Roman und Arbeiter im heutigen England [Reprint 2021 ed.] 9783112479544, 9783112479537


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German Pages 365 [289] Year 1989

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Roman und Arbeiter im heutigen England [Reprint 2021 ed.]
 9783112479544, 9783112479537

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Karl-Heinz Magister

Roman und Arbeiter im heutigen England

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Karl-Heinz Magister

Roman und Arbeiter im heutigen England

Akademie-Verlag Berlin

1988

ISBN 3-05-000430-4 ISSN 0232-315 X Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, D D R - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3 - 4 © Akademie-Verlag Berlin 1988 Lizenznummer: 202-100/120/87 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6732 Lektor: Alfred Gessler LSV: 8051 Bestellnummer: 754 750 5 (2150/94) 00950

Inhalt

7

Einleitung Arbeiterklasse in England Veränderungen im Klassenbegriff Proletarische Lebensformen im Verfall? Soziale Ungleichheit oder „Weifare State" Klassenkampf im Staatsmonopolismus Bildungsnotstand der Arbeiterklasse Kulturkonzeptionen der englischen Linken im Widerstreit . Politische Strategien der englischen Neulinken

20 20 28 33 40 44 49 58

Programmvorstellungen über einen sozialistischen Weg im Nachkriegsengland Jack Lindsay: Betrayed Spring „Fülle des Lebens" und „Ganzheit des Menschen" . . Proletarische Selbstverständigung in der Emanzipation der Frau Bürgerlicher Zwiespalt und „Verrat" Margot Heinemann: Parteilichkeit durch intellektuellen Erkenntnisprozeß Raymond Williams: Tradition und verinnerlichter Klassenkonflikt

86

Proletarisch-revolutionäre Leitbilder im Arbeiterroman der fünfziger Jahre Zur geschichtlich-ästhetischen Positionsbestimmung . . . . Arbeit als Mittel proletarischer Selbstverwirklichung . . . Proletarisches Menschenbild und traditionelle Erzählweise . Proletarisches Erbeverständnis

96 96 103 114 121

5

61 63 63 68 74 76

Der Weg nach oben: Metaphern des Aufstiegs bei John Braine und Sid Chaplin Entfremdung und Anpassung Distanzverlust des Erzählers Identitätsschwund im monopolistischen Modellfall . . .

124 124 132 137

Melvyn Bragg: Ländlich-traditionelle Milieuschilderung und antikapitalistische Alternative Poesie der Arbeit und ländliche Nostalgie Auf der Suche nach einem „Platz in England" Ländliches Refugium als antibürgerliche Alternative . . . Die Fiktion als Medium geschichtlicher Standortbestimmung

145 145 154 160 163

Aspekte der Trivialisierung im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu Unterhaltung als massenliterarisches Bedürfnis Glücksuche und Harmoniestreben Flucht in die „Gegenwart" Die Mikroweit: Flucht in die Familie

168 168 172 178 190

Proletarische Tradition und individueller Aufbruch: Die junge englische Arbeiterfigur Proletarischer Bildungsroman im Wandel Kindheitsmuster und Milieustudie bei Alan Sillitoe . . . Naturalismus und Resignation . . Bildungsanspruch und Klassenidentität Antiimperialistische Haltung oder Traditionsbruch . . . . Metaphern proletarischer Sensibilität

196 196 202 210 224 229 236

Anmerkungen

251

Personenregister

266

6

Einleitung

In der Geschichte des englischen Arbeiterromans im 20. Jahrhundert gelten Robert Tressells Roman The Ragged Trousered Philanthropists (1914; Die Menschenfreunde in zeTlumpten Hosen) und Lewis Grassic Gibbons Romantrilogie A Scots Quair (1932-1936; Ein schottisches Buch) als entscheidende Wegmarkierungen und ästhetisch-historische Orientierungspunkte. Die proletarisch-sozialistische Literatur der ersten Nachkriegsphase war besonders geprägt von einer starken Kontinuität zur revolutionären Literatur und Ästhetik der Dreißiger, und die Ansätze einer erstarkenden britischen Arbeiterbewegung in den fünfziger Jahren ermutigten zu großen Hoffnungen auf eine eigenständige sozialistische Romantradition. In den letzten Jahren hat die Beschäftigung mit der Literatur der Arbeiterklasse wieder zugenommen; bislang vom bürgerlichen Literaturbetrieb vernachlässigte oder unterdrückte Texte werden im Hinblick auf ihre Potenzen für eine moderne sozialistische Erzählprosa neu gesehen. Die heute mit Unterstützung von „Workshops" und Eigenverlagen schreibenden Arbeiter könnten durch eine produktive Rückbesinnung auf die proletarischen künstlerischen Traditionen neue Impulse f ü r ihr eigenes Schaffen erhalten: vor allem f ü r die Neubelebung des in die Krise geratenen proletarisch-sozialistischen Romans. Problematisch wird für den Betrachter dieser spezifischen Literaturentwicklung immer wieder der Versuch einer genauen Begriffs^ bestimmung. Es ist unmöglich, heute einheitlich und undifferenziert von d e m „Arbeiterroman" zu sprechen; ein verwirrendes Angebot an Termini vom „proletarischen", „sozialistischen", „proletarisch-sozialistischen", „proletarisch-revolutionären", „working-class"-Roman widerspiegelt die Vielfalt und Komplexität historisch gewachsener Funktionen, ästhetischer Formen und sozialer Schichtungen, Termini, die alle den für die Arbeiterklasse beschriebenen Roman umreißen, doch nicht völlig synonym zu gebrauchen sind. Neben den noch fest im 7

Produktionsprozeß stehenden schreibenden Arbeitern bzw. „ArbeiterSchriftstellern" sind viele Autoren von unterschiedlicher sozialer Herkunft, sei es, daß sie sich durch höhere Bildung aus ihrem Milieu gelöst haben, sei es, daß sie - von einer anderen Klasse kommend aus tiefem politischen Engagement mit ihrem künstlerischen Schaffen für die Arbeiterklasse Partei ergriffen und deren Leben wahrheitsgetreu und parteilich darstellten. Ihre Herkunft ist zwar von einiger Relevanz, doch stellt sie nicht das wesentliche Kriterium dieser Literatur dar. Für ihre historische Entwicklung hat Phyllis Mary Ashraf eine weitgreifende Definition gebraucht: „Der Begriff ,Arbeiterliteratur' wird hier für .Literatur der Arbeiterklasse' im weitesten Sinne gebraucht. In den ersten Etappen sind dabei die nichtproletarisierten und halbproletarisierten Schichten mit einbezogen, im großen und ganzen also die gesamte arbeitende Bevölkerung, denn die innere Struktur der Arbeiterklasse und ihre Beziehungen zu verschiedenen Zwischengruppen und Klassen ändern sich, ohne daß sich die entscheidenden Klassenverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft ändern . . . Die Literatur der Arbeiterklasse stellt eine historische Kategorie dar, deren Anfänge mit der Genesis des modernen Industrieproletariats zusammenfallen (um die Mitte des 18. Jahrhunderts) und deren Ende in einer zukünftigen klassenlosen Gesellschaft anzusetzen ist." 1 Es geht also nicht primär um Arbeiterromane in einem soziologisch eng gefaßten Begriff von sozialem Status und Beruf des Autors, also um „Romane, geschrieben von britischen Arbeitern oder Arbeitersöhnen über Themen und Probleme, die in ihrem eigenen Milieu anstehen" 2 , sondern um den Grad der Identifikation des Autors und seiner Figuren mit den Zielen und Wertsetzungen des werktätigen Volkes. Außer dem soziologischen und thematischen Kriterium wird vor allem das i d e o l o g i s c h e Moment wesensbestimmend, das H. Gustav Klaus mit dem Begriff „sozialistisch" abdeckt: „Es ist eben dieser Aspekt der Werke, den der Terminus .sozialistisch' zu erfassen sucht. Ein sozialistischer Roman, der im historischen Interesse der Arbeiterklasse geschrieben ist, offenbart einen Standpunkt, der mit dem der klassenbewußten Teile dieser Klasse übereinstimmt." 3 Dieser Begriff des sozialistischen Romans wird dem funktionalen Verständnis moderner Erzählprosa, aus der und für die Arbeiterklasse geschrieben, sowie der umfassenderen Kommunikation in der Gesellschaft zwischen literarischer Produktion und Rezeption, vor allem auch dem Gesamtprozeß von proletarischer Kul8

tur und Lebensweise und von proletarischer Literatur, gerecht. Zugleich mag die Anwendung dieses Begriffs einer oftmals einseitigen Konzentration auf proletarische Traditionen und deren Isolierung vom nationalen Kulturerbe entgegenwirken. Die Integration sozialistischer Literatur in den literarischen Gesamtprozeß trägt der sich immer stärker durchsetzenden Erkenntnis Rechnung, „daß die Arbeiterliteratur nicht irgendeine Abweichung von der Hauptlinie der Nationalliteratur darstellt, sondern vielmehr Teil derselben ist (in dem gleichen Sinne wie die Arbeiterbewegung ein wesentlicher und letzten Endes entscheidender Teil der nationalen Geschichte ist)" 4 . Die Besonderheit der sozialistischen Erzählliteratur innerhalb der Nationalliteratur ergibt sich aus der historischen Mission der sie hervorbringenden und repräsentierenden Klasse. Dies ist nicht unproblematisch, zumal die Entstehung der Romangattung geschichtlich mit dem Aufstieg des Bürgertums verbunden ist und dessen Emanzipations- wie auch Herrschaftsansprüche weit in die literarischen Strukturen hineinragen. Deshalb bemerkt C. C. Barfoot in einem Kommentar zur Darstellung des Jugendlichen u. a. bei Alan Sillitoe und Barry Hines, „daß das Schreiben von Romanen als ein Akt zu einem Resultat führt, das in sich selbst unvereinbar ist mit den Interessen der Arbeiterklasse" 5 . Dieser Konflikt weist auf den widersprüchlichen Begriff des „unproletarischen Individualismus" („unworking-class individualism"), der die Möglichkeit einer vollentwickelten charakterlichen Individualität aus den Reihen der Arbeiterklasse ausschließen soll. Der Schreibakt selbst löst den proletarischen Autor noch nicht aus seinem vertrauten sozialen Milieu und seiner alten klassenbewußten Verantwortlichkeit, sondern erst die profitorientierte Vereinnahmung durch die bürgerlichen Kommunikationsverhältnisse. Für eine eigenständige, von der Genesis des bürgerlichen Romans unabhängige Erzähltradition der Arbeiterklasse spricht vor allem ihre Herkunft aus der mündlichen Überlieferung, durch die Vermittlung von Geschichten und Mythen im Volke durch das gesprochene Wort, das Volkslied, die auch wesentlich die Herausbildung volksnaher Erzählstrukturen und einer realistischen Weltsicht prägten. Die Besonderheit einer proletarischen Literaturkommunikation macht die Erforschung des sozial-literarischen Gesamtprozesses erforderlich und mithin der „Literatur als Teil proletarischer Klassenkultur", die als solche wieder Teil der Nationalkultur ist. Nicht das spezifisch Literarische, gemessen am ästhetischen Regelkanon der

9

etablierten Literaturwissenschaft, steht allein zur Diskussion, sondern die Wechselwirkung zwischen literarischer Produktion und sozialen, politischen, kulturellen Prozessen. Von einem aktuell kommunikationswissenschaftlichen Standpunkt aus werden proletarische Kultur und Literatur in einem weit gefaßten Kulturbegriff „als Einheit von klassenspezifischen kulturellen Wertvorstellungen, von klasseneigener geistiger Produktion, von K a m p f - und Organisationskultur und proletarischer Lebensweise" 6 verstanden. Literatur ist im Kontext der Arbeiterbewegung bzw. des Arbeiterlebens zu sehen. Die Lebensweise der Arbeiterklasse in ihrer sozial-kulturellen Gesamtheit wird gleichsam zum Kristallisationspunkt im Spannungsfeld zwischen Literatur und Arbeiterklasse. Hier bei der Erforschung der englischen Arbeiterklassenkultur mit dem Schwerpunkt auf der „ganzen Lebensweise" („common culture") haben die marxistisch orientierten Literaturwissenschaftler und Kultursoziologen Williams und Hoggart, die Initiatoren des kulturwissenschaftlichen Zentrums in Birmingham, bereits in den fünfziger Jahren Pionierarbeit geleistet. „Richard Hoggart und Raymond Williams grenzten sich sowohl von bürgerlich-orthodoxer als auch von vulgärsoziologisch betriebener Literaturgeschichtsschreibung ab und wendeten sich dabei der Kulturwissenschaft zu. Hoggart hat - um den Umgang der Arbeiter mit Trivialliteratur erklären zu können - die proletarischen Lebensformen untersucht und in ihnen eine eigene Kultur erkannt, die sich gegenüber der herrschenden bürgerlichen Kultur zu behaupten vermag. Ahnlich hat Williams in seinen Studien zur Begründung historisch-materialistischer Literaturwissenschaft die Kultur als ,eine ganze Lebensweise' definiert. Damit versuchte er jene soziale Atmosphäre zu erfassen, aus der klassenspezifisches Kunstverhalten der Arbeiter erklärt werden kann, das sich relativ abgehoben von jener arbeitsteiligen geistigen Produktion entfaltet, die von den herrschenden Klassen mitbestimmt wird." 7 E s ist gerade diese Vielfalt und fruchtbare Wechselwirkung zwischen literarischer und sozialer Kommunikation, die sich im Bedürfnis des werktätigen Volkes nach leicht konsumierbaren, unterhaltsamen, doch emanzipatorisch wirkenden Genres zeigte (Volkslieder, Volksballaden, Music Hall) und die im kollektiven Gemeinwesen bereits ein neues Gefühl der Solidarität und das Bewußtsein einer kämpferisch organisierten K r a f t erzeugte. Diese Seite proletarischer Kommunikationsverhältnisse in ihrer historischen Entwicklung spricht gegen die Auffassung, daß die Tendenz zur Trivialisierung 10

literarischer Formen und Bedürfnisse gleichzusetzen ist mit der Verbürgerlichung der Arbeiterklasse. Das Unterhaltungsbedürfnis in vielfältigen und reichhaltigen Formen sozialer Kommunikation ist ureigenstes Element proletarischer Lebensweise. Verbürgerlichung setzte dort ein, wo die leichte Konsumierbarkeit massenliterarischer Formen durch den kapitalistischen Markt ausgenutzt und als manipuliertes, aus ihren konkreten sozialen Bezügen herausgelöstes Unterhaltungskonzept angeboten wird. Diese Erweiterung (und Verfälschung) proletarischer Lebens- und Literaturverhältnisse durch den zunehmenden Einfluß kapitalistischer Produktions- und Distributionsbedingungen muß zu einem neuen Verständnis sozialistischer Literatur und Kultur führen, das dem Gesamtprozeß nationaler Literaturentwicklung heute Rechnung trägt und die aufklärerisch-emanzipatorische und demokratische bürgerliche Traditionen ebenso einbezieht wie internationale Einflüsse. Rainer Rosenberg plädiert - hinsichtlich der deutschen proletarischen Literatur des 19. Jahrhunderts - für „eine viel weitergreifende Gegenstandsbestimmung": „Denn kein Literatursystem - das der Arbeiterbewegung so wenig wie das bürgerliche - basiert allein auf der klasseneigenen nationalsprachlichen zeitgenössischen Literaturproduktion. In der Literaturkommunikation der deutschen Arbeiterbewegung befinden sich auch Werke der bürgerlichen deutschen Literatur, vornehmlich der Aufklärung und der Klassik und Übersetzungen bürgerlicher und proletarischer Literatur anderer Völker." 8 Erst ein derart kommunikationstheoretisch erweiterter Literaturbegriff, der nicht mehr vordergründig durch Fragen nach der Herkunft des Autors oder - aus soziologischer Sicht - dem „Standpunkt der Arbeiterklasse" bestimmt ist, ermöglicht heute den Blick auf das weite Spektrum demokratischer und sozialistischer Literaturentwicklung. Ein solches Konzept schließt hier die im CPGB-Verlag Lawrence & Wishart erschienenen Romane der Arbeiterschriftsteller („workerwriters") in den fünfziger Jahren ebenso ein wie die großen Erfolgsproduktionen der Angry Young Men wie auch die späteren Trivialisierungstendenzen bei denselben Autoren, die sich eindeutig auch an den Bedürfnissen der werktätigen Massen orientierten. Die zunehmende Trivialisierung der proletarischen Lebenssphäre hat natürlich auch zu tun mit dem „vorherrschenden Mittelklassecharakter des Lesepublikums" und der „bourgeoisen Beherrschung unserer literarischen Kultur" 9 . Proletarisches Milieu wird für die Masse der Werktätigen viel müheloser und schneller rezipierbar über das Fernsehen, 11

was nicht zuletzt die ungeheuer beliebte und über lange Jahre laufende Fernsehserie Coronation Street (über ein proletarisches Viertel in Manchester) bewies. Im Sinne einer heute immer breiteren antimonopolistischen und antiimperialistischen Front wird das revolutionäre Handeln des klassenbewußten Eisenbahners Stewartie in Robert Bonnars gleichnamigem Roman ebenso wichtig wie die bitteren Erfahrungen des Gewerkschaftsfunktionärs Tommy Rhys Evans von Verrat und Opportunismus in The Adventurers von Margot Heinemann, gehört das Bild des sozialen Aufstiegs - repräsentiert durch die Figur Joe Lamptons bei John Braine (Room at tbe Top) - ebenso zur sozialistischen Literaturkommunikation wie die monopolistische Entfremdung des Konzernarbeiters Sam Rowland in Sid Chaplins Roman Sam in the Morning oder die Entfremdung der Landarbeiterfamilie Tallentire aus ihrem traditionellen Milieu bei Melvyn Braggs The Hired Man, dient das Wissen um objektive Tendenzen der Trivialisierung proletarischer Lebensverhältnisse in Stan Barstows Unterhaltungsromanen ebenso dem Verständnis für die kulturellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse wie die Erkenntnis des Lesers, daß der im unteren proletarischen Milieu aufwachsende Held Brian Seaton (in Key to the Door) gerade durch Erfahrungen von weltrevolutionärer Tragweite zum bewußten politischen Handeln befähigt wird. Dabei zählt die stark symbolhaltige Darstellung der oppositionellen und emanzipatorischen Kräfte der Jugend, die, meist auf sich selbst gestellt, besonders vom Unterdrückungssystem betroffen ist, in Sillitoes The Loneliness of the Long-Distance Runner und Barry Hines' A Kestrel for a Knave zu den herausragenden Beispielen einer modernen sozialistischen englischen Erzählliteratur.10 Die Blütezeit der englischen sozialistischen und Arbeiterliteratur lag in den fünfziger und sechziger Jahren, wobei der Höhepunkt etwa im Jahre 1964 überschritten war, als der parteieigene Verlag Lawrence & Wishart die Publikation von Belletristik einstellte. Unter den Bedingungen der von Kapital und Bourgeoisie beherrschten Produktions- und Distributionsverhältnisse wurden die Möglichkeiten zur Propagierung und Verbreitung von sozialistischer Literatur, die sich nicht massenliterarischen Trivialisierungsstrukturen und Geschmacksnormen anglichen, in den siebziger Jahren äußerst schwierig, und dieser Zustand ist heute noch schlimmer geworden. Das betrifft auch den Buchmarkt im allgemeinen. Während die neuen Medien durch eine ständig geförderte hochmoderne Technologie hohe Zu12

wachsraten verzeichnen, ist dort eher das Gegenteil zu beobachten: „der Niedergang der britischen Verlage" 11 . Die vom progressiven Arts Council 1975 ins Leben gerufene „New Fiction Society" etwa in der Tradition des „Left Book Club" der dreißiger Jahre bemühte sich um die Förderung des „anspruchsvollen Romans" („The idea of a non-profit-making book club for the more serious novel") 12 , ohne daß sie sich als eine wirksame Alternative zum kommerzialisierten Buchvertrieb durchsetzen konnte. Eine sozialistische Literatur kann sich unter solchen Bedingungen vorerst nur auf nichtoffizieller, nichtkommerzialisierter Ebene verwirklichen, und immer größer wird die Zahl der unveröffentlichten Manuskripte. Dazu bemerkt Phyllis Mary Ashraf treffend: „Die Literatur der Arbeiterklasse und ihre Perspektive ist nicht an der tatsächlich vorhandenen geringen Zahl von Arbeiter- und sozialistischen Schriftstellern zu messen, die in der gegenwärtigen Situation in England überhaupt Bücher veröffentlichen können." 13 Mehr und mehr ist jene Untergrundszene von jungen talentierten schreibenden Arbeitern und literarisch wie politisch engagierten Arbeitslosen zu beachten, die in einer neuen dokumentarischen Schreibweise bzw. in autobiographischer Berichtsform, organisiert meist in sogenannten „Workshop groups", ihre persönlichen wie politischen Erfahrungen schlicht und vorerst ohne größere künstlerische Ambitionen zu Papier bringen. Zu den bekanntesten Gruppen, die seit Ende der siebziger Jahre bereits einiges Aufsehen erregten, zählen „Commonword Workshop" in Manchester, „Basement Writers" im Londoner Stepney und vor allem „Centerprise" im Londoner Hackney1'*, die ihre gesammelten Produkte über ein nichtoffizielles, gewinnloses Verlagssystem publizieren. Der erstaunliche Aufschwung der sozialistischen und Arbeiterliteratur nach dem zweiten Weltkrieg ist nur zu vergleichen mit ihrer Blüte in den dreißiger Jahren. Die erfolgreichen Schriftsteller vermochten so zeitweilig, die immer tiefere Kluft, die „die demokratische bis sozialistisch-revolutionäre Funktion der oppositionellen Literatur von der kapitalistischen Funktion der Produktions- und Distributionsverhältnisse" scheidet, wie Günther Klotz die Tendenzen der sechziger Jahre treffend umschreibt 15 , zeitweilig zu überbrücken und so eine außerordentlich breite Rezeptionsbasis von nationalem und internationalem Ausmaß für ihre Romane zu schaffen. Die Spekulationen über die wirklichen Ursachen für ein solches Aufblühen waren bisher recht widersprüchlich. Sie nehmen ihren Ur13

Sprung in dem Versuch von P. J . Keating, für den proletarischen Roman des 19. Jahrhunderts einen Regelkanon aufzustellen: „Nur immer in Zeiten gesellschaftlicher Krisen hat eine größere Anzahl von Schriftstellern versucht, Romane zu schreiben, in deren Mittelpunkt das Leben der Arbeiterklasse steht." 16 Ingrid von Rosenberg, die für den Zeitraum zwischen 1953 und 1964 „mindestens 49 Arbeiterromane" registriert, kontert - bezogen auf die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg - mit einer Gegenregel: „Arbeiterliteratur kann offenbar auch dann entstehen, wenn die soziale Lage der Klasse sich entscheidend gebessert hat." 17 Solche Versuche, literarische Erscheinungen einseitig aus sozialen Kriterien zu erklären, sind problematisch, wenn nicht auch politische, geschichtliche und vor allem ideologische Faktoren hinzugezogen werden. Eher wäre hier jener geschichtliche Umschlagspunkt. der Vergesellschaftungsprozesse zu benennen, bei dem der Kapitalismus aus der monopolistischen in die staatsmonopolistische Phase tritt; in dieser Phase intensiver ökonomischer Umstrukturierungen und sozialer „Mobilität" innerhalb der werktätigen Schichten entdeckt auch der Künstler noch Freiräume für die Entfaltung seiner geistigen Produktivität, die sich in realistischer Darstellung und im verstärkt sozialkritischen Engagement äußert. Dem liegt zugrunde der - wie Robert Weimann sagt - „verschärfte Widerspruch zwischen der sozialen Bestimmtheit des E i g e n t u m s in der Ökonomie (als entfremdete, enteignete Arbeit) und realistischer Weltaneignung (als selbst-bestimmte, e i g e n e A r b e i t der künstlerisch Produzierenden)", 18 jener Widerspruch, der für den Autor noch stimulierend und produktiv wirkt. E r verliert dort an künstlerischer Physiognomie und realistischer Gestaltungskraft, wo er sich diesem Widerspruch nicht mehr stellt, sich unter dem zunehmenden materiellen Druck den Normen der staatsmonopolistischen Massenkommunikation anpaßt, seine antimonopolistische Opposition aufgibt und seine literarischen Ausdrucksformen der Trivialisierung unterwirft, was noch nicht notwendig zur völligen Preisgabe des ganzen emanzipatorischen Impetus führen muß. Gerade diese letztere Entwicklung aus den Traditionen des sozialistischen und Arbeiterromans ist von der Forschung bisher nur am Rande beachtet worden. Die DDR-Anglistik und die britischen marxistischen Literaturwissenschaftler und Mitglieder der C P G B sowie Schriftsteller (etwa James Aldridge, Margot Heinemann, David Craig, Herbert Smith, Jack Lindsay, Arnold Kettle) haben sich in 14

den sechziger Jahren vorzugsweise mit dem Arbeiterroman, von Arbeiterschriftstellern geschrieben, beschäftigt. Einen Schwerpunkt bildete dabei Alan Sillitoe - damals eine große Hoffnung für die Herausbildung einer sozialistischen englischen Nationalliteratur. Wertungskriterien bildeten vor allem die traditionellen ästhetischen Normen des sozialistischen Realismus, das Verhältnis von Individuum und Klasse/Gesellschaft, die Orientierung am Klassenstandpunkt. Die kulturhistorischen Forschungen Raymond Williams' wurden in ihrer historischen Tragweite erfaßt, zunehmend aber auch kritischer gesehen. Neben dem Abbild von Klassenkampf und revolutionären Haltungen suchte man aber auch nach tief erliegenden psychologischen Motivationen der Figuren und fand - bei Sillitoe - „neue Ausdrucksformen reich an proletarischer Sensibilität" 19 . In den siebziger Jahren begann man sich von mechanisch angewandten Klassenkampfkriterien abzuwenden und stärker der künstlerischen Leistung Beachtung zu schenken: „Sillitoe ist kein Marxist, aber seine Haltung gegenüber dem Leben (ganz sicher in dieser frühen Periode) widerspiegelt die objektive historische Rolle der Arbeiterklasse als einer revolutionären Klasse . . . Der Prozeß des wachsenden Klassenbewußtseins ist künstlerisch dargestellt . . ." 7 0 Überkommene Vorstellungen von einer linearen Aufwärtsentwicklung der Literatur der Arbeiterklasse mußten jedoch in den siebziger Jahren mit deren realem Zustand kollidieren. Der Schwerpunkt der Forschung verlagerte sich auf die Arbeiterliteratur des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Traditionen von Jack Mitchell bereits seit langem verfolgt werden. Dabei kommt der Forschungsgruppe an der Berliner HumboldtUniversität unter der Leitung von Hanna Behrend zur Arbeiterliteratur bis zum Jahre 1939 eine konzeptionelle Leitfunktion zu. Mitchell hat für das Individuum des proletarisch-revolutionären Romans des 19. Jahrhunderts bereits eine voll entwickelte „reife Sensibilität der Arbeiterklasse" 21 konstatiert, ein Begriff, der sich an Arnold Kettles Ausdruck von der „volkstümlichen Sensibilität" anlehnt. Georg Seehase hat diese Literatur mit Blick auf Lenins These als ein Aufblühen der „zweiten Kultur" gesehen, deren Traditionslinie bis in die Gegenwart reicht: „Die Traditionslinie einer .Zweiten Kultur', die von der Prosa der Chartisten eingeleitet wurde, kann bis in die heutige Zeit verfolgt werden, wo die Werke von Robert Tressell, Lewis Grassic Gibbon, Sean O'Casey, Hugh MacDiarmid und Jack Lindsay Meilensteine in der Entwicklung einer wahrhaft revolutionären literarischen Methode und Perspektive sind." 22 15

Von Seiten der bürgerlichen Forschung sind in den letzten Jahren besonders in der B R D durch fortschrittliche und marxistisch orientierte Literaturwissenschaftler verstärkt Anstrengungen unternommen worden, proletarische und sozialistische Literaturtraditionen aus der Tiefe der frühen britischen Arbeiterbewegung zu erforschen und ihnen als „zweiter Kultur" einen hohen historisch-politischen Rang einzuräumen. Unter vielen sei da besonders der Osnabrücker Anglist H. Gustav Klaus genannt, der mit seinem Sammelband Tbe Sodalist Novel in Britain (1982) durch repräsentative Beiträge zu den Hauptentwicklungslinien die geschichtliche Kontinuität und die Dynamik sozialistischer Romantraditionen bewies. In ihm führt Marta Vicinus den Chartistenroman (als erste eigenständige Erzählliteratur der Arbeiterklasse) nicht auf den Einfluß des kritischen Realismus etwa von Dickens oder Thackeray zurück, sondern auf' „melodramatische" Elemente der romantischen und der Volkskultur („populär literature"). Jack Mitchell betrachtet die „drei antikapitalistischen Romane" aus dem Jahre 1914 (von Robert Tressell, Patrick MacGill und John H. Hay) als „Teil des weltweiten Durchbruchs der sozialistisch-realistischen Erzählprosa", als Ausdruck einer neuen, proletarischen Sensibilität und schöpferischen Originalität, und Tressells The Ragged Trousered Philanthropists wird zum „ .Untergrund-Klassiker' der britischen Arbeiterklasse"23. Um eben diese Kardinalfragen von Kontinuität, Originalität, kultureller Eigenständigkeit und ästhetischer Erneuerungsfähigkeit durch ein lebendiges Erbeverständnis der Arbeiterklasse geht es Raymond Williams im selben Band, wenn er die praktische Wiederaneignung von walisischen proletarisch-sozialistischen Romanen unter der heutigen Arbeiterjugend propagiert. Neu ist hier, daß der walisische Arbeiterroman über seine regionale und soziale Begrenztheit hinweg als Paradigma einer übernationalen, antiimperialistischen, sozialistischen Literaturtradition funktioniert. Dieser Band ist vor allem ein ganz bemerkenswertes Beispiel für die internationale Kooperationsfähigkeit von demokratischen und marxistischen Kräften auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft. H. Gustav Klaus hat die Traditionslinien noch weit in das 18. Jahrhundert zurückgeführt und das proletarische Erbe von über zwei Jahrhunderten einschließlich seiner nicht-künstlerischen Dokumentationen mit dem weiterreichenden Begriff der „Literatur der Arbeit" („literature of labour") 24 erfaßt, der auch die dokumentarischen Formen in den anderen Medien berücksichtigt. Seit Ende der siebziger Jahre ist in der B R D die Zwei-Kulturen16

Theorie stark ins Gespräch gekommen. Sie wird als „demokratisch" und „sozialistisch" definiert und ist nicht an die kulturellen Ausdrucksformen einer bestimmten Klasse gebunden, obwohl ihr Ursprung in der Lebenstätigkeit der werktätigen Massen gesehen wird. Während Williams und die „Cultural Studies" Kultur gleich Lebensweise setzten, wird der Begriff der „zweiten Kultur" „ i n n e r h a l b von .Lebensweisen' [verstanden], als Teil der Lebenstätigkeit . . . als Form des Widerstands, den beherrschte Klassen den herrschenden entgegenstellen."25 Das durchscheinende Hegemoniekonzept schließt allerdings die Koexistenz zwischen erster und zweiter Kultur nicht aus! Wurde in der marxistischen Forschung der DDR schwerpunktmäßig die frühe proletarische und Arbeiterliteratur bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts verfolgt, so konzentrierte sich die bürgerliche Forschung stark auf den ideologisch schwieriger einzuordnenden sozialkritischen oder Protestroman der „Angry Young Men". Grundlegende Auseinandersetzungen mit der sich entwickelnden antimonopolistischen, sozialistischen Gegenwartsliteratur wurden erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre angeregt durch die Zeitschrift Gulliver. Zu der Zeit entstanden auch die beiden wichtigsten Bücher über den englischen Arbeiterroman - von Gudrun Schütz-Güth/Helmut Schütz und von Ingrid von Rosenberg.26 SchützGüth/Schütz untersuchen die lange Tradition proletarischer und sozialistischer Literatur in einer ungebrochenen Kontinuität von den dreißiger bis zu den fünfziger Jahren, ohne die konkreten sozialhistorischen Bedingungen jeweils enger ins Kalkül zu ziehen. Ihr Herangehen ist strukturalistisch. Als ein „universelles Beschreibungsmodell" benutzen sie das vom französischen Strukturalisten Claude Bremond entworfene „Kreislaufsystem" zur Analyse von Märchen jetzt anzuwenden auf den Arbeiterroman der dreißiger bis fünfziger Jahre. Die strukturalistische Methode gibt viele wertvolle und neue Einsichten in Handlungsstruktur, oppositionelle Figurenkonstellationen und Funktionsmuster. Die einseitige Applikation eines generellen „Beschreibungsmodells" und die Strukturanalysen nach einem kybernetischen Baukastensystem in Handlungsräume, Konfliktlösungsmodelle, in Oppositionen von „US" und „THEM", in Arbeitsplatz und Privatbereich, in typusbildende Merkmale vereinfachen, simplifizieren eher die Vielfalt der Romanwelt und der proletarischen Lebensweise. Zum erstenmal ist aber hier vom heutigen Standpunkt die Entwicklung des Arbeiterromans im Kontext marxistischer 2

Magister

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Literaturtheorie systematisch herausgearbeitet worden. Rosenberg beschränkt sich auf die Arbeiterromane der Nachkriegszeit, was einer plastisch wirkenden Interpretation der Romane in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext zugute kommt. Ihre Methode ist autorensoziologisch. Um untaugliche ästhetisch-theoretische Wertungskriterien der etablierten Literaturwissenschaft auszuschalten, wählt sie soziologisch erfaßbare Phänomene des Lebensmilieus und des Klassenkampfes. Romantypologisch unterscheidet sie zwischen politischem (bei Schütz-Güth/Schütz ist es der „Parteiroman") und Milieuroman (gemeint sind etwa Sillitoe, Braine, Storey, Chaplin, Barstow). Sie unterteilt die „Arbeiterromane" - ein sicher vereinfachender Oberbegriff für die gesamte antimonöpolistische, sozialistische Romanentwicklung - in zwei Phasen - vor und nach 1964. Besonders ist hervorzuheben, daß sie bereits auf bislang kaum beachtete Trivialisierungstendenzen in diesen Romantraditionen eingeht, speziell bei den ehemaligen „zornigen jungen Männern". Zuweilen muß gefragt werden, ob die soziologische Methode nicht wieder den intendierten symbolisch-funktionalen Wert und die emanzipatorische Stoßkraft antiautoritärer, oppositioneller Erzählprosa verschüttet. Die erste englischsprachige Gesamtdarstellung von James Gindin 27 hat den Arbeiterhelden (Sillitoes) als Anarchisten im Kampf gegen jegliche Autorität und gegen den „Dschungel" einer feindseligen Welt bezeichnet, dem jedoch jede Fähigkeit zum revolutionären Handeln und zu einer wirklichen Veränderung der Gesellschaft abgesprochen wird. Eine geschichtslose Soziologie der „working-class heroes" führt nur zu einem abstrakten, gefälschten Menschenbild, das sich in einem proletarischen Anarchismus erschöpft. Dagegen plädiert Nigel Gray in seiner Gesamtdarstellung für eine hohe gesellschaftliche Wertschätzung der Kultur und Lebensweise der „schweigenden Mehrheit" 28 . In einer deutlichen polemischen Wendung gegen Richard Hoggarts (The Uses of Literacy) unterbewerteten proletarischen Literaturbegriff betont er gerade die Bildungsfähigkeit und die besonderen literarisch-künstlerischen Ansprüche der Arbeiterklasse. Aus seinem persönlichen Engagement und aus einer überspannten, distanzlosen Identifikation mit der Materie heraus und durch eine extrem psychologisierende und soziologisierende Methode, die vorrangig aus unvermittelt eigenen Erfahrungen erwächst, kommen Gray die wirklichen ästhetisch-weltanschaulichen Strukturen nicht ins Blickfeld. Gerade in den achtziger Jahren zeigen sich Ansätze einer geschichtlichen Neuwertung des sozialistischen und Arbeiterromans in Groß18

britannien, eines Bedürfnisses, „die Vergangenheit in der Gegenwart neu zu definieren bzw. mit ihr zu vereinigen" 29 . In dem neuesten Sammelband über den britischen Arbeiterroman des 20. Jahrhunderts - von Jeremy Hawthorn herausgegeben - wird deutlich, daß sich die Probleme moderner sozialistischer Erzählliteratur überzeugend eher unter kommunikationstheoretischem Aspekt denn unter soziologischem, psychologischem oder der einfachen Widerspiegelung proletarischer Wirklichkeit lösen lassen. Von daher könnte die immer wieder durchscheinende Auffassung von einem linear verlaufenden Zerfall der Arbeiterliteratur endgültig überwunden werden. D i e vorliegenden Studien sind im Rahmen der Forschungsgruppe Anglistik/Amerikanistik am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R entstanden. Für die ständigen Ermutigungen und reichhaltigen Diskussionen bin ich vor allem meinen Kollegen Robert Weimann, Günther Klotz, Friederike Hajek und Utz Riese verpflichtet. Großen Dank für vielfältige Anregungen und Hilfe schulde ich auch Georg Seehase, Wolfgang Wicht sowie Hanna Behrend, John Manning und John Tarver für ausgiebige Hinweise speziell zu heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen in Großbritannien, Margot Heinemann besonders für wertvolle Konsultationen zur Situation britischer Arbeiterschriftsteller.

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Arbeiterklasse in England

Veränderungen im Klassenbegriff Die ökonomische und politische Realität Großbritanniens bietet speziell aus der Perspektive der Masse des arbeitenden Volkes heute, Mitte der achtziger Jahre, ein bedrückendes Bild, und pessimistisch erscheinen die Prognosen für die Zukunft. Der Sieg der Tories bei den Unterhauswahlen im Juni 1983, der die zweite Amtsperiode der Regierung Thatcher sicherte, offenbarte eine weitgehende Zerstrittenheit zwischen linksgerichteten und den demokratischen, sozialistischen Kräften und ihre derzeitige Unfähigkeit, in einer gemeinsamen Kampffront fundamentale Veränderungen in der Gesellschaft durchzusetzen. Allerdings waren die Umstände für die Konservativen außerordentlich günstig. Die bald an die Vier-Millionen-Grenze reichende Arbeitslosenzahl wurde ohne Zweifel von reformismusorientierten Labour-Regierungen mitverschuldet. Das militärische Abenteuer des Falkland-Krieges, eine schwere Bürde für das arbeitende Volk, hat die Wogen des nationalen Patriotismus hochschlagen lassen, und Reste einer kolonialen Nostalgie haben bei vielen Engländern die Illusion einer wiedererstarkenden Weltmacht geweckt. Die ideologischen Auswirkungen der neokonservativen Kraft des „Thatcherism" bis zum Ende des achten Jahrzehnts auf das Bewußtsein des ganzen Volkes sind noch nicht abzusehen.30 Diese pessimistische Sicht auf die gegenwärtige britische Klassengesellschaft erfordert einen klärenden Rückblick auf die vergangenen vier Jahrzehnte gesellschaftlicher Entwicklung nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus. Gerade in der ersten Nachkriegsphase und mit der Propagierung eines britischen Wohlfahrtsstaates schienen sich dem englischen Volk neue Perspektiven gesellschaftlicher Wandlungen auf einer Klassenbasis zu eröffnen, die zunächst durch eine gemeinsame Überwindung der schweren Kriegsfolgen, eine deutliche Steigerung der Industrieproduktion und eine politische Stabilität zur Sicherung von Wohlstand und Frieden zu erreichen waren. Die 20

ideologischen Verfechter der Theorie des „Weifare State" suchten allerdings die grundlegenden gesellschaftlichen Antagonismen im Kapitalismus zu verharmlosen. Trotz dieses auf die Reduzierung der Klassenkämpfe gerichteten Reformismus zeigte die britische Arbeiterklasse ein gewachsenes Klassenbewußtsein, eine erhöhte Kampfbereitschaft und damit eine deutliche Kontinuität zu den revolutionären Traditionen der Dreißiger, an die die britische Arbeiterbewegung Anfang der siebziger Jahre wieder anschloß, ohne sie in den Achtzigern konsequent fortzusetzen. Welche revisionistischen Strategien haben die Arbeiterklasse der sechziger und siebziger Jahre nun von früheren revolutionären Zielen weggeführt? Großbritannien gehört zu den Ländern mit der ausgeprägtesten Klassenstruktur in der kapitalistischen Welt. Dieses Phänomen einer von Klassenantagonismen außerordentlich „betroffenen" („class-ridden") Gesellschaft widerspiegelt sich im Bewußtsein bürgerlicher Schichten in einem besonders starken Prestigedenken und als soziale Hierarchie der oberen und mittleren Klassen einerseits und bei der Arbeiterklasse in einem immer noch solidarischen Gemeinschaftsdenken und kollektiven Zugehörigkeitsgefühl. Nach manchen gesellschaftlichen Veränderungen und soziologischen Verschiebungen in den vier Jahrzehnten nach dem Krieg hat sich an der Existenz eines stark gegliederten Klassenstaates wenig geändert. Der Begriff „Arbeiterklasse" hat in der englischen Soziologie einen hohen Stellenwert; mit seiner Definition verbinden sich dort aber selten mehr als nur vage Vorstellungen von einem Klassenbewußtsein. In einem weiten Sinne bezeichnet er die Produzenten der materiellen Güter, speziell in der Industrie, die zusammen mit den Arbeitslosen über 80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ausmachen. Marxisten plädieren für eine solche „breite" Definition unter dem Aspekt einer einheitlichen „breiten demokratischen Allianz" der Arbeiterklasse gegen die Ausbeuterordnung. 31 Ganz sicher hat sich die heutige Arbeiterklasse gegenüber der des 19. Jahrhunderts, aber auch schon im Verhältnis zu den fünfziger Jahren, stark verändert. Sowohl die geistig-intellektuellen Qualitäten und die politische Reife als auch die Ansprüche an soziale Standards sind nicht zuletzt durch die Erfahrungen und Gewinne in den klassenkämpferischen Auseinandersetzungen enorm gewachsen. 32 Einer trotz aller Krisen hochautomatisierten und computergesteuerten Industrieproduktion entspricht ein ebenso technisch hochqualifizierter Facharbeiterstand, der einmal das Bild der zukünftigen 21

britischen Arbeiterklasse entscheidend prägen wird. 33 Eine Vielzahl von ideologisch verwirrenden Analysen und Konzepten zur britischen Arbeiterklasse hat heute auf dem Buchmarkt Raum gegriffen, die weitestgehend das Marxsche Kriterium des Eigentums an den Produktionsmitteln ignorieren oder für ihre gesellschaftliche Standortbestimmung als irrelevant erklären. Entweder sie konstatieren die Auflösung der Arbeiterklasse und deren Integration in die bürgerlichen Schichten, oder sie kreieren den „Arbeiter der Überflußgesellschaft" („affluent worker"), der sich vom „Marxian Proletariat" deshalb grundlegend unterscheide, weil es nicht länger praktikabel sei, Klassenunterschiede vor allem nach dem Eigentum, dem Einkommen, Reichtum oder sogar dem Beruf zu definieren, 51 die fürwahr nicht unwesentliche Kriterien der Klassenbestimmung sind. Ganz gewiß führt eine mehr dialektische Sicht auf die gegenwärtige britische Klassenstruktur zur Erkenntnis, daß sich die Arbeiterklasse vielfach gewandelt hat. Das Industrieproletariat bildet zwar noch immer den klassenbewußten Kern der Arbeiterklasse und bleibt auch in der Zukunft ganz entscheidend für jede wirksame antikapitalistische Aktion (wie wir am ein ganzes Jahr dauernden Bergarbeiterstreik von 1984/85 gesehen haben) und ist auch weiterhin ein Bollwerk proletarischer Tugenden und Werte, doch seine frühere Macht und zahlenmäßige Stärke ist vor allem durch den hohen Automatisierungsgrad und eine mehr und mehr computergesteuerte Produktion beeinträchtigt. Belastet durch die Sorge um einen gesicherten Platz innerhalb einer durch kleinbürgerliches Denken beeinflußten Gesellschaft, um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes und eines befriedigenden Lebensstandards (etwa die umfangreichen Ratenrückzahlungen), ist bei einer Masse von Arbeitern das Bewußtsein für ihre ureigensten Klasseninteressen zeitweilig aus ihrem Blickfeld geraten. Das bedeutet nicht, daß sie nicht in solidarischer Gemeinschaft auch mit kleinbürgerlichen Schichten die soziale Grundlage ihrer Existenz mit kämpferischer Entschlossenheit verteidigen können, wenn diese in Gefahr gerät, wie etwa durch Grubenschließungen. Sie verneinen nicht ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse, doch begreifen sie ihre klassenspezifische Position heute verändert. Zum Teil im Gegensatz zu den traditionellen proletarischen Idealen und aus einer opportunistischen, den Klassenkampf schwächenden und gefährdenden Sicht. Damit wird deutlich, daß die Einheit der Arbeiterklasse heute noch schwerer zu erreichen ist als früher. Die Konflikte zwischen den Klassen sind deshalb nicht geringer 22

geworden; sie sind durch die bürgerliche Ideologie nur verschleiert. Gegenüber revisionistischen Behauptungen aus den fünfziger Jahren von einem allmählichen Verschwinden der Klassenunterschiede etwa durch den führenden Labour-Ideologen Anthony Crosland weisen britische Marxisten schon seit langem wieder eine deutliche Verschärfung der Klassenantagonismen nach. Bürgerliche Soziologen neigen dazu, die reale Klassenstruktur heute in ein Vielschichtensystem aufzulösen - und damit auch ihren antagonistischen Charakter. Der Marxist Sam Aaronovitch hat in seinem bekannten Buch über die britische Oberschicht der Finanzoligarchie auf der Basis ökonomischer Faktoren für die fünfziger Jahre drei Hauptklassen mit sieben Unterschichten festgestellt 35 : „die Oberklasse" („upper classes") : „Berufs- und hohes Beamtentum" („professional and high administrative"), Direktoren und Produktionsleiter („managerial and executive"); „Mittelklasse" („middle classes"): höheres Aufsichtspersonal („higher grade supervisory and non-manual"), unteres Aufsichtspersonal („lower grade supervisory and non-manual"), Facharbeiter („skilled manual and non-manual"); „untere Klassen" („lower classes"): „Halbfacharbeiter" („semi-skilled manual"), „ungelernte Arbeiter" („unskilled manual"). Dabei zählt er die Kategorie der Facharbeiter im weitesten Sinne zur eigentlichen Arbeiterklasse, die dann zusammen mit den Kategorien sechs und sieben etwa 70 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Ein starker Austausch herrscht zwischen den Kategorien vier und fünf: zwischen den höher qualifizierten Facharbeitern und kleineren Beamten, Aufsehern, Vorarbeitern, „die von Marxisten ohne Zögern zur Arbeiterklasse gerechnet würden" 36 . Der einflußreiche Theoretiker des revisionistischen Konzepts der „Überflußgesellschaft", J. H. Goldthorpe, hat die von ihm so genannte „Mobilität" innerhalb der unteren Schichten als sehr niedrig eingeschätzt 37 und nur die Schichten sechs und sieben zur Arbeiterklasse gezählt. Auch der französische Soziologe Nicos Poulantzas - für die englischen Marxisten von einiger Bedeutung - hat in einer strukturalistischen Analyse die westeuropäische Arbeiterklasse radikal vom Kleinbürgertum abgegrenzt und sie nach Lenin auf das Industrieproletariat reduziert, ungeachtet der heutigen viel komplizierteren Klassensituation 38 . E. O. Wright analysiert ähnlich (vgl. zahlreiche Diskussionen in Marxism Today) durch empirisches und strukturalistisch-soziologisches Herangehen die zwiespältige soziale Struktur der weder zur Arbeiterklasse noch zur Bourgeoisie gehörenden Schicht 23

der Angestellten und Aufseher, des „neuen Kleinbürgertums": „Auf der ökonomischen E b e n e wird d i e beaufsichtigende Tätigkeit in der Warenproduktion genauso ausgebeutet wie die manuelle Arbeit; auf der politischen E b e n e jedoch ist aufsichtsführende Arbeit an der Herrschaft über d i e Arbeiterklasse beteiligt." D i e wahren Produktionsverhältnisse sind hier verzerrt, und der proletarische Klassenbegriff löst sich auf. Ausbeutung wird zu einem allgemeinen Phänomen, von dem also nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch die unteren Schichten des Herrschaftsapparates betroffen sind. D a b e i stützt er sich auf die These einer Proletarisierung der staatlichen Beamten und unteren Büroangestellten („proletarianization of State employees, including lower level bureaucratic personnel") 3 9 . G e r a d e aus diesen bürgerlichen Schichten der staatlichen Verwaltung und Bürokräfte erhofft er sich dann potentielle Bundesgenossen für die Arbeiterklasse in eventuellen Klassenauseinandersetzungen. In Goldthorpes Theorie der „Verbürgerlichung" der proletarischen Schichten („embourgeoisement") mögen wir sozusagen eine soziale Gegenbewegung erkennen. Sie wird hervorgerufen durch den weitgehenden E r s a t z von körperlicher Arbeit durch sogenannte „whitecollar"-Jobs und das Erreichen eines angeblich bürgerlichen Wohlstands und „Überflusses" 4 0 . D i e Arbeiterklasse würde nach dieser Theorie allmählich verschwinden und in die bürgerlichen Schichten integriert werden. D i e Theorien von der Verbürgerlichung proletarischer Schichten sowie der Proletarisierung weiter Teile der „petty bourgeoisie" und deren Absinken auf die sozialen Standards der „traditionellen Arbeiterklasse" können nur dazu dienen, ökonomisch bestimmte Oberflächenerscheinungen und sekundäre Veränderungen in den Denk- und Verhaltensgewohnheiten als historisch relevante Prozesse zu interpretieren und die wirklichen Klassenwidersprüche zu ignorieren. Pessimistische Aussagen sprechen nicht von einem durch objektive, weltwirtschaftliche und weltpolitische Konstellationen bedingten gesellschaftlichen Strukturwandel, sondern von einem Absinken und einem „ N i e d e r g a n g " der politischen Aussagekraft der Arbeiterklasse. 4 1 E i n e solche - resignierende, fatalistische - Sicht zöge folgenschwere Konsequenzen für die Kultur und Kunst der Arbeiterklasse nach sich. E s ist jedoch richtig, von einer historisch bedingten sozialen Umstrukturierung der Arbeiterklasse zu sprechen, die deren zeitweilig begrenzte Effektivität im K a m p f gegen den Monopolkapitalismus erklärt. D a f ü r seien hier u. a. drei Hauptgründe angeführt: 1. der 24

aus den historischen Besonderheiten der britischen Arbeiterbewegung (mit ihrem Schwerpunkt in der Gewerkschaftsarbeit) und der imperialistischen Machteinwirkung erklärbare Opportunismus und gemäßigte Impuls zum Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung; 2. der grundsätzlich örtlich begrenzte und weitgehend auf konkrete soziale Forderungen beschränkte Charakter der proletarischen Solidarität, der in einer traditionellen Lebensweise begründet ist; 42 3. die zunehmende Isolierung des Arbeiters von seinem vertrauten Milieu innerhalb eines proletarischen Gemeinwesens, die zu einer auf Gelderwerb und soziales Prestige orientierten Individualisierung abzielt und von einer revolutionären Massenbewegung wegführt. Die britische Arbeiterbewegung einschließlich der in weiten Teilen opportunistischen Labour Party und des traditionell pragmatischen Gewerkschaftsdachverbandes (TUC) ist gefangen in kaum lösbaren Widersprüchen zwischen gemäßigter Reformpolitik und ihrem letztlichen Verzicht auf radikale Veränderungen zugunsten der arbeitenden Massen, was ihren zeitweiligen Widerstand gegen den Staatsmonopolismus recht uneffektiv macht. Ist nun aus dieser punktuellen Unwirksamkeit der britischen Arbeiterbewegung und aus den vorangestellten Aussagen auf eine tatsächliche Entflechtung der Klassengegensätze zu schließen? Das wesentliche Problem für eine tendenzielle „Verbürgerlichung" wird von konsequent analysierenden Marxisten darin gesehen, daß Arbeiter von der Mittelklasse nicht ohne weiteres akzeptiert und assimiliert werden. Eine tatsächliche Vermischung der Klassen gibt es nicht, die Klassengegensätze verschärfen sich eher, und die britische Arbeiterklasse bleibt weiterhin eine der am höchsten organisierten der Welt. 4 3 Ihr Potential verstärkt sich noch aus anderen Schichten. In einer richtungweisenden wissenschaftlichen Analyse und Kritik revisionistischer Sozialtheorien aktualisiert H. Frankel den Marxschen Proletariatsbegriff vom geschichtlichen Aspekt des staatsmonopolistischen Kapitalismus her: „Die Hauptveränderung im Proletariat seit Marx ist die Einverleibung von Millionen von niedrigbezahlten nichtmanuellen Arbeitern, der Hauptwandel in der herrschenden Klasse ist die Fusion des Landadels, der Kapitalisten und Topmanager, ist die Entstehung des staatsmonopolistischen Kapitalismus." Durch das Absinken vieler niedrig bezahlter Beamtengruppen zu Lohnarbeitern in der Phase des „monopoly State capitalism" hat sich der prozentuale Anteil des Proletariats noch stark vergrößert. 1967 ergaben allgemeine Schätzungen, daß ca. 40,4 Mil25

lionen von 52,3 Millionen der Gesamtbevölkerung Großbritanniens (oder 77 Prozent) kaum wesentliches Eigentum besaßen. Daraus folgert: „Das Proletariat besteht damit heute aus drei Vierteln der Bevölkerung." So rechnet auch Frankel Facharbeiter, „Halbfacharbeiter" und Arbeiter ohne Ausbildung zur Arbeiterklasse. Überzeugend und mit fundierten Beispielen weist er die propagierte Theorie von einer allgemeinen sozialen Aufstiegsbewegung der Arbeiterklasse zurück, und er hält die bürgerlichen Parolen eines „aus der Arbeiterklasse Emporsteigens" und des „Endes der Lohnsklaverei" rundheraus für irreführend. 44 Die außergewöhnlich hohe Konzentration von Privatkapital in Großbritannien (nach Westergaard/Resler die höchste in der Welt) ist notwendigerweise auch mit einer eminenten sozialen Ungleichheit verbunden, die sich eher noch vergrößert. Übereinstimmungen mit der bürgerlichen Klasse sind nur von sekundärer Bedeutung und beschränken sich auf moralische und psychologische Aspekte von- Alltag und Lebensweise. Besonders für den höher qualifizierten Arbeiter gilt die Gefahr eines forcierten Konsumdenkens. Er wird seine Ansprüche höchstwahrscheinlich immer mehr nach bürgerlichen Standards definieren. In diesem Sinne, und in einer formalen und oberflächlichen Weise, gibt es eine „Klassenassimilation". „Aber weil die konkrete Ungleichheit von Einkommen und Reichtum auf neuen Ebenen fortbesteht, wird die Kluft zwischen den Ansprüchen der Arbeiter und ihrer tatsächlichen Befriedigung noch größer. Folglich wird ihre Unzufriedenheit eher noch schlimmer, nicht geringer." 45 Nichterfüllte Versprechungen und enttäuschte Erwartungen einer neuen sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit im „Wohlfahrtsstaat" lassen die Klassenantagonismen um so deutlicher hervortreten. Einen theoretischen Ausgangspunkt für die Hypothese eines beliebigen Austausches zwischen den Klassen bildet das schon erwähnte Konstrukt der „sozialen Mobilität" („social mobility"). Es interpretiert demographische Erhebungen zur Klassenzugehörigkeit und deren permanente Verschiebungen als ein beliebiges die soziale Stufenleiter Rauf-und-Runter ohne tiefere Befragung seiner objektiven gesellschaftlichen Ursachen. So glaubt E. A. Johns ermittelt zu haben, daß etwa ein Drittel der Bevölkerung - gemessen an den Berufen ihrer Väter - den sozialen Aufstieg mache und ein Drittel aus seiner Klasse wieder absteige. Dies scheint nach einem Blick auf einen großen Teil soziologischer Untersuchungen wenig glaubwürdig. Die Kriterien für eine so behauptete massenhafte Auf- und 26

Abbewegung sind sozial irrelevant und verwischen die realen Herrschaftsverhältnisse. Aaronovitch hat die revisionistische Soziologie von den unbegrenzten Aufstiegsmöglichkeiten, vom Verschwinden der herrschenden Klasse und von einem politisch machtlosen Monopolkapital sehr ironisch paraphrasiert: „Immer mehr steigen aufgrund ihrer Intelligenz nach oben, besonders da Bildungsmöglichkeiten jetzt allen offenstehen. Jene oben (,at the top') bilden eine Elite, einen natürlichen Adel des Talents. Aber es gibt keine herrschende Klasse. Die Gesellschaft bietet das Bild einer Reihe von Machtstrukturen, die die Machthabenden von den Machtlosen trennen. Doch es gibt keine geschlossene' Gruppe mit einem Monopol an ökonomischer und politischer Macht, etwa w i e der Begriff der .herrschenden Klasse' impliziert.'" 16 Die scharfe Kritik richtet sich gegen die Atomisierung des realen politisch-ökonomischen Machtkomplexes im Staatsmonopolismus („oligopy"), mit der die Existenz einer herrschenden Klasse geleugnet und die sozialen Trennlinien zwischen den Klassen verharmlost werden sollen". Eine entideologisierte Erforschung der sozialen Bewegungen zwischen den Klassen ignoriert Klassenteilung und Klassenkonflikt im heutigen Kapitalismus, sie werden einfach mit dem Mobilitätsbegriff erklärt. Ausbeutung in einer „offenen Gesellschaft" findet nicht statt/' 7 Ausgehend von den soziologischen Forschungen von D. V. Glass und seinem Team an der London School of Economics in den fünfziger Jahren hat die englische Soziologie eine Theorie der „open society" propagiert, deren geistige Wurzeln bis in die Traditionen des christlichen Sozialismus, des Fabianismus, der „Friendly Societies" des bürgerlichen Liberalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert zurückreichen. Demnach vollzieht sich soziale Bewegung in Form einer unkontrollierten „vertikalen" sowie „horizontalen" Mobilität, eines ständigen „up and down" zwischen den Klassen und Schichten, was die Vorstellungen von Klassenbewußtsein und Klassenformation überflüssig macht. Goldthorpes Mobilitätskonzept ist auch ein direkter Angriff auf die marxistische Gesellschaftstheoriej- der Marxismus hätte der „sozialen Mobilität" wenig Bedeutung beigemessen außer in der Verelendungstheorie! - und war in den sechziger Jahren darauf gerichtet, ein konformistisches und liberalistisches Staatsdenken und den Glauben an eine „Überflußgesellschaft" zu erzeugen, revolutionäre Gedanken zu neutralisieren und den Mythos von der Aufstiegsmöglichkeit durch „Rekrutierung von unten" für jedermann zu einem „room at the top" (einem „Platz ganz oben") zu verbreiten/* 8 Solche 27

systemstabilisierenden, antirevolutionären Theorien sind bis heute in immer neuen Variationen - siehe heutigen Thatcherismus - neu belebt worden. Sie waren nie ohne eine gewisse Attraktivität für die arbeitende Klasse im „Wohlfahrtsstaat" und weckten so manche falschen Hoffnungen gerade bei der jungen Generation.

Proletarische Lebensformen im Verfall? D i e ökonomischen Umwälzungen der fünfziger und sechziger Jahre haben die Bevölkerungsstruktur stark gewandelt und damit auch das Milieu der arbeitenden Schichten. Sie haben zu tiefen Einschnitten in die relative Geschlossenheit der proletarischen Kultur geführt und die alten, festgefügten Familienbande innerhalb eines kollektiven Gemeinwesens zerrissen. Diese gesellschaftlichen Umstrukturierungen sind in vollem Gange, und eine komplexere soziale Schichtung der Arbeiterklasse - gegenüber dem früheren Industrieproletariat - muß heute auch das Millionenheer der nationalen Minderheiten und der sozial außerordentlich differenzierten Arbeitslosen in den Kampf für eine gerechtere Ordnung mit einbeziehen. Diese grundlegenden Veränderungen sind nicht mit so klassenindifferenten Begriffen zu erklären wie der „sozialen Mobilität" oder etwa der bloßen Rollenverschiebung zwischen Mann und Frau in Familie und Produktion. D i e Arbeiterklasse befindet sich augenblicklich in einer schwierigen ideologischen Situation, am Scheideweg zwischen der Bewahrung bzw. geistigen Erneuerung alter proletarischer Tugenden und politischer Ideale einerseits und der illusionären Anpassung an die Moral der Mittelklasse andererseits. Bewegt sich die Arbeiterklasse vor allem durch den Einfluß der Massenmedien, so fragte Brian Jackson 1968 nach soziologischen Untersuchungen im nordenglischen Industriegebiet mit Verbitterung, aus ihrem abgeschlossenen proletarischen Gemeinwesen etwa heraus und direkt in die Passivität und Konformität der bürgerlichen Mittelklasse und ihrer ärmlichen Sorgen um soziales Prestige und korrekte Verhaltensweisen und ihrer armseligen, durch die Massenmedien „multiplizierten E r fahrung"? 4 9 Im Gegensatz dazu entstehen durch Wunschvorstellungen scheinoptimistische Bilder einer noch heilen und unverwechselbar proletarischen W e l t wie die des Soziologen E . A . Johns, in der sich die traditionellen Verhaltensweisen und Werte der Arbeiterklasse trotz 28

systemstabilisierenden, antirevolutionären Theorien sind bis heute in immer neuen Variationen - siehe heutigen Thatcherismus - neu belebt worden. Sie waren nie ohne eine gewisse Attraktivität für die arbeitende Klasse im „Wohlfahrtsstaat" und weckten so manche falschen Hoffnungen gerade bei der jungen Generation.

Proletarische Lebensformen im Verfall? D i e ökonomischen Umwälzungen der fünfziger und sechziger Jahre haben die Bevölkerungsstruktur stark gewandelt und damit auch das Milieu der arbeitenden Schichten. Sie haben zu tiefen Einschnitten in die relative Geschlossenheit der proletarischen Kultur geführt und die alten, festgefügten Familienbande innerhalb eines kollektiven Gemeinwesens zerrissen. Diese gesellschaftlichen Umstrukturierungen sind in vollem Gange, und eine komplexere soziale Schichtung der Arbeiterklasse - gegenüber dem früheren Industrieproletariat - muß heute auch das Millionenheer der nationalen Minderheiten und der sozial außerordentlich differenzierten Arbeitslosen in den Kampf für eine gerechtere Ordnung mit einbeziehen. Diese grundlegenden Veränderungen sind nicht mit so klassenindifferenten Begriffen zu erklären wie der „sozialen Mobilität" oder etwa der bloßen Rollenverschiebung zwischen Mann und Frau in Familie und Produktion. D i e Arbeiterklasse befindet sich augenblicklich in einer schwierigen ideologischen Situation, am Scheideweg zwischen der Bewahrung bzw. geistigen Erneuerung alter proletarischer Tugenden und politischer Ideale einerseits und der illusionären Anpassung an die Moral der Mittelklasse andererseits. Bewegt sich die Arbeiterklasse vor allem durch den Einfluß der Massenmedien, so fragte Brian Jackson 1968 nach soziologischen Untersuchungen im nordenglischen Industriegebiet mit Verbitterung, aus ihrem abgeschlossenen proletarischen Gemeinwesen etwa heraus und direkt in die Passivität und Konformität der bürgerlichen Mittelklasse und ihrer ärmlichen Sorgen um soziales Prestige und korrekte Verhaltensweisen und ihrer armseligen, durch die Massenmedien „multiplizierten E r fahrung"? 4 9 Im Gegensatz dazu entstehen durch Wunschvorstellungen scheinoptimistische Bilder einer noch heilen und unverwechselbar proletarischen W e l t wie die des Soziologen E . A . Johns, in der sich die traditionellen Verhaltensweisen und Werte der Arbeiterklasse trotz 28

wachsendem materiellen Besitz und höherer Löhne erhalten haben und in der bürgerliche und proletarische Schichten auf strenger Distanz und Abgrenzung voneinander beharren würden. Er behauptet, daß ganz besonders Arbeiterjungen „statusbejahende Verhaltensmuster" zeigten, die bürgerlichen Standard ablehnten und den Berufen ihrer Väter mit rein körperlicher Arbeit folgten. Johns' Theorie bleibt nur an der Oberfläche der Konflikte: „Es ist bewiesen, daß die Trennlinie zwischen körperlicher und nicht-körperlicher Arbeit weder gegen beruflichen Erfolg noch gegen Mißerfolg eine große Barriere bildet. Doch wenn die beruflichen Barrieren überwunden sind, bleiben die sozialen und kulturellen Barrieren noch bestehen - ein ständig wiederkehrendes Thema im modernen englischen Roman." 50 Dieses soziologische Verfahren deckt einige neue Aspekte über den sich wandelnden Zusammenhang zwischen dem Roman und der englischen Arbeiterklasse auf; doch es führt auch zu einer mechanischen Trennung zwischen ökonomischen und kulturellen Widersprüchen, zwischen Beruf, sozialer Stellung und proletarischer Lebensweise und macht die tatsächlichen Klassenunterschiede irrelevant. Dieser Reformismus widerspiegelt sich auch zunehmend im Roman über das Leben der Arbeiterklasse. Johns greift willkürlich einzelne Aspekte psychosozialen Verhaltens und der Lebensweise heraus und macht sie zu relevanten Charistika der Arbeiterklasse, die sie angeblich entscheidend gegenüber anderen Klassen als solche kennzeichnen: Wahlgewohnheiten („Fabrikarbeiter unterstützen bezeichnenderweise Labour" 51 ), eine traditionelle Rollenverteilung innerhalb der Arbeiterfamilie 52 und deren starker Zusammenhalt über mehrere Generationen dort, wo sich noch ein starkes Gemeinschaftsleben erhalten hat, Verhaltensnormen der Geschlechter zueinander und innerhalb der Jugend, typische Freizeitgewohnheiten, wobei der Mißbrauch des Fernsehens als eine negative Erscheinung herausragt 53 . Johns definiert hier eher einen emotional begründeten und stark konventionsgebundenen Klassenbegriff, der nicht frei ist von Trivialitäten und Gemeinplätzen, die eher die revolutionäre Potenz und geistig-kulturelle Kreativität der Arbeiterklasse verkleinern helfen. Dies kann auch als eine apologetische Rückwendung auf die Positionen Richard Hoggarts gewertet werden, der jedoch aus der Perspektive der fünfziger Jahre in proletarischer Solidarität ein in sich geschlossenes, überzeugendes Bild der britischen Arbeiterklasse gezeichnet hat - freilich unter Ausschluß des revolutionären Proletariats - : „Sie fühlen sich eher als Arbeiterklasse in den Dingen, die 29

sie bewundern und hassen, einfach im dazugehören'." 5 4 Hoggarts nostalgischer Rückblick auf die „alles durchdringende Kultur" ungebrochener proletarischer Lebensformen der Vergangenheit aus eigener Anschauung heraus und in voller geistiger Identifikation mit ihr ist ein wertvolles historisches Dokument mit großer Einfühlsamkeit und Detailtreue, das uns eine einprägsame Vorstellung gibt von der Lebensfülle, der moralischen Integrität, der eigenständigen Sensibilität und der kollektiven Solidarität proletarischen Gemeinwesens - eine auch heute noch unverzichtbare Interpretationshilfe zum Verständnis künstlerischer Darstellungen der vergangenen Arbeiterwelt. Familientradition und Dorfgemeinschaft, proletarisches Cottage und pastorale Landschaft bzw. in der Stadt die spärliche Werkswohnung im verpesteten Industrieviertel („there's no place like home"), unverwechselbare Sitten und Spracheigentümlichkeiten, „selfrespect" und Klassenbewußtsein mit einem starken Gefühl für „themand-us" („ihnen-und-uns")-Antagonismen vermitteln ein authentisches Bild des Lebens breiter Schichten der Arbeiterklasse. Das „them-and-us"-Bewußtsein stand für den Stolz, die starke gemeinschaftliche Solidarität („with a strong sense of being a group") und die menschliche Wärme einer unterdrückten Klasse, die ihren Gegnern moralisch distanziert und mit vollem Lebensanspruch gegenübertritt. „The füll rieh life" bedeuteten Lebensfreude und Lebensgenuß ebenso wie kollektive Verantwortung und Produktivität. Doch Hoggart kam nicht aus ohne Idyllisierungen der proletarischen „Community", und die historische Mission der Arbeiterklasse wird nicht sichtbar. Daraus entspringt auch der Widerspruch zwischen Hoggarts tiefem Respekt für die überlieferten Volkstraditionen von Brauch und Sitte und lebensechtem Folk-Song einerseits und seiner Distanz zu den politischen und intellektuellen Fähigkeiten und künstlerischen Leistungen der Arbeiterklasse andererseits. Hoggart deutete die gesetzmäßigen sozialen und kulturellen Umbrüche in der Arbeiterklasse als geistige und künstlerische Perspektivlosigkeit. Einen solchen Eindruck konnte er bekommen in konzentrierten, in sich abgeschlossenen Stadtkommunen, wo willkürliche Freizeitbeschäftigung und ziellose Zerstreuung durch den verstärkten Einfluß der amerikanischen Massenkultur nach dem Kriege überhandnehmen und den einzigen Sinn des Lebens, insbesondere der Jugend, ausmachen. Diese Tendenz verstärkt sich heute noch. Der Sozialforscher Jeremy Seabrook beobachtete im „City Close-up" von Blackburn der sechziger Jahre einen grenzenlosen Drang gerade der Jugend zum Hedonismus 30

und zu vielen Spielarten der Bedürfnisbefriedigung, die keinerlei soziales und politisches Engagement aufkommen lassen. Diese reale Erscheinung steht im engen Zusammenhang mit dem Zerfall der alten proletarischen Familienstruktur und dem Absterben einer reinen Arbeiterkultur („the withering of the old working-class subculture" 55 ). Darin schwingt zugleich eine tiefe Resignation über den realen Verlust proletarischer Traditionen mit, der durch die ökonomischen Veränderungen des Staatsmonopolismus, durch die korrumpierenden Einflüsse der „Welfare-State"-Ideologie und vor allem der neuen kapitalistischen Massenkultur („the newer mass art") hervorgerufen wurde. Das Aufbrechen proletarischer Lebensstrukturen führt vielfach zu einem Identitätsverlust der Arbeiterklasse und erfordert somit neue künstlerische Ausdrucksformen und ideologische Strategien des Klassenkampfes. Hoggart vermochte noch keine Alternative zu zeigen, denn er übersah die von der marxistischen Klassentheorie ausgewiesenen geistig-intellektuellen Werte und den historischen Führungsanspruch der Arbeiterklasse und leistete so einer Festschreibung von Stereotypen und Konventionen einer „proletarischen Subkultur" Vorschub. Er wie auch viele Arbeiterschriftsteller (zum Beispiel Archie Hill, David Storey) sahen im Verhältnis der proletarischen Wirklichkeit zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren einen totalen Bruch, die Aufgabe ihrer Identität, und nicht die Kontinuität des proletarischen Klassenbewußtseins in einer sich verändernden Realität. Mit Recht wendet sich der proletarische Theoretiker und Literat Nigel Gray gegen diese pessimistische Sicht auf die Arbeiterklasse und spricht gerade ihr eine besondere psychologische Tiefe und geistig-soziale Kraft zu; doch er bezichtigt auch Schriftsteller wie Sillitoe und Chaplin, sich von der Arbeiterklasse abgewandt und sich der bürgerlichen Kultur und den Mittelklasse-Standards unterworfen zu haben. Dagegen zeigt allerdings Grays eigene literarische Praxis selbst ein düsteres Bild des sozialen Elends und der moralischen Haltlosigkeit in der britischen Arbeiterjugend. 56 Während die bürgerlich-revisionistische Soziologie eine allmähliche Auflösung der Klassenantagonismen zwischen Proletariat und Unternehmer proklamiert, versucht die linke, antikapitalistisch orientierte Sozialtheorie eine prononcierte Erneuerung des Proletariats und ihrer alten kargen Ideale und lebensnahen Wertmaßstäbe. Doch das Beharren auf psychischen, moralischen, verhaltensmäßigen Besonderheiten der Arbeiterklasse verschafft ihr keine echten gesellschaftlichen Alternativen gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, 31

sondern dient eher der bloßen Apologie einer minderwertigen Lebenskultur und der unhistorischen Festschreibung sozialer Rollenschemata und ideologischer Stereotypen. Gray leitet die Kraft proletarischer Tugenden nicht aus den objektiven historischen Potenzen, sondern von dem sozialen Notstand der Arbeiterklasse her („die Enge und das Fehlen von Privatsphäre, der Mangel an Raum und an Möglichkeiten" und die „Unsicherheit der Arbeiterklasse"), der allein das solidarische Gemeinschaftsgefühl stimuliere. Gray betrachtet die ausgebeutete Arbeiterklasse mit viel Sympathie, doch ihr Schicksal als unabänderlich, und er findet es deshalb auch nicht weiter beklagenswert, wenn sich aus ihnen nach dem Verlust ihrer sicheren, heimischen Gemeinschaft „ziellose und zahme Heloten einer maschinenwartenden Klasse" 57 entwickeln. Diese negative Sicht des Proletariats als Sklaven der modernen Industrie ist bei allem Realismus in der Darstellung der Produzenten materieller Güter eine völlig verfälschende, wenn es nicht als Auswirkung des spätkapitalistischen Unterdrückungsapparates gesehen wird. Entscheidend wäre doch aber die Bewahrung der Traditionen der Arbeiterkultur und ihrer echten moralisch-geistigen Potenzen, um als tragende politische Kraft einmal gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen zu können. Es ist zu fragen, wie unter den heutigen Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit die Traditionen der proletarischen Lebenskultur bewahrt bzw. zu neuem Leben erweckt werden können. Die heutigen Verhältnisse von verschärfter Ausbeutung, Armut und Arbeitslosigkeit lassen unwillkürlich Parallelen erkennen zur Situation in den zwanziger Jahren, als soziale Krise und Unterdrückung die Solidarität und Kampfentschlossenheit der Arbeiterklasse mobilisierten. Es entstanden (in den Dreißigern) Volksfrontbestrebungen und kampfstarke Arbeiterorganisationen, deren politisch-ideologische Erfolge bei den progressiven Kräften des Volkes Hoffnungen auf eine mögliche sozialistische Zukunft nährten. Können nun geschichtlich vergleichbare Konstellationen auch ähnliche Wirkungen erzielen?! In einer aufschlußreichen und umfangreichen empirischen Studie hat der britische Sozialforscher Jeremy Seabrook unter dem Motto „from the thirties to the eighties" nachgewiesen, daß die Voraussetzungen für die Erhaltung proletarischer Lebenskultur zwischen beiden Dekaden historisch verschieden sind. Zunächst rückte er einer sehr verbreiteten Auffassung zu Leibe, daß die Massenarbeitslosigkeit unter den Bedingungen einer abgesicherten Sozialfürsorge heute viel leich32

ter zu ertragen sei als damals. Gerade der wachsende materielle Wohlstand auch der Masse der Arbeiter führte zu einer „Schwächung der politischen Funktion und ideologischen Sinngebung" der Arbeiterklasse. Materielle Erfolge und verbesserte Sozialleistungen haben eben nicht zur Lösung grundsätzlicher sozialer Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung geführt. Organisch gewachsene proletarische Gemeinschaften, ihr lebensverbundenes, natürliches Dasein, ihre Solidarität und ihre Tugenden von Mäßigkeit und Würde, die ein Schutzschild bildeten gegen die Normen einer bürgerlichen Massenkultur, wurden brüchig. Erkennbar wird, daß die Bedingungen heutiger Klassenkämpfe wesentlich komplizierter geworden sind. 58

Soziale Ungleichheit oder „Weifare State" Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen seiner programmatischen Schriften The Future of Socialism (1956; Die Zukunft des Sozialismus) und The Conservative Enemy (1962; Der konservative Feind) stellt sich der bekannte Theoretiker, Propagandist und spätere Minister im Labour-Kabinett Anthony Crosland die Frage, ob sein damaliger „relativer Optimismus" auf eine „sozialistische" Zukunft durch das heutige Großbritannien bestätigt wird: „Beweisen diese Rückschläge gegen unsere Hoffnungen, daß die revisionistische Analyse der Mittel und Wege falsch und die von uns zurückgewiesene marxistische Analyse richtig war?" Doch Crosland war keineswegs gesinnt, seine „revisionistische Analyse des Sozialismus zugunsten eines aufpolierten Marxismus" trotz einer vernichtenden Bilanzierung der erreichten Ziele und Resultate der Labour-Sozialpolitik zu widerrufen. 59 Croslands Enttäuschung über die permanenten Mißerfolge der Nationalisierungsprogramme am Ende seiner politischen Karriere (1974) ist offensichtlich. Er erkannte, wie die profitgierigen Monopole und der staatsmonopolistische Machtapparat des neuen Konservativismus miteinander kollaborieren und b e i d e den kleinen Mann auf der Straße seiner Rechte berauben. Nach eindeutiger Schuldzuweisung an die Tories spart der Labourideologe auch nicht mit Kritik an seiner eigenen Partei: „Gewiß ist die konservative Regierung für den größeren Teil der letzten zwei Jahrzehnte an der Macht gewesen. Doch die Labour Party hätte sowohl im Regierungsamt als auch in der Opposition mehr erreichen müssen. Dem störri3

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ter zu ertragen sei als damals. Gerade der wachsende materielle Wohlstand auch der Masse der Arbeiter führte zu einer „Schwächung der politischen Funktion und ideologischen Sinngebung" der Arbeiterklasse. Materielle Erfolge und verbesserte Sozialleistungen haben eben nicht zur Lösung grundsätzlicher sozialer Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung geführt. Organisch gewachsene proletarische Gemeinschaften, ihr lebensverbundenes, natürliches Dasein, ihre Solidarität und ihre Tugenden von Mäßigkeit und Würde, die ein Schutzschild bildeten gegen die Normen einer bürgerlichen Massenkultur, wurden brüchig. Erkennbar wird, daß die Bedingungen heutiger Klassenkämpfe wesentlich komplizierter geworden sind. 58

Soziale Ungleichheit oder „Weifare State" Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen seiner programmatischen Schriften The Future of Socialism (1956; Die Zukunft des Sozialismus) und The Conservative Enemy (1962; Der konservative Feind) stellt sich der bekannte Theoretiker, Propagandist und spätere Minister im Labour-Kabinett Anthony Crosland die Frage, ob sein damaliger „relativer Optimismus" auf eine „sozialistische" Zukunft durch das heutige Großbritannien bestätigt wird: „Beweisen diese Rückschläge gegen unsere Hoffnungen, daß die revisionistische Analyse der Mittel und Wege falsch und die von uns zurückgewiesene marxistische Analyse richtig war?" Doch Crosland war keineswegs gesinnt, seine „revisionistische Analyse des Sozialismus zugunsten eines aufpolierten Marxismus" trotz einer vernichtenden Bilanzierung der erreichten Ziele und Resultate der Labour-Sozialpolitik zu widerrufen. 59 Croslands Enttäuschung über die permanenten Mißerfolge der Nationalisierungsprogramme am Ende seiner politischen Karriere (1974) ist offensichtlich. Er erkannte, wie die profitgierigen Monopole und der staatsmonopolistische Machtapparat des neuen Konservativismus miteinander kollaborieren und b e i d e den kleinen Mann auf der Straße seiner Rechte berauben. Nach eindeutiger Schuldzuweisung an die Tories spart der Labourideologe auch nicht mit Kritik an seiner eigenen Partei: „Gewiß ist die konservative Regierung für den größeren Teil der letzten zwei Jahrzehnte an der Macht gewesen. Doch die Labour Party hätte sowohl im Regierungsamt als auch in der Opposition mehr erreichen müssen. Dem störri3

Magister

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sehen Widerstand gegenüber Veränderungen hätten wir einen noch stärkeren Willen zur Veränderung entgegensetzen sollen. Daraus schließe ich, daß ein Schritt nach links notwendig ist." 60 Fürwahr könnten dieselben Worte auch zu Beginn einer vierten Amtsperiode stehen. Was verstand er nun unter einem „Schritt nach links?" Crosland hatte in den fünfziger Jahren die Frage: „Ist das noch Kapitalismus?" mit einem kategorischen Nein beantwortet! Obwohl sich die Klassenantagonismen wieder deutlich verschärft hatten und wesentliche Bestandteile des „Wohlfahrtsstaats" aufgegeben waren! Gegenüber der marxistischen Schlüsselfrage nach dem Eigentum an Produktionsmitteln bestimmte er das bürgerlich-demokratische Egalitätsideal zum Hauptkriterium des britischen Sozialismus. Croslands Primat der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit setzte bestimmte Standards des privaten Einkommens, des Gesundheits- und Wohnungswesens, von Bildung und Erziehung voraus. Bei seinen gesellschaftlichen Analysen und Prognosen ließ er sich von den ökonomischen und sozialen Anfangserfolgen der ersten Nachkriegsphase und dem langsam hinfällig werdenden Programm des „Weifare State" leiten, das seinen Ursprung nahm im Beveridge Report von 1942 („Vollbeschäftigung in einer freien Gesellschaft") und sich mit der Schaffung einer zentralen Sozialversicherung und dem National Health Service (1948) fortsetzte. Säulen dieser neuen Sozial- und Wirtschaftspolitik waren die Vollbeschäftigung, die Beseitigung der Armut, die Stärkung des Einflusses der Gewerkschaften, die Nationalisierung der Schlüsselindustrien, die zu einer Machtverteilung innerhalb der herrschenden Bourgeoisie führen sollte, einer sogenannten „managerial revolution", nach der die Industriemanager h u r noch ökonomische Befugnisse haben sollten. Die Theorien des „Weifare State" waren eine illusorische Sicht auf die Möglichkeiten der weiteren kapitalistischen Entwicklung im Vorstadium eines Staatsmonopolismus, als sein Scheitern schon Mitte der fünfziger Jahre offensichtlich wurde. Doch als ökonomische Strategie - der Intervention des Staates in die Industrieproduktion nach dem staatsmonopolistischen Programm von John Maynard Keynes (1883-1946) - und als soziales Postulat - nach einer Beseitigung absoluter kapitalistischer Willkür und sozialer Härten und der Massenarbeitslosigkeit - wirkte sie in der herrschenden Ideologie weiter, bis sie durch die restriktiven Maßnahmen der- Labourregierung unter Harold Wilson (1964-1970) 6 1 selbst zu Fall gebracht wurde. Es hat in der Folgezeit nicht an Versuchen gefehlt, diese

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Taktik der Verschleierung der wirklichen ökonomischen Widersprüche neu zu beleben („die Rekonstruktion des Wohlfahrtsstaats", „restructuring the Weifare State"), doch die drastische Kürzung der Sozialausgaben vor allem durch den Beitritt zur E W G 1973 und die gravierende Beschneidung der Rechte der Gewerkschaften („Industrial Relations Act", 1971) führte zu einer noch größeren Krise und zu noch schärferen Konflikten zwischen Kapital und Arbeit und mit dem Machtantritt der Thatcher-Regierung zur endgültigen Aufgabe dieses Gesellschaftskonzepts. 62 Es war vor allem das Ende einer Illusion derjenigen, die am Horizont des „Welfare"-Himmels bereits die Morgenröte völlig veränderter Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit aufleuchten sahen und diese ökonomische Idylle mit den Begriffen „industrial relations" bzw. „industrial relations pluralism" und schließlich „human relations" umschrieben. Es wurde ein ökonomisches Prinzip angestrebt, nach welchem sich die Vertreter der Regierung, der Gewerkschaften und der Unternähmerschicht zu einem „sozialen Kontrakt" verpflichteten, und in welchem die Regierung Sorge tragen mußte für eine „gleichberechtigte Behandlung unterschiedlicher Gruppen von Arbeitern und zwischen Unternehmern und Gewerkschaften". Dieses zuletzt unter Labour als „social contract" bezeichnete Prinzip setzte ein sogenanntes „gemeinsames Einvernehmen" („collective bargaining") voraus, das durch Verhandlungen über konkrete Arbeitsbedingungen in der Produktion zwischen den Vertretern der Arbeiterorganisationen und dem Management geschaffen werden sollte. Die bereits von Sidney und Beatrice Webb zu Beginn dieses Jahrhunderts unter dem Vorzeichen eines „trade-union socialism" geprägten Ideologeme von „collective bargaining" sowie „industrial democracy" stehen nun in einem neuen ideologischen Umfeld, dem des „Post-Kapitalismus" bzw. der „postindustriellen Gesellschaft", unter welchem sich der „industrielle Konflikt" vom gesellschaftspolitischen Konflikt abgetrennt habe und auch „weniger gewalttätig" sei. 63 Die Illusion neuer, „humaner" Verhältnisse zwischen den Klassen in Produktion und Gesellschaft - in einer „offenen Gesellschaft" hat den Labour-Reformismus der letzten dreißig Jahre (trotz beachtlicher, von Arbeitern und Gewerkschaften abgetrotzter sozialer Errungenschaften) geprägt und damit die organisierte britische Arbeiterbewegung entscheidend geschwächt. Die Desillusionierung über den britischen „Wohlfahrtsstaat" hat auch bei den Schriftstellern, die sich mit dem Leben der Arbeiterklasse beschäftigen, schon in den 3*

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sechziger Jahren zu einer Abkehr von der politischen Realität und zum weitgehenden Rückzug ihrer Helden in eine kleinbürgerliche, entpolitisierte Lebenssphäre geführt. Damit setzte auch eine massive Kritik am revisionistischen Gleichheitsmodell Croslands besonders durch die marxistische Soziologie ein. J. Westergaards und H. Reslers Kapitalismusstudie ist gewissermaßen nach einem einfachen, antikapitalistischen Oppositionsprinzip entstanden, indem sie Croslands illusionären Begriff der „Gleichheit" mit dem der tatsächlichen „Ungleichheit" konfrontierten und so fundamentale Gebrechen des Gesellschaftssystems entblößten: „Ungleichheit an Macht", „Ungleichheit der Lebensverhältnisse und der sozialen Sicherheit", „Ungleichheit an Besitz und Eigentum", „Ungleichheit an Chancen". Ihre statistischen Erhebungen zeigen eindeutig, daß die zeitweilige Nachkriegsstabilität im Einkommensniveau zwischen den verschiedenen Klassen ab 1954 verlorengeht und daß danach wieder eine deutliche Tendenz der Einkommenskonzentration ganz besonders in der obersten Klasse einsetzt. 6 ' 1 Die Parolen von einer neuen, gerechteren Verteilung von Einkommen, Reichtum, Macht, von den unbegrenzten Möglichkeiten gesellschaftlicher „Mobilität" in einer angeblichen Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum „Post-Kapitalismus", wurden durch die miserable politische und ökonomische Realität bald ad absurdum geführt. Mit der Regierungsübernahme durch die Labour Party 1964, nach dreizehn Jahren konservativer Herrschaft, verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung noch weiter. Konnte der konservative Premier Macmillan Anfang der sechziger Jahre weite Teile der Arbeiterklasse noch mit dem Slogan „euch gings niemals so gut" irreführen und die wirklichen politischen Machtverhältnisse und die sich im Zuge einer allgemeinen kapitalistischen Weltwirtschaftskrise anbahnenden ökonomischen Zwänge durch die enorme Steigerung von Konsumgüterangeboten verschleiern, so wurde Mitte des Jahrzehnts für die etwa drei Viertel der von einem immer unsicherer werdenden Arbeitsmarkt Abhängigen offensichtlich, daß ihre Existenzgrundlage in Gefahr geriet. 1 '' Die Steigerung der Reallöhne blieb weit hinter den Erwartungen und den Wahlversprechen zurück. Auch waren die sozialen Divergenzen zwischen Mann und Frau geradezu eklatant: „Fabrikarbeiterinnen bekommen nur wenig mehr als die Hälfte des Bruttolohns, den ihre männlichen Kollegen in vergleichbarer Ausbildung verdienen . . . Ungleichheit der Be36

Zahlung zwischen den Geschlechtern verstärkt die Klassenungleichheit; sie trifft besonders schwer die unteren Berufsgruppen." 6 6 D i e sich E n d e der sechziger Jahre enorm verschärfenden Klassenauseinandersetzungen machten die revisionistische Parole von einer Umverteilung der Macht vermittels einer „managerial infiltration" bzw. „managerial revolution" zu einer ideologischen Farce. D i e These eines „wohlwollenden Managertums" und eines „wohltätigen Staates" setzt die Teilung zwischen Privatkapital und dessen staatlicher K o n trolle voraus („eine Scheidung zwischen Eigentum und Kontrolle"), zwischen Macht und Besitz, zwischen Kapitaleigentümern, dem bürokratischen Management und einer per Gesetz alles regulierenden dritten K r a f t des Staates. Damit wird versucht, die Tatsache der verstärkten Konzentration von Kapital und Macht zu verschleiern und über solche revisionistischen Konzepte wie „Fragmentarisierung", „Institutionalisierung", „Bürokratisierung", „Vergesellschaftung" im Staatskapitalismus vom Klassenkampf abzulenken. 67 Hier wird die mächtige Rolle der Industrie- und Finanzbourgeoisie in Abrede gestellt. 6 8 In der Sicherung von Maximalprofiten der nationalen Monopolkonzerne auch auf dem internationalen Markt spielt die britische Staatsmacht eine dominierende Rolle. 6 9 Soziale Ungleichheit meint auch die durch Arbeitslosigkeit und politische Verunsicherung erzeugten sozialen Randgruppen, die in sogenannten „skid-row areas" separat lebenden Alkoholiker, Rauschgiftsüchtigen, Vandalierenden, deren unverschuldete soziale Entwurzelung von bürgerlichen Soziologen gern als selbstgewähltes Außenseitertum („deviancy") mit einer eigenen „skid row culture" 7 0 mythisiert wird. „Inequality" bezieht sich auch auf das Schicksal der zahlreichen Einwanderer aus Pakistan, Indien, Afrika und aus Übersee, die auf Grund zugespitzter Ausbeutung und imperialistischer Hegemonie in der britischen Klassengesellschaft nur minimale Chancen haben. 7 1 Sie bilden in dafür segregierten Stadtvierteln Wohngemeinschaften, in denen sie ihre Lebensweise, ihre „Subkultur", ihre Literatur zu bewahren suchen. 72 E s ist offensichtlich, daß die sich verschärfende Rassendiskriminierung mit der deutlichen Benachteiligung der Farbigen in Bildung, Beruf, Einkommen, Wohnung, Sozialleistungen ganz entschieden ein systemimmanentes Klassenproblem ist: „Es ist wahr, daß die institutionalisierte Ungleichheit zwischen den Klassen den institutionalisierten Rassismus bereits vorprogrammiert hat, weil Institutionen, die gesellschaftlich unerwünschte oder .unwichtige' 37

Gruppen benachteiligen, offensichtlich auch zum Nachteil der rassisch Unwillkommenen funktionieren." 7 3 E i n e Beseitigung dieser Diskriminierungen ist also im Rahmen dieser Institutionen nicht zu erreichen, sondern nur durch grundlegende, gesamtgesellschaftliche Veränderungen. Wie hatte sich trotz aller offen zutage tretenden sozialen „Ungleichheit" und einer schon in der ersten Nachkriegsphase von Wirtschaftskrisen und Arbeitskämpfen geschüttelten Gesellschaft der Mythos einer „affluent society" und des „affluent worker" (Überflußgesellschaft und Arbeiter der Überflußgesellschaft, bei Goldthorpe u. a.) verbreiten können? D i e britische Industrieproduktion verzeichnete nach 1945 einen wesentlich langsameren Anstieg als die der übrigen westlichen Industrieländer. D i e für die Wirtschaft lebenswichtige Kohleförderung erreichte nur mühsam und nur durch nationale Mobilisierung - vor allem der Kommunistischen Partei 7 4 ihren Vorkriegsstand von 2 0 0 - 2 5 0 Millionen Tonnen. D i e Anstiegsrate seit 1948 ging von + 3 , 5 Prozent jährlich auf + 2 , 2 Prozent in den Jahren 1 9 5 5 - 1 9 6 1 zurück. 1959 produzierte Großbritannien nur noch 206 Millionen Tonnen Kohle, 1969 fiel die Produktion auf 163, 1972 sogar auf 122 Millionen Tonnen zurück. Hier wirkte sich die Konkurrenz durch die ö l i m p o r t e sowie die eigene Ölproduktion für die Steinkohlenproduktion ungünstig aus. E s konnte in den Nachkriegsjahren nahezu Vollbeschäftigung gewährleistet werden; erst 1959 stieg die Arbeitslosenzahl auf 6 2 1 0 0 0 , die sich jedoch für, heutige Verhältnisse von weit über drei Millionen noch recht bescheiden ausnimmt. D i e Reallöhne gingen zwischen 1951 und 1958 um 20 Prozent herauf, von 1958 bis 1964 um 30 Prozent. Hier spielen die durch technologische Fortschritte erzeugte Steigerung des nationalen Einkommens und ein erhöhter Grad des gewerkschaftlichen Kampfes eine wesentliche Rolle. Damit stieg auch die Kaufkraft der Arbeiter beträchtlich, und mit ihr entwickelte sich ein ausgeprägtes Konsumverhalten und Zerstreuungsbedürfnis. D i e Anschaffung von Eisschrank, Waschmaschine, Fernseher, Auto, ja Einfamilienhaus war sogar für viele Arbeiterfamilien in vorstellbare Nähe gerückt. 75 Diese beträchtliche Steigerung des Lebensstandards kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie nur durch große zusätzliche Anstrengungen der Arbeiter selbst erzielt werden konnte. Minder bezahlte Frauenarbeit und eine erhebliche Steigerung der Überstunden ermöglichten ihnen die Befriedigung ihrer neuen Bedürfnisse. 7 6 Trotz anfänglicher Einkommensstabilität zwischen den 38

Klassen

und wachsendem materiellen Wohlstand hatten sich die ökonomischen Besitzverhältnisse und die sozialen Möglichkeiten kaum geändert. Noch folgenschwerer war ein gesellschaftliches Phänomen, dessen Beseitigung sich die Labour-Politiker schon lange aufs Panier geschrieben hatten: die Armut. Armut ist in der englischen Sozialforschung ein vieldiskutiertes Problem: Sie ist bereits von Friedrich Engels als eine Geißel der englischen Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert dargestellt worden. 77 Auch im England des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist sie noch lange nicht überwunden. W i e aus den langjährigen und minutiösen Forschungen des englischen Experten zum Armutsproblem, Peter Townsend, hervorgeht, ist Armut eine zwingende Begleiterscheinung der unteren sozialen Schichten, also vor allem der Arbeiterklasse, und sie wird mit jeder tieferen sozialen Schicht bis hin zum nichtqualifizierten Arbeiter um so gravierender: „Der Anteil an Einkommen unter oder gerade über der offiziellen Armutsgrenze steigt mit fallender Beschäftigungsgruppierung beständig an, und zwar von neun Prozent bei qualifizierten Schichten auf 59 Prozent bei ungelernten Arbeitern." 7 8 Zwischen Armut und niedriger Bezahlung, Arbeitslosigkeit und geringen Sozialleistungen besteht ein direkter Zusammenhang. 79 Nach offiziellen Erhebungen der London School of Economics zeigte sich in den fünfziger Jahren eine bemerkenswerte Tendenz zur weiteren Verarmung. Die Anzahl der Armen stieg von vier Millionen im Jahre 1954 auf siebeneinhalb Millionen im Jahre 1960; das ist ein Siebentel der Gesamtbevölkerung. Darunter befinden sich zweieinhalb Millionen Kinder. 1966 lebten fast eine halbe Million Familien mit einer Million Kindern unter dem nationalen Existenzminimum („below the National A'ssistance level"). Es gab 1966 fast ebensoviel Arme wie 1935, dem Jahr der großen Massenarbeitslosigkeit. 80 Fast jedes achte Kind in Großbritannien braucht dringend soziale, medizinische und psychiatrische Hilfe. Soziales Elend und eine degradierte Lebensmoral stehen oft nebeneinander. Auch die Ärmsten wollen an den Leistungen des angeblichen „Wohlfahrtsstaates" teilhaben und vernachlässigen dafür elementare Erfordernisse der menschlichen Existenz. Kinder erhalten weniger Zuwendung als Konsumgüter, geraten so ins gesellschaftliche Abseits. Bei vielen kommen das Videogerät und das Auto noch vor der gesunden Ernährung und der Sorge um das Lebensnotwendige. In der permanenten Armut eines nicht zu übersehenden Teils des arbeitenden Volkes wird die weitere Vertiefung der sozialen Unterschiede am deutlichsten. 39

Klassenkampf

im

Staatsmonopolismus

Am Ende der Wahlperiode von 1964 bis 1970 stand eine allgemeine Enttäuschung und Ratlosigkeit der arbeitenden Massen über das Versagen der Labour-Regierung, ihr gesellschaftliches Programm zu verwirklichen und eine Verbesserung der Lebensbedingungen herbeizuführen. Gerade in dieser Zeit hatte sich die Arbeitslosigkeit stark erhöht, waren Zahlungsbilanzdefizit und Inflationsrate weiter angewachsen, und die Industrieproduktion stagnierte („Stagflation"). Die Wahlversprechen zu einer Verbesserung der Sozialleistungen und des Bildungssystems konnten nicht eingelöst werden. Die Versuche einer „Restrukturierung" des schon längst gescheiterten „Weifare State" hatten sich als eine neue Form ökonomischer Ausbeutung und Kapitalverwertung erwiesen. 81 Zur allgemeinen Desillusionierung kam ein Verlust an Klassenbewußtsein hinzu, eine zunehmende Apathie gegenüber den über die Arbeitssphäre hinausreichenden großen politischen Problemen. Bis 1969 erstreckte sich die Kampfbereitschaft der Gewerkschaften im wesentlichen nur auf die Durchsetzung absolut unverzichtbarer und lokal begrenzter Interessen und Rechte. Und die mit der Gewerkschaft unmittelbar verbundene Labour Party, die traditionell immer noch als politische Organisationsform und Interessenvertretung der Masse der Arbeiter galt, unterlag immer deutlicher bürgerlichen Tendenzen des Reformismus und Opportunismus. Die ideologischen Widersprüche speziell der rechten Labourführung machten auch ihre Politik unglaubwürdig, und ihr Ansehen bei der Masse der Parteianhänger sank. In ihrer Amtszeit von 1974 bis 1979 vollzog sich eine noch deutlichere Kehrtwendung gegen ihr ursprüngliches Programm eines „demokratischen Sozialismus" 82 . Das bedeutete vor allem einen Verrat an der Arbeiterklasse selbst, deren Interessen sie zu vertreten vorgab und deren wachsende Unruhe - und Widerspruch auch innerhalb der Partei selbst - sie durch revisionistische Parolen von einem „modernen Industriestaat" und der „sozialen Gerechtigkeit" zu beschwichtigen suchte. Der Zusammenbruch alter „social identities" und „die intellektuelle und kulturelle Verarmung der Labour Party" 83 müssen vor diesem politisch-sozialen Hintergrund gesehen werden. Der britische Marxist Eric Hobsbawm zeigte sich 1978 in einem programmatischen Beitrag mit dem Titel The Forward March of Labour Haited? in der Zeitschrift Marxism Today über die Zukunft der als Arbeiterpartei geltenden Labour Party von tiefer Besorgnis 40

erfüllt. Wann, wenn nicht jetzt - so stellte er die rhetorische Frage sollte die Labour Party ihrer historischen Aufgabe gerecht werden und die britische Arbeiterklasse zum Sieg führen: Die Tragik besteht darin, daß „wir uns heute in einer kapitalistischen Weltkrise befinden, oder genaugenommen könnte man vielmehr sagen: vor dem Zusammenbruch der britischen kapitalistischen Gesellschaft; das heißt in einem Augenblick, da die Arbeiterklasse und ihre Bewegung in der Lage sein sollte, eine klare Alternative anzubieten und das britische Volk auch dorthin zu führen" 84 . Und Sam Aaronovitch forderte - in Abwandlung des Titels des kommunistischen Parteiprogramms - „the road from Thatcherism" 85 und die „radikale Alternative zur Politik der radikalen Rechten". Hobsbawms Aufruf löste eine lebhafte Diskussion aus, wobei sein „Vorwärts" (mit Fragezeichen) als Aufruf an die organisierte Arbeiterbewegung zum weiteren politischen Vormarsch schon sehr pessimistisch klingt. In dieser Phase einer für die Existenz der Kommunistischen Partei Großbritanniens gefährlichen Schwächung der Arbeiterbewegung hat ihr Generalsekretär Gordon McLennan auf dem Parteikongreß von 1977 und auch später immer wieder die Labour Party ausdrücklich als eine Massenpartei der Arbeiterklasse bestätigt (wobei er speziell an den nicht unbedeutenden progressiven linken Flügel unter Michael Foot und Tony Benn dachte) und das Bündnis zwischen beiden Parteien als die einzig richtige Alternative bezeichnet: „Wir können einen Sozialismus in Großbritannien nur aufbauen auf der Basis der Einheit zwischen Labour und Kommunisten - mit sich immer enger entwickelnden Bindungen zwischen beiden Parteien." 86 Der hier erneuerte Volksfrontgedanke fand jedoch wenig Widerhall in der Labour Party und blieb auch bislang ohne Folgen. Deutliche Erscheinungen von ideologischer Rezession und Selbstentblößung haben sich bei den Gewerkschaften durch ihren Dachverband TUC besonders Anfang der sechziger Jahre entwickelt. Hier trat 1969 eine Wende ein, als die Labour-Regierung mit ihrem Weißbuch In Place of Strife die Gewerkschaften zu einem Stillhalteabkommen zu zwingen suchte. Damit half das Labour-Kabinett sogar noch das konservative Antistreikgesetz („Industrial Relations Act", 1971) vorzubereiten. Die daraufhin einsetzenden Streiks gewannen bald nationales Ausmaß von erhöhter politischer Brisanz. Eine neue Etappe bewußter Klassenauseinandersetzungen begann, ein neuer Stil im Umgang mit den eigenen Erfahrungen des Kampfes um bessere Arbeitsbedingungen und ein verstärkter Elan beim Durchden41

ken und Planen zukünftiger Aufgaben und Strategien der Gewerkschaften. Mit zum Teil radikalen (bzw. linksradikalen) Argumenten (siehe zum Beispiel Ken Coates und Tony Topham) wurden die Perspektiven aufgezeigt für eine Zukunft sozialistischer Produktionsverhältnisse. Gegenüber den bisherigen, regional begrenzten Aktivitäten auf der untersten „shop-floor"-Ebene sollten die Gewerkschaften eine neue, politische Dimension erhalten: die Arbeiterklasse erzielt ihre größte Wirkung, wenn sie auf beiden Füßen steht; mit anderen Worten, wenn sie sowohl politische als auch gewerkschaftliche Kampfmethoden für ihr Ziel einsetzt." 87 Das war eine neue Qualität des Klassenkampfes - und seit langem zum erstenmal wieder so deutlich ausgesprochen, ohne daß die Spuren revisionistischer Theorien der „industrial democracy" zu übersehen sind. Dies ist gedacht sowohl als theoretisches Programm als auch als strategischer Ablaufplan für die schrittweise Entfaltung von Demokratie und Sozialismus in der Produktionssphäre. Als erste Stufe und Grundvoraussetzung galt das Recht und die Pflicht der Gewerkschaften zur Opposition gegenüber dem betrieblichen Management. Als zweite Stufe nennen sie die in der Nachkriegsphase unter der Labour-Regierung (1945-1950) teilweise praktizierte „joint consultaron" (paritätische Beratung) als eines Teilfaktors der Arbeiterkontrolle in den Betrieben, die sich zeitweilig in der Bildung von sogenannten „joint management-employee committees" (paritätische Management-Arbeiter-Kommission) manifestierte. Dieses nur im Ansatz funktionierende Kontrollorgan beruhte weitgehend auf dem Good-will der Unternehmer, wurde aber trotzdem schon als ein vielversprechendes Vorzeichen zukünftiger sozialistischer Produktionsverhältnisse propagiert. Aus kritisch-intellektueller Sicht haben zum Beispiel Margot Heinemann und Jack Lindsay gerade diese kämpferische und vom Aufschwungsoptimismus noch erfüllte Periode in ihren Romanen eingefangen. Die „joint committees" sollten den Arbeitern ein echtes Mitspracherecht in betrieblichen Grundsatzfragen sichern. Umso bitterer wurde die Erkenntnis, daß diese Institutionen nicht über Trivialitäten und wenig sinnvolles Gerede hinauskam - oft erwähnt sind etwa solche uneffektiven Diskussionen wie über die Stärke des Kantinentees. Hier vollzog sich in den fünfziger Jahren ein Umschwung von der öffentlich-politischen zur inneren betriebsgewerkschaftlichen Ebene mit der Strategie kleinerer Schritte und Erfolge: „Direkte Gewerkschaftsverhandlungen . . . traten während der Fünfziger an die Stelle der Einrichtung des ,pari-

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tätischen Rats', der sich aus der .paritätischen Produktionskommission' während des Krieges entwickelt hatte." 88 Eine wachsende Zahl von Betriebsobleuten und die verstärkten Gewerkschaftsaktivitäten auf der unteren Ebene wirkten natürlich auch in Richtung auf eine Dezentralisierung und Fragmentarisierung des Klassenkampfes und verursachten so den weitgehenden Zerfall einer Tradition der „Kontrollbewegung der klassenbewußten Arbeiter". Als dritte und vierte Etappe der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Gewerkschaft und Unternehmer nennen Coates und Topham die direkte Beteiligung an der Betriebsleitung („participation") und schließlich die volle betriebliche Verantwortung der Arbeiterklasse („workers' control"), ohne dabei schon im Besitz von Produktionsmitteln zu sein („self-management"). Doch die Verwirklichung dieses entscheidenden Schrittes zur demokratischen Umgestaltung war in einer Zeit restriktiver Labourpolitik völlig illusionär. Diese vermochte nicht, an die fortschrittlichen Traditionen der britischen Arbeiterbewegung anzuschließen: „Die Labourregierung . . . setzte autoritäre Betriebsleitungen in den staatlichen Kohlengruben ein und stellte über sie eine staatliche Kohlenbehörde." 89 Zudem zeigte gerade die Bergarbeitergewerkschaft („National Union of Mineworkers") zu wenig Entschlossenheit, um die Arbeiterklasse in ihrem proletarischen Kampf voll zu unterstützen. Die „neue Gewerkschaftsbewegung" Mitte der siebziger Jahre ließ die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder von zehn auf mehr als elf Millionen ansteigen, und die Streikexplosion zwischen 1968 und 1972 bis hin zum Sturz der Heath-Regierung durch den großen Bergarbeiterstreik 1974 schien diese hohen Erwartungen zunächst zu bestätigen. Das einmal wachgerüttelte Bewußtsein der eigenen Kampfstärke ließ sich auch nicht durch die folgende Labourregierung beschwichtigen und zu einem Stillhalteabkommen, etwa zu einem Lohnstopp, überreden. Als Beispiel für die Weigerung der Arbeiterklasse, sich an das Agreement zwischen Regierung und dem Gewerkschaftsdachverband TUC über einen Streikverzicht zu halten, sei der bekannte Grunwick-Streik vom August 1976 bis zum Juli 1977 genannt. Dies war etwas völlig Neues. Fast ausnahmslos waren es nämlich Einwanderer, Arbeiterinnen aus Indien und Pakistan, und hochqualifizierte Fachkräfte, die sich gegen die Arbeitsplatzunsicherheit, die verschärfte Ausbeutung durch Zwangsüberstunden zur Wehr setzten. Es war, wie eine von Lawrence & Wishart herausgegebene Studie vermerkte, „der militanteste Streik der Angestelltengewerk43

schaft in der britischen Geschichte" 9 0 . Der Streik veranschaulichte auf eine neue Art das gewachsene Klassenbewußtsein der Arbeiter und ihre Entschlossenheit, auch unabhängig von ihrem opportunistischen Dachverband zu handeln.

Bildungsnotstand

der

Arbeiterklasse

Das britische Erziehungssystem ist geprägt von den sozialen Antagonismen des Klassenstaates. Ein kurzer Einblick in das britische Bildungssystem verdeutlicht auch dem Uneingeweihten, daß die soziale Struktur von Bildung und Erziehung stark auf das hierarchische Gesellschaftsgefüge abgestimmt ist, obwohl die Reformpolitik der Labour Party mit ständig neuen Vorstößen das Maß der sozialen Ungerechtigkeit möglichst klein zu halten suchte, ohne jedoch in den letzten Jahrzehnten konsequente Veränderungen in der Bildungsstruktur zu erreichen. Das noch in der Kriegskoalition zwischen Tories und Labour beschlossene Bildungsgesetz („Education Act", 1944) schuf noch keine soziale Gleichheit und auch keine Voraussetzungen dafür, die traditionelle Trennung zwischen privaten und staatlichen Schulen zu beseitigen. D i e neue Ordnung der „Secondary education" (allgemeine Schulpflicht) führte nicht zur Aufhebung der Klassengegensätze, wie Croslands „sozialistische" Illusionen im Rahmen seiner Egalitätstheorien glauben machen wollten: „Alle Schulen werden sich immer mehr sozial vermischen; alle werden die Wege öffnen für die Universitäten und für jede Art von Bildung, von der höchsten bis zur untersten . . . Dann wird Großbritannien ganz allmählich aufhören, das Land mit dem schlimmsten Klassensystem in der Welt zu sein." 9 1 Soziologische Untersuchungen haben ergeben, daß gerade das System der „streamed classes" wesentlich von der sozialen Stratifikation bestimmt wird und sich auf die starke Benachteiligung der Arbeiterkinder besonders drastisch auswirkt. 92 Brian Jackson und Dennis Marsden haben in einer vielbeachteten Studie über die Auswirkungen des britischen Erziehungswesens auf die Arbeiterklasse nachgewiesen, daß speziell in der nordenglischen Stadt Marburton im Jahr 1951 der Anteil von Kindern mit bürgerlicher Herkunft in den Grammar Schools wesentlich hoher lag als der der Arbeiterkinder (im Verhältnis von 78 : 22). Sie stellten sich die berechtigte Frage: „Wie kommt es, daß es entgegen der allgemeinen Bevölkerungszusammensetzung in den Oberstufen der Grammar

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schaft in der britischen Geschichte" 9 0 . Der Streik veranschaulichte auf eine neue Art das gewachsene Klassenbewußtsein der Arbeiter und ihre Entschlossenheit, auch unabhängig von ihrem opportunistischen Dachverband zu handeln.

Bildungsnotstand

der

Arbeiterklasse

Das britische Erziehungssystem ist geprägt von den sozialen Antagonismen des Klassenstaates. Ein kurzer Einblick in das britische Bildungssystem verdeutlicht auch dem Uneingeweihten, daß die soziale Struktur von Bildung und Erziehung stark auf das hierarchische Gesellschaftsgefüge abgestimmt ist, obwohl die Reformpolitik der Labour Party mit ständig neuen Vorstößen das Maß der sozialen Ungerechtigkeit möglichst klein zu halten suchte, ohne jedoch in den letzten Jahrzehnten konsequente Veränderungen in der Bildungsstruktur zu erreichen. Das noch in der Kriegskoalition zwischen Tories und Labour beschlossene Bildungsgesetz („Education Act", 1944) schuf noch keine soziale Gleichheit und auch keine Voraussetzungen dafür, die traditionelle Trennung zwischen privaten und staatlichen Schulen zu beseitigen. D i e neue Ordnung der „Secondary education" (allgemeine Schulpflicht) führte nicht zur Aufhebung der Klassengegensätze, wie Croslands „sozialistische" Illusionen im Rahmen seiner Egalitätstheorien glauben machen wollten: „Alle Schulen werden sich immer mehr sozial vermischen; alle werden die Wege öffnen für die Universitäten und für jede Art von Bildung, von der höchsten bis zur untersten . . . Dann wird Großbritannien ganz allmählich aufhören, das Land mit dem schlimmsten Klassensystem in der Welt zu sein." 9 1 Soziologische Untersuchungen haben ergeben, daß gerade das System der „streamed classes" wesentlich von der sozialen Stratifikation bestimmt wird und sich auf die starke Benachteiligung der Arbeiterkinder besonders drastisch auswirkt. 92 Brian Jackson und Dennis Marsden haben in einer vielbeachteten Studie über die Auswirkungen des britischen Erziehungswesens auf die Arbeiterklasse nachgewiesen, daß speziell in der nordenglischen Stadt Marburton im Jahr 1951 der Anteil von Kindern mit bürgerlicher Herkunft in den Grammar Schools wesentlich hoher lag als der der Arbeiterkinder (im Verhältnis von 78 : 22). Sie stellten sich die berechtigte Frage: „Wie kommt es, daß es entgegen der allgemeinen Bevölkerungszusammensetzung in den Oberstufen der Grammar

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Schools von Marburton so wenig Arbeiterkinder gibt?" 9 3 Und sie kommen zu der Erkenntnis, daß der Erfolg auch der wenigen Arbeiterkinder an der Grammar Schools vorrangig von den sozialen und materiellen Verhältnissen ihrer Familien abhängt. Tatsächlich bleiben nur wenige Arbeiterkinder von Marburton bis zum 18. Lebensjahr in der Schule und machen ihr Examen zur Aufnahme in der Universität. Zugleich erzeugt die seltene Chance einer höheren Schulbildung ihrer Kinder ein neues, ihren eigentlichen Existenzbedingungen entfremdetes Bewußtsein in der ganzen Familie, und die Illusion eines sozialen Aufstiegs korrumpiert ihre ursprünglichen proletarischen Maßstäbe und zerstört ihr Selbstwertgefühl: „Zusammen mit dem reinen Spaß am Lernen und dem Streben nach etwas ,Höherem' geht der Drang ihrer Söhne und Töchter einher, sich mit den .besseren' Kindern zu vermischen und somit ihre Manieren und ihre Sprache neu aufzupolieren. Sie haßten es, und sie liebten es zugleich, wenn ihre Kinder anders sprachen und sich anders benahmen." 94 Dieses in der Literatur über das Leben der Arbeiterklasse immer wiederkehrende Thema eines Bruchs mit den eigenen moralisch-sozialen und geistigen Traditionen - von Raymond Williams' Border Country bis zu David Storeys Saville - ist eng verbunden mit der Entfremdung ihrer familiären und gesellschaftlichen Beziehungen. Bereits zwischen Elternhaus und Schule tut sich nach Beobachtungen von Jackson und Marsden ein tiefer Graben auf, denn zwischen der überwiegend nach bürgerlichen Kulturinhalten gestalteten Institution von Bildung und Erziehung und dem proletarischen Milieu entsteht keine Kommunikation. So beobachteten die Autoren bei den nun erwachsenen ehemaligen Arbeiterkindern nach Jahren der GrammarSchool- und College-Bildung ein neues gesellschaftliches Statusgefühl, das ihre Lebensformen von Grund auf geändert hat, obwohl ihre Empfindung für ihre soziale Herkunft nicht verlorengegangen sein muß: „ . . . die typische Ehe war jene, in der Mann und Frau aus der Arbeiterklasse stammten, eine Grammar-School-Bildung erhielten und nun als Angehörige der Intelligenz, vielleicht als Lehrer, eine Familie gründeten." 95 Mit der Veränderung ihrer gesamten Umwelt setzt sich bei vielen aber auch „der Drift nach rechts" und die Abkehr von der traditionell von ihnen favorisierten Labour Party durch. Sind sie bei ihrem sozialen Aufstiegsversuch auf halbem Wege stehengeblieben, sind sie mit ihren Bildungsambitionen gescheitert, ist die individuelle Erfahrung gesellschaftlicher Desillusionierung 45

um so gravierender. Sie hatten mit ihren Lebensverhältnissen gebrochen, doch die Integration dieser „disturbed" („Gestörten") in die bürgerliche Klasse konnte nicht vollzogen werden. Diese Desintegration kann sich aber auch später vollziehen. Der im bürgerlichen Bildungsbetrieb bereits erfolgreiche, doch tief enttäuschte Arbeitersohn - wie zum Beispiel der junge Lehrer Saville in David Storeys Roman - empfindet seine gegenwärtige bürgerliche Tätigkeit als einen Verrat an der Klasse und an sich selbst und als einen irreparablen Perspektiwerlust. Aus dieser Sicht wird deutlich, warum Bildung und Erziehung in den Klassenkämpfen einen besonderen Stellenwert einnehmen und zu einem Mittel der „ökonomischen und politischen Emanzipation" der Arbeiterklasse geworden sind. Gerade deshalb spielten britische Kommunisten eine so aktive Rolle bei der Durchsetzung der „comprehensive secondary education" (einer umfassenden Gesamtschulbildung) in den sechziger Jahren, die sie als große Errungenschaft und als einen Sieg der progressiven linken Kräfte betrachteten. Der marxistische Erziehungswissenschaftler Brian Simon, Professor of Education an der Universität von Leicester und Mitglied des Cultural Committee der Kommunistischen Partei, konstatiert einen allgemeinen Fortschritt in der Entwicklung der Comprehensive Schools (allgemeine und umfassende Gesamtschulen), die der marxistischen Maxime der grundsätzlichen „Erziehbarkeit des normalen Kindes" („educability of the normal child") noch am ehesten gerecht werden. Damit begegnet er der bürgerlichen These von der Dominanz der individuellen Begabung und propagiert die Forderung nach dem gleichen Recht und den gleichen Chancen für alle auf Bildung. Simon grenzt sich eindeutig von der offiziellen Labourideologie ab: von der Illusion eines permanenten ökonomischen Wachstums durch eine funktionierende „mixed economy", die eine „Sozialpartnerschaft" im Produktionsprozeß voraussetzt^ und automatisch auch zu einer ständigen Erhöhung der öffentlichen Sozialausgaben (auch für Bildung) führen und schließlich egalitäre Verhältnisse in einer gerechten Gesellschaft bewirken sollte. „Soziale Harmonie" durch eine von allen Klassen und Schichten gemeinsame Bildungserfahrung in der Secondary Comprehensive School, die bereits 1969 etwa 30 Prozent, 1974 60 Prozent und 1980 82 Prozent aller Schulpflichtigen besuchten. Die britischen Marxisten stehen heute vor der schwierigen Situation, gewisse Erfolge der Labour Party in der Bildungspolitik anzuerkennen, ohne dabei gleich einem Labour-Revisionismus auf46

zusitzen, und sich andererseits durch ein moderates, für möglichst alle Schichten des Volkes brauchbares Bildungsprogramm von ultralinken Proletkult-Ideologemen abzugrenzen: „Marxisten lehnen die Auffassung ab, daß die Kultur der Arbeiterklasse oder die proletarische Kultur die alleinige Grundlage für die Bildung und Erziehung der Arbeiterklasse sein müsse, upd sie teilen auch nicht die daraus folgernde, weitverbreitete Ansicht, daß das heute an den Schulen und Colleges vermittelte Wissen der Bourgeoisie gehöre und zurückgewiesen werden müsse." 96 Diese problematische Frage nach dem marxistischen englischen Bildungsbegriff, die die Rezeption bürgerlichen Bildungsgutes mit einschließt, doch die Methoden ihrer Vermittlung ändern will, entwickelte sich zu einem Kernproblem marxistischer Diskussionen. Sie setzt vor allem voraus, daß „Erziehung und sozialer Wandel" 97 einen einheitlichen Prozeß bilden und daß der Kampf für eine erhöhte Qualität der Erziehung der Arbeiterklasse eng mit dem „Kampf für den Sozialismus" verbunden ist. Das marxistische Engagement für eine sozialistische Schule in Großbritannien hat gerade unter den gegenwärtigen Bedingungen konservativ-reaktionärer Herrschaftsformen nur geringe Erfolgschancen. Bereits die Erziehungsministerin Margaret Thatcher hat 1970 die Maßnahmen der vorausgegangenen Labourregierung unter Harald Wilson zur Verbesserung der „Comprehensive education" zurückgenommen, und auch als Premierminister hat sie schon 1979 die davor gefaßten Verordnungen zur Verbesserung der lokalen Organisation des Schulsystqms verworfen. Aber auch die Labour Party hatte auf dem Gebiet des Erziehungswesens versagt. Statistisch ist nachgewiesen, daß die Ausgaben dafür gerade während ihrer Regierungszeit stagnierten bzw. - zwischen 1974 und 1977 - rückläufig waren. Insbesondere die Arbeiterklasse wurde weiterhin benachteiligt. 98 Sie hat es auch nicht verstanden, die Probleme von Bildung und Erziehung mit einer klaren sozialistischen Perspektive zu verbinden, verlor dort die Initiative, und eine allgemeine Enttäuschung über die sinnlose Rolle von Bildungsreformen in der gesellschaftlichen Entwicklung machte sich breit. Charakteristisch dafür ist die sogenannte Tyndale-Affäre zwischen 1974 und 1976, bei der eine Gruppe von Lehrern wegen ihrer progressiven pädagogischen Methode einer starken Verleumdungskampagne durch die reaktionären Medien ausgesetzt war. Sie erreichte mit dem „Bennett Report" im Fernsehen vom Mai 1976 ihren Höhepunkt, wo tatsächlich und in aller Öffentlichkeit wieder traditionel47

len, autoritären Mustern einer alten Klassenschule das Wort geredet wurde. In den zu diesem Thema veranstalteten Parlamentsdebatten blieben die ohnehin gespaltenen und zerstrittenen Linken ohne eine klare Alternative. Als ein skandalöses Beispiel für das reaktionäre Bildungssystem gilt das Weiterbestehen der Prügelstrafe in Großbritannien bis auf den heutigen Tag! Die Maßnahmen des Kabinetts Thatcher verfolgen nun von Anbeginn eine eindeutig konservative Strategie: die Wiederbelebung des privilegierten nichtstaatlichen Sektors der Schule und einen Stopp für den weiteren Ausbau des Systems der Comprehensive Schools. Die öffentlichen Gelder für das „Comprehensive"-System wurden drastisch gekürzt - zum Nachteil also der absoluten Mehrheit der Schulpflichtigen, für die Privatschulen dagegen erhöht. Dieser eindeutige Prozeß einer „Verlagerung des Gleichgewichts der Ausgaben zugunsten der unabhängigen Schulen" 99 hat wieder die Verstärkung von Klassenprivilegien zur Folge, durch die die Kinder der Mittelklasse klare Vorteile erlangen. Aus dieser reaktionären Bildungspolitik und ihren schlimmen Konsequenzen für die Arbeiterklasse folgern Marxisten die dringende Notwendigkeit von konstruktiven Gegenmaßnahmen, und zwar durch eine breite Allianz aller fortschrittlichen Kräfte Großbritanniens. Simon stellt eine solche sozialistische Bildungsreform in den übergreifenden Zusammenhang sozialer und politischer Umwälzungen: „eine Umformung der Schulen und der Bildung und Erziehung als eines Aspekts der Umwandlung zum Sozialismus". Neue Konzepte einer „progressiven und/oder kinderorientierten Erziehung" („progressive and/or child centred education") müßten erarbeitet werden, um „die Inhalte der Bildung zu verändern, um sie mit den Interessen der Geschichte und den Sehnsüchten der einfachen Menschen in Einklang zu bringen" 100 . Hier fordern marxistische Pädagogen von allen fortschrittlich gesinnten Lehrern in den Arbeiterzentren der städtischen Slums und der ländlichen Industriegebiete, daß sie den benachteiligten Kindern aus den unteren Schichten eine möglichst umfassende, fundierte Bildung und eine sozialistische Erziehung angedeihen lassen und nicht die Rolle von Sozialarbeitern, die dort sicher auch dringend gebraucht werden, übernehmen. Sämtliche bildungspolitisch regressiven Maßnahmen der derzeitigen Toryregierung seien auf allen Ebenen der Gesellschaft zu bekämpfen. Hier kommt der durch das „Education sub-committee" der Kommunistischen Partei initiierten breiten Demokratisierungsbewegung 48

innerhalb der Schulen eine führende gesellschaftliche Rolle zu. Dies meint zum Beispiel die Beseitigung eines vielerorts noch autoritären Führungsstils durch den „Head" der Schule und die Schaffung einer fortschrittlichen Lehrerrepräsentanz in der Schulleitung - verbunden mit gegenüber der bürgerlichen Schule grundsätzlich veränderten Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern und der Erziehung der proletarischen Jugend zum neuen Bewußtsein einer zukünftig herrschenden Klasse. 101 Die erzählerische Darstellung von Erziehungsproblemen im Spannungsfeld zwischen Schule und Gesellschaft nimmt im proletarischen und sozialistischen Entwicklungsroman natürlicherweise einen zentralen Platz ein. Hier werden die Ansprüche auf eine gleichberechtigte und entschieden schöpferische Vermittlung und Aneignung humanistischer Bildungswerte und proletarischer Ideale in der heutigen Arbeiterjugend von den einzelnen Autoren je nach ideologischem Standort unterschiedlich formuliert: klassenbewußt beim frühen Sillitoe, humanistisch mit resignativer Perspektive bei Storey, utopisch in einer Modellsituation bei Hines - doch niemals als Verzicht. Vielleicht vermögen solche neuen marxistischen Bildungs- und Erziehungsstrategien - wie hier erläutert - trotz herrschender reaktionärer Kulturideologie auch neue produktive Ideen für die künstlerische Gestaltung echter sozialistischer Alternativen im Verhältnis zwischen Elternhaus - Schule - Arbeiterklasse zu stimulieren, um Arbeiterkindern auch von der Literatur her Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen.

Kulturkonzeptionen

der englischen Linken im Widerstreit

Die in den siebziger Jahren verstärkten Marxismusdebatten der Linken in Großbritannien scheinen zu Beginn der achtziger Jahre einen Höhepunkt überschritten zu haben, ohne daß ihre Problematik dabei an Brisanz und Aktualität verloren hätte. Immer sind unter dem Stichwort „Marxismus" zahlreiche Publikationen zu registrieren, wenn auch die inhaltlich-begriffliche Bestimmung wesentlich differenzierter geworden ist und sich besonders durch revisionistische sowie linksradikale Einflüsse gewandelt hat. Speziell die heutigen „neulinken" Positionen zum Marxismus sind ein deutliches Spiegelbild der komplexen wie widersprüchlichen Situation der Arbeiterklasse und ihres Kampfes gegen verschärfte Ausbeutung und ideologische 4

Magister

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innerhalb der Schulen eine führende gesellschaftliche Rolle zu. Dies meint zum Beispiel die Beseitigung eines vielerorts noch autoritären Führungsstils durch den „Head" der Schule und die Schaffung einer fortschrittlichen Lehrerrepräsentanz in der Schulleitung - verbunden mit gegenüber der bürgerlichen Schule grundsätzlich veränderten Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern und der Erziehung der proletarischen Jugend zum neuen Bewußtsein einer zukünftig herrschenden Klasse. 101 Die erzählerische Darstellung von Erziehungsproblemen im Spannungsfeld zwischen Schule und Gesellschaft nimmt im proletarischen und sozialistischen Entwicklungsroman natürlicherweise einen zentralen Platz ein. Hier werden die Ansprüche auf eine gleichberechtigte und entschieden schöpferische Vermittlung und Aneignung humanistischer Bildungswerte und proletarischer Ideale in der heutigen Arbeiterjugend von den einzelnen Autoren je nach ideologischem Standort unterschiedlich formuliert: klassenbewußt beim frühen Sillitoe, humanistisch mit resignativer Perspektive bei Storey, utopisch in einer Modellsituation bei Hines - doch niemals als Verzicht. Vielleicht vermögen solche neuen marxistischen Bildungs- und Erziehungsstrategien - wie hier erläutert - trotz herrschender reaktionärer Kulturideologie auch neue produktive Ideen für die künstlerische Gestaltung echter sozialistischer Alternativen im Verhältnis zwischen Elternhaus - Schule - Arbeiterklasse zu stimulieren, um Arbeiterkindern auch von der Literatur her Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen.

Kulturkonzeptionen

der englischen Linken im Widerstreit

Die in den siebziger Jahren verstärkten Marxismusdebatten der Linken in Großbritannien scheinen zu Beginn der achtziger Jahre einen Höhepunkt überschritten zu haben, ohne daß ihre Problematik dabei an Brisanz und Aktualität verloren hätte. Immer sind unter dem Stichwort „Marxismus" zahlreiche Publikationen zu registrieren, wenn auch die inhaltlich-begriffliche Bestimmung wesentlich differenzierter geworden ist und sich besonders durch revisionistische sowie linksradikale Einflüsse gewandelt hat. Speziell die heutigen „neulinken" Positionen zum Marxismus sind ein deutliches Spiegelbild der komplexen wie widersprüchlichen Situation der Arbeiterklasse und ihres Kampfes gegen verschärfte Ausbeutung und ideologische 4

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Repression im Zeichen des Thatcherismus, der alle fortschrittlichen, demokratischen, sozialistischen Tendenzen und Institutionen unterwandert bzw. auszuschalten versucht. Marxisten und Linke unterschiedlicher ideologischer Provenienz bemühen sich um eine breite Front einer „demokratischen Allianz" wider den rechtskonservativen Druck, um die antikapitalistischen, demokratischen Kräfte trotz teils eklatanter Schwächen der sie vertretenden politischen Parteien neu aufzurichten. Dabei stellt sich uns die wichtige Aufgabe, unsere eigenen Möglichkeiten der Interpretation und Propagierung dieses heterogenen marxistischen Gedankenguts auszuschöpfen und es so dem profitorientierten Zwang marktwirtschaftlicher Produktion und Distribution zu entziehen. Die Bedeutung eines immer noch lebendigen Marxismus für eine demokratische, sozialistische Umgestaltung in Großbritannien ist herauszustellen, und bei aller kritischen Distanzierung seiner revisionistischen Verfälschungen und „Verbesserungen" von links u n d rechts muß eine Bewertung dieser Theorien heute von ihrer realen Rolle und Funktion in konkreten klassenkämpferischen Auseinandersetzungen ausgehen. Wir sprechen - etwas grob verallgemeinert - von den „englischen Linken" und meinen damit über den engen Begriff der „Neuen Linken" hinaus jene um die marxistische Ideologie angesiedelten heterogenen und engagierten Schichten und die breite demokratische Front von Kultursoziologen, Kunsttheoretikern, Historikern und Schriftstellern, die wesentliche Beiträge zu den ideologischen Kämpfen der Arbeiterklasse geliefert haben. Keinesfalls soll einem verschwommenen Marxismusbegriff das Wort geredet werden, wenn man behauptet, daß die Grenzen zwischen konsequent historisch-materialistischen und demokratisch-humanistischen Positionen des Marxismus oft fließend sind. Doch keine historische Gesamtschau der englischen Linken ist hier beabsichtigt, sondern eine Auswahl von Strömungen und ihren Repräsentanten, die in einem mittelbaren Kontext der Herausbildung einer Literatur der arbeitenden Klasse stehen. Die Geschichte marxistischer Literaturkritik und Ästhetik in England ist zugleich eine Geschichte kritischer Gesellschaftsanalyse, deren Vertreter selbst oft politische Akteure und engagierte Schriftsteller im Kampf gegen Bourgeoisie und Faschismus waren. Die ungebrochene Ausstrahlungskraft und Kontinuität des Marxismus in Großbritannien ist ohne die bahnbrechenden ästhetisch-weltanschaulichen Theorien und literarischen Vorstöße einer proletarischen, sozialisti-

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sehen „zweiten Kultur" in den berühmten Dreißigern kaum denkbar.102 Der kämpferische Impetus und die dialektische Verknüpfung von ästhetischem Neuerertum und proletarischem Internationalismus, wie sie sich in Werk und Leben etwa von Christopher Caudwell kristallisiert haben, wirkten auf einer breiten Ebene einer antifaschistischen und sozialistischen Front bis in die fünfziger Jahre und weit darüber hinaus: sowohl in den theoretischen Diskussionen der Kommunistischen Partei und ihrer wissenschaftlichen Arbeitsgruppen wie auch im kulturpolitischen Engagement marxistisch orientierter Kulturschaffenden, deren literarische Produktion nicht von ihren kulturtheoretischen Entwürfen einer demokratisch bis sozialistisch umgestalteten Gesellschaft zu trennen sind. Diese marxistische Dialektik von Gesellschafts- und Kulturgeschichte wurde zur Basis einer sich in den fünfziger Jahren herausschälenden „neuen literarischen Linken", deren maßgeblicher Initiator Raymond Williams war. Raymond Williams' kultursoziologische Hauptwerke Culture and Society, 1780-1950 (1958) und The Long Revolution (1961) sind entstanden am Ende einer relativ optimistischen Wachstumsphase des englischen „Wohlfahrtsstaates", in dem auch noch Croslands revisionistische Sozialismusutopie und Goldthorpes Schlagwörter von der „affluent society" und des „affluent worker" das Bewußtsein der Massen wesentlich manipulierten. Alternativ zu diesen kapitalismusfreundlichen Ideologemen, doch nicht ganz frei von den Illusionen des „Weifare State", entwickelte Williams seine evolutionäre Theorie der ständigen Aufwärtsbewegung einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft, einer „langen Revolution", in der die wissenschaftliche und technische Revolution auch den sozialen, politischen und kulturellen Fortschritt nach sich ziehen soll. So sagte er für die Entwicklung der sechziger Jahre voraus: „Die industrielle Revolution, jetzt in einer wichtigen technologischen Phase, setzt sich fort. Der kulturelle Aufschwung, zusammen mit diesen neuen technischen Entwicklungen, setzt sich ebenfalls fort. Hinsichtlich der demokratischen Revolution ist Großbritannien bis jetzt hauptsächlich in einer defensiven Position gewesen, da die Kolonialvölker ihre nationale Emanzipation erlangen. Zu Hause nimmt man allgemein an, daß der Demokratisierungsprozeß im wesentlichen abgeschlossen ist . . . Nach diesen Mustern scheint Großbritannien ein Land mit einer recht klaren Zukunft zu sein: industriell fortgeschritten, mit einer gesicherten Demokratie und mit einem A

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stetig steigenden allgemeinen Niveau von Bildung und Kultur." 1()3 All diese Hoffnungen und Prognosen einer optimistischen Wachstumsphase erwiesen sich schon bald als Trugschluß, obwohl die vorsichtigen Formulierungen die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung nicht völlig ausschlössen. Williams erkannte selbst die Schwächen und Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, und er suchte nach eigenen alternativen Interpretationen und Lösungswegen. Dies führte dazu, daß einzelne Ideologeme des Liberalismus und Reformismus archetypisch verabsolutiert wurden, zeitweilige optimistisch stimmende Strukturveränderungen in den Lebensverhältnissen und der sozialen Wohlfahrt sowie in Kultur und Bildung erschienen „als Teil des großen Prozesses menschlicher Befreiung". Hier spielten vor allem Fragen der moralischen Erziehung und der Emanzipation des Individuums und seiner schöpferischen Entwicklung, der Demokratisierung gesellschaftlicher Institutionen und des Kommunikationssystems eine dominierende Rolle. Williams hat die Kommunikation - vor allem durch Rundfunk und Fernsehen10"4 noch im geschichtsoptimistischen Sinne der möglichen Erzeugung humanistischer Verhältnisse und der Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen verstanden, wobei Richard Hoggart aus dem gleichen moralischen Impetus heraus die Massenkommunikation und die Massenkultur schon als Zerstörung des kommunalen Gemeinwesens innerhalb der Arbeiterklasse anprangerte. Williams' theoretisch-utopischer Gesellschaftsentwurf entsprach - in seinem Romanschaffen ebenso wie in der Theorie - einem tief verwurzelten humanistischen Streben danach, „so wirkungsvoll wie möglich zur emanzipativen Umgestaltung der herrschenden Verhältnisse in eine wahrhaftigere menschliche Gesellschaft beizutragen" 105 . Die Utopie einer „gebildeten und gemeinsam (common) teilhaftigen Demokratie", „menschlicher Kommunikationsverhältnisse" und einer „insgesamt hohen Kultur" schien Williams durchaus im Bereich des Möglichen. 106 In diesen volksverbundenen, evolutionär-demokratischen Rahmen paßt auch sein proletarischer Literaturbegriff, der seine literarische Praxis jener Zeit bestimmte. 107 Er schätzte weniger die ästhetische Seite der proletarischen Kunst, sondern mehr die Kultur der Arbeiterklasse im weiten Sinne: „Die Kultur, die sie produziert hat und die man als bedeutsam betrachten muß, sind die kollektiven demokratischen Einrichtungen, ob in den Gewerkschaften, der Genossen'52

schaftsbewegung oder einer politischen Partei . . . In diesem Kontext kann sie als eine bemerkenswerte schöpferische Errungenschaft betrachtet werden." 108 Die hohe Wertschätzung dieses Begriffs der Arbeiterkultur hat in den folgenden Jahren die spezifisch soziologische Forschung auf diesem Gebiet in Großbritannien stark stimuliert; ideologisch hat sie Hoffnungen auf eine sozialistische Gesellschaft durch Evolution weiter genährt. Es ist nur konsequent, wenn Terry Eagleton später Williams' klassenindifferentes Konzept einer sozialistischen Zukunft aus einer evolutionären Bewegung des Kapitalismus heraus „als eine bloße Ausweitung der bourgeoisen Demokratie" 109 entwertet, auch wenn der linksradikale Theoretiker damit zugleich Williams' grundlegendes humanistisches Engagement für Demokratie und gesellschaftlichen Fortschritt diskreditierte. Doch mit den „radikalen Veränderungen" in der Gesellschaft und der damit verbundenen Desillusionierung über einen evolutionären Demokratisierungsprozeß verliert auch Williams' ästhetisch-literarisches Konzept eines „radical populism" - einer distanzlosen Identität zwischen dem proletarischen Alltagsleben und Literatur bzw. Literaturkritik, zwischen arbeitendem Volk und literarischer Widerspiegelung - an Überzeugungskraft. Die früheren Begriffe von „gesamter Lebensweise" und „Tradition", von „Volkskultur" und dem i,Wachstum der Demokratie" schwächen sich ab. Unter dem zunehmenden Einfluß der neuen New Left (durch Abspaltung seit 1964, auch von Williams mitprofiliert) entwickelt Williams ein recht schillerndes, durch die Diskussionen auf dem Kontinent bestimmtes Marxismusbild, denn auf Grund der insularen Abgeschlossenheit setzt in England erst spät die Orientierung an aktuellen Theoremen von Lukäcs, Sartre, Goldmann, Althusser, Benjamin und vor allem Antonio Gramsci ein. Bei Williams führte das zu einer strukturalistischen, von den gesellschaftlichen Prozessen stark abstrahierten Kultursoziologie, indem er sich von seinem evolutionären, populistischen, anthropologischen Kulturbegriff zu lösen begann. In seiner in den siebziger Jahren stringenten, sachlich prägnanten und eigenwilligen Begrifflichkeit definiert er den „zentralen Gedanken des Marxismus" als „Kulturmaterialismus: als eine Theorie der Spezifik der materiell-kulturellen und literarischen Produktion innerhalb des historischen Materialismus". 110 In diesem kulturphilosophischen Rahmen propagierte Williams vier weitgehend autonom gehaltene „basic concepts": Kultur - Sprache - Literatur - Ideologie. Die zuweilen ambivalente Polemik richtet sich einerseits gegen idea53

listische Methoden der „Trennung der ,Kultur' vom materiellen sozialen Leben", andererseits - in zunächst berechtigter Kritik an vulgärmarxistischen Widerspiegelungstheorien - gegen eine Reduktion des Kulturbegriffs auf einen „zweitrangigen", auf den „ÜberbauStatus". Gleichermaßen betrachtet er eine direkte Anbindung von Sprache und Literatur an Überbaurelationen, an Ideologie und konkrete Klassenverhältnisse, als Verlust ihrer natürlichen Funktion, der „Sprache als Aktivität" (bzw. Aktion). Der daraus resultierende Literaturbegriff geht aus von Prozessen der „künstlerischen Produktion" und ihrer „Vermittlungen" und von kommunikativen Aspekten des „künstlerischen Subjekts" und der Zeichen, Texte, Gattungen und ihrer ästhetischen Form. 111 Auch der Ideologie-Aspekt selbst wird aus dem Überbaukomplex ausgegliedert, um ihn nun unmittelbar auf die „materielle Realität" zu beziehen und damit die angebliche Trennung des „Bewußtseins" - als bloße Reflexion der Basis - von den „materiellen gesellschaftlichen Prozessen" zu verhindern. Diese Atomisierung ideologischer Substanzen und ihre separate Verknüpfung mit der Realität kann nur im Zusammenhang gesehen werden mit der Protestbewegung gegen Ende der sechziger Jahre, als linksradikale Gruppen in anarchistischer Verabsolutierung von revolutionären Ideen den subjektiven Faktor „Bewußtsein" („human consciousness") als einen entscheidenden Faktor - „als Teil des menschlich-materiellen Prozesses" - im Klassenkampf und nicht mehr als bloßen Reflex der objektiven Realität sehen wollten. Dahinter läßt sich mühelos die Marxsche These erkennen, daß die Idee zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift. Deshalb kam der Bildung und Erziehung wie auch der politischen Agitation eine ganz besondere Rolle zu. Die Aufwertung des menschlichen Bewußtseins zum Primat gesellschaftlicher Realität führte in ihrer ideologischen Konsequenz - in der Revolte der „Achtundsechziger" - zum politischen Aktionismus, zu gewaltigen Protesten gegen das bürgerliche Establishment und gegen das Erwerbsdenken in der kapitalistischen Konsumgesellschaft. Williams selbst hat sich in die große antiimperialistische Bewegung der sechziger Jahre - auf einer höheren, theoretisch-philosophischen Ebene mit vollem politisch verantwortlichen Engagement integriert, als er seinen Protest gegen soziales Unrecht und den Neokonservativismus in seinem berühmten May Day Manifesto (1968) artikulierte. Die weitgehend abstrakten Relationen der „basic concepts" verhüllen die objektive Basis-Überbau-Dialektik, und zwar mit einem 54

Anspruch auf „the real processes" und „the real foundations" (die wirklichen Ursprünge), die erst „die unlösbaren Verbindungen zwischen der materiellen Produktion, den politischen und kulturellen Institutionen und dem menschlichen Handeln und seinem Bewußtsein"112 herstellen. Dieser direkte Angriff auf die Dialektik zwischen Ideologie und Ökonomie, Bewußtsein und Materie, zugunsten eines unabhängigen menschlichen Bewußtseins - von Marx (auf den er sich hier bezieht) als „Schein der Selbständigkeit" der ideologischen Formen von Moral, Religion und Philosophie entlarvt 113 - orientiert letztlich auf einen „besonderen", komplexen Funktionsbegriff „des Ästhetischen". Williams polemisiert gegen vulgäre Widerspiegelungskonzeptionen : sowohl gegen eine „Reduzierung der Kunst auf die Ideologie oder die Überbau-Reflexion (einfacher .Realismus')", aber auch gegen eine Reduzierung auf die ästhetische Form. Gemeint ist hier hochinteressanterweise die soziale Komplexität der Kunstproduktion, „unlösbar" von den gesellschaftlichen Verhältnissen: „die tatsächliche Produktion und Rezeption" der Kunst als „miteinander verbundene materielle Prozesse innerhalb eines Gesellschaftssystems"11'1. Innerhalb dieses Prozesses wird die „schöpferische Phantasie" („creative imagination") - jetzt nicht mehr ausschließlich mit den kulturellen Ansprüchen der Arbeiterklasse verbunden - zum Postulat der subjektiven historischen Erfahrung des Individuums und seiner komplexen ästhetisch-psychologischen Darstellung in Kunst und Kritik. Die ästhetische Phantasie und Wahrnehmung des Lesers und Kritikers erscheint in seinem charakteristischen Konzept des „structure of feeling" („Gefühlsstruktur") als subjektives Zeitgefühl und Gespür für eine konkrete historische Epoche und ihre Literatur, als die durch das individuelle ästhetische Bewußtsein gefilterte und „gelöste" gesellschaftliche Erfahrung und Weltanschauung, was etwa auf die Sensibilität des Autors und Lesers hinausläuft. 115 Williams' marxistisch orientiertes Kultur- und Literaturkonzept eines „cultural materialism" ist entstanden aus entschiedener Opposition zur bürgerlichen Kultursoziologie und deren „undifferenzierten und blockierenden Begriffen" der „Massenkommunikation" urici „Massenmanipulation" ; „das Konzept der ,Masse' verdrängt und neutralisiert spezifische Klassenstrukturen". Seine Absicht ist es, kulturelle Prozesse gleichrangig mit ökonomischen Basisprozessen auf eine Stufe zu stellen, und er fordert die absolute Einheit der kulturellen mit der materiellen Produktion zu einem untrennbaren Gesell55

schaftsprozeß. 116 Trotz einigem Zweifel an diesem kultursoziologischen Konstrukt liegt in dieser These vielleicht für die Zukunft eine der Lösungen dafür, die geistig-kulturellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse aus der mit ihr unmittelbar verbundenen materiellen Produktion zu befriedigen und diese so vom bürgerlichen Kulturbetrieb und seinen entwürdigenden sozialen und ideologischen Zwängen zu befreien. D i e englische marxistische Kultursoziologie zur Erforschung der Kultur der Arbeiterklasse, speziell das Centre for Contemporary Cultural Studies an der Universität Birmingham, begann ihre Studien ganz wesentlich auf der Basis der Arbeiten von Richard Hoggart und Raymond Williams. D e r langjährige Leiter des Centre, Stuart Hall, nannte Williams' umfassendes Kulturkonzept der „common culture" („gesamte Lebensweise") den zentralen Ausgangspunkt ihrer Forschungen. Nach gründlichen Analysen der britischen Gesellschaft und ihrer gegenwärtigen Klassenverhältnisse zogen diese Soziologen die Schlußfolgerung, daß es - in Variation zu Lenins These der zwei Kulturen - verschiedene Kulturen für die verschiedenen Klassen, Schichten und Gruppen im Kapitalismus gibt, ohne daß hier die Klassenfrage direkt gestellt wurde. Aus diesem sozialen Schichtenmodell ergibt sich nun auch ein heterogenes, vielschichtiges Kulturbild. Dabei wird versucht, die Kultur der Arbeiterklasse in zwei oder mehrere „Subkulturen" zu unterteilen, jeweils eine für die „respektable" und die „primitive" Arbeiterklasse und die „abweichenden" Randgruppen, deren kulturelle Gemeinsamkeiten auf eine „Elternkultur" zurückgehen. Keineswegs wird hier einer Auflösung bzw. „Verbürgerlichung" der Arbeiterklasse und dem Verlust ihrer Kultur- und Lebensformen das Wort geredet! Diese Analysen der sich im Staatsmonopolismus vollziehenden sozialen und ideologischen Strukturveränderungen innerhalb der Arbeiterklasse bekräftigen deren Anspruch auf eigenständige Kulturverhältnisse. D a s Konzept der „common culture" signalisiert dabei eine Abwendung von rein philologisch ausgerichteten Kulturanalysen, die sich nur auf die k ü n s t l e r i s c h e n Reflexionen der Arbeiterklasse konzentrieren und die Gesamtheit aller ideologischen, politischen,'sozialen Existenz- und Ausdrucksformen dieser Klasse vernachlässigen. Stuart Hall postuliert hier ausdrücklich, die „kulturellen Manifestationen . . . nicht anders als in einer untergeordneten Position zu sehen". Arbeiterkultur widerspiegelt sich ihm weniger überzeugend in den vermittelten, künstlerischen Abbildern, sondern

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vielmehr in direkter Anschauung und in den durch soziologische Analyse ermittelten proletarischen Lebensverhältnissen selbst: den proletarischen Nachbarschafts- und Familienbeziehungen, in Kameradschaft und Solidarität unter den Arbeitern, in Schule und Erziehung, im Arbeitsprozeß und der „kompakten industriellen Kultur" - also in der „gesamten Lebensweise der Arbeiterklasse" 117 . Andererseits erklärt dieses akzentuiert soziologische Herangehen an ein breites Konzept der Arbeiterkultur, warum gerade aus England bislang nur wenige theoretische Impulse zu einer produktiven Rezeption von Arbeiterliteratur gekommen sind. Als ein Neuansatz für eine proletarisch-sozialistische Kulturdefinition wird das Moment der Arbeit betrachtet, und zwar nicht nur als eine entfremdete, sondern auch unter kapitalistischen Verhältnissen als eine potentiell produktive Tätigkeit, wonach die „Kultur der .Arbeiterklasse* die Form ist, in der Arbeit reproduziert wird" 118 . Gegenüber Williams definierte Terry Eagleton 1976 aus radikaler Klassenkampfposition den Marxismus als „eine wissenschaftliche Theorie der menschlichen Gesellschaft und der Praxis ihrer Umwandlung". Dementsprechend sei es die Aufgabe „marxistischer Erzählliteratur (narrative Marxism), die Geschichte der Kämpfe der Männer und Frauen zur Befreiung von bestimmten Formen der Ausbeutung und Unterdrückung zu gestalten". 119 In diesem „revolutionären Verständnis der Geschichte" wird die ideologische Funktion der Literatur vereinseitigt, ihr ästhetisch-schöpferischer Aspekt gerät außer Sicht. Der „revolutionäre" Duktus kommt geradezu in Widerspruch zu seiner Polemik gegen den von ihm als solchen bezeichneten „Vulgärmarxismus" (bei Christopher Caudwell). Seine Kritik richtet sich aber auch gegen die von Raymond Williams vertretenen evolutionären und demokratisch-liberalen Positionen, wodurch auch die produktiven Aspekte von dessen Kulturbegriff verschüttet werden, 120 die für die kulturelle Entwicklung der Arbeiterklasse wirksam werden könnten. Die Funktion des bürgerlich-literarischen Erbes sah Eagleton aus einem verengten Blickwinkel in der Verschleierung der ideologischen Widersprüche der Bourgeoisie, gegen die er ein „revolutionäres" Konzept zur Zerstörung ihrer „organic productions" forderte. Der radikale Kritiker verstand vergangene Kunst als Produkt und Matrix bourgeoiser Ideologie, und der bürgerliche Realismus etwa von Joseph Conrad wurde zur reaktionären Kunst. Dabei erhielten traditionelle Wertmaßstäbe von „reaktionär" und „fortschrittlich", „re57

visionistisch" und „revolutionär" neue ideologische Vorzeichen; ihre objektive Bedeutung wurde verzerrt, wenn gar Yeats, Eliot, Pound und Lawrence in extremer Umwertung zum Faschismus geschlagen wurden.121 Demgegenüber haben in den sechziger und siebziger Jahren viele Marxisten seit Caudwell gerade das bürgerlich-demokratische Erbe für das Verständnis der Arbeiterklasse verstärkt rezipiert und in die revolutionären Traditionen integriert.122 Politische

Strategien der englischen

Neulinken

Das Jahr 1956 war der zeitliche Ausgangspunkt der „Neuen Linken" in Großbritannien, die ihren stärksten Ausdruck fand in der großen Massenbewegung der „Kampagne für Kernwaffenabrüstung" („Campaign for Nuclear Disarmament" = CND). Ihre Abspaltung vom Kern der kommunistischen Bewegung, die die volle Kontinuität zu den marxistischen Positionen der Dreißiger zu bewahren suchte,123 ging auf die Kontroversen über die Ereignisse in Polen, Ungarn und auf den 20. Parteitag der KPdSU zurück. Ihre politischen Organe waren der New Reasoner mit dessen Wortführern E. P. Thompson und John Saville, Universities and Left Review mit Richard Hoggart, Raymond Williams und Stuart Hall als ihre wesentlichen theoretischen Exponenten. Ihr politisches Spektrum reichte von revisionistisch bis linkslabouristisch und kulturkritisch. Beide Zeitschriften vereinigten sich 1959 zur New Left Review. Rainer Schnoor verallgemeinerte den ideologischen, sozialen Charakter der New Left als kleinbürgerliche Bewegung „zwischen dem Proletariat und der Monopolbourgeoisie"124. Ihr Schwanken war aber auch ein Prozeß geistig-ideologischer Selbstverständigung, in dessen Verlauf Leute wie Williams und Hoggart für demokratische Kultur- und Lebensverhältnisse und für die Würde der Arbeitenden im Kampf gegen die ökonomische Krise und soziale Unterdrückung einen wesentlichen Beitrag leisteten. Im Jahre 1963 spaltete sich die Neue Linke in die sogenannte „alte New Left" und die „neue New Left". Die „alte" gruppierte sich um Raymond Williams' May Day Manifeste und nahm jetzt in deutlicher Enttäuschung über den opportunistischen und arbeiterfeindlichen Kurs der Wilson-Regierung eine konsequent antimonopolistische und antilabouristische Haltung ein. Zu dieser Gruppierung gehörte auch der von John Saville und Ralph Miliband herausgegebene Jahresband The Socialist Register. Die 58

visionistisch" und „revolutionär" neue ideologische Vorzeichen; ihre objektive Bedeutung wurde verzerrt, wenn gar Yeats, Eliot, Pound und Lawrence in extremer Umwertung zum Faschismus geschlagen wurden.121 Demgegenüber haben in den sechziger und siebziger Jahren viele Marxisten seit Caudwell gerade das bürgerlich-demokratische Erbe für das Verständnis der Arbeiterklasse verstärkt rezipiert und in die revolutionären Traditionen integriert.122 Politische

Strategien der englischen

Neulinken

Das Jahr 1956 war der zeitliche Ausgangspunkt der „Neuen Linken" in Großbritannien, die ihren stärksten Ausdruck fand in der großen Massenbewegung der „Kampagne für Kernwaffenabrüstung" („Campaign for Nuclear Disarmament" = CND). Ihre Abspaltung vom Kern der kommunistischen Bewegung, die die volle Kontinuität zu den marxistischen Positionen der Dreißiger zu bewahren suchte,123 ging auf die Kontroversen über die Ereignisse in Polen, Ungarn und auf den 20. Parteitag der KPdSU zurück. Ihre politischen Organe waren der New Reasoner mit dessen Wortführern E. P. Thompson und John Saville, Universities and Left Review mit Richard Hoggart, Raymond Williams und Stuart Hall als ihre wesentlichen theoretischen Exponenten. Ihr politisches Spektrum reichte von revisionistisch bis linkslabouristisch und kulturkritisch. Beide Zeitschriften vereinigten sich 1959 zur New Left Review. Rainer Schnoor verallgemeinerte den ideologischen, sozialen Charakter der New Left als kleinbürgerliche Bewegung „zwischen dem Proletariat und der Monopolbourgeoisie"124. Ihr Schwanken war aber auch ein Prozeß geistig-ideologischer Selbstverständigung, in dessen Verlauf Leute wie Williams und Hoggart für demokratische Kultur- und Lebensverhältnisse und für die Würde der Arbeitenden im Kampf gegen die ökonomische Krise und soziale Unterdrückung einen wesentlichen Beitrag leisteten. Im Jahre 1963 spaltete sich die Neue Linke in die sogenannte „alte New Left" und die „neue New Left". Die „alte" gruppierte sich um Raymond Williams' May Day Manifeste und nahm jetzt in deutlicher Enttäuschung über den opportunistischen und arbeiterfeindlichen Kurs der Wilson-Regierung eine konsequent antimonopolistische und antilabouristische Haltung ein. Zu dieser Gruppierung gehörte auch der von John Saville und Ralph Miliband herausgegebene Jahresband The Socialist Register. Die 58

„neue" New Left eskalierte zu einem weiteren Linksradikalismus mit teilweise trotzkistischen bzw. maoistischen Absplitterungen. Ihre politische Grundhaltung ist zugespitzt antibürgerlich und antiimperialistisch. Ihre ideologischen Leitbilder beziehen sie aus der Frankfurter Schule und von Antonio Gramsci, dessen Hegemoniekonzept („domination") heute die Schichten der Linken stark beherrscht. 1 2 5 Ihre Kontinuität verdankt die Neue Linke vor allem ihrem seit den ersten Ostermärschen nach Aldermaston andauernden antimilitaristischen Engagement in der „Campaign for Nuclear Disarmament", und mit dem Schlachtruf: „Hört ihr nicht die H-Bomben donnern?" 1 2 6 wußte sie das politische Bewußtsein jugendlicher Gruppierungen wachzurütteln. Ihre Positionen sind höchst widersprüchlich. Sie verurteilen den britischen Parlamentarismus samt seinen bürgerlichen Parteien, ihre Ungeduld und ihr Zorn richtet sich aber auch gegen weite Teile der Arbeiterklasse, die dem militanten Kurs der radikalen Intelligenz nicht folgen mochten. Sehr treffend hat H . Gustav Klaus die Neue Linke charakterisiert: „Sie war im besten und schlechtesten Sinne des Wortes eine Protestbewegung, deren latentes revolutionäres Potential sich jedoch aufgrund objektiver und subjektiver Schwierigkeiten nicht in der Arbeiterbewegung kanalisieren ließ, wo ihr wirklicher Platz und eine Zukunft gewesen wäre. Im besten Sinne, weil sie ungeahnte Reserven des englischen Radikalismus mobilisieren konnte, wie sich insbesondere an den Ostermärschen der jährlich Zehntausende anziehenden ,Campaign for Nuclear Disarmament' demonstrieren ließen. Im schlechtesten Sinne, weil das magische Symbol, von dem sie lange Zeit geleitet wurde, die Bombe, niemals die konkreten Inhalte, ihre losen, auf Spontanität sich gründenden Organisationsformen, niemals die Organisationsstrukturen der Arbeiterbewegung ersetzen konnte." 1 2 7 Und in ihren extrem linken Gruppierungen - vor allem in ihren trotzkistischen und maoistischen Überspitzungen und deren Dogmen vom unbedingten Sieg der Arbeiterklasse in der ganzen W e l t - spaltete sie sich noch deutlicher von der aktiven Arbeiterbewegung im eigenen Land ab. Zehn Jahre nach ihrem Gründungsjahr 1968 sprachen die Trotzkisten auf ihrer „4. Internationalen" desillusioniert von „einer Krise der revolutionären Linken", die nur durch eine weltweite „socialist revolution" überwunden werden könnte. 1 2 8 D a s besondere Interesse der englischen Linken gilt dem in den letzten Jahrzehnten immer mehr ins Zentrum rückenden Medien- und Kommunikationssystem. Hatte Raymond Williams noch 1962 „com-

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munications" als Medien einer stetig (ortschreitenden und sich erweiternden Öffentlichkeit gesehen, so hat er später im Angesicht der Auswirkungen einer hochentwickelten mikroelektronischen Medienindustrie und Videotechnik als ideologisches Propagandainstrument seinen massenkommunikatorischen Fortschrittsglauben relativiert. 1979 stellte er fest, daß die Medien „im Besitz der Kapitalistenklasse sind, die damit die Meinung des Volkes und der Arbeiterklasse indoktrinieren"; die Illusion einer freien demokratischen Entfaltung der Massenmedien ist durch die staatsmonopolistische Herrschaft zerstört: durch „die wachsende Bewegung in Richtung auf einen korporativen Monopolbesitz, durch den Ausschluß jener Medien, die diesen ökonomischen Kriterien nicht entsprechen, durch die ständige Kontrolle der sogenannten unabhängigen öffentlichen Korporationen" 1 2 9 . Ein „neuer" Konservativismus hat sich der Massenmedien bemächtigt. Verstärkt untersuchen Soziologen die systematische Manipulation des Bewußtseins der Arbeiterklasse: „Allgemein ist es die politische Funktion des Fernsehens, konservative soziale Werte auf einer Vielzahl von Gebieten zu stützen und zu verbreiten, einschließlich der Produktionsverhältnisse, der Rassenbeziehungen, des politischen Protests etc." 1 3 0 G e r a d e auf diesem Gebiet der immer einflußreicheren Medien liegt eine große massenpolitische Verantwortung, aber auch die dringende Notwendigkeit aller demokratischen und sozialistischen K r ä f t e und Institutionen, massenkommunikatorisch aufklärend und mobilisierend auf das Bewußtsein der Arbeiterklasse einzuwirken.

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Programmvorstellungen über einen sozialistischen Weg im Nachkriegsengland

Die marxistischen Theoretiker eines neuen proletarisch-sozialistischen Romans im Nachkriegsengland standen fest in den revolutionären Traditionen der Dreißiger; Christopher Caudwells Illusion and Real i t y (1937; Illusion und Wirklichkeit), Ralph Fox' The Novel and the People (1937; Der Roman und das Volk) und Alick Wests Crisis and Criticism (1937; Krise und Kritik) bildeten den theoretischen Ausgangspunkt zu Überlegungen, wie diese sozialistischen Traditionen in den fünfziger Jahren fortzusetzen waren. Indem sie in ihren Publikationsorganen wie Marxist Quarlerly und Arena lebhafte und kritische Diskussionen zu ästhetisch-ideologischen Problemen dieser Autoren, speziell zu Caudwell, entfachten, stimulierten sie mit einem neuen Theoriebewußtsein auch die eigene literarische Praxis. Darüber hinaus gaben sie talentierten Laienschriftstellern aus der Arbeiterklasse selbst direkt oder vermittelt wichtige Anregungen zum Schreiben. Das große Experimentierfeld einer proletarischen und sozialistischen Erzählliteratur in den fünfziger Jahren lebte von dieser intensiven Wechselwirkung zwischen ästhetischer Theorie und literarischer Praxis, zwischen ideologischer Kontroverse und revolutionärer Aktivität. Das Romanschaffen marxistischer Autoren war politisch stark engagiert bzw. parteipolitisch orientiert. Dafür war Jack Lindsay das überzeugendste Beispiel, der seine Romanserie über die englische Nachkriegsgesellschaft mit dem Titel TheNovels of the British Way (Die Romane des britischen Weges) richtungsorientierend nach dem Parteiprogramm der CPGB The British Road to Socialism benannte. Die nicht aus der Arbeiterklasse stammenden oder ihr nicht mehr zugehörenden Autoren der sozialistischen Intelligenz gingen - geschult an den großen Traditionen der bürgerlich-humanistischen Literatur - mit hohen Ansprüchen an die Schaffung einer eigenständigen „zweiten Kultur", die das Proletariat und seine Existenz61

bedingungen in der Klassenstruktur in den Mittelpunkt rückte. Anders als die Arbeiterschriftsteller, die ihren Blick punktuell auf die ganz eigenen und selbstdurchlebten Verhältnisse der Industriearbeit richteten, zielten die „intellektuellen" Schriftsteller auf ein alle am Produktionsprozeß beteiligten Schichten und Klassen umfassendes Gesellschaftsbild. Ihr literarischer Aneignungsbegriff war von vornherein auf die Totalität gesellschaftlicher Verhältnisse orientiert. Eine solche universale Qualität des literarischen Abbilds war noch vorstellbar zu einer Zeit, als die ideologischen Nachwirkungen des „Wohlfahrtsstaats" bei vielen noch die Illusion großer politischer Veränderungen und sozialer Fortschritte in Richtung auf einen Sozialismus nährten, in dem Vollbeschäftigung, die Nationalisierung der Schlüsselindustrien und die damit verbundene Mitbestimmung der Arbeiter am Produktionsprozeß und grundlegende Sozialleistungen zum Wohlstand des Volkes als gesichert betrachtet wurden. Sie sahen ihre Aufgabe darin, sich mit künstlerischen Mitteln voll für einen gesellschaftlichen Umbruch einzusetzen. Sie rangen um ein konsequentes Engagement für die Arbeiterklasse, indem sie auf die Hemmnisse und Konflikte einer solchen Entwicklung aufmerksam machten und die ideologischen Widersprüche und Irrtümer dieses „britischen Weges" in der Arbeiterbewegung bloßlegten. Jack Lindsay entwickelte ein lokal wechselvolles und sozial vielschichtiges Gesellschaftspanorama, das darauf orientierte, dem Leser ein möglichst vollständiges Bild der sozialen Beziehungen und Auseinandersetzungen in der Sphäre der industriellen Produktion zu vermitteln. Bürgerliche Stimmen erhalten gleiches Gewicht wie proletarische, obwohl diesen höhere Aussagekraft zukommt. Margot Heinemann ging direkt von ihren unmittelbaren Erfahrungen und Erkenntnissen in der Parteiarbeit und ihren Forschungen in der Montanindustrie aus, beginnend von der kleinsten kommunalen Partei- und Gewerkschaftszentrale bis hin zu den höchsten Entscheidungsgremien der Nationalen Kohlebehörde. Das Schwergewicht ihrer Gesellschaftsanalyse legte sie auf die geistig-ideologischen Quellen für eine mögliche Fehlentwicklung in der Arbeiterbewegung, speziell durch die Korruption ihrer intellektuellen Führungskader. Raymond Williams gibt in seiner in vielen Fassungen zwischen 1947 und 1978 entstandenen Romantrilogie ein episch breit angelegtes, weitgefächertes Bild der Produktions- und Lebensverhältnisse der arbeitenden Schichten und der mit ihnen verbundenen Intelligenz zwischen Vergangenheit und Zukunft, angefangen von den Eisen62

bahnern im „Grenzland" über die Autoindustrie in Cambridge bis zur Entwicklung der modernen Elektronikindustrie im fiktiven Manod. Jack Lindsay:

„Betrayed

Spring"

„Fülle des Lebens" und „Ganzheit des Menseben" Lindsays Romanserie mit dem programmatischen Gesamttitel The Novels of tbe British Way (of Life) - in der Reihenfolge der vier wichtigsten Romane: Betrayed Spring, 1953; Rising Tide, 1953; The Movement of Choice, 1955; A Local Habitation, 1957 - ist eine locker zusammengefügte Romankette, deren Handlung mitten in die aktuellen politisch-sozialen Konflikte der frühen englischen Nachkriegsphase placiert ist. Der erste und für uns bedeutendste Roman Betrayed Spring (Der veruntreute Frühling), der durch seine Entstehungszeit deutlich im Kontext der fruchtbaren ideologisch-kulturellen Auseinandersetzungen der britischen Marxisten und letztlich Lindsays eigenen theoretischen Analysen in den fünfziger Jahren gesehen werden muß, beschreibt konkret die Zeit vom September 1946 bis zum März 1947 an vier verschiedenen Orten Englands. Betrayed Spring ist ein Gesellschaftspanorama von großer zeitgenössischer Aktualität und mit hohem gesamtgesellschaftlichem Stellenwert bei gleichzeitiger klarer Parteinahme des Autors für die Sache des Proletariats. Dieses aus der jüngeren sozialistischen englischen Erzähltradition herausragende Experiment einer umfassenden Gesellschaftssicht, die alle wesentlichen Klassen und Schichten in ihren realen Konflikten und Kämpfen zeigt, ist entscheidend Lindsays eigener Methode historischen Erzählens verpflichtet, in der die Totalität gesellschaftlicher Abläufe und Zusammenhänge mit mehreren parallelen Handlungsebenen und stark voneinander differenzierten sozialen Schichten und Charakteren verkettet wird. Beim Herangehen an diesen Gegenwartsstoff ließ er sich von seinem Auswahlprinzip für historische Stoffe leiten - angewandt in seinen zahlreichen Geschichtsromanen, die wichtige Perioden der Geschichte von der römischen Antike bis zum zweiten Weltkrieg umspannen - , nach welchem die ersten Nachkriegsjahre als revolutionärer Knoten- und Wendepunkt angesehen wurden. Für ihn stellt der Gegenwartsroman einen „Sonderfall des historischen Romans" dar.131 63

bahnern im „Grenzland" über die Autoindustrie in Cambridge bis zur Entwicklung der modernen Elektronikindustrie im fiktiven Manod. Jack Lindsay:

„Betrayed

Spring"

„Fülle des Lebens" und „Ganzheit des Menseben" Lindsays Romanserie mit dem programmatischen Gesamttitel The Novels of tbe British Way (of Life) - in der Reihenfolge der vier wichtigsten Romane: Betrayed Spring, 1953; Rising Tide, 1953; The Movement of Choice, 1955; A Local Habitation, 1957 - ist eine locker zusammengefügte Romankette, deren Handlung mitten in die aktuellen politisch-sozialen Konflikte der frühen englischen Nachkriegsphase placiert ist. Der erste und für uns bedeutendste Roman Betrayed Spring (Der veruntreute Frühling), der durch seine Entstehungszeit deutlich im Kontext der fruchtbaren ideologisch-kulturellen Auseinandersetzungen der britischen Marxisten und letztlich Lindsays eigenen theoretischen Analysen in den fünfziger Jahren gesehen werden muß, beschreibt konkret die Zeit vom September 1946 bis zum März 1947 an vier verschiedenen Orten Englands. Betrayed Spring ist ein Gesellschaftspanorama von großer zeitgenössischer Aktualität und mit hohem gesamtgesellschaftlichem Stellenwert bei gleichzeitiger klarer Parteinahme des Autors für die Sache des Proletariats. Dieses aus der jüngeren sozialistischen englischen Erzähltradition herausragende Experiment einer umfassenden Gesellschaftssicht, die alle wesentlichen Klassen und Schichten in ihren realen Konflikten und Kämpfen zeigt, ist entscheidend Lindsays eigener Methode historischen Erzählens verpflichtet, in der die Totalität gesellschaftlicher Abläufe und Zusammenhänge mit mehreren parallelen Handlungsebenen und stark voneinander differenzierten sozialen Schichten und Charakteren verkettet wird. Beim Herangehen an diesen Gegenwartsstoff ließ er sich von seinem Auswahlprinzip für historische Stoffe leiten - angewandt in seinen zahlreichen Geschichtsromanen, die wichtige Perioden der Geschichte von der römischen Antike bis zum zweiten Weltkrieg umspannen - , nach welchem die ersten Nachkriegsjahre als revolutionärer Knoten- und Wendepunkt angesehen wurden. Für ihn stellt der Gegenwartsroman einen „Sonderfall des historischen Romans" dar.131 63

Spätestens hier zeigt sich, daß einige der diesem Erzählwerk zugrunde liegenden theoretischen Grundpositionen Lindsays vorausgeschickt werden sollten. Die vielschichtige Romangesellschaft zielt auf einen repräsentativen Querschnitt der antagonistischen Verhältnisse, die auch die unterschiedlichen Vertreter der herrschenden Klasse voll ins Blickfeld rücken. Damit bleibt eine einseitige Ausrichtung etwa auf die Handlungen der Arbeiter allein ausgeschlossen. Vier stark voneinander differenzierte und nur locker miteinander konferierende Handlungsstränge mit ebenso differenzierten Figurengruppen durchziehen den Roman, vermitteln den Eindruck eines einheitlichen, gesamtgesellschaftlichen Gefüges, in dem reale Konflikte und Antagonismen beständig einer möglichen Lösung zustreben. (Diese Struktur erinnert an Anna Seghers' Roman Die Entscheidung (1961).) Die traditionelle Vorstellung von einer epischen Totalität der Romanwelt wird durch den zyklischen Aufbau im ständigen Wechsel zwischen den Handlungsebenen und -orten verstärkt, der andererseits jedoch einer ganzheitlichen Erzählstruktur wieder entgegenwirkt, da diese verschiedenen lokalen und sozialen Ebenen nicht dynamisch, sondern weitgehend zufällig miteinander verflochten sind. Hier liegen Widersprüche, für deren künstlerische Repräsentation neue, der Gegenwartsthematik angemessene erzählerische Prinzipien sozialer Enthüllung und politischer Distanzierung auf dieser Entwicklungsstufe des sozialistischen Romans noch nicht gefunden sind. Dies hängt auch zusammen damit, daß Lindsay, trotz intensivem Bemühen um eine tiefere Dialektik individueller und gesellschaftlicher Entwicklung, in der Konfliktgestaltung in einem Punkt doch noch lange an einem starren Regelkanon festhielt, der aus einem mechanischen Widerspiegelungsbegriff heraus traditionelle literarische Darstellungsformen festschrieb und etwa avantgardistische Tendenzen als Reaktion auf eine durch Ausbeutung entfremdete Welt scharf zurückwies.132 So gehen Autorintention und erzählerische Wirkung letztlich nicht zusammen. Lindsays theoretisches Postulat von „human wholeness" („Ganzheit des Menschen") ist am gesamten Figurenensemble ausgerichtet und ergibt sich aus der Summe aller in den vier Handlungsebenen wirkenden Protagonisten, die als Individuen differenziert dargestellt sind. Die im Geiste einer erwarteten sozialistischen Gesellschaft handelnden Figuren zeigen unterschiedliche Annäherungen an ein kommunistisches Idealverhalten, wobei das Proletariat keineswegs die verklärten Züge eines „Kollektivmessias" annimmt133, sondern ge64

rade in seinen Konflikten und persönlichen Schwächen und in seinem Versagen, die objektiven Zusammenhänge in der Gesellschaft durch adäquates Verhalten immer richtig zu bewerten, realistisch gestaltet ist. Lindsay polemisiert theoretisch ja selbst - in seinem großen programmatischen Entwurf einer sozialistischen Literaturtheorie After tbe Thirties (1956; Nach den Dreißigern), bestimmt für die fünfziger Jahre - gegen eine „Idealisierung der Arbeiterklasse" (etwa mit der Figur Ewan Tavendales aus Lewis Grassic Gibbons Roman Gray Granite [Flamme in grauem Granit] in seiner Trilogie A Scots Squair [1959; Ein schottisches Buch]), und er postuliert „die realistische Darstellung des Lebens der Arbeiterklasse, ihres Humors und ihrer Fröhlichkeit, ihrer Gemeinschaftlichkeit, ihres tiefen Sinns für Solidarität". Diesen betonten Konventionen natürlicher proletarischer Lebenswirklichkeit steht ein neuer Menschentyp gegenüber, „der neue Mann, der Held unserer Zeit, der Revolutionär, der eine Gesellschaft aufbaut, wo sich der allseitige Mensch in seiner Ganzheit allmählich herausbilden kann". D i e „Ganzheit" eines neuen sozialistischen Menschen zielt vor allem auf eine objektive gesellschaftliche Repräsentanz und den menschheitlichen Anspruch der Arbeiterklasse in der Geschichte, der jedoch die individuellen Figuren im Roman überfrachten kann. Darüber hinaus fordert Lindsay vom marxistischen Schriftsteller nicht eine Darstellung der „Arbeiterklasse, wie sie im Augenblick existiert, sondern der ganzen menschlichen Zukunft, die diese Klasse in sich t r ä g t . . . einer freien und universalen Menschheit". D i e künstlerische Schaffensmethode basiert auf der Dialektik zwischen der „Klassenposition des Schriftstellers und seinem Gefühl für menschheitliche Einheit und Ganzheit" 13 '*. Dieses theoretische Postulat der „Universalität des Menschen" und der Totalität in der künstlerischen Abbildung der Gesellschaft war ein hoher, rigoroser Anspruch an eine noch sehr junge und unentwickelte proletarisch-sozialistische Literatur, der sich deutlich auf Hegels Forderung bezieht, „die subjektive innere Totalität des Charakters und seiner Zustände und Handlung und die objektive des äußeren Daseins" als ein „Zusammenstimmen und Zueinandergehören" zu zeigen. 135 Lindsays gezielte Polemik gegen die Kanonisierung der Regeln der „Konfliktlosigkeit" in der proletarischen Romanwirklichkeit kommt in seiner eigenen literarischen Praxis eher zum Tragen. Gerade seine Nachkriegsromane sind Ausdruck eines außerordentlichen Konfliktreichtums in einer antagonistischen Gesellschaft. Hier finden wir weniger den 5

Magister

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makellosen, idealtypischen Helden als vielmehr den durch schwere innere Konflikte nach der historischen Wahrheit erst Suchenden und dabei auch Irrenden und Zweifelnden, wobei die Nähe zur proletarischen Lebenspraxis als Prüfstein gilt. Lindsay suchte eine unmittelbare Kommunikation mit seinem Lesepublikum: in seinem Bemühen um die Schaffung von Werksbibliotheken, in Vorträgen, Diskussionen und in Lesungen vor Arbeitern, die er damit gleichzeitig zu den Akteuren und handelnden Subjekten wie auch zu den Kritikern seines Schaffensprozesses machte - etwa in der Darstellung des Londoner Hafenarbeiterstreiks von 1949 in Rising Tide. Diese dynamische Autor-Leser-Kommunikation ist ein stimulierender Faktor bei der realistisch-differenzierten Darstellung der Klassenkämpfe. Lindsay orientierte auf „das ganze Leben" („the füll life"), auf ein alle sozialen Schichten - auch die nichtproletarischen, bürgerlichen umfassendes Bild dieser Kämpfe, in welchem das Proletariat nur als ein - wenn auch der wesentliche - Teil eines widerspruchsvollen Ganzen erschien. Die bürgerlichen Figuren sind nicht von vornherein als Klassengegner typisiert, und die proletarischen Helden stehen mitten in den Kämpfen um Arbeiterrechte, in die sie aktiv eingreifen, und sie werden nicht „zur bloßen abstrakten Funktion von Massenaktivität" 136 benutzt. Seine Figuren trugen die Hoffnungen des Marxisten Jack Lindsay auf eine nationale Mobilisierung des ganzen englischen Volkes gegen kapitalistische Ausbeutung und Unterdrükkung, die noch von Illusionen auf eine nationale Einheit aller Klassen und Schichten geprägt waren. Die literarische Tätigkeit wurde noch als Agens der politischen Wirklichkeit verstanden; Kunstprozeß und Gesellschaftsprozeß standen in einem konsequenten Bezug zueinander. Solche Autoren kennzeichnete ein enges Zusammenwirken aller ihrer geistig-politischen Aktivitäten: auf gesellschafts- und kulturpolitischem, historischem und literaturtheoretischem, ideologischem und parteipolitischem und nicht zuletzt auf literarischem Gebiet. Die enge Bindung an die soziale Basis in den Docks und Fabriken und ein auf unmittelbare politische Wirksamkeit gerichtetes Schreiben erklärt auch die erstaunliche Produktivität Lindsays, ausgedrückt in zahlreichen Romanen, Essays, Rezensionen, Editionen, Übersetzungen. 137 Das Romangeschehen gliedert sich nach vier regionalen Handlungsräumen, zwischen denen sich die durch soziale Schichtungen differenzierten Handlungslinien vielfach kreuzen. Die miteinander

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alternierenden Handlungseinheiten behaupten ihre erzählerische Eigenständigkeit, da sie nur durch formal konstruierte Berührungspunkte miteinander verbunden sind. 138 Ihre erzählerische Verknüpfung ergibt sich aus dem gemeinsamen Erleben der sozial und politisch differenzierten Personen, Personengruppen und Handlungskreise in den Krisenmonaten zwischen dem Herbst 1946 und dem Frühjahr 1947 und aus den national übergreifenden Klassenantagonismen, die die gesamte Romangesellschaft prägen und die Privatsphäre und die Sphäre der weiten Öffentlichkeit zu einer Einheit zusammenschließen. D i e Auftaktepisode bilden die Protestaktionen von verzweifelten Londoner Hafenarbeiterfamilien gegen die miserablen Wohnverhältnisse in den Slums von London, die den Erfolgsmeldungen der Labour-Regierung von einem sozialen „Wohlfahrtsstaat" hohnsprechen. Doch ihr erstes spontanes Aufbegehren endet mit einer demütigenden Niederlage. D e r pessimistische Romanauftakt des „Verrats" vor allem durch eine revisionistisch beeinflußte G e werkschaftspolitik an den bescheidenen Anfangserfolgen der Arbeiter („betrayed spring") wird zum symbolischen Warnzeichen des ganzen Romans dafür, daß dieser Kampf keine Illusionen erlaubt und mit aller Härte und Konsequenz geführt werden muß. Hier erscheinen die Figuren oft unzureichend mit den erforderlichen theoretischen Kenntnissen und intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet, um vor den Lesererwartungen souverän zu überzeugen, und sie befinden sich in einem ungelösten Spannungsverhältnis zu einer ihnen fremden Gesellschaft. Der zutiefst humanistischen Orientierung des sozialistischen Romans entspricht eine ausgewogene und systematische Romanstruktur und eine nach Kriterien der Objektivität und Parteilichkeit ausgerichtete Figurenperspektive. D i e einzelnen Handlungsstränge sind meist identisch mit jeweils einem Familienkreis, etwa mit der proletarischen Großfamilie Tremaine, in deren Mittelpunkt das sympathische, kämpferische Mädchen Phyllis Tremaine steht. Parallel dazu, aber in einer noch deutlicher klassenbezogenen Handlungsweise, verläuft die Entwicklung Dick Baxters innerhalb des Aktionskreises im Kohlebergbaugebiet von Lancashire. Hier setzt der Epilog des Romans ein und hat damit eine ideologische Signalwirkung. Beide alternieren jedoch beständig - in insgesamt dreißig Episoden - mit den anderen beiden Handlungskreisen: zum einen mit dem um den Yorkshire Textilfabrikanten John Swinton, dessen Sohn aus einer linksoppositionellen, radikalen Position heraus und aus Rebellion 5*

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gegen den autoritären Vater mit der kommunistischen Arbeiterin Jill Wethers sympathisiert, und zum anderen mit dem des aufgestiegenen, korrupten Gewerkschaftsfunktionärs Will Emery aus dem Gebiet von Tynaside. Die planvoll und komplex gegliederte Erzählstruktur legt so von vornherein die Antagonismen der Klassengesellschaft bloß. Lindsay zeigt die Perspektive auf eine in greifbarer Zukunft emanzipierte Arbeiterklasse, „welche allein nur die Klassenschranken durchbrechen und eine freie und universale Menschheit schaffen kann" 139 . Die Utopie eines von Ausbeutung befreiten arbeitenden Menschen unter Einbeziehung aller fortschrittsorientierten, bürgerlich-demokratischen wie proletarisch-revolutionären Schichten findet sich im wirklichen Bestreben der Kommunisten und Marxisten nach 1945 wieder, gegenüber der allgemeinen Desillusionierung über den „Weifare State" und dem wachsenden Labourreformismus eine breite antikapitalistisch-demokratische Koalition zu errichten und die Gesellschaft sozialistisch umzugestalten. Proletarische Selbstverständigung in der Emanzipation

der Frau

Eine solche humanistische, konstruktive und dialektische Sicht auf die problematische englische Nachkriegsgesellschaft ist von vornherein nicht didaktisch ausgerichtet, etwa indem moralisch-ideologische Wertmaßstäbe bzw. idealisierte Leitbilder dem proletarischen Leser bzw. Zuhörer propagandistisch durch einen allwissenden Erzähler aufgedrängt werden, sondern die politische Reife wird zunehmend durch die Handlungen der Figuren selbst realisiert. Die Leserstrategie ist spürbar in den Text integriert, die dazu anregt, geschichtliche Bewegungen und Veränderungen im Bewußtsein der Menschen wahrzunehmen und sich von der Misere des proletarischen Alltags nicht erdrücken zu lassen. Das Milieu der Londoner Dockerfamilie und ihre Wohnungsnot etwa verweisen in ihrer düsteren Realistik direkt auf die frühen proletarischen Elendsquartiere des 19. Jahrhunderts. Trotzdem bleibt der Erzähler nicht mehr in der traditionellen Depression stecken. Das Versagen des alten, moralisch gebrochenen Tremaine mobilisiert erst recht den Widerstand seiner Tochter Phyllis gegen die arbeiterfeindliche Politik der Behörden; unerschrocken und zunächst spontan revoltiert sie gegen soziales Unrecht und die Gewalt der Herrschenden. Sie besitzt ein enormes Kräftepotential, doch einen für eine in Bildung und Erziehung benachteiligte Arbeiterin erwartungsgemäß zu geringen politischen Durch68

blick, um den Arbeitskampf erfolgreich führen zu können. Lindsay mythisiert diesen Kampf nie, sondern zeigt gerade die Rückschläge und Enttäuschungen. Lindsay geht stark psychologisierend vor - von der Welt der inneren Konflikte und individuellen Erfahrung des Menschen hin zur äußeren Welt der sozialen Kämpfe, und zwischen beiden Sphären entsteht eine dialektische Wechselwirkung. In einem Akt naiver subjektiver Selbstfindung und Gefühlsanalyse gelangt Phyl über tiefere Einblicke in ihr eigenes Ich und damit in ihre realen sozialen Wirkungsmöglichkeiten zu einer wahren politischen Standortbestimmung in ihrem sozialen Umfeld (vgl. inneren Monolog der Heldin in BS, 23-24). Während ihr Vater resigniert: „Ich geb's auf, ich habe mein möglichstes versucht, aber ich bin geschlagen", gewinnt sie immer mehr an K r a f t : „Was auch immer geschieht, ich werde mich nie unterkriegen lassen. Niel" (BS, 182) Phyl ist höchst lebendig und wirklichkeitsnah dadurch, daß sie in eine vielschichtige Realität placiert ist: einmal in die Hoffnungslosigkeit der proletarischen Misere und ausgesetzt auch dem erwerbstüchtigen Spießertum des kleinbürgerlichen Trödlermarktes, zum anderen in die Welt der Träume von einem besseren Leben und in die des realen, von Menschen ihres Schlages organisierten Widerstands gegen Gewalt und politische Entmündigung. Indem sie diese Sphären eines geistigideologischen Reife- und Lernprozesses durchschreitet, stärkt sie ihr Selbstvertrauen und darauf ihre Entschlossenheit zum Kampf gegen soziales Elend und Ausbeutung. Ihr Weg dorthin verläuft nicht geradlinig, und die sie prägende gesellschaftliche Opposition ist aus ganz unterschiedlichen Quellen und Strömungen gespeist wie etwa pazifistischen, religiös-sektiererischen, anarchistischen, bürgerlich-intellektuellen bis hin zu marxistisch-revolutionären. Lindsay gestaltet das Werden eines revolutionären Bewußtseins als einen widerspruchsvollen Prozeß, der nie konfliktlos verlaufen kann und - besonders in Lindsays späteren Romanen „des britischen Weges" - immer häufiger als Verlust an menschlicher Integrität und Identität zu Buche schlägt. Phyllis wird schließlich zu einer Revolutionärin mit echten Führungsqualitäten, mit tiefer proletarischer Sensibilität und natürlicher Menschlichkeit. Sie ist die eigentliche Heldin des Romans nicht als eine heroisierte Figur oder Emanze, sondern als Repräsentantin für die Masse des im Aufbruch befindlichen arbeitenden Menschen. Diese soziale, ideologische, moralische, geistig-ästhetische Kom-

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plexität im Verhältnis zwischen Erzähler und Figur scheint immer dann auf, wenn im Schnittpunkt zwischen innerer und äußerer Welt des Helden das subjektive Erleben und instinktive Erfahren und die utopische Vorstellung von einer befreiten Menschheit mit dert realen Bedingungen von Ausbeutung und sozialem Elend kollidieren: „ . . . der krasse Gegensatz zwischen den Erniedrigungen des heutigen Tages und dem Glauben an Freiheit, Glück, Stolz und Kraft, der sie damals durchflutet hatte, setzte sie in Verwirrung. Es schien keine Berührungspunkte zwischen diesen zwei Welten zu geben, dieser Welt des hoffnungslosen Elends und der Entwürdigung - und jener des gemeinsamen Singens und des gemeinsamen Entschlusses, die Welt zu verändern. Hier, in diesem elenden Zimmer, war das Geraunze ihres Vaters die alles beherrschende Stimme, und was er sagte, schien unwiderlegbar; damals auf dem Marsch und während der festlichen Stimmung im Park hatte sie das Gefühl gehabt, daß es die einfachste Sache der W e l t sei, alles zu verändern, all jenen Dingen, die im Gejammer ihres Vaters mitschwangen, ein Ende zu bereiten." (BS, 180-181) Erst im Engagement in der politischen Bewegung gewinnt Phyl Distanz zur häuslichen Enge, wird in ihr das Gefühl von der Veränderbarkeit der Welt verstärkt. Erst die Einsicht in ihre eigene emotionale Verfassung und seelische Befindlichkeit führt zu politischen Erkenntnissen, schafft die Gelegenheit, „die Erfahrungen des alltäglichen Lebens und das theoretische Begreifen der größeren, determinierenden gesellschaftlichen Kräfte in einen Zusammenhang zu bringen" 140 . Aus der Perspektive des Erzählers gelangt die Heldin zur Erfahrung des Widerspruchs und der Wechselwirkung zwischen der Sehnsucht nach einer veränderten Welt und den tristen realen Lebensverhältnissen, zwischen dem Erkennen objektiver gesellschaftlicher Zusammenhänge und den realen Möglichkeiten zur Veränderung durch eigene Aktivität. Lindsay läßt in seinen Romanen ständig die Sehnsucht des Menschen nach einer von Ausbeutung und Antagonismen befreiten Gesellschaft spüren oder, wie Jeremy Hawthorn sagt, „die Notwendigkeit der Überwindung menschlichen Zwiespalts" und „den menschlichen Drang nach Einigkeit" („human drive towards unity") Dieser Anspruch der Figuren auf Harmonie und Glück erscheint jedoch nie losgelöst von ihrem Willen zum Kämpfen. Gegenüber den ersten spontanen Protesten der „squatters" (Sitzstreikende) gegen soziales Unrecht zu Beginn der Romanhandlung werden die großen 70

Hafenarbeiterstreiks von 1946/47 am Ende zum Prüfstein ihres Handelns in der großen Welt nationaler Klassenkämpfe: „Auf dem gesamten Dockgelände war die Arbeit eingestellt; und diese Stillegung der Arbeit auf den Schiffen und in den Lagerräumen erschien Phyl als gewaltiger Ausdruck der Macht, die den Dockern, den Arbeitern innewohnt. Das war etwas weitaus Bedeutungsvolleres als irgendein Hotelstreik, der einigen reichen Leuten Schwierigkeiten bereitete. Und es schien, als hätte sie auf diesen Augenblick gewartet, als hätte sie gewußt, daß er kommen würde. Wohin der Streik führen würde, davon hatte sie freilich keine Vorstellung, aber sie fühlte, daß es etwas Gewaltiges sein müsse." (BS, 532) Lindsay motiviert den kämpferischen Impetus dieser Figuren von innen heraus, aus der Emotionalität und der gereiften proletarischen Sensibilität. Die Motive ihres Handelns werden weitgehend nicht doktrinär von außen durch die objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten determiniert, sondern aus den individuellen Möglichkeiten der Figuren selbst entwickelt. Der Erzähler konzentriert sich auf ihr Gefühl. Diese erzählerische Methode wird freilich nicht durchgehalten. Phyllis' Entwicklung von der liebenswerten, mitfühlenden Arbeiterin zur selbstbewußten Mitstreiterin und Vorreiterin revolutionärer Ideen vollzieht sich spontan. Zwischen Erfahrung, Engagement und Erkenntnis dieser weiblichen Hauptfigur auf der politischen Bühne der Londoner Werftarbeiter bleibt nur ein schmaler Raum, in dem ihre ursprüngliche Fülle moralischer und emotionaler Haltungen wieder schrumpft („sie fühlte sich beinahe als ein lebendiger Teil der Docks", BS, 348), und unvermittelt geschieht die revolutionäre Wandlung, wenn Phyl zum politischen Sprachrohr des Autors avanciert, indem sie der Romanwirklichkeit vorauseilt und ein visionäres Bild einer von Ausbeutung befreiten und machtausübenden Arbeiterklasse antizipiert: „Phyl hatte den Eindruck, die Hafenarbeiter seien eine eigene Klasse, eine eigene Nation, ein eigenes Volk. Die Docks waren ihre Heimat; die von einem Feind erobert worden war; und die Hafenpolizei war das äußerliche Zeichen der feindlichen Besetzung. . . . niemand konnte sich die Hafenarbeiter selbst erobert vorstellen. Ihnen gehörten die Docks; aber nur in den Augenblicken des Streiks, wenn sie die Docks verließen, drückten sie direkt ihre Macht aus. Eines Tages, das fühlte sie, würden sie ihre Macht i n n e r h a l b der Docks zum Ausdruck bringen. Und dann . . . " (BS, 611-612) Phyls emotionales Verständnis sozialer Konflikte - Wörter des 71

Gefühls und des subjektiven Erlebens und Erträumens bestimmen die Struktur ihrer Rede, und „ihr wachsendes Klassenbewußtsein bleibt hauptsächlich auf der Ebene der Intuition"14'-' - stellt eine subjektive, einfühlsame Annäherung an eine objektive Erkenntnis der Geschichte und der geschichtlichen Möglichkeiten des Proletariats dar. Der Autor hat das Moment des kämpferischen Elans in Phyllis - bedingt durch die Abschwächung revolutionärer Bewegungen in den fünfziger Jahren - in den folgenden Romanen des British Way wieder in die Privatsphäre zurückgenommen. Nach der Heirat mit dem klassenbewußten Docker versinkt ihre Begeisterung in den stickigen, entpolitisierten Alltäglichkeiten eines erdrückenden Ehelebens mit typisch kleinbürgerlichen Klischees, auch wenn sie sich am Ende von Rising Tide wieder spontan zur aktiven Unterstützung der streikenden Docker entschließt. Im Gegensatz zu seinen Frauengestalten in den historischen Romanen macht der Autor jene in Betrayed Spring zu emanzipierten Hauptfiguren, die selbstbewußt und entschlossen über ihr Leben verfügen, das Verhalten ihrer Mitmenschen wesentlich prägen. Abgesehen von unbewältigten Problemen der ästhetisch-strukturellen Gestaltung formaler Figurenkonstellation und Handlungsmotivation überwindet der sozialistische Autor bürgerliche Rollenschemata, indem er seine weiblichen Figuren aktiv am Romangeschehen teilhaben und sich sowohl in der ihr traditionell zugedachten häuslich-familiären Sphäre als auch in der politischen Arena bewähren läßt. Diese Komplexität von sozialem Bewußtsein und individueller Lebensweise und deren unabdingbare Wechselbeziehung wird noch klarer aus der komplementären Perspektive der Arbeiterin Jill Wethers, indem sie die Maximen ihrer Partei auch konsequent auf ihr Privatleben und ihre Umwelt bezieht. Vorsichtig korrigiert sie Phyls einseitige und überspitzte Handlungsweise. Ihr Verhalten ist schon differenzierter angelegt und läßt in ihrer Abstraktion die theoretischen Debatten der Marxisten in jener Zeit durchblicken. Jill Wethers zeigt das Bemühen des Autors zu beweisen, daß erforderliche kämpferische Härte und klassenmäßige Prinzipientreue ni'cht im Widerspruch stehen müssen zu ihrem tiefen Mitgefühl und ihrer solidarischen Hilfsbereitschaft gegenüber den Freunden und Kollegen. Ihre Entscheidung, keine Bindung mit dem Fabrikbesitzerssohn Kit Swinton einzugehen, entspringt der Einsicht, daß der Kampf zwischen den Klassen auch vor den Beziehungen zwischen Mann und Frau nicht halt macht. 72

Im Handlungsraum von Lancashire vollzieht sich eine ungebrochene Entwicklung des Helden zu einer von bürgerlichen Zwängen emanzipierten, sozialistischen Existenz. Der aus dem Kolonialkrieg im fernöstlichen Malaya zurückgekehrte Bergarbeiter Dick Baxter gerät in die harte Wirklichkeit des britischen „Wohlfahrtsstaats" und muß sofort klare persönliche und politische Entscheidungen treffen. Er entscheidet sich trotz günstiger Möglichkeiten eines sozialen „Aufstiegs" innerhalb einer immer renommiersüchtigeren bürgerlichen Welt für die Arbeit in der Grube unter Tage. Die manuelle Tätigkeit wird für ihn zu einem wesentlichen Moment persönlicher Bewährung im Kampf um ein konsequentes Nationalisierungsprogramm, und die radikale Enteignung der Kapitalisten betrachtet er als Prüfstein einer zukünftigen sozialistischen Ordnung. Das utopische Moment der Arbeit liegt hier darin, daß der Erzähler die persönliche Produktionsleistung in Erwartung scheinbarer Aussichten auf den Sozialismus zum bestimmenden Maßstab und Motor des gesellschaftlichen Fortschritts und sozialen Wohlstands macht; und umgekehrt, daß das politische und ökonomische Fortschreiten der Gesellschaft die Aktivität des einzelnen zum Nutzen aller stimuliert. Es bewegt seine klare kommunistische Entscheidung gegen das korrumpierende Angebot einer bürgerlichen Karriere, gegen „den Weg nach oben", den der Erzähler entschieden als einen moralischen Weg nach unten bewertet. Seine Entscheidung ist aber auch ein stolzes Bekenntnis zum proletarischen Erbe seines Vaters, auch wenn er dessen Enthusiasmus über scheinbar erreichte „große Veränderungen" nicht teilen kann. Jener erkennt nämlich nicht, daß die alten Grubenherren souverän in der neu geschaffenen Institution des National Coal Board repräsentiert und damit keineswegs enteignet sind. Die Klassenkampferfahrungen des alten Baxter von 1926 und die jüngsten Erlebnisse seines Sohnes Dick im blutigen Kolonialkrieg werden durch den Erzähler beständig an den Realitäten von Nachkriegsengland gemessen. So verschmelzen die verschiedenen Zeit- und Erfahrungsebenen von 1926 bis 1946/47 bzw. bis 1952 zu einem aussagekräftigen, spannungsreichen Konglomerat geschichtlich-sozialer Einsichten und Haltungen. Gemessen an den historischen Erfahrungen von 1926 und den Erwartungen der Arbeiter nach dem zweiten Weltkrieg erscheinen die Resultate ihrer aufopferungsvollen Anstrengungen in den fünfziger Jahren als völlig enttäuschend. Sie sind letztlich um die Früchte ihrer Arbeit gebracht. Dick Baxters Kampfgefährte arti73

kuliert die Resignation des Erzählers, daß die Entwicklung einen „fundamentalen Verrat am englischen Volk" darstellt. Dieser Verrat durch Opportunismus und Restauration ist der thematische Ausgangspunkt des Romans, und die Metapher vom „veruntreuten Frühling" entlarvt von vornherein die ideologischen Täuschungsmanöver der Bourgeoisie, die die Hoffnungen der Arbeiter auf eine von Ausbeutung freie Gesellschaft zerstört hat. Dies führt jedoch nicht zu einem Verlust des Glaubens an eine gerechtere Welt. Der Autor macht sich zum Sprecher aller demokratisch oder potentiell progressiv eingestellten Schichten und sucht deren Abweichungen und Verirrungen aus der Distanz zu erklären. Der angestrebte menschheitliche Anspruch liegt jedoch schon jenseits der vorgefundenen sozialen Wirklichkeit und des politischen Herrschaftssystems. Lindsay stellt deshalb der desillusionierenden Realität des Klassenstaates die emanzipatorischen Aktivitäten seiner Figuren entgegen, die nicht im Sinne, und wenn möglich auch nicht in den Zwängen, des Systems handeln und von daher das Bild einer realisierbaren sozialistischen Gesellschaft in sich tragen.

Bürgerlicher Zwiespalt und ,yerrat" Das zentrale Thema des Romans bilden die vielschichtigen Formen und Methoden individueller Entscheidungsfindung. Für die einzelnen Figuren des Romans wird der „Verrat" der Bourgeoisie an den sozialen Errungenschaften eines „veruntreuten Frühlings" zum Testfall persönlicher politischer Bewährung. Die schematische Konstruktion von Figuren- und Handlungsaufbau im Zusammenhang einer politisch strukturierten Funktionalität des Textes begrenzt den Aktionsradius des einzelnen, und die vier Handlungsräume korrespondieren nur gelegentlich miteinander. So etwa ist der Verrat des emporgekommenen Gewerkschaftsfunktionärs Will Emery (Handlungsort „Tyneside") an seinen ehemaligen Kollegen durch die äußeren geschichtlichen Zwänge zum opportunistischen Verhalten bereits vorstrukturiert. Von vornherein darauf bedacht, äußerliche Respektabilität und soziale Anerkennung in der ökonomischen Führungsschicht zu erlangen, zugleich mit der Illusion behaftet, dann als „Ebenbürtiger" behandelt zu werden, verliert er die alten sozialen Bindungen. In der Konfrontation mit seinen ehemaligen Kollegen wird das ganze Dilemma der opportunistischen Gewerkschaftsführer aufgezeigt. In dem zwielichtigen Milieu dieses Handlungskreises 74

scheinen die Verluste der Arbeiterbewegung besonders kraß auf: die verräterische Politik der rechten Labourführung und ihrer korrumpierten Helfer in Teilen der Gewerkschaft, das Streben kleinbürgerlicher Schichten nach dem Wohlwollen der Herrschenden und nach Statussymbolen, ihre Resignation und geistige Perspektivlosigkeit und ihr moralischer Verfall. Problematischer und widersprüchlicher wirkt die Lebenssphäre des Unternehmersohns Kit Swinton (Handlungskreis „Yorkshire") angelegt als Komplementärperspektive zur Welt der Arbeiterklasse und so das Gesellschaftspanorama aus der Sicht der Kapitalistenklasse vervollständigend. Der fortschrittlich eingestellte bürgerliche Intellektuelle steht in Opposition zur harten Unternehmerpolitik seines Vaters und tritt offen gegen die schlechten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten auf. Doch als zukünftiger Fabrikbesitzer sind seinen Sympathien für die Arbeiter Grenzen gesetzt. Kits Lebensweg wird zum Dreh- und Angelpunkt des Romanzyklus The British Way. So werden die multiperspektivische Gesellschaftssicht und ein Teil schriftstellerischer Repräsentanz aufgegeben und mithin der Anspruch des Autors und seines Erzählers, Sprecher der Arbeiterklasse zu sein. Dies ist die Zeit, als die Desillusionierung über einen angeblich allen Klassen gerecht werdenden „Wohlfahrtsstaat" zunimmt und die linksoppositionelle „Kampagne für nukleare Abrüstung" auf weite Teile der Arbeiterbewegung einen stimulierenden Einfluß ausübt; The Moment of Choice etwa setzt deutliche Zeichen dieser anwachsenden Friedensbewegung. Der Konflikt wird in Kit Swinton selbst ausgelöst - zwischen den auf dem College angeeigneten demokratischen, sozialistischen Gesellschaftstheorien und den seine zukünftige berufliche Laufbahn bestimmenden rationalen Prinzipien kapitalistischen Managements. Seine Haltung zum Sozialismus nach „britischem Weg" ist charakteristisch für die „menschliche Gespaltenheit" und Zerrissenheit bürgerlicher Intellektueller in den fünfziger Jahren: „Ich habe gerade gesagt, daß ich Sozialist bin, und das ist wahr. Jedoch nicht, weil mir der Sozialismus gefällt, sondern weil ich alle anderen Alternativen noch mehr hasse." (BS, 207) Kits Rebellion ist stark subjektiv motiviert - als Opposition gegen seinen herrschsüchtigen, in veralteten ökonomischen Kategorien denkenden Vater. Er ist ein Opfer der „Welfare-State"-Ideologie, wenn er die Illusion hegt, vermittels der neueingerichteten Institutionen des Produktionsmanagements („production committee") gemeinsam mit den Arbeitern grundlegende Veränderungen in deren Arbeits75

bedingungen herbeiführen zu können. Der ideologische Zwiespalt seiner Existenz gipfelt dann in der paradoxen Frage: „Wie kann ich Fabrikbesitzer bleiben und trotzdem für eine neue Gesellschaft arbeiten." Sein erzwungener Weg zurück in die eigene Klasse mit der ihm dort zugeordneten ökonomischen Führungsposition verläuft nicht ohne moralische Skrupel. Ausgerechnet die von ihm geliebte Arbeiterin und Kommunistin JíII Wethers muß er wegen ihrer Streikaktivitäten entlassen. Der Zwiespalt zwischen den ursprünglichen Idealen der Weltverbesserung und der Sehnsucht nach „menschlicher Einigkeit" (Hawthorn) und ihrer Realisierung bestimmt immer stärker auch Kits Privatleben. In The Moment of Cboice verweigert der früher so Tolerante seiner Frau Jane das Recht der Emanzipation und der Selbstverwirklichung außerhalb von Familie und Hausarbeit in dem für sie immer wichtiger werdenden Engagement in der Friedensbewegung. Bereits im ersten Roman dieser Folge des British Way (zu der insgesamt neun Romane gehören) herrschen Resignation und Trauer über den „veruntreuten Frühling" einer schon als Silberstreifen am Horizont gesehenen kommunistischen Gesellschaft. Danach verengt sich die soziale Perspektive des Autors, verkleinert sich der Anspruch universaler Repräsentation: vom Gesellschaftspanorama bis zur Konzentration auf individuelle Einsichten und „den Augenblick der Entscheidung" im Leben des bürgerlichen Intellektuellen, der eher den Verlust an menschlicher Substanz und an Entscheidungsmöglichkeiten ankündigt. Doch die Utopie einer veränderten Ordnung bricht sich am Schluß des Romans noch einmal Bahn, in der visionären Ahnung eines harmonischen Zeitalters: „ein Gefühl des Vertrauens, der sich öffnenden Horizonte, der großen Bewegungen und entscheidenden Schlachten. Ein Gefühl der Geschichte, Britanniens . . . " Parteilichkeit

Margot Heinemann: durch intellektuellen Erkenntnisprozeß

Aus der Perspektive der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre sehen marxistische und linksintellektuelle Schriftsteller die britische Arbeiterbewegung seit dem zweiten Weltkrieg in einer krisenhaften Entwicklung. Wo jene in den Sog des kalten Krieges und revisionistischer Theorien gerät, schwächt sich auch ihre antimonopolistische Stoßkraft ab. Die Hoffnungen auf eine sozialistische Gesellschafts76

bedingungen herbeiführen zu können. Der ideologische Zwiespalt seiner Existenz gipfelt dann in der paradoxen Frage: „Wie kann ich Fabrikbesitzer bleiben und trotzdem für eine neue Gesellschaft arbeiten." Sein erzwungener Weg zurück in die eigene Klasse mit der ihm dort zugeordneten ökonomischen Führungsposition verläuft nicht ohne moralische Skrupel. Ausgerechnet die von ihm geliebte Arbeiterin und Kommunistin JíII Wethers muß er wegen ihrer Streikaktivitäten entlassen. Der Zwiespalt zwischen den ursprünglichen Idealen der Weltverbesserung und der Sehnsucht nach „menschlicher Einigkeit" (Hawthorn) und ihrer Realisierung bestimmt immer stärker auch Kits Privatleben. In The Moment of Cboice verweigert der früher so Tolerante seiner Frau Jane das Recht der Emanzipation und der Selbstverwirklichung außerhalb von Familie und Hausarbeit in dem für sie immer wichtiger werdenden Engagement in der Friedensbewegung. Bereits im ersten Roman dieser Folge des British Way (zu der insgesamt neun Romane gehören) herrschen Resignation und Trauer über den „veruntreuten Frühling" einer schon als Silberstreifen am Horizont gesehenen kommunistischen Gesellschaft. Danach verengt sich die soziale Perspektive des Autors, verkleinert sich der Anspruch universaler Repräsentation: vom Gesellschaftspanorama bis zur Konzentration auf individuelle Einsichten und „den Augenblick der Entscheidung" im Leben des bürgerlichen Intellektuellen, der eher den Verlust an menschlicher Substanz und an Entscheidungsmöglichkeiten ankündigt. Doch die Utopie einer veränderten Ordnung bricht sich am Schluß des Romans noch einmal Bahn, in der visionären Ahnung eines harmonischen Zeitalters: „ein Gefühl des Vertrauens, der sich öffnenden Horizonte, der großen Bewegungen und entscheidenden Schlachten. Ein Gefühl der Geschichte, Britanniens . . . " Parteilichkeit

Margot Heinemann: durch intellektuellen Erkenntnisprozeß

Aus der Perspektive der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre sehen marxistische und linksintellektuelle Schriftsteller die britische Arbeiterbewegung seit dem zweiten Weltkrieg in einer krisenhaften Entwicklung. Wo jene in den Sog des kalten Krieges und revisionistischer Theorien gerät, schwächt sich auch ihre antimonopolistische Stoßkraft ab. Die Hoffnungen auf eine sozialistische Gesellschafts76

Ordnung nehmen daher vielfach utopische Züge an, wenn auch der gesamtgesellschaftliche Anspruch, für die Interessen mehrerer Klassen und Schichten zu sprechen, nicht aufgegeben wird. Jack Lindsay wagte in seinem Roman Betrayed Spring das Experiment eines umfassenden Gesellschaftspanoramas. Margot Heinemann ging in ihrem Roman The Adventurers (1959; Die Abenteurer) 143 unmittelbar vom proletarischen Alltagsleben und den sozialen Auseinandersetzungen im kommunalen Gemeinwesen aus und öffnete die Perspektive auf die gesellschaftliche Totale von einem einzigen Handlungsort : einem fiktiven mittelwalisischen Bergarbeiterdorf. Dieser Roman ist nur im Zusammenhang der politisch-ideologischen Debatten der britischen Kommunisten zur geschichtlichen Position und Aufgabe der Arbeiterklasse im Nachkriegsengland zu verstehen. Lindsay wies anhand konkreter ökonomischer Vorgänge die zunehmende Funktionsuntüchtigkeit des „Welfare-State"-Kapitalismus nach. Heinemann suchte aus näherer Distanz, und aus der intimen Kenntnis und ihrem langfristigen Engagement in der Montanindustrie, nach den historischen Ursachen der sozialen Demontage und der politischen Desillusionierung in den fünfziger Jahren und ging den Gründen nach, die in ihrer Einschätzung zu einer Entfremdung zwischen der CPGB und Teilen der Arbeiterbewegung geführt haben. Neben den internen Schwächen politischer Struktur und Organisation in Parteiführung und Gewerkschaften waren es vor allem die imperialistische Demagogie gegen Marxismus und Sozialismus in den Massenmedien und die systematische Verbreitung revisionistischer Theorien. Der Kampf der Grubenarbeiter in Nachkriegsengland gegen die Schließung der Kohlengruben in Wales ist mit dem Kampf ihrer Väter in den Dreißigern eng verbunden, und er gewann Mitte der achtziger Jahre während des einjährigen Bergarbeiterstreiks wieder höchste Aktualität. Die engagierte Autorin wollte ein lebendiges Bild dieses Kampfes in allen seinen sozialen und ideologischen Widersprüchen und Differenzierungen geben und damit auch ein Zeichen setzen für die Entwicklung einer eigenständigen sozialistischen englischen Literatur. Wie sie mir gegenüber in einem längeren Gespräch Anfang Mai 1984 äußerte, fühlt sie sich auch heute noch fest in der Kontinuität jener revolutionären Arbeiterbewegung, und so wie deren damalige große Erfolge wichtige Meilensteine setzten für die Fortsetzung des Kampfes bis heute, so betrachtet sie auch ihre vergangenen literarischen Figuren als höchst aktuell und ebenso mit der heutigen 77

Arbeiterbewegung aufs engste verbunden: „They are still in it." („Sie gehören immer noch zu dieser Bewegung.") Sie identifiziert sich mit diesen Figuren auch in ihren Schwächen und Irrtümern. Ein lebendiges künstlerisches Abbild erfordere keine Idealisierung der Arbeiterklasse und keinen idealisierten positiven Helden, keine bloßen Träger kollektiver politischer Haltungen, sondern - wie sie in ihrem theoretischen Beitrag aus jenen Jahren zum Ausdruck brachte - psychologisch überzeugend fundierte, aus „individueller Erfahrung"144 gewonnene, lebendige und charakterlich vielschichtige Figuren. Zwischen ihrem privaten Leben und ihren politischen Aktivitäten besteht ein dialektisches Wechselverhältnis. In diesem Sinne ist dieses Buch mehr als ein Parteiroman. Die seit 1977 in Cambridge lehrende Literaturhistorikerin (davor ab 1965 an der University of London), die sich mit den revolutionären Traditionen des englischen Volkes - etwa des 17. Jahrhunderts bzw. der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts - sowie mit aktuellen sozialen Fragen wie Bildung und Erziehung beschäftigt, begann ihre Laufbahn mit Forschungen zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen im englischen Kohlebergbau. Die in den vierziger Jahren im Auftrage des Labour Research Department von ihr (1937-1949) erstellten Untersuchungen gingen den Ursachen nach, die zu dem dramatischen Rückgang der Kohleförderung während des zweiten Weltkrieges und der andauernden Verknappung von Kohle danach geführt haben und machten vor allem die uneffektive „Welfare-State"-ökonomie dafür verantwortlich. Die Kohleförderung war das Herzstück der britischen Industrie, ihre Steigerung war eine Grundvoraussetzung für die schrittweise Überwindung der katastrophalen wirtschaftlichen Lage und für den angestrebten Wohlstand des ganzen Volkes. Weil sich die Kommunistische Partei eben der Sache des ganzen Volkes annahm, standen gerade Kommunisten in den vordersten Reihen im Kampf um die Steigerung des Wirtschaftspotentials, dabei die dringenden Bedürfnisse der Arbeiter nicht au's den Augen lassend. Gerade Margot Heinemann hatte in einer engagierten Schrift die Erhöhung der Kohleproduktion zu einem nationalen Anliegen gemacht: Coal Must Come First („Kohle ihuß zuerst kommen"). Gleichzeitig enthüllte sie die Ursachen für die miserable Situation in den „depressed mining areas" („den Bergbau-Verelendungsgebieten"). Vor allem der durch niedrige Löhne, Verschlechterung von Wohnverhältnissen und sozialen Dienstleistungen und eine völlig veraltete Abbautechnik bedingte Arbeitskräftemangel - viele Kumpel wanderten ab, bzw. 78

deren Söhne weigerten sich, in die Grube zu steigen - trug wesentlich zur Kohleverknappung bei. Sie wandte sich entschieden gegen die Abschaffung der gerade errungenen Fünf-Tage-Woche (ab 1. 5. 1947) durch den Einfluß des profitgierigen amerikanischen Unternehmertums 145 und wies nach, daß nur eine Verkürzung der Arbeitszeit und die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu einer erhöhten Arbeitsproduktivität führten. Heinemann stand dabei hinter den Forderungen der Bergarbeitergewerkschaft („National Union of Mineworkers"), wenn sie die Wiedereinsetzung von ehemaligen Grubenbesitzern in wichtige Kommadostellen der Wirtschaft anprangerte und eine verstärkte Kontrolle durch die Arbeiter propagierte. Sie forderte die Beteiligung der Arbeiter an den eigentlichen Produktionsentscheidungen - etwa in den dafür eingerichteten „Joint Industrial Councils" und „Joint Production Committees", die zunächst als Ventile für die Verärgerung der Arbeiter von den Unternehmern durchaus geduldet wurden, jedoch oft nicht mehr waren als ein wirkungsloses Gerede über Trivialitäten. Selbst diese wenigen Rechte kamen durch die Tory-Regierungen der fünfziger Jahre zu Fall, das Nationalisierungsprogramm wurde zurückgenommen, die unter gewaltigen Anstrengungen des englischen Volkes forcierte Kohleförderung wurde mit der Perspektive auf Atomkraft, Erdöl, Erdgas gedrosselt. Heinemann knüpft nun direkt an die nationale Forderung „Coal Must Come First" bzw. an die ökonomisch-sozialen Konflikte der vierziger Jahre einschließlich ihrer persönlichen Erfahrungen an, und zwar mit der künstlerisch-politischen Zielstellung, die sozialen Errungenschaften der frühen Nachkriegsjahre zu bewahren und die Kontinuität und die Ungebrochenheit der britischen Arbeiterbewegung fest im Bewußtsein des arbeitenden Volkes zu verankern. Sie sucht die Allgemeingültigkeit und die geschichtliche Repräsentanz jener Kämpfe durch die engagierten Gedanken und Handlungen und durch menschlich verständliche Haltungen der Figuren zu dokumentieren. Die zeitliche Distanz zu den ersten Nachkriegsjahren überbrückt sie durch die ausdrückliche Betonung der Fiktivität des erzählten Geschehens, um für die zeitgenössischen Leser die Aktualität des Romans zu bewahren. Ihre Auffassung von „Erfindung" bzw. ihre „Methode des Umgehens" mit realen gesellschaftlichen Fakten will der Realität nicht ausweichen, sondern will sie um so intensiver zu einer neuen, geschichtliche Prozesse verallgemeinernden Realität verdichten. Die darin vorkommenden „Personen, Dörfer und Kohlen79

felder" vor dem Hintergrund der „realen Industrie" und einer „sehr jungen Zeitperiode" entstammen ihrer eigenen Phantasie, und das „zentralwalisische Kohlefeld" ist auf keiner geologischen Karte zu finden, sondern eher sinnbildlich („more allegorical than real") zu verstehen (vgl. Adv, „Author's Note"). Die dadurch frei werdende Konzentration auf die wirklichen Probleme des Arbeitens, Lebens und Kämpfens der Arbeiter in ihrer geschichtlichen Kontinuität und Aktualität macht die Bedeutung dieses Romans aus: „Die Wahrheit des Buches, gibt es eine, liegt in den Charakteren und ihren Problemen und im allgemeinen gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem sie leben und arbeiten." (Ebenda) Die Handlung setzt ein im Herbst des Kriegsjahres 1943, als das unter den faschistischen Terrorangriffen leidende englische Volk vergeblich auf die Eröffnung einer „zweiten Front" wartete, und schließt ab Ende der fünfziger Jahre mit innerparteilichen Diskussionen der Ortsgruppe über die Enthüllungen auf dem 20. Parteitag der KPdSU (reflektiert aus der Perspektive des Kommunisten Richard). Zentrales Thema des Romans sind die Arbeitskämpfe im südwalisischen Kohlerevier unter den wechselnden geschichtlichen Bedingungen von Krieg, Nachkrieg und verschärfter monopolkapitalistischer Ausbeutung. Die Kohle wird zum Gegenstand des Hauptkonflikts und als ein unabdingbares Mittel des nationalen Existenzerhalts begriffen. Aus der weitgehend intellektuell theoretisierenden Sicht geht es jedoch weniger um die Arbeit als beherrschenden Faktor des Bergarbeiterdaseins, sondern um deren politischen Aspekt des Kampfes für die Verwirklichung unterschiedlicher Interessen zwischen Bourgeoisie und den Produzenten, für die Erhaltung ihres Arbeitsplatzes. Zunächst werden die Arbeiter von der Regierung mobilisiert, um mit höchstem Einsatz die Kohleförderung zu erhökea und somit den Faschismus besiegen und den Wiederaufbau beschleunigen zu helfen. Haben die Arbeiter diese „nationale" historische Aufgabe erfüllt, wird ihre Arbeit nicht mehr gebraucht; sie müssen sich gegen die Schließung der Kohlegruben zur Wehr setzen. Heinemann beleuchtet diese für die Bergleute absurde und unverständliche Entwicklung des britischen Kohlebergbaus mit ihren gravierenden sozialen und politischen Folgen. Der Erzähler reflektiert die ganze historische Spannweite dieses Konflikts: von den Diskussionen zu Beginn des Krieges über dessen wahren Charakter bis zu seinen späteren Nachwirkungen. War der Krieg ein anti-imperialistischer, dann mußte auch zum Kampf gegen 80

die eigene nationale Bourgeoisie aufgerufen und jede Zwangsrekrutierung der Arbeiter für Grube oder Schützengraben mußte mit Streik bzw. offenem Widerstand beantwortet werden; war dieser Krieg ein antifaschistischer, dann wurde der Kampf um Kohle und den Sieg über Hitler zu einem nationalen Anliegen aller Briten. Dieser Sieg über den Hitlerfaschismus war nun doch primär (für die CPGB spätestens 1941) zu einer nationalen Existenzfrage geworden. So läßt der Erzähler den Gewerkschaftsfunktionär Lewis Connor die zu dem Zeitpunkt dringend erforderliche Entscheidung artikulieren: „Ich glaube, dieses Land muß Kohle haben, wenn es sich nicht vom Faschismus von der Landkarte wischen lassen will." (Adv, 25) Dabei sind sich die Arbeiter wohl bewußt, daß sie später wieder um ihre hart erkämpften Rechte gebracht und auf die Straße gesetzt werden können. Eine bemerkenswerte politische Kompetenz und Urteilskraft durchzieht das proletarische Gemeinwesen auf allen Ebenen: von den parteiinternen Kontroversen bis zu den Gesprächen auf der breiten Gewerkschaftsebene und der Masse der Arbeiter. Die Figur Connors repräsentiert jene Kräfte der Arbeiterbewegung, die bei großem inneren Engagement leicht zwischen Illusion und Desillusion, zwischen hohen politischen Erwartungen und Resignation über individuelles Versagen und über zeitweilige Rückschläge schwanken. E r entwirft vor den Arbeitern ein visionäres Sozialismusbild, als ständen sie mit dem nahenden Ende des Krieges bereits kurz vor dem Aufbruch in ein neues Zeitalter: mit herrlichen Arbeitsplätzen in hell illuminierten, gefahrlosen Grubenschächten, mit den „wundervollen neuen Maschinen", die die Bergleute von der schweren Arbeit befreien werden, mit neuen sauberen Städten und Wohnungen. Unter dem Schlachtruf „niemals wieder" sieht er bereits jetzt die proletarische Vorhut in völliger Einheit mit dem ganzen Volk, das damit einen entscheidenden Sieg errungen hätte: „Es ist der Sieg unserer eigenen gewaltigen Bewegung und die Rückkehr unserer eigenen Labour-Regierung, in die wir unsere Hoffnung, unseren Stolz und unser Vertrauen setzen." (Adv, 40) Im Verhalten dieser am Ende durch arbeiterfeindliche journalistische Intrigen unglücklich scheiternden Figur verdeutlicht die Autorin, in welch hohem Maße weite nicht kommunistische Teile der Arbeiterbewegung zu jener Zeit der verleumderischen Propaganda der bürgerlichen Medien ausgesetzt waren, ohne daß diese ihre Hoffnungen aufgaben. Das ganze Umfeld der sozialen Kämpfe wird noch tiefer ausge6

Magister

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leuchtet mit dem Blick auf die Gegenoffensive der Monopolbourgeoisie, reflektiert aus der Perspektive einer intellektuell und politisch stark differenzierten Erzählerinstanz und ihrer geistig-ideologischen Widersprüche. Die Schichten der Intelligenz gewinnen gerade im Mittelteil des Romans eine zentrale Bedeutung. Sicherlich aus den Erfahrungen ihrer eigenen politischen und akademischen Laufbahn wählte die Autorin gerade ein Arbeitercollege mit dem verpflichtenden Namen des Mitbegründers der britischen Arbeiterbewegung Keir Hardie (für das Ruskin College in Oxford) zum Ausgangspunkt der theoretischen Debatten und des ideologischen Kampfes in der weiteren Romanhandlung. Im Zentrum steht die opportunistische Entwicklung des Bergarbeitersohnes Dan Owen, der sich am Schluß zum Handlanger der Bourgeoisie machen läßt und seinen eigenen Freunden in den Rükken fällt. Der individuelle widersprüchliche Weg basiert auf dem tieferliegenden Gesellschaftskonflikt, dem Dan zum Opfer fällt. E r hat das dringende Bedürfnis nach höherer Bildung bis hin zur Universität, was für einen Arbeiterjungen gewöhnlich unerreichbar ist. Sein Konflikt verstärkt sich noch durch die Aufforderung, der zum Sieg über den Faschismus notwendigen Zwangsrekrutierung für die Grube nachzukommen. In den Gesprächen über den wahren „Sinn" des Krieges werden die aufkommenden egoistischen Motive Dans zunächst verschleiert, die Bergleute bringen Verständnis für seine Verweigerung und seinen Bildungsehrgeiz auf und delegieren ihn mit einem Stipendium an das Arbeitercollege, damit er sein Wissen später in den Dienst der Arbeiterbewegung stelle. Dan wird mehr und mehr zum intellektuellen Träumer und Spinner, der seine erworbenen Kenntnisse nur für ganz egozentrische Ziele einsetzt, die vorrangig seiner materiellen Befriedigung und dem sozialen Aufstieg sowie der Loslösung von der Arbeiterklasse dienen. Diese Entwicklung ist vor allem ein Ergebnis der politischen Korruption im höheren Bildungswesen. Nicht etwa zehn oder fünfzehn Jahre schwerster Grubenarbeit und harte Erfahrungen im sozialen Kampf um Arbeiterrechte sind ausreichende Empfehlungen für „Keir Hardie" und die weitere Karriere, sondern - in dieser paradoxen Staffelung: ein proletarischer Vater, einige Jahre Royal Air Force und der Eintritt in die Labour Party! Die bei der R A F und am College erworbenen Eigenschaften sowohl der ideologischen Unterwerfung und der Anpassung an die herrschenden Spielregeln als auch des intellektuellen Elitedenkens und der Verachtung gegenüber den sozial 82

niedriger Stehenden sind geradezu Vorbedingungen für den Erfolg in der bürgerlichen Welt. Owens Karriere als Journalist ist immer mehr geprägt von Skrupellosigkeit und Zynismus bis hin zum Haß auf seine früheren Freunde. Die Loslösung von seinem Dorf führt zum Verrat an der Sache der Streikenden, zum Mißbrauch seiner Bildung für schmutzige Geschäfte: „Politik war nichts als ein Wettlauf zwischen Bestechung und Demagogie." (Adv, 361) Hier stehen Politik und Moral total im Widerstreit. Ethische Normen bedeuten ihm nichts mehr. Die Kritik von selten seines Freundes Tom Rhys Evans ist stark moralisierend : „Schiebe nicht die Schuld dafür auf deinen Beruf als Journalist. Du bist ein dreckiger kleiner Judas." (Adv, 345) Als geistige Quelle dieses Opportunismus erscheint paradoxerweise gerade das als Kaderschmiede der Arbeiterklasse geltende College „Keir Hardie". Dieses wird durch amerikanischen Einfluß total korrumpiert und von seiner bislang pro-sozialistischen und liberalen Orientierung in Ökonomie, Ideologie, Geschichte und Kultur umgewandelt in einen Hort reaktionärer geistesgeschichtlicher, revisionistischer, pseudomarxistischer bis offen antikommunistischer Theorien, die die jungen Arbeiterstudenten aus ihrem Lebensmilieu herausreißen und sie ihrem eigentlichen sozialen und politischen Auftrag entfremden. Die für die Ausbildung verantwortlichen Gewerkschaftsfunktionäre werden aus der Universitätsleitung gedrängt und durch ein reaktionäres Gremium ersetzt Die marxistischen Kräfte im College sind immer mehr einem Sumpf konservativer bzw. scheinfortschrittlicher Gelehrsamkeit und einer Welt der Korruption und der antikommunistischen Propaganda ausgeliefert. Für den engagierten Sozialisten Richard bedeutet die politische Praxis im walisischen Kohlerevier den Kampf an zwei Fronten: gegen die Monopolbourgeoisie und gegen die parteiinternen Formen des Bürokratismus und der dogmatischen Überspitzungen. Hier vor Ort und an der Basis des Klassenkampfes fühlt sich Richard als „aktiver Teil des Gemeinwesens und nicht mehr länger nur als Student, als Beobachter und Anhänger" (Adv, 251). Die Parteiarbeit war bislang von Erfolglosigkeit geprägt, und auch Richard gelingt nicht der Aufbau einer arbeitsfähigen dorfeigenen Zelle. Doch er ist nicht entmutigt und findet bald ein lohnendes Betätigungsfeld im Kampf um die Rechte der Bergarbeiter von Abergoch. Er organisiert kleine Diskussionsabende, die ihm die Gelegenheit zur Verbreitung marxistischer Ideen geben, und erringt sich die Achtung 6*

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der Bergleute wegen seines mutigen Kampfes gegen die Schließung der Zechen. Doch in der Zentrale der CPGB beurteilt man seine politisch-ideologische Arbeit nicht nach den praktischen Erfolgen im Klassenkampf, sondern nach rein formalen Kriterien - etwa der Anzahl der neu geworbenen Mitglieder, der neuen regelmäßigen Leser des Daily Worker, der Existenz einer selbständigen Parteizelle bzw. des direkten Einflusses der Kommunistischen Partei auf die Arbeiterschaft, unabhängig von deren politischer Bewußtseinsbildung und wirklichen Erfolgen im Arbeitskampf. Über diese sektiererischen Querelen und Fehleinschätzungen versucht der Erzähler, Aufschluß zu geben über die konkreten Ursachen für das politische Versagen einzelner und die zeitweiligen Komplikationen der CPGB im Verhältnis zu der Masse der Arbeitenden. Und aus der zum Teil intellektuellen Perspektive des Erzählers erwächst der Figur Richards nur zögernd eine alternative Kraft, kann er seine geistig-soziale Distanz zu den Arbeitern nur schrittweise überwinden und bleibt weiterhin anfällig gegenüber politischen Rückschlägen. Daher seine Isoliertheit, die ihm den Vorwurf eines „Mittelklasse-Intellektuellen" einbringt und ihn seiner Partei, den Kumpeln; seiner Arbeits- und Privatsphäre entfremdet. Ein immer quälenderer Pessimismus durchdringt ihn und mindert seinen Kampfeswillen. Zeitweilig gewinnt in ihm eine latent intellektualistische Seite des enttäuschten „fellow traveller" der fünfziger Jahre an Übergewicht: „Ich wollte etwas, was mir die Bewegung nicht geben kann. Ich wollte Absolution - nicht von irgendwelcher Schuld an dem Hunger, dem Schmutz und der Grausamkeit in der Welt. Ich wollte den Tatsachen der dreckigen Schlammhaufen und der Bilder von Hiroshima in die Augen sehen und aufrichtig sagen: nun, i c h bin daran wenigstens nicht beteiligt, i c h tue alles, um dies zu beenden. Es wird vorübergehen." (Adv, 386) Langsam begreift er diese Haltung selbst als eine moralische Sackgasse, die zu politischer Unverbindlichkeit führt, wenn er sich nicht dem Kardinalproblem der neuen Zeit stellt: „Ein neues Leben mußte kommen und würde auch kommen, eines, das den Krieg bannen würde." (Adv, 386) Richard gerät in den Sog der zahlreichen linksoppositionellen Gruppen, die damals in den Protest der großen politischen Sammelbewegung der „Campaigne for Nuclear Disarmament" mündeten. Dies ist zumindest e i n Weg aus der schon fortgeschrittenen sozialen Isolierung des Intellektuellen und Kommunisten Richard, der zur Überwindung seiner Resignation und zur Wiederannäherung an die Welt der arbeitenden Menschen 84

führen muß. Am Ende steht seine wichtigste Erkenntnis: „Des Menschen Hände und Verstand, nicht das Ticken der Uhr, veränderten das Angesicht der Welt." (Adv, 386). Am Schluß betrachtet der Erzähler die proletarische Wirklichkeit wieder ganz aus der Perspektive der Arbeiterklasse. Das vorbildhafte Verhalten der jungen Arbeiterfigur Tommy Rhys Evans am Anfang und am Ausgang bildet die Klammer des Romans. Der dazwischen ständig wechselnde Erzählwinkel, der nach Angabe der Autorin beinahe für alle Hauptfiguren (auch für Dan) relevant wird, erzeugt eine Vielfalt gesellschaftlicher Repräsentanz. Tommys kämpferische Haltung ist getragen von der Masse der Arbeitenden, denen er sich einzig zugehörig fühlt. Aus politischer Verantwortlichkeit verurteilt er kompromißlos den letztlich verräterischen Weg Dan Owens. E r bekennt sich trotz Aufstiegsmöglichkeit und ohne Anspruch auf besondere soziale Anerkennung zur Solidarität mit den Arbeitern. Daher auch sein Mißtrauen gegen „jene Halbwelt der Beamten, der nichtwirklichen Welt der Zeichen und Symbole, der Rangordnungen und Hierarchien, ausgetragen auf den knorrigen Rücken der Bergleute." (Adv, 390) Aus einem tiefverwurzelten Mißtrauen gegen das Establishment, das eine gegenüber der proletarischen Welt fremde Ordnung repräsentiert, weigert er sich, einen höheren Gewerkschaftsposten anzunehmen und Grube und Dorf zu verlassen: „Ich kann am besten unter meinen Kameraden in der Grube kämpfen." (Adv, 391) Diese ursolidarische Haltung Tommys steht für das ehrliche, uneigennützige Bekenntnis einer großen Masse klassenbewußter Arbeiter zur produktiven, Werte schaffenden Arbeit, und es ist gerade diese Haltung, mit der die Grubenarbeiter den Kampf gegen die Schließung der Kohlegrube gewinnen. Der einjährige Bergarbeiterstreik von 1984/85 in Großbritannien beweist, daß die Problematik des Romans weiterhin hochaktuell bleibt. Neben der Schilderung von in der Realität möglichen oder tatsächlichen Teilsiegen steht aber auch die utopische Sicht des gedemütigten Gewerkschaftsfunktionärs Lewis Connor, der von einer zukünftigen klassenlosen, menschenfreundlichen Gesellschaft schwärmt, von einem „neuen, sauberen städtischen Gemeinwesen . . . mit gepflasterten Straßen und Reihen von neuen, freundlichen Häusern, die die grauen Hügel zwischen den Blumengärten hinaufklettern." (Adv, 281)

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Raymond Williams: Tradition und verinnerlichter Klassenkonflikt Der renommierte marxistisch orientierte Kulturhistoriker und Romanschriftsteller Raymond Williams sucht seit über drei Jahrzehnten durch intensive Rückbesinnung auf die geschichtliche Kontinuität noch lebendiger proletarischer Traditionen (innerhalb eines evolutionären Demokratisierungsprozesses) eine ständige Annäherung an die proletarische Lebenskultur. Während Margot Heinemann den Bewußtseinswandel auf allen Ebenen der aktuellen organisierten Arbeiterbewegung widerspiegelt, basiert Williams' dargestelltes Arbeitermilieu (zunächst im Eisenbahnwesen) auf über Generationen vermittelten und fest im „Grenzland" zwischen Wales und England verwurzelten proletarischen Existenzweisen. Es geht nicht mehr um die Realität von Klassenkämpfen in ihrem sozialen und ideologischen Konfliktreichtum, sondern um die besondere Wertschätzung und die Bewährung unverfälschter proletarischer Lebensqualität, die sich als Opposition zur herrschenden Klasse im Stolz auf Familie, Haus, Heimatdorf, Freundeskreis und nicht zuletzt in der eigenen Produktivität durch Arbeit dokumentiert. Den Schriftstellern obliegt es, wie Williams des öfteren geäußert hat, diese traditionellen Wertvorstellungen den zukünftigen Generationen zu übermitteln. Der junge Soziologe Matthew Price im Roman Border Country (1960; Grenzland) kommt nach Jahren in sein walisisches Heimatdorf Glynmawr zurück, um seinen todkranken Vater zu besuchen aber auch, um seine historischen Forschungen zu einer Theorie über die Besiedlung der walisischen Kohlentäler während der industriellen Revolution durch unmittelbare Kontakte mit den Arbeitern am Ort zu vervollständigen. Von vornherein will der Erzähler in der Wiederbegegnung des jungen Intellektuellen mit den Bergarbeitern soziale Antagonismen aussparen und die Entfremdung zwischen diesen unterschiedlichen Erfahrungswelten abschwächen. Er geht nicht von einer Analyse der zueinander in sozialer Opposition stehenden Klassen aus, sondern von einer diachronischen Synthese einer einheitlichen, kontinuierlich und organisch gewachsenen proletarischen Kulturgeschichte. In den fünfziger Jahren besaß dieses kulturgeschichtliche Konzept (der Ausschließung von Konflikten und abseits von den entwickelten Industriezentren) noch soviel Symbolkraft, daß es noch einmal eine repräsentative und gesellschaftlich relevante Aussage über Teile der Arbeiterklasse darstellte.

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Williams' erzählkünstlerische Weltaneignung hat hier einen sehr praxisbezogenen, autobiographischen Ausgangspunkt. In enger Bindung an die Arbeiterklasse - sein Vater war Bahnwärter und in der Arbeiterbewegung organisiert - war er schon früh für die Labour Party beschäftigt und trat 1939 in Cambridge der Communist Party bei. Innerhalb seiner über zwanzig Bücher nehmen seine vier Romane einen vergleichsweise bescheidenen Platz ein, wenn man deren ständige Überarbeitung nicht berücksichtigt (allein Border Country ist seit 1947-1958 von dem ursprünglichen Titel Brynllwyd über Village on the Border und Border Village in sieben verschiedenen Fassungen publiziert worden). Die lange Entstehungszeit der Trilogie (bestehend aus Border Country, 1960; Secortd Generation, 1964; The Figbt for Manod, 1979) erklärt ein methodisches Erzählprinzip, das auf Detailliertheit und epische Breite, historische Fülle und erzählerische Tradition gerichtet war. Der beabsichtigten Kontinuität proletarischer Lebensweise entsprach ein traditioneller Erzählstil, der für eine gewisse Statik im Milieu sorgt. Williams' Suche nach einer seinem Gegenstand angemessenen Erzählform war stets begleitet von theoretischen Überlegungen zum walisischen Industrieroman. Sein spezifisches Erzählprinzip wollte er verstanden wissen nicht als einfache Anlehnung an die Form des klassischen bürgerlichen Romans, sondern als A b l e h n u n g eines regional begrenzten proletarischen, retrospektiven Romantyps, der einzig auf die Vergangenheitsabbildung, „auf ein Wiedererfassen einer frühen Erfahrung von einer anderen Welt" gerichtet ist („a recapturing of an early experience from another social world") 146 . Die in den fünfziger Jahren vermeintlich neuen sozialen und politischen Perspektiven stimulierten eine Romanform, „die die Beschreibung sowohl einer innerlich gesehenen proletarischen Gemeinschaft möglich machen würde, als auch der Bewegung des Volkes aus dieser heraus, das immer noch ein Gefühl fester familiärer und politischer Bindungen besitzt". Eine solche noch klarer zu definierende Literaturfunktion war auch gegen die neuen Erfolgsromane der fünfziger Jahre (etwa der „zornigen jungen Männer") gerichtet, die eher den sozialen Aufstieg aus dem Arbeitermilieu darstellten, der aber in Wirklichkeit nur eine Flucht aus der Arbeiterklasse in eine korrumpierende, unsichere bürgerliche Existenz war - „moving to the room at the top, or the experience of flight". Was Williams besonders interessierte, „war eine dauernde Spannung mit sehr komplizierten Empfindungen und Wechselbeziehungen 87

zwischen diesen unterschiedlichen Welten, die verbunden werden sollten" („the experienceof combined continuity and discontinuity")147. Günstige Voraussetzungen für ein solches Spannungsverhältnis bot der Literaturbegriff des 19. Jahrhunderts. Trotzdem fand er es fraglich, ob die gegenwärtigen Bedingungen des kapitalistischen Buchmarktes heute noch den Raum boten für jene epische Schilderung eines mehrere Generationen umfassenden Gemeinwesens, was von der Masse der Rezipienten in seichten TV-Serien viel leichter konsumiert wird, und ob die Normen des bürgerlichen Romans des 19. Jahrhunderts so einfach auf die komplizierte proletarische Wirklichkeit von heute übertragen werden konnten. Williams sah sich im langwierigen Prozeß des Romanschreibens vor solche ästhetisch-historischen Grundfragen gestellt, die ihn zwangen, entweder mit diesen Konventionen zu brechen oder sie „zu erweitern", wie er es mit der Abfassung seiner Trilogie auf seine Art auch versuchte. Wollte er nicht in einen apolitischen Provinzialismus verfallen, so war die Einbeziehung der außerliterarischen, politisch-ökonomischen Verhältnisse („the much broader economy outside it") 1 4 8 unerläßlich. Dieser spezifische Realismusbegriff, der eine Wechselbeziehung herstellt zwischen der individuellen Erfahrung vom „Sinn der Kontinuität proletarischer Lebensweise" und den „gesamten sozialen Verhältnissen" („füll social relationships"), war von Lindsays Postulat nach „the fullness of life" dahingehend verschieden, daß er nicht die gesellschaftliche Totale ins Blickfeld rückte. Die Romanhandlung von Border Country läuft ab weit entfernt von den sich nach dem Scheitern der „Welfare-State"-Politik verschärfenden monopolkapitalistischen Verhältnissen. Dieser Aussparungsmechanismus erklärt sich daraus, daß der Autor das komplexe, vermittelte Herrschaftssystem der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft nicht mehr in der „Form des engen und unvermittelten Ausbeutungsverhältnisses des 19. Jahrhunderts" - etwa zwischen Fabrikant und Lohnarbeiter - aneignen kann. So wählt er einen Wirklichkeitsausschnitt, der die sozialen Situationen des arbeitenden Volkes „in einem kleineren Maßstab . . . sichtbarer" 149 und überschaubarer macht - eben wie jene walisische Dorfgemeinschaft von Farmern und Eisenbahnern. Die Aneignung der Dorfwelt durch den Akademiker Matthew Price erfolgt hier noch nach Williams' bekanntem theoretischen Konzept der „erkennbaren Gemeinschaft" („knowable Community"), das er Ende der siebziger Jahre für eindeutig gescheitert hält, als ein 88

solches kollektives proletarisches Gemeinschaftsgefühl endgültig in die Krise geraten ist. Der Erzähler enthüllt eine ihm aufs intimste „vertraute/erkennbare Gemeinschaft". In seinem etwa zur gleichen Zeit entstandenen theoretischen Hauptwerk The Long Revolution (1961) bekennt sich Williams zu einer Erzähltradition, „die den Wert einer gesamten Lebensweise vermittels der Eigenschaften der Figuren erzeugt und beurteilt" 150 . Die „gesamte Lebensweise" schließt die kritische Perspektive des von London heimkehrenden Universitätsdozenten mit ein, der diese geschlossene und in sich widersprüchliche Welt historisiert. In den permanenten Rückblenden in seine Kindheit lernt er die Unverzichtbarkeit dieser Vergangenheit für sein persönliches Leben begreifen, was ihm am Grabe seines Vaters deutlich wird: „Er spürte die Wiederkehr seiner Kindheit, doch das war zu jenem Augenblick nicht mehr eine Wiederkehr seiner Kindheitserfahrung, sondern eine lebendige Verbindung zwischen Erinnerung und Realität." (BC, 317) Der ihm bislang nicht bewußte Gegensatz zwischen Kindheit und Erwachsensein ist durch Erinnerung aufgehoben. E r wird sich seines permanenten Entfernens von seiner sozialen Herkunft bewußt, und mit dem Erkennen seiner sozialen Entfremdung überwindet er dieselbe. Der Held sieht jetzt seine höhere gesellschaftliche Position und seine akademischen Forschungen nicht mehr im Widerspruch zur proletarischen Wirklichkeit, sondern in fruchtbarer Wechselbeziehung mit ihr. Seine Untersuchungen zu den Bevölkerungsbewegungen in Wales während der Industriellen Revolution sind für ihn kein „Forschungsgegenstand, sondern ein emotionales Modell" (BC, 284). Der soziale Aufstieg des „scholar-ship boy" wird hier nicht mehr als problematisch empfunden, seine soziologischen Forschungen erhalten durch die „wiedergewonnene" Sensibilität proletarischen Daseins ihren eigentlichen Sinn. Williams' Strukturprinzip einer „gesamten/gemeinsamen Lebensweise" postuliert ein evolutionäres, konfliktloses Überbrücken zwischen einer Kultur- oder zeitspezifischen Lebensperiode und einer anderen, hier zwischen der Generation der Zwanziger und der der Fünfziger, die jede für sich durch eine spezifische Sensibilität („structure of feeling" bzw. „human feeling") charakterisiert ist, die der Künstler vermittels „Einfühlung" aufspüren muß. Williams begreift die politisch-kulturellen Überlieferungen der Väter als organisches Erbe des kommunalen Gemeinwesens von Familien- und Dorfgemeinschaft und als einen großen Gewinn für die junge Generation, 89

die dieses Erbe aufnehmen und weiter bereichern wird. Dieser progressiven Erbeauffassung unterliegt ein aus humanistischen, aufklärerischen und bürgerlich-liberalen Quellen gespeister Fortschrittsglaube, der das evolutionäre Fortschreiten eines allgemeinen Demokratisierungsprozesses voraussetzte. Natürlich nicht unter den konkreten klassenantagonistischen Bedingungen. In Border Country spielt sich dieser Vorgang zwischen den Generationen, zwischen Vater und Sohn ab. Nicht die aktive Teilnahme in der organisierten Arbeiterbewegung (wie durch den Vater 1926) steht für Matthew nunmehr im Vordergrund, sondern in Distanz zur Haltung des Vaters eine an individuellen Bedürfnissen und Neigungen orientierte Selbstverwirklichung (aus einem Mißtrauen gegenüber jeglicher Organisation und Institutionalisierung) und individuelle Identitätsfindung durch Arbeit, durch die im Lawrenceschen Sinne vitalen Werte von Liebe und Lebenskraft, von Mut und Konsequenz, von Menschenwürde und Treue zur Klasse. In diesem Konflikt zwischen Vater und Sohn zeigt sich eine für die walisische Literaturtradition typische Zerrissenheit der Familie und der alten Dorfgemeinschaft: „Der alte einfache Kern mit seinen organischen Verbindungen von Familie, Dorf, Platz und Klasse - und darin und dadurch natürlich all den besonderen Bindungen des Walisischen wird zugleich bestätigt und in seiner Auflösung gesehen. Und diese Form der Bestätigung der Familie als Träger dieser generellen Funktion ist letztlich eine Elegie: das, was bestätigt wird, ist zugleich verloren. Oder für diese Periode der walisischen Literatur allgemeingültiger ausgedrückt: Verlust und Auflösung werden authentisch bestätigt."151 Die Vorbildwirkung des Vaters Harry Price auf seine Umgebung wie auf seinen Sohn geht von starken Persönlichkeitsmerkmalen der äußeren Erscheinung aus. Jener findet Erfüllung 'im ganz alltäglichen, ereignislosen, unheldischen Dasein; und in seiner ebenso gleichförmigen Lebensgeschichte stellt seine solidarische Beteiligung am Generalstreik von 1926 kein herausragendes Ereignis dar. Ein Leben ohne tiefe Einschnitte und Brüche, mit einem sicheren Gefühl für das Lebensgleichmaß und die natürlichen Grundwerte menschlichen Daseins und mit einem instinktiven Gespür für in der Not erforderliche Klassensolidarität, sichert den größtmöglichen gemeinsamen Nenner einer Verschmelzung der Generationen in einer „arbeitenden Gesellschaft" („working society"). Für Matthew ist diese respekteinflößende, distanzierte Gestalt des Vaters von starker 90

symbolischer, emotionaler Kraft, ist soziales Wesen und Individuum zugleich. Er ist der leibliche Vater und doch „mehr als nur ein Mensch, er ist eigentlich die Gesellschaft, das, wo man hineinwächst . . . Davon haben wir uns entfernt und sind in eine andere Gesellschaft hineingewachsen. Wir halten die Beziehungen aufrecht, doch wir unterziehen uns keinen Mühen. Dann könnte man sagen, daß wir einen leiblichen, doch keinen gesellschaftlichen Vater haben." (BC, 282) Die zeitweilige Rückkehr in sein Vaterhaus bedeutet die Fortsetzung seines wahren, natürlichen Lebens, und der drohende Verlust seines Vaters erzeugt einen tiefen Schwund an Selbstvertrauen, eine allmähliche Zerstörung der Zukunft und schließlich „einen Verlust an Identität" (BC, 153, 340). Hier klingt die drohende Gefahr der Entfremdung des Menschen von seiner vertrauten Umwelt an, die innere Aufforderung an sich selbst, sein früh erworbenes proletarisches Wertsystem zu bewahren. Matthew hat sich bereits zu sehr von seiner sozialen Herkunft entfernt und spricht bereits eine zu fremde, gekünstelte Sprache, als daß er diese Entfremdung überwinden könnte. Die Romanhandlung ist bestimmt durch ein Warten auf den Tod des Vaters. Dieses dominierende Thema erklärt auch den pessimistischen bis tragischen Grundton der Erzählweise, der bis hin zum letzten Teil der Trilogie, The Fight for Manod, ständig zunimmt. Eine solche ethische Normativität und integre, unverletzliche Ganzheit des Charakters in der Figur Harrys befähigt Menschen zu überleben und sich in allen Kämpfen und Konflikten zu bewähren und sich selbst treu zu bleiben. Diese nach außen beeindruckende moralische „Stärke" und Autorität - so vorbildhaft und überlegen sie auf seinen Sohn wirken mag - verliert jedoch an Einfluß. Gerade die Tugenden einer organischen proletarischen Lebensweise und die vitalen Werte des Lebens, der Kraft und Gesundheit, sind in der Nähe des Todes für die Zukunft seines Sohnes Matthew nicht mehr tragfähig, zumal auch dessen akademische Tätigkeit letztlich keine konstruktive geistige Wegweisung für die proletarische Lebensweise bietet. Das Ende seines Vaters bringt ihn in eine schwere Krise, macht seine soziale Existenz noch unsicherer. Eine andere, stärker politische Seite der Arbeiterexistenz verkörpert eine zweite Figur, sozusagen als ideologische Komplementärperspektive, die seines Freundes und klassenbewußten und kämpferischen Gewerkschaftsfunktionärs Morgan Rosser, der jedoch später einen unerwarteten Wandel zu einem gewinnsüchtigen Handelsver91

treter vollzieht. Mit dieser konträren Figurenkonstellation zwischen Harry und Morgan suchte Williams sein eigenes problematisches Vatererbe und ein bisweilen romantisiertes Revoluzzertum in ein kritisches Licht zu rücken: „Harry ist nicht mein Vater, weil eine Menge von ihm auch in die Figur Morgans einging. Es wäre möglich gewesen, die einander widersprüchlichen Impulse in ein und demselben Charakter zu verknüpfen; das habe ich versucht, aber am Ende beschloß ich, beide zu trennen und noch eine Figur zu schaffen, die die bei weitem ruhelosere, kritischere und selbstkritischere Seite der Natur meines Vaters darstellte."152 Morgan übernimmt in der Tat die negativeren Eigenschaften und schlägt eine Entwicklung ein, die mit der Parallelfigur des Harry völlig inkongruent ist; ihre gekünstelte und demonstrierende Konstruktion ist offenkundig. Diese autobiographische Aufspaltung der Aussage in einer gedoppelten Figurenperspektive erweitert und objektiviert zumindest die ästhetische Aussagekraft des'Romans und öffnet die Sicht auf die Produktivität und Wandlungsfähigkeit des Menschen im historischen Kontext, auf ein Geschichtsbewußtsein der „Hoffnungen und Möglichkeiten" (Williams). In Second Generation nämlich werden die provinziellen Grenzen der proletarischen Dorfgemeinschaft überschritten, wird der Handlungsraum auf eine Industriestadt ausgedehnt, um damit den gesellschaftlichen Erfahrungsraum zu erweitern. Die Handlung orientiert sich jetzt konkret an der Zeit der fünfziger Jahre, und in der Darstellung verschiedener sozialer Schichtungen - von Arbeitern einer Autofabrik und den Angehörigen einer Universität - gehen stärkere Konfliktsituationen aus. Williams bleibt auf der Ebene symbolhafter Verallgemeinerung und meidet weitgehend die soziale Alltagswirklichkeit der Arbeiter und Intellektuellen. Etwas überspitzt bemerkt Ingrid v. Rosenberg dazu, es gehe eher um das „Modell einer Stadt zur Illustration seiner gesellschaftstheoretischen Vorstellungen" bzw. um eine Demonstration der „Lehre vom harmonischen Zusammenspiel aller gesellschaftlichen Kräfte"153. Aufschlußreich für den Leser sind auch die kontrastierenden Positionen der Universitätsintellektuellen, deren Konformismus und moralische Korruption und deren zynische Haltung gegenüber der Arbeiterbewegung schonungslos enthüllt werden154 und die darin einige Parallelen aufweisen zu den Schilderungen des Universitätsmilieus bei Margot Heinemann. Williams betont in seinem Kommentar zu diesem Roman ausdrücklich, daß gerade dieser „auf der direkten Beobachtung basiert". Der 92

Grundkonflikt ist „die Trennung zwischen dem intellektuellen und dem proletarischen Leben" („the division between intellectual life und manual life"), der sich im Roman in der spezifischen Verknüpfung „zwischen individueller und gesellschaftlicher Korruption" verwirklicht. 153 Es ist charakteristisch für den intellektuellen Standort des Erzählers, daß er in Second Generation die Sphäre der Universität in das Zentrum der Handlung rückt und sie so zum wesentlichen politischen Gegenpart von Gewerkschaft und Fabrikarbeitern macht. Die eigentliche Monopolbourgeoisie bleibt dabei ausgespart. Diese selektive Repräsentation aus dem Blickwinkel der Intelligenz versucht nun Williams nachträglich damit zu erklären, „daß die Universität oft die Funktion der herrschenden Klasse übernimmt" und weil die Arbeiterklasse, die er nach eigener Aussage nur aus Büchern kennt, in jener Zeit „Akademiker meist als die herausragenden Vertreter der herrschenden Klasse betrachtete". Dabei bekundet er eine „ständige Betroffenheit über den begrenzten Horizont der Erfahrungen der Arbeiterklasse, als ob jene ganze Welt der großen Korporationen und Banken zu weit weg sind, um wirklich richtig begriffen zu werden" 136 . Es sind die Überfremdung des gesamten Gesellschaftssystems, die komplizierten Vermittlungen staatsmonopolistischer Herrschaft, deren soziale Hierarchien für den bildungsmäßig benachteiligten Arbeiter auch immer undurchdringlicher werden. In The Fight for Manod dringen anglo-belgische Industriekorporationen in das dörfliche Gemeinwesen im walisischen Tal von Manod ein und zerstören die zwischenmenschlichen Bindungen und das solidarische Bewußtsein der arbeitenden Menschen, wie es noch in den beiden vorangehenden Teilen der Trilogie - in der Kommune der Eisenbahner und in der Autofabrik - bewahrt zu sein schien. Die Presseenthüllungen über die folgenschweren Regierungspläne zum Aufbau einer modernen Elektronikindustrie mit Hilfe des ausländischen Kapitals mobilisieren keinen Widerstand der Arbeiter mehr. In dieses Bild entfremdeter Produktionsverhältnisse als Auswirkung modernster Technologie und kapitalistischer Ausbeutung geht vor allem Williams' „spezifische gegenwärtige Trauer" ein, die die Beziehung prägt „zwischen einer sehr wahrscheinlichen Zukunft und den Widersprüchen und Blockaden der Gegenwart", 157 die immer mehr durch den neuen Systemcharakter überfremdet wird. Parallel zu dieser erzählkünstlerischen Entwicklung bildet Williams auch einen neuen literaturtheoretischen Begriff heraus, der die zunehmende Anonymität 93

und Willkür staatsmonopolistischer Machtstrukturen faßbar machen soll. Der noch für Border Country zutreffende Begriff des literarischen Abbilds als „a record of human experience" („Widerspiegelung menschlicher Erfahrung"), wie er in der frühen Schrift Reading and Criticism (1950) definiert ist, wird jetzt verdrängt durch eine stark kultursoziologische Auffassung von Literatur, wie er dies in The Country and the City (1973) ausgeführt hat. Williams bekennt sich seit dem Ende der sechziger Jahre zu einer tiefgreifenden ideologischen Wandlung. Sein May Day Manifesto von 1968 zeugt von einem starken Einfluß der Linksoppositionellen. Der zunehmende Opportunismus der Arbeiterklasse und Konservativismus der britischen Bourgeoisie haben seine Hoffnungen auf einen evolutionären Demokratisierungsprozeß zerstört: „Plötzlich war England, das bourgeoise England, nicht mehr mein Bezugsgegenstand. Ich war ein walisischer Europäer . . . Ich wünsche mir, daß das immer noch radikale und kultivierte Volk dieses bourgeoise England besiegt, sich darüber hinwegsetzt oder an ihm vorbeigeht." Gerade in Wales findet sein literarisches Werk - und speziell Border Country - eine Anerkennung, die ihm bislang in England nicht zuteil wurde: „ . . . ich befinde mich in einer Kultur, wo ich atmen kann." 158 Hier gehen eine tiefe Verbundenheit zur walisischen Volkskultur, die auch das „capitalist Wales" ausschließt, und ein sozialistischer Kosmopolitismus, der wohl zum Eurokommunismus tendiert, zusammen. Williams' engagiertes Bekenntnis zu den walisischen Traditionen, das aus der vollen Opposition gegen die Bourgeoisie und bürgerliche Kultur entstanden ist, bedeutet für ihn keine Rückkehr zu einem ästhetisch begrenzten Klassenbegriff („of an enclosed working-class world") in der proletarischen Literatur des 19. Jahrhunderts bzw. auch keine Beschränkung auf „die Welt der Kindheit oder der Familie" („the world of childhood or of the family") 159 . In der fruchtbaren Wechselwirkung zwischen diesen theoretischen Prämissen und seiner Romanpraxis leistet er einen überregionalen Beitrag zur Herausbildung eines tragfähigen proletarischen Literaturbegriffs, der provinzielle Grenzen von Arbeiterkultur durchbricht und diese in ihrer Geschichtlichkeit bis in die Zukunft definiert. Dies ist der Kern seiner neueren Thesen: „Die Arbeiterklasse ist nicht Vergangenheit". („The working class ist not a past tense.") Und: „Die Arbeiterklasse ist nicht nur eine Kindheitsfamilie, obwohl sie natürlich jene Erfahrung mit einschließt. Der sozialistische Schriftsteller hat nicht nur die 94

Kindheit darzustellen, sondern auch die Mobilität und die Unbeweglichkeit und die daraus folgenden Probleme für die menschlichen Beziehungen auf allen Ebenen, von der ganz individuellen bis zur gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Ebene." 160 Hier geht Williams zumindest theoretisch über die gegenwärtige literarische Praxis hinaus, wie in Kapitel sieben zum Roman über die britische Arbeiterjugend ersichtlich wird. Theoretisch gibt es für Williams k e i n e n B r u c h in der Darstellung zwischen proletarischer Kindheit und dem Erwachsenenalter, sondern geschichtliche Kontinuität und Wechselwirkung.

Proletarisch-revolutionäre Leitbilder im Arbeiterroman der fünfziger Jahre

Zur geschichtlich-ästhetischen

Positionsbestimmung

Der Begriff des Arbeiterschriftstellers (engl, „worker-writer") trifft speziell auf jene Autoren zu, die aus der Arbeiterklasse stammen, in dieser durch die Wahl ihres Berufes verbleiben und die ihre Stoffe ausschließlich der proletarischen Arbeits- und Lebenssphäre entnehmen. Wegen ihrer engen Bindung an die Kommunistische Partei Großbritanniens und deren Kunstprogrammatik werden ihre Kunstprodukte auch „politische Arbeiterromane" (Ingrid von Rosenberg) genannt. In ihrer ideologischen und ästhetischen Konsequenz bewahrten sie die Kontinuität zum „Thirties Movement" und damit zur langen Tradition der proletarischen und sozialistischen Literatur. Die „worker-writers" in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre hatten jedoch eine große Bedeutung für das Erstarken einer sozialistischen Kultur, und sie selbst verdankten ihre Existenz einer breiten sozialistischen Protestbewegung gegen das bürgerliche Establishment. Sie standen keineswegs isoliert da, sondern schöpften unmittelbar aus der Kraft und den Kampfaktionen der organisierten britischen Arbeiterbewegung. Sie entwickelten sich durch die ideologisch-künstlerische Förderung und Beratung von Seiten ihrer Schriftstellerkollegen aus der kommunistischen Intelligenz, die sich - wie Jack Lindsay und Margot Heinemann - zur Sache der Arbeiterklasse bekannten und die wesentlich zur theoretischen Fundierung des Arbeiterromans beitrugen. Hier standen Parteipolitik und sozialistische Kunsttheorie eng zusammen. Die von John Lewis herausgegebene Zeitschrift The Modern Quarterly (später Marxist Quarterly bzw. Marxism Today) hatte die Aufgabe übernommen, die marxistische Theorie konsequent weiterzuentwickeln und so den Boden für eine neue proletarische Kultur zu bereiten. Vor allem Alick West gehört das Verdienst, die Theorie des sozialistischen Realismus in Anlehnung an die bereits durch The Left Review (1934-1938) verbreiteten Thesen seit dem 1. All96

Unionskongreß der Sowjetschriftsteller von 1934 erläutert und für die englische proletarisch-sozialistische Literaturentwicklung ins Gespräch gebracht zu haben. Hier wurde besonders auf den Vorbildcharakter der Sowjetliteratur hingewiesen; dogmatische Kanonisierungen Lukäcsscher Realismusnormen lösten jedoch heftige Kontroversen aus. West suchte das Gorkische Kategoriensystem von sozialistischer Parteilichkeit und Volksverbundenheit in der Gestaltung von künstlerischer Wahrheit und eines sozialistischen Menschenbildes für eine britische sozialistische Literaturtheorie produktiv zu machen. Seine Bedeutung liegt darin, daß er sich als einziger englischer Literaturtheoretiker intensiv mit der Arbeiterliteratur beschäftigte und daranging, „die Klassenspezifik ästhetischer Wirklichkeitsbewertung im Arbeiterroman zu analysieren". Einen wesentlichen Raum in den marxistischen Diskussionen nahm die Kontroverse um Christopher Caudwells Werk Illusion and Reality (1937; Illusion und Wirklichkeit) ein, in dessen „Subjektorientiertheit der Produktion und Rezeption von Literatur" 1 6 1 West einen wesentlichen Impuls zur Formierung einer marxistischen Ästhetik sah. D i e aus der engen Wechselwirkung zwischen Kunst und Proletariat entspringenden neuen ästhetisch-ideologischen Wertmaßstäbe haben ihre historischen Wurzeln in der literarischen Theorie und Praxis des „Thirties Movement".

Ralph Fox ( T h e Novel and the People,

1937; Der Roman und das

Volk) fand im klassischen bürgerlichen Roman der englischen Aufklärung wesentliche Voraussetzungen für einen sozialistischen Realismus.161' Im programmatischen Rückgriff auf Fieldings Romankonzeption forderte er die Wiederaufnahme des Heroischen und des Epischen und betonte die zentrale Rolle der Persönlichkeit und der Volksmassen. Dabei plädierte er auch für die Bewahrung der traditionellen klassischen Romanstruktur. 163 Hier wurde die historische Persönlichkeit Georgi Dimitroffs zum Prototyp eines neuen Romanhelden, einer kommunistischen Idealfigur. Als Alternative zum brüchig gewordenen bürgerlichen Individualismus evoziert Fox ein neues Menschenbild mit einem Helden, der sein Schicksal durch bewußtes Handeln selbst bestimmt und sich im Einklang mit den revolutionären Triebkräften der Geschichte befindet. 16,1 Parteilichkeit wird zum herrschenden Gesetz eines sozialistischen Schriftstellers, der von einer bewußt gestalteten Ebene der ästhetisch-ideologischen Aneignungsweise die geschichtlichen Konflikte zu lösen versucht. 165 Parteilichkeit und Klassenkampf stehen hier im Zusammenhang eines humanistischen Gesellschaftsentwurfs, der unter kapitalistischen Herr7

Magister

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schaftsverhältnissen illusionär wirken mußte. Lindsay hat diese tradierten ästhetischen Postulate einer unversehrten Erzählstruktur, von heldischer Idealität und epischer Totalität für den sozialistischen Realismus der fünfziger Jahre neu formuliert mit dem Gedanken eines „revolutionären und konkreten Konzepts menschlicher Einheit": „ D i e totalen Verhältnisse (gesellschaftlichen und geistigen) des Kampfes, und zwar in ihrer ganzen historischen Realität . . . , das Kriterium menschlicher Universalität, wie es in den großen Werken der Vergangenheit erscheint, wird nun eindeutig zum Prüfstein der Probleme aller Schriftsteller . . ," 1 6 6 D i e Entwicklung einer sozialistischen Arbeiterliteratur nahm unter diesen hohen ästhetischen, gesellschaftlichen Erwartungen und den miserablen Voraussetzungen einer nichtprofessionellen Schriftstellerexistenz einen widersprüchlichen Verlauf und fand ihren Ausdruck in einer Idealisierung der wirklichen Lebenssphäre der Arbeiterklasse. D i e wesentliche Bedeutung dieser proletarisch-sozialistischen Literatur der Fünfziger liegt jedoch darin, daß sie uns anschauliche Bilder von den schweren Kämpfen der britischen Arbeiterklasse und der komplizierten ideologischen Neuprofilierung ihrer politischen Partei vermittelt. D i e Herausbildung und Fortsetzung der Literatur der Arbeiterklasse als Bestandteil einer „zweiten Kultur", die im 20. Jahrhundert mit den Romanen Robert Tressells und James Leslie Mitchells bereits wegweisende Vorbilder hatte, reflektiert eine neue, proletarische Sensibilität. Sie übermittelt uns Eindrücke vom Fühlen, Denken und Handeln des Proletariats aus dessen Sicht und orientiert in den fortgeschrittensten Positionen auf seine Befreiung von den Fesseln der kapitalistischen Ausbeutung und zugleich auf ein Bild menschlicher Selbstverwirklichung unter sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen. Nur aus diesem Funktionszusammenhang zwischen Literatur und Klassenkampf heraus kann der proletarisch-sozialistische Roman der Nachkriegsphase in seiner geschichtlichen Bedeutung und literarischen Wirkungskraft erfaßt werden. Daraus ergab sich die Forderung an den sozialistischen Schriftsteller, die aktuellen K ä m p f e um sozialen Fortschritt überzeugend darzustellen und revolutionäre Perspektiven für eine sozialistische Zukunft aufzuzeigen. D i e künstlerische Veräußerlichung ideologischer Ziele und der Perspektive einer Umgestaltung der bestehenden Produktions- und Herrschaftsverhältnisse erzeugte direkte Vermittlungen zwischen Kunst und sozialistischer Ideologie - das heißt, sie wurden weniger von den Figuren 98

verinnerlicht und symbolisch verallgemeinert und die Erfahrungen und Erkenntnisse der revolutionären Praxis des proletarischen Autors gingen unmittelbar in die erzählerische Gestaltung ein ohne besonderen, innovatorischen Anspruch auf eine klassenspezifische Aneignungsweise und ohne daß damit schon eigene ästhetische Gesetzmäßigkeiten für die proletarische Romanform gefunden waren. Direkte und harte Auseinandersetzungen mit der Monopolbourgeoisie erzwangen einen Kunstbegriff, der in den Dienst des Klassenkampfes gestellt werden konnte und im Prozeß der künstlerischen Aneignung bewußt auf die bürgerlichen Traditionen zurückging. Ideologische Werturteile und Argumentationen zielten in unverhülltdeklamatorischer Weise auf die politische Bewußtseinsbildung der Arbeiterklasse, und deren Werte und Ideale widerspiegelten sich (manchmal in fetischisierter Form) in einem idealisierten Heldentyp, in einer vereinseitigten Darstellung der Produktionssphäre, in harmonisierten Lebensverhältnissen und in einer romantisierten Sicht der Arbeiterbewegung. Die Festigung konservativer Machtstrukturen in den fünfziger Jahren führte auch zu teilweise verabsolutierten Klassenkampfstrategien und einem heroisierten proletarischen Menschenbild. Hier und vor allem in den diffamierenden Bedingungen des kapitalistischen Buchmarktes liegen auch wesentliche Gründe für die wirkungsgeschichtliche Begrenztheit dieser Literatur. Aus der heutigen Perspektive globaler Auseinandersetzungen zwischen Kapitalismus und Sozialismus werden wir dem vergangenen proletarisch-sozialistischen Roman mit seiner hohen kommunistischen Idealsetzung nur gerecht, wenn wir ihn nach seiner historischen, politisch-ideologisch klassenbezogenen Funktionalität beurteilen. Er konstituierte sich in eindeutiger Abgrenzung von der bürgerlichen Romantradition und deren weltanschaulichen Prämissen auf der Basis einer neuen, sozialistischen Kunstprogrammatik, deren dogmatische Anwendung in der literarischen Praxis wieder zu ästhetischen Verengungen und zur Auslassung von Wirklichkeit führte. Die am kommunistischen Parteiprogramm orientierten theoretischen Publikationen Britain's Cultural Heritage (1952; Das kulturelle Erbe Großbritanniens) und Essays on Socialist Realism and the British Cultural Tradition (1953; Essays über den sozialistischen Realismus und die britische Kulturtradition) stellten, wie schon ihre Titel zeigen, ganz konkrete Aufgaben, deren Lösung für das Entstehen einer „zweiten Kultur" dringend erforderlich wurde: die Erbeaneignung 99

und die Methode des sozialistischen Realismus. Sie waren Denkanstöße für innerparteiliche Diskussionen und ästhetische Beiträge sowie Orientierungshilfen für die schreibenden Arbeiter. Für diese aber waren die Beiträge theoretisch oft zu anspruchsvoll, was vielleicht auch erklärt, warum die Vermittlungen zwischen ästhetischer Theorie und proletarischer Literaturpraxis nur ungenügend funktionierten und warum diese britische Tradition einer proletarisch-sozialistischen Literatur und Ästhetik nur wenig Impulse für eine eigenständige Theorie gab und auch für die Weiterentwicklung des Arbeiterromans kaum produktiv wurde. 1 6 7 Die Arbeiterschriftsteller waren durch innerparteiliche Anleitung und Beratung mit den ästhetischen Kriterien des sozialistischen Realismus und mit den methodischen Grundfragen des Romanschreibens vertraut. Doch ihre ungenügenden schriftstellerischen Fertigkeiten setzten der künstlerischen Ausführung von vornherein immer noch Grenzen, obwohl das Bildungsniveau gegenüber den Arbeiterschriftstellern der Vorkriegszeit gestiegen war. Ihre Schreibbedingungen blieben nach wie vor höchst unzulänglich. Ihre literarische Tätigkeit konnte sich nur außerhalb der etablierten künstlerischen Produktionsverhältnisse realisieren. Für ihre Romane stand ihnen ausschließlich der parteieigene Verlag Lawrence & Wishart zur Verfügung, der allerdings im Jahre 1964 die Romanproduktion einstellte. Bis dahin waren sie also nicht unmittelbar dem Druck kapitalistischer Marktbedingungen ausgesetzt. Dies förderte auch eine starke Identifikation mit den kommunistischen Idealen, die sich personifizierten in großen Führerpersönlichkeiten wie dem britischen Parteivorsitzenden selbst. So sagt der Autor Herbert Smith: „ . . . sozialistische realistische Schriftsteller brauchen die Integrität und die Beharrlichkeit eines William Gallacher." 1 6 8 Eine Hauptschwierigkeit der Arbeiterschriftsteller war die Bewältigung erzähltechnischer Methoden, nämlich „die passenden Darstellungsmittel und den richtigen Stil für den Roman der Arbeiterklasse zu finden", wo es darauf ankam, eine gegenüber etablierten bürgerlichen ästhetischen Erwartungen „spezifisch proletarische Ausdrucksweise" zu schaffen. D a v i d Craig betrachtete diese Autoren aus einer tiefen Verbundenheit mit den Traditionen des progressiven bürgerlichen E r b e s : „Und wie sich jede Renaissance in der Literatur ihre eigene repräsentative Gestalt schafft: den Prinzen im elisabethanischen Zeitalter, den Crusoe-Abenteurer des 18. Jahrhunderts, die Oliver Twists und J u d e Fawleys des 19. Jahrhunderts - , so wird 100

gleichfalls auch die neue Literatur die typische Gestalt des 20. Jahrhunderts hervorbringen: ein proletarisches Abbild, das auf Veränderungen zielt." 169 Diese Wechselwirkung zwischen idealisierender Rezeption des bürgerlichen Erbes und dem Ringen um eigene neue, sozialistische Bewußtseinsformen hielt der proletarische Autor Len Doherty für geschichtlich produktiv, wobei ein starkes Wunschdenken mitschwingt: „Intellektuelle Sensibilität, die mit der der Mittelklasse vergleichbar ist, verbunden mit wirklichen Kenntnissen über die Arbeiterklasse. Diese Schriftsteller werden wahrscheinlich kaum ihre eigene Klasse verlassen und sich isolieren, weil sie wissen, daß dies keine Lösung wäre. Tatsächlich werden sie alsbald ihre Zukunft mit dem Kampf für den Sozialismus verknüpfen, weil sie begreifen, daß der Sozialismus der einzige Weg für sie ist." 170 Den aus dem progressiven, klassischen Erbe kommenden Ideen stehen - wie der Autor Herbert Smith schreibt - die in autodidaktischer Arbeit gewonnenen Erkenntnisse der Entschleierung von Klassenverhältnissen gegenüber, einer wirklichen Aufklärung, „die das Wissen um die wahren Verhältnisse des Volkes involviert" 171 . Die Begegnung mit dem arbeitenden Volk wird für den Arbeiterschriftsteller im Gorkischen Sinne zu einer wahrhaften Universität, zur Quelle schöpferischer Energie und eines an keiner bürgerlichen Bildungseinrichtung erlernbaren Wissens über soziale Grundfragen. Ein eigener, klassenspezifischer Erkenntnisbegriff ist damit angekündigt, der durch bürgerliche Normen nicht erfaßbar ist und der aus einer tiefen Solidarität werktätiger Menschen und einem echten proletarischen Gemeinschaftsgefühl schöpft. So sagt Robert Bonnar über seine Erfahrungen als Schriftsteller im schottischen Bergbaugebiet vom Fife: „Ich wußte, worüber ich schreiben wollte, nämlich über diese wunderbaren Menschen in meinem kleinen Dorf im Fife. Was für großartige Menschen das waren . . . Sie waren im Grunde genommen wie eine große glückliche Familie. Keiner wurde jemals in meinem Dorf krank, ohne von jemandem gepflegt zu werden. Keiner würde jemals hungrig sein, wenn ein Nachbar noch ein Stück Brot zum Teilen hatte." 172 Solche Autoren empfanden es als einen politischen Auftrag, dieses unverwechselbare und eigenständige proletarische Lebensmilieu im künstlerischen Abbild festzuhalten, die klassenspezifische Sensibilität und den ihr gemäßen Erkenntnisbegriff im autobiographischen Dokument zu formulieren. Noch einmal sei dafür Robert Bonnar zitiert: „Im Leben jener Menschen, die in meinem Dorf wohnten - es waren 101

insgesamt weniger als ein Tausend - , in ihrem Verständnis, ihrem großartigen Sinn für die wahren Werte und in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber persönlichem Eigentum und Reichtum, sah ich die wahre Erkenntnismöglichkeit für die gesamte Gesellschaft. Diese Menschen kannten kaum etwas anderes als schwere Arbeit und ein ärmliches Leben. Doch während diese Menschen naturgemäß sehr verschiedenartig ausgeprägte Charaktere besaßen, wie man sie in allen proletarischen Gemeinwesen findet, besaßen sie die Fähigkeit zu tiefem Nachdenken. Alle kannten sie von früh auf ihren Klassenfeind. Für sie waren es die Kohlengrubenbesitzer. Sie kannten Schmerz und Leid. Sie kannten Freude und Heiterkeit. Sie konnten sofort Gutes vom Schlechten unterscheiden, Gerechtigkeit von Ungerechtigkeit. Selten irrten sie sich. Vor allem schienen die meisten sich selbst zu kennen, eine Fähigkeit, die ich bislang nur bei wenigen Menschen beobachtet habe." 173 Der proletarische Autor verbürgt die Authentizität des Erzählten durch die unmittelbare eigene Erfahrung der Ausbeutung und die Repräsentativität des dargestellten proletarischen Gemeinwesens „für die gesamte Gesellschaft" - eine utopische und zugleich nostalgische Sicht seiner Welt. Nicht viel günstiger schienen die Möglichkeiten des Schreibens für den in der organisierten Arbeiterbewegung aktiven Autor. Jack Dash, der im autobiographischen Rückblick seinen persönlichen Bildungsweg „My College - the College of Industry" 174 nennt, sieht im „Zeitfaktor" das größte Hindernis für den nicht-professionellen Arbeiterschriftsteller 175 . Sie betrachteten es als einen Klassenauftrag, selbst nach einem schweren Arbeitstag in der Zeche, die Energie zum Schreiben aufzubringen und ihren Nachkommen die Arbeitswelt in historischen Dokumenten des proletarischen Alltags zu übermitteln. Der ehemalige Bergmann Len Doherty erinnerte sich: „Ich wußte, was es heißt, manchmal achtzehn Stunden an einem Tag zu arbeiten, um dadurch einen freien Tag zum Schreiben herauszuholen. Ich hatte etwas zu sagen, und es mußte heraus. In ganz England hätte kein anderer darüber geschrieben. Das hat mir die Energie gegeben, Arbeit in der Zeche und das Schreiben mehrere Jahre durchzuhalten." 176 Es ist gerade dieses Sendungsbewußtsoin, das sich auch in den Helden ihrer Romane widerspiegelt und das die schöpferischen Triebkräfte der organisierten britischen Arbeiterbewegung in den fünfziger Jahren dokumentiert. Der sozialistische Arbeiterroman hatte einen wichtigen politischen Auftrag zu erfüllen: nämlich ein reales, doch in die Zukunft des Kommunismus weisendes Bild 102

der Arbeiterklasse zu entwerfen und zugleich ihre revolutionäre Funktion in der Menschheitsgeschichte aufzuzeigen. Diese gewaltige Aufgabe überforderte und erschöpfte die künstlerische Potenz dieser jungen revolutionären Literatur. Zur gleichen Zeit hatte sich die Literatur der „zornigen jungen Männer" den britischen Markt erobert; ihre Auflagenhöhe übertraf alle Erwartungen. Aus dieser Sicht fristeten die Arbeiterromane Len Dohertys, David Lamberts, Herbert Smiths, Robert Bonnars ein kümmerliches Dasein. Zur Illustration seien drei Verkaufsziffern der bei „Lawrence & Wishart" erschienenen Romane genannt: A Morning to Remember - 607 (die bei Seven Seas in Berlin publizierten nicht mitgerechnet); He Must so Live - 1420; A Miner's Sons - 3080. 177 Die vielversprechenden Ansätze einer repräsentativen proletarisch-sozialistischen Erzählliteratur mußten verkümmern, weil sich die Arbeiterschriftsteller in allen Phasen ihres Schaffensprozesses und unter den immer stärker profitorientierten Produktions- und Distributionsbedingungen mehr und mehr auf sich allein gestellt sahen. Diese Angaben geben noch keinen Aufschluß über die vielen unveröffentlichten Manuskripte jener Jahre. Zur geringen Publizität und Ausstrahlungskraft proletarischer Romane in jenem Jahrzehnt bemerkt P. M. Ashraf treffend: „Die Literatur der Arbeiterklasse und ihre Perspektive ist nicht an der tatsächlich vorhandenen geringen Zahl von Arbeiter- und sozialistischen Schriftstellern zu messen, die in der gegenwärtigen Situation in England überhaupt Bücher veröffentlichen können."178 Die lange Tradition einer Literatur der Arbeiterklasse in Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert spricht eher für ein Wiederaufblühen derselben unter günstigeren geschichtlichen Bedingungen.

Arbeit als Mittel

-proletarischer

Selbstverwirklichung

„Durch die Finsternis dringt nur der grelle Schein der Lampe vom Kopf des Bergmannes und das Scharren und Stoßen der Schaufel, wenn sie in die lockere Kohle eindringt und dann nach oben wegschwingt, um ihre Ladung auf das Förderband zu werfen. Der Bergmann beugt sich in den Hüften, die Beine weit gespreizt und steif, den Rücken zur Decke geneigt, während sich sein nackter, schwarzglänzender Körper schnell und rhythmisch auf und ab bewegt. Nichts existiert für ihn in diesem Augenblick außer dem kleinen Kreis, 103

der Arbeiterklasse zu entwerfen und zugleich ihre revolutionäre Funktion in der Menschheitsgeschichte aufzuzeigen. Diese gewaltige Aufgabe überforderte und erschöpfte die künstlerische Potenz dieser jungen revolutionären Literatur. Zur gleichen Zeit hatte sich die Literatur der „zornigen jungen Männer" den britischen Markt erobert; ihre Auflagenhöhe übertraf alle Erwartungen. Aus dieser Sicht fristeten die Arbeiterromane Len Dohertys, David Lamberts, Herbert Smiths, Robert Bonnars ein kümmerliches Dasein. Zur Illustration seien drei Verkaufsziffern der bei „Lawrence & Wishart" erschienenen Romane genannt: A Morning to Remember - 607 (die bei Seven Seas in Berlin publizierten nicht mitgerechnet); He Must so Live - 1420; A Miner's Sons - 3080. 177 Die vielversprechenden Ansätze einer repräsentativen proletarisch-sozialistischen Erzählliteratur mußten verkümmern, weil sich die Arbeiterschriftsteller in allen Phasen ihres Schaffensprozesses und unter den immer stärker profitorientierten Produktions- und Distributionsbedingungen mehr und mehr auf sich allein gestellt sahen. Diese Angaben geben noch keinen Aufschluß über die vielen unveröffentlichten Manuskripte jener Jahre. Zur geringen Publizität und Ausstrahlungskraft proletarischer Romane in jenem Jahrzehnt bemerkt P. M. Ashraf treffend: „Die Literatur der Arbeiterklasse und ihre Perspektive ist nicht an der tatsächlich vorhandenen geringen Zahl von Arbeiter- und sozialistischen Schriftstellern zu messen, die in der gegenwärtigen Situation in England überhaupt Bücher veröffentlichen können."178 Die lange Tradition einer Literatur der Arbeiterklasse in Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert spricht eher für ein Wiederaufblühen derselben unter günstigeren geschichtlichen Bedingungen.

Arbeit als Mittel

-proletarischer

Selbstverwirklichung

„Durch die Finsternis dringt nur der grelle Schein der Lampe vom Kopf des Bergmannes und das Scharren und Stoßen der Schaufel, wenn sie in die lockere Kohle eindringt und dann nach oben wegschwingt, um ihre Ladung auf das Förderband zu werfen. Der Bergmann beugt sich in den Hüften, die Beine weit gespreizt und steif, den Rücken zur Decke geneigt, während sich sein nackter, schwarzglänzender Körper schnell und rhythmisch auf und ab bewegt. Nichts existiert für ihn in diesem Augenblick außer dem kleinen Kreis, 103

den der Lichtkegel erzeugt. Dort ist die Kohle, die Decke über seinem Rücken und der ständige Lärm der Schaufel." (MS, 5)179 Dieser programmatische Auftakt zu einem der bekanntesten Romane der sozialistischen Arbeiterliteratur der fünfziger Jahre, Len Dohertys A Miner's Sons, ist ein symbolhafter Ausdruck proletarischer Willensstärke und Arbeitsfreude. Der mit großem Pathos geschilderte Vorgang der schwierigen Kohleförderung unter Tage erscheint als ein verallgemeinerter, gesellschaftlicher Vorgang, in dem der tätige Mensch wesentlich als nur abstrakte und zum wirklichen Lebensprozeß distanzierte Arbeitskraft fungiert. Arbeitskraft, Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand gehen ineinander auf: Die monotonen, rhythmischen Bewegungen des auf- und niederschwingenden schwarzglänzenden Körpers eines zum Symbol gewordenen anonymen Bergmanns, das Abschlagen der Kohle, das Scharren und Schürfen der Schaufel verschmelzen zur symbolischen Einheit des Arbeitsprozesses. Das gleicht einer Apotheose menschlicher Arbeit. Dieser utopische Arbeitsbegriff steht am Anfang, das heißt, noch außerhalb der Romanhandlung, und hat damit eine Signalfunktion: das kommunistische Ideal menschlicher Selbstverwirklichung durch Tätigkeit als eine ideologische Zielvorgabe voranzustellen, die dann in den sehr differenzierten und problematisierten individuellen Arbeitseinstellungen zu realisieren ist. Die positive Haltung zur Untertagearbeit ist hier nicht mehr Ausdruck eines konkreten, kurz nach 1945 von allen am sozialen Aufbau interessierten Kräften getragenen Aufbruchsoptimismus. Sie steht auch außerhalb der monopolkapitalistischen Realität und stellt die nichtentfremdete Arbeit in einer kommunistischen Gesellschaft dar. Zunächst demonstriert hier der Arbeiterschriftsteller, daß die bloße Faszination menschlicher Arbeit und ein bloß moralisch begründetes Berufsethos ohne proletarisches Klassenbewußtsein das Leben eines Arbeiters zerstören und seine Psyche verkrüppeln. Der alte kranke Meiler, Vater des jungen Arbeiterführers und Protagonisten Robert Meiler, ist auf Gedeih und Verderb mit seiner Grube verbunden und ihr ausgeliefert: „Denn seine ganze Lebenseinstellung war die eines Mannes, der in der Grube arbeitete. Er war mit Leib und Seele Bergmann. Etwas anderes zu werden hätte bedeutet, nicht mehr er selbst zu sein. Daraus bezog er seine ganze Kraft, das war die Grundlage seines Fühlens und Denkens, sein gesamtes Dasein wurde von seiner Arbeit bestimmt. Und da gab es auch noch seine Kollegen. Zu den Gemeinsamkeiten zählte vor allem ihr kollektives Be104

wußtsein, daß sie zu einer besonderen Klasse gehörten: zu den Bergleuten. Wenn er dies änderte, würde er nicht mehr mit ihnen zusammenleben, und keine der noch verbleibenden Gemeinsamkeiten konnte dann die Tatsache aufwiegen, daß er nicht mehr einer der Ihren war. J a , sogar zu Hause hatte sich sein Verhältnis zu Frau und Familie verändert. Nein, er konnte sich nichts anderes vorstellen - nicht um seines Lebens willen. D i e Grube hatte einen Anspruch auf ihn, und wenn er ihretwegen starb, mußte er ein Mann der Grube bleiben." (MS, 15) D i e Bewahrung kollektiver Bewußtseinsformen und traditioneller Denkweisen innerhalb einer Bergarbeitergemeinschaft sichert dem einzelnen ein soziales Existenzminimum und schützt ihn zeitweilig vor den harten Realitäten der Ausbeutergesellschaft, macht ihn jedoch unfähig, aus diesem „Teufelskreis", aus dieser systemimmanenten „Lebensphilosophie", aus der „selbstmörderischen Konsequenz" des eigenen Handlungszwanges auszubrechen. E r sieht für sich keinen anderen Ausweg als den, sein Leben in der Grube endgültig zugrunde zu richten. So begreift er auch nicht den Entschluß seines Sohnes, sich nicht der Brutalität und politischen Entrechtung durch die herrschende Klasse zu unterwerfen und sich dagegen mit den Mitteln des Streiks zu wehren. Dieser entlarvt die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der Grube und die Mechanismen des kapitalistischen Ausbeutungssystems. Doch Roberts Opposition gegen die Grube entspringt immer deutlicher persönlichen egoistischen Motiven, sein Image als vorbildhafter K o m munist schwindet. So gerät er in einen zum Teil selbstverschuldeten Zwiespalt zwischen politischem Karrieredenken und Treue zur Arbeiterklasse, der er sich durch Arroganz und verbissenen Führeranspruch zu entfremden droht. E r fühlt sich zum „Theoretiker" des Marxismus geboren, zum „Nachdenken und Studieren" über das Leben seiner Klassengenossen und weniger zur Solidarität mit ihnen im direkten Arbeitskampf. Robert verfällt einem ideologischen Elitedenken und scheut die Bürde der schweren körperlichen Arbeit aus Borniertheit. Sein „Protest" bedeutet eher ein Zurückweichen vor dem wirklichen Konflikt. In recht mechanischer Konfrontation zwischen Theorie und Praxis des Klassenkampfes, zwischen den „leichten Abstraktionen des Geistes" und den „harten Fakten der Welt" (MS, 79) typisiert der Autor seine Figur als karrierebewußten Parteiarbeiter. In einer abrupten Wendung läßt er ihn am E n d e doch erkennen, daß er seine kommunistischen Ideale nicht außerhalb der Yorkshire Kohlegruben, abseits von den Zentren der Klassen105

kämpfe, verwirklichen kann, sondern nur in voller proletarischer Identität und in ungeteilter Solidarität mit dem Leben, der Arbeit und dem Kampf der Bergleute. Bei David Lambert - in He Must So Live - wird die Arbeit des Eisengießers am Hochofen zu einem grandiosen Schöpfungsakt, zu einer Apotheose moderner Technologie. Die Überzeugung, eine gesellschaftlich bedeutsame Tätigkeit zu verrichten, prägt das Klassenbewußtsein des Arbeiters. Doch im Kapitalismus funktioniert Aneignung durch Arbeit zugleich als Entfremdung des Menschen, läuft letztlich auf seine physische und seelische Zerrüttung hinaus. Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung stehen sich bei Doherty in erschreckenden, hier anthropologisch gefaßten Kontrasten von Natur Mensch - Industrie gegenüber: „Einem Fremden hätte das Ganze als ein sinnloser Wirrwarr von Geräusch und Bewegung geschienen. Für Laurie war es eine glorreiche Symphonie, beschwingt, harmonisch, in der sich jeder falsche Ton sofort bemerkbar machte. Freilich war das Thema düster und wild, erschreckend in seiner nackten Brutalität. Denn hier, im dunklen Schöße der Industrie, rangen Männer mit der rauhen Natur, um den schönsten Schöpfungen eines technischen Zeitalters Leben und Form zu geben. Es war keine schmerzlose Geburt. Der Vorgang war durch alle Generationen barbarisch geblieben. Und die Schöpfer erlitten große Geburtsqualen. Eine zerschmetterte Hand, ein fehlendes Auge, der chronische, rasselnde Husten der Messinggießer, die versteinerten Lungen der Gießereiarbeiter, das Leben selbst. So wurde der Preis gezahlt. Für ihn waren diese Dinge unvermeidlich und ohne große Bedeutung. So war es nun einmal." (HMSL, 23) Wie der alte Melier bei Doherty betrachten auch hier die Eisengießer die Unmenschlichkeit ihrer Arbeitsbedingungen als unabänderliches Schicksal, dem sie in fatalistischer Resignation willenlos ergeben sind. In traditioneller Sicht auf das Verhältnis von kapitalistischer Produktion und Arbeitskraft entsteht eine zwanghafte Verkettung zwischen einem Mythos industriellen Wachstums und der Invalidität und Verkrüppelung des arbeitenden Menschen. Die Sicht auf die vergangenen Kämpfe erscheint pessimistisch. Aus der Perspektive des proletarischen Autors der fünfziger Jahre erfährt der Erzähler die Realität der dreißiger, in denen die Romanhandlung spielt, mit all ihren Klassenkampferfahrungen als Verlust. Dementsprechend vergrößert sich der Widerspruch zwischen sozialistischem Ideal und proletarischer Wirklichkeit, zwischen revolutionärer Persönlichkeit und den 106

Arbeitern in der Handlung. Die Masse der Arbeiterschaft ist zur eigenen Befreiungsaktion nicht in der Lage, und der zu starker Selbstdarstellung neigende, vom charismatischen Sendungsbewußtsein erfüllte Arbeiterführer steht ihr fremd gegenüber. Seine Arbeitshaltung ist der seines Vaters, der im Stolz auf seine Kohlezunft eher in der Zeche sterben will als aufhören zu arbeiten, konträr entgegengestellt. E r fühlt sich zu höherem politischem Handeln berufen. Seine politischen Aktivitäten sind vom Arbeitsprozeß getrennt, als dessen Opfer er die Arbeiter betrachtet. Daneben bleibt der Begriff der Arbeit als primäre Wesensbestimmung des Menschen, das Glücksempfinden über die menschliche Produktivität und Geschicklichkeit in poetisch ausdrucksstarken Farben unter den Bedingungen kapitalistischen Grundwiderspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung bestehen. Ansätze einer vom AutorErzähler getragenen marxistischen Analyse des Verhältnisses von Arbeit und Ausbeutung im Kapitalismus stehen unvermittelt daneben (vgl. HMSL, 56). In Herbert Smiths Kurzroman A Morning to Remember, dessen zentrale Episode einen schweren Arbeitsunfall in einem Kraftwerk schildert, widerspiegeln sich unterschiedliche Arbeitseinstellungen weniger als Klassen- denn als Generationskonflikte, in denen noch ein solidarisches Gemeinschaftsgefühl alter proletarischer Tradition bewahrt bleibt. Im liebevollen Umgang des alten Ted Milner mit seinen Werkzeugen und in der außerordentlichen Sorgfalt bei seiner Tätigkeit erkennen wir eine beinahe vorkapitalistische, handwerkliche Identifikation des Arbeitenden mit seinen Arbeitsinstrumenten und damit auch ein ganz eigenes, persönliches Verhältnis zum Produkt seiner Arbeit. Der junge Browdie dagegen empfindet bereits die Zwänge der Ausbeutung, die eben diese alte Identität und Illusion proletarischer Selbstverwirklichung zerstört: In seiner Beziehung zur Arbeitswelt widerspiegelt sich direkt die wachsende ökonomische Versachlichung, durch die der Arbeiter auch seinen traditionellen emotional-sozialen Bindungen an den Produktionsprozeß entfremdet wird. Dieses Gemeinwesen ist ein konfliktarm gestaltetes Fabrikmilieu im kollektiven Nebeneinander von lohnabhängigen, unterdrückten Arbeitern und Unternehmern. Da hinein fügt sich mit der Gestalt des Fabrikantensohnes scheinbar harmonisch die zukünftige junge technokratische Oberschicht - mit viel Sinn für neue Technologie und die Modernisierung der Produktionsbedingungen. Diese „große Ge107

meinschaft der Techniker, Monteure und Arbeiter" reflektiert auch illusionäre Vorstellungen zum Verhältnis zwischen den Klassen, wenn etwa der zukünftige Fabrikant als naiv und harmlos und den Arbeitern als unterlegen erscheint. Obwohl sich in der Realität der ökonomische Wandel von den traditionellen Arbeitsformen und dem unvermittelten, patriarchalischen Ausbeutungsverhältnis zu einem neuen, profitorientierten, korporativen Industriezeitalter längst vollzogen hat, dominiert hier noch individuelle Faszination an der Technik und an der Beherrschung von als furchterregend dargestellten Naturkräften, als Brian etwa die Vorgänge in einem Schmelzofen bewundert. Dagegen führen die geringen Sicherheitsmaßnahmen der Betriebsleitung in dieser veralteten und völlig überlasteten reparaturbedürftigen Produktionsstätte zur Katastrophe, der zwei Menschen zum Opfer fallen, und die eigentlich Schuldigen bleiben ungeschoren. Arbeit erweist sich als sinnlos oder gar lebensgefährdend für den Arbeiter selbst, und ihr Ethos steigert sich zur Farce, wenn man dem tödlich verunglückten Milner nachträglich und mit beschwichtigender Absicht vorbildliche Arbeitsmoral bescheinigt. Aber gerade in diesem plötzlich aufgebrochenen Konflikt zeigt sich eine Dauerhaftigkeit und Unverletzlichkeit der alten solidarischen Formen des Mitgefühls und Mitleidens und des gegenseitigen Beistands innerhalb des Proletariats. Einen dieser novellistischen Erzählform in Thematik und dramatischer Situationsschilderung sehr vergleichbaren und verwandten Roman hat Barry Hines geschrieben, The Price of Coal (1979; Der Preis der Kohle), der Grubenarbeit aus der heutigen Sicht verschärfter staatsmonopolistischer Ausbeutung darstellt. Zwischen den Arbeitern in der Grube und dem Kohlenmanagement „oben" besteht keine Kooperation mehr, und im sogenannten „Consultative Committee" machen sich Korruption und Duckmäusertum breit. Das erste Ereignis ist der angekündigte Besuch des Prinzen Charles in der Grube. Die Grubenarbeiter kommentieren dieses mit sarkastischem Witz und bitterer Ironie, sich damit passiv den Vorbereitungen seiner Ankunft widersetzend. Der Arbeiter Syd sagt: „Ich habe keine Zeit für die Königliche Familie. Ich hasse alles, was sie repräsentieren, und je eher wir sie los sind, umso besser ist dies nach meiner Meinung." (PC, 8) Die zweite zentrale Episode ist das schwere Grubenunglück, bei dem alle Grubenarbeiter in der großartigen alten Solidarität zusammenstehen. Doch anders als bei Herbert Smith wird hier das Unglück zum Medium der vollen Enthüllung unmensch108

licher Ausbeutung und der wahren Schuldigen, die im Management sitzen. Die historische Dimension der langen Kämpfe der Bergarbeiter (1972, 1974, die zum Sturz der Tory-Regierung geführt haben) bis zum großen Streik von 1984/85 wird bewußtgemacht, wenn die couragierte Bergarbeiterfrau Kath einem sensationsdurstigen lokalen Zeitungsreporter antwortet, er schreibe nur Lügen und sei nur an „sob-stories" (rührselige Geschichten), nicht aber wirklich am Schicksal der verunglückten Bergleute und ihrer Familien interessiert. Aus einer gegenüber den fünfziger Jahren veränderten historischen Situation verschärfter Klassengegensätze in Großbritannien, aber auch einer höheren Bewußtseinsbildung des Proletariats heraus wird eine neue schöpferische Qualität des Arbeitsbegriffs geboren. Robert Bonnar geht in seinem fast ein Jahrzehnt später entstandenen Roman Stewartie (1964) über das sich - im Verhältnis zur staatsmonopolistischen Realität - weitgehend selbstgenügende (und verselbständigende) Arbeitsethos der proletarischen Literatur der fünfziger Jahre hinaus und bereichert dieses aus einem vertieften historischen Verständnis gesellschaftlicher Prozesse. Zeitlich gehört der Roman eigentlich nicht mehr in die Phase der proletarisch-sozialistischen Literatur der fünfziger Jahre, doch er verkörpert in einer stark utopischen und von der Klassenkampfrealität der sechziger Jahre distanzierten Sicht eben diesen Typ des Arbeiterromans. E r stellt damit auch einen gewissen Abschluß dieser Periode dar, da er als möglicherweise letztes erzählkünstlerisches Werk im parteieigenen Verlag Lawrence & Wishart erschien. Von einem geschichtlich erweiterten Horizont des proletarischrevolutionären Schriftstellers und aus einem verstärkt humanistischen Impetus heraus kommen in einer späten, staatsmonopolistischen Phase in der sozialistischen Romanentwicklung noch einmal ästhetisch-gesellschaftliche Funktionen des sozialistischen Realismus voll ins Spiel. Der Autor verlegt seine Handlung zurück in die Zeit des Weltkrieges. Das kommunistische Credo wird poetisch versinnbildlicht und überhöht in der Wahl des Handlungsortes - seiner schottischen Heimat, das Fife, mit seinen dort tief verwurzelten kulturellen, volkstümlichen Traditionen, wobei James Leslie Mitchells Sunset Song aus der Trilogie A Scots Quair als erzählerische Folie des Romans den neuen Aspekt proletarisch-sozialistischer Traditionsverbundenheit anzeigt. Seine historische Dimension erhält das neue, visionäre Züge ausstrahlende proletarische Menschenbild nun aus 109

drei verschiedenen Zeitebenen: aus der großen Streikbewegung im Jahre 1926, der realen Handlungsebene in der Anfangsphase des zweiten Weltkrieges und aus der Entstehungszeit des Romans mit der zunehmenden Desillusionierung über den „Wohlfahrtsstaat" zu Beginn der sechziger Jahre. Im Hintergrund steht die episch breite Schilderung der schottischen Landschaft, die durch Sunset Song bereits vorgeprägt ist. Der Beginn des Krieges markiert auch für die Romanhandlung - durch die äußeren Zwänge bedingt - ein Ende der Arbeitslosigkeit in England. Die Rüstungsindustrie braucht Arbeitskräfte. In diesem geschichtlichen Rahmen boten sich Voraussetzungen für über die reale Klassengesellschaft hinausgehende utopische Sichtweisen, ohne daß die wahren Hintergründe deutlich werden. Der Held Bert Stewartie hat nach zweijährigem vergeblichem Bemühen um einen Job als Bergmann endlich in einem Eisenbahndepot Arbeit gefunden. Die Chance, nach langer Zeit wieder eine produktive Tätigkeit ausüben zu dürfen, wird zu einem besonderen Glücksumstand, der ihm „ein Gefühl der Freude, der Erleichterung" gibt, denn „es ist ein großartiges Gefühl, gewünscht, gebraucht zu werden". Stewarties ausdrückliche Liebe zur Arbeit läßt ihm die Tätigkeit im Eisenbahndepot, das Funktionieren der Technik der Lokomotive, zu einem eindrucksvollen Erlebnis werden, das mit beinahe hymnischen Worten geschildert wird: „Geradezu furchterregende Bestien waren diese Maschinen, so wie sie im Rauch und in der Düsternheit des spärlich beleuchteten Schuppens hintereinander aufgereiht dastanden und darauf warteten, daß man sie unter Dampf setzt, sie ölt, ihre Tanks füllt, ihre Kohle schürt, ihre Sandkästen auffüllt, ihre Lampen putzt, ihre Dampfkesseltüren schließt, ihre Führerkabinen, Fenster und ihre Sichtscheiben säubert, bevor sie zu ihrem nächsten Auftrag hinausfuhren. Und es war erhebend, das Klingen des Hammers zu hören, mit dem der Monteur jede der über die Montagegruben fahrenden Maschinen prüfte, die sich in vier Spuren durch die ganze Halle zogen, und das kurze, scharfe Pfeifen zu hören, jeder Pfiff mit einem anderen Klang, während die nächste zum Auslaufen vorbereitete Maschine Wasser und Dampf aus ihren Zylinderventilhähnen zischend zu versprühen und in Richtung auf das Signal des Schuppens loszurasseln begann." (Stewartie, 6, 9, 22) Ist ein solcher Begriff nichtentfremdeter Arbeit unter einfacher, mechanischer Technologie in der Zeit der technisch revolutionierenden sechziger Jahre überhaupt noch realistisch? Er scheint utopisch. Schon 110

Robert Tressell ließ seinen Helden Owen diese Erfahrungen unentfremdeter Arbeit machen, die ihm ein Stück Selbstverwirklichung ermöglichte. 180 Der recht unvermittelte, mechanische Bezug von Arbeitsmitteln und Arbeitskraft, der objektiven und der subjektiven Seite des Arbeitsprozesses, hebt die besondere Rolle des Menschen in der gesellschaftlichen Reproduktion hervor. Selbstverwirklichung (also Nicht-Entfremdung) realisiert sich bei diesen Arbeiterautoren weniger als Folge ökonomischer Veränderungen (eher im Rückgriff auf ältere soziale, ökonomische Strukturen), sondern in humanisierten (auch idealisierten) Lebensverhältnissen: im eingegrenzten, persönlichen Arbeitsbereich, im Umgang mit Genossen und Kollegen, in Ehe und Familie. Erst aus dieser gegenüber seiner Welt distanzierten Sicht vermag der Autor die Arbeit als die besondere Lebenstätigkeit des Menschen zu gestalten, die seiner eigentlichen, gattungsspezifischen Wesensbestimmung entspricht. Nur so kann die Selbstverwirklichung des Menschen durch seine eigene Arbeit ästhetisch realisiert werden - und zwar entgegen den tatsächlichen kapitalistischen Produktionsbedingungen. Nach Marx führt erst die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln zur Aufhebung der Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit und deren Produkt und damit zur Emanzipation seiner Sinne. 181 In diesem Stadium einer verstärkt' staatsmonopolistischen Entwicklung mußte der Kampf einerseits geführt werden gegen die weitere Entfremdung durch kapitalistische Ausbeutung, andererseits aber schon gegen das unter der Arbeiterschaft weitverbreitete Konsumdenken, das wieder zur Verarmung der Sinne führt. Bonnar gestaltet einen erstrebenswerten Zustand sozialistischer Eigentumsverhältnisse, indem er den marxistischen Arbeitsbegriff außerhalb der Tauschwertbeziehungen realisiert. Die illusionäre Lösung geht zurück auf ein vorindustrielles, handwerkliches Verhältnis zur Arbeitssphäre, wo Produktion und Konsumtion, Arbeit und Genuß noch eine relative Einheit bilden. Ziel und Zweck der Produktion ist nicht nur die Aneignung eines Gegenstandes des Gebrauchs, sondern auch der ihm inhärenten materiellen, kulturellen, ästhetischen Eigenschaften und spezifischen Wirkungen, also mithin auch der Genußvermittlung. Stewartie lehnt jede bürgerliche Bequemlichkeit und jedes korrumpierende Angebot bürgerlich gesicherter Lebensverhältnisse ab und ermöglicht so in proletarischer Genügsamkeit und Suche nach Selbstverwirklichung die Entfaltung harmonischer zwischenmensch111

licher Beziehungen und eines reichen produktiv-sinnlichen Verhältnisses zu seiner Arbeit. Im Vergleich zu diesem utopischen Arbeitsbegriff' tritt in dem Fabrikroman Smallcreep's Day (1965) von Peter C. Brown eine völlig umgekehrte Vorstellung von der Arbeit im modernen kapitalistischen Industriezeitalter zutage. Das von Marx geschaffene Bild des Arbeiters als „verkrüppeltes Monstrum" (MEW 23, 381) wird hier glänzend in Szene gesetzt. Die Maschinenfabrik ist zum beherrschenden Lebensraum geworden, in dem die Maschinen als furchterregende und dem Menschen gegenüber feindselige Macht erscheinen. Die diese Maschinen bedienenden Arbeiter selbst nehmen animalische Züge an, und in grotesker Übertreibung läßt der Autor die Flächenschleifmaschine durch ein dem Schwein ähnliches Wesen bedienen. In seinen durch Lärm und Fließbandmonotonie und Akkordarbeit erzeugten Halluzinationen wird der arbeitende Mensch willenlos und geistig abgestumpft. Es entsteht eine einzigartige Identität zwischen dem künstlerischen Gegenstand des Fabrikmilieus und der vom Autor gewählten Erzählform, die von Sarkasmus und satirischer Schärfe geprägt ist. Die zunehmende Verkrüppelung proletarischer Existenz und ihrer Gefühls- und Erfahrungswelt unter den Bedingungen staatsmonopolistischer Produktionsweise widerspiegelt sich auch in semantischen Deformierungen der ästhetischen Darstellung und in einer ungelösten Spannung zwischen Zeichen und dem Bezeichneten. Die Realität einer inhumanen Arbeitswelt und eine anonyme und fremdartige Sprachform ohne äußere Verveise auf menschliche Sensibilität sind zueinander in einen neuartig realistischen Bezug gesetzt, der letztlich auf eine Veränderung dieser inhumanen Verhältnisse gerichtet ist. Bemerkenswert ist dann doch die Initiative des Protagonisten Pinquean Smallcreep, der sich eines Tages auf Erkundungssuche nach dem Sinn seiner stupiden Arbeit macht. Was er erfährt, ist die totale Entfremdung des arbeitenden Menschen, der zu keinen anderen Empfindungen mehr fähig ist als zu Schmerz und Trauer - ganz im Gegensatz etwa zur Arbeitslust eines Arthur Seaton in Sillitoes Saturday Night and Sunday Morning. Mit frappierender und erschütternder Nüchternheit registriert Smallcreep die Unmenschlichkeit der Arbeit, die im scharfen Kontrast steht zum utopischen Arbeitsbegriff Robert Bonnars: „ ,Du arbeitest hier auch im Akkord', sagte ich. ,Ich habe mich gerade mit einem Kumpel weiter unten über Akkord unterhalten. - ,Ja', sagte er, .darum mußt du entschuldigen, daß ich meine Arbeit weitermache, während ich 112

mich mit dir unterhalte - es ist einfach unmöglich, damit aufzuhören, bevor nicht die Glocke läutet oder so etwas.' ,Ich bin sicher, es ist eine sehr große Belastung', sagte ich. ,Nun, ja und nein', antwortete er. ,Wenn du einen langen Durchlauf hast, ist es wirklich so, als ob du dich zum Schlafen hinlegst, nur daß du am Schluß müde bist. E s ist, als wärst du eine Puppe. Du siehst, wie sich deine H ä n d e und deine Arme vor dir biegen. Sie verrichten dieselben Dinge immer und immer und immer wieder, und sie scheinen nicht mehr zu dir zu gehören. Auch deine Beine. Als wenn du keinen Körper mehr hast und mitten in der L u f t schwebst. Und nach kurzer Zeit wird dir schwarz vor den Augen - wie unter einer Narkose, denke ich.' - ,Also ohne Schmerzen', sagte ich. , 0 ja - nur zu bestimmten Zeiten - zum Beispiel wenn wir auf einen neuen Job übergehen und die Einrichtung dafür verändern müssen. Wir leiden dann richtig unter Schmerzen wie ein Gelähmter, der wieder gehen lernt; du mußt dann versuchen, deinen eigenen Körper wieder in den Griff zu bekommen. Und zwar so, daß du nur in einer anderen Stellung wieder gelähmt werden kannst. Eine Zeitlang machst du da Abdeckungen für Kurbelgehäuse und dann Extruderdüsen, alles vielleicht an demselben Vormittag. Wenn du das Gefühl bekommst, irgend etwas ist nicht in Ordnung, dann kämpfst du und versuchst, es in Griff zu kriegen und wieder an die Oberfläche zu kommen, damit du herausfinden kannst, was los ist. Dann kommt der Schmerz, von dem ich gesprochen habe. Und dann gibt es da die Unruhe, zum Beispiel die Unruhe, daß die Zeit sozusagen von hinten über dich herfällt, wie bei einem Surfer, der sich mit seinem Brett nicht auf dem K a m m der Welle halten kann, oder wie bei einem Hasen, der den Berg runter rennt und dabei über die eigenen Beine fällt. Weißt du, es ist alles so aufgeschlüsselt, wie eine Art Vorherbestimmung; mit ein paar Zahlen weißt du es genau, wann du zehn Stück geschafft haben wirst, und dann genau, wann es fünfundzwanzig Stück sein werden. Und wenn die Glocke läutet, werden deine Hände hier und hier stehen und deine Füße da und dort. E s ist alles vor dir aufgezeichnet, jede Bewegung und jede Minute dafür. E s wäre alles nicht so schlimm, wenn mal jemand vorbeikäme und dir auf die Schulter klopfte oder fragte, wieviel du geschafft hast, oder sich sonst für irgend etwas interessierte. Oder einfach ein bißchen plauderte. Manchmal wünsche ich mir, irgend etwas würde kaputtgehen an dem verdammten Ding, einfach damit jemand kommen und

8

Magister

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danach sehen muß. Weißt du', sagte er mit einem Blick auf mich, ,du bist seit drei Monaten der erste Mensch, der hierher kommt und sich hierher stellt und mit mir spricht.' " 182

Proletarisches Menschenbild, und traditionelle Erzählweise Die ästhetische Gestaltung eines von der kapitalistischen Produktionssphäre abstrahierten Arbeitsbegriffs mit dem Blick auf eine zukünftige sozialistische Gesellschaft war vom Standpunkt des proletarischen Schriftstellers nur denkbar in einer Phase, als der Vergesellschaftungsgrad der Produktion in Richtung auf einen Staatsmonopolismus durch die Nachwirkungen des Krieges noch nicht weit genug vorangeschritten war. Doch Bonnar markiert den Endpunkt solcher sozialistischen Illusionen Mitte der sechziger Jahre. Dieses utopische Arbeitsethos bei Doherty, Smith, Lambert und Bonnar ist nun auch der Ausgangspunkt für die Entfaltung eines sozialistischen Menschenbildes. Der neue Held erscheint in der Unmittelbarkeit einer produktionsbezogenen Lebens- und Arbeitssphäre; er identifiziert sich mit seiner eigenen Arbeit und faßt diese als einen Teil seiner selbst. Indem sich der Arbeiter als Produzent u n d als Produkt seiner Arbeit weiß, wird er auch zu seinem eigenen ästhetischen Gegenstand; damit ist der proletarische Held zum humanistischen Wertmaßstab schlechthin erhoben, über den sich der Reichtum menschlicher Wesenskräfte erst voll entfalten kann. 183 Die Selbstverwirklichung in der Arbeitssphäre und der Kampf um die geistig-sittliche Bewährung im proletarischen Lebensmilieu führen unter diesen fiktiven sozialen Bedingungen nicht zur Entfremdung des Helden, da dieser seine Identität weitgehend auf der Basis einer außerkapitalistischen autonomen Arbeitswirklichkeit finden kann. Diese utopische Lösung mit durchgehend humanistischem Impetus erzeugt eine neue, proletarische Sensibilität bei Robert Bonnar, die über das starr an Klassenkampfstrategien orientierte Bild eines Arbeiterführers bei Len Doherty und David Lambert hinausgeht. Der proletarische Roman der Nachkriegsphase lebt vom ästhetischen Schein einer Gesellschaftsvision, die die Möglichkeit einer baldigen sozialistischen Zukunft prognostiziert - unter Ausschließung der traditionellen proletarischen Misere - und die in klarer Opposition 114

danach sehen muß. Weißt du', sagte er mit einem Blick auf mich, ,du bist seit drei Monaten der erste Mensch, der hierher kommt und sich hierher stellt und mit mir spricht.' " 182

Proletarisches Menschenbild, und traditionelle Erzählweise Die ästhetische Gestaltung eines von der kapitalistischen Produktionssphäre abstrahierten Arbeitsbegriffs mit dem Blick auf eine zukünftige sozialistische Gesellschaft war vom Standpunkt des proletarischen Schriftstellers nur denkbar in einer Phase, als der Vergesellschaftungsgrad der Produktion in Richtung auf einen Staatsmonopolismus durch die Nachwirkungen des Krieges noch nicht weit genug vorangeschritten war. Doch Bonnar markiert den Endpunkt solcher sozialistischen Illusionen Mitte der sechziger Jahre. Dieses utopische Arbeitsethos bei Doherty, Smith, Lambert und Bonnar ist nun auch der Ausgangspunkt für die Entfaltung eines sozialistischen Menschenbildes. Der neue Held erscheint in der Unmittelbarkeit einer produktionsbezogenen Lebens- und Arbeitssphäre; er identifiziert sich mit seiner eigenen Arbeit und faßt diese als einen Teil seiner selbst. Indem sich der Arbeiter als Produzent u n d als Produkt seiner Arbeit weiß, wird er auch zu seinem eigenen ästhetischen Gegenstand; damit ist der proletarische Held zum humanistischen Wertmaßstab schlechthin erhoben, über den sich der Reichtum menschlicher Wesenskräfte erst voll entfalten kann. 183 Die Selbstverwirklichung in der Arbeitssphäre und der Kampf um die geistig-sittliche Bewährung im proletarischen Lebensmilieu führen unter diesen fiktiven sozialen Bedingungen nicht zur Entfremdung des Helden, da dieser seine Identität weitgehend auf der Basis einer außerkapitalistischen autonomen Arbeitswirklichkeit finden kann. Diese utopische Lösung mit durchgehend humanistischem Impetus erzeugt eine neue, proletarische Sensibilität bei Robert Bonnar, die über das starr an Klassenkampfstrategien orientierte Bild eines Arbeiterführers bei Len Doherty und David Lambert hinausgeht. Der proletarische Roman der Nachkriegsphase lebt vom ästhetischen Schein einer Gesellschaftsvision, die die Möglichkeit einer baldigen sozialistischen Zukunft prognostiziert - unter Ausschließung der traditionellen proletarischen Misere - und die in klarer Opposition 114

steht zu den „Sozialismus"-Theorien der Labourideologen in den fünfziger Jahren. Die proletarische Identität realisiert sich in konsequenter klassenkämpferischer Konfrontation mit der Bourgeoisie, die jedoch als konkreter Klassengegner - im Gegensatz zu ihrer Einschließung im Roman der intellektuellen sozialistischen Autoren - kaum in Erscheinung tritt, sie wird eigentlich aus dieser Welt ausgeschlossen oder wie der Manager Laurie in He Must so Live als Schurke typisiert. Ihre Welt kontrastiert mit poetischen Verherrlichungen des proletarischen Milieus. Der Arbeiterroman steht außerhalb des bürgerlichen Literaturbetriebs und seiner etablierten Produktions- und Rezeptionsbedingungen; so war seine Publikationsmöglichkeit weitgehend beschränkt auf wenige linksorientierte Verlage wie „Lawrence & Wishart". Im Rückgriff auf die theoretischen Konzeptionen der Dreißiger, und mithin auf die ästhetischen Normen des sozialistischen Realismus, wurden solche Erzählkonventionen gewählt, wie sie aus dem klassischen bürgerlichen Roman überliefert sind und die am ehesten Verständlichkeit und operative Massenwirksamkeit versprachen. Dazu gehörten die lineare Handlungsstruktur, die unkomplizierte epische Erzählweise, die Prädominanz der proletarischen Führerpersönlichkeit, die dokumentarische Strenge und didaktische Konsequenz politischer Argumentation, aber auch das Pathos der ideologischen Aussage. Diese Erzählstrukturen entsprachen sowohl den künstlerischen Fähigkeiten des Arbeiterschriftstellers als auch dem Rezeptionsvermögen seiner proletarischen Leser. Eine eindimensionale und konfliktarme Handlungsstruktur gewährt dem Helden nur wenig Aktionsraum. Nichtverinnerlichte Klassenkampfschemata bestimmen Inhalt und Zielsetzung des Romans und führen zur einseitigen politischen Typisierung der Figuren und lassen Individualität von Charakteren nicht zu. Daraus erklären sich auch eine gewisse Vernachlässigung der subjektiven Seite revolutionärer Prozesse und die psychologisch-erzählerische Entmündigung des Protagonisten, der aus dem Zwang vorgegebener idealtypischer Verhaltensmuster und als ideologisches Sprachrohr des Autors handelt. Der proletarische Held Robert Meiler in Dohertys A Miner's Sons ignoriert wegen harter Parteiarbeit und der täglichen Organisation von Streiks im Bergwerk seine Privatsphäre. Die von außen in den Helden hineingetragenen, abstrakt gefaßten, stereotypen Normen und Verhaltensmuster erscheinen der ideologisch-künstlerischen Aussage des Romans vorausgesetzt. Die 8»

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große historisch-soziale Perspektive wird dem Leser angeboten, ohne daß sie in Charakter und Handlung mit überzeugenden individuellen Artikulationen korrespondiert. So erscheinen auch viele Eigenschaften und Aktionen der Gestalten als dem Leser einfach nur „präsentiert", weniger in einem komplexen und konfliktreichen Handlungsverlauf entwickelt. D i e vorgegebene heroische Charakterkonzeption ist aus einem mechanischen Widerspiegelungsbegriff heraus auf politische Identifikation zwischen Romanheld und Partei gerichtet und auf die direkte didaktische Manipulation des proletarischen Lesers. Mit dem Blick auf seine formalästhetische Komposition ist der Arbeiterroman deshalb zuweilen mit Trivialliteratur verglichen worden, was nicht zuletzt auf die niedrige Rezeptionsschwelle beider zurückzuführen ist. D i e Tatsache einer noch wenig problematisierten Figuren- und Handlungskonstellation muß jedoch aus der Sicht der historischen Funktionssetzung der proletarisch-sozialistischen Erzählliteratur seit der Mitte der fünfziger Jahre gesehen werden. D i e politische Situation drängte progressive und marxistische Schriftsteller zur unvermittelten Widerspiegelung gesellschaftlicher Konfliktkonstellationen. Doherty, Lambert, Bonnar und andere lieferten sie, und das mit revolutionärem Engagement und parteilicher Objektivität. Fiktive und historische Geschehnisse unerbittlicher Klassenauseinandersetzungen - Streiks, Protestkundgebungen, Kampfdemonstrationen, politische Versammlungen - strukturieren das Geschehen und bilden die Knotenpunkte der Romanhandlung. Diskussionen und Aussagen zu aktuellen politischen Ereignissen und ideologischen Streitfragen stellen das wesentliche erzählerische Material dar, das von den Figuren getragen wird. Dahinter verschwinden die ganz persönlichen Belange der handelnden Gestalten; ihre individuelle Ausprägung und die psychologische Motivation ihres Verhaltens sind der Aufklärungsfunktion aufgeopfert. In der direkten Verkörperung eines Idealverhaltens und in der politischen Überzeugungsfunktion lagen die Schwerpunkte schriftstellerischer Intention. Die Schaffung kommunistischer Leitbilder und Verhaltensnormen verstanden sie als einen geschichtlichen Auftrag, und eine zuweilen agitatorische und didaktisch-deklamatorische Darstellungsweise war nach diesem Zweck ausgerichtet. Damit ist einiges angedeutet zu den konzeptionellen Desiderata in der ästhetischen Funktionssetzung und der ideologischen Wirkungsweise einer Literatur, die aus der konkreten historischen Situation im Nachkriegsengland interpretiert und in einem ästhetisch-geschichtlichen Prozeß gesehen werden muß. 116

Von Doherty über Lambert und Smith bis zu Bonnar zeichnet sich ein Wandel der Figurenperspektive ab in Richtung auf ein komplexeres und ein psychologisch motiviertes Menschenbild. Der junge Robert Meiler in A Miner's Sons geht mit eiserner Konsequenz den geradlinigen Weg eines vorbildhaften Parteiarbeiters und Revolutionärs. Asketisch gegen sich selbst und unnachgiebig gegenüber seinen Mitmenschen verfolgt er sein einziges Ziel, eine proletarische Führerpersönlichkeit zu werden. Dieser Arbeitertyp ist stark am traditionellen Aufstiegsschema des bürgerlichen Romanhelden orientiert, wie ein Mann seinen Weg durch die Gesellschaft „nach oben" macht, erfüllt geradezu von einem übernatürlichen Sendungsbewußtsein: „Ein Mann wollte ein bißchen vorankommen - ein bißchen weiter als sein Vater sicherlich. Er konnte eine Menge erreichen in der Partei natürlich. Führer und willige Arbeiter wurden in der Partei immer gebraucht, und seit langem fühlte er sich zum Führer auserkoren." (MS, 188) Er nimmt nicht an einer Demonstration der Arbeiter teil, da zumindest „irgend jemand das Studieren und Denken besorgen" müsse. Er frönt noch ganz konventionellen Auffassungen von Liebe und Partnerschaft, indem er die ihn liebende Frau in seine Abhängigkeit treibt, demütigt und unterdrückt und schließlich die Erfüllung ihrer gegenseitigen Liebe verweigert mit dem für einen bewußten Arbeiter untypischen Anspruch auf eine vorher gesicherte Existenz und ein eigenes Haus. Ihm bedeutet der Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse von sozialer und politischer Unterdrückung nicht zugleich auch den Kampf für die Emanzipation der Frau und die Befreiung vom bürgerlichen Konsumdenken. Die Perspektive dieser Figur offenbart bereits die Widersprüche der organisierten Arbeiterbewegung und das Dilemma lokaler revisionistischer Parteiführungen. Sie wird überzeugend ergänzt durch die Komplementärperspektive in der Figur seines Bruders Herbert, der sich durch die Stimulierung geistig produktiver, musischer und literarischer Bedürfnisse zu einer lebensnahen, vielseitigen, menschlichen Persönlichkeit entwickelt, der dem egoistischen Verhalten seines karrierebewußten Bruders mit Kritik begegnet und schließlich aus echter Überzeugung und ohne Eigennutz der CPGB beitritt. Als ein wandelndes Monument von heroischer Größe und Kampfentschlossenheit, „er sah aus wie ein alter Wikingerführer, der sich anschickt, eine Ansprache an seine Mannen zu halten", erscheint der Arbeiter Bill Omond vor seinen Kollegen in der Werkhalle der Eisengießerei im Roman He Must so Live: „Dort, neben der großen 117

Ofentür, schwang Bill Omond, der silberhaarige Betriebsratsvorsitzende, seinen Hammer mit gebieterischen Schlägen gegen einen T r ä gerpfeiler. D e r Klang schwoll zum Dach empor, rollte bis in die entferntesten Ecken der Gießerei und zwang die Leute herbei. So magnetisch wie eine Kirchenglocke drangen die gleichmäßigen Töne in die widerstrebenden Ohren der jungen Leute . . . D i e Arbeiter versammelten sich; sie schwiegen und warteten. Ein verschwommener Halbkreis weißer Gesichter, der in dem trüben Licht so glatt wirkte wie ein Rad mit stählernen Felgen. An der Nabe stand fest, gerade aufgerichtet und selbstsicher, Bills einsame Gestalt." ( H M S L , 18) Das erhabene Pathos dieses pompösen Meetings entspricht dem Ernst der Begebenheit: der Ehrung des im Spanienkrieg gefallenen Arbeiterführers und leuchtenden Vorbilds D a v e Ramsay. An ihm, an seiner politischen Überzeugungskraft und Kampfeshärte und an seiner erfolgreichen Durchsetzung der Interessen seiner Arbeitskollegen, wird auch Bill Omond gemessen, und sein Vermächtnis wird zum bestimmenden Handlungsmotiv der Figuren. Als eine legendäre, beinahe mythische Gestalt tritt Ramsey immer wieder ins B e wußtsein der Arbeiter, besonders in kritischen Situationen des Arbeitskampfes. Parallel dazu kommt beständig die historische Persönlichkeit Harry Pollitts ins Bild. Historischer und fiktiver Persönlichkeitsmythos überlagern sich. Wie Georgi Dimitroff für den Arbeiterroman der dreißiger Jahre ist auch hier eine politische Persönlichkeit als Idealmuster erstellt. Bill Omond entwickelt sich zu einem Arbeiterführer, in dem ideale politische, ethische, geistige Verhaltensweisen vereint sind. E r wird zum Sprachrohr der marxistisch-leninistischen Weltanschauung des Autors. Konzipiert als makellose kommunistische Persönlichkeit, zeigt er Achtung und Liebe gegenüber der Frau, Toleranz gegenüber der unerfahrenen Jugend, Ausdauer in Diskussionen mit politisch Unwissenden. Hier werden proletarischer Alltag und Politik in eins gesetzt, sie sind integriert in eine geschlossene, aus der gesamtgesellschaftlichen Realität herausgetrennte Kommunikationssphäre, in der die politischen Gegner nur schemenhaft in Erscheinung treten. Zwischen Parteipolitik, politischer Öffentlichkeit und Privatleben gibt es keine Trennlinie. D e r Familiendisput Omonds über Religion und Politik widerspiegelt im kleinen den äußeren großen, unerbittlichen Kampf der Arbeiterklasse für die Befreiung des Menschen von politischer Unmündigkeit und reaktionärer Ideologie. Dieses

proletarisch-kommunistische

118

Menschenbild weist

in

sei-

nem hohen moralischen Anspruch und seiner ideologischen Integrität trotz exempelhafter Dogmatik des Charakters über die nur klassenkämpferisch und parteiaktivistisch orientierte Figur des Robert Meiler hinaus, zum Beispiel auf Bonnars Figur Bert Stewartie, in der bereits die reichen Potenzen der geistig-emotionalen und moralisch-sinnlichen Aneignung des gesamten Lebens der Arbeiterklasse („whole sensibility") angedeutet sind. Hier - in Bonnars Roman Stewartie - spielen politische Leitbilder wieder eine produktive Rolle bei der Entfaltung einer Führerpersönlichkeit: das fiktive Bild des Onkels Rob Broon, eines ehemaligen Bergmanns und Anführers der großen Streikbewegung von 1926, und die historische Persönlichkeit William Gallachers, des bekannten Gewerkschaftsführers und langjährigen kommunistischen Parlamentsabgeordneten (und Landesparteivorsitzenden, 1956-1963) von West Fife im Zentrum des schottischen Kohlebergbaus. Durch die ganz vertraute Arbeiterpersönlichkeit „Wullie" Gallachers erhält Stewartie in demselben Saal seine politische Weihe als junger Kommunist („he gave me my baptism in politics", Stewartie, 199), in dem er später sein Ehegelübde ablegt. So sind kommunistische Überzeugung und Eheglück, politische Aktivität und Privatleben symbolisch miteinander verschmolzen zu einem kollektiven proletarischen Persönlichkeitsbild, in dem alle seelischen, intellektuellen, emotionalen, moralischen, physischen Fähigkeiten des g a n z e n Menschen zusammenfließen und das ihn zum idealen Arbeiterführer im Klassenkampf prädestiniert. Die an der klassischen Norm und dem bürgerlich-humanistischen Ideal „schöner Menschlichkeit" orientierte idealistische Persönlichkeitsdarstellung sucht darin eine Dialektik von Klassenkampf und Humanität zu verwirklichen, ohne daß diese Dialektik im Roman fiktionalisiert bzw. von den Figuren bereits verinnerlicht wird. Die Arbeiterliteratur der fünfziger Jahre gestaltet ihre Repräsentanten oft wie Monolithen und abseits von realen Verhältnissen als eherne Vollstrecker und als Schöpfer einer von Rechtlosigkeit und Ausbeutung befreiten Gesellschaft. Diese etwas illusionäre Perspektive schließt neben der sozialen und politischen Befreiung der Arbeiterklasse auch die vollendete Emanzipation ihrer menschlichen Sinnlichkeit mit ein. In der Gestaltung dieser Vielfalt proletarischer Selbstverwirklichung liegen die Potenzen für eine sozialistische Kunst „als Modell komplexer und freier menschlicher Selbstentfaltung". 184 Die Idealforderungen an das neue Menschenbild der Arbeiterklasse stellen jedoch keine bloße Abwandlung bürgerlichen Indi119

vidualitätsstrebens dar, sondern sind Ausdruck einer neuen, kollektiv und solidarisch bestimmten Rolle des Individuums in der Gesellschaft. Robs Appell an die Arbeiter, „stolz auf ihre Arbeit zu sein, überall als gute Arbeiter bekannt zu sein, sich durch niemanden in noch so schwierigen Situationen von der eigenen Klasse ablenken zu lassen" (Stewartie, 47), schließt die Marxsche Forderung an die Arbeiter mit ein, sich die Produkte ihrer Arbeit, den ganzen vom Volke produzierten Reichtum auch selbst anzueignen. Der Arbeiterführer ragt hier nicht mehr als einsame, legendäre Gestalt aus dem Volke heraus, sondern fühlt sich mit ihm eng verbunden. Im Vordergrund steht nicht die Gestaltung eines konkreten Individuums, sondern eines „collective hero", der symbolhaft für „eine Gruppe fast gleicher Helden" 185 steht. Die im elitären Führungsanspruch des proletarischen Helden dennoch spürbare Distanz zur Masse ist ein Erbe des bürgerlichen Individualismus, den der proletarische Autor durch die Schaffung eben des „kollektiven Helden" zu umgehen sucht. E r wird zu einem Prototyp. Sein Aufgehen in dieser neuen Führerkollektivität löscht seine Individualität aus, zerstört in Wirklichkeit seine natürlichen, kreativen Triebkräfte, führte gleichsam die ästhetischen Potenzen des Arbeiterromans der Fünfziger in die Leere. Zur gleichen Zeit etwa entsteht der proletarische Roman Alan Sillitoes, dessen Arbeiterhelden - gewiß ohne die politische Integrität und Konsequenz eines kommunistischen Heldentypus - ein starkes individuelles Engagement für Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit und eine reiche Sensibilität entfalten. Eine solche Wirkungspotenz' war dem sozialistischen Arbeiterroman auf Grund seiner ideologischen Über-Funktionalität nicht gegeben. Seine psychisch-ästhetischen Potenzen sind veräußerlicht, in den Dienst einer Sache gestellt. Die politischen Postulate geben kaum Impulse mehr für erweiterte Figurenperspektiven. Dohertys „Helden" (etwa in The Good Lion; 1958) sind gebrochene, politisch korrumpierte Gestalten. Vielleicht erkennen wir erst bei Bonnar Ansätze einer - wie auch immer didaktisch verknappten - Sensibilität und damit einer stärkeren Orientierung auf die individuellen inneren, psychisch motivierten Verhaltensweisen, die auch seine politischen Ziele glaubwürdiger machen. Proletarische Aktion und menschliche Emotionalität kommen hier wieder in eine realistische Beziehung. Gegenüber der Konfliktlosigkeit der Handlung und der durch bloßen politischen Aktionalismus verursachten psychischen Verarmung des Protagonisten bei Doherty d e m o n s t r i e r t Bon120

nar in Stewartie auf den verschiedenen Ebenen des häuslich-familiären Milieus, der beruflichen Tätigkeit und des politischen Handelns eine an sinnlichen Wahrnehmungen, Gefühlen, an subjektiven Denk- und Verhaltensweisen weitaus reichere proletarische Persönlichkeit. Deren Präsentation erhebt den Anspruch, sich durch erhöhte soziale Bewußtheit dem ganzen Leben und der ganzen Gesellschaft zu öffnen und so eine universale Legitimation herzustellen, die auf einer sozialen Konkretheit und der Komplexität natürlicher und wahrhaftiger Lebensprozesse beruht. Die geschichtliche Leistung dieses vielfach gestalteten proletarischen Helden in bezug auf die Arbeiterbewegung bleibt unbestritten, seine ästhetisch-sinnlichen Potenzen hatten sich damit doch erschöpft.

Proletarisches

Erbeverständnis

Die Entfaltung der spezifischen Wesenskräfte und klassenkämpferischen Ideale des Proletariats hängt eng zusammen mit dem Verhältnis zu seinen kulturellen Traditionen. Das Bewußtsein proletarischer oder progressiver bürgerlicher Traditionen der Kunst und Literatur vermittelt wesentliche Impulse für die Konstituierung einer proletarisch-sozialistischen Gegenwartsliteratur und stärkt ganz wesentlich ihre geschichtliche Repräsentanz als eine zweite Kultur im Gegensatz zur linksradikalen Distanzierung zum nationalen Erbe. Die von der Kommunistischen Partei initiierte theoretische Schrift Britain's Cultural Heritage (1952) gab zu diesem produktiven Erbeverständnis für die Arbeiterschriftsteller wichtige Impulse. Bei Len Doherty kommt es noch zu einer sehr mechanisch abwertenden Gegenüberstellung von künstlerischer Tradition und der Praxis des Klassenkampfes, den „leichten Abstraktionen des Geistes" und „den harten und nur allzu wahren Fakten dieser Welt", der „schönen Literatur, die das Leben und die Größe des Menschen besang" und der „Schönheit der Sprache", die zu wundersamen Träumen anregt, und den „Werken zur Psychologie" (MS, 78-79), die im Menschen Introspektion und verunsichernde Selbsterkenntnis erzeugen; sie machen angeblich den Menschen nicht klüger, sondern führen zu Unzufriedenheit und Selbstzerstörung. Dabei ist in der Figur des Herbert Melier, eines künstlerisch tief empfindenden und begabten und politisch noch suchenden Arbeiters, bereits eine Alternative zum sektiererischen Streben des Funktionärs Robert MeTler angedeutet. 121

nar in Stewartie auf den verschiedenen Ebenen des häuslich-familiären Milieus, der beruflichen Tätigkeit und des politischen Handelns eine an sinnlichen Wahrnehmungen, Gefühlen, an subjektiven Denk- und Verhaltensweisen weitaus reichere proletarische Persönlichkeit. Deren Präsentation erhebt den Anspruch, sich durch erhöhte soziale Bewußtheit dem ganzen Leben und der ganzen Gesellschaft zu öffnen und so eine universale Legitimation herzustellen, die auf einer sozialen Konkretheit und der Komplexität natürlicher und wahrhaftiger Lebensprozesse beruht. Die geschichtliche Leistung dieses vielfach gestalteten proletarischen Helden in bezug auf die Arbeiterbewegung bleibt unbestritten, seine ästhetisch-sinnlichen Potenzen hatten sich damit doch erschöpft.

Proletarisches

Erbeverständnis

Die Entfaltung der spezifischen Wesenskräfte und klassenkämpferischen Ideale des Proletariats hängt eng zusammen mit dem Verhältnis zu seinen kulturellen Traditionen. Das Bewußtsein proletarischer oder progressiver bürgerlicher Traditionen der Kunst und Literatur vermittelt wesentliche Impulse für die Konstituierung einer proletarisch-sozialistischen Gegenwartsliteratur und stärkt ganz wesentlich ihre geschichtliche Repräsentanz als eine zweite Kultur im Gegensatz zur linksradikalen Distanzierung zum nationalen Erbe. Die von der Kommunistischen Partei initiierte theoretische Schrift Britain's Cultural Heritage (1952) gab zu diesem produktiven Erbeverständnis für die Arbeiterschriftsteller wichtige Impulse. Bei Len Doherty kommt es noch zu einer sehr mechanisch abwertenden Gegenüberstellung von künstlerischer Tradition und der Praxis des Klassenkampfes, den „leichten Abstraktionen des Geistes" und „den harten und nur allzu wahren Fakten dieser Welt", der „schönen Literatur, die das Leben und die Größe des Menschen besang" und der „Schönheit der Sprache", die zu wundersamen Träumen anregt, und den „Werken zur Psychologie" (MS, 78-79), die im Menschen Introspektion und verunsichernde Selbsterkenntnis erzeugen; sie machen angeblich den Menschen nicht klüger, sondern führen zu Unzufriedenheit und Selbstzerstörung. Dabei ist in der Figur des Herbert Melier, eines künstlerisch tief empfindenden und begabten und politisch noch suchenden Arbeiters, bereits eine Alternative zum sektiererischen Streben des Funktionärs Robert MeTler angedeutet. 121

Hier werden ideologische Kontroversen im Verständnis kulturhistorischer und erbetheoretischer Entwicklung der damaligen britischen Arbeiterführung sichtbar. Große Beispiele des sozialistischen literarischen Erbes werden bei David Lambert zu einem Vermächtnis des Proletariats. Die immer wieder zitierten Worte Nikolai Ostrowskis erscheinen als Symbol der Stärke und Schönheit proletarischen Lebens (vgl. HMSL, 140). Hier empfinden die Arbeiter das Fehlen von Büchern über ihre Lebensideale und über ihren Kampf gegen die Unterdrückung als einen schwerwiegenden Mangel. Sie haben das echte Bedürfnis, ihre eigene Welt im künstlerischen Abbild wiederzuerkennen bzw. diese selbst zu gestalten, und so beauftragen sie aus ihren eigenen Reihen einen begabten jungen Schriftsteller, das Leben der Arbeiterklasse authentisch darzustellen. Tressell und Mitchell werden zu klassischen literarischen Vorbildern des schreibenden Proletariats. Die unvermittelte, agitatorische Rezeption dieses proletarisch-sozialistischen Erbes erfolgt vorrangig aus der Sicht der „Praxis des Klassenkampfes" und ihrer kommunistischen Erziehungswirkung. Die Vorstellungen von einer harmonischen proletarischen Persönlichkeit und vom „Kunstschönen" in den proletarischen Traditionen werden hier direkt aufeinander bezogen. Bill Omond wendet sich deutlich gegen die „papiernen Kommunisten" in der proletarischen Literatur, bei denen „einem das Gruseln ankommt" (HMSL, 175). Als Beispiel nennt er gerade den Arbeiterfunktionär Ewan Tavendale in Mitchells Grey Granite, den er zwar für anschaulich und wahrheitsgetreu, aber für wenig menschlich überzeugend gestaltet hält - womit er eine zentrale Kontroverse auch heutiger marxistischer Literaturkritik aufgreift. Dieser Widerspruch zwischen ideologischer Funktion und ästhetischem Anspruch bleibt jedoch in der kritisierenden Figur selbst stecken. Die Repräsentation kommunistischer Verhaltensnormen in den Figuren und die Vermittlung von Geschichte und Gegenwart der revolutionären britischen Arbeiterbewegung zu jener Zeit sind ohne die kritische Aneignung der eigenen künstlerischen Traditionen nicht denkbar. Das tief verwurzelte volkstümliche und das revolutionäre literarische Erbe spielt auch in Bonnars Stewartie eine zentrale Rolle bei der anschaulichen Gestaltung des Lebensmilieus der Arbeiterklasse. Das berühmte Zitat aus Nikolai Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde über den Sinn des Lebens für einen revolutionären Helden wird hier voll auf die „gesamte Lebensweise" der britischen 122

Arbeiterklasse bezogen. Das Leben der Arbeiter ist mit den proletarisch-sozialistischen, aber auch mit den demokratisch-revolutionären Traditionen eng verbunden, und die Dichtung von Bums, Whitman, Shelley und die Romane von Tressell, Barke und Mitchell werden ohne ideologische Differenzierung als für das Proletariat bedeutsames Erbe begriffen. In Bobs visionären Vorstellungen von der Erziehung des Volkes zur Veränderung der Gesellschaft („in educatin' the people for the change", Stewartie, 46) wird ein utopischer Gedanke sichtbar, der durch die poetische Beschreibung des idyllischen Landlebens und durch das bukolische Motiv der Glückseligkeit noch verstärkt ist (vgl. 179, 191, 209-210). Die Hütte mit ihrem blühenden Kleingarten wird zum Symbol der Zuflucht vor den Feindseligkeiten der bürgerlichen Gesellschaft, zum Ort der Liebe und Geborgenheit. Diese aus der Tradition schöpfende poetische Darstellung der proletarischen Welt manifestiert die Würde und die Zuversicht des arbeitenden Volkes im Kampf um politische und geistige Emanzipation. Eine solch massive, lebendige Erberezeption durch den Arbeiterschriftsteller sucht auf diese Weise noch einmal die Kontinuität eigenständiger sozialistischer Kultur- und Lebenstraditionen zu bekräftigen.

Der Weg nach oben: Metaphern des Aufstiegs bei John Braine und Sid Chaplin

Entfremdung und Anpassung Am E n d e der ersten Nachkriegsperiode gewinnt für viele junge politisch engagierte wie oppositionelle Schriftsteller ein gesellschaftliches Phänomen an Anziehungskraft, das vor dem Hintergrund ideologischer Konvergenz und sozialer „Mobilität" in weiten Teilen besonders der proletarisch-kleinbürgerlichen Schichten neue Hoffnungen weckt: das allgemeine Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg und Erfolg. D e r mindestens in die liberale Phase des Industriekapitalismus zurückreichende Traum des Aufstiegs etwa vom besitzlosen Arbeiter und Angestellten zum Manager oder Firmenchef zeigt sich in den fünfziger Jahren stärker denn je, als der nach dem Krieg einsetzende ökonomische Wandel vom monopolkapitalistischen zu einem staatsmonopolistischen System die etablierten moralischen Konventionen und Wertvorstellungen und das soziale Gefüge der Klassen und Schichten erschüttert. D e r zunehmende Opportunismus und die Übernahme bürgerlicher Zielvorstellungen durch proletarische Schichten, was mit einem tatsächlichen wirtschaftlichen Aufschwung und einem wachsenden materiellen Wohlstand auch der Masse des arbeitenden Volkes einherging, schufen den Nährboden für illusionistische Gedanken an schier unbegrenzte Möglichkeiten eines „Weges nach oben". Doch der wirtschaftliche Aufschwung stand Mitte der fünfziger Jahre bereits im Widerspruch zu einem spürbaren sozialen Abbau. Daraus erklärt sich auch die Tatsache, daß Aufstiegsträume und sozialer Perspektiveverlust im Bewußtsein der arbeitenden Schichten dicht nebeneinanderlagen. D a s weitgehende Versagen des „Weifare State" rief vor allem den Protest der jungen Generation gegen soziales Unrecht, gegen die Unmoral und die Unfähigkeit der Bourgeoisie als politischer Führungsschicht hervor. D i e Rebellion äußerte sich in der neuartigen Literatur der Angry Young Men, jener mit einem individualistisch ausgeprägten Lebensanspruch ausgestatteten Gruppe von jungen Män124

nern aus der Arbeiterklasse, die mit Hilfe eines Stipendiums in Grammar School und College („scholarship boys") höhere Bildung erwarben und sich bald ihrer ursprünglichen Herkunft entfremdeten.186 In ihren Romanen zeigt sich ein neuer Alltagsrealismus, der den entwurzelten Helden in seiner geistigen, moralischen Zerrissenheit und sozialen Zwiespältigkeit und Aggressivität präsentiert. Dieser ist ein „Antiheld", der gegen alle bürgerlichen Konventionen von Bildung und Erziehung rebelliert. Der Versuch, aus den Bindungen seiner sozialen Herkunft auszubrechen, endet mit der Entfremdung des Outsiders, der den scheinbaren sozialen „Aufstieg" in ein anderes soziales Milieu mit dem Verlust moralischer und geistiger Werte bezahlt. Der andere produktive literarisch-ideologische Reflex zum Aufstiegsphänomen kommt aus dem Arbeiterroman selbst, der wie bei Jack Lindsay und Margot Heinemann - den sozialen Aufstieg der Figur zum korrumpierten Intellektuellen und avancierten Gewerkschaftsfunktionär typisiert. Dieser „Aufstieg" ist jedoch nicht das dominierende Moment des Arbeiterromans, der dieses auch nur als Rand- und Ausnahmeerscheinung begreift. Die literarische Erscheinung des Aufstiegs ist ganz deutlich bereits im metaphorischen Titel von John Braines Roman Roorn at the Top (1957; Der Weg nach oben) aufgegriffen, einem Erfolgsschlager mit der typischen Problematik der Angry Young Men: dem Durchbrechen der Grenzen ihrer sozialen Herkunft und dem Aufstieg zu „einem Platz ganz oben". Anpassung an minderwertige Standards bourgeoisen Verhaltens und Entfremdung treten ein mit dem ständigen „Leben auf der Höhe", wie es in Braines Fortsetzungsroman Life at the Top (1962; Ein Mann der Gesellschaft) geschieht. Braines zweiter Roman stellt eine entschiedene Abkehr von seiner ursprünglich antikapitalistischen Oppositionshaltung und dem moralisch-geistigen Anspruch seines Helden dar, der bis dahin gegenüber der Bourgeoisie noch Überlegenheit und Abscheu empfinden kann. Im Gegensatz zu Life at the Top suggeriert der Titel von John Wains Roman Hurry on Down (1953; Eile hinab) eine entgegengesetzte Entwicklung seines Helden; Charles Lumleys paradoxes Streben geht nach Befreiung von jeglicher Bindung und Verantwortung, auch von einer durch Collegebildung erfolgversprechenden Karriere in der bürgerlichen Gesellschaft. Sein Weg führt „nach unten" und doch wieder unentrinnbar in die unpolitische Anpassungshaltung. Es ist wohl auf beide Heldentypen zutreffend, hier von einem „Antihelden" oder einem „reduzierten Charakter"187 zu sprechen. 125

Während Braines frühe Romane ihre Impulse noch aus einer monopolkapitalistischen Wachstumsphase empfangen, läßt Sid Chaplins Roman Satn in the Morning (1965; Sam am Morgen) bereits die Folgen anwachsender staatsmonopolistischer Konzentration und Manipulation des Individuums erkennen. Der Arbeiterschriftsteller Verfasser von Romanen über das Leben nordenglischer Industriearbeiter - zeigt darin bereits ein neues Stadium verschärfter Entfremdung und Anonymität im Klassenstaat der sechziger Jahre. Er enthüllt noch krasser und tiefgreifender als Braine die Folgen kapitalistischer Ausbeutung und Enthumanisierung. Der gescheiterte Protest mündet in Anpassung und Subordination und in einen erheblichen Verlust der produktiven, emanzipatorischen Substanz des Romanhelden. John Braines Roman Rootn at the Top zeigt durch seine widersprüchliche Rezeptionsgeschichte die Schwierigkeiten seiner sozialgeschichtlichen wie literarisch-ästhetischen Einordnung. Die aus einem grundsätzlich gesellschaftskritischen Engagement entspringende sprachliche Unkompliziertheit und klare Verständlichkeit ist der Literatur der „Angries" vom formalästhetischen Standpunkt immer wieder als „unkünstlerische" Darstellungsweise angekreidet worden, etwa als „ein deutlicher Niedergang der Schreibqualität", als „stilistische und strukturelle Schwachpunkte", als „Beweis für den Mangel an Künstlertum oder für reine Trägheit", die nichts mehr zu tun haben mit „schöner Literatur"188. Speziell am sozialkritischen Moment der „Angries" hat die bürgerliche Kritik Anstoß genommen, indem sie deren Werke „mehr als Demonstrationen gewisser sozialer Erscheinungen denn als Erzählprosa" interpretierte. Sie diffamierte die junge Protestliteratur gerade wegen dieser deutlichen gesellschaftlichen Funktionssetzung in jener Periode monopolkapitalistischer Konsolidierung, indem sie ästhetische Wertmaßstäbe des bürgerlichen Romans des 19. Jahrhunderts dagegenstellte. So hielten manche den Begriff der „Wehleidigen" („snivelling") für passender als den der „Zornigen", da ihr Protest sich nicht anders äußere als in Gewalt und Unfug, Trunksucht und Aggressivität gegenüber der Vernunft etablierter bürgerlicher Wertvorstellungen.189 Kenneth Allsop hat vielleicht eine der frühesten positiven Wertungen dieser Bewegung erbracht mit der Bezeichnung der „Andersdenkenden" („dissentients")130 und ihre wesentliche soziale Funktion gekennzeichnet, wobei er besonders auf ihre psychisch-soziale Affinität zur amerikanischen Protestbewegung der „beat generation"191 hinwies. 126

Doch mit Recht wandte sich Péter Egri gegen Allsops ahistorische und einseitig psychopathologische Deutung der „Angries" und verknüpfte deren individualistische Aktionsbesessenheit mit konkreten sozialen Fragestellungen 192 . Auch Bruno Schleußner sah ihren Beitrag zur englischen Gegenwartsliteratur aus einem psychoanalytischen Blickwinkel wesentlich darin, „ d i e B e d r o h u n g d e s e i n s a m e n I n d i v i d u u m s in der Form des Ich-Romans von der Reportage über die komische bis hin zu weitgehend tragischer Darstellung an einem mehr und mehr psychischem Zwang ausgesetzten Protagonisten gestaltet zu haben" 193 . Ebenfalls psychologisierend erkennt Kurt Schlüter in John Braines Room at the Top weniger die Darstellung einer gesellschaftlichen Realität als vielmehr „das Drama der menschlichen Seele": „Die Liebesverhältnisse sind ein integraler Bestandteil der Romanhandlung, weil sie den obersten Wert veranschaulichen, der metaphorisch Leben und begrifflich Wirklichkeit genannt wird. Dieser höchste Wert steht im Gegensatz zu dem Scheinwert des Erfolges, der in der Formel .Successful Zombie' mit dem schlimmen Unwert verknüpft ist". 194 Immer wieder haben Einzelaspekte - meist losgelöst von ihrem historisch-funktionalen Stellenwert - die Aufmerksamkeit der Kritiker auf diesen Roman gezogen: die „idyllischen Szenen" als Verhältnis von Natur und Gesellschaft, die Motive „money", „class" und „sex" 195 oder die existentialistische Charaktertypisierung zwischen Entfremdung und Anpassung, die Selbstfindung und Abnabelung sowie Verinnerlichung im „Antihelden", „paradoxen Outsider", „rebellischen Insider" 196 , oder die Aufdeckung pikaresker Züge zur Bereicherung des Heldenbildes, etwa wenn Ulrich Broichs aktualisiertes Picaro-Modell dazu benutzt wird, die Trivialliteratur gegen die sogenannten „Höhenkämme" der etablierten bürgerlichen Literatur zu verteidigen 197 . Vielleicht betont dieses pikareske Bild stärker das Dynamische in der Entwicklung der „zornigen" Helden innerhalb einer sich wandelnden Gesellschaft, damit die emanzipatorischen Potenzen ihres „Zorns" und ihrer Rebellion unterstreichend, die auch ihre Anpassung und Entfremdung mit einschließt. Braines Metapher des Aufstiegs konstituiert sich aus eben diesen widersprüchlichen Komponenten von Protest und Integration. Sein Romanheld Joe Lampton steht deutlich mitten im sozialen und geistig-moralischen Konflikt der Klassen, ohne jedoch die wahrhaft „zornige" Rebellion gegen den „Wohlfahrtsstaat" eines Jimmy Porter in John Osbornes Drama Look Back in Anger (1956; Blick zurück 127

im Zorn) oder die sarkastische Schärfe in der intellektuellen Opposition eines Jim Dixon gegen das wohlsituierte bürgerliche Establishment in Kingsley Amis' Lucky Jim (1954; Glück für Jim) zu erreichen. Der Ich-Erzähler reflektiert aus der zeitlichen Distanz von zehn Jahren die Entwicklung des Helden Joe Lampton nach seinem Kriegsdienst in der Royal Air Force, nach seinem Studium, als er sein altes proletarisches Lebensmilieu in einer schmutzigen Industriestadt des Nordens (Dufton) verläßt, um in der gutbürgerlichen Welt der Stadt Warley seinen angestrebten „Weg nach oben" zu machen: „going to the Top". E r verläßt Dufton in voller Verachtung gegenüber der erwerbssüchtigen Mittelklasse, die er zusammen mit seinem Freund Charles Lufford in einem erfundenen „Klasseneinstufungsspiel" spöttisch in unterschiedliche Kategorien von „Zombies" 198 unterteilt, obwohl er sich paradoxerweise am Ende selbst einen „erfolgreichen Zombie" nennen kann, weil er seine moralische Integrität aufs Spiel gesetzt hat. Trotz zunehmender Anpassung an die bourgeoise Moral bekennt sich der Held noch lange zu seiner Herkunft aus dem Arbeitermilieu, was er oft betont: „I am working-class" (RT, 57, 165). Hier kommen noch deutlich Reste eines proletarischen Bewußtseins ins Bild teils als individualistischer Ausdruck einer antikapitalistischen Opposition, teils als eine aggressive Form der Selbstbehauptung gegenüber bourgeoiser Selbstgefälligkeit und Machtbesessenheit. Dahinter stehen die Erinnerungen an sein proletarisches Elternhaus und das Vorbild seines Vaters, die lange Nachwirkung der Erzählungen von den entbehrungsreichen dreißiger Jahren, von Hunger und Arbeitslosigkeit und den sozialen Kämpfen. Sie haben seine Sinne für die alten proletarischen Tugenden der Selbstlosigkeit, des echten Mitgefühls und der Solidarität geschärft, sein moralisches Wertsystem für die Zukunft entscheidend geprägt und wirken unterschwellig weiter auch in der Zeit seiner radikalen Anpassung an die Normen und die Lebensweise der Bourgeoisie. Das schmutzige und trostlose Arbeiterviertel dient ihm zuweilen als Zufluchtsort vor der Arroganz, Falschheit und Erniedrigung in der bürgerlichen Welt, doch fühlt er sich von diesem proletarischen Milieu bereits ausgeschlossen. Der Erzähler läßt den Protagonisten die realen Klassenverhältnisse immer wieder durch das von ihm eigens dafür erfundene „Klasseneinstufungsspiel" mit den „Zombies" erleben und selbst durchexerzieren, in welchem er seine Mitmenschen zur besseren Übersicht über die eigenen Aufstiegschancen einzig nach Kriterien des materiellen 128

Erfolgs und gesellschaftlichen Ansehens einrangiert. E r selbst verliert so mehr und mehr seine Bindungen an die erworbene „proletarische Mentalität" und damit auch das Gespür für die moralischen Grundwerte des arbeitenden Menschen und dessen Stolz auf seiner Hände Arbeit. Die sichtbaren Wandlungen in der Persönlichkeitsstruktur des Helden, der sich deutlich den Normen und Wertvorstellungen der Herrschenden anpaßt, führen nun auch zu Wandlungen in der Metaphorik des Aufstiegsstrebens. Einige ökonomische Faktoren für solche Illusionen des Individuums liegen in den durch die provinzielle Abgeschiedenheit im Norden Englands nach dem Krieg länger erhaltenen traditionellen Produktionsformen eines Industriekapitalismus, der noch liberalistische Ideen von gesellschaftlicher Mobilität und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten freisetzt. Eine solche geschichtliche Konstellation findet der Protagonist Sam Rowlands in Chaplins Roman in den sechziger Jahren nicht mehr vor. Braines Typ eines Industriellen etwa verkörpert den Unternehmer-Besitzer und Produktionsmanager in einer Person. Allgewaltig fühlt er sich auch als patriarchalisches Familienoberhaupt, der seine Tochter Susan standesgemäß nicht mit dem kleinen Buchhalter J o e Lampton verheiraten will. Der soziale Konflikt scheint unlösbar. Doch liberale Ideen in bezug auf Klassenbeziehungen haben soweit noch ihre Wirkungskraft, daß der Erzähler in den ungleichen und disparaten Beziehungen zwischen Susan und J o e wenigstens die Illusion eines Zusammenwirkens zwischen Unternehmer und einem Lohnabhängigen schaffen kann. Der Unternehmer Brown und der Buchhalter Lampton können bei Wahrung ihrer individuellen Grundsätze und sozialen Interessen eine gemeinsame Basis als Partner in einem „Geschäft" - einem Agreement mit beiderseitigem Vorteil - finden, wenn sie gleichzeitig verwandtschaftliche Bindungen eingehen. Dies setzt keine gegenseitige Achtung und Anerkennung voraus. Einerseits distanziert der Erzähler diesen „Erfolg" Joes als „unmoralisch", andererseits rechtfertigt er diesen aber als einen Triumph über die Bourgeoisie, der jedoch von dem Helden teuer bezahlt werden muß. Persönliche Bindungen, individuelle Interessen und Unternehmerpolitik werden hier in zynischer Weise zu einem Pakt verschmolzen. D a s Streben nach materiellem Reichtum und nach einem höheren gesellschaftlichen Rang - ein Kindheitstraum Joes - erscheint aus einem neuen sozialen Selbstbewußtsein heraus als ein rechtmäßiger und klar kalkulierbarer Anspruch des Individuums, für dessen rück9

Magister

129

sichtslose Durchsetzung gegenüber einer verachtungswürdigen Gesellschaft vom Standpunkt des Autors jedes Mittel legitim ist. Unter den Bedingungen eines noch gemäßigten, lokal begrenzten Vergesellschaftungsgrades der Produktion (in der Schilderung der ökonomischen Verhältnisse der Stadt Warley im Roman) ist das Individuum noch nicht so starken sozialen Zwängen und politischen Manipulationen ausgesetzt, als daß es nicht wenigstens die Illusion einer relativen Freiheit und der Entfaltung seiner physischen und psychischen K r ä f t e hegen, also durch eigene Anstrengung und Begabung die s.oziale Hierarchie hinaufsteigen könnte. Ökonomische Vorgänge und das gesellschaftliche Funktionieren großbürgerlicher Institutionen und Herrschaftsmechanismen werden für den einzelnen noch relativ leicht überschaubar und hier durch Joes raffiniertes Vorgehen und seine Hartnäckigkeit auch zugänglich: etwa der bürokratische Apparat der Stadtverwaltung und die lokale Administration, das industrielle Management und der exklusive Klub der Konservativen in Warley. Dem Kapital begegnet er in konkret faßbarer Erscheinung: personifiziert im Industriellen Brown und in dessen verhaßtem zukünftigen Schwiegersohn Jack Wales, in den Geschäftsleuten und Unternehmern von Warley und London, den „Councillors" und konservativen „Lokalpolitikern; materiell vergegenständlicht in den Besitztümern der oberen britischen Wohlstandsgesellschaft: den Villen der Reichen und deren Luxusausstattungen und dem auffälligsten Statussymbol ihrer Lebensweise - der Luxuslimousine, immer wieder von J o e bewundert. D a s vom bürgerlichen Gesetz legitimierte Streben nach Besitz und Reichtum wird um so mehr zum persönlichen Gesetz des Helden erhoben, je tiefer er sich in die Einflußsphäre der bürgerlichen Ideologie begibt. Der Gewinn materiellen Reichtums oder die Aussicht darauf bedingt zugleich die Voraussetzung für seine geistig-moralische Entfremdung. Darin repräsentiert er den typischen Fall des seiner ursprünglichen Klassenzugehörigkeit entfremdeten Intellektuellen. G e r a d e in den fünfziger Jahren wurden die Klischees des sozialen Aufstiegs und materiellen Erfolgs durch Tüchtigkeit und auch persönliches Glück von der bürgerlichen Massenkultur - insbesondere von Film und Fernsehen - in unzählig reproduzierten Mustern und öden Variationen abgenutzt. D e r Held nun erscheint als ein Individuum, das sowohl die Wahl als auch ein absolutes Recht darauf zu haben glaubt, in den Besitz und den Genuß jeglicher Produkte der Konsumgesellschaft zu gelangen. Beim Anblick eines modernen, 130

teuren Autos faßt er den Entschluß: „Dort und damals traf ich meine Entscheidung: Ich war entschlossen, an all dem Luxus teilzuhaben, den dieser junge Mann genoß. Ich war im Begriff, von diesem meinem Recht Besitz zu ergreifen." (RT, 32) Joe Lampton charakterisiert von Anbeginn eine wahrhaft naive Faszination durch die Produkte der kapitalistischen Warengesellschaft: Der technische Komfort eines neuen Autos wird gleichsam lebendig und erzeugt in ihm ein sentimentales Glücksgefühl, das er vor den übersättigten Vertretern der Bourgeoisie (verbrämt als „working-class sentimentality") schon klugerweise zu verbergen gelernt hat. Er erklärt der herrschenden Klasse insgeheim den Krieg und operiert in der bourgeoisen Arena - unter Ausnutzung der bei der Royal Air Force erworbenen Kampferfahrungen - mit militärischer Strategie und nach einem generalstabsmäßigen Plan, der auch zeitweilige Niederlagen berücksichtigt. Er sieht sich als Einzelkämpfer in Wirklichkeit bleibt er der „Outcast", der zwischen den Klassen steht - gleich einem ungebundenen Picaro, doch vom Status und mit der Attitüde eines Edelmanns, in seinen Worten: „ein ausschweifend lebender Reisender - ausschweifend in der Art und Weise eines Gentleman" (RT, 5). Mit der Illusion einer materiellen Unabhängigkeit und der Aussicht auf ein luxuriöses Leben ist er bereit, seine persönliche Unabhängigkeit aufzugeben. Der Preis aber ist hoch, wie sich erst recht in Braines Fortsetzungsroman zeigt. Denn er gewinnt auch keine m a t e r i e l l e Unabhängigkeit, da er von den Reichen nur geduldet, nur als Eindringling behandelt wird. Die eigenen Ressentiments und Aggressionen gegenüber der besitzenden Klasse bleiben bestehen, solange der Erzähler die Klassenerfahrungen des proletarischen Elternhauses mit sich herumträgt. Von seiner Familie und ihrem Denken und Fühlen hat er sich weit entfernt, ohne sich die Moralvorstellungen der bürgerlichen Klasse gänzlich zu eigen machen zu können. Doch diese Kluft schwindet, je mehr die zeitliche wie moralische Distanz des Erzählers zusammenschmilzt, je mehr die Perspektive des Autors mit der des Erzählers zusammenfällt bzw. sich in bestätigender Haltung gegenüber dem Handeln des Protagonisten selbst kundtut. Dieser Zeitpunkt ist erreicht, als er seiner Geliebten in spießbürgerlicher und heuchlerischer Entrüstung „unmoralisches" Verhalten in ihrer Vergangenheit vorwirft, nur um einen Vorwand für die Trennung von ihr zu bekommen.

9*

131

Distanzverlust

des Erzählers

Dieses die emanzipatorischen Ansätze in der Figur untergrabende „heuchlerische" Moralisieren des Protagonisten markiert zugleich einen Bruch im Verständnis zwischen Autor und Leser: Letzterer vermag immer weniger Sympathie für die seinerseits „unmoralische" Haltung Joe Lamptons aufzubringen. Seine jetzt ausschließlich auf den sozialen Aufstieg ausgerichtete Handlungsweise ist ein - vom Ich-Erzähler immer seltener gefaßter und dem Leser immer weniger bewußt gemachter - Verlust an charakterlicher Grundsubstanz. Sie führt zum endgültigen Verrat an Alice Aisgill, bei der er menschliche Wärme, Sicherheit und wahres Glück fand, und sie steigert sein zwiespältiges und eigennütziges Verhältnis zu Susan Brown, die er nur um des Geldes willen und dem Zwang der Ereignisse folgend ehelicht. Die im Zentrum der Romanhandlung stehenden Liebesbeziehungen Joe Lamptons werden zum Prüfstein seiner Humanität. Seine gesellschaftliche Entwicklung steht in einem umgekehrten Verhältnis zu seiner moralischen. Mit der Aufkündigung seiner natürlichen menschlichen Bindungen hat er sich auch seiner moralischpolitischen Urteilsfähigkeit begeben. Immer unverblümter macht sich Joe das rücksichtslose und kaltschnäuzige Verhalten der dünkelhaften Vertreter der Bourgeoisie zu eigen. Monologisierend bekennt er, daß er sich für Macht und Reichtum jederzeit verkaufen würde: „Natürlich würde ich in der freien Wirtschaft Leuten, die ich nicht ausstehen könnte, Honig ums Maul schmieren, die Unterhaltung immer auf ihre Lieblingsthemen lenken und sie einladen müssen, aber der Gewinn w ä r e der Mühe wert. Wenn ich schon meine Unabhängigkeit verkaufte, dann um einen gehörigen Preis." (RT, 135) Diese Strategie einer sich selbst auferlegten Gefühlsmanipulation muß zu einem noch schwereren psychischen Konflikt führen. Um in seinem Verhältnis zu Susan Brown und damit in seinem sozialen Aufstieg schneller voranzukommen, paßt er sich entgegen seiner natürlichen Empfindung vorübergehend ihrer Geistes- und Sinnesebene an. Die Welt des Geldes und des äußeren schönen Scheins und die innere Welt menschlicher Gefühle vermischen sich wie in einem Märchen, doch auf eine triviale W e i s e : „Sie war, ganz abgesehen von ihrem Reichtum, die Frau, die man zu heiraten wünscht. Sie war die Prinzessin aus dem Märchen, das Mädchen aus dem alten Volkslied, die Heldin aus der Operette. Sie war es, weil sie das Gesicht und die Figur dafür hatte und in 132

die entsprechende Einkommensgruppe gehörte." (RT, 66) So schwankt er zwischen Liebe und Selbsttäuschung, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Schein und Sein: „Ich konstruierte, wenn Sie so wollen, ein richtiges Märchen." (RT, 67) Da wird das Werturteil des Ich-Erzählers, das sich von der Figur des Protagonisten immer öfter entfernt, auch immer zuverlässiger, zum Beispiel, wenn Joe vor seinem zukünftigen Schwiegervater die Ehrlichkeit seiner Gefühle für Susan mit Vehemenz behauptet, von der er sich später aus zunehmender Verachtung für die bourgeoise Welt wieder trennen muß. Diese Vortäuschung von Liebe kollidiert mit der Echtheit seiner Gefühle für Alice, bei der er Geborgenheit und Vertrauen, eine geistige Kongenialität ohne jegliche Tabus empfindet. Er muß diese wahre Welt entgegen seiner Überzeugung zerstören, um in der Scheinwelt sozialer Aufstiegschancen Erfolg zu haben. Sein moralischer Zusammenbruch über den tragischen Ausgang dieser Affäre am Schluß von Room at the Top (Alices tödlicher Verkehrsunfall) darf da als ein vom Autor lanciertes Zugeständnis an den Leser gelten! Aus der zeitlichen Distanz resümiert der IchErzähler einet negative Bilanz dieser Entwicklung, da der Held trotz Erreichung aller erwünschten Statussymbole sein ursprüngliches Hauptziel nicht geschafft hat - k e i n „erfolgreicher Zombie" (die paradoxe Aufstiegsmetapher vom .lebenden Leichnam') zu werden: „Ich bin nicht richtig glücklich, und ich habe keine Angst vor dem Tode, aber ich bin einfach nicht mehr so lebendig, wie ich es noch an jenem Abend war, als ich den Streit mit Alice hatte. Ich blicke auf den unerfahrenen, jungen Mann, der da mit seinem ganzen Elend im Wirtshaus sitzt, mit einem ehrlichen Gefühl von Reue und Bedauern zurück. Nicht, daß ich mit ihm tauschen wollte, selbst wenn ich es könnte - aber er war unleugbar ein besserer Mensch als der glatte, ruhige Mann, der ich geworden bin, nachdem ich in zehn Jahren nahezu alles, was ich mir wünschte, erreicht habe. Ich weiß, welchen Namen der Mann von damals für mich gefunden hätte: die erfolgreiche Mumie." (RT, 147) Es sind vor allem diese stark emotional motivierte Persönlichkeitsstruktur des Helden und die immer wiederkehrende kritische Distanz des Ich-Erzählers, die ihn - trotz scheinbarer Kaltschnäuzigkeit und rigorosem Aktivismus im Aufstiegskampf - für die äußere Welt anfälliger und verletzbarer und schließlich zu ihrem Opfer machen. Joe handelt nach „Intuitionen", „weil mir das abstrakte Denken nicht sehr liegt" (RT, 37), wie der Ich-Erzähler freimütig bekennt. 133

Dies war ein neuer, realistischer Zug in der Bewegung der „Angries", der Hang zur Erforschung der Innerlichkeit, der Entdeckung des subjektiven Ichs und der inneren Befindlichkeit des Helden in Reaktion auf die äußeren gesellschaftlichen Begebenheiten, der natürlichen Körperlichkeit und kreatürlichen Sinnlichkeit - hier vom stark prononcierten Ich-Erzähler ständig reflektiert. D e r aus der Arbeiterklasse stammende Held entfaltet mit der Illusion von scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten in der bürgerlichen Welt eine schärfere Sensibilität, die aber durch einseitiges Erfolgsstreben wieder abgestumpft wird. D a s augenscheinliche Defizit an Lebensqualität und Gefühlsintensität registriert der Erzähler später mit Bedauern: „Ich bin solch intensiver Gefühle längst nicht mehr fähig; zwischen mir und jeder starken Gemütserregung steht heute sozusagen eine durchsichtige Scheidewand. Ich fühle nur noch, was zu fühlen sich für mich schickt, und ich reagiere, wie es von mir erwartet wird. Aber ich vermag mir nicht einzureden, daß ich innerlich beteiligt bin. Nein, ich würde nicht sagen, daß ich tot bin, nur daß ich angefangen habe zu sterbenu" (RT, 147) D i e dem Autor bescheinigte „besondere Originalität . . . psychologischer Einsichten" 11 ® läßt den schlechten Gemütszustand und das körperliche Unbehagen des Helden plastisch erscheinen; er ist sich seines für anspruchsvolle, gutbürgerliche Warley-Verhältnisse unangemessenen äußeren Habitus seiner „frühen Nachkriegs-Kleidung" voll bewußt. Kleidung und Aussehen werden zum relevanten Individualitätsmerkmal, wie ihre lange Beschreibung gleich im Romanauftakt beweist: „Ich hatte meine guten Sonntagssachen angezogen: einen hellgrauen Anzug, der vierzehn Guineen gekostet hatte, eine ungemusterte graue Krawatte, graue Socken und braune Schuhe. D i e Schuhe waren die teuersten, die ich je besessen hatte, von einem tiefen, satten, fast schwarzen Glanz. Mein Trenchcoat und mein Hut allerdings paßten nicht ganz zu der übrigen Vollkommenheit .1.. Mein Haar liegt wie eine gußeiserne K a p p e fest auf dem Schädel, der Hemdkragen paßt nicht, und der Knoten meiner Krawatte, die von einer scheußlichen, dolchförmigen Nadel fest an ihrem Platz gehalten wird, ist viel zu klein." (RT, 5 - 6 ) Seine äußere Erscheinung und seine bescheidene, konventionelle, aber saubere Kleidung entsprechen den Anforderungen an einen niederen Beamten, der außerdem seine proletarische Herkunft noch nicht verleugnet, nicht jedoch dem von ihm angestrebten gesellschaftlichen Rang und dem modischen Schick und Charme und dem äußeren Glanz der großbürger134

liehen Kreise von Warley. Die Kleidung ist nicht mehr integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit und Ausdruck seiner natürlichen Phantasie und Sinnlichkeit, sondern eine von außen angelegte, ihm aufgezwungene leblose Hülle, wie der Ich-Erzähler aus der zeitlichen Distanz beklagt: „ . . . manchmal kommt es mir unangenehm zum Bewußtsein, daß ich gezwungen bin, den lebenden Beweis für den Wohlstand der Firma zu liefern, wie eine Art wandelndes Plakat. Ich habe keineswegs den Wunsch, mich schlecht anzuziehen; aber der Gedanke ist mir verhaßt, daß ich es nicht mehr wagen würde, mich schlecht anzuziehen, wenn ich es wollte. Dieses Stück aus billiger Kunstseide kaufte ich zu meinem Vergnügen; aber den teuren, seidenen Schlafrock habe ich gekauft, weil das Tragen von Kleidungsstücken ausschließlich dieser Qualität zu den ungeschriebenen Bedingungen meines Vertrages gehört." (RT, 13) Trotz Wohlhabenheit blickt er mit Nostalgie zurück auf die vergangene Zeit des wirklichen „Bewußtseins von Ungebundenheit, von Lebensfülle und Welterfahrenheit" (RT, 13). Hier muß festgestellt werden, daß die kritische Instanz des IchErzählers kraft der „Opulenz" ihrer Empfindsamkeit eine deutlich antikapitalistische ästhetische Oppositionsstruktur konstituiert, die jedoch bis hin zum Fortsetzungsroman Life at the Top eine fallende Tendenz aufweist. Die anfangs wachsende Selbsterkenntnis geht einher mit einem kritischen Blick für die Umwelt, und der Ich-Erzähler bezieht seine Urteilsfähigkeit aus einer filmisch genauen Beobachtung des realistischen Details im kleinstädtischen Milieu: „Alles war von intensiver Wirklichkeit, so als beobachtete ich mich selbst in einem Dokumentarfilm, und zwar in einem wirklich gutgemachten, in dem jedes Bild scharf und genau ist und der auf die gewohnten Kameratricks verzichten kann." (RT, 29) Die tendenzielle Verarmung seiner Sensibilität geht einher mit einer Verknappung der Textstruktur, die immer seltener aufschlußreiche „insights" in eine Welt wahrer Empfindungen und des unabhängigen, freien Wollens und Tuns gibt. Charakter und Handlung geraten dort an einen kritischen Punkt, wo der Held nicht mehr Herr seines Lebens ist, wo der Zufall zum Gesetz seines Handelns wird (siehe die Umstände seiner Heirat mit Susan Brown, den gewaltsamen Tod von Alice Aisgill) und wo die Dschungelgesetze der bourgeoisen Wirklichkeit sein Leben beherrschen. Nach dem in Wahrheit durch ihn verschuldeten Tod von Alice vollzieht der Ich-Erzähler einen Bruch mit dem Protagonisten, um sich von seinem Verhalten um so deutlicher zu distanzieren: „Ich 135

mochte diesen Joe Lampton nicht. E r war ein verständiger junger Buchhalter in einem ordentlich gebügelten, blauen Anzug und mit einem steifen, weißen Kragen. Er sagte und tat immer nur das Korrekte . . . Ich haßte Joe Lampton, aber er machte einen sehr selbstsicheren Eindruck, wie er dort an meinem Schreibtisch, in meiner Haut saß . . . " (RT, 262) Diese kritische moralische und ästhetische Distanz des Erzählers zur Entwicklung des Helden wird im Roman Life at the Top mehr und mehr aufgegeben. Der inzwischen etablierte Autor wendet sich mit diesem Roman nun vorrangig an die Schicht der wohlhabenden Mittelklasse und der führenden Geschäftswelt, verengt also mit der vollzogenen Integration des Helden in diese Welt Jahre danach den weltanschaulich-erzählerischen Blickwinkel. Der noch in Roorn at the Top distanziert geschilderte Aufstieg des Protagonisten von 1954/55 wird aus der Perspektive des Autors Anfang der sechziger Jahre nicht mehr mit der gleichen Intensität beleuchtet und bei weitem nicht mehr so kritisch und als moralisch verwerflich betrachtet. Die reich strukturierte lokale, soziale, moralische und emotionale Aufstiegsmetapher von Room at the Top (hier im Bild seines ersten eigenen möblierten Zimmers im höhergelegenen wohlhabenden Viertel von Warley verdichtet) verarmt zu einem sinnlich entleerten Abbild bürgerlichen Lebens - „Life at the Top" - , das keine wesentlichen Höhepunkte, emotionalen und geistigen Spannungen und Erwartungen, sozialen Widersprüche, keine individuelle Fortbewegung kennt noch kennen will. Die zwangsmäßig „erworbene" materielle Abhängigkeit von der Bourgeoisie erzeugt in Joe Lampton keinen Protest, allenfalls Apathie, Zynismus, Ekel und bittere Selbstironie, dazu Überdruß und Haß gegenüber seiner gelangweilten und ihm untreu werdenden Frau Susan. Der Schluß zeigt den Helden überraschenderweise - aber doch im Trend herrschender trivialer Verhaltensmuster - inmitten einer illusionistisch dargestellten Familienidylle in der Art eines HappyEnds im Boulevardtheater. Die weitgehende Parteinahme des Erzählers für die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, die sogar auf eine Apologie der konservativen Lokalpolitik der Industriebourgeoisie hinausläuft, läßt die zu Beginn der Erzählhandlung (im ersten Roman) noch häufig geäußerten Zweifel und Skrupel gegenüber seiner eigenen Entwicklung völlig in den Hintergrund treten. Dieser Bruch im sozialen Verhalten des Helden sowie in dessen erzählerischer Bewältigung ist sicher ein wesentlicher Grund für die ästhetisch-weltanschauliche Diskongruenz zwischen beiden Romanen. 136

Identitätsschwund

im monopolistischen

Modellfall

Mit dem Einsetzen verschärfter staatsmonopolistischer Regulierungen von Ökonomie und Gesellschaft, mit der zwangsweisen Integration des Menschen in die herrschende Ordnung und der erhöhten Manipulierung der öffentlichen Meinung durch die neuen Medien Mitte der sechziger Jahre ist auch die Bewahrung einer schöpferischen Individualität und Natürlichkeit des Menschen immer mehr gefährdet. Wo die neue ökonomische Situation verstärkter internationaler monopolisierter Verflechtungen unüberschaubar wird und die Anonymität des einzelnen im gesellschaftlichen Getriebe wächst, zeigen sich in der Literatur Trends zu symbolhafter, abstrakter Darstellung sozialer Konflikte, wie wir bereits mit Peter C. Browns Smallcreep's Day aus dem Jahr 1965 angedeutet haben. Am literarischen Modell werden die unterschiedlichen Stufen der Entfremdung durchgespielt. Der Wandel in der künstlerischen Sehweise bricht sich auch im Schaffen des proletarischen Schriftstellers Sid Chaplin Bahn, der - ebenfalls im Jahre 1965 - mit seinem Roman Sam in the Morning den „Aufstieg" eines Arbeiterjungen zum Manager eines Monopolkonzerns gestaltet, und dieser Aufstieg funktioniert nur durch Unterwerfung des Protagonisten unter die Herrschaftsmechanismen und Ausbeutungsinstitutionen einer menschenfeindlichen Produktionswelt. Die Entfremdung des Individuums von den materiellen und geistigen Prozessen ist schon so weit fortgeschritten, daß sie vom Erzähler nur noch abstrakt registriert, nicht mehr reflektiert und durch reale Konflikte problematisiert wird. Sie wird hier zum bewußt angewandten ästhetischen Prinzip, das die Erzählstruktur bestimmt und die „Entwicklung" des Protagonisten, seinen „Aufstieg", zu einem außerhalb individuellen Strebens und Arbeitens, zu einem mechanischen Vorgang macht, der den Menschen seiner letzten schöpferischen Aktivitäten und Kräfte beraubt. Der Ort der Handlung ist dem traditionellen Industriemilieu entrückt wie der Lebensweise der Arbeiterklasse entfremdet, für die zuweilen sentimentales Mitgefühl aufkommt. Werden in seinen früheren Romanen The Day of the Sardine (1961; Der Tag der Sardine) und The Watchers and the Watched (1962; Zu Zweit ist alles anders) die realen Verhältnisse von Leben, Arbeit und Kampf englischer Arbeiter im Industriegebiet von Newcastle-upon-Tyne beschrieben, so wendet er sich hier der unteren Schicht der Angestellten des modernen kapitalistischen Managements zu, wo der Entfremdungsprozeß noch eklatanter zutage tritt. 137

Dies führt nun auch zu der neuen Funktionsbestimmung einer stärker verschlüsselten und komplexen Aufstiegsmetapher. Gegenüber der mimetischen Funktion der Metapher in der reichen ideologisch-sozialen und psychologischen Motivierung zwischenmenschlicher Beziehungen in Room at the Top, die dem Individuum wenigstens noch die Illusion der Bewahrung seiner Identität und des Aufsteigens durch eigenes Handeln ermöglichten, ist „der Weg nach oben" bei Sid Chaplin eine räumlich formale und abstrakte Metapher, die den Menschen als ein willfähriges und gänzlich in den Produktionsprozeß integriertes Instrument des Kapitals umschreibt. Der Entfremdungsprozeß ist schon so weit fortgeschritten, daß produktive Arbeit nur noch als absurdes Tun begriffen werden kann. An die Stelle früherer naturalistischer Milieuschilderung tritt die Symbolik und die Abstraktion von Ausbeutungsverhältnissen. Dies ist ein Bild von erschreckender utopischer Fiktion - bereits aus der Zukunft in die kapitalistische Welt der sechziger Jahre hineinprojiziert - , denn die Symptome von Entfremdung und Enthumanisierung werfen hier ihre Schatten voraus. Subjekt der Handlung ist weniger der Protagonist Sam Rowlands, sondern eher der in dem riesigen „U. K. House" (United Kingdom House) operierende Monopolkonzern - als universaler britischer Konzern für Stahlrohre und als Zentrale für Müll und Abwässer, ein vielstöckiges Verwaltungsgebäude, konstruiert als Mikrokosmos einer vollautomatischen Leitungszentrale und zugleich als Metapher für die staatsmonopolistische Klassengesellschaft. Sein abgekürzter Name deutet auf seine überregionale, politisch verallgemeinernde RepräsentatTvität. Die dort tätigen Individuen existieren nur als anonyme Teilchen eines unüberschaubaren Funktionsmechanismus. Das einzige Ziel der schier planlos und kaum bestimmbaren Geschäften nachjagenden Individuen, die nicht als menschliche Wesen mit eigenen Namen und individuellen Eigenschaften definiert werden, sondern nach ihrer speziellen Funktion im Dienste des Konzerns - als „Experten", „Hauptkontrolleure", „Unteraufseher", „Technologen", „Technokraten", „Manager" - , ist ein Platz im „Top Management", also an der Spitze des Konzerns im obersten 15. Stockwerk des Monstergebäudes. Klassenbewußtsein ist durch eine Art Kastenbewußtsein ersetzt, das zwischen den verschiedenen Stockwerken gepflegt und wohldifferenziert angewandt wird. Sam Rowlands, der sich nach einem Jahr bereits mehrfach mit seinem starken Drang „nach oben" in die über ihm liegenden Etagen „verirrt", hat sich kraft seines Ehrgeizes schon 138

Führungsqualitäten für den baldigen Aufstieg in die „Spitze" erworben. Während die Individuen durch ihre einseitigen, monotonen Tätigkeiten seelenlosen Robotern immer ähnlicher werden, nimmt der „great Leviathan" 200 , wie Sam das „U. K. House" mit fast zärtlichem Sarkasmus sowie metaphorischer Tiefgründigkeit nennt, lebendige, animale Züge an: „Das verlassene Gebäude schlummerte wie ein wildes Tier . . . Seine Klauen waren eingezogen. Die Woge der Güte verlieh mir ein wirklich körperliches Gefühl des Vergnügens. Es war das Nervensystem des Tieres, das sich in unsichtbaren Seidenfäden ausstreckte und mich streichelte und besänftigte." (SM, 5 7 - 5 8 ) In Chaplins schlimmer Utopie werden Menschen zu seelenlosen Robotern, und die Produktionssphäre nimmt menschliche Züge an: Der bittere Sarkasmus über die Entfremdung äußert sich darin, daß die Figur Sams zwischen sich und seinem „Monster" ein persönliches, fast intimes Bezugsfeld aufbaut, während die emotionalen Bindungen zu seinen Mitmenschen völlig verlorengehen. Sein „U.K. House" wird zum natürlichen Lebensraum, Arbeitsplatz und hochtechnisierten Kommunikationszentrum. Die Faszination geht von der - hier noch abstrakt und visionär gefaßten - modernen Technik des Gebäudes, des ganzen Konzerns aus, die von seinem Hirn, dem Computerraum, gesteuert wird. Dies ist ein gespenstischer Entwurf in eine Zukunft, die heute dort bereits Realität geworden ist. Sam beobachtet die Spezialisten, die für ein fehlerfreies Funktionieren der elektronischen Anlagen sorgen. Das „computer-age" ist ausgebrochen. Die Begeisterung für den präzisen und komplizierten Mechanismus entspricht etwa der Hochstimmung in den Medien der westlichen Industrieländer in den sechziger Jahren und ihrem Enthusiasmus für die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Revolution. Hier drängt sich eine Szene im zehn Jahre früher spielenden Roman Life at the Top auf (Kap. 11), in der der Prokurist Joe Lampton den Computer im neu eingerichteten Computerraum der Fabrik wie ein Wunder bestaunt, da er inmitten der traditionellen Technologie der Fabrik wie ein Fremdkörper wirkt. Zuversichtlich nimmt er sich vor, diese technische Neuheit zu beherrschen und anzuwenden. Joes Verhältnis zum technischen Gerät kennzeichnet eine frühe Phase im modernen Industriezeitalter, als innerhalb eines noch überschaubaren Produktionsprozesses zwischen Arbeitskraft und Arbeitsinstrument menschliche Vermittlungen stattfanden. 139

In Sam in the Morning wird der objektive Prozeß der Versachlichung des Arbeitsverhältnisses und der Entfremdung des Menschen von der Produktionssphäre und von seinen Arbeitsmitteln durch künstliche Emotionalisierung bis hin zur Sentimentalität hochstilisiert. Das „U. K. House" erscheint in einer artifizierten Sinnlichkeit und sinnlosen Geschäftigkeit. Im Mikrokosmos des vollautomatisierten, hochtechnisierten, stereotypen, keimfreien Konzernhauses wird eine modellhafte Gesellschaft gezeichnet, als eine negative Utopie gleichnishaft zur hier nur erahnbaren äußeren imperialistischen Ordnung. In bewußter Verzerrung der Perspektiven entsteht vor dem Leser ein Bild perfektionierter Idylle, wenn der Erzähler den schon verrückten Manager Francis in einer an Wahnsinn grenzenden messianischen Vision den grandiosen Wiederaufbau eines Garten Eden heraufbeschwören läßt. Vor diesem beklemmenden Zukunftsbild eines „goldenen Zeitalters" bleibt die reale Perspektive des ganzen Unternehmens letztlich im Dunkeln, und mithin der weitere Entwicklungsweg Sam Rowlands'. Der Leser wird unwillkürlich mit der Frage konfrontiert, welche Entfaltungsmöglichkeiten sich für den Helden in der Exklusivität dieses Monstergebäudes auftun. Die düstere Symbolik des hermetisch abgeschlossenen imperialen „U. K . House", in dem die Menschen etagenweise wie in Schachteln leben und sich angeblich ganz zu Hause fühlen, erinnert in seinen tragikomischen Momenten an das Schicksal von Chaplins Helden Arthur Haggerston in The Day of the Sardine, der gegen ein elendes Industriearbeiterdasein, vergleichbar einer Sardine in einer Sardinendose, verzweifelt ankämpft und zuletzt selbst - als Fließbandarbeiter von einer Sardinenfabrik verschluckt wird. Dieses irreale Milieu, das eine inhumane Identität von Leben und Arbeit projiziert, weist auf die repräsentative Funktion dieses Charakters, der sich in ausdrücklicher Selbstdarstellung auch zu seinem hypothetischen Wesen und seiner Fiktivität bekennt: „Als geborener Lügner, und durch Betrug, Irrwege und Gewinnsucht spare ich der Welt eine Menge Ärger, indem ich meine Fehler an mir selbst erarbeite. Deshalb hasse ich Fernsehen, weil ich darin zahllose Versionen von mir selbst beobachte. Wenn es also so ist, daß ich mich selbst beobachte, heißt das, daß ich praktisch ein fiktiver Charakter bin und nichts vortäusche." (SM, 39) Um diese Figur in diese hypothetische und harte Realität einzupassen, kreiert der Autor einen „reduzierten Charakter" - schwebend zwischen Romanfiktion und Scheinwelt, dabei explizite Aussagen über die Realität 140

aussparend oder nur über die Metapher transportierend der sich als Schutzfunktion einer teils prahlerischen, teils sarkastischen Selbstdarstellüng bedient: Er gibt sich scharfsinnig, dynamisch („powertype"), schlitzohrig, zynisch, respektlos, lügenhaft und gebildet („the bookie"). In bitterer Selbstironie und in ständiger Negation eigener Ernsthaftigkeit und Erkenntnisfähigkeit macht er menschliches Streben zu einer Farce. Der Unernst wird zu einer stereotypen Attitüde, um dem Protagonisten eine Chance zu geben und ihn gegen eine entfremdete Welt zu feien. Im bizarren Spiel mit verschiedenen Bewußtseinsebenen zwischen Protagonist und Erzähler, im Widerstreit zwischen Tag- und Nachtträumen, zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen Lüge und Wahrheit enthüllt sich das Dilemma der Figuren. Mit der sich selbst gestellten Frage: „Existierst du wirklich?" (SM, 31) offenbart er seine Fiktivität und verdeutlicht symbolhaft zugleich die Verlassenheit des Individuums. Einen Schutz seiner Persönlichkeit bietet auch das Auslöschen seiner Individualität, seiner physischen Existenz: „Mein bevorzugtes Heilmittel gegen alle Übel ist es, mir selbst zu sagen, daß ich nicht mehr existiere . . . Im wirklichen Leben ist es mir gelungen, glaube ich. Aber es war gut, sich vorzustellen, daß es mir vielleicht nicht gelungen wäre, und ich müßte mich in irgendeinen Zustand des Friedens und der Ruhe versetzen durch die Einbildung: Sam Rowlands war im Alter von zehn Jahren ertrunken. Traurigkeit, Enttäuschung, Qualen, Verzweiflung können ihm nichts mehr anhaben. Manchmal klappt dieser Trick fast." (SM, 173) Hinter dem Schein einer bis dahin vorgetäuschten, manierierten Zufriedenheit und Gleichgültigkeit verbirgt sich also eine große Existenzangst, die mit einer permanenten Todessehnsucht gekoppelt ist, so charakteristisch für Chaplins Erzählprosa. 201 Diese existentialistisch begründete Sinngebung des Lebens im Tode ist die Konsequenz der Entfremdung und Verkrüppelung menschlicher Sinnlichkeit. Aus der Gefahr eines Sinnverlusts entspringt der Drang, die Grenzen des Daseins zu durchbrechen und nach einem Sinn des Lebens zu suchen: „Ich forsche, weil ich weiß, daß ich sterben muß . . . Forschen nach einem uns fremden Ding oder Ort. Eine beschränkte Handlungsfähigkeit macht mich noch entschlossener, die gegenwärtige W e l t zu durchforschen, so sehr ich kann und solange es mir erlaubt ist." Dies spricht - trotz pessimistischem Unterton - für ein humanistisches Gebot an den Menschen, niemals aufzugeben. Dieses Streben entpuppt sich bald als Scheinalternative für den Helden, wenn ihm der große „Leviathan" zur letzten Zufluchtsstätte 141

wird, in der er sich geborgen, „zu Hause" und im „Frieden" fühlt, also nach den vorangegangenen Äußerungen des Erzählers lebendig begraben wird. Der „Leviathan" atmet wie ein Lebewesen und „spricht" sogar, während die in ihn eingepferchten Menschen eigentlich tot sind - Braine nannte sie bereits „Zombies". Da mutet sein „Forschen" nach dem Unbekannten makaber an: „Mein einziges Heil lag im Durchforschen des ganzen Inneren meines lieben Leviathan, meines Friedensbringers, auf eine Safari zu gehen und den einheimischen Gesängen unsichtbarer Bewohner ganz für mich zu lauschen. Das Gebäude und sein Business waren der feste Grund, die Etage unter meinen Füßen war fest, solange ich Fleisch und Geist aus meinem Denken fernhielt." (SM, 146) Die große negative Metapher des „U. K. House" wird zum Sinnbild des ganzen existentiellen Dilemmas des Menschen, der entpersönlichenden Mechanisierung und Manipulierung seines Lebens im imperialistischen System. Menschliches Streben ist nur noch in der Isolation denkbar - will heißen: ist in Wirklichkeit ohne Perspektive: „Ich möchte nach etwas streben. Aber ich kann es nicht in der Sonne. Mein Platz ist hier." (SM, 236) Sam fühlt sich als ein „geteilter Mensch", der sich völlig in eins glaubt mit dem „Gebäude"; jedoch „draußen in der Begegnung mit einem nackten menschlichen Wesen - mit einem verlorenen Lächeln und trockenen Lippen, bin ich hilflos" (SM, 177). In dieser offenen Antinomie zwischen realer Außenwelt und innerer, künstlicher Welt reflektiert sich ein schlimmes Bild der Zwiespältigkeit und Zerrissenheit in einer menschenfeindlichen Ordnung. Chaplin erzielt einen bitter sarkastischen Effekt durch die Inversion des Entfremdungsproblems: in der sinnlichen Verschmelzung des Individuums mit der sich ihm in der Realität entfremdenden Umwelt, die zur - satirisch verzerrten - Identifikation statt Alienation führt. Der Roman ist eine Persiflage auf den Erfolgswahn in der bürgerlichen Massengesellschaft. Mit dem Anwachsen der monopolistischen Vergesellschaftung der Produktion ist Sinnerfüllung nur in der Illusion oder als ideologisches Konstrukt denkbar. Die totale Integration und Einfunktionierung des Menschen in die herrschende Ordnung macht selbständige Handlungen und kreative Leistungen wie auch natürliche zwischenmenschliche Beziehungen, so auch Liebesbeziehungen, unmöglich. In der modellhaften Zuspitzung monopolistischer Verhältnisse sind humane Maßstäbe von Moral und Lebenssinn ad absurdum geführt bzw. werden allein von den vom Indivi142

duum uneinsehbaren Gesetzen der Effektivität und Produktivität des Konzernhauses bestimmt.' Sams Verhältnis zu seiner Freundin Käthe ist gekennzeichnet von Fremdheit und Versachlichung im Geschäftston, wie sie selbst formuliert: „Du liebst nur dasT3usiness . . . Du gehörst in diese Welt. Du gehörst zu den Dingen. Ich möchte mir selbst gehören." (SM, 184) Diese völlige Identifikation mit den Konzerninteressen führt zum Verlust eines humanitären Standpunktes zum Mitmenschen überhaupt. Sams Verhältnis zu seinen Kollegen charakterisiert nicht Kollegialität, sondern - im Typ des karrieresüchtigen Angestellten - ein übersteigertes Selbstbewußtsein, das wesentlich nur auf den sozialen und geschäftlichen Aufstieg ausgerichtet ist. Nicht die Beziehung zwischen dort arbeitenden Individuen,- sondern zwischen den Etagen wird relevant, und das Streben nach der obersten Chefetage wird zum einzigen Lebenssinn. Bei Braine ist noch eine deutliche Erzählerdistanz zum Egoismus des Helden aufgebaut. Sams Aufstieg zum Manager in einer monopolistischen Modellsituation vollzieht sich ohne eine solche mimetisch gesteuerte Distanzierung gegenüber dem Protagonisten. Bis ins Absurde gesteigerte Zustände von Inhumanität und Machthunger sollen für sich sprechen. Der Symbolcharakter der Darstellung erhöht den moralischen Anspruch und das soziale Engagement. Darin wahrt Chaplin die Kontinuität zu seinen früheren Romanen. Doch deren Helden zeigen noch keine Motivation, aus ihrer Klasse auszusteigen. Im Gegenteil, Timothy Mason in The Watchers and the Watched sucht nur innerhalb der proletarischen Gemeinschaft und seiner großen Familie nach einem Lebenssinn, nach Geborgenheit, Solidarität und kollektiver Verantwortung und wehrt sich gegen jede Verlockung einer höheren Position, etwa als Vorarbeiter. Er blickt mit Trauer auf die Zerstörung dieser alten Grundwerte und der Harmonie und Zusammengehörigkeit im kommunalen Distrikt durch die Gewalt der Rassendiskriminierung und den Verlust der Solidarität im Kampf gegen den Mietwucher. Chaplin hat eben diesen gesellschaftlichen Prozeß der Zerstörung menschlicher Hoffnungen und tieferer Sinngebung des Lebens in den alten proletarischen Strukturen und Lebensweisen im Visier, wenn er in Sam in tbe Morning die absolute Beherrschung und Manipulation individuellen Strebens nach Glück und Erfolg durch die übergreifenden Funktionsmechanismen des Monopolkapitals in grellen Farben der Entmenschlichung und der Frustration zeichnet. Im Konzernhaus findet Kommunikation nicht mehr zwischen den Men143

sehen, sondern in vertikaler Anonymität zwischen den verschiedenen Etagen (auf den Aufstieg ausgerichtet) bzw. mit den Computern statt - eine Vision auf die Zukunft, die heute allerdings schon Realität ist. Die hier noch eklatantere Vereinzelung und Einsamkeit des Individuums wird sinnfällig in der Qualität des Ich-Erzählers, der wesentlich nur noch mit sich selbst kommuniziert, der „sich selbst beobachtet" („watching myself") und dessen Attitüde, „abseits zu stehen", eine bewußte und durch die getrennten Stockwerke noch gesteigerte Isolierung schafft, die aber gerade eine Voraussetzung für den „Aufstieg" in die oberste Chefetage bildet. E r gibt sich auch als Souverän in der Handlungsführung: bei der Rekonstruktion vergangenen Geschehens, wenn er nach Belieben Phantasiegeschichten oder Träume einschieben oder Sachbeschreibungen präsentieren kann, also auch den Leser voll im Griff hat. Seine kritische Distanz zum Helden kommt durch komische, farcenhafte, groteske, sarkastische Kommentierung zum Ausdruck. In dieser desillusionierenden Distanz des Erzählers zu einer inhumanen Ordnung, die letztlich auch den Menschen korrumpiert, liegt die subversive Potenz solcher sich in Symbolen bewegenden Literatur, die die Illusionen der sechziger Jahre vom „Aufstieg" aus dem unteren sozialen Milieu in eine angeblich „bessere" Gesellschaft zu zerstören suchte.

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Melvyn Bragg : Ländlich-traditionelle Milieuschilderung und antikapitalistische Alternative

Poesie der Arbeit und ländliche Nostalgie Der englische Autor Melvyn Bragg, Jahrgang 1939, Oxfordabsolvent und dort einige Zeit lang Dozent für moderne Geschichte, ist bereits seit Jahren ein erfolgreicher Romanschriftsteller und Autor zahlreicher Fernsehdokumentationen. Hauptschauplatz der Romanhandlungen ist die weit im Nordwesten Englands gelegene Grafschaft Cumberland, speziell zwischen dem Lake District und der Provinzhauptstadt Carlisle, der Heimat Braggs. Der künstlerisch bedeutendste Roman The Hired Man (1969) geht zeitlich am weitesten zurück; die erzählten Geschehnisse setzen ein mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts und werden fortgeführt in A Place in England (1970) bis zum Ende der sechziger Jahre. Seine späteren Romane entziehen sich weitgehend einer konkreten lokalen und zeitlichen Bestimmung ausgenommen der aktuelle Politroman Autumn Manoeuvres (1978). Die Grundthematik des Verhältnisses zwischen Stadt und Land hat in der englischen Literaturgeschichte eine große Tradition. 202 In der gegenwärtigen englischen Unterhaltungsliteratur ist die ländliche Nostalgie wieder stark in Mode gekommen - vor allem als Flucht aufs Land vor einer naturschädigenden Industrie. Doch viele reizvolle Landschaften sind selbst seit langem industrialisiert. Die sozialen Umwälzungen auf dem Lande hat bereits William Cobbett - als politischer Anwalt der bedrohten Landbevölkerung in seinen tagebuchähnlichen Reisebeschreibungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts sichtbar gemacht. George Eliot hat - im nostalgischen Rückblick um die Bewahrung eines vorindustriellen, geschlossenen, ländlichen Gemeinwesens bemüht - die Krise des englischen Landlebens thematisiert. Später hat Thomas Hardy realistische Abbilder des mühseligen Landarbeiteralltags im Kontext der konkreten sozialen Veränderungen auf dem Lande geschaffen. Der schottische proletarisch-tsozialistische Schriftsteller James Leslie Mitchell gestaltete die gesellschaft10 Magister

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liehe Umstrukturierung auf dem Lande zu Beginn des Jahrhunderts und die Herausbildung eines kämpferischen Industrieproletariats. Dieser geschichtlich-literarische Hintergrund einer Stadt-Land-Tradition wird für Braggs Erzählwerk relevant, ohne daß er letztlich diese Entwicklung vom bürgerlichen zum sozialistischen Roman mitvollzogen hätte. Braggs Interesse gilt dem arbeitenden Menschen vom bäuerlich-ländlichen und kleinbürgerlich-städtischen bis hin zum Proletariat im Milieu des Kohlebergbaus. Aus einem tiefen humanistischen Engagement für das Schicksal des von eigener Hände Arbeit Lebenden erwächst ihm ein Literaturbegriff, der sich in Opposition zu herrschenden literarischen Normen eng mit dem arbeitenden Volk verbündet: „Draußen wissen sie einfach nichts über unser Leben. Man muß es ihnen erzählen . . . Die Arbeiterklasse ist so lange falsch dargestellt worden, so daß man sehr beruhigt darüber sein kann, daß sie sich aus den Klauen dieser Kannibalen der künstlerischen Phantasie heraushalten konnte." 203 Hier kommt Braggs typische sozialbewußte, moralisch verantwortliche humanistische Haltung gegenüber den Arbeitenden zum Ausdruck. Für uns wird schließlich die Frage bedeutsam, inwieweit der Autor die von ihm angelegte tiefe geschichtliche Dimension des überlieferten Stadt-Land-Konflikts in einer konkret sozialen Kontrastperspektive, auf die heutige Gesellschaft bezogen, zu aktualisieren vermag. Die Beziehung zwischen Stadt und Land ist in ihrer historischsozialen Genesis am ausgeprägtesten und für uns einfühlsamsten in The Hired Man (1969; Der Landarbeiter), dem ersten Buch einer dreibändigen Familienchronik, dargestellt. Die Wahl von Ort und Zeit der Handlung ist strukturbestimmend für den Roman. Im entlegenen und zurückgebliebenen Cumberland hatte sich eine ökonomische Autarkie und eine soziale Stabilität vorindustrieller Lebensverhältnisse noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erhalten. Bis dahin waren diese weitgehend abgeschirmt gegenüber dem in anderen Teilen des Landes fortschreitenden Industriekapitalismus. Mit dem Anwachsen des Kohle- und Eisenerzbergbaus in den ländlichen Gebieten wurden die sozialen Bindungen kollektiver Gemeinschaft und mit ihnen das enge Zusammengehörigkeitsgefühl der Landarbeiterfamilien auseinandergerissen. Die Idylle einer friedlichen, nur von Ackerbau und Weide bestimmten Landschaft wurde zerstört durch die immer zahlreicheren Fördertürme und Halden besonders der Eisenerzgruben. Schließlich entzog die Mechanisierung der Landwirtschaft und die Krise der Agrarproduktion vielen „farm146

labourers" die Existenzgrundlage. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen für deren Umwandlung vom Land- zum Industrieproletariat. Hier ergibt sich eine aufschlußreiche Parallele zu D. H. Lawrences Roman The Rainbow (1915; Der Regenbogen), der die sozialen und psychischen Konflikte anhand der bäuerlichen Familiengeschichte der Brangwens in den Kohlerevieren von Nottinghamshire tief auslotet. Der eingreifende soziale Umschichtungsprozeß wird nun von Melvyn Bragg in einer chronikartigen Familiensaga über mehrere Farmarbeitergenerationen hinweg sichtbar gemacht. Das Buch bietet ein außergewöhnliches historisches Gesellschaftspanorama des auf dem Lande und in der Industrie arbeitenden Proletariats von der Jahrhundertwende bis weit über die Zeit des ersten Weltkrieges hinaus. Die Handlung setzt ein im Frühjahr 1898, als sich der 18jährige John Tallentire zusammen mit seiner schwangeren Frau Emily auf die Suche nach einer Arbeit als Tagelöhner auf Pachtland begibt. Zur gleichen Zeit sind Tausende von Landarbeitern auf den zentralen Arbeitsmärkten der ländlichen Provinzstädte und Dörfer von Cumberland, um sich für eine Saison von sechs Monaten oder mehr „anheuern" („for hire") zu lassen. Diese Ausgangssituation erinnert sehr an die Milieuschilderung in Thomas Hardys „Wessex"-Romanen.20