ eröffnet einen ambivalenten Deutungsraum: Es speist sich zum einen aus der in Hilbigs Œuvre immer wieder beschriebenen Industrie, insbesondere der Kohleproduktion in der Region um Meuselwitz, und hat zum anderen seinen Grund in einem
7 8
9
Auch Ehrler (2017: 163) beobachtet: »Die Landschaft der Alten Abdeckerei ist instabil, von Schächten und Bunkern unterhöhlt, vom Verfall zerfressen, dem Untergang geweiht.« Wie Endler (1992: 324) hervorhebt, handelt es sich bei der Alten Abdeckerei um das »vorläufige Schlußstück der monomanisch eines aus dem anderen entwickelten Bücher Hilbigs«. Inhaltliche Versatzstücke finden sich bereits in den Prosastücken Der Heizer (1982) und Der Durst (1972) wie auch in dem Gedicht Das Meer in Sachsen (1977). Auch Probst (2018: 278f.) konstatiert: »Die Tagebaulandschaften mit ihren Abraumhalden, Restlöchern und Brachen sowie die eng daran angeschlossenen Industriegebiete und ärmlichen Bergarbeiter/innen-Siedlungen stehen im spatialen Mittelpunkt der Werke des Autors«.
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
mit der Glut assoziierten Hoffnungsmoment, der den in den Texten Hilbigs entworfenen Untergangsszenarien zuletzt noch einmal ein visionäres Ende unterlegt. Dieses Zusammenspiel von phantasmagorisch überhöhten Industriebrachen, ruderaler Flora und einem aus den Trümmern entstehenden Hoffnungsmoment wird von Hilbig nun – so die hier verfolgte These – mit einer magisch-realistisch affizierten Erzählweise verbunden und das Verschwinden des devastierten Hinterlands dadurch erzählbar gemacht. Zur Darstellung der postindustriellen Landschaften rekurriert Hilbig auf das Bildfeld der Ruderalität. Indem nun die Verbindung von visionären Untergangsszenarien und ostentativer Pflanzenbeschreibung in den Blick genommen wird, können nicht nur neue Perspektiven auf Hilbigs Erzählung Alte Abdeckerei gewonnen, sondern auch das Fortleben der aus den 1920er Jahre stammenden magisch-realistischen Tradition in der DDR betrachtet werden.10 Zugleich reflektiert die Erzählung im Rekurs auf die ruderale Flora ihre eigenen Entstehungsbedingungen mit: Auf dem Abraum und Schutt des 20. Jahrhunderts kann nur einer Literatur entstehen, die, dem Unkraut gleich, die zerstörten Landschaften zu ihrer Ausgangsbedingung macht und aus den verödeten Flächen heraus neu entsteht.
5.1.
»Ödland… Schlafland… toter Boden«: die Inszenierung der Abraumlandschaften
In Hilbigs Erzählung erfährt das wuchernde Unkraut der frühen Texte des Magischen Realismus eine Aktualisierung. Seine konstante Überwucherungsbewegung steht in einem engen Zusammenhang mit den unterhöhlten (Industrie-)Gebieten der verödeten Gegenden. Das Unkraut trägt die Spuren der Vergangenheit in sich und erscheint nicht, wie beispielsweise noch in Wilhelm Lehmanns Erzählung Der Bilderstürmer, als »schöpferische Kraft« (Leine 2017: 123), sondern als verkommenes Gewächs. Diese Bedeutungsverschiebung wird im Folgenden am Text nachgezeichnet, um anschließend die damit verbundene Darstellung des Bodens und seine metaphorische Aufladung hinsichtlich der darin ›vergrabenen‹ Vergangenheit näher betrachten zu können. Der gleich zu Beginn eingeführte autodiegetische Erzähler unternimmt im Herbst zeitlich nicht näher bestimmte Erkundungsgänge durch Gegenden, in die er sich als 10
Eine Lesart der Alten Abdeckerei als einem von der Ruderaltopik des Magischen Realismus beeinflussten Text eröffnet nicht nur neue Perspektiven auf Hilbigs Werk, sondern verortet es zugleich innerhalb der literarischen Traditionen des 20. Jahrhunderts und schreibt somit in gewisser Weise auch gegen ein Verständnis an, das die Erzählung ausschließlich im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der DDR betrachtet. Obgleich Hilbig in den überwucherten Trümmern und brachliegenden Landschaften in gewisser Weise ein Bild der untergegangenen DDR entstehen lässt, erschöpft sich die Erzählung keineswegs in diesen Zusammenhängen. Da der Text 1991 erschien, in einer epochalen und euphorischen Aufbruchszeit, vor deren Hintergrund das entworfene Untergangsszenario befremdlich wirkte, wurden die endzeitlichen Bilder allerdings rasch in einer realsozialistischen Industrielandschaft verortet und auf geschichtliche Ereignisse bezogen, d.h. der Untergang der Abdeckerei Germania II als Bild für den Untergang der DDR verstanden. So konstatiert etwa Heising (1996: 144): »Dementsprechend ist der Untergang von Germania II, dessen Name unter anderem auf die DDR verweist, ein Symbol für den Untergang des DDR-Regimes«.
151
152
Ruderale Texturen
Kind zurückgezogen hatte.11 Diese »Rückweg[e]« (A 121), die zugleich »Rückzugswege aus der Sozietät« (Rehfeld 2013: 197) sind, führen den Erzähler in seine Kindheit, in verödete Landschaften und zu brachliegenden Industriekomplexen. Der für Hilbigs Texte programmatische imaginäre Gang in die Vergangenheit wird in Alte Abdeckerei an diesen Traum- und Erinnerungssequenzen, die in eine Art Rahmenerzählung aus der Erwachsenenperspektive montiert werden, deutlich. Es zieht den Erzähler dorthin, »wo der Unrat begann, oder in die Dörfer hinter der Stadt, an die Peripherie, wo der Aussatz der Stadt blühte, die Metastasen der Industrie« (A 163). Seine Bewegungslinien orientieren sich an einem Flüsschen, das, so beobachtet auch Swantje Rehfeld (2013: 198), »als topographische Orientierungsachse dieses Erinnerungsnarrativs fungiert«. Das Flüsschen führt ihn zwischen »welken Krautfeldern« (A 117) und an »alte[n] verkommene[n] Kopfweiden« (A 118) vorbei zu einem alten Gehöft, das der Erzähler als ehemalige Wassermühle identifiziert. In dieser Umgebung macht er als Kind eine andere, eine mythische Realitätserfahrung. In den diffusen Lichtverhältnissen der Abenddämmerung, im romantischen Motiv der Grenzüberschreitung vom Hellen zum Dunklen, erlebt das Kind ein Gefühl des Unsichtbarwerdens und der Auflösung. So wartet es allabendlich »auf die Stunde des Übergangs, auf die des Waltens jener Grenzenlosigkeit, die dem Einbruch der Nacht vorausging« (A 135), auf einen die Hilbigʼschen Figuren auszeichnenden Zwischenbereich, der Raum für Visionen und Halluzinationen bietet und Verwandlungen ermöglicht.12 Als topografische Trennlinie zwischen den beiden Bereichen dient dabei eine stillgelegte Kohlebahnlinie. Begleitet wird diese Erfahrung von einer Intensivierung der Sprache. In langen Satzkaskaden beschreibt die Erzählung ein Gefühl der Auflösung von Sprache, welches diese dem eigenen körperlichen Zustand annähert und die Flüchtigkeit des Bewusstseinsmoments einzufangen sucht. So wird in der Erzählung selbst fortwährend über Sprache und eine adäquate Ausdrucksweise nachgedacht, ein Aspekt, dem in Kapitel 5.3 nachgegangen wird. »Es war jene Stunde, in der irgendein dunkler Ausdruck in mir wuchs, welcher der Worte, der Namen, der logischen Gedanken nicht bedurfte … es war eine Sprache, in der die Substantive ihre Bedeutung verloren hatten, es war die Sprache einer Wahrnehmung, die allein auf wortlose und flüchtige Augenblicke reagierte, sie bestand vielmehr aus den unnennbaren Empfindungen des Atems, der mir das Blut beschleunigte, oder schwerer pulsieren ließ« (A 136). 11
12
Es gehört zu den Merkmalen der Erzählung, dass sie den Leser im Unklaren darüber lässt, welche Ereignisse im Jugend- und welche im Erwachsenenalter stattfinden und ob es sich dabei um Realität, Fantasie oder Traum handelt. Schulze (2010: 288) bemerkt in diesem Zusammenhang ganz allgemein: »Es ist schwer, in Hilbigs Büchern von einer Handlung zu sprechen. Doch lässt sich eine gewisse Abfolge von Stationen ausmachen, die zwischen der Anfangsszene und dem Schlussbild liegen.« Er schlägt daher vor, man solle statt von einer Handlung von einer »Abfolge außerordentlicher Situationen sprechen, in denen die Offenheit und Unabgeschlossenheit des Erzählers zur ihn umgebenden Welt immer wichtiger wird« (ebd.: 304f.). An dieser Stelle lässt sich auf einen der Landschaften Hilbigs durchgängig unterlegten doppelten Motivstrang hinweisen: Landschaft ist immer »ein einziges weggebaggertes, mit Müll und Giftseen übersätes Industriegebiet« und lässt sich gleichzeitig »als figurativer Imaginations- und Symbolraum« (Probst 2018: 279) verstehen.
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
Die hier vorgenommene Beschreibung einer Neukonfiguration von Sprache verabschiedet jede Form eines rationalen Logozentrismus und rückt stattdessen die Körperlichkeit des eigenen Seins in den Fokus, das heißt die Atmung, den Puls und somit die nicht vom Bewusstsein steuerbaren Körperfunktionen. Die Akkumulation der Adjektive bildet dabei im Text die synästhetischen Reize ab, die die Sinnesorgane wahrnehmen. Diese Auflösung von Sprache wird mit der Präsenz anderer Stimmen zusammengeführt. So rinnt beispielsweise das Wasser des Flüsschens dem Jungen »geschwätzig um die Gliedmaßen«, er vermeint ein »Trippeln[] und Wispern[]« und ein »schnell versunkenes Gekicher« (A 119) zu hören. Der von diesen Stimmen begleitete Weg aus der Stadt hinaus zur Wassermühle wird als ein stetig wiederholtes Initiationserlebnis inszeniert. Die Bewegung in die Peripherie lässt sich insofern als rite de passage beschreiben. Der französische Ethnologe Arnold van Gennep bezeichnet damit ein bestimmtes Ritual: Ein Subjekt bewegt sich in eine Art Zwischenzone und tritt zugleich in eine liminale Phase ein. Während der Ritualbegriff bei van Gennep jedoch stark an eine Initiation und gesellschaftliche Statusveränderung des Subjekts und die Selbstbestätigung der gesellschaftlichen Ordnung im Ritual gebunden ist, finden diese beiden Prozesse in der Alten Abdeckerei nicht statt. Der Protagonist begibt sich zwar in jene Zwischenzone, die van Gennep als konstitutiv für die Erfahrung einer liminalen Phase und, damit verknüpft, für eine veränderte Rückkehr in die Gesellschaft identifiziert, doch scheint er in dem Zustand dieser Liminalität zu verharren.13 Die Schwellensituation wird zum Dauerzustand. Begleitet wird der Weg in die Liminalität von der Beschreibung verschiedener Naturphänomene, die die Bewegung des Erzählers in die Peripherie mit Attributen des Unheimlichen und Extraordinären ausstatten. Die Attribute des Ekeligen, des Verwesenden und Schmutzigen generieren dabei eine abstoßende (tremendum) wie faszinierende (fascinans) Wirkung. Hilbigs Erzählung greift in diesem Zusammenhang auch auf Verfahren der literarischen Synästhesie zurück, wodurch multiple Sinneserfahrungen vergegenwärtigt werden können (vgl. Rehfeld 2013: 200). Wie das obige Zitat zeigt, geht der Abschied vom Logos mit einer Reduktion der Wahrnehmung auf die körperlichen Empfindungen einher. Fern der Zivilisation ist Sprache überflüssig, sie erscheint als eine unnötige Last, die den unmittelbaren Erfahrungen nicht gerecht werden kann. Die Natur wird zum aktiven Begleiter des Rückzugs aus der Zivilisation. Der Fluss ähnelt »der bläulichen Klinge eines langen geraden Messers, das durch entzweigeschnittenes Gelände fuhr, man meinte die langgezogene Wunde noch dampfen zu sehen«, er windet sich an den »reglosen Augen zweier runder Waldseen« (A 117) vorbei und führt durch »wild gesträubte[s] Herbstgras« (A 118) in Richtung der Mühle. Die den Fluss säumenden Weiden erinnern den Erzähler an ein »langgestreckte[s] Gewölbe«, 13
van Gennep nennt Wüstengebiete, unberührte Wälder oder Sümpfe als neutrale Zonen, die zu früheren Zeiten die verschiedenen Länder voneinander trennten und die sich als prädestinierte Gebiete für jene Liminalität erwiesen, in die auch Hilbigs Protagonist gerät: »Jeder, der sich von der einen Sphäre in die andere begibt, befindet sich eine Zeitlang sowohl räumlich als auch magischreligiös in einer besonderen Situation: er schwebt zwischen zwei Welten« (van Gennep 1999: 27). Die Übergangsriten werden dabei (theoretisch) in drei Schritte bzw. Phasen unterteilt: Trennungsriten (Ablösungsphase), Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (Zwischenphase) sowie Angliederungsriten (Integrationsphase) (vgl. ebd.: 21).
153
154
Ruderale Texturen
das zum Klangkörper wird und ihn mit sich zu tragen scheint: »[M]anchmal glaubte ich mitzufließen, schaukelnd unter einem schwarzen Baldachin aus Weidenzweigen, in einer Barke von ätzender Trauer« (A 118). Bei den sich in dieser eigentümlichen Landschaft befindenden Gebäuden handelt es sich um »zerstörte[] Industrieanlagen« und »Ruinen« (A 124), »die völlig verwachsen waren von Gesträuch und Gras« (A 122). Das »vollkommen verwilderte[] Grundstück[]« der Mühle ist von einem »höchst brüchigen, fast verfaulten Lattenzaun« umgeben, während der Garten »förmlich verstopft [war] von dichtstehendem Obstgehölz, von einem undurchdringlichen Dickicht aus Bäumen und Sträuchern« (A 126). Während die kulturelle Grenze durchlässig wird, entwickelt die Natur eine undurchlässige Trennwand. Hinter der Mühle liegt »eine Wildnis mannshoher Brennesseln«14 , die im Frühling »tückischen Sümpfen und Tümpeln« (A 127) weicht. Zugang zu den verlassenen Orten verschafft sich der Erzähler durch »Niederhauen der Brennesseln« (A 124). Wie beispielsweise auch in Loerkes Erzählung Die Puppe markiert das Bild der Brennnesselwildnis hier einen Zustand nach der Zivilisation. Auch bei Loerke ist das Gebiet am Rande von Berlin von Brennnesseln überwuchert und zeigt sich so als ein entstrukturiertes (verwildertes) sowie semantisch unbestimmtes terrain vague, das zur Projektionsfläche avancieren kann. Zugleich wird im Vorgang des Brennnessel-Niederhauens auch ein Prinzip der Erinnerungsarbeit bildlich gefasst: Freigelegt durch den brutalen Akt tritt das unter den Pflanzen Verborgene zutage. Das ewig wuchernde Unkraut und die regelmäßig wiederholten Wanderungen des Erzählers gehen eine enge Verbindung ein, die die Zeitebenen verschwimmen lässt. Die Ausflüge der Kindheit, die stets mit dem Zuspätkommen des Jungen in das Elternhaus enden, gehen fließend über in ein Erwachsenwerden, sodass der Erzähler schließlich bemerkt: »Und ich gewahrte mit Schrecken, daß ich zuletzt jedes noch annehmbare Maß des Zuspätkommens verloren hatte… ah, daß es endlich um eine ganze Nacht zu spät war, daß die Kinderzeit meines Zuspätkommens vorbei war […]. So daß ich zuletzt erwachsen durch die schmal gewordene Tür treten mußte« (A 151, Herv. i.O.). Als Erwachsener streift er nun durch die öde Landschaft, um seine Kindheitswege sprachlich zu fassen und sinnt dabei den Entgrenzungssehnsüchten nach, die die Wanderungen seiner Kindheit begleiteten. Erinnerung, Realität und Imagination werden ineinander verschränkt und führen den Erzähler zurück an die Plätze seiner Kindheit, an die »Ufer[] der Aschefelder« (A 153) und zurück an einen Ort, von welchem er sich »damals vertrieben gefühlt hatte, oder weil dort noch etwas von mir versteckt war« (A 159).15
14
15
Die Gebiete, die jenseits dieser Wildnis liegen, werden mit den sog. »Fremden« in Verbindung gebracht, »Leute aus Osteuropa«, die, so die verbreitete Meinung, »verschlagen und gewalttätig, […] unverständlich und unnahbar« seien: »Jenseits der Kohlenbahnlinie, südöstlich eines halb unbewohnten Dorfes, tief in der verwilderten Senke, direkt an dem verkommenen Zaun begann das Gebiet, welches der Osten war, und man drang nicht ungestraft in diese Gegend vor.« (A 128f.) Der Erzähler fühlt sich nun auf eigentümliche Weise zu den ›Fremden‹ hingezogen – »Sie glichen mir in vielem« (A 129) –, eine Tatsache, die sich auch aus der Biografie des Autors erklären lässt. Hilbigs Familie stammte selbst aus dem Osten: Sein Großvater Kazimierz Starlek, von dem sich auch Hilbigs Spitzname Kaschi ableitet, kam aus Bielgoraj (Galizien) nach Meuselwitz. Diese Vorstellung von etwas Zurückgelassenem wird wenig später noch einmal aufgegriffen und ausgedeutet, wenn es heißt: »Endlich war da aus meinem eigenen Leben etwas, das dort versun-
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
Bei diesem Ort, so legt der Text nahe, handelt es sich um eine verfallene Brikettfabrik, die den Namen Germania II trägt und die nach ihrer Stilllegung noch als Tierverwertungsanlage genutzt wird. Auch sie gehört zu den sogenannten »Plätze[n] der Finsternis« (A 162). Um sie herum ist die Gegend »von einem unabsehbar verzweigten System nicht mehr arbeitender Bergwerke unterhöhlt« (A 160), sie liegt »brach und wüst« da, ein Eindruck, der von den Industrieruinen, »die wie sturmverfallene Felseninseln gen Himmel zeigten«, noch verstärkt wird.16 Der Name Germania II stammt von einem alten Schacht, der die Kohle für die Brikettproduktion geliefert hatte.17 Wie auch die Mühle ist die Fabrik von einer »unaufhaltsam weiterrottende[n] Natur« umgeben, die den Ort »in einen beinahe vorgeschichtlich anmutenden Überrest verwandelt hatte« (A 160).18 Dass sich Hilbig hier dezidiert der Bildmetaphorik der Ruderalfläche bedient, zeigt nicht zuletzt die Beschreibung dieser Natur: »Es war eine Vegetation, typisch für diese Gegend, fähig auf ausgelaugtem Abraum und zerbröckeltem Schrott zu wachsen, weder nützlich noch schön, war sie offenbar nur entstanden, um die Wunden des Geländes zu bedecken…« (A 161).19 Hilbigs metaphorische Nähe zum Ruderaltopos des Magischen Realismus lässt sich durch einen vergleichenden Blick auf die kleine Erzählung Asche (1941) von Martin Raschke noch einmal verdeutlichen. Asche beginnt mit den Worten: »Lange war mir ein aufgeschüttetes Gelände an der Stadtgrenze, ein von vielen Schluchten und Löchern durchsetztes Bergland, […] der liebste Spielplatz, bis es geschah, daß die Schuttebene, wo Melde grünte, Nachtschatten und spärlicher Beifuß, mehr und mehr an Reizen verlor und immer öder wurde.« (Raschke 1963: 147) In Hilbigs Erzählung Die Kunde von den Bäumen (1992) lautet eine vergleichbare Passage: »Es mußten Jahre vergangen sein, und das Gelände hatte sich völlig verändert. Die Asche hatte sich zu einer umfangreichen planierten Ebene ausgewachsen, im Gegen-
16
17 18
19
ken war, ein Stück meines kindischen Bewußtseins, das in den Nebel gefallen war, ein Stück Zeit, das auf einer scheußlichen schlüpfrigen Falle abgeglitten und verschwunden war, dessen Verlust ich plötzlich nicht mehr ertrug… es schien, als sei mir ein Satz abhanden gekommen« (A 159f.). Hier wird deutlich ein Bezug zum Versuch des inzwischen erwachsenen Erzählers hergestellt, die Erfahrungen der Kindheit im Nacherleben derselben zu artikulieren und schriftlich zu fixieren. Schulze (2010: 293) bemerkt allgemein: »Immer wieder findet sich in Hilbigs Büchern die fragile Oberfläche wieder, auf der sich der Erzähler und das Geschehen bewegen, ständig besteht die Gefahr, einzubrechen, einzusinken, weil man nicht weiß, auf welchem Boden man geht.« Kapitel 5.2.2 wird sich noch einmal genauer mit Germania II und ihren möglichen Lesarten auseinandersetzen. Das omnipräsente Unkraut und die durchgehende Verwendung der Ruderalfläche als Topos und Reflexionsfigur haben Schäfer zu der Äußerung veranlasst, die Alte Abdeckerei sei »wahrscheinlich der ›ruderalste‹ Text der deutschen Literatur« (Schäfer 2001: 183). Zum Vergleich sei an dieser Stelle noch einmal eine biologische Definition der Ruderalfläche gegeben. Der aus der Botanik stammende Begriff bezeichnet ursprünglich »den kurzlebigen stickstoffliebenden Bewuchs der Schutthaufen« (Brandes 1988: 7) bzw. in einer etwas weiteren Definition »die krautige Vegetation anthropogen stark veränderter und/oder gestörter Wuchsplätze, sofern diese weder land- noch forstwirtschaftlich genutzt werden« (ebd). Ruderalflora wächst bevorzugt »auf nicht bewirtschafteten, aber ebenfalls vom Menschen beeinflußten Standorten wie Wegrainen, Müll- und Schuttplätzen sowie Bahn- und Industrieanlagen« (Hofmeister/Garve 1986: 127).
155
156
Ruderale Texturen
satz zu früheren Zeiten blieb sie dennoch unübersichtlich: sie war mit einem dichten Gesträuch überzogen, mit einem seltsamen Unkraut, das meterhoch stand, und durch diesen Filz führten nur schmale Pfade, die ein verwirrendes Labyrinth bildeten. Ich hatte keine Ahnung, woraus sich dieser Dschungel von Gewächsen zusammensetzte: trockenes hartes Gras, Kletten, Röhricht … alles wahrscheinlich, was wir Melde nannten, weil es in irgendeiner Zeit des Jahrs mit gelben Blüten auf sich aufmerksam machte, schäbiger Rainfarn, schmutzige Goldruten, deren Dickicht auf dem Unfruchtbaren besser gedieh als auf fruchtbarem Boden …« (Hilbig 2010a: 237). ›Meterhohes‹ Unkraut, ein ›Dschungel von Gewächsen‹, dichter ›Filz‹, Kletten, Röhricht, Melde – die magisch-realistischen Pflanzen Loerkes, Langes und Langgässers führen auf den ›planierten Ebenen‹ des Sozialismus ein eigenwilliges Nachleben. Gleichzeitig lassen sich Hilbigs schmutzige Goldruten auch als Nachfahren der ebenfalls von Kohlenstaub bedeckten Goldruten Strittmatters verstehen. Sie evozieren insofern die Transformationen der Landschaft nach 1945 und binden diesen zugleich an die Ereignisse vor 1945 zurück. Die Ascheberge Raschkes, die 1941 auch auf die verbrannte Erde der Nationalsozialisten verweisen, werden bei Hilbig daher zu einer »dialektisch ›durchgearbeitete[n]‹ Landschaft des Sozialismus« (Schäfer 2001: 204). In beiden Erzählungen beobachten die Protagonisten das Anwachsen der Asche- beziehungsweise Abfallberge vor der Stadt, doch ist Raschkes »unkrautüberwucherte Wüste« voller Blumen, die »üppig aus der einstigen Asche rankten« (Raschke 1963: 148), in Hilbigs Erzählung einer Mülldeponie gewichen, auf der sich nicht mehr Gärtner20 , sondern Müllmänner bewegen. Raschkes kurzer Text ist vor allem deshalb interessant, weil dieser als Herausgeber der Zeitschrift Die Kolonne (1929-1932) eng mit magisch-realistischen Autorinnen und Autoren wie Oda Schäfer und Günter Eich befreundet war und als eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Magischen Realismus gilt. Ganz offensichtlich orientieren sich Hilbigs verkommene Topografien an der »Vorstadtlandschaft« (ebd.) Raschkes und übernehmen dessen Aschewüsten und das auf ihnen wuchernde Unkraut, um den historischen Charakter der Vorstadtperipherie zu bestimmen. In der Alten Abdeckerei erweist sich dieser Charakter nun als ein prekärer. Auf dem Gelände der Abdeckerei wird unter Mensch und Tier gleichermaßen verachtenden Umständen eine Grundsubstanz für die Waschmittelproduktion hergestellt. Als Kind wird der Erzähler Zeuge von Notschlachtungen, die Entsetzen und Ekel in ihm auslösen. Erneut werden dem Vegetativen körperliche Eigenschaften zugesprochen, etwa wenn die alten Weiden, auf die Schlachtungen Bezug nehmend, »das Öl der Fleische ausschwitzen, von denen sie sich nährten« (A 148). Dennoch zieht Germania II, »der Inbegriff des Dunklen, Schmierigen, Ungesunden« (A 171), den Erzähler beinahe magisch
20
Die Idee des Gärtnerns taucht auch in Alte Abdeckerei auf, wo der Protagonist den Berufswunsch äußert, Gärtner zu werden. Ihm erscheint der Held aus Voltaires Candide »nachahmenswert: inmitten eines bösen Gesamtzustandes der Welt hatte er für sich und seine Freunde das erträglichste der Übel herausgefunden: im Schatten des Gartengrüns kam man der Pflicht nach, sich zu ernähren« (A 168). Diese Vorstellung wird durch das Bild der verwesenden und modrigen Landschaft allerdings ad absurdum geführt.
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
an.21 Auch von den Arbeitern fühlt er sich auf seltsame Weise angezogen. Diese nehmen in der Erzählung jedoch eine Außenseiterrolle ein, die vor dem Hintergrund der marxistisch-leninistischen Vorstellung von einem Arbeiter- und Bauernstaat erst einmal verwundern mag. Nicht nur bleibt unklar, aus was die Arbeit in den Gebäuden der Germania II konkret besteht, auch die Figuren, die diese Arbeit ausführen, sind vage Gestalten ohne jede Form von Individualität. Die Arbeiter scheinen vorwiegend Seife zu produzieren und außerhalb des Abdeckerei-Areals eine schemenhafte Außenseiterexistenz zu führen. Schoor/Bauer (2000: 245, Herv. J.K.) bemerken: »Von den diversen Schwundstufen des ideologischen Kollektivs Proletariat in Hilbigs Werk haben wir hier eine der sonderbarsten und finstersten vor uns.«22 Der Erzähler jedoch identifiziert sich mit ihnen und ihrem Außenseiterstatus: »Meine Vorstellungen von diesen Männern waren hauptsächlich Vorstellungen von mir selbst« (A 179), bemerkt er. Schließlich äußert er den Berufswunsch, Arbeiter des Werkes Germania II zu werden, ein Begehren, das jedoch bis zuletzt rein voluntativ bleibt. Das Bild einer Landschaft der Abwesenheit und Einsamkeit wird in diesen wenigen Menschen, denen sich der Erzähler zugehörig fühlt, gespiegelt: verlorene, dunkle Figuren, »Exilanten […] aus Haltlosigkeit… aus Unbedarftheit, Unwissen, Asozialität« (A 162).23 Und der Text lässt noch eine weitere Deutung zu: Auf den verrotteten Resten der Industrie kann nur eine Existenz entstehen, die, der ruderalen Flora gleich, auch bei schlechten Bedingungen überlebensfähig ist. Der Mensch wird selbst zum Unkraut. So heißt es denn über den Erzähler und die Arbeiter gleichermaßen: »[W]ie eine graue Vegetation, die ohne Gegenleistung von den Nährstoffen des Bodens fraß, […] siedelten wir uns an zwischen Abraum und Schutt, wo wir geil und kampflos wuchern konnten« (A 162).24 Die »Wurzellosigkeit« (A 162) der verlorenen Figuren lässt diese – unkrautgleich – die Brachlandschaften bevölkern, wo sie das eigensinnige Wuchern der Ruderalflora förmlich imitieren. Das ›kampflose‹ Wuchern wird zum Lebensprinzip. Aber mehr noch: Im Bild der Ruderalität entwirft sich Hilbig als ein Schriftsteller, dessen Schreiben aus einer spezifischen historischen Situation heraus entsteht (›Abraum und Schutt‹), auf die die Literatur jedoch keinen Einfluss nimmt (›kampflos‹). Die an dieser Stelle deutlich werdende Poetik besteht vielmehr in einem Vorgang des Einverleibens der historischen Situation, der im Bildfeld der Ruderalität metaphorisch gefasst wird (eine Vegetation, ›die ohne Gegenleistung von den Nährstoffen des Bodens fraß‹). 21
22
23
24
Adorno hat in seinen Meditationen zur Metaphysik auf eine kindliche Empfänglichkeit für die »von der Zone des Abdeckers, dem Aas, dem widerlich süßen Geruch der Verwesung« (Adorno 2003: 358) ausgehende Faszination hingewiesen. Hier wird eine Sozialkritik deutlich, die auch auf die Ideologisierung von Begriffen wie ›Arbeiterklasse‹ abzielt. Probst (2017: 162) konstatiert hinsichtlich der in vielen Erzählungen Hilbigs ähnlichen Darstellung des sozialen Umfelds, es handele sich hierbei um das »überwunden geglaubte ›Lumpenproletariat‹. Damit partizipiert das Bild der Werktätigen nicht am sozialromantischen Diskurs einer von (Klassen-)Selbstbewusstsein durchdrungenen Arbeiterklasse, sondern wird als Prekariat sozialer und geistiger Verelendung demaskiert«. Auch Hilbig selbst lebte in einer Zwischenwelt: Als Heizer befeuerte er tagsüber die Kesselhäuser der Industrieanlagen, nachts las er Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Novalis, Stefan George, Charles Baudelaire oder Ezra Pound oder schrieb selbst. Schoor/Bauer (2000: 244) bemerken dazu: »Die wuchernde Natur mit fleischfressenden Weiden und überernährten Schmeißfliegen ist nun mit der eigenen parasitären Existenz verfilzt«.
157
158
Ruderale Texturen
Hilbigs Erzählungen entwerfen Landschaft als einen Raum, der von Grund auf durch die Abfälle der Industrie verschmutzt ist. Die Unkräuter mit ihren schmutzigen Blüten gehen mit den Industriegiften eine unangenehme Symbiose ein. In Die Kunde von den Bäumen heißt es: »[D]ie gesamte Asche schien vom Atem ihrer beißenden giftgelben Dolden oder Blüten verheert, unentwegt erfüllten sie die Luft mit erstickenden Wolken von Staub, Blütenstaub oder Aschestaub, der wie verdampfender Essig roch« (Hilbig 2010a: 237). Diese Interdependenzen zwischen industriellem und natürlichem Raum zeigt auch die Erzählung Grünes grünes Grab (1993), in der die Isolierung eines Stahlrohrs in Fetzen über die Gärten verstreut ist: »Die Glaswolle, die versetzt war mit längst verwitternder Gipsmasse, hatte sich in den Zäunen verfangen, lag über die Mauern und Schuppendächer gesät, sie hing, absonderlichen Riesenblüten gleich, von Bäumen und Sträuchern, und ihre Klumpen säumten an vielen Stellen die Wegränder, wo sie wie Barren von Eis und Schnee aussahen, die seit langem alle Sommer überstanden hatten.« (Hilbig 2009c: 486f.) Die Verwobenheit des städtischen wie ländlichen Raums mit den Brachen einer dysfunktionalen Industrie erzeugt eine sekundäre Natur, die ihren Ausdruck in kontaminierten Landschaften findet. Absonderlichen Riesenblüten gleich säumt die Glaswolle hier die Wegränder. Während jedoch Grünes grünes Grab zuletzt auf die Heilkraft eines »zäh[en] und unverwüstlich[en]« Grases rekurriert, das sich »eilig regenerierte« und »unter Erdschollen und Gestein wieder hervor[trieb]« (ebd.: 489), entwirft Alte Abdeckerei eine Natur, in der nur noch Schmeißfliegen gedeihen und das fette Kraut sich »wuchernd weiterzufressen« (A 148) scheint. Die Weiden, »am Tod der Fauna stark geworden« (A 148), sieht der Erzähler »zu nie gekannter Wildheit ausarten« (A 149), die restliche Vegetation hingegen erscheint ihm »feist und phlegmatisch« (A 148). Die Pflanzen verwandeln sich vor der grotesken Kulisse einer industriellen Nach-Natur in »Ausgeburten eines unberechenbar fruchtbaren Untergrunds, hässlich verkrüppelte Auswüchse«, in groteske Zwitterwesen, »die in ihrer Fratzenhaftigkeit weder der Vegetation noch einer […] Tiergattung ganz zuzuordnen gewesen wären« (A 149). Diese immer wieder beschriebene ›geil‹ wuchernde Flora und das unter ihr allmählich verschwindende Industrieareal lassen sich als Expositionen verstehen, die auf die Dramatisierung der Ereignisse am Ende der Erzählung vorausweisen.25 Dort erhält die
25
Im Gegensatz zum anwachsenden Tempo der Erzählung steht eine immer wieder genannte ›Müdigkeit‹. So ist die Rede von einer »Müdigkeit, […] die aus jeder Pore des Bodens stieg« (A 182) sowie von stehenden Gewässern, »die in ihrer Müdigkeit und beständigen Trauer […] aufnahmefähig geworden waren für Gift und Unrat« (A 180). Dem Erzähler scheint sein Haus als »Mitte, zu welcher es erklärt war aus Müdigkeit« (A 144). Auch die Arbeiter der Germania II werden jene Müdigkeit nicht los: »Totes Land, ödes Land, riefen die Männer, und ihre Stimmen trugen die Müde weithin über das Territorium« (A 183). Müdigkeit, als ein Ausdruck von Erschöpfung, konstituiert somit sowohl die Figuren als auch die Landschaft der Erzählung. Zugleich lässt sich diese Müdigkeit auch als ein mögliches – stillstehendes – Zentrum des Mahlstroms identifizieren, der die Erzählung von Beginn an begleitet. Zum Umfallen müde zu sein bedeutet in dieser Gegend überdies auch, von glitschigen Hängen zu rutschen und in den allgegenwärtigen Morast zu fallen, in eine »schwarzgrüne Jauche […] mit Blut vermischt« (A 126).
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
bis dahin als Vorgang der Entzeitlichung und Regression gedachte Zeitlichkeit schließlich eine apokalyptische Signatur. So kommt der Erzähler eines Tages von seinem gewohnten Weg ab und verliert auch das Flüsschen, die konstante Orientierungsmarke seiner Bewegungslinien, aus den Augen. Aus den modrig-feuchten Gebieten ist er in ihm unbekannte »trockenere Gegenden« voller »Sand und Kies« geraten, in denen das Gras »spärlicher und niedriger« wächst. Der Raum weitet sich nun ins Endlose und dem Erzähler scheint es, als ginge er »in geräumige Wölbungen hinein« (A 187), in denen seine Schritte laut auf dem Boden widerhallen. »[Z]uvor war ich fast in einige Haufen von Gesteinsschutt hineingelaufen, hatte Bruchstücke von Straßenpflaster überquert, Reste von Anfahrtswegen, Hofpflaster, umgekippte Hofmauern; womöglich hatte ich mich vor den Trümmern der alten Wassermühle befunden, die zugedeckt wurde vom ratlosen Wuchern der Kletten und Winden, aus denen es nach Asche roch, lebloser Geruch der Asche über dem Menschenwerk, das auf dem Rückweg zur Natur war« (A 187). Auf eigentümliche Weise wird der neu erschlossene Raum hier mit dem bereits Bekannten verschränkt, zugleich werden die Zeitebenen ineinander geblendet, wenn die Wassermühle der früheren Streifzüge als möglicherweise bereits von den ›ratlos‹ wuchernden Pflanzen bedeckt imaginiert wird. Immer schon, so scheint es, erobert die Natur die brachliegenden Flächen zurück. Das Panorama von Bruchstücken, Resten und Trümmern, die wieder in einen natürlichen Kreislauf eingespeist werden, indem Kletten und Winden sie nach und nach bedecken, scheint einerseits einen Ausweg aus der unheilvollen Zivilisationsentwicklung, die die Erzählung fortwährend ausstellt, anzuzeigen, andererseits wird dieser ›Rückweg zur Natur‹ jedoch durch den ›leblosen Geruch der Asche‹, der über allem liegt, konterkariert. Das Ende der Erzählung zeigt schließlich noch einmal eindrucksvoll Hilbigs Rückgriff auf eine vom Magischen Realismus beeinflusste ›Trümmerliteratur‹ avant la lettre, wie sie ihren Ausdruck beispielsweise auch in den Texten Horst Langes gefunden hat. In seiner Studie Unberühmter Ort (2001) stellt Schäfer die These auf, dass es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg eine erste Form von Trümmerliteratur gegeben habe: Nicht nur Langgässers antizipatorische Trümmer aus Gang durch das Ried (1936) nähme Elemente der Trümmerliteratur vorweg, auch Langes »vor-welt(krieg)liche Topographien aus seinem Roman Schwarze Weide (1937) […] können durch leichte Akzentwechsel in die ›echte‹ (zweite) Trümmerliteratur verwandelt werden« (Schäfer 2001: 296). Folgt man dieser Spur, so zeigt sich, dass Langes Erzählungen mit einem Bildvorrat aufwarten, der diese durchaus als ›Prätexte‹ der Alten Abdeckerei qualifiziert. So heißt es in Schwarze Weide: »Nach Osten zu war das Land völlig öde und wie verlassen. An der jenseitigen Grenze der breiten Bruchniederung, die sich quer durch die Landschaft zog, streckte sich der dunkle Wasserwald wie eine lange, geschwärzte Mauer aus, auf der die Färbung der vergilbenden Blätter gleich einem dünnen Anstrich saß. […] Die Luft fing an dämmrig zu werden, fast schwül wie vor einem Gewitter. Zwischendurch lagen kühle Streifen, als wäre den ganzen Tag hier Schatten gewesen.« (Lange 1969: 20f.)
159
160
Ruderale Texturen
Wie auch bei Hilbig wird das Trümmergebiet hier im Osten verortet und durch eine an die Kohlebahnlinie der Alten Abdeckerei erinnernde ›Bruchniederung‹ und einen ›dunklen Wasserwald‹, der sich wie eine ›Mauer‹ durch das Land zieht, vom Westen abgetrennt. In diesem Ödland ist die Luft schwül wie vor einem Gewitter, zugleich ist das Gebiet von dunklen, unheimlichen Schatten durchzogen.26 Drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg verwandelt sich diese Landschaft in Langes Am Kimmerischen Strand (1948) dann schließlich in jene Nachkriegstopografie, die schon in Schwarze Weide angelegt ist: »Hier also begann wieder der Osten […]. Schmutzige, zerfahrene Wege, tiefer Schlamm, von einer dünnen Eiskruste überzogen, die Skelette ausgebrannter Fahrzeuge, die rostigen, unbrauchbar gewordenen Geschütze, die wie verrenkt ihre Lafetten überragten, auch die Leichen, jawohl auch sie, und die Ruinen; die verwüsteten Gärten, die zerrissenen Drähte, die schlaff zwischen den Telegrafenpfählen hingen; das Verrottete, die Öde, das Unabsehbare, das, was niemals mehr zu ordnen sein würde« (Lange 1948: 6). Gemeinsam ist allen drei Texten – Schwarze Weide, Am Kimmerischen Strand, Alte Abdeckerei – eine bestimmte Semantisierung des Ostens. Sowohl bei Lange als auch bei Hilbig wird dieser als ein zwielichtiger und öder Raum imaginiert. Zugleich partizipieren beide an einer Form der Trümmerliteratur, die mit Rudimenten (Trümmern, Resten und Bruchstücken) und einer gefährlichen und tückischen und oftmals unterweltlichen sowie immer schon überwucherten Landschaft arbeitet und sich durch »Mythologeme, Geheimnis und Zwielicht« (Schäfer 2001: 295) auszeichnet. Das, was ›niemals mehr zu ordnen sein würde‹ bildet auch das materielle wie immaterielle Fundament der Alten Abdeckerei. Im Rückgriff auf Schäfers Überlegungen lässt sich daher die These formulieren, dass Alte Abdeckerei die magisch-realistischen Trümmertexte beerbt und dieses Erbe vor dem Hintergrund des Untergangs des Dritten Reichs wie auch der DDR noch einmal modifiziert.27 Um diese Zusammenhänge nachzuzeichnen, wird im Folgenden zunächst das Ende der Erzählung in den Blick genommen, das die Ruinenlandschaft Langes noch einmal prominent inszeniert, bevor anschließend die prekäre Beschaffenheit des Bodens und ihre Verbindung zu den magisch-realistischen Schreibweisen der Trümmerliteratur betrachtet wird.
Apokalypse Der Erzähler der Alten Abdeckerei bewegt sich auf einem Untergrund aus verkohlten Schlackeresten und verbrauchter Materie. Die gesamte Umgebung erweist sich überdies als brüchig: Sie ist »von einer unübersehbaren Vielzahl ausgedienter Schächte
26
27
Auch das obligatorische und hier bereits zwielichtige Unkraut ist vorhanden: »Selbst die Sumpfpflanzen, welche mit ihren fleischigen Blättern als Pfeile durch den Moder stießen, waren bereits angegilbt und geknickt« (Lange 1969: 21). Bei Schäfer (2001: 298), dessen Fokus ebenfalls weniger auf einer genealogischen als auf einer metaphorischen Verbindungslinie liegt, heißt es hierzu: »Wolfgang Hilbigs Alte Abdeckerei und andere Trümmer-Texte der Wendezeit beerben nolens volens den ›wilden Osten‹ Horst Langes und anderer Magischer RealistInnen«.
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
untergraben«. Der Boden des Landes ist »trügerisch«, denn »die uralten Stollen, wabengleich das Erdinnere zergliedernd, teilweise seit einigen hundert Jahren unberührt, waren in ihrem ganzen Ausmaß mit der Zeit vergessen worden« (A 192). Die dem Erzähler unbekannte Gegend verlassener Industrieanlagen erweist sich als ›Restelager‹: »Kaum zugängliche[] Areale einstiger Industrie, Überbleibsel längst geschleifter Fabriken« (A 188). Während seine Schritte schneller werden, entsteht zugleich der Eindruck, als löse er sich selbst allmählich in einer Potenzierung der Dimensionen auf: »[T]ief unter mir glaubte ich den Hall meiner Schritte zu hören, ich bemerkte, wie langsam ich ging, schleppend, müde, obgleich sich die Schritte in den sich verdoppelnden Schächten zu vervielfachen schienen, und schwächer, die ins Unbekannte sich entfernenden Räume dämpften meinen Schritt« (A 189). Die Gefahr eines Einsturzes der brüchigen Oberfläche wird in dieser Landschaft unmittelbar körperlich erfahrbar, wobei die Ereignisse besonders durch die apokalyptische Bildlichkeit eine Dramatisierung erfahren. In der Farbwahl der Beschreibungen wird eine Atmosphäre erzeugt, die die Landschaft in eine expressionistische »Hölle« (A 193) verwandelt. Der Erzähler spricht vom »zunehmenden Leuchten einer unerklärlichen Glut« (A 188) sowie einem glühend roten Himmel, vor dem die dürren Pappeln »dünn wie schwarze Schnüre« (A 188) wirken. Die gesamte Landschaft, so bemerkt er, scheine »wie vom Donner gerührt« (A 189): »Es war etwas anderes, ein Gewitter, selbst wenn es sich nicht entlud, konnte nicht einen so erstickenden Dunst hervorrufen; vielmehr war es, als ob irgendein gewaltiger Schlag das Dach der Nacht abgeschnitten hatte, die Dunkelheit – ihre Kuppel, unter der plötzlich alles ruhig war, und solche Stille auf einmal, als werde alles nach und nach mit dämpfenden Stoffen bedeckt – klaffte auf, Blut schien aus dem Weltraum zu dringen und übergoß, bis in jeden Winkel, alles mit dem Flor seines düsteren Widerscheins.« (A 189) Das vielfach angedeutete Ende nimmt nun Gestalt an. Ein Höllenschlund klafft auf, gleichzeitig steigt ein »riesenhafter Mond« (A 189), gefüllt mit »rotglühender Luft« (A 191), auf, dessen Licht die Schatten der Rudimente in Bewegung versetzt. Von den Fabrikruinen erhebt sich »Getier, Eulen oder Fledermäuse« (A 190), bis zuletzt mit einem »schmetternde[n] Zischen« (A 191) alles in einem Loch versinkt, »das noch einmal glühendes Wasser, Schaum, hochsprühende Funkenfontänen ausgeschleudert hatte, in einigen kurzen vulkanartigen Schüssen, unter dem Wehgebrüll unvereinbarster Elemente, die gewaltsam ineinanderfließen mußten, weil die Erde sich aufgetan hatte, und Feuer und Wasser zur gleichen Zeit durch den engen Rachen eines Leviathan sog« (A 191). Der Text arbeitet hier mit topischen Bildern der Apokalypse, so etwa mit einer allgegenwärtigen Verseuchung der Landschaft, Erdeinsturzszenarien, sich vom Himmel ergießendem Blut, der Figur eines alles verschlingenden Leviathan und dem Bild der Sintflut. Hilbig rekurriert auf einschlägige Bilder aus der Bibel, indem er auf die JesajaApokalypse des Alten Testaments sowie auf die Johannes-Offenbarung des Neuen Testaments Bezug nimmt. Auf diese Weise entwirft er ein »expressives Gemälde, in dem alles in Bewegung gerät, sich dehnt und zum Zerreißen weitet« (Rehfeld 2013: 201), und evoziert so eine Spannung, die sich im apokalyptischen Finale des Texts entlädt: Der Boden stürzt ein und reißt alles »zu gleicher Zeit durch den engen Rachen eines
161
162
Ruderale Texturen
Leviathan«28 , der noch einmal »Eisen und Erde«, »Glut und Dampf, kochendes Gestein und gerinnendes Wasser« sowie »Schlamm und flammende Asche« (A 191) über die Erde verteilt, bevor er alles endgültig verschlingt: »[G]urgelnd und knurrend brachte er sie [die Stoffe, Anm. J.K.] unter im Labyrinth seiner Kaldaunen, gierig spülte er sie mit nassen Drecklawinen tief ins Unwiederbringliche« (A 192). Diese Bewegung greift auch auf den Text selbst über, der ebenfalls zu einem Mahlstrom anwächst, in dem Zeit und Raum ineinander stürzen. Zuletzt verschwindet alles im »Akt einer großen Katharsis« (Hünger 2013: 43); die Gebäude der Abdeckerei versinken in einer der Fallgruben des Braunkohleabbaus: »Wie ein dem Landkreis eingefleischter Hort von Bosheit und Verbrechen war Germania II eines Nachts samt allem, was in ihr lebte oder schon tot war, zur Hölle gefahren.« (A 193, Herv. i.O.)29 Auf dieses katastrophisch entworfene Untergangsszenario folgt eine Beschreibung der postapokalyptischen Landschaft, in der das »Sieden und Kochen« (A 191) wieder in gemäßigte Bahnen überführt wird. Hilbigs Erzählung nimmt hier eine eigentümliche Wendung. So steht am Ende der Szene ein »letzter flacher Windstoß«, der »[w]ie mit bereinigender Handbewegung« die Umgebung »freigemacht [hatte] für das Aufklaren der Horizonte« (A 193). Das Loch füllt sich schließlich mit Wasser und verwandelt sich zuletzt in »eins jener blanken unergründlichen Augen […], in denen gebadet wurde, obwohl sie wegen ihrer tückischen Tiefenverhältnisse als gefährlich galten« (A 194), in einen See, in dem Fische leben. Die ›Geschwüre der Menschheitsepoche‹, die im apokalyptischen Endszenario verschlungen wurden, werden somit anschließend wieder in einen kosmischen Kreislauf eingespeist.30 Ingo Schulze (2010: 316) beobachtet: »In der linearen Zeit bliebe es bei dieser Apokalypse, beim Tod. Doch nicht in der zyklischen Zeit. Es setzt eine Wandlung ein, eine Gegenbewegung, die von unten kommt. Der ›Rachen von ein paar Hundert Meter Durchmesser‹ füllt sich mit Wasser. Das Meer kehrt
28
29
30
Der Leviathan bindet die Textstelle noch einmal deutlich an die Prophetie Jesajas zurück, gleichzeitig nimmt die Erzählung hier eine interessante Verschiebung vor. So heißt es bei Jesaja: »Zu der Zeit wird der HERR heimsuchen mit seinem harten, großen und starken Schwert den Leviathan, die flüchtige Schlange, und den Leviathan, die gewundene Schlange, und wird den Drachen im Meer töten.« (Jes 27,1) Der Leviathan verkörpert in diesem Kontext die sich Gottes Macht entgegenstellenden Mächte und wird als Seeungeheuer bzw. Drache vorgestellt. In der Alten Abdeckerei ist nun jegliche Spur eines rächenden Gottes verschwunden, während der Leviathan selbst die Erde verschlingt. Ein ähnliches Untergangsszenario findet sich in Hilbigs Erzählung Ort der Gewitter (2002). Dort werden die noch glühenden Aschereste in die Restlöcher verkippt und entzünden die nach dem Abbau verbliebenen Braunkohlereste in den Flözen. Die Ascheabfälle kehren hier an ihren Entstehungsort zurück, woraufhin ein »Asche-Kreislauf [entsteht], durch den sich die Landschaft am Ende selbst verzehrt« (Probst 2017: 183). Dieses Ende lässt sich mit den beiden Bedeutungsdimensionen der Apokalypse zusammenführen. Im biblischen Wortgebrach meint der Begriff sowohl den Vorgang eines Verbergens (Zerstören) wie auch eines Entbergens (Neuschaffen), eine Doppelung, die in der Offenbarung des Johannes durch die Erzählungen vom Weltende und von der Ankunft eines neuen Himmelstaats aufgegriffen wird. Die Rezeptionsgeschichte der biblischen und mythischen Apokalypsen greift diese beiden Auslegungsmöglichkeiten schon immer auf und fasst Apokalypse als Katastrophe oder Utopie, als Weltende, Weltgericht und neue Schöpfung (vgl. Braungart 1991: 65, Lichtenberger 2014: 255-263 sowie Rehfeld 2013: 202).
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
zurück nach Sachsen.«31 Die Abdeckerei, ein Ort von Schmutz und Dunkelheit, bildet somit auch den Gegenpol zu der am Ende der Erzählung entworfenen Landschaft. Als »sterngestirnter Umfluß« (A 200), in dem Fische »lichternd« (A 201) durch die gefluteten Kohlestollen schwärmen, wird das Trümmergebiet zum Ort eines Neubeginns, der nach dem Untergang der »Geschwür[e]« (A 193) einsetzt.32 In der Wanderung der Fische durch die ehemaligen Stollen, »vorüber an den Korallenbänken der Kohle« (A 201), wird ein Schlussszenario entworfen, das die Wiederkehr eines Lebensprinzips abbildet, welches den ›unguten (Industrie-)Ort‹ zu neuem Leben erweckt. Aus der Flut entsteht eine neue Qualität des Lebens, es setzt eine »kosmische Metamorphose« (Rehfeld 2013: 202) und Wiedergeburt ein, die durch den letzten Satz der Erzählung noch einmal auf eine mythologische Ebene gehoben wird.33 Das Gebiet der ehemaligen Abdeckerei ist nun ein Ort, »wo in der Flut die Sternbilder spielen, wo die Minotauren weiden« (A 202). Man kann sich hier Schulze (2010: 320) anschließen, der beobachtet: »Verheißt dieses Schlussbild nicht eine Wiedergeburt, eine Wiedergeburt von Mensch und Tier und Pflanze, auch die Wiedergeburt einer anderen Sprache, die Vision eines (Stern-)Himmels auf Erden, durch den der Erzählstrom weiter fließt?« Tatsächlich fließt der Erzählstrom unabhängig von der Präsenz des Erzählers weiter. Während sich dessen Spur »dort unten« (A 189) verliert, setzt eine neue Art von Erzählen ein, denn das Wasser, das die Erzählung von Beginn an als Flüsschen begleitet hatte, beginnt nun zu erzählen: »In die Nacht der Kohle, mit den Wassern schreibend in die Nacht der Kohle, unsichtbar, und flüsternd, zirpend in die Finsternisse, mit den Wassern wissend« (A 200). Das Flüsschen hatte von Anfang an gewispert und gekichert, nun übernimmt es die Erzählführung. Zusammen mit den Fischen fließt es ›vorüber‹, lässt Germania II hinter sich und breitet sich »in großer Runde über versunkene Gärten und Mühlen« (A 201) aus. Entstiegen sind diesem Wasser die friedlich weidenden Minotauren, die das Schlusstableau der Erzählung bilden. Galt der Minotaurus, ein Zwitterwesen mit menschlichem Körper und Stierkopf, in der griechischen Mythologie als menschenfressendes Ungeheuer, dem regelmäßig junge Männer und Jungfrauen geopfert wurden, so handelt es sich bei den Minotauren der Alten Abdeckerei um sanfte und friedvolle Wesen, die, aus dem Labyrinth befreit, die untergegangene Landschaft nun neu besiedeln. Die ›Hölle‹ des apokalyptischen Untergangs zeigt sich insofern auch als ein Ort, an dem Mensch und Tier versöhnt sind. Hilbig entwickelt hier außerdem eine Form von Kosmogonie, die die Entstehung der Welt mit der Entwicklung einer neuen Sprache zusammendenkt. Es entsteht eine neue Wirklichkeit, die nicht mehr an das untergegangene Erzählersubjekt geknüpft ist, sondern eine neue, eigene Erzählweise entwickelt. Die Formulierung »wo in der Flut die Sternbilder spielen« (A 202) unterlegt diesem abschließenden Bild noch einmal die Idee einer Wiederkehr des Lebens: Dem 31
32 33
In diesem Zusammenhang erweist sich auch ein Blick auf Hilbigs Gedicht Das Meer in Sachsen (1977) als interessant. Dort ist das, was in der Alten Abdeckerei poetische Wirklichkeit wird, schon vorausgesagt, wenn es in den letzten Zeilen heißt: »ich weiß das meer kommt wieder nach sachsen / es verschlingt die arche / stürzt den ararat« (Hilbig 2008: 84). Zu literarischen Verwandtschaft Hilbigs mit Werken der Trümmerliteratur siehe Schäfer (2001: 184, 194-213). Allerdings ist dieser Bewegung auch ein unheimliches Moment unterlegt, wenn die Fische menschenähnliche Züge erhalten (»wie helle Gesichter« (A 201)).
163
164
Ruderale Texturen
antiken Glauben nach konnten sterbliche Wesen unsterblich werden, indem sie von den Göttern als Sternenbilder an den Himmel überführt wurden. Dieser Gedanke einer Wiederkehr wird auch am Bild der Flut deutlich. Die Flut markiert eine Bewegungsrichtung, die etwas überschwemmt und verdeckt, um es anschließend wieder freizugeben. Was bleibt, wenn sich das Wasser zurückgezogen hat, ist zum einen die Landschaft mit den friedlichen Minotauren, zum anderen aber ist es die Erzählung Alte Abdeckerei, das heißt der Text selbst, der das dem Untergang Vorausgegangene schriftlich fixiert und so im Medium der Schrift bewahrt, was von der imaginierten Katastrophe kassiert wurde. Hilbig selbst findet in seinem Gedicht Salz das ich vergaß ein Bild für diese Vorstellung von etwas Bleibendem, wenn er schreibt: »Nebel der zerfließt / und im Schlamm den Schimmer von Salz hinterläßt« (Hilbig 2008:174). Dieses Salz trägt noch den »Geruch der Meerflut« (ebd.) an sich und verweist als Spur auf etwas einst Dagewesenes und nun Abwesendes, das es zu erinnern gilt.34 Das Salz fungiert folglich als Rückstand der gefluteten Welt und weist damit auf die brachliegenden Landschaften und verunkrauteten Flächen ebenso zurück wie auf die düsteren Abgründe der deutschen Geschichte. Im Bild des Salzes sind Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen eingefangen. Das eingangs im Bild der Glut angedeutete Hoffnungsmoment wird auf diese Weise im Bild der Flut und des Salzes noch einmal anders gefasst. Das Salz, so beobachtet auch Michael Neumann (2011: 310), ist »Rückstand und Substrat«, in ihm sind Gegenwart und Vergangenheit eins. Diese Darstellung einer Verbindung von Untergang und Neubeginn lässt sich auch als Ausdruck einer bestimmten Auffassung von Zeit verstehen. Vor der Flutung des Gebiets wächst auf den Trümmerflächen der deutschen Geschichte das organisch mit diesen verbundene Unkraut und verknüpft so den unhintergehbaren Zerfall der kulturellen Bruchstücke mit seiner eigenen Ausbreitung. Hilbigs Goldruten dienen hier der Bestimmung des historischen Charakters der peripheren Räume. Es zeigt, dass die in den Trümmern aufgespeicherte Geschichte zum jetzigen Zeitpunkt noch, bald jedoch nicht mehr sichtbar ist. Diese Trümmer gilt es im Folgenden näher zu betrachten, um auf diese Weise sowohl die Vergangenheitsschichten der maroden Gegenden freizulegen als auch die Rolle des Ruderals noch einmal genauer zu fassen.
5.2.
»Keineswegs war es fester Untergrund«: Abraum, Ruinen und Schutt
Auf den Spuren seiner Kindheit durchstreift der Erzähler die öden Landschaften und passiert dabei unsichere Oberflächen einer Erinnerung, die nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension aufweist. Dem Erzähler geht es um die Vergegenwärtigung des Erinnerten, wobei er schreibend zu den blinden Flecken des geschichtlichen Bewusstseins vordringt. Wie auch in der ein Jahr später veröffentlichten Erzählung Die Kunde von den Bäumen erweist sich die Geschichte, die es zu
34
Diese Gedankenfigur wird auch in Hilbigs Gedicht Saturnische Ellipsen aufgegriffen und in einer metareflexiven Perspektive auf den Autor selbst rückbezogen: »Und von mir blieb ein träumend Salz von dem die Welle / einatmend sich zurückzieht: ausatmend wiederkehrt« (Hilbig 2008: 184).
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
erzählen gilt, als »im Grund dieses Landstrichs vergraben« (Hilbig 2010a: 224). In beiden Texten widmet sich der Erzähler der Aufgabe, zwischen all den Überresten und Abfällen, zwischen Schlacken, Asche und Schutt, das zu erzählende Narrativ freizulegen, es wortwörtlich auszugraben aus dem »dunkle[n] Sumpf« (A 181), der Landschaft und Historie gleichermaßen kennzeichnet. Hilbigs Erzähler zeigt sich hier als Chronist des Landstrichs und der Geschichte seiner Erde. Dieses Freilegen der Geschichte wird mit der prekären Beschaffenheit des Bodens enggeführt und so ein Bild der Peripherie erzeugt, das diese gleichermaßen als einen Ort des Vergessens und Erinnerns zeigt. Im Bild der Asche lässt sich diese Gedankenfigur noch einmal fassen: »Was zu Asche wird«, so beobachtet Michael Opitz (2008: 150f.), »droht vergessen zu werden. Zugleich ist Asche aber auch ein Archiv – in ihr ist historisches Material aufgehoben«. Die eingangs geschilderte Verbindung von apokalyptischem Verschwinden und visionärem Hoffnungsgedanken verknüpft die Erzählung dabei mit einer anderen prominenten Darstellung des ruralen Raums Ostmitteleuropas: Der Inszenierung der apokalyptischen Landschaften der sogenannten ›Zone‹ in Andrej Tarkowskijs Film Stalker (1979).35 Die Verbindung zu Stalker eröffnet neue Perspektiven auf die Alte Abdeckerei und rückt die Erzählung überdies in einen größeren Zusammenhang, der noch einmal deutlich macht, dass es sich bei den vegetativen Metaphoriken Hilbigs um ein globales Phänomen handelt. Hilbigs Imagination post-katastrophale Landschaften partizipiert hier an einem Imaginarium des globalen Ostens. Dort, wo der Eingriff in die Peripherie besonders brutal stattfindet, wächst (magisch-realistisches) Unkraut oder, anders formuliert, in bestimmten historischen Situationen erweist sich die Ruderalität als Artikulationsmöglichkeit. Im Rekurs auf Stalker lassen sich Hilbigs Darstellungsweise der ungenutzten Abraumhalden und sein Rekurs auf die ruderale Metaphorik insofern noch einmal konkreter fassen und durch den Begriff der ›Zone‹ an weiterführende Diskurse anschließen. Der sowjetische Film Stalker zeigt eine Stadt in einer heruntergekommenen Industrielandschaft, die am Rande eines als ›Zone‹ bezeichneten, abgesperrten und evakuierten Gebiets liegt. Bei der Zone handelt es sich um ein militärisch bewachtes Gelände, das infolge einer nicht näher definierten Katastrophe, einem Meteoriteneinschlag oder einer gigantischen Explosion, verseucht ist. In den Ruinen der inzwischen von der Natur zurückeroberten Landschaft soll sich ein rätselhafter Raum befinden, der demjenigen, der ihn findet, seinen Lebenswunsch erfüllt. Der Film operiert mit rätselhaften Bildern und spielt mit Uneineindeutigkeiten. Die seltsame Figur des sogenannten ›Stalkers‹ fungiert als eine Art Führer, der Menschen in die Zone und zu eben jenem Raum bringt. Die Zone selbst zeichnet sich durch eine Zeitlichkeit aus, die in rekursiven Schleifen jede Form von Linearität negiert und im Ineinander von Zerfall (Industrie) und Wachstum (Natur) eine eigenartige Form von Dauer erzeugt: In der Zone gibt es
35
Tarkowskij, obgleich von den Filmfunktionären der Sowjetunion eher behindert als gefördert, war schon zu Lebzeiten ein Klassiker und nicht zuletzt durch das Kulturabkommen zwischen der Sowjetunion und der DDR von 1955 auch in der DDR bekannt. Stalker wurde von der DEFA synchronisiert und 1982 erstmals in den Kinos vorgeführt, wobei die surrealistischen Traumwelten auch in der DDR z.T. auf Missfallen stießen. Es kann insofern davon ausgegangen werden, dass Hilbig Stalker kannte. Zur Tarkowskij-Rezeption siehe bspw. Franz (2016).
165
166
Ruderale Texturen
keinen Stillstand und doch verharren die Dinge im Moment ihrer Auflösung. Deutlich wird dies an den verfallenen Ruinen ebenso wie an all jenen halb vermoderten materiellen Dingen, die in verdreckten Pfützen von einer verschwundenen (Industrie-)Kultur zeugen.36 Überwucherte Panzer scheinen – Tieren ähnlich – in den Wiesen zu grasen, zerstörte Bahnschienen führen ins Nichts und in dreckigen Lachen schwimmen Reste einer ehemaligen, verkommenen Zivilisation: Geld, Spritzen, Waffen. Die Landschaft zeigt sich als »korrumpierte[] Wiederkehr von Hölderlins ›heiliger Wildnis‹ – eine selbstgemachte und selbstverschuldete Wildnis« (Schütz 2017: 352). Der Film entwirft einen Raum, in dem sich die Apokalypse bereits ereignet hat.37 Dies wird unter anderem dadurch inszeniert, dass eine flüsternde Frauenstimme eine Textpassage aus dem sechsten Kapitel der Offenbarung des Johannes zitiert. Die Zone Tarkowskijs ist insofern ein Ort des Danach. Bei den Landschaften dieses Danach handelt es sich jedoch nicht um einfache Ruinenlandschaften, sondern um eine völlig neue Art von Landschaft, denn »die Ruinen gehen mit der unauffällig oder monströs wiederkehrenden Natur eine Verbindung zu einem Dritten ein, zu einer ruinierten Landschaft der Nachnatur« (ebd.). Diese eigenartige Symbiose zwischen Natur und Kultur zeigt sich besonders an den überwucherten Panzern, die einst in die Zone geschickt wurden und von dort aus ungeklärten Gründen nicht zurückkehrten. Sie erinnern an schlafende Tiere oder große Findlinge, die, umgeben von einer überdimensionierten Pflanzenwelt, längst zum Landschaftsbild dieses ruinösen Ortes gehören. Auch die in Langes Erzählung Am Kimmerischen Strand beschriebenen zerrissenen Drähte der Telegrafenmasten führen hier ein eigenwilliges Nachleben und sind längst in das Landschaftsbild der Zone übergegangen.38 Hilbigs Erzählung, so die Annahme, partizipiert nun an diesem von Tarkowskij prominent inszenierten Bild eines postindustriellen Hinterlands und nimmt ähnliche Semantisierungen vor. In seinem Aufsatz Niemandsland, Zone und Winkel (2017) definiert der Literaturwissenschaftler Erhard Schütz die Zone mit Blick auf Stalker als
36
37
38
Stalker entwirft insofern eine Art Zwischenstatus, den Böhme (1989: 288) in Bezug auf die Ruine, und damit auch auf etwas halb Verschwundenes, folgendermaßen beschrieben hat: »Die prekäre Balance der noch sichtbaren Formbestimmtheit und der noch nicht endgültigen Formauflösung der Ruinen prädestiniert sie dazu, zur stummen Zeichensprache der Geschichte zu werden«. Auch der Journalist und Autor Wolfgang Büscher beobachtet in seiner 2003 veröffentlichten Reisebeschreibung Berlin - Moskau: Eine Reise zu Fuß diese beiden Dimensionen der Weltuntergangsprophezeiung – als drohendes Ereignis oder als bereits präsente Wirklichkeit – wenn er hinsichtlich der radioaktiven Sperrgebiete um Tschernobyl konstatiert: »Wir waren in der Zone, und es gab zwei Weltuntergangsprophetien, nicht nur eine. Die apokalyptische aus der unheimlichen Offenbarung des Johannes – aber auch die mystische von Tarkowskij. Bei Johannes ist die Erde der [sic!] Set für einen wahnsinnigen Showdown. […] Bei Tarkowskij […] fehlte die Apokalypse, und sie fehlte, weil sie schon vorbei war, und sie war vorbei, weil sie sowieso da war« (Büscher 2003: 111). Büscher (2003: 116) spricht vom »üppige[n] Wachstum der Gräser, der wilden Blumen und Büsche« und beschreibt eindrücklich eine allmählich einsetzende Symbiose von Natur und Kultur: »Alles wucherte zu. Es gab keine Wiesen und keine Felder und Gärten mehr, und die Dörfer, in die wir kamen, holte sich der Wald wieder, jeden Sommer mehr. […] Bäume und Ranken hatten sie längst in ihre Umarmung genommen und zerquetschten sie langsam. Und an den Strommasten aus roh behauenen Holzstämmen, die die Energie des Reaktors in die Dörfer geleitet hatten, hingen die Leitungen nun herab wie verdorrte Zweige von toten Bäumen«.
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
eine »Alptraumlandschaft aus den Relikten industriegesellschaftlicher Träume, aber zugleich auch eine irre Trostlandschaft des Überstehens, der ewigen Wiederkehr des Immerweiterso, eine Landschaft, an der jede Frage nach Schönheit und Hässlichkeit, nach Zerstörung, Erhalt, Wiederherstellung und Transformation abprallt oder in der sie sich auflöst« (Schütz 2017: 352).39 Auch das in der Alten Abdeckerei beschriebene Gebiet erweist sich als eine aus den Relikten industriegesellschaftlicher Träume bestehende Alptraumlandschaft, die durch ihr Fortbestehen nach dem apokalyptischen Ende der Erzählung zur Trostlandschaft zu avancieren vermag. Darüber hinaus berichtet auch Alte Abdeckerei von ähnlich seltsamen, hybriden pflanzlichen Gebilden, die die Wildnis des Danach bevölkern. Sie scheinen im Falle Hilbigs überaus kräftig zu sein, tragen jedoch zugleich die Spuren der Vergangenheit in sich: »Talg bedeckte das Halmgewirr am Bachrand, uraltes Fett saß untilgbar auf den Hängen der Böschung; es war der Absud von ranzigem Speck, der auch die Wege bedeckte, ausgekochtes Horn, bis zum Zerfall gebrühte Knochen… und die alten Bachweiden gediehen prächtig in dieser Nahrung, zahllose Schmeißfliegen, krank vor Überfütterung, tropfend wie glänzende Gebilde aus Wachs, hüpften träge durch den Schaum, und der schillernde Schaum des Absuds, der schnell schwarz wurde, drehte sich gemächlich auf der Flut vor den Wurzelsträngen der Weiden.« (A 147) Die ›alten Bachweiden‹ und das ›Halmgewirr‹ erscheinen fruchtbar in einem monströsen Sinn des Wortes. Hilbigs ruinierte Landschaft einer Nach-Natur besteht aus fetten Pflanzen und stinkenden Bächen. Überzogen von einer Schicht aus Fett und Talg wird sie zur Heimat der sich von Aas und Kot ernährenden Schmeißfliegen, die Schäfer (2001: 174) auch als ›Wappentieren‹ des Magischen Realismus bezeichnet hat.40 An dieser Stelle lohnt ein vergleichender Blick, denn das Bild einer sich von Abwässern und Exkrementen nährenden Natur findet sich schon bei den Magischen Realistinnen und Realisten der 1950er Jahre, wie zwei Beispiele aus der Lyrik zeigen sollen. So heißt es 1948 bei Wilhelm Lehmann (1982: 185): »Abwässer tränken ihn [den Holunder, Anm. J.K.], ihn nähren Exkremente, / Als wenn er am Verworfenen entbrennte. / Auf schwanken Tisch setzt er sein Duftgericht in / hellen Tellern«. Bei Georg Britting (1993: 166) liest man 1937: »Ein Wäldchen von Sonnenblumen steht / Auf Müll und strotzendem Sterben. / Der Stoff, aus dem ihre Häupter gemacht, / Die ganze mächtig prunkende Pracht, / Sie mußten sie saugend erwerben, / Den Unrat verwandelnd in goldene Fracht«. Obgleich hier eine ähnliche Verbindung zwischen Unkraut und Gestank hergestellt wird, lässt sich an diesen Versen auch ein deutlicher Unterschied zu Hilbigs Pflanzenwelt erkennen. Sowohl bei Lehmann als auch bei Britting findet ein Umwandlungsprozess statt, der die Exkremente und den Unrat in ›goldene Fracht‹ transformiert (vgl. dazu auch Schäfer 2001: 165f.). Nicht zuletzt endet Lehmanns Gedicht Der Holunder mit 39
40
Als eine kontaminierte Landschaft, dem »historische[n] Pendant der Zone« (Schütz 2017: 352), ist das Gebiet auch ein Ort, an dem die aus politischen und ethnischen Gründen Ermordeten liegen: »Die Landschaft des eingeschlossenen, verborgenen Grauens, des Vergessenwollens« (ebd.). Diese ›übersättigte‹ Natur lässt sich als bildliche Ausgestaltung einer in der Jesaja-Offenbarung formulierten Anklage Gottes verstehen. Dort heißt es: »Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke« (Jes 1,11).
167
168
Ruderale Texturen
einem Verweis auf Kleist und damit auf die Literatur des Abendlands, wenn es über den Holunder heißt: »Zu seinen Füßen ruhte Käthchen von Heilbronn. / Er weiß es noch. Er träumt davon« (Lehmann 1982: 185). Die sekundäre Pflanzenwelt, für die der Holunder an dieser Stelle steht, wurzelt demnach für Lehmann noch in großen Namen und kulturellen Werten. Die Erinnerung an Kleists Käthchen von Heilbronn ist noch immer präsent. Ein solcher Sublimationsprozess fehlt bei Hilbig. Erst das Bild der Urflut, die die Kohlenstollen und Unkrautteppiche unter sich begräbt, legt einen ähnlichen Vorgang nahe. Damit wird in der Alten Abdeckerei auch die Idee von Natur als einer von Normen und Ideologien verschonten, schöpferischen Sphäre an ihr Ende geschrieben. Wo in Lehmanns Roman Der Bilderstürmer (1917) noch die personifizierte Figur des Windes den zuvor in einem restriktiven Sinne kultivierten Raum mit »Schöllkraut und Wucherblumensamen« (Lehmann 1984: 113) neu befruchtet, steht bei Hilbig das Bild einer ruinierten Landschaft, in der selbst die Pflanzen Teil der ›Metastasen‹ sind, die die nachhaltig kontaminierte Umgebung überziehen. Um diese Darstellung der Pflanzenwelt zu verstehen, lohnt ein genauerer Blick auf die Ruinen, auf denen sie sich angesiedelt haben. Der unsichere Stand auf brüchigem Boden und der wiederkehrende Verweis auf etwas Untergründiges deutet dabei, so eine erste Lesart, auf die katastrophalen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und der Shoa hin.
Unheilvolle Kontinuitäten Den zunächst undefinierbaren Spuren folgend bewegt sich der Erzähler im Laufe der Erzählung »hinab in konzentrischen Kreisen« (Schulze 2010: 307), eine Bewegung, die an Dantes Göttliche Komödie erinnert. Auch Lohse (2008: 33) bemerkt: »Wer an der Kohlebahnlinie steht, befindet sich an Dantes Höllentor, vermeint dessen Inschrift zu lesen«. Diese lautet: »Durch mich gehts hin zur Heimstatt aller Plagen. / Durch mich gehts hin zur ewig langen Pein, / Durch mich zum Volke, das von Gott geschlagen. / […] Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren!« (Dante 2011: 19) Der kleine Fluss, dem der Erzähler der Alten Abdeckerei von Beginn an folgt, führt ihn ›hinein‹ in die von Anfang an verlorene Welt. Er fungiert als Acheron, als Totenfluss, über den die Seelen der Toten in den Hades gebracht werden, und erinnert auch in dieser Hinsicht an die Göttliche Komödie, in der dieser die Grenze zur Hölle markiert.41 Hat er die Kohlebahnlinie erst überschritten, so steht der Erzähler inmitten eines Zeichenfelds, dessen mögliche Deutungsdimensionen im Text selbst wiederum nur angedeutet werden. Die unsichere Beschaffenheit des Bodens dient als Ausdruck für die Unwägbarkeit der Assoziationen ebenso wie für die der Geschichte, die sich unter dem Boden verbirgt: »keineswegs war es fester Untergrund« (A 142), heißt es eindrücklich über das seltsame Land, durch das sich der Erzähler bewegt. Das Geheimnis der verkommenen Landschaften lässt sich nur erahnen. So stellt sich die Frage nach dem ungehemmten
41
Durch die Bezeichnung ›Barke‹, die der Erzähler zu Beginn wählt, um die Auswirkungen des Rieselns des Flusses auf ihn zu veranschaulichen, wird diese Assoziation noch einmal verstärkt: »[M]anchmal glaubte ich mitzufließen, schaukelnd unter einem schwarzen Baldachin aus Weidenzweigen, in einer Barke von ätzender Trauer, unergründlich treibend in ziellosen Kreisen« (A 118).
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
Wachsen des ostentativ beschriebenen Unkrauts in dieser verfallenen Gegend, bis der Erzähler schließlich bemerkt, er dürfe »den alten Weiden nicht zu nah kommen, welche das Öl der Fleische ausschwitzten, von denen sie sich nährten…« (A 148). Erscheinen die fleischfressenden Weiden wie auch der Plural des Wortes ›Fleisch‹ auf den ersten Blick befremdlich, so löst sich die Aussage des Erzählers im Zusammenhang mit dem kurz darauf geäußerten Wort »Abdeckerweiden« auf. Dieser Neologismus verschränkt die Natur mit der ehemals dort ansässigen Industrie und bezeichnet auf diese Weise ein eigentümliches Zwitterwesen, in dem der Natur-Kultur Gegensatz hinfällig wird, und das insofern auch noch einmal an Tarkowskijs Stalker erinnert. Der »maßlose[] Stoffwechsel[]« (A 148) der Weiden speist sich damit in einer ersten Lesart aus den Tierschlachtungen. Zugleich evozieren die Weiden jedoch auch eine Ahnung von den in den Tiefen des Bodens vergrabenen Geheimnissen der Gegend. Einem alten Schienenstrang folgend gelangt der Erzähler zu einem »Betonmassiv einer Arbeitsrampe, die zu einem früheren Verladebahnhof gehörte« (A 161). Mit diesem Ort verbindet er ein Erlebnis, von dem er nicht weiß, ob es »einem Traum oder der Wirklichkeit entstammte« (A 163): »Mir war so übel geworden, der Ruch des Geschehens hielt mich derart umfangen, daß ich lange Zeit nicht nach Hause zu gehen wagte: ich hatte gesehen, wie Tierkadaver ausgeladen wurden, vermutlich waren es Tierkadaver […]; es geschah, indem man blitzende und tropfende Eisenhaken in die dumpf aufseufzenden Weichen der Tiere schlug […] und die Tiere zuckten und spreizten ihre sperrigen Beine quer über die Rampe, Schweine, Schafe, Kühe, allesamt in furchtbaren Todeskämpfen, oder schon tot und aufgedunsen, größer als gewöhnlich, und mit durchbissenen Zungen vor den schäumenden Mäulern … Schaum, der in ihren Wänsten kochte und durch die Nüstern hervorquoll und die Rampe mit Brei und Schleim überzog, auf der die dunklen Männer in den Gummistiefeln kaum Halt hatten und sich selber fluchend an die unbeweglich furzenden Tierleichen mit den Haken heranzogen...« (A 163f.) Es handelt sich hierbei um eine zentrale Stelle der Erzählung. Der Erzähler beobachtet, wie an der Rampe etwas ausgeladen wird, bei dem es sich vermutlich um Tierkadaver handelt. Der Anblick der mit Eisenhaken42 über die Rampe gezerrten, toten wie lebendigen Tiere schockiert den Erzähler. Er bemerkt, er sei »in einen Mitwisser verwandelt worden, in den Teilhaber irgendeines Tausendjährigen Reichs und seiner Historie« (A 167, Herv. i.O.). Der Verweis auf ›irgendein‹ Tausendjähriges Reich setzt den Umgang mit den Tieren in eine direkte Verbindung zum Dritten Reich der Nationalsozialisten.43 Diese Parallelisierung wird durch das vom Erzähler empfundene Gefühl einer Schuld, 42
43
Schoor/Bauer (2000: 247) haben darauf aufmerksam gemacht, dass hier jene Eisenhaken in Aktion gezeigt werden, die in Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen (1939) noch an der Wand hängen. Jüngers Erzählung berichtet von der sog. ›Schinderhütte‹, einem Ort, der auf perfide Weise für Quälereien hergerichtet ist und an dem eine Gruppe abstoßender Gestalten die grausamen Belange des Oberförsters vertritt. Die Schinderhütte habe sich nun »zur industriell betriebenen Abdeckerei hochgewirtschaftet«. Darüber hinaus verweist ›Tausendjähriges Reich‹ noch einmal auf die Offenbarung des Johannes, in der mehrfach die tausendjährige Herrschaft des Messias betont wird (vgl. Lichtenberger 2014: 255ff.).
169
170
Ruderale Texturen
die auch die Arbeiter der Abdeckerei auszeichnet, noch einmal verstärkt: »[A]uch mir waren die goldenen Locken zugedeckt worden von jenem Schmutz, der von den Rampen troff« (A 167). Das Gefühl einer individuellen Schuld, die aus der Mitwisserschaft um den Umgang mit den Tieren resultiert, lässt sich auf eine kollektive Schuld im Zusammenhang mit den Massenvernichtungen des Zweiten Weltkriegs ausweiten. Nicht umsonst trägt das Gebäude einen doppelt-konnotierten Namen, der eine verhängnisvolle Kontinuität andeutet: Germania II. Germania verweist zum einen im Text selbst auf den Namen eines stillgelegten Kohlenschachts und somit auch auf etwas unter der Oberfläche Verborgenes und schließt zum anderen an Hitlers gigantomanische Vision einer Welthauptstadt an. Durch die Nummerierung wird aus der Germania Hitlers die Germania eines Nachkriegsdeutschlands, das seine Vergangenheit keineswegs überwunden hat. Wie auch bei der realen Methode des Braunkohleabbaus werden hier verschiedene Zeitebenen – das als gegenwärtig inszenierte Schlachten der Tiere und die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands – verwischt und so die »unheilvolle Kontinuität der deutschen Geschichte« (Lohse 2008: 32) markiert. Die Gebäudetrümmer verweisen insofern auch auf eine nicht vollständig überwundene Vergangenheit: Das sozialistische System wurde direkt auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs aufgebaut. Diese Deutung der unheimlichen Stätte lässt sich durch zwei weitere Motive stützen. So berichtet der Erzähler erstens von einer ›Rampe‹, auf die er am Ende seiner Wanderungen an der Mühle immer wieder stößt: »[B]ei genauerem Hinsehen erkannte man die ruinösen Fragmente der Betonbefestigung, die völlig verwachsen waren von Gesträuch und Gras […]; es war zu sehen, daß hier eine Fahrbahn an die Geleise herangeführt worden war: ich nannte dieses in dem Wiesengrund sichtlich deplatziert wirkende und verrottende Betonfundament die Rampe« (A 122, Herv. i.O.). Diese Rampe trennt die Parallelität von Fluss und Weg, wirft sie »gründlich durcheinander« (A 121) und führt so zu einem Moment des Innehaltens. Obgleich von Unkraut überwachsen und nur noch in Resten vorhanden, zeugt die Rampe von einer Vergangenheit, die nur kurze Zeit zurückliegt und die sich in der verkommenen Landschaft der Alten Abdeckerei noch erstaunlich präsent zeigt. Nicht nur das Betonfundament wird noch lange Zeit an die mit dem Begriff ›Rampe‹ assoziierten Gräueltaten der Nationalsozialisten erinnern, auch sind »noch die Stümpfe der Winkeleisen zu sehen, die einem dereinst ordnungsgemäßen, nun längst verschrotteten Geländer angehört hatten« (A 122) und die als Rudimente von einer einstigen (deutschen) Ordnung zeugen. Der Erzähler blickt »mit spürbarem Schwindel« von der Rampe hinab. Diese Schilderung wird mit einer Erinnerung des Erzählers zusammengeführt, in der er als Kind auf einem steinernen Fundament ausrutschte und einige Meter tief hinabstürzte. Erschreckend ist jedoch nicht der Sturz selbst, sondern, so berichtet er, die »Vorstellung von jener in der Dämmerung unsichtbaren Masse, auf deren Schleimglätte ich den Halt verloren hatte« (A 124). Nachts verarbeitet er den Unfall in einem Traum. Er träumt, »daß mir oben auf der Rampe irgendein widerwärtig glitschiger Besatz unter den Füßen zur Falle geworden war […] mich schauderte derart, als sei ich mit der blanken Materie des Todes in Berührung gekommen« (A 125f.). Erneut vermischen sich Traum und Wirklichkeit, wenn er, als er erwacht, bemerkt, dass sein Bein »von einem schon getrockneten Morast bedeckt war, von einer schwarz-grünen Jauche, die mit Blut vermischt war« (A 126). Das
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
Wort ›Rampe‹ enthält für den Erzähler von da an eine »ungewisse[] Heftigkeit« (A 123). Durch die Vorgänge auf dem Gelände der Abdeckerei wird dieses Gefühl schließlich noch verstärkt, denn auch dort befindet sich eine Rampe. Der Erzähler ist den Schienen gefolgt, bis »die Gleisführung vor einem ramponierten Prellbock endete, der die Aufgabe hatte, anrollende Wagen am Fuß einer Rampe zum Stehen zu bringen« (A 161, Herv. i.O.). Vor dieser Kulisse wird der Erzähler schließlich auch das Verladen der Tierkadaver beobachten. Die durch den Begriff ›Rampe‹ und die Assoziation eines Verladebahnhofs bereits hergestellte Verbindung zum Nationalsozialismus, die im Text selbst durch die Kursivierung relevanter Begriffe noch einmal hervorgehoben wird, wird schließlich durch das Produkt, das in einem der alten Gebäude der Abdeckerei hergestellt wird, noch verstärkt. Die Tierverwertungsanlage stellt aus den Kadavern der toten Tiere Seife beziehungsweise »irgendeine[] Vorform von Waschmitteln« (A 171) her. Die Erzählung deutet dies immer wieder an, wenn beispielsweise der Fluss als mit »warmer Seifenlauge vergleichbar« (A 147) beschrieben wird und der Erzähler sich in »rieselnden Dünsten, die nach Seife schmeckten« (A 143f.) bewegt. Das Wasser, dies wird in diesem Zusammenhang deutlich, weiß nicht nur um die Gegenwart, sondern auch um die Vergangenheit und ihre Spuren: »[S]eifige Asche wanderte auf dem Grund der Flüsse, wanderte, wanderte, unartikulierte aschene Streifzüge auf dem Grund der Wasser, wandernd auf dem Grund der Wälder, Asche aus dem Stoff der Organismen, mit den Stimmen der Organismen, mit dem Seufzen und Hecheln der Kreatur, Asche, die über die müden Ebenen streunte« (A 185). Die seifig-aschenen Spuren führen, wie auch die Rampe, in die nationalsozialistische Vergangenheit zurück und greifen die verbreitete Vorstellung auf, in den Konzentrationslagern sei aus der jüdischen Bevölkerung Seife hergestellt worden.44 Tatsächlich, so gibt der Text Auskunft, arbeiten in der Abdeckerei nun unter anderem auch »Nazis«, denn »hier pferchte sie ein anderes Dunkel zusammen, der dunkle Sumpf, der die Voraussetzung war zur Herstellung von Schmierseife oder Waschpaste« (A 181). Durch die Produktion von Seife setzen die lichtscheuen Arbeiter der Abdeckerei insofern auf symbolische Weise das grausame Geschehen des Holocaust fort, ein Zusammenhang der im Text zwar beinahe ostentativ an-, aber nie konkret ausgedeutet wird. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Aussage, dass die alten Weiden »das Öl der Fleische ausschwitzen, von denen sie sich nährten« (A 148) an Heftigkeit, verweist doch das Verb ›ausschwitzen‹ noch einmal deutlich auf ›Auschwitz‹ und somit auf die
44
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Heiner Müllers Gedicht Seife in Bayreuth (1992): »Als Kind hörte ich die Erwachsenen sagen: / In den Konzentrationslagern wird aus den Juden / Seife gemacht. Seitdem konnte ich mich mit Seife / Nicht mehr anfreunden und verabscheute Seifengeruch.« (Müller 1998: 245) Auch Francis Ponge experimentellen Text Die Seife (1967) greift diese Thematik auf. Die Seife, so heißt es gleich zu Beginn, wurde für »die deutschen Hörer« (Ponge 1969: 7) geschrieben. Ponge schreibt dort u.a.: »Für die geistige Toilette ein kleines Stück Seife. Richtig gehandhabt, genügt. Wo Sturzbäche reinen Wassers nichts säubern würden. Auch das Schweigen nicht. […] Unter der Pumpe zu leben, führt zu nichts. Außer zum Schluckauf. Und liegt in diesem Fall der Triumph des Absurden nicht darin, sich mit verschränkten Armen von einem Wasser umspülen zu lassen, das zum Toten Meer hinfließt« (ebd.: 24f.).
171
172
Ruderale Texturen
Verbrechen des NS-Regimes.45 Hilbigs fleurs du mal haben die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts ebenso erlebt wie die Ausbeutung durch die Industrie. Das alptraumhafte Erlebnis an der Verladerampe löst allerdings die Schreibblockade des Erzählers. Nachdem er gesehen hat, dass »die Rosen auf den Ausscheidungen verendeter Tiere wachsen« (A 185), beugt er sich über sein Papier und beginnt zu schreiben. Hier ist Schulze (2010: 314) zu folgen, der konstatiert: »Weil er nun wie die Männer aus der alten Abdeckerei weiß, ›woraus das Leben ersproß‹ und ›aus welchen Absenzen die Worte waren‹, kann er schreiben.« Germania II zeigt sich als »Stätte der Erfahrung der Seele... des Ruchs der Seele… des Wesens von Sein und Zeit« (A 183). Spätestens nach dem einschneidenden Erlebnis an der Verladerampe ist sich der Erzähler bewusst darüber, dass das geschundene Land, in dem er sich bewegt, einen historischen Kern hat: »Fleisch tickte unter mir« (A 142). Mit diesem Wissen genügen ein verrottetes Betonfundament und eine »schwer angeschlagene Vokabel[]« (A 123), das Wort ›Rampe‹, um den Erzählers ins Stolpern zu bringen und das Gebiet noch einmal deutlich in Verbindung zur NS-Zeit zu setzen: »Oh stolpernd über Massengräbern, oh strauchelnd im bleichen Gras über den Massengräbern, oh Hall des Pflasters, abdeckend die Massengräber, oh, in einem Land, zusammengesetzt aus den Parzellen von Massengräbern, oh Land, vergleichbar einer Bienenwabe von Massengräbern« (A 175).46 Eine biografisch orientierte Lesart erkennt in diesen Schilderungen überdies Verweise auf realhistorische Gegebenheiten aus Hilbigs Umgebung. In der Nähe von Meuselwitz, am Ende der Straße, in der Hilbig wohnte, befand sich ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Obgleich Hilbig selbst präzise Lokalisierungen vermeidet und Ortschaften lieber M. oder L. nennt und somit auch auf eine globale Dimension seiner literarischen Beschreibungen verweist (vgl. Endler 1992: 320), kann dieser Umstand durchaus als konstitutiv für die Konzeption der Alten Abdeckerei betrachtet werden.47 Auch existiert noch eine weitere reale Vorlage: Die TKV Meuselwitz – das TKV steht für Tierkörperverwertung – beziehungsweise die Abdeckerei der Firma Ponikau war von 1916 bis 1994 für die Beseitigung und industrielle Verwertung von Tierkadavern zuständig und hüllte Meuselwitz oft in jenen üblen Geruch, der auch in der Alten Ab-
45
46
47
Das Schreiben über Seife evoziert von Beginn an jene Zusammenhänge, gleichzeitig bindet es Hilbig aber auch noch einmal an die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Trümmerliteratur zurück, die von Schmutz und Ungeziefer und einem »Verlangen nach guter Seife und sauberen Kleidern« (Böll 1992: 153) berichtet. So schreibt nicht nur Heinrich Böll in seinem zwischen 1949 und 1951 verfassten, allerdings erst 1992 posthum publizierten Roman Der Engel schwieg über Seife, auch in Hans Erich Nossacks autobiografischem Bericht Der Untergang (1948) wird eine ganz ähnliche Sehnsucht, eine »Gier nach Parfüm« (Nossack 1976: 53), artikuliert (vgl. dazu Schäfer 2001: 172-185). Zugleich ruft der Begriff jedoch auch die Grausamkeiten des sozialistischen Regimes auf, wenn die Nationalhymne der DDR mit den Massengräbern kombiniert wird: »auferstanden aus Ruinen über den Massengräbern, über den Massengräbern der Diktatur des Proletariats, über den Massengräbern der allmächtigen Lehre Lenins, oh über den Massengräbern von ›Wissen-ist-Macht‹« (A 175f.). Eine geografische Fixierung des Ortes erweist sich für die Interpretation nur dann als sinnvoll, wenn diese ihr Augenmerk dezidiert auf den Einfluss des Braunkohleabbaus in der Region um Meuselwitz richtet bzw. wenn eine biografisch orientierte Lesart des Texts im Vordergrund steht.
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
deckerei omnipräsent ist48 : »ein Fleischgeruch […] altes unbrauchbares Fleisch, dem Wasser anheimgegeben, spülte seinen Geruch durch das Land nach Osten« (A 147).
Prekäre Gegenwart Hilbigs Darstellung des devastierten Geländes und der in ihm verborgenen Überreste des Dritten Reichs wird von in den Text montierten Bildzitaten der Montanindustrie flankiert. Es finden sich insofern auch geschichtliche Bezüge zur DDR und ihrem Untergang, doch bleiben diese, ähnlich der Darstellung des Nationalsozialismus, vage Indizien und Andeutungen.49 Die »kalkulierte[] Impräzision« der Hilbig’schen Prosa zeigt sich hier als »aufnahmefähig für die unterschiedlichsten (un)politischen Aussagen und Allusionen« (Schäfer 2001: 184). Der wohl deutlichste Verweis auf die Okkupation der Region im Realsozialismus und ihre Ausbeutung durch das sozialistische System findet sich im Verweis auf die ausgekohlten Tagebaue des Braunkohlebetriebs. Das Urbild des literarisierten Landstrichs ist die sächsische Landschaft, in der Hilbig seine Kindheit verbrachte und die für den Autor zum steten Ausgangspunkt der Textproduktion wird.50 Meuselwitz liegt »inmitten eines Gebiets, in dem die Zeitgeschichten der Erde durcheinandergeraten sind« (Lohse 2008: 11). Durch den Kohlebergbau geschunden und im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört, zeigt sich die Landschaft um Meuselwitz bei Altenburg als unwirtliche Gegend. Meuselwitz, Teil des Südraums Leipzig und zentral im mitteldeutschen Braunkohlerevier gelegen, ist durch und durch vom Braunkohleabbau, dem bedeutendsten Industriezweig der Region, bestimmt. Nach dem Fund von »pechhaltige[m] Holz« und »brennbare[r] Erde« (Wagenbreth 2011: 252) um 1670 kartographierte unter anderem Friedrich von Hardenberg, besser bekannt als Novalis, im Jahr 1800 die Kohlelagerstätten in der näheren Umgebung.51 Im Meuselwitz-Rositzer Braunkohlerevier entstanden bis 1860 circa 82 Braunkohlegruben, durchschnittlich wurden im gesamten mitteldeutschen Revier pro Jahr 300 Millionen Tonnen Rohbraunkohle gefördert (vgl. Lohse 2008: 26, Rehfeld 2013: 198). Aufgrund der nicht abgebauten Flöze galt das Gebiet um Meuselwitz lange Zeit als Staatsreserve der DDR. Im Zuge des Braunkohleabbaus wurden zahlreiche Menschen umgesiedelt, ihre Dörfer fielen den Baggern 48
49
50 51
Sie geriet u.a. am 6. Juli 1990 im Altenburger Wochenblatt in die Schlagzeilen, weil die unzumutbare Geruchsbelästigung durch den Betrieb durch eine Unterschriftenliste an die Stadtverwaltung Meuselwitz herangetragen wurde (vgl. Schulze 2010: 321f.). Hilbig verarbeitete die Erfahrung dieses Geruchs u.a. in seiner Erzählung Durst (1972), in der der Protagonist den Gestank und das Wissen um dessen Herkunft mit Bier zu betäuben versucht. Überdies besteht eine zentrale Signatur der Hilbigʼschen Werke, insbesondere der Gedichte, gerade darin, sich weniger »den Verkrümmungen des Einzelnen in der sozialistischen Diktatur« (Kolbe 2008: 517) als vielmehr dem ästhetischen Anspruch der Literatur der Jahrhundertwende zuzuwenden. Zu Hilbigs Bezugnahmen auf die Stadt Meuselwitz und die diese umgebende Landschaft siehe bspw. Hanisch (2013). Friedrich von Hardenberg studierte ab 1797 an der Bergakademie Freiberg Bergbau, ein Studium, das u.a. Vorlesungen über angewandte Mathematik, Geognosie, Bergmannslehre, Trigonometrie und Chemie beinhaltete. Nach dem Studium fand er eine Anstellung als Salinen-Assessor und führte u.a. im Raum zwischen Zeitz, Gera und Leipzig geologische Untersuchungen durch. Zur Verbindung von Friedrich von Hardenberg und Wolfgang Hilbig siehe bspw. Ehrler (2017).
173
174
Ruderale Texturen
zum Opfer, eine Tatsache, die auch Hilbigs Texte und Gedichte immer wieder betonen. In seinem Essay Der trügerische Grund, dessen Titel bereits auf die Metaphorisierung des Braunkohleabbaus und seiner Spuren in der Landschaft verweist, schreibt er: »Tag und Nacht schallt das Klirren und Rattern, das metallische Ticken über die Ebene, es nähert sich, wenn es nah genug ist, wird es Zeit, daß die Dorfbewohner der Siedlung an das Verlassen der Häuser denken.« (Hilbig 1992a: 194)52 Das Gedicht erinnerung an jene dörfer (1972) artikuliert diesen gewaltsamen Prozess folgendermaßen: »die bagger blieben die dörfer sind fort ein dürstender der sonnen flieht und wolken so floh aus jedem dorf der teich morast schwarz aufgeschlagen lag am wege ein durst von lila fliegenschwärmen flog ein durst von stäubender zerstampfter kohle über wiesen […] die dörfer fort die bagger blieben wittern faulen langsam in die erde« (Hilbig 2008: 57). Das Gedicht entwirft eine beinahe leergeräumte Landschaft, in der die zurückgelassenen Bagger allmählich verrotten. Über dem morastigen Grund bilden sich Wolken aus Fliegen und Staub, deren Farbgebung an die Werke des fin de siècle ebenso erinnert wie an die Dunkle Romantik. In einer am Symbolismus geschulten Erzähltechnik werden die tristen Bilder in Hilbigs Œuvre ästhetisiert und in Kunst überführt, wobei die oftmals realen Vorlagen durch ihre Poetisierung eine sprachliche Präsenz erhalten. So war beispielsweise die Gegend um Meuselwitz durch die fortwährende Kohleproduktion immer wieder in einen dichten Aschenebel eingehüllt: »Wurde ein Spaziergänger draußen von den heranziehenden Aschewolken überrascht, war er isoliert wie ein Wanderer im Nebelmeer, ein düster-romantisches Bild«, beobachtet Lohse (2008: 26).53 Hilbig greift solcherlei Bilder nun auf und überführt sie in Literatur, etwa wenn sich der Erzähler der Alten Abdeckerei in den nebligen Ausdünstungen des Flusses bewegt.54 Das hier deutlich werdende Gefühl der Unheimlichkeit der Gegend wird durch die brüchige Konstitution des Bodens – »von einem unabsehbar verzweigten System nicht mehr arbeitender Bergwerke unterhöhlt« (A 160) – noch verstärkt.
52
53
54
Erneut lassen sich hier Parallelen zu Stalker ziehen. Auch dort ist der Handlung außerhalb der Zone ein omnipräsentes Klirren und Rattern unterlegt, das in diesem Fall jedoch auf den noch stattfindenden Kohleabbau verweist. Hilbig steht in einer facettenreichen Beziehung zur Romantik, von deren Schattenseiten er fasziniert war. Er entdeckte Autoren wie Novalis und E.T.A. Hoffmann für sich und übernahm von ihnen ästhetische Überlegungen und Konzepte. Zu Hilbigs Beziehung zur Romantik siehe Kasper/Theile (2017). In Die Kunde von den Bäumen meint der Protagonist »Nebeldünste aus der Stelle steigen zu sehen […] und diese nahmen beinahe menschliche Gestalt an, es wurde mir zugewinkt aus den geisterhaften Umrissen dieser Figuren« (Hilbig 2010a: 217).
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
Der von Fallgruben und Schächten durchzogene Boden bietet, bildlich gesprochen, keine Möglichkeit, heimatliche Wurzeln zu schlagen, denn die Landschaft wurde nicht nur um die Braunkohle, sondern zugleich um ihre Geschichte entkernt. In Der trügerische Grund schreibt Hilbig: »[D]as Heranwachsen auf dem Boden dieses Landes entbehrte in einem für die Zeit symptomatischen Maß der Gelegenheit, in der Landschaft zu wurzeln. Ein Wort wie Heimat, noch so ironisch empfunden oder fahrlässig nachgesprochen, hört man in dieser Gegend nicht, und man nannte dieses Wort auch nicht, als die Festigkeit des Bodens dort noch wenig trügerisch war« (Hilbig 1992a: 197, Herv. i.O.).55 Diese trügerische Beschaffenheit des Bodens erweitert Hilbig um eine Dimension, die die Landschaft als eben jenes Gebilde zeigt, das auch Schütz im Zusammenhang mit der Zone beschrieben hat: als post-apokalyptischen, ausgebrannten Raum, der keinerlei Verbindungslinie in die Vergangenheit mehr aufweist und dennoch trotzdem als eine Art »irre Trostlandschaft des Überstehens, der ewigen Wiederkehr des Immerweiterso« (Schütz 2017: 352) verstanden werden kann. Hilbigs Natur hat die von Tarkowskij entworfene Apokalypse bereits erlebt und ist gezeichnet von den Spuren der in ihr vorgenommenen Grausamkeiten: den Tierschlachtungen, dem industriellen Kohleabbau, den Massenmorden in den Konzentrationslagern. Dennoch wird den devastierten Landschaften im Bild der Urflut zuletzt ein Hoffnungsmoment abgewonnen. Diese seltsame Ambivalenz gestaltet Hilbig in Der trügerische Grund in einer doppelten Denkfigur aus. Am Anfang steht zunächst das Ende: »Dieses Land wird sich in einen riesigen Tagebau verwandeln, Hunderte von Metern tief, sein Umfang wird wachsen und wachsen […] und das Gebiet wird sich eines Tages in ein sogenanntes ausgekohltes Revier verwandelt haben. Ausgekohlt: unwillkürlich assoziiert man das Wort ausgebrannt. Und es ist ausgebrannte erloschene Erde, die zurückbleibt, das bei trübem Wetter nicht überblickbare, endlos tief erscheinende, leere Restloch eines Tagebaus.« (Hilbig 1992a: 194f., Herv. i.O.) Die Pläne zur Rekultivierung der Landschaft sind Hilbig zwar bekannt, allerdings hebt er die Problematik eines solchen Neuanfangs hervor, da der Abraum »völlig unfruchtbare Materie« sei und daher auf den »wüsten Fläche […] für viele Jahrzehnte nichts oder kaum etwas wachsen« (ebd.: 195) könne. Es werde »Menschenalter« dauern, bis auf dem ausgebrannten Boden eine neue Landschaftskultur entstehen könne und »nach diesen Menschenaltern wird vom Kulturboden der Erinnerung entweder nichts mehr oder nur noch eine dünne phantastische Schicht übrig sein, eine vielfach gebrochene Ansicht von der Wirklichkeit, über der wie trübes Glas ein schwacher Sonnenschein liegt« (ebd.: 195f.). Diese Vorstellung von Erinnerung mag auf den ersten Blick düster erscheinen, auf den zweiten Blick verkörpert sie jedoch jene Hoffnungsvision, die auch mit den ›lichternen‹ Fischen in den Fluten des Gebiets um die Gebäude der Abdeckerei aufgerufen wird. Die Vorstellung einer zurückbleibenden ›Schicht‹ beziehungsweise eines ›schwachen Sonnenscheins‹ vermittelt zuletzt ein tröstliches Moment, das die 55
Der Ausruf »Es ist kein Boden unter meinen Füßen!« (Hilbig 2010a: 220) Wallers in Die Kunde von den Bäumen ist auch für Alte Abdeckerei von programmatischem Charakter.
175
176
Ruderale Texturen
umfassende Zerstörung in einen Kreislaufgedanken überführt, dessen zyklische Zeit keinen Endpunkt kennt.56 Die ausgekohlte Landschaft wird in einen kosmologischen Kreislauf eingespeist, der die »untergegangnen Ruinen« (A 202) in sich aufnimmt und an ihrer statt ein »versunkenes Rauschen« (A 201) abbildet, das Himmel und Erde gleichermaßen umfasst. Auch das Gedicht erinnerung an jene dörfer endet mit einer solchen Vision: »wo straßen schienen schlafos früher jahre / steigt die vision von wassern die das frührot spaltet / glühend in meiner seele langen sommern« (Hilbig 2008: 58). Wasser und Licht, so ließe sich zusammenfassend festhalten, unterlegen Hilbigs (Welt-)Untergangsszenarien noch einmal die Idee von einer Rückkehr des Lebens. Sie gehen einher mit einer wie auch immer gearteten Spur, einem Rest, einer Schicht, die von etwas Dagewesenem zeugt. Damit wird auch die Dunkelheit nicht negativ besetzt. In einer an der Schwarzen Romantik geschulten Darstellungsweise werden ihr die poetischen, obgleich alptraumhaften Bilder abgewonnen. Die in der Alten Abdeckerei artikulierte Vorstellung von einer »Glut« unter der Erdoberfläche, die verbunden wird mit der Hoffnung, dass »noch ein Licht intakt sei« (A 161) zeigt, dass die apokalyptische Landschaft in Hilbigs Prosa immer auch die Möglichkeit eines Neubeginns beinhaltet. An diese Beobachtung lässt sich eine weitere anschließen. Nur in den Gefilden der Literatur, so legt der Text nahe, kann hinsichtlich der ausgebrannten Gebiete noch ein beinahe utopisches Potential entfaltet werden. Die ästhetische Welt der Alten Abdeckerei führt eine Neubesiedelung vor, die nicht nur über das Motiv eines magisch wuchernden und, obgleich industriell verseuchten, noch immer kraftvollen Unkrauts funktioniert, sondern mit dem Rekurs auf ein omnipräsentes Wasser auch ein Szenario entwirft, dessen Anfänge in der Entstehung der Erde liegen. Mit Bezug auf die Schöpfungsgeschichte endet der Kreislauf zwar vorerst im Wasser, doch wird durch die nivellierende Wirkung der Wasseroberfläche zuletzt ein Raum erzeugt, der jenseits der unterhöhlten Industriebrachen einen Neubeginn verspricht – einen Neubeginn jedoch, dies scheint der Preis zu sein, der mit Momenten des Unheimlichen und Ungewissen einhergeht: »Niemand wußte, was die Zeichen bedeuteten, rund um die Reste von Besiedlung in der Ebene, rund um die wassernen tiefen Augenblicke der Teiche: Backsteine, die von Ruinen gestürzt waren und zu Hügeln aufgehäuft, Betonrampen, von der Arbeit der Jahreszeiten geschleift, Eisenbahnschienen, die von den verfaulten Schwellen gesprungen waren und sich krumm und verdreht in die Luft bogen« (A 196). Die Erzählung entwirft ein Gebiet, in dem zwar verschiedene ›Zeichen‹ auf eine Vergangenheit und somit auch auf eine Geschichtlichkeit des Raums verweisen, doch ent56
Ehrler (2017: 164, Herv. i.O.) beobachtet: »Hilbigs finis terrae ist ein finis terrae hominum«. Damit führe Hilbig »die Idee des Anthropozäns zu ihrem inhärenten Schlusspunkt«, die mythische Rückverwandlung des Schlusstableaus schließlich knüpfe an die von Novalis geprägte Vorstellung eines ›goldenen Zeitalters‹ an: »Denn nicht die Epoche der Aufklärung, wie von Novalis postuliert, führte zur radikalsten Entfremdung der Menschheit, sondern – so mag es der Mensch des 21. Jahrhunderts betrachten – der bis heute stetig neue Blüten treibende Fortschrittsoptimismus technokratischer Gesellschaften. So ist das Anthropozän dem Namen nach zwar das ›Menschzeitalter‹, womöglich aber lediglich das erforderliche Durchgangsstadium auf dem Weg in ein neues ›goldenes Zeitalter‹.«
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
puppen sich diese als für den Betrachter unlesbar. Die Rudimente der einstigen Industrieanlagen erscheinen als unverständliche Spuren, sie sind ›krumm und verdreht‹ und nehmen einen eigenartigen Status zwischen einem langsamen Verfaulen und einer besonderen Beständigkeit des Materials ein.57 Man fühlt sich an Horst Langes »Skelette ausgebrannter Fahrzeuge« erinnert und an »die rostigen, unbrauchbar gewordenen Geschütze, die wie verrenkt ihre Lafetten überragten«, auch an »die Leichen […] und die Ruinen; die verwüsteten Gärten, die zerrissenen Drähte« (Lange 1948: 6). Was von der Vergangenheit bleibt, ist entstellt und unleserlich. Walter Benjamins bekannte Äußerung über Kafkas eigentümliche Figur des Odradek trifft insofern auch auf Hilbigs Reste zu: »Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt.« (Benjamin 1981: 31) Diese Darstellung eigentümlicher Reste findet sich auch in Hilbigs bereits erwähnter Erzählung Grünes grünes Grab, in der die »Überbleibsel« ehemaliger Gartenanlagen und ein »[m]itten durch das Ganze« ragendes »riesenhafte[s] Stahlrohr« beschrieben werden. Das »futuristische Ungeheuer war der allgemeinen Verrottung nicht entgangen« und nimmt nun eine eigentümliche Zwischenposition ein. So »bog es sich, ganz der staunenerregende Fremdkörper aus einer Zukunftswelt, in den Spalt zwischen zwei Gebäuden, wo es verschwand. […] die Isolierung, die die stählerne Schlange umhüllte, war an vielen Stellen abgeplatzt und lag in Fetzen, die sich über die Gärten verstreut hatten« (Hilbig 2009c: 486). Ähnlich den Eisenbahnschienen der Alten Abdeckerei verschränkt das Stahlrohr in sich eine Zeitlichkeit, die Vergangenheit und Gegenwart ineinander blendet und Zeitlichkeit so erst eigentlich sichtbar macht. Indem das Stahlrohr als verrottet und futuristisch zugleich imaginiert wird, zeigt es die paradoxe Beziehung zwischen den Zeitebenen auf. Beide Gebilde verkörpern dabei eine »Pluritemporalität« (Achim Landwehr), eine Art Vielzeitigkeit, die es ermöglicht, Früheres, Späteres und Gleichzeitiges auf unterschiedliche Art und Weise miteinander zu verknüpfen und vor allem auch mit diversen Bedeutungen zu versehen. Um diese Bedeutungen nun dechiffrieren zu können, bedarf es der Literatur. Erst der Text, als Rückstand und Substrat des bereits Verschwundenen, vermag es, die Zeichen wieder lesbar zu machen. Dass Hilbig diese Möglichkeit von Anfang an mitdenkt, wird bereits an den beiden der Erzählung vorangestellten Motti deutlich.
Exkurs: Die Motti Indem Hilbig der Alten Abdeckerei zwei Motti voranstellt, richtet er den Fokus von Anfang an auf die Idee einer zyklischen Zeit und eines damit verbundenen, obgleich prekären, Hoffnungsgedankens. Gleichzeitig bindet er die Erzählung literaturgeschichtlich an zwei prominente Autoren – Johann Wolfgang von Goethe und James Joyce – zurück und rückt auf diese Weise auch die Rolle der Literatur in den Blickpunkt. 57
In Die Kunde von den Bäumen wird dieses eigenartige Fortdauern noch einmal aufgegriffen und mit den Müllarbeitern ein Figurenensemble entworfen, das sich dem Umgang mit den Resten und Spuren einer Gesellschaft widmet: »Allein die Müllarbeiter, sagte sich Waller, haben nichts vergessen! Sie konnten nicht vergessen, denn ihre Arbeit war der dauernde Umgang mit dem Material der Vergangenheit.« (Hilbig 2010a: 249) Wenn so im disfunktionalisierten Müll potentielle Erzählungen aufgespeichert sind, erweisen sich die nutzlosen Dinge als »die ›eigentlichen‹ Thesauren für die Geschichte« (Schäfer 2001: 202).
177
178
Ruderale Texturen
Das erste Motto bilden die ersten drei Verse der fünften Stanze aus Johann Wolfgang von Goethes Gedicht Urworte. Orphisch (1817). Diese lauten: »Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer / Höchst widerwärt’ge Pforte wird entriegelt, / sie stehe nur mit alter Felsendauer!« (Goethe 1992: 240) Urworte. Orphisch, erstmals 1820 in den Heften Zur Morphologie veröffentlicht, widmet sich dem Versuch, Gesetzlichkeiten des Lebens zu erkennen und richtet den Fokus zu diesem Zweck auf metaphysische, mythologische wie hermeneutische Fragen. Dem Gedicht gehe es darum, so fasst beispielsweise Buck (1996: 357) zusammen, »die Gesetze menschlicher Entelechie und Metamorphose in eine Form zu bringen, die es erlaubte, in feierlichem Ernst einen stufenweise sich entwickelnden Prozeß zu einer auswertenden Schlußpointe emporzutreiben«. Die fünf Stanzen tragen die Namen ΔΑΙΜΩΝ, Dämon, ΤΥΧΗ, das Zufällige, ΕΡΩΣ, Liebe, ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung und ΕΛΠΙΣ, Hoffnung. Sie entwerfen ein Bild des Menschen, das diesen als ein an sich unveränderliches Individuum zeigt, und stellen zugleich die Zufälle, denen dieser ausgesetzt ist und ihre Wirkung auf ihn dar, indem den fünf Mächten jeweils fünf Lebensabschnitte zugeordnet werden. Das Gedicht lässt sich insofern als »Reflexion über Formprägung und Formverwandlung des menschlichen Werdens« (ebd.: 364) verstehen. Die von Hilbig zitierte Stanze widmet sich nun einem Hoffnungsgedanken, der vor der Erkenntnis einer nur scheinbaren Freiheit tröstet. So lauten denn die restlichen Verse: »Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt: / Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer / Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt, / Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen – / Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!« (Goethe 1992: 241) Goethes Unworte. Orphisch entwerfen hier eine Denkanleitung beziehungsweise einen göttlich-anthropologischen Bildungsplan, nach dem sich der Einzelne zu einem Wesen ausbildet, das, verschiedene Stufen durchschreitend, zuletzt über die individuelle Lebensspanne hinaus zu existieren vermag. Im Zentrum steht dabei der »Nachweis einer steten polaren Wechselwirkung zwischen Freiheit und Zwang« (Conrady 1994: 914). Die fünfte Stanze lässt die Erwartung zu, die eigenen Fähigkeiten ausweiten und bestehende Grenzen überschreiten zu können. Hoffnung wird dabei als ein allegorisches Wesen vorgestellt, als ein immer wieder auftauchendes Prinzip, das den Hoffenden ›aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer erhebt‹ und ›beflügelt‹. Während folglich die erste Hälfte der Stanze die anankische Beschränkung der vorausgehenden Stanze noch einmal aufgreift, wirkt die zweite Hälfte der ›Nötigung‹ entgegen. Indem Hilbig über die zitierten Verse die Thematik des Gedichts alludiert, hält er den Hoffnungsgedanken einerseits von Anfang an präsent, eröffnet jedoch andererseits auch die Möglichkeit für alternative Lesarten. Hilbig zitiert nur einen Teil der fünften Strophe, unterbricht den Spannungsbogen und nimmt somit einen Schnitt hinsichtlich dieses Hoffnungsgedankens vor. Die ›wiederwärt’ge Pforte wird entriegelt‹, doch das ›Wesen‹, das die Hoffnung verkörpert, taucht nicht auf – die Aussicht auf Unsterblichkeit wird, auf den ersten Blick, nicht gegeben.58 Gleichzeitig greift Hilbig hier jedoch
58
Für Rehfeld (2013: 203) entsteht so »ein Deutungsvakuum, das gerade nicht von der lichten Hoffnung der Goetheschen [sic!] Version ausgefüllt bzw. analogisiert werden kann, sondern auf eine andere Möglichkeit der Entgrenzung des Seins […] verweist«. Diese Möglichkeit ließe sich hier u.a. als eine Öffnung für etwas bislang nicht im Bewusstsein Präsentes verstehen, als »Begegnung mit
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
explizit auf ein Gedicht Goethes zurück, das die Idee eines ewigen Naturkreislaufs verfolgt und somit genau das darstellt, was auch das Schlusstableau der weidenden Minotauren zeigt: Eine Gesetzlichkeit, die jedem kosmischen Wesen eine Existenz über das irdische Dasein hinaus anerkennt und die »Bezirke des Unendlichen« (Conrady 1994: 916) in den kosmischen Kreislauf einschließt. Auch die Urworte durchzieht die Idee einer höheren als nur der irdischen Existenz und sie artikulieren insofern eben jene Idee, die auch der Alten Abdeckerei unterlegt ist, wenn der Erzähler formuliert: »[W]enn ich mich in meiner Vorstellung verschwinden sah, existierte ich ungebrochen weiter, nur in einem anderen Territorium, innerhalb eines anderen Zustands, innerhalb einer unbekannten Realität« (A 131). Das zweite Motto stammt aus James Joyces Finnegans Wake (1939). Es lautet: »Oystrygods gagging fishygods«. Während bei Joyce das Wort ›Oystrygods‹ eine Kombination des Stamms der Ostgoten mit Austern meint, bezeichnet ›Fishygods‹ eine Vermischung der Westgoten mit Fischen. Die mit diesen Neologismen aufgerufenen gotischen Stämme waren Rivalen und befanden sich in beständigem Kampf gegeneinander.59 Das Motto lässt sich insofern als Anspielung auf ein ewiges Hin und Her verstehen, auf den, so Schoor/Bauer (2000: 252) »Kampf als ein Weltprinzip, in der fernsten Vergangenheit, in entlegensten Mythologemen«. Diese Lesart ließe sich auch dadurch stützen, dass Alte Abdeckerei immer wieder mit einem einer Schlachtszene entlehnten Vokabular arbeitet, so etwa wenn es heißt, dass die Trümmer der Fabrik »wie Leichenteile auf einem Schlachtfeld« (A 193) verstreut lägen. Gleichzeitig sensibilisiert das vorangestellte Joyce-Zitat jedoch auch von vornherein für die deutliche Nähe zwischen der Alten Abdeckerei und Finnegans Wake. Der Roman liefert hier ein modernes Erzählmodell für Hilbig, das diesen noch einmal an die literarische Moderne und ihre experimentellen Erzählverfahren zurückbindet. Darüber hinaus ruft das Motto, und dies scheint in diesem Zusammenhang zentral zu sein, ein auch in Hilbigs Erzählung omnipräsentes Element auf: das Wasser. Finnegans Wake beginnt mit den Worten »riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay« (Joyce 1964: 3) und führt somit gleich zu Beginn einen Fluss ein, der nicht nur auf den realen Fluss Liffey in Dublin verweist, sondern auch die an den Gezeiten ausgerichtete Konstitution des Romans hervorhebt: Raum und Zeit werden in Finnegans Wake in Abhängigkeit von Ebbe und Flut erzählt.60 Die Fluss-Metapher lässt sich überdies als ein poetologisches Prinzip des Romans verstehen: Fließend und schlängelnd windet sich Joyces Syntax durch den Roman und unterläuft dabei die Regeln des Sprachsystems. Diese »Wasserhaftigkeit« (Hagena 1996: 17) der Sprache findet ihren Ausdruck wiederum in der Methode des stream of consciousness, des Bewusstseinsstroms, den Hilbig in der Alten Abdeckerei
59
60
einer Anderswelt« (ebd.). Heising (1996: 147ff.) wiederum bezieht die Begrifflichkeit des Gedichts (Mauer, Grenze, etc.) auf die deutsche Wiedervereinigung und möchte das Motto auf diese Weise mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland zusammendenken. Der bekannteste Konflikt trug sich auf den Katalaunischen Feldern im Jahr 451 n. Chr. zu. Dort wurden der Hunnenkönig Attila und die Ostgoten von dem weströmischen Feldherrn Aëtius und den Westgoten geschlagen. Dazu Epstein (2010: 12, Herv. i.O.): »Joyce assists the reader to understand the operation of space and time by coding his text to the dual modes of the river Liffey«.
179
180
Ruderale Texturen
übernimmt, um das Ineinanderfließen von Zeiten und Bewusstseinsebenen gleichermaßen auszudrücken. Die Sprachbewegungen ahmen hier das Fließen eines Flusses und einen Klassiker der Moderne gleichermaßen nach.61 Das omnipräsente Wasser lässt Finnegans Wake, Alte Abdeckerei und Stalker noch einmal in eine metaphorische Beziehung zueinander treten. Den unwirtlichen Gegenden der Zone ist auch in Stalker ein allgegenwärtiges Glucksen und Plätschern unterlegt. Die Protagonisten bewegen sich hier in feuchten und gefluteten Umgebungen und die Rückeroberung der verlassenen Industrieareale wird durch eine Eigenbewegung des Wassers inszeniert, die die vermeintlich stabilen Räume auflöst, flutet und unterhöhlt. In ihrer Filmästhetik des Fluiden bemerkt Franziska Heller daher auch, dass sowohl in den industriellen Räumen als auch in den Naturbildern der Zone »das hallende Echo von Wassertropfen dauerpräsent« (Heller 2010: 91) sei. Innen- und Außenraum, Traum und Realität verschwimmen in den gefluteten Labyrinthen dieses ›anderen Ortes‹. Unkraut und Wasser, so lässt sich für Stalker konstituieren, arbeiten in der Zone zusammen. Sie entwerfen einen Ort des Danach, einen hybriden Raum zwischen Natur und Kultur, der einem eigenen Rhythmus folgt: Einem Zeitfluss, in dem die wilde Ruderalflora, das tropfende Wasser und der zersetzende Zerfall der Materie eine enge Verbindung eingehen. Hier schwimmen im Brackwasser der postindustriellen Areale Fische an rostigen Drahtresten, Münzen und vergilbten Buchseiten vorbei. Dieses Vorbeischwimmen verdeutlicht das Prinzip der Zone: Die Vergangenheit ist noch und die Zukunft schon erkennbar, es gibt keinen Stillstand, nur ein fortwährendes Vergehen der Materie. In Hilbigs Erzählung wird durch die Ruderalität nun eine ähnliche Gedankenfigur deutlich: Das ewig wuchernde Unkraut zeigt die aus einer nur zu erahnenden Vergangenheit stammenden Ruinen als Momentaufnahmen zwischen Auflösung und unwiederbringlichem Verlust. Damit fungiert die räumliche Anordnung der Texte auch als eine zeitliche Behauptung – wo Melde und Rainfarn wachsen, ist die Geschichte gleichzeitig noch und bald nicht mehr sichtbar. Die Flutung des Gebiets überführt die Abraumlandschaften schließlich in einen kosmischen Kreislauf, der – und hier liegt ein Unterschied zwischen Alte Abdeckerei und Stalker – den entropischen Zustand von Werden und Vergehen kurz durchbricht, das »Immerweiterso« (Schütz 2017: 352) kippen lässt, bevor es anschließend wieder in gemäßigte Bahnen übergeführt wird.
5.3.
Wilde Semiose: Sprachformationen
Im Spannungsfeld von Apokalypse und Entropie lässt sich nun auch Hilbigs Umgang mit den Möglichkeiten von Sprache und Literatur verorten, die dieser den dem Untergang geweihten postindustriellen Räumen entgegensetzt. Der Kosmos, den Hilbigs Erzählung entstehen lässt, ist eng an die Sprache geknüpft. Zugleich korrespondiert
61
Symmank (2001: 217) wiederum erkennt in den beiden Motti zwei unterschiedliche Auffassungen von Literatur. In Goethes Zeilen erscheine diese als »Bewahrerin eines verbindlichen Gedächtnisses, als Magazin«, während der Satz aus Finnegans Wake für eine »Auffassung von Literatur« stehe, »die deren Beschaffenheit und damit die Arbitrarität ihrer Grundlagen offenlegt«.
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
das Erleben immer wieder mit der Unmöglichkeit, Begriffe für die eigenen Erfahrungen zu finden. Wie der brüchige Boden, so wird auch die Sprache als unzuverlässiges Konstrukt gezeigt, als »eine Sprache, in der die Substantive ihre Bedeutung verloren hatten« (A 136). Überhaupt wird das Substantiv als solches problematisiert, wenn der Erzähler der Alten Abdeckerei sich nicht mit diesem zufriedengibt. Das Wort allein reicht ihm nicht aus, denn »die Substantive […] erwiesen sich immer wieder als trügerische Mittel, und sie hielten mir unaufhörlich die Ohnmacht aller Beschreibungen vor Augen«, sie »nahmen sich gegenüber den Nuancen des Sichtbaren höchstens wie dürftige Informationen aus« (A 121, Herv. i.O.). Dieser mangelhaften Beschreibungsleistung der Substantive stellt Hilbig eine semantische Tiefendimension der Objekte zur Seite, die durch eine einfache Signifikation nicht erfasst werden könne: »Es war, als ob immer auch die einfachsten Dinge, wenn man nur lange genug über sie nachdachte, tief hinab ins Untergründige reichten« (A 172), äußert sich der Erzähler über das historisch belastete Wort ›Seife‹. Der Gebrauch von Substantiven, so heißt es an anderer Stelle, sei »in beinahe jedem Fall ein Verschweigen der eigentlichen Substanz der Dinge« (A 142). Die hier angedeutete Sprachkrise rekurriert nicht nur auf die seit der Jahrhundertwende bekannten Topoi, sie zeigt auch an, dass nach den Ereignissen des Holocaust eine Neu-Bestimmung von Sprache stehen muss. Obgleich die Bezeichnung ›Seife‹ das Produkt für den Erzähler nur unzureichend beschreibt, lässt sich nicht in Erfahrung bringen, »aus welchen Ingredienzen sich Seife zusammensetzte« (A 171). Diese Beobachtung steht nicht nur in Zusammenhang mit den grausamen Vorgängen in den Konzentrationslagern, die durch das Wort ›Seife‹ aufgerufen werden, sondern zeigt auch ganz allgemein, dass die Signifikanten nicht mehr ausreichen, um die Signifikate ausreichend zu erfassen. Werden der Zusammenhang und die Angemessenheit von Begrifflichkeit und Ding nicht mehr überprüft, so verselbstständigen sich die Begriffe. Um der natürlichen Unordnung der Sinneseindrücke gerecht zu werden, verfolgt Alte Abdeckerei ein Erzählverfahren, welches das sinnliche Material gleichberechtigt nebeneinander treten lässt und dabei auf eine mythogene Bildsprache rekurriert. Für Hünger (2013: 37) handelt es sich bei der Alten Abdeckerei insofern auch weniger um Prosa als vielmehr um »ein ausgesprochen langes Gedicht«, »ein mäanderndes Gedicht« (ebd.: 38), um eine, so Schoor/Bauer (2000: 252), »Art von freien Rhythmen in Prosa«. Endler (1992: 331) bezeichnete die Erzählung mit Bezug auf die sinnlichen Qualitäten auch als ein »apokalyptisches Gemälde«, während Schäfer (2001: 185) von einem »post-historischen Schreckensgemälde« spricht. Wie der Vergleich mit einem Gemälde oder Gedicht deutlich macht, handelt es sich bei der Alten Abdeckerei nicht um eine linear erzählte, um einen Plot strukturierte Geschichte. Der fortwährende Rekurs auf Versatzstücke aus Träumen und schemenhaften Erinnerungen vermittelt zudem das Bild einer phantasmatischen Darstellung eines zum Teil unwirklichen Geschehens. Hilbig selbst beschreibt sein Verfahren in einem Interview als den Versuch, Unwirkliches mit realistischen Mitteln so zu beschreiben, dass es real wirke. Umkehrt lässt sich beobachten, dass Wirkliches so beschrieben wird, dass es irreal wirkt (vgl. Lohse 2008: 7). Mit diesem Vorgehen ist der Versuch verbunden, etwas aus der alltäglichen Wahrnehmung Verschwundenes zurückzuholen und es in poetischer Sprache darzustellen, eine brüchige Erinnerung einzufangen. Zu diesem Zweck greift Hilbig auf romanti-
181
182
Ruderale Texturen
sche, surrealistische und expressionistische Motive und Schreibweisen zurück62 und entkernt die Sprache von allen Floskeln und Phrasen. Dabei geht es dem Autor zugleich stets auch um die Bewusstmachung des eigenen Schreibprozesses. Wenn sein Schreiben versucht, das bereits Verschwundene sowie den Erinnerungsvorgang daran zu fassen, so formiert Sprache in seinen Texten auch als eine »Suchbewegung« (Rehfeld 2013: 197). Eindrücklich wird dies in Die Kunde von den Bäumen (1992) artikuliert, wenn der Protagonist Waller bemerkt: »Ich schreibe über verschwindende Dinge […], doch jedes Mal, wenn ich dazu ansetze, gelingen mir nur Feststellungen über den Verlust … es will mir nicht glücken, das Verschwundene wieder ans Licht zu reißen.« (Hilbig 2010a: 214) Waller artikuliert hier die Unmöglichkeit, dem bereits Verschwundenen noch einmal durch Worte Präsenz zu verleihen. Die Erkenntnis der äußeren Welt zeigt sich als abhängig von der eigenen Sprache; das zu beschreibende Objekt und die Erinnerung daran entziehen sich jedoch gleichermaßen dem sprachlichen Ausdruck63 : »Wie die Erinnerung, so entzieht sich die Landschaft auch der Sprache, die sie beschreibend erfassen will« (Hilbig 1992a: 197), schreibt Hilbig in Der trügerische Grund. Für den Autor, so lässt sich allgemein festhalten, ist es insofern keinesfalls selbstverständlich, dass die Sprache den zu beschreibenden Gegenständen gerecht wird. Auf diese Weise wird auch das Aufschreiben selbst zum Thema der Alten Abdeckerei, die sich zugleich dem Anspruch verschreibt, eine neue Sprache zu finden. Sprache lässt sich demnach als ein zentraler Punkt der Erzählung wie auch des Hilbigʼschen Œuvres im Allgemeinen verstehen. Sie zeigt sich – so die abschließend verfolgte These – in der Alten Abdeckerei in unterschiedlichen Ausprägungen, die dem Versuch geschuldet sind, Wahrnehmung, Erinnerung und Wirklichkeit sprachlich auszudrücken. Dabei lassen sich (mindestens) zwei verschiedene Sprachformationen identifizieren: Die Sprache des Erzählers, der nach den richtigen Begriffen für das Erlebte sucht, und die Sprache der unwirklichen Landschaft, die von – und hier zeigt sich erneut Hilbigs Rückgriff auf die Romantik – schemenhaften Gestalten, »klirrenden Stimmen« (A 137) und »Geraun aus der Dunkelheit« (A 118) bevölkert ist. Diese beiden Sprachformen werden im Folgenden näher betrachtet, um anschließend unter Rückgriff auf Aleida Assmanns Konzept der ›wilden Semiose‹ Hilbigs Bruch mit konventionellen Sprachformen und seine Neudefinition von Sprache noch einmal konkreter zu fassen. Die eigentümliche ›Sprachlichkeit‹ der Umgebung lässt sich exemplarisch an dem kleinen Fluss aufzeigen, der die Erzählung von Anfang an begleitet. Die ihn eingrenzenden Weiden bilden einen Echoraum, sodass »das Rieseln des Wassers stärker tönte«. Bald werden »die Stimmen des Fließens zu einem dichten Geräusch« (A 118), später zu einem »Rieseln«, das dem Erzähler »geschwätzig um die Gliedmaßen rann« (A 119), bis dieser Geräusche eines »hellwachen Trippelns und Wisperns« zu hören glaubt, Wasser, das »tappend und schwatzend« seinen Weg begleitet und schließlich in ein »Zischen oder Sprühen« übergeht, bis ein »schnell versunkenes Gekicher« zu vernehmen
62 63
Schäfer (2001: 184) spricht von einem »Kompendium von Schreibweisen«. Auch Schulze (2010: 297) beobachtet, es gäbe bei Hilbig »keine Feststellung […], die etwas Dingliches, Äußeres nicht zugleich in seiner Abhängigkeit zu etwas Sprachlichem, Innerem begreift – und umgekehrt«.
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
ist. Schon zu Beginn der Erzählung kann eine Interaktion zwischen diesem ›plappernden‹ Fluss und dem Erzähler beobachtet werden, der bemerkt: »Und wenn ich anhielt und lauschte, kam es vor, daß ich mich selbst im Innern dieser Überdachung aus Weidengezweig wähnte, und manchmal glaubte ich mitzufließen« (A 118). Der Fluss umgibt den Erzähler von außen und verschmilzt zugleich mit seinem Inneren, wenn es diesem scheint, »als ströme das Wasser über mich hinweg, es floß in meinem ermüdeten Hirn nach verschiedenen Richtungen, es floß grenzenlos« (A 120). Kurz darauf beginnt das Wasser jene Kreisbewegung vorwegzunehmen, die zuletzt das gesamte Gebiet versinken lassen wird: »Und vielleicht war es der Bach, der mich einzukreisen begann mit seinem Kichern und Wispern, aus dem die klirrenden Stimmen rollten, die wie ein Hohn auf alle Substantive waren, und auf alle Attribute, die ich auf meinem Gesicht zerschellen hörte« (A 137). Bereits an dieser Stelle wird das anschwellende Wasser mit einer Neu-Formierung von Sprache in Verbindung gebracht. Überdies ist die der Erzählung unterlegte Bildlichkeit eines alles verschlingenden Mahlstroms von Beginn an implizit präsent, doch zeigt sich dieser anfangs nur in vagen Andeutungen. Zugleich handelt es sich dabei zuerst um ein aus dem Inneren des Erzählers entstehendes Phänomen, das nur durch das ›Lauschen‹ bemerkt werden kann. Während der Erzähler vermeint, in den Wasserstrudel hingezogen zu werden, dient sein sprachlicher Ausdruck gleichzeitig der Dynamisierung des Flusses. Das Flüsschen geht »in der Sprache auf« und »wird durch die Sprache bewegt« (Hünger 2013: 37), bis es zuletzt, am apokalyptischen Endpunkt der Erzählung, selbst zu erzählen beginnt. Es entsteht ein Sprachfluss im wörtlichen Sinne, der schließlich, darauf hat Schulze (2010: 318f.) hingewiesen, auch einen möglichen Namen für den bislang namenlosen Erzähler nennt. Die wiederholte Formulierung »Niemand wusste« verwendet zuerst den anonymisierten Ausdruck ›niemand‹, der anschließend als Eigenname gebraucht wird: »Niemands Sippe aber wußte nichts vom Wissen aller Welt« (A 199). In seiner Verbindung zum griechischen Niemand (Οὖτις) der Odyssee, zugleich im Spannungsverhältnis von ›kein Einziger‹ und ›Niemand‹ als Eigenname, erscheint das Subjekt des Aussagesatzes als ein nicht identifizierbarer Signifikant.64 Zugleich wird die Bedeutung des Wassers herausgestellt, das jenem ›Niemand‹ überlegen zu sein scheint: »Wasser wußten besser« (A 199).65 Indem das Wasser zu sprechen beginnt, wird das Geschehen an den Beginn des Lebens auf der Erde zurückgebunden. Schon in seinem Gedicht das meer in sach-
64
65
Es ließe sich überlegen, ob das Flüsschen und der Erzähler in einer Art Doppelgänger-Funktion zueinanderstehen, wie sie sich bspw. auch in Die Kunde von den Bäumen findet. Während dort der Ich-Erzähler und Waller eine eigenartige Relation von Original und Spiegelbild zueinander einnehmen, bei der nicht klar ist, wer das Original und wer das Spiegelbild ist (vgl. Schulze 2010: 329), findet sich ein ähnliches Prinzip auch in Alte Abdeckerei. Das Flüsschen begleitet die Erzählung von Beginn an und übernimmt zuletzt eine konstitutive Rolle, indem es sie zu Ende erzählt. Allerdings substituiert es den Erzähler somit am Ende der Erzählung, wodurch die Parallelität der beiden aufgelöst wird. Dabei ist der Untergang des Autorsubjekts eng mit der Überführung der erzählten Welt in den Mythos verzahnt, wie auch Pabst (2016: 219) bemerkt.: »In der Vernichtungsgeschichte des Autors stellt sich die Subjektlosigkeit als Bedingung des Mythos ein, durch den Untergang des Dichters auf dem Meer der Dichtung wird die Transindividualität des Mythos gewährleistet«.
183
184
Ruderale Texturen
sen (1977) legte Hilbig diese Spur. Dort heißt es: »furchtbare unglücke / katastrophen im tertiär preßten / das meer in die kohle in sachsen wüst und gottgewollt / trat erde über die ufer zerdrückte das meer / und seine lagunen mit mammutbäumen das meer / kocht und dampft in der kohle in sachsen« (Hilbig 2008: 81). Indem auf die Anfänge der Braunkohle im tertiären Meer verwiesen wird und zugleich mythische Urgewalten anzitiert werden, rückt nicht nur der Moment einer ursprünglichen Ungeschiedenheit der Elemente in den Mittelpunkt, sondern auch die Bedeutung des Wassers. Dieses, das legt die Formulierung im Präsens nahe, ›kocht und dampft‹ noch immer in der Kohle. Das Ende der Alten Abdeckerei befreit dieses unterdrückte Wasser nun aus dem Inneren der Kohle, ja aus dem Inneren der sächsischen Industrielandschaft überhaupt. Hilbig selbst schreibt: »das meer kommt wieder nach sachsen« (Hilbig 2008: 84).66 Dieses Meer, so ließe sich im Hinblick auf das vorangestellte Motto vermuten, fungiert schließlich als jenes Hoffnung bringende ›Wesen‹, das sich ›aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer‹ erhebt, durch ›alle Zonen schwärmt‹ und letztlich ›Äonen‹, das heißt die Ewigkeit mit sich bringt. Mit der Rückkehr des Meeres entsteht auch eine neue Sprache. Die Erzählung steigert sich zu einer Art Beschwörung, einem »Totentanz« (Schulze 2010: 316), in welchem die Sprache des Erzählers und die Sprache des Wassers eine enge Verbindung eingehen. Dabei handelt die Prosa nicht von jenem Mahlstrom, der am Ende Himmel und Erde verschlingt, »sie ist der Maelstrom« (Endler 1992: 327, Herv. i.O.). Zuletzt wird auch die Grammatik in den Wirbel dieses Mahlstroms gezogen, »von diesem aufgelöst, zerrissen, zerfetzt« (ebd.: 332), bis sie in sich zusammenfällt. Diese Auflösung der sprachlichen Ausdrucksweise steht in Zusammenhang mit jenem reinigenden Sprachfluss der Erzählung, der zuletzt die ›Objekte‹ selbst zu Wort kommen lässt.67 Indem auf diese Weise ein Erzählen in praesentia erzeugt wird, ist der Text schließlich, und dies liegt ganz in der Intention Hilbigs, »nicht mehr Medium für irgendwelche Weisheiten«, sondern hat sein »Leben begonnen« (Hilbig 1992b: 209).68 Nicht die Substantive, die von Anfang an als bedeutungsleer und inadäquat verstanden werden, konstituieren nun die Erzählung, vielmehr entsteht diese aus den Dingen selbst, die eigenmächtig die Erzählführung übernehmen. Erzähler und Fluss verschreiben sich der »Sprache einer Wahrnehmung, die allein auf wortlose und flüchtige Augenblicke reagierte« und »aus den unnennbaren Empfindungen des Atems [bestand]« (A 136). Sprache als »eine die Wirklichkeit neu beschreibende oder erschreibende Sprache« (Rehfeld 2013: 204, Herv. i.O.), wird somit zum Hoffnungsträger. Sie bietet neue Erkenntnismöglichkeit und zielt auf einen veränderten Modus der Wahrnehmung ab, die sich an der Idee einer konkreten Präsenz orientiert. Das Hoffnungsmoment der Hilbigʼschen Prosa liegt insofern vor allem in der Entdeckung einer Sprache, die auch das im Bewusstsein Verborgene 66
67 68
In Die Kunde von den Bäumen heißt es: »Und ich hatte das Gefühl, daß diese Ränder [die Ränder des Tagebaus, Anmerkung J.K.] sich so ausgebreitet hatten, daß sie längst ein gewaltiges Übergewicht darstellten, daß die Asche längst einen unaufhebbaren Überhang hatte vor den Ansiedlungen des Lebens, ach, daß inmitten ihrer Unermesslichkeit die Städte und Dörfer nur mehr wie Nußschalen auf einem Meer waren« (Hilbig 2010a: 262). »Die verdauten Elemente«, so bemerkt auch Rehfeld (2013: 202), »beginnen selbst zu erzählen«. Auch hier lässt sich Hilbig noch einmal mit Joyce verbinden, über den Samuel Beckett einst schrieb: »His writing is not about something; it is that something itself « (zit. n. Norris 1990: 161, Herv. i.O.).
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
sowie die im Augenblick präsente Wirklichkeit adäquat zu artikulieren und zugleich festzuschreiben vermag. Sprachzerfall und Spracherneuerung des apokalyptischen Endszenarios lassen sich jedoch auch als ein »poetologisches Vermächtnis an die Schöpfungskraft des Wortes« (Rehfeld 2013: 204) verstehen, denn, so bemerkt Hilbig in Der Mythos ist irdisch: »Allein in der Idee, daß erst die Wörter die Dinge erschaffen – eine mythische Idee –, gewinnt der Gedanken daran, daß die Wörter nicht bloßes Medium der Gewalten sind, eine empirische Form.« (Hilbig 1992b: 209, Herv. i.O.) Hilbig nimmt hier eine interessante Verschiebung vor: Während die Substantive beziehungsweise Signifikanten einerseits als unzureichend verstanden werden, wird ihnen nun andererseits eine besondere Kraft zugesprochen. Diese Kraft ist jedoch an eine bestimmte Voraussetzung gebunden: Erst wenn die Wörter nicht mehr nur als ›bloßes Medium‹ fungieren, sondern selbst zu einer materiellen Gegebenheit werden, Ding und Zeichen sozusagen gleichberechtigt nebeneinanderstehen, kann die Materialität der Wahrnehmung adäquat ausgedrückt werden. Diese Intention entspricht Aleida Assmanns Konzept einer ›wilden Semiose‹. Unter dieser versteht die Kulturwissenschaftlerin eben jene überwältigende Materialität der Wahrnehmung, die auch Hilbigs Erzählung auszeichnet. Wilde Semiose, das meint die »Energetik des faszinierten Blicks« (Assmann 1988: 237), die Auflösung der syntagmatischen Verbindung der Zeichen wie auch der Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant. Es bezeichnet eine Art »Atomzertrümmerung der Wirklichkeit in kleinste Elemente« (ebd.), die die Wirklichkeit selbst als Raster menschlicher Kommunikation und Orientierung unbrauchbar macht, ihr jedoch in »gesteigerten Augenblicken eine überwältigende Gegenwart« (ebd.) verleiht. Assmann geht von der Grundthese aus, dass eine inverse Relation zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, das heißt eine komplexe Wechselbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem besteht, die besagt, dass »ein Zeichen, um semantisch erscheinen zu können, materiell verschwinden muß« (ebd.: 238). Kurz: »Wo die Dinge gegenwärtig sind, gibt es keine Zeichen, und umgekehrt.« (Ebd.: 239) Vor diesem Hintergrund widmet sich Assmann eben jenen Zeichenprozessen, die dieser Logik gerade nicht folgen, die also über unmittelbar materielle Botschaften funktionieren und somit die Gegenwärtigkeit des Zeichens in seiner materiellen Beschaffenheit darstellen. »Wilde Semiose«, so Assmann, »bringt die Grundpfeiler der etablierten Zeichenordnung zum Einsturz, indem sie auf die Materialität des Zeichens adaptiert und die Präsenz der Welt wiederherstellt.« (Ebd.: 239) Diese Präsenz der Welt begegnet dem Leser nun auch in Hilbigs Erzählung, in der die »Sprache der Dinge« ganz im Sinne Assmanns »wieder hörbar« (ebd.: 248) wird. Sie fungiert als eine Art »Gegensprache« (ebd.), die nicht nur Unordnung in das bestehende Beziehungssystem der Konventionen und Assoziationen bringt, sondern auch einen neuen Sinn generiert, der eng an Hilbigs Idee eines ›Lauschens‹ geknüpft ist. So heißt es denn auch bei Assmann über die Sprache der Dinge: »Man lauschte ihr einen Sinn ab, der in der modernen Welt verloren zu gehen drohte.« (Ebd.: 249) Diese ›Gegensprache‹ wird in Hilbigs Erzählung nun zum Ausdruck einer Auflösung der Welt, die eng mit einer Auflösung der Sprache verklammert ist: »Altes Sternenzirpen, Schriftgezirp, mit Fischen flüchtend, Fischgestirn und Fischgeschrift, durch das Wasserfinster blinkend, alte Abschreiberei. Alte Abfinsterei, stier-
185
186
Ruderale Texturen
gehörnt durch Weidenschatten schwenkend, und verlöschend in den ebnen Feldern: unterirdisch weiterfließend, alte Abwinkerei. […] Alte Abraucherei, alte Abklopferei an den unterirdischen Ufersteinen vorbei, klappernd über die Schwellen, über die Schienenschläge, lärmbedeckte Steckenfechterei, Lärmen erdüberdachter Absteckerei: alte Abdeckerei … Altdeckerei …Alteckerei … Alteckerei … Alterei …« (A 200ff.) Wie auch das Wasser, so fließen nun die einzelnen Assoziationsmöglichkeiten: Im Fluss entstehen neue Paarungen (›Fischgeschrift‹), die verbunden und zugleich wieder aufgelöst werden. Die klangliche Modifikation des Titels, ein aus Finnegans Wake übernommenes Verfahren, spielt mit der Morphologie und der Semantik. Die Sprachrudimente werden in neue Beziehungen zu einander gesetzt (vgl. Schoor/Bauer 2000: 252f.). Das Ende der Erzählung entpuppt sich somit letztlich weniger als apokalyptisches Untergangsszenario, als vielmehr als thesaurischer Neubeginn – es rückt die utopischen Qualitäten literarischen Schaffens in den Vordergrund. Das Meer lässt sich insofern einerseits als Chiffre für die Vorstellung von einer Art unverfügbarer Ursprünglichkeit verstehen, zugleich gewinnt es eine poetologische Dimension hinzu und kann als Metapher für den Text selbst, ja für Literatur im Allgemeinen gelten, der neben dem ›wissenden Wasser‹ eine bedeutsame Rolle attestiert wird69 : »Papier wußte… das weiße Papier der Bezüge, das leere Papier wußte vom Grau der Übergänge am Morgen, am Abend, und wußte vom Wahnsinn in der Dämmerung, von Untergängen im Zwielicht, und verbranntes Papier wußte von erloschener Schrift« (A 199). Erst in der Zusammenführung von ›wissendem Wasser‹ und ›wissendem Papier‹ kann das fantastische Schlusstableau der Alten Abdeckerei entstehen.70 Die Gedankenfigur von »mit den Wassern schreibend« (A 200) wird von Hilbig auch auf formaler Ebene umgesetzt: Wie auch Ebbe und Flut, so bewegt sich der Text nun hin und her, fließt durch die »schwarzen Kristallkathedralen der Kohle«, mäandert durch die »dunklen Wasserweiden unter Tage« (A 201) und ergießt sich zuletzt an den weidenden Minotauren vorbei zu einem Ende, das jeden Bedeutungszusammenhang gleichzeitig auflöst und neu erschafft. Die Erzählung entfaltet somit zuletzt ein beinahe utopisches Potential, das sich vor allem aus Hilbigs Sprachverständnis speist. In einer apokalyptischen Schlussszene wird die Welt gleichzeitig verschlungen und geflutet; sie wird in einen kosmologischen (Sprach-)Kreislauf
69
70
Pabst hat in seinen Ausführungen zu Hilbigs später Lyrik darauf hingewiesen, dass das Meer auch in den Gedichten der Bilder vom Erzählen (2001) als eine Metapher für Literatur fungiert. Diese Metapher könne »auf die Bewegung des Schreibens und die formale Ordnung des Gedichts selbst angewandt werden« (Pabst 2016: 211), zudem weise das immer wieder auftauchende Meeresrauschen auch eine poetologische Bedeutung auf. So rauschen denn nicht nur die eigenen Verse bzw. Sätze, sondern auch die Literatur der von Hilbig indirekt zitierten Autoren. Das Meer lässt sich insofern auch als ein »intertextueller Zusammenhang« (ebd.: 212) lesen: »Der Autor bewegt sich auf einem Meer fremder Texte.« Der Verweis auf Homer kann so gesehen auch als »Platzhalter einer kollektiven Autorschaft« (ebd.) verstanden werden, eine Deutungsweise, die auch mit Blick auf die Formulierung ›Alte Abschreiberei‹ noch einmal stark gemacht werden kann. Die hier deutlich werdende Interdependenz zwischen den gefluteten Ruinen und der bestehenden Schrift lässt sich mit Böhmes Beobachtungen hinsichtlich eines Zusammenhangs von Ruine, Erinnerung und Schrift zusammenführen: »Wo keine Ruinen vor Augen stehen, wo Geschichte sich restlos in Natur aufgelöst hat, dort hat Erinnerung keinen Halt mehre oder muß vollständig in Schrift übergegangen sein« (Böhme 1989: 287).
5. Verfall: Alte Abdeckerei (1991)
überführt und darf, schöpfungsgeschichtlich aufgeladen, aus dem Wasser neu entstehen. Wie auch bei Joyce fungiert das Meer als ein Ort, an dem sich alles verliert und zugleich wieder neu zusammenfindet und insofern immer wieder von Neuem beginnen kann. Der Untergang des Autorsubjekts ist dabei eng mit diesem mythologischen Neuentwurf der Welt verzahnt. Zurück bleibt das mythisch aufgeladene Schlusstableau einer gereinigten Welt, deren Grundpfeiler die Schöpfungskraft des Wassers und die fantastischen Welten der Literatur bilden. Am Ende steht der Text: eine Spur, die zurückbleibt, wenn die Welt an sich verschwunden ist. Dass die geschundene Braunkohlelandschaft auch auf andere Weise zum Schauplatz eines Neubeginns avancieren kann, zeigt Hilbigs kurze Erzählung Anfang eines Traums. Sind es in Alte Abdeckerei und Die Kunde von den Bäumen vor allem Kletten, Röhricht, Melde und Rainfarn, paradigmatische Unkräuter also, die die postindustriellen Flächen zurückeroberten, so zeigt die 1990 veröffentlichte Erzählung eine Pflanzenwelt, die, einem undurchdringlichen Urwald gleich, eine neue (sekundäre) Naturlandschaft erzeugt. Die Erzählung lässt sich insofern, obgleich vorab publiziert, als Epilog zu Alte Abdeckerei und Die Kunde von den Bäumen lesen. Sie entwirft ein Szenario, in dem der vorübergehende ruderale Neubewuchs bereits in einen Dauerzustand übergegangen ist. In Anfang eines Traums kehrt der autodiegetische Erzähler nach langer Abwesenheit an die Abraumhalden am Rande seines Geburtsorts zurück und entdeckt dabei, wie auch in Alte Abdeckerei, einen Ort seiner Kindheit, ein kleines Waldstück, das vom Tagebau verschont geblieben ist. Das Wäldchen und der kleine Badeteich, eine Reminiszenz an die Wasserlöcher der Alten Abdeckerei, sind inzwischen völlig zugewachsen und haben sich in einen veritablen Urwald verwandelt: »[J]etzt, nach all den Jahren, war dieser Sandstrand zugewachsen. Mehr noch, rings um den Tagebau war eine so dichte Pflanzenwelt emporgestiegen, daß ich mich zuerst von einem Wald beinahe tropischer Vegetation umgeben glaubte. Schlingpflanzen verwoben die Kronen von Bäumen, die mir […] unendlich höher gewachsen vorkamen […]. Undurchdringliche Hecken von Unterholz hatten jeden Ausblick zugewebt, mannshohes Gras und Schilf waren weit in das seichte Wasser hinein gewuchert« (Hilbig 2009a: 370f.). Im Gegensatz zum schmutzigen Rainfarn wirkt diese irgendwo zwischen Langes Ulanenpatrouille (1940) und Jirgls Hundsnächte (1997) angesiedelte tropische Vegetation kraftvoll und farbenfroh. Hinter den undurchdringlichen Hecken sind die verödeten Tagebaue kaum noch zu erahnen, und das »gemächliche[] Licht«, die »grünen Auffächerungen« (ebd.: 369) der Bäume und das »seichte Wasser« (ebd.: 371) erzeugen einen locus amoenus-ähnlichen Raum. So dicht ist diese Pflanzenwelt, dass sich der Erzähler schließlich in einem »hermetisch verwachsenen Raum gefangen« (ebd.: 371) glaubt: Über ihm hat sich ein »Kuppeldach von Gezweig und Blattwerk gebildet«, er ist »von der Vegetation umrundet und überdacht worden«. Diese Rückkehr zur Natur verweist schließlich, und das ist der Clou an Anfang eines Traums, in ihrer vorzeitlichen Konstitution noch einmal auf die Braunkohle zurück. Die gesamte Tertiärlandschaft Mitteleuropas war, bevor sich vor circa 60 Millionen Jahren aus den pflanzlich-organischen Rückständen Braunkohle bildete, von einem feuchtwarmen Klima bestimmt, mit dem Hilbigs Beschreibung der tropischen Flora
187
188
Ruderale Texturen
korrespondiert. »So interpretiert«, das beobachtet auch Probst (2017: 186, Herv. i.O.), »kehrt das Erzähler-Ich in seiner Vorstellung in die frühesten Stadien der Erdgeschichte zurück und aus dem zugewachsenen Restloch des ausgeweideten mitteldeutschen Industriereviers wird wieder der vorzeitliche Urwald des Tertiärs, ein erdgeschichtlicher Zustand vor der Braunkohle.«71 Auf einen die brachliegenden und kontaminierten Flächen überziehenden, noch eng mit der Vergangenheit verwobenen, unkrautartigen Wildwuchs folgt ein auf fruchtbarer Erde entstehender vorzeitlicher Urwald. Hilbig rekurriert hier noch einmal auf den Goethe’schen Kreislaufgedanken, wenn er bemerkt, dass zwischen Traum und Realität ein »Äon« (Hilbig 2009: 372) liege. Dass es sich bei dieser Naturlandschaft um eine Wunschvorstellung des Protagonisten handelt, macht indes schon der Titel der Erzählung deutlich.
71
Während der Sumpf bei Herta Müller negativ konnotiert ist und den Regress der Gesellschaft markiert, fungiert die Sumpflandschaft bei Hilbig folglich auch als konkrete Möglichkeit eines Neubeginns.
6. Erinnerung: Katzenberge (2010) »Die Enterbten leben in der Gegenwart. Wenn sie eine Vergangenheit besitzen, dann ist sie Erinnerung, etwas ebenso Unbestimmtes wie die Zukunft.« Andrzej Stasiuk: Galizische Geschichten Im Gegensatz zu den bisher betrachteten Texten rückt in Sabrina Janeschs Debütroman Katzenberge (2010) weniger ein magisch wucherndes Unkraut als vielmehr der Boden, auf dem dieses wächst, in den Blick. Erde, so die Leitthese dieses Kapitels, avanciert in Katzenberge zu einem zentralen Reflexionsmedium und fungiert zugleich als Metapher für die Entstehung von Literatur. Katzenberge unterscheidet sich von den bisher untersuchten Texten auch insofern, als dort eine Vor- und Nachgeschichte der sozialistischen Epoche erzählt wird, die die Zeit zwischen 1945 und 1989 dezidiert ausspart. Der Roman setzt mit den Prozessen von Umsiedlung und ethnischer Verfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg ein, während gleichzeitig aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts auf die brutalen Vorgänge zurückgeblickt wird. Im Zusammenhang mit dem Verlust der galizischen Heimat der Großelterngeneration avanciert die Erde zu einem zentralen Reflexionsmedium. Durch sie werden nicht nur die Empfindungen bezüglich der verlorenen Heimat eingefangen, auch fungiert czarnoziem, die galizische Schwarzerde, als Humus des Imaginären, aus dem der Roman letzten Endes hervorgeht. Während der Erdboden bei Hilbig und Müller als verseuchtes Terrain in Erscheinung trat, entfaltet er in Katzenberge insofern eine beinahe magische Kraft und fungiert als Verbindungsglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Damit verschiebt sich der Fokus von den verunkrauteten Flächen des Sozialismus auf einen über das Erdmotiv ausgehandelten Umgang mit Flucht und Vertreibung und die Überführung dieser Ereignisse in ein Narrativ, das heißt auf die Zeit vor der Implementierung der sozialistischen Systeme. Darüber hinaus wird mit den beiden Schauplätzen des Romans – Schlesien und Galizien – die Geografie der bisher betrachteten Texte erweitert. Gleichzeitig lässt sich an Janeschs Roman zeigen, inwiefern Ruderalität im 21. Jahrhundert zu einer Frage des Kunsthandwerks wird. Die ruderale Flora, wie auch die Erde, auf der sie wächst, lässt sich in Katzenberge als ein narratives Mittel verstehen, das zwar aus poetologischer Perspektive von Relevanz ist, vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der realsozialistischen Systeme jedoch seine lebensweltliche Dringlichkeit eingebüßt hat. Janeschs
190
Ruderale Texturen
Unkräuter sind aus dem magisch-realistischen Inventar zeitgenössischen Schreibens importiert, das den Magischen Realismus als ein medienwirksames Genre wiederentdeckt. Dabei weicht dessen politische Sprengkraft dem Versuch, eine eher individuellexistenzielle Poetik zu erzeugen: Statt wuchernden Texturen finden sich symbolische Akte, die vor allem auf das Individuum und sein persönliches Verhältnis zur Vergangenheit abzielen. Der Roman erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die aufgrund des Todes ihres Großvaters eine Reise in dessen ostpolnische Heimat unternimmt, um dort die Ursprünge ihrer Familie zu ergründen. Als Schauplätze der Handlung dienen ein kleines Dorf in Schlesien, das als alltäglich-realistischer Ort entworfen wird, sowie ein ehemals galizisches Dorf in der heutigen Ukraine, welches als dessen imaginär-fantastischer Gegenpart fungiert. Zwischen diesen beiden Dörfern spannt sich ein weiter (Geschichts)Raum auf, in dem nicht nur die Handlung des Romans angesiedelt ist, sondern auch Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, ethnischen Säuberungen und individuellen Traumatisierungen verhandelt werden. Besonders die Vorstellung von ›Heimat‹ wird vor diesem Hintergrund aus verschiedenen generationellen Figurenperspektiven beleuchtet. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Nele Leibert, Tochter einer polnischen Mutter und eines deutschen Vaters, die zur Beerdigung ihres geliebten Djadjos (dt. Opa) nach Niederschlesien und von dort aus weiter Richtung Osten reist, nimmt im Laufe der Erzählung eine wichtige Rolle hinsichtlich der Erinnerungen ihres galizisch-schlesischen Großvaters ein und tritt schließlich als Schöpferin eines von ihm inspirierten Galizien-Romans in Erscheinung1 , indem sie nachträglich die »blinden Flecken« (K 47) in der Erinnerung überschreibt, um die der Roman fortwährend kreist. Ausschlaggebend für ihre Spurensuche sind nicht nur die Erinnerungen an die bei ihrem Großvater Stanisław Janeczko verbrachten Sommerferien in ihrer Kindheit, sondern auch Andeutungen der polnischen Verwandtschaft über ein lang zurückliegendes, dunkles Geheimnis des Großvaters. Darüber hinaus wirft Neles Mutter, eine in Deutschland lebende Historikerin, die Frage nach der ursprünglichen Herkunft der Familie auf. Dabei wird die Vorstellung von einer Art ›Lücke‹ beziehungsweise von einem ›Rest‹ durch ein übernatürliches Wesen dargestellt, das vor allem den Großeltern immer wieder erscheint. Um dieses zu ›bannen‹, beschließt Nele zu Beginn des Romans galizische Erde an das Grab der Großeltern zu bringen.
1
Die Ich-Erzählerin Nele Leibert ist Journalistin, die u.a. Reisereportagen verfasst. Der Text stellt somit fortwährend die Möglichkeit aus, dass sie nicht nur als Erzählerin, sondern auch als Autorin des Romans fungiert.
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
Changierend zwischen Reiseroman, Entwicklungsroman und fiktiver Biografie2 verschränkt Katzenberge zwei einschneidende Ereignisse ineinander. Ausgehend von der Reise der Enkelin – inszeniert als (auch imaginäre) Erkundung der bisher unergründeten Vergangenheit der eigenen Familie – berichtet der Text vom Leben des Großvaters als galizischer Bauer, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, aufgrund der Übergabe ehemals polnischer Gebiete an die Ukraine und den daraus resultierenden ethnischen Verfolgungen, nach Niederschlesien flüchten musste, wo er zusammen mit anderen Flüchtlingen die Höfe der im Zusammenhang mit der Westverschiebung Polens vertriebenen deutschen Siedler übernahm. Damit greift der Text die Vertreibung der in Wolhynien lebenden polnischen Bevölkerung und die damit verbundenen Gewalterfahrungen auf und verknüpft deren Ansiedlung in Schlesien wiederum mit der Vertreibung der dort ansässigen deutschen Bevölkerung. Die literarische Topografie des Romans reicht somit von Deutschland über Schlesien bis nach Galizien und entwirft zwischen Berlin, wo die Protagonistin Nele lebt, und dem Fluss Bug, den der Großvater auf seiner Flucht überqueren muss, eine vor allem über Raumsemantiken erzeugte Verbindungslinie, die das Schicksal dreier Generationen miteinander verknüpft. Der Roman thematisiert hier, und dies bildet einen der Schwerpunkte der folgenden Analysen, den Umgang mit der ›verlorenen Heimat‹3 Galizien aus der Sicht
2
3
Offensichtlich existieren deutliche Parallelen zwischen der fiktiven Erzählerin Nele Leibert und der Autorin Sabrina Janesch, die sich nicht nur im Gleichklang der Namen Janesch/Janeczko äußern. Janesch, 1985 geboren in Gifhorn, Tochter einer polnischen Mutter und eines deutschen Vaters, wuchs zweisprachig in Deutschland auf und verbrachte ihre Ferien häufig in Schlesien. Die damit verbundene »doppelte Erfahrung der Fremdheit« erklärt Magenau (2011) zu einer Voraussetzung des Romans. Auch hinsichtlich der journalistischen Tätigkeit Neles lassen sich Parallelen aufzeigen: Während Nele im Roman für eine Zeitschrift namens D. arbeitet, absolvierte Janesch ein Praktikum bei der Zeitschrift Das Magazin, für die sie auch die in Katzenberge erwähnten Reisereportagen verfasste. Janesch studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim sowie Polonistik an der Jagiellonen-Universität Krakau und war als Stipendiatin des Deutschen Kulturforums Östliches Europa die erste Stadtschreiberin von Danzig, in der auch ihr zweiter Roman Ambra (2012) angesiedelt ist. Ihr Dank am Ende von Katzenberge gilt, neben einer Reihe anderer Personen, auch ihrem Großvater, dem »eigentlichen Erzähler« (K 273) sowie einer Dame, die an die in Katzenberge in Zastavne angetroffene Figur Malina Rafailiwna erinnert: Janesch dankt »Halina Michailiwna für den spannendsten Tag meines Lebens« (K 273). Katzenberge kann insofern als beides betrachtet werden: »authentisch und artifiziell; wirklichkeitsgesättigt und erfindungsreich; dokumentarisch präzis und magisch-phantastisch, autobiographisch und hochliterarisch« (Magenau 2011). Mit dem Begriffspaar ›verlorene Heimat‹ werden normalerweise die Gebiete des früheren deutschen Ostens (Schlesien, Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Danzig und Pommern) bezeichnet, aus denen mehr als sieben Millionen Deutsche gegen Ende des Zweiten Weltkriegs fliehen mussten oder vertrieben wurden. Diese Gebiete standen mehrere Jahrzehnte im Fokus politischer Diskussionen. Die BRD wollte im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg die Ansprüche auf diese Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie nicht aufgeben und erst mit Willy Brandts Ostpolitik in den späten 1960 und frühen 1970er Jahren wurde die faktische deutsch-polnische Grenze akzeptiert. Zu dieser Zeit hatten die meisten Vertriebenen ernstgemeinte Versuche, wieder Rechte über ihr Heimatland zu erhalten, bereits aufgegeben. Die Fokusverschiebung, die Janesch vornimmt, rückt nun die zurückgelassene Heimat der in den ehemaligen deutschen Osten umgesiedelten Polen in den Vordergrund.
191
192
Ruderale Texturen
des 1944 nach Schlesien geflüchteten Großvaters sowie die Suche nach und Neuperspektivierung von Heimat und Erinnerung aus der Perspektive der nachgeborenen Enkelin. Darüber hinaus werden die Entstehung von Narrativen und Stereotypen sowie die Bedeutung des Erzählens von Geschichten für das eigene Leben reflektiert. Dass diese Wiederaneignung des Ostens in der Gegenwartsliteratur kein Novum darstellt, soll eine überblicksartig angelegte Einführung in die sich seit den 1990er Jahren herausbildende literarische Strömung einer Art »Enkel-Literatur« (Magenau 2011) zeigen. Janeschs Rückgriff auf den Magischen Realismus und seine anthropomorphe Pflanzenwelt verbindet den Roman mit anderen gegenwärtigen literarischen Erkundungen des Ostens, die alle um die zurückgelassene Heimat und deren Neu-Imagination kreisen (6.1). Ausgehend von der Verortung des Romans in den zeitgenössischen Literaturdiskursen steht anschließend der Text selbst im Vordergrund. Katzenberge zeichnet ein Bild der Vergangenheit, welches wahr und zugleich imaginiert, real und zugleich fantastisch sein darf und so ein Verständnis für die Historie als ein Geflecht individueller Bedeutungszuschreibungen eröffnet (6.2). Dabei wird die magisch-realistische Schreibweise dazu verwandt, die Erfahrungen des Großvaters in Literatur zu überführen und ein familiäres Tabuthema zu ergründen (6.3). Der Raum jenseits des Bugs wird in diesem Zusammenhang als terrain vague entworfen (6.4), dessen Erde zum Nährboden der Literatur avanciert. Auf diese Weise rückt nicht nur die Rolle der Literatur und ihrer narrativen Strategien in den Blick, im Zusammenhang mit einer Poetik des Ruderalen lässt sich abschließend auch zeigen, inwiefern der magisch-realistische Topos einer wuchernden Natur zu einer Frage des literarischen Handwerks wird, wie sich also Zeit- und Zeitgeschichte in poetologische Konzepte einschreiben, die an gewissen Punkten ihre Dringlichkeit verlieren (6.5).
6.1.
Literarische Kontexte: Wiederaneignungen Osteuropas in magischrealistischer Schreibweise
Katzenberge ist Teil einer neuen »Grenzlandliteratur« (Chwin 1997), die sich mit der traumatischen Erfahrung des Vertriebenwerdens und dem Gefühl einer verlorenen oder zurückgelassenen Heimat auseinandersetzt und dabei potentiell bald nicht mehr erinnerte Vergangenheiten erkundet. Mit dem Begriff »Grenzlandliteratur« bezeichnet der polnische Autor Stefan Chwin eine Literatur, die »nicht nur die übernationale zivilisatorische Kontinuität des polnisch-deutschen Grenzlands« (Chwin 1997: o. S.) zur Kenntnis nimmt, sondern darüber hinaus auch polnische und deutsche Schicksale aus einer neuen Perspektive betrachtet, die sich insofern von Vorhergehendem unterscheidet, als die Erfahrungen von Polen und Deutschen bisher vor allem aus der Perspektive des politischen Konflikts zwischen den beiden Nationen betrachtet wurden. Diese neue Literaturrichtung wolle, so konstatiert Chwin, »nicht ausschließlich die bisher verschwiegene bi- oder multinationale Vergangenheit Pommerellens, Schlesiens oder Masurens rekonstruieren«. In der zeitgenössischen polnischen Kultur meine der Begriff ›Grenzland‹ nicht nur die historischen Grenzregionen im Osten und Westen Polens, sondern fungiere auch als eine »Metapher für das Zusammentreffen verschiedener Kulturen«. Dieser neuen Literaturströmung komme eine besondere Rolle zu, da es sich bei ihr
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
nicht mehr um eine »ausschließlich lokale, auf die Vergangenheit gerichtete ›Literatur der Verwurzelung‹« handele, sondern sie »sowohl aus dem Wunsch, die Vergangenheit der Region zu ergründen, als auch aus einer allgemeineren Reflexion über die multikulturelle Zukunft Europas« (ebd.) erwachse. In der polnischen Literatur ist diese Form der Erinnerungsliteratur seit den späten 1980er und verstärkt in den 1990er Jahren zu finden, wo unter anderem Pawel Huelle (Wer war David Weiser?, 1987), Stefan Chwin (Tod in Danzig, 1995), Olga Tokarczuk (Taghaus, Nachthaus, 1998) oder Andrzej Stasiuk (Galizische Geschichten, 1995)4 die deutsch-polnische Geschichte aus einer Vielzahl an Perspektiven nachzeichnen und so auf das reagieren, was Magdalena Marzałek und Sylvia Sasse die »phobische[] Ausblendung des Fremden zu Zeiten des Realsozialismus« (Marszałek/Sasse 2010: 7) genannt haben. In »halb wissenschaftlichen Expeditionen« und »essayistisch-literarischen Reiseberichten« werde in den Texten eine »Relektüre von Territorien« (ebd.) unternommen und durch die Mittel der Literatur der heterogene Raum ›Ostmitteleuropa‹ neu abgesteckt und entworfen.5 Der Wunsch, die Vergangenheiten der multinationalen Regionen zu ergründen, verbindet sich hier oftmals mit allgemeinen Reflexionen über die multikulturelle Zukunft Europas. Viele der Texte kreisen dabei dezidiert um die Flucht, die zu einem Hauptmotiv der mitteleuropäischen Erinnerungsliteratur avanciert. Dies zeigt auch eine Äußerung des ukrainischen Schriftstellers Juri Andruchowytsch in seinem Essay Mittelöstliches Memento (2000): »Zwischen Russen und Deutschen eingezwängt zu sein ist die historische Bestimmung Mitteleuropas. Die mitteleuropäische Angst schwankt historisch zwischen zweierlei Sorge hin und her: die Deutschen kommen, die Russen kommen. […] Die mitteleuropäische Reise, das ist die Flucht. Aber woher, wohin? Von den Russen zu den Deutschen? Oder von den Deutschen zu den Russen?« (Andruchowytsch 2014: 43)6
4 5
6
Die Jahreszahlen beziehen sich hier auf das Datum der polnischen Erstveröffentlichung. Mit dem Begriff ›Geopoetik‹, so der Ansatz von Marszałek/Sasse, lassen sich verschiedene Korrelationen und Interferenzen zwischen Literatur und Geografie erfassen. Die poetik verweist dabei auf das literarische Herstellen von Territorien und Landschaften und reflektiert die Konstruiertheit von Geografie auch außerhalb der Literatur. Eine andere Bedeutung ergibt sich durch den Fokus auf das Wort geo, das eine mögliche Verbindung zwischen der Kreativität des Künstlers und einem geografischen Ort herstellt (wie sie bspw. Anton Čechov in Bezug auf die Steppe konstatierte, die eine spezifische Form von Gleichgültigkeit und Müßiggang hervorbringe). Ohne dadurch notwendigerweise environmentalistische Ausprägungen dieses Ansatzes fortzuschreiben, lasse sich durch die ›Geopoetik‹ insofern auch eine Verbindung zwischen literarischer Schreibweise und Raum untersuchen (vgl. Marszałek/Sasse 2010: 9ff.). Andruchowytsch war Mitglied des sog. ›Geopoetischen Klubs der Krim‹ (Krymskij geopoėtičeskij klub), der von Igorʼ Sid 1995 in Moskau begründet wurde. Sid bezeichnete das geopoetische Projekt als eine »›kulturelle Selbstbestimmung der Territorien‹, die er den ethnisch-nationalen bzw. staatspolitischen Interessen entgegensetzt« (Marszałek/Sasse 2010: 8). Die Absichten waren hochpolitisch: In der Definition des Klubs sollte die Geopoetik »die Politik durch die Kunst ersetzen und die geopolitischen Setzungen durch die künstlerische Hervorbringung einer ›Krimer‹ Poetik unterlaufen« (ebd.). Auf diese Weise sollte eine Neuordnung der politisch-geografischen Konzepte erzielt werden, die v.a. künstlerisch und selbstreferentiell gedacht wurde. Andruchowytschs Arbeiten lassen sich als an diese »Idee einer ästhetischen Antipolitik angelehnte Geopolitik« (ebd.: 13) verstehen.
193
194
Ruderale Texturen
Auch in Deutschland entwickelte sich nach der politischen ›Wende‹ eine neue Form der Erinnerungsliteratur, die um das Sujet der ehemaligen Ostgebiete kreist und die mit den Umsiedlungsprozessen verbundenen Erfahrungen aufarbeitet.7 Junge deutsche Autorinnen und Autoren nehmen die deutsche Geschichte im Osten in den Blick, wie beispielsweise der 2003 erschienene Roman Himmelskörper von Tanja Dückers oder auch Julia Francks Die Mittagsfrau (2007) zeigen. Ersterer ist im vereinten Deutschland nach 1989 angesiedelt und rekonstruiert die Familiengeschichte aus der Perspektive der dritten Generation8 , wobei vor allem weibliche Figuren in den Mittelpunkt rücken. Die Protagonistin Freia setzt sich mit der Flucht ihrer Mutter und Großmutter aus Königsberg gegen Kriegsende auseinander und besucht schließlich mit ihrer Mutter einen der Schauplätze dieser Flucht, das heutige Gdynia (dt. Gotenhafen). Der Roman greift überdies die Schuld der Großeltern auf, die, wie sich im Laufe der Erzählung herausstellt, Mitglieder der NSDAP waren, während er zugleich ihr Schicksal nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs thematisiert. Er zeigt darüber hinaus, dass die unbewältigte Vergangenheit besonders für die zweite Generation zur Herausforderung wird. Ein weiteres Beispiel für diesen Rekurs auf die jüngere deutsche Geschichte stellen die Texte des deutsch-polnischen Autors Artur Becker dar, der beispielsweise in seinem Roman Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken (2008) die Problematik von Weggehen und Wiederkommen inszeniert. Der Protagonist Kuba Dernicki kehrt nach vielen Jahren in Deutschland zurück nach Polen. In seinem Heimatdorf am Dadajsee, einem geschichtenumwobenen und unheimlichen Ort, begegnet er seiner Vergangenheit. Die Rückkehr Dernickis dient in Wodka und Messer dazu, im Rekurs auf folkloristische Elemente und magisch-realistische Bildwelten, die Geschichte Polens und damit verbundene Themen aufzugreifen und nicht zuletzt die masurische Landschaft als einen Erzählraum zu gestalten, in dem die Vergangenheit (auch in Form von Naturgöttern, Waldgespenstern und Wiedergängern) wiederaufersteht.9
7
8
9
Eine erste Phase dieser Suchbewegung lässt sich ab 1950 beobachten. Dies zeigt u.a. Louis F. Helbigs Studie Der ungeheure Verlust (1988). Ab circa 1950 griffen zahlreiche deutsche Autorinnen und Autoren wie bspw. Horst Bienek, Uwe Johnson, Christa Wolf oder Günter Grass das Thema Flucht und Vertreibung auf. Seit Helbigs Studie und der deutschen Wiedervereinigung sind verschiedene Arbeiten dazu erschienen, so bspw. von Elwira Pachura (Polen – die verlorene Heimat, 2002) wie auch Elke Mehnerts Band Landschaften der Erinnerung (2001), in welchem u.a. der Aufsatz von Hubert Orlowski (2001) eine komparative Perspektive einnimmt und besonders in der polnischen Literatur neue Ansätze hinsichtlich der Aufarbeitung der deutsch-polnischen Geschichte und eine Verschiebung von einem nationalen hin zu einem transnationalen Blickwinkel beobachtet. Zur Deprivationsliteratur in Deutschland und Polen siehe außerdem Orlowski (2003), zum Begriffspaar ›Flucht und Vertreibung‹ siehe Beer (2011) sowie Hahn/Hahn (2005: 335f.) und Kleßmann (2001). Für eine detaillierte Betrachtung exemplarischer Werke von Autorinnen und Autoren der zweiten und dritten Generation (Christoph Hein, Reinhard Jirgl, Tanja Dückers, Kathrin Schmidt) siehe Eigler (2010). Dieser Rekurs auf den Magischen Realismus lässt sich an einer Vielzahl aktueller Texte über die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie beobachten. Nicht zuletzt greift auch Janeschs zweiter Roman Ambra (2012) durch eine magisch-realistische Schreibweise das Thema der Flucht um 1945 vor der Kulisse Danzigs erneut auf. Erzählweise und Schauplatz der Handlung verweisen hier überdies auf einen wichtigen Prätext: Günter Grass ebenfalls mit magisch-realistischen Elementen arbeiten-
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
Generationenwechsel: das neue Genre der ›Enkel-Literatur‹ Diese aktuelle Beschäftigung der deutschen wie polnischen Literatur mit der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts kann in einem größeren kulturellen wie politischen Kontext verortet werden.10 Sowohl der generationelle Wechsel innerhalb der Autorengruppe, die nunmehr die dritte Generation nach Kriegsende umfasst11 , als auch die durchaus kontroverse Aufmerksamkeit, die der Idee, auch die deutsche Bevölkerung als Opfer des Zweiten Weltkriegs zu betrachten, zu Teil wurde, sowie die Erfahrungen der ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges bilden den Hintergrund, vor dem die gegenwärtigen literarischen Betrachtungen zu verstehen sind. Die aktuell in den Fokus rückende dritte Generation steht, so ließe sich im Hinblick auf das von Jan und Aleida Assmann entwickelte Konzept des kommunikativen Gedächtnisses beobachten, mit der Generation der Zeitzeugen noch in einer kommunikativen Austauschbeziehung und sucht zugleich nach neuen Möglichkeiten der Aneignung von Vergangenheit. Das kommunikative Gedächtnis umfasst in seiner frühen Definition durch Jan Assmann »Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen« (Assmann 1999: 50), das heißt Erinnerungen, »die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt« (ebd.). Das paradigmatische Beispiel hierfür ist das Generationengedächtnis, das »der Gruppe historisch zu[wächst]« (ebd.). Es unterscheidet sich insofern vom kulturellen Gedächtnis, als dieses eine »Sache institutionalisierter Mnemotechnik« (ebd.: 52) darstellt. Eine aktuelle Definition des vielfach aufgegriffenen und erweiterten Konzepts von kollektivem und kommunikativem Gedächtnis findet sich bei Astrid Erll (2017). Hinsichtlich des kommunikativen Gedächtnisses konstatiert Erll (2017: 25), dieses entstehe »durch Alltagsinteraktion, hat die Geschichtserfahrungen der Zeitgenossen zum Inhalt und bezieht sich daher immer nur auf einen begrenzten, ›mitwandernden‹ Zeithorizont von ca. 80 bis 100 Jahren«. Seine Inhalte »sind veränderlich und erfahren keine feste Bedeutungszuschreibung«. Den Neuperspektivierungen der neueren Geschichte liegen verschiedene Intentionen zugrunde. So versuchen die jungen deutschen wie polnischen Autorinnen und Autoren zum einen, in den oftmals autobiografisch bzw. autofiktional angelegten Werken ihre eigene Identität auszuloten. Der Rückgriff auf die Lebensgeschichten der Großeltern erweist sich dabei insofern auch als relevantes Mittel der eigenen Selbstkonstitution und Verortung.12 Der polnische Historiker Robert Traba beobachtet: »Wir leben
10
11
12
den Roman Die Blechtrommel (1959), dessen erster Teil ebenfalls in Danzig spielt. Zur Lesart der Blechtrommel als magisch-realistischer Text siehe Arnds (2009). Traumatisierende Ereignisse, wie die Vertreibung der Polen aus Wolhynien, finden ihren Ausdruck sowohl in dem Impuls, das Ereignis in Sprache zu fassen und in Literatur zu verwandeln (hier sind Konzepte eines therapeutischen Schreibens ebenso aufgerufen wie rezeptionsästhetische Dimensionen einer literarischen Authentizität) als auch innerliterarisch, wo sie den zentralen Erzählgegenstand bilden. Für eine detaillierte Betrachtung dieser Zusammenhänge sie u.a. Eigler (2010) sowie Fuchs/Cosgrove (2006). Zum Begriff der ›Generation‹ und den verschiedenen Implikationen, die dieser Begriff aufruft, vgl. Weigel (2002). Zum Familienroman nach 1990 siehe außerdem Aleida Assmanns Vorlesung Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur (2005). Bei Eigler (2010: 77) heißt es diesbezüglich: »This memory boom, as some have termed it, is marked by a generational shift away from the first generation of witnesses, perpetrators, and victims and
195
196
Ruderale Texturen
in einer Epoche des Endes der Zeitzeugen, die neue Generation sucht neue Schlüssel, um die Geschichte erfahrbar zu machen.« (Zit. n. Großbongardt 2013: 18) Diese nach 1990 deutlich zunehmende Betrachtung der Vergangenheit – Eigler (2010: 77) spricht diesbezüglich von einem »memory boom« – führt zum anderen zu einer Etablierung neuer historischer Identitäten und einer neuen Erinnerungskultur, die vor allem in Polen bis 1989 in dieser Form nicht möglich war, und die ihren Fokus unter anderem auch auf regionale Mikronarrative richtet (vgl. Wienroeder-Skinner 2006: 265). Im öffentlichen Diskurs des sozialistischen Polens wurden die Erinnerungen an die gewaltsame Umsiedlung aus den östlichen Gebieten unterdrückt; die westlichen Gebiete hingegen galten als ursprünglich polnische und daher rechtmäßig zurückerhaltene Gebiete.13 Der Fokus auf »Europe’s forgotten or manipulated regional histories« (Eigler 2014: 153) schreibt diese folglich in die deutsche wie polnische Literaturlandschaft ein und lässt neue, durchaus auch ambivalente, Bezüge zu ihnen entstehen. Mit der Gattung des Familienromans14 , dessen erzählte Zeit meist von den Großeltern bis zu den Enkelkindern reicht, sind verschiedene Implikationen verbunden. So wird erstens deutlich, dass die Idee klar voneinander abgegrenzter Generationen (wie es auch die Rede von einer ersten, zweiten beziehungsweise dritten Generation nahelegt) als solche nicht aufrechterhalten werden kann: Die Texte berichten von Überschneidungen, Asymmetrien und Divergenzen. Zweitens, so konstatiert Aleida Assmann (2007: 74), sind diese Generationen »dabei gleichzeitig Akteure in der Dimension der Familie wie in der Dimension der Geschichte und somit auch Repräsentanten kollektiver Erfahrungen und Werthaltungen, Mentalitäten und Vorurteilsstrukturen«. Drittens aber
13
14
toward the second and third generations, the last of whom are removed from any immediate exposure to the Second World War and its aftermath«. Dazu Eigler (2014: 152): »This Socialist master narrative was supposed to establish historical rights to Polish ownership of the border regions and thus to legitimize the expulsion of Germans on historical (not political) grounds. At the same time, this ›invented tradition‹ distracted from the Soviet Union’s prominent role in shifting the borders of Poland westward, which resulted in Poland’s loss of major Eastern territories.« Auch in beiden deutschen Teilstaaten war der Umgang mit den Vertriebenen problematisch. Dies wurde auch in der Literatur aufgegriffen, wie beispielsweise HansUlrich Treichels Roman Der Verlorene (1998) zeigt. Besonders in der DDR wurde jede öffentliche Diskussion der Westverschiebung sowie damit zusammenhängende Erinnerungsstrategien untersagt, »to avoid the appearance of revanchism vis-à-vis Socialist ›brother states‹ like Poland and Czechoslovakia« (Eigler 2010: 79). Dies fand auch in der Umbennenung der Flüchtlinge in ›Umsiedler‹ seinen Ausdruck. Es lässt sich in diesem Zusammenhang, so bemerkt Magenau (2011), auch von einer »literarische[n] Großkonjunktur der Generation Großeltern« sprechen. Texte der dritten Generation nehmen sich nun verstärkt Themen wie Flucht, Vertreibung und Heimatverlust an und stehen somit auch im Gegensatz zu Werken der zweiten Generation, die sich v.a. am Schuldwissen und der Frage nach einer transgenerationalen Übertragung dieser Schuld abarbeiteten. Die nächste Generation habe in vielen Fällen »sowohl die Traumata der Eltern als auch die oftmals hilflose Praxis von Verleugnung und Verdrängung geerbt« (Treichel 2012: 39). Die Enkelgeneration hingegen kann die Geschichten ihrer Großeltern zur Kenntnis nehmen und ›weitererzählen‹, ohne ihre Inhalte moralisch bewerten zu müssen. Während Autorinnen und Autoren der zweiten Generation noch die verlorenen Herkunftsorte sowie generationenübergreifende Traumata in den Blick nehmen, widmet sich die dritte Generation überwiegend der Rekonstruktion der Familiengeschichte sowie den Effekten der Umsiedlungen (vgl. Eigler 2010).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
wird an einer Zusammenschau der generationsübergreifenden Familienromane auch deutlich, dass die in einer Vielzahl von Texten dargestellten Beziehungen zwischen der ›großen Geschichte‹ und dem einzelnen Individuum untereinander Ähnlichkeiten aufweisen. Viertens beinhalten die Texte auch oftmals metafiktionale Reflexionen über die Funktionsweise von Narrativen im Zusammenhang mit dem Erinnerungsprozess. Hier zeigt sich: »If there are ›typical‹ generational experiences, they are neither easily accessible nor easily narrated. […] Voids, contradictions, and family secrets are at the core of many of these works.« (Eigler 2010: 78) Besonders die hier genannten ›Lücken‹ stehen in engem Zusammenhang mit der immensen Gewalt der Ereignisse des 20. Jahrhunderts, weshalb die Literaturwissenschaft bei der Textanalyse auch oftmals mit dem Begriff des Traumas operiert. Wie auch in den vorhergehenden Kapiteln soll ›Trauma‹ hier als ein ästhetisches Konzept verstanden werden, das vor allem an den literarischen Darstellungstechniken – Lücken, Erinnerungspartikel, Widersprüche – deutlich wird. Die Darstellungen traumatisierender Ereignisse, der Blick auf die Rolle des Unbewussten und die damit in Zusammenhang stehende Bedeutung von Erinnerungsprozessen wirken sich, aus dieser Perspektive betrachtet, auch auf die narrativen Strukturen der Werke aus. Obgleich Familienromane, brechen die gegenwärtigen Erzählungen mit den Gattungskonventionen des Romans des 19. Jahrhunderts und dessen chronologischen Erzählweisen und rekonstruieren die Familiengeschichten aus kaleidoskopischen Perspektiven (vgl. Eigler 2010: 78f.). Auch literarische Fallstudien zu den Effekten traumatisierender Erfahrungen finden sich an verschiedener Stelle, so etwa in Reinhard Jirgls Die Unvollendeten (2003), ein Roman, der anhand von vier Frauen über drei Generationen hinweg berichtet und dabei auch in der Stilistik die Vorstellung eines Bruchs deutlich macht. Wie auch in Hundsnächte arbeitet Jirgl mit einer experimentellen Orthografie und Interpunktion und setzt verschiedene Erinnerungsfragmente collagenartig zusammen. Insgesamt, so zeigt der Blick auf die genannten Werke, lässt sich ein relativ großes literarisches Interesse am Osten beobachten. Seit circa 1990 vollzieht sich eine Suchbewegung Richtung Ostmitteleuropa, die nicht nur in Deutschland und Polen, sondern, dies soll nicht unerwähnt bleiben, beispielsweise auch in den Vereinigten Staaten prominente Erzählungen entstehen ließ. Die Debütromane von Gary Shteyngart (The Russian Debutante’s Handbook) und Jonathan Safran Foer (Everything is Illuminated), beide erschienen 2002, zeugen davon. Die zum Teil imaginative Ergründung der Vergangenheit wird dabei, darauf wird zurückzukommen sein, häufig mit magischrealistischen Mitteln vollzogen. Sie dienen, so ließe sich vermuten, der Darstellung einer grundsätzlichen Unsicherheit, die mit dieser (Neu-)Aneignung des Vergangenen verbunden ist und heben zugleich deren imaginäre Gehalte hervor. Zwischen den literarischen Entwicklungen in Deutschland und der polnischen ›Grenzlandliteratur‹ nach 1989 spannt sich ein Diskursfeld auf, in dem nun auch Janeschs Roman verortet werden kann.15 Katzenberge nimmt hier aus verschiedenen
15
In Deutschland rückt in diesem Zusammenhang auch die gefühlsüberlastete Heimatliteratur der Nachkriegszeit in den Fokus. Unter ›Heimatliteratur‹ versteht man »alles lit. Schaffen aus dem Erlebnis der Heimat, einer bestimmten Landschaft und ihren Menschen sowie des ländl. Gemeinschaftslebens im weitesten, nicht nur rein stoffl. Sinne als allg. Grundlage der Welterfahrung«
197
198
Ruderale Texturen
Gründen eine Zwischenstellung ein: Nicht nur ist die Autorin selbst Deutsch-Polin, der Roman nimmt sich darüber hinaus auch eines deutsch-polnischen Themas an, wenn er nicht nur die Umsiedlung der Deutschen aus Schlesien, sondern vor allem die Vertreibung der Ostpolen nach Schlesien in den Fokus rückt. Indem der Roman die Geschichte von Flucht und Vertreibung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs aus der polnisch-ukrainischen Grenzregion Galizien in die deutsch-polnische Grenzregion Schlesien erzählt, widmet er sich einem Abschnitt der mitteleuropäischen Geschichte, der in der deutschsprachigen Literatur bislang kaum thematisiert wurde. Die in Schlesien angesiedelte Familie des Großvaters und andere im Dorf lebende Polen stehen hier metonymisch für die vielen Menschen, die die Grenzgebiete zur Ukraine, zu Weißrussland und zu Litauen zwischen 1943 und 1946 verlassen mussten. Damit weist der Roman einen doppelten Blickwinkel auf: Er berichtet von den deutsch-polnischen wie auch von den polnisch-ukrainischen Grenzgebieten.16 Die so entstehende doppelte Perspektive auf die Zeit gegen bzw. nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs spiegelt die Ereignisse diesseits und jenseits des Flusses Bug, dem im Roman als Grenzlinie eine besondere Rolle zukommt, ineinander und erweitert sie überdies um die Erfahrungen des Holocaust, die dem Geschehen als Subtext unterlegt sind.17 Der Text rückt weniger, wie etwa noch die Werke der zweiten Generation, die Auswirkungen von Flucht und Vertreibung oder die Situation der Flüchtlinge in der neuen Heimat in den Mittelpunkt, sondern beschreibt das Ereignis selbst und seine Wideraneignung und Neuperspektivierung durch die Enkelgeneration. Er berichtet auf diese Weise in deutscher Sprache von einer polnischen Erfahrung, wobei sich hinsichtlich der beiden Grenzregionen Parallelen abzeichnen, die sich vor allem über das Motiv der ›verlorenen Heimat‹ verbinden lassen. Der Begriff der ›verlorenen Heimat‹ meint den Verlust eines konkreten Raums mit starken politischen, historischen und kulturellen Assoziationen – konkret die Gebiete des früheren deutschen Ostens, das heißt Schlesien, Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Danzig und Pommern, aus denen mehr als sieben Millionen Deutsche gegen Ende des Zweiten Weltkriegs fliehen mussten oder vertrieben wurden. Janesch erweitert diese (auch literarische) Topografie nun und fügt der ›verlorenen Heimat‹ des ehemals deutschen Ostens die ehemals galizischen Gebiete hinzu. Das Mittel, das sie dazu verwendet, ist nicht neu: Eine Vielzahl zeitgenössischer Texte greift in diesem Zusammenhang auf den Magischen Realismus zurück. Inwiefern sich in diesem Fall beinahe von einem Trend sprechen lässt, die verlassenen Räume
16
17
(Wilpert 2001: 330f.). Die Bezeichnung wird üblicherweise für eine seit dem 19. Jahrhundert entstandene, im ländlichen Milieu bzw. in einer spezifischen Region oder Provinz angesiedelte Literatur verwandt (vgl. ebd.: 331). Katzenberge kann somit auch unter dem Stichwort border poetics gelesen werden, siehe dazu MayChu (2010). Unter border poetics versteht May-Chu eine bestimmte kulturelle Praktik, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Grenzen nicht nur als ›Trennlinien‹ am Rande von Erzählungen, sondern auch als komplexe und relevante Orte im Zentrum eines Narrativs fungieren können. Diese Ambiguität der Grenze wird in den Texten nun als solche hervorgehoben: »Narratives that apply this practice tell stories not only about a border; rather, they use the actual topographic and geopolitical border site as a staging ground to explore more universally oriented figurative borders and border crossings« (May-Chu 2016: 351). Zu der übergreifenden Bevölkerungsverschiebung, die sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs vollzog, siehe Ther/Siljak (2001).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
Ostmitteleuropas im Rekurs auf magisch-realistische Schreibweisen zu erkunden, lässt sich an drei Beispielen knapp skizzieren.
Magisch-realistische Erkundungen des Ostens Der Protagonist des bereits erwähnten Debütromans Everything is illuminated des US-amerikanischen Schriftstellers Jonathan Safran Foer begibt sich auf die Suche nach einem in der Shoah vernichteten jüdischen Shtetl namens Trachimbrod. Dabei greift Foer auf den Magischen Realismus als ein narratives Mittel zurück, um, auch durch zahlreiche literarische und mythologische Anspielungen, ein komplexes Erzählwerk zu erschaffen, das das jüdische Galizien und seine Zerstörung nachzeichnet und zugleich aus der Erinnerung heraus neu erschafft. Die Suche nach Trachimbrod werde, so konstatiert der Komparatist Werner Nell (2010: 459), »zum Muster und Thema eines ebenso reflexiven wie zugleich mit Narrativen und Mythen, postmodernem Slapstick und historischer Tragik angereicherten Romanwerks, einer Familien- und zugleich Epochengeschichte des jüdischen Galiziens und seiner Zerstörung«. Die ukrainische Autorin Maria Matios wiederum erzählt in ihrem Roman Darina, die Süße (2013; ukrainische Erstveröffentlichung 2003) die Geschichte eines kleinen Dorfes im südlichen Grenzland der Ukraine. Das Dorf, Mittel- und Kreuzpunkt, Geschichts- und Erinnerungslandschaft sowie Spielball territorialer Kräfte, wird zur Kulisse, vor der die Identitätssuche der Ukraine und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet werden. Der Roman schreibt sich über die dörflich-periphere Welt durchaus kontrovers in die gegenwärtigen Erinnerungsdebatten ein und trägt zur Erweiterung des Erinnerungsdiskurses bei. Das magisch-realistische Setting und die seltsam intensive Naturverbundenheit der scheinbar stummen Protagonistin Darina dienen Matios als Möglichkeit, Tabuthemen aufzugreifen und das transgenerationelles Erbe von Ausgrenzung und Nicht-Kommunikation in den Fokus zu rücken. Auch die polnische Autorin Olga Tokarczuk greift in ihrem Roman Taghaus, Nachthaus auf den Magischen Realismus als eine Möglichkeit zurück, Vergangenheit und Gegenwart im Erzählen auf besondere Weise zusammenzuführen. Die namenlose weibliche Erzählerin befindet sich in Nowa Ruda, einem Dorf in Niederschlesien, aus dem die deutsche Bevölkerung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs fliehen musste. Das Gebiet um Nowa Ruda wird als ein mythischer Ort entworfen, der mit der Außenwelt verbunden und zugleich von ihr getrennt, in der Historie verankert und zugleich ohne jegliche Zeit ist. Nowa Ruda ähnelt in diesem Sinne einem anderen berühmten Dorf der Literaturgeschichte. Die Aufhebung der Zeitstruktur, die unscharf werdende Trennlinie zwischen Leben und Tod, Traum und Realität sowie die Existenz einer Art von Amnesie, lassen es in die Nähe des aus Gabriel García Márquez Roman Hundert Jahre Einsamkeit bekannten Dorfes Macondo rücken. Tokarczuk entwirft in dieser Traditionslinie einen heterotopen Mikrokosmos, der mit verschiedenen Grenzentwürfen arbeitet. So liegt Nowa Ruda nicht nur an der tschechischen Grenze, die als Orientierungs- wie Referenzpunkt in Erscheinung tritt, sondern weist auch eine unsichtbare interne temporale Grenze auf, die das Gebiet irgendwo zwischen der deutschen Vergangenheit und der polnischen Gegenwart verortet. In einem Aufsatz zur zeitgenössischen polnischen Literatur bemerkt Irene Sywenky (2013: 76): »It is
199
200
Ruderale Texturen
this transhistorical collision of two national presences, languages, and cultures that dominates both Nowa Ruda’s living collective memory and the space of forgetting and non-memory.« Wie auch Janesch widmet sich Tokarczuk dem Nexus zwischen Raum und Mensch und einer damit zusammenhängenden symbolischen Dimension des Raums. Dabei werden mögliche magische Dimensionen der Realität reflektiert und an räumliche Konfigurationen zurückgebunden. Auch in Taghaus, Nachthaus spielt die Suche nach einem Verständnis für die Vergangenheit eine Rolle. Der Text zeigt den Versuch, sowohl die eigene Herkunft als auch den Ort, an dem man sich gegenwärtig befindet, zu verstehen. Sywenky (2013: 79) konstatiert in diesem Zusammenhang: »The memory landscape is complex, multilayered, and confusing; memory is a palimpsest where one needs to negotiate successive layers of meanings and interpretations.«18 Taghaus, Nachthaus widmet sich der Betrachtung dieses Palimpsests der Erinnerung, dem Abtragen der verschiedene Schichten von Bedeutungszuschreibungen und legt dabei nicht etwa eine unterste Schicht frei, sondern zeigt Nowa Ruda als einen (Erinnerungs-)Ort multipler Wahrheiten und ineinander verschränkter Perspektiven auf Vergangenheit und Gegenwart. Die Auswirkungen der Vertreibung werden dabei immer wieder unter Einbezug magischer wie übernatürlicher Elemente erzählbar gemacht.19 Auch Katzenberge entwirft nun einen Ort, an dem verschiedene Lesarten der Wirklichkeit gleichzeitig bestehen können. Diese Perspektiven werden im Folgenden näher betrachtet und mit den im Roman verhandelten Bevölkerungsverschiebungen um 1945 zusammengeführt. Dabei steht Katzenberge, dies sollte deutlich geworden sein, exemplarisch für ein literarisches Gattungsformat, das sich nach 1990 im Kontext der Beschäftigung mit der ostdeutschen wie polnischen Vergangenheit herausbildete und sich durch eine Affinität zu magisch-realistischen Erzählformaten auszeichnet.
6.2.
Rückerinnerungen
Katzenberge arbeitet mit den Erinnerungen des Großvaters an sein Heimatdorf in Galizien sowie mit Neles Erinnerungen an ihren Großvater und an ihre Besuche bei ihm in Schlesien. Darüber hinaus wird die Reise- bzw. Fluchtbewegung der beiden gegenläufig parallelisiert. Zwischen diesen beiden Erinnerungssträngen spannt sich ein Diskursfeld auf, in welchem Konzepte wie Heimat, Erinnerung, Familie und Erzählen verhandelt werden. Im Folgenden gilt es daher, zunächst die narrative Struktur des
18
19
Auch Tokarczuks Roman Ur und andere Zeiten (dt. 2000, poln. Prawiek i inne czasy, 1996) arbeitet mit verschwimmenden Grenzbezügen zwischen Realität und Imagination bzw. Erinnerung und Historie. Prawiek ist sowohl Ortsname als auch Verweis auf eine Ur-Zeit, eine Zeit vor der Zeit (vgl. Egger 2014: 77). Eine der vielen Protagonistinnen nimmt die Funktion eines Mediums ein, das die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft transzendieren kann. An dieser Stelle sei ein weiteres literarisches Beispiel erwähnt: Auch Anna Boleckas Roman Der weiße Stein (dt. 1998, poln. Biały kamień, 1994) nutzt die magisch-realistische Erzählweise, um die untergegangene galizische Welt des Großvaters darzustellen und zugleich das auch nach 1990 wieder aufgekommene Identitätsparadigma zu hinterfragen (vgl. dazu auch Nell 2010: 457).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
Romans genauer zu betrachten, um anschließend die mit dem Heimatbegriff verknüpften Praktiken und Reflexionen in den Blick nehmen zu können. Hier zeigt sich, dass im Kontext der neuen Grenzlandliteratur von einem generationellen Wechsel in Bezug auf die Haltung gegenüber der ›verlorenen Heimat‹ gesprochen werden kann. Das eher statische Heimatkonzept der Großelterngeneration – Heimat als etwas, das nur an einem konkreten geografischen Ort erfahren werden kann – weicht einem eher emotionalen und fluideren Heimatverständnis. Heimat wird nun nicht mehr als etwas verstanden, das vorgegeben ist (und demensprechend auch verloren werden kann), sondern als etwas, das gefunden und angeeignet werden muss. Heimat manifestiert sich nicht mehr als ein physischer Ort, vielmehr zeigt sie sich in Geschichten und Erinnerungen. Dieses Verständnis von Heimat wird in den diskursiven und räumlichen Praktiken der dritten Generation deutschsprachiger Autorinnen und Autoren, zu denen auch Sabrina Janesch gehört, reflektiert und auch in Katzenberge aufgegriffen.
6.2.1.
Zwischen Bug und Berlin: verschränkte Bewegungslinien
Der Roman beginnt mit dem Besuch der Protagonistin Nele auf dem Friedhof, kurz nachdem sie von ihrer Reise in die Ukraine zum Heimatdorf der Großeltern zurückgekehrt ist. Der Besuch am Grab des Großvaters löst einen Erinnerungsstrom aus, der einerseits von Neles Reise von Schlesien zu ihren Verwandten in Ostpolen und in das ehemalige Dorf ihres Großvaters berichtet und gleichzeitig, hier wechselt die autodiegetische Perspektive in eine heterodiegetische Erzählhaltung, die Erinnerungen des Großvaters wiedergibt. Diese werden mit der formelhaften Wiederholung ›Großvater sagte‹ eingeleitet und im Präsens wiedergegeben. Die Darstellung funktioniert insofern über ein Wechselspiel von Basiserzählung (Gegenwart) und Analepsen (Vergangenheit). Die Handlung des Romans spielt sich auf zwei Zeitebenen ab: Die erste bildet die Beschreibung der Flucht des Großvaters Richtung Westen, die zweite die Schilderung von Neles Reise in den Osten. Die Beerdigung des Großvaters wird »zur zentralen Achse der Geschichte« (Dubrowska 2015: 167) und dient zudem als eine Art Rahmenhandlung. Janesch inszeniert die Bewegung durch den Raum dabei in zwei Richtungen: Die in Wolhynien und Ostgalizien zwischen 1943 und 1944 stattfindenden Massaker führen zur Vertreibung der Polen durch die Ukrainer, woraufhin Neles Großvater vor seinen ukrainischen Nachbarn nach Westen flüchten muss, während die Enkelin hingegen mehr als 60 Jahre später Richtung Osten, in das galizische Heimatdorf ihres Großvaters reist. Dabei wird Neles Reise nicht nur als familiäre Spurensuche inszeniert, überdies wird das Erzählen, wie auch in vielen anderen Werken der gegenwärtigen ›Enkel-Literatur‹, durch den Aufbruch der jungen Protagonistin, die der Geschichte ihrer Familie nachgeht, erst eigentlich motiviert.20 Im Mittelpunkt des Romans steht Neles Großvater Stanisław Janeczko, den sie liebevoll Djadjo nennt und der ihr, wenn sie ihre Sommerferien bei den Großeltern ver-
20
So wird bspw. auch in Katerina Poladjans Roman In einer Nacht, woanders (2011) das Erzählen durch den Aufbruch der Protagonistin Mascha motiviert, die das Haus ihrer verstorbenen Großmutter in Russland verkaufen soll. Mascha erlebt dort eine fremde, dörfliche Welt und entdeckt, wie Nele, ein Geheimnis.
201
202
Ruderale Texturen
bringt, von galizischen Teufeln, Dämonen und anderen magischen Wesen erzählt. Er gleicht in dieser Hinsicht förmlich einem »Märchenonkel« (ebd.: 166), ein Bild, welches durch die Anapher ›Großvater sagte‹ noch verstärkt wird. Diese Formulierung firmiere, so bemerkt Hans-Ulrich Treichel (2012: 40), als »cantus firmus« des Romans. Indem die Erzählung immer wieder mit ›Großvater sagte‹ einsetzt, wird der Fokus auf den Beginn von Erzählungen und die Kraft von Anfangsworten gerichtet. Gleichzeitig stellt der Roman den Akt des Erzählens selbst heraus, indem er mit verschiedenen, wechselnden und immer wieder neu einsetzenden Perspektiven arbeitet und deren gegenwärtige Kontexte berücksichtigt. Wenn Nele die Geschichten ihres Großvaters an den Leser weitergibt, lässt sich häufig ein Wechsel von indirekter Rede zu autonomen Sequenzen feststellen; lange Abschnitte weisen eine interne Fokalisierung auf und beinhalten darüber hinaus Informationen, die Stanisław Janeczko nicht an seine Enkeltochter weitergegeben hat. So wird beispielsweise von einer schicksalshaften Begegnung zwischen ihm und seinem Bruder Leszek erzählt, von der Nele nie erfahren hat. Generell wechseln sich Abschnitte, in denen Nele von ihren eigenen Erfahrungen auf ihrer Reise berichtet, mit solchen ab, die mit ›Großvater sagte‹ beginnen. Katzenberge ist nicht in Kapitel unterteilt und lässt die einzelnen Handlungsstränge ineinander übergehen. Für diese Erzählstruktur hat Florian Rogge (2015: 285f.) einen produktiven Analyseansatz vorgeschlagen. Um die verschiedenen Stimmen im Roman zu fassen, nimmt er folgende Einteilung vor: Die Ich-Erzählerin Nele tritt sowohl als handelnde als auch als erzählende Figur auf und nimmt somit eine Doppelrolle ein. Als homodiegetische Erzählinstanz ist sie Teil der von ihr erzählten Welt und berichtet zugleich, als heterodiegetische Erzählerfigur, von den Erfahrungen des Großvaters. Um Nele als Erzählinstanz von der reisenden Nele abzugrenzen und noch weiter innerhalb der Erzählerfunktion zu differenzieren, unterscheidet Rogge, in Anlehnung an die Erzähltheorie von Matias Martinez und Michael Scheffel zwischen drei verschiedenen Stimmen Neles: Sie erlebt (Stimme 1), kommentiert (Stimme 2) und verfügt zugleich über die Stimme des Großvaters (Stimme 3), dies allerdings unter der Prämisse, dass seine Geschichte nicht von ihm selbst, sondern von seiner Enkeltochter erzählt wird. Durch diese Unterscheidung lässt sich auch die Erzählstruktur des Romans verdeutlichen: Während sich die auf Reisen befindende Nele an einem Ort aufhält, berichtet die erzählende Nele von Erlebnissen des Großvaters an eben jenem Ort und kommentiert ihr eigenes Verhalten zugleich. Diese Erzählstruktur gipfelt schließlich in Neles Ankunft in Żadżarie Wilkie beziehungsweise dem nun ukrainischen Zastavne, während zugleich von der Geburt des Großvaters berichtet wird. Die beiden erinnerten Bewegungslinien treffen sich jedoch bereits zuvor an verschiedenen Punkten. Besonders eindrücklich zeigt sich die Engführung der beiden Reisen an der Überquerung des Flusses Bug, der von Nele und ihrem Großvater von jeweils unterschiedlichen Seiten überschritten wird. Um sich vor den Übergriffen der Ukrainer in Sicherheit zu bringen, muss Janeczko den Bug, der die Demarkationslinie zwischen Polen und der Ukraine bildet, zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen passieren, denn »[ö]stlich von seinen Ufern sei alles, was Polnisch sprach, Freiwild gewesen« (K 236). Die Überquerung des Flusses dient als Zeichen des Bruchs mit der zurückgelassenen Heimat und bildet ein narratives Mittel, das das Geschehen punktuell verlangsamt. Am Fluss angekommen, ist Janeczko zu erschöpft, um diesen zu überqueren. »Allein die Masse
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
der Menschen, die nach ihm kam, schob ihn in Richtung der Sandbank, die unter der Wasseroberfläche hinüber auf die andere Seite führte.« (K 236) Der Großvater bleibt am Ufer stehen und beobachtet die den Fluss überquerenden Menschen. Durch diese Beobachtungsposition des Großvaters wird die Dichotomie zwischen einer vertrauten und einer fremden Welt im Text inszeniert. Während er auf der heimisch-vertrauten Seite noch klar einzelne Menschen erkennen und verschiedene Äußerungen, besonders laute Warnrufe, identifizieren kann, ist am anderen Ufer, welches »im Dunkeln« (K 237) liegt, alles nur noch schemenhaft zu erahnen. Dort »schmiegten sich nasse Menschen aneinander« (K 237), deren Körper und Stimmen mit der Dunkelheit verschmelzen: »Leise drangen ihre Stimmen herüber, einige lösten sich und gingen los, tiefer hinein in die Dunkelheit.« (K 237) Dieser Übergang zwischen vertrautem und fremdem Bereich wird durch eine konkrete Gefahr verstärkt: Nicht wenige der Flüchtlinge ertrinken bei ihrem Versuch, das rettende Ufer zu erreichen: »[G]eklatscht hatte es und geplanscht, und dann nichts mehr« (K 241). Die Beschreibungen der visuellen und akustischen Wahrnehmungen erzeugen eine Atmosphäre der Spannung und Angst. Der Bug kann insofern auch als eine Schwelle im Bachtin’schen Sinne verstanden werden: Nach Bachtin stellt die Schwelle einen »von hoher emotional-wertmäßiger Intensität durchdrungene[n] Chronotopos« (Bachtin 2014: 186) dar. Das Wort ›Schwelle‹ verknüpfe sich oftmals »mit dem Moment des Wendepunkts im Leben, der Krise, der das Leben verändernden Entscheidung«, ebenso wie »mit dem Moment des Zauderns, der Furcht vor dem Überschreiten der Schwelle«. In der Literatur sei dieser Chronotopos daher, so Bachtin, »immer metaphorisch und symbolisch« zu verstehen. Von besonderer Relevanz erweise sich in diesem Fall auch die Zeit; sie sei »im Grunde genommen ein Augenblick, dem gleichsam keine Dauer eignet und der aus dem normalen Fluß der biographischen Zeit herausfällt« (ebd.). Janeczkos Zögern, seine Furcht vor der Überquerung der Grenzlinie sowie die gleichzeitig lange und doch kurze Zeitspanne, die er am Ufer des Flusses verbringt, lassen den Bug als Schwelle par excellence erscheinen. Als Janeczko schließlich das andere Ufer erreicht hat und zurückblickt, sieht er hinter dem Fluss die Sonne aufgehen. Die Formulierung »[i]rgendwo dahinter« (K 242) verweist deutlich auf die Distanz, die nun zwischen ihm und seinem Heimatdorf liegt. Offensichtlich werden hier zwei unterschiedliche Bereiche entworfen, die durch den Bug voneinander abgegrenzt werden. Der Fluss fungiert in seiner Liminalität auch als »Linie«, die einen Raum innerhalb ihrer Grenze entwirft, der »als ›unser eigener‹, als ›vertraut‹, ›kultiviert‹, ›sicher‹, ›harmonisch organisiert‹« gilt. Demgegenüber steht »der Raum ›der anderen‹ […], der als ›fremd‹, ›feindlich‹, ›gefährlich‹ und ›chaotisch‹« (Lotman 2010: 174) betrachtet wird.21 Janeczkos Überschreitung dieser Grenzlinie beinhaltet somit alle Elemente, die nach den einschlägigen Überlegungen des Literaturwissenschaftlers und Semiotikers Jurij Lotman einen ›sujethaften‹ Text kennzeichnen. Nicht nur teilt der Bug das ›semantische Feld‹ in ›zwei komplementäre Untermengen‹ auf, auch zeigt sich die Grenze zwischen diesen beiden Mengen als ›permeabel‹ und kann vom ›Held‹ der Erzählung infolgedessen überquert werden (vgl. Lotman 2012: 542f.). Die beiden Bereiche unterscheiden sich dabei nach den von Lotman festgelegten Kriterien: 21
Zu Lotmans Grenz- und Semiosphärenbegriff sowie v.a. zur Bedeutung der Grenze als Übersetzungsmechanismus siehe Lotman (2010: 163-290, 2012) sowie Frank (2009).
203
204
Ruderale Texturen
Es lässt sich in topologischer Hinsicht etwa ein Unterschied zwischen hell und dunkel feststellen, semantisch wird der Gegensatz zwischen vertraut und fremd markiert und topografisch handelt es sich nicht zuletzt um die Grenze zwischen der Ukraine und Polen. Das Erreichen der anderen Flussseite entspricht einem Eintritt in ein ›semantisches Antifeld‹. Die Überquerung des Bugs, so zeigt sich deutlich, wird insbesondere durch klare Raumsemantiken als dramatisches wie traumatisches Ereignis inszeniert, das mehrere Seiten einnimmt und die Unmöglichkeit einer Rückkehr deutlich vor Augen führt. Für Nele, die mit den Erzählungen ihres Großvaters vertraut ist, stellt die Überquerung des Bugs 60 Jahre später eine symbolische Handlung dar. Ihr eigenes Überschreiten dieser Grenze wird daher noch einmal geschichtsträchtig inszeniert. Als sie den Fluss erreicht, schlägt Nele eben jenen Ton an, den sie zuvor als ›reisejournalistisch‹ ablehnte: »Schwarzes Wasser. Sonnenspiel auf den Wellen, Strudel, die ihnen entgegenliefen, Sandbänke, die wie Finger in den Fluss hineingriffen.« (K 234) Diese verklärte Beschreibung des Grenzflusses wird allerdings durch die beinahe slapstickartige Szene konterkariert, die sich im Anschluss daran entfaltet. Nele verlässt überstürzt den Transporter, in dem sie die Grenze, einige Meter vor dem Bug überquert hat, und versucht, den Fluss zu erreichen. Sie schlägt sich »seitlich ins Dickicht«, will sich »an den Zweigen der Weiden entlanghangeln« und verliert schließlich den Halt, »fiel auf die Seite, schlitterte einige Meter nach unten und prallte gegen einen Baumstamm« (K 235). Das bedeutungsvolle Erlebnis des Großvaters findet seine Entsprechung in einer komischen Episode. Nicht nur die den Fluss überschreitende Figur ist eine andere, auch Zeit und Ort sind nicht mehr dieselben. Durch diese Gegensätzlichkeit gelingt es dem Text jedoch, beide Szenen gleichberechtigt nebeneinanderzustellen; bei den Erlebnissen von Großvater und Enkeltochter handelt es sich um zwei verschiedene Realitäten, die, gerade weil sie als diametral entgegengesetzt entworfen werden, auf die jeweiligen Figuren und Zeitumstände zurückverweisen. Der Roman inszeniert an dieser Stelle selbstkritisch die Unmöglichkeit eines Reenactment der Vergangenheit, denn die damalige Schwelle ist heute keine mehr. An die Stelle des reißenden Flusses tritt der geregelte Grenzverkehr und das, worüber Nele schließlich stolpert, ist ihre eigene Vorstellung von dieser Grenzlinie, das heißt ihre durch die Erzählung des Großvaters angeregte Imagination des historischen Ortes. Der Text widersetzt sich durch die kontrastierenden Szenen einer naiv-pathetischen Vergangenheitsaneignung und zeigt, dass die Erlebnisse des Großvaters weniger an realen Orten, als in der Vorstellungskraft nachempfunden werden können. Die am Beispiel der Überschreitung des Bugs verdeutlichte narrative Struktur führt zu einer starken Verbindung zwischen den beiden Reisen und Generationen und kreiert eine Dynamik, die Erinnerungen bei der Erzählerin auslöst und zugleich den Plot vorwärtsbewegt. In der Figur Neles entwirft der Roman eine prototypische Heldin, durch die die verschiedenen Räume – Deutschland und Polen beziehungsweise Galizien und Schlesien – vereint und in einem Narrativ zusammengeführt werden. Nele wird als eine Figur konzipiert, die durch ihre Biografie schon immer mit nationalen und kulturellen Grenzen konfrontiert ist, während sie diese zugleich transzendiert. So bemerkt ihr Großvater, dass sie »beide Teile vereinte, von drüben, von jenseits der Oder, und von hier« (K 27) und verweist damit auch auf eine Position zwischen der vormodernen Welt
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
der Großeltern und der postmodernen Berliner Existenz. Auf der Reise in die Ukraine befindet sie sich schließlich im doppelten Sinne zwischen dem Osten und dem Westen, als Deutsch-Polin zwischen Bug und Berlin. Doch nicht nur Neles Biografie dient der Zusammenführung disparater Elemente. Durch die Verbindung der gegenwärtigen Reise mit den Erinnerungen des Großvaters, stellt der Roman eine Verbindung zwischen der ersten und dritten Generation her, die zwei Zeitebenen ineinander verschränkt und eine Art ›nachempfundene Erinnerung‹ erzeugt. Den Anfangs- bzw. Endpunkt der beiden Bewegungen durch den Raum bildet neben dem schlesischen Friedhof das narrativ figurierte Galizien. Dieses nimmt in Katzenberge verschiedene Funktionen ein. Galizien stellt erstens einen Handlungsort des Romans dar, an den beide Handlungsstränge geknüpft sind. Es tritt zweitens als eine Grenzlandschaft in Erscheinung, die durch die Nennung realer Ortsnamen sowie die Bezugnahme auf den Fluss Bug eine ungefähre Verortung ermöglicht und dadurch einen gewissen Realitätseffekt herstellt. Diese Grenzlandschaft, so beobachtet Rogge (2015: 284), zeichne sich durch ihre Zusammengehörigkeit ebenso wie durch ihre Desintegration aus. Das Geburtsjahr des Großvaters verweist hier bereits auf die Ambiguität, die dem Mythos Galizien22 durchgängig unterlegt ist: 1920 existierte das Kronland der Habsburger Monarchie, auf welches sich der Name historisch bezieht, bereits nicht mehr, Galizien gehörte zu diesem Zeitpunkt, das heißt nach dem polnisch-ukrainischen Krieg, der zuvor um Ostgalizien entstanden war, offiziell zu der neugegründeten Republik Polen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es Teil der Ukraine, worauf der Roman explizit Bezug nimmt: »Man redet plötzlich von einer neuen Aufteilung, einer Ukraine, und dass Polen ganz wo anders sein wird.« (K 228) An der Änderung des Ortsnamens (aus dem polnischen Żdżarie Wielkie wird das ukrainische Zastavne) wird dieser Umbruch noch einmal verdeutlicht. Ein dritter Aspekt ergibt sich aus der damit verbundenen Verlusterfahrung des Großvaters, die Galizien im familiären Diskurs eng an die Erfahrung von Flucht und Vertreibung knüpft. Galizien wird so zu einem imaginären Raum, der im Laufe der Handlung verschiedene Funktionen erfüllt: »Galizien als Tabu, Klischee und Ursprung der Familiengeschichte« (Rogge 2015: 285), als ein Raum, der sowohl positiv (romantisch-verklärend) wie negativ (grotesk-abwertend) konnotiert ist. Dabei verweisen die Ortsangaben und Landschaftsbeschreibungen nicht nur auf einen konkreten Raum, sondern nehmen auch eine poetologische Funktion ein, da die Geschichte des Großvaters nicht chronologisch wiedergegeben wird, sondern räumlich organisiert ist. So bilden die Landschaftsbeschreibungen »das Scharnier, das die beiden Handlungsebenen miteinander verbindet« und »ermöglichen so die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (ebd.). Indem der Text immer gerade jenen Abschnitt der Geschichte
22
Zum ›Mythos Galizien‹ und den verschiedenen Facetten dieses populären Imaginationsraums siehe bspw. Hüchtker (2002) sowie Nell/Kożuchowski (2018). Hüchtker (2002: 83) konstatiert hinsichtlich der heterogenen literarischen Darstellungen: »Gemeint ist ein Arkadien polyethnischer Toleranz und exotischer, aber menschlicher Armut, besonders geprägt von den als fremd empfundenen chassidischen Lebenseinstellungen und religiösen Riten. Das Galizien der Literatur wird als verklärtes Gegenbild zur elenden, von nationalistischen Gegensätzen und antisemitischer Gewalt geprägten Realität wahrgenommen, aber auch als eine seltsame, wirklichkeitsentrückte Welt, in der Armut und Toleranz zugleich utopisch und vergangen wirken«.
205
206
Ruderale Texturen
des Großvaters erzählt, der räumlich dort angesiedelt ist, wo sich Nele gerade befindet, verschränkt er die beiden Reisen ineinander und blendet zwei verschiedene Zeiten übereinander. Diese »Pluritemporalität« (Achim Landwehr) ermöglicht es, Gegenwart und Vergangenheit zusammenzudenken und miteinander zu verknüpfen. Und nicht nur in Galizien, auch in Schlesien werden die beiden Wege zusammengeführt. Schlesien, so bemerkt der Literaturkritiker Jörg Magenau (2011), werde hier zum »Schnittpunkt, ein Ort der Ankunft aus entgegengesetzten Richtungen in Raum und Zeit«, zum »Ort der Begegnung von Großvater und Enkeltochter«. Diese Begegnung, so ist hinzuzufügen, meint allerdings nicht nur die gemeinsam verbrachten Sommer, sondern ebenso den kurzen Augenblick auf dem Friedhof, mit dem der Roman sein Ende findet. Nele bewegt sich, chronologisch betrachtet, von der Gegenwart in die Zukunft, während sie gleichzeitig die Geschichte ihres Großvaters von der Gegenwart zurück in die Vergangenheit erzählt. Die beiden Biografien treffen sich im Jetzt der Gegenwart und überschneiden sich in eben jenem Moment, in dem Nele die von ihrer Reise mitgebrachte galizische Erde auf das Grab der Großeltern legt.
6.2.2.
Verlorene und neu-imaginierte Heimat: diskursive und räumliche Praktiken
Am Beispiel der Ankunft der Großeltern in Schlesien führt der Roman die Schwierigkeiten der Flüchtlinge vor, sich in der Fremde zu orientieren. »Großvater sagte, als man ihn zum ersten Mal nach Schlesien gebracht habe, sei er beinahe erstickt. Die Viehwaggons, in denen man ihn und die anderen Bauern vom östlichen Ende Polens gen Westen verfrachtet hatte, seien über und über mit Brettern zugenagelt gewesen. […] Wir wussten nicht, wohin wir fahren, sagte Großvater, wohin sie uns bringen würden.« (K 22) In dem Dörfchen Osola, das, wie der Text Auskunft gibt, bis vor kurzem noch den deutschen Namen Ritschedorf trug, übernehmen die Vertriebenen die von der deutschen Bevölkerung zurückgelassenen, als fremd empfundenen Höfe.23 Der Roman greift hier bekannte Stereotype auf. Insbesondere die penible Ordnung der deutschen Dörfer wird an verschiedenen Stellen erwähnt: »So gründlich musste der Eifer der deutschen Bauern gewesen sein, dass nicht einmal der Krieg die Ordnung der Felder hatte zerstören können: Wie mit dem Lineal waren die Kanten gezogen« (K 33f.), bemerkt der Großvater. Auch die Bauweise unterscheidet sich von der galizischen Heimat: »Die verputzten Backsteinhäuser ähnelten einander, als hätten alle Bauern sie nach demselben, akkuraten Plan gebaut und in immer gleichen, genau ausgemessenen Abständen voneinander
23
Die neue Heimat des Großvaters, das oberschlesische Dorf Morzęcin Mały hat ein reales Vorbild. Es ist von einer Hügellandschaft umgeben, den sogenannten ›Katzenbergen‹ (poln. Wzgórza Trzebnickie). Dieser Höhenzug liegt zwischen der Oder im Südwesten und der Barycz im Norden, nördlich von Wrocław. Im Deutschen existieren neben den Bezeichnungen Katzenberge oder -gebirge noch verschiedene andere, die sich auf den Ort Trebnitz beziehen, wie etwa Trebnitzer Gebirge (vgl. Wyrzykiewicz 2013: 116).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
aufgestellt.« In Galizien hingegen hätten »die Häuser alle unterschiedlich ausgesehen« (K 44). An dieser Passage lassen sich zwei Aspekte illustrieren. Die Darstellung des deutschen Dorfes als ein penibel geordneter und akkurat ausgerichteter Raum verweist erstens – dies ist der Subtext des Romans – auf die der Vertreibung der polnischen Bevölkerung vorausgegangenen nationalsozialistischen Verbrechen. Besonders deutlich wird dies an einer Bemerkung der Großmutter Maria: »Jeder der blutroten Backsteine saß millimetergenau auf dem anderen, getrennt nur durch eine immer gleiche fingerbreite Mörtelschicht, die von der gleichen Farbe war wie frisches Knochenmark. Ihr fiel es schwer zu glauben, dass die Wände des Stalls von Menschenhand konstruiert worden waren, so makellos und schnurgerade ragten sie empor. In Galizien hatte man von den Wänden wenig gesehen; die Schilfdächer hatten fast bis auf den Boden hinunter gereicht und die ungleichmäßig behauenen Steine verdeckt.« (K 103) Die ›blutroten‹ Backsteine und die Mörtelschicht mit einer Farbe wie ›frisches Knochenmark‹ lassen sich als Hinweis auf die Gräueltaten der Nationalsozialisten und das in Oberschlesien gelegene Konzentrationslager Auschwitz verstehen. Das Adjektiv ›frisch‹ fungiert in diesem Zusammenhang als ein zeitlicher Marker: Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Vertreibung der ostpolnischen Bevölkerung und der Ankunft der Großeltern in Osola ist kaum Zeit vergangen. Mit der dichotomen Schilderung – gleichmäßig versus ungleichmäßig, gleich versus unterschiedlich – rekurriert der Roman darüber hinaus, in durchaus auch problematischer Weise, auf bekannte Stereotype: der deutschen Ordnung wird eine östliche Unordnung entgegengesetzt. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert bestimmte diese Dichotomie die literarischen Diskurse über den Osten. Die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie wurden oftmals als »chaotic, unstructured expanse« (Kopp 2012: 32f.) wahrgenommen, eine Vorstellung, die insbesondere im 19. Jahrhundert zu Kolonialisierungstendenzen führte. Romane wie Gustav Freytags Soll und Haben (1855) zeugen davon. Bevor diese Diskurslinien allerdings mit Katzenberge zusammengeführt werden, lohnt ein genauerer Blick auf die generationellen Unterschiede im Umgang mit der verlorenen Heimat. Daran anschließend lässt sich ein Leitmotiv des Romans genauer fassen, das sich auf den ersten Blick ebenfalls als nicht unproblematisch erweist: Erde zum zentralen Motiv eines solchen Romans zu erheben ist, das bemerkt auch Magenau (2011), »durchaus nicht unheikel, schließlich steht alles Erdige hierzulande in der Traditionslinie der nationalsozialistischen ›Blut-und-Boden‹-Literatur, und muss sich dazu verhalten«. Der Roman, so zeigen die folgenden Ausführungen, überschreibt jedoch sowohl die prekäre semantische Aufladung der Erde als auch die Ost-West-Stereotype mit einer produktiven Neuperspektivierung, die am Ende auf die Entstehung von Geschichten und Geschichte selbst zurückverweist. Den Anfang dieses Prozesses bildet die Ankunft der Großeltern in Schlesien. Katzenberge schildert hier ein sukzessives Heimisch-Werden in der Fremde sowie, damit verbunden, einen besonderen Umgang mit der zurückgelassenen Heimat, der vor allem im Rekurs auf zwei Motive entfaltet wird: einer retrospektiven Imagination der galizischen Heimat als einem mythischen Ort sowie einer starken Erdverbundenheit.
207
208
Ruderale Texturen
Erinnerungspraktiken Die Vertreibung aus seiner galizischen Heimat stellt für den Großvater auch einen Kontinuitätsbruch dar. Um sich in die neuen Lebensumstände und seine neue Umgebung einzufinden, entwickelt er verschiedene Praktiken, die eine Verbindung zwischen Galizien und Schlesien ermöglichen und die Vergangenheit der zurückgelassenen Heimat in der Gegenwart fest verankern. Ausgiebig berichtet der Roman vom Umgang des Großvaters mit der verlorenen Heimat und verdeutlicht so auch die Relevanz dieser besonderen Rückbesinnung für die Großelterngeneration. Drei Aspekte rücken hier in den Fokus: Galizien nimmt in den Erzählungen eine diskursive Funktion ein, indem es als kommunikatives Gedächtnis der Umsiedler fungiert und somit von sozialer Bedeutung ist. Überdies entwickelt der Großvater räumliche Strategien, um auch in Schlesien eine Verbindung zu seiner Heimat aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus lässt sich ein veränderter Umgang der verschiedenen Generationen mit der ›verlorenen Heimat‹ erkennen, welche von der Generation Neles weniger als geografischer Ort verstanden wird, sondern sich in Geschichten und Erinnerungen zeigt und dabei auch auf ein verändertes Nostalgiekonzept verweist. In den Erzählungen des Großvaters wird Galizien auf eine besondere Weise abgebildet. Während er zunächst von den Gewaltprozessen berichtet und so auf die Bilder eines im kollektiven Gedächtnis verankerten Ereignisses rekurriert, bildet sich im Laufe der Erzählung eine Perspektive auf die galizische Heimat heraus, die sich aus mythischen Bildwelten und idyllischen Imaginationen speist.24 Jene zweite Dimension steht in einem engen Zusammenhang mit dem Schmerz der Entwurzelung und dem Gefühl der Abgeschnittenheit von seinem Heimatland, denn Janeczko assoziiert Heimat mit einem konkreten geografischen Raum: »Als Kind hatte Janeczko gedacht, dass sein Körper mit der Erde, auf der er lebte, untrennbar verbunden sei. Es hatte nicht lange gedauert, bis er feststellte, dass das zwar sein mochte, dass man aber trotzdem die Erde verlassen und weiterleben konnte; unter Schmerzen zwar, aber es ging.« (K 29) Auf das Gefühl der Entwurzelung reagiert der Großvater mit den zahlreichen Geschichten, die er seiner Enkelin Nele erzählt. An diesen Rückblicken zeigt sich das magisch-realistische Repertoire des Romans, zugleich wird beinahe prototypisch die rückblickende Idealisierung von Heimat vorgeführt. Indem Janeczko sein Heimatdorf immer wieder heraufbeschwört, überführt er es in eine neue sprachliche Form, die sich durch ihre
24
Die Darstellung der verlorenen Heimat als ein arkadischer Ort außerhalb der Zeit findet sich bereits in Texten der 1950er Jahre. So entwirft etwa Siegfried Lenz’ Erzählung So zärtlich war Suleyken (1955) die masurische Landschaft als ein verlorenes Paradies mit der Aura einer geschichtslosen Zeit, aus der Flucht und Vertreibung ausgeklammert werden. Die später folgende Textsammlung Der Geist der Mirabelle (1975) zeichnet ein ähnliches Bild von einem kleinen Dorf an der Ostsee. Dieser Umgang mit der Vergangenheit lässt sich auch an der literarischen Darstellung Ostpreußens aufzeigen. Namowicz (1993) verdeutlicht, inwiefern in Literatur und Kunst mit den Imaginationen einer vorindustriellen Welt gearbeitet wird, die ein von Nostalgie geprägtes Idyll evozieren und dabei schwere Arbeit und interkulturelle Konflikte ausblenden. »Als rückwärtsgewandte Utopie«, so Namowicz (1993: 85), »wurde hier eine Heimat heraufbeschworen, die es nie gegeben hat.« Diese Tendenz zur einseitigen Darstellung erfährt allerdings in den 1970er Jahren eine Korrektur, u.a. im Kontext einer kritischen Heimatliteratur. Dies zeigt bspw. Lenz’ Roman Deutschstunde (1968).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
ständige Verfügbarkeit auszeichnet. Die sprachliche Erinnerung geht dabei auch mit der Ersetzung dessen einher, was sie adressiert und benennt. In seinen Erzählungen erschafft Janeczko ein arkadisches Idyll und stilisiert das Dorf Żdżary Wielkie zu einem mythischen Ort. Dieser Ort, so berichtet er, sei »von so hohem Weizen umgeben gewesen, dass er im Hochsommer kaum zu erkennen war« (K 250), dort gäbe es »Brote, so groß wie Wagenräder, und meterlange geräucherte Welse und Zander« (K 251) und der fruchtbare Boden verwandele Arbeit in »ein bloßes Schauen-nach-dem-Rechten […], denn die Saat, einmal ausgebracht, entwickelte sich von alleine in so einem Tempo, dass man unmöglich die gesamte Ernte in die eigenen Scheunen einfahren konnte« (K 253). Diese Fruchtbarkeit des Bodens lässt nicht nur den Weizen sprießen: »In den Wäldern gäbe es Steinpilze, so groß, dass, wer es schaffte, sie vom Humusboden abzuernten, sie als Regenschirme geschultert nach Hause tragen konnte.« (K 253f.) Die hier vor allem durch den Verweis auf die Fruchtbarkeit des Bodens entworfene Idylle lässt sich mit Bachtins Konzept des idyllischen Chronotopos noch einmal genauer fassen. Bachtin versteht darunter die »Wiederherstellung des vorzeitlichen Komplexes und der Folklorezeit« (Bachtin 2014: 160), die das Leben »organisch an einen Ort – das Heimatland« zurückbindet. Diese »räumliche Mikrowelt ist begrenzt und genügt sich selbst« (ebd.), sie wird durch die »Einheit des Ortes bestimmt, durch die jahrhundertelange Bindung des Lebens der Generationen an einen einzigen Ort« (ebd.: 161, Herv. i.O.). Die von Bachtin herausgestellte Beschränkung der Darstellung auf »einige wenige grundlegende Realitäten des Lebens« findet sich in den Schilderungen des Großvaters ebenso wie »die Verquickung des menschlichen Lebens mit dem Leben der Natur, der einheitliche Rhythmus beider«. Żdżary Wielkie ist geprägt vom »zyklischen Zeitrhythmus« (ebd.) der Idylle. Ergänzt werden diese idyllischen Elemente in Katzenberge durch märchenhafte Bilder: Geschichten über die in den »Wälder[n] und Flüsse[n] Galiziens« lebenden »Geister, Dämonen, Teufel, Hexen und Waldfeen« (K 71) kreieren einen ebenso unheimlichen wie besonderen Ort. Janeczkos Geburt wird mit einer weiteren fantastischen Geschichte verknüpft: Die Hebamme sei verspätet eingetroffen, da sie sich »in einem Dickicht aus Weizen und Roggen« verirrt habe, sie sei »auf einen Raben getroffen, der ihr die falsche Richtung gewiesen habe, und schließlich sei sie […] in Krawcze herausgekommen, wo der eigentümliche Clan der Gelbbäuche lebte« (K 250). Durch ihre Behauptung, »dass die Gelbbäuche sie aufgehalten und gezwungen hätten, ein Fest mitzufeiern und auf dem Tisch zu tanzen« (K 250), wird die Episode noch einmal mehr ins Fantastische überführt und dient, zusammen mit den »knöcheltief im Blütenweiß« (K 251) der Akazienbäume vor dem Haus wartenden Verwandten und Nachbarn und den angeblich mit Zauberkräften ausgestatteten ›Zigeunern‹, der wunderbar-märchenhaften Ausstaffierung des dörflichen Mikrokosmos hinter dem Bug. Der ›meterhohe Weizen‹ grenzt diesen besonderen Ort ein und schützt ihn.25 Die in der Gattung der Idylle oftmals angelegte Idee einer prekären Harmonie ist allerdings auch diesem galizischen hortus conclusus nicht äußerlich. Sie zeigt sich im Falle
25
Wenig später wird das Bild des schützenden Weizens noch einmal aufgerufen, wenn Janeczko sich auf der Flucht in diesem versteckt. Der Weizen verbirgt ihn vor den »Stimmen über dem Feld« und den »ukrainische[n] Rufe[n]« (K 238).
209
210
Ruderale Texturen
der Erzählungen des Großvaters in einem kategorischen Ausschluss der Außenwelt26 und gründet gleichzeitig in einem verklärten Blick auf das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien. In Żdżary Wielkie lebten in der Erinnerung des Großvaters »auf kleinstem Raum Polen und Ukrainer eng beieinander und sprachen beide Sprachen« (K 254). Bei Janeczkos Geburt wurden daher »im Wechsel ukrainische und polnische Lieder« (K 251) gesungen. Ex post wird so ein idyllisch-verklärtes Bild der Vergangenheit gezeichnet.27 Besonders die immer wiederkehrende Wendung ›Großvater sagte‹ eröffnet einen Raum, in dem Galizien zu einem Gedächtnisort mit symbolischer Aura stilisiert wird (vgl. Telaak 2015: 302).28 Die konstante Verwendung des Konjunktivs rückt diesen Raum nicht nur in die Ferne, sondern macht auch noch einmal die Vermittlungsposition deutlich, die Nele einnimmt. Die Lebensdaten des Großvaters, 1920 bis 2007, verweisen auf den ein Jahr vor dessen Geburt stattfindenden polnisch-ukrainischen Krieg und evozieren die Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen. Das Bild der in Harmonie zusammenlebenden Dorfbewohner klammert überdies die zwischen 1943 und 1944 in Wolhynien und Ostgalizien stattfindenden Massaker aus, bei denen die Ukrainer die Polen aus diesen Regionen vertrieben.29 Kurz: Schon bei der Geburt Janeczkos ist sein galizisches Dorf kein Ort des Friedens mehr, ein Zustand, der sich bis zu dem im Roman erwähnten Pogrom nicht ändert.30 Unter Rückgriff auf Elemente des Magischen Realismus wird so eine retrospektive Idylle erzeugt, die letztlich magisch, nicht aber realistisch ist. Indem Janeczko seine Heimat als einen idyllisch-zeitlosen Ort jenseits aller geschichtlichen Zeit entwirft, ermöglicht er sich selbst jedoch die Vorstellung von einer Rückkehr.31 26 27
28
29
30
31
Zu einer ausführlichen Gattungsgeschichte und -definition der Idylle siehe Böschenstein (2010). Die Wiederaneignung des ›Mythos Galizien‹ zeigt sich u.a. auch in den Briefen Paul Celans. Dieser stilisiert seinen Geburtsort Czernowitz zu einer rückwärtsgewandten Utopie und einem humanen Refugium, wenn er am 06.02.1962 an seinen in Czernowitz gebliebenen Freund Gustav Chomed schreibt: »Ach weißt Du, ich wollte, ich wohnte noch dort – nicht nur die Töpfergasse war … menschlich.« (Celan/Chomed 2010: 17) Chomeds Antwort an Celan soll hier nicht unerwähnt bleiben: »Die Töpfergasse, liebes Paulchen, mit all dem, was in, auf und um ihr war – die gibt es schon lange nicht mehr. ›Это было давно и неправда‹ heisst es sehr treffend auf Russisch. Es ist nur noch eine Erinnerung, die in – einigen – Herzen lebt.« (Celan/Chomed 2010: 21f.) Die emotionale Besetzung der Töpfergasse – die hier auch als pars pro toto für das Buchenland steht – wird von Chomed darüber hinaus problematisiert und auf eine Zeit ante bellum rückbezogen, wenn er schreibt: »Die Tragödie unseres Lebens ist nicht die, dass die Töpfergasse verschwunden ist. Die Tragödie liegt darin, dass es sie eigentlich gar nicht gegeben hat, ausser in unserer Vorstellung« (ebd.). Telaak (2015: 302) bezieht sie hier auf Pierre Nora und dessen Definition der ›Gedächtnisorte‹. Sie hält fest, Galizien werde »zum genuinen ›Gedächtnisort‹: ausgestattet mit einer ›symbolischen Aura‹, ohne ›Referenten‹ in der Wirklichkeit«. Zu den realhistorischen Hintergründen des Pogroms siehe Kochanowski (2001): »In 1942 Ukrainian nationalists began their campaign of ethnic ›purification‹ in Volhynia (Wołyń) and eastern Galicia, a campaign that reached its peak in 1943-1944« (ebd.: 137). Den positiven Konnotationen des Buchenlands stehen bereits vor dem Zweiten Weltkrieg kritische Äußerungen entgegen. Rose Ausländer etwa spricht nicht nur von Märchen und Mythen, sondern, in ihrem Gedicht Bukowina II, auch von einer »entzweite[n] Zeit« (Ausländer 2001: 17) und der jüdische Dichter Itzik Manger nennt die Bukowina das »Land des klassischen Antisemitismus« (zit. n. Gal-Ed 2004: 326). Auch Winkler spricht diesbezüglich von einem »psychological coping mechanism« (Winkler 2013: 91).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
Diese verklärte Darstellung der zurückgelassenen Heimat findet sich nicht nur in der Literatur. In seiner 2012 veröffentlichten Studie The Lost German East: Forced Migration and the Politics of Memory, 1945-1970 arbeitet der Historiker Andrew Demshuk verschiedene kulturelle und mentale Verarbeitungsstrategien der aus Schlesien vertriebenen deutschen Bevölkerung heraus. Demshuks Beobachtungen lassen sich mit Katzenberge zusammenführen und auf den aus Ostpolen geflüchteten Großvater übertragen. Demshuk zeigt, dass viele schlesische Flüchtlinge versuchten, die traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten, indem sie zwei divergente Bilder der Heimat entwarfen. Sie erschufen erstens eine Art ›erinnerte Heimat‹ (Heimat of memory), eine idealisierte Version des verlorenen Ortes (in Katzenberge ein mythischer Ort außerhalb der Zeit und somit auch außerhalb der erfahrenen gewaltvollen Ereignisse), die auf der Geografie der alten Heimat aufbaute und ihre kulturellen Praktiken übernahm. Dieser gegenübergestellt entstand zweitens ein Bild der ›veränderten bzw. transformierten Heimat‹ (Heimat transformed), das die Veränderungen der zurückgelassenen Orte unter der neuen Herrschaft imaginierte.32 Zerstörung, Unsicherheit und Entfremdung bilden zusammen mit einer angenommenen Kulturlosigkeit die Säulen dieser Projektion. Im Laufe der Zeit wurde das Bild der ›veränderten Heimat‹ stärker und zugleich eine Rückkehr immer unwahrscheinlicher, weshalb die Vertriebenen sich in ihre ›erinnerte Heimat‹ zurückzogen und dieser eine stärkere Bedeutung verliehen. Dem Idealbild der erinnerten Heimat kam eine kompensatorische Funktion zu.33 Nach 1945 waren viele der galizischen Landschaften durch Zwangsumsiedlung und Vertreibung, durch neue politische Grenzziehungen und ideologische Besetzungen von der Landkarte verschwunden und die Geschichten, Erfahrungen und Lebensverhältnisse der diese Landschaften bevölkernden Menschen vor allem auch durch den vom nationalsozialistischen Deutschland verübten Massenmord ausgelöscht. Die zurückgelassene Heimat, so zeigt das Beispiel Janeczkos, existierte nicht mehr. Die narrativen Praktiken des Großvaters dienen insofern dem Versuch, die ›erinnerte Heimat‹ in ihrem neuen Umfeld zu etablieren. Indem Janeczko in seinen Erzählungen einen mythischen Ort außerhalb der Zeit erschafft, gelingt es ihm, seine Heimat als einen Ort jenseits der Historie zu imaginieren, der auf diese Weise auch vor den Veränderungen durch die ukrainische Bevölkerung bewahrt bleibt. Obgleich eine Rückkehr nicht möglich ist34 , wird die verlorene Heimat als etwas konserviert, das zwar nur noch als Erzählung, dafür aber unabhängig von den geschichtspolitischen Ereignissen, zu existieren vermag. Die 32
33
34
Demshuks Erläuterung sei an dieser Stelle zitiert: »At the same time that they draw solace from the Heimat of memory, their frail, idealized vision of the past world, they imagined the Heimat transformed, the contemporary Silesia they perceived as destroyed, decaying, and part of a foreign land. For the rest of their lives, they confronted the ever-widening bifurcation of Heimat into these two contrasting and irreconcilable images; they came to prefer residing in memory, because – painful though it was – they steadily came to understand that they could never reside in the real Silesia again« (Demshuk 2012: 5, Herv. i.O.). Auch David Blackbourn (2006: 300) konstatiert hinsichtlich der nach 1945 entstandenen Erzählungen über den deutschen Osten: »The German east remembered by refugee writers was an idealized land, frozen in time.« »Djadjo war nie zurückgekehrt, und niemals war davon die Rede gewesen, dass hinter dem Bug noch eine Welt existierte, in die man fahren oder über die man auch nur nachdenken konnte« (K 96).
211
212
Ruderale Texturen
Erzählung selbst wird zum Heimatsurrogat. Indem er die Vergangenheit im kommunikativen Gedächtnis des Dorfes aufrechterhält, nimmt Janeczko darüber hinaus eine besondere, gemeinschaftsbildende Funktion ein. An seiner Beerdigung heißt es daher, diese sei »kein gewöhnliches Begräbnis eines alten Mannes, sondern ein »Abschiednehmen von der alten Zeit« (K 17). Die Geschichten des Großvaters hätten, so bemerkt Neles Mutter, »alles zusammengehalten« (K 46). Das kommunikative Gedächtnis wird hier personifiziert und nimmt eine bedeutende Funktion für die galizische Gemeinschaft ein: Das Erzählen von Geschichten kann als eine Praktik der Gemeinschaftsbildung verstanden werden. Janeczkos Versuch, eine symbolische Rückbindung zu seiner Heimat aufrechtzuerhalten, zeigt sich allerdings nicht nur in narrativen, sondern auch in räumlichen Praktiken. Die Lage des Hofes, den Janeczko bei der Ankunft in Schlesien auswählt, gleicht, so stellt Nele 60 Jahre später bei ihrem Besuch in Zastavne fest, der galizischen Heimat: »Dies hier war der große Bruder des Waldes in Schlesien.« (K 263) Doch trotz der ähnlichen räumlichen Lage fernab des Dorfzentrums, nähert sich Janeczko seiner neuen Heimat nur langsam an. Der Hof scheint sich seinem neuen Besitzer zu verweigern. Janeczko wird bei seinem ersten Versuch, diesen zu betreten, zweimal verletzt. Das erste Mal ist es ein Brombeerstrauch, der »hinter der Pforte, getarnt als Gestrüpp von Schafgarbe und Melisse […] gelauert und Janeczko […] ans Hosenbein gegriffen und Blut geleckt« (K 55) hat. Der personifizierte Brombeerstrauch erhält hier, wie beispielsweise auch die Kelchblätter in Müllers Niederungen, eine agency und wird zum Gegenspieler des Neuankömmlings. Als heimtückisches Gewächs fungiert er als eine Art Schwelle, die überschritten werden muss. Er symbolisiert damit überdies die Schwierigkeiten der Flüchtlinge, in einem fremden Raum heimisch zu werden. Als Bildmotiv des Magischen Realismus zeigt er ferner, dass die anfangs mit dem galizischen Heimatdorf verknüpfte Wunderbarkeit mit den Großeltern ›mitgewandert‹ ist. Ein zweites Hindernis bildet ein »silbrig-weiß« schimmernder Nagel, der aus der Wand ragt und an dem sich Janeczko bei einem Sturz verletzt: »Das Blut rann ihm an den Schläfen bis zum Kinn hinab.« (K 76)35 Zweimal muss der neue Hofherr Blut lassen, bevor er schließlich die erste Nacht im Hofgebäude verbringen kann. Um sich im Haus der geflüchteten Deutschen heimisch fühlen zu können, so zeigt diese erste Nacht, bedarf es überdies verschiedener Rituale. Janeczko treibt nicht nur mittels ritualisierter Praktiken die bösen Geister aus dem deutschen Haus aus, auch befreit er dieses von den Spuren einer sich den Kulturraum allmählich aneignenden Natur. Im Wohnraum entdeckt er ein »Meer aus Pilzen« (K 63): »Der Wind hatte dünne Schichten Erde in die Küche geweht, die sich auf den Fußboden und den Tisch gelegt hatte. Keinen Fuß hatte er vor den anderen setzen können, ohne ganze Familien von Pilzen zu zerquetschen: gelbliche auf langen Stilen, orangefarbene Schwämmchen, bräunliche
35
Dieser Nagel gehört zum magisch-realistischen Inventar des Romans, er misst »einen guten Fuß und glänzt[] im Sonnenlicht wie Quecksilber«; als der Großvater ihn berührt, zerfällt er jedoch »zu rostigem Staub« und bevor diesen näher untersuchen kann, ist er »auf dem Zementfußboden verschwunden«. Janeczko bringt den Nagel in Zusammenhang mit einem ebenfalls übernatürlich erscheinenden Wesen, dessen Versteck er wenige Meter weiter findet: »Er hatte ein Nest gefunden, das mit schwarzen Krähenfedern ausgekleidet war, in seiner Mitte lagen zwei Schnäbel« (K 77).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
mit schleimigen Kappen.« (K 64) Der wilde Wein wächst »durch das geöffnete Fenster bis weit in den Raum. Seine Ranken hielten das Kanapee und das Nachttischlein eng im Würgegriff«. Die Natur macht sich den Kulturraum allmählich zu eigen; der deutsche Hof erscheint als eine eigenartige Mischung aus peniblem Perfektionismus und sich ausbreitender Morbidität. Hier zeigt sich ein interessantes Paradox: Während die Natur den Eindringling einerseits in Form des Brombeerstrauchs angreift, verwischt sie andererseits die Spuren der deutschen Vergangenheit. Der wilde Wein markiert einen ähnlichen Interimsstatus wie die Ruderalvegetation in den bisher betrachteten Texten; die räumliche Anordnung fungiert auch als eine zeitliche Behauptung: Wo der wilde Wein durch das Fenster wächst, ist die Vergangenheit gleichzeitig noch und bald nicht mehr sichtbar. Es ist hier durchaus von Bedeutung, dass das Fenster geöffnet ist, zeigt es doch an, dass diese Überwucherungsbewegung auf nicht allzu großen Wiederstand trifft. Dies wird im Selbstmord des Hofbesitzers gespiegelt, den Janeczko erhängt auf dem Dachboden findet und zusammen mit einem über der Eingangstür angebrachten Hakenkreuz, das er bereits bei seiner Ankunft von seinem Platz über der Eingangstür abgenommen und »mit dem Gesicht nach unten auf den Boden gelegt« (K 55) hatte, vergräbt. Die deutsche Vergangenheit wird so durch einen polnischen Kriegsflüchtling auf nun polnischem Gebiet vergraben. Erde wird zum Speicherort von Geschichte. Nach diesen Handlungen auf dem Hof widmet sich Janeczko der Umgebung, die er sich durch symbolische Praktiken aneignet. Er verleiht den markanten Teilen des Waldes Namen und macht sich diesen so eigen: »Als Zeichen seiner Anwesenheit formte er kleine Steinhaufen« (K 115). Schließlich bringt er auch die während der Reise in Sicherheit zurückgelassenen Frauen der Vertrieben in das Dorf, damit sie dieses im Sinne der galizischen Bräuche umgestalten.36 Eine ihrer Annäherungsstrategie ist der Versuch, die fremde Gegend und ihre Natur zu ›zähmen‹: »Vor einigen Häusern waren die Rosen auf galizische Weise über Kreuz gebunden« (K 118). Ebenso bilden sie Elemente der zurückgelassenen Heimat im Dorf nach, wenn sie Zäune so hellblau streichen »wie die Zäune tausend Kilometer weiter östlich« und »Strohkränze« (K 118) an die Türen hängen. An zwei Orten lässt sich die zögerliche Aneignung der Galizier besonders gut illustrieren: am Friedhof und am Bahnhof. Die ersten Grabsteine der neuen Dorfbewohner sind »kleiner als gewöhnliche Grabmale, so als wollten sie vortäuschen, Feldsteine zu sein« (K 14). Der Text liefert auch gleich die Erklärung für diese ungewöhnliche Größe: »Die ersten polnischen Trauernden in Schlesien hatten sich nicht getraut, mehr Raum als unbedingt nötig mit ihren Grabmalen einzunehmen.« (K 14) Das Bahnhofshaus in Osola wiederum zeigt sich als Palimpsest der Erinnerungen. Es sähe, so berichtet Nele, aus »wie eine Pappmaché-Hütte: Lagen von alten Geburts- und Todesanzeigen […] bedeckten die Wand. Die Kruste der verstorbenen und geborenen Polen verbarg fast 36
An der Beschreibung der Ankunft der Frauen in Osola werden schließlich noch einmal die Fremdheit Schlesiens und die damit verbundenen Ängste der Flüchtlinge deutlich, wenn Janeczko den Frauen auf der Zugfahrt und über den Lärm des Zuges hinweg von ihrer neuen Heimat berichtet: »Die Frauen hatten ihn gründlich missverstanden und fuhren im Glauben nach Schlesien, es gäbe dort Hundehütten, die größer seien als die galizischen Häuser, Straßen, die mit Rattenschädeln gepflastert waren, und Sümpfe, in denen eine Art Bier schäumte, das man aber nicht trinken konnte, weil es voller Kaulquappen war.« (K 88) Die magische Weltsicht wird hier durch die Imagination der Frauen auf die neue Heimat übertragen.
213
214
Ruderale Texturen
vollkommen den Backstein und die deutschen Buchstaben darunter: Einzig ganz oben, außer Reichweite, sah man die Zipfel der gotischen Lettern« (K 97).
Restaurative Nostalgie37 Der Versuch der Flüchtlinge, in der neuen Heimat Aspekte der alten Heimat zu rekonstruieren, lässt sich an der Beschreibung eines Einrichtungsgegenstands illustrieren, dem innerhalb des Romans ein symbolischer Wert zugeschrieben wird. Im Zentrum der Ankunftserzählung des Großvaters steht die Beschreibung eines Ofens. Dieser, so berichtet der Roman, nähme in der galizischen Tradition eine besondere Rolle ein: »Man begann immer mit dem Ofen, seine Mauern waren die genauesten und stabilsten, die Kacheln sein unverwechselbares Gesicht. Um ihn herum baute man das Haus, das zu seinem Gehäuse wurde.«38 (K 64) Der »unverputzte[] Ofen mit Lehmfront« des schlesischen Hofes erscheint den Großeltern daher als unfertig, weshalb der Großvater bei seiner Ankunft in Schlesien mit manischer Kraft in nur einer Nacht einen galizischen Ofen baut: »Als er sein Nachtwerk beendet hatte, war er so müde, dass er eines von Marias Bündeln als Nackenrolle nahm und sich auf den Ofen schlafen legte. Die gusseisernen Platten waren noch nicht miteinander verschweißt und verrutschten mit einem leisen Schaben unter seinem Gewicht. An seiner Hose klebte Lehm, und der Staub der zerbrochenen Kacheln bedeckte sein Gesicht und sein Haar, so dass er schlafend wie eine Auswölbung des Ofens aussah, eine unerklärliche Vorrichtung, die nötig war für sein Funktionieren.« (K 101) Die Rekonstruktion des Ofens, als einem Symbol der galizischen Heimat, ist für Janeczko beinahe lebensnotwendig; der Ofen stellt eine visuell-materielle Verbindung zwischen den beiden Räumen her und ermöglicht dem Großvater die Vorstellung, noch immer mit der verlorenen Heimat verbunden zu sein. Als zentraler Bestandteil galizischer Häuser avanciert der Ofen zu einem wichtigen Motiv, über das Verschiedenes ausgehandelt werden kann. Winkler (2013: 93) verweist in diesem Kontext darauf, dass der Bau des Ofens auch den deutsch-polnischen Machtkampf verbildliche, den der Roman ansonsten nur marginal streife; indem der Großvater etwas so offensichtlich Polnisches im Zentrum des deutschen Hauses errichte, »ein Monstrum, mit dem man das ganze Haus würde heizen können« (K 102), verdeutliche er seinen Besitzanspruch.39 Der Ofen hat ein »Gesims, das sich trotzig vorwölbte« und erinnert die Großmutter Maria »an die ukrainischen Kastanienbäume«. Überdies wird die Figur des Großvaters hier als eine Ausgeburt galizischen Lebens entworfen, als ein notwendiger Bestandteil des Ofens, 37
38 39
Die Unterscheidung zwischen einer ›restaurativen‹ und ›reflektierten‹ Nostalgie ist Svetlana Boyms Studie The Future of Nostalgia (2001) entnommen. Beide Konzepte werden im Folgenden näher erläutert. »Wenn man von draußen kam, sagte Großvater, und gefragt wurde, wohin man gehe, sagte man nicht: nach Hause, sondern: zum Ofen« (K 64). Spätestens seit dem spatial turn wird der Raum als relevantes Element für die Konstruktion sozialer Ordnungen und Machtstrukturen begriffen. Indem Janeczko die galizische Heimat in Schlesien sorgfältig rekonstruiert, erschafft er auch eine soziale Realität. Zum spatial turn siehe bspw. Frank (2009) sowie Hallet/Neumann (2009a).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
der selbst wiederum als materielle Repräsentation galizischen Lebens fungiert. Als ›unerklärliche Vorrichtung, die nötig war für sein Funktionieren‹, nimmt der Großvater im Dorf eine besondere Rolle ein. Er hält die Gemeinschaft der Vertriebenen zusammen. Eine weitere mögliche Deutung des Ofens sei an dieser Stelle ebenfalls erwähnt. Die Betrachtung des Baus eines polnischen Ofens auf ehemals deutschem Gebiet kommt nicht umhin, auf einen bekannten umgekehrten Vorgang zu verweisen: den Bau deutscher Öfen auf polnischem Gebiet. Die Öfen von Auschwitz, dies klang bereits im Zusammenhang mit den blutroten Backsteinen der Häuser an, sind dem Roman, der sich trotz all seiner magisch-realistischen Losgelöstheit in geschichtsträchtigen Landschaften bewegt, als Subtext unterlegt. Die Schilderung der ›Landnahme‹ durch die Flüchtlinge impliziert noch eine weitere Dimension. Das Leben der Umsiedler ist geprägt von der Angst, die Deutschen könnten zurückkommen und ihr Land einfordern, um, wie Janeczko bemerkt, »ihm das, was er aufgebaut haben würde, wieder wegzunehmen« (K 43). Der damit verbundene Unwille, sich in den deutschen Häusern heimisch zu fühlen, zeigt sich in unterschiedlichsten Ausprägungen: Janeczko »wollte nicht ihre Teller benutzen, ihre Pferde zureiten, von den Früchten der Bäume essen, die sie gepflanzt hatten«. In dieser Abneigung wird auch das Gefühl, etwas moralisch Verwerfliches zu tun, deutlich. Es wird noch einmal metonymisch in dem Ruf Jest-tam-ktoś (dt. ›Ist da wer‹) gefasst, einer Frage, die »auf immer verbunden bliebe mit Schlesien« (K 120). Für die ostpolnischen Vertriebenen stellt die Übernahme der Höfe etwas Unrechtes dar, wie sich an einer Aussage der Großmutter ablesen lässt, die im Zusammenhang mit einem Kuckucksruf bemerkt, »dass sie eigentlich nicht viel anders waren als dieser Vogel, indem sie sich in ein fremdes Nest setzten und von fremder Arbeit zehrten« (K 103).40 Die unsichere Zukunft der Vertriebenen und ihr Leben in fremden Häusern führt zu einem lang anhaltenden Gefühl von ›Unheimlichkeit‹ in der neuen Heimat. In Sigmund Freuds Arbeiten zur etymologischen wie konzeptuellen Nähe der Begriffe ›heimelig‹/›heimlich‹ sowie dem Zusammenfall des ambivalenten Worts ›heimlich‹ mit seinem Gegensatz ›unheimlich‹ wird dieses Gefühl greifbar: »Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich«, beobachtet Freud (1963: 53). In den Gebäuden des verstorbenen Deutschen fühlt sich Janeczko wie ein heimlicher Eindringling. Aus dem Gefühl der Heimlichkeit, des heimlichen Betretens, entwächst für Janeczko ein Gefühl des Unheimlichen. Der Hof macht ihm Angst: »Großvater sagte, in jener Nacht sei er dem Wahnsinn ganz langsam, Schritt für Schritt, davongelaufen, und schließlich habe er sich in den Morgen hinübergerettet.« (K 70) Auch die Figur des
40
Die hier an der Figur Janeczkos dargestellte Erfahrung eines unerlaubten Eintretens in das Haus eines anderen wird in den meisten Werken der neueren Grenzlandliteratur auf verschiedene Art und Weise ausgestaltet. Chwin etwa beschreibt in Tod in Danzig, einem v.a. von Grassʼ Danziger Trilogie (1959, 1961, 1963) inspirierten Roman, die Ankunft von Piotr und seiner Familie in Danzig kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Familie, Umsiedler aus dem Osten, zieht in ein Haus ein, das bis vor kurzem noch einer deutschen Familie gehörte. Sie werden Zeuge, wie zwei polnische Polizisten einen in Danzig zurückgebliebenen Deutschen bedrohen und seine Wohnung plündern. Piotrs Vater ergreift Partei für den Deutschen, woraufhin die beiden Polizisten das Haus verlassen. Hier eröffnet sich ein seltsamer Zwischenraum, in dem zwei Bevölkerungsgruppen aufeinandertreffen, die ihren jeweiligen Status noch für sich definieren und ausloten müssen.
215
216
Ruderale Texturen
sogenannten ›Biests‹ steht, darauf wird zurückzukommen sein, in einer engen Verbindung mit dieser ›Unheimlichkeit‹ der neuen Heimat. In Olga Tokarczuks bereits erwähntem Roman Taghaus, Nachthaus wird eine ähnliche Szene entworfen. Der Text zeigt beispielhaft eine Gruppe polnischer Umsiedler, die in einem kleinen Dorf bei Nowa Ruda die Häuser der vertriebenen Deutschen beziehen sollen. Auch sie haben das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Tokarczuk hat für dieses Gefühl einen Begriff gefunden: Sie bezeichnet es als »Schneewittchensyndrom«. In ihrem Essay Das Schneewittchensyndrom und andere niederschlesische Träume (2014) schreibt sie, dieses Gefühl beruhe »auf dem seltsamen und nicht ganz angenehmen Bewusstsein, dass man den intimen Raum eines anderen betreten hat« (Tokarczuk 2014: 171). Der Begriff alludiert das Gefühl der Märchenfigur Schneewittchen, die vor ihrer Stiefmutter fliehen muss und in das Haus der sieben Zwerge gelangt, wo sie gedeckte Tische und gemachte Betten findet, die jedoch nicht zu ihrer Körpergröße passen. Alles, so schlussfolgert Tokarczuk »war also gewissermaßen in Ordnung, aber nichts passte, alles erschien fremd und seltsam, wie aus einer anderen Dimension« (ebd.). »In dieser Version des Märchens«, heißt es weiter, »an der wir nach dem Krieg beteiligt sind, sind die Zwerge weggegangen und nicht mehr zurückgekehrt, wobei sie uns ihre Zimmer und Gerätschaften, Häuser und Straßen, Hügel und Pfade dagelassen haben, und wir müssen sie nun zu den unseren machen.«
Reflektierte Nostalgie Die autodiegetische Erzählerin Nele ist fortwährend von den Erinnerungen des Großvaters umgeben. Katzenberge zeigt hier am Beispiel einer Großfamilie die Weitergabe von Erinnerungen, wobei besonders der Austausch zwischen Großeltern- und Enkelgeneration in den Vordergrund rückt. Dabei reflektiert der Text die Entstehungsweise von Erinnerungsnarrativen innerhalb eines Bezugsrahmens, der mit Aleida Assmann als kommunikatives Gedächtnis bezeichnet werden kann: Das dörfliche Leben und, spezifischer noch, die leibliche Familie, die für Assmann einen privilegierten Bereich memorialer Transmission darstellt, bilden einen kleinen, mündlichen, generationsübergreifenden wie auch generationsabhängigen Bezugsrahmen, ein »Familiengedächtnis« (Assmann 2006: 22), innerhalb dessen Erinnerungen weiter tradiert werden. Die Erinnerung der Großeltern wird von Nele einerseits vor allem auf einer emotionalen, halbbewussten Ebene erlebt. Schlesien wird für sie zur Erinnerungslandschaft, wenn verschiedene Zeichen (der Nussbaum, der Weg zum Friedhof, der Ofen) einen Erinnerungsstrom auslösen, der sie in die Schilderungen ihres Großvaters eintauchen lässt. Andererseits wird sowohl dieser Vorgang als auch die Funktion des kommunikativen Gedächtnisses zunehmend von Nele reflektiert, die sich auf ihrer Reise in die Ukraine schließlich fragt: »Was, wenn Dämonen, wie Sprache oder Land, vererbbar sind?« (K 181) Sie greift zudem in einer Art mise en abyme-Szene einen Topos der aktuellen Gegenwartsliteratur auf, wenn sie gegenüber ihrer Mutter bemerkt, sie wolle ihre Stelle bei einer Berliner Zeitschrift nicht dadurch riskieren, dass sie »in der Weltgeschichte herumfuhr« und sich auf »sentimentale Spurensuche begab« (K 42). »Spurensuche«, so heißt es an anderer Stelle, »sei unseriös, etwas für Amerikaner und Melancholiker«
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
(K 96), sie selbst wolle nicht klingen »wie eine Amerikanerin auf einem Back-to-theroots-Trip« (K 179). An dieser Aussage lässt sich der in gewisser Weise ironische Erzählduktus des Romans verdeutlichen. Es gibt ganz offensichtlich ein Bewusstsein darüber, dass die sowohl reale als auch imaginative Rückkehr in die einst von den Großeltern zurückgelassene Heimat gerade en vogue ist und dass diese Spurensuche der Enkelgeneration oftmals literarisch aufgearbeitet wird. Die bereits von Beginn an im Text angelegte ironische Brechung eines verklärten Heimatbilds sowie einer klischeebehafteten Spurensuche gipfelt schließlich in Neles Ankunft in Zastavne. Dort muss sie feststellen, dass vom Hof des Großvaters nur noch ein unscheinbarer und verwachsener Kellereingang zu finden ist. Anstelle des erwarteten kleinen idyllischen Dorfes findet sie Häuser »umgeben von etwas maroden, teils noch hellblauen Holzzäunen, an die Rosen gebunden waren«, wobei manche »beinahe vollständig von den Pflanzen überwuchert [waren]« (K 248). Zastavne, das sind verfallene Ruinen und brachliegende Felder. Wie auch in den bisher betrachteten Texten wird hier eine Pflanzenwelt beschrieben, die sich einen einst kultivierten Raum allmählich zu eigen macht. Statt dem Schutz des Weizens, der Nele aus den Erzählungen des Großvaters vertraut ist, findet sich eine übergriffige Natur, die das Dorf nicht abschirmt, sondern allmählich verschwinden lässt. Selbst die Rosen, domestizierte Kulturpflanzen par excellence, verhalten sich in dieser Gegend wie Unkraut und überwuchern die Zäune. Die Lebenswelt des Großvaters wird dem Verfall anheimgegeben und somit auch die Vergangenheit als prekär – da vom Verschwinden bedroht – entworfen. Es bedarf, so zeigen die folgenden Ausführungen, ihrer Überführung in ein Narrativ, das durch Neles Reise allererst gestiftet wird. Das Gefühl von Leere in der langsam verödenden Umgebung wird dabei vor allem durch die Wiederholung des Wortes ›kein‹ entworfen: »Keine Hütte, kein Haus, kein Stall, keine Scheune.« (K 264) Dennoch hat Nele das Gefühl, sie sei »am richtigen Ort angekommen« (K 259). Dieses Gefühl hängt mit der Begegnung mit einer alten Frau zusammen, die das ausgestorben wirkende Dorf nicht nur lebendig macht, sondern durch ihr polnisch-ukrainisches »Sprachgemisch« (K 259) auch dafür sorgt, dass Nele Vertrauen zu ihr und dem Ort fasst. Darüber hinaus entdeckt Nele eine ihr bekannte Motivik: »Girlanden von Klatschmohn und Kornblumen« (K 246), das heißt Elemente einer alten ›galizischen‹ Tradition, die Nele wiederum aus dem schlesischen Osola vertraut ist. »Die Tradition«, so bemerkt sie, »gibt es seit ein paar Jahrzehnten auch woanders. Sie ist nach Westen mitgereist.« (K 247) Neles Ankunft in Zastavne am Ende des Romans wurde an verschiedener Stelle als Demystifikation der ›verlorenen Heimat‹ gelesen. So konstatiert beispielsweise Winkler (2013: 88, Herv. i.O.): »A road trip east allows for the demystification of the verlorene Heimat and its transformation from an idealized physical space that can be symbolically claimed and possessed to an unbound set of intersecting stories and memories.« Der Text legt diese Lesart nahe, kumuliert doch auch auf struktureller Ebene die wundersame Geburt Janeczkos und mithin das Kapitel, welches die meisten fantastischen Elemente beinhaltet, mit Neles Ankunft in dessen Heimatdorf, das dem idealisierten Bild des Großvaters kaum mehr entspricht. Dennoch lässt sich diese Neuperspektivierung der Region auch anders verstehen.
217
218
Ruderale Texturen
Obgleich die letzte Etappe der Reise deutlich vor Augen führt, dass die Enkelin die ›verlorene Heimat‹ der Großeltern nicht mehr finden kann, stellt das Dorf Zastavne einen Ort dar, zu dem ihr eine emotionale Bindung möglich ist. Indem die Protagonistin als rational denkende Journalistin aus Berlin entworfen wird, wird zwar von Anfang an ausgestellt, dass sie die fantastischen Schilderungen des Großvaters nicht als ›Realitäten‹ betrachtet. Doch nicht die Frage nach dem Status der magischen Seinswelt ist das Thema des Romans, vielmehr geht es darum, den Blick des Zeitzeugen auf die Vergangenheit ernst zu nehmen und zugleich einen möglichen Umgang der nachgeborenen Generation damit zu verhandeln. Aus diesem Grund werden die Erinnerung Janeczkos nicht in Frage gestellt, vielmehr werden verschiedene Wahrheiten miteinander kontrastiert und so ein spezifischer ästhetischer Effekt erzeugt: Die magische Vergangenheit des Großvaters und die realistische Gegenwart der Enkelin fallen – so ließe sich pointiert formulieren – in Neles Ankunft in Zastavne zusammen. Die Präsenz der in Zastavne vorgefundenen Erinnerungszeichen knüpft dabei eine neue Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart; das vergangene Żadżary Wielkie und das gegenwärtige Zastavne können nebeneinander bestehen. Der Text findet in der von Galizien nach Schlesien ›mitgereisten‹ Girlande von Klatschmohn und Kornblumen ein Bild für die Verbindungslinie zwischen ihnen. Die Vergangenheit des Großvaters wird so an die Gegenwart der Enkelin gebunden und bleibt zugleich jene erzählte wunderbare Imagination, die Janeczko als Reaktion auf die Ereignisse um 1945 ausgebildet hat. Durch das Ende des Romans wird der Status dieses großväterlichen Bildes noch einmal verdeutlicht: Bei dem Galizien des Großvaters handelt es sich um eine retrospektive Fiktion, die Teil eines narrativen Speichers wird. Hinsichtlich der dritten Generation jedoch lässt sich ein Wechsel im Verhältnis zu einer spezifischen Idee von Heimat beobachten. Diese wird in ihrer Fiktionalität anerkannt und gerade als solche geschätzt. Der konkrete Ort Galizien wird in der dritten Generation, hier ist Winkler zuzustimmen, in verschiedene Geschichten aufgelöst: die Geschichten des Großvaters von meterlangen Welsen, Neles eigene Geschichte von ihrer Reise dorthin sowie die Geschichten der Verwandten oder anderer Dorfbewohner. Während die Großelterngeneration folglich ein eher statisches Konzept von Heimat hatte und diese an einen konkreten geografischen Ort knüpft, entsteht für die Enkel vor allem ein imaginatives Bild von Heimat. Dieser Transformation der Vorstellung von Heimat hat sich unter anderem die Germanistin Friederike Eigler gewidmet. In ihrem Aufsatz Beyond the Victims Debate. Flight and Expulsion in Recent Novels by Authors from the Second and Third Generation (2010) zeichnet sie nach, inwiefern ›Heimat‹ in den nachfolgenden Generationen neu gedacht und konzeptualisiert wird: Anstatt die verlorene Heimat mit einem konkreten, physischen Ort zu verbinden, betrachten diese vor allem individuelle Erzählungen (Mikronarrative) und Erinnerungen als ›Heimat‹. Diese Veränderung lasse sich nicht nur im politischen und individuellen Bereich erkennen, sondern werde auch im Bereich der Literatur deutlich. Vor allem die zweite und dritte Generation erweitere das Verständnis von ›Heimat‹ mit den Mitteln der Literatur. Eigler konstatiert daher
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
einen »shift from a concern with lost places of origin and transgenerational traumatization […] to a concern with reconstructing family history« (Eigler 2010: 88).41 Im Sinne einer von der Slawistin Svetlana Boym vorgenommenen Unterscheidung repräsentieren Nele und ihr Großvater die zwei bereits genannten Nostalgiekonzepte42 : Eine vom Großvater verkörperte restaurative Nostalgie, die auf Mythen und Traditionen gründet, und eine von Nele verkörperte reflektierte Nostalgie, die sich an individuellen Narrativen orientiert und Details und Erinnerungszeichen würdigt (vgl. Boym 2001: 41-55). »Restorative nostalgia«, so beobachtet Boym, »puts emphasis on nostos and proposes to rebuild the lost home and patch up the memory gaps« (Boym 2001: 41, Herv. i.O.). Diese Form der Nostalgie kreise um »collective pictoral symbols and oral culture« (ebd.: 49). Die ›Heimat der Erinnerung‹ (Demshuk) dient in Katzenberge eben jenem Zweck: Sie fördert den Zusammenhalt der ›Umsiedler‹ und erzeugt ein Gefühl von Heimat in der Fremde. Die von Nele verkörperte reflektierte Nostalgie wiederum »is more oriented toward an individual narrative that savors details and memorial signs, perpetually deferring homecoming itself« (Boym 2001: 49). Auf oftmals ironische und humorvolle Art wird so ein Bild der Vergangenheit gezeichnet, das nicht vorgibt »to rebuild the mythical place called home« (ebd.: 50); die Erzählung bleibt »ironic, inconclusive and fragmentary« (ebd.). Als die Protagonistin in Zastavne ankommt, entdeckt sie zwar keine materiellen Spuren mehr, erhält aber dennoch eine Bindung zu der ›verlorenen Heimat‹ aufrecht, die für sie eben nicht mehr an diskursive und räumliche Praktiken gebunden ist, sondern vor allem aus Geschichten und Erinnerungen sowie ein paar Objekten (etwa der Strickjacke des Großvaters, dem Ofen oder auch der Blumengirlande) besteht.43 Nele würdigt Erinnerungszeichen und lässt aus den Bruchstücken ein Narrativ entstehen, das die Vorstellung von Heimat aus ihrer Materialität löst und in eine Vielzahl an Geschichten verwandelt. Indem Nele ihr Handeln reflektiert und hinterfragt, erzeugt sie eine kritische Distanz zwischen den auf struktureller Ebene ineinander übergehenden Erzählungen des Großvaters und ihrer eigenen Reisebeschreibung. Gleichzeitig führt die Reimagination der traumatischen Erfahrung des Heimatverlusts durch die Erzählerin Nele aber auch zu einer Aktualisierung der Vergangenheit. Indem der Text die beiden Reisen ineinander verschränkt und zugleich von den Erfahrungen des Großvaters und der Enkelin berichtet, entsteht eine Bewegung, die die Gegenwart der beiden Generationen übereinander blendet. Bei der Wiedergabe der Erfahrungen Janeczkos handelt es sich allerdings nicht exakt um Erinnerung, sondern um eine Annäherung an eine Erinnerung,
41
42 43
Eigler analysiert die Werke von Tanja Dückers (Himmelskörper, 2003) und Kathrin Schmidt (Die Gunnar-Lennefsen Expedition, 1998) als Vertreter der dritten Generation sowie von Reinhard Jirgl (Die Unvollendeten, 2003) und Christoph Hein (Landnahme, 2004) als Vertreter der zweiten. Auf diesen Zusammenhang hat Winkler (2013: 95) aufmerksam gemacht. Diese Lesart vertritt vor allem Winkler (2013). May-Chu schlägt vor, die neue (demysthifizierende) Perspektive auf Galizien, die sich ab dem Zeitpunkt der Überschreitung des Bugs entwickelt, als die Möglichkeit einer kosmopolitischen Re-Imagination zu verstehen, »a ›critical cosmopolitanism‹ that is based on the (self-)critical reevaluation of the familiar and a reassessment of normative and binary concepts« (May-Chu 2016: 351).
219
220
Ruderale Texturen
die diese in ihrer emotionalen Kraft und mit ihren psychischen Affekten nachzuvollziehen sucht. Die Abschnitte, die mit ›Großvater sagte‹ beginnen, werden immer wieder von Aussagen Neles unterbrochen, die somit eine Distanz zu den Rückblenden herstellt und ihre eigenen Erfahrungen zugleich in diese einschreibt. Das Oszillieren zwischen emotionaler Nähe und Distanzierung von den Ereignissen wird in der Figur Neles somit ausgestaltet, eine Ambivalenz, die von Anfang an in ihrer Figur angelegt ist: Sie vereint eine deutsche »väterliche Seite […], wonach alles genau gewusst und benannt werden sollte« (K 97) und eine polnische »pathetisch[e]« (K 165), die die mystische Welt der Großeltern als Realität anerkennen möchte. Der Text zeigt hier beides zugleich: Die Möglichkeit der Identifikation mit dem Zeitzeugen und die unüberbrückbare Distanz, die diesen von den Nachgeborenen trennt.44 Im Mittelpunkt steht dabei der Vorgang des Erzählens, der beides zulässt: die (auch humorvolle) Distanzierung von der Vergangenheit sowie eine emphatische Identifikation mit dieser. Doch auch Nele hat letzten Endes ein traditionelles Verständnis von Heimat, die sie allerdings an einem anderen Ort findet: Schlesien, das sie mit den Sommern ihrer Kindheit verbindet, und der Großvater, dessen Geschichten sie verinnerlicht hat, bilden eine Symbiose, die den Großvater als pars pro toto Schlesiens entwirft und beide zusammengenommen zu ›Heimat‹ machen: »Schlesien war Großvater, Großvater war Schlesien« (K 16). Nele stellt daher auch keine Verbindung mehr zwischen dem Ofen im Haus des Großvaters und der galizischen Tradition her. Für sie ist der überdimensionierte Ofen mit Schlesien verbunden, er ist die »deutlichste Spur« (K 84) des Großvaters.45
6.2.3.
Erd-Spuren
Die Idee einer ›Spur‹ wird in Katzenberge noch auf eine andere Weise ausgestaltet. Neles Respekt für die Erzählungen ihres Großvaters zeigt sich auch an einer abergläubischen Handlung, die sie an dessen Grab ausführt. Eines der magisch-realistischen Elemente des Romans ist eine kleine Kreatur, die von den Großeltern als ›Biest‹ bezeichnet wird. Dieses Biest sucht die Großeltern in ihrer neuen Heimat in Schlesien heim, woraufhin die Großmutter verschiedene Bannsprüche ausführt. Die sogenannte »dritte Bannung« (K 148) kann jedoch nicht vollendet werden, da die »wichtigste Zutat« (K 142) – galizische Heimaterde – fehlt. Neles Reise nach Zastavne dient daher auch dem Vorhaben, im Kopftuch der Großmutter eine Handvoll galizische Erde ans Grab der Großeltern zu bringen, um auf diese Weise die Bannsprüche der Großmutter durch den Vollzug der ›dritten Bannung‹ abzuschließen.46 Einen weiteren Grund liefert das
44
45
46
Diese Dichotomie hat Marianne Hirsch mit dem Begriff postmemory gefasst. Postmemory sei »defined through an identification with the victim or witness of trauma, modulated by the unbridgeable distance that separates the participant from the one born after« (Hirsch 2001: 10, vgl. dazu auch Hirsch 2008 und 2012). Ihr Cousin, der mit seiner Familie in das Haus des Großvaters einzieht, wird ihn schließlich abreißen: »Nächste Woche kommen hier ein ordentlicher Gasofen und ein Boiler rein […]. Fort mit dem alten Gerümpel« (K 83). Der Roman verdeutlicht hier anhand des Verschwindens materieller Erinnerungszeichen noch einmal die Notwendigkeit des Erzählens von Geschichte(n). Ausschlaggebend für dieses Vorhaben ist Neles Besuch bei einem Zeitzeugen, der ihre Reise mit der galizischen Heimaterde in Verbindung bringt und davon ausgeht, Nele wüsste von den Ritua-
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
Verhalten der Trauergäste bei der Beerdigung des Großvaters. Keiner der Anwesenden greift in die Erde, um ein wenig davon auf den Sarg zu werfen: »Ich hatte mir vorgestellt, dass alle Anwesenden in die Erde greifen und sie fühlen würden, bevor sie sie auf Großvater warfen, jeder Wurf ein Abschied, ein Handschlag« (K 40), bemerkt Nele. Zu diesem Zeitpunkt ergibt sich ein Gefühl des Ungenügens, das erst am Ende des Romans beseitigt wird. Der Symbolcharakter der Erde wird auf verschiedene Weise deutlich. Hier lassen sich drei Bedeutungsfelder herausarbeiten. Eine zentrale Bedeutung erhält die Erde vor allem hinsichtlich der verlorenen Heimat im Sinne einer verlorenen Heimaterde. Dies wird vor allem bei der Ankunft Janeczkos in Schlesien deutlich. Als dieser in die schlesische Erde greift, bemerkt er eine ›Leerheit‹, die er von der galizischen Heimaterde nicht gewohnt ist. »Großvater hatte gesagt, als er zum ersten Mal seine Hand in die schlesische Erde gesteckt hätte, habe er ihr ein Stück entrissen und auf den Handflächen zerteilt. Es sei nichts in ihr gewesen […]. Völlig sauber sei sie gewesen, feinkörnig, locker, steril. Als hätten die Deutschen sie nicht bestellt, sondern gesiebt, Tag für Tag. Dabei müsse Erde doch schwer in der Hand liegen und mit ihrer Feuchtigkeit in die Poren von Haut und Kleidung dringen.« (K 39f.) Erneut wird durch das Bild des Siebens die Penibilität der Deutschen evoziert. Gleichzeitig dient das Bild der unterschiedlich beschaffenen Erde jedoch schlicht der Darstellung eines Gefühls von Fremdheit. Da der Roman hier aus der Perspektive des Großvaters berichtet, rekurriert er zwar auf durchaus problematische Stereotype, bildet aber im Grunde genommen vor allem eine individuelle Empfindung ab. Die schlesische Erde empfindet Janeczko als fremd und körperlich unangenehm, gehört sie doch zu einem unbekannten Landstrich, der mit der galizischen Heimat keinerlei Ähnlichkeiten aufweist: Das »schlesige, schleimige, schissige Schlesien« (K 43) steht dem »Land mit den blühenden Apfelbäumen« diametral entgegen. Es fällt Janeczko dort schwer, »auszuwählen: einen Ort, ein Stück Erde, das ihm zusagte, oder eines, das er nicht ausstehen konnte, das er verabscheuen würde für den Fall, dass die Deutschen wiederkämen« (K 43). Im Motiv der Erde wird der Kontinuitätsbruch, den die Flucht für Janeczko bedeutet, metaphorisch gefasst und so auch eines der zentralen Themen des Romans benannt: Es geht um Fremdheit, die sich auch in einem Leben auf fremder Erde zeigt. Im Bild der gesiebten Erde verweise der Roman auf die, so bemerkt Magenau (2011), »leergeräumte Geschichtslosigkeit der zugewiesenen Heimat«; Erde werde nicht als Ackerfläche entworfen, sondern als ein Element, das die Vertriebenen »mit ihrer eigenen Geschichte erst wieder anreichern müssen, um Wurzeln zu schlagen« (ebd.).47 Aus der Perspektive der Flüchtlinge betrachtet, lässt sich die schlesische Erde insofern mit »Geschichtslosigkeit und Erinnerungsschwund« (Dubrowska 2015: 170) assoziieren. Im Augenblick ihrer Unverfügbarkeit bzw. Nicht-mehr-Verfügbarkeit wird die galizische Erde zuletzt zum
47
len der Großmutter und der fehlenden ›Zutat‹: »Stanisław hat ihnen doch sicher davon erzählt? Es fehlte so wenig, damals… Aber es war unmöglich…« (K 112). In seiner Laudatio nennt Magenau (2011) Katzenberge eine »literarische Landvermessung, Heimatkunde oder besser gesagt: Erd-Kunde«.
221
222
Ruderale Texturen
Symbol: Sie steht für den Verlust ein, den der Großvater und die zusammen mit ihm vertriebenen Polen erleiden mussten und verweist zeichenhaft auf die zurückgelassene Heimat. Dieser Lesart der Erde als Metonymie für die verlorene Heimat lässt sich eine zweite hinzufügen. Die galizische Erde wird ex negativo als fruchtbares Pendant zur fremden Erde Schlesiens eingeführt und geradezu animistisch beschrieben: »Satt war sie und fett, fast zum Verzehr selber geeignet« (K 253). Der Mensch wird als ein Teil von ihr entworfen, während umgekehrt auch die Erde einen Teil des Menschen darstellt. Die hier hergestellte, auch schicksalshafte Verbindung zwischen Mensch und Heimaterde zeigt sich auch an einer Aussage über den Großvater, über den es heißt, er habe sich »mehr für die Erde, auf der er leben würde, entschieden, als für die Familie, in die er hineingeboren wurde« (K 254). Er wird zuletzt, als er sich auf seiner Flucht in den Feldern versteckt, zum »Teil seines Weizens, stimm- und reglose Wucherung des czarnoziem, der ölig schimmernden galizischen Schwarzerde« (K 238). Katzenberge beschreibt hier eine geradezu archaische Erdverbundenheit, die nicht zuletzt in der Reise der Protagonistin ihren Ausdruck findet. An dieser Stelle wird auch das poetische Potential der galizischen Erde deutlich. Als Nele den Bug überquert, greift ihr Reisebegleiter Michał, ähnlich dem Großvater zu Beginn des Romans, in die Erde und sagt: »So eine Erde ist sehr selten, einfach alles kann man auf ihr ziehen.« (K 245) Diese Geste rahmt den Roman und bietet gleichzeitig eine Lesart an, die den fantastischen Schilderungen Janeczkos Realitätsstatus anerkennt. Auf dieser Erde kann nicht nur Weizen gezogen werden, ihr entwachsen auch all die wundersamen Elemente, all jene Dämonen, Geister und phantasmatischen Pilze, kurz: das magisch-realistische Inventar des Romans. Katzenberge greift hier einen bekannten, eng mit Galizien verbundenen Topos auf. So schreibt beispielsweise der in Werbowitz (heute Werbiwzi/Ukraine) geborene Schauspieler Alexander Granach in Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens (dt. 1945): »Ostgalizische Erde ist verschwenderisch und reich. Sie hat fettes Öl, gelben Tabak, bleischweres Getreide, alte verträumte Wälder und Flüsse und Seen und vor allem schöne, gesunde Menschen« (Granach 1987: 7). Auch bei Joseph Roth wird die Fruchtbarkeit der galizischen Erde inszeniert, wenn er in seiner Reportage Reise durch Galizien (1924) bemerkt: »Die Erde ist reich, die Bewohner sind arm.« (Roth 1994: 281) Reich ist diese Erde, so zeigt Katzenberge, eben auch hinsichtlich ihres poetischen Potentials. Sie erweist sich als fruchtbarer Humus der Literatur und dient als Ausgangspunkt der märchenhaften Erzählungen des Großvaters, in denen sie auch überdauert, während das reale Galizien – stilisiert zu einem untergegangenen Atlantis48 – von der Landkarte verschwindet. 48
Atlantis, erstmals von Platon im 4. Jahrhundert als ein Inselstaat im Atlantischen Ozean beschrieben, ist vor allem als Insel unter dem Meer berühmt geworden. »Als Musterstadt, aber auch als moralisches Beispiel für die Bestrafung von Übermut und Machtmissbrauch, ist Atlantis […] immer wieder neu interpretiert, nachgeahmt und diskutiert worden.« (Nell 2012: 16) Die Insel dient insofern als Bild für das untergegangene Galizien. Orlowski (2001: 110) beobachtet ein ähnliches Phänomen im Zusammenhang mit Ostpreußen. Eine Ausstellung in Olsztyn im Jahr 1993, die unter dem Titel ›Atlantis des Nordens‹ 500 Fotos zu Ostpreußen aus der Zeit von 1864 bis 1944 zeigte, speiste diese Formulierung schließlich auch in die polnische Öffentlichkeit ein.
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
Erde, so die dritte vorgeschlagene Lesart, hat jedoch auch einen zutiefst ambivalenten Charakter. Auch die Figur des Biests steht in einer engen Verbindung zur Erde. Es verschwindet für einige Zeit in dieser als Janeczkos und Marias zweiter Sohn Józek zur Welt kommt, der als ein auf schlesischem Gebiet geborener Pole eine besondere Rolle einnimmt. Er übe, so die Auffassung der Großeltern, eine besondere Schutzfunktion aus: »Der Schutz des ersten polnischen Schlesiers, der in diesem Haus geboren wurde.« (K 148) Janeczko berichtet seiner Frau: »Geöffnet habe sie [die Erde] sich und es [das Biest, Anm. J.K.] mit Haut und Haaren verschlungen. Innerhalb weniger Sekunden habe sich die Krume geteilt und wieder geschlossen.« (K 146) Erde, so zeigt diese Szene, birgt auch Geheimnisse und kann Partei ergreifen: »Wer wisse schon, was diese Erde in sich trüge, mit wem sie verbündet sei und mit wem nicht« (K 148), bemerkt die Großmutter.49 Zuletzt kommt der galizischen Erde im Zusammenhang mit den magischen Bannritualen eine bedeutsame Funktion zu und sie wird als »wichtigste Zutat« (K 142) ins Materielle überführt. Dieser Statuswechsel, von einem Symbol zu einem Requisit und einer Zutat, beschreibt einen Transformationsprozess, der einerseits zwar ihre magische Dimension unterstreicht, sie zugleich aber auch in gewisser Weise ironisiert. Besonders die weiteren Zutaten – »neun Tage lang eingelagerter Waldmeister und drei Fingerhüte voll Spucke« (K 142) sowie das Verbrennen von Haaren und Krähen – weisen die Bannsprüche als abergläubische Praktiken aus. Der ambivalente Charakter der ›Zutat‹ wird schließlich auch an dem von Nele am Ende des Romans vollzogenen Ritual deutlich. In Schlesien angekommen, ist von der im Kopftuch der Großmutter transportierten Erde kaum etwas übrig. Es »muss sich die Verknotung des Tuches gelockert haben, und Krümel für Krümel ist unbemerkt auf den Weg von Morzęcin Mały nach Bagno gerieselt« (K 269). Nur ein »schwarzer Schleier« (K 269), eine »haarfeine, schwarze Spur« (K 270) bleibt zurück. Es kann, so legt diese Passage nahe, kaum davon ausgegangen werden, dass die galizische Erde auf dem Grab der Großeltern ihren Zweck erfüllen kann, ist sie doch bei der Rückkehr der Enkelin kaum noch – nur als ›feine Spur‹ – vorhanden. Nele agiert hier wie der Nachbar in einer von Hartmut Böhme in Fetischismus und Kultur (2006) beschriebenen Anekdote. Dort berichtet Niels Bohr, der Gründungsvater der modernen Physik, von einem Mann, der ein Hufeisen über der Eingangstür seines Hauses angebracht hat, das nach einem alten Volksglauben Glück bringen soll. Auf die Frage eines Bekannten, ob er wirklich daran glaube, dass das Hufeisen Glück bringe, antwortet er: »Natürlich nicht; aber man sagt doch, daß es auch dann hilft, wenn man nicht daran glaubt.« (Böhme 2012: 13) Böhme, der ausgehend von dieser 49
Darüber hinaus tritt Erde auch als ein Speicherort in Erscheinung: Der Großvater beerdigt den Vorbesitzer des Hofes in ihr, wodurch Erde zum Geschichtsspeicher wird, die die nationalsozialistische Vergangenheit in sich aufnimmt. Nele wiederum findet bei ihrem Aufenthalt in Wydrza ein vor langer Zeit vergrabenes Päckchen. In dem Päckchen befindet sich Tirschenreuther Porzellan, das die Großmutter ihrer Gastgeber als Erinnerung an ihre Zeit in Deutschland aufbewahrt hat. Diese Spur verweist auf die polnischen Zwangsarbeiter im Dritten Reich und löst zugleich ein Familiengeheimnis: Bei dem Vater des Gastgebers handelt es sich mutmaßlich um einen Deutschen, wie die Widmung auf einem der Teller und das Geburtsdatum nahelegen. Erde und das in ihr Verborgene erweisen sich insofern auch als Schlüssel zur Familienhistorie.
223
224
Ruderale Texturen
Anekdote eine ganze Theorie zum Zusammenhang von Fetischismus und Kultur entwickelt, konstatiert hinsichtlich des Nachbarn, der, obgleich er nicht an die Kraft des Glücksbringers glaubt, diesen über seiner Tür anbringt: »Diese seltsamen Spannungen zwischen Nicht-Glauben und Glauben an die Eigenmacht der Dinge scheint uns für das aufgeklärte Subjekt der Moderne bezeichnend.« (Ebd.: 13f.) Auch die aufgeklärte Journalistin Nele glaubt, zumindest legt der Text dies nahe, nicht an die Kraft der ›dritten Bannung‹. Dennoch bringt sie Heimaterde an das Grab der Vorfahren, so wie der Nachbar Bohrs das Hufeisen aufhängt. Nele glaubt nicht an das Biest und seine Verbannung durch die Heimaterde, handelt aber so, als glaube sie daran und glaubt dadurch, ohne zu glauben.50
6.3.
Vom Trauma zum Tabu
Die Zusammenführung der Erfahrungswelten der beiden Generationen gründet in einer ›narrativen Lücke‹, die durch Neles Reise nachträglich geschlossen und erzählerisch ausgefüllt wird. Als Neles Mutter sie nach der Trauerfeier bittet, in die Ukraine zu reisen, um die Ursprünge ihrer Familie zu ergründen, entspannt sich ein Wortwechsel zwischen den beiden, in dem Nele den Sinn eines solchen Unterfangens in Frage stellt, da doch »alles, was Großvater betrifft, hier in Schlesien ist«, woraufhin die Mutter betont, in Schlesien sei eben nicht alles, »höchstens die Hälfte« (K 42). Diese ›andere Hälfte‹ wurde bislang oftmals mit einem unbewältigten Trauma in Verbindung gebracht, welches durch die Reise der Enkelin versprachlicht und aufgearbeitet werde.51 Im Folgenden soll allerdings gezeigt werden, dass die traumatische Erfahrung der Flucht im Rückgriff auf ein konkretes Bild artikuliert wird, das vor allem in Verbindung zur Großelterngeneration steht: Das sogenannte ›Biest‹ verkörpert das unbewältigte Trauma von Flucht und Vertreibung. Bei der ›anderen Hälfte‹ handelt es sich vielmehr um eine narrative Unabgeschlossenheit: um eine nur zur Hälfte erzählte Geschichte. Diese gründet weniger in einem Trauma als in einem Tabu, das intergenerationell aufrechterhalten wird. Darüber hinaus lässt sich die Interaktion zwischen Mutter und Tochter, als Vertreterinnen der zweiten respektive dritten Generation als ein Strukturmerkmal der eingangs erläuterten Strömung einer ›Enkel-Literatur‹ fassen. Neles muss sich auf ihre Reise begeben, um die Geschichte ihres Großvaters überhaupt erst erzählen zu können. In seiner ersten Nacht in Schlesien begegnet der Großvater einer seltsamen Kreatur: Dem sogenannten ›Biest‹. Dieses zeigt sich ihm »draußen, auf dem Fenstersims, halb verdeckt vom Weinstock« (K 69) und wird durch diese Position sogleich als eine Art Zwischenwesen eingeführt, dessen ›halb verdeckte‹ Gestalt nur unscharf zu erkennen ist. 50
51
Die betreffenden Zeilen bei Böhme (2012: 14) lauten: »Das Hufeisen: Wir wissen schon, aber dennoch … Wir glauben nicht, aber handeln so, als glaubten wir, und glauben dadurch, ohne zu glauben«. Der Philosoph und Psychoanalytiker Octave Mannoni hat für diese seltsame Lage eine sprachliche Wendung gefunden: »›Je sais bien … mais quand mȇme: la croyance.‹ – Ich weiß schon, aber dennoch…: der Glaube/die Glaubhaftigkeit/die Glaubwürdigkeit.« (zit. n. Böhme 2012: 14) Siehe dazu bspw. Winkler (2013) sowie Egger (2014).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
»In dem Moment brach der Vollmond durch die Wolken, und die Augen der zusammengekauerten Kreatur glühten auf. Janeczko machte einen Satz zur Wand und schrie aus voller Kehle: Jesus Christus! Da sei das Ding verschwunden, sagte Großvater, weggesprungen sei es, und im Mondlicht habe er deutlich gesehen, wie groß es war und wie lang und buschig sein pechschwarzer Schwanz.« (K 69) Dieses hier mit Insignien der Schauerromantik ebenso wie mit Elementen des Magischen Realismus ausgestattete ›Ding‹ zeigt sich den Großeltern an verschiedener Stelle, wobei seine Existenz, der magisch-realistischen Erzählweise verpflichtet, weder von den Großeltern noch von der Erzählerin Nele hinterfragt und die Gefahr, die von ihm auszugehen scheint, von allen Figuren ernst genommen wird. Das Biest eröffnet verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, die im Folgenden entlang der Chronologie seines Auftauchens im Roman kurz skizziert werden. Die Kreatur kann erstens mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Verbindung gebracht werden, die in der Erzählung nur durch ein über der Tür angebrachtes Hakenkreuz und den Selbstmord eines im Dorf zurückgebliebenen Deutschen angedeutet wird. Im Zusammenhang mit dem Freitod des Vorbesitzers des Hofes verweist das Biest auf die Relikte der deutschen Bevölkerung, eine Lesart, die durch eine Aussage Janeczkos noch verstärkt wird: »Das sei der Fluch gewesen, der über den Katzenbergen lag, sagte Großvater, und der ihn fortan heimgesucht habe.« (K 69) Im deutschen Dorf, so bekunden auch die anderen Galizier, »spukt es« (K 81). Verfolgt man eine solche Lesart, kommt man nicht umhin, sich zu fragen, ob der rational organisierte Massenmord – jene von Hannah Arendt als ›Banalität des Bösen‹ bezeichnete Nüchternheit des nationalsozialistischen Apparats – durch die Bilder eines koboldähnlichen Wesens und einer Spuk-Metaphorik treffend eingefangen werden können. Hier lohnt ein genauer Blick auf die Intention einer solchen Darstellung: Es geht an dieser Stelle weniger um das grausame Kalkül des NS-Regimes, als um das Gefühl eines Individuums bei seiner Ankunft an einem fremden Ort und eine für ihn unangenehme Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitebenen: Die deutsche Vergangenheit ist im Dorf noch zeichenhaft präsent und verhindert daher den Neuanfang der Flüchtlinge. Die Gespenster müssen sozusagen erst ausgetrieben werden, was die Ankömmlinge auch tun: »Die Männer begannen, an den Toren zu rütteln, Steine gegen Scheunen zu schmeißen, Äste von den Bäumen abzubrechen, zu pfeifen, gegen Pforten zu schlagen, brüllend und schnaufend sich den Eingängen der Häuser nähernd. […] So hatte man in Galizien böse Geister ausgetrieben.« (K 45) Zweitens kann die Kreatur als ein aus Galizien mitgebrachtes Spukwesen verstanden werden, eine Lesart, die im Roman über die Figur der Großmutter Maria hergestellt wird, die über magische Fähigkeiten verfügt. Im Gegensatz zu ihrem Mann scheint die Großmutter zu wissen, wie man mit solchen »Wesen« (K 104) umzugehen habe. Sie schützt ihre Familie mit altem, aus Galizien mitgebrachtem Zauberwissen und führt zwei Rituale aus, wobei ersteres das Verbrennen der von der Kreatur erbeuteten Krähen beinhaltet, letzteres auf einen Sud aus Waldmeister zurückgreift, der als »Schutzwall« (K 142) um den Hof verteilt wird. Durch diesen routinierten Umgang mit übernatürlichen Erscheinungen wird das Biest über Maria mit der galizischen Heimat verknüpft; denn dort, so bemerkt sie, »war es nicht selten vorgekommen, dass man
225
226
Ruderale Texturen
sich hatte wehren müssen gegen die Wesen der anderen Welt« (K 104). Diese ›Wesen‹ werden auf schlesischem Boden nun allerdings modifiziert: Die Erscheinung sei »das jämmerlichste Biest gewesen, das sie jemals gesehen hatte. Dürr war es, mit stumpfem Fell und unsicherem Gang« (K 113). Die Kreatur verkörpert demnach zwar den aus Galizien mitgebrachten Aber- und Volksglauben, dies allerdings in einer abgeschwächten Form. Es zeigt damit einerseits an, dass sich der Glaube an Übernatürliches, als fester Bestandteil der Kultur der Flüchtlinge, auch in der neuen Umgebung entfalten kann, dass sich die Traditionen und Praktiken jedoch andererseits in der zugewiesenen neuen Heimat verändern (müssen). Kurz: Selbst die übernatürlichen Erscheinungen sind den Flüchtlingen hier fremd. Als Inkarnation des unbewältigten Traumas der Vertreibung, das Katzenberge am Beispiel Janeczkos beschreibt52 , erfüllt das Biest drittens eine bildgebende Funktion. In der Kreatur, so ließe sich unter Rückgriff auf die im zweiten Kapitel geschilderte Interpretation magisch-realistischen Schreibens, wie sie sich beispielsweise bei Arva (2008, 2011) findet, formulieren, bündelt der Text die traumatisierenden und unverarbeiteten Ereignisse der Flucht und verweist zugleich auf ihre stete Präsenz im Alltag der Großeltern. Für Arva (2011: 98) ist der Magische Realismus »the artistic process by which the traumatic imagination transfers to narrative memory events that have eluded memory in the first place: the writing mode does not copy reality but reconstructs it by using all of its familiar elements«. Arva geht hier von einem Autor/-innensubjekt aus, das traumatisierende Ereignisse durch die Mittel des Magischen Realismus in die Erinnerung einschreibe. Indem die magisch-realistische Schreibweise als bildgebendes Verfahren fungiere, um ein nicht bzw. kaum darstellbares Ereignis in ein Narrativ einzuspeisen, diene sie der Literatur als Mittel, solcherart Ereignissen zur Darstellung zu verhelfen. Diese autorzentrierte Perspektive lässt sich nun auch auf die Figuren eines Texts übertragen. In Katzenberge ermöglicht dann erst die übernatürliche Gestalt des Biests Janeczko ein Erzählen von der Ankunft in Schlesien und den Erinnerungen an die Zeit nach der Flucht. Indem er von der im Dunkeln lauernden Kreatur berichtet, die erst gebannt werden kann, als er nicht mehr alleine auf dem Hof ist, artikuliert er seine Ängste: die Angst vor dem Neuen, Unbekannten sowie die Angst vor dem von der Flucht Mitgebrachten, denn »Angst«, so äußert sich Janeczko gegenüber seiner Enkelin, »gebühre nur den Dingen, die sich dem Auge entziehen« (K 225).53 Die Problematik einer solchen Interpretation des Magischen Realismus wurde im zweiten Kapitel herausgestellt. An 52
53
Der Roman verdeutlicht u.a. am Beispiel einer Zugreise die posttraumatischen Folgen des Transports von Galizien nach Schlesien. Der Großvater, so heißt es, war »nur noch einmal Zug gefahren: nach Wrocław, um Besorgungen zu machen. Damals hatte ihn die Zugfahrt so aufgeregt, dass man auf halber Strecke anhalten musste, um Stanisław Janeczko aussteigen zu lassen« (K 152). Diese Idee eines ›narrativen Wiederreinholens‹ ist auch aus den Arbeiten Renate Lachmanns zur fantastischen Literatur vertraut. Das Fantastische zeichnet sich laut Lachmann auch dadurch aus, dass es »etwas in die Kultur zurückholt und manifest macht, was den Ausgrenzungen zum Opfer gefallen ist« (Lachmann 2002: 9). In der Fantastik werde »die Begegnung der Kultur mit ihrem Vergessen erzählt« (ebd.: 11). Die fantastische Literatur befasst sich daher auch immer mit dem kulturell und anthropologisch Anderen in seiner doppelten Bedeutung: Als etwas, das an den Rand gedrängt und vergessen wurde und gleichzeitig als etwas Fremdem. Diese Beobachtung lässt sich auch auf den Magischen Realismus übertragen, der die Grenzen zwischen Realismus und Fantastik noch einmal neu und anders in Frage stellt. Das Biest verkörpert, so gesehen, jenes an den Rand
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
dieser Stelle sei lediglich erwähnt, dass eine Interpretation des Magischen Realismus als Ergebnis einer traumatischen Verdrängung in den meisten Fällen zu kurz greift. Auch in Katzenberge ist diese Deutung nur eine unter vielen. An den drei hier skizzierten Interpretationsmöglichkeiten wird deutlich, dass die übernatürliche Figur als ein grenzüberschreitendes Element fungiert. Flucht, Vertreibung, ethnische Säuberungen, Massenmord und Verfolgung stellen Erfahrungen dar, die von den polnischen Galiziern und den deutschen Schlesiern in verschiedenem Ausmaß geteilt werden, weshalb der Text offenlässt, ob es sich bei der Kreatur um ein schlesisches oder galizisches Geschöpf handelt. Diese Unmöglichkeit einer genauen Verortung erscheint durchaus gewollt. Indem das Biest sowohl mit dem schlesischen ›Westen‹ als auch mit dem galizischen ›Osten‹ assoziiert werden kann, trägt es der von Andruchowytsch skizzierten Problematik einer sowohl aus dem Westen wie auch aus dem Osten drohenden Gefahr Rechnung. Katzenberge selbst greift dies auf, wenn es einerseits heißt: »Man flieht immer westwärts! […] Im Osten, sagen sie, zerfällt die Welt zu Staub und Asche« (K 158), während andererseits der Großvater mit dem Westen etwas Negatives assoziiert: »Aus dem Westen kam die Dunkelheit, aus dem Westen waren die Deutschen gekommen.« (K 159) Die östlichen Territorien, jene Bloodlands, wie der Historiker Timothy Snyder den Raum zwischen Russland und Deutschland bezeichnet hat54 , lassen eine genaue Verortung nicht zu. Diese Unsicherheit wird in den erzählerischen Konfigurationen widergespiegelt. Eine vierte Bedeutungsdimension eröffnet sich schließlich durch den Blick auf eine in Katzenberge eher am Rande verhandelte Geschichte. In ihrem Zusammenhang wird die Figur des Biests als ein Relikt aus der Vergangenheit lesbar, dessen Unheimlichkeit in einem düsteren Familiengeheimnis von nahezu biblischem Ausmaß gründet. Auf der Flucht aus dem Heimatdorf soll Janeczko seinen Bruder Leszek getötet haben, so lautet das im Anschluss an die Vertreibung um sich greifende Gerücht. Erst nach Janeczkos Tod wird das Rätsel um das Verschwinden Leszeks gelöst. Die beiden Brüder werden von Anfang an als Antagonisten entworfen, die sich schließlich aufgrund der ukrainischen Gewalttaten entzweien. Der Roman nimmt hier einen Perspektivenwechsel vor: Statt des Opfers rückt der Täter ins Blickfeld. Leszek, der eine ukrainische Frau heiratet, weiß um das bevorstehende Pogrom gegen die polnische Bevölkerung und verrät seine eigene Familie. Janeczko bemerkt auf der Flucht, »dass Leszek Schuhe trug und seinen Mantel« und stellt schnell fest: »So viel Zeit zum Ankleiden hatte er selber nicht gehabt, als die Ukrainer kamen.« (K 188) Als sich die beiden Brüder während der Flucht wiederbegegnen, kommt es zum Bruch zwischen ihnen, woraufhin Leszek seinen Bruder verflucht: »Wenn du dich von mir abwendest, sollst du dein Lebtag von deinen Dämonen verfolgt werden, hier wie anderswo, egal, wo du hingehst.« (K 212) Erneut spielt an dieser Stelle die Erde eine Rolle: »Leszek bückte sich, nahm eine
54
gedrängte ›Andere‹, das Fremde und Ausgegrenzte. Zur Unterscheidung zwischen Fantastik und Magischem Realismus siehe Chanady (1985). Als Bloodlands bezeichnet Snyder (2014) die Gebiete im Osten Europas, die, zwischen Deutschland und Russland gelegen, vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg den Schauplatz sowohl der Mordexzesse der Nationalsozialisten als auch der Bluttaten der Bolschewiken bildeten. Snyder stellt die Verbrechen Hitlers und Stalins in einen Zusammenhang und verortet sie in den östlichen Territorien, die zu Experimentierfeldern von Gewalt und Unterwerfung wurden.
227
228
Ruderale Texturen
Handvoll Erde und schmiss sie in Janeczkos Richtung. Verflucht seist du!« (K 212) Der Bruder verschwindet daraufhin spurlos und die Familie vermutet, Janeczko habe ihn im Wald erschlagen. Hier werden zwei mögliche Lesarten deutlich: Der Konflikt kann als Beispiel für die Zerstörung von Dorf und Familie, folglich der Aufstörung eines kleinen Mikrokosmos durch die ›große‹ Politik verstanden werden oder aber als »Allegorie auf den polnisch-ukrainischen Konflikt […], der im Verlust des alten Galizien resultiert« (Rogge 2015: 289). Das mit einem Tabu belegte Galizien und der vermeintliche Tod Leszeks fallen im familiären Diskurs zusammen. Erst Neles Reise in die Ukraine löst das Geheimnis um Leszeks Verschwinden schließlich auf; sie erfährt, dass er nach der Begegnung im Wald wieder nach Zastavne zurückgekehrt ist.55 Das übernatürliche Phänomen kann insofern zwar dem Bruderzwist zugeordnet werden, der Text lässt die anderen, oben genannten Interpretationsmöglichkeiten allerdings ebenso offen. Eine genaue Zuweisung ist daher nicht nur nicht möglich, sondern würde auch am Text vorbeizielen. Darüber hinaus rückt noch ein weiterer Aspekt in den Fokus: Die Kreatur, und dies wurde bislang noch nicht beachtet, dient fünftens auch als ein poetischer Kunstgriff. Indem das Biest Neles Taten leitet – letzten Endes will sie durch ihre Reise galizische Erde an das Grab der Großeltern bringen, um so das Biest ein für alle Mal zu bannen – nimmt es eine narrative Funktion ein. Die Verbindung der Kreatur zu dem erst gegen Ende des Romans aufgelösten Geheimnis um das Verschwinden Leszeks legt nahe, dass innerhalb der Familie ein Tabu existiert, das den familiären Diskurs über die verlorene Heimat mitbestimmt. Im Zusammenhang mit Leszeks Verschwinden erhält der von Neles Verwandtschaft an verschiedener Stelle geäußerte Satz: »Weil überhaupt noch niemand dorthin gefahren ist« (K 86), mit dem diese Nele von der Reise abhalten will, eine konkrete Bedeutung. Er wurde an verschiedener Stelle als Hinweis auf ein familiäres Trauma gedeutet. So liest man beispielsweise bei Egger (2014: 70): »The fact that Nele is sent on her mission by her mother further emphasises the way different generations are affected by the grandfather’s traumatic experience as much as the protest of other family members against Nele’s embarking on her journey […], which points toward the traumatic gap in memory shared by all, even if in different ways.« Die Vorstellung einer Unvollständigkeit sowie damit verknüpften Lücken in einem meist unzusammenhängenden Narrativ wird hier mit einer Leerstelle in der kollektiven Erinnerung der Familie zusammengedacht. Die Aussage, noch nie sei jemand ›da‹ hingefahren, richtet den Fokus auf einen nicht näher definierten Ort. Verstanden als ein transgenerationelles Trauma, das gerade durch das Schweigen der Familienmitglieder von einer Generation auf die nächste übertragen werde, avanciert diese Lücke im kommunikativen Gedächtnis der Familie so zu einem nicht erzählten und bisher nicht erzählbaren Rest. Diese Deutung erweist sich im Kontext der eingangs geschilderten ›Enkel-Literatur‹ oftmals als korrekt, greift im Falle von Katzenberge allerdings zu 55
Die alte Frau in Zastavne, die deus ex machina-gleich auftritt und Nele von Leszeks Rückkehr berichtet, segnet Neles Erzählung durch ihre Erinnerung wiederum ab und befreit den Großvater von seiner Schuld.
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
kurz. Die in der undefinierten Ortsangabe ›da‹ mitschwingende Dimension einer traumatischen Erfahrung ist zwar einerseits offensichtlich, da sich Galizien hier schließlich als Chiffre für die verlorene Heimat der Großeltern und auf diese Weise als mit den Massakern und ethnischen Säuberungen infolge des Zweiten Weltkriegs verbunden erweist, andererseits gibt der Text jedoch keinen Anlass dazu, auch die nachgeborene Generation als eine traumatisierte zu verstehen. Der Satz ›Weil überhaupt noch niemand dorthin gefahren ist‹ verweist vielmehr, so die hier vorgeschlagene Lesart, auf ein innerhalb der Familie nicht zur Sprache gebrachtes Thema. Während die Erfahrung von Massenmord und Flucht offensichtlich als traumatisierende Erfahrungen für die Großeltern zu gelten hat, lässt sich im Falle des Bruderstreits besser mit dem Begriff des Tabus operieren. Ein Tabu gebietet die Einnahme von Distanz. Es handelt sich um eine psychische Inskription, die Handlungen oder Äußerungen mit einer Art Verbot belegt, ohne dieses allerdings offen zu kommunizieren. Die Geschichte der beiden Brüder steht vor allem deswegen als Tabuthema im Raum, weil das Verschwinden Leszeks nie geklärt wurde und nur vage Vermutungen über sein Verbleiben existieren. Einer der Vertriebenen macht Nele gegenüber Andeutungen über eine »Schuld« (K 111) und ihre Verwandten schärfen ihr vor ihrer Abreise ein, der Bruder sei »im Krieg gestorben« (K 127). Obgleich aus dem kommunikativen Gedächtnis ausgeklammert, ist diese Zeit vor der Ankunft in Schlesien Teil der Familiengeschichte. Im familiären Diskurs fallen ›Galizien‹ und ›Leszek‹ zusammen und bilden so ein undurchsichtiges Konglomerat von Schuld und Verlust, das seinen Ausdruck in der Rede von den ›blinden Flecken‹ findet. Indem Nele diese durch ihre Reise »durch etwas Neues ersetz[t]« (K 47), erzählt sie nicht nur die Geschichte des Großvaters, sondern überschreibt auch jene Betroffenheit, Schmerz und Schuld suggerierenden ›Flecken‹.
6.4.
»Hic sunt dracones«: Semantisierungen des Ostens
Durch die fantastische Darstellung der Regionen jenseits des Bugs und die magische Semantisierung der galizischen Schwarzerde partizipiert Katzenberge an einem bestimmten Diskurszusammenhang, in dem der Osten als wundersamer und zugleich archaischer Raum gefasst wird. Zugleich schreibt sich der Roman in bekannte literarische Traditionen ein. So notiert beispielsweise die aus Czernowitz stammenden Lyrikerin Rose Ausländer (1901-1988) über die Landschaft ihrer Kindheit: »Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein.« (Ausländer 2001: 8) Die an dieser Aussage deutlich werdende Vorstellung eines von wunderbar-magischen Geschichten durchsetzen Raums lässt sich als ein literarischer Topos verstehen, dessen sich die Literatur aus und über diese Landschaft immer wieder bediente. Das literarische Galizien wurde durch sich inhaltlich wiederholende Narrative entscheidend geprägt. Es finden sich zahlreiche Berichte, »die das Kuriose, Märchenhafte und etwas Unheimliche herausstellen« (Ma-
229
230
Ruderale Texturen
ner 2007: 220); Galizien haftet »etwas ›Unheimliches‹, etwas ›Archaisches‹« (ebd.) an.56 Zugleich partizipiert der Roman noch an einem weiteren Stereotyp: an der Vorstellung von einer entlegenen und archaischen Region. An dieser Stelle sei noch einmal auf Joseph Roths Reise durch Galizien verwiesen, in der dieser von einer »weltverlorene[n] Einsamkeit« (Roth 1994: 285) spricht.57 Galizien, eine historische Region, ein mitteleuropäischer Kultur- und Gedächtnisort und ein literarischer Topos zugleich, nimmt in Katzenberge eine zentrale Funktion ein. Die Region fungiert in der Erzählung als historischer Ort der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Polen durch die Ukrainer und wird zugleich zum Referenzpunkt der Sehnsucht nach einer Art Ursprung, die von allen drei im Roman gezeigten Generationen auf unterschiedliche Art und Weise geteilt wird. Als ein ›Gedächtnisort‹ (Pierre Nora) zirkuliert Galizien dabei immer wieder in den Erzählungen des Großvaters. Zugleich ist es zeichenhaft präsent. Dabei arbeitet sich Katzenberge sowohl an den oben genannten Galizienbildern als auch an anderen stereotypen Imaginationen des Ostens ab, die auf verschiedenen Ebenen aufgerufen werden. In den Äußerungen der Figuren wird ein östlicher Raum skizziert, der magisch-wunderbar und wild, barbarisch und gefährlich zugleich ist. Diese Topoi erweisen sich in Katzenberge zwar als Konstruktionen, als Ergebnisse des kommunikativen Gedächtnisses, dennoch bedient sich der Roman beinahe verschwenderisch dieser Bildsprache. Im Folgenden werden diese Darstellungen des Ostens nachgezeichnet und einer kritischen Lektüre unterzogen, um zu zeigen, inwiefern die Semantisierung der Erde auch in einer spezifischen Traditionslinie gründet, die den Osten und seine Erde immer schon als ›anderen Ort‹ betrachtet. Als Nele die Redakteurin der Berliner Zeitschrift, für die sie arbeitet, um Urlaub bittet, um am Begräbnis ihres Großvaters teilnehmen zu können, reagiert diese mit den Worten: »Wie spannend, da bin ich auch mal durchgefahren, da sieht man, wie Deutschland vor hundert Jahren ausgesehen haben muss. Diese ganzen Bauernhöfe. Und die Natur. Wie archaisch.« (K 19) Eine weitere, in ihrer Aussagelogik vergleichbare Szene ereignet sich auch im Haus der schlesischen Verwandtschaft, die auf Neles Absicht, in die Ukraine zu fahren, sehr ungehalten reagiert: »Wohin, in Dreiteufelsnahmen, fährst du?« (K 84) Spöttisch ruft ihr Onkel Szymek: »Sattel das Pferd, wir reiten zurück in die Ukraine, nach Galizien!« (K 11) Die in den Erzählungen des Großvaters
56
57
Zu einem detaillierteren Überblick über dominante Galizien-Narrative in Literatur und Geschichtsschreibung siehe bspw. Hanus/Büttner (2015), Hüchtker (2002) sowie Nell/Kożuchowski (2018). Diese Stereotype finden sich ab dem 19. Jahrhundert, etwa bei Karl Emil Franzos (1848-1904), später u.a. bei Bruno Schulz (1892-1942) und Joseph Roth (1894-1939). Hüchtker (2002: 82) konstatiert: »Im Laufe des 19. Jahrhunderts thematisierten eine Flut von ethnographischer Publizistik, sogenannte Ghetto- und Dorfgeschichten sowie Erzählungen Multikulturalität und Armut.« Gegenwärtig wird der ›Mythos Galizien‹ um die Faszination einer untergegangenen Landschaft erweitert. So inszeniert bspw. Maxim Billers 2013 erschienene Novelle Im Kopf von Bruno Schulz Galizien als unheilvollen Ort. Die im Jahr 1938 in dem ostpolnischen Städtchen Drohobycz angesiedelte Handlung berichtet von dem jüdischen Autor und Zeichner Bruno Schulz, der in seinen Angst- und Wahnvorstellungen auf apokalyptische Weise die Ereignisse des Holocaust kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs imaginiert.
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
angelegte Exotisierung der Region wird hier von den Verwandten aufgenommen und modifiziert: Galizien wird als ein fremder, bedrohlicher Ort entworfen. Neles Familie bringt verschiedene Argumente vor, um Nele von ihren Reiseplänen abzubringen. Diese gründen allesamt in Stereotypen, die mit der Topografie des Landes ebenso zusammenhängen wie mit nationalistischen Vorbehalten. So wird sie vor den Männern der »ehemaligen Sowjetunion« gewarnt, »mit ihren Fellmützen und grimmigen Gesichtern, wie die Wilden« (K 86), ebenso wie vor einer Sagengestalt: »den południcas, den Mittagsfrauen auf den Feldern« (K 85). Überdies gäbe es dort »keine Autobahnen! Keine Straßen! Nichts!« (K 85) Halb spöttisch, halb ernstgemeint, zeigen diese Kommentare ein bestimmtes Verständnis der Gebiete östlich des eigenen Standpunkts: Es wird als wild, zurückgeblieben und von übernatürlichen Wesen bevölkert imaginiert. Diese Vorstellung zieht sich durch den gesamten Roman, denn auch während ihrer Reise nach Zastavne trifft Nele immer wieder auf Personen, die ihren Reiseplänen mit Unverständnis begegnen. Die Fahrkartenverkäuferin in Osola etwa erklärt Nele für verrückt: »Nach Südostpolen fahren zu wollen, wo doch jeder wüsste, dass es dort nichts gäbe außer Nadelwäldern und Wölfen.« (K 93)58 Auch weiter östlich, in Krakau, reagieren die Menschen mit Unverständnis auf Neles Reisepläne. Katzenberge zeigt hier nicht nur die Relativität des Begriffs ›Osten‹ auf, sondern verdeutlicht auch die Assoziationen, die diesen bis heute begleiten. Während der Osten immer weiter in den Osten verschoben wird, werden die stereotypen Bilder zugleich als Projektionen enttarnt. Gleichzeitig arbeitet der Text mit ironischen Überschneidungen. So behauptet Neles selbst aus den im Osten Polens gelegenen Karpaten stammende Tante, dass »von allen primitiven Stämmen in Polen die Galizier die primitivsten seien. Sie habe gehört, dass sie sich angeblich bis heute vor Elektrizität fürchteten« (K 153). Ähnlichen Stereotypen begegnet auch Neles Großvater auf seiner Flucht, wenn beispielsweise zwei Soldaten über die ostpolnische Bevölkerung bemerken: »Wilde seien das, kaum einer artikulierten Sprache mächtig, die zusammen mit ihren Tieren in niedrigen Lehmbauten hausten und Wintern trotzen, die beinahe das ganze Jahr über dauerten.« (K 156) Doch auch Nele selbst ist nicht frei von klischeebehafteten Vorstellungen. Als Kind stellte sie sich Galizien als einen Ort vor, »wo Geister, Dämonen, Teufel, Hexen und Waldfeen ihr Unwesen trieben« (K 71). An diesen heterotopen Ort gelange man, so die kindliche Auffassung Neles, nur durch Zauberkraft, man müsse sich von der »Hexe Baba Jaga entführen […] lassen« (K 71). Die Reiseplanung der inzwischen erwachsenen Nele nimmt diese kindlichen Ansichten in sich auf, wenn sie den Reiseverlauf in den Sand zeichnet: »Und von dort [gemeint ist Wydrza, ein Dorf in dem der Großvater während der Flucht unterkommt, Anm. J.K.] – mit einem kleinen Stöckchen zeichnete ich den Verlauf der Reise in den Sand des Vorplatzes – würde ich den Bug überqueren, die Grenze zur Ukraine, das Ende der Europäischen Union. Hinter den Fluss malte ich ein paar Tannen und einige Drachen mit verkrüppelten Flügeln. Hic sunt dracones, dachte ich; hier
58
Winkler konstatiert: »By repeating these clichés of the East, Janesch plays with the notions of near and far, native and foreign, and also reveals how the new generations have grown accustomed to Silesia and now view the verlorene Heimat as distant and strange« (Winkler 2013: 93, Herv. i.O.).
231
232
Ruderale Texturen
ist die bekannte Welt zu Ende, niemand weiß, was sich hinter dieser Grenze verbirgt.« (K 95) Nele entwirft zwei Räume, die durch eine Grenze, den Bug, getrennt sind. Bei diesem, so zeigen die Geschichten des Großvaters, handelt es sich allerdings um eine durchlässige, eine ›permeable‹ Grenze im Sinne Lotmans. Obgleich sich Nele als rationalen Menschen betrachtet, erwartet sie hinter dem Bug »Schilfinseln« und »Weidenriesen, die ihre Glieder im Wasser kühlen«, »mannsgroße[] Welse darin« sowie »Sandbänke, die in der Sonne leuchten wie Goldschätze« (K 126). Dieser romantisierende Blick wird von der Ich-Erzählerin zugleich kritisch reflektiert: »Ukraine, Ukraine, pochte es heimlich in mir, dort gab es etwas zu erledigen, das so pathetisch und polnisch war, wie ich nie hatte sein wollen.« (K 185) Spätestens ab Wydrza59 , einem Schwellenort par excellence, löst sich die magischzauberhafte Vorstellung Neles allerdings durch ein ›Übermaß‹ an Realität auf. Auf dem Dorfplatz wächst »hohes Gras, ein Betrunkener schlief darin« (K 167), im Teich schwimmt »eine Ente, die aussah, als sei sie dem Rupfen entkommen, halbkahl und kränklich« (K 196) und Neles Gastgeberin trägt »eine ausgestellte Bluse und schwarze Jeans« (K 178), woraufhin Nele mit den Worten reagiert: »Kurz überlegte ich, ob ich enttäuscht war, Wydrza lag schließlich im östlichen Ostpolen, da hätte man erwarten können, dass wenigstens die Frauen noch bestickte Westen und Wollröcke anzogen.« (K 178) Vor allem Michał, ein »Grenzpendler« (Rogge 2015: 291) zwischen Polen und der Ukraine, trägt zur Demystifizierung des Landes bei. Als Nele in Michałs Auto steigt, findet eine Neuperspektivierung der von ihr zuvor als bedrohlich empfundenen Ukraine statt: »Mit seiner fast schon lässigen Routine steht er exemplarisch für den alltäglichen kleinen Grenzverkehr, der sich auch an solchen Grenzen abspielt, die gemeinhin als besonders streng und bedeutsam wahrgenommen werden«, beobachtet Rogge (2015: 291). Die Neuperspektivierung zeigt sich auch in sprachlicher Hinsicht. Nele, die eine »[m]alerisch[e]«, »unverfälscht[e]« und »verzaubert[e]« Landschaft erwartet, berichtet von einer Gegend, die »nass«, »dreckig« und »fremd« (K 196) ist. Während durch die Reise der Enkelin das Bild eines malerisch-fantastischen Ostens folglich sukzessive aufgelöst wird und bei ihrer Ankunft in der Ukraine schließlich ganz verschwunden ist, bleibt die mit dem Verweis auf die übernatürlichen Wesen aufgerufene Möglichkeit einer magischen Welt dennoch bestehen. In anderen Worten: Obwohl der Text zeigt, dass die wunderbare Welt der Großeltern in der Realität nicht existiert, wird ihre Existenz innerhalb der Erzählungen des Großvaters nicht in Frage gestellt.
59
In der von Eigler (2014: 157f.) vorgeschlagenen geopoetischen Lesart des Romans, die sich auf räumliche Konfigurationen und Bewegungen über geografische wie zeitliche Grenzen konzentriert, stellt Wydrza für die Großeltern einen »state of transition in narrative terms« dar: »The characters linger in a spatiotemporal constellation that is suspended between the old and the new Heimat, between the loss of home at a time of war and efforts to establish a new home during a period of relative safety.« Wydrza wird so zu einem chronotopischen Ort, an dem Zeit und Raum ganz im Sinne Bachtins zusammenfallen.
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
Exkurs: Semantisierungen des Ostens Mit dieser Darstellung der Gebiete hinter dem Bug partizipiert Katzenberge an einer Imagination des Ostens, die diesen als einen zugleich wild-gefährlichen, wie auch geheimnisvoll-magischen Raum entwirft und dabei mit durchaus auch problematischen Semantisierungen einer Unstrukturiertheit operiert. Dabei greift der Roman auf eine Traditionslinie zurück, die sich spätestens im 19. Jahrhundert zu etablierten beginnt. Ein kurzer Blick auf die »deutsche Beziehungs- und Wahrnehmungsgeschichte, die sich mit dem Schlagwort vom ›Osten‹ verbindet« (Nietzel 2010: 21) lohnt an dieser Stelle, verdeutlicht diese doch, mit welcher assoziativ wie auch normativ besetzten Kategorie der Roman hier operiert. Als eine Art Effekt verschiedener Praktiken und Diskurse stellt der Osten immer schon eine Projektion der westlich von ihm liegenden Gebiete dar (vgl. Gebhard/Geisler/Schröter 2010a).60 Dass der östliche Raum im 19. Jahrhundert zur Projektionsfläche für den Westen avancierte, hat verschiedene Gründe. Beispielhaft lässt sich dies an den an der deutschen Grenze gelegenen polnischen Gebieten nachvollziehen. Zum einen erwiesen sich die östlichen Grenzen des preußisch-deutschen Herrschaftsgebiets als weitaus weniger stabil und eindeutig als andere Grenzverläufe zu europäischen Nachbarländern, zum anderen wurden die östlich von Deutschland gelegenen Gebiete zusehends als ein »Feld der Ungewissheit, des Konflikts und des Kampfes« (Nietzel 2010: 23) empfunden, ein Eindruck, der eng mit den sich auf polnischem Gebiet ereignenden Staatsbildungsprozessen zusammenhing. Im Anschluss an die preußische Machtpolitik gegenüber dem polnischen Staat und der daran anschließenden Teilung Polens im 18. Jahrhundert konnte zwar infolge der Beschlüsse des Wiener Kongresses erneut ein verkleinertes polnisches Königtum unter russischer Protektoratsherrschaft entstehen, doch führte dies zu Bestrebungen der polnischen Gebiete im preußischen Staatsverband nach kultureller Autonomie und nationalstaatlicher Unabhängigkeit. Zeigten sich vor allem die Liberalen anfänglich noch solidarisch mit jenen Bestrebungen, so wurde schließlich, als die Forderungen nach einem geeinten deutschen Nationalstaat lauter wurden, die »Herausforderung für die preußische Monarchie« zu »einer Frage der Nationalität aller Deutschen« (ebd.). Im Kontext der Frage nach der Rolle des östlichen Europas für die Deutschen etablierten sich vor allem durch Rückgriffe auf die mittelalterliche Geschichte nun Sichtweisen, die auf eine Ostsiedlung der ›Deutschen‹ zwischen dem 9. und dem 14. Jahrhundert zurückgriffen und die Migrations- und Siedlungsbewegungen jener als ›deutsch‹ bezeichneten Migranten vor dem Hintergrund nationaler Kategorien interpretierten. Die Ostbewegungen luden sich im Kontext der deutsch-polnischen Nationalitätenkonflikte auf. In einer Vielzahl literarischer Texte des 19. Jahrhunderts findet sich die Idee, die deutschen Siedler hätten »die Kultur nach Osteuropa gebracht und das zivilisatorische Niveau der dortigen slawischen Bevölkerung angehoben« (ebd.: 25). Die polnische Bevölkerung »wurde explizit als minderwertig charakterisiert und damit zum Objekt von Fremdheitskonstruktionen, die das östliche Territorium jenseits der deutschen Grenzen als ein der Kolonisation harrendes Tätigkeitsgebiet deutschen Kulturschaffens erscheinen ließen« (ebd.). 60
Siehe dazu auch die Arbeiten von Larry Wolff, v.a. Inventing Eastern Europe (1994) sowie den Artikel Die Erfindung Osteuropas: Von Voltaire zu Voldemort (2003).
233
234
Ruderale Texturen
Ein prominentes Beispiel ist Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855), in dem das Bild eines armen und in Misswirtschaft versunkenen Polens entworfen wird. Kristin Kopp versteht Freytags Roman in ihrer Studie Germany’s Wild East: Constructing Poland as Colonial Space (2012) in diesem Sinne als einen Kolonialroman, der den ›zu kolonialisierenden Raum‹ in den östlichen Gebieten literarisch aufspannte.61 In Soll und Haben »the Poles are positioned as an uncivilized, primitive population (indeed, as a Naturvolk) lacking the ability to constitute social space altogether« (Kopp 2012: 32, Herv. i.O.).62 Aus diesen Semantisierungen leitet sich schließlich auch die Beschaffenheit des Raums ab: »›Poland‹ thus exists as a chaotic, unstructured expanse positioned adjacently to ›Germany‹ in the text.«63 (Ebd.: 32f.) Die so erzeugte Dichotomie von »rechtsförmigem Innenraum und rechtsfreiem Außenraum«, so beobachtet Michael Neumann (2010: 276), und damit verbundene »Anschlussdichotomien, nämlich die von Regel und Ausnahme, von Gesetz und Willkür« (ebd.) wurden in das Recht zur gewaltsamen Durchsetzung ordnender Maßnahmen überführt: »Wir wollen dafür sorgen, daß derselbe Westwind von heut ab immer weht, solange wir hier sind« (Freytag 1977: 506f.), heißt es in Soll und Haben. Von jener hier zu Tage tretenden Überzeugung, »den Deutschen komme in Osteuropa als Kulturträger und ordnende Kraft eine regelrechte Mission zu« (Nietzel 2010: 26) führte schließlich eine Linie zu den völkisch orientierten Perspektiven auf die Gebiete östlich der Elbe.64 Katzenberge, so die hier nun vorgeschlagene Lesart, schreibt sich durch den Rekurs auf bestimmte Topoi zwar in gewisser Weise in diese kulturellen Denkmuster ein, löst die Darstellung des Ostens jedoch aus einer ›zivilisatorisch-kolonialistisch‹ orientierten Lesart. Obgleich das Heimatdorf der Großeltern die prototypischen Merkmale eines ›unzivilisierten Ostens‹ aufweist, geht es diese Darstellung zu keiner Zeit mit jenem beispielsweise in Freytags Roman deutlich werdenden Kolonialisierungsimpetus einher. Hier wird vielmehr gezeigt, inwiefern jenes klischeebehaftete Galizienbild als Imagination wahrgenommen und in seinem Status als Element eines narrativen Spei-
61 62
63
64
Zu jener ›kolonialen‹ Lesart des Romans vgl. bspw. auch Neumann (2010), Conrad (2006: 139-144) sowie Ther (2006: 138-141) und Surynt (2012). Auch Neumann betont die in Freytags Roman zu Tage tretende Semantik einer zivilisatorischen Tat. In Soll und Haben werde »die Verletzung von Grenzen durch eine Rhetorik der Zivilisierung kommuniziert« (Neumann 2010: 274). Der Autor »lässt polnische Offiziere als ›Häuptlinge‹ auftreten, polnische Bauern erscheinen seinen Protagonisten als ›Wilde‹ und die Landschaft nimmt er als ›wüste Insel‹ ohne alle ›Bildung‹ und ›Schönheit‹ wahr« (ebd.). Polen war zu diesem Zeitpunkt noch zwischen Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt, während sich Deutschland erst als ein einheitlicher Staat herausbilden musste. Die beiden Länderbezeichnungen generieren auf diese Weise mental maps, die Deutschland eine Form und innere Homogenität verleihen und es als einen strukturierten und zivilisierten europäischen Staat entwerfen, während Polen als unstrukturiert, unzivilisiert und nicht-europäisch imaginiert wird (vgl. Kopp 2012: 33). Mit dieser Idee des Deutschen als ›Kulturbringer‹ verknüpft sich noch eine weitere Dimension: Durch die mittelalterlichen Ostsiedelungen, so wurde angenommen, wurde im Grunde nur ein seit jeher deutscher Boden wiederbesiedelt, da die Gebiete östlich der Elbe schon vor der spätantiken Völkerwanderung von einer germanischen Bevölkerung bewohnt gewesen seien, die den Raum unwiderruflich geprägt hätte. Siehe dazu Nietzel (2010: 25) sowie Wippermann (1981: 33-38).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
chers akzeptiert wird. Kurz: Statt eines ›stetigen Westwinds‹ wird eine neue Erzählung eingefordert. Am Ende bleibt es aber dem Leser überlassen, zu entscheiden, ob das Übernatürliche Teil von Neles Welt ist und ob die übernatürlichen Erscheinungen wirklich existieren. Allerdings lässt sich hier eine interessante Verschiebung beobachten, durch die die Erscheinungen noch einmal an das narrative Medium zurückgebunden werden. Nach ihrer Rückkehr aus der Ukraine, die dramaturgisch am Beginn des Romans steht, schleicht sich Nele morgens aus dem Haus der Verwandten, um die mitgebrachte Erde auf den Friedhof zu bringen. Die Wegstrecke, die sie mit dem Fahrrad zurücklegt, wird durch ihre Schilderung in das märchenhafte Licht getaucht, das ansonsten den Erzählungen des Großvaters vorbehalten war. Der »schlesische Nebel [liegt] über den Feldern des Katzengebirges«, in seinen »Schwaden verschwinden die Tümpel und Bäche«, sodass man Gefahr laufe, »kopfüber in den Morast zu den Fröschen und Kröten hinunterzustürzen« (K 7). Den Weg durch die »Lärchenhaine« müsse man »Meter für Meter genau kennen«, um nicht vom Weg abzukommen: »Das obere Ende des Waldes verschwindet unter der bleichen Haut, und unten, am Waldboden, wo sich sonst Hartriegel und Wacholderbüsche ineinanderranken, fließt der Nebel um die Stämme und verwischt ihre Konturen.« (K 7f.) »[Z]ögerlich«, berichtet Nele, fährt sie »an der Stelle vorbei, wo sonst die Gerippe der Sauerkirschbäume und Kiefern zu sehen sind«, hält an und lauscht, »aber es ist nichts zu hören« (K 8). Nach dieser Schilderung der unheimlichen Fahrt durch die morgendliche Dämmerung ist es nun eigentlich Nele, die das Biest erstmals in den Text einführt: »Ein paar Meter neben mir meine ich, einen Schatten gesehen zu haben, den Einen, Unerhörten, der aufmerksam jede meiner Bewegungen verfolgt. Mein Herz schlägt schneller« (K 8). Das Ende des Romans kehrt zu dieser Friedhofsszene zurück, die schließlich noch einmal ironisch gewendet wird und so auf das Prinzip des Romans zurückverweist: Das Übernatürliche, das MagischWunderbare, dies soll abschließend gezeigt werden, entsteht durch die narrativen Mittel, die in den Erzählungen des Großvaters sowie in Neles Gang zum Friedhof und dem dort ausführten Ritual, eingesetzt werden.
6.5.
Narrative Unabgeschlossenheit
Der dritte und letzte ›Bannung‹ wird von der Enkelin ausgeführt; der Roman beginnt und endet mit Neles Besuch auf dem Friedhof. Die durch die Nebelfelder und den schwarzen Schatten erzeugte Spannung wird jedoch ironisch gebrochen, zudem kann das Ritual nicht vollendet werden. Nicht nur ist sich Nele mit dessen Durchführung nicht sicher, auch hat sie die galizische Erde unterwegs verloren. Nele verteilt die kläglichen Erd-Reste auf dem Grab, verlässt den Friedhof und bemerkt: »Ich hatte erwartet, dass nun, in diesem Moment, eine Feuersbrunst entflammen würde, Stimmen, die von oben herabregneten, ein Schatten, ein Schemen, der herabfahren würde für immer – oder dass mir wenigstens ein leiser Seufzer entweichen würde. Aber alles ist ganz ruhig, ich auch.« (K 269) Obgleich sich die erwarteten Zeichen nicht einstellen, wird in den folgenden Passagen markiert, dass das Ritual nicht ohne Folgen geblieben ist. Der Nebel lichtet sich und der zuvor als bedrohlich wahrgenommene dunkle Schatten ent-
235
236
Ruderale Texturen
puppt sich zuletzt als Mülleimer: »Dort, aus dem brüchigen Laub der Akazien, ragt ein windschiefer Abfalleimer hervor. Śmieci, hat jemand in krakeligen Buchstaben daraufgeschrieben: Müll.« (K 270) Die Durchführung des Rituals und das Bild des Abfalleimers eröffnen verschiedene Lesarten, die abschließend skizziert werden sollen. Indem die unheimliche Stimmung, die noch zu Beginn des Romans über dem Friedhof und der gesamten Umgebung liegt, aufgelöst und das angebliche Biest als Mülleimer enttarnt wird, zeigt der Roman erstens, dass die Gespenster der Vergangenheit tatsächlich gebannt sind, unabhängig davon, ob die galizische Erde an das schlesische Grab gebracht wurde beziehungsweise ob es genug Erde war. Um Magie zu bannen, so das hier deutlich werdende Paradox, benötigt man Magie oder zumindest den Glauben an diese. Dies leitet zu einem zweiten Aspekt über. Das Ende des Romans rückt weniger das Ritual einer wie auch immer gearteten Bannung, als vielmehr einen Akt des Erzählens in den Vordergrund. Schon während Neles Fahrt zum Friedhof wird dies an folgender Bemerkung über ihre eigene Gestalt deutlich: »Nur nach wenigen Wochen wäre aus der fahrradfahrenden Person am Horizont eine Art Wiedergänger geworden, dessen Geist es hin zum Friedhof treibt.« (K 9) Nele zeigt an dieser Stelle auf, wie der übernatürliche Glauben, das Bedürfnis nach Bannsprüchen und nach abergläubischen Ritualen entstehen. Im Zusammenhang mit dieser metanarrativen Dimension, kann das Ritual selbst als ein narratives Mittel betrachtet werden, das die Erzählung beenden würde.65 Indem bewusst auf dieses Ende verzichtet wird, entsteht ein offenes Narrativ, das die Verbindung in die Vergangenheit aufrechterhält und diese in die Gegenwart der nachgeborenen Generation hineinerzählt. Die Geschichte der Großeltern wird nicht mit einer Handvoll Erde bedeckt beziehungsweise beendet, sondern nur ihrer lähmenden Kraft beraubt, indem sie durch die Reise der Enkelin, die am Grab ihrer Vorfahren endet, noch einmal neu gefasst und überarbeitet wird. Der Text entlässt die Protagonistin in eine Gegenwart, die frei ist von den Geistern der Vergangenheit, deren lähmende Kraft als Śmieci zurückbleibt. Eigler bemerkt, es handele sich um »an open-ended present – shaped by the past but no longer dominated by its demons« (Eigler 2014: 159). Nicht etwa die galizische Erde befreit von der Vergangenheit, sondern das Erzählen dieser Vergangenheit. Der Roman endet daher auch mit denselben Worten, die nach der Ankunft der Großeltern in Schlesien und der Geburt ihres ersten Sohnes stehen und verweist somit auf den Fortgang der Geschichte: »Der Himmel war kornblumenblau, es würde ein guter Tag werden.« (K 148) bzw. »Der Himmel ist kornblumenblau, es wird ein guter Tag werden.« (K 272) Der Neubeginn und das Zurückgeworfen-Sein auf Vergangenes sind hier deckungsgleich.66
65 66
Dies bemerkt auch Eigler (2014: 159): Der symbolische Akt könne als »a playful way of constructing a story with closure« gelesen werden. Die Erdspur zeigt überdies eine fundamentale Unsicherheit bzw. Unmöglichkeit von Wissen. Neles hermeneutisches Projekt, verschiedene Erinnerungsfragmente und Informationen zusammenzufügen und dabei mögliche blinde Flecken durch Imagination zu überschreiben, wird hier an sein konsequentes Ende geführt. Denn gerade die Frage nach der Wirksamkeit des Rituals muss als ›blinder Fleck‹ bestehen bleiben. Die Vergangenheit, so macht der Roman deutlich, kann durch ihre Überführung in ein Narrativ nachempfunden und konserviert werden, doch bleibt stets ein Rest von Nicht-Wissen bestehen.
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
Katzenberge beschreibt insofern im Grunde genommen die Funktionsweise von Erzählungen, die unter anderem dazu dienen, in einem konkreten Zusammenhang Sinn zu stiften.67 Dieser Aspekt eines Begreifbarmachens und einer Nachvollziehbarkeit wird bereits zu Beginn artikuliert. Auf der Beerdigung des Großvaters werden die Erfahrungen des Großvaters mit einem »alten Buch« (K 46) verglichen, welches in der Vorstellung der Mutter nun unwiederbringlich verloren sei. Auf den Einwand der Tochter: »Nichts, woran sich noch jemand erinnere, sei verschwunden« (K 46), bemerkt die Mutter, die als Historikerin in einem Archiv arbeitet: »Im Archiv ist das leicht. In einem alten Buch ersetzt man die Seiten, die im Laufe der Zeit verlorengegangen sind, oder die Passagen, die von Motten zerfressen wurden, durch neue Papierstreifen. Trotz der blinden Flecken bleibt es ein Original, man kann es lesen und ungefähr seinen Lauf nachvollziehen. […] Wenn man aber das Original in ein zwei Meter tiefes Loch wirft, mit Erde zuschaufelt und einen Stein obendrauf stellt, ist es unwiederbringlich verloren. […] Weg ist weg.« (K 46f.) An dieser Stelle formuliert die Protagonistin die dem Roman zugrundeliegende Idee, indem sie vorschlägt, man könne »es« neu aufschreiben, »die blinden Flecken könne man ja durch etwas Neues ersetzen oder so stehen lassen« (K 47). Die Antwort der Mutter deutet daraufhin das narrative Prinzip des Texts an: »Geschichten zu konservieren«, so die Mutter, sei »etwas völlig anderes, als Geschichten zu erzählen«. Neles Mutter verweist hier auf die Bedeutung des mündlichen Erzählens, der oral history, und überdies, mit ihrer Bitte, die Tochter solle nach Galizien fahren, auf die Relevanz von Anfängen und Ursprüngen. Hier zeigt sich auch, welchen Wert die Historikerin der Aufarbeitung der Familiengeschichte zumisst.68 Katzenberge nimmt diesen Dialog zum Ausgangspunkt und bildet die Dichotomie zwischen ›Geschichten erzählen‹ und ›Geschichten konservieren‹ in seiner Funktionsweise ab. Indem Nele die Geschichte ihres Großvaters, punktuell aus der jeweiligen Position im Raum hinaus entstehend, wiedergibt, erzeugt sie eine Form der Präsenz, die mit der oralen Erzählsituation assoziiert wird. ›Großvater sagte‹ wird zur Formel, die eine Form der evidentia, ein Vor-Augen-Stellen generiert. Gleichzeitig wird diese erzählte Geschichte durch Neles eigene Bewegung im Raum auch aus ihrer märchenhaft-anmutenden Oralität gelöst und festgeschrieben; nicht zuletzt zeugt der Roman Katzenberge selbst aus einer metanarrativen Perspektive davon. Die wechselnden Perspektiven rücken dabei nicht nur den Akt des Erzählens in den Vordergrund, sondern ebenfalls »the role of fiction in the attempts to reconstruct family history« (Eigler 2014: 156). Nele, die ihren Großvater als Kind auffordert: »Wenn du es mir erzählst, können wir uns beide daran erinnern« (K 216), tritt sozusagen das kommunikative Erbe des Vertriebenen an. Dabei liegt der Fokus dezidiert auf dem individuellen Narrativ Janeczkos, mit all seinen Lücken und magisch-realistischen Elemen67
68
Die bekannte Auffassung, »dass Menschen durch Geschichten-Erzählen ihre Lebenswirklichkeit in einen für sie begreiflichen Gesamtzusammenhang einzubetten versuchen« (Koschorke 2012: 11), Erzählen demnach auch als eine Form der »Kontingenzbewältigung« (ebd.) verstanden werden kann, zeugt davon. Dubrowska bemerkt, das weibliche Geschlecht nehme hier eine charakteristische Rolle als Beschützerin des Gedächtnisses ein; Mutter und Tochter werden zu »storykeepers of memory« (Dubrowska 2015: 167).
237
238
Ruderale Texturen
ten. Der Text verdeutlicht dies noch einmal an Janeczkos Aussage, seine Erzählungen seien »doch bloß das, an was ich mich erinnere« (K 216), und rekurriert damit auf ein auch in der Erinnerungsforschung bekanntes Muster. Denn dass die Erinnerung immer eine individuelle Rekonstruktion der Vergangenheit ist, die mit verschiedene Faktoren zusammenhängt, hat diese längst erkannt.69 Katzenberge kann insofern auch als ein Plädoyer für das Erzählen von Geschichten verstanden werden, die in der konkreten Erinnerung eines Individuums gründen. Der czarnoziem, die »ölig schimmernde[] galizische[] Schwarzerde« (K 238), wird als eine Metapher lesbar, als der »Humus des Imaginären, aus dem der Roman hervorgeht« (Telaak 2015: 303).70 Die magisch-realistische Schreibweise dient nun als Modus, um die imaginären Bilder und die individuelle Erinnerung narrativ zu fassen und die Verwobenheit der verschiedenen Generationen darzustellen.71 Indem Nele das ›verlorene Land‹ bereist, verleiht sie ihm einen Realitätsstatus, der ihm in den Geschichten des Großvaters fehlt und verdeutlicht zugleich eine neue Haltung gegenüber der Vergangenheit. An Katzenberge lässt sich daher auch eine aktuelle literarische Strategie ablesen, die eine Bezugnahme auf die nicht mehr vorhandene Region Galizien ermöglicht: Der Magische Realismus und sein Ausschöpfen von Traumwelten, Imaginärem und mystischem Erleben verleiht der untergegangenen Landschaft eine spezifische Form der Präsenz und erschafft sie, sozusagen als Papierwelt, neu. Mit dieser Neu-Imagination ist schließlich auch eine Neu-Semantisierung der Ruderalität verbunden. Die sich einen kultivierten Raum zurückerobernde Pflanzenwelt wird wieder zu einem Topos der magisch-realistischen Schreibweise, auf die die Autorin zurückgreift, um eine Sprache für die lebensweltlichen Bestrebungen ihrer Generation zu finden, sich der Vergangenheit, auch in narrativer Form, anzunähern. Dieser Versuch erhält im Kontext einer sich anbahnenden historischen Zäsur – dem Tod der Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs – eine historische Brisanz und ist zugleich von individueller Bedeutung für die Enkelgeneration. Das literarische Sujet, der ostmitteleuropäische Raum und die bislang kaum beachteten Gebiete jenseits des Bugs, werden dabei, wie auch in strukturell ähnlich funktionierenden Erzählungen über Schlesien, in ein geordnetes Narrativ überführt, wobei der unbekannte Raum auf gewisse Weise domestiziert wird. Der ›verwucherte‹ Osten, in den Erzählungen Horst Langes noch ein »dunkle[r] Wasserwald wie eine lange, geschwärzte Mauer« (Lange 1969: 20), ein Ort der »verwüsteten Gärten« (Lange 1948: 6), bei Wolfgang Hilbig schließlich ein Gebiet des »ratlosen Wuchern[s] der Kletten und Winden« (A 187), erscheint in Katzenberge
69
70
71
Der Gedächtnisgeschichte geht es daher auch nicht um Vergangenheit als solche, sondern um Vergangenheit, wie sie erinnert wird. Aleida Assmann hat diese Differenz in Erinnerungsräume mit den Begriffen ars und vis überschrieben (vgl. Assmann 2010: 27ff.). In ihrer »ironisch gebrochenen Apotheose«, so bemerkt Telaak (2015: 303) verweise die Erdspur nicht nur auf die Fragwürdigkeit des Rituals, sondern bestätigt zudem die paradoxale Struktur des Erinnerten und Erzählten: Die besondere Präsenz Galiziens, symbolisiert in der Spur der galizischen Erde, und das erzählte Wort bilden ein Paar, »als solches ausgewiesen durch beider paradoxe, weil flüchtige Beständigkeit«. Er erzeugt insofern auch eine Art multidirektionale Erinnerung. Michael Rothberg definiert multidirectional memory »as subject to ongoing negotiation, cross-referencing and borrowing; as productive and not privative« (Rothberg 2009: 3).
6. Erinnerung: Katzenberge (2010)
als ein zwar fremder, doch kaum mehr beängstigender Raum. Der Osten, das sind ein wenig »Distelgestrüpp« und »ein paar welke Kamillenstiele« (K 264).
239
7. »Sand und Ewigkeit«: Andrzej Stasiuks Reisen im Osten »Die materiellen Symbole des gescheiterten Kommunismus sind bröckelnder Beton, rostendes Eisen und Unkraut, das aus den Ritzen der geborstenen Mauern wächst.« Andrzej Stasiuk: Der Stich im Herzen Auch der polnische Autor Andrzej Stasiuk begibt sich in seinen Texten auf eine Reise durch den Osten. Dabei verfolgt seine Prosa einerseits kulturdiagnostische Absichten und will andererseits als eine poetische Literaturform wahrgenommen werden. An ihr lässt sich abschließend noch einmal aufzeigen, inwiefern Ruderalität nicht nur als ein paradigmatischer Topos des Magischen Realismus, sondern auch als charakteristisches Merkmal eines zeitgenössischen Schreibens über den Osten verstanden werden kann und welche Konsequenzen das reale Verschwinden der Ruderalflächen für die Literatur mit sich bringt. Stasiuks Reiseberichte beschreiben die postsozialistische Peripherie im Rekurs auf eine Metaphorik der Verunkrautung, die die erkundeten Industriebrachen und verlassenen Dörfer an der Schwelle zwischen einer noch existenten, bald jedoch nicht mehr sichtbaren Präsenz verortet. Für Stasiuk wird Ruderalität insofern einerseits zum bildlichen Ausdruck einer verschwundenen Zeit, während sie andererseits auch als paradigmatisches Zeichen eines gegenwärtigen, sich von Polen bis Ulan Bator erstreckenden Ostens fungiert. Seine Reisebeschreibungen funktionieren dabei nach einem simplen Prinzip. »Kürzlich bin ich durch Südostpolen gefahren« (Stasiuk 2008: 102), heißt es beispielsweise in Fado (poln. 2006, dt. 2008). Mit diesem ›kürzlich bin ich‹ wird ein Erzählverfahren markiert, welches die iterativen Bewegungslinien des Autors in ein narratives Hintereinander überführt, während es die zahlreichen Schnittstellen der verschlungenen Reiserouten gleichzeitig fortwährend ausstellt. Ob Südostpolen, die Mongolei oder der Pamir, Stasiuks rastlose Reisen erkunden jeden noch so abgelegenen Ort zwischen der Elbe und Kamtschatka. Die daraus entstehenden Texte heißen Pogradec, Rudňany, Praga und die anderen (Stasiuk 2006), Transbaikalien. Krasnokamensk (Stasiuk 2015), Łysa Góra, dann die Kreuzung nach Folusz (Stasiuk 2015), Ulan Bator, Mandalgow, Dalandzadgad, Manlai, Mandal, Sajnschand, Dzamyn Üüd (Stasiuk 2015) oder Bulatović (Stasiuk 2008). Stasiuk überzieht den globalen Os-
242
Ruderale Texturen
ten mit einer netzartigen Reisestruktur, die in seinen daraus entstehenden Berichten ihre literarische Entsprechung findet.1 Zum herausragenden Merkmal dieses Ostens avancieren »Beton, Unkraut, Eisenschrott« (Stasiuk 2015: 62) beziehungsweise »Sand, alter Beton, Unkraut« (ebd.: 8). Prominent inszeniert wird die Ruderalität insbesondere in Stasiuks Reiseberichten Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh (dt. 2015, poln. Nie ma ekspresów przy żółtych drogach, 2013) sowie in seinem zuletzt erschienenen Werk Der Osten (dt. 2016, poln. Wschód, 2015), das in gewisser Weise als Summe seines Reisens und Schreibens verstanden werden kann und an dem auch deutlich wird, inwiefern Stasiuks Reisen immer größere Radien ziehen. Der Protagonist dieser Reiseprosa ist dabei nicht etwa der Erzähler beziehungsweise Autor, sondern »die von Gestrüpp bewachsene Peripherie« (Stasiuk 2017: 208). Ruinen, Müll und Unkraut gehen hier eine Verbindung ein, die die Spuren des Kommunismus nicht nur archiviert, sondern auch ästhetisiert. Stasiuk wird zum Nachfolger von Baudelaires chiffonier 2 , der hier nicht mehr als ein Produkt der Großstadt, sondern als eine Figur der abgelegenen östlichen Regionen in Erscheinung tritt. »[R]ostende Barken und Schiffe« (Stasiuk 2015: 47) werden dabei ebenso zum Sujet der Literatur wie »bröckelnder Beton« (ebd.: 61), »zerstörte Lagerhallen« (Stasiuk 2008: 57) oder »rostende Konstruktionen von Rampen und Kränen« (ebd.). An all diesen Resten entzündet sich Stasiuks Schreiben. Im Folgenden werden fünf Punkte skizziert, die die Funktion der Ruderalität in Stasiuks Œuvre herausstellen und dabei auch die Transformation, die diese in den einzelnen Werken durchläuft, nachzeichnen. Auch Stasiuk dient die Ruderalität als eine Möglichkeit zur Bestimmung des historischen Charakters der peripheren Räume. Gleichzeitig zeigt sich, dass der Ruderalflora in Stasiuks Literatur eine neue Rolle zukommt. So lässt sie sich zwar ebenfalls als vegetativer Ausdruck eines textgenetischen Prinzips verstehen, dem jedoch eine andere Dynamik zugrunde liegt als in den bisher betrachteten Textbeispielen. Auch ist das Ruderal hier nicht als Topos eines populären Erzählgenres zu verstehen, sondern dient als Ausdruck einer posttotalitären Gegenwart, in der außer den verunkrauteten Ruinen kaum noch etwas zu finden ist, eine Tatsache, die sich für Stasiuks Schreiben als essentiell erweist. Um diese Zusammenhänge zu verdeutlichen, werden neben den bereits genannten Reiseberichten zwei Erzählbände näher betrachtet: Galizische Geschichten (dt. 2002; poln. Opowieści galicyjskie, 1995) und Die Welt hinter Dukla (dt. 2000, poln. Dukla, 1997).
1. Das Verschwundene narrativ sichtbar machen In seinem Beitrag zu dem 2006 erschienenen Band Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas beschreibt Stasiuk die in seinen Texten vorgenommene imaginative Aneignung des Verschwindenden wie auch bereits Verschwundenen auf programmatische Weise. In diesem für Stasiuks Schreibverständnis grundlegenden Auf1 2
Stasiuks Œuvre, so konstatiert Marszałek (2005: 497) lasse sich als ein Plädoyer für das »Schreiben als Topo-Graphie und nicht als Chrono-Graphie« verstehen. Dass Baudelaires chiffonier nicht nur bei Benjamin, sondern auch im zeitgenössischen amerikanischen Roman wiederkehrt, in welchem er weniger »eine Figur des sozialen Elends, sondern Träger eines kulturellen Gegengedächtnisses« ist, hat Aleida Assmann (2010: 385) gezeigt. Zu nennen sind hier u.a. Leslie Marmon Silkos Roman Ceremony (1977) sowie der erste Roman in Paul Austers New York Trilogie, City of Glass (1985).
7. »Sand und Ewigkeit«: Andrzej Stasiuks Reisen im Osten
satz zeigt sich, dass in zahlreichen Fällen des Erzählens aus und über die Peripherie der Erzählvorgang selbst mit dem Versuch verknüpft ist, etwas in der Realität Verschwundenes wieder zum Vorschein zu bringen oder eine Erinnerung schriftlich zu fixieren. So schreibt Stasiuk über die Kleinstadt Rudňany in der Slowakei: »Es gibt Orte, an denen uns der Verdacht kommt, daß wir sehen, was erst in der Zukunft geschehen wird. Rudňany war Gestalt gewordener Untergang, Vergangenheit und Verlust, andererseits aber erinnerte es an eine Weissagung, die sich erfüllen wird. Rudňany ist die Erzählung von einer Welt, für die immer größere geographische, historische und menschliche Räume überflüssig werden. Der reiche und sich selbst genügende Teil wird sich in einem bestimmten Moment vom Rest der Welt trennen und in die Zukunft abheben wie eine Paradiesinsel. Was übrig ist, bleibt in einer Gegenwart stecken, die sich gnadenlos in immer fernere Vergangenheit verwandelt, bis es schließlich aus den Augen verschwindet und sich im Nichts auflöst.« (Stasiuk 2006: 323f.) Rudňany wird zur Chiffre für einen Vorgang des Verschwindens und Untergehens. Die Stadt steht sinnbildlich für den Verlust konkreter Lebensräume und fungiert zugleich als Vorausdeutung auf das Verschwinden einer ›alten Welt‹. Stasiuks Darstellung dieser Zusammenhänge lässt sich als eine Art produktive Nostalgie deuten, deren imaginatives Potential sich an einem sich ›in immer fernere Vergangenheit verwandelnden‹ Rest entzündet. Im nächsten Absatz fährt er fort: »Das Letzte, das Verlorene – das ist es, was meine Phantasie beflügelt.« (Ebd.: 324) Etwas ›Verlorenes‹ wird zum Ausgangspunkt der Literatur und zugleich in der Imagination neu erschaffen. Dieses von Stasiuk als ›melancholische Geografie‹ bezeichnete Konzept portraitiert die abgelegenen, ›letzten‹ Orte (Ost-)Europas und hebt das Ewigwährende der betrachteten Räume hervor. In Der Stich im Herzen wird dieses ›Letzte‹ noch einmal räumlich gewendet, wenn Stasiuk die rumänische Stadt Sulina aufgrund ihrer geografischen Lage im Donaudelta als »letzte[] Stadt Europas« bezeichnet. Die Stadt vermittle ihm das Gefühl, dass er »am Ende angelangt war, am Rande dieser historisch-geographisch-ideologischen Abstraktion« (Stasiuk 2015: 47). Die abstrakte Vorstellung der ehemaligen, sich von Osteuropa über den Kaukasus bis nach Zentral und Nordasien erstreckenden Sowjetunion und ihr Ende erweisen sich für Stasiuk in Sulina als »äußerst real […]: rostende Barken und Schiffe, in sandigen Dünen verscharrt, ein Friedhof mit Matrosennamen aus der ganzen Welt von vor hundert Jahren, die tristen Militäranlagen und die schwarzen Gitter der Radargeräte […], herrenlose Hunde und Sümpfe, die sich über Zehntausende von Hektar erstrecken« (ebd.). Die Vergangenheit überdauert in Sulina in Form von rostigen Überresten und unbestelltem Land. Die aufgezählten Reste dienen dem Autor dazu, das bereits Verschwundene noch einmal literarisch darzustellen, es sozusagen noch einmal ›auferstehen‹ zu lassen, und sich die Vergangenheit in einer produktiven Form von Nostalgie anzueignen. Seine Erzählprosa ist auf die Rekonstruktion abwesender Geschichten gerichtet, die in den Bruchstücken der Vergangenheit aufgespeichert sind. Dabei ist die rückwärtsgewandte Ausrichtung des melancholischen Blicks eng an die Unkrautlandschaften geknüpft. Diese avancieren für Stasiuk zur conditio sine qua non seiner literarischen Produktivität. Zudem erweisen sich Geografie und Melancholie für Stasiuk als untrennbar miteinander verbunden, denn seine Prosa entsteht aus der konkreten Geografie des Raums.
243
244
Ruderale Texturen
Damit vollziehen seine Texte im Grunde genau das, was Magdalena Marszałek und Sylvia Sasse mit dem Begriff der ›Geopoetik‹ bezeichnet haben. Die Texte widmen sich dem »Herstellen von Territorien und Landschaften in der Literatur« (Marszałek/Sasse 2010: 9), der poiesis, und damit auch der Frage, wie bestimmte Raum-Poetiken hervorgebracht, semantisiert und an konkrete Topografien zurückgebunden werden. Gleichzeitig stellen sie die »Frage nach der Verbindung zwischen der Kreativität des Künstlers und dem geographischen Ort« (ebd.: 10). Mit diesem zweiten Aspekt ist auch die Vorstellung von einer »auratische[n] Qualität eines Ortes, die sich im Schaffensprozess niederschlage« (ebd.) verknüpft, die bei Stasiuk par excellence ausgestaltet wird.
2. Das Verschwinden erzählen Eine Beschreibung eines solchen auratischen Ortes findet sich Stasiuks Galizische Geschichten. Diese sind in einem kleinen Dorf im Süden Polens nach 1989 angesiedelt und beschreiben das sich im Anschluss an die Auflösung der kollektiven Gesellschaftsstrukturen entwickelnde Leben im ländlichen Raum. Vor dem Hintergrund der langsam verrottenden LPG, »den Überresten von Maschinen und reglosen Getrieben« (Stasiuk 2016: 7) und der Verwilderung ehemals gesellschaftlich relevanter Orte zeichnet Stasiuk das Bild einer vergessenen Provinz, die schon immer zu den ärmsten und rückständigsten Regionen Polens gehörte. Es handelt sich, so bemerkt O’Keeffe, um eine Sammlung von »characteristic biographies« (O’Keeffe 2012: 84) beziehungsweise »miniature portraits« (O’Keeffe 2011: 1606), die in Form eines episodischen Romans die zyklische Eintönigkeit des abgeschiedenen Lebens ebenso zeigen wie das langsame Verschwinden dieser »untergehenden Welt« (Stasiuk 2016: 7).3 Der Verfall der Lebenswelt wird dabei sowohl in den Landschaftsbildern als auch in der Darstellung der dort lebenden Menschen erzählt. Während die Landschaft »ganz natürlich zum Verfall neigt, im Einklang mit den Gesetzen der Erosion« (ebd.: 16), sind die Menschen, die diese Landschaft bevölkern, eng mit ihr verwachsen. So erinnert eine der Figuren an »einen Waldgeist – dichtem Gestrüpp, entwurzelten Bäumen und chaotischen, verworrenen Gehölzen nachempfunden« (ebd.: 30). Erzählt wird hier von einem Verschwinden, das im Prozess des Verschwindens selbst die Möglichkeit zur Neu-Imagination der untergehenden Welt aufzeigt. Werner Nell hat Stasiuks Galizische Geschichten daher auch als eine »Literatur der Leerstelle« bezeichnet, als eine Literatur, die »dieses Verschwinden nicht nur anzeigt, sondern auch als eine Stelle im Imaginationsraum beleuchten, ja illuminieren und zugleich in weitergehende Erfahrungen und Entwicklungen einbinden kann« (Nell 2018: 169). Dies lässt sich anhand der Beschreibung des Abbaus einer orthodoxen Holzkirche im Südosten Polens und an ihrer Überführung in ein Freilichtmuseum illustrieren: »Zurück blieb ein Rechteck aus grauer, lehmiger Erde. In dieser waldigen, menschenleeren Gegend sieht diese Blöße aus wie ein Stück abgerissene Haut. Nächstes Jahr wird hier
3
Wie bspw. auch Sherwood Anderson (Winesburg, Ohio: A Group of Tales of Ohio Small-Town Life, 1919), Ingo Schulze (Simple Stories: Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz, 1998) oder auch Daniel Kehlmann (Ruhm, 2009) nutzt Stasiuk hier eine Erzählstruktur, die kleinere Episoden miteinander verbindet und verschachtelt und gerade dadurch die zyklische Eintönigkeit der erzählten Welt noch einmal hervorhebt.
7. »Sand und Ewigkeit«: Andrzej Stasiuks Reisen im Osten
seit zweihundert Jahren zum ersten Mal wieder Gras wachsen. Oder eher Brennesseln – sie erscheinen am schnellsten an Orten, die von den Menschen verlassen wurden.« (Stasiuk 2016: 40) Der Abbau der Kirche verweist, folgt man Nell, nicht nur auf einen Prozess der Säkularisierung und ein damit verknüpftes Zeitalter der Moderne, sondern auch auf den »Vorgang einer ›Entbettung‹ von Menschen« (Nell 2018: 169): Das Verschwinden der Kirche zeigt auch das Verschwinden der sie besuchenden Glaubensgemeinde an. Wie viele der Orte, die in Stasiuks Erzählungen in den Mittelpunkt rücken, ist der Südosten Polens gekennzeichnet von den brutalen Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Die Menschen, die die Kirche besuchten, sind unter anderem auch deshalb verschwunden, weil sie Opfer der bereits im Zusammenhang mit Janeschs Katzenberge betrachteten, zwischen 1945 und 1947 im Grenzland zwischen Polen und der Ukraine stattfindenden Gewaltprozesse wurden, durch die sich die vormals multikulturellen Gesellschaften auflösten und verschiedene Bevölkerungsgruppen flüchten oder umsiedeln mussten. Darüber hinaus führt die gegenwärtige Arbeitsmigration dazu, dass die Regionen, zumindest partiell, entvölkert erscheinen. Dieser Entvölkerung wird in der Literatur nun allerdings etwas Neues entgegengesetzt: Das ›Rechteck‹ fungiert als die von Nell hervorgehobene ›Stelle im Imaginationsraum‹. Sie wird, dies bemerkt Nell nur en passant, durch die Rückkehr der Natur erneut ausgefüllt, denn an der Stelle der Kirche beziehungsweise an der Stelle der ausgelöschten oder allmählich verschwundenen Dörfer wächst nun das Unkraut. Die Brennnesseln zeigen in den Galizischen Geschichten nicht nur das Verschwinden der Holzkirche, sondern auch die Neubesiedlung des verlassenen Ortes an. Wie auch bei Müller und Hilbig verbinden sie verschiedene Zeitebenen miteinander und markieren gleichsam ein Vitalitätsmoment, das die Beschreibung nicht in der Gegenwart verharren lässt, sondern auch einen Blick in die Zukunft ermöglicht. Folgt man der Logik der Ruderalgewächse, so hat man es an dieser Stelle mit einer Neubesiedlung verlassener Gebiete zu tun, die noch auf die Beeinflussung durch den Menschen verweist, in naher Zukunft jedoch einer naturgemäßen Vegetation weichen wird. Anders formuliert: In der Gegenwart des betrachtenden Subjekts sind Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen präsent. In diesem Kräftefeld zwischen Verschwinden und Erscheinen sind die Erzählungen des kleinen Bandes durchgängig angesiedelt. Ruderalität wird an dieser Stelle mit der Vorstellung einer Historie verknüpft, deren narrative Darstellung immer auch auf die Historie der Menschen und Landschaften, von denen sie berichtet, zurückverweist. Gleichzeitig lässt sich im Rekurs auf die Vitalität einer wuchernden Pflanzenwelt allerdings auch ein literarischer Neuansatz erkennen, der die geschichtlichen Landschaften aus ihren Überschreibungen löst und sie in eine offene Zukunft überführt.4 An die Stelle der orthodoxen Kirche tritt nach 200 Jahren etwas Neues. Der Verweis auf die Brennnesseln lässt sich somit als eine Möglichkeit verstehen, das Verschwinden einer Lebenswelt narrativ zu fassen, bildlich auszugestalten und der Beschreibung dieses Verschwindens einen ambivalenten Erinnerungsraum zu entwerfen, der nicht nur
4
Auch Nell (2018: 166) beobachtet: »Nach dem Verschwinden der Kultur wird offensichtlich die Natur wieder erscheinen; was nicht zuletzt auch eine Art Öffnung der Geschichte in Richtung metaphysischer Unendlichkeit initiiert.«
245
246
Ruderale Texturen
die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft in den Fokus zu rücken vermag. Im Interimsphänomen des Ruderals wird dieser Aspekt noch einmal bildlich gefasst. Zugleich ruft die Rede von einer ›Stelle im Imaginationsraum‹ allerdings auch die Frage nach dem Autor und dessen Imaginationsfähigkeit auf. Nells Argument lässt sich hier erweitern: Der Blick auf die im ›Rechteck‹ der verschwundenen Kirche symbolisierte Imaginationsfläche bringt in einer sehr spezifischen Weise den Autor in Erscheinung, dessen Subjektivität, und diesen Aspekt gilt es im Blick zu behalten, in Stasiuks Œuvre immer wichtiger wird.
3. Die Literarisierung von Erinnerung Nicht nur das Verschwundene, sondern auch die Erinnerung an etwas nicht mehr in der Gegenwart Vorhandenes wird in Stasiuks Prosa narrativ hergestellt. An den Galizischen Geschichten lässt sich der Zusammenhang zwischen der Literarisierung des Verschwindenden, dem Vorgang der Erinnerung und einem magisch-realistischen beziehungsweise in der Forschung auch als ›mythoid‹ (Marszalek 2005) bezeichnetem Erzählverfahren exemplarisch aufzeigen.5 Das Kapitel Der Ort, das vom Abbau der orthodoxen Kirche berichtet, markiert einen Wendepunkt im Erzählverlauf, der sich von da an dem Phantasmagorischen und Mythogenen zuwendet. Es rückt das Bild der verschwundenen Kirche in den Mittelpunkt und lässt einen Ort entstehen, der für den Betrachter eine »magische Wirkung« (Marszałek 2005: 491) entfaltet.6 Die Überbleibsel des einst Gewesenen setzen einen Prozess der Erinnerung in Gang, der über die individuelle Lebensspanne einzelner Individuen hinausreicht. Die Mythisierung des Ortes lässt Erinnerung und Fantasie miteinander verschmelzen und erzeugt auf diese Weise das vorliegende Narrativ. Die Slawistin Magdalena Marszałek konstatiert: »Die imaginäre Existenz des Ortes haftet also an diesen Zeichen, an deren Materialität die Erinnerung und die Phantasie ansetzen können.« (Ebd.: 490) Und tatsächlich leistet die Mythisierung des Ortes auch noch etwas anderes: Das »mythoide Erzählen« (ebd.: 488) Stasiuks schreibt sich über die durch den Abbau der Kirche aufgerufenen Semantiken des Untergangs in einen größeren geschichtlichen Kontext ein und alludiert – als pars pro toto – noch einmal das Verschwinden Galiziens von der historischen Landkarte. Dabei fungiert die Aktualisierung des bekannten Mythos als »Zitation eines Kulturtextes, der in der kollektiven Phantasmatik dieses Raums fest verankert ist« und dessen stereotype Inhalte »im Dienste einer posthistorischen Utopie des Durativen aktualisiert« (ebd.: 498) werden. Durativ, das meint in diesem Sinne das Fortbestehen von etwas
5
6
Marszałek (2005: 492f.) nennt den Magischen Realismus nicht, spricht aber von »Verfahren des assoziativen Erinnerns und des auf magischem Denken beruhenden Phantasierens«. Natürlich ist Stasiuk kein paradigmatischer Vertreter des Magischen Realismus. Nichtsdestotrotz lässt sich auch in Stasiuks Erzählungen jene vom Magischen Realismus getroffene ontologische Unterscheidung zwischen einer oberflächlichen Wirklichkeit und einer ›eigentlichen‹ Wirklichkeit – einem ›Geheimnis hinter den Dingen‹ – wie auch eine besondere Nähe zum Übersinnlichen beobachten. Eine ähnliche Wirkung übt auch das Städtchen Dukla in Stasiuks Die Welt hinter Dukla aus, das als »Scharnier zwischen Realität und Traum und als Inbegriff der Fragilität von Wirklichkeit« (Marszałek 2005: 491) fungiert. Als »Laterna magica, camera obscura, Glaskugel, in der langsam Schnee rieselt, Kaleidoskop der letzten Hoffnung und metaphysische Peepshow« (Stasiuk 2013: 126) wird es für den Erzähler zum Ausgangspunkt beinahe mystischer Erfahrungen.
7. »Sand und Ewigkeit«: Andrzej Stasiuks Reisen im Osten
bereits Verschwundenem – in Form von spezifischen Zeichen wie etwa dem ›Rechteck‹ –, es meint jedoch auch die Kontinuität einer Erinnerung an das Verschwundene, die durch den besonderen Erzählstil Stasiuks immer wieder erneuert wird. Was dabei leicht aus dem Blick gerät ist die Frage, was passiert, wenn diese Erneuerung selbst eine Form des Durativen annimmt. In Stasiuks Werk lässt sich eine Entwicklung beobachten, die von konkreten Beschreibung einer gegebenen Wirklichkeit hin zu einem Umkreisen der eigenen subjektiven Erinnerung führt. Sein zuletzt erschienenes Werk Der Osten ist aus aneinandergereihten Erinnerungsmomenten konzipiert, an denen deutlich wird, dass der globale Osten für Stasiuk immer mehr zur Erinnerungslandschaft wird. Sobald die geschichtsphilosophischen Aussagen der Landschaft erschöpft sind, gewinnen Stasiuks Landschaftsbeschreibungen ein kulturkritisches Moment.
4. Die Erzeugung von Präsenzmomenten Die Darstellung der subjektiven Erinnerung funktioniert immer wieder über die Herstellung eines Moments einer intensiv erfahrenen Präsenz. So wird in Die Welt hinter Dukla von einer übernatürlichen Erscheinung berichtet, die nicht zuletzt zum pars pro toto des kleinen Städtchens, um das die einzelnen Erzählungen kreisen, avanciert. Dort wird das Übernatürliche nicht durch die Augen eines fiktionalen Charakters präsentiert, sondern als Erfahrung des Autors ausgestellt. Stasiuk selbst7 , so legt der Text nahe, betrachtet eine Grabstatue der ehemaligen Schlossherrin Maria Amalia in der Dorfkirche Duklas und entdeckt an ihr Zeichen einer seltsamen Lebendigkeit: »Der rosige Marmor ihres Mantels bildet eine kapriziöse, lebensechte Draperie. […] Nicht ausgeschlossen, daß Amalia unter den Falten des Steins warm ist« (Stasiuk 2013: 31). Die Steinfigur löst eine eigenartige Reaktion bei ihrem Betrachter aus: »Diese leichenhafte und zugleich beunruhigende lebendige Materie wollte ich berühren, in sie eindringen, so ähnlich, wie man in organische menschliche Hüllen eindringt durch Vergewaltigung oder Liebe« (ebd.: 32). Amalia, so bemerkt er später, sei »menschlicher, als es scheinen mag« (ebd.: 88).8 Am Ende von Die Welt hinter Dukla beobachtet Stasiuk schließlich, wie die Statue nachts tatsächlich zum Leben erwacht: »Ihr magnetisches Skelett zog aus der Luft Elementarteilchen an und bildete ihren früheren Körper nach.« (Ebd.: 139) Amalia bewegt sich auf das Fenster zu und der Betrachter hört ihren Atem und das Poltern einer ihrer Pantoffeln, der zu Boden fällt. Die Szene wird durch das Erscheinen eines Mädchens beendet, das in der Kirche übernachten möchte, kurz darauf schließt der Priester die Tür hinter Stasiuk ab. Die Auferstehung der Statue, so der in diesem Zusammenhang spannende Punkt, wird dabei zu keiner Zeit in Frage gestellt. So ist 7
8
Marszałek (2005: 493) konstatiert hinsichtlich Dukla, der Erzählband verbände »Autobiographismus mit mythoidem Erzählen sowie einem essayistisch-metafiktionalen Kommentar« und reihe sich insofern in ein »Paradigma der Mythobiographistik« ein. Stasiuk schreibt sich hier in eine literarische Tradition ein, die mit dem in Ovids Metamorphosen ausgestalteten Pygmalion-Stoff beginnt und über Jean-Jacques Rousseaus Pygmalion (1770), Joseph von Eichendorffs Das Marmorbild (1818) und Prosper Mérimées Venus d’Ille (1837) in die Moderne führt. Gleichzeitig tritt die Amalia-Statue auch als jene von Georges Didi-Hubermann als ninfa moderna (2002) bezeichnete Figur in Erscheinung, die »immer in der Gegenwart des Blicks auf[taucht]« (Didi-Hubermann 2002: 14): »Als unpersönliche Heldin der Aura […] bewegt sie sich fortwährend zwischen Luft und Stein, zwischen Verströmen und Lähmung« (ebd., Herv. i.O.).
247
248
Ruderale Texturen
sie für den Autor »weder ein Geist noch ein Gespenst«, sondern »die kondensierte Gegenwart dessen, was immer abwesend war« (ebd.: 140). Stasiuk vermutet, sie könne zum Leben erwachen, indem sie das Dorf, das sie umgibt, absorbiere: »Das Dukla da draußen hatte aufgehört zu existieren. Es war in sie eingegangen« (ebd.: 140). In der Beschreibung der zum Leben erwachenden Amalia erzeugt Stasiuk einen Moment der Präsenz, in dem Raum und Zeit punktuell miteinander verschmelzen: Die »scheinhafte Materie der Welt« gehe in Amalia ein und werde »zu einem Leib […], weich und glatt wie Ewigkeit« (ebd.). Dieser Konvergenzpunkt wird in der literarischen Beschreibung konserviert. Ähnlich verhält es sich in den Galizischen Geschichten. Dort erzeugt das Licht einen vergleichbaren Moment von Gegenwärtigkeit und Stillstand. Es wird von einem Besucher berichtet, der Aufnahmen von jenem ›Rechteck‹ macht, an dem früher der Kirchenbau stand: »Ich hatte den Eindruck, daß der Mann, sicher zufällig, den Raum fotografierte, wo sich früher die Ikonostase befunden hatte. Jetzt war er von allen Formen entleert, aber von Licht erfüllt.« (Stasiuk 2016: 43) Die fotografisch fixierte Leerstelle ermöglicht eine Vorstellung von der ehemaligen Präsenz des kirchlichen Interieurs: »In diesen paar Minuten gewannen das matte Gold der Schnitzerei und die verblaßten Farben der Ikonen ihren ursprünglichen, übernatürlichen Glanz wieder« (ebd.). Kurz darauf kehrt die reale Leere zurück: »Die Wirklichkeit brach auf, und gleich darauf verschloss sie sich wieder, kein Spalt war zu sehen« (ebd.: 44, siehe dazu auch Nell 2018: 170f.). Sowohl im Falle der Amalia-Statue als auch hinsichtlich der Fotografie des ›leeren Raums‹ wird etwas bildhaft bewahrt, das eigentlich nicht (mehr) existiert. Hier kommt die Literatur ins Spiel, die jene Momente einfängt und, ähnlich der Fotografie, in ihren Beschreibungen fixiert.
5. Verwüstete Landschaften Die bislang betrachteten Aspekte hängen mit einem spezifischen Sujet zusammen, das Stasiuks Texte fortwährend umkreisen. Es geht ihm nicht zuletzt immer auch um den globalen Osten und dessen Landschaften, denen er sich durch seine Poetik des ›Unterwegsseins‹ in verschiedenen, sich zum Teil auch thematisch überschneidenden Reisebeschreibungen annähert. Indem Stasiuk nun Melancholie und Geografie vor dem Hintergrund dieser Landschaften eng führt9 , schreibt er sich in die bereits im Zusammenhang mit Katzenberge thematisierte literarische Traditionslinie ein, die den Osten im Sinne regressiver Utopievorstellungen semantisch auflud und ihn zu einer normativ wie auch assoziativ besetzten Kategorie stilisierte (vgl. Marzałek 2011: 190). Osteuropa, das meint dann einen vom Verschwinden bedrohte Landschaftsraum, der zugleich oftmals als Projektion westlicher Wünsche und Vorstellungen fungiert. Es meint ei-
9
Vgl. dazu auch Stasiuks eigene Aussage, er könne »ganze Länder und ganze Staaten finden, die die Melancholie in Besitz genommen hat« und werde »eines Tages die melancholische Geographie unseres Kontinents schreiben. Dort werden Orte zu finden sein, die keiner besucht, Orte, deren Gegenwart die Vergangenheit ist« (Stasiuk 2006: 319). Auch Marszałek bemerkt die untrennbare Verbindung von Melancholie und Geografie in Stasiuks Arbeiten: »Geography is used to speak of melancholy, and geography itself thereby becomes ›melancholic‹« (Marszałek 2011: 190).
7. »Sand und Ewigkeit«: Andrzej Stasiuks Reisen im Osten
ne unzivilisierte Rückständigkeit, die gleichzeitig ein poetisches Moment enthält.10 Eine literaturgeschichtlich besonders ausgeprägte Variante dieses Osteuropa-Topos stellt die Literatur über Galizien dar, wie die zahlreichen in dieser Region angesiedelten Reiseberichte und Erzählungen zeigen.11 Immer wieder wurde Galizien als versunkenes Atlantis oder verlorenes Arkadien imaginiert. Stasiuks verwüstete Landschaften partizipieren nun in gewisser Weise an diesen literarischen Topoi des Ostens, lenken sie allerdings auch noch einmal in eine neue Richtung. So zeigt sich hier eine seltsame Ambivalenz zwischen der zerstörten Natur des postindustriellen Raums, in dem nichts mehr schön sein kann, und einem eigenartigen Hoffnungsgedanken, der aus dieser verwüsteten Umgebung zu entstehen scheint. Obgleich oder vielleicht sogar gerade weil die Topografien Osteuropas als devastierte Landschaften gezeigt werden, bergen sie das Potential, die Vorstellungskraft anzuregen: »A distinctive urge to spin tales arises from the vagueness and hybridity of the space« (ebd.: 195). Stasiuk situiert die harte und unerbittliche Welt in einer Landschaft, die im weitesten Sinne als anti-idyllisch bezeichnet werden kann und deren Anziehungskraft, so beobachtet auch Marszałek (2005: 495), »gerade in der Verwüstung einer Landschaft nach der Katastrophe« liegt. Tarkowskijs Landschaften des Danach sind in Stasiuks Reiseerzählungen ebenso präsent wie Hilbigs Industriebrachen. Es handelt sich um vergessenen Peripherien und postindustrielle Ruinen oder, um es mit Stasiuks Worten zu sagen, um »Orte, die man der Zeit zum Fraß vorgeworfen hat« (Stasiuk 2006: 319). Die »von Gestrüpp bewachsene Peripherie« (Stasiuk 2017: 208) mit ihren »überwachsenen Ruinen« (ebd.: 292) wird, so lässt sich abschließend festhalten, zum Ausgangspunkt einer Poetik des Ruderalen, in der zwei entgegensetzte Punkte konvergieren: Das Unkraut lässt sich einerseits als vitalistische Gedankenfigur verstehen, die die verwüsteten Landschaften neu besetzt, während es andererseits auch eine Endzeitvision entwirft, die jeden teleologischen Fortschrittsgedanken negiert. In Stasiuks Essaysammlung Das Flugzeug aus Karton (dt. 2004, poln. Tekturowy samolot, 2000) heißt es: »[R]ingsum nur der monotone Horror der Natur, der uns nichts lehrt, außer daß wir mit unserer linearen, progressiven Vision der Existenz nicht die Krone, sondern eine Aberration der Schöpfung sind« (Stasiuk 2004: 74). Über die Städte zwischen Warschau und Ulan Bator wiederum schreibt Stasiuk in Der Stich im Herzen: »All das sieht aus wie eine Landschaft nach der Vernichtung, denn die Vernichtung hat in der Tat stattgefunden. Das Alte ist zerstört worden, doch nichts Neues ist entstanden.« Das Erbe: »Beton, Unkraut, Eisenschrott« (Stasiuk 2015:
10
11
Als eine Art Effekt verschiedener Praktiken und Diskurse stellt der Osten daher immer schon eine Projektion der westlich von ihm liegenden Gebiete dar (vgl. Gebhard/Geisler/Schröter 2010). Siehe dazu auch die Arbeiten von Larry Wolff, u.a.: Inventing Eastern Europe. the Map of Cilivization on the Mind of The Enlightenment (1994) sowie Die Erfindung Osteuropas: Von Voltaire zu Voldemort (2003). Diese hier in aller Kürze skizzierte Tradition eines melancholischen Schreibens über den Osten bildet eine zentrale Signatur vieler Ost-Erzählungen ländlichen Inhalts. Diese spezifische Ausrichtung der Literatur wurde in Kapitel 6.4 ausführlicher dargestellt. Man denke etwa an Werke von Karl Emil Franzos (Aus Halb-Asien, 1876), Joseph Roth (Reise durch Galizien, 1924) oder Bruno Schulz (Die Zimtläden, 1933). Gegenwärtig wird der ›Mythos Galizien‹ um die Faszination einer untergegangenen Landschaft erweitert, wie beispielsweise Maxim Billers 2013 erschienene Novelle Im Kopf von Bruno Schulz zeigt. Zum ›Mythos Galizien‹ siehe bspw. Hüchtker (2002) sowie Nell/Kożuchowski (2018).
249
250
Ruderale Texturen
62). Indem Stasiuk auf die Weise Osten und Ruderalität ineinander verschränkt, kann er zwei Dinge leisten: Er zeigt den von ihm durchmessenen Raum als einen Ort des Danach, als eine Trümmerlandschaft des Sowjetkommunismus, die jeglichen teleologischen Fortschrittsgedanken negiert und sich als ein Ort des Durativen und immer Wiederkehrenden erweist. Mittelosteuropa wird als eine »zone of historical standstill, of the hybrid coexistence of backwardness and failed modernization« entworfen und zeigt sich gleichzeitig als ein »eternal ›realm of recycling‹, of secondary utilization of modern (Western) ideas and products« (Marszałek 2011: 198).12 Dabei nimmt das Unkraut eine besondere Funktion ein: Es wächst auf nicht mehr bewirtschafteten, aber vom Menschen beeinflussten Standorten und besiedelt auf diese Weise die durch Kulturalisierungsprozesse erst eigentlich entstandenen Wuchsorte. Es zeigt sich insofern als prototypische Pflanze des Danach. Wie auch in den bisher betrachteten Texten lässt sich diese Eigenschaft nun auch als Beschreibung einer Textpraxis verstehen. Ohne den Grund, auf dem sich diese bewegen, zu ›schädigen‹, entstehen Stasiuks Texte im ›Gefolge‹ gewisser historischer Anordnungen und widmen sich dem Versuch, die historische Situation abzubilden.13 Ruderalität dient Stasiuk insofern auch als eine Kommentarfunktion, als Möglichkeit einer Annäherung an den historischen Charakters der peripheren Räume. Allerdings lässt sich hier eine interessante Verschiebung beobachten: Der beispielsweise noch in Jirgls Hundsnächte wie auch in Hilbigs Alte Abdeckerei zu beobachtende vitale Druck weicht in der Prosa Stasiuks einer Poetologie des Durativen. Das Ruderal erhält hier einen neuen ontologischen Status: es wird zum paradigmatischen Zeichen des Raums. In diesem Zusammenhang gelingt es Stasiuk, den Osten als Raum neu aufzuspannen. Während die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie in Werken der neuen ›EnkelLiteratur‹, für die Janeschs Roman exemplarisch steht, narrativ erschlossen und zugleich domestiziert werden, entwerfen Stasiuks Texte einen völlig neuen Osten, der in Opposition zum Westen – sozusagen als dessen Antithese – gedacht wird. Der beinahe provokativ anmutende Titel seines zuletzt erschienenen Werks – Der Osten – markiert diesen als einen konkreten Raum, der trotz seiner mosaikartigen Zusammensetzung eine gewisse Geschlossenheit aufweist. Präziser formuliert: Stasiuk zielt auf einen Unterschied zwischen Mittelosteuropa und dem europäischen Westen ab, den er als eine ambivalente Beziehung zwischen einem provinziellen europäischen Osten und einem westlichen modernen Zentrum darstellt. Auch Marszałek (2011: 187, Herv. i.O.)
12
13
Stasiuk beschreibt hier eine innereuropäische postkoloniale Situation, die sich u.a. in parodistischer Nachahmung zeigt: »Der Osten dagegen nimmt sich von euch nur das, was er braucht. Er nimmt sich Schein, Maske und Kostüm, mit deren Hilfe er euch nachahmen kann. Mehr hat man nie von uns erwartet, die Aufgabe war recht einfach. Als undifferenzierte Masse mit unklaren und schwankenden Grenzen betrachtet, mußten wir uns nicht besonders anstrengen, die Herausforderung anzunehmen. Niemand hat unsere Gesichter unterschieden, also war es nicht schwierig, jemand anderen zu bespielen.« (Stasiuk 2008: 68) Im konkreten Fall Polens erweist sich Polen selbst als terra incognita der postkolonialen Theorie, während die polnische Literatur hingegen eine ausgeprägte postkoloniale Sensibilität verzeichnet (vgl. Marszałek 2011: 198). Zur Deutung der sog. ›Zweiten Welt‹ im Kontext postkolonialer Theorien siehe bspw. Wierzejska (2015). Siehe dazu die eingangs zitierten biologischen Definitionen von Brandes (1988), Hofmeister/Garve (1986) sowie Weber (1961).
7. »Sand und Ewigkeit«: Andrzej Stasiuks Reisen im Osten
bemerkt: »Stasiuk projects an other (Slavic) Europe as the opposite of the West«. Damit schreibt sich Stasiuk in jene bereits im Zusammenhang mit Katzenberge skizzierten Diskurse ein, in denen der Osten als unzivilisiertes Hinterland gefasst und als exotischer und unkultivierter Raum imaginiert wurde, wodurch auch ein spezifisches Bild des Westens evoziert werden konnte. Diese dichotome Darstellung kann nun, wie es beispielsweise Wierzejska (2015: 392) formuliert hat, als ein Rückfall in überkommene Stereotype verstanden werden – Stasiuk »falls hostage to the discourses« – oder aber als Schlussfolgerung aus der Tatsache, dass die verunkrauteten Landschaften für Stasiuk den Ausgangspunkt seiner Kreativität bilden. Dabei wird der Osten für Stasiuk in toto als Peripherie lesbar: als interne Peripherie des europäischen Kontinents, die jedoch, gewissermaßen auf paradoxe Weise, immer auch als ein Modell komprimierter Zukunft fungiert. Dass diese Peripherie gerade noch von Ruinen und Unkraut gekennzeichnet ist, erweist sich zuletzt als Glücksfall, denn auf die verunkrauteten Flächen des Postsozialismus folgt schließlich nur noch etwas, das Stasiuk als »der ganze Müll, der Chinakram« (Stasiuk 2017: 27) bezeichnet. »Für fünf oder sieben Zloty, Tausende von Dingen, deren Bestimmung […] oft schwer zu definieren war. Denn was macht man mit einem Herzen aus Glas, das mit goldenem Plastikpulver gefüllt ist? Oder mit einem grünen Fisch in einer Glaskugel, der bei Berührung leichenstarr mit Flossen und Schwanz wackelt?« (Ebd.: 219f.) Wenn die grasbewachsenen Ruinen verschwunden sind, so die Endzeitvision Stasiuks, wird sich der Osten in eine billige Kopie der chinesischen Superstädte verwandeln: Auf Unkraut folgt Plastikmüll. Ruderalität erweist sich als für Stasiuk insofern als ein Durchgangsphänomen: Verschwindet sie, verschwindet auch seine Imaginationsfähigkeit als Erzähler, die sich an den verunkrauteten Landschaften entzündet. Als Gradmesser dieser Transformation fungiert der Plastikmüll, der immer größere Teile des Ostens einnimmt. Das kulturkritische Moment seiner Texte resultiert aus dieser Verlusterfahrung, denn der nachfolgende Plastikmüll erweist sich als ungeeignet für Stasiuks melancholische Literatur. Die Frage ›Denn was macht man mit?‹ fasst dieses Problem zusammen. Die zuletzt in Der Osten vorgenommene Textbewegung läuft schließlich darauf hinaus, dass der durchquerte Raum, den Stasiuk auf seinen rastlosen Reisen beständig erkundet und in den daraus entstehenden Texten konserviert, zum Ort des eigenen Ich wird. Die Ruderalität wird insofern nach Innen gewendet, um Auskunft über ein Ich zu geben, das gegenüber der Gegenwart von Konsum und Verkehrsinfrastrukturen zunehmend ratlos ist und sich auch deswegen dem Fortwuchern vergangener Eindrücke in einem zunehmenden Solipsismus widmet. Das Ich wird zum Osten, der zugleich aus seiner geografischen Fixierung gelöst wird.
251
8. »Blütenstaub oder Aschestaub«: ein Fazit »von hundskamille üppig überwuchert brandschutt und eisenteile« Wulf Kirsten: ödland Die Landschaften ›unberühmter Orte‹ (Schäfer 2011) erweisen sich immer wieder als von »Blütenstaub oder Aschestaub« (Hilbig 2010a: 237) bedeckt. Während einerseits zukunftsgerichtete Aufbauszenarien entworfen werden, finden sich andererseits verödete Gebiete und Industriebrachen. Verlassene Dörfer werden dabei ebenso zum Ausgangspunkt der Erzählungen wie stillgelegte Fabriken. Wie die Textanalysen gezeigt haben, greifen verschiedene Erzähltexte der (post-)sozialistischen Ära zur Beschreibung dieser peripheren Räume auf einen konkreten Bildbereich – den des Ruderalen – zurück. Das Unkraut, das Einzug in die devastierten Regionen hält, verdeutlicht die Spannung zwischen einer früheren Lebendigkeit und Produktivität der Orte und einer nun vorherrschenden Stagnation und einem allgegenwärtigen Verfall. Ausgehend von dieser Beobachtung wurden in dieser Studie ausgewählte Werke aus den Jahren 1957 bis 2017 einem close reading unterzogen. Das abschließende kurze Fazit wird die in den Textanalysen gewonnen Ergebnisse noch einmal zusammenführen und einen resümierenden Blick auf die poetologische Relevanz der Ruderalität werfen. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, den umfassenden Transformationen des ländlichen Raums nach 1945 wie auch infolge des Falls der Berliner Mauer bleibt in der Literatur aus der und über die sozialistische Epoche mit der Beschreibung ruderaler Flächen ein peripherer Restbestand zurück, der seinen Ausdruck in Ästhetisierungen und Funktionalisierungen sogenannter ›Unkräuter‹ findet. Dabei verschränken sich Narrative des Peripheren mit Bildern des Ruderalen, die aus den Perspektiven und in den Poetiken der hier thematisierten Autorinnen und Autoren Möglichkeiten der Semantisierung bieten, mit denen die jeweiligen räumlichen, sozialen und historischen Situationen greifbar gemacht werden. Vor dem Hintergrund geänderter Ordnungen und neuer Zentralitäten nimmt die ruderale Metaphorik dabei auch oftmals eine Schlüsselstelle im jeweiligen Raum- und Zeitverständnis ein. So fungiert Ruderalität auf den ersten Blick gewissermaßen als ein Bild dafür, dass nach dem Verschwinden noch etwas übrig bleibt. Über sie findet eine Annäherung an den historischen Charakter peripherer Räume statt, denn ihrer vegetativen Eigenlogik liegt ein bestimmtes
254
Ruderale Texturen
Geschichtsverständnis zugrunde, das im Interimsphänomen der Ruderalflora bildlich ausgestaltet wird und dabei eine Ambivalenz vor Augen führt: Die Vergangenheit ist noch, bald jedoch nicht mehr präsent – sie hat aber zugleich auch das Potential, an unvermuteten Orten wieder aufzutauchen und diese mitunter zu ›überwuchern‹. Darüber hinaus leistet das Vorkommen von Pflanzen wie Melde und Rainfarn in den Texten ein Zweifaches: Es dient der Dynamisierung der erzählten Welt, in der durch den Rekurs auf die Pflanzenwelt von einer Bewegung erzählt werden kann, und markiert gleichzeitig ein konkretes textgenetisches Prinzip. An den Rändern der Zerstörung siedelt sich mit dem Unkraut etwas an, das sowohl auf der Ebene der Diegese als auch auf der Ebene der Textproduktion am Bildbereich des organischen Wachstums partizipiert: Das ›Selber-Wachsen‹ wird zur Textbewegung und damit auch zum poetologischen Prinzip. Diese Funktionalisierungsweisen des Ruderals – die Darstellung von etwas noch Vorhandenem, die Dynamisierung der erzählten Welt und schließlich auch ihre Verwendung als textgenetisches Prinzip – wurden im Laufe der Untersuchung anhand verschiedener Einzelstudien herausgearbeitet und spezifiziert. Da das Bild einer sich einen kultivierten Raum zurückerobernden Pflanzenwelt seit Oskar Loerkes Erzählung Die Puppe (1919) eng mit der magisch-realistischen Schreibweise verbunden ist, galt es zunächst, die verschiedenen Spielarten des Magischen Realismus näher zu betrachten und den Ruderalbegriff auf diese Weise für die Textanalysen scharf zu stellen. Dabei zeigte sich, dass der Magische Realismus immer dort als eine Artikulationsform Verwendung findet, wo die Transformationen der Moderne besonders brutal umgesetzt werden. Hinsichtlich des Ruderals ist jedoch auch eine semantische Verschiebung zu beobachten: Der Magische Realismus fungiert zwar als literarische Tradition, vor der die ausgewählten Texte verstanden werden können, die Ruderalität markiert in den thematisierten Werken aber dennoch etwas Neues. Die Schriftsteller/-innen greifen nicht einfach auf eine frühere Tradition zurück, sondern bilden eine völlig neue Form des vegetativen Wachstums aus, die auch als textgenetisches Prinzip der Werke zu verstehen ist. Da sich diese Schreibweise anhand der unterschiedlichen Werke auch über einen längeren Zeitraum verfolgen lässt, kann hier von einer gemeinsam geteilten literarischen Verarbeitungsform historischer Erfahrungen gesprochen werden – von einer Werkgruppe, die eine Poetik des Ruderalen verfolgt. Es geht dabei nicht mehr nur um eine auf inhaltlicher Ebene dargestellte Rückeroberung durch die Natur, sondern auch um die Ausbildung einer konkreten Poetik: So wie die Ruderalpflanzen ›wuchern‹ auch die betrachteten Texte. Nimmt man die Ruderalität in ihrer Metaphorik ernst, dann erzeugt die Eigenlogik des Unkrauts, das ›Selber-Wachsen‹, einen innovativen semantischen Effekt. ›Selber-Wachsen‹ meint dann auch, dass ein Text ohne kulturpolitische Vorgaben entsteht; er entwächst – so die dahinterliegende und auch literarisch inszenierte Logik – der jeweiligen historischen Situation. Literatur und Ruderal agieren hier analog: Indem der Literatur ein vegetatives Element unterlegt wird, kann sie Zwischenräume und Randgebiete abseits der (kultur-)politischen Strukturbedingungen besetzen. Gleichzeitig steckt in diesem textgenetischen Prinzip auch ein besonderer politischer Anspruch. Obwohl die Texte nicht politisch intendiert sind, äußern sie sich in politischer Weise, wenn die eigene Textbewegung als eine die erzählte Welt und das erzählende Subjekt gleichermaßen in sich aufnehmende inszeniert wird. Während in Müllers Niederungen das abgelegene
8. »Blütenstaub oder Aschestaub«: ein Fazit
Dorf droht, von überdimensionierten Kelchblättern verschlungen zu werden, bewachsen in Hilbigs Alte Abdeckerei die mutierten Ruderalgewächse die Spuren der deutschen Geschichte und des in den devastierten Landschaften umherirrenden Erzählers. Den Texten geht es folglich nicht darum, (politisch) aktiv in die gegenwärtige Situation einzugreifen, vielmehr wollen sie diese abbilden und sie sich – im Bild des Wucherns paradigmatisch eingefangen – förmlich einverleiben. Auf diese Weise partizipieren sie aus einer denzentralen Perspektive am Zeitgeschehen, das, künstlerisch verfremdet, in Literatur überführt wird. Jedes der behandelten Werke repräsentiert eine eigene Erscheinungsform der Ruderalität. Mit Erwin Strittmatter wurde im dritten Kapitel zunächst ein Autor betrachtet, an dessen literarischem Œuvre sich die Entstehung jener Strukturbedingungen aufzeigen lässt, vor deren Hintergrund die Rede von einer Poetik der Ruderalität erst eigentlich an Kontur gewinnen kann. An der Roman-Trilogie Der Wundertäter kann exemplarisch nachgezeichnet werden, wie und wo sich jene ›Ränder‹ herausbilden, an denen sich Unkraut und ruderale Literatur schließlich ansiedeln – sowohl kulturpolitisch als auch motivisch. Geprägt von der Poetik eines dezidiert ›sozialistisch‹ gedachten Realismus, der ab 1949 unter der Führungsrolle der Sowjetunion in der neu gegründeten DDR etabliert wurde, verdeutlichen die Wundertäter-Bände den Einfluss konkreter literaturästhetischer Vorgaben. Mit dieser von staatlicher Seite vorgegebenen Poetik bildete sich in den unter sowjetische Besatzung stehenden Ländern Ostmitteleuropas eine spezifische Schreibweise heraus, die sich durch eine starke Wirklichkeitsnähe und das Fehlen von Abstraktion und Ästhetisierung auszeichnete. Der Wundertäter firmiert insofern zunächst einmal als Beispiel einer doktrinären Kulturpolitik. Der erste Teil der Trilogie, erschienen genau zwischen dem Wechsel von Ankunfts- zu Aufbauliteratur, schreibt sich in bestimmte Genrekonventionen ein, die parteilichen Zielsetzungen und ästhetischen Richtlinien unterworfen waren. Diese werden in den beiden darauffolgenden Bänden von Strittmatter allerdings durchaus kritisch überprüft und durch die naiv-schelmenhafte Erzählweise des Romans unterlaufen. Dies zeigt nicht zuletzt das eigensinnige Wachsen der Ruderalflora, von der kontinuierlich berichtet wird. Der Rekurs auf Pflanzen wie Melde und Goldrute lässt sich als eine Reaktion auf die strikten Programmatiken verstehen, die den Literaturbetrieb der DDR bestimmten. Die schmutzigen Goldruten an den Wegrändern zeigen, dass neben den strukturierten Vorgaben der Kulturpolitik ein poetisches Moment existiert, das, obgleich von ›Aschestaub‹ bedeckt, in den drei Romanen immer wieder präsent ist. Die Romane setzen der großangelegten Austilgung ›frei wuchernder‹ Literatur durch die doktrinären Vorgaben der sozialistischen Kulturpolitik ein vorsichtiges ›Bewachsen der Ränder‹ entgegen. Diese Ränder rücken vor allem im dritten Band in den Fokus, in dem Strittmatter ein aus dem allgemeinen Diskurs ausgeblendetes Thema aufgreift. Die Darstellung des Vorgangs der Braunkohlegewinnung wird in diesem Zusammenhang als ein Blick unter die Oberfläche und damit auch in die Vergangenheit lesbar. Der Aufenthalt des Protagonisten Stanislaus in Kohlhalden (über Tage) und Finkenhain (unter Tage) hat eine doppelte Funktion: Er zeigt einerseits die ökologischen Implikationen der forcierten Industrialisierung auf und fördert andererseits die tabuisierte Vergangenheit – verborgen zwischen Heidekraut und unter Kohleflözen – zutage. An der Wundertäter-Trilogie ließen sich insofern die kulturpolitischen Vorgaben, die den
255
256
Ruderale Texturen
Kulturbetrieb der DDR maßgeblich bestimmten, wie auch der literarische Umgang mit diesen aufzeigen. Darüber hinaus dienten Strittmatters Romane auch als motivische Kontrastfolie für die daran anschließenden Analysen. Die drei Bände führen inhaltlich vor, wie sowohl der ländliche als auch der städtische Raum im Rahmen einer sozialistischen Neuordnung umgestaltet werden, wie also jene Industrieareale und Kohlegruben erst entstehen, die ein Autor wie Wolfgang Hilbig 20 Jahre später demontiert. Das vierte Kapitel widmete sich der banatschwäbischen Autorin Herta Müller und ihrem literarischen Werk. Damit verschob sich der Fokus von der DDR nach Rumänien. In Müllers Dorfgeschichte Niederungen wuchern verschiedene Ruderalgewächse in die dörfliche Lebenswelt hinein und stellen in dieser Überwucherungsbewegung ein Zeitbewusstsein aus, das Vergangenheit und Gegenwart aufeinander bezieht und ineinander verschränkt. Die ruderale Metaphorik wird von Müller verwandt, um die Darstellung der banatschwäbischen Lebenswelt mit einem Zeitbewusstsein zu koppeln, das die Spuren der deutschen Geschichte in den verkommenen Landschaften verortet. Auf diese Weise entwickeln Müllers Texte ein Geschichtsbewusstsein, das die tabuisierte Vergangenheit als einen festen Bestandteil der Gegenwart begreift und den Boden, auf dem sich die Ruderalflora ansiedelt, problematisiert. Diese Überlagerung der Zeitebenen wird im Bild der Pflanzenwelt gefasst und Geschichtlichkeit auf diese Weise verräumlicht. Auf den Flächen der Kollektivierung und am Rande des allmählich aussterbenden Dorfes wächst etwas aus dem Boden (der Geschichte) und in die Landschaft (der Gegenwart) hinein. Das Unkraut steht insofern für eine unkontrollierte und latent nachwirkende Vergangenheit. Dies führt zu einer folgenreichen Verschiebung: Im dörflichen Mikrokosmos der Niederungen zeigt sich die anthropomorphe Pflanzenwelt als kraftlose Reminiszenz der magisch-realistischen Unkräuter. Dieser Eindruck ließ sich anhand der Beschreibungen der sterilen sozialistischen Maisfelder in Müllers essayistischen Arbeiten noch einmal verstärken, die das eigensinnige Wachstum der ruderalen Vegetation förmlich unterbinden. Die Bildwelten dieser domestizierten Ackerflächen fungieren hier als Kommentarfunktion der Autorin: Müllers Modifikation der ruderalen Flora enthält Hinweise auf die realsozialistischen Bedingungen, unter denen die Autorin aufwuchs und die sie in und mit der Poetik der Pflanzen deutet. Das Leben im Sozialismus hat sich tief in ihr Werk eingeschrieben. Immer wieder kreist Müllers Schreiben daher um die Frage nach der Abbildbarkeit der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung. Vor diesem Hintergrund wurde die These verfolgt, dass das fragmentarisierende Erzählen vom Dorf in einem Kontinuum mit jenen neo-avantgardistischen Verfahren des Collagierens steht, die Müller in anderen Arbeitszusammenhängen angewandt hat. Im zweiten Teil des Kapitels rückten daher Müllers ab 1991 entstehende Collagen in den Blick, die ein poetisches Prinzip verfolgen, das auf eine adäquate Abbildung von Wirklichkeit zielt, und die dabei dem konkreten Wortmaterial ein beinahe magisches Potential attestieren. Immer wieder, so zeigte sich, verdeutlichen Müllers Arbeiten, die den Prozess der Verwandlung von Wahrnehmung in Literatur auf verschiedene Weise reflektieren, auf formaler wie inhaltlicher Ebene ein Spannungsverhältnis von Abbildungsbegehren und Sprachkritik. Dabei geht es der Autorin nicht um Abbildbarkeit im realistischen Sinne, sondern um einen Blick auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit, um eine Darstellung unkonventioneller Perspektiven und eines ›magischen Hintersinns‹, der durch subjektive Wahrnehmungsprozesse erzeugt wird. Die
8. »Blütenstaub oder Aschestaub«: ein Fazit
Dinge entfalten eine Eigenlogik, die sich in betrachtendem Subjekt und Text gleichermaßen fortsetzt. Die epigonale Moderne der banatschwäbischen Literatur, vor deren Hintergrund Müllers Œuvre entsteht und die in den Collagen ihren Ausdruck findet, wurde zuletzt noch einmal mit einer semantischen Dimension der Ruderalität zusammengeführt: Beide markieren einen Status nach der Kultur. Einen solchen Status des Danach zeigte auch das fünfte Kapitel. Es knüpfte inhaltlich an Strittmatter an und widmete sich der literarischen Darstellung des Tagebaus und der weiterverarbeitenden Industrie in Wolfgang Hilbigs Erzählung Alte Abdeckerei (1991). Diese beschreibt den Wandel von industrieller Nutzung zu dysfunktionalen Brachen und bestimmt den historischen Charakter der Abraumlandschaften im Rekurs auf das eigensinnige Wuchern sekundärer Pflanzenwelten. Die Ruderalflora entsteht, so gibt der Text Auskunft, »offenbar nur […], um die Wunden des Geländes zu bedecken« (A 161). Sie entsteht jedoch zugleich auch, um diese offenzulegen. Auch hier zeigt sich wieder die ambivalente Funktion einer Poetik des Ruderalen. Die ruinierten Landschaften und brachliegenden Flächen werden von Hilbig als metaphorisch aufgeladene Geschichtslandschaft inszeniert, durch die sich ein namenloser autodiegetischer Erzähler bewegt, dessen Wege als Bewegungen durch die Gegenwart ebenso wie durch die Vergangenheitsschichten der industriell genutzten Landschaften entworfen werden. Das Geschehen spielt sich nicht nur auf der Oberfläche einer gegenwärtigen Landschaft ab, sondern verlagert sich auch in unterirdische Räume; in eine Art Unterwelt, in der die Reste der deutschen Geschichte gespeichert sind. So passiert der Erzähler einerseits die gegenwärtigen, bereits dem Verfall preisgegebenen Industriegebiete und durchschreitet andererseits imaginäre Schichten einer Vergangenheit, die unter den brachliegenden Gebäuden vergraben liegt. Hilbigs brüchige Oberflächen und postindustrielle Landschaften lassen sich insofern als Fortsetzung der dysfunktionalen modernen Industriegesellschaft begreifen, während sie gleichzeitig auf die nationalsozialistische Vergangenheit zurückverweisen. Die Landschaft der Alten Abdeckerei fungiert in dieser Hinsicht als Projektionsfläche für eine unbearbeitete Vergangenheit. Indem die Erzählung den Boden als brüchige Oberfläche zeigt, als ein von Schächten und Kellern unterhöhltes Terrain, werden nicht nur die Folgen des Kohleabbaus, sondern auch die historische Bodenlosigkeit der verdrängten deutschen Geschichte verdeutlicht und das Bild einer irreparablen Gesellschaft entworfen. Darüber hinaus wird hier der wirtschaftlich und umweltpolitisch desolate status quo der späten DDR bildlich gefasst. Wie die Analyse zeigte, stellen die in Hilbigs Texten entfalteten Ränder der Zerstörung ihre prekäre Beschaffenheit fortwährend aus. Die Nebenschauplätzen der Moderne sind ausgebrannte Tagebaue, verlassene Industrieareale und zerstörte Baracken. Final gipfelt die Erzählung im Untergang der devastierten Gebiete, wenn diese, mythologisch überhöht, schließlich zum Ort des Weltuntergangs stilisiert werden. Es handelt sich um eine Eskalationslogik, die Hilbig mit Hinweisen auf eine unbearbeitete Vergangenheit ausstaffiert. Die Konfigurationen des Magischen Realismus werden dabei verwandt, um einen paradoxen Raum zu entwerfen, der zwischen Apokalypse und Zukunftsvision, zwischen Verseuchung und Neubeginn aufgespannt wird. »Blütenstaub oder Aschestaub« (Hilbig 2010a: 237) bedecken die ruinösen Gebiete gleichermaßen. Wie Müller greift auch Hilbig zudem auf die Ruderalität zurück, um eine Sprache für die eigenen Erfahrungen zu finden. Die in der Erzählung angedeuteten geschichtlichen
257
258
Ruderale Texturen
Ereignisse – der Holocaust, die Erinnerung an die deutsch-deutsche Teilung, die untergehende DDR – fordern dabei auf ähnliche Weise eine Neu-Bestimmung der magischrealistischen Traditionslinie ein, die hier auch als eine poetologische Entsprechung zur eigenen Gegenwart fungiert. Hilbigs Alte Abdeckerei reagiert in gewisser Weise auf die Austilgung wuchernder Texturformen, indem sie die bei Strittmatter noch deutlich erkennbaren Strukturvorgaben ebenso im Unkraut versinken lässt, wie die jüngste deutsche Vergangenheit. Es konnte gezeigt werden, dass Hilbig nicht nur an der literarischen Strömung des Magischen Realismus partizipiert, sondern diesen auch nutzt, um eine ganz eigene Form von ›Trümmerliteratur‹ zu generieren, die als postkommunistische Antwort auf das sozialistische Erbe fungiert. Die jüngste Vergangenheit stand auch im sechsten Kapitel im Vordergrund. Der dort untersuchte Roman Katzenberge (2010) der deutsch-polnischen Autorin Sabrina Janesch lässt sich als Ausdruck einer zeitgenössischen Suchbewegung verstehen, die eine Art Rückwendung in die Vergangenheit vollzieht und dabei den Magischen Realismus als einen populären Erzählstil aktueller Literatur nutzt. Er dient zugleich auch der literarischen Erkundung Osteuropas. Eine globale Perspektive auf diese neue Strömung der Erinnerungsliteratur zeigte eine ihnen gemeinsame Topik und damit auch einen gewissen Hang zu klischeehaften Vorstellungen vom Osten, die teils kolonialgeschichtlich geprägt sind. Vor diesem Hintergrund ließ sich nach der erinnerungskulturellen Funktion stereotyper Imaginationen fragen, die in Katzenberge selbstreflexiv aufgegriffen werden. Janesch verwendet die magisch-realistische Erzählweise, um eine Sprache für die zurückgelassene Heimat zu finden und die Familiengeschichte der Protagonistin zu rekonstruieren. Dabei rückt im Roman schließlich weniger das Unkraut als vielmehr der Boden beziehungsweise die Erde, auf der etwas Neues wächst, in den Blickpunkt: Während der Erdboden bei Hilbig und Müller als ein – sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – verseuchtes Terrain in Erscheinung tritt, entfaltet er in Katzenberge eine nahezu ›magische‹ Kraft und avanciert zum Verbindungsglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Gleichzeitig lässt sich die Erde auch als ›Nährboden‹ der Erzählung und als narratologisches Mittel verstehen: In ihr wird die Relevanz des Erzählvorgangs für die nachgeborene Generation ebenso symbolisch gefasst wie dessen Dringlichkeit angesichts des Aussterbens der Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs. In Katzenberge wird die sich einen kultivierten Raum zurückerobernde Pflanzenwelt wieder zu einem Topos der magisch-realistischen Schreibweise, auf die die Autorin zurückgreift, um eine Sprache für die lebensweltlichen Bestrebungen ihrer Generation zu finden, die im Kontext einer sich anbahnenden historischen Zäsur – dem Tod der Zeitzeugen – eine andere Form der Vergangenheitserkundung finden muss und will. Der Roman nimmt insofern eine semantische und funktionale Verschiebung vor: Die ruderale Flora wird, wie auch die Erde, auf der sie wächst, zum narrativen Mittel, das zwar aus einer poetologischen Perspektive betrachtet von Relevanz ist, vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der realsozialistischen Systeme jedoch seine historisch-politische Dringlichkeit eingebüßt hat. Ihre politische Sprengkraft weicht dem Versuch, eine eher individuell-existenzielle Poetik zu erzeugen: Statt wuchernden Texturen finden sich symbolische Akte, die vor allem auf das Individuum und sein noch zu findendes Verhältnis zur Vergangenheit abzielen; illustriert beispielsweise in der Situation, in der die Enkelin ein Kopftuch voller Erde an das Grab ihrer Großeltern bringt.
8. »Blütenstaub oder Aschestaub«: ein Fazit
Hinsichtlich der sich in den letzten Jahren herausbildenden Gattungen des Familienromans sowie der ›Enkel-Literatur‹, die in Anlehnung an die Gattung des Generationenromans die Gebiete östliche der Oder-Neiße-Linie erkunden, lässt sich von einer ›Domestizierung‹ des Ruderals sprechen. Indem die Ruderalität allerdings Bestandteil einer Gattungspoetik wird, wird sie schließlich gewissermaßen zum Ornament – zum schmückenden Beiwerk einer populären Erzählform. Stasiuks im siebten Kapitel betrachtete Reiseberichte brechen aus der am Beispiel von Katzenberge beobachteten Entwicklung einer ›Domestizierung‹ des Ruderals aus, indem sie diesem nicht nur einen neuen Status zuschreiben, sondern auch den Osten als Raum neu ausloten. Anhand der Reiseberichte und kleineren literarischen Erzählungen wurden fünf übergreifende Aspekte herausgearbeitet, die die Funktion der Ruderalität in Stasiuks Œuvre verdeutlichen. Es zeigt sich, dass sich die Metaphoriken der Verunkrautung bis in die Gegenwartsliteratur hinein halten und dort für Stasiuk zum bildlichen Ausdruck einer verschwundenen Zeit werden. Der Autor betrachtet das Unkraut als ein herausragendes Merkmal eines von Polen bis China gedachten postkommunistischen Ostens. »Beton, Unkraut, Eisenschrott« (Stasiuk 2015: 62) bilden daher auch das Herzstück seiner gleichermaßen politischen wie poetischen Prosa, die die verschwundenen und verschwindenden Räume jenes Ostens in detaillierten Einzelbetrachtungen noch einmal zum Leben erweckt. Gleichzeitig werden durch Stasiuks rastlose Fahrten die erkundeten unbekannten Orte zwischen Elbe und Kamtschatka, zwischen den Masuren und Ulan Bator in den Entwurf eines neuen (auch literarischen) Ostens überführt, der sich dadurch auszeichnet, dass Ruinen, Müll und Unkraut eine enge Verbindung eingehen, wodurch die Spuren des Kommunismus nicht nur archiviert, sondern auch ästhetisiert werden. Diese Raumverschiebung des Ostens in den Osten und das zur Bestimmung des historischen Charakters der entlegenen Räume verwandte Bildfeld des Unkrauts eröffnen einen neuen Blick auf eine Poetik ruderaler Texturen. So fungiert die Ruderalität zwar auch bei Stasiuk als ein Bild und Konzept dafür, dass nach dem Verschwinden noch etwas vorhanden ist, gleichzeitig lässt sich hier allerdings eine semantische Verschiebung beobachten: Als ein fester Bestandteil all jener Regionen, die Stasiuk bereist und beschreibt, fungiert das Unkraut nicht, wie beispielsweise noch bei Hilbig, als vegetativer Ausdruck einer unbearbeiteten Vergangenheit, sondern markiert einen status quo; es dient als fester Bestandteil des betrachteten Raums. Stasiuks literarische Reiseberichte geben insofern nicht nur dem Unkraut, sondern auch dem Osten wieder einen Ort. Dabei kommt jedoch auch ein mögliches Verschwinden der Ruderalflora in Betracht, die heute noch von der Vergangenheit zeugt und den Literatinnen und Literaten eine imaginative Vergegenwärtigung und schriftliche Aufbewahrung ermöglicht. Anstatt des wuchernden Unkrauts wird sich zukünftig vielleicht nur mehr Plastikmüll finden. Mit dieser Aussicht erreicht die vorliegende Poetik der Ruderalität ihren eigenen Rand. Ob es jenseits davon Literatur geben kann, bleibt abzuwarten. Die detaillierten Analysen konnten zeigen, dass die Wucherungsbewegungen der Ruderalflora eine enge Verbindung mit den Strukturbedingungen ihrer Zeit eingehen. An der Ruderalität, so lässt sich abschließend noch einmal betonen, kann nicht nur der Umgang der Erzählungen mit Politik und Geschichte aufgezeigt, sondern auch eine Aussage über die Dringlichkeit von Literatur getroffen werden. Werden die Tex-
259
260
Ruderale Texturen
te als vitales Medium wahrgenommen, das einer bestimmten historischen Situation entwächst, so lassen sich verschiedene Ausprägungen des Ruderalen beobachten. Hinsichtlich der ausgewählten Texte lässt sich gewissermaßen auch von einer Eskalationslogik sprechen. So ist im Wundertäter, dessen erster Band in der Gründungsphase der DDR verfasst wurde und der insgesamt starken Zensurbedingungen unterworfen war, nur an wenigen Stellen von Pflanzen wie Goldrute, Schöllkraut und Taubnessel die Rede. Damit bleiben das Aufbaupathos der frühen DDR und die Strukturvorgaben des sozialistischen Schreibprogramms in der Trilogie deutlich erkennbar. Niederungen wiederum beschreibt die Stagnation der 1990er Jahre und rekurriert zu diesem Zweck auf ein Ruderal, das in der kindlichen Fantasie überdimensionierte Ausmaße annimmt. Nichtsdestotrotz zeigt Müllers Prosaband – sozusagen hinter den Kelchblättern – die starren Strukturen des totalitären Ceauşescu-Regimes fortwährend auf. In der Alten Abdeckerei werden schließlich Szenarien einer Verunkrautung entworfen, die jegliche Bezüge – politisch, historisch wie auch literarisch – unkenntlich machen. Hilbigs Erzählung tilgt auf diese Weise, zumindest auf den ersten Blick, jede kontextuelle Spur; die Historie wird förmlich vom Text einverleibt. Der Transparenzgrad gegenüber Politik und Geschichte nimmt in den ausgewählten Texten insofern immer mehr ab, während die Dringlichkeit, die jeweilige Geschichte zu erzählen, zunimmt. Das hat nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die literarisch gestaltete Subjektivität der Figuren. Wenn sich Hilbigs Protagonist »Breschen« (A 124) in eine »Wildnis mannshoher Brennesseln« (A 127) schlagen muss, um die devastierten Landschaften des Braunkohleabbaus zu durchwandern, so zeigt dies, dass nicht nur die deutsche Geschichte hinter dem Gestrüpp verborgen liegt, sondern auch jeglicher Strukturierungsversuch einer dogmatischen Kulturpolitik im verunkrauteten Gebiet der verödeten Räume ins Leere laufen muss, während das Subjekt gleichzeitig Erinnerungsarbeit zu leisten hat. Anders formuliert: Sind im Wundertäter die Vorgaben eines sozialistischen Schreibprogramms und der Bezug auf gegenwärtige Entwicklungen noch deutlich erkennbar, so versinkt in der Alten Abdeckerei jeglicher Strukturierungsvesuch im verödeten Gebiet der zerstörten Industrieareale – hinter »einem undurchdringlichen Dickicht aus Bäumen und Sträuchern« (A 126). Der Text erlaubt hier kaum Transparenz gegenüber gegenwärtigen Entwicklungen, während er gleichzeitig fortwährend ausstellt, warum die Geschichte erzählt werden muss: Sie muss erzählt werden, bevor alles völlig überwachsen oder aber – so das apokalyptische Schlussszenario der Erzählung – im Erdboden verschwunden ist. Nach 1990 lässt sich nun ein anderer Zugriff auf das Bildfeld der Ruderalität erkennen. Während die anthropomorphisierte Pflanzenwelt in der Gattung der ›EnkelLiteratur‹, für welches Katzenberge exemplarisch steht, zu einem populären Motiv avanciert, über das sich die Autorinnen und Autoren in die Tradition magisch-realistischer Schreibweisen einschreiben und zugleich auch neue Formen individueller Vergangenheitserkundungen suchen, rückt mit den Reisebeschreibungen Stasiuks eine weitere Dimension in den Blick. Die in den verlassenen Regionen aufgespeicherte Geschichte wird durch dessen rastlose Reisen narrativiert, während der Raum selbst jedoch zugleich immer unkonkreter wird. Schließlich wird die Ruderalität nach Innen gewendet, um Auskunft über ein Ich zu geben, das gegenüber der Gegenwart von Konsum und Infrastrukturen zunehmends ratlos ist und sich auch deswegen dem Fortwu-
8. »Blütenstaub oder Aschestaub«: ein Fazit
chern vergangener Eindrücke in einem zunehmenden Solipsismus widmet – das Ich wird zum Osten. Die im Laufe der Analysen herausgearbeiteten Elemente einer Poetik der Ruderalität – Industriebrachen und Schrottplätze, Trümmerstätten und verwaiste Landschaften, Semantisierungen der Schauplätze als Hinterland der tiefsten Provinz und Imaginationen einer all diese Orte bewachsenden wuchernden Wildnis, die mitunter als artenreiches Biotop in Erscheinung tritt – lassen sich abschließend an einem kleinen Prosagedicht des in Klipphausen bei Meißen geborenen Autors Wulf Kirsten noch einmal, sozusagen prototypisch, darstellen. Dieser schreibt in seinem 1987 veröffentlichten Gedicht ödland: »einfach so über die erde gehn, mir nichts, dir nichts, wo nichts wächst, was der landschaft nutzen abwirft. armseliges besenginsterland, das mit seinen schwarzen schoten raschelt. grandig klirrt’s und knistert’s auf verlornem posten. ein disteljahrgang promeniert stolz erhobenen hauptes. ungezähmter lebensdrang windbreit ausgeufert. stillgelegte kiesgruben, in denen die natur freie hand hat. im weglosen, wild wuchernden grasfilz punktet der enzian seine tiefblauen herbstkelche dicht über der narbe hin. der steilhang von dörnicht artenreich bewachsen im selbstlauf. ein macciawall. kein schild: vorsicht! undurchdringliche zone! betreten verboten! reservat für füchse und niederwild. so viele schlupflöcher, so viele grüße zur guten nacht. von hundskamille üppig überwuchert brandschutt und eisenteile […]. wollflocken als wegmarken durch die wildnis, der herde vom strauchwerk ruppig ausgezupft. der fuß tritt fehl in verfallene erdhöhlen. […] aus dem fruchtbaren ackerland, monoton gebreitet bis in alle morgenweiten, erhebt sich das wüste riff, grün überbuscht wie ein raupenhelm.« (Kirsten 1987: 39) Das ›armseelige besenginsterland‹, in immer neuen Bezeichnungen als ›unberühmter Ort‹ dargestellt, wird zum Schauplatz ›wuchernder‹, ›ausufernder‹ und ›promenierender‹ Ruderalgewächse: Disteln, Hundskamille und Grasfilz bilden einen ›macciawall‹, ein ›wüstes riff‹, eine ›undurchdringliche zone‹. Als unfruchtbares Pendant zum ›fruchtbaren ackerland‹ zeigt sich der verwachsene Raum nicht zuletzt auch als ehemaliger Kriegsschauplatz und als ein Trümmergelände: ›brandschutt und eisenteile‹ liegen in den ›stillgelegten kiesgruben‹, durch die ›wollflocken als wegmarken‹ führen. Kirstens auf Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke ebenso wie auf T.S. Eliot anspielendes Gedicht1 erweist sich nun insofern als interessant und sinnbildgebend, als die Begehung der ›undurchdringlichen (Ost-)zone‹ die konkrete Eigenlogik ruderaler Texturen abschließend noch einmal stellvertretend und analogiebildend vor Augen führt: Wie auch der Besenginster entwächst das Gedicht dem verödeten Landschaftsraum bei Meißen, es entsteht förmlich aus diesem und erhebt sich wie das ›grün überbuschte Riff‹ aus den dornigen Steilhängen und stillgelegten Gruben. Dabei werden die unter
1
Für Kirsten spielte die Zeitschrift Die Kolonne (1929-1932) eine wichtige Rolle im Kontext einer modernen Naturlyrik. Schäfer (2001: 244) liest Kirsten als einen »Beweis dafür, daß die magischrealistischen Kolonne-AutorInnen in der alten DDR ›überwintert‹ haben«. Zu Kirstens Orientierung an Texten der (emphatischen) Moderne und des Magischen Realismus siehe Schäfer (2001: 242-251).
261
262
Ruderale Texturen
der Erde verborgenen Vergangenheitsschichten durch die ›verfallenen erdhöhlen‹ anzitiert, während die ›raschelnden schwarzen schoten‹ einen melancholischen Blick auf die Gegenwart werfen. Der ›selbstlauf‹ schließlich wird als Blick in die Zukunft lesbar, die nicht zuletzt durch die als ›wegmarken‹ fungierenden ›wollflocken‹ eine ungefähre Richtung erhält. Im poetischen Bild des Ruderalen werden somit schließlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Peripheren ineinander verschränkt. Kirstens ›besenginsterland‹ zeigt noch einmal eindrucksvoll, inwiefern durch den Rekurs auf eine ruderale Flora in der Literatur ein Ort erzeugt wird, der von jeglichem Zeitbezug losgelöst und zugleich vollständig von der Historie vereinnahmt ist. Als Rohboden-Pionier besiedelt der Besenginster bevorzugt Brandschläge, Waldränder und Brachen. Ödland entwirft insofern das Szenario einer Neubesiedlung eines geschichtsträchtigen Raums, dessen historische Tiefendimensionen nur implizit sichtbar werden. Wie auch in den bisher betrachteten Beispielen lässt sich das Ruderalgewächs dabei als Hinweis auf das textgenetische Prinzip des Gedichts verstehen, das aus diesem Raum heraus entsteht und in seiner Wucherungsbewegung jegliche inhaltlichen, strukturellen wie auch orthografischen Vorgaben negiert. Es entsteht ein ruderales Biotop, das als metaphorischer Ausdruck einer Literatur lesbar wird, die um die Dornen und Erdhöhlen der Vergangenheit weiß. Literatur erhält hier ein widerständiges, subversives Moment, denn der Besenginster ist in allen Pflanzenteilen giftig, und wird zugleich als als Reservat lesbar, in dem die Vergangenheitsschichten aufgehoben sind.
Literaturverzeichnis
Siglen A: Hilbig, Wolfgang (2010): »Alte Abdeckerei«, in: Ders., Werke 3: Die Weiber, Alte Abdeckerei, Die Kunde von den Bäumen, hrsg. v. Jörg Bong/Jürgen Hosemann/Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 113-202. N: Müller, Herta (2015): »Niederungen«, in: Dies., Niederungen, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer, S. 17-103. K: Janesch, Sabrina (2017): Katzenberge, 4. Aufl., Berlin: Aufbau. WI: Strittmatter, Erwin (2003), Der Wundertäter. Erster Band, 4. Aufl., Berlin: Aufbau. WII: Strittmatter, Erwin (2003), Der Wundertäter. Zweiter Band, 4. Aufl., Berlin: Aufbau. WIII: Strittmatter, Erwin (2003), Der Wundertäter. Dritter Band, 4. Aufl., Berlin: Aufbau.
Literatur Adorno, Theodor W. (2003): Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (= Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Band 6), 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Andersch, Alfred (1945): »Die neuen Dichter Amerikas«, in: Der Ruf. Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den USA vom 15.06.1945, o.S. — (2004): »Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation«, in: Ders., Gesammelte Werke 8: Essayistische Schriften I, hrsg. v. Dieter Lamping, Zürich: Diogenes, S. 187-218. Andruchowytsch, Juri/Stasiuk, Andrzej (2014): Mein Europa, 6. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Andruchowytsch, Juri (2014): »Mittelöstliches Memento«, in: Ders./Stasiuk, Mein Europa, S. 9-74.
264
Ruderale Texturen
Apel, Friedmar (2010): »Im deutschen Frosch steckt kein Prinz«, in: F.A.Z., aktualisiert am 30.04.2010 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/ belletristik/herta-mueller-niederungen-im-deutschen-frosch-steckt-kein-prinz1971798.html). Arnds, Peter (2009): »Günter Grass and Magical Realism«, in: Stuart Taberner (Hg.), The Cambridge Companion to Günter Grass, Cambridge: Cambridge University Press, S. 52-66. Arva, Eugene L. (2008): »Writing the Vanishing Real: Hyperreality and Magical Realism«, in: Journal of Narrative Theory 38/1, S. 60-85. — (2011): The Traumatic Imagination. Histories of Violence in Magical Realist Fiction, Amherst/New York: Cambria Press. Arva, Eugene L./Roland, Hubert (Hg.) (2014): Interférences littéraires/Literaire interferenties 14: Magical Realism as Narrative Strategy in the Recovery of Historical Traumata (2014) (http://interferenceslitteraires.be/index.php/illi/issue/view/25 vom 28.08.2018). — (2014a): »Writing Trauma: Magical Realism and the Traumatic Imagination«, in: Dies., Interférences littéraires/Literaire interferenties 14, S. 7-14. Assmann, Aleida (1988): »Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 237-251. — (2005): Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur [Vortrag am Universitätscampus am 27. April 2005 anlässlich der Sir-Peter-Ustinov Professur der Stadt Wien an der Universität Wien] (= Wiener Vorlesungen im Rathaus, Band 117), Wien: Picus. — (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C.H. Beck. — (2007): Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung (= Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, Band 6), München: C.H. Beck. — (2010): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 5. Aufl., München: C.H. Beck. Assmann, Jan (1999): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (= Beck’sche Reihe, Band 1307), 2. Aufl., München: C.H. Beck. Aumüller, Matthias (2015): Minimalistische Poetik. Zur Ausdifferenzierung des Aufbausystems in der Romanliteratur der frühen DDR (= Explicatio. Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft), Münster: Mentis. Ausländer, Rose (2001): Grüne Mutter Bukowina, hrsg. v. Helmut Braun, Frankfurt a.M.: Fischer. Bachtin, Michail M. (2014): Chronotopos (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 1879), 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Barthes, Roland (2008): Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie (= Suhrkamp Taschenbuch, Band 1642), 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Literaturverzeichnis
Baßler, Moritz (1994): Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in Kursprosa der emphatischen Moderne, 1910-1916 (= Studien zur deutschen Literatur, Band 134), Tübingen: Niemeyer. — (2015): Deutsche Erzählprosa 1850-1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren, Berlin: Erich Schmidt. Bauer, Karin (2011): »Editorial«, in: Literatur für Leser 34/2, S. 63-69. Bauer, Karin et al. (2020): »Introduction: Herta Müller and the Currents of European History«, in: German Life and Letters 73/1, S. 1-9. Bauer, Matthias (1993): Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans, Stuttgart/Weimar.: J.B. Metzler. — (1994): Der Schelmenroman (= Sammlung Metzler, Band 282), Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler. Bauerkämper, Arnd (2000): »Auf dem Weg zum ›Sozialismus auf dem Lande‹. Die Politik der SED 1948/49 und die Reaktionen in dörflich-agrarischen Milieus«, in: Dierk Hoffmann (Hg.), Das letzte Jahr der SBZ. Politische Weichenstellungen und Kontinuitäten im Prozeß der Gründung der DDR (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München: Oldenburg, S. 245-268. Bauerkämper, Arnd/Iordachi, Constantin (2014): »The Collectivization of Agriculture in Communist Eastern Europe: Entanglements and Transnational Comparisons«, in: Dies. (Hg.), The Collectivization of Agriculture in Communist Eastern Europe. Comparison and Entanglements, Budapest/New York: CEU Press, S. 3-46. Baur, Uwe (1978): Dorfgeschichte. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion einer literarischen Gattung im Vormärz, München: Wilhelm Fink. Beer, Mathias (2011): Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen (= Beckʼsche Reihe, Band 1933), München: C.H. Beck. Begemann, Christian (2011): »Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Realismus. Das große Lesebuch (= Fischer Klassik, Band 90295), Frankfurt a.M.: Fischer, S. 13-22. Beleites, Michael (2011): »Vorwort«, in: Schöne, Das sozialistische Dorf, S. 9-17. Benjamin, Walter (1981): »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, in: Ders., Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft, Band 341), hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-38. — (1982): Gesammelte Schriften 5: Das Passagen-Werk. Erster Teil, hrsg. v. Rolf Tiedemann, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Berger, Johanna (1992): »Erwin Strittmatter: ›Man hat seine Schwierigkeiten mit der Weisheit…‹«, in: Konturen 4, S. 57-64. Bernhardt, Rüdiger (1996): »Die Welt des naiven Erzählers. Zu Strittmatters Werk«, in: Zeitschrift für Germanistik 6/2, S. 398-413. Bhabha, Homi K. (1990): »Introduction: Narrating the Nation«, in: Ders. (Hg.), Nation and Narration, London u.a.: Routledge, S. 1-7. Blackbourn, David (2006): The Conquest of Nature. Water, Landscape and the Making of Modern Germany, 1. Aufl., London: Jonathan Cape. Blacker, Uilleam/Etkind, Alexander/Fedor, Julie (Hg.) (2013): Memory and Theory in Eastern Europe (= Palgrave Studies in Cultural and Intellectual History), New York: Palgrave Macmillan.
265
266
Ruderale Texturen
Böhme, Hartmuth (1989): »Die Ästhetik der Ruinen«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Der Schein des Schönen, 1. Aufl., Göttingen: Steidl, S. 287-304. — (2009): »Kulturwissenschaft«, in: Stephan Günzel (Hg.), Raumwissenschaften, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 191-207. — (2012): Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Böll, Heinrich (1961): »Bekenntnis zur Trümmerliteratur«, in: Ders., Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch, S. 339-343. — (1992): Der Engel schwieg, hrsg. v. Annemarie Böll et al., Köln: Kiepenheuer & Witsch. Bontempelli, Massimo (1926): »Justification«, in: 900. Cahiers d’Italie et d’Europe 1, o.S. Böschenstein, Renate (2010): »Idyllisch/Idylle«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3: Harmonie – Material, hrsg. v. Karlheinz Barck et al., Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, S. 119-137. Bowers, Maggie Ann (2005): Magic(al) Realism, London u.a.: Routledge. Boym, Svetlana (2001): The Future of Nostalgia, New York: Basic Books. Bozzi, Paola (1998): »Langsame Heimkehr oder der Betrug der Dinge. Zu Affinitäten zwischen Herta Müller und Thomas Bernhard, Franz Innerhofer und Peter Handke«, in: Philologie im Netz 6, S. 1-19 (http://web.fu-berlin.de/phin/phin6/p6t1.htm vom 01.10.1989). — (2005): Der fremde Blick. Zum Werk Herta Müllers, Würzburg: Königshausen & Neumann. Brandes, Dietmar (Hg.) (1988): Ruderalvegetation. Kenntnisstand, Gefährdung und Erhaltungsmöglichkeiten. Bericht über das Kolloquium Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen für Ruderalvegetation, Norddeutsche Naturschutzakademie, Hof Möhr, 20.-21.05.1987, Braunschweig: o.A. Brandt, Bettina/Glajar, Valentina (Hg.) (2013): Herta Müller. Politics and Aesthetics, Lincoln/London: University of Nebraska Press. — (2013a): »Introduction«, in: Dies., Herta Müller, S. 1-12. Braun, Matthias (2012): »Das Jahr 1959 – Erwin Strittmatter und der Bitterfelder Weg«, in: Gansel/Ders., Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung, S. 111-132. Braun, Peter/Pabst, Stephan (Hg.) (2013): Hilbigs Bilder. Essays und Aufsätze, Göttingen: Wallstein. Braungart, Wolfgang (1991): »Apokalypse und Utopie«, in: Gerhard R. Kaiser (Hg.), Poesie der Apokalypse, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 63-102. Britting, Georg (1993): »Verwilderter Bauplatz«, in: Ders., Gedichte 1930-1940, hrsg. v. Walter Schmitz, München: Paul List, S. 164-166. Bronfen, Elisabeth/Erdle, Birgit R./Weigel, Sigrid (Hg.) (1999): »Vorwort«, in: Dies., Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. VII-VIII. Buck, Theo (1996): »Urworte. Orphisch«, in: Goethe Handbuch Bd. 1: Gedichte, hrsg. v. Regine Otto/Bernd Witte, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, S. 354-365. — (2002): »Verhinderte Innovation. Die in der DDR ungedruckt gebliebenen Bücher von Uwe Johnson und Hans Joachim Schädlich«, in: Hans-Christian Stillmark (Hg.),
Literaturverzeichnis
Rückblicke auf die Literatur der DDR (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 52), Amsterdam: Rodopi, S. 11-44. Büscher, Wolfgang (2003): Berlin-Moskau. Eine Reise zu Fuß, 10. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Carpentier, Alejo (1997): »The Baroque and the Marvelous Real (1975)«, in: Zamora/Faris, Magical Realism, S. 89-108. — (1980): »Über die wunderbare Wirklichkeit Amerikas«, in: Ders., Stegreif und Kunstgriffe: Essays zur Literatur, Musik und Architektur in Lateinamerika, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 118-138. Caruth, Cathy (1995): »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Trauma. Explorations in Memory, Baltimore/London: John Hopkins University Press, S. 3-12. Celan, Paul (2003): Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hrsg. v. Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Celan, Paul/Chomed, Gustav (2010): »… ich brauche deine Briefe…«. Der Briefwechsel, hrsg. v. Barbara Wiedemann, 1. Aufl., Berlin: Suhrkamp. Chanady, Amaryll Beatrice (1985): Magical Realism and the Fantastic: Resolved Versus Unresolved Antinomy, New York: Garland. — (1997): »The Territorialization of the Imaginary in Latin America: Self-Affirmation and Resistance to Metropolitan Paradigms«, in: Zamora/Faris, Magical Realism, S. 125-144. Chwin, Stefan (1997): »›Grenzlandliteratur‹ und das mitteleuropäische Dilemma«, in: Die multinationale Welt des Grenzlands als Ort einer unerfüllten Chance auf gute Koexistenz, Transodra 17, S. 5-13 (http://www.dpg-brandenburg.de/de/nr17/ chwinde.htm). Clarke, David/Wölfel, Ute (Hg.) (2011): Remembering the German Democratic Republic. Divided Memory in a United Germany, 1. Aufl., Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan. Conrad, Sebastian (2006): Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München: C.H. Beck. Conrady, Carl Otto (1994): Goethe. Leben und Werk, München/Zürich: Artemis und Winkler. Dahlke, Birgit (2012): »Erwin Strittmatters Roman Ole Bienkopp (1963) und dessen Weg in den Deutschunterricht der DDR«, in: Gansel/Braun, Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung, S. 133-148. Dante, Alighieri (2011): Die Göttliche Komödie (= Insel-Taschenbuch, Band 4504), 1. Aufl., Berlin: Insel-Verlag. Dawidowski, Christian (1997): »Bild-Auflösungen: Einheit als Verlust von Ganzheit. Zu Herta Müllers Niederungen«, in: Ralph Köhnen (Hg.), Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung. Bildlichkeit in Texten Herta Müllers, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 13-26. Deeg, Jens Christian/Wernli, Martina (Hg.) (2016): Herta Müller und das Glitzern im Satz. Eine Annäherung an Gegenwartsliteratur, Würzburg: Königshausen & Neumann.
267
268
Ruderale Texturen
Delius, Friedrich Christian (1984): »Jeden Monat einen neuen Besen«, in: Der Spiegel vom 30.07.1984, S. 119-123. (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13510664.html). Demshuk, Andrew (2012): The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory, 1945-1970, Cambridge u.a.: Cambridge University Press. Didi-Huberman, Georges (2002): Ninfa moderna, 1. Aufl., Zürich/Berlin: Diaphanes. Die Bibel (1985). Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, Stuttgart. Dobrincu, Dorin (2005): »Die Deportation Deutscher aus Rumänien in die UdSSR gegen Ende des Zweiten Weltkriegs«, in: Zach, Migration im südöstlichen Mitteleuropa, S. 233-246. Doering-Manteuffel, Anselm (2007): »Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55/4, S, 559581. Drace-Francis, Alex (2013): »Beyond the Land of Green Plums: Romanian Culture and Language in Herta Müller’s Work«, in: Haines/Marven, Herta Müller, S. 32-48. Drommer, Günther (2001): Erwin Strittmatter. Des Lebens Spiel, 3. Aufl., Berlin: Aufbau. Dubrowska, Malgorzata (2015): »Zwischen Flucht und Fluch. Zum Motiv der mitteleuropäischen Reise in Sabrina Janesch’ Roman Katzenberge«, in: Dies./Anna Rutka (Hg.), ›Reise in die Tiefe der Zeit und des Traums‹. (Re-)Lektüren des ostmitteleuropäischen Raumes aus österreichischer, deutscher, polnischer und ukrainischer Sicht, Lublin: Wydawnictwo KUL, S. 165-174. Dunker, Axel (2017): »Collagen«, in: Eke, Herta Müller-Handbuch, S. 71-78. Durst, Uwe (2008): Das begrenzte Wunderbare. Zur Theorie wunderbarer Episoden in realistischen Erzähltexten und in Texten des ›Magischen Realismus‹, Berlin u.a.: LIT. Eco, Umberto (1985): Das offene Kunstwerk (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 222), 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Eddy, Beverly Driver (1999): »›Die Schule der Angst‹ − Gespräch mit Herta Müller, den 14. April 1998«, in: The German Quarterly 72/4, S. 329-339. — (2000): »Testimony and Trauma in Herta Müller’s Herztier«, in: German Life and Letters 53/1, S. 56-72. — (2013): »›Wir können höchstens mit dem, was wir sehen, etwas zusammenstellen.‹: Herta Müllerʼs Collages«, in: Brandt/Glajar, Herta Müller, S. 155-183. Egger, Sabrina (2014): »Magical Realism and Polish-German Postmemory: Reimagining Flight and Expulsion in Sabrina Janesch’s Katzenberge (2010)«, in: Arva/Roland, Interférences littéraires/Literaire interferenties 14, S. 65-78. Ehland, Christoph/Fajen, Robert (Hg.) (2007): Das Paradigma des Pikaresken, Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Ehrler, Martin (2017): »Der Dichter erscheint im Anthropozän. Friedrich von Hardenberg und Wolfgang Hilbig«, in: Kasper/Theile, Asozialität und Aura, S. 145-165. Ehrler, Martin/Weiland, Marc (Hg.) (2018): Topografische Leerstellen. Ästhetisierungen verschwindender und verschwundener Dörfer und Landschaften (= Rurale Topografien, Band 4), Bielefeld: Transcript.
Literaturverzeichnis
Eigler, Friederike (2010): »Beyond the Victims Debate: Flight and Expulsion in Recent Novels by Authors from the Second and Third Generation (Christoph Hein, Reinhard Jirgl, Kathrin Schmidt, and Tanja Dückers)«, in: Laurel Cohen Pfister/Susanne VeesGulani (Hg.), Generational Shifts in Contemporary German Culture (= Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), Rochester: Camden House, S. 77-94. — (2014), Heimat, Space, Narrative. Toward a Transnational Approach to Flight and Expulsion, 1. Aufl., Rochester: Camden House. Einheit, H 8-9 (1951): »Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur«, in: Dokumente zur Kunst-, Kultur- und Literaturpolitik der SED, hrsg. v. Elimar Schubbe, S. 178-186. Eke, Norbert Otto (Hg.) (1991), Die erfundene Wahrnehmung. Annäherung an Herta Müller (= Reihe Literatur- und Medienwissenschaft, Band 7), Paderborn: Igel-Verlag Wissenschaft. — (1991a): »Augen/Blicke oder: Die Wahrnehmung der Welt in den Bildern. Annäherung an Herta Müller«, in: Ders., Die erfundene Wahrnehmung, S. 7-21. — (1991b): »Herta Müllers Werke im Spiegel der Kritik (1982-1990)«, in: Ders., Die erfundene Wahrnehmung, S. 107-130. — (1997): »›Sein Leben machen / ist nicht, / sein Glück machen / mein Herr‹. Zum Verhältnis von Ästhetik und Politik in Herta Müllers Nachrichten aus Rumänien«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41, S. 481-509. — (2002): »Schönheit der Verwund(er)ung. Herta Müllers Weg zum Gedicht«, in: Herta Müller, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold (= Text + Kritik, Band 155), München: Edition Text + Kritik, S. 64-79. — (2007): Wort/Spiele: Drama – Film – Literatur (= Philologische Studien und Quellen, Heft 203), Berlin: Erich Schmidt. — (2008): »›In jeder Sprache sitzen andere Augen‹. Herta Müllers ex-zentrisches Schreiben«, in: Hans Richard Brittnacher/Magnus Klaue (Hg), Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. 247-259. — (Hg.) (2017): Herta Müller-Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler. — (2017a): »Biographische Skizze«, in: Ders., Herta Müller-Handbuch, S. 2-12. — (2017b): »Oskar Pastior«, in: Ders., Herta Müller-Handbuch, S. 145-151. Emmerich, Wolfgang (1996): Kleine Literaturgeschichte der DDR, 1. Aufl., Leipzig: Gustav Kiepenheuer. — (2008): »Die Literatur der DDR«, in: Wolfgang Beutin et al. (Hg.), Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 7. Aufl., Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, S. 511-579. Endler, Adolf (1992): »Hölle/Maelstrom/Abwesenheit. Fragmente über Wolfgang Hilbig«, in: Hilbig, Zwischen den Paradiesen, S. 313-344. Epstein, Edmund Lloyd (2010): »Introduction. The Recirculated ›Commedia‹ of James Joyce«, in: Ders. (Hg.), A Guide through Finnegans Wake, Gainesville u.a.: University Press of Florida, S. 1-24. Erll, Astrid (2017): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung, 3. Aufl., Stuttgart: J.B. Metzler.
269
270
Ruderale Texturen
Faris, Wendy B. (2004): Ordinary Enchantments. Magical Realism and the Remystification of Narrative, 1. Aufl., Nashville: Vanderbilt University Press. Festner, Katharina (1993): »Gespräch mit Erwin Strittmatter«, in: Sinn und Form 45/3, S. 479-490. Fischer, Gottfried (2000): »Psychoanalyse und Psychotraumatologie«, in: Wolfram Mauser/Carl Pietzcker (Hg): Trauma (= Freiburger Literaturpsychologische Gespräche, Band 19), Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 11-26. Flores, Angel (1997): »Magical Realism in Spanish American Fiction (1955)«, in: Zamora/Faris, Magical Realism, S. 109-117. Florescu, Catalin Dorian (2012): Jacob beschließt zu lieben, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Foucault, Michel (1994): »Botschaft oder Rauschen?«, in: Ders., Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader. Diskurs und Medien, hrsg. v. Jan Engelmann, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 140-144. Frank, Michael (2009): »Die Literaturwissenschaften und der ›spatial turn‹: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin«, in: Hallet/Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur, S. 53-80. Franz, Norbert P. (2016): »Tarkowskijs Weg zum Klassiker«, in: Ders. (Hg.), Andrej Tarkowsji. Klassiker – Классик – Classic – Classico. Beiträge zum Ersten Internationalen Tarkowskij-Symposium an der Universität Potsdam Bd. 1, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam, S. 25-40. Freud, Sigmund (1963): »Das Unheimliche«, in: Ders., Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur (= Fischer Doppelpunkt, Band 4), Frankfurt a.M.: Fischer, S. 45-84. Freytag, Gustav (1977): Soll und Haben, München/Wien: Carl Hanser. Fuchs, Anne/Cosgrove, Mary (2006): »Introduction: Germany’s Memory Contests and the Management of the Past«, in: Dies./Georg Grote (Hg.), German Memory Contests. The Quest for Identity in Literature, Film, and Discourse since 1990, 1. Aufl., Rochester: Camden House, S. 1-21. Gal-Ed, Efrat (2004): »Nachwort«, in: Manger, Itzik: Dunkelgold. Gedichte, hrsg. v. Efrat Gal-Ed, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, S. 309-329. Gansel, Carsten (2009): Rhetorik der Erinnerung – Literatur und Gedächtnis in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus (= Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, Band 1), Göttingen: V&R Unipress. — (2012): »›weil es sich um sogenannte heiße Eisen handelt‹ – Erwin Strittmatters Wundertäter III (1980) oder Zur Geschichte einer Aufstörung«, in: Ders./Braun, Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung, S. 173-208. — (2014): »Von romantischen Landschaften, sozialistischen Dörfern und neuen Dorfromanen. Zur Inszenierung des Dörflichen in der deutschsprachigen Literatur zwischen Vormoderne und Spätmoderne«, in: Nell/Weiland, Imaginäre Dörfer, S. 197223. Gansel, Carsten/Braun, Matthias (Hg.) (2012): Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung (= Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, Band 11), Göttingen: V&R Unipress.
Literaturverzeichnis
García Márquez, Gabriel (2002): Leben, um davon zu erzählen, 1. Aufl., Köln: Kiepenheuer & Witsch. — (2017): Hundert Jahre Einsamkeit, 14. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer. Gebauer, Mirjam (2006): Wendekrisen. Der Pikaro im deutschen Roman der 1990er Jahre (= Schriftenreihe Literaturwissenschaft, Band 72), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier. Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen (Hg.) (2010): Das Prinzip ›Osten‹. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums, Bielefeld: Transcript. — (2010a): »Das ›Prinzip Osten‹ – einleitende Bemerkungen«, in: Dies., Das Prinzip ›Osten‹, S. 9-20. Geerdts, Hans Jürgen (1958): »Unsere Literatur und das Neue auf dem Land«, in: Neue deutsche Literatur 6, S. 103-126. Gennep, Arnold van (1999): Übergangsriten, Frankfurt a.M.: Campus-Verlag. Gess, Nicola (Hg.) (2012): Literarischer Primitivismus (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Band 143), Berlin u.a.: de Gruyter. — (2013): Primitives Denken: Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), München/Paderborn: Wilhelm Fink. Giesen, Bernhard (2004): »Das Tätertrauma der Deutschen. Eine Einleitung«, in: Ders./Christoph Schneider (Hg.), Tätertrauma. Nationale Erinnerungen im öffentlichen Diskurs (= Historische Kulturwissenschaft, Band 2), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, S. 11-53. Gladkow, Fjodor (1972): Zement (= proletarisch-revolutionäre Romane, Band 3), Berlin: Oberbaumverlag. Goethe, Johann Wolfgang von (1989): »Das Göttliche«, in: Ders., Goethes Werke 1: Gedichte und Epen (= Hamburger Ausgabe in 14. Bänden), hrsg. v. Erich Trunz, 14. Aufl., München: C.H. Beck, S. 147-149. — (1992): »Urworte. Orphisch«, in: Ders., Werke 1: Gedichte. West-östlicher Divan. Epen, 5. Aufl., München: Artemis & Winkler, S. 240-241. Gotsche, Otto (1969): »Ein großer Schritt wird vorbereitet«, in: Helmut Hauptmann (Hg.), DDR-Reportagen: eine Anthologie (= Reclams Universal-Bibliothek, Band 481), 1. Aufl., Leipzig: Reclam, S. 237-243. — (1970): »Diskussion. Wo steht die Gegenwartsliteratur? Der Gegenwart nicht ausweichen«, in: Klaus Jarmatz (Hg.), Kritik in der Zeit. Der Sozialismus – seine Literatur – ihre Entwicklung, 2. Aufl., Halle: Mitteldeutscher Verlag, S. 214-217. Götz, Dorothea (1985): »›Vom Ende einer heilen Welt‹. Herta Müllers Niederungen«, in: Anton Schwob (Hg.), Beiträge zur deutschen Literatur in Rumänien seit 1918 (= Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerks, Band 45), München: Verlag des Südostdeutschen Kulturwerks, S. 97-102. Graevenitz, Gerhart von (1999): »Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Konzepte der Moderne (= Germanistische Symposien-Berichtsbände, Band, 20), Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, S. 1-16. Granach, Alexander (1987): Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens, 4. Aufl., München: Weismann. Green, Julien (1974): »Die Wahrscheinlichkeit des Unmöglichen. Julien Green im Gespräch mit Jörg Krichbaum und Rein A. Zondergeld«, in: Rein A. Zondergeld
271
272
Ruderale Texturen
(Hg.), Phaïcon I: Almanach der phantastischen Literatur, Frankfurt a.M.: InselTaschenbuch, S. 83-98. Gries, Rainer (2002): »Die Heldenbühne der DDR. Zur Einführung«, in: Silke Satjukow/Ders. (Hg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, 1. Aufl., Berlin: Ch. Links, S. 84-110. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1999): Deutsches Wörterbuch, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Großbongardt, Annette (2013): »Neue Schlüssel zur Geschichte«, in: Dies. et al. (Hg.), Die Deutschen im Osten: Eroberer, Siedler, Vertriebene, München: Goldmann, S. 17-28. Gruenter, Rainer (1993): »Die Poesie der Gestelle. Industrie als Landschaft«, in: Sinn und Form 45/1, S. 155-165. Gymnich, Marion (2017): »Writing Back«, in: Dirk Götsche/Axel Dunker/Gabriele Dürbeck (Hg.), Handbuch Postkolonialismus und Literatur, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 235-238. Hagena, Katharina (1996): Developing Waterways. Das Meer als sprachbildendes Element im Ulysses von James Joyce (= Neue Studien zur Anglistik und Amerikanistik, Band 70), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Hahn, Eva/Hahn, Hans Henning (2005): »Flucht und Vertreibung«, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl (= Bundeszentrale für Politische Bildung: Schriftenreihe, Band 475), Linzenzausg. d. BeckVerl., Bonn: Bundezentrale für politische Bildung, S. 332-350. Haines, Brigid (Hg.) (1998): Herta Müller, Cardiff: University of Wales Press. — (2002): »The Unforgettable Forgotten: The Traces of Trauma in Herta Müller’s Reisende auf einem Bein«, in: German Life and Letters 55/3, S. 266-281. Haines, Brigid/Marven, Lyn (Hg.) (2013): Herta Müller, Oxford: Oxford University Press. — (2013a): »Introduction«, in: Dies., Herta Müller, S. 1-15. Hallet, Wolfgang/Neumann Brigitte (Hg.) (2009): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: Transcript. — (2009a): »Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung«, in: Dies., Raum und Bewegung in der Literatur, S. 11-32. Hanisch, Volker (2013): »Wolfgang Hilbig – Heimatbild und Heimatwelt«, in: Braun/Pabst: Hilbigs Bilder, S. 131-143. Hanus, Anna/Büttner, Ruth (Hg) (2015): Galizien als Kultur- und Gedächtnislandschaft im kultur- und sprachwissenschaftlichen Diskurs (= Studien zur Text- und Diskursforschung, Band 10), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Haupt-Cucuiu, Herta (1996): Eine Poesie der Sinne. Herta Müllers ›Diskurs des Alleinseins‹ und seine Wurzeln (= Literatur- und Medienwissenschaft, Band 49), 1. Aufl., Paderborn: Igel-Verlag Wissenschaft. Hausleitner, Mariana (2014): Die Donauschwaben 1868-1948. Ihre Rolle im rumänischen und serbischen Banat (= Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Band 18), Stuttgart: Franz Steiner. Hedayati-Aliabadi, Minu (2012): »›Der Fremde Blick‹ – ›ein fremdes Auge‹. Transmediale Inszenierung von Schrift und Bild in Herta Müllers Collagen«, in: Textpraxis.
Literaturverzeichnis
Digitales Journal für Philologie 5/2, S. 1-21 (https://www.textpraxis.net/minuhedayati-aliabadi-transmediale-inszenierung-von-schrift-und-bild-in-hertamuellers-collagen). Hegerfeldt, Anne C. (2005): Lies that Tell the Truth. Magic Realism seen through Contemporary Fiction from Britain (= Costerus New Series, Band 155), Amsterdam: Rodopi. Heising, Bärbel (1996): ›Briefe voller Zitate aus dem Vergessen‹. Intertextualität im Werk Wolfgang Hilbigs (= Bochumer Schriften zur Deutschen Literatur, Band 48), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Helbig, Louis Ferdinand (1996): Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung aus dem Osten in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit (= Forschungsstelle Ostmitteleuropa: Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Band 3), 3. Aufl., Wiesbaden: Harrassowitz. Hell, Julia/Schönle, Andreas (Hg.) (2010): Ruins of Modernity, Durham/London: Duke University Press. Heller, Franziska (2010): Filmästhetik des Fluiden. Strömungen des Erzählens von Vigo bis Tarkowskij, von Huston bis Cameron, München/Paderborn: Wilhelm Fink. Henke, Gebhard: »Mir erscheint jede Umgebung lebensfeindlich. Ein Gespräch mit der rumäniendeutschen Schriftstellerin«, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.11.1984, S. 13. Herbert, Rudolf (1984): »Die Einsamkeit der Sätze. Zu dem Prosaband Niederungen«, in: Emmerich Reichrath (Hg.), Reflexe II. Aufsätze, Rezensionen und Interviews zur deutschen Literatur in Rumänien, Cluj-Napoca: Dacia Verlag, S. 129-137. Hilbig, Wolfgang (1992): Zwischen den Paradiesen: Prosa, Lyrik, hrsg. v. Thorsten Ahrend (= Reclam-Bibliothek, Band 1419), Leipzig: Reclam-Verlag. — (1992a): »Der trügerische Grund«, in: Ders., Zwischen den Paradiesen, S. 194-198. — (1992b): »Der Mythos ist irdisch. Für Franz Fühmann zum 60. Geburtstag«, in: Ders., Zwischen den Paradiesen, S. 202-211. — (1995): Abriß der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen (= Collection S. Fischer, Band 83), Frankfurt a.M.: Fischer. — (2008): Werke 1: Die Gedichte, hrsg. v. Jörg Bong/Jürgen Hosemann/Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer. — (2009): Werke 2: Erzählungen und Kurzprosa, hrsg. v. Jörg Bong/Jürgen Hosemann/Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer. — (2009a): »Anfang eines Traums«, in: Ders., Werke 2, S. 369-373. — (2009b): »Die elfte These über Feuerbach«, in: Ders., Werke 2, S. 460-476. — (2009c): »Grünes grünes Grab«, in: Ders., Werke 2, S. 477-493. — (2010): Werke 3: Die Weiber, Alte Abdeckerei, Die Kunde von den Bäumen, hrsg. v. Jörg Bong/Jürgen Hosemann/Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer. — (2010a): »Die Kunde von den Bäumen«, in: Ders., Werke 3, S. 203-281. Hirsch, Marianne (2001): »Surviving Images: Holocaust Photographs and the Work of Post-Memory«, in: The Yale Journal of Criticism 14/1, S. 5-37. — (2008): »The Generation of Postmemory«, in: Poetics Today 29/1, S. 103-128. — (2012): The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture after the Holocaust, New York: Columbia University Press.
273
274
Ruderale Texturen
Hodjak, Franz (1988): Sehnsucht nach Feigenschnaps. Ausgewählte Gedichte (= Edition Neue Texte), hrsg. v. Wulf Kirsten, 1. Aufl., Berlin: Aufbau. Hoff, Dagmar von (1998): »›Ein Platz für die Moral?‹ Herta Müller, ihre Texte und das poetische Moment«, in: Haines, Herta Müller, S. 96-108. Hoffmeister, Gerhart (Hg.) (1986): Der moderne deutsche Schelmenroman. Interpretationen (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 20), Amsterdam: Rodopi. — (1986a): »Einleitung«, in: Ders., Der moderne deutsche Schelmenroman, S. 1-8. — (Hg.) (1987): Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext. Rezeption, Interpretation, Bibliographie (= Chloe. Beihefte zum Daphnis, Band 5), Amsterdam: Rodopi. Hofmannsthal, Hugo von (1991): »Ein Brief«, in: Ders., Sämtliche Werke Bd. 31: Erfundene Gespräche und Briefe, hrsg. v. Ellen Ritter, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 45-55. Hofmeister, Heinrich/Garve, Eckhard (1986): Lebensraum Acker. Pflanzen der Äcker und ihre Ökologie, Hamburg/Berlin: Parey. Höhne, Steffen (2017): »Vom Vertrag von Trianon bis zum Sturz Ceauşescus. Rumänien im 20. Jahrhundert«, in: Eke, Herta Müller-Handbuch, S. 108-117. Hüchtker, Dietlind (2002): »Der ›Mythos Galizien‹. Versuch einer Historisierung«, in: Michael G. Müller/Rolf Petri (Hg.), Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen (= Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, Band 16), Marburg: Verlag Herder-Institut, S. 81-107. Huff, Tobias (2014): »Über die Umweltpolitik der DDR. Konzepte, Strukturen, Versagen«, in: Geschichte und Gesellschaft 40, S. 523-554. — (2015): Natur und Industrie im Sozialismus. Eine Umweltgeschichte der DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hünger, Nancy (2013): »Die Stunde der Schatten. Zu Wolfgang Hilbig und seiner Erzählung Alte Abdeckerei«, in: Braun/Pabst, Hilbigs Bilder, S. 36-46. Jacobs, Jürgen (1986): »Bildungsroman und Pikaroroman. Versuch einer Abgrenzung«, in: Hoffmeister, Der moderne deutsche Schelmenroman, S. 9-18. Jäger, Manfred (1994): Kultur und Politik in der DDR, 1945-1990, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik. Jarmatz, Klaus (1989): »Werte der Wirklichkeit und Poesie«, in: Ders., Wirklichkeit und Poesie. Essays, Halle [u.a.]: Mitteldeutscher Verlag, S. 57-125. Jirgl, Reinhard (1997): Hundsnächte, München/Wien: Carl Hanser. Johannsen, Anja K. (2008): Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller, Bielefeld: Transcript. Joyce, James (1964): Finnegans Wake, 3. Aufl., London: Faber and Faber. Jünger, Ernst (1983): »Auf eigenen Spuren. Anlässlich der ersten Gesamtausgabe«, in: Ders., Sämtliche Werke 18: Abt. 3, Erzählende Schriften 4, Die Zwille, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 467-479. Kasper, Norman/Theile, Gert (Hg.) (2017): Asozialität und Aura. Wolfgang Hilbig und die Romantik, Paderborn: Wilhelm Fink.
Literaturverzeichnis
Kegelmann, René (1995): »An den Grenzen des Nichts, dieser Sprache…«. Zur Situation rumäniendeutscher Literatur der achtziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld: Aisthesis. Kirsten, Wulf (1987): Die Erde bei Meißen, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Klein, Günter (2005): »Die Deportation Deutscher aus Rumänien zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion. Einige Anmerkungen«, in: Zach, Migration im südöstlichen Mitteleuropa, S. 247-248. Klengel, Susanne (2014): Magie der Aspektwechsel: Literarisch-historisch-mediale Lektionen. Gabriel García Márquez in memoriam (http://www.lai.fu-berlin.de/ disziplinen/literaturen_und_kulturen_lateinamerikas/aktuelles/ Nachruf-Garcia-Marquez.html vom 25.04.2014). Kleßmann, Christoph (2011): »Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert – ein zeitgeschichtlicher Abriß«, in: Mehnert, Landschaften der Erinnerung, S. 14-40. Kligman, Gail/Verdery, Katherine (2011): Peasants under Siege: The Collectivization of Romanian Agriculture, 1949-1962, Princeton u.a.: Princeton University Press. Kochanowski, Jerzy (2001): »Gathering Poles into Poland: Forced Migration from Poland’s Former Eastern Territories«, in: Ther/Siljak, Redrawing Nations, S. 135-154. Köhnen, Ralph (2006): »Terror und Spiel in einer Diktatur. Herta Müllers autofiktionaler Impuls«, in: Ders./Sebastian Scholz (Hg.), Die Medialität des Traumas. Eine Archäologie der Gegenwartskultur, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 193-207. — (2016): »Die Zeichen des Traumas. Texte und Bildcollagen Herta Müllers in rhizomaler und virologischer Lektüre«, in: Deeg/Wernli, Herta Müller und das Glitzern im Satz, S. 131-150. — (2017): »Visualität und Textualität«, in: Eke, Herta Müller-Handbuch, S. 190-200. Kolbe, Uwe (2008): »Es hat keinen Zweck, darum herumzureden – Ein Nachwort zu Wolfgang Hilbigs Gedichten«, in: Hilbig, Werke 1, S. 513-526. Kölling, Julia (2018): »›Ich stülpe am Dorfrand die grünen Kelchblätter um, damit sie das Dorf nicht zudecken‹. Herta Müllers Poetik des Verschwindens«, in: Ehrler/Weiland, Topografische Leerstellen, S. 215-235. König, Hans-Joachim (2008): Kleine Geschichte Kolumbiens (= Beckʼsche Reihe, Band 1795), München: C.H. Beck. Kopp, Kristin Leigh (2012): Germany’s Wild East. Constructing Poland as a Colonial Space, Ann Arbor: University of Michigan Press. Koschorke, Albrecht (2007): »Zur Logik kultureller Gründungserzählungen«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 1/2, S. 5-12. — (2012): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M.: Fischer. Kovačević, Nataša (2008): Narrating Post/Communism. Colonial Discourse and Europe’s borderline civilization (= British Association for Sovjet, Slavonic and East European Studies: BASEES-Routledge series on Russian and East European studies, Band 47), 1. Aufl., London/New York: Routledge. Krier, Peter (2012): Hommage an Stefan Jäger: Katalog zur Ausstellung und zum Symposium anlässlich des 50. Todestages des Schwabenmalers am 28. April 2012 im Banater Seniorenzentrum in Ingolstadt, Ingolstadt: Hilfswerk der Banater Schwaben.
275
276
Ruderale Texturen
Krolow, Karl (1989): »Furie«, in: Ders., Auf Erden, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 101. Küntzel, Heinrich (1981): »Von Abschied bis Atemnot. Über die Poetik des Romans, insbesondere des Bildungs- und Entwicklungsromans«, in: Jos Hoogeveen (Hg.), DDRRoman und Literaturgesellschaft (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 11/12), Amsterdam: Rodopi, S. 1-32. Lachmann, Renate (2002): Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1578), 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lange, Horst (1948): Am kimmerischen Strand. Erzählungen, München: Piper. — (1969): Schwarze Weide, Hamburg: Claassen. — (1986): Ulanenpatrouille, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Langgässer, Elisabeth (2008): Gang durch das Ried, 2. Aufl., Darmstadt: Kranichsteiner Literaturverlag. Leal, Luis (1997): »Magical Realism in Spanish American Literature (1967)«, in: Zamora/Faris, Magical Realism, S. 119-124. Lehmann, Wilhelm (1982): Gesammelte Werke in acht Bänden, Band 1: Sämtliche Gedichte, hrsg. v. Hans Dieter Schäfer, Stuttgart: Klett-Cotta. — (1984): »Der Bilderstürmer«, in: Ders., Gesammelte Werke in acht Bänden, Band 2: Romane I, hrsg. v. Jochen Meyer, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 7-114. Leine, Torsten (2018): Magischer Realismus als Verfahren der späten Moderne. Paradoxien einer Poetik der Mitte (= Studien zur deutschen Literatur, Band 215), Berlin/Boston: de Gruyter. Lenin, Wladimir Iljitsch (1964): »Parteiorganisation und Parteiliteratur«, in: Ders., Werke 10: November 1905 - Juni 1906, 3. Aufl., Berlin: Dietz, S. 29-34. Lichtenberger, Hermann (2014): Die Apokalypse (= Theologischer Kommentar zum neuen Testament, Band 23), 27. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer. Loerke, Oskar (2015): »Die Puppe«, in: Prosa des Expressionismus (= Reclams UniversalBibliothek, Band 8379), hrsg. v. Fritz Martini, Stuttgart: Reclam, S. 272-281. Lohse, Karen (2008): Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie, 1. Aufl., Leipzig: Plöttner. Lotman, Jurij (2010): Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 1944), hrsg. v. Susi K. Frank/Cornelia Ruhe/Alexander Schmitz, 1. Aufl., Berlin: Suhrkamp. — (2012): »Künstlerischer Raum, Sujet und Figur«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 1800), 7. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 529-545. Lörincz, Gudrun (2016): Werk und Theorie im Dialog. Grenzüberschreitungen in der Poetologie und Positionierung Herta Müllers. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin. Lukács, Georg (1987): Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (= Sammlung Luchterhand, Band 36), 11. Aufl., Darmstadt/Neuwied: Luchterhand.
Literaturverzeichnis
Magenau, Jörg (2011): Über Sabrina Janesch und ihren Roman Katzenberge. Laudatio zur Verleihung des Mara-Cassens-Preises 2010 im Literaturhaus Hamburg am 06.01.2011 (http://www.getidan.de/gesellschaft/joerg_magenau/20720/sabrinajanesch vom 08.01.2011). Mahrdt, Helgard/Lægreid, Sissel (Hg.) (2013): Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta Müller, Würzburg: Königshausen & Neumann. — (2013a): »Vorwort«, in: Dies., Dichtung und Diktatur, S. 9-12. Mahrdt, Helgard (2013): »›Man kann sich doch nicht mit einer Katastrophe versöhnen.‹ Herta Müller: Einführung in Leben und Werk«, in: Dies./Lægreid, Dichtung und Diktatur, S. 27-54. Malkmus, Bernhard F. (2014): The German Pícaro and Modernity. Between Underdog and Shape-Shifter (= New Directions in German Studies, Band 2), New York u.a.: Bloomsbury Academic. Maner, Hans-Christian (2007): Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Instituts für Deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS), Wissenschaftliche Reihe (Geschichte und Zeitgeschichte), Band 111), München: IKGS Verlag. Marişescu, Tonia (2010): »Raumfigurationen in Herta Müllers Niederungen«, in: Mauerschau 1: Raum und Zeit, S. 70-81. Maron, Monika (2009): Bitterfelder Bogen. Ein Bericht, Frankfurt a.M.: Fischer. Marszałek, Magdalena (2005): »Das Phantasma Galiziens in der Prosa Andrzej Stasiuks«, in: Katrin Berwanger/Peter Kosta (Hg.), Stereotyp und Geschichtsmythos in Kunst und Sprache. Die Kultur Ostmitteleuropas in Beiträgen zur Potsdamer Tagung 16.-18. Januar 2003 (= Vergleichende Studien zu den slawischen Sprachen und Literaturen, Band 11), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 485-498. — (2011): »On Slavs and Germans: Andrzej Stasiukʼs Geopoetics of Central European Memory«, in: Justina Beinek/Piotr Kosicki: Re-Mapping Polish German Historical Memory: Physical, Political, and Literary Spaces since World War II, Bloomington: Slavica, S. 185-204. Marszałek, Magdalena/Nell, Werner/Weiland, Marc (2018): »Über Land – lesen, erzählen, verhandeln,« in: Dies. (Hg.), Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit (= Rurale Topografien, Band 3), Bielefeld: Transcript, S. 9-26. Marszałek, Magdalena/Sasse, Sylvia (2010): »Geopoetiken«, in: Dies. (Hg.), Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen (= TopographieForschung, Band 1), Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 7-18. Marven, Lyn (2005): »›In allem ist der Riss‹: Trauma, Fragmentation, and the Body in Herta Müllers Prose and Collages«, in: The Modern Language Review 100, S. 396-411. — (2006): Body and Narrative in Contemporary Literatures in German. Herta Müller, Libuşe Moníková, and Kerstin Hensel, Oxford: Clarendon Press. — (2013): »Life and Literature: Autobiography, Referentiality, and Intertextuality in Herta Müllerʼs Work«, in: Haines/Marven, Herta Müller, S. 204-223.
277
278
Ruderale Texturen
Max, Katrin (2013): »Zur Standortbestimmung der gegenwärtigen DDR-LiteraturForschung«, in: Dies. (Hg.), Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen DDRLiteratur-Forschung, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 11-33. May-Chu, Karoline (2016): »Measuring the Borderland in Sabrina Janesch’s Katzenberge«, in: Monatshefte 108/3, S. 350-361. Mehnert, Elke (Hg.) (2001): Landschaften der Erinnerung: Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht (= Studien zur Reiseliteratur- und Imagologieforschung, Band 5), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Merk, Simone (2011): Die postapokalyptische Genese. Lineare und zyklische (End-)Zeitvorstellungen in Rose Ausländers Gedichten (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Band 97), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Meschkat, Klaus/Rohde, Petra/Töpper, Barbara (1980): Kolumbien. Geschichte und Gegenwart eines Landes im Ausnahmezustand, Berlin: Klaus Wagenbach. Miller, Nancy K./Tougaw, Jason (2002): »Introduction: Extremities«, in: Dies. (Hg.), Extremities. Trauma, Testimony and Community, Urbana/Chicago: University of Illinois Press, S. 1-21. Minder, Robert (1966): Dichter in der Gesellschaft. Erfahrungen mit deutscher und französischer Literatur, Frankfurt a.M.: Insel-Verlag. Motzan, Peter (1983): »›Und wo man etwas berührt, wird man verwundet.‹ Zu Herta Müller: Niederungen«, in: Neue Literatur: Zeitschrift für Querverbindungen 3, S. 6772. — (1994): »Sieben schillernde Jahre. Rumäniendeutsche Lyrik in der Zeitschrift Neue Literatur, Bukarest (1965-1971)«, in: Methodologische und literarhistorische Studien zur deutschen Literatur Ostmittel- und Südosteuropas. Internationales Symposium, Innsbruck 18.-19.10.1991 (= Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerks, Reihe B, Band 67), hrsg. v. Anton Schwob, München: Südostdeutsches Kulturwerk, S. 175-193. — (2007): »Rumäniendeutsche Lyrik der 70er bis 90er Jahre: ›Aktionsgruppe Banat‹ – Richard Wagner – Franz Hodjak – Werner Söllner – Rolf Bossert – Klaus Hensel (1973-1997)«, in: Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Ursula Heukenkamp, Berlin: Schmidt, S. 732-746. Müller, Heiner (1998): »Seife in Bayreuth«, in: Ders., Werke 1: Die Gedichte, hrsg. v. Frank Hörnigk, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 245. Müller, Herta (1987): »Die große schwarze Achse«, in: Dies., Barfüßiger Februar, 1. Aufl., Berlin: Rotbuch, S. 6-23. — (1990): »›Zwischen den Häusern ist nichts‹. Paralipomena aus Niederungen«, in: Wilhelm Solms (Hg.), Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur, Marburg: Hitzeroth, S. 67-76. — (1991): Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet, 1. Aufl., Berlin: Rotbuch. — (1991a): »Wie Wahrnehmung sich erfindet«, in: Dies., Der Teufel sitzt im Spiegel, S. 9-31. — (1991b): »Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt«, in: Dies., Der Teufel sitzt im Spiegel, S. 33-55.
Literaturverzeichnis
— (1991c): »Das Auge täuscht im Lidschlag«, in: Dies., Der Teufel sitzt im Spiegel, S. 75-87. — (2000): Im Haarknoten wohnt eine Dame, 1. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. — (2009): Die Nacht ist aus Tinte gemacht. Herta Müller erzählt ihre Kindheit im Banat. Audiobook, Supposé. — (2009I): »In der Falle«, in: Dies., In der Falle. Drei Essays (= Politik – Sprache – Poesie: Bonner Poetik-Vorlesung, Band 2), 2. Aufl., Göttingen: Wallstein, S. 5-24. — (2010): Der König verneigt sich und tötet, 6. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer. — (2010a): »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet, S. 7-39. — (2010b): »Der König verneigt sich und tötet«, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet, S. 40-73. — (2010c): »Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm − wenn wir reden, werden wir lächerlich«, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet, S. 74-105. — (2010d): »Einmal anfassen − zweimal loslassen«, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet, S. 106-129. — (2010e): »Die rote Blume und der Stock«, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet, S. 151-159. — (2010f): »Bei uns in Deutschland«, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet, S. 176-185. — (2010I): Reisende auf einem Bein, Frankfurt a.M.: Fischer. — (2013): Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, Frankfurt a.M.: Fischer. — (2013a): »Tischrede«, in: Dies., Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, S. 22-24. — (2013b): »Cristina und ihre Attrappe«, in: Dies., Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, S. 42-75. — (2013c): »So ein großer Körper und so ein kleiner Motor«, in: Dies., Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, S. 84-95. — (2013d): »Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel«, in: Dies., Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, S. 96-109. — (2013e): »Die Anwendung der dünnen Straßen«, in: Dies., Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, S. 110-124. — (2013f): »Gelber Mais und keine Zeit«, in: Dies., Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, S. 125-145. — (2013I): Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz. Leipziger Poetikvorlesung 2009 (= Edition Suhrkamp, Band 2620), 2. Aufl., Berlin: Suhrkamp. — (2015): Herztier, 6. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer. — (2015I): Niederungen, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer. — (2015Ia): »Drückender Tango«, in: Dies., Niederungen, S. 113-117. — (2016): Hunger und Seide. Frankfurt a.M.: Fischer. — (2016a): »Von der gebrechlichen Einrichtung der Welt. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 1994«, in: Dies., Hunger und Seide, S. 7-16. — (2016b): »Zehn Finger werden keine Utopie«, in: Dies., Hunger und Seide, S. 53-65. — (2016I): Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer, Frankfurt a.M.: Fischer.
279
280
Ruderale Texturen
Müller, Herta/Schuller Annemarie (1984): »›Und ist der Ort wo wir leben‹. Interview mit Herta Müller von Annemarie Schuller«, in: Emmerich Reichrath (Hg.), Reflexe II. Aufsätze, Rezensionen und Interviews zur deutschen Literatur in Rumänien, ClujNapoca: Dacia, S. 121-125. Müller, Julia (2017a): »Frühe Prosa«, in: Eke, Herta Müller-Handbuch, S. 14-24. — (2017b): »Frühe Lyrik«, in: Eke, Herta Müller-Handbuch, S. 68-71. Müller-Guttenbrunn, Adam (1977): Die Glocken der Heimat, in: Ders., Gesammelte Werke 3: Romane, hrsg. v. Hans Weresch, Freiburg i. Br.: Selbstverlag, S. 11-197. Namowicz, Tadeusz (1993): »Zwischen Historizität und rückwärtsgewandter Utopie. Ostpreussen als Heimat in der deutschen Literatur nach 1945«, in: Hubert Orlowski (Hg.), Heimat und Heimatliteratur in Vergangenheit und Gegenwart, Wydawnictwo: New Ton, S. 77-92. Nell, Werner (2010): »Bücher, Menschen, Massenmord. Die Wiederentdeckung Galiziens in der deutschen, polnischen und nordamerikanischen Literatur nach 1990 – Eine Skizze«, in: Carsten Gansel/Pawel Zimniak (Hg.), Das ›Prinzip Erinnerung‹ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989 (= Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, Band 3), Göttingen: V&R Press, S. 445-460. — (2012): Atlas der fiktiven Orte. Utopia, Camelot und Mittelerde. Eine Entdeckungsreise zu erfundenen Schauplätzen, Mannheim: Meyers. — (2018): »Verschwinden und Erscheinen. Zwei Weisen der imaginären Rekonstruktion des Dörflichen«, in: Ehrler/Weiland, Topografische Leerstellen, S. 161-183. Nell, Werner/Kożuchowski, Adam (2018): »Galizien – zerrissene und wiedergefundene Geschichte«, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hg.), 20 Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Paderborn: Ferdinand Schöningh, S. 131-150. Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.) (2014): Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt (= Rurale Topografien, Band 1), Bielefeld: Transcript. Neumann, Michael (2010): »Die Legitimität der Transgression. Zur Rationalität hegemonialer Gewalt in Gustav Freytags Roman Soll und Haben«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 129, S. 265-280. — (2011): »Wolfgang Hilbig (1941-2007): Saturnische Ellipsen«, in: Andrea Geier/Jochen Strobel (Hg.), Deutsche Lyrik in 30 Beispielen, Paderborn: Wilhelm Fink, S. 302-311. Neumann, Michael/Twellmann, Marcus (2014a): »Dorfgeschichten. Anthropologie und Weltliteratur«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88/1, S. 22-45. — (2014b): »Marginalität und Fürsprache. Dorfgeschichten zwischen Realismus, Microstoria und historischer Anthropologie«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39/2, S. 476-492. Nietzel, Benno (2010): »Im Bann des Raums. Der ›Osten‹ im deutschen Blick vom 19. Jahrhundert bis 1945«, in: Gebhard/Geisler/Schröter, Das Prinzip ›Osten‹, S. 21-49. Norris, Margot (1990): »Finnegans Wake«, in: Derek Attridge (Hg.), The Cambridge Companion to James Joyce, Cambridge u.a.: Cambridge University Press, S. 161-184. Nossack, Hans Erich (1976): Der Untergang (= Bibliothek Suhrkamp, Band 523), 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Literaturverzeichnis
Nubert, Roxana (2008): »Schwerpunkte rumäniendeutscher Literatur nach 1990 – mit besonderer Berücksichtigung von Herta Müller, Richard Wagner und Johann Lippet«, in: Estudios Filológicos Alemanes 15, S. 365-375. — (2011): »Die banatschwäbische Welt und ihr Niederschlag in der rumäniendeutschen Literatur – mit besonderer Berücksichtigung von Herta Müller und Johann Lippet«, in: Dorothée Merchiers (Hg.), Transmission de la mémoire allemande en Europe centrale et orientale depuis 1945 (= Convergences, Band 61), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 99-119. o.A. (1945): »Aufruf zur Gründung des ›Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹«, in: Manifest des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Berlin: Aufbau, S. 4-9. OʼKeeffe, Terrence (2011): »Mitteleuropa Blues, Perilous Remedies. Andrzej Stasiuk’s Harsh World«, in: Sarmatian Review, S. 1603-1611. — (2012): »Flight into Light and Darkness – Andrzej Stasiuk’s Travel Essays«, in: The Polish Review 57/3, S. 83-99. Opitz, Antonia (2012): »›Man borgt sich dann eben den Blick‹. Das Dorf als erzählter Raum bei Gabriel García Márquez und Herta Müller«, in: Zoltán Szendi (Hg.), Wechselwirkungen II: Deutschsprachige Literatur und Kultur im regionalen und internationalen Kontext; Beiträge der internationalen Konferenz des Germanistischen Instituts der Universität Pécs vom 9. bis 11. September 2010 (= Pécser Studien zur Germanistik, Band 6), Wien: Praesens, S. 53-63. Opitz, Michael (2008): »›Auf den düsteren Feldern des Abfalls.‹ Peripheres als Zentrum. Wolfgang Hilbigs Die Kunde von den Bäumen«, in: Hellström, Martin/Platen, Edgar (Hg.), Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen (= Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, Band 5), München: Iudicium, S. 145-156. Orlowski, Hubert (2001): »Tabuisierte Bereiche im deutsch-polnischen Gedächtnisraum. Zur literarischen Aufarbeitung von Flucht, Zwangsaussiedlung und Vertreibung in der deutschen und polnischen Deprivationsliteratur nach 1945«, in: Mehnert, Landschaften der Erinnerung, S. 82-113. — (2003): »›Verlorene Heimat‹ im Plural: Zur deutschen und polnischen Deprivationsliteratur der 90er Jahre«, in: Wulf Segebrecht et al. (Hg.), Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart (= Helicon. Beiträge zur deutschen Literatur, Band 29), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 245-259. Pabst, Stephan (2016): Post-Ost-Moderne. Poetik nach der DDR, Göttingen: Wallstein. Pachura, Elwira (2002): Polen – die verlorene Heimat: Zur Heimatproblematik bei Horst Bieneck, Leonie Ossowski, Christa Wolf, Christine Brückner, Stuttgart: IbidemVerlag. Parker, Alexander (1988): »Der pikareske Roman«, in: Erika Wischer (Hg.), Propyläen – Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt 3: Renaissance und Barock 1400-1700, Berlin: Propyläen Verlag, S. 528-543.
281
282
Ruderale Texturen
Patrut, Iulia-Karin (2006): Schwarze Schwester – Teufelsjunge. Ethnizität und Geschlecht bei Paul Celan und Herta Müller (= Literatur, Kultur, Geschlecht, Band 40), Köln/Weimar/Wien: Böhlau. — (2016), »Eigenlogische und historische Zeit in den transmedialen Collagen Herta Müllers. Memoria nach 1989«, in: Dirk Göttsche (Hg.), Critical Time in Modern German Literature and Culture (= Studies in Modern German and Austrian Literature, Band 3), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 209-231. — (2017): »Paul Celan«, in: Eke, Herta Müller-Handbuch, S. 152-156. Plumpe, Gerhard/McInnes, Edward (Hg.) (1996): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 6), München: Deutscher Taschenbuch Verlag. — (1996a): »Vorbemerkung«, in: Dies., Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 18481890, S. 7-15. Plumpe, Gerhard (1996): »Einleitung«, in: Ders./McInnes, Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890, S. 17-83. Ponge, Francis (1969): Die Seife (= Luchterhand-Druck, Band 6), Neuwied/Berlin: Luchterhand. Predoiu, Graziella (2001): Faszination und Provokation bei Herta Müller. Eine thematische und motivische Auseinandersetzung (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Band 1783), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Probst, Inga (2017): Vakante Landschaft. Postindustrielle Geopoetik bei Kerstin Hensel, Wolfgang Hilbig und Volker Braun (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, Band 868), Würzburg: Königshausen & Neumann. — (2018): »Demontagen, Umwidmungen, Neu-Inszenierungen. (Post-)Industrielle Landschaften bei Kerstin Hensel, Wolfgang Hilbig und Volker Braun«, in: Ehrler/Weiland, Topografische Leerstellen, S. 269-289. Rabenstein-Michel, Ingeborg (2008): »Bewältigungsinstrument Anti-Heimatliteratur«, in: Germanica 42, S. 157-169 (https://journals.openedition.org/germanica/525? lang=de vom 01.06.2010). Raschke, Martin (1963): »Die Asche«, in: Hinweis auf Martin Raschke. Eine Auswahl der Schriften, hrsg. v. Dieter Hoffmann (= Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Band 30) Heidelberg: Schneider, S. 147-149. Reents, Friederike (2017): »Trauma«, in: Eke, Herta Müller-Handbuch, S. 227-235. Rehfeld, Swantje (2013): »Die Apokalypse der Sprache in Wolfgang Hilbigs Erzählung Alte Abdeckerei«, in: Lothar Blum et al. (Hg.), Untergangsszenarien. Apokalyptische Denkbilder in Literatur, Kunst und Wissenschaft, Berlin: Akademie Verlag, S. 195204. Richter, Hans Werner (1947): »Literatur im Interregnum«, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 2/15, S. 10-11. Ricœur, Paul (1986): Die lebendige Metapher (= Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt, Band 12), München: Wilhelm Fink.
Literaturverzeichnis
Rogge, Florian (2015): »Galizien: Trauma und Tabu in S. Janeschs Katzenberge«, in: Hanus/Büttner, Galizien als Kultur- und Gedächtnislandschaft im kultur- und sprachwissenschaftlichen Diskurs, S. 283-298. Roh, Franz (1923): »Zur Interpretation Karl Haiders: Eine Bemerkung auch zum Nachexpressionismus«, in: Der Cicerone: Halbmonatsschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler 15, S. 598-602. — (1924): »Ein neuer Henri Rousseau. Zur kunstgeschichtlichen Stellung des Meisters«, in: Der Cicerone: Halbmonatsschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler 16, S. 713-716. — (1925a): »Kay Nebel und die Wendung in der Malerei«, in: Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur 40, S. 10-14. — (1925b): Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei, Leipzig: Klinkhardt & Biermann. — (1927): »Henri Rousseaus Bildform und Bedeutung für die Gegenwart«, in: Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur 42, S. 105-114. — (1952): »Rückblick auf den Magischen Realismus«, in: Magischer Realismus und Verwandtes. Sonderausgabe der Zeitschrift Das Kunstwerk (= Kunstwerk Schriften, Band 31), Baden-Baden: Woldemar Klein Verlag, S. 7-9. Rossi, Christina (2016): »Vom Trauma zum Tabu. Schweigen und Subversion in den Collagen Herta Müllers«, in: Deeg/Wernli, Herta Müller und das Glitzern im Satz, S. 237-260. — (2019): Sinn und Strukur. Zugängen zu den Collagen Herta Müllers, Würzburg: Königshausen & Neumann. Roth, Joseph (1994): »Reise durch Galizien«, in: Ders., Werke, Bd. 2: Das journalistische Werk, 1924-1928, hrsg. v. Klaus Westermann, Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg, S. 281-316. Rothberg, Michael (2009): Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonalization, Stanford: Stanford University Press. — (2013): »Between Paris and Warsaw: Multidirectional Memory, Ethics, and Historical Responsibility«, in: Blacker/Etkind/Fedor, Memory and Theory in Eastern Europe, S. 81-101. Schäfer, Burkhard (2001): Unberühmter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur (= Tübinger Studien zur deutschen Literatur, Band 18), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Scheffel, Michael (1990): Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung (= Stauffenburg-Colloquium, Band 16), Tübingen: Stauffenburg-Verlag. — (2000): »Magischer Realismus«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bd. II, H-O, 3. Aufl., hrsg. v. Georg Braungart et al., Berlin/New York: de Gruyter, S. 526-527. Schenk, Annemie (1992): »Die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Volkskultur in Rumänien«, in: Klaus Roth (Hg.), Die Volkskultur Südosteuropas in der Moderne/Southeast European Folk Culture in the Modern Era (= Südosteuropa-Jahrbuch, Band 22), München: Südosteuropa-Gesellschaft, S. 163-182.
283
284
Ruderale Texturen
Schenk, Klaus (2016): »Experimentelle Poesie und interkulturelle Schreibweisen am Beispiel von Herta Müller«, in: Ders./Anne Hultsch/Alice Stašková (Hg.), Experimentelle Poesie in Mitteleuropa. Texte – Kontexte – Material – Raum, Göttingen: V&R unipress, S. 323-346. Schlenstedt, Dieter (2009): »Eine deutsche Erinnerung. Erwin Strittmatter als Fall«, in: Weimarer Beiträge 55/4, S. 529-556. Schnell, Ralf (2003): Geschichte der deutschsprachigen Literaturen seit 1945, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler. Schöne, Jens (2011): Das sozialistische Dorf. Bodenreform und Kollektivierung in der Sowjetzone und DDR (= Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Band 8), 2. Aufl., Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Schoor, Uwe/Bauer, Gerhard (2000): »Das tickende Fleisch unterm Gras: Wolfgang Hilbig, Alte Abdeckerei«, in: Gerhard Bauer/Robert Stockhammer (Hg.), Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 239-253. Schulte, Sanna (2017): »Blicken und Schreiben (Der ›Fremde Blick‹)«, in: Eke, Herta Müller-Handbuch, S. 185-190. Schulze, Ingo (2010): »›Erzähle, sage ich mir, sonst wird alles ins Vergessen taumeln‹. Nachwort«, in: Hilbig, Werke 3, S. 283-346. Schütz, Erhard (2017): »Niemandsland, Zone und Winkel. Reisen in ostmitteleuropäischen Grenzgebieten«, in: Michaela Holdenried/Alexander Honold/Stefan Hermes (Hg.), Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne, Berlin: Erich Schmidt, S. 349365. Seng, Joachim (2012): »Mohn und Gedächtnis«, in: Markus May/Peter Goßens/Jürgen Lehmann (Hg.), Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, S. 54-63. Simmel, Georg (1986): »Die Ruine«, in: Ders., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essays (= Wagenbachs Taschenbücherei, Band 133), Berlin: Klaus Wagenbach, S. 118-124. Siskind, Mario (2012): »The Genres of World Literature. The Case of Magical Realism«, in: Theo d’Haen/David Damrosch/Djelal Kadir (Hg.), The Routledge Companion to World Literature, London u.a.: Routledge, S. 345-355. Snyder, Timothy (2014): Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, 2. Aufl., München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Solms, Wilhelm (Hg.) (1990): Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur, Marburg: Hitzeroth. Solte-Gresser, Christiane (2009): »Zerschnipselter Sinn. Buchstabierte Angst. Geklebte Ordnung. Die Gedichtcollagen der Nobelpreisträgerin Herta Müller«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 59, S. 565-567. Spiridon, Olivia (2014): »Herta Müllers frühe Erzählungen. Kontexte, literarisches Umfeld und formende Impulse«, in: Dorothée Merchiers/Jaques Lajarrige/Steffen Höhne (Hg.), Kann Literatur Zeuge sein?/La littérature peut-elle rendre témoignage? Poetologische und politische Aspekte in Herta Müllers Werk/Aspects poétologiques et politiques dans l’œuvre de Herta Müller (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Band 112), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 61-79.
Literaturverzeichnis
Stasiuk, Andrzej (2004): Das Flugzeug aus Karton. Essays, Skizzen, kleine Prosa, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2006): »Für eine melancholische Geographie unseres Kontinents: Pogradec, Rudňany, Praga und die anderen«, in: Katharina Raabe/Monika Sznajderman (Hg.), Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 316329. — (2008): Fado. Reiseskizzen (= Edition Suhrkamp, Band 2527), 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2013): Die Welt hinter Dukla (= Suhrkamp Taschenbuch, Band 3391), 6. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2015): Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh (= Suhrkamp Taschenbuch, Band 4577), 1. Aufl., Berlin: Suhrkamp. — (2016): Galizische Geschichten (= Suhrkamp Taschenbuch, Band 3620, 5. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2017): Der Osten, 1. Aufl., Berlin: Suhrkamp. Stiegler, Bernd (2006): Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern (= Edition Suhrkamp, Band 2461), 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Strittmatter, Erwin (1955): »Der Hellseher«, in: Wochenpost 47 (Akademie der Künste, Berlin, Erwin-Strittmatter-Archiv, Signatur 167). — (1977): »Produktivkraft Poesie. Gespräche«, in: Erwin Strittmatter. Analysen, Erörterungen, Gespräche (= Schriftsteller der Gegenwart, Band 3), hrsg. v. Kollektiv f. Literaturgeschichte im Verl. Volk u. Wissen, 1. Aufl., Berlin: Volk und Wissen, S. 232-248. — (1990): Die Lage in den Lüften. Aus Tagebüchern, Berlin/Weimar: Aufbau. — (2009a): Ole Bienkopp, 9. Aufl., Berlin: Aufbau. — (2009b): Vor der Verwandlung. Aufzeichnungen, 3. Aufl., hrsg. v. Eva Strittmatter, Berlin: Aufbau. Surynt, Izabela (2012): »Gustav Freytag und Henryk Sienkiewicz. Die (Ohn)Macht des literarischen Kanons«, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hg.), DeutschPolnische Erinnerungsorte, Bd. 3.: Parallelen, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh, S. 311-336. Symmank, Markus (2001): »›Schriftgezirp‹. Zur Poetologie in Wolfgang Hilbigs Erzählung Alte Abdeckerei«, in: Dagmar Ottmann/Ders. (Hg.), Poesie als Auftrag. Festschrift für Alexander von Bormann, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 217228. Sywenky, Irene (2013): »Representations of German-Polish Border Regions in Contemporary Polish Fiction. Space, Memory, Identity«, in: German Politics and Society 31/4, S. 59-84. Sywottek, Arnold (2000): »Gewalt – Reform – Arrangement. Die DDR in den 60er Jahren«, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Band 37), Hamburg: Christians, S. 54-76.
285
286
Ruderale Texturen
Telaak, Anastasia (2015): »Geteilte Erinnerung. Galizien in Sabrina Janeschs Katzenberge und Jenny Erpenbecks Aller Tage Abend«, in: Hanus/Büttner, Galizien als Kultur- und Gedächtnislandschaft im kultur- und sprachwissenschaftlichen Diskurs, S. 299-316. Thelen, Tatjana (2003): Privatisierung und soziale Ungleichheit in der osteuropäischen Landwirtschaft. Zwei Fallstudien aus Ungarn und Rumänien (= Campus Forschung, Band 865), Frankfurt a.M. u.a.: Campus. Ther, Philipp (2006): »Deutsche Geschichte als imperiale Geschichte. Polen, slawophone Minderheiten und das Kaiserreich als kontinentales Empire«, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, 2. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 129-148. Ther, Philipp/Siljak, Ana (Hg.) (2001): Redrawing Nations. Ethnic Cleansing in EastCentral Europe, 1944-1948, Lanham u.a.: Rowmann & Littlefield. Todorov, Tzvetan (1992): Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer. Tokarczuk, Olga (2014): »Das Schneewittchensyndrom und andere niederschlesische Träume«, in: Marek Halub/Matthias Weber (Hg.), Mein Schlesien – meine Schlesier: Zugänge und Sichtweisen, Teil 2 (= Schlesische Grenzgänger, Band 6), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 164-175. Treichel, Hans-Ulrich (2012): »Laudatio für Sabrina Janesch«, in: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e.v., Bd. 21, Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg, S. 37-41. Twellmann, Marcus (2016): »Bodenreform und Poesie«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 90, S. 301-330. — (2019): Dorfgeschichten. Wie die Welt zur Literatur kam, Göttingen: Wallstein. Uhse, Bodo (2008): »Die Aufgabe des Schriftstellers in der Gegenwart«, in: Carsten Gansel/Tanja Walenski (Hg.), Erinnerung als Aufgabe? Dokumentation des II. und III. Schriftstellerkongresses in der DDR 1950 und 1952, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 119-131. Valentin, Anton (1959): Die Banater Schwaben. Kurzgefasste Geschichte einer südostdeutschen Volksgruppe mit einem volkskundlichen Anhang (= Landsmannschaft der Banater Schwaben aus Rumänien in Deutschland/Kulturreferat: Veröffentlichungen des Kulturreferates der Landsmannschaft der Banater Schwaben, Arbeitsheft 1), München: Buchdruckerei Oliver Ledermüller. Vogel, Juliane (2014): »Apfelgarten und Geschichtslandschaft«, in: Inka MülderBach/Michael Ott (Hg.), Was der Fall ist. Casus und Lapsus, Paderborn: Wilhelm Fink, S. 187-199. Wagenbreth, Otfried (2011): Die Braunkohleindustrie in Mitteldeutschland. Geologie, Geschichte, Sachzeugen, 1. Aufl., Markkleeberg: Sax-Verlag. Wagner, Richard (1992): »Die Aktionsgruppe Banat. Versuch einer Selbstdarstellung«, in: Ernst Wichner (Hg.), Ein Pronomen ist verhaftet worden. Die frühen Jahre in Rumänien. Texte der Aktionsgruppe Banat, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 222-227.
Literaturverzeichnis
Wagner, Richard/Rossi, Christina (2017): Poetologik. Der Schriftsteller Richard Wagner im Gespräch, Klagenfurt: Wieser. Walser, Martin (1999): Ein springender Brunnen, 6. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Weber, Max (1994): »Wissenschaft als Beruf«, in: Ders., Wissenschaft als Beruf 1917/1919, Politik als Beruf 1919 (= Studienausgabe der Max Weber Gesamtausgabe, Band 1/17), hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter, Tübingen: Mohr, S. 1-23. Weber, Rolf (1961): Ruderalpflanzen und ihre Gesellschaften (= Die neue BrehmBücherei, Band 280), Wittenberg Lutherstadt: A. Ziemsen. Wehdeking, Volker (1971): Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945-1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern, Stuttgart: J.B. Metzler. Weigel, Sigrid (2002): »Generation, Genealogie, Geschlecht: Zur Geschichte des Generationskonzepts und seiner wissenschaftlichen Konzeptualisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts«, in: Lutz Musner/Gotthard Wunberg (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien: WUV, S. 161-190. Weinrich, Harald (1997): Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, 2. Aufl., München: C.H. Beck. White, John (1998): »›Die Einzelheiten und das Ganze‹: Herta Müller and Totalitarianism«, in: Haines, Herta Müller, S. 75-95. Wienroeder-Skinner, Dagmar (2006): »Attempts at (Re)Conciliation: Polish-German Relations in Literary Texts by Stefan Chwin, Pawel Huelle, and Olga Tokarczuk«, in: Laurel Cohen-Pfister/Dies. (Hg.): Victims and Perpetrators: 1933-1945. (Re)Presenting the Past in Post-Unification Culture (= Interdisciplinary German Cultural Studies, Band 2), Berlin/New York: de Gruyter, S. 262-282. Wierzejska, Jagoda (2015): »Central European Palimpsests: Postcolonial Discourse in Works by Andrzej Stasiuk and Yurii Andrukhovych«, in: Dobrota Pucherová/Róbert Gáfrik (Hg.), Postcolonial Europe? Essays on Post-Communist Literatures and Cultures, Leiden/Boston: Brill Rodopi, S. 375-397. Wild, Bettina (2011): Topologie des ländlichen Raums. Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten und ihre Bedeutung für die Literatur des Realismus (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, Band 723), Würzburg: Königshausen & Neumann. Wilpert, Gero von (2001): Sachwörterbuch der Literatur, 8. Aufl., Stuttgart: Kröner. Wilpert, Rebekka (2017): Metamorphosen, Phantastisches und Wunderbares. Zum Magischen Realismus in der russischen und polnischen Literatur, Kiel: Universitätsbibliothek Kiel (Online-Ressource). Winkler, Claudia (2013): »A Third-Generation Perspective on German-Polish Flight and Expulsion. Discursive and Spatial Practices in Sabrina Janesch’s novel Katzenberge (2010)«, in: German Politics and Society 31/4, S. 85-101. Wippermann, Wolfgang (1981): Der ›deutsche Drang nach Osten‹. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes (= Impulse der Forschung, Band 35), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Wolff, Larry (1994): Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford: Stanford University Press.
287
288
Ruderale Texturen
— (2003): »Die Erfindung Osteuropas: Von Voltaire zu Voldemort«, in: Karl Kaser (Hg.), Europa und die Grenzen im Kopf (= Wieser-Enzyklopädie des Europäischen Ostens, Band 11), Klagenfurt u.a.: Wieser, S. 21-34. Wyrzykiewicz, Dominika (2013): »Schlesien […]. Wie spannend […] da sieht man mal, wie Deutschland vor hundert Jahren ausgesehen haben muss […]. Zur deutsch-polnischen (Familien)geschichte in Sabrina Janeschs Katzenberge«, in: Lech Kolago/Katarzyna Grzywka/Robert Małecki (Hg.), Deutsch-polnische Beziehungen in Kultur und Literatur, Bd. 5: Materialien der Konferenz 12.-13. April 2013, ReymontówkaSchriftstellerheim in Chlewiska, Warschau: Instytut Germanistyki Universytetu Warszawskiego, S. 115-123. Zach, Krista (2005): Migration im südöstlichen Mitteleuropa. Auswanderung, Flucht, Deportation, Exil im 20. Jahrhundert (=Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS), Wissenschaftliche Reihe (Geschichte und Zeitgeschichte), Band 91), München: IKGS Verlag. Zamora, Lois Parkinson/Faris, Wendy B. (Hg.) (1997), Magical Realism. Theory, History, Community, 2. Aufl., Durham/London: Duke University Press. — (1997a): »Introduction: Daiquiri Birds and Flaubertian Parrot(ie)s«, in: Dies., Magical Realism, S. 1-11. Zierden, Josef (2002): »Deutsche Frösche. Zur ›Diktatur des Dorfes‹ bei Herta Müller«, in: Herta Müller, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold (= Text + Kritik, Band 155), München: Edition Text + Kritik, S. 30-38.
Internetquellen https://www.deutscheakademie.de/de/akademie/mitglieder/herta-mueller/ selbstvorstellung http://www.spiegel.de/kultur/literatur/herta-mueller-nobelpreis-fuer-das-dramaihres-lebens-a-653998.html vom 06.10.2009. https://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-09/magischer-realismus-literaturlateinamerika/seite-2 vom 30.12.2014. https://www.welt.de/geschichte/article121393564/Das-war-die-groessteDreckschleuder-der-DDR.html vom 31.10.2013.
Dank
Eine Doktorarbeit schreibt man einsam und gemeinsam. Mein Dank gilt all den Menschen, die die Ruderalen Texturen zu einem gemeinsamen Projekt gemacht haben. Gedankt sei Marcus Twellmann und Werner Nell für die Betreuung der Arbeit, das kritische wie auch ermutigende Feedback und den schönen Abschluss, den das Projekt zuletzt gefunden hat. Besonderer Dank gilt Michael Neumann, der mich mit produktiven Gesprächen und wichtigen Ratschlägen immer wieder begleitet hat und ohne den es die Ruderalen Texturen in dieser Form nicht gäbe. Dank gilt außerdem der Volkswagen-Stiftung und dem Exzellenzcluster der Universität Konstanz für die ideelle und finanzielle Förderung sowie dem DAAD, der mir einen sechswöchigen Forschungsaufenthalt in Rumänien ermöglicht hat. Herzlichen Dank auch an all die Menschen, die mir großzügig ihre Zeit zur Verfügung gestellt haben, um meine Textentwürfe zu lesen, zu diskutieren und zu ergänzen. Sie haben den Horizont der Arbeit durch ihre Hinweise und Denkanstöße immens erweitert. Hier geht mein Dank an Marc Weiland, Maria Frölich-Kulik, Martin Ehrler und Yaraslava Ananka sowie an das gesamte Experimentierfeld Dorf-Projekt, für den inspirierenden Austausch und die schönen gemeinsamen Tagungen; an meine Schreibgruppe für die konstruktive Lektüre einzelner Ausschnitte: Lisa Korge, Elisabeth Hutter, Stefanie Boßhammer und Julia Pfeiffer; an Juliane Vogel und ihr Kolloquium, das mir die Möglichkeit bot, Texte und Gedanken zu diskutieren; an Ursula Kummer und das Cusanus-Werk für die Möglichkeit, in der Endphase konzentriert zu arbeiten; an Brunhilde Wehinger für ihr Feedback; an Georg Weber für die finale und zeitnahe Korrektur; an meine Mutter für die Textlektüre und die notwendige Bestärkung und vor allem auch an Sylvia, Maria, Klara, Livia, Nora, Nadine, Anita, Chris, Fabian und Francis für ihre vielgestaltige Unterstützung.
290
Ruderale Texturen
Bei meiner Familie und meinen Freunden bedanke ich mich für die Geduld und das Verständnis. Mein größter Dank gilt Chris, der die magischen Momente mit mir gefeiert und in den realistischen Momenten den Humor nicht verloren hat.
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)
Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)
Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1
Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de