Richtschnur und Lebensmittel: Systematische Fallstudien zum lutherischen Lehrverständnis [1 ed.] 9783666573422, 9783525573426


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Richtschnur und Lebensmittel: Systematische Fallstudien zum lutherischen Lehrverständnis [1 ed.]
 9783666573422, 9783525573426

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Tobias Graßmann

Richtschnur und Lebensmittel Systematische Fallstudien zum lutherischen Lehrverständnis

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar, David Fergusson und Christiane Tietz

Band 175

Tobias Graßmann

Richtschnur und Lebensmittel Systematische Fallstudien zum lutherischen Lehrverständnis

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V & R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-3253 ISBN 978-3-666-57342-2

Inhalt

1

2

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dogmatik als Darstellung der kirchlichen Lehre? – Eine Problemanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

1.1 Die Lehre der Kirche – eine repressive Kategorie? . . . . . 1.2 Die Freilegung des Lehrproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Öffentliche Lehre und privater Glaube . . . . . . . . 1.2.2 Lehre als Aussageform des Glaubens . . . . . . . . . . 1.2.3 Lehre, Theologie und Kirchenrecht . . . . . . . . . . . 1.2.4 Vorläufiger Ertrag: Das Lehrproblem . . . . . . . . . 1.3 Methodische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Zur Auswahl und Rekonstruktion der Positionen 1.3.2 Zum systematischen Aufbau des Buches . . . . . . .

. . . . . . . . .

18 24 25 27 35 38 39 39 41

Lehre als Symbolsystem: Außertheologische Annäherungen . . . . .

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2.1 C. Geertz: Eine kulturanthropologische Annäherung . . 2.1.1 Kultur als Gegenstand dichter Beschreibung . . . . 2.1.2 Religion als kulturelles System . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Religiöser Wandel und Sozialstruktur . . . . . . . . . 2.1.4 Ertrag: Dichte Beschreibung religiöser Lehre . . . . 2.2 P. Bourdieu: Eine soziologische Annäherung . . . . . . . . . 2.2.1 Soziologische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Dynamik des religiösen Feldes . . . . . . . . . . . 2.2.3 Die Wahrheit des kirchlichen Feldes . . . . . . . . . . 2.2.4 Die praktische Logik von Mythos und Ritus . . . . 2.2.5 Soziologische und theologische Theoriearbeit . . . 2.2.6 Ertrag: Grundlinien kritischer Orthodoxietheorie 2.3 Zusammenschau der Außenperspektiven . . . . . . . . . . . 3

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. 48 . 49 . 51 . 56 . 59 . 62 . 63 . 75 . 86 . 96 . 101 . 106 . 111

Bekenntnis der Lehre: Lutherische Lehre in der Reformationszeit . . 115

3.1 Proklamation der Lehre: Das Augsburger Bekenntnis und seine Apologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Die Lehre des Evangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Ausrichtung der Kirche an der Lehre . . . . . . . . . 3.1.3 Verteidigung und Befestigung des Bekenntnisses 3.1.4 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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117 118 122 124 128

6

Inhalt

3.2 Kompendien der Lehre: P. Melanchthons Loci-Kompendien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Loci communes (1521): Ein Schlüssel zur Schrift . 3.2.2 Loci praecipui (1559): Das Evangelium in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Einübung der Lehre: M. Luthers Katechismen . . . . . . . . 3.3.1 Das Programm der Katechismusunterweisung . . 3.3.2 Ein Stationenweg der Katechismusfrömmigkeit . 3.3.3 Die persönliche Aneignung der Katechismuslehre 3.3.4 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Bekräftigung der Lehre: Konkordienformel und Konkordienbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Die Erneuerung der Bekenntnisverpflichtung . . . 3.4.2 Das Lehrverständnis der Konkordienformel . . . . 3.4.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Zusammenfassung und Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

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136 149 153 154 157 161 163

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165 166 168 176 179

Barocker Überschwang der Lehre: J. C. Dannhauer . . . . . . . . . . . . . 183

4.1 Dannhauers Katechismus-Milch: Lehre als Lebensmittel 4.1.1 Jakobs Blick in den Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Geistliches Wachstum durch Lehrstoffzufuhr . . . 4.1.3 Die Lehr- und Nährinstitutionen des Gottesvolks 4.1.4 Lesen und Lehren als Schriftfrömmigkeit . . . . . . 4.1.5 Diagnose und Therapie häretischer Infekte . . . . . 4.1.6 Die umkämpften Feldzeichen der Kirche . . . . . . 4.1.7 Zwischeninterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Hodosophia Christiana: Theologie als Wegweisheit . . . 4.2.1 Die hodosophische Methode der Theologie . . . . . 4.2.2 Ein emblematischer Aufbau der Dogmatik . . . . . 4.2.3 Das Licht der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Der Leuchter der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zusammenfassung und Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

. . . 130 . . . 131

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188 191 196 222 236 253 259 279 283 285 291 294 305 317

Abkünftigkeit der Lehre? Die Lehrkritik der Wort-Gottes-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

5.1 M. Heidegger: Vorhandene Wahrheit? . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Grundzüge der Fundamentalanalyse des Daseins 5.1.2 Wahrheit als Entdeckend-Sein des Daseins . . . . . 5.2 R. Bultmann: Kerygmatisches Ereignis und Lehraussage 5.2.1 Kirche und Lehre im Neuen Testament . . . . . . . . 5.2.2 Bultmanns theologische Enzyklopädie . . . . . . . .

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333 334 336 339 340 347

Inhalt

5.2.3 Theologie und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 W. Huber: Die Zeitstruktur des Glaubens und der Lehre 5.3.1 Die Nötigung zur Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Der Überhang der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 I. U. Dalferth: Das Lehrproblem und die Verdoppelung der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Erste Differenz: Verkündigung und Lehre . . . . . . 5.4.2 Zweite Differenz: Glaubenskommunikation und Glaubensreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Dritte Differenz: Binnen- und Außenkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Die perspektivische Rationalität der Theologie und ihre Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Interpretation und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Ertrag und Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

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361 365 368 369 371 373

. . . 375 . . . 378 . . . 381 . . . 386 . . . 390 . . . 396 . . . 400

Lehre zwischen Gewissheit und Konsens bei E. Herms . . . . . . . . . . 405

6.1 Theologie als Erfahrungswissenschaft und Christentumstheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Offenbarung als Vermittlung zwischen Ontologie und Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Das evangelische Verständnis von Offenbarung . . . 6.2.2 Die ekklesiologischen Implikationen des Offenbarungsgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Anthropologische Vertiefungen der reformatorischen Offenbarungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Gewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Konkrete Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Kirche als Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Invarianter Auftrag und variable Institutionenwelt . 6.4.3 Die Lehrordnung als Kern der Gottesdienstordnung 6.4.4 Das Pfarramt und die theologische Schule . . . . . . . . 6.4.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Die reformatorische Verschärfung des Lehrproblems . . . . 6.5.1 Offenbarungszeugnis als Auftrag und Grenze der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Allgemeines Priestertum und Mündigkeit der Laien

. 406 . 412 . 413 . 416 . . . . . . . . . . . .

421 422 427 431 435 436 438 442 445 448 452 454

. 456 . 458

7

8

Inhalt

6.5.3 Die gegenseitige Begrenzung von Amt und Synode . . 6.5.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Die Lehre im Leben der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.1 Lehre als sprachlicher Ausdruck des Glaubens . . . . . 6.6.2 Die Dynamik und Strittigkeit der Lehre . . . . . . . . . . 6.6.3 Der Offenbarungs- und Schriftbezug der Lehre . . . . . 6.6.4 Verfügbare und unverfügbare Bedingungen des Konsenses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.5 Die Entdogmatisierung der Dogmatik . . . . . . . . . . . . 6.6.6 Rückblick und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Die Lehre im Streit der Wahrheitsansprüche . . . . . . . . . . . . 6.7.1 Die ökumenische Herausforderung des Rahner-Plans 6.7.2 Eine reformatorische Alternative? . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.3 Kirchengemeinschaft ohne Lehrkonsens? . . . . . . . . . 6.7.4 Religiöser Pluralismus „aus Prinzip“ . . . . . . . . . . . . . 6.8 Zusammenfassung und Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

484 492 496 497 500 505 508 513 518

Kirche und Lehre nach der Moderne? G. A. Lindbecks Entwurf einer postliberalen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523

7.1 L. Wittgenstein: Sprachphilosophische Annäherung an das Lehrproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Die Sprache als Spiel und ihre Regeln . . . . . . . . . . . 7.1.2 Der Primat der Alltagssprache . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Ertrag: Lehre als Grammatik religiöser Sprachspiele 7.2 G. A. Lindbeck: Eine Regeltheorie kirchlicher Lehre . . . . . 7.2.1 Die ökumenische Problemstellung . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Eine kulturwissenschaftlich-linguistische Religionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Kategoriale Wahrheit und das Selbstverständnis der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Die ökumenische Anwendbarkeit einer Regeltheorie der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Das Programm einer postliberalen Theologie . . . . . 7.2.6 Lindbecks Reaktion auf Kritik und Weiterentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Zusammenfassung und Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

460 462 463 465 468 473

. . . . . .

524 526 530 534 537 538

. 541 . 554 . 560 . 575 . 583 . 587

Lebensraum des Glaubens und Richtschnur der Verkündigung . . . . 597

8.1 Der Glaube im Raum der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Religion als Umgang mit Symbolsystemen . . . . 8.1.2 Der Glaube an Gott und das Medium der Lehre 8.1.3 Die Vorzüge eines weiten Lehrbegriffs . . . . . . .

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598 599 602 606

Inhalt

8.2 Die Lehre als Richtschnur der Gemeinde . . . . . . . . . . 8.2.1 Versprachlichung und Verschriftlichung . . . . . 8.2.2 Die Herausbildung von Orthodoxiestrukturen . 8.3 Die Dogmatik als Arbeit am Lehrkonflikt . . . . . . . . . . 8.3.1 Das Ideal der reinen Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Lutherische Kriterien rechter Lehre . . . . . . . . . 8.4 Das Wirken des Geistes im Streit um die Wahrheit . . . 8.4.1 Eine agonistische Theorie der Lehrentwicklung 8.4.2 Der Rahmen der kirchlichen Institutionen . . . . 8.5 Epilog: Vollendung des Stückwerks . . . . . . . . . . . . . . . 9

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608 610 614 617 618 622 628 630 634 641

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643

9.1 Quellen und Quellensammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 9.2 Sekundär- und Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 10 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659

10.1 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 10.2 Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 10.3 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681

9

Abkürzungen Sofern sie nicht eigens in diesem Abkürzungsverzeichnis eingeführt sind, entsprechen die verwendeten Abkürzungen: Redaktion der RGG4 (Hg.), Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaften nach RGG4 , Tübin‐ gen 2007. BSELK BSLK CA CM DDStA DH GSrF HC IdR KoTh KuLNT LDStA LocCo LocPr1 LocPr2 NoD OuE OuG OuW RakS RuO SuZ TaP TheoNT WOV

Dingel, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Neuedition Deutscher Evangelischer Kirchenausschuss, Die Bekenntnis‐ schriften der evangelisch-lutherischen Kirche Confessio Augustana (1530) Dannhauer, Catechismus Milch oder Erklärung deß Christli‐ chen Catechismi Luther, Deutsch-deutsche Studienausgabe, 3 Bd., Leipzig 2012-2016 Denzinger/Hünermann, Kompendium der Glaubensbekennt‐ nisse und kirchlichen Lehrentscheidungen Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes Dannhauer, Hodosophia christiana seu Theologia positiva (1649) Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber Dalferth, Kombinatorische Theologie Bultmann, Kirche und Lehre im Neuen Testament Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe, 3 Bd., Leipzig 2006–2009 Melanchthon, Loci communis (1521). Lateinisch-deutsch Melanchthon, Loci praecipui (1559). Lateinisch-deutsch, Bd. 1 Melanchthon, Loci praecipui (1559). Lateinisch-deutsch, Bd. 2 Lindbeck, The Nature of Doctrine Herms, Offenbarung und Erfahrung Herms, Offenbarung und Glaube Herms, Offenbarung und Wahrheit Geertz, Religion als kulturelles System Herms, Religion und Organisation Heidegger, Sein und Zeit Herms, Theologie als Phänomenologie Bultmann, Theologie des Neuen Testaments Herms, Wahrheit – Offenbarung – Vernunft

Vorwort Bei diesem Buch handelt es sich um die für den Druck geringfügig überar‐ beitete, leicht gestraffte und an einigen Stellen um die Auseinandersetzung mit zuvor unberücksichtigter Sekundärliteratur ergänzte Fassung meiner Dissertation, die unter demselben Titel an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen eingereicht und am Buß- und Bettag, dem 18. November 2021 zur Erreichung des Doktorgrades in einer Disputa‐ tion verteidigt wurde. Gefördert wurde die Drucklegung durch großzügige Zuschüsse von Seiten der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) sowie des Pfarrer- und Pfarrerinnenvereins in der Evang.-Luth. Kirche in Bayern. Für diese Unterstützung und Anerkennung meiner wissenschaftlich-theologischen Arbeit von kirchlicher Seite danke ich herzlich. Daneben danke ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, vertreten insbesondere durch Dr. Izaak J. de Hulster, und den Herausge‐ berinnen und Herausgebern der Reihe für die Aufnahme meiner Arbeit in die Forschungen zur Systematischen und Ökumenischen Theologie. Die erste ausführliche Danksagung in diesem Vorwort gebührt meiner Doktormutter Prof. Dr. Dr. h.c. Christine Axt-Piscalar. Sie hat nicht allein durch ihre Bereitschaft, mich als wissenschaftlichen Mitarbeiter an ihrem Lehrstuhl anzustellen, maßgeblich zur Finanzierung meines Promotions‐ vorhabens beigetragen. Vielmehr hat sie sich überhaupt auf meinen Pro‐ jektvorschlag eingelassen und sich auf keinesfalls selbstverständliche Weise als Betreuerin eingebracht, um diese Arbeit mit klärenden Rückfragen, prä‐ ziser Kritik und sanftem Druck durch manche Anfechtung hindurch zu begleiten. Dabei ließ sie mir alle Freiheit, meinen theologischen Interessen selbständig und mitunter auch auf verschlungenen Wegen nachzugehen. In Jahren gemeinsamer Arbeit an der lutherischen Dogmatik war sie mir nicht nur Vorbild des systematisch-theologischen Denkens, sondern einer theologischen Existenz. Meine Arbeit zum Lehrverständnis wollte deshalb nie mehr sein als ein Versuch, diese gemeinsam gepflegte Theologie hin‐ sichtlich ihrer fundamentaldogmatischen Grundlegung und ihres Kirchen‐ bezugs besser zu verstehen. Gedankt sei in diesem Zusammenhang auch der Sozietät am Lehrstuhl sowie den Teilnehmern am Doktorandenkollo‐ quium, besonders Dr. Benjamin Apsel, Dr. Justus Geilhufe, Dr. Oskar Hoff‐ mann, Dr. Jan Holzendorf, Dr. Anna Klassen sowie Dr. Matthias Schnur‐ renberger für den anregenden und vielfach weiterführenden Austausch. Neben diesem Göttinger Umfeld wirkten sich in Themenfindung und -bearbeitung auch Einflüsse aus, die ich im Grundstudium an der Augu‐ stana-Hochschule Neuendettelsau empfangen durfte. Zu nennen sind hier Prof. Dr. Peter Lothar Oesterreich, Prof. Dr. Rainer Adolphi und Prof. Dr.

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Vorwort

Markus Buntfuß, Dr. Martin Fritz sowie in besonderer Weise Dr. Regina Fritz, die mich im Proseminar sogleich für die Systematische Theologie begeistert und seither vielfach begleitet hat. Wenn diese Arbeit sich tat‐ sächlich als ein – sicher vergleichsweise exzentrischer – Beitrag zum Pro‐ jekt liberaler Theologie verstehen lässt, ist dies maßgeblich diesem Neu‐ endettelsauer Milieu zu verdanken. Stark hat meine Arbeit daneben vom interdisziplinären und interkonfessionellen Austausch auf der Kurznach‐ richtenplattform Twitter profitiert, die für mich nicht nur Erprobungsfeld von Gedanken und Argumenten, sondern auch eine Art Überlaufventil für Thesen und Textbeobachtungen sowie Heilmittel gegen die Vereinsa‐ mung des Schreibtischdenkens war. Exemplarisch für die Vielzahl der dort gepflegten Kontakte möchte ich für diesen Austausch Dr. Hermann Die‐ bel-Fischer, Philipp Greifenstein, Tilman Pfuch, Br. Wolfgang Sigler OSB, Wassilis Tzallas und Dr. Ulrich Zimmermann als langjährigen, besonders treuen Diskussionspartnern danken. Ein wichtiger Einzelimpuls ging von Prof. Dr. Walter Sparn aus, der mich auf Johann Conrad Dannhauer als lohnendes Objekt einer Unter‐ suchung zum Lehrverständnis hinwies. Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Kauf‐ mann und insbesondere seinem Seminar „Luther versus Karlstadt“ ver‐ danke ich kirchenhistorische Anstöße für mein Konzept agonistischer Dog‐ matik. Prof. Dr. Martin Laube sei für die Erstellung des Zweitgutachtens, die darin spürbare kritische Verbundenheit und so manchen Hinweis, wie sich wichtige Anliegen der Argumentation besser herausarbeiten lassen, herzlich gedankt. Vorstufen und Einzelkapitel der Arbeit lasen Dr. Bene‐ dikt Brunner, Dr. Tobias Jammerthal und Niklas Schleicher, denen ich viele hilfreiche Rückmeldungen und Korrekturvorschläge, so manche Aufmun‐ terung und vielfach weiterführende Hinweise aus den Nachbardisziplinen der Kirchengeschichte und Ethik verdanke. Meine Eltern Fritz und Andrea Graßmann haben mich nicht nur in den christlichen Glauben und eine Welt humanistischer Bildung hinein‐ wachsen lassen, sondern mir auch früh Einblicke in den Pfarrdienst, den Gemeindealltag und das Geschäft der Kirchenleitung ermöglicht. Sie haben mich in Studium, Vikariat und Promotionsphase mit allen neben ihrem Beruf noch verfügbaren Kräften unterstützt und mich ermutigt, einen Weg zwischen Kirche und akademischer Theologie zu gehen, ohne einen dieser beiden Lebenszusammenhänge je aus dem Blick zu verlieren. Auf ihre je eigene Weise werden mir beide immer Vorbilder bleiben. Für geschwisterli‐ che Unterstützung und manchmal auch den Ansporn brüderlicher Rivalität bin ich Dr. med. Simon Graßmann und Johannes Weidemann dankbar. Kaum angemessen mit Worten ausdrücken lässt sich, was ich meiner Frau Dr. Claudia Kühner-Graßmann an Dank schulde. Vier theologische Examen und zwei Ausbildungen zum Pfarrdienst, mit Arthur und Prisca

Vorwort

zwei wunderbar lebhafte Kinder sowie jetzt also auch zwei abgeschlossene Qualifikationsarbeiten – all das in weniger als 10 Jahren! Es gehörte bei uns beiden auch etwas Naivität dazu, dies alles in ein erträgliches Gleichgewicht bringen zu wollen, und es war dann vor allem deiner Willenskraft und Klug‐ heit zu verdanken, dass wir trotz aller erwartbaren und unvorhersehbaren Hindernisse durchgehalten haben und nichts davon opfern mussten. Im theologischen Austausch, in der Korrektur- und Redaktionsarbeit an den Dissertationen, vor allem aber im Familienleben konnten wir diese intensi‐ ven Jahre hindurch auf eine noch unbekannte, aber hoffentlich weiterhin immer von Liebe und Respekt geprägte Zukunft hin wachsen. Du warst für mich die unbarmherzigste Kritikerin, aber auch die größte Stütze und Inspiration. Wenn wir gemeinsam viel erreicht haben, ist es doch die Ge‐ meinsamkeit dieses Weges, die mir wichtiger ist als jeder Erfolg. Zugeeignet sei diese Arbeit meinen Lehrerinnen, von denen ich ne‐ ben den bereits Genannten noch ausdrücklich nennen möchte: Esther Obst-Kennedy für Mut und Eifer beim Erlernen neuer Sprachen, von de‐ nen jede das Fenster zu einer eigenen Welt ist. Meike Czysz und Dagmar Eichberger aus dem Annakolleg für pädagogisches Handwerkszeug und die Kunst der Teambesprechung. Karin Jordak für evangelische Lebens‐ freude sowie wohl bleibend ‚mangelnde Distanz‘ zur pastoralen Arbeit in der Kirchengemeinde. Gewidmet ist dieses Buch schließlich dem Anden‐ ken meiner Augsburger Grundschullehrerin Ursel Emler. Sie hat mir als Schulbub evangelisches Konfessionsbewusstsein in ökumenischer Offen‐ heit vorgelebt und war früh überzeugt davon, dass dieser merkwürdige Schüler „einmal ein Buch schreiben“ würde. Die Bewahrheitung dieser Pro‐ phezeiung hat sie leider nicht mehr erleben dürfen. Man kann dieser Arbeit und ihrem Autor sicher vorwerfen, nicht alle aufgeworfenen Fragen abschließend beantwortet zu haben und den selbst formulierten Ansprüchen nicht überall gerecht geworden zu sein. Der im Schlusskapitel geforderten Selbstverortung des Theologen ist mit die‐ sem ausführlichen Vorwort immerhin ansatzweise nachgekommen und ich hoffe sehr, es ist trotz aller Mängel ein nützliches und theologisch anregen‐ des Buch geworden. Ein möglicher Beleg dafür scheint mir, dass mich dieses Dissertationsprojekt bereits vor Veröffentlichung zur Mitarbeit an einer Studie des Ökumenische Studienausschusses des DNK/LWB zum lutheri‐ schen Lehrverständnis empfohlen und befähigt hat. Auf diese hoffentlich bald erscheinende Lehrstudie sei auch deshalb verwiesen, weil damit eine Skizze der Entwicklungen des lutherischen Lehrverständnisses zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert gewissermaßen nachgeliefert ist. Dijon/Burgund im Juni 2022,

Tobias Graßmann

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1 Dogmatik als Darstellung der kirchlichen Lehre? – Eine Problemanzeige Friedrich Schleiermacher (1768–1834) bestimmte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Aufgabe der Dogmatik mit einer bekannten und bis heute wirkmächtigen Formel: „Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre.“ 1 In dieser Definition erscheint der Begriff der Lehre als Scharnier zwischen dem Lebenszusammenhang der Kirche und dem Reflexionszusammenhang der Dogmatik. 2 Als dieses Scharnier erfüllt sie eine unverzichtbare Funktion für Schleiermachers Pro‐ gramm der Theologie als einer auf die Kirchenleitung ausgerichteten, in ihrer Gesamtheit praktischen Wissenschaft. 3 Schleiermacher konnte sich auf eine knappen Erläuterung der einzelnen Satzelemente dieser Defini‐ tion beschränken und in seinem abschließenden Zusatz konstatieren: „Viele Theologen sind nun mit der hier aufgestellten Erklärung der dogmatischen Theologie vollkommen einverstanden“. 4 Dies scheint sich seither geändert zu haben. Mittlerweile ist vielmehr festzustellen, dass in dieser Bestimmung der dogmatischen Aufgabe nahezu alle Satzglieder problematisch geworden sind – vom Wissenschaftscharakter der Dogmatik über den im Begriff des Zusammenhangs implizierten systematischen Anspruch ihrer Darstellung bis hin zu ihrem exklusiven Bezug auf die Grenzen einer konkreten Kir‐ chengesellschaft. In besonderem Maße problematisch geworden scheint al‐ lerdings der Begriff der Lehre und mit ihm auch der Geltungsanspruch, den eine solche Lehre innerhalb der protestantischen Kirchen erheben kann. Ist der Lehrbegriff als Kategorie der Dogmatik noch zu gebrauchen und korrespondiert diesem Begriff im Bereich des Protestantismus überhaupt noch eine identifizierbare kirchliche Wirklichkeit? Schon Schleiermacher grenzt sich freilich gegen Versuche ab, einer an der kirchlichen Lehre orientierten Dogmatik „noch eine andere höhere Theologie“ gegenüberzustellen, wobei dieser Überbietung ein „Unterschied zwischen kirchlichen Lehren und eigentlichen Religionswahrheiten, die

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Schleiermacher, Glaube, § 19, 143. Vgl. auch ders., Darstellung, §§ 3–30, 102–106 (1. Aufl. 1811); § 97, 177 (2. Aufl. 1830). Zur Aufnahme dieser Bestimmung als „Konsens“ der evangelischen Theologie vgl. beispielsweise Herms, Art. Dogmatik, 900. Zu Schleiermachers Dogmatikverständnis vgl. Axt-Piscalar, Dogmatik, 95–113; ferner Birkner, Beobachtungen, 119–131. Für dieses theologische Programm vgl. Axt-Piscalar, Theologie, 244–264. Schleiermacher, Glaube, § 19, 148.

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Dogmatik als Darstellung der kirchlichen Lehre? – Eine Problemanzeige

doch auch christliche sein sollen“, zugrunde gelegt wird. 5 Dagegen hält Schleiermacher bestimmt fest: Maßstab einer dogmatisch-theologischen „Reinigung und Vervollkommnung der Lehre“ könne keine allgemeine Re‐ ligionstheorie, sondern nur die „reiner und vollkommener gefaßte kirch‐ liche Lehre einer andern Zeit und in andern Darstellungen“ sein. 6 Mit dieser Verteidigung der konkreten Kirchenlehre gegen den Überbietungs‐ anspruch einer allgemeinen Religionswahrheit ist sogleich die Frage auf‐ geworfen, nach welchen theologischen Kriterien innerhalb der Kirche zwi‐ schen der reinen und der verfälschten, der orthodoxen und der häretischen Lehre unterschieden werden soll. Man kann das Lehrproblem der protestantischen Kirchen im Ausgang von diesen ersten Beobachtungen unterteilen in die dreifache Frage nach dem Wesen und der Funktion der Lehre, ihrem kirchlichen Geltungsan‐ spruch sowie den theologischen Kriterien einer Unterscheidung zwischen rechter Lehre und Irrlehre. Diese Fragen verlangen, wie im Zuge dieser Arbeit gezeigt werden soll, innerhalb einer Kirche und zu einer gegebe‐ nen Zeit nach jeweils theologisch schlüssigen, aber auch außertheologisch plausibilisierbaren Antworten. Der Behandlung dieser Fragestellung stehen jedoch unmittelbar eine weit verbreitete Abwehr gegenüber dem Lehrbe‐ griff und ein bestimmtes Vorverständnis von kirchlicher Lehre entgegen. Daher werden hier zunächst die verbreiteten und tief verwurzelten Vorbe‐ halte gegen den Lehrbegriff konturiert, mit denen sich dogmatische Arbeit am Lehrproblem heute unweigerlich auseinanderzusetzen hat (1.1). In ei‐ nem nächsten Schritt sind grundlegende Unterscheidungen vorzunehmen, die es erlauben, den Lehrbegriff von anderen theologischen Begriffen ab‐ zugrenzen, Kriterien für die Behandlung des Lehrproblems zu entwickeln und dessen Einzelaspekte umfassend herauszuarbeiten (1.2). Die Einleitung schließen sodann einige Bemerkungen zu methodischen Entscheidungen, zum Aufbau der Arbeit und dem Inhalt der einzelnen Kapitel ab (1.3). 1.1 Die Lehre der Kirche – eine repressive Kategorie? In welchem Ausmaß der Bezug der dogmatischen Theologie auf die kirch‐ liche Lehre, ja allgemein der Lehrbegriff als Instrument einer Selbstverstän‐ digung der christlichen Kirchen über ihren Grund und Auftrag problema‐ tisch geworden ist, lässt sich gut mit einem soziologischen Beispiel veran‐ schaulichen. Pierre Bourdieu und Monique De Saint Martin geben in einem 5 6

Ebd. Schleiermacher bezieht sich auf K. G. Bretschneider, zielt aber wohl auch auf die idealistische Religionsphilosophie G. W. F. Hegels und möglicherweise F. W. J. Schellings. Ebd., § 19, 148 f. Vgl. auch die Präzisierung dieser Vorgabe ebd., § 27, 175–182.

Die Lehre der Kirche – eine repressive Kategorie?

Aufsatz zum französischen Episkopat die Aussagen eines Amtsträgers der römisch-katholischen Kirche wieder, der dem Kontext nach vermutlich im „Studienbüro für Fragen der kirchlichen Lehre“ (franz. Bureau d’études doc‐ trinales) tätig ist: „Ich weiß nicht so genau warum, aber das Wort Lehre, äh, das macht sich nicht so gut. Und wenn man dieses Vokabular hätte ändern können, hätte ich gedacht, dass das vorzuziehen gewesen wäre [...]. Ich hätte stattdessen theologisch genommen [...]. Ich weiß nicht, warum das weniger seriös aussehen soll als Lehre oder Doktrin [franz. doctrinal, TG]. Aber schauen Sie, Theologie, das Wort hat ebenfalls nicht immer gute Presse [Schweigen], die Theologen hält man halt für Haarspalter, und dann [langes Schweigen], nun ja, doktrinal, das wirkt halt schon repressiv“. 7

An diesem Zitat lässt sich bereits zweierlei aufzeigen: Erstens ist hier der Begriff der Lehre, insbesondere in der Näherbestimmung als ‚rechte‘ oder ‚reine‘ Lehre (lat. doctrina), in Theologie und Kirche problematisch ge‐ worden, weil in diesem Wort immer schon ein Beiklang des Repressiven mitschwingt. Zweitens ist die entsprechende Entwicklung nicht allein auf den deutschen Protestantismus beschränkt, sondern auch in anderen Kon‐ fessionen zu beobachten. Zwei Erfahrungsberichte aus dem ökumenischen Dialog können die überkonfessionelle Dimension dieser Entwicklung illustrieren. So nahm Edmund Schlink bereits 1957 eine verbreitete Neigung wahr, die Eini‐ gung der christlichen Kirchen „zunächst in Fragen des gemeinsamen ethi‐ schen Einsatzes (life and work) der Christenheit herzustellen und dabei die dogmatischen Fragen zu eliminieren“. 8 Durch diese verbreitete „Baga‐ tellisierung der dogmatischen Aussagen“ würden „Fragen der Lehre, des Gottesdienstes und des Amtes (faith and order)“ gegenüber dem gemeinsa‐ men Engagement in der Welt immer weiter in den Hintergrund gedrängt. 9 Ganz ähnlich urteilt 1994 der amerikanische Theologe George A. Lind‐ beck in einem Rückblick auf die Entwicklung der ökumenischen Bewegung: „Seit 1984 hat sich das ökumenische Interesse von der Überwindung lehr‐ mäßiger Schranken, die die Einheit der Christenheit verhindern, auf den gemeinsamen Kampf [...] für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung verlagert“. 10 Schlink und Lindbeck diagnostizieren übereinstim‐ mend eine in der christlichen Ökumene allgemein beobachtbare Tendenz zur Vergleichgültigung der Lehre, die den Stellenwert des Lehrbegriffs, den

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Bourdieu/De Saint Martin, Familie, 210. Auslassungen und Bemerkungen soweit nicht extra gekennzeichnet im Orig. 8 Schlink, Struktur, 75. 9 Ebd. 10 Lindbeck, Lehre 17.

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kirchlichen und theologischen Geltungsanspruch der Lehre selbst sowie schließlich die damit verbundene Frage nach unverzichtbaren Grundgehal‐ ten betrifft. 11 Trotz dieser ökumenischen Konvergenz scheint die Erosion, von der die kirchliche und theologische Bedeutung der Lehre sowie des Lehrbegriffs betroffen ist, zwischen den christlichen Konfessionen unter‐ schiedlich weit fortgeschritten zu sein. Das Lehramt der römisch-katholi‐ schen Kirche hält weiterhin an einem kodifizierten Bestand an Lehre fest, auf den die Amts- und Funktionsträger, ja letztlich alle Glaubenden ver‐ pflichtet sind. 12 Diese Konstellation lässt im katholischen Zusammenhang die kirchliche Lehre, sobald ihre kirchliche Funktion oder auch ihre An‐ gemessenheit an diese Funktion einmal hinterfragt ist, für ihre Verteidi‐ gerinnen und Verteidiger als unverzichtbares Wesensmerkmal der wahren Kirche erscheinen, während sie für ihre Kritikerinnen und Kritiker schnell zum bloßen Instrument klerikaler Repression wird. 13 Das oben mit dem Zitat eines Kirchenfunktionärs illustrierte Vorverständnis, das weithin mit dem Begriff der Lehre verbunden ist, dürfte in hohem Maße von diesem Konfliktmuster geprägt sein. Dabei bleibt die enge gedankliche Verbindung von kirchlicher Institution und fixierter Lehre in der Regel selbst da vor‐ ausgesetzt, wo die Autorität und der Machtanspruch des Lehramtes in der Kirche bestritten werden soll.

11 Es stellt sich die Frage, ob die jüngsten Fortschritte der ökumenischen Verständigung in Teilfragen der Lehre, die sich meist der Methode des differenzierten Konsenses ver‐ danken, dieser Diagnose zuwiderlaufen oder ob die meist geräuschlose Arbeit in den Lehrkommissionen die These eher stützt, dass die Lehre aus dem Zentrum der ökume‐ nischen Bemühungen gerückt ist. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 erscheint in dieser Perspektive als eher unzeitgemäßes Ereignis. Der Frage nach der Einordnung dieser Erklärung und ihrer Rezeption wird in dieser Arbeit allerdings nicht nachgegangen. Dazu vgl. Oberdorfer/Söding (Hg.), Zustimmung. 12 Vgl. etwa aus der Dogmatischen Konstitution Lumen Gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils, DH 4149f: „Auch wenn die einzelnen Vorsteher nicht über den Vorzug der Unfehlbarkeit verfügen, so verkündigen sie dennoch, immer wenn sie [...] authentisch Sachen des Glaubens und der Sitten lehren [lat. authentice res fidei et morum docentes] und dabei auf eine Aussage als endgültig verbindliche übereinkommen [lat. in unam sententiam tanquam definitive tenendam], die Lehre Christi [lat. doctrinam Christi]. [...] Wenn aber der Römische Bischof oder die Körperschaft der Bischöfe in Verbindung mit ihm einen Satz definieren, legen sie ihn gemäß der Offenbarung selbst vor, zu der zu stehen und nach der sich zu richten alle gehalten sind [lat. cui omnes stare et conformari tenentur]“. Vgl. auch die damit fortgeschriebenen Bestimmungen zur Lehroffenbarung der Kirche in der Dogmatischen Konstitution Dei Filius des Ersten Vatikanischen Kon‐ zils, DH 3011; 3020. 13 Das Problem einer individuellen Auflösung dieses Spannungsverhältnisses durch das Doppelspiel einer äußerlichen Zustimmung zur verbindlichen Lehre bei gleichzeitiger innerlicher Gleichgültigkeit identifiziert Rahner, Häresie, bes. 560–576.

Die Lehre der Kirche – eine repressive Kategorie?

Demgegenüber stellt sich das Bild im Bereich des Protestantismus kom‐ plexer oder zumindest das Konfliktfeld weniger klar polarisiert dar. Und im Unterschied zur katholischen Dogmatik, die sich – so zumindest die Außen‐ perspektive – noch immer weitgehend als interpretierende Auslegung oder auch begründete Kritik einer kirchlich mehr oder weniger fest definierten Lehrtradition begreift, betrifft die Distanzierung vom Lehrbegriff im Bereich des Protestantismus gerade auch die Systematische Theologie. Dabei reicht das Spektrum der vertretenen Positionen von indifferenter Gleichgültigkeit gegenüber Lehre und Lehrbegriff über eine theologisch begründete Zurück‐ weisung 14 und verschiedene Grade der Relativierung bis hin zur verein‐ zelten Hoffnung auf eine Repristination 15 des Lehr- oder Dogmenbegriffs. Allgemein ist allerdings zu konstatieren, dass der Lehrbegriff in den ge‐ genwärtigen Diskussionen der deutschsprachigen evangelischen Dogmatik keine oder jedenfalls keine bestimmende Rolle mehr spielt. Dies gilt entspre‐ chend für die Konzeption evangelisch-dogmatischer Lehrbücher jüngeren Datums, so dass die Frage nach der Lehre und ihrer Verbindlichkeit auch in diesem Zusammenhang bestenfalls als ein Sonderproblem der Dogmatik unter vielen erscheint. 16 Eine enge Verknüpfung der systematisch-theologi‐ schen Disziplin der Dogmatik mit der kirchlichen Lehre begegnet dagegen 14 Vgl. U. Barth, Gedanken, 393: „Die Formen religiöser Sinndeutung und die konkret praktizierten Religionsstile sind heute selbst innerhalb der Kirche so verschieden, daß es einem Willkürakt gleichen würde, hier zwischen legitimer und illegitimer Wahrnehmung des Christlichen unterscheiden zu wollen“. Vgl. auch Slenczka, Theologie, 39: „dass es überhaupt sinnvoll ist, die faktische und unbestreitbare Pluralität des Verständnisses des christlichen Glaubens durch normative Texte zu limitieren und zu reglementieren, ist nicht selbstverständlich und bedarf einer vorläufigen Reflexion“. Diese Kritik religiöser Normativität ist in der Regel eng mit einer Zurückweisung des Lehrbegriffs verknüpft. 15 Im Modus der Anfrage vorgebracht von Jörg Baur, vgl. Baur, Lehre. Vgl. ders., Freiheit. Ausdrücklicher noch R. Slenczka, Entscheidung. 16 Am nächsten kommt einer expliziten Behandlung des Lehrproblems Wilfried Härle, vgl. Härle, Dogmatik, 12–14; 33 f.; 140–167. Auch Härle hält dabei programmatisch fest, dass die Dogmatik sich keinesfalls auf die „lediglich innerkonfessionelle Entfaltung der gel‐ tenden kirchlichen Lehre“ (ebd., 40. Im Orig. teilw. kursiv) beschränken dürfe, sondern vielmehr das christliche Wahrheitsbewusstsein zu entfalten habe. Bei Rochus Leonhardt findet sich keine Behandlung des Lehrbegriffs und der mit ihm zusammenhängenden Probleme, vgl. Leonhardt, Grundinformation. Allein zur Beschreibung einer vergan‐ genen Gestalt des kirchlich gebundenen Christentums greift Dietrich Korsch den Begriff auf, vgl. Korsch, Dogmatik, 3; 192–195. Dies verbindet ihn mit Christian Danz, der den Begriff hauptsächlich in historischer und lehrkritischer Perspektive gebraucht, vgl. Danz, Einführung, bes. 15–19; 35–37; vgl. aber a.a.O., 12. Bei Ulrich H. J. Körtner schließlich wird der Lehrbegriff ausgehend vom jeweils vorgegebenen Material teilweise selbstver‐ ständlich übernommen, teilweise implizit oder explizit problematisiert, ohne dass eine systematische Klärung seiner Stellung und Funktion geboten wird, vgl. bes. Körtner, Dogmatik, 32–42; 135–157.

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häufiger als Fremdzuschreibung – und dann meist mit dem Ziel, spezifisch dieser Disziplin ihre Wissenschaftlichkeit oder ihre beanspruchte Rolle im Gefüge der akademischen Theologie abzusprechen. 17 Der theologischen Marginalisierung des Lehrbegriffs kommen im Raum der evangelischen Kirchen zusätzlich allgemeine Vorbehalte gegen die aka‐ demische Theologie entgegen, die sich besonders leicht auf eine am Lehr‐ begriff orientierte und deswegen vermeintlich praxis- und lebensferne Dog‐ matik fokussieren lassen. Bezüglich dieser im Kern anti-theologischen Kri‐ tik kommt es, wie Ingolf U. Dalferth bereits 1985 beobachtet hat, zu unge‐ wöhnlichen Allianzen. Ist die Theologie „für die einen aufgrund ihres in‐ timen Bezugs zur kirchlichen Lehre als Wissenschaft desavouiert, so ist sie für die anderen gerade als Wissenschaft der behindernde Störenfried kirch‐ licher Lehre“. 18 Dass eine theologiekritische Inanspruchnahme des Lehr‐ begriffs strategischen Erfolg verspricht, hängt nun maßgeblich mit der Art und Weise zusammen, wie kirchliche Lehre hier verstanden wird: als Selbst‐ verständigung in einem kirchlichen Binnenraum, die einer im strengen Sinne wissenschaftlichen Rekonstruktion nicht zugänglich ist oder auch nicht bedarf. 19 Zusammenfassend ist auf Grundlage dieser einleitenden Skizze festzu‐ halten: Der Begriff der Lehre hat über die Grenzen einzelner Kirchen hin‐ weg und selbst innerhalb der Dogmatik einen repressiven Klang angenom‐ men. Er provoziert grundsätzliche Vorbehalte angesichts einer zumindest vermuteten Übergriffigkeit von Kirche und Theologie, die den Bedürfnis‐ sen des individuellen Glaubens keinen Raum zu lassen scheint. 20 Damit scheint der Lehrbegriff für die Plausibilisierung theologischer Anliegen ab‐ träglich, was zu einem weitgehenden Verschwinden dieses Begriffs und einem Verstummen der mit ihm verbundenen Diskussionen geführt hat. Auch für die Dogmatik erscheint es unter diesen Bedingungen wissen‐ schaftspolitisch ratsam, die Bearbeitung ihrer Themenbestände nicht als Pflege der ‚in einer Kirchengesellschaft geltende Lehre‘ zu begründen, son‐ 17 Die Auseinandersetzung mit einem pejorativen Vorverständnis von ‚Dogmatik‘ scheint deshalb fast zur Gattung des Lehrbuches zu gehören, vgl. Härle, Dogmatik, VII; vgl. Leonhardt, Grundinformation, 15; vgl. Körtner, Dogmatik, XV; vgl. Danz, Einfüh‐ rung, 9; 22 f. 18 Dalferth, Wissenschaftliche Theologie, 98. 19 Dazu passt Folkart Wittekinds Diagnose eines Auseinanderdriftens von akademischer Theologie und einer kirchlichen „Theologie der Frömmigkeit“ (Wittekind, Theologie, 15), die „zunehmend ohne universitären Kontakt in den Verwaltungsstuben der Kirche selbst entworfen wird“ (ebd., 16). Wittekind scheint einer solchen Entflechtung von Uni‐ versitätstheologie und Kirchentheologie dabei durchaus Positives abzugewinnen. 20 Für eine an der Homiletik orientierte Problembeschreibung vgl. auch Kücherer, Kate‐ chismuspredigt, 9–13; vgl. pointiert ebd., 149.

Die Lehre der Kirche – eine repressive Kategorie?

dern andere Bezugspunkte wie die religiöse Praxis in der Gesellschaft oder das Transzendenzverhältnis des Menschen zu suchen. Andererseits lässt sich diese zunehmende Problematisierung verbindlicher Lehre in der Kir‐ che sowie das Verschwinden des Lehrbegriffs aus der theologischen Refle‐ xion auch kritisch hinterfragen: Welche theologischen Implikationen und kirchlichen Konsequenzen hat die Erosion des Lehrbegriffs? Diese Grundfrage lässt sich in verschiedene Teilfragen aufgliedern: Musste der Begriff der Lehre entfallen, weil er angesichts eines Auseinan‐ derdriftens von akademischer Theologie und kirchlicher Praxis als Schar‐ nier beider Sphären verzichtbar oder gar verdächtig geworden ist? Handelt es sich bei dieser Entwicklung um eine begrüßenswerte Transformation des Protestantismus in eine nicht mehr lehrmäßig-normierte, sondern freiere Gestalt des Christentums? Oder droht hier der Rückfall in eine Gestalt religiöser Vergemeinschaftung, die über unbewusste Grenzziehungen und unausgesprochene Konventionen einen subtileren, aber nicht geringeren Druck auf die Einzelnen ausübt? Und könnte es vielleicht sein, dass zwar die offene Auseinandersetzung um den Lehrbegriff zum Erliegen gekommen ist, aber die traditionell mit ihm verhandelten Probleme in anderer Ge‐ stalt wiederkehren und nun mit Hilfe funktionaler Äquivalente thematisiert werden müssen? In diesem Fall wäre Skepsis gegenüber dem Verschwinden dieses Reflexionsbegriffs angebracht, wie Eilert Herms sie einmal bezüglich des Begriffs der ‚natürlichen Theologie‘ zum Ausdruck gebracht hat: „Der Verzicht auf diese Themabegriffe kann, wie die Erfahrung zeigt, der Illusion Vorschub leisten, überlieferte Probleme durch die Ächtung bestimmter Vokabeln zu lösen. Dies ist aber der leichteste, unfruchtbarste und gefährlichste Weg, in der Theologie ‚Innovation‘, ‚Emanzipation‘ und ‚Fortschritt‘ zu simulieren.“ 21

Diese Arbeit geht im komplementären Zusammenspiel mehrerer Unter‐ suchungen, die sich dem Thema aus verschiedenen Perspektiven und in der Beschäftigung mit verschiedenen theologischen Epochen nähern, einer übergreifenden Frage nach: Inwiefern ist das verbreitete Vorverständnis der Lehre als einer repressiven Kategorie berechtigt und lässt sich das Lehr‐ problem als offene Frage der gegenwärtigen Theologie erneuern? 22

21 Herms, Bedeutung der natürlichen Theologie, 101 (Herv. im Orig.). Vgl. auch ders., Grundprobleme, 371. 22 Dieses Anliegen einer ‚Repristination‘ des Lehrproblems ist in der evangelischen Theolo‐ gie wohl nicht besonders weit verbreitet, aber auch nicht ganz solitär. Vgl. etwa Geyer, Überlegungen, 257; 262. Vgl. ferner Koch, Freiheit, 232–238; Behr, Kirchengemein‐ schaft, 348 f.

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1.2 Die Freilegung des Lehrproblems Diese übergreifende Fragestellung nach der kirchlichen und theologischen Bedeutung der Lehre ist allerdings noch so allgemein und offen gestellt, dass für ihre systematische Bearbeitung einige Präzisierungen erforderlich sind. Lassen sich verschiedene Aspekte der Fragestellung abschichten und als Teilprobleme formulieren? Um diese Teilfragen – etwa nach Wesen, Funktion und Kriterien der Lehre – zu identifizieren und ihnen mittels der Rekonstruktion ausgewählter Positionen nachgehen zu können, ist zu‐ nächst sinnvoll, das semantische Feld um den Lehrbegriff zu strukturieren und ein Raster grundlegender Unterscheidungen zu etablieren. Dazu sind im Folgenden drei Leitunterscheidungen auf den Lehrbegriff anzuwen‐ den, die sich seit der Aufklärung innerhalb der Theologie herausgebildet und theoretisch bewährt haben: Zunächst ist das Verhältnis der öffent‐ lich-kirchlichen ‚Lehrnorm‘ zum Glauben der einzelnen Kirchenglieder und ihrer privaten religiösen Praxis zu klären (1.2.1). Sodann ist zu be‐ stimmen, wie sich die Lehraussage als spezifische Sprachform zu anderen religiösen Aussageweisen verhält und wie sie formal-sprachanalytisch von diesen abzugrenzen ist (1.2.2). Schließlich ist die – nur auf den ersten Blick trivial erscheinende – Unterscheidung von kirchlicher Lehre und wissen‐ schaftlicher Theologie zu behandeln (1.2.3). Noch vor der Behandlung dieser Leitunterscheidungen ist hier aller‐ dings aus dem Bereich des eigentlichen Lehrproblems 23 eine sprachliche Gebrauchsweise des Wortes ‚Lehre‘ auszugrenzen, die dieses lediglich zur gliedernden Bezeichnung einzelner theologischer Topoi oder Themenkom‐ plexe heranzieht: die Lehre von Gott, die Lehre vom Heiligen Geist, die Lehre von den Sakramenten. Ebenso ist das Lehrproblem noch nicht be‐ rührt, wo die Lehre einer Person (‚Luthers Lehre‘) oder einer historischen Formation (‚die Lehre der Urgemeinde‘) als unscharfer Sammelbegriff für ein theologisches Gesamtprojekt und dessen charakteristische Grundzüge verwendet wird. Mag in diesen Verwendungsweisen auch noch eine Erin‐ nerung an das Lehrproblem und den Anspruch einer „heilsamen Lehre“ (2Tim 4,3) nachklingen, ist aus ihnen doch kein theologisches Lehrver‐ ständnis zu erheben. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass dieser Sprach‐ gebrauch auch dort weiter gepflegt wird, wo man ein lehrhaftes Verständ‐

23 Die Bezeichnung „Lehrproblem“ ist von Dalferth übernommen, doch wird die damit verbundene Problemstellung in dieser Arbeit eigenständig und vom Sprachgebrauch Dal‐ ferths abweichend vorgenommen. Vgl. Dalferth, KoTh, 23.

Die Freilegung des Lehrproblems

nis der Theologie ablehnt oder die Notwendigkeit kirchlich-verbindlicher Lehrartikulationen zurückweist. 24 1.2.1 Öffentliche Lehre und privater Glaube Zu den Leitunterscheidungen, die für eine angemessene Untersuchung der skizzierten Fragestellung unverzichtbar sind, gehört zunächst die von Johann Salomo Semler (1725–1791) programmatisch formulierte Unter‐ scheidung einer „öffentlichen Religionsform, welche alle Mitglieder durch ihre Einwilligung in einer besondern Verbindung mit einander erhält“, von der „innere[n] oder Privat-Religion“ der Einzelnen. 25 Mit der ausdrückli‐ chen Übernahme dieser Unterscheidung ist dem Misstrauen gegenüber der Lehre als einer repressiven Einschränkung der persönlichen und individu‐ ellen Frömmigkeit Rechnung zu tragen. Ob diese Unterscheidung durchgehalten und so zur Geltung gebracht wird, dass der privaten Religion der Einzelnen eine eigenständige, vom Zugriff der kirchlichen Institutionen geschützte Sphäre zugestanden wird, entscheidet nicht zuletzt darüber, ob sich auch eine am Lehrbegriff orien‐ tierte Theologie in die liberale, von der Aufklärung geprägte Traditionslinie protestantischer Theologie einstellen darf. Nicht erforderlich erscheint zu diesem Zweck allerdings, auch die inhaltliche Näherbestimmung beider Größen sowie ihres Verhältnisses von Semler zu übernehmen. Dies be‐ trifft etwa die Behauptung einer weitgehenden Unabhängigkeit der Pri‐ vatreligion von der öffentlichen Religion sowie die Herleitung der öf‐ fentlichen Religion aus einer Verfallsgeschichte des zunächst rein inner‐ lich-moralischen Christentums. 26 Mit der Übernahme dieser Unterschei‐ dung ist außerdem nicht notwendig schon die Einschränkung verbunden, 24 Mit dieser Verwendung wiederum hängt zusammen, dass die gegenüber dieser Diffe‐ renzierung blinden Register vieler Bücher hinsichtlich des tatsächlichen Stellenwerts des Lehrbegriffs für die jeweilige Konzeption nicht aussagekräftig sind. 25 Semler, Glaubensbekenntniß, 4. Zu dieser Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion vgl. auch Laube, Unterscheidung, 1–23. Vgl. ferner Axt-Piscalar, Theologie, 196–198. 26 So konstruiert Semler bereits die antike Kirchengeschichte als weitgehende Verfehlung des Wesens des Christentums, denn „die ganz andere moralische Natur der christlichen Religion, welche auf alle einzelne Menschen sich bezog, und eine bessere moralische Verehrung des besser erkannten Gottes mit sich brachte, wurde wieder in eine eben so un‐ moralische blos politische Religion verwandelt“ (Semler, Glaubensbekenntniß, 8, Herv. im Orig. gesperrt). Aufgrund dieser Verfallsgeschichte, die von Semler im Kern als eine Re-Judaisierung beschrieben wird, wird auch das Verhältnis von Judentum und Chris‐ tentum kaum angemessen bestimmt, vgl. ebd., 25 f. Schon die dabei vorausgesetzte Be‐ stimmung des Wesens der christlichen Religion ist freilich zu hinterfragen, vgl. ebd., 34f; 37. Das Gleiche gilt schließlich für Semlers Abständigkeit gegenüber einem die einzelnen

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dass der Begriff der Lehre ausschließlich mit Blick auf die öffentliche Reli‐ gion anzuwenden wäre, auch wenn er tatsächlich in der Reflexion auf die öffentlichen Vollzüge einer Religionsgemeinschaft seinen ursprünglichen Ort haben dürfte. Erscheint in hohem Maße plausibel, dass die öffentliche Religion auch ihrem Selbstverständnis nach notwendig auf die innerliche Beteiligung der Einzelnen angewiesen ist, kann man an Semlers Konzeption dennoch die kritische Rückfrage stellen, ob nicht im Gegenzug auch der öffentlichen Religion eine unverzichtbare und bleibende Funktion für den Glauben der Einzelnen und deren private Religion zukommt. 27 Sollte dies der Fall sein, dann ließe sich die Funktion der Lehre nach zwei Richtungen bestimmen: hinsichtlich ihrer ‚normierenden‘ Funktion, die sie im Rahmen der Kirche und ihrer öffentlichen Vollzüge übernimmt, und hinsichtlich ihrer hermeneutischen Funktion, die sie für die Glaubenden und ihre pri‐ vate Frömmigkeitspraxis erfüllt. Möglicherweise ist der „ausgeprägte For‐ malismus“ 28, mit dem Semler die schlechthin individuelle Privatreligion bestimmt, doch nicht das letzte Wort bezüglich des selbsttätig angeeigneten Glaubens und seiner Inhalte? Die Grundunterscheidung von privater und öffentlicher Religion wird hier daher aufgegriffen als Selbstbeschränkung der Theologie sowie der kirchlichen Lehre hinsichtlich des Glaubens der Einzelnen, dem ein ge‐ schützter Raum individueller Aneignung und Ausgestaltung zuzugestehen ist. 29 Dass das religiöse Leben der Einzelnen durch die kirchliche Lehre oder auch deren theologische Rekonstruktion nicht einfach gleichgeschal‐ tet werden darf, ist der bleibende Ertrag von Semlers Unterscheidung zwi‐ schen privater und öffentlicher Religion. 30 Auf diesem Weg ist auch dem Vorbehalt gegenüber der Lehre als einem Instrument kirchlicher Repres‐ sion zu begegnen – wobei die Anfrage hinsichtlich einer subtileren Ein‐ schränkung der individuellen Freiheit durch lehrhafte Sprachformen beste‐ hen bleibt. Außerdem bleibt offen, ob der Lehre tatsächlich eine unersetz‐ bare Rolle unter den religiösen Sprachformen zukommt und ob sich der theologische Lehrbegriff auf dieser Grundlage tatsächlich erneuern lässt.

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lokalen Gemeinden übergreifenden Lehrkonsens, dessen Formulierung er vornehmlich im Machtstreben der Bischöfe motiviert sieht, vgl. ebd., 39–41. Bei Semler vgl. ebd., 15 f.; 19. Zu dieser Linie der Kritik vgl. auch Axt-Piscalar, Theolo‐ gie, 198; vgl. ferner Laube, Unterscheidung, 14–16. Ebd., 13. Vgl. ebd., 7 f. Dieser Bereich ist zu betrachten als „einem direkten Zugriff entzogen“ (ebd., 10). Im Interesse einer einheitlichen Terminologie wird im Rahmen dieser Arbeit die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Religion begrifflich in die Unterschei‐ dung von privatem Glauben und öffentlicher Lehre transformiert. Zur Verortung dieser Forderung als exemplarischer Problematik im Rahmen der neuzeit‐ lichen Thematisierung von Freiheit, Individuum und Gesellschaft vgl. ebd., 3 f.

Die Freilegung des Lehrproblems

1.2.2 Lehre als Aussageform des Glaubens In einem zweiten Schritt ist daher nun zu erhellen, wie sich die Sprachform der Lehre zu den anderen religiösen Sprachformen verhält, in denen sich christlicher Glaube ausspricht. Ist mit dem Begriff ‚Lehre‘ ein Phänomen bezeichnet, das sich auch auf sprachanalytischer Ebene aufweisen lässt? Und wenn ja, welche Funktion erfüllt diese spezifische Sprachform inner‐ halb der christlichen Frömmigkeit? Diesbezüglich ist die grundlegende Un‐ tersuchung Edmund Schlinks (1903–1984) zur Struktur der dogmatischen Aussage weiterführend. 31 Schlinks Analyse der religiösen Sprachformen bewegt sich dabei in ei‐ nem theologischen Rahmen, der durch das Verständnis des Evangeliums als eines Wortgeschehens gesteckt ist, das auf die Glaubensantwort der Einzelnen abzielt: Als die „Botschaft von Jesu Tod und Auferstehung“ sei das Evangelium eine „göttliche Anrede“, die „nicht ohne die Antwort des Glaubenden bleiben“ könne. 32 Die geforderte Antwort auf diese Anrede sei unweigerlich eine doppelte, nämlich Anrede Gottes im Gebet und An‐ rede des Nächsten als Zeugnis vor den Menschen. Indem er diese doppelte Grundorientierung mit der personalen Struktur des Sprechakts kombiniert, kann Schlink fünf Grundformen der theologischen Aussage entwickeln. Unter diesen „fünf personalen Grundformen der theologischen Aussage“ bestehe dabei eine innere Zusammengehörigkeit, weil nur im Zusammen‐ spiel aller Grundformen die Antwort des Glaubens auf das Evangelium vollständig sein könne. 33 Sollte die Lehre eine dieser strukturell bestimm‐ baren Sprachformen sein, würde dies zunächst bedeuten, dass ihr auch eine unverzichtbare Funktion innerhalb der Glaubenskommunikation zukom‐ men muss – ohne Lehraussagen wäre dann die menschliche Antwort auf die göttliche Anrede des Evangeliums nicht komplett. Die erste dieser Grundformen ist für Schlink das Gebet, das als direkte „Anrede des göttlichen Du zugleich Aussprache des menschlichen Ich“

31 Schlink, Struktur, 24–79. In der folgenden Rekonstruktion wird in der Verwendung der Begriffe ‚religiös‘ und ‚theologisch‘ anders verfahren als bei Schlink. Dessen grund‐ legenden Bestimmungen folgen mit verschiedenen Schwerpunkten beispielsweise Pan‐ nenberg, Aussage; D. Ritschl, Art. Lehre. Auch bei George A. Lindbeck ist ein Einfluss dieses Textes aufzuweisen. Zu Lindbeck siehe unten, Kap. 7. 32 Schlink, Struktur, 24 f. Das Evangelium sei „Kraft Gottes, die nicht nur Glauben fordert, sondern auch Glauben weckt“ (ebd., 25). 33 Vgl. ebd., 36. Für Schlink handelt es sich hier um keine Zusammenstellung von allein „phänomenologischem Interesse“, sondern um eine auch inhaltlich im Gegenstand des christlichen Glaubens begründete Gesamtstruktur „von normativer Bedeutung“ (ebd., Herv. im Orig.). Vgl. ebd., 75.

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ist. 34 Ermöglicht ist es durch die vorgängige Heilstat Gottes an Israel sowie an der Gemeinde in Christo. Gebete sind Teil eines Gesprächs „zwischen Gott und Mensch, in dem der Mensch angeredet zu dem Ich wird, das Gott als Du preisen, fragen, bitten, ja bestürmen darf“. 35 Konstitutiv für das Gebet sind somit die direkte Anrede sowie die Struktur einer Ich-Du‐ Beziehung von Gott und Mensch. Aus dieser Struktur des Gebets entwi‐ ckelt Schlink wiederum als zweite Grundform die Doxologie, in der ein Beter seine „lobpreisende Anerkennung der göttlichen Wirklichkeit“ aus‐ spricht. 36 Wie das Gebet gründe die Doxologie in der vorgängigen göttli‐ chen Heilstat, doch gehe es ihr nicht um konkrete Anliegen oder die eigene Gottesbeziehung, sondern um „Gott selbst, um seine ewige Wirklichkeit“. 37 Dem entspreche auch die besondere personale Struktur der doxologischen Aussageform. Einerseits weiche hier – zumindest tendenziell – „das Du dem göttlichen Er“, andererseits verschwinde hier sowohl das Ich des Be‐ ters als auch das Wir der Gemeinde. 38 Gott wird hier nicht ins Gegenüber zum Ich gesetzt und direkt angeredet, sondern in seiner allumfassenden Wirklichkeit und seinen ewigen Eigenschaften gepriesen. Diese scheinbare ‚Unpersönlichkeit‘ der Doxologie bedeutet für Schlink dabei aber gerade „kein unbeteiligtes Zuschauen, sondern äußerste Hingabe“ des Ichs. 39 Als dritte Grundform bestimmt Schlink das Zeugnis, das sich als situativ be‐ stimmte „Anrede des mitmenschlichen Du und Ihr“ vollzieht. 40 Durch die‐ ses Zeugnis werde die glaubende Antwort auf das Evangelium selbst wieder Evangelium für andere, indem sie die Heilstat Gottes am Ort ihrer „un‐ vertauschbaren geschichtlichen Wirklichkeit“ den Mitmenschen bezeuge. 41 Das Ich des Glaubenden bezeuge mit der vorgängigen Heilstat zugleich den Empfang der Gnade und die eigene Berufung zum Zeugnis, so dass der Zeuge hier immer auch affirmativ und persönlich „für die Wahrheit des Gehörten einsteht“. 42 Wie beim Gebet ist das Zeugnis also direkte Anrede in

34 Ebd., 26. Besonders im Bittgebet werde dabei deutlich: „das Ich ist verklammert mit dem Wir der Gemeinde und darüber hinaus mit all denen, die der Fürbitte bedürfen“ (ebd.). 35 Ebd. 36 Ebd., 27. 37 Ebd., 28. Als Doxologie spreche sich die „Anerkennung Gottes als Gott“ aus, wie er „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (ebd.) sei. 38 Ebd. 39 Ebd., 29. Schlink spricht hier vom „Lobopfer“, weil das Ich der Lobenden „in der Doxolo‐ gie zum Opfer gebracht“ (ebd.) wird. 40 Ebd. 41 Ebd. Diese Heilswirklichkeit zeichne ihre „Gebundenheit durch politische, weltanschau‐ liche und religiöse Mächte“ aus, so dass das Zeugnisses immer mitgeprägt sei durch eine geschichtlich situierte „Vorstellungswelt und Sprache“ (ebd.). 42 Ebd., 30.

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einer Ich-Du-Beziehungsstruktur, wobei das unmittelbare Gegenüber hier nicht wie im Gebet Gott, sondern der Mitmensch ist. Bezogen auf diese Aussageform des Zeugnisses und dennoch von ihr spe‐ zifisch unterschieden tritt bei Schlink nun die Lehre als vierte Grundform der theologischen Aussage auf. 43 Die Aussageform der Lehre erfülle zu‐ nächst die Aufgabe einer „Weitergabe des geformten Traditionsstoffes der Gemeinde“. 44 Dieser tradierte Bestand setze sich aus „kerygmatischen, be‐ kenntnisartigen, hymnischen u.a. geprägten Formulierungen“ sowie „ethi‐ schen Regeln“ zusammen. 45 In ihrem „festhaltenden Bewahren“ des ge‐ meindlichen Traditionsstoffes sei die Lehre „an der durch den Wechsel der geschichtlichen Situation hindurchgehenden Selbigkeit“ des je aktuel‐ len Zeugnisses interessiert. 46 Darüber hinaus aber sichere sie nicht allein die geschichtliche Identität von Gemeinde und Evangeliumsbotschaft, son‐ dern ziele immer auch nach außen „auf die Erweckung und Ausbreitung des Glaubens“. 47 Durch welche Struktur entspricht die Aussageform der Lehre dieser Aufgabe? In der Lehre wird die Evangeliumsbotschaft gerade nicht als di‐ rekte Anrede in konkreter Situation, sondern als kontinuierlicher Über‐ lieferungszusammenhang zur Sprache gebracht. Im Gegensatz zum predi‐ genden Zeugnis, das sich „an das konkrete mitmenschliche Du in seiner jeweiligen geschichtlichen Situation“ richte und somit immer der „kontin‐ genten Zuspitzung“ bedürfe, spreche die Lehre ihre Hörer „eigentümlich indirekt“ an. 48 Das „konkrete mitmenschliche Du“ und damit zugleich das Ich des Lehrenden, der „meist anonym bleibende Tradent“, treten ebenso wie die äußeren Umstände der Situation ganz in den Hintergrund. 49 Diese Einklammerung des Ich, des Adressaten und der kontingenten Umstände beinhaltet für Schlink allerdings nicht die Illusion des Sprechens ohne Spre‐

43 Im Unterschied zu R. Bultmann und im Anschluss an H. Greven hält Schlink es für unterbestimmt, die Lehre als lediglich abkünftige und „nachträgliche Aussage“ (ebd.) zu verstehen, die das im vorgängigen Wortgeschehen des Kerygmas neu gewonnene Selbst‐ verständnis dann sprachlich expliziert. Das Verhältnis zwischen Lehre und Kerygma sei vielmehr schon bei Paulus zirkulär. Zu diesen neutestamentlichen Hintergründen vgl. ebd., 30 f. Vgl. auch Rengstorf, Art. διδάσϰω. Zu Bultmanns Lehrverständnis siehe aus‐ führlicher unten in Kap. 5.2. 44 Schlink, Struktur, 31. 45 Ebd. 46 Ebd., 32. 47 Ebd. Durch die apologetische Verarbeitung äußerer Herausforderungen lege die Lehre „dem Zeugnis in seinen mannigfaltigen Gestalten den unerläßlichen Grund zum Vorstoß in die Welt“ (ebd.). 48 Ebd. 49 Ebd.

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cher und bedeutet auch keine Distanzierung von der existenzbestimmen‐ den Botschaft des Evangeliums: Im „Dienst der Lehre“ gebe sich ein Ich als „Werkzeug der Weitergabe“ an die geschichtliche Heilstat Gottes in Chris‐ tus hin, worin gerade die spezifische „Existentialität“ dieser Aussageform bestehe. 50 Im Bekenntnis als der fünften Grundform sieht Schlink schließlich „alle Antworten des Glaubens in eigentümlicher Weise konzentriert“. 51 Das Be‐ kenntnis vollziehe die persönliche „Unterstellung des Glaubenden unter Jesus Christus, den gegenwärtigen Herrn“, der gleichwohl nicht direkt an‐ geredet, sondern „als Herr schlechthin bekannt“ werde. 52 Ein solches Be‐ kenntnis werde einerseits wie ein Gebet Gott dargebracht, andererseits auch als Zeugnis vor den Mitmenschen gesprochen. Die Bekennenden stel‐ len sich dabei laut Schlink in die Gemeinschaft aller Glaubenden ein und bekräftigen zugleich ihre Bereitschaft, dieses Bekenntnis auch „vor den Nichtglaubenden, ja vor den Feinden und Verfolgern abzulegen“. 53 Mit der „Totalität des Ja“ zu Christus sei zugleich ein dreifaches Nein gesetzt, das gerade deshalb gar nicht explizit ausgesprochen werden müsse: Die „Ab‐ sage an die Mächte, die uns bisher regierten“, die „Scheidung von den Be‐ kenntnissen anderer Gemeinschaften“ sowie die „Abkehr von der eigenen Vergangenheit“. 54 Auf der Ebene der Kirche korrespondiere dem Bekennt‐ nis der Einzelnen das Dogma, das in der Kirche als „für ihr gesamtes Reden und Handeln verpflichtend anerkannte Aussage“ in Geltung stehe. 55 Schlink unterscheidet in seiner Strukturanalyse religiöser Rede somit verschiedene Aussagetypen nach den formalen Merkmalen ihres Adres‐ satensbezugs, ihres Kontextbezugs und ihrer direkt-persönlichen oder indirekt-überpersönlichen Anredeform. Leitend ist dabei das Verständnis der Glaubensexistenz als Situiertheit coram deo und coram mundo: Die Glaubenden werden durch die Evangeliumsbotschaft an einem konkret-ge‐ schichtlichen Ort als Mensch unter Menschen in das Angesicht des ewigen Gottes gestellt. Diesem Doppelbezug der Existenz, der allein im Bekennt‐ 50 Ebd., 33. 51 Ebd. Im Bekenntnis fallen „Gebet und Zeugnis, Doxologie und Lehre in eigentümlicher Weise zusammen“ (Ebd. 35). Die kürzeste und grundlegende Form des Bekenntnisses, in dem die im Evangelium verkündete Heilstat antwortend zur Sprache gebracht wird, ist die Kombination des Namens Jesu mit einem christologischen Würdetitel, vgl. ebd., 33. 52 Ebd., 34. 53 Ebd. 54 Ebd., 35. Die charakteristische Sachlichkeit des Bekenntnisses, die von allen konkreten Umständen absehe, ergebe sich daraus, dass hier ein „Rechtsakt“, vollzogen werde, ge‐ nauer: „das Ja des Glaubenden zu dem Rechtsakt, den Gott am Kreuz zugunsten der Welt vollzogen hat“ (ebd.). 55 Ebd., 38.

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nisakt ansatzweise zur Darstellung kommt, kann der Glaube nur im Zu‐ sammenspiel verschiedener Aussagetypen entsprechen. Die Lehre ist hier bestimmt als die spezifische Aussageform, die primär an die Mitmenschen gerichtet ist, aber nicht wie das verkündigende Zeugnis die je aktuellen und individuellen, sondern vielmehr die stetigen und regelhaften Aspekte der Glaubenskommunikation zum Ausdruck bringt. Ihren ursprüngliche Sitz im Leben der Kirche hatte die Lehre Schlink zufolge im urchristli‐ chen Taufunterricht. 56 Dieser Unterricht setzte das Zeugnis der Missions‐ predigt voraus und sollte die Taufbewerber wiederum auf das Bekenntnis im Zusammenhang ihres Empfangs der Sakramente Taufe und Abend‐ mahl vorbereiten. Über diese grundlegende katechetische Einweisung in den Lebenszusammenhang der Kirche hinaus sei zudem früh die Notwen‐ digkeit einer tiefergehenden Einweisung kirchlicher Amtsträger erkannt worden. Allerdings zeigt sich nach Schlink in der Kirchengeschichte früh, dass dieses ideale Gleichgewicht der komplementären Aussageformen nicht sta‐ bil ist, wobei die Struktur der Lehraussage eine besondere Gefahr birgt. Denn im Kommunikationszusammenhang der Kirche begegnen alle Aus‐ sageformen „in persönlichen freien“ sowie „in formelhaft gebundenen Wor‐ ten“. 57 Anzustreben sei ein ausgewogenes Verhältnis von Gebundenheit und Freiheit, damit der Glaube in der existentiellen „Preisgabe an Gottes Heilstat“ sowohl der Einmaligkeit dieser Heilstat als auch seiner Geschicht‐ lichkeit entspreche. 58 Insbesondere bei gebundener Sprache trete aber die Schwierigkeit auf, dass „kerygmatische, bekenntnishafte und liturgische Formeln“ in ihrer Sprachstruktur von „Formeln der Lehre“ kaum zu un‐ terscheiden seien. 59 Verschärft werde dies noch durch die Tatsache, dass unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer der Grundformen jede for‐ melhaft geprägte Aussage „Gegenstand lehrender Überlieferung“ werden könne. 60 Über den Zwischenschritt der Formelbildung können somit alle übrigen Aussageformen des Glaubens in die Struktur einer Lehraussage transformiert und Gegenstand eines Lehrvollzugs werden, wobei es unwei‐ gerlich zu einer Vergegenständlichung kommt. Löst sich nun der Zusammenhang der Aussageformen auf und verabso‐ lutiert sich zugleich die Lehre als dominante Aussageform, dann führt diese

56 Vgl. ebd., 40. 57 Ebd., 36. Herv. im Orig. 58 Ebd., 37. Als Vorbild könne hier das Neue Testament dienen, in dem trotz einer „ein‐ drücklichen Einheit in der Bezeugung“ und vieler „formelhafter Elemente“ (ebd.) nir‐ gends die starre Festlegung auf einen einzigen Wortlaut erkennbar sei. 59 Ebd. 60 Ebd.

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nach Schlink nicht mehr in dienender Funktion „zu Buße, Glauben, Gebet und Zeugnis als anderen Akten hin“, sondern absorbiert diese Vollzüge als „Lehre über Glauben, Buße, Gebet und Zeugnis“. 61 Eine solche Fehlent‐ wicklung erkennt Schlink nun tatsächlich in der Geschichte des kirchlichen Dogmas wieder. In den frühen altkirchlichen Dogmen wie dem Aposto‐ lischen Glaubensbekenntnis oder dem Bekenntnis von Nizäa sieht er die ursprüngliche Verankerung im Bekenntnis der Taufbewerber noch festge‐ halten, insofern diese Symbole „Doxologie und Lehre, Gebet und Zeugnis in einem“ geblieben seien. 62 Doch bereits bei der abschließenden Erklärung des Konzils von Chalkedon handle es sich schon rein sprachlich nicht mehr um ein echtes Bekenntnis, sondern vielmehr um eine „Lehre vom rech‐ ten Bekenntnis“. 63 Als Endpunkt dieser Entwicklung in der Geschichte des Protestantismus betrachtet Schlink schließlich die reformatorischen Be‐ kenntnisschriften, die sich ausdrücklich als reine Lehrbekenntnisse ohne jede Verankerung im liturgischen Gebrauch verstehen. Der doxologisch‐ liturgische Aspekt des Bekenntnisses sei hier vollends verschwunden und der gottesdienstliche Rahmen nur noch indirekt durch die Ausrichtung des Lehrbekenntnisses auf die predigende Verkündigung oder den seelsorgerli‐ chen Zuspruch festgehalten. 64 Verschärfend wurde auch die Verkündigung nun tendenziell nicht mehr als persönliches Zeugnis, sondern als ‚unper‐ sönlicher‘ Lehrvortrag verstanden. 65 Aufgrund dieser Funktionsverschie‐ bung des Dogmas von einem liturgischen Vollzug zu einem kirchlich-nor‐ mierenden Lehrbekenntnis sei die „dogmatische Einheit“ der Kirche seit

61 Ebd., 43. Das „Ereignis der personalen Begegnung“ des Gebets und die „konkrete Ge‐ schichtlichkeit“ der Verkündigung werden dann „als Lehrstoff für die Ableitung theo‐ retischer und möglichst zeitloser Lehraussagen benützt und in solche zeitlosen Aussagen umgesetzt“ (ebd.). In letzter Konsequenz werde „die Predigt der Kirche zur Unterweisung und zum Lehrvortrag, das Zeugnis der Christen gegenüber den Mitmenschen zur theolo‐ gischen Diskussion, und die Lieder der Kirche werden zu Lehrgedichten“ (ebd., 46). 62 Ebd., 38. 63 Ebd. Besonders im Athanasium trete der „positive Zeugnischarakter“ in den Hintergrund, während nun Anathematismen aufgenommen und somit „die verworfenen falschen Aus‐ sagen ausdrücklich dogmatisch fixiert“ (ebd., 39) werden. Damit werde das „in jedem Bekenntnis implizit enthaltene Moment der Scheidung explizit“ (ebd., Herv. im Orig.), was dem ursprünglichen liturgischen Vollzug eines Bekenntnisses fremd sei. 64 Im Fall der Confessio Augustana werde das Lehrbekenntnis noch in „Ausrichtung auf die Predigt“ formuliert und als lehrmäßige „Darlegung des Glaubens vor Kaiser und Reich“ (ebd.) öffentlich bekannt. Auch lasse sich in manchen Passagen der Bekenntnisschriften „die Struktur des seelsorgerlichen Zuspruchs noch deutlich erkennen“ (ebd.). 65 Vgl. ebd., 40.

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dem 4. Jahrhundert zunehmend von der „Durchsetzung ein und derselben Formel“ abhängig gemacht worden. 66 Ein Ungleichgewicht in der kirchlichen Glaubenskommunikation, in‐ folge dessen sich die Lehraussage in der Kirche gegen andere Aussagefor‐ men durchsetzt und diesen gegenüber dominierend wird, erscheint so bei Schlink als Erklärung für den repressiven Charakter, den die Lehre in der Kirchengeschichte angenommen hat und der noch gegenwärtig mit dem Begriff der Lehre verbunden wird. Allerdings betreffe diese Gefahr einsei‐ tiger Verabsolutierung nicht allein die Lehraussage. Vielmehr könne jede der Grundformen eine solche Hegemonie beanspruchen, wobei es jeweils zu einer spezifischen „Systemverhärtung“ komme. 67 Schlink skizziert da‐ her typische Abwege, wie die Lehre ihre für die Situation des Glaubens in der Welt unverzichtbare, durch das Zusammenspiel mit anderen Aussa‐ geformen bestimmte Funktion verfehlen kann. So könne die Lehre unter der Vorherrschaft des Gebets zur „bloßen Beschreibung religiöser Erfah‐ rung“, unter Vorherrschaft der Doxologie zur „metaphysischen Ontologie“ oder in einem liturgisch-sakramental dominierten Umfeld zur „Mystago‐ gie“ verkommen. 68 Wo es zur einseitigen Ausrichtung auf das konkret-ge‐ schichtliche Zeugnis komme, werde schließlich die Möglichkeit oder Not‐ wendigkeit von Lehraussagen grundsätzlich bestritten. 69 Um solche Über‐ griffigkeiten einzelner Aussageformen aufzudecken und im kirchlichen, nicht zuletzt ökumenischen Interesse zu kritisieren, kommt für Schlink der Dogmatik die wichtige Aufgabe zu, über die „Grenzen der Lehre“ und deren Einbettung in das Gesamtgefüge theologischer Aussagen zu wachen. 70 Sich selbst habe die Dogmatik dabei als „praktische Lehre“ und theologia via‐ torum zu begreifen – sich also keinen Standpunkt jenseits der Geschichte anzumaßen. 71 Die Analyse Schlinks weist darauf hin, dass Lehraussagen eine spezifi‐ sche und unersetzliche Rolle in der ganzheitlichen Antwort des Menschen auf die Anrede des Evangeliums zukommt. In diesem Zusammenhang sind 66 Ebd. Schlink vertritt dagegen ein Verständnis kirchlicher Einheit als „Gemeinschaft wechselseitiger Anerkennung“ (ebd., 76), das auch berücksichtige, dass einzelne Kirchen ihr Bekenntnis jeweils „in ihren besonderen geschichtlichen Fronten abzulegen“ (ebd.) haben. 67 Ebd., 47; vgl. ebd., 73 f. 68 Ebd., 46. 69 Vgl. ebd., 46 f. 70 Ebd. Immer sei dabei die Verankerung der reflektierenden theologischen Aussagen „in den elementaren Aussagen des Glaubens selbst im Auge zu behalten“ (Ebd., 36), weshalb die Dogmatik „nicht nur die Geschichte der Dogmen, sondern die der Theologie in aller Breite zu verarbeiten“ (ebd., 41) habe. 71 Ebd., 47.

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nun insbesondere zwei grundlegende Einsichten festzuhalten. Erstens be‐ gegnet der sprachanalytisch aufweisbare Aussagetyp der Lehre eingebettet in ein komplementäres Zusammenspiel mit anderen Aussageformen des Glaubens, auf die er bezogen und von denen er spezifisch unterschieden ist. Eine Lehraussage unterscheidet sich formal aufgrund ihres nur indirekten Anredecharakters von Gebet und Verkündigung, die Formen der direk‐ ten Anrede an Gott und Mitmensch sind. Zielt sie auf die Überlieferung grundlegender Glaubensinhalte von Mensch zu Mensch, lässt sie sich zu‐ dem hinsichtlich ihres Adressatenbezugs von den kultischen Redeformen der Doxologie und des persönlichen Bekenntnisaktes abgrenzen, die sich ausschließlich oder gleichursprünglich auf die Situation des Glaubenden coram deo beziehen. Gerade weil dies in der Geschichte der Lehrentwick‐ lung nicht immer der Fall war, haben sich kirchlich-verbindliche Lehr‐ aussagen daher selbst klar von den unmittelbar-religiösen Sprachvollzü‐ gen zu unterscheiden. Damit das Zusammenspiel verschiedener Aussage‐ typen nicht aus dem Gleichgewicht gerät, muss die kirchlich-verbindliche Lehre insbesondere dem situationsbezogenen und individuellen Zeugnis des Evangeliums den nötigen Raum zu lassen. Bei einer Artikulation und Fixierung von Lehrsätzen ist nicht nur ein Freiraum der privaten Frömmig‐ keit zu achten, sondern es sind auch die besonderen Anforderungen situativ bestimmter Glaubenskommunikation zu respektieren. 72 Die kirchliche Lehre ist zweitens Ergebnis einer theologischen Reflexion auf das verkündigende Zeugnis der Kirche und dessen implizite Regelhaf‐ tigkeit. Lehraussagen beanspruchen, einen relativ stetigen Aspekt dieses geschichtlichen Glaubenszeugnisses zur Sprache zu bringen, weshalb für das lehrhaft Ausgesagte die Ablösbarkeit von einer konkreten Einzelsitua‐ tion und somit eine person- und zeitübergreifende (aber nicht: überzeit‐ lich-ewige!) Bedeutung behauptet wird. Im Gegensatz zur Aktualität und Persönlichkeit der direkten Verkündigung kommt ihnen also eine spe‐ zifische ‚Unpersönlichkeit‘ und Indexlosigkeit 73 zu. Jede Lehrartikulation erfordert das Wagnis einer – möglicherweise unzulässigen – Verallgemei‐ nerung, aber nur diese riskante Allgemeinheit der Aussage ermöglicht die Überlieferung einer kontinuierlichen Botschaft durch immer neue Lehr‐ vollzüge, die wiederum offen sind für eine je individuelle Aneignung. Ihren Sitz im Leben der Kirche hat die Lehre insbesondere in Vollzügen der Unterweisung, der Ausbildung und der Verständigung über die eigene 72 Wenn situationsbezogene Aussagen nachträglich als Lehrsätze rezipiert oder Lehrsätze in unmittelbar-situationsbestimmter Kommunikation (z.B. Predigt, Seelsorge) eingebracht werden, verändern sich folglich ihre Aussageform und ihr impliziter Anspruch. 73 Zum Begriff der Indexlosigkeit der Wahrheit, der hier leicht modifiziert aufgegriffen wird, vgl. Wellmer, Streit, 180–207; bes. 185–190.

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Identität als Gemeinde, Kirche oder Konfession. Blenden Lehraussagen ih‐ ren konkreten Situations- und Personbezug weitgehend ab, dürfen sie sich doch keinesfalls ganz vom Zusammenspiel mit anderen, konkret-situati‐ onsbezogenen und kultischen Aussageformen des Glaubens ablösen – es könnte sogar sein, dass die Lehre erst durch die Ausrichtung auf gottes‐ dienstliche oder privat-religiöse Vollzüge die Kriterien ihrer Sachgemäß‐ heit empfängt. Doktrinär wird jedes Verständnis von Dogmatik, das sich ausschließlich an die Lehraussagen einer Kirche hält und dabei meint, be‐ reits das Ganze erfasst zu haben. Stattdessen sind dogmatische Lehraus‐ sagen immer „morphologisch“, das heißt: „im Zusammenhang mit dem gesamten Kosmos der Glaubensaussagen“ einer Kirche zu verstehen. 74 1.2.3 Lehre, Theologie und Kirchenrecht Handelt es sich bei der Lehre um das Produkt einer spezifischen Reflexion auf religiöse Rede und deren implizite Regelhaftigkeit, dann ist sogleich die Frage aufgeworfen, wie sich diese spezifische Reflexionsgestalt zur wis‐ senschaftlichen Reflexion der Theologie verhält. Hier tritt allerdings das Problem auf, dass sich nicht nur der Begriff der Lehre, sondern auch der Be‐ griff der Theologie unterschiedlich weit oder eng bestimmen lässt, wobei an unterschiedliche Aspekte im Selbstverständnis des christlichen Glaubens angeknüpft werden kann. 75 In bestimmten Konstellationen – zu denken ist insbesondere an die reformatorische und nachreformatorische Theologie der Frühen Neuzeit – nähern sich die beiden Begriffe in ihrem Umfang so weit an, dass sie in einer theologia eminens practica mit umfassendem kirch‐ lichem Geltungsanspruch faktisch zusammenfallen. 76 In anderen Konstel‐ lationen treten sie weit auseinander, so dass der Zusammenhang fast aufge‐ löst scheint. Ohne diesen alternativen Verhältnisbestimmungen pauschal ihr Recht zu bestreiten oder die Vielfalt der Beziehungen zwischen beiden Sphären auszublenden, ist hier dennoch ausreichend klar zwischen kirch‐ licher Lehre und akademischer Theologie zu unterscheiden. 77 Wie aber ist diese Unterscheidung vorzunehmen und zu begründen? Nicht ausreichend erscheinen bei genauerer Betrachtung drei auf den ersten Blick unmittelbar naheliegende Kriterien: Erstens kann eine reflexive 74 Schlink, Struktur, 79. 75 Für verschiedene klassische Konzeptionen von Theologie sowie einen gegenwärtigen Ent‐ wurf vgl. Axt-Piscalar, Theologie. Vgl. auch Bayer, Theologie. 76 Vgl. allerdings bereits die Kontroversen des frühen 17. Jh., die Mahlmann, Doctrina, 222–250, referiert. 77 Auch für diese Unterscheidung von Theologie und Religion hat Semler einen entschei‐ denden Beitrag geleistet, vgl. Laube, Unterscheidung, 6 f. Vgl. ferner Geyer, Überlegun‐ gen, 260.

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Haltung zum Glauben oder zur unmittelbar-religiösen Rede nicht als das Unterscheidungsmerkmal der akademischen Theologie von der kirchlichen Lehre gelten, wenn ein reflexives Moment zumindest für explizite Lehraus‐ sagen ebenfalls unverzichtbar ist. Zweitens kann auch eine soziologische Unterscheidung allein anhand des institutionellen Ortes, an dem Lehre und Theologie praktisch verankert sind, nicht überzeugen. Denn nicht nur an‐ gesichts der Wandelbarkeit dieser Institutionen, sondern auch aufgrund des zumindest hierzulande gepflegten Zusammenwirkens in der theologi‐ schen Ausbildung der kirchlichen Amtsträger, aufgrund des Mitwirkens der Fakultäten in Fragen der Kirchenleitung sowie einer beide Sphären übergreifenden theologischen Öffentlichkeit bezeichnen ‚Kirche‘ und ‚Uni‐ versität‘ keine strikt getrennten Institutionenwelten. 78 Drittens ist auch der implizite Bezug zur Wahrheit, also eine Unterscheidung zwischen asserto‐ risch-wahrheitsbekräftigender und tentativ-hypothetischer Aussageform, kein ausreichend scharfes Kriterium. Denn einerseits kann ein asserto‐ risches Selbstverständnis für jede sachgemäße Theologie eingefordert, 79 andererseits auch die kirchliche Lehre lediglich indirekt auf assertorische Wahrheitsbehauptungen bezogen werden. 80 Die Unterscheidung von Theologie und Lehre soll hier daher so vor‐ genommen werden, dass beide durch ihr Eingebundensein in zwei unter‐ schiedliche Diskurszusammenhänge charakterisiert sind und deshalb ver‐ schiedenen Plausibilisierungsanforderungen genügen müssen. Die Theolo‐ gie steht durchgängig vor der Herausforderung, ihren Wissenschaftscha‐ rakter im wissenschaftstheoretischen Diskurs zu plausibilisieren und ge‐ gebenenfalls zu verteidigen. 81 Dazu gehört eine Rechenschaft über ihren Gegenstandsbezug und den erkenntnistheoretischen Status ihrer Aussagen sowie eine transparente und damit allgemein nachvollziehbare Methodik. Dagegen ist die Lehre primär herausgefordert, gegenüber dem frommen Bewusstsein der Glaubenden ihre notwendige Funktion für eine kirchliche Selbstverständigung über die Grundlagen des geordneten Zusammenlebens und dessen Regeln einsichtig zu machen. Sie ist – anders als die Theolo‐ 78 Die Entwicklung hin zu einer nahezu völligen Entfremdung und Entflechtung, die etwa Wittekind beschreibt, ist einerseits noch längst nicht zum Abschluss gekommen und an‐ dererseits auch zumindest im Prinzip umkehrbar, vgl. Wittekind, Theologie, 15 f. 79 Vgl. etwa Joest, Fundamentaltheologie, 24; 240 f. 80 So bei George A. Lindbeck. Siehe dazu Kap. 7.2. dieser Arbeit. 81 Dieser Aufgabe hat sich in gründlicher Weise etwa W. Pannenberg gewidmet, vgl. Pan‐ nenberg, Wissenschaftstheorie, bes. 329–348. Vgl. ferner F. Wittekind für einen gegen‐ wärtigen Versuch, Theologie wissenschaftstheoretisch als „Literaturwissenschaft religi‐ öser Frömmigkeitssprache“ (Wittekind, Theologie, 25) zu begründen, vgl. ebd., 3–28. Zum Beitrag I. U. Dalferths zur wissenschaftstheoretischen Verortung der Theologie siehe unten in Kap. 5.4.

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gie – nicht zur Entscheidung für eine wissenschaftstheoretische Konzeption oder ein bestimmtes Methodenensemble gezwungen, aber hat als Horizont der eigenen Plausibilisierung den Bezug zu einer bestimmten religiösen Gemeinschaft und deren geschichtlich gewachsener Konfessionskultur ein‐ geschrieben. Der damit verbundene, hier vorerst nur skizzierte regulative oder ‚normative‘ Geltungsanspruch der Lehre und seine Begründung sind im Fortgang dieser Arbeit genauer auszuleuchten. Es ist allerdings damit zu rechnen, dass es verschiedene Arten von Lehre geben könnte, die in ihrem Geltungsbereich und ihrer spezifischen Geltungsweise differieren. Nur eine genaue „Untersuchung der faktischen Geltung“ kann erheben, ob eine Lehraussage „als gegenwärtige Norm alles kirchlichen Redens oder als vorbildliches Zeichen kirchlicher Vergangenheit oder auch nur als Panier der Gemeinschaft“ in Geltung stehe. 82 Im letzten Fall wäre sie von einer theologischen Richtschnur zu einem soziologischen Grenzmarker gewor‐ den. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass die spezifi‐ sche Geltungsweise von Lehraussagen immer von der Geltung kirchenrecht‐ licher Regelungen, die als zwangsbewehrte Rechtsnormen formuliert und einer einheitlichen Sphäre des positiven Rechts zuzuordnen sind, unter‐ scheidbar bleibt. 83 Die kirchliche Lehre beansprucht – zumindest nach pro‐ testantischem und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzils wohl auch nach katholischem Verständnis – die freie Anerkennung der Einzelnen aufgrund ihrer Einsichtigkeit für den Glauben. Damit soll nicht bestritten werden, dass Lehrartikulationen durch das Kirchenrecht als Bekenntnis rezipiert und auf genuin rechtliche Weise im Leben der Kirche verankert werden können – freilich ohne damit selbst Recht zu werden. 84 Genauso wenig wird schließlich das Kirchenrecht durch eine solche Rezeption zum Teil des Lehrkorpus. Die Lehre der Kirche ist Grenze des Kirchenrechts als Recht, obwohl dieses als Lebensäußerung der Kirche die Lehre in rechtlicher Ge‐ stalt zu bezeugen und ihr innerhalb der kirchlichen Vollzüge angemessenen Raum zu geben hat.

82 Schlink, Struktur, 78. 83 Zur Geltung des Kirchenrechts vgl. knapp und präzise Munsonius, Kirchenrecht, 1–5; 15 f. 84 Vgl. ebd., 31–35.

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1.2.4 Vorläufiger Ertrag: Das Lehrproblem Diese vier Leitunterscheidungen bezüglich der Lehre sind im Folgenden kritisch mitzuführen: Die Unterscheidung der Lehre vom persönlichen Glauben und seiner privaten Religionspraxis, von den unmittelbar ver‐ kündigenden und kultisch-anbetenden Aussageformen religiöser Rede, von den Darstellungsformen der wissenschaftlichen Theologie, die sich – etwa als Dogmatik in der Tradition ihrer klassischen Aufgabenbeschreibung durch Schleiermacher – reflektierend auf die kirchliche Lehre richtet, sowie von kirchenrechtlichen Normen. Sind diese Unterscheidungen im unter‐ suchten Material der folgenden Fallstudien nicht überall gleichermaßen wiederzufinden, stellen sie doch auf der Ebene theologischer Beurteilung eine wichtige Vorbedingung dar, um das Lehrproblem der Gegenwart an‐ gemessen zu behandeln. Darüber hinaus ermöglichen die bisher gewonnenen Einsichten, eine Ar‐ beitsdefinition zu formulieren: Lehre im hier einschlägigen dogmatischen Sinn wird vorläufig definiert als sprachliche Artikulation des christlichen Glaubens, die auf eine spezifische Weise ‚unpersönlich‘ 85 und damit von einer konkreten Anredesituation ablösbar ist. Sie bringt einen inhaltlichen Bezug des Glaubensaktes oder einer religiösen Praxis verständigungsorientiert zum Ausdruck. Sie ist darauf angelegt, in wechselnden Situationen von Mensch zu Mensch kontinuierlich vermittelt zu werden und impliziert daher ein Mo‐ ment der Regelhaftigkeit. Das mit dem Begriff der Lehre verbundene theologische Problem lässt sich auf der Grundlage dieser einleitenden Klärungen nun in Form von Fragen herausarbeiten, zu deren Beantwortung diese Arbeit ihren Beitrag leisten will: – Welche Funktion kann der Reflexionsbegriff der Lehre für die dogmati‐ sche Theologie erfüllen? – Welche Geltung beansprucht das als Lehre bezeichnete Phänomen be‐ züglich der Kommunikationsvorgänge und Institutionen des kirchlichen Lebens? – Inwiefern sind Einzelne für ihren Glauben und ihre private Frömmigkeit auf so etwas wie eine überindividuell geteilte, verbindliche Lehre ange‐ wiesen? 85 Von dieser ‚Unpersönlichkeit‘ der Lehre zu unterscheiden ist beispielsweise das Legiti‐ mationskonstrukt einer Tradition, die aufgrund einer „namenlos gewordene[n] Auto‐ rität“ beanspruchen kann, „ohne Begründung zu gelten“ (Gadamer, Wahrheit, 285). Stattdessen erhebt eine Lehraussage einen persönlich verantworteten und grundsätzlich begründungspflichtigen Anspruch auf Allgemeinheit, der gleichwohl die Partikularität einer bloß privaten und aktuell-situationsgebundenen Meinung überschreiten möchte.

Methodische Vorbemerkungen

Mit der Beantwortung dieser Fragen dürfte sich entscheiden, ob man sich in der theologischen Arbeit einen Gewinn davon verspricht, weiterhin am Lehrbegriff festzuhalten. Sollte sich nun auf diesem Wege eine bleibende theologische Erschließungskraft des Lehrbegriffs plausibel machen lassen, stellen sich umgehend weitere Folgefragen: – Welche konkreten Inhalte sind mit dem Bestand der geltenden Lehre um‐ schrieben und weist dieser intern eine Zentrierung oder gar hierarchische Struktur auf? – Welche theologischen Kriterien erlauben es, Urteile hinsichtlich der An‐ gemessenheit und Geltung von Lehraussagen zu treffen? – Wie sind aus der Perspektive eines theologisch reflektierten Lehrver‐ ständnisses die Institutionen zu gestalten, in denen die kirchliche Lehre vermittelt und gepflegt wird? Die Gesamtheit dieser sechs Fragen soll hier als das voll entfaltete Lehrpro‐ blem zusammengefasst werden. Dabei ist offensichtlich, dass eine abschlie‐ ßende Beantwortung all dieser Teilaspekte im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen kann. Das begrenzte Ziel dieser Studien und ihrer abschließenden Zusammenschau in programmatischer Absicht ist daher, im Durchgang durch verschiedene Positionen das theologische Lehrproblem neu für die Gegenwart freizulegen, wichtige Einsichten aus der Geschichte der lutheri‐ schen Theologie festzuhalten und hilfreiche begriffliche Klärungen für eine dogmatische Behandlung dieses Problems zu erarbeiten. 1.3 Methodische Vorbemerkungen Zum Abschluss dieser Einleitung sind noch drei methodische Vorbemer‐ kungen zu den folgenden Fallstudien und ihrem Status erforderlich, die vor möglichen Fehlinterpretation schützen sollen (1.3.1). Anschließend wird der Gang der Arbeit in knappen Linien skizziert und auch eine Zuordnung von Einzelaspekten der Fragestellung zu den einzelnen Fallstudien vorge‐ nommen (1.3.2). 1.3.1 Zur Auswahl und Rekonstruktion der Positionen Erstens wird im Folgenden eine Beschränkung auf protestantische, genauer: lutherische Positionen vorgenommen. Dies dient nicht nur einer Eingren‐ zung des umfangreichen Materials, sondern ist auch deshalb sachgemäß, weil sich – trotz großer und möglicherweise wachsender Übereinstim‐ mung – lutherisch und reformiert geprägte Christinnen und Christen noch immer in ihrem Lehrverständnis unterscheiden dürften.

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Zweitens handelt es sich bei dieser Auswahl der Positionen um eine be‐ wusste Beschränkung des Materials, die vom systematischen Interesse die‐ ser Gesamtuntersuchung geleitet ist. Mit dieser Zusammenstellung ist kei‐ nesfalls der Anspruch erhoben, das gesamte Feld konfessionell-lutherischer Lehrverständnisse zu beschreiben. Noch weniger ist mit diesen Fallstudien die Behauptung verbunden, die historische Entwicklung des Lehrbegriffs im Bereich des Luthertums detailliert und kohärent im Sinne einer Begriffs‐ geschichte nachzuzeichnen. Die ausgewählten Positionen markieren zwar auch einzelne Stationen innerhalb einer übergreifenden Entwicklung und können durchaus in einem schwachen Sinne als repräsentativ gelten, inso‐ fern sie sich als grundsätzlich anerkannte Beiträge im Rahmen der jeweils zeitgenössischen Diskussion um das lutherische Lehrverständnis bewegen. Gleichwohl könnte man zahlreiche Alternativen heranziehen oder ihnen zum Teil auch direkte Gegenbeispiele zur Seite stellen. Eine Arbeit, die sich konzeptionell und thematisch stärker an den für die deutschsprachige li‐ berale Theologie traditionsstiftenden Autoritäten wie J. S. Semler, F. D. E. Schleiermacher, A. Harnack und E. Troeltsch orientiert hätte, käme si‐ cher zum Teil zu anderen Ergebnissen – doch soll die mit diesen Namen umschriebene, weithin verbreitete Erzählung hier gerade um weitere Per‐ spektiven ergänzt werden. Drittens handelt es sich bei der Rekonstruktion der hier ausgewählten Positionen immer schon um eine vom Frageinteresse dieser Arbeit ge‐ leitete Interpretationsleistung. Es wird daher mit Blick auf die einzelnen Werke und Autoren keinesfalls der Anspruch erhoben, ein vollständiges oder auch nur umfassendes Bild zu zeichnen. Mitunter geht wohl bereits die Rekonstruktion über das hinaus, was die Autoren selbst als mögliche Anwendungsmöglichkeiten ihrer Theorie im Sinn hatten. Für jede systema‐ tisch-theologische Arbeit an historischen Stoffen dürfte gelten, was Bour‐ dieu mit Bezug auf Jacques Derridas Kant-Paraphrasen ausgesprochen hat: „Es versteht sich von selbst, daß eine derartige Transkription, die rafft und ver‐ dichtet, die als solche im Originaltext nicht vorhandene Bezüge herstellt und [...] Zusammenhänge suggeriert, die nicht zuletzt jedoch der gesamten Argumentation den Anstrich einer an der Wahrheit orientierten Beweisführung verleiht, zwangsläu‐ fig als Transformation oder im harten Wortsinn: Deformation erscheint.“ 86

Ungeachtet dieses Zugeständnisses wird mit den folgenden Studien der An‐ spruch erhoben, die untersuchten Positionen ‚unverfälscht‘ wiederzugeben und sich bei der Interpretation im Horizont der jeweils angelegten Sinn‐ möglichkeiten zu halten. Kennerinnen und Kenner des Materials könnten

86 Bourdieu, Unterschiede, 774.

Methodische Vorbemerkungen

gewiss an manchen Stellen anmerken, dass Widersprüche und Inkohären‐ zen innerhalb der einzelnen Positionen (aufgrund des besonders umfang‐ reichen Textmaterials vor allem bei Pierre Bourdieu, Johann Conrad Dann‐ hauer und Eilert Herms) ‚geglättet‘ erscheinen, denen unter einer anderen Fragestellung zentrale Bedeutung zukommen müsste. Diese Reduktion lässt sich kaum vermeiden, will man sich nicht in Nebenfragen verlieren. Werk‐ genetische und rezeptionsgeschichtliche Perspektiven werden im Rahmen der Fallstudien daher höchstens berührt, so dass für diese Fragestellungen auf die meist eingangs in den Kapiteln angeführte Sekundärliteratur ver‐ wiesen ist. 1.3.2 Zum systematischen Aufbau des Buches Im Durchgang durch die ausgewählten Positionen der folgenden sechs Ein‐ zelstudien sollen Leserinnen und Leser einen Überblick über verschiedene Aspekte des Lehrproblems und die zentralen Züge des spezifisch-luthe‐ rischen Lehrverständnisses gewinnen. Auf diesem Wege sollen sie dazu angeregt werden, in der Auseinandersetzung mit diesen Positionen ihr ei‐ genes Urteil zu fällen, ob die mit dem Lehrbegriff verbundenen Fragen für die Theologie weiterhin von Bedeutung sind und wie sie in diesem Fall am Besten zu bearbeiten wären. Diesem Ziel entsprechend sind die Positionen so ausgewählt und angeordnet, so dass sich eine übergreifende Bewegung abzeichnet und schrittweise komplementäre Perspektiven auf das Lehrpro‐ blem sichtbar werden. Selbstverständlich lassen sich die Einzelkapitel aber auch als weitgehend unabhängige Untersuchungen lesen, wobei dann das Interesse an der jeweiligen Konzeption gegenüber der umfassenden Frage nach der kirchlichen Lehre im Vordergrund stehen dürfte Will man den übergreifenden Gedankengang dieser Arbeit nachvollzie‐ hen, dann lässt sich eine grobe Einteilung in drei unterschiedlich umfang‐ reiche Blöcke vornehmen. Das vorgelagerte zweite Kapitel bietet zwei au‐ ßertheologische Perspektiven, die für diese Arbeit am Lehrproblem wich‐ tige Schärfungen des Blicks ermöglichen. Unter den theologischen Per‐ spektiven beleuchten dann das dritte und vierte Kapitel die frühneuzeitli‐ chen Grundlagen des lutherischen Lehrverständnisses, während das fünfte, sechste und siebte Kapitel jüngere Beiträge zum theologische Lehrproblem unter den von Moderne und Postmoderne geprägten Rahmenbedingun‐ gen des 20. Jahrhunderts darstellen. Mit einer insbesondere durch Ernst Troeltsch populär gemachten Unterscheidung könnte man somit zwischen altprotestantischen und neuprotestantischen Zugängen unterscheiden. 87

87 Vgl. Troeltsch, Bedeutung, 199–316.

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Diesen beiden Epochen korrespondieren dann zunächst die gegenläufi‐ gen Entwicklungen einer Ausweitung des Lehrverständnisses, das unter dem Begriff der doctrina christiana verschiedene Formen der Verkündi‐ gung, der Unterweisung, der Seelsorge und der theologischen Reflexion umfasst, und dessen zunehmender Verengung, indem der Lehrbegriff auf die kirchenrechtlich verbindliche Lehrordnung der konfessionell verfass‐ ten Einzelkirchen zugespitzt wird. Sticht gerade mit Blick auf eine solche Epochengliederung die historische Lücke zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert ins Auge, bedeutet dies doch keine Auslassung, als ob die Fra‐ gestellungen und Problembeschreibungen der Zwischenzeit schlicht keine Rolle spielten – vielmehr gehen sie in unterschiedlicher Weise als bleibende Herausforderungen in den Problemhorizont ein, der bei den drei jüngeren Zugängen durchgängig vorausgesetzt, mitgeführt und bearbeitet wird. 88 Präziser als mit diesem groben historischen Schema wird die systema‐ tische Struktur der Denkbewegung dieses Buches allerdings erfasst, wenn man jeweils zwei Kapitel einander als Paare zuordnet. Diese Leseperspek‐ tive wird daher hier als Schlüssel zum inneren Fortgang der Arbeit in ihrem Gesamtzusammenhang angeboten. In Kapitel 2 wird eine außertheologische Annäherung an den Begriff der Lehre vorgenommen. Diese weist auf der Basis kulturanthropologi‐ scher und soziologischer Beschreibungen die Bedeutung gemeinschaftlich geteilter Symbolsysteme, artikulierter Lehraussagen und tradierender In‐ stitutionen für die religiöser Praxis der Individuen auf. Clifford Geertz weist dabei zunächst auf die Bedeutung von kulturell vermittelten Sym‐ bolsystemen für die religiöse Welterschließung hin, die wiederum in die Frömmigkeitspraxis einer Gemeinschaft eingebettet sind. Denn ihre Gel‐ tung wächst religiösen Symbolsystemen insbesondere aus rituellen Vollzü‐ gen zu, die aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit allerdings auch Ansatzpunkt für Konflikte bieten können. Diese religiöse Konfliktdynamik tritt sodann bei Pierre Bourdieu ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der mit seiner Sozio‐ logie gesellschaftlicher Felder die Dialektik von unbewusst wirksamen Ha‐ bitusformen und sozialen Strukturen untersucht. Die offizielle Lehre einer

88 Beispielsweise kann man erkennen, dass R. Bultmann und die Wort-Gottes-Theologie sich insbesondere vom Theologieverständnis der Ritschl-Schule abstoßen, wie es in un‐ terschiedlicher Ausprägung mit Vertretern wie E. Troeltsch und W. Herrmann verbunden werden kann. E. Herms dagegen versteht seine Theologie als das Projekt, grundlegende Einsichten F. Schleiermachers für die Gegenwart zu erneuern. G. A. Lindbeck schließlich wendet sich nicht nur kritisch gegen dieses Erbe Schleiermachers, sondern insbesondere gegen P. Tillich, dessen Theologie wiederum stark durch die das frühe 19. Jahrhundert be‐ stimmenden Systembildungen des sog. deutschen Idealismus (J. G. Fichte, F. W. J. Schel‐ ling, G. W. F. Hegel) beeinflusst war.

Methodische Vorbemerkungen

Kirche erscheint so als Produkt sozialer Differenzierungsprozesse, das sich in spezifischen Konfliktmustern herausbildet und strukturelle Bedürfnisse religiöser Gemeinschaften zu erfüllen vermag. Sie bewahrt die Identität der Gemeinschaft im Wandel, ermöglicht die Rationalisierung religiöser Praxis und eröffnet als Artikulation eines unausgesprochenen Konsenses auch den Individuen gewisse Freiheitsspielräume. Gleichzeitig bedeutet die sozial als Orthodoxie verankerte Lehre aber eine Einschränkung für Amtsträger und Laien, sie ist Teil der sozialen Herrschaftsstruktur und als solcher immer umkämpft. In Kapitel 3 wird komplementär aus einer konfessionellen Innenper‐ spektive das lutherische Lehrverständnis der Reformationszeit erhoben, wobei exemplarisch die Lehrbekenntnisse des Konkordienbuchs (Augs‐ burger Bekenntnis und Konkordienformel), die Lehrkompendien Philipp Melanchthons und die Katechismen Martin Luthers herangezogen werden. Hier zeigt sich, dass in den Konflikten der Reformationszeit der Lehre eine Zentralstellung für das Selbstverständnis lutherischer Christen zukommt, weil durch die schriftgemäße Lehre alle Vollzüge und Institutionen der Kirche am befreienden Evangelium ausgerichtet werden sollen. Die her‐ ausgehobene Stellung dieser im Rechtfertigungsartikel zentrierten Lehre ergibt sich aus der seelsorgerlichen und soteriologischen Funktion, die sie als Ermöglichungsbedingung einer Aneignung des Heilsgeschehens in Je‐ sus Christus erfüllt. Mit dieser soteriologischen Bedeutung ist wiederum ein reformatorisches Mündigkeitsideal verbunden, das auf die persönliche Ein‐ übung der Lehre durch alle Kirchenglieder zielt und zugleich eine Selbstbe‐ schränkung der Kirche hinsichtlich ihrer verbindlichen Lehrbestände be‐ gründet. In ihrem Bekenntnis der am Evangelium orientierten Lehre sehen sich die reformatorisch gesinnten Theologen und Stände in einen escha‐ tologischen Horizont gestellt – das lutherische Bekenntnis blickt auf die apostolische Verkündigung des Evangeliums zurück und greift zugleich auf den endgültigen Selbsterweis Jesu Christi im Endgericht vor. In Kapitel 4 wird das Lehrverständnis des lutherischen Barocktheologen Johann Conrad Dannhauers anhand einer Auswahl seiner umfangreichen Katechismuspredigten sowie seines Lehrkompendiums Hodosophia Chris‐ tiana dargestellt. Dabei wird deutlich, wie die christliche Lehre angesichts einer fragilen Welterfahrung und eines apokalyptischen Zeitgefühls zum hermeneutischen Schlüssel erhoben wird, um die Gesamtheit der Wirk‐ lichkeit zusammenhängend von Christus her zu strukturieren. Alle kirchli‐ chen und gesellschaftlichen Institutionen erscheinen in dieser Perspektive hingeordnet auf das Bildungsprogramm einer theologischen ‚Generalmo‐ bilmachung‘. Angesichts von fremdkonfessionellen Angriffen und innerlu‐ therischen Streitigkeiten sollen alle Christenmenschen zum eigenständigen Urteil über die Reinheit der Lehre befähigt werden. Um das Christusge‐

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schehen als unüberbietbaren Schlüssel zum Selbst- und Weltverstehen des Menschen zu erweisen, eröffnet hier die typologische Auslegung der bib‐ lischen Schriften einen Raum, in den sich auch antike Wissensbestände, Naturbeobachtung und Geschichtsbetrachtung integrieren lassen. Für die Vermittlung der Lehre greift Dannhauer auf eine homiletische Methode der wechselseitigen Erhellung von expliziten Lehraussagen und bildlich‐ metaphorischer Sprache zurück, die sich in der ‚emblematischen‘ Archi‐ tektur seines Dogmatikkompendiums ebenfalls niederschlägt. Leitend für sein Lehrverständnis sind Nährmetaphern, die die Lehre als elementare Milchspeise, stärkende Mahlzeit oder Festmahl veranschaulichen, sowie die Wegmetapher einer Reise des Menschen zu seiner himmlischen Heimat. Die Lehre wird somit begriffen als Rechtleitung auf dem Pilgerweg des Lebens und durch alle Wirren der Zeit, aber auch als kräftigendes Lebens‐ mittel für den Glauben. Mit Kapitel 5 wird diesem barocken Überschwang der Lehre eine mo‐ derne Grundsatzkritik an der Sprachform der Lehraussage gegenüberge‐ stellt, die seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgebracht wurde und aus der Rezeption philosophischer Denkfiguren zusätzliche Kraft gewinnt. Als Beispiel dieses philosophischen Kontextes wird zunächst Martin Hei‐ deggers Kritik der Aussage, die sich als vergegenständlichende Sprachform abstrahierend vom ursprünglichen Lebensverhältnis zur sich entbergenden Wahrheit entfernt habe, skizziert. Auf der Basis seiner am Neuen Tes‐ tament entwickelten Kerygmatheologie unterzieht Rudolf Bultmann den Lehrbegriff der orthodoxen und liberalen Theologie einer ganz paralle‐ len Kritik: Die durch Offenbarung erschlossene Wahrheit über den Au‐ genblick ist von der abkünftigen Lehraussage kategorial geschieden, geht also niemals in eine kontinuierliche Lehrüberlieferung ein. Die Theologie bekommt daher die kritische Aufgabe zugewiesen, solche Verkrustungen aufzubrechen und dem je neuen Kerygma den Weg zu bereiten. Dieses Programm Bultmanns, das sich als Fortführung reformatorischer Anlie‐ gen versteht und insbesondere die Unterschiede von Lehre, Glaube, Of‐ fenbarung und Theologie mit großer Präzision herausarbeitet, wurde von verschiedenen Nachfolgern wie Wolfgang Huber oder Ingolf U. Dalferth aufgenommen und in ihrem Sinne weiterentwickelt. In ihren verschiede‐ nen Ausformungen spitzt die Wortgeschehens-Theologie – jeweils unter Berufung auf biblische und reformatorische Motive – die aufklärerische und liberale Lehrkritik zu, so dass der Lehrbegriff auch für die kirchli‐ che Selbstverständigung zunehmend problematisch wird. Als theologisch in besonderem Maße ernstzunehmende Infragestellung steckt sie damit den Problemhorizont aller weiteren Beiträge zum Lehrproblem ab. In Kapitel 6 wird mit der Theologie Eilert Herms’ ein aktueller Entwurf herangezogen, der dieser Fundamentalkritik durch eine konsequente Be‐

Methodische Vorbemerkungen

tonung der Unverfügbarkeit des Offenbarungsgeschehens Rechnung trägt, aber den Lehrbegriff dennoch als unverzichtbar für die theologische Selbst‐ verständigung reformatorischen Christentums sowie die Durchführung ei‐ ner konkreten Ekklesiologie behauptet. Herms zeichnet seinen Lehrbegriff dabei in eine Theorie anthropologischer Letztbegründung ein. Sein Of‐ fenbarungsbegriff vermittelt zwischen der allgemein-ontologischen Struk‐ tur der Transzendenzabhängigkeit und deren konkreter, immer inhalts‐ bestimmter Erschlossenheit als persönlicher Gewissheit. Die Lehre erfüllt bei Herms ihre unverzichtbare Funktion in einem kirchlichen Überliefe‐ rungszusammenhang, der nicht hinreichende Ursache, aber notwendige Rahmenbedingung für das unverfügbare Erschließungsereignis des Of‐ fenbarungsgeschehens ist. Der Glaube, der in diesem Geschehen als per‐ sönliche Wahrheitsgewissheit konstituiert wird, spricht sich wiederum als Wahrheitsbewusstsein in Form der Lehraussage aus. Es wird sodann re‐ konstruiert, wie Herms aus seiner Bestimmung des spezifisch-reformato‐ rischen Offenbarungsverständnisses nicht nur die Bedeutung der Lehre für Kirche und Theologie begründet, sondern auch Kriterien für eine angemessene Gestaltung der kirchlichen Institutionen und die sachge‐ mäße Formulierung verbindlicher Lehraussagen ableitet. Damit hängen bei ihm außerdem eine spezifische Sicht auf den ökumenischen Dialog sowie die gesellschaftliche Leitvorstellung eines nicht mehr an die Unter‐ stellung einer gemeinsamen Voraussetzung gefesselten Pluralismus zusam‐ men. In der letzten Einzelstudie von Kapitel 7 wird als Gegenüber zu Herms der amerikanische Theologe George A. Lindbeck herangezogen, da sich dessen Vorgehen in der Bearbeitung des Lehrproblems in vielen Aspekten als quasi spiegelbildlicher Zugang betrachten lässt. Zuvor werden allerdings als philosophischer Rahmen einige zentrale Gedanken der Spätphilosophie Wittgensteins rekapituliert, die jeder auf Letztbegründung zielenden Theo‐ rie eine Absage erteilt, um die Aufmerksamkeit stattdessen auf die Ober‐ fläche der Sprachspiele und ihrer impliziten Grammatikregeln zu lenken. Auf dieser theoretischen Grundlage setzt Lindbeck programmatisch bei der konkreten ökumenischen Herausforderung einer Lehrverständigung ohne die implizite Forderung ‚einseitiger Kapitulation‘ ein. Seine Regeltheorie der Lehre bezieht diese eng auf die gemeinschaftliche Praxis und die Her‐ vorbringung je neuer religiöser Sprachformen. Die Lehre artikuliert Regeln einer impliziten Grammatik, die der kirchlichen Gemeinschaft und den Einzelnen immer neue Verschmelzungen der biblischen Grunderzählung mit ständig wechselnden Lebenswelten ermöglicht. In der Auseinander‐ setzung mit vormodernen und liberalen Theologiekonzeptionen entfaltet Lindbeck angesichts der Herausforderungen einer pluralen Gesellschaft sein ebenso postliberales wie postorthodoxes Verständnis der Theologie,

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das unter anderem die Wiedergewinnung der typologischen Schriftausle‐ gung und eine konsequente Ausrichtung an der Eschatologie beinhaltet. Im Schlusskapitel schließlich gibt der Verfasser einen Einblick in die religionstheoretischen und theologischen Konsequenzen, die er selbst aus seiner Auseinandersetzung mit dem Lehrproblem und seinem Durchgang durch die verschiedenen dargestellten Konzeptionen zieht. Diese systema‐ tische Darstellung des persönlichen Ertrags soll auch ein positioneller, aus Perspektive der lutherischen Theologie entwickelter Beitrag zu einer öku‐ menischen Verständigung darüber sein, welche Bedeutung der kirchlichen Lehre und ihrer dogmatischen Reflexion unter gegenwärtigen Bedingungen zukommt.

2 Lehre als Symbolsystem: Außertheologische Annäherungen Weil sich die Bedeutung von Lehre für Theologie, Kirche und Einzelne ganz grundlegend bestreiten lässt – und auch faktisch bestritten wird –, ist es für eine Behandlung des Lehrproblems sinnvoll, zunächst eine religi‐ onstheoretische Außenperspektive heranzuziehen. 1 Auf diese Weise kann noch relativ unbelastet von Vorannahmen der christlich-protestantischen Tradition ein Vorbegriff dessen, was der Begriff Lehre in Bezug auf Reli‐ gion bezeichnet, gewonnen werden. Dieser Vorbegriff soll die außertheo‐ logisch aufweisbaren Funktionen bündeln, die Lehre für die Theologie, re‐ ligiöse Gemeinschaften und religiös praktizierende Einzelne erfüllen kann. Er kann damit an die Stelle eines ungeklärten Vorverständnisses treten, das den Begriff der Lehre auf eine den Einzelnen gegenüber repressive Funk‐ tion festschreibt und ihn so schon erledigt glaubt. Stattdessen müsste jedes theologische Programm zur Verabschiedung des Lehrbegriffs angesichts dieser außertheologisch plausibilisierbaren Funktionen erklären, weshalb diese für die protestantischen Religionsgemeinschaften unter heutigen Be‐ dingungen entfallen sind oder zu ihrer Beschreibung eine andere theologi‐ sche Reflexionskategorie als der Lehrbegriff vorzuziehen ist. Der Versuch einer kirchlich-theologischen Rehabilitation der Lehre wiederum stünde angesichts dieser Außenperspektive vor der Aufgabe, seinen theologischen Lehrbegriff konstruktiv – also kritisch und selbstkritisch – mit diesem reli‐ gionstheoretischen Vorbegriff ins Verhältnis zu setzen. Nicht zuletzt lassen sich auf diesem Weg allgemeine Kriterien identifizieren, unter denen die dogmatische Arbeit mit dem Begriff der Lehre den Anspruch darauf erhe‐ ben kann, als Wissenschaft anerkannt zu werden. Als außertheologische Gesprächspartner werden hier C. Geertz und P. Bourdieu herangezogen, die in ihren Texten teils konvergierende, teils komplementäre Theorieperspektiven auf Entstehung, Eigenart, Funktion und Geltung religiöser Lehre bieten. Sie werden hier in theologischem In‐ teresse gelesen, aber doch als eigenständige und gegenüber der theologi‐ schen Arbeit auch kritische Perspektiven gewürdigt. In der deutschspra‐ chigen Systematischen Theologie sind beide Ansätze noch wenig rezipiert. So wurde Geertz zwar gelegentlich für kulturhermeneutische Zugänge zur Theologie herangezogen, doch fehlt eine systematische Interpretation sei‐

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Noch präziser (aber auch etwas umständlicher) wäre, hier von einer theologischen Re‐ konstruktion und Repräsentation nicht-theologischer Außenperspektiven zu sprechen.

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nes Zugangs und dessen kritische Anwendung auf das Problem der Lehre. 2 Bourdieus Theorie sozialer Felder hat bislang in der Theologie kaum Be‐ achtung gefunden. 3 Dieses Kapitel lotet das theologische Potential dieser Theorien aus – nicht zuletzt hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit, die Un‐ terschiede und Gemeinsamkeiten zwischen vormoderner und moderner Religionspraxis weitgehend unparteiisch zu erfassen und so eine produk‐ tive Aufnahme von Konzepten der reformatorischen und barocken Theo‐ logie vorzubereiten. 2.1 C. Geertz: Eine kulturanthropologische Annäherung Clifford Geertz (1926–2006) war ein amerikanischer Ethnograph und Eth‐ nologe, der in seiner Theoriebildung auf Feldstudien insbesondere in Ma‐ rokko sowie auf verschiedenen indonesischen Inseln zurückgriff. Er konzi‐ pierte seine Religionstheorie daher mit dem praktischen und deskriptiven Interesse einer ethnologischen Religionsbetrachtung. Seine Religionstheo‐ rie lässt sich insbesondere aus seinem zentralen Aufsatz Religion als kul‐ turelles System rekonstruieren. 4 Vorausgesetzt ist dabei ein semiotischer Kulturbegriff sowie eine ethnographische Methodik, die Geertz als „dichte Beschreibung“ bezeichnet. 5 Zunächst werden Grundzüge des kulturhermeneutischen Programms ei‐ ner „dichten Beschreibung“ vorgestellt, das Geertz in Ausrichtung auf die ethnographische Praxis entwirft (2.1.1). Diesem folgt eine Darstellung sei‐

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Als ein Beispiel vgl. Lauster, Religion. Dem steht eine deutlich intensivere Rezeption in der exegetischen und kirchenhistorischen Forschung gegenüber, die hier nicht abgebildet oder nachvollzogen werden kann. Dies dürfte neben der Dominanz anderer Theoriekonzepte im deutschsprachigen Raum (vor allem ist an Niklas Luhmann und Thomas Luckmann/Peter L. Berger zu denken) wahrscheinlich auch damit zu tun haben, dass Bourdieus religionssoziologische Gedan‐ ken – anders als etwa seine Arbeiten zur Soziologie des Geschmacks und der Kunst – lange Zeit nur verstreut erschienen sind und nicht in deutscher Übersetzung zugänglich waren. Theologische Rezeption wird entsprechend im Bourdieu-Handbuch gar nicht ver‐ zeichnet, vgl. Fröhlich/Rehbein, Art. Rezeption. Eine Ausnahme bilden allerdings die in Kreutzer/Sander, Religion, versammelten Beiträge. Vgl. RakS. Dort, wo die fremdsprachige Terminologie präziser ist oder wichtige Konnota‐ tionen mitführt, werden in diesem Buch die entsprechenden Begriffe der Originalsprache in eckigen Klammern eingefügt. Vgl. Geertz, Beschreibung. Als bleibende und grundlegende Elemente seiner ethnolo‐ gischen Religionstheorie bezeichnet Geertz folgende Einsichten: „Durkheims Begriff des Heiligen, Webers verstehende Methode, Freuds Vergleich von individuellen und kollek‐ tiven Riten und Malinowskis Versuch, Religion und Common sense zu unterscheiden.“ (RakS, 45 f.). Daneben ist ein maßgeblicher Einfluss E. Cassirers zu erkennen.

C. Geertz: Eine kulturanthropologische Annäherung

ner Religionstheorie, die Religion als symbolische Repräsentation und ritu‐ elle Vergegenwärtigung einer letzten Wirklichkeit versteht (2.1.2). Schließ‐ lich wird rekonstruiert, wie Geertz die Spannung zwischen stabilisierenden und destabilisierenden Auswirkungen der Religion auf die Sozialstruktur beschreibt, womit zugleich ein Ansatzpunkt für den Lehrbegriff sichtbar wird (2.1.3). 2.1.1 Kultur als Gegenstand dichter Beschreibung Kultur versteht Geertz als ein „historisch überliefertes System von Bedeu‐ tungen, die in symbolischer Gestalt auftreten“. 6 Mit Hilfe dieses Symbol‐ systems können Menschen „ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln“. 7 Der semiotische Kulturbegriff, den Geertz zugrunde legt, setzt als anthropologische Grun‐ dannahme voraus, dass der Mensch „in selbstgesponnene Bedeutungsge‐ webe vestrickt ist“. 8 Auf diese Bedeutungssysteme bezieht sich der Eth‐ nograph mittels verschiedener Techniken, die gemeinsam das „kompli‐ zierte intellektuelle Wagnis der ‚dichten Beschreibung‘“ zum Ziel haben. 9 Diese dichte Beschreibung bringt laut Geertz ein beobachtbares Verhalten und zugleich die „geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen“ zur Darstellung, in deren Kontext einzelne Verhaltensmuster allererst „pro‐ duziert, verstanden und interpretiert“ werden können. 10 Der Ethnograph bette somit Einzelbeobachtungen in die umgebende Kultur ein, in der al‐ lein sie ihre Bedeutung haben und die für die Existenz der Phänomene somit konstitutiv sei. Verstehen bedeute also nicht, „eine innere geistige Korrespondenz“ zum Verstandenen herzustellen. 11 Verstehen von Kultur beruht für Geertz vielmehr immer auf Interpretation, und – da der Ethno‐ graph sich dabei auf die Selbstdeutungen und Informanten stütze – in der

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Ebd., 46. Ebd. Geertz, Beschreibung, 9. Zum anthropologischen Postulat einer allgemeinen Versteh‐ barkeit von Kultur vgl. ebd., 21 f.; 30–33; 43. 9 Ebd., 10. Die zentrale Formulierung der thick description übernimmt Geertz dabei von Gilbert Ryle. 10 Ebd., 12. Diese Strukturen sind notwendig öffentlich und nicht als innerlich-mentale oder psychologische Strukturen misszuverstehen, vgl. ebd., 17–20. Geertz beruft sich hier auf den späten Wittgenstein und dessen Aufweis einer Unmöglichkeit schlechthin privater Bedeutung. 11 Geertz, Perspektive, 292. Es sei nicht nach dem Modell einer „mystischen Kommunion“ zu verstehen, sondern eher wie das „Begreifen einer Anspielung oder eines Witzes“ oder das „Lesen eines Gedichts“ (ebd., 309).

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Regel auf einer Interpretation zweiter und dritter Ordnung. 12 Dabei greift er zurück auf das Leitbild der auslegenden Entzifferung eines Manuskripts, das „nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Bei‐ spielen geformten Verhaltens geschrieben ist“. 13 Die ethnographische In‐ terpretationsarbeit vollziehe sich in einem hermeneutischen Zirkel, in dem das Einzelphänomen nur im Lichte des Ganzen verständlich werde, wel‐ ches wiederum nur von den Teilen her seine Lebendigkeit und Konkretheit gewinne. 14 Mit Blick auf das Thema dieses Buches ist festzuhalten, dass eine ähnliche Methode für die theologische Untersuchung religiöser Lehre anzuwenden ist, will man diese literarisch zur Darstellung bringen und sie dabei – wie etwa Schlink und Lindbeck fordern – als eingebettet in den um‐ fassenden Lebenszusammenhang einer religiösen Gemeinschaft verstehen. Das Bedeutungsgewebe der Kultur ist für Geertz eine verstehbare und literarisch darstellbare Verknüpfung von Symbolen. Diese seien „in wahr‐ nehmbare Formen geronnene Abstraktionen“, die als „konkrete Verkörpe‐ rungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glau‐ bensanschauungen“ die „empirisch faßbare Seite“ der Kultur bilden. 15 Zu einem Symbol gehört laut Geertz wesentlich seine Unterschiedenheit von der Wirklichkeit als Totalität nichtsymbolischer Systeme, deren innere Be‐ ziehungen symbolisiert und der damit zugleich bestimmte Verhältnisse eingeschrieben werden. 16 Kulturelle Systeme als Symbolsysteme sind „ex‐ trinsisch“, d.h. im „intersubjektiven Bereich allgemeiner Verständigung“ und nicht etwa im einzelnen menschlichen Organismus anzusiedeln. 17 Sie bilden strukturierende Modelle der Wirklichkeit in einem doppelten Sinn: Erstens sind sie Modelle von ‚Wirklichkeit‘ [engl. model of reality], indem 12 Vgl. Geertz, Beschreibung, 23. Dabei handle es sich immer auch um einen kreativen und imaginativen Vorgang, der nur in der wissenschaftlichen Zielsetzung und dem behaupte‐ ten Wirklichkeitsbezug von literarischer Schöpfung unterschieden sei. Die ethnographi‐ sche Darstellung präsentiere lediglich eine „Lesart“ (ebd., 26) des sozialen Diskurses, und halte diese „in der Niederschrift des Geschehenen“ (ebd., 28) dauerhaft fest. Dieses auf Paul Riceur zurückgehende literarische Paradigma und der Charakter einer deutenden Wissenschaft erledigen für Geertz keinesfalls den Anspruch auf begriffliche Präzision, Theoriebildung und Überprüfbarkeit, vgl. ebd., 34–37. 13 Ebd., 15. Ethnographen haben es folglich zu tun mit einer „Vielfalt komplexer, oft über‐ einandergelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind“ (ebd.). 14 Vgl. Geertz, Perspektive, 307. 15 RakS, 49 f. Geertz insistiert hier durchgängig auf einem Bezug zu beobachtbarem (ins‐ besondere alltäglichem) Verhalten als Ausdruck von Kultur und weist die Abstraktion einer Betrachtung von Kultur „rein als symbolisches System“ (Geertz, Beschreibung, 25) zurück. 16 Vgl. RakS, 50–54. 17 Ebd., 51.

C. Geertz: Eine kulturanthropologische Annäherung

sie bestimmte Züge der Wirklichkeit hervorheben und abbilden, zweitens sind sie zugleich immer auch Modell für ‚Wirklichkeit‘ [engl. model for reality], indem sie das Einwirken auf diese Wirklichkeit nach den modell‐ haft symbolisierten Verhältnissen ermöglichen, ja fordern. 18 Diese Dop‐ pelstruktur von Repräsentation und Erschließung ist für Geertz der Kern kultureller Phänomene, mögen sie nun Theorie, Lehre, Melodie oder Ri‐ tus genannt werden. 19 Wenn Geertz selbst in diesem Zusammenhang eine Verknüpfung mit dem Lehrbegriff herstellt, verweist dies auf ein mög‐ licherweise auch theologisch weiterführendes Konzept religiöser Lehre – verstanden in einem weiten Sinn als beobachtbare und literarisch darstell‐ bare, durch Symbole strukturierte ‚Außenseite‘ einer kulturell geprägten Frömmigkeitspraxis. 2.1.2 Religion als kulturelles System Im umfassenden Rahmen dieses Kulturbegriffs haben für Geertz „heilige Symbole“ – gewissermaßen als Symbole par excellence – die spezifische Funktion, das „Ethos einer Gruppe“ mit ihren „Ordnungsvorstellungen im weitesten Sinne“ zu verknüpfen. 20 Religion artikuliere und stifte als Symbolsystem die „Grundübereinstimmung zwischen einem bestimmten Lebensstil und einer bestimmten (wenn auch meist impliziten) Metaphy‐ sik“, um so „jede Seite mit der Autorität der jeweils anderen“ zu stützen. 21 Geertz’ bekannte Definition von Religion lautet daher: „Religion ist (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dau‐ erhafte Stimmungen und Motivationen [engl. moods and motivation] in den Men‐

18 Vgl. ebd., 52. Wirklichkeit/reality ist bei Geertz bewusst in Anführungszeichen gesetzt, um ein naiv-realistisches Vorverständnis schlicht vorgegebener Realität zu unterlaufen. 19 Vgl. ebd. Die „gegenseitige Übertragbarkeit [engl. intertransposability] von Modellen für etwas und Modellen von etwas“ (ebd., 54) in der symbolisierenden Tätigkeit kultureller Vollzüge ist für Geertz zugleich das gegenüber der Tierwelt auszeichnende Merkmal der menschlichen Denkweise. 20 Ebd., 47. Diese Ordnungsvorstellungen sind zunächst ein Bild, das sich ein Volk „über die Dinge in ihrer reinen Vorfindlichkeit [engl. of the way things in sheer actuality are]“ (ebd.) macht. Vgl. ebd., 48: „vorgestellte kosmische Ordnung“. 21 Ebd., 47 f. So gewinne das Gruppenethos auf dieses Weise intellektuelle Glaubwürdigkeit, die geteilte Weltauffassung dagegen emotionale und ästhetische (und damit ineins auch eine gewisse empirische) Überzeugungskraft. Im Idealfall erscheine das historisch ge‐ wachsene Ethos einer Gruppe „als reiner Common sense angesichts der unveränderlichen Gestalt der Wirklichkeit“ (ebd., 47. Herv. im Orig.). Dabei ist im Lichte eines späteren Textes zu beachten, dass dieser ‚reine‘, rituell konstituierte und aufrecht erhaltene com‐ mon sense damit gerade nicht common sense im gewöhnlichen Sinne ist, vgl. Geertz, Common sense, 283–285.

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schen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung [engl. conceptions of a general order of existence] formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität [engl. aura of factuality] umgibt, daß (5) die Stim‐ mungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen [engl. seem uniquely realistic]“. 22

Religiöse Vorstellungen prägen das Leben der Einzelnen, indem sie be‐ stimmte Erlebnis- und Verhaltensdispositionen hervorbringen. 23 Diese Dispositionen bildeten als Gesamtheit ein Ethos, das intentionale Motiva‐ tionen [engl. motivations] und die Empfänglichkeit für nicht-intentionale Stimmungen [engl. moods] umfasse. 24 Als religiös können Dispositionen gelten, wenn und inwiefern sie auf symbolische Vorstellungen einer allge‐ meine Ordnung bzw. Aussagen „über das innerste Wesen der Wirklichkeit [engl. fundamental nature of reality]“ bezogen und damit „in einen kos‐ mischen Rahmen gestellt“ seien. 25 Auf dieser Grundlage kann Geertz die religiöse Dimension der Kultur von anderen kulturellen Symbolsystemen abgrenzen: Der common sense habe es beispielsweise mit den pragmatisch zu bewältigenden Herausforderungen der Alltagswelt zu tun und zeichne sich durch einen naiven Realismus aus, der die „Gegenstände und Prozesse einfach als das nimmt, was sie zu sein scheinen“. 26 Die religiöse Perspek‐ tive erhebe sich über diesen common sense, indem sie „über die Realitäten des Alltagslebens hinaus zu umfassenderen Realitäten hinstrebt, die jene

22 RakS, 48. Im Orig. kursiv. Der Status dieser Definition ist dabei heuristisch, nicht essen‐ tialistisch zu verstehen. 23 Vgl. ebd., 55. Dispositionen umgreifen als spezifische Wahrscheinlichkeiten für Handlun‐ gen oder Ereignisse eine Vielfalt von „Tendenzen, Fähigkeiten, Neigungen, Kenntnisse, Gewohnheiten, Verpflichtungen, Verantwortlichkeiten, Empfänglichkeiten“ (ebd.). In dem wahrscheinlichkeitstheoretischen Aspekt, den Geertz mit dem Dispositionsbegriff verbindet, spiegelt sich sein wissenschaftstheoretisches Interesse an einer Beobachtbar‐ keit von Kultur wieder. 24 Vgl. ebd., 56-58. Motivationen zielten auf „bestimmte, gewöhnlich temporäre Erfüllun‐ gen“ (ebd., 57) und seien daher hinsichtlich der ihnen impliziten Ziele zu interpretieren, Stimmungen dagegen seien ungerichtet, aber auf einen bestimmten Ursprung rückführ‐ bar und in ihrer Intensität variabel. 25 Ebd., 58 f. 26 Ebd., 76. Vgl. Geertz, Common sense, 264: „Die Religion begründet ihre Sache mit der Offenbarung, die Wissenschaft die ihre mit der Methode, die Ideologie mit moralischem Eifer, der common sense aber damit, daß es sich gar nicht um etwas Begründungsbedürfti‐ ges handelt“. Gleichwohl sei der common sense ebenfalls als „ein kulturelles System, wenn auch gewöhnlich kein besonders fest integriertes“ (ebd., 265) zu betrachten und nicht, wie es den Anschein hat, „Allgemeingut der ganzen Menschheit“ (ebd., 262) und „das, was von der Vernunft bleibt, wenn all ihre anspruchsvolleren Errungenschaften keine Rolle mehr spielen“(ebd., 287).

C. Geertz: Eine kulturanthropologische Annäherung

korrigieren und ergänzen“. 27 Sie geht aus einer systematisierenden Inte‐ gration von Symbolen hervor, die damit immer schon ihre Nicht-Selbst‐ verständlichkeit offenlegt. Das an der Wirklichkeit, worauf die Religion sich dabei beziehe, sei die „Idee eines ‚wirklich Wirklichen‘ [engl. the "re‐ ally real"]“, das sie mit einer „Aura vollkommener Wirklichkeit“ umgebe, weshalb sie als angemessene Haltung zu dieser in gewissem Sinne escha‐ tologischen Wirklichkeit weder wissenschaftliche noch ästhetische Distanz dulden könne. 28 Anthropologische Wurzel der Religion ist für Geertz, dass der Mensch die beunruhigende Möglichkeit des Chaos nicht ertragen kann und dessen unheimliche Kontingenz daher irgendwie bearbeiten muss, um denk- und handlungsfähig zu bleiben. 29 Die Bändigung chaotischer Kontingenz iden‐ tifiziert er folglich als die grundlegende Forderung, der jede denkbare Re‐ ligion nachkommen muss. Denn angesichts dieser chaotischen Kontingenz stehe für den Menschen die überlebenswichtige Fähigkeit, überhaupt „Sym‐ bole zu schaffen, zu begreifen und zu gebrauchen“, auf dem Spiel. 30 Religion habe das „Sinnproblem in allen seinen ineinandergreifenden Aspekten“ zu bearbeiten und zu gewährleisten, dass die Unfähigkeit, Chaoserfahrungen mit den vorhandenen Denkmitteln zu bearbeiten, nicht „aus der Absurdität des Lebens oder der Nutzlosigkeit des Versuchs resultiert, der Erfahrung einen moralischen, intellektuellen oder emotionalen Sinn zu geben“. 31 Re‐ 27 RakS, 77. Der common sense sei „natürlicher Rivale“ der Religion, insofern es keine Reli‐ gion gebe, die „dogmatischer“ (Geertz, Common sense, 276) sei als der common sense. Er spreche sich in einer unsystematischen Kompilation von „Epigrammen, Sprichwörtern, Spruchweisheiten, Witzen, Anekdoten, Fabeln, einer Flut von Aporismen“ aus, „nicht aber in formalen Doktrinen, axiomatisierten Theorien und dogmatischen Lehrgebäuden“ (ebd., 284). Vgl. ebd., 277–286. 28 RakS, 77. Im Unterschied zur Wissenschaft suche die Religion nach Wahrheiten „umfas‐ senderer und nicht-hypothetischer Natur“, zu denen „Hingabe, nicht Distanz“ oder gar methodischer Zweifel das angemessene Verhältnis sei. Im Gegensatz zur Kunst werde „nicht absichtlich eine Aura des Scheins und der Illusion erzeugt“, sondern vielmehr „das Interesse am Faktischen vertieft“ (ebd.). Vgl. auch ebd., 93. Bei Geertz ist diese Wendung des „really real“ immer in Anführungszeichen gesetzt. 29 Vgl. ebd., 60 f. Als umgangssprachliche Minimaldefinitionen von Religion kommen da‐ her – so Geertz in Aufnahme einer Formulierung von Salvador de Madariaga – „das vergleichsweise bescheidene Dogma, daß Gott nicht verrückt ist“ (ebd., 59), oder auch Einsteins Diktum, dass Gott nicht würfle, in Frage. Sei Religion aufgrund dieser Funktion als kulturelles System vermutlich in jeder Gesellschaft anzutreffen und damit universal, lasse sich daraus gleichwohl nicht ableiten, dass alle Individuen einer Gesellschaft in ir‐ gendeiner Form religiös sind, vgl. ebd. 72, Anm. 33; ebd., 91 f. 30 Ebd., 60. „Die Abhängigkeit des Menschen von Symbolen und Symbolsystemen ist derart groß, daß sie über seine kreatürliche Lebensfähigkeit entscheiden“ (ebd.). 31 Ebd., 72. Die konkrete „Quelle“ religiöser Vorstellungen sei allerdings strikt zu unter‐ scheiden vom anthropologischen Sinnproblem als ihrem „Anwendungsbereich“(ebd.,

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ligion bezieht sich für Geertz auf die letzte Kontingenz von Sinn überhaupt und leistet eine ganzheitliche Letztbegründung, die allein auf rationalem oder ethischem Wege nicht möglich wäre, aber für eine symbolisierende Wirklichkeitserschließung notwendig vorausgesetzt werden muss. Damit der Unterstellung eines letzten Sinns tatsächlich Glauben entge‐ gengebracht wird, muss das religiöse Symbolsystem jeder möglichen Chao‐ serfahrung eine dieser enthobene und sie neu ausrichtende Autorität – eine Tradition, Wesenheit, mystische Erfahrung – überordnen. 32 Aber wie kommt es dazu, dass ein solches Symbolsystem mit überindividuell an‐ erkannter und dann auch subjektiv überzeugender Autorität ausgestattet wird? Für Geertz ist das Ritual die entscheidende Schnittstelle, in der die „gelebte und vorgestellte Welt ein und dasselbe“ und „in einem einzi‐ gen System symbolischer Formen verschmolzen“ werden. 33 Die Autorität letztinstanzlicher Wahrheiten werde insbesondere im gemeinschaftlichen Vollzug öffentlicher Zeremonien erfahren, welche für die religiös Prakti‐ zierenden wirksame „Inszenierungen, Materialisierungen, Realisierungen“ der Hinterwelt ihres religiösen Symbolsystems in der Alltagswelt gegen diese Alltagswelt seien. 34 Ihre Wirkung entfalten die im Ritual verankerten Dis‐ positionen allerdings gerade auch „außerhalb des rituellen Rahmens“ in der vom common sense dominierten Alltagswelt, „insofern sie die Vorstel‐ lungen des Einzelnen von der gegebenen Welt der reinen Tatsachen be‐ einflussen und färben“. 35 Trotzdem sei der Glaube im Vollzug des Rituals, der „den ganzen Menschen erfaßt und ihn subjektiv gesehen in eine andere Seinsweise versetzt“, nicht ein und derselbe Glaube wie der „schwach er‐ innerte Widerschein jener Erfahrung“, der das Alltagsleben der Menschen prägt und nicht zuletzt dem common sense seine kulturspezifische Färbung

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74), aus dem diese in ihrer kulturellen Vielfalt gerade nicht funktional abgeleitet werden könnten. Geertz unterscheidet innerhalb dieses Sinnproblems drei typische Problem‐ kreise: die Grenzen der analytischen Fähigkeiten, die Grenzen der Leidensfähigkeit und die Grenzen der ethischen Sicherheit, vgl. ebd., 61–72. Das (analytisch) Verwirrende, das (emotionale) Leiden und die (moralische) Sünde, verstanden als ethisches Dilemma oder manifeste Ungerechtigkeit, begegnen dabei jeweils in „chronischen und akuten Formen“ (ebd., 64, Anm. 24) und greifen faktisch oft ineinander. Vgl. ebd., 73 f. Ebd., 78. Die „Aufrechterhaltung des religiösen Glaubens“ (Geertz, Common sense, 270) in diesem Sinne durch religiöses Handeln stelle jede Gesellschaft vor Herausforderungen. Geertz’ besonderes Interesse zielt dabei darauf, „wie sich dieses Mirakel empirisch eigent‐ lich ereignet“ (RakS, 48). RakS, 79. Entsprechen handle es sich im Vollzug des Rituals für die unmittelbar Be‐ teiligten nie um eine bloße Repräsentation von Glaubensgehalten im Sinne einer nur sekundären Veranschaulichung, sondern um deren gegenwärtige Präsenz, vgl. ebd., 85. Ebd., 87.

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gibt. 36 Jede praktizierte Religion präge auf diesem Wege die Gesellschaft und ihre Institutionen durch ihren jeweiligen Inhalt, weshalb eine allge‐ meine Zuordnung der Religion zu genau einer gesellschaftlichen Funktion unmöglich sei. 37 Geertz’ Religionstheorie eröffnet den Blick auf Religionen als Symbolsys‐ teme, deren autoritative Geltung in gemeinschaftlich-religiösen Vollzügen wurzelt. Ein solches Symbolsystem kommt nicht als kultureller Überbau zu einer vorgängigen Religiosität hinzu, sondern erschließt die Wirklichkeit allererst auf religiöse und dabei zugleich inhaltlich bestimmte Weise, wo‐ mit auch eine Empfänglichkeit für spezifische Gestimmtheiten und eine ethische Orientierungsfunktion verbunden ist. Es liegt mit Geertz nahe, religiöse Lehre in einem weiten Sinn als die intersubjektiv geteilte und kom‐ munikativ zur Darstellung gebrachte Gestalt eines solchen Symbolsystems zu betrachten. Diese funktioniert in der doppelten Weise als model of und model for, indem sie die Wirklichkeit erschließt, aber diese zugleich in ihr symbolisches Schema einpasst. So kommt ihr eine hermeneutische Funktion für den religiös-rituellen, aber auch alltäglichen Umgang mit der Wirklich‐ keit zu. Als Kriterien für die Beurteilung religiöser Lehre erscheinen dann neben ihrer Erschließungs- und Orientierungskraft die inneren Kohärenz ihres Symbolsystems sowie ihre Fähigkeit, dem Erlebnis chaotischer Kontingenz eine Sinnstruktur entgegenzusetzen. Aus dieser deskriptiven Perspektive kommen zudem Lehre und Ritual als äußerlich beschreibbare und sich wechselseitig bedingende Größen in den Blick, wobei der Glaube des Ein‐ zelnen der Betrachtung entzogen bleibt und höchstens als statistisch be‐ gründete Vermutung erfassbar ist: Der private Glaube, wenn er denn bei einem Individuum gegeben ist, wird durch das gemeinschaftlich inszenierte Symbolsystem der Religion geprägt, indem dieses als wirklichkeitserschlie‐ ßende Struktur internalisiert wird. Wie aber lässt sich in dieser Perspektive der Wandel religiöser Symbolsysteme erklären? Und wie kommt es zum Übergang von diesen Symbolsystemen, die der religiösen Praxis gänzlich 36 Ebd. Auch innerhalb einer Kultur seien folglich „kulturelle Gräben“ in Rechnung zu stellen, welche die Menschen mit Hilfe „Kierkegaardscher Sprünge in beide Richtungen“ überwinden könnten, wobei sie faktisch „sehr leicht und relativ häufig zwischen radikal entgegengesetzten Betrachtungsweisen der Welt hin und her wechseln“ (ebd., 88). Dass dies oft verkannt werde, führe zu scheinbar unvereinbaren Beschreibungen der gleichen Gesellschaft und ihrer Religion. 37 Vgl. ebd., 91. Die religiös-rituelle „Synopse der kosmischen Ordnung“ werde auf die „Welt der sozialen Beziehungen“ und die „psychologischen Ereignisse“ (ebd., 93) angewandt, so dass sich ein Abglanz der religiösen Vorstellungen immer auch in den säkularen Lebens‐ bereichen eines Volkes widerspiegle. Allerdings könne die Stärke dieser Ausstrahlung von Zeit zu Zeit, von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren.

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implizit bleiben können, zu den artikulierten und kodifizierten Lehrsyste‐ men einer kirchlich geltenden Lehre im engeren Sinn? 2.1.3 Religiöser Wandel und Sozialstruktur Ansatzpunkte für eine Antwort auf diese Fragen finden sich bei Geertz im Aufsatz Ritual und sozialer Wandel: ein javanisches Beispiel, in dem dieser sich anhand eines von ihm beobachteten Begräbnisses auf Java kri‐ tisch mit funktionalistischen Religionstheorien auseinandersetzt. Als pro‐ blematische Grundannahme des klassisch-soziologischen Funktionalismus erscheint ihm, dass Religion „die traditionellen sozialen Bindungen un‐ termauert“. 38 In seiner neueren sozialpsychologischen Variante treten an die Stelle dieser sozialen Funktion das individuelle „Verlangen nach einer stabilen, verständlichen und beherrschbaren Welt“ sowie das Bedürfnis, in den Wechselfällen des Lebens ein „Gefühl der Sicherheit zu bewahren“. 39 Gerade im Umfeld sozialer Wandlungsprozesse lasse sich aber zeigen, dass Religion hinsichtlich der gesellschaftlichen wie der psychischen Struktu‐ ren nicht nur stabilisierend und bewahrend, sondern auch destruktiv und transformierend wirken könne. Die Schwierigkeit der funktionalistischen Religionsmodelle, diese Ambivalenz angemessen in den Blick zu nehmen, sieht Geertz insbesondere in dem Mangel begründet, dass „die gesellschaft‐ lichen und kulturellen Prozesse nicht gleichwertig behandelt“ werden. 40 Sollen die dynamischen Interferenzen zwischen kulturellen Mustern und Sozialstruktur in den Blick kommen, müsse man vielmehr beide als „un‐ abhängig variable, aber zugleich wechselseitig interdependente Faktoren“ betrachte. 41 Sei Kultur ein „geordnetes System von Bedeutungen und Sym‐ bolen“, in denen „Menschen ihre Erfahrungen interpretieren und nach denen sie ihr Handeln ausrichten“, manifestiere die Sozialstruktur das Er‐ gebnis ihrer Handlungen als das tatsächlich existierende „Netz der sozia‐ len Beziehungen“. 42 Kultur und Sozialstruktur sind somit unterschiedlich auf das Handeln der Einzelnen bezogen und beruhen zudem als Systeme 38 Geertz, Ritual, 96. Als Vertreter werden beispielhaft É. Durkheim, W. Robertson-Smith und A. Radcliffe-Brown angeführt. 39 Ebd. Wichtige Vertreter sind hier J. G. Frazer, E. B. Tylor und B. Malinowski. 40 Ebd., 97. Dieses Problem trete unabhängig davon auf, ob die Kultur als „Derivat der Formen der Sozialorganisation“ oder umgekehrt die Sozialstruktur als „behavioristische Verkörperung von kulturellen Mustern“ (ebd., 98) betrachtet werde. 41 Ebd. Für die ethnologische Untersuchung und die dichte Beschreibung bedeute dies, dass die „Erforschung der Bedeutungssysteme“ eine eigenständige und unverzichbare Aufgabe neben dem „Inbeziehungsetzen dieser Systeme mit soziokulturellen und psychologischen Prozessen“ (ebd., 94) darstelle. Vgl. ebd., 131. 42 Ebd., 99.

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auf verschiedenartigen Typen der Verknüpfung. 43 Zwischen Kultur und Sozialstruktur besteht laut Geertz im Normalfall eine mehr oder weniger starke „Inkongruenz und Spannung“ – wie auch zwischen diesen Syste‐ men und der „Persönlichkeitsstruktur“ der Individuen. 44 Daher dürfe man bei der Beschreibung von Veränderungsprozessen auch dem kulturellen System Religion nicht „ausschließlich strukturerhaltende Funktionen“ zu‐ schreiben, sondern müsse vielmehr von einer „komplexeren Auffassung der Beziehungen zwischen religiösen Vorstellungen, religiösen Praktiken und säkularem sozialen Leben“ ausgehen. 45 Wendet man diese Perspektive wiederum auf religiöse Lehre als kulturelles System an, dann kann diese nicht als bloßer Überbau einer religiösen Gemeinschaftsform betrachtet werden, der einem sich selbst gleich bleibenden Bedürfnis nach Stabili‐ sierung und Legitimation der Gemeinschaftsstruktur entspricht. Genauso wenig dürfen allerdings die religiöse Gemeinschaft und ihre Sozialstruktur nur als Manifestation eines lehrförmigen, etwa der Offenbarung entnom‐ menen Programms verstanden werden. Soziologisch-ekklesiologischer und dogmatisch-hermeneutischer Reduktionismus erschienen als zwei komple‐ mentäre Abwege, die den Blick auf das umfassende Phänomen der Lehre, ihre religiösen Funktionen und spezifische Ambivalenz in religiösen Kon‐ flikten verstellen. Als Plausibilisierung seiner Perspektive führt Geertz nun ein Beispiel aus seiner ethnographischen Praxis in Java an. Dabei geht es um ein ge‐ scheitertes Begräbnisritual, bei dem die Zugehörigkeit der Beteiligten zu unterschiedlichen Religionsparteien dazu führt, dass das Ritual nicht zur Integration, sondern zur Desintegration und Erschütterung der lokalen Gemeinschaft beiträgt. Das betreffende Ritual, der slametan, vereint syn‐ kretistisch Elemente aus hinduistisch-animistischer und muslimischer Re‐ ligion: eine gemeinschaftliche Mahlzeit symbolisch aufgeladener Speisen, das Abbrennen von Räucherwerk und die Rezitation von Koranversen. 46 Nach funktionaler Sicht hätte ein solches Ritual die Funktion, die „tiefe emotionale Ambivalenz von Zuneigung und Furcht“ angesichts des To‐ des zu verarbeiten und „Kontinuität des menschlichen Lebens“ aufrecht 43 Soziale Systeme entstehen mittels „kausal-funktionaler Integration“ (ebd., 99) der Hand‐ lungen zu einem organisch strukturierten Gewebe von Kausalbeziehungen. In den Sinn‐ systemen der Kultur seien die Elemente dagegen verbunden durch eine „logisch-sinnstif‐ tende Integration“ – so Geertz im Anschluss an P. Sorokin –, wie sie gleichermaßen „in einer Fuge von Bach, im katholischen Dogma oder in der allgemeinen Relativitätstheorie“ (ebd.) begegne. 44 Ebd., 100. Völlige Isomorphie zweier Sphären ist für Geertz nur der unwahrscheinliche Grenzfall dieser Beziehungen. 45 Ebd., 101. 46 Vgl. ebd., 100–121, für die Darstellung des Rituals und der beobachteten Ereignisse.

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zu erhalten. 47 Dem entspreche grundsätzlich auch die Perspektive derer, die als religiös Praktizierende am Ritual beteiligt sind. Wenn sich im be‐ obachteten Beispiel nun ein ganz gegenteiliger Effekt einstellt, ist dies laut Geertz allerdings nicht funktionalistisch auf „gesellschaftliche Desintegra‐ tion oder kulturelle Demoralisierung“ zurückzuführen. 48 Die individuelle „Bindung an die überkommenen Glaubens- und Ritualmuster“ sei bei den Beteiligen eben nicht geschwächt gewesen. 49 Zum Konflikt sei es gerade deshalb gekommen, weil alle Beteiligten „einer gemeinsamen, sehr komple‐ xen Tradition“ anhängen und dieser verpflichtet sind – aber deren konkrete Bedeutung zwischen ihnen strittig geworden ist. 50 Konkret brechen die Konflikte, die zur „Desorganisation des Rituals“ führen, an der synkretistischen „Mehrdeutigkeit des Rituals“ auf. 51 Diese wiederum tritt verschärft hervor, weil in der nach Religionsparteien pola‐ risierten javanischen Gesellschaft „politische Erörterungen und religiöses Bekenntnis im gleichen Vokabular stattfinden“. 52 In der Folge nehmen nicht nur religiöse Vollzüge die Bedeutung eines politischen Bekenntnis‐ ses an, sondern der politische Konflikt werde zugleich durch eine religiöse Dimension so verschärft, dass in ihm „buchstäblich alles auf dem Spiel steht“. 53 Das religiös schon immer mehrdeutige Ritual werde angesichts konkurrierender politischer Vereinnahmungsversuche zum Anlass für „be‐ sorgte Diskussionen über die verschiedenen Elemente des Rituals und de‐ ren ‚wirkliche‘ Bedeutung“, wodurch auf nur scheinbar paradoxe Weise sowohl das Misstrauen zwischen den Anwesenden, als auch deren Bindung an die gemeinsame Tradition vertieft werde. 54 Statt Trost und gesellschaft‐ lichen Zusammenhang zu stiften, führt das Ritual also zu Streit und sozialen Spannungen, ohne dass die hohe Bedeutung dieser Begräbnistradition und ihrer korrekten Durchführung grundsätzlich von den Beteiligten in Zweifel gezogen würde. Das Beispiel soll also zeigen: Beide Integrationsformen, die kulturelle und die soziale, sind voneinander relativ unabhängig. Daher können sie in Prozessen des sozialen Wandels so auseinandertreten, dass sich die ent‐ stehenden Inkongruenzen disruptiv und destabilisierend auswirken. Kon‐ flikten komme dann „eine Art sakralisierter Schärfe“ zu, die der sozialsta‐

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Ebd., 122. Ebd., 123 f. Ebd., 124. Ebd. Ebd., 125. Ebd., 127 f. Ebd., 124. Ebd., 128.

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bilisierenden und psychisch integrierenden Funktion von Religion direkt entgegenstehe. 55 Auch wenn Geertz solche Konsequenzen nicht zieht, lässt sich hier eine Ursache identifizieren, warum es zur Artikulation und Ko‐ difizierung von Lehrsystemen kommt: Die Mehrdeutigkeit religiöser Prak‐ tiken und der darin verankerten Symbolsysteme kann innerhalb einer re‐ ligiösen Gemeinschaft sowie zwischen verschiedenen Religionsparteien zu Konflikten führen. Der Versuch, eine einzelne dieser Deutungen geteilter Praxis zu artikulieren und verbindlich zu fixieren, ist dabei ebenso ambi‐ valent wie die soziale Rolle der Religion im Allgemeinen. Einerseits kann die Artikulation als Lehre einen Konsens über die Bedeutung der geteilten Tradition vorbereiten, zur Versöhnung und neuen Geschlossenheit der Ge‐ meinschaft beitragen. Andererseits kann eine solche Artikulation auch eine der besonders strittigen Deutungen festschreiben, diese zum Symbol der Spaltung erheben und dem Konflikt so zusätzliche Schärfe verleihen. Zur hermeneutischen Funktion der Lehre, die möglicherweise nicht notwendig auf eine sprachlich-lehrhafte Explikation und institutionelle Fixierung des Symbolsystems angewiesen ist, treten unter Einbeziehung der Sozialdimen‐ sion die grundsätzlich unabhängigen, aber sich in der Identitätssicherung oft gegenseitig stützenden Funktionen der Konsensartikulation nach innen und der Grenzziehung nach außen. 2.1.4 Ertrag: Dichte Beschreibung religiöser Lehre Ein Ertrag dieser Religionstheorie für die Behandlung des Lehrproblems ist, dass sie ein Verständnis von Religion anbietet, welches diese nicht indivi‐ dualistisch auf eine innere Erfahrung oder bestimmte Gefühle beschränkt, sondern vornehmlich die kulturellen und gemeinschaftlichen Bedingun‐ gen von Religion, ihre Beziehungen zu anderen Kultursystemen sowie ihr Verhältnis zur Sozialstruktur in den Blick nimmt. 56 Dennoch kann Geertz auch plausibel machen, inwiefern Religion als kulturelles Symbolsystem hermeneutische Funktionen für die Einzelnen, ihr Selbst- und Weltverste‐ hen sowie den Umgang mit Chaoserfahrungen erfüllen kann. Über diese Erschließungs- und Orientierungsfunktion vermittelt kommt ihr eine nicht einlinige, sondern ambivalente Wirkung auf den common sense der Ge‐ sellschaft und die soziale Integration von Gemeinschaften zu. Theologisch gesprochen: Geertz verweist mit seiner Religionstheorie auf den kulturellen Horizont und die ekklesiologischen Ermöglichungsbedingungen individu‐ eller Frömmigkeit. 55 Ebd., 129. Der Einzelne laufe dabei Gefahr, „zwischen seinen höchsten Ideen und seinen unmittelbarsten Interessen hin- und hergerissen“ (ebd.) zu werden. 56 Hier berührt sich Geertz etwa mit Lauster, Religion.

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Mit Blick auf das Lehrproblem lässt sich die Lehre folglich als eine spezi‐ fische sprachliche Artikulation eines religiösen Symbolsystems verstehen. Auf diese Weise wird ein holistisches Verständnis von Lehre angeregt: Ein‐ zelne religiöse Symbole, Aussagen und Handlungen sind immer im Kontext eines Symbolzusammenhangs zu sehen, der Metaphysik und Ethos, Ritual und Alltag, Selbst-, Welt- und Weltsinnverstehen jeweils zirkulär aufein‐ ander bezieht. Zu den Lehraussagen und Lehrdokumenten im engen Sinn treten dann nicht nur lehrhafte Transformationen anderer Ausdrucksfor‐ men wie Gebetsformulare, Segensformeln oder Doxologien hinzu, die zum Zweck der Überlieferung in die Sprachform der Lehre gebracht wurden. Eingebettet in ein solches Zeichensystems können auch Gesten, Bilder, Metaphern, Begriffe, Erzählungen, liturgische Vollzüge, besondere Äm‐ terstrukturen, Topographien und Kalendersysteme werden. Dem gemein‐ schaftlich und öffentlich vollzogenen Ritual kommt eine besondere Stel‐ lung zu, insofern sich im Ritual die religiöse Symbolwelt innerhalb der Alltagswirklichkeit und gegen diese als deren tieferer Sinn individuelle so‐ wie zugleich soziale Geltung verschafft. Die Analyse expliziter Lehraussa‐ gen hätte dann den Charakter einer „dichten Beschreibung“ anzunehmen, also zumindest exemplarisch die ‚morphologische‘ Einbettung der einzel‐ nen Lehrsätze und Lehrformeln in das Symbolsystem, die kulturelle Welt und die Gesamtheit der Praktiken zu leisten, in deren Kontext sie Be‐ deutung erhalten und durch die ihnen erst Geltung zuwächst. Ein allein auf autoritative Lehrtexte verengtes Verständnis von Lehre, aber auch die altbekannten Gegensatzpaare „Leben vs. Lehre“ oder „Lehre vs. Liturgie“ verlieren damit an Plausibilität. An der abbildend-handlungsorientieren‐ den Doppelstruktur des Geertz’schen Modellbegriffs scheitern Versuche, Ethik und Dogmatik gegeneinander auszuspielen, ebenso wie Argumenta‐ tionsstrategien, die die konkreten religiösen Vorstellungen und deren sym‐ bolische Repräsentationen (etwa: die Lehrinhalte als fides quae) gegenüber den religionsproduktiven Leistungen einer abstrakt-spontanen Subjektivi‐ tät vergleichgültigen sollen. Weiterführend ist außerdem die Unterscheidung religiöser Symbolsys‐ teme vom common sense. Dieser Unterschied liegt nicht darin, dass der unhinterfragt-unhinterfragbare common sense der kulturellen Kontingenz und Relativität enthoben wäre, sondern ist darin zu erblicken, dass der Re‐ ligion diese Nicht-Selbstverständlichkeit selbst immer schon durchsichtig ist, weil sie sich gerade nicht auf das unhinterfragbar Gegebene, sondern auf das „wirklich Wirkliche“ an der Wirklichkeit bezieht. Ein weiterer Un‐ terschied besteht im Grad der Systematisierung, insofern religiöse Symbol‐ systeme die denkbar schwächsten Integrationform einer nur losen Samm‐ lung von Volksetymologien, Konventionen, Sprichwörtern und Anekdoten immer schon hinter sich gelassen haben. Wenn persönliche Frömmigkeit,

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gemeinschaftliche Religionspraxis und religiöse Lehre gegeneinander ab‐ gegrenzt werden sollen, dann können die Unterscheidungsmerkmale nur ein relativ höherer Grad an Artikulation und Systematisierung, eine spezi‐ fische Institutionalisierung oder besondere Form der Kodifizierung sein – kein kategorialer Überschritt wie zwischen den Ansammlungen des com‐ mon sense und den Symbolsystemen von Religion, Wissenschaft und Kunst. Noch einmal auf einer gänzlich anderen Ebene als diese Begriffe muss freilich – zumindest nach protestantischem Selbstverständnis und in Auf‐ nahme der Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion – der Glaube als existenzbestimmende Gewissheit der Einzelnen zum Stehen kommen. 57 Eine Grenze dieser ethnographischen Religionstheorie ist allerdings ge‐ rade darin zu sehen, dass aus der Perspektive des beschreibenden Ethnogra‐ phen hier kaum zwischen implizit-habitualisierten, explizit-artikulierten, verschriftlichen und schließlich kodifizierten Symbolsystemen unterschie‐ den wird. Unterschiede zwischen den mythologischen Ausläufern des com‐ mon sense, der mündlich überlieferten Volksreligion, dem offiziellen Kultus und seinen Praxistheorien, schließlich expliziten Lehrbekenntnissen und dem theologischen Raster einer reflektierenden Dogmatik werden noch nicht trennscharf herausgearbeitet. Welche Prozesse innerhalb einer reli‐ giösen Gemeinschaft selbst dazu führen, dass diese eine Systematisierung, Rationalisierung und definierende Interpretation ihrer religiösen Gehalte vornimmt, bleibt außerhalb des Blickfeldes. Der Aufsatz zum religiösen Wandel weist allerdings bereits in die Richtung, die die Untersuchung ein‐ zuschlagen hätte: die Rolle religiöser Konflikte für das Bedürfnis nach ge‐ teilten verbindlichen Interpretationen oder expliziten Abgrenzungen hin‐ sichtlich faktisch mehrdeutiger Symbole, Rituale und Symbolsysteme zu erhellen. Trotz aller Abgrenzungen, die Geertz gegenüber den verbreiteten Vari‐ anten des Funktionalismus vornimmt, bleibt seine Theorie zudem anfällig für die klassischen Kritik an allen Versuchen, Religion ausgehend von ihrer nicht-religiösen Funktion zu erklären. Zumindest sobald seine Theorie – wohl gegen ihren eigenen Anspruch – von ihrem konkret-ethnographi‐ schen Entstehungskontext abgelöst wird, tendiert sie wie die kritisierten funktionalistischen Theorien dazu, das Spezifische der Religion und die Charakteristika einzelner positiver Religionen zu nivellieren. Es stellt sich außerdem immer die Frage, wie sich solche kulturwissenschaftliche Au‐ ßenperspektive mit ihrer programmatischen Einklammerung der religiösen 57 Geertz grenzt diesen persönlichen Glauben aus dem Feld seiner ethnographischen Unter‐ suchungen aus, insofern diese entzogen-individuelle Ebene mit dem Dispositionsbegriff wahrscheinlichkeitstheoretisch eingeklammert wird.

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Wahrheitsfrage zur Selbstdefinition religiös Praktizierender verhält. Ge‐ genüber der Theologie äußert Geertz den Verdacht, dieser gehe es allein darum, „das fraglos Feststehende zu beweisen“. 58 Ist dieser Vorwurf ernst‐ zunehmen und durch die theologische Arbeit möglichst zu entkräften, ließe sich aus theologischer Perspektive doch zurückfragen, ob in der Einklam‐ merung der Wahrheitsfrage nicht ebenfalls ein Moment der Voreingenom‐ menheit steckt. 2.2 P. Bourdieu: Eine soziologische Annäherung Auch Pierre Bourdieus (1930–2002) soziologische Religionstheorie wur‐ zelt ursprünglich in ethnographischen Studien, die er während des Alge‐ rienkrieges durchgeführt hatte. 59 Sein auf dieser Grundlage entwickeltes Programm eines genetischen Strukturalismus erhebt den Anspruch, die Einseitigkeiten zweier dominanter Theorieschulen der französischen Geis‐ teswissenschaft zu vermeiden: Einerseits sollen der Subjektivismus und Dezisionismus der französischen Existentialisten, andererseits der Objek‐ tivismus und Strukturdeterminismus der früheren Strukturalisten über‐ wunden werden. 60 Der strukturalistische Objektivismus schiebe der Praxis ein determinierendes Schema unter und laufe darauf hinaus, den „Wissen‐ schaftler als Alleininhaber dieses Modells auf den Platz eines Leibnizschen Gottes zu erheben“. 61 Der existentialistische Subjektivismus dagegen bleibe einem idealisierten Selbstbild des Intellektuellen und damit der „Illusion eines ‚trägheitslosen Bewußtseins‘ ohne Vergangenheit und Äußerlichkeit“ verhaftet. 62 Auf zwei verschiedenen Abwegen wird hier – so Bourdieu – der Praxis jeweils unbewusst das Bild untergeschoben, das sich der Wissen‐ schaftler von sich selbst und seiner Praxis macht, wobei dieses Bild letztlich vor allem seine besondere Stellung im Sozialgefüge spiegelt. Ausgehend von dieser Problemkonstellation ist zumindest die fortgeschrittene Theorie Bourdieus als reflexive Selbstkritik der wissenschaftlichen Erkenntnis an‐ 58 Geertz, RakS, 45. 59 Für eine autobiographische Darstellung des intellektuellen Werdegangs und eine Rück‐ schau auf die frühen Feldstudien in Algerien und Frankreich vgl. die Einleitung in Bour‐ dieu, Sinn, 7–45. Zur allgemeinen Einführung vgl. Müller, Bourdieu; vgl. außerdem das konzise und eher kritische Bourdieu-Kapitel in Joas/Knöbl, Sozialtheorie, 518–557. 60 Vgl. Bourdieu, Entwurf, 139–164. Vgl. ders., Sinn, 57–98. 61 Ebd., 62. Beispiele sind hier F. de Saussure und C. Lévi-Strauss. Ähnlich lautet Bourdieus Kritik am intellektualistischen bzw. objektivistischen Idealismus, vgl. ebd., 97. 62 Ebd., 86. Die beobachtete Praxis werde einem „reinen, bindungs- und wurzellosen Sub‐ jekt“ (ebd.) zugeschrieben, das ebenfalls traditionellen Gottesvorstellungen ähnle. Typi‐ scher Vertreter ist J.-P. Sartre.

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gelegt, welche die wissenschaftliche (soziologische oder ethnographische) Praxis auf eine solide Grundlage stellen und zur Erfassung der ganzen Wahrheit der beobachteten Praxis befähigen soll. 63 Zu diesem Zweck ist insbesondere die Illusion einer von sozialen Bedingungen und Zweckset‐ zungen abgelösten Wissenschaft zu entlarven. 64 Bevor Bourdieus Perspektive auf Religion und Kirche untersucht werden kann, sind an dieser Stelle einige zentrale Grundbegriffe seiner Theorie zu rekapitulieren und in ein Verhältnis zu setzen (2.2.1). Anschließend sind Bourdieus frühe Arbeiten zur Religionssoziologie zu rekonstruieren, mit denen er die Herausbildung des Gegensatzes von Orthodoxie und Häresie nachzeichnen will (2.2.2). Diese Herausbildung wiederum korrespondiert der Entstehung eines kirchlichen Feldes, weshalb sodann Bourdieus Sozio‐ logie der Kirche und deren Verhältnis zum theologischen Feld dargestellt werden soll (2.2.3). Ergänzt werden diese Einsichten durch einige methodi‐ schen Überlegungen zur Logik der religiösen Praxis und ihrer wissenschaft‐ lichen Beschreibung (2.2.4), bevor Bourdieus Anfragen an die Möglich‐ keit einer theologischen Beschreibung religiöser Konflikte diskutiert werden können (2.2.5). Es wird sich zeigen, dass auf diesem Weg einige Kriterien für eine Auseinandersetzung mit dem Lehrbegriff gewonnen werden kön‐ nen, die die Machtdimension von Orthodoxiestrukturen nicht ausblendet. 2.2.1 Soziologische Grundbegriffe Phänomenologisch-subjektivistischen und mechanistisch-objektivisti‐ schen Zugängen zur Soziologie stellt Bourdieu seine „praxeologische“ Erkenntnisweise entgegen. 65 Diese rücke das dialektische Wechselverhält‐ nis zwischen „objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und reproduzieren trachten“, ins Zentrum der Analyse. 66 Einzusetzen ist hier mit den strukturierten Dispositionen, die

63 Im Namen einer solchen Selbstklärung und zum Schutz gegen objektivistische und sub‐ jektivistische Missverständnisse, mechanischen Determinismus oder „Intellektualozen‐ trismus“ wäre laut Bourdieu grundsätzlich sinnvoll, „jeder wissenschaftlichen Abhand‐ lung über die Sozialwelt eine Präambel mit dem Wortlaut ‚alles spielt sich so ab, als ob ...‘ voran[zu]stellen“ (ebd., 56). Diese und ähnliche Selbstrelativierung ermäßigen für Bourdieu allerdings gerade nicht den wissenschaftlichen Anspruch, die Wahrheit der be‐ obachteten Praxis zu suchen. 64 Vgl. Bourdieu, Entwurf, 148. 65 Diesen beiden Erkenntnisweisen entspricht im späteren Werk weitgehend der Gegensatz von „Sozialphysik“ (Bourdieu, Sinn, 49) und „Sozialphänomenologie“ (ebd.): einer „So‐ zialdynamik, die nur auf Kräfteverhältnisse kennt, und einer Sozialkybernetik, die nur auf Sinnverhältnisse achtet“ (ebd., 256). 66 Bourdieu, Entwurf, 147.

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Bourdieu unter dem Begriff Habitus zusammenfasst, bevor mit dem Feld‐ begriff die objektiven Strukturen in den Blick genommen werden. 67 a) Habitus als strukturiertes Erzeugungsprinzip Habitusformen bezeichnen bei Bourdieu „Systeme dauerhafter Dispositio‐ nen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Struk‐ turen zu wirken“. 68 Der Habitus steht somit als vermittelnde Instanz zwi‐ schen den objektiven Strukturen und den subjektiven Interessen der Indi‐ viduen. Er dient diesen als ein höchst effizientes, weil sparsames „Erzeu‐ gungsprinzip von Strategien, die es ermöglichen, unvorhergesehenen und fortwährend neuartigen Situationen entgegenzutreten“. 69 Dabei ist ein Ha‐ bitus bleibend durch seine geschichtlichen Entstehungsbedingungen (Ge‐ nese) bestimmt, weshalb ihm die konservative Tendenz innewohnt, „die objektiven Bedingungen, deren Produkt sie in letzter Analyse sind, zu re‐ produzieren“. 70 Er gewährt den Individuen eine „bedingte Freiheit“, die durch „ein Feld unmittelbar im Gegenwärtigen eingeschriebener objektiver Möglichkeiten“ limitiert wird. 71 Statt einen mechanischen Strukturdeter‐ minismus anzunehmen, vertritt Bourdieu daher einen durch den Habitus vermittelten Einfluss der objektiven Strukturen auf die Praxis der Indivi‐ duen, deren Handeln aufgrund der dialektischen Beziehung von Habitus und Situation immer „notwendig und relativ-autonom in einem“ ist. 72 Der Habitus vermittle als „Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix“ so subtil zwischen sozialen Bedingungen, eigener Wahrnehmung und persön‐ lich verantworteten Handlungen, dass der beschränkende Einfluss sozialer Strukturen in der Regel gerade nicht als äußerer Zwang erlebt werde. 73

67 Für eine knappe Rekonstruktion dieser Grundkonzepte vgl. den „analytische[n] Baukas‐ ten“ bei Müller, Bourdieu, 27–91. Vgl. auch Saalmann, Bourdieu, 19–47; ferner die einschlägigen Artikel in Fröhlich/Rehbein, Handbuch. 68 Bourdieu, Entwurf, 165. Herv. TG. Vgl. Bourdieu, Unterschiede, 277–286. Im Fol‐ genden wird um der Lesbarkeit willen als Plural von Habitus ‚Habitusformen‘ statt der vom Lateinischen her korrekten Alternative ‚Habitu¯ s‘ verwendet. Vgl. zum Habitusbegriff Bourdieus auch Müller, Bourdieu, 37–43. 69 Bourdieu, Entwurf, 165. Ein Habitus ermögliche, „die den jeweiligen Lernsituationen immanente Notwendigkeit über die Grenzen des direkt Gelernten hinaus“ (Bourdieu, Unterschiede, 278) anzuwenden. 70 Bourdieu, Entwurf, 165. 71 Ebd., 166. Bourdieu bezeichnet den Habitus auch als „zu Natur gewordene Geschichte“ (Ebd., 171) und als „eine aus Not entstandene Tugend“ (Bourdieu, Unterschiede, 585). Vgl. auch Bourdieu, Sinn, 98 f. 72 Bourdieu, Entwurf, 169. 73 Ebd.

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Der Habitus wirkt nach Bourdieu erstens als „Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis“, also von Handlungen und Objekten. 74 Das auf diese Weise erzeugte Handeln der Individuen lasse sich als „gere‐ gelte Improvisation“ beschreiben. 75 Dabei bringe ein Habitus „fortwährend praktische Metaphern“ seiner selbst hervor, die durch situationsbedingte „Transpositionen“ angesichts sich wandelnder Anwendungsbedingungen zustande kommen. 76 Habe der Habitus einen objektiv „systematischen Charakter“, präge er diesen auch der „Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs“ bzw. einer Klasse von Akteuren ein. 77 Aufgrund dieses systema‐ tischen Charakters sind die „Praxisformen und Werke eines Akteurs fern jedes absichtlichen Bemühens um Kohärenz in objektivem Einklang mit‐ einander“ und zugleich auch ohne jede bewusste Abstimmung „auf die Praxisformen aller übrigen Angehörigen derselben Klasse objektiv abge‐ stimmt“. 78 Zweitens ermögliche ein Habitus als einverleibtes Klassifikati‐ onssystem auch eine „Unterscheidung und Bewertung der Formen und Pro‐ dukte (Geschmack)“, indem er neben diesen Praxisformen auch entspre‐ chende Werturteile und ein ganzes „System distinktiver Zeichen“ hervor‐ bringe. 79 Die in ihm inkorporierten Strukturen nehmen schon vorbewusst eine Entschlüsselung und klassifizierende Bewertung von Handlungen und Objekten vor, die wiederum sekundär noch verstärkt werden könne, wenn diese „automatische und unbewußte Dialektik“ durch bewusste Strategien der Akteure „intentional verdoppelt“ werde. 80 Drittens ist es nach Bourdieu auch der Habitus, der es den Individuen erlaubt, sich in die objektivierten Strukturen sozialer Institutionen einzu‐ finden. Er befähige dazu, „Institutionen zu bewohnen (habiter), sie sich praktisch anzueignen und sie damit in Funktion, am Leben, in Kraft zu hal‐ ten, sie ständig dem Zustand des toten Buchstabens, der toten Sprache zu entreißen“. 81 Dies erscheint allerdings ambivalent, denn im Zusammenwir‐ 74 Bourdieu, Unterschiede, 277. Herv. im Orig. 75 Vgl. Bourdieu, Entwurf, 170; 179 u.ö. 76 Bourdieu, Unterschiede, 281. Vgl. ebd., 791. Der Habitus selbst bleibe unter diesen Pra‐ xisformen als „ständig von regelhaften Improvisationen überlagerte Erzeugungsgrund‐ lage“ (Bourdieu, Sinn, 107) verborgen. Die vom Einzelnen bewohnte Objektwelt kann Bourdieu entsprechend bezeichnen als ein „Buch, in welchem jedes Ding metaphorische Aussagen über alle anderen macht“ – wobei der Habitus selbst eine „Metapher der Ob‐ jektwelt“ (ebd., 142) ist. 77 Bourdieu, Unterschiede, 278 f. 78 Ebd., 281. Vgl. Bourdieu, Sinn, 173 f. 79 Bourdieu, Unterschiede, 277 f. 80 Ebd., 382. Im Orig. teilw. kursiv. Dies ist die Funktionsweise konservativer Ideologien sowie der vielfältigen Strategien einer Distinktion zwischen den Klassen. Zu dieser Ver‐ doppelung vgl. auch Müller, Bourdieu, 57. 81 Bourdieu, Sinn, 107.

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ken von Habitus und Strukturen vollziehe sich eine „performative Magie des Sozialen“, die unbewusst und stetig den „institutionellen Unterschied in eine natürliche Unterscheidung“ transformiere. 82 Durch Habitualisie‐ rung und Institutionalisierung könnten so stabile „Gesellschaftsformatio‐ nen“ entstehen, in denen einzelne „Herrschaftsverhältnisse“ nicht mehr durch die direkte Interaktion reproduziert werden müssten, sondern „so undurchsichtig und dauerhaft wie Sachen“ geworden seien. 83 Sie werden der Willkür, dem direkten „Zugriff des Bewußtseins und der Macht des einzelnen“ entzogen, was den „Bestand und kumulativen Charakter der materiellen wie symbolischen Errungenschaften“ sicherstelle, aber damit zugleich die bestehenden „Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse“ immer neu reproduziere. 84 Indem er Institutionen mittels seiner geregel‐ ten, situationsbezogenen Improvisation aufleben lasse, zwinge der Habitus ihnen allerdings zugleich beständig „Korrekturen und Wandlungen“ auf. 85 Allein auf diese Weise können sie relativ stabil, lebendig und anpassungs‐ fähig bleiben. Die immer geschichtliche, dialektische und unumkehrbare Beziehung von Sozialstruktur, Habituserwerb und erzeugten Praktiken dürfe da‐ bei „weder als mechanische noch als bewußte“ begriffen werden. 86 Muss laut Bourdieu ein mechanistischer Strukturdeterminismus die konstitutive Rolle der Vorstellungen verkennen, die die Handelnden sich selbst von sich und ihrer Situation machen, hat eine angemessene Theorie der Praxis dennoch zu berücksichtigen, dass die im Alltag geforderte „Fähigkeit zur Meisterung der Praxis“ nicht auf die „expliziten Prinzipien eines pausenlos wachsamen und in jeder Hinsicht kompetenten Bewußtseins“, sondern viel‐ mehr auf die weitestgehend „impliziten Denk- und Handlungsschemata“ des Habitus gründet. 87 Befragt man diese Habitus-Theorie Bourdieus nun mit Blick auf das Wesen und die Funktion religiöser Lehre, dann lenkt sie

82 Ebd., 107 f. So kommt Bourdieu zu dem Urteil, dass „König, Priester, Bankier mensch‐ gewordene Erbmonarchie, Kirche und menschgewordenes Finanzkapital“ sind, weil die Dialektik von Struktur und Habitus „auf Dauer auf den Leib geschriebene und im Glau‐ ben eingeschriebene Wirkungen erzeugt“ (ebd.). 83 Ebd., 238. Diese Objektivierung ist das zentrale Charakteristikum differenzierter gegen‐ über archaischen Gesellschaften, vgl. Müller, Bourdieu, 45–47. 84 Bourdieu, Sinn, 239. 85 Ebd., 107. 86 Bourdieu, Unterschiede, 279, Anm. 1; vgl. ebd., 537. Erscheinen diese Verhältnis dem Theoretiker auch als zirkulär und damit umkehrbar, sei dies nur einer Illusion der theore‐ tischen bzw. logischen Perspektive geschuldet. Aufgrund der Zeitlichkeit konkreter Praxis sei das Verhältnis von Habitus und Struktur vielmehr als geschichtliche und damit fort‐ schreitende Dialektik zu denken, vgl. Bourdieu, Sinn, 149–151. 87 Bourdieu, Unterschiede, 657.

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das Augenmerk auch hier auf die vorbewussten und unbewussten Wurzeln religiöser Praxis und institutioneller Lehrbildung. Mit dem Habituskonzept lässt sich zwischen der objektiven Systematik einer Welt von Praxisfor‐ men und Symbolen einerseits und deren explizierender, artikulierender Verdoppelung andererseits unterscheiden. Inwiefern hat man es bei reli‐ giöser Lehre mit der Verdoppelung einer strukturierten Struktur zu tun, die selbst wieder strukturierend wirkt? Auch das Verhältnis von Identität und Wandelbarkeit, das lebendige Institutionen charakterisiert, lässt sich mit Bourdieus Instrumentarium auf präzise Weise beschreiben. Dies aber verweist bereits auf weitere Grundbegriffe seiner Theorie, insbesondere den Feldbegriff. b) Klasse, Feld und Herrschaftsstruktur Als soziologische Kategorie ist der Habitus bei Bourdieu nie schlechthin individuell und abgelöst verstanden, sondern beschreibt als „Klassenhabi‐ tus“ vielmehr die Gemeinsamkeit einer Gruppe. 88 Soziale Klassen erzeugen und reproduzieren sich selbst durch den geteilten Habitus ihrer Mitglieder. Darüber hinaus schirme sich der Habitus selbst gegenüber krisenhaften Si‐ tuationen der Überforderung ab, indem er sich mittels „eines unbewussten und nicht gewollten Meidungsverhaltens“ selbst ein Milieu schaffe, an das er „so weit wie möglich vorangepaßt ist“. 89 Ein Habitus tendiert also dazu, selbst seine Entstehungsbedingungen zu reproduzieren als eine Umgebung, an die er immer schon angepasst ist – doch aufgrund der Geschichtlichkeit aller sozialen Verhältnisse ist diese Reproduktion nie als schlichte Wiederholung ohne alle Variation möglich. Besonders deutlich tritt ein Habitus immer dann in Erscheinung, wenn diese unbewusste Reproduktionsarbeit scheitert und es zu einem „Hyste‐ resis-Effekt“ (auch: „Don-Quichotte-Effekt“) kommt. 90 Dieser Effekt trete ein, wenn sich das „objektiv gegebene Möglichkeitsfeld“ 91 der Individuen sowie die „sozialen und biologischen Reproduktionsbedingungen“ einer Klasse bzw. Unterklasse rasch und unerwartet verändern. 92 Wo die An‐ passung an eine neue Umgebung fehlschlägt und die objektiven Abge‐

88 Ebd. Die soziologische „Konstruktion des Habitus im Sinne einer Erzeugungsformel“ (ebd., 278) soll bei Bourdieu nicht zuletzt die wissenschaftstheoretische Begründung der Soziologie ermöglichen. 89 Bourdieu, Sinn, 114. Im Orig. teilw. kursiv. Zu dieser unbewussten Selektion mittels des Geschmacks, vgl. Bourdieu, Unterschiede, 373–378. 90 Ebd. 187 f. Hysteresis meint somit eine dem Habitus immanente Trägheit, die seiner An‐ passung an neue Verhältnisse Grenzen setzt. Vgl. auch Bourdieu, Sinn, 116–118. 91 Bourdieu, Unterschiede, 190. 92 Ebd., 186.

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stimmtheit der Praxisformen durchbrochen wird, werden die Wirkungen des Habitus als Störung der Sozialwelt auffällig und sichtbar. Dieser Hyste‐ resiseffekt spielt nicht zuletzt bei religiösen Konflikten eine wichtige Rolle, weil von einer solchen Hysteresis betroffene Fraktionen des Klerus oder der Laienschaft eine hohe Anfälligkeit für die Botschaften prophetischer und häretischer Bewegungen haben. Eine soziale Klasse, ihr spezifischer Habitus und Lebensstil lassen sich für Bourdieu nun nicht einfach durch ein Einzelmerkmal – etwa ihre ökonomi‐ sche Lage – oder auch einen Katalog von Merkmalen definieren, sondern nur relational anhand der Beziehungen zu anderen Klassen beschreiben. 93 Die Bedeutung einzelner Merkmale ergibt sich folglich erst aus der Struktur der Felder, auf denen sie als Differenzmarker zwischen Gruppen tatsäch‐ lich Anwendung finden oder nicht. Das Ganze der Gesellschaft betrachtet Bourdieu dabei als strukturiert durch solche Felder, die alle ursprünglich durch eine ungleiche Verteilung von Kapital sowie durch feldspezifische, geschichtlich wandelbare Regeln der Machtausübung konstituiert sind. 94 Die Logik eines Feldes verleihe einzelnen Merkmalen allererst so etwas wie „Wert und Wirksamkeit“, indem sie festlege, „was auf diesem Markt Kurs hat, was im betreffenden Spiel relevant und effizient ist“ und folglich als feldspezifisches Kapital gelten kann. 95 Insbesondere das kulturelle, aber auch das religiöse Kapital kann seine Wirksamkeit als Mittel der Distink‐ tion nur aufgrund und innerhalb der Positionskämpfe entfalten, die sich auf den Feldern der kulturellen bzw. religiösen Produktion nach spezifischen Regeln abspielen. 96 Zutrittsbedingung zu einem Feld ist bei Bourdieu im‐ mer eine feldspezifische Investition, wobei dieser Begriff hier eine doppelte Bedeutung in sich vereint: 93 Vgl. ebd., 182 Merkmale wie Ausbildungsgrad, Nationalität, Geschlecht oder Alter sind zwar eine mögliche „Mobilisierungsbasis“ (ebd., 183, Anm. 183) für Klassenkonflikte, aber ohne eine solche Mobilisierung als Klassenmerkmale unwirksam. 94 Diese Felder kann Bourdieu auch in ökonomischer Metaphorik als Märkte bezeichnen, doch überwiegt bei ihm das Bild vom Spielfeld bzw. Schlachtfeld, vgl. ebd., 164–167. Zum Feldbegriff und der dahinter stehenden Tradition vgl. Müller, Bourdieu, 72–91. Laut S. Egger ging Bourdieu die Erschließungskraft des Feldbegriffs gerade bei der Beschäftigung mit Webers Religionssoziologie auf, vgl. das Nachwort in Bourdieu, Religion, 277 f.; vgl. auch Müller, Bourdieu, 74, 82 f. 95 Bourdieu, Unterschiede, 194. Im Orig. teilw. kursiv. Diese Feldrelativität der Merkmale zu verkennen, sei der grundlegende Fehler des Positivismus. Je nach Feld, Zustand des Feldes und Position innerhalb des Feldes kann die Bedeutung und Wirkung bestimmter Merkmale „aufgehoben oder in ihrer Stoßrichtung verkehrt“ werden, scheinbar identi‐ sche Praktiken können so „gegensätzliche Bedeutung und Wert erhalten“(ebd., 164). 96 Vgl. ebd., 358. Zu den Feldern, auf denen kulturelles Kapital zirkuliert, gehört neben dem Feld der Kunst- und Wissenschaftsproduktion auch das „Feld der Ideologieproduktion“ (ebd., 623. Im Orig. kursiv), vgl. ebd., 623; 675; 725 f.

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„im ökonomischen Sinn von Anlage – was sie objektiv immer ist, wenn auch als solche verkannt – und im psychoanalytischen Sinn von ‚Besetzung‘ oder genauer, in dem von illusio, Glauben, Involvement, Einsatz im Spiel, der aus dem Spiel selbst hervorgeht und es wiederum antreibt“. 97

Als „Eintrittsgeld“ für ein Feld ist somit noch vor allen materiellen Inves‐ titionen der „praktische Glaube“ gefordert. 98 Dieser Glaube umfasse eine Anerkennung der Einsätze, der stillschweigenden Regeln und der „unge‐ dachten Voraussetzungen, die das Spiel unablässig produziert und repro‐ duziert“ als die „Bedingungen seiner eigenen Fortdauer“. 99 Dieser Glaube sei normalerweise umso stärker, je vertrauter man mit dem Spiel ist – „wo‐ bei man im Extrem natürlich in das Spiel hineingeboren, mit ihm geboren wird“. 100 Praktischer Glaube ist dann ein „Zustand des Leibes“ oder zumin‐ dest von „quasi-leiblichen Dispositionen“ des Habitus gestützt. 101 Dieser praktische Glaube sei folglich nicht misszuverstehen als die freie Über‐ nahme einer Hypothese oder als ein Akt der bewussten Anerkennung eines „Korpus von Dogmen und gestifteten Lehren“. 102 Die Geltung der Regeln und Wertzuschreibungen auf einem Feld sind Ergebnis einer Habituali‐ sierung von Strukturen, die einer bewussten Entscheidung immer schon vorausliegt – was mit Blick auf die Frage nach der Geltung religiöser Lehre das Augenmerk auf die Bedeutung von Sozialisations- und Initiationspro‐ zessen lenkt. Den verschiedenen Feldern entsprechen also unterschiedliche Kapitalar‐ ten, die allerdings – zumindest bis zu einem gewissen Grad – ineinander konvertibel sind: z.B. ökonomisches, soziales, symbolisches, religiöses und kulturelles Kapital. 103 Kapital ist für Bourdieu somit ein Feldeffekt – ein gesellschaftliches Verhältnis, das sich auswirkt in Gestalt einer „sozialen Energie, die Bestand und Wirkung nur in dem Feld hat, in dem sie sich produziert und reproduziert“. 104 Insofern Kapital auf allen Feldern struk‐ turell analog funktioniere, lasse sich eine einheitliche soziologische Öko‐ 97 98 99 100

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Ebd., 151 f. Ebd., 124. Ebd. Zu dieser feldspezifischen illusio und ihrer Unterschiedenheit von der doxa vgl. Saalmann, Bourdieu, 28. Bourdieu, Sinn, 124. Einzige Alternative zu diesem Hineinwachsen sei, sich einem „langwierigen Prozeß von Kooptation und Initiation“ zu unterziehen, „der einer zweiten Geburt gleichkommt“ (ebd., 125). Ebd., 126 f. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd., 126. Vgl. ebd., 222–224. Die als legitim betrachteten Möglichkeiten und Wechselkurse für eine solche Konversion der Kapitalarten sind dabei geschichtlich und kulturell variabel. Vgl. zu diesen Kapitalsorten auch Müller, Bourdieu, 47–55. Bourdieu, Unterschiede, 194.

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nomie der Praxisformen entwerfen, doch dürfe man dabei keinesfalls re‐ duktionistisch die „in einem besonderen Praxisfeld wirksamen Faktoren als universelles Erklärungsprinzip“ verabsolutieren. 105 Allen Feldern sei allein das im weiten Sinne ökonomische Rationalitätsprinzip gemeinsam, dass die „in der Logik eines bestimmten Feldes erhaltenen Ziele mit dem geringsten Aufwand zu erreichen“ seien. 106 Dieses recht formale Rationali‐ tätsprinzip präge, vermittelt durch den Habitus, gerade solche Handlungen, die gar nicht „Produkt eines durchdachten Plans oder gar einer rationa‐ len Berechnung“ wie eines Zweck-Mittel-Kalküls sind. 107 Es gebe folglich schlechthin „keine Handlung ohne Daseinsgrund, d.h. ohne Interesse“ und somit auch keine völlig uneigennützigen Handlungen, aber durchaus eine Vielzahl möglicher Interessen neben der rein materiellen Gewinnorientie‐ rung. 108 Die Felder einer Gesellschaft sind nach Bourdieu durch ihre je eigene Logik – also das Verhältnis einer bestimmten Kapitalart zu feldspezifischen ‚Spielregeln‘ – voneinander unterschieden und daher nicht aufeinander reduzierbar. Dennoch stehen sie nicht einfach beziehungslos nebeneinan‐ der, sondern sind nach dem „Prinzip funktionaler und strukturaler Ho‐ mologie“ gekoppelt. 109 Sie alle realisieren auf charakteristische Weise die grundlegende Feldlogik, dass sich eine – historisch bedingte – Ungleichheit in der Verteilung des Kapitals in je feldspezifische „Gegensätze zwischen den an einer Kapitalart Reicheren und Ärmeren“ umsetze. 110 Die Struk‐ tur dieser Gegensätze auf den einzelnen Feldern entspricht auf homologe Weise dem allgemein-gesellschaftlichen Gegensatz der herrschenden und beherrschten Klassen sowie der ungleichen Machtverteilung innerhalb der herrschenden Klasse. Die durch diesen doppelten Grundgegensatz kon‐ 105 Ebd., 195. 106 Bourdieu, Sinn, 95. 107 Ebd. Allen Praktiken eigne eine gewisse „Zweckmäßigkeit“, auch ohne dass sie „auf einen explizit gesetzten Zweck bewußt hingeordnet“, „aus gewollter Schlüssigkeit und reiflich überlegter Entscheidung hervorgegangen“ (ebd.) wären. Dieses allgemeine Ra‐ tionalitätspostulat leistet für Bourdieus Theorieprogramm und dessen Allgemeinheits‐ anspruch so etwas wie eine Letztbegründung, vgl. auch ebd., 222 f. 108 Ebd., 95, Anm. 1. Jedes Interesse beruhe auf einem vorgängigen „Einsatz in ein Spiel“, mithin auf „Festlegung, illusio, commitment“ (ebd. Herv. im Orig.). Der ökonomistische Reduktionismus bei Marx oder in der Rational-Choice-Theorie verkenne, dass es eine ganze „Welt von Ökonomien“ gebe, die sich in verschiedenen „Kampffeldern“ mit je‐ weils spezifischen „Streitobjekten“ (Bourdieu, Sinn, 95 f.) manifestierten. Vgl. zur Kritik des Ökonomismus auch ebd., 206f; 222 f. 109 Bourdieu, Unterschiede, 364. 110 Ebd., 366. Religiöse Ausgestaltung dieses Gegensatzes ist der Konflikt von Orthodoxie und Häresie, der bei Bourdieu zugleich metaphorisch auf andere Felder, insbesondere das Feld der Wissenschaft übertragen wird. Vgl. Bourdieu, Homo academicus, 19 f.

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stituierte Herrschaftsstruktur ist als gesellschaftlicher Grundkonflikt von allen anderen Feldern unterschieden, aber selbst als ein Feld beschreibbar. Vermittelt durch den Klassenhabitus, der immer auch einen „Sinn für Ho‐ mologie zwischen Gütern und Gruppen“ umfasst, lassen sich Positionen, Güter und Meinungen, die eigentlich verschiedenen Feldern zugehören, einander nach Art einer „prästabilierten Harmonie“ zuordnen. 111 Deshalb sind alle Kapitalarten prinzipiell dazu geeignet, auch in den grundlegenden Antagonismus der gesellschaftlichen Klassen sowie in die symbolisch aus‐ getragenen Legitimationskämpfe innerhalb der herrschenden Klasse einbe‐ zogen zu werden. Tobt auf den einzelnen Feldern auch ein beständiger Kampf um Posi‐ tionen und Kapital, so bedeutet dies für Bourdieu deshalb gerade keine Desintegration der gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur. Vielmehr lasse sich daran erkennen, dass „nicht alle sozialen Widersprüche und Kämpfe zur Perpetuierung der herrschenden Ordnung im Widerspruch stehen“. 112 Den Klassenkampf hochdifferenzierter Gesellschaften vergleicht Bourdieu vielmehr mit einem Wettlauf, bei dem der Abstand der Teilnehmer trotz Beschleunigung und zurückgelegter Strecke gleich bleibt, weil der spezi‐ fische Abstand der Klassen gerade durch den dynamischen Konkurrenz‐ kampf der Einzelnen gesichert wird. 113 Entscheidend für die damit repro‐ duzierte „Struktur der Klassenbeziehungen“ und das zu einem bestimm‐ ten Zeitpunkt gegebene Kräfteverhältnis seien neben der „Verteilung der verschiedenen Kapitalarten“ auch die offizielle „Definition des Kampfein‐ satzes“ sowie die „Definition der legitimen Mittel“. 114 Die Felddynamik und der Stand der Auseinandersetzung bestimme auch, welche Güter sich als legitime Mittel der Auseinandersetzung um Kapital und strategische Machtpositionen gebrauchen lassen. 115

111 Bourdieu, Unterschiede, 366. Im Orig. teilw. kursiv. Es sei daher kein Beleg für „zyni‐ sches Kalkül“ (ebd., 371), sondern vielmehr für die homologe Koppelung der Felder, wenn einzelne Kulturprodukte, Religionspraktiken und Ideologien objektiv auf eine Klassenlage abgestimmt erscheinen. 112 Ebd., 272. Alle „Kontraststrategien“ (ebd., 368) setzen eine verborgene „Komplizen‐ schaft“ (Ebd., 389. Im Orig. kursiv) der in ein und dasselbe Spiel verstrickten Akteure voraus. Alle Teilnehmer an diesem Spiel seien sich „über den Einsatz zumindest soweit einig, daß sie ihn sich streitig machen können“, so dass man je nach Präferenz von „Einverständnis in der Feindseligkeit“ oder „Feindseligkeiten im Rahmen des Einver‐ ständnisses“ (ebd., 497) sprechen könne. 113 Vgl. ebd., 272 f. 114 Ebd., 381. Zu diesem Kampf um Legitimität und Offizialisierung bestimmter Praktiken vgl. besonders Bourdieu, Sinn, 198–204. 115 Vgl. Bourdieu, Unterschiede, 389. Der Einsatz unterschiedlicher „Machtinstrumente und Objekte der Auseinandersetzung“ ist aufgrund von Legitimitätszuschreibungen je

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Ist das Verhältnis von sozialem Konflikt und Stabilität der Sozialstruk‐ tur im Anschluss an Bourdieu dialektisch zu bestimmen, dann verschwin‐ det die schon von Geertz zurückgewiesene Alternative einer stabilisieren‐ den oder dynamisierenden Funktion der Religion vollends – vielmehr er‐ scheinen sozial stabilisierende Faktoren als Instrumente zur Reproduktion bestimmter Herrschaftsverhältnisse innerhalb eines höchst dynamischen Konkurrenzkampfs um legitime Machtausübung. Das religiöse Feld er‐ scheint somit als ein möglicher Austragungsort gesellschaftlicher Konflikte, wobei diese dann um religiöse Einsätze und nach religiösen ‚Spielregeln‘ als Kampf um symbolisches Kapital der religiösen Sorte geführt werden müssen. Dies erscheint nicht zuletzt attraktiv als ein möglicher Umweg für diejenigen, die von anderen Feldern ausgeschlossen oder für den direkten Machtkampf schlecht gerüstet sind. Denn falls es gelingt, auf dem religiösen Feld eine dominierende Position zu erringen und zu halten, lässt sich nicht nur religiöses Kapital vermehren, sondern dieses auch ‚ummünzen‘ und in andere Kapitalsorten konvertieren. c) Doxa, Orthodoxie, Heterodoxie Zur Beschreibung der konkreten Dynamik gesellschaftlicher Strukturen und zur Analyse der Entwicklung von Herrschaftsformen greift Bourdieu außerdem auf Begriffe zurück, die bereits unmittelbar religiös-theologische Konnotationen mitführen, nämlich: die Begriffe der Orthodoxie und der Heterodoxie. Mit ihrer Hilfe beschreibt er den Prozess einer Differenzie‐ rung einer Gesellschaft, durch den sich ein neues Machtgefüge einstellt: Der ausdrückliche Gegensatz von Orthodoxie und Heterodoxie löst das ur‐ sprünglich-unhinterfragte Einverständnis der Doxa ab. 116 Mit Doxa bezeichnet Bourdieu den Bereich des vorgängigen Konsenses (oder: common sense) einer Gesellschaft, der sowohl unaussprechlich ist als auch unhinterfragt gilt, mithin als naturhaft gegeben angesehen wird. Dabei verhülle die Doxa insbesondere die Herrschaftsverhältnisse, indem sie über die Ungleichverteilung von Macht und deren „spezifischen Willkürcha‐ rakter“ den Schleier naturgegebener Unterschiede breite. 117 Voraussetzung dieser Naturalisierung sind die Klassifikationsschemata des Habitus, die weitgehend „jenseits des Bewußtseins wie des diskursiven Denkens, folg‐ lich außerhalb absichtlicher Kontrolle und Prüfung agieren“. 118 In seiner nach Klassenlage ungleich legitim und zudem für die verschiedenen Akteure „ungleich effizient“ (ebd., 497). Deshalb sind gerade auch Klassifikationssysteme umkämpft. 116 Vgl. auch Saalmann, Bourdieu, 22. 117 Bourdieu, Entwurf, 324. Vgl. Bourdieu, Unterschiede, 332. 118 Ebd., 727. Darin gründe ihre „besondere Wirksamkeit“ (ebd.) – man könnte auch sagen: ihr Verhängnischarakter.

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vorbewussten Klassifikation greife der Habitus zurück auf eine „Matrix aller Gemeinplätze“, deren basale Gegensatzpaare sich selbst wiederum mit‐ tels dieser Klassifikationsakte reproduzieren und einverleiben. 119 So erzeu‐ gen die Schemata des Habitus eine unmittelbare, unhinterfragbare Evidenz durch „Harmonisierung der Erfahrungen und die ständige Verstärkung“ sprachlich-sozialer Redundanzen. 120 Die Ordnung der Sozialwelt ist im Zu‐ stand der Doxa so in die alltägliche Wahrnehmung und Sprache versenkt, dass sie gar nicht als rechtfertigungsbedürftig erscheint, sondern als selbst‐ verständlich und quasi-natürlich hingenommen wird. 121 Die Doxa kennt laut Bourdieu daher keine Meinungen oder Mehrheiten, sondern umschreibe ein „Gesamt von ‚Entscheidungen‘, deren Subjekt alle Welt und niemand ist, da sie schon in alle Ewigkeit getroffen sind und auch die Fragen, auf die sie antworten, nicht klar und deutlich gestellt werden können“. 122 Sie stehe damit „noch jenseits der Frage nach der Legitimi‐ tät“. 123 Durch soziale Umwälzungen, kulturelle Begegnungen, ökonomi‐ sche oder politische Krisen kann diese Doxa allerdings rissig werden: Wenn eine „objektive Krise“ das „unmittelbare Angepaßtsein der subjektiven an die objektiven Strukturen aufbricht“, kann es laut Bourdieu dazu kom‐ men, dass „das Undiskutierte zur Diskussion, das Unformulierte zu seiner Formulierung“ drängt. 124 Erst aufgrund eines solchen Bruchs werden „die bewußte Systematisierung und explizite Rationalisierung“ notwendig, die „den Übergang von der Doxa zur Orthodoxie kennzeichnen“. 125 Habe sich 119 Ebd., 730 f. Im Orig. teilw. kursiv. Zu diesen Gegensatzpaaren gehören etwa: hoch/tief, fein/grob, weit/eng, frei/gebunden, glänzend/matt, spirituell/materiell oder einzigar‐ tig/gewöhnlich. In solchen Klassifikationen des Alltags liegen die „mythischen Wurzeln“ (ebd., 730) aller Ideologieproduktion und Soziodizee, da in ihnen nicht die „logische Ko‐ härenz“, sondern immer schon eine praktische Logik der „Parteinahme“, der „Anklage und Verteidigung“ (ebd., 742) walte. Vgl. Bourdieu, Sinn, 42. 120 Ebd., 108. Vgl. ebd. 159, Anm. 1. 121 Vgl. Bourdieu, Entwurf, 325: „Im Grenzfall, d. h. wenn die Koinzidenz zwischen ob‐ jektiver Ordnung und den subjektiven Organisationsprinzipien gleichsam vollkommen ist (wie in den archaischen Gesellschaften), erscheint die natürliche und soziale Welt schließlich als selbstverständlich vorgegebene“. 122 Ebd., 330. Vgl. Bourdieu, Sinn, 244: „Am zuverlässigsten sind die ideologischen Wir‐ kungen, zu deren Entfaltung es keiner Worte, sondern nur der Duldung und des still‐ schweigenden Einvernehmens bedarf“. 123 Bourdieu, Entwurf, 330. Eine typische Form der Doxa ist die Tradition: „Die Tradition ist schweigsam – schweigt sich vor allem aus über sich als Tradition“ (ebd.). 124 Ebd., 331. Dagegen gelte auch umgekehrt: „Der Umfang des Feldes der Doxa, also des‐ sen, was stillschweigend als selbstverständlich hingenommen wird, ist desto größer, je stabiler die objektiven Strukturen einer jeweiligen Gesellschaftsformation sind“ (ebd., 327). 125 Ebd., 332. Dieser vollziehe sich immer, wenn „die Hüter der etablierten Ordnung die Produktionsprinzipien dieser ebenso realen wie vorgestellten Ordnung explizieren, sys‐

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allerdings auf diesem Wege einmal ein Feld der Meinungen herausgebildet, sei dieser Übergang nicht mehr rückgängig zu machen: „Die Orthodoxie, diese rechte, oder eher zurechtgebogene Meinung, die, was im‐ mer sie auch tun mag, den ursprünglich unschuldigen Zustand der Doxa nicht zu restaurieren vermag, besitzt Existenz allein in der objektiven Beziehung, die sie mit der Heterodoxie verbindet, d. h. allein in Bezug auf die Wahl – airesis, Häresie – , die durch das Bestehen konkurrierender Mitmöglichkeiten ermöglicht wird, und in bezug auf die explizite Kritik jener Gesamtheit nicht-getroffener Entscheidungen, die in der herrschenden Ordnung impliziert ist“. 126

Von der orthodoxen oder heterodoxen Überzeugung unterscheide die Doxa gleichermaßen, dass jene notwendig „eine Kenntnis und Anerken‐ nung der Möglichkeit von unterschiedlichen und antagonistischen Über‐ zeugungen“ einschließen. 127 Damit umschreiben Orthodoxie und Hete‐ rodoxie gemeinsam und gleichursprünglich das Universum des Diskur‐ ses – im Gegensatz zur Doxa als dem Universum des Undiskutierten, der nicht-hinterfragbaren und nicht-artikulierbaren Voraussetzungen. Der Be‐ reich der orthodoxen, d.h. offiziell und institutionell mit Legitimation ver‐ sehenen Meinung sowie deren Verhältnis zur Doxa sind laut Bourdieu zwi‐ schen den Klassen und Klassenfraktionen umkämpft. Seien die beherrschte Klasse und die unterlegenen Fraktionen der herrschenden Klasse daran interessiert, „die Schranken der Doxa zurückzuversetzen und den Will‐ kürcharakter des Selbstverständlichen bloßzustellen“, habe die herrschende Klasse ein Interesse daran, „die Integrität der Doxa zu wahren oder, sollte dies mißlingen, deren zwangsläufig unvollkommenen Ersatz in Form einer Orthodoxie zu restaurieren“. 128 Es lässt sich hier bereits festhalten, dass Orthodoxie bei Bourdieu eine ambivalente Rolle einnimmt: Verglichen mit der ursprünglichen Doxa stellt sie einen Fortschritt auf dem Weg der Bewusstwerdung über den Will‐ kürcharakter der Machtverhältnisse dar. Sie ist eine artikulierte Meinung,

tematisieren und kodifizieren, kurzum: die Doxa in Orthodoxie verwandeln müssen, um sie auf diese Weise gegen die Anfechtungen der Häretiker abzudichten“ (Bourdieu, Unterschiede, 748). Dies ist für Bourdieu auch der Entstehungskontext aller expliziten Vorstellungen von Beruf und Amt. 126 Bourdieu, Entwurf, 332. Ähnlich, aber auf gewisse Weise hinsichtlich der Machtdimen‐ sion entschärft, funktioniert der „Zwang zur Häresie“, den Peter L. Berger als charakte‐ ristisches Merkmal der Gegenwart identifiziert. Vgl. Berger, Zwang. 127 Bourdieu, Entwurf, 325. 128 Ebd., 151. Als Sonderfall begegnet bei Bourdieu außerdem die Allodoxie. Dabei handelt es sich um ein besonders eifriges, aber letztlich scheiterndes Bemühen von Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Position von einem legitimen Erwerbsmodus ausgeschlossen sind, sich eine kulturelle Orthodoxie anzulernen, vgl. Bourdieu, Unterricht, 503-515.

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damit grundsätzlich als nicht-naturgegebene Setzung durchschaut und so für die Einzelnen auch prinzipiell einsichtig oder kritisierbar. Nicht von der offenen und kritisierbaren Macht der Orthodoxie, sondern von den un‐ willkürlich wirksamen Mustern, die sich durch die eingeprägten Habitus‐ formen unbewusst reproduzieren, geht eine im Wortsinn fatale repressive Macht aus. Wird durch den Übergang zur Orthodoxie zwar ein Freiheits‐ spielraum sichtbar, rehabilitiert und legitimiert diese doch die in der Krise zunächst fraglich gewordenen Herrschaftsstrukturen. 129 Für das Lehrpro‐ blem ist hier die Einsicht in die Gleichursprünglichkeit von Heterodoxie und Orthodoxie hervorzuheben. Auf dieser Grundlage ist der Anspruch der Orthodoxie zu relativieren, die einzig legitime Erbin der ursprünglichen Doxa zu sein, und das Konkurrenzverhältnis verschiedener ‚-doxien‘ auf dem Feld der Meinungen seiner moralischen Konnotationen zu entkleiden. Auch die Machtdimension jeder Entscheidung zwischen herrschender und verworfener Lehre sowie die Verflechtung solcher Entscheidungsprozesse mit den Interessen verschiedener Klassen und Klassenfraktionen werden damit sichtbar. 2.2.2 Die Dynamik des religiösen Feldes Aufgabe der Religionssoziologie, wie Bourdieu sie im Rahmen dieser theo‐ retischen Grundbegriffe konzipiert, ist nun, von der Interaktion einzelner Akteure auf dem religiösen Feld zu einer „Konstruktion der objektiven Be‐ ziehungen zwischen den Positionen“ dieses Feldes zu gelangen. 130 Konsti‐ tuiert sei dieses religiöse Feld durch „Konkurrenz um die religiöse Macht“, wobei insbesondere das „Monopol der legitimen Ausübung der Macht auf dem Spiel steht, dauerhaft und tiefgreifend Einfluss auf die Praxis und Weltsicht der Laien zu nehmen“. 131 Es geht also um die Legitimation, Laien einen bestimmten religiösen Habitus einzuprägen. Diese Einprägung ei‐ nes religiösen Habitus ist nach Bourdieu möglich, weil „Leib und Sprache 129 Durch diese restaurative Funktion bleibt sie für Bourdieu hinter der wissenschaftlichen Bewusstwerdung zurück, ja: nimmt mit Blick auf diese eine zwiespältige Rolle ein, vgl. Bourdieu, Sinn, 187–189. Sie verleite außerdem den Soziologen zum objektivistischen Missverständnis, die Praxis als tatsächlich regelgeleitetes und normiertes Handeln zu verstehen. 130 IdR, 10. Religionssoziologisch schließt Bourdieu an K. Marx, M. Weber und É. Durk‐ heim an, mit denen er drei mögliche Grundtypen der klassischen Religionssoziologie identifiziert, vgl. GSrF, 30. Wird die zentrale Rolle der Religionssoziologie für die Ent‐ wicklung der Theorie Bourdieus und insbesondere die Entdeckung des Feldbegriffs all‐ gemein anerkannt, wird dieser Ausschnitt seines Werkes dennoch wenig rezipiert. Vgl. Müller, Bourdieu, 82 f. Vgl. auch Rehbein, Art. Religion. 131 IdR, 17.

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wie Speicher für bereitgehaltene Gedanken fungieren“. 132 Müssen religiöse Praktiken und Rituale dem distanzierten Beobachter als sinnlose Versuche erscheinen, „auf die Dingwelt einzuwirken wie auf die Sozialwelt“, handle es sich vielmehr um „zugleich sinnvolle und sinnlose“ Vollzüge, die sich die „sogar und vor allem im Leerlauf Alltagssinn erzeugende Logik einer Sprache und eines Leibes“ zunutze machten. 133 Auf diesem Wege könne die „stille Pädagogik“ der Habitualisierung langsam und kontinuierlich auf die „zutiefst verborgenen verbal-motorischen Zentren“ einwirken, ja: in unscheinbaren Gesten und Haltungen des Körpers eine „komplette Kosmo‐ logie, Ethik, Metaphysik und Politik“ verankern. 134 Illustrieren ließe sich diese verleiblichende Einprägung eines religiösen Symbolsystems etwa am Beispiel der katholischen Messe mit ihren Verneigungen, dem Knien und Sich-Bekreuzigen, oder am muslimischen Ritualgebet. Wie auf allen Feldern werde auf dem religiösen Feld eine besondere Kapitalart akkumuliert und reproduziert, nämlich durch „die von speziali‐ sierten Akteuren verrichtete religiöse Arbeit, die gegenüber externen, vor allem ökonomischen Zwängen relativ autonom und mit institutioneller und nicht-institutioneller Macht versehen sind“. 135 Und auch hier spiegeln die Ausgangspositionen der einzelnen Akteure die Geschichte vergange‐ ner Kämpfe wieder. 136 Entsprechend ist eine geschichtliche Konstellation des religiösen Feldes zwar durch die Verteilung des religiösen Kapitals zu beschreiben, aber nur genetisch unter Einbeziehung einer historischen Perspektive angemessen zu verstehen. Dies ist auch für die Interpretation religiöser Orthodoxiestrukturen und Lehrfixierungen zu berücksichtigen, die aus den Kämpfen auf dem religiösen Feld hervorgegangen sind und dabei tendenziell als religiöses Kapital die Position der Sieger legitimieren.

132 Bourdieu, Sinn, 127. So gelte grundsätzlich: „Der Leib glaubt, was er spielt“, denn dieser „ruft sich nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus“ (ebd., 135. Herv. im Orig.). 133 Ebd., 175 f. Herv. im Orig. 134 Vgl. ebd., 128. 135 IdR, 7. Das religiöse Feld sei weder bloßer Reflex ökonomischer oder sozialer Bedin‐ gungen (so Bourdieu gegen Marx), noch diesen gegenüber völlig autonom (gegen ein bestimmtes Selbstverständnis religiös Praktizierender). 136 Vgl. ebd., 19: „Die materielle und symbolische Kraft, die die unterschiedlichen Instanzen (Akteure und Institutionen) in ihrem Kampf um das Monopol auf die legitime Aus‐ übung der religiösen Macht mobilisieren können, variiert je nach Zustand des Feldes in Abhängigkeit ihrer Position innerhalb der objektiven Struktur der spezifisch religiösen Autoritätsbeziehungen, also in Abhängigkeit von der Autorität und Macht, die sie vor‐ her in diesem Kampf haben erringen können“.

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a) Die Konkurrenzbeziehungen religiöser Akteure Die Dynamik des religiösen Feldes und damit der religiöse Wandel lassen sich laut Bourdieu weitgehend mit Hilfe universeller Interaktionsmuster zwischen einer begrenzten Anzahl idealtypischer Akteure erklären: „Die Konkurrenzbeziehungen, welche die unterschiedlichen Spezialisten inner‐ halb des religiösen Feldes einander gegenüberstellen und bei denen die Laien den Ausschlag geben, sind das dynamische Element des religiösen Feldes“. 137 Denn unabhängig von der historischen Konfiguration ließen sich „invariante Beziehungen“ zwischen den „Positionen, Dispositionen und Strategien von Spezialisten“ konstruieren, die in unterschiedlichen Zu‐ ständen des Feldes „strukturell äquivalente Positionen einnehmen“. 138 Mit Max Weber identifiziert Bourdieu als typische Spezialisten den Priester, den Prophet, den Magier sowie als vierten Akteur die Gruppe der nichtspezialisierten Laien, wobei jedem der drei religiösen Spezialisten eine cha‐ rakteristische Gruppenstruktur zugeordnet ist. 139 Konkurrieren die Spezialisten um Einfluss auf die Laien, erwarten diese wiederum von den Spezialisten im Gegenzug eine Botschaft, die „dem Le‐ ben einen einheitlichen Sinn zu verleihen vermag“. 140 Diese religiösen In‐ teressen der Laien bringt Bourdieu auf den gemeinsamen Nenner einer „soziale[n] Theodizee“ 141 bzw. der „Soziodizeen“. 142 Ihr Bedürfnis nach Sinnstiftung betreffe allgemein eine Rechtfertigung ihres Daseins, das von Misserfolg, Leid und Tod bedroht sei, aber darüber hinaus immer auch spe‐ zifische „gesellschaftliche Rechtfertigungen dafür, eine bestimmte Position innerhalb der Sozialstruktur einzunehmen“. 143 Müssten die herrschenden Klassen überwiegend an einer ‚Theodizee des Glücks‘ (M. Weber) und reli‐ giösen Überhöhung der Herrschaftsverhältnisse interessiert sein, erhofften sich die beherrschten Klassen die Erlösung von ihrem Leid und eine reli‐ giöse Aufwertung ihrer benachteiligten Lage. Die Religion werde also un‐ vermeidlich in den Kampf der Klassen hineingezogen. 144 In diesem Kampf 137 GSrF, 59. 138 Ebd., 63. Vgl. auch Bourdieu, Auflösung, 243. 139 In dieser universellen Typologie religiöser Akteure sowie dem Konzept der Träger‐ gruppen sieht Bourdieu den bleibenden Beitrag M. Webers zur Religionssoziologie. Der Typus des Magiers wird aufgrund der Fokussierung dieser Arbeit auf das Verhältnis von Orthodoxie und Häresie im Folgenden keiner genaueren Betrachtung unterzogen. 140 IdR, 15. Herv. im Orig. 141 Ebd. 142 GSrF, 57. 143 IdR, 15. Vgl. GSrF, 56 f. 144 Analog gilt für die Religion, was Bourdieu bezüglich der Kunst festhält: Es gebe „keine Auseinandersetzung um Kunst, bei der es nicht auch um eine Durchsetzung eines Le‐

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erfülle sie für die Individuen, einzelne Gruppen sowie die Gesellschaft als Ganze eine „praktische und politische Funktion der Verabsolutierung des Relativen und der Legitimierung des Willkürlichen“. 145 Diesen Legiti‐ mationseffekt durch das geschichtlich strukturierte Strukturierungsprinzip eines religiösen Habitus sowie dessen Verdoppelung durch religiöse Ideolo‐ gien bezeichnet Bourdieu als die „Konsekrationswirkung“ der Religion. 146 Bourdieu wendet seine allgemein-soziologischen Konzepte von Doxa, Orthodoxie und Heterodoxie nun auch auf das religiösen Feld an, dem diese Kategorien ursprünglich entstammen. Hier zeige sich, dass die Exis‐ tenz eines religiösen Feldes mit seinen Spezialisten immer schon den Bruch mit einer noch undifferenzierten, traditionalen Gesellschaftsform voraus‐ setze. Im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung vollziehe sich eine „Monopolisierung der Verwaltung von Heilsgütern durch ein Korps von religiösen Spezialisten“ einschließlich einer „objektiven Enteignung“ der Laien, die ihres religiösen Kapitals und zugleich der legitimen Möglichkei‐ ten beraubt werden, sich auch religiös als Selbstversorger zu betätigen. 147 Als Voraussetzung dieser Spezialisierung und Monopolbildung spielt ne‐ ben der Stadtkultur und ihrer sozialen Differenzierung auch der Übergang zur Schriftkultur eine wichtige Rolle. Denn erst dort, wo sich der „Übergang von einer rein mündlichen Überlieferung zum schriftlichen Sammeln“ und die „Objektivierung im Schriftlichen“ vollzogen habe, sei eine „Desinkar‐ nation“ des kulturellen Kapitals möglich. 148 Diese Transformation erlaube der schriftkundigen Elite schließlich eine „ursprüngliche Akkumulation“ der „vordem nur einverleibt bewahrten Kultur“ – und damit eine „totale oder teilweise Monopolisierung der symbolischen Mittel Religion, Philo‐ sophie, Kunst, Wissenschaft“. 149 Schriftlichkeit und religiöse Orthodoxie erscheinen so in einem engen Zusammenhang, weshalb auch die Schrift für Bourdieu eine ambivalente Errungenschaft darstellt – sie ermöglicht

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bensstiles ginge, will heißen die Umwandlung einer willkürlichen Lebensform in eine legitime, die jede andere Form in die Sphäre der Willkürlichkeit verbannt.“ (Bourdieu, Unterschiede, 106). GSrF, 54. Ebd. Ebd., 45. Historische Initialzündung für die „Herausbildung eines relativ autonomen religiösen Feldes“ (ebd., 39) sei folglich das Aufkommen der Stadtkultur, weil die damit verbundene Differenzierung gesellschaftlicher Funktionen auch ein „Korps von Spezia‐ listen der Verwaltung von Heilsgütern“ (ebd., 41) hervorgebracht habe. Bourdieu, Sinn, 136. Ebd., 227 f. Im Orig. teilw. kursiv. Damit werden nicht zuletzt die anthropologischen Grenzen des Einzelgedächtnisses überwunden, dessen Fähigkeiten zuvor durch „Rede‐ wendungen, Sprichwörter, Reimsprüche, Lieder oder Rätsel“ (ebd., 137) und allgemein das Spiel mit Strukturen gestützt werden mussten.

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nicht nur die Erweiterung, Organisation und Sicherung von Wissen, son‐ dern hilft zunächst auch den schriftkundigen Spezialisten, ihre Machtposi‐ tion gegenüber den Laien auszubauen. Das Auftreten solcher Spezialisten und die ursprüngliche Akkumulation von religiösem Kapital treiben auch deshalb die Ethisierung, Systematisierung und Rationalisierung der Glau‐ bensinhalte sowie der religiösen Praktiken voran. Im ungebrochen mythischen Bewusstsein bleibe diese Enteignung der Laien durch die Spezialisten – in der Regel: eine Priesterkaste – aller‐ dings noch verschleiert. Aufgebrochen werde diese Doxa erst durch einen prophetischen Diskurs, wie er allein in Krisenzeiten aufkommen könne, weil „wirtschaftliche oder morphologische Wandlungen einen Zusammen‐ bruch, eine Schwächung oder ein Obsoletwerden von Traditionen oder Wertsystemen herbeiführen“. 150 Das krisenhafte Zusammenspiel der Struk‐ turen mit den Habitusformen bringe in dieser Situation Individuen mit der besonderen Fähigkeit und dem Sendungsbewusstsein hervor, „mit ein‐ zigartigem Nachdruck und besonderer innerer Stimmigkeit“ die in ihrer potentiellen Trägergruppe bereits vorhandenen „ethischen oder politischen Stimmungen zu empfinden und zum Ausdruck zu bringen“. 151 Dem religi‐ ösen Akteur des Propheten entspreche die religiöse Vergemeinschaftungs‐ form der Sekte, die sich im Unterschied zum Priesterkult „durch die ten‐ denzielle Ablehnung der Delegierung religiöser Verantwortung an profes‐ sionelle Akteure“ auszeichne. 152 Die Mehrdeutigkeit einer prophetischen Botschaft ermögliche meist verschiedenen Hörern „ein Einvernehmen im Missverstehen“, was der Anhängerschaft einer solchen Botschaft erlaube, sozial über die ursprünglichen Adressaten des Propheten auszugreifen und zu wachsen. 153 Die prophetische Sekte tritt damit in offene Konkurrenz zur herrschenden religiösen Ordnung, deren Repräsentanten sich zu ihrer Ver‐ teidigung unweigerlich als Orthodoxie formieren müssen. Ein polarisiertes Feld religiöser Überzeugungen hat sich herausgebildet. Je nachdem, wie der nun folgende Kampf um die Gunst der Laien ver‐ läuft, hat am Ende entweder die Orthodoxie die prophetische Infragestel‐ lung abgewehrt und absorbiert, oder die Sekte kann sich selbst als offizieller Kult mit eigener Orthodoxie konsolidieren. Weil sich das prophetische Charisma aber nur begrenzt delegieren, institutionalisieren und reprodu‐ zieren lasse, erweise sich die religiöse Sozialform der Kirche einer Sekten‐ 150 IdR, 23. 151 Ebd., 24. Dabei ist für Bourdieu das Charisma solcher Propheten keine persönliche Qua‐ lität, sondern ein Oberflächenphänomen sozialer Mechanismen. Vgl. auch Bourdieu, Sinn, 257. 152 GSrF, 70. 153 IdR, 24.

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gemeinschaft zu diesem Zweck als strukturell überlegen. 154 Um sich dau‐ erhaft als religiöse Gemeinschaft mit bürokratischem Apparat zu halten, müsse dann gleichermaßen ein Korps spezialisierter religiöser Produzen‐ ten wie der Absatzmarkt für die so produzierten Heilsgüter reproduziert werden. Ein stetiger Bedarf an Heilsgütern setze nämlich voraus, dass auch die Laien als „Konsumenten mit einem Minimum an religiöser Kompetenz (einem religiösen Habitus) ausgestattet“ sind. 155 Neben das Erfordernis, eine Priesterschaft grundsätzlich austauschbarer Amtsträger auszubilden, tritt folglich die Daueraufgabe einer basalen Unterweisung der Laien. b) Die Sozialform Kirche Der Ursprung der Sozialform Kirche liegt für Bourdieu somit in einer Ver‐ alltäglichung des prophetischen Charismas zum Amts- oder Anstaltscha‐ risma eines rationalisierten, auf Dauer gestellten religiösen Betriebs. Einer solchen Heilsanstalt wohne allerdings eine dialektische Spannung inne: „Je näher die Priesterschaft [...] daran ist, das de facto Monopol der Verwaltung der Heilsgüter zu halten, umso divergierender, ja sogar widersprüchlicher sind die religiösen Interessen, auf die ihre homiletische und seelsorger‐ liche Aktivität antworten muss“. 156 Hier erweise sich die Mehrdeutigkeit der ursprünglichen prophetischen Botschaft erneut als Vorteil, da diese Offenheit „bewusst oder unbewusst vorgenommenen Uminterpretationen“ ermögliche und damit sozial verschiedenen Trägergruppen eine Aneignung erlaube. 157 Bemerkenswert ist, dass Bourdieu hier nicht die Eindeutigkeit und Klarheit, sondern vielmehr die Mehrdeutigkeit und Deutungsoffen‐

154 Vgl. GSrF, 65: „Die dauernde Verwaltung des Vorrats an religiösem Kapital, welches das Produkt der akkumulierten religiösen Arbeit ist, und die notwendige religiöse Ar‐ beit, die für die Gewährleistung der Fortdauer dieses Kapitals durch die Gewährleistung der Wahrung und Wiederherstellung des symbolischen Marktes, auf dem es gültig ist, können nur durch einen bürokratischen Apparat erbracht werden, der, wie eine Kirche, dauerhaft zum Vollzug des zur Sicherung seiner eigenen Reproduktion notwendigen kontinuierlichen, d.h. gewohnheitsmäßigen Handelns imstande ist“. 155 Ebd. 156 IdR, 27. Diese seelsorgerliche und homiletische Herausforderung entspricht der poli‐ tischen Mobilisierungsproblematik, die Bourdieu als „Dialektik von Allgemeinem und Besonderem“ (Bourdieu, Unterschiede, 681) beschreibt. Immer müsse dabei auf die konkrete Situation eingegangen, aber zugleich „über den in Partikularität verstricken‐ den, folglich isolierenden Einzelfall“ (ebd. Im Orig. teilw. kursiv) hinausgegangen wer‐ den, um die Sammlung unter einer geteilten Leitidee zu erreichen. 157 IdR, 27. Vgl. GSrF, 61: „Die religiösen Repräsentationssysteme erwecken den Anschein von Einheitlichkeit nur dadurch, dass sie hinter einem Minimum an gemeinsamen Dog‐ men und Riten die von ihnen autorisierte Vielfalt der abweichenden, ja sogar gegensätz‐ lichen Interpretationen verschleiern. Jede der großen Weltreligionen gibt Stoff für eine solche Pluralität von Lesarten“.

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heit einer prophetischen Botschaft als konstitutiv für die Stabilität der aus ihr hervorgegangenen Kirche und ihrer Herrschaftsstruktur betrach‐ tet. Gleichzeitig sei in dieser Mehrdeutigkeit und internen Pluralität der Aneignungsformen jedoch immer schon die Möglichkeit neuer Häresien angelegt: „Jede Sekte, der es gelingt, zur Kirche, also zur mit ihren Hier‐ archien und ihren Dogmen identifizierten Bewahrerin und Hüterin einer Orthodoxie zu werden, ist aus diesem Grund dazu bestimmt, eine erneute Reformation auszulösen“. 158 Sobald eine Kirche sich das „Monopol auf die Heilsinstrumente“ gesi‐ chert hat, muss sich laut Bourdieu allerdings der Kampf um die religiöse Macht als „Konflikt zwischen Orthodoxie und Häresie“ vollziehen. 159 Da‐ bei lasse sich ein typisches, nahezu konstantes Muster beobachten: Ein theologischer oder kirchenpolitischer „Konflikt um die spezifische religi‐ öse Autorität zwischen den Spezialisten“ führe dazu, dass die Legitimität der Hierarchie bestritten wird. 160 Diese Bestreitung kirchlicher Autorität gehe in Häresie über, sobald sich im Rahmen einer Krisensituation die „Infragestellung der Konzentration des kirchlichen Monopols durch eine Fraktion des Klerus“ mit den „antiklerikalen Interessen einer Fraktion der Laien“ verbinden könne. 161 Wie schon beim Kampf zwischen Kirche und Sekte bilden also die religiösen Interessen der Laien das entscheidende Na‐ delöhr: Aus einem klerikalen Schisma könne nur eine populäre Häresie werden, wenn „die Struktur der Konkurrenzverhältnisse im innerkirchli‐ chen Machtkampf ihm die Möglichkeit eröffnet, sich mit einem ‚liturgi‐ schen‘ und kirchlichen Konflikt“ zu verbinden. 162 Aufgrund dieses Kon‐ fliktmusters und ihren strukturellen Ermöglichungsbedingungen gleichen sich Häresien so auffallend in ihren Inhalten, Praktiken und Themen. Be‐ sonders riskant ist für die herrschende Orthodoxie ein gut ausgebildeter, aber auf subalternen Positionen festgehaltener Klerus: der Typus des de‐ klassierten religiösen Intellektuellen.

158 Ebd., 66. 159 Ebd., 71. Dieser ist auf der Stufe des entfalteten religiösen Feldes ein „Homolog zum Konflikt zwischen Kirche und Prophet“ (ebd.) in der vorangegangenen Phase der Her‐ ausbildung des religiösen Feldes. Vgl. zu dieser Struktur des innerkirchlichen Konflikts auch Rahner, Häresie, 527–529. 160 GSrF, 71. Auch unabhängig von solchen offenen Konflikten ist die Hierarchie der Kirche immer umkämpft, weil erst diese Auseinandersetzungen zwar „nicht den Glauben in den Geltungswert dieses oder jedes Einsatzes, wohl aber in den Wert des Spiels erzeugen“ (Bourdieu, Unterschiede, 153, Anm. 98). 161 GSrF, 71. 162 Ebd., 71 f. Liturgisches Handeln wirkt für Bourdieu unmittelbar auf die Reproduktion des religiösen Habitus ein und erscheint damit als tendenziell vorgängig gegenüber der Sphäre theologischer Auseinandersetzungen.

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Wie und warum kommt es nun zur Aufrichtung einer Orthodoxie? Die herrschende Priesterschaft einer Kirche steht vor der Herausforderung, An‐ griffe auf ihr religiöses Monopol durch äußere Konkurrenz (z.B. andere Kirchen, prophetische Sekten) sowie durch innere Infragestellung (z.B. Laienintellektualismus, deklassierte Fraktionen des Klerus) abzuwehren. Dazu muss sie sich „mit gleichermaßen einheitlichen, kohärenten und di‐ stinktiven Instrumenten des symbolischen Kampfes wappnen“, und zwar „auf der Ebene des Rituals wie auf dogmatischem Gebiet (Lehrkorpus)“. 163 Sie muss also gleichzeitig versuchen, ihre Binnenintegration als Glaubens‐ gemeinschaft zu festigen und sich gegen andere Glaubensgemeinschaften abzugrenzen. Dies führe tendenziell „zur Betonung der Unterscheidungs‐ zeichen und -lehren, um gegen Indifferenz anzukämpfen und zugleich den Übertritt zur konkurrierenden Religion zu erschweren“. 164 Bei Bourdieu erfüllt die Ausbildung von Orthodoxiestrukturen für die Priesterschaft so‐ mit drei Zwecke: Erstens die Umwandlung des prophetischen Charismas zu einer auf Dauer stabilen Heilsökonomie mit austauschbaren, speziell qua‐ lifizierten Kultusbeamten, welche wiederum den Laien einen einheitlichen religiösen Habitus einprägen können. Zweitens die kasuistische Anpassung der mehrdeutigen Botschaft an die religiösen Interessen der verschiede‐ nen Laiengruppen, mit denen man es innerhalb einer Gesellschaft zu tun hat. Drittens die Zurüstung der eigenen Priesterschaft für den Kampf mit konkurrierenden Spezialisten. Diese Orthodoxiestrukturen sind für die In‐ volvierten, die sich in ihnen bewegen und sich ihrer bedienen, unweigerlich zweischneidig: „Das Brevier und das Gebetbuch fungieren dabei ebenso als Gedächtnisstütze wie als Zwangsjacke, durch die eine Ökonomie der Im‐ provisation zugleich gewährleistet und unterbunden wird“. 165 Diese Ambivalenz verbindet angeeignete Orthodoxiestrukturen mit den Habitusformen, den sie als erlernte habitusähnliche Strukturen entwe‐ der verstärkend verdoppeln oder verzerrend modifizieren. Darüber hinaus läuft die Fixierung und Vereindeutigung der prophetischen Botschaft als Orthodoxie immer Gefahr, die sozialen Konflikte selbst hervorzubringen, gegen die sie eigentlich wappnen soll – und damit die eigene Zersetzung oder Ablösung zu provozieren. Religiöse Lehre als typisches Beispiel einer Orthodoxiestruktur schillert für Bourdieu somit zwischen einem Repressi‐ onsinstrument, einem notwendigen Reproduktionsmittel kirchlicher Insti‐ tutionen und einer Ermöglichungsbedingung relativer Freiheit. Als wich‐ 163 IdR, 27. 164 Ebd., 28. 165 Ebd., 29. Vgl. die analoge Dialektik politischer Formeln in Bourdieu, Unterschiede, 679. Vgl. außerdem die Analyse des politischen „Habitus als eines inkorporierten Pro‐ gramms“ (ebd., 666), ebd., 665–669.

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tige Frage erscheint dann, welcher Aspekt jeweils dominiert und ob sich darauf theologisch einwirken lässt. c) Offizialisierung und Einverleibung Zusammen genommen bilden Doxa und Orthodoxie die Sphäre des Legiti‐ men, die einen Bereich des unhinterfragt-unhinterfragbaren common sense sowie die Gesamtheit der offiziellen Definitionen legitimer Praktiken um‐ fasst. Die Geltung einer offiziellen Definition ist laut Bourdieu nun ganz unabhängig davon, ob sie im Handeln der Individuen als Regel tatsächlich befolgt wird, da sie auch bei ständiger Zuwiderhandlung die „Wahrheit der für schicklich gehaltenen Praktiken“ bleiben und als „Ehrenmoral“ allge‐ mein anerkannt sein könne. 166 Eine besondere Rolle spielen hier „Stra‐ tegien zweiter Ordnung“, mittels derer man auch bei Regelabweichungen „den Erfordernissen der offiziellen Regel dem Scheine nach zu genügen“ versuche, um auf diesem Wege „das Ansehen oder die Achtung einzuheim‐ sen“. 167 Offiziell in Geltung steht also nicht nur das, was als Regel des Ver‐ haltens tatsächlich anerkannt und befolgt wird, sondern was Individuen zur Beachtung zwingt. Was nicht aufgrund der Zugehörigkeit zum Bereich der Doxa als qua ‚Natur‘ legitim gilt und auch nicht notwendig am faktischen Verhalten der Menschen aufweisbar ist, bedarf somit einer Offizialisierung: „Offizialisierung ist der Prozeß, durch welchen die Gruppe (oder ihre Herrschenden) sich ihre eigene Wahrheit beibringt und verschleiert, indem sie sich im öffentlichen Bekenntnis zusammenfindet, mit dem ihre Aussage legitimiert und durchgesetzt wird, wobei sie stillschweigend die Grenzen zwischen dem Denkbaren und dem Un‐ denkbaren definiert und so zur Erhaltung der Gesellschaftsordnung beiträgt, aus der sie ihre Macht ableitet.“ 168

Jede Offizialisierung gehe einher mit „kollektiven und öffentlichen Mani‐ festationen wie Großritualen, feierlichen Abordnungen und Prozessionen“, bei denen „sich die Gruppe in ihrem Umfang und ihrer Struktur zur Schau stellt“. 169 Bourdieu weist daher der gemeinschaftlich praktizierten Religion eine grundsätzlich die Herrschaftsverhältnisse stützende und legitimierende Funktion zu. Diese erfülle die Religion dabei nicht zusätzlich zu ihren reli‐ giösen Funktionen, sondern gerade durch die genuin religiöse „Aufrechter‐ haltung der symbolischen Ordnung“, die zur Anerkennung „privilegierter Punkte im kosmischen wie im politischen Raum“ zwinge und damit Hier‐

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Bourdieu, Sinn, 203. Ebd., 200. Ebd. Herv. im Orig. Ebd., 198.

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archie naturalisiere. 170 Bourdieus Theorie der rituellen Offizialisierung legt die schon mit Geertz festgehaltene Vermutung nahe, dass auch die Geltung religiöser Symbolsysteme und damit auch anerkannter Lehrsätze auf ge‐ meinschaftlichen rituellen Vollzügen aufbaut und sich durch diese befestigt. Dabei erscheint gerade mit Blick auf religiöse Lehren plausibel, dass diese weiterhin in Geltung stehen und als offizielles Ideal anerkannt sein können, obwohl sie im Verhalten religiöser Individuen keine Befolgung finden oder als Normen des Verhaltens sogar regelmäßig verletzt werden. Diese legitimierenden und offizialisierenden Effekte können nun noch einmal verstärkt werden, wenn die „normative Beschreibung“ der offiziel‐ len Inszenierungen mittels eines „(auf unterschiedliche Weise) aufgezwun‐ genen Unterrichts durch eine spezifische Anstalt“ einer großen Zahl von Menschen als kultivierter Habitus eingeprägt, ja körperlich eingeschrie‐ ben wird. 171 Auf der Grundlage eines Lernens durch schlichte Gewöhnung und stille Pädagogik können „Strukturübungen“ aufbauen, die eine „prak‐ tische Meisterung der grundlegenden Schemata“ einer Gesellschaft durch „Handlungen im strukturierten Raum und in der strukturierten Zeit“ ver‐ mittle. 172 Mit Bezug auf das religiöse Feld nahe, hier die Bedeutung der Liturgie hervorzuheben. Darüber hinaus könne es auch zur „expliziten und ausdrücklichen Übertragung durch Vorschriften und Regeln“ kommen. 173 Bedingung sei dafür allerdings eine „Institutionalisierung“ und „Objek‐ tivierung“ der pädagogischen Arbeit, die es den Lehrenden ermöglicht, „praktische Schemata zu formulieren und zu ausdrücklichen Normen zu erheben“. 174 Dies leisten im religiösen Fall etwa Katechismen, religiöser Unterricht und nicht zuletzt theologische Ausbildung. Im Idealfall wirken alle genannten Ebenen in wechselseitiger Verstärkung zusammen. 175 Mit Hilfe dieser Ebenenunterscheidung lassen sich hinsichtlich der religiösen Bildung unwillkürliche Sozialisation, kirchlich-liturgische Einübung und pädagogisch-rationale Unterweisung in der Lehre voneinander abgrenzen.

170 GSrF, 80 f. Die „Taxonomien des mythisch-rituellen Systems trennen und vereinigen in einem, legitimieren die Einheit in der Trennung, legitimieren, mit anderen Worten, die Hierarchie“ (Bourdieu, Entwurf, 326). Sei die „offizielle Definition der Wirklich‐ keit“ mit ihrer Verschleierung der willkürlichen Machtverhältnisse gerade nicht deren Wahrheit, sei sie dennoch ein wichtiger „Teil der vollständigen Definition der gesell‐ schaftlichen Wirklichkeit“ (Bourdieu, Sinn, 200). 171 Ebd., 199. 172 Ebd., 138 f. 173 Ebd. 174 Ebd., 188. Das „Aufkommen eines institutionalisierten Unterrichtswesens“ reagiere da‐ bei auf eine „Krise der diffusen Bildung, die ohne den Umweg über den Diskurs direkt von Praxis zu Praxis vermittelt wird“ (ebd., 188 f). 175 Vgl. ebd., 190.

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Die Startvoraussetzungen in diesem Bildungsprozess unterscheiden sich allerdings ebenso, wie die legitimen und illegitimen Erwerbswege des reli‐ giösen Kapitals, das auf diesem Wege aufgebaut werden kann. Sprechend ist hier das Beispiel, das Bourdieu einmal zur Veranschaulichung kultu‐ reller Orthodoxie wählt: „Wie der Kardinal, der sich Freiheiten mit dem Dogma nimmt, die dem einfachen Landpfarrer verwehrt bleiben“, könne sich die echte, unhinterfragte und als inspiriert geglaubte Orthodoxie mit‐ unter eine „unverantwortliche Selbstsicherheit, unverschämte Lässigkeit, ja versteckte Unaufrichtigkeit“ leisten. 176 Auch für die Meisterschaft im Um‐ gang mit einer religiösen Orthodoxie dürfte daher gelten, dass sie weniger durch Regelwissen angeeignet, sondern vor allem durch die besondere Be‐ ziehung von „Meister und Jünger“ vererbt wird. 177 Im Vergleich zum Ideal einer solchen, durch Vertrautheit erworbenen Ungezwungenheit müsse eine schulisch und schulmäßig angelernte Orthodoxie immer als defizitär erscheinen – wie jeder „Akademismus“, der die praktische Befähigung eines künstlerischen Stils zum Zweck der Vermittlung in das Korsett einer schul‐ mäßigen Grammatik oder gar ein „Dogmengerüst“ presse. 178 Dies begrün‐ det den scharfen Gegensatz zwischen den schulischen Werten der „Gelehr‐ samkeit und Gelehrigkeit“, die den Schulinstitutionen immanent sind, und den aristokratischen „Tugenden des vollkommenen Menschen“. 179 Dann aber liegt in der Institutionalisierung und Scholastisierung der Religion eine ‚Wurzel des heiligen Grauens‘ und ein unaustilgbarer Keim prophe‐ tischer Revolte. 180 Diese Beobachtungen verweisen noch einmal auf die Dialektik aller Orthodoxiestrukturen, die mit ihrer Stabilisierung und Re‐ produktion der kirchlichen Institutionen zugleich Ansatzpunkte für ihre häretische Zersetzung bieten. Will man diese Ambivalenz produktiv bear‐ beiten, so erscheint es zentral, die Gefahr einer Erstarrung in abstrakten und ‚schulmäßigen‘ Lehrformeln durch eine in Meister-Jünger-Beziehun‐ gen und mittels unmittelbarer Erfahrung erworbene Stilsicherheit zu kom‐ pensieren. 176 Bourdieu, Unterschiede, 518. Diese Sicherheit gehe oft einher mit „Arroganz, Süffisanz und Impertinenz“ (ebd., 516). 177 Ebd., 121. 178 Ebd., 123. Durch „Explizierung und Kodifizierung einer Praxis“ (Bourdieu, Sinn, 189) komme es unvermeidlich zu Veränderungen, die als ein solcher Akademismus denun‐ ziert werden können. 179 Bourdieu, Unterschiede, 162 f. In jeder pädagogischen Vermittlung eines expliziten Regelsystems vollziehe sich eine implizite Zurichtung durch die „Funktionsweise der Institution Schule“(ebd., 122), so dass gelte: „Der wesentliche Teil dessen, was die Schule vermittelt, wird nebenher erworben“ (ebd.). 180 Zum Verlust der unmittelbaren Erfahrung als „Wurzel alles heiligen Grauens der Ästhe‐ ten vor der Pädagogik und dem Pädagogen“ (ebd.), vgl. ebd.

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2.2.3 Die Wahrheit des kirchlichen Feldes In einer soziologischen Analyse des französischen Episkopats (durchge‐ führt zusammen mit Monique De Saint Martin), die sich auf allgemein zugängliches Datenmaterial und Befragungen stützt, geht Bourdieu detail‐ lierter auf das religiöse Feld seiner Gegenwart und das kirchliche Feld der römisch-katholischen Kirche in Frankreich ein. 181 Den Episkopat nehmen Bourdieu und De Saint Martin dabei gemäß dessen Selbstverständnis als „Repräsentationsinstanz“ in den Blick, die durch „Vermittlung eines ein‐ heitlichen Bildes nach außen“ die Einheit der Christen darzustellen und zu fördern habe. 182 Die Ausgangsbeobachtung ist dabei: Die Kirche ist – oder war zumindest bis in jüngste Vergangenheit – ein soziales Feld, dessen zentrale Akteure „mit ausreichend symbolischem Kapital versehen“ sind, um erfolgreich an den „symbolischen Kämpfen um die Erzeugung und Durchsetzung einer Weltsicht und Lebensführung“ teilzunehmen. 183 Eine Institution, die auf diese Weise Kapital bereithält und zuteilt, konstituiert sich als ein eigenes „Kampffeld mit einer relativen Autonomie gegenüber der Laiennachfrage“, die sie bis zu einem gewissen Grad selbst zu erzeugen und zu reproduzieren vermag. 184 Jedes durch einen solchen „Abschließungseffekt“ als autonom konstituierte Feld habe seine eigene Geschichte, die weitgehend durch in‐ terne Konflikte vorangetrieben werde und aus der sich „die Oppositionen und die zentralen Fragen und Probleme ergeben, die einem von außen betrachtet vollkommen irreal und unverständlich vorkommen müssen“. 185 Die Abschließung als autonomes Feld, das die Kirche als Struktur mit ei‐ genen Regeln, eigener Kapitalverteilung und Konfliktdynamik von der Ge‐ samtgesellschaft abhebt, ist allerdings nur die eine Seite ihres Verhältnisses zur Gesellschaft. Denn aufgrund der Homologie zwischen allen sozialen Feldern spiegle auch das religiöse Feld die „Topologie des Feldes der Klas‐ senkämpfe“, indem es durch die Anpassung an die religiösen Bedürfnisse

181 Bourdieu/De Saint Martin, Familie. Zum Folgenden ist ergänzend hinzuweisen auf die im Dreieck von Religion, Glaube und Spiritualität operierende, auf den Katholi‐ zismus fokussierte und daher in anderer Richtung fortschreitende Interpretation von Sanders, Herrschaft. 182 Bourdieu/De Saint Martin, Familie, 95. 183 Ebd., 157. Eine Entwicklung der Priesterweihen interpretieren die Autoren deshalb als relativ verlässlichen Indikator „für die Entwicklung der Kirche insgesamt sowie für ihre Reproduktionsfähigkeit“ (ebd., 132). 184 Ebd., 157. 185 Ebd., 158. Anm. 47. Zu dieser Abschließung, die sich durch eine spezifische „Brechung“ der Kräfte des sozialen Raumes zeigt, vgl. Müller, Bourdieu, 78 f.

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der Laien „für jede Klasse die jeweils zu ihr passenden Einrichtungen und Akteure“ hervorbringe. 186 Weil sich die Kirche als Feld mit eigener Konfliktstruktur abschließt und diese auf andere Gegensätze hin transparent ist, bildet sie bis zu ei‐ nem gewissen Grad außerkirchliche, allgemein-gesellschaftliche Konflikte ab, ohne diese einfach zu verdoppeln. Zentral für die Konfliktdynamik des kirchlichen Feldes sei erstens die Spannung zwischen zwei Populationen von Geistlichen, die sich durch ihre Reproduktionsmuster unterscheiden: die als soziale Aufsteiger ganz ihrer Kirche verschriebenen Oblaten und die aufgrund ihrer privilegierten Herkunft unabhängigeren Erben. 187 Auf‐ grund des Abschließungseffektes werde dieser von außerhalb des Feldes übernommene Gegensatz durch einen zweiten, rein internen Gegensatz zwischen den beherrschten und herrschenden Fraktionen des Klerus über‐ lagert. 188 Die allgemeinen Klassengegensätze erscheinen „mehr und mehr abge‐ schwächt und beschönigt“, je weiter man sich innerhalb des religiösen Feldes „dem Feld der religiösen Macht zubewegt“. 189 Auf jeder Stufe der kirchlichen Karriere werden unbewusst wirksame Selektionsfaktoren wirk‐ sam, die dafür sorgen, dass die leitenden Gremien insgesamt homogener und stärker von innerkirchlichen als von außerkirchlichen Gegensätzen ge‐ prägt sind. Zusätzlich werden die Kandidaten für Priesteramt und Bischof‐ samt auch einer direkten Vereinheitlichungsarbeit unterworfen. 190 Selek‐ tion und Indoktrinierung der Geistlichen schaffen auf diesem Wege ein Feld objektiv aufeinander abgestimmter Habitusformen. Das „spezifisch klerikale Wirken der Kirche“ komme folglich zustande, weil die Geistlichen aufgrund ihrer Konkurrenz selbst ein Feld bilden und dabei einen pastora‐ len Habitus teilen, der „ihr Interesse am kirchlichen Spiel und an dem, was dabei als Folge dieser Konkurrenz auf dem Spiel steht, lebendig hält“. 191 186 Bourdieu/De Saint Martin, Familie, 161. 187 Vgl. ebd., 98–103. Ist dieser Unterschied im Verhältnis zur Kirche grundlegend, können die typischen Eigenschaften dieser Gruppen je nach Zustand des Feldes variieren, vgl. ebd., 103. Allerdings korrespondiert diesem Grundverhältnis durchgängig eine Affinität der Oblaten zum weltlichen, der Erben zum spirituellen Pol des kirchlichen Feldes, vgl. ebd., 143 f. 188 Ebd., 159. 189 Ebd., 161. 190 Vgl. ebd., 165: Jeder Priester habe eine „überaus einheitliche wie vereinheitlichende Ausbildung [franz. formation homogène et homogénéisante] durchlaufen, die auf einer körperlichen Dressur [franz. dressage du corps] durch Unterwerfung unter strenge li‐ turgische Disziplin und auf der Zähmung des Geistes [franz. domestication de l’esprit] durch die Auferlegung einer gleichermaßen belastend wie schmeichlerisch wirkenden Denk- und Rededisziplin beruht“ (ebd.). 191 Ebd.

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Dass die Kirche als ein Feld funktioniert, beruhe zentral auf der Spannung zwischen Einheitlichkeit und Differenz unter den Geistlichen. Nach Bourdieu und De Saint Martin darf die Vereinheitlichungsarbeit der religiösen Indoktrination, Disziplinierung und „Dressur“ in der Aus‐ bildung der kirchlichen Mandatsträger daher gerade keine statische Uni‐ formität erzeugen. In diesem Fall könnte sich die Kirche gar nicht als Feld aufspannen, was ihr wiederum erst erlaubt, sich auf die Bedürfnisse verschiedener Laiengruppen einzustellen und das religiöse Interesse am Verlauf ihrer inneren Kämpfe wachzuhalten, das Menschen zu religiösen Investitionen – im Extremfall: zu einer Karriere als Geistlicher oder Geist‐ liche – bewegt. In diesem Kontext erscheint auch die Funktion von Lehre und Theologie in einem neuen Licht: Nicht ein enger Bestand an Lehren und eine starre Hierarchie, sondern die Institutionalisierung bestimmter Konfliktmuster kann eine relative Stabilität innerhalb der Dynamik des Fel‐ des erzeugen. a) Die Kämpfe des theologischen Felds Die Körperschaft der Theologen steht laut Bourdieu und De Saint Martin in einem strukturell antagonistischen Verhältnis zu dem vom Episkopat repräsentierten weltlichen Pol der kirchlichen Macht. 192 Die Theologen (und Theologinnen) stehen vor der Alternative, entweder als „Fachleute für Fragen der Ekklesiologie, der Pastoral und der Moral“ ihre theologischen Kompetenzen in den Dienst der kirchlichen Macht zu stellen, oder „als unabhängige Denker zu agieren und das, was ihnen als die Wahrheit er‐ scheint, kompromisslos zu vertreten“. 193 So bilde sich durch den Gegensatz zwischen einer kirchennahen und einer kritischen-intellektuellen Fraktion innerhalb der Theologie ein theologisches Feld mit eigenen Konfliktmustern heraus. Die kirchennahen Theologen verwalten in der Rolle von „Technikern der Reflexion und der Exegese“ das kirchliche Monopol „auf die legitime reli‐ giöse Indoktrination“ der Laien. 194 Sie leisten ihren beständigen „Beitrag zur Wiederherstellung der symbolischen Ordnung“ durch die „Neuüber‐ setzung und Euphemisierung“ der symbolischen Gehalte. 195 Durch diese 192 Ebd., 148. Dieses Verhältnis stelle „einen Sonderfall des Verhältnisses zwischen Intel‐ lektuellen und all jenen Instanzen (Kirche, Gewerkschaften oder Parteien) dar, die das Monopol über die Bildung und Mobilisierung der einfachen Laien anstreben“ (ebd., 150). Nur in sehr friedlichen „Zeiten des Ausgleichs“ trete dieser Gegensatz zurück, so dass sich die Inhaber der kirchlichen Macht selbst „die Funktion von Theologen anma‐ ßen“ (ebd., 155f) könnten. 193 Ebd., 148. 194 Ebd. 195 Ebd., 156.

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theologische Arbeit lasse sich auch so manche „durchschlagende Neuheit aufheben und neutralisieren“. 196 Dagegen neigen die kritischen Intellektu‐ ellen unter den Theologen sowie die Laientheologen zu „Avantgardeden‐ ken“, zu subversiven und radikaleren Positionen. 197 Für sie öffnen sich ins‐ besondere in Krisenzeiten neue Spielräume, weil dann „die Ordnung und die Macht der Hüter dieser religiösen Ordnung“ erodiere, innerhalb der Kirche die Verunsicherung um sich greife und das Bedürfnis nach einem klärenden Diskurs steige. 198 In dieser Lage können die Vertreter der intel‐ lektuell-kritischen Theologie ins Rampenlicht einer breiteren Öffentlich‐ keit treten und an der kirchlichen Hierarchie vorbei einen direkten Einfluss auf die Laien ausüben. Damit treten sie faktisch oder auch ausdrücklich in Konkurrenz zur Hierarchie, der sie das Monopol der Indoktrination und Heilsverwaltung bestreiten. Auf eine Umkehr der kirchlichen Machtverhältnisse kann eine theologi‐ sche Avantgarde, die sich in prophetischem Gestus an die Laien wendet und dabei möglicherweise auch inhaltlich die Grenzen zur Häresie streift, nun vor allem dann hoffen, wenn sie bislang ungedeckte Bedürfnisse der Laien bedienen kann und ihr zugleich von der kirchlichen Macht ausgeschlossene Gruppen innerhalb des Klerus entgegenkommen. Sei das stillschweigende „Verhältnis wechselseitiger Legitimation“ von Kirche und Theologie einmal aufgekündigt, stehe die institutionalisierte Kirchenmacht vor der Alterna‐ tive, sich den prophetischen Protest „einzuverleiben“ oder die Häretiker „als echte politische Gegner mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auszuschalten“. 199 Im Extremfall komme es dazu, dass die vormals be‐ kämpften und zensierten Positionen schnell vereinnahmt und offizialisiert werden, weil die Kirche „den häretischen Protest in eine erneuerte Ortho‐ doxie integriert“ und so die Herrschaftsstruktur wiederherstellt. 200 Auch auf dem kirchlichen Feld begegnet somit das allgemein-religiöse Grund‐ muster eines Konflikts zwischen orthodoxen und ‚häretischen‘ Gruppen, die sich eine geteilte, aber mehrdeutige Botschaft jeweils entsprechend ih‐ rer sozialen Position aneignen – als Legitimationsgrundlage und Waffe im 196 Ebd. 197 Ebd. 198 Ebd., 148. Als Beispiel führen Bourdieu und De Saint Martin die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil sowie die Umbruchsphase um 1968 an, als „die Theologen zu Pro‐ pheten“ geworden seien und man von ihnen verlangt habe, „dass sie der ungewöhnlichen Erfahrung einen expliziten und systematischen Ausdruck verschaffen“ (ebd., 154), vgl. ebd., 153–157. 199 Ebd., 150 f. 200 Ebd., 156. Bourdieu und De Saint Martin entdecken dieses Muster etwa bei der ka‐ tholisch-lehramtlichen Haltung zum Atheismus, die sich in der Konzilszeit rasend und radikal verändert habe.

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Kampf um die kirchliche Macht. Dabei ist entscheidend, dass auch die kirchliche, also die dem Zentrum der kirchlichen Macht nahe Fraktion der Theologie nicht einfach ein statisches und abgeschlossenes Korpus an Lehren bewahren kann. Vielmehr stehen die konkurrierenden Gruppen für verschiedene Geschwindigkeiten der dynamischen Fortentwicklung, wobei sich in Krisensituationen das von den Avantgardetheologen propagierte Modell von Abriss und Neubau des Lehrgebäudes eher durchsetzen kann, in ruhigen Zeiten die traditionskontinuierlichen Umbauten der orthodo‐ xen Theologen ausreichen. Unabhängig von der Frage, ob innerhalb des kirchlichen Systems ein Krisenzustand oder ein vergleichsweise stabiles Gleichgewicht herrscht, er‐ füllen die Theologen für den Klerus eine exemplarische Funktion; ganz ana‐ log zu derjenigen, die diese Geistlichen wiederum für die Laien überneh‐ men. 201 Denn ihre Interpretationsarbeit ermögliche, „dieselben Dinge mit anderen Worten und andere Dinge mit denselben Worten zu sagen“, und erlaube so, die Gewinne aus der „Stabilität der christlichen Markenzeichen“ mit der „zur Anpassung notwendigen Veränderungsfähigkeit“ zu kumu‐ lieren. 202 Die Konfliktdynamik zwischen den kirchennahen und kritischen Theologen treibe diese Arbeit einer stetigen „Neuinterpretation der Texte, Dogmen und Riten“ hervor, was schlechthin unverzichtbare Voraussetzung für die immer neue „Anpassung an ständig im Fluss befindliche ökonomi‐ sche und soziale Bedingungen“ sei. 203 Schon aus ihrer persönlichen und beruflichen Nötigung heraus spuren Theologen und Geistliche mit der in‐ dividuellen „Konversion ihrer Dispositionen und religiösen Vorstellungen“ die erforderliche kollektive „Konversionsarbeit“ einer sich angesichts ver‐ änderter Bedingungen wandelnden Institution vor. 204 Auch hier zeigt sich ein dialektisches Verhältnis von Stabilität und Dynamik, vordergründigem Konflikt und darunter verschlungenen Interessen: Die innertheologischen Konflikte um Machtpositionen und Kapital generieren eine Palette theolo‐ gischer ‚Produkte‘, die zunächst unter Klerikern ihre Abnehmer finden – und schließlich eine erfolgreiche Anpassung der kirchlichen Angebote an die ausdifferenzierte religiöse Nachfrage der Laien ermöglichen.

201 Vgl. ebd., 194. 202 Ebd., 176, Anm. 62. Für ihre seelsorgerlichen und homiletischen Aufgaben müssen alle Geistlichen „in der Kunst der Beschönigung und der permanenten Uminterpretation“ (ebd.) ihrer Tradition geübt sein. 203 Ebd., 194. Die Autoren spitzen zu: „Die Kirche ist ewig, weil sie sich seit Urzeiten im‐ mer wieder gewandelt und dabei in ihrem äußeren Erscheinungsbild den Anschein von Dauerhaftigkeit gewahrt hat“ (ebd.). 204 Ebd. Die Arbeit der Geistlichen und Theologen wirke dabei „wie eine Art basso conti‐ nuo“ (ebd., Herv. im Orig.).

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Die Differenzen und Konflikte zwischen den Theologen und Klerikern seien also keine Gefahr für das Fortbestehen der Kirche, sondern Ermög‐ lichungsbedingung für „ein als solches nicht beabsichtigtes Verwalten der Widersprüche“ und „Quelle einer permanenten Innovationsfähigkeit“. 205 Denn nur durch diese „Disharmonien“ und Konkurrenzkämpfe könne die Kirche überhaupt die „Bereitstellung eines Angebots an religiösen Gütern und Dienstleistungen“ für verschiedene Laiengruppen leisten, die selbst „unterschiedliche, ja gar einander widerstreitende Interessen“ haben. 206 Eine so breit differenzierte Palette religiöser Angebote wäre faktisch gar nicht denkbar, würde die Kirche wirklich als zentral und hierarchisch ge‐ steuerter Apparat funktionieren. Weder die „(relative) Einheitlichkeit der Botschaft und der Liturgie“ noch die Vielfalt spiritueller Angebote seien das Ergebnis „zentraler Vorschriften und Direktiven“. 207 Hier greift erneut die Grundthese Bourdieus, dass sich entscheidende Entwicklungen in der Regel nicht der bewussten Steuerung durch einzelne Individuen verdan‐ ken, sondern einer unpersönlichen und unbewussten Dynamik aufeinander abgestimmter und darin zugleich konkurrierender Habitusformen – von der die Einzelnen in ihrem Handeln gleichwohl nicht einfach determiniert werden. Diese Dynamik sei der Kirche selbst als ihre Wahrheit allerdings entzogen, ja sie werde durch eine stetige Arbeit an der Verleugnung der Gegensätze und Beschönigung der Konflikte verschleiert. b) Das Wesen des Katholizismus Der katholische Episkopat als Kollegium der Bischöfe steht im kirchlichen Feld nun zwischen dem weltlich-politischen Pol der Verantwortungsträger in der kirchlichen Verwaltung und dem intellektuell-spirituellen Pol der Theologen und Ordensgeistlichen. 208 Seine Position sei „genau in der Mitte zwischen den Extrempositionen“, also an dem Ort des kirchlichen Feldes,

205 Ebd., 185. 206 Ebd., 172. Die einzelnen Mitglieder der katholischen Großkirche haben, so Bourdieu und De Saint Martin, „abgesehen von ihrem Katholizismus praktisch nichts miteinander gemein“ (ebd.). Darin erscheint die – römisch-katholische – Kirche als eine Großinsti‐ tution par excellence, worin nicht zuletzt das soziologische Interesse von Bourdieu und De Saint Martin wurzelt. 207 Ebd. Auch das sog. Aggiornamento des Zweiten Vatikanischen Konzils als vermeintli‐ ches Gegenbeispiel habe vielmehr „unzählige Aktionen und Reaktionen, Initiativen und Direktiven“ zusammengeführt, die relativ unabhängig voneinander durch eine „Ver‐ schiebung des Kräfteverhältnisses innerhalb des priesterlichen Feldes und der sozialen Zusammensetzung“ (ebd., 174) hervorgebracht worden waren. Das (nur uneigentlich so zu bezeichnende!) ‚Subjekt‘ dieser Prozesse sei „in der Logik eines Feldes zu suchen“ (ebd.). 208 Ebd., 157.

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„wo die Kräfte ausgeglichen sind und sich gegenseitig aufheben“. 209 Des‐ halb bringe diese Körperschaft in reinster Form die „allerletzte Wahrheit dessen, worum es dem Katholizismus geht“, zur Darstellung: die Fähigkeit zur „Versöhnung der Gegensätze“. 210 Das gesamte Kirchenkonzept des Ka‐ tholizismus ziele darauf, „einander widerstreitender Laieninteressen in die ‚große christliche Familie‘“ zu integrieren und so zu versöhnen. 211 Und laut Bourdieu und De Saint Martin verwirklicht diese katholische oiko‐ nomia der concordia discors nun idealtypisch die „strategische Umsetzung der grundlegenden Logik der Religion“ überhaupt. 212 Diese funktioniere als ein Mittel sozialer Vereinheitlichung und Integration, weil sich Menschen unabhängig von ihren unterschiedlichen sozialen Erfahrungswelten einer geteilten religiösen Sprache bedienen können: „In ihrer Mehrdeutigkeit erlaubt die religiöse Botschaft, unterschiedliche, ja sogar einander widerstreitende Erfahrungen in den gemeinsam geteilten verbalen oder ge‐ stischen Formen zu erleben und auszudrücken, wodurch sie das klare Denken der Unterschiede sowie das Aufkommen von Sprachen, die diese Unterschiede zum Aus‐ druck bringen könnten, hemmt oder gar blockiert“. 213

Wie aber verhält sich diese grundsätzlich vereinheitlichende Funktion der Religion zu der Beobachtung, dass Religion zugleich als „differenziertes und differenzierendes Instrument“ funktioniert, mit dem sich Konflikte austragen lassen und etwa die Gebildeten mit ihrer Virtuosenreligion sich von der Volksreligion abheben können? 214 Laut Bourdieu und De Saint Martin lenken diese religiösen Distinktionen gerade von den tatsächlichen Herrschaftsverhältnissen ab und verschleiern deren Wahrheit. Die Binnen‐ konflikte des religiösen Feldes sind – in marxistischem Jargon formuliert – ‚falsches Bewusstsein‘. Dies hängt damit zusammen, dass gerade inner‐ kirchliche Konflikte eben nicht als Konflikte erfasst, bejaht und politisch gestaltet werden können. Dieser Verschleierungseffekt werde er im Falle der christlichen Kirche noch durch die „Wirkmächtigkeit ihres besonderen Lebensideals“ verdop‐ pelt und verstärkt: das katholische Ideal der Familie. 215 Das „überschwäng‐ liche Lob der Brüderlichkeit, des Dialogs, des Austauschs“ und allgemein die „Neigung, sämtliche soziale Beziehungen nach dem Modell der Fa‐ 209 210 211 212

Ebd., 184. Ebd. Ebd., 185. Ebd., 193. Bourdieu und De Saint Martin verweisen dabei auf die ursprüngliche Wort‐ bedeutung des byzantinischen Begriffs der oikonomia. 213 Ebd., 194. 214 Ebd., 193. 215 Ebd., 185.

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milie zu denken“, begünstigen laut Bourdieu und De Saint Martin eine „konsensorientierte“ Grundeinstellung und eine „die Existenz von Klassen negierende Sicht auf die Sozialwelt“. 216 In dieser „klerikalen Kultur“, die für den Katholizismus als Gesamtheit charakteristischer sei als seine Lehren oder äußere Symbole, und ihrem „auf Friedfertigkeit basierenden Gesell‐ schaftbild“ schlage sich das „Ergebnis einer tausendjährigen Erfahrung im Umgang mit Konflikten“ nieder. 217 Wieder und wieder sei es gelungen, die häretische Konkurrenz kirchlich zu verarbeiten und selbst in Enzyme zur „Verdauung der gegen die Orthodoxie gerichteten Herausforderungen“ zu transformieren. 218 Nicht die einzelnen Lehren oder Bilder, die die Kirche von sich selbst macht, ermöglichen folglich die weitgehende Verschleie‐ rung von Konflikten und die Versöhnung der Gegensätze, sondern eine kirchliche Kultur, die als Sediment vergangener Konflikte sozusagen den ‚Gesamthabitus‘ einer Institution bildet. Zu dieser klerikalen Kultur der katholischen Kirche gehört für Bour‐ dieu und De Saint Martin ein spezifisch-gebrochenes Verhältnis zur Macht. Denn die symbolische Macht der Geistlichen hänge damit zusammen, dass sie „zu einer rigorosen Lebensdisziplin hinsichtlich Geld, Sexualität und Macht imstande“ seien. 219 Der Kern des religiösen Habitus aller Geist‐ lichen, Ordensleuten und frommen Laien sei eine „symbolische Kastra‐ tion“ – eine verinnerlichte Selbstzensur hinsichtlich des offen ausgelebten Strebens nach Macht, Gütern und Vergnügungen. 220 Auf dieser Grund‐ lage könne man die weltliche Macht nicht attackieren, ohne sich selbst den Genuss dieser Macht zu versagen oder sich sogleich häretischer Kritik am gelebten Widerspruch zwischen Botschaft und Verhalten auszuliefern. Ins‐ besondere der Episkopat als Pol der weltlichen Macht in einer „Welt des Spirituellen“ steht damit in dem Zwiespalt, weder die „genuin geistliche Autorität“ der Theologen und Ordensleute, noch die „wahre Macht“ eines

216 Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. Es seien eine „Sprache der Kommunion und die entsprechen‐ den Vergemeinschaftungstechniken“, die das „kirchliche Kapital und damit die Kirche selbst“ (ebd., 190) ausmachten. Die entsprechende Sprache und ihre Metaphern lassen sich, so weisen die Autoren auf, durch alle verschiedenen Fraktionen der Kirche hin‐ durch belegen, vgl. ebd., 186–189. 217 Ebd., 186. Dabei wirken Institutionen und Objektivierungen wie die Fallsammlungen des kanonischen Rechts zusammen mit den inkorporierten Strukturen eines klerikalen Habitus. Durch die Abgestimmtheit der Habitusformen von Klerikern und Laien er‐ bringe die religiöse Sprache ihre Beschönigungsleistung nahezu von selbst, wenn man ihr nur „freies Spiel“ und „den Automatismen freien Lauf“ (Bourdieu, Lachen, 238). 218 Bourdieu/De Saint Martin, Familie, 186 f. 219 Ebd., 206. 220 Ebd., 213. Die letzte Konsequenz dieser allgemeinen Struktur habe die römisch-katholi‐ schen Kirche mit dem Zölibat gezogen.

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Politikers beanspruchen zu können. 221 Ihr stehe nur der Umweg göttlicher Machtansprüche offen, was eine doppelseitige Verschleierung erforderlich mache: „von weltlichen Dingen auf spirituelle Weise zu sprechen und von spirituellen Dingen auf weltliche Weise“. 222 Die bischöfliche Position beherrschter Macht zwinge ihre Inhaber zu einem elaborierten Spiel mit den „Zweideutigkeiten und Euphemismen“, die für den religiösen Diskurs insgesamt charakteristisch sind, und bringe eine hochspezialisierte Sprache mit der für „Kompromissbildung typischen Vieldeutigkeit“ hervor. 223 An der Unschärfe dieser kirchlichen Bürokraten‐ rhetorik setzt typischerweise die Kritik der kirchlichen Intellektuellen an, welche die Klarheit ihrer theologischen Position und ihren Wahrheitsernst gegen diese tendenziell verschleiernden, also der Doxa zugehörigen Kon‐ sensformulierungen in Stellung bringen. Was hier mit Blick auf die bischöf‐ liche Rhetorik beschrieben ist, lässt sich – man denke an den Vorwurf des ‚dissimulierenden Konsenses‘ – auch und vielleicht besonders auf in Gel‐ tung stehende Lehrformulierungen anwenden. Erneut erscheint hier eine Dialektik von Orthodoxiestrukturen und besonders der spezifisch-kirchli‐ chen Beschönigung sozialer Gegensätze, die selbst wieder ihre Kritik und Zersetzung hervortreibt. c) Der Leib der Kirche und die Leiber der Glaubenden Als ein Feld konkurrierender Interessen religiöser Spezialisten hat die Kir‐ che nur Bestand, weil sie zugleich als Institution existiert – ein Komplex von „Mechanismen und Prozessen, die sich an der Grenze des Denk- und Sagbaren bewegen“. 224 Einerseits existiere sie als Ding-Kirche in Gebäu‐ den, Gegenständen und schließlich „in der Form einer altbewährten und in kanonischen Schriften niedergelegten Sozialtechnologie“ der Weihehand‐ lung. 225 Andererseits existiere sie „im inkorporierten Zustand“ als religi‐ 221 Ebd., 200. Mit dieser verleugneten „Macht der linken Hand“ sei die Gestalt der „grauen Eminenz“ (ebd., 204) geradezu der Typos der ihrerseits beherrschten, nur auf Umwegen ausgeübten Macht geworden. 222 Ebd. Die höchste Stufe dieses Euphemismus bestehe darin, dass sich durch die eingeübte „Verzweideutigung der Praktiken und Diskurse“ eine „Doppeldeutigkeit ohne Doppel‐ spiel“ (Bourdieu, Lachen, 237f), d.h. ohne jede bewusste Verstellung oder Heuchelei einstelle. 223 Bourdieu/De Saint Martin, Familie, 204. Im Orig. teilw. kursiv. Dahinter stehe das bischöfliche Amtsverständnis, „Sprachrohr aller zu sein“, welches letztlich dazu führe, „für niemanden zu sprechen und auch niemanden anzusprechen“ (ebd., 184). Diese „strukturbedingte Heuchelei [franz. hypocrisie]“ der verleugneten Machtausübung finde ihren habituellen Niederschlag in einem speziell pastoralen „Persönlichkeitstypus“ (ebd., 207). 224 Ebd., 216. 225 Ebd. Herv. im Orig.

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öser Habitus, den die Individuen in der Familie erwerben und der in kirch‐ lichen Handlungen seine verstärkende Weihe erfahre. 226 Als „lebende, das heißt handelnde und zu ihrer eigenen Reproduktion fähige“ Gesamtinsti‐ tution sei die Kirche genau das Verhältnis von inkorporierter und objek‐ tivierter Kirche, wobei es gleichgültig bzw. unentscheidbar sei, ob die ver‐ innerlichten Dispositionen die einzelnen Institutionen hervorbringen oder anders herum diese „von der Institutionen am Laufen gehalten werden“. 227 Diese Doppelstruktur aus inkorporierter und objektivierter Kirche, die die Kirche mit anderen Institutionen wie dem Staat teile, manifestiere sich ins‐ besondere in denen, die als „Mensch gewordene Kirche“ das Recht ausüben, die Kirche zu repräsentieren, für sie zu sprechen und ihre „Weihegewalt“ zu handhaben. 228 Denn als „personifiziertes Universelles“ ist der Amtsträger berechtigt und ausersehen, Weihehandlungen vorzunehmen. 229 Mittels einer Weihehandlung werde eine „schon vorher bestehende Wirklichkeit“ durch den „Anerkennungs- und Universalisierungseffekt“ des bevollmächtigten Handels geheiligt, d.h. symbolisch mit offizieller Le‐ gitimation ausgestattet. 230 Diese Beeinflussung der kollektiv geteilten Vor‐ stellung von der Wirklichkeit setze allerdings – wie jede Form symbolischer Macht – immer schon eine durch religiöse Sozialisation erworbene, „ver‐ borgene Harmonie“ der Habitusformen aller Beteiligten voraus. 231 Zielen insbesondere Predigt und Seelsorge darauf, einen christlichen Habitus dau‐ erhaft „im Leib der Gläubigen“ zu verankern, sei die Wirksamkeit dieser Sozialtechniken ihrerseits bedingt durch Dispositionen, die nicht in Kir‐ che oder Schule, sondern in der familiären Primärsozialisation erworben seien. 232 Folglich seien die „Verteidigung der überkommenen Familien‐ ethik“ und die „Beteiligung der Geistlichen bei allen großen Ereignissen des

226 Ebd. 227 Ebd. 228 Ebd., 217. Das Feld der Kirche, das sich aus dem Zusammenspiel von Körpern, Dingen, Regeln, Definitionen und Machtverhältnissen konstituiert, bringe sich in der Person der Amtsträgern selbst so zur Darstellung, als ob es ein Subjekt oder einzelner Mensch wäre, was die „in der antiklerikalen Tradition so mächtige Illusion“ (ebd.) der Kirche als eines zynischen Akteurs mit einer planvollen, machiavellistischen Agenda erzeuge. Diese hypostasierende Illusion lässt sich analog bezüglich des Staates oder der Wirtschaft beobachten. Vgl. auch Bourdieu, Lachen, 232. 229 Bourdieu/De Saint Martin, Familie, 196. 230 Ebd. Das (katholische) Sakrament lasse sich in diesem Zusammenhang als das idealty‐ pische „Paradigma des Institutionsrituals“ (ebd.) betrachten. Die Mehrzahl der katho‐ lischen Sakramente wie Taufe, Ehe und Priesterweihe seien „Legitimierung der in aller Öffentlichkeit und Feierlichkeit vollzogenen Statuspassage“ (Ebd., 199). 231 Ebd., 196. 232 Ebd. Vgl. ebd., 198.

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Familienzyklus“ tatsächlich überlebenswichtige Anliegen der Kirche und ihrer Hierarchie. 233 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Bourdieu und De Saint Mar‐ tin ausgehend von ihrer soziologischen Untersuchung der katholischen Kirche verschiedene Stufen der Einprägung des religiösen Habitus unter‐ scheiden: Ein durch die familiäre Sozialisation erworbener Primärhabitus ist die Grundlage dafür, dass überhaupt ein religiöses Bedürfnis besteht. Daran können in der Folge institutionalisierte Sozialtechniken (Kateche‐ tik, Predigt, Seelsorge) ansetzen, um einen religiösen Habitus einzuprägen. Dieser religiöse Habitus wiederum ist die Bedingung für die Wirksamkeit spezifischer Strategien klerikalen Handelns, die als Weihehandlungen die vorgegebenen Realitäten der Sozialwelt zugleich bestätigen und religiös vereinnahmen. Im Fall der Geistlichen (Theologinnen und Theologen, Kle‐ riker, Ordensleute) setzt – einer massiven emotionalen wie zum Teil auch ökonomischen Investition auf dem religiösen Feld folgend – noch einmal eine verschärfte Vereinheitlichungsarbeit an, die als solche unweigerlich Konkurrenz um religiöses Kapital und kirchliche Machtpositionen hervor‐ bringt. Durch die Konfliktdynamik zwischen den verschiedenen Fraktio‐ nen des Klerus und den theologischen Lagern bleibt das kirchliche Feld als abgeschlossenes Feld mit eigener Logik erhalten, relativ stabil und zugleich anpassungsfähig: Der Organismus der Kirche lebt. 2.2.4 Die praktische Logik von Mythos und Ritus Es lässt sich mit Bourdieus soziologischer Theorie beschreiben, wie sich in der Kirche ein zwischen Orthodoxie und Häresie polarisiertes Feld heraus‐ bildet, das durch spezifische Konfliktmuster das religiöse Interesse wach‐ hält, eine differenzierte Palette spiritueller Angebote generiert und allen am Spiel Beteiligten religiöse Habitusformen einprägt. Zu den Instrumenten, derer sich insbesondere die Vertreter orthodoxer Positionen im Konflikt um die religiöse Macht bedienen, gehört nun auch die offizielle Lehre der Kirche. Wie aber wirkt sich die Einbettung artikulierter und offizialisierter Lehraussagen in eine selbst nicht theoriegeleitete, sondern habituell-un‐ bewusste Praxis auf das Verständnis religiöser Lehrsysteme aus? Welche Erkenntnisse kann Bourdieus „Theorie der Praxis“ für die Beschreibung,

233 Ebd., 199. Aus diesem Faktum erklärt sich für Bourdieu und De Saint Martin die „ex‐ treme Aufmerksamkeit der katholischen Hierarchie für alles, was mit der Familie und ihrer biologischen wie gesellschaftlichen (also moralischen) Reproduktionsfunktion zu‐ sammenhängt“ (ebd., 198). Das Monopol der Kirche auf diese Passagerituale und die Rolle der Geistlichen werde durch neue Akteure auf dem religiösen Feld allerdings zu‐ nehmend in Frage gestellt, vgl. Bourdieu, Auflösung, 243–249.

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Interpretation und Kritik der Lehre erschließen? Dazu lassen sich insbeson‐ dere seine Bemerkungen zur Interpretation von Mythen und die in diesem Zusammenhang entwickelte Kritik des Strukturalismus von Ferdinand de Saussure und Claude Lévi-Strauss) heranziehen. Dem Strukturalismus kommt laut Bourdieu das bleibende Verdienst zu, die „strukturelle Methode oder einfacher das relationale Denken in die So‐ zialwissenschaften eingeführt“ und damit das substantialistische Denken überwunden zu haben. 234 In dieser Betrachtungsweise werde jedes Element durch die Beziehungen charakterisiert, „die es zu anderen Elementen inner‐ halb eines Systems unterhält und aus denen sich sein Sinn und seine Funk‐ tion ergeben“. 235 Gescheitert sei diese strukturalistischen Methode in ihrer klassischen Gestalt allerdings daran, dass die typische Arbeitstechnik der Erstellung eines synoptischen Schemas – einer übersichtlichen Zusammen‐ schau möglichst aller Elemente und ihrer Zusammenhänge – unvermeid‐ lich auf scheinbar unauflösbare Widersprüche stoße. 236 Dies liege daran, dass die innere Logik von Menschen bewohnter und praktisch beherrsch‐ ter Symbolwelten zerstört werde, wenn man nicht ausreichend berück‐ sichtige, wie tiefgreifend „Objektivierungsinstrumente wie Stammbäume, Schemata, synoptische Tabellen, Pläne, Karten“, ja schon eine „einfache Verschriftung“ die so interpretierte Praxis transformiere. 237 Die beobach‐ tete Praxis werde in „theoretischen Verschriftungsspielen“ schon dadurch einer tiefgreifenden Transformation unterworfen, dass sie überhaupt theo‐ retisch festgestellt, also sprachlich expliziert und schriftlich fixiert werde. 238 Dies zu verkennen gehöre zu den typische Fallen, die sich der hermeneu‐ tischen Beschreibung und Interpretation religiöser Praxis stellen, wenn sie sich selbst nicht ausreichend hinsichtlich ihrer Beobachterposition kontrol‐ liert und klar von der Selbstbetrachtung der Praktizierenden unterscheidet. Eine weitere Falle dieser Art sei, das theoretische Modell einer Praxis nicht als sekundäre Beschreibung dieser Praxis zu betrachten, sondern mit der kognitiven Regel zu verwechseln, an der sich die Praktizierenden selbst orientieren. 239 Eine besonders tückische Gefahr gehe diesbezüglich von 234 235 236 237

Bourdieu, Sinn, 12. Herv. im Orig. Ebd. Vgl. ebd., 25. Ebd., 26. Bourdieu verweist zur Transformation durch Verschriftlichung auf die Arbei‐ ten J. Goodys. 238 Ebd., 169. 239 Vgl. ebd. Wer dies nicht beachte, verfalle einer insbesondere von L. Wittgenstein auf‐ gedeckten Mehrdeutigkeit des Regelbegriffs, welche eine immanente Regelmäßigkeit, das theoretische Modell und die von den Handelnden bewusst befolgte Norm zu ver‐ wechseln erlaube, vgl. ebd., 72–75. Die Folge seien dann Juridismus oder mechanischer Determinismus.

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den Ad-Hoc-Erklärungen aus, die Handelnde selbst bezüglich ihrer Pra‐ xis formulieren. Durch die ihnen bekannte oder vermutete Fragestellung des Wissenschaftlers verführt, greifen diese nämlich häufig zu vorwissen‐ schaftlichen, hausbackenen Erklärungen, die sich „als Vorläufer des juristi‐ schen, ethischen oder grammatikalischen Legalismus“ verstehen ließen. 240 Diese ad-hoc-Erklärungen deuten die „Grundwahrheit der Primärerfah‐ rung“ bestenfalls im Übergehen und Verschweigen an – als die Lücke des‐ sen, „was nicht besprochen werden muß, weil es eben selbstverständlich ist“. 241 Erst der Bruch mit dieser „Scheinklarheit halbfertiger Aussagen“ er‐ mögliche vielmehr, als Grundzug von Praxis deren „Blindheit gegenüber ihrer eigenen Wahrheit“ herauszuarbeiten. 242 Für die Theologie bedeutet diese Beobachtung Bourdieus eine Warnung davor, die empirisch identifi‐ zierbaren Begründungen und Beschreibungen religiöser Praxis, auch wenn sie auf eine ‚verstümmelte‘ theologische Begrifflichkeit und Versatzstücke kirchlicher Lehraussagen zurückgreifen, immer schon als eine rudimentäre, möglicherweise ‚häretische‘ Form der offiziellen Lehre oder wissenschaft‐ lichen Theologie zu betrachten. Auch besteht die Gefahr, die Leerstellen eines praktisch gebrauchten Symbolsystems vorschnell mit den eigenen theologischen Modellen auszufüllen und dieses so in seiner Eigenart zu verfehlen. Als dritte Falle identifiziert Bourdieu die Selbsttäuschung des Beobach‐ ters hinsichtlich seines eigenen Verhältnisses zum beobachteten Gegen‐ stand. Als Gegenstand einer theoretischen Betrachtung werde die Praxis zu einem „Schauspiel“, das „von einem Standpunkt außerhalb der Handlungs‐ bühne“ aus beobachtet werde. 243 Diese unaufhebbare Distanz zwischen Theoretiker und den unmittelbar Beteiligten könne nur „bei Strafe des Doppelspiels“ oder des „Doppel-Ichs“ verleugnet werden. 244 Diese Distanz sei nun aber gerade nicht mit einer Interesselosigkeit des Beobachters zu verwechseln, dessen eigene Interessen immer schon mit im Spiel sind. Als das Extrembeispiel einer fatalen „Bewußtseinsspaltung“ beschreibt Bour‐ dieu daher den „Philologismus“, der von den Interessen im praktischen Gebrauch der Texte und zugleich den der Forschungspraxis immanenten 240 Ebd., 165. Zur vorwissenschaftlichen Regel als Hindernis für eine adäquate Theorie der Praxis, vgl. ebd., 188–191. 241 Ebd., 165 f. 242 Ebd. Diese Blindheit bzw. Verdrängung der doxa als konstitutives Element der Praxis bleibe auch einem nur entlarvenden Objektivismus verstellt, vgl. ebd., 197. 243 Ebd., 32. 244 Ebd. Die bewusste Anerkennung dieser Distanz könne dagegen – möglicherweise – Grund eines „geschärften Bewußtseins für die Distanz als auch einer realen Nähe“ werden, sich im Bestfall sogar zu „einer über die kulturellen Unterschiede hinwegrei‐ chenden Solidarität“ (ebd., 33) entwickeln.

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Interessen abstrahiert. 245 Texte oder auch verschriftlichte Praktiken wer‐ den dann irrigerweise so interpretiert, als „hätten sie keinen anderen Da‐ seinsgrund als den, von Gelehrten entziffert zu werden“. 246 Entscheidend für das angemessene Verstehen von Praxis sei vielmehr, sich das Privi‐ leg totalisierender Abstraktion und die theoretische „Neutralisierung der praktischen Funktionen“ bewusst zu halten. 247 Beides ist den unmittelbar Praktizierenden selbst gerade nicht möglich, was die dynamische Logik der Praxis von der statischen „Logik der Logik“ unterscheide. 248 Angewendet auf die Theologie trifft diese Kritik auch jede scheinbar interesselose und kritische, aber darin unausgesprochen den Interessen der akademischen Theologie und deren Binnenkonflikten verpflichteten „Theologentheolo‐ gie“. 249 Wie aber ist die praktische Logik der Praxis dann zu charakterisieren, die sich nach Bourdieu dem synoptischen Schema und der lexikalischen Auflistung ebenso entzieht wie den Ad-Hoc-Erklärungen der Praktizie‐ renden? Die Praxis sei wesentlich der Ort, an dem sich eine Dialektik von „objektivierten und einverleibten Ergebnissen der historischen Praxis“, also von Struktur und Habitus vollziehe. 250 Die Logik dieser Dialektik sei eine „Logik an sich, ohne bewußte Überlegung oder logische Nachprü‐ fung“. 251 Aus theoretisch-logischer Perspektive erscheine sie zunächst als paradoxe Logik, für die der Satz vom Widerspruch nicht gelte, weil sie sich an widersprüchlichen Regeln orientiere und Aussagen hervorbringe, die sich in der direkten Nebeneinanderstellung ausschließen. Diese Para‐

245 Ebd., 37. 246 Ebd. In der Auslegung sakraler Texte (d.h. bei Bourdieu religiöser Schriften, literari‐ scher Klassiker oder wissenschaftlicher Hauptwerke) gehe es für die Beteiligten nie ‚rein‘ um Erkenntnisgewinn oder ein Lektüreerlebnis, sondern immer um „Instrumente aner‐ kannter Macht“ (ebd.), die man sich als kulturelles Kapital aneignen und im eigenen Interesse benutzen will. Dem Philologismus entgehe insbesondere die Dialektik, dass Symbole, Texte oder Ereignisse gerade durch ihre „Mehrdeutigkeit, Überdeterminiert‐ heit oder Indeterminiertheit“ das Interesse an ihrer Auslegung wachhalten, weil sie sich so als „Zankapfel in Auseinandersetzungen eben um die Festlegung des einzig ‚wahren‘ Sinns“ (ebd.) eignen. 247 Ebd., 152. Im Orig. teilw. kursiv. Der wissenschaftliche „Theoretisierungseffekt“ (ebd., 157) setze eine sichere Distanz von der beobachteten Situation sowie die „im Laufe der Geschichte akkumulierten und mit Zeitaufwand erkauften Verewigungsinstrumente der Schrift und der sonstigen Aufzeichnungs- und Analyseverfahren wie Theorien, Metho‐ den, Schemata usw. voraus“ (ebd., 152. Im Orig. teilw. kursiv). 248 Ebd., 157. 249 Für diese polemische, aber durchaus erschließungskräftige Begriffsprägung vgl. Wag‐ ner, Metamorphosen. 250 Bourdieu, Sinn, 98. 251 Ebd., 167.

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doxie lasse sich allerdings praktisch überwinden, indem sie „ausagiert, d.h. in der Zeit entfaltet“ wird. 252 Erst durch die theoretische Schematisierung, die Abblendung der Zeitdimension, die Neutralisierung der Interessen und die Abstraktion vom tatsächlichen Gebrauch treten die Widersprüche her‐ vor. 253 Bourdieus genetische Weiterentwicklung des Strukturalismus zielt somit darauf, die dynamische Zeit- und Verlaufsdimension sowie die In‐ teressengegensätze als konstitutive Aspekte der Praxis in die theoretische Betrachtung einzubeziehen. Die Logik der Praxis sei nun gerade nicht irrational, sondern einer „Öko‐ nomie der Logik“ und damit dem Formalprinzip unterworfen, „daß nicht mehr Logik aufgewendet wird als für die Bedürfnisse der Praxis erforder‐ lich“. 254 Praktisch genutzte Schemata müssen nicht nur ein Bedürfnis nach Schlüssigkeit befriedigen, sondern insbesondere auch „praktisch im Sinne von bequem“ bleiben, „leicht zu beherrschen und zu handhaben“. 255 Die „praktische Schlüssigkeit“ dieser Symbolsystemen folge nicht dem System‐ zwang, sondern vielmehr Bedürfnissen der Praxis, aus denen sich „sowohl ihre Einheitlichkeit und ihre Gesetzmäßigkeiten als auch ihre Verschwom‐ menheit und Unregelmäßigkeiten“ erklären lassen. 256 Sei in all ihren Her‐ vorbringungen unmittelbar eine gewisse „Einheitlichkeit des Stils“ wahr‐ nehmbar, habe diese dennoch „nichts von der strikten und überraschungs‐ losen Schlüssigkeit aufeinander abgestimmter Erzeugnisse eines Plans“. 257 Charakteristisch für praktisches Handeln sei nicht die durchgängige Kohä‐ renz seiner Prinzipien und Produkte, sondern im Gegenteil eine „Zwiespäl‐ tigkeit“ und Deutungsoffenheit der Axiome, Symbole und Praktiken. 258 Die Funktionsweise praktischer Logik ruhe weniger auf der Kenntnis abstrak‐ ter Prinzipien auf, sondern setze voraus, dass sie durch „ein praktisches

252 Ebd. 253 Vgl. ebd., 157. In früheren Texten war Bourdieu selbst davon ausgegangen, dass der Satz vom Widerspruch für die praktische Logik nicht gelte. Später korrigiert er dies als Missverständnis, das ihm selbst ausgehend von der strukturalistischen Abblendung der Dimension Zeit unterlaufen sei. 254 Ebd., 158. Herv. im Orig. 255 Ebd. 256 Ebd., 157. Im Orig. teilw. kursiv. 257 Ebd., 187. 258 Ebd., 26. Die praktischen Schemata sowie deren Anwendung in einer Praxissituation weisen notwendig ein Minimum an „Ungewissheit“ und „Unschärfe“ (ebd., 28) auf. Je‐ der Überschritt „von höchster Wahrscheinlichkeit zu absoluter Gewißheit“ (ebd., 182) sei daher ein qualitativer Sprung, der in der Praxis und damit auch der soziologischen Theorie unmöglich sei.

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Lernen der Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsschemata“ ein‐ geübt werde. 259 Nimmt man diese Beobachtungen Bourdieus theologisch ernst, dann er‐ scheinen ein dogmatistischer Determinimus, der die religiöse Praxis ausge‐ hend von abstrakten Lehrprinzipien oder einem allzu eng gefassten ‚Wesen des Christentums‘ gleichzuschalten versucht, als wenig plausibel. Auch in der religiösen Praxis dürften die Erzeugnisse eher auf ein Set praktisch schlüssiger, relativ unscharfer Prinzipien rückführbar, als aus einem Ge‐ füge widerspruchsloser und bewusster Prinzipien deduzierbar zu sein. Ent‐ spricht dann aber religiösen und kirchlich-verbindlichen Lehrgefügen eher das Integrationsmodell der theoretischen Logik oder das der praktischen Schlüssigkeit? Die ökonomisch-unscharfen Prinzipien der praktischen Lo‐ gik leben in ihrem Gebrauch und ‚sitzen‘ als eine geschichtlich gewordene, einverleibte Struktur im Unbewussten des Habitus. Theologisch verweist dies erneut auf die gemeinschaftlichen Ermöglichungsbedingungen reli‐ giöser Praxis, insbesondere auf die Bedeutung kirchlicher Sozialisation. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob nicht immer dann das Ökono‐ mieprinzip einer Beschränkung auf das kritische Minimum generativer Schemata greifen muss, wenn religiöse Lehre in der Frömmigkeitspraxis der Einzelnen tatsächlich praktisch und praktikabel sein, also auch von Nicht-Spezialisten verstanden und kompetent gehandhabt werden soll. Die soteriologische Fokussierung der reformatorischen Lehre könnte genau so eine Funktion erfüllen. 2.2.5 Soziologische und theologische Theoriearbeit Ein theoretischer Gewinn dieser soziologischen Außenperspektive dürfte durch die erfolgte Rekonstruktion hinreichend aufgewiesen sein, insofern sie die Theologie auf die Bedeutung habitualisierter Strukturen hinweist und begründen kann, dass die Entwicklung von Orthodoxiestrukturen eine notwendige, aber ambivalente Konsequenz der Herausbildung eines reli‐ giösen und kirchlichen Feldes ist. Darüber hinaus formuliert Bourdieus ihrem Selbstverständnis nach religions- und theologiekritische Orthodoxie‐ theorie wichtige Anfragen, die an religiöse Institutionen zu richten sind, um im Rahmen ihrer unhintergehbaren Ambivalenz die freiheitsförderli‐ chen Potentiale gegenüber den repressiven Wirkungen zu stärken. Aber lässt sich protestantische Theologie ohne Preisgabe ihres Selbstverständnis‐ ses überhaupt so konzipieren, dass sie die Einsichten Bourdieus aufnimmt 259 Ebd., 31 f. Obwohl diese Schemata sich in verschiedenen Hervorbringungen objektivie‐ ren, bleiben sie als Bedingungen der Möglichkeit alles sinnvollen Handelns und Denkens dennoch selbst „aus der Welt der Denkobjekte ausgeschlossen“ (ebd.).

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und zugleich seine Vorbehalte gegenüber der Theologie als Wissenschaft entkräftet? Diese Frage ist zum Abschluss dieser Teilstudie noch einmal explizit zu diskutieren. Bourdieus Programm der subversiven Theoriearbeit zielt allgemein nicht auf eine Rehabilitation der Alltagsevidenz, sondern auf eine – in der Folge auch politisch wirksame – Aufdeckung und Bewusstwerdung der Verzer‐ rungen, die auch der wissenschaftlichen Erkenntnis „von den epistemo‐ logischen und sozialen Bedingungen ihrer Hervorbringung aufgezwungen werden“. 260 Entscheidend erschwert wird diese Arbeit dadurch, dass auch der machtkritische Theoretiker immer Teil hat an der Dynamik der Felder und selbst Träger eines Klassenhabitus ist. Das „Gesetz sich überkreuzen‐ der Klarsicht und Blindheit“ sorge dafür, dass die theoretische Betrachtung zunächst ihren eigenen Blickpunkt im Rücken habe und so „das Spiel in seinem Gesamtaufbau“ nicht erfassen könne. 261 Daher müsse die soziolo‐ gische Arbeit reflexiv verfahren und den „Kampfschauplatz“ als ein Feld beschreiben, in dem auch der Wissenschaftler selbst immer schon eine Position eingenommen habe. 262 Daraus ergibt sich für die Theologie als erste Forderung, dass sie als kritische Theologie zugleich unhintergehbar positionelle Theologie sein und sich ihrer unausweichlichen (etwa: kon‐ fessionellen, institutionellen oder programmatischen) Positionalität auch bewusst werden muss. 263 a) Bewusstwerdung oder Doppelspiel? Ist diese Einholung der eigenen Position erfolgreich, kann laut Bourdieu die verzerrende Auswirkung des Habitus – zumindest bis zu einem gewissen Grad – „durch Bildung und Information entschärft“ werden. 264 Bedingung ist dafür die „Bewußtwerdung“ der eigenen Bestimmtheit und Voreinge‐ nommenheit, welche die „Aufhebung des unreflektierten Einverständnis‐ ses“ mit den herrschenden Verhältnissen erreichen könne. 265 Diese Be‐

260 Ebd., 53. Vgl. Bourdieu, Entwurf, 327. Allgemein gelte: „Die erkenntnistheoretischen Hindernisse, die sich der Sozialwissenschaft in den Weg stellen, sind zunächst sozialer Natur“ (Bourdieu, Unterschiede, 799). 261 Ebd., 32 f. Im Orig. teilw. kursiv. 262 Ebd., 261. Die „unerläßliche Arbeit an der Konstruktion des Kampfplatzes“ (Ebd., 798) müsse immer auch „das intellektuelle Feld und seine Interessenkonflikte“ (ebd.) einbe‐ ziehen. Vgl. Bourdieu, Sinn, 256–258. Zum Versuch einer Anwendung dieser Erkennt‐ nis auf den eigenen Fall vgl. Bourdieu, Selbstversuch. 263 Entsprechend wäre Rösslers breit rezipierte Unterscheidungsfigur von positioneller und kritischer Theologie zu modifizieren, vgl. Rössler, Theologie. 264 Bourdieu, Unterschiede, 686. 265 Ebd., 378. Im Orig. teilw. kursiv. Im Extrem könne dabei „der amor fati umschlagen [...] in odium fati“ (ebd. Herv. im Orig.).

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wusstwerdung vollziehe sich als subversive „Wühlarbeit“, die Bourdieu als eine Art Initiationsvollzug beschreiben kann. 266 Das Unternehmen der Kri‐ tik setze zudem immer einen „epistemologischen und zugleich damit gesell‐ schaftlichen Bruch“ voraus: das „Fremdwerden der vertrauten, familialen und angestammten Welt“. 267 Gefordert sei sowohl der „Bruch mit der unre‐ flektierten Spontanvorstellung über die Sozialwelt“, als auch ein „Bruch mit der gesamten soziologischen Tradition“. 268 Es handle sich dabei um einen profanisierenden Akt. 269 Diese Forderung eines profanisierenden Bruchs betrifft für Bourdieu nun gerade die eigene Zugehörigkeit zum religiösen Feld: Ein Standpunkt jenseits „blinder Verbundenheit und partieller Klarsicht“ lasse sich nur durch „schonungslose Objektivierung“ und „schmerzhafte Trennung“ er‐ reichen. 270 Werde diese Trennung verweigert, komme es zum Doppelspiel einer „Erbauungswissenschaft“ oder Gelehrtenreligion, die gleichzeitig wis‐ senschaftliche und positiv-religiöse Interessen verfolge, um „sowohl von der (scheinbaren) Wissenschaftlichkeit als auch der Religiosität zu profitie‐ ren“. 271 Nur scheinbar diesem Doppelspiel enthoben sei auch die Strategie des arrivierten Häretikers, der durch das provozierende Überschreiten ei‐ ner heiligen Grenze innerhalb des religiösen Feldes „von der Transgression wie zugleich von der Zugehörigkeit profitieren“ wolle. 272 In keinem dieser Fälle könne die „Beherrschung der mit der Zugehörigkeit wie der Nicht-Zu‐ 266 Bourdieu, Sinn, 257 (im franz. Original: l’action subversive). Den Zweck seiner litera‐ rischen Ausarbeitung einer kritisch-genetischen Soziologie sieht Bourdieu darin, den Leser in diese Reflexionsbewegung hineinzunehmen: „den kritischen Bruch, aus dem sie selbst hervorgegangen ist, neuerlich selbst zu vollziehen“ (Bourdieu, Unterschiede, 15). 267 Ebd., Herv. im Orig. 268 Ebd., 208. Es sei ein hohes Maß an sprachlicher Disziplin und eine bewusste Kontrolle der Terminologie beizubehalten, damit die Wissenschaft nicht wieder in die Vorurteile der Alltagswelt und eine unbewusste Parteilichkeit zurücksinke, vgl. ebd., 277; 795 f. 269 Mit Blick auf die Kultur kann Bourdieu davon sprechen, eine „sakrale Schranke nieder‐ zureißen“ und die „kulturelle Weihe“ (ebd., 26) bestimmter Gegenstände, Personen und Situationen zu entzaubern. 270 Bourdieu, Soziologie, 229. 271 Ebd. Besonders nahe liege diese Gefahr bei der Beschäftigung mit einer „von allem Ri‐ tualismus gereinigten Religion“ (ebd., 230), der viele Religionssoziologen biografisch und soziologisch selbst nahe stehen. Leicht komme es dabei zum kognitivistischen und intellektualisierenden Missverständnis, „Glaubensüberzeugungen als mentale oder diskursive Repräsentationen“ (ebd.) zu betrachten. Eine spiegelbildliche Gestalt dieses Doppelspiels ist die Rehabilitation des Mythos durch die „vieldeutigen Lesarten der ‚philomythischen‘ Mythologen“ im Interesse einer „Wiedervergeistigung der entgeisti‐ genden Wissenschaft“ (Bourdieu, Sinn, 14). Diese münde in einen „regressiven und irrationalistischen Kult des Ursprünglichen“ (ebd., 15). 272 Bourdieu, Unterschiede, 778, Anm. 35. Ein typisches Beispiel für diese Strategie er‐ kennt Bourdieu in der Selbstinszenierung der poststrukturalistischer Philosophen wie

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gehörigkeit einhergehenden Interessen“ gelingen, die erst Bewusstwerdung der eigenen Verstrickungen und umfassende Klarheit über das Spiel ermög‐ licht. 273 Eine reflexiv-selbstkritische Haltung, wie sie für wissenschaftliche Erkenntnis der sozialen Wahrheit notwendig ist, wird verfehlt. Aus theologischer Sicht ist Bourdieus Problemanzeige verschlungener Interessenlagen durchaus erhellend, doch ist zu fragen ob diese Doppel‐ spiele der Erbauungswissenschaft, der Gelehrtenreligion oder der arrivier‐ ten Häresie die einzigen Möglichkeiten sind, theologische Wissenschaft zu betreiben. Die Überzeugungskraft dieses Einspruchs dürfte davon abhän‐ gen, ob Theologie wissenschaftstheoretisch zur vollständigen Objektivie‐ rung ihres Standpunktes und zur radikalen Einklammerung ihrer Voraus‐ setzungen bereit ist. 274 Dass Bourdieu diese Möglichkeit nicht in Erwägung zieht, verwundert schon deshalb, weil für ihn die Forderung des Bruchs gerade auch Religionskritiker oder religiös Distanzierte betrifft: Soziolo‐ gisch betrachtet sei „der militante Nichtglaube auch nur ein umgekehrter Glaube“. 275 Und selbst der unwahrscheinliche Fall einer ganz interesselosen Haltung zur Religion bedeute keine schlechthin privilegierte Erkenntnispo‐ sition, laufe diese doch Gefahr, die auf dem religiösen Feld wirkenden In‐ teressen zu verkennen und mangels praktischer Vertrautheit entscheidende Details zu übersehen. 276 Insofern erscheint es nicht ausgeschlossen, dass auch Theologinnen und Theologen die von Bourdieu geforderte Selbst‐ objektivierung der eigenen Position und Perspektive vollziehen können, die ihnen eine methodische Kontrolle ihrer Eigeninteressen erlaubt. Bour‐ dieus religions- und theologiekritische Voreingenommenheit dürfte hier mit seiner grundsätzlichen Perspektive auf die religiöse Praxis als einer die Herrschaft stabilisierenden Sozialtechnologie zusammenhängen, aber auch mit seiner inhaltlichen Bestimmung der christlichen Glaubensgehalte aus‐ gehend von einem die sozialen Konflikte verschleiernden Familienideal. 277

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J. Derrida und M. Foucault: Eine (nur scheinbar) „radikale Infragestellung“ der philo‐ sophischen Orthodoxie finde ihre Grenze unweigerlich in den „Interessen, die sich aus der Zugehörigkeit zum Feld der philosophischen Produktion ergeben“(ebd., 776). Bourdieu, Soziologie, 228. Für ein solches Programm sei hier nur verwiesen auf Pannenberg, Wissenschaftstheo‐ rie. Bourdieu, Soziologie, 228. Ein religiöses Interesse bedeute, „dass Religion, Kirche, die Bischöfe, das darüber Geäußerte mich angehen“ (ebd., 225) – egal, welche Position man daraufhin bezieht. Dies gelte gerade für den „Abtrünnigen, der mit der Institution noch abzurechnen hat“ und „durch seinen Kampf bezeugt [...], dass er noch immer dazu ge‐ hört“ (ebd., 226). Vgl. ebd., 226 f. Vgl. dazu prägnant Bourdieu, Unterschiede, S. 689.

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b) Explikation und Mobilisierung Bourdieu geht es in seiner theoretischen Arbeit nicht zuletzt auch um eine konkret-politische Wirksamkeit seiner Gesellschaftsanalyse, wobei die Be‐ wusstwerdung und das offene Aussprechen über die Strukturen als indi‐ rekte Bedingung politischer Mobilisierung erscheinen. Denn erst kraft des „jeglicher Explikation innewohnenden Mobilisierungseffekts“ könne es zu kollektiv-koordiniertem Handeln einer Gruppe kommen. 278 Eine solche Gruppe ermögliche wiederum die politische Manifestation einer expliziten Ideologie, in der die so mobilisierte Gruppe ihrer Leitidee nachdrücklich einen „Anspruch auf Verwirklichung“ verleihe. 279 Als das Grundproblem der politischen Mobilisierung stelle sich die Aufgabe einer „Transforma‐ tion von Erfahrung in Diskurs“ sowie einer Umwandlung „des unformu‐ lierten Ethos in konstituierten und konstituierenden Logos“. 280 Hier liegt ein letzter Ansatzpunkt für eine theologische Theorie religiöser Lehre und Lehrentwicklung. Das Explizit-Werden von religiöser Lehre im Akt des Bekenntnisses oder auch mittels einer Kodifizierung als kirchliches Lehr‐ bekenntnis dürfte ebenfalls eine notwendige Bedingung dafür darstellen, dass es zur Mobilisierung einer religiösen Gruppe mit einer geteilten Sicht auf die Welt, einer gemeinsamen Erfahrungswelt und einer eigenen konfes‐ sionellen Identität kommt. Gerade im Interesse der beherrschten Klassen müsse es sein, die „resi‐ gnative Abfindung mit den Gegebenheiten der gesellschaftlichen Ordnung“ durch eine „ausdrücklich formulierte Auffassung von dieser Ordnung“ zu ersetzen. 281 Solange diese allerdings auf eine von „professionellen Diskurs‐ produzenten“ geschaffene Sprache angewiesen seien, bestehe immer die Gefahr, dass diese „geborgte Sprache“ sich der souveränen Beherrschung durch die Beherrschten entziehe und zudem den „spontanen politischen Diskurs der Beherrschten“ zerstöre. 282 Im besten Fall diene ihnen der „Gebrauch einer routinierten und Routine verleihenden Sprache“ als „Ge‐ dächtnisstütze“ und „Verteidigungsmittel“, doch erscheine sie schnell als 278 Ebd., 621. Zum Kampf um Mobilisierung und Demobilisierung, der anhand der Klassi‐ fikationssysteme geführt wird, vgl. ebd., 748–751. 279 Ebd., 647. 280 Ebd., 720. Die geteilten Erfahrungen einer Gruppe können sich „in höchst abweichen‐ den Diskursen wiedererkennen“ (Ebd.) Dies eröffne vielfältige Strategien, die sich der „Diskrepanz zwischen Nominellem und Realem“ (ebd., 751) bedienen, um die eigene Position in der Sozialwelt zu verbessern: „sich der Wörter zu bemächtigen, um in den Besitz der Dinge zu kommen, oder auch der Dinge in der weiteren Hoffnung, bald auch die sie sanktionierenden Wörter zu erhalten“ (ebd.). Vgl. Bourdieu, Sinn, 202 f. 281 Bourdieu, Unterschiede, 720. 282 Ebd., 722.

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„leerlaufende Sprache, einer automatischen Maschine gleich, die ihre ka‐ nonischen Formeln und Losungen ausspuckt“. 283 Leicht verstricke sie die Benachteiligten in eine „kaputte Sprache“ mit Pathos aufgeladener und doch unfreiwillig lächerlicher Wortfolgen, die ihre Sprecher durch abge‐ nutzte Phrasen letztlich „der Erfahrung beraubt, die sie doch zum Ausdruck bringen sollte“. 284 Aus dieser Kritik entfremdeter und „vorgestanzter“ 285 Sprache lassen sich wichtige Anfragen an die Sprachgestalt religiöser Lehraussagen und ih‐ ren Gebrauch in der Frömmigkeit entwickeln. Wenn diese Analyse zutrifft, dann wäre immer mit einem zumindest ambivalenten Effekt formelhaft ge‐ prägter Lehrausagen auf die religiöse Mündigkeit zu rechnen: Einerseits stellen diese Formeln wichtige Instrumente für den Austausch über ge‐ teilte Erfahrungen, mithin für die religiöse Mobilisierung einer Gruppe und ihre soziale Manifestation als Kirche oder Konfession bereit. Andererseits können sie auch dazu genutzt werden, die Erfahrungen insbesondere von sozial benachteiligten Menschengruppen zu vereinheitlichen und zu ver‐ gleichgültigen. Die Frage ist hier, welcher Umgang mit religiösen Bekennt‐ nissen es ermöglicht, ein Gemeinbewusstsein als Kirche zu schaffen und zu kultivieren, ohne den religiösen Ausdruck individueller Erfahrungen an die Sprachkonventionen einer schablonenartigen, vorurteilsbehafteten oder intellektualistischen Binnensprache zu binden. Dass eine soziale Ma‐ nifestation konkurrierender Interessengruppen grundsätzlich wünschens‐ wert und nicht vielmehr zu vermeiden ist, ergibt sich aus Bourdieus Analyse des religiösen Feldes ebenso wie aus dem Ziel einer Bewusstwerdung der sonst nur latent wirksamen Gegensätze in der Gesellschaft. 2.2.6 Ertrag: Grundlinien kritischer Orthodoxietheorie Worin ist der theologische Ertrag zu sehen, den diese ausführliche Ausein‐ andersetzung mit Bourdieus sozio-ökonomischen Analysen der religiösen und kirchlichen Konfliktdynamik für die Behandlung des Lehrproblems bietet? Über die bereits während der Rekonstruktion hervorgehobenen Ein‐ zelbeobachtungen hinaus sind hier noch einmal fünf grundlegende Anre‐ gungen als vorläufiges Ergebnis dieses Teilkapitels herauszustellen. Der erste Ertrag dieser Betrachtungsweise ist darin zu sehen, dass sie mit dem Habitusbegriff durchgängig darauf verweist, wie stark religiöses Han‐ deln und auch religiöse Ausdrucksformen von vorreflexiven, unbewussten,

283 Ebd., 723. 284 Ebd., 722. 285 Vgl. ebd., 678.

P. Bourdieu: Eine soziologische Annäherung

einverleibten Strukturen geprägt sind. 286 Ein kognitivistisch verengtes Ver‐ ständnis von Religion läuft dagegen Gefahr, die praktische Logik gelebter Frömmigkeit in ihrer Eigenart zu verkennen und sich selbst stattdessen ein theologisches Artefakt unterzuschieben. Wenn die Einbettung der Lehre als religiöser Aussageform in die Lebensformen der religiösen Praxis und die Prozesse religiöser Sozialisierung dagegen berücksichtigt wird, lassen sich die Beziehungen dieser verschiedenen Größen angemessener bestimmen und möglicherweise auch eine Reihe scheinbarer Widersprüche auflösen, die aus der theoretischen Eliminierung der Zeitdimension hervorgehen. Der artikulierte und fixierte Lehrbestand erscheint dann als ‚Spitze des Eis‐ berges‘ der religiösen Praxis, ohne dass seine theologische Bedeutung damit geschmälert oder bestritten würde. Zweitens führt die konfliktsoziologische Perspektive Bourdieus den In‐ teressenbegriff als zentrale Kategorie einer Theorie religiöser Lehre ein. Diese Einführung des Interessenbegriffs im Rahmen einer Ökonomie der Praxisformen wirkt hinsichtlich des Lehrbegriffs dynamisierend und ver‐ komplizierend, insofern nicht mehr das ‚philologische‘ Kohärenzbedürf‐ nis der Theologinnen und Theologen oder das – verschleierte – Legiti‐ mierungsbedürfnis der dominanten Fraktionen in Gesellschaft und Kirche als alleinige Beurteilungsmaßstäbe dienen. Stattdessen können auf dieser Grundlage auch die konvergierenden oder widerstreitenden Interessen ver‐ schiedener Klerusfraktionen und Laiengruppen in den Blick kommen. Der Interessenbegriff bietet folglich die Möglichkeit, eine spannungsvolle Plu‐ ralität von Bedürfnissen und Strategien innerhalb einer Konfession oder Kirche differenziert und realitätsnah abzubilden. Im Fall einer Abschlie‐ ßung des kirchlichen Feldes wird es ansatzweise möglich, zwischen bin‐ nenreligiösen und außerreligiösen Interessen zu unterscheiden, doch darf aufgrund der Homologie der Felder nicht ausgeblendet werden, dass in der Lehrentwicklung immer mit einer engen Verflechtung religiöser und nicht-religiöser Motive zu rechnen ist. Wenn Bourdieu nachdrücklich die Fiktion der zentralen Lenkung durch eine ‚macchiavellistische Verschwö‐ rung‘ zurückweist und einschärft, dass religiöse und theologische Entwick‐ lungen in der Regel nicht Einzelsubjekten, sondern eigentlich der Logik des Feldes zuzuschreiben sind – könnte das aus theologischer Perspektive nicht eine pneumatologische Deutung der Lehrentwicklung vorbereiten?

286 Vgl. zu diesem Punkt auch Saalmann, Bourdieu, 36. An dieser Stelle setzt die theologi‐ sche Rezeption Bourdieus für die Entwicklung einer praxeologischen Hermeneutik an, die H. W. Schäfer in verschiedenen Texten zusammenhängend ausgearbeitet, aber damit in der Theologie bislang kaum Resonanz gefunden hat. Für eine knappe Darstellung vgl. Schäfer, Hermeneutik.

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Lehre als Symbolsystem: Außertheologische Annäherungen

Drittens lässt sich mit Hilfe des Feldbegriffs auch die inhärente Tendenz religiöser Gemeinschaften erklären, einen Bestand an artikulierter Lehre und autorisierten Lehrinstitutionen auszubilden. Diese Orthodoxiestruk‐ turen werden durch ein Zusammenwirken von Sozialisationsvollzügen, Bil‐ dungsprozessen und ritueller Inszenierung offizialisiert und mit Legitima‐ tion, also Geltung ausgestattet. Bei einer solchen Offizialisierung handelt es immer um einen Macht- und Definitionskampf – ein Konfliktgeschehen, in dem die Interessen verschiedener Gruppen aufeinander treffen. Allein die‐ ser Kampf um die Definitionsmacht darüber, was als orthodox und legitim gelten kann, hält das religiöse Interesse wach. Nur, weil es Orthodoxie gibt und diese von ‚häretischen‘ Positionen angefochten werden kann, ja ange‐ fochten wird, ‚geht es um etwas‘ für die Beteiligten am religiösen Spiel – es wird Sozialkapital sowie symbolisches Kapital erzeugt. Orthodoxiestrukturen erscheinen allerdings auch aus einer religiösen Binnenperspektive als ambivalente Errungenschaft: Einerseits sind sie un‐ verzichtbar für die Abschließung eines autonomen Feldes religiöser Pro‐ duktivität und dessen Dynamik, für die Erzeugung und Verteilung von re‐ ligiösem Kapital sowie die Reproduktion religiöser Bedürfnisse und Habi‐ tusformen – fromm gesprochen: für den gemeinschaftlich gelebten Glaube. Orthodoxiestrukturen ermöglichen darüber hinaus als Institutionen den Einzelnen einen Freiheitsspielraum im Rahmen gewisser Grenzen, entlas‐ ten von Entscheidungsdruck, balancieren im historischen Wandel Stabilität und Flexibilität aus. Insofern sie ein Feld der Meinungen offenhalten und damit den Schein der Doxa, also der unhinterfragten wie unhinterfrag‐ baren Selbstverständlichkeit, aufheben, führen sie selbst die Möglichkeit ihrer Kritik herauf. Denn als Fixpunkt für eine mögliche oder tatsäch‐ lich vollzogene Selbstverortung spannt die erhobene Fahne der Orthodo‐ xie das religiöse Feld mehr oder weniger heterodoxer ‚Gefechtsstellungen‘ auf, während im Zustand der Doxa die namenlos-schicksalhafte Macht der Tradition oder die ungebrochene Logik der Herrschaft waltet. An‐ dererseits wirken Orthodoxiestrukturen auch und gerade für diejenigen, die sie tief verinnerlicht haben, immer zugleich als Korsett, das sich bis in den Leib einschreibt. In den Händen der religiösen Eliten sind sie ein Machtinstrument. Als normierte und normierende Sprachformen können sie insbesondere die beherrschten Klassen in der Artikulation authenti‐ scher Erfahrungen einschränken, durch die bloße Behauptung einer sym‐ bolischen Ordnung mit privilegierten Positionen können sie schließlich das Denken an soziale Hierarchien gewöhnen. Daher kann die theolo‐ gische Aufgabe nie nur in der Verteidigung und Pflege dieser Orthodo‐ xiestrukturen bestehen, sondern diese müssen durch die Theologie auch einer Kritik zur Begrenzung ihrer repressiven Wirkungen unterzogen wer‐ den.

P. Bourdieu: Eine soziologische Annäherung

Viertens sind Orthodoxiestrukturen dialektisch mit der gleichursprüng‐ lichen Möglichkeit der Häresie verwoben, sie stellen sich mithin strukturell selbst in Frage und setzen damit eine theologische Konfliktdynamik frei. Eine religiöse Großinstitution, wie viele christlichen Kirchen sie bilden, muss um ihrer Stabilität willen einerseits starke gesellschaftliche Gegen‐ sätze und auseinanderstrebende Interessen versöhnen, was zu Vereinheit‐ lichungsarbeit und symbolischer Repräsentation zwingt. Zugleich muss auf dem kirchlichen Feld andererseits eine Spannung widerstreitender Inter‐ essen innerhalb des Klerus wachgehalten werden, um mit einer ausdiffe‐ renzierten Palette religiöser Angeboten eine Vielfalt von unterschiedlichen Laienbedürfnissen zu bedienen. Denn nur so lassen sich rasche Lösungen für neu auftretende – und teils zuvor gar nicht absehbare! – Probleme generieren. An den unvermeidlichen Widersprüchen dieser doppelten Auf‐ gabenstellung setzt nun die prophetische oder intellektuelle Kritik an der kirchlichen Institution an, die etwa im Namen kompromissloser Wahr‐ heitsorientierung die Gegensätze verschleiernde Rhetorik der Kirchenlei‐ tung angreift. Wenn diese prophetische Kritik sich mit den Interessen einer dominierten Fraktion des Klerus und bestimmten Laienbedürfnissen ver‐ binden kann, entsteht schnell eine revolutionäre Dynamik. Die Frage ist dann: Kann diese Infragestellung sozusagen als Reformation in eine neue Orthodoxie integriert werden oder führt sie zu Schisma und Religionskrieg? Laut Bourdieu trägt jede festgefügte Gestalt der Kirche schon den Keim einer neuen Reformation in sich. Diese Dialektik von Orthodoxie und Häresie stillzustellen, hieße: Das religiöse Kapital bezieht seine Wertzuschreibung nicht mehr aus genuin religiösen Konflikten um kirchliche Rechte und Positionen, sondern ist mit fixem Wechselkurs an eine andere Kapitalsorte gekoppelt. Damit wäre auch das religiöse Feld als autonome Gesellschaftssphäre aufgehoben und zum Reflex der politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Sphäre degra‐ diert – eine Tendenz, die Bourdieu in den 80ern zu beobachten meint und aufgrund seiner Beschreibung der pseudowissenschaftlichen „neuen Heils‐ lehren“ ausgesprochen kritisch beurteilt. 287 Das Ideal ganzheitlicher Selbst‐ optimierung, das diese esoterisch-therapeutischen Heilslehren propagie‐ ren, scheint für Bourdieu der Religion als sozialdisziplinierendes Herr‐ schaftsinstrument noch überlegen zu sein und zudem durch das Fehlen einer greifbaren Organisationsgestalt oder fixierten Lehre jede effiziente Kritik zu unterlaufen. Bourdieus Theorie stellt fünftens auch eine kritische Anfrage an das wis‐ senschaftstheoretische Selbstverständnis der Theologie dar. Sollte tatsäch‐

287 Vgl. Bourdieu, Auflösung.

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lich allein eine „Soziologie der sozialen Determinanten der soziologischen Praktik“ 288 dazu in der Lage sein, hinsichtlich der religiösen Praxis einen reflexiv eingeholten Standpunkt jenseits der „Alternative von Voreinge‐ nommenheit und Unvoreingenommenheit“, jenseits des „komplizenhaften Blicks“ oder der „reduktionistischen Sicht“ einzunehmen? 289 Könnte sich nicht auch auf theologischem Weg die „Willkürlichkeit der sozialen Kon‐ ditionierungen“ durchschauen sowie ein kritisch-wissenschaftliches Ver‐ hältnis zum Glauben und der Dynamik des religiösen Feldes gewinnen lassen? 290 Will die Theologie diesen Beweis praktisch antreten, dann sollte sie dazu zumindest auch die Beschreibungstechniken einer am Feldbegriff orientierten Konfliktsoziologie in ihren Methodenkanon aufnehmen. Lässt sich unter Einbeziehung dieser Sozialperspektive, die sich gegenüber philo‐ logisch-hermeneutischen Analysen der Binnenstruktur religiöser Symbol‐ systeme komplementär verhält, der Vorwurf einer Erbauungswissenschaft abwehren und in den positiven Anspruch einer kritischen, aber dennoch auch konstruktiven Orthodoxietheorie umwenden? Wird dabei mit Bour‐ dieu die Gleichursprünglichkeit und dialektische Verflochtenheit von Or‐ thodoxie und Häresie durchschaut, dann sollte dies dazu führen, diesen Gegensatz zu entmoralisieren – also eine Voreingenommenheit zugunsten von Orthodoxie und Tradition abzulegen, ohne einer Ketzerromantik oder Affinität zum Gestus des ‚arrivierten Häretikers‘ zu verfallen. Bourdieu schärft durch seine wissenschaftssoziologischen Analysen ins‐ besondere den Blick für das Problem der Perspektivität wissenschaftlicher Theoriearbeit: Der eigene theologische Standpunkt, das spezifisch theolo‐ gische Verhältnis zur religiösen Praxis sowie eine Kartographie des religi‐ ösen wie wissenschaftlichen Feldes müssten reflexiv in die Theologie selbst eingeholt werden, damit diese einer umfassend kritischen und damit erst im Vollsinn wissenschaftlichen Behandlung ihres Gegenstandes fähig wird. Dies lässt sich einerseits als präzisierende Reformulierung der Grundunter‐ scheidungen von kirchlicher Lehre und theologischer Reflexion verstehen. Darüber hinaus spricht dies aber auch für eine spezifisch-gebrochene Kon‐ fessionalität der Theologie. Denn jede uneingestandene Voreingenommen‐ heit bezüglich einer bestimmten Konfession würde unter diesem Blickwin‐ kel eine Preisgabe des wissenschaftlichen Anspruchs bedeuten, während ein konfessionell gänzlich unvoreingenommener Standpunkt als leere Ab‐

288 Bourdieu, Soziologie, 230. 289 Ebd., 228. Vgl. Bourdieu, Unterschiede, 778–780. Zur Kritik an Bourdieus Soziologis‐ mus, also seinem soziologischen Überbietungsanspruch gegenüber anderen Theorieper‐ spektiven, vgl. Fröhlich, Art. Kritik, 402 f. 290 Bourdieu, Soziologie, 230. Vgl. auch die Einleitung in Kreutzer/Sander, Religion, 12 f.

Zusammenschau der Außenperspektiven

straktion oder alternativ als Selbsttäuschung erscheinen muss. Will man als Theologin den verzerrenden Einfluss dieser faktisch bestehenden Bin‐ dungen an eine (im weiten Sinne) konfessionelle Perspektive begrenzen, muss man sie sich bewusst machen, sie reflektieren und methodisch kon‐ trollieren – also den eigenen Konfessionsbezug explizit, aber selbstkritisch gebrochen mitführen. Lässt sich auf dieser Grundlage das Verhältnis der Konfessionen als eine produktive Spannung verstehen, die allererst eine volle Inkulturation des Christentums in die Gesellschaft und die Lebendig‐ keit der christlicher Frömmigkeitskulturen hervorbringt? Wenn die Theologie dagegen beansprucht, sich als unparteiische Instanz jenseits des Gegensatzes von Orthodoxie und Heterodoxie bzw. Häresie zu platzieren, kann dies im Rahmen der Theorie Bourdieus nur dreierlei hei‐ ßen. Entweder sie steht selbst faktisch auf dem Standpunkt der Orthodoxie oder – seltener – der Häresie, ohne sich in ihrer nur halben Klarsichtigkeit dieser Parteilichkeit voll bewusst zu sein. Alternativ könnte sie gar nicht theologischen Interessen folgen, sondern das Spiel der sog. Doxosophen spielen, die auf verschiedenen Feldern daran arbeiten, die Bewusstwerdung und Artikulation von Interessengegensätzen zu verhindern und die Will‐ kür der bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu naturalisieren. 291 Schließ‐ lich könnte sie noch eine Auflösung des religiösen Feldes postulieren oder dieses zugunsten eines anderen Feldes (etwa: des kulturellen Feldes, des politischen Feldes oder eines um die ‚neuen Heilslehren‘ erweiterten Sinn‐ deutungsmarktes) überschritten haben – auch in diesem letzten Fall wäre sie aber den Gegensatz von Orthodoxie und Häresie gerade nicht los, der nach Bourdieu ja auf all diesen Feldern homologe Anwendung findet. Von diesen drei Möglichkeiten erscheint allein die letzte auf wissenschaftliche Weise möglich, doch muss im Rückblick konstatiert werden, dass eine sol‐ che Auflösung oder Aufhebung des religiösen Feldes bislang noch immer voreilig konstatiert wurde. 2.3 Zusammenschau der Außenperspektiven Die rekonstruierten Perspektiven aus dem Bereich von Kulturanthropolo‐ gie und Soziologie können dazu beitragen, den zur Behandlung des Lehr‐ problems verwendeten Begriffsapparat und die theoretischen Modelle zur Beschreibung der Lehrentwicklung zu schärfen. Begriffe wie Orthodoxie und Häresie können ihres polemischen Gehalts entkleidet und gegen den 291 Zu diesen „scheinbaren Gelehrten und Gelehrten des Scheins“, die den Diskurs entpo‐ litisieren und insbesondere die beherrschten Klassen durch ein habitualisiertes „Gefühl der Wertlosigkeit“ lähmen wollen, vgl. Bourdieu, Unterschiede, 641.

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Lehre als Symbolsystem: Außertheologische Annäherungen

Vorwurf abgesichert werden, bloß polemische Beurteilungsbegriffe ohne klar bestimmbaren Sachbezug zu sein. 292 Für die nicht-theologischen Per‐ spektiven von C. Geertz und P. Bourdieu wurde bereits jeweils einzeln ein summarischer Ertrag formuliert. Aber welche Übereinstimmungen und Differenzen zeigen sich, wenn man diese Zugänge noch einmal miteinander ins Gespräch bringt? Gemeinsam weisen beide Zugänge auf die Bedeutung oder auch Unaus‐ weichlichkeit dessen hin, dass religiöse Praxis mit inhaltlich bestimmten Symbolsystemen umgeht. Sie erhellen zudem jeweils auf ihre Weise die Prozesse, im Zuge derer solche Symbolsysteme eine artikulierte Gestalt als Lehre annehmen und soziale Geltung beanspruchen. So werfen sie ein Licht darauf, wie religiöse Lehre strukturiert ist – eben als sprachliche Ar‐ tikulationsform verkörperter und praktisch gehandhabter Symbolsysteme, die in gemeinschaftlich-rituellen Praktiken sozial manifestiert werden und eine Metaphysik (bzw. Epistemologie) ebenso notwendig implizieren wie ein korrespondierendes Ethos. Beiden teilen die Erkenntnis, dass eine ge‐ wisse Mehrdeutigkeit der rituellen Vollzüge und religiösen Botschaften kein Mangel ist, sondern vielmehr eine Ermöglichungsbedingung für ihre praktische Anwendbarkeit und Aneignung durch verschiedene Gruppen. Dennoch kann diese Mehrdeutigkeit zu religiösen Konflikten führen, wie Geertz anhand eines gescheiterten Begräbnisrituals auf Java beschreibt, oder einen Ansatzpunkt für theologische Kritik bieten, weshalb Bourdieu eine typische Aversion der intellektuellen Theologie gegen die verschlei‐ ernden Sprachformeln einer kirchlichen Kompromisskultur identifiziert. Die Mehrdeutigkeit der religiösen Botschaft erscheint als Grund ihrer An‐ passungsfähigkeit, aber auch ihrer theologischen Strittigkeit. Sieht Geertz die Geltung religiöser Systeme in der rituellen Inszenierung einer Über‐ einstimmung von Symbolwelt und letzter Wirklichkeit verwurzelt, wächst bei Bourdieu den Regeln des religiösen Feldes ihre Geltung primär durch einen familiären Sozialisationsprozess zu, der den praktischen Glauben an das religiöse Spiel, seine Einsätze und Regeln hervorbringt. Bei der Heraus‐ bildung und Offizialisierung von Orthodoxiestrukturen erkennt allerdings auch Bourdieu die konstitutive Rolle von Ritualen an. Hinsichtlich anderer Beobachtungen lassen sich die beiden Zugänge in ein kritisches Verhältnis zueinander bringen. Geertz könnte man mit Bourdieu vorwerfen, dass seine Theorie zwar die hermeneutische Funk‐ tion religiöser Lehre herausarbeitet, aber nicht hinreichend berücksichtigt, wie tiefgreifend sich der Charakter eines solchen Symbolsystems im Zuge 292 Für die Bedeutungsverschiebungen und den Funktionswandel von Begriffen wie Hä‐ resie, Sekte und Ketzerei in der kirchlich-theologischen Gegenwartssprache vgl. Wir‐ sching, Wahrheit.

Zusammenschau der Außenperspektiven

seiner sprachlichen Artikulation, Verschriftlichung und Systematisierung ändert. Der Doppelcharakter des theoretischen Modells als Beschreibung und Norm, der laut Geertz auch für religiöse Symbolsysteme konstitutiv ist, erscheint dann als Verschleierung der Unterscheidung von theoreti‐ scher und praktischer Logik, Regelmäßigkeit und Regel. Allerdings nimmt das Gewicht dieses Einwands ab, sobald man es wie im Fall des westli‐ chen Christentums mit einer Religion zu tun hat, die sich die Techniken der schematisierenden Objektivierung und die Doppeldeutigkeit des Mo‐ dell- bzw. Regelbegriffs selbst zunutze macht, man könnte auch sagen: in ihren Vollzügen selbst Praxis und Theorie als religiöse Lehre konstitutiv aufeinander bezieht. Gegenüber Bourdieu ist mit Geertz stärker die rela‐ tive Eigenständigkeit des kulturellen und religiösen Systems gegenüber den Klassenkämpfen um die Herrschaftsstruktur der Gesellschaft festzuhalten. Die Homologie verschiedener Felder (oder bei Geertz: das Verhältnis der verschiedenen Integrationstypen von kulturellen und sozialen Systemen) bedeutet nur in seltenen Grenzfällen ein völliges Überlappen oder eine ein‐ seitige Indienstnahme, normalerweise handelt es sich wohl eher um eine wechselseitige Interdependenz relativ selbständiger Größen. Entwicklun‐ gen in der Geschichte der kulturellen Felder, die sich primär aus deren innerer Logik und inhaltlicher Bestimmtheit ableiten lassen, können auf das Feld der sozialen Gegensätze zurückwirken – und so mit Blick auf die Herrschaftsstruktur sowohl stabilisierend-affirmative als auch dynami‐ sierend-destruktive Wirkung entfalten. Es leuchtet daher nicht ein, wenn Bourdieu die Religion faktisch dann doch einseitig als Herrschaftsinstru‐ ment der politisch dominierenden Klasse funktionalisiert. Abschließend ist im Interesse einer evangelisch-theologischen An‐ schlussfähigkeit dieser Theorien die Frage zu stellen, wie sich das spezifisch protestantische Verständnis von Glaube zu diesen nicht-theologischen Beschreibungen religiöser Praxis verhält. Geertz klammert Fragen nach der religiösen Wahrheit und der ‚Innenwelt‘ der Beteiligten wissenschaftstheo‐ retisch aus dem Gegenstandsbereich seiner Theorie aus, die sich auf die Deutung der äußeren Objektivierungen und beobachtbaren Verhaltens‐ weisen beschränkt. 293 Bourdieu dagegen bemüht sich an zentraler Stelle immerhin um den Nachweis, dass jeder „Versuch, den Glauben in der Logik der Entscheidung zu denken“, notwendig in Paradoxien stürze. 294 Glaube sei nicht durch eine bewusste Entscheidung gewählt, sondern stelle sich unwillkürlich ein – dies ist in hohem Maße an Anliegen einer reformatorischen Theologie anschlussfähig, die es in weiten Teilen eben‐

293 Vgl. RakS, 93 f. 294 Bourdieu, Sinn, 93.

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falls ablehnt, den Glauben nach dem Modell einer freien Entscheidung zwischen gleichberechtigten Alternativen zu denken. Allerdings behauptet Bourdieu ausgehend von dieser Beobachtung, dass sich der „tatsächliche Glaubenserwerb“ in einem Sozialisationsprozess mittels einer „unmerkli‐ chen, d.h. ständigen und unbewußten Konditionierung“ durch Sprache und sozialen Umgang vollziehe. 295 Dies kommt einer Vorstellung des Glaubens nahe, die bereits Luther mit Blick auf eine bestimmte Rezeption des aristotelischen Habitusbegriffs durch die spätmittelalterliche Theologie zurückgewiesen hatte. 296 Denn ebenso unzureichend wie ein frei gewählter Glaube erscheint aus der Perspektive der lutherischen Rechtfertigungslehre die Vorstellung, dass sich der Heilsglaube durch die kirchliche Sozialisation oder eine schrittweise Gewöhnung in der Wiederholung religiöser Prakti‐ ken herausbildet. Will man hier nicht in die Verlegenheit der scholastischen Theologie ge‐ raten, der Gewöhnung durch Sozialisation einen übernatürlichen Habitus entgegenstellen zu müssen, sollte man Bourdieus Konzeption des Glaubens‐ erwerbs daher zurückweisen. Gerade dieser – aus protestantischer Sicht unzureichende – Versuch, den individuellen Glauben allein auf der Basis von Sozialisationsprozessen zu erklären, legt dagegen nahe, religiöse Pra‐ xis, kirchliche Lehre und persönlichen Glauben strikt kategorial zu unter‐ scheiden. Hinsichtlich des Zustandekommens dieses Glaubens ist gegenüber Bourdieu nicht zuletzt auf dessen eigene Erkenntnis zu verweisen, dass sich in der sozialen Sphäre menschlichen Handelns ein kategorialer Überschritt von höchster Wahrscheinlichkeit zu absolute Gewissheit verbietet. 297 Dass und wann es innerhalb der religiösen Praxis zum Glauben kommt und die‐ ser Glaube als unbedingtes Vertrauen die Wahrscheinlichkeitsurteile hinter sich lässt, ist theologisch betrachtet immer ein unverfügbares Geistgesche‐ hen und den Erklärungsversuchen theologischer Wissenschaft entzogen. Ungeachtet dessen erscheint es auch theologisch sehr plausibel, gegenüber aktualistischen und dezisionistischen Konzeptionen des Glaubens auf die Bedeutung familiärer, gesellschaftlicher und kirchlicher Sozialisationspro‐ zesse hinzuweisen, die Einzelnen überhaupt erst einen Raum eröffnen, in dem es zur persönlichen Begegnung mit der Evangeliumsbotschaft und da‐ mit zum christlichen Glauben kommen kann. Der Habitualisierung religi‐ öser Symbolsysteme durch stetige Frömmigkeitspraxis dürfte für das Wirk‐ samwerden des Glaubens im Leben und für die Befestigung dieses Glaubens angesichts innerer wie äußerer Anfechtungen eine wichtige Bedeutung zu‐ kommen, ohne den Glauben doch kausal zu begründen. 295 Ebd. 296 Zu Luthers Kritik am Habitusbegriff vgl. Ebeling, Luther, 169–177. 297 Vgl. Bourdieu, Sinn, 182.

3 Bekenntnis der Lehre: Lutherische Lehre in der Reformationszeit Im vorangegangenen zweiten Kapitel ließ sich plausibel machen, dass es sich bei den sprachlichen Artikulationsformen religiöser Symbolsysteme, die im christlichen Kontext traditionell als ‚Lehre‘ oder doctrina bezeich‐ net werden, um eine auch kultur- und sozialwissenschaftlich beschreibbare Größe handelt, die sich aufgrund struktureller Erfordernisse gemeinschaft‐ lich praktizierter Religion herausbildet. Dabei wurde auch der Blick für die hermeneutischen und sozialen Funktionen dieser Lehrbildungen geschärft. Religiöse Lehre im weiten Sinn vermittelt als zugleich darstellendes und erschließendes Symbolsystem zwischen den Vorstellungen, die sich Men‐ schen von der letzten oder ‚wirklichen Wirklichkeit‘ (Clifford Geertz) ma‐ chen, und gemeinschaftlich-rituellen Praktiken, wobei sie in vorbewussten Habitusformen wurzelt und wiederum auf diese zurückwirkt. Gestalt als artikuliertes Lehrbekenntnis gewinnt ein solches Symbolsys‐ tem insbesondere durch die innere Dynamik der Konflikte auf dem re‐ ligiösen Feld, das allerdings in Wechselwirkungen mit anderen Sphären der Gesellschaft steht – insbesondere mit den Feldern der Politik und der Kulturvermittlung. Nach Pierre Bourdieu hat sich dort, wo der Gegensatz von Orthodoxie und Häresie als Kategorie etabliert ist, zugleich das reli‐ giöse Feld als eigenständiges Feld herausgebildet und abgeschlossen. Das bedeutet, dass religiöse Konflikte sich an einer spezifisch-religiösen Grund‐ unterscheidung orientieren, statt lediglich die Gegensätze auf anderen ge‐ sellschaftlichen Felder abzubilden – für die abendländische Christenheit ist hier auf die exemplarische Konstellation des mittelalterlichen Investitur‐ streits zu verweisen, im Zuge dessen die Kirche um das Recht kämpft, den Konflikt um das Bischofsamt primär innerhalb des Klerus auszutragen und die politische Einflussnahme des Kaisers zum sekundären Faktor herun‐ terzustufen. Wo der Gegensatz von Orthodoxie und Häresie in Geltung steht, hat die ‚rechte Lehre‘ ihren sozialen Sitz im Leben der Institutio‐ nen, derer sich eine religiöse Gemeinschaft für ihre soziale Reproduktion über die Generationen hinweg bedient. Dabei bleibt die gelehrte Tätig‐ keit ihrer Auslegung und Fortschreibung immer verflochten mit sozialen Konflikten um das offizielle Bild, das sich die religiöse Gemeinschaft von sich selbst macht, sowie um die Machtverteilung unter den religiösen Ak‐ teuren. In einer kulturwissenschaftlich-ethnographischen Perspektive lässt sich auf dieser Grundlage zwar in gewisser Hinsicht funktionale von dys‐ funktionaler Lehre unterscheiden, aber der religiöse Wahrheitsanspruch, der von religiös Praktizierenden mit der ‚rechten Lehre‘ verbunden wird, bleibt abgeblendet. Im möglicherweise spannungsvollen Gegenüber zu die‐

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sen allgemeinen Bestimmungen ist nun in diesem Kapitel ein genuin christ‐ lich-religiöses Verständnis von Lehre zu erheben. Die Geschehnisse der Reformation setzten die Konstitution eines kirch‐ lichen Feldes bereits voraus, wobei hier ein theologischer Konflikt um die Wittenberger Theologie und ihre Kritik an der Ablasspraxis zunächst das religiöse Feld polarisiert und schnell auch auf andere Felder übergreift. Um die Entwicklung des reformatorischen Lehrverständnisses in seiner inneren Vielfalt abzubilden, müsste man nun eine umfassende Untersu‐ chung der wichtigsten reformatorischen Akteure, ihrer inneren Entwick‐ lung und ihrer Konflikte im Kontext der gesellschaftlichen Rahmenbedin‐ gungen vornehmen. Eine solche Darstellung wird hier nicht beansprucht. 1 Stattdessen soll im Folgenden das reformatorische Lehrverständnis in sei‐ ner klassisch-lutherischen Gestalt seinen grundlegenden Zügen nach rekon‐ struiert werden. Für diese Aufgabe wird aufgrund der historischen und wir‐ kungsgeschichtlichen Bedeutung dieses Vorgangs die Zusammenstellung der lutherischen Bekenntnistexte des Konkordienbuchs zum Ausgangs‐ punkt genommen. 2 Dieses Konkordienwerk steht als Abschluss einer refor‐ matorischen Suchbewegung und Dokument der Trennung vom reformiert geprägten Protestantismus zugleich am Beginn einer in sich pluralen luthe‐ rischen Konfessionalisierung. 3 Daneben wird auf zwei theologische Lehr‐ kompendien Philipp Melanchthons zurückgegriffen, die einen Einblick in die spezifisch akademische Gestalt lutherischer Lehrvermittlung erlauben. Die untersuchten Texte entsprechen damit den verschiedenen institu‐ tionellen Orten, an denen die Lehre im Leben der lutherischen Kirchen der Reformationszeit verankert wird: Mit dem Augsburger Bekenntnis, sei‐ nen Vorreden und seiner von Melanchthon verfassten Apologie wird die Ursituation reformatorischen Bekennens aufgerufen und daraus der offi‐ zielle Lehrbegriff der reformatorisch gesinnten Stände erhoben, wie er in der Folge auch reichsrechtliche Geltung erlangt hat (3.1). Mit zwei Ausga‐ ben des dogmatischen Lehrkompendiums aus der Feder Melanchthons, den Loci communes von 1521 und den Loci praecipui von 1559, wird daneben eine Lehrgestalt in den Blick genommen, die speziell für die universitäre Ausbildung sowie die kontroverstheologische Auseinandersetzung zur Dar‐

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Zur historischen Kontextualisierung der lutherischen Bekenntnisschriften vgl. ausführ‐ lich Wenz, Theologie. Vgl. außerdem den konzentrierten Überblick bei Slenczka, Theo‐ logie, 95–152. Für eine systematische Darstellung der Theologie der Bekenntnisschriften vgl. klassisch Brundstäd, Theologie; vgl. Schlink, Theologie. Als neuere Darstellungen vgl. Wenz, Theologie; vgl. Slenczka, Theologie. Vgl. etwa Hoffmann, Barock; vgl. Wallmann, Rolle; vgl. Dingel, Concordia; vgl. Kauf‐ mann, Bekenntnis.

Proklamation der Lehre: Das Augsburger Bekenntnis und seine Apologie

stellung gebracht ist (3.2). Aus Luthers Katechismen lässt sich ein kulturell äußerst wirkmächtiges Programm entnehmen, wie die christliche Lehre und eine ihr entsprechende Frömmigkeit in Kirchengemeinde und Haus‐ gemeinde allen mündigen Laien vermittelt werden sollte (3.3). Schließlich markiert die Konkordienformel zusammen mit der Sammlung, Auslegung und Bekräftigung der lutherischen Bekenntnisschriften im Konkordien‐ buch den Abschluss eines Kanonisierungsprozesses, dessen Ergebnis zumin‐ dest in den Territorien des konkordistischen Zweigs des Luthertums und an den jeweiligen Landesfakultäten als verbindliche Klärung innerlutherischer Streitfragen anerkannt wurde (3.4). 4 3.1 Proklamation der Lehre: Das Augsburger Bekenntnis und seine Apologie Der Anspruch des maßgeblich von Philipp Melanchthon verfassten Augs‐ burger Bekenntnisses wird in den beiden Vorreden der Editio princeps von 1531 knapp dargelegt: Es sollen keine neuen Lehrsätze gegen die Auto‐ rität der Schrift und der allgemeinen Kirche verkündet werden, sondern lediglich die Kernstücke der christlichen Lehre klar vorgelegt und den Geg‐ nern gegenüber die Abschaffung offensichtlicher Missbräuche begründet werden. 5 Die Artikel der Confessio Augustana teilen sich folglich in eine wiederholende Bekräftigung der Hauptstücke christlicher Lehre einerseits 6 und andererseits die Kritik gegenwärtiger Missstände, die vor dem Hin‐ tergrund dieser Lehre nicht ohne Schaden am Gewissen toleriert werden

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Diese Rekonstruktion ist geleitet von einem systematischen Interesse und folgt daher bewusst nicht der historischen Entwicklung, die mit Melanchthons Erstfassung der Loci communes und Luthers Katechismen zu beginnen hätte. Ist im Folgenden für die Interpre‐ tation meist der lateinische Text maßgeblich, wurden dennoch möglichst überall deutsche Übersetzungen angefügt. Vgl. BSELK, 85, Z. 16–19: „nullum dogma contra autoritatem scripturae sanctae et Catho‐ licae Ecclesiae profiteamur, Sed quod nostri optimo iure quosdam abusus reprehenderint et praecipuis locis doctrinae Christianae, quae ad it tempus perniciosissimis opinionis obruti fuerant, lumen attulerint“. Vgl. auch ebd., 89, Z. 11 f.: „doctrinam ex scripturis sanctis et puro verbo dei“. Erneut aufgegriffen wird dieser Anspruch zu Beginn der Dar‐ stellung der Missbräuche, vgl. ebd., 132, Z. 6–8; außerdem in der Schlusspassage, vgl. ebd., 223, Z. 1–7. CA Art. I–XXI, vgl. ebd., 92–131. Diese „Articuli fidei praecipui“ (ebd., 93, Z. 24) seien die „summa [...] doctrinae apud nos“ (ebd., 131, Z. 4), deren Kern das rechtfertigungs‐ theologische Lehrstück De iustitia fidei bzw. die doctrina poenitentiae und die doctrina fidei bilden, vgl. ebd., 85, Z. 19–26.

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Bekenntnis der Lehre: Lutherische Lehre in der Reformationszeit

können. 7 Die reformatorisch Gesinnten wollen mit ihrem Bekenntnis aller Welt Rechenschaft darüber ablegen, an welcher verbindlichen Grundlage sie sich in ihren Gebieten – in den Lehrinstitutionen und insbesondere auf den Kanzeln – orientieren. 8 Adressiert werden alle redlichen und klugen Menschen, die sich mit dem Text in seiner herausgegebenen Form ihr eige‐ nes Bild von der Schrift- und Traditionsgemäßheit der lutherischen Lehre machen können und sollen. 9 Hier wird bereits eine bislang im Rahmen dieses Buches noch kaum beachtete politische Funktion der Lehre sichtbar: Auch die politische Ob‐ rigkeit und die Gesellschaft sollten ein Interesse daran haben, dass religi‐ öse Gemeinschaften, die sich als Einheit innerhalb eines geteilten Raumes um bestimmte Praktiken und Lehren gesammelt haben, ihre verbindliche Grundlagen offenlegen. Erst auf dieser Grundlage werden eine sachorien‐ tierte Beilegung von Konflikten zwischen einzelnen Gemeinschaften und auch die Kooperation im Rahmen geteilter Interessen möglich. Auf beides zielt die Confessio Augustana als Grundbekenntnis der reformatorischen Stände. 3.1.1 Die Lehre des Evangeliums Beim Augsburger Bekenntnis handelt es sich also um die knappe Darstel‐ lung eines unter den reformatorischen Gesandtschaften ausgehandelten Lehrkonsenses, der spätestens seit seiner Drucklegung auch an eine breitere Öffentlichkeit als nur den in Augsburg versammelten Reichstag adressiert ist. 10 Es zielt auf umfassenden Konsens in der kirchlichen Lehre und damit ineins den Frieden innerhalb der einen Christenheit, wie insbesondere in der Vorrede an den Kaiser herausgestrichen wird. 11 Der Wille zur ehrli‐ chen Bemühung um Eintracht in der Christenheit sei durch den aktuellen Dissens in der Lehre nicht aufgehoben, doch stehe diese unter einem Vor‐

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CA Art. XXII–XXVIII, vgl. ebd., 132–219. Diese sind „Articuli, in quibus recensentur abusus mutati“ (ebd., 133, Z. 1). Zum Aufbau des Augsburger Bekenntnisses und dessen systematischen Implikationen vgl. Slenczka, Theologie, 182–212. 8 Vgl. ebd., 89, Z. 10–13; vgl. ebd., 222, Z. 7–9. 9 Vgl. ebd., 85, Z. 14 f.: „omnes bonos ac prudentes viros ubique gentium“; vgl. ebd., 221, Z. 1–8. 10 Zu den historischen Vorgängen in Augsburg vgl. Wenz, Theologie, Bd. 1, 351–418; vgl. Slenczka, Theologie, 158–181. 11 Vgl. BSELK, 87, Z. 9–15; vgl. ebd., 89, Z. 19–24. Ziel sei (nach der deutschen Übertra‐ gung): „wie wir alle under einem Christo sind und streitten, Also auch alle inn einer gemeinschafft, kirchen und einigkeit zu leben“ (ebd., 86, Z. 14–16). Auf den für das christ‐ liche Wahrheitsbewusstsein konstitutiven Gemeinschaftsbezug, der sich im Augsburger Bekenntnis ausspricht, weist Wirsching hin, vgl. Wirsching, Wahrheit, 164.

Proklamation der Lehre: Das Augsburger Bekenntnis und seine Apologie

behalt: Möglich seien Zugeständnisse im Namen der concordia Christiana nur, sofern sie auch „mit Gott und gewissen“ (lat. cum Deo et bona conscien‐ tia) vereinbar seien. 12 Denn die Bindung an die Wahrheit des Evangeliums lasse den Bekennenden keine Wahl. 13 Als Zielperspektive festgehalten ist die umfassende Klärung aller Streitfragen im Rahmen eines allgemeinen Konzils, welches durch den Akt einer feierlichen und öffentlichen Protes‐ tation der reformatorisch gesinnten Stände eingefordert werden soll. 14 Der erste Artikel des Bekenntnisses setzt mit einer Behauptung der Katholizität der reformatorischen Lehre ein, wobei diese als Kontinuität zu den altkirch‐ lichen Konzilien verstanden wird: „Ecclesiae magno consensu apud nos docent Decretum Nicenae Synodi de unitate essentiae divinae et de tribus personis verum et sine ulla dubitatione credendum esse.“ 15 Auf diese Weise markiert das Bekenntnis gleich eingangs seinen Anspruch, den Konsens der wahren Kirche zu allen Zeiten und an allen Orten angesichts gegen‐ wärtiger Infragestellungen neu und kraftvoll zur Sprache zu bringen. Diese Kontinuitätsbehauptung wird in den folgenden Artikeln durch die erneute Verwerfung altkirchlicher Häresien sowie eine Einbeziehung gegenwärti‐ ger Gegner in die Schemata altkirchlicher Grenzziehungen unterstrichen. 16 Ist das Augsburger Bekenntnis selbst eine Darstellung der christlichen Lehre, 17 wird die Notwendigkeit solcher Lehre inhaltlich über den Begriff des Evangeliums eingeholt: Das Evangelium „leret, das wir durch Chris‐ 12 BSELK, 90, Z. 5 (lat. ebd., 91, Z. 6). 13 Vgl. ebd., 85, Z. 31 f.: „Neque nunc possunt deserere patrocinium veritatis“ (dt.: „Und wir können jetzt nicht die Verteidigung der Wahrheit aufgeben“, Übs. TG). Im Anschluss wird als biblischer Beleg für diese Haltung Mt 10,32f zitiert. 14 Vgl. ebd., 93, Z. 22 f. Zu dieser Perspektive gehört auch das Angebot, eine weitere Erläute‐ rung der summarisch bekannten Lehre oder strittiger Einzelartikel vorzulegen, vgl. ebd., 222, Z. 8–10/223, Z. 17–20; vgl. auch ebd., 709, Z. 6–9. 15 Ebd., 93, Z. 26–28 (dt.: „Erstlich leren und halten wir eintrechtiglich laut des Beschlus Concilii Niceni, das ein einig Göttlich wesen sey, welches genent wird und warhafftiglich ist Gott, und sind doch drey personen inn dem selbigen einigen Göttlichen wesen“ , ebd., 92, Z. 25–94, Z. 1). 16 In seiner Apologie des Bekenntnisses beklagt Melanchthon, dass die Gegner den refor‐ matorisch gesinnten Theologen fälschlicherweise in der Zeit der Alten Kirche verworfene Häresien unterzuschieben trachten, vgl. ebd., 661, Z. 10 f. Zurecht weisen Seebaß und Leppin im Kommentar auf die Problematik dieses von beiden Seiten geübten Verfahrens hin, bekannte Ketzerbezeichnungen als „typologisierte, polemische Chiffren“ (ebd., 94, Anm. 45) zu verwenden. 17 Die Artikel des ersten Teils beginnen in der Regel mit den Formeln: „Item docent, quod ...“ (ebd., 95, Z. 15 u.ö.) oder „De [Lehrstück] docent, quod ...“ (ebd., 105, Z. 2 u.ö.). Die wenigen Abweichungen von diesem Schema scheinen bewusst gesetzt. So verknüpft der Anschluss „Ut hanc fidem consequamur“ (ebd., 101, Z. 2) den Art. V zum Predigtamt aufs Engste mit dem Rechtfertigungsartikel Art. IV. Mit quanquam wird Art. VIII direkt als Fortführung des Kirchenartikels Art. VII gekennzeichnet. Art. XX zum Glaube und den

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tus verdienst ein gnedigen Gott haben, so wir solchs gleuben“. 18 Diese im Rechtfertigungsartikel konzentrierte Lehre des Evangeliums sei fest in der Schrift begründet und praktisch darauf ausgerichtet, dem Glauben gewis‐ sen Grund zu geben sowie alle angefochtenen Gewissen zu trösten. 19 Hier wird deutlich, dass die reformatorische Bedeutung der rechten Lehre dieser zunächst inhaltlich aus dem Christusgeschehen und ihrer Trostfunktion für die Einzelnen zuwächst, die in der Verkündigung dieses Heilsgesche‐ hens begründetet ist. Dieser Gewissenstrost ist bereits das wirksame Heil, das den Glaubenden verheißen ist. Aus dieser soteriologischen Funktion, das Evangelium der Christusbotschaft lehrend zu vergegenwärtigen, leitet sich allererst die ekklesiologische Bedeutung der Lehre für die Ordnung der kirchlichen Vollzüge ab, wozu wiederum notwendig die Abgrenzung von falscher Lehre gehört. Das Predigtamt (lat. ministerium verbi) kann im Augsburger Bekenntnis folglich als kirchliches Lehramt (lat. ministerium docendi Evangelii) be‐ stimmt werden, weil nirgends ein Gegensatz zwischen Evangeliumspredigt und kirchlicher Lehre aufgebaut wird, Lehrbegriff und Evangelium viel‐ mehr eng aufeinander bezogen sind. 20 Sind Evangeliumspredigt und Feier der Sakramente die beiden Kernvollzüge der Kirche, dann sind auch Ein‐ tracht in der Lehre und grundlegende Übereinstimmung hinsichtlich der Sakramente das einzige Kriterium für Zugehörigkeit zur wahren Kirche: „Denn dieses ist gnung [lat. satis est] zu warer einigkeit der Christlichen

Werken fällt nicht nur sprachlich, sondern auch im Umfang und nicht zuletzt sachlich aus der Reihe, insofern er als Verteidigung gegen eine Anklage bereits auf den zweiten Teil der Streitfragen verweist. 18 Ebd., 100, Z. 5f (lat.: „Evangelium, scilicet quod Deus non propter nostra merita, sed propter Christum iustificet hoc, qui credunt“, ebd., 101, Z. 5f). Bereits Christus selbst habe nach dem Verständnis der deutschen Übertragung des Augsburger Bekenntnisses das Evangelium „in eine richtige und kurtze Summa“ von lehrhafter Gestalt gebracht, „nemlich das man leren sol bus und vergebung der sund inn seinem namen“ (ebd., 116, Z. 19–21). 19 Vgl. ebd., 116, Z. 33–118, Z. 1. Die Lehre vom Verhältnis des Glaubens zu den Werken be‐ treffe „die ehre Christi und solchen hohen trost der gewissen“ (ebd., 120, Z. 7 f.), weshalb sie „ernstlich in der Christenheit getrieben“ (a.a.O., Z. 9) müsse: „magnopere fuit opus hanc doctrinam de fide in Christum tradere et renovare, ne deesset consolatio pavidis conscientiis, sed scirent fide in Christum apprehendi gratiam et remissionem peccatorum et iustificationem“ (ebd., 123, Z.12–14). 20 Vgl. Art. V, ebd., 100 f., in Verbindung mit Art. XIV, ebd., 108 f. Im Vergleich der deut‐ schen mit der lateinischen Fassung ist zu erkennen, dass die Verben lat. docere, dt. ‚lehren‘ und ‚predigen‘ zwar möglicherweise nicht strikt identisch, aber doch weitgehend aus‐ tauschbar gebraucht werden. Die Verkündigung des Evangeliums wird damit primär verstanden als Lehrpredigt, vgl. ebd., 102 f. Zum Verhältnis von Verkündigung, Lehre und Theologie bei Luther und Melanchthon vgl. Wallmann, Theologiebegriff, 37–40.

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kirchen, das da eintrechtiglich nach reinem verstand das Evangelium gepre‐ digt [lat. consentire de doctrina Evangelii] und die Sacrament dem Göttli‐ chen wort gemes gereicht werden.“ 21 Diese Kernvollzüge der Kirche dürfen keinesfalls ungeordnet bleiben – insbesondere nicht die öffentliche Lehre (lat. in Ecclesia publice docere). 22 Zugleich wird hier ein grundsätzliches Prinzip reformatorischer Lehrbildung formuliert, das die Definition ver‐ bindlicher Lehre reguliert und auf das Notwendige beschränkt: Insofern diese Kernvollzüge betroffen und in ihrer Schriftgemäßheit bedroht sind, sind Festlegungen der Lehre unerlässlich. Die Ordnung und Ausgestaltung der kirchlichen Institutionen sind dagegen grundsätzlich variable „Mittel‐ dinge“ (griech. ἀδιάφορα). 23 Dieses Prinzip einer kritischen Beschränkung des normativ fixierten Lehrbestands soll im Folgenden als Satis-Prinzip oder Prinzip der Lehrgenügsamkeit bezeichnet werden. Dabei ist zu be‐ rücksichtigen, dass sich diese Selbstbeschränkung nicht auf alle Anwen‐ dungsmöglichkeiten und den Gesamtbestand der Lehre, sondern nur auf die explizit fixierte Lehre in ihrer kirchenordnenden Funktion bezieht. Anliegen des Augsburger Bekenntnisses ist, den apostolischen Konsens zu proklamieren, der unverzichtbar ist, damit die im Christusgeschehen ge‐ gründete und in der Rechtfertigungsbotschaft zentrierte Lehre der Kirche für die Einzelnen als tröstendes Evangelium wirksam werden kann. 24 In diesem Grundkonsens wissen sich die Vertreter der reformatorisch gesinn‐ ten Theologen und Stände gebunden – und für ihn wollen sie die Zustim‐ mung von Kaiser und Christenheit einholen.

21 BSELK, 102, Z. 11–13 (lat. ebd., 103, Z. 8f). Hinsichtlich dieser Lehre gibt es unterschied‐ liche Grade der Reinheit und Klarheit, so dass manches Missverständnis erträglicher (lat. tolerabilior) ist als andere, vgl. ebd., 117, Z. 27; 133, Z. 11. In diesem neuen Kirchenver‐ ständnis sieht Notger Slenczka das inhaltliche Zentrum des Augsburger Bekenntnisses, vgl. Slenczka, Theologie, 209–226. 22 Vgl. BSELK, 109, Z. 11 f. Vgl. ebd., 208 f. 23 So könne man „unbilliche traditiones lindern und relaxirn, wie denn zu offtermal tradi‐ tiones inn der kirchen von wegen gelegenheit der leufft und zeit geendert sind“ (ebd., 216, Z. 4–6; lat.: „Multae enim traditiones humanae tempore mutatae sunt“ (ebd., 217, Z. 20 f.). Zu den zulässigen Gründen für solche Änderungen vgl. ebd., 217, Z. 19–22: „weilche vil‐ leicht im anheben ettlich ursachen gehabt, aber sie reimen sich nicht zu unsern zeiten“ (lat.: „Fortassis initio quaedam constitutiones habuerunt probabiles causas, quae tamen posterioribus temporibus non congruunt“, ebd., Z. 13–15). 24 Vgl. auch Slenczka, Theologie, 126; 226–229.

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3.1.2 Ausrichtung der Kirche an der Lehre Die reformatorischen Maßnahmen hinsichtlich konkreter Missstände ge‐ ben sich auf dieser Grundlage so zu verstehen, dass die kirchlichen Institu‐ tionen von dieser Bestimmung des Predigtamts und dem Kirchenartikel her bewusst als Lehrinstutionen begriffen und auf ihre Lehrfunktion hin befragt werden. Die Gottesdienstversammlung am Sonntag diene dem Zweck, „das man daran Gottes wort hören und lernen sol“. 25 Die lateinische Liturgie müsse entsprechend um deutschen Gemeindegesang ergänzt werden, um „das volck damit zuleren und zu uben“, weil „alle Ceremonien furnem‐ lich dazu dienen sollen, das das volck daran lerne, was ihm zuwissen von Christo not ist“. 26 Auch die Feste des Kirchenjahres seien eingesetzt, um dem Kirchenvolk „die wunderbarlichen und heilsamen Historien zu leren“, und sollen daher „umb der lar willen gehalten werden“. 27 Die Klöster wer‐ den an der Funktion als kirchliche Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen gemessen, die sie zu früheren Zeiten erfüllt hätten: „Vor zeiten sind die Klöster schulen gewesen, darin man junge leute inn Christlicher lar und andern nützlichen könsten auffgezogen hat, das sie hernach zu regirung der kirchen und zu predigen gebraucht worden.“ 28 Außerdem wird die private Ohrenbeichte neu als eine Art Katechismusverhör konzipiert, bei dem man „die leut höret, wie sie unterricht sind im glauben und wo es not ist, das man sie besser unterricht.“ 29 Zuletzt wird auch das geistliche Amt der Bischöfe dezidiert als Amt kirchlicher Lehraufsicht bestimmt: „Derhalben ist das bischofflich ampt nach gotlichen rechten das evangelium predi‐ gen, sunde vergeben, lere urtheilen und di lere, dem evangeliu entgegen, verwerffen

25 BSELK, 210, Z. 10 f. 26 Ebd., 142, Z. 2–5. Lat.: „Latinis cantionibus admiscentur alicubi Germanicae, quae addi‐ tur sunt ad docentum populum“ (ebd., 141, Z. 18f). 27 Ebd., 210, Z. 12–16. In der Apologie der Confessio Augustana werden die Feste des Kir‐ chenjahres damit begründet, dass sie „multo efficacius admonent vulgus notae rerum, quasi pictae in moribus ac ritibus, quam litterae“ (ebd., 529, Z. 23 f.). 28 Ebd., 164, Z. 3–6. Vgl. lat. ebd., 167, Z. 16–169, Z. 3.: „Olim erant scholae sacrarum litera‐ rum et aliarum disciplinarum, quae sunt utiles Ecclesiae et sumebantur inde pastores et Episcopi. [...] Olim ad discendum conveniebant, nunc fingunt institutum esse vitae genus ad promerendam gratiam et iustitam“. In der Apologie des Bekenntnisses argumentiert Melanchthon, dass Jesus und Paulus die Jungfräulichkeit keinesfalls aufgrund ihrer Ver‐ dienstlichkeit oder um ihrer besonderen Reinheit willen gelobt hätten, sondern, weil diese Lebensform besonders günstige Bedingungen für intensive Schriftmeditation sowie das Lernen und Lehren des Evangeliums schaffe, vgl. ebd., 605, Z. 1–5; 665, Z. 9–13. 29 Ebd., 150, Z. 13–15.

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und di gotlosen, der gotlos wesen uffenbar ist, aus christlicher gemein ausschlissen, on menschlichen gewalt, sondern allein durch Gots wortt“ . 30

Diese bischöfliche Lehrautorität bleibe freilich daran gebunden, dass die Bischöfe keinesfalls „wider das Evangelium leren oder statuirn odder ge‐ bieten“ dürfen. 31 Andernfalls verwirken sie umgehend ihre Autorität und ihr Recht auf den Gehorsam des Kirchenvolks. 32 Der Abschluss des Augsburger Bekenntnisses stellt dieses explizit in einen eschatologischen Horizont. So werden die Bischöfe direkt angespro‐ chen und ermahnt, dass sie für die Wiederherstellung der rechten Lehre und der Ordnung in der Kirche Verantwortung tragen. Andernfalls haben sie sich im Endgericht vor Gott für die Spaltung der Kirche zu verantwor‐ ten: „so mugen sie gedencken, wie sie derhalben vor Got werden antwort geben mussen, dieweil sie mit solicher irer harttigkeit ursach geben zu‐ spalttung und das scisma, das sie doch pillich solten verhueten helffen“. 33 Im Bekenntnis, das vor Kaiser und Reich verlesen wird, stellen die Un‐ terzeichner sich und die von ihnen persönlich verantwortete Lehre unter den Vorbehalt einer eschatologischen Bewahrheitung durch Gott selbst – damit vollzieht sich schon im Akt der Proklamation eine eschatologische Scheidung.

30 Ebd., 195, Z. 1–10 (Marburger Handschrift, Herv. TG). Vgl. lat.: „Item, cognoscere doc‐ trinam et doctrinam ab Evangelio dissentientem reiicere et impios, quorum nota est impietas, excludere a communione Ecclesia sine vi humana, sed verbo“ (ebd., Z. 10–15). Das Bischofsamt habe im Kern nicht mit weltlichen Dingen zu tun, sondern mit einer Lehre über „etwas von ewigem wesen, das ist nicht eusserlich, sonder inn der seel“ (ebd., 192, Z. 3–4). Es dürfe daher nicht übergriffig gegenüber der weltlichen Herrschaft und deren politischen Funktionen werden. 31 Ebd., 194, Z. 10 f. 32 Maßstab dafür ist insbesondere der Rechtfertigungsartikel, vgl. ebd., 206 f. In seinem zunächst Luther zugeschriebenen und in das Konkordienbuch aufgenommenen Traktat über das Papstamt arbeitet Melanchthon die Konsequenzen aus dieser Grenzbestimmung bischöflicher Macht aus, vgl. ebd., 796–837. Die Wiederherstellung einer synodalen, an der Schrift ausgerichteten Lehraufsicht über die Kirche liege in der Verantwortung der christlichen Obrigkeit, vgl. ebd., 822, Z. 3–5. 33 Ebd., 219, Z. 19–25 (Marburger Handschrift). Vgl. lat.: „Quod si nihil remiserint, ipsi viderint, quo modo Deo rationem reddituri sint, quod pertinacia sua causam schismati praebent“ (ebd., Z. 16–20).) Zu diesem eschatologischen Grundton der Bekenntniss‐ schriften vgl. Schlink, Theologie, 224 f. Notger Slenczka führt den eschatologischen und martyriologischen Aspekt der reformatorischen Confessio-Gattung noch einmal auf die Ursituation des Auftreten Luthers auf dem Reichstag zu Worms 1521 zurück, vgl. Slen‐ czka, Theologie, 115–119; 136.

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3.1.3 Verteidigung und Befestigung des Bekenntnisses Mit seiner Apologia Confessionis Augustanae reagiert Melanchthon auf die Confutatio der Gegner. 34 Wiederum appelliert Melanchthon an die gebil‐ dete kirchliche Öffentlichkeit und verweist auf breite Zustimmung zum Augsburger Bekenntnis. 35 Dabei zeigt sich erneut das eschatologische, ja apokalyptische Selbstverständnis des Augsburger Bekenntnisses und sei‐ nes theologischen Verteidigers. Instruktiv ist diesbezüglich die Passage, in der Melanchthon den päpstlichen Legaten Lorenzo Campeggio auf die Notwendigkeit endzeitlicher Spaltungen in der Kirche verweist: „Ihr Ro‐ manisten, sehet, das diese die letzten zeiten seind vor dem Jüngsten tag, von welchen Christus warnet, das viel ferligkeit sollen vorfallen in der kir‐ chen“. 36 Melanchthon erinnert Campeggio daran, dass Theologen für ihre Lehre nicht nur dem Kirchenvolk, sondern vor allem dem dereinst wieder‐ kehrenden Christus Rechenschaft geben müssen. Melanchthon erklärt, dass er sich dem traditionellen Sprachgebrauch der Kirche weitgehend angeglichen habe, um die Zustimmung der Gegner und damit den umfassenden Konsens in der Kirche nicht zu behindern. 37 Trotz‐ dem sei er in seiner Darstellung und Erläuterung der christlichen Lehre durch die offenbare Wahrheit des Evangeliums sowie die wesensmäßigen Erfordernisse der Kirche gebunden: „Denn sol ein Christlich kirche sein, sol ein Christenglaub sein, so mus jhe ein predigt und lare darinnen sein, dadurch die gewissen auff kein wahn noch sandgrund gebauet werden, son‐ dern darauff sie sich gewis verlassen und vertrauen mügen.“ 38 Die reine

34 Zu den Problemen der komplexen Überlieferungsgeschichte und unterschiedlichen Text‐ gestalten der Apologie vgl. BSELK, 234. Ausführlich vgl. C. Peters, Apologia. 35 Vgl. BSELK, 242 f. Zu dieser Öffentlichkeit gehört nicht zuletzt der Kaiser, den Melan‐ chthon in der Apologie mitunter direkt anspricht, vgl. ebd., 434 f.; 478–581. Dass die Confutatio des Augsburger Bekenntnisses vorerst nicht veröffentlicht wurde, wird als im‐ plizites Eingeständnis der Schwäche und damit der Wahrheit der reformatorischen Lehre betrachtet, vgl. ebd., 487, Z. 12–18. 36 Ebd., 486, Z. 11–13. Vgl. lat. ebd., 487, Z. 7 f. 37 Vgl. ebd., 240, Z. 8–11: „Ich habe mich bisher, soviel mir müglich gewesen, geflissen, von Christlicher lehr nach gewonlicher weis zu reden und zu handeln, damit man mit der zeit deste leichtlicher zusamenrücken und sich vergleichen könde “ (lat.: „Semper hic meus mos fuit in his controversiis, ut, quantum omnino facere possem, retinerem formam usitatae doctrinae, ut facilius aliquando coire concordia posset.“, ebd., 241, Z. 5–8). Für die reformatorischen Stände gelte: „Non delectat nos discordia“ (ebd., Z. 19f). Sofern sie von der reformatorischen doctrina de iustitia fidei abweichen, bezeichnet Melanchthon die Lehren seiner Gegner allerdings polemisch als doctrinas daemoniorum, vgl. ebd., 441, Z. 8–10. 38 Ebd., 316, Z. 8–12. Knapp und präzise in der lateinischen Fassung: „Et oportet in Ec‐ clesia exstare doctrinam, ex qua concipiant pii certam spem salutis“ (ebd., 317, Z. 7 f).

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Lehre des Evangeliums (lat. pura doctrina Evangelii) sei neben der Feier der Sakramente das entscheidende Kennzeichen der wahren Kirche. 39 Nicht die Traditionen der Apostel (lat. ritus ab Apostolis sumptus), sondern die Lehre der Apostel (lat. doctrina Apostolorum) sei folglich in der Kirche zu bewah‐ ren und zu überliefern. 40 Die Lehre habe eine solche zentrale Bedeutung für das Kirchesein der Kirche, dass selbst weitgehende Missbräuche und Schwächen der kirchlichen Organisation zu tolerieren wären, solange nur die Lehre rein erhalten bliebe. 41 Diese sei der wahre Schmuck der Kirche. 42 Übergreifendes Ziel der evangelischen Lehre ist für Melanchthon der Trost in der Anfechtung, weshalb für ihn der – recht verstandene – Recht‐ fertigungsartikel die Gesamtheit der Lehre umgreifend integriert. 43 Diese

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Vgl. auch ebd., 397, Z. 5 f. Für eine grob umrissene Zusammenfassung der notwendigen Lehrstücke, welche in der reformatorische Predigt regelmäßig zu verhandeln sind, vgl. ebd., 539, Z. 3–10. Vgl. ebd., 407, Z. 12 f. Den Kirchenartikel des Augsburger Bekenntnisses führt Melan‐ chthon auf das Apostolische Glaubensbekenntnis zurück, in welchem die Kirche als Ver‐ sammlung (lat. congregatio) und Gemeinschaft (lat. societas) der Heiligen verstanden sei, vgl. ebd., 401, Z. 10–16. Es handle sich beim reformatorischen Kirchenbegriff keinesfalls – wie die gegnerische Polemik behaupte – um eine civitas Platonica, sondern um eine in der Welt sichtbare und an klaren Merkmalen identifizierbare Größe, vgl. ebd., 407, Z. 10–15. Vgl. ebd., 417, Z. 26–28. Der Glaubensartikel von der Vergebung der Sünde verweise die Kirche dabei auf ihr bleibendes Fundament, das in Christus grundgelegt sei, vgl. ebd., 409, Z. 1–6. Vgl. ebd., 707, Z. 18–25: „Sed haec vitia utcumque condonari possent, si tamen con‐ servassent puram doctrinam in Ecclesiis. [...] Haec doctrinae confusio praecipuum est scandalum et maxime perniciosum“ (dt.: „Diese Laster könnten auf irgendeine Weise noch vergeben werden, wenn sie dennoch die reine Lehre in der Kirche bewahrt hätten. [...] Diese Verwirrung der Lehre aber ist der größte Anstoß und höchst verderblich“, Übs. TG). Vorausgesetzt ist für Melanchthon immer, dass Christenmenschen für das Bekennt‐ nis zur rechten Lehre auch das Martyrium in Kauf nehmen müssen, vgl. ebd., 487, Z. 19f; 557, Z. 11 f. Vgl. ebd., 639, Z. 27: „verus ornatus est Ecclesiarum doctrina pia, utilis et perspicua, usus pius sacramentorum, oratio ardens et similia“ (dt.: „Denn der rechte, eusserlich kirchen‐ schmuck ist auch rechte predig, rechter brauch der Sacrament und das das volck mit ernst dazu gewehnet sey und mit fleis und züchtig zusamenkome, lerne und bete“, ebd., 638, Z. 34–37). Die doctores werden von Melanchthon deshalb auch wiederholt herausgeho‐ ben aus der Menge der Gaben, mit denen Gott seine Kirche beschenkt, vgl. ebd., 563, Z. 6. Vgl. ebd., 396, Z. 4–7: „Das ist der rechte bestendige trost, welcher inn anfechtungen bestehet, damit die hertzen und gewissen können gesterckt und getröstet werden, nem‐ lich das umb Christus willen durch den glabuen uns vergebung der sunde, gerechtigkeit und ewiges leben geben wird“ (lat.: „Non enim communicatur nobis meritum passionis Christi, nisi id fide apprehendamus et opponamus adversus terrores peccati et mor‐ tis“ (ebd., 397, Z. 5–7). Der rechtfertigende Glaube ermögliche, dem zornigen Gott die Vergebung der Sünde in Christus vorzuhalten, vgl. BSELK, 287, Z. 1–4. Zur allgegenwär‐ tigen Möglichkeit der Anfechtung im Leben des Glaubenden vgl. ebd., 331, Z. 10–16. Die

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Ausrichtung auf den Gewissenstrost begründet die herausgehobene Stel‐ lung von Sünden- und Rechtfertigungslehre im Zusammenhang der christ‐ lichen Lehre. Als deren inhaltliches wie funktionales Zentrum stellt Melan‐ chthon die unlösliche Verbindung einer Erkenntnis der Wohltaten Christi und der unverstellten Sündenerkenntnis heraus: „beneficia Christi non po‐ terunt cognosci, nisi intelligamus mala nostra“. 44 Entsprechend bezeichnet er insbesondere die Lehre von der Buße, die reformatorisch als Oberbe‐ griff zu Reue und Glaube verstanden wird, als das wichtigste Lehrstück des Evangeliums (lat. praecipuum Evangelii locum), an dem alle wahre Er‐ kenntnis Christi und die rechte Gottesverehrung hänge. 45 Hier lässt sich nachvollziehen, wie durch die reformatorische Theologie innerhalb des Lehrgefüges eine soteriologische Gewichtung vorgenommen wird, wobei das Gewicht einzelner Lehrstücke sich aus ihrer Stellung und Verflechtung im Gesamtzusammenhang dieser Lehre ergibt. Der Begriff der Lehre (lat. doctrina) begegnet in Melanchthons Apologie meist kombiniert mit Näherbestimmungen, die entweder einen bestimm‐ ten Lehrtopos (z.B. fides, poenitentia) bezeichnen oder sich auf die grund‐ legende Unterscheidung von Gesetz und Evangelium beziehen: Statt der Lehre des Evangeliums treiben die Gegner nur die Lehre des Gesetzes (lat. doctrina legis). 46 Die wahrhaft evangelische Lehre verliere sich nicht im La‐ byrinth endloser Disputationen, sondern befasse sich mit solchen Dingen, die der Frömmigkeit unmittelbar nützlich sind. 47 Die praktische Ausrich‐ tung der Lehre auf den Gewissenstrost funktioniert also als ein immanentes Regulativ, welches der Vermehrung und Ausdifferenzierung der Lehre eine Grenze setzt. Die reformatorische Lehre sei sogar in höchstem Maße ein‐ fach, sofern man nur verstehe, die Unterscheidung von Gesetz und Evan‐

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falschen Lehre von einer Rechtfertigung aus den Werken oder einem freien Willen des Menschen zu vertreten bedeute daher nichts Geringeres, als „die gewissen inn verzweife‐ lung“(ebd., 338, Z. 15. Lat.: „est doctrina desperationis docere“, ebd., 339, Z. 8); vgl. ebd., 471, Z. 8 f. Ganz im Gegenteil zu dieser Lehre der Verzweiflung verschaffe die reformato‐ rische Lehre gewissen Trost und Hoffnung, vgl. ebd. 293, Z. 7–18; 385, Z. 3–6. Ebd., 265, Z. 21 f. Dt.: „wir werden die Wohltaten Christi nicht erkennen können, wenn wir nicht unser Elend erkennen“ (Übs. TG). Vgl. ebd., 259, Z. 3–5. Für die Aufnahme der programmatischen Benificia-Formel aus Melanchthons Lehrkompendien vgl. BSELK, 311, Z. 10–14. Zu dieser Formel siehe auch unten, 134. Vgl. ebd., 435, Z. 12–15. Zur Zentralstellung des umkämpften Bußartikels und seinem Verhältnis zum Rechtfertigungsartikel vgl. auch ebd., 457, Z. 11–15; 639, Z. 2–9. Vgl. ebd., 445, Z. 21–23. Vgl. auch 331, Z. 6–8; 523, Z. 16. Vgl. ebd., 579, Z. 5–7: „videbant eum explicare animos hominum ex illis labyrinthis con‐ fusissimarum et infinitarum disputationum [...] et res utiles ad pietatem docere“. Dt.: „... sie sahen ihn [d.h. Luther] die Seelen der Menschen aus der Verstrickung in jene Labyrin‐ the der verwirrtesten und unendlichen Disputationen auswickeln [...] und Dinge lehren, die der Frömmigkeit nützlich sind“ (Übs. TG).

Proklamation der Lehre: Das Augsburger Bekenntnis und seine Apologie

gelium, in der Folge auch von bürgerlicher Rechtschaffenheit (lat. iustitia civilis) und Rechtfertigung um Christi willen richtig vorzunehmen. 48 Folg‐ lich müsse man „recht schneiden und teilen Gottes wort, das gesetz auff einen ort, die zusage Gottes auff den andern“. 49 Ihre Gesetzlichkeit und die Überbewertung der Werke führe die Gegner Luthers und der reformato‐ rischen Lehre nicht nur zur Beschwerung der Gewissen, sondern darüber hinaus zu einer Beschädigung der kirchlichen Autorität: Die Lehrer des Gesetzes können selbst nicht vor ihrer gesetzlich-moralischen Forderung bestehen und erscheinen daher als Heuchler. 50 Durch die Unterdrückung der gesunden Lehre werde gleichzeitig das Feld für Irrlehren bereitet, wel‐ che das Fortbestehen einer kirchlichen Ordnung als solcher gefährden. 51 Mit dem Ziel einer angemessenen Unterscheidung von Gesetz und Evan‐ gelium arbeitet Melanchthons Apologie auch das Verhältnis zwischen der Lehre des Gesetzes und der äußerlichen Zucht (lat. disciplina civilis) her‐ aus, die zwar zur Erziehung der fleischlichen Menschen unerlässlich sei, aber ohne das Evangelium diese nur in die Verzweiflung treibe. 52 Tradi‐ tionelle Ordnungen in der Kirche gehören für Melanchthon dem Bereich der disciplina civilis an und sind daher als pragmatische Regeln beizubehal‐ ten, soweit sie zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Grundfunktionen nötig oder zur Erziehung und Lehre des Volkes dienlich sind. 53 Zwingend müsse aber festgehalten und stetig eingeschärft werden, dass die Einhaltung bestimmter Zeremonien und Traditionen nichts zur Rechtfertigung des Sünders beitrage. 54 Nur da, wo sie auf ein Verstehen der christlichen Lehre angelegt seien und diese Lehre auch tatsächlich verstanden werde, können Zeremonien wie Messfeier dem Glaubenden nützlich sein. 55 Sei eine Ab‐ 48 Vgl. ebd., 341, Z. 8–10; 343, Z. 2–5. Zur Gefahr einer Vermischung der geistlichen und politischen Sphäre vgl. auch ebd., 483, Z. 7–12. 49 Ebd., 342, Z. 7 f. Lat.: „Opportet enim prudenter ὀρϑοτοµεῖν [vgl. 2Tim 2,15] legem et promissiones“, ebd., 343, Z. 4 f. Zu dieser spezifischen Auslegung von 2Tim 2,15, ihrer Herkunft und Wirkungsgeschichte vgl. Danneberg, Deutung. Zur Aufnahme dieses Mo‐ tivs bei Dannhauer siehe unten, 209. 50 Vgl. BSELK, 355, Z. 2–6; 357, Z. 22–24. 51 Vgl. ebd., 579, Z. 20–23. Angesichts dessen sei der Kaiser gefordert, „die Christliche lere, soviel menschlich odder müglich, also zu erhalten, das sie müge auff die nachkomen rei‐ chen, auch frome, rechte prediger schützen und handhaben“ (ebd., 580, 5–7. Lat.: „sanam doctrinam conservare et propagare ad posteros et defendere recta docentes“, ebd., 581, Z. 3 f). 52 Vgl. ebd., 277, Z. 9–22. 53 Vgl. ebd., 415, Z. 19–21. Vgl. auch ebd., 689, Z. 11–15. 54 Vgl. ebd., 535, Z. 12–20. 55 Vgl. ebd., 617, Z. 20–23; 649, Z. 7–15. Damit folge die Kirche dem Beispiel der Apostel, die mit der Aufnahme jüdischer Feste in den christlichen Festkalender diese als Erinnerung heilsgeschichtlicher Stationen zur Unterweisung der Glaubenden dienstbar gemacht ha‐

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Bekenntnis der Lehre: Lutherische Lehre in der Reformationszeit

spaltung von der kirchlichen Gemeinschaft aufgrund sich unterscheidender Traditionen nicht zulässig, bestehe hinsichtlich falscher Lehre die unbe‐ dingte Pflicht, diese zu meiden: „doch sol man falsche lerer nicht annemen oder hören, denn dieselbigen sind nicht mehr an Christus stad, sondern sind widderchristi“. 56 Der für die Lehre der Kirche bleibend maßgebliche Konsens sei die biblische Übereinstimmung der Propheten und Apostel untereinander als einträchtiger Konsens der Gesamtkirche (lat. universalis Ecclesiae consensus), nicht die päpstlich definierte Lehre oder die in den scholastischen Summen und Kommentaren dargebotene Lehrtradition. 57 Da diese Lehre primär der Schrift zu entnehmen ist, kann die Schrift für Melanchthon auch selbst grammatisch an die Stelle des lehrenden Subjekts treten. 58 3.1.4 Interpretation Mit dem Augsburger Bekenntnis legen die reformatorischen Stände vor dem Kaiser eine gemeinsame Rechenschaft über die Lehre ihrer Kirchen und deren Übereinstimmung mit dem apostolischen Ursprung der Kir‐ che ab. Ihr Bekenntnis legt die programmatische Konzentration der refor‐ matorischen Lehre im Rechtfertigungsartikel dar und begründet von die‐ ser Mitte her die reformatorische Abschaffung bestimmter als Missbrauch identifizierter Kirchenbräuche. Die Apologie des Augsburger Bekenntnis‐ ses gibt darüber hinaus – der speziellen Kommunikationssituation einer Verteidigungsschrift geschuldet – vertieften Einblick in die Prinzipien der reformatorischen Lehre. Entschieden wird die inhaltliche Mitte der Lehre in der Soteriologie, in der Rechtfertigung des Sünders um Christi willen, festgehalten: Ihre Heilsbedeutung kommt der kirchlichen Lehre zu, weil sie

ben, vgl. ebd., 419, Z. 11–14. Fiktive Heiligengestalten wie Christophorus seien überhaupt nur als lehrhafte Allegorien zu verstehen, die Laien Einsichten in das Evangelium und die Lasten eines christlichen Lebens vermitteln sollen, vgl. ebd., 575. 56 Ebd., 420, Z. 26–28. Lat.: „Impii doctores deserendi sunt, qua hi iam non funguntur per‐ sona Christi, sed sunt Antichristi“ (ebd., 421, Z. 27–29). 57 Vgl. ebd., 461, Z. 4–9; ebd., Z. 19–24. Dieser Konsens der biblischen Väter reiche durch die gesamte Heilsgeschichte bis zur Schöpfung der Welt zurück, vgl. ebd., 463, Z. 10–12. Zu Melanchthons Verständnis von Konsens vgl. die ausführliche vergleichende Untersu‐ chung von Becht, Pium consensum, bes. 215–362. 58 Vgl. BSELK, 501, Z. 25–29. Was die Auslegung des Alten Testaments betrifft, hält Melan‐ chthon am Prinzip typologischer Abbildung fest: „Et res gestae in Israel sunt imago futuri status in Ecclesia“ (ebd., 397, Z. 17 f. Dt.: „Auch die Geschehnisse in Israel sind Bild der zukünftigen Verfassung in der Kirche “, Übs. TG). Auf Allegorien wie etwa eine typolo‐ gische Auslegung des alttestamentlichen Opferkultes dürfe man aber keine verbindliche theologische Lehre bauen.

Proklamation der Lehre: Das Augsburger Bekenntnis und seine Apologie

die Rechtfertigungslehre, die an den Einzelnen als frohe Evangeliumsbot‐ schaft und Trost des angefochtenen Gewissens wirksam werden soll, auf ihren Grund hin durchsichtig macht und gegen Missverständnisse absi‐ chert. 59 Dieser soteriologischen Zuspitzung und seelsorgerlichen Ausrich‐ tung der Lehre korrespondiert mit dem Satis-Prinzip ein formales Prin‐ zip der Lehrgenügsamkeit, das der Kirche eine strenge Selbstbeschränkung hinsichtlich verbindlicher Lehrfixierungen auferlegt. 60 Die Reinheit der Lehre bemisst sich daran, dass den Propheten und Apo‐ steln der Bibel treu gefolgt wird, ohne schriftfremde und schriftwidrige Vorstellungen der menschlichen Vernunft beizumischen. Das bedeutet zu‐ nächst, die Lehre des Gesetzes als Hinleitung zur Buße und die Lehre des Evangeliums als Gewissenstrost in ihrem rechten Verhältnis zu halten. Das Gegenüber von Gesetz und Evangelium sowie damit verbunden die Unter‐ scheidung zwischen disciplina und doctrina werden wiederholt eingeschärft und den Gegnern die Vermischung beider Grundformen des Gottesworts vorgeworfen. Um den zentralen und soteriologisch entscheidenden Lehr‐ stücken den ihnen gebührenden Raum zu geben, ist darüber hinaus zu verhindern, dass nachrangige Traditionen in der gelebten Frömmigkeit das Übergewicht gewinnen. Daher wird die im Augsburger Bekenntnis vollzo‐ gene Ausrichtung der gesamten kirchlichen Institutionenwelt auf die Lehre des Evangeliums in der Apologie bekräftigt und etwa im Fall des Festkalen‐ ders oder der Messe kritisch gegenüber beobachteten Missständen zur Gel‐ tung gebracht. Adressat der so verteidigten Lehre ist die gesamte kirchliche Öffentlichkeit, die repräsentiert wird durch die „frommen und gebildeten Männer“, an die sich die Verteidigung richtet, sowie insbesondere den Kai‐ ser als Repräsentant der Obrigkeit. An verschiedenen Stellen tritt hervor, dass sich das reformatorische Be‐ kenntnis zur rechten Lehre und dessen Verteidigung implizit immer schon vor dem Forum eines eschatologischen Gottesgerichts verortet, das die Be‐ wahrheitung oder Verwerfung der Lehre vollziehen wird, ja: im aktuellen Geschehen schon vollzieht. Konzentriert ausgesprochen ist dies in Luthers Schmalkaldischen Artikeln, wenn er sein als ‚Haltelinien‘ reformatorischer Verhandlungsbereitschaft formuliertes Lehrvermächtnis am Ende seiner

59 In ihrer Ausrichtung auf die Bewältigung von Anfechtungssituationen erkennt Notger Slenczka das Charakteristikum insbesondere der lutherischen Bekenntnisse, vgl. Slen‐ czka, Theologie, 367; 710-712. 60 Diese Begrifflichkeit dürfte derjenigen vozuziehen sein, die bezüglich der reformatori‐ schen Theologie von einem „Reduktionsprogramm“ (ebd., 42) und einer „grundsätzli‐ chen Relativierung der gegenständlichen Lehre“ (ebd., 44) spricht, weil so die theologi‐ schen Anliegen mitgeführt und auch der irreführende Eindruck einer durchweg lehrkri‐ tischen Haltung der Reformatoren vermieden werden.

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Vorrede in den Horizont der erwarteten Wiederkunft Christi rückt: „Ah, lieber Herr Jhesu Christi, halt du selber Concilium und erlöse die deinen durch deine herrliche zu kunfft! Es ist mit dem Pabst und den seinen ver‐ loren.“ 61 Hier zeigt sich nicht zuletzt, dass die im Augsburger Bekenntnis ausgesprochene Forderung eines allgemeinen Konzils zumindest bei Luther schon 1537 in eine eschatologische Erwartung transformiert werden kann. 3.2 Kompendien der Lehre: P. Melanchthons Loci-Kompendien Im Augsburger Bekenntnis als dem wichtigsten Lehrbekenntnis der lu‐ therischen Kirchen findet die reformatorische Lehre einen aufs Äußerste konzentrierten Ausdruck, was nicht zuletzt der impliziten Ausrichtung auf die Auseinandersetzung zwischen reformatorisch gesinnten Ständen und ihren altgläubigen Gegnern geschuldet ist. 62 Eine theologische Reflexion auf die Kriterien rechter Lehre, deren zentrale Inhalte und inneren Zu‐ sammenhang hatte in der reformatorischen Bewegung aber schon lange vor dem Augsburger Reichstag begonnen. Das Bekenntnis vor dem Kaiser stellt gewissermaßen schon eine erste Bilanz der polemischen Abgrenzungen und inneren Auseinandersetzungen der Wittenberger Reformation dar. Auch hier ist Philipp Melanchthons (1497–1560) Beitrag wegweisend, insofern er über die verschiedenen Auflagen seiner mit Loci (dt. etwa ‚Gemein‐ plätze‘) überschriebenene Lehrkompendien hinweg immer neue Anläufe unternimmt, die reformatorische Lehre zusammenhängend und vollstän‐ dig zur Darstellung bringt. 63 Dabei geben zunächst weniger die polemische Abgrenzung gegenüber den Gegnern und die apologetische Verteidigung gegen ihre Angriffe den Anstoß, als vielmehr das didaktische Bedürfnis einer gründlichen Unterweisung in der aus den biblischen Quellen des Christentums erneuerten Kirchenlehre. Melanchthon wird damit bereits vor dem Augsburger Bekenntnis als „Systematiker der lutherischen Re‐ formation“ 64 greifbar, wobei dieses Urteil eigentlich anachronistisch ist: Eine in der Theologie seit der Aufklärung zunehmend deutlich vollzogene Trennung von biblischer und systematischer Theologie läuft der Anlage der Lehrkompendien Melanchthons direkt zuwider. 61 BSELK, 724, Z. 14 f. Vgl. auch das eschatologische Finale von Luthers Streitschrift gegen Erasmus De servo arbitrio, LDStA Bd. 1, 654–657. 62 Zur zentralen Stellung der Confessio Augustana vgl. Slenczka, Theologie, 157 f. 63 Vgl. zur Biographie und kontextuellen Verortung Scheible, Melanchthon. Vgl. auch Fricke/Heesch, Humanist. Eine knappe Darstellung des theologischen Programms Me‐ lanchthons findet sich bei Bayer, Theologie, 127–155; außerdem vgl. Axt-Piscalar, Theologie, 95–107. 64 So das Urteil H. G. Pöhlmanns in LocCo, 9.

Kompendien der Lehre: P. Melanchthons Loci-Kompendien

Zunächst wird im Folgenden die erste Auflage des Loci-Kompendiums, die Loci communes von 1521, hinsichtlich ihres Lehr- und Theologiever‐ ständnisses untersucht (3.2.1). Anschließend werden einige Präzisierungen und Fortentwicklungen in den Blick genommen, die sich in der letzten von Melanchthon besorgten Fassung der Loci, den Loci praecipui von 1559, finden (3.2.2). Dabei werden diese Texte ausgehend von den Bekenntnis‐ schriften als Beispiele für die Vermittlung lutherischer Lehre in der akade‐ mischen Ausbildung befragt. 65 3.2.1 Loci communes (1521): Ein Schlüssel zur Schrift Melanchthons frühe Loci communes von 1521 gelten gemeinhin als erste reformatorische Dogmatik. In dieser Schrift entwickelt er, orientiert am Aufbau des Römerbriefs, eine zusammenhängende, nach einzelnen Lehr‐ stücken gegliederte Übersicht über die reformatorische Lehre der Witten‐ berger. 66 Melanchthon geht es darum, die maßgeblichen und zentralen Ge‐ halte der christlichen Lehre (hier lat. noch disciplina) in einer für die Jugend nachvollziehbaren Form aufzubereiten. 67 Diese Kerngehalte seien grund‐ sätzlich der Bibel klar zu entnehmen, aber in der scholastischen Theologie durch die aristotelische Philosophie (lat. doctrina Aristotelica) zunehmend entstellt worden. 68 Von den scholastischen Summen grenzt Melanchthon sich ab durch das Programm einer „Einführung in die biblische Theologie, die zum rechten Verständnis der Heiligen Schrift anleiten soll“ und sich als solche auch konsequent am Vorbild der Schrift zu orientieren habe. 69 65 Für eine andere Herangehensweise ausgehend von den Predigten, die entsprechend den Frömmigkeits- und Debattenbezug stärker herausarbeitet, vgl. etwa die neuere Arbeit von Jammerthal, Abendmahlstheologie. 66 Vgl. Bayer, Theologie, 131–136; 146–152. Zur Loci-Methode der Wissensorganisation bei Melanchthon vgl. Frank, Topik, 159–177. Aus germanistischer Perspektive vgl. Kallweit, Konfigurationen, 61–192. 67 Das Ziel lautet: „indicatur hic christianae disciplinae praecipui loci, ut intelligat iuventus, et quae sunt in scripturis potissimum requirenda“ (dt.: Es „werden hier die wichtigsten Hauptpunkte der christlichen Lehre vermittelt, damit die Jugend einsieht, wonach sie in der Schrift hauptsächlich fragen muss“, LocCo, 12f). Hier ist zu sehen, dass Melanchthon eine klare Unterscheidung von doctrina und disciplina erst mit der Zeit entwickelt. 68 Vgl. ebd., 12. Aristotelische und platonische Philosophie werden gegenüber der christ‐ lichen Lehre als Konkurrenzlehren verstanden, vgl. auch ebd. 26f; 58–61. Dabei legt Melanchthon eine typisch humanistische Dekadenztheorie zugrunde: Je jünger die theo‐ logischen Kommentare, desto verderbter seien sie in der Regel: „Post hos fere quo quisque recentior est, eo est insincerior degeneravitque tandem disciplina christiana in scholasti‐ cas nugas“ (dt.: „Je neuer einer, der nach ihnen kam, ist, desto verfälschter ist er in der Regel. Schließlich ist die christliche Lehre in scholastische Possen entartet“, ebd., 16f). 69 Ebd., 8 (Einleitung). „Fallitur, quisquis aliunde christianismi formam petit quam e scrip‐ tura canonica“ (dt.: „Es täuscht sich, wer sich anderswoher die Wesensgestalt des Chris‐

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Für die topische Gliederung der Darstellung in einzelne Lehrstücke bean‐ sprucht Melanchthon daher, diese aus den göttlich inspirierten Schriften des Kanons selbst entwickelt zu haben. 70 Ferner fordert er, dass man sich nicht nur im Aussagegehalt (lat. sententia), sondern auch der Redeweise (lat. sermo) und der Terminologie (lat. vocabulum/phrasis) direkt an der Schrift orientieren müsse. 71 Sachgemäß sei die Kürze und Sparsamkeit einer eher glossarhaften Dar‐ stellung, da diese nur als Wegweiser innerhalb der biblischen Schriften und als ermahnende Erinnerung an die schlechthin entscheidenden Grenzzie‐ hungen der christlichen Lehre dienen solle. 72 Melanchthon argumentiert ausführlich gegen die altgläubigen Kritiker reformatorischer Theologie für die Rolle der Schrift als alleiniger Norm der theologischen Lehre. Grund für die privilegierte Stellung der Schrift sei, dass der Heilige Geist sich eng mit ihr verbunden und durch sie ausgedrückt habe, damit er durch sie eine in höchstem Maße schlichte und gewisse Glaubenserkenntnis wirke. 73 Al‐ lein das Hilfsmittel der Schrift befähige die Menschen, dem Satan wirksam

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tentums zu beschaffen sucht als aus der kanonischen Schrift“, ebd., 14f). Vgl. ebd., 102f; 320f; 376 f. Vgl. ebd. 16 f. Als Muster eigne sich der Römerbrief, den Melanchthon als exemplarisches Kompendium christlicher Lehre (lat. „doctrinae christianae compendium“, ebd., 24) und hermeneutischen Schlüssel der ganzen Schrift (lat. „universae scripturae velut indicem quendam ϰαὶ ϰάνονα“, ebd., 168) versteht. Wie tiefgreifend diese programmatische Ori‐ entierung am Römerbrief die Loci tatsächlich prägt, ist eine andere Frage – etwa spielt die Frage nach der Erwählung Israels in Röm 9–11 bei Melanchthon keine prominente Rolle und wird höchstens in Form der Unterscheidung von Altem und Neuem Testaments auf‐ gegriffen. Vgl. ebd., 68–71; vgl. ebd., 36 f. Vgl. auch: „Quodsi scripturae sermonem ac phrasin ob‐ servassent, facile vidissent mendacia et vanas cogitationes intellectus esse“ (dt.: „Wenn sie sich an Sprache und Begriff der Schrift gehalten hätten, hätten sie leicht eingesehen, daß es Lügen und hohle Verstandesgespinste sind“, ebd., 78f). Aus diesem Grund votiert Me‐ lanchthon etwa in der Anthropologie für die biblische Bezeichnung des Herzens für das menschliche Personzentrum sowie die paulinische Leitdifferenz von Fleisch und Geist. Zum „semantikanalytischen Verfahren“, mit dem Melanchthon seine Loci aus der Schrift erhebt, vgl. Frank, Topik, 174 f. Vgl. LocCo, 12–15; 18 f. Knapp formuliert lautet der Anspruch: „nomenclaturam tantum communissimorum locorum facimus, ut videas, unde summa christianae doctrinae pen‐ deat et quorsum scriptura potissimum referenda sit“ (dt.: „wir erstellen lediglich eine Liste der entscheidenden Grundbegriffe, damit du siehst, worin die Hauptsache (Summe) der christlichen Lehre besteht und worauf die Schrift vor allem zurückzuführen ist“, ebd., 98f). Von der Schrift gelte: „in illis absolutissimam sui imaginem expresserit divinitas, non poterit aliunde neque certius neque propius cognosci.“ (dt.: „da die Gottheit ihr ihr vollkommenstes Bild eingeprägt hat, wird sie anderswoher weder sicherer noch näher erkannt“, ebd., 14f). Der einzige schlechthin zuverlässige Lehrer sei der Geist, „qui sese et proxime et simplicissime in sacris litteris expressit“ (dt.: „der ganz nahe an der Schrift ist und sich ganz schlicht in ihr ausdrückt“, ebd., 88–91). Vgl. auch ebd., 230 f.

Kompendien der Lehre: P. Melanchthons Loci-Kompendien

zu widerstehen. 74 Konzilien und theologischen Kommentaren, Bischöfen und dem Papst komme hinsichtlich der Gewissen und des Glaubens keine bindende Autorität zu, sondern die Glaubensartikel (lat. articuli fidei) seien ausschließlich den ursprünglichen Quellen (lat. fontes) und dem bleibenden Vorbild (lat. praescriptum) der Heiligen Schrift zu entnehmen. 75 Auch in‐ haltlich begrenze die Schrift somit den Themenbereich dessen, worauf sich heilsnotwendige Glaubensartikel beziehen könnten: „ad salutem nullam doctrinam, nullos articulos necessarios esse praeter scripturam“. 76 Allein die Schrift ermögliche also, Lehren zu beurteilen und den Heiligen Geist si‐ cher zu identifizieren. 77 Ziel einer geordneten Darstellung der Lehre könne folglich nur die Einladung zur Schrift, keinesfalls die Ablenkung von die‐ ser oder gar deren Ersetzung sein. Die Lehre beschränkt sich hier selbst und übernimmt eine hermeneutische Funktion, die auf die eigenständige Schriftlektüre der Glaubenden zielt und das rechte Verständnis der Bibel erschließen soll. Bei jeder menschlichen Kunst (lat. in singulis artis) ist nun für Melan‐ chthon die Angabe von Hauptpunkten, in denen die Gesamtheit umfassend gebündelt wird (lat. loci quidam, quibus artis cuiusque summa comprendi‐ tur), sowie eines Zieles (lat. scopus) der wissenschaftlichen Bemühungen unerlässlich. 78 Unter diesen traditionellen Hauptartikeln der christlichen Lehre lasse sich unterscheiden zwischen jenen, die auf für den Menschen unbegreifliche Mysterien (lat. incomprehensibiles) verweisen, und solchen, von denen Christus selbst wollte, dass jeder Christenmensch über sie Be‐ scheid wisse. 79 Für erstere gelte, dass diese Mysterien nicht zu erforschen,

74 Vgl. ebd., 126 f. 75 Vgl. ebd., 98f; 136 f. Zur Funktionsbestimmung kirchlicher Ämter, von denen das Lehren (lat. docere) keinem exklusiv zugeordnet wird, vgl. ebd., 360 f. 76 Dt.: „zum Heil sind keine andere Lehre und keine anderen Glaubens[artikel] notwendig außer der Schrift“, ebd., 144f; unter Verweis auf 1Kor 3,11. Vgl. auch: „Deinde non esse habendum pro fidei articulo, quod homines, seu ecclesia seu pontifex statuit praeter scrip‐ turam“ (dt.: „Ferner darf nicht als Glaubensartikel gelten, was Menschen. was die Kirche oder der Papst an der Schrift vorbei verordnet hat“, ebd., 138f). 77 Vgl. ebd.: „Quod praeter scripturas proditur, ambiguum est, utrum a spiritu dei an a spi‐ ritu mendaci proficiscatur“ (dt.: „Was außerhalb der Schrift überliefert ist, ist doppeldeu‐ tig, es kann vom Geist Gottes oder von einem Lügengeist herrühren.“, ebd.). Zur Grenze, die die kirchliche Lehrautorität an der Schrift findet, vgl. auch ebd., 368f; 370–372. 78 Vgl. ebd., 16 f. 79 Es gebe theologische Gehalte, „quos universo vulgo christianorum compertissimos esse Christus voluit“ (dt.: „von denen Christus wollte, daß sie im ganzen Volk der Christen sehr [genau] gehört werden“, ebd. 18f). Hier erscheint bereits die spätere Lehre von den Fundamentalartikeln angelegt.

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sondern anzubeten seien. 80 Ins Zentrum rücken dagegen die Wohltaten Christi (lat. beneficia Christi), deren Erkenntnis Melanchthon und die Wit‐ tenberger Theologie programmatisch zum Prinzip der Theologie erheben: „hoc est Christum cognoscere benificia eius cognoscere“. 81 Auf Christus und die in ihm offenbarte Gnade und Barmherzigkeit seien alle Verheißun‐ gen der Schrift zu beziehen, weil sie in ihm zusammengefasst seien. 82 Die soteriologische Fokussierung auf die Wohltaten Christi wirkt somit auch in Melanchthons Lehrkompendium als das regulierende Prinzip, das eine grenzenlose Ausweitung der allgemein zu wissenden und verbindlichen Lehrgehalte beschränkt. Was das Ziel seiner Unternehmung betrifft, hat die Darstellung der Lehre für Melanchthon auch hier eine stark frömmigkeitspraktische Ausrichtung, wie etwa folgende Passage zeigt: „Dies ist schließlich die christliche Erkenntnis, zu wissen, was das Gesetz fordert, woher man die Kraft holen kann, das Gesetz zu erfüllen, woher man die Gnade für die Sünde bekommen kann, wie man den ins Wanken gekommenen Sinn gegen Teufel, Fleisch und Welt aufrichtet, wie man das zerschlagene Gewissen tröstet.“ 83

Zentral erscheint in dieser Perspektive der Themenkomplex von Gesetz, Sünde und Gnade – wobei in diesem Zusammenhang der Fokus auf der Gnade liegt und daher das Missverständnis abzuwehren sei, die Schrift sei primär ein ethisches Kompendium von Lebensregeln, Tugenden und

80 Vgl. ebd.: „Mysteria divinitatis rectius adoraverimus quam vestigaverimus“ (dt.: „Die Geheimnisse der Gottheit aber sollten wir lieber anbeten als sie zu erforschen“). Zum Hintergrund dieser Formel vgl. ebd., Anm. 19. Ziele die Inkarnation Gottes auf eine Be‐ trachtung der menschlichen Schwäche und des göttlichen Heilsgeschehens, dann entfalle die Notwendigkeit, viel Mühe auf die Gotteslehre, die Trinitätslehre, die Schöpfungslehre und die Inkarnationslehre aufzuwenden, vgl. ebd., 20 f. 81 Ebd., 22 (dt.: „Denn das heißt Christus erkennen: seine Wohltaten erkennen“, ebd., 23). Der Satz schließt mit der Abgrenzung: „non, quod isti docent, eius naturas, modos in‐ carnationis contueri“ (dt.: „nicht, was diese lehren: seine Naturen, die Art und Weisen der Menschwerdung betrachten“, ebd.). Zur Vorgeschichte von benificia als Terminus für das Heilshandeln Gottes bei Erasmus vgl. ebd., 21, Anm. 25. Diese Orientierung an den Wohltaten Christi behält Melanchthon auch in den späteren Fassungen der Loci bei, vgl. LocPr2, 496–503; 516 f. 82 Vgl. LocCo, 162 f. Dies entspricht sachlich Luthers Konzept von Christus als der ‚Mitte der Schrift‘. Es sei dabei aber auch im Alten Testament genau auf den Buchstaben der Schrift zu achten und nicht nach Allegorien zu suchen, vgl. ebd. 194f; 228 f. 83 Lat.: „Hac demum christiana cognitio est scire quid lex poscat, unde fadiendae legis vim, unde peccati gratiam petas, quomodo labascentem animum adversus daemonem, carnem et mundum erigas, quomodo afflictam conscientiam consoleris“ (ebd., 22-25). Auffällig ist dabei die Parallele zur inneren Systematik im Aufbau der Katechismen Luthers, vgl. BSELK, 912; 1048; 1070.

Kompendien der Lehre: P. Melanchthons Loci-Kompendien

Lastern. Die heilsame und tröstliche Lehre des Evangeliums, das die Wohl‐ taten Christi dem Sünder zugute verkündigt, gehe jeden Christenmenschen persönlich an. Als Kriterium des notwendigen Glaubenswissens dient Me‐ lanchthon nicht zuletzt, was in der Situation des Sterbens, die sozusagen als der ‚Ernstfall‘ der christlichen Lehre gilt, tröstlich ist. 84 Diese implizite Ausrichtung auf die Sterbesituation spannt der gesamten Lehrvermittlung eine eschatologischen Horizont auf, aber schärft insbesondere die Unver‐ tretbarkeit des individuell zu verantwortenden Glaubens ein. Angesichts dieser Unvertretbarkeit müssen die Unterweisung in der Lehre und deren möglichst gut verständliche Darbietung auf die Mündigkeit aller Christen‐ menschen in den notwendigen Fragen des Glaubens hinwirken. Was den Grundbestand der christlichen Lehre und die heiligen Dinge (lat. res sacra) betrifft, ist nach Melanchthon – der sich hier gegen Johannes Ecks An‐ griffe auf seinen Status als grammaticus verteidigt – nicht nur der berufene Theologe, sondern jeder Christenmensch befähigt, sich ein eigenes Urteil zu bilden und dieses zu vertreten. 85 Dieser Anspruch auf mündige Aneignung durch alle Christenmenschen, der hier mit der Lehre verbunden ist, zwingt und befähigt zu einem Prinzip der doktrinalen Genügsamkeit, also einer Beschränkung der Lehre auf das Wesentliche: „Christiano satis est scire...“. 86 Der kritische Minimalismus des oben so genannten Satis-Prinzips ergmöglicht für Melanchthon aller‐ dings nicht nur die soteriologische Fokussierung auf die Wohltaten Christi, sondern begründet auch, weshalb trotzdem gerade der polemischen Aus‐ einandersetzung mit gegnerischer Lehre vergleichsweise viel Raum werden muss. 87 Denn insbesondere dort, wo ein aktueller Lehrstreit geeignet ist, die Evangeliumsbotschaft zu verdunkeln – wo also nach reformatorischem Verständnis der Kern des Heilsglaubens und das Kirchesein der Kirche auf dem Spiel steht –, ist ein Höchstmaß an Durchsichtigkeit für alle Christen‐ menschen gefordert.

84 Vgl. ebd., 294f; 334 f. So auch in Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben, vgl. DDStA, Bd. 1, 45–73. 85 Vgl. LocCo, 34 f. 86 Dt.: „Dem Christen genügt es, zu wissen ...“, ebd., 98f (Herv. TG). Vgl. auch ebd., 108 f. 87 So etwa ausführliche Auseinandersetzung um den freien Willen oder den Exkurs über die evangelischen Räte und Mönchsgelübde, vgl. ebd., 120–131.

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Bekenntnis der Lehre: Lutherische Lehre in der Reformationszeit

3.2.2 Loci praecipui (1559): Das Evangelium in der Geschichte Im 1543 verfassten Widmungsschreiben seiner zum zweiten Mal grundle‐ gend überarbeiteten Fassung der Loci, den sog. Loci praecipui, reflektiert Melanchthon sein theologisches Unternehmen erneut. Dabei weist er zu‐ nächst nochmals auf die seelsorgerliche, auf persönliche Erbauung abzie‐ lende Motivation hin, die ihn zur Abfassung, übersichtlichen Zusammen‐ stellung und Veröffentlichung seiner „Zeugnisse“ (lat. testimonia) bewegt habe. 88 Neben der Ausrichtung auf diesen häuslichen Gebrauch (lat. usus domesticus) streicht er aber umgehend auch die Notwendigkeit einer öf‐ fentlichen, kontroverstheologischen Verteidigung gegen die altgläubigen Kontrahenten heraus. Es sei nachzuweisen, dass die „Lehre der Wittenber‐ ger Kirche“ (lat. doctrina Ecclesiae Witebergensis) keine Neuerungen vor‐ bringe, sondern den Konsens der katholischen – verstanden als: alle Zeiten und Orte allumfassenden – Kirche Jesu Christi und damit aller Gebildeten innerhalb der Kirche zum klaren Ausdruck bringe. 89 Auffällig im Vergleich der Auflagen ist, dass nun neben der Ausrich‐ tung auf die Frömmigkeitspraxis auch das Thema der inneren Ordnung der Kirche und ihrer Institutionen einen deutlich breiteren Raum ein‐ nimmt. Das Lehren und Lernen in der Kirche erfolge unter der Lenkung Jesu Christi (lat. docentium et discentium mentes gubernet), der „Doktoren und Pastoren“ (lat. pastores et doctores) erwählt und mit den erforderli‐

88 Vgl. LocPr1, 2f: „Prodest firma et perspicua testimonia de singulis articulis doctrinae Christanae, ordine distributa, velut in tabella habere proposita, ut cum disputant animi secum aut anguntur, sententiae certae in conspectu sint, quae trepidantes erudiant, eri‐ gant, confirment, consolentur.“ (dt.: „Es ist nützlich, sichere und deutliche Zeugnisse über die einzelnen Artikel der christlichen Lehre der Reihe nach geordnet wie in einer Tabelle vorgelegt zu haben, damit, wenn Menschen bei sich hin und her überlegen und sich ängs‐ tigen, sichere Aussagen vor Augen sind, welche die Unschlüssigen erziehen, aufrichten, bestätigen und trösten.“). Im Unterschied zu den Loci von 1521 wird nun konsequent zwischen doctrina und disciplina unterschieden, was Mahlmann in seiner synchronen Analyse des Wortgebrauchs anscheinend entgeht, vgl. Mahlmann, Doctrina, 210. Zur verwandten Terminologie von doctrina spiritualis und doctrina politica vgl. Bayer, Theo‐ logie, 138–140. 89 Vgl. LocPr1, 2f: „consensus est Ecclesiae catholicae Christi, id est, omnium eruditorum in Ecclesia Christi“ (dt.: „die Übereinstimmung der allgemeinen Kirche Christi, das heißt aller Gebildeten in der Kirche“). Allen Gelehrten und dem Urteil der Kirche legt Melanchthon seine Schrift zur Prüfung vor: Es handle sich keinesfalls um menschliche Meinungen oder Neuerungen, vgl. auch ebd., 14f; 366f; LocPr2, 196 f. Melanchthons Aus‐ führungen sollen unter anderem aufzeigen, dass die reformatorische Rechtfertigungslehre vom Erzvater Abraham an und über Mose, die Propheten und Apostel immer die Lehre der wahren Kirche gewesen sei, vgl. LocPr1, 362f; 460–467. Vgl. Becht, Pium consensum, 288–306.

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chen Gaben beschenkt. 90 Auf diese Weise sei die Kirche durch ihren Herrn verpflichtet und zugleich befähigt, der Nachwelt die Wahrheit der christli‐ chen Lehre unverfälscht weiterzugeben. Ohne die Gabe des Geistes wäre diese Bewahrung der Kirche und ihrer Lehre ebenso wenig möglich wie die Aufrechterhaltung der politischen Ordnung. 91 In den frömmigkeitsge‐ schichtlich aufschlussreichen Formularen für Gebete, die Melanchthon in seinem Kompendium bietet, sind daher auch vielfach Bitten für die Lehre der Kirche und deren Amtsträger eingeschlossen. 92 Die Bitte an Gott um gute christliche Schulen, um der rechten Lehre verpflichtete Pfarrer (lat. pastores recte docentibus) sowie die entsprechenden Geistgaben bildet eine große Klammer um das gesamte Werk der Loci praecipui von 1559. 93 Die Lehre des Evangeliums erscheint als Geschenk des himmlischen Vaters, der durch die Sendung des Geistes auch dieses existenzielle Bedürfnis der Glau‐ benden stillt. 94 Auch in den späteren Ausgaben seines Lehrkompendiums bringt Melan‐ chthon dabei ein kritisches Prinzip zur Begrenzung des Lehrbestands zur Anwendung: Er will sich auf das beschränken, was unbedingt erforderlich zur positiven Darlegung der Lehre und der Widerlegung der Gegenposi‐ tionen sei. 95 Diese Beschränkung in der Lehrdarstellung sei auch deshalb sachgemäß, weil dieser Kernbestand der Lehre auf die Schriftlektüre und 90 Vgl. LocPr1, 4 f. Diese seien die Wächter (lat. custodes) der biblischen Schriften sowie der wahren Dogmen der Kirche (lat. verorum dogmatum Ecclesiae), vgl. ebd. Vgl. auch: „ut simus custodes librorum Propheticorum et Apostolicorum et testes verae interpretationis et refutemus omnes opiniones pugnantes cum doctrina tradita per Prophetas, Christum et Apostolos, ne extinguatur lux Evangelii“ (dt.: „so dass wir Wächterder Bücher der Prophe‐ ten und Apostel und Zeugen der wahren Deutung sind und alle Meinungen zurückweisen, die gegen die Lehre kämpfen, die durch Propheten, Christus und die Apostel überliefert ist, damit das Licht des Evangeliums nicht erlischt“, ebd., 14f). Vgl. auch LocPr2, 444 f. 91 Vgl. LocPr1, 410f; vgl. LocPr2 34–37. 92 Vgl. ebd., 298f: „adiuva studia discentium doctrinam ecclesiae“ (dt.: „unterstütze die Be‐ mühungen derer, welche die Lehre der Kirche [...] lernen“); „Da, ut pastores Ecclesiae, Reges, Magistratus, doctores, discipuli, cives suo loco singuli officium suum recte et felici‐ ter faciant“ (dt.: „Mach, dass die Hirten der Kirche, die Könige, die Behörden, die Lehrer, die Schüler, die Bürger, jeder für sich an seiner Stelle, ihre Pflicht richtig und erfolgreich erfüllen“, ebd., 340f). 93 Vgl. LocPr1, 4f; LocPr2, 516–519. 94 Vgl. ebd., 356f: „dedidisti nobis Evangelium tuum et Spiritus sanctum [...] dedisti vitam, victam, doctrinam, pacem iis locis, in quibus vixi“ (dt.: „du hast uns deine frohe Botschaft gegeben und den Heiligen Geist [...] hast das Leben gegeben, die Nahrung, die Lehre, den Frieden an den Orten, an denen ich gelebt habe“). Vgl. auch die Auslegung der Vater‐ unserbitten ebd., 338–343. 95 Vgl. LocPr1, 116f: „Recitavi praecipuas materias, quae in hac quastione agitari solent, quibus diligenter consideratis studiosi dextre de hac tota controversia iudicare poterunt et satis perspicue intelligent [...]“ (dt.: „Ich habe die wichtigsten Stoffe vorgetragen, die in

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nicht zuletzt eine predigende Auslegung ziele. Bestehe schon die Lehre der Propheten und Apostel aus in hohem Maße kondensierten und reduzier‐ ten Lehrsprüchen, habe das dem Wort dienende Amt deren Lehrgehalt in einen Zusammenhang von Glaubensartikeln auseinander zu legen und pre‐ digend zu entfalten: „Denn es war eine alte Lehrmethode, in solche kurzen Sätze, wie Sinnsprüche, die wichtigsten Stellen der Lehre einzuschließen, welche die Kirche durch den Dienst am Evangelium entwickeln und erläu‐ tern muss, damit sie auf eirgendeine Weise die Fülle der Dinge, die in ihren enthalten sind, aufzeigt“. 96 Da es den Ungebildeten (lat. rudes) schwerfalle, den Stil und die innere Ordnung der biblischen Schriften unmittelbar zu erfassen, bestehe die Aufgabe des Predigtamtes in der Erhellung des ge‐ ordneten Zusammenhangs der biblischen Lehre. 97 Diese Notwendigkeit der predigenden Auslegung begründet für Melanchthon also einen Unter‐ schied hinsichtlich der Verdichtung und Erläuterungsbedürftigkeit, aber gerade keine kategoriale Trennung zwischen der überlieferten Anrede der biblischen Schriften, der methodischen Entfaltung theologischer Lehrge‐ halte und der erbaulichen Evangeliumspredigt. a) Schrift und Kirche Was die Ordnung des Lehrstoffs angeht, so sei der menschliche Verstand von Gott dergestalt geschaffen, dass er beim Lernen sehr von Zahlen und Gliederungen profitiere. 98 Die theologische Aufgabe habe daher mit einer philologischen Klärung der Zentralbegriffe anhand der biblischen Schriften einzusetzen. 99 Diesem biblischen Stoff müsse die Theologie lediglich eine übersichtliche Ordnung geben, wobei die optimale Ordnung der einzelnen Lehrstücke (lat. ordo partium doctrinae) der Schrift selbst zu entnehmen

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dieser Frage gewöhnlich besprochen werden, mit denen die Lernenden, wenn sie diese sorgfältig überlegt haben, recht über diese ganze Streitfrage werden urteilen können und genügend einsichtig erkennen werden [...]“, Herv. TG). Vgl. ebd., 192 f. Lat.: „Nam vetus docendi consuetudo fuerit talibus brevibus sententissi tamquam gno‐ mis includere insignes articulis doctrinae, quas Ecclesia ministerio Evangelii evolvere et explicare debet, ut aliquo modo ostendat amplitudinem rerum, quae in eis continentur“ (ebd., 164f). Vgl. ebd., 514 f. Vgl. ebd., 12–15. Die damit Beauftragten wiederum sind zu ermahnen, dass sie sich nicht in Mehrdeutigkeiten (lat. ambiguitas) verstricken, ihre Predigten sorgfältig disponieren und sich dabei am Sprachgebrauch der Kirche orientieren, vgl. ebd., 62 f. Vgl.: „Ita conditi sunt homines a Deo, ut numeros et ordinem intelligant et in discendo multum utraque re, numeris et ordine, adiuventur“ (dt.: „So sind die Menschen von Gott geschaffen worden, dass sie Zahlen und Ordnung erkennen und beim Lernen sehr durch beide Dinge, Zahlen und Ordnung, unterstützt werden“, ebd., 10f). Für ein Beispiel dieses Verfahrens anhand der Bedeutung von πίστις vgl. ebd., 332–341. Zu dieser topischen Methode der Auffindung von Loci vgl. Frank, Topik, 166–177.

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sei. 100 Im Unterschied zur Erstausgabe greift Melanchthon nun allerdings auf ein heilsgeschichtliches Schema zurück: Die geschichtliche Abfolge (lat. historica series) der biblischen Bücher zeichne selbst eine Ordnung des Stof‐ fes von der Schöpfung der Welt über das Christusgeschehen bis hin zu dessen soteriologischen Auswirkungen an uns vor. 101 Das Evangelium, das die Reformation neu zum Klingen gebracht hat, soll in der Spätfassung der Loci somit auf seine biblische und nachbiblische Vorgeschichte hin durch‐ sichtig gemacht werden. Die gründende Heilsgeschichte versteht Melanchthon dabei als ein zu‐ sammenhängendes Lehrgeschehen, das von Gott-Vater als letzter Quelle (lat. fons) und Autorität (lat. auctoritas) ausgeht, um sich über die voll‐ mächtige Offenbarung des Vaters in Christus und das Wirken des Geistes bis zu den Glaubenden zu erstrecken: „Als nämlich die Juden Christus anklagten, dass er gegen die Autorität Gottes lehre, musste er sich auf die Autorität des Vaters berufen; er bestätigt, dass er von ihm gesandt und dass ihm die Lehre übertragen worden ist und der Auftrag zu lehren, und er sagt, der Vater sei größer; [da spricht er von ihm als dem], der sendet, als der Quelle der Lehre, als dem der diese Lehre billigt und seine Kirche verteidigt“. 102

Die Theologie und damit auch die Darstellung der christlichen Lehre bleibt bei Melanchthon durchgängig auf die Selbstoffenbarung Gottes im biblisch bezeugten Heilsgeschehen verwiesen. Dieses theologische Erkenntnisprin‐

100 Vgl. LocPr1, 12. Der Begriff doctrina kann sich bei Melanchthon also sowohl auf das übergreifende Ganze des kirchlich tradierten Glaubenswissens beziehen, als auch auf die einzelnen Loci bzw. Lehrstücke, vgl. ebd., 374 f. 101 Vgl. ebd., 12. Mit dieser Veränderung des Gliederungsprinzips reagiert Melanchthon nicht allein auf die bereits in der ersten Fassung der Loci erkennbaren Schwierigkei‐ ten, die Orientierung am Römerbrief konsequent durchzuhalten. Er hat auch einen zwischenzeitlich durch zahlreiche theologische Kontroversen angewachsenen Themen‐ bestand zu bearbeiten. So hat etwa die Auseinandersetzung mit den Anabaptistes ge‐ nannten Täufern vielfach Spuren hinterlassen, vgl. LocPr2, 212–223; 480–483 u.ö. 102 Lat.: „Cum enim Iudaei accusarent Christum, quod doceret contra auctoritatem Dei, ne‐ cesse fuit Christo allegare auctoritatem Patris, a quo affirmat se missum esse et traditam sibi doctrinam et mandatum docendi, ac Patrem maiorem esse dicit tanquam mitten‐ tem, fontem doctrinae, approbatorem et defensiorem huius doctrinae et Ecclesiae suae.“ (LocPr1, 64f). Aus Joh 14,16f (VUL) ergebe sich ferner, dass auch der Heilige Geist ein Lehrer (lat. doctor) ist und als solcher von Vater und Sohn unterschieden, deren Lehre er hört und weitergibt, vgl. ebd., 72 f. Vgl. auch: „necesse est audire Spiritum sanctum docentem“ (dt.: „dann ist es nötig, den heiligen Geist zu hören, wenn er belehrt“, ebd., 152f), um die Wohltaten Christi ausgehend von der Sündenerkenntnis verstehen zu kön‐ nen. Zu Christus als einzig verlässlichem Übermittler der heilsamen bzw. heilbringenden Lehre (lat. salutaris doctrina) vgl. LocPr2, 372 f.

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zip hat sich in den Loci praecipui von 1559 zu einer regelmäßig wiederkeh‐ renden ‚Patefactio-Formel‘ verfestigt. 103 Aus diesem Grund bewirkt das göttliche Offenbarungsgeschehen für Melanchthon erstens auch seine eigene Verschriftlichung unter der Lei‐ tung des Geistes. 104 Mit Hilfe einer biblischen Typologie, ausgehend von der israelitischen Bundeslade, bestimmt Melanchthon als Kernaufgabe der Kirche, die prophetischen und apostolischen Schriften der Bibel zu bewah‐ ren. 105 Die Decke der Bundeslade wird dabei als Sitz der Gottheit typolo‐ gisch auf Christus gedeutet (lat. Christus vere sedes est Dei), während die beiden beschirmenden Cherubim auf das Lehr- und Predigtamt (lat. mi‐ nisterium doctrinae in utroque Testamento) zu beziehen seien. 106 Damit erscheint zweitens für Melanchthon auch die Kirche, die sichtbare Ver‐ sammlung der Glaubenden, als eingeschlossen in der Offenbarungsbewe‐ gung Gottes. 107 In der Kirche wirke Gott durch das Lehr- und Predigtamt, in welches er zur Verkündigung des Evangeliums geeignete Menschen be‐

103 Man habe sich daran zu orientieren, „ubi et cur se Deus patefecerit“ (dt.: „wo und wes‐ halb Gott sich offenbart hat“, LocPr1, 18f). Diese Offenbarung schließt ein distanziertes Verhältnis interesseloser Betrachtung zu ihr aus: „non negligenter aut frigide cogitemus de patefactione Dei, sed agnoscamus esse ingens benificium et certum testimonium, quod velit nobis opitulari“ (dt.: „wir wollen nicht nachlässig und kühl über die Offen‐ barung Gottes nachdenken, sondern anerkennen, dass es eine gewaltige Wohltat und ein sicheres Zeugnis ist, mit dem er uns beistehen will“, ebd.). Knapp formuliert lautet das theologische Erkenntnisprinzip: „de Deo sentiendum est, sicut se patefecit“ (dt.: dass „Gott so wahrgenommen werden muss, wie er sich geoffenbart hat“, ebd., 34f). Vgl. auch ebd., 76; 120; 206; 462; LocPr2, 2; 8. In der verwendeten Begrifflichkeit für die Offenba‐ rung (lat. patefacere; patefactio), die von ihren Konnotationen her an das Bahnen eines Weges denken lässt (lat. viam patefacere), deutet sich schon das Selbstverständnis einer ‚Theologie der Wanderer‘ (lat. theologia viatoris) an. 104 So unter Bezugnahme auf Ps 102,19: „Spiritus sanctus testatur se velle scribi doctrinam et testimonia divina“(dt.: „Der Heilige Geist bezeugt, dass er will, dass die Lehre und die göttlichen Zeugnisse aufgeschrieben werden“, LocPr1, 464f). Die Lehre, wie sie sich den biblischen Schriften entnehmen lässt, betrachtet Melanchthon als in sich widerspruchs‐ los, vgl. ebd., 440 f. 105 Vgl.: „Deinde in Arcam collocatae sunt tabulae Decalogi, quo significatum est Ecclesiam semper oportere custodem esse ipsorum librorum Propheticorum et Apostolicorum, in quibus Deus se patefecit.“ (dt.: „Ferner sind in der Bundeslade die Tafeln der Zehn Gebote, mit denen bezeichnet ist, dass die Kirche immer die Hüterin eben dieser Bücher der Propheten und Apostel sein muss, in denen Gott sich geoffenbart hat“, ebd., 494f). 106 Vgl. ebd. Die einander zugewandte Gesichter der Cherubim bedeuten für Melanchthon den Konsens von Propheten und Aposteln; auf diese Weise verankert er die christlich‐ typologische Deutung des alten Testaments geschickt in diesem selbst. 107 Vgl.: „Nec alibi se patefecit ut in Ecclesia visibili, in qua sola sonat vox Evangelii“ (dt.: „Und er hat sich nicht anderswo geoffenbart als in der sichtbaren Kirche, in der allein die Stimme des Evangeliums erklingt“, LocPr2, 2f).

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rufe. 108 Die wahre Kirche, der die Glaubenden sich für ihr Heil notwen‐ digerweise anschließen müssen, werde daher allein durch die Wirksam‐ keit dieser Evangeliumsverkündigung und mithin an ihrer rechten Lehre erkannt, nicht aufgrund ihrer äußeren Ordnungen oder der Moral ihrer Glieder. 109 Wird die Kirche von Melanchthon ganz auf die überliefernde Bewahrung der schriftgemäßen Lehre ausgerichtet, dann hat dies direkte Auswirkungen auf ihre Gestaltung als sichtbare Institution sui generis. Denn auch wenn die Kirche sich unweigerlich eine Organisationsgestalt geben müsse, sei diese nicht nach Art eines Reiches – hierarisch gegliedert und monarchisch gelenkt –, sondern nach dem Vorbild einer Schule ein‐ zurichten. 110 Dabei verbinde die wahre Kirche sich niemals dauerhaft mit einem bestimmten Reich, sondern sei wie die wandernden Gelehrten (lat. ut Scolastici exulantes) auf ihrer Reise immer wieder darauf angewiesen, dass ihr Gastfreundschaft und Schutz auf Zeit gewährt werde. 111 Gerade aufgrund dieser geschichtlichen Dynamik und eschatologischen Relativierung kirchlicher Organisationsgestalten tritt das Problem der Ur‐ sprungstreue nun stärker ins Blickfeld: Wie wird die Kontinuität und Rein‐ heit der Lehre bewahrt, welche die wahre Kirche auszeichnet? Sei die Kirche auch als Lehrerin (lat. doctrix) der Glaubenden zu lieben und zu verehren, komme ihr dennoch keine Autorität unabhängig vom Wort Gottes zu. 112 Die Lehre des Evangeliums sei – gegen die römische Vorstellung – gleich ursprünglich mit der Kirche und nicht an eine bestimmte Form der Suk‐ zession des Amtes gebunden. 113 Daher ist die Lehre aller Amtsträger und

108 Vgl. ebd., 46–49. 109 Gegen die donatistische Irrlehre sei festzuhalten, dass jeder, der in die wahre Lehre ein‐ stimme, auch als Sünder noch Bürger und Glied der Kirche (lat. cives et membra Ecclesia in hac vita) bleibe, vgl. ebd., 2–7. Im Unterschied zur Irrlehre gefährde die moralische Verfehlung der Amtsträger nicht die Wirksamkeit der Sakramente und der Evangeli‐ umszusage. 110 So gelte: „Ecclesiam esse coetum visibilem neque tamen esse regnum Pontificum, sed coetum similem Scholastico coetui“ (dt.: „dass die Kirche eine sichtbare Gemeinschaft, aber nicht die Herrschaft der Päpste ist, sondern eine Gemeinschaft ähnlich einer Schul‐ klasse“, ebd., 10 f.). Melanchthon bestreitet nicht, dass es in der Kirche eine bestimmte Ordnung geben müsse: „Est ordo, est discrimen inter docentes et auditores, et sunt gradus. Alii sunt Apostoli, alii sunt pastores, alii doctores“ (dt.: „Es gibt [dort] eine Ordnung, es ist ein Unterschied zwischen Lehrern und Schülern, und es gibt Stufen. Einige sind Apostel, andere sind Hirten, wieder andere sind Lehrer“, 12f). 111 Vgl. ebd., 20–23. Hier wird bereits eine eschatologische Dynamisierung des Kirchenbe‐ griffs deutlich, die in der Barocktheologie bei Dannhauer noch einmal stärker in den Vordergrund tritt, siehe unten unter 4.1.1. 112 Vgl. ebd., 14 f. 113 Vgl.: „Ecclesia ad ipsum Evangelium Dei alligata est, quod ut sonet in ministerio, Deus subinde excitat aliquos recte docentes, ut Ephes 4. dicitur, etiamsi inter hos alii plus, alii

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ihrer Versammlungen für Melanchthon allein an der ursprünglichen, in der Schrift niedergelegten Evangeliumsverkündigung der Apostel zu prü‐ fen. 114 Die dazu erforderliche Gabe zur rechten Erfassung des Schriftsinns wiederum betrachtet er als ein Geschenk des Heiligen Geistes, das nicht an ein bestimmtes Amt oder die Übereinstimmung mit der Mehrheitsmeinung innerhalb der Kirche geknüpft ist. 115 Dennoch beansprucht Melanchthon im Namen der reformatorischen Kirchen und ihrer evangelischen Lehre einen Konsens mit den rechtgläubi‐ gen Kirchenlehrern aller Zeiten. Dem Aufweis einer solchen Kontinuität und Katholizität dienen nicht zuletzt die erneute Auseinandersetzungen mit altkirchlichen Häresien sowie die Bezugnahme auf frühere Theologen, die so als ‚Vorreformatoren‘ in Stellung gebracht werden. 116 Die rechte Lehre bewähre sich den Frommen aller Zeiten allerdings nicht nur auf‐ grund ihrer Übereinstimmung mit Schrift und Tradition, sondern immer auch als Ausdruck der je eigenen Erfahrung: „sie stehen tatsächlich mit dem übereinstimmenden Urteil aller Heiligen von allem Anfang an im Ein‐

minus lucis habent“ (dt.: „Die Kirche ist unmittelbar an das Evangelium Gottes gebun‐ den, dadurch dass Gott, damit es im Dienst klar ertönt, immer wieder diese und jene, die richtig lehren, aufrüttelt, wie Epheser 4 gesagt wird, auch wenn unter diesen einige mehr, andere weniger Licht haben“, ebd., 8–11). 114 Vgl. ebd. Bezüglich der Lehre gelte ausgehend von Gal 1,9: „cum hi errant, qui ordi‐ nariam potestatem tenent, non sunt audiendi.“ (dt.: „wenn die irren, die eine [durch Nachfolge] geregelte Macht in Händen halten, dann darf man nicht auf sie hören“, ebd., 10f). Vgl. ebd., 10–15; 32–35. 115 Vgl.: „Donum igitur interpretationis est lumen, quod accendit Spiritus sanctus in horum mentibus, qui assentiuntur Evangelio“ (dt. „Die Gabe [oder eher: Eine Gabe, TG] also ist das Licht der Auslegung, das der Heilige Geist in den Gemütern derer anzündet, die dem Evangelium zustimmen“, ebd., 34f); Die biblischen Zeugnisse belegten deutlich: „interpretationem esse donum piorum nec esse alligatam potestati aut maiori parti“ (dt.: „dass die Auslegung eine Gabe für die Frömmen ist und nicht an eine Vollmacht oder eine Mehrheit gebunden ist“, ebd., 36f). Häufig schon sei in der Kirchengeschichte der Fall gewesen, dass die Mehrheit (zumindest anfangs) geirrt habe, vgl. ebd., 12 f. 116 Viele der großen Theologen wie Basilius, Augustin, Bernhard von Clairvaux befänden sich grundsätzlich in Übereinstimmung mit der wahren Lehre der Apostel, auch wenn sie teilweise zeitgebundene Meinungen untergemischt hätten, vgl. ebd., 16 f. Theolo‐ gisch sei insbesondere auf die Übereinstimmung mit solchen (alten) Zeiten zu achten, in denen die Lehre im Durchschnitt reiner und die Schriften der Theologen verlässlicher waren: „videndum est, ubi et quae sit Ecclesia, quae tempora sint puriora, qui scriptores sinceriores“ (dt.: es müsse „darauf geachtet werden, wo und welche Kirche es ist, welche Zeiten reiner sind, welche Autoren unverdorbener“, ebd., 34f). Hier ist Melanchthon deutlich vom humanistischen Ideal Ad fontes! und folglich einem Überhang der Ver‐ gangenheit über die Gegenwart geprägt. Vgl. auch Becht, Pium consensum, 311–314; 361 f.

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klang“. 117 Die heilsgeschichtliche Kontinuität der reformatorischen Lehre ist für Melanchthon dabei nicht einfach ein kontroverstheologisches Ar‐ gument unter anderen, sondern insbesondere auch ein tröstlicher Hinweis darauf, dass Gott seiner Verheißung treu ist. b) Lehre und Zucht Aufgrund der Auseinandersetzungen mit Altgläubigen und Täufern, aber auch angesichts der Streitigkeiten innerhalb der reformatorischen Bewe‐ gung fordert Melanchthon, für das angemessene Verständnis der Lehre und zur Bestimmung ihrer Grenzen zwei grundlegende Unterscheidun‐ gen durchzuhalten. Erstens handelt es sich dabei um die grundlegende und schon im Augsburger Bekenntnis bekräftigte reformatorische Unterschei‐ dung zwischen der Lehre des Gesetzes und der Lehre des Evangeliums. Die Lehre des Gesetzes betrachtet Melanchthon dabei als dem natürlichen Ver‐ stand des Menschen unverlierbar eingeschrieben, wohingegen die fremde und offenbarte Lehre des Evangeliums in Vergessenheit gerät, wenn sie nicht regelmäßig neu gepredigt wird. 118 Fordere das Gesetz unbedingten Gehorsam gegenüber Gott, handle es sich beim Evangelium um eine Lehre ganz neuer und völlig anderer Art. 119 Nur durch das Hören der Evangeli‐ umsbotschaft werde dem durch das Gesetz überführten Sünder erschlossen, dass die Barmherzigkeit Gottes keine abstrakte Eigenschaft sei, sondern ihm persönlich gelte. 120 Neben diese reformatorische Grundunterscheidung tritt in den späten Fassungen der Loci eine zweite Unterscheidung: Die Lehre des Evange‐ liums (lat. doctrina Evangelii) ist als persönliche Gnadenbotschaft strikt vom menschlichen Bemühen um Zucht (lat. humana disciplina), also die Ordnung in Gemeinwesen und Kirche, zu unterscheiden. 121 Die sozial dis‐

117 Lat.: „revera congruunt cum consensu omnium sanctorum inde usque ab initio“, LocPr1, 460 f. Für seine Gegenwart konstatiert Melanchthon daher, dass alle Frommen die wie‐ derhergestellte, reine Lehre der reformatorischen Theologie unmittelbar verstehen und aufnehmen, vgl. LocPr2, 18 f. 118 Vgl. ebd., 152 f. 119 Vgl. LocPr1, 302–305. Bezüglich dieser Unterscheidung gelte: „est lumen [...] universae scripturae, ac fuit utrumque genus doctrinae ante Mosen“ (dt.: „Diese Unterscheidung ist das Licht der gesamten Schrift, und beide Arten der Lehre bestanden vor Moses“, ebd., 464f). 120 Vgl. ebd., 354–357. Dieser persönliche Bezug werde durch natürlich-vernünftige Gotte‐ serkenntnis keinesfalls erreicht, vgl. auch ebd., 306–309. 121 Vgl. ebd., 354. Zum Evangelium als doctrina vgl. ebd., 360f; 372f; LocPr2, 8 f. Die Ver‐ mischung beider Größen betrachtet Melanchthon als Kern der ‚pharisäischen‘ Häresie, die von den Wiedertäufern aufgenommen wurde und durch die Mönche auch in der Theologie der Papstkirche Einzug gehalten habe, vgl. LocPr1, 444–447; 454–457. Ohne

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ziplinierende Ordnung des Staates, welche im Namen der öffentlichen Ord‐ nung und des Friedens auch mit Zwang durchzusetzen sei, wird der Sphäre des Gesetzes und genauer dem usus politicus legis zugeordnet. Kirchliche Ordnungen, die der geordneten Vermittlung christlicher Lehre und der Feier des Gottesdienstes dienen, sind für Melanchthon ebenfalls diesem Bereich der disciplina zuzuordnen. Beides sei notwendig, denn ohne sol‐ che Ordnung und Zucht könne die Lehrunterweisung der Menschen nicht gelingen. 122 Strikt zu vermeiden sei aber das gesetzliche Missverständnis, dass diese notwendigen Ordnungen und von Menschen vorgeschriebene Zeremonien Gott gegenüber wohlgefällig machen könnten. 123 Aus dieser doppelten Grundunterscheidung leitet sich nicht zuletzt das unterschiedliche Verhältnis der politischen Obrigkeit und des kirchlichen Lehr- und Predigtamtes zur Gewalt ab: Während die weltliche Obrigkeit das von Gott verliehene Schwert zur Aufrechterhaltung äußerlicher Dis‐ ziplin rechtmäßig führe, dürfe das geistliche Amt allein mit dem Wort strafen und erziehen. 124 Die Unterscheidung von Obrigkeit und geistli‐ chem Amt schließt für Melanchthon allerdings nicht aus, dass gewisse

das Evangelium bleibe immer zweifelhaft, wie Gott gegen uns gesinnt sei, was zur Ver‐ zweiflung führen müsse vgl. LocPr2, 264–267. 122 Allgemein gelte: „Ubi enim nullus es ordo, nulla discipina, doceri homines non possunt. Necesse est autem doceri et audiri Evangelium.“ (dt.: „Wo nämlich keine Reihenfolge ist, keine Ordnung, können die Menschen nicht unterrichtet werden. Es ist aber notwendig, dass das Evangelium gelehrt und gehört wird.“, ebd., 460–463). Melanchthon greift hier neben dem Vorbild des Schulunterrichts auf das Modell der häuslichen Kindererziehung zurück: „Ut enim in scholis [...] seu ut paterfamilias ordinem pueris praescribit, [...] ita in publicis congressibus Ecclesiae ordinem aliquem natura hominum requirit“ (dt.: „Denn wie in den Schulen [...] oder wie der Familienvater den Knaben eine Reihenfolge vor‐ schreibt, [...] so verlangt die menschliche Natur an den öffentlichen Zusammenkünften der Kirche eine gewisse Ordnung“, ebd., 438f). 123 Vgl. ebd. In Abgrenzung gegenüber hellenistischen Kulten, altkirchlichen und gegen‐ wärtigen Häresien vgl. auch ebd., 448 f. 124 Für die weltliche Obrigkeit gelte: „Magistratus est minister Dei custodiens honestam disciplinam extrernam sui coetus et pacem ac coërcens ac puniens contumaces legitimis poenis corporum“ (dt.: „Die Obrigkeit ist die Dienerin Gottes, welche die ehrenhafte äußere Disziplin in ihrer Gemeinschaft und den Frieden bewahrt und die Trotzigen mit rechtmäßigen Körperstrafen in die Schranken weist und bestraft“, ebd., 763f). Dagegen gelte für das geistliche Amt: „Evangelii doctor proponit verbum Dei et administrat Sa‐ cramenta [...]. Deinde coërcet et punit tantum verbo Dei [...], sine vi corporali“ (dt.: „Der Lehre des Evangeliums verkündigt das Wort Gottes und verwaltet die Sakramente, [...]. Dann zwingt er in die Schranken und straft nur mit dem Wort Gottes, [...] ohne kör‐ perlichen Zwang“, ebd.). Vgl. auch gegen die Beteiligung an messianisch-revolutionären Bestrebungen: „impium est sentire, quod Doctores Evangelii debeant armis constituere nova quaedam imperia“ (dt.: Es sei „gottlos, der Meinung zu sein, dass Lehrer des Evan‐ geliums mit Waffen gewisse neue Reiche gründen müssten“, 218f).

Kompendien der Lehre: P. Melanchthons Loci-Kompendien

häretische Abweichungen durch die weltliche Obrigkeit aus ihrer eigenen Bestimmung heraus, das heißt: im Namen der allgemeinen disciplina zu bekämpfen wären. 125 Als von Gott eingesetzte Obrigkeit habe sie darüber hinaus dafür Sorge zu tragen, dass die rechte Lehre in der Kirche auch tat‐ sächlich bewahrt, gepredigt und der Nachwelt vermittelt werden kann. 126 Die theologische Legitimität der Obrigkeit hängt für Melanchthon an ih‐ rer doppelten Ermöglichungsfunktion hinsichtlich der Kirche und ihrer Lehrvollzüge: Das Gewaltmonopol der Obrigkeit und der öffentliche Friede verschaffen der Kirche negativ die Bedingungen, die Bevölkerung ungestört in der wahren Religion zu unterweisen. 127 Darüber hinaus sieht er die Ob‐ rigkeit positiv in der Pflicht, auch für angemessene Bildungseinrichtungen, insbesondere Schulen und Universitäten zu sorgen. 128 Es wird hier deut‐ lich, dass Melanchthon mit Hilfe der Unterscheidung von doctrina und disciplina versucht, das Verhältnis von politischer Obrigkeit und kirchli‐ chem Amt im Sinne der reformatorischen Zwei-Reiche-Lehre zu entflech‐ 125 Vgl. ebd., 428–431. Sei das Gesetz des Mose hinsichtlich seiner konkreten Ausgestaltung auch an das untergegangene jüdische Gemeinwesen gebunden, so sieht Melanchthon es doch als vorbildlich für gegenwärtige Gesetzgebung an, sofern es Blasphemie und öffentliche Irrlehre mit rigiden Strafen (!) belegt habe. Vgl. auch LocPr1, 498 f. 126 Ebd., 240 f. Der übergreifende Zweck der fortdauernden Erhaltung des Menschenge‐ schlechts (d.h. auch der Familie) und des politischen Gemeinwesens sei, dass die Zahl der zur wahren Kirche Gehörenden weiter anwachse und die christliche Lehre weiterge‐ geben werde: „ut alii alios docere possint“ (dt.: „damit die einen [Menschen] die anderen lehren können“, ebd., 298f). Sofern die Obrigkeit Teil der Kirche sei, trage sie eine un‐ delegierbare Verantwortung für die Reinheit der evangeliumsgemäßen Lehre: „Valde errant Principes, si hanc curam non pertinere ad se arbitrantur.“ (dt.: „Die Fürsten irren sehr, wenn die glauben, diese Aufsichtspflicht betreffe sie nicht“, LocPr2, 432f). 127 So gehe die Bedeutung des Friedens nicht im Schutz von Leben und Eigentum auf, son‐ dern „pacis ulterioris fines sunt, ut propagari vera religionis doctrina possit, ut tegantur scholae et imbecillis aetas erudiri possit nec prorsus dissipetur Ecclesia aut deleantur seminaria Ecclesiae“ (dt.: „die weiteren Ziele des Friedens sind, dass die wahre Lehre der Religion verbreitet werden kann, dass Schulen geleitet werden und die schwache Jugend unterrichtet werden kann und die Kirche nicht gänzlich zerstreut wird oder die Pflanzschulen der Kirche vernichtet werden“, ebd., 398f). Vgl. ebd., 412–419; 426f, wo David als Ideal eines Herrschers gezeichnet wird, der sein politischen Handeln an der Bewahrung und Vermittlung der Lehre orientiert habe. 128 Vgl.: „curam literarum et scholarum, in quibus literae et artes Ecclesiae necessariae traduntur“ (dt.: „die Sorge um die Unterstützung der Wissenschaften und der Schulen [...], in denen die für die Kirche notwendigen Schriften und Fähigkeiten weiter gegeben werden“, ebd., 436); „respublicae seu civitates praebeant hospitium et alimenta Ecclesiis et foveant doctores ac discipulos doctrinae de Deo et earum artium, quae Ecclesiae ne‐ cessariae sunt.“(dt.: „die Staaten und Bürgerschaften sollen den Kirchen Unterkunft und Nahrungsmittel gewähren und sie sollen die Lehrer und Schüler [in der Aneignung] der Lehre über Gott und die Fähigkeiten, die notwendig sind für die Kirche, unterstützen“, ebd.).

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ten, um es sodann neu zu bestimmen. Die Indienstnahme der Obrigkeit erfolgt auf der Basis einer Unterscheidung verschiedener Zuständigkeiten. Diese Unterscheidung bietet diesbezüglich zweifellos einen Gewinn und stellt die theoretischen Instrumente bereit, um die soteriologisch fokus‐ sierte Lehre von sozialen Konventionen, rechtlichen Bestimmungen und kultischer Ordnung der Gottesdienstvollzüge zu unterscheiden. Allerdings kollidiert diese Unterscheidung faktisch mit der personellen Verflechtung beider Sphären in der Person des Fürsten, insofern der princeps in perso‐ naler Einheit zugleich exemplarisches Glied der Kirche und göttlich einge‐ setzte Ordnungsmacht ist. Auch bleibt die Legitimation der Obrigkeit an ihre theologisch begründete Funktion gebunden, der lehrenden und predi‐ genden Kirche einen Raum im Gemeinwesen zu schaffen, der notfalls auch mit gewaltsamem Zwang zu verteidigen ist. Es ist für Melanchthon sehr zu beklagen, wenn das kirchliche Amt der Lehre und Evangeliumsverkündigung von Seiten der Obrigkeit nicht gut geordnet und gepflegt wird. Aber dort, wo das Predigtamt in schlechtem Zustand ist, sieht er nicht nur die Obrigkeit, sondern alle Frommen ge‐ meinsam in der Pflicht. 129 Jeder und jede Glaubende müsse entsprechend dazu befähigt und bereit sein, für den eigenen Glauben und die Lehre der Kirche persönlich Rechenschaft abzulegen. 130 Melanchthon ermahnt daher alle Christenmenschen, das Ihre zur Weitergabe der rechten Lehre an die Nachkommen beizutragen: „die recht Lehrenden sollen nicht verfolgt werden, die Studien der heiligen Lehre sollen nicht gehindert werden, sondern wie die einzelnen Bienen in Waben [das Re‐ sultat] ihrer Arbeit zum allgemeinen Nutzen zusammentragen, so sollen wir – jeder für sich – alle Bemühungen und unsere Verrichtungen zum Wohl und der Ruhe der 129 Mit Blick auf seine Gegenwart beklagt er: „Nunc rursus etiam in illis locis, ubi doctrina sincera recepta est, admittuntur ad ministerium multi indocti et ignavi [...] Ita perpetuis difficultatibus in hoc mundo Ecclesia conflictatur, quas pii considerare debent, ut suo quisque loco, quantum potest, eas leniat“ (dt.: „Nun wiederum werden auch an jenen Orten, wo die reine Lehre angenommen worden ist, zum Dienst viele Ungelehrte und Träge zugelassen [...] So schlägt sich die Kirche mit dauernden Schwierigkeiten in dieser Welt herum, welche die Frommen bedenken müssen, damit jeder sie an seiner Stelle, so viel er kann, lindert“, ebd., 50f). 130 Melanchthon würde daher eine regelmäßige, öffentliche Überprüfung der Lehre durch das kirchliche Amt begrüßen, vgl. ebd., 54f; 88–91; 150 f. Die Verfehlung gegen die Lehre findet sich daher auch in dem exemplarischen Sündenbekenntnis, das Melan‐ chthon nach Art eines Beichtspiegels anführt. Vgl. zum zweiten Gebot: „Interdum erravi in aliquo dogmate et eo errore deformavi doctrinam coelestem“ (dt.: „Zuweilen habe ich in irgendeinem Lehrsatz geirrt und habe in diesem Irrtum die himmlische Lehre verfälscht“, ebd., 156f); sowie zum achten Gebot: „... admisceo sophisticam consiliis et negotiis aut doctrina ...“ (dt.: „... ich mische Spitzfindigkeiten in die Raschläge und Ge‐ schäfte oder die Lehre ...“, ebd., 160f).

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Kirchen der recht Lehrenden zusammentragen und die frommen Studien unterstüt‐ zen, damit die reine Lehre [...] in die Nachwelt fortgesetzt wird.“ 131

Das reformatorische Ideal allgemeiner Mündigkeit verpflichtet die Darstel‐ lung der Lehre auf Knappheit und Übersichtlichkeit, also insbesondere zu einer klaren Fokussierung auf das Heilsnotwendige und aktuell Strittige. Gleichzeitig verpflichtet dieses Ideal schlechthin alle Christenmenschen, sich diese Lehre selbst anzueignen und kompetent mit ihr umzugehen. c) Umstrittene Lehre Angesichts einer Zeit der voreschatologischen Scheidung zwischen den Bekennern der wahren Lehre und ihren Gegenkräften verheißt das treue Festhalten an der rechte Lehre für Melanchthon zumindest kurzfristig kei‐ nen weltlichen Frieden. Die reformatorische Wiederherstellung der Lehre bringe vielmehr notwendig die Spaltung und das Skandalon des Anstoßes mit sich. Unvermeidlich sei nämlich der Anstoß, den die wahre christliche Lehre bei allen ‚Pharisäern‘ errege, die ihr falsches Verständnis der Lehre und einen falschen Kult verteidigen wollen. 132 Anstoß dieser Art zu pro‐ vozieren sei keine Sünde, sondern folge im Gegenteil notwendig aus den Glauben, der die Einzelnen auch um den Preis persönlicher Opfer sowie des Unfriedens im Gemeinwesen auf die wahre Lehre verpflichte. 133 Die Standhaftigkeit im Bekenntnis (lat. constantia in confessione) bringe insbe‐ sondere für diejenigen, die als Prediger und Lehrer dienen, Bedrängnisse mit sich. 134 Aber diese Bedrängnisse sollten als von Gott gesandte Gelegen‐

131 Lat.: „non premantur recte docentes, non impediantur studia piae doctrinae, sed ut in alveolis apes singulae conferunt labores suos ad communem utilitatem, ita nos confera‐ mus singuli omnia studia et officia nostra ad salutem et tranquillitatem Ecclesiarum recte docentium et iuvemus pia studia, ut ad posteros doctrina pura [...] propagetur“ (ebd., 488f). Vgl. insbesondere auch die Schlusspassage, ebd., 516–519. 132 Vgl. ebd., 470–473. Die offensio Pharisaica ist deutlich auf die altgläubigen Theologen gemünzt, vgl. ebd., 476 f. Deren Anstoß an der reformatorischen Lehre erwachse daraus, dass sie die Unterscheidung zwischen dem Gebotenen und den freigestellten Mitteldin‐ gen (lat. adiaphora) nicht verstanden haben, weshalb für die wirksame Widerlegung gelte: „Primum doctrina, quae monstrat veros cultus et taxat commentitios et causam ostendit libertatis in adiaphoris, proponenda est.“ (dt.: „Zunächst muss die Lehre, wel‐ che die wahren [Gottes-]Dienste zeigt und die erfundenen tadelt und die Ursache der Freiheit in den gleichgültigen [Dingen] aufzeigt, dargelegt werden“, ebd., 482f). 133 Vgl. ebd., 472 f. 134 Vgl. LocPr1, 288–293. Bereits Mose ermahne in Dtn 33,8–11 die rechtgläubigen Lehrer, dass sie viel zu erleiden hätten: „doctoribus ingentia certamina, pericula, odia et sup‐ plicia subeunda esse in propugnatione piae doctrinae“ (dt.: „dass die Lehrer gewaltige Auseinandersetzungen, Gefahren, Anfeindungen und Bestrafungen auf sich nehmen müssen in der Verteidigung der gottgefälligen Lehre“, ebd., 290f).

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heit begriffen werden, im Extremfall mit dem eigenen Leben das Bekenntnis zur Wahrheit der Lehre abzulegen. 135 Die Treue zur evangelischen Lehre ist im Bekenntnisfall dem öffentlichen Frieden und dem eigenen Leben vorzu‐ ziehen. Zu vermeiden sei dagegen jeder Anstoß, der den Schwachen im Glau‐ ben durch falsche Lehre und schlechtes Beispiel (lat. aut falsa doctrina aut malum exemplum) das Evangelium verdunkele oder die Verkündigung der Kirche unglaubwürdig mache. 136 Moralische Verfehlungen der Lehrenden sollten grundsätzlich hingenommen werden und bieten keinen hinreichen‐ den Grund, sich von der Kirche abzuspalten. 137 Abweichungen in der Lehre hingegen gefährden das verkündigende Amt selbst (lat. mutatur ipsum mi‐ nisterium) und damit das Kirchesein der Kirche, auch wenn sie die Wirk‐ samkeit und Gültigkeit der Sakramente nicht aufheben. 138 Wird die Lehre verfälscht, kann das Heilswerk Christi nicht als persönliches Evangelium angeeignet werden. Bezüglich der rechten oder falschen Lehre stehe des‐ halb schlechthin jeder Glaubende in der Pflicht, sich ein eigenes Urteil zu bilden und ein klares Bekenntnis zur Wahrheit abzulegen: „in den Ausein‐ andersetzungen über die Lehre ist es nötig, dass jeder einzelne Fromme die Wahrheit beurteilt, annimmt und bekennt“. 139 Dies könne auch die Pflicht beinhalten, um der Wahrheit willen die Gemeinschaft aufzukündigen und die Kirche zu verlassen. 140 Auch hier wird Melanchthons Position deutlich, dass die Lehre alle Glaubenden verpflichtet und das hohe Gut des Friedens

135 So gelte von den unvermeidlichen Angriffen auf die wahre Kirche: „Ut afflictiones sint testimonia doctrinae. Quia enim sancti anteferunt confessionem suae vitae, apparet eos serio sic sentire“ (dt.: „Dass die Anfechtungen Zeugnisse der Lehre sind. Weil nämlich die Frommen das Bekenntnis ihrem Leben vorziehen, ist es offensichtlich, dass sie ernst‐ haft so glauben“, LocPr2, 178f). Vgl. ebd., 256-259; 294 f. 136 Vgl. ebd., 478 f. 137 Als Grundsatz gelte: „propter mores docentium non esse discedendum a reliqua Ecclesia nec schismata facienda esse, si nullus sit error doctrinae“ (dt.: „dass man sich wegen der Sitten der Lehrenden nicht von der übrigen Kirche trennen darf und dass keine Glau‐ bensspaltungen gemacht werden dürfen, wenn es keinen Irrtum in der Lehre gibt“, ebd., 28f). 138 Vgl. ebd. 139 Lat.: „de controversiis doctrinae necesse est singulos pios iudicare, amplecti et profiteri vera“ (ebd., 486f). 140 Vgl. ebd., 30 f. Siehe auch Melanchthons Argumentation in seinem Traktat von der Gewalt des Papstes. Indem der Papst seine Machtausübung jeder Kontrolle entziehe, werde der Kirche die Möglichkeit abgeschnitten, Verfälschungen mittels ihrer Lehrbe‐ anstandungsverfahren selbst zu korrigieren, vgl. BSELK, 820, Z. 6–8. Dies begründe eine Pflicht, das antichristliche Reich des Papstes zu verlassen und die kirchliche Gemein‐ schaft mit Rom aufzukündigen. Melanchthon empfindet diese Konsequenz als zwar hart, aber unvermeidlich, vgl. ebd., 816, Z. 21.

Kompendien der Lehre: P. Melanchthons Loci-Kompendien

in Kirche sowie Gemeinwesen zurücktreten muss, sobald eine das Heil ge‐ fährdende Irrlehre identifiziert ist. Immer sei allerdings darauf zu achten, dass es bei einem Lehrstreit tat‐ sächlich um die Reinheit der Lehre gehe und nicht vielmehr um persönliche Begierden, Affekte und Abneigungen der Beteiligten. 141 Damit erkennt Me‐ lanchthon eine ambivalente Dynamik an, die – insbesondere – von den Grundentscheidungen der lutherischen Theologie und ihrer im Zweifels‐ fall alle sozialen Verpflichtungen sprengenden Orientierung an der Rein‐ heit der evangelischen Lehre freigesetzt wird. Die reine, aus der Schrift geschöpfte Lehre der Kirche zwingt zur persönlichen Aneignung und zur eschatologischen Scheidung der Geister, der Wahrheit von der Lüge. Aber unter der Macht der Sünde kann die Lehre auch als Instrument zur Ver‐ folgung eigener Zwecke und für ganz menschliche Parteibildungen inner‐ halb der Kirche missbraucht werden. Dieses Bewusstsein für die Gefahr, dass sich Lehrstreitigkeiten mit nicht-theologischen Interessen verbinden und sündhaft verselbständigen können, dürfte nicht zuletzt Melanchthons Erfahrungen mit den innerlutherischen Streitigkeiten geschuldet sein, die nach dem Tod Luthers und rund um das Leipziger Interim ausgebrochen waren. 142 3.2.3 Interpretation Die Kirche ist bei Melanchthon gewissermaßen doctrinae creatura (dt. ‚Ge‐ schöpf der Lehre‘), das heißt: von der Vermittlung der Lehre her bestimmt und in all ihren Vollzügen mehr oder weniger direkt auf die Weitergabe der reinen und schriftgemäßen Lehre der Propheten und Apostel ausge‐ richtet. 143 Diese umfasst die Lehre des Gesetzes ebenso wie die Lehre des Evangeliums – die Lehrform ist hier also als indifferent gegenüber der re‐ formatorischen Grundunterscheidung von Gesetz und Evangelium. Trotz seiner Betonung der lehrhaften Dimension des göttlichen Wortes wäre es für Melanchthon allerdings nicht ausreichend, wenn Christus wie in man‐ chen anderen Spielarten protestantischer Theologie allein als Lehrer ver‐ standen würde. Gerade für die Lehre des Evangeliums, also die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders um Christi willen, ist das sühnende

141 Vgl. LocPr2, 290 f. 142 Vgl. die Darstellung bei Scheible, Melanchthon, 235–251. 143 Vgl. zum Folgenden auch Wallmann, Theologiebegriff, 75–84, dessen etwas einseitig negativer Bewertung des „melanchthonischen Traditionalismus“ (ebd., 64) hier eine alternative Interpretation gegenübergestellt werden soll. Für eine hier weitgehend von Wallmanns Interpretation abhängige, aber mit vielen Quellenzitaten angereicherte Dar‐ stellung vgl. auch Mahlmann, Doctrina, 199–218.

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Bekenntnis der Lehre: Lutherische Lehre in der Reformationszeit

Opfer des Gottmenschen am Kreuz als wirksames Heilsgeschehen konsti‐ tutiv. 144 In der programmatische Ausrichtung der Theologie auf die Wohltaten Christi (lat. benificia Christi) zeigt sich eine seelsorgerliche Ausrichtung der Lehre, die das Evangelium als Gewissenstrost der Einzelnen zu Geltung bringen und so die persönliche Aneignung der Heilsbotschaft ermöglichen soll. Dies schlägt sich bei Melanchthon außerdem nieder in einer inne‐ ren Fluchtlinie seiner Theologie auf das Gebet, die sich insbesondere in der Spätfassung seines Lehrkompendiums aufweisen lässt. 145 Im Leiden er‐ schließe die Lehre des Evangeliums die Erkenntnis, dass Gott nicht fern ist, sondern anwesend – als wirksame Hilfe und durch die Linderung der Übel. 146 Die Anrufung Gottes im Gebet (lat. invocatio Dei) als die prak‐ tische Betätigung des wahren Glaubens ist der eigentliche Ziel- und Hö‐ hepunkt der Loci praecipui von 1559. 147 Dies weist darauf hin, dass hier gerade kein doktrinäres Konzept einer kirchlichen Heilspädagogik vorliegt, sondern die reformatorisch-humanistische Zentralstellung der Lehre nur innerhalb einer umfassenden Frömmigkeitsbewegung zu verstehen ist. Der Glaubende soll eine persönliche Aneignung der Rechtfertigungsbotschaft vollziehen, wobei Melanchthon sicher stärker als Luther auf die verstan‐ desmäßige Durchdringung dieser Botschaft samt ihrer Implikationen sowie ihre Vermittelbarkeit in der Sprachgestalt allgemeiner Lehraussagen ab‐ stellt. Die Notwendigkeit, dass die christliche Lehre in der Kirche durch Leh‐ rer, Prediger und Seelsorger vermittelt wird, führt Melanchthon das drin‐ gende Erfordernis einer so gelehrten wie möglichst eingängigen Darstel‐ lung der Lehre vor Augen. Seine theologische Darstellungsweise nach der Loci-Methode orientiert er zunächst am Römerbrief, später an einem der Bibel abgelesenen Schema der Heilsgeschichte. Beides drückt bereits auf

144 Vgl. LocPr2, 60–63. Vgl. den zweiten und dritten Artikel des Augsburger Bekenntnisses: „ut reconciliaret nobis Patrem et hostia esset non tantum pro culpa originis, sed etiam pro omnibus actualibus hominum peccatis“ (BSELK, 97, Z. 11f; dt.: „das er ein opffer were nicht allein fur die Erbsund, sondern auch fur alle andere sunde, und Gottes zorn versünet“, ebd., 96, Z. 13f). Vgl. ebd., 99, Z. 11–13. 145 Vgl. auch Bayer, Theologie, 152–155. Die frömmigkeitspraktische Ausrichtung der Theologie Melanchthons betont anhand der Abendmahlstheologie und einschlägiger Predigten auch Jammerthal, Abendmahlstheologie, 238–241; 250–252. 146 Vgl. LocPr2, 272 f. 147 Entscheidend ist für Melanchthon, dass diese auch tatsächlich an den christlichen als den wahren Gott gerichtet wird, was die heilsgeschichtlichen Bezüge in der Anrede Gottes sicherstellen sollen, vgl. ebd., 338 f. Zum Zusammenhang von fides und invocatio als dem höchstem Gottesdienst, der Quelle des Glaubensgehorsams und aller Werke vgl. LocPr1, 382f; zum Verhältnis von Glaube und Anrufung vgl. ebd., 462 f.

Kompendien der Lehre: P. Melanchthons Loci-Kompendien

formaler Ebene aus, dass die reformatorische Lehre einerseits allein aus der Schrift ihre Gestalt und ihre Inhalte zu entwickeln hat, andererseits als hermeneutischer Wegweiser auch wiederum zur eigenen Schriftlektüre anleiten soll. 148 Keinesfalls soll dabei die Beschäftigung mit der kirchli‐ chen Lehre – und sei sie auch noch so rein! – die eigenständige Lektüre der biblischen Schriften ersetzen. Die Wahrheit der Lehre wird somit ver‐ bürgt durch ihre Übereinstimmung zunächst mit der Schrift, sodann mit deren Verschriftlichung, Überlieferung und Auslegung, die ebenfalls in das Geschehen einer heilsgeschichtlichen und geistvermittelten Offenbarungs‐ bewegung von Gott zum Menschen hin eingezeichnet wird. 149 Modifiziert – oder eher: überlagert – werden die biblischen Schemata in beiden Fassungen des Loci-Kompendiums durch die theologische Ausein‐ andersetzungen Melanchthons mit den Gegnern der Wittenberger Theolo‐ gie. 150 Die denkende Reflexion auf die christliche Lehre und ihre Grundge‐ halte, die Erhellung theologischer Prinzipien sowie die bündige Darstellung sollen der Befestigung der durch die Ausrichtung am wiedergewonnenen Evangelium reformierten Kirche sowohl nach innen wie nach außen die‐ nen. Dabei wird in der kontroverstheologischen Auseinandersetzung mit den Gegnern der Wittenberger Theologie wiederum eine doppelte Kon‐ fliktlinie sichtbar: Von Seiten der altgläubigen Polemik soll die reforma‐ torische Theologie – vor dem Hintergrund eines grundsätzlich von allen Konfliktparteien geteilten, den Parolen „πρεσβύτερον ϰρεῖττον“ (dt. „Das Ältere ist das Bessere!“) und „ad fontes!“ (dt. „Zu den Quellen!“) folgenden und so an der Höherwertigkeit des Alten orientierten Weltbildes – als unzu‐ lässige Neuerung denunziert werden. Zugleich wirken sich vermittelt über die radikalen Randgestalten der Reformation religiös-soziale Fliehkräfte aus, die den Zusammenhalt der reformatorischen Gemeinwesen gefähr‐ den. In dieser Situation einer Doppelkonfrontation mit Altgläubigen und insbesondere der Täuferbewegung wird von Melanchthon die Kontinuität der reformatorischen Lehre zum Ursprung der Christenheit einerseits nach 148 Zur biblischen Ausrichtung der Theologie Melanchtons vgl. auch Jammerthal, Abend‐ mahlstheologie, 248 f. 149 Zur Rolle des Heiligen Geistes in diesem Geschehen vgl. auch Melanchthons Anno‐ tationes zum ersten Korintherbrief, StA Bd. IV, 26. Diese Rolle des Heiligen Geistes, das damit verbundenen Interesse am extra nos des Offenbarungsgeschehens sowie die Konsequenzen für die Gestaltung der kirchlichen Institutionen bilden einen kohärenten Zusammenhang reformatorischer Theologie. Aufgrund dessen erscheint es fragwürdig, dass J. Wallmann hinsichtlich Melanchthons Verständnis der doctrina Ecclesiae einen starken Gegensatz zum Theologieverständnis Luthers, der Frühorthodoxie und des Pie‐ tismus aufbaut, vgl. Wallmann, Theologiebegriff, 77–79. 150 Zum engen und für Melanchthons theologische Arbeit charakteristischen Bezug auf wechselnde Kontroversen vgl. wiederum Jammerthal, Abendmahlstheologie.

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außen herausgestellt, andererseits nach innen verbindlich eingeschärft. Die apokalyptisch-eschatologische Orientierung am kommenden Weltgericht, welche insbesondere in der radikalen Reformation, aber zeitlebens auch für Luther prägend ist, tritt dagegen eher in den Hintergrund. Die Kehrseite dieses Interesses an Kontinuität ist, dass auch häresiologische Schemata der Vergangenheit reaktiviert und auf Gegner übertragen werden, was si‐ cher teilweise eine angemessene Wahrnehmung der Gegenwart und ihrer Kontroversen verhindert. Die Vergangenheit der altkirchlichen Lehrent‐ wicklung wird in die gegenwärtigen Auseinandersetzungen hineingezogen, wobei diese Aktualisierung und die damit verbundene Unterstellung einer Kontinuität häretischer Angriffe gegen die Wahrheit der Lehre die Kon‐ flikte zusätzlich verschärft. Letztlich nicht befriedigend geklärt erscheint auch das Verhältnis der Kirche zur politischen Macht. Mit der Unterscheidung verschiedener Ge‐ brauchsweisen des Gesetzes sowie der Differenz von Lehre (lat. doctrina) und Zucht (lat. disciplina) nimmt Melanchthon zwar auf weiterführende Weise eine Grenzbestimmung von geistlicher und politischer Sphäre vor. Allerdings wird diese Abgrenzung – wie auch im Augsburger Bekenntnis – nur hinsichtlich des Bischofsamtes als eines geistlichen und kollegial ausge‐ übten Lehramtes konsequent durchgehalten. 151 In der Person des Fürsten als idealen Christenmenschen, der nach alttestamentlichem (David) und kirchengeschichtlichem (Konstantin) Vorbild nicht nur die Zucht und den Frieden im Gemeinwesen wahrt, sondern aus seinem Selbstverständnis als göttlich eingesetzter Obrigkeit heraus zudem die Kirche und ihre Lehre zu fördern, ja: eben auch mit der Staatsgewalt zu schützen hat, vermischen sich die unterschiedenen Sphären wieder. Dies erscheint angesichts der von den Reformatoren nie aufgegebenen Zielvorstellung eines christlich-monokon‐ fessionellen Gemeinwesens zwar konsequent, aber schafft – sicher gegen die Intention Melanchthons! – die Bedingungen dafür, dass die Lehre und der Streit um die rechte Lehre immer wieder in das politische Kräftefeld gezogen werden. 152 Die Entwicklungen des sog. Konfessionellen Zeitalters zeigen, wie etwa ein Konfessionswechsel des Herrschers, die direkte oder indirekte Einflussnahme auf die theologischen Fakultäten sowie die Ver‐ folgung religiöser Minderheiten weiterhin selbstverständlich zum Instru‐ mentarium der Politik gehören.

151 Vgl. hier wiederum die Annotationes, StA, Bd. IV, 31 f. 152 Vgl. als pointierte Darstellungen Heckel, Deutschland; sowie Burkhardt, Krieg.

Einübung der Lehre: M. Luthers Katechismen

3.3 Einübung der Lehre: M. Luthers Katechismen Die beiden Katechismen Martin Luthers (1483–1546) unterscheiden sich schon in ihrer Gattung deutlich von den übrigen Bekenntnisschriften des Konkordienbuches. 153 Bei dieser katechetischen Gattung, für die Luther stilbildend gewirkt hat, unterscheiden sich die intendierte Leserschaft und der Sitz im Leben deutlich von den Texten, die als Lehrbekenntnisse oder als Traktate zu charakterisieren sind. Sie reagieren ursprünglich auf die dramatische Unkenntnis der Kerngehalte christlicher Lehre, die Luther bei einer Visitation der sächsischen Gemeinden erlebt hatte: „Hilff, lieber Gott, wie manchen jamer hab ich gesehen, das der gemeine Man doch so gar nichts weis von der Christlichen Lere, sonderlich auff den Dörffern“. 154 Diese Unkenntnis ist für Luther in zweifacher Hinsicht fatal. Erstens ge‐ höre zum Christsein allgemein, besonders aber zur Aneignung der Tauf‐ gnade und zur würdigen Teilnahme am Abendmahl, ein Grundverständnis der christlichen Lehre. 155 Zweitens verhindere nur das rechte Verständnis der Lehre fatale Verzerrungen der reformatorischen Evangeliumsbotschaft, insbesondere den libertinistischen Missbrauch der christlichen Freiheit. 156 Auf diesen Mangel an Kenntnis der christlichen Lehre, der wiederum auf eine mangelhafte Vermittlung der Lehrgehalte durch die kirchlichen Insti‐ tutionen – hier vor allem im Blick: Hausgemeinde, Elementarunterweisung und Gottesdienstversammlung – hinweist, reagiert Luther mit seinen bei‐ den Katechismen. Aus Katechismuspredigten entwickelt und weitgehend parallel verfasst, sollen sie religiöse Grundbildung für Laien und Prediger bieten, aber zugleich in eine Gesamtbewegung zur existenziellen Aneig‐ nung reformatorischer Frömmigkeit hineinziehen. 157 Die folgende Dar‐

153 Aus der mehr als umfangreichen Literatur zu Luthers Biographie und Kontext ist – gewissermaßen als komplementäre Enden des Spektrums – zu verweisen auf die kon‐ zentrierte Darstellung Kaufmann, Luther; sehr ausführlich vgl. Brecht, Luther. Zu den Katechismen und ihrem Kontext vgl. Peters, Kommentar, Bd. 1, 15–49; Wenz, Theologie, Bd. 1, 233–261. 154 BSELK, 852, Z. 11–13. 155 Vgl. ebd., Z. 14–16. 156 Vgl. ebd., Z. 17 f. Dieses Problem wird schon in Melanchthons gemeinsam mit Luther herausgegebenem Unterricht der Visitatoren von 1528 adressiert, der für die Geschichte des reformatorischen Lehrverständnisses von zentraler Bedeutung, hier in der syste‐ matischen Rekonstruktion aber als eigene Konzeption verzichtbar ist, vgl. StA, Bd. I, 214–271. Vgl. diesbezüglich die Beiträge in Bauer/Michel (Hg.), Unterricht. 157 Zur Vorgeschichte der Katechismen vgl. Herms, Auslegung, 3–17. Vgl. auch Jetter, Art. Katechismuspredigt, 746–748; sowie die knappe Einleitung von Kolb in: BSELK, 841–850. Für eine systematische Interpretation der Theologie alltäglicher Frömmig‐

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stellung beschränkt sich für die Untersuchung des Lehrverständnisses der Katechismen auf deren programmatischen Vorreden (3.3.1). Außerdem werden einige Schlaglichter auf die Durchführung des theologischen Pro‐ gramms innerhalb der Hauptstücken des Großen Katechismus geworfen (3.3.2). Eine Beobachtung anhand der Schlusspassage des Großen Katechis‐ mus zur Aneignung der Lehre schließt die systematische Rekonstruktion ab (3.3.3). 3.3.1 Das Programm der Katechismusunterweisung Der Kleine Katechismus soll laut Vorrede Pfarrern und Predigern, die lei‐ der oft „fast ungeschickt und untüchtig sind zu lehren“, als Leitfaden und didaktische Hilfestellung dienen. 158 Im Zentrum der Bemühungen soll da‐ bei „das junge Volck“ stehen, das Pfarrern und Predigern besonders zur Lehrunterweisung anbefohlen ist. 159 Als Folgerung aus dieser Zielsetzung ergibt sich für Luther zunächst die Konzentration auf fünf bzw. sechs Hauptstücke (Zehn Gebote, Apostolisches Glaubensbekenntnis, Vaterun‐ ser, Taufe, Abendmahl und Beichte), elementare Vollzüge der Frömmigkeit (Morgen- und Abendsegen, Benedictus und Gratias) sowie die christliche Haustafel als ideales Bild der Sozialgestalt christlichen Lebens. 160 Aus di‐ daktischen Gesichtspunkten erscheint es Luther zudem sinnvoll, für diese Zentralstücke jeweils eine einheitliche, allgemein verbindliche und damit gut einprägsame Textgestalt zugrunde zu legen. 161 Sei der thematische Grundbestand der Lehre durch die Gesamtheit der Hauptstücke umschrie‐ ben, so könne und müsse sich deren Vermittlung doch immer auch an der

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keit bei Luther anhand seiner Katechismen vgl. Axt-Piscalar, Einübung; vgl. dies., Gott, 55–80; zu Luthers Theologieverständnis vgl. ferner pointiert dies., Theologie, 79–94. Vgl. außerdem die umfassende Rekonstruktion bei Bayer, Theologie, 35–126; vgl. Wenz, Theologie, Bd. 1, 263–347. BSELK, 852, Z. 13. Vgl. ebd., 854, Z. 4–9. Im Text des Katechismus selbst sind außerdem die Hausväter (lat. paterfamilias) angesprochen, vgl. ebd., 862, Z. 1; 870, Z. 3; 874, Z. 1 u.ö. Luther hat ein gestuftes Vermittlungsgeschehen der Lehre im Sinn: Über die Pfarrer und Prediger zu den Hausvätern bis zur gesamten Christenheit. Für das Predigtamt und die kirchli‐ che Obrigkeit im Anschluss an 1Tim 3,2–6 vgl. ebd., 894, Z. 8–15. Zur Bedeutung des Kleinen Katechismus und seiner tiefen Verankerung in der lutherischen Frömmigkeits‐ kultur vgl. auch Kaufmann, Bekenntnis, 298–301. Die Zahl der Hauptstücke unterscheidet sich zwischen Großem und Kleinem Katechis‐ mus. Die Beichte ist beim Großen Katechismus als Anhang an die Hauptstücke enthal‐ ten, vgl. BSELK, 928, Z. 18 f.; vgl. ebd., 1158–1162. Morgen- und Abendsegen sowie die entsprechenden Gebete sind nach der Systematik des Großen Katechismus eine Konkre‐ tisierung des zweiten Gebots, vgl. ebd., 956, Z. 14–22. Vgl. ebd., 854, Z. 10–15.

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konkreten Zielgruppe ausrichten und berücksichtigen, welche Stücke für diese besonders einzuschärfen seien. 162 Im Kleinen Katechismus ist der Fokus ganz auf die tiefe Verankerung der Lehre im Gedächtnis und Leben der Einzelnen gelegt – die Funktionen der Abgrenzung gegenüber anderen Lehren und Gemeinschaften, das Zeugnis vor der Welt sowie auch der eschatologische Horizont treten hier zurück. Die Lehre entspricht für Luther im Raum der Christenheit den Gesetzen eines Gemeinwesens, die von allen Bewohnern zu kennen sind und deren zumindest äußerliche Einhaltung auch zu erzwingen ist. 163 Hier wird eine Ebenenunterscheidung zwischen persönlichem Glauben und kirchlicher Lehre deutlich, die doch für Luther niemals zulässt, beides gegeneinander auszuspielen: Soll der persönliche Glaube der Einzelnen zwar möglichst mit der kirchlichen Lehre übereinstimmen, kann dieser Glaube selbst doch anders als eine Kenntnis dieser Lehre niemals erzwungen werden. 164 Der Glaube bleibt jedem äußeren Zugriff entzogen und bezeichnet insbeson‐ dere eine affektive Qualität der persönlichen Gottesbeziehung, die durch Vertrauen und Ehrfurcht, nicht durch Angst und Feindschaft geprägt ist. In seiner ursprünglichen Vorrede zum Großen Katechismus von 1529 überträgt Luther den aus dem Griechischen stammenden Begriff des Ka‐ techismus als „Kinderlehre, so ein jeglicher Christ zur not wissen soll“. 165 Als grundlegendes Glaubenswissen umfasse diese Lehre alles, was „für die Kinder und Einfeltigen“ unverzichtbar und für das Christsein konstitutiv sei, so dass, „wer solches nicht weis, nicht kündte unter die Christen ge‐ zelet und zu keinem Sacrament zugelassen werden“. 166 Diese elementaren

162 Vgl. ebd., 856, Z. 23–858, Z. 14. Den Eltern und der Obrigkeit müsse etwa besonders die Verpflichtung zur Schulbildung ihrer Kinder eingeschärft werden, damit auf diese Weise geeignete Amtsträger für Staat und Kirche herangezogen werden könnten. 163 Vgl. BSELK, 856, Z. 5–10: „Denn wiewol man niemand zwingen kan noch sol zum Glau‐ ben, so sol man doch den hauffen dahin halten und treiben, das sie wissen, was recht und unrecht ist bey denen, bey welchen sie wonen, sich neeren und leben wollen. Denn wer in einer Stadt wohnen will, der sol das Stadtrecht wissen und halten, das er geniessen wil“. Es sei, wie der Große Katechismus festhält, im Raum des christlichen Gemeinwesens „mit nichte zu leiden, das ein Mensch so rohe und wilde sey und solchs nicht lerne“ (ebd., 926, Z. 17 f.). Vgl. Kaufmann, Bekenntnis, 295 f. 164 Mit Blick auf die Teilnahme am Abendmahl, die aus einem inneren Bedürfnis her‐ aus und nicht aus Angst vor einer Strafandrohung zu erfolgen habe, vgl. BSELK, 860, Z. 12–16. Vgl. auch Slenczka, Theologie, 515–542; vgl. bes. 538 f. Der für Notger Slenczka zentrale Gegensatz zwischen den gegenständlichen Lehraussagen und einer „Existenzbewegung des Glaubens“ (ebd., 541) mag analytisch durchaus weiterführend sein, aber droht auseinander zu reißen, was in Luthers Lehrverständnis gerade zusam‐ mengehalten werden soll. 165 BSELK, 912, Z. 6 f. 166 Ebd., Z. 5; Z. 7–8. Vgl. auch ebd., Z. 19–21.

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Lehrgehalte solle man die Jugend „wol und fertig lernen lassen und mit fleis darinne uben und treiben“, weshalb „ein jeglicher Hausvater schüldig ist, das er zum wenigsten die Wochen einmal seine Kinder und Gesinde umbfrage und verhöre, was sie davon wissen oder lernen“. 167 Die erneute Vermahnung, die Luther seiner überarbeiteten Fassung von 1530 voran‐ stellt, richtet sich dagegen vordringlich an die Pfarrer und Prediger. 168 An‐ geklagt wird eine Verachtung des Katechismus durch genau die Personen, denen die schlechthin zentrale Rolle für dessen Vermittlung und Einübung zukommt. Diese Verachtung erwachse entweder aus bloßer Faulheit, die Lehrstücke regelmäßig zu meditieren und der Gemeinde unterweisend zu vermitteln, oder aus dem Hochmut und Dünkel, sich dieser schlichten Kin‐ derlehre bereits enthoben zu wähnen. 169 Daher schärft Luther bezüglich dieser elementaren und nur vermeintlich flachen Kinderlehre ein, dass sich die Hauptstücke des Katechismus und ihre Erläuterungen keinesfalls „mit einem mal über lesen“ ausschöpfen und in ihrer ganzen Bedeutung erfassen lassen: 170 „Ich bin auch ein Doctor und Prediger, ja so gelert und erfaren, als die alle sein mügen, die solche vermessenheit und sicherheit haben, noch thu ich wie ein Kind, das man den Catechismum leret, und lese und spreche auch von wort zu wort des Morgens, und wenn ich zeit habe, die zehen Gebot, Glauben, das Vater unser, Psal‐ men etc. Und mus noch teglich dazu lesen und studieren und kan dennoch nicht bestehen, wie ich gerne wollte, und mus ein kind und schüller des Catechismi bleiben und bleibs auch gerne“. 171

Selbst wenn Christen „gleich allerding auffs aller beste wüsten und kündten (das doch nicht müglich ist in diesem Leben)“, wäre doch „mancherley nutz und frucht dahinden, so mans teglich liset und ubet mit gedancken und reden“. 172 Mit der wiederholten, am besten täglich vollzogenen Meditation der Katechismuslehre sei die göttliche Verheißung verbunden, „das der heilige Geist bey solchem lesen, reden und gedencken gegenwertig ist und

167 Ebd., Z. 10–15. 168 Vgl. ebd., 914, Z. 6. 169 Vgl. ebd., Z. 9–13. Für die Faulheit gebe es umso weniger Entschuldigung, insofern im Einflussbereich der Wittenberger Reformation die Last der vorgeschriebenen Stunden‐ gebete entfallen sei und mit den Katechismen sowie Luthers Predigtpostillen nun so solide wie leicht erschwingliche Hilfsmittel für die Predigtvorbereitung zur Verfügung stünden, vgl. ebd., Z. 16–916, Z. 2. 170 Ebd., 916, Z. 13. 171 Ebd., Z. 21–23. Die Verächter des Katechismus dagegen wollten „Doctor über alle Doc‐ tor sein“ (ebd., Z. 24). Vgl. ebd., 922. 172 Ebd., 918, Z. 11–13. Diese Lehre sei nicht zuletzt „Waffen und Wehre“ gegen den Teufel, vgl. ebd., 920, Z. 25.

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immer neue und mehr liecht und Andacht dazu gibt“. 173 Schäme sich Gott selbst nicht, durch seine Engel, Propheten und Apostel „solch teglich zu lehren“, dann sei es höchst vermessen zu meinen, man könnte „das auff eine stunde aus lernen, das Gott selbs nicht kan aus leren, so er doch dran leret von anfang der Welt bis zu ende“. 174 In einer bis ins Paradoxe gesteigerten und damit eschatologisch aufgeladenen Formulierung fordert Luther, dass Christen mit „lesen, leren, lernen, dencken und tichten“ niemals aufhören dürfen, solange sie nicht „erfaren und gewis werden, das sie den Teuffel todt geleret und gelerter worden sind, denn Gott selber ist und alle seine Heiligen“. 175 Luther schreibt somit der Beschäftigung mit der Lehre des Katechismus eine pneumatologische Dimension als Wirkraum des heili‐ genden Geistes zu. Diese Heiligung durch den Geist kommt im irdischen Leben unter der noch fortwirkenden Macht der Sünde nie zu einem Ende. 3.3.2 Ein Stationenweg der Katechismusfrömmigkeit Die Zehn Gebote, das Credo und das Vaterunser sind für Luther die „nö‐ tigsten stücke, die man zum ersten lernen“, aufsagen und erklären muss. 176 In diesen drei Stücken sei alles, was in der Schrift enthalten ist, „kürtz‐ lich, gröblich und auffs einfeltigste verfasset“ und somit als eine Summe der „Christen lere, leben, weisheit und kunst“ zusammengezogen. 177 Zu diesen drei Hauptstücken kommt noch die Auskunftsfähigkeit bezüglich der Sakramente Taufe und Abendmahl, insbesondere der jeweiligen Ein‐ setzungsworte hinzu. 178 Diese Hauptstücke seien allen Christenmenschen „nicht hoch noch scharff, sondern kurtz und auffs einfeltigst“ zu vermitteln, „auff das es inen wol eingehe und im gedechtnis bleibe“. 179 Hier wirkt sich erneut das reformatorische Prinzip der Lehrgenügsamkeit aus, aufgrund dessen sich auch Luther in seinem Großen Katechismus auf das Notwen‐ dige beschränken will.

173 Ebd., 918, Z. 14 f. Lasse man sich von diesem Nutzen nicht überzeugen, sollte wenigstens Gottes Gebot in Dtn 6,7f dazu bewegen, vgl. ebd., 920, Z. 14–28. Auch in den Schmalkal‐ dischen Artikeln hält Luther fest: Der Heilige Geist „reiniget und feget teglich die ubrige Sunden aus und erbeitet, den Menschen recht rein und heilig zu machen“ (ebd., 764, Z. 7–9. Herv. TG). 174 Ebd., 922, Z. 1; Z. 6–8. 175 Ebd., Z. 24–27. 176 Ebd., 926, Z. 11 f. Vgl. auch ebd., 928, Z. 18 f. 177 Ebd., 926, Z. 19–22. Nicht entscheidend ist Luther dagegen die Behauptung einer apo‐ stolischen Herkunft des Credo, vgl. ebd., Z. 20 f. 178 Vgl. ebd., Z. 24–26. 179 Ebd., 930, Z. 6 f.

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Um die Kenntnis dieser Hauptstücke sicherzustellen, solle man die Kin‐ der diese Stücke täglich nach dem Aufstehen, zu Tisch und vor dem Schla‐ fen vorsagen lassen. 180 Die Predigt im Gottesdienst sei ohne eine solche häusliche und regelmäßige Katechismuspflege nicht ausreichend, um der Jugend die nötigen Kenntnisse zu vermitteln und insbesondere die Ein‐ übung der Lehre zu ermöglichen. 181 Sei das Elementarprogramm des Kate‐ chismus einmal fest verankert, könne man „darnach auch etliche Psalmen und Gesenge, so darauff gemacht sind, fürlegen zur zugabe und stercke desselbigen und also die Jugend in die Schrifft bringen und teglich weiter fahren“. 182 Die Katechismuslehre ist nicht nur aus der Schrift entwickelt, sondern zielt auf einen eigenständigen, immer neu vertiefenden Gebrauch der biblischen Texte. Die Hauptstücke der Lehre stehen nun im Katechismus nicht einfach zu‐ sammenhanglos nebeneinander, sondern zeichnen eine Lebensbewegung christlicher Frömmigkeit vor. Die Zehn Gebote sind für Luther der Aus‐ gangspunkt als „ausbund göttlicher Lere, was wir thun sollen, das unser gantzes leben Gott gefalle“, und somit auch als Maßstab für „alles, was gute werck sein sollen“. 183 Dem ersten Gebot, das „rechten Glauben und Zuversicht des hertzens“ fordere, „welche den rechten einigen Gott treffen und an im allein hange“, komme dabei die Stellung eines grundlegenden Hauptgebotes zu. 184 Innerhalb der Zehn Gebote konstruiert Luther eine übergreifende Bewegung des christlichen Lebens, die von den grundlegen‐ den Prinzipien der Gottes- und Nächstenliebe zu deren konkreten Folgen im Sozialleben voranschreitet. Die Gebote sollen allerdings nicht nur im

180 Luther empfiehlt einerseits die drastische Maßnahme, den Kindern und dem Gesinde „nicht zu essen noch zu trincken geben, sie hettens denn gesagt“ (Ebd., 926, Z. 14 f.). Andererseits zieht er grundsätzlich vor, „die Jugendt kindlicher weise und spielens auff[zu]ziehen“ (Ebd., 956, Z. 25): „Das were auch die rechte weise Kinder wol zu ziehen, weil man sie mit gutem und lust kan gewehnen. Denn was man alleine mit Ruten und schlegen sol zwingen, da wird keine gute Art aus, und wenn mans weit bringet so bleiben sie doch nicht lenger from, denn die Rute auff dem nacken ligt. Aber hie wurtzelt es ins herzt, das man sich mehr für Gott denn für der Ruten und Knüttel fürchtet. [...] denn weil wir Kindern predigen, müssen wir auch mit inen lallen.“ (ebd., 958, Z. 2–9). Vgl. zu diesem pädagogischen Programm auch Slenczka, Theologie, 528–530. 181 Vgl. BSELK, 928, Z. 19–21. Dennoch hält Luther regelmäßige Katechismuspredigten für notwendig, vgl. ebd. Für alle Predigt wie für den Katechismus gelte, „das nicht alleine umbs hören zu thun ist, sodern sol auch gelernet und behalten werden“ (ebd., 966, Z. 1 f). 182 Ebd., 928, Z. 21–24. 183 Ebd., 1038, Z. 16–19. Als solche sind sie unüberbietbar und auch nicht zu ergänzen, vgl. ebd., 1040, Z. 25–29. 184 Ebd., 932, Z. 4–6. Hier gelte: „wo das Heupt recht gehet, da mus auch das gantze leben recht gehen“(ebd., 940, Z. 27f).

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Leben orientieren, sondern immer auch der Sünde überführen und zum Evangelium treiben. Die Spannung zwischen den dem Dekalog beigefügten Drohungen und Verheißungen soll eine Dynamik des Glaubens freisetzen, nämlich: Gottes Zorn zu fliehen und stattdessen „unser hertz auff Gott zu erwegen mit aller zuversicht, so wir begereten alles guts zeitlich und ewig zu haben“. 185 Halten die Gebote dem Menschen also vor, „was Gott von uns wil ge‐ tahn und gelassen haben“, bietet das apostolische Glaubensbekenntnis die Summe dessen, „was wir von Gott gewarten und empfahen müssen“, womit es die Glaubenden zugleich Gott „ganz und gar erkennen“ lehrt. 186 Erst diese Glaubensartikel „scheiden und sondern“ die Christenheit „von allen andern Leuten auff Erden“, von anderen Religionen oder philosophischen Weltanschauungen. 187 Allein auf der Basis einer Selbstkundgabe Gottes im Glauben wird für Luther überhaupt möglich, den Zehn Geboten entspre‐ chend zu leben, seien diese doch für sich betrachtet „so hoch gestellet, das aller Menschen vermügen viel zu gering und schwach ist, dieselbigen zu halten“. 188 Der im Credo bekannte Glaube und insbesondere der erste Ar‐ tikel formuliere dagegen die „antwort und bekentnis der Christen, auff das erste Gebot gestellet“. 189 Den zweiten Artikel zur Versöhnung in Christus, der den Glaubensgrund extra nos als Voraussetzung aller Evangeliumspre‐ digt in lehrhafter Gestalt enthalte, führt Luther nur kurz aus, da dessen Behandlung nicht eigentlich in den Katechismusunterricht, sondern in die „grossen predigten uber das gantze jar“ an den jeweiligen Stationen des Kirchenjahres gehöre. 190 Alle Erkenntnis von Christus und aller Glaube an den dreieinigen Gott müsse dem Einzelnen „durch die predigt des Evange‐ lii von dem heiligen Geist“ vermittelt und persönlich zugeeignet werden, woraus sich die zentrale Bedeutung des dritten Artikels für die Gewiss‐ heit des Glaubens ergibt. 191 Ist die im Credo zusammengefasste und im Katechismus erläuterte Lehre nicht einfach mit dem im Geist gepredigten

185 Ebd., 944, Z. 1 f. 186 Ebd., 1048, Z. 6; 7–9. Zum Zusammenhang von rechter Gotteserkenntnis und einem existenziellen Gottesverhältnis, das von Gott allein alles Gute erwartet, vgl. Axt-Pisca‐ lar, Gott. 187 BSELK, 1068, Z. 16–18. Begründung ist für Luther, dass nicht schon der Monotheis‐ mus, sondern erst die in Christus vollzogene Selbstoffenbarung Gottes und der damit erschlossene Blick in den „tieffesten abgrund [lat. abyssus] seines Veterlichen hertzens“ (ebd., Z. 5 f) eine von Liebe und nicht von Furcht geprägte Gottesbeziehung eröffne. 188 Ebd., 1048, Z. 10–12. 189 Ebd., 1050, Z. 11 f. 190 Ebd., 1058, Z. 4. 191 Ebd., Z. 31 f. Vgl. ebd., 1068, Z. 10–15.

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Evangelium identisch, artikuliert sie doch dessen wesentlichen Inhaltsbe‐ zug auf das göttliche Heilsgeschehen in Christus. Das Vaterunser als drittes Hauptstück beinhaltet für Luther die vom Vorbild Christi und der Apostel ausgehende Orientierung, „was und wie wir beten“ sollen. 192 Im Gebet verhalten sich die Glaubenden zu Gott und gehen zugleich mit der Erfahrung um, dass sie der Welt, den Unheilsmäch‐ ten und ihrem Fleisch noch nicht völlig enthoben sind. Weder könne der Mensch auf Erden die Gebote vollständig halten, noch sei sei Glaube jemals gänzlich unangefochten. Deshalb sei es notwendig, „das man Gott immer‐ dar in ohren lige, ruffe und bitte, das er den Glauben und erfüllung der zehen Gebot uns gebe, erhalte und mere und alles, was uns im wege ligt und daran hindert, hinweg räume“. 193 Das tägliche Gebet stellt für Luther sicher, dass christliches Leben und christliche Lehre richtig innerhalb der Beziehung zu Gott dem Schöpfer verankert bleiben. Entsprechend legt er die erste Bitte um Heiligung des göttlichen Namens als Bitte darum aus, dass „beide, unsere lere und leben, Göttlich und Christlich“ sind und trotz aller Anfechtungen bleiben. 194 Die zwei Sakramente Taufe und Abendmahl sind schließlich für die christliche Existenz grundlegende Vollzüge, von denen daher „ein iglicher Christ zum wenigsten ein gemeinen kurtzen unterricht haben sol, weil one dieselbigen kein Christen sein kan“. 195 Dabei bilde die Taufe, „dadurch wir erstlich in die Christenheit genomen werden“, den Beginn des christ‐ lichen Lebens. 196 Zugleich bleibe sie immer das tragende Fundament und wirksame Vorwegnahme des Ziels dieser Lebensbewegung: „Darumb hat ein jeglicher Christen sein lebenlang gnug zu lernen und zu uben an der Tauffe, denn er hat immerdar zu schaffen, das er festiglich gleube, was sie zusagt und bringet: uberwindung des Teuffels und Tods, vergebung der Sünde, Gottes gnade, den gantzen Christum und heiligen Geist mit sei‐ nen gaben“. 197 Eine Christin oder ein Christ sein bedeutet für Luther somit wesentlich die lebenslange Aneignung des Taufgeschehens. 198 Das Abend‐

192 Ebd., 1070, Z. 16. 193 Ebd., Z. 13–16. 194 Ebd., 1082, Z. 16. Implizit richtet diese Bitte sich gegen Irrlehrer, die „felschlich pre‐ digen und gleuben und was unser Evangelium und reine Lere anfichtet, verfolget und dempffen will als Bischoffe, Tyrannen, Schwermer etc.“ (Ebd., 1084, Z. 17–19). 195 Ebd., 1110, Z. 11–13. 196 Ebd., Z. 14 f. 197 Ebd., 1120, Z. 24–28. 198 Für eine umfassende Interpretation der Tauflehre in Luthers Katechismen vgl. Axt-Pis‐ calar, Bedeutung.

Einübung der Lehre: M. Luthers Katechismen

mahl ist daneben „gegeben zur teglichen Weide und Fütterung, das sich der Glaube erhole und stercke, das er in solchem Kampff nicht zurück falle“. 199 3.3.3 Die persönliche Aneignung der Katechismuslehre Luther schärft in seinem Katechismus den Lesern wiederholt ein, dass die Hautstücke des Katechismus und ihre Bedeutung im Glauben täglich neu anzueignen sind. 200 Diese auch durch die Gebote geforderte Einübung be‐ trachtet er allerdings nicht allein oder auch nur vornehmlich als ein Werk der Glaubenden. Das tröstliche Sich-Einbilden Christi, die persönliche An‐ eignung der Rechtfertigungsbotschaft und die Heiligung des Lebens voll‐ ziehen sich vielmehr als tägliche und erst in der Ewigkeit vollendete Arbeit des göttlichen Geistes an den Glaubenden durch das Evangelium, verkün‐ digt in Wort und Sakrament. 201 Da für Luther „ein Christlich leben nichts anders ist denn eine tegliche Tauffe, einmal angefangen und immer darin gegangen“, wird diese tägliche, immer zu wiederholende und zu vertiefende Einübung in Lehre und Leben im Katechismus besonders im Zusammen‐ hang mit der Taufe eingeschärft, in deren Vollzug sich die Rechtfertigungs‐ botschaft sakramental verdichtet. 202 Durchgängig legt Luther besonderen Wert darauf, dass der pro-me-Bezug der einzelnen Lehraussagen durch‐ schaut und existenzbestimmend angeeignet wird. Was den Glaubenden in der Aneignung des Katechismus aufgehen soll, ist mit den Worten des Er‐ lösungsartikels im Kleinen Katechismus gesprochen: „Ich gleube, das Jhesus Christus warhafftiger Gott, vom Vater in ewigkeit geboren und auch wahrhafftiger Mensch, von der Jungfrauen Maria geboren, sey mein Herr, der mich verlornen und verdampten Menschen erlöset hat“. 203

Luther schärft die Notwendigkeit einer persönlichen und unvertretbaren Aneignung der Hauptstücke im Glauben ein, die über eine bloße Kennt‐ nis und äußerliche Anerkennung der Lehrinhalte hinausgehen muss. Dies 199 BSELK, 1138, Z. 28 f. 200 Zum ersten Artikel des Credo vgl. ebd., 1054, Z. 1–7. Zum dritten Artikel vgl. ebd., 1070, Z. 4 f. Damit hängt der tägliche Kampf gegen die Anfechtungen des Teufels direkt zusammen, vgl. dazu ebd., 1106, Z. 9–12. 201 Vgl. ebd., 1064, Z. 7–11; 1066, Z. 2–7; Z. 22–26. Um dieses Heiligungswirken wird ex‐ plizit in der zweiten Bitte des Vaterunsers gebeten, vgl. ebd., 1086, Z. 8–18. 202 Ebd., 1128, Z. 11 f. Vgl. ebd., 1123, Z. 3–9; Z. 14–16; 1128, Z. 17f; 1130, Z. 1–3 u.ö. Auch bezüglich des Abendmahls wird betont, dass dessen Schatz täglich ausgeteilt werde, doch ist dies eher als hyperbolische Rede von der allgemeinen Verfügbarkeit und re‐ gelmäßigen Vergegenwärtigung zu verstehen – nicht wörtlich im Sinne einer täglichen Sakramentsteilnahme, ebd., 1142, Z. 32–36. 203 Ebd., 872, Z. 2–5. Herv. TG.

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bedeutet für ihn aber keinesfalls, dass die lehrhaft-konzentrierte Artikula‐ tion grundlegender Aussagen über das Heilsgeschehen in Christus, seine Voraussetzungen und Wirkungen an den Einzelnen für die Frömmigkeit verzichtbar oder gar theologisch unmöglich wäre. Das übergreifende Ziel des Katechismusprogramms ist eine mündigen Christenheit, die sich als geordnetes Kirchenwesen eine die Generationen überdauernde Gestalt gibt, aufgebaut auf die Kernvollzüge von Evangeli‐ umspredigt und Sakramentsfeier: „man ziehe denn die Leute auff, so nach uns komen sollen und in unser ampt und werck treten, auff das sie auch ire Kinder fruchtbarlich erziehen, damit Gottes wort und die Christenheit erhalten werde.“ 204 Weil im Kampfgeschehen zwischen Gottes Wort und den Anfechtungen des Teufels kein Christenmensch verzichtbar sei, sei je‐ der Hausvater vor Gott für die Vermittlung dieser Elementarlehren an seine Nachkommen verantwortlich – „auff das sie uns mögen dienen und nütze werden, denn sie müssen doch alle uns helffen gleuben, lieben, beten und wider den Teuffel fechten“. 205 In diesem Glaubens- und Liebeskampf sind, mit der Katechismuslehre gerüstet, alle Christenmenschen persönlich und am Ort ihrer Lebenswelt gefordert. Bezüglich der „sachen, so den Glauben, liebe und gedult betrifft“, sei allerdings „nicht gnug allein leren und unter‐ richten, sondern auch teglich vermanen“. 206 Diese Bemerkung weist darauf hin, dass die katechetische Einübung und meditierende Aneignung der Lehre für Luther eine zentrale Bedeutung als Wirkraum des Geistes haben, aber noch durch einen existenziell gefärb‐ ten Modus der direkten Anrede ergänzt werden müssen – das Lehrwort des Katechismus und der Schrift darf nicht bloße Lehre bleiben, sondern muss in der Gemeinde auch zur individuellen Ermahnung und Zusage des Evangeliums werden. Dennoch lässt sich bei Luther kein Gegensatz dieses persönlichen Anredecharakters von Verkündigung und Christuszeugnis zur lernenden und meditierenden Verinnerlichung zentraler Lehrgehalte aufbauen. Diese will er als die Hauptstücke seiner Katechismen insbeson‐ dere, aber nicht exklusiv für die heranwachsende Jugend aufbereiten, in inhaltlich höchst konzentrierter Form und auf rhetorisch äußerst ausge‐ feilte Weise.

204 Ebd., 1156, Z. 4–6. 205 Ebd., Z. 10–12. 206 Ebd., 1144, Z. 21–23.

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3.3.4 Interpretation Luther erhebt mit seinen Katechismen den Anspruch, die reformatorische Theologie der Wittenberger in ein umfassendes, an verschiedenen Lern‐ orten verankertes kirchliches Lehrprogramm für Kinder und Erwachsene, Prediger und Laien umzusetzen. Die Systematik dieses Programms ent‐ wickelt er aus traditionellen Stücken der Katechismuspredigt und einer quasi-phänomenologisch entwickelten Bewegung des Glaubens, die durch die Begegnung mit dem Wort Gottes in Gesetz und Evangelium als höchst persönlicher Drohung und Verheißung angestoßen wird. Diese Bewegung nimmt die zunächst rein passiv durch die Sakramente einbezogenen Glau‐ benden so in Dienst, dass sie durch den Heiligen Geist in Gebet und tätiger Nächstenliebe an einem dynamischen Kampfgeschehen beteiligt werden. In diesem Kampf vollzieht sich die Verwandlung der gesamten Schöpfung hin zur eschatologischen Vollendung. Betrachtet man diese Bewegung gelebter Frömmigkeit als die Haupt‐ stücke integrierende Pragmatik des Katechismus, dann verliert die Frage an Bedeutung, in welchem Stück oder theologischem Strukturprinzip des‐ sen systematisches Zentrum zu finden ist. 207 Bezeichnen das erste Gebot und der Schöpfungsartikel gemeinsam den Anfangspunkt der Bewegung, determiniert dieser doch nicht die Gesamtheit des Prozesses. Der christo‐ logische und der pneumatologische Artikel des Credos verweisen sachlich so eng aufeinander, dass sie nicht gegeneinander ausgespielt werden kön‐ nen. 208 Ohne die Betätigung entlang der durch die Gebote vorgezeichneten Werke erwiese sich der Glaube als tot, ohne das Gebet wäre er den Welt‐ mächten und dem Teufel gegenüber wehrlos. Die Taufe ist der bleibende Grund des christlichen Lebens, das Abendmahl dient der regelmäßigen Erneuerung und Stärkung der Gottesbeziehung. In der Gesamtheit seiner Lebensbewegung entspricht der Glaube der dreifachen Heilszuwendung des trinitarischen Gottes in Schöpfung, Erlösung und Heiligung. Es ist diese Gesamtbewegung christlicher Existenz mit ihrer eschatologischen Fluchtli‐ nie, die die einzelnen Stücke des Katechismus zu einer Einheit integriert – nicht eines der Hauptstücke als Axiom, Fundament oder Gipfelpunkt eines hierarchisch strukturierten Lehrsystems.

207 Zur impliziten Systematik des Katechismus und ihrer angemessenen Interpretation vgl. auch Bayer, Theologie, 106–114; Herms, Auslegung, 18–34; Wenz, Theologie, Bd. 1, 253–261; 286–307; Slenczka, Theologie, 530–542. 208 Vgl. im dritten Artikel ebd., 1068, Z. 10–15: „Denn wir kündten [...] nimmermehr dazu komen, das wir des Vaters hulde und gnade erkenneten on durch den Herrn Christum, der ein spiegel ist des Veterlichen hertzens, [...] Von Christo aber kündten wir auch nichts wissen, wo es nicht durch den heiligen Geist offenbaret were“.

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Durch den expliziten Anspruch auf allgemeine Verbreitung unter der re‐ formatorischen Bevölkerung, die theoretische Konzeption und sprachlich kunstvolle Umsetzung des Katechismusprogramms – zu dem auch leider fast vollständig verlorene Lehrtafeln gehörten – wird die Ausrichtung der reformatorischen Lehre auf die gesamte Christenheit und deren religiöse Mündigkeit deutlich. Jede Christin, jeder Christ ist am konkret eigenen le‐ bensweltlichen Ort zum Verstehen, zur Einübung und zum Bezeugen eines Grundbestandes der Lehre verpflichtet. Daher kommt hier das Prinzip der Lehrgenügsamkeit in der didaktischen Konzentration auf einen Kernbe‐ stand an Hauptstücken und in den sprachlich kondensierte Musterantwor‐ ten auf die Katechismusfragen zur Anwendung. Diese Lehre ist dabei nicht intellektualistisch verengt als bloßes Sach‐ wissen zu verstehen, sondern orientiert als praktische Kompetenz die Got‐ tesbeziehung des Einzelnen sowie das gemeinsame Leben in der Kirche. 209 Sie ist Wirkraum des Geistes, der ihre Gehalte als Evangelium pro me er‐ schließt und als Trost gegen die Anfechtung wirksam werden lässt, und dazu auf möglichst tägliche Einübung angelegt – man kann gerade bei Lu‐ ther auch vom Ziel einer „Einfleischung“ der Lehre sprechen. Im Idealfall führt der Katechismus die Glaubenden zur selbständigen Lektüre der Bibel, aus der seine Hauptstücke direkt (Zehn Gebote, Vaterunser) oder indirekt (Glaubensbekenntnis) entnommen sind. Die persönlich aneignende, den Wortlaut meditierende Auslegung der Heiligen Schrift ist zentrales Ele‐ ment der Frömmigkeitspraxis Luthers und ihm ein wichtiges Anliegen bei der Neugestaltung evangelischer Frömmigkeit. 210 Nicht zuletzt im Verhält‐ nis der beiden Katechismen zueinander sowie in diesem Ausgreifen auf die biblischen Schriften zeigt sich, dass Luther eine Entfaltung dieses stark verdichteten und soteriologisch zugespitzten Lehrbestandes zu einem das ganze christliche Leben orientierenden Symbolsystem anstrebt. Durch die Lehre des Katechismus soll sich den Glaubenden die gesamte Wirklichkeit neu von der befreienden Rechtfertigungsbotschaft her erschließen.

209 Für eine Untersuchung zu Luthers Lehrverständnis im Horizont seines Verhältnisses zur scholastischen und philosophischen Tradition vgl. Martikainen, Doctrina. Diese Untersuchung, die sich besonders auf Disputationen und Vorlesungen Luthers stützt, kommt mit der hier ausgehend von den Katechismen vorgenommenen Interpretation in vielem überein, wobei ein detaillierter Vergleich hier nicht vorgenommen wird. Ent‐ scheidend scheint die Beobachtung, dass bei Luther die generische Aussageweise der doctrina erst durch den Gegenstandsbezug auf die christologischen Selbstmanifestation Gottes ihre konkret-theologische Form und soteriologische Struktur erhält, vgl. ebd. 61–64; 91 f. 210 Vgl. Bayer, Theologie, 83–95.

Bekräftigung der Lehre: Konkordienformel und Konkordienbuch

3.4 Bekräftigung der Lehre: Konkordienformel und Konkordienbuch Das Konkordienbuch von 1580 ist als kanonisierende Zusammenstellungen lutherischer Bekenntnisschriften überschrieben mit dem Titel: „Christli‐ che, Wiederholete, einmütige Bekentnüs nachbenanter Churfürsten, Fürs‐ ten und Stende Augspurgischer Confession und derselben zu ende des Buchs underschriebener Theologen Lere und glaubens“. 211 Bereits in die‐ ser Titelformel sind Glaube, Lehre und Bekenntnis in ein programmati‐ sches Verhältnis gesetzt. In gedrängter Form werden als Adressatengruppe und Geltungsbereich die „Landen, Kirchen, Schulen und Nachkommen [lat. posteritas]“ genannt und zudem die Aufgabe des Konkordienwerks präzisiert: „zum underricht und warnung“. 212 Das Ziel dieser Zusammen‐ stellung verschiedener Schriften mit normativem Anspruch ist somit die Sicherstellung der rechten Lehre und damit ineins des wahren evangeli‐ schen Glaubens für die Nachwelt. Abgeschlossen wird das Konkordienbuch mit der Konkordienformel (lat. Formula Concordiae), mit der die theologi‐ schen Streitigkeiten, die nach Luthers Tod innerhalb der sich zur Augsbur‐ ger Konfession bekennenden Territorien ausgebrochen waren, entschieden und beigelegt werden sollen. 213 Dazu sollen nicht nur definitive Urteile über diese Streitfragen formuliert, sondern auch theologische Kriterien eta‐ bliert werden, um künftige Differenzen rasch beizulegen. 214 Zunächst ist hier aus der sog. Fürstenvorrede des Konkordienbuches das zugrundeliegende Bekenntnisverständnis zu erheben (3.4.1), bevor vor‐ nehmlich anhand der Epitome der Konkordienformel, aber unter Berück‐ sichtigung einzelner Passagen aus der Solida Declaratio die zentralen Züge des konkordistisch-lutherischen Lehrverständnisses herausgearbeitet wer‐ den (3.4.2).

211 BSELK, 8, Z. 3–5. Zum Inhalt und den Umständen der Entstehung des Konkordien‐ buches vgl. die Einführung von Dingel, ebd., 1165–1182. Vgl. auch Wenz, Theologie, Bd. 2, 467–539; Slenczka, Theologie, 137–146. 212 BSELK, 8, Z. 11 f. Vgl. die Hoffnungsbekundung ebd., 1560, Z. 10–12: „auch künfftiglich bey unsern Nachkommen, so viel an uns, uneinigkeit und trennung in solchem fürzu‐ kommen“. 213 Zur Wirkungsgeschichte des Konkordienbuchs und der faktischen Umsetzung dieses Anspruchs vgl. Wallmann, Rolle. Vgl. auch Kaufmann, Bekenntnis, 301–307; 313 f. 214 Vgl. BSELK, 1208, Z. 33–1209, Z. 2. Die SD nimmt Bezug auf den Spott der Gegner, dass unter den Lutherischen „nicht zwene Praedicanten gefunden, die in allen und jeden Ar‐ tickeln der Augspurgischen Confeßion einig“ (ebd., 1596, 26–28). Vgl. auch ebd., 1318, Z. 25–27.

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Bekenntnis der Lehre: Lutherische Lehre in der Reformationszeit

3.4.1 Die Erneuerung der Bekenntnisverpflichtung Die Fürsten und Stände erklären in ihrer Vorrede, dass sie sich den von Theologen ausgearbeiteten Text der Konkordienformel als präzisierende Wiederholung des Augsburger Bekenntnisses zueigen machen. Sie äußern den Wunsch, dass „auch bey unsern Nachkomen die reine Lere und bekant‐ nüs des Glaubens bis auff die herrliche zukunfft unsers einigen Erlösers und Seligmachers Jhesu Christi durch hülff und beystand des heiligen Geistes erhalten und fortgepflantzt werden möge“. 215 Auch das Konkordienbuch beansprucht also nicht, ein neues Bekenntnis zu formulieren, sondern will den Sinn des identitätskonstitutiven, weil mit der Ursituation protestanti‐ schen Bekennens verbundenen und seit 1555 zumindest auch in gewissem Maße reichsrechtlich verbindlichen Augsburger Bekenntnisses angesichts neuer Herausforderungen entfalten. 216 Die unterzeichnenden Vertreter der weltlichen Obrigkeit kommen in ihrem Selbstverständnis einer von Gott auferlegten Pflicht nach, nämlich: die „reine Lehre Gottes Worts“ gegen schädliche Irrlehren zu verteidigen und auf diesem Weg das „Band der Christlichen Lieb und einmütigkeit“ untereinander sowie zwischen den Untertanen zu bewahren. 217 Einheit im Bekenntnis und Friede – sowohl innerhalb des jeweiligen Gemeinwesens als auch in der weltweiten Chris‐ tenheit – erscheinen dabei als untrennbar verbunden. Das apokalyptisch-eschatologische Bewusstsein der Reformatoren und vieler Zeitgenossen, in den „letzten zeiten der vergenglichen Welt“ zu le‐ ben, in denen Gott „aus unermesslicher lieb, gnad und barmhertzigkeit dem Menschlichen geschlecht das Liecht seines heiligen Evangelii und al‐ lein seligmachenden Worts“ neu entzündet habe, wirkt dabei ungebrochen

215 Ebd., 1206, Z. 12–15. 216 Vgl. ebd., 1190, Z. 14–18; 1208, Z. 12–17. Vgl. auch die einleitende Passage der SD, ebd., 1304, Z. 9–1306, Z. 16. Abgewehrt werden soll in zweifacher Hinsicht der Vorwurf, die Lutherischen hätten „eine neue Lehre“ (ebd., 1304, Z. 15) in die Kirche eingeführt: Weder gegenüber der Lehre der Urkirche, noch gegenüber den Artikeln des Augsbur‐ ger Bekenntnisses sei es zu Neuerungen gekommen. Vgl. ebd., 1482, Z. 13–15; 1539, Z. 12–14. 217 Ebd., 1188, Z. 3 f. Vgl. ebd., 1206, Z. 31–37. Kraft dieser für die gesamte Kirche stell‐ vertretende Rezeption gelte das Konkordienbuch nicht als Bekenntnis „allein etzlicher wenig unserer Theologen, sondern in gemein aller und jeder unserer Kirchen und Schul‐ diener in unseren Landen und Gebieten“ (ebd., 1196, Z. 13–15). Auf die spezielle Legiti‐ mationsproblematik des Verfahrens, welche in der Fürstenvorrede durch die ausführli‐ che Erzählung der Entstehungsgeschichte der Konkordienformel bearbeitet werden soll, ist hier nicht weiter einzugehen. Vgl. dazu Dingel ebd., 1171–1176.

Bekräftigung der Lehre: Konkordienformel und Konkordienbuch

fort. 218 Im lateinischen Text der Vorrede wird das Selbstverständnis einer theologia viatoris im Horizont der eschatologischen Gerichtsperspektive ausgesprochen, welches den deutschen Text implizit nicht minder prägt: „Hanc Confessionem etiam, Deo nos bene iuvante, usque ad ultimos spi‐ ritus, pie ex hac vita ad coelestem patriam migraturi, tenebimus; excelso et intrepido animo puraque conscientia, comparaturi coram tribunali Do‐ mini nostri Iesu Christi“. 219 Ausgerichtet ist dieses lutherische Bekenntnis also darauf, die Glaubenden auf ihrem Weg in die himmlische Heimat zu orientieren, bis im Endgericht vor Christus Zeugnis für den eigenen Glau‐ ben abzulegen sein wird. Es vollzieht schon jetzt einen Vorgriff auf diese endgültige Scheidung, weil durch das in seiner Reinheit neu zur Sprache gebrachte Evangelium bereits ein Vorschein dieses Endgeschehens in die Gegenwart fällt, der die Glaubenden bei ihrer Wahrheit behaftet. In sei‐ ner Fluchtlinie auf das bewahrheitende Endgericht hin wird der eschato‐ logische Horizont des Bekenntnisses deutlich, der für das reformatorische Lehrverständnis insgesamt charakteristisch ist. Was die Klärungen und Verwerfungen dieses erneuerten Bekenntnis‐ ses anbelangt, wird zweierlei festgehalten: Erstens sind nach innen mit der Verwerfung einer abweichenden Lehrmeinung nicht die Verwerfung der Person oder ihres theologischen Gesamtwerkes verbunden. 220 Zweitens werden auch durch Verwerfungen nach außen nicht „die Personen, so aus einfalt irren und die warheit des Göttlichen Worts nicht lestern, viel weni‐ ger aber gantze Kirchen in oder ausserhalb des heiligen Reichs deutscher Nation gemeint“, sondern vielmehr allein „die falschen und verführischen Leren und derselben halsstarrige Lerer und lesterer“ verdammt. 221 Die Per‐ son und ihre Lehrmeinungen werden auf diese Weise ebenso unterschieden wie die Kirchen und ihr jeweiliger Lehrbestand. Wird das Kirchesein einer Kirche nicht mehr exklusiv an die Reinheit ihres Lehrbestandes, sondern vielmehr an die Verheißung Gottes und die Wirksamkeit des Evangeliums

218 Ebd., 1186, Z. 8–11. Vgl. ebd., 1244, Z. 36–1246, Z. 3. Zur Charakterisierung der Gegen‐ wart als Kampfzeit vgl. auch ebd., 1252, Z. 18–26. Ebenso die Vorrede der SD, vgl. ebd., 1304, Z. 9–18. 219 Ebd., 1199, Z. 18–20 (Herv. TG. Dt.: „darbey wir auch, vermittelst der gnaden Gottes, bis an unser seliges ende gedencken zu verharren und vor dem Richterstuel unsers Herren Jhesu Christi mit fröhlichem, unerschrockenem herze und gewissen zuerscheinen“, ebd., 1198, Z. 19–22). Vgl. bereits ebd., 1189, Z. 27–29. 220 Vgl. ebd., 1200, Z. 8–13. Einzelne Schriften derjenigen Theologen, auf deren Lehren sich die Verwerfungen beziehen, sind von der Verwerfung nicht betroffen, „quatenus cum ea norma, quae Concordiae libro expressa est, per omnia consentiunt“ (ebd. 1201, Z. 12f, dt.: „wofern sie mit der Norma der Concordien einvorleibt übereinstimmen“, ebd., 1200, Z. 11f). 221 Ebd., 1204, Z. 2–6.

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geknüpft, ist damit – grundsätzlich und im Einzelfall – bereits eine Unter‐ scheidung der offiziellen Kirchenlehre von der privaten Religion und dem persönlichen Glauben eingeräumt. 222 Damit ist aber keine Depotenzierung oder gar Vergleichgültigung der Lehre beabsichtigt. Eine strikte Abgren‐ zung wird daher auch von all jenen vorgenommen, „so an keine gewisse form der reinen Lehr gebunden sein wöllen“. 223 Christlicher Glaube ohne die Bindung an einen Grundbestand explizit formulierter und persönlich verantworteter Lehre erscheint schlechthin nicht denkbar. 3.4.2 Das Lehrverständnis der Konkordienformel Bereits die Prolegomena der Epitome zu Ursprung und Kriterien der vor‐ gelegten Lehre werden mit der dreigliedrigen Bekenntnisformel: „Wir gleu‐ ben, leren und bekennen ...“ eröffnet, die in nahezu allen folgenden Arti‐ keln wiederholt wird. 224 Bereits aus dieser dreigliedrigen Formel lässt sich der Anspruch des lutherischen Bekenntnisses, wie es in Konkordienfor‐ mel und Konkordienbuch bekräftigt und abschließend niedergelegt werden soll, entwickeln: Der individuell-existenzbestimmende Glaube der Einzel‐ nen (hier: der Fürsten und Theologen), die öffentliche Lehre der Kirche und ihrer Institutionen sowie das Zeugnis dieser glaubenden und lehren‐ den Kirche vor Gott und der Welt sollen im exemplarischen Bekenntnisakt zumindest hinsichtlich der entscheidenden Inhalte zur Deckung gebracht werden. Prägnant und erneut mit den charakteristischen eschatologischen Obertönen ist dieser Anspruch in der abschließenden Formel ausgespro‐ chen: 222 Diesen Aspekt stellt überzeugend auch Slenczka, Theologie, 698–701 u.ö. heraus. Zu seinen Folgerungen siehe unten, Anm. 226. 223 BSELK, 1206, Z. 24 f. 224 Ebd., 1216, Z. 9 (lat.: „Credimus, confitemur et docemus“, ebd., 1217, Z. 8). Vgl. ebd., 1220, Z. 6.12 (I.); 1228, Z. 16 (II.); 1236, Z. 3 u.ö. (III.); 1242, Z. 17 u.ö. (IV.); 1248, Z. 7 (V.); 1252, Z. 6.14 (VI.), 1258, Z. 9 u.ö. (VII.); 1268, Z. 15 u.ö. (VIII.); 1282, Z. 12 u.ö. (X.). Daneben begegnet auch die substantivische Variante der Formel: „Hiervon ist unser lere, glaub und bekenntnis“ (ebd., 1228, Z. 11), vgl. ebd., 1242, Z. 13 f.; 1268, Z. 11. Das negative Gegenstück zu dieser Einleitung ist die Formel: „Demnach verwerffen und verdammen wir ...“ (lat. repudiamus/reiicimus et damnamus, ebd., 1230, Z. 15; 1238, Z. 27; 1244, Z. 30 u.ö.). Die dreigliedrige Bekenntnisformel fehlt allein im IX. Artikel von der Höllenfahrt Christi, die gerade aus dem Kreis des notwendigen Lehrkonsenses ausgeschlossen werden soll, sowie im ausdrücklich präventiv formulierten XI. Artikel zur Prädestinationslehre. Diese beiden Artikel verweisen damit nicht zuletzt darauf, dass hier das reformatorische Satis-Prinzip einer Beschränkung der Lehrfixierungen auf das soteriologisch Notwendige und konkret Strittige sowie eine bewusste Grenzziehung hinsichtlich dessen, was als Lehre überhaupt erfassbar ist, greifen. Vgl. auch ebd., 1308, Z. 4–7.

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„Das dis unser aller Lehr, Glaub und Bekentnus sey, wie wir solches am Jüngsten Tage vor dem gerechten Richter, unserm Herrn Jesu Christo, verantworten, darwider auch nichts heimlich noch offentlich reden oder schreiben wollen, sondern gedencken vormittelst der gnaden Gottes darbey zu bleiben, Haben wir wolbedechtig in warer furcht und anruffung Gottes mit eignen handen unterschrieben“. 225

Die Unterzeichner stehen als exemplarische fromme Individuen nicht nur für sich, sondern für die gesamte Christenheit ihrer Territorien ein. 226 Anspruch und Ziel aller kirchlichen Lehrvollzüge ist nach der Konkor‐ dienformel, dass „ein jeder einfeltiger Christ nach anleitung Gottes worts und seines einfeltigen Catechismi vernemen kan, was recht oder unrecht sei [lat. quid verum sit, quid falsum]“. 227 Die Argumentation des Bekennt‐ nisses folgt dabei einer doppelten Pragmatik: Einerseits polemisch gegen die Gegner gerichtet, die „uber denen spaltungen, so unter uns entstanden, frolocken“, andererseits konstruktiv-erbaulich auf die Vergewisserung der Angefochtenen, die „eins teils zweiffeln, ob die reine Lere bey uns unter so grossen spaltungen sey, eins teils nicht wissen, welchem Teil sie in den strei‐ tigen Artickeln beyfallen sollen“. 228 Diesem doppelten Ziel entsprechend, sind die Artikel der Epitome bis auf wenige Ausnahmen in die Darstellung der umstrittenen Fragen (lat. status controversiae), eine Bekräftigung der wahren Lehre (lat. affirmativa) und eine Verwerfung der falschen Lehren (lat. negativa) gegliedert. 229 Durch positive und negative Aussagen wird ein Korridor der rechten Lehre nach zwei Seiten umschrieben. 230 Insbesondere in den Abgrenzungen wird dabei der Umkreis gegenwärtiger Streitigkeiten überschritten, womit sich die Konkordienformel selbst in die Geschichte der Kirche seit Ostern einstellt.

225 Ebd., 1300, Z. 27–1302, Z. 3. Herv. TG. 226 Notger Slenczka urteilt recht apodiktisch, dass die reformatorischen Lehrbekenntnisse ausschließlich die Amtsträger in ihrer öffentlichen Verkündigung orientieren sollen und keinesfalls beanspruchen, „den Glauben der Kirche oder den individuellen Glauben aus‐ zusprechen oder gar zu normieren“ (Slenczka, Theologie, 703). Vgl. auch ebd., 706 f. Diese so liberale wie charmante Interpretation abstrahiert wohl doch zu stark vom An‐ spruch der Verfasser und Unterzeichner, nicht nur als Aufsicht des kirchlichen Amtes zu walten, sondern dem Endgericht vorzugreifen und als exemplarische Christenmenschen ein stellvertretendes Bekenntnis von eschatologischer Relevanz abzulegen. 227 BSELK, 1292, Z. 17–19. Einfalt ist hier positiv besetzt im Sinne eines elementaren, mög‐ lichst wenig widersprüchlichen Glaubenswissens. 228 Ebd., 1306, Z. 35–40. 229 Ausnahmen sind etwa die Prolegomena zur Regel und Richtschnur der Lehre oder Art. X. von der Höllenfahrt Christi. Zu dieser Methodik vgl. ebd., 1292, Z. 15–21; 1318, Z. 1–19. Vgl. für die biblischen Vorbilder dieser Methode ferner ebd., 1316, Z. 6–12. 230 Insofern handelt es sich tatsächlich um einen Umgang mit Pluralisierung, die allerdings vornehmlich als problematisch empfunden wird, vgl. Slenczka, Theologie, 699.

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a) Schlechthin und relativ maßgebliche Lehre Im ersten Artikel von der „Regel und Richtschnur“ (lat. regula atque norma), aufgrund der und durch die „alle Leer geurtheilet und die ein‐ gefallenen Irrungen Christlich entscheiden und erkleret werden sollen“, werden das Selbstverständnis der Lutherischen, der Anspruch des vorge‐ legten Bekenntnisses und insbesondere dessen Verhältnis zu den biblischen Schriften geklärt. 231 Festgehalten wird der Grundsatz, dass die Funktion ei‐ nes absoluten Kriterium zur Beurteilung der Lehre allein den Schriften des zweiteiligen biblischen Kanons zukommen dürfe. 232 Alle anderen Schrif‐ ten der „alten oder neuen Lerer“ sind im Kriterienrang von dieser Heiligen Schrift klar zu unterscheiden und „alle zumal mit einander derselben unter‐ worffen“. 233 Ihre theologische Bedeutung gewinnen sie allein als Zeugnisse dafür, wie die eine apostolische Lehre zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten konkrete Gestalt gewonnen hat. 234 „Solcher gestalt wird der unterschied zwischen der heiligen Schrifft, altes und neuen Testaments, und allen andern Schrifften erhalten und bleibt allein die heilige Schrifft der einige Richter, Regel und Richtschnur [lat. Iudex, norma et regula], nach welcher als dem einigen Probirstein sollen und müssen alle Leren erkant und geurteilet wer‐ den, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht sein.“ 235

Auf diese Weise wird eine schlechthin formative Urzeit der Propheten und Apostel aus der Geschichte der Kirche ausgegrenzt, zu der alle folgenden Zeugnisse in einem parallelen Verhältnis der Unterordnung und zugleich relativen Unmittelbarkeit stehen. Es gibt nach der Konkordienformel so‐ mit keinen grundsätzlichen Vertrauensvorschuss für die Tradition, nach dem die alten Lehrer den neueren grundsätzlich vorzuziehen und ältere Glaubenszeugnisse grundsätzlich reiner wären. 236 Alle Zeugnisse und Er‐ 231 BSELK, 1216, Z. 6–8. 232 Vgl. ebd., Z. 10 f. Die Begründung für diese einzigartige Stellung der biblischen Schriften als norma normans gegenüber allen anderen Glaubenszeugnissen wird mithilfe einer Kombination von Ps 119,105 und Gal 1,8 selbst wiederum der Schrift entnommen. Vgl. auch ebd., 1310, Z. 6–9. 233 Ebd., 1216, Z. 15–17. 234 Vgl. ebd., 1216, Z. 15–18. Vgl. lat.: „qui doceant, quod etiam post Apostolorum tempora et in quibus partibus orbis doctrina illa Prophetarum et Apostolocium sincerior conser‐ vata sit“ (ebd., 1217, Z. 16–18). Gottes Wort sei „die ewige warheit“ (ebd., 1314, Z. 34), während auch die anderen im Konkordienbuch versammelten Schriften als „zeugnis der warheit und für den einhelligen, rechten verstand unserer vorfahren, so bey der reinen Leer standhaft gehalten“ (ebd., 1316, Z. 1–3), zu betrachten seien. 235 Ebd., 1218, Z. 11–16. 236 Darin dürfte eine durch die spezifische Legitimationsproblematik reformatorischer Theologie bedingte Neuerung im Verhältnis zur Tradition zu erkennen sein, welche sich

Bekräftigung der Lehre: Konkordienformel und Konkordienbuch

klärungen des Glaubens, sofern sie vor dem Urteil der Schrift bestehen, sind gleichermaßen Quellendokumente, „wie jederzeit die heilige Schrifft in streitigen Artickeln in der Kirchen Gottes von den damals lebenden ver‐ standen und ausgeleget und derselben widerwertige Leer verworffen und verdammet worden“. 237 All diese überlieferten Zeugnisse haben einen ge‐ schichtlichen Ort und beziehen Stellung in spezifischen Streitigkeiten, die die damals lebenden Gelehrten einer Klärung zuführen mussten – sie sind also anders als die Schrift als ewiges Gotteswort immer als bezogen auf be‐ stimmte geschichtliche Situationen zu verstehen. Eine hervorgehobene Stellung innerhalb dieser Gesamtmenge an Glau‐ benszeugnissen wird gleichwohl den Texten zugesprochen, die mit in das Konkordienbuch aufgenommen sind, weil sich mit ihnen maßgebliche Sta‐ tionen dieser kirchlichen Lern- und Lehrgeschichte verbinden. Die alt‐ kirchlichen Bekenntnisse dokumentieren nicht nur entscheidende Klärun‐ gen aus der Frühzeit der Kirche, sondern sind nicht zuletzt durch ihre „kurtze, runde“ Sprachgestalt sowie die breite Rezeption vorbildliche Lehr‐ artikulationen. 238 Die darauf folgenden reformatorischen Bekenntnisse halten die im Vergleich nicht weniger bedeutenden Klärungen der jüngs‐ ten Vergangenheit fest, da die Reformation das Evangelium neu in seiner reinen Ursprungsgestalt hervortreten lassen und alle Missstände beseitigt habe, die dem Kirchenvolk den freien Zugang zu Christus verschlossen hat‐ ten. Mit der Edition des Konkordienbuchs sollen schließlich der innerre‐ formatorische Streit um die autoritative Fassung des Augsburger Bekennt‐ nisses entschieden sowie mit der Konkordienformel verschiedene Ausein‐ andersetzungen um die angemessene Auslegung dieses reformatorischen Grundbekenntnisses beigelegt werden. 239 Ist die Ursprungsbeziehung aller Glaubenszeugnisse zur Heiligen Schrift gleich unmittelbar, so sind doch be‐ stimmte Schlüsselsituationen des kirchlichen Bekennens durch ihren Bezug

vom ostkirchlichen Traditionsverständnis und dem römisch-katholischen Verständnis einer organischen Dogmenentwicklung charakteristisch unterscheidet. 237 Ebd., 1218, Z. 18–21. Klarer noch legt hier die lateinische Fassung das zugrundegelegte Verständnis der kirchlichen Lehrtradition und damit zugleich das Selbstverständnis der Verfasser der Konkordienformel offen: „duntaxat pro Religione nostra testimonium dicunt eamque explicant ac ostendunt, quomodo singulis temporibus sacrae literae in articulis controversis in Ecclesia Dei a doctoribus, qui tum vixerunt, intellectae et expli‐ catae fuerintet [sic] quibus rationibus dogmata cum sacra scriptura pugnantia reiecta et condemnata sint.“ (Ebd., 1219, Z. 18–22). Diese Passage zieht auch Jörg Lauster für seine Interpretation der lutherischen Bekenntnishermeneutik heran, vgl. Lauster, Religion, 114–117. 238 BSELK, 1216, Z. 22. Vgl. ebd., 1186, Z. 25–27; 1310, Z. 10–17. 239 Vgl. ebd., 1216, Z. 28–34.

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zum eschatologischen Geschehen besonders qualifiziert. 240 Dieser eschato‐ logische Horizont rechtfertigt ihre Aufnahme in ein bleibend verbindliches Bekenntniskorpus wie das Konkordienbuch. b) Die Mündigkeit des Glaubens Eine besondere Rolle innerhalb der Textsammlung des Konkordienbuches spielen die Katechismen Luthers. Durch die Aufnahme der Katechismen in das Lehrkorpus soll nämlich der reformatorischen Einsicht Rechnung getragen werden, dass „solche sachen auch den gemeinen Leyen und dersel‐ ben Seelen seligkeit betreffen“. 241 Als elementarisierende und erläuternde Aufbereitung der wesentlichen Lehrgehalte für die breite Bevölkerung sind sie „der Leyen Bibel, darin alles begriffen, was in heiliger Schrifft weitleuff‐ tig gehandelt und einem Christen Menschen zu seiner seligkeit zu wissen von nöten ist“. 242 Tritt in der Konkordienformel die Funktion der Lehre als Wegweiser in die und innerhalb der Schrift etwas zurück, wird doch eingeschärft, dass alle Christenmenschen „Gottes wort lesen, hören und betrachten“ und sich die Gnade „vermittelst teglicher ubung, Gottes wort zu lesen und zu uben“ aneignen sollten. 243 Insbesondere die Aufnahme von Luthers Katechismen ins Konkordienbuch steht für das reformatorische Bemühen ein, alle Mitglieder des christlichen Gemeinwesens zur persön‐ lichen Aneignung der Evangeliumsbotschaft, zur Mündigkeit hinsichtlich der Glaubensgehalte und zur eigenständigen Verteidigung der reformato‐ rischen Lehre zu befähigen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass neben den af‐ firmativen Sätzen und Verwerfungen der Konkordienformel auch Sprach‐ regelungen begegnen, die direkt auf die pastorale Praxis durchgreifen. So solle etwa die Aussage, dass „des Menschen wille vor, in und nach der beke‐ rung dem heiligen Geist widerstrebe“, auf der Kanzel und in der Katechese keinesfalls „ohne erklerung gebraucht“ werden. 244 Auch die „blosse rede“ (lat. nuda phrasis), dass gute Werke „schedlich zur seligkeit“ seien, wird 240 Vgl. ebd., 1310, Z. 17–32, wo das eschatologische Bewusstsein hinsichtlich der Erneue‐ rung der Kirche durch Gott in der Reformationszeit deutlich wird. 241 Ebd., 1218, Z. 7 f. Notger Slenczka bindet dies an die Kunst des rechten Sterbens (lat. ars moriendi) und die Unvertretbarkeit des Glaubens in der Sterbestunde zurück, vgl. Slenczka, Theologie, 515–518; 526–529. 242 BSELK, 1218, Z. 6–8. Die Katechismen würden zurecht „öffentlich in Kirchen, Schulen und Heusern gebraucht“ als „die Summa und vorbild der Lere“ (ebd., 1312, Z. 30–35). 243 Ebd., 1352, Z. 28; 34 f. 244 Ebd., 1232, Z. 15 f. Gegenteilige Aussagen wie die, dass der menschliche Wille „nicht müssig in der Bekehrung“ (ebd., 1232, Z. 23) sei, seien ebenfalls zu vermeiden, wo im‐ mer das Missverständnis einer innewohnenden Fähigkeit des natürlichen Menschen zu seiner Bekehrung drohe.

Bekräftigung der Lehre: Konkordienformel und Konkordienbuch

aufgrund ihrer schädlichen Auswirkungen für die christliche Zucht unter‐ sagt. 245 Ohne diese Lehrmeinungen direkt zu verwerfen oder die betreffen‐ den Theologen als Häretiker zu verdammen, wird hier doch ein mit Blick auf Grundaussagen reformatorischer Lehre und deren Konsequenzen miss‐ verständlicher Sprachgebrauch sanktioniert. Zu diesen Sprachregelungen gehört nicht zuletzt die Notwendigkeit einer Unterscheidung, in welchem Kontext und für welchen Adressatenkreis schulphilosophische Terminolo‐ gie angemessen ist. 246 c) Eine innere Gewichtung der Lehrstücke Weisen die Lehrentscheidungen, die in der Konkordienformel vorgenom‐ men werden, auf eine interne hierarchische Struktur des Lehrganzen hin oder handelt es sich um eine parallele Zuordnung einzelner Fragestellun‐ gen? Die besondere Rolle des Prolegomena-Artikels zur Schrift, der eine methodische Klärung hinsichtlich der theologischen Verständigung über die Lehre und deren Kriterien vornimmt, ist bereits festgehalten. Auch in der Konkordienformel ist die Entfaltung der evangelischen Lehre au‐ ßerdem soteriologisch auf die Rechtfertigungsbotschaft fokussiert. Daher nimmt daneben der Rechtfertigungsartikel im Gefüge der reformatorischen Lehre und hinsichtlich der Abgrenzung von den Gegnern eine Zentral‐ stellung ein. 247 Den paulinischen Exklusivpartikeln, die allerdings noch nicht in der später gebräuchlichen Vierzahl der Sola-Formeln systemati‐ siert werden, komme eine besondere Bedeutung für die „erhaltung reiner lere von der gerechtigkeit des glaubens für Gott“ zu. 248 Schließlich sei „der unterscheid des Gesetzes und Evangelii als ein besonder herrlich liecht mit grossem vleis in der Kirchen zuerhalten“, wobei diese hermeneutische Regel ebenfalls dazu dient, die reformatorische Rechtfertigungslehre und 245 Ebd., 1244, Z. 34–36. 246 Vgl. ebd., 1226, Z. 17–24: „Was aber die Lateinische wort Substantia und Accidens belan‐ get, weil es nicht heiliger Schrifft wort sind, darzu dem gemeinen Man unbekant, sollen dieselbigen in den Predigten vor dem gemeinen, unverstendigem Volck nicht gebraucht [...] werden“ – anders „in der Schule, bey den Gelerten“. Vgl. zum Sprachgebrauch der Sündenlehre auch ebd., 1338, Z. 24–1344, Z. 33; zur Rechtfertigungslehre vgl. ebd., 1394, Z. 1–24. Vgl. Slenczka, Theologie, 372–373, der diesbezüglich von einer „Sprachlehre des Glaubens“ (ebd., 373) schreibt. 247 Vgl. BSELK, 1388, Z. 29–1390, Z. 12. Sachlich kann hier die spätere Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip des Protestantismus anknüpfen, ohne dass damit im Kon‐ kordienbuch schon ein diesem Prinzipiendenken korrespondierender Systemanspruch verbunden würde, vgl. dazu Axt-Piscalar, Grund, 7–27. 248 BSELK, 1238, Z. 7 f. Als Vorform der Reihe der particulae exclusivae begegnen etwa: „ex gratia, gratis, sine meritis absque legis, sine operibus, non ex operibus“, und als Zu‐ sammenfassung dieser Abgrenzungen: „Sola fide in Christum iustificamur et salvamur“ (ebd., 1239, Z. 10–12).

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Bekenntnis der Lehre: Lutherische Lehre in der Reformationszeit

folglich die Evangeliumsbotschaft vor Entstellungen zu bewahren. 249 Als aus der Schrift selbst entnommene Auslegungsregeln erfüllen die erneuerte Rechtfertigungslehre sowie die damit eng verbundene Unterscheidung von Gesetz und Evangelium folglich eine maßgebliche und maßgebende Funk‐ tion für alle christlichen Lehrgestalten, weshalb sie in allen strittigen Fragen als Prüfsteine anzuwenden sind. Dass und inwiefern das Satis-Prinzip einer Selbstbeschränkung hinsicht‐ lich verbindlicher Fixierung der kirchlichen Lehre auch hier Anwendung findet, lässt sich an den christologischen Artikeln illustrieren. Die Lehre von der Person Christi und der Idiomenkommunikation (Art. VIII) sei „nach der heiligen Dreifaltikeit das höchste geheimnis“ des Glaubens und stehe in direkter Beziehung zu „trost, leben und seligkeit“ des Christen‐ menschen. 250 Im Unterschied dazu gehören die genaueren Umstände der Höllenfahrt Christi nicht zu diesem Kernbereich der Lehre, weshalb das Satis-Prinzip kritisch zum Einsatz kommt: „Dann es ist gnug [lat.: Satis enim nobis esse debet], das wir wissen, das Christus in die Helle gefahren, die Helle allen Gleubigen zerstöret und sie aus dem gewalt des Todes, Teufels, ewiger verdamnis des hellischen rachens erlöstet habe; wie aber solches zugangen, sollen wir sparen bis in die ander welt“. 251

d) Wann in Adiaphora zu weichen ist Das bereits bei Melanchthon vielfach diskutierte Verhältnis von Lehre und kirchlichen Ordnungen und Gebräuchen wird in der Konkordienformel anhand der strittigen Frage der Adiaphora verhandelt. Dabei geht es im konkreten Streitfall darum, ob man „zur zeit der verfolgnung und im fall der bekentnis [lat. in casu confessionis]“ bereits abgeschaffte und grund‐ sätzlich freigestellte Traditionen in der Kirche „mit unverletztem gewissen“ wieder einführen dürfe. 252 Hinter dieser Position steht das nicht zuletzt po‐ litisch begründete Interesse, über liturgische Vereinheitlichung zumindest eine äußere Kircheneinheit zwischen den streitenden Religionsparteien wiederherzustellen, auch wenn die Einheit in der Lehre nicht zu erreichen sein sollte, weil „die feinde des Evangelii sich gleich nicht mit uns in der Lere vergleichen [lat.: nobiscum in doctrina consentire nolint]“ wollen. 253 249 Vgl. ebd., 1248, Z. 3–5. Diese Unterscheidung befähige dazu, dass „das wort Gottes (nach der vermanung S. Pauli) recht geteilet“ (ebd., 1248, Z. 5f) wird – sie dient also der rechten Auslegung und Predigt der Schrift. Mit dem recte secari dürfte hier wie bei Melanchthon 2Tim 2,15 im Blick sein. Vgl. auch ebd., 1430, Z. 22–30. 250 Ebd., 1274, Z. 5 f. Vgl. auch zur Prädestinationslehre ebd., 1287, Z. 3f; 1290, Z. 10–18. 251 Ebd., 1280, Z. 10–13. Vgl. auch ebd., 1338, Z. 24–28; 1406, Z. 25f u.ö. 252 Ebd., 1282, Z. 3–5. Vgl. auch ebd., 1548. 253 Ebd., 1282, Z. 4 f. In der lateinischen Formulierung ist der Bezug auf Art. VII des Augs‐ burger Bekenntnisses und damit die Bedingungen der Kirchengemeinschaft offensicht‐

Bekräftigung der Lehre: Konkordienformel und Konkordienbuch

Die Konkordienformel hält dagegen fest, dass gerade in einer politischen Bedrohungssituation „ein runde [= klare, geschlossene, TG] bekentnis des Glaubens von uns erfordert“ und folglich auch „in solchen Mitteldingen den Feinden nicht zu weichen“ sei. 254 Klarheit hinsichtlich der Lehre sei für das Kirchesein der Kirche unverzichtbar und besonders erforderlich in Verfolgungszeiten, weshalb gerade unter starkem äußerem Druck alle mehrdeutigen Kompromissformeln verboten seien, die Gegensätze abzu‐ mildern und zu verschleiern versuchen. 255 Der Wiedereinführung abge‐ schaffter Bräuche komme in diesem Zusammenhang gerade für die Laien eine symbolische Wirkung zu, die den Lehrgegensatz zu verdunkeln geeig‐ net sei. Trotzdem bleibe die grundsätzliche Freiheit zur Abschaffung und Einführung von Kirchengebräuchen bestehen und die Unterscheidung zwi‐ schen der konstitutiven Lehre und den grundsätzlich variablen Traditionen erhalten. Zur Bekenntnisfrage werden die sog. Adiaphora also nur, sofern durch ein einseitiges Entgegenkommen die Evangeliumsbotschaft und das rechte Verständnis des Rechtfertigungsartikels „vertunckelt und verkeret“ werden, die Indifferenz gegenüber den Bräuchen fälschlicherweise als Ein‐ verständnis missverstanden und damit „zu bestetigung falscher Lere, Aber‐ glaubens und Abgötterei und zu unterdrückunge reiner Lere und Christli‐ cher freyheit“ missbraucht werden könne. 256 Grundsätzlich sei also niemals zulässig, „umb zeitliches friedens, rhu und einigkeit willen etwa der ewigen, unwandelbaren warheit Gottes“ preis‐ zugeben. 257 Durch Kompromissbereitschaft und Verschleierung der Lehr‐ differenzen würden allein „die Abgöttischen in ihrer Abgötterey gester‐ cket, dagegen die rechtgleubigen betrübet, geergert und in irem glauben geschwechet“. 258 Eine solche Einigkeit ohne Übereinstimmung in den we‐ sentlichen Lehraussagen könne, „da sie wider die warheit und zu unter‐ drückung derselben gemeinet, auch keinen bestand haben“. 259 Hier verbin‐ det sich ein apokalyptisch-theonomes Geschichtsverständnis, in dem jede Auflehnung gegenüber Gott sich in Strafgerichten niederschlägt, mit der

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lich, vgl. ebd., 103, Z. 8. Zum Kontext des interimistischen Streits vgl. Wenz, Theologie, Bd. 2, 734–745. BSELK, 1282, Z. 24–26. Vgl. ebd., 1284, Z. 26–28. Vgl. ebd., 1424, Z. 24–30. Dies zielt gegen das irenische Vorgehen während des Leipziger Interims, vgl. Slenczka, Theologie, 356–361. BSELK, 1552, Z. 37–1554, Z. 1. Vgl. ebd., 1284, Z. 11–14. Diese Gefahr bestehe ins‐ besondere deshalb, weil die Gegner ihrerseits den freien Charakter dieser Mitteldinge verkennen, sie mit „zwang oder gebot“ (ebd., 1552, Z. 37) beschweren wollen und daher ipso facto die Alleinwirksamkeit des Glaubens zum Heil bestreiten. Ebd., 1596, Z. 2 f. Ebd., 1554, Z. 13–15. Ebd., 1596, Z. 5 f.

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realpolitischen Einschätzung, dass die Gegenpartei einen differenzierten Konsens als bloß vorläufige Atempause und Zwischenschritt zur vollstän‐ digen Ausrottung der Häresie nutzen könnte. Gleichwohl ist eine solche Grenzziehung innerhalb der Christenheit nicht leichtfertig vorzunehmen und weiterhin ernsthaft auf eine Beilegung der Spaltung hinzuwirken. 260 Statt einer äußerlichen Bemäntelung von Irrtümern Vorschub zu leisten, sei vielmehr mit allen Kräften die wahre Einigkeit in der Lehre zu suchen und zu befördern, „durch welche Gott seine Ehre unverletzt, der Göttlichen warheit des heiligen Evan‐ gelii nichts begeben, dem wenigisten [sic!] Irthumb nichts eingereumet, die armen Sünder zu warhafftiger, rechter Bus gebracht, durch den Glauben auffgerichtet, im neuen gehorsam gestercket und also allein durch den einigen verdienst Christi ge‐ recht und ewig selig werden.“ 261

Diese Schlusspassage des XI. Artikels der Solida declaratio mit ihrer soterio‐ logisch-seelsorgerlichen Fluchtlinie kann man zugleich als übergreifende Aufgabenbestimmung der reformatorischen Lehre lesen, wie die Konkor‐ dienformel sie versteht. 262 3.4.3 Interpretation In Konkordienformel und Konkordienbuch wird das Lehrverständnis der Wittenberger Reformation in seiner sich konfessionell verfestigenden und auch gegen andere protestantische Traditionen abschließenden Gestalt greifbar. Insbesondere das Verhältnis von Theologie, Schrift und Tradition wird dabei einer umfassenden und verbindlichen Klärung zugeführt. Die Schrift wird programmatisch als die eine Regel und Richtschnur in Stellung gebracht, mit der die theologische Sachgemäßheit einzelner Leh‐ ren überprüft werden kann. Auf dieser methodischen Grundlage soll ein theologischer Diskurs geführt werden, der letztlich darauf zielt, in Fort‐ schreibung der reformatorischen Impulse der Wittenberger Reformation langfristig die Lehreinheit der Christenheit in allen das Heil betreffenden Streitpunkten wiederherzustellen. Sichtbar wird dabei ein traditionskriti‐

260 So wird (bei falscher Zuschreibung an Luther) Melanchthons Seufzer aus dem Traktat zur Gewalt des Papstes aufgegriffen: „Schwer ist es, das man von so viel Landen und Leuten sich trennen und eine sondere Lere füren wil. Aber hie stehen Gottes befehl, das jederman sich sol hüten und nicht mit denen einhellig sein, so unrechte Lere füren oder mit wüterey zu erhalten gedencken.“(ebd., 1556, Z. 33–36). Vgl. ebd., 817, Z. 25–28. 261 Ebd., 1596, Z. 10–15. 262 Zur seelsorgerlichen Ausrichtung insbesondere der lutherischen Bekenntnisse auf die Vergewisserung des angefochtenen Glauben vgl. Slenczka, Theologie, 710–712.

Bekräftigung der Lehre: Konkordienformel und Konkordienbuch

sches Element im Lehrverständnis, das neben der Relativierung auf die bib‐ lischen Schriften hin auch ein Bewusstsein für den Situationsbezug einzel‐ ner Lehrformulierungen beinhaltet. So stellt sich der Bekenntnistext selbst durch die Bekräftigung altkirchlicher Bekenntnisse und die erneute Ver‐ werfung früherer Häresien in eine Geschichte der Lehrzeugnisse ein, die einerseits qualitativ vom absoluten Ursprung in der Heilsoffenbarung Got‐ tes und deren biblischer Erstbezeugung abgesetzt sind, andererseits aber innerhalb der Kirchengeschichte relativ maßgebliche Klärungen über das rechte Verständnis der Evangeliumsbotschaft und dessen Implikationen festhalten. 263 Der eschatologische Horizont einer theologia viatoris, die sich in mehr oder weniger stark durch den Vorschein des endzeitlichen Gerichts qualifizierten Situationen der Krisis in Form der Lehraussage zur einen Wahrheit des Evangeliums bekennt, ist deutlich greifbar. 264 Die grundlegenden Lehrbestimmungen des Augsburger Bekenntnisses sollen dabei nach zwei Richtungen abgesichert werden: Zunächst gegen Missverständnisse oder irrige Konsequenzen der lutherischen Theologie im Inneren, daneben aber auch gegen die Angriffe äußerer Gegner, wie besonders in der Frage der Adiaphora, der Prädestinationslehre oder der Verwerfung radikalreformatorischer Gruppen deutlich wird. Durch Affir‐ mation und Verwerfung soll der wesentliche Bestand der Lehre doppelt, sowohl positiv als auch negativ, umschrieben werden. Zwischen Affirma‐ tion und Verwerfung findet dabei eine gewisse, wenn auch im Vergleich mit dem Augsburger Bekenntnis deutlich reduzierte Pluralität ihren Spiel‐ raum, der wiederum zum Teil noch einmal durch Sprachregeln für einzelne Lehrsituationen strukturiert wird. Trotz der Abwehr einer interimistischen Position ist daher sachgemäß, die Konkordienformel als ein im Kern „ireni‐ sches Dokument“ zu charakterisieren. 265 Die Konkordienformel will wider‐ streitende Auslegungen der reformatorischen, mittlerweile auch präziser als ‚lutherisch‘ zu bezeichnenden Lehre verhindern, aber sich nicht an die Stelle der Schrift setzen – und anders als beispielsweise die Lehrkompen‐ dien Melanchthons auch keine das christliche Selbst-, Welt- und Gottes‐ verständnis umfassende Gesamtschau der Glaubensgehalte bieten. Das Satis-Prinzip einer Genügsamkeit der Kirche bezüglich ihres fixier‐ ten Lehrbestandes wird somit aus dem Augsburger Bekenntnis übernom‐

263 Slenczka ist zuzustimmen, dass die Rezeption der altkirchlichen Bekenntnisse hier nicht aus einem ökumenisch-vermittelnden, sondern eher in polemischem Interesse erfolgt, vgl. ebd., 411-413. Trotzdem können sie seither auch immer wieder als Ansatzpunkt für eine Suche nach dem übergreifend Christlichen dienen. 264 Dieser eschatologische Horizont wird auch von Jörg Baur herausgestellt, vgl. Baur, Be‐ kenntnis, 283; 288 f. Vgl. auch Schlink, Theologie, 224 f. 265 Slenczka, Theologie, 371.

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men und zeigt sich erneut in der Beschränkung auf zentrale Streitpunkte, die alle auf ihre Weise mit der in der Rechtfertigungslehre konzentrier‐ ten Soteriologie zusammenhängen. Ziel ist eine möglichst weitgehende, wenn auch nicht notwendig in jedem Fall vollständige Übereinstimmung von individuellem Glauben, kirchlicher Verkündigung und geltender Lehr‐ ordnung. Implizit durch die Ausrichtung auf eine Ordnung des Gefüges reformatorischer Lehrinstitutionen und explizit durch Aufnahme der Ka‐ techismen Luthers in das Bekenntniskorpus zielt auch hier die Lehre auf die Mündigkeit der Einzelnen im Umgang mit der Schrift. Auffällig ist dennoch, dass nun einzelne Theologen, Fürsten und Stände stellvertre‐ tend für die Gesamtheit der Kirche bekennen – und dies in einer vergli‐ chen mit dem Augsburger Reichstag von 1530 sozusagen virtuellen, weil nur literarisch inszenierten Bekenntnissituation. 266 Dabei wird erstens die Verflochtenheit der kirchlich-theologischen Autorität mit einer politischen Obrigkeit deutlich, die sich ebenfalls aus religiösen Legitimationsquellen begründet, weitgehende Rechte im Prozess der Lehrordnung beansprucht und theologisch eine repräsentative Funktion für das Ganze der Kirche übertragen bekommt. Zweitens zeigt sich eine vermutlich in dieser Weise nicht direkt beabsichtigte, aber beispielsweise durch die unterschiedlichen Sprachregeln für Schuldispute und öffentliche Verkündigung faktisch ein‐ gestandene Entkoppelung der Diskursarenen. Der theologisch-politische Aushandlungsprozess um die verbindlichen Lehrgrundlagen des kirchli‐ chen Gemeinwesens rückt von der pastoral-presbyterialen Ebene der Ver‐ kündigung, Gemeindeunterweisung, Kirchenzucht und Seelsorge ab. Ent‐ sprechend tritt – zumindest im Rückblick – auch der rechtliche und theo‐ logische Doppelcharakter des Bekenntnisses immer deutlicher hervor. 267 Im Zusammenhang mit der Streitfrage der Adiaphora wird innerhalb der Lehre selbst reflexiv eingeholt, dass ein kirchliches Lehrbekenntnis nie un‐ abhängig von konkreten, geschichtlichen Rahmenbedingungen artikuliert und offizialisiert werden kann – je nach politischer Bedrohungslage für die reformatorische Lehre ist der Grad der situativ erforderlichen Klarheit ein‐ zelner Grenzziehung und der Bereich der überhaupt bekenntnisrelevanten, weil strittigen Themen unterschiedlich zu bestimmen. Leitend ist dabei für die Konkordienformel die einem politischen Pragmatismus entgegenlau‐ fende Grundregel, dass gerade unter Druck die Wahrheit des Evangeliums

266 Zum Problem des Verhältnisses von Bekenntnisakt und Lehrbekenntnis anhand ver‐ schiedener theologischer Postionen vgl. ebd., 672–701. Slenczka nimmt die Problema‐ tik dieser literarisch stilisierten Bekenntnissituation wahr, aber dürfte deren impliziten Anspruch verkennen, der auf einen zwar virtuellen, aber dennoch realen und eschatolo‐ gisch qualifizierten Bekenntnisakt hinausläuft. 267 Vgl. dazu Munsonius, Kirchenrecht, 31–35.

Zusammenfassung und Ertrag

gefährdet und daher maximale Klarheit hinsichtlich strittiger Lehraussagen zu wählen ist. 3.5 Zusammenfassung und Ertrag Ihren institutionellen Ort hat die reformatorisch-lutherische Lehre insbe‐ sondere in der gottesdienstlichen Verkündigung, in der häuslichen und schulischen Heranbildung mündiger Christenmenschen sowie in der uni‐ versitären Ausbildung kirchlicher Amtsträger. 268 Im Kontext der theologi‐ schen und zugleich immer auch politischen Auseinandersetzung mit den Gegnern der Wittenberger Theologie wird über diese Lehre in Form von Lehrbekenntnissen öffentlich Rechenschaft abgelegt. Unter diesen nimmt das Augsburger Bekenntnis von 1530 die wichtigste Stellung ein, insofern sich mit ihm auch die Ursituation eines reformatorischen Bekenntnisaktes vor Gott, Kaiser und kirchlicher Öffentlichkeit verbindet. 269 Das Lehrbekenntnis erfüllt für die lutherischen Kirchen und ihre Theo‐ logie dabei die Funktion einer doppelten Identitätssicherung: Erstens soll es im Namen der Ursprungstreue die Kontinuität der kirchlichen Kern‐ vollzüge zum schlechthin grundlegenden Heilsgeschehen in Jesus Chris‐ tus, zur biblischen Offenbarungsgeschichte und apostolischen Evangeli‐ umsverkündigung bewahren. Die Lehrbekenntnisse der Reformationszeit verstehen sich als maßgebliche Bezeugung und erneute Bekräftigung der ursprünglichen Wahrheit des Evangeliums in einer eschatologisch aufge‐ ladenen Situation der Scheidung. Sie sind auf eschatologisch qualifiziertes Geschehen zurückbezogen und zugleich perspektivisch auf die letzte Zu‐ kunft ausgerichtet – in der Hoffnung darauf, dass Gott selbst im Jüngs‐ ten Gericht alle Lehrstreitigkeiten entscheiden und die reformatorische Lehre bewahrheiten wird. Zweitens dient das Lehrbekenntnis der Abwehr aller konkurrierenden Wahrheitsansprüche – zunächst gegenüber der auf Rom ausgerichteten Papstkirche, später auch immer stärker gegenüber re‐ formierten und radikalreformatorischen Gegenentwürfen protestantischer Frömmigkeit, Lehrgestalt und Kirchenorganisation. Nicht zuletzt durch die Aufnahme und Anwendung häresiologischer Schemata soll eine ‚katho‐ lische‘ Kontinuität mit der einen Kirche und ihrer Geschichte hergestellt

268 Für eine systematische Entwicklung und knappe Funktionsbeschreibung der zur kirch‐ lichen Lehr- und Kirchenordnung notwendigen Institutionenwelt vgl. auch die Vorrede, die Prolegomena zur Kirchenordnung und den ersten Artikel zur Lehre in Melanchthons Examen ordinandorum von 1552, StA Bd. VI, 169–177. 269 Vgl. bereits ebd., 175. Vgl. ferner BSELK, 1216–1219; 1310–1313.

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werden, was allerdings unweigerlich eine Verschärfung der Lehrgegensätze und eschatologische Zuspitzung theologischer Konflikte mit sich bringt. Bei den Reformatoren und in den Lehrbekenntnissen wird die Lehre des Evangeliums (lat. doctrina Evangelii) als verallgemeinernde Aussage‐ form nicht kategorial von der predigenden Evangeliumsverkündigung un‐ terschieden. 270 Das gepredigte Evangelium als verbum efficax spricht die Rechtfertigungsbotschaft zu, die auch als allgemeine Rechtfertigungslehre artikuliert und kognitiv angeeignet werden kann. Die Lehrform übergreift sodann auch den Gegensatz zu anderen überlieferten Lehren wie der Lehre des Gesetzes oder philosophischen Lehren. Die spezifische Differenz der Lehre des Evangeliums zu diesen menschlichen Konkurrenzlehren wird durch ihren göttlichen Ursprung, ihren christologisch-soteriologischen In‐ halt und ihre den wahren Glauben begründende Wirkung hergestellt. 271 Aus diesem Ursprung und Inhalt ergibt sich auch, weshalb diese Lehre keine distanzierte Zurückhaltung zulässt, sondern auf persönliche Aneig‐ nung durch den Glauben zielen muss. Die Bedeutung der christlichen Lehre erschöpft sich nie in ihrem re‐ gulierenden Gebrauch als Richtschnur der kirchlichen Kernvollzüge. Für die einzelnen Glaubenden soll die Lehre der Kirche eine Trostfunktion angesichts der Anfechtung, eine Vergewisserungsfunktion hinsichtlich der Heilsverheißung sowie eine Erschließungsfunktion bezüglich der Schrift erfüllen. Zentriert ist der Lehrbestand in der Rechtfertigungslehre, die wie‐ derum im extra des Glaubens gründet: in Heilstat und Verdienst Christi. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wird innerhalb dessen vorgenommen, was übergreifend als christliche Lehre bezeichnet wird. Mit Evangelium ist dabei nie ein formales, in seinem Inhaltsbezug beliebiges Sprachgeschehen gemeint, sondern vielmehr die im Christusgeschehen ge‐ gründete Rechtfertigungsbotschaft, die als je persönliche Anrede gehört, von den Einzelnen angeeignet und durch den Geist an ihnen zum Heil wirksam werden soll. Eine scharfe und kategoriale Unterscheidung von kirchlichen Lehr-Lern-Vollzügen, theologischer Wissenschaft und gottes‐ dienstlichem Verkündigungsgeschehen begegnet dabei nirgends. Die Lehr‐ bekenntnisse sind ihrem Selbstverständnis nach eingebettet in einen über‐ greifenden Kontext kirchlich-öffentlicher und individueller Frömmigkeit, den sie auf sein Zentrum in Christus hin orientieren und in dieser christo‐ logischen Ausrichtung halten sollen.

270 Dazu erhellend auch Luthers Schrift von 1523 zu Recht und Vollmacht einer Gemeinde, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, vgl. DDStA Bd. 2, 383–401; bes. ebd., 386; 392. Vgl. Wallmann, Theologiebegriff, 62 f. 271 Vgl. Maartikainen, Doctrina, bes. 30 f; 60–68; 89–92.

Zusammenfassung und Ertrag

Luther formuliert bereits 1523 den reformatorischen Grundsatz eines in göttlicher Anordnung gegründeten, durch alle Christen gemeinsam verant‐ worteten Lehramtes: Christus selbst „nympt den Bischoffen / gelerten / vnd Concilien beyde recht vnd macht tzu vrteylen die lere / und gibt sie yder‐ man / vnd allen Christen ynn gemeyn“. 272 Daraus folgt das Recht, aber auch die Verpflichtung aller Glaubenden, persönlich für die rechte Verkündi‐ gung und Lehre in der Kirche einzustehen. 273 Mit der Aufnahme der Ka‐ techismen Luthers in das lutherische Bekenntniskorpus wird der Anspruch der reformatorischen Lehre aufgenommen, durch persönliche Aneignung und stetige Einübung für alle Glaubenden zum Wirkraum des Geistes und damit existenzbestimmend wirksam zu werden. Aufgrund der Unvertret‐ barkeit des Glaubens in der Sterbestunde wird diese Habitualisierung der Lehre, die auf das Lebensende vorbereiten und in der Anfechtung trösten soll, eschatologisch aufgeladen. Zeichnen die Katechismen eine individu‐ ell-familiäre Praxis evangelischer Frömmigkeit vor, lässt sich in den Lehr‐ bekenntnissen, Visitationsordnungen und Lehrkompendien Melanchthons ein soziales Programm erkennen, wie die Mündigkeit möglichst aller Laien befördert werden soll: Alle Institutionen der Kirche sind an ihrer Funk‐ tion als Lehrinstitutionen zu messen. Jeder Christenmensch soll durch ein gestuftes Bildungsprogramm familiärer, schulischer und gottesdienstlicher Lehr-Lern-Vollzüge in die Lage versetzt werden, den Grund des eigenen Glaubens zu verstehen, über die entscheidenden Grenzziehungen Auskunft zu geben und so das reformatorische Bekenntnis zur Wahrheit des Evange‐ liums zu verteidigen. Für das reformatorische Lehrverständnis ergibt sich aus dieser allge‐ meinen Mündigkeitsforderung schon rein pragmatisch die Notwendigkeit einer kritischen Selbstbeschränkung hinsichtlich des fixierten Lehrbestan‐ des. Das Satis-Prinzip der kirchlichen Lehrgenügsamkeit erlaubt hier die kirchlichen Zeremonien einerseits, die politisch-soziale Disziplinierung an‐ dererseits aus dem Gebiet der Lehrordnung und der allgemeinen Katechese auszuschließen. Diese Begrenzung des verbindlichen Lehrbestandes ent‐ spricht aber auch der soteriologischen Zentrierung in der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade um Christi willen, die wiederum den Total‐ anspruch des Schöpfers am Ort des Geschöpfes zur Geltung bringen soll. In der Spannung zwischen soteriologischer Fokussierung und schöpfungs‐ theologischer Universalperspektive lässt sich der Umfang des schlechthin 272 Vgl. DDStA, 388, Z. 12–14. Herv. TG. 273 Vgl. ebd., Z. 20–22: „Bischoff / Babst gelerten vnd yderman hat macht zu leren / aber die schaff [= Schafe, d.h. Gemeindeglieder, TG] sollen vrteylen / ob sie Christus stym leren odder der frembden stym“ (Herv. TG). Zur allgemeinen Pflicht, auch ohne Berufung in ein Amt falscher Lehre der Amtsträger zu widersprechen, vgl. ebd., 394, Z. 15–21.

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Heilsnotwendigen unterschiedlich bestimmen, wie sich gerade anhand der Entwicklung der Lehrkompendien Melanchthons zeigen lässt: Nimmt die erste Ausgabe der Loci communes von 1521 noch eine äußerst restriktive Beschränkung auf einen unmittelbar heilsbezogenen Kernbestand an Lehre vor, weitet sich der Themenbestand der von Melanchthon als unverzichtbar betrachteten ‚Lesehinweise‘ für den eigenständigen Schriftgebrauch in den späteren Neubearbeitungen des Lehrstoffs erheblich aus – auch aufgrund der sich immer weiter ausfächernden Auseinandersetzungen um das refor‐ matorische Programm der Wittenberger Theologen. Wiederholt und nachdrücklich wird von den reformatorischen Theolo‐ gen betont, dass die Einigkeit in der Lehre und der lehrmäßig formulierte Konsens innerhalb der Kirche der Wiederherstellung des sozialen und po‐ litischen Frieden dienen sollen. Denn das Bekenntnis zur wahren Lehre ist trotz oder gerade auch aufgrund Tendenzen seiner Verrechtlichung immer schon in das politische Kräftefeld einbezogen. 274 Die Legitimität des reformatorischen Protests gegenüber Papst und Kaiser erforderte, dass der Wahrheitsanspruch der rechten Lehre allen Gehorsamsforderungen politischer und kirchlichen Autoritäten übergeordnet bleibt – ohne dass solche Autorität im Zuge eines radikalreformatorischen Gegenentwurfs grundsätzlich delegitimiert werden sollte. Reflexionen Melanchthons über ein theologisch begründetes Widerstandsrecht reflektieren diese Spannung ebenso wie die Bestimmungen der Konkordienformel zu den Adiaphora. Dass das Evangelium als Wahrheitserkenntnis die Gewissen auf eine gänz‐ lich andere Weise verpflichtet als ein menschliches Gesetz war den Re‐ formatoren bewusst. Eine in der Reformationszeit ungelöste und damals vielleicht auch unlösbare Frage war, wie diesem Evangelium ein Raum in der Welt verschafft werden kann, ohne gegen Abweichler in der Lehre die Zwangsgewalt der Obrigkeit zu bemühen.

274 Vgl. dazu Heckel, Deutschland, 67–82.

4 Barocker Überschwang der Lehre: J. C. Dannhauer Die Entwicklung hin zu einer immer umfassenderen und zugleich präzi‐ seren Ausformung des lutherischen Lehrgebäudes auf der Basis des pro‐ testantischen Schriftprinzips beginnt noch in der Reformationszeit. Ihre Anfänge ließen sich bereits im Vergleich der verschiedenen Ausgaben von Melanchthons Loci sowie der Verteidigung und Bekräftigung des Augsbur‐ ger Bekenntnisses innerhalb der Texte des Konkordienbuchs nachzeichnen. Im nachkonkordistischen Luthertum setzt sich diese Entwicklung fort, be‐ vor es durch den doppelten Ausgang des Konfessionalismus in Pietismus und Aufklärung zu Verschiebungen im Lehrverständnis kommt. 1 Dabei stehen – nimmt man eine zugestandenermaßen unscharfe Ab‐ grenzung von Predigtsammlungen, Postillen und Trostbüchlein einerseits, exegetisch-philologischen Kommentaren und kirchenhistorischen Darstel‐ lungen andererseits vor – bei der im engeren Sinne dogmatischen Literatur verschiedene Gattungen nebeneinander: Es begegnen Katechismen und ka‐ techismusähnliche Darstellungen in deutscher oder lateinischer Sprache 2 neben dogmatischen Lehrkompendien 3 und zunehmend umfangreichen theologischen Summen oder Systemen 4. Die institutionellen Orte, an de‐ nen diese Literatur produziert und gelesen wurde, sind insbesondere die höheren Schulen und theologischen Fakultäten, die im Bereich des Augs‐ burger Bekenntnisses von den Landesherren und Ständen zur Ausbildung des Kirchenpersonals unterhalten werden, die Pfarrerschaft der Stadt- und Landgemeinden und wohl zunehmend auch eine theologisch gebildete Lai‐ enöffentlichkeit. Für einige Schriften lässt sich eine internationale Verbrei‐ tung innerhalb der entstehenden lutherischen Ökumene belegen.

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Zum Problem dieser etwas schematischen Epochenabgrenzung und der Gleichzeitigkeit verschiedener ‚Epochen‘ vgl. klassisch Hoffmann, Barock, 156–178. Zur älteren und jüngeren Diskussion vgl. Witt, Kirchengeschichte, 47–67. Zu den Verschiebungen im Theologieverständnis vgl. Axt-Piscalar, Theologie, 167–199. Vgl. für einen Überblick Ohlemacher, Katechetik, 71–116; zu den verschiedenen Typen katechetischer Texte vgl. ebd., 102–105. Darunter herausragend etwa Leonhard Hutters Compendium locorum theologorum (Wittenberg 1610) für die Zeit der frühen Orthodoxie sowie Johann Friedrich Königs Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664) für die Hochorthodoxie. Für eine Über‐ blick zur Gattung und ihren institutionellen Rahmenbedingungen im Lehrbetrieb vgl. Stegmann, König, 100–185. Als bis in die Gegenwart besonders wirkmächtige Beispiele zu nennen sind Johann Gerhards Loci theologici sowie Johann Andreas Quenstedts Theologia didactico-po‐ lemica. Zu Gerhard vgl. Baur, Gerhard; Wallmann, Theologiebegriff; Steiger, Gerhard. Zu Quenstedt vgl. Baur, Vernunft.

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Barocker Überschwang der Lehre: J. C. Dannhauer

Die Theologie der Barockzeit 5 lässt sich dabei zumindest bis zur Mitte des 17. Jh. als eine Phase des Überschwangs der Lehre charakterisieren. 6 Dieser Überschwang betrifft nicht nur die Bedeutung, die der Lehre für das Leben der Kirche zugemessen wird, sondern auch den thematischen und in‐ haltlichen Umfang, den die methodische Darstellung dieser Lehre erreicht. Nicht zuletzt betrifft er auch das Zutrauen in die theologische Bildungsfä‐ higkeit der Gemeindeglieder und den Bestand dessen, was als unverzichtbar betrachteter Minimalbestands einer christlichen Lehrunterweisung zu gel‐ ten hat. Um das Lehrverständnis dieser Zeit zu befragen, bietet sich besonders der Straßburger Philosoph, Theologe und Münsterprediger Johann Conrad Dannhauer (1603–1666) an. 7 Dieser gehörte als Hochschullehrer, zunächst ab 1626 in der Philosophie als Professor für Rhetorik und später ab 1633 in der Theologie, als Münsterprediger und schließlich ab 1658 als Straßburger Kirchenpräsident zu den herausragenden Gestalten des südwestdeutschen Protestantismus des 17. Jh. 8 Von Georg Hoffmann mit dem möglicher‐ weise ambivalenten Ehrentitel des „barockeste[n] aller Barocktheologen“ bedacht, begegnet bei Dannhauer eine zugleich in ihren theologischen Grundlinien repräsentative, wie in der konkreten Ausgestaltung ihres Lehr‐ programms auch eigenwillige Konzeption von Lehre im Leben der Kirche. 9 Dabei steht er an verschiedenen Wegscheiden der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts – dies belegen etwa sein Engagement im sog. Synkre‐ tismusstreit, die Stellung seines theologischen Lehrbuchs als Mischtypus zwischen synthetischer und analytischer Gliederungsmethode sowie das Verhältnis zwischen akademischer Schultheologie und Pietismus, das sich exemplarisch an Dannhauers Beziehung zu seinem bekanntesten Schüler 5

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Zur Terminologie und Abgrenzung von alternativen Bezeichnungen wie „Altprotestanti‐ scher Orthodoxie“ oder „klassischem Luthertum“ vgl. Hoffmann, Barock; ferner Witt, Kirchengeschichte, 62. Für einen begriffsgeschichtlichen Überblick vgl. Mahlmann, Doctrina. Zwar verliert der melanchthonische doctrina-Begriff schnell seine Funktion für die Selbstverortung der Theologie als praktischer Wissenschaft, während umgekehrt der Religionsbegriff eine steile Karriere antritt, vgl. ebd., 259–264. Dem korrespondiert aber keine entsprechende Krise der Lehraussage, des Lehrkompendiums oder eines wesentlich lehrhaften Religi‐ ons-, Verkündigungs- und Theologieverständnisses. Zur Biografie und als allgemeiner Überblick ist trotz gewisser hagiographischer Züge noch immer lesenswert Horning, Universitäts-Professor. Einen neueren Überblick über Leben und Werk bieten Kücherer u.a., Einleitung. Zur Einordnung und Charakterisie‐ rung vgl. außerdem Wallmann, Orthodoxie; ders., Eigenart; ders., Art. Dannhauer. Zur Vorgeschichte der Universität Straßburg vgl. grundlegend Schindling, Hochschule. Einen Überblick bietet Vogler, Art. Straßburg. Hoffmann, Barock, 160. Vgl. ähnlich bereits Tholuck, Art. Dannhauer. Zur Verortung hinsichtlich des Lehrverständnisses vgl. Mahlmann, Doctrina, bes. 256–258.

Barocker Überschwang der Lehre: J. C. Dannhauer

Philipp Jacob Spener untersuchen lässt. 10 Dannhauer hält sich mit seiner Theologie bewusst in dem Rahmen, der ihm durch das konkordistische Luthertum vorgegeben ist, weshalb er als ein exemplarischer Vertreter der lutherischen Schultheologie seiner Zeit herangezogen werden kann. Dabei setzt er in der Bearbeitung und Darstellung dieser theologischen Tradition durchaus eigene Akzente, weshalb er zudem als kreativer und eigenständi‐ ger Vertreter der lutherischen Barocktheologie gelten kann. 11 Dannhauer hat ein schwer überschaubares Gesamtwerk hinterlassen, das neben dogmatischen Schriften und Disputationsthesen auch eine Vielzahl philosophischer Schriften, poetische Texte, eine eigenwillige Darstellung der frühen Kirchengeschichte als heiliges Drama sowie ein ausuferndes kontroverstheologisches Spätwerk umfasst. 12 Schon an den Titeln der Pu‐ blikationen lässt sich dabei ein Grundzug seiner Theologie ablesen: Der – trotz barocken Überschwangs meist vergleichsweise knappen – positiven Darstellung der Lehre entspricht antithetisch gespiegelt eine breite po‐ lemische Auseinandersetzung mit theologischen Gegenpositionen. Seiner der Christologie gewidmeten Schrift Christosophia seu Sapientarum Sapi‐ entia (1638) lässt Dannhauer bereits kurz darauf die weitaus umfangrei‐ chere Antichristosophia seu revelatio Antichristianismi (1640) folgen. Von der konzeptionellen Anlage seiner „Christlichen Wegweisheit oder posi‐ tiven Theologie“ (lat. Hodosophia christiana seu Theologia positiva, 1649) sind die späteren kontroverstheologischen Schriften abhängig, die sie als Aufdeckung der „Wegtorheiten“ (Hodomoria spiritus Papaei, 1653 bzw. Hodomoria spiritus Calviniani, 1654) in polemischer Antithese spiegeln. 13

10 Vgl. die Einordnung bei Bolliger, Methodus, 8–24. Zu Dannhauer und Spener vgl. die ausführliche Interpretation bei Wallmann, Spener, 100–126. 11 Zu Dannhauers Stellung und seinem Einfluss über die Theologie hinaus (etwa auf den Barockdichter Andreas Gryphius) vgl. Bolliger, Methodus, 8–16. Vgl. auch die – freilich vom Standpunkt des Pietismus aus formulierte und entsprechend kritische – Charakte‐ risierung Tholucks: „immer gelehrt, scharfsinnig, beredt, von glühendem Eifer beseelt, dagegen überladen mit Mannigfaltigkeit eines weit hergeholten Stoffes öfter bizarr und übertrieben in seinem Urteil, wenig genießbar in der Form“ (Tholuck, Art. Dannhauer, 483). 12 Vgl. für einen Überblick das Werkeverzeichnis bei Bolliger, Methodus, 577–655. Ge‐ wisse Beachtung hat Dannhauer in der Philosophiegeschichte gefunden, insofern sein Frühwerk in der Geschichte der frühneuzeitlichen Hermeneutik einen Umbruch von rhe‐ torischer zu logisch orientierter Hermeneutik markiert, vgl. Bolliger, Methodus, 11–15. Als bedeutende Diskussionsbeiträge vgl. Jaeger, Studien; Gadamer, Logik; Danneberg, 15–65. 13 Zu dieser Antithetik vgl. auch die Übersicht bei Bolliger, Methodus, 188–190. Bei den dialektischen und hermeneutischen Frühschriften (Idea boni Disputatoris et malitiosi So‐ phistae; Idea boni Interpretis et malitiosi Calumniatoris) wird diese antithetische Struktur ebenfalls schon im Titel greifbar, doch wird keine Aufteilung in unterschiedliche Bücher

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Grundsätzlich überzeugend interpretiert Bolliger diese positiv-polemische Doppelstruktur von Dannhauers dialektischem Frühwerk her als das Er‐ gebnis einer Anwendung „apodiktischer, letztlich zweiwertiger Logik“ auf die Theologie. 14 Allerdings lässt sich diese Antithetik – wenngleich in selten so ausgeprägter Weise wie bei Dannhauer – auch bei anderen lutherischen Theologen der Zeit, etwa im Titel von Johann Gerhards Loci theologici cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium fal‐ sitate, sowie nicht zuletzt in der Gliederung der Artikel der Epitome der Konkordienformel mit ihrer Gegenüberstellung von affirmativa und nega‐ tiva finden. Es handelt sich somit nicht einfach um eine aus der Philosophie importierte Denkart, sondern eher um eine für Dannhauer charakteristi‐ sche, weil besonders ausgeprägte Konvergenz des zugrundeliegenden Lo‐ gik- und Lehrverständnisses. Eine überragende Bedeutung für Dannhauers theologisches Selbstver‐ ständnis kommt der Wittenberger Reformation und insbesondere Luther zu, dessen sprachlicher und gedanklicher Einfluss sich in seinen Predigten nahezu durchgängig aufweisen lässt. In verschiedenen Zusammenhängen wird Luther als endzeitlicher Gottesmann mit biblischen Figuren paralleli‐ siert und das Ereignis der Reformation auf eine heilsgeschichtliche Ebene gehoben. 15 Über ein Jahrhundert nach den Anfängen der reformatorischen Bewegung blickt Dannhauer zurück auf die Leistungen Luthers für die ihm in der Lehre folgenden Kirchen: „Was ist alles Closter-Gelübde / alle Rosaria, gegen dem einigen grossen Werck der Reformation und Offenbahrung deß Widerchrists / der Widerlegung so vieler Secten und Schwermereyen / der Dolmetschung und gründlicher Außlegung H. Schrifft / der purificirten Catechismus-Lehr und Lehrreichen Gesäng / der Rettung der Hier‐ archien, und drei Stände deß menschlichen Lebens / das sind Almosen über alle leiblichen Almosen / alles aus dem Glauben / durch die Quell der Liebe / ohne ge‐ suchten Weltdanck / den er Luther mit Schweigen besser verdienen können / sampt geduldiger Ubertragung allerhand persecutionen / Lästerungen und Vermaledeyun‐ gen?“ 16

vorgenommen. Auch in den theologisch-methodischen Spätschriften zu Hermeneutik und Polemik bleibt diese antithetische Struktur für die Gliederung des Stoffes bestim‐ mend. 14 Bolliger, Methodus, 19. 15 Zu Luther als dem deutschen Propheten vgl. CM Bd. 1, 5f; 21 u.ö. Zur Reformation als geistlichem Exodus vgl. ebd., 115. Für biblische Reformationstypologien vgl. auch CM Bd. 3, 35; Bd. 4, S. 409f u.ö. 16 CM Bd. 8, 731, Z. 20–29. Im Folgenden werden die zahlreichen Hervorhebungen durch unterschiedliche Typengrößen und Sperrung getilgt, Ligaturen und Abkürzungen mög‐ lichst aufgelöst. Die lateinischen Begriffe, die im Original in Antiqua gesetzt sind, werden durch Kursivsetzung hervorgehoben.

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Dagegen distanziert sich Dannhauer wiederholt von Melanchthon, denn es habe „auch der ältere Philip. Melancht. grosse fehler begangen“. 17 Sein kritisches Urteil bezieht sich vor allem auf kirchenpolitische Entscheidun‐ gen rund um das Leipziger Interim sowie die Annäherung an reformierte Positionen in der Abendmahlslehre – in beidem sieht Dannhauer eine Vor‐ bereitung der ‚synkretistischen‘ Helmstedter Theologie, die er scharf be‐ kämpft. Hinsichtlich der lutherisch-reformatorischen Ursprünge und ihrer Autoritäten zeigt sich also, dass Dannhauer schon auf die Reformations‐ zeit und ihre theologischen Urkunden zurückblickt, ja deren theologischen Ertrag kritisch zu sichten und zu bilanzieren vermag, aber sich dennoch gemeinsam mit den Wittenberger Reformatoren in einer seither fortdau‐ ernden heilsgeschichtlichen Epoche endzeitlicher Kämpfe verortet. Im Folgenden wird Dannhauers Auffassung der christlichen Lehre und ihrer Funktionen in ihrem inneren Zusammenhang untersucht, ohne werk‐ genetischen Fragen oder dem Einfluss anderer Theologen nachzugehen. 18 Die Fallstudie fokussiert sich auf zwei zentrale Quellen, aus denen sich das Lehrverständnis und dessen Auswirkungen besonders klar rekonstruieren lassen. Untersucht wird diesbezüglich erstens die zehnbändige, unter dem Titel „ Catechismus Milch oder Erklärung deß Christlichen Catechismi“ herausgegebene Sammlung von Katechismuspredigten (4.1). 19 Mit seinen Katechismuspredigten, die Dannhauer etwa 1632–1642 im Straßburger Münster gehalten, später größtenteils selbst überarbeitet und in einer um‐ fassenden, zehnbändigen Ausgabe publiziert hat, gilt er als einer der her‐ ausragenden Vertreter dieser Gattung. 20 Diese Katechismuspredigten sind in besonderem Maße aufschlussreich, weil in ihnen nicht nur eine biblische Begründung und theoretische Bestimmung der Aufgaben christlicher Lehre geboten wird, sondern diese Lehre zugleich predigend für eine städtische Öffentlichkeit entfaltet wird. 21 Zweitens wird Dannhauers dogmatisches

17 CM Bd. 4, 140, Z. 26. 18 Für eine werkgenetische Perspektive vgl. Bolliger, Methodus. Für Prägungen durch den akademischen Werdegang vgl. Horning, Universitäts-Professer, 3–10; Wallmann, Spe‐ ner, 101–104; 109 f. 19 In diesem Buch zitiert unter CM. Die Rekonstruktion beschränkt sich weitgehend auf Predigten, in denen das Thema der Lehre oder damit zusammenhängende Themenkom‐ plexe explizit und über bloße Randpassagen hinaus Behandlung finden, was insbesondere in CM Bd. 1, 3, 4 und 8 der Fall ist. Für einen Überblick der Bände und ihrer Auflagen vgl. Bolliger, Methodus, 418 f. 20 Zu Dannhauers Katechismuspredigten in ihrem zeitgenössischen Kontext vgl. ebd., 247–293. Vgl. zur Gattung außerdem den ausführlichen Artikel Jetter, Art. Katechis‐ muspredigt. 21 Es gibt keinen Anlass zu bezweifeln, dass zumindest der Großteil dieser Predigten tat‐ sächlich im Rahmen eines Gottesdienstes vorgetragen wurden, wofür nicht zuletzt der

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Lehrkompendium mit dem Titel Ο∆ΟΣΟΦΙΑ christiana seu Theologia po‐ sitiva (dt.: Christliche Wegweisheit oder positive Theologie) herangezogen, das sich durch seine exzentrische, je nach Begrifflichkeit als ‚allegorisch‘ oder ‚emblematisch‘ zu beschreibende Gliederungsmethode des Lehrstof‐ fes von anderen zeitgenössischen Lehrkompendien unterscheidet (4.2). 22 Auch in dieser Schrift bringen bereits die Aneignung der Gattung und die literarische Form der Darstellung ein existenzielles Verständnis von Lehre zum Ausdruck, welches die theologische Bearbeitung der überkommenen Problemkomplexe prägt. 23 4.1 Dannhauers Katechismus-Milch: Lehre als Lebensmittel In der programmatischen Widmung an seinen Schwager und Schulfreund, den Straßburger Ratsherren Johann Caspar Pfitzer, begründet Dannhauer seinen Entschluss zur Publikation seiner Katechismuspredigten. Zu diesem Zweck entnimmt er Ps 102,19, dass das vom Menschen geforderte Lob Got‐ tes nicht nur innerlich im Herzen, durch das gesprochene Wort und im frommen Lebenswandel zu erfolgen habe, „sondern es werde noch ferner erfordert / das schreiben“. 24 Daher sei nicht nur das massenhafte Publi‐ zieren aus Ruhmsucht, sondern auch das ängstliche oder falscher Demut geschuldete Zurückhalten hilfreicher Schriften zu kritisieren. 25 Den Eigen‐

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Verweis auf zuvor oder anschließend gesungene Lieder spricht. Anzunehmen ist aller‐ dings eine im Verlauf der Bände zunehmende Bearbeitung für den Druck, was sich etwa an beigefügten Quellenzitaten oder auch den längeren Luthertexten ablesen lässt, die ein‐ zelnen Predigten als Anhang beigegeben werden. Zur möglichen Redaktion der Predigten, deren Umfang und leitenden Gesichtspunkten vgl. Bolliger, Methodus, 322–333. In diesem Buch zitiert unter HC. Zur Zentralstellung der Hodosophia innerhalb des Werkzusammenhanges vgl. auch das Urteil seines Schülers Balthasar Bebel, wiedergegeben bei Horning, Universitäts-Profes‐ sor, 13 f. CM Bd. 1, ii (unpaginiert), Z. 10 f. Der Psalmvers lautet: „Das werde geschrieben für die Nachkommen; und das Volk, das er schafft, wird den Herrn loben“ . Dannhauer inter‐ pretiert diesen Psalm typologisch als sehnsüchtiges Gebet der Kirche um das Kommen Christi. Das Alte Testament liest er fast durchgängig vom Neuen Testament her, meist als dessen typologische Vorabbildung, wobei er sich auf Verse wie Joh 5,46 beruft: Schon Mose als Verfasser der Tora habe „nicht nur mit claren Buchstaben / sondern auch in Typis und Fürbilden“ (CM Bd. 4, 60, Z. 7) von Christus geschrieben und diesen so „abge‐ mahlet“ (ebd., Z. 8). Die Frage, ob solche typologischen Interpretationen dem biblischen Text sowie dem Verhältnis von Kirche und Israel gerecht werden, kann hier offen bleiben. Vgl. CM Bd. 1, ii (unpaginiert). Insbesondere die Existenz der paulinischen Briefe ist Dannhauer ein Beleg dafür, dass nach Gottes Willen „auff geschehenen Mündlichen underricht / die Schriftliche verfaßte underweissung folgen solle“ (ebd., Z. 24–26). Dann‐

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wert des geschriebenen Worts gegenüber einer nur mündlichen Vermitt‐ lung sieht er in dessen Funktion als Gedächtnisstütze, in der Möglichkeit einer vertieften Unterweisung zumindest der Lesekundigen sowie der si‐ cheren Bewahrung der Lehre für die Nachwelt. Deutlich wird hier bereits die intensive Methodenreflexion, die Dannhauer mit Blick auf die Vermitt‐ lung der Lehre betreibt. Typisch für seine vom Konfessionskrieg geprägte Zeit, aber bei Dann‐ hauer dennoch besonders ausgeprägt, ist die Kombination einer didak‐ tisch-erbaulichen mit einer konfessionspolemischen Zielsetzung. So kri‐ tisiert er die lutherische Christenheit seiner Gegenwart heftig: Es hätten „fast keine Leuth under der Sonnen / ihrer Religion weniger geachtet“ als die lauen Lutheraner. 26 Ihre mangelnde Gotteserkenntnis und die da‐ mit einhergehende Unfähigkeit, die wahre Religion zu verteidigen, habe dazu geführt, dass „in etlich wenig Jahren viel tausendt apostasirt und umbgeschlagen“, ja ganze Städte durch die schleichende Ansteckung mit zunächst unerkannten Irrlehren vom lutherischen Bekenntnis abgefallen seien. 27 Dies verleiht – in der Interpretation Dannhauers – der reformatori‐ schen Forderung nach einer gründlichen Unterweisung der Bevölkerung in der rechten Lehre ihre aktuelle, eminent politische Bedeutung. Die Heran‐ bildung einer hinsichtlich der christlichen Lehre mündigen Öffentlichkeit trägt durch eine apokalyptisch grundierte Zuspitzung auf die Situation kon‐ fessioneller Auseinandersetzungen also zugleich Züge einer theologischen ‚Generalmobilmachung‘: „Ich wündsche / daß durch die reine lautere Milch deß Catechismi alle das Volck deß Herrn lernete weissagen / daß die geheimnußen Christlicher Religion / die uns der gnädige Gott in seinem Wort geoffenbaret / und derselben behauptung / wider alle der Irrenden einwürff ( die uns villeicht ins künfftig mehr werden zuschaffen geben / als mancher noch glaubt /) nicht allein an die Schulcathedren verwiesen / sondern auch dem gemeinen Mann / in Teutscher Muttersprach / zu weiterer außbreittung Göttlichen Ehr unnd Namens und mehrer erbawung bekand / unnd so viel möglich

hauer beruft sich auch auf Athanasius und Luther, deren übertrieben skrupulösen Bitten um das Vergessen ihrer unvollkommenen Schriften die Nachwelt glücklicherweise nicht nachgekommen sei. Zur Lehre gehöre auch die Vermittlung „stylo & calamo, mit dem Griffel und Feder“ (CM Bd. 8, 771, Z. 9), damit die ursprüngliche Lehre „als ein theurer Schatz behalten / und als ein heilsam anathema und depositum auf die posterität fortge‐ pflanzt werde“ (ebd., Z. 22–24). Vgl. auch CM Bd. 1, 457; CM Bd. 4, 163. 26 CM Bd. 1, 6, Z. 23 f. Gerade die anderen protestantischen Sekten übertreffen die Luthe‐ rischen in Lernbegierde und Eifer weit, weshalb die „Zwinglianer / Schwenckfelder / Widertäuffer“ (ebd., Z. 26) zusammen mit der Königin des Südens (vgl. Mt 12,41f par) beim Endgericht auftreten werden, um die lernfaulen Lutheraner zu verdammen. Vgl. zu diesem Motiv Kücherer, Katechismuspredigt, 187. 27 CM Bd. 1, 8, Z. 15 f.

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clar / satt / deutlich umbständlich / gründlich / unn also recht einfältiglich fürgetra‐ gen [sei]“. 28

In diesem Anliegen einer gründlichen und umfassenden Unterweisung der gesamten Bevölkerung wirkt sich das hohe Mündigkeitsideal der refor‐ matorischen Theologie aus. Zugleich zeigt sich die antithetische Struktur des theologischen Denkens Dannhauers und die doppelte Funktion der Lehre: Sie ist erbaulich nach innen und zugleich abgrenzend nach außen gerichtet. Mit einer treffenden Formulierung spricht Bolliger vom kateche‐ tischen Programm einer „allgemeinchristlichen Scheidekunst der Geister‐ unterscheidung“, dem auch die philosophische Arbeit Dannhauers dient. 29 Der Lehrbegriff und das implizite Lehrverständnis in Dannhauers Ka‐ techismusauslegung lassen sich herausarbeiten, gliedern und darstellen, wenn man den Metaphern nachgeht, die er in seiner Katechismusauslegung für die Lehre und deren Funktionen heranzieht. Dabei muss man die einzel‐ nen Aspekte der sich teilweise überlappenden, sich teilweise komplementär ergänzenden Bilder unter Leitmetaphern sammeln, gruppieren und in Be‐ ziehung setzen. Ein solches Vorgehen, das die Zusammenhänge auf der Sachebene von der Bildebene her strukturiert, entspricht dabei nicht zuletzt dem Theologieverständnis und der homiletischen Methodik Dannhauers, die wiederum in seinem Glaubensbegriff grundgelegt sind. Diesem zufolge lässt sich das „Geheimnus des seeligmachenden glaubens“ nur gleichnishaft im Zusammenspiel aller Sinne erfassen, „als da ist / der Sinn des Gesichts / des Geschmacks / das Essen / das Trincken / das Küssen / das Umbfa‐ hen und dergleichen“. 30 Der Geist Gottes male deshalb die Glaubensgehalte „nicht nur mit eigentlichen claren verständlichen Worten / sondern auch in Figuren und Bildern für Augen als in einer ὑποστάσει und Standfeste / oder in einer gewissen Zuversicht eines Essens und Trinckens und anderer emp‐ findlichen Sinnen“. 31 Mit dieser pneumatologischen Offenbarungstheorie 28 Ebd., v (unpaginiert), Z. 16–25. Herv. TG. 29 Bolliger, Methodus, 24. 30 CM Bd. 4, 88, Z. 1–3. Vgl. auch ebd., 147, Z. 15–17: Der Glaube ist „eine geistliche Empfindligkeit der Göttlichen Wolthaten nach allen fünff Sinnen“. So haben die Glauben‐ den „die Verheissung empfangen / umbfasset unnd geküsset“ wie Simeon das Jesuskind, ihr Glaube „höret ferner die liebliche Music“ des Evangeliums wie die Hirten auf dem Felde, „erschmäcket das Manna oder Himmelbrod“, „riechet den Segenreichen Geruch des Lebens“ und ist „ein scharffes Gesicht / so die Phaenomena und Offenbarung der Götlichen Geheimniß erblicket / und sich darin belustiget“ (ebd., Z. 19–28). Zum ergrei‐ fenden Glauben der fides quae credit vgl. ferner CM Bd. 1, 221–265; CM Bd. 4, 88–98 (Jakob-Typologie); ebd., 146–160 (Ende der Einleitung des Credo) u.ö. auch in anderen hier nicht untersuchten Bänden der Catechismus-Milch. 31 Ebd., 94, Z. 23–26. Anthropologisch gelte mit Hi 31,7, dass in der Regel das Herz den Augen folge (lat. sequitur cor post oculos), vgl. HC, 304.

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im Hintergrund erfüllt die Bildlichkeit der theologischen Begriffs- und Ver‐ kündigungssprache – und über diese hinaus die Sinnlichkeit der durch sie angesprochenen Erfahrung – für Dannhauer nicht nur die Funktion eines äußerlichen Vehikels zur Vermittlung von Lehraussagen, sondern in diesen Bildern spiegeln sich von Gott selbst so angelegte Bedeutungszusammen‐ hänge. 32 In der folgenden Rekonstruktion wird der umfangreiche Stoff der Ka‐ techismuspredigten verschiedenen Leitmetaphern und Metaphernkomple‐ xen zugeordnet: Den Anfang macht ein Abschnitt zur Wegmetapher und dem Motiv des homo viator (4.1.1), das für Dannhauers Theologieverständ‐ nis und seine allgemeine Weltwahrnehmung zentral ist. Dannhauers Lehr‐ verständnis illustrieren eine Vielzahl an Nährmetaphern (4.1.2), Allegorien aus dem Bereich der Familie (4.1.3), Metaphern aus der Bildwelt der Biblio‐ thek (4.1.4), Anatomie- und Heilmetaphern (4.1.5) sowie schließlich krie‐ gerische Metaphern (4.1.6). Durch diese Orientierung an verschiedenen bildspendenden Bereichen wird zwar die teilweise kunstvolle Gliederung der einzelnen Predigten zerstört, aber dafür eine systematische Zusammen‐ schau der umfangreichen Erörterungen erreicht, ohne die enge Bindung an das Material der Texte und ihre charakteristische Sprache aufzugeben. 33 4.1.1 Jakobs Blick in den Himmel Die Bedeutung, die Dannhauer der christlichen Lehre für das Leben der Glaubenden zumisst, hängt unmittelbar mit seinem theologischen Weltund Menschenbild zusammen. Dieses stellt er besonders klar in seiner Hin‐ führung zum Credo vor Augen, wenn er den „exulirenden Pilgram Jacob“ als „Bildt deß Menschlichen Elends“, also der allgemeinen conditio humana auslegt. 34 Wie der vor Esaus Zorn flüchtende Jakob sei der Mensch nach 32 Zu Bildlichkeit und der homiletischen Funktion von Sammelmetaphern vgl. auch Bolli‐ ger, Methodus, 275–285; 293. Zur Anschaulichkeit vgl. ebd., 329. Bolliger vertritt – wahr‐ scheinlich auch der philosophiegeschichtlichen Grundausrichtung seiner Arbeit geschul‐ det – ein eher instrumentell-pädagogisches Verständnis dieser Metaphern. Zur besonde‐ ren Bedeutung der Musik für die Vermittlung und Einübung der reformatorischen Lehre, die in dieser Arbeit ausgeblendet bleibt, vgl. CM Bd. 1, 521–526; CM Bd. 8, 740–754. Vgl. zu Dannhauers theologischem Musikverständnis auch Koch, Stimme, 142–155. 33 Aus der Anlage seiner Fragestellung gut begründet, hat Kücherer die gegenteilige Ent‐ scheidung – Beschränkung auf einen engen Textbereich, aber dafür detaillierte Analyse auch der rhetorisch-homiletischen Struktur – getroffen, weshalb er in seiner detaillier‐ ten Interpretation dem Aufbau der Eingangspredigten folgt, vgl. Kücherer, Katechis‐ muspredigt, 166–19. Vgl. zu den Eingangspredigten auch Bolliger, Methodus, 302–322. 34 CM Bd. 4, 3, Z. 7 f. Diese Eingangspredigten sollen ein „kurzes hodogeticum und Reyß‐ buch zum Himmelreich“ (ebd., 5, Z. 13f) sein. Zu diesem Theologieverständnis siehe auch unten, 4.2.1.

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dem Sündenfall und unter der Macht der Sünde „ein geistlicher Pilgram / Bandit / Sündenknecht / Nachtvagant / ohnmächtige und äusserst arme Creatur“. 35 Seit Adams und Evas Verbannung aus dem Paradies sei der Mensch „ein Pilgram / der sein Vatterland verlassen und quittieren“ musste (lat. exul coeli). 36 Darüber hinaus leide der „zur Knechtschafft verdampte Mensch“ (lat. candidatus servitutis) darunter, dass ihm die Sünde „als ein Fronvogt in seinem Hertzen wütet und tobet / und seine Gliedmassen mißbraucht“, was ihm „nichts als deß Teuffels Danck“ und den „Todt als der Sünden Sold“ einbringe. 37 Als Verirrten, „Liechtschew und Nachtvagant“ (lat. nocturnus erro) imaginiert Dannhauer Jakob, wie er unter vielfältigen Anfechtun‐ gen, angesichts der irdischen und spirituellen Bedrohungen ungeschützt im Freien lagert. 38 Als „ermüdeter / abgematteter und ohnmächtiger Wan‐ dersmann“ (lat. lassatus & defatigatus viator) sei der Mensch nach dem Sündenfall nicht nur jeder freien Hinwendung zum Guten unfähig, sondern auch ständig den „Versuchungen deß bösen Geistes“ ausgeliefert, denen zu allem Überfluss noch „Fleisch und Blut / der innerliche Haußfeind und hei‐ mische Verräther“ zuarbeiten. 39 Er habe wie Jakob den väterlichen Reich‐ tum in den Wind geschlagen und sei nun ein armer Bettler (lat. pauperrimus mendicus), der allein aufgrund von Gottes Güte und durch vorbehaltlosen Glauben zum Heil gelangen könne. 40 Der Mensch soll sich bei dieser Be‐ sinnung auf sein Wesen als Wanderer in einer fremden und feindseligen Umgebung erfassen, der aus dem himmlischen Paradies verbannt ist und sich nun lebenslang in höchst gefährdeter Lage befindet: „es ist ein Christ gleich einem Dorff / da jedermann einsteigen und jhn verunruhigen will. Er sitzt wie Daniel in der Löwen gruben ; wie Sadrach / Mesach / Abednego im feweroffen / mit unsäglicher gefahr umbgeben; Der Sathan ist ihm gefähr / als ein

35 Ebd., 9, Z. 8 f. 36 Ebd., 5, Z. 19 f. Am Bild der Reisenden sollen alle Christenmenschen eine ständige Erin‐ nerung haben, dass sie alle auf einer „geistlichen Pilgramschafft“, „vertriebene Banditen aus dem Paradiß“ (CM Bd. 3, 414, Z. 23f) und lebenslang auf dem Weg ins himmlische Vaterland seien. 37 CM Bd. 4, 6, Z. 29; Z. 36f; ebd., 7, Z. 3–5. 38 Ebd., Z. 7. Vgl. ebd., 8–14: „da überfiel ihn die finstere Nacht / nicht nur die Nacht / sondern darneben allerhand Nachtschrecken und Schwermut / hie mußte er sich befahren der Mörder/dort der wilden Thier die bey Nacht sich regen und auß der Hölen herfür kriechen / darzu kamen allerhand verführische / irrische und fewrige Männer / da dann der Teufel nicht wird gefeyret haben / der gemeiniglich hinüber steiget / wo der Zaun am nidrigsten ist“. 39 Ebd., Z. 34; ebd., 8, Z. 5–7. 40 Vgl. ebd.

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Fürst der Welt / der in der Finsternuß dieser Welt herrschet / er suchet daß er ihm ein Fuß unterschlagen unnd ihn fällen möchte“. 41

Dieses Elend der menschlichen Natur drückt sich in entsprechenden Stre‐ bungen des erlösungsbedürftigen Menschen aus: „der Vertriebene suchet sein Vatterland / der Gefangene seine Erledigung / der Blinde seine Weg‐ weiser / der Müde seine Erlabung / der Dürfftige sein Außkommen / der Verlassene die Gesellschafft / der Pilgram seine Ruhe / der Schwermütige seinen Trost“. 42 Es ist laut Dannhauer allein das Licht des Gotteswortes, das einen Weg durch die Finsternis weisen und den Menschen zur Erfüllung dieser die Welt übersteigenden Sehnsüchte leiten kann. In dieser Selbst‐ erfassung des menschlichen Elends geht es Dannhauer keinesfalls darum, die Leute zu ängstigen oder sie im Extremfall sogar in die Verzweiflung zu stürzen. Vielmehr gehe es um Einübung in eine Haltung der Demut, in der sich der Mensch ganz als Gefäß der göttlichen Gnade verstehe, womit das Fundament der christlichen Philosophie (lat. fundamentum Philosophiae Christianae) gelegt sei: „ut miseriae abyssus invocet abyssum misericordiae, auff daß der erkante Abgrund unsers Elends den Abgrund göttlicher Barmhertzigkeit annrufe / daß uns dieses nich‐ tige und elende Leben verleide / und wir nach einem bessern Leben / dem verlohrnen Paradiß und Vatterland trachten und sprechen mit den Zuhörern Petri / Ihr Männer lieben Brüder was sollen wir thun?“ 43

Dieser Umschlag zur Erkenntnis der Barmherzigkeit Gottes ereignet sich für Dannhauer auch in der Figur des Jakob, der in seinem Elend durch den Traum der Himmelsleiter bereits auf den menschgewordenen Christus verwiesen werde. Dannhauers sich über mehrere Predigten erstreckende Auslegung der Himmelsleiter kann hier als illustrierendes Beispiel für einen typologischen Umgang mit der Bibel dienen, der zugleich eine Weise der Wirklichkeits‐ erschließung ist. In seinem Traum seien Jakob das „grosse Geheimnuß / ja 41 Ebd., 81, Z. 15–20. 42 Ebd., 20, Z. 21–25. 43 Ebd., 9, Z. 29–34. In dieser bei Dannhauer wiederholt begegnenden Abyssus-Formel wird Ps 41,8 (VUL) zitiert, wobei als typologische Vorbilder dieser Bewegung des Glaubens der Psalmist David und Hiob aufgerufen werden. Vgl. CM Bd. 1, 313; ebd., 325. Das Gesche‐ hen des Herausreißens aus dem Abgrund des Elends vollzieht sich bei Dannhauer durch den Heiligen Geist mittels des Evangeliums, vgl. HC, 325. Das Motiv des Abyssus be‐ gegnet in Augustins Confessiones, in der mystischen Theologie (Bernhard von Clairvaux, Meister Eckhart, Tauler) sowie nicht zuletzt bei Luther (vgl. etwa die lat. Übersetzung von Luthers Auslegung des Dritten Artikels zur ‚abgründigen‘ Offenbarung der göttlichen Liebe, BSELK, 1069, Z. 6–9). Zu Herkunft und Entwicklung dieses Motivs vgl. McGinn, Abyss, bes. 435; 443–445.

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der Grund deß Glaubens“ erschienen und „allerhand Segen und göttliche Verheissungen“ offenbar geworden, weil er „mit prophetischen geistlichen Augen / durch den Spiegel der Leyter“ Christus als den Sohn Gottes ge‐ sehen habe. 44 Deutlich wird an diesem Beispiel, wie Dannhauer das Alte Testament in christologischer Perspektive deutet und von daher einer ty‐ pologischen Auslegung unterzieht: Christus ist ihm zufolge „der HErr auf der Leyter / und doch auch die Leyter selbs“, wie er auch in seiner Passion zugleich Priester und Opfer, im Abendmahl zugleich Gastgeber und Speise sei. 45 Daneben kann er den Standort der Himmelsleiter auch mit der Kirche und die Engel auf der Leiter mit dem Predigtamt parallelisieren, denn wie die Engel in Jakobs Traum müssen gute Prediger „hören was den Zuhö‐ rern anligt / zu Gott hinauff in das Heiligthumb seines Worts steigen / und Gottes Sinn / Meinung und Willen dannenhero erholet und wider herab gebracht werden“. 46 In dieser Fülle der Sinnbezüge sei der Traum für Jakob und die Leser des biblischen Textes nicht nur ein „prophetischer und lehr‐ reicher“, sondern auch ein „tröstlicher Evangelischer Traum“. 47 Die Bibel als „Traum-Buch deß Göttlichen Worts“ erlaubt in dieser Per‐ spektive auch, den Predigthörern die umfassende Bedeutung ihres Lebens‐ traums im Lichte des Evangeliums zu erschließen. 48 Durch die biblischen Schriften „zeigt uns Gott den Himmel offen“ – nicht nur auf der Erzäh‐ 44 CM Bd. 4, 13, Z. 13–15; 19 f. Dannhauer bezieht die Verheißung in Gen 28,14 direkt auf Christus, indem er der Rezeption des Motivs in Joh 1,49–51 folgt, vgl. ebd., 10. 45 Ebd., 59 f. Der Aspektreichtum des Bildes und seine Methode der typologischen Aus‐ legung erlauben Dannhauer darüber hinaus, die zwei Holme der imaginierten Leiter christologisch im Sinne der Zwei-Naturen-Lehre auszudeuten, vgl. ebd., 60 f. Anhand der Himmelsleiter-Perikope ließe sich ferner zeigen, wie Dannhauer biblische und ‚profane‘, d.h. in heidnischer Literatur geschilderte Begebenheiten wie den Flug des Ikarus oder die Gigantenschlacht unter dem Vorzeichen seiner Theologie gleichberechtigt in einen Erfahrungsraum einbezieht, vgl. ebd., 59; 67 f. 46 Ebd., 22, Z. 21–23. In einer späteren Predigt zeigt sich Dannhauer gegenüber dieser In‐ terpretation, die er von dem Jesuiten Luis del Alcázar übernimmt, allerdings skeptischer. Nun zieht er die ‚buchstäbliche‘ Deutung auf einen individuellen Beistand durch einen Schutzengel vor, vgl. ebd., 76 f. Dass Dannhauer hier nicht spätestens bei Drucklegung vereinheitlichend eingreift, zeigt, dass er grundsätzlich kein Problem mit einer Mehrzahl sich ergänzender Auslegungen einer Bibelstelle hat. 47 Ebd., 13, Z. 12f; 31 f. 48 CM Bd. 3, E II., 14, Z. 26 f. Die biblischen Schriften seien das „Reyß- Wander und Traum‐ buch“ (CM Bd. 4, 19, Z. 19) der Glaubenden. Hinter diesem Sprachgebrauch steht die im Barock verbreitete Vorstellung, dass gerade für die Frommen „diß ganze Leben anders nichts sey als ein Traum / dabey sich allerhandt Comoedien und Tragoedien begeben“ (CM Bd. 3, 9, Z. 34f). Es gelte, darauf zu vertrauen, dass das menschliche Herz, „wann es hie die Tragoedi außgespielet / ein fröhliche Catastrophen nach diesem Leben zu hoffen und zuerwarten habe“ (ebd., 40, Z. 17–19). Hier verbindet sich das Bild des Traums mit dem ebenfalls typisch barocken Vorstellungskomplex des Welttheaters (lat. theatrum mundi).

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lebene den Erzvätern wie Jakob oder Josef, sondern schriftlich vermittelt auch all ihren Nachkommen und uns Spätgeborenen. 49 Als Trostwort ent‐ halten sie eine göttliche Botschaft an die aus dem Paradies vertriebenen Menschen und seien so „gleichsam ein Brieff vom Himmlischen Vatter von Himmel herab an seine Kinder abgefertiget“. 50 Der Christenmensch könne aus ihnen erkennen, dass er „als Kind Gottes / kein Vagant oder herumb‐ schweiffender Landläuffer“ wie der Satan sei, sondern als Mensch „sein Vatterland unnd Heimweisung“ im Himmel habe. 51 Ein Christ habe sein Bürgerrecht im Himmel, was alle weltlichen Bürgerprivilegien und -frei‐ heiten der Vorzeit und Gegenwart überbietend in sich aufhebe. 52 Auf die Frage nach ihrem Reiseziel sollten Christen jederzeit antworten: „ὀυρανοπολίτης, ich bin ein Himelsburger / ein Prinz von Uranien / mein Wandel ist über deß Jacobs Leyter im Himmel / da will ich ruhen.“ 53 Das Paradies bzw. das himmlische Jerusalem verheiße den Frommen „Frewde die fülle / und liebliches Wesen zur Rechten Gottes ewiglich“, „seelige Erlabung unnd Erquickung / nach außgestandenem Last deß Creutzes / nach erduldeter Hitz der Trübsahl in dieser Welt“. 54 Das Bild der Lebensreise des aus dem irdischen Elend in die himmlische Heimat pilgernden Menschen ist ein durchgängiges Leitmotiv der Theolo‐ gie Dannhauers. 55 Durch dieses homo-viator-Motiv wird das Verständnis der christliche Lehre als Fundament und ‚Fürbild‘ des christlichen Lebens bei Dannhauer entscheidend dynamisiert sowie das Selbstverständnis einer theologia viatoris homiletisch in Bilder umgesetzt. 56 In der umfassenden

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Vgl. auch CM Bd. 3, 68. Zum Traummotiv bei Dannhauer vgl. Bolliger, Methodus, 329–332. Zum Motiv des Welttheaters vgl. Barner, Barockrhetorik, 86–131. CM Bd. 4, 19, Z. 30. Die Schrift gebe uns „die Jacobs Leyter / den gesegneten Weibs‐ samen / die Gnadenwahl / den Gnadenstuhl / das Buch deß Lebens“ (ebd., Z. 30–32) zu sehen. Eine Notwendigkeit für direkte oder außerordentliche Offenbarungen bestehe daher nicht mehr. Ebd., 19, Z. 36 f. Ebd., 25, Z. 30–33. So Dannhauer mit Paulus, vgl. ebd., 31 f. Vgl. ebd., 32, Z. 7–9: „Summa himmlisch We‐ sen / Frewd / Fried / Glori und Seeligkeit / das ist ihm zugesagt / allein das er ein rechter Jacobsbruder sey“. Jakobsbrüder ist hier im Doppelsinn von Pilger auf dem Jakobsweg und Nachfolger des Patriarchen Jakob gemeint. CM Bd. 4, 33, Z. 1–3. Für alle Christen gelte daher die Mahnung: „Gebrauch der Welt / wie ein Wandersmann / der den Wirths-Tisch / Becher und Geschirr über nacht gebraucht und morgen wider davon ziehet“ (CM Bd. 3, 415, Z. 2f). CM Bd. 4, 29, Z. 2f; 12–14. Diese Freuden malt Dannhauer seinen Hörern, über eine Wiedergabe der dogmatischen Topoi hinaus, auch bildlich und konkret aus, vgl. ebd., 28 f. Bolliger bezeichnet das Bild des Weges bei Dannhauer als prägend für die „Superstruktur seiner theologischen Schriften“ (Bolliger, Methodus, 21). Vgl. Kücherer, Katechismuspredigt, 194 f.

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Ausrichtung des Lebens auf Christus als den wahren, himmlischen Gastge‐ ber und seine „rechte Herberg“ besteht laut Dannhauer die „Σϰοποσοφία, die Zweckweißheit“ des Menschen. 57 Es geht ihm in seinen Predigten nicht einfach um die Übermittlung eines festen Bestands wahrer Aussagen, son‐ dern um immer neue Orientierung auf einer Reise, die seine Zuhörer durch verschiedene – biblische, antike, kirchenhistorische, gegenwärtige – Land‐ schaften führt. Diese Landschaften überlagern sich typologisch, aber das orientierende Licht scheint immer von Christus und der Evangeliumsbot‐ schaft als dem organisierenden Zentrum her. 4.1.2 Geistliches Wachstum durch Lehrstoffzufuhr Dannhauers sinnesorientiert-metaphorische Herangehensweise an die Aufgabe der christlichen Lehrerpredigt zeigt sich bereits in den drei Ein‐ gangspredigten zum Gesamtwerk seiner Katechismusauslegung. 58 Diese Eingangspredigten, in denen Dannhauer grundlegend die Bedeutung der christlichen Lehre, des Katechismus und der Bibel für den Glauben behan‐ delt, überschreibt er programmatisch mit dem Bibelvers Hebr 5,12: „Und ihr, die ihr längst Lehrer sein solltet, habt es wieder nötig, dass man euch die Anfangsgründe [bei Dannhauer: Buchstaben] der göttlichen Worte lehre und dass man euch Milch gebe und nicht feste Speise.“ Als Leitmetapher, mit deren Hilfe er verschiedene Züge seines Lehrverständnisses anschau‐ lich herausarbeitet, dient hier also der Gegensatz zweier Lebensmittel: der Milch als flüssiger Nahrung der Säuglinge stehen die ‚harten‘ Speisen der älteren Kinder und Erwachsenen gegenüber. Die grundlegende Aufgabe der christlichen Lehrer wird folglich darin gesehen, in der Nachfolge der Apostel dafür zu sorgen, dass alle Christenmenschen die ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechende Nahrung bekommen.

57 CM Bd. 4, 29, Z. 24 f. 58 Für eine detaillierte systematisch-homiletische Rekonstuktion dieser Eingangspredig‐ ten vgl. Kücherer, Katechismuspredigt, 182–209. Dannhauers einzelne Predigten folgen in ihrer Disposition einem strengen, klassischen Schema. So beginnen die meisten Pre‐ digten mit einer allegorischen oder biblischen Hinführung (lat. exordium) sowie einer knappen Exposition des Themas, wie es in der Überschrift gegeben ist (lat. partitio). Dieser einleitende Teil wird mit Amen abgeschlossen. Darauf folgt die eigentliche, nach einem begrifflichen Schema gegliederte Argumentation. Auf die positive Darstellung und biblische Befestigung (lat. confirmatio) des entsprechenden Lehrstückes folgt meist das negative Gegenstück einer komplementären Abwehr (lat. confutatio) entsprechender Las‐ ter oder Irrlehren. Den Schluss bildet meistens ein affirmativ-bekennender Redeteil (lat. peroratio), der oft in doxologische Gebetssprache mündet, bevor die Predigt erneut mit dem Amen abgeschlossen wird. Zur Einordnung der Rhetorik Dannhauers im Kontext zeitgenössischer Konzeptionen vgl. Barner, Barockrhetorik, 387–418.

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a) Die Katechismus-Milch und die Brüste der Schrift In seiner ersten Eingangspredigt verfolgt Dannhauer das Argumentations‐ ziel, seine Predigthörer und -leser davon zu überzeugen, dass das Wachs‐ tum in der christlichen Religion und eine vertiefte Kenntnis der im Kate‐ chismus begriffenen Stücke kein „Mittelding“, d.h. kein Adiaphoron und bloß freiwilliges Angebot, ist. Vielmehr sei solches Wachstum von allen Christenmenschen unbedingt gefordert. 59 Die Verpflichtung dazu gelte umso mehr, sofern „in diesem letzten welt abend / das liecht der Göttlichen Warheit Sonnen so hell unnd heyter vermittelst deß hocherleuchten Wer‐ ckzeugs unnd Manns Gottes Lutheri Seeligen / auffgangen“ sei. 60 Darüber hinaus seien durch die „von jhm in den letsten zeiten bescherten Buchtru‐ cker Kunst / deren die Alten entrathen müssen“, sowie „gute und heyl‐ same Schulen“, welche die Fähigkeit zu Lesen immer weiter im Volk ver‐ breiten, selbst im Vergleich mit der apostolischen Ursituation der Kirche viel günstigere Möglichkeiten eröffnet. 61 Gerade in dieser gegenüber den Vätern privilegierten Lage der Endzeit und nicht zuletzt auch angesichts der regen Predigttätigkeit in Straßburg greife kein Entschuldigungsversuch mehr. Aber trotz der idealen Lichtverhältnisse dieses Weltabends stehe es schlecht um die Lehre bei den lutherischen Christen, die hinsichtlich des Katechismus zumeist „A B C Schuler“ und kaum mit den „ersten Elementa Christlicher Religion“ vertraut sind. 62 Die Parole, die Dannhauer in dieser Lage ausgibt, lautet: „wers lißt der lerne es verstehn : wers nit lesen kan der lerne lesen / laß sich nit bereden es seye gar genug den Catechismum als ein Papagey ohne verstandt daher zu paplen“. 63 Obwohl die eschatologische Gottesschau von Angesicht zu An‐ gesicht und die vollkommene Gotteserkenntnis noch ausstehen, dürfe man „in dieser undern Schul“ des diesseitigen Lebens dennoch keinesfalls faul

59 Das Streben nach Vollkommenheit und Meisterschaft in der christlichen Religion sei an kein bestimmtes Amt in der Gemeinde, etwa die Berufung zum Predigtdienst, gebunden, vgl. CM Bd. 1, 4 f. Dies begründet Dannhauer biblisch mit einer Vielzahl von Belegstellen wie etwa Ps 74,8f, Joel 2,28, Hebr 6,2, dem Wachstumsgleichnis Mk 4,26–29 und dem Gleichnis von den anvertrauten Zentnern Lk 19,11–27. 60 Ebd., 5, Z. 26–28. 61 Ebd., Z. 30–34. 62 Ebd., 6, Z. 13 f. 63 Ebd., 8, Z. 1–3. Zu diesem Papageien-Topos vgl. Bolliger, Methodus, 245 f. Dannhauer verweist auf den „vernünftigen Gottesdienst“ von Röm 12,1. In der folgenden Predigt greift er Luthers Vorrede zum Großen Katechismus auf, deren Problemanzeigen er als noch immer gültig betrachtet, und kritisiert (mit katholischen Theologen!) die Praxis der spanischen Eroberer in Südamerika, die Eingeborenen dort ohne gründliche Einweisung in die christliche Lehre zu taufen, vgl. CM Bd. 1, 21 f.

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sein. 64 Stattdessen habe man gerade deshalb all das, was in den biblischen Schriften schon jetzt offenbart sei, mit Dank anzunehmen und gründlich zu studieren. 65 Die zweite der Eingangspredigten befasst sich sodann mit der Frage, „was deß Catechismi Natur und Eygenschafft sei“. 66 Bereits zu Anfang der ersten Eingangspredigt hatte Dannhauer Joh 7,37 als Ruf zu dem „unerschöpff‐ lichen / allerreichsten / mächtigsten und lebendigen Seelenbrunnen“ ge‐ deutet. 67 Welcher Trank wird nun aus dieser Quelle dargeboten? Schon die „erste Mutter und Milch-Kirch deß Newen Testaments“ habe ihre Ge‐ tauften wie neugeborene Kinder mit der „zarten Catechismus-Milch“ ge‐ nährt. 68 Um den „Adel“ (lat. dignitas) des Katechismus zu bestimmen, sei diese biblische Gleichsetzung mit der Muttermilch aufschlussreich, da diese zunächst hinsichtlich ihrer Natürlichkeit (lat. ob naturalitatem) die „erste / gesundeste / und gleichsam angeborne speyß“ des Menschen, damit ineins aber auch hinsichtlich ihres Alters (lat. ob antiquitatem) die „Urälteste und

64 Ebd., 10, Z. 1 f. Dies wendet Dannhauer insbesondere gegen eine Berufung auf 1Kor 13,9 an, der zufolge das gegenwärtige Wissen sowieso Stückwerk bleibe. Dannhauer vergleicht das diesseitige Leben vielmehr mit dem vorbereitenden Studium an Artistenfakultät bzw. Gymnasium, die eschatologische Vollendung mit einem Studium an den höheren Fakul‐ täten bzw. der Akademie. Vgl. ferner CM Bd. 8, 670. Vgl. zu diesem Motiv Kücherer, Katechismuspredigt, 188 f. 65 Vgl. CM Bd. 1, 10. Nicht nur den Lehrern der Kirche, sondern auch jedem fleißigen Schülern Christi stellt er, „wann am fürstehenden Jüngsten Tag die Promotiones in die höhere Schul gehalten werden“ (ebd., Z. 22f), als Prämie die Verheißung von Dan 12,3 in Aussicht: „Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich“. 66 Ebd., 11, Z. 5 f. 67 „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“, zit. von Dannhauer ebd., 2. Dannhauer interpretiert diese Stelle vor der Folie des (angeblich) in ein „Bachus Fest“ und „Faßnacht“ ausgearteten Laubhüttenfestes der Juden. 68 CM Bd. 1, 12, Z. 32; 13, Z. 6. Dannhauer bezieht sich hier insbesondere auf 1Petr 2,2. In Auslegung der griech. Formulierung στοχεῖα τῆς ἀρχῆς aus Hebr 5,12 bestimmt er den Katechismus als „ersten entwerff / abriß und vorschrifft in der Baw mahler oder Schreibkunst“ (ebd., Z. 27f). So bezeichne die Ursprungsbedeutung des griech. στοχεῖον allgemein das „Fundament einer Kunst“ (ebd., Z. 29), welche Bedeutung in der griechi‐ schen Philosophie auf die Elemente und Prinzipien der Natur sowie schließlich (etwa bei Aristoteles) auch auf die Buchstaben der Schrift übertragen worden sei. Sei der Ka‐ techismus die idea und „Fürbild der heylsamen Lehr / das Fundament und der grund unsers Glaubens“, sei wiederum die Bekanntschaft mit den elementaren Buchstaben das „Fundament aller Lehr und Weißheit“ (ebd., 14, Z. 7f; 12f). Hier scheint nicht nur an ein Voranschreiten von Elementarlehren zu immer vertieften Kenntnissen, sondern auch konkret an die grundlegende Bedeutung der Schrift- und Lesekompetenz gedacht zu sein, bei deren Erwerb als Lehrmaterial oftmals Katechismen zum Einsatz kamen, vgl. Ohle‐ macher, Katechetik, 89–92. Vgl. auch Bolliger, Methodus, 308–311.

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consequenter einfältigste und biß dato übliche Kinderspeyß gewesen“ sei. 69 Auch hinsichtlich seiner Reinheit (lat. ob sinceritatem) sei der Katechismus der Muttermilch zu vergleichen, sofern er allein aus der Schrift geschöpft und nicht mit „Menschentand un MenschenLehr vermengt“ sei. 70 Seiner heilsamen Wirkung nach (lat. ob effectuum salubritatem) sei er ebenfalls mit „Milchtranck und Milchspeiß“ zu vergleichen. 71 Bei dieser Stillmetaphorik handelt es sich um ein durchgängiges bibli‐ sches Leitmotiv in Dannhauers Katechismusauslegung. 72 Die Allegorie des Lehrers als stillender Mutter ist nicht nur titelgebend für die Sammlung seiner Katechismuspredigten, sondern allgemein zentral für Dannhauers

69 CM Bd. 1, 15, Z. 15; Z. 30f; 16, Z. 4–6. 70 Ebd., 19, Z. 32 f. Gelte einerseits: „Kein Religion ist so schlim“, dass sie keinen Katechis‐ mus habe, doch seien doch andererseits die Lehren der anderen Konfessionen (etwa der römischen Kirche, der Zwinglianer oder die Sozinianer) und Religionen „kein lautere Milch / sondern Milch mit Gifft vermischt“ (ebd., Z. 31). Die Mysterienkulte der Heiden, Hesiods Opera et Dies sowie die disticha Catonis kann Dannhauer als klassisch-antike Beispiel für „Heydnische Catechismi“ heranziehen, vgl. CM Bd. 1, 17 f. Zu Islam und Judentum vgl. ebd., 27. 71 Ebd., 20, Z. 6 f. Die förderliche und im Extremfall sogar die Natur verändernde Wirkung der Milch lehre die Erfahrung, wie Dannhauer mit Beispielen aus Mythologie, Tier- und Völkerwelt zu untermauern sucht. Ausgehend von der (bei Scaliger berichteten) Legende eines Wolfes, der von Schafen gesäugt und daher friedlich geworden sei, sowie der kom‐ plementären Legende von Romulus und Remus, die von einer Wölfin gesäugt „auch wilde Wolffsarth an sich genommen“ (ebd., Z. 11f) hätten, urteilt Dannhauer, dass durch den Katechismus unsere „wilde Adamische Wolffsart abgewehnt und im gegentheil ein newe / Göttliche und Christliche Natur eingepflanzt“ (ebd., Z. 19–21) werde. Vgl. CM Bd. 8, 628. Vgl. ferner auch HC, 81. 72 Vgl. schon in der Widmung unter Berufung auf Augustins Johannesauslegung: „daß auch die harte Speyß zur Milch (das was sonst schwer zuverstehen / leicht) gemacht / damit die Einfältigen zuäßen“ (CM Bd. 1, v [unpaginiert], Z. 27–29). Zu den motivgeschicht‐ lichen Hintergründen, von denen hier insbesondere Bernhard von Clairvauxs Hohes‐ liedauslegung einschlägig sein dürfte, vgl. Bynum, Jesus. Auch Luther hatte in seinem Großen Katechismus die Metapher der Nahrung für die Lehre herangezogen: Die Lehre des Katechismus werde den Glaubenden nach Entwöhnung vom Überdruss des ständig Neuen „als den hungerigen und dürstigen [...] aller erst recht schmecken“ (BSELK, 922, Z. 32–924, Z. 1) und durch die Wiederholung nicht fade, sondern „immmerdar besser und besser“ (ebd., 918, Z. 16) schmecken und eingehen. Die Stillmetaphorik mit Bezug auf die Katechismuspredigt begegnet zudem in Luthers Tischreden: „Man sol auff der cantzel die zitzen herauß ziehen vnd daß volck mit milch trencken, den eß wechst alle tage eine newe kirch auff, quae indiget primis principiis. Drumb sal man nur den catechismum vleisig treiben und die milch außteylen; dj hohen gedancken und stucken soll man fur dj kluglinge privatim behalten.“ (WA.TR 3, Nr. 3421, 310, Z. 5–9). Zur Verbreitung dieses Motivs in der Katechismustradition und seiner Aufnahme bei Dannhauer mit seinem etwa gegenüber diesem zweiten Lutherzitat auffälligen Akzent auf dem verpflichtenden Glaubensfortschritt vgl. Bolliger, Methodus, 293–301.

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Lehrverständnis. Dabei dient ihm das Bild keinesfalls nur zur nachträg‐ lichen Veranschaulichung dieses Verständnisses, sondern wird – durch biblische Haftpunkte autorisiert – zur produktiven Erschließung einzelner Aspekte genutzt. Auf diese Weise erscheint die christliche Lehre als ele‐ mentares ‚Lebensmittel‘, das ein geistliches Bedürfnis nach immer neuer Nahrung befriedigt. 73 In der – sehr bildlichen – Passage, mit der Dannhauer seine Eingangspredigten abschließt, wird dabei die gestufte Relation von Christus, der Schrift (in der symmetrischen Gesamtheit beider Testamente) und dem Katechismus deutlich: „Also haben wir nun auch die beyde Mutterbrüst deß alten und newen Testaments gefunden / darauß die lautere Catechismus-Milch geflossen [...] Also wann uns das göttliche Mutter Hertz Christi seine eigene Brüst darbeutet / warumb wolten wir die Brüsten der Babylonischen Huren saugen ? Jenes Weib rühmet die Brüste Mariae / selig spricht sie sind die Brüste die du (Christe) gesogen hast [vgl. Lk 11,27]. Wir sprechen vielmehr / seelig ist der Mensch der diese Brüste Christi saugt“. 74

Der Heiland Christus selbst präsentiere sich also allen Menschen „als eine liebe Mutter / die ihre Brüst entblößt / ruft ihren Kindlin es woll sich na‐ hen und von ihren Brüsten trincken“ mit einem „rechtbegirigen glaubens‐ durst“. 75 Gott als dem Vater der Barmherzigkeit sei zu danken, dass er „die Brüste Heiliger Schrifft durch seinen außerwählten Werckzeug Lutherum widerumb gesäubert“ habe. 76 Das lebensweltlich bekannte Verhältnis eines Kindes zu seiner stillenden Mutter wird transparent gemacht für das Glau‐ bensverhältnis zu Gott, wobei die Lehre des Katechismus für den stetigen Zufluss der reinen und deshalb nährenden Milch steht. In Dannhauers dritter Eingangspredigt wird der Katechismus, wie im Zusammenhang der Stillmetapher bereits anklingt, hinsichtlich seiner Quellen und seiner Reinheit noch einmal auf seinen göttlichen Ursprung hin befragt. Der Katechismus wird zu diesem Zweck mit dem geordneten Zug der Israeliten bei ihrer Wüstenwanderung verglichen, da auch in ihm

73 Vgl. auch CM Bd. 1, 4; 12f; 19f; 27; 39. Erneut aufgegriffen wird der Vergleich des Kate‐ chismus mit der Muttermilch auch im achten Band zur Taufe, vgl. CM Bd. 8, 627–629. In die gleiche Richtung zielt Dannhauers wiederholte Bezugnahme auf den dürstenden Hirsch aus Ps 42,2, der ebenfalls typologisch auf den Glaubenden gedeutet wird, sowie die Gleichsetzung der lehrenden Jünger mit den Brunnen aus Ex 15,27, vgl. CM Bd. 1, 3; CM Bd. 8, 598 f. 74 CM Bd. 1, 39, Z. 1f; Z. 20–25. 75 Ebd., 2, Z. 19f; Z. 22. Auch Paulus verweise im (ihm von Dannhauer noch zugeschrie‐ benen) Hebräerbrief die Glaubenden auf „die gesunde und heylsame Brüste deß Worts Gottes / darauß einig und allein erstgemelte Catechismus Milch fließen müsse“ (ebd., 3, Z. 21f). Vgl. auch CM Bd. 4, 152; Bd. 8, 638; 692. 76 CM Bd. 1, 19, Z. 12–14.

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„je eine Lehr der andern in schöner ordnung und gleichsam glidweyß folgt“. 77 Und wie im Heereszug der Israeliten, die hinter der himmlischen Feuer- und Wolkensäule hergezogen seien, sei im Katechismus alles ex‐ klusiv „auff eine Leytseul / auff einen Leytsternen“ ausgerichtet. 78 Durch diese Ausrichtung auf eine göttliche Offenbarungsquelle unterscheide sich der reine vom verfälschten Katechismus, damit auch die wahre von der falschen Religion. Aus der typologischen Auslegung dieses Bilds entwickelt Dannhauer Kriterien einer unfehlbaren Offenbarungsquelle, als die schließlich allein die biblischen Schriften in Frage kommen. 79 Nur sie sind die „bewehrte und unfehlbare Wolckenseul / darunder sich Christus verbirgt“, um in dieser verhüllten Gestalt seiner Kirche den „Weg zum Himmlischen Canaan und Vatterland“ zu weisen. 80 Mit den biblischen Schriften bewahre und über‐ liefere die Kirche „das geschriebene Prophetische und Apostolische Wort Gottes / wie dasselbe von den Heiligen Männern Gottes durch Eingebung des Heiligen Geistes selbst [...] gefaßt und als ein thewrer Schatz / Göttliche Handschrifft und Caution der Christlichen Kirche hinderlassen“ worden sei. 81 Um diesen Anspruch zu begründen, entfaltet Dannhauer in diesem Zusammenhang die Grundzüge seiner lutherischen Lehre von der Schrift. Die Schrift sei erstens „von Gott dem Geist selbst eingegebene und einge‐ blasene Lehr“, wie sich für die Bibel als ganze sowie für ihre Einzelschriften erweisen lasse. 82 Daraus folge zweitens unmittelbar, dass es sich um eine

77 Ebd., 25, Z. 32 f. Als Christenmenschen seien wir „nicht weniger als die Kinder Israel in der Wüsten dieser argen welt Welt Bilgram [=Pilger TG]“ und auf dem Weg „nach un‐ serem Vatterland dem Himmlischen Canaan“ (ebd., Z. 27-.30). Wenn er seine Gemeinde typologisch als das „Teutsche ja Elsassische Israel“ (CM Bd. 3, 25, Z. 23f) anspricht, denkt Dannhauer allerdings nicht nur an Exodus und Wüstenwanderung, sondern ebenso an die Verfehlungen und Verwüstungen der Richterzeit. Vgl. CM Bd. 1, 7, Z. 4. 78 Ebd., 25. 79 Eine Vergewisserung in dieser Frage sei notwendig, da man schließlich nur auf einen sicheren Grund hin „Gut und Blut / Leib und Leben wagen und zusetzen“ (Ebd., 26, Z. 6f) würde. Für Dannhauer fallen im Zuge seiner Erörterung die Schriften von Juden und Muslimen, außerdem die Vernunft, unmittelbar-innerliche Offenbarungen und das römische Lehramt als unfehlbare Offenbarungsquellen aus, vgl. ebd., 27–33. 80 CM Bd. 1, 34, Z. 17–21. Vgl. zum Folgenden auch CM Bd. 4, 19–21. Kücherer deutet in seiner Interpretation die Wolkensäule zunächst auf den Katechismus und erkennt eine Verschiebung hin zur Schrift, vgl. Kücherer, Katechismuspredigt, 199; 206 f. Das ist wohl überkomplex, obwohl die Unterscheidung von Schrift und Katechismus bei Dann‐ hauer tatsächlich schillert, weil beides unter dem gemeinsamen Oberbegriff der Lehre gefasst wird. 81 CM Bd. 1, 33, Z. 5–7; Z. 17–19. 82 Ebd., 34, Z. 23 f. Dannhauer zieht als Beispiel für einen argumentativen Nachweis die‐ ser Inspiration den Römerbrief heran. Dessen paulinische und damit apostolische Au‐

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„gantz gewiße unfehlbare / ja Himmlische und ewige Lehr“ handle. 83 Diese sei drittens vollkommen und nicht weiter überbietbar, mache sie doch den Menschen „zu allen guten Wercken geschickt“. 84 Sie beinhalte Trost und Arznei für jede Anfechtung sowie die notwendigen Klarstellungen, um alle denkbaren religiösen Streitsachen in Vergangenheit, Gegenwart und Zu‐ kunft eindeutig und abschließend zu entscheiden. 85 Als viertes Merkmal habe die Heilige Schrift „ihr Liecht und Glantz niemand abgeborgt“, son‐ dern erweise ihre Autorität aus sich selbst für jeden, „der nicht muthwillig sich selbs blendet / und verrigelt“, ohne dass ein Verweis auf die Autori‐ tät ihrer Verfasser oder menschliche Beglaubigungsinstanzen nötig wäre. 86 Fünftens sei die Schrift zu allen Zeiten als Lehre im Gebrauch der Kirche gewesen und keine esoterische Sonderoffenbarung, sondern vielmehr ein allgemeiner „Sendbrieff von Gott an alle Menschen / auf daß am Jüngsten Tag sich niemand entschuldigen mög“. 87 Sechstens sei diese Lehre in der Schrift „klar / heyter und hell / ein Liecht daß da scheinet in einem duncke‐ len Orth“, weil in ihr selbst noch die Vernunft übersteigende Geheimnisse durch leicht fassbare „Parablen und Gleichnissen“ erschlossen seien. 88 Sieb‐ tens habe die Schrift durch die ganze Kirchengeschichte hindurch immer neu ihre „Herzbrechende unnd Seelenbewegende Krafft“ als Wort Gottes in der Doppelgestalt von Gesetz und Evangelium unter Beweis gestellt: „Kein

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torenschaft sollen zunächst philologische und im weiten Sinne historische Argumente erhärten. Die entscheidenden Gründe dafür, eine Inspiration durch den Geist anzuneh‐ men, seien allerdings die „die Majestät und heyligkeit der Lehr selbs / die Harmoni und ubereinstimmung mit andern Canonischen Schrifften“ sowie nicht zuletzt die „Göttliche Krafft, die solche seine wort noch heutiges tags haben“ (ebd., 35, Z. 25–28). Ebd., 36, Z. 3 f. Ebd., Z. 18 f. Biblisch bezeugt sei diese Abgeschlossenheit durch die Versiegelungsformel in Offb 22,18 f. Vgl. ebd. Vgl. auch ebd., 34. Ebd., 36, Z. 27; Z. 30 f. Niemand brauche zusätzlich „Menschliche anleytung“ (ebd., Z. 33) oder eine akademische Ausbildung, damit die Schrift ihre erleuchtende Kraft an ihm erweise: „Auch ein gemeiner Ley / wenn er zu forderst mit anruffung Göttlicher er‐ leuchtung / embsig in seiner Bibel lißt / uff den Zweck der Scribenten / auff vorgehende und nachfolgende wort / fleissige und genawe achtung gibt / der kann auch wol etwas stattliches proficiren, und viel schwehre knotten aufflösen.“(ebd., 38, Z. 1–5). Es brauche aber Übung im Umgang mit der Schrift. Deshalb bedeute ein Verbot, dass Laien selbst in der Bibel lesen, „dem Kind die Mutter Milch / dem Erben die Testamentsvermächtnuß / dem Soldaten seine Waffen / dem Krancken die Artzney / dem Bilgram den Compaß und Wegweyser“ (ebd., 37, Z. 14–17) vorzuenthalten. Ebd., Z. 9–11. Ebd., Z. 21f; Z. 26. Der Geist habe zwar „etliche schwehre stellen zum forschen und nach‐ dencken fleissigen Bibelschülern uberlassen“ (ebd., Z. 34f), doch was sich nicht leicht und eindeutig verstehen lasse, sei für den Glauben nicht notwendig oder an anderer Stelle klar ausgesprochen.

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Cartaun ist so starck / kein Donnerstreich so mächtig als das Gesetz wann es das Gwissen recht rührt und trifft. Kein Wind in der Hitz so sanfft / kein regen in der dürre so lieblich unnd fruchtbar / als das Evangelium / wo es recht hafftet und angenommen wird“. 89 Die Schrift erweist und beglaubigt sich selbst in ihrer Wirksamkeit als die „rechte wolckenseul“, das heißt als „Canon / Richtschnur und Regel danach wir sollen wandlen“. 90 Dabei gelte analog von allen gebräuchlichen Bibelübersetzungen und ihrer Darbietung des Gottesworts: „Es sind meine Liebsten die Controfet [= Konterfei, Por‐ trät d. Verf.] einer Person nicht alle gleich / eins trifft besser als das andere / aber keines ist leichtlich so unartig / daß man die Person nicht genugsam erkennen könte“. 91 Die wesentlichen Inhalte der reformatorischen Lehre lassen sich laut Dannhauer selbst der römischen Vulgata klar entnehmen, was die gänzliche Unhaltbarkeit der römischen Irrlehren beweist. 92 Wie sich aus den Eingangspredigten erheben lässt, ist Dannhauer die aus der Schrift entwickelte und wiederum zur Schrift hinführende Lehre des Katechismus „die erste / elteste / reinste lieblichste unnd gesündeste speyß unsers geistlichen lebens in Christo“ und als „summarisches aber vollkom‐ menes Fundament unserer Christlichen Religion“ für alle Glaubenden die schlechthin „ein Lehr von unumbgänglicher notturfft“. 93 Allegorisch ver‐ körpert als die „Himmlische Weißheit“, die „mit uns Menschenkindern von Anbegin bis dato gespielt“ habe (vgl. Spr 8,30f), erscheint der Kate‐ chismus bei Dannhauer geradezu als anthropologische Größe. 94 So kann er den Katechismus durch die gesamte biblische Heilsgeschichte und die Kirchengeschichte verfolgen, wobei die Katechese als „Mundlehr / so da geschicht durch Mündliche frag und antwort“ , der „Schrifftlehr“ vorange‐ gangen sei, ohne dass mit diesem Überschritt ein qualitativer Wandel oder

89 Ebd., 38, Z. 11; Z. 17–20. Vgl. Hebr 4,11. 90 Ebd., 38, Z. 21 f. An der Schrift sei zu überprüfen, ob „der Zeyger recht geh / und was die Glock geschlagen“ (ebd., Z. 32f). 91 CM Bd. 1, 33, Z. 33–35. Vgl. auch CM Bd. 4, 21. Trotzdem hält Dannhauer es für unbe‐ dingt wünschenswert, wenn mehr Menschen die Bibel in den Ursprachen lesen könnten und auf das Erlernen der alten Sprachen ähnlich viel Mühe verwendet würde wie auf Brautwerbung, ökonomische oder politische Geschäfte, vgl. CM Bd. 8, 677-679. 92 Vgl. ebd. Vgl. auch HC, 61 f. 93 CM Bd. 1, 20, Z. 22–27. Vgl. CM Bd. 8, 626–628. Dies impliziere eine Pflicht der Ob‐ rigkeit, die katechetische Unterweisung der Bevölkerung nach Kräften zu befördern vgl. ebd., 20 f. Kann Dannhauer dabei die Obrigkeit als „Säugamme der Christlichen Kirch“ (ebd., 20, Z. 32f) bezeichnen, überkreuzt sich dies freilich auf der Bildebene mit der Aus‐ deutung des Bildes von Christus als stillender Mutter. 94 Ebd., 16, Z. 23 f. Bei Kücherer wird diese Passage zum Schlüssel der Gesamtinterpretation erhoben, vgl. Kücherer, Katechismuspredigt, 192 f.; 209–219. Vgl. zur Rolle der Weisheit in der lutherischen Barocktheologie auch Koch, Philosophia, 705–719; bes. 713 f.

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Bruch zu konstatieren wäre. 95 Die Vollkommenheit des Katechismus be‐ messe sich daran, dass er als „vollkommene fundamental Lehr“ und Summe der schriftgemäßen Lehre alles umfasse, was „einem gemeinen Christen zur Seeligkeit und Christlichem wandel vonnöhten“ sei. 96 Als eine „wohlge‐ faßte Ordnung / Uhr und Richtschnur“ sei und bleibe der Katechismus mit seinen Hauptstücken „die cynosur [der Polarstern, TG] unnd Wegweiser unserer Wanderschafft zum ewigen Leben / die Schlachtordtnung unserer geistlichen Ritterschafft / die Regul unseres Glaubens und Lebens“. 97 Aus dieser umfassenden Orientierungs- und Normierungsfunktion für das irdische Leben ergibt sich für Dannhauer, dass die Glaubenden nie über die Lehre des Katechismus hinauswachsen können. Auch komplexere Darstellungsformen und subtilere Aussagen der Lehre seien hinsichtlich ihrer „consanguinitate doctrinae mit dem Glaubensgeblüt“ immer am Mo‐ dell des Katechismus zu prüfen, der somit auch den Fortgeschrittenen als Norm ihres Glaubens- und Lebensvollzuges dienen könne. 98 Die Einübung in die aus der Schrift entwickelte Katechismuslehre soll dabei keinesfalls

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CM Bd. 1, 16, Z. 24–26. Den Anfang macht der Sohn Gottes als der „erste Catechista“, der im sog. Protevangelium von Gen 3,15 für Adam und Eva „das gantze Evangelium in den kurtzen Paradiß-Catechismum zusammen gefast“ (ebd., Z. 12–14) habe. Von „der Patriarchen Haußschul“ (ebd., Z. 27) reiche die Kette über den im Opferdienst rituell verschlüsselten Unterricht der Leviten, Moses, David und Salomon bis hin zu Jesus Sirach, vgl. ebd., 16 f. Nach Ps 105,22 habe Josef sogar die Ägypter in der Weis‐ heit des Katechismus unterwiesen. Schließlich sei nach Johannes dem Täufer, der am Beginn des neutestamentlichen Katechismus stehe, auch Jesu Christi „gantzes Lehrampt nichts anders als ein immercontinuirliche und beständige Catechismus Schul“ (ebd., 18, Z. 8–10). Diese Kontinuität der Katechismuslehre sei erst in der Scholastik abgebrochen, nachdem der Papst als Antichrist „die Brüst der H. Schrifft verschlossen / verleydet / und verschmiert“ und der Christenheit stattdessen „der Babylonischen Damen Gifft Milch zu saugen dargereicht“ (ebd., 19, Z. 10f) habe. Die Reformation dagegen knüpfe neu an diese Katechismustradition an. Vgl. auch die weitgehend parallele Schilderung CM Bd. 8, 636. Zu dieser „archäologische Reflexion“ über das Wesen des Katechismus vgl. Kücherer, Katechismuspredigt, 191–194. CM Bd. 1, 22, Z. 30–32. Dannhauer bezeichnet die Gesamtheit der Lehre auch als das depositum der Kirche, das der Nachwelt unversehrt übergeben werden müsse, vgl. ebd., 24, Z. 7. Ebd., 14, Z. 13f; Z. 17–20. Die Hauptstücke des Katechismus werden von Dannhauer unter dem übergreifenden Motiv der Lebensreise begriffen, vgl. ebd., 15. Ebd., 24, Z. 6. Dannhauer beklagt, dass vielfach bestimmte Lehrgehalte, obwohl sie aus der Schrift entnommen und damit von Gott offenbart seien, „als allzuhochgelehrte / subtile / dem gemeinen Mann unerbawliche sachen veracht“ (ebd., 6, Z. 17f) und von den Kanzeln verbannt werden. Statt bestimmte Artikel wie die Idiomenkommunikation, die Abendmahlslehre oder die Prädestinationslehre grundsätzlich nur den Gelehrten zu vermitteln, sei vielmehr auf den Glaubensfortschritt und die dem Stand der Gemeinde angemessene Erläuterung dieser Lehrgehalte zu achten, vgl. ebd., 23.

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einfach an die Stelle des persönlichen Umgangs mit den biblischen Texten selbst als den göttlichen Offenbarungsquellen dieser Lehre treten. Vielmehr verweise der lutherische Katechismus als vollkommene Zusammenfassung der für das Leben als Christenmensch maßgeblichen Lehre selbst durchgän‐ gig auf den „probierstein der H. Schrifft“, die ihn in seiner konfessionellen Lehrgestalt als göttliche Wahrheit beglaubigt und mit deren Hilfe „in allen Religions streyten“ zu urteilen sei. 99 Man kann in den Eingangspredigten deutlich erkennen, dass und inwiefern Dannhauer die Größen der mündli‐ chen Lehrunterweisung, des Katechismustextes, der biblischen Schrift und des göttlichen Offenbarungsworts zwar unterscheidet, aber zugleich so eng wie möglich in einem übergreifenden Lehrgeschehen zusammenrücken und aufeinander beziehen möchte. b) Die Didaktik der apostolischen Speisemeister Das Thema des Katechismus, die Frage nach seinem Wesen und Umfang sowie das Folgeproblem, wie sich die Katechismuslehre zum göttlichen Wort der Schrift verhält, greift Dannhauer im achten Band seiner Katechis‐ musauslegung erneut auf. Dieser umfangreiche achte Band ist eigentlich der Taufe gewidmet, wobei ausgehend vom Taufbefehl auch die Lehre zum Thema wird. Denn mit seinem Befehl, die Völker zu taufen und zu leh‐ ren, habe der erhöhte Christus seinen Jüngern „gleichsam das Doctor-Baret auffgesetzt“ und sie „zu grossen Welt-Doctorn gemacht“. 100 In diesem Zu‐ sammenhang lenkt Dannhauer die Aufmerksamkeit auch auf die Vollzüge, in denen die Lehre weitergegeben wird. Das im Neuen Testament dem deutschen ‚lehren‘ entsprechende griechi‐ sche Verb διδάσϰειν in Mt 28,10 bedeutet Dannhauer zufolge im Kern das Gleiche wie σοφίζο in 2Tim 3,15, nämlich: „durch accuraten / geschickten / klugen / bedachtsamen / gesunden / klaren / deutli‐ chen / verständlichen / gut teutschen / vollkömmlichen / gewiß und wolgegründeten Fürtrag der Lehr andere erleuchten / reich und vollkommen machen in aller Weiß‐ heit“. 101

99 Ebd., 38, Z. 29; Z. 32. 100 CM Bd. 8, 602, Z. 17 f. Den Missionsbefehl betrachtet Dannhauer dabei zugleich als Ak‐ tualisierung von Dtn 6,6–9 und Ausweitung dieser Gebote Israels auf die Völkerwelt. Er bedeute gerade keine Ermächtigung des geistlichen Amtes, ein weltliches Regiment zu führen und die Herde der Glaubenden durch die Taufe unter den „krummen Hir‐ ten-Stab“ (CM Bd. 8, 602, Z. 21) zu knechten, wie Dannhauer mit Mt 20,25–28 gegen jeden päpstlichen oder bischöflichen Anspruch auf weltliche Gewalt argumentiert. Zu Missständen unter dem Papsttum vgl. CM Bd. 8, 612–615. 101 Ebd., 606, Z. 1–4.

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Die Vermittlung dieser Weisheit könne mit „eigentlich / klaren und dür‐ ren“ Aussagen oder auch mit „verblümten Worten / durch anmuthige Gleichnüsse / sinnreiche Rätzeln und Apologen / Historien und Exempeln“ gesucht werden. 102 Das wirksame Lehren erfordere vom Lehrer zudem, „das Gelehrte in schönen Exempeln herfür leuchten lassen“ und selbst zur situationsgemäßen Anwendung zu bringen, folglich „nicht mit Worten al‐ lein / sondern in der That und Warheit“ mit dem eigenen Vorbild zu leh‐ ren. 103 Immer gelte dabei außerdem der Grundsatz: „Lehren und Lernen sind Correlata. Sollen die Apostel lehren / so müssen auch die Zuhörer und Leser lernen / und begierig seyn nach der lautern Milch“. 104 Neben dem begierigen Hören und Lernen gehöre dazu auf Seiten der Lernenden aller‐ dings immer auch „das discerniren / unterscheiden / prüfen und erwehlen / und / wie die Tauben / die besten Körnlein herauß lesen“, so dass sich alle Lehrer bereitwillig „judiciren lassen“ sollten. 105 Unüberbietbares Ideal dieser Lehrpraxis ist für Dannhauer Christus selbst, der als der „ungelehrte Lehrer / der unbeleuchtete Leuchter“ in „au‐ ßerlesenen / schönen Parabolen und Gleichnüssen das Geheimnüß deß Himmelreichs gelehret“ und dabei „wie wir pflegen zu reden / kein Blat fürs Maul genommen“ habe. 106 Außerdem könne man die „Stück der rech‐ ten Didactic“ plastisch dem biblischen Vorbild der Apostel entnehmen. 107 Die ersten Kirchenväter seien den Aposteln noch in Leben und Lehre ge‐ 102 Ebd., 609, Z. 17–19. Auch das Medium sei hier nachrangig: „es geschehe mit Predigen oder mit Schreiben [...] mit Mund oder Feder“, denn „heutiges Tags kan man auch Bley‐ füssig fortkommen / und mit Papierner Schrifft hinauß seglen“ (ebd., Z. 1f; Z. 11). Vgl. auch CM Bd. 3, 74. 103 CM Bd. 8, 607, Z. 9–11. 104 Ebd., 621, Z. 4 f. 105 Ebd., Z. 27–30. 106 Ebd., 606, Z. 6f; Z. 12; Z. 37. In Christi Reich-Gottes-Verkündigung vollendet sich für Dannhauer eine Bewegung göttlicher Lehrvermittlung, die schon vor der Inkarnation im Alten Testament beginnt: „Der Ursprung mag wol herkommen seyn von der Feuer- und Wolcken-Säule / in welcher und durch welche / als ein Catheder der ewige Sohn Gottes gelehret / geprediget / geredet / Oracula außgesprochen mit und zu Mose und Aaron.“ (ebd., 758, Z. 36–759, Z. 1). Gott der Herr habe sein Volk „vom Berg Sinai herab / als von einer Catheder und einer Cantzel selbst profitirt unnd gelehrt“ (CM Bd. 1, 79, Z. 36–80, Z. 1). Zum Motiv des trinitarischen Gottes als doctor seines Volkes vgl. auch ebd., 98; CM Bd. 4, 49 u.ö. Zum Heiligen Geist als Lehrer vgl. Kücherer, Katechismuspredigt, 207 f. 107 CM Bd. 8, 610, Z. 35. Dannhauer verweist insbesondere auf die Pfingstpredigt des Petrus sowie auf Paulus. Dieser habe das Wort Gottes „mit zierlichen und gewaltigen Con‐ sequentien und Schlußreden verfochten“ (ebd., 611, Z. 4f). Außderdem habe er sich – beispielsweise in seiner Areopagrede Apg 17 und in grundsätzlicher Übereinstimmung mit Christi – auch „nicht gescheuet aus der Philosophie und gesunden Vernunfft [...] aus allegation und Anzug der Heydnischen Poeten mit allerhand Figuren und Wort-Blu‐

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folgt, doch viele der späteren Gelehrten hätten diesen Weg verlassen. Eine grundstürzende Wende habe trotz einzelnen Vorläufern wie Gerson erst das Auftreten Luthers gebracht, „dessen Schrifften / Sermones und Pre‐ digten wol rechte Exemplaria und Muster seyn können“, um nicht nur in sachlicher Übereinstimmung mit der apostolischen Lehre, sondern darüber hinaus „auch recht klar und gut teutsch wol zu reden“, wären sie nur weiter verbreitet und leichter erhältlich. 108 Was ist diesem Vorbild der apostolische Lehrpraxis nun an konkreten Kriterien abzulesen? Für die Lehrpredigt entwickelt Dannhauer sowohl be‐ züglich ihrer sprachlichen Gestaltung, als auch hinsichtlich ihrer Pragmatik eine Reihe von Grundsätzen, damit das Evangelium für die Einzelnen als erbauliche Lehre wirksam werden kann. Der wahre Schriftgelehrte gebe beispielsweise nicht einfach auswendig Gelerntes wieder, sondern nutze wie Paulus die „Rhetoric und Zierlichkeit der Wort“ im Dienst einer „rechten erbaulichen didactic und zum heylsamen Lehr-Ampt“. 109 Alle rhetorischen und dialektischen Fähigkeiten, die an der Artistenfakultät gelehrt werden, sowie die auch stilbildende Kenntnisse der alten Sprachen gehören daher als Zofen „ins Frauenzimmer der himmlischen Weißheit“. 110 Die wahrhaft apostolischen Lehrpredigt ziele außerdem nicht auf „mörderische selbst‐ Martergeißlung und Quaal“, also Verzweiflung der Zuhörer, sondern auf „Hertzenswende und Gehorsam im Werck / Leben und Wandel“. 111 Doch nicht in der kunstfertigen Umsetzung eines vorgegebenen Predigtstoffes, sondern in der treffenden Bezugnahme auf die Hörerinnen und Hörer be‐ steht für Dannhauer die eigentliche didaktische Herausforderung. Wie die Apostel müsse man in der Predigt möglichst „auff gegenwärtige Umbstände

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men [...] das Wort Gottes sobriè, analogicè, serviliter zu illustriren und zu zieren“ (ebd., Z. 6–13). Ebd., 615, Z. 29–31. Ebd., 616, Z. 5; Z. 23. Wäre es „an blosser recitation der biblischen Schrifften gelegen“, dann wären nicht nur die Täufer mit ihrer Polemik gegen die Gelehrten im Recht, son‐ dern auch die „Moscowitische Priester [...] recht daran / und nicht für Barbaren zu halten“ (ebd., 609, Z. 25–29), wenn sie das Neue Testament und die Kirchenväter ohne Auslegung verlesen. Ebd., 609, Z. 20. Das Verhältnis des biblischen Gotteswortes zu den philoso‐ phisch-artistischen Hilfswissenschaften vergleicht Dannhauer außerdem mit einem fruchtbaren Acker und den Bemühungen des Bauers, mit dem Himmel und dem Fern‐ rohr des Astronomen sowie mit einem eingefassten Edelstein und einem Ring, vgl. ebd., 610. Vgl. auch ebd., 693–696. Ebd., 620, Z. 11f; Z. 26 f. Der bloße Zulauf eines Predigers oder die Intensität der Wir‐ kungen sei nicht entscheidend, denn auch der Satan „als Gottes Aff“ und Nachahmer könne hervorragend predigen, er habe „mehr Zuhörer in der Welt / als Christus / er kan die Affecten bewegen“ (ebd., Z. 13–15).

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der Personen / Orth und Zeiten“ eingehen. 112 Bei Vermittlung der Lehre sei zudem immer deren „Nutz und Frucht“ herauszuarbeiten, damit bei den Hörern „die Gierigkeit zum Verstand der Wort erwecket“ werde. 113 Den Lernenden muss persönlich aufgehen, dass und inwiefern die Lehre mit ihnen zu tun hat, wie auch Luther den pro-me-Bezug des Evangelium in sei‐ nen Katechismen durchgängig herausgearbeitet hat. Dazu gehört wiederum für Dannhauer notwendig – das innere Wirken des Heiligen Geistes für den Glauben immer vorausgesetzt –, dass den Glaubenden durch eine gründli‐ che Erläuterung „die starcke Speise lactescirt und milchig gemacht / und gleichsam Butter aufs Brod gestrichen wird / daß es glatt hinab gehet“. 114 Alle großen Lehrer des Katechismus zeichnen sich durch ihre Gabe aus, „gründlich und doch hell und liecht / die schweren Lehren einzugiessen / leicht und licht zu machen / dann da hälts!“. 115 Grundsätzlich und als Ziel der didaktischen Bemühungen setzt Dann‐ hauer voraus, dass alle Glaubenden die gesamte Lehre des Katechismus verstehen und diese persönlich aneignen können. 116 Dennoch räumt er le‐ gitime Abstufungen hinsichtlich der geforderten Vollkommenheit in der Lehre ein. Es sei „zum letzten seligen Sprung / Abtruck und Abschied aus dieser Welt / ins ewige Leben“ nicht von jedem gleichermaßen „hohe per‐ fection und Vollkommenheit der Lehre“ gefordert. 117 Wenn ein gemeiner Mann „in seinem Glauben fest stehen kann wider alle Anfechtungen / und Grund-stürtzende Irrthum / so hat er genug“, doch ein Doktor oder Theo‐ loge müsse selbstverständlich mehr wissen, verstanden haben und argu‐ mentativ schlüssig vertreten können. 118 Das Scheinargument, dass gewisse Lehren allein in die „Hohe-Schule“ gehören, weil sonst „alle Layen Docto‐ 112 Ebd., 619, Z. 4 f. Zur Aufgabe der Predigt gehöre daher auch der „Unterscheid deß Orts / der Dorff- oder Stadt-Cantzel / nach dem man Zuhörer vor sich hat / Gelehrte oder Ungelehrte / Bauren oder Bürger / Studenten oder Handwercksbursche / alt oder junge Personen“ (ebd., 663, Z. 36–664, Z. 1). Dannhauer stellt sich diese Anwendung nach Art eines logischen Schlussverfahrens vor, bei der die Lehre und die Hörersituation die zwei Prämissen liefern, während die situationsgemäße Predigt die Konklusion darstellt, vgl. ebd., 619. 113 Ebd., 651, Z. 14–16. 114 Ebd., 652, Z. 11–13. Zur Erläuterung der höchsten Geheimnisse des Glaubens könne man sich der „Parabeln aus der Natur / Gleichnüssen / Exemplen / Historien“ und alt‐ testamentlicher Typologien bedienen, da insbesondere dem einfachen Menschen oft der „Schatten bekannter ist als der Cörper“ (ebd., Z. 15; Z. 21). Vgl. auch ebd., 656. 115 Ebd., 662, Z. 14–16. 116 Dannhauer verweist für diese vorausgesetzte Pflicht aller Glaubenden zum stetigen Wachstum in der Lehre auf eine Vielzahl biblischer Belege, vgl. ebd., 657 f. 117 Ebd., 660, Z. 6–8. 118 Ebd., 671, Z. 31–33. Nicht von jedem Christenmenschen ist die an den höheren Fakul‐ täten erworbene, mit bestimmten Ämtern verbundene und entsprechende spezialisierte

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res werden“ müssten, weist Dannhauer aus diesem Grund strikt zurück. 119 Vielmehr gelte: „Was in die Schule gehört / das gehört auch consequenter auff die Cantzel / als um dero willen zu Dienst die Schule gebauet und gestifftet.“ 120 Der allgemein geteilte Bestand der Katechismuslehre diffe‐ renziert sich bei Dannhauer also entsprechend der gesellschaftlichen Un‐ terschiede aus, ohne dass damit grundsätzliche Unterscheidungen zwischen Klerikern und Laien, Gebildeten und Ungebildeten zu etablieren wären. Er gesteht zu, dass ihre Lebensverhältnisse und ihr Berufsalltag den Menschen unterschiedlich günstige Bedingungen bieten, um sich ernsthaft und unge‐ stört in der Lehre zu vertiefen. 121 Dies bedeute allerdings kein Abrücken von der reformatorischen Forderung, dass alle mündigen Christen in der Stadt und auf dem Land fähig sein müssen, zwischen rechter und falscher Lehre zu unterscheiden. In rhetorischer Absicht fragt er: „Kein Bauer ist leichtlich so plumb / daß er ihm einen messingen oder kupfern Zahl- oder Rechen-Pfennig für einen Goldgülden bezahlen ließ / warum solt er nicht auch den Unterscheid unter wahr und falsch / ja und nein in Religions-Sa‐ chen begreiffen können?“ 122 Im Rahmen seiner Nährmataphorik versteht Dannhauer die didaktische Aufgabe als Portionierung und greift daher zu einer Metapher, die wie die Stillmetaphorik ebenfalls dem Motivfeld ‚Ernährung und Speise‘ zuge‐ ordnet werden kann: das Bild eines Scissors oder Tranchiers. So sei jedem Menschen von Gott eine Arbeit „nach seiner Maaß / Weise / Proportion, Fähigkeit / Vermögen / Alter / Bequemlichkeit“ auferlegt, was auch für

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„Ambtsklugheit“ gefordert, also auch nicht „die vollkommene wissenschaft der heyligen Schrifft / so einem Prediger obligt“ (CM Bd. 1, 225, Z. 18–20). Auch die Umwelt und deren Bedrohungen für die Rechtgläubigkeit spielt hier eine Rolle: „also wird von Ba‐ wren mehr gefordert als von den wilden Leuten in der Barbarey / vom Burger mehr als von Bawren / vom Handwercksgesellen / oder einer Magd zu Straßburg / die sich nicht sollen von unsern Kirchen lassen abwendig machen / wird mehr gefordert / als von dem Gesind auff dem Dorff / von Studenten oder Gelehrten mehr / als von Ungelehrten und Idioten / und so fortan“ (CM Bd. 4, 95, Z. 37–96, Z. 4). CM Bd. 8, 669, Z. 29; 33 f. Das biblische Beispiel des Schächers am Kreuz dürfe, so Dann‐ hauer, gerade nicht in diesem Sinne instrumentalisiert werden. Ebd., 670, Z. 10–12. Vgl. ebd., 691. Vgl. ebd., 671. Ein Junker, der „in geistlicher Gnugsamkeit seinem Bauren will gleich sein“ (ebd., Z. 11f), solle sich auch in allen anderen Dingen mit den Lebensverhältnissen eines Bauern begnügen. Ebd., 718, Z. 36–719, Z. 3. An anderer Stelle konstatiert er spöttisch: „Keine Kunst ist dem Menschen schwer zu lernen / wann sie Geld gibt /aber die einige nothwendige Christen-Kunst / und dero gründliche Erkantnüß Gottes ist dem mehrsten Theil zu hoch und unbegreifflich“ (ebd., 669, Z. 34–670, Z. 2).

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die „Lehr- und Lern-Arbeit“ gelte. 123 Wie „der Mund und die Speise deß Menschen in einer Relation stehen“ müssten, so auch „der Mund des Leh‐ rers / und das Ohr deß Lernenden“. 124 Ein Lehrer der Kirche habe folglich „wie ein Trenchirer der Speisen“ darauf zu achten, dass er „seinen fürge‐ nommenen Text recht tractiere / in gewisse membra förmliche vertheile / doch auch nicht gar zu klein verpitzle und verschnitzle“. 125 Für den rechten Umgang mit einem auszulegenden Bibeltext und die Methode des Lehrens interpretiert Dannhauer daher die Formulierung ὀρϑοτοµοῦντα τὸν λόγον τῆς ἀληϑείας in 2Tim 2,15. Diese Aufgabe, das Wort der Wahrheit recht zu teilen (so Luthers Übersetzung von ὀρϑοτοµεῖν), bedeute: die „Speyß des Göttlichen Wortes recht vorschneyden / daß mans verdawen kan“, also das Gehörte aufgenommen werden und heilsam wirken könne. 126 Dazu müsse man „den Text in seine umbständt recht außtheylen“, statt ihn und seine Sinnzusammenhänge willkürlich zu zerreißen, sowie als zentrale Auf‐ gabe einer theologischen Auslegung insbesondere auch präzise „das Gesetz vom Evangelio underscheyden“. 127 Wer „deutlich / verständlich und or‐ dentlich“ lehren will, müsse also vor allem wissen, „wie man die Speisen orthotomiren / recht theilen / und trenchiren / nach jedes Mund bequemlich einrichten / und wie Butter einstreichen möge“. 128 Mit Blick auf die persönliche Befähigung zur Lehre gelte auch hier: „Hunger ist der beste Koch“ und gerade die eigene „Anfechtung lehret auffs Wort mercken“, womit die persönliche, ja existenzielle Bezugnahme

123 Ebd., 623, Z. 35f; 624, Z. 7. Dannhauer beruft sich dafür auf Luthers Übersetzung von Pred 6,7. 124 Ebd., Z. 7f; Z. 15 f. Dannhauer zieht für diese rechte Zuteilung der Lehre an die Einzelnen neben der einschlägigen Stelle 2Tim 2,15 auch Lk 12,42 heran. 125 Ebd., 624, Z. 36; Z. 39–625, Z. 1. Auf diese didaktische Aufgabe, den „Weisen und Un‐ weisen / Gelehrten und Ungelehrten“ die Lehre in der jeweils angemessenen Proportion auszuteilen, seien außerdem die Unterscheidungen zwischen „ersten Buchstaben und deroselben vollkommenen Complement / vollkommener Erläuterung der heilsamen Grund-Lehren / so dann auch unter der Milch und harten Speise “ (ebd., 625, Z. 1f; 5–7) nach Hebr 5,12–14 zu beziehen. 126 CM Bd. 1, 461, Z. 7 f. Diese schon auf Origenes zurückgehende und den Reformatoren über Erasmus vermittelte Übersetzung entspricht nicht dem heutigen Stand der Philo‐ logie und wird daher in heutigen Bibelübersetzungen nirgends aufgegriffen. Vgl. etwa BSELK, 1248, Z. 5 f.; 1249, Z. 5. Für die Hintergründe dieser Interpretation und ihrer Funktion bei Dannhauer vgl. Danneberg, Deutung, 171–173. 127 CM Bd. 1, 461, Z. 2 f. Letzteres schärft auch Luther im Kommentar seiner Bibelausgabe von 1545 zu 2Tim 2,15 ein. Eine willkürliche Zerteilung kritisiert Dannhauer an der Methode der Ramisten, vgl. CM Bd. 8, 663. 128 Ebd., 662, Z. 36–663, Z. 2.

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des Lehrers auf die Lehrgehalte als Bedingung gelingender Lehrvermittlung angesprochen ist. 129 c) Von der Säuglingsnahrung zum Festgelage Die Leitmetapher des Lehrens als einer angemessenen Portionierung von Speisen wendet Dannhauer auch auf den Lehrstoff der Katechismusunter‐ weisung, dessen innere Gliederung und Aufteilung an. Dabei orientiert er sich ebenfalls an Luther als Vorbild, indem er wie dieser „die Catechismus‐ Lehre in zweyerley Lehren abtheylen“ möchte: einen kleinen und einen großen Katechismus. 130 Deutlich wird hier, was an anderer Stelle bereits zu vermuten war, nämlich: dass Dannhauer mit den Größen des kleinen und des großen Katechismus nicht einfach die im Konkordienbuch enthal‐ tenen Katechismusschriften Luthers meint. Vielmehr sind diese nur eine mögliche, obgleich in vielem vorbildliche Durchführung des zweistufigen katechetischen Lehrprogramms. Der kleine Katechismus habe die grundle‐ gende, elementare und leicht eingängige Milchspeise für die „Kinder und Einfältigen“ zu umfassen. 131, Im großen Katechismus dagegen werde der „reichere und weitere“, „der gründliche / genugsam außgewürckte / geret‐ tete / solidirte und behauptete / bißweilen auch neu und [sic!] eröffnete und erläuterte Sinn und Verstand“ der Glaubensartikel vermittelt. 132 Denn seien auch keine neuen „revelationes und Offenbarungen der Sache nach / in der Christl. Lehr zu hoffen“, gebe es dennoch immer wieder Neuerschlie‐ ßungen dieser Inhalte und nicht zuletzt des Schriftsinnes. 133 Im großen Katechismus sie folglich das im Laufe der Geschichte „erstrittene / erret‐ tete / specificirte / außgewickelte“ Verständnis der christlichen Lehre zur Vermittlung an die Nachwelt aufbewahrt. 134 129 Ebd., 668, Z. 6 f. 130 CM Bd. 8, 625, Z. 35 f. Dannhauer bemüht sich, diese didaktische Entscheidung Luthers auch biblisch herzuleiten. Der neutestamentlichen Unterscheidung von Milch und har‐ ter Speise habe schon in der Urkirche ein Unterschied der Ämter von Katecheten und Propheten entsprochen, der auch für die Alte Kirche belegt sei. Typologisches Vorbild dieser Ämter im Alten Testament sind einerseits die Erzväter, die als Katecheten ihrer Kinder und ihres Gesindes gewirkt hätten, sowie andererseits die israelitischen Prophe‐ ten und Gestalten wie Esra, vgl. ebd., 649 f. Vgl. Bolliger, Methodus, 362–365. 131 CM Bd. 8, 625, Z. 37. Er sollte nach dem Vorbild des lutherischen Kleinen Katechismus den Dekalog als doctrina doctrinarum, das Credo als kondensierte Fassung der historia historiarum, das Vaterunser als oratio orationum sowie die Sakramente als ceremoniae ceremoniarum enthalten, vgl. CM Bd. 8, 626 f. 132 Ebd., 651, Z. 10–13. 133 Ebd., 652, Z. 5–7. In diesem begrenzten Sinn kann Dannhauer durchaus von Neuoffen‐ barungen sprechen. 134 Ebd., 649, Z. 8. Dieser Lehrbestand sei „theils von Alters her / in alten controversien / durch die Zeugnüssen der alten reinen Lehrer / theils (sonderlich in solchen Glau‐

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Deutlich ist, dass auf der Stufe des großen Katechismus neben die persönlich-erbauliche Dimension auch zunehmend eine pole‐ misch-apologetische Dimension der Lehre tritt. Die Unterscheidung zweier Stufen des katechetischen Lehrprogramms bringt also einerseits mit Blick auf die Elementarlehre des kleinen Katechismus die Lehrgenügsamkeit des reformatorischen Satis-Prinzips zur Geltung. Andererseits reflektieren die Entfaltungen des großen Katechismus die Notwendigkeit, auf wechselnde geschichtliche Herausforderungen einzugehen, sowie den Anspruch, die gesamte Wirklichkeit im Lichte des Evangeliums zu erschließen und so die ganze Lebens- und Welterfahrung der Glaubenden in den Raum der Lehre hineinzuziehen. Nicht nur eine spirituelle Elite oder die Amtsträger, sondern möglichst alle Christenmenschen sollen im Laufe ihres Lebens den methodus beider Stufen durchlaufen und so einen mündigen, persönlich verantworteten Glauben entwickeln. Die Elementarlehre des kleinen Katechismus ist für Dannhauer der „neugebohrnen Kinder Gottes ihr erste / gesundeste / und gleichsam an‐ gebohrne Speise“. 135 Sie umfasse „unschwere oder leichte / erläuterte / helle und klare Lehren“, die als „Jünger-Lehren“ und „Kinder-Lehren“ den schweren Lehren und der „Wissenschaft der Meister“ gegenüberge‐ stellt werden. 136 Dennoch müsse er bereits „die gantze Hodosophia, oder Wegweißheit / die Anzeig deß Wegs zum himmlischen Vatterland“, ent‐ halten. 137 Als strukturierender Entwurf christlicher Lebensführung sei er die „Wurtzel der Unsterblichkeit / darauff der Baum deß Glaubens wurt‐ zelt und wächst“. 138 Sein Lehrbestand umfasse „solche Fundamental und Grund-Lehren / die entweder mit außgedruckten Worten in H. Schrifft auffgezeichnet / oder doch aus derselben förmlich gefolget / gesogen und gezogen“ seien. 139 Dannhauer entnimmt den paulinischen Briefen und Pas‐ toralbriefen, dass zu diesem Grundbestand zunächst die Lehre von der

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bens-Sachen / deren Evidenz und Klarheit zun letztern Zeiten sich je mehr und mehr herfürgethan) in neu entstandenen controversiis“ (ebd., Z. 9–12) aus der Schrift ent‐ wickelt und fixiert worden. Manches, was zwar implizit „in H. Schrifft von Anbegin gewesen“ sei, sei erst in einer bestimmten Konstellation „durch neues Nachsinnen wahr‐ genommen / und also gefunden worden / wie eine neue Gold-Ader im alten Bergwerck“ (ebd., 652, Z. 7–9). Ebd., 627, Z. 33–35. Ebd., Z. 14–16. Sie sind „Entwerff / Abriß / Vorschrifft“ und als solche das „Fundament einer Kunst / welches der angehende Schüler und Lehrjunge zuvor recht legen / fassen und begreiffen muß / soll er anders ein Meister und nicht ein Stümpler werden“ (ebd., Z. 18; Z. 20–22). Ebd., 630, Z. 8–10. Ebd., 629, Z. 18 f. Ebd., 630, Z. 1–3.

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Buße, der trinitarische Gottesgedanke, die Tauflehre, die Lehre von der Auferstehung der Toten und dem Endgericht sowie nicht zuletzt nicht zu‐ letzt die Lehre vom „Händeaufflegen deß Ministerii / dadurch die Prediger ordinirt und geweihet werden“, gehören. 140 Ferner sei im Fundament des Glaubens notwendig „die Lehre von der Person / Ampt und Gutthaten Christi / als dem Grund unsers Heyls“ eingeschlossen. 141 Schließlich dürfen auch die ekklesiologische „Lehre von der geistlichen Einigkeit Christi und seines Leibs“ und damit direkt zusammenhängend die Rechtfertigungs‐ lehre nicht fehlen. 142 Deutlich ist, dass mit einem solchen Katechismus‐ programm bereits fast der gesamte Bestand eines dogmatischen Lehrkom‐ pendiums – zwar nicht in allen Verästelungen, aber doch „Muster- und Buchstabsweise“ – umschrieben ist. 143 Die Zubereitung und Verteilung dieser Elementarnahrung durch den Lehrer erfordert für Dannhauer erstens die „Exsuctionem, das rechte Sau‐ gen / Kochen und Zurichten“. 144 Dannhauer vergleicht den Lehrer hier nach altkirchlichen Vorbildern mit einer Biene, die den besten Honig aus den Blüten saugt, sowie mit einer Ziege oder Kuh, die für ihre Milch „aus den gesundesten edelsten Kräutern und Graß den besten Safft herauszie‐

140 Ebd., 629, Z. 27 f. Hinzu kommen weitere Lehren, die als in den Fundamentallehren implizierte, diesen gleichförmige Folgerungen „zum Grund der Christlichen Lehre ge‐ hörig“ und deshalb „im Catechismo mit klaren / hellen / dürren Worten dargelegt / oder virtualiter begriffen und mitzuverstehen“ (ebd., Z. 36–38) seien. Was regelkonform aus wahren Prinzipien ableitbar ist, ist für Dannhauer in diesen virtualiter enthalten. Den biblisch-apostolischen Grundbestand habe auf diese Weise etwa Augustin um die Erbsündenlehre und Luther um den Artikel vom freien Willen ergänzt, vgl. ebd., 630. Selbst diffizile Bestimmungen der altkirchlichen Trinitätslehre gehören für Dannhauer zu dieser Kategorie. Im Hintergrund steht hier die Wissenschaftstheorie J. Zabarellas, vgl. Bolliger, Methodus, 173. Zu Zabarella vgl. auch Schmidt-Biggemann, Topica, 71–81. 141 CM Bd. 8, 630, Z. 19 f. Diese sei der „Kern deß gantzen Catechismi / der im Apo‐ stolischen Glauben dargereicht / in der Tauffe als der Lebensquelle empfangen / im Abendmahl gemehret“ (ebd., Z. 25–27) werde, wobei dieser Glaube in den Zehn Ge‐ boten beispielhafte Werke als seine Früchte vorgezeichnet bekomme. 142 Ebd., 630, Z. 30 f. Einzelne theologische Bekenntnisse seit der Reformationszeit ergänzen diese „hochnothwendige[n] Glaubens-Artickel“ noch um die innerprotestantische Un‐ terscheidungslehre von der „Allgegenwart deß Fleisches Christi“, die Lehre vom Papst als dem Antichrist, die Lehre von der Höllenfahrt Christi sowie die Lehre „von der wahren Gegenwart deß Leibs und Bluts Christi im Heil. Abendmahl / sampt mündlicher Nies‐ sung“ (ebd., 631, Z. 6f; Z. 10f). Dannhauer positioniert sich nicht eindeutig, wie weit er diese Erweiterungen schon auf der Ebene des kleinen Katechismus berücksichtigt wissen will. 143 Ebd., 630, Z. 3 f. 144 Ebd., 631, Z. 15.

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het / denselben concoquiret / verdauet / und in süsse Milch verwandelt“. 145 Diese Arbeit der Extraktion einer Quintessenz (lat. quinta essentia) des Lehrstoffs habe Luther seinen Nachfolgern allerdings weitgehend abge‐ nommen. 146 Hinzu trete zweitens „das Darbieten / der Fürtrag / und gleichsam der Einguß der Worte“, wobei Luthers Ermahnung, sich auf einen verlässlichen Wortlaut der entsprechenden Stücke festzulegen, unbedingt zu beachten sei. 147 Als drittes habe eine „einfältige / gemeine popularische Eröffnung und Entwerffung des safftigen Sinnes und Verstandes der Warheit“ zu folgen. 148 Bereits hier komme es auch auf prüfende Rückfragen an die Hörer und Wiederholungen an. Viertens sei „das Erklären / fürmahlen / erläuteren und erleichteren“ (lat illustratio) des Lernstoffes sowie zugleich dessen „genehm und süß machen / instilliren / gleichwie die Kinder-Brey oder Butter mit Fingern einstreichen“ erforderlich. 149 Zu untermauern sei die Lehre fünftens mittels belastbarer Schriftbeweise, wozu „gewisse und außerlesene / klare und kurtze Kern- und Machtsprü‐ che“ heranzuziehen und zur besseren Gedächtnisstütze durch „außerlesene Psalmen“ zu ergänzen seien. 150 Sechstens habe immer auch die „Anzeig des Unterscheids der Schaf- und Wolffs-Milch“, also eine Aufdeckung und Zurückweisung verbreiteter Irr‐ lehren zu erfolgen. 151

145 Ebd., Z. 18–20. Auch die Stillmetapher wird in diesem Zusammenhang erneut aufgegrif‐ fen. 146 Vgl. ebd. Vgl. auch ebd., 611; 656. 147 CM Bd. 8, 631, Z. 27 f. 148 Ebd., 632, Z. 2-44. 149 Ebd., 633, Z. 30–33. Der Lehrer solle dabei gerade hinsichtlich der Bildhaftigkeit und rhetorischen Vielfalt dem biblischen Vorbild des Mose, Salomos, der Propheten, Christi und allgemein der biblischen Erzählungen folgen, vgl. ebd., 634 f. Zur Befestigung dienen könnten bereits auf dieser Stufe auch „leichte und vernehmliche Consequenzen“ (ebd., 635, Z. 6), also Schlussketten, die der aristotelischen Logik folgen. 150 Ebd., Z. 20 f. Dannhauer denkt mit Luther etwa an den Ps 112, welcher für ihn eine „Summa eines Christlichen Lebens“ (ebd., Z. 24) beinhaltet. Für eine eigene Predigt allein zur Bedeutung der Psalmen in der Unterweisung und der Notwendigkeit ihrer konsequent christologischen Deutung vgl. ebd., 740–753. 151 Ebd., 635, Z. 28 f. Diese bedrohe die reine Lehrvermittlung etwa in Gestalt des Cate‐ chismus Romanus, der jesutischen Kathechismen von Petrus Canisius, des Heidelberger Katechismus oder der sozzinianischen Lehrschriften Krysztof Ostorodts, die auf trügeri‐ sche Weise mit ihren Titeln eine Wesensverwandtschaft mit den lutherischen Katechis‐ men behaupten.

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Übergreifendes Ziel dieses katechetischen Grundprogramms sei, dass jeder Christenmensch „recht satt / gründlich / klüglich und bescheident‐ lich“ über seinen Glauben und dessen Grund „Rede und Antwort geben“ könne. 152 Daher müsse die Aneignung der Lehren siebtens und zuletzt durch die Katechese (griech. ϰατήχησις) im engeren Sinne, also „das Ver‐ hören / auff- und vorsagen / wiederholen / forschen deß Grunds der Hoff‐ nung“, gründlich examiniert und überprüft werden. 153 Auch Christus und die Apostel als „hohe Lehrer und grosse Liechter“ seien sich schließlich nicht zu schade gewesen, sich in ihren Lehrgesprächen zur „Catecheti‐ schen Unterweisung der Einfältigen“ herabzulassen und den Verstand ih‐ rer Worte gewissenhaft durch prüfende Rückfragen sicherzustellen. 154 Die Vermittlung und Befestigung einer solchen Elementarlehre soll für Dann‐ hauer immer schon dem Ziel einer theologisch-polemischen ‚Generalmo‐ bilmachung‘ angesichts der ständigen Bedrohungen durch Irrlehren und besonderer Glaubensverfolgungen der Endzeit dienen. Aber wie bereits in seinen Eingangspredigten eingeschärft, kann die Christenheit bei einer sol‐ chen Grundunterweisung in der Lehre keinesfalls stehen bleiben. Auch der große Katechismus als die feste und nahrhafte Speise der in der Lehre bereits Fortgeschrittenen ist für Dannhauer nicht „allein den Lehrern und Gelehrten anbefohlen“. 155 Diese schwerere Speise solle alle Glaubenden zur Stärkung ihrer Hoffnung und ihrer Ausdauer im christlichen Leben, zur Warnung vor schädlicher Irrlehre sowie als Trost in der Anfechtung dienen, solange sie noch im irdischen „Reich der Gnaden leben und schwe‐ ben“ müssen. 156 Wer ein guter Gastgeber sein will, dürfe seinen Gästen keinesfalls die besonders nahrhaften Speisen vorenthalten. Zudem lehre die Vernunft, dass der Mensch „nicht immer bey der Milch hangen / sondern bey harter Arbeit härtere Speisen geniessen“ müsse. 157 Deshalb beschwört Dannhauer die Lehrer und Prediger nahezu: „Derowegen so bringet her / richtet zu / traget auff ihr Diener deß grossen Königs / starcke / safftige / gesunde / wolgewürtzte / nicht abgeschmackte / rohe und mit wüsten Brühen besudelte Speisen [...] / machet leicht / was schwer zu verstehen / klar / was dunckel ist / und laßt die starcke Speise gleichsam in Milch zerfliessen“. 158 152 Ebd., Z. 3–5. 153 Ebd., 636, Z. 7 f. 154 Ebd., 639, Z. 13–15. Christi Vorbild belegt für Dannhauer nicht zuletzt, dass hier auch „sonderbare Lehrkünste“ wie „erlaubte / lehrhaffte / nützliche / wolgemeinte Verführun‐ gen“ (ebd., 363, Z. 27f), Vertauschungen der Worte und irritierende Rückfragen zulässig sind. 155 Ebd., 659, Z. 37. 156 Ebd., 660, Z. 9 f. 157 Ebd., 661, Z. 24. 158 Ebd., 662, Z. 27–31.

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Jede „saumselige Omission und Unterlassung“ in diesem Zusammenhang ziehe unvermeidlich „unwiderbringlichen Seelenschaden“ nach sich – ver‐ ursacht durch Irrlehren und abergläubische Vorstellungen, wie sie von den Reformatoren beseitigten Traditionen der Papstkirche zugrunde lagen. 159 Womit aber bekommen es die Glaubenden im großen Katechismus zu tun? Dessen Lehre sei eine „nützliche und gründliche Erklärung deß klei‐ nen Catechismi“ für Lehrer und Zuhörer, „wie die Hauptstücke unserer wahren Religion außzulegen und zu verstehen seyn / in der seligmachen‐ den Erkäntnüß Gottes“. 160 Es handelt sich keinesfalls um eine inhaltliche Erweiterung des elementaren Lehrbestandes, da – wie Dannhauer in auf‐ fälliger Durchbrechung der Bildebene festhält – „Milch und starcke Speise in der Substantz eines seyen“. 161 Auf Augustin beruft sich Dannhauer für die Erkenntnis, dass „ein jeder Artickel des Glaubens zugleich die Milch und starcke Speise“ sei, somit zugleich „eine Milch den Jüngern / die es bloß glauben“ und „eine starcke Speise den Alten und mehrfähigen / die es auch verstehen sollen“ beinhalte. 162 Immer wieder und nachdrücklich weist Dannhauer daher Überlegungen zurück, dass bestimmte Lehren nicht auf die Kanzel, sondern nur in die theologischen Hohen Schulen gehören. Stattdessen ersehnt er einen „Vollmond der Catechetischen Lehr“, durch den „die Wort in der Außlegung recht möchten allen Kirchen-Kindern eingebildet werden“, so dass ihnen allen die Fülle der Lehre als Quelle ihrer Herzensfreude und Gotteserkenntnis erschlossen werde. 163 So wie bei der natürlichen Verdauung „in dem menschlichen Leibe / die zarte fliessende Milch in hartes / dickes und sattes Fleisch verwandelt“ werde, sei auch die starke Speise des großen Katechismus Ergebnis eines Umwandlungsprozesses, welcher wiederum die Hörer zum „Wachsthumb 159 Ebd, 660, Z. 31 f. Dazu gehören „opus operatum, superstitiones, supererogationes, und aus Flucht der schweren Lehren / schwere Gesetz-Bürden / Gelübden / Wallfahrten etc.“ (ebd., Z. 34-36). In der Vermeidung eines solchen Rückfalls sieht Dannhauer das treibende Prinzip hinter der Lehrentwicklung von den altkirchlichen Bekenntnissen bis hin zu den lutherischen Bekenntnisschriften des Konkordienbuchs, weshalb „auch die Christliche Kirche bewogen worden / den einfältigen Catechismum immer mit neuen Confessionibus, Symbolis und zuläßlichen / schrifftmässigen Zusätzen zu vermehren“ (ebd., 661, Z. 7-10). Gegen diese Klärung der Lehrgestalt arbeite zu allen Zeiten der „Syncretische Geist“, der seit jeher vornehmlich „im trüben gefischt“ (ebd., Z. 13f) habe. Zur Auseinandersetzung mit der als Synkretismus bezeichneten Gegenposition siehe unten, 257. 160 Ebd., 646, Z. 15–19. Dannhauer verweist für diese Bestimmung auf die Straßburger Kir‐ chenordnung. 161 Ebd., 647, Z. 27 f. Hier gelte der Grundsatz: „ὀυϰ αλλα sed ἀλλοῖα“ (ebd.). Vgl. auch Bolliger, Methodus, 312 f. 162 Ebd., 691, Z. 6–9. Dannhauer verweist hier auf Augustins Johannesauslegung. 163 Ebd., 645, Z. 25–27. Vgl. ebd., 645f; 691 u.ö.

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der Christlichen Lehre“ nähre. 164 In einem recht drastischen Bild fordert Dannhauer: Der Lehrer müsse nach dem Beispiel des Propheten Ezechiel und des Sehers Johannes „selbst zuvor die Speise essen / verdauen / und sei‐ nen Gästen vorkauen in brünstiger Andacht / durch Gebet / meditation und Anfechtungen / wol vorkochen“ 165 Dabei schmecke die Speise zunächst nach Honig, doch „es werde im Bauch grimmen“ und „ohne Arbeit und Anfechtung nicht abgehen / Schmerzen / Ach und Weh verursachen“. 166 Komplementär zur Kochtätigkeit der „Speißmeister und Lehrer“ sind für Dannhauer allerdings auch die Zuhörer verpflichtet, die zubereiteten Lehrspeisen „mit heiß-hungerigem Mund deß Glaubens zu essen (bloß Anschauen sättiget nicht) / in Safft und Blut zu verwandeln / frische Le‐ bensgeister gebähren / und völlig zu genießen“. 167 Ihr Wachstum in der Lehre bleibt – so im Anschluss an Luther – das ganze Erdenleben lang un‐ abgeschlossen: „Das beste wird in die höchste himlische Schul versparet / da wir das διότι [deshalb] erfahren werden / über das ὅτι [dass], damit wir uns in der untern Schule begnügen müssen“ 168 Die Pflicht zur vertiefenden Aneignung ende folglich auch nicht mit dem Übergang zur festen Speise des großen Katechismus, sondern der „Liecht- und Lehrdurst / gleichwie auch Liebe und Tugendbegierde“ sollen „in dieser Welt kein Ende nehmen“. 169 In diesem Fall sei Genügsamkeit (griech. ἀυτάρϰεια) eine nur vorgescho‐ bene Tugend, weil der Mensch seinem Glaubenswachstum willkürlich eine Grenze setze, während er doch hinsichtlich der zeitlichen Güter kein Maß anzuerkennen bereit sei. Dannhauer gibt dagegen die Parole einer regel‐ recht unersättlichen Mästung (lat. sagina) mit der Lehre aus: „Im Zeitlichen laßt uns genugsam seyn / in Himmlischen Sachen laßt uns truncken und voll werden deß H. Geistes“. 170 Das Festbankett wird zum Gelage.

164 Ebd., 648, Z. 1f; Z. 5. 165 Ebd., 654, Z. 17–19. Vgl. Ez 2,8–3,3. 166 Ebd., Z. 22–24. Vgl. Offb 10,9 f. Es kenne „niemand recht [...] Davids Sinn, er habe denn Davids Anfechtung erfahren“ (ebd., 697, Z. 31f). Für diese notwendige Bedingung persönlicher Anfechtung beruft sich Dannhauer auf Luther und ein als bekannt voraus‐ gesetztes Diktum: „Davidica non intelligit, qui Davidica non est expertus“ (ebd., Z. 30f). Im Hintergrund dürften Äußerungen wie die auf dem von Johannes Aurifaber als Ver‐ mächtnis Luthers stilisierten Zettel in WA 48, 241f stehen. Allgemein gilt für Dannhauer: Wer recht kochen lernen will, „der lerne es Luthero ab / und lese solche seine Exegetica fleissig / es wird ihn nimmer reuen“ (ebd., 659, Z. 34f). 167 Ebd., 667, Z. 9–12. 168 Ebd., 659, Z. 5–7. 169 Ebd., 667, Z. 19 f. Vgl. Ps 1,2; Jes 55,1 f.. 170 Ebd., Z. 23–25. Man nehme allerdings, wie Dannhauer einräumt, nicht schon „durch grosse Menge derselben / sondern durch erleuchtete Verständnüß“ (ebd., 648, Z. 33) im Glauben zu.

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Über dem unabschließbaren Prozess der Aneignung und Durchdrin‐ gung der Lehre ist somit wie über dem Lebensweg des irdischen Pilgers allgemein ein eschatologischer Horizont ausgespannt. Wer nicht bereits hier im irdischen Leben, „im Gymnasio und untern Schule das Fundament wol gelegt“ habe, der könne auch im anderen Leben in der „Academi und Hohenschule“ nicht bestehen. 171 Das Fundament des ewigen Heils werde durch persönliche Aneignung und Verstehen der Katechismuslehren ge‐ legt, nicht schon mit dem „blossen gemeinen rohen Wortlaut“ einzelner Lehrsätze und einem „dunkeln Catechismo“, der papageienhaft nachge‐ plappert sei. 172 Um dem entgegenzuwirken, wäre für Dannhauer daher die Institution eines regelmäßigen Katechismusverhörs der Gemeindeglieder mit Fragen und Antworten wünschenswert, das diese hinsichtlich der ge‐ predigten Lehrgehalte examiniert – und zwar „alsobald / da die Predigt noch in frischem Gedächtnüß geblieben“. 173 Zumindest aber müsse die „Sonn- und Feyr-tägliche Zeit“ allein für „Ubung und Wachsthum deß Glaubens“ reserviert bleiben, wofür alle Glaubenden in die Pflicht genom‐ men werden. 174 Die Lehre des Katechismus fasst bei Dannhauer nicht nur heilsentscheidendes Wissen zusammen, sondern sorgt vielmehr als lebens‐ notwendige Zufuhr von geistlichen Nährstoffen für ein gesundes und ste‐ tiges Wachsen im Glauben – unabschließbar bis zur himmlischen Vollen‐ dung. d) Die Speisekammer und der Augenschmaus des göttlichen Worts Den beiden Predigten über die Katechismen lässt Dannhauer eine Predigt über das „Lehren und Erklären deß Göttlichen Worts“ folgen. 175 Denn wenn man seinen Gästen die starke Speise „bereiten und zurichten“ wolle, müsse man zuvor selbst intensiv „in der geistlichen Speiß-Kammer deß Göttlichen Worts forschen“, also die biblischen Schriften intensiv studie‐

171 Ebd., 670, Z. 27 f. Der Schächer am Kreuz als Ausnahme von der Regel dürfe gerade nicht herangezogen werden, um eine allgemeine Regel zu begründen. Andernfalls wären die Lehre des Katechismus in den Schulen sowie das Studium der Theologie gänzlich verzichtbar, was Dannhauer als absurde Konsequenz betrachtet, vgl. ebd., 671. 172 Ebd., 670, Z. 32–35. 173 Ebd., 664, Z. 8 f. Angesichts eines solchen Examens würde jeder Zuhörer schon aus „Furcht / es möge der Reyen an ihn kommen / mit wachsamen Ohren auffmercken“ (ebd., Z. 10f). Johannes Chrysostomos habe eine solche vorbildliche Praxis gepflegt, die letztlich auf Johannes den Täufer zurückgehe. 174 Ebd., 669, Z. 23–25. 175 Ebd., 674, Z. 35 f. Die Auslegung der Schrift verhalte sich so zum großen Katechismus, dass die Erklärung des Schriftsinnes „in die Starcke Speise hinein fleußt / und diese von jener kommt“ (ebd., Z. 36f).

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ren. 176 Beim eigenständigen Umgang mit der Schrift handelt es sich zudem um eine weitere Stufe des Wachstums in der Lehre, wie es durch das kate‐ chetische Programm für alle Glaubenden ermöglicht und befördert werden soll. Diese dritte Stufe liegt nun – im Anschluss an die biblische Unterschei‐ dung von 1Kor 12,28 – nicht mehr in der Hand der Katecheten, sondern der Propheten. Für Dannhauer können all jene als wahre Propheten gelten, die die al‐ ten Sprachen beherrschen und daher auch eigenständig imstande sind, „die Schrift außzulegen und zu handeln / für sich hin und zu streiten wider die irrigen Einführer der Schrifft“. 177 Für Dannhauer fallen also Prophetie und Schriftgelehrsamkeit in der gegenwärtigen Epoche der Heilsgeschichte zu‐ sammen, wobei ein polemisches Vorzeichen dieses Amtes hinzutritt. Denn Weissagung und Prophetie meine nicht nur, „zukünfftige Sachen aus Gött‐ licher unfehlbarer Offenbarung von Christo / seinem Reich und desselben fatu“ mitzuteilen, sondern vor allem: die Heilige Schrift als den προφεϑιϰὸς λόγος schlechthin „nach der Glaubens-Regul außlegen“. 178 Auslegend zu erklären sind dabei „die H. Schrifft und deroselben Sinn / den Buchstaben und dessen Verstand“, wobei sich beides zueinander verhalte wie Scheide und Messer, Schale und Kern, Bein und Mark, Ring und Edelstein oder Leib und Seele. 179 Den Buchstaben der Schrift müsse die „Version und Dolmetschung der Wort“ erschließen, damit anschließend die möglichst „Spiegel-klare und gleiche Deutung desselben“ den Sinn und Verstand der Buchstaben offenlegen könne. 180 Die prophetischen Ausleger dürfen sich keinesfalls als „Herrschere über den Glauben“ aufspielen, sondern müssen sich als „Lehrmeister und Lehrer“ dem im Buchstaben der Schrift wirksa‐ men „Geist der Propheten“ unterordnen. 181 Eine gute Auslegung könne für

176 Ebd., 653, Z. 19; Z. 25 f. Dannhauer vergleicht den Ausleger der Schrift auch mit dem Goldsucher „in einer reichen / unerschöpfflichen Goldgrube“ oder einem „Liebhaber der Gemählden“, welcher sich „nicht begnüget mit der blosen Augenweide / sondern fer‐ ner auff den Geist / Kunst und Qualität deß Gemähldes mercket“ (ebd., Z. 26f; Z. 34–36). 177 Ebd., 676, Z. 4 f. Die prophetischen Ausleger stehen in einer Tradition, die von Mose über die Propheten und Esra als den archetypischen Schriftgelehrten bis zu den Aposteln Petrus, Philippus, Prisca und Aquila und schließlich Paulus reicht. Zur neuen Entzün‐ dung des prophetischen Lichtes durch Luther und die Reformation vgl. ebd., 690 f. 178 Ebd., 675, Z. 25–27; Z. 31. 179 Ebd., 677, Z. 20 f. Diese Vergleiche scheinen nicht gänzlich austauschbar zu sein, son‐ dern vielmehr scheint es, dass die barocke Reihung der Metaphern die irreführenden Konnotationen der einzelnen Bilder ausmitteln soll. 180 Ebd., Z. 25 f. 181 Ebd., 689, Z. 5–7. Man solle in Auslegung und Anwendung „die Lehren nicht zwingen und mit Haaren herzu ziehen“, sondern diese organisch „auß dem Text fliessen lassen“ (CM Bd. 1, 461, Z. 6f).

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andere „die Nuß recht auffthun / unnd den Lehr und Trostkern / den rech‐ ten verstand herauß nehmen und fürlegen“. 182 Die Lehrtätigkeit als Schrift‐ auslegung zielt darauf, den Buchstaben des Textes in einer solchen Weise wirksam werden zu lassen, dass sich Erkenntnis und Gewissenstrost ein‐ stellen. Weil dies nur durch die Gabe des Geistes geschehen kann, schärft Dannhauer wiederholt die Bedeutung des Gebets ein. 183 Streng kritisiert Dannhauer dagegen eine ungeistliche Auslegungspraxis, die sich allein auf den buchstäblichen Wortlaut der Schrift zurückziehe, also nicht „tieff in den Verstand der Schrifft hinein grabe und grübele“, sondern nur auf oberflächliche Weise „ein gantzen farraginem Biblischer Sprüche kettenweise aneinander“ hänge. 184 Die „tieffsinnige Auslegung“ sei wich‐ tiger als die Frage, welcher Prediger „die meisten Esel-Ohren“ in seiner Bibel habe. 185 Die angemessene Haltung zum Bibeltext vergleicht Dann‐ hauer mit dem betrachtenden Verhältnis zu einem Kunstwerk. Der Leser solle einem „Liebhaber der Gemählde“ gleichen, der sich „nicht begnü‐ gen läßt mit der blosen Augenweide“, sondern die Aufmerksamkeit seiner Gedanken „auff den Geist / Kunst und Art der Gemählde“ richte. 186 Die Bewegung schreite dabei vom Aufmerken (griech. ὐπονοείτω) zum metho‐ dischen Bedenken (griech. διανοείτω) voran. Im tiefen Bedenken könnten – auch durch „gute und bewährte Consequentzen“, also Vernunftschlüsse – viele „heilsame Lehren und Lebens-Früchte heraus gezogen / und gleichsam aus den Brüsten gemelcket werden“. 187 Vor dieser Speise, dem „köstliche[n] Manna und Himmel-Brod“, solle es niemandem ekeln, der das „himmlische Abendmahl“ zu schmecken begehrt. 188 Die Verhältnis soll somit nicht das

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Ebd., 461, Z. 5 f. Vgl. ebd.; vgl. CM Bd. 8, 689; 698 f. CM Bd. 8, 691, Z. 17–20. Ebd., Z. 20. Dannhauer bezieht sich hier auf einen zeitlich oder örtlich nicht näher bestimmten Predigerwettstreit, in dem anhand von Eselsohren in den Psalmbüchern gezählt wurde, welcher Prediger wie viele Schriftbelege heranzieht. Diese Art des Schrift‐ umgangs sei das Ergebnis, wenn „Bruder Ruff der Widertäuffer / Meister Michel der Weber“ oder ein „barbarischer Moscowiter“ (ebd., 692, Z. 9–11) predigen, die besten‐ falls ihr gutes Gedächtnis, aber keine der Schrift angemessene Methodik zur Verfügung haben. 186 Ebd., 693, Z. 21–23. Vgl. auch ebd., 653. Lieber solle man einem Text mehrere Predigten widmen, als ihn „überloffen oder übersudelt“ (ebd., 655, Z. 30) in einer Predigt durch‐ zupeitschen. Dannhauer selbst hat dies beherzigt – so hat er eine Predigtreihe von 22 zusammenhängenden Predigten nur über die alttestamentliche Perikope 2Kön 6,8–23 sowie 34 Predigten über Ps 19 gehalten. Für einen Überblick über das publizierte Pre‐ digtwerk Dannhauers vgl. Horning, Universitäts-Professor, 67–78. 187 CM Bd. 8, 693, Z. 25f; Z. 29 f. 188 Ebd., Z. 31–33.

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einer oberflächlichen Betrachtung bleiben, sondern methodisch zur Auf‐ nahme der Lehre als geistlicher Nahrung voranschreiten. Den gesamten Prozess der Erkenntnisvertiefung, der mit den verschie‐ denen Stufen des Lehrprozesses durchlaufen wird, vergleicht Dannhauer sodann auch mit dem Malen eines Porträts. Zunächst müsse mit dem kleinen Katechismus „das Bildnüß mit Bleyweiß deliniirt / gerissen und entworffen“ werden, um dann in einem zweiten Schritt „mit Farben illu‐ minirt / besehen und eigentlich zurecht gemacht“ zu werden. 189 Dabei sei der „eigentliche Character, Geist und lebendige Darstellung einem sinn und kunstreichen Mahler überlassen“, womit ausdrücklich ein kreatives Ele‐ ment in der didaktischen Aufbereitung des katechetischen Materials und seiner Vermittlung anerkannt ist. 190 Auch der große Katechismus verbleibe in den Linien dieser Entwurfsskizze, doch sei die Lehre hier noch einmal „distinctius, eigentlicher und schärffer fürgetragen“. 191 Der Weg zur Voll‐ kommenheit in der Lehre sei daher graduell und immer „Staffelweiß zu gehen / von einer Klarheit zu der andern“. 192 Dannhauer hält mit Blick auf die Lehrentwicklung fest, dass das Ganze der christlichen Lehre in der wahren Kirche und ihren Lehrbekenntnissen zwar jeweils „pro tempore vollkömmlich und gnugsam gedeutet und erläutert worden“ sei, aber an‐ gesichts neuer Kontroversen immer neue Klärungen und Schärfungen des Bildes vorzunehmen sind. 193 Der theologisch gebildete Prediger und Leh‐ rer ist direkter Nachfolger der biblischen Propheten, indem er anhand der im Urtext gelesenen, methodisch erschlossenen und geistlich ausgelegten Schrift den Weg zum Himmelreich weist. Er figuriert in einer Doppelrolle: sowohl als genauer Betrachter des göttlichen Selbstporträts – Christus als Zentrum eines ganzen Panoramas biblischer Typologien –, als auch als in begrenztem Maße kreativer Porträtkünstler, der die Züge Christi seinen Zuhörern je länger je deutlicher konturiert, coloriert und so einbildet.

189 Ebd., 648, Z. 37–39. Dannhauer vergleicht diesen zweigestuften Prozess der Illumination auch mit der Heilung des Blinden in Mk 8,24. 190 Ebd., 648, Z. 39 f. 191 Ebd., 649, Z. 6 f. Die starke Speise zeichne sich für die, die sie vertragen, durch ihre höhere Genauigkeit (griech. ἀϰρίβεια) und noch einmal festere Gewissheit (griech. ἀσφάλεια) aus, vgl. ebd., 648. 192 Ebd., 649, Z. 4 f. Vgl. für diese zentrale Formel auch ebd., 667; 723. 193 Ebd., 649, Z. 19 f.

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4.1.3 Die Lehr- und Nährinstitutionen des Gottesvolks Der Katechismusunterricht ist für Dannhauer als Glaubensunterweisung und Einübung in die Lehre entscheidend und grundlegend, weil ohne ihn auch „die Predigten nicht wol können verstanden werden“. 194 Um die got‐ tesdienstliche Verkündigung gruppieren sich verschiedene Lehrinstitutio‐ nen. Insbesondere die Unterweisung im kleinen Katechismus sei „ein vä‐ terliches Ampt“ und verpflichte daher jeden, der „in der Schrifft den Vaters Namen hat“. 195 Offensichtlich bezieht sich das wie bei Luther zunächst auf die häusli‐ che Katechismusunterweisung durch die Eltern, doch über die Brücke eines im strengen Sinne patriarchalen Gesellschaftsverständnisses verteilt Dann‐ hauer die Verantwortung für die Katechismuslehre auf weitere Schultern. Schon in der Bibel – so Dannhauer – hätten nämlich „nicht nur Priester und Leviten / sondern auch Könige und Fürsten“ für die Vermittlung der Lehre Verantwortung getragen, indem sie „Kirchen-Visitation und Cate‐ chismus-Examine“ veranstaltet haben. 196 Es liege außerdem viel an „guten Schulen und tüchtigen Schulmeistern“ und „daß dieselbe wol bestellt / salarirt und angeordnet werden“. 197 Die Lehrer an den Schulen müssten gewissenhaft ihres Amtes walten, damit nicht – in einem Wortspiel mit dem Namen seiner Konfession – ein „wildes / barbarisches / bestialisches / luderthummisch Leben“ die Folge sei. 198 Der weltlichen Obrigkeit und der Schule ordnet Dannhauer zur Veranschaulichung ihrer Bedeutung für die Weitergabe der Lehre ebenfalls Metaphern zu, die auf ihrer Bildebene dem sog. ‚Nährstand‘ zuzuordnen sind. 199 So kann er die gemeinsame Hinord‐ nung dieser Institutionen auf das lebens- und heilsnotwendige, durch den Zufuhr rechter Lehre angestoßene Glaubenswachstum der Einzelnen an‐ schaulich zum Ausdruck bringen.

194 CM Bd. 8, 662, Z. 26. 195 CM Bd. 8, 639, Z. 36; Z. 39–640, Z. 1. Diesem Vateramt entspreche komplementär die Pflicht der „Christen-Kinder und Schüler solcher väterlichen Treu und Sorgfalt sich gehorsamlich zu fügen und geflissen zu sein“ (ebd., 642, Z. 34–36), also die Forderung des vierten Gebots. 196 Ebd., 640, Z. 15–17. Dannhauer verweist insbesondere auf 2Chr 17,8 f. An diese Praxis habe die Kursächsische Visitationspraxis angeknüpft, aus der wiederum Luthers Kate‐ chismen erwachsen seien. 197 Ebd., 641, Z. 3 f. 198 Ebd., 643, Z. 11 f. 199 Zur zugrundeliegenden Vorstellung einer in drei Stände gegliederter Gesellschaft sowie deren ekklesiologischer Grundlage vgl. Anselm, Ekklesiologie, 171–231. Vgl. auch He‐ ckel, Staat, 139–163.

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a) Der Ammendienst der Obrigkeit Wenn Dannhauer die Aufgabe der Obrigkeit hinsichtlich der „Kir‐ chen-Pfleg / belangend die Religion und Gottesdienst“ behandelt, ver‐ gleicht er diese mit einer Amme bzw. Säugamme. 200 Wie die Tochter des Pharaos das Mosekind finde die Obrigkeit ihre Untertanen als „arme Wäy‐ sen / verfluchte Adams-Kinder / und verirrete Schaaf“ vor. 201 Das „erste und fürnehmste Stuck“ ihrer Regierungspflicht bestehe darin, sich um die „Verschaffung der geistlichen Seelen-Speiß“ (lat. nuntricatus procuratio) für ihre Untertanen zu kümmern. 202 Am Jüngsten Tage werden daher „nicht nur die Geistlichen / sondern auch die weltlichen Seelsorger zur Rede gestellt werden“, ob sie ihrer Verpflichtung für die Lehre nachgekommen seien. 203 Hinzuweisen ist auf die hier und an anderen Stellen implizierte Vorstellung, dass über die Lehre und deren Ordnung im Endgericht Re‐ chenschaft abzulegen ist. An dem „geistlichen Säug-Ampt“ hinsichtlich ihrer Untertanen hängt für Dannhauer jede über den bloßen Gehorsam hinaus geschuldete Ach‐ tung der Obrigkeit. 204 Zu einer guten Regierungsführung, „damit sich die Obrigkeit um ihre Unterthanen verdient und beliebt macht“, gehöre folglich auch die Ordnung der schulischen kirchlichen Institutionen, also „Schulen Universitäten und Gymnasien stiften / und die gestiffte erhalten“ ebenso wie „die ober Kirchen-pflege / Seel-sorge / und Beförderung der reinen seligmachenden Religion“. 205 Aus dieser Aufsichts- und Ordnungs‐ aufgabe erwachse aber keine geistliche Sonderstellung oder das Recht auf Schonung, denn was das „Predigen / Sacrament reichen / absolviren und in Bann thun“ betreffe, seien nach Dannhauer auch die Vertreter der Ob‐ rigkeit nur einfache „Zuhörer und Schafe Christi“, ja „anders nicht als ein armes / verirrtes Heyl- und Trost-hungeriges Schäflein zu halten und zu weiden“. 206 Dannhauer ist wichtig, dass eine christliche Obrigkeit sich keinesfalls auf die bloße Gewährleistung von Recht, Frieden und Ordnung zurückziehen 200 CM Bd. 3, 152, Z. 28 f. Für die biblische Rückbindung dieser Metaphorik verschränkt er die Verheißung in Jes 49,23 („Und die Könige sollen deine [=Zions] Pfleger / und jre Fürsten deine Seugammen sein ...“, so die Lutherübersetzung von 1545) mit der Toch‐ ter des Pharao in Ex 2,5–10, welche das Mosekind umgehend seiner Mutter als Amme übergeben habe, vgl. ebd., 152 f. 201 Ebd., 153, Z. 21 f. 202 Ebd., 158, Z. 36. 203 Ebd., 156, Z. 26 f. 204 Ebd., 154, Z. 10. 205 Ebd., Z. 7f; Z. 16 f. 206 Ebd., Z. 23–26; Z. 31 f.

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darf. Es sei ein großes Übel, wenn die Obrigkeit „in der Religion lasset fünff grad sein“ und insbesondere in Lehrfragen neutral bleiben wolle. 207 Nicht angemessen sei einer christlichen Obrigkeit allerdings auch die bloße „Execution dessen / was die Clerisey decerniert, gut erachtet und befihlet“, wodurch sie zum „Scharff- und Nachrichter“ des Klerus degradiert wäre. 208 Stattdessen sei der Obrigkeit eine spezifische und unverzichtbare „Sorg und Pfleg“ übertragen, welche im geordneten Zusammenspiel mit der Geist‐ lichkeit auch die ‚gemischten‘ Angelegenheiten (lat. negotia mixta) der äußerlichen Kirchenordnung umfasse. 209 Die Obrigkeit habe die äußeren Bedingungen für kirchliche Lehre zu schaffen und auch aktiv daran mitzu‐ wirken, Lehrstreitigkeiten zu entscheiden. Hinsichtlich der Obrigkeit und ihrer Stellung zur Religion ihrer Unter‐ tanen gilt für Dannhauer daher in besonderer Weise, dass die „All-Religion und Kein Religion“ derer zu verurteilen ist, die „keiner gewissen Religion beypflichten“ wollen. 210 Scharf kritisiert er alle politisch taktierenden Zeit‐ genossen, denen „ein religion wie die ander“ gilt und die sich damit jenseits der Konfessionsgräben platzieren wollen, also: „unsere Syncretisten und unzeitige Friedensschmidt / die under dem schein deß Religionsfriden an‐ ders nichts als libertinismum und ein abschewliches chaos aller Religionen mit vollen Seglen einführen“ wollten. 211 Nur ganz „lawe und kaltsinnig Christen“, könnten zu der Ansicht gelangen: „Lutherisch und Calvinisch / sey im grund eins / daß ubrige sey nur ein vergeblich Schulgezenck“. 212 Diese „kaltsinnigkeit der Religion / wann man mit Lehr und Glawbenssa‐ chen / ja in allen ubungen des Gottesdiensts law / schlecht / ohndächtig [=gedankenlos, d. Verf.] umdgeht“, sei der „allersubtilste und fast unmerck‐ same Atheismus“ – und leider insbesondere im Luthertum weit verbrei‐ tet. 213 Folglich weist Dannhauer die Meinung streng zurück, dass im po‐

207 Ebd., 164, Z. 18. Vgl. Apg 18,12. 208 Ebd., 154, Z. 32-34; 155, Z. 3. 209 Ebd., Z. 4. Eine biblische Begründung findet Dannhauer dafür in Dtn 17,18 in Kombi‐ nation mit 1Tim 2,1–4. Diese religiöse Aufgabe sei auch in den biblischen Königstiteln wie Gott/Gottessohn, Haupt, Hirte, Väter des Vaterlands etc. impliziert und ihre Er‐ füllung dem Vorbild der guten Könige Israels/Judas sowie Beispielen aus der älteren (Konstantin der Große) und jüngeren (Ferdinand I.) Kirchengeschichte abzulesen, vgl. ebd., 155–157. 210 CM Bd. 1, 133, Z. 2 f. 211 Ebd., Z. 4f; Z. 7–10. 212 Ebd., Z. 13–16. 213 Ebd., Z. 19–22. Während die Anhänger der anderen protestantischen Sekten (die Dann‐ hauer hier durchaus als Religionsverwandte anerkennt!) „brennen vor eyffer / ihre Irrthumb zubefürdern und fortzupflantzen in alle welt“, herrsche gelte bei den lauen Lutheranern die Indifferenz vor: „wann sie nur ihr zeitliches Leben in guter ruhe können

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litischen Interesse Abstriche hinsichtlich der reinen Lehre möglich seien oder man im Extremfall gar „den Türckischen Glauben wol passiren lassen“ könne, „glauben doch auch die Türcken an Gott / den Schöpffer Himmels und der Erden“. 214 Der „Verstand der reinen Religion“ und die Fähigkeit zum „Unterscheid zwischen der Schaaff- und Wolffs-milch / wie auch der Mutter- und Huren-milch“ gehöre daher zu den unverzichtbaren Voraus‐ setzungen guter Regierungsführung. 215 Hofschulen haben folglich im In‐ teresse des gemeinen Nutzens dafür zu sorgen, dass künftige Regenten „in gesunder Religion / wahrer Gottesfurcht und guten Sitten und Tugenden / wie auch freien Künsten und Sprachen recht unterrichtet“ sind. 216 Welche konkreten Aufgaben der Religionspflege werden der Obrigkeit von Dannhauer übertragen? Die Leitmetapher der Amme beziehungsweise der Adoptivmutter erlauben ihm, verschiedene Aspekte dieser obrigkeitli‐ chen Verpflichtung für Kirche und Lehre auszufalten. Die erste Grundfunktion der Obrigkeit sei, zur „Verschaffung der Nah‐ rung und Lebens-mittel“ (lat. nutricatus procuratio) für die ihr anbefohlene Kirche „das ministerium (als darin die Mutter-brüst begriffen) wohl zu be‐ stellen“. 217 Die Untertanen könnten nur in der reinen Religion aufgezogen werden, wenn ihnen „nicht an statt der gesunden Milch / Wolffs-milch oder die Huren-milch der Römischen Damen“ verabreicht werde. 218 Also sei zunächst die Ordnung und Versorgung des Predigtamtes erforderlich. Daraus erwachse das Recht der Obrigkeit zur „Außschreibung und Versam‐ lung der Concilien“, in denen „dem Christ-weltlichen Oberhaupt in alle weg der Vorsitz von Rechts wegen und alten Herkommen gebühret“, sowie zur Mitwirkung bei der Besetzung von Pfarrstellen und der Entpflichtung vom Predigtdienst. 219 Im Gegenzug sei die Obrigkeit aber auch in der Pflicht,

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fort bringen / so gilt ihnen ein Religion wie die ander“ (ebd, Z. 25f; Z. 30–32). Vgl. auch ebd., 422. Vgl. die Widmung CM Bd. 4, v (unpaginiert), Z. 19–22. Diese Meinung schreibt Dann‐ hauer dem byzantinischen Kaiser Manuel I. Komnenus als vermeintlichem Vorbild der gegenwärtigen Synkretisten sowie vielen ungebildeten Christen zu, die alle „in dem Wahn stehen / man könne bey einem jeden Glauben seelig werden / wir glauben ja all an einen GOtt“ (ebd., Z. 24–26). CM Bd. 3, 158, Z. 10–12. Die Wolfsmilch bezeichnet dabei bei Dannhauer meist die Ge‐ fahr radikalreformatorischer und calvinistischer Sektierer, die Hurenmilch den Einfluss der römischen Kirche. Ebd., 396, Z. 29–31. Dabei solle auch die „junge Herrschaft“ (ebd., 397, Z. 36f) ihren Lehrern gehorchen, von ihnen Unterweisung und Strafen annehmen sowie keine Son‐ derrechte geltend machen. Ebd., 153, Z. 15; Z. 22 f. Ebd., Z. 23–25. Ebd., 158, Z. 14–16.

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eine auskömmliche „Unterhaltung deß Predig-amptes“ sowie die „Auß‐ spendung der Stipendien / die Stifftung der Schulen und Bibliothecken“ zu gewährleisten. 220 Die zweite Grundfunktion der Obrigkeit im Verhältnis zur Kirche sei, diese mittels „mütterlicher Anwünschung und Sorgfalt“ (lat. materna adop‐ tio) als ihre „zarte liebe Tochter gleichsam in ihren Schoß“ zu nehmen. 221 Dies bedeute erstens, die Kirche mit „heilsamen Kirchen- und Policey-Ord‐ nungen“ zu schützen. 222 Allerdings beschütze eine Mutter ihre Tochter nicht nur, sondern schmücke sie zweitens auch „auffs beste als sie vermag / doch also / daß der Hoffart und unzüchtige Huren-Schmuck vermeidet werde“. 223 Drittens bewahre eine gute Mutter die Tochter „für allerhand Aergernuß / also insonderheit für irrigen Hirten und verführerischer Re‐ ligion“, damit ihr „keine verdächtige Bücher in die Händ / keine verführi‐ sche Personen ins Hauß kommen“. 224 Daher dürfe die christliche Obrigkeit auch keinen „falschen Religions-Genossen in ihrem Land und Stadt Unter‐ schleiff geben / und Herberg gönnen“ oder „Sectirische / Gottlästerliche Bücher“ in die Hände der Ungelehrten und Ungefestigten gelangen las‐ sen. 225 Welche Bücher betrachtet Dannhauer dabei als bedenklich und welchen Umgang mit ihnen fordert er ein? Jedes Buch müsse in seinen Aussagen an der Schrift gemessen und anhand dieser beurteilt werden. Erbauungsbü‐ cher christlicher Lehrer, die „auß der Schrifft zu sammen gezogen“ seien, seien nützlich und dürfen Verbreitung finden, aber in der Frömmigkeit‐ spraxis keinesfalls „der H. Schrifft an die seit gesetzt“ oder gar übergeordnet werden. 226 Auch heidnische Bücher enthielten zweifellos viel Nützliches, 220 Ebd., 158, Z. 38–159, Z. 2. 221 Ebd., 159, Z. 8–11. 222 Ebd., 159, Z. 15 f. Ein tapferer Regent habe im Zweifelsfall sogar „für die rechte Kirch und reine Religion Gut und Blut“ (ebd., Z. 18f) zu lassen. Ausgehend von seiner Aus‐ legung des dritten Gebots würde Dannhauer ein drakonisches Vorgehen der Obrigkeit gegen Blasphemie und Fluchen durchaus begrüßen, doch betrachtet er dies nicht zuletzt aufgrund der Verrohung durch den Krieg gegenwärtig nicht als realistische Möglichkeit, vgl. CM Bd. 1, 392. Jede Ketzerei als „verleugung der Göttlichen Warheit“ (ebd., 388, Z. 6) fällt für Dannhauer unter den Tatbestand der Gotteslästerung und wäre damit als Verstoß gegen das dritte Gebot zu strafen. 223 CM Bd. 3, 159, Z. 20–22. Mit Letzterem spielt Dannhauer auf die üppige Ausstattung römischer Kirchgebäude an. 224 Ebd., Z. 30–33. 225 Ebd., 160, Z. 3–5. Dannhauer malt diese unterschätzte Gefahr mit dem Gesang des bösen Wolfs im Märchen sowie mit dem Fall der Stadt Konstantinopel aus, die aufgrund einer einzigen, für einen verwundeten Hauptmann geöffneten Tür an die Türken gefallen sei. 226 CM Bd. 1, 410, Z. 8 f. Einen solchen Missbrauch befürchtet Dannhauer offenbar bei Jo‐ hann Arndts Büchern vom wahren Christentum, vgl. auch ebd., 431.

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doch seien sie mit angemessener Vorsicht und durch erfahrene Lehrer in der Schule zu nutzen. 227 Häretische Bücher, die etwa mit jüdischen, soz‐ zinianischen oder wiedertäuferischen Lehren angefüllt sind und insbeson‐ dere solche, die zum Aufruhr aufstacheln, gehörten „nicht dem Idioten und gemeinen Mann in die Hand“, so dass die christliche Obrigkeit in der Pflicht sei, dies zu verhindern. 228 Für das Luthertum beansprucht Dann‐ hauer gleichwohl, „Päbstische wie auch anderer Religion Bücher wohl [zu] dulden“, da man das Unkraut nicht mit dem Weizen ausrotten solle und bei umsichtiger Prüfung dem Rechtgläubigen so „manches Goliath Schwerd in die Hand komt“. 229 Vorbedingung für den Gebrauch dieser Schriften sei allerdings, dass ein Christenmensch aufgrund intensiver Beschäftigung mit der Heiligen Schrift und dem Katechismus einen „durch gewohnheit geubte sinn mit bringe zum underscheid deß guten und deß bösen“, also in der rechten Lehre ausreichend gefestigt sei. 230 Es ist deutlich, dass die diffe‐ renzierte Zensurpraxis, die Dannhauer hier vorschwebt, bei der weltlichen Obrigkeit ein hohes Maß an theologischer Urteilskompetenz voraussetzt. Als dritte Grundfunktion sei im Ammendienst der Obrigkeit die Auf‐ gabe einer „education und Aufferziehung“ der Untertanen inbegriffen, so dass die Obrigkeit die gesamte Bevölkerung mit „der reinen Lehr und un‐ verfälschtem Brauch der Heiligen Sacramenten tractiren und abspeisen“ 227 Vgl. ebd., 411. Sei man in der Lage, aus dem Geist heraus zu urteilen, so könnten diese Bücher dazu dienen, dass der christliche Gelehrte „das Heydenthumb mit dem Hey‐ denthumb / also Goliath mit seinem eigenen Schwerd schlag“ (ebd., Z. 15–17). Vgl. auch CM Bd. 3, 399. In der Schule dürften etwa heidnische Bücher, die „mit garstigen zotten / venerischen buhlereyen / und ärgerlichen phrasibus angefüllt sind“, keinesfalls „ohncastrirt“ (ebd., 410, Z. 26–28) zum Einsatz kommen. Gänzlich zu verwerfen seien „närrische Bücher“ wie „Amadiß / Schäffereyen / [...] Eulenspiegel / Gartengesellschaft / Rollwagen und dergleichen heyllosen Büchern mehr / dahin wir auch billich ziehen die Bäpstischen legenden der Heyligen“ (ebd., 413, Z. 24–28). Unter dem Heidentum ist hier, wie Dannhauer klarstellt, grundsätzlich auch die römische Papstkirche inbegriffen. 228 Ebd., 411, Z. 34 f. Im Idealfall sollten solche Bücher über die Zeit in Vergessenheit gera‐ ten wie die Schriften der altkirchlichen Häretiker. Dies gelte allerdings nur, wenn ihre Autoren gründlich „der Kätzerey mit bestand der wahrheit convincirt und uberwiesen“ (ebd., 411, Z. 36f) worden seien und ausgeschlossen sei, dass sie nur „von einer unnd der andern partey / auß bloser / ungegründeter vorgefaßter opinion und meinung gleichsam zum Tod und Bann verurtheylt worden“ (ebd., 412, Z. 5–7) sind. Die Verdammung der lutherischen Schriften durch das Trienter Konzil und die römischen Theologen sei bei‐ spielsweise nicht unter den Bedingungen einer solchen unvoreingenommenen Prüfung erfolgt, vgl. CM Bd. 3, 163 f. 229 CM Bd. 1, 413, Z. 10f; Z. 13 f. Allein heidnische Zauberbücher seien unbesehen zu ver‐ brennen, vgl. ebd., 410. 230 Ebd., 413, Z. 19 f. Bei einem „schwachen Milchchristen“ (ebd., Z. 20) könne der Kontakt mit solchen Schriften dagegen leicht zu „gefährlicher familiarität und freundschafft mit dem umbfressenden Krebs“ (ebd., Z. 22f) der Irrlehre führen.

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müsse. 231 Denn damit ein Regent „durch Seile der Lieb seine Unterthanen zur Kirchen ziehen“ könne, sei die Einrichtung guter Schulen unerläss‐ lich. 232 Auf diesem Wege könnten Gelehrte mit der Fähigkeit „zu lehren und zu bekehren / zu disputiren und convinciren“ ausgebildet werden, die „allem Irrthum und Schwärmereyen gewachsen“ seien. 233 Sein Amt ver‐ schaffe dem Regenten zudem die Autorität und beinhalte die Aufgabe, die Untertanen „zur conferentz, zum Gespräch / zur Gelegenheit und äus‐ serlichen Bekehrungs-Mitteln“ zu verpflichten, um „durch das Liecht der Wahrheit selbst / die mächtig gnug ist / wann sie nur heiter gemacht / und hell in die Augen leuchtet / das Hertz der Menschen zu gewinnen“. 234 Dannhauer laviert in seiner Funktionsbestimmung der christlichen Ob‐ rigkeit somit zwischen deren göttlicher Verpflichtung zur Verteidigung der rechten Lehre und der reformatorischen Einsicht in die Unzulässigkeit re‐ ligiöser oder konfessioneller Zwangsbekehrungen. Haben sich im Gemein‐ wesen „falsche Religions-verwandten eingenistet“, dürfe eine christliche Obrigkeit diese keinesfalls einfach „unreformiert hingehen lassen“, denn „wer falsche Religion ohne eintzige Reformation und gesuchte Bekehrung in seiner Bottmäßigkeit duldet“, widersetze sich Gottes klaren Geboten. 235 Nur Gott selbst könne „böses dulden / und gutes darauß schaffen“. 236 Wie aber soll dieser Reformations- oder Bekehrungsversuch aussehen? „Soll man die Spannische Inquisition und Nothzwang herfür suchen? soll man die Leuth mit Gewalt zur Religion zwingen und ihre Gewissen beschweren? soll man sie mit Fewr und Schwert verfolgen / und eine Parisische Hochzeit aufstellen? soll man durch Zwang Heuchler machen / die dem Regenten zu gefallen äusserlich sich

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CM Bd. 3, 153, Z. 34; 154, Z. 6 f. Ebd., 163, Z. 12 f. Ebd., Z. 14 f. Ebd., Z. 18–22. Dannhauer nennt dies unter Variation der augustinischen Figur des compelle intrare und compelle contrare. 235 Ebd., 160, Z. 32; Z. 35f; 161, Z. 3 f. Zu beachten sei allerdings, inwiefern die Obrigkeit in ihrem Handeln durch Eide oder Verträge gebunden sei. Damit wird für Dannhauer auch eine begrenzte Toleranz gegenüber Juden und deren Schutz durch kaiserliche Rechtspri‐ vilegien ein Problem. Es scheint, dass er grundsätzlich deren pogromartige Vertreibung befürwortet, doch legt er diesen Vorschlag geschickt verwunderten „Saracenern“ (ebd., Z. 34) in den Mund. Offenbar interpretiert Dannhauer den sozial und rechtlich prekären Zustand der Juden als notwendiges Warnzeichen für die Christen und damit als gött‐ liches Verhängnis, das die Obrigkeit zu respektieren habe: „Jacobs Kinder nach dem Fleisch / seindt umb ihres verstockten Unglaubens willen außgestossen / nicht zwar plötzlich erwürget / aber damit es Gottes Volck nicht vergesse / zerstrewet / das sie wie die Hund (in steter Unruhe / ohne Policey) in der Welt herumb lauffen unnd heulen in ihren Synagogen / ohne Trost / ohne Hoffnung / ohne Glauben“ (CM Bd. 4, 54, Z. 32–55, Z. 3). 236 CM Bd. 3, 161, Z. 9.

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zur Religion bekennen / umb des Maul-futters Gewinn und promotion willen sich bequämen?“ 237

Bereits die Wahl dieser Beispiele zeigt, dass Dannhauer diese rhetorische Fragen sogleich scharf verneinen wird: „das ist der Weg gar nicht / auff solche weiß haben weder die Apostel noch derselben getrewe Nachkom‐ men das Reich Christi zu mehren unterstanden“. 238 Grundsätzlich ist für Dannhauer das religiöse Gewissen der Einzelnen dem äußeren Zwang ent‐ zogen und daher auch zu respektieren. Niemand könne den zum Glauben zwingen, der noch nicht von der Wahrheit selbst überführt und bezwungen ist, denn „Glauben und nicht glauben stehet nicht in des Menschen freyen Willen“. 239 Niemandem dürfe daher „die Religion auffgedrungen“ und auch niemals „wegen Irrthumb des Verstands“ Zwang ausgeübt werden, denn – mit Kaiser Konstantin dem Großen gesprochen – „der streit umb die Un‐ sterbligkeit zuerhalten / müsse freywillig und ungezwungen angetretten werden“. 240 Dannhauer illustriert dies mit dem Beispiel sehender und blin‐ der Menschen: Einem Blinden „hawet man den Kopff nicht ab / sondern man bewirbt sich um einen guten Oculisten und Augen-artzt“. 241 Ebenso können man, selbst wenn man „einen sehenden Menschen mit Prüglen zu tod schlieg / und erzwingen wolte / er soll glauben / der Schnee seye schwartz und die Brand-kohlen seyen weiß“, auf diese Weise höchstens er‐ reichen, dass dieser aus Furcht „heuchle und liege“. 242 Deshalb habe man der Irrlehre allein durch die Offenlegung und Befestigung der Wahrheit abzuhelfen. Eine klare Entflechtung von weltlicher Obrigkeit und Lehraufsicht ist für Dannhauer nicht denkbar (und wäre angesichts der gesellschaftlichen Bedingungen wohl auch nicht realistisch gewesen). Damit treten die zeitty‐ pischen Probleme mit einer angemessenen und friedensdienlichen Verhält‐ nisbestimmung von Politik und Konfession, öffentlichem Bekenntnis und persönlicher Gewissensbindung hervor. Eine Lösung der Probleme erhofft Dannhauer – konsequenterweise – durch die christlich-humanistische Bil‐

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Ebd., 162, Z. 2–8. Ebd., Z. 25-27. Ebd., 163, Z. 4 f. Ebd., 162, Z. 29–32. Ausnahme seien allerdings „Grewel die auch der verständigen Ver‐ nunfft zuwider / und auß dem Liecht der Natur zu widerlegen sind“ (ebd., Z. 32–34), was etwa für den heidnischen Opferkult gelte. Das gleiche gelte für Fälle, in denen eine Irrlehre „Rebellion und Aufruhr“ erzeuge, somit „offentliche Empörung wider die Obrigkeit und Zerrüttung des gemeinen Landfriedens“ (ebd., Z. 36–38) hervorzurufen geeignet sei. 241 Ebd., 162, Z. 41–163, Z. 1. 242 Ebd., 163, Z. 7–10.

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dung der Obrigkeit und eine bessere Verankerung der reinen Lehre im Alltag der Bevölkerung sowie im öffentlichen Leben. Dies verweist auf die zentrale gesellschaftliche Rolle, die Dannhauer den Schulen beimisst. b) Mutter Schule und Vater Lehrer Dannhauer vergleicht die Stadt mit einem wohlgeordneten Schulwesen mit einer Mutter, deren „Brüste in Fortpflantzung guter Künste und Sprachen nimmermehr versigen“. 243 In diesen Schulstädten werden „die heilsamen Lehren getrieben und geübet / welche in ihrem Vornemmen nimmer ver‐ alten / ja / je älter je schöner werden“. 244 Die Lehrer machen „aus wil‐ den unvernünfftigen Thieren Menschen“, indem sie „die zarten Gemühter als geistliche Väter gleichsam widergebären“. 245 Entsprechend dieser In‐ terpretation sieht Dannhauer die Schulen auch unter besonderem Schutz des vierten Gebots, Vater und Mutter zu ehren. Wenig sei schädlicher als „Bluthunde / Schul- und Zucht-verstörer“, die sich als „Cyclopische Un‐ menschen“ über Orte der Lehre hermachen. 246 So lässt er angesichts des gegenwärtigen Krieges einen prophetischen Rufer vom Berg herab ankla‐ gen: „Wolt ihr alle Zucht / Erbarkeit / Künste und Sprachen aus dem Mittel raumen / daß man auf dem Land zu keiner gefaßten Schulen Besuchung und Zucht kommen kan : Wolt ihr eine gäntzliche Barbarey und Verwilderung verursachen?“ 247

Die Zerstörung der „Zucht- und Schulhäuser“ wird von Dannhauer im Rahmen dieses Bildes direkt mit dem Muttermord parallelisiert, der sich besonders frevelhaft an den eigenen Lebensgrundlagen vergehe. 248 Woher kommt diese große Bedeutung der Schulen als „Grundveste des Landes“ 243 Ebd., 394, Z. 20 f. Mit dieser Metapher legt Dannhauer eine Formulierung aus 2Sam 20,18f aus, wo es heißt: „Sie sprach: Vorzeiten sagte man: Man frage doch nach in Abel, so geht es gut aus; ich bin eine von den friedsamen und treuen Städten in Israel, und du willst eine Stadt und Mutter in Israel töten? Warum willst du das Erbteil des Herrn verderben?“. 244 Ebd., Z. 18–20. 245 Ebd., Z. 13-17. Eine weitere, detailliertere Behandlung des schulischen Lehrens nimmt Dannhauer in CM Bd. 8, 754–780 vor. Dabei verbindet Dannhauer ausgehend von Num 10,31 die Metaphorik sowohl das Motiv der Lebensreise (theologia viatoris) als auch die kriegerische Metaphorik des geordneten Kriegsheers (militia christiana bzw. theologia militans). Im Rahmen dieser Arbeit werden diese Motivkomplexe jeweils gesondert an ihrer Stelle behandelt. 246 CM Bd. 3, 394, Z. 29; 395, Z. 6. 247 Ebd., Z. 24–28. Das typologische Vorbild dafür findet Dannhauer in Ri 9,7. Er führt viele Beispiele barbarischer Einfälle aus der Geschichte an, die doch hinter den gegenwärtig erfahrenen Verwüstungen zurückblieben. 248 Ebd., Z. 11 f.

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und „Grund des gemeinen Regiments“? 249 Dannhauer vergleicht die „auß‐ wendige und neben-vätterliche Kinder-Zucht“ durch den Lehrer mit dem Weinbau, wo ein gepflanzter Weinstock „auch einen Rebstecken und Hebe haben“ müsse, um gerade emporzuwachsen. 250 Um dem „grimmigen Kin‐ der-feind / dem Teuffel / zu wehren“, sollten Eltern daher ihre Kinder „als zarte Weinstöcke / an die starcken Rebstecken der Lehrmeister anbin‐ den“. 251 Dabei unterscheidet Dannhauer verschiedene Bildungswege, die auf unterschiedliche Funktionen für die Gesellschaft vorbereiten. 252 In der „Hauß-Schulzucht“ (lat. paedia domestica) sei von größter Wich‐ tigkeit, dass die Hauslehrer den Kindern „das Hertz abgewinnen“. 253 Ihre Aufgabe sei, die Kinder „nicht nur in den ersten Elementen des studierens / sondern auch in gutten Sitten / und fürnemblich in der Gottesforcht“ zu unterrichten. 254 Dabei solle der häusliche Unterricht „nicht von der Claß / sondern zur Claß führen“ und so den „offentlichen Praeceptoribus und Lehrmeistern“ zuarbeiten. 255 Hier hat für Dannhauer besonders die Erklä‐ rung des Katechismus ihren Ort, aber auch die Einweisung in das rechte Gebet. Die Eltern sollen sich dabei nicht aus der Verantwortung stehlen, sondern die Lernerfolge auch überprüfen und ihre Kinder „selbst exami‐ niren“. 256 Auf diesem Weg eines regelmäßigen Katechismusverhörs könne man nicht zuletzt die Knechte und Mägde – sozusagen über Bande – im Katechismus mitunterweisen. 257

249 Ebd., Z. 34 f. 250 Ebd., 396, Z. 4f; Z. 7 f. Für die entsprechende Vorstellung von der Biegsamkeit des her‐ anwachsenden Kindes zum Guten wie zum Bösen vgl. ebd., 388. 251 Ebd., 396, Z. 14–16. Zu diesen gehören die „Praeceptores, Paedagogos, Ephoros, LehrZucht- und Hoffmeister / Vorsteher und Auffseher“ (ebd., Z. 13f). 252 So gebe es „1. Paedia aulica, die Hoff-Schul / 2. Gymnastica & publica, die Clas‐ sen- und Collegi-Schul / 3. Opificaria, die Kunst- und Handwercks-Schul / Domestica, die Hauß-Schul. Und dann 5. Tutoria, die Vogts- und Vormundschaffts-schul-Zucht.“ (ebd., Z. 20–24). Zum Schulwesen der Epoche vgl. Hammerstein, Bildung, bes. 17–33. 253 CM Bd. 3, 400, Z. 28; Z. 31. Jeder Hauslehrer solle sich „einbilden / er habe den Alexan‐ drum Magnum unter handen“ (ebd., Z. 33). In diesen Bereich gehöre auch die „Kuchen‐ zucht / so da vorgehen soll von der Frauen im Hauß / die ist die Lehrmeisterin / unter ihren Kindern und Mägden“ (ebd., 401, Z. 20–22). Das Lehrverbot für Frauen in 1Tim 2,12 gelte daher nur in der Öffentlichkeit und nicht im Haushalt, vgl. CM Bd. 8, 607. 254 CM Bd. 3, 400, Z. 34–36. 255 Ebd., Z. 36–38. 256 Ebd., 401, Z. 5. 257 Vgl. ebd., 401. In dieser Personengruppe sieht Dannhauer großen Handlungsbedarf: „ja unter dem Gesind selbst / soll auch eins deß andern Bischoff seyn / da wäre es viel besser gethan / wann ein Knecht den andern / eine Magd die ander / an statt des Geschwätzes und verstifftens wider die Herrschaft / in den Hauptstücken der Christlichen Lehr / so aus dem heiligen Catechismo zu fassen / unterrichtete / als daß man sonderlich am

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Die „Classen- und Collegi-Schul-zucht“ umfasse die öffentlichen „Teut‐ schen / Lateinischen- Trivial- oder gemeinen“ Schulen, die „Gymnasien / oder Ubungen“ sowie die „Universitäten und Hohen Schulen“. 258 Entschei‐ dend für den Erfolg der schulischen Erziehung sei hier ebenfalls das an‐ gemessene Verhältnis von Lehrern und Schülern zueinander. Dannhauer ermahnt deshalb zunächst die Lehrer, dass sie „nicht dröschende Orbilii und Pritsch-meister sein“ sollen, die „den Lernenden die Kunst mit Lö‐ chern in Kopff einzuschlagen sich bemühen“. 259 Die Schüler haben ihren Lehrern im Gegenzug „neben Anwendung gebührenden Fleisses in ihrem studieren / auch gebührenden Gehorsam / schuldige Zucht und Ehrerbie‐ tung“ zu erweisen sowie über die Schulzeit hinaus Dankbarkeit entgegen‐ zubringen. 260 Der Bildungsgang eines Schülers schreite hier idealerweise vom „Gebett / zu Christlichen Tugenden / zu ehrbaren Sitten / und dann zu freyen Künsten und Sprachen“ voran. 261 Auch auf den Hohen Schulen und an den drei hohen Fakultäten der Theologen, Juristen und Mediziner solle nicht die „Welt-Weißheit“ im Zentrum stehen, sondern „Erkantnuß Got‐ tes / reine Religion und Seelen Heyl und Wohlfahrt“. 262 In der Ausbildung zum Handwerk (lat. paedia opificiaria) gilt für Dannhauer ganz parallel, dass „die Meister wie Väter sich erzeigen“ und ihre Lehrlinge „nicht zum Zorn reitzen“ sollten, also nicht „allzu tyrannisch poldern / schlagen / für ein Fußtuch halten / ihnen schmal zu essen geben / doch groß Lehrgeld von ihnen fordern“ und vieles mehr. 263 Die Lehrlinge wiederum sollen sich „trösten / daß sie einem Gott wolgefälligen / und zwar eben in dem Stand seyen / darinn Christus unser Heyland selbst geweßt“ und immer daran denken, dass sie im Anschluss an ihre Ausbildung „auch die Meisterschafft antretten“ könnten. 264 Zur Ausbildung gehöre notwendig, dass die Meister ihre Lehrlinge zur Sittlichkeit, zur religiösen Unterweisung und zum Got‐ tesdienstbesuch anhalten.

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Sonntag / die Zeit mit gumpen / gurren / tantzen und dergleichen Uppigkeit zubringe“ (ebd., 401, Z. 9–15). Ebd., 398, Z. 12–15. Ebd., Z. 21–23. Für diese Forderung greift er auf Kol 3,21 und Eph 6,4 zurück. Ebd., 399, Z. 14–16. Ebd., 398, Z. 27 f. Ebd., Z. 29–31. Ebd., 399, Z. 33–36. Ebd., 400, Z. 11–13; Z. 18. Was zu den Lehrlingen gesagt ist, gelte auch in den „Würckund Nähe-häusern / dahin junge Mägdlein zu lernen geschickt werden“, wobei die „vorgesetzten Lehr-Jungfrawen oder Frawen“ darauf achten müssen, dass nicht „aus den Würck- und Nähe-häusern Schwätz- Laster- Mährlein- und Lügen-häuser werden“ (ebd., Z. 20–25).

Dannhauers Katechismus-Milch: Lehre als Lebensmittel

Das in sich vielfach gegliederte Schul- und Ausbildungswesen seiner Zeit wird von Dannhauer insgesamt auf die religiöse Unterweisung in der Lehre des Katechismus und auch die Einübung einer Frömmigkeitspraxis ausgerichtet, die damit das Zentrum aller Erkenntnis und eine Klammer um die verschiedenen Wissensgebiete und praktischen Fertigkeiten bilden. Auf diese Weise soll erreicht werden, dass eine christlich-religiöse Weltbe‐ schreibung und das Selbstverständnis des christlichen Glaubens die Aus‐ übung aller gesellschaftlichen Berufe und Ämter prägt. c) Aufwachsen im christlichen Haus Neben der Obrigkeit, die die negativen und positiven Bedingungen für die Pflege der rechten Lehre zu gewährleisten hat, und den Lehrern der verschiedenen Schulen sowie den Meistern, die für eine Verankerung der Lehre in der theoretischen Unterweisung und praktischen Ausbildung zu sorgen haben, nimmt Dannhauer nicht zuletzt die Eltern für die Weitergabe der Lehre in die Pflicht. Was die Erziehung ihrer Kinder betrifft, sollen die Eltern „vorsichtig mit ihren Kindern handlen / die Köpffe und Gemüther wohl unterscheiden / sich erkundigen / was ein jedes tragen / und was es nicht tragen könne“. 265 Grundsätzlich komme es darauf an zu erkennen, wo der „Finger Gottes“ hindeute und „was GOTT auß diesem und jenem Kinde machen und haben wolle“. 266 Die „Ampts-pflicht der Kinder“ gegenüber ihren Eltern sei dagegen der „kindliche Gehorsam“, weil sie erkennen, dass „die Eltern so hertzlich gut mit ihnen meynen“. 267 Das hier einschlägige lateinische Wort paedia übersetzt Dannhauer mit „Zucht und Aufferzie‐ hung“, was in der Bibel entweder die „Lehr und Unterweisung“ oder die „Straff und leibliche Züchtigung“ meine. 268 Im weiten Verständnis um‐ greife es damit „eine gantz Christliche Encyclopaedi oder das corpus und Wesen aller Künste und Wissenschafft“. 269 Sein häusliches Erziehungspro‐ gramm gliedert Dannhauer in neun gestufte Bereiche der Lehre auf. Dabei ist klar zu erkennen, wie die Vermittlung der Katechismuslehre zusammen mit der Einübung in grundlegende Frömmigkeitspraktiken die ganze Erzie‐ hung bestimmen soll.

265 Ebd., 382, Z. 22–24. 266 Ebd., Z. 24–26. Vgl. ebd., 385. 267 Ebd., 389, Z. 10 f. Dies bedeute, sich willig „tractiren / züchtigen / biegen / beugen / und zum Guten anziehen lassen“, ja sogar „die Ruhte [zu] küssen“ (ebd., Z. 13f), deren Gebrauch ja zu einem ehrbaren Leben befähigen soll. 268 Ebd., 383, Z. 22f; Z. 29. 269 Ebd., Z. 35 f. Die grundlegende Erziehung habe früh zu geschehen, weil der Mensch in jungen Jahren „ allerley nützliche Lehren leichtlich annimmt“, während später fast „alle Bemühung umsonst und vergebens“ (ebd., 388, Z. 8–10) sei.

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So sollen Eltern ihre Kinder erstens und grundlegend unterrichten „in dem Gesetz Gottes / und dem Catechismo / nach dem Befehl des HERRN“, welcher die Zehn Gebote, den Inhalt des Glaubensbekenntnisses und den Sinn der Sakramente umfasse. 270 Noch vor der Unterweisung in den Inhal‐ ten des Katechismus stehe, dass „die Kinder gewöhnet werden / daß sie das Gebett deutlich außsprechen / nicht radbrechen / oder halbe Wort machen; sondern die Händlein fein zusammen falten / damit Hertz und Mund zur Andacht gerichtet seye“. 271 Der eingeübte und memorierte Katechismus erfülle als „erste Anweisung zu der Heiligen Schrifft bey der Jugend“ die Funktion eines Schlüssels zum Verständnis der Schrift. 272 Zweitens umfasse die Unterweisung der Kinder lehrhafte „Historien und Geschichten“, wobei die „biblischen und warhaften“ Erzählungen gegenüber erdachten „Fabeln und Mährlein“ immer vorzuziehen seien. 273 Diese Erzählungen sorgen da‐ für, dass die Lehre des Katechismus besser im Gedächtnis verankert wird. Drittens seien die Kinder in „Psalmen und Lobgesängen“ zu unterweisen – aber so, dass sie diese nicht bloß zum Stolz der Eltern „herpappeln“ können, sondern sie auch verstehen und bewusst mitsprechen lernen. 274 Die Ein‐ übung zielt auf einen eigenständigen betenden und lobpreisenden Umgang mit der Sprache der Psalmen und kirchlichen Choräle. Erst auf dieser katechetischen Grundlage kommen Dannhauer auch die im engeren Sinne lebenspraktischen Fähigkeiten in den Sinn. Viertens sei in der elterlichen Unterweisung der Kinder die „Schul-zucht“ eingeschlos‐ sen, weshalb – wo die Bedingungen dafür grundsätzlich gegeben sind – die Alphabetisierung der Kinder keinesfalls ein freiwilliges „Mittel-ding“ für die Eltern sei. 275 Fünftens erstrecke sich das Erziehungsprogramm auf den öffentlichen Gottesdienst, insbesondere die „Kinderlehr / Mittags- und Catechismus-Predigt“, an der Kinder teilnehmen und so „von dieser ihrer himmlischen Mahlzeit“ im „Christenthum gegründet und bestättiget wer‐ den“ sollen. 276 Sechstens gehöre zur Erziehung die Ethik als Inbegriff der „zierlichen höflichen Sitten / Gebärden und Worten“, damit die Kinder 270 271 272 273 274

Ebd., 384, Z. 1 f. Ebd., Z. 15–18. Ebd., Z. 21 f. Ebd., Z. 18–20. Ebd., Z. 24 f. Von „unzüchtigen Bulen- und Huren-liedern“ und „weltlichen üppigen Gesängen“ (ebd., Z. 26f; Z. 30) seien die Kinder dagegen fernzuhalten. 275 Ebd., Z. 35; Z. 37. Für ihre Schulbildung würden Kinder ihren Eltern später noch dank‐ bar sein, wenn diese „längst unter dem kühlen Grund ligen“ (ebd., 385, Z. 7). Allgemein gelte: „Eltern können sich umb ihe Kinder nicht besser verdienen / als wann sie dieselbe in die Schul gehen lassen und lehren lesen. Das Lehrgeld ist doch so groß nicht“ (CM Bd. 1, 422, Z. 27–29). 276 CM Bd. 3, 385 Z. 14–19.

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„die Mittel-straß treffen / und zwischen der Grobheit und Leichtfertigkeit hinseglen lernen“. 277 Siebtens sollten zwecks der „Oeconomi und Haußhal‐ tung“ alle Kinder– nicht allein die Töchter! – „kochen / nähen / spinnen / wäschen / sorgen / umb sich sehen“ lernen, um Verzärtelung, „Verwahr‐ losung“ und letztlich den Untergang des Hauses zu vermeiden. 278 Achtens sei auch die „Politic und Welt-Erfahren- oder Klugheit“ zu vermitteln, da‐ mit die Kinder den ihren Begabungen angemessenen Stand und Platz im Gemeinwesen finden. 279 Neuntens und ganz allgemein sollen „Eltern ih‐ ren Kindern mit gutem Exempel vorgehen“, wobei „eine stillschweigende Zucht“ oft mehr ausrichte als aktive Bemühungen oder gar drastischen Strafen. 280 Dannhauers Programm einer konsequenten Ausrichtung auf die christ‐ liche Lehre und die religiöse Mündigkeit aller Christenmenschen erscheint als ambitionierter theologischer Gesellschaftsentwurf, der sich in den Ver‐ hältnissen seiner Zeit bestenfalls ansatzweise widerspiegelt. So kritisiert er die Bürger seiner Gegenwart, dass diese ihre Kinder hauptsächlich dazu erziehen würden, „groß Geld und Gut in dieser Welt [zu] erwerben“, wäh‐ rend der Fortschritt „in der Gottesfurcht / in freyen Künsten / Zucht / Tugend und Erbarkeit“ nur eine nachgeordnete Bedeutung habe. 281 Auch tadelt er die Jugend, die sich der Theologie schäme und lieber andere Lauf‐ bahnen wie die des Arztes, Soldaten oder Juristen einschlage. 282 In der aktuellen vom Konfessionskonflikt geprägten Zeit wäre „die Wissenschaft in streitigen Religionsfragen am allermeisten vonnöthen“, doch bringe die Gegenwart vielmehr nur Etatisten, „die um des Staats willen Jerobeams Kälber billigen“, Synkretisten, „die die Fundamental-streit in der Religion für ein lauteres Schul-Gezänck halten“, sowie nicht zuletzt immer mehr Atheisten hervor. 283 Seine theologische Integration verschiedener gesell‐ schaftlicher Institutionen mittels biblischer Typologien – hier durch eine Auswahl unter der Leitmetaphorik von Familie und Erziehung nur an‐

277 Ebd., Z. 20–22. 278 Ebd., Z. 25–27; Z. 34. 279 Ebd., 385, Z. 35 f. Zu diesem Erziehungsziel gehöre für die Söhne auch das „Reisen und wandern“ (ebd., Z. 38). 280 Ebd., 386, Z. 3–5. Was die körperliche Züchtigung betrifft, sieht Dannhauer diese zwar als unverzichtbar an, fordert aber eine behutsame Verschärfung der Strafen beginnend mit der Vermahnung, über elterlichen Spott, die Entziehung von angenehmen Dingen bis zur tatsächlichen Prügel als letzter Maßnahme. Immer sollten Eltern „moderatè, vernünfftiglich und mit gebührender Bescheidenheit / nicht mit wüten und toben“ vor‐ gehen, damit „die Kinder nicht blöd und scheu werden“ (ebd., 388, Z. 13–16). 281 Ebd., 391, Z. 11–13. 282 Vgl. ebd., 97–102. Vgl. auch CM Bd. 8, 767 f. 283 CM Bd. 3, 392, Z. 4–8.

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gedeutet – dürfte für Dannhauer und seine impliziten Predigthörer eine wichtige Funktion der Sinnstiftung angesichts als dramatisch empfundener Transformation des Gemeinwesens erfüllt haben. Die symbolische Zentral‐ stellung der christlichen Lehre erlaubt eine umfassende Zusammenschau der Gesellschaft und ihrer zunehmend verselbständigten Teilsysteme, die Dannhauer wohl auch in seiner politischen und kirchenpolitischen Tätig‐ keit orientieren konnte. 4.1.4 Lesen und Lehren als Schriftfrömmigkeit Die bislang ausgeklammerte Zentralinstitution zur Vermittlung und Ver‐ tiefung der Lehre in der Gemeinde sind der Gottesdienst und die predi‐ gende Verkündigung. Im Gottesdienst sollen die Amtsträger die Gemeinde durch die exemplarische und autoritative Auslegung biblischer Texte leh‐ ren und zu diesem Zweck eine persönliche, für alle Gemeindeglieder vor‐ bildliche Schriftfrömmigkeit kultivieren. Auf diese ist die Elementarunter‐ weisung in Elternhaus und Schule hingeordnet, wobei diese Lehrvollzüge freilich neben dem Gottesdienstbesuch wie ein basso continuo immer wei‐ terlaufen sollen. Die Kirche als ganze sei – so Dannhauer – „auff den unbeweglichen Felsen Christum erbawt“ als „die göttliche bibliothecaria“, als eine „Bü‐ cherseul / und gleichsam ein lebendiger Bücherschafft [= Bücherregal] / welche von der geschriebenen biblischen Wahrheit zeugt“. 284 Wenn man mit Paulus sagen kann, dass der Glaube aus dem Hören der Predigt kommt (Röm 10,17), so kommt für Dannhauer die Predigt zunächst aus dem Le‐ sen. Die Lektüre der Schrift ist für Dannhauer in der Forderung des dritten Gebots impliziert, das mit der Heiligung des göttlichen Namens nach sei‐ ner positiven Seite allgemein das Lob und die Dankbarkeit gegenüber Gott gebietet. 285 Sei auch „weyland vor Mose die Kirch GOttes ohn geschriebene Bibel geweßt“, dürfe man es unter gegenwärtigen Bedingungen doch „bey der kärgliche erklärung der SonntagEvangelien nicht lassen bewenden“. 286 Wer immer die „mittel und gelegenheit haben kan die leßkunst zuergreif‐ fen“, der sei nicht allein verpflichtet, „das Wort Gottes auß dem Mund deß

284 CM Bd. 1, 39, Z. 1–4. Die Kirche sei „die Königliche und Prophetische Lehrseul“ (ebd., Z. 2) Gottes. Dieses Bild macht zusammen mit dem des Kronleuchters den instrumen‐ talen Charakter der Kirche deutlich. Im Unterschied zur biblischen Schrift als Wort Gottes sei die Kirche daher, wie die Kirchengeschichte allzu offensichtlich zeige, nicht unfehlbar. 285 Vgl. ebd., 376; 409. Zu Dannhauers Auslegung des Dritten Gebots und dem doxologi‐ schen Grundzug seiner Theologie vgl. Kücherer, Katechismuspredigt, 180-182. 286 CM Bd. 1, 416, Z. 31; 417, Z. 25 f.

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Predigers zuhören“. 287 Vielmehr müsse man das Wort Gottes auch „daheim zu Hauß embsig tractiren und damit umbgehen“, damit es bei den Men‐ schen wohnen und unter ihnen „heimisch sein“ könne 288 In Fortführung reformatorischer Anliegen wird ein vertrauter und selb‐ ständiger Umgang mit der Schrift nicht nur den Amtsträgern abverlangt, sondern der ganzen Gemeinde als Ideal der Frömmigkeit vorgehalten. Ge‐ gen den Einwand, die Laien wären schließlich keine Pfarrer und hätten neben ihrem Broterwerb für das Lesen der Bibel keine Zeit, wendet Dann‐ hauer ein: „O Mensch! bistu kein Pfaff / so bistu doch ein Christ / umb so viel mehr ligt dir ob die Schrifft zu lesen / als grösserer Seelengefahr du in deinem Gewerb und Handtierung underworffen“. 289 Am Jünsten Tag könne man sich auf diese Weise nicht herausreden. Eine gute Kenntnis der Schrift unter den Laien betrachtet Dannhauer schon deshalb als entschei‐ dend, weil diese angesichts konfessioneller Bedrohungen „die gutte Müntz von der falschen und also die warheit von dem Irrthumb“ unterscheiden können müssen. 290 Die biblischen Schriften müssen daher allgemein – und das heißt insbesondere auch: den Laien – zugänglich gemacht werden. a) Natur und Bibel als die zwei Bücher Gottes Vergleicht Dannhauer insbesondere die Kirche mit einer Bibliothek Got‐ tes, erscheint ihm doch die Welt als Ganze als ein von Gott geschriebenes Buch: Wie ein Buch aus „vielen Blettern unnd Buchstaben“ bestehe, so be‐ stehe auch „die Welt auß vielen underschiedlichen Creaturen“ und „ein jede Creatur ist anders nichts als ein Buchstab / den der Finger GOTTES

287 Ebd., Z. 3–6. Dannhauer zieht zur Begründung dieser Pflicht neben der Forderung des dritten Gebots eine Vielzahl an Bibelstellen heran, unter denen Dtn 6,6–9, Ps 1,2, Kol 3,16 und Offb 1,2 herausragen. Darüber hinaus führt er typologische Vorbilder wie Ti‐ motheus und den äthiopischen Kämmerer an, außerdem paraphrasierte Kirchenväterzi‐ tate und besonders affirmativ Hieronymus, der gerade für die Erziehung der Töchter die Bibellektüre eingeschärft habe. Fänden sich bei den altkirchlichen Vätern auch mitunter Bemerkungen, dass die Lektüre und Auslegung der Schrift den Gelehrten vorbehalten sein solle, so werde damit eigentlich nur eingeschränkt, öffentlich über Glaubensartikel zu disputieren, vgl. ebd., 418–420. 288 Ebd., 417, Z. 26. Unmündige Kinder und Blinde seien von dieser Pflicht selbstverständ‐ lich ausgenommen. 289 Ebd., 422, Z. 12–15. 290 Ebd., 421, Z. 16 f. Dannhauer weist daher das Argument papsttreuer Theologen zurück, die Lektüre durch Laien sei gefährlich, weil diese zu Ketzern werden oder durch alttesta‐ mentliche Geschichten zur Sünde verleitet werden könnten. Mit Blick auf den Ursprung nahezu aller Häresien müsste dann viel eher „der Clerisey die Schrifft verbotten werden“ (ebd., Z. 12f).

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figurirt unnd geschrieben“. 291 Gott habe die Schöpfung so ausgeschmückt, dass diese den Menschen zur Betrachtung und damit zur Suche nach dem Schöpfer verlockt. 292 Die Menschen versündigten sich an ihrer Bestim‐ mung und an Gott, wenn sie wie die Schweine bloß „undersich sehen / und die Eicheln aufffressen / nicht ubersich / den reichen geber und gut‐ thätigen GOTT zu loben“. 293 Das Buch der Natur unterteile sich dabei in vier Teile: Der erste Teil beinhalte die ursprüngliche Schöpfung als „die sechs Tagwerck / die er der HERR anfangs erschaffen / unnd noch biß dato durch sein kräftiges Wort trägt / erhalt und durch Göttlichen Segen vermehrt“. 294 Der zweite Teil umfasse „allerhand Historien / geschichten / Exempeln / begegnußen / ja den ganzen lauff Göttlicher Fürsehung und Regierung“ sowie die apokalyptischen „periodos und Ziel / die der HERR dem Menschlichen geschlecht gesetzt“ habe (lat. fata providentiae). 295 Der dritte Teil umfasse für jeden Menschen „allerhand gutthaten / die wir von GOTT genossen / und noch täglich geniessen“. 296 Der vierte Teil schließ‐ lich seien die außergewöhnlichen Werke (lat. opera extraordinaria) der großen heilsgeschichtlichen Wunder und ihrer Spuren sowie die außerge‐ wöhnlichen Himmelserscheinungen. 297 Der gesamte Kosmos erscheint so bei Dannhauer als eine entzifferbare Botschaft, wobei jeder Teil des gött‐ lichen Buches der Schöpfung auf seine spezifische Weise auf den Schöpfer verweist. Jede fromme Verachtung der Philosophie und der philosophischen Na‐ turbetrachtung kritisiert Dannhauer daher – diese bedeute, „das Kind mit seinem unflath“ wegzuwerfen, „den man vielmehr abwäschen / das Kind säubern / lieben unnd annehmen hette sollen“. 298 Er fordert vielmehr in‐

291 CM Bd. 1, 396, Z. 3–7. Zu dieser Metaphorik, ihrer antiken und christlichen Vorge‐ schichte sowie ihrer philosophischen Wirkungsgeschichte vgl. Blumenberg, Lesbarkeit. Leider geht Blumenberg dabei auf die protestantische Theologie des 17. Jahrhundert kaum ein. 292 Vgl. CM Bd. 1, 400 f. Der Mensch sei „in die Welt alß eine Universität und hohe Schul kommen“ (ebd., 222, Z. 21), damit er Gott suche und in seinen Werken aufspüre. 293 Ebd., 403, Z. 13–15. Besonders betreffe dies die Bauern, die sich zwar mitten im Buch der Natur bewegen, aber es durch Gewöhnung nicht mehr zum Anlass des Wunderns und Lobens nehmen. Aufgrund ihrer mangelnden Ehrfurcht vor Schöpfung und Schöpfer habe Gott die Landbevölkerung vielfach „auß gerechtem Gericht gleichsam zu Bestien lassen werden“ (ebd., 406, Z. 26). 294 Ebd., 396, Z. 7–10. 295 Ebd., Z. 10–13. 296 Ebd., Z. 15 f. 297 Vgl. ebd. 298 Ebd., 403, Z. 25–27. Zu verurteilen sei freilich ein Missbrauch der Philosophie, durch den sie ihrem eigentlichen Zweck der vorbereitenden Gotteserkenntnis und des gemei‐

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tensive Kontemplation dieser Naturoffenbarung Gottes, die der sich in den Tiefensinn versenkenden Betrachtung der Schrift analog ist: „Nun dieses Buch müssen wir nicht anschawen / wie die Kühe ein new Thor / son‐ dern darinnen lesen / unnd durchblättern / das ist die schönen Creaturen GOTTES anschawen / hören / riechen / schmecken / empfinden / dieselbe gleichsam ana‐ tomiren, penetriren, auffthun / forschen / durchschawen / so viel in dieser unserer unvollkommenheit müglich“. 299

Seine Hörer und Leser will Dannhauer daher dazu anleiten, mit Salomo in die „Natur-Schul“ zu gehen, um von den Tieren belehrt und zugleich be‐ schämt zu werden. 300 Dieses Lernen von der Schöpfung tritt für Dannhauer nicht in Konkurrenz zur Heiligen Schrift als Offenbarungsquelle, inso‐ fern ja die Schrift selbst ihre Leser mit Gleichnissen und Sinnsprüchen auf diese und ähnliche Beispiele aus der Natur verweise. Ausgehend von Gottes Wort in der Bibel werden Menschen in die Lage versetzt, auch „in na‐ türlichen Bildern unnd gleichnußen Himmlische sachen zuverstehen“ und der Schöpfung – nach biblischem Vorbild – eine Vielzahl von lehrreichen „anleytungen / und gleichnußen“ zu entnehmen. 301 Hier wird deutlich, wie

nen Nutzens entfremdet sowie durch das „bloße und heillose speculiren, sophisticieren, disputieren“ (ebd., 404, Z. 20f) über ihre Schranken ausgedehnt werde. Ein undifferen‐ ziertes „mischmäsch“ (ebd., Z. 28) aus Theologie und Philosophie vergifte erstere und sei daher (mit Tertullians berüchtigtem Diktum über Athen und Jerusalem) strikt zu vermeiden. Dannhauer betrachtet die Erzväter der Bibel auch als Urväter und Erfinder der Naturkunde und Astronomie, die erst später bei Ägyptern und Griechen ihren Nie‐ derschlag gefunden habe, vgl. ebd., 402 f; 410 f. Vgl. zu diesem Thema auch CM Bd. 8, 705. 299 CM Bd. 1, 397, Z. 1–6. Gott wolle, dass alle Menschen „uber die arcana naturae, uber die geheimnus der Natur verwundern“, dass sie „in den Schulen davon profitiren lesen / hören / underreden / unsere pflicht daraus ermessen“ und somit „in allen sichtbaren geschöpffen den unsichtbaren Schöpffer selbs [...] forschen / suchen / außbreiten“ (ebd., Z. 9–14). Vgl. für dieses Motiv auch CM Bd. 3, 42. 300 Vgl. CM Bd. 2, 349, Z. 21. Aus der Menge der Beispiele vgl. ebd., 95–97 (die Seidenraupe als Vorbild nützlichen bzw. selbstlosen Lebenswandels und Antitypos zu Christus); vgl. ebd., 118f (Hund und Löwe als Vorbilder der Dankbarkeit); vgl. ebd., 349–351 (Ameise und Biene als Vorbild von Fleiß und Sparsamkeit); vgl. CM Bd. 3, 45–47 (die Ameise als Vorbild der wohlgeordneten Gesellschaft). Vgl. die auch andere Naturerscheinungen wie Gestirne und Pflanzen integrierende Liste CM Bd. 1, 401 f. Auf diesem Wege kann Dannhauer antike Fabeln, Legenden und Epen sowie antike Naturbeschreibung in die christliche Lehre integrieren: „Ob nun dieses ein pur lauter Gedicht und Fabel ist / so ligt doch / wie under andern poetischen getichten / groß weißheit darunder verborgen“ (ebd., 372, Z. 6–8). 301 Ebd., 398, Z. 7–9. Erst von der Heiligen Schrift und dem Katechismus her erschließe sich den Glaubenden auch Himmel und Erde „als ein Buch Gottes / darinn seine Weiß‐ heit / Gütigkeit / Allmacht / in so viel Buchstaben als Creaturen / auffgezeichnet und

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Dannhauer immer wieder von der Bibel selbst ausgehend eine biblizistische Beschränkung auf den Buchstaben des Textes aufbricht, ohne den program‐ matischen Schriftbezug seiner Theologie preiszugeben. Vorausgesetzt ist dabei eine „emblematische“ Anschauung der Welt als strukturiertem Kos‐ mos aufeinander verweisender Sinnzusammenhänge, die gleichwohl nicht ungebrochen ablesbar sind, sondern angesichts geschichtlicher Differenz‐ erfahrung erst herausgearbeitet und dann als solche neu affirmiert werden müssen. 302 Könne man aus dem Buch der Natur zwar viele Erkenntnisse entneh‐ men, so doch keinesfalls „den Seeligmachenden Glauben schöpffen“. 303 Nur das helle Licht und die „höhere Schul deß Göttlichen Worts“ eröffnen eine klare und verlässliche Erkenntnis Gottes und des Heilsweges. 304 Allein die biblischen Bücher sind Heilige Schrift, die „GOtt recht zu erkennen und consequenter nicht blinderweyß / sondern klüglich zu loben“ lehre, wobei bereits „das Lesen der H. Schrifft ein stuck sey deß Göttlichen lobs“. 305 Die Schrift ziele darauf, den Menschen „Himlische weyßheit“ zu offenbaren, und „ist geschrieben / daß wir glauben sollen“. 306 In der Frage nach Gottes Willen und überhaupt allen zweifelhaften Angelegenheiten sei als erstes das „Liecht der H. Schrift alß das rechte Göttliche oraculum deß N. Testaments“ zu Rate zu ziehen, sodann als zweites das „Liecht der Natur und der erfah‐ renheit“. 307 In jedem Fall gelte eine Art Vetorecht der biblischen Schrif‐

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fürgemahlet worden“ (CM Bd. 3, 42, Z. 6–8). Dannhauer nennt diese von der Schrift ausgehende Suche der Spuren Gottes in der Natur indago anagogica. Den Heiden stehe ohne Schriftoffenbarung nur eine die Christusoffenbarung vorbereitende indago paed‐ agogica offen, doch seien seien „Christen und Juden [...] nicht vergebens in alle Welt zerstrewet“ (CM Bd. 1, 399, Z. 31f). Zur emblematischen Weltanschauung vgl. Henkel/Schöne, Vorbemerkungen, IX-XXVI; XXXI. Vgl. ferner Hoffmann, Barock, 172–174. Zur emblematischen Methode der Theologie Dannhauers siehe unter 4.2.2. CM Bd. 1, 397, Z. 19. Die Natur verweise von sich aus auf einen wohltätigen Schöpfer‐ gott sowie allgemeine ethische Regeln wie die, dass einem Wohltäter Dank und Vereh‐ rung geschuldet sei, vgl. ebd., 399. Aber nur die Bibel als „Gottes Sendbrief / den er uns armen Wallbrüdern als das erste Reißbuch zum Himlischen Vaterland“ (ebd., 414, Z. 1f) gegeben habe, enthalte das zum Heil notwendige Wissen. Ebd., 230, Z. 22. Ebd., 409, Z. 31–33. Ebd., 415, Z. 9 f. Falsch und abergläubisch werde das Wort Gottes gebraucht, wo den Buchstaben der Bibel, bestimmten Formeln oder dem Bibelbuch eine magische oder quasi-magische Kraft zugeschrieben wird: „Gottes Wort ist zu dem Ende von Gott nicht gegeben / daß es die Naturen ändern und angedeutete Kräfften wircken solte / alle Schrifft von Gott eingegeben ist nutz zur Lehr “ (ebd., 474, Z. 18–20) und ziele darauf, Glauben zu wecken (2Tim 3,16). Ebd., 230, Z. 36–231, Z. 1; Z. 17. Allgemein könne das Neue Testament vielfach als „ein helles Liecht / und klare Außlegung deß alten Testaments“ (CM Bd. 8, 680, Z. 26)

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toffenbarung: „Welcher rath und gedancken der heyligen Schrift zuwider / der ist gewiß böß und betrieglich“. 308 De gesamte Schrift habe ihre Mitte in Christus als dem „centrum dahin der ganzte Schrifftzirkul weyset“ und dem „zweck danach wir zihlen müssen“. 309 So kommt das Evangelium in Chris‐ tus für Dannhauer faktisch auch als Mitte von Natur und Geschichte zum Stehen, insofern die kosmische Ordnung von Schöpfung und Gesellschaft sich erst von der Schrift her wahrhaft erschließen lässt. Den „rechten einigen und eigenen Sinn und Verstand“ einzelner Bibel‐ stellen, könne man der Schrift in der Regel leicht entnehmen, sei diese doch „per se, an und für sich selbst hell und klar“. 310 Die vielen Streitigkeiten in der Christenheit um das richtige Verständnis der Schrift sieht Dannhauer nicht der mangelnder Klarheit der Schrift, sondern in der Sünde der Men‐ schen und dem verkehrten Willen der Ausleger geschuldet. 311 Allerdings gelte: „Klar seyn / und noch deutlicher erkläret werden / ist nicht wider einander“. 312 Erscheine der Sinn einer Bibelstelle wie ein Turm in der Ferne zunächst klein und niedrig, so wachse er mit Annäherung auf dem rechten Weg immer weiter und bis zu seiner tatsächlichen Größe an. 313 Dabei ist die Klarheit einer Schriftstelle immer in Relation auf das zu betrachten, wo‐ von sie handelt: Was dem Menschen „in Gottes Wort fürgehalten“ werde, umfasse zweifellos auch „παραδοξα [Paradoxa, TG], seltzame und der Ver‐ nunft unglaubliche Ding“. 314 Wo der Sinn der Schrift ein echtes Mysterium

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dienen, ohne dass damit die Offenbarungsqualität des Alten Testaments grundsätzlich abgestuft oder eine kirchliche Auslegungsinstanz nötig wäre. Vgl. CM Bd. 1, 415. Ebd., 232, Z. 1 f. Vgl. auch CM Bd. 4, 14–19. CM Bd. 1 415, Z. 2 f. Die Schrift sei den Menschen gegeben, um darin den „Messiam und Weltheyland und durch denselben das ewig leben darinnen zu suchen“ (ebd., Z. 1f). Christus sei nicht nur Mittelpunkt des Kreises, sondern – so Dannhauer mit einer ganzen Kaskade an Bildern – auch der „Kern den wir in dieser Nuß erbrechen : der Stern dem wir mit den Morgenländischen Weisen nachforschen : das Wiltpret / daß wir aufspüren : die Goldader und Schatz dem wir nachgraben müssen : die beste Speiß / die uff dieser Königlichen Tafel auffgetragen wird“ (ebd., Z. 3–7). CM Bd. 8, 679, Z. 22 f. Deshalb werde die Schrift bereits in der Bibel selbst Leuchte bzw. lucerna genannt, die in der Finsternis scheine, vgl. ebd. Vgl. ebd., 682 f. Von der römischen Theologie und den reformierten Irrlehrern werden die Worte der Schrift einer gewaltsamen „Tortur“ (ebd., 683, Z. 2) unterzogen. Die Aus‐ legungen, zu denen sie gelangen, seien daher gezwungen und umständlich – so, als ob ein Mensch „zum Fenster hinein steigt / wann die Thür im Hauß offen stehet“ (ebd., Z. 3). Dies illustriert Dannhauer ausgehend von den kontroverstheologisch besonders umstrittenen Einsetzungsworten des Abendmahls. Ebd., 681, Z. 3 f. Dannhauer vergleicht dies mit dem Mond, dessen Helligkeit abhängig von der Sonneneinstrahlung variiert. Vgl. ebd., 690. CM Bd. 3, 40, Z. 3 f. Zu diesen die Vernunft übersteigenden Paradoxa gehören: „in ei‐ nem Wesen drey Personen / in einer Person zwo Naturen / ein gecreutzigter GOtt /

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bleibe, liege das Rätsel und Geheimnis somit in der göttlichen Sache selbst oder dem Willen Gottes – nicht in ihrer unvollkommenen Darstellung durch die Schrift. 315 Bezüglich dieser Paradoxa solle der Glaube der Schrift auch wider die Einwände der Vernunft vertrauen wie ein Kind, das alles, was seine Mutter ihm erzählt, unmittelbar für wahr hält und selbst „den unglaublichsten Sachen beyfall gibt“ mit der Begründung: „mein Mutter hats gesagt / darumb ists wahr“. 316 Von solchen Mysterien zu unterscheiden sind wiederum nebensächliche Sachverhalte, die für den seligmachenden Glauben ohne Bedeutung sind, oder Stellen, deren voller und klarer Sinn in anderen Zusammenhängen klar ausgesprochen wird. 317 Schließlich gebe es gänzlich verborgene Ratschlüsse, die Gott den Menschen weder im Buch der Natur noch in der Heiligen Schrift offenbart habe. 318 Zu dieser Ka‐ tegorie gehören etwa der Termin des Jüngsten Tags, aber auch die mit der Theodizeefrage zusammenhängenden Fragen, warum „newlicher Zeit solch schröckliche Gericht uber Magdeburg ergangen und nicht uber an‐ dere Stätt“. 319 Hinsichtlich dieser Ratschlüsse gelte: „In der höchsten Schul die droben ist / schola gloriae wird das stuckwerck auffhören / da werden wir GOtt sehen wie er ist.“ 320 Bis dahin ist die Einsicht in den Sinn der Schrift für Dannhauer ebenso steigerungsfähig wie die Kenntnis der Lehre – nicht zuletzt dadurch, dass eine biblische Konstellation typologisch in der Geschichte oder der eigenen Gegenwart ‚wiederentdeckt‘ wird.

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eine Jungfräwliche Mutter / die Vereinigung des Wassers und des Geistes / des Brods und des Leibs Christi / und daß der verwesene Leib des Menschen am Jüngsten Tag widerum soll auffstehen“ (ebd., Z. 5–9), mithin viele Kernbestandteile der christlichen Glaubensbekenntnisse. Vgl. CM Bd. 8, 679 f. CM Bd. 1, 9, Z. 13d. Für die erneute Aufnahme dieses Bildes für kindlich-einfältiges Vertrauen auf Gottes Wort, vgl. ebd., 248; CM Bd. 4, 154; CM Bd. 8, 651. Vgl. ebd., 680. Vgl. CM Bd. 1, 225; 236. Der „Blick in sein Göttliche Cantzley und geheime Rathstub“ (CM Bd. 3, 13, Z. 18f) stehe dem Menschen eigentlich nicht zu und werde von Gott nur in sehr seltenen Ausnahmefällen gewährt. Dannhauer weist daher alle mantischen Ver‐ suche zurück, die (scheinbaren) Zufälle des Schicksals oder die Zukunft durch Weissageund Orakeltechniken zu erhellen, vgl. auch CM Bd. 3, 10 f. CM Bd. 1, 226, Z. 3 f. Ein Beispiel für solche kontingenten Ratschlüsse ist auch, dass Gott zu biblischen Zeiten Israel und „in der letzten Zeit / uns Teutschen / für allen völckern erwehlt / unnd mit seinem Wort begnadet“ (ebd., 5–7) habe. Ebd., 230, Z. 28–30. Unter Verweis auf Ambrosius unterscheidet Dannhauer drei Stufen der Gotteserkenntnis: „hic umbra, hic imago, illic veritas“ (ebd., Z. 30).

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b) Hörendes Lesen als Frömmigkeitspraxis Die Lektüre der Schrift als Wort Gottes für Dannhauer nicht nur eine her‐ meneutische Herausforderung, die nach dem methodischen Prinzip einer sich selbst auslegenden Schrift zu bewältigen ist. Die rechte Bibellektüre hat für ihn immer auch mit „andacht / forcht / demuth / und Ehrerbie‐ tung“ zu erfolgen und ist durch Gebet vorzubereiten, „dann was thut der Mensch wann er in der Bibel liset anders / als daß er mit Gott redet?“. 321 Dannhauer kritisiert daher Studenten, die meinen, „es sey alles mit der Naturzwang / grossem fleyß / fähigen und scharffen ingenio, Büchern / uncosten, praeceptoren außgerichtet“. 322 Fortschritte hinsichtlich der gött‐ lichen Weisheit seien nur zu erreichen durch die drei richtigen „Schlüssel“, nämlich die „Gottesforcht“ (lat. timor Dei), das „andächtige auffmercken deß Göttlichen Worts“ (lat. devota verbi divini attentio) sowie die „fleis‐ sige Bemühung“ (lat. studium diligens) im Nachforschen nach dem Sinn. 323 Die gespannte Haltung „genawer obacht“ (griech. ἀϰρίβεια) erfordere, die Aufmerksamkeit auf „den verstand / den zweck / das vorhergehende und folgende“ zu richten. 324 Wie Dannhauer in anderem Zusammenhang aus‐ führt, impliziert dies philologische Genauigkeit. 325 Mehr als auf die bib‐ lischen Gemeinplätze (lat. loci communes), unter die sich eine Belegstelle möglicherweise subsummieren lasse, sei dabei auf die „verborgene Tieffe / und gleichsam schlaffende[n] Sinne“ (lat. loci proprii) des einzelnen Textes zu achten, um „aus blosen Leß-Worten Lebens-Wort“ zu machen. 326 Von da ausgehend ist zur Überprüfung der Interpretation das Kontextwissen der „Glaubens-Regul / samt dem Zweck des Göttlichen Scribenten / desselben ἤϑος, Art und Weise zuschreiben“ hinzuzuziehen und eine „Befragung an‐

321 Ebd., 415, Z. 20–24. Der Mensch trete beim Lesen wie Mose vor den „Fewrigen Busch“ (ebd., Z. 25). Wir können „nicht nur Mosen und die Propheten / sondern auch Chris‐ tum“ hören in den „schrifftlichen Heiligthumen / die der Christlichen Kirche beygelegt sind“ (CM Bd. 8, 621, Z. 1–3). 322 CM Bd. 1, 426, Z. 8 f. 323 Ebd., Z. 21f; Z. 27; Z. 30 f. Dannhauer legt damit Sir 15 und den auch für Luthers Theo‐ logieverständnis zentralen Ps 119 aus. 324 CM Bd. 1, 416, Z. 1–3. 325 Man müsse den „Text gründlich außwürcken / mit anderen Orten der H. Schrifft con‐ feriren / das finstere Licht mit dem hellern verklären / nachsinnen und außspäen / wie ein Spruch aus dem andern gehet“, außerdem genau auf die „Emphases, die in einen Hebreischen oder Griechischen Wort verborgen liegen“ (CM Bd. 8, 655, Z. 3–5; Z. 26) achten. Der wichtigste Schlüssel, um „den verschlossenen Verstand zueröffnen“ (ebd., 688, Z. 3), sei der Vergleich verschiedener Bibelstellen, was typologisch mit der Verhei‐ ßung der Schlüsselgewalt an Petrus verbunden wird. 326 Ebd., 656, Z. 10–12.

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derer Lehrer in der Kirche“ vorzunehmen. 327 Es handelt sich also um eine hermeneutische Zirkelbewegung vom individuellen Sinn einer biblischen Textstelle zum Ganzen des Lehrzusammenhangs und zurück. Diese methodisch kontrollierte Genauigkeit oder Akribie bedeutet kei‐ nesfalls eine vergegenständlichende Distanz zur Schrift oder gar Abschot‐ tung gegenüber ihrem Anspruch. Die Bibel sei vielmehr immer so zu lesen, dass „der Leser alles auff sich ziehe“ (lat. attentio applicationis). 328 Der Glaube solle die Geschichten von „Christi Geburt / Oelberg / Tod / Auf‐ ferstehen etc anders nicht ansehen / als wann wir da gestanden weren / und weren selbst mit gestorben und aufferstanden“. 329 Indem sich der Leser so in die Geschichte einträgt, geht ihm die persönliche Bedeutung des Gesche‐ hens auf für das eigene Heil: „Jesus ist mein / spricht ein glaubiges Hertz mit Warheit / sein Geburt ist mir zu gut geschehen / der blutige Schweiß am Oelberg ist mein Schatz und mein Eigenthumb / seine blutige und trawrige Passion / gilt mir, trutz Teuffel oder Höll!“ 330 Für diesen höchst persönli‐ chen pro-me-Bezug steht bei Dannhauer gerade die lehrmäßig erschlossene Allgemeinheit des Heilswillen Gottes ein, denn Gottes Wille „hat kein an‐ sehen der person / was er einem sagt geht auch den andern an“. 331 Es ist also nicht das vereinzelte Ich, sondern schlechthin jeder Mensch, der durch die Bibel persönlich als Einzelner angeredet wird. Bei Theologen wie Dann‐ hauer wird die Schrift nicht nur als Erkenntnisprinzip zur Begründung kirchlicher Lehrartikulationen herangezogen, sondern zum Gegenüber ei‐ ner christlichen Lesefrömmigkeit, die im Umgang mit Texten Erfahrungen mit Gottes wirksamem Wort erhofft. Das Wirksamwerden des Geistes durch das schriftliche Wort Gottes vollzieht sich für Dannhauer im Rahmen einer lehr- und lernbaren, me‐ thodisch kontrollierbaren Lesepraxis, die dennoch unter der Bedingung einer grundlegenden Passivität und Rezeptivität im Gottesverhältnis steht. Letztinstanzlich sei nicht das menschliche Tun der Lektüre, sondern das erleidende Hören des göttlichen Wortes entscheidend. Man müsse „in Gott ruhen unnd still seyn“, um hören zu können, was Gott „durch sein liebes Wort mit uns reden und lehren will / auff daß wir dardurch den glauben 327 328 329 330 331

Ebd., 689, Z. 3–5. CM Bd. 1, 416, Z. 4 f. CM Bd. 4, 93, Z. 22–24. Ebd., Z. 24–27. CM Bd. 1, 416, Z. 6 f. So betreffe etwa der Dekalog nicht nur das Volk Israel und auch die Verheißungen der Abschiedsrede Christi rede nicht allein die Jünger an, sondern alle Leser. Die Gebete der Psalmen ließen es „unverbotten die person zuändern / und was David von seiner oder anderen Person sagt auf sich zu ziehen“ (ebd., Z. 17f). Es sei „billig / daß ein jeder unter uns nicht weniger Gott dancke / als wenn er umb seiner willen allein in die Welt kommen were“ (CM Bd. 4, 93, Z. 32–34).

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fassen“. 332 Im Idealfall empfange der Mensch das „göttliche Liecht schlaf‐ fend“, und zwar genauer: „ruhend von allen Vernunffts-Phantaseyen unnd widersprechen / von weltlichen Sorgen / von nachtirrenden und schweif‐ fenden Gedancken“. 333 Maßgeblich seien der „in unpassionirten Ohren“ erschallende Wortlaut und der „erstlich in Gedancken kommende“ Sinn als der noch „unverkünstelte / buchstäbige / einfältige / ungezwungene Verstand“ einer Schriftstelle. 334 Die ideale Offenheit für Gottes Wort be‐ schreibt Dannhauer als einen Schwebezustand, der auf paradoxe Weise die Wachsamkeit hinsichtlich Gottes Wortes und den Schlaf hinsichtlich der Verstrickungen in weltlichen Sorgen vereint – mithin eine Art Traumzu‐ stand, wie er in Ps 126,1 als Bild der Seligkeit verheißen sei. 335 Dieses Naivi‐ tätsideal einer ‚träumenden‘ Unvoreingenommenheit im Umgang mit der Schrift bedeutet – wie oben bereits herausgearbeitet wurde – aber keines‐ falls, dass die philologische Genauigkeit, der Vergleich mit dem biblischen Kontext und eine logisch-rhetorische Analyse unwichtig werden. Beides bedingt sich in der vielmehr gegenseitig in der Auslegung der Schrift als Wort Gottes pro me. Diese Gott gegenüber offen gehaltene Passivität sei notwendig, da‐ mit der Bau des Glaubens extra nos allein auf der „Göttlichen unwan‐ delbaren und Himmelfesten warheit“ gegründet werden könne. 336 Das „real-Fundament / unnd die Grundfeste darauff wir fussen und vertrawen müssen“, könne nur die „Göttliche warheit / Allmacht / unnd gütigkeit“ selbst sein, wie sie in Gottes Schriftwort als dem „Lehrgrund“ offenbart ist. 337 Das unverrückbare Fundament dieser göttlichen Standfeste (griech. ὑπόστασις) begründe die Festigkeit des Herzens und die subjektive Gewiss‐ heit des Glaubens. Dessen Vollendungsgestalt sei „das Kindliche vertrawen und zuversicht auff Gott“ (lat. fiducia), die zugleich die Forderung des ers‐ ten Gebots erfüllt. 338 In der Folge äußere sich diese Glaubenshaltung in

332 CM Bd. 4, 23, Z. 10–12. 333 CM Bd. 4, 23, Z. 2–5. Durch aufmerksame Ruhe der Sinne und eine Haltung der Ehr‐ furcht müsse die „Vernunfft ruhen / und den Fürwitz lassen“, um nicht den „Mäußkoth“ der eigenen Gemütszustände und Einbildungen „unter das köstliche Gewürtz des Gött‐ lichen Worts“ (CM Bd. 3, 43, Z. 11f; Z. 22–24) zu mischen. Die Vernunft wolle – man bemerke die Ironie! – König Ödipus sein und mache daher die Schrift, Christus und seine Apostel zur Sphinx, vgl. CM Bd. 8, 684. 334 Ebd., 683, Z. 7–10; Z. 18. 335 Vgl. CM Bd. 4, 23. 336 CM Bd. 1, 250, Z. 30 f. 337 Ebd., 253, Z. 15–18. Gott alleine bleibt das objectum fiduciae im eigentlichen Sinn (d.h. im Sinn der Gebote), nicht die Schrift. Vgl. ebd., 256. 338 Ebd., 251, Z. 2 f. Dieser feste und zuversichtliche Glaube ist für Dannhauer besonders gut in dem Lutherlied „Ein feste Burg ist unser Gott“ ausgedrückt, vgl. ebd., 253.

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Affekten der Freude und des Mutes, im offenherzigen Gebet gegenüber Gott und einer beständigen Hoffnung angesichts aller Wechselfälle des Le‐ bens. 339 Es ist laut Dannhauer – mit einem bewusst paradoxen Bild – gerade der „unergründliche abyssus, der Abgrund Göttlicher Güte unnd trewe“, in dem der Anker der christlichen Hoffnung festen Grund findet. 340 Deutlich wird hier bereits auf der Ebene der Sprachbilder, dass diese barock-mys‐ tische Konzeption einer Gründung des Selbst im göttlichen Abgrund von modernen Letztbegründungsstrategien charakteristisch unterschieden ist. Dieser göttliche Grund als Abgrund ermöglicht jedenfalls keine Sicherung endlicher Subjektivität, die von der lebendigen Beziehung zu einem unver‐ fügbaren Gegenüber ablösbar wäre. Dass das fragile Selbst im Abgrund neu verankert wird, vollzieht sich im meditierenden Umgang mit dem Schrift‐ wort, ohne doch im strikten Sinne planbar oder gar Eigenleistung der from‐ men Selbsttätigkeit zu sein. c) Vom Lesen des Worts zum Lehren der Predigt Wird angesichts dieser persönlichen, häuslich gepflegten Schriftfrömmig‐ keit die Institution eines öffentlichen Predigtamtes nicht eigentlich über‐ flüssig? Diese Konsequenz liegt Dannhauer fern. Könne so jeder und jede Einzelne durch fleißige und genaue Bibellektüre „auch wol etwas stattliches proficiren / und viel schwere Knoten aufflösen“, sei dennoch das Predigtamt nicht zu verachten, welches Gott zur Auslegung der Schrift eingesetzt und geordnet habe. 341 Schließlich gelte: „die lebendige stimm deß Lehrers hat alzeit mehr krafft / und tringt besser durch / als das blose lesen“. 342 Wie die Bibellektüre sei deshalb auch das Hören des Gotteswortes „kein mittelding“, sondern eine göttliche Verpflichtung: „Wer Ohren hat zu hören / der höre“ (vgl. Mk 4,9 u.ö.). 343 Keinesfalls solle man sich dabei einbilden, das Gotteswort, „so Petrus und andere heilige Männer geredt“ haben, wäre kräftiger oder irgendwie dem Wesen nach ein anderes gewesen, „als wann es heutigs tags von ei‐

339 Vgl. ebd., 257 f. 340 Ebd., 259, Z. 2. 341 Ebd., 689, Z. 11 f. Jeder Christenmensch könne der Schrift eigenständig „so viel nachsin‐ nen und verstehen / als ihm zuglauben / zuhoffen und zuwircken vonnöthen ist“ (ebd., 687, Z. 32f). Die Gefahr einer solchen Verachtung des öffentlichen Gottesdienstes sieht Dannhauer bei Andachtsbüchern wie den Schriften Johann Arndts gegeben, vgl. CM Bd. 1, 431. 342 Ebd., 427, Z. 2–4. Dannhauer paraphrasiert hier ein Zitat von Hieronymus. 343 Ebd., Z. 9–11. Wie die Blinden von der Bibellektüre, sind natürlich die Gehörlosen von dieser Christenpflicht befreit.

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nem armen Dorffpfarrherr außgeredet wird“. 344 Schon das vom Prediger verlesene Wort der Schrift sei schließlich „eben das Wort daß der Hey‐ lig Geist vorzeiten durch Mosen / Paulum etc.“ geredet habe – und daher anzunehmen, als höre man „die Stimm deß Himmlischen Vaters“ oder Christus, den „Geistlichen Breutigam selbst“. 345 Durch die Rückbindung der persönlichen Lektüre an das Hören des Textes und die gottesdienstli‐ che Auslegung werde nicht nur die Gefahr gemindert, dass man in seinem Verstehen „das Schwartze in der Scheiben“ verfehle, sondern es stelle sich auch eine höhere „Gewißheit deß Verstandes / so viel Glauben und Gottes‐ dienst anlanget“, ein. 346 Die Inspiriertheit der Schrift und ihres Wortlautes verbürgt bei Dannhauer nicht nur die Autorität des kirchlichen Amtes, sondern insbesondere auch die Möglichkeit einer persönlichen und nicht durch Tradition vermittelten Gottesbegegnung der Einzelnen. Dannhauer weist auf der Grundlage dieser Unmittelbarkeit beim Hören des Gotteswortes die Position zurück, dass ein „Privat-Mensch“ in seiner Auslegung nur recht gehen könne, wenn er sich an die „öffentliche Stimm“ der Kirche und ihrer Konzilien halte. 347 Keinesfalls sei alles, „was von einer Privat-Person kommt“ deshalb schon als „eine Eigensucht oder Eigensin‐ nigkeit“ abzulehnen. 348 Vielmehr sei durch den Heiligen Geist „ein jeder Christ / als ein geistlicher Mensch von rechtswegen“ auch der „rechte In‐ terpres und Dolmetsch der Schrifft“. 349 Wenn „heutiges tags ein getrewer / fleissig und recht meditierender Prediger einen und den andern Text / nach underscheid der gaben / heller / ordentlicher / gründlicher tractirt / als jr‐ gend zuvor mag geschehen sein“, soll man diese neue Einsichten keinesfalls voreilig „als ein Ohrenjuckende newe Lehr außscalieren“. 350 Schließlich sei auch Luthers reformatorische Lehre, obwohl sie nichts als die authentische Lehre der Apostel gewesen sei, seinen Zeitgenossen neu und unerhört vor‐ gekommen. Zur Geltung kirchlicher Traditionen legt Dannhauer deshalb Gott folgende Rede in den Mund:

344 Ebd., 429, Z. 34–36. Vielmehr gelte: „Einerley Wein wird in einem silbern und Zinneren Becher fürgetragen : Einerley Roßwasser ist es / man gieß es gleich auß einem Glaß / oder Alabaster“ (ebd., 430, Z. 3–6). 345 Ebd., Z. 2f; Z. 7–9. 346 CM Bd. 8, 689, Z. 16–18. 347 Ebd., 687, Z. 1 f. Die Behauptung, dass der Heilige Geist „unfehlbar den Concilien bey‐ wohnet“, gelte sowieso nur unter der Bedingung, dass auf dem Konzil auch „Christlich / frey / unpassionirt“ (ebd., Z. 2–4) und allein auf Grundlage der Schrift die christliche Wahrheit gesucht werde. Diese Bedingung sei bei den großen altkirchlichen Konzilien, aber nicht im Fall des Konzils von Trient erfüllt gewesen. 348 Ebd., Z. 11 f. 349 Ebd., Z. 215 f. 350 CM Bd. 1, 433, Z. 11–15.

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„Laß auß deinem Mund das alte / setz meinen Gebotten kein alte gewonheit entge‐ gen / kein alte national oder collegial gewonheit / sag nicht, von dem das mir zuwider ist / es ist also Landts art / [...] Ich bin der uralte Gott / mein Gebott gehet uber alles / Hundert Jahr unrecht / ist keinen tag nie recht gewest“. 351

Die Regeln der methodischen Auslegungskunst sind auch bei den bibli‐ schen Texten zu beachten, aber diese Auslegung darf keiner menschlichen Lehrinstanz unterworfen werden. Gott habe verheißen, er wolle die Aus‐ leger der Schrift in ihrem Verstehensprozess „in alle Wahrheit leiten“ und einen „Seelen-gefährlichen Betrug nicht zulassen“. 352 Der Sinn der Schrift, der unvoreingenommen und nach dem von Gott geordneten Methodus der Lektüre erschlossen werde, sei nach Gottes Verheißung der „rechte / gewisse und unfehlbare Verstand“ und damit eine Selbsterschließung Got‐ tes. 353 Die auslegende Bemühung um diesen Sinn wird in der Gemeinde insbe‐ sondere durch das Predigtamt wahrgenommen, das den Hörern auf diese Weise die Begegnung mit Gott und seinem Willen ermöglicht. Für die Be‐ stimmung des Wesens und der Aufgaben des Predigtamts greift Dannhauer programmatisch auf eine Lichtmetaphorik mit kultischen Konnotationen zurück: Das „Ewige Liecht deß Göttlichen und Geistreichen Wort Gottes“ sei durch die Kirche „zu foviren und auf die posterität fort zu pflanzen“. 354 Daher sei von Gott das „heilige Predigtampt / als der geistliche Leuchter“ eingesetzt, auf dem dieses Licht für alle Welt sichtbar brennen könne. 355 Als „leuchtende und exemplarische Liechter / so da nicht unter einem Schöf‐ fel verborgen stehen“, sollten Prediger „mit gesunder Lehre und heiligem Leben ihren Zuhörern vorleuchten“. 356 Immer gehöre freilich auch „ein 351 Ebd., 85, Z. 7–10; Z. 14 f. Bei Dannhauer ist trotz aller Orientierung an der vorbildlichen Urzeit der Kirche folglich nicht von einem humanistischen Traditionalismus zu spre‐ chen, wie beispielsweise Wallmann ihn Melanchthon und seinen Nachfolgern vorwirft, vgl. Wallmann, Theologiebegriff, 75–78. 352 CM Bd. 8, 690, Z. 17 f. 353 Ebd., Z. 11. Zu diesem Methodus siehe den vorangegangenen Abschnitt. Vgl. auch ebd., 683; 687; 698 u.ö. 354 CM Bd. 1, 454, Z. 10–12. 355 Ebd., Z. 12 f. Mit einem anderen Bild, das den Geruchssinn zum Vergleich heranzieht und ebenfalls eine typologische Verbindung zum alttestamentlichen Tempelkult her‐ stellt, bezeichnet Dannhauer die Prediger auch als „vasa odorifera solche wolriechende gefäß / die den Namen Gottes tragen sollen für alles Volck / denselben außgiessen und außbreiten“ (ebd., 437, Z. 1–3). Vgl. auch CM Bd. 8, 690 f. 356 CM Bd. 3, 87, Z. 14f; Z. 18 f. Aus der Gefahr, der Gemeinde mit ihrem Lebenswandel Anstoß zu bieten, erwachse eine besondere Verantwortung der Prediger. Allerdings ge‐ steht Dannhauer zu: „der soll noch gebohren werden / der alle böse Mäuler verbinden will“ (ebd., 92, Z. 24) und schlechterdings gar keinen Ansatzpunkt für verleumderische Gerüchte bietet.

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höheres Liecht und himmlischer Ursprung darzu“, damit ein Prediger der Gemeinde tatsächlich „Gottes Wort und die Göttliche Weißheit außbreiten und fürtragen“. 357 Frömmigkeit und Weisheit sind für einen guten Prediger gleichermaßen erforderlich, denn „ist er allein fromb so nutzt er ihm allein / und nicht andern; ist er allein gelehrt so hat seine Lehr kein krafft“. 358 Sei der letzte Zweck der Predigt nichts als die Ehre Gottes, dürfe ein Prediger auf der Kanzel sich „nicht auff dem theatro“ oder „im Spielhauß“ wähnen und auch durch „die Lobläuß nicht kitzlen“ lassen. 359 Vielmehr sei allein „Christum zu predigen / und dann die erbawung der Zuhörer zusuchen“. 360 Diesem übergreifenden Zweck diene sowohl das „Privatpre‐ digen“ der häuslichen Unterweisung, das gerade auch Frauen aufgetragen sei, als auch die öffentliche Verkündigung in Schule und Kirche, „so da geschicht von gewißen unnd darzu verordneten mit Ambtsgaben außstaf‐ fierten personen“. 361 Hinsichtlich der Ausgestaltung und der Umstände des öffentlichen Gottesdienstes habe Gott „seiner Kirchen die libertät und freyheit heimgestellt“, sofern alles „erbawlich / ehrlich / ordentlich“ ge‐ schehe. 362 Jeder Predigt sei ein auszulegender Text aus den „Prophetischen und Apostolischen schrifften“ der Bibel zugrunde zu legen – „wo müglich ins gesambt / oder doch auffs wenigste gewiße pericopae, extractus unnd außzüg auß denselben“. 363 Die wiederkehrenden Perikopen der Sonntagsund Festevangelien dienen mit ihrer Wiederholung dem Gedächtnis und befestigen so die Gewissheit. 364 Doch die Wiederkehr dieser Perikopen be‐

357 Ebd., 87, Z. 9–12. Dannhauer verweist hier auf das heilige Feuer der römischen Vestalin‐ nen, das nur durch die Sonne als himmlische Lichtquelle neu entzündet werden durfte, sowie auf die himmlischen Feuerzungen der Pfingstgeschichte. 358 CM Bd. 1, 459, Z. 28 f. Dannhauer nimmt für die Tugenden des Predigers Bezug auf die Pastoralbriefe, besonders Tit 1,9 und 2Tim 2,2. 359 Ebd., 458, Z. 6f; Z. 12 f. Vgl. auch CM Bd. 3, 42. 360 CM Bd. 1, 458, Z. 8. 361 Ebd., 455, Z. 3–5. 362 Ebd., 530, Z. 30–32. Diesem Zweck der Ausgestaltung dienen „Christliche Kirchenord‐ nungen“, die möglichst detailliert und umfassen regeln sollten, „wie der Catechismus zu treiben bey den Jungen / wie die predigten und dero Text solle abgehört werden / wie / wann / unnd auff was weiß / offentliche Gebett / unnd Bettstunden anzustellen / wie der gesang unnd Music zu führen / was bei außspendung der heyligen Sacrament für umbständ und ceremonien in acht zu nemmen/welche Feyrtag zu halten / wie es mit Ehsachen / mit der ordination, besuchung der Krancken /Begräbnussen / mit der disciplin unnd andern stucken der Oeconomi und Haußhaltung GOTTES soll gehalten werden“ (ebd., Z. 33–531, Z. 6). 363 Ebd., 456, Z. 30–32. 364 Vgl. ebd. Die altkirchlichen Evangelienreihen gehören laut Dannhauer zu den guten Kir‐ chenbräuchen, die auch gemäß des Augsburger Bekenntnisses beizubehalten sind. Den „newen Reformanten“, welche die Perikopenodnung für unbiblisch halten, hält Dann‐

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deute nicht, dass „das Wort GOttes so arm“ wäre, „daß man auß und von einem Text immer einerley müsste auf die ban bringen“. 365 Die Kunst be‐ stehe darin, zur höchsten Erbaulichkeit für die Hörer „einerley Lehr / aber nit alzeit auf einerley weiß tractirt“ zu predigen. 366 Daher kritisiert Dann‐ hauer solche Prediger, die „ohne weytere meditation, ohne betrachtung der einfallenden umbständ / aus lauter faulkeit / die alte concept immer wieder herfür suchen“. 367 Zum Ziel einer wahrhaft apostolischen, lehrhaften und damit zugleich erbaulichen Predigt führt nach Dannhauer eine gestufte Methode aus meh‐ reren Teilschritten. 368 Das „rechte Meisterstuck“ der Predigt, das man bei Christus in seinen „anmuthigen parablen und gleichnussen“ exempla‐ risch betrachten könne, sei hier wie bei der Vermittlung des Katechismus: „schwere sachen / hohe geheimnus leicht zu machen / und also fürzutra‐ gen daß es auch die alberen und einfältigen verstehen konnen“. 369 Dazu sei es hilfreich, „comparatè, vergleichungsweiß“ und das heißt insbesondere: bildlich und bilderreich zu sprechen. 370 Die besten Prediger wie Christus, Paulus oder auch Luther hätten immer beides vermocht: für die Ungelehr‐ ten leicht verständlich zu predigen und zugleich den Gelehrten gerecht zu werden. Die „unlehrhafften Prediger“ (griech. ἀδίδαϰτοι) dagegen erkenne man insbesondere daran, dass sie „es so hoch spannen / so subtil verkünst‐

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hauer entgegen: „GOtt woll das gantze Buch der schrifft gelesen und erkläret haben“ (Ebd., 457, Z. 20; Z. 23f), doch sei zumindest der Sonntagsgottesdienst für eine lectio continua kaum geeignet, sofern auch der Zusammenhang von Predigttext und Kirchen‐ jahr festhalten werden solle. Ebd., Z. 12–14. Sollte „nach dem Buchstaben“ aus einem Textausschnitt nicht alles zur Erklärung eines Lehrstücks Notwendige zu entwickeln sein, gehöre es zur Aufgabe des Auslegers und Predigers, den unmittelbaren Textbereich zu überschreiten und alles Feh‐ lende „ohn einigen Zwang dahin referiren und ziehen“ (ebd., Z. 32–35). Hier komme es auf Bibelkenntnis sowie Übung im Herstellen semantischer oder typologischer Bezüge an. Ebd., Z. 15. Ebd., Z. 8–10. Diese Methode entfaltet er in verschiedenen Zusammenhängen leicht unterschiedlich. Vgl. eher knapp CM Bd. 3, 43. Für eine ausführlichere Darstellung der einzelnen Schritte vgl. CM Bd. 1, 461–464. Ebd., 463, Z. 6–10. Ebd., Z. 25. Dannhauer lässt die ‚jesuitische‘ Argumentation nicht gelten, der Gottes‐ dienst richte sich an Gott und müsse daher von diesem verstanden werden, nicht aber von den Betenden oder Anwesenden. Ansonsten wäre kein Unterschied zwischen einem Christen und einem Sittich oder Papagei: „mit verstand singen und Gott loben / daß ist dem Menschen nach GOttes willen gegeben“ (ebd., 538, Z. 21f).

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len / so schwer fürtragen / daß der gemeine Mann es nicht fassen mag“. 371 Bei diesen Predigern rühme der Hörer nach dem Gottesdienst zwar, „er hab eine hochgelehrte Predigt gehöret“, doch antworte er auf die Frage nach dem persönlichen Ertrag: „es hat mich nicht angangen.“ 372 Aufgrund der großen Verantwortung, die man als Prediger des Gottes‐ worts auf sich nimmt, solle man – so ermahnt der Prediger Dannhauer die Studenten in seiner Gemeinde – es keinesfalls leichtfertig wagen, „die‐ ses heisse Holz und die Cantzel zu betreten“. 373 Ein Prediger müsse sich unbedingt „mit den rechten Instrumenten der Philosophi, freyen Künsten und Sprachen“ ausstatten, damit er „nicht mit ungewaschenen Händen die höchste Facultät der Theologiae, angreiffet“ und später seine Predigten „in phrasibus so wol als realibus verhawet“. 374 Es gelte: „Wer nit wohl gestu‐ diert / der kan auch nicht wohl predigen“ – doch müssten auch nicht „alle Prediger Doctores sein / sondern docti gelehrt“ reiche aus. 375 Angehenden Predigern schärft Dannhauer also eine lehrhafte, aber gerade darin auch erbauliche Ausrichtung der rechten Schriftauslegung ein: „Das laßt euch abermal gesagt seyn / die ihr die H. Schrifft deuten und außlegen wollet / daß ihr derselben recht unter die Augen sehet / die Nuß eröffnet / den Lehr und Trost-kern herauß leget / nichts zwinget oder mit Haaren herzu ziehet / alles GOtt im Himmel zur Ehr und euren Zuhörern zu Erbauung richtet / und jedermann die Bekandnuß extorquiret / man habe auß eurem Vortrag etwas Gutes gelernet / so wohl zur Warnung als zum Trost.“ 376

Diese hohe Verantwortung der Prediger für eine lehrhafte Predigt bedeutet für Dannhauer gleichwohl keinesfalls, dass der Erfolg ihres Predigens al‐ lein in ihrer Hand liegt. Schließlich verleihe alleine der Heilige Geist „die Posaunenstimm die Gott von einem Prediger erfordert“ und die Gabe kräf‐ tiger „auffmunderung zum Geistlichen Kampff“. 377 Und auch auf Seiten der Zuhörer gelte ein pneumatologischer Vorbehalt, denn „wann der H. Geist das Hertz deß zuhörers nicht reget / so ist die Lehr deß Predigers umb‐

371 Ebd., 466, Z. 4–6. Zu vermeiden sei – mit Luther gesprochen –, nur „Meisterstuck her‐ außwerffen / mit Hebreisch / Griechisch / und Lateinisch so grauß machen / daß das gemein Volck dastehet wie ein Kuh“ (ebd., 463, Z. 29–31). 372 Ebd., Z. 7–9. 373 CM Bd. 3, 43, Z. 21. 374 Ebd., 42, Z. 32–34; 43, Z. 2 f. Solche schlecht vorbereiteten Studenten seien wie „Vögel die ohn Federn fliegen“ (ebd., 1f). Vgl. auch CM Bd. 8, 610. 375 CM Bd. 1, 459, Z. 28–33. Dies begründet Dannhauer mit Ez 40,4. 376 CM Bd. 3, 44, Z. 9–15. 377 Ebd., 460, Z. 29 f. Alle politische und weltliche Rhetorik komme hier an ihre Grenzen.

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sonst“. 378 Das Predigtgeschehen ist als Geistgeschehen nach der Sprecherund Zuhörerseite umgriffen von Gottes unverfügbarer Selbsterschließung. Als Grundsatz gelte beim Hören einer Predigt wie beim Lesen der Schrift, dass man das Gotteswort direkt auf sich beziehen soll: „alzeit ist die appli‐ cation eh auff uns selbst als auff andere [zu] machen“. 379 Die angemessene Reaktion muss dabei der Anrede durch das Gotteswort entsprechen: „Ists ein lehr deß glaubens / so sprich Amen dazu : Ist ein Gesetzstraff / so sag mit den Jüngern Christi HERR bin ichs? laß darauff dein gewissen reden / wirstu empfinden den schein und die krafft deß Worts GOttes / und wird das verborgen deines hertzen offenbar werden / so fall auf dein Angesicht / bette Gott an / bekenne / daß Gott warhafftig durch seine bottschafften mit dir rede / laß dich freundlich straffen / leyde die heylsame Lehr. [...] Ists ein trost / so schnappe darnach als ein Meerschneck nach dem Taw / oder wie die Erd den Regen an sich saugt“ . 380

Der aufmerksame Predigthörer solle dem Wort keinen Riegel vorschieben, sondern vielmehr sein „Hertz erweichen / brennen / rühren verwunden“ lassen. 381 Das gepredigte Wort Gottes sei nach heiliger Vorbereitung (lat. per sanctam praeparationem) „andächtig / begierig / beweglich und demü‐ tig“ zu hören (lat. per reverentem acceptionem). 382 Außerdem habe man der Predigt „verständlich und nachdenklich“ zu folgen, um selbst beurteilen zu können, „ob sie Gottes Wort gemäß oder nicht“ sei (lat. per judicium, ad‐ mirationem, meditiationem). 383 Anschließend solle man das Gehörte auch „daheim zu Hauß widerholen / nachdencken / warnemmen / behalten / und im Hertzen bewegen“ 384 Nur mit dem richtigen Ernst und durch diese Einbettung in die alltägliche Frömmigkeit werde das Schriftwort zum süßen Honig und bringe vielerlei „frucht zur besserung deß lebens und der Seelen seeligkeit“ hervor. 385 Der persönliche Umgang mit den biblischen Schriften als gelesenem und gehörtem Wort Gottes ist für Dannhauer der Kernvollzug der christli‐ chen Frömmigkeit. Das Verständnis der Schrift, dass sich dabei durch den

378 Ebd., 435, Z. 37 f. 379 Ebd., 431, Z. 2. Stattdessen gelte leider meist das Gegenteil: Wird „Würd vom Geitz ge‐ prediget / da greifft auch der ärgste Geitzhals nicht in seinen eigenen Busen / sondern gaffet nach andern“ (ebd., 433, Z. 29–31). 380 Ebd., 430, Z. 14–21; Z. 34–36. 381 Ebd., Z. 13. 382 Ebd., 429, Z. 25 f. Vgl. ebd., 428 f. 383 Ebd., 431, Z. 3f; 6 f. 384 Ebd., Z. 9 f. 385 Ebd., Z. 24 f. Vgl. Ez 3,1. Dannhauer malt als Gegenbild auch die Laster der Hörer und die falschen Motivationen, den Gottesdienst zu besuchen, wie etwa den Predigtschlaf sehr bildlich und konkret aus, vgl. ebd., 431–434.

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Geist erschließt, ist wiederum die Quelle der christlichen Lehre. Dannhauer schärft ein, dass dieser Sinn der Schrift und damit die rechte Lehre durch ein kontrolliertes methodisches Verfahren zu erheben ist. Dieses Verfah‐ ren integriert die fromme Vertrautheit im Umgang mit der Schrift und die Werkzeuge philologisch-philosophischer Untersuchung, wie sie im zeitge‐ nössischen Ausbildungsbetrieb erworben werden, unter dem Vorzeichen einer prinzipiellen Unverfügbarkeit, deren Ausdruck das Gebet um den heiligen Geist und eine Haltung der Offenheit ist. Das Ziel ist immer die existentielle Anwendung des so gewonnenen Sinnes auf den je eigenen Fall, wobei der oder die Einzelne sich selbst in der Schrift wiederfindet und so im Gewissen durch die göttliche Wahrheit gebunden wird. Eine kirchliche Autorität, die über der Einhaltung dieses Auslegungsverfahrens wacht und die Ergebnisse genehmigt, oder die Übereinstimmung mit der Tradition sind für die Geltung einer solchen Einsicht nicht erforderlich. 4.1.5 Diagnose und Therapie häretischer Infekte Mit der reinen Lehre verbindet Dannhauer nicht nur die Verheißung, das geistliche Wachstum im Glauben zu befördern und eine umfassende Er‐ schließung der Welt zu ermöglichen. Sie dient vielmehr auch ‚therapeu‐ tisch‘ als Arznei, um auf geistliche Weise die durch verschiedene Bedrohun‐ gen gefährdete Gesundheit der Seele zu erhalten. 386 Deshalb führt Dann‐ hauer im achten Band seiner Katechismusauslegung die Hörer nicht nur in die Küche der Lehre und die Speisekammer der Schrift, sondern anschlie‐ ßend auch „in die geistliche Seelen-Apotheck spatzieren“. 387 Dabei bezieht Dannhauer den Begriff der „Seelen-Apotheck“ (griech. ψυχῆς ἰατρεῖον) zu‐ nächst wiederum auf die biblischen Schriften. 388 „Soll nun nicht jedermann dem ewigen Tod und der Höllen in Rachen fahren / so sind geistliche praeservativa, amuleta, antidota, und heilsame Artzney-Mittel höchst

386 Dieses medizinische Bild ist bei Dannhauer in anderen Zusammenhängen insbesondere für die Aufgabe der Ethik, also die theologia conscientiae einschlägig, vgl. Horning, Universitäts-Professor, 14. Zum Motiv der theologia medicinalis in der Barocktheologie vgl. ausführlich Steiger, Theologie, 51–74; zu Dannhauer vgl. ebd., 77–81. Vgl. zum Folgenden auch die Interpretation bei Bolliger, Methodus, 352–360. 387 CM Bd. 8, 701, Z. 13 f. Dieser Metaphorik verwandt ist das Bild des Augenarztes: An‐ gesichts der vielfältigen Trübungen des geistlichen Auges müsse Christus als Augenarzt (lat. oculist) erscheinen, der „den Geistlichen Staren steche / die Augen reinige / öffne und erleuchte“ (CM Bd. 1, 241, Z. 30f). Dessen „fürgeschriebenen Curregeln“ verweisen den Menschen auf die Schrift als „die Quell deß besten Augenwassers“ (ebd., 242, Z. 16; Z. 32f). Beispiele für solche Heilungen seien unter anderen Bartimäus und der Christen‐ verfolger Saulus. 388 CM Bd. 8, 699, Z. 23.

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vonnöthen / fürnemlich in diesen letzten Zeiten / da nicht Dämpffens sondern Kämpffens noth seyn wil / soll anders Ezechiels-Wagen nicht den Krebs-Gang ge‐ winnen / da deß Teufels Zorn und Wuth groß / wissend daß er wenig Zeit habe“. 389

Die geistliche Apotheke müsse also immer und besonders in der gegenwär‐ tigen Gefährdungssituation gut und umfassend bestückt sein, auch wenn die „Haupt-Artickel der gesunden Lehre nicht eben zu allen Zeiten gleich nöthig“ erscheinen und „ein und ander Christ von dieser oder jener Ten‐ tation unangefochten“ bleiben könne. 390 Selbst eine nachgeordnete Lehre, die für sich betrachtet als „geistliche Seelen-Artzney nicht nöthig zum letzten Sprung / aus der Zeit / in die ewige Seligkeit“ erscheint, könne gegen das Eindringen einer Krankheit schützen und im Kontext konkre‐ ter Anfechtungen für Einzelne heilsentscheidend werden. 391 Seien nicht alle Lehrstücke zu jeder Zeit umkämpft und daher die Notwendigkeit be‐ stimmter Abgrenzungen nicht gleichermaßen evident, so müsse die Kirche doch die Gesamtgestalt der heilsamen Lehre bewahren, weil auch scheinbar überwundene Irrtümer wieder auftreten können oder eine überkommene ‚Therapie‘ sich auf neue Probleme anwenden lasse. Zwischen aktuellen Be‐ schwerden und überlieferten Therapiemethoden vermittelt die Theologie als geistliche Heilkunst. In den biblischen Schriften finden sich laut Dannhauer „allerhand anti‐ dota und Artzneyen / wider allerley Seuchen / Wehe und Kranckheiten“, die Gott dem Menschen als „Hülffe / Heyl und Trost“ gegen den Gifthauch des Satans offenbart habe. 392 Dabei gilt eine Analogie körperlicher und geisti‐ ger Krankheiten. Verhänge Gott Krankheiten, damit der Mensch im Buch der Natur nach Heilmitteln forsche, so schlage er auch seine Kirche mit „Rotten und Secten“, damit „die verborgene Warheit je länger je mehr her‐ für komme / und die Trostquellen je länger und mehr bekannt würden“. 393 Denn Gott lasse kein Böses zu, das nicht mittelbar auch dem Guten und der Offenbarung der Wahrheit diene. Nachdem die Notwendigkeit geistlicher Heilkunst angesichts der viel‐ fältigen Gefährdungen der Seele aufgewiesen und auch eine biblische Her‐ leitung erfolgt ist, betrachtet Dannhauer die Methode dieser geistlichen 389 390 391 392

Ebd., 765, Z. 1–6. Der Ezechielswagen ist der göttliche Thronwagen in Ez 1. Ebd., Z. 25–27. Ebd., 707, Z. 1 f. Ebd., 699, Z. 29f; 700, Z. 1. Dieser habe die Welt in ein „Spitthal / und Irrsahl verkehret“, indem er „sein süsses Gifft der falschen Lehren und Irrthumen / so dermassen überzu‐ ckert / gewürtzt und gepüfft“ (ebd., Z. 3–6) habe, dass der Mensch es arglos aufnehme. Dabei liegt für Dannhauer in Rom „das güldene Kästlein / aus welchem die schädliche und Seelenmörderische Pest in die gantze Welt außgebrochen“ (ebd., 705, Z. 1f) sei. 393 Ebd., 707, Z. 11–13.

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Heilkunst, „die wir der Medicin und Artztkunst selbst ablehnen und abler‐ nen müssen“. 394 Der erste und grundlegende Schritt dieser Methode bestehe in der „Naturkündigung“ (lat. physiologia) als der gründlichen analytischen Erforschung der „gesunden / reinen / guten / und ungesunden Seuchen und schädlichen Artzneyen“. 395 So wie ein „Medicus in der Anathomey einen toten Leichnam weiß zu vertheilen / auffzuschneiden / und inwendig in alle viscera oder Eingeweide tieff hineinzuschauen“, habe der Lehrer der Kirche den Organismus der Lehre und einzelne Lehren zunächst gewissenhaft zu studieren. 396 Von einem „Orthotomisten oder Credentzer“ der Lehre seien zunächst „geübte Sinne durch Gewohnheit zum Unterscheid deß guten und bösen“ zu entwickeln, und zwar – solange es ohne bleibenden Schaden geschehen könne – auch durch den Selbstversuch. 397 Die trainierten Meis‐ ter (griech. γυµνάζοντες) der Lehre haben umfassend abgehärtet zu sein „im Gebet / der meditation, studiren und lesen / guter / heylsamer / und böser schändlicher Bücher und Lehren“, ja gerade hinsichtlich der schäd‐ lichen Lehre auch durch eigenes „Kosten und Versuchung deroselben“. 398 „Müssige Contemplanten“ könne man dafür nicht brauchen, sondern allein Prediger und Lehrer, die „in der Creutz- und Anfechtungs-Schule / in der

394 Ebd., Z. 24 f. Zur biblischen Herleitung verweist Dannhauer beispielsweise auf das das „Priesterliche Prüffampt“, aufgrund dessen die Priester nach dem levitischen Gesetz als „gute Physici, Naturkündiger und Aertzte“ (ebd., 704, Z. 27f) über Reinheit oder Unrein‐ heit eines Aussätzigen geurteilt haben. Dies sei ein „Fürbild deß Lehrampts deß Neuen Testaments“ (ebd., Z. 31). Zu diesem apostolischen Amt gehöre, alle „Gifft- und Seelen‐ Kranckheiten“ (ebd., 701, Z. 21) der Gemeinde durch Disputation und Widerlegung zu therapieren. Dannhauer verweist ferner auf Gal 3,1 und Kol 2,8. 395 Ebd., 707, Z. 26–28. 396 Ebd., Z. 29–31. Man habe dabei auf die Zeugnisse einer Lehre „in offentlichen Symbo‐ len, Bekantnüssen / Catechismis / und dero bewährten offentlichen Lehrern“ zu achten, aber zugleich auch im Blick zu behalten, ob aus dieser unter der Hand „durch eine juste und richtige Folge diese oder jene Meynung unverhinderlich fallen / fließen und folgen muß“ (ebd., 708, Z. 12–16). Ohne diesen Blick auf die syllogistisch zu erschließenden „Consequentzen“ (ebd., Z. 33) einer Lehre wäre etwa unmöglich, die subtileren Formen des Atheismus zu entlarven. Zu diesem anatomischen Bild und seinen Implikationen vgl. Danneberg, Deutung, 173–179. 397 CM Bd. 8, 708, Z. 6f. Dannhauer bezieht für die Forderung geübter Sinne (griech. ἀισϑητήρια γεγυµνασµένα) die Verse 1Tim 2,15 und Hebr 5,14 aufeinander. Man habe vorzugehen wie Christus am Kreuz, der „den Essig versucht und wiederumb außgespie‐ hen“ (ebd., 710, Z. 25f) habe. 398 Ebd., 702, Z. 11–13. Auch diese Meister bleiben immer Übende und gehen ein Restrisiko ein – sie werden nie Herrscher über die Lehre und aus eigener Kraft mächtig über die bösen Geister, denen sie sich aussetzen müssen.

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Bet-Schule / in der Andacht-Schule ihre guten Proben gethan“ hätten. 399 Auffällig ist, wie stark Dannhauer die Notwendigkeit einer persönlichen theologischen Beschäftigung mit den Irrlehren der Vergangenheit und Ge‐ genwart betont. Die falsche Lehre sei von den im Glauben und der Fröm‐ migkeit gefestigten Lehrern durchzuarbeiten, um eine Art sensibilisierende Immunisierung zu erwerben und diese in Form gründlicher Widerlegung auch der Gemeinde vermitteln zu können. Dieses Selbstverständnis Dann‐ hauers als Theologe erklärt, weshalb er in seinem Werk so viel Energie auf die polemische Auseinandersetzung mit Gegenpositionen verwendet. Der zweite Schritt seiner geistlichen Heilmethode, der auf die Heraus‐ bildung entsprechender Sensibilitäten und Kenntnisse folgt, ist für Dann‐ hauer deren diagnostische Anwendung: die „Unterscheidung deß guten und bösen / dessen was wahr und gut / und was falsch und böse“ sei (griech. διαϰρίσις). 400 Diese Scheidung sei auch deshalb wichtig, weil ein guter Apotheker „keine Confusion oder Misculenz auffkommen“ lasse, son‐ dern für alle Heilmittel und Gifte je „sonderbare Geschirr / Gläser und Büchsen“ habe. 401 Besonders zu meiden sei daher in der Lehre der „Syn‐ cretismo“, in dem „Küh-Milch und Wolffs-Milch / Balsam und Ottern‐ gifft zusammen gebuttert / oder doch nebeneinander geduldet werden“. 402 Nach dieser zweiten Analyse im Sinne einer Krankheitsdiagnose und Un‐ terscheidung sei als dritter Schritt der Heilmethode „die Außführung oder Außfegung dessen / was schädlich ist“, vorzunehmen (lat. expurgatio). 403 Sei die böse Materie einer Vergiftung durch „approbirte antidota, theria‐ cas, mithridaten / samt Pilulen / Clistiren und Schweissen“ auszutreiben, erfülle im Bereich der Lehre der „heylsame Elenchus, die Uberweisung / Widerlegung und Bescheinung des Irrthumbs“ mit der darauf folgenden Verwerfung der Irrlehre (lat. anathematismus) diese Funktion. 404 Direkt auf diesen dritten Schritt folge komplementär der vierte einer „Stärkung und Erquickung der Natur / damit wiederumb ersetzet werde / was zuvor

399 Ebd., 708, Z. 9–11 Dannhauer nimmt hier erneut die programmatische Formel Lu‐ thers von oratio, tentatio und meditatio als Erfahrungsgrundlage der Theologie auf, vgl. Bayer, Theologie, 55–106. 400 CM Bd. 8, 710, Z. 31 f. Dies sei eine Scheidung von Licht und Finsternis, des Tags von der Nacht, wie Dannhauer in Anspielung auf Gen 1 schreibt. Zum motivgeschichtli‐ chen Hintergrund dieser Lichtmetaphorik vgl. Bolliger, Methodus, 196. Der Methodik dieser Unterscheidung widmet Dannhauer eine eigene Folgepredigt, die aufgrund ihrer Redundanzen und eher ethischen Anwendungen hier nicht eigens in die Rekonstruktion eingeht, vgl. CM Bd. 8, 721–738. 401 Ebd., 711, Z. 6 f. 402 Ebd., Z. 10–12. Zum Synkretismus siehe unten, 272. 403 Ebd., Z. 17 f. 404 Ebd., Z. 19–23.

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durch Kranckheit abgangen“ (lat. confortatio). 405 In einem fünften Schritt sei schließlich der „Vortrag dessen allen / damit kein Ungeschick began‐ gen werde“, also eine Unterweisung des Patienten und seines Umfelds über den Gebrauch der Medizin sowie die Erhaltung der wiedergewonnenen Ge‐ sundheit anzuschließen. 406 Denn ein Arzt und Apotheker müsse nicht nur die Zutaten sammeln und „die Artzney selbst bereiten“, sondern auch ver‐ ständlich und nachvollziehbar „den modum, wie das Recept zu brauchen / fürschreiben“. 407 Die gründliche argumentative Widerlegung einer Irrlehre reicht folglich nicht, es muss für Dannhauer auch ein Umfeld geschaffen werden, in der sie aufgrund der Resistenzkräfte einer mündigen und in der Unterscheidung der Lehren geschulten Christenheit nicht mehr auftreten kann. Diese therapeutische Behandlung einer Irrlehre sei nun „unserm Fleisch und Blut unleidentlich / wie alle Artzneyen / so der Natur zuwider und die‐ selbe bestreiten“. 408 Der Satan könne an diesem Widerstreben des Fleisches ansetzen und erwecke so „ein Religion-Krieg nach dem andern“, wobei die Theologie „bald auff das eine Extremum, auff den Uberwitz im dis‐ putiren / bald auff das andere Extremum, den Faulwitz“ verfalle. 409 Ange‐ sichts dessen propagieren die Synkretisten, die „heutigen Friedens-Pfeiffer deß allgemeinen Religions-Friedens“, ihre scheinbare Lösung, dass auf der Grundlage einer minimalen altkirchlichen Lehrgrundlage „alle Religionen könten in holdseligen brüderlichen Friede / Einigkeit und gleichmässige Tolerantz / in Gemeinschafft der geistlichen Kirchen-Güter / und dero Ge‐ brauch gesetzt werden“. 410 Aber dies bedecke die Ketzerei mit der „Nebel‐ kappe“ einer unspezifischen Allgemeinheit und erlaube so der Krankheit, sich verborgen immer weiter zu verbreiten. 411 Dagegen setzt Dannhauer ein 405 Ebd., 712, Z. 1–3. 406 Ebd., Z. 7 f. 407 Ebd., Z. 11 f. Andernfalls könne es passieren, dass der Patient auf die Idee komme, dass er „das fürgeschriebene Oehl trincke / oder sich mit dem Träncklein besalbe“ (ebd., Z. 15). Dannhauer illustriert hier die Anwendung des Bildes auf die Lehre mit einem Verweis auf den rechten Gebrauch des Abendmahls. 408 Ebd., Z. 20 f. 409 Ebd., 714, Z. 20–23. 410 Ebd., 712, Z. 22–26. Es ist hier nicht zu diskutieren, ob Dannhauer damit die Position der Helmstetter Theologen und insbesondere Calixts adäquat wiedergibt. Zur ausführ‐ licheren Darstellung seiner Synkretismuskritik siehe unten, 272. 411 Ebd., 714, Z. 35. Dannhauer untermauert dies (vermutlich nur in der Druckfassung sei‐ ner Predigt) mit einem langen Exkurs über Arius und Auxentius, die ihre Häresien so gut verborgen hätten, dass es dem arglosen Auge kaum auffalle, vgl. ebd., 714 f. Die Interpre‐ tation leitet dabei – wie auch bei der Auseinandersetzung mit reformierten Gegnern – die Unterstellung, dass jede Anpassung an orthodoxe Formeln nur mit dem Hinterge‐ danken einer Zersetzung der rechten Lehre vorgenommen werde.

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Ideal der Artikuliertheit und Klarheit in der Lehre, die eine solche Verwi‐ schung und Vermischung – man vergleiche das wiederholt herangezogene Bild einer mit Gift gemischten Milch – der Lehrgestalten gar nicht zulässt. Nötig wäre also, dass alle Streitfragen präzise auf den „heutiges Tags streitenden Contra-punct“ zugespitzt, die falsche Lehre „nach dialectischer Art widerlegt“ und „der Gegesatz der Warheit aus den (nicht viel zusam‐ men geraspelten / ungeschickt allegirten / sondern recht schliessenden) H. Schrifften befestiget“ werde. 412 Wo dies geschehe, werde zwar zunächst kräftig im Kot (lat. camarina) gerührt, aber am Ende auch eine wahrhaft heilsame Arznei hergestellt. 413 Stattdessen beklagt Dannhauer für seine Ge‐ genwart: „welche Controversiae und Religion-Streitigkeiten werden auff der Cantzel recht deutsch und deutlich außgeführet ; welche neuere Instantiae und Einwürffe gründlich beantwortet?“ 414 In einer längeren zusammen‐ hängenden Passage skizziert Dannhauer noch einmal das therapeutische Verfahren zur Behandlung geistlicher Infektionen durch falsche Lehre: „Soll die Artzeney nicht palliativ seyn / so muß der Artzt zuvor das Drachen-Gifft und Otter-Gall (wie Moses redet) der Kranckheit entdecken / der status Controver‐ siae muß klar unter Augen gelegt werden / das verschiedene Ja und Nein / thesis & antithesis, Satz und Gegensatz / ut contraria inter se posita magis elucescant : und in demselben angedeutet werden / differentiae quantitas, momentum, designatio, die Grösse und Wichtigkeit deß Unterscheids deren im Streit schwebenden Religionen und Glaubens-Bekäntnüssen / daß eine grosse Klufft unter denselbigen befestiget / und in solchem Stand diese und jene nicht zusammen fahren / und sich paaren kön‐ nen“. 415

Gelinge dies, werde die schädliche Konfusion des Synkretismus aufgelöst und stattdessen eine tragfähige Grundlage für die echte Beilegung der Strei‐ tigkeiten geschaffen: Unweigerlich würde dann „bey redlichen Fried-Lieb‐ habern die Begierde / solche differentz durch einen förmlichen dialogismum abzuschaffen / erwecket“ werden. 416 Die Heilmetaphorik, mit der Dannhauer insbesondere die polemische und ethische Aufgabe der Theologie sowie deren logisch-analytische Vor‐ aussetzungen entfaltet, berührt sich mit der Nährmetaphorik darin, eine schlechthin existentielle, lebenswichtige und heilsentscheidende Bedeu‐ tung der Lehre einzuschärfen. Dass eine gründliche Therapie der Irrlehre und Kräftigung des kirchlichen Organismus gegenwärtig kaum geschieht, wirft Dannhauer nicht nur den Lehrern im engeren Sinne, sondern den zur 412 413 414 415 416

Ebd., 718, Z. 17–20. Ebd., Z. 10. Ebd., Z. 14–16. Ebd., 717, Z. 32–718, Z. 6. Ebd., Z. 6 f.

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Mündigkeit verpflichteten Christenmenschen allgemein vor, denen „die Probe der Geister / und die Flucht deß Wolffs anbefohlen“ sei – insbeson‐ dere den Hausvätern. 417 Alle Glaubenden müssen „ihres Glaubens und der Hoffnung / die in ihnen ist / Rechenschafft geben“ und im Extremfall auch „über dem einmal gegebenen Glauben kämpffen“, gelte doch im irdischen Leben das Sprichwort: ῏Ωδε το στάδιον, εϰεῖ δ’ οἱ στέφανοι. 418 Dieses agoni‐ sche Bild von Rennbahn und Siegeskranz leitet treffend über zum nächsten Abschnitt, der sich mit der Bedeutung kirchlicher Institutionen und Be‐ kenntnisse für den Kampf gegen geistliche Bedrohungen von ewigem Heil und zeitlichem Frieden befasst. 4.1.6 Die umkämpften Feldzeichen der Kirche Dannhauer nimmt, wie bereits mehrfach deutlich wurde, die persönliche Existenz des Christenmenschen als ständig bedroht wahr, da die Glaubende vielfachen Angriffen durch irdische wie überirdische Mächte ausgesetzt sind. Zudem ist die wahre Kirche andauernd durch das Eindringen von Irrlehren gefährdet. Diese dauernde Bedrohungslage prägt sein Lehrver‐ ständnis, sein Konzept von Kirchenleitung und sein Selbstverständnis als Theologe. Im Gegenüber der Kriegsmetaphern zu den bislang dargestellten Nähr- und Heilmetaphern zeigt sich entsprechend eine innere Polarität des Lehrbegriffs: Die Lehre dient einerseits der Erbauung und dem geistlichen Wachstum, aber andererseits immer auch dem Verteidigungskampf der wahren Kirche. 419 Dannhauer betrachtet die „dreyfache Hierarchia“ von „Lehr- Wehrund Nehrstand“ nicht als menschliche Erfindung, sondern als „Werck / Ordnung und Gutthat deß allmächtigen Schöpfers“. 420 Gott habe die drei

417 Ebd., Z. 23. 418 Ebd., 720, Z. 16–19. Dannhauer bietet als Übertragung: „Hie Kampff / dort Cron. Hie Schwitz / dort Sitz. Hie Krieg / dort Sieg“, und schließt als Predigtschluss an: „Diß und kein anders. GOTT helffe uns überwinden! Amen.“ (ebd., Z. 20–23). Von Horning wird dieser an Paulus angelehnte griech. Spruch (1Kor 9,24f) als „Dannhauer’s Symbol“ zi‐ tiert, vgl. Horning, Universitäts-Professor, 27. 419 Zur militärischen Aufladung der Logik und der damit einhergehenden „beschwö‐ rende[n] Existentialität“ in Dannhauers Polemosophia vgl. Bolliger, Methodus, 150f; zur Kirchengeschichte als einer bereits protologisch beginnenden Kampfgeschichte vgl. ebd., 219 f. 420 CM Bd. 3, i–ii (im Orig. unpaginiert), Z. 16–18. Für eine idealtypische Darstellung die‐ ser Ordnung greift Dannhauer auf die Träume Josephs in Gen 37,5–11 zurück, vgl. auch ebd., 29; 33. Die Zuordnung der drei Stände zu verschiedenen Elementen des Traumbildes und damit deren wechselseitige Überordnung zeigt sich flexibel, was eine grundsätzliche Komplementarität und Gleichwertigkeit der Stände ausdrückt.

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Stände eingesetzt, um menschliches Leben und Kultur zu ermöglichen. Die das gesamte Gemeinwesen umfassende und intern auf diese Weise dreifach gegliederte Kirche habe für Gott und den Glauben sowohl ein wunderschö‐ nes „Spectacul und Augen-lust“ zu bieten, als auch zugleich majestätisch und „so schröcklich / als ein grosses namhafftes zu Feld ligendes / in viel Regimenter und Fahnen abgetheiltes Kriegs-heer“ zu sein. 421 Angesichts der Bedrohung durch ihre vielfältigen Feinde müsse die Kirche „immer auf der Schiltwach stehen“ und auf eine „schöne Ordnung“ der Schlachtreihen achten, wenn sie nicht auf dem Schlachtfeld „den kürtzern ziehen / und durch confusion sich selbst consumiren und verderben“ will. 422 In dieser „Schlacht-Ordnung und Kriegs-Verfassung“ der Kirche sei Christus selbst als „Kriegs- und Siegs-Fürst“ der General, den die Soldaten zwar nicht sehen können, aber dessen „Stimm / damit er alle Fahnen regieret / und Ordnung ertheilet“, sie hören. 423 a) Das Amt der Seelenwacht Christus als dem obersten Befehlshaber sind laut Dannhauer die Bischöfe und Prediger als „die Schildwächter / die Lermen-blaser / die Kundschaf‐ ter / die Fähnerich in dieser geistlichen Verfassung“ unterstellt. 424 Müssten grundsätzlich „wir Christen allesampt / als Geistliche Schild- und See‐ len-Wächter solche Wächter-sorg auf uns nemmen“, komme dieses bischöf‐ liche Amt doch in einer besonderen Weise den Predigern und Seelsorgern zu. 425 In einem christlichen Gemeinwesen seien „bewährte öffentliche Leh‐ rer“ als die „Augen deß ganzen Leibs / als Wächter der gantzen Heerde / als Syndicus der gantzen Stadt Gottes“ unverzichtbar. 426 Das kirchliche Amt ist

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Ebd., 70, Z. 11; Z. 14 f. Ebd., Z. 23; 25–28. Vgl. ebd., 35; 56. Vgl. auch CM Bd. 1, 535. CM Bd. 3, 70, Z. 36; 71, Z. 9–11. Ebd., Z. 21–23. Dabei benötige Christus „keines Leutenants und Stadthalters“, weshalb Dannhauer eine besondere Auszeichnung der Bischöfe unter den „Hauptleuthen in die‐ ser Geistlichen Armée“ (ebd., Z. 12; Z. 15f) zurückweist, wie etwa Robert Bellarmin sie vornimmt. 425 Ebd., 79, Z. 37 f. Der erste dieser Prediger sei der Sohn Gottes selbst im Paradies gewesen. Danach zieht sich eine Linie über Enoch, Noah, Abraham, Lot und die übrigen Patriar‐ chen. Auf den Abbruch der Predigt in Ägypten folge Mose als herausragende Gestalt und diesem wiederum sowohl der levitische Gottesdienst als auch die außerordentlich zur Reformation dieses Kultus berufenen Propheten, vgl. CM Bd. 1, 455 f. Nachdem schließ‐ lich „der grosse Prophet Christus erschienen“ sei und „in den tagen seines fleisches selbs geprediget“ (ebd., 456, Z. 19–21) habe, sei bei dessen Himmelfahrt das in verschiedene Dienste gegliederte Predigtamt der Kirche eingesetzt und den Aposteln übertragen wor‐ den. Zu diesem Zustand habe Luthers Reformation zurückgeführt. 426 CM Bd. 8, 709, Z. 1–3.

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als Lehramt für Dannhauer somit nicht nur Verkündigungsamt, sondern in einem spezifischen, im folgenden entfalteten Sinn auch Wächteramt. Der Bischofsbegriff umfasst für Dannhauer seinem weiten und ‚bibli‐ schen‘ Sinne nach „alle am Wort und Sacramenten arbeitende Bischoffe / Pfarrherrn / Prediger / Kirchendiener / und wie man sie heutiges Tages nennet / Diaconi oder Helffer“, denen in jeweils unterschiedlicher Weise die „Episcopae und Auffsichte der Gemein“ anvertraut sei. 427 Die gemein‐ same kirchenleitende Aufsicht all dieser Dienste bestimmt er im Kern als beständige Wachsamkeit gegenüber eindringenden Irrlehren, weil „das Wort Episcopos oder Bischoff eigentlich so viel heißt als einen Obersten Wachtmeister / der über alle andere Wächter gestellet / und deßwegen visitiren und runden soll“. 428 Zur Näherbestimmung dieses Wächteramts greift Dannhauer sodann auf das Symbol des Hahns zurück, mit dem nicht zufällig viele Kirchtürme geziert sind und der auch täglich durch das Uhr‐ werk des Straßburger Münsters kräht. 429 In der Auslegung dieses Bild‐ symbols zeigt sich die für Dannhauer charakteristische Verschränkung von Lebenswelt, kirchlicher Tradition, biblischer Bildsprache und theologischer Auslegung. Mittels dieser Kombination kommt er ausgehend vom Symbol des Hahns zu vier Teilämtern des Seelenwächters, die er sodann mit latei‐ nischen Begriffen nach Art einer eingeführten dogmatischen Terminologie kennzeichnet. Erstens weise der Hahn auf das „unverdrossene Wacht-Ampt“ (lat. offi‐ cium vigilandi) der Bischöfe hin: „Dann gleich der Hauß-Hahn früh mor‐ gen wachet / und vor allen andern innewohnenden Haußgenossen sich er‐ muntert“, solle sich der „geistliche Haußhalter über die Geheimnussen Got‐ tes“ sich für die „weit außsehende Seelen-wacht“ verantwortlich fühlen. 430 Zweitens gehöre zur Aufgabe das „Ruff-Ampt“ (lat. officium clamandi) der Gesetzespredigt, denn wie ein Hahn frühmorgens die Menschen im Hause wecke, solle der Prediger „den schlaffenden Sünder / wie der Hahn im Pas‐

427 CM Bd. 3, 73, Z. 11-14. Dannhauer ordnet den biblischen Begriffen für Gemeindefunk‐ tionen folglich Amtsbezeichnungen seiner Gegenwart zu: „Demnach gehören hieher / die Superintendenten, als welche den Bischoffen succediret; die Pfarrherrn / welche an der Presbyterorum und Eltesten statt kommen; die Catechetae und Catechismus-Leh‐ rer / welche in der Evangelisten Fußstapffen getretten ; die Diaconi, so in der ersten Kirchen der Allmusen gepflogen / nunmehr aber auch an dem Wort und Sacramenten arbeiten; Die Doctores und Professores der H. Schrifft sind auch nicht außgenommen“ (ebd., Z. 32–38). 428 Ebd., 80, Z. 6–8. Auch mit Inspector, Aufseher oder Musterer könne man das Wort ἐπίσϰοπος übersetzen. 429 Vgl. ebd., 78. 430 CM Bd. 3, 78, Z. 25–28; Z. 30 f. Dazu gehört für Dannhauer nicht zuletzt, dass der Pre‐ diger möglichst früh aufzustehen und sich dem Gebet zu widmen habe.

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sion Petrum / aufwecken / warnen und trösten“. 431 Drittens verbinde sich damit auch das „Schreck-Ampt“ (lat. officium terrefactorium), da Hähne nicht nur Diebe oder Einbrecher verraten, sondern selbst „dem sonst fre‐ chen und großmüthigen Löwen“ Angst einjagen könnten. 432 Auf Prediger und Seelsorger übertragen, haben diese die Christengemeinde vor „Geistli‐ chen und durch unrechten Weg einbrechenden Dieben und Mördern“ oder dem „grimmigen höllischen Löwen“ zu warnen sowie diese Feinde mit ihrer Stimme zu schrecken. 433 Viertens lasse sich der Hahn auch auf das „Evange‐ lische Ampt“ (lat. officium nunciandi) beziehen, da er „wann es noch finster ist / den ankommenden Tag / und die Sonn vermeldet“ – so künde auch der Prediger „die gnadenreiche Zeit deß newen Testaments / und den Tag deß Heyls / als auch den frölichen Jüngsten Tag“ an. 434 Den vier am Bild des Hahnes abgelesenen Teilämtern entsprechen nun vier Aufgaben des geistlichen Seelenwächters. Erstens komme er seiner See‐ lenwacht durch eine wachsame Beobachtung der Gemeinde (lat. in specu‐ lando) nach, die nicht nur allgemein „auff ärgerliche Personen und dero‐ selben Laster“ zu achten habe, sondern insbesondere auf „heimliche Schlei‐ cher / Tuckmäuser / die nicht grad zugehen“ und unbemerkt ihre Sekten einführen wollen, sowie angesichts der konfessionspolitischen Großwet‐ terlage immer auch „auff der Welt Ränck / List und Tyranney zur Lin‐ cken und zur Rechten“, also das politische Ränkespiel. 435 Zweitens bestehe die Aufgabe „in dem Anschreyen“ (lat. in clamando), also der öffentli‐ chen Warnung aller Glaubenden sowie der Obrigkeit angesichts konkreter Missstände und Gefahren. 436 Drittens werde es mittels einer „geistlichen Rundirung“ (lat. in visitando), also mittels einer regelmäßigen Visitations‐ praxis innerhalb des eigenen Verantwortungsbereichs ausgeübt. 437 Wie ein Wachhauptmann oder ein Nachtwächter seine regelmäßigen Rundgänge mache, so sei den Predigern und Seelsorgern „die geistliche Hauß-Rund nicht nur erlaubt / sondern auch befohlen“. 438 Zu dieser gehöre wiederum nicht nur die öffentliche Verkündigung und individuelle Seelsorge inner‐ halb der Gemeinde, sondern gerade auch ein wacher Blick auf das politische 431 432 433 434 435

Ebd., 79, Z. 1; Z. 10 f. Ebd., Z. 12; Z. 17. Ebd., Z. 20 f. Ebd., Z. 23–25; Z. 28 f. Ebd., 82, Z. 5–10; Z. 14. Eine große Gefahr gehe hier von denen aus, die „ihre Wolffs‐ klauen mit dem Schaffs-kleid der Augspurgischen Confession und Schrifften D. Lutheri verdecken und mit Irenicis und guten Anbietungen des Friedens auffgezogen kommen“ (ebd., Z. 10–12). 436 Ebd., Z. 19 f. 437 Ebd., Z. 30. 438 Ebd., 83, Z. 3.

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Tun der Obrigkeit, um rechtzeitig zu bemerken, ob irgendwo „consilia so der Religion und Christlichen Kirchen schädlich und entgegen“ getroffen werden. 439 Sofern sich ein Bezug zu Gefährdungen der – sehr umfassend verstandenen – christlichen Lehre herstellen lässt, sind für Dannhauer alle Prediger und kirchlichen Amtsträger angehalten, sich ein klares Bild von der Lage des Gemeinwesens zu machen und sich auch in politische Prozesse einzumischen. Für den Fall, dass „der Feind dem Wächter zu nahe“ komme und die Stadtmauer erklimme – sich also eine Irrlehre festsetzt und ausbreitet –, bestehe das geistliche Wächteramt schließlich und viertens im „Streitten und kämpffen“ (lat. in militando). 440 Zu diesem Kampf gehöre zunächst „kräfftige Widerlegung der einreissenden Irrthumben / und der grassieren‐ den Aergernussen mündliche Abstraffung“. 441 In dem Fall, dass dies keine Wirkung zeige, trage der Prediger ferner „die Bindschlüssel von Christo nicht vergebens“ und könne die „anathematizatio, und ernstliche Verma‐ ledeyung der verführischen Irrthumben und Secten / nach dem Exempel Christi / Pauli und der uhralten Christlichen Kirchen“ aussprechen. 442 Die wirkmächtigste Waffe der Seelenwächter allerdings sei das „brünstige und mächtige Gebett“. 443 Durch das Zusammenspiel von Wachen und Beten – man denke an Aufforderung Jesu an seine Jünger im Garten Getsemane – werde aus dem kirchlichen Amtsträger „ein solcher Mann / der dem Teuf‐ fel wehren kan“. 444 Aber auch die restliche Gemeinde solle sich an diesem 439 Ebd., Z. 5 f. Die Geistlichen sollen zwar nicht „mit einem Fuß auff der Cantzel / mit dem anderen auff dem Rahthaus stehen“, doch sei ihnen „das Rahthauß nicht allerdings verboten“ (ebd, Z. 8; Z. 11f). Zwischen diesen Polen zeigt sich die typische Spannung innerhalb der reformatorischen Verhältnisbestimmung von geistlichem und weltlichem Regiment. Vgl. auch ebd., 165. 440 Ebd., Z. 15 f. 441 Ebd., Z. 21-23. Hier dürfe der Prediger „kein Memme seyn / noch ohne satten Bericht mit der Thüren zur Stuben hinein“ (ebd., Z. 20f) fallen. Dass die Treue zur rechten Lehre auch persönliche Verfolgung und nicht zuletzt wirtschaftliche Schwierigkeiten mit sich bringen kann, ist für Dannhauer angesichts des umkämpften konfessionellen Status vieler Territorien immer vorausgesetzt. Ein rechtgläubiger Prediger, den man „zur Zeit der Verfolgung gern loß wäre“ und dem man „die Besoldung schmälern und entziehen wolte“, sollte nach dem Vorbild des Paulus lieber seinen Unterhalt mit Arbeit bestreiten als „dem Wolff weichen / und besser Pfarr suchen“ (ebd., 106, Z. 16–19). 442 Ebd., 83, Z. 24–26. 443 Ebd., Z. 27 f. Dannhauer untermauert mit dem Beispiel das Arius, dass „es ja wohl mehr‐ malen geschehen / daß greuliche Kirchen-Feind durchs Gebett eines eifferigen Bischoffs sind geschlagen und zu schanden worden“ (ebd., Z. 28-30). 444 Ebd., Z. 12. Dannhauer weist darauf hin, dass das pflichtvergessene Schlafen von Wäch‐ tern im Kriegsrecht oft mit dem Tod bestraft werde. Umso schwerer wiege die Pflichtver‐ gessenheit von Predigern, wobei Dannhauer auf Ex 3,17–19 und Hab 2,1 als Gegenbilder verweist.

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„Fürbild“ orientieren und jeder an seiner jeweiligen Stelle selbst zum „Re‐ giment- Hauß- und Seelen-Bischoff“ werden, um „die Vestung ihres Hert‐ zens wol zu verwahren / und ihren Nächsten zur Seeligkeit beförderlich“ zu sein. 445 Für alle Christenmenschen müsse sich klar angeben lassen, ob sie wirklich unter die „Symbolische Fahnen“ der lutherischen Bekenntnisse treten oder mit ihren Meinungen und Taten den Gegnern zuzurechnen sind. 446 Wie bezüglich der christlichen Heilkunst gilt also auch für die Seelen‐ wacht, dass eine Mündigkeit und Lehrbeurteilungskompetenz aller Chris‐ tenmenschen gefordert ist: „Du bist und solt sein ein einfälltig Schäfflin / aber mit vernünfftiger einfalt / dann du bist ein vernünfftig Schaff“. 447 Jeder und jede müsse „die falschen Propheten von den rechten underschei‐ den / die Geister prüffen“ und sicher unterscheiden können, „ob der im Schaffbeltz verborgene Wolff heule / oder ob der getrewe hirt ruffe“. 448 Ein wiederkehrendes Bild, das Dannhauer hier für seine theologischen Geg‐ ner – jesuitische, calvinistische und lutherisch-synkretistische Theologen gleichermaßen – verwendet, ist das Bild der Hyäne, die als ein besonderes, vom Satan selbst geschaffenes monstrum eingeführt wird: „Es ist ein Thier / das heißt Hyena, von Wolffs-Art / die hat die Weiß und Kunst / das es deß Menschen / sonderlich deß Hirten Stimm kann imitiren / und wie der Papagey nachsprechen“. 449 Auf diese Weise locke sie den Hütehund und auch einzelne Schafe von der Herde fort, um sie zu zerreißen. Es komme also nicht nur auf einen oberflächlich rechtgläubigen Klang, sondern den präzisen Inhalt einer Lehrpredigt an. Auch deshalb dürfe niemand so leicht‐ gläubig sein, einfach alles ungeprüft zu übernehmen, „was ihm sein Lehrer oder Priester fürlegt zu glauben“, denn „am jüngsten Tag wird diese außred nichts gelten.“ 450 Vielmehr gelte es, die Verkündigung in der Gemeinde und alle Lehräußerungen gewissenhaft an Schrift und Katechismus zu prü‐ fen. Die Kunst, die Stimme der Hyäne von der des wahren Hirten zu unter‐ scheiden, ist eine lebens- und heilsentscheidende Fähigkeit für jeden Chris‐ 445 Ebd., 85, Z. 13–16. Gerade aufgrund dieser allgemeinen Verpflichtung schulden die Glaubenden den mit einem Amt beauftragten Seelenwächtern ihre Dankbarkeit und ihren Gehorsam. 446 CM Bd. 8, 709. 447 CM Bd. 1, 428, Z. 22–24. Vgl. CM Bd. 8, 651. 448 Ebd., Z. 15f; Z. 27 f. 449 CM Bd. 9, 56, Z. 28–30. Vgl. ebd., 54–57. Vgl. CM Bd. 1, 428; CM Bd. 4, 144; CM Bd. 8, 744 u.ö. Vgl. auch den Titel der Streitschrift Dannhauers gegen den Freiburger Jesuiten Thomas Henrici: Hyaena Friburgica ab ovili Christi depulsa [...], aufgeführt bei Bolli‐ ger, Methodus, 621. 450 CM Bd. 1, 224, Z. 3; Z. 7. Vgl. ebd., 238.

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tenmenschen. Mit diesem Bild wird deutlich, wo Dannhauer die größte Bedrohung für den Heilsglauben, die lutherische Kirche und damit zugleich die lutherischen Gemeinwesen sieht: Im Eindringen gut verborgener Irr‐ lehren, die sich durch ‚Nachahmung‘ an lutherische Lehrformeln annähern, aber dabei das Wesentliche entstellen oder die lutherische Lehre sogar in ihr Gegenteil verkehren. Wo sie solches vermuten, haben Prediger die Stimme zu erheben und dürfen um ihres Wächteramtes nicht stillhalten – wie ein Hahn, der vor einem Dieb warnt, das Haus rechtzeitig aufschreckt und da‐ bei den Eindringling möglicherweise sogar in die Flucht schlägt. b) Die Feldstandarten der alten und neuen Symbola Die kriegerische und apokalyptisch aufgeladene Metaphorik, die Dann‐ hauer für die Verteidigung der rechten Lehre heranzieht, und die hohen Anforderungen, die er diesbezüglich an alle Christenmenschen stellt, sind für ihn sachlich gerechtfertigt, weil es bei der Religion um nichts weniger als die „sehr nothwendige / einig und allein nothwendige / gemein-nothwen‐ dige / heutiges Tages aller nothwendigste Frag“ gehe. 451 Dannhauer findet diese Frage archetypisch in Apg 16,30 ausgesprochen, wo der nicht allein vom Erdbeben erschütterte Kerkermeister Paulus und Silas fragt: „Liebe Herren / was soll ich thun / daß ich seelig werde? Liebe Herren die ihr mich von dem Todt errettet / die ihr mir von der Seeligkeit saget / welches ist der Weg den ich gehen soll / daß ich seelig werde?“ 452 Dieses Streben nach der ewigen Seligkeit ist für Dannhauer allen sonstigen menschlichen Bedürf‐ nissen übergeordnet: Es ist dem Menschen „in die Natur gegeben“, so dass „kein Mensch iemal so thum und unvernünfftig erfunden“ wäre, dass ihn diese „Frag vom höchsten und besten Gut“ nicht irgendwie umgetrieben hätte. 453 Als Antwortversuche auf diese Grundfrage brüte die alternde Welt je länger, je mehr „Phantasien“ aus, neue „Religionen und Meinungen von dem Weg der Seeligkeit“. 454 In dieser Masse der Antworten sei die „rechte

451 CM Bd. 4, 3, Z. 8–10. 452 Ebd., Z. 21–24. 453 Ebd., 4, Z. 21–23. Trotzdem muss Dannhauer in seiner Gegenwart ein Übergewicht des weltlichen Strebens wahrnehmen: Der „gröste Hauffe heut zu Tag / der bekümmert sich wenig ums Himmelreich / der reichst der beste : wanns weit kompt / so dencket man etwan einmal beim Wein der Religion unnd deß Glaubens / sonst acht mans nicht hoch“ (Ebd., 5, Z. 4–7). 454 Ebd., 4, Z. 27 f. Dies zeigen die fremden Religionen ferner Weltgegenden, aber auch in Europa gebe es mittlerweile „fast so viel Secten als Landschaften“ (ebd., Z. 31). Zu die‐ sen Antwortversuchen gehören außerdem die unzähligen Antworten der heidnischen Philosophie auf die Frage nach dem höchsten Gut, die ohne Bezug auf Gottes wahre Offenbarung nicht zu beantworten sei.

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reine Religion“ als die einzig „rechte und gewisse Lehr“ nur schwer zu fin‐ den – und noch schwerer festzuhalten. 455 Um die Frage nach der wahren Religion und ihrer rechten Lehre „gründ‐ lich / außführlich und mit bestand der Warheit zu beantworten“, legt Dann‐ hauer die Artikel der altkirchlichen Bekenntnisse des Apostolicums und das Nizäno-Konstantinopolitanums aus, die als „uralte / in Gottes Wort confirmirte / durch allerhand blutige martyria bezeugte“ Glaubensbekennt‐ nisse die „rechte uralte Catholische-Apostolische Religion“ zum Ausdruck bringen. 456 Diese Credoauslegung beginnt Dannhauer nach seinen einlei‐ tenden Predigten zur conditio humana mit einer Besinnung darauf, was die Funktion eines Glaubensbekenntnisses ist. Das lateinische Wort symbolum bedeute nämlich „in dem Kriegswesen das Wort / die Losung / so viel als das Wort oder Wortzeichen / dadurch Freund und Feind voneinander un‐ terschieden werden“. 457 Diese ursprüngliche Wortbedeutung verweise folglich auf die „Fahnen und Standart“, unter der Kaiser Konstantin der Große gekämpft habe. 458 Dieses Zeichen sei sowohl „Siegeszeichen“ als Ausdruck der Zuversicht, „Zeichen der Ehren“ gegenüber Gott und Christus gewesen, als auch „Un‐ terscheidszeichen“, um die Christen von ihren heidnischen Gegnern ab‐ zugrenzen. 459 Insbesondere bei dem ebenfalls in besonderer Weise mit Kaiser Konstantin verbundenen Nizänischen Glaubensbekenntnis handle es sich also um ein „unterscheidendes und in alle Ewigkeit hocherwür‐ diges Siegs- und Ehrenzeichen der hochgebenedeyten Dreieinigkeit / zu Lob / Ruhm und Preiß“. 460 Wie nun die römischen Soldaten ihre Fahnen und Standarten bewacht hätten, solle auch ein Christ die Bekenntnisse als seine „Glaubens-Fahnen verwahren / zieren / verthädigen biß in Tod / auff daß auch nicht der kleineste Buchstabe / noch ein Titul darin verändert werde“. 461 Die Bekenntnisse seien wie eine Art portatives Vaterland zu ver‐

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Ebd., Z. 31f; 4, Z. 38–5, Z. 1. Ebd., 5, Z. 8–12. Ebd., 128, Z. 17–19. Diese Etymologie übernimmt Dannhauer von Ambrosius. Ebd., 126, Z. 4. Diese habe nicht, wie in der römischen Kirche behauptet, das Kruzifix geschmückt, sondern das Christusmonogramm aus χ und ρ. Dies ist Dannhauer wichtig, weil es dem Glaubenden nicht auf abergläubische Weise um das Kreuzzeichen, sondern um die Beziehung zum Gekreuzigten und den Namen Christi gehen müsse: „das ist / nicht in diesem Zeichen / sondern durch diesen Christum / wirst du überwinden und den Sieg erhalten“ (ebd., Z. 27f). Kaiser Konstantin sei gerade kein römischer „Creutz‐ götzenknecht“ (ebd., 127, Z. 22) gewesen. 459 Ebd., Z. 23 f. 460 Ebd., 128, Z. 1–3. 461 Ebd., 136, Z. 35–37. Vgl. auch ebd., 165. Neben die altkirchlichen Märtyrer stellt Dann‐ hauer als archetypische Bekenntnisakte auch Luthers Auftritt in Worms 1521 sowie die

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teidigen, handle es doch um „das beste patrimonium und Erbgut / so wir unsern Nachkommen hinderlassen können“. 462 Selbst in höchster Bedräng‐ nis könne ein Christ sich damit trösten: „allweil die Fahnen im Feld fliget / hat es kein Noht / sondern stehet noch wol“. 463 Das Bekenntnis und sein buchstäblicher Wortlaut erfüllen bei Dannhauer eine im engen Sinn sym‐ bolische Funktion für die Treue zu Christus. Über diese symbolische Identitätsvergewisserung hinaus ist ein Glau‐ bensbekenntnis allerdings auch – so Dannhauer mit einem ebenfalls mi‐ litärisch konnotierten Bild – der inhaltlich bestimmte „Eyd / den wir als geistliche Kriegsleute unserm Feldhauptmann und HErrn Christo thun“. 464 Damit wird die Beziehung des Bekenntnisses zum Begriff der Lehre expli‐ zit. Als bündige Zusammenfassung der „heilsamen Wort vom Glauben und von der Lieb in Christo Jesu“ seien die Bekenntnisse „ein Fürbild der Lehr / deren die Rechtglaubigen ergeben seyn im Gehorsam“. 465 Im Glaubensbe‐ kenntnis sei der geglaubte Glaube (lat. fides quae creditur) knapp zusam‐ mengefasst, so dass es „ein kurtzer Begriff und zusammengefügte Kette der Articul unsers Christlichen Glaubens“ (lat. epitome & catena articulorum fidei) sei. 466 Christus sei das Fundament und zugleich das organisierende Zentrum als „der einige Kern und Stern / Safft und Crafft des seeligmachen‐ den Glaubens“. 467 Dieser habe als „waarer Gott und waarer Mensch / der allgemeine Heiland und Schlangentretter“ am Kreuz die Heilstat vollbracht, also „durch sein Blut und Gehorsam uns Menschen von der Sünd / dero Schuld und Wurtzel erlöset / der göttlichen Gerechtigkeit außgesöhnet /

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Überreichung des Augsburger Bekenntnisses. Dagegen kritisiert er den religiösen Op‐ portunismus seiner Gegenwart und die „zarten Märtyrer und Heiligen / die zur Zeit der vorigen Verfolgungen kein Schwein umb der Religion willen dahinden gelassen in der Nachbarschafft“ (ebd., 169, Z. 29–31). Vgl. allgemein ebd., 168–171. Ebd., 137, Z. 1 f. Ebd., Z. 7 f. Das Bekenntnis sei „unser Wapenbrieff / unser Blutfahne / dabey wir ritter‐ lich ringen / und durch Tod und Leben zu unserm Siegsfürsten Christo tringen wollen“ (ebd., Z. 8–10). Um die Beständigkeit in dieser Wahrheit des Bekenntnisses sei daher beständig zu beten. Ebd., 128, Z. 21 f. Dannhauer bezieht sich auf Ambrosius, wenn er hier symbolum und sacramentum eng aufeinander bezieht. Vgl. auch die Schlusspassage der Predigt ebd., 137. Ebd., 134, Z. 19–22. Dannhauer paraphrasiert eine Definition Augustins: „Das ist: ein Symbolum ist eine Verfassung unsers Glaubens / einfältig / kurtz / vollkommen / damit die Einfalt der Grobheit deren / so es anhören / rahte und helffe / die Kürtze das Ge‐ dächtniß stärcke / und die Vollkommenheit die Lehr an Tag gebe“(lat.: „Symbolum est comprehensio fidei nostrae simplex, brevis, plena: ut simplicitas consulat audientium rusticitati brevitas memoriae, plenitudo doctrinae“, ebd., Z. 22-28). Vgl. auch ebd., 161. Ebd., 128, Z. 28 f. Ebd., Z. 31 f. Dannhauer bezieht sich dabei insbesondere auf Apg 4,12.

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und seine erworbene Gerechtigkeit zugerechnet“. 468 Der christliche Glaube ist für Dannhauer nichts als die „glaubige Ergreiffung“ dieses in Christus gelegten Grundes, der dadurch zur organisierenden Mitte der christlichen Existenz in einer biblisch strukturierten Welt wird. 469 Die als apostolische Zeugnisse aufgenommenen Glaubensbekenntnisse versteht Dannhauer als anlassbezogene theologische Klärungen, in denen jeweils „sonderlich der Articul / so in Streitigkeit gerahten / gedacht wor‐ den“. 470 Die zahlreichen im Credo noch unerwähnten, aber später verbind‐ lich artikulierten Glaubenswahrheiten seien „darumb nicht außgeschlos‐ sen“, sondern vielmehr „virtualiter und dem Verstandt oder Folge nach darinnen begriffen“. 471 Nicht aufgrund der persönlichen Autorität seiner Verfasser, sondern allein durch die öffentliche Rezeption der Gemeinde komme einem Bekenntnistext seine „öffentliche autorität / Würde und An‐ sehen“, zu „dabey die Gemein muß Fuß und Stand halten / und sich dabey finden lassen“. 472 Denn wenn eine Gemeinde sich einmal ein Bekennt‐ nis zu Eigen gemacht und dieses als verbindlich angenommen habe, gelte es den Glaubenden als „eine regul und Richtschnur des Glaubens“. 473 Als „regulirte Regulen“ bleiben diese Bekenntnisse immer dem Gotteswort der Heiligen Schrift als „Grund und Quell“ aller Bekenntnisse und Lehren un‐ tergeordnet, wobei die reformatorischen Bekenntnisse wiederum das Ver‐ ständnis der altkirchlichen Symbole „mit einer gewissen Richtschnur abcir‐

468 Ebd., 128, Z. 35–129, Z. 1. Neben diesem soteriologisch entscheidenden Grundbestand seien im Glaubensbekenntnis auch abgeleitete Glaubensartikel enthalten, die „entweder zu dem Grund der Seligkeit leiten / oder auß demselben entspringen“ (ebd., Z. 4f). Diese müsse man, „nach dem sie hell und clar geoffenbaret und fürgetragen worden“ (ebd., Z. 7f), ebenfalls wissen und bejahen, auch wenn dies in der Heilsgeschichte nicht immer schon der Fall gewesen sein sollte. Beispiele sind etwa der im Credo aufgenommene Name der Jungfrau Maria und Jesu Kreuzigung unter Pontius Pilatus. 469 Ebd., Z. 2. 470 Ebd., Z. 26f (lat. epitome occasionalis). 471 Ebd., Z. 27–29. Dannhauer weist hier etwa auf das filioque oder auf Offenheiten des Augsburger Bekenntnisses hinsichtlich der Idiomenkommunikation und der Lehre vom Papst als Antichrist hin. 472 Ebd., 130, Z. 23 f. Als „glaubwürdiger und öffentlich angenommemer kurtzer Begriff“ (lat. epitome authentica & publice recepta) unterscheide sich ein Bekenntnis von den vielen Büchern, die von theologische Autoritäten wie Luther oder Melanchthon verfasst sind, aber sich dennoch der „gantzen Gemein nicht aufftringen“ (ebd., Z. 13–16) lassen. Beispiele sind Luthers Frühschriften, in denen er sich noch nicht ganz aus der Papstkir‐ che gelöst habe, oder Melanchthons spätere Korrekturen an der Confessio Augustana. Entsprechend sei auch der Calvinismus nicht auf einzelnen Meinungen seiner Vertre‐ ter zu behaften – wohl aber auf einer Gesamtschau der dort rezepierten Theologie und insbesondere Ergebnissen wie die Dekrete der Dordrechter Synode. 473 Ebd., 131, Z. 5 (lat. epitome normativa).

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culen und umbgeben“. 474 Die „schrifftmässigen angenommenen“ Symbole treten nicht an die Stelle der Schrift, sondern erfüllen vielmehr die Funk‐ tion, die in der Schrift offenbarten Glaubensgehalte in vorbildlicher Weise zu artikulieren, nämlich diese auf „bequeme kurtze und richtige Art zu lehren“. 475 Das „feste Prophetische und Apostolische geschriebene Wort Gottes“ sei die „Regul über alle Regulen“ (lat. norma normarum), wobei Dannhauers Akzent auf der inspirierten Schriftlichkeit dieses Wortes auf‐ fällig ist. 476 Die altkirchlichen Symbola enthalten für die wahre Kirche notwendige Unterscheidungszeichen, weil sich verschiedene Gruppen und Lehrer auf die Schrift berufen, ohne doch den wahren seligmachenden Glauben zu bezeugen. 477 Mit Hilfe ihrer Bekenntnisse habe die Gemeinde die innere Ordnung im geistlichen Kriegsheer der Kirche zu halten. Dazu müsse der lutherische Christenmensch seine im Konkordienbuch zusammengestell‐ ten Bekenntnisse gut kennen und tatsächlich verstehen. 478 Dannhauer be‐ klagt daher, dass sich viele Lutherische zur Confessio Augustana bekennen, ohne sie zu verstehen: „Wenig sind unter uns / die sich nit zur Augspurgi‐ schen Confession bekennen / aber unter zehen solte man schwerlich einen

474 Ebd., Z. 7–9. 475 Ebd., Z. 9f; Z. 12. 476 Ebd., Z. 25–27. Dieses Abhängigkeitsverhältnis der Bekenntnisse vom Text der Schrift erläutert Dannhauer mit der Straßburger Münsteruhr, welche zwar die Norm aller an‐ deren Uhren, aber selbst wiederum am Lauf der Sonne orientiert sei. Die Sozinianer, Arminianer und Calvinisten dagegen erinnern Dannhauer angesichts des Mangels eines mit dem Konkordienbuch vergleichbaren Bekenntniskorpus an „Barbarische Türcken“ (ebd., 135, Z. 11), die sich nicht nach präzis gestellten Uhren, sondern nur nach dem willkürlichen Ruf des Muezzins richten. 477 Vgl. ebd., 131 (lat. epitome distictiva). Dannhauer greift hier das Schibboleth in Ri 12,6 auf und denkt insbesondere an die Reformierten sowie andere protestantische Sekten, die sich unter das lutherische Bekenntnis zu flüchten suchen und „einerley Wort und Symbola mit uns führen / dieselbige aber in ihren Herzen und Schulen viel anders deu‐ ten und verstehen“ (ebd., 131, Z. 37–132, Z. 1). Als „Ertzketzer“ (ebd.) dieser Art nennt Dannhauer den Unitarier J. Schlichting, doch führt er als Beispiel auch die Versuche reformierter Theologen an, die Gegenwart im Abendmahl als nicht leibliche, sondern geistliche und allein mit dem Herzen empfangene Realpräsenz Christi umzudeuten. Zur Kritik jesuitischer und reformierter Doppelzüngigkeit, der finster-diabolischen „aequi‐ vocations kunst“ und der „auff schrauben gesetzten rede“ (CM Bd. 1, 448, Z. 16; Z. 20f) vgl. ebd., 445–450. Vgl. auch CM Bd. 4, 162–170. 478 Dannhauer verweist im Umfang auf „die allgemeinen Glaubensbekantnissen / die Aug‐ spurgische Confession und deroselben Apologia, die Formula Concord. die Schmalckaldi‐ schen Articul und der Catechismus Lutheri, darauff die Evangelische Prediger angeloben in der Ordinirung“ (ebd., 134, Z. 36f). Er weist folglich die Ansicht des Sozzinianers Ostorodt zurück, dass es keiner allgemein verbindlichen Bekenntnisse bedürfe, vgl. ebd., 134 f.

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finden / der dieselbige / ich will nicht sagen / verstehen / sondern gelesen habe.“ 479 Neben diesen „Ignoranten“ kritisiert er auch alle Skeptiker, die sich nicht auf das Bekenntnis der Konkordienformel festlegen lassen wol‐ len, sowie die „Eclectici und Wähler / die auß allen Religionen das beste herauß klauben“. 480 In strittigen Fragen der Lehre und hinsichtlich des ver‐ pflichtenden Bekenntnisses sind Klarheit und persönliche Entschiedenheit die einzig angemessene Haltung. Dannhauer ist daran gelegen, neben der Bibel, den altkirchlichen Be‐ kenntnissen und den Katechismen auch die Lehrbekenntnisse des Kon‐ kordienbuches möglichst breit bekannt zu machen, weil sie ihre normie‐ rende Funktion nicht allein vermittels der Gelehrten und Amtsträger erfül‐ len können. Als vorbildliche Zusammenfassung der seligmachenden Lehre sind insbesondere die altkirchlichen Symbola unverzichtbare Unterschei‐ dungshilfe für den Glauben und Vorzeichnung christlicher Frömmigkeit, wobei ihrem Wortlaut nicht nur eine theologisch normierende, sondern auch eine im engen Sinne symbolische Bedeutung als Glaubenszeichen und Eidesverpflichtung zukommt. Wo immer das apostolische Bekenntnis rein und deutlich erklingt, da weht die siegreiche Fahne Christi und tröstet seine angefochtenen Mitstreiter. c) Der Kampf um die Reinheit der Lehre Schlechthin vorbildlich für den Umgang mit Gefährdungen der christlichen Lehre ist für Dannhauer die Entwicklung, die zum Nizänum geführt hat. 481 An diesem Beispiel lässt sich daher auch entwickeln, welchen Umgang mit Lehrstreitigkeiten er selbst vorschlägt – und weshalb er das ‚synkretistische‘ Programm der Helmstetter Theologie so scharf bekämpft. 482 Dannhauer 479 Ebd., 168, Z. 29–32. Die Kenntnis der authentisch-lutherischen Bekenntnistexte ist für Dannhauer insbesondere deshalb wichtig, weil durch die Jesuiten auch verfälschte, per‐ siflierte Varianten angeblich lutherischer Glaubensbekenntnisse in Umlauf gebracht würden, vgl. ebd., 135 f. 480 CM Bd. 4, IV., 168, Z. 28f; 169, Z. 7 f. Zu verurteilen sei nicht zuletzt die „Beichtzedler“ (lat. libellatici), die sich für unbehelligte Reisen in katholischen Gebieten mit gekauften Beichtzetteln behelfen oder äußerlich an katholischen Zeremonien teilnehmen in der Meinung, „wann nur das Hertz gut Evangelisch seye / so habe man die eusserlichen Ceremonien nicht so genaw in Acht zu nehmen“ (ebd., Z. 15; Z. 19–21). 481 Aus diesem Grund wird dieses Geschehen von Dannhauer nicht nur in seiner Katechis‐ musauslegung zur Entwicklung des Bekenntnisverständnisses herangezogen, sondern auch in einem unvollendeten Geschichtsdrama unter dem Titel Christeis sive Drama sacrum literarisch verarbeitet, vgl. Bolliger, Methodus, 218–220. 482 Zur Auseinandersetzung Dannhauers mit dem Synkretismus vgl. mit klarer Tendenz und vielen Zitaten Horning, Universitäts-Professor, 46–61. Vgl. auch Bolliger, Me‐ thodus, 213–224, der auf das Ineinander von seelsorgerlicher und politischer Motivation hinweist.

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will insbesondere festhalten, dass während der arianischen Streitigkeiten ein „Unterscheid Articulorum Catholicorum & Theologicorum, der allge‐ meinen Christlichen und unstreitigen und der streitigen Glaubens-Arti‐ culn“, wie irenische und synkretistische Theologen seiner Gegenwart ihn zur Entschärfung der Lehrgegensätze vorschlagen, nirgends bekannt gewe‐ sen oder gar zur Beilegung des Streits vorgeschlagen worden sei. 483 Ebenso sei auch der theologische Kunstgriff einer Unterscheidung „des claren unnd unclarens ein- und außgewickelten Glaubens“ (lat. fides explicita & impli‐ cita) unbekannt gewesen. 484 Sarkastisch fragt Dannhauer seine Hörer und Leser: Wären diese theologischen Kunstgriffe schon bekannt gewesen, „wie viel Bluts hätten sie damal ersparen können“? 485 Stattdessen habe man damals in den Streitigkeiten der Alten Kirche das Trennende klar und gründlich herausgearbeitet, bevor man auf Grundlage der Schrift entschieden habe. Alle seien darauf bedacht gewesen, dass al‐ les, was zuvor „im Glaubens-Artickul dunckel gewesen / so heiter / clar und verständlich auch den gemeinen Leuten fürgetragen wurde“, dass sich ja keiner „am Jüngsten Tag der Unwissenheit zu behelffen hette“. 486 So habe das Konzil im Glaubensbekenntnis nicht nur ein Zeichen der siegrei‐ chen Überwindung der Ketzerei gesetzt und „sonderlich in dem Grund-Ar‐ tickul von der hochheiligen Dreyfaltigkeit“ eine Regel zur Unterscheidung des wahren vom falschen Glauben formuliert. 487 Nicht zuletzt habe dieses Vorgehen auch eine fortschreitende „Erclärung der Warheit“ bewirkt und gerade hinsichtlich der Trinitätslehre viele „herrliche Bücher und Erclärun‐ gen“ von bleibendem Wert hervorgebracht. 488 Machten Zeiten der Ruhe und des Friedens auch in der Kirche „faule und sichere Leute“, bewähre sich angesichts der Ketzerei die allgemeine Einsicht: Es „lässet die göttliche

483 CM Bd. 4, 141, Z. 1–3. Vielmehr sieht Dannhauer eine Parallele zwischen den irenischen Theologen seiner Gegenwart und den Homöern, welche nach dem Konzil von Nizäa die Goten zu einer Spielart des Arianismus bekehrt hätten mit der Behauptung, „es sey kein Unterscheid unter der Lehr; aber das vorgebliche Wortgezänck habe den Zwyspalt erreget“(ebd., 143, Z. 34–36). 484 Ebd., 141, Z. 22 f. 485 Ebd., Z. 4. Vgl. CM Bd. 8, 713 f. 486 CM Bd. 4, 141, Z. 24–26. Geleistet wurde somit eine transparente und darin nachhaltig wirksame „Außtruckung und Außlegung dessen / was damal in Streit kommen“ (ebd., Z. 13f). 487 Ebd., 142, Z. 20 f. Insofern das Nizänum den Sieg über den Arianismus dokumentiert, sei es „eine Siegreich Christen-fahnen / so unüberwindlich bleiben wird biß ans Ende der Welt“ (ebd., 139, Z. 19f). Arius, der dem Sohn Gottes seine Gottheit abgesprochen habe, erscheint Dannhauer in gewisser Hinsicht sogar schlimmer als der Teufel, denn dieser erkenne laut der Bibel (vgl. Mt 8,29) zumindest Christi Gottheit an, vgl. ebd., 138. 488 Ebd., 142, Z. 22–24.

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Fürsehung nichts böses geschehen / es muß was gutes darauff folgen“. 489 Auch bezüglich der Häresie greift also eine Variante des ‚Josefseffekts‘ (vgl. Gen 50,20), dass Gott den Glaubenden auch das Böse der Menschen zum Guten umwendet. Die Häresien müssen der wahren Kirche – gegen die de‐ struktiven Eigeninteressen der Ketzer – als „Wetzsteine“ dienen, „dadurch die Sinne und der Glaubensverstand geschleiffet“ werden. 490 Angesichts dieses Ideals der Klarheit und Trennschärfe bezüglich der Lehre erscheint Dannhauer die ‚synkretistische‘ Position der Theologen um den Helmstetter Georg Calixt (1586–1656), der er wohl nicht zu Unrecht eine große politische Anziehungskraft nachsagt, als existenzielle Bedro‐ hung innerhalb der lutherischen Theologie. 491 Diese gegnerische Position rekonstruiert er dabei so, dass als Basis christlicher Glaubenseinheit al‐ lein der „General-Wortlaut deß Apostolischen Glaubens“ verbindlich gel‐ ten solle, während Streit um den „special-Verstand der Glaubens-Articul“ vom Kirchenvolk fernzuhalten und lediglich nicht-öffentlich zwischen den theologischen Schulen zulässig sei. 492 Der Schlachtruf des Synkretismus laute somit: „Ein Tempel / viel Schulen.“ 493 Zudem solle man möglichst „keine Extensionen, und erklärte Zusätze / keine Consequentien und Folge‐ reien / keine Zänkerey in dem modo, in Geheimnüssen / keine Schul-Ter‐ minos auffkommen“ lassen. 494 Als übergreifendes Ziel erscheint dabei, die evangelischen Stände möglichst vereint und unbelastet von inneren Kon‐ flikten gegen die katholischen Stände zu positionieren. Eine direkte oder auch nebenbei erfolgende Auseinandersetzung mit theologisch-politischen Unionsprogrammen dieser Art prägt Dannhauers Schaffen allgemein und durchzieht folglich auch seine Katechismuspredigten. 495

489 Ebd., Z. 29–32. 490 Ebd., Z. 27 f. Zu den schon altkirchlichen Wurzeln dieser meist von 1Kor 11,19 ausge‐ henden Argumentation, die Dannhauer vermutlich bei Augustin aufgreift und in einen für seine Konzeption spezifischen Zusammenhang integriert, vgl. die Belege bei Con‐ gar, Wesenseigenschaften, 442–446. 491 In diesem Zusammenhang ist nicht zu diskutieren, inwiefern Dannhauer die Position Calixts und vor allem dessen Motivation angemessen oder verzerrt wiedergibt. Zu Ca‐ lixts Theologiekonzeption vgl. ausführlich Wallmann, Theologiebegriff, 85–161. Zur Beurteilung Calixts in der älteren Forschung vgl. die Einführung von Inge Mager in Calixt, Einleitung, 9–28. Für eine neuere Würdigung Calixts und seines patristischen Prinzips vgl. Merkt, Prinzip, 37–117. 492 CM Bd. 8, 712, Z. 26–29. 493 Ebd., Z. 28. 494 Ebd., Z. 31–33. 495 Neben Calixt hat Dannhauer hier den schottischen Theologen Johannes Duraeus im Blick. Außerdem setzt er sich wiederholt mit David Pareus und seinem Irenicus, seu de unione evangelicorum (1614) auseinander. Dieser ziele in seiner Darstellung darauf

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Dannhauer fordert, gegen alle Programme des „Aulo politicismus, Syn‐ cretismus, Irenicus Symphonismus“ und überhaupt jede Verschleierung von Lehrgegensätzen rasch und entschieden vorzugehen. 496 Andernfalls könne sich, durch diese „Blasbälcke“ angefacht, das Feuer einer echten Häresie schnell in der Kirche ausbreiten und zum Flächenbrand ausweiten. 497 Auch Arius sei schließlich „anfänglich in Alexandria ein kleines Füncklein ge‐ wesen / aber weil er nicht alsbald gedämpffet worden / hat seine Flamme die gantze Welt angezündet / verheeret und verzehret“. 498 Diese drasti‐ sche Warnung begründet Dannhauer mit verschiedenen Argumenten. Der Streit mit den Reformierten betreffe erstens gerade nicht unwesentliche Lehrstücke, sondern für die persönliche Heilsgewissheit so entscheidende Lehrkomplexe wie die Prädestinationslehre, die Christologie, die Abend‐ mahlslehre und die Rechtfertigung allein aus Glauben um Christi willen. 499 Gegen die mit dem synkretistischen Programm verbundene Verbannung aller nur abgeleiteten Folgerungen (lat. consequentiae) aus dem Bereich der öffentlich-bindenden Lehre wendet er zweitens ein, dass man damit der Kirche viele erbauliche und nützliche Lehren entziehe. 500 Die Gegenseite betreibe hier vielmehr die Verstümmlung des Lehrganzen und eine „Ver‐ stopffung der Trost-Quellen und guten Lebensfrüchten“. 501 Drittens spre‐

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„daß es ein ansehen hat / als wär zwischen uns und ihnen hievon kein streyt / Ist aber lauter betrug.“ (CM Bd. 1, 322, Z. 19f). Vgl. auch CM Bd. 4, 43. Dagegen halte auch der Reformierte Johannes Piscator „solche allgemeingesuchte Religions-vereinigungen / für unmuglich“ (ebd., 145, Z. 10f). Für einen Überblick zu Dannhauers Positionierung im Synkretismusstreit vgl. die Literaturhinweise oben in Anm. 482. CM Bd. 4, 144, Z. 5 f. Ausnahme ist lediglich der „Syncretismus politicus oder Bürgerliche Noth-Frieden“ (CM Bd. 8, 164, Z. 38) angesichts unmittelbarer Bedrohung. Dieser dürfe aber nicht zu Verleugnung hinsichtlich der christlichen Wahrheit und zur Verletzung des Gewissens führen, vgl. ebd., 164–166. CM Bd. 4, 144, Z. 6. Ebd., Z. 2–5. Dannhauer zieht die vergangenen Spaltungen der reformatorischen Bewe‐ gung durch Andreas Bodenstein (Karlstadt) und Johannes Calvin als Beispiele für Ent‐ zweiungen heran, die man aus synkretistischer Neigung nicht schnell genug bekämpft habe. Vgl. ebd., 170. Es gehe zwischen Lutheranern und Reformierten gerade nicht nur um nachgeordnete Glaubensaussagen (etwa gewisse Fragen der Angelologie oder die Alter‐ native von Weltvernichtung und Weltverwandlung), sondern es fehle die „Fundamental Einigkeit im Glauben“ und die Gegner „irren im Fundament“ (ebd., 43, Z. 30f) der Christologie. Vgl. CM Bd. 8, 714. Wie eine „vernünfftige Haußmutter“ (CM Bd. 4, 170, Z. 37) ihren Vorrat nicht nur mit Grundnahrungsmitteln, sondern wenn möglich auch „mit Artz‐ neyen / heilsamen distillirten Wassern / praeservativen, Thyriack / Hirschhorn und dergleichen“ bestücke, solle auch der Christ nicht auf diese „heilsamen Trostlehren aus‐ ser dem was außdrucklich im Symbolo zu finden“ (ebd., 171, Z. 1f; Z. 6f) verzichten. CM Bd. 8, 716, Z. 14 f.

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che gegen die synkretistische Position auch ein formal-logisches Argument: Mit der Ablehnung der Konsequenzen folgerichtiger Schlüsse sei logisch zwingend auch die Verwerfung der vorgeordneten „hypotheses, daraus sie fliessen“, verbunden. 502 Sie ist also nicht nur dem christlichen Lehrver‐ ständnis widersprechend, sondern in sich widersprüchlich. Streng grenzt sich Dannhauer auch von der dem theologischen Syn‐ kretismus im Feld der Politik entsprechenden Konzeption des sog. Liber‐ tinismus ab, den er als „Freystellung der Religion mit vollen Segeln ohn Widersprechen“ charakterisiert. 503 Dieser würde alle Märtyrer und auch die „Stand- und Gewissenshaffte Bekenner / die sich vom Papstthumb durch die Augspurgische Confession trennen lassen“, ins Unrecht setzen – mithin den Grundakt lutherischen Bekennens und die Legitimitätsgrund‐ lage der lutherischen Reformation aufheben. 504 Wiederholt äußert er den Wunsch, dass doch wieder Fürsten wie Kaiser Konstantin den Großen auf‐ treten mögen, die auch politisch auf ein allgemeines und öffentliches Konzil hinwirken. 505 Stattdessen werden ihm zufolge Theologen, die ihrer Pflicht nachkommen und über der Reinheit der Lehre wachen, von der Obrigkeit meist als „Friedenstörer“ angesehen und ihre Interventionen als „Schulge‐ zänck“ diffamiert. 506 Den Vorschlag, öffentliche Disputationen politisch zu unterbinden und auf „die Schul-Catheder alle Streitigkeiten allein zu spie‐ len“, damit „die Kirche damit unperturbirt“ bleibe, verurteilt Dannhauer scharf. 507 „Nichts ist heutigs tages mehr verhasset als das disputiren von der Religion / und doch nichts heilsamer und bequemer die Streitigkeiten außzuwircken / und densel‐ ben abhülfflich Maß zu geben nach dem Exempel Christi / der Apostel / Athanasii, Augustini, und andern rechtglaubigen eiferigen Lehrer.“ 508

Schließlich habe – erneut mit einer therapeutischen Metapher – jede wirk‐ same Heilung der Krankheit zu entsprechen: „Durch Schlangenwort und

502 Ebd., Z. 18. Zu diesem zentralen logischen Argument vgl. auch Bolliger, Methodus, 147. 503 CM Bd. 4, 171, Z. 14 f. Im Hintergrund steht hier etwa die Position Jean Bodins, vgl. ebd., 145. 504 Ebd., Z. 16f. 505 Vgl. ebd., 141; 144 u.ö. Vgl. Bolliger, Methodus, 221 f. 506 CM Bd. 4, 144, Z. 15; Z. 32. Dannhauer verteidigt daher die unversöhnliche Haltung des Leipziger Theologenkonvents von 1630, insbesondere gegen die Reformierten. 507 CM Bd. 8, 716, Z. 25–27. Zur Notwendigkeit der Disputation, die Dannhauer auch in seinen philosophischen Schriften einschärft, vgl. Bolliger, Methodus, 146. Zum Dis‐ putationswesen der Zeit, dargestellt ausgehend von der Wittenberger Universität, vgl. ferner Appold, Orthodoxie, bes. 55–142. 508 CM Bd. 4, 145, Z. 15–19. Vgl. ebd., 43.

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disputat ist der erste Mensch verführet worden / durch Gottes Wort unnd disputat muß jenes widerlegt und die Warheit verfochten werden.“ 509 Bis‐ lang habe allerdings der Wille und die nötige Ausdauer für eine gründli‐ che Auseinandersetzung zwischen den Religionsparteien gefehlt. Auch in früheren Epochen der Kirchengeschichte habe eine solche „Amnestia und Unterlassung der anathemata“ den Ketzern gegenüber, die „Schlaffsucht und unzeitige Friedenliebe“ dem Teufel die Türe in die Kirche geöffnet. 510 Gegen diese um sich greifende Erschlaffung im Bekenntnis zur Wahrheit sei darum die alte Gestalt einer „Polemischen und streitenden“ Theologie wiederzugewinnen, die sich nicht den „Scholastischen / Vanitätischen / sondern nützlichen Controversien“ widme. 511 Einer Begrenzung der Dis‐ putationen auf die akademische Binnenöffentlichkeit entspreche der mi‐ litärische Ratschlag, „man soll den gantzen Handel den Kunst-Fechtern übergeben / den ernsten Krieg miteinander einstellen“. 512 Erscheine die‐ ser Vorschlag zunächst vernünftig und grundsätzlich verlockend, sei eine solche Vereinbarung doch angesichts der diabolisch verblendeten Gegner völlig unrealistisch – und daher von Gott in der Bibel untersagt: „Ja wann der Teuffel nicht hetzen / die andere Parthey mit solchem Rath zu frieden / ja GOTT der HERR nicht solche Ruh richten und straffen wollte“, könnte man darüber nachdenken. 513 Die bleibende Bedrohung des rechten Glau‐ bens und der reinen Lehre durch die Mächte des Satans ist auch der Grund, weshalb Dannhauer grundsätzlich – im Anschluss an seinen Straßburger Vorgänger Johannes Pappus – für neue reformatorische Bekenntnisse plä‐ diert. Denn „neue Confessiones“ seien immer dann notwendig geworden, wenn „neue Irrthumen und Secten einreissen“ und die bestehenden Lehr‐ bekenntnisse nicht zuletzt für die Nachwelt der Ergänzung, Klärung und Präzisierung bedürften. 514 Dannhauer schärft mit Blick auf die Gegenwart die Notwendigkeit einer doppelten, katechetischen und polemischen Be‐

509 Ebd., 145, Z. 22–24. 510 CM Bd. 4, 144, Z. 17; Z. 22. Das klassische Beispiel für eine solche fatale Nachlässigkeit ist für Dannhauer immer wieder der Umgang mit Arius, vgl. CM Bd. 8, 714 f. 511 Ebd., 713, Z. 35–37. Dieses Erneuerungswerk habe Luther mit seinen Mitstreitern be‐ gonnen. 512 Ebd., 716, Z. 28 f. 513 Ebd., Z. 30–32. 514 Ebd., 717, Z. 16; Z. 20 f. Denn „weil aber der Sathan nimmer ruhet / sondern wann ihme schon an einem Ort gewehret wird / er gleich an einem andern Ort eine andere Lucken aufbricht / so muss man stäts wehren“ (ebd., Z. 24–27). Diese neuen Grenzziehungen seien dabei wie das Augsburger Bekenntnis, die Konkordienformel und überhaupt jedes echte Bekenntnis als Bekräftigung früherer Bekenntnisse und Zeugnis für die eine bibli‐ sche Wahrheit zu verstehen.

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festigung der Lehre ein: „Lehr-Wort thuns allein nicht / es müssen auch die Wehr-Wort darzu kommen“. 515 Die zeitgenössische Lage interpretiert Dannhauer so, dass gerade die Redlichkeit der Lutherischen und ihr Bekenntnis zur Wahrheit den römi‐ schen Antichristen gereizt und so das Unheil über das „Vatterland teutscher Nation“ gebracht hätten. 516 Die Nachwelt warnt Dannhauer entsprechend vor den Folgen der Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück: „Der Politische Fried wird den Religions-Krieg verusachen / man mache sich nur gefast / darum wachet unnd betet!“. 517 Es gäbe unter den luthe‐ rischen Theologen wohl niemanden, der einen belastbaren und nachhal‐ tigen Religionsfrieden nicht wünschte. Doch wissen sie sich im Gewissen durch Gottes Wort gebunden und können auch nicht einfach selektiv „ein Wort Gottes ohn das ander glauben“. 518 Trotz dieses düsteren Bildes, das Dannhauer von seiner Gegenwart zeichnet, bleibt für ihn die Hoffnung auf Gottes Gerichtshandeln bestehen: Triumphiere die Lüge auch gegenwärtig in der Welt, werde diese doch „endlich, ob sie sich gleich ein zeitlang sich schmückt / zu schande“, wenn spätestens am Jüngsten Tag „der gerechte Richter auch allen Raht der Hertzen würd an das Liecht bringen“. 519 Dann‐ hauers Interpretation theologischer Gegner und ihrer Texte ist durchgängig von der Unterstellung geleitet, dass auch ein vordergründiges Entgegen‐ kommen mit dem Hintergedanken einer Zersetzung der Wahrheit verbun‐ den ist. Der Kampf um die reine Lehre sei daher entschlossen und in einem eschatologisch-apokalyptischen Horizont zu führen, um die Kirche Jesu Christi gegen die Anbrandung verschiedener Gefahren zu verteidigen und möglichst viele Menschen den Unheilsmächten zu entreißen.

515 Ebd., Z. 4 f. 516 CM Bd. 1, 450, Z. 34 f. 517 CM Bd. 4, 144, Z. 25–27. In Paul Laymanns Kommentar zum Augsburger Religionsfrie‐ den, auch bei Melchior Cano oder Robert Bellarmin sieht Dannhauer den Willen der römisch-katholischen Seite offen ausgesprochen, alle Verträge mit den Protestanten zu brechen, falls „sich das blat wendete / und grösser Heyl zuhoffen als Unheyl zubesorgen“ (CM Bd. 1, 451, Z. 9f) wäre. 518 CM Bd. 4, 144, Z. 37. 519 CM Bd. 1, 451, Z. 20–23. Christus bezeichnet Dannhauer in dieser Rolle als „die selb‐ stendige Wahrheit“ (ebd., Z. 27) Gottes. Für diese Verschiebung der Entscheidung von Lehrkonflikten ins Gottesgericht vgl. Bolliger, Methodus, 224. Dass hier lediglich eine „utopische“ (ebd.) Möglichkeit eingeräumt und damit eher die Unmöglichkeit solcher Klärungen ausgesagt wird, erscheint überspitzt, sofern damit eine resignative Entwirk‐ lichung dieser Hoffnung verbunden wird. Dannhauer geht vielmehr von einem apoka‐ lyptischen Hineinragen des eschatologischen Gerichts schon in seine Gegenwart aus.

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d) Das Herzensbekenntnis des Glaubens Die Glaubensbekenntnisse – in Gestalt der altkirchlichen Bekenntnisse – dienen Dannhauer allerdings nicht nur zur öffentlichen Ordnung der Kir‐ che und einer Verteidigung ihrer Lehrverkündigung gegen drohende Irr‐ lehren. Vielmehr sind sie als „innerliche Herzensbekäntniß des Glaubens für Gott“ auch wichtige Hilfestellung im persönlichen Kampf des Glauben‐ den gegen seine Anfechtung. 520 Dannhauer kennt folglich einen doppelten Gebrauch des Credo: einen kirchlich-normierenden und einen erbaulich‐ seelsorgerlichen Gebrauch. Wird der Glaube durch Zweifel angefochten, dann soll der Glaubende sich selbst einem Gewissensverhör unterziehen und sich so auf sein iden‐ titätskonstitutives Fundament behaften. Man solle zu sich selbst sprechen: „thue Rechnung von deinem Glauben / gib Antwort / wem gehörest du zu? was ist die Losung? was glaubest du?“ 521 Ein „einfältiger Catechismusschu‐ ler“ könne sich auf diese Frage schlicht mit dem Nizänischen Bekenntnis antworten. 522 Dannhauer schreibt dabei schon diesem Sprechen des Glau‐ bensbekenntnis eine Selbstwirksamkeit zu, denn gleich das erste Wort „ich glaube“ bedeute, dass man sich „Gott den HErrn wol eingebildet und ge‐ mahlet im Herzen“ habe. 523 Der wahre Glaube „an oder in GOtt“ bedeute also, in der Situation der Anfechtung zu sprechen: „Ich verlaß mich auff Gott / als auff eine sichere Freiheit und Grundfest / auff das endliche Ziel meines Glaubens / ich baw ein Schloß auf ihn / ich bestehe darauff ohne zu wancken / ich vertraw seinem Wort / Befehl und Verheissung / auff welche Art und Weise auff keine Creatur zu bawen ist.“ 524

Allerdings könne sich in echter Anfechtung sogleich die Folgefrage erhe‐ ben: „woher weist du das mein lieber Christ / bist du auch dieses deines Glaubens gewiß?“ 525 Um den Glauben von einer Einbildung, einem Traum oder einer Wahnvorstellung abzugrenzen, müsse dieser sodann bestätigt werden durch eine Probe „nach Art der Rechenkunst / darauß hell und clar erscheinet / ob der calculus und die Rechnung just gewesen oder nicht“. 526 Diese Probe bestehe zunächst (Dannhauer bezeichnet dies als Beweis a priori) in der Berufung auf das „gezweyte / einhellig übereinstimmende 520 521 522 523

CM Bd. 4, 149, Z. 15 f. Ebd., Z. 21 f. Ebd., Z. 23. Ebd., Z. 26; Z. 29 f. Dannhauer grenzt den so vor sich selbst bekannten Glauben bereits von der bloßen notitia und sterilen Wissenschaft des Pilatus oder der Teufel ab. 524 Ebd., 150, Z. 33–37. 525 Ebd., 152, Z. 24 f. 526 Ebd., Z. 30–32.

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innerliche Zeugniß des Geistes“, welcher dem angefochtenen Glauben im Herzen den „Spiegel des Göttlichen Worts“ vorlege und das darin sichtbare Bild innerlich bewahrheite. 527 Das sich selbst vorgesprochene Credo ziehe in den Raum der Schrift hinein, wodurch der Heilige Geist dem Sünder das „barmhertzige und liebreiche Hertz des himmlischen Vaters“ eröffne und ihm „den gecreutzigten CHristum“ vor das innere Auge male. 528 Er führe in „Gottes Schatzkammer“ des Evangeliums, zu den „hochwürdige[n] Sactamenta“ und dem „hoch tröstlichen Löseschlüssel“ der Absolution, der in den Händen der Kirche liege. 529 Angesichts dieses übereinstimmen‐ den, mit verschiedenen Sinnen erfassten und so eingebildeten Zeugnisses könne der Glaubende nicht anders, als einzustimmen und den Zuspruch des Evangeliums auch auf sich selbst anzuwenden. Werde der menschliche Geist so innerlich „durchs Wort erleuchtet“ und durch eine „unbewegliche Schlußrede“ überwunden, dann spüre der Glaubende „den seligmachenden Glauben bey sich selbst / und weiß ihn gantz gewiß“. 530 Diese Gewissheit einer Übereinstimmung zwischen dem äußeren Zeugnis (lat. testimonium externum) des empfangenen Wortes und dem innerlichen Zeugnis (lat. tes‐ timonium internum) der Geisterfahrung im Herzen sei dabei bereits „gewis‐ ser / als wann ichs mit meinen fünff Sinnen fassen und empfinden solte“. 531 Dieser „Grundfeste“ apriorischer Gewissheit folge sodann a posteriori das Zeugnis der „Zeichen und Früchte des Glaubens“ nach. 532 Die sich selbst vorgesprochene Lehre des Credo vermittelt für Dannhauer die Überein‐ stimmung des Herzens mit Gottes Herzen, weil sie dem Sünder die Mitte der Schrift – Jesus Christus als Offenbarung des göttlichen Heilswillens – in klaren und bündigen Worten vorzuhalten und so einzubilden vermag. 533 Vermittelt durch das bekennende Sprechen der vermeintlich unpersönli‐ chen und abstrakten Lehraussagen könne der Heilige Geist das Evange‐ lium in seinem höchst persönlichen pro-me-Bezug gegen alle anfechtenden Zweifel und Ablenkungsversuche wirksam werden lassen.

527 528 529 530

Ebd., Z. 34f; 153, Z. 6. Ebd., Z. 10; Z. 16. Vgl. ähnlich Luther im Großen Katechismus, BESLK, 1068, Z. 10–15. CM Bd. 4, 153, Z. 21f; Z. 27; Z. 30 f. Ebd., 155., Z. 4f; Z. 8–10. Dem Glaubenden werde der Glauben vergewissert durch das „Zeugniß des Geistes / der nicht nur auff der Cantzel ; sondern auch durchs Wort in meinem Hertzen predigt / und es mir also offenbaret“ (ebd., Z. 25–27). 531 Ebd., Z. 28 f. 532 Ebd., Z. 35 f. Dies entspreche der Ehre Gottes, der wolle, „daß man zuvor glaube / hernach allererst fühle und empfinde / und muß die Empfindung durch den Glauben gestärcket werden / sonst ist das Herz betrieglich“ (ebd., 156, Z. 5–7). 533 Vgl. ebd., 152. Zur Rolle der Einbildung bzw. imaginatio für die Offenbarung bei Dann‐ hauer vgl. Bolliger, Methodus, 226–241.

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Dieser durch das Gotteswort und das Bild Christi vermittelte Glaube sei wie eine Nabelschnur, die Mutter und Kind verbinde. Weil Gott selbst allen seine Gnade um Christi willen verheißen habe, solle man sich auf Christus stürzen „wie ein Adler auf das Aas schiesset“. 534 Dannhauer formuliert da‐ her in einem etwas bizarren, weil metaphorisch überladenen Glaubensbe‐ kenntnis seine Anhänglichkeit an Christus, die zugleich die Anhänglichkeit an die wahre Lehre der lutherischen Kirche begründet: „wo mein Aas ist und mein Schatz / da ist mein Hertz / auff ihn allein sehen meine Augen : hie stehe ich /dieses soll mein Glaubens-losung seyn / Christus ist mein / an seiner Mutter Brüsten hange und sauge ich / sein Blut am Oelberg ist mein / sein Opffer ist mein / sein Verstand ist mein / sein Auffahrt ist mein / gerade / als wann Gott sonst mit niemand in der Welt zu thun hätte als mit mir!“ 535

Der Glaubende sei von Christus immer schon fester ergriffen, als er die‐ sen je ergreifen könnte, so dass es nicht auf die eigenen Kräfte ankomme. Man dürfe dem Satan und seinen Lügen niemals nachgeben, die einem die Schwachheit und Unvollkommenheit des eigenen Glaubens vorhalten, sondern solle sich daran festhalten: „Christus sey kein Stimpler / sondern Anfänger und Vollender deß Glaubens / hat er den Anfang gemacht / so werde er ihn auch vollenden / stärcken / kräfftigen / gründen“. 536 Den wah‐ ren Heilsglauben erlangen alle Menschen, die „von Hertzen auff Gott und seinen Sohn Christum trawen“ und diesen „im Hertzen nachmalen und nachbilden / wie er sich in seinem Wort vorgemahlet“. 537 4.1.7 Zwischeninterpretation Bei Dannhauer begegnet im Rahmen der lutherisch-nachreformatorischen Theologie ein maximal ausgeweiteter Begriff von Lehre, der das Verständ‐ nis von Kirche und Gesellschaft tiefgreifend prägt. Die lebenslange Be‐ festigung im Glauben wird maßgeblich verstanden als ein Wachstum in der Lehre, das allen Christenmenschen nach ihren Fähigkeiten aufgetra‐ gen ist. Biblisch rückgebunden etwa an den Missionsbefehl des erhöhten Christus (Mt 28,18–20), aber auch die neutestamentliche Briefliteratur und alttestamentliche Weisheit, integriert Dannhauer unter dem Oberbegriff

534 CM Bd. 4, 152, Z. 12. 535 Ebd., Z. 12–17. 536 Ebd., 160, Z. 9–11. Erscheint bei Dannhauer der Glaube mitunter als ein Werk, so ist zu‐ mindest mitzudenken, dass er diesen Glaubens- und Heiligungsprozess auf allen Stufen als christologisch begründetes Geistgeschehen und damit als Werk Gottes im Menschen denkt. 537 Ebd., 159, Z. 36.

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der Lehre verschiedene Kommunikationsvollzüge: von der grundlegenden häuslichen Unterweisung der Kinder in Frömmigkeitsformen und bibli‐ schen Erzählungen über die Schulbildung und die Verkündigung der Kir‐ che bis zu den Grenzziehungen der Bekenntnisschriften und den akade‐ misch-gelehrten Disputationen über strittige Glaubensartikel. Das leitende Ideal ist dabei die persönliche Aneignung einer vom selbständigen Umgang mit der Bibel her strukturierten Symbolwelt, die es erlaubt, sich selbst und die Welt als Ganze im Licht des Christusgeschehens zu betrachten. Die verwendeten Nähr- und Heilmetaphern veranschaulichen die exis‐ tenzielle Dringlichkeit und unverzichtbare Stellung, die der Lehre hier für das Leben der Einzelnen und den Organismus der Kirche zukommt. Das notwendige Lehrwachstum vollzieht sich in Stufen, die mit der nahrhaften ‚Milchspeise‘ des kleinen Katechismus, dem opulenten ‚Festbankett‘ des großen Katechismus sowie der umfassend bestückten Apotheke der Hei‐ ligen Schrift in eine Hierarchie gebracht werden, aber sich mit Blick auf die behandelten Themen und Lehrkomplexe gerade nicht strikt abgrenzen lassen. Dass Dannhauer durchaus seelsorgerlich begründete Abstriche von seinem anspruchsvollen Bildungsideal machen kann, zeigt etwa ein Visita‐ tionsbericht, in dem seine Empfehlung dokumentiert ist, einen gehörlosen und wohl auch geistig behinderten Jungen zum Abendmahl zuzulassen. 538 Doch abgesehen von solchen Ausnahmefällen wehrt Dannhauer alle Ver‐ suche ab, dem bis in Jenseits verlängerten Wachstumsfortschritt durch die aneignende ‚Verdauung‘ der Lehre eine Grenze zu setzen. Das Wachstum in der Erkenntnis der Lehre ist Vertiefung der Einsicht in den Glaubensgrund, wie die biblischen Schriften ihn legen, aber zugleich dessen auslegende Ent‐ faltung – und damit die Einholung immer neu erlebter, erlittener oder auch angelesener Erfahrungen in eine von Christus her erschlossene Gesamt‐ wirklichkeit. Die christliche Lehre ist in ihrer predigthaft-ausgelegten wie in ihrer formelhaft-verdichteten Form zugleich Produkt und Medium der herme‐ neutischen Erschließung einer als brüchig empfundenen Wirklichkeit. Der Umgang mit der Lehre umgreift verschiedene Vollzüge gelebter Frömmig‐ keit und intellektueller Betätigung, aber diese beansprucht immer auch öffentliche Geltung für die politische Gestaltung des Gemeinwesens. Des‐ halb bemüht sich Dannhauer in seinen Katechismuspredigten zunächst um den Aufweis, dass mit dem Kategoriensystem der Lehre auch tatsächlich die Gesamtheit des ihm zugängliche Wissens- und Problembestands im

538 Vgl. Horning, Universitäts-Professor, 109 f. Dannhauers Urteil lautet: „Obwohl er nun die Prüfung seiner selbst nicht mit Worten an den Tag geben könne, so vertrete ihn doch der heil. Geist mit unaussprechlichen Seufzern“ (ebd., 110).

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Lichte des Christusgeschehens verarbeitet werden kann. 539 Die teilweise ausufernden biblischen, naturphilosophischen und historischen Beispiele dienen daher nur im Nebeneffekt einer Untermauerung der Lehrautorität Dannhauers durch die Zurschaustellung umfassender Gelehrsamkeit. Auch sollen sie gerade keine Begründung für die Wahrheit der Lehre liefern, kann dieses Fundament doch allein die Selbstwirksamkeit der Schrift im Zusam‐ menspiel mit dem inneren Zeugnis des Heiligen Geistes legen. Stattdessen sollen diese Kettenbildungen exemplarisch eine Verarbeitung von Erfah‐ rungsbeständen im Lichte der Lehre vorführen und einüben. Zudem sollen für die Hörerinnen und Hörer tragfähige Sinnzusammenhänge in einer nur vordergründig und scheinbar vom Spiel undurchschaubarer Mächte be‐ herrschten Natur- und Menschheitsgeschichte aufgedeckt werden. Dannhauer weist auf der Grundlage dieses ganzheitlichen Lehrverständ‐ nisses zeitgenössische Versuche einer Entgegensetzung von Lehre und Le‐ ben zurück, die er als falsche und für den Glauben desaströse Missverständ‐ nisse betrachtet: „Der Zweck aller rechtschaffenen Lehre ist das Leben / und zwar ein Göttliches / heiliges und in GOtt ruhiges Leben“. 540 Keinesfalls sei es „mehr angelegen / die Leute fromm als gelehrt zu machen“, so dass in der Predigt die „Wissenschaft der Lehre“ gegenüber den „Tugendsporen “ moralischer Unterweisung und Disziplinierung in den Hintergrund treten könne. 541 Der „Baum deß waren Glaubens“ müsse zuerst gepflanzt sein, bevor man von ihm „Christliche Tugend-Früchte abbrechen“ könne. 542 Deshalb bemüht Dannhauer sich in seinen Predigten um den Aufweis ei‐ ner existentiellen Bedeutung der Lehrüberlieferung für den Glauben der Einzelnen. Entscheidend mit Blick auf spätere Kritik am Lehrbegriff und der Sprachform der Lehraussage ist hier, dass für Dannhauer das Ausspie‐ len von allgemeinen Lehraussagen gegen den individuellen Fall („Dieses Wort mag zwar abstrakt richtig sein, aber betrifft mich nicht!“) gerade Ausdruck einer Selbstverkrümmung des Sünders und typische Gestalt der Anfechtung ist. Es ist zentrale Aufgabe der Predigt, diese Distanzierung vom existentiellen Anspruch der Lehre durch die Einbeziehung der Erfah‐ rung, aber auch durch überführende Argumentationsgänge zu unterlaufen,

539 Deutlich wird bei Dannhauer, wie stark sich im Sog dieses Lehrverständnisses die Schrift, die himmlische Weisheit und Luthers Katechismen annähern, vgl. zu dieser Tendenz der Hochorthodoxie Bolliger, Methodus, 260–262; 309. 540 CM Bd. 8, 728, Z. 13 f. Für die durchaus reformatorischen Wurzeln dieser polemischen Entgegensetzung vgl. Kaufmann, Filzhut. 541 CM Bd. 8, 666, Z. 6–8. 542 Ebd., Z. 10–12. Christus sei immer „unser (zu vorderst) Sacrament / und hernach auch Exemplar / Muster und Beyspiel / sonst werden die Rosse hinter den Wagen gespannt“ (ebd., Z. 12–14).

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so dass die selbstdistanzierend-gleichgültige Reaktion des Predigthörers: „Gelehrt war’s, aber hat mich nicht angangen!“, den Fehlschlag der Lehrver‐ mittlung schlechthin beschreibt. 543 Die Erschließungskraft der Lehre soll den Glaubenden nicht nur allgemein vorgeführt, sondern an ihnen auch als persönlich treffende Evangeliumsbotschaft wirksam werden. Der auf den erbaulichen, katechetischen und seelsorgerlichen Gebrauch der Lehre zielenden Nährmetaphorik entspricht hinsichtlich des pole‐ misch-kontroverstheologischen Gebrauchs eine ähnlich elaborierte Kriegsund Kampfmetaphorik, wobei zwischen beiden die Heilmetaphorik vermit‐ telt. Scharf bekämpft Dannhauer nicht nur seine konfessionellen Gegner, sondern auch alle „synkretistischen“ und „libertinistischen“ Herabstufun‐ gen der Lehre, die deren Themenbereich und Anspruch für das christliche oder politische Leben einschränken, ja den Streit um die wahre Lehre still‐ stellen und aus dem Zentrum des kirchlich-gesellschaftlichen Lebens in dessen akademische Randzonen verbannen wollen. Dies kann man durch‐ aus als zeittyptische Variante einer Bemühung um ‚öffentliche Theologie‘ und darin auch einen Anschluss an den Öffentlichkeitscharakter des Augs‐ burger Urbekenntnisses der reformatorischen Stände vor Kaiser und Reich sehen. Mit der Mündigkeit hinsichtlich der erfolgreich angeeigneten und ver‐ standenen Lehre wird hier – wie bereits bei Luther – ein Freiheitsverspre‐ chen für die Einzelnen verbunden: Ein „wolgeübter / Gottesgelehrter / und in Gottes Wort erleuchteter Christ“ sei in allen Dingen des Lebens ein kompetenter „Judex, Sequester, Richter und Scheidmann“. 544 Dazu über‐ trägt Dannhauer die hermeneutische Methode, die den Prediger zu seiner Schriftauslegung führen soll, in den Rahmen einer ihrem Ideal nach allge‐ mein praktizierten christlichen Bibelfrömmigkeit. Die so eingeübte Lehre soll das Leben in der Gesellschaft umfassend orientieren, ohne dass die Un‐ terwerfung unter menschliche Autoritäten oder den Konsens der Tradition nötig wäre. Auch die Kirche und die Obrigkeit sind dabei kritisch an der offenbarten, vielfach durch Erfahrung bekräftigten und weitgehend einer logischen Überprüfung zugänglichen Wahrheit der Lehre zu messen.

543 Die Katechismuspredigt erfüllt damit im kirchlich-gottesdienstlichen Rahmen analoge Funktionen, wie Kenneth G. Appold sie für die akademischen Disputationen identifi‐ ziert, vgl. Appold, Orthodoxie, 6. 544 CM Bd. 8, 728, Z. 35–37.

Hodosophia Christiana: Theologie als Wegweisheit

4.2 Hodosophia Christiana: Theologie als Wegweisheit Sein in lateinischer Sprache als Gesamtdarstellung der positiven Theologie verfasstes Dogmatikkompendium überschreibt Dannhauer mit dem Titel Ο∆ΟΣΟΦΙΑ christiana, also: christliche Wegweisheit oder Reisekunst. 545 Die Theologie wird damit direkt ‚praktisch‘ auf die conditio humana des gefallenen Menschen bezogen, der sich unter der Leitung Christi als Pilger auf dem Weg in die himmlische Heimat befindet. Seine Widmung an den Pfalzgrafen Christian I. und dessen Sohn Johann Karl beginnt Dannhauer mit einem Ausspruch aus Pred 12,12 (lat. faciendi libros nullos est finis) und einer biblischen Besinnung auf das Schreiben. 546 Die Heilige Schrift zeichne das Ideal vor, dass es bei gelehrten Schrif‐ ten weniger auf die Menge der Wörter oder auf die abwechslungsreiche Darbietung, als auf Knappheit (lat. brevitas) und die klar ausgesagte Be‐ deutung (lat. sensus) ankomme. 547 Die Methode der Theologie habe sich der Aufnahmefähigkeit der Hörenden bzw. Lesenden anzupassen – Gott selbst habe sich schließlich in Christus herabgelassen, um für uns Men‐ schen auch nur annähernd fassbar zu sein. Besonderes Augenmerk lenkt Dannhauer daher auf seine „symbolische“ Form der Darstellung, welche er um der besseren Vermittlung und Fassbarkeit des Stoffes gewählt habe. 548 Diese Darstellungsweise ermögliche das Aufsteigen von den grundlegenden 545 Zu dieser Übersetzung vgl. folgende Passage aus der Katechismusauslegung: Der Heilige Geist offenbare seit den Erzeltern die Weisheit Gottes als „den rechten Catechetischen Himmels-Weg / den Weg vom HErrn / auff welchem der HErr zu uns herab kommen / der Weg durch den HErrn / den der Herr Messias mit seinem Blut gebahnet; der Weg zum HErrn / da von Fried und Freude im H. Geist. Mit einem Wort HODOSOPHIAM, die geistl. Reißkunst / das Wortliecht / Gottes geoffenbartes / unfehlbares Wort / von allen spiritibus fatuis und Irrgeistern unterschieden.“ (CM Bd. 8, 770, Z. 11–17). Vgl. zu Dannhauers verbreitetem Lehrkompendium auch die Einordnung und Interpreta‐ tion Bolliger, Methodus, 191–201. Im Folgenden werden aufgrund der ausführlichen Paraphrasen im Fließtext nicht überall, aber doch in den meisten Fällen eigene Über‐ setzungen oder Übertragungen lateinischer Zitate geboten. Auf Zeilenangaben wird aufgrund des Oktavformats verzichtet, ebenso auf die Wiedergabe der meist gliedernden Hervorhebungen. 546 Vgl. HC, i-ii (Widmung im Orig. unpaginiert). 547 Vgl. ebd., ii f. Dannhauer bringt dies auf die mahnende Formel: „Logodiarroea est non eloquentia“ (ebd., iii. Dt.: „Vielrednerei ist nicht Redegewandtheit“). Mit seiner Klage über die zeitgenössischen Schriftsteller, welche vor den Lesern glänzen und Überzeu‐ gungskraft durch ausschweifendes Reden erreichen wollten, greift Dannhauer einen verbreiteten Topos auf, vgl. ebd., iii f. Vgl. für diesen Topos etwa König, Theologia, 10, Z. 21–27. 548 Vgl. HC, vii. Zur Einordnung in die zeitgenössische Gattung der Dogmatikkompendien vgl. Stegmann, König, 161–177; bes. ebd., 170, Anm. 195. Stegmann ordnet Dannhau‐

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und relativ unmittelbar fassbaren Bildern zu den immer subtileren Unter‐ scheidungen der Theologie. Für die Übersichtlichkeit des Lehrstoffes fügt Dannhauer in seine Darstellung auch Übersichtstabellen wichtiger Begriffe und Distinktionen ein. 549 Neben dieser grundsätzlichen Ausrichtung auf die Leser erzwingt laut Dannhauer auch die drängende Lage der Gegenwart, sich auf notwendige Grenzziehungen zu beschränken und sich nicht mit nachgeordneten ex‐ egetischen oder philosophischen Fragen aufzuhalten, welche er in anderen Büchern umfassend zu behandeln plant. 550 Aus diesem Grund teilt er den Stoff der positiven Theologie auf in die vergleichsweise knappe Hodosophia, die sich mit dem Weg des Glaubenden zum Heil beschäftigt, und die beiden Teile der polemisch-kontroverstheologischen Hodomoria, die für den kun‐ digen Theologen die labyrinthischen Irrwege der Gegner aufdecken soll. 551 Dem Pfalzgrafen und seinem Sohn wünscht Dannhauer am Ende seiner Widmung, dass sie der deutschen Jugend nicht nur in der Schlacht, sondern auch auf dem Weg zum himmlischen Vaterland als Anführer und gutes Bei‐ spiel voranziehen mögen. 552 In diesem Wunsch ist zunächst eine Mahnung zur Frömmigkeit und Förderung der wahren Religion impliziert, doch wird auch die Konzeption einer Theologie des Reisenden (lat. theologia viatoris) sichtbar, die auf dem stets gefährdeten Weg in die himmlische Heimat den Glauben befestigen und das Leben orientieren soll.

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ers Hodosophia überzeugend als Übergangsgestalt zwischen Loci-Methode und analyti‐ schem Ordo ein, wobei die innere Teleologie dieser Entwicklung mit Blick auf Dann‐ hauers eigene Behauptung einer exklusiven Orientierung an der Bibel zu hinterfragen wäre. Von Horning wird ein Zitat Johann Reinboths wiedergegeben, in dem dieser insbeson‐ dere Dannhauers Gebrauch von Tabellen kritisiert: Diese seien „nicht allein Neuerun‐ gen, sondern Schulfüchsische unbegründete Narrengedanken“ (Horning, UniversitätsProfessor, 62). Dannhauers Tabellen wurden von dessen Schüler P. J. Spener später noch einmal erweitert und gesondert herausgegeben. Zum vor allem durch den Ramismus verbreiteten Einsatz von Tabellen in Lehrbüchern und Dogmatikkompendien vgl. Steg‐ mann, König, 175–178. Allerdings könne in dieser Lage auch besondere Ausführlichkeit erforderlich sein, vgl. HC, vi: „Nonnulla sunt quibus carere possumus in pacem, non item in bellum.“ (dt.: „Einige [Lehrsätze] sind es, die wir im Frieden entbehren können, nicht gleichermaßen im Krieg“). Mit einem anderen, friedlicheren Bild vergleicht Dannhauer sich mit einer Biene, die aus verschiedenen Blüten das Nützliche zusammenträgt, vgl. ebd., ix. Er macht deshalb – ganz zeittypisch – auch keinen Anspruch auf Originalität geltend. Vgl. auch CM, Bd. 3, 409. Vgl. HC, vii. Zum Gesamtprogramm und den inneren Beziehungen dieser drei Schriften vgl. Bolliger, Methodus, 188–212. Vgl. HC, xi.

Hodosophia Christiana: Theologie als Wegweisheit

4.2.1 Die hodosophische Methode der Theologie In seinem Hodosophiae Prooemium, das an die Widmung anschließt, un‐ ternimmt Dannhauer sodann, die Methode und Leitmetapher seines Kom‐ pendiums aus der Schrift herzuleiten, oder eher: auf biblischer Grundlage zu plausibilisieren. Dabei geht er von einem Vers aus dem Buch Hesekiel aus, wobei er das Spiel mit der hebräischen Wurzel ‫ משׁל‬aufgreift und folgendermaßen übersetzt: parabolizans parabolis. 553 Dieses Sprechen in Gleichnissen umschreibt laut Dannhauer die heiligste, angemessenste und ordentlichste Methode, Theologie zu betreiben. 554 Die Heiligkeit dieser Methode sieht Dannhauer darin begründet, dass auch der Heilige Geist in der Schrift vielfach (lat. mille exemplis) eine bildlich-gleichnishafte Ausdrucksweise gewählt habe. Ihre didaktische An‐ gemessenheit ergebe sich zusätzlich daraus, dass die gleichnishafte Aus‐ drucksweise zwar die Majestät der göttlichen Sache wahre, aber zugleich auch die Sache für die Zuhörer leichter fassbar und merklich mache. 555 Dem Gegenargument der Uneindeutigkeit figurativer Rede bzw. einer al‐ legorischen Verschleierung der Wahrheit (lat. ut obscurum sit quod figura‐ tum est) begegnet Dannhauer mit dem Einwand, dass dieser Gefahr durch die Kombination verschiedener Redeweisen abzuhelfen sei – also indem man wie in Jesu Verkündigung an sich mehrdeutigen Bildern auch eigentli‐ che Aussagen (lat. propria dicta) als Auslegung zur Seite stelle. 556 In höchs‐ tem Maße der Ordnung gemäß sei diese Darstellungsform schließlich, weil nur durch eine Abfolge von Bildern ein zusammenhängendes Ganzes dar‐

553 Ebd., 1. Der Vers aus Ez 20,49 VUL (= Ez 21,5) lautet deutsch: „Ich aber sprach: Ach, Herr Herr, sie sagen von mir: Redet der nicht immer in Rätseln?“. Grundsätzlich sind für Dannhauer theologische Begriffe und Redeweisen aus der Schrift zu entnehmen, nicht nach Belieben zu erfinden, vgl. ebd., 1: „Probrosum quidem nomen, ex ingenio & affectu loquentium; honestum autem è consilio divino & studio Prophetae“ (dt. „Schändlich werden die genannt, die aus Eigentalent und Affekt reden; ehrbar aber aus dem göttli‐ chen Rat und prophetischem Eifer“). 554 Vgl. ebd. Lat.: „methodum tradendae Theologiae sanctissimam, aptissimam, ordinatis‐ simam“. 555 Vgl. ebd.: „in quorum aures liquidius influit similitudo quam res ipsa, facilius haeret comparata quam nativa vox“ (dt.: „in deren Ohren flüssiger das Ebenbildliche als die Sache selbst einfließt, leichter der Vergleich als das natürliche Wort“). Vgl. auch ebd., 304. 556 Vgl. ebd. Aus der Topik des Aristoteles zitiert Dannhauer und paraphrasiert: „obscura est metaphora, si talis manet; clara, cum dictione propriâ illuminatur: notior nobis (ut pictura) figura, natura notior propria vox“ (ebd., 2. Dt.: „dunkel ist die Metapher, wenn sie so bleibt; klar, wenn sie mit eigentlicher Aussageweise erhellt wird: uns bekannter (wie ein Bild) durch die Gestalt, das eigentliche Wort bekannter durch die Naturerschei‐ nung“). Vgl. Aristoteles Topik Lib. VI, Kap. 2, 139b-140a.

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gestellt werden könne. 557 Für den bildspendenden Bereich gebe bereits das Neue Testament unterschiedliche Möglichkeiten an die Hand, aus denen der Theologe wählen könne. 558 Dannhauer wählt aus diesen möglichen Bil‐ dern das Leitmotiv des Reisenden bzw. Wanderers aus (lat. figura viatoria), da dieses in der Schrift besonders häufig Verwendung finde. 559 Um diesen Weg zu weisen, will Dannhauer die Gesamtheit der christlichen Lehre so darstellen, dass die Darstellung alles notwendig zu Glaubende, zu Hoffende und zu Wissende in ihren Kreis einschließt und die Lehre als ein organisch zusammenhängendes Gefüge sichtbar wird. 560

557 Vgl. HC, 2: „per seriem figurae totam machinam à fundo ad fastigium usque sine hiatu aut deformi strumâ deducit“ (dt.: „durch die Abfolge der Gestalten leitet sie [die Lehr‐ weise, TG] den ganzen Gerüstbau vom Grund bis zum Giebel ohne jede Kluft oder hässliche Anschwellung ab“). Diese Kohärenz sei bei der scholastischen Unterteilung in Einzelfragen oder auch bei der Loci-Methode so nicht möglich. 558 Vgl. ebd., 3: „Variis itidem figuris theologia depicta extat, architectonicae [1Kor 3,10], athleticae [1Kor 9,24], iaculatoriae [Phil 3,13], pictoriae [Röm 6,17; Gal 3,1]“ (dt.: „es liegt die Theologie durch verschiedene Motive abgemalt vor, architektonische, athleti‐ sche, wurfsportliche, malerische“). In einer früheren Schrift namens Christosophia hatte sich Dannhauer noch für das Bild des Malers entschieden, vgl. Dannhauer, ΧΡΙΣΤΟΣΟΦΙ΄Α, 1: „Pictores sunt Apostoli & horum successores. Objectum pingendum, sunt non commenta & somnia [...] sed CHRISTUS crucifixus omnium scripturarum, caput, scopus, centrum, nucleus, thesaurus, margarita [...]. Mappa, seu tabula est cor nostrum“ (dt.: „Die Apostel und ihre Nachfolger sind Maler. Der zu malende Gegenstand sind nicht Lügen und Träume, [...] sondern der gekreuzigte Christus als Haupt, Ziel, Mitte, Kern, Schatz, Perle aller Schriften. Die Leinwand oder Tafel ist unser Herz“). Vgl. auch Bolliger, Methodus, 234–236. 559 Vgl. HC, 3: Diese Methode sei „toties in scripturis celebrata, quoties fit mentio viae, viae rectae, Dominicae, verae, pacificae, sapientis, vivae, iustae, salutaris, angustae“ (dt.: „überall in der Schrift gefeiert, wo ein Weg, rechter Weg, Weg des Herren, wahrer Weg, Weg des Friedens, Weg der Weisheit, lebendiger Weg, gerechter Weg, heilsamer Weg, enger Weg erwähnt wird“). So führt Dannhauer einige biblische Stellen an, wo das Bild oder der Begriff des Weges explizit mit der biblischen oder christlichen Lehre verbunden wird, wie Apg 9,2, Apg 16,17, Apg 18,25; Lk 1,79; Mt 7,14; Spr 4,11, Spr 10,17, Spr 16,31. Dies wiederum ermöglicht ihm, eine Vielzahl weiterer biblischer Stellen metaphorisch oder typologisch auf die Methode der Theologie zu beziehen: So verweisen für ihn die Lebensweise der Erzväter und des Volkes Israel in der Exodustradition, die Königin des Südens und ihr Besuch bei Salomo, die Weisen aus dem Morgenland, der äthio‐ pische Kämmerer, das Beispiel Johannes der Täufers, Jesu, der Apostel und schließlich insbesondere das Vorbild des Zeltmachers Paulus (vgl. 2Kor 5,1–4; Phil 3,12–21) auf die Methode einer theologia viatoris. Vgl. auch CM Bd. 8, 770. Für Bolliger ist diese Leitmetapher zu verstehen als biblische Einkleidung logischen Methodendenkens, vgl. Bolliger, Methodus, 193 f. 560 Vgl. HC, 4: „in tradenda Christianâ Doctrinâ universa oeconomiam, ut expeditissimam, ac ordinatissimam ingredimur, in cuius orbem, omnia creditu, speratu, factu necessa‐ ria incidunt; in qua silices ita connexi haerent, ut speciem visentibus praebent, non

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Nach diesem Prooemium und der Entscheidung für das allegorische Leitmotiv der Reise bietet Dannhauer eine allegorische Definition der Theologie als „Hodosophia sacra“: „Hodosophia sacra seu Theologia nostràs, est Lumen, constans, coeleste, efficax, in oculo spirituali, puro, illuminabili, quod hominem coelo exulem, ad patriae coelestis beatitudinem ductu suavi reducit.“ 561

Die Entfaltung dieser Definition beginnt Dannhauer mit der Formel, dass die Theologie eine Rede aus Gott, zu Gott hin und über Gott sei (lat. sermo à Deo, ad Deum, de Deo). 562 Entsprechend sei die theologische Rede selbst eine Anrede Gottes – sowohl mit Blick auf den Gesamtzusammenhang (griech. λόγος ϑεοῦ), als auch hinsichtlich der einzelnen Aussprüche Got‐ tes (griech. λόγια ϑεοῦ), aus denen sie entwickelt ist. 563 Einerseits grenzt

coniunctos ita, sed congenitos esse“ (dt.: „wir betreten beim Überliefern der gesamten christlichen Lehre eine in höchstem Maße zugängliche und geordnete Einteilung, in de‐ ren Umkreis alles Notwendige für den Glauben, das Hoffen, das Tun fällt; in welcher die Kieselsteine so verbunden zusammenhängen, dass sie im Anblick den Anschein bieten, nicht so zusammengesetzt, sondern geburtsmäßig verbunden zu sein“). 561 Ebd. (dt.: „Die heilige Wegweisheit oder unsrige Theologie ist ein Licht – beständig, himmlisch, wirksam – im geistlichen, reinen, erleuchteten Auge, welches den aus dem Himmel verbannten Menschen durch sanfte Führung zur Seligkeit der himmlischen Heimat zurückführt“). Eine zweite, klassisch-schulmäßige Definition der Theologie (lat. propria definitio) referiert Dannhauer für diejenigen, die eine solche der allegorischen ‚Definition‘ vorziehen: „Theologia nostràs est habitus divinitus datus, in conscientia pura ac animo devoto, qui hominem summè miserum efficaci doctrinâ ad salutem vit‐ amque aeternam reducit.“ (HC, 5. Dt.: „Die unsrige Theologie ist ein göttlich gegebener Habitus, im reinen Gewissen und der andächtigen Seele, der den in höchsten Maße elenden Menschen durch wirksame Lehre zum ewigen Heil und Leben zurückführt“). Hinsichtlich dieser zweiten Definition weist er alle aus aristotelischer Denkgewohnheit stammenden Versuche zurück, die Theologie mittels einer differentia specifica einem übergreifenden genus proximus zuzuordnen. Zu den zeitgenössischen Debatten um die Theologie als habitus vgl. Mahlmann, Doctrina; zu Dannhauers Hodosophia vgl. ebd., 256–258, wobei Mahlmann nur die zweite Definition der Theologie heranzieht, die er auf Balthasar Meisner zurückführt. 562 Vgl. HC, 5. Dieses für die Barocktheologie allgemein prägende Verständnis der Theo‐ logie als einer von Gott ausgehenden, wieder zu Gott hinführenden Offenbarungsbe‐ wegung ist beispielsweise bei Johann Gerhard belegt, der dafür auf scholastische Tra‐ ditionen verweist, vgl. Gerhard, Loci, Bd. 1, 1: „Pulchre Thomas p. 1. q. 1. art. 7 et Albertus 1 sent. dist. 1 art. 2. Theologia a Deo docetur, Deum docet et ad Deum ducit, quare a Deo recte denominationem accepit“ (Herv. im Orig.). Auffällig ist, dass Dann‐ hauer dieses Verständnis schon gar nicht mehr biblisch mit einschlägigen Belegstellen wie Apg 17,28, 1Kor 2,10–13 oder Röm 11,36 begründen muss. Die Formel wurde jüngst erneut programmatisch aufgegriffen von R. Slenczka, Theologia. 563 Vgl. HC, 5. Dannhauer führt hier als Bibelstellen Röm 3,2 an, die auch für die Ka‐ techismusmilch konstitutive Belegstelle Hebr 5,12 sowie 1Petr 4,11. Hinsichtlich der

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Dannhauer sie als die „unsrige“ Theologie vom höchst unvollkommenen theologischen Wissen der Heiden ab, andererseits aber auch als abbildli‐ che (griech. ἔϰτυπος) von der urbildlichen (griech. ἀρχετύπος) Theologie, also dem Wissen Gottes um sich selbst, seine Ratschlüsse und das All der Schöpfung. 564 Als abbildliche Theologie sei sie Weg-Theologie (lat. theolo‐ gia vialis) oder Kriegs-Theologie (lat. theologia militaris), was bei Dannhau‐ ers Verständnis eines Lebensweges, der ständig von übernatürlichen wie fremdkonfessionellen Feinden bedroht erscheint, letztlich zusammenfällt. Dies impliziert ihren vorläufigen, „symbolisch-enigmatischen“ Charakter, der sich wie die Schau im Spiegel zum Anblick von Angesicht zu Angesicht verhält. 565 Als erworbener Habitus unterscheide diese Theologie sich ferner von der außerordentlich eingegossenen Theologie (lat. extraordinaria ac infusa) der Propheten und Apostel. 566 Als ‚epoptische‘, draufsehende Theologie (lat. epoptica) ist die in der Hodosophia gebotene positive Theologie für Dannhauer von der kateche‐ tischen „non substantiâ, sed gradu luminis : non gradu perfectionis sed perfectione gradus“ unterschieden. 567 Bei diesem Unterschied handelt es sich folglich nicht um qualitativ abgegrenzte Stufen oder gar unterschied‐ liche Gegenstandsbereiche, sondern um einen quantitativen Fortschritt innerhalb einer Stufe. Dies bedeutet, dass sich die kunstmäßige, ‚akade‐ mische‘ Theologie für Dannhauer vom elementaren Glaubenswissen aller Christenmenschen nur hinsichtlich ihrer Durchsichtigkeit, Ausführlichkeit und methodischen Darstellungsweise unterscheidet. 568 Beides, die akade‐

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verschiedenen Bezeichnungen in der Schrift (z.B. als „gesunde“ bzw. „heilsame Worte“ [2Tim 1,13]; „Gestalt der Erkenntnis und Wahrheit im Gesetz“ [Röm 2,20]; „Lehre, die der Frömmigkeit gemäß ist“ [1Tim 6,3]; „Fülle der Einsicht“ und „Erkenntnis des Ge‐ heimnisses Gottes“ [Kol 2,2]) hält Dannhauer fest, dass diese biblischen Formeln jeweils perfekte Definitionen (lat. perfecta definitiones) sind, die sich abbildlich-figurativ (lat. figurata) auf eine ihnen allen zugrundeliegende Figur (lat. semel figuram amplexi) bezie‐ hen, vgl. ebd. Vgl. ebd., 6. Auf letztere beziehen sich Joh 1,18 und 1Kor 2,10. Vgl. ebd. Die visio à tergo des Mose in Ex 33,23 sei zwar „à facie ad faciem, & quasi corporalis, imaginariâ sublimior“, aber bleibe noch immer qualitativ von der etwa in 1Kor 13,8–12 verheißenen endzeitlichen Gottesschau geschieden. Vgl. ebd. Diese Gabe sei auf besondere Umbruchszeiten beschränkt und als allgemein verbreitete Erscheinung mit den anderen Charismen der Urkirche erloschen. Vgl. ebd., 6f (dt.: „nicht der Substanz, sondern der Helligkeit nach; nicht durch einen Fortschritt hinsichtlich der Vollkommenheit, sondern durch die Vollkommenheit hin‐ sichtlich des Fortschritts“). Für diesen – nach reformatorischem Verständnis rechtfertigungsbedürftigen! – Gradun‐ terschied beruft sich Dannhauer etwa auf Lk 1,3f sowie erneut seine für die Katechetik einschlägige Belegstelle Hebr 5,12 f. Eine alternative, weniger kontinuierliche und des‐ halb von Dannhauer sowie vielen anderen lutherischen Theologen scharf bekämpfte

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mische Theologie und die kirchliche Katechismusunterweisung, ist von einem Kontinuum des christlichen Lehrbegriffs umfasst und direkt auf die persönliche Frömmigkeit bezogen. Die Theologie sei Licht der Welt, weshalb die Theologen mit Leuch‐ tern oder Sternen verglichen werden können. 569 Ihr Licht im Auge des Theologen sei zwar im Idealfall wahr und rein, aber dennoch als lumen derivatum und Abglanz immer abhängig von dem Lichtstrahl der Schrift, der wiederum von der einen Sonne Christus ausgeht. 570 Diese theologi‐ schen Fixsterne haben beständig und unbeweglich (lat. constans et fixum) zu sein, weshalb der theologische Habitus durch stetige Einübung und eif‐ riges Bemühen (lat. exercitio studioque) erworben wird. 571 Wie in einem Lehrhaus für Frauen (lat. gynaeceum) habe der Theologe die Sprachen und die niederen Künste (der Artistenfakultät) gründlich zu erlernen, welche die Theologie als Königin sämtlich in ihren Dienst zu nehmen weiß. 572 Der Theologe werde von Christus durch den Heiligen Geist erleuchtet und bleibe auf die beständige Erhaltung von dieser Lichtquelle her angewiesen, so dass die Theologie vom Himmel empfangen sei, aber mit Hilfe von irdi‐ schen Gleichnissen entfaltet werde. 573 Der Mensch sei aus der himmlischen Heimat verbannt, umherirrend, orientierungslos, vom Gesetz geblendet und verzweifelt, doch gleichwohl grundsätzlich von einer vagen Sehnsucht nach dem rechten Weg und dem höchsten Gut bewegt. 574

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Abstufung von akademischer und kirchlich-positiver Theologie vertritt Calixt in seinem Apparatus sive introductio in studio et disciplinam Sanctae Theologiae von 1628, vgl. Calixt, Einleitung, 250–263. Vgl. HC, 7. Dannhauer kombiniert hier Bibelstellen wie Mt 5,14 und Joh 5,35 mit Offb 1,20. Zur Lichtmetaphorik und ihren Hintergründen vgl. Bolliger, Methodus, 196–198. Vgl. HC, 7: „Sol in hac nostra hodosophia Christus est; lumen quasi lucimen, quod ab illo per lucem verbi in oculum Theologi dimanavit, est Theologia.“ (dt.: „Die Sonne in dieser unserer Wegweisheit ist Christus; ein Licht wie ein Leuchten, das von jenem aus durch das Licht des Wortes in das Auge des Theologen ausgeflossen ist, ist die Theologie“). Dass das Wort hier mit den ausgelegten Schriften der Bibel zu identifizieren ist, ergibt sich besonders aus den unter Phaeonomenon I. folgenden Ausführungen. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 8: „quarum haec Regina nullam à famulitio arcet, omnibus utiliter adhibitis, quas in hunc ancillarem usum divina pronoea ab antiquo hucusque servavit“ (dt.: „aus welchen diese Königin keiner den Gefolgschaftsdienst verwehrt, alle hat sie nützlich angewendet, welchen dienenden Gebrauch die göttliche Vorsehung von Urzeiten bis hierhin bewahrt hat“). Es handle sich bei diesen Hilfswissenschaften um unerlässliche Brillen und Fernrohre, um das Licht der Theologie zu erfassen. Vgl. ebd. (lat.: „de coelestibus conceptum, quanquam terrena similitudine explicatum“). Ebd., 10 (lat.: „hominem coelo exulem, coecum, palantem, luminis legalis impatientem, de salute sua desperantem, lucis, viae, summique boni (vagè) cupidum, sed ignarum.“

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Die Wirksamkeit als himmlisches Licht sei der Theologie nicht primär für den Theologen selbst, sondern für andere Menschen verliehen, die sie als Licht ebenfalls zu erleuchten und entzünden vermag. 575 Trotz des kon‐ templativen Genusses, den sie verschaffe, sei sie vom Heiligen Geist immer auf die praktische Betätigung für andere ausgerichtet. 576 Die Wirksamkeit der theologischen Praxis umfasse erstens und grundlegend das Licht der Lehre (lat. lumen doctrina), welches durch die Scheidung von wahr und falsch die Finsternis erhelle und so Orientierung ermögliche. 577 Zweitens solle möglichst das Licht des tatkräftigen Beispiels (lat. lumen exempli, non dicendi tantum, sed & faciendi) hinzutreten, das von der Verinnerlichung dieser Lehre ausgehe. Drittens entfalte sodann dieses theologische Licht eine als Gesetz verbrennende oder als Evangelium wärmende Hitze (lat. lumen ardoris) an allen, die ihm ausgesetzt sind. 578 Das geistliche Auge, das in der Lage sein soll, dieses göttliche Licht der Theologie zu emp‐ fangen, muss selbst durch den Heiligen Geist eröffnet werden. 579 Diese theoretisch als Offenbarungslehre entfaltete, auch für Dannhauers Pre‐ digtverständnis konstitutive wechselseitige Bezogenheit von Metapher und Begriff, Schauen und Hören zielt praktisch darauf, von der anschaulichen Evidenz des Bildes und der Präzision der Sprache zugleich profitieren. Hier fällt die strukturelle Parallele zur zeitgenössisch beliebten und weit verbrei‐ teten Gattung des Emblems auf, das ebenfalls aus einer Kombination von Bild und Wort besteht.

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Als biblische Typoi zieht Dannhauer hier etwa Apg 13,11 und Apg 17,27 heran, die sich wechselseitig erhellen als tastende Suche, die zu Gott hinführt, und hilfloses Tasten angesichts der Blendung. Zu dieser Sicht auf die conditio humana siehe oben, 192. Ebd., 9: „neque enim sibi lucet lumen sed aliis“ (dt. „nicht nämlich sich selbst leuchtet das Licht, sondern anderen“). Vgl. ebd.: „ultimò toto est practica“ (dt.: „zuletzt ist sie im Ganzen praktisch“); „semper tamen ex intentione Spiritus S. ad praxin referenda“ (dt.: „dennoch ist sie nach der Ab‐ sicht des Heiligen Geistes immer auf die Praxis zurückzubeziehen“). Vgl. ebd. Diese Lehraufgabe beinhalte die didaktische Unterweisung und Zurechtwei‐ sung der Irrenden (Tit 1,9.13), die Scheidung von Gut und Böse sowie die rechte Por‐ tionierung (griech. ὀρϑοτοµεῖν) der Wahrheit, wobei eine Verknüpfung dieser Aspekte erneut über Hebr 5,14 hergestellt wird. Zu diesem Bild der didaktischen Portionierung siehe oben, 210, besonders Anm. 126. Vgl. ebd. Diese Wirkung erfolge „seu legalis ad ustionem, seu Evangelici ad calefatio‐ nem“ (dt. „entweder gesetzlich zur Verbrennung, oder dem Evangelium entsprechend zur Erwärmung“). Ein Licht ohne Wärme sei ebenso unvollständig wie Hitze ohne Licht. Dabei gelte: „luceamus ut ardeamus, non ardeamus ut luceamus“ (ebd., 10. Dt.: „Lasst uns leuchten damit wir brennen, nicht brennen damit wir leuchten“); das Gefälle geht somit von der Lehre und dem beispielhaften Leben hin zur ggf. brennenden Wirkung, von der Selbsterkenntnis zum Sündenschmerz. Vgl. ebd.; bes. die biblischen Verweise unter α.

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4.2.2 Ein emblematischer Aufbau der Dogmatik Nicht nur Dannhauers programmatische Besinnung auf die Aufgabe der positiven Theologie, sondern auch deren Durchführung anhand der von ihm „symbolisch“ genannten Aufbaumethode lässt eine mehr oder weni‐ ger bewusste Anlehnung an die Emblematik erkennen. Ein Emblem be‐ steht normalerweise aus einem Motto (inscriptio), einem Sinnbild (pictura) und einer epigrammatischen Auslegung (subscriptio). Es ist gekennzeich‐ net durch die wechselseitige Verwiesenheit von bildlicher und sprachli‐ cher Ausdrucksform sowie den zugrundeliegenden Anspruch der Emble‐ matik, die gesamte Wirklichkeit durchwebende, aber zunächst verborgene Sinnbezüge aufzudecken. Da dieses Anliegen auch Dannhauers hermeneu‐ tisch-theologisches Programm kennzeichnet, bietet sich für seine Gliede‐ rungsform des dogmatischen Stoffes die Bezeichnung der emblematischen statt der einer allegorischen oder symbolischen Gliederungsmethode an. 580 Allerdings bleibt es bei einer freien und zweckgerichteten Anlehnung an die Emblematik, die Dannhauer in den Dienst der theologischen Darstellung stellt. Die auffallendste Abweichung von der Gattung ist dabei, dass Dann‐ hauer auf den Abdruck von Bildmotiven oder Symbolen, der für Embleme charakteristischen pictura, selbst verzichtet. Zwei Erklärungen scheinen dafür plausibel: Entweder sind alle Phänomene als Teilaspekte der allego‐ rischen Zusammenschau zu verstehen, die vorne im Buch als Frontispiz abgedruckt ist, oder Dannhauer verweist die bildliche Konkretion bewusst an die Einbildungskraft seiner Leser, die er auf diesem Weg aktivieren und zur Aneignung der Denkbewegung nutzen möchte. 581 Die inscriptio, die Dannhauer den sogenannten Phänomenen (lat. phae‐ nomena) – also der Gliederungsebene, die bei ihm den theologischen Loci

580 Vgl. Tholuck, Art. Dannhauer, 482. Vgl. Bollinger, Methodus, 188. Zur zeitgenössi‐ schen Emblematik und der Gattung Emblem vgl. Henkel/Schöne, Vorbemerkungen, XII-XVII. Gemeinsam übernehmen dabei „Inscriptio, Pictura und Subscriptio des Em‐ blems die Doppelfunktion des Darstellens und Deutens, des Abbildens und Auslegens“ (ebd., XII). Zu den reformatorischen Hintergründen der Emblematik in der Barocktheo‐ logie vgl. Steiger, Bild-Theologie. Von einem Emblem spricht Dannhauer selbst etwa in seiner Interpretation der Himmelsleiter Jakobs, weshalb ihm die Emblematik bekannt gewesen sein muss, vgl. CM Bd. 4, 62; zur verwandten Thematik hieroglyphischer Bilder vgl. HC, 198 f. 581 Sofern man davon ausgehen kann, dass das Frontispiz erst später als der Text geschaffen wurde, legt sich letztere These nahe. Eine Deutung ausgehend vom biblischen Bilderver‐ bot ist nicht nur durch die lutherische Tradition der Gebotsauslegung, sondern insbe‐ sondere durch diese hinsichtlich der Abbildung Gottes wenig zurückhaltende Allegorie des Titelkupfers unplausibel. Zur Auflösung der strengen Gattung des Emblems etwa in der Predigt vgl. auch Henkel/Schöne, Emblemata, XII.

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Frontispiz der Ausgabe der Hodosophia Christiana von 1649 aus dem Besitz der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (Signatur 8 TH TH I, 476/13).

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entspricht – typischerweise voranstellt, ist deshalb zweigliedrig aufgebaut: Sie verbindet jeweils ein bildliches Leitsymbol, das heißt einen Teilaspekt aus der übergreifenden Allegorie des Wanderers, mit einer begrifflichen Identifikation des dogmatischen Sachzusammenhangs. Die Variationen in‐ nerhalb des grundsätzlich klar erkennbaren Musters weisen auf das Pro‐ blem hin, die allegorisch-emblematische Gliederungsmethode Dannhauers angesichts der nur begrenzten Kombinationsmöglichkeiten von Bildele‐ menten und theologischer Interpretationsebene über den gesamten Stoff seiner Kerndogmatik durchzuhalten. 582 Die subscriptio schließlich ist we‐ der – der Gattung Emblem entsprechend – ein Epigramm oder einen Bi‐ belvers, noch – klassisch-schultheologisch – eine Definition im Sinne der aristotelischen Philosophie. Stattdessen findet sich an dieser Stelle eine to‐ pische Reihung von dogmatischen Näherbestimmungen und passenden Be‐ deutungsnuancen des jeweiligen Bildaspektes. 583 Diese Einzelbestimmun‐ gen werden sodann im eigentlichen Text der Kapitel ihrer Reihe nach durch Hypomnemata entfaltet, also erläutert, mit Bibelstellen und antiken Moti‐ ven verknüpft sowie gegen Einwände theologischer Gegner verteidigt. Der Gesamtaufbau des Kompendiums lässt sich in drei Blöcke gliedern: Der erste Block aus sechs Phänomenen ist konsequent an der Leitallegorie einer Wanderschaft des verlorenen Menschen in die himmlische Heimat orientiert. So beginnt Dannhauer mit der Heiligen Schrift als dem Licht und der Kirche als dem Leuchter, auf dem dieses Licht platziert ist. Da‐ nach folgen der dreieinige Gott als das höchste Gut und letzte Ziel der menschlichen Reise sowie das Böse als dessen Gegensatz und Finsternis, durch die der Weg zu bahnen ist. Anschließend behandelt Dannhauer den Menschen als Reisenden sowie den (doppelten) Weg zum Ziel, nämlich Gottes Wortoffenbarung in Gesetz und Evangelium. Der zweite Block re‐ flektiert auf die göttlichen Bedingungen dieses menschlichen Dramas, so dass sich die drei Phänomene des göttlichen Heilswillens, der brüderlichen

582 Das klar erkennbare Konzept ist nur bei den ersten sechs Phänomenen konsequent durchgehalten. Im Phänomen zum göttlichen Heilswillen beispielsweise fehlt die zweigliedrige Stuktur, im christologischen Phänomen scheinen Bild- und Sachebene für Dannhauer zusammenzufallen. Hinzu kommen Inkonsistenzen auf typografischer Ebene, die aber in späteren Auflagen korrigiert wurden und vermutlich dem Prozess der Drucklegung geschuldet sind. 583 In Dannhauers Hodosophia schlägt vielfach trotz der Aufnahme der analytischen Me‐ thode eine topische Denkart durch, die sich gegen die konsequente Unterwerfung des Stoffes unter ein externes Gliederungsprinzip sperrt. Anders urteilt hier Bolliger, Me‐ thodus, 194, wobei dabei die titelgebende Gesamtthese seiner Arbeit eine Rolle spielen dürfte: Dannhauer als Beispiel für eine Existentialisierung der Dialektik in der luthe‐ rischen Orthodoxie. Zur breiteren wissenschaftstheoretischen Kontextualisierung vgl. Schmidt-Biggemann, Topica.

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Erlösung in Christus und der Vermittlung der helfenden Gnade durch den Geist anschließen. Der dritte Block aus drei Phänomenen vermittelt zwi‐ schen diesen beiden Ebenen, indem die Darreichung der Gnade durch die „göttliche Hand“ bzw. den kirchlichen Dienst an Wort und Sakrament, die Aneignung der Gnade am Ort des Einzelnen durch die Buße sowie die es‐ chatologische Vollstreckung des göttlichen Heilsplans in Auferstehung und Gericht behandelt werden. Auffällig ist, dass das achte Phänomen zu Chris‐ tus und der Christologie nicht nur ziemlich genau in der Mitte des Buches platziert, sondern als das längste Kapitel auch ziemlich genau doppelt so lang wie das zweitlängste Phänomen zum ministerium verbi ist. 584 Bereits auf dieser formalen Ebene zeigen sich also Gewicht und Zentralstellung der Christologie. 585 Im Zusammenhang mit dem ebenfalls breit ausgearbeite‐ ten Phänomen zum ministerium verbi zeigt sich, wie bei Dannhauer die Christologie an den Glaubenden wirksam wird: als Evangelium, vermittelt durch Wortverkündigung und Sakrament. Im Aufbau seines Dogmatikkompendiums wird Dannhauers Gestal‐ tungswille hinsichtlich der didaktischen Darbietung des ihm vorgegebe‐ nen theologischen Problembestandes klar erkennbar – beginnend mit der Zwölfzahl der Phänomene und ihrer methodisch durchsichtigen, möglichst gut memorierbaren Anordnung in thematischen Blöcken. Dies entspricht Dannhauers Ziel, den theologischen Stoff in einer möglichst gut fassbaren, kohärenten Gliederung aufzubereiten und für die Vermittlung der Lehr‐ gehalte alle Vorteile des bildlich-symbolischen Denkens auszuschöpfen. Im Folgenden werden die in diesem Zusammenhang besonders ergiebigen ersten zwei Phänomene daraufhin befragt, was in ihnen über die bereits aus den Katechismuspredigten bekannten Motive hinaus über Dannhauers Lehrverständnis zu erfahren ist: das Licht der Heiligen Schrift (4.2.3) sowie der Leuchter der Kirche (4.2.4). 4.2.3 Das Licht der Schrift Im ersten Phänomen seiner Hodosophia setzt Dannhauer – programma‐ tisch im Sinne der reformatorischen Theologie – mit der Heiligen Schrift ein, die so als theologisches Erkenntnismittel eingeführt wird. In der zwei‐

584 Vornehmlich in diesen beiden Phänomenen sind zwei frühere Publikationen Dannhau‐ ers verarbeitet, die Christosophia und die Mysteriosophia. Zur theologischen Bedeutung einer bewussten Disposition seiner Schriften für Dannhauer vgl. Bolliger, Methodus, 208. 585 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die christologischen Passagen HC, 506f; 574f; 589 f. Vgl. auch Bolliger, Methodus, 200f; 211.

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gliedrigen inscriptio wird dem Begriff der Heiligen Schrift ein symbolisches Motiv zugeordnet: „Lux, Viae ad Coelos Dux“. 586 Die subscriptio lautet: „Lux viae coelestis est scriptura sacra, Canonicis veteris ac novi testamenti libris com‐ praehensa, inspirata divinitus, idque liquido, tota: consequenter veracissima, Unica, Optima perfectione; Claritate; Catholica communicatione; Efficax; Index veri cano‐ nica, & Vox iudicis summi autentica.“ 587

Der Mensch benötige zur Orientierung in der Finsternis die Führung durch Lichter, was Dannhauer unter anderem anhand des antiken Leuchtturms auf der Insel Pharos illustriert. Das höchste all dieser Lichter, die den Men‐ schen auf seinem Weg zu leiten vermögen, sei die Heilige Schrift, wobei dieses höchste und beste Licht zugleich einzig und damit ohne Konkurrenz sein müsse. 588 Die Ausstrahlungskraft dieses Lichtes müsse sich – zumin‐ dest potentiell – über die gesamte Menschheit erstrecken. 589 Als Wegweiser zur Wahrheit sei das Licht der Schrift zugleich Richter über alle Irrtümer, wie auch das Licht der Himmelskörper den Menschen sowohl die Orien‐ tierung, als auch die richtige Unterscheidung der Farben ermögliche. Um der Verlässlichkeit und Gewissheit willen müsse der Grund des Glaubens als fides scripta schriftlich niedergelegt sein, da das Gehörte und Erzählte gegenüber dem Verschriftlichten zwar leichter verständlich, aber auch we‐ niger gut gegen Veränderung gesichert und mit weniger starker Autorität beglaubigt sei. 590 Die Sache und Materie der Schrift ist für Dannhauer das

586 HC, 11 (dt.: „Das Licht, der Führer auf dem Weg zum Himmel“). 587 Ebd. (dt.: „Das Licht des himmlischen Weges ist die heilige Schrift, die kanonischen Bücher des alten und neuen Testaments umfassend, von Gott eingegeben, und so durch‐ sichtig, vollständig; folglich die wahrhaftigste, einzige, beste hinsichtlich ihrer Voll‐ kommenheit, Klarheit, allumfassenden Mitteilung. Ein wirksames [Licht]. Kanonisches Verzeichnis des Wahren und ursprüngliche Stimme des höchsten Richters“). Für eine systematisch-kritische Rekonstruktion der lutherischen Lehre von der Schrift im 17. Jh., die im Vergleich mit der hier vorgenommenen Darstellung auch deutlich eine Verschie‐ bung von Akzenten in der Spätorthodoxie aufzeigt, vgl. Dalferth, Wort, 135–175. Vgl. auch Coors, Scriptura. 588 Vgl. HC, 12: „quod summe verum non possit nisi summè unum esse“ (dt.: „weil höchst wahr könnte es nicht sein, wenn es nicht auch höchst einzig ist“). Hier scheint Dann‐ hauer ein gebräuchliches Argument für die Einheit des wahren Gottes auf dessen Offen‐ barung in der Schrift zu übertragen. 589 Vgl. ebd., 14: „ut communi veritatis fonte nemo hominum sit absolutè exclusus, quae nullum terrae angulum non admittat“ (dt.: „dass von der gemeinsamen Quelle der Wahrheit kein Mensch absolut ausgeschlossen sei, die keinen Winkel der Erde zuge‐ stehen möge“). 590 Vgl. ebd., 12 f. So gelte: „fidelior custodia in literis quàm corde“ (ebd., 13, dt.: „Treuer ist die Bewahrung in den Buchstaben als im Herzen“), auch wenn die didaktische und bewegende Kraft der gehörten Rede nicht zu unterschätzen sei: „habet nescio quid la‐

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Wort Gottes, die Schrift dessen Akzidenz und Form, so dass Wort Got‐ tes und Heilige Schrift notwendig und ewig verbunden sind, aber diese ‚ideale‘ Einheit von jeder irdisch-stofflichen Buchgestalt des Textes ablös‐ bar bleibt. 591 Die Inspiration der Schrift vollzieht sich laut Dannhauer durch eine Of‐ fenbarungsbewegung, die von der gesamten Trinität ausgeht: „inspirata à Patre, & Filio Christo, per Spiritum, corde diviniti scrutatorem“. 592 Die biblischen Autoren haben – so Dannhauer mit Verweis auf zahlreiche Be‐ legstellen – ihr verkündigtes Wort Gottes so verschriftlicht, dass die Schrift mit der ursprünglichen Wortverkündigung wesensmäßig identisch sei und deshalb diese auch jederzeit wieder vergegenwärtigen könne: „verbum ore annunciatum à verbo scripto non differt essentialiter“. 593 Die göttliche Ein‐ hauchung der Schrift (lat. inspiratio, griech. ϑειόπνευσις) vollziehe sich während des Schreibprozesses, begleite diesen steuernd, gebe den genauen Wortlaut ein und erschließe auf diesem Wege den Menschen übervernünf‐ tentis energiae viva vox“ (ebd., dt.: „es hat die lebendige Stimme irgendeine verborgene Wirkkraft“). Im Hintergrund steht hier Thomas von Aquins Auseinandersetzung mit Platos Überordnung der Rede gegenüber der Schrift. 591 Vgl. ebd., 14: „verbum Dei hîc res est & materia; scriptura externa accidens est formale: iuxta illam [vgl. Joh 10,35; 1Petr 1,25] solvi non potest scriptura, manet in aeternum, dum apices externi in novissimo die sint desituri“ (dt.: „das Wort Gottes ist hier die Sache und Materie; die äußere Schrift ist das als Form Hinzutretende: gemäß jenem kann die Schrift nicht aufgelöst werden, sie bleibt in Ewigkeit, während die äußeren Schriftzüge am Jüngsten Tag aufgehoben werden“). Trotz dieser Unterscheidung ist für den Glauben entscheidend, dass die Bibel als externes Wort auch sinnlich wahrnehmbar vorliegt: „non in corde, sed membrana ac papyro terrena scriptum“ (ebd., dt.: „nicht ins Herz, sondern auf irdisches Pergament oder Papier geschrieben“). 592 Ebd., 16 (dt.: „inspiriert vom Vater und dem Sohn Christus, durch den Geist, der das göttliche Herz durchforscht“). Dabei bediene sich Gott der menschlichen, durch den Geist geheiligten Schriftsteller, deren Geschriebenes er sich selbst zueigne: „non quod omnem Deus suo digito immediatè sicut legem, quod per Viros divinos exarasset, ac eorum sibi scripturam appropriasset tanquam suam“ (ebd., 17. Dt.: „nicht so, als ob Gott alles wie die Gesetzestafeln unmittelbar mit seinem Finger [geschrieben hätte], sondern so, dass er es durch göttliche Männer aufgezeichnet und deren Schriften sich gleichsam als eigene zugeeignet hätte“). Dannhauer hält fest, dass es sich hier nicht nur um einen einmaligen Anhauch des Geistes zur Beauftragung (lat. aspiratio cum iusso) oder eine nachträchliche Bestätigung (lat. subspiratio vel postspiratio) durch Gott handle, vgl. ebd., 17–19. 593 Ebd., 14 (dt.: „das mit dem Mund verkündigte Wort unterscheidet sich vom geschriebe‐ nen Wort nicht wesensmäßig“). Die Schrift lasse sich daher mit biblischen Bildern nicht nur als Wort Gottes oder Worte des Lebens, sondern auch als Fundament des heiligen Hauses (lat. domus sacrae fundamentum), als Kanzel Gottes (lat. cathedra è qua Deus ad nos loquitur), Schule Gottes (lat. Schola Dei), Brief Gottes an sein Geschöpf (lat. Epistola Dei omnipotentis ad creaturam suam) oder Zepter, Stab und Schwert des Mundes Christi (lat. sceptrum Christi, virga et gladius oris) bezeichnen, vgl. ebd., 16.

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tige Wahrheiten. 594 Wer die biblischen Schriften lese oder vorgelesen höre, höre daher nichts Geringeres als die Stimme Christi, der Propheten und der Apostel. Dannhauer geht davon aus, dass die unverfälschte Überlieferung der Schrift ebenso durch die göttliche Vorsehung geschützt sei wie das Buch der Natur, d.h. die Schöpfung, die durch Gott erhalten werde und so allen Menschen erschlossen bleibe. 595 Die göttliche Einhauchung der Schrift gibt diesem Text nach Dannhauer eine Seele (lat. scripturae sacrae anima) ein. 596 Weil die Schrift so von Got‐ tes Geist eingehaucht ist, kann sie diesen Geist auch wieder aushauchen (lat. respirare). Im frommen Gebrauch könne sie in Schwingung versetzt werden wie ein Musikinstrument, so dass sich die ursprüngliche Wirkung des Geis‐ tes in den Lesern und Hörern der Schrift neu manifestiere. 597 Kraft göttli‐ cher Verheißung (lat. vi promissionum) und durch die gnadenhafte Präsenz des Heiligen Geistes werde sie zum Klingen gebracht, so dass die göttli‐ chen Worte beseelt und lebendig werden. Durch diese wiederum werde der menschliche Geist vom göttlichen Geist in Schwingung versetzt, gezogen und umgestaltet (lat. afficit, trahit, transfigurat). 598 Seine Wirkung entfalte das zweischneidige Schwert des Wortes Gottes im gestuften Zusammenwir‐

594 Vgl. ebd., 19: „per gratiam praesentissimam concomitatem; accurante ne vel in puncto erraret scriptor; revelante de novo res ratione humanâ superiores; moderante consigna‐ tionem“ (dt.: „durch die in höchstem Maße gegenwärtig begleitende Gnade; sorgfältig, damit der Schreiber auch nicht in einem Punkt irre; neue, der menschlichen Vernunft überlegene Sachen offenbarend; die Niederschrift regelnd“). Zu den Grenzen dieses Kanons vgl. ebd., 33 f. Diese Eingebung beziehe sich auch auf die nachträgliche maso‐ retische Vokalisation des hebräischen Textes, da diese für die Eindeutigkeit des Textes unerlässlich, daher in der Vollkommenheit der Schrift notwendig impliziert sei, vgl. ebd., 34–39. 595 Vgl. ebd., 31. 596 Vgl. ebd., 20. 597 Vgl. ebd., 19 f: „Ut organum musicum pneumaticum quasi reviviscit, spirat, sonat, quo‐ ties ex arte pulsatur; ita cum lectione, auditione, meditatione piâ tractatur scriptura sacra, Spiritus sanctus per eam respirat quasi, edit oracula divina, consilia ex cordis divini adytis ad salutem necessaria manifestat“ (dt.: „So wie ein Blasinstrument gewis‐ sermaßen auflebt, atmet, klingt, sobald es kunstfertig erregt wird; so haucht, wenn die Heilige Schrift durch das Lesen, Hören, Meditieren fromm gebraucht wird, der Heilige Geist durch sie aus, äußert göttliche Weissagungen, offenbart zum Heil notwendige Ratschlüsse aus dem Heiligtum des göttlichen Herzens“). Die Schrift ist für Dannhauer folglich nie selbst die Wirkursache (lat. causa principalis) der Offenbarung. In ihrer Wirksamkeit als Offenbarungsmedium bleibe sie immer vom Geist abhängig, in ihrem Sein ganz durch den Gebrauch konstituiert (lat. cuius totum esse in usu consistit), vgl. ebd., 63. 598 Vgl. ebd., 64. Die Intensität dieser Wirkkraft werde in der Schrift durch den Vergleich mit Regengüssen, Blitzen und Feuer ausgedrückt. Dannhauer verweist insbesondere auf Röm 1,6 und Hebr 4,12.

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ken von Gesetz und Evangelium zur Bekehrung des Sünders è tenebris ad lucem. 599 Dannhauer führt zahlreiche Argumente an, um gegenüber äußeren An‐ griffen oder der Anfechtung des Glaubens die göttliche Eingebung der Bibel und ihrer einzelnen Schriften zu begründen. 600 Dabei sind diese Argumente in innewohnende (lat. insitus) und äußerlich hinzutretende (lat. foris ass‐ umptus) zu unterteilen, wobei letztere nur dienende Funktion haben kön‐ nen. Da die Schrift ihre Würde und Autorität allein aus ihrem göttlichen Ursprung beziehe, müsse sie nämlich durch keine äußere Autorität – auch nicht die der im Verschriftlichungsprozess in Dienst genommenen Apo‐ stel – bestätigt werden. 601 Was die innewohnenden, aus der Lektüre der Schrift selbst gewonnenen Argumente betrifft, kommt für Dannhauer den Argumenten aus der erleuchtenden Lichtkraft der Schrift argumentativ ein deutlich größeres Gewicht zu als dem Selbstzeugnis ihres göttlichen Autors sowie der inspirierten Schreiber. 602 Wie sich auch in der Rede des Men‐ schen immer dieser selbst kundgebe und ein Lehrer seine Gelehrsamkeit im Lehrvollzug erweise, so bezeuge Christus als die Mitte der Schrift (lat. scripturae nucleus) sich selbst und seine Wahrheit durch die Anrede des Schriftwortes. 603 Der göttliche Ursprung der Schrift erweise sich so durch die Majestät der offenbarten Mysterien (lat. maiestas), den harmonischen Zusammenklang und Zusammenhang (lat. harmonia), die Wahrheit der prophetischen Vorhersagen sowie den sprachlichen Stil, der sich durch unnachahmliche Vollkommenheit auszeichne. 604 Schließlich erweise die

599 Vgl. ebd., 64 f. Hinsichtlich des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament hält Dannhauer fest, dass Gesetz und Verheißung in der ganzen biblischen Schrift enthalten seien, vgl. ebd., 16. 600 Vgl. ebd., 20–39. In dieser Auseinandersetzung um die Schriftlehre ist der Ingolstädter Jesuit Jakob Gretser der Hauptgegner Dannhauers. 601 Vgl. ebd., 20. Unter den von außen hinzutretenden, stützenden Argumenten für die Autorität der Schrift ragt das übereinstimmende Zeugnis der Kirche und selbst der Hä‐ retiker heraus, welchem allerdings nur eine ankündigende und einladende Kraft (lat. vis nuncia ac invitatoria) eigne, vgl. ebd., 30 f. 602 Vgl. ebd., 21: „Solem quis sine sole videt?“ (dt.: „Wer sieht die Sonne ohne die Sonne?“); „Spiritus testatur, quod Spiritus sit, veritas“ (dt.: „Der Geist bezeugt die Wahrheit, dass er Geist sei“). 603 Vgl. ebd.: „externo testimonio non eguit, sed suâ verbi ac miraculorum majestate illuxit, & divina se intimatione stitit [sic!].“ (dt.: „äußere Beglaubigung hat er nicht benötigt, sondern durch die Herrlichkeit seines Wortes und seiner Wunder hat er hervorgeleuch‐ tet und sich durch göttliche Bekanntmachung gezeigt“). Auch die Schrift sei tanquam ἀυτοφοῶς, also selbstleuchtend, vgl. ebd., 22. 604 Vgl. ebd. Der Stil der biblischen Schriften sei „simplicis, brevis, evidentis, pleni, cohae‐ rentis, verecundi, singularis“ (ebd., dt.: „einfach, kurz, einleuchtend, vollkommen, zu‐ sammenhängend, bescheiden, einzigartig“) sowie „ad faciliorem informationem com‐

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Schrift ihre Leuchtkraft in der Wirksamkeit (lat. efficacia), die Nichtglau‐ benden zu lehren und zu überführen, sie in den Abgrund der Selbster‐ kenntnis zu stürzen, alle bekannten und noch unbekannten Irrlehren zu widerlegen und die Angefochtenen zu trösten. 605 Nach dieser kontroverstheologischen Verteidigung der lutherischen Inspirationslehre traktiert Dannhauer die einzelnen Eigenschaften der Schrift, wobei er seine konfessionelle Position vielfach gegen Einwände theologischer Gegner abgesichert. Entscheidend ist dabei durchgängig die soteriologische Wirksamkeit der Schrift, die Menschen zum Heil zu führen. So erweise sich bereits die Wahrhaftigkeit (lat. veracitas) der Schrift darin, dass sie das Gewissen beruhige und den Menschen zu einem Höchstmaß an Gewissheit, Vertrauen, Sicherheit und Ruhe führe. 606 Sie sei dabei keine vorübergehende, sondern stetige und dauerhafte Ausdrucksgestalt der Wahrheit. 607 Ihre Einheit und Einheitlichkeit (lat. unica cum harmonia tum sensu) sei begründet durch Christus als ihre innere Mitte, ihr Herzstück und

posita“ (ebd., „zur möglichst einfachen Mitteilung zusammengefügt“), was Dannhauer auch philologisch anhand der Semitismen (!) von LXX und NT zu erweisen sucht, vgl. ebd., 22–24. Diese Einheitlichkeit des Stils schließe nicht gewisse individuelle Eigenhei‐ ten in Sprache und Sprachniveau der Schriftsteller aus, welche sich der Geist zugeeignet bzw. denen er sich angepasst (lat. accommodat) habe. In dieser (noch sehr rudimentä‐ ren) Akkomodationslehre greift Dannhauer wieder auf das Bild eines Musikinstruments zurück, das verschiedene Klangfarben und Tonarten zulasse, vgl. ebd., 34 f. 605 Vgl. ebd., 24: „incredibilis in docendo, denudanda humani cordis abysso, confutanda omni haeresi etiam nondum natâ, evertendo culto idololatrico, solatio omni tentationi opposito“ (dt.: „die Nichtglaubenden zu lehren, den Abgrund des menschlichen Her‐ zens zu entblößen, selbst alle noch nicht aufgekommenen Irrlehren zu bestreiten, die Götzenverehrung abzuwenden, ein aller Anfechtung entgegengesetzter Trost“). Diese Wirksamkeit hänge – gegen die römischen Kontroverstheologen – nicht daran, vorher die Kirche und deren Autorität akzeptiert zu haben. Auch sei sie nicht auf das Korre‐ lat einer unmittelbar-innerlichen, von der Schrift unabhängigen Geistoffenbarung (lat. privati spiritus seu arrogati seu seperati à verbo) angewiesen, vgl. ebd., 26. Am Beispiel des Römerbriefs führt Dannhauer aus: „Epistolae ad Romanus Divinitas, non est res revelata, sed ipsa revelatio, cui propter seipsam credo“ (ebd., dt.: „Die Göttlichkeit des Briefes an die Römer ist keine offenbarte Sache, sondern selbst Offenbarung, der ich ihrer selbst wegen vertraue“). 606 Vgl. ebd., 12. Die Schrift widerspreche sich auch nicht selbst, sei unfehlbar und unbe‐ zweifelbar, wobei die wesentliche Wahrhaftigkeit des Gottesworts gerade nicht dadurch beeinträchtigt werde, dass in den Erzählungen und Geschichtsdarstellungen auch Lügen korrekt wiedergegeben werden, vgl. ebd., 40 f. 607 Vgl. ebd.: „non hospitatur in scriptura veritas sed commoratur [;] non coruscat fulguris instar, sed ut lux immota manet: non peregrinatur hîc Spiritus sed quiescit“ (dt.: „die Wahrheit ist in der Schrift nicht nur zu Gast und wartet; sie flackert nicht nach Art des Blitzes auf, sondern wie ein Licht bleibt sie unbewegt; der Geist wandert hier nicht, sondern ruht“).

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Kern. 608 Weil Christus schon im Alten Testament als Messias schattenhaft vorgebildet sei, müsse auch dort die christologische Auslegung theologisch als primärer Sinn und jeder andere als von diesem – dem Sinn wie der Sache nach! – abgeleitet betrachtet werden. 609 Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist für Dannhauer sozusagen rückwirkender Realgrund der Heilsgeschichte Israels und Begründung der kanonischen Einheit von Altem und Neuem Testament. Der Schrift komme Vollkommenheit hinsichtlich ihres Zwecks (lat. per‐ fectio finalis) zu, was bedeute: Sie enthalte in Vollständigkeit alles, was Christenmenschen zu glauben, zu tun und zu hoffen nötig sei. 610 Aufgrund der damit verbundenen Klarheit hinsichtlich des Weges (lat. claritas viato‐ ria) könne ihr dieses elementare Glaubenswissen – grundsätzlich — auch klar und unmissverständlich entnommen werden. 611 Ihre Wirksamkeit (lat. efficacia) entfalte die Schrift im rechten und verpflichtenden Gebrauch, der das Hören und Lesen, die Meditation und die Predigt (lat. auditio‐ nis, lectionis, meditationis, praedicationis) umfasse. 612 Wer vom Himmel die nötige Erleuchtung erbitte und die Schrift in ernsthafter, ehrlicher Ab‐

608 Ebd., 42: „Est Christus totius Scripturae lux, cor, nucleus, omnium gratiarum fons & Ecclesiae caput“. Zur Erkennbarkeit dieser Mitte vgl. auch ebd., 52 f. 609 Vgl. ebd., 43: „Est omninò non dignitate tantùm, sed & natura posterior umbra suo corpore, & typus anti-typo; sit licet tempore & revelatione, prior.“ (dt.: „Es ist überall nicht allein der Würde nach, sondern auch der Natur nach der Schatten seinem Körper gegenüber später, und der Typus seinem Anti-Typus; aber mag er auch der Zeit und der Offenbarung nach früher sein“). 610 Vgl. ebd. 44: „sufficientia eorum quae creditu, factu, speratu sunt necessaria“(dt.: „Ge‐ nügsamkeit hinsichtlich derjenigen [Sachverhalte], die zu glauben, zu tun, zu hoffen notwendig sind“). Die Schrift enthalte zwar nicht alles, was Christus gesagt oder getan habe, aber alles, was zu unserem Heil und auch für die Theologie notwendig sei. Zusätz‐ liche, dem Gehalt nach neue Offenbarungen oder anhand der Schrift nicht zu klärende Streitigkeiten können daher nicht auftreten. Weitere apostolische Traditionen, deren Existenz Dannhauer nicht grundsätzlich in Abrede stellt, gehören zu den Adiaphora, vgl. ebd., 45–47. 611 Vgl. ebd., 50. Allerdings seien die Worte der Schrift oft klarer als die Sachen, die sie bezeichnen, da hinter den Worten große Mysterien verborgen sein können, vgl. ebd., 51: „saepè enim sub verbis clarissimis latent res ac mysteria abstrusissima“ (dt.: „oft nämlich verbergen sich unter höchst klaren Worten höchst unverständliche Sachverhalte und Geheimnisse“). Dort, wo Glaubensaussagen, Glaubensartikel und dogmatischen Lehr‐ sätze (lat. in elementis fidei, & dogmatibus) offenbart werden, sei die Schrift klarer als beispielsweise in ihren Weissagungen. Auch sei das Neue Testament grundsätzlich kla‐ rer als das Alte. Zentrale Belegstellen dieser Klarheit sind für Dannhauer Dtn 30,11 und Röm 10,6–8, vgl. ebd., 52. 612 Vgl. ebd., 63. Ausgeschlossen ist daher jeder abergläubische Gebrauch der Bibel, der dem Buch oder seinem Text eine magische Wirksamkeit unabhängig von der Kommunika‐ tion des göttlichen Wortes zuschreibt.

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sicht (lat. bonâ fide ac serio) heranziehe, könne zumindest bezüglich der heilsnotwendigen Gehalte nicht fehlgehen. 613 Entsprechend erwachsen die Unverständlichkeit und Missverständnisse der Schrift nicht aus der Unvoll‐ kommenheit ihres Textes, sondern aus der Blindheit der Empfänger, die ihn nicht entsprechend des göttlichen Willens gebrauchen. 614 Jede Bibelstelle hat für Dannhauer genau einen buchstäblichen Sinn oder Literalsinn, womit er sich der reformatorischen Ablehnung eines mehrfa‐ chen Schriftsinnes anschließt. 615 Gleichwohl können ihm zufolge die von der göttlichen Aussage bezeichneten Sachverhalte selbst auf einen mysti‐ schen oder typologischen Sinnhorizont verweisen. 616 Der eine Literalsinn ist für Dannhauer der logische oder logisch zu erschließende (lat. logi‐ cum sive logicè explicatum), von Gott ursprünglich als Ganzheit intendierte (lat. per se intentum/primo intentum) Sinn, was eine figurative Interpre‐ tation einzelner Aussagen allerdings nicht ausschließt – und auch nicht mit der Aussageintention des jeweiligen Sprechers auf der Erzählebene zu‐

613 Vgl. ebd., 68. Für die darüber weit hinausgehende Pflicht des Gelehrten zur Beschäfti‐ gung mit dem Bibeltext verweist Dannhauer auf sein hermeneutisches Frühwerk Idea bonis interpretis. 614 Vgl. ebd., 51: „ut caecutiant qui praeter & contra voluntatem Dei tractant eius ver‐ bum“ (dt.: „so dass erblinden, die außer dem und gegen den Willen Gottes sein Wort untersuchen“). Hier unterscheiden sich für ihn die Prinzipien der Vernunft und der Offenbarung: Bei der Erkenntnis nach Vernunftprinzipien komme diesen das Licht des Verstandes entgegen und die Erkenntnis werde unmittelbar aufgenommen (lat. statim apprehenduntur), sofern sie nur einleuchtend vorgelegt sei. Die Offenbarung dagegen sei übernatürliches Licht in der Finsternis und müsse zur Erleuchtung des Geistes in diesem erst ihr Licht erzeugen (lat. demum lucem pariunt in mente), sofern ihr kein Riegel vorge‐ schoben oder Schleier übergestreift (lat. obex aut velamen objiciatur) werde, so dass hier mit Joh 7,16f gelte: „si quis voluerit voluntati Domini obtemperare, cognoscet de doc‐ trinâ eius“ (ebd., dt.: „wenn einer gewollt hätte, dem Willen des Herren zu gehorchen, wird er über seine Lehre Kenntnis erhalten“). Zur kontroverstheologischen Debatte um Vernunft und Offenbarung vgl. ebd., 51–53. 615 Vgl. ebd., 41: „omnis oratio divina scipta, qua talis, non habet nisi unum litteralem per se ac primo intentum sensum formalem“ (dt.: „jede aufgeschriebene göttliche Aussage hat als so beschaffene genau einen buchstäblichen und als solchen ursprünglich beab‐ sichtigten Formalsinn“). 616 Vgl. ebd.: „Aliàs rei per orationem significatae varii esse sensus possunt mystici“ (dt.: „Übrigens kann es sein, dass die durch die Aussage bezeichneten Sachverhalte verschie‐ dene mystische Bedeutungen haben“), wobei zu beachten sei: „mysticus sensus non est oratio“ (ebd., 44. Dt.: „Der mystische Sinn ist keine Aussage“), sondern aus dem buch‐ stäblichen Aussagesinn abgeleitet. Beispiele sind etwa die Himmelsleiter in Gen 28,12f oder die eherne Schlange in Num 21,8f, die auf diese Weise nicht mehrdeutige Aussagen, sondern ‚reale‘ Typologien des antitypischen Christusgeschehens (lat. antitypus in Nov. Test. revelatus) seien.

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sammenfallen muss. 617 Dabei ist der ausdrücklich niedergeschriebene Sinn einer Schriftstelle von den Sinnmöglichkeiten zu unterscheiden, die sich – etwa mittels logischer Schlussketten – theologisch aus diesem Formalsinn entwickeln lassen. 618 Die fortschreitende Entfaltung von realen Sinnmög‐ lichkeiten, wie sie bereits in der innerbiblischen Schriftauslegung zu be‐ obachten ist und die Bedingung der Möglichkeit jeder praktischen, homi‐ letischen Anwendung der Schrift (lat. usus practico-concionatorii) ist, ver‐ gleicht Dannhauer daher mit Ursprungsbeziehungen wie zwischen Frucht und Baum oder Mutter und Nachkommenschaft. 619 Alle logischen Ablei‐ tungen aus der Schrift, welche in dieser zwar nicht dem Buchstaben nach ausgedrückt (lat. syllabis in scripturis non expressum) sind, aber durch for‐ mal korrekte, somit notwendige und unbestreitbare Schlüsse aus ihr fol‐ gen, sind für Dannhauer ebenfalls als prophetisches Zeugnis und göttliches Wort anzunehmen. 620 Die Vollkommenheit der Schrift bedeutet für Dannhauer, dass diese im‐ plizierten Sinnmöglichkeiten gerade keine Unvollkommenheit und Ergän‐ zungsbedürftigkeit des Wortlautes darstellen, welche die römische Theolo‐ gie als Einfallstor für ein Deutungsmonopol von Kirche und Tradition nut‐ zen könne. 621 Für eine methodisch vollzogene Entfaltung des Schriftsinnes sei keine von der Schrift unabhängige Zwischeninstanz notwendig, sondern

617 Vgl. ebd., 42–44. Beispiel für letzteres ist das Orakel des Kaiphas in Joh 11,50. Der Literalsinn sei folglich zu unterscheiden von kabbalistischen Spielen (lat. lusus), dem allegorischen Gebrauch oder der Mehrdeutigkeit (lat. paronomasia), von der die Bibel selbst im Spiel mit Wurzeln oder Bildworten (Jer 1,11; Am 8,2) Gebrauch mache. 618 Vgl. ebd., 44: „alius esse potest virtualis, involutus, consequentiâ evolvendus“(dt.: „ein anderer, möglicher Sinn kann existieren, ein eingewickelter, durch Folgerungen auswi‐ ckelbarer“). Vgl. Bolliger, Methodus, 173. 619 Vgl. HC, 43 f. Auch eine sinnübertragende Rezeption wie die von Ps 19,5 (bezogen auf die Sonne) in Röm 10,18 (bezogen auf das Evangelium) sei deshalb nicht zu tadeln, son‐ dern folge einer durch Gottes in der Schöpfung wirksames Wort konstituierten realen Analogiebeziehung. 620 Vgl. ebd., 48. „Omne namque testimonium propheticum est verbum Dei: at quae se‐ quuntur, sunt verba non scripta, [...] sunt testimonia prophetica“; „Ita verbum divinum est quod per bonam consequentiam non ruit sed fluit“ (ebd., 49. Dt.: „Das gesamte prophetische Zeugnis nämlich ist Wort Gottes; und die gefolgerten sind ungeschrie‐ bene Worte, sind prophetisches Zeugnis“; „So beschaffen ist das göttliche Wort, dass es durch gute Schlussfolgerungen nicht zusammenstürzt, sondern ausfließt“). Modell ist für Dannhauer immer die innerbiblische Auslegung, etwa die Aufnahme von Ex 3,6 in Mt 22,29–31 oder die Zusammenfassungen des Alten Testaments in den Reden der Apostelgeschichte. 621 Vgl. ebd., 47 f. Der Terminus dafür lautet bei Dannhauer perfectio virtualis. Zur Eigen‐ schaft der perfectio mit ihren verschiedenen Aspekten vgl. ebd., 44–50.

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nur die Beherrschung der formalen Auslegungstechnik. 622 Eine kirchlich‐ autoritative Eröffnung des Schriftsinnes sei nicht notwendig, denn die Bibel reflektiere nicht nur Licht, das von der Kirche auf sie geworfen wird, son‐ dern strahle selbst aus. In seiner Polemik gegen die römischen Theologen spottet Dannhauer, dass die Schrift nicht wie ein Lehrer an der Artisten‐ fakultät oder das Empfehlungsschreiben eines fürstlichen Legaten von sich weg weise, so dass man ihre Botschaft zusammenfassen könnte mit: „Dic Ecclesiae! Kirche, sprich!“ 623 Die Lektüre der Schrift könne vielmehr auch ohne Kommentare und besondere Lehrmeister, allein durch unvoreinge‐ nommene Lektüre und Meditation der Schriftworte zur Erleuchtung des Glaubens führen. 624 Die Schrift ist laut Dannhauer von Gott zur allgemeinen Mitteilung unter den Sterblichen bestimmt, welche daher auch sämtlich verpflichtet sind, sie selbst zu lesen und zu verstehen. Auch um der Scheidung der Geister und Überprüfung von Irrlehren willen seien alle Glaubenden in der Pflicht, die Schrift zu lesen. 625 Die einzelnen Glaubenden sollten, zur Verhütung von Irrlehren, selbst zu Augenzeugen (griech. ἀυτόπται) der Wahrheit werden, um im Zweifelsfall auch die Argumente zur Abwehr falscher Ansichten mittels der Schrift nachvollziehen zu können. 626 Als Wegweiser, als wahre Richtschnur des Glaubens und Regel des Lebenswandels (lat. index veri ca‐ nonis, canon fidei & norma eundi) weise die Schrift einen Weg, von dem

622 Vgl. ebd., 49: Diese Schlüsse seien „quasi naturaliter [!] fluens per facilem evidentem & necessariam consequentiam“(dt.: „wie natürlich durch offensichtliche und notwendige Schlussfolgerungen ausfließend“). Zu den Grundzügen und philosophischen Hinter‐ gründen dieser dialektischen Hermeneutik vgl. Bollinger, Methodus, 26–62. 623 HC, 47. Dannhauer weist insbesondere die Ansicht eines biegsamen und mehrdeutigen Sinnes der Schrift, der notwendig zu Streit führe, mit dem Argument zurück, dass die Schrift auch selbst die Regeln ihrer Interpretation vorgebe: „scriptura suimet sensus certissima est index, dum suae interpretationis regulas ipse praescribit“ (ebd., 68. Dt.: „Die Schrift ist der sicherste Fingerzeig ihres eigenen Sinnes, weil sie die Regeln ihrer Deutung selbst vorschreibt“). 624 Vgl. ebd., 53–57. 625 Vgl. ebd., 59: „Finis neceßitas idem evincit, neque enim solius Praelatis probatio spi‐ rituum, & cautela falsorum Prophetarum injuncta, sed omnibus fidelius“ (dt.: „Die Notwendigkeit des Zwecks erzwingt dasselbe, dass nämlich nicht allein den Prälaten die Unterscheidung der Geister und die Vorsicht vor falschen Propheten aufgebürdet werde, sondern allen Glaubenden“). Dannhauer bezieht hier ausdrücklich auch Heran‐ wachsende und Frauen (lat. adolescentibus, etiam mulieribus) mit ein. 626 Vgl. ebd. Niemand dürfe von der Quelle des Gotteswortes ferngehalten werden, doch sei die Verpflichtung des Menschen zur Lektüre der Schrift nicht absolut (lat. necessitas non absoluta) und im Umfang graduell gestuft Ein Gelehrter müsse naturgemäß mehr in der Schrift lesen als die übrigen Glaubenden, die Kenntnis des Neuen Testaments sei wichtiger als die des Alten, vgl. ebd., 57 f.

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weder zur Linken, noch zur Rechten abzuweichen sei. 627 Als Norm einer Reinigung von Kultus und Gemeinwesen sei die Schrift bereits in der Bi‐ bel selbst als Richtschnur zur Reformation (lat. in reformationis negocio) gebraucht worden. 628 Auch Jesus und die Apostel haben in disputationibus vornehmlich mit der Bibel gegen den ‚Erzsophisten‘ Satan und seine Diener gestritten. 629 Dannhauer fordert daher, dass alle Glaubenden sich darum bemühen, es ihnen gleichzutun. In gewisser Weise – nämlich im frommen Gebrauch und durch den Geist belebt – ist die Schrift für Dannhauer tatsächlich Stellvertreterin Got‐ tes auf Erden: Die Schrift sei nicht stumm, sondern Stimme des Heiligen Geistes, welcher durch sie unmittelbar (lat. immediatè) rede, richte, be‐ zeuge und verdamme. 630 Unabhängig davon, ob sie gehört oder gelesen werde, spreche sie den Menschen als verständliche Anrede an, so dass ein weiterer Richter neben der Schrift in der Christenheit nicht notwen‐ dig sei. Die Schrift richte unparteiisch und unterscheide nicht nach der Person. 631 Allerdings spreche sie ihr Urteil als – darin in gewissem Sinne vorläufige – Richterin zunächst nur im Gewissen der Einzelnen, während der endgültige, öffentliche und alle Widersacher beschämende Richtspruch dem wiederkehrenden Christus vorbehalten bleibe. 632 Auch aufgrund der komplexen Theorie einer Auslegung virtueller Sinnmöglichkeiten, der Ori‐ entierung an einer existenziell-soteriologischen Wirksamkeit des Schrift‐ wortes sowie der Ausrichtung auf den selbstständigen und mündigen Bi‐ belgebrauch der Einzelnen erscheint es daher unangemessen, diese barocke Schriftlehre als Autoritätshörigkeit gegenüber einem ‚papiernen Papst‘ ab‐ zuqualifizieren.

627 Vgl. ebd., 64–66. 628 Vgl. ebd., 66. Beispielsweise in 2Kön 18 durch Hiskia, in 2Kön 22f durch Josia, in Neh 8 durch Esra und nicht zuletzt durch Jesus selbst, wobei Dannhauer wohl an die Tempel‐ reinigung denkt. 629 Vgl. ebd., 66 f. Apg 17,11 schildere etwa den rechten Gebrauch der Schrift zur Prüfung und Bewertung (scheinbar) neuer Lehren. 630 Vgl. ebd., 67. 631 Vgl. ebd., 68: „ad singulas personas non accomodet“ (dt.: „sie passt sich einzelnen Per‐ sonen nicht an“). 632 Vgl. ebd., 69: „Convictio ad externam confessionem cum publica confusione, venturo judici Christo reservato“ (dt.: „Die Verurteilung zum äußerlichen Bekenntnis mit öffent‐ licher Beschämung ist dem kommenden Richter Christus vorbehalten“). Dessen Urteil im Endgericht stellt Dannhauer daher nicht zuletzt die römisch-katholischen Schmä‐ hungen der reformatorischen Rechtfertigungslehre anheim, vgl. ebd., 915.

Hodosophia Christiana: Theologie als Wegweisheit

4.2.4 Der Leuchter der Kirche Das zweite Phänomen seiner christlichen Wegweisheit widmet Dannhauer der Kirche. In dieser auffälligen, weil im Vergleich mit Zeitgenossen sehr untypischen Vorordnung der Lehre von der Kirche vor die Gotteslehre drückt sich eine äußerst enge Verbindung von Kirche und Schrift aus, die – im Rahmen einer allgemein als theologia eminens practica auf die Kirche bezogenen Theologie der Zeit – auf das besondere Selbstverständnis seiner Theologie verweist. 633 Die Kirche ist Bezugspunkt und Adressatenkreis der Hodosophia Dannhauers, weil sie kämpfende und wandernde Kirche (lat. ecclesia militans & viatoria) und damit Gottesvolk unter den Bedingungen der unerlösten Welt ist. 634 Der Kirche ordnet Dannhauer mittels seiner emblematischen Methode das Bild bzw. Bildelement eines Kerzenleuchters auf dem Weg zum Himmel (lat. candelabrum in via coelesti) zu. 635 Dazu kombiniert er den Leuchter in der Stiftshütte Israels (Ex 25,31–40) mit der Offenbarung des Johannes (Offb 1,20; 11,4) sowie dem jesuanischen Leuchter-Wort der Bergpredigt (Mt 5,15). 636 Wiederum wählt er dabei aus einer Vielzahl typologischer Al‐ ternativen (lat. figurae) aus, mit denen der Heilige Geist die Kirche in der 633 Wird etwa in dem nach der Loci-Methode gegliederten Kompendium von Leonhard Hutter die Schrift unter Loc. I verhandelt, beginnt die Ekklesiologie erst mit Loc. XVI, vgl. Hutter, Compendium, XII. Ähnlich Matthias Hafenreffer, der 1601 die Schriftlehre als Loc. IV der Gotteslehre des ersten Buches, aber die Kirche erst relativ zentral im Dritten Teil des dritten Buches als Loc. VI behandelt, vgl. Hafenreffer, Loci, 20–36; 236–274. Als eine Art Anhang erscheint die Lehre von der Kirche in Johannes Hül‐ semanns Breviarium von 1644, nämlich erst nach Auferstehung und Endgericht, vgl. Hülsemann, Breviarium, 67–98. Noch einmal ausgeprägter stellt es sich bei späteren Vertretern der analytischen Gliederungsmethode dar, wo die Schrift in der nun vorge‐ schalteten Protheoria zum Stehen kommt, während die Kirche erst im dritten Teil als letztes der Heilsmittel im engeren Sinne behandelt wird, vgl. König, Theologia, VII-XI. Der Ekklesiologie kommt, wie Appold anhand der Wittenberger Theologie konstatiert, eine „merkwürdige Stellung innerhalb der lutherisch-orthodoxen Dogmatik“ (Appold, Orthodoxie 143) zu, die nicht zuletzt aus ihrer Bedeutung in den Lehrbekenntnissen der Reformationszeit, der besonderen kontroverstheologischen Brisanz und den prakti‐ schen Implikationen herrührt, vgl. ebd., 143–146. Zu den reformatorischen Vorausset‐ zungen vgl. ebd., 151–165. 634 Vgl. HC, 73: „circa quam solam nostra versatur hodosophia, nam triumphans Ecclesia in patria terminus est non viae phaenomenon“ (dt.: „um welche allein unsere Wegweis‐ heit kreist, denn die im [himmlischen] Vaterland triumphierende Kirche ist das Ziel und keine Erscheinung des Weges“). Diese wandernde Kirche Christi ist universal, aber sichtbar als Kirchenfamilie selbständiger, der Lehre nach homogener Partikularkirchen realisiert, vgl. ebd., 74. 635 Vgl. ebd., 69. 636 Vgl. ebd., 71.

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Bibel vorgemalt habe. 637 Dem mosaischen Leuchter des Zeltheiligtums ent‐ spreche die Kirche durch die Merkmale ihres vollkommenen Materials, ih‐ rer schmuckvollen Form und ihres heiligen Zwecks: „Ita Ecclesia organum est, quo luce coelestis dispensatur, à Deo factum ac amussitatum“. 638 Wie ein antiker Leuchtturm oder die Wolkensäule des wandernden Gottesvolks weise die Kirche den Weg zum ewigen Heil, indem sie den Feuerschein der Schrift weithin sichtbar platziere. Das Licht der Kirche und das Zeugnis der Schrift seien allerdings in der Geschichte, beginnend schon in alttestament‐ licher Zeit, immer wieder verdunkelt worden. 639 a) Die Wahrheit der Lehre als Erkennungszeichen der Kirche Zentrales, wesenskonstitutives Merkmal der Kirche ist für Dannhauer, dass sie Versammlung der von Gott Berufenen (lat. coetus seu congregatio) ist. 640 Sie ist der ausgezeichnete Ort der Vergegenwärtigung Christi zum Heil der Glaubenden. Ihren Zweck habe die Kirche in ihrer dienenden Funktion für das Offenbarungsgeschehen, da durch ihr äußeres Zeugnis das Licht der Wahrheit in das Auge des Glaubens scheinen kann. 641 Als sichtbare Kirche 637 Vgl. ebd., 70: „figuris Ecclesiam pingit Spiritus“ (dt.: „mit Bildern malt der Geist die Kirche“). Zu diesen gehören laut Dannhauer neben der allegorischen Verkörperung als Frau etwa der Paradiesbaum, die Arche Noahs, der brennende Dornbusch, die Stifts‐ hütte oder die Burg Zion; sogar das Haus der Hure Rahab in Jos 2! Für die Kirche können Bilder aus den Sinnzusammenhängen Himmel (Sonne, Mond, Sterne), Erde (Weinberg, Garten), Wasser (Brunnen, Schiff), Tierwelt (Schafherde), Menschenwelt (Heer; Waise, Ehefrau, Freundin), Gemeinwesen (Königreich, Priesterschaft) und Wirtschaft (Haus, Erbteil) herangezogen werden, vgl. ebd., 71. Das Bild des Schiffs wird von Dannhauer skizzenhaft entfaltet und damit eine komplementäre Alternative zum gewählten Bild angedeutet. 638 Ebd., 72 (dt.: „So ist die Kirche ein Werkzeug, durch welches das himmlische Licht verteilt wird, von Gott gefertigt und abgemessen“). Diese einzelnen Merkmale in der Beschreibung des Leuchters legt Dannhauer ausführlich auf ekklesiologische Grundbe‐ stimmungen und kirchliche Vollzüge hin aus. 639 Beispiele sind etwa die israelitische Königszeit vor Auftreten Elias oder die Flucht der Jünger während Passion und Kreuzigung Christi, vgl. ebd., 76. Dies habe sich wäh‐ rend Zeiten der Verfolgung wiederholt, als das Christentum größtenteils „in arctum & in cryptas“ (ebd., dt.: „in der Enge und in den Gewölben“) praktiziert wurde, sowie „ante Lutherum sub jugo Antichristi“ (ebd., dt.: „vor Luther unter dem Joch des An‐ tichristen“). Trotzdem gelte: „Nunquam tamen sic malè actum est cum illa obscurata Ecclesia, ut non promicuerint aliquando radii in Heroibus, Martyribus, ac ex utroque ordine hieratico & politico testibus veritatis“ (ebd., 78 f. Dt.: „Dennoch stand es niemals so schlimm um jene versteckte Kirche, dass nicht irgendwann Strahlen hervorgeleuchtet hätten in den Helden, Märtyrern und Zeugen der Wahrheit aus beiden Ordnungen, der priesterlichen und staatlichen“). 640 Vgl. ebd., 79. 641 Vgl. ebd., 69: „cuius veritas pellucet in oculo fidei, coelestis veritatis fundamentalis pro‐ fessione & confessione publica & sensili“ (dt.: „deren Wahrheit im Auge des Glaubens

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(lat. ecclesia visibilis) sei sie von der heidnischen und antichristlich-häre‐ tischen Umwelt abgesondert, als unsichtbare Kirche innerhalb der Kirche (lat. ecclesia invisibilis) auch von den nur scheinbaren Christen unterschie‐ den. 642 Heilig sei die Kirche zunächst aufgrund der Darbringung der Sakra‐ mente und die Gottesdienstversammlung, durch welche die Kirche im Geist erneuert, geheiligt und mit Gnadengaben geschmückt werde. 643 Ferner sei sie auch heilig durch die ihr von Gott verliehenen Rechte und Ämter, deren Autorität sich keinesfalls aus der Autorität des Petrus oder der Apostel, sondern aus der göttlichen Erwählung der Kirche selbst zur Braut Christi herleite. 644 Allein die reine und schriftgemäße Lehre entscheidet nun für Dannhauer darüber, ob es sich bei einer sichtbaren Versammlung um die Versamm‐ lung der Heiligen und damit die wahre Kirche Jesu Christi handelt. Der absolute Vorrang von Schrift und Lehre als Kennzeichen der wahren Kir‐ che erscheint Dannhauer dabei fast selbstverständlich: Woher sonst sollte etwa die Katholizität der Kirche und ihre Wahrheit sich herleiten? 645 Alle anderen Merkmale der Kirche seien, obwohl sie zum Wesen der Kirche ge‐ hören, doch nicht zu jeder heilsgeschichtlichen und kirchengeschichtlichen Phase gleichermaßen verwirklicht gewesen. Im öffentlichen Bekenntnis zur Wahrheit dagegen seien schon alle anderen Zeichen der wahren Kirche ein‐ geschlossen. 646

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hervorleuchtet, durch das Zeugnis der himmlischen, grundlegenden Wahrheit und das öffentliche, sinnlich wahrnehmbare Bekenntnis“). Vgl. ebd., 69 f. Zur Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer bzw. verborgener Kirche, vgl. auch ebd., 74 f. Die verborgene Kirche sei Ergebnis einer zweifachen Erwäh‐ lung: zum Glauben selbst und zur Beständigkeit in diesem Glauben bis zur Vollendung (lat. perseverantia ad finem), vgl. ebd., 129. Vgl. ebd., 110. Vgl. ebd., 110 f. Beim Zusammenbrechen der guten Ordnung, etwa durch Übergriffigkeit einzelner Stände, kann die Kirche daher ihre Könige und Priester unabhängig von jeder Amtssukzession neu einsetzen. Vgl. ebd., 85: „Unde enim nostri Ecclesiam debere esse catholicam? nisi ex scripturis : ac unde constat miraculorum veritas nisi è doctrinae veritate? quam illa confirmant“ (dt.: „Weshalb nämlich ist unsere Kirche dazu bestimmt, allumfassend zu sein, wenn nicht aus den Schriften? Und weshalb steht die Wahrheit der Wunder fest, wenn nicht aus der Wahrheit der Lehre? Diese bestätigen jene.“). Beispiele sind die erst durch Christus eingesetzten Sakramente oder das Kreuz der Verfolgung, der die Kirche nicht immer unterworfen sei. All diese Zeichen seien „in professione fidei reali comprehenditur“ (ebd., 89. Dt.: „im wirklichen Zeugnis des Glau‐ bens zusammengefasst“). Vgl. ebd.: „virtualiter in professione veritatis inclusa“ (dt.: „der Möglichkeit nach im Zeugnis der Wahrheit eingeschlossen“).

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Bedeutet dies aber, dass bei der Identifikation der wahren Kirche durch die wahre Lehre ein Zirkelschlusses vorliegt? 647 Dannhauer verneint dieses Argument der Gegner, weil die Wahrheit der sichtbaren Kirche nie in die Verfügungsgewalt dieser Kirche und ihrer Institutionen übergehe, sondern selbst nur durch die Kirche ‚hindurchleuchte‘ (lat. pellucere). 648 Daher gelte schlicht die Einladung, sich der unverstellten und ungehinderten Wahr‐ nehmung zu überlassen: Komm und sieh, „veni & vide“! 649 Die Strahlen des himmlischen Wortes, wie Dannhauer in einer bewusst paradoxen Ver‐ schmelzung von Bildebene und Sachebene formuliert, sind die Offenbarung des Heilsgrundes in Christus (lat. fundamentum salutis) sowie das öffent‐ liche Zeugnis der Kirche – vermittelt wiederum durch die fundamentalen Glaubensartikel (lat. fundamentalium salutis articuli). 650 Diese himmlische Wahrheit werde nicht eigentlich sinnlich wahrgenommen, sondern mit dem Auge des Glaubens (lat in oculo fidei) als einem spezifisch übernatür‐ lichen Sinn für die übernatürliche Wahrheit erfasst. 651 Zur umfassenden Erkenntnis einer Sache sind für Dannhauer zunächst ihre Ursache und ihr Ursprung (lat. causa & semen) zu betrachten. Entspre‐ chend hat die Prüfung, ob man es bei einer konkreten Kirchenversammlung mit einer Verwirklichung der wahren Kirche zu tun hat, mit Frage nach ihrer Wortverkündigung zu beginnen. 652 Anhand welcher Kriterien ist eine solche Prüfung vorzunehmen? Diese Überprüfung und Scheidung der Geis‐ ter habe erst à priori ausgehend vom theologischen Erkenntnisprinzip, also

647 In disese Richtung tendieren Aussagen, wenn Dannhauer die sichtbare Kirche fol‐ gendermaßen charakterisiert: „visibilis coetus in quo Doctores profitentur, auditores audiunt, & ceremoniae in oculus omnium incidunt“ (ebd., 81 f. Dt.: „Eine sichtbare Versammlung, in welcher die Gelehrten verkünden, die Hörenden hören und die Ri‐ tualvollzüge sich vor aller Augen ereignen“). 648 Vgl. ebd., 82: „nullus est circulus [...], ubi veritas lucet, & suismet se prodit radiis“ (dt.: „Kein Zirkel ist es [...], wo die Wahrheit leuchtet, und sich selbst durch ihre Strahlen preisgibt“). 649 Ebd. Zur Wahrnehmungspsychologie der Wege-Trilogie vgl. Bolliger, Methodus, 226–241. 650 Vgl. HC, 82 f. Man beachte hier den Unterschied zum späteren Sprachgebrauch der Fundamentalartikel, insofern bei Dannhauer gerade keine Unterscheidung zwischen zentralen und weniger zentralen, weil abgeleiteten Artikeln vorgenommen werden soll. Vgl. Bolliger, Methodus, 312 f. 651 Vgl. ebd., 82. 652 Vgl. ebd., 85: „quale est verbi praedicatio vera & pura è tamquam semine fructifico & prolifico Ecclesia nata est“ (Herv. im. Orig. Dt.: „Wie ist die wahre und reine Predigt des Wortes beschaffen, aus der wie aus einem fruchtbaren und sprießenden Samen die Kirche geboren wird“). Die Metapher des Wortes als Samen, aus dem die Kirche er‐ wächst, durchzieht die Argumentation Dannhauers und greift auf das neutestamentliche Gleichnis vom Sämann zurück.

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mittels eines Vergleichs mit dem Gotteswort der Heiligen Schrift, und so‐ dann auch à posteriori ausgehend von den heiligenden und tröstlichen Früchten der wahren Lehre zu erfolgen. 653 Das wahre Offenbarungszeugnis (lat. professio & confessio) der Kirche lasse sich – immer ausgehend von der Schrift – zunächst durch formale Merkmale kennzeichnen. 654 Erstens sei die Öffentlichkeit des Zeugnisses und Bekenntnisses als verbum externum konstitutiv (lat. publica & sensi‐ bilis). Zweitens habe es vollständig und deutlich (lat. plena & plana) zu sein, wozu gehöre, dass es nicht nur positiv dargelegt, sondern auch durch Abgrenzung von falscher Lehre befestigt sei (lat. thetica & antithetica). Als solches sei es nicht nur mit dem Mund, sondern im ganzheitlichen Vollzug des Lebenszeugnisses zu bewahrheiten: Mit gesprochenen und geschriebe‐ nen Worten, mit Gesten und Taten sowie im Extremfall mit dem Blut der Märtyrer. Drittens müsse das Bekenntnis zur Wahrheit rein (lat. pura) sein, so dass es weder von unangemessenen Affekten wie Scham oder Furcht begleitet werden, noch auf inhaltlicher Ebene eine synkretistische Vermi‐ schung erkennbar sein dürfe. Viertens und in der Hauptsache dürfe die Wahrheit der Lehre nicht nur angemaßt und behauptet sein, sondern müsse gründlich beurteilt und überprüft (lat. aestimata & probata) werden. Als inhaltliches Kriterium dieser Prüfung gelte, dass sich die wahre Lehre zunächst immer auf ihren Ursprung in der Schrift und dem christlichen Grundbekenntnis beziehen lassen müsse: „Iesum Christum in carne ve‐ nisse ex Deo est“. 655 Ferner sei sie auch an ihrer Frucht für die Gewissen zu erkennen: Die wahre Lehre erschleiche ihre Anerkennung nicht durch rhetorische Überwältigung oder gewaltsamen Zwang, sondern unterwerfe die Gewissen durch ‚süße‘ Überzeugung (lat. suavi convictione), was sodann heiligende (lat. sanctificus), tröstliche (lat. solatifluus) und heilstiftende (lat. salvificus) Wirkungen freisetze. 656 Dass es sich bei einer Predigt um die unverfälschte christliche Lehre handelt, ist für Dannhauer also daran zu erkennen, dass ihr Bezug auf die frohe Botschaft des Evangeliums durch‐ sichtig wird und sie die Gewissen aufrichtet, statt in dumpfe Verzweiflung oder auch panischen Heilsaktivismus zu stürzen. 653 Vgl. ebd., 83; 69 f. 654 Für die folgenden Merkmale vgl. ebd., 83. 655 Ebd., 84 (dt.: „Dass Jesus Christus aus Gott ins Fleisch gekommen ist“). Dannhauer hält mit dem Vergleich, dass auch eine Schule an der Wiedergabe der Lehre des Lehrenden und die Zugehörigkeit von Soldaten an ihren Feldzeichen erkannt werde, fest, dass es hier immer um das öffentliche Wortbekenntnis und nicht den sich jedem menschlichen Zugriff entziehenden Glauben des einzelnen Predigers gehe. 656 Vgl. ebd., 83 f. Vgl. auch ebd., 84: „profectus à tali doctrina, quae conscientiae in omni tentationis paroxysmo satisfaciat“ (dt.: „ausgehend von solcher Lehre, die die Gewissen in jeder Raserei der Anfechtung befriedigt“).

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In einer kombinierten Argumentation tritt Dannhauer anschließend drei auf Bellarmin zurückgehenden Gegenargumenten bzw. Argumentations‐ strategien gegen die Priorität der schriftgemäßen Lehre vor der Lehrauto‐ rität der Kirche entgegen. 657 Diese Auseinandersetzung hilft Dannhauer, sein Lehrverständnis weiter zu konturieren. Dabei nähert er doctrina und scriptura nahezu ununterscheidbar an, was aus dem bereits gesetzten An‐ spruch der schriftgemäßen Lehre resultiert. Erstens widmet Dannhauer sich der Kritik, dass die schriftgemäße Lehre nicht allen Menschen unabhängig von ihren geistigen Gaben zugänglich und schlechthin zu voraussetzungs‐ reich sei, um etwa Heiden ohne Vorbildung allererst zur Kirche zu führen. Dannhauer hält gegen dieses Argument fest, dass alle Menschen fähig seien, in dem und aus dem Licht der Schrift die himmlische Wahrheit ausrei‐ chend klar zu erkennen. 658 Die Vollständigkeit, Klarheit und Wirksamkeit der gepredigten Schrift verbürgt, dass jeder Mensch das Heilsnotwendige verstehen kann, auch wenn zur Befestigung und zum Fortschreiten auf dem Weg der Erlösung dann immer weitere Vertiefung erforderlich wird. Aber ist nicht zweitens die Kirche selbst noch unmittelbarer zugänglich als jede lehrhafte Kenntnis der Kirche und jedes Wissen der von ihr überlie‐ ferten Wahrheit? Die Gegner verweisen hier auf das Verhältnis des ungebo‐ renen Kindes zum Leib der Mutter. 659 Dagegen unterscheidet Dannhauer verschiedene Arten der Leichtigkeit des Erkennens (lat. facilitas). 660 Im Zu‐ sammenhang mit den Merkmalen der Kirche gehe es um eine Erkenntnis, die zugleich auf die Gewissheit und die Durchsichtigkeit der Prinzipien ziele. Bei dieser Art von Erkenntnis gelte: Was vordergründig schwieriger erscheine, ist eigentlich einfacher und durchsichtiger, und weil in ihr zu‐ gleich die Ursprungsgründe enthalten sind, kann sie jeden Wissensdurst

657 Vgl. ebd., 85–87. 658 Vgl. ebd., 87: „nullum esse hominum genus, quod non, quantum satis est, ad Ecclesiae veritatem duci [...] queat“(dt.: „es gibt kein Geschlecht von Menschen, das nicht, so viel wie genügend ist, zur Wahrheit der Kirche geführt zu werden [...] imstande wäre“). So könne sowohl der Heide (lat. paganus) als auch der Ungebildete bzw. Neubekehrte (lat. idiota) der Schrift genügend entnehmen, um zum Heil zu gelangen (lat. quantum satis est ad salutem) – nämlich die substantia rei. 659 Vgl. ebd., 86: „Mater haec ante cognoscenda est, ut nos concipiat, pariat, quàm verita‐ tem in ventre eius absconditam cognoscere possimus?“ (dt.: „Ist die Mutter zuvor zu erkennen, dass sie uns empfängt, gebiert, bevor wir die in ihrem Bauch noch verborgene Wahrheit erkennen können?“). 660 Vgl. ebd., 87 f. Die kindliche Erkenntnis einer ersten Groberfassung (lat. ad cognitionem rudem) unterscheide sich von einer erwachsenen Erkenntnis, die auf einen umfassenden und bruchlosen Zusammenhang (lat. ad acroamaticam perfectam, quae sit causa cogni‐ tionis infallibilis) ziele.

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nachhaltig, ja endgültig stillen. 661 Das Beispiel eines Kindes, dem seine Mutter unmittelbarer als durch eine bewusste und lehrhaft formulierbare Erkenntnis erschlossen ist, wendet Dannhauer in seinem Sinne um und verschiebt die Bildebene: Für ihn stellt sich die Frage nicht auf der Ebene der heranwachsenden Glaubenden, sondern im Gegenüber der mündigen Christen zur Kirche. Auch von der Schwangerschaft als Ursache der Aufge‐ wühltheit einer werdenden Mutter erfahre das Umfeld nämlich nur, wenn diese ihre Schwangerschaft offenbarend zu erkennen gebe. 662 Eine analoge Offenbarung geschehe, wenn die Kirche sich durch ihr Bekenntnis zur wah‐ ren Lehre des Evangeliums als Mutter der wahrhaft Glaubenden vorstelle. Bleibt nun aber – so die Gegner mit ihrem dritten Argument – die Lehre nicht schon deshalb immer zweifelhaft, weil sie durch Irrlehrer korrumpiert und als Werkzeug zur Spaltung der Kirche eingesetzt werden kann? Dieses Argument müsste, so Dannhauer, angesichts der Heuchler innerhalb der Kirche ebenso für alle Taten der Liebe oder Wunder gelten. 663 Die vom Heiligen Geist gestiftete harmonische Einheit der Kirche verhindere eben nicht, dass in einzelnen Punkten Streit aufkommen könne – so wie ar‐ chetypisch schon zwischen Abraham und Lot, Paulus und Barnabas. Doch erst, wenn solcher Streit auf das Fundament des Glaubens (lat. fundamen‐ tum fidei) übergreife, komme es zur Abspaltung von Häretikern. 664 Strikt zurückgewiesen wird von Dannhauer in diesem Zusammenhang auch die besonders ‚hinterhältige‘ Meinung Bellarmins, dass die Gemeinde im Zwei‐ felsfall selbst einem irrenden Pastor mehr zu folgen habe als jemandem, der kein Pastor ist. 665 Mit dieser Konstruktion lasse sich zwar der Heilige Stuhl vor der vernichtenden Kritik der Reformatoren retten, aber das We‐ 661 Vgl. ebd., 88: „est autem talis illa nostra, quae ut nobis prima fronte difficilior videatur, tamen revera facilior est, quia causa est probandi, & principium cognitionis sitim scien‐ tis abundè satians“ (dt.: „jene unsere [Erkenntnis] ist aber so beschaffen, dass was uns zunächst vordergründig schwieriger scheint, dennoch tatsächlich einfacher ist, weil die Ursache zu überprüfen ist, und das Prinzip der Erkenntnis den Wissensdurst überreich befriedigt“). 662 Vgl. ebd. „at praegnantem ac matrem prolis esse non nisi ex indiciis, quibus seipsam proles concepta prodit“ (dt.: „und dass sie Schwanger und Mutter eines Nachkommens ist [nehmen sie] nicht anders [wahr], als dass sie sich selbst als Empfangende des Nach‐ kommens mitteilt“). 663 Vgl. ebd., 89. In diesem Fall stehe mit Joh 13,35 außerdem ein klares Wort Christi ent‐ gegen. Zu den Wundern und ihrer Unfähigkeit, die Lehre zu beglaubigen, vgl. auch CM Bd. 8, 781–813. 664 Vgl. HC, 90. 665 Vgl. ebd., 111: „debet populus Pastorem suum potius sequi, quàm alterum, qui non est Pastor, etiamsi fortè contingeret, ut Pastor erraret“ (dt.: „es muss das Volk seinem Hirten eher folgen, als einem anderen, der kein Hirte ist, auch wenn es vielleicht zutrifft, dass der Hirte irrt“).

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sen des Glaubens sei verkannt, denn dieser erlaube als höchstpersönliche Gewissensverpflichtung vor Gottes Gericht nicht, ungestraft mit anderen mitzuirren (lat. ut impune errare liceat cum aliis). 666 Es bleibt für Dann‐ hauer also dabei, dass die Lehre der wahren Kirche sich selbst als Wahrheit bezeugt und so dieser als Erkennungszeichen vorgeordnet, letztlich auch unverfügbar ist. b) Die Ämter der Kirche als Institutionen der Lehre Die Kirche ist bei Dannhauer entsprechend der reformatorischen Bestim‐ mungen in drei Stände gegliedert, die funktional aufeinander bezogen sind. Trotz vorübergehender Personalunion bei den biblischen Heroen oder in Notzeiten seien der politische und der kirchliche Stand rechtlich (lat. de iure) und im Normalfall (lat. ordinarie) dabei klar unterschieden. 667 Dürfe die politische Obrigkeit (lat. magistratus politicus) zwar keine Handlungen und Bekenntnisse gegen das Gewissen der Einzelnen erzwingen, könne sie die ‚Pest‘ offensichtlicher Irrlehren auch nicht einfach tolerieren und habe daher mit allen nicht-gewaltsamen Mitteln auf ihre Untertanen einzuwir‐ ken. 668 Auch die Gerichtsbarkeit bezüglich auftretender Lehrstreitigkeiten bleibe letztinstanzlich in der Hand der politischen Obrigkeit. 669 Das kirchliche Amt (lat. ministerium ecclesiasticum) wird von Dann‐ hauer ebenfalls in reformatorischer Tradition als Dienst des Wortes (lat. ministerium verbi) bestimmt. Als Diener der Wortes, das gemäß des Jo‐ hannesprologs niemand anderes als Christus in Person ist, empfangen die kirchlichen Amtsträger ihr Amt von Christus (lat. à Christo), haben es gemäß des nicht-weltlichen Christusreiches (lat. Christiane) und in Aus‐ richtung auf Christus und dessen endzeitliches Gericht (lat. ad Christum) auszuüben. 670 Bei Dannhauer wird somit in der Ekklesiologie seine grund‐

666 Vgl. ebd., 112. 667 Vgl. mit Anklang des biblischen Hirtenmotivs ebd., 91: „excepto casu vel necessitatis, cum uno alterove ordine lupescente aut negotii sui non satagente“ (dt.: „oder mit Aus‐ nahme des Notfalls, wenn einer der Stände wölfisch über den anderen herfällt oder sein Geschäft nicht befriedigend ausführt“). Gegen die Vermischung der beiden Stände und ihrer Ordnungen vgl. auch ebd., 99–102; 107. 668 Vgl. zu diesen Mitteln ebd., 97: „persuasione, elencho, tractatione, facto per argumenta & conscientiae convictionem“ (dt.: „durch Überredung, Wiederlegung, Untersuchung, hervorgebracht durch Argumente und die Überführung des Gewissens“). 669 Vgl. ebd., 98: „in judiciis circa Doctores & controversias ei competit diiudicatio“ (dt.: „in Verhandlungen bezüglich der Gelehrten und ihrer Streitfälle kommt ihr die Urteilsent‐ scheidung zu“). 670 Vgl. ebd., 103. Christus sei in der Kirche „Episcopo animarum, summo Sacerdote, summo Pastore, Doctore, Domino ovium“ (ebd., dt.: „Bischof der Seelen, höchster Pries‐ ter, höchster Hirte, Lehrer, Herr der Schafe“).

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legende Bestimmung der Theologie als Bewegung von Gott, in Gott und auf Gott hin noch einmal christologisch präzisiert. In seiner regulären und geordneten Form ist dieser Kirchendienst durch die Merkmale der gött‐ lichen Berufung (lat. divina vocatio), der kirchlichen Beauftragung (lat. ordinatio) sowie idealerweise der Reinheit in Lehre und Leben (lat. puritas doctrinae & vitae) gekennzeichnet. 671 Aus der reinen Lehre allein erwachse die eigentliche – mit staatlicher Gewalt unvermischte – Amtsgewalt des kirchlichen Standes, die Macht des Wortes und des Sakraments. 672 Diese Lehrgewalt sei in keiner Weise zwingend (lat. coactrix), sondern die Gewis‐ sen überführend (lat. convictrix) kraft des Heiligen Geistes, der als Gnade in den Herzen wirkt. 673 Die Kirche wird im Unterschied zu den politischen Reichen und anderen Religionen primär bestimmt als Wirkraum des befrei‐ enden Evangeliums Jesu Christi, das durch die Lehre vergegenwärtigt wird: Allein Christus ist Vermittler (lat. mediator) der Evangeliumsbotschaft – und so für die verlorenen Menschheit das Licht und der Führer auf ihrem Pilgerweg zum ewigen Leben (lat. lux duxque viae). 674 In der Ausgestaltung seiner Vorschläge zur Kirchenordnung findet bei Dannhauer die reformatorische Unterscheidung von doctrina und disci‐ plina ihren prägnanten Ausdruck im Zusammenwirken zweier Ämter. In ihrem durch die Kirche übertragenen, aber dennoch von Gott selbst einge‐ setzten und auf einen bestimmten Raum begrenzten Leitungsamt wirken die doctores (griech. νόµιϰοι) und gubernatores als Gemeindeälteste und Aufseher (lat. Episcopi) zusammen. 675 Die Doktoren verwalten das Amt der Schriftauslegung und Lehrzucht (lat. officio hermeneutico & Elenchtico

671 Vgl. ebd., 102. Daneben kennt Dannhauer auch eine unmittelbare und außerordentliche Indienstnahme (lat. in ministris immediatis: Apostel, Proheten, Evangelisten, Wundertä‐ ter), die ohne Ortsbindung, aber zeitlich beschränkt erfolge, vgl. ebd., 102 f. Typologisch stellt Dannhauer die Figur Josuas in der Landnahmeerzählung dem geordneten Priester‐ dienst unter Salomo gegenüber. 672 Vgl. ebd., 106. Lat. potestas verbi & sacramentorum oder auch potestas ministerii spiri‐ tualis. Daneben übe der geistliche Stand seine Amtsgewalt auch hinsichtlich bestimmter gemeinsamer Angelegenheiten (lat. res mixtae) – etwa Fragen der äußeren Ordnung der Kirche, der Rechtsprechung und der Zensur – im geordneten Zusammenwirken mit dem politischen Stand aus, vgl. ebd., 102. 673 Vgl. ebd., 106. Auf diese Weise bringt Dannhauer die reformatorische Unterscheidung von Evangelium und Gesetz für ein Modell der Gesellschaftsordnung zur Anwendung, vgl. ebd., 320–326. 674 Vgl. ebd., 324. 675 Vgl. ebd., 104 f. Für Dannhauer steht fest: „Iidem Episcopi dicuntur & presbyteri, quos inter nullum discrimen facit Scriptura sacra“ (ebd., 105. Dt.: „Dieselben werden Auf‐ seher und Älteste genannt, zwischen denen die Heilige Schrift keinen Unterschied macht“). Daneben kennt Dannhauer weitere, unterschiedlich klar abgegrenzte Ämter wie Diakone und Evangelisten.

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in cathedra Scholasticâ) – sie seien also primär mit dem Wort und der Lehre (lat. in verbo & doctrina) befasst, während die Gubernatoren mit der Aufsicht über die Sittenzucht (lat. quaestores & censores morum dis‐ ciplina) betraut seien. 676 Grundsätzlich und innerhalb eines durch Christi Einsetzung gesteckten Rahmens sei die Kirche zur freien Ausgestaltung ih‐ rer Ordnung berechtigt, wie sich auch im Zuge der Verbreitung der Kirche über die ganze Erde legitimerweise verschiedene Ordnungen herausgebil‐ det haben. 677 Das geistliche Amt sei im Zuge dieser Ordnung aristokratisch, nicht monarchisch (lat. monopolica) zu organisieren. 678 Die Urteilsgewalt hinsichtlich der rechten Ausübung des Wortdienstes kommt nach Dannhauer der Kirche als Gesamtheit zu. 679 Ein Urteil werde dabei nicht durch menschliche Richter gesprochen, die Gesetze nach eige‐ nen Entscheidungsvermögen anwenden und auch Gewohnheitsrecht ein‐ beziehen. Stattdessen sei das Urteil von einem selbst präsenten, aber nicht sichtbaren Richter zu empfangen: dem Heiligen Geist. Dieser Richter sei der Kirche ständig auf verborgene Weise präsent (lat. autentico praesente quidem non tamen aspectibili) und lasse sich durch sein Wort hören (lat. audibilis tamen in verbo). 680 Die Kirche sei mit ihren Institutionen die‐ sem Geistwort als dienende Richterin untergeordnet, insofern das Wort durch sie ausgeht und die Hörenden zu ihr zurückführt. 681 Ihr abgeleite‐ tes Richterinnenamt übe die Kirche nach einer selbst gegebenen Ordnung 676 Vgl. ebd., 105. Zur Einsetzung dieser Ämter durch Gott selbst, dem kirchlichen Verfah‐ ren und dem Ritus der Handauflegung vgl. ebd., 106. 677 Vgl. ebd., 112. Der Kirche sei neben Wortdienst und Sakramentsverwaltung die Ver‐ pflichtung auferlegt, sich eine gesetzförmige Ordnung zu geben. Die Ordnungen, die im Alten und Neuen Testament erkennbar sind, haben dabei als Vorbilder zu gelten, aber formulieren keine für alle Zeit zwingenden Vorgaben, vgl. ebd., 112 f. Die Katholizät der Kirche bezeichne somit den umfassenden Konsens im Glauben und der Lehre, nicht die umfassend-einheitliche Organisationsgestalt, vgl. ebd., 122. 678 Vgl. ebd., 107. Hinsichtlich der Wirksamkeit und Bindekraft des Wortes gebe es keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Inhabern der Episkope, also auch keinen rö‐ mischen Summepiskopat oder Juristiktionsprimat. Dannhauer behauptet, diese „aequa‐ litatem in primâ Ecclesiae hierarchiâ Apostolica“ (ebd.) klar aus der Schrift entnehmen zu können – etwa aus dem Zusammentreffen von Petrus und Paulus in Antiochia. 679 Vgl. ebd., 113. Die Urteile sind in diesem Fall bezogen auf die Unterscheidung von wahr und falsch, nicht wie bei weltlichen Gerichten auf die Unterscheidung von gerecht und ungerecht. 680 Ebd. 681 Vgl. ebd. (lat.: „Igitur in hoc judicio sub Spiritu S. supremo Iudice, Ecclesia Interpres & Iudex subordinata, à qua & sermo Dei profectus & ad quem pervenit, certo tamen cum ordine“). Die Kirche habe dazu nach der Norm der Heiligen Schrift allein aufgrund ge‐ schriebener Gesetze zu urteilen, ohne die Beteiligung eigener Entscheidungsvermögen, ohne zeit- oder personspezifischer Anwendung des Gesetzes: „Judex ministra Eccle‐ sia secundum solam scriptam legem nihil ex proprio arbitrio, indefinitè, controversias

Hodosophia Christiana: Theologie als Wegweisheit

aus, die den verschiedenen Gaben ihrer Glieder Rechnung zu tragen und folglich den Gelehrten (lat. doctores) eine zentrale Stellung einzuräumen habe. 682 Die Gesamtheit der Kirche könne durch ein rechtmäßig einberu‐ fenes und legitimes Konzil repräsentiert werden, das die Idee der ganzen Kirche sichtbar zur Darstellung bringe. 683 Dannhauer betrachtet ein sol‐ ches Konzil nicht als absolut notwendiges Instrument kirchlicher Entschei‐ dungsfindung (lat. necessarium non absolutè), da die Schrift grundsätzlich ausreiche, doch könne es zum wechselseitigen Austausch der Glaubenden, aufgrund der Zierde gemeinsam gefasster Beschlüsse und zur allgemeinen Berichtigung der Sitten als bedingt notwendig (lat. necessarium hypotheticè) gelten. 684 Die Urteile in Kontroversen des Glaubens sollen dabei Vertreter aus allen drei Ständen (lat. ex omni statu spirituales) gemeinsam sprechen, die in frommer Gelehrsamkeit (lat. pie docti) von Voreingenommenheit und ablenkenden Affekten möglichst frei sind. 685 Die Stimmen seien dabei nicht nach ihrer Anzahl, sondern nach dem Gewicht der Argumente ab‐ zuwiegen – was faktisch auf ein Konsensprinzip herausläuft. 686 Die heilige Richtschnur (lat. norma sacrosancta) und einzige dem Konzil schlechthin übergeordnete Autorität bleibe die Heilige Schrift. 687 Das Urteil der Kirche betrachtet Dannhauer allein unter der Bedingung als unfehlbar, dass sie ihr Auge auf das Licht Jesu Christi gerichtet hält, diesen als ihr Haupt anerkennt und so mit dem Wort Gottes als Herz der Kirche verbunden bleibt. 688 Darin unterscheide sich die Kirche als Ganze

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etiam praeteritas, cum submissione ad normam scripture¸ sacrae arbitratur.“ (ebd., dt.: „Die Kirche als dienende Richterin beurteilt gemäß des geschriebenen Gesetzes – nichts aus eigenem Entscheidungsvermögen, unbegrenzt, auch die vergangenen Streitfragen – in Unterordnung unter die Regel der Heiligen Schrift“). Vgl. ebd., 113 f. Vgl. ebd., 126. Dieses Instrument sei im Alten Testament von Gott eingesetzt und im Neuen Testament durch die Apostel bestätigt worden. Vgl. ebd., 127. Um der Ordnung willen sei grundsätzlich der christliche Fürst (lat. prin‐ ceps Christianus) zu bitten, das Konzil einzuberufen und den Vorsitz zu übernehmen. Vgl. ebd., 128. Die Konzilsteilnehmer dürfen nicht Besitz, Herrschergewalt, oder kirch‐ liche Ämter erstreben, sondern allein göttliche Gaben, Macht und Lehre. Ebd., 128 (lat.: „Non numero sed pondere aestimandas“). Vgl. ebd. Dannhauer unterscheidet hinsichtlich der Autorität des Konzils die kanoni‐ sche Autorität (lat. canonica) in Fragen, wo eine Entscheidung aus den apostolischen Schriften vorzulegen sei, von der gesetzgebenden Autorität (lat. decretoria) in Fragen der kirchlichen Ordnung und öffentlichen Sitte sowie einer dienend-orientierenden Au‐ torität (lat. decisione non iudiciali, sed ministeriali) in Glaubensfragen, die aufgrund der Schrift nicht definitiv entschieden, aber auf schriftgemäße Weise beantwortet werden können, vgl. ebd., 128 f. Vgl. ebd., 123: „quamdiu manet conjuncta cum Christo verissimo Ecclesiae capite & cum verbo Dei, quod est cor Ecclesiae“ (dt. „solange sie mit Christus, dem wahrhaftigsten Haupt der Kirche, und dem Wort Gottes, das das Herz der Kirche ist, verbunden bleibt“).

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nicht prinzipiell von jeder und jedem einzelnen Glaubenden. So wie ein Kerzenleuchter umfallen, sein Licht verdunkelt oder die Flamme erstickt werden könne, so könne auch die sichtbare Kirche von Christus und seiner Wahrheit abfallen. 689 Dennoch gelte ihr die Verheißung einer bleibenden Verbindung mit Christus, also einer unverlierbaren Reformierbarkeit. Die unsichtbare Kirche der zum Heil Erwählten könne dagegen nie von der Wahrheit abirren – dank der göttlichen Verheißung, dass Christus als Kö‐ nig immer ein Reich in der Welt haben soll. 690 Besonders hervorzuheben ist zum Schluss dieser Rekonstruktion noch das interessante Detail, dass für Dannhauer zur Heiligkeit der Kirche auch ihr Reliquienschatz (lat. sanctitas thesaurorum lipsanorum) gehört. 691 Die‐ ser bestehe allerdings nicht in den Gebeinen und Körpern der Heiligen, die man besser würdig bestatten sollte, sondern in den überlieferten Schriften, Büchern und Kommentaren der großen Lehrer. 692 Über diesen Schatz wa‐ che die Kirche wie eine Bibliothekarin oder Grammatiklehrerin (lat. quasi grammatica), was bedeute: als Erklärerin (lat. explicatrix), Tadelnde (lat. vindicatrix) und Erfinderin (lat. inventrix), wobei letzteres sich auf die Schaffung einer klaren theologischen Begrifflichkeit bezieht. 693 Sie komme ihrer Aufgabe als Verwalterin dieses Schatzes erstens durch dessen Ver‐ mehrung mit Schreibgriffel und Druckerpresse (lat. multiplicatione aut calamo ... aut praelo) nach, zweitens durch ihre Unterscheidung und Beur‐ teilung der Lehren, drittens durch Übersetzung und auslegende Erklärung sowie viertens duch eine öffentliche, einladende Verkündigung, die die Menschen wie ein Magnet (lat. quasi magnetico) zum Heil ziehen solle. 694 689 Von der sichtbaren Kirche gelte: „tota degenerare possit“ (ebd., 131. Dt.: „sie kann gänz‐ lich verderben“). Für Beispiele aus den biblischen Schriften und der Kirchengeschichte vgl. ebd., 123–126. 690 Vgl. ebd., 130 f. 691 Vgl. ebd., 120 f. 692 Vgl. ebd., 121: „ingeniorum monimenta, commentarii, libri, maximè verò veritatis co‐ elestis in sacro codice contentae“ (dt.: „Urkunden, Kommentare, Bücher der Geistbe‐ gabten, die höchste und wahrste himmlische Wahrheit in heilige Folianten gebunden“). Bezeichnet Dannhauer hier die gesamte Kirche dabei auch als Schatzkammer (lat. re‐ positorium) der Heilsoffenbarung und Aufbewarungsort der Gnade (lat. depositorium gratiarum), berührt sich dieses Bild mit einer der Katechismuspredigten, wo das gleiche Bild des Schatzhauses spezifisch auf die Schule angewandt wird, vgl. CM Bd. 8, 754–780. Darin zeigt sich, dass die Schulen integral zu den kirchlichen Institutionen gehören, ja Gottesdienstversammlung und Schulunterricht unter dem Oberbegriff der Lehre weit‐ gehend angenähert werden. 693 Vgl. ebd. Diese Aufgabe sei analog zu Adams Benennung der Tiere in Gen 2 zu verstehen und notwendig zur Überwindung der Sophistik, „qui aqua nominum turbata felicius piscantur“ (ebd., dt.: „die im trüben Wasser der Benennungen glücklicher fischt“). 694 Vgl. ebd.

Zusammenfassung und Ertrag

In dieser kurzen Passage und ihrer originellen Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Reliquienverehrung wird noch einmal deutlich, wie Dannhauer die Lehre der Kirche bestimmt: Sie ist als deren wahrer Kir‐ chenschatz existenziell-heilsrelevant – und dessen Aneignung vollzieht sich keinesfalls allein durch rituell-sakramentale Teilhabe, sondern durch Hö‐ ren und Lesen, Auslegen und Fortschreiben der so heiligen wie heilsamen Lehre des Evangeliums. Von diesem göttlichen Lehrauftrag der Kirche her bestimmt sich für Dannhauer, was die Kirche ist und wie ihre Institutionen auszugestalten sind. 4.3 Zusammenfassung und Ertrag Bei Dannhauer kann man wahrlich von einem Überschwang der Lehre sprechen, was sich schon am äußeren Umfang seiner zehnbändigen Kate‐ chismusauslegung, seinem dreifachen dogmatischen Kompendium der Ho‐ dosophia Christiana mit den flankierenden Bänden der beiden Hodomoriae sowie einer Vielzahl an methodologischen und polemischen Einzelschriften ablesen lässt. Mit seiner literarischen Produktion will Dannhauer die reine christliche Lehre in der Welt verbreiten, sie mit biblischen Belegen und Vernunftschlüssen befestigen sowie nicht zuletzt gegen Angriffe von Au‐ ßen und Zersetzungstendenzen im Inneren verteidigen. Als theologischer Reflexionsbegriff tritt bei ihm die Lehre ins Zentrum der Theologie, alle kirchlichen und gesellschaftlichen Institutionen sollen auf die Lehre und deren katechetische Vermittlung hingeordnet werden. Im Hintergrund steht dabei ein Bild des Menschen, der als Wanderer auf dem Weg in die himmlische Heimat sein ganzes irdisches Leben lang vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt ist: Von innen durch die Sünde und das Fleisch, von außen durch diabolische Weltmächte und verführerische Irrlehren. Diese barocke Welterfahrung erscheint fragil, Sinn und Ord‐ nung sind dem Weltgeschehen und dem Lebensschicksal immer wieder neu abzuringen – indem von der göttlichen Offenbarung in der Schrift her tragende Strukturen aufgedeckt werden. Insofern trifft die von August Tho‐ luck in kritischer Absicht aufgenommene Charakteristik der Hodosophia durch Wilhelm Gaß durchaus das Denken Dannhauers: „Wir finden uns wie von einem Netze umsponnen und geleitet an einer enggegliederten Namenund Begriffskette“. 695 Das sich daran anschließende kritische Urteil dürfte allerdings verkennen, dass die Vielzahl typologischer Verknüpfungen und die festgefügten Stichwortketten der Selbstverortung und Lebensorientie‐

695 Zitiert bei Tholuck, Art. Dannhauer, 482.

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rung dienen sollen, was letztlich immer bedeutet: der entschiedenen Orien‐ tierung auf das himmlische Endziel eines vielfach angefochtenen Lebens‐ wegs. Damit erfüllen sie zugleich auch eine Trostfunktion angesichts der Widerfahrnisse und Rückschläge dieses Lebens. Ihre hermeneutische Funktion erfüllt die Lehre bei Dannhauer nicht nur hinsichtlich der Schrift, sondern als den biblischen Schriften entnommene, durch antike Traditionen ergänzte Symbolwelt für die Lebensdeutung und Weltorientierung im Ganzen. Strukturiert ist diese biblische Symbolwelt durch schroffe Gegensätze, was sich, wie Daniel Bolliger aufweist, glei‐ chermaßen einer zweiwertig-apodiktischen Logikauffassung, der Präferenz für „polarisierbare Metaphern“ und einer allgemein „kontrastorientierte[n] Wirklichkeitsauffassung“ verdankt. 696 Dieses Antithetik ist freilich schon in der häufig polarisierten Bildwelt der Bibel angelegt, auf die Dann‐ hauer intensiv zurückgreift, und durch paulinisch-reformatorische Duale wie Glaube und Werke oder Gesetz und Evangelium auf den Begriff ge‐ bracht. Die Lehre wird von Dannhauer der Irrlere entgegengesetzt wie die Wahrheit der Täuschung. Dass dieser Lehre ein existenzielles Bedürfnis des Menschen entspricht, drückt er insbesondere mit Hilfe von Nährme‐ taphern (Milch, Muttermilch, Speise) und Heilmetaphern (Arzt, Apotheke, Arznei) aus. 697 Ein steter Zufluss der Lehre Christi ist für Christinnen und Christen so lebenswichtig wie die Muttermilch für Säuglinge, die Arznei für den Kranken oder die kräftige Mahlzeit für den, der harte Arbeit zu verrichten hat. Dabei ist in der aus Hebr 5,12–14 übernommenen Gegenüberstellung von Milchspeise und fester Speise bereits eine Unterscheidung zwischen den elementaren und den fortgeschrittenen Gestalten der Lehre impliziert, denen wiederum das umfassende Ideal theologisch-philosophischer Ge‐ lehrsamkeit übergeordnet ist. Dieser praktische Habitus bewährt sich im souveränen Umgang mit der Schrift und den überkommenen Wissensbe‐ ständen, wie Dannhauer selbst in der Verflechtung biblischer Typologien, historischer Begebenheiten, Naturbeobachtungen und gegenwärtiger Ge‐ schehnisse unter Beweis stellen möchte. 698 Wenn sich die kleine und große Katechismuslehre auch in ihrem Umfang nicht unterscheiden und grund‐ 696 Bolliger, Methodus, 332. 697 Nicht zuletzt mit diesen Metaphern verfolgt Dannhauer auf rhetorische Weise ein Programm ganzheitlicher Habitualisierung, in dem Kücherer eine „Rechtfertigung des Leiblichen im Christentum“ (Kücherer, Katechismuspredigt, 214) erkennt, vgl. ebd., 211–214. 698 Tholuck macht ihm das angesichts des unmittelbar lebensorientierenden Anspruchs der Hodosophia zum Vorwurf: „Demgemäß sollte man nun auch eine einfach erbauliche und praktische Auslegung erwarten. Allein der Verfasser wollte den ganzen überlieferten scholastischen Stoff in diesem Schema verarbeiten“ (Tholuck, Art. Dannhauer, 482).

Zusammenfassung und Ertrag

sätzlich schon die Kinderlehre ausreichend Orientierung auf dem Weg zum ewigen Heil bieten kann, so gibt es doch eine graduelle Unterscheidung in der Selbstdurchsichtigkeit, befestigenden Vernetzung und ‚Schärfentiefe‘ des Glaubenswissens. 699 Die Aufgabe des Predigtamtes und der kirchlichen Lehrer besteht darin, die Speise der Lehre recht zuzubereiten und den Fä‐ higkeiten des Kirchenvolkes angemessen auszuteilen, um deren gesundes Wachstum im Glauben zu fördern. 700 Insbesondere die Lehrpredigt muss die Einzelnen überführend treffen, ihnen von Christus her eine neue Per‐ spektive auf ihre Existenz erschließen und sich für sie im Leben, gerade auch im ganz ‚profanen Alltag‘ bewähren. Es muss für die Einzelnen ein‐ sichtig werden, was Dannhauer als hermeneutischen Grundsatz aufstellt: „Die ganze Evangeliumsschrift ist zu meinem Trost geschrieben“. 701 Die protestantische Bibel- und Katechismusfrömmigkeit, auf die schon bei Luther nicht nur die kirchlichen Amtsträger, sondern alle Christen‐ menschen verpflichtet werden sollten, wird somit als ein umfassendes Pro‐ gramm zur Überformung des täglichen Lebens durch die Lehre ausgearbei‐ tet. Die gesamte Gesellschaft soll auf das Wachstum ihrer Glieder in der Lehre ausgerichtet werden – wobei für Dannhauer im Horizont einer apo‐ kalyptischen Zeitdeutung und angesichts der akuten Bedrohungen durch Krieg, Katastrophen und gesellschaftliche Zerrüttung nicht nur das Heil der Einzelnen, sondern immer auch deren Überleben und das Fortbestehen des Gemeinwesens auf dem Spiel steht. Eigentlich müsste jeder (und jede!) jederzeit dazu befähigt und bereit sein, das lutherische Bekenntnis argu‐ mentativ zu verteidigen sowie von Entstellungen oder auch gut verdeckten Häresien zu unterscheiden. 702 Dazu muss die Lehre allen Menschen zu‐ nächst innig vertraut und wirklich verstanden sein. Hervorzuheben ist nun erstens die Methodenvielfalt und didaktische Kreativität, mit der Dannhauer die dogmatische und homiletische Vermitt‐ lung der Lehre vorantreibt. Zentral für sein Vermittlungsprogramm der christlichen Lehre ist, dass er um der höheren Klarheit willen bildlich-sym‐ bolische Ausdrucksformen mit diskursiven Aussagesätzen kombiniert, ja beide in ein wechselseitiges Erschließungsverhältnis bringt. Weist er den

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Ähnlich das mild-spöttische Urteil Jetters über die Catechismus-Milch: „Eine bloße An‐ fängerlehre hat allerdings Joh. Konrad Dannhauer im Katechismus nicht finden mögen“ (Jetter, Art. Katechismuspredigt, 762). Vgl. Bolliger, Methodus, 312 f. Kücherer urteilt, die lehrhafte und mitunter polemische Predigt sei „bei Dannhauer durch und durch seelsorgerlich motiviert“ (Kücherer, Katechismuspredigt, 179), vgl. auch ebd., 200 f. HC, 874: „Omnis scriptura Evangelica in mei consolationem est scripta“. Zu diesem Anspruch, seinen soziohistorischen Bedingungen und Grenzen vgl. Bolli‐ ger, Methodus, 360–362.

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erwartbaren Vorwurf, seinen Hörern mit zahlreichen Allegorien und An‐ spielungen nur ‚die Ohren kitzeln‘ zu wollen, entschieden zurück, ist das – mitunter überschießende – Bemühen um eine abwechslungsreiche Darbie‐ tung mittels solcher Verknüpfungen, die für das ‚Publikum‘ überraschend kommen und damit auch unterhaltsam sein sollen, doch nicht von der Hand zu weisen. Dieses Überraschungsmoment wirkt, wenn Dannhauer etwa zu Mk 1,7 die Skrupel des Täufers, Christus die Schuhriemen zu lö‐ sen, damit kontrastiert, dass dieser bescheidene Mann kurz darauf nicht nur einzelne Knoten der alttestamentlichen Verheißungen aufgelöst, son‐ dern den inkarnierten Gott selbst „gleichsam nackend und bloß im Jordan dargestellt“ habe – von Dannhauer wiederum sogleich auf die Aufgabe eines guten Predigers bezogen! 703 Etwas verwirrend wirkt die Verknüp‐ fung in Passagen wie der folgenden, die ausgehend von der Himmelsleiter verschiedene typologische Ausdeutungen der durch Christus vermittelten Gottesbeziehung verschränkt: „[Der Glaubende] spricht mit David / O hette ich fliegel wie Tauben daß ich flöge / und etwa bliebe. So wird der HErr Christus seine Wunden als Felsritzen öffnen / Er wird als der Himmlische Noa sein Hand außstrecken / sein flüchtiges Täublein in seinen Himmels kasten / hinauf zu sich ziehen und sagen / kom her meine Taube / meine Schöne.“ 704

Ist schon diese Verschränkung von Ps 55,7, einer Christus-Noah-Typo‐ logie ausgehend von Gen 8,9 sowie der Liebeslyrik von Hld 2,13f zu ei‐ nem innigen Bild der individuellen Gottesbeziehung äußerst komplex, setzt Dannhauer die Passage unmittelbar mit einer martialischen Antithese von Jonathan und seinem Waffenträger in 1Sam 14,12 als Bild der Kreuzesnach‐ folge einerseits, dem Angriff der Giganten auf den Olymp als gescheitertem Himmelssturm andererseits fort. 705 Angesichts solcher Beispiele ist doch zu fragen, ob die damit aufgerufenen, tendenziell in sich widersprüchlichen Bilder tatsächlich noch zur Klarheit und eingängigen Vermittlung der Lehr‐ botschaft beitragen. Für die Gliederung seiner Dogmatik wählt Dannhauer aus Gründen der besseren Zugänglichkeit und Memorisierbarkeit das biblische Leitmotiv einer Wanderschaft zum Himmel, das er in einzelne emblematische Teil‐ bilder aufgliedert. 706 Darüber hinaus fügt er in den Text seines Lehrbuchs

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Vgl. CM Bd. 8, 674, Z. 16 f. CM, Bd. 4, 67, Z. 27–32. Vgl. ebd., 67 f. Damit steht Dannhauers Methode zwischen der topischen und der analytischen Glie‐ derung der altprotestantischen Dogmatik, aber tendenziell näher bei einem topischen Dogmatikverständnis.

Zusammenfassung und Ertrag

Tabellen ein, welche begriffliche Distinktionen übersichtlich darstellen sol‐ len. Auch die musikalische Vermittlung und die sakramentale Aneignung spielen für Dannhauer eine wichtige Rolle. 707 Seine Predigtpraxis und sein schriftstellerisches Schaffen sprengen damit – scheinbar gegenläufig zu sei‐ nen Bemühungen um die Erneuerung des aristotelischen Organons und die Vermittlung logischer Grundkenntnisse – ein rein kognitivistisches, auf den Aussagesatz verengtes Lehrverständnis. Diese Vielfalt der visu‐ ellen, auditiven und imaginativen Vermittlungsformen wird dabei nicht allein instrumentell-didaktisch, sondern auch biblisch-theologisch begrün‐ det: Dannhauer beansprucht, damit dem Fingerzeig des Heiligen Geistes und dem Vorbild Jesu Christi selbst zu folgen. 708 Für die These eines ju‐ ridisch-veräußerlichten oder rein kognitivistischen Lehrverständnisses in der Barockzeit wird man sich auf Dannhauer jedenfalls nicht berufen kön‐ nen. Der Glaube bezieht hier vielmehr alle Sinne und Seelenvermögen mit ein, um Gott umfassend mit allen menschlichen Lebensäußerungen die Ehre zu geben. Zweitens ist noch einmal zu herauszustellen, weshalb die Auseinander‐ setzung mit dem lutherischen Gegenprogramm eines evangelischen ‚Syn‐ kretismus‘ zu einem Lebensthema Dannhauers werden musste, dem er nicht nur zahlreiche Streitschriften, sondern auch eine Vielzahl an Predig‐ ten gewidmet hat. 709 Die Schärfe der Abgrenzungen kann aus dem Rück‐ blick – zumal aus der Perspektive nach der Einigung der Leuenberger Kon‐ kordie 1973 – nur verwundern. Doch verweist der Kampf, den Dannhauer und andere Theologen seiner Zeit führen, auf bleibende Einsichten hin‐ sichtlich des Lehrproblems. Zunächst einmal schärft Dannhauers Polemik den Blick dafür, dass bei einer Beurteilung strittiger Lehraussagen die damit verbundenen religiösen Interessen zu berücksichtigen sind. Das religiöse Interesse der Einzelnen hängt faktisch nicht nur an einem unstrittigen Mi‐ nimalbestand christlicher Glaubensaussagen, wie ihn etwa das apostolische Credo bietet. Mitunter sprechen sich zentrale religiöse Interessen gerade in 707 Durch „die heilige Schrifft und deroselben Sigill / die H. Sacramenten“ habe die Kir‐ che noch immer„aequivalentia und gleichgeltige Wort und Windlen“ (CM Bd. 4, 19, Z. 16–18) wie die Hirten in der Weihnachtsgeschichte. Die Sakramente versteht Dann‐ hauer als Siegel der Lehre, weshalb Christus die Amtsträger beauftrage: „vestrum est in Ecclesia, ut docere, ita & doctrinam Sacramento obsignare“ (HC, 782. Dt.: „euch kommt es zu, wie ihr in der Kirche lehrt, so auch die Lehre mit dem Sakrament zu besiegeln“). Zur Bedeutung der Musik siehe die Angaben oben, 191, Anm. 32. 708 Zu sehen etwa in einer kurzen, aber instruktiven Passage zur sowohl disputierenden, als auch gleichnishaften Lehrpraxis Jesu, vgl. HC, 593 f. Das Argument einer sich wech‐ selseitig stützenden Erschließungskraft auditiver und visueller Zugänge zur Lehre wird auch in der Sakramentenlehre aufgegriffen, vgl. ebd., 731 f. 709 Für einen Überblick vgl. Bollinger, Methodus, 212–224.

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scheinbar randständigen und vergleichweise jungen Lehrfixierungen aus, die gleichwohl eng mit der vergewissernden Frömmigkeitspraxis zu tun – etwa in der Sakramentstheologie – oder tiefgreifende soteriologische Kon‐ sequenzen haben – etwa in der Erwählungslehre oder bei der Unterschei‐ dung von Gesetz und Evangelium . 710 Man kann sagen, dass Dannhauer die Notwendigkeit einer soteriologischen Fokussierung der reformatorischen Lehre gegen das abstrakte Ursprungsdenken einer apostolischen Minimal‐ lehre oder auch biblizistische Wesensbestimmungen des Christlichen zur Geltung bringt. Eine sachgemäße Elementarisierung der christlichen Lehre ist nicht einfach durch den historischen Rückgang auf die biblischen oder urchristlichen Anfänge der Lehrentwicklung, sondern durch eine theolo‐ gische Besinnung auf die christologische Mitte des Lehrsystems und den soteriologischen Kern der Evangeliumsbotschaft zu erreichen. Mit dieser Einsicht verbunden ist ein holistisches Verständnis von Lehre, welches konsequent die Verflechtungen der verschiedenen Einzelsym‐ bole und Problemzusammenhänge mitdenkt. Problematisch erscheint al‐ lerdings Dannhauers allzu extensive Bestimmung der unverzichtbaren und unverhandelbaren Lehrgehalte, die das gegen Calixts patristische Reduk‐ tion gerichtete Alternativkonzept der lutherischen Fundamentalartikel we‐ nig brauchbar macht. Wenn nämlich alle durch formal zulässige Vernunft‐ schlüsse aus der wahren Lehre entwickelten Konsequenzen gleich notwen‐ dig sind wie ihre der Schrift entnommenen Prämissen, dann ist dem An‐ wachsen der verbindlichen Lehre nur schwer eine Grenze zu setzen. Es ist diese philosophisch-logische Grundannahme, die das Satis-Prinzip der re‐ formatorischen Bekenntnisse – dem Dannhauer ausdrücklich zustimmt – faktisch aushebelt, so dass eine im gemeinsamen Verständnis des Evan‐ geliums gegründete Kirchengemeinschaft auch nur der reformatorischen Kirchen für ihn undenkbar erscheinen muss. Drittens ist festzuhalten, dass die Lehre bei Dannhauer durchweg chris‐ tologisch zentriert und pneumatologisch vermittelt ist. Christus ist die Sonne, deren Licht durch die Schrift beider Testamente auf dem Leuchter der Kirche erstrahlen soll. Der Glaube ist das vom Heiligen Geist geöffnete geistliche Auge, das fähig ist, dieses Licht zu empfangen. Christus wird bei Dannhauer nicht nur zum Schlüssel der Schrift, sondern zum Schlüssel der Wirklichkeit als ganzer – und diese wiederum vielfach auf Christus hin transparent. Ihre kirchliche Geltung bezieht die Lehre somit ausschließ‐ lich aus einer Offenbarungsbewegung, die von Gott ausgeht, durch die Schrift sowie den Heiligen Geist vermittelt ist und sich schließlich in der

710 Für den Zusammenhang von Lehrbildung und Frömmigkeit mit Blick auf das nachre‐ formatorische Luthertum vgl. auch Sparn, Krise, bes. 61–73.

Zusammenfassung und Ertrag

Predigt fortsetzt, die auf die existenzielle Aneignung als befreiende Wahr‐ heit zielt. 711 In unzähligen emblematisch-allegorischen Anwendungen will Dannhauer dies gegen die fragile Welterfahrung zur Geltung bringen. Eine Überlieferung über die Schrift hinausführender Offenbarungen oder ein kirchliches Traditionsprinzip gibt es in dieser Konzeption nicht, doch wer‐ den mittels dieser pneumatologischen Bewegung auch kirchliche und theo‐ logische Traditionen sowie Traditionsbestände der vorchristlichen Antike in den christologisch zentrierten Symbolraum der Schrift einbezogen. Da‐ bei kann und soll die evangelische Lehre, deren christologische Konturen der geisterfüllten Bibel hinreichend klar zu entnehmen sind, von allen Glaubenden als kritischer Maßstab an alle Traditionen, aber auch die ge‐ genwärtige Gestalt der Kirche angelegt werden. Viertens kann man Dannhauer zugute halten, dass seine Zurückweisung des Synkretismus und seine Skepsis gegenüber rein politischen Friedens‐ projekten zumindest auch auf einem in seiner Zeit durchaus fortschritt‐ lich anmutenden Interesse an der Differenzierung verschiedener Sphären beruht. Dannhauer besteht auf einer Eigenständigkeit der Religion, aber auch der akademischen Wissenschaft gegenüber ihrer politischen Verzwe‐ ckung und Gleichschaltung. Darin drückt sich die Überzeugung aus, dass es unsachgemäß und unzulässig ist, Fragen der Lehre und der Wahrheit allein nach den politischen Opportunitäten zu entscheiden und damit die Gewissen der Untertanen den Machtinteressen der jeweiligen Fürsten un‐ terzuordnen. Wenn Dannhauer daher fordert, dass die konfessionellen Streitigkeiten nicht in einem politischen Burgfrieden stillzustellen, sondern auf einem großen Konzil ganz gründlich und grundsätzlich auszudisputie‐ ren sind, dann erscheint das im Rückblick als reichlich naiv und an der Friedenssehnsucht einer kriegsgeplagten Bevölkerung vorbei argumentiert. Doch dahinter lässt sich, wenn man so will, auch ein frühneuzeitliches Pro‐ gramm dezidiert ‚öffentlicher Theologie‘ erkennen. Ohne dass Dannhauer, der die Fürsten und Stände gerade auf ihrer religiösen Pflicht behaftet, dieses Projekt je gebilligt hätte, kann man bei seiner und vergleichbaren Positionen somit eine unbeabsichtigte Triebkraft hin zur Entflechtung von Konfessionszugehörigkeit und politisch-rechtlicher Staatlichkeit wirksam sehen. Wenn man so interpretiert, dann führen vom Synkretismusstreit aus verschiedene Wege aus der Blockade des ‚Konfessionellen Zeitalters‘ – und es wäre zu diskutieren, ob Dannhauer und die Anti-Synkretisten nicht con‐ tre-cœr Wege für den Umgang mit konfessioneller und religiöser Pluralität aufzeigen, die weiter führen als das ‚synkretistische‘ Projekt eines christ‐

711 Zum Heiligen Geist als Lehrer der Glaubenden vgl. HC, 688; 857 u.ö.

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lichen Minimalkonsenses, wie es sich letztlich in der amerikanischen civil religion niedergeschlagen hat. 712 Die verbreitete Kritik einer Vergegenständlichung des Glaubens, einer lebensfernen Scholastisierung und spekulativen Ausweitung der Lehrge‐ halte durch die altprotestantische Theologie trifft Dannhauers pneuma‐ tologisch grundgelegte, seelsorgerlich auf die immer dynamische und an‐ gefochtene Existenz des Glaubens in der Welt bezogene Konzeption von Lehre jedenfalls nicht. 713 Allerdings kann man ihm ausgehend von den grundlegenden Unterscheidungen des ersten Kapitels dieses Buches vor‐ werfen, dass in diesem maximal ausgeweiteten Lehrbegriff die Unterschei‐ dung der kirchlichen und theologischen Lehre von der predigenden Ver‐ kündigung, vom Sinn der Heiligen Schrift sowie von anderen Ausdrucks‐ formen des persönlich angeeigneten Glaubens verschwimmt. Gerade die pneumatologische Absorption aller kirchlichen Lehr- und Lernvollzüge in Gottes Geistwirken hinein führt dazu, dass die Unterscheidung von Got‐ teswerk und Menschenwerk in der Glaubenskonstitution tendenziell ver‐ wischt wird. Dies freilich ist wiederum die Kehrseite eines positiven In‐ teresses: Die Lehre soll als Bezugspunkt der kirchlichen Vollzüge und der persönlichen Frömmigkeit ins Zentrum gerückt und zugleich durchgängig an das Geschehen der biblisch bezeugten Selbstoffenbarung Gottes rückge‐ bunden werden, damit sie sich im Glauben der Einzelnen als existenzbe‐ stimmende Wahrheit bewähren und in das Gotteslob übergehen kann. 714 Es ist insofern gerade nicht unplausibel, hier einen Zusammenhang mit der pietistischen Frömmigkeit, deren Bekehrungseifer und Heiligungsak‐ tivismus herzustellen. Man kann es zumindest auch so beschreiben, dass Philipp Jacob Spener und andere Pietisten das Programm Dannhauers un‐ ter verändertem Vorzeichen neu aufgreifen und fortschreiben. 715 Sie lö‐

712 Vgl. ähnlich auch Bolliger, Methodus, 386. Für den Versuch, einen geschärften Syn‐ kretismusbegriff für die Beschreibung und Bewertung religiöser Austauschprozesse fruchtbar zu machen, vgl. Sparn, Art. Synkretismus, 552–556. 713 Für die Existenz im christlichen Glauben gilt: „Sic in Christianismo non standum, sed currendum“ (HC, 630. Dt.: „So muss man im Christentum nicht stillstehen, sondern eilen“). Dies wiederum hängt mit der Notwendigkeit zusammen, das ganze Leben von der Buße bestimmt sein zu lassen, vgl. ebd., 828. 714 Zu dieser in ihrer Gesamtheit doxologischen Bewegung der Frömmigkeit vgl. Küche‐ rer, Katechismuspredigt, 172–174; 177; 180. 715 Gegen Verhältnisbestimmungen, die stark auf die Diskontinuität zwischen Dannhauer und seinem Schüler Spener abstellen, vgl. Tholuck: „Dieser Geist war nicht der Spener‐ sche“ (Tholuck, Art. Dannhauer, 482). Ausgewogener formuliert, wird dieses Urteil der Sache nach wiederholt bei Wallmann, Spener, 124: „Wesentlichen Einfluß auf die pie‐ tistischen Gedanken und Bestrebungen Speners kann Dannhauer nicht ausgeübt haben. Aus der Reihe der Wegbereiter des Pietismus wird man ihn besser streichen“. Vgl. auch

Zusammenfassung und Ertrag

sen es aus seinen gesamtkirchlichen Horizont, der die umfassende ‚Mo‐ bilmachung‘ einer mündigen Christenheit von einem Zusammenwirken obrigkeitlicher Bildungspolitik und gelehrter Disputationskunst erwartet. Stattdessen versuchen sie, die christliche Durchwirkung der Gesellschaft ausgehend von einer frommen Avantgarde entschiedener Christen in die Tat umzusetzen. Es ist möglicherweise eher diese strategische Grundent‐ scheidung, wie die Heiligung der Welt am besten zu erreichen ist, und nicht die Verhältnisbestimmung von Lehre und Leben oder auch das End‐ zeitbewusstsein, was einen orthodoxen Schultheologie wie Dannhauer von seinem pietistischen Schüler Spener trennt. Dannhauers barocker Überschwang markiert – das wird im Rückblick deutlich – trotz einer beeindruckenden Durchführung, Dynamik und in‐ neren Vielschichtigkeit des Lehrverständnisses zugleich die Überdehnung einer dem Anspruch nach allumfassenden theologischen Wirklichkeitser‐ schließung im Raum der Lehre. Der Überschwang schlägt daher bald um in eine gegenläufige Tendenz zur Kontraktion und Konzentration. Die Ent‐ wicklung geht ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in Richtung einer weniger ausufernden Darstellungsform, einem strengeren metaphysischen Denk‐ schema und einer nüchtern-praktischen Bibelfrömmigkeit. Damit verbin‐ det sich zunehmend eine Depotenzierung der öffentlichen Lehre gegenüber einem dieser gegenüber verselbständigten Ideal des persönlichen Glaubens‐ lebens. Parallel beginnt eine schrittweise Erosion der barocken Lehrge‐ bäude vom bröckelnden Fundament der Schriftlehre her. 716 Dennoch wird trotz aller Umbauten und verschobener Akzentsetzungen der entscheidende Bruch mit dem reformatorisch-altprotestantischen Lehrverständnis noch nicht im Pietismus und auch nicht mit der Aufklärung vollzogen, wie hier nicht weiter ausgeführt werden soll, aber sich mit Blick auf die Neologie, auf Johann Salomo Semler und Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher durch‐ aus zeigen ließe. 717 Vielmehr wird an dieser Stelle chronologisch ein Sprung gemacht, um direkt zur Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts überzugehen. Diese wollte nicht nur – wie die Aufklärungstheologie oder auch Vertreter des sog. Neuprotestantismus – den Bestand der reformatorischen Lehrfixie‐ rungen kritisch sichten und der frommen Subjektivität ein Widerspruchs‐

ders., Orthodoxie; ders., Eigenart. Für eine pointierte Gegenerzählung vgl. Kücherer, Katechismuspredigt, 214–218. 716 Vgl. Pannenberg., Krise. Vgl. auch Lauster, Krise. Für einen Endpunkt der Entwick‐ lung vgl. Danneberg, Schleiermacher. 717 Für Skizzen zu Schleiermacher und Semler siehe in dieser Arbeit unter 1. sowie unter 1.2.1. Als Überblick über die Entwicklungen zwischen der Barocktheologie und Imma‐ nuel Kant vgl. Axt-Piscalar, Theologie, 167–210.

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Barocker Überschwang der Lehre: J. C. Dannhauer

recht gegenüber allen kirchlichen Lehrautoritäten erkämpfen. 718 Stattdes‐ sen wurde nun im Zuge einer Fundamentalkritik vergegenständlichender Allgemeinaussagen das Verhältnis von Offenbarung und Glaube grund‐ legend neu bestimmt, so dass die Lehrform selbst zunehmend als Selbst‐ missverständnis eines theoretisierenden Glaubens erscheinen musste. Hier kommt es somit zu einer grundlegenden Kritik der Lehraussage als legi‐ timer Aussageform des Glaubens. Ein Theologe wie Dannhauer hätte an‐ gesichts dieser Kritik allerdings wohl kaum sein Lehrverständnis revidiert, sondern eher eine Krise der Predigt diagnostiziert – gelingt es den mo‐ dernen Predigern etwa nicht mehr, mit ihren Veranschaulichungen und Verknüpfungen all den unbewussten Verhörern und gedanklichen Aus‐ weichbewegungen zuvorzukommen, mit denen sich der alte, sündige Adam das überführende Gesetz vom Leib und damit zugleich das tröstliche Evan‐ geliumswort auf Abstand hält?

718 Für eine knappe Charakterisierung dieses spezifischen, sich an spiritualistische Strö‐ mungen und die Aufklärungstheologie anschließenden Programms einer neuprotestan‐ tischen Umformung vgl. Hoffmann, H., Art. Neuprotestantismus.

5 Abkünftigkeit der Lehre? Die Lehrkritik der Wort-Gottes-Theologie Auf den Überschwang der Lehre, den Johann Conrad Dannhauer für diese Arbeit auf exemplarische Weise verkörpert, folgt seit dem Pietismus und der Aufklärung ein schrittweiser Prozess der Erosion ihrer Bedeutung. Das Ideal der umfassenden Heranbildung einer in Fragen der Lehre mündigen Christenheit weicht dem politischen Pragmatismus und wohl auch einer realistischeren Einschätzung der Möglichkeiten, sich als theologischer Laie zunehmend komplexe theologische Systembildungen und Streitfragen an‐ zueignen. So wird die Lehre aus dem Zentrum des theologischen Bemühens und zugleich der kirchlichen Institutionenwelt gerückt – ein Zentrum, das sie in den reformatorischen Bekenntnissen und der konfessionellen Schul‐ theologie des 17. Jahrhunderts beansprucht hatte und zeitweise wohl auch behaupten konnte. Diese Entwicklung vollzieht sich vor dem Hintergrund tiefgreifender Wandlungen im Weltbild, das sich unter dem Eindruck na‐ turwissenschaftlicher Entdeckungen zunehmend vom bis dahin weithin bestimmenden Rahmen einer biblischen, mythologisch und traditional ge‐ bundenen Symbolwelt emanzipiert. 1 Durch den wissenschaftlichen Fort‐ schritt, gesellschaftliche Differenzierungsprozesse und nicht zuletzt den Wandel der herkömmlichen Herrschaftsstruktur verändert sich auch das Verhältnis zur Geschichte, so dass sich der eigene Erwartungshorizont von dem mit den biblischen und antiken Quellen geteilten, weitgehend kohä‐ renten Erfahrungsraum ablöst. 2 Auf dem kirchlich-religiösen Feld setzt sich der Pietismus, für dessen kirchlich-gemäßigte Ausprägung erneut Philipp Jacob Spener stehen kann, ausdrücklich dafür ein, den Namen Christi „mit Lehre / Leben und Leyden zu verherrlichen“ (lat. doctrina, vita & patientia). 3 Allerdings tritt der Streit um die Wahrheit der kirchlichen Lehre gegenüber Fragen der Moral und ei‐ ner unmittelbaren, gemeinschaftlich wie individuell gepflegten Bibelfröm‐ migkeit deutlich in den Hintergrund. Bei Aufklärungstheologen wie Johann Salomo Semler wird sodann die „Hauptsache“ des Christentums darin er‐ blickt, dass der Glaubende „seiner eignen Erkenntnis alles moralisch Gu‐ ten“ und „seinem eigenen Gewissen folgt“, während er sich gleichwohl „alle äußerliche oder öffentliche Religionsordnung gern gefallen“ lasse – sofern diese der Verehrung Gottes und der moralischen Besserung dienen. 4 Alle 1 2 3 4

Für diese Entwicklung vgl. die umfassende Rekonstruktion bei Blumenberg, Genesis. Vgl. dazu klassisch Koselleck, Historia. Vgl. ders., Zukunft. Vgl. Spener, Pia desideria, 18, Z. 15. Semler, Glaubensbekenntniß, 19.

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Abkünftigkeit der Lehre? Die Lehrkritik der Wort-Gottes-Theologie

Christenmenschen dürfen die zu ihrer Privatreligion und ihrem indivi‐ duellen Entwicklungsstand passenden Inhalte aus den neutestamentlichen Schriften „in freier Wahl und Beurtheilung sich gewissenhaft aussuchen“, während daneben „die öffentliche gesellschaftliche Religionsübung einer feststehenden Ordnung folget“. 5 Eine kirchliche Lehrordnung, die sich selbst recht versteht und dem privaten Glauben angemessen Raum gibt, kann dann nicht mehr als eine Art religiöse Vereinssatzung sein. Ihre Ra‐ tifizierung verfolge „nur eine äusserliche Absicht; nemlich die Vereinigung einer großen Menge zu einer besondern christlichen Religionsgesellschaft zu Stande zu bringen“. 6 Hier fällt offensichtlich auseinander, was die refor‐ matorischen Bekenntnisse und die barocke Theologie beisammen halten wollten: Die kirchliche Lehre wird nicht mehr verstanden als Klangkör‐ per des Evangeliums, Nahrungszufuhr für die Glaubenspraxis oder auch hermeneutischer Schlüssel für die ‚freie Untersuchung des Kanons‘, 7 son‐ dern wird herabgestuft zu einer in ihren Einzelbestimmungen größtenteils kontingenten Rahmenordnung gemeinschaftlich-religiöser Vollzüge. 8 Als solche ist sie gewiss nicht bedeutungslos, aber im Alltag eigentlich nur noch für kirchliche Amtsträger und die kirchenleitenden Konsistorialbehörden von Interesse. An der übergreifenden Tendenz, Fragen der Lehre zur Angelegenheit für theologische Spezialisten herabzustufen, ändern auch einzelne Gegenströ‐ mungen, etwa im Neokonfessionalismus des 19. Jahrhunderts, nichts. Zu diesen Gegenströmungen ist auch eine erneute Konjunktur des Lehrbegriffs in der Zeit der Weimarer Republik und des sog. ‚Kirchenkampfs‘ zu rech‐ nen. Dietrich Bonhoeffers 1933 gehaltene Berliner Christologievorlesung erscheint in der Rückschau als Übergangsgestalt. Wie diese Vorlesung do‐ kumentiert, war für Bonhoeffer nach dem Aufschwung der Ökumenischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit und am Vorabend des sog. Kirchen‐ kampfes noch unstrittig: „Christologie ist Lehre, Rede, Wort vom Wort Gottes.“ 9 Dabei werde die positive Christologie von einzelnen Theologen und ihrer Verkündigung sowie der Sakramentsfeier der Kirche zum Aus‐ 5 6 7 8

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Ebd., 47. Ebd., 48. Vgl. Semlers programmatische Schrift, die mit als Initialzündung einer historisch-kriti‐ schen Exegese gilt: Semler, Abhandlung. Zur kontingenten Herkunft und partikularen Geltung von Lehrsätzen vgl. Semler, Glau‐ bensbekenntniß, 49 f. Zu Semlers Urteil über die Konkordienformel vgl. Baur, Bekennt‐ nis, 268. Bonhoeffer, Christologie, 280f (Herv. TG). Als „unsichtbare, unerkannte, verborgene Mitte“ (ebd., 281) der Wissenschaft steht die Christologie für Bonhoeffer jenseits von Geistes- und Naturwissenschaft, in denen der menschliche Logos ihm zugängliche Ge‐ genstände souverän in Ursachen- oder Sinnzusammenhänge einordnet.

Abkünftigkeit der Lehre? Die Lehrkritik der Wort-Gottes-Theologie

druck gebracht, während die nur negativen Grenzbestimmungen der kri‐ tischen Christologie als „Sache der offiziellen Kirche“ auf den Konzilien autoritativ bestimmt worden seien. 10 Gegen die „heutigen ökumenischen Konzilien“ verteidigt er dabei nicht zuletzt die Praxis der Lehrverwerfung, denn der Begriff der Häresie sei „ein notwendiger, unaufgebbarer Faktor für die bekennende Kirche“ und der „Lehre gegenüber muß die Irrlehre stehen, sonst weiß man nicht, was Lehre ist“. 11 Die Kirche habe zwar, wie Bonhoeffer in der nahezu zeitgleich gehaltenen Ekklesiologievorlesung von 1932 fordert, keine moralische Reinheit auf Kosten ihrer „Solidarität mit der sündigen Welt“ anzustreben, doch müsse sie umso unbedingter um „Zucht, Reinheit der Lehre“ kämpfen. 12 Ihren Niederschlag findet diese Besinnung auf die konstitutive Funktion der Lehre für das Kirchesein der Kirche in Bekenntnissen wie dem Betheler Bekenntnis (1933) und der Bar‐ mer Theologischen Erklärung (1934), die den Lehrbegriff insbesondere bei der Verwerfung der Gegenpositionen aufgreifen und sich auch in ihrer li‐ terarischen Gattung an reformatorische Lehrbekenntnisse anlehnen. 13 Trotz aller Hochschätzung dieser Zeugnisse einer angesichts politischer Übergriffigkeit kämpferischen, kompromisslos nach der Wahrheit streben‐ den Kirche blieb diese Renaissance der rechten Lehre im deutschen Pro‐ testantismus ein vergleichsweise kurzes Zwischenspiel. So konstatierte Jörg Baur bereits 1974: Die „fortwirkende Prävalenz der zu kirchlicher Lehre hin fortentwickelten dialektischen Theologie“ sei bereits wieder beendet, wäh‐ rend die „Probleme und Tendenzen des totgesagten Neuprotestantismus“ erneut die Debatten beherrschen. 14 Die Gesamtentwicklung, die zu diesem

10 Ebd., 316. 11 Ebd. Die Verurteilung der Häresie erwachse folglich „der Liebe und nicht aus der Lieb‐ losigkeit der Kirche“ (ebd.), weil ansonsten der Bruder nicht als abtrünniger Bruder, sondern als Heide betrachtet würde. Vgl. auch entsprechende Passagen in der vorange‐ gangenen Ekklesiologievorlesung, Bonhoeffer, Wesen, 286f; 300 f. 12 Ebd., 299 f. Vgl. ebd., 301: „Häresie der Lehre ist scharf zu bekämpfen“. Unbedingt zu vermeiden sei in der ökumenischen Verständigung ein „Schein der Einheit“, der die „Zerrissenheit nicht nur der Form, sondern auch der Wahrheit“ (ebd., 300) überdecke. Allerdings müsse jede Kirche „darauf verzichten, die Einheit der Wahrheit darzustellen“, und habe deren Zerrissenheit „als Kreuz zu tragen“ (ebd., 301). 13 Vgl. Bonhoeffer, Betheler Bekenntnis. Vgl. Heimbucher/Weth (Hg.), Barmer Theo‐ logische Erklärung, 30–43. Zur Interpretation der Barmer Theologischen Erklärung vgl. Axt-Piscalar, Verständnis. 14 Baur, Lehre, 223. Für eine Charakterisierung des Neuprotestantismus vgl. Hoffmann, H., Art. Neuprotestantismus. Entgegen dieser Klage sind gerade für die 70er und 80er Jahre noch einige profilierte Beiträge zum Lehrbegriff zu finden, bevor die Diskussion in den 90er Jahren tatsächlich weitgehend abbricht. Dazu gehören neben den im Literatur‐ verzeichnis erfassten Beiträgen J. Baurs auch die Texte von W. Huber, I. U. Dalferth und E. Herms, die unten ausführlicher besprochen werden.

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Ergebnis geführt hat, ist nun auch für Baur nur als das Zusammenwirken verschiedener Traditionsstränge und Trends, die aus jeweils unterschiedli‐ chen Gründen eine Distanzierung vom Lehrbegriff erzwingen, umfassend zu beschreiben. Der ‚neuprotestantischen‘ Lehrkritik stellt er daher das un‐ ausweichliche Scheitern neo-orthodoxer und restaurativer Projekte gegen‐ über. Deren Undurchführbarkeit resultiere daraus, dass eine „benennbare und auch juridisch funktionable kirchliche Autorität“ im Protestantismus von Anfang an nicht zu realisieren war und nur mehr „in Gestalt einer offenen Wunde“ präsent geblieben sei. 15 Die innere Pluralisierung des Pro‐ testantismus und die Zersetzung der einheitlichen Lehre wäre spätestens nach der kurzen Periode der Orthodoxie des 17. Jh. nur noch „um den Preis horrender Barbarisierung und Versektung“ zurückzudrängen gewesen. 16 In seinem eigenen Vorschlag zur Behandlung des Lehrproblems knüpft Baur insbesondere an Karl Barths Kirchliche Dogmatik an. 17 Zentral er‐ scheint für ihn dabei eine klare Unterscheidung von Evangelium und Lehre, wobei die Evangeliumsbotschaft zu verbinden vermag, was die Lehre tren‐ nen muss. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist – wie bereits oben unter 1.1 in der Einleitung dargelegt wurde – zu beobachten, dass der Begriff der Lehre als Reflexionskategorie der Dogmatik größtenteils verschwunden und auch in der Kirche der Diskurs über die rechte Lehre weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Zweifellos wirkt zum einen die aus der Aufklärung (und nicht zuletzt der aufklärerischen Aneignung der Reformation) stammende, durch die liberale Theologie trotz mancher Differenzierung grundsätzlich immer wieder reproduzierte Gegenüberstellung von heteronom-kirchli‐ chem Dogmatismus und individuell-autonomer Privatreligion noch immer fort. 18 Zum anderen hat gerade das Festhalten konservativer Theologen am Begriff der Lehre und der Versuch, notfalls kirchenordnende Maßnahmen gegen als Fehlentwicklung begriffene theologische Innovationen durchzu‐ setzen, den Lehrbegriff diskreditiert. Angesichts solcher antimodern-auto‐ ritären Bezugnahmen auf ein oft ungeschichtlich verstandenes Ideal rei‐ ner Lehre scheint der aufklärerisch-liberale Vorbehalt gegenüber der Lehre

15 Baur, Lehre, 224. 16 Ebd. Aufgrund der ihrer Struktur nach ganz analogen Probleme des Katholizismus emp‐ fehle sich auch das „vergleichsweise eindeutige römische Modell“ (ebd.) nicht als echte Alternative. 17 Vgl. Baur, Lehre, 239–243. Vgl. Barth, K., KD Bd. I/2, § 20, 598–740; § 22, 848–874. Man beachte zudem Barths These des Dogmas als eines eschatologischen Begriffs, die seither oft als Formel aufgegriffen wird, vgl. KD Bd. I/1, § 7, 284 f. 18 Für eine knappe Darstellung dieser Kritik anhand von A. Harnack vgl. Slenczka, Theo‐ logie, 44–51.

Abkünftigkeit der Lehre? Die Lehrkritik der Wort-Gottes-Theologie

durchaus berechtigt. Bezüglich dieser zwei Traditionslinien, ihrer ausge‐ sprochenen und unausgesprochenen Prämissen ist Baurs Rekonstruktion also zuzustimmen. Doch ohne die Bedeutung der ‚neuprotestantischen‘ oder liberal-theolo‐ gischen Kritik am Lehrbegriff bestreiten zu wollen, erscheint eine weitere, vielleicht sogar entscheidende Entwicklungslinie der Lehrkritik ausgeblen‐ det. Einen ersten Anhalt für diese Linie können dabei wiederum Bemer‐ kungen aus Bonhoeffers Christologievorlesung bieten, an denen eine spe‐ zifische Ambivalenz im Umgang mit dem Lehrbegriff sichtbar wird. Dort heißt es: „Gegenüber dem Versuch, Christus als doctrina, als allgemeine Wahrheit [zu verste‐ hen], behauptet die Kirche Christus als Sakrament und das sagt, daß er nicht doctrina in seinem Wesen ist. Damit ist dem Irrtum gewehrt, als sei Christus nur Idee und nicht Geschichte und Natur zugleich.“ 19

Ein zentrales Motiv der Umformungen, die Bonhoeffer in seiner Vorle‐ sung an der traditionellen Christologie vornimmt, ist daher: die Erkennt‐ nis einzuschärfen, dass Christus „Wort Gottes im Sinne der Anrede“ ist und keinesfalls „zeitlose Wahrheit“, „sondern in den konkreten Augenblick hineinbrechende Wahrheit als die Anrede Gottes an uns“. 20 Gänzlich unan‐ gemessen sei daher, wenn „vom Wesen Gottes und vom Wesen des Men‐ schen in einer zuschauerhaften, theoretisierenden Weise geredet wird“. 21 Entscheidendes Ergebnis seiner kritischen Christologie ist für Bonhoeffer, dass bezüglich des Gott-Menschen Christus alle „Denkformen der Ding‐ lichkeit“ ausgeschieden werden müssen. 22 Das katholische Lehrverständnis kritisiert er scharf als eine „Verdinglichung und Verrationalisierung“ der göttlichen Wortoffenbarung. 23 Was bedeutet es aber, wenn zunehmend auch das protestantische Lehrverständnis der reformatorischen und nach‐ reformatorischen Zeit in dieses Verdikt einbezogen wird? Als dritte Tradition neben Neuprotestantismus und konservativer Neo-Orthodoxie tritt damit eine Wort-Gottes-Theologie auf den Plan, die den Lehrbegriff auf der Grundlage seiner strikten Unterscheidung vom Offenbarungsereignis zu bestimmen versucht und damit auf ihre 19 Bonhoeffer, Christologie, 301 (Herv. TG). Zum hier vorausgesetzten Begriff von Idee vgl. ebd., 298 f. 20 Ebd., 298. 21 Ebd., 339. 22 Ebd. Archetypisches Modell dieser kritischen Christologie, die unangemessene Denkfor‐ men zugunsten der positiven Selbstoffenbarung des in Wort, Sakrament und Gemeinde gegenwärtigen Christus pro me aufhebt, ist für Bonhoeffer insbesondere die Definition von Chalkedon mit ihrer bewusst-paradoxen Struktur, vgl. ebd., 328. 23 Bonhoeffer, Wesen, 292.

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Weise ebenfalls zur Erosion seiner kirchlichen wie theologischen Stellung beigetragen hat. Diese Strömung der Theologie ist dadurch charakterisiert, dass der Wort-Gottes-Begriff zu einer „fundamentaltheologischen Letztbe‐ gründungskategorie“ avanciert, die Wortoffenbarung Gottes erscheint als der „transzendentale Ausgangspunkt aller Theologie“. 24 Während der Reformierte Karl Barth auch in seinem Lehrverständnis produktiv an die reformatorische und nachreformatorische Theologie an‐ geknüpft hat, 25 dürfte eine besonders mit Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann verbundene, dezidiert lutherische Tradition der Wort-Gottes‐ Theologie für das Verschwinden der Lehre aus der theologischen Refle‐ xion eine überaus durchschlagende Wirkung entfaltet haben – durch die dreifache Anschlussfähigkeit an Motive aufklärerisch-emanzipatorischer Lehrkritik, die exegetisch-historische Dekonstruktion einer kontinuierli‐ chen und teleologischen Lehrentwicklung sowie das kirchliche Bemühen um eine zeitgemäße Aktualisierung des reformatorischen Erbes. Nicht zu‐ letzt zeichnet sich diese theologische Kritik einer lehrhaft verfassten oder am Lehrbegriff orientierten Theologie in den Rahmen einer breiteren, geis‐ tesgeschichtlichen Strömung ein, die von der Idealismuskritik Søren Kier‐ kegaards und Friedrich Nietzsches ausgeht und der ungeachtet aller Unter‐ schiede etwa die Philosophen Martin Heidegger, Eberhard Grisebach und Martin Buber zugeordnet werden können. 26 Diese über die Grenzen der Theologie hinausweisende Konstellation dürfte entscheidend zur nachhal‐ tigen Abwendung von einem Theologieverständnis, das sich am Lehrbegriff orientiert, beigetragen haben. Gegenwärtig ist es insbesondere diese In‐ fragestellung des Lehrbegriffs, auf die jeder Versuch, den Lehrbegriff zu rehabilitieren oder zu transformieren, eine überzeugende Antwort finden muss.

24 Körtner, Art. Wort-Gottes-Theologie, 362. Vgl. auch als pointiert-kritische Rekon‐ struktion Dalferth, Radikale Theologie, 90–93; 139–155. 25 Der Beitrag Karl Barths auch zur lutherischen Diskussion um das Lehrverständnis soll keinesfalls bestritten, aber wird im Rahmen dieser Arbeit als eigene Fragestellung aus‐ geblendet werden. Neben den bereits in Anm. 17 zitierten Abschnitten der Kirchlichen Dogmatik vgl. dazu besonders Barth, K., Kirche. 26 Bei Kierkegaard begegnet wiederholt eine direkte Zurückweisung des Lehrbegriffs mit Blick auf das Christentum: „Das Christentum ist keine Lehre (So kam das ganze Unwesen der Orthodoxie auf, mit dem Streit um dies und jenes, während die Existenz völlig un‐ verändert bleibt [...]), sondern eine Existenzmitteilung. Aus dem Grunde wird mit jeder Generation von vorn begonnen, [...] Christus hat keine Dozenten eingesetzt – sondern Nachfolger“ (Kierkegaard, Tagebücher, Bd. 3, 50). Vgl. auch ders., Nachschrift, 550 f. In dieser Abgrenzung von der konfessionellen Orthodoxie seiner Zeit verbindet Kierkegaard pietistische Motive mit nachidealistischer Philosophie.

M. Heidegger: Vorhandene Wahrheit?

In der folgenden Teilstudie soll diese These überprüft und die Struktur dieser Lehrkritik ausgehend vom Ereignis des Wortes Gottes anhand dreier Vertreter rekonstruiert werden. Dabei wird eine kontinuierliche – von I. U. Dalferth rückwirkend aus sichtbare – Rezeptionslinie verfolgt. Den Anstoß und bleibenden Bezugspunkt dieser Rezeptionslinie bilden Überlegungen R. Bultmanns (5.2), wobei zur Einordnung dieser Kritik zunächst einige zentrale Gedanken M. Heideggers rekapituliert werden (5.1). Es folgt W. Hubers Zuspitzung dieser Lehrkritik, die auf eine strikte Antithese von Glaube und Lehre herausläuft, womit auch die Theologie in Gegensatz zur Lehre tritt (5.3). Schließlich wird I. U. Dalferths Vorschlag gewürdigt, den Lehrbegriff zumindest für die kirchliche Binnenkommunikation zu rehabi‐ litieren, was allerdings mit einer problematischen und letztlich ‚instabilen‘ Verdoppelung des Theologiebegriffs einhergeht (5.4). 5.1 M. Heidegger: Vorhandene Wahrheit? Wenn man die Kerygmatheologie Rudolf Bultmanns als ein charakteris‐ tisches Beispiel der Wort-Gottes-Theologie in den Blick nimmt, fällt im Unterschied zu anderen Vertretern dieser Strömung die starke – grund‐ sätzlich affirmative, wenn auch nicht völlig unkritische – Aufnahme von Theorieelementen und Begriffen Martin Heideggers auf. Weil Heidegger als philosophischer Gesprächspartner für Bultmann auch hinsichtlich der Behandlung des Lehrproblems wichtige Anstöße liefert, sind hier zunächst einige Grundzüge derjenigen Philosophie Heideggers zu erinnern, wie sie in dessen frühem Hauptwerk Sein und Zeit begegnet. 27 In Sein und Zeit geht es Heidegger darum, die ontologische Frage nach dem Sinn von Sein neu freizulegen. Dazu bedient er sich einer phänomeno‐ logischen Methode, die das Dasein als zunächst gegebenen Seinscharakter befragt und in seine existenzialen Strukturmerkmale auseinanderlegt, d.h. analysiert. 28 ‚Dasein‘ ist dabei der ontologische Terminus, den Heideg‐ ger zur Bezeichnung des Menschen verwendet, um sich des verfestigten und seiner Ansicht nach verkürzten Vorverständnisses der philosophi‐ schen Anthropologie zu entledigen. 29 Im Folgenden kann keine umfas‐ sende Interpretation dieser Fundamentalanalyse des Daseins erfolgen, doch soll diese hinsichtlich ihres begrifflichen Gerüstes so skizziert werden, dass 27 Für die hier gebotene Interpretation Heideggers sei besonders verwiesen auf: Wellmer, Sprachphilosophie, 281–403. Vgl. auch den Kommentar von Dreyfus, Being-in-theWorld. 28 Zur phänomenologischen Methode vgl. SuZ, 27–39. 29 Vgl. ebd., 45–50. Aus demselben Grund vermeidet er die Begriffe Subjekt und Person.

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die eigentümliche Begrifflichkeit Heideggers in Erinnerung gerufen wird (5.1.1). Im Anschluss daran wird mit Heideggers Wahrheitsverständnis der philosophisch-theologische Anknüpfungspunkt für Bultmanns Lehrkritik markiert (5.1.2). 5.1.1 Grundzüge der Fundamentalanalyse des Daseins Dasein hat für Heidegger die existenzial-ontologische Struktur der Er‐ schlossenheit. 30 Diese Erschlossenheit lasse sich auseinanderlegen in die gleichursprünglichen Seinsweisen der Befindlichkeit und des Verstehens. Die Befindlichkeit erschließe die „Geworfenheit“ oder „Faktizität der Über‐ antwortung“, die das Dasein als In-der-Welt-sein kennzeichne. 31 Das Ver‐ stehen habe dagegen den Charakter eines Entwurfs, der – auf diesem un‐ mittelbaren Weltbezug aufruhend – die Seinsmöglichkeit des Daseins als einen „Spielraum[] des faktischen Seinkönnens“ eröffne. 32 Beiden gleichur‐ sprünglich sei wiederum die Rede, in der das Dasein sich artikuliert und ausspricht. 33 Der Befindlichkeit, dem Verstehen und der artikulierten Rede gemeinsam sei die Als-Struktur der „Auslegung von Etwas als Etwas“, wobei in der Auslegung immer schon Bezug genommen werde auf Sinn, das heißt: auf das durch „Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs“. 34 Das Dasein ist für Heidegger somit bestimmt als das „verfallend-er‐ schlossene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein“. 35 Diese Struktur‐ ganzheit erscheint als das ontologische Existenzial der Sorge, das immer schon „Erschlossenheit des Daseins“ in sich berge, insofern es die Struktur eines „Sichvorweg“ aufweise. 36 Deutlich zeigt sich hier das Interesse Hei‐ deggers, statische Begriffsverhältnisse durch dynamische Beschreibungen zu ersetzen. An der Struktur der Sorge zeige sich die spezifische Zeitlichkeit

30 Vgl. ebd., 133. Vom Dasein gelte, dass ihm Seiendes nicht durch ein anderes vermittelt erscheine, sondern „daß es selbst die Lichtung ist“ (ebd., Herv. im Orig.). 31 Ebd., 135. Im Orig. kursiv. Auf diese Weise erschließe sie in der Stimmung „je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes“ (ebd., 137. Im Orig. kursiv), als Bedingung dafür, dass das Dasein „von innerweltlich Begegnendem angegangen werden kann“(ebd. Herv. im Orig.). 32 Ebd., 145. Die dem Dasein spezifische Erschlossenheit sei die Sicht, die sich als Umsicht auf Zuhandenes, als Rücksicht auf Mitdasein oder als Durchsichtigkeit auf die Existenz selbst beziehe, vgl. ebd., 146. 33 Vgl. ebd., 160–166. 34 Ebd., 150 f. Im Orig. teilw. kursiv. 35 Ebd., 181. Im Orig. kursiv. Das Dasein weise so etwas wie eine „ontologische Zirkelstruk‐ tur“ (ebd., 153) auf, wobei der Begriff des Zirkels sich eigentlich auf Vorhandenes bezieht und daher irreführend ist. 36 Ebd., 220. Herv. im Orig. Vgl. auch ebd., 192 f.

M. Heidegger: Vorhandene Wahrheit?

und Geschichtlichkeit des Daseins: „Dem entwerfenden Sichverstehen in einer existenziellen Möglichkeit liegt die Zukunft zugrunde als Auf‐ -sich-zukommen aus der jeweiligen Möglichkeit, als welche je das Dasein existiert.“ 37 Die Sorge richte sich in der Modifikation des Besorgens auf Zuhandenes (d.h. „Zeug“, mit dem es seine Bewandnis hat), in der Modifi‐ kation der Fürsorge auf das Mitdasein anderer oder schließlich als Aussage auf Vorhandenes und dessen Eigenschaften (d.h. Seiendes in seiner bloßen Dinglichkeit). 38 Während in der besorgenden Umsicht das Zuhandene noch als Zeug mit einer bestimmten Bewandnis erfasst, also etwa ein Werkzeug ganzheitlich mit seinen Gebrauchsmöglichkeiten und den damit verknüpften Praktiken zusammengeschaut werde, abstrahiere die theoretische Aussage von diesem Gebrauchszusammenhang auf die bloße Gegenständlichkeit des Gegen‐ standes oder einzelne, mit dieser statisch verknüpfte Eigenschaften. 39 Das Zuhandene werde so zum nur mehr Vorhandenen, die Aussage verändere sich von der „mitteilend bestimmende[n] Aufzeigung “, die noch in der Ge‐ sprächssituation wurzele, zur „puren hinsehenden“, also theoretischen Auf‐ weisung. 40 In diesem Sinne ist für Heidegger alle Theorie abkünftig – der grundlegenden existenzial-hermeneutischen Beziehung entnommen und dieser äußerlich geworden, aber faktisch noch immer untergründig „in der existenzialen Analytik des Daseins verwurzelt“. 41 Der λόγος dieser Aussage kann schließlich, wie in der antiken Ontologie geschehen, selbst als ein Vor‐ handenes, nämlich als das „Zusammenvorhandensein mehrerer Wörter“ begriffen werden. 42 Ausgehend von dieser Analyse verschiedener Seinsarten liegt nahe, dass es sich auch bei der Lehre und ihren Lehraussagen, sofern sie unter den Seinsmodus der Aussage zu fassen sind, um ein abkünftiges Verhältnis des Daseins zum sich erschließenden Seienden handelt. Sie erscheinen als einer ursprünglich-lebendigen Beziehung des Daseins auf seine Welt beraubt. Ihr scheinbarer Vorzug – die Allgemeinheit und Indexlosigkeit der Aus‐ sage ohne eigentlichen Sprecher und konkrete Gesprächssituation – wird tendenziell zu einer ontologischen Minderung, einem Mangel an Sein. Wie aber sieht demgegenüber das eigentliche Verhältnis zur Wahrheit aus? 37 Ebd., 336. Das Strukturmoment des Sich-vorweg bezeichnet Heidegger im Modus der Eigentlichkeit als „Vorlaufen“ , im Modus der Uneigentlichkeit als „Gewärtigen“, vgl. ebd., 336 f. 38 Vgl. ebd., 181. 39 Zur Aussage vgl. ebd., 153–160; bes. 158. 40 Ebd., 156. Im Orig. kursiv. 41 Ebd., 160. Zur Abkünftigkeit der Aussage als „Vorhandenheitsbestimmung“ vgl. auch 157 f. 42 Ebd., 159. Im Orig. teilw. kursiv.

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Abkünftigkeit der Lehre? Die Lehrkritik der Wort-Gottes-Theologie

5.1.2 Wahrheit als Entdeckend-Sein des Daseins Als Kulminationspunkt der Frage nach der Sorge, also der ursprünglichen Ganzheit der existenzialen Struktur des Daseins, behandelt Heidegger das Problem, was der Begriff Wahrheit bedeutet und in welchem Verhältnis er zum Begriff des Seins steht. 43 Dabei handelt es sich nach Aussage Heideg‐ gers um einen Neuansatz der Untersuchung, der die bisherige Analyse noch einmal in einen anderen Zusammenhang stellt. Seinen Ausgang nimmt Heidegger von einer Diskussion des traditionellen Wahrheitsbegriffs der Adäquationstheorie, dessen Definition sachlich – wenn auch nicht wört‐ lich – auf Aristoteles zurückgehe. Wahrheit werde dort bestimmt als das Beziehungsganze der Übereinstimmung eines Urteils und seines Gegen‐ standes. 44 Dabei werde allerdings die „Struktur einer Übereinstimmung zwischen Erkennen und Gegenstand im Sinne einer Angleichung eines Sei‐ enden (Subjekt) an ein anderes (Objekt)“ vorgestellt, also eine Beziehung nach dem Modell des Zusammenseins schon vorhandener Dinge unter‐ stellt. 45 Der eigentliche „Ausweisungsvollzug“ einer Erkenntnis bestehe aber nicht in einem Abgleich von vorhandenen Vorstellungen, Wahrnehmungs‐ daten oder Bewusstseinsinhalten, sondern im „Entdeckend-sein der Aus‐ sage“. 46 Erkenntnis habe sich darin zu bewähren, „daß sich das Ausgesagte, das ist das Seiende selbst, als dasselbe zeigt.“ 47 Daher bedeute auch das Wahrsein einer Aussage, dass diese das „Seiende in seiner Endecktheit“ sehen lasse. 48 Wahrheit sei gleichbedeutend mit Unverborgenheit von Sei‐ endem „im Wie seiner Entdecktheit“. 49 Sei das aussagende Erkennen als

43 Vgl. ebd., 284: „Das Sein des Daseins ist die Sorge. Sie befasst in sich Faktizität (Gewor‐ fenheit), Existenz (Entwurf) und Verfallen.“ Der enge Zusammenhang von Wahrheit und Sein sei bereits in der philosophischen Tradition, insbesondere im griechischen Denken, vorgegeben vgl. ebd., 212 f. 44 Vgl. ebd., 214 f. Mit diesem Wahrheitsbegriff sei daher die Ansicht verbunden, dass Wahr‐ heit ihren ursprünglichen Ort im aussagenden Urteil habe. 45 Ebd., 218 f. 46 Ebd., 218. 47 Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. Vgl. ebd.: „Bewährung bedeutet: sich zeigen des Seienden in Selbigkeit. Die Bewährung vollzieht sich auf dem Grunde eines Sichzeigens des Seienden.“ (Im Orig. teilw. kursiv). 48 Ebd. In der griechischen Philosophie habe dieses vorphilosophische Verständnis von Wahrheit als Grundbedeutung von ἀλήϑεια immer neben der logischen Adäquations‐ theorie fortbestanden, vgl. ebd., 219; 225 f. 49 Ebd., 219. Im Orig. kursiv.

M. Heidegger: Vorhandene Wahrheit?

Entdecken notwendig auf reales Seiendes bezogen, so sei es auch „ontolo‐ gisch nur möglich auf dem Grunde des In-der-Welt-seins“. 50 Zum Abweg des traditionell-metaphysischen Wahrheitsbegriffs kommt es laut Heidegger, indem in einem ersten Schritt die ausgesprochene Aus‐ sage über ein Entdecktes „zu einem innerweltlich Zuhandenen“ werde, „das aufgenommen und weitergesprochen werden kann“. 51 Sobald nun die so in der Aussage verwahrte Entdecktheit nicht mehr als eigene Haltung zum Sein nachvollzogen wird, sondern „durch Hörensagen des Gesag‐ ten zugeeignet“, verändert sich die Art der Ausweisung ihrer Wahrheit. 52 Diese beziehe sich nämlich in einem zweiten Schritt auf die in der Aussage verwahrte Entdecktheit wie auf ein Vorhandenes: „Der Bezug erhält aber durch die Umschaltung seiner auf eine Beziehung zwischen Vorhandenen jetzt selbst Vorhandenheitscharakter.“ 53 Diese verdinglichende Tendenz des traditionellen Wahrheitsbegriffs ergibt sich für Heidegger also daraus, dass die Unterschiede der Seinsart sowie des entdeckenden oder aufzei‐ genden Bezugs zum Seienden eingeebnet werden – in Aussagen über bloß Vorhandenes. Da dieses ontologisch abkünftige Verständnis von Wahr‐ heit der alltäglich-anonymen Seinsart des Man entspreche, liege es dem Dasein ontisch-faktisch näher und trete daher in der Geschichte der On‐ tologie auch früher auf. Es erscheint nun unmittelbar plausibel, diese Hei‐ degger’sche Figur einer Abstraktion von der ursprünglichen Entdecktheit über die Zwischenstufe des Zuhandenen zur bloßen Aussage auch kritisch auf religiöse Sprachformen – etwa die lehrhafte Rede über ursprüngliches Offenbarungsgeschehen – zu beziehen. 54 Der geworfene Entwurf des Daseins steht für Heidegger nun unter der grundlegenden Alternative, sich entweder von der Welt und dem ande‐ ren her oder „aus seinem eigensten Seinkönnen“ zu verstehen. 55 Deshalb 50 Ebd. Die Relativität der Wahrheit auf das Sein des Daseins bedeute keinen Subjektivis‐ mus in dem Sinne, dass dieser daseinsrelativen Wahrheit keine Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit zukommen könne, vgl. ebd., 227. 51 Ebd., 224. 52 Ebd. 53 Ebd. Vgl. die Zusammenfassung ebd., 225: „Die Entdecktheit des Seienden rückt mit der Ausgesprochenheit der Aussage in die Seinsart des innerweltlich Zuhandenen. Sofern sich in ihr als Entdecktheit von ... ein Bezug zu Vorhandenem durchhält, wird die Entdecktheit (Wahrheit) ihrerseits zu einer Vorhandenen Beziehung zwischen Vorhandenen (intellec‐ tus und res).“ (Im Orig. teilw. kursiv oder gesperrt). 54 Dies liegt nicht zuletzt auf der Fluchtlinie der These einer Hellenisierung des Christen‐ tums durch die Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und Kultur, wie sie insbesondere Adolf Harnack formuliert und mit ihr trotz aller theologischen Differenzen auch in der Wort-Gottes-Theologie viele Nachfolger gefunden hat. Vgl. Harnack, We‐ sen, bes. 189–206. 55 SuZ, 221.

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unterscheide sich „das Phänomen der ursprünglichsten Wahrheit im Mo‐ dus der Eigentlichkeit“ von einem Sein in der Unwahrheit des Scheins, wobei das Dasein als faktisch-geworfenes „zunächst und zumeist“ schon dem unpersönlichen Man verfallen sei. 56 Dieses Man entlaste das Dasein als neutrisches, ort- und zeitloses Subjekt der Alltäglichkeit durch „Abstän‐ digkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung“ von seiner persönlichen Verant‐ wortung. 57 Wo es dem Man verfallen sei, begreife sich das Dasein selbst un‐ eigentlich nach dem Modell der „puren Vorhandenheit“, ohne tatsächlich dieser Seinsart anzugehören. 58 Das In-der-Unwahrheit-sein der Verfallen‐ heit an das Man gehöre somit existential-ontologisch gleichursprünglich mit dem In-der-Wahrheit-sein zur Existenz des Daseins. 59 Mit der Er‐ schlossenheit des Daseins und der Entdecktheit von Seiendem bleibe daher zugleich immer auch Dasein verschlossen sowie anderes Seiendes verstellt: „Die Wahrheit (Entdecktheit) muß dem Seienden immer erst abgerungen werden“ durch das Dasein, welches das „Entdeckte gegen den Schein und die Verstellung sich ausdrücklich zueignen und sich deren Entdecktheit immer wieder versichern“ müsse. 60 Im Gegensatz zum Dasein des Man in seiner Entfremdung sei das Dasein in seiner Eigentlichkeit charakterisiert durch Selbstsein und „Entschlos‐ senheit“. 61 Diese sei ein „ausgezeichneter Modus der Erschlossenheit des Daseins“, welche wiederum als die „ursprüngliche Wahrheit“ zu interpre‐ tieren sei. 62 Die Entschlossenheit sei gerade darin die eigentliche Wahrheit des Daseins, dass sie sich die Unwahrheit zueigne und der Zweideutigkeit des Man aussetze, ohne sich davon anfechten zu lassen. 63 Das Dasein in der Uneigentlichkeit des Man, das sich vom vorfindlich Seienden in der Welt her versteht, besteht für Heidegger nur als gleichursprüngliche, aber abkünftig-verfallende Modifikation des eigentlichen Daseins in seinem un‐ verstellten Bezug zur sich erschließenden Wahrheit. Die Anschlussfähigkeit dieser Gedankenfiguren für die Theologie liegt darin begründet, wie hier zwei Verhältnisse zum Seienden oder auch der 56 Ebd., 220. 57 Ebd., 127. 58 Ebd., 130. Das Verfallen an die Welt bzw. die Entfremdung charakterisieren den Seins‐ modus der Alltäglichkeit als Uneigentlichkeit, vgl. ebd., 166f; 175–180. 59 Vgl. ebd., 222. 60 Ebd. Herv. im Orig. 61 Vgl. ebd., 296–310. 62 Ebd., 297. Im Orig. teilw. kursiv. 63 Vgl. ebd., 299. Auf diese Weise verlange die eigentliche Wahrheit „ein gleichursprüngli‐ ches Gewißsein als Sich-halten in dem, was die Entschlossenheit erschließt“ (ebd., 307): die Situation der Entscheidung zur Wiederholung als der entschlossenen Aneignung des Geworfenseins im Angesicht der Angst.

R. Bultmann: Kerygmatisches Ereignis und Lehraussage

sich erschließenden Wirklichkeit gegenübergestellt werden. Das eine Ver‐ hältnis bezeichnet den unverstellten Umgang mit der Wahrheit selbst in einer je aktuellen, immer neu erschlossenen Gegenwart, wobei das mensch‐ liche Dasein sich und seine Bestimmung vom Ausgriff auf die Zukunft her versteht. Das andere Verhältnis ist von der Vergangenheit her dominiert und von den Sachen selbst durch begriffliche Abstraktionen geschieden, wobei sich das Dasein selbst mit den unbelebten Dingen und einer von Kausalität beherrschten Dingwelt gemein macht. Dazwischen steht der Ruf zur Entscheidung, der mit der Wiederholung eine Art Umkehr zum Eigent‐ lichen anstoßen will. Diese Grundfigur lässt sich – relativ unabhängig von einzelnen Details der Fundamentalanalyse Heideggers – auf biblische Duale wie Sünde und Gerechtigkeit, Unglaube und Glaube, Fleisch und Geist oder den Alten und den Neuen Menschen beziehen. 64 Man kann es so kon‐ struieren, dass der Mensch angesichts von Bußruf und Kerygma vor einer strukturanalogen Entscheidung steht: Entweder er versteht sich uneigent‐ lich von abgeleiteten, vorfindlichen Aussagen über den Gott entfremdeten Menschen her, nimmt den Seinscharakter eines der Sünde immer schon verfallenen Man an und gerät als Schuldiger unter die unpersönliche Do‐ minanz seiner Vergangenheit. Oder er ergreift sich im Glauben eigentlich von einer ursprünglichen Erschlossenheit der Wahrheit her und versteht sich ganz neu im Horizont der Offenbarung. Eine solche Übertragung der Daseinsanalyse in reformatorische Denkfiguren hat insbesondere Rudolf Bultmann vorgenommen. 65 Sein zentrales Anliegen ist dabei, gegenüber Heidegger das Recht der Theologie angesichts der existenzphilosophischen Infragestellung ihrer ‚orthodoxen‘, metaphysischen Gestalt zu behaupten. 66

5.2 R. Bultmann: Kerygmatisches Ereignis und Lehraussage Rudolf Bultmann (1884–1976) gehörte zum Kreis um die Zeitschrift Zwi‐ schen den Zeiten und war vorübergehend Weggefährte, später theologischer Konkurrent Karl Barths und Friedrich Gogartens innerhalb der Aufbruchs‐ bewegung der sog. Dialektischen Theologie. 67 Seine besonderen Verdienste liegen in der formgeschichtlichen Exegese des Neuen Testaments, wobei 64 Zur Transformation der Sündenlehre bei Heidegger vgl. Dalferth, Sünde, 308–316. 65 Zu Bultmanns Verhältnis zu Heidegger vgl. Grossmann, Art. Bultmann. 66 Vgl. etwa Bultmann, Enyzklopädie, 89–93. Für Heideggers Positionierung hinsichtlich der Theologie vgl. etwa SuZ, 226–229. 67 Zur Biographie und theologiegeschichtlichen Kontextualisierung Bultmanns vgl. Ham‐ mann, Bultmann. Für Bultmanns Theologieverständnis vgl. Jüngel, Glaube, 16–77.

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vor allem sein umstrittenes Entmythologisierungsprogramm heftige De‐ batten auch innerhalb der kirchlichen Öffentlichkeit auslöste. Neben der Untersuchung neutestamentlicher Texte war Bultmann immer auch mit systematisch-theologischen Fragestellungen befasst. Dass er diese Fragen in enger Rückbindung an das Neue Testament verhandelt, ist dabei nicht nur eine biographisch bedingte, persönliche Schwerpunktsetzung, sondern bewusste Realisierung des reformatorischen Programms einer schriftge‐ bundenen Theologie. 68 Bultmanns Kritik am Lehrbegriff ausgehend vom Ruf des Kerygmas wird zunächst anhand eines frühen Aufsatzes umrissen, der die Begriffe ‚Kirche‘ und ‚Lehre‘ auf ihren neutestamentlichen Sinn zurückführen will (5.2.1). Anschließend wird Bultmanns systematische Darstellung der theo‐ logischen Aufgabe in seiner posthum veröffentlichten Theologischen Enzy‐ klopädie mit Blick auf das Lehrverständnis rekonstruiert (5.2.2). Es folgen einige ergänzende Beobachtungen anhand seines Vortrags Theologie und Wissenschaft, der Gedanken der Enzyklopädievorlesungen aufgreift und noch einmal auf die Einzeldisziplinen bezieht (5.2.3). 5.2.1 Kirche und Lehre im Neuen Testament In seinem Aufsatz Kirche und Lehre im Neuen Testament zielt Bultmann darauf, das christliche Verständnis von Kirche und Lehre ausgehend von der neutestamentlichen Schriftbasis zu klären. Jeder exegetisch-theologi‐ schen Frage dieser Art liege nun immer schon ein Vorverständnis zu‐ grunde, welches „durch die Befragung des Neuen Testaments geklärt, ver‐ tieft oder korrigiert werden soll“. 69 Deshalb geht Bultmann zunächst von schwach konturierten Vorbegriffen von Kirche und Lehre aus, wie sie bei der Frage nach der neutestamentlichen Bedeutung dieser Begriffe immer schon vorausgesetzt sind. Das Vorverständnis von Kirche präsentiert diese laut Bultmann als Kul‐ tusgemeinde, die in ihrem kultischen Vollzug Gottes Gegenwart erfahre und sich zu diesem Zweck „an Ort, Zeit und bestimmte, traditionelle Wei‐ sen des Verhaltens“ gebunden wisse. 70 Als einer „durch Taten und Worte der Gottheit berufene[n] Gemeinde“ sei der Kirche der Rückbezug auf ihr Ursprungsgeschehen und folglich auch die Überlieferung dieser Ur‐ sprungsgeschichte in Form von Tradition eingeschrieben. 71 Die Gottes‐ 68 Vgl. Axt-Piscalar, Art. Augustin. 69 KuLNT, 153. Dieses Verfahren wird von Bultmann auch als die Transformation von Vor‐ urteilen in Vorfragen bezeichnet. 70 Ebd., 153 f. 71 Ebd., 154.

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gegenwart im Kultus der Gemeinde bestimme die Kirche als eschatolo‐ gische Größe: Sie begehe ihren Kultus im „eschatologische[n] Jetzt“ und sei daher selbst ein „‚eschatologisches‘ Faktum“. 72 Das Vorverständnis von Lehre ist für Bultmann dagegen weniger eindeutig zu bestimmen. Als Lehre könne zunächst jede „durch Worte gegebene Mitteilung“ eines bislang un‐ bekannten Sachverhalts bezeichnet werden. 73 Entscheidend sei hier, dass eine „Welt im Charakter des Vorhandenen, Stillhaltenden, im reinen Sehen Erfaßbaren“ und damit ein Daseinsverständis des Menschen vorausgesetzt sei, in dem sich dieser „selbst als vorhandener (als Glied des Kosmos)“ erfasst. 74 In diesem Fall werde Lehre als „bloße Wissensmitteilung“ über „vorgekommene oder vorkommende Weltereignisse“ verstanden, die als Vorhandene einer distanzierenden Betrachtung zugänglich seien. 75 Un‐ ter diesen Bedingungen sei allerdings fraglich, ob durch Lehre dem Men‐ schen überhaupt neue „Daseinsmöglichkeiten“ erschlossen werden kön‐ nen. 76 Wenn durch Lehre tatsächlich „etwas Neues erkannt und gesagt“ werden soll, dann ist dies für Bultmann nur unter der Voraussetzung mög‐ lich, dass zunächst dieses statische Daseins- und Seinsverständnis durch‐ brochen wird. 77 Dem Menschen müsse dazu – so Bultmann – ein schlechthin neues Selbst- und Weltverständnis aufgehen. Er müsse erkennen, dass sein Da‐ sein den „Charakter geschichtlichen Seins“ habe, das „jeweils auf dem Spiele steht“ und „dessen Möglichkeiten jeweils im Entschluß, in der Entschei‐ dung von ihm ergriffen werden“ müssen. 78 Dazu dürfe die Lehre aber nicht distanzierend Abstand von der geschichtlichen Situation nehmen, sondern müsse vollständig in diese eingehen, ganz der Situation zugehören und statt dem Mitteilungscharakter den „Charakter der unmittelbaren An‐

72 Ebd. 73 Ebd. 74 Ebd., 156. Dabei ist für Bultmann nicht entscheidend, ob es sich um Tatsachenwissen im eigentlichen Sinn oder um darin vorausgesetztes Prinzipienwissen handelt, das durch die Belehrung nachträglich durchsichtig gemacht wird, denn: „In jeder Mitteilung von Fak‐ tischem bewährt, erweitert oder modifiziert sich das Prinzipien-Wissen; und durch jede Modifikation des Prinzipienwissens wird mein Verständnis des Faktischen modifiziert“ (ebd., 155). 75 Ebd., 159. 76 Ebd., 157. Im Orig. teilw. kursiv. 77 Ebd., 156. 78 Ebd. Herv. im Orig. Ein neues Selbstverständnis sei nie durch „objektiv-neutrale Beleh‐ rung“ zu erreichen , sondern einer „Selbstexplikation des Lehrers“ (ebd., 157) müsse eine persönliche Stellungnahme des Belehrten, mithin ein Bekenntnis entsprechen.

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rede“ annehmen. 79 Diese Anrede als Kerygma wiederum finde echtes Gehör nur durch „geschichtliches Verstehen“, das selbst ein „geschichtlicher Akt“ und das Ergreifen einer Daseinsmöglichkeit sei. 80 Für Bultmann ist dieser Anredecharakter zugleich das zentrale Merkmal, welches das christliche Kerygma als „kirchlich-kultisches Reden“ gegenüber anderen Redeformen auszeichnet. 81 Er sprenge das Vorverständnis von Lehre als Mitteilung über Vorhandenes, das potentiell immer das Auseinandertreten von Lehre und Leben als eine fatale „Zerreißung von Denk- und Lebensakt“ nach sich ziehe. 82 Gleichzeitig bleibt das Kerygma aber auch für Bultmann immer auf Mitteilung von Fakten angewiesen und damit eben doch ‚Lehre‘ in einem gewissen Sinn. Diese Fakten seien allerdings nie in der Welt vorfindli‐ che Gegenstände, sondern verweisen auf „göttliche Taten, Ereignisse einer Heilsgeschichte, kurz ‚eschatologische‘ Fakten“, die „als solche nicht für die Durchforschung der Welt entdeckbar“ sind. 83 Im Fall des Kerygmas sei zudem das mitgeteilte Faktum nicht nur äußerlich mit dem Vollzug der Mitteilung verbunden, sondern notwendig so darin eingeschlossen, dass „das Wort zur Sache selbst gehört“. 84 Durch das eschatologische Ereignis der kerygmatischen Anrede werde das Dasein in eine geschichtliche „Situa‐ tion der Entscheidung“ gestellt, die ihm eine je neue und jeweils „konkrete Möglichkeit“ erschließe. 85 Die Heilstat Gottes begründe die „Möglichkeit der Wahl und damit das neue Sein des Christen“, das nicht mehr „Sein als Vorhandensein in einer Zuständlichkeit“ sei, sondern sich geschichtlich als

79 Ebd., 157 f. Modelle für diesen Anredecharakter sind etwa die „Aussprache eines Befehls oder einer Bitte“, der Ausdruck von Dank oder eine „Erklärung der Liebe oder des Hasses“ (ebd., 157) – also das, was man heute oft als performativen Sprechakt bezeichnet. 80 Ebd., 159. Im Orig. teilw. kursiv. Alles Selbstverstehen sei von der Art, dass es „nur im Entschluß festgehalten“ (ebd., 157) werde; Verstehen allgemein habe immer „den Charakter des ‚Hörens‘, des Sich-Angeredet-Wissens, der Entscheidung“ (ebd., 160). Zu Bultmanns Zentralbegriff Kerygma vgl. kompakt Körtner, Art. Wort-Gottes-Theologie, 364. In der impliziten Gegenüberstellung von Sehen bzw. theoretischem Betrachten und Hören verbindet Bultmann Heidegger’sche Motive mit der reformatorischen fides ex au‐ ditu, vgl. dazu auch Jüngel, Glauben, 57 f. 81 KuLNT, 158. Im Orig. teilw. kursiv. Grundsätzlich könne jede Faktenmitteilung auch als indirekte Anrede aufgenommen werden, vgl. ebd., 159. Ein spezifisch indirekter Anrede‐ charakter charakterisiere etwa die Tradition, die „selbst zu der Geschichte gehört, über die sie berichtet“ (ebd., 160), und die die Hörenden anredet, weil und insofern sie selbst an der durch die Tradition gestiftete Gemeinschaft partizipieren. 82 So prägnant formuliert in TheoNT, 599. 83 KuLNT, 158. Im Orig. teilw. kursiv. 84 Ebd., 160. 85 Ebd., 161. Im Orig. teilw. kursiv.

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Gehorsam gegenüber Christus vollziehe. 86 Jede distanzierende Abwägung zwischen Alternativen sei hier ausgeschlossen – dem Kerygma entspreche nur die Entscheidung des Glaubens, „in der ich mich selbst wähle und dadurch ein Neuer werde“. 87 Was das christliche Kerygma ist, bestimmt Bultmann durch eine negative Abgrenzung von vergegenständlichenden Sprachformen, die den Hörer in einer Distanz zum Gehörten verweilen lassen, die als Aussage der Situation gegenüber relativ unabhängig bleiben und bei denen Mitteilung und Mitgeteiltes auseinandertreten können. Das Kerygma ist immer unmittelbar-aktuelle Anrede und damit gerade nicht Lehre im Sinne des Vorverständnisses. Wie aber kam dann überhaupt zu einer Lehrbildung innerhalb der Kir‐ che? Von der Verkündigung Jesu gilt laut Bultmann, dass diese noch reines Kerygma und „primär direkte Anrede“ gewesen ist. 88 In ihr begegnen keine Elemente theoretisch-betrachtender Lehre, weil das Faktum der Gottes‐ herrschaft, auf das sie sich beziehe, ein strikt zukünftiges und zudem in keiner Hinsicht innerweltliches Faktum gewesen sei. Die wenigen mitzutei‐ lenden Fakten bei Jesus können seinem Kerygma gänzlich implizit bleiben, da er „Kultus und Gesetz wie die alttestamentliche Tradition überhaupt in ihrer Geltung voraussetzt und das prophetische Kerygma fortführt“. 89 Zudem sei hier alles Denken „in den Dienst des Tuns gestellt“, so dass es nirgends zu einem distanziert-spekulierenden „Reden über“ kommen könne. 90 Die Lehre in der Kirche lasse sich somit nicht auf Jesus selbst und die Ursituation der Nachfolge zurückführen. Dennoch sei im Kerygma Jesu bereits eine „theoretische Besinnung des Menschen über sein Vor-Gott-ge‐ stellt-sein angelegt“. 91

86 Ebd., 172. Christus sei der „Kultgott“ (ebd.), den die eschatologische Gemeinde der Kir‐ che verehre. Bultmann grenzt den neutestamentlichen Kirchenbegriff hier strikt gegen das Selbstverständnis hellenistische Kulte, aber auch den Gottesdienst der jüdischen Syn‐ agoge ab, die durch ein Übergewicht des Traditionsbezugs ihren eschatologischen Hori‐ zont verloren bzw. diesen als nur futurische Messiaserwartung verengt haben, vgl. ebd., 163. Erst bei Paulus und Johannes (und noch nicht bei Jesus!) sei der präsentisch-escha‐ tologische Charakter dieser Kultversammlung voll zur Geltung gebracht. 87 Ebd., 161. Herv. im Orig. Zu den paulinischen Grundlagen dieser Interpretation des Ke‐ rygmas als einer Befähigung des Menschen, „von seiner Vergangenheit frei zu werden“ (ebd., 169), vgl. ebd., 168 f. 88 Ebd., 172. Herv. im Orig. 89 Ebd., 175. In diesem Zusammenhang bekräftigt Bultmann seine bekannte These, dass Jesus noch vollständig „innerhalb der jüdischen Kirche“ (ebd.) verbleibe. 90 Ebd., 173. Im Orig. teilw. kursiv. 91 Ebd. Jesus selbst habe keine Lehre über seine Person vorgetragen, doch sei „in dem Ruf zur Entscheidung angesichts seiner Person implizit eine ‚Christologie‘ enthalten“ (ebd., 174) gewesen.

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Im Unterschied zu Jesus waren laut Bultmann christliche Missionare wie Paulus gezwungen, für ihre Hörer „die im Glauben gegebene Erkenntnis zu explizieren“ sowie diese gegenüber einer „doppelten Front“ von Juden‐ tum und Hellenismus zu verteidigen. 92 Angesichts dieser doppelten Front‐ stellung treten das „Kerygma als direkte Anrede“ und die „Theologie als indirekte Anrede“ auseinander. 93 Die bei Paulus nun auch explizit darge‐ botene Lehre sei allerdings im Kern immer „Mitteilung des Heilsfaktums“ und als diese immer zugleich „Anruf, Frage der Entscheidung, Einladung“ geblieben. 94 So sei das eschatologische Heilsfaktum auch bei Paulus keines‐ falls als schlicht gegebenes und „vorfindliches Weltfaktum“ zu verstehen. 95 Die Mitteilung des Heilsfaktums als „durch das Heilsfaktum autorisierte Predigt“ gehöre „selbst zum Heilsfaktum“ und sei daher „keine bloß zufäl‐ lige und nebensächliche Vermittlung“. 96 Auch alle ‚Lehre‘ bei Paulus (bei Bultmann hier bewusst in Anführungszeichen) sowie in der nachfolgen‐ den christlichen Kirche sei folglich nur als Anrede zu verstehen: „indirekte, sofern sie berichtet, direkte, indem sie umschlägt in den Apell [sic] (2Kor 5,20ff)“. 97 Werde die Kirche mit ihren kultischen und sakramentalen Voll‐ zügen „durch dies Kerygma konstituiert“, so werde ebenso „das Wort durch die Kirche konstituiert“, da es „nicht durch seinen zeitlosen Sinngehalt, sondern als autorisierte, in der Tradition weitergegebene Predigt“ zur kon‐

92 Ebd., 175. So musste gegenüber dem Judentum der Messiasbegriff revidiert sowie „der absolute Anspruch der Tradition zu einem relativen degradiert werden“ (ebd.). Gleich‐ zeitig musste gegenüber der hellenistischen Gnosis festgehalten werden, dass die christli‐ che Glaubenserkenntnis sich nicht vom Glaubensgehorsam abgelöst als „spekulierendes Betrachten“ (ebd., 176) vollziehen dürfe. Vgl. ebd., 182–184. Die Frage nach der theolo‐ giegeschichtlichen Plausibilität dieser Konstruktion spielt hier keine Rolle. 93 Ebd., 176. Paulus sei daher im Unterschied zu Jesus „wirklich Theologe“ (ebd. Herv. im Orig.) gewesen. 94 Ebd., 177. Die paulinische Evangeliumsverkündigung baue zudem auf das im Gesetz ge‐ gebene „Vorverständnis“ auf, welches für Juden und Heiden strukturell identisch sei, vgl. ebd., Anm. 2. Vgl. auch Jüngel, Glauben, 40 f. 95 KuLNT, 177. Im Orig. teilw. kursiv. Eine spezifische „Zweideutigkeit“ (ebd., im Orig. kursiv) liege darin begründet, dass das eschatologische Heilsfaktum unlöslich mit dem Weltfaktum der Kreuzigung verbunden ist. Diese Behauptung eines (abgründigen) Welt‐ faktums als Heilstat Gottes mache das Kerygma zur Torheit. 96 Ebd., 180. Dies hängt für Bultmann direkt mit einem angemessenen Offenbarungsbe‐ griff zusammen: Offenbarung sei „primär ein Geschehen, nicht eine Wissensmitteilung“ (ebd., 178). Das gepredigte Evangelium erschließe eine neue „Möglichkeit des Verstan‐ denwerdens“ (ebd., 179. Im Orig. kursiv), aber verschließe sich zugleich jeder „neutralen Betrachtung“ (ebd.). Das „Verkündigtwerden als Geschehen“ (ebd.) gehöre selbst zur Of‐ fenbarung, so dass es schlechthin „keinen Weg hinter die Predigt zurück“ (ebd., 180) in die Unmittelbarkeit der Christusbegegnung geben könne. 97 Ebd.

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kreten Anrede werde. 98 Das Wort Gottes im Menschenwort der Predigt ist zunächst und zuvorderst Kerygma, dem allein der unbedingte Gehorsam des Glaubens entspricht. Die Frage nach dem erforderlichen Grad einer – im engeren und ei‐ gentlichen Sinne lehrhaften – Explikation des glaubenden Verstehens, die unweigerlich „in die Begrifflichkeit der Zeit“ zu erfolgen hat, lässt sich in diesem Rahmen unterschiedlich beantworten. 99 Grundsätzlich gelte: „Im Kerygma ist eine Theologie begründet, die als kritisch-polemische Lehre je nach den Erfordernissen explizit werden muß, und die, wie sie selbst im Gehorsam be‐ gründet ist und selbst der Vollzug des Gehorsams sein muß, so als solcher Vollzug den Gehorsam fortführt und die in ihm begründete Christusgemeinschaft vollen‐ det.“ 100

Die Unvermeidbarkeit von Lehre ist für Bultmann also nicht aus dem Ke‐ rygma selbst, sondern aus dessen Verteidigung gegen geschichtliche Ent‐ stellungen und äußere Angriffe zu begründen. Lehre ist begriffliches Sedi‐ ment einer Verschmelzung von eschatologischem Kerygma und geschicht‐ licher Situation, damit aber immer zeitgebunden, kritisier- und überholbar. Jede sachgemäße Gestalt der christlichen Theologie bleibe „kritisch-po‐ lemische, indirekte Anrede“, die „das Kerygma in der Form diskutierter Lehre“ und damit immer gebrochen zum Ausdruck bringe. 101 Dazu habe sich „theologische, theoretische Lehrarbeit“ als Glaubensgehorsam und in Verpflichtung gegenüber dem Kerygma zu vollziehen. 102 Als diskutierte und diskutable Explikation des glaubenden Verstehens bleibt jede Gestalt theologischer Lehre der Kritik vom Kerygma her un‐ terworfen. „Keiner Kritik aber unterliegt das Kerygma, das als Anrede, die ja Gehorsam fordert, nicht von einer neutralen Basis aus beurteilt werden kann, sondern gerade die Preisgabe des eigenen Urteils verlangt.“ 103 Auf‐ grund dieses Gegensatzes sei „grundsätzlich genau zwischen Kerygma und Theologie zu unterscheiden“. 104 Faktisch lasse sich in der theologischen 98

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Ebd., 180 f. Im Orig. teilw. kursiv. „Kirche und Wort gehören also zusammen“ (ebd., 181) wie Luther das für den Glauben und Gott behauptet hatte, sie lassen sich nicht trennen und gegeneinander ausspielen. Ebd. Die Theologie sei dabei begriffliche „Explikation des glaubenden Verstehens“, die „immer neu vollzogen“ (ebd., 186) werden müsse. Ebd. Die typischen Frontstellungen dieser Polemik sieht Bultmann bereits durch die urchristlichen Abgrenzungen von Judentum und Gnosis angezeigt, vgl. ebd., 183–186. Ebd., 186. Herv. im Orig. Ebd., 181. Theologisches Fragen müsse durch das Kerygma motiviert sein und die Theo‐ logie dürfe daher nicht ausgehend von einem allgemeinen Wissenschaftsbegriff entwor‐ fen werden. Ebd., 186. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd.

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Praxis aber beides unmöglich sauber trennen, da ja das Kerygma wesentlich in die geschichtliche Situation eingehe und sich daher ebenfalls „immer nur in der Begrifflichkeit menschlichen Redens“ ausspreche. 105 Damit aber sei im konkreten Fall nie eindeutig zu bestimmen, „was das Kerygma ist, wieviel und welche Sätze es umfaßt“. 106 Das Kerygma ist als ereignishafte Anrede das implizite Ziel und inneres Korrektiv der Lehre, das in keine Einzelgestalt eingeht, aber von diesen auch nicht einfach abtrennbar ist. Bultmann nimmt somit in diesem frühen Aufsatz eine folgenreiche Un‐ terscheidung vor zwischen dem eschatologischen Geschehen der kirchli‐ chen Verkündigung sowie den damit untrennbar verbundenen Aspekten der Anrede und der Mitteilung des Heilsfaktums einerseits, den kritisch‐ polemischen Lehrbildungen und Artikulationen der Theologie anderer‐ seits. Das eschatologische Kerygma wird der Lehre vor- und übergeordnet, die so ihren direkten Bezug auf das Offenbarungsgeschehen verliert. An‐ ders als die Lehre hat das Kerygma als Wort Gottes „keinen allgemein angebbaren Inhalt“, sondern verweist letztlich auf eine formale Struktur der Anrede sowie das berüchtigte „bloße Dass des Gekommenseins Christi“. 107 Die aufgrund geschichtlicher Gefährdungen dieser Kerygma-Struktur un‐ vermeidliche Lehre ist selbst nicht Offenbarung und auch keine direkte Emanation des Offenbarungsgeschehens, nicht einmal Raum und Medium der Offenbarung. Der Gesamtkomplex von Verkündigung, Glaube und Theologie bleibt zwar unterschieden von einem allgemeinen Vorverständ‐ nis der Lehre, das diese nach dem Modell des Tatsachen- oder Prinzipien‐ wissens als Mitteilung in der Welt vorhandener Sachverhalte und Grund‐ sätze missversteht. Dennoch steht die kirchliche Lehre als – bestenfalls – zeitgebundene Umgrenzung des Verkündigungsraums hier immer in der Gefahr, zur bloßen Mitteilung über Vorfindliches abzusinken, den eschato‐ logischen Charakter des Glaubens zu verfehlen oder diesen gar – analog zu Bultmanns typologischen Konstruktionen des Judentums oder der Gnosis – zu verstellen. Das Kerygma geht nur in die Sprachform von Lehraussagen ein, um diese im Ereignis der unmittelbaren Anrede erneut zu durchbre‐ chen.

105 Ebd. 106 Ebd. Vgl. in einem späteren Text die Anmerkung: „Der abstrakte Unterschied von Ke‐ rygma und Theologie in concreto nicht vorhanden“ (Bultmann, Theologie, 461, Anm. 11). 107 Körtner, Art. Wort-Gottes-Theologie, 365 f.

R. Bultmann: Kerygmatisches Ereignis und Lehraussage

5.2.2 Bultmanns theologische Enzyklopädie In seinen Vorlesungen zur theologischen Enzyklopädie, die Bultmann erst‐ mals für das Sommersemester 1926 konzipiert und bis 1936 mehrfach in überarbeiteter Form wiederholt hat, geht es ihm um die „Bestimmung der Theologie von ihrem Gegenstand her“. 108 Dabei hat ihm zufolge die Theologie ihren Gegenstand nicht einfach als empirische Gegebenheit oder von einer externen Wissenschaftslehre zugewiesenen Bereich zu überneh‐ men. Zur genuin-theologischen Aufgabe gehöre es, dass „sich die Theologie selbst aufs Spiel setzt in der Frage, ob sie einen ihr eigentümlichen Ge‐ genstand hat und ob sie, wenn sie ihn hat, durch ihn sich in ihrer Arbeit wirklich bestimmen läßt“. 109 In diesem enzyklopädischen Zusammenhang kommt Bultmann auch auf das Thema der Lehre zu sprechen: Die Theologie diene zwar „einer Kirche, deren Aufgabe auf alle Fälle die Verkündigung, die Predigt, die Lehre ist“, doch sei sie dennoch nicht angemessen bestimmt als „Wissenschaft von dem, was die rechte Lehre ist“. 110 Jedenfalls gehe diese Bestimmung dann in die Irre, wenn die Theologie damit meint, als Wissenschaft schon im Besitz ihrer wissenschaftlichen Wahrheit zu sein. Stattdessen suche sie ihre Wahrheit und habe daher auch erst zu fragen: „Was ist die rechte Lehre?“ 111 Soll Theologie es mit der rechten Lehre zu tun haben, könne diese ihr nicht einfach als „die richtige Theologie“ vorgegeben, sondern nur das Resultat theologischer Arbeit als im Vollzug „aufzudeckender Gegenstand“ sein. 112 Hier wird bereits deutlich, dass Bultmann im Namen einer dynamisieren‐ den und aktualisierenden Theologiekonzeption Kritik an einer Theologie

108 Bultmann, Enzyklopädie, 7. Im Orig. kursiv. Lassen sich auch zwischen den verschie‐ denen Vorlesungen einige Verschiebungen identifizieren, fallen diese doch für die hier behandelte Fragestellung nicht ins Gewicht. Für nahezu jede hier zitierte Äußerung las‐ sen sich sachlich parallele Aussagen aus verschiedenen Auflagen heranziehen, weshalb auf eine nach Auflagen differenziertere Rekonstruktion verzichtet wird. Zu Bultmanns theologischer Enzyklopädie vgl. Körtner, Art. Enzyklopädische Theologie. Für eine In‐ terpretation im Horizont des Gesamtwerks vgl. auch Jüngel, Glauben. 109 Bultmann, Enyzklopädie, 12. Zu diesem Wagnischarakter der Theologie und damit auch der Existenz als Theologe vgl. auch ebd., 15 f. 110 Ebd., 13. Im Orig. teilw. kursiv. Bultmann grenzt sich insbesondere von E. Troeltsch und verwandten Konzeptionen ab, die – so Bultmann – „das Christentum als eine geschicht‐ liche Gegebenheit“ betrachten, also als „ein geschichtliches Vorkommnis, das in der Religions-, der Geistes-, der Kulturgeschichte vorliegt“ und „sichtbar in Institutionen und Lehren, in Kulten und kirchlichen Verbänden“ (ebd., 11) einer persönlich distan‐ zierten Untersuchung zugänglich ist. 111 Ebd., 14. 112 Ebd., 14 f. Im Orig. teilw. kursiv.

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übt, die irrtümlich meint, es in ihren Lehraussagen mit vorfindlichen Ge‐ genständen zu tun zu haben. a) Missverständnisse des Glaubens: Liberale und orthodoxe Theologie Mit dieser offenen Frage nach der rechten Lehre tritt nun aber umgehend das Problem einer Verhältnisbestimmung von Glaube, Offenbarung, Lehre und Verkündigung auf. So könnte man zunächst annehmen, dass die Theo‐ logie den geglaubten Glauben „im Sinne der fides quae creditur“ als die „Summa dessen, was die Kirche, was die Predigt verkündigt“, darzustellen habe. 113 In diesem Fall wäre der Glaube selbst nach dem Modell einer Lehre gedacht, die der Theologie vorgegeben und nur noch „unzweideutig gegen‐ über Verwechslungen mit Häresien festzustellen und zu interpretieren, d.h. für jede Generation verständlich zu machen“ wäre. 114 Aber wäre dann die Theologie nicht eigentlich überflüssig, weil sie sich als verzichtbares Zwi‐ schenglied zwischen den Glauben (lat. fides qua) und seinen Gegenstand (lat. fides quae) schiebt? An der Lösung dieses Problems scheitern, wie Bult‐ mann ausführlich nachweisen möchte, auf ihre Weise sowohl die liberale, als auch die klassisch-orthodoxe Theologie. 115 Die moderne bzw. liberale Theologie setzt laut Bultmann bei der subjek‐ tiven Seite des Verhältnisses an. Sie versuche, sich nicht als „Wissenschaft für den Glauben“, sondern als „Wissenschaft vom Glauben“ im Sinne der fi‐ des qua creditur zu entwerfen. 116 Dieser Glaube verflüchtige sich allerdings zu einem „rein formalen Glaubensbegriff“ ohne für ihn selbst konstitutiven Gegenstandsbezug. 117 Damit verkenne die liberale Theologie zunächst die fides qua creditur, die eben nicht „etwas Formales und Zeitloses“ sei, son‐ dern immer „ein konkretes geschichtliches Verhalten zu einem bestimmten Gegenstand“. 118 Darüber hinaus werde die Wahrheitsfrage hinsichtlich der fides quae aus der Theologie ausgeklammert, an deren Beantwortung der Glaube doch ein vitales Interesse habe. 119 Die Theologie komme auf diesem

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Ebd., 15. Herv. im Orig. Ebd., 16. Vgl. zum Folgenden auch Bultmann, Theologie, 453 f. Bultmann, Enyzklopädie, 17. Herv. im Orig. Ebd., 30. Ebd., 31. Vgl. Bultmann, Theologie, 453. Der von der Gottesfrage bewegte oder vom Wort der Verkündigung getroffene Mensch interessiere sich nicht für die liberal-theologischen Fragen, „ob seine Religion die relativ höchste ist, und ob sie in der menschlichen Kultur eine unentberliche Funktion hat“, sondern wolle „wissen, ob wahr ist, woran er glaubt, bzw. was er glauben darf und soll“(ebd.). Vgl. Jüngel, Glauben, 42–44.

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Weg bestenfalls „zu einem Gottesbegriff, aber nicht zu Gott“. 120 Auch dort, wo wie in der sog. Religionsgeschichtlichen Schule der Individualismus scheinbar überwunden werde und diese Theologie die „Ausprägungen der kirchlichen Lehre“ in den Blick nehme, könne sie diese nur als „Individuali‐ sierungen des christlichen religiösen Lebens unter konkreten historischen, d.h. kausal verständlichen Bedingungen“ verstehen. 121 Auch wenn es der liberalen Theologie gelinge, diese kirchliche Lehre als kohärente Weltan‐ schauung zu konstruieren, werde der glaubende Glaube vergegenständlicht zu einer menschlichen „Haltung, die man sehen kann, ohne ihren Gegen‐ stand zu sehen“ 122 – und die Theologie zur Apologetik, die auf der Grund‐ lage ihr eigentlich fremder Voraussetzungen vergeblich das Recht dieses Glaubens zu verteidigen versucht. Seine Frontstellung gegen die liberale Theologie führt Bultmann aller‐ dings nicht zu der Konsequenz, die Herangehensweise der altprotestanti‐ schen Theologie erneuern zu wollen. Denn versuche man den Gegenstand der Theologie nun im Gegenteil allein durch eine „Besinnung auf die fides quae creditur“ zu bestimmen, drohe ein umgekehrter Abweg mit dennoch strukturell analogem Ergebnis. 123 Diese orthodoxe Theologie erliege einer „Verwechslung von ‚Lehre‘ und ‚Lehre‘, von Kerygma und wissenschaftli‐ cher Theorie“. 124 Sie setze „ihren Gegenstand an ihre eigene Stelle, indem sie aus der fides quae creditur eine Theologie macht“, deren offenbarte Aussagen die Theologie zu übernehmen habe. 125 Glaubensaussagen wer‐ den dann als allgemeine Wahrheiten verstanden und faktisch „diskutable wissenschaftliche Sätze“, weshalb auch die alte oder neue Orthodoxie letzt‐ lich eine christliche Weltanschauung konstruiere – allerdings „keine Ge‐ schichts- und Religionsphilosophie, sondern eine Art altertümlicher Meta‐ physik“. 126 So mache die Orthodoxie ganz gegen die eigene Intention den Glauben zu einer strittigen Wahrheitsbehauptung, die dem wissenschaftli‐ chen Zweifel schutzlos ausgesetzt sei. Um diesem zu begegnen, müsse sie in der Folge einen Willensakt der „Zustimmung zur korrekten Lehre“ verlan‐ gen und den Glauben zur Übernahme von Vorstellungen verpflichten, „die dem Menschen von irgendwoher vorgelegt werden, ohne daß er sie aus sich selbst erzeugen oder einsehen kann“. 127 120 Bultmann, Enyzklopädie, 24. Herv. im Orig. Bultmann setzt sich für dieses kritische Urteil intensiv mit F. Schleiermacher, E. Troeltsch und G. Wobbermin auseinander. 121 Ebd. 122 Ebd., 30. 123 Ebd., 31. Vgl. Jüngel, Glauben, 46–48. 124 Bultmann, Enyzklopädie, 31. 125 Ebd. 126 Ebd., 31 f. Vgl. ebd., 103. 127 Ebd., 32. Vgl. ebd., 97.

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Diese Forderung wiederum sei mit dem Anspruch auf Wissenschaft‐ lichkeit schlechthin unvereinbar. Sei alle Wissenschaft „ihrem Wesen nach kritisch“, zeichne sich die orthodoxe Haltung durch ihre scharfe „Ableh‐ nung der Kritik innerhalb der Theologie, also der Kritik an Schrift und Dogma“ aus – der sie doch durch ihre Vergegenständlichung des Glau‐ bens als allgemeiner Wahrheit erst die Tür geöffnet habe. 128 Weil sie den glaubenden Glauben „zu dem Entschluß macht, nicht einsichtige Gedanken für wahr zu halten“, kann der Glaubensbegriff nicht mehr wie in der re‐ formatorischen Theologie ein Vertrauensverhältnis zu Gott selbst meinen, sondern nur noch den Willensentschluss, „sich einer Lehre zu unterwer‐ fen“. 129 Die Schrift werde zum „Kompendium der Lehre“, dessen Autorität theoretisch durch die Inspirationslehre begründet werden müsse, und der Glaube im Extremfall ein sacrificium intellectus. 130 Damit aber werde auch in der Orthodoxie der Glaube „zu einer menschlichen Haltung, zu einem Abstrakten und Formalen“. 131 Angesichts dieser fatalen Konsequenzen sei die Kritik der liberalen Theologie an diesem metaphysischen Objektivis‐ mus der altprotestantischen Orthodoxie berechtigt, der schließlich durch den Doppelschlag von Erkenntniskritik und Historisierung erledigt werde: Die „sachgemäße theologische wie anthropologische Einsicht“, dass Gott niemals direkt zum Gegenstand menschlicher Erkenntnis gemacht werden könne, konvergiere mit der historisch-kritischen Exegese, die „den Inspi‐ rationsglauben und damit die formale Autorität der Schrift als Lehrbuch endgültig zerstörte“. 132 Beide Wege, der Liberalismus wie die Orthodoxie, bestimmen also das Verhältnis der Theologie zum Glauben und seinem Gegenstand „falsch, 128 Ebd., 32. Gerade dieses „Sich-sträuben gegen die Kritik“ beweise das Missverständnis be‐ züglich der fides quae, da man sonst wüsste, dass „die wissenschaftliche Kritik gar nicht dahin treffen kann, wo der Gegenstand des Glaubens liegt“(ebd.). Das Missverständnis liege offensichtlich auch allen Versuchen zugrunde, den Glauben zu beweisen, vor – „sei es durch eine natürliche Theologie oder überhaupt aus der Vernunft, sei es aus einer Autorität, der Schrift“ (ebd., 31). 129 Ebd., 32 f. In der altprotestantischen Theologie schiebe sich daher der assensus als das „eigentliche Verhältnis“ (ebd., 33) zum Glaubensgegenstand zwischen die notitia und die fiducia. Vgl. ebd., 103. 130 Ebd. Diese „Auffassung des Glaubens als Rechtgläubigkeit“ habe bereits der Pietismus angegriffen, dem allerdings (wie später auch Idealismus und Romantik) durch einen nur formalen Glaubensbegriff „die Intentionalität des Glaubens verlorengeht“ (ebd., 104). Die liberale Theologie sei mit ihrer Kritik am sacrificium intellectus, etwa bei W. Herrmann, im Recht, doch sei hier verkannt, das der christliche Glaube auch konkreter Gehorsam gegenüber dem Offenbarungsereignis sei, vgl. ebd., 151. Zu den Verfehlungen des Glaubensbegriffs durch Irrationalismus und Mystik vgl. Jüngel, Glauben, 44–46. 131 Bultmann, Enzyklopädie 33. 132 Ebd., 104.

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weil untheologisch“. 133 Die strukturelle Analyse des Verhältnisses von Glaubensakt und Offenbarung decke auf, dass die Eigenart der fides qua in beiden Fällen verfehlt sei, weil die fides quae entweder ganz verflüchtigt, zur empirisch-historischen Weltanschauung unter anderen herabgestuft oder als allgemein-zeitlose Wahrheiten missverstanden seien. 134 Immer handelt es sich im Effekt um eine Vergegenständlichung des Glaubensgrundes, der nicht mehr als Ereignis, sondern als ein in der Welt vorfindliches Etwas betrachtet wird. Aufgrund dieses Missverständnisses scheitern liberale und orthodoxe Theologie schon an der ersten Aufgabe einer Wissenschaft: Ihr Wesen „aus ihrem Gegenstand in seiner einzig möglichen Zugangsart zu bestimmen“. 135 Mit der Besonderheit dieses Gegenstandsbezugs wiederum hängt die mehrfach wiederholte Forderung Bultmanns zusammen, dass Theologie zugleich als Wissenschaft vom Glauben und als Wissenschaft von Gott konzipiert werden müsse. Für Bultmann sind im Glauben Gottesund Selbsterkenntnis, Intentionalität und Reflexivität untrennbar verbun‐ den. 136 b) Missverständnisse der Offenbarung: Scholastik und Romantik Sofern die Theologie als Wissenschaft vom Glauben immer auch Wissen‐ schaft von Gott ist, steht sie für Bultmann allerdings erneut vor einem schwerwiegenden Problem. Denn Gott könne keinesfalls so „Gegenstand einer positiven Wissenschaft“ werden, dass ein menschliches Vorverständ‐ nis von ‚Gott‘ , das dem ursprünglichen Lebensverhältnis zur äußeren Welt abgelesen ist, ausgearbeitet und die so gewonnene Erkenntnis „in allge‐ meinen Sätzen fixiert und bereitstellt“ werde. 137 Gott sei keine Funktion des Weltverhältnisses, keine Hypothese und überhaupt kein Gegenüber, zu dem man sich denkend verhalten könnte, denn er sei schon „nicht mehr Gott, wenn er als Objekt gedacht wird, das außerhalb des Denkens ist und diesem gegenübersteht“. 138 Diese Unerkennbarkeit Gottes ist für Bultmann untrennbar verbunden mit der „Unerkennbarkeit des Augenblicks für die

133 Ebd., 34. Vgl. auch Bultmann, Theologie, 453 f. 134 Vgl. Bultmann, Enzyklopädie, 34. 135 Ebd. Zu dieser ersten Aufgabe einer Wissenschaft vgl. auch ebd., 44. Vgl. ferner Bult‐ mann, Wahrheit, 190. 136 Vgl. Bultmann, Enzyklopädie, 34. Vgl. ders., Theologie, 455: Gegenstand der Theologie sei „der Glaube selbst in eins mit seinem Woran“ (im Orig. kursiv). Formuliert und theologisch begründet ist dieses Programm, dem von Bultmann eine reformatorische Einsicht zugrunde gelegt wird, bereits in ders., Sinn. Vgl. auch Jüngel, Glauben, 48 f. 137 Bultmann, Enyzklopädie, 51. 138 Ebd., 55. „Gott ist keine Hypothese“, mit der von bestimmten Tatsachen „auf einen da‐ hinterstehenden Jemand oder ein Etwas geschlossen wird“ (ebd., 62. Herv. im Orig.).

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hinsehende Betrachtung“, da der Mensch auch dem Augenblick nie distan‐ ziert gegenüberstehe, sondern sich diesen nur „im entschlossenen Ergreifen der geforderten Tat und des dargebotenen Schicksals“ aneignen könne. 139 Ist das Programm einer wissenschaftlichen Theologie also doch un‐ durchführbar? Nein, denn Gott wird für Bultmann durchaus erkennbar, sofern er sich selbst durch Offenbarung im Augenblick erkennbar macht: Von Gott könne nur „als dem Herrn, d.h. als dem, der den Augenblick schickt und seinen Anspruch in ihm stellt, die Rede sein“. 140 Dieses keryg‐ matische Offenbarungswort, das in den Augenblick gesprochen werde und diesen mit einem unbedingten Anspruch qualifiziere, könne keine „speku‐ lative Theorie“ oder „allgemeine Wahrheit“ sein, sondern nur „das zufällige geschichtliche je jetzt begegnende Wort“. 141 Streng genommen habe es „nur für meinen Augenblick Sinn“ und müsse „in gewisser Weise auch je neu verstanden (besser: neu gehört) werden“. 142 Der Gegenstand der Theologie sei daher nie in der Weise in seiner „Zugänglichkeit und Verfügbarkeit“ ge‐ sichert, dass eine „im wissenschaftlichen Reden enthaltene Entdecktheit des Gegenstandes in Sätzen verwahrbar“ werde. 143 Offenbarung ist als punk‐ tuelles Geschehen verstanden, das sich im Augenblick der von Gott her erschlossenen Situation ereignet. Dies impliziere, dass theologische Sätze immer nur in einem eingeschränkten Sinne „auf Allgemeingültigkeit An‐ spruch machen“ können, insofern bei ihnen als Vorbehalt der Erkenntnis ein durch die Offenbarung gestiftetes Verhältnis vorausgesetzt sei. 144 Und dies wiederum bedeutet für Lehraussagen, dass auch diese keine aus sich heraus gültigen Aussagen über Gott oder die Offenbarung machen können, sondern bestenfalls nachträgliches Zeugnis oder möglicherweise auch Vor‐ bereitung eines Offenbarungsereignisses sind. Der ursprüngliche Offenbarungsgedanke ist laut Bultmann allerdings in der kirchlichen Tradition schon früh in Vergessenheit geraten. Seit der Scholastik sei Offenbarung fast durchweg als übernatürliche Wissensver‐ mittlung und „Belehrung, durch die bisher Unbekanntes bekannt gemacht und nunmehr gewußt wird“, verstanden worden. 145 Immer werde dabei 139 Ebd., 59. Im Unterschied zu theoretischen oder positivistischen Wissenschaften gelte für die Theologie: „Weder für Gott noch für uns selbst steht uns ein Zuschauerstandpunkt zur Verfügung“ (ebd., 55, Anm. 15). 140 Ebd., 61. Wo dies geschehe, da höre der Mensch „faktisch nichts als den Anspruch“ (ebd., 62). 141 Ebd., 63. 142 Ebd. 143 Ebd., 161 f. 144 Ebd., 162. 145 Ebd., 66. Herv. im Orig. Vgl. ebd., 67–70. In der altprotestantischen Orthodoxie er‐ scheint Bultmann dieses Missverständnis „noch grotesker“ (ebd., 71) als im Katholizis‐

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Gott prinzipiell „als Welt gedacht“ und „vorausgesetzt, daß Gott ein Seien‐ des ist, ein Objekt der Erkenntnis“. 146 Die übermittelte Offenbarungsbot‐ schaft nehme folglich die Aussageform allgemeiner Sätze an, die dennoch – in sich widersprüchlich! – auf eine übernatürliche Weise der Vermittlung angewiesen sein sollen. 147 Grundsätzlich gelte daher mit Wilhelm Herr‐ mann und der liberalen Theologie: Eine solche Belehrung könne niemals Offenbarung heißen, „weil der Titel Offenbarung hier nur der (verfehlte) Versuch wäre, ihren Ursprung zu charakterisieren“. 148 Die Möglichkeit ei‐ ner Weitergabe als Lehre widerspreche dem Offenbarungsbegriff, der hier nur zur Überhöhung geschichtlich-willkürlicher Ausdrucksgestalten miss‐ braucht werde. Romantik und liberale Theologie, die sich in verschiedenen Spielarten der Kritik gegen diesen unzureichenden, im Kern immer strukturanalo‐ gen Offenbarungsbegriff von Katholizismus, Orthodoxie und Rationalis‐ mus wenden, schießen nach Bultmann allerdings über ihr Ziel hinaus: Sie beseitigen mit diesem verfehlten Offenbarungsbegriff auch den Gegenstand der Offenbarung und die theologische Wahrheitsfrage. 149 Die einzelnen Offenbarungsgestalten werden stattdessen „als vorfindliche Geschehnisse in einen Entwicklungszusammenhang gebracht“, durch den sich eine „zeit‐ lose Idee“ manifestiere. 150 Erst auf dieser Grundlage trete die Vorstellung einer religionsgeschichtlichen Entwicklung und schließlich die völlig ab‐ strakte Frage nach der Absolutheit des Christentums auf – welche auf dieser Grundlage aber schlechthin nicht entschieden werden könne! 151 Für den echten Glauben dagegen könne sich schon die „Frage nach einem Allge‐

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mus, weil dieses Offenbarungsverständnis dem reformatorischen Glaubensverständnis direkt widerspricht. Ebd., 70. Im Orig. teilw. kursiv. Vgl. ebd., 71 f. Konsequenter sei daher noch der rationalistische Standpunkt, der we‐ nigstens für den Einzelnen und seine Vernunft einsichtige Lehren behaupte, aber den Begriff der Offenbarung letztlich vollends aufhebe. Positionen des Irrationalismus seien das bloße Spiegelbild des rationalistischen Offenbarungsverständnisse und daher struk‐ turell von diesem nicht unterschieden. Ebd., 73. „Eine geoffenbarte Lehre, die weitergegeben wird, ist keine Offenbarung mehr“ (ebd., 74, Herv. im Orig.). Vgl. auch Bultmann, Theologie, 454 f. Vgl. Bultmann, Enyzklopädie, 76–82. Diese Kritiker behaupten irrtümlich, „von einem Offenbarungsakt reden zu können, ohne ein Geoffenbartes zu haben“ (ebd., 81). Ebd., 82. Vgl. ebd. Bultmann interpretiert Troeltschs Absolutheitsschrift und deren Ergebnis ei‐ ner ‚relativen Absolutheit‘ des Christentums folglich als Projekt, das immer zum Schei‐ tern verurteilt war.

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meinbegriff von Religion“ gar nicht stellen. 152 In der religionsvergleichen‐ den Fragestellung, ob authentische Offenbarung Gottes auch anderswo als im christlichen Kerygma zu finden ist, habe man die Offenbarung schon zum Vorfindlichen gemacht und sich von ihrem Anspruch distanziert. 153 Das scholastische und romantische Missverständnis konvergieren also auch hier in ihrem Ergebnis: Die Offenbarung wird als allgemeine Lehre über vorhandene Tatbestände gedacht. Anders als die verfehlten Offenbarungsbegriffe der Scholastik oder Ro‐ mantik voraussetzen, gehe echte Offenbarung nie in die Sprachform einer mitteilbaren und mit anderen Lehrgebilden vergleichbaren Lehre ein, sie „bleibt Offenbarung und wird nicht zu etwas Geoffenbartem, sonst würde Gott zum Götzen“. 154 „Es gibt also kein Hinblicken auf Geoffenbartes (keine ϑεωρία), vielmehr ist Offen‐ barung durch Gegenwärtigkeit charakterisiert; sie ist in actu oder sie ist gar nicht. Ihr Inhalt ist also weder Natur noch Geschichte, die man kennen kann; denn es gibt kein Wissen von ihr. Sie ist nicht anschaulich als Welt.“ 155

Die Theologie habe diese Unverfügbarkeit der Offenbarung bei ihrer Durchführung der Aufgabe, „die Lehre von Christus als dem Wort Gottes und damit die Lehre von der Kirche und ihrer Tradition zu explizieren“, immer zu berücksichtigen. 156 Christus als der Verkündigte werde niemals „vorfindliches Faktum der Weltgeschichte“ – dennoch müsse er „in unserer Existenz eine Wirklich‐ keit“ sein. 157 Dieses Spannungsfeld erfordert für Bultmann, die Kirche nicht nur als wirkungsgeschichtlichen, kulturellen Zusammenhang einer christlich geprägten Gesellschaft, sondern als Verkündigungsgemeinschaft zu bestimmen. Christus gehöre nicht in einen allgemein-geschichtlichen Traditionszusammenhang, sondern wirke allein „in einer eigenen Tradi‐ tion, in der Wortverkündigung der Kirche“ fort. 158 Dieses „geschichtliche Faktum Jesus Christus“ werde nun allerdings nie so zugänglich, dass der Mensch im Umkreis der christlichen Verkündigung schon „selbstverständ‐ 152 Ebd., 86. Bestenfalls könne er das Problem anderer Religionen als eine Frage verstehen, die für ihn immer schon beantwortet ist – „während jede Religion ohne den Glauben sich selbst missversteht“ (ebd., 87). 153 Vgl. ebd., 83; 88. 154 Ebd., 75. 155 Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. Vgl. ebd., 139. 156 Ebd., 95. 157 Ebd., 84. 158 Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. Gottes Offenbarung sei bis heute „in dem kontingenten historischen Ereignis Jesus von Nazareth eingesetzt und in der kirchlichen Tradition lebendig“ (ebd., 95).

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lich unter seinen geistigen Wirkungen“ stünde und sich lediglich noch „in ausdrücklicher Aneignung“ zu ihm verhalten müsste. 159 Die Heilsge‐ schichte erscheint bei Bultmann somit zwar als identisch mit der „Weiter‐ gabe des Wortes in der kirchlichen Tradition“, aber diese Weitergabe der kirchlichen Verkündigung meint hier keinen bruchlosen Überlieferungs‐ zusammenhang, sondern letztlich eine diskontinuierliche Abfolge je neuer Anredesituationen, in denen sich die Offenbarung an Einzelne aktual ereig‐ net. 160 Die Reinheit der Lehre kann damit ebenfalls keinen ungebrochenen Zusammenhang der Überlieferung von Lehrinhalten oder historischen Tat‐ sachen meinen: Wäre der Glaube so etwas wie „ein historisches Wissen bzw. die unkritische Hinnahme einer historischen Mitteilung“, wie Bultmann Katholizismus und orthodoxem Protestantismus unterstellt, wäre er „Ver‐ gewaltigung“ des Verstandes und dennoch hilflos dem historischen Zweifel ausgesetzt. 161 Offenbarung vermittelt keine bleibenden Wahrheiten, son‐ dern spricht jeweils neu in die geschichtliche Situation und erschließt sie als Augenblick. Den Menschen als ihr Gegenüber trifft sie dabei gleichwohl „nicht als etwas Zufälliges in einer freischwebenden Situation“, sondern im‐ mer „als einen, der in einer bestimmten Geschichte steht“. 162 c) Weltanschauung, Wissenschaft und Glaubensgehorsam Jeder Ausbildung einer Weltanschauung liegt laut Bultmann das heillose, letztlich sündige Bestreben zugrunde, sich selbst durch allgemeine Ge‐ danken in seinem Dasein sichern zu wollen. 163 Die Konstruktion einer Weltanschauung, deren „Sätze wahr sind unabhängig von der konkre‐ ten geschichtlichen Situation des Redenden“ und mittels derer „Gott und Mensch der zeitlosen Reflexion, dem sich orientierenden Denken als Vor‐ handenes unterworfen werden“ sollen, sei notwendig zum Scheitern verur‐ teilt. 164 Durch eine „Flucht vor sich selbst“ ins Allgemeine versuche sich der

159 Ebd., 94. Im Orig. teilw. kursiv. 160 Ebd., 144. Für Bultmann fallen Predigt und Sakrament als eschatologische Vollzüge „in ihrem eigentlichen Sinn aus dem geschichtlichen Geschehen heraus“ (ebd.). 161 Ebd., 130. Das bedeutet eine Begrenzung der historischen Perspektive in ihrer Bedeu‐ tung für den Glauben: Die notitia des Glaubens könne „nicht durch die historische Forschung“, sondern allein „durch die Verkündigung des Worts vermittelt“ (ebd.) wer‐ den. Dies wiederum entspricht nicht nur erkenntnistheoretischen Grundsätzen, sondern auch einem seelsorgerlichen Anliegen: „Weder Verstandesgründe noch ein Willensent‐ schluß“ (ebd.) könnten eine fides historica vor der Anfechtung retten. 162 Ebd., 153. Im Orig. teilw. kursiv. 163 Vgl. ebd., 105. Vgl. auch Bultmann, Wahrheit, 185. 164 Bultmann, Enyzklopädie, 104. Es handele sich immer um eine „Verirrung des Daseins“, wenn dieses meine, „durch zeitlose Wahrheiten der jeweils vom Jetzt gestellten Fragen Herr werden zu können“ (ebd., 45). Dabei sei ganz gleichgültig, ob eine Weltanschauung

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Mensch zu entlasten und zu sichern, während seine geschichtliche Existenz angemessen gerade durch „Ungesichertheit“ charakterisiert sei. 165 Dies de‐ cke das Wort der Verkündigung auf, das auf den angeredeten Menschen „immer aufs neue beunruhigend, erschreckend, die Sicherheit zerstörend“ wirke. 166 Daher ist für Bultmann der wahren Glaube jeder menschlichen Welt‐ anschauung entgegengesetzt. Der Glaube habe es nie mit Ideen oder „all‐ gemeinen Wahrheiten“ zu tun, sondern sei „primär Gehorsam“ gegenüber Gott. 167 Nie werde er dem Glaubenden greifbar und verfügbar „als Besitz, als Seelenzustand, geistige Qualität wie Seelenruhe oder Charakterstärke“ oder als eigene Überzeugung. 168 Jede theoretische Sicherung des Glaubens müsse also scheitern, während die echte Heilsgewissheit gerade darin be‐ gründet sei, dass der Glaube „sich nicht auf sich selbst bezieht, sondern auf das, was er glaubt“. 169 Glaube als vorhandene Qualität oder im Bezug auf vorhandene Tatsachen wäre laut Bultmann unweigerlich „der Vergangen‐ heit verfallen“, während der echte Glaube sich als „immer neues Ergreifen“ und „immer neue Entscheidung“ vollziehe. 170 Für das Wort der Verkün‐ digung, dem sich der wahre Glaube gehorsam unterwerfe, sei schlechthin „keine andere Legitimation zu fordern und keine andere Basis zu schaffen, als es selbst ist“. 171 Dieser Glaubensgehorsams erscheint bei Bultmann nicht nur als Gegensatz zur Ausbildung einer Weltanschauung, sondern auch zur Fixierung einer Lehrüberlieferung, die Glaubensgehalte allgemeinverbind‐ lich zur Darstellung bringen soll. Jeder Versuch dieser Art erscheint als Selbstmissverständnis des Daseins, das seinen unhintergehbaren geschicht‐ lichen Charakter verkennt, ja ihm auszuweichen und sich im Vorhandenen zu sichern versucht. Indem Bultmann aktualistisch den Entscheidungscha‐ rakters des Glaubens betont, der sich nie durch den Bezug auf etwas Fest‐

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„aus rationalen Prinzipien, aus Werturteilen oder aus dogmatischer Tradition entwi‐ ckelt“ (ebd., 105) werden solle. Ebd. Ebd., 139. Ebd., 130 f. Herv. im Orig. Zur Übereinstimmung mit und Differenz zu W. Herrmann hinsichtlich der Bestimmung des Glaubens vgl. ebd., 146–152. Herrmann erkenne rich‐ tig, dass der Glaube als „lebendige Beziehung auf seinen Grund“ (ebd., 146) zu be‐ trachten sei, aber betrachte „das innere Leben Jesu als ein vorfindliches Faktum in der Weltgeschichte“ und verkenne damit die „eschatologische Stellung Jesu“ (ebd., 150. Im Orig. teilw. kursiv). Ebd., 139. Ebd., 156. Ebd., 139. Vgl. ebd., 134. Zum Verfallen des Daseins an seine Umwelt vgl. auch Bult‐ mann, Wahrheit, 199. Bultmann, Enzyklopädie, 152.

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stehendes und Verfügbares gründen kann, wird existenzphilosophischer Einfluss ebenso sichtbar wie eine atomistische Vorstellung des Glaubensle‐ bens, das sich ohne übergreifende Kontinuität in immer neuer Tat vollzieht. Alle apologetischen Programme erscheinen damit als ebenso undurch‐ führbar wie für den Glauben überflüssig. Für den wahren Glauben, der sich „nur im Vollzuge seiner selbst sicher“ werde, stelle sich die Frage der Heilsgewissheit gar nicht – doch wer „den Glauben statt in der Tat im Vorhandenen sucht“, müsse scheitern und werde umgehend „mit dem Zweifel gestraft“. 172 Die Theologie könne keinesfalls allgemein erweisen, „daß ‚man‘ das Recht hat zu glauben, daß es ‚noch‘ zeitgemäß ist und mit modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar“. 173 Allenfalls könne der Glaubende persönlich und für sich selbst entsprechende Klä‐ rungen erreichen. Wenn sie nun aber zur Begründung oder Sicherung des Glaubens nichts beitragen kann, welche Aufgabe kann die Theologie dann noch übernehmen? Für Bultmann erscheint völlig unstrittig, dass sie der Verkündigung zu dienen und allein von dieser her ihre Berechtigung hat. 174 Doch wie genau verhält sich eine spezifisch wissenschaftliche Theologie zur direkten Anrede des Kerygmas, das den Gehorsam des Glaubens fordert und jede wissenschaftlich-distanzierende Haltung ausschließt? Die Kern‐ frage lautet hier: „Wenn Verkündigung nur als Anrede das ist, was sie ist, wie kann sie in wissenschaftlicher Rede expliziert werden?“ 175 Möglich ist Theologie „als begriffliche Explikation der gläubigen Existenz“ daher nur, sofern sie „dem Glauben aus dem Glauben und für den Glauben auferlegt ist“. 176 Dazu müsste sich zeigen lassen, dass auch das „distanz-nehmende Hinsehen“ der wissenschaftlichen Theologie noch ein inneres Anliegen und „Akt des Glaubens selbst“ ist. 177 Wissenschaft bezeichnet für Bultmann nun das „ausdrücklich gemachte, ins Bewußtsein erhobene, explizite Wissen, das schon im Umgang je mit dem betreffenden Gegenstand da ist“. 178 Echtes Wissen zeichne sich immer durch das „Hören des Anspruchs des Gegenstands“ aus, so dass ein „Gegen‐ 172 Ebd., 157. Kritisch gegenüber dieser Betonung von Gehorsam und Tat im Glaubensbe‐ griff vgl. Jüngel, Glauben, 71–73. 173 Bultmann, Enzyklopädie, 165. 174 Vgl. Ebd., 158. Vgl. Bultmann, Wahrheit, 201. In diesem Grundsatz kann Bultmann sich mit Barth und anderen Theologen seiner Zeit einig wissen, vgl. Barth, K., Kirche, 676–682. Vgl. ders., KD Bd. I/1, §1, 1–16. 175 Bultmann, Enyzklopädie, 160. 176 Ebd., 163. Im Orig. teilw. kursiv. 177 Ebd., 164. Vgl. Jüngel, Glauben, 28–31. 178 Bultmann, Enyzklopädie, 36. Bultmann schließt sich hier Heidegger an. Zum Ver‐ hältnis von Bultmanns Wissenschaftsverständnis zu Heideggers Frühphilosophie vgl. Jüngel, Glauben, 27–36.

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satz zwischen Leben und Wissen“ gar nicht erst auftreten könne. 179 Aller‐ dings werde durch die Wissenschaft das in einer Lebensbeziehung enthal‐ tene Wissen „von seinem unmittelbaren Wozu gelöst“, um „als allgemeines Wissen vorhanden zu sein und jeweils in den Dienst eines konkreten Wozu gestellt zu werden“. 180 Die Möglichkeit, „sich vom Leben zu entfernen“, ist der Wissenschaft also inhärent und für sie schlechthin konstitutiv, weil sie „das begegnende Seiende in die Sphäre des Gegenständlichen erhebt und damit bewahrt“, nämlich in Gestalt allgemeiner Sätze. 181 Damit dieses im Satz aufbewahrte Wissen echtes Wissen bleibe, müsse es aber „stets wie‐ der der Kritik am Gegenstande“ unterzogen und mit diesem abgeglichen werden. 182 Wenn dagegen das „Lebensinteresse am Faktischen, Kontin‐ genten“ verloren gehe, werde dieses bewahrte Wissen bloße Abstraktion ohne Beziehung zum Leben. 183 Jede Wissenschaft kann daher zur bloßen Theorie, zur abgeschlossenen Weltanschauung oder selbstbezüglichen Ge‐ schäftigkeit herabsinken. Doch wenn die Wissenschaft selbst sich bewusst hält, dass sie in einem Lebensverhältnis wurzelt, kann sie auf dieses auch kritisch-konstruktiv zurückbezogen werden. So könne auch die Theologie „in die Existenz zurückschlagen und gerade das existierende Sich-Verste‐ hen scharf und lebendig machen“. 184 Dann bewirke sie eine „beständige Selbstkritik des Glaubens“, der immer in Gefahr stehe, „Gott mit der Welt zu verwechseln“ und ihn „als Weltganzes, als Idee oder als Grenzbegriff“ zu behandeln. 185 Wo sich das „im Glauben gegebene Verständnis gläubigen Existierens“ als Theologie im recht verstandenen Sinne ausbilde, rufe diese deshalb „den Glauben zu sich selbst, die Kirche zu sich selbst zurück“. 186 Die Theologie erscheint für Bultmann daher indirekt an die Kirche ge‐ bunden. Sie habe ihr „kritisches Amt“ der Kirche gegenüber darin zu sehen, die „Grundbegriffe des Verständnisses der gläubigen Existenz“ auszuar‐ beiten und zu klären. 187 Die konkrete Notwendigkeit dieser immer neuen

179 Bultmann, Enyzklopädie, 44. Anders stehe es dort, wo es sich um „leere Spekulation“ oder „unkritisch übernommene Tradition“ (ebd.) halte. 180 Ebd., 36. 181 Ebd., 44. 182 Ebd. 183 Ebd., 39. Dann erscheine beispielsweise ein Wissenschaftler deshalb als Wissenschaftler, „weil er Wissenschaft macht, Bücher schreibt“ und dieser Tätigkeit als solcher einen „Selbstzweck“ oder „Kulturwert“ (ebd., 37) zuschreibe. 184 Ebd., 160. Herv. im Orig. Das Lebensverhältnis sei von der Wissenschaft aus insbeson‐ dere dann zu kritisieren, wenn sich in ihm „durch die Traditionen Urteile festgesetzt haben“ (ebd., 44), die nicht mehr am Gegenstand überprüft werden. 185 Ebd., 161. 186 Ebd. 187 Ebd., 167.

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begrifflichen Klarstellung der Verkündigung wurzelt für Bultmann darin, dass das Kerygma dem hörenden Verstehen unweigerlich „fragwürdig“ werde. 188 Dies geschehe einerseits schon deshalb, weil „die Verkündigung in der Schrift in fremder Sprache und Begriffswelt an uns kommt und also stets in eine neue Begriffswelt übersetzt werden muß“, aber andererseits auch, weil die „reine Lehre stets von Irrlehren bedroht ist“. 189 Theologie überprüfe folglich die Verkündigung und allgemein die Glaubenskommu‐ nikation daraufhin, ob „sachgemäß geredet wird“. 190 Dazu habe sie aller‐ dings gerade nicht „nach praktischer kirchlicher Verwendbarkeit zu fra‐ gen“, sondern müsse immer „kritische Instanz“ bleiben. 191 Den Maßstab ihrer Kritik entnehme die Theologie dabei der „als Ver‐ kündigung gehörten Verkündigung, die sie ja nicht als Verkündigung kri‐ tisiert, sondern als Verkündigung voraussetzt“. 192 Anhand dieses internen Maßstabes der Verkündigung habe sie die „jeweilige begriffliche Fassung zu regulieren und der Verkündigung ihrer Zeit vorzuzeichnen, was sie zu sagen hat“. 193 Die Verkündigung kritisiere sich mittels der Theologie selbst, sie erhalte durch sie keinesfalls eine externe Begründung oder nachträgli‐ che Rechtfertigung. Konkret vollziehe sich diese Kritik im Rückgang auf die Schrift als dem Ursprung der Verkündigung, weshalb nach Bultmann die „erste und eigentliche Aufgabe“ der Theologie ist, das „Verständnis der Schrift“ zu erhellen. 194 Die theologische Aufgabe einer Kritik der Verkün‐ digung aus der geschehenen Verkündigung heraus präzisiert sich für ihn somit mittels der unüberbietbaren Erstoffenbarung in der Schrift zur „Re‐ gulierung der kirchlichen Verkündigung nach dem Maßstab der Schrift“. 195 Als Organ der Verkündigung und zugleich deren kritisches Gegenüber be‐ kämpft für Bultmann die Theologie die Gefahr einer Verkrustung oder Verselbständigung der Verkündigungssprache, indem sie eine immer neue Prüfung an der Schrift vornimmt. Diese kritische Aufgabe ist für Bultmann gerade nicht allein konservativ und defensiv zu bestimmen – als ginge es vor allem darum, die Autorität der authentischen Überlieferung gegenüber Infragestellungen und Entstel‐ lungen zu verteidigen. Auch „die Schrift, das Dogma, die geschichtliche Entwicklung der Theologie“ sind für ihn der theologischen Sachkritik zu

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Ebd., 165. Ebd. Ebd., 167. Ebd. Ebd., 168. Ebd. Ebd., 169. Im Orig. kursiv. Ebd.

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unterwerfen. 196 Autorität können all diese Größen für die Theologie nur sein, sofern in ihnen „die Verkündigung vorliegt“, doch könne das Urteil darüber wiederum allein die Theologie nach vollzogener Arbeit fällen. 197 Kommt den neutestamentlichen Texten bei Bultmann dennoch eine relativ hervorgehobene Stellung zu, dann nur deshalb, weil dort „in der Schrift die Verkündigung zum erstenmal begegnet“ und „alle andere Verkündi‐ gung auf die Schrift zurückverweist“. 198 Diese Schrift sei als Kriterium authentischer Verkündigung keinesfalls nach dem Modell des Vorhande‐ nen zu verstehen und etwa als historische Quelle für das Urchristentum heranzuziehen, sondern vielmehr als „echtes geschichtliches Faktum“ zu interpretieren. 199 Auch der Sinn der Schrift wird von Bultmann nicht als Vorhandenes verstanden, sondern als je aktueller Anspruch auf das Leben der Glaubenden dynamisiert. Die glaubende Anerkennung dieses gegen‐ wärtigen Anspruchs samt einer selbstkritischen „Rückwendung zur eigenen Geschichte“ könne nie schon „als Voraussetzung der Interpretation erle‐ digt“ sein. 200 Entsprechend kann für Bultmann die theologische Kritik nicht einfach vor der Schrift „haltmachen auf Grund eines vorher statuierten Dogmas über die Schrift“. 201 Die Anerkennung der Schrift und ihres Kerygmas als Offenbarung müsse sich in der voraussetzungslosen Interpretation selbst immer neu vollziehen. Die „begriffliche Darstellung der Existenz des Men‐ schen als durch Gott bestimmter“ und die „Erklärung der Schrift“ fallen damit ineins, weil gerade die Schrift das geschichtliche, die glaubende Exis‐ tenz qualifizierende Faktum ist. 202 Ausgeschlossen ist folglich jede eigen‐ ständige Systematische Theologie, die „nach eigenen Prinzipien ein System christlicher Lehre“ zur Darstellung bringt. 203 Dies ist in Bultmanns Kon‐ zeption konsequent, weil für diese eine vom geschichtlichen Augenblick ablösbare Systemgestalt die Wahrheit der Offenbarung und das rechte Ver‐ ständnis des Glaubens verfehlen muss. Systematische Theologie kann dann jeweils nur „eine durch konkrete augenblickliche Fragen motivierte Selbst‐ 196 Ebd., 168. Weder die empirische Kirche, noch die theologische Tradition samt all ihrer Dogmen kommen als schlechthin vorgegebene Autorität in Frage, auf die sich die Theo‐ logie einfach zurückziehen könnte, vgl. ebd. 197 Ebd. 198 Ebd. 199 Ebd., 169. 200 Ebd. Theologische Exegese der Schrift sei also nie „methodisches Unternehmen“ (ebd., 169), sondern immer Tat des Glaubens. 201 Ebd., 168. 202 Ebd., 169. In jedem angemessenen Schriftverständnis spreche sich eine eigene Weise aus, „durch die Schrift qualifiziert zu sein“ (ebd.). 203 Ebd., 170.

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verständigung über die historische Arbeit der Exegese selbst sein“, die den je aktuellen Anspruch auf Glaubensgehorsam als Wort Gottes über den Au‐ genblick zur Sprache bringt. 204 Durch diese aktualistische Zuspitzung der theologischen Aufgabe und die die Zurückweisung jeder übergreifenden Kontinuität innerhalb der ge‐ schichtlichen Welt will Bultmann der Geschichtlichkeit menschlicher Exis‐ tenz gerade gerecht werden. Alle Versuche des Menschen, sich vom Vor‐ handenen und Gegebenen her in der eigenen Existenz zu sichern, sind strikt zurückzuweisen – christliche Existenz bedeutet die je neue Tat des Glau‐ bensgehorsams. Als Sicherung der fragilen Existenz kommt bei Bultmann nur das göttliche Gegenüber im je neuen Wort der Verkündigung in Frage, doch dieses Geschehen bleibt gerade unverfügbar und kann nie zum vor‐ handenen Besitz werden. Es ist nicht zu bestreiten, dass Bultmann hier An‐ liegen der christlichen und insbesondere reformatorischen Theologie zur Geltung bringt. Die Unterscheidungen von Theologie und Verkündigung, Offenbarung und Glaube werden auf dieser Grundlage denkbar scharf be‐ tont und die absolute Unverfügbarkeit der Offenbarung festgehalten, auf die sich der Glaube als ganzheitliche Tat bezieht. Aber handelt es sich hier nicht um eine einseitige Zuspitzung, die andere wichtige Aspekte – neben der Passivität menschlicher Glaubenserfahrung etwa den Überlieferungs‐ bezug des Glaubens sowie die Bedeutung eines einsichtigen Lehrkonsenses für das gemeinschaftliche Glaubensleben – unterbestimmt? 205 5.2.3 Theologie und Wissenschaft In einem späteren Vortrag mit dem Titel Theologie als Wissenschaft, den Bultmann 1941 zusammen mit seinem als Alpirsbacher Vortrag bekannt gewordenen Referat Neues Testament und Mythologie gehalten und ge‐ ringfügig überarbeitet hat, werden diese Überlegungen zu Theologie und Wissenschaft erneut aufgegriffen und die bereits beschriebenen Tendenzen noch einmal zugespitzt. 206 Dieses Mal setzt Bultmann direkt mit dem „Be‐ griff der Wissenschaft“ ein, den er für die Theologie selbstverständlich und selbstbewusst in Anspruch nimmt. 207 Wissenschaft sei erstens charakteri‐ siert durch das „objektivierende Verfahren“ hinsichtlich ihres Gegenstands‐ gebiets und zweitens eine „interesselose“ und darin objektive Haltung des

204 Ebd. 205 Für eine ähnliche Kritik vgl. Jüngel, Glauben, 68–77. 206 Vgl. Bultmann, Theologie. Zu diesem Vortrag vgl. Müller, Vortrag. Vgl. auch Kört‐ ner, Art. Enzyklopädie, 371–373. 207 Bultmann, Theologie, 447. Im Orig. kursiv.

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bloßen Sehens. 208 Wissenschaft wolle nichts, außer „den Gegenstand selbst sich zeigen lassen, zu Worte kommen lassen“ und blende daher „das eigene Lebensinteresse gleichsam ab“. 209 Dennoch setze sie drittens immer ein „vorwissenschaftliches Verhältnis zu ihrem Gegenstand“ voraus, das als das „ursprüngliche Lebensverhältnis“ zwar möglicherweise der Korrektur, Er‐ weiterung und Begründung unterzogen werde, aber nie ganz abbreche. 210 Das vierte Merkmal jeder Wissenschaft sei, dass sie ihrem Gegenstand durch eine spezifische, diesem angemessene Methode und Begrifflichkeit zu entsprechen habe. 211 Für die Theologie gelten laut Bultmann die ersten drei dieser Merkmale allerdings lediglich in einer „eigentümlich paradoxen Weise“. 212 Dieses gebrochene Verhältnis der Theologie zum allgemeinen Wissenschaftsbe‐ griff resultiere zunächst aus der „Unmöglichkeit, Gott zu objektivieren“. 213 Diese Erkenntnis, die schon in den traditionellen Aussagen von der Un‐ sichtbarkeit, Unbegreiflichkeit, Transzendenz usw. Gottes ausgesprochen sei, sei darin begründet, dass es schlechthin keinen Standpunkt außerhalb Gottes geben könne. Ferner sei auch keine interesselose Begegnung mit Gott denkbar, der „überhaupt nur als der fordernde und richtende, als der begnadigende und schenkende“ Gott in den Blick komme. 214 Auch ein all‐ gemein vernünftiges Vorverständnis von Gott könne es nicht geben, inso‐ fern dieser „nicht immer schon selbstverständlich irgendwie sichtbar“ sei, sondern sich kontingent und frei offenbare. 215 Theologie erscheint damit zwar als Wissenschaft, aber als Wissenschaft sui generis.

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Ebd., 447 f. Ebd., 449. Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. Allen Wissenschaften gemeinsam sei ferner das formale „Reden in begründenden Sät‐ zen, die den Gegenstand aufzeigen, indem sie aus einem Verständnis des Ganzen das Einzelne verstehen lassen“ (ebd., 450). Auch das formale Verfahren der Theologie sei „rein rational“, denn in ihr gelte „keine andere Logik als in aller Wissenschaft“ (ebd., 468). Ebd. Im Orig. kursiv. Daher ist eine Unterordnung der Theologie unter eine allgemeine Wissenschaftstheorie unmöglich. Es wäre nicht nur aussichtslos, sondern „Selbstpreis‐ gabe der Theologie“, wollte man sie und ihre Wissenschaftlichkeit apologetisch „vor dem Forum einer ungläubigen Kultur rechtfertigen“ (ebd., 467). Ebd., 451. Im Orig. kursiv. Ebd. Ebd. Erst auf dieser Grundlage werde auch die allgemeine Aussage möglich, dass „das natürliche Dasein gottlos sei“ und „eben damit einen Bezug zu Gott“ (ebd., 451f) habe. Als Vorverständnis sei in diesem Fall allein die offene Frage nach Gott vorausgesetzt, die zwar einen menschlichen Gottesbegriff, aber nicht ein Verhältnis zu Gott selbst impli‐ ziere.

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Auch in diesem Vortrag kommt Bultmann entsprechend zu dem Ergeb‐ nis, dass sich das orthodoxe Programm einer Theologie als Wissenschaft von Gott ebenso wenig konsistent durchführen lässt wie das liberale Projekt einer theologischen Wissenschaft vom Glauben oder der Religion. In der Auseinandersetzung mit der Orthodoxie geht er dabei an zentraler Stelle auf das Lehrproblem ein: Werde die fides quae creditur für die Orthodoxie zur „reine[n] Lehre, deren Wahrheit bewiesen wird, teils durch die Ver‐ nunft, teils durch die Schrift“, verstehe diese ihre theologischen Sätze als allgemein-verfügbare Wahrheiten, „die gültig sind ohne den existentiellen Bezug auf die konkrete Situation des Sprechenden“. 216 Dass diese Wahrhei‐ ten grundsätzlich vom Glauben ablösbar seien, drücke sich nicht zuletzt in der orthodox-protestantischen Vorordnung des assensus vor den eigentli‐ chen Glaubensakt der fiducia aus. Damit aber werde Gottes Offenbarung „nicht als in actu geschehen verstanden, sondern als seine vorliegende Of‐ fenbartheit“ begriffen. 217 Nach der Destruktion der Inspirationslehre durch die historische Wissenschaft müsse dies zum krampfhaften „Sich-Sträuben gegen die historische Kritik“ und letztlich zur Forderung eines sacrificium intellectus führen, welches als „Entschluß, nicht einsichtige Gedanken für wahr zu halten“, den Glauben endgültig zum Werk des Menschen ver‐ kehre. 218 Der Lehrbegriff ist hier gegenüber früheren Texten Bultmanns noch einmal klarer als vergegenständlichende und damit verfehlte Rede von Gott und seiner Offenbarung verstanden, mithin scharf gegen das Kerygma abgegrenzt: „Solcher Glaube ist gar nicht auf Gott als seinen Gegenstand bezogen; denn eine Lehre kann man nicht glauben, sondern nur für ‚glaub‐ lich‘, für richtig oder unrichtig halten. Meint man, sie zu glauben, so ist der Glaube nur der Entschluß, sie für wahr zu halten.“ 219 Eine Theologie, die sich als Lehre versteht, setzt sich für Bultmann letztlich selbst an die Stelle Gottes und seiner Offenbarung im Wortgeschehen. Der Begriff der Lehre wird zum Signalwort für einen der zwei möglichen Wege der Theologie, ihren Gegenstand zu verfehlen. Der Glaube ist, wie Bultmann erneut klarstellt, keine „besondere Er‐ kenntnisweise“, sondern „eine Weise des Existierens“. 220 Als solche gehöre der Glaube „selbst in das eschatologische Geschehen hinein“, das sich kraft der Verkündigung als das eschatologische Christusgeschehen dem Glau‐ ben vergegenwärtigt. 221 Wenn der Theologe als Wissenschaftler dieses es‐ 216 217 218 219 220 221

Ebd., 454. Herv. im Orig. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 456. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd.

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chatologische Geschehen dennoch zum Gegenstand nimmt und sich „zu seinem eigenen Glauben in die objektivierende Distanz bringt“ , ist das für Bultmann die unhintergehbare „Paradoxie der Theologie, daß sie als Bewe‐ gung des Glaubens selbst dieses Innehalten vollziehen“ und – zugespitzt – „glaubend nicht glauben soll“. 222 Diese paradoxe Vergegenständlichung des Glaubens und seines Gegenstandes durch die Theologie sei „möglich, ge‐ rechtfertigt und notwendig“, weil und insofern der rechtfertigende Glaube darin gerade „nicht zur vorhandenen, verfügbaren Qualität“ gemacht und deshalb als Geschenk erfahren werde. 223 Die paradoxe Vergegenständli‐ chung des Rechtfertigungsglaubens in der theologischen Rückfrage des Glaubens nach seinem eigenen Grund ist für Bultmann nur möglich, weil sich der Glaube selbst in theologischen Sätzen immer jenseitig bleibt und nie Lehre im orthodoxen Sinne werden kann. Diese Paradoxie unterscheidet für Bultmann die Theologie kategorial von anderen Wissenschaften und selbst von der Philosophie. 224 Anders als diese trage die christliche Verkündigung „nicht allgemeine, ewig gültige Wahrheiten vor, die ihr Recht am Denken zu bewähren haben“. 225 Der Theologie sei zudem ihre Wahrheit immer schon durch die Verkündigung vorgegeben. Dabei handle es sich nicht um Lehrsätzen oder Dogmen, son‐ dern um das „Handeln Gottes als eschatologisches Handeln“. 226 Deshalb ‚lehre‘ die Theologie nur in dem uneigentlichen Sinn, dass sie auf dieses Gotteshandeln verweise, und das bedeute primär: das Neue Testament zu interpretieren und zu übersetzen. Auch mit Blick auf das Neue Testament sei allerdings festzuhalten: „Schriftsätze können nicht als Lehrgesetz übernommen werden; denn Got‐ tes Offenbarung bedeutet nicht seine Offenbartheit, d.h. er ist nicht di‐ rekt gegeben in seiner Offenbarung“. 227 Auch die theologisch ausgelegte Schrift könne den Glauben nur auf das unverfügbare Ereignis der Offen‐ barung verweisen. Konkret habe neutestamentliche Theologie mittels ei‐ ner kritischen Sichtung biblischer Formulierungen „einen idealen Typus des Kerygmas“ zu konstruieren, wobei aufgrund der unhintergehbaren Ge‐ 222 Ebd., 457 f. 223 Ebd., 458. 224 Von der Philosophie gelte, dass sie „die Wahrheit sucht und, soweit sie sie gefunden zu haben meint, ‚lehrt‘“, weshalb für sie „Wissenschaft und Lehre identisch“ (ebd., 460) seien: „die rechte Philosophie wäre eben die reine Lehre“ (ebd.). 225 Ebd., 459 f. 226 Ebd., 460. 227 Ebd., 461. Auch wo sich „aus dem Neuen Testament gewisse dogmatische Sätze abstra‐ hieren lassen“, die „das Christusgeschehen in mythologischer Form aussprechen“, seien diese nur als „Ausdruck der glaubenden Existenz in ihrer jeweiligen Situation“ (ebd. Im Orig. teilw. kursiv) nachzuvollziehen.

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schichtlichkeit des Kerygmas zugleich deutlich werde, dass „es einen sol‐ chen idealen Typus gar nicht gibt und nicht geben kann“. 228 Die systemati‐ sche Theologie habe als Umkehrung der Fragerichtung neutestamentlicher Theologie ebenfalls niemals die Aufgabe, „Sätze des christlichen Glaubens als allgemeine Wahrheiten zu entwickeln und in ein System zu bringen“. 229 Schlechthin jede theologische Konstruktion und jede Vergegenwärtigung des Kerygmas sei an ihren geschichtlichen Ort gebunden und mit die‐ sem überholbar. 230 Die grundlegende theologische Aufgabe ist daher, alle geschichtlich-konkreten Lehrgestalten und theologische Systembildungen einer Kritik zu unterziehen, um sie zugunsten einer jeweils neuen Verge‐ genwärtigung des Kerygmas zu verflüssigen. 5.2.4 Interpretation Der Dienst der Theologie für Kirche und Gemeinde besteht für Bultmann im Kern darin, das Bewusstsein für die geschichtlich-existenzielle Struk‐ tur des Rechtfertigungsglaubens und die Unverfügbarkeit des eschatologi‐ schen Gotteshandelns wachzuhalten. Als persönlicher, geschichtlicher und je aktuell vollzogener Gehorsam gegenüber der verkündigten Offenbarung schließt der Glaube eine Vergegenständlichung des Kerygmas in allgemei‐ nen und übergeschichtlichen Lehrsätzen aus. In diesem dynamisierenden, lehr- und traditionskritischen Sinn ist daher auch Bultmanns programma‐ tische Formel zu interpretieren: „Die Theologie als Wissenschaft hat die Aufgabe, die Verkündigung sicher zu stellen“. 231 Es tritt hier zu Tage, dass die wissenschaftliche Theologie für Bultmann gerade, indem sie die unsach‐ 228 Ebd. Dabei stehe jede Interpretation des neuen Testaments vor der Paradoxie, dass sie „ihr Verständnis der Sache, des eschatologischen Geschehens, nur aus den Zeugnissen des Neuen Testaments gewinnt, und daß sie diesen doch zugleich kritisch gegenüber‐ steht“ (ebd., 462). Diese „christliche Freiheit in der Gebundenheit an der Tradition“ sei in ihrer paradoxen Struktur Ausdruck der inkarnatorischen Grundparadoxie, dass sich „Gottes eschatologisches Handeln in der Geschichte vollzieht“ (ebd.). 229 Ebd. Im Orig. kursiv. Vielmehr müsse „die ganze Dogmatik Eschatologie sein“ (ebd.), was für Bultmann bedeutet, als geschichtlich situierte Explikation des eschatologischen Handelns Gottes „die durch das Kerygma gestellte Frage [Anm. Bultmanns ergänzt: und die an das Kerygma zu stellende Frage] lebendig“ (ebd., 463) zu halten. 230 Hier knüpft auch Bultmanns Aufgabenbestimmung für die Kirchengeschichte an, die eine „Erstarrung von Kerygma und theologischer Auslegung“ zu verhindern und „die reichen Möglichkeiten christlichen Existierens deutlich zu machen“ (ebd., 466) habe. Könne sie laut Bultmann im Unterschied zur profanhistorischen Untersuchung dabei „der Kategorien: reine Lehre und Ketzerei, nicht entraten“ (ebd.), lässt sich diese Be‐ merkung so interpretieren, dass der Lehrbegriff von einer normativen Größe in einen kirchenhistorischen Reflexionsbegriff zu überführen ist. 231 Ebd., 459. Im Orig. teilw. kursiv.

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gemäße Vergegenständlichung des Kerygma als Lehraussage zurückweist, eine unverzichtbare kritische Funktion für die Kirche übernimmt, wie sie die reformatorische Theologie der rechten Lehre zugeordnet hatte. Wo sich die Theologie als Wissenschaft sui generis selbst die Form von allgemeinen Lehrsätzen gibt, ist dies immer nur auf uneigentliche, paradoxe und ‚dia‐ lektische‘ Weise zu verstehen – die Sache der Theologie drängt über jeden dieser Sätze hinaus. Man kann bei diesem Theologieprogramm Bultmanns das leitende Inte‐ resse einer aktualistischen Dynamisierung von Glaube, Kirchenbegriff und Lehrbegriff erkennen. Jede echte Offenbarung ist Ereignis und der Glaube eine jeweils neue tathafte Entscheidung, die sich nie auf Vorhandenes, son‐ dern allein auf die Anrede des Kerygmas in der Forderung des Augenblicks beziehen kann. Die Kirche sind entsprechend nur die jeweils als Einzelne betroffenen Hörer dieses kerygmatischen Entscheidungsrufs. Die innere Verbindungen dieser Konzeption mit einer strikt präsentischen Eschato‐ logie, wie Bultmann sie bei Paulus und in den johanneischen Schriften meint aufweisen zu können, können hier nicht dargestellt und diskutiert werden. 232 Doch festzuhalten ist, dass Bultmann diese aktualistische und dynamisierende Zuspitzung des Glaubensbegriffs nicht einfach aus Hei‐ deggers Existenzphilosophie übernimmt, sondern auch auf der Grundlage biblischer Texte plausibilisiert. Auf dieser Grundlage kann es schlechthin keine Sicherung des Glaubens innerhalb der Welt und auch keine übergreifende innergeschichtliche Kon‐ tinuität der kirchlichen Überlieferung geben – Überlieferung und Offenba‐ rung schließen einander vielmehr strikt aus. Der Kritik Bultmanns verfallen daher gleichermaßen das katholische Traditionsprinzip, die altprotestan‐ tische Schriftlehre und die idealistischen oder positivistischen Konstruk‐ tionsversuche einer Entwicklung innerhalb der Religionsgeschichte. In je‐ dem dieser Fälle wird ihm zufolge eine in der Welt vorfindliche Größe an die Stelle des unverfügbaren Offenbarungsereignisses gesetzt und damit der geschichtlich-existenzielle Charakter des Glaubens verkannt. Bultmann be‐ ansprucht daher, einen Bruch mit der bisherigen theologischen Tradition zu vollziehen, der in seiner Radikalität alle Infragestellungen der nachre‐ formatorischen Lehrbildungen durch Pietismus, Aufklärung und Historis‐ mus übertrifft. 233 Zurückzuweisen sind entsprechend nicht nur das unkri‐ tische „Festhalten an einmal formulierten Sätzen“und die die Abgeschlos‐ senheit einer definitiven „Normaldogmatik“, sondern jede begrifflich oder

232 Vgl. dazu TheoNT, 307–311; 389–392. 233 Aufschlussreich ist hier Bultmanns theologiegeschichtliche Selbstverortung in den Epi‐ legomena seiner Theologie des Neuen Testaments, vgl. TheoNT, 589–599.

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sprachlich vermittelte Kontinuität, die über eine jeweils neu durch das Ke‐ rygma angestoßene Bewältigung der geschichtlichen Situation hinausgehen könnte. 234 Das Kerygma begegnet nie anders als in menschlicher Sprache, aber ist nie in Form verallgemeinernder Aussagen festzuhalten, weil „die Sätze des Kerygmas nicht allgemeine Wahrheiten, sondern Anrede in einer konkreten Situation“ sein müssen. 235 Echte Wahrheitserkenntnis kann für Bultmann nämlich schon deshalb nie „das definitiv Gewonnene“ sein, weil auch der menschliche Existenzvollzug zumindest im Diesseits nie ein abge‐ schlossenes Ganzes wird. 236 Die Kehrseite dieses Aktualismus ist, wie Jün‐ gel kritisch anmerkt, dass auch „Gottes Zur-Welt-Kommen als Geschichte seines Advents“ und „die Geschichte Jesu von Nazareth als die Geschichte Christi“ der Objektivierung verdächtig werden und das Evangelium ten‐ denziell auf einen abstrakten Entscheidungsruf zusammenschrumpft. 237 Auch die kirchliche Lehre kann unter diesen Bedingungen nur als je neu ergehendes, strikt situationsgebundenes theologisches Urteil darüber ge‐ dacht werden, was in einer geschichtlichen Situation als Kerygma zu hören ist. Wenn bei Bultmann von den Glaubensinhalten der fides quae noch die Rede ist, können daher keinesfalls Lehraussagen oder Bekenntnisinhalte im klassischen Sinn, sondern nur Strukturmomente (Existentialien) von Glau‐ bensakt und Offenbarungsgeschehen gemeint sein. Man kann dies verste‐ hen als den Versuch einer Transformation des reformatorischen Satis-Prin‐ zips von einer materialen Selbstbeschränkung hinsichtlich des Bestands verbindlicher Lehraussagen in eine allgemeine Rücknahme konkreter Aus‐ sagesätze zugunsten formaler Strukturbestimmungen. Allerdings sollten in der reformatorischen und barocken Theologie ja gerade die inhaltlich be‐ stimmte Lehre und deren Aneignung in einer stetigen Frömmigkeitspraxis den Raum offen halten, in dem es zur ereignishaften Selbstvergegenwärti‐ gung Gottes und dem existenzverwandelnden Hören der Evangeliumsbot‐ schaft kommen konnte.

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Vgl. ebd., 585. Ebd., 589. Bultmann, Enyzklopädie, 44. Vgl. ebd., 39. Jüngel, Glauben, 70 f. Herv. im Orig. Damit wiederum hängt eine Überbetonung des Imperativs und der menschlichen Tat gegenüber dem Heilsindikativ zusammen, vgl. ebd., 72 f. Mit Bezug auf Heidegger kritisiert diese Abstraktheit auch Dalferth, vgl. Dal‐ ferth, Radikale Theologie, 205.

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5.3 W. Huber: Die Zeitstruktur des Glaubens und der Lehre Die Entgegensetzung von geschichtlichem Glaubensakt und verallgemei‐ nernden Lehraussagen, die bei Bultmann exemplarisch gezeigt wurde, lässt sich noch deutlich schärfer als bei diesem herausarbeiten. So beantwortet Wolfgang Huber (geb. 1942) in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung an der Universität Heidelberg die Frage „Was ist Theologie?“ ausgehend von einer unauflöslichen Spannung zwischen Glauben und Lehre, die er als grundlegendes Problem des Protestantismus wahrnimmt. Dieser zeichne sich in all seinen Gestalten durch eine „tiefe Zweideutigkeit gegenüber dem Phänomen der Lehre“ aus. 238 Schließlich müsse diese Spannung „jedem of‐ fenkundig“ sein, „der sich auf die Erfahrung des Glaubens einläßt“ – und damit nicht erst durch die neuzeitliche Kritik am kirchlichen Christentum, sondern durch die Sache der christlichen Theologie selbst bedingt. 239 Huber beruft sich bei seiner Kritik am Lehrbegriff nicht auf Heideg‐ gers Philosophie, sondern verweist an zentraler Stelle auf Gedanken Martin Bubers. 240 Dennoch berührt er sich mit Bultmann in der grundsätzlichen Tendenz der Lehrkritik und greift auf mit diesem geteilte Argumente der Wort-Gottes-Theologie zurück. Hubers Behandlung des Lehrproblems er‐ scheint als Zuspitzung und einseitige Auflösung der Dialektik, die bei Bult‐ mann im paradoxen Verhältnis von Verkündigung und Lehre festgehalten werden soll. 241 Zunächst werden die historischen frühchristlichen Bedin‐ gungen skizziert, aufgrund derer es Huber zufolge überhaupt zur Heraus‐ bildung von kirchlicher Lehre kommen musste (5.3.1). Im Anschluss daran ist darzustellen, weshalb er die Lehre als eine Aussageform versteht, in der der Glaube sich selbst verfehlt (5.3.2).

238 Huber, Spannung, 219. Der Begriff der Zweideutigkeit berührt sich mit Bultmann, wel‐ cher der Lehre ebenfalls „eine eigentümliche Zweideutigkeit“ (KuLNT, 159. Herv. im Orig.) zugeschrieben hatte. Vgl. auch ebd., 177. 239 Huber, Spannung, 220. Die aufklärerischen Entgegensetzung von kirchlicher Lehre und freier religiöser Subjektivität im Namen der Privatreligion sei als neuzeitlicher Abweg zurückzuweisen, weil sie ideologisch die eigene Bedingtheit durch gesellschaftliche Ver‐ hältnisse verschleiere, vgl. ebd., 219 f. Allerdings habe die Aufklärung auf diese Weise „berechtigte Kritik an der Form und an der Funktion kirchlicher Lehre in Gang gesetzt“ (ebd., 220). 240 Vgl. ebd., 221; 227. 241 So beurteilt dies auch Dalferth, vgl. KoTh, 29–31.

W. Huber: Die Zeitstruktur des Glaubens und der Lehre

5.3.1 Die Nötigung zur Lehre Der Ausdruck ‚Lehre‘ umgreift laut Huber im christlichen Sprachgebrauch drei Dimensionen: Die „Unterrichtung im und über den christlichen Glau‐ ben“, den normativen „Grundbestand, an den alle Gläubigen [...] mehr oder weniger gebunden sind“ sowie die Theologie als „denkenden Nachvollzug des Glaubens“. 242 In allen drei Dimensionen trete die ambivalente Haltung des Protestantismus zu kirchlicher Lehre als zunehmend offener Wider‐ spruch hervor, wie Huber für seine Gegenwart beschreibt: Einerseits sei eine Tendenz zur Aufhebung der traditionellen Katechetik in eine Religi‐ onspädagogik zu beobachten, die statt auf die Gehalte auf den Lernprozess blickt, während andererseits die Kirche weiterhin auf der unterrichtenden Vermittlung eines Grundbestands traditioneller Lehre bestehe. 243 Ferner werde einerseits „Fraglichkeit kirchlicher Lehre“ als gerade konstitutiv für das protestantische Selbstverständnisses behauptet, während andererseits um der Einheit der Kirche willen noch immer Lehrordnungen in Geltung stehen. 244 Schließlich bestreite man einerseits grundsätzlich die Möglich‐ keit, Theologie als Dogmatik und damit Vermittlung von Lehre zu konzi‐ pieren, während andererseits daneben der dogmatische Lehrbetrieb schein‐ bar unbeeindruckt weitergeführt werde. Jedem dieser Spannungsfelder entspricht für Huber eine kirchliche Grundfunktion, die der Lehre bereits bei ihrer Entstehung in der alten Kirche übertragen wurde. Die Kirche habe mit der Ausbildung der Lehre auf eine unausweichliche, dreifache „Nötigung zur Explikation des Glau‐ bens, zur Abgrenzung von falscher Lehre und zur Vermittlung des Glau‐ bens“ reagiert. 245 Mit der Ausbildung von Lehre antworte die Kirche auf das Vermittlungsproblem, wie es sich besonders bei der Aufnahme von Taufbewerbern stellt, sowie auf ihr Abgrenzungsproblem angesichts häre‐ tischer Strömungen. 246 Schließlich bearbeite die Theologie als christliche Lehre auch das „mit dem Glauben gestellte Erkenntnisproblem“, das aus der Konkurrenz mit dem Wahrheitsanspruch der Philosophie erwachse. 247 Aufgrund all dieser Funktionen kann Huber den lehrhaft-fixierten Artiku‐ lationsformen, zu denen die Entwicklungen in der Alten Kirche geführt

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Huber, Spannung, 217 f. Vgl. ebd., 218. Ebd. Ebd., 231. Vgl. ebd., 229 f. Ebd., 229.

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haben, eine begrenzte Berechtigung als „notwendige Ausdrucksform der geschichtlichen Existenz der Kirche“ zugestehen. 248 Gleichwohl bewertet Huber diese Entwicklung im Rückblick kritisch, da so der philosophische Wahrheitsbegriff des Hellenismus Einzug in die Theologie gehalten und – unbeabsichtigter Weise – eine tiefgreifende Ver‐ schiebung im Glaubensverständnis angestoßen habe. Für den Wahrheits‐ begriff der hellenistischen Philosophie sei nämlich insbesondere die Vor‐ stellung einer „Identität der ewigen Gegenwart“ konstitutiv. 249 Unter dem Einfluss dieses philosophischen Ewigkeitsdenkens komme es daher zu dem paradoxen Ergebnis einer geschichtlich bedingten Loslösung von der Ge‐ schichtlichkeit: „Die Geschichtlichkeit der Kirche, begründet in der In‐ karnation Gottes in Jesus von Nazareth, nötigt zur Lehre. Doch in der geschichtlichen Situation in der die Kirche in die Geschichte eintritt, nimmt eben diese Lehre in erheblichem Maß eine ungeschichtliche Gestalt an“. 250 In der Folge nehme der Glaube, gerade in der katholischen Theologie, die „Gestalt des Gehorsams gegenüber einer fixierten Lehre“ an. 251 Auch die reformatorische Theologie sei von diesem Abweg betroffen, wo sie wie das konfessionelle Luthertum eine abgeschlossene Bekenntnisbildung be‐ haupte. 252 Huber ist dagegen an einer möglichst trennscharfen Unterscheidung des Lehrbegriffs vom Bekenntnisbegriff gelegen. Unter Bekenntnis will Hu‐ ber ausschließlich den situativ vollzogenen Bekenntnisakt zu Christus ver‐ standen wissen, keine kirchlichen Lehrurkunden als „gesetzliche[] Lehr‐ norm“. 253 Die Lehre wiederum wird strikt funktional auf die verschiedenen soziale Bedürfnisse – Unterweisung, Abgrenzung, Explikation – bezogen, die sich als strukturelle Herausforderungen aus der geschichtlichen Exis‐ tenz der Kirche ergeben. Und die Ausbildung einer Lehrüberlieferung in der Kirche erscheint als folgenreiche Fehlentwicklung, da mit dieser zu‐ gleich der hellenistische Wahrheitsbegriff in das Christentum Einzug halte und die kirchliche Lehre somit eine ungeschichtliche, die Zeiten übergrei‐ fende und von jeweils konkreten Herausforderungen abgelöste Identität beanspruche. Dies aber widerspreche dem geschichtlichen Wesen des Glau‐ bens und damit auch dem rechten Verständnis der Inkarnation Gottes.

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Ebd., 231. Ebd. Ebd. Herv. TG Ebd. Im Hintergrund stehen hier die Debatten um die Rezeption der Barmer Theologischen Erklärung als Bekenntnis. Als Einblick dazu vgl. Wolf, Bekenntnis. 253 Ebd., 233.

W. Huber: Die Zeitstruktur des Glaubens und der Lehre

5.3.2 Der Überhang der Vergangenheit Mit Blick auf das Verständnis des Glaubens stellt sich damit – so Huber – ein verhängnisvoller, „zwar durch den vorausgesetzten Wahrheitsbegriff verstellter, aber darum nur um so wirksamerer Vorrang der Vergangenheit vor den anderen Modi der Zeit“ ein. 254 Jesu Verkündigung und Handeln seien dagegen eine „Prolepse der Zukunft“ der erhofften Gottesherrschaft gewesen, an der der Glaube schon gegenwärtig Anteil gebe, weshalb in der Zeitstruktur des wahren Glaubens „die Zukunft deutlich den Vorrang“ habe. 255 Für den biblisch-reformatorischen Glauben gelte ferner, dass er seine Bestimmtheit und Eindeutigkeit nie durch die „Bindung an ein dog‐ matisch fixiertes Bekenntnis“ gewinne, sondern allein durch den Bezug auf die „Person Jesu“ sowie die durch sie vermittelte „reale Gegenwart der zu‐ gleich noch ausstehenden Zukunft Gottes“. 256 Der christliche Glaube sei in seiner Struktur gerade nicht an der Vergangenheit orientiert, sondern „die durch Jesus eröffnete Erfahrung der Zeit, die wir mit allen Erfahrungen in der Zeit machen können“. 257 Somit sei mit der Bindung an die Vergangen‐ heit das ursprüngliche biblische Verständnis des Glaubens verloren, der eben keine besondere Erkenntnisweise bezüglich der Glaubensinhalte be‐ zeichne, sondern als „fides apprehensiva Christi“ wesentlich fiducia, also ein Vertrauensverhältnis sei. 258 Luther habe Huber zufolge dieses biblische Glaubensverständnis frei‐ gelegt und neu zur Geltung gebracht, doch schon die altprotestantische Theologie sei ihm weder bezüglich des Glaubens, noch in seiner radika‐ len Kritik an der wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Theologie im Rahmen des Aristotelismus gefolgt. Stattdessen habe man insbesondere „die Heilige Schrift als inspirierte Sammlung zeitlos zu verstehender Leh‐ ren aufgefaßt“. 259 Auf dieser Grundlage werde, wie schon in der Scholastik, auch die spezifische Wissenschaftlichkeit der Theologie missverstanden. Denn als deren Kriterium könne kein allgemeiner Wissenschaftsbegriff an‐ gelegt werden, weil die spezifische Zeitstruktur des biblischen Glaubens jede „unbedingte Gültigkeit der vorausgesetzten Prinzipien“ relativiere. 260

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Ebd., 232. Ebd., 223. Ebd. Ebd. Ebd., 225. Ebd., 232. Vgl. ebd., 226. Ebd., 238. Huber konstatiert eine Analogie zwischen der Übernahme des aristotelischen Wissenschaftsideals durch Thomas von Aquin und damals aktuellen Anstrengungen be‐ züglich einer wissenschaftstheoretischen Begründung des Wissenschaftscharakters der

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Stattdessen müsse man „in strenger Exklusivität von der Sache aus[gehen], die die Theologie zu verantworten hat“. 261 Dies sei exemplarisch bei Luther geschehen, der „methodische Strenge, sprachliche Sorgfalt und die Ergeb‐ nisse wissenschaftlicher Welterkenntnis ganz in den Dienst der ‚Dialektik‘ von Wort Gottes und Glauben“ gestellt und so dem „Geschehen zwischen der Anrede Gottes und der Antwort der Menschen“ nachgedacht habe. 262 Die Ausformung als kirchliche Lehre und eine wissenschaftstheoretische Begründung der Theologie sind Huber zufolge zwei wichtige Anzeichen dafür, dass die Theologie sich aus diesem Lebenszusammenhang des Glau‐ bens gelöst und vom Vorfindlichen, also der Vergangenheit her entworfen hat. Als Problem der Lehre erscheint ihre angemaßte Zeitlosigkeit und Unpersönlichkeit, die zu einem Überhang der Vergangenheit und einer Er‐ starrung führt, die dem wahren Glauben gerade entgegengesetzt ist. Die Notwendigkeit der Theologie als wissenschaftlicher Unternehmung müsse ebenfalls aus dem Zeitbezug des Glaubens hergeleitet werden, der wiederum einen spezifischen Wahrheitsbezug, Gemeinschaftsbezug, Welt‐ bezug und Geschichtsbezug impliziere. 263 Ausgehend von diesen vier Bezü‐ gen habe sie erstens die Wahrheitsfrage offen zu halten und die universale Wahrheit des Christusgeschehens jeweils neu für die Situation einer be‐ stimmte Gegenwart auszulegen. Zweitens müsse sie die Frage nach dem normativen Konsens in der Kirche stellen und – wenn nötig – den „Streit um die Wahrheit“ zwischen verschiedenen Geltungsansprüchen austra‐ gen. 264 Drittens habe sie aus der Erfahrung des Glaubens verbindliche Orientierung für das Leben der Christen in der Welt zu entwickeln. Vier‐ tens und zuletzt sei die aktuelle Verkündigung immer auf ihre Kontinuität mit dem Ursprungsgeschehen des Glaubens und dessen Geschichte hin zu überprüfen. Auf diese vierfache Weise kann für Huber eine zeit- und sach‐ gemäße Theologie präzise den kirchlichen Bedürfnissen nachkommen, die

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Theologie durch Wolfhart Pannenberg, Gerhard Sauter oder Hermann Fischer/Trutz Rendtorff, vgl. ebd., 236–239. In beiden Fällen handle es sich um ein Unternehmen, das nicht eigentlich theologisch, sondern vornehmlich „wissenschaftspolitisch moti‐ viert“ (ebd., 236) sei. Jeweils schlage sich die Übernahme eines letztlich ungeeigneten (weil einen methodischen Atheismus mit sich führenden) Wissenschaftsbegriffs in In‐ konsistenzen der Begründung nieder. Insbesondere vergebe die Theologie ihre Chance, sich in ein kritisches Verhältnis zur Gegenwart zu setzen, indem sie mit der Wahrheit des Glaubens „über die Zweideutigkeit neuzeitlich wissenschaftlicher Wahrheit hinaus‐ weist“ (ebd., 239). Ebd. Ebd., 241. Vgl. zum Folgenden ebd., 241 f. Ebd., 242.

W. Huber: Die Zeitstruktur des Glaubens und der Lehre

ursprünglich zur Ausbildung von Lehre geführt haben, ohne sich selbst als Lehre misszuverstehen. Die Theologie muss ihren kirchlichen Aufgaben nämlich – wenn sie sich der spezifischen Zeitstruktur des Glaubens bewusst ist – so nachkom‐ men, dass sie nicht selbst doktrinalen Charakter annimmt und auf diesem Wege die charakteristische Gegenwartsgebundenheit und Zukunftsoffen‐ heit des christlichen Glaubens verstellt. Im Bewusstsein der Dialektik von Wortoffenbarung und Glaube könne die Theologie keinesfalls „die Gestalt einer Lehre annehmen, die in autoritativen Sätzen zeitlose Wahrheiten ver‐ tritt“. 265 Im Gegenteil stehe sie vor der Aufgabe, konsequent „die Differenz zwischen Glaube und Lehre offenzuhalten“ und damit auch die Kirche „vor der Identifikation des Glaubens mit der kirchlichen Lehre zu bewahren“. 266 Kirchliche Lehre sei der Theologie nie als Norm oder Resultat theologischer Arbeit gegeben, sondern „vollzieht sich vielmehr in dem kritischen Wech‐ selbezug“ von Verkündigung und deren Beurteilung. 267 Von der eschato‐ logischen Verkündigung sei die Lehre unterschieden als jeweils vorläufiger „Versuch, den Inhalt des Kerygmas für eine bestimmte Zeit zur Sprache zu bringen“. 268 Huber spricht in diesem Zusammenhang auch von einer strikt „hermeneutischen Funktion der kirchlichen Lehrüberlieferung“. 269 5.3.3 Interpretation Die Lehre erscheint bei Huber als eine historisch zeitweise unvermeidliche, aber im Kern dem Glauben nicht angemessene, weil aufgrund der Ver‐ bindung mit einem hellenistischen Wahrheitsverständnis objektivierende und vergegenständlichende Redeform. Der Glaube werde nicht als Vertrau‐ ensverhältnis, sondern als in der Welt vorfindliches Faktum missverstan‐ den. Hinsichtlich ihres Zeitbezugs zementiere die Lehre einen Überhang der Vergangenheit gegenüber Gegenwart und Zukunft. Die ursprünglichen kirchlichen Funktionen der Lehre seien daher durch eine Theologie zu vertreten, die sich bewusst als je aktuelle und darin nur zeitgebundene Be‐ urteilungs- und Orientierungspraxis verstehe, folglich keine allgemein-ver‐ bindlichen Aussagen treffe. Anders als bei Bultmann wird die Ausarbeitung mittels allgemein-unpersönlicher Redeformen auch nicht mehr als para‐

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Ebd., 241. Ebd. Ebd., 234. Ebd., 233. Herv. TG. Ebd. Die „Identität von biblischem Kerygma und kirchlicher Lehrüberlieferung“ dürfe also nicht als „vorgängig gewiß“ (ebd.) behauptet werden, wie tendenziell auch bei Karl Barth zu kritisieren sei.

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doxe Glaubensbewegung verstanden, die trotz ihrer Ambivalenz notwendig und vom Glauben selbst gefordert ist, sondern scheint auf dem Boden der reformatorischen Erkenntnisse vermeidbar. Eine nicht-doktrinale Theolo‐ gie soll in der Kirche das Erbe der Lehre und Lehrbekenntnisse antreten, während der Lehrbegriff zur Bezeichnung für eine spezifisch defizitäre Ge‐ stalt von Theologie verengt wird. Diese Fundamentalkritik am Lehrbegriff konvergiert vom Ausgangs‐ punkt des Kerygma aus weitgehend mit einer aufklärerisch-liberalen Lehr‐ kritik, die diesen Vergangenheitsbezug aufgrund eines Bewusstseins his‐ torischer Distanz von den biblischen Schriften und der reformatorischen Theologie problematisiert hatte. Als argumentativer Vorteil stellt sich da‐ bei – zumindest aus Sicht einer kirchlich-traditionellen Perspektive – dar, dass Hubers Kritik mit Jesus und Luther direkt auf zentrale Autoritä‐ ten evangelischer Frömmigkeit zurückgeführt und nicht als Forderung ei‐ ner philosophischen oder gesellschaftlichen Außenperspektive vorgebracht wird. Insofern hier eine klare Unterscheidung von individuellem Vertrau‐ ensverhältnis zu Gott, persönlichem Bekenntnisakt und kirchlicher Lehre eingefordert wird, ist dem Anliegen hinter dieser Lehrkritik auch zuzu‐ stimmen. Weiterführend ist auch der gegenüber Bultmann präziser ausfor‐ mulierte Bezug der Lehrentwicklung auf die sozialen Bedürfnisse religiöser Gemeinschaften und kirchlicher Organisation. Allerdings stellen sich kritische Rückfragen – etwa, ob die Ableitung der Lehraussage aus einem hellenistischen Wahrheitsverständnis, die funk‐ tionale Ersetzbarkeit der Lehre durch die Theologie sowie der zugespitzte Gegensatz von Lehre und Glaube vollends überzeugen können. So lässt sich beispielsweise zeigen, dass die rechte Lehre zumindest nach refor‐ matorischem Verständnis nicht einseitig an der Vergangenheit orientiert ist, sondern gerade auch den Vorgriff auf die Zukunft des Gottesgerichts vornimmt, weshalb sie im Namen der Evangeliumsbotschaft kritisch gegen Tradition und Gegenwart gewendet werden kann. Auch ist zweifelhaft, ob die Theologie den kirchlichen Funktionen der Lehre tatsächlich nachkom‐ men kann, ohne sich umgehend in ganz analoge Probleme zu verstricken. Könnte in Aufnahme der Anliegen Hubers nicht gerade ein dynamisierter Lehrbegriff dafür einstehen, die Spannung zwischen dem nie nur punktu‐ ellen Wahrheitsanspruch konkreter Lehrentscheidungen und dem unab‐ schließbaren Aushandlungsprozess eines – nicht auf den Binnenraum der Kirche beschränkten – ‚Streits um die Wahrheit‘ sichtbar zu halten?

I. U. Dalferth: Das Lehrproblem und die Verdoppelung der Theologie

5.4 I. U. Dalferth: Das Lehrproblem und die Verdoppelung der Theologie Ingolf U. Dalferth (geb. 1948) greift in seiner Behandlung des Lehrproblems explizit auf Bultmann und Huber zurück. Dabei weist Dalferth in diesem Zusammenhang anders als Huber die Frage nach einer wissenschaftstheo‐ retischen Begründung der Theologie nicht ab. Ihm geht es im Gegenteil ausdrücklich darum, die spezifische Wissenschaftlichkeit und Rationalität der Theologie zu bestimmen. 270 Seine Programmformel einer „kombinato‐ rischen“ Theologie soll dabei festhalten, dass die Theologie ihren sachlichen wie institutionellen Ort an der Schnittstelle verschiedener Bezugssysteme hat: Sei der Theologie einerseits ein Bezug auf Kirche und Glaube einge‐ schrieben, sei sie zugleich andererseits auf das gegenwärtige Wahrheitsbe‐ wusstsein bezogen. Teile die Theologie mit anderen Wissenschaften formal die „argumentative und diskursive Art ihrer Problembehandlung“, so ge‐ winne sie die „inhaltlichen Kriterien ihrer Problembearbeitung“ aus dem Glauben, wie er im Kommunikationszusammenhang der Kirche vermit‐ telt wird. 271 Als grundlegende „Referenzsysteme“ der Theologie erscheinen neben dem christlichen Glauben und der zeitgenössische Lebenserfahrung das „Wissen der verschiedenen Wissenschaften“, die „Organisationen von Staat, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft“ sowie die „verschiedenen Glau‐ benstraditionen und Kirchen des Religionssystems“. 272 Keines dieser Refe‐ renzsysteme sei dabei verzichtbar oder durch ein anderes ersetzbar. Dal‐ ferths kombinatorische Herangehensweise zeichnet sich ihrem Anspruch nach also durch das „kritische Inbeziehungsetzen und kreative Kombinie‐ ren“ verschiedener, nicht-reduzierbarer Perspektiven aus. 273 Die „heterogene, plural gewordene Wirklichkeit“ der Gegenwart ver‐ urteilt laut Dalferth alle Versuche zum Scheitern, dem Legitimitätsverlust der Theologie durch „Fundamentalismen, Dogmatismen und Irrationalis‐

270 Vgl. KoTh, 5 f. Die folgende Interpretation beschränkt sich auf die Verhältnisbestim‐ mung von Theologie und kirchlicher Lehre sowie die Erörterung der damit zusammen‐ hängenden Probleme, die Dalferth in diesem Entwurf vorgelegt hat. Für eine Vorstufe der entsprechenden Passagen vgl. Dalferth, Wissenschaftliche Theologie. Die zentrale Herausforderung unter den Bedingungen der Gegenwart sei dabei, die Theologie nicht in ein naturwissenschaftliches, an Gesetzeserkenntnis orientiertes Paradigma von Wis‐ senschaft einzupassen, vgl. KoTh, 15–18; 60–72. 271 Ebd., 6. Vgl. ebd., 21 f. 272 Ebd., 19. 273 Ebd.

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men“ zu begegnen. 274 Theologie sei also keinesfalls als „‚Amtsphilosophie‘ einer partikularen kirchlichen Institution mit allen negativen Folgen für ihre eigene Unabhängigkeit des Denkens“ zu entwerfen, sondern nur in Gestalt eines methodisch kontrollierten „Orientierungsrahmens gemein‐ samer Deuteaktivitäten und Gestaltungsverfahren“ möglich. 275 Hier wird bereits deutlich, dass Dalferth stark an der Selbständigkeit der akademi‐ schen Theologie gegenüber der Kirche und ihren Institutionen gelegen ist. Allerdings sieht er durchaus die Gefahr, dass eine sich „monoreferentiell“ entwerfende Theologie nicht nur unter kirchliche Kontrolle, sondern ge‐ nauso unter die „einseitige Dominanz“ eines alternativen Bezugssystems geraten könnte. 276 Institutionell sei die Theologie daher dazu auf einen „rechtlich gesicherten gesellschaftlichen Ort“ an der Schnittstelle verschie‐ dener Bezugssysteme angewiesen, der ihre „Freiheit und gesellschaftliche Öffentlichkeit ebenso garantiert wie ihre Kirchlichkeit und lebensprakti‐ sche Wahrheitsorientierung“. 277 Vor diesem Hintergrund erscheint – ohne dass Dalferth dies explizit macht – die von Staat und Kirche gemeinsam verantwortete theologische Fakultät an einer öffentlichen Universität als idealer Ort der Theologie. Inhaltlicher Ausgangspunkt der theologischen Perspektive ist für Dal‐ ferth das christliche Glaubenswissen, welches sie „zu erheben und systema‐ tisch auszuarbeiten“ habe. 278 Dieses christliche Glaubenswissen sei „Ori‐ entierungswissen“, das in einem „Prozeß permanenter Deutung der Welt“ seine charakteristische „Ordnungs- und Ortungsfunktion“ erfülle. 279 Diese Weltdeutung und Orientierung vollziehe sich im Lichte der „grundlegen‐ den Differenzgesichtspunkte“ des christlichen Glaubens – also spezifisch aufeinander bezogener Gegensatzpaare, die „im Deuterahmen des christ‐ lichen Glaubens verankert sind“. 280 Das spezifische Differenzmuster des 274 Ebd., 12 f. „Positionelle Entwürfe mit konfessionalistischem Ausschließlichkeitsan‐ spruch“ scheiden als ernstzunehmende Option aus, weil sie nur so lange eine „Über‐ lebens- und Geltungschance“ hatten, wie sie „eng an eine etablierte kirchlich verfasste Sozialgestalt christlichen Glaubenslebens im institutionalisierten Organisationsgeflecht unserer Gesellschaft angeschlossen“ (ebd., 14) waren. 275 Ebd. Vgl. ebd., 5. Sei die Theologie gleichermaßen auf die Kirche wie auf die Wis‐ senschaft bezogen, falte sich auch ihr spezifisches „Rationalitätsproblem“ nach diesen beiden Seiten in das „Lehrproblem“ (ebd.) und das „Erkenntnisproblem“ (ebd., 6) aus. 276 Ebd., 20. 277 Ebd. Gerade als „kritische Binnenreflexion christlichen Glaubenslebens“ (ebd., 20. Herv. TG) benötige die Theologie eine institutionell und auch rechtlich abgesicherte „Freiheit zur kritischen Distanz von der Kirche“ (ebd., 21), ohne völlig von dieser abgelöst zu sein. 278 Ebd., 25. 279 Ebd. Zu Orientierungswissen und Sinnfrage vgl. ebd., 109 f. 280 Ebd., 25. Vgl. ebd., 110: „Zu diesem Ordnen und Orten kommt es nur über eine Prozeß permanenter Deutung der Welt und unserer Welterfahrung im Licht unserer jeweils

I. U. Dalferth: Das Lehrproblem und die Verdoppelung der Theologie

christlichen Glaubenswissens beanspruche, in dieser praktischen Anwen‐ dung „verlässlich und realitätsgerecht“ zu sein. 281 Die jeweils zeitbedingte Artikulation dieses Glaubenswissens und seines spezifischen Differenz‐ musters erfolgt dabei laut Dalferth in sprachlicher und symbolischer Ge‐ stalt. Dem Individuum zugeeignet werde es durch eine „Einweisung in den christlichen Verweisungs- und Deutehorizont“, die in lebenspraktischen Vollzügen und exemplarisch im Gottesdienst erfolge. 282 Insofern sie die‐ ses Glaubenswissen als Differenzmuster systematisch ausarbeite, besitze die Theologie „in all ihren Ausprägungen das Merkmal der Kirchlichkeit“. 283 Sie sei damit auch notwendig dem „geschichtlich-konventionell gegebenen Selbstverständnis des christlichen Glaubens“ verpflichtet, welches ihr „in Bekenntnis, Lehre und Kultus der Kirchen in einer historisch und sachlich komplexen Gemengelage vorgegeben“ ist. 284 Die genaue Verhältnisbestim‐ mung von Theologie, Kirche und kirchlicher Lehre ist laut Dalferth aller‐ dings nicht nur zwischen den Konfessionen, sondern auch innerhalb der evangelischen Theologie strittig. Die grundlegenden Streitpunkte betreffen erstens die Unterscheidung von Verkündigung und Lehre (5.4.1), zweitens den Unterschied von Glau‐ benskommunikation und Glaubensreflexion (5.4.2) sowie drittens das Ver‐ hältnis von Binnen- und Außenkommunikation (5.4.3), dem bei Dalferth eine Unterscheidung von kirchenbezogener und weltbezogener Theolo‐ gie entspricht. 285 Schließlich ist zu betrachten, wie es in der Spannung zwischen Perspektivität und Universalität des christlichen Glaubens zur Herausbildung von genuin theologischen Rationalitätsstandards kommt (5.4.4).

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schon vorliegenden Erkenntnis, und solche Deutung vollzieht sich immer in der indivi‐ duell und sozial spannungsvollen Dialektik gemeinsamer Bezugsrahmen einerseits und je individueller Standpunkte andererseits.“ (Herv. im Orig.). Ebd., 25. Im Hintergrund steht die Grundannahme, dass Rationalität sich grundsätzlich über Differenzen aufbaut und „zu spezifischen Differenzmustern“ (ebd., 24) ausdiffe‐ renziert ist. Diese für Rationalität konstitutiven Differenzen werden ihrerseits „durch Zeichenprozesse konstituiert und zur Wirkung“ (ebd.), die nicht von ihrem Gebrauch durch Zeichenbenutzer abstrahiert werden können. Zu beachten ist, dass diese Dif‐ ferenzen ihre jeweiligen Pole nicht trennen, sondern in der Unterscheidung zu einer komplexen Einheit verbinden, vgl. ebd., 48. Zu Struktur und Bedingungen dieser Se‐ miose vgl. ebd., 24f; 113–117. Ebd., 25. Ebd., 20. Ebd. Kirche ist dabei zunächst verstanden als „Lebensgemeinschaft“ und „eschatologi‐ sche Glaubensgemeinschaft“ (ebd., 26). Vgl. ebd., 23 f.

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5.4.1 Erste Differenz: Verkündigung und Lehre Hinsichtlich der Differenz von Verkündigung und Lehre würdigt Dalferth das Verdienst Bultmanns, auf neutestamentlicher Grundlage die Unter‐ scheidung von „glaubenskonstituierender Verkündigung der Kirche“ und „reflektierender theologischer Lehre“ als theologische „Leitdifferenz“ eta‐ bliert zu haben. 286 Die Lehre sei als opus hominum klar vom unverfügbaren opus dei zu unterscheiden. Die „anhand der Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament immer wieder neu sich ereignende Selbstvergegen‐ wärtigung“ Gottes sei allein hinreichende Bedingung für die Konstitution des Glaubens und der Kirche. 287 Deutlicher als Bultmann und im Unter‐ schied zu Huber will Dalferth allerdings daran festhalten, dass es sich bei „Lehre, Lehren und Lernen“ um „unabdingbare Vollzugsmomente der ge‐ schichtlichen Kommunikationsgemeinschaft Kirche“ handelt. 288 Wenn es „keine christliche Kirche ohne Lehre“ geben könne, sei damit sowohl ein tradierbarer Inhalt, als auch ein kontinuierlicher Prozess seiner Überliefe‐ rung gemeint. 289 Der Begriff der Lehre ist für Dalferth ein „theologischer Reflexionsbe‐ griff par excellence“, der je nach Kontext und theologischer Konzeption unterschiedliche Zuspitzungen erfahren könne. 290 Vom Kerygma der Ver‐ kündigung sei die kirchliche Lehre durch ihren „tentativen und revidier‐ baren Charakter“ unterschieden. 291 Zugleich bleiben Verkündigung und Lehre durch ihre inhaltliche Übereinstimmung immer aufeinander bezo‐ gen. Begegne das geschichtliche Kerygma nur durch die menschliche Rede hindurch und sei damit in seiner konkreten Form stets kritisierbar, be‐ stehe trotz der „funktionalen Differenz“ und sachlichen Vorordnung des Kerygmas eine enge Wechselbeziehung zur Lehre. 292 Wegweisend bleibt für Dalferth die These Bultmanns, dass „der Beitrag der wissenschaftli‐ chen Theologie zur kirchlichen Lehre“ darin besteht, „die Verkündigung sicherzustellen“. 293 Auffälligerweise trägt Dalferth in seiner Paraphrase den

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Ebd., 27. Ebd., 26. Ebd. Ebd. Ebd., 27. Damit hänge zusammen, dass auch aus den Schriften des Neuen Testaments kein einheitlicher Begriff von Lehre erhoben werden könne. 291 Ebd. 292 Ebd., 28. Sei die Verkündigung „Grund und Voraussetzung“ der Theologie, habe diese doch die Verkündigung immer neu an „ihrem Sachkriterium zu messen und auszurich‐ ten“ (ebd.). 293 Ebd., 33. Herv. TG. Vgl. Bultmann, Theologie, 459.

I. U. Dalferth: Das Lehrproblem und die Verdoppelung der Theologie

Lehrbegriff genau dort wieder ein, wo er bei Bultmann als vermittelnde In‐ stanz zwischen Verkündigung und Theologie entfallen war. Mit der theologischen Leitdifferenz von Verkündigung und Lehre könne man nun unterschiedlich umgehen. Erstens könne die Lehre mit der Ver‐ kündigung faktisch gleichgesetzt und als Unterfall in einen weiten Ver‐ kündigungsbegriff einbezogen werden. 294 Beide Begriffe werden dann als tendenziell austauschbar behandelt, was allerdings eine präzise Verhältnis‐ bestimmung zwischen Kirche und akademischer Theologie erschwere. 295 Zweitens bestehe die Möglichkeit, einen echten Gegensatz zwischen Lehrund Verkündigungsbegriff aufzubauen. 296 Sei das Kerygma zeitlos gültig und der Kirche vorgegeben, bringe die kirchliche Lehre dieses Kerygma in zeitlich bedingten und zeitgebundenen Sprachformen zum Ausdruck, die als hermeneutische Hinweise auf die Verkündigung keinen eigenen Auto‐ ritätsanspruch erheben. 297 Theologie wird dann tendenziell als „rein kriti‐ sches Instrument der Kirche zur Kontrolle ihrer Lehre“ bestimmt. 298 Durch eine solche einseitige „Herausarbeitung der funktionalen Differenzen zwi‐ schen Verkündigung, Bekenntnis, kirchlicher Lehre und Theologie“ werde allerdings leicht der Anspruch auf deren inhaltliche Übereinstimmung un‐ terbelichtet. 299 Zudem verliere die Theologie ihren direkten Wahrheitsbe‐ zug. 300 Drittens könne schließlich, wie bei Eilert Herms zu beobachten sei, der Lehrbegriff als der umfassende Begriff konzipiert werden, in den dann Ver‐ kündigung und Theologie als unterschiedliche Gattungen von Lehre einge‐ zeichnet werden. 301 Die Beobachtung, dass die theologische Lehre nicht nur den Inhalt des Offenbarungszeugnisses wiedergebe, sondern auch dessen 294 Vgl. KoTh, 28 f. Dalferth sieht das exemplarisch bei dem Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz durchgeführt, das 1984 von der Konferenz verabschiedet und 1985 unter dem Titel „Was gilt in der Kirche? Die Verantwortung für Verkündigung und verbindliche Lehre in der Evangelischen Kirche“ herausgegeben wurde. 295 Vgl. ebd., 29. Auf die Frage nach der Rolle akademischer Theologie für das Leben der Kirche werde entsprechend nur eine „indirekt-pragmatische Antwort“ (ebd.) ausgehend von den faktischen Verhältnissen gegeben. 296 Vgl. ebd., 29–31. Als Beispiele zieht Dalferth hier Wolfgang Huber und Dietrich Ritschl heran. Zu Huber siehe oben unter 5.3. Zu Ritschl vgl. Ritschl, Art. Lehre; ders., Logik. 297 Vgl. KoTh, 30. Mit A. Peters kritisiert Dalferth hier eine unzureichende Bestimmung des eschatologischen Horizonts der christlichen Existenz in der Zeit. 298 Ebd. 299 Ebd., 31. 300 Beispielsweise führe D. Ritschl sein rein regulatives Verständnis von Theologie zu der fragwürdigen „Alternative zwischen hilfreichen und wahren/falschen theologischen Sät‐ zen“ (ebd.). 301 Vgl. ebd., 31–33. Zu Herms siehe ausführlich in Kapitel 6, besonders unter 6.6.

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Vollzugsweisen und Subjekte behandle, erkläre dann sowohl ihre inhaltli‐ che Übereinstimmung mit der Verkündigung, als auch ihr spezifisch erwei‐ tertes „Themenrepertoire“. 302 Um kirchlich geltende Lehre im Unterschied zu einer theologischen Lehrbildung handle es sich nach dieser Konzeption immer dann, wenn es in der Kirche zu einem Lehrkonsens komme. Als Aufgabe der Theologie erscheine daher, die für die erfolgreiche Artikula‐ tion eines solchen Lehrkonsenses „notwendigen Bedingungen konsensfä‐ higer Lehraussagen einzuüben“, insbesondere deren Übereinstimmung mit Schrift und Bekenntnis, daneben sprachliche Klarheit und hermeneutische Disziplin. 303 Dalferth kritisiert daran, dass mit der einseitigen Ausrich‐ tung der Theologie auf diese „Konsensfunktion“, welche die Theologie für die Selbstverständigung der Gläubigen erfülle, ihre „Kontradiktionsfunk‐ tion“ bezüglich der „zeitgenössischen wissenschaftlichen Welterfassung“ sowie auch ihre kritische Funktion gegenüber jeder sich absolut setzender Kirchenlehre unterbestimmt bleibe. 304 Die Theologie habe aber, so Dal‐ ferth mit deutlich antikatholischer Stoßrichtung, einen kontradiktorischen Wahrheitsanspruch des Evangeliums gegenüber jeder „sich absolut setzen‐ den Wirklichkeitskonzeption (einschließlich der kirchlichen Lehrbildun‐ gen!)“ zu vertreten. 305 Um die berechtigten Anliegen hinter diesen drei unbefriedigenden Al‐ ternativen herauszuarbeiten, identifiziert Dalferth drei Wege, auf denen eine dezidiert kirchliche Theologie der Evangeliumsverkündigung als dem „assertorischen Vergegenwärtigen des überlieferten Offenbarungszeugnis‐ ses“ dienen könne: 306 Sie könne erstens „Berufswissen“ für Amtsträger ver‐ mitteln und die Kirchenleitungen beraten, zweitens kritisch die „Differenz zwischen Glauben und Lehre“ offenhalten und schließlich drittens im Na‐ men der „Konsensfähigkeit christlicher Lehre“ die „sprachliche, hermeneu‐ tische und kritische Disziplin“ von Verkündigung und Lehrbildung beför‐ dern. 307 Diese drei Aufgaben bauen aufeinander auf und entsprechen in dieser Abfolge einem stufenweisen „Progreß der Präzisierung“, in dem mit jeder Stufe die Bedingungen der vorangehenden Aufgabe erhellt werden. 308 Dalferth versucht somit, anhand seiner Auseinandersetzung mit früheren Positionen zum Lehrproblem eine umfassende Funktionsbestimmung der Theologie nach ihrem kirchlichen Bezugssystem hin vorzunehmen.

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Ebd., 32. Ebd. Ebd., 33. Herv. im Orig. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 34

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5.4.2 Zweite Differenz: Glaubenskommunikation und Glaubensreflexion Zusätzliche Schärfe gewinnt für Dalferth die Sicht auf das Lehrproblem, wenn man neben der Differenz von Lehre und Verkündigung die Diffe‐ renz von Glaube, Glaubenskommunikation und Glaubensreflexion in die Überlegungen einbezieht. Denn gemeinsame Voraussetzung von Lehre und Theologie sei das „glaubensschaffende und kirchenkonstituierende Han‐ deln Gottes“. 309 Gottes Geist bediene sich „menschlicher Glaubenszeug‐ nisse“ für seine „Selbstvergegenwärtigung“ in „immer wieder neuen Ko‐ präsenzsituationen“. 310 In dieser Kopräsenz mit Gottes Gegenwart werden Menschen zu „positiver oder negativer Stellungnahme“ provoziert, wobei im Fall der geglückten Provokation zum Glauben die Wahrheit der Glau‐ benszeugnisse „in ein individuelles Wahrheitsbewußtsein eingeht“. 311 Im‐ pliziere der Glaube deshalb immer ein „individuell getöntes Glaubenswis‐ sen“, sei er zugleich „intrinsisch auf ein überindividuelles Gemeinschafts‐ wissen angelegt“. 312 Zusätzlich dränge der durch göttliches Handeln kon‐ stituierte Glaube darauf, in menschlicher Kommunikation bezeugt zu wer‐ den und zur Darstellung zu kommen. Diese Kommunikation ist zunächst Kommunikation unter den Bedingungen wechselseitiger Anwesenheit und damit auf „gemeinsame Zeiten und Orte“ angewiesen. 313 Allerdings ent‐ ziehe sich das Dargestellte in diesem Fall kategorial dem „menschlichem Zugriff“, weshalb es nur in eine geschichtliche Mannigfaltigkeit individuel‐ ler Darstellungen eingehe, die jeweils als Glaubenszeugnisse „nicht einfach in einmal gefundener Gestalt immer wieder repetierbar“ seien. 314 Die gottesdienstliche „Ausgrenzung dieser spezifischen Kommunikati‐ onssituationen und ihrer Zeiten und Orte aus dem allgemeinen Lebenszu‐ sammenhang“ führe zur auch „soziologisch greifbaren Ausbildung“ einer kirchlichen Gemeinschaft als geschichtlicher Größe. 315 Auf diese Weise bilde sich die „Grunddifferenz von Kirche und Welt“ aus, die wiederum 309 310 311 312 313

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 34 f. Ebd., 36. Immer seien „spezifische gemeinschaftliche Vollzüge“ (ebd., 35) die notwen‐ dige Bedingung individueller Glaubenskommunikation. 314 Ebd. Dies gelte auch für die ihrer kommunikativen Struktur nach zeitinvarianten Kom‐ munikationsformen wie Gebet, Bekenntnis und Verkündigung, die in der Geschichte verschiedene Ausprägungen gefunden haben, um „den jeweiligen Kommunikationsbe‐ dürfnissen, Kommunikationsmedien und Kommunikationsstilen“ (ebd., 36) zu entspre‐ chen. 315 Ebd.

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seitens der Kirche das Bedürfnis für einen „gemeinsam verbindlichen Glau‐ benskonsens“ und damit auch einen „spezifischen Bedarf an tradierbarer Lehre“ erzeuge, um die inhaltliche Übereinstimmung mit dem Ursprung sicherzustellen und die „Überprüfung des je zu Sagenden am schon Ge‐ sagten nach akzeptierten Kriterien“ zu ermöglichen. 316 Ein praktischer und theoretischer Konsens über dieses Gemeinschaftswissen und den entspre‐ chenden gemeinsamen Lebensvollzug lasse sich „nur über die Kommunika‐ tion konsensfähiger Glaubensartikulationen erreichen“. 317 Die christliche Glaubenskommunikation setzt nach Dalferth also notwendig einen „Pro‐ zeß kirchlicher Lehrbildung“ frei, der sich über die Ausbildung tradierter Formeln, deren schriftliche Fixierung, die Herausbildung eines Kanons und die Festsetzung bestimmter (dogmatischer) Regeln der Interpretation ten‐ denziell immer weiter von den „elementaren Vollzugssituationen christli‐ cher Glaubenspraxis“ entferne. 318 Kirche ohne Lehre und Theologie könne es faktisch nicht geben, denn jede „konsensgetragene und auf Konsens zielende“ Glaubenskommunikation habe „basalen theologischen Charakter und impliziert rudimentäre Lehrbildung“. 319 Mit der Ausbildung theologischer Institutionen reagiere die Kirche ei‐ nerseits auf Differenzen innerhalb der Gemeinde, andererseits auch auf die Infragestellung durch Herausforderungen von außen, die sie „zu situa‐ tionsdistanzierter Reflexion ihrer Glaubenskommunikation nötigen, um durch kritischen Vergleich, sachliche Beurteilung und normierende Wer‐ tung Problemlösungen auszuarbeiten“. 320 Ihr ursprünglich problembezo‐ genes, aber dauerhaft verfügbar gehaltenes Glaubenswissen verliere aller‐ dings durch abstrahierende „Reduktion auf situationsunabhängig verfüg‐ bare Inhalte“ schrittweise seinen direkten Situationsbezug, so dass im Zuge dieser Reflexion die Theologie als spezifische Form der „Glaubenskommu‐ nikation im Modus der Abwesenheit“ entstehe. 321 Deutlich wird hier, wie Dalferth – in konstruktiver Aufnahme einer Grundfigur Bultmanns – aus dem harten Überschritt vom Glauben in seinen Lebensbezügen zur ver‐ gegenständlichend-distanzierten Lehraussage ein Kontinuum organischer Entwicklung macht. Die der Glaubenskommunikation implizite Theologie

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Ebd. Ebd., 35. Ebd., 37. Ebd., 38. Vgl. ebd., 40. Ebd., 38. Theologie sei daher immer „problemorientierte Reflexion“ (ebd., 37. Im Orig. teilw. kursiv). 321 Ebd. Zur Unterscheidung von Kommunikation unter Anwesenden und Kommunikation im Modus der Abwesenheit vgl. ebd., 121–125. Zum Anwendung auf die Bedingungen einer Kommunikation mit dem im Geist kopräsenten Gott vgl. ebd., 144–154.

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arbeitet sich als Fundus situationsbezogener und situativ erneut anwend‐ barer Problemlösungen aus. Im schrittweisen Prozess dieser Lehr- und Theologiebildung lassen sich nun verschiedene Stufen der Reflexion unterscheiden. Erstens fallen dar‐ unter die unmittelbaren „Artikulationen des Glaubenskonsenses“, wobei dieser Konsens „niemals in ganzem Umfang fixiert“ sei, sondern immer mehr umfasse, als „in liturgischen Formeln, gemeinsamen Bekenntnissen oder formellen Dogmen explizit formuliert“ werden könne. 322 Dies ergebe sich aus dem entscheidenden Umstand, dass der Glaubenskonsens sich immer auch auf „notwendig vorausgesetzte und sachlich implizierte Sach‐ verhalte“ erstrecke, die nur zu Bewusstsein gebracht und sprachlich artiku‐ liert werden, wenn sie problematisch geworden sind. 323 Dieser umfassende Glaubenskonsens könne daher auch nicht den kirchlichen Lehrdokumen‐ ten abgelesen, sondern allein durch Partizipation an einer christlichen „Le‐ bensweise“ erschlossen werden. 324 Zweitens hebe sich von diesem Glaubenskonsens der „dogmatisch ent‐ faltete Lehrkonsens“ ab, der als „Meta-Konsens“ ein Produkt theologi‐ scher Reflexion, bezogen auf einen Kanon bestimmter Texte und selbst „in Gestalt bestimmter autoritativer Texte“ niedergelegt sei. 325 Die kirchliche Lehre sei somit – in freier Anlehnung an die Dogmatikdefinition Schleier‐ machers – zu bestimmen als: „Inbegriff des in einer Kirche zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Konsen‐ ses über das in der gemeinschaftlichen Praxis in Anspruch genommene gemeinsame Glaubenswissen, damit aber immer auch der Inbegriff des jeweils bestehenden Kon‐ senses über die akzeptablen Lösungen explizit gewordener Probleme in der christli‐ chen Gemeinde.“ 326

Dieser Lehrkonsens ist in seiner konkreten Gestalt immer auch durch ge‐ schichtliche Herausforderungen bestimmt, die durch die Formulierung ex‐ pliziter Lehre und einen kirchlichen Konsens über diese Formulierungen verarbeitet worden sind. Er ist damit notwendig enger als der Glaubens‐ konsens, der auch eine Übereinstimmung über implizit vorausgesetzte und bislang unhinterfragte Sachverhalte umgreift. 322 323 324 325 326

Ebd., 39. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Herv. TG, im Orig. teilw. kursiv. Vgl. auch ebd., 101. Lehre verbinde die drei „Fel‐ der“ der „sachlichen und institutionellen Lösungen, die im Blick auf konkrete Konflikte in der Geschichte der Kirche erreicht wurden“, der „dabei maßgeblichen Prinzipien und Kriterien“ sowie der „akzeptablen Strategien und Verfahrensweisen zur Lösung auftre‐ tender Konflikte“ (ebd., 40).

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Schließlich und drittens könne der Lehrkonsens widerum durch die Theologie noch einmal systematisch entfaltet und zusammenhängend zur Darstellung gebracht werden. 327 Wie alle theologischen Forschungsergeb‐ nisse seien auch solche Darstellungen immer darauf angelegt, als „theo‐ logische Lehre“ in einen Konsens unter den Theologen einzugehen. 328 Die theologische Lehre umfasse somit „die Probleme, Methoden und Re‐ sultate der Binnenreflexion christlicher Glaubenskommunikation“, sofern diese „zu einer bestimmten Zeit in der Gemeinschaft der Theologietrei‐ benden begründete Zustimmung finden, also durch deren Konsens getra‐ gen werden“. 329 Ein theologischer Konsens könne sich entsprechend etwa „über Problemfelder, Methoden und Problemlösungen im Reflektieren der Glaubenskommunikation“ erstrecken. 330 Als theologia viatorum habe sich die Theologie in „permanenter Auseinandersetzung mit dem Wissen ihrer Zeit“ zu verstehen und strikt davon Abstand zu nehmen, ihren einmal er‐ zielten Konsens oder gar eine einzelne Darstellung der theologischen Lehre als definitiv zu begreifen. 331 Die Theologie nimmt für Dalferth gegenüber der unmittelbar-kopräsen‐ ten Glaubenskommunikation – etwa während des Gottesdienstes oder auch in der Verständigung über kirchliche Lehre – eine reflektierende „Position der Selbstbeobachtung“ ein. 332 Dies impliziere eine bewusste „Distanzie‐ rung“, eine „Ablösung vom Interaktionszusammenhang“ und damit „situa‐ tionsunabhängige Ortlosigkeit“. 333 Dennoch unterscheide sie ihr bleiben‐ der Bezug auf die Glaubenskommunikation als deren kritisch-normative Reflexion von einer nur deskriptiven Religionswissenschaft. Die kirchliche wie theologische Lehre bleibt für Dalferth durch ihren „wesentlich herme‐ neutischen, dogmatischen und praxisleitenden Charakter“ bestimmt und 327 Vgl. ebd., 40: „wie der Beitrag der kirchlichen Lehre zum Glaubenskonsens in der nach‐ träglichen Artikulation des Konsenses über den Glaubenskonsens besteht, so besteht der Beitrag der kirchlichen Theologie zur kirchlichen Lehre in der systematischen Entfal‐ tung des Lehrkonsenses“. 328 Ebd., 37. 329 Ebd., 101. Herv. TG. 330 Ebd., 39. Dies sei zu konstatieren, sobald „bestimmte Probleme, Methoden und Resultate [...] sich im wissenschaftlichen Diskurs der Theologie durchsetzen und im Lehr- und Ausbildungsbetrieb Einfluss gewinnen“ (ebd., 101). 331 Ebd., 102 f. Die Geschichtlichkeit und prinzipielle Revidierbarkeit theologischer Lehre sei darin begründet, dass wissenschaftliche Theologie immer die unhintergehbare, „ihr zugrundeliegende Differenz von göttlicher Konstitution des Glaubens und menschlicher Kommunikation von Glaubenswissen“ (ebd., 37) berücksichtige. 332 Ebd., 38. Herv. im Orig. 333 Ebd. Theologie sei „eine im System christlicher Grundsituationen [Bekenntnis, Gebet, Verkündigung usw., d. Verf.] zwar ortlose, für dieses System aber notwendige Funktion der Kirche“ (ebd.).

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darin unterschieden von einer interesselosen, gänzlich vom ursprünglichen Lebensverhältnis abgelösten Theorie. 334 Die Theologie erfülle nicht nur eine deskriptive Systematisierungsaufgabe, sondern sei immer auch „as‐ sertorisch“ auf den „Sinngehalt kirchlich vorgegebenen Glaubenswissens in seiner semantischen (Glaubensinhalt) und pragmatischen (Glaubensge‐ wißheit) Dimension“ bezogen. 335 Bei Dalferth wird somit die Abkünftigkeit von Lehre und Theologie von der Glaubenskommunikation und ihre Differenz zum Kerygma weniger stark betont als bei seinen Vorgängern. Er legt das Augenmerk vielmehr auf die inhaltliche Übereinstimmung der verschiedenen Ebenen sowie die blei‐ bende, nicht nur historische Nötigung, die den Glauben selbst zur Institu‐ tionalisierung einer distanzierend-reflektierenden Beobachterperspektive auf die Glaubenskommunikation treibt. Ohne die Theologie als reflexive, problemorientierte Selbstbeobachtung der Glaubenskommunikation gäbe es „keine Selbstkritik kirchlicher Lehre“ und kein „produktives Offenhal‐ ten der Differenz zwischen Lehre und Glaube“. 336 Zur kritischen Funktion der Theologie treten eine konstruktive Funktion für die Artikulation des kirchlichen Lehrkonsenses sowie ein unverzichtbares assertorisches Mo‐ ment, das in der dogmatischen Darstellung faktisch immer schon impliziert ist. Indem die Theologie den „geschaffenen Glaubens- und Lehrkonsens auf der Basis seiner Artikulationen“ möglichst präzise zur Darstellung bringe, vermeide sie nicht nur die Wiederkehr schon bekannter Probleme, sondern wirke auch präventiv darauf hin, die „Möglichkeiten akzeptabler und kon‐ sensfähiger Lösungen“ für eventuell künftig auftretenden Probleme zu er‐ kunden. 337 Problemlösungen können – oder dürfen? – nämlich nur „kirch‐ lich konsensfähig“ werden, wenn sie „sprachlich eindeutig und inhaltlich klar die Grunddifferenzen zur Geltung bringen, von denen Glaube und Kir‐ che leben“. 338

334 Ebd., 102 f. Im Orig. teilw. kursiv. 335 Ebd., 102. Die „dogmatische Darstellungsform“ wird bei Dalferth so definiert, dass durch sie ein „assertorisch vertretener Inhalt individuellen und gemeinschaftlichen Wahrheitsbewußtseins im Kontext des sich wandelnden Wahrheitsbewußtseins der je‐ weiligen Zeit“ (ebd.) zur Geltung gebracht werden soll. 336 Ebd., 38 f. Dieser Differenz liege wiederum die Grunddifferenz von menschlichem Werk und göttlichem Wirken zugrunde. 337 Ebd., 40. 338 Ebd. Dies impliziere neben der Unterscheidung von Theologie und Glaubenskommu‐ nikation auch einen Unterschied zwischen Verkündigungssprache und theologischer Begrifflichkeit, vgl. ebd., 41 f.

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5.4.3 Dritte Differenz: Binnen- und Außenkommunikation Der gesamte Problembereich theologischer Reflexion wird für Dalferth strukturiert durch die Unterscheidung zweier Grundtypen von Problemen: Einerseits gibt es solche, die aus der Binnenkommunikation der Gemeinde erwachsen, und andererseits solche, die im Kontakt der Gemeinde mit der sie umgebenden Welt aufbrechen. Ausgehend von dieser doppelten Herausforderung könne man innerhalb der Theologie eine in ihrer Aus‐ richtung „kirchenbezogene“ und eine „weltbezogene“ Reflexion der Glau‐ benskommunikation unterscheiden, denen ein primär kirchlicher und ein primär öffentlicher Typus von Theologie korrespondieren. 339 Dabei nehme die Theologie zusätzlich verschiedene „Adressatengruppen“ in Kirche, Ge‐ sellschaft und Universität in den Blick, was weitere Differenzierungen nach sich ziehe. 340 Die kirchenbezogene Theologie, institutionalisiert in der „Doppelgestalt praktischer und dogmatischer Theologie“, ist für Dalferth grundlegend auf die „Selbstverständigung der Gläubigen untereinander“ ausgerichtet. 341 Bei diesem Typus von Theologie handle es sich daher um eine „Funktion der Selbstreproduktion von Kirche“. 342 Die Wirklichkeit des Glaubens und der „Wahrheitsanspruch christlichen Glaubenswissens überhaupt“ werden hier nicht in Frage gestellt. 343 Als Binnenreflexion der Glaubenskommunika‐ tion stelle diese Theologie keine eigenständige Form des Weltkontakts der Kirche dar, sondern diene vielmehr der Verkündigung. 344 Diese Verkün‐ digung soll einzelne Personen „zum Glauben“ bzw. „zum Amen provo‐ zieren“, so dass die kirchenbezogene Theologie am Ideal der möglichst umfassenden „Konsensfähigkeit“ innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft ausgerichtet sei. 345 Die Wahrheitsprobleme, denen sich Dogmatik und Ho‐ miletik stellen, erwachsen vornehmlich aus den „diachronen Differenzen zwischen dem gegenwärtigen Glaubenswissen und dem kirchlichen Kon‐ sens in der Vergangenheit“ sowie aus den „synchronen Differenzen in‐ nerhalb einer Kirche und zwischen den Kirchen“. 346 Als „zugleich histo‐ risch und ökumenisch arbeitende systematische Theologie“ habe die kir‐ chenbezogene Dogmatik lediglich dafür zu sorgen, dass die innere „Ko‐

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Ebd., 43. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd., 49. Im Orig. teilw. kursiv. Dalferth schließt sich damit an David Tracy an. Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd., 51. Ebd., 52. Herv. im Orig. Vgl. ebd., 52–54. Ebd., 50. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd., 52.

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härenz christlichen Wahrheitsbewußtseins durch systematische Verknüp‐ fung der einzelnen Lehrmomente angemessen zur Darstellung kommt.“ 347 Die angemessene literarische Gattung eines dogmatischen Entwurfs sei die Glaubenslehre, die durch den Zusammenhang der Lehrstücke und de‐ ren Eindeutigkeit möglichst die „Kohärenz und Einheitlichkeit christlichen Wahrheitsbewußtseins unter Beweis“ zu stellen habe. 348 Dalferth bestimmt die Grundaufgabe der kirchenbezogenen Theologie somit als Steigerung der Kohärenz innerhalb der Binnenkommunikation und des kirchlichen Lehrsystems. Durch Operationen wie „Elementarisieren, Priorisieren und Kontinuieren“ bzw. „Konzentrieren, Prioritäten Setzen und Kontinuität Si‐ chern“ pflege sie die Beziehung der Kirche zu ihrem Ursprung, befördere den inneren Konsens der Gemeinschaft und erleichtere die Vermittlung des Glaubenswissens. 349 In der weltbezogenen Theologie dagegen steht bei Dalferth die „Verstän‐ digung der Gläubigen mit den Nichtgläubigen“ im Vordergrund, weshalb diese sich entweder als „handlungsorientierte sozialethische Theologie“ oder als „wissenschaftsorientierte wissenschaftliche Theologie“ ausgestal‐ tet. 350 Die akademische bzw. wissenschaftliche Theologie habe die „Verein‐ barkeit oder Unvereinbarkeit mit anderen Wahrheitsansprüchen“ in einem übergreifenden „Wissenszusammenhang“ zu prüfen, so dass sie sich im besten Fall durch die Fähigkeit zur „Auseinandersetzung mit dem Wissen der Zeit“ auszeichne. 351 Im Unterschied zur kirchenbezogenen Theologie handle es sich hier um ein eigenständiges „Kontaktinstrument der Kirche mit der immer nur in einer Pluralität von Perspektiven gegebenen Welt“. 352 Die Wirklichkeit und Wahrheit des Glaubens dürfen dabei nicht voraus‐ gesetzt werden, sondern ein christlicher Wahrheitsanspruch müsse aller‐ erst „als ponderable Möglichkeit“ präsentiert werden. 353 Dazu gehöre die „Eliminierung von Scheingegensätzen“ ebenso wie die „Identifizierung der wirklichen Konflikte“ mit anderen Perspektiven. 354 Ziel sei gerade nicht die „kohärente Summierung“ allen verfügbaren Wissens, sondern eine „Steige‐ 347 Ebd. Herv. im Orig. 348 Ebd., 52 f. Aufgrund ihrer „wahrheitskohärenzorientierten Aufgabenstellung“ seien die einzelnen Lehrstücke darin auf ein „gegliedertes Lehrganzes“ (ebd., 52. Herv. im Orig.) zu beziehen. 349 Ebd., 53 f. 350 Ebd., 49 f. Im Orig. teilw. kursiv. Die sozialethische Theologie, die Dalferth in diesem Zusammenhang allerdings nicht intensiver diskutiert, beziehe sich auf einzelne ethische Handlungsfelder und sei am Ideal der Konfliktfähigkeit orientiert, vgl. ebd., 51. 351 Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. 352 Ebd., 50 f. Im Orig. teilw. kursiv. 353 Ebd., 54. 354 Ebd., 55.

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rung der Kontradiktionsfähigkeit“ durch die „Zuspitzung in begrifflich prä‐ zisen und differenzierenden theologischen Sätzen und Gegen-Sätzen“. 355 Statt die inneren Zusammenhänge des Glaubenswissens als Glaubenslehre zur Darstellung zu bringen, seien in der akademisch-weltbezogenen Theo‐ logie die entscheidenden Gegensätze zwischen der Glaubensperspektive und konkurrierenden Deutungsrahmen freizulegen. Ausgehend von dieser Unterscheidung differenziert sich das Lehrpro‐ blem für Dalferth aus in ein doppeltes Verhältnis der Theologie zur kirch‐ lichen Lehre: Leiste die kirchenbezogene Theologie zwar keinen direkten, aber doch einen indirekt-konstruktiven Beitrag zur kirchlichen Lehre, sei der Beitrag genuin-wissenschaftlicher Theologie zur Lehre dagegen „nur uneigentlich“, insofern sie ein kritisches Korrektiv bilde. 356 In den Pro‐ blemen der wissenschaftsbezogenen Theologie selbst sieht Dalferth „in der Regel keine Kandidaten kirchlicher Lehrbildung“, insofern sie erst an der Außenkommunikation mit hochspezialisierten Wissenschaften aufbre‐ chen. 357 Aufgrund der für wissenschaftliche Theologie benötigten Speziali‐ sierung seien diese beiden Typen von Theologie daher unter gegenwärtigen Bedingungen nicht allein durch eine Rollenunterscheidung, sondern sinn‐ vollerweise auch durch unterschiedliche berufliche Positionen und Ausbil‐ dungswege zu trennen. Dalferth konstatiert eine „Separierung von Pfarrer und Theologe und der ihnen zugeordneten Ausbildungsgänge“, die er als grundsätzlich sachgemäß betrachtet. 358 Bei einer vollständigen institutio‐ nellen Abtrennung der dogmatischen von der wissenschaftlichen Theologie würde das christliche Wahrheitsbewusstsein allerdings riskieren, sich „in problematischer incurvatio in se zu provinzialisieren“. 359 Zur Vermeidung einer solchen „Partikularisierung“, in deren Folge die Theologie auch Diffe‐ renzen zwischen Kirche und Welt nur mehr als die „partikulären Kohärenzund internen Konsensprobleme der christlichen Gemeinde“ wahrnehmen könnte, sei die kirchenbezogene Theologie auf die wissenschaftliche Theo‐ logie angewiesen. 360 Die wissenschaftliche Theologie erfüllt laut Dalferth 355 Ebd., 54. Da sie in ihrer „Problemrelativität“ (ebd., 55) immer auf einen bestimm‐ ten Theoriestand weltlichen Wissens bezogen sei, sei die wissenschaftliche Theologie schnelleren Veränderungsprozessen ausgesetzt als die Glaubenslehre. Hier seien Sach‐ kompetenz und Spezialisierung vonnöten, doch liege darin auch immer die Gefahr der Einseitigkeit. 356 Ebd., 57. 357 Ebd., 57 f. 358 Ebd., 56. Für die „Befähigung zum öffentlichen Predigtamt“ sei grundsätzlich die dog‐ matische und praktische Theologie ausreichend, deren Vermittlung „keineswegs an den akademischen Kontext gebunden“ (ebd.) sein müsse. 359 Ebd., 57. 360 Ebd.

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also eine Korrektivfunktion gegenüber der kirchlichen Lehre, indem sie vor „falschen Partikularitäten oder einseitiger Absolutsetzung“ bewahrt. 361 In der Aufnahme von Einsichten Bultmanns gewinnt Dalferth für die Theologie den Lehrbegriff als vermittelndes Zwischenglied zwischen Glau‐ benswissen und theologischer Reflexion zurück. Die strikte Unterschei‐ dung der Lehraussage vom Glaubensakt und dem darin impliziten Glau‐ benswissen, die sich formal an der Allgemeinheit und Abgelöstheit von der jeweiligen Situation festmachen lässt, bleibt der Kritik Rudolf Bultmanns und Martin Heideggers an der Abblendung des Lebensinteresses in der abkünftig-theoretischen Aussage verpflichtet. Doch durch eine Struktur‐ theorie der Lehrentwicklung, die durch eine (wohl maßgeblich von Eilert Herms inspirierte) kommunikations- und konsenstheoretische Reformu‐ lierung des Lehrbegriffs erzielt wird, kann Dalferth die Lehre gegenüber dem Vorwurf in Schutz nehmen, nur eine unsachgemäße Vergegenständli‐ chung des Kerygmas in der Seinsart des Vorhandenen zu sein. Die kirchli‐ che Lehre bleibt zwar in ihrem Wesen von Verkündigung und Glauben ab‐ künftig, aber erscheint doch wieder stärker als ‚Emanation‘ des kirchlichen Verkündigungsgeschehens und notwendige Funktion der Kirche. Dalferth nimmt damit produktiv die Vorgabe Bultmanns auf, die Nötigung zu Lehre und Theologie als Bewegung des Glaubens selbst aus diesem heraus zu entwickeln. Mit der Unterscheidung kirchlicher und theologischer Lehre sowie kirchenbezogener und weltbezogener Theologie überbietet er diese grundlegende Forderung noch einmal mit einer weiteren Differenzierung, die nicht zuletzt eine Begründung für die institutionelle Scharnierstellung der Theologie zwischen Kirche und Wissenschaftssystem bietet. Die Beto‐ nung des ‚paradoxen‘ und damit unausweichlich widersprüchlichen Cha‐ rakters der Theologie weicht der Spannung verschiedener Funktionen und Perspektiven, die jeweils unterschiedliche Rede- und Textformen hervor‐ bringen. Allerdings zerfällt Dalferths erneuerter Lehrbegriff durch die Verdop‐ pelung von kirchlicher und theologischer Lehre sowie die Unterscheidung von Binnen- und Außenbeziehung der Gemeinde sogleich wieder in zwei Teile. Kirchliche Theologie und kirchliche Lehre werden auf die konsens‐ fähige Darstellung der Binnenperspektive der Glaubenden festgelegt. Da‐ gegen kommt der akademischen Theologie und ihrer deutlich fluideren Lehre die umfassendere Aufgabe zu, den Wahrheitsanspruch des Evangeli‐ ums vor der Welt zu vertreten und in der Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven plausibel zu machen. Im Ergebnis übernimmt die Theologie

361 Ebd., 58. Eine analoge Korrektivfunktion muss sie nach Dalferth auch für die anderen Wissenschaften und deren wissenschaftliche Wirklichkeitsauffassung übernehmen.

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(jetzt präzisiert in ihrer akademischen Teilgestalt) einen großen Teil der Problembestände und Funktionen, die reformatorisch und nachreformato‐ risch der Lehre zugeordnet waren. Faktisch dürfte damit auch bei Dalferth die kirchliche Lehre ihren unmittelbaren Wahrheitsbezug und allgemei‐ nen Wahrheitsanspruch verlieren – wie er Wolfgang Huber und Dietrich Ritschl vorwirft. Die grundlegende Frage ist aber, ob eine so starke und institutionell verankerte Trennung zwischen einer weitgehend auf Konsens ausgelegte Binnenkommunikation und einer primär auf Kontradiktion an‐ gelegten Außenkommunikation überzeugt. Ist es nicht zu beobachten, dass sich die Konflikte mit der Außenperspektive vermittelt über die Glauben‐ den und deren lebensweltliche Verflechtungen und Doppelrollen auch in‐ nerhalb der Kirche spiegeln? Und ist neben der zuspitzenden Kontradiktion nicht auch in der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften oder Deuterahmen mitunter die Konvergenz der Perspektiven oder zumindest Ergebnisse anzustreben? Das bewusst oder unbewusst vorausgesetzte Bild einer nach innen im Lehrkonsens geeinten Kirche, die sich insbesondere vermittelt durch theologische Spezialisten im Gegensatz zur Außenwelt po‐ sitioniert, lässt sich höchstens als dogmatische Idealisierung halten. 5.4.4 Die perspektivische Rationalität der Theologie und ihre Kriterien Die Theologie hat für Dalferth nicht nur die innere Kohärenz des Glau‐ benswissens zur Darstellung zu bringen, sondern – zumindest in ihrer wis‐ senschaftlichen und weltbezogenen Gestalt – auch den Wahrheitsanspruch des Glaubens öffentlich und nach rationalen Standards zu vertreten. Diese beiden Teilaufgaben der Theologie verweisen zusammen auf die unhinter‐ gehbare Standortgebundenheit der Theologie. Schlechthin alle Glaubens‐ ansichten und Weltmodelle sind laut Dalferth perspektivisch, also unhin‐ tergehbar „auf den Standpunkt einer bestimmten Person oder Gruppe von Personen bezogen“, die ihren Ausschnitt der Wirklichkeit „unter je be‐ stimmten Selektionsgesichtspunkten“ erfasse. 362 Gleichzeitig fallen diese Partikularperspektiven nicht einfach auseinander, sondern stehen unter einem gemeinsamen, damit aber auch wechselseitig bestreitbaren „Wirk‐ lichkeits- und Wahrheitspostulat“. 363 Eine umfassende Weltsicht baue sich

362 Ebd., 87. Als Perspektive bezeichnet Dalferth einen „bestimmten kognitiven Rahmen mit entsprechendem Standpunkt, Bezugsbereich und Selektionsrepertoire“ (ebd.). Die „kognitiven Operationen“, durch die eine solche Perspektive aufgebaut wird, werden dabei mittels semiotischer Zeichenprozesse „über begriffliche Oppositionen, Kontraste, Negationen, und den Ausschluß von Alternativen organisiert“ (ebd.). 363 Ebd., 89.

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aus der integrierten „Vielzahl verschiedener Weltperspektiven“ auf, die zu‐ sammen ein „Netz wechselseitig abhängiger Glaubensansichten und Hand‐ lungsweisen“ bilden. 364 Eine Konkurrenz verschiedener Perspektiven in‐ nerhalb dieses geteilten Wahrheits- und Wirklichkeitshorizonts betrachtet Dalferth als auf keinem Wege auflösbar. 365 Diesen Konkurrenzverhältnis‐ sen zwischen aufeinander nicht reduzierbaren Weltperspektiven will er daher mit seinem Programm einer kombinatorischen Theologie in beson‐ derer Weise Rechnung tragen. Verschärft trete diese Konkurrenz im Fall universaler Perspektiven her‐ vor, zu denen die Wirklichkeitsauffassung des christlichen Glaube gehöre. Diese Perspektiven stellen einen potentiell die gesamte Erfahrungswirk‐ lichkeit „umfassenden Symbolisierungs- und Interpretationsrahmen“ zur Verfügung. 366 Ein solcher Rahmen müsse reflexiv verfasst sein, damit er sich selbst einbeziehen und zur Selbststeuerung fähig sein könne. 367 Instan‐ zen der „reflexiven Kontrolle“ ermöglichen dann, bei der Integration von Informationen in das eigene Informationssystem die Auswirkungen von „Mißverständnis, Irrtum und Illusion“ zu begrenzen. 368 Als reflexive Kon‐ trollinstanz innerhalb der universalen Glaubensperspektive kommt hier für Dalferth die Theologie ins Spiel. Auch diese sei eine „Reflexionstä‐ tigkeit mit Universalitätsanspruch“, weil sie grundsätzlich jede mögliche Erfahrung unter ihre spezifischen Leitdifferenzen stellen und so „in ihrer Perspektive verarbeiten“ könne. 369 Zur Einlösung dieses Universalitätsan‐ spruchs müsse sie einer unbegrenzten „internen Rekonstruktion der ex‐

364 Ebd., 68. Komplexere Phänomene lassen sich dabei überhaupt nur „sachgemäß“ erken‐ nen, wenn sie „zugleich in verschiedenen Perspektiven erfaßt, beschrieben und reflek‐ tiert werden“ (ebd., 92). 365 Zu Versuchen einer Reduktion der theologischen Perspektive auf andere Disziplinen, vgl. ebd., 74–78. Alle Versuche, eine einzige Perspektive absolut zu setzen, sind ge‐ scheitert und wurden als undurchführbar entlarvt. Auch der „Mythos der aufgeklärten Vernunft“ (ebd., 92) könne die Einheit von Wirklichkeit und Wahrheit nicht begründen, indem er die (scheinbar) weniger strittigen Perspektiven einer historistischen und phy‐ sikalischen Wirklichkeitsbetrachtung hierarchisch vorordne, die Interpretationsebenen von Glaube und Theologie dagegen als notorisch strittigen und partikularen Überbau betrachte, vgl. ebd., 90–92. Zurückzuweisen sei auch jede Verschleierung der Perspekti‐ vendifferenz durch die Verwendung derselben nur scheinbar neutralen Begriffssprache in verschiedenen Disziplinen, vgl. ebd., 97. 366 Ebd., 89. 367 Mit Reflexion bezeichnet Dalferth all jene „begrifflichen Operationen“, die durch „Selbstbezüglichkeit“ (ebd., 84) die reflexive Steuerung von Weltmodellen ermöglichen. 368 Ebd., 86. 369 Ebd., 44.

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ternen Perspektive“ fähig sein, ohne deren Eigenständigkeit durch einen einseitigen Absolutheitsanspruch zu beseitigen. 370 Als reflexive „Denkarbeit“ auf dem Boden der grundlegenden und uni‐ versalen Glaubensperspektive habe die Theologie rational, aber nicht ratio‐ nalistisch zu verfahren. 371 Rationalität ist bei Dalferth ein Sammelbegriff für verschiedene Verfahren, die dazu gebraucht werden, „je bestimmte Pro‐ bleme durch diskursive Argumentation zu lösen“. 372 Neben der Beachtung der formalen Kriterien argumentativer Rationalität, zu denen etwa „die Regeln der Logik, die Prinzipien der Identität und des zu vermeidenden Widerspruchs und die Grundsätze diskursiver Argumentation“ gehören, sei nun jedes rationale Unternehmen an spezifischen Differenzmustern ori‐ entiert. 373 Diese materialen Differenzmuster seien immer in derjenigen Le‐ bensform verankert, innerhalb derer sie diskursiv-argumentativ gebraucht werden. 374 Die eigentliche, fundamentale Frage sei daher immer die nach der „Rationalität oder Irrationalität dieser ganzen Lebensform“ – worüber aufgrund der unhintergehbaren Perspektivität von Rationalität freilich nie vor einem unabhängigen Forum entschieden werden könne. 375 Aus diesem Grund sind für Dalferth alle apologetischen Versuche einer Plausibilisie‐ rung der Glaubensperspektive nach fremden Rationalitätskriterien „völlig irregeleitet“. 376

370 Ebd., 93. Im Orig. teilw. kursiv. Dass durch die interne Einholung der Außenperspek‐ tive diese „in keiner Weise aufgehoben oder aufgelöst“ werden solle, unterscheide den unverzichtbaren „Universalitätsanspruch theologischer Reflexion“ (ebd., 47) von einem Absolutheits- oder Ausschließlichkeitsanspruch der Theologie. Zur Frage, wie die Theo‐ logie dieser Anforderung nachkommt, vgl. ebd., 40–47. 371 Ebd., 60. 372 Ebd., 64. Durch eine „Segmentierung der Rationalität“ (ebd., 68. Im Orig. kursiv) lasse sich diese strukturieren und ‚kartographieren‘. So lasse sich ein „Netz lokaler Rationa‐ litäten“ (ebd., 84, Anm. 84) zur Darstellung bringen, die durch Familienähnlichkeit im Sinne Ludwig Wittgensteins zusammengehalten werden. 373 Ebd., 62. 374 Vgl. ebd., 66. Zur reflexiven Anwendung ihrer Differenzmuster gehöre gerade im Fall der Theologie das „selbstkritische Bewußtsein der Differenz“ zu dieser Lebensform, also der „ihr vorgegebenen und von ihr unterschiedenen Glaubenskommunikation der Kir‐ che“, sowie zum persönlichen Glauben an Jesus Christus und dessen „Manifestationen im Glaubensleben “ (ebd., 86). 375 Ebd., 66. Im Orig. kursiv. Die unhintergehbare „Relativität aller Rationalität“ auf ein Ensemble bestimmter Lebensformen, denen wiederum interne Kriterien zu entnehmen sind, sei keinesfalls mit einem „amorphen Pluralismus und Relativismus“ (ebd., 69. Herv. TG) zu verwechseln. 376 Ebd., 65. Dalferth schließt sich hier wiederum Wittgenstein an, der für Glaubensansich‐ ten als gerade konstitutiv festhalte, dass diese „nicht provisorisch, sondern vorbehaltlos vertreten“ (ebd.) werden. Das rationalistische Missverständnis religiösen Glaubens sei

I. U. Dalferth: Das Lehrproblem und die Verdoppelung der Theologie

Erweise die Theologie ihre „formale Vernunftstruktur“ durch die kom‐ binatorische „Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven“, gewinne sie ihre „inhaltliche Bestimmtheit“ und die „zentralen Argumentationsstan‐ dards“ allein durch ihre Beziehung zu Jesus Christus und dessen universa‐ len Anspruch. 377 Die Christologie erscheint für Dalferth daher als das „Pro‐ blemzentrum der Reflexions- und Perspektivenproblematik christlicher Theologie“. 378 Allein hier lassen sich genuin theologische Rationalitätsstan‐ dards mit bleibender, weil systematisch begründeter Funktion gewinnen, zu denen Dalferth zunächst den Kanon der Schrift als „paradigmatischen Ausdruck“ der grundlegenden Erfahrungen zählt. 379 Dieser bewahre die „Identität des christlichen Glaubens und damit auch die sachliche Konti‐ nuität“ zum Ursprung, indem er die „Verbindlichkeit des Vergangenen“ festhalte. 380 Als dieser paradigmatische Ausdruck der Glaubenserfahrung entscheide allein die Schrift darüber, „was im Leben und Lehren christ‐ lich oder nicht christlich genannt zu werden verdient“. 381 Damit dieser Ursprungsbezug nicht durch „Historisierung oder Moralisierung“ verstellt werde, schütze darüber hinaus das Bekenntnis als „summarische Regel des in der Schrift artikulierten Glaubens“ dessen „eschatologischen Kern“. 382 Die so eschatologisch qualifizierte Gegenwart öffne den Glauben für seine Geschichtlichkeit und die Frage, wie der Glaube „hier und jetzt und heute in der christlichen Gemeinschaft erfahren, gelebt und verstanden wird“. 383 Das Dogma schließlich formuliere verbindlich die „christologische Gram‐ matik christlicher Rede von Gott, Welt und menschlicher Existenz“. 384 Auf

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dadurch gekennzeichnet, dass dem Glauben externe Rationalitätskriterien als funda‐ mental betrachtet werden, vgl. ebd., 66 f. Ebd., 99. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd., 98. Die „christozentrische Grundorientierung“ (ebd., 78 f.) des Glaubens bzw. die „Zentralität Jesu Christi“ (ebd., 82. Im Orig. kursiv) sei Einheitsgrund der typischen Probleme und zugleich Wurzel der spezifischen Rationalität christlicher Theologie. Mit Christus sei zugleich das „Einheitsprinzip der christlichen Bibel“, das „Zentrum des christlichen Bekenntnisses“ (ebd.), der „Kern christlicher Theologie“ sowie die für den Glauben „fundamentale (eschatologische) Durchbrechungserfahrung unserer Weltund Selbsterfahrung“ (ebd.) benannt. Ebd., 80. Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd., 80 f. Die Frage nach der theologischen und kirchlichen Bedeutung des Kanons der biblischen Schriften hat Dalferth jüngst noch einmal ausführlich aufgegriffen, vgl. Dalferth, Wort. Zu dieser Fortentwicklung des Programms siehe unten unter 5.4.5. KoTh, 80 f. Verweise die Schrift auf das „eigentümlich Christliche“, sei das Bekenntnis „Ausdruck der individuellen Übernahme und Anwendung“ desselben in einer „immer wieder neu zu etablierenden Binnenperspektive gelebten Glaubens“ (ebd., 82. Im Orig. teilw. kursiv). Ebd., 81. Ebd., 80.

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diese Weise stelle es die Notwendigkeit einer dialektischen Vermittlung zwischen Ursprungsgeschehen und gegenwärtiger Erfahrung in Form von „Regeln“ bzw. „grundlegenden Orientierungsstandards“ sicher. 385 Diese Regeln seien immer aus „bestimmten historischen Situationen interner Divergenzen und Konfusionen“ erwachsen, denen eben auf diese Weise bleibende und exemplarische Bedeutung für die Theologie zukomme. 386 Offensichtlich wird damit auch bei Dalferth das Bekenntnis vom konkre‐ ten und persönlichen Bekenntnisakt her verstanden, während die reforma‐ torischen Lehrbekenntnisse als Richtschnur der Lehre eher dem Dogma zuzuordnen sind. Das Dogma artikuliert die Regeln, wie aktuelles Beken‐ nen und biblisches Paradigma aufeinander zu beziehen sind. Die Schriftge‐ mäßheit, verstanden als Übereinstimmung mit dem biblischen Paradigma, die persönlich-affirmative Verantwortung vor einer geschichtlich-konkre‐ ten Situation sowie die Übereinstimmung mit der im Dogma formulierten Grammatik werden damit zu den theologischen Rationalitätsstandards, die eine Lehraussage berücksichtigen muss, um konsens- und kontradiktions‐ fähig zu sein. Die Theologie erfüllt bei Dalferth ihre Funktion für die Binnenperspek‐ tive des Glaubens und den Glauben der Einzelnen, indem sie die kirch‐ liche Glaubenskommunikation an ihrem Ursprung und ihrer Sache aus‐ richtet. 387 Dazu müsse sie auf der Basis ihrer spezifischen Rationalitätskri‐ terien nicht zuletzt der strukturellen Besonderheit dieses am Evangelium ausgerichteten Kommunikationsgeschehens Geltung verschaffen. Anhand des „christlichen Zeugnisses seines Gekommenseins“ erschließe Gott sich darin durch den Heiligen Geist in „immer wieder neuen Kopräsenzsi‐ tuationen“. 388 Denn da Gott nie Gegenstand menschlicher Wahrnehmung werden könne, sei Gotteserkenntnis nur möglich „aufgrund menschlicher Kommunikation über Gott (Verkündigung bzw. Lehre), die sachlich bean‐ sprucht, von Gott so zu sprechen, wie er sich in Jesus Christus selbst ver‐ deutlicht hat (Offenbarung)“. 389 Menschliche Evangeliumsverkündigung und göttliche Geistkommunikation wirken somit „in der Einheit einer Si‐ tuation“ zusammen. 390 Durch Einbeziehung in den „expliziten Geistvoll‐

385 Ebd., 82. Das Dogma „macht explizit, was im wechselseitigen Aufeinanderbeziehen von Schrift und Bekenntnis im christlichen Leben und Denken an inhaltlichen Orientierun‐ gen im Blick auf Gott, Jesus Christus, Mensch und Welt faktisch in Anspruch genommen wird.“ (ebd.). 386 Ebd. 387 Vgl. ebd., 71. 388 Ebd., 146. 389 Ebd., 148. Herv. im Orig. 390 Ebd., 154.

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zug des Gott-Feldes“, also dieses doppelte Kommunikationsgeschehen der Evangeliumsverkündigung, könne es zur unverfügbaren „Transformation unseres im Modus der Kommunikation über Gott konstituieren proble‐ matischen Gotteswissens zu dem im Modus der Kommunikation mit Gott konstituierten gewissen Gotteswissen“ kommen. 391 Die Gewissheit des Glaubens verdanke sich also nie „eigenen Begrün‐ dungsversuchen oder Autoritätsansprüchen“. 392 Die spezifische, eschato‐ logische Evidenz der Glaubenserkenntnis sei vielmehr allein Gott zu ver‐ danken und „unablösbar von ihrer Genese“. 393 Daher könne der so konsti‐ tuierte Glaube die „fundamentale epistemische Spannung“ nie hinter sich lassen, die zwischen der „assertorischen Gewissheit eschatologischer Er‐ kenntnis“ und dem durch das Glaubenszeugnis anderer vermittelten und deshalb „immer nur problematischen Wissen“ über Gott bzw. Jesus Chris‐ tus bestehe. 394 Das Bewusstsein für diese innere Spannung von Gotteswerk und Menschenwerk, von assertorischer Glaubensgewissheit und proble‐ matischem Glaubenswissen im Geschehen der Glaubenskonstitution hat bei Dalferth die Theologie beständig wachzuhalten. Sachlich wird hier die Bultmann’sche Aufgabe einer Sicherstellung der Verkündigung so präzi‐ siert, dass die Differenzierung und das Inbeziehung-Setzen verschiedener Ebenen der kognitiven Erschlossenheit einer in sich differenzierten Ge‐ schehensstruktur als Hauptaufgabe der Theologie erscheint: „Die zentrale interne Aufgabe theologischer Rationalität ist daher, das Verhältnis zwischen der christologisch-rechtfertigungstheologischen Struktur des Glaubens, der pneumatologisch-existentiellen Struktur christlichen Glaubenslebens, der Evi‐ denz- und Konsensstruktur christlichen Glaubenswissens und der logisch-begriffli‐ chen Struktur christlicher Theologie sachgerecht zu bestimmen und zu gestalten.“ 395

Erstens ist nach Dalferth in der Theologie folglich beständig deren Selbst‐ unterscheidung von Verkündigung, Glauben und kirchlicher Lehre durch‐

391 Ebd., 149. Herv. im Orig. Durch die pneumatologisch vermittelte Kopräsenz mit dem auferstandenen Gekreuzigten werde zudem „unser ontisches Menschsein [...] eschato‐ logisch präzisiert“ (ebd., 149). Nur im Zusammenwirken von göttlichem und mensch‐ lichem Kommunikationsvollzug gewinne die Gotteserkenntnis ihre „semantische und epistemische Eindeutigkeit“ (ebd., 150), „Wahrheitsgewissheit“ und „Wirklichkeitsevi‐ denz“ (ebd., 151). 392 Ebd., 153. 393 Ebd., 156. 394 Ebd., 151. Vgl. ebd., 148 f. Die Funktion der Sakramente als einer spezifischen symboli‐ schen Kommunikation der Kirche bestehe ebenfalls nicht darin, selbst die „Wahrheits‐ gewißheit des Glaubens“ (ebd., 152) zu erzeugen, sondern diese haben vielmehr auf die Unverfügbarkeit der Selbstvergegenwärtigung Gottes zu verweisen. 395 Ebd., 87.

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zuhalten, zweitens auch die Unterscheidung von opus hominum und opus dei in der Glaubenskonstitution bewusst zu halten – und gegebenenfalls kritisch gegenüber der kirchlichen Glaubenskommunikation und Lehrbil‐ dung zur Geltung zu bringen. Rechnung getragen wird dieser Vorgabe etwa dadurch, dass jede Rede von Gott im Modus der dritten Person konsequent an die direkte Anrede in der zweiten Person zurückgebunden wird, also die theologische Reflexion sich als eingebettet in den durch Gebet und Be‐ kenntnis geprägten Lebenszusammenhang versteht. 396 In diesem Bewusst‐ sein und mittels einer Anwendung der theologischen Rationalitätsstan‐ dards von Schrift, Bekenntnis und Dogma lässt sich eine Unterscheidung zwischen sachangemessener, grundsätzlich konsensfähiger Lehre und die Sache verfehlender Irrlehre vornehmen. Eine zentrale Anfrage an Dalferths Konzeption theologischer Rationali‐ tät lautet allerdings, ob die exklusive Orientierung an genuin theologischen Rationalitätsstandards, die nur innerhalb der christlichen Lebensform in Geltung stehen, nicht dazu führen muss, dass Kirche und Theologie in ein einseitig antagonistisches Verhältnis zu anderen Lebensformen gebracht werden. Provoziert diese Konzeption nicht schon auf der Ebene der ge‐ trennten Konfessionen eine Situation, in der keine tragfähige Basis der Ver‐ ständigung mehr in Anspruch genommen werden kann? Mit der Einsicht in die Perspektivität des Glaubens und die soziale Gebundenheit der internen Rationalitätsstandards kirchlicher Lehre melden sich Probleme im Zusam‐ menhang mit dem strittigen Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens an, die eine zentrale Herausforderung für die Theorie der Lehre darstellen und auch in den folgenden Kapiteln wiederkehren werden. 5.4.5 Interpretation und Ausblick Die Grundaufgaben der Theologie fasst Dalferth in seinem Entwurf einer kombinatorischen Theologie als „Glaubensexplikation und Wirklichkeits‐ deutung“ zusammen, wobei sie diesen Aufgaben in einem selbstreflexi‐ ven Prozess durch die „Ausarbeitung der christologischen Grammatik“ und die „Deutung unserer Wirklichkeit im Licht dieser Grammatik“ nach‐ kommt. 397 Diese Bestimmung lässt sich grundsätzlich als eine abstraktere Reformulierung von Funktionen betrachten, wie sie die Theologie bereits in der reformatorischen und altprotestantischen Theologie übernommen hatte. Bultmanns programmatische Vorgabe, die Theologie habe das Ke‐ rygma sicherzustellen, wird dabei um die Aufgabe ergänzt, die Kontradikti‐ 396 Vgl. ebd. 86; 97. 397 Ebd., 83. Im Orig. teilw. kursiv. Dalferth versteht dies als Aufnahme des Programms der Anselm’schen fides quaerens intellectum.

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onsfähigkeit gegenüber konkurrierenden Perspektiven auf die Wirklichkeit zu schärfen. Darüber hinaus nimmt bei Dalferth auch die Frage, welcher institutionelle Ort der Lehrbildung und der theologischen Reflexion über die schriftgemäße Lehre entspricht, einigen Raum ein. Dalferth konzipiert diesen institutionellen Ort der Theologie als Schnittstelle zwischen Kirche und Wissenschaft, was in der Folge allerdings tendenziell zu einer Ver‐ doppelung der Theologie führt: Einerseits widmet sie sich der kirchenbe‐ zogenen Reflexion über den Lehrkonsens, andererseits der weltbezogenen Vertretung des christlichen Wahrheitsanspruchs in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit sowie vor dem Forum der Wissenschaften. Damit führt Dalferths Bemühen um eine Wiedergewinnung des Lehr‐ begriffs bei gleichzeitiger Unterscheidung von der kirchlichen Verkündi‐ gung dennoch zu einer spezifischen Depotenzierung der Lehre. Denn ob‐ wohl der Lehrbegriff gegenüber Bultmann und Huber wieder aufgewertet, durch den Bezug auf konkret-geschichtliche Bedürfnisse der Kirche dy‐ namisiert und gegen den Vorwurf der bloßen ‚Versteinerung‘ lebendiger Verkündigungsvollzüge verteidigt wird, bleibt die Lehre doch der kirchli‐ chen Verkündigung nachgeordnet und von dieser abkünftig. Zudem wird sie als Reproduktionsmedium und Steuerungsinstanz für die Kernvollzüge der Kirche auf den Bereich der offiziell-kirchlichen Binnenkommunikation beschränkt. Für den individuellen Glauben und sein Glaubenswissen erfüllt sie nur eine indirekte Ermöglichungsfunktion, insofern die geistgewirkte Konstitution des Glaubens auf das Zeugnis der Kirche angewiesen und die‐ ses vor Entstellungen zu schützen ist. Aber was hat der Glaube selbst, wenn er einmal durch die Wortverkündigung des Evangeliums und das Wirken des Geistes konstitutiert ist, noch mit der Lehre der Kirche zu tun? Im Unterschied zur reformatorischen oder barocken Theologie fehlt eine spe‐ zifische Lehr- oder auch Katechismusfrömmigkeit, die mit der Aneignung der Lehre und deren Anwendung als Deutungsrahmen der Wirklichkeit befasst ist. Letztlich erscheinen die Lehre und mit ihr die kirchenbezogene Theologie doch nur als kritisch-regulative ‚Professionstheorie‘ oder eben „Amtsphilosophie“ des verkündigenden und kirchenleitenden Amtes. 398 Eine umfassend kritische Aufgabe für Verkündigung, Lehre, Kirche und Welt kommt dagegen einem wissenschaftlichen, von der Kirche relativ un‐ abhängigen Typus der universitären Theologie zu. 399 Diese hat für Dalferth nach innen wie nach außen über die sachgemäße Berücksichtigung zentra‐ ler Differenzmuster zu wachen: Kritisch nach innen wirkt sie, indem sie die Konsenszumutung von Lehre, dogmatischer und praktischer Theolo‐

398 Vgl. dagegen den Anspruch ebd., 14. 399 Vgl. auch Dalferth, Interpretationspraxis, 196–198.

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gie begrenzt, dem individuellen Glauben und der gegenwärtigen Situation ihr Recht verschafft. Dies tut sie, indem sie an die epistemische Unver‐ fügbarkeit des Gottesgeschehens im Unterschied zur Glaubenskommuni‐ kation sowie den Unterschied zwischen kirchlich-symbolisiertem Konsens und individuellen Interpretationsrahmen erinnert. Nach außen verhält sie sich kritisch, indem sie die eigene Kontradiktionsfähigkeit durch Speziali‐ sierung schärft, die Eigenständigkeit und Eigenrationalität der Glaubens‐ perspektive gegen Reduktionismus aller Art verteidigt und diese idealer‐ weise als schlechthin umfassenden Reflexionsrahmen zur Geltung bringt, der alle konkurrierenden Außenperspektiven intern nachkonstruieren und damit dialektisch überwinden kann. So wehrt sie nicht nur Versuche ande‐ rer Perspektiven, die Glaubensperspektive in sich aufzuheben, ab, sondern bricht auch Verkrustungen einer – falsch verstandenen, vergegenständli‐ chenden – Lehre auf. 400 Aber was spricht dagegen, diese Grundfunktionen der wissenschaftlichen Theologie auf der Linie der reformatorischen und nachreformatorischen Theologie wieder an einen weiten Lehrbegriff rück‐ zubinden, so dass die Lehre als Raum des unverfügbaren Wortgeschehens aufgespannt wird und zugleich eine umfassend hermeneutische Funktion für die Erschließung von Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis übernimmt? Auf diese Weise könnte die tendenziell hierarchische Unterscheidung einer kirchlichen und wissenschaftlichen Theologie sowie die relativ abstrakte Trennung von kirchlicher Binnen- und Außenkommunikation vermieden werden, während die als artikulierter Aussagezusammenhang im impliziten Glaubenswissen eingebettete Lehre dennoch kategorial von Wortgeschehen und Glaubensvollzug unterschieden bliebe. Dalferth hat eine solche umfassende Wiedergewinnung des Lehrbegriffs nicht ins Auge gefasst, sondern das Lehrproblem vielmehr zunehmend aus dem Zentrum der theologischen Aufmerksamkeit gerückt. Es liegt auf der Linie dieses allgemeinen Trends, wenn in Dalferths späterer Programm‐ schrift Radikale Theologie nur das Projekt der weltbezogenen Theologie eine Fortsetzung und Vertiefung findet. 401 Das Lehrproblem wird in die‐ sem Buch nicht mehr behandelt, der Lehrbegriff ist gänzlich verschwun‐ den – so wie auch der Kirchenbezug der Theologie bestenfalls implizit bleibt. 402 Das Widerfahrnis der Offenbarung, der Glaube und sein Verste‐ hen werden hier zum Thema einer Theologie, die sich selbst nicht mehr als Funktion der Kirche oder im Raum der Lehre verortet, sondern ihre 400 Vgl. pointiert in Dalferth, Radikale Theologie, 129. 401 Vgl. ebd., bes. 189; 235–282. 402 Allenfalls lässt sich ein dem Lehrproblem verwandtes Problem in den knappen Bemer‐ kungen zum Zeugnis des Glaubens finden, vgl. ebd., 274 f. Zur Kirche vgl. die knappen Sätze ebd., 17.

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hermeneutische Universalperspektive selbstbewusst und ‚radikal‘ vom aka‐ demisch-theologischen Standpunkt aus entwirft. Um gegenwartsgemäß zu sein, müsse Theologie „nicht modern oder doktrinal, sondern radikal und extrem denken“. 403 Dazu gehört nun auch bei Dalferth eine Grundsatzkritik an allen Versuchen, die Identität des christlichen Glaubens lehrmäßig „in einem fixierbaren Sachgehalt“ festzumachen. 404 Diese Verschiebung wirkt sich auch auf Texte aus, die eher der kir‐ chenbezogenen Theologie zuzuordnen und beispielsweise in dem Buch Wirkendes Wort gesammelt sind. Dalferth möchte mit diesen auf einen Verfallsprozess von Kirche und Theologie reagieren, der in unmittelbarer nachreformatorischer Zeit begonnen, durch Pietismus und Aufklärung an Fahrt gewonnen und nun in der Spätmoderne seine Höhepunkt erreicht habe: „So vervielfältigte im Prozess der Neuzeit die wachsende Dominanz des Geschrie‐ benen und Gedruckten gegenüber dem Gehörten, Gelebten und Erlebten die Distan‐ zierungsmöglichkeiten des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, beschleunigte die Überführung des Christentums aus einer überzeugungsgeleiteten Lebenspraxis in ein durch Dogmen reguliertes Glaubenssystem und ermöglichte die Ausbildung einer kritischen wissenschaftlichen Theologie mit eigenen Methoden, Problemen und Fer‐ tigkeiten.“ 405

Um diesen Verfall zu stoppen, fordert Dalferth in den Texten dieses Buches insbesondere die trennscharfe Unterscheidung von Wort Gottes, Schrift und Bibel. 406 Das Wort Gottes sei schlechthin unverfügbar und ereigne sich als Widerfahrnis der Gegenwart Gottes. Die Bibel dagegen sei eine geschrie‐ bene oder gedruckte Sammlung antiker Texten, zu der sich ein isolierter Leser vergegenständlichend, historisierend, also persönlich distanziert und völlig ungebunden verhalten könne. Zwischen beidem steht für Dalferth die theologische Größe der Schrift als Gesamtheit der kanonischen Glau‐ benszeugnisse, die in der Kirche zum Zweck der Kommunikation des Evan‐ geliums gebraucht werden. Daher gelte: „Kirche kann es ohne die Bibel, aber nicht ohne die Schrift geben. Umgekehrt gibt es zwar die Bibel, nicht

403 Ebd., 186. 404 Ebd., 133. 405 Dalferth, Wort, 106 f. Vgl. für diese Entwicklung „von der Schrift zur Bibel“ auch ebd., 369f u.ö. In der Spätmoderne radikalisiere sich dieser Prozess und führe zu einem letztlich völlig beliebigen „Rezeptionspluralismus“(ebd., 410) und „Auslegungspluralis‐ mus“ (ebd., 416), wobei mit der individualistischen Zersplitterung und nicht zuletzt der Ablösung der Buchkultur durch eine digitale Kultur die Bedingungen dieser kirchlich‐ gesellschaftlichen Kulturformation selbst wegzubrechen beginnen, vgl. ebd., 427–438. 406 Vgl. zu dieser terminologischen Unterscheidung ebd., 74–76; 245–247 u.ö.

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aber die Schrift ohne die Kirche“. 407 Der kirchliche Schriftgebrauch sei als Kommunikationsprozess strikt vom unverfügbaren Wirken des Geistes un‐ terschieden, das als „konkretes Geschehen in bestimmten Situationen“ die predigend ausgelegte Schrift für die Hörerinnen und Hörer zum Wort Got‐ tes werden lasse, aber keinesfalls „im biblischen Text selbst zu fixieren und objektiv zu fassen“ sei. 408 Die von der Theologiegeschichte her offensichtliche Künstlichkeit dieser Gegenüberstellung von Schrift und Bibel spricht nun ebenso gegen diesen terminologischen Vorschlag wie die kaum bestreitbare Schwierigkeit, bei der theologischen Bezeichnung ‚Schrift‘ nicht primär an die geschriebe‐ nen Texte des Bibelbuchs, sondern immer an die Vollzüge gottesdienstliche Verkündigung und den kanonischen Gebrauch dieser Texte zu denken. Die Irritation ließe sich wohl einfach vermeiden, wenn man zwischen Bibeltext und Wortgeschehen stattdessen einen dynamisierten, konstitutiv auf kirch‐ liche Vollzüge und Praktiken bezogenen Lehrbegriff einzeichnen würde. Die Lehre aber steht für die Kerygmatheologie grundsätzlich unter dem Verdacht einer Vergegenständlichung und Abstraktion vom Lebenszusam‐ menhang, entspricht somit in Dalferths Systematik eher dem Bibelbuchsta‐ ben als der Heiligen Schrift und steht folglich als theologischer Reflexions‐ begriff für eine solche Vermittlungsfunktion nicht mehr zur Verfügung. 5.5 Ertrag und Überleitung Von der barocken Theologie des 17. Jahrhunderts unterscheidet sich die Wort-Gottes-Theologie oder vielleicht noch präziser: Wortgeschehens‐ Theologie des 20. Jahrhunderts, wie die in diesem Kapitel rekonstruierten Beiträge zum Lehrproblem überschrieben werden können, auch hinsicht‐ lich der kulturellen Rahmenbedingungen, die in der Folge auch das theo‐ logische Verständnis der Lehre und ihrer kirchlichen Bedeutung prägen. Eine wichtige dieser Rahmenbedingungen betrifft das jeweils vorausge‐ setzte Weltverständnis und die Selbstverortung des Menschen in dieser Welt. Auch das Historismusproblem als theoretische Auseinandersetzung mit der Geschichtlichkeit des Menschen hängt dabei unmittelbar mit die‐ sem Wandel des Weltverhältnisses zusammen, der nicht zuletzt diese Ge‐ schichtlichkeit menschlicher Existenz in der Differenz zur Vergangen‐ heit auf radikalisierte Weise erlebbar macht. Während die naturwissen‐

407 Ebd., 119. Im Orig. kursiv. 408 Ebd., 173.

Ertrag und Überleitung

schaftliche Erkenntnis die unübersehbaren Spannen der Weltzeit von den Rhythmen der individuellen Lebenszeit entkoppelt, ist es nicht zuletzt die durch technischen Fortschritt ermöglichte Manipulierbarkeit und Be‐ schleunigung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, die einen Vergan‐ genheit und Gegenwart übergreifenden Erfahrungsraum aufsprengt und den Erwartungshorizont von den ‚Lektionen‘ der Geschichte ablöst. 409 Ver‐ schiedene Typen des Historismus reagieren auf dieses Problem, indem sie neue Wege ausloten, diesen ‚garstigen Graben‘ zu überwinden und der Geschichte einen Sinn oder doch zumindest Nutzen für die Gegenwart ab‐ zuringen. 410 Dannhauer und seine Zeitgenossen knüpfen in ihrer Theologie an ein Weltbild an, das von einer umfassenden Fragilität und Unverfügbarkeit des Lebens samt aller tragenden Ordnungsstrukturen ausgeht. Das Leben ist begriffen als ständig gefährdet durch verschiedene menschliche, überna‐ türliche und natürliche Bedrohungen. Erfahrungen der Entwurzelung, der Flüchtigkeit elementarer Lebensbedingungen und der Umwälzung sozialer Verhältnisse führen zu einem spezifischen Gefühl der Unwirklichkeit und ‚Nichtigkeit‘, die sich im Motiv eines Welttheaters oder des Lebenstraums ebenso aussprechen wie in der Hoffnung, im Jenseits einmal die bleibende Heimat zu finden. Die theologische Explikation der christlichen Lehre schreibt gegen diese Grunderfahrungen und Gefühle an, indem Sinnbezüge zwischen Erfahrung und Überlieferung geknüpft, Autoritäten aufgerichtet, Symmetrien des Geschehens aufgedeckt und nicht zuletzt die Symbolwelten der christlichen Lehre gegen das bedrohliche Chaos aufgeboten werden. Die Instabilität der Welterfahrung soll in diejenige Gewissheit überführt werden, die das Leben auch angesichts eines in seinem Weltregiment als rätselhaft empfundenen Gottes lebbar macht. Die chaotische Wirklichkeit muss gebändigt werden, wozu die Verortung des Selbst in einem symbo‐ lischen Kosmos und die Wohlordnung der Sozialwelt zusammenwirken sollen. Auch die Kerygmatheologie ist in ihrem Ursprung eine Theologie der Krise. Doch zusammen mit verschiedenen Spielarten der Existenzphiloso‐ 409 Vgl. Blumenberg, Lebenszeit, 71–217. Vgl. Koselleck, Erfahrungsraum, 359–375. 410 Vgl. die kritisch-philosophische Rekonstruktion bei Gadamer, Wahrheit, 176–246 Als klassischer Beitrag aus historischer Perspektive vgl. Wittram, Interesse, bes. 46–69. Theologisch ist die Auseinandersetzung mit dem Historismus besonders mit Ernst Tro‐ eltsch verbunden, vgl. dazu Drescher, Troeltsch, 487–514. Bultmann und Dalferth setzen das Historismusproblem in der ihm von Troeltsch gegebenen Fassung als Frage nach der Möglichkeit unbedingter Wahrheitserkenntnis und der Verbindlichkeit his‐ torisch relativer Werte angesichts der Anfechtung durch die historische Kritik voraus, wo sie sich mit dem Problem der Geschichtlichkeit von Offenbarungsgeschehen und Glaubensvollzug befassen.

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phie wendet sie sich gegen die Verabsolutierung eines positivistisch-natu‐ ralistischen, in Teilen auch mechanistischen Weltbildes, das den Kosmos und seine Prozesse als stabil, selbsterhaltend und von unwandelbaren Ge‐ setzen bestimmt versteht. Gegen dieses reduktionistische, vom Modell der Naturwissenschaften und der technischen Weltbeherrschung her entwi‐ ckelte Weltbild wird das Recht der Subjektivität, der schlechthin indivi‐ duellen Erfahrung und der persönlichen Entscheidung verteidigt. 411 Die Auseinandersetzung mit dem impliziten Wissenschaftsverständnis der Na‐ turwissenschaft wird zum zentralen Begründungsproblem theologischer Reflexion wie der Geisteswissenschaft allgemein. 412 Das übergreifende Ziel ist hier, die ‚stählernen Gehäuse‘ des reduktionistischen Positivismus und eines naturalistischen Weltbildes zu sprengen. In dieser Konfliktkonstella‐ tion wird es wichtig, die Unverfügbarkeit von Offenbarung und Glauben zu betonen sowie das ‚szientistische‘ Missverständnis theologischer Lehren als abstrakt-vergegenständlichender Allgemeinaussagen zurückzuweisen. Die historischen Bedingungen und das genaue Verhältnis dieser mög‐ licherweise ja komplementären Grunderfahrungen: die barocke Vergäng‐ lichkeitserfahrung und das moderne Unbehagen an der naturalistischen Reduktion, können im Rahmen dieser Arbeit nur benannt und nicht ei‐ gens untersucht werden. Doch diese knappe Skizze weist bereits darauf hin, dass sich die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen stark auf den Zuschnitt und die konkrete Behandlung des Lehrproblems auswirken. Aus der Rückschau lassen sich bei beiden theologischen Herangehenswei‐ sen daher Einseitigkeiten erkennen, die sich aus nicht-theologischen Rah‐ menbedingungen erklären lassen und erst unter veränderten Bedingungen als Begründungsproblem, Erklärungsdefizit oder Unschärfe erscheinen. 413 Für eine theologische Theorie der Lehre ergibt sich daraus, dass sie sol‐ chen gesamtkulturellen Verschiebungen Rechnung tragen muss und die Funktionen der Lehre, die unterschiedlich gewichtet werden können, nicht allein mit Bezug auf eine bestimmte Konstellation erheben darf. Mit Blick auf die materialen Lehrgehalte liegt ebenfalls die Vermutung nahe, dass in verschiedenen historischen Konstellationen je unterschiedliche Züge des 411 Für diese theologische Problemlage vgl. etwa Barth, U., Abschied. Für eine knappe Schilderung vgl. Pannenberg, Leben; vgl. ders., Anthropologie, 9–28. Vgl. zu dieser naturalistischen Alltagseinstellung außerdem: Dalferth, Radikale Theologie, 250–253. 412 Vgl. auch Gadamer, Wahrheit, 1–15. 413 Interessant wäre hier nicht zuletzt eine interdisziplinäre Untersuchung unter Einbe‐ ziehung der Frage, wie sich der Lehrerberuf hinsichtlich seiner sozio-ökonomischen Grundlagen und das gesellschaftliche Bild der pädagogisch-didaktischen Berufe histo‐ risch entwickelt haben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Veränderungen sich auch irgendwie im Stellenwert der Lehre im Leben der Kirche sowie einem theologisch wirk‐ samen Vorverständnis von Lehre und Katechese niederschlagen.

Ertrag und Überleitung

Lehrzusammenhangs stärker herausgearbeitet werden müssen und je spezi‐ fische Lehraussagen in den Vordergrund treten. Die geschichtlich-dynami‐ schen Beziehungen der Lehre zu Kirche, Theologie und Kultur erscheinen somit nicht nur als Problem der Lehrtheorie, sondern auch als potentielles Thema der Lehre selbst. Die gesamtkulturellen und kirchlichen Bedingungen theologischer Re‐ flexion haben sich seit Bultmanns neutestamentlichen und enzyklopädi‐ schen Beiträgen zum Lehrproblem noch einmal tiefgreifend gewandelt. Bezüglich des Lehrproblems kann wohl konstatieren, dass der kirchlich wirkmächtige Hauptstrom der Wort-Gottes-Theologie eher Hubers Weg einer strikt gegensätzlichen Bestimmung von Glaube und Lehre als Dal‐ ferths kombinatorischem Vermittlungsversuch gefolgt ist. Nicht zuletzt bei Dalferths eigener Bearbeitung des Lehrproblems zeigt sich, dass im Rah‐ men einer Kerygmatheologie der Lehre nur schwer eine bleibende Bedeu‐ tung für das Glaubensleben der Einzelnen zugeschrieben werden kann. Die Lehre wird stattdessen als abkünftige, nur indirekt auf Glauben und Theologie bezogene Größe konstruiert. Man kann ihr zwar eine regula‐ tive Funktion für die kirchliche Binnenkommunikation zugestehen, doch bleibt sie durch die Ablösung vom ursprünglichen Lebensverhältnis immer suspekt und der vergegenständlichenden Abstraktion verdächtig. Die öko‐ nomische Theorielösung, Dalferths innere Verdoppelung der Theologie hinsichtlich ihres Kirchen- und Weltbezugs wieder einzuziehen, erscheint leicht als praktikabler Weg oder konsequenter nächster Schritt: Warum nicht den Lehrbegriff bestenfalls polemisch als Bezeichnung objektivieren‐ der und kirchlich-heteronomer Theologie beibehalten, die (akademische) Theologie dagegen unmittelbar auf das Verhältnis von Glaube und Offen‐ barung beziehen? Gegen diesen allgemeinen kirchlichen wie theologischen Trend heben sich allerdings die Beiträge von E. Herms ab, dessen frühe Überlegungen zum Lehrbegriff bereits Dalferths kombinatorische Theolo‐ gie beeinflusst hatten (behandelt in Kapitel 6). Vom Vergleich der Kerygmatheologie mit der reformatorischen und alt‐ protestantischen Theologie aus lässt sich urteilen: Ist eine klare theologi‐ sche Unterscheidung zwischen dem Offenbarungsgeschehen, dem Glau‐ ben, einem möglicherweise völlig impliziten Glaubenswissen und den ex‐ plizit-regulativen Aussagen der kirchlichen Lehre grundsätzlich sachge‐ mäß, treten diese Ebenen infolge der Lehrkritik der Kerygmatheologie doch in einer Weise auseinander, dass ihre konkreten Beziehungen und Konsti‐ tutionsverhältnisse, inhaltlichen Übereinstimmungen und wechselseitigen Verflechtungen in der Einheit des Glaubenslebens leicht aus dem Blick ge‐ raten. Insbesondere dürfte in diesen kerygmatheologischen Entwürfen die Einbettung von Glauben und Lehre in eine gemeinschaftliche Frömmig‐ keitspraxis, die es weniger mit Appellen, Propositionen und Informationen

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Abkünftigkeit der Lehre? Die Lehrkritik der Wort-Gottes-Theologie

als mit Erzählungen, Symbolen und Ritualen zu tun hat, in ihrer Bedeutung verkannt sein. Die Bedeutung dieser Einbettung haben kulturhermeneuti‐ sche Zugänge zur Theologie aufgewiesen, weshalb in manchen dieser Zu‐ gänge auch der kirchlichen Lehre wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Als Beispiel einer solchen Neubesinnung auf die Lehre unter verän‐ dertem Vorzeichen soll daher die postliberale Theologie G. A. Lindbecks herangezogen werden (behandelt in Kapitel 7).

6 Lehre zwischen Gewissheit und Konsens bei E. Herms Unter den neueren Versuchen, auf die verbreiteten und teilweise auch theo‐ logisch gewichtigen Vorbehalte gegenüber dem Lehrbegriff zu reagieren, ragt die offenbarungstheologisch fundierte und ekklesiologisch ausgearbei‐ tete Behandlung des Lehrproblems bei Eilert Herms (geb. 1940) heraus. 1 Herms nimmt die Kritik der Wort-Gottes-Theologie an einer vergegen‐ ständlichenden Vorstellung von kirchlich überlieferter Lehre in produk‐ tiver Weise auf. Damit stellt er sich der herausfordernden Aufgabe, das Verhältnis von Offenbarungsgeschehen, Verkündigung, Glaube und Lehre so zu bestimmen, dass den Erfordernissen einer überzeugenden Begrün‐ dung der Theologie als Wissenschaft ebenso Rechnung getragen wird wie den Bedürfnissen der kirchlichen Praxis und nicht zuletzt der Dialogsi‐ tuation ökumenischer und interreligiöser Verständigung. Mittlerweile liegt Herms’ theologische Konzeption auch im Gesamtentwurf einer systema‐ tischen Theologie vor. 2 Diese systematische Darstellung selbst verweist allerdings trotz einzelner Akzentverschiebungen durchgängig auf frühere Texte, in denen die nun summarisch präsentierten Ergebnisse zwar nicht immer schon in durchgängig kohärenter Terminologie, aber doch ebenfalls mit großer Geschlossenheit und zudem in der Auseinandersetzung mit an‐ deren Positionen entwickelt wurden. 3 Daher ist es für eine problemorien‐ tierte Rekonstruktion sinnvoller, der Frage nach dem Lehrproblem anhand dieser früheren Einzelarbeiten nachzugehen. 4 Zunächst wird nun Herms’ Theologieverständnis skizziert, das sich in der wissenschaftstheoretischen Verankerung und der engen Ausrich‐ tung auf die Praxissituation theologischer Berufe charakteristisch von den Entwürfen der Wort-Gottes-Theologie unterschiedet (6.1). Im Anschluss daran wird die für Herms grundlegende Offenbarungstheorie rekonstru‐ iert – ausgehend von ihrem Entdeckungszusammenhang in der Ausein‐ andersetzung mit der reformatorischen Theologie (6.2) und voranschrei‐ 1

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Für eine umfassende Selbstverortung, die auf vielen Ebenen für das Theologieverständ‐ nis aufschlussreich ist, vgl. Herms, Herms. Zur werkgenetischen Entwicklung, die im Rahmen dieser Arbeit nur angedeutet wird, vgl. Goltz, Werden, 246–258. Für eine Cha‐ rakterisierung vgl. auch Fischer, Theologie, 239–254. Vgl. Herms, Systematische Theologie. Zum selbstreferenziellen Grundzug dieses Entwurfs vgl. auch die kritische Rezension Welker, Theologie. Deutlich wohlwollender, aber in der Stoßrichtung ähnlich vgl. Dal‐ ferth, Denkmal. Die für das Lehrproblem besonders erhellenden Abschnitte der Systematischen Theologie sollen hier trotzdem angegeben werden. Sie finden sich in Herms, Systematische Theolo‐ gie, Bd. 1, §§ 24–27, 551–592; §§ 45f, 847–997; Bd. 3, §§ 87f, 2467–2694.

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Lehre zwischen Gewissheit und Konsens bei E. Herms

tend zu ihrer ausgearbeiteten Gestalt, in der sie als Letztbegründungstheo‐ rie mit anthropologischem, ja ontologischem Anspruch vorgebracht wird (6.3). Den Horizont für das Lehrverständnis steckt bei Herms zudem sein Projekt einer ‚konkreten‘, weil soziologisch informierten Ekklesiologie ab (6.4), wobei ihm zufolge die Grundanliegen reformatorischer Theologie eine spezifische Verschärfung der strukturellen Herausforderungen kirch‐ licher Lehrbildung bedeuten (6.5). Auf dieser offenbarungstheologischen und ekklesiologischen Grundlage gelangt Herms zu einem Kriterienraster für die Formulierung konsensfähiger Lehraussagen, das formale und in‐ haltliche Bedingungen integrieren soll (6.6). Schließlich ist zu untersuchen, welche Konsequenzen dieses Lehrverständnis für die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen in der Ökumene sowie inner‐ halb pluraler Gesellschaften hat (6.7). 6.1 Theologie als Erfahrungswissenschaft und Christentumstheorie? In seiner programmatischen Frühschrift Theologie – eine Erfahrungswis‐ senschaft widmet sich Herms der Frage nach der spezifischen Wissen‐ schaftlichkeit der Theologie und ihrem wissenschaftstheoretischen Leitpa‐ radigma. 5 Er votiert dabei erstens dafür, Theologie als handlungsorientie‐ rende Theorie zu verstehen, die auf die Praxis theologischer Berufe ausge‐ richtet ist. 6 Zweitens soll sie sich am Paradigma der Erfahrungswissenschaft ausrichten. Beide Anliegen hängen insofern zusammen, als gerade eine er‐ fahrungswissenschaftliche Ausrichtung die Theologie dazu befähigen soll, in der „Korrelation von Theorie und Erfahrung“ handlungsorientieren‐ des Wissen zu generieren. 7 Mit dem Anschluss an das erfahrungswissen‐ schaftliche Paradigma entspreche die Theologie einem eigenen Interesse, könne doch „ausschließlich durch eine solche evolutionäre Verwandlung der Strukturen des Wahrheitsbewußtsein hindurch“ die Erschließungskraft des christlichen Glaubens als unabhängig von bestimmten geschichtlichen

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Vgl. Herms, Erfahrungswissenschaft. Vgl. auch ders., Theorie. Dazu vgl. Goltz, Werden, 247–252. Damit schließt sich Herms nicht zuletzt an Schleiermachers Bestimmung der Theologie als einer „positiven Wissenschaft “ an, vgl. Herms, Erfahrungswissenschaft, 72. Zur Be‐ deutung Schleiermachers für Herms vgl. Golz, Werden, 234–238. Herms, Erfahrungswissenschaft, 10. Dabei beansprucht Herms, über die bereits beob‐ achtbaren Ansätze einer empirischen Wende in der Theologie hinauszuführen, indem er die erfahrungswissenschaftliche Ausrichtung tatsächlich für das Ganze der Theologie zur Geltung bringt. Vgl. ebd., 18f; 25 f.

Theologie als Erfahrungswissenschaft und Christentumstheorie?

Bedingungen erwiesen werden – namentlich von den „sozialen Bedingun‐ gen vorneuzeitlicher, kirchlich dominierter Kultur, Öffentlichkeit und Wis‐ senschaft“. 8 Als Erfahrungswissenschaft müsse die Theologie sich auf einen Gegenstandsbereich beziehen, der „innerhalb des strukturellen Rahmens unserer Lebenswirklichkeit“ ausweisbar sei. 9 Ein solcher ist laut Herms mit den Praxissituationen theologischer Berufe gegeben, welche wiederum in gesellschaftliche Praxis, genauer: den übergreifenden Kommunikationszu‐ sammenhang christlicher Frömmigkeit eingebettet sind. 10 Als empirisch-funktionale Christentumstheorie sind die theologischen Erkenntnisbemühungen für Herms auf eine erfahrbare gesellschaftliche Praxis bezogen und darin nicht wesentlich von anderen Humanwissen‐ schaften unterschieden. 11 In methodischer Hinsicht sei daher Sache der Theologie, theoretische Instrumente zur Bewältigung derjenigen Aufgaben zu erzeugen, „mit denen das gegenwärtige Christentum in unserer Gesell‐ schaft den theologischen Praktiker konfrontiert“. 12 Die zielsichere Anwen‐ dung dieses theoretischen Instrumentariums bezeichnet Herms als „theolo‐ gische Kompetenz“. 13 Sollen theologische Praxissituationen verantwortlich und kompetent (d.h. zielsicher) bewältigt werden, sei dazu eine Kenntnis der „Funktionsgesetze gegenwärtiger Christlichkeit“ 14 unverzichtbar, was sich in der berechtigten und vielfach erhobenen Forderung nach gesteiger‐ ter „Praxisrelevanz theologischer Theoriearbeit“ ausspreche. 15 Allerdings 8

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Ebd., 14 f. Die Theologie müsse ein „auf der Höhe der Zeit stehende[r] Spezialfall des allgemeinen Denkens“ (Herms, Theorie, 14) werden. Vgl. auch ders., Bedeutung des Ge‐ setzes, 24. Herms, Kompetenz, 41. Vgl. ebd, 44. Vgl. Herms, Erfahrungswissenschaft, 72 f. Herms schließt sich hier einer Programmfor‐ mel an, die mit den Namen Dietrich Rössler, Hans-Joachim Birkner und Trutz Rendtorff verbunden ist. Inwiefern dieses Programm für Herms auch im späteren Werk noch von Bedeutung ist und wo die Unterschiede zu den Genannten liegen, ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu vertiefen. Ebd., 26. Vgl. Herms, Kompetenz. Herms, Erfahrungswissenschaft, 17. Diese Angewiesenheit trete verschärft zu Tage, je seltener Praxissituationen durch den Rekurs auf Autorität oder Konvention entschieden werden können. Vgl. auch Herms, Theorie, 17–23. Herms, Erfahrungswissenschaft, 25. Im Hintergrund steht hier eine Theorie des Han‐ delns als eines intentionalen und in seiner Effizienz steigerbaren Verhaltens, das aufgrund einer einer bewussten Wahl von Medium, Mittel und Zielen erfolgt. Entscheidend ist für Herms, dass Verhalten (Praxis) als Handeln immer auf Vorstellungen und Leitkategorien (Theorie) angewiesen ist, vgl. dazu Herms, Kompetenz, 36–38. Zu Herms’ Handlungs‐ theorie und seinem Konzept kompetenzbegründenden Orientierungswissens vgl. auch Herms, Theologische Schule, 162f; vgl. ferner ders., Art. Entscheidung, 691–693. Für eine Interpretation unter Berücksichtigung späterer Texte vgl. Goltz, Werden, 238–246.

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Lehre zwischen Gewissheit und Konsens bei E. Herms

könne die Sache der Theologie keinesfalls vollständig in ihrer Orientie‐ rungsfunktion für die theologische Berufspraxis aufgehen. Die Notwendig‐ keit der Theologie als eigenständiger Wissenschaft im Rahmen des erfah‐ rungswissenschaftlichen Paradigmas könne nämlich nur behauptet wer‐ den, sofern ihr innerhalb der synthetisch konstituierten Erfahrungsbasis auch ein „selbständiger, irreduzibler Bereich“ korrespondiere. 16 Der Ge‐ genstandsbereich, den er der Theologie zuordnet, besteht nun allerdings nicht in einer bestimmte Klasse von Phänomenen, sondern in einem Struk‐ turmoment, das schlechthin jeder möglichen Erfahrung zukomme. Und um dieses Strukturmoment zu bestimmen, greift er auf eine „Ontologie der Er‐ fahrung“ zurück. 17 Am Erfahrbaren lassen sich Herms zufolge nicht nur die Strukturmo‐ mente der Naturhaftigkeit und Sinnhaftigkeit festmachen, an denen die Erkenntniszusammenhänge der Naturwissenschaften und Humanwissen‐ schaften anknüpfen, sondern dem Erfahrbaren als solchen eignet darüber hinaus eine „existenzmäßige Angewiesenheit auf Transzendenz“. 18 Alles Er‐ fahrbare habe „seine Wirklichkeit immer schon aus dem Nichterfahrbaren empfangen“. 19 Angesichts dieser Struktur ergebe sich für den Menschen als sinngesteuert handelndem Lebewesen eine „Unvermeidbarkeit, dieser tatsächlichen Existenzabhängigkeit seiner selbst und alles welthaft Seiende [sic] deutend zu begegnen“. 20 Der Verfasstheit endlichen Seins korrespon‐ diere somit eine identitätstheoretische und handlungstheoretische Nöti‐ gung für das personale Subjekt, sich mit dieser Struktur der Transzendenz‐ abhängigkeit deutend auseinanderzusetzen. 21 Bei Transzendenzabhängig‐ keit und Auslegungsbedürftigkeit des Daseins handle es sich im Kern um 16 Herms, Erfahrungswissenschaft, 71. Vgl. ebd., 80. 17 Herms, Theorie, 12. Herms spricht in diesem Zusammenhang auch parallel von Phäno‐ menologie und beruft sich für diesen Typus der Ontologie u.a. auf Georg W. F. Hegel, Edmund Husserl und Martin Heidegger. Zum Erfahrungsbegriff und seiner Entwicklung hin zu einem Fundamentalbegriff, der die Konstitution der Gegenstände von Erkenntnis erfasst, vgl. ausführlich Herms, Art. Erfahrung II, 89–109. Zur Entwicklung dieser Be‐ griffe und ihre Verhältnisse im Werkzusammenhang vgl. Goltz, Werden, 246–258. 18 Herms, Erfahrungswissenschaft, 75. Herv. im Orig. 19 Ebd. Diesen Sachverhalt kann Herms auch als „Existenzabhängigkeit“ und in Anknüp‐ fung an die theologische Tradition als „Geschöpflichkeit“ (ebd., 76), ferner in Anlehnung an Schleiermacher als „schlechthinnige Abhängigkeit“ (ebd., 79. Im Orig. teilw. kursiv) bezeichnen. 20 Ebd., 76. Vgl. Herms, Kompetenz, 42. 21 Vgl. Herms, Rechtfertigung, 88: „In der Auslegung von Seiendem besteht Identität als Prozeß, und zwar als integrativer. Die Identität von Seiendem ist das Integral der Vielzahl seiner Seinsbestimmungen. Handelt es sich [...] um vernünftige Individuen so kommt deren Identität durch eine Selbstauslegung zustande, die den Inbegriff ihrer Seinsmög‐ lichkeiten integriert“ (Herv. im Orig.). Vgl. auch Herms, Religion, 26 f.

Theologie als Erfahrungswissenschaft und Christentumstheorie?

„unterschiedliche Aspekte ein und desselben ontologischen Grundsachver‐ haltes“ 22: Alle „Relationen des Für-seins von Seiendem (einschließlich des als Interpretandum aufgefassten Interpreten selbst) sind nur möglich unter der Bedingung seines vor‐ gängigen immer schon Für-sich-seins. Diese Relation ist dem Interpreten nicht als seine eigene Tat zurechenbar, da er als Interpret möglicher Erfahrung erst durch diese Relation seine identische Existenz gewinnt. In der Reflexivität ihres Interpreten hat Erfahrung also ekstatische, transzendenzabhängige, ‚geschöpfliche‘ Existenz.“ 23

Die Transzendenzdimension aller Erfahrung wurzele in der ontologischen Existenzabhängigkeit des (wahrnehmenden und dabei unausweichlich deu‐ tenden) Interpreten, also in dessen schlechthinniger Passivität hinsichtlich der ihm als Person vorgängigen Ausgelegtheit seiner Welt oder religiös for‐ muliert: in seiner Geschöpflichkeit. 24 Hier kommt bei Herms der christliche Glaube als „bestimmte, durch die Erfahrungen mit Jesus Christus begründete, Auslegung der Transzendenz‐ abhängigkeit (Geschöpflichkeit) personaler Lebenswirklichkeit“ ins Spiel. 25 Die christliche Theologie sei folglich nicht nur als Berufswissenschaft auf eine bestimmte Praxis bezogen, sondern gleichzeitig materialiter an die konkrete „Wirklichkeit des christlichen Glaubens“ und dessen spezifisches Wirklichkeitsverständnis gebunden. 26 Die zentrale Folgefrage, die hier um‐ gehend auftaucht und von der Theologie zu beantworten ist, lautet somit: Wie gelangt die ontologische Struktur der Transzendenzabhängigkeit ein‐ zelnen Personen so zu Bewusstsein, dass sich für diese ein explizit-religiöses Wirklichkeitsverständnis ausbildet? Herms zufolge vollzieht sich dies in einem gestuften Bildungsprozess. Zunächst und grundlegend manifestiere

22 Herms, Erfahrungswissenschaft, 78. Im Orig. kursiv. 23 Ebd., 79. Herv. im Orig. Auch die Rekonstruktion der Bedingungen einer allgemeinen Zeichentheorie führt Herms auf dieses Ergebnis, vgl. Herms, Einführung, 182–186. Das gleiche ergibt seine Analyse der Grundbegrifflichkeit Niklas Luhmanns, vgl. Herms, Sinn, 204 f. Damit zeige sich die Unmöglichkeit aller (beispielsweise im franz. Strukturalis‐ mus unternommenen) Versuche, eine Sinntheorie zu entwickeln, die das Problem der (Selbst-)Reflexivität von Subjektivität zu umgehen erlaube. 24 Vgl. Herms, Bedeutung der natürlichen Theologie, 106. Diese Bestimmung des Ge‐ genstandsbereichs der Theologie unter der „leitenden Kategorie des schlechthin passi‐ ven Wirklichseins erfahrbarer Realität“ (Herms, Erfahrungswissenschaft, 76. Herv. TG) scheinbar in Spannung zu Herms’ Anspruch zu stehen, handlungsorientierende Theorie zu generieren. Dies sei – so Herms – aber nur der Fall, wenn man einen auf technisches bzw. auf instrumentelles Handeln verengten Handlungsbegriff zugrunde legt. 25 Herms, Beitrag, 51 f. 26 Herms, Erfahrungswissenschaft, 26. Dieses Wirklichkeitsverständnis ist für Herms eben‐ falls ein der wissenschaftlichen Beobachtung zugängliches Phänomen der Erfahrungs‐ welt.

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Lehre zwischen Gewissheit und Konsens bei E. Herms

sich die Transzendenzabhängigkeit in der „primären Selbst-Erfahrung“, die damit unmittelbare und unbedingte Ermöglichungsbedingung aller Er‐ kenntnis sei. 27 Diese ursprüngliche Selbsterschlossenheit eröffne sodann die Möglichkeit, sich in einem Akt bewusster Reflexion „erkennend auf die‐ ses ursprünglich Allgemeine zu richten“, was zur Entwicklung metaphy‐ sisch-ontologischer Begriffe von formal universaler Reichweite führe. 28 Zu diesen Reflexionsbegriffen gehören für Herms notwendig auch ein Wissen um die Transzendenzabhängigkeit und eine Form von Religiosität als „Um‐ gang der sich sinnhaft orientierenden Individuen mit ihrer eigenen Ge‐ schöpflichkeit“. 29 Als „ontologische Strukturmomente“ personaler Lebens‐ wirklichkeit stecken diese Kategorien für Herms den Rahmen ab, inner‐ halb dessen sich Theologie als empirisch-funktionale Theoriebildung mit‐ tels Beobachtung, Induktion und Experiment vollzieht. 30 Religion könne funktional definiert werden als „die jeweils in einer Gesellschaft relevante Weise, die ontologische Frage kommunikativ zu bearbeiten“, was sich not‐ wendig in leibhaftem Verhalten und unter Vermittlung religiöser Symbole vollziehe. 31 Zu beachten ist, dass für Herms der Gegenstand der Theolo‐ gie damit nicht unmittelbar Gott, sondern die Gesamtheit der Strukturen und Aspekte menschlicher Lebenswirklichkeit hinsichtlich ihrer „Bezie‐

27 Herms, Kompetenz, 42. Herms versteht dies als Auslegung von Schleiermachers Theorie eines schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls, wobei man die primäre Selbst-Erfahrung wie Schleiermacher als unmittelbares Selbstverhältnis und nicht als eine Emotion unter anderen verstehen müsse, vgl. Herms, Beitrag, 52. Gefühl bezeichnet somit die „sinnhafte Wirklichkeit in ihrer widerfahrnishaften Primärgestalt“ (Herms, Bedeutung der natürli‐ chen Theologie, 107. Herv. TG). 28 Herms, Beitrag, 53. 29 Herms, Erfahrungswissenschaft, 77. Vgl. auch Herms, Offenbarung, 168: „Religion ist ein wesentlicher Aspekt allen menschlichen Lebens“. Religion bedeute das (kontingente) Faktum, dass eine Person der ontologischen Struktur ihres personalen Daseins „so inne‐ geworden ist, daß sie bewußt mit ihr umgeht“ (ebd., 180). 30 Herms, Beitrag, 55. Herms betrachtet die ontologischen Reflexionsbegriffe als logisch grundlegend für jede mögliche Erfahrung, doch gehe diesen zeitlich oft die empirische Er‐ kenntnis durch Beobachtung und Theoriebildung voraus, da metaphysische Begriffe erst durch Reflexion im Medium konkreter Erfahrung zu Bewusstsein gelangen. Vgl. Herms, Kompetenz, 46 f. 31 Herms, Fähigkeit, 262. Im Orig. kursiv. Religion ist folglich für Herms eine „anthropolo‐ gische Konstante“ (Herms, Religion, 27) und in der Struktur selbstbewussten Handelns notwendig impliziert, weil dieses Handeln auf die Orientierung an einer vorgängigen „lebenspraktischen Gewißheit vom Wesen und von der Bestimmung unserer Existenz“ (ebd., 30. Im Orig. teilw. kursiv.) angewiesen sei. Diese sei im Menschen bei jeder Hand‐ lung immer schon im Modus des Gefühls, als „gefühlsmäßige Gewißheit“ bzw. „in der Gestalt einer umrißhaften Ahnung“ (ebd., 30f) voraus- und mitgesetzt.

Theologie als Erfahrungswissenschaft und Christentumstheorie?

hung auf ihren transzendenten“ bzw. „schöpferischen Existenzgrund“ ist. 32 Theologie habe es immer mit „leibhaften Manifestationen von Unmittel‐ barkeit“ zu tun, welche sich wiederum als unhintergehbar „sozialer und geschichtlicher Lebenszusammenhang“ auf einen „leibhaften Kommunika‐ tionszusammenhang mit Jesus Christus“ beziehen: auf das Christentum. 33 Theologische Theoriebildung setzt für Herms daher zwar nicht den Glau‐ ben, aber doch eine „Teilhabe am gegenwärtigen Kommunikationsprozeß christlicher Frömmigkeit“ voraus. 34 Die wissenschaftstheoretische Bestimmung der Theologie, wie Herms sie in seinen frühen Schriften vornimmt, lässt sich folgendermaßen zusam‐ menfassen: Die Theologie verfolgt das praktische Ziel, theologische Kom‐ petenz, verstanden als Qualität des pastoralen Handelns, zu ermöglichen und zu steigern. Diese Kompetenz setzt das Vorhandensein einer empi‐ risch-funktionalen Theorie voraus, welche in der Lage ist, die Gesetzmäßig‐ keiten christlicher Frömmigkeit aufzudecken. Die christliche Frömmigkeit als Erfahrungsbasis dieser Theorie steht wiederum unter der Bedingung, dass gewisse ontologische Strukturen (Transzendenzabhängigkeit, Reflexi‐ vität), die dem Menschen zunächst im unmittelbaren Selbstgefühl manifest sind, durch bewusste Reflexion aufgehellt und auf den „metaphysischen“ Begriff gebracht sind. 35 Im Horizont, den diese begrifflichen Kategorien aufspannen, kann sich schließlich Theologie als Erfahrungswissenschaft vollziehen. Das Verhältnis einer allgemeinen ontologischen Transzendenz‐ abhängigkeit zu ihrer konkret-christlichen Auslegung im empirisch beob‐ achtbaren Handeln frommer Individuen oder auch einer Gemeinde be‐ stimmt somit den Rahmen, innerhalb dessen Herms sich dem Lehrproblem zuwenden kann.

32 Herms, Kompetenz, 41 f. Herms schließt sich damit erneut Schleiermacher an. Im Un‐ terschied zur Theologie habe es der Glaube zwar mit Gott zu tun, doch niemals abstrakt und abgelöst von dessen Weltbeziehung als Schöpfer: „Thema des christlichen Glaubens ist Gottes Beziehung zur Welt des Menschen“ (Herms, Bedeutung, 101. Herv. im Orig.). 33 Herms, Kompetenz, 44. Zur unhintergehbaren Interaktionsdimension von Handeln vgl. ders., Glaube, 461–463. 34 Herms, Kompetenz, 49. Vgl. auch ders., Beitrag, 54. 35 Herms, Erfahrungswissenschaft, 79. Vgl. ebd., 56–61.

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Lehre zwischen Gewissheit und Konsens bei E. Herms

6.2 Offenbarung als Vermittlung zwischen Ontologie und Dogmatik Im Rahmen dieser ontologischen Grundlegung der Theologie tritt ein Pro‐ blemkomplex deutlich hervor: das Verhältnis von Gattungsallgemeinheit und spezifischer Differenz. Wie genau kommen Menschen bei ihrer Refle‐ xion auf die ontologische Struktur der Transzendenzabhängigkeit dazu, ein konkret-christliches Wirklichkeitsverständnis auszubilden? Und wie kann diese Theorie eines allgemeinen religiösen Bildungsprozesses mit der Viel‐ falt konkreter Religionen umgehen? Kann dieser Überschritt von einer all‐ gemeinen, unmittelbar erschlossenen Struktur zu einer konkret-religiösen Ausdrucksgestalt nicht auch unterbleiben? Mit diesen Fragen kommt für Herms zunehmend der Begriff der Offenbarung in den Blick, dem in der Selbstverständigung der neuzeitlichen Theologie über ihren Grund allge‐ mein eine zentrale Rolle zukommt. 36 Im Laufe der 1980er Jahre zeich‐ net sich daher eine dezidiert offenbarungstheologische Neufassung seiner Grundgedanken ab, die sich am Besten als Zuspitzung früherer Positionen verstehen lässt. 37 Mit dem Offenbarungsbegriff strebt Herms danach, genau die Lücke zu schließen, die sich zwischen der ontologischen Struktur der Transzendenz‐ abhängigkeit sowie der anthropologischen Struktur der Selbsterschlossen‐ heit einerseits, den konkreten Vorstellungsgestalten des christlichen Wirk‐ lichkeitsverständnisses (z.B. Geschöpflichkeit) andererseits auftut. In en‐ gem Zusammenhang mit dieser Zentralstellung des Offenbarungsbegriffs gewinnt für Herms auch der Begriff der Gewissheit zunehmend an Bedeu‐ tung und Kontur. Zunächst wird daher Herms’ Perspektive auf die Spezi‐ fika des evangelischen Offenbarungsverständnisse dargestellt (6.2.1), bevor 36 In seiner von wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fragestellungen dominierten Frühphase war Herms vor allem negativ daran gelegen, dass der Offenbarungsbegriff nicht im Gegensatz zum Bildungsbegriff und auch nicht als das irrationale Jenseits der menschlichen Vernunft verstanden wird, vgl. beispielsweise Herms, Rechtfertigung, 95. An diesem Interesse hält Herms in der weiteren Entwicklung seiner Theologie durchgän‐ gig fest, auch wenn nun der Offenbarungsbegriff daneben eine positive Funktion erhält, vgl. Herms, Offenbarung, 168f; 211–213; 220. Zur steigenden Bedeutung des Offenba‐ rungsbegriffs bei Herms vgl. Goltz, Werden, 224–294. 37 Bereits im Zuge der Auseinandersetzung mit der Ökumenekonzeption K. Rahners war der Offenbarungsbegriff an prominentere Stelle gerückt, vgl. Herms, Einheit. Seine hier bestimmende Rekonstruktion des protestantischen Offenbarungsverständnisse arbeitet Herms im Zuge einer Auseinandersetzung mit Luthers Credoauslegung weiter aus, vgl. Herms, Auslegung, XI. Er beansprucht dabei, Luthers Einsichten ohne produktive Fort‐ schreibung für seine Gegenwart neu zur Geltung zu bringen, und stellt damit sein eigenes erfahrungswissenschaftliches Konzept in eine reformatorische Tradition seelsorgerlich orientierter Theologie, vgl. ebd., V; XIf. Vgl. auch Herms, Luther und Freud, 107.

Offenbarung als Vermittlung zwischen Ontologie und Dogmatik

dessen ekklesiologische Implikationen beleuchtet werden, da das Christus‐ geschehen zu seiner je neuen Vergegenwärtigung einen kirchlichen Kom‐ munikationszusammenhang freisetzt (6.2.2). 6.2.1 Das evangelische Verständnis von Offenbarung Laut Herms wird die zentrale Bedeutung von Offenbarung für den christli‐ chen Glauben über die Grenzen der Konfessionen und theologischen Schu‐ len hinweg anerkannt: „Im Blick auf die Wirklichkeit des christlichen Glaubens gilt jedenfalls, daß sein Grund und Gegenstand die Offenbarung ist. Und das heißt: Das theologische Ver‐ ständnis von Offenbarung ist faktisch grundlegend für das Verständnis der Wirklich‐ keit des christlichen Glaubens und seiner kirchlichen Lebensformen überhaupt.“ 38

Mit dem theologischen Reflexionsbegriff der Offenbarung werde „der schlechthin grundlegende Aspekt des Glaubenslebens angesprochen: das Zustandekommen des Gegenstandsbezugs des Glaubens“. 39 Dabei sei Offenbarung als „sich selbst vergegenwärtigendes Geschehen“ zugleich Grund und Gegenstand des Glaubens, weil und insofern „der durch Of‐ fenbarung gegebene Gegenstand des Glaubens das offenbarungsmäßige Präsentwerden dieses Gegenstandes selbst einschließt“. 40 Das Offenba‐ rungsgeschehen sei nach gemeinchristlicher Überzeugung als „Handeln Gottes selber“ und zwar näherhin als „Geistgeschehen“ zu bestimmen. 41 Die Übereinstimmung zwischen reformatorischem und römisch-katho‐ lischem Offenbarungsverständnis ende allerdings bei der Frage, welche Rolle dem menschlichen Überlieferungshandeln in diesem göttlichen Geistgeschehen zukomme. Weil diese Frage für ihn theologisch schlechthin grundlegend ist, weichen laut Herms die Konfessionen nicht nur in ihrem

38 Herms, Einheit, 96. Zum Verhältnis von Offenbarung, Glaube und christlichem Leben als „gesellschaftliche Gesamtinteraktion der Christen“ vgl. auch OuG, VIIf; vgl. Herms, Art. Erfahrung IV, 132. 39 Herms, Offenbarung, 175. Im Orig. teilw. kursiv. Vgl. ebd., 181. 40 Herms, Einheit, 97. Dieses Offenbarungsverständnis kann sich laut Herms insbesondere auf Luther berufen, der unter Offenbarung „das Begründetwerden derjenigen Gewißheit“ verstanden habe, „die Grund und Gegenstand des Glaubens ist, durch den allein ein Mensch Anteil am ewigen Heil gewinnt, das ihm von Gott her bestimmt ist“ (Herms, Aus‐ legung, Xf. Herv. im Orig.). Trotzdem bestehe in dieser Frage ein Konsens, der zumindest das abendländische, neuzeitliche Christentum umgreife. Zu Herms’ Lutherdeutung vgl. auch Härle, Gewissheit, 171–178. 41 Herms, Einheit, 96 f. Vgl. auch ders., Auslegung, 40: „ein auf jeden einzelnen Glaubenden hin gerichtetes effektives Gestaltungswerk“ (Herv. im Orig.) des Heiligen Geistes.

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Glaubensbegriff, sondern auch in ihrem Verständnis der Einheit der Kirche und ihren sozialethischen Idealvorstellungen voneinander ab. 42 Luther und die ihm folgende reformatorische Theologie versteht Herms zufolge das offenbarende Werk des Heiligen Geistes als die „Einheit ei‐ nes kontinuierlichen Prozesses“, der als gegenwärtiges Geschehen „sowohl Vergangenheit und Zukunft je meines Lebens als auch Vergangenheit und Zukunft des Handelns der Trinität“ umfasse. 43 Nach reformatorischem Verständnis bleibe also Gott immer und durchgängig der freie Urheber dieses Prozesses, dessen kontingentes Wirken allein die hinreichende Be‐ dingung und der wirksamer Grund des Offenbarungsgeschehens sei. 44 Der Geist vergegenwärtige „die glaubende Person dem vergangenen Handeln Gottes und dem zukünftigen“, so dass zugleich dieses Gotteshandeln der glaubenden Person vergegenwärtigt und zugeeignet werde. 45 In diesem wechselseitigen Präsentwerden vollziehe sich durch den Geist die Selbstof‐ fenbarung des trinitarischen Gottes. 46 Insofern sei das Wirken des Geistes „Wirkmodus“ des trinitarischen göttlichen Handelns in der Einheit eines übergreifenden Prozesses von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung. 47 Dieser Vergegenwärtigungsprozess der Selbstoffenbarung Gottes sei „als eschatische Wirklichkeit bestimmt, weil er als Realisierung der Absichten des Schöpfers gedacht wird“ und sich damit „als Vergegenwärtigung des in allem Gestaltwandel von Gegenwart schlechthin Gleichbleibenden“, also des ewigen Gotteswillens, vollziehe. 48 Weil sich in diesem Geschehen Got‐ 42 Nach diesen Andeutungen ist hier zunächst auf das reformatorische, genauer: lutherische Offenbarungsverständnis zu fokussieren. Zur wesentlichen Übereinstimmung Luthers mit Calvin (und Schleiermacher!) in dieser Frage vgl. Herms, Calvin, 77–80. Zur Aus‐ einandersetzung mit Rahner und der lehramtlichen Theologie des Katholizismus siehe unten, 500. 43 Herms, Auslegung, 40. Herv. im Orig. An diesem Werk des Geistes sind nach dem Grundsatz opera trinitatis ad extra sunt indivisa auch die anderen Personen der Trinität beteiligt, vgl. ebd., 47 f. 44 Vgl. Herms, Offenbarung, 209; 215 f. Vgl. OuE, 250. In der Folge weist Herms gegenüber anders lautenden katholischen und protestantischen Positionen einen (Re)Präsentationscharakter kirchlichen Handelns dezidiert zurück. 45 Herms, Auslegung, 42. Der Geist ermögliche das vergegenwärtigende Wirksamwerden der Offenbarung am Ort des Glaubenden, welches im ursprünglichen Offenbarungshan‐ deln bereits wesentlich impliziert sei, vgl. ebd., 48 f. Vgl. auch ebd., 116–118. 46 Vgl. ebd., 42. Diese Selbstoffenbarung sei dabei „nicht etwa ein, sondern das eine und einzige Werk des Dreieinigen Gottes“ (OuE, 250. Herv. im Orig.). 47 Herms, Auslegung, 41. Das Wirken des Heiligen Geistes integriere das trinitarische Han‐ deln Gottes: „Die Einheit liegt darin, daß das Wirken des dreieinigen Gottes gesamthaft Wirken in der Kraft des Geistes ist: Gewißheit schaffende Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers für die Geschöpfe. Die Differenz liegt in den Inhalten dieser Selbstvergegen‐ wärtigung des dreieinigen Gottes“ (ebd., 118. Herv. im Orig.). 48 Ebd., 102. Herv. im Orig.

Offenbarung als Vermittlung zwischen Ontologie und Dogmatik

tes Schöpferwille als ewig liebende Zuwendung erschließe, sei der Inhalt dieser Offenbarung schlechthin unüberholbar. 49 Herms streicht als beson‐ dere Pointe heraus, dass das Wirken des Geistes schon jetzt „Anteil an dem auf sein noch ausstehendes Letztziel gerichteten Vollendungshandeln des dreieinigen Gottes“ gebe. 50 Gleichzeitig jedoch bezieht sich dieses Handeln immer zurück auf die Werke der Schöpfung und Versöhnung, die auf diese Weise ebenfalls vergegenwärtigt und so allererst Elemente des christlichen Wirklichkeitsverständnisses werden. 51 Für Herms ziehen sich im Offen‐ barungsgeschehen durch das Wirken des Geistes somit alle Zeitmodi zu‐ sammen in die ewige Gegenwart Gottes. 52 Es wird für den Menschen als Gegenwart erschlossen, was an sich immer schon wahr ist – und in alle Zukunft wahr sein wird. Innerhalb dieser in sich differenzierten Zeitstruktur der Selbstvergegen‐ wärtigung Gottes durch den Geist ergibt sich ein starker Überhang der Vergangenheit, weil Herms das gesamte Geschehen als durchgängig von seinem vorzeitlichen, protologischen Ursprung her bestimmt denkt: Das Offenbarungsgeschehen sei „Realisierung dieses der ganzen Schöpfung zu‐ grundeliegenden ursprünglichen Willens des Schöpfers“. 53 Herms will mit diesem protologischen Überhang dem zentralen Anliegen der reformato‐

49 Vgl. ebd., 103 f. Die reformatorische Theologie rücke ein zentrales Problem der Gnaden‐ lehre, nämlich den Zusammenhang von Heilsökonomie, Rechtfertigung und Heiligung, in den Vordergrund und zwar so, dass „das Wirksamwerden von Gottes Gnade an den Einzelnen genau als der Vollzug der vorzeitlich begründeten, universalen Gnadenoeko‐ nomie (d.h. als Verwirklichung des trinitarischen Heilswerkes des dreieinigen Gottes) selber“ (Herms, Gnade, 13) verstanden werde. 50 Herms, Auslegung, 43 f. 51 Vgl. ebd., 44 f.: „Das Letztziel, das Eschaton aller Wege Gottes und die Teilhabe an ihm ist das vollendete Offenbarsein und das Leben im vollendeten Erkennen der schon hinter uns liegenden Werke des dreieinigen Gottes“ (Herv. im Orig.). Das Vollendungshandeln habe „eben denselben Inhalt wie Schöpfung und Versöhnung, jetzt aber in seiner schlechthin endgültigen Gestalt“ (OuE, 267). 52 Vgl. auch ebd., 253: „Gottes Werk, das Realisat seines ewigen Willens, ist zur Gänze nichts anderes als: ewige Gegenwart“. 53 Herms, Gnade, 16. Vgl. auch ebd., 13: das Gnadengeschehen am Einzelnen als „Vollzug der vorzeitlich begründeten, universalen Gnadenoekonomie“ (Herv. TG). Auf derselben Linie: Die Offenbarung als Werk des Dreieinigen Gottes sei „Realisierung des uranfäng‐ lichen, einen und einheitlichen Willens Gottes“ (OuE, 250. Herv. TG). Einige besonders prägnante oder für den inneren Zusammenhang der Herms’schen Theologie wichtige Be‐ lege sind hier zusätzlich angeführt: Vgl. Herms, Art. Offenbarung, 147; vgl. ferner die Zu‐ sammenfassung seiner „bibeltheologischen Einsicht“ in ders., Grundprobleme, 353. Zum Begriff der lex aeterna als „Grundbegriff der natürlichen Theologie“ vgl. ders., Aspekte, 430. Vgl. schließlich die prägnanten Formulierungen bei Herms, Glaube, 478. Die Belege für diesen protologischen Überhang ließen sich ohne große Schwierigkeit vermehren.

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rischen Gnadenlehre entsprechen: Es handle sich insgesamt um ein ur‐ anfänglich gesetztes, einheitliches Gnadenhandeln Gottes an den Einzel‐ nen, die es „unwillkürlich, rein passiv“ 54 einbeziehe und so „jede meri‐ torische Intention und Kraft“ 55 von der Lebensführung der Glaubenden ausschließe. Die damit spezifisch erschlossene Transzendenzabhängigkeit versteht Herms zwar nicht zeitlich, sondern als transzendentale Relation zum ewigen Ursprung, in dem Schöpfung und Eschaton zusammenfal‐ len. Dennoch schlagen die zeitlichen Konnotationen des Ursprungsbegriffs faktisch vielfach durch, so dass die Vorordnung der Schöpfungslehre der Theologie – und wie sich zeigen wird: auch der kirchlichen Lehre – einen stark affirmativ-stabilisierenden Zug einschreibt. 56 Wird damit die escha‐ tologische Dimension von Offenbarung und Glauben angemessen erfasst? 6.2.2 Die ekklesiologischen Implikationen des Offenbarungsgeschehens Die Ekklesiologie wird bei Herms zu dem Ort, an dem das Verhält‐ nis von bereits geschehenem Offenbarungshandeln und vergegenwärti‐ gendem Geistwirken genauer bestimmt wird. Das Offenbarungsgeschehen setze nämlich selbst einen religiösen Kommunikationszusammenhang frei. Wirke allein der Geist die „Doppelbewegung“, in der das Werk Christi den Glaubenden vergegenwärtigt und diese zugleich Christus nahe gebracht werden, so vollziehe sich diese Bewegung notwendig im Kommunikati‐ onszusammenhang der Kirche. 57 Der wechselseitigen Vergegenwärtigung von Gott und Mensch im Offenbarungsgeschehen entspricht bei Herms die hermeneutisch-ekklesiologische Doppelbewegung einer „Verinnerlichung der äußerlich begegnenden Predigt“, welche zugleich den Hörer „ins Innere (eben in den Schoß) der Kirche“ versetzt. 58 Der kirchliche Überlieferungs‐

54 Herms, Gnade, 15. 55 Ebd., 17. Im Orig. kursiv. Man beachte zum Folgenden auch die knappe Darstellung der Konsequenzen der Gnadentheologie Luthers für das Verständnis der Erfahrbarkeit der Gnade, vgl. Herms, Art. Erfahrung IV, 130 f. 56 Auch Goltz kritisiert, dass der Glaube bei Herms „als Schöpfungsglaube auf den unper‐ sönlichen Kosmokrator bezogen“ (Goltz, Werden, 311 f.) bleibe und der Erlösungsge‐ danke in den Hintergrund trete. 57 Herms, Auslegung, 53. 58 Ebd., 54. Auch für Luther sei „die Konfrontation mit der predigenden Kirche [...] die vorangehende notwendige Bedingung für das innere Wirken des Geistes“ (ebd.). Herms verbindet diese Bedingung des Geistwirkens mit der Leibhaftigkeit des Geschöpfs und mithin der menschlichen Existenz, der Luther auf diese Weise Rechnung trage. Vgl. auch ebd., 106–111.

Offenbarung als Vermittlung zwischen Ontologie und Dogmatik

zusammenhang wird so bestimmt als der Wirkraum des sich fortsetzenden Offenbarungsgeschehens. Die Offenbarung ist folglich nach reformatorischem Verständnis nie‐ mals inhaltsleer oder beliebigen Inhalts, sondern notwendig auf ein leib‐ haft und semantisch klar artikuliertes Christuszeugnis im Kommunikati‐ onszusammenhang der Kirche bezogen. 59 Dieser Kommunikationszusam‐ menhang der christlichen Verkündigung beginne „mit dem leibhaften Le‐ benszeugnis Jesu von Nazareth für die gegenwärtig kommende Gottesherr‐ schaft“ und setze sich im Zeugnis der Christenheit bis in die Gegenwart fort. 60 Denn das Versöhnungswerk Jesu Christi begründe unmittelbar die Kirche als Predigtgemeinde, in deren leiblichem Kommunikationszusam‐ menhang das Wort von der Versöhnung wirksam sei und bleibe. 61 Die kirchliche Predigt als „lebendiges, leibhaftes Christuszeugnis“ sei nichts Geringeres als „das Evangelium in seiner gegenwärtigen Gestalt“ und da‐ mit „zuerst und zuletzt Tat und Werk Gottes“. 62 Das gepredigte Wort, das durch den Geist verinnerlicht und bewahrheitet werde, sei vom Christus‐ geschehen her inhaltlich bestimmt als das „Wort vom bzw. das Zeichen des Kreuzes“. 63 Diesem Fortwirken des Christusgeschehens im Kommu‐ nikationszusammenhang der Predigtgemeinde dient bei Herms nicht zu‐ letzt die neutestamentliche Verschriftlichung des ursprünglichen Offen‐ barungszeugnisses: „In Gestalt der Schrift ist die Inkarnation auf Dauer gestellt“, so dass „die Differenz zwischen Offenbarungsempfängern der ers‐ ten und zweiten Generation bedeutungslos“ werde. 64 In reformatorischer Sicht – so Herms – vollziehe sich das Geschehen der aneignenden Verinnerlichung des sinnlich wahrgenommenen Gotteswor‐ 59 Vgl. Herms, Einheit, 103. 60 Ebd., 102. 61 Herms, Auslegung, 49. Die Kirche habe „in der Predigt ihren Lebenskern“ bzw. ihr „sicht‐ bares Lebenszentrum“ (ebd., 51f). Vgl. ebd., 107 f. Vgl. auch die prägnante Formulierung: „Die erste Gestalt [des äußeren Wortes, der Verf.] – das am Kreuz vollendete Lebens‐ zeugnis Jesu – findet von sich aus ihr Ziel in der Schaffung der zweiten Gestalt“ (Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 358), nämlich dem Lebenszeugnis der Kirche. Von da aus wird bei Herms die Argumentation noch einmal ausgeweitet, indem nicht nur die sprachlich-artikulierte Verkündigung in den Blick genommen, sondern das äußere Wort als übersprachlicher Lebenszusammenhang verstanden wird. 62 Herms, Evangelium, 43. Vgl. auch ebd., 46; 50. 63 Herms, Auslegung, 57. 64 Herms, Offenbarung, 151. Vgl. auch ders., Kirche und Kirchenverfassung, 357 f. Wo dies verstanden sei, da sei jede kategoriale Unterscheidung zwischen primären und se‐ kundären Offenbarungsempfängern ausgeschlossen, die bestimmten Personen ein „Er‐ kenntnisprivileg“ und damit eine „herausgehobene Autorität gegenüber all ihren Mitge‐ schöpfen“ (WOV, 100) verschaffen könnte. Diese scholastische Unterscheidung sei in der römisch-katholischen Lehrentwicklung bisher nicht überwunden worden.

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tes zweistufig, wie insbesondere in Luthers Unterscheidung von äußerer und innerer Klarheit der Schrift ausgesprochen sei. 65 In einem ersten Schritt befreie der Geist die Menschen von der „Verblendungsmacht der Sünde“ und ermögliche ihnen erst, den Literalsinn der biblischen Bot‐ schaft „in semantischer Eindeutigkeit“ zu verstehen. 66 Allerdings bringe auch diese semantisch klare Botschaft nicht schon durch sich selbst die persönliche Gewissheit bezüglich ihres Wahrseins hervor. Daher müsse den Einzelnen in einem zweiten Schritt durch das unverfügbare Wirken des Heiligen Geistes auch „das Wahrsein der vorher nur in ihrem Aussagesinn klaren Christusbotschaft evident“ gemacht werden. 67 Jede Artikulation und Aufnahme der Christusbotschaft als existenzbestimmende Wahrheit stehe unter dem Vorbehalt eines kontingenten „Erschließungsvorgangs“, den der Sprecher oder die Sprecherin „nur als freien Akt des Schöpfergeistes ver‐ stehen“ könne. 68 Indem der Geist so die „Evidenz des Wahrseins des Wor‐ tes“ erschließe, erweise sich das äußere Wort vom Kreuz als Wort Gottes und damit als Vollzug der Selbstoffenbarung des trinitarischen Gottes. 69 Auf diese Weise korrespondiere dem „Osterereignis, das am Anfang der Christentumsgeschichte steht“, das „österliche Ereignis, das der Anfang je‐ des einzelnen christlichen Lebens ist“. 70 Diese „geistliche Erschließung von Sinn und Wahrheit des Wortes“ im Predigtgeschehen sei zwar von Gott selbst zugesagt und verbürgt, aber bleibe dennoch immer „souveränes und für keinen Menschen verfügbares Werk des Geistes“. 71

65 Diese Zweistufigkeit impliziere eine innere Ordnung, die nicht umgekehrt werden dürfe, vgl. Herms, Auslegung, 54 f. Zu Luthers Ausarbeitung dieses Gedankens vgl. auch Herms, Einheit, 98; vgl. ders., Theologische Schule, 179. Vgl. schließlich OuW, 272. 66 Herms, Einheit, 97. Herms bezieht sich bei seiner Rekonstruktion auf Luthers Schrift De servo arbitrio. Sei der Literalsinn der Schrift auch sprachlich unmissverständlich, so bedürfe es doch des Geistes, um den Sünder daran zu hindern, „am Literalsinn des Wortes zu deuteln und ihn nach Maßgabe seiner herrschenden Interessen zu verbiegen“ (Herms, Auslegung, 58). 67 Vgl. Herms, Einheit, 98. Herv. im Orig. Vgl. auch ders., Auslegung, 59. Dieses Evident‐ werden bezeichnet Herms mit Luther als ‚innere Klarheit‘ der Schrift. Die anthropologi‐ schen Strukturbedingungen dieses Geschehens werden an späterer Stelle weiter erhellt, siehe unten 433. 68 Herms, Einheit, 101. Im Orig. kursiv. Zu Luthers Offenbarungsverständnis vgl. auch Herms, Art. Offenbarung, 163 f. 69 Herms, Auslegung, 59 f. Herv. im Orig. 70 OuW, 286. Ermöglichungsbedingung für diese Korrespondenz ist das im vorangegange‐ nen Abschnitt beschriebene Zusammenfallen der Zeiten, das für die prozessuale Konsti‐ tution des Glaubensgehaltes im Offenbarungsgeschehen charakteristisch ist. 71 Herms, Auslegung, 60.

Offenbarung als Vermittlung zwischen Ontologie und Dogmatik

Im reformatorischen Sinne recht verstanden, könne die Offenbarung deswegen nie tradiert, sondern immer nur bezeugt werden. So vollziehe sich das Evidenzereignis, durch das sich Menschen die Wahrheit der Evan‐ geliumsbotschaft als evident erschließt, zwar notwendig „in einem ganz be‐ stimmten leibhaften Interaktionszusammenhang“ und unter Vermittlung von Zeichen, die „Resultat von menschlichen Artikulationshandlungen sind“. 72 Aber anders als diese Artikulationsgestalten und Zeichen könne das Offenbarungsgeschehen selbst keinesfalls durch menschliche Handlun‐ gen übertragen, vermittelt und zugeeignet werden. 73 Für Herms eignet der Evidenzerfahrung des Offenbarungsgeschehens daher ein traditions- und autoritätskritisches Moment, insofern sich in ihm die Wahrheit ganz un‐ abhängig von jeder bloß „formalen Autorität eines Tradenten“ selbst zur Geltung bringt. 74 Das bedeute nun allerdings gerade keine „Isolierung von göttlichem und menschlichem Handeln gegeneinander“, sondern lediglich eine sachgemäße Bestimmung ihres Verhältnisses. 75 Ist die Offenbarung laut Herms allein Gottes Werk, ermögliche und for‐ dere sie zugleich den Vollzug des Glaubensgehorsams als persönlichen Akt des Menschen. 76 Denn die Pflicht zu einer aktiven Lebensführung und Weltgestaltung werde durch die „Anerkennung des völlig passiven Ein‐ gefügtseins in den Gnadenwillen des Schöpfers“ keinesfalls negiert. 77 Ihr 72 Herms, Einheit, 102. Bezeugt werden könne die Christusbotschaft also nur aufgrund ihrer geschichtlichen Identität, Individualität und damit Konkretheit. 73 Vgl. ebd., 105. Vgl. Herms, Art. Offenbarung, 147. 74 Herms, Theologische Schule, 163. „Der Glaube als Hinwendung zur Erscheinung der Wahrheit“ bedeute die „Auflösung der inneren Bindung an bloß menschliche Konventio‐ nen und Traditionen“, so dass jede Anerkennung solcher Traditionen ohne persönliche Überzeugung als bloßer „Ausdruck einer sozialen Anpassung“ (Herms, Existenz, 314) unmöglich werde. Zur traditionskritischen Funktion der reformatorischen Schriftlehre und der Auseinandersetzung mit der Offenbarungstheologie der römisch-katholischen Kirche, die diese traditionskritische Funktion stillzustellen trachte, vgl. auch Herms, Art. Offenbarung, 165–169; 187–189. 75 Herms, Einheit, 124. „Das menschliche Offenbarungszeugnis ist im göttlichen Offen‐ barungshandeln selber untergebracht, es gründet in ihm, wird von ihm angenommen und ausschließlich durch es als wahres Zeugnis anderen Personen präsent gemacht und zugewendet“ (ebd.). Mit ihrer antirömischen Pointe verbinde die lutherische Position daher gleichzeitig eine antischwärmerische Pointe, indem sie durchgängig die Bindung des Offenbarungsgeschehens an das äußere, leibhaft kommunizierte Wort festhalte, vgl. Herms, Auslegung, 59. Zu dieser doppelten Frontstellung lutherischer Theologie vgl. auch Herms, Art. Offenbarung, 163 f. 76 Vgl. auch ders., Grundprobleme, 347. Kritisch zum äquivoken Gebrauch des Glaubens‐ begriffs bei Herms und der damit zusammenhängenden Unklarheit vgl. Goltz, Werden, 281–283. 77 Vgl. Herms, Einheit, 107. Herv. im Orig. Die „Seinsweise“ des Glaubens sei das „Be‐ stimmtsein von Menschen durch die sie ergreifende geistgewirkte, also von ihnen radikal

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Glaube verpflichte die Glaubenden vielmehr zur „Übernahme derjenigen Freiheit und Weltverantwortung, in die der Wille des Schöpfers den Men‐ schen gestellt hat“. 78 Der Glaubensakt, der immer als persönliche Entschei‐ dung zum Gehorsam vollzogen wird, sei das „Wesenszentrum des christ‐ lichen Lebens“. 79 Dieser Glaubensgehorsam sei nicht widervernünftig und blind, sondern einsichtig, da die Offenbarung dem Menschen ermögliche, seiner „gesamten Lebensführung den Charakter eines Gehorsams aus Ge‐ wißheit zu geben“. 80 Die christliche Glaubensgewissheit manifestiere sich in der zielsicheren Ausrichtung auf einen eschatologischen Vollendungs‐ zustand, der durch die „völligen Einwilligung unseres Willens in den göttli‐ chen Willen“ charakterisiert sei. 81 Freilich erreiche dieser „Wandlungspro‐ zeß“ im diesseitigen Leben der Glaubenden niemals sein Ziel. 82 Zusammenfassend lässt sich mit Herms über das reformatorische Ver‐ ständnis von Offenbarung sagen: Die „Selbstvergegenwärtigung des dreiei‐ nigen Gottes“ vollziehe sich als Offenbarungsgeschehen, indem „das äu‐ ßerlich klare Wort der biblischen Botschaft und kirchlichen Verkündi‐ gung“ durch den Geist zum Wort Gottes selbst gemacht und das heißt: als Wahrheit verinnerlicht und existenzbestimmend angeeignet werde. 83 Die christliche Existenz, die in diesem Offenbarungsgeschehen gründet, versteht Herms als Ergebnis eines dreistufigen Konstitutionszusammen‐ hangs, innerhalb dessen drei Schichten hierarchisch aufeinander aufbauen.

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erlittene, Evidenz der Wahrheit des Evangeliums“ (Herms, fundamentum fidei, 87). Vgl. Herms, Evangelium, 21f; vgl. OuG, VII. Herms, Einheit, 107. OuG, VII. Herv. im Orig. Bei diesem Glaubensakt handle es sich um nichts anderes als die Erfüllung des ersten Gebots durch eine vorbehaltlose Zuversicht auf Gottes Heilswillen, wie er in Jesus Christus offenbart sei, vgl. Herms, Einheit, 106 Vgl. auch ders., Auslegung, 19; 33 f.; 120 u.ö.; vgl. ders., Glaube, 482 f. Für eine auf Luthers Glaubensverständnis zu‐ rückgreifende Kritik dieser Konzeption des Glaubens als Akt und Gehorsam vgl. Goltz, Werden, 305–311; 374–378. Herms, Theologische Schule, 179. Herv. im Orig. Vgl. ders., Gewißheit, 176 f. Herms, Auslegung, 83. Die Vorstellungskomplexe der Sündenvergebung, der „Einglie‐ derung in die Versammlung der Heiligen“ und des „Versetztwerden[s] in die eschatische Existenz“ (ebd., 110) artikulieren für Herms nur unterschiedene Momente in einem über‐ greifenden, einheitlichen „Prozeß unseres effektiven Heiliggemachtwerdens kraft der kontinuierlichen Arbeit des Geistes an uns“ (ebd., 114). Vgl. auch OuW, 286 f. Herms, Auslegung, 105. Man muss Herms dabei wohl so verstehen, dass die eschatische Vollendungsgestalt bereits im Beginn dieses Prozesses angelegt und daher ohne weitere Brüche zu verwirklichen ist. Herms, Einheit, 99. Vgl. ders., Auslegung, 58–61. Der Inhalt des Offenbarungsgeschehens sei „das ‚Übereinstimmen‘ jener in Gestalt des Evangeliums überlieferten Behauptung über die Lebensgegenwart seiner Hörer mit deren Verfassung selber; also das Erlebnis, daß das überlieferte Evangelium wahr ist“ (OuW, 287).

Anthropologische Vertiefungen der reformatorischen Offenbarungslehre

Diese Schichten sind erstens das schlechthin grundlegende Gnadenhandeln Gottes, das sich als Offenbarungsgeschehen vergegenwärtigt, zweitens der Glaube als diesem Geschehen entsprechende Selbstgewissheit und schließ‐ lich drittens die christliche Lebensführung als Heiligung, die aufgrund ihrer schlechthin passiven Konstitution durch Gott mit diesem zu kooperieren und so gute Werke zu erbringen vermag. 84 Im Glauben wird dem Menschen als lebensorientierende Gewissheit die Wahrheit über eine ontologische Struktur erschlossen, die bei Herms als Transzendenzabhängigkeit bezeich‐ net wird. Dadurch wird die geschöpfliche Freiheit über sich selbst und ihre vorge‐ gebenen Grenzen aufgeklärt, wobei zugleich die Entscheidungskriterien für eine der Geschöpflichkeit angemessene Lebensführung erschlossen wer‐ den. In dieser christlichen Lebensführung seien notwendig Handlungen eingeschlossen, „mit denen der Mensch explizit die Offenbarung als dasje‐ nige Geschehen bezeugt, welches die seine aktive Lebensführung inhaltlich bestimmende Gewißheit begründet hat“. 85 Unter diesen sprachlichen Be‐ zeugungsakten, die innerhalb des kirchlichen Kommunikationszusammen‐ hangs als notwendige Bedingungen zum immer neuen Geschehen der Of‐ fenbarung beitragen, stellen die kirchlichen Lehrartikulationen wiederum eine besondere Klasse dar. Doch bevor dieser Zusammenhang des kirch‐ lichen Offenbarungszeugnisses genauer in den Blick genommen werden kann, ist zunächst die von Herms vorgenommene Ausweitung dieser Of‐ fenbarungslehre zu rekonstruieren. Denn dass und wie Herms sein Offen‐ barungsverständnis zu einer umfassenden Letztbegründungstheorie aus‐ baut, hat weitreichende Konsequenzen für seine Theologie und auch seine Behandlung des Lehrproblems. 6.3 Anthropologische Vertiefungen der reformatorischen Offenbarungslehre Seine Untersuchung des reformatorischen Offenbarungsverständnisse ver‐ tieft Herms zu einer Strukturtheorie mit allgemein-anthropologischen Ho‐ rizont, die eine vernünftige Letztbegründung zumindest der Möglichkeit christlich-theologischer Wahrheitsansprüche leisten soll. Dabei ist die hier vorgenommene Trennung der theologischen und allgemein-anthropologi‐ schen Argumentationszusammenhänge allerdings sekundär und dem Ziel 84 Vgl. Herms, Evangelium, 28. Im Anschluss an Luther unterscheidet Herms den Glauben als das gute Werk (Sg.) von den guten Werken (Pl.), die als Inbegriff der christlichen Lebensführung im Glaubensakt notwendig impliziert seien, vgl. ebd., 38. 85 Herms, Einheit, 108. Herv. im Orig. Vgl. auch ders., fundamentum fidei, 91 f.

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einer systematischen Rekonstruktion geschuldet. Aufgrund der apologeti‐ schen Grundausrichtung seiner Theologie kommt bei Herms selbst dieser Anspruch auf anthropologische Allgemeinheit nicht erst zu seiner Explika‐ tion der reformatorischen Positionen hinzu, sondern wird in dieser immer schon mitgeführt. 86 Der Zusammenhang dieser Rekonstruktion führt vom Offenbarungsbegriff (6.3.1) über die mit diesem eng verknüpften Begriffe der Gewissheit (6.3.2) und der Evidenz (6.3.3). 6.3.1 Offenbarung Die Ausweitung seiner Offenbarungstheologie erscheint für Herms deshalb unausweichlich, weil er die Aufgabe, vor die das reformatorische Offen‐ barungsverständnis gestellt ist, als einen Anwendungsfall der allgemeinen und insbesondere für die Neuzeit grundlegende Freiheitsproblematik be‐ trachtet. Diese spitze sich aus der Perspektive des christlichen Glaubens auf die Frage zu, wie „der Zusammenhang von menschlicher Spontanei‐ tät und göttlichem Gnadenhandeln“ befriedigend gedacht werden könne. 87 Zur Beantwortung diese Frage müsse die Konstitution des Glaubens so beschrieben werden, dass „der einzelne Christ sich und sein Glaubens‐ leben in dieser Theorie wiedererkennen und sich praktisch an ihr orien‐ tieren“ könne. 88 Nur auf diesem Wege lasse sich auch das „entfremdete Nebeneinander“ von Offenbarung und Alltagsvernunft überwinden, das für viele Menschen das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens verdunkle. 89 Mit diesem Ziel unternimmt es Herms, den Offenbarungsbe‐ griff als fundamentalanthropologischen Begriff zu konzipieren und damit den Anwendungsbereich dieser Kategorie über den Bereich spezifisch reli‐ giöser Erfahrung auf Erfahrung als solche auszuweiten. 90 Auf diesem Weg

86 Für die Grundzüge eines solchen Programms vgl. Herms, Auslegung, 66–69; zur apolo‐ getischen Ausrichtung vgl. ders., Art. Apologetik, 623–626. Vgl. auch Goltz, Werden, 227–233. 87 Herms, Luther und Freud, 107. 88 Ebd. Herv. im Orig. 89 Herms, Offenbarung, 169. Vgl. auch WOV, 102; 108. 90 Vgl. Herms, Offenbarung, 168–220; OuE, 246–272. Die Rede von Offenbarung meine allgemein „das Ereignis des Zustandekommens und Bestehens der Evidenz – und damit unseres Bewußtseins – (‚awareness‘) – der Wahrheit von Aussagen“ (OuW, 274). Die konkret-christliche Offenbarung sei daher nur eine „spezielle Ausformung desjenigen – unverfügbaren – Geschehens, welches nicht nur religiöse Offenbarung im Allgemeinen hervorbringt, sondern das menschliche Erleben überhaupt“ (ebd., 287). Vgl. zum Folgen‐ den auch Goltz, Werden, 258–274.

Anthropologische Vertiefungen der reformatorischen Offenbarungslehre

will er eine theologische Engführung des Offenbarungsbegriffs korrigieren, die sich theologiegeschichtlich als fatal erwiesen habe. 91 a) Offenbarung als Erschließungsgeschehen Ausgehend von der Umgangssprache schlägt Herms vor, unter Offenba‐ rung eine bestimmte Klasse von Erschließungsgeschehen zu verstehen. 92 Ein solches Erschließungsgeschehen lasse sich anhand von sechs Struktur‐ merkmalen charakterisieren: 93 Zunächst setze es immer einen bestimm‐ ten Inhalt, einen Urheber bzw. eine Ursache sowie einen Empfänger in Beziehung zueinander. Ferner habe jedes Erschließungsgeschehen einen konkreten situativen Anlass und beziehe seinen Empfänger leibhaft ein. Schließlich wirke es sich verändernd auf die tragenden Gewissheiten und damit auch das Personsein des Empfängers aus. Sei der Alltag „durchsetzt von Erschließungsvorgängen“, kommen als Offenbarung (auch umgangs‐ sprachlich) nur solche Unterfälle der Klasse in Betracht, bei denen die Emp‐ fänger sich als „völlig passiv einbezogen erleben“. 94 Das Erschließungser‐ lebnis eines Offenbarungsgeschehens ordnet Herms somit als spezifische „Wahrheitserfahrung“ dem Erkenntnismodus der Erfahrung zu. 95 Für die‐ sen sei wesentlich, dass er „endlichen Personen inhaltlich (also kontingent) bestimmte Sachverhalte als existierende präsentiert“. 96 Wahrheitserfahrung bleibe dem Erfahrenden niemals äußerlich, insofern sie immer eine exis‐ tenzverändernde „Gewißheit begründet, daß es sich mit Welt und Selbst

91 Vgl. Herms, Offenbarung, 172 f. Vgl. OuW, 287. Vgl. auch ders., Rücken, 499–503. 92 Vgl. Herms, Offenbarung, bes. 178–182. Ursprünglich habe Offenbarung allgemein das „Erlebnis des Enthülltwerdens, des Erschlossenwerdens und des Zugänglichwerdens von Sachverhalten für uns“ (WOV, 104) bezeichnet. Gerade diese Ausweitung des Offenba‐ rungsbegriffs über eine besondere Klasse spezifisch religiöser Situationen hinaus unter‐ scheidet Herms Vorgehen hier von Ian T. Ramseys Konzept der disclosure situation, vgl. Ramsey, Language, 19–28. Vgl. dazu OuW, 284. 93 Zum Folgenden vgl. Herms, Offenbarung, 176 f. Vgl. ergänzend OuE, 248–251. In einem früheren Text hatte Herms für seine Beschreibung nur fünf dieser Strukturmerkmale identifizert, vgl. OuW, 282–284. 94 Herms, Offenbarung, 178. Im Orig. teilw. kursiv. Offensichtlich klingt hier das reforma‐ torische mere passive an. Vgl. auch OuW, 282. 95 Herms, Auslegung, 65. 96 Ebd., 61. Herv. im Orig. Mit der Erkenntnis logischer oder analytischer Vernunftwahrhei‐ ten teile das Offenbarungsgeschehen zwar den Verpflichtungscharakter einer schlechthin zwingenden Erkenntnis, doch könne nur „auf dem selbst kontingenten Weg“ (ebd.) der Erfahrung inhaltlich gehaltvolle Erkenntnis über kontingente Sachverhalte gewonnen werden. Mit seinem Erfahrungsbegriff sieht sich Herms in einer Traditionslinie mit der antiken Philosophie (besonders Aristoteles), Luther, dem nachkantischen Idealismus so‐ wie der phänomenologischen Philosophie.

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in einer bestimmten Weise verhält“. 97 Beim Erfahrungs- wie beim Offen‐ barungsbegriff sei der Bezug auf eine schlechthin vorgegebene Realität im‐ pliziert, die sich als evident erschließe und darin einen Eigensinn jenseits bloßer Projektions- oder Interpretationsakte der wahrnehmenden Person behaupte. Beide Begriffe rücken für Herms allerdings jeweils einen anderen Aspekt eines umfassenden Geschehens in den Fokus. 98 Im Unterschied zu den zahlreichen Erschließungserlebnissen des All‐ tags beziehen sich für Herms echte Offenbarungen auf eine fundamentale Schicht personaler Existenz, die jeder Aktivität vorgegeben ist, diese trägt und mitbestimmt. 99 Durch echte Offenbarung werde also der „Umkreis der Bedingungen und Möglichkeiten unseres eigenen Handelns“ erweitert, wobei die auf diesem Wege erschlossenen Sachverhalte umgehend „in den Umkreis der absolut verbindlichen Bedingungen unseres Handelns“ ein‐ treten. 100 Daraus leitet Herms die starke Folgerung ab, „daß wir den Inhalt all dieser Erlebnisse (Erschließungsvorgänge) nicht bezweifeln können“. 101 Denn jeder Zweifel stehe „unter der Voraussetzung des unbezweifelba‐ ren – eben erlebnismäßigen – Vorgegebenseins seines Gegenstandes.“ 102 Auch wenn man Herms ein solches durch Offenbarung schlechthin passiv erschlossenes und daher unbezweifelbares Fundament der Erfahrung zuge‐ steht, stellt sich allerdings die Frage, ob bei ihm den Umfang solcher nach dem Modell der Eigenleibgewissheit verstandener, jedem Zweifel enthobe‐

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Ebd., 65. Herv. im Orig. Für Herms besteht daher „unser individuelles Personsein aus nichts anderem als eben dem Inbegriff unserer Gewißheiten“ (Herms, Offenbarung, 177). 98 Vgl. OuE, 263–265. Der scheinbare Gegensatz von Wahrheitserkenntnis aus Offenba‐ rung und Wahrheitserkenntnis aus menschlichen Vergewisserungspraktiken, welcher die abendländische Geistesgeschichte seit der mittelalterlichen Scholastik beherrscht habe, beschreibe tatsächlich Aspekte eines gestuften, asymmetrischen Konstitutionszu‐ sammenhangs aller Erfahrung, vgl. WOV, 98–113. Vgl. auch Herms, Art. Wahrheit, 364. 99 Vgl. Herms, Offenbarung, 178. Vgl. OuW, 282. Entsprechend ergänzt Herms die Liste der Merkmale eines Erschließungsgeschehens für Offenbarungen noch um die blei‐ bende Unterschiedenheit von Offenbarungsgeschehen und Offenbarungszeugnis. Dies sei nicht zuletzt Grund der Wahrheitsfähigkeit von Offenbarung. Vgl. Herms, Art. Of‐ fenbarung, 147, 100 Herms, Offenbarung, 179. Jedes auf diese Weise erschlossene Wirklichkeitsverständnis sei „absolut im Sinne der Alternativenlosigkeit“ (ebd., 217). 101 OuW, 282. Herv. im Orig. 102 OuW, 282. Vgl. Herms, Offenbarung, 179. Herms plausibilisiert das anhand der „Eigen‐ leibgewißheit“ und der primären Selbstgewissheit, zum Handeln bestimmt zu sein: „Ein aktiver Zweifel an dieser Gewißheit kann nur als in sich nichtiges Aufbegehren gegen sie gedacht werden“ (Herms, Glaube, 464). Dieser haltlose Zweifel an einer „absoluten Selbstgewissheit“ (ebd.) ist für Herms die anthropologische Wurzel des Widerspruchs gegen die eigene schöpfungsgemäße Bestimmung, d.h. religiös gesprochen: die Sünde.

Anthropologische Vertiefungen der reformatorischen Offenbarungslehre

ner Gewissheiten nicht zu weit angesetzt wird. Auf diese Anfrage wird im Folgenden immer wieder zurückzukommen sein. b) Religiöse Offenbarung: Allgemeine Struktur und variable Aspekte Innerhalb der Klasse der ‚echten‘ Offenbarungen bilden wiederum die re‐ ligiösen Offenbarungen eine einheitlich bestimmte Unterklasse, die sich laut Herms dadurch auszeichnet, dass ihr Inhalt „die alle Welt begrün‐ dende und zusammenhaltende Macht ist, der alle menschliche Macht in der Welt sich verdankt“. 103 Dabei werde das „völlig passive (von uns nur als von jenseits unserer selbst her sich ereignende transzendente) Erschlos‐ sensein des Wirklichkeitsbezugs“, also die Transzendenzabhängigkeit aller Selbst- und Welterfahrung für das personale Individuum zum Gegenstand einer ontologischen Erkenntnis. 104 Dieser besondere Inhalt religiöser Of‐ fenbarungen impliziere notwendig, dass im Offenbarungsgeschehen selbst dessen Inhalt und Urheber zusammenfallen: Wäre in diesem Geschehen die erschlossene Macht nicht zugleich die sich erschließende, könnte sie gar nicht schlechthinniger Grund von Wirklichkeit sein. 105 Aufgrund der Struktur religiöser Offenbarung sei zudem unmittelbar einsichtig, dass sich Inhalt und Geschehen nicht äußerlich gegenüberstehen können, sondern sich genau entsprechen und wechselseitig bestimmen müssen: „Schon der Inhalt von Offenbarung ist ein Vorgang; und zwar ein Vorgang, der selbst die Weise seines Erschlossenwerdens, also das Geschehen von Offenbarung, bestimmt. Und umgekehrt ist auch das Geschehen von Offenbarung für ihren Inhalt nicht äußerlich, sondern bestimmt diesen wesentlich.“ 106

103 Herms, Offenbarung, 180. Im Orig. kursiv. Vgl. OuW, 284–286. Vgl. auch Herms, WOV, 96–98, wo Herms die Differenzierung zwischen Religionen (im engeren Sinne) und Weltanschauungen ergänzt. Beziehen sich beide auf das „Gesetz des Daseins“, be‐ rufe sich die Religion auf das passive Erleiden von Offenbarung, die Weltanschauung dagegen auf „Vergewisserungsverfahren“ (ebd., 97) empirisch-wissenschaftlicher oder philosophischer Art. 104 Herms, Offenbarung, 180. Im Orig. teilw. kursiv. Herms betrachtet in der Folge ver‐ schiedene Beispiele religiöser Offenbarung aus dem nichtchristlichen und christlichen Bereich, vgl. ebd., 183–209. Durch religiöse Offenbarung werde der Person die „es‐ sentielle Struktur“ ihres Selbsterlebens so gegenwärtig, dass sich ihr das Gegründetsein „durch die absolute Kreativität der Macht des Ursprungs“ und damit immer auch die „Notwendigkeit ihres Handelns unter bestimmten Bedingungen“ (OuW, 285. Im Orig. teilw. kursiv) erschließen. 105 Vgl. Herms, Offenbarung, 181. 106 OuE, 249. Die Einsicht in diese „prozessuale Konstitution“ (ebd.) von Offenbarung tei‐ len laut Herms auch Karl Barth und Wolfhart Pannenberg. Vgl. zu diesem Grundsatz auch Härle, Gewißheit, 175.

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Dennoch lasse sich der konkrete Inhalt einer religiösen Offenbarung nie allein aus der formalen Struktur des religiösen Offenbarungsgeschehens ableiten. Laut Herms müssen sich nämlich diese formalen Strukturmerk‐ male notwendig mit kontingenten Bestimmungen derjenigen Situation ver‐ binden, in der sich die Offenbarung vollzieht: Der situative Anlass eines Offenbarungsgeschehens und die Art der sinnlichen Affektion des Emp‐ fängers seien variabel, damit variieren auch das in diesem Geschehen ver‐ mittelte Bild der schöpferischen Macht sowie die konkrete Vorstellung von der Teilhabe der menschlichen Macht an ihrem Ursprung. 107 Durch ihren situativen Anlass und ihre kontingente inhaltliche Bestimmtheit komme jeder Offenbarung eine historische Identität als „Geschehen in Raum und Zeit“ zu, welche nicht verhindere, sondern allererst ermögliche, dass sich die Offenbarung für ihre Empfänger schlechthin gegenwartsbestimmend auswirke. 108 Weil der situative Anlass einer religiösen Offenbarung nie äußerlich bleibe und das „Wesen der Ursprungsmacht“ somit verschieden erlebt werde, bringen laut Herms die Empfänger einer Offenbarung ihre Er‐ fahrung „in unterschiedlichen Metaphern zur Sprache“. 109 Damit erscheint erneut der Kommunikationszusammenhang Kirche im Blickfeld – als der situative Rahmen, in dem sich das Erschließungsgeschehen der christlichen Offenbarung vollzieht und aus dem sich die spezifisch christlichen Züge in der Vorstellung der Ursprungsmacht sowie ihres Verhältnisses zum glau‐ benden Menschen ergeben. 110 c) Zwischenbilanz Herms entwickelt eine Theorie religiöser Offenbarung, die diese als eine spezifische Art von Erschließungsgeschehen begreift und zugleich einen allgemeinen Offenbarungsbegriff aus der Verklammerung mit spezifisch religiösen Inhalten löst, um diesen als konstitutive Erschließungskategorie in eine Ontologie der Erfahrung zu integrieren. Indem Herms die allge‐ meine Struktur des Offenbarungsgeschehens von den kontingenten Varia‐ 107 Vgl. Herms, Offenbarung, 182 f. In diesem Strukturmerkmal wurzeln für Herms die Vielfalt der Religionen und das Grundproblem der Apologetik, das mit der Spannung zwischen universalem Inhalt und individuell-unverfügbarem Erschließungsgeschehen zu tun hat. Für dieses Grundproblem und seine Bearbeitung durch Herms vgl. Munzin‐ ger, Welt, 174; 178–185; 300–305. Ferner siehe unten, 498. 108 OuE, 249. Vgl. ebd., Anm. 6. Vgl. auch Herms, Art. Offenbarung, 153. Für das re‐ formatorische Christentum sei insbesondere der reformatorische ‚Durchbruch‘ Martin Luthers, dem sich anhand der Schrift ein neues Verständnis der Gerechtigkeit Gottes erschlossen habe, auf bleibende Weise identitätsbestimmend geworden, vgl. Herms, Of‐ fenbarung, 205–209. 109 OuW, 286. 110 Vgl. Herms, Offenbarung, 209.

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blen abhebt, die sich notwendig aus der Situationsbezogenheit und Ge‐ schichtlichkeit jeder konkreten Offenbarung ergeben, weist er nicht zuletzt auf eine unhintergehbare Pluralität von Offenbarungen hin. Den spezifi‐ schen Verpflichtungscharakter einer Offenbarungserkenntnis, der eine ver‐ allgemeinernde Distanzierung von diesen konkreten Vorstellungsgehalten unmöglich macht, beschreibt Herms dabei mit Hilfe des Gewissheits- und des Evidenzbegriffs. Von diesen Begriffen ist zunächst der Gewissheitsbe‐ griff zu untersuchen. Auch dieser Begriff wird von Herms über die religiöse Bedeutung, die er besonders in der reformatorischen Theologie gewonnen hat, hinausgehend ausgeweitet und transzendental gewendet: als anthropo‐ logischer Strukturbegriff, der den Bereich der spezifisch-religiösen Heils‐ gewissheit fundiert und einschließt. 6.3.2 Gewissheit Für Herms verweisen Offenbarungsbegriff und Gewissheitsbegriff als Kor‐ relate aufeinander. Gewissheit bezeichnet bei ihm ein „Innesein von Wahr‐ heit“, das den Gebrauch personaler Freiheit fundiert und orientiert. 111 Jede Offenbarung bringe als Erschließungsgeschehen „die subjektive Qua‐ lität objektiver Gewissheit“ hervor, weshalb sie sich wesentlich als „exis‐ tenzbestimmendes Geschehen“ auswirke. 112 Ihr schlechthin verpflichten‐ der Charakter – so Herms zentrale These – eigne der Offenbarung, weil sie der so erschlossenen Wahrheit Anteil verschaffe an der unhinterfragba‐ ren „Gewißheit, die jeder Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußt‐ seins eignet“. 113 Deshalb lässt sich für Herms die ursprüngliche, im Erleben unmittelbar erschlossene Selbstgewissheit einer Person in die einzelnen Aspekte einer differenzierten Gewissheitsstruktur entfalten. Die Grundge‐ wissheit, die das Handeln des Menschen immer schon orientierend rahmt, lässt sich auffächern in ein Gefüge von Gewissheiten, die sich auf unter‐ schiedliche Aspekte in der Struktur der Praxissituation endlicher Freiheit beziehen. 111 Herms, Wahrheit, 149. Herv. im Orig. Vgl. auch ebd., 151. Der christliche Glaube sei also „ein spezifisches Innesein von Wahrheit (also als Wahrheitsbewußtsein, d.h. als Gewißheit)“ (Herms, Art. Wahrheit, 363). Herms beruft sich für diese Bedeutungsbe‐ stimmung auf die Umgangssprache. Zum Gewissheitsbegriff bei Herms, seinem Entde‐ ckungszusammenhang in der Theologie Luthers und dem Verhältnis zum Wahrheitsbe‐ griff vgl. auch Härle, Gewißheit, 175–178. 112 OuE, 249. Herv. im Orig. Vgl. ebd., 251. 113 Ebd., 250. Die unmittelbare Selbstwahrnehmung „fällt mit dem Wahrheitsbewußtsein selber direkt zusammen“ (Herms, Art. Erfahrung IV, 133), während die symbolisch vermittelte Selbsterkenntnis (und letztlich jedes Gegenstandsbewusstsein) durch diese ermöglicht, gefordert und verbindlich gemacht werde.

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Zunächst sei jede Person sich „in unbezweifelbarer Weise ihres Eigen‐ leibes gewiß“, was für Herms auch beinhaltet: die Gewissheit, ein indi‐ viduelles Selbst und zum verantwortlichen Handeln bestimmt zu sein. 114 Gleichursprünglich damit sei dem Selbst das „Inderweltsein“ als Koexistenz mit anderen Individuen in einem zuverlässig geregelten „Geschehenszu‐ sammenhang“ erschlossen. 115 Beides gemeinsam impliziere wiederum eine zumindest vage „Transzendenzgewißheit“. 116 Damit sei zunächst nur die „Gewißheit der Kontingenz von allem Wirklichen“ gemeint, die „in der Gewißheit des leibhaften Selbstseins und des Inderweltseins immer schon mitgesetzt, aber nicht mit diesen Gewißheiten identisch, sondern inhalt‐ lich elementarer als diese und fundamentaler“ sei. 117 Als „Gottesgewißheit“ erscheine dieses Kontingenz- und Transzendenzbewusstsein, insofern der letzte Urheber des „kontingenten Gegebenseins“ der Wirklichkeit selbst konsequent nur als „ganz andersartige Instanz“ gedacht werden könne. 118 Weiter schließe diese Gottesgewissheit als Ursprungsgewissheit zugleich die Zielgewissheit hinsichtlich einer „durch den transzendenten Ursprung [...] bestimmten absoluten Zukunft“ ein. 119 Schlechthin grundlegend bleibe für all diese Aspekte die unmittelbare Selbsterschlossenheit, die im Erleben des Eigenleibs wurzle und den anderen, mit ihr verschmolzenen Gewisshei‐ ten erst den Charakter unbezweifelbarer Evidenz mitteile. Mit dem Gewissheitsbegriff ist für Herms die fundamentale Ebene der Letztbegründung erreicht, die menschliches Handeln und personale Iden‐ tität ermöglicht und orientiert. 120 Für den Menschen gelte, dass „alle denk‐ baren Gestalten seines jeweiligen individuellen Personseins“ Ausdrucksfor‐ men dieser „grundlegenden Gewißheitserfahrungen“ sind. 121 Daher wan‐ dele sich mit der Erschließung einer neuen Selbstgewissheit der Identi‐

114 Herms, Glaube, 464. Zum Zustandekommen dieser Gewissheit durch die Reflexivität des Eigenleiberlebens vgl. ebd., 471. 115 Ebd., 464f; 471 f. Die Reihenfolge dieser Dimensionen kann Herms aufgrund ihrer Glei‐ chursprünglichkeit auch umkehren, vgl. WOV, 104–107. 116 Ebd., 108. 117 Herms, Glaube, 466. Herv. im Orig. 118 Ebd. Herv. im Orig. Auch Atheisten kommen daher, wie Herms im Anschluss an Schleiermacher postuliert, „nicht ohne jenen formalen Gottesbegriff“ aus (ebd., 467, Anm. 18.). Wenn die transzendente Ursprungsmacht als Person verstanden wird, ist dies für Herms sachgemäß, da wir allen Instanzen Personalität zusprechen, die „als sie selbst nur präsent werden in ihrem – von ihnen zu unterscheidenden – Wirken“ (WOV, 107). 119 Herms, Glaube, 467. Man beachte erneut den für Herms charakteristischen protologi‐ schen Überhang der Ursprungsbestimmtheit über die eschatologische Zielbestimmung. 120 Herms spricht im Anschluss an Luther auch davon, dass die Gewissheit für die Person „Substanz ihrer Freiheit“ (Herms, Luther und Freud, 113. Im Orig. kursiv) sei. 121 Herms, Auslegung, 66. Herv. im Orig. Vgl. ebd., 73. Vgl. auch ders., Evangelium, 25.

Anthropologische Vertiefungen der reformatorischen Offenbarungslehre

tätskern der Person: „Jeder von uns ist der individuelle Inbegriff seiner Gewißheiten, den er durch das Ganze seiner Lebensführung bezeugt.“ 122 Ein echtes Offenbarungsgeschehen qualifiziere das personale Subjekt „in seinem lebensbestimmenden Selbstbewußtsein“ neu, indem es „die Gewiß‐ heit des Wahrseins einer ganz bestimmten Botschaft“ erschließe. 123 Die existenzverändernde Wirkung der Offenbarung setzt für Herms notwendig eine „spezifische, inhaltlich genau und unverwechselbar bestimmte“ Bot‐ schaft voraus, die als neue Selbstgewissheit erschlossen wird. 124 Im Rahmen dieser allgemeinen Gewissheitstheorie versteht Herms die christliche Offenbarung als „Manifestation des göttlichen Willens für den Menschen“, im Zuge derer eine Gestalt dieses Gewissheitsgefüges durch eine andere ersetzt wird. 125 Diese Restrukturierung geschehe ausgehend von einer Umbestimmung der schlechthin fundamentalen Ursprungsbe‐ ziehung, in der sich jeder Mensch als endliche Person vorfinde. 126 Das strukturelle Merkmal, überhaupt an einen Inhalt gebunden zu sein, der auf existenzverändernde Weise als wahr erschlossen wird, teilt laut Herms die christliche Offenbarung mit allen religiösen Offenbarungen. 127 Das christ‐ liche Offenbarungsgeschehen vollziehe sich seinem konkreten Inhalt nach als „Bezwungenwerden des menschlichen Herzens durch die Wahrheit des Wortes Gottes in seiner zweifachen Begegnungsgestalt, Gesetz und Evange‐ lium“. 128 Die Verkündigung der Kreuzes- bzw. Christusbotschaft erschließe dem Menschen dabei die Erkenntnis, „im radikalen Sinne Geschöpf zu sein und zu bleiben“ – mit der Pointe, dass selbst „die Qualität dieses Gottes‐ verhältnisses“ allein durch Gott bestimmt bleibe. 129 Kann die neue Selbst‐ 122 Herms, Existenz, 305. Vgl. ders., Offenbarung, 177. Gewissheit hat dabei für Herms immer auch eine soziale Dimension. Jede Gemeinschaft sei im Kern „eine Gemeinschaft des Gewißseins“ und „durch ein gemeinsames Gewißheitserleben konstituiert“ (Herms, Wahrheit, 160). Vgl. ders., Glaube, 461–463; ders, fundamentum fidei, 89. 123 Herms, Einheit, 103 f. Herv. im Orig. 124 Herms, Auslegung, 74. Vgl. ders., Existenz, 306 f. 125 Herms, Einheit, 106. Vgl. ders., Evangelium, 21. Das Evidentwerden der Wahrheit des Evangeliums verändere die Person in ihrer Substanz, vgl. Herms, Luther und Freud, 115. 126 Vgl. Herms, Art. Offenbarung, 163. Von einer echten Revolution der Gewissheits‐ struktur, wie sie nur an den „epochemachenden Wendepunkten unserer Lebens- und Bildungsgeschichte“ (WOV, 107) geschieht, sind all die partikularen, alltäglichen Ver‐ änderungen innerhalb dieses Gefüges (etwa im Bereich der Weltgewissheit) zu unter‐ scheiden. 127 Vgl. Herms, Offenbarung, 180–182. Vgl. auch OuG, XIIIf. 128 Herms, Evangelium, 21. 129 Herms, Auslegung, 76. Herv. im Orig. Vgl. auch ders., Grundprobleme, 349. Das Er‐ schließungsgeschehen der christlichen Offenbarung werde sich im Zuge dessen selbst durchsichtig als „Geschehen der von ihm selbst her sich ereignenden Selbsterschließung des Dreieinigen Gottes“ (OuG, XIX).

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gewissheit laut Herms nur Wiedergewinnung einer durch die Sünde perver‐ tierten ursprünglichen Selbstgewissheit sein, ist diese doch jetzt durch die Überwindung der Sünde spezifisch vertieft. In diesen neuen Zustand müs‐ sen nämlich „Momente explizit eingehen, die in der Selbstgewißheit des Geschöpfes nur faktisch, implizit, gesetzt waren: erstens ihre Irritierbarkeit; zweitens die faktisch eingetretene Perversion; und drittens die Tatsache, daß der Schöpfer selber diesen Widerspruch durch ein Gericht überwin‐ det, das ihn in Gnaden ‚trägt‘.“ 130 Damit werde „der uranfängliche Wille des Schöpfers von neuem als unbedingte Gehorsamsforderung gewiß“, und zwar „unmißverständlich als die eine und zugleich einzige und allbefas‐ sende Forderung des Glaubens“: der „vertrauensvollen Ganzhingabe“ des Geschöpfs an den Schöpferwillen. 131 Der Prozess dieser Aneignung der Christusbotschaft wird von Herms auch als Bildungsgeschehen bzw. „Bil‐ dungsgeschichte des inneren Menschen“ bezeichnet. 132 Herms geht also von einem Gefüge von Gewissheiten aus, das eine hier‐ archische Struktur aufweist und in die schlechthin fundamentale Schicht menschlichen Personseins eingesenkt ist. Eine inhaltliche Umbestimmung innerhalb dieses Gewissheitsgefüges zieht, sofern sie eine relevante Verän‐ derung darstellt und sich an einem grundlegenden Ort des Gefüges voll‐ zieht (der Transzendenz- oder Gottesgewissheit), unweigerlich Verände‐ rungen der Affekte, des Willens und letztlich der gesamten Lebensführung nach sich. 133 Der christliche Glaube ist laut Herms genau eine solche Um‐ bestimmung der Gewissheitsstruktur, die durch ein Offenbarungsgesche‐ hen zustande kommt, in dem sich eine inhaltlich bestimmte Botschaft als wahr erschließt. Die inhaltliche Bestimmtheit dieser Gewissheit des christ‐ lichen Glaubens begründet für Herms wiederum die Bedeutung, die dem äußeren Wort und damit dem leiblich erfahrbaren Kommunikationszu‐ sammenhang des Christuszeugnisses zukommt. Ist diese Gewissheit inhalt‐ lich durch das Wort vom Kreuz als Christusbotschaft bestimmt, stellt sich die Frage, wann und wie ein bestimmter Inhalt wie diese Christusbotschaft

130 OuE, 252. 131 Ebd. Auf der Basis dieser neu erschlossenen Gottes- und Selbsterkenntnis wandelt sich unweigerlich der menschliche Affekt, der jetzt erst das Erschrecken über die eigene Sünde, die Liebe zum seinerseits liebenden Schöpfergott sowie die Ehrfurcht vor Gott zu einer „qualifizierten, einer reifen – nämlich ihr Gegenüber wirklich kennenden und ernstnehmenden – Liebe“ (Herms, Auslegung, 78) integrieren könne. 132 Herms, Evangelium, 20. Vgl. OuG, XVf; XX. Das Verhältnis der reformatorischen Theo‐ logie und ihrer Lehre vom ordo salutis zum allgemeinen neuzeitlichen Bildungsdenken beleuchtet: Herms, Wirklichkeit. 133 Zum Gewissheitsgefüge als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handelns vgl. Goltz, Werden, 243 f.

Anthropologische Vertiefungen der reformatorischen Offenbarungslehre

sich so erschließt, dass er eine tiefgreifende Veränderung der Gewissheits‐ struktur auslösen kann. Diese Frage verweist auf den Evidenzbegriff. 6.3.3 Evidenz Gewissheit hat für Herms „formal immer den Charakter der zwingenden Evidenz des Wahrseins einer bestimmten Darstellung der menschlichen Be‐ stimmung“. 134 Über das bloße Wahrsein einer Aussage gehe der Ausdruck von der Evidenz des Wahrseins hinaus, insofern damit immer auch eine „Relation der wahren Aussage zum jeweils sie als solche erkennenden Sub‐ jekt“ eingeschlossen sei. 135 Gewissheit über einen kontingenten Sachverhalt, der somit dem Bereich der Erfahrung zuzuordnen ist, kann nach Herms niemals „durch ein reines Vernunftraisonnement erschlossen“ oder andemonstriert werden, sondern dieser müsse sich durch ein besonderes Evidenzerleben als wahr aufzwin‐ gen. 136 Ebenso wenig könne eine solche Gewissheit allein durch Kommu‐ nikation hervorgebracht werden, weshalb in schlechthin jeder Kommuni‐ kation ein Erschließungsgeschehen als unverfügbare „Bedingung aller zwi‐ schenmenschlichen Verständigung“ vorausgesetzt werden müsse. 137 Dies gelte exemplarisch für das Wahrheitsbewusstsein des christlichen Glau‐ bens: „Sowohl die Einsicht in das Designat des Christusbekenntnisses als auch die Einsicht in die Übereinstimmung zwischen ihm und dem Denotat (der eigenen und ihm selbst gewissen Lebenswirklichkeit des Angeredeten) stützt sich auf unverfügbare Evidenz“. 138 Auf diese Weise greift Herms im Evidenzbegriff Luthers Unterscheidung von innerer und äußerer Klarheit der Schrift auf, weitet diese aber zu einer Struktur von Erfahrung als solcher aus. Die Konstitution des christlichen Glaubens bedeutet für Herms: Die Wahrheit des Christuszeugnisses wird durch das Offenbarungsgeschehen vergegenwärtigt und als evident erschlossen, so dass eine neue Gewissheit 134 Herms, Luther und Freud, 110 f. Herv. im Orig. Die Evidenz der Wahrheit einer be‐ stimmten Einsicht begründe deren Alternativenlosigkeit und Verbindlichkeit, schließe dabei aber nicht aus, dass sie „perspektivisch sowie korrigier- und konkretisierbar“ (Herms, Sinn, 373, Anm. 6) sei. Vielmehr gelte: Diese unhintergehbare „Perspektivenge‐ bundenheit ist – aus christlicher Sicht – eine notwendige Bedingung aller menschlichen Erkenntnis“ (Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 365. Herv. im Orig.). 135 OuW, 274, Anm. 5. 136 Herms, Auslegung, 61. 137 Herms, Einheit, 100 f. Hier begegnet die kommunikationstheoretische Anwendung der Herms’schen Figur der Transzendenzabhängigkeit. 138 Herms, Grundprobleme, 346. Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund vgl. auch ders., Art. Erfahrung IV, 131.

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begründet wird. Wie aber stellt sich Herms ein solches Geschehen vor, in dem sich Wahrheit als evident erschließt und damit zur existenzbestim‐ menden Gewissheit wird? Ausgehend von der Einsicht in die notwendige inhaltliche Bestimmtheit und damit geschichtliche Konstitution von Ge‐ wissheit formuliert er: „Insofern tritt die Gewißheit immer erst im Laufe des Lebens auf, hat also einen vermittelten Charakter. Gleichwohl kommt diese Gewißheit nicht durch Willensent‐ scheidungen zustande, sondern ist erlebnismäßig konstituiert: durch den Gesamtzu‐ sammenhang des jeweiligen Selbsterlebens der Person, das Ganze ihrer Lebenserfah‐ rung.“ 139

Bezüglich dieser Struktur erkennt Herms nun eine Übereinstimmung mit Einsichten der psychoanalytischen Theorie, was ihm die Möglichkeit er‐ öffnet, das Evidenzgeschehen der Offenbarung psychologisch zu rekon‐ struieren. 140 So weise die Psychoanalyse die Theologie auf die zentrale Bedeutung hin, die der szenischen Erinnerung als Medium des Selbster‐ lebens zukommt. 141 Denn Evidenzerleben gründe immer im Erscheinen eines Gegenstands oder Verhältnisses für eine Person, womit notwendig ein Medium vorausgesetzt sei, „in dem derartige Gegenstände zugänglich sein und gegeben werden können“. 142 Das konkrete Medium, in dem eine komplexe Einheit wie die Wahrheit der Christusoffenbarung als Gegen‐ stand der Erfahrung erscheinen kann, sei nun das „szenische Erleben in der Einheit von szenischer Erinnerung und Erwartung“. 143 Im elementaren Medium des szenischen Erlebens baue sich für Menschen aus szenischen Einzelsituationen, in denen eine leibliche Interaktion mit der dinglichen

139 Herms, Luther und Freud, 111. 140 Zu Herms’ Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und dem Vergleich derselben mit Grundeinsichten der reformatorischen Theologie vgl. Herms, Antichrist, 81–89; vgl. auch ders., Luther und Freud, 102–123. 141 Die Psychoanalyse stimme mit dem reformatorischen Offenbarungsverständnis konkret darin überein, dass „der Gewißheitsinhalt selbst nur vermittelst seiner symbolischen Darstellung“ durch „szenische Symbole“ (ebd., 121) erschlossen und wirksam werden könne. Für Herms tritt daher die Psychologie innerhalb der theologischen Selbstexpli‐ kation des Glaubens an die Stelle der traditionellen Lehre vom ordo salutis, vgl. Herms, Wirklichkeit, 165 f. Die Theologie habe die Psychoanalyse allerdings daran zu erinnern, dass es „keine Ich-Stärke gibt ohne eine inhaltliche klare Gewißheit vom Endzweck, von der eschatologischen Bestimmung des menschlichen Lebens“ (Herms, Luther und Freud, 122). 142 Herms, Sprache, 225. 143 Ebd., 229. Im Orig. kursiv. Vgl. OuW, 278: „Unser Erleben ist die (relationale) Einheit unserer Erinnerung und unserer Erwartung“ (im Orig. kursiv).

Anthropologische Vertiefungen der reformatorischen Offenbarungslehre

und personalen Umwelt stattfinde, die übergreifende Identität einer be‐ wusst erinnerten und persönlich verantworteten Lebensgeschichte auf. 144 Für eine Umbestimmung existenzprägender Gewissheiten, die den fun‐ damentalen Bereich der Wirklichkeitsauffassung betreffen, arbeitet Herms drei Bedingungen heraus: Erstens müssen in der szenischen Erinnerung Szenen enthalten sein, welche die „Gesamtsphäre der Erscheinungswelt, also die Wirklichkeit unseres Lebens im Ganzen“ explizit aufrufen und zum Thema werden lassen. 145 Zweitens seien zusätzlich deutende Szenen erforderlich, im Zuge derer uns „in der Lebenseinstellung signifikanter Partner und in ihrem Umgang mit uns“ bestimmte Interpretationen die‐ ser Lebenswirklichkeit vermittelt wurden. 146 Sind Szenen beiderlei Typs gegeben, dann können diese drittens in einer besonderen Schlüsselszene aufeinander bezogen werden. Komme es in einer solchen Schlüsselszene zur „Begegnung mit der Grundstruktur unserer eigenen Lebenswirklich‐ keit“ und zugleich zur „Klärung und Bewährung dieser uns erinnerungsmä‐ ßig präsenten Lebenseinstellung“, dann könne die Übereinstimmung dieser Wirklichkeitsauffassung mit der Wirklichkeit als Evidenz in Erscheinung treten, die subjektive Gewissheit begründe. 147 Dieses psychologische Konzept biographischer Schlüsselszenen ermög‐ licht Herms, eine Antwort auf die bisher offene Frage zu geben, weshalb die primäre Selbsterschlossenheit sich nicht bei jedem Menschen zu bewuss‐ ter Religiosität entwickelt und mit Hilfe religiöser Kategorien artikuliert. Sei die biographische Schlüsselszene der Rahmen des religiösen Eviden‐ zerlebens, so begründe dieser Sachverhalt die Situationsbezogenheit von Offenbarung und damit auch die Vielfalt religiöser Erfahrung. 148 Es hänge also vom „erlebten Verlauf unserer leibhaften Umweltinteraktion“ ab, „ob

144 Vgl. Herms, Sprache, 229 f. Erleben bezeichne das „unmittelbare Innesein unserer ei‐ genen personalen Lebenssituation“ (OuW, 277). Für die bewussten und unbewussten Selektionsprozesse, die dieser Identität zugrunde liegen, vgl. OuW, 277–281. 145 Herms, Sprache, 230. 146 Ebd. 147 Ebd. Vgl. auch Herms, Glaube, 474; ferner vgl. OuW, 297. Als das negative Gegenstück einer solchen Schlüsselszene und „Falsifikationsinstanz einer transzendentalen Gewiß‐ heit“ kommt für Herms „nicht das Unerfülltbleiben beliebiger Einzelerwartungen in Betracht, sondern nur bestimmte Nichterfüllungserlebnisse, nämlich solche, die dem jeweiligen Erwartungshorizont widersprechen“ (TaP, 232, Anm. 39). 148 Vgl. Herms, Glaube, 476. Zu den Bedingung einer religiösen Schlüsselszene gehöre not‐ wendig das „Bestimmtwerden vom Totaleindruck anderer Personen, die schon auf dem Boden dieser Bestimmtheit der Selbstgewißheit, also auf dem Boden von Religion, leben“ (Herms, Art. Offenbarung, 179). Es handle sich hier um eine Theorie der „Konstitution von Religion durch ihr unverfügbares kontingentes Gewordensein“ (ebd.) im Gefolge Schleiermachers.

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in unserem Selbsterleben überhaupt die ursprüngliche Verfassung unse‐ res Personseins in artikulierter Deutlichkeit hervortritt; und: in welcher Bestimmtheit im Einzelnen sie sich uns präsentiert“. 149 Das Wahrheitsbe‐ wusstsein des christlichen Glaubens stehe folglich unter der Bedingung ei‐ ner „szenisch erinnerten christlichen Deutung des Daseins“, die dem Glau‐ benden im „Verhalten signifikanter Partner“ begegnet und deren Über‐ einstimmung mit der „evidenten eigenen Lebenswirklichkeit“ durch ein Offenbarungsgeschehen erschlossen worden sei. 150 Für ein voll entfaltetes Wahrheitsbewusstsein ist laut Herms eine „ganze Kette von Erschließungen“ zu durchlaufen, wobei jede Stufe dieses Bil‐ dungsprozesses als notwendige Bedingung das „Erleiden einer Verstehens‐ zumutung“ voraussetze, die „von außen kommt und über die bisher ver‐ stehend gemeisterten Sachwahrheiten hinausweist“. 151 Die spezifische Ver‐ stehenszumutung oder „Provokation“ des christlichen Glaubens sei das Lebenszeugnis Jesu, wie es in der Auferstehungsbotschaft zusammenge‐ fasst und bezeugt sei. 152 Das Ostergeschehen gebe sich den Einzelnen „in und samt der Kontingenz seines geschichtlichen Anfangs und Fortwirkens als Werk der Wahrhaftigkeit des Schöpfers“ zu verstehen, wobei das Werk der Auferweckung ebenso wie die Erschließung des Wahrseins der Aufer‐ stehungsbotschaft dem Heiligen Geistes zuzuordnen sei. 153 Dieses wider‐ fahrnishafte Erleben von Evidenz ist nach Herms nur möglich, weil und insofern Menschen in ihrem Zeugnis zum Ausdruck bringen, dass und wie das verkündigte und angeeignete Lebenszeugnis Jesu für sie selbst zur exis‐ tenzbestimmenden Gewissheit geworden ist.

149 Herms, Existenz, 309. Herv. im Orig. Vgl. auch ders., Glaube, 470. 150 Herms, Sprache, 231. Vgl. dazu ebd., 244: „Jeder einzelne Glaubende wird von der Er‐ scheinung seiner eigenen Lebensgegenwart zurückgeworfen auf jene Schlüsselszenen seines Lebens, die die Erscheinung-des-Wahrseins-der-Christusbotschaft-für-ihn be‐ gründen“ . Für Herms ist die Möglichkeit solcher Schlüsselszenen nicht auf die Kindheit beschränkt, vgl. Herms, Existenz, 300 f. Trotzdem komme Kindheit und Jugend und damit dem christlich geprägten Familienleben eine besondere Bedeutung zu. 151 Herms, Art. Wahrheit, 372. 152 Herms, Pfarramt, 209. Die elementare sprachliche Artikulation dieser Botschaft sei Lk 24,34: ἠγέρϑη ὀ ϰύριος ϰαι ὤφτη Σίµωνι, von Herms programmatisch im Passiv über‐ setzt: „Der Herr ist auferweckt worden und dem Simon zu sehen gegeben worden“ (Herms, Art. Wahrheit, 373). 153 Ebd. Vgl. Herms, Glaube, 476 f.

Anthropologische Vertiefungen der reformatorischen Offenbarungslehre

6.3.4 Zwischenfazit Diese Anthropologisierung der Offenbarungstheorie ist für die Behandlung des Lehrproblems bedeutsam, weil Herms auch seine Theorie der Lehre in dieser Theorie der Glaubens- und Gewissheitskonstitution einzeichnet. 154 Gewiss und damit unbezweifelbar kann eine inhaltlich, d.h. semantisch be‐ stimmte Erkenntnis über kontingente Sachverhalte deswegen sein, weil ihre ebenfalls kontingente Artikulation im Vollzug einer Schlüsselszene mit der Evidenz des unmittelbaren Selbsterlebens zusammengeschlossen wird. 155 Wie sich jede neue Gewissheit vermittelt durch einen zweistufigen Prozess einstellt, der sich aus der Begegnung mit einer Verstehenszumutung und einem kontingenten Erschließungsgeschehen zusammensetzt, so wirken auch Verkündigungsvollzug und Offenbarungsgeschehen in der Entste‐ hung des Glaubens zusammen. 156 Das Christuszeugnis der Kirche erscheint damit als unverzichtbar, wenn auch nicht allein hinreichend dafür, dass sich christlicher Glaube als eine bestimmte Konfiguration der Gewissheits‐ struktur einstellen kann. Auch Lehraussagen gehören für Herms unter die sprachlichen Artikulationen dieses Zeugnisses, so dass sie nicht zuletzt als äußere Verstehenszumutung eine Rolle in der Glaubenskonstitution spie‐ len können. Darüber hinaus wächst ihnen eine das Individuum bindende Geltung zu, weil sie sprachlicher Ausdruck einer überindividuell geteilten Glaubensgewissheit sind, welche wiederum die Gewissheitsgemeinschaft der Kirche begründet. Die Geltung der christlichen Lehre steht für Herms somit immer unter dem Vorbehalt eines passiv erlittenen Erschließungs‐ geschehens, das als Selbstoffenbarung Gottes und Vergegenwärtigung des Christusgeschehens durch den Geist verstanden wird. Diesen notwendigen pneumatologischen Vorbehalt sieht Herms in der katholischen und altpro‐ testantischen Theologie verkannt. Wo sich diese Gewissheit des Glaubens aber eingestellt habe, müsse sie schlechthin bindend sein, weil sie an zen‐ traler Stelle in die fundamentale Gewissheitsstruktur eingehe, die aller Er‐ fahrung vorgängig sei und auch die Identität einer Person bedinge. 157

154 Für eine grundsätzliche Kritik dieser Ausweitung der Offenbarungskategorie vgl. Dal‐ ferth, Radikale Theologie, 70 f. 155 Zu dieser Struktur, ihrem erkenntnistheoretischen Anspruch und charakteristischen Ausgang von der Inhaltlichkeit vgl. auch Munzinger, Welt, 171–175. 156 Dabei vorausgesetzt ist bei Herms immer, dass einer wahren Erkenntnis auch ein onto‐ logisches Korrelat – im religiösen Fall: die allgemeine Struktur der Transzendenzabhän‐ gigkeit des Daseins – entsprechen muss. 157 Munzinger weist auf die Nähe dieser auf „innersystemische Vergewisserung“ und die „operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme“ (Munzinger, Welt, 170) zielenden Konzeption von Rationalität zur Systemtheorie Luhmanns hin. Mit dieser

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Die Evidenz solcher Glaubensgewissheit ist für Herms dann vergleichbar mit der unmittelbaren Eigenleibgewissheit oder einer Überzeugtheit, wie sie durch logisch zwingende Vernunftschlüsse erreicht werden kann. Pro‐ blematisch erscheint allerdings genau dieser Überschritt, der eine vorbe‐ wusste Selbsterschlossenheit im unmittelbaren Selbsterleben mit expliziten, propositional verfassten Aussagen über die Wirklichkeit und deren tran‐ szendenten Grund zu einer einzigen, als Gesamtheit unbezweifelbaren Ge‐ wissheitsstruktur verschmilzt. 158 Bei Herms wird diese Kompositstruktur nicht-propositionaler Selbsterfassung und propositionaler Aussagen durch die Berufung auf ein schlechthin kontingentes Offenbarungsgeschehen ge‐ rechtfertigt und damit letztlich der kritischen Rückfrage entzogen. 159 6.4 Konkrete Ekklesiologie Aufgrund der darin vorausgesetzten Rahmenbedingungen, die psycholo‐ gisch als biographische Schlüsselszene beschrieben werden können, voll‐ zieht sich Offenbarung für Herms immer als ein Bildungsgeschehen, das „einen sozialen Ausgangspunkt und eine soziale Wirkung“ hat. 160 Das be‐ deutet, dass die Kirche als soziale Größe notwendig im christlichen Of‐ fenbarungsgeschehen impliziert ist. 161 Das Christusgeschehen als trinita‐ risch strukturierte Selbstoffenbarung Gottes setze einen sozialen Kommu‐ nikationszusammenhang frei, innerhalb dessen das Wahrsein der Chris‐ tusbotschaft bezeugt und dem Glaubenden durch ein je kontingentes Of‐ fenbarungsgeschehen neu als existenzbestimmende Gewissheit erschlossen werde: „Glaube und Gemeinschaft des Glaubens gründen im Akt des Hörens, im ‚auditus‘ des Wortes Gottes, der durch die Selbstvergegenwärtigung der Wahrheit des Wortes

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teile sie nicht zuletzt die Schwäche, intersubjektive und interkulturelle Verständigung zu denken, vgl. ebd. An dieser steilen Behauptung der Unbezweifelbarkeit äußert auch Wilfried Härle Kri‐ tik, der stattdessen den Begriff der Alternativlosigkeit vorzieht, vgl. Härle, Gewißheit, 180–186. Auch dies identifiziert Härle treffend, doch scheint ihm dies im speziellen Fall der Glaubensgewissheit unproblematisch, vgl. ebd., 184 f. Vgl. zum Thema auch Härle, Dogmatik, 61–63; 89; 96. Herms, Art. Offenbarung, 180. Der Glaube könne in der Begegnung mit der Welt nur bestehen und sich weltgestaltend betätigen, wenn er „sich auf eine soziale Realität stützen kann“ (RuO, 74). Entsprechend warnt Herms vor dem „Verfall der kirchlichen Institutionen“, welcher die „Selbstab‐ schaffung“ (Herms, Glaube, 476) des Christentums zur Folge haben könne. Vgl. auch Herms, Art. Erfahrung IV, 132; vgl. ders., Rücken, 492.

Konkrete Ekklesiologie

Gottes ins Ziel getragen wird, nämlich: dem Hörer des Evangeliums zugleich mit der Evidenz der Wahrheit des Evangeliums die Gewißheit des Glaubens schenkt.“ 162

Anthropologisches Fundament einer „konkreten“ Ekklesiologie als Theorie der „erfahrbaren Kirche“ ist für Herms die Leiblichkeit des Menschen. 163 In den kommunikativen Vollzügen kirchlichen Zeugnishandelns gewinne der Glaube soziale Gestalt und werde damit leiblich erfahrbar. 164 Die Chris‐ tusbotschaft muss laut Herms überliefert werden, um immer wieder neu Menschen als Verstehenszumutung begegnen zu können. Und allein in „auf Dauer gestellten, verläßlich wiederkehrenden Formen“ könne sich auch der Glaube der Einzelnen beheimaten und stärken, wobei die persönli‐ che Aneignung dieser institutionellen Kommunikationsformen sie zugleich „sprach- und ausdrucksfähig“ im Kontakt mit anderen Wahrheitsansprü‐ chen mache. 165 Innerhalb dieses sozial manifestierten Kommunikationszu‐ sammenhangs der Kirche erfüllt für Herms die Lehre eine unverzichtbare Funktion, indem sie die kirchlichen Vollzüge an ihrem geschichtlichen Ur‐ sprung und der Sachwahrheit des Christusgeschehens orientiert. Im Folgenden ist zunächst zu rekonstruieren, wie es für Herms innerhalb des Kommunikationszusammenhangs der Auferstehungsbotschaft durch das systemkonstitutierende Wirken des Geistes zur Organisationsgestalt der Kirche kommt (6.4.1). Anschließend sind der invariante Grundauf‐ trag dieser Organisation und das aus diesem abgeleitete, geschichtlich im‐ mer neu zu konkretisierende Ensemble kirchlicher Kerninstitutionen zu betrachten (6.4.2). Ferner sind die von Herms als konzentrische Kreise bestimmten Regelungsbereiche der Gottesdienstordnung und der Lehrord‐ nung zu untersuchen (6.4.3), bevor diesen die dienenden Kirchenordnun‐ gen bezüglich des Pfarramtes und der theologischen Ausbildungsstruktu‐ ren zugeordnet werden (6.4.4). All diese Bestimmungen umschreiben ge‐ meinsam die Institutionenwelt der sichtbaren, in Herms’ Terminologie: erfahrbaren Kirche.

162 Herms, Pfarramt, 206. 163 Vgl. Herms, Erfahrbare Kirche. Vgl. auch ders, Bedeutung des Gesetzes, 9–11; vgl. RuO, 63; 73. Zur unhintergehbaren Leiblichkeit allen menschlichen Handelns vgl. auch Herms, Sinn, 398 f. 164 Vgl. Herms, Glaube, 476. Vgl. auch ders., Schrift, 167. 165 RuO, 73.

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6.4.1 Kirche als Organisation Herms beansprucht mit seiner Ekklesiologie, die „theologischen, in den Grundeinsichten der Reformation begründeten Konstruktionsprinzipien kirchlicher Ordnung in theoretisch ausgearbeiteter Form vorzulegen“, da‐ mit die „geschichtlich existierenden, erfahrbaren Kirchen ihre Gestalt und ihren Kurs bewußt und verantwortlich an diesen Grundsätzen orientieren“ können. 166 Das Wirken des Heiligen Geistes könne sich schließlich, wie in der Offenbarungstheorie begründet, nur vermittelt durch die „soziale Wirklichkeit einer durch bestimmte Regeln geordneten und dadurch als identisch erfahrbaren Interaktion“ vollziehen. 167 Insofern gelte: „Der Hei‐ lige Geist wirkt systemkonstituierend.“ 168 Herms betrachtet es mithin als nur sachgemäß, die Kirche im Anschluss an die systemtheoretische Tra‐ dition soziologischer Theoriebildung als soziales System zu begreifen, das durch religiöse Kommunikation strukturiert wird. 169 Unter System wird dabei ein „geregelter Zusammenhang von geregelten Interaktionen“ ver‐ standen, wobei für soziale Systeme charakteristisch ist, dass die systemkon‐ stituierenden Regeln frei anerkannt und befolgt werden. 170 Um diese formale Bestimmung der Kirche als eines durch den Heiligen Geist konstituierten sozialen Systems weiter zu präzisieren, plädiert Herms für eine ekklesiologische Rezeption des Organisationsbegriffs. 171 Von einer

166 Herms, Erfahrbare Kirche, VIII. Nur ein „in sich logisch konsistenter Begriffszusam‐ menhang“ (Herms, Fähigkeit, 259), der theologische und humanwissenschaftliche Er‐ kenntnisse kohärent integriert, könne diese praktische Funktion erfüllen und zugleich mit dem christlichen Schöpfungsglauben Gott als Existenzgrund der sinnhaft struktu‐ rierten Welt denken. Dabei sei bereits „das Kategoriensystem der in die Theologie selbst aufgenommenen soziologischen Theoriebildung de facto [...] theo-logisch qualifiziert“ (ebd., 260), insofern auch soziologische Entwürfe mit dem faktisch nur religiös konstru‐ ierbaren Sinnbegriff oder einem funktionalen Äquivalent arbeiten. Vgl. ebd., 286. 167 RuO, 63. 168 Ebd. Im Orig. kursiv. Nach reformatorischer Überzeugung ist festzuhalten, dass der Glaube durch das Handeln der Kirche keinesfalls erzeugt und garantiert werden könne, aber eben auch nicht „abseits von und neben dieser organisationsartigen sozialen Ver‐ faßtheit des Glaubens“ (ebd., Herv. im Orig.) zu finden sei. 169 Zunächst adaptiert Herms zu diesem Zweck eine kommunikationstheoretische Fassung des Systembegriffs im Anschluss an Talcott Parsons und Niklas Luhmann, später den Grundgedanken der allgemeine Systemtheorie, wie er bei Ludwig v. Bertalanffy begeg‐ net, vgl. RuO, 55, Anm. 14. Die Rezeption des Organisationsbegriffs, der zur Präzisie‐ rung der Systemtheorie herangezogen wird, geschieht später, ohne die grundlegende Betrachtungsweise der Kirche als eines sozialen Systems zu verabschieden. 170 Ebd., 54. 171 Vgl. ebd. 51.

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Organisation sei immer dann zu sprechen, wenn ein soziales System drei wesentliche Merkmale verwirklicht. Erstens dürfen sich die Regeln eines sozialen Systems nicht nur in bestimmten Situationen einstellen, sondern sie müssen die interagierenden Personen „auch über die leibhafte Anwe‐ senheit hinaus als Partizipanten des Systems verbinden“ und dem Sys‐ tem somit „Dauer und Geschichtsfähigkeit“ verleihen. 172 Die Selbststeue‐ rung einer solchen Organisation in ihrer sozialen Umwelt erfolge dann nach Regeln, welche „von allen Mitgliedern anerkannt und befolgt wer‐ den“, die wiederum einen „Konsens über die Mitgliedschaftsregeln“ vor‐ aussetzen. 173 Dieser Konsens der Mitglieder betreffe auch „das Ziel – oder: den Zweck – ihres Zusammenschlusses“. 174 Zweitens erbringe eine Orga‐ nisation genau eine „Kulturleistung“ zur „Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse“, so dass sich das System genau einem der vier speziali‐ sierten Leistungsbereiche einer funktional differenzierten Gesellschaft zu‐ ordnen lasse. 175 Diese für jede Gesellschaft konstitutiven Leistungsbereiche sind die interdependenten Sphären bzw. Interaktionsordnungen von Poli‐ tik, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion/Weltanschauung. 176 Als drittes Merkmal weise eine Organisation immer eine Leitungsstruktur, also die or‐ ganisationsinterne „Ausdifferenzierung von Funktionspositionen“ mit spe‐ zifischen Entscheidungsbefugnissen, auf. 177 Das durch den heiligen Geist konstituierte System der Kirche verwirklicht laut Herms somit alle drei we‐ sentlichen Merkmale einer Organisation: Es kenne eine Regel der Mitglied‐ schaft und verbinde seine Glieder über die leibliche Anwesenheit hinaus, erbringe einen spezifischen Kulturleistung, weise schließlich auch eine in‐ terne Differenzierung von Funktionspositionen auf. 178 Die wesensbestimmende Mitgliedschaftsregel der Kirche besagt nach Herms, dass der Kirche zugehört, „wer durch das Evangelium (das Wort vom Kreuz oder das Wort von der Versöhnung) persönlich getroffen ist

172 Ebd., 55. 173 Herms, Bedeutung des Gesetzes, 2. „Jedes derartige ‚System‘ kommt durch die Befolgung bestimmter Interaktionsregeln zustande. Gleichzeitig begrenzen die systemkonstitutiven Regeln das System, unterscheiden es also von seiner Umwelt und identifizieren es in ihr“ (RuO, 55. Herv. im Orig.). Dieser systemkonstitutive Minimalkonsens an Regeln schließe für die lutherischen Kirchen die Verbindlichkeit der Lehrtexte reformatorischer Theologie ein, die in den Kirchenordnungen fixiert sind, vgl. Herms, Bedeutung des Gesetzes, 5. 174 Ebd., 2. 175 RuO, 56. 176 Herms bezieht sich hier auf die Gesellschaftstheorie der Ethik Schleiermachers, vgl. ebd., 56–58. 177 Ebd., 57. 178 Vgl. ebd., 63.

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und sich aufgrund dessen öffentlich zur Wahrheit des Evangeliums be‐ kennt“. 179 Dabei sei die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Glaubenden „nichts, was zum persönlichen Christsein zusätzlich hinzukäme oder fehlen könnte“, da das Zustandekommen der Glaubensgewissheit notwendig auch „die Versetzung dieser Person in die Gewißheitsgemeinschaft des Glau‐ bens“ bedeute. 180 Von anderen Organisationen unterscheide die Kirche allerdings, dass jede Entscheidung zur Mitgliedschaft sich „einer vorgän‐ gigen anderen Entscheidung“ und dem Wirken des Geistes verdanke, so dass die Reichweite des persönlichen Akts „auf die entschlossene Einstim‐ mung und die entschlossene Exekution der ‚im Grunde‘ schon gefallenen Entscheidung oder den Widerspruch gegen sie“ begrenzt sei. 181 Von den vier fundamentalen Leistungsbereichen sozialer Organisationen ordnet Herms die Kirche dem Religions- und Weltanschauungssystem zu. Sie leiste ihren Beitrag zur „Gewinnung von ethisch orientierendem Wis‐ sen“, welches immer „in weltanschaulichen Überzeugungen gründet“. 182 Als einzelne Organisation ist die Kirche für Herms dabei „ipso facto von dem Inbegriff aller Systeme ihrer Umwelt“, also: von der Gesamtgesell‐ schaft unterschieden. 183 Sie koexistiere und konkurriere daher immer mit anderen Organisationen in der einheitlichen Sphäre einer sozialen Welt. Die „ethischen Steuerpotentiale“, die die Kirche für die Gesamtgesellschaft bereithalte, seien dabei nicht abstrakt, sondern durch die Christusbotschaft 179 Ebd., 64. Zu diesem Bekenntnis gehöre die „Übernahme der Pflichten und Inanspruch‐ nahme der Rechte eines Gemeindegliedes“ (ebd.). Diese Mitgliedschaftsregel betrachtet Herms als gültige Definition des Wesens der Kirche in der Tradition der reformatori‐ schen Bekenntnisschriften. 180 Herms, Pfarramt, 210. Im Orig. teilw. kursiv. Das Offenbarungsgeschehen „ergreift je‐ den seiner Adressaten einzeln“, aber „betrifft ihn nicht als einsames Individuum und vereinzelt ihn auch nicht“, weil es sich notwendig „in einer Situation zwischenmensch‐ licher Kommunikation“ vollziehe und alle „von ihm ergriffenen Einzelnen zur Gewiß‐ heitsgemeinschaft des Glaubens“ (Herms, Lehramt, 273) verbinde. 181 RuO, 65. Dies entspricht für Herms in gewissem Maße der Art, wie Mitgliedschaft auch in der Herkunftsfamilie oder der Menschheit zustande kommt, unterscheidet sich aber von dieser „Eingliederung in eine biologische Gemeinschaft“ (ebd., 66) wiederum durch den geistlichen Charakter. Herms erwägt hier, ob diese Art einer kontingenten, aber nur bedingt freiwillentlichen Mitgliedschaft nicht alle „religiös-weltanschaulichen Überzeu‐ gungsgemeinschaften“ (ebd.) kennzeichnet. Dies ist der Ansatzpunkt seiner Pluralis‐ muskonzeption, die unter 6.7 dargestellt wird. 182 Ebd. 183 Ebd., 70. Die Lage der Kirchen als partikulare Organisationen in der gegenwärtigen Kultur bedeute keine qualitativ neue Situation, da diese wesentliche Unterschiedenheit lediglich wieder deutlicher zu Tage trete als in konfessionell homogenen Gemeinwesen, vgl. ebd., 76 f. Aufgrund des in sich differenzierten Wirken Gottes als Schöpfer und Er‐ löser sei überhaupt „nur eine Ordnung der Kirche, die diese nicht identifiziert mit der gesellschaftlichen Gesamtordnung“ (Herms, Lehramt, 274), sachgemäß.

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inhaltlich bestimmt. 184 Diese Überzeugungen wirken sich nicht direkt, son‐ dern immer nur vermittelt durch das Handeln der Kirchenmitglieder auf das Gesamtsystem der Gesellschaft aus. Den Einzelnen ermögliche die Kir‐ che zudem die Bildung und Gestaltung einer unverwechselbaren Ich-Iden‐ tität, indem jedes Individuum der „Einheit seiner persönlichen Lebens‐ führung“ durch die Mitgliedschaft in verschiedenen Organisationen eine unverwechselbare Gestalt geben könne, die nicht in einer dieser partiel‐ len Identifikationen mit einer einzelnen Organisation aufgehe. 185 Durch „simultane Mitgliedschaft“ ihrer Mitglieder stehe jede Organisation mit anderen in Wechselwirkung, was sich wiederum auf das Gefüge des Ge‐ samtsystem auswirke. 186 Auch das dritte Organisationsmerkmal einer inneren Differenzierung in verschiedene Funktionspositionen sieht Herms im Fall der Kirche verwirk‐ licht. Eine innere Differenzierung diene dem Zweck, die Leistungsfähigkeit eines Systems für die Erfüllung des ihm vorgegebenen Auftrags zu erhalten. Auch die Kirche bilde daher Leitungspositionen mit spezifischen Entschei‐ dungskompetenzen aus, für die jedoch die allgemeine Mitgliedschaftsregel als Wesensdefinition der Kirche grundlegend bleibe. 187 Der in dieser Regel und ihrem Bezug auf die Evangeliumsverkündigung eingeschlossene Auf‐ trag nötige dazu, drei wesentliche Regelungsbereiche der innerkirchlichen Ordnung auszubilden: „die Ordnung der Lehre (also des Umgangs mit der überlieferten Botschaft, ihrer Auslegung und Anwendung), die Ordnung des Hörens und Weitersagens dieser Bot‐ schaft (also die Ordnung des Ensembles aller Traditionsinstitutionen – zentral, aber keineswegs nur: der gottesdienstlichen Versammlung) und schließlich die Ordnung aller organisatorischen Bedingungen und Voraussetzungen für diese Institutionen der Evangeliumskommunikation.“ 188

Diese drei Regelungsbereiche sind für Herms als „konzentrische Kreise“ zu begreifen. 189 Mit der „Aufgabe kirchlicher Ordnung“ sieht Herms auch den

184 RuO, 68. Religion leiste nicht in jedem Fall, wie von vielen Vertretern funktionalistischer Religionstheorien behauptet, einen Beitrag zur Integration der Gesellschaft, vgl. ebd., 66f, Anm. 30. Gerade unter den Bedingungen eines weltanschaulichen Pluralismus sei auch der gegenteilige Fall der Beförderung von Desintegration möglich. 185 Ebd., 60. Zu diesem durch Organisationen vermittelten Bildungs- bzw. Reifungsprozess vgl. ebd., 59–61. 186 Ebd., 70. 187 Vgl. ebd., 72. 188 Ebd., 72. Herv. im Orig. Jeder dieser Regelungsbereiche könne sich seinerseits in ver‐ schiedene Funktionspositionen differenzieren. 189 Ebd. Auf diese Weise greift Herms die traditionelle Unterscheidung der ius in sacra und ius circa sacra auf.

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Maßstab für die sachgemäße Erfüllung dieser Selbstorganisation im „Ur‐ sprungsgeschehen der Kirche eingeschlossen“. 190 Ekklesiologisch entscheidend ist für Herms, dass in all diesen Rege‐ lungsbereichen durchgängig die klare Unterscheidung zwischen menschli‐ cher Zuständigkeit und Verantwortung einerseits, unverfügbarem Wirken des Geistes andererseits aufrecht erhalten wird. 191 Als Menschenwerk sei jede ordnende Gestaltung der Kirche als Organisation einer „dauernden Überprüfung ihrer Sachgemäßheit und ggf. auch ihrer Korrektur bedürf‐ tig“, wobei sie ihre Sachgemäßheit doppelt am „unveränderlichen Mandat Gottes“ und zugleich den „sich wandelnden Herausforderungen der Le‐ bensgegenwart“ bewähren müsse. 192 Kirchlichen Entscheidungspositionen komme dabei immer nur eine „auftragsorientierte Regelungskompetenz“ zu. 193 Dem Evangelium der Christusbotschaft soll durch die Organisation der Kirche ein Raum gegeben werden – und an diesem Auftrag müssen sich alle kirchlichen Vorgaben messen. 6.4.2 Invarianter Auftrag und variable Institutionenwelt Die zielsichere Steuerung einer Organisation, also auch die Steuerung der Kirche in ihrer gesellschaftlichen Umwelt, ist für Herms nur als Selbst‐ steuerung denkbar. 194 Eine ‚konkrete‘, also auch soziologisch ausgearbei‐ tete Ekklesiologie befördere diese Selbststeuerung, indem sie der Kirche ihr Selbstverständnis, also ihre systemkonstitutiven Regeln sowie den ihr vorgegebenen Zweck, zu klarem Bewusstsein bringe. 195 Herms nimmt da‐ her die soziologische Perspektive der Organisationstheorie theologisch in Dienst, um der Kirche den ihr vorgegebenen Auftrag zu präzisieren und als Kriterium für Leitungsentscheidungen anwendbar zu machen. Die Or‐ ganisation Kirche habe ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern lediglich

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Herms, Leramt, 273 f. Vgl. RuO, 72. Herms, Pfarramt, 215 f. Herms, Leitung 89. Bei der Unterscheidung von führenden und nachgeordneten Lei‐ tungspositionen in der Organisation Kirche handle sich im Kern um eine rein funktio‐ nale Aufgabenteilung „zwischen der Festsetzung und Fortschreibung von allgemeinen Verfahrensregeln und der materialen Konkretion durch die Bearbeitung von Einzelfäl‐ len.“ (ebd., 83). Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass Leitungsaufgaben kollegial durch Gremien wahrgenommen werden, vgl. ebd., 87. Vgl. ferner Herms, Lehramt, 274. 194 Vgl. Herms, Theologische Schule, 158 f. Einzige Alternative wäre die Auslieferung an eine unbegriffene und damit blinde Evolution sozialer Systeme, was für die Kirche durch das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens ausgeschlossen sei, vgl. ebd., 160 f. 195 Vgl. Herms, Erfahrbare Kirche, IX. Vgl. auch ders., Bedeutung des Gesetzes, 3; RuO, 73.

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als ein „Mittel, das allen seinen Gliedern dabei hilft, ihre Bestimmung zu erreichen“. 196 Ihr Auftrag, „das Evangelium in der Sphäre der geschichts‐ bestimmenden, überindividuell wirksamen ‚Mächte und Gewalten‘“ kund‐ zutun, sei der Kirche schlechthin vorgegeben, ohne dass damit bereits ein bestimmter „Weg zur Erfüllung dieses Auftrages“ in einer „gegebenen ge‐ schichtlichen Gesamtsituation“ vorgeschrieben wäre. 197 Setze das Offenba‐ rungsgeschehen einen institutionellen Zusammenhang seiner Bezeugung aus sich heraus, müssen sich allerdings auch inhaltlich bestimmte Kriterien angeben lassen, welche Institutionen für diesen Kommunikationszusam‐ menhang unverzichtbar seien. Anspruch auf Anerkennung ihrer Legitimi‐ tät und Befolgung innerhalb der Kirche haben ausschließlich solche Regeln, die sich als „möglichst durchgehend als von der Sache selbst, also vom Auf‐ trag der Kirche verlangt und ihm dienend“ zu verstehen geben. 198 Als Muster der konkreten Erfüllung der formalen Verpflichtung, sich eine dem Auftrag gemäße organisatorische Gestalt zu geben, kann nach Herms insbesondere Luthers Auslegung der Zehn Gebote dienen. Deren Vorgehen lasse sich folgendermaßen beschreiben: „Eine invariante Grund‐ regel wird befolgt, die jedoch selber von der Art ist, daß schon ihre Befol‐ gung gar nicht anders kann, als zugleich ihre materiale Ausdifferenzierung und situationsgemäße Anwendung mit sich zu bringen“. 199 Luthers Aus‐ legung bringe gerade in ihrer Zeitgebundenheit die „wesentlichen, situati‐ onsinvarianten Züge der Lebensbewegung des Glaubens“ zur Geltung, in‐ sofern auch diese Zeitgebundenheit wiederum „exemplarischen Charakter“ habe. 200 Angesichts der offensichtlichen Zeitgebundenheit des Katechis‐ musprogramms werde somit der Glaubende nicht nur auf den bleibenden Grund des Rechtfertigungsglaubens ausgerichtet, sondern sich auch der

196 Herms, Leitung, 86. 197 Ebd., 88. Nur der Auftrag, sich als Gemeinde eine Ordnung zu geben, könne sich di‐ rekt auf Gott berufen, nicht bestimmte Wege seiner konkreten Ausführung, vgl. Herms, Pfarramt, 219. 198 Herms, Leitung, 84. Entsprechend sei ihre Einsichtigkeit für die Kirchenglieder ein Qua‐ litätsmerkmal der rechtlichen Regelungen in der Kirche. Vgl. zum Folgenden auch die knappe Darstellung bei Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 356–360. 199 Herms, Pfarramt, 213. Das invariante und einheitliche Regelsystem des Dekalogs er‐ mögliche der Kirche die „Selbststeuerung in wechselnden nichtchristlichen Umwelten“ und die „Hingabe an die Aufgaben wechselnder geschichtlicher Situationen“ (Herms, Bedeutung des Gesetzes, 24). Für Herms bietet sich ein Rückgriff auf Luthers Dekalog‐ auslegung auch deshalb an, weil er die Ekklesiologie in der Pflicht sieht, die inhaltlichen Kriterien für die Ausgestaltung kirchlicher Institutionen aus den kirchenrechtlich fixier‐ ten Lehrgrundlagen der reformatorischen Kirchen zu erheben, vgl. ebd., 7–24. Vgl. auch Herms, Ordnung, 103f; vgl. ders., Pfarramt, 212–218. 200 Herms, Bedeutung des Gesetzes, 7.

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unhintergehbaren Geschichtlichkeit und Individualität seines je eigenen Glaubensvollzugs bewusst. Der Gesamtzusammenhang der Zehn Gebote entfaltet laut Herms das erste Gebot, das vom Menschen die „vertrauens‐ volle Ganzhingabe“ im Grundakt des Glaubens fordere, der Kern des christ‐ lichen Lebens sei. 201 Das zweite Gebot in Luthers Zählung streiche mit dem „Bekenntnis des Mundes“ besonders die Leibhaftigkeit des Glaubens als „Existenz im Sein mit und für andere Personen“ heraus. 202 Das Bekenntnis dürfe nun „nicht punktuell und individualistisch“ bleiben, sondern müsse sich „regelmäßig und gemeinschaftlich“, somit in institutionalisierter Form vollziehen. 203 Deshalb fordere das dritte Gebot mit der Heiligung des Fei‐ ertags die Glaubenden auch zur „Bezeugung ihres Versammeltseins durch den Geist“ auf, der sich dazu der „leibhaften Verkündigung des Evangeli‐ ums in Predigt und Sakramenten“ bediene. 204 Orientiert durch die Gebote könne sich die Lebensbewegung des christlichen Glaubens so vollziehen, dass der Glaube soziale Gestalt als „zuverlässig geregelte Kommunikation“ in einer spezifisch strukturierten „Institutionenwelt“ gewinnt. 205 Die Kirche umfasst für Herms notwendig alle Einrichtungen, die „für die Identität und Identifizierbarkeit der Bezeugung des Glaubens durch sein Ethos“ erforderlich sind. 206 Die regelmäßige und geordnete „Versammlung der Gemeinde um Predigt und Sakrament“ vollziehe die „Sichtbarmachung des identitätsstiftenden Fundaments des christlichen Ethos“, weshalb sie als die „Grund- und Zentralinstitution der gesamten Ordnung der Kir‐ che“ zu betrachten sei. 207 Behält Herms diese Zentralstellung des Gottes‐ dienstes durchgängig bei, begründet er die sonntägliche Versammlung der Gemeinde in späteren Texten nicht mehr mit der in den Zehn Geboten implizierten Institutionenwelt, sondern mit der nachösterlichen „Erfüllung des Gründonnerstagsgebotes Christi“. 208 Dem identitätsbezeugenden Han‐ deln der Gottesdienstgemeinde eignet bei Herms zugleich immer ein iden‐ titätsvergewissernder Zug, insofern der Gottesdienst für den Glauben eine

201 Ebd., 9. 202 Ebd. Dieses zweite Gebot sei so zugleich das „systematische Prinzip der Vielzahl von Regeln“ (ebd., 10. Herv. im Orig.). 203 Herms, Ordnung, 104. 204 Herms, Bedeutung des Gesetzes, 11. 205 Ebd., 8 f. 206 Ebd., 104. 207 Ebd., 104 f. Zur Zentralstellung des Predigtamtes vgl. Herms, Evangelium, 53. 208 Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 358. Die Gemeinde entspreche im Gottesdienst dem Gebot Jesu Christi, „das von ihm eingesetzte Mahl, in dem sie seinen Leib und sein Blut empfängt, regelmäßig zu feiern als Bekenntnis zu, Gedächtnis an und Verkündi‐ gung des Sterbens und Auferstehens ihres Herrn“ (ebd.).

Konkrete Ekklesiologie

„ständige Rückkehr zu diesem seinem Ursprung“ bedeutet. 209 Die erfahr‐ bare Kirche Jesu Christi bleibe ihrem Auftrag und Ursprung gemäß, wenn und insofern sie als „Ort der leibhaften Begegnung mit dem Wort vom Kreuz in Predigt und Sakrament“ gestaltet sei. 210 6.4.3 Die Lehrordnung als Kern der Gottesdienstordnung Weil Herms den Gottesdienst – im Anschluss an Luther und das Augs‐ burger Bekenntnis – als die Zentralinstitution der Kirche versteht, be‐ trachtet er entsprechend auch die Ordnung des Gottesdienstes als die „de facto grundlegende“ Sphäre kirchlicher Ordnung. 211 Die durch Dekalog und Gründonnerstagsgebot geforderte Grundinstitution einer regelmäßi‐ gen Versammlung um Wort und Sakrament impliziere eine „sich über den Regeln der gottesdienstlichen Interaktion aufbauende Ordnung kirchlicher Interaktion“. 212 Dies bedeute im Umkehrschluss: Alle „Lehrordnungen und Zuständigkeitsordnungen (Ämterordnungen), die sich nicht selbst als fak‐ tischer Teil einer konkreten Ordnung des Gottesdienstes begreifen, sind faktisch bodenlos“. 213 Die alle kirchliche Ordnung grundlegende Sphäre der Gottesdienstord‐ nung regelt und koordiniert laut Herms über die äußeren Bedingungen für ein regelmäßiges „Lautwerden und Hören der viva vox evangelii“ hinaus auch die Antwort der Gemeinde auf die Verkündigung durch ein „öffent‐ liches Opfer von Bekenntnis, Gebet, Dank und Lob“ sowie die Verwal‐ tung der Sakramente. 214 Sie habe für „Regelmäßigkeit, Artikuliertheit und Verständlichkeit“ der gottesdienstlichen Interaktion zu sorgen, indem sie neben der „Zeit und Stunde“ der gottesdienstlichen Versammlung auch „Funktionen, Rollen und Rhythmen“ der Liturgie festlege. 215 Innerhalb dieser Gottesdienstordnung erscheint wiederum die Ordnung der Lehre als deren Zentrum, insofern ein ordnungsgemäßer Vollzug der Wortverkün‐ digung für den Gottesdienst zentral sei: Sei der gemeinsame Gottesdienst das Identitätszentrum der christlichen Gemeinde, beziehe sich die Ord‐ nung der Lehre wiederum auf den „konstitutiven Kern des gottesdienst‐

209 Herms, Ordnung, 105. 210 Herms, Erfahrbare Kirche, XV. Hier habe man es mit dem „invarianten pneumatischen Zentrum“ (ebd., XVI) im Wandel der kirchlichen Sozialgestalten zu tun. 211 Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 363. 212 Herms, Bedeutung des Gesetzes, 21. 213 Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 363. Vgl. auch ders., Pfarramt, 214 f. 214 Herms, Ordnung, 109. Die Öffentlichkeit gottesdienstlicher Vollzüge müsse sich sowohl auf die Gemeinde der Glaubenden, als auch auf die Gesamtgesellschaft beziehen. 215 Ebd.

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lichen Geschehens“. 216 Ihrem „gewißheitsstiftenden Ursprungsgeschehen“ entspreche die Kirche nur, wenn sie das „leibhafte Gegenüber zwischen dem Evangelium (dem inkarnierten Gotteswort) und den Menschen auf Dauer stellt“. 217 Durch ihre Lehrordnung habe die Kirche daher erstens eine Selbstbin‐ dung vorzunehmen und für ihre gottesdienstliche Evangeliumsverkündi‐ gung die „Bezugnahme auf einen verpflichtend vorgegebenen Text“, näm‐ lich auf den biblischen Kanon sowie insbesondere „das Christuszeugnis in seiner Zuspitzung auf das Wort vom Kreuz“ festzuschreiben. 218 Das keryg‐ matische Wort vom Kreuz unterscheidet Herms nun von den verbindlichen Formulierungen der Lehrbekenntnisse und auch vom überlieferten Bibel‐ text. 219 Wird mit diesen Unterscheidungen ein Offenbarungsobjektivismus zurückgewiesen, der die Offenbarung direkt mit bestimmten schriftlich fi‐ xierten Aussagen identifiziert, sieht Herms sich darin gerade im Einklang mit dem Selbstverständnis der kanonischen Schriften und maßgeblichen Bekenntnisse: „Die klassischen und normgebenden Stücke der Überlie‐ ferung zeichnen sich dadurch aus, daß sie von sich weg und auf ihren Gegenstand hinweisen: das Geschehen von Offenbarung selbst“. 220 Auf 216 Herms, Ordnung, 106. Vgl. auch ders., Pfarramt, 214. Die „Bezeugung und Verkün‐ digung des Christusgeschehens“ sei das „Wesen des Gottesdienstes“ (Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 362). Diese Lehrordnung sei primär Aufgabe der „ganzen jewei‐ lige Ortsgemeinde“, insofern die Gemeindeversammlung die grundlegende Gestalt von Kirche sei, aber notwendig „in Ausrichtung auf den einen gemeinsamen Ursprung aller Ortskirchen in der Ökumene“ (ebd. Herv. im Orig.) und damit auch in ökumenischer Gemeinschaft wahrzunehmen. 217 Herms, Lehramt, 275. Auf dieses „Gegenüber des Evangeliums in Verkündigung und Sakrament zu allen Menschen“ (ebd.) ziele Art. VII des Augsburger Bekenntnisses und das dort formulierte satis est. Versteht Herms in späteren Texten nicht mehr die Wortverkündigung, sondern die „öffentliche Erfüllung des Gründonnerstagsgebots im Osterlicht“ (Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 360) und damit das Sakrament des Herrenmahls als den „Kern dieses übersprachlichen Lebenszeugnisses der Kirche“ (ebd., 358), ändert sich lediglich der Bezugspunkt der hier rekonstruierten Argumen‐ tation. Diese Verschiebung dürfte als Ergebnis der ökumenischen Verständigung über die Sakramente zu erklären sein, die Herms die Wortverkündigung nun auch explizit im Rahmen eines übersprachlichen Kommunikationszusammenhangs begreifen lässt. 218 Herms, Ordnung, 107. Im Orig. teilw. kursiv. Diese Textbindung stellt nicht nur das Gegenüber des Wortes zur Gemeinde, sondern auch den Sachbezug der Predigt sicher, denn bei „dieser ihrer Sache bleibt die Predigt, indem sie sich an die Texte der alttesta‐ mentlichen Schrift und des neutestamentlichen Kanons hält“ (Herms, Evangelium, 47). 219 Vgl. Herms, Ordnung, 107. Luther habe das Missverständnis der späteren Inspirati‐ onslehre vermieden, „die kanonische Schrift als solche mit dem Wort Gottes selbst gleichzusetzen. Das Wort Gottes – einzige Autorität für den Glauben der Kirche – ist und bleibt auch die Tat Gottes selbst“ (Herms, Offenbarung, 215). 220 Herms, Art. Offenbarung, 199. Das kanonische Schriftwort sei notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung des Offenbarungsgeschehens, und zwar ausschließlich hin‐

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diese Weise will Herms das grundlegende altkirchliche wie reformatorische Schriftprinzip einer Präzisierung zuführen. 221 Die Bezugnahme auf den vorgegebenen Text des kanonischen Christuszeugnisses dürfe sich aller‐ dings zweitens nicht in einem bloßen Zitat erschöpfen, sondern der Gehalt dieses Textes müsse gegenwartsbezogen „in der Sprache und im Blick auf die Überzeugungen der Mitwelt“ ausgelegt werden. 222 Drittens dürfe diese Auslegung wiederum nicht im Modus der Distanzierung erfolgen, sondern sei vielmehr affirmativ und persönlich „als Wahrheit, an deren Kenntnis und Anerkennung sich das Gelingen des Lebens entscheidet“, zu vertre‐ ten. 223 Mit diesen formalen Bedingungen sei nicht der konkrete „Wortlaut der legitimen kirchlichen Lehre“ festgeschrieben, aber doch ein überprüf‐ barer Spielraum abgesteckt, der von einem Prediger jeweils „in Freiheit und undelegierbarer Verantwortung“ gefüllt werden müsse. 224 Diese Überprü‐ fung sei im Zweifel durch ein „ordentliches Verfahren“ rechtlich geregelter Lehrbeurteilung vorzunehmen, was unter klassisch-reformatorischen Vor‐ aussetzungen auch deshalb sachgemäß sei, weil der Klarheit der Schrift ent‐ sprechend „bei Beachtung der Regeln der Grammatik über den Literalsinn sowohl des Kerygmas als auch seiner gegenwärtigen Auslegung intersub‐ jektive Verständigung erzielt“ werden könne. 225 Herms verankert die Lehre somit im Gottesdienst der Gemeinde, der wiederum sein Zentrum gerade in der Vermittlung der Lehre, also einer ge‐ ordneten Weitergabe des Christuszeugnisses findet. Schlechthin jede kirch‐ liche Ordnung müsse sich daran messen lassen, ob sie dem Evangelium und der Forderung Gottes entspreche, während gleichzeitig keine ihrer Regeln „als solche identisch mit diesem, die Gewissen befreienden und bindenden Wort Gottes selbst“ sei. 226 Die Lehrordnung der Kirche formuliere daher niemals „das Gesetz des Glaubens, sondern nur das Gesetz der Verkündi‐

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sichtlich der kirchlich verantworteten, öffentlichen Verkündigung, vgl. Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 356 f. Dieses besage, dass als „der Maßstab und die Norm aller kirchlichen Lehre und Ordnung nichts anderes als der feste Text der inspirierten Ursprungsgestalt des Evangeliums“ (Herms, Lehramt, 275) zu gelten habe. Herms, Ordnung, 108. Ebd. Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd., 108 f. Laut Herms ist mit dieser reformatorischen Voraussetzung folglich nicht mehr, aber auch nicht weniger behauptet als die „Möglichkeit von sprachlicher Ver‐ ständigung überhaupt“ (ebd.). Ebd., 107. Zur sachgemäßen und gegenwartsbezogenen Auslegung gehört für Herms, dass jede christliche Predigt die beiden Aspekte von Gesetz und Evangelium beinhalten und deshalb als „doctrina fidei et morum [...] immer sowohl die Gestalt der Lehre (doc‐ trina) als auch der Ermahnung (exhortatio)“ (Herms, Evangelium, 48) haben müsse.

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gung“. 227 Sie beziehe sich allein auf die öffentliche Predigt des Evangeliums und habe auch nur diejenigen wesentlichen „Merkmale dieses Redeaktes [zu] fixieren, an denen seine kirchliche Legitimität“ hängt. 228 Subjekt des Gottesdienstes wie auch seiner Ordnung bleibt bei Herms die gesamte Gemeinde, die um des geordneten Vollzugs willen bestimmte Funktionen an Ämter wie das Predigtamt delegiert. Das Zeugnis der Kirche für das Christusgeschehen ist als zugesprochenes Wort vom Kreuz zugleich ein Gegenüber der Gemeinde selbst. Dieser Grundstruktur entspricht der Gottesdienst, indem ein vorgegebener Text des biblischen Kanons als Ke‐ rygma ausgelegt – in einem gewissen Sinne also fortgeschrieben – und diese exemplarische Auslegung von einer predigenden Person assertorisch als Wahrheit verantwortet wird. Maßgebliches Kriterium für diese Auslegun‐ gen ist die Übereinstimmung mit dem Ursprungsgeschehen der Kirche. Zu den invarianten Grundlagen angemessener Lehrordnung gehören nach Herms also die Selbstbindung der Verkündigung an einen ihr vorgegebe‐ nen Text, die Selbstunterscheidung des Zeugnisses vom bezeugten Offenba‐ rungsgeschehen sowie die Selbstbeschränkung der Lehrordnung selbst auf die öffentlichen Vollzüge kirchlichen Zeugnishandelns. 6.4.4 Das Pfarramt und die theologische Schule Um den geordneten Vollzug zu gewährleisten, ist die Lehrtätigkeit im Got‐ tesdienst der Gemeinde nach Herms grundsätzlich dem Pfarramt zu über‐ tragen. Dieses Pfarramt als besonderes Predigtamt dürfe sich allerdings auf keinen Fall so missverstehen, als ob es die „allgemeine Christenpflicht zur Evangeliumsverkündigung und Sakramentsreichung“ ersetzen könnte. 229 Obgleich die pfarramtliche „Kompetenz zur auftragsgemäß professionellen Führung des Predigtamtes“ auch eine spezifische „Kompetenz zur Aus‐ übung von Herrschaft“ einschließe, sei diese strikt an die Aufgabe einer „Sicherstellung der äußeren Bedingungen für die Verkündigung des Evan‐ geliums“ gebunden. 230 Das ordinierte Pfarramt habe somit immer der ge‐ ordneten Ausübung der allgemeinen Lehrpflicht zu dienen. 227 Herms, Ordnung, 106. Obwohl die menschlichen Ordnungen der Kirche Gesetzescha‐ rakter haben, gehe das Gesetz Gottes nie in sie ein, sondern bleibe ihnen immer entzogen und gegenübergestellt. Jede Möglichkeit einer direkten „Glaubensordnung“ (ebd., 107) sei strikt ausgeschlossen. Herms geht es bei dieser Klarstellung auch darum, für die Ord‐ nung der Kirche jeden Anschein eines ius divinum abzuwehren, vgl. ebd., 107; 114. 228 Ebd., 107. Diese Legitimität sei sachlich identisch mit der Apostolizität der Verkündi‐ gung, vgl. ebd., 108. 229 Herms, Pfarramt, 218. Vgl. ders., Theologische Schule, 179 f. 230 Ebd., 180. Im Orig. teilw. kursiv. Für das Pfarramt als Leitungsamt bedeute dies, dass dessen „hermeneutische[r] Kernfunktion“ (Herms, Pfarramt, 225) wesentlich eine kon‐

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Warum aber braucht es dann überhaupt ein eigenes, von Einzelnen be‐ rufsmäßig ausgeübtes Pfarramt? Zur sachgemäßen Ausgestaltung des ge‐ meinsamen Grundamtes ist laut Herms – wie im letzten Abschnitt zur Lehrordnung bereits dargestellt wurde – erforderlich, dass „das Evange‐ lium in Predigt und Sakrament als das ursprüngliche Gegenüber erhalten“ bleibe, und zwar „nicht nur zur Welt, sondern auch zur Gemeinde“. 231 Die Unabhängigkeit des Evangeliums erfordere die „Einrichtung einer be‐ sonderen Zuständigkeit für das äußere Wort“, wobei das Predigtamt nach Herms innerhalb der Gemeinde durch die Gemeinde selbst so zu ordnen sei, dass das Gegenüber der Wortverkündigung immer gewahrt und insti‐ tutionell auf Dauer gestellt bleibe. 232 Übertragen werde es Personen, die die „auftragsgemäße Sachkompetenz“ unter Beweis gestellt haben, durch die Ordination als „Akt der Anerkennung der Befähigung zu diesem Amt“. 233 Die Ordination ins Amt begründe keinen „besonderen geistlichen Status“, sondern sei funktional auf das „officium externum, den äußeren Dienst, am äußeren Wort und seiner äußeren Klarheit“ zu beschränken. 234 Die Amtsträger haben laut Herms auf das „Zustandekommen von verbindli‐ chen Konsensen in der Kirche“ hinzuwirken, indem sie die dafür nötigen Bedingungen befördern, aber keine eigene Vollmacht, einen solchen Kon‐ sens zu definieren. 235 Wenn das ordinierte Amt geeigneten Personen übertragen und von diesen berufsmäßig versehen werden soll, dann wird neben Gottesdienst‐ ordnung und Lehrordnung noch ein dritter Kreis kirchenordnender Re‐ geln notwendig: die Ordnung der Kirche als Organisation. Diese haben die indirekten „Voraussetzungen personeller und materieller Art“ zum Ge‐ genstand, die für einen geordneten Vollzug von Wortverkündigung, Sa‐

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ditionierende Form von Leitungshandeln entspreche, die nur indirekt die Bedingungen für direktive Leitungsentscheidungen schaffe oder beeinflusse. Das Pfarramt sei an allem kirchlichen Leitungshandeln zu beteiligen (und ggf. mit einem Vetorecht auszustatten), aber zugleich darauf beschränkt, die kirchenleitenden Gremien und Entscheidungsträ‐ ger über die „schlechterdings verbindlichen Grundlagen und Spielräume ihrer jeweili‐ gen Entscheidung“ (ebd.) zu orientieren. Für eine Skizze der hermeneutischen Kompe‐ tenzen, die für das Pfarramt erforderlich sind, vgl. ebd., 227 f. Ebd., 216. Vgl. auch ebd., 217: „Mit der Wahrung dieses Gegenübers des Evangeliums gerade auch zu der seine evident gewordene Wahrheit bezeugenden Kirche stehen und fallen die [...] Grundeinsichten der Reformation in das Aufklärungs- und Befreiungs‐ handeln Gottes“ (Im Orig. kursiv). Vgl. ferner Herms, Lehramt, 276; 281. Herms, Pfarramt, 217. Ebd. Dabei gelte: „Das Pfarramt ist ein durch das ordnende Amt der Gemeinschaft ge‐ ordneter Dienst“ (ebd., 220) und Subjekt der Ordination ist die Gemeinde, woraus aber gerade keine Abhängigkeit der Pfarrperson abzuleiten sei. Ebd., 218. Ebd.

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kramentsfeier und gemeinsamer Lebensführung erforderlich sind. 236 In den Bereich dieser Kirchenordnung fällt bei Herms auch die abgelei‐ tete Aufgabe der „Bildung und Pflege“ einer „theologischen Schule“. 237 Dieser Oberbegriff umfasse das Gefüge aller Institutionen, die auf die „Etablierung, Entwicklung und zuverlässige Reproduktion von ‚theolo‐ gischer Kompetenz‘“ bezogen sind. 238 Inhaber kirchlicher Leitungs- und Funktionspositionen seien für ihre Entscheidungen auf ein verlässliches „Orientierungswissen“ angewiesen, welches „die Wirklichkeit ihres Hand‐ lungsfeldes hinreichend genau erfasst“. 239 Zur Gewinnung und Vermitt‐ lung dieser Kompetenz müsse die theologische Schule notwendig „drei funktionsspezifisch verschiedene Institutionengruppen“ umfassen: erstens theologische Forschungsinstutionen zur „methodisch-reflektierten Gewin‐ nung“ von theologischem Orientierungswissen, zweitens theologische Aus‐ bildungsinstitutionen zur „Weitergabe und der Aneignung“ theologischer Kompetenz sowie drittens Fortbildungsinstitutionen, welche den kompe‐ tenten Gebrauch und die Weiterentwicklung der erworbenen Fähigkeiten unter Praxisbedingungen ermöglichen. 240 Für das innere Gefälle des theologischen Bildungsprozesses sei wichtig, dass am Anfang die dogmatische Grundbildung als „Aneignung des tra‐ dierten theologischen Orientierungswissens“ stehe. 241 Dabei müsse nicht nur die Kenntnis der maßgeblichen symbolischen Texte erworben, sondern auch die „hermeneutisch-korrekte Erfassung ihres Sachgehaltes“ sowie die methodisch kontrollierte Bewährung dieses Sachgehaltes an der „gegen‐

236 Herms, Ordnung, 110. Dies sei die „konkreteste, aber auch komplexeste Gestalt kirch‐ licher Ordnung“, welche daher „geschichtlich erst als letzte erreicht“ (ebd.) worden sei. Das soll wohl bedeuten, dass auf diese Ordnungen erst als letzte thematisch und ausdrücklich reflektiert wurde, denn historisch ist mit solchen Regelungen für die Aus‐ bildung und Versorgung der Amtsträger schon früh zu rechnen. 237 Herms, Theologische Schule, 159. Herms setzt diesen Ausdruck immer in Anführungs‐ zeichen, um Distanz zu den negativen Assoziationen zu schaffen, welche den Begriff ‚Schule‘ in diesem Zusammenhang begleiten (unselbständiges Lernen, „Zitations- und Meinsungskartell“, ebd.). Vgl. zum Folgenden auch Herms, Lehramt, 298–302, wo Herms auf gegenwärtige Herausforderungen und die Alternative zwischen einer kir‐ chenrechtlichen Integration staatlicher Fakultäten und der Einrichtung eigener kirch‐ lichen Hochschulen eingeht. Letzteres bleibe eine „Notmaßnahme“ (ebd., 300). 238 Herms, Theologische Schule, 159. Herms’ Konzept theologischer Kompetenz bezeich‐ net den Inbegriff der Fähigkeiten, die für eine „auftragsgemäß professionelle Führung des Pfarramts erforderlich“ und damit „notwendige Bedingung für die Urteils- und Handlungskompetenz aller Glieder der christlichen Kirche“ sind (ebd.). Zum Begriff der theologischen Kompetenz vgl. auch Herms, Kompetenz. 239 Herms, Theologische Schule, 160. 240 Ebd., 171. 241 Ebd., 172.

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wärtigen Wirklichkeitserfahrung des Rezipienten“ erlernt werden. 242 Zur zielsicheren Anwendung des theologischen Orientierungswissens auf den konkreten Einzelfall sei darüber hinaus immer auch empirisches Regelwis‐ sen erforderlich. Der Bestand dieses empirischen Regelwissens, der für die Funktionspositionen der kirchlichen Organisation benötigt werde, sei al‐ lerdings „in ständiger Bildung und Umbildung begriffen“. 243 Institutionen der Forschung und Ausbildung müssen sich laut Herms daher in einem zirkulären Verhältnis der Rückkopplung befinden: Einerseits sind die per‐ sönlichen Erfahrungen aus Gemeindeleben und Amtsführung wieder in die „Institutionen theologischer Reflexion, Analyse und Theoriebildung“ einzuspeisen, andererseits auch alle Reflexionsresultate theologischer For‐ schung „an das Bewährungsfeld des christlichen Lebens und der Amtspra‐ xis“ verwiesen. 244 Die sachgemäße Ausgestaltung des theologischen Bildungsprozesses un‐ terliegt Herms zufolge zwei zentralen Bedingungen: Erstens sei von den Lehrenden – wie Herms mit einer etwas missverständlichen Formulie‐ rung einschärft – der „Verzicht auf Positionalität“ zu leisten, da nicht eine Aneignung der „individuellen Überzeugungen, Einsichten und Interessen der einzelnen theologischen Lehrer“, sondern „die kirchliche und theolo‐ gische Tradition in ihrem Eigensinn“ für den Ausbildungserfolg maßgeb‐ lich sei. 245 Als individuelles Beispiel für die persönliche Verantwortung des Sachgehalts kanonischer Texte sei eine Positionierung der Lehrenden allerdings unverzichtbar. Zweitens müsse gerade unter protestantischen Be‐ dingungen (d.h. in Ermangelung eines zentralen Lehramts) auf eine „Ein‐ heitlichkeit der Institutionen theologischer Ausbildung“ geachtet werden, damit „bloß aus dem kompetent sachorientierten Zusammenwirken aller Inhaber des kirchlichen Amtes“ der tragende Konsens einer innerkirchli‐ chen Öffentlichkeit erwachsen könne. 246 Allein im Rahmen eines solchen Grundkonsenses sie es möglich, „Strittiges zu artikulieren mit der Aussicht auf seinen sachorientierten Austrag“. 247 Über diese direkten Aufgaben hinaus, für die Ausbildung der Amts- und Funktionsträger zu sorgen sowie die Gemeindeglieder zur kompetenten Mitwirkung am allgemeinen Zeugnis zu befähigen, reproduzieren die theo‐

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Ebd. Vgl. ebd., 174 f. Ebd., 171. Ebd., 173. Ebd., 175. Im Orig. teilw. kursiv. Der Verzicht auf Positionalität werde ermöglicht durch die hermeneutische Orientierung am Literalsinn der Texte. 246 Ebd. Dies bedeute nicht die „inhaltliche Uniformierung“, aber eine verbindliche „Ein‐ heitlichkeit von Problemlösungsverfahren“ (ebd.). 247 Ebd.

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logischen Ausbildungsinstitutionen auch die Bedingungen einer gemeind‐ lichen Öffentlichkeit. 248 Vermittelt durch diese Öffentlichkeit könne die christliche Botschaft wiederum in die Gesellschaft hineinwirken. Die „ge‐ samtgesellschaftliche Prägekraft des Sozialsystems Kirche“ erwachse näm‐ lich indirekt aus dessen Fähigkeit zur „Regeneration und Unterstützung der christlichen Handlungskompetenz“ der einzelnen Kirchenglieder an ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Ort. 249 Entsprechend sei allein die evangeli‐ umsgemäße Lehre, die in der theologischen Schule zu vermitteln und an‐ zueignen sei, das „Fundament theologischer Kompetenz“ und zugleich der Beitrag der Kirche zur gesellschaftlichen Verständigung über die Orientie‐ rung des gemeinsamen Handelns. 250 Die „Sicherstellung von Institutionen, die dem Gewinn theologischer Kompetenz für die Inhaber des Predigtam‐ tes dienen“, erscheint Herms daher als der einzige Weg, wie kirchenleitende Steuermaßnahmen – wenn auch nur indirekt – Einfluss auf die gesellschaft‐ liche Prägekraft des Christentums nehmen können. 251 6.4.5 Zwischenfazit Zusammenfassend ist im Rückblick auf diese ekklesiologische Verortung der Lehrordnung zu erkennen, dass Herms unter Aufnahme soziologischer Theoriebausteine die unverzichtbaren Elemente des kirchlichen Institu‐ tionengefüges umfassend bestimmen möchte. Um ihrem invarianten und wesenskonstitutiven Auftrag zum Zeugnis vor der Welt nachkommen, be‐ nötige die Kirche Gottesdienstgemeinden und ordiniertes Pfarramt, For‐ schungseinrichtungen und Ausbildungsinstitutionen für theologische Be‐ rufe, Instanzen der kirchlichen Aufsicht über Lehre und Dienstordnung (geistliche Leitung, Episkope) sowie von diesen unterschiedene Instan‐ zen der Rechtssetzung und Rechtspflege (z.B. Synoden, Kirchenleitung, Kirchengerichte). 252 Diese Bereiche werden von Herms einander so zuge‐ 248 Vgl. ebd., 176 f. Diese innerkirchliche Öffentlichkeit sei inhaltlich bestimmt durch das von allen Mitgliedern geteilte „Orientierungswissen des christlichen Glaubens“ (ebd., 177). 249 Ebd., 181. Ihr christliches Orientierungswissen motiviere Menschen, „soziale Funkti‐ onspositionen (öffentliche Aufgaben) zu übernehmen“ (ebd., 178), und wirke sich ver‐ mittelt über das Handeln dieser Funktionsträger auch auf die Gesellschaft aus. Vgl. auch RuO, 76 f. 250 Herms, Theologische Schule, 183. Herms versucht darzulegen, wie durch eine christ‐ liche Grundorientierung auch ein entscheidender Beitrag geleistet wird, um das Ge‐ samtsystem der Gesellschaft auf einen gerechten Zustand hin zu entwickeln, vgl. ebd., 183–189. 251 Ebd., 181. 252 Vgl. Herms, Lehramt, 282 f. Zur reformatorischen Ausgestaltung dieser Institutionen und ihrer schrittweisen Erosion seit der frühen Neuzeit im Zuge der Unterwerfung unter

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ordnet, dass der Gottesdienst als das Zentrum aller kirchlichen Vollzüge festgehalten wird und die Ordnung des Gottesdienstes als der Grund al‐ ler Kirchenordnung erscheint. Innerhalb der Gottesdienstordnung kommt dem Teilbereich der Lehrordnung die entscheidende Bedeutung dafür zu, dass das Evangelium als Gegenüber der Gemeinde im geordneten Voll‐ zug erklingen kann. Der Bedarf der Kirche an orientierendem Wissen und geeigneten Amtsträgern verweist die Kirchenleitung auf die Aufgabe, die „Reproduktionsbedingungen“ der hermeneutisch-theologischen Kompe‐ tenzen sicherzustellen, die einen „qualifizierten Umgang mit kirchlicher Lehre ermöglichen“. 253 Die Kirchenleitung hat also für eine akademisch-theologische (oder gleichwertige) Ausbildung der Amtsträger zu sorgen und deren Rückkop‐ pelung an die theologischen Forschungsinstitutionen zu gewährleisten. In dieser Ausbildung kommt dem überlieferten Orientierungswissen der Dog‐ matik eine fundamentale und auch für die Aneignung empirischen Regel‐ wissens im Wortsinn grundlegende Bedeutung zu. 254 Dass Theologie nach Herms immer affirmativ vorzubringen und persönlich zu verantworten ist, führt zu einer unhintergehbaren Positionalität theologischer Aussagen. Diese Positionalität ist allerdings durch eine gemeinsame Ausrichtung auf den Eigensinn als kanonisch vorgegebener Texte so zu brechen, dass die Ausbildung zu eigener Lehrkompetenz und nicht allein zur Übernahme einer Lehrposition führt. Ein tragender Konsens innerhalb der kirchlichen Öffentlichkeit ist die Bedingungen dafür, dass hier Streit im Rahmen ge‐ teilter Grundüberzeugungen und Verfahren ausgetragen sowie idealerweise auch beigelegt werden kann.

die nun säkular-naturrechtlich begründete Politik des Staates. Vor diesem Hintergrund bewertet Herms das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1919 als Befreiung, was auf der Bekenntnissynode von Barmen 1934 erste Konsequenzen nach sich gezogen habe, vgl. ebd., 283–293. 253 Herms, Erfahrbare Kirche, XII. 254 Laut Herms gilt: „Dogmatik ist fundamental“ (Herms, Theologische Schule, 174. Im Orig. kursiv), weil diese den kategorialen Gehalt des christlichen Wirklichkeitsverständ‐ nisses vermittle. Als Institution bestimmter Lehr- und Lernprozesse sei die Dogmatik gerade nicht auf eine Unterdisziplin der Systematischen Theologie zu beschränken, sondern als kategoriale Dimension theologischer Kompetenz in allen theologischen Dis‐ ziplinen enthalten, vgl. ebd., Anm. 33.

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6.5 Die reformatorische Verschärfung des Lehrproblems Wie alle Konfessionen steht laut Herms auch der Protestantismus vor der Aufgabe, die Lehre der Kirche im Rahmen des Gottesdienstes zu ordnen. Allerdings stellt sich hier diese gemeinsame Herausforderung auf charakte‐ ristische Weise verschärft dar. Der Streit zwischen den Reformatoren und der römischen Kirche sei insbesondere an der Frage nach dem „Kriterium zur Begründung von Leitungsentscheidungen über das Ganze der kirchli‐ chen Ordnung“ aufgebrochen. 255 Damit direkt verbunden war der Streit‐ punkt, welche Instanzen überhaupt zu einer bindenden Lehrentscheidung berechtigt seien. Die Reformatoren haben nun einerseits daran festgehal‐ ten, dass als Kriterium der Lehre allein die Schrift – wenn auch „zusammen mit Erfahrung und Vernunft“ – in Frage kommen, während andererseits der Kreis der berechtigten Entscheidungsinstanzen auf die Kirche als ganze ausgeweitet wurde. 256 Der reformatorischen Auffassung von Offenbarung eigne daher von Anfang an eine inhärent traditions- und autoritätskritische Spitze, insofern Gottes Offenbarungshandeln zwar als „erzähl- und bezeug‐ bares Geschehen mit historischer Identität und einem präzis identifizierba‐ ren Inhalt“ verstanden werde, aber selbst „niemals Inhalt und Gegenstand menschlicher Traditionstätigkeit werden“ könne. 257 Die Kirchen der Reformation kennen folglich – so Herms – kein zen‐ trales Lehramt, sondern nur „ein kollegiales Amt, das von allen Kirchen gemeinsam und innerhalb der Kirchen von allen Amtsträgern in Verbin‐ dung mit allen Gliedern der Gemeinde“ wahrgenommen werde. 258 Nach protestantischem Verständnis könne daher auch keine strittige Entschei‐ dung, die hinsichtlich der Kirchenleitung oder Lehrordnung zu treffen sei, allein mit dem Verweis auf die Amtsautorität legitimiert werden. 259 Die Selbststeuerung der Kirche und Regelung ihrer zentralen Vollzüge habe un‐ ter protestantischen Bedingungen vielmehr allein auf der Grundlage ihrer Lehre zu erfolgen und sich einsichtig aus dieser zu begründen. Protestanti‐ sche Kirchenleitung habe sich also im „ständigen Rekurs auf symbolisch fi‐ xierte Ausprägungen reformatorischer Lehre“ zu vollziehen. 260 Dazu müsse die Lehre so ausgearbeitet werden, dass sie selbst konkrete Institutionen der Ordnung von Lehre und Gottesdienst sowie eine Leitungsstruktur der 255 256 257 258 259 260

Herms, Schrift, 163. Ebd. Herms, Lehre, 129. Herms, Ordnung, 102. Herv. im Orig. Vgl. Herms, Lehre, 153. Vgl. auch ders., Offenbarung, 216. Herms, Leitung, 90. Vgl. auch ders., Erfahrbare Kirche, XI.

Die reformatorische Verschärfung des Lehrproblems

kirchlichen Ämter aus sich heraus setze: „Wirksames Instrument“ könne die Lehre erst werden, wenn sie sich „konkretisiert zur Lehre über diejeni‐ gen Ämter und Zuständigkeiten und ihres Zusammenspiels“, die „für eine ursprungs- und sachgemäße Ordnung“ des kirchlichen Zeugnishandelns erforderlich sind. 261 Dies aber bedeute eine deutliche Erweiterung der Auf‐ gaben und des Themenbestandes. Zusammengenommen sei das Ergebnis der reformatorischen Streitigkei‐ ten auf Seiten des Protestantismus die „scheinbar antagonistische Lage“, dass der „Vermehrung des Lehrbedarfs“ und einer „Steigerung der funk‐ tionalen Bedeutung der Lehre “ zugleich eine „systematische Erschwerung ihres Vollzugs“ durch das Fehlen klar identifizierbarer Lehrautoritäten kor‐ respondiere. 262 Gegenüber der Reformationszeit sei diese Lage gegenwärtig sogar noch einmal verschärft durch „Pluralisierung und Privatisierung“ des gesellschaftlichen Lebens, was sich innerkirchlich in einem – im Namen individueller Freiheit mitunter forcierten – „Antagonismus zwischen Fröm‐ migkeit und kirchlicher Lehre und Ordnung“ niederschlage. 263 Angesichts dieser Herausforderung will Herms plausibel machen, dass den reformatori‐ schen Kirchen durch ihr Offenbarungsverständnis und ihre Bekenntnistexte gleichwohl „eine Anleitung zur jeweils selbständigen, situationsgerechten Erfüllung“ ihrer zunehmend komplexen Leitungs- und Ordnungsaufgaben an die Hand gegeben ist: „Kirchen sollen nicht nur, sondern können auch aufgrund des Katechismus geleitet werden“. 264 Allerdings dämpft er zu‐ gleich allzu weitreichende Hoffnungen: Selbst, wenn die Konsequenzen des reformatorischen Offenbarungsverständnisse deutlich und umfassend her‐ ausgearbeitet werden, könne das protestantische Modell kaum „die schlag‐ kräftige Simplizität der römischen Anschauungen erreichen“. 265 Die reformatorische Verschärfung des Lehrproblems resultiert nach Herms also aus dem Offenbarungsverständnis der Reformatoren, das sich als Grenze kirchlichen Handelns zur Geltung bringt (6.5.1). Dies bedeutet in der Konsequenz, dass die Ausgestaltung der kirchlichen Institutionen dem allgemeinen Priestertum Rechnung tragen muss (6.5.2). Darüber hinaus sind die Kirchen der Reformation auf eine angemessene Verhältnisbestim‐ mung zwischen dem relativ selbständigen, weil nur an das Wort gebundenen Predigtamt und ihrer synodaler Leitungsstruktur angewiesen (6.5.3).

261 Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 363. 262 Herms, Lehre, 133. Herv. im Orig. 263 Herms, Leitung, 95 f. Auch wenn dieser Gegensatz als Missverständnis entlarvt werden könne, beschäftige er den Protestantismus seit dem Konflikt von Orthodoxie und Pietis‐ mus. 264 Herms, Erfahrbare Kirche, X. Vgl. auch ders., Leitung, 91; vgl. ders., Lehramt, 274 f. 265 Herms, Lehre, 133.

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6.5.1 Offenbarungszeugnis als Auftrag und Grenze der Kirche Funktioniere die Lehre innerhalb der reformatorischen Kirchen als „der heuristische und kritische Rahmen“ aller kirchlichen Entscheidungen, dann erscheine das Leitungsamt in der Kirche faktisch als „eine spezifische Variation der Wahrnehmung ihres Lehramtes“. 266 Nötig sei dann für die Leitung der Kirche eine je neue Besinnung auf den Auftrag der Kirche, wie er in der geltenden Lehre der Kirche schon fixiert sei. Und allein durch den „in der kirchlichen Lehre fixierten Konsens über die situationsinvarianten Regeln“ einsichtiger Entscheidungen sei auch möglich, die wesens- und identitätskonstitutiven Merkmale der Kirche von den variablen Zügen ihrer institutionellen Gestalt zu unterscheiden. 267 Kirchlich verbindliche Lehr‐ texte können somit als „Orientierungs- und Begründungsrahmen“ konkre‐ ter Entscheidungen dienen, wenn und insofern sie eine klare und verbind‐ liche Beschreibung des Auftrags der Kirche bieten sowie auf der Verfah‐ rensebene den gemeinsamen Bezug auf allseits anerkannte Textgrundla‐ gen ermöglichen. 268 Die Aufgabe kirchlicher Lehrbekenntnisse konvergiert also mit der konkreten Ekklesiologie darin, der Kirche Klarheit über den ihre Selbststeuerung orientierenden Auftrag zu verschaffen. Als verbindlich vorausgesetzte Grundlage erfüllen sie dabei zusätzlich eine Funktion inner‐ halb der Verfahren, mittels derer ein Konsens über diesen Auftrag und ein Urteil über mögliche Wege zu seiner Erfüllung erreicht werden soll. Der eine und wesentliche Auftrag der Kirche sei das zeugnishafte Be‐ kenntnis zu Christus in Wort und Tat, das den Glaubenden – wo und wann Gott will – durch das Geschehen der trinitarischen Selbstoffenbarung Got‐ tes als persönliche Wahrheitsgewissheit erschlossen werde. 269 Als negative Seite ist in diesem positive Auftrag eine entscheidende Grenzbestimmung eingeschlossen: „Die Aufgabe ist nicht, die Wahrheit des Evangeliums zur Evidenz zu bringen, zu beweisen etc., sondern allein, den Eigensinn seines Daseinsverständnisses als dasje‐ nige klare und eindrucksvolle Gegenüber präsent zu erhalten, von dem aus sich dann dessen Wahrheit selbst den Menschen imponieren und ihnen zur Gewißheit werden kann.“ 270

Die Spannung zwischen der „Eindeutigkeit der fixierten kirchlichen Lehre“ und dem faktischen Pluralismus außerhalb wie innerhalb der Kirche lasse

266 267 268 269 270

Herms, Leitung, 101. Herms, Bedeutung des Gesetzes, 24. Herms, Leitung, 90. Zum Auftrag der Kirche siehe oben unter 6.4.2. Herms, Lehramt, 281.

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sich auf dieser Grundlage angemessen als „Gegensatz zwischen einerseits dem ungeteilten Geltungsanspruch des Evangeliums und andererseits der Unverfügbarkeit seiner faktischen Geltung“ verstehen. 271 Dieser Gegensatz sei durch menschliches Handeln nicht aufzulösen. Auf der Basis dieser Ein‐ sicht müsse der Handlungsspielraum kirchlicher Ordnung dahingehend beschrieben werden, dass diese Ordnung zwar dafür Sorge trage, „den universalen Geltungsanspruch des Evangeliums verständlich und klar zur Sprache zu bringen“, aber gleichzeitig darauf zu verzichten habe, dessen individuelle Geltung und die konkrete Antwort des Glaubens erzwingen zu wollen. 272 Auf diese Weise werde nicht nur eine Überforderung der kirchli‐ chen Strukturen verhindert, sondern auch einer Übergriffigkeit gegenüber der individuellen Lebensführung der Glaubenden gewehrt. Gegenüber den Kirchengliedern wäre daher insbesondere die „seelsorgerlich konstruktive Bedeutung“ der kirchlichen Ordnungen herauszustellen und so zu vermit‐ teln, dass diese gerade nicht auf eine „Reglementierung, Einschränkung und Entmutigung der individuellen Frömmigkeit“ zielen. 273 Vielmehr seien diese gerade freiheitsförderlich und individuell befähigend, da sie der per‐ sönlichen Frömmigkeit „Orientierungsmöglichkeiten“ bieten sowie nicht zuletzt durch ein produktives Abarbeiten an Tradition und Lehre auch „Reifungschancen“ bereithalten. 274 Herms bestimmt die kirchliche Funktion der Lehre im Rahmen eines protestantischen Kirchenverständnisses also als konstitutiv, aber immer auf den selbstverantworteten Glauben der Einzelnen ausgerichtet und daher auch spezifisch begrenzt. Das institutionelle Lehramt der Kirche als „Dienst an der äußeren Klarheit des Literalsinnes“ müsse sich selbst auf das officium externum durch iudicia externa beschränken. 275 Die Lehre soll nach Herms den innerkirchlichen Pluralismus nicht aufheben, aber ihm einen Rahmen geben und mit Blick auf den vorgegebenen Auftrag der Kirche unverzicht‐ bare Grenzziehungen vornehmen.

271 Herms, Leitung, 97. Herv. im Orig. Auch der scheinbare Antagonismus zwischen indivi‐ dueller Frömmigkeit und kirchlicher Ordnung lasse sich auf diesem Wege durchschauen und in seiner Schärfe abmildern. 272 Ebd., 98. 273 Ebd., 99 f. 274 Herms, Leitung, 100. 275 Vgl. Herms, Art. Lehramt, 186. Der Glaubensgehorsam gebühre nie dem „äußeren Wort als solchem, sondern seiner Wahrheit“ (ebd.).

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6.5.2 Allgemeines Priestertum und Mündigkeit der Laien Für die reformatorischen Kirchen sei charakteristisch, dass sie die Subjekte der Kirchenleitung neu bestimmen, was mit dem Begriff des Priestertums aller Gläubigen verbunden sei: „Alle Personen, die überhaupt durch Gottes Offenbarungshandeln ergriffen und zum Glauben befähigt werden, werden damit zugleich grundsätzlich auch zum Vollzug und zur Teilhabe an allen Formen des kirchlichen Handelns befähigt“. 276 Auch die Pflege der christ‐ lichen Lehre in der Kirche falle daher prinzipiell in den Verantwortungs‐ bereich aller Glaubenden. Das „publice docere der berufenen Amtsträger“ bilde lediglich „ein Element innerhalb der umfassenderen Praxis des Leh‐ rens der Kirche überhaupt“. 277 Sind für Herms daher „alle Glaubenden in irgendeiner Hinsicht“ als christliche Lehrer gefordert, entspreche dennoch den einzelnen Positio‐ nen innerhalb der Kirche eine je besondere Zuständigkeit für die Ver‐ mittlung und Pflege Lehre. 278 Dies gelte für die Eltern und Paten ebenso wie für das ordinierte Amt im gemeindlichen Verkündigungsdienst, für die in christlichen Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen Tätigen, für die Synoden als Instanzen der Feststellung von Lehrkonsens sowie schließlich für alle mit der Lehrbeurteilung und Kirchenaufsicht betrauten Personen (z.B. Bischöfe). 279 Nie dürfe ein einzelnes Amt die allgemeine Lehrver‐ antwortung der Gemeinde exklusiv an sich ziehen, weshalb insbesondere das ordinierte Amt ständig daraufhin zu befragen sei, ob es der gemein‐ samen Wahrnehmung des kirchlichen Lehramtes diene und dieser zugute komme. Der Unterschied zwischen zur öffentlichen Verkündigung und Sa‐ kramentsverwaltung berufenen Amtsträgern und den übrigen Gemeinde‐ gliedern begründe nach reformatorischem Verständnis „keinen geistlichen Unterschied“, keine Übertragung göttlicher Autorität und keine persön‐ liche Befähigung, „die Herzen zu erleuchten und die Gewissen zu bin‐

276 Herms, Lehre, 128. Vgl. auch ebd., 135. Vgl. ferner ders., Einheit, 108 f. Der Lebens‐ zusammenhang des kirchlichen Zeugnishandelns vollziehe sich „auf dem Boden einer geistlichen Befähigung und Verpflichtung, die für alle einheitlich und gemeinsam ist“ (Herms, Pfarramt, 212). Daraus leitet sich die „Einheit und Gleichheit des geistl[ichen] Standes aller Christen“ (Herms, Art. Lehramt, 185) ab. 277 Herms, Lehre, 139. Herv. im Orig. 278 Herms, Art. Lehre, 202. 279 Vgl. ebd. Die leitenden Geistlichen definieren keine verbindliche Lehre, sondern wa‐ chen über die „Einhaltung des geltenden Lehrkonsenses“ (ebd.) innerhalb der Kirche. Jede solche Prüfung habe in geordneten Verfahren zu erfolgen und dürfe sich nicht nur auf die Überprüfung der Amtsträger beschränken, denn „auch Lehrentscheidungen von Gruppen und Gremien sind fehlbar“ (Herms, Art. Lehramt, 187).

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den“. 280 Unter reformatorischen Bedingungen müsse das kirchenleitende Handeln so geordnet werden, dass die Ordnung einem rein funktionalen Amtsverständnis sowie der „geistlichen Gleichheit aller Christen“ Rech‐ nung trage. 281 Daher sind laut Herms notwendig Strukturen zu schaffen, welche eine wirksame „Partizipation der gesamten kirchlichen Öffentlich‐ keit (einschließlich der Laien) am kirchenleitenden Handeln sicherstellen“ können. 282 Dass sie sich dieser Aufgabe stellt, gehört für Herms zum Le‐ benszeugnis der Kirche. In der Konsequenz schließt für Herms das reformatorische Offenba‐ rungsverständnis „keineswegs den Begriff eines Lehramtes der Kirche aus, das durch Menschen wahrzunehmen ist“. 283 Dieses Lehramt müsse aller‐ dings als kollektives Subjekt des kirchlichen und kirchenleitenden Han‐ delns begriffen werden, das seine Identität wesentlich aus den Verfahren gewinne, mit denen ein dynamischer „Prozeß öffentlicher Urteils- und Ent‐ scheidungsfindung“ kanalisiert und in Gang gehalten werde. 284 Mit diesem kollektiven Subjekt reformatorischer Lehrpraxis hänge notwendig zusam‐ men, dass sich die Lehrtätigkeit der Kirche „in unendlicher positionaler Gebrochenheit“ vollziehe. 285 In Ermangelung eines zentralen und hierar‐ chisch organisierten Lehramtes seien die reformatorischen Kirchen für die „Kontinuität und Identität ihrer Lehre und Gestalt“ umso mehr auf die Traditionskraft ihrer Institutionen und das Bestehen einer artikulations‐ fähigen kirchlichen Öffentlichkeit angewiesen. 286 Diese „Ausweitung des Trägerkreises der christlichen Lehre“ bedeute für die reformatorischen Kir‐ chen zweifellos eine „Erschwerung der Lehrtätigkeit“. 287 Die reformatori‐ sche Theologie dürfe aber aufgrund ihres Selbstverständnisses nicht eine 280 Herms, Lehre, 128; vgl. ebd., 153. Vgl. zudem ders., Art. Lehramt, 187; vgl. ders., Offen‐ barung, 216. 281 Herms, Ordnung, 135. Im Orig. teilw. kursiv. 282 Ebd., 136. Vgl. auch ebd., 216. 283 Herms, Lehre, 139. Vgl. auch ebd., 150. 284 Herms, Ordnung, 135. 285 Herms, Lehre, 139. Herv. im Orig. Herms greift hier Dietrich Rösslers These einer „unvermeidbaren Positionalität der kirchlichen Lehre“ (ebd., 140) auf, aber modifiziert diese zweifach, indem er diese erstens aus dem Verständnis der Offenbarung selbst zu begründen sucht und zweitens so ausweitet, dass damit „keineswegs nur die Differenz zwischen verschiedenen Fächern und Schulen akademischer Theologie, sondern vor allem die Differenz verschiedener Funktionspositionen“ (ebd.) innerhalb der Organi‐ sation Kirche erfasst wird. Vgl. auch ebd., 143 f. Vgl. Rössler, Theologie. 286 Herms, Ordnung, 102. 287 Herms, Lehre, 144. Historisch sei diese theoretische Herausforderung lange verdeckt worden, da sich erst mit der Aufklärung eine kritische Öffentlichkeit innerhalb der Kirche ausgebildet habe und „die Lehre von Predigern und Theologieprofessoren dem Urteil einer gebildeten Laienschaft ausgesetzt“ (ebd., 146) worden sei.

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Erosion dieser sprach- und urteilsfähigen Öffentlichkeit erhoffen, sondern müsse vielmehr selbst ein Interesse an der „Erhaltung einer eigenständigen Urteils- und Lehrfähigkeit der Laienschaft“ haben. 288 Weil bei Herms die reformatorische Kirche von ihrem gemeinschaftlich verantworteten Zeugnisauftrag her verstanden und ihre Institutionen we‐ sentlich als Lehrinstitutionen begriffen werden, muss die Befähigung der Kirchenglieder zur Partizipation am kollektiv verantworteten Lehramt zum zentralen Anliegen kirchlichen Handelns werden. Unter den Bedingun‐ gen des reformatorischen Kirchenverständnisses komme den „Institutio‐ nen christlicher Allgemeinbildung“ ein besonderes Gewicht zu, insofern diese die nötigen geschichtlichen und sprachlichen Grundkompetenzen vermitteln, um die Gesamtgemeinde effektiv am Lehramt der Kirche zu beteiligen. 289 Nur so lasse sich eine kirchliche Öffentlichkeit mündiger Christenmenschen reproduzieren, die auch in der Lage seien, die Lehre der Kirche auf ihre Schriftgemäßheit und damit auch Ursprungskontinuität hin zu überprüfen. Auf diese Weise wird von Herms das reformatorische Anliegen einer Mündigkeit aller Christenmenschen aufgegriffen und ge‐ gen soteriologische Verengungen auch dezidiert ekklesiologisch begründet: Nur als mündige Christinnen und Christen können die Kirchenmitglieder ihre Mitwirkung an der kollektiven Lehrtätigkeit der Kirche realisieren, die für sie gleichermaßen Recht und Pflicht ist. 6.5.3 Die gegenseitige Begrenzung von Amt und Synode In ihrer gegenwärtigen Lage stehen die evangelischen Kirchen laut Herms vor der konkreten Schwierigkeit, ihre Organisationsform so zu gestalten, dass auch die synodalen Leitungsorgane „am Vollzug des ministerium verbi beteiligt sind“, ohne ihnen allein eine „positive Letztentscheidungskompe‐ tenz“ zu übertragen. 290 Denn die ordinierten Amtsträger haben nicht als Einzige, aber eben doch in besonderer Weise über die Übereinstimmung mit dem „apostolischen Urbild“ zu wachen und zu diesem Zweck das „ka‐ nonische Urbild in seinem Eigensinn als kritisches Gegenüber nicht nur zur Welt, sondern auch zur Kirche“ zu erhalten. 291 Zwischen dem allgemein verantworteten, in den Synoden repräsenta‐ tiv ausgeübten Lehramt der Kirche und der speziellen Sachwalterschaft für den Eigensinn des Evangeliums, der auch gegenüber der Gesamtge‐ meinde und ihren Mehrheitsverhältnissen zur Geltung zu bringen sei, be‐ 288 289 290 291

Ebd. Herms, Lehramt, 282. Zu gegenwärtigen Herausforderungen vgl. ebd., 297 f. Ebd., 295 f. Herms, Art. Lehramt, 185.

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stehe somit eine unauflösliche Spannung. Die Lehrordnung sei folglich so zu gestalten, dass sich das von den Synoden ausgeübte „Lehrbeurteilungs‐ recht der Gemeinde“ und das im Pfarramt institutionalisierte „Gegenüber des Eigensinns der Schrift auch gegenüber der Gemeinde“ gegenseitig be‐ grenzen. 292 Zu berücksichtigen sei allerdings, dass das ordinierte Pfarr‐ amt sich nicht selbst mit diesem Gegenüber identifizieren dürfe, sondern seine apostolische Funktion allein darin sehe, „das bleibende Gegenüber des Offenbarungsgeschehens zu bezeugen“. 293 Um ein solches Wächteramt effektiv zu gewährleisten, sei in Angelegenheiten der Kirchenleitung die „Anerkennung eines definitiven Vetorechts des ministerium verbi“ erfor‐ derlich, sobald Zweifel an der Übereinstimmung einer Maßnahme mit der Schrift geltend gemacht werden können. 294 Sollte diese gegenseitige Be‐ grenzung von Amt und Synode dazu führen, dass eine Lehrfrage vorläufig oder dauerhaft nicht entschieden werden könne, entspreche dies gerade einer grundlegenden reformatorischen Einsicht in das Wesen kirchlicher Lehrkonsense: „Die Kirche ist nicht Herr der Lehre“, und so bleibe es je‐ weils „unverfügbares Geschenk des Heiligen Geistes, wenn es zum magnus consensus kommt“. 295 Der kirchliche Konsens über die Lehre könne nie „einfach durch eine Synodenmehrheit geschaffen“ werden, sondern stelle sich unverfügbar ein und werde dann „im Einklang zwischen den Synoden und den Inhabern des episkopefähigen ministerium verbi“ nachträglich an‐ erkannt. 296 Die spezifische Erschwerung, die die reformatorische Theologie hier den Lehrvollzügen auferlegt, wird von Herms deshalb als theologisch sachgemäße Selbstbeschränkung gerechtfertigt, um der Unverfügbarkeit offenbarter Wahrheit zu entsprechen. Nur der Gesamtkirche als communio sanctorum, die durch ihre Ord‐ nung das Gegenüber des Evangeliums zur Gemeinde institutionalisiert so‐ wie die Übereinstimmung ihres Zeugnisses mit dem kanonisch bezeugten Ursprungsgeschehen der Kirche wahre, gelte die göttliche „Verheißung, irrtumsunfähiger Ort der Wahrheit zu sein“. 297 Unfehlbarkeit im strengen Sinn komme nicht dem Lehramt oder seinen konkreten Artikulationen zu, 292 Herms, Lehramt, 296. 293 Herms, Art. Lehramt, 185 f. Herv. TG. Dies geschehe insbesondere, indem es die ur‐ sprüngliche Bezeugung der kanonischen Zeugnisse „festhält“ (ebd., 186) und „repetiert“ (ebd.). 294 Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 378. Auch müsse es Möglichkeiten der Über‐ prüfung und Revision von Lehrentscheidungen geben. 295 Herms, Lehramt, 296 f. 296 Ebd. 297 Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 374. Auf diese Weise grenzt Herms sein Kon‐ zept von der römisch-katholischen Lehre einer Irrtumslosigkeit päpstlicher Ex-cathe‐ dra-Entscheidungen ab.

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sondern allein dem Glauben als „von Gott selbst geschaffener Gewißheit“, insofern er in der „Glaubensgemeinschaft als von Gott geschaffener Gewiß‐ heitsgemeinschaft“ verankert bleibe. 298 Die Achtung, die der Glaube dem Lehramt um der lebensdienlichen Ordnung in der Kirche willen schuldet, schließt für Herms daher gerade „auch Kritik und die Zumutung von Kor‐ rekturen ein“. 299 Habe der Glaube die „Arbeitsergebnisse“ einzelner Lehr‐ artikulationen zu respektieren, die durch zuständige Instanzen „kompetent und ordnungsgemäß zustande kommen“, sei ihm damit nicht die Pflicht des ehrfürchtigen Verstummens auferlegt, sondern im Zweifelsfall der beharr‐ liche Einsatz für eine Vertiefung der Einsicht und die kritische Überbietung des erreichten Lehrkonsenses. 300 6.5.4 Zwischenfazit Ausgangspunkt ist für Herms eine aus reformatorischen Grundentschei‐ dungen abgeleitete Bestimmung des Lehramts als für die Kirche unver‐ zichtbare, kollektiv verantwortete Aufgabe aller Glaubenden. Eine wechsel‐ seitige Begrenzung von ordiniertem Amt und Synode sowie eine kritische Öffentlichkeit mündiger Laien haben dazu mit dem Ziel zusammenzuwir‐ ken, die Unverfügbarkeit der Offenbarung sowie auch jedes kirchlichen Lehrkonsenses über diese Offenbarung zu bezeugen und institutionell fest‐ zuhalten. Der Eigensinn der Evangeliumsbotschaft und die überführende Kraft des Gesetzes wären in Gefahr, würde die kirchliche Autorität einseitig bei synodalen Gremien oder einer Hierarchie von Amtsträgern fixiert. Durch die programmatische Erschwerung des Lehrkonsenses in den re‐ formatorischen Kirchen kommt nach Herms die Angewiesenheit der Lehre auf die Gabe des Heiligen Geistes angemessen zum Ausdruck – nicht zu‐ letzt kann so eine Überwältigung der Einzelnen und ihrer Gewissen durch die jeweils herrschenden Fraktionen unterbunden werden. Die Frage ist al‐ lerdings, ob auf diesem Wege überhaupt noch eine effiziente, verbindliche Artikulation und Pflege der kirchlichen Lehre möglich ist. Dass es ange‐ sichts dieser hohen Hürden zu einem bindenden und allgemein anerkann‐ ten Konsens kommt, dürfte in jedem Fall auf weitere Ermöglichungsbedin‐ gungen angewiesen sein, die durch dieses kirchliche Institutionengefüge selbst nicht hervorgebracht werden können. Ob man diese Bedingungen nun soziologisch als Produkt sozio-ökonomischer Reproduktionsfaktoren 298 Herms, Art. Lehramt, 186. Sie könne daher auch auf keinem Wege „bewiesen und hand‐ greiflich gemacht werden“ (ebd.). Vgl. auch Herms, Art. Lehrautorität, 192. 299 Herms, Art. Lehramt, 186. 300 Herms, Art. Lehrautorität, 193. Herms gesteht auch „hartnäckige“ öffentliche Kritik zu, solange weiterhin ein grundsätzlicher „Respekt vor der Ordnung“ (ebd.) gegeben sei.

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erklärt, die der Organisation der Kirche vorgegeben sind, 301 oder theolo‐ gisch als unverfügbares Wirken des Geistes begreift, dürfte nicht zuletzt von einer vorgängigen Wahl der Theorieperspektive abhängen. Herms jedenfalls beansprucht, dass gerade eine solche scheinbar ineffi‐ ziente Ordnung des kirchlichen Lehramtes als kollektiver Praxis eine kon‐ struktive „Pflege und Fortschreibung des Konsenses über den Spielraum“ ermöglicht, der allen aktuellen Lehrvollzügen von ihrem apostolischen Ur‐ bild her gesteckt ist. 302 Er konstatiert allerdings auch kritisch, dass die Kir‐ chen der Reformation eine „ihren dogmatischen Einsichten voll entspre‐ chende Ordnung“ ihres Lehramtes bis heute nirgends erreicht hätten. 303 6.6 Die Lehre im Leben der Kirche Wie bereits rekonstruiert wurde, bestimmt Herms die Kirche in reforma‐ torischer Tradition als creatura verbi divini, indem er sie als Implikation des Offenbarungsgeschehens versteht. Das Wort Gottes, das die Kirche hervorbringt und erhält, sei „nicht einfach Inbegriff sprachlicher Verlaut‐ barungen, auch nicht der Inbegriff der in der Bibel stehenden Worte oder gar das Bibelbuch selbst und als solches“, sondern das „konkret in über‐ sprachlicher Leibhaftigkeit begegnende Schöpferwort“. 304 Auf der Basis sei‐ ner ‚konkreten Ekklesiologie‘ präzisiert Herms diesen Kirchenbegriff als „Zusammenhang des gemeinschaftlichen und geschichtlich kontinuierli‐ chen Zeugnishandelns derjenigen Menschen, die von Gottes Offenbarung ergriffen und dadurch zur Glaubensgemeinschaft verbunden sind“. 305 Die‐ ses ganzheitliche Zeugnishandeln der Glaubenden vollziehe sich „nicht nur als Sprachhandeln, sondern durch das Ganze der Lebensführung“. 306 Dieses übersprachliche Kommunikationsgeschehen schließe nun notwendig „die sprachliche Artikulation des erinnerten und insofern gegenwartsprägenden Heilsgeschehens“ ein, welche in ihren mannigfaltigen Ausdrucksformen

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Dies entspräche etwa der Theorieperspektive Bourdieus. Herms, Art. Lehramt, 187. Ebd. Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 356. Festzuhalten sei, dass „das Wesen der Kir‐ che in nichts anderem besteht als in der Weise ihres Geschaffen- und Erhaltenwerdens als sie selbst“ (ebd., 354) durch Gottes schöpferisches Wort. „Die Kirche ist in demselben Sinne creatura verbi wie der Glaube“ (Herms, fundamentum fidei, 89). 305 Herms, Lehre, 119. Gefordert werde diese Bezeugung durch das Offenbarungsgeschehen selbst, das Menschen zur „Fortsetzung der Lebensgemeinschaft mit Jesus“ in Form einer „spezifischen Lebensführung-in-Gemeinschaft“ (ebd., 120) befähigt und verpflichtet. 306 Ebd. Vgl. auch Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 358f; vgl. ders., Glaube, 478 f.

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unter den Oberbegriff der christlichen Lehre (trad.: doctrina christiana) gebracht werden könne. 307 Impliziert ist in diesem weiten Lehrbegriff immer schon ein sozialer „Lehrvollzug“, durch den der „Gegenstandsbezug“ des Glaubenszeugnisses „nachgezeichnet und artikuliert“ werde. 308 Die Vermittlung der christli‐ chen Lehre sei ein soziales Handeln und als solches eingebettet in den „übersprachlichen Gesamtzusammenhang des christlichen Offenbarungs‐ zeugnisses“ sowie den „Zusammenhang des gesellschaftlichen Lebens über‐ haupt“. 309 Deutlich ist, dass Herms bei diesem weiten Verständnis von christlicher Lehre einen anderen Begriffsgebrauch zugrunde legt als dort, wo er auf die regulative Funktion der Lehre im Rahmen kirchlicher Lehr‐ ordnung fokussiert. 310 Im Ausgang von der mündlichen Predigt, durch die das Wort Gottes als der Christusbotschaft seine Adressaten erreicht, lassen sich unter den vielfältigen Ausdrucksformen christlicher Lehre das „über‐ lieferte kanonische sowie das kanonsgemäße kirchliche Glaubenszeugnis“ ausgrenzen. 311 Diese stehen als Heilige Schrift und kirchliches Bekenntnis in einem spezifisch asymmetrischen Verhältnis. Um einen umfassenden Überblick über die Rolle zu gewinnen, die nach Herms die Lehre im Leben der Kirche ausfüllt, ist zunächst zu rekonstruie‐ ren, welche Funktionen sie für den Glauben der Einzelnen (6.6.1) sowie für die apologetische Auseinandersetzung der Glaubensperspektive mit ver‐ schiedenen Herausforderungen zu erfüllen hat (6.6.2). Anschließend ist die christliche Lehre auf ihren Bezug zum ursprünglichen Offenbarungs‐ geschehen sowie zum Kanon der biblischen Schriften zu befragen (6.6.3). Sind Lehrartikulationen immer darauf angelegt, in einen kirchlichen Kon‐ sens anerkannter und verbindlicher Lehraussagen einzugehen, müssen die sprachlich-formalen und konkret-konfessionellen Bedingungen eines sol‐ chen Konsenses zusammengetragen werden (6.6.4). Schließlich ist darauf einzugehen, welches Verhältnis zwischen der Lehre, dem Wissenschafts‐

307 Herms, Lehre, 121. Vgl. bereits ders., Beitrag, 58. 308 Herms, fundamentum fidei, 82. 309 Herms, Lehre, 121. Vgl. auch ders., Art. Lehramt, 185. Das christliche Lebenszeugnis vergegenwärtige das inkarnierte Gotteswort: „Diese viva vox evangelii hat ihre Ur‐ sprungsgestalt in der Ganzheit des Lebens Jesu Christi; ihre uns erreichende Gegen‐ wartsgestalt ist die Ganzheit des uns umgebenden christlichen Lebens, das durch sich selbst – und d.h. genau: durch seine erlebbare Vollzugsgestalt – davon zeugt, aus jenem Ursprung zu leben“ (Herms, Pfarramt, 208). 310 Dabei schließt er sich an Luther an, der den Begriff der Lehre ebenfalls so weit fasse, dass darin „alle Formen des verbalen Glaubenszeugnisses“ (Herms, fundamentum fidei, 82) eingeschlossen seien. 311 Ebd. Zum biblischen Zeugnis trete die in Lehrformulierungen extrahierte „Summe des biblischen Zeugnisses“ (ebd.) hinzu, wie sie exemplarisch im Katechismus erfasst sei.

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charakter der Theologie und dem Wahrheitsbegriff Herms in seiner Aufga‐ benbestimmung der Dogmatik herstellt (6.6.5). 6.6.1 Lehre als sprachlicher Ausdruck des Glaubens Die Lehre erscheint bei Herms eingebettet in einen sozialen Kommunikati‐ onszusammenhang, in dem der Glaube sich als persönliche Gewissheit über seinen offenbarten Grund ausspricht. 312 Der Begriff bezeichne genauer das‐ jenige „Segment aus der sprachlichen Selbstdarstellung des Glaubens“, das sich direkt „daraus ergibt, daß der Glaube Gewißheit ist“. 313 Aufgrund sei‐ nes Ursprungs in der Selbstvergegenwärtigung Gottes könne der Glaube nur als ein „Bewusstsein von Wahrheit, welches innergesch[ichtlich] un‐ überholbar ist“, existieren. 314 Zum Glauben gehöre daher untrennbar seine „Selbstartikulation und Selbstbezeugung“ durch Wahrheitsbehauptungen, weshalb sich der Glaube notwendigerweise als Lehraussage selbst „bei sei‐ nem Wesen als Wahrheitsbewußtsein“ behafte. 315 Auch die kirchliche Ver‐ kündigung könne sich nicht einfach auf eine „Repetition“ des äußeren Wortes beschränken, da die „zum Inhalt der Offenbarung selber hinzuge‐ hörige geistliche Erscheinung des Klar- und Wahrseins des überlieferten Wortes lehrmäßig mitbezeugt“ werden müsse. 316 Der christliche Glaube als Wahrheitsgewissheit muss sich für Herms also in Lehraussagen ausspre‐ chen, wobei dieser inhärente Wahrheitsanspruch die Sprachform der Lehre von jeder Art Fiktion oder christlicher Dichtung unterscheide. 317 Die Sprachform der Lehre sei nun wie alle sprachlichen Phänomene durch „semantische, pragmatische und syntaktische Züge“ bestimmt. 318 Für die Unverwechselbarkeit der christlichen Lehre sorge ihr semantischer Aspekt, während sie syntaktisch nicht von anderen Sprachformen zu un‐ terscheiden sei. 319 Der semantische Gegenstandsbezug umfasse die „Erzäh‐ lung“ der glaubensbegründenden Offenbarungsgeschichte, damit verbun‐

312 Eine knappe Darstellung seines Lehrverständnisses bietet Herms in seinen einschlägigen Artikeln für die 4. Aufl. der RGG, vgl. Herms, Art. Lehre; vgl. ders., Art. Lehramt; vgl. ders., Art. Lehrautorität; vgl. ders., Art. Dogma. 313 Herms, Art. Lehre, 201. 314 Ebd. Vgl. Herms, Pfarramt, 223. 315 Herms, Art. Lehre, 201. „Weil der Glaube die skizzierte Gewißheit, das skizzierte Wahr‐ heitsbewusstsein ist, muß er sich in L[ehre] artikulieren“ (ebd.). 316 Herms, Lehre, 134. Herv. TG. 317 Vgl. Herms, Art. Lehre, 201. 318 Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. 319 Vgl. ebd. Allgemein sei die Lehre durch das Vorherrschen der „diskursiv-argumentie‐ rende[n]“ Sprachform charakterisiert, doch weise sie daneben immer auch mehr oder weniger starke „narrativ-deskriptive Züge“ (ebd.) auf.

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den konkrete „ontologische Aussagen“ über die „universale Prozeßstruk‐ tur unseres geschaffenen welthaften Lebens“ sowie die persönliche Zumu‐ tung an die Einzelnen, sich dem Offenbarungsgeschehen „in Freiheit hin‐ zugeben“. 320 Diesen drei semantisch bestimmten Aussagekomplexen ent‐ sprechen im theologischen „Schulbetrieb“ die Disziplinen der Fundamen‐ taltheologie, der Dogmatik und der Ethik. 321 Jede dieser Disziplinen sei auf einen wesentlichen „Aspekt des Offenbarungsgeschehens“ gerichtet und thematisiere das Ganze der Lehre „in je spezifischer Weise“. 322 Die Fun‐ damentaltheologie betrachte das Offenbarungsgeschehen unter dem for‐ malen Aspekt, dass dieses „den Glauben befähigt und verpflichtet, seinem Zeugnis von der Offenbarung auch die Gestalt von L[ehre] zu geben“. 323 Gleichzeitig lege sie das Offenbarungsgeschehen selbst als „Kriterium für die Angemessenheit (Wahrheit) des Inhalts“ christlicher Lehrartikulatio‐ nen an. 324 Durchgängig sei nämlich festzuhalten, dass der offenbarte Grund und Gegenstand des Glaubens jeder Lehrartikulation „definitiv vorgege‐ ben, überlegen und unverfügbar“ bleibe und daher „nur angemessen zu bezeugen, aber nie in sie einzuholen“ sei. 325 Neben diesem Gebrauch als fundamentaltheologischer Reflexionsbegriff sei die Lehr zudem im The‐ menbestand der Dogmatik enthalten. Zur dogmatischen Aufgabe gehöre, die Lehre als „wesentliches Element im Leben jedes einzelnen Glaubenden und der Glaubensgemeinschaft im ganzen“ zur Geltung zu bringen. 326 Die Selbstvergegenwärtigung der Wahrheit Gottes berechtige und verpflichte „jeden Glaubenden und die Kirche im Ganzen auch zur Lehre im geord‐ neten Vollzug“. 327 Schließlich habe die Dogmatik auch die notwendigen Institutionen der Lehre auszuarbeiten und die Grundsätze für die „Teil‐ habe aller Glaubenden am Lehramt der Kirche“ darzulegen, damit sich die Ordnung der Kirche daran orientieren könne. 328 Innerhalb des Gesamtzusammenhangs der christlichen Lehre und ihrer Vermittlungsvollzüge lassen sich nach Herms vier verschiedene Kreise von

320 321 322 323 324 325

Ebd., 201 f. Ebd., 202. Ebd., 203. Ebd. Ebd. Ebd., 203 f. Für die Wiedergewinnung dieser reformatorischen Einsicht, die die protes‐ tantische „Schulorthodoxie tendenziell verkannt“ (ebd., 204) habe, verweist Herms auf F. Schleiermacher, K. Barth und R. Bultmann. 326 Ebd. 327 Vgl. Herms, Art. Lehramt, 186. Vgl. auch ders., Art. Lehrautorität, 192 f. 328 Herms, Art. Lehre, 204. Die systematisch hier anschließende ethische Bedeutung der Lehre wird aufgrund der hier leitenden Fragestellung nicht gesondert behandelt, vgl. dazu ebd., 204 f.

Die Lehre im Leben der Kirche

Lehre abheben, die sich jeweils auf einen bestimmten Adressatenkreis in‐ nerhalb der kirchlichen Öffentlichkeit beziehen. Die erste, grundlegende und umfassende Form christlicher Lehre sei diejenige, die „für die Lebens‐ führung jedes getauften und glaubenden Menschen unverzichtbar ist“. 329 Diese betreffe „den einen Sachverhalt“, der als der „eine und allbefassende Gegenstand christlicher Lehre“ zu gelten habe, nämlich: „die durch die Of‐ fenbarung der Gnade geschaffene Freiheit des Glaubensgehorsams“ und damit die Bestimmung der Praxissituation christlicher Freiheit als eines von Gott her konstituierten und begrenzten Handlungsspielraums. 330 Sie sei für die anderen Kreise schlechthin fundamental, weil die so artikulierte Glaubensgewissheit für die einzelnen Christinnen und Christen die Basis ihrer Kirchengliedschaft darstelle und allen Positionsdifferenzen innerhalb der Kirche vorangehe. 331 Abgeleitet von dieser Grundform sei zweitens der Zusammenhang der Lehre, der das seelsorgerliche Handeln der Amtsträger im öffentlichen Predigtamt zu orientieren vermag. Dieser sei schwerpunkt‐ mäßig soteriologisch ausgerichtet und traditionell in Form der analytisch am ordo salutis ausgerichteten Dogmatik ausgestaltet. 332 Drittens sei auch eine positionsspezifische Gestalt von Lehre erforderlich, die das leitende Amt in der Kirche dazu befähige, „die Spielräume kirchlichen Lebens und Lehrens so offen zu halten“, dass die Identität der Gemeinschaft und die Fle‐ xibilität der Einzelnen in einem angemessenen Gleichgewicht bleiben. 333 Hier treten thematisch Ekklesiologie und Geschichtstheologie in den Vor‐ dergrund. Allgemein, aber gerade mit Blick auf diese dritte Funktion der Lehre sei wichtig, dass diese samt ihrer Prinzipien einsichtig sei und den jeweiligen Adressaten „in einer entscheidungskräftigen Distinktheit und Klarheit“ vor Augen stehe. 334 Insbesondere diese Anforderung an die angemessene Sprachgestalt der Lehre verweise wiederum auf die vierte Gestalt, die für Herms besonders mit der „Funktionsposition der akademischen Theologie“ verbunden ist. 335 Diese stelle für die Kirche einen institutionellen „Ort der Überlieferung, der Entwicklung und des Erwerbs“ der hermeneutischen und sprachlichen Disziplin bereit, die für den kompetenten Umgang mit der Lehre und da‐ mit auch die Kirchenleitung erforderlich sei. 336 Gerade im Namen dieser

329 330 331 332 333 334 335 336

Herms, Lehre, 140. Ebd. Vgl. ebd., 141. Vgl. ebd., 141 f. Ebd., 142. Ebd. Ebd. Ebd., 155.

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unverwechselbaren und unvertretbaren Dienstfunktion dürfe die akademi‐ sche Theologie nicht selbst den Anspruch erheben, die Lösung einzelner vor Ort zu bewältigender Aufgaben vorgeben zu können. 337 Denn allge‐ mein gelte in der Kirche: „Daß die verschiedenen Positionen sich gegensei‐ tig entlasten, ist nur in dem Sinne richtig, daß sie sich gegenseitig zur Wahr‐ nehmung ihrer spezifischen Aufgaben befähigen“. 338 Dies betreffe nicht zu‐ letzt die Zuordnung von allgemeinem Priestertum und ordiniertem Amt, aber analog auch das Verhältnis von akademischer Theologie und Kirchen‐ leitung. 6.6.2 Die Dynamik und Strittigkeit der Lehre Aufgrund der „Einheitlichkeit ihres Gegenstandsbezugs“ bilden für Herms alle sprachlichen Artikulationen, die innerhalb der Glaubensgemeinschaft Geltung beanspruchen, trotz ihrer „mannigfaltigen funktionsspezifischen Ausgestaltungen“ ein in sich differenziertes Ganzes. 339 Damit erscheint die kirchliche Lehre als System, das sich in seiner Gesamtheit auf das Prin‐ zip des Offenbarungsgeschehens zurückführen lässt. Allerdings realisiere sich diese ursprüngliche Gesamtheit wiederum in einzelnen Gattungen der Lehre, die jeweils einem spezifischen „Sitz im Leben“ im Sinne eines „in‐ stitutionellen Zwecks“ im Leben der Kirche entsprechen. 340 Als übergrei‐ fende „Zweckzusammenhänge“ der Lehre erscheinen einerseits die inner‐ gemeindliche Selbstverständigung mit ihren „in glaubenskommunikativer Absicht“ formulierten Aussagen, andererseits die Apologetik als werbende Rechenschaft über die christliche Wahrheitsgewissheit. 341 Ziele die Bin‐ nenkommunikation der Gemeinde primär auf die „erinnernde Darstellung der geschehenen Offenbarung“, wolle die außen gerichtete, apologetisch‐ missionarische Kommunikation der Kirche die Offenbarung „vor der Welt und für sie verständlich“ bezeugen. 342 Jeder dieser zwei Grundausrichtun‐ gen korrespondiere ein bestimmter Themenbestand der Lehre, der sich jeweils aus der gemeinsamen Orientierung am Grund aller Lehrbildungen – dem Offenbarungsgeschehen – und der spezifischen Funktion im Lebens‐ zusammenhang der Kirche ergebe.

337 338 339 340

Vgl. ebd., 143. Ebd. Herv. im Orig. Ebd., 121. Herms, Art. Lehre, 202. Herms spricht diesbezüglich auch von elementaren „Kommu‐ nikationsbedürfnissen“ (Herms, Lehre, 121) der Kirche. 341 Herms, Art. Lehre, 202. Vgl. auch ders., Art. Apologetik. 342 Herms, Lehre, 122.

Die Lehre im Leben der Kirche

Der eine Typ der Lehre, der der Selbstverständigung der Gemeinde über ihre kommunikativen Vollzüge diene, müsse neben einer Verständigung über den Inhalt des Offenbarung insbesondere eine „Lehre über den Voll‐ zug des christlichen Offenbarungszeugnisses und über seine Subjekte“ ent‐ halten. 343 Werde hier neben dem Inhaltsaspekt des Offenbarung auch ihr Geschehensaspekt ausdrücklich reflektiert, dann bedeute dies eine Erweite‐ rung um die „Lehre von den Vollzugsweisen und den Subjekten des Offen‐ barungszeugnisses“ – also etwa den Themenbestand der Ekklesiologie. 344 Kann Herms hinsichtlich der innerkirchlichen Kommunikationsvollzüge wiederum drei verschiedene Grundzwecke unterscheiden – Unterweisung, Predigt und Pflege des Lehrkonsenses –, entspreche die Lehre diesen kirch‐ lichen Bedürfnissen wiederum durch die Ausdifferenzierung in verschie‐ dene Untergattungen. 345 Dazu gehören erstens die Katechese, die auf die Reproduktion der Glaubensgewissheit bezogen sei, und zweitens die auf Seelsorge bezogene Lehre, die der individuellen Vertiefung und Befestigung des Glaubens angesichts intellektueller oder praktischer Herausforderun‐ gen diene. Drittens könne die Lehre auf die Kommunikation des Zeugnisses „in der Öffentlichkeit des Kultus“ sowie damit zusammenhängend viertens auf die „Anleitung und Einübung von zukünftigen Amtsträgern“ bezogen sein. 346 Fünftens und letztens könne sie „zum Zweck einer konsensfähigen, als Konsens akzeptierten und insofern verbindlichen Klärung von Wahr‐ heitsfragen“ dargestellt werden, was wiederum auch für die vier anderen Bedürfnisse von Bedeutung sei. 347 Auch zwischen diesen verschiedenen kirchlichen Lehrgattungen unterscheide sich der Umfang und Inhalt des‐ sen, was als Lehre thematisch und artikuliert werden müsse. In innerem Zusammenhang mit der adressaten- und themenbezogenen Unterscheidung zwischen Binnenkommunikation und Apologetik steht bei Herms eine zweite, die das „Verhältnis der christlichen Lehre zum Glauben“ betrifft. 348 So unterscheidet er zwischen den affirmativen Aussagen von Verkündigung und Bekenntnis, bei denen immer die Hoffnung der Spre‐ chenden mitgesetzt ist, dass ihr Gehalt durch das Wirken des Geistes auch den Hörenden „für den Glauben bewährt und verbindlich gemacht“ werde, und den reflexiv-theoretischen Aussagen der Theologie, welche den Glauben schon voraussetzen und lediglich sekundär entfalten. 349 Allerdings handle 343 344 345 346 347 348 349

Ebd., 124. Ebd., 125. Vgl. Herms, Art. Lehre, 202 f. Ebd., 202. Ebd. Herms, Lehre, 122. Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. Mit diesen Unterscheidungen kann für Herms der sachliche Grund für die gattungsmäßige Differenz zwischen Kerygma und theologischer Theorie

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es sich hier nicht um einen strikten Gegensatz, sondern um eine Un‐ terscheidung verschiedener „Aussagezusammenhänge“ innerhalb der Ge‐ samtheit christlicher Lehrvollzüge. 350 Der Unterschied zwischen Theologie und Verkündigung ist für Herms also darin begründet, dass die Theologie anders als die Verkündigung immer die Glaubensgewissheit der Beteiligten voraussetze und deren Selbstverständnis nachdenke, deshalb aber auch nur indirekt zum Glauben einlade. Warum aber ist die Lehre, in der sich der christliche Glaube als Wahr‐ heitsgewissheit ausspricht, dann auch innerhalb der Kirche strittig? Herms sieht mit der Unterscheidung zwischen Gottes Werk und dem Werk des Menschen zugleich immer schon eine „Mannigfaltigkeit der Formen christ‐ licher Lehre“ gesetzt. 351 Diese notwendige Unterscheidung verweise auf die unhintergehbare Differenz zwischen der „Vorgegebenheit von Gegen‐ stand und Gegenstandsbezug der christlichen Lehre für sie selber“, wie sie mit dem Offenbarungsbegriff zum Ausdruck gebracht werde, und dem „Produziertsein schlechthin aller verschiedenen Gestalten der christlichen Lehre durch das Sprachhandeln glaubender Menschen“. 352 Diese Differenz begründe nicht nur die Existenz konkurrierender Ausdrucksgestalten der Lehre, sondern impliziere auch, dass die Lehre „in jeder derartigen Ge‐ stalt intersubjektiv strittig“ werden könne. 353 In diesem Streit gehe es im‐ mer auch um die sachgemäßen „Kriterien für die Unterscheidung des in Wahrheit Christlichen von dem nur scheinbar Christlichen“. 354 Gerade an‐ gesichts dieser Strittigkeit müsse allerdings jedes authentische Zeugnis des Offenbarungsgeschehens einen plausiblen Anspruch auf allgemeine Zu‐ stimmung in der Gemeinschaft der Glaubenden erheben können. 355 Die Geschichte der Dogmenentwicklung, die in dieser Differenz zwi‐ schen der göttlichen Offenbarung und ihrer menschlichen Bezeugung ihr treibendes Prinzip habe, sei somit gekennzeichnet durch die „dauernde Su‐ chen nach dem Konsens über die richtige Lehre“ sowie – idealerweise – das „Bemühen um die Wahrung, Erweiterung und Vertiefung des gefundenen

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angegeben werden, auf den Rudolf Bultmann das Augenmerk gelenkt hatte, siehe oben unter c). Ebd., 123. Die altprotestantische Ausgliederung sog. Fundamentalartikel werde mit Hilfe dieser Unterscheidungen verständlich: Dieser Begriff bezeichne Aussagen der theologischen Theorie, die für den Glauben selbst Geltung als zum Glaubensgegenstand gehörig beanspruchen, vgl. ebd., Anm. 4. Ebd., 126. Ebd. Herv. im Orig. Ebd. Herv. im Orig. Herms, Heilige Schrift, 165. Vgl. Herms, Lehre, 126.

Die Lehre im Leben der Kirche

Konsenses im dauernden kritischen Hören auf die Offenbarung selber“. 356 Aufgrund der „Komplexität“ ihres Gegenstandes sei es für die christli‐ che Lehre charakteristisch, dass sich jeder Konsens nur im sukzessiven Durchgang durch verschiedene geschichtliche Gestalten herausbilde, wobei Lehraussagen immer nur deshalb „Gegenstand einer förmlichen Konsens‐ entscheidung“ werden, „weil und wenn sie zuvor Gegenstand des Streites gewesen sind“. 357 Die Dogmengeschichte als Konfliktgeschichte gliedert Herms dabei im Ausgang von seiner Unterscheidung von Inhalts- und Geschehensaspekt in zwei Phasen: Zur Zeit der Alten Kirche sei zunächst der Inhaltsaspekt der Offenbarung strittig gewesen, was zu den dogmati‐ schen Fixierungen von Trinitätslehre und Christologie geführt habe. In der Reformationszeit habe sich die Auseinandersetzung dagegen auf den Ge‐ schehensaspekt der Offenbarung und insbesondere die Vollzugsweisen des Offenbarungszeugnisses verlagert. Strittig waren nun das kirchenleitende Handeln, dessen Subjekte sowie nicht zuletzt „die allgemeinen Probleme des im Leben der Kirche bestehenden Bedarfs an Lehre und seiner Deckung selbst“. 358 Dieser Streit sei grundsätzlich noch immer unentschieden, da bisher keine der im Zuge dieser Streitigkeiten entwickelten Lehrgestalten mehr als nur partikularkirchliche Geltung erreicht habe. Mit Blick auf die Gegenwart und jüngere Vergangenheit beobachtet Herms schließlich eine erneute Verlagerung, da es zunehmend zu schwerwiegenden Differenzen in Fragen der ethischen Orientierung komme, die „die Glaubensgemeinschaft in Frage stellen“. 359 Mit dieser innerkirchlichen Dynamik der Lehrbildung ist bei Herms seit der Alten Kirche untrennbar auch die apologetische Verteidigung der Lehre nach außen verbunden, die ihrerseits auf die konstitutive Strittigkeit der Lehre verweist. Für die „inhaltliche Vollständigkeit des lehrmäßigen Offen‐ barungszeugnisses“ sei schließlich notwendig, dass dieses auch assertorisch als „Inhalt eines gegenwärtigen Wahrheitsbewußtseins“ vertreten werde. 360 Nur unter der Bedingung, dass eine selbständige Aneignung der christli‐ chen Wahrheit im Horizont der jeweils gegenwärtigen Welterfahrung statt‐ gefunden habe, könne das „Hantieren mit leeren Sprachhülsen“ vermieden 356 Ebd. Allein die tatsächliche Übereinstimmung mit der ursprünglich bezeugten Offen‐ barung könne dabei „als wirksamer Grund eines jeden solchen Konsenses über die Richtigkeit einer Lehre“ gelten (ebd.). 357 Ebd., 126 f. Herv. im Orig. 358 Ebd., 127. Herv. im Orig. 359 Herms, Art. Lehramt, 188. Eine ethische Häresie sei „nicht leichtfertig“ (ebd.) zu konsta‐ tieren, aber grundsätzlich genau wie eine dogmatische Häresie zu behandeln. Zu diesem Thema der Möglichkeit einer ethischen Häresie ausführlich, aber mit anderem Ergebnis vgl. Honecker, Denkschriften. 360 Herms, Lehre, 134. Im Orig. teilw. kursiv.

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und das Zeugnis zugleich ganz im Vertrauen auf die „Autorität der Sache selbst“ vertreten werden. 361 Diese apologetische Aufgabe stelle sich in ver‐ schärfter Weise, seit infolge der „Umwälzungen des Natur- und Geschichts‐ verständnisses“ im 17. und 18. Jahrhundert der „Wahrheitsanspruch des Evangeliums in die offene Auseinandersetzung eintritt mit allen anderen an die Menschen herantretenden geschichtlichen Wahrheitsansprüchen“. 362 Neben den kirchlichen Streit um das authentisch Christliche tritt damit die Auseinandersetzung mit außerchristlichen Weltanschauungen. Ihre Ein‐ sicht in die Unverfügbarkeit der Glaubensgewissheit verbiete der Kirche nun, „eine Einschränkung oder gar Beseitigung dieser Auseinanderset‐ zung und ihrer unverfügbaren geistlichen Dynamik“ anzustreben. 363 Der „geistliche Streit um die Wahrheit“, im Zuge dessen die christliche Lehre konkurrierende Wahrheitsansprüche „entweder bestätigend integriert oder als evidentermaßen nichtig abweist“, müsse vielmehr ausgehalten und in institutionalisierte Formen überführt werden. 364 Dabei sei die christliche Apologetik aufgrund ihrer Einsicht in die Konstitution von Wahrheitsge‐ wissheit „aller zur Zustimmung zwingenden oder verpflichtenden Mittel des logischen Verweisens und des Erzeugens experimenteller Evidenz be‐ raubt“. 365 Sie hat es somit nur mit der äußeren Klarheit und Kohärenz ihres Zeugnisses für die ihr vorgegebene und unverfügbare Wahrheit zu tun. Ein Sonderfall der Strittigkeit der Lehre ist für Herms der ökumenische Dialog zwischen den Kirchen. Ungeachtet der Differenzen im Lehrbestand verpflichte das Ursprungsgeschehen der Kirche jede Partikularkirche, „alle anderen Regionalkirchen, welche die Zeichen der wahren Kirche aufweisen, als wahre Glieder in der weltweiten Einheit der Christenheit“ anzuerkennen und darauf hinzuwirken, dass untereinander „Kirchengemeinschaft erklärt, geordnet und praktiziert wird“. 366 Die gemeinsame Ausrichtung auf die eine Wahrheit erfordert für Herms nicht nur die Achtung aller „Klarstel‐ lungen, die förmlichen Konsens gefunden haben“, sondern auch die Be‐

361 Herms, Pfarramt, 223. Unbedingt zu vermeiden sei dagegen, sich auf die Autorität des Amtes zurückzuziehen oder auf das persönliche Charisma zu berufen, vgl. Herms, Lehre, 135. 362 Ebd., 145 f. Vgl. auch ders, Art. Apologetik, 625. 363 Herms, Lehre, 146. 364 Ebd. 365 Herms, Art. Apologetik, 624. 366 Herms, Lehramt, 276. Dieser ökumenische Imperativ ergebe sich bereits aus dem satis est aus dem Art. VII des Augsburger Bekenntnisses und habe sich in besonderer Weise in Ordnung niedergeschlagen, die sich die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa auf Grundlage der Leuenberger Konkordie gegeben habe, vgl. ebd., 277–278; vgl. auch Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 362. Zur Leuenberger Konkordie siehe auch un‐ ten, 6.7.3.

Die Lehre im Leben der Kirche

harrlichkeit, auf der Korrektur eines jeden Konsenses zu bestehen, der sich „als sachlich falsch und korrekturbedürftig“ erwiesen habe. 367 Dies sieht Herms etwa bei der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 gegeben, während die Leuenberger Konkordie von 1973 als positives Beispiel gelten kann. Die Strittigkeit der Lehre in all ihren Ausdrucksformen sowie deren Selbstunterscheidung vom unwandelbaren Grund und Gegenstand des Glaubens ermöglichen Herms, eine Dynamik innerhalb der Lehrentwick‐ lung und eine schrittweise Präzisierung ihrer Artikulationsgestalten an‐ gesichts innerer wie äußerer Herausforderungen zu bejahen. Gleichzeitig wird das Ursprungsgeschehen der Offenbarung aus dem Streit um die Lehre ausgegrenzt, so dass es als dauerhaftes Korrektiv und externer Wahrheits‐ bezug wirken kann. Weil Herms dieses ursprüngliche Offenbarungsgesche‐ hen in Christus direkt mit der Konstitution der Wahrheitsgewissheit am Ort des Einzelnen parallelisiert, ist aber auch die subjektive Gewissheit des Glaubens der Strittigkeit – wie auch dem Zweifel und einer ernsthaften Infragestellung durch Argumente – enthoben. Der geistliche Streit um die Wahrheit findet somit als Streit um sprachliche Artikulationen der christ‐ lichen Gewissheit vor dem Forum der Öffentlichkeit statt, während die persönliche Glaubensgewissheit selbst davon unbeeinflusst bleibt. Dies wie‐ derum begründet für Herms ein unantastbares Recht des Einzelnen, sich dem Konsens zu entziehen – sofern dieser von der eigenen Glaubensgewiss‐ heit her als nicht sachgemäß durchschaut ist. Es gehört somit zu einem an‐ gemessenen Lehrbegriff, hier eine Selbstbegrenzung der Lehre einzuzeich‐ nen. Diese könnte beispielsweise einen Gewissensvorbehalt gegenüber der Verbindlichkeit innerkirchlicher und ökumenischer Konsenserklärungen einräumen sowie ein Überwältigungsverbot für alle apologetischen Ausein‐ andersetzungen aussprechen. 6.6.3 Der Offenbarungs- und Schriftbezug der Lehre Aus ihrem durch die Glaubensgewissheit vermittelten semantischen Be‐ zug zum Offenbarungsgeschehen erwachsen für Herms die Einheit und der Wahrheitsanspruch der Lehre, aber aus ihrer Selbstunterscheidung von diesem Geschehen lassen sich zugleich ihre Strittigkeit und die Grenze ihrer Autorität ableiten. Wenn bei Herms die christliche Lehre ihre Unverwech‐ selbarkeit allein aus ihrem semantischen Bezug auf das Offenbarungsge‐ schehen der göttlichen Selbstvergegenwärtigung anhand des menschlichen

367 Herms, Art. Lehre, 203. Freilich sei dabei immer konstruktiv auf einen „verbesserten Konsens“ (ebd.) hinzuarbeiten.

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Christuszeugnisses bezieht, dann ist diese Beziehung der Lehre zu ihrem Grund und Gegenstand genauer zu klären. Erstens ist dabei zu bestimmen, wie die Offenbarung als Einheitsgrund und kritisches Korrektiv der Lehrge‐ stalten wirken kann. Und es ist zweitens zu begründen, weshalb bestimmten Artikulationen dieses Zeugnisses – etwa den biblischen Schriften – in hö‐ herem Maße verbindliche Geltung zukommt als anderen. Drittens ist nach einer internen Hierarchie dieser Zeugnisse zu fragen, bevor viertens aus diesen kanonischen Artikulationen selbst zu erheben ist, wie sie auszulegen und zur Entscheidung von Lehrfragen zu gebrauchen sind. a) Das Offenbarungsgeschehen und seine Vergegenwärtigung als fundamentum fidei Der christliche Glaube versteht sich selbst laut Herms als immer schon in‐ haltlich bestimmt durch die „Aussagen der christlichen Botschaft“ – und damit durch das Offenbarungsgeschehen selbst, das in diesen zur Spra‐ che komme und affirmativ bezeugt werde. 368 Dem Offenbarungsgeschehen selbst komme eine „prozessuale, dynamische“ Einheit zu, es sei als Grund des Glaubens „schöpferisch-gründend“. 369 Die Einheit der Lehre gründe daher – vermittelt über den Gegenstandsbezug des Glaubens – im heilsöko‐ nomischen Offenbarungswirken und letztlich der immanent-trinitarischen Einheit Gottes. Alle Themen kirchlicher Lehre seien daher „Implikate eines einzigen Themas“: des Handelns Gottes an seinem Geschöpf, durch wel‐ ches der Glaube geschaffen wird und zu seinem Gegenstand kommt. 370 Für die „einzelnen wahren Aussagezusammenhänge und Stücke der kirchlichen Lehre“ sei daher bestimmend, dass sie im Gesamtzusammenhang der Lehre „von allen anderen Stücken verschieden, ebendeshalb aber auch auf sie alle bezogen“ seien. 371 Laut Herms bezieht jedes Lehrstück seine Bestimmtheit daraus, dass es auf andere Lehrstücke bezogen und darin zugleich von ihnen unterschieden sei, worin wiederum das „Verhältnis jedes Lehrstücks zum fundamentum fidei“ seine spezifische Gestalt gewinne. 372 Die Gesamtheit

368 Der christliche Glaube bringe schon im Osterzeugnis der Jünger, aber insbesondere im Apostolikum „sein eigenes Sein als Effekt seines Fundamentes, als Werk des fundamen‐ tum fidei“ (Herms, fundamentum fidei, 82) zur Sprache, womit er das Geschehen der „opera trinitatis ad extra in ihrer Unterschiedenheit, aber Ungetrenntheit“ (ebd., 84) meint. Vgl. auch Herms, Heilige Schrift, 166 f. 369 Herms, fundamentum fidei, 85. 370 Ebd., 94. 371 Ebd., 81. 372 Ebd. Mit dem fundamentum fidei greift Herms eine Wendung auf, die prominent im Ökumenismusdekret Unitatis Redintegratio begegnet, vgl. DH 4192. Er übersetzt diesen Terminus mit der Formel „Grund und Gegenstand des Glaubens“ (ebd.), die er wie‐

Die Lehre im Leben der Kirche

der Lehre nehme also die Gestalt eines relational bestimmten Systems an, was auch für ihre Darstellung zu berücksichtigen sei. Da die kirchliche Lehre den Glauben zur Sprache bringe, vertrete sie un‐ weigerlich dessen Wahrheitsanspruch in lehrhafter Ausdrucksgestalt – sie beanspruche, „wahre Aussagen über die Selbstvergegenwärtigung des drei‐ einigen Gottes“ zu artikulieren. 373 Dennoch eigne ihr niemals selbst eine „Autorität, die zum Gehorsam des Glaubens verpflichtet“, oder gar eine Unfehlbarkeit, wie sie allein vom „Gewißsein des Glaubens selbst“ ausge‐ sagt werden könne. 374 Diese Autorität und dieser Wahrheitsanspruch der Lehre sind für Herms abgeleitet von der Selbstoffenbarung Gottes im ur‐ sprünglichen, in der Konstitution des Glaubens den Einzelnen jeweils neu vergegenwärtigten Offenbarungsgeschehen. Der Gottesdienst als der „zentrale Gemeinschaftsvollzug“ der Kirche vollziehe nun seit urchristlicher Zeit die „Weitergabe des Zeugnisses über dasjenige geschichtliche Offenbarungsgeschehen (Erschließungsgesche‐ hen), das Gott an einem unverwechselbaren Ort in der Menschheits‐ geschichte gewährt hat“. 375 Nur diese „geschichtliche Weiterwirkung“ ermögliche, dass das Offenbarungsgeschehen einen geschichtlichen Effekt entfalten, eine dauerhafte Gemeinschaft stiften und immer neu Glau‐ ben begründen könne, wo immer das unverfügbare Geistwirken es den Empfängern der Offenbarung anhand dieses Offenbarungszeugnisses vergegenwärtige. 376 Die Kirche ist daher für Herms nicht nur nach katholi‐ schem, sondern auch nach reformatorischem Verständnis „im ganzen und wesentlich Zeugnisgemeinschaft und damit Traditionsgemeinschaft“. 377 All ihre gottesdienstlichen Vollzüge und damit auch ihre Lehre sind nun als Überlieferungzusammenhang an ihrer Ursprungstreue zu messen, was

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derum als Chiffre für das Offenbarungsgeschehen gebraucht. Anders als Luther habe die altprotestantischen Schultheologie das aristotelische Wissenschaftsverständnis über‐ nommen und das fundamentum fidei et ecclesiae direkt mit der Schrift identifiziert, vgl. Herms, Heilige Schrift, 162. Trotz dieser Verschiebung sei die altprotestantische Theologie ihrem Selbstverständnis nach immer doctrina practica geblieben, während die Kirchenleitung „wesentlich die Verantwortung für die Ordnung der doctrina mit umfaßt“ (ebd., 163, Anm. 5) habe. Herms, fundamentum fidei, 93. Ebd. Dies schließe einerseits eine „Hochschätzung des Amtes der Evangeliumsverkün‐ digung“ ein, aber andererseits auch die Unmöglichkeit einer „Selbstüberordnung der Autorität des Amtes über die Autorität der Offenbarung selbst“ (ebd., 94). Herms, Heilige Schrift, 168. Die bezeichnenden Worte bzw. Wortstämme für diesen Vollzug lauten griech. παράδοσις/παραδιδόναι, hebr. ‫מסר‬, lat. traditio. Zur allgemein‐ semiotischen Struktur von Traditionsprozessen und deren Angewiesenheit auf ein un‐ verfügbares Evidentwerden vgl. ebd., 169, Anm. 21. Ebd., 169. Herv. im Orig. Ebd., 170.

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wiederum auf die Schrift als maßgebender Richtschnur – so die hier einschlägige Bedeutung von ‚Kanon‘ – dieser kirchlichen Überlieferung verweise. b) Die Schrift als Kanon der Überlieferung Nach dem reformatorischen Schriftprinzip (sola scriptura) sind alle kirch‐ lichen Traditionen an der Schrift zu prüfen und alle verbindlichen Lehr‐ aussagen aus der Schrift herzuleiten. Die Schrift gelange allerdings auch nach reformatorischem Verständnis „nur durch Interpretation hindurch zu kirchlicher Wirkung“. 378 Der durch die Verkündigung interpretierte bibli‐ sche Text sei außerdem noch einmal zu unterscheiden vom Wort Gottes in seiner äußeren Gestalt, wie Herms mit Blick auf die Sakramente festhalten möchte und in seinen Beiträgen zur Schriftlehre zunehmend deutlich zum Ausdruck bringt: „Nach Einsicht der Reformation ist die konkrete Gestalt dieses äußeren Wortes eine leibhaft-ganzheitliche und das heißt übersprachliche. Seine feste Form ist die schriftund damit auch ursprungsgemäße Feier des Herrenmahles, also die Erfüllung des Gründonnerstagsgebotes im Lichte der Osteroffenbarung, einschließlich der dazu gehörigen Christusverkündigung, nicht jedoch die Schrift bloß als solche.“ 379

Daher gelte hinsichtlich der Schrift: „Getrennt von dieser Praxis ist sie ein toter Buchstabe“. 380 Laut Herms wollten die Reformatoren durch das Prinzip sola scriptura daher auch keinesfalls Schrift gegen Tradition aus‐ spielen. 381 Im Hintergrund stehe vielmehr ein „positives Interesse an der kirchlichen Tradition und ihrer Reinheit“, die durch eine verlässliche Me‐ thode zur „Klärung von Streitigkeiten hinsichtlich Lehre und Ordnung der Kirche“ gewährleistet werden sollte. 382 Strittig sei zwischen den Konfes‐ sionen also lediglich, ob „im Zweifelsfall die in Schriftform vorliegenden Kriterien der Heiligen Schrift den Kriterien der Tradition überzuordnen sind“. 383 Um die reformatorische Überordnung der Schrift zu plausibili‐ sieren, müsse folglich gezeigt werden, „daß und inwiefern der ‚Tradition‘

378 Herms, Lehre, 152. Herms bezieht sich hier auf Martin Chemnitz und sein kontrovers‐ theologisches Werk Examen Concilii Tridentini. Die Schrift allein sei nach reforma‐ torischem Verständnis das „Richtmaß der Überlieferung“ (Herms, Schrift als Kanon, 391), was auch die altkirchlichen Bekenntnisse und reformatorischen Bekenntnisse ein‐ schließe. Zur Formel aus 1Clem 7,2 vgl. ausführlich Herms, Heilige Schrift, 174 f. 379 Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 375. Herv. im Orig. 380 Ebd. Jeder „heilsame Gebrauch der Schrift in nichtgottesdienstlichen Situationen“ (ebd., Anm. 48) lebe von seinem Bezug auf den gemeindlichen Gottesdienst. 381 Vgl. Herms, Heilige Schrift, 164, bes. Anm. 9. 382 Herms, Offenbarung, 214. 383 Herms, Heilige Schrift, 164.

Die Lehre im Leben der Kirche

genannte geschichtliche Lebensvorgang von sich aus nach einem Inbegriff von ihn steuernden Kriterien, also nach einem Kanon verlangt“. 384 Eine solche Norm sei deshalb notwendig, weil die gemeinschaftliche Wei‐ tergabe des Offenbarungszeugnisses schlechthin grundlegend und vorgän‐ gig gegenüber jeder „individuell-persönlichen Form“ der Bezeugung sei. 385 Die „Gemeinschaftlichkeit der Form des Weitergebens“ mache es erfor‐ derlich, diesem Zeugnis eine „über die Generationen hinweg verbindliche, unveränderliche Sprachform“ und zugleich dem Rahmen dieses Zeugnisses die „über die Generationen hinweg unveränderliche Form eines kultischen Vollzuges“ zu geben. 386 Sei allen Glaubenden gemeinschaftlich aufgetra‐ gen, über der „Treue des gemeinschaftlichen Weitergebens“ zu wachen, benötigen sie dafür das Kriterium eines Maßstabs oder Kanons, das die Ursprungstreue der Überlieferung bestimmbar macht. 387 Hier identifiziert Herms eine reflexive Struktur des Überlieferungsprozesses: „Indem das Überlieferte Maßstab, Kanon ist, kann es gar nicht anders als Maßstab zu sein für die Praxis der Gemeinde, und zwar genau für ihre Praxis des Überlieferns, nämlich des Weitergebens des Überlieferten“. 388 Die jeweils aktuelle Überlieferung müsse sich an der geschehenen Überlieferung und deren Anspruch messen lassen, während das Überlieferte nur im Gebrauch als kritische Richtschnur innerhalb eines fortlaufenden Kommunikations‐ prozesses fortwirken könne. Allein die schriftliche Fixierung dieses Maßstabs ermögliche nun „eine von den Irritationsmöglichkeiten der Mündlichkeit möglichst wenig be‐ lastete Festigkeit“. 389 Bereits die urchristliche Kommunikation konnte mit 384 Ebd., 165. Herms fordert daher, die „falsche Opposition gegen die römisch-katholische Sicht“ aufzugeben, und konstatiert, dass man sich auch im römisch-katholischen Bereich zunehmend offen zeigt, die „kritische Funktion einer solchen kanonischen Instanz für die Tradition als Gesamtvollzug der Kirche“ (ebd., 189) anzuerkennen. 385 Ebd., 172. Müsse die Weitergabe der Tradition „von jedem einzelnen Glied der Gemein‐ schaft erlitten werden“, werden diese durch das Offenbarungsgeschehen zugleich selbst „befähigt und verpflichtet“ (ebd., 170), sich an diesem Vermittlungsprozess zu betei‐ ligen. Ein „Abbruch dieses Weitergebens des Zeugnisses“ wäre faktisch gleichzusetzen mit der „Bestreitung seiner Wahrheit“ (ebd., 173). 386 Ebd., 170. Im Orig. teilw. kursiv. Diese systematische Konstruktion findet laut Herms ihre empirische Bestätigung an den Überresten urchristlichen Lebens, wie sie in den er‐ haltenen Schriften zugänglich sind. Nicht nur hinsichtlich des Inhalts der apostolischen Verkündigung, sondern auch hinsichtlich der „Formen des gemeinsamen Kultus“ (ebd., 176) bestehe daher eine wesentliche Kontinuität zur ersten Generation von Christen. Zur Priorität kultischer Vollzüge gegenüber Katechese, Apologetik, Mission und Aus‐ bildung der Amtsträger vgl. auch ebd., 170f, Anm. 26. 387 Ebd., 174. 388 Ebd., 175. Herv. im Orig. 389 Ebd., 176.

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den Schriften des Alten Testaments in gewissem Sinn auf einen solchen schriftlichen Maßstab zurückgreifen, insofern sie sich als „Aufdeckung des wahren Sinnes des Gotteszeugnisses dieser Texte“ verstand. 390 Vorbereitet war dieser „österliche Auslegungshorizont“ der alttestamentlichen Schrift durch die gemeindliche Jesusüberlieferung aus mündlichen Bekenntnisfor‐ meln, Herrenworten und der szenischen Erinnerung an kultische Vollzüge wie die Mahlgemeinschaft Jesu. 391 Schon bei Paulus zeige sich allerdings, dass es zur effektiven und dauerhaften Beilegung von Konflikten um die Auslegung dieser alttestamentlich-jesuanischen Gemeindetradition unaus‐ weichlich sei, das Christuszeugnis „in einer festen, seinem Wortlaut nach nicht mehr in Zweifel zu ziehenden Form“ niederzulegen. 392 Herms zufolge ist deshalb bereits für das erste Jahrhundert eine weitgehende schriftliche Fixierung der neutestamentlichen Schriften sowie eine Ordnung ihres kul‐ tischen Gebrauchs vorauszusetzen, doch fehle für längere Zeit noch ein „gesamtkirchlicher Konsens über den Kreis dieser christlichen Texte“. 393 Die neutestamentlichen Schriften selbst bezeugen dabei für Herms „ih‐ ren eigenen kanonischen Gebrauch“ in der Gemeinde. 394 Schon als Quellen im historischen Sinn und durch ihr bloßes Dasein belegen die neutesta‐ mentlichen Schriften das „geschichtliche Faktum“ einer christlichen Kom‐ munikation über das ursprüngliche Offenbarungsgeschehen. 395 Sei dies al‐ len Geschichtsbüchern als Überresten eines Diskurses über Vergangenes gemeinsam, erhalte die Bibel ihre Unverwechselbarkeit durch den semanti‐ schen Inhalt des spezifischen Kommunikationsprozesses, den sie bezeuge. Dieser inhaltlich bestimmte Kommunikationsprozess sei „das Faktum ei‐ ner christlichen Kommunikation über das Alte Testament“, welches „im Lichte und nach der Maßgabe“ des Christusgeschehens von Kreuz und Auferstehung ausgelegt werde. 396 Der umfassende „Kanon des christlichen Lebens“ ist für Herms also die Bibel im differenzierten Zusammenhang bei‐ der Testamente. 397 Allerdings seien die biblischen Texte nicht in ein und demselben Sinne Heilige Schrift, sondern präzise danach zu unterscheiden, wie sie sich zum Evangelium der Christuspredigt verhalten:

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Ebd., 177. Ebd. Ebd. Herv. im Orig. Vgl. auch Herms, Schrift als Kanon, 404 f. Herms, Heilige Schrift, 179. Herv. im Orig. Herms, Schrift als Kanon, 393. Ebd., 394. Die biblischen Schriften seien spätestens auf der Ebene der Evangelien Teil eines „Metadiskurses“ (ebd., 403) über das Offenbarungszeugnis der Gemeinde. 396 Ebd., 395 f. Herv. im Orig. 397 Ebd., 390.

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„Während ‚die Schrift‘ des Alten Testamentes als im Christusgeschehen eröffnete und erfüllte zum Inhalt des Evangeliums gehört, sind die Schriften des Neuen Testaments als solche nur der Kanon, das normative Regulativ für den Vollzug der Evangeliums‐ verkündigung.“ 398

Was in den Schriften des Neuen Testaments dargestellt ist, teile sich wie‐ derum in die Kommunikationsprozesse der Urgemeinde einerseits sowie das „Ostergeschehen des Evidentwerdens der Wahrheit von Jesus Lebens‐ zeugnis“ andererseits. 399 Dieses zunächst mündliche Osterkerygma ent‐ falten die Evangelien, die auf die Gefahr reagieren, dass die christliche Kommunikation ihren alttestamentlich-jesuanischen Horizont verlieren oder hinter die Ostererfahrung zurückfallen könnte. 400 Jesu Lebenszeug‐ nis schließe ipso facto Jesu eigene Kommunikation des Alten Testaments als Inhalt mit ein und bewahrheite sie rückblickend. Damit erscheint für Herms die „endgültige Kommunikation der Wahrheit des Alten Testa‐ ments“, wie sie im Osterkerygma formuliert ist, als bleibendes „Movens der christlichen Glaubenskommunikation“ und zugleich deren interne „Steu‐ ergröße“. 401 Insbesondere die schriftlich fixierten Evangelien vertreten in der Kirche die „Kanonfunktion des Kerygmas“, wobei sie an dessen „Au‐ torität und Maßstabsfunktion“ partizipieren, die sich wiederum aus dem Offenbarungsgeschehen selbst herleite. 402 Zusammenfassend verleiht für Herms das Offenbarungsgeschehen selbst dem Kanon der biblischen Schriften, dessen Texte sich nach ihrer Bezie‐ hung zum Kerygma differenzieren lassen, seine Autorität. Diese Autorität verlange „ipso facto die Handhabung dieser Texte kraft der ihnen ver‐ liehenen Autorität als Kanon der christlichen Überlieferung“, wie sie im gemeinschaftlichen Glaubenszeugnis geschichtlich übermittelt wird. 403 Al‐ lein diese „faktische, effektive Funktion“ im Prozess der christlichen Glau‐ benskommunikation begründe die Kanonizität und besondere Autorität 398 Herms, Evangelium, 31. 399 Herms, Schrift als Kanon, 397. Weil Jesu Kommunikation mit den Jüngern „das Fas‐ sungsvermögen seiner Adressaten dauernd übersteigt“, müsse ihnen im Osterlicht „Sinn und Wahrheit von oben her erschlossen“ (ebd., 399) werden. 400 Vgl. ebd., 400 f. Die Bezeichnung Evangelium reflektiere die österliche „Identifikation des Gesamtgeschicks Jesu mit seiner Botschaft“ (Herms, Heilige Schrift, 179) von der Nähe des Gottesreichs. Reagierten die Evangelien auf eine judaisierende Verkennung des Osterkerygmas, so reagiert die Aufnahme des Alten Testaments auf die Gefahr ei‐ ner Preisgabe der alttestamentlichen Wurzeln und des geschichtlichen Charakters der Offenbarung (etwa bei Markion). Zur Herausforderung dieses Gleichgewichts durch die Gnosis, die dann zur schriftlichen Fixierung des Kanons führte, vgl. ebd., 180; 183. 401 Herms, Schrift als Kanon, 400. 402 Ebd., 401. 403 Ebd., 402. Herv. im Orig.

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der Heiligen Schrift. 404 Gegen jedes gegenständliche Verständnis von In‐ spiration insistiert Herms deshalb darauf, dass die biblischen Schriften den Grund und Gegenstand des Glaubens nur als ein „kommuniziertes Gesche‐ hen“ und daher auch „immer nur zugleich mit der Kommunikationsform“ eines gemeindlichen Gebrauchs vergegenwärtigen. 405 Die Einbettung der Schrift in ihren kirchlichen Gebrauch bietet ihm auch einen Ansatzpunkt, um das leitende Kriterium der ursprünglichen Kanonisierung zu rekon‐ struieren sowie einen regulierenden Kanon im Kanon zu identifizieren. c) Jesu Gründonnerstagsgebot als Kanon der Kanonisierung Der Umfang des Kanons der christlichen Bibel sei – entgegen der römisch‐ katholischen Sicht – nicht einfach in „theologischen Debatten“ durch „au‐ toritative Entscheidung“ festgelegt worden. 406 Vielmehr handle es sich um einen Konsens, der der Kirche durch den Geist gewährt worden sei. Für Herms ist in diesem Konsens über den Umfang des Kanons der biblischen Schriften bereits das paradigmatische Muster aller kirchlichen Lehrkonsense zu erblicken: Der Kanon habe sich der Kirche „imponiert“ und setze da‐ bei immer schon ein „bezwingendes Evidentwerden der Stichhaltigkeit des Wahrheitsanspruchs“ der biblischen Schriften für die Einzelnen voraus. 407 Der Kanonkonsens sei als „liturgischer Konsens“ zunächst ein Konsens darüber gewesen, welche Schriften für die gottesdienstliche Lesung geeignet seien und welche nicht. 408 Der „Kanon-für-den-Kanon“, also das Auswahl‐ kriterium dieser Schriften, sei folglich der „einfache gottesdienstliche Voll‐ zug in seiner universalkirchlich einheitlichen Grundstruktur“ gewesen. 409 Aufgenommen wurden Texte, die zum sonntäglichen Vollzug der Gemein‐ deversammlung passen, weil sie „ihren Sinn richtig zur Sprache bringen und nicht konterkarieren“. 410 Ihrem „Ursprung und Wesen“ nach sei die

404 Ebd., 392. Dagegen verstricke sich der umgekehrte Versuch, also eine Herleitung der Funktion dieser Schriften aus ihrem Wesen, angesichts der Infragestellung „ihres ge‐ nerischen Unterschieds zu allen anderen Texten durch eine konsequent geschichtliche Betrachtung“ (ebd., 392) in große Schwierigkeiten. 405 Ebd., 402. Herv. im Orig. Dies grenze den christlichen Schriftgebrauch formal vom jü‐ dischen Gebrauch der Tora sowie vom muslimischen Gebrauch des Korans ab, vgl. ebd., 406 f. Vgl. auch Herms, Heilige Schrift, 185. An dieser Abgrenzung sind allerdings – etwa mit Blick auf den Koran und dessen Rezitationstradition – Zweifel berechtigt. 406 Ebd., 180. 407 Ebd., 180 f. Die Wendung, dass der Kanon sich der Kirche imponiert habe, greift Herms bei Karl Barth auf, vgl. Barth, K., KD Bd. I/1, § 4, 110. 408 Herms, Heilige Schrift, 182. Herv. im Orig. 409 Ebd., 181 f. 410 Ebd., 182. Negativ bestimmt, dürfen sie keine „ihn pervertierenden Elemente“ (ebd., 183) enthalten.

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Bibel also nicht ein Buch, sondern eine „kirchlichem Konsens entsprun‐ gene Institution“ der gottesdienstlichen Lesepraxis. 411 Die reformatorische Theologie habe die „institutionelle Seite dieser Geistwirkung“ und damit die Bindung des Geistes an die „universalkirchlich einheitliche Struktur“ des Gottesdienstvollzugs allerdings meist übersehen. 412 Die „treibende, prägende und ausschlaggebende Kraft“ hinter der Ka‐ nonbildung sowie der altkirchlichen Dogmenentwicklung sei folglich die „Sachlogik des urchristlichen Kultus“. 413 Der Gottesdienst der Urgemein‐ den kann bei Herms seinerseits nur „absolut bindende Sachautorität“ be‐ anspruchen, weil er „nicht in sich selbst gründet“ oder eine „Erfindung der Gemeinde“, sondern vielmehr der Kirche „durch ihre Ursprungsoffenba‐ rung selbst vor- und damit auch aufgegeben“ sei. 414 In seiner entfalteten Kanontheorie gründet Herms daher die Institution des kirchlichen Gottes‐ dienstes auf Jesu Gründonnerstagsgebot, welches durch das Ostergesche‐ hen für die Gemeinde der Auferstehungszeugen befolgbar gemacht wird: Wenn sinnvoll von einem „Kanon im Kanon“ die Rede sein solle, lasse sich dieser nur ausgehend von der „durch Ostern begründeten Praxis der Erfüllung des Gründonnerstagsgebotes“ her bestimmen. 415 Die Schrift als liturgische „Institution der praktischen Befolgung“ des Gründonnerstags‐ gebots ist für Herms im Kern ein verbindlicher Konsens über die Praxis des Gottesdienstes, genauer: über die gottesdienstlich vollzogenen Leseund Auslegungspraxis, die wiederum dem kultischen Gesamtvollzug erst seinen spezifischen Sinnhorizont eröffnet. 416 Damit kehrt sich im Zuge einer Besinnung auf die Kriterien der Kanonisierung das Verhältnis von Gottesdienstordnung und Lehrordnung, wie es oben unter 6.4.3 dargestellt wurde, auf spezifische Weise um: Sichert die Lehrordnung den Kern des Gottesdienstgeschehens, indem sie auf den Maßstab der Schrift verweist, erscheint wiederum der gottesdienstliche Gebrauch der biblischen Schrif‐ ten als normatives Kriterium angemessener Schriftauslegung – und damit auch jeder angemessenen Lehrbildung. Herms ist viel daran gelegen, die‐ ses Verhältnis als eindeutige hierarchische Ableitung der Schriftautorität aus der Tradition urchristlicher Gottesdienstpraxis zu konstruieren, doch

411 Ebd., 186. Herv. im Orig. 412 Ebd., 184. 413 Ebd., Anm. 48. Die Verlesung und Auslegung der biblischen Schriften sei grundlegender und zentraler Teil dieses Vollzugs, da nur so der „Sinnhorizont, innerhalb dessen das gebotsgemäß nachvollzogene Mahl allein seine spezifische Bedeutung erhält“(ebd., 53), eröffnet werde. 414 Ebd., 183. Im Orig. teilw. kursiv. 415 Ebd., 187. Herv. im Orig. 416 Ebd., 186.

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entspricht dieser komplexen Beziehung möglicherweise eine dialektische Wechselbeziehung von Schrift und Gottesdienst besser. d) Autorität und Gebrauch der Schrift Wie ist nun die konkrete Autorität zu beschreiben, die der kanonischen Schrift im Gebrauch der Kirche zukommt? Weil für Herms der „nur von Gott selbst zu schließende Hiat zwischen claritas externa und claritas interna“ keinesfalls durch menschliche Bemühungen überbrückt werden kann, kann sich auch die Autorität der Schrift nur als Autorität der Sa‐ che selbst manifestieren. 417 Folglich könne die kanonische Funktion und Autorität der Bibel nur da erfasst werden, wo diese „im Horizont der gottes‐ dienstlichen Weitergabepraxis der Kirche verstanden“ werde. 418 Konkret und sachgemäß sei diese Autorität nur erfasst, wo sie „im Horizont der Teilnahme an dieser Praxis und der Verantwortlichkeit für sie“ anerkannt werde. 419 Nur auf der Basis eines „durch Zugehörigkeit zur christlichen Glaubensgemeinschaft geprägten Vorverständnisses“ könne der Schriften‐ kanon überhaupt entsprechend seiner Herkunft und Autorenintention, „in seiner Wirkabsicht und in seinem Wirkpotential“ recht erfasst und ge‐ braucht werden. 420 An die Stelle abstrakter Vorurteilslosigkeit müsse daher auch und gerade für die wissenschaftliche Exegese das Interesse am Eigen‐ sinn der Texte treten, welches gerade „aufgrund und im Horizont ihres christlichen Vorverständnisses“ aufkomme. 421 Ihrem Selbstverständnis nach, so Herms, sind den kanonischen Schrif‐ ten also nicht „einfach offenbarte Gegenstände“ zu entnehmen, sondern vielmehr an ihnen „das Muster einer gegenständlich bestimmten Kommu‐ nikation“ abzulesen. 422 Die kanonischen Texte halten als „Ursprungszeug‐ nis“ selbst eine „unaufhebbare Differenz“ zum bezeugten Offenbarungs‐ 417 Herms, Schrift als Kanon, 405. 418 Herms, Heilige Schrift, 187. Ihre Autorität könne daher auch nicht durch historische Forschung in Frage gestellt werden, weil sie sich nicht auf die Exaktheit der Darstellung oder eine wesensmäßige Besonderheit der Texte gründe, sondern allein auf deren Bezie‐ hung zum unverfügbaren Offenbarungsgeschehen. 419 Ebd., 187 f. „Das schriftliche Evangelium begegnet nur im übersprachlichen Evange‐ lium“ (ebd., 188). Mit F. Schleiermacher und J. G. Herder, aber zugleich unter Berufung auf die Reformatoren kann Herms daher sagen: Der christliche Glaube sei „nicht Glaube an die Schrift, sondern schriftgemäßer Glaube“ (ebd., 193). 420 Ebd., 192. 421 Ebd., 193. 422 Herms, Schrift als Kanon, 402. Die Rede von der Schrift als einer Quelle des Offenba‐ rungsgeschehens sei somit verfehlt, da das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Werk die Rede von „mehreren oder auch nur von einer in menschliche Hand gegebe‐ nen ‚Quellen‘ der Offenbarung“ (Herms, Offenbarung, 215) strikt ausschließe. Die von Wolfhart Pannenberg und anderen konstatierte „Krise des protestantischen Schriftprin‐

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geschehen ein und bezeugen als Zeugen zweiter Ordnung das „sach- und ursprungsgetreue Zeugnis der ersten Generation“. 423 Komme diesem Zeug‐ nis eine unhintergehbare „Situationsbezogenheit“ zu, schließe dies den‐ noch nicht den universalen Anspruch aus, eine „für alle folgenden Zei‐ ten maßgebliche Struktur“ vorzuzeichnen. 424 Schließlich sei gerade das je neue „Eingehen auf kontinuierlich wechselnde Lagen“ ein „für alle Zei‐ ten maßgebliches Element“ des Offenbarungszeugnisses. 425 Die Aufgabe der kirchlichen Verkündigung sei daher nicht die bloße Wiederholung des Ursprungszeugnisses, sondern „die jeweilige individuelle geschichtliche Si‐ tuation in ihrer Besonderheit in das Licht dieses Ursprungs zu holen“. 426 Auch mit Blick auf das Verhältnis von Schrift und Lehre will Herms so‐ mit festhalten, dass die Schrift keine „verbatim zu wiederholende Lehre“ enthält, sondern vielmehr „für alle Zeiten maßgebliche Muster richtigen Lehrens“ bietet. 427 Damit wird bei Herms einer inneren Dynamik der Lehr‐ entwicklung Rechnung getragen: Die Lehre entfalte und konkretisiere sich in bleibender Ausrichtung auf ihr Ursprungsgeschehen angesichts immer neuer Herausforderungen und Infragestellungen. Für die schriftgemäße „Form des reinen Lehrens“ als der „ursprungs- und sachgemäßen kirchli‐ chen Zeugnispraxis“ sei dabei zweierlei wesentlich: Erstens ihre Ursprungs‐ treue über die wechselnden geschichtlichen Lagen hinweg, was mit „sach‐ logischer Notwendigkeit das Festhalten des Schriftenkanons in seiner kon‐ sentierten Gestalt“ und die ungebrochene Kontinuität ihrer „kultischen Weitergabepraxis“ bedeute. 428 Zweitens sei auch die „Fülle der geschicht‐ lichen Zeugnispraxis“ bewusst zu halten, da auf dem Boden dieser Ur‐ sprungsbeziehung und im Rahmen der kanonischen Muster auf „schlech‐ terdings alle heilsrelevanten (den Sinn des menschlichen Lebens betreffen‐ den) Fragen“ der Menschheitsgeschichte eingegangen werden könne. 429

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zips“ müsse daher verstanden werden als „eine der Aufklärungsbewegung geschuldete Befreiung von einem fundamentalen Mißverständnis“ (Herms, Heilige Schrift, 188, Anm. 61). Ebd., 190 f. Herv. im Orig. Ebd. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd., 191. Ebd. Herms, Heilige Schrift, 191. Herv. im Orig. Noch stärker zugespitzt: Die Schrift ist „nicht der Kanon reiner Lehre, sondern der Kanon des reinen Lehrens“ (ebd. Herv. im Orig.). Herms bezieht sich für diese Position insbesondere auf Gerhard Ebeling. Ebd., 192. Ebd. Herv. im Orig. Dieses „unübersehbare Spektrum von Fragen“ verlange nach je neuen Antworten, die „als geistgewirkt zulässig“ gelten können, sofern sie die „kritische Grenze“ (ebd.) der Ostergewissheit respektieren.

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Herms geht von dem unverzichtbaren Anspruch der christlichen Glau‐ bensperspektive aus, schlechthin alle geschichtlichen Situationen im Licht des Osterglaubens zu verarbeiten und hinter den wechselnden Widerfahr‐ nissen des Lebens den Schöpferwillen Gottes aufzudecken. Dieser An‐ spruch werde insbesondere durch die kirchliche Verkündigung vertreten, aber auch durch die Suche nach einem kirchlichen Lehrkonsens über diese jeweilige Situationen und ihre Herausforderungen geltend gemacht. Die kanonischen Schriften, immer von ihrem gottesdienstlichen Gebrauch her verstanden, liefern als ursprungsnahe Offenbarungszeugnisse die maßgeb‐ lichen Muster einer solchen Verarbeitung, ohne deren Anwendung selbst schon für alle Zeit vorwegzunehmen. Die Lehre wird so in die geschicht‐ liche Dynamik des Kerygmas einbezogen. Der universale Anspruch der Christusoffenbarung bedeutet für Herms daher – zumindest dem Ideal nach – gerade ein Ernstnehmen der je konkreten, geschichtlichen Situatio‐ nen und nicht deren Vergleichgültigung im Namen einer abstrakten Struk‐ tur. Ob Herms selbst diesen Situationsbezug befriedigend einlöst oder sich doch noch zu stark auf der Ebene ontologisierender Abstraktionen bewegt, ließe sich im Rahmen einer anderen Fragestellung besonders anhand seiner ethischen Stellungnahmen produktiv diskutieren. 430 6.6.4 Verfügbare und unverfügbare Bedingungen des Konsenses Das dem reformatorischen Offenbarungsverständnis entsprechende Ver‐ ständnis von Lehre bestimmt Herms so, dass die Gemeinde mit dieser – wie analog im Fall des biblischen Kanons – einen ihr vorgegebenen „Kon‐ sens aller Glaubenden über die Offenbarung“ zum sprachlichen Ausdruck bringe, der keinesfalls durch menschliches Handeln hergestellt, sondern al‐ lein durch die Offenbarung selbst imponiert sei. 431 Ein solcher „Konsens über diese Konsensartikulationen“, also die kirchliche Rezeption einer be‐ stimmten Lehrgestalt, werde durch den Heiligen Geist geschenkt, dessen Wirken „die betreffenden Konsensartikulation (als eine spezifische Gestalt des äußeren Wortes) den Konsentierenden jeweils als klar und wahr sicht‐ bar gemacht und ‚imponiert‘ hat“. 432 Der so imponierte Konsens zweiter Ordnung sei wiederum „notwendige Bedingung von kirchlicher Öffent‐ lichkeit“ und „nichts Geringeres als die Substanz von christlicher Identi‐

430 Vgl. für solche weiterführenden Fragestellungen etwa Munzinger, Welt; vgl. Diebel‐ Fischer, Weltbezug, bes. 67–97. 431 Herms, Lehre, 137. Herv. im Orig. 432 Ebd. Herv. im Orig.

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tät überhaupt“. 433 Die Lehrtätigkeit der Kirche als Bemühen darum, einen Konsens über die Offenbarung zu artikulieren, hat für Herms daher eine „spezifisch eingeschränkte, aber notwendige Funktion“ für die Identität der Kirche. 434 Sei die Lehre zwar davon entlastet, die Identität des christli‐ chen Lebens selbst hervorbringen zu müssen, könne diese sich dennoch nicht „ohne vorausgehende Versuche der Artikulation des Glaubenskon‐ senses“ einstellen. 435 Die Lehrartikulationen verhalten sich bei Herms da‐ her zur Identität einer christlichen Gemeinschaft und ihrer Lebensäuße‐ rungen wie das äußere Wort der Predigt zum Glauben. Auf der Suche nach angemessenem Ausdruck ihres tragenden Konsenses habe die Kirche nun nicht einfach „beliebige Artikulationsversuche zu unternehmen“, sondern sei vielmehr an „genau angebbare“ und „im reformatorischen Verständnis von Offenbarung selbst enthaltene Bedingungen der Konsensfähigkeit von Lehraussagen“ verwiesen. 436 Der Unterschied im Offenbarungsverständnis zwischen römisch-katho‐ lischer und reformatorischer Theologie führe nun mit sich, dass das grund‐ legende Problem einer Artikulation konsensfähiger Lehre für beide Kon‐ fessionen unterschiedliche Fassungen annimmt: Das römisch-katholische Lehramt gehe von einem „offenbarungsübermittelnden Tun der Hierar‐ chie“ aus und müsse vor allem die praktische Aufgabe lösen, wie es „mög‐ lichst viele Christen zur Anerkennung dieses Anspruchs der Hierarchie“ bewege. 437 Daher verpflichte das römisch-katholische Lehrverständnis ins‐ besondere die „Empfänger der Lehre“, die ihnen vom Lehramt als verbind‐ lich vorgelegte Lehre glaubend anzunehmen. 438 Die reformatorische Theo‐ logie dürfe nach ihrem Selbstverständnis dagegen gar nicht darauf abzielen, den kirchlichen Konsens selbst herzustellen, zu definieren oder zu garan‐ tieren, sondern müsse sich auf die formale „Gewährleistung der Konsens‐

433 Ebd. Historisch sei diese Unverfügbarkeit christlicher Identität erst zu klarem Bewusst‐ sein gekommen, nachdem deren politische Sicherung „durch kirchenordnende Initiati‐ ven und Maßnahmen der weltlichen Obrigkeit“ (ebd., 147) entfallen waren. Beispiel für eine „konsensfähige Artikulation des Glaubenskonsenses“ aus der jüngeren Vergangen‐ heit ist für Herms die Barmer Theologische Erklärung, deren konsensuale Anerkennung durch die Bekennenden Kirche erst „Bedingung der Möglichkeit für kirchliches und christliches Handeln“ (ebd., 148) in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war. 434 Ebd., 138. Herv. im Orig. 435 Ebd. 436 Ebd. Die Selbstbindung an das kanonische Zeugnis wurde dabei bereits im letzten Abschnitt behandelt, denn die Lehrartikulation habe sich nach reformatorischem Ver‐ ständnis immer als Auslegung der Schrift zu vollziehen. 437 Ebd., 150. 438 Ebd., 138. Herv. im Orig.

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fähigkeit von Aussagen“ beschränken. 439 Dieses Offenbarungsverständnis lege daher umgekehrt vornehmlich den „Produzenten der Lehre eine Pflicht auf: nämlich die Bedingungen der Konsensfähigkeit von Lehraussagen ein‐ zuhalten“. 440 Nach reformatorischem Verständnis können allein die „Gewißheit und Sicherheit der Regeln, denen eine sachgemäße und zu beurteilbaren Resul‐ taten führende Schriftauslegung zu folgen hat“, eine allgemeine Einsichtig‐ keit, Überprüfbarkeit und damit Konsensfähigkeit der Lehre gewährleis‐ ten. 441 Deshalb sei es unbedingt erforderlich, die „inhaltlichen und for‐ malen Qualitätsmerkmale von Aussagen zu bestimmen und zu praktischer Anerkennung zu bringen“, die die notwendigen Bedingungen für eine kon‐ sensfähige Artikulation des kirchlichen Glaubenskonsenses formulieren. 442 Sofern darüber hinaus eine „Entscheidungsinstanz“ als unverzichtbar be‐ trachtet werde, habe diese grundsätzlich nur die Aufgabe, jene methodisch kontrollierbaren Qualitätsmerkmale zu überprüfen. 443 Möglich und wün‐ schenswert erscheint dies für Herms nur bei öffentlichen Äußerungen im Namen der Kirche, wie sie in Ausübung des Predigtamtes, bei Dokumenten kirchenordnender Entscheidungen sowie in Verlautbarungen kirchenlei‐ tender Organe vorliegen. Mehr als die Sicherstellung einer geordneten und sachgemäßen „Darreichung des äußeren Wortes“ dürfe durch die Ordnung der Lehre überhaupt nicht beabsichtigt werden. 444 Welche methodisch kontrollierbaren Qualitätsmerkmale lassen sich nun unter den Bedingungen eines reformatorischen Lehrverständnisses für grundsätzlich konsensfähige Artikulationen der christlichen Lehre ange‐ ben? Dieses Problem konsensfähiger Lehraussagen verhandelt Herms in verschiedenen Texten, so dass die verschiedenen Kriterien hier zusammen‐ zutragen und in eine übersichtliche Ordnung zu bringen sind. Die Rekon‐ struktion beginnt dabei mit den allgemeinsten sprachlichen Kriterien, um zu den immer spezifischeren Vorgaben und schließlich der inhaltlichen Bindung der lutherischen Lehre an das Bekenntnis voranzuschreiten.

439 Ebd., 151. Im Orig. kursiv. 440 Ebd., 139. Herv. im Orig. Mit dem Begriff ‚Produzent‘ will Herms dabei nichts weiter verbunden wissen als die Aufgabe, der Lehre eigenverantwortlich eine bestimmte Sprach‐ gestalt zu geben, vgl. ebd., Anm. 37. 441 Ebd., 153. 442 Ebd., 151. 443 Ebd. 444 Ebd., 152. Im Orig. kursiv. Schlechthin unerheblich sei für das reformatorische Lehrver‐ ständnis auch, „wer die betreffende Lehraussage vorträgt“ (ebd. Herv. im Orig.).

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a) Die sprachlichen Bedingungen gelingender Kommunikation Sprache als Artikulation und Kommunikation unter Voraussetzung eines sozialen Regelsystems, das „erinnert und aktiv befolgt“ werden muss, ist für Herms als „Inbegriff aller von uns frei produzierten Zeichen“ von der sze‐ nischen Erinnerung abhängig und dieser nachgeordnet. 445 Die „Passivität unseres Erlebens“ ermögliche und fordere die „Aktivität unseres Zeichen‐ gebrauchs“. 446 Schlechthin jede „gelingende Kommunikation von individu‐ ellen Darstellungsabsichten“ vollziehe sich dabei als „individuelle Variation im Gebrauch von Konventionen“. 447 Bedingung gelingender Kommunika‐ tion sei somit immer, dass Sender und Empfänger kompetent mit geteilten Konventionen des Zeichengebrauchs umgehen. 448 Diese Konventionen, die Bedingung der Verständlichkeit von Kommunikation sind, strukturieren und beschränken allerdings sowohl die Themen der Kommunikation, als auch die spezifische Art und Weise, wie über diese Themen kommuniziert werde. Der normative Spielraum von Kommunikation sei daher bestimmt durch eine angemessene Balance von Konventionalität und Individualität: Eine Sprachregelung sei als „tendenziell minderwertig und inhuman“ zu kritisieren, wenn sie „statt in den Dienst individueller Artikulationsabsich‐ ten zu treten, vielmehr als deren Verhinderung oder Ersatz fungiere“. 449 Die Herrschaft bestimmter Redekonventionen tendiere dann dazu, „die Genese der einzelnen Worte und der Konventionen des Sprechens aus dem Bedürf‐ nis der intersubjektiven Artikulation individueller Erinnerung zu verschlei‐ ern“ und so die „Authentizität der Rede“ zu zerstören. 450 In der dienenden Ausrichtung auf den individuellen Ausdruck berührt sich bei Herms diese sprachliche Vorgabe mit der Aufgabenbestimmung des kirchlichen Amtes, das die Glaubenden ebenfalls nicht an ihrem individuellen Zeugnis hin‐ dern, sondern vielmehr dazu befähigen soll. Diesen Bestimmungen kann man die Grundaufgabe einer kritischen Or‐ thodoxietheorie entnehmen – biete doch laut Herms gerade „die kirchliche und theologische Rede [...] traurige Beispiele“ einer solchen (sündhaften) Pervertierung der Sprache. 451 Als Kriterium rechter Lehre lässt sich dann 445 Herms, Sprache, 236. Im Orig. teilw. kursiv. „Die gesamte Sphäre unserer semiotischen Aktivität bleibt eingebettet und umfangen von der Sphäre des passiv konstituierten Gefüges unserer szenischen Erinnerung“ (ebd. Im Orig. kursiv). Zum Medium der sze‐ nischen Erinnerung siehe oben, 6.3.3. 446 Ebd., 234. Im Orig. teilw. kursiv. 447 Ebd., 239. Herv. im Orig. 448 Vgl. ebd., 242. 449 Ebd. Herv. im Orig. 450 Ebd., 243. Herv. im Orig. 451 Ebd.

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festhalten: Die Lehre hat mit Blick auf die kirchliche Verkündigung und die Selbstverständigung des Glaubens nur solche Redekonventionen zu etablieren, die nicht der Kritik verfallen, minderwertig und inhuman im beschriebenen Sinne zu sein. Sie müssen den Bezug auf individuelles und geschichtliches Erleben immer wachhalten sowie einen Raum für tatsäch‐ liche Aneignung lassen, die dann auch dazu befähigt, auf der Grundlage geteilter Konventionen das individuelle und authentische Zeugnis zur Spra‐ che zu bringen. Nicht zulässig erscheint dann jeder kirchliche Versuch, diese Individualität und Authentizität persönlicher Glaubensartikulation lehrmäßig gleichzuschalten. Die Kirche ist verpflichtet zu einer selbstkri‐ tischen Beschränkung sowie einer gewissen Offenheit ihrer verbindlichen Lehre. b) Die rhetorisch-hermeneutischen Bedingungen der Lehre Betraf dieses erste Kriterium noch vor allem das Selbstverständnis der Lehr‐ instanzen und ihr Verhältnis zur Artikulationsabsicht der Einzelnen, be‐ gegnen bei Herms zusätzlich vier formale Regelkomplexe, die die „sachliche Relevanz und Überprüfbarkeit“ von Lehraussagen sicherstellen sollen. 452 Erstens sei von jeder Lehraussage zu verlangen, dass sie sich als „as‐ sertorische Vergegenwärtigung derjenigen Gestalten des Überlieferungs‐ zeugnisses“ verstehen lässt, die bereits den „uneingeschränkten Konsens einer Kirche gefunden haben“. 453 Um der Verständlichkeit willen sei bei einer Lehrartikulation zudem möglichst der Anschluss an geprägte, ver‐ bindliche und bekannte Sprachkonventionen zu suchen. Dieses formale Kriterium öffnet den Regelkatalog bereits für die inhaltliche Bestimmun‐ gen, die im nächsten Unterabschnitt erörtert werden, aber kann zugleich auch als eine lexikalische Festlegung auf bestimmte Redekonventionen und Begriffe verstanden werden. Als zweite Vorgabe sei bei der Artikulation ei‐ ner konsensfähigen Lehraussage „sprachliche Disziplin“ zu üben, so dass der semantische Sinn einer Lehrartikulation und die Meinung des Autors klar und deutlich zu Tage treten. 454 Für Herms ist daher sprachliche „Diszi‐ pliniertheit das entscheidende Qualitätsmerkmal gesunder Lehre“. 455 Diese schließe nicht nur rhetorisch-persuasives Füllwerk oder unnötige Redun‐ danz, sondern insbesondere auch bewusste Versuche, einen Dissens in der Sache sprachlich zu verschleiern, aus. Drittens sei darüber hinaus auch „hermeneutische Disziplin“ im Um‐ gang mit dem Offenbarungszeugnis zu verlangen, da eine „Begegnung und 452 453 454 455

Herms, Lehre, 154. Ebd. Ebd. Ebd., 156

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Auseinandersetzung mit überlieferter Lehre“ nur produktiv sein könne, wenn das leitende Vorverständnis sowie die „Verfahrensregeln“ dem lehr‐ haft auszulegenden Gegenstand angemessen seien. 456 Als verbindliche her‐ meneutische Vorannahme könne hier gelten, dass „das überlieferte Zeugnis jeweils einen individuellen Autor“ hat, dessen „Erfahrungen, Überzeugun‐ gen und Absichten“ zu respektieren und dessen Intentionen daher für das angemessene Verständnis maßgeblich seien. 457 Ziel der Auslegung müsse immer sein, den so als intentio auctoris bestimmten „Eigensinn der bibli‐ schen Botschaft“ zu erheben – und zwar „nach allen Regeln der Kunst der Texterschließung (Texterfassung)“. 458 Dies bedeute, dass sich die theolo‐ gische Schriftinterpretation vorbehaltlos den Regeln zu unterwerfen habe, „die im Kanon der historisch-kritischen Methode als notwendig und be‐ währt zusammengefasst sind“. 459 Schließlich und viertens müsse jede formal korrekte Lehraussage auch die „kritische Disziplin“ unter Beweis stellen, sich selbst die Gestalt einer wahrheitsfähigen Aussage zu geben. 460 Lehraussagen seien immer so zu formulieren, dass unter eindeutig angebbaren Bedingungen ihre „Wahrheit oder Falschheit evident werden kann“. 461 Sie müssen mithin auch immer „erkennen lassen, mit welchem ihnen vorgegebenen Sachverhalt sie über‐ einzustimmen beanspruchen“. 462 Konkret bedeutet dies für Herms, dass jede Lehraussage sich an den „inhaltlichen Intentionen des überlieferten Offenbarungszeugnisses“ und zugleich an der „Verfassung der erkennbar gegenwärtigen Weltwirklichkeit“ messen lassen müsse. 463 Allerdings sei immer der Vorbehalt mitzuführen, dass eine ontologische Wahrheit dieser Art allein kraft eines unverfügbaren Geistgeschehens als evident einleuchte.

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Ebd., 154 f. Ebd., 155. Herv. im Orig. Herms, Pfarramt, 223. Herms, Lehre, 155. Die historisch-kritische Methode erfülle allerdings eine dienende Funktion, weshalb ihre Ergebnisse nicht unmittelbar den Charakter verbindlicher christlicher Lehre beanspruchen. Sie sei das natürliche Verfahren der theologischen Auslegung, solange das Interesse am Eigensinn der Texte und die notwendige Rechen‐ schaft über das eigene Vorverständnis nicht als „Distanzierung vom Erkenntnisgegen‐ stand“ (Herms, Heilige Schrift, 193) missverstanden werden. Zur Texthermeneutik vgl. auch Herms, Offenbarung, 214. Herms, Lehre, 155. Ebd. Herv. im Orig. Ebd., 156. Im Orig. teilw. kursiv. Ebd.

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c) Konfessionelle Bekenntnistexte als vorgegebener Lehrkonsens Zu den formalen Bedingungen dafür, dass eine Lehrartikulation „den Ur‐ teilenden als wahr imponiert“ werden kann, gehört für Herms notwendig auch eine Berücksichtigung solcher Lehrgestalten, die sich unter der Lei‐ tung des Geistes bereits früher „in der Geschichte der Kirche als verbind‐ liche Regel wirksam erwiesen haben“. 464 Mit dem Ziel der Bestimmung solcher „maßgeblichen Bezeugungen der christlichen Daseinsgewißheit“ seien deshalb auch in den Kirchenverfassungen der reformatorischen Parti‐ kularkirchen die jeweiligen Bekenntnisgrundlagen festgeschrieben. 465 Auf die Frage, was als in der Kirche geltende und für die Praxis maßgebliche Lehre anzusehen ist, kann Herms daher mitunter auch verkürzend mit dem Verweis auf geltendes Kirchenrecht antworten. 466 Für die lutherischen Kirchen sieht Herms den als verbindlich überliefer‐ ten Lehrkonsens maßgeblich in Luthers Katechismen niedergelegt. 467 Deren Hauptstücke umfassen eine Summe der christlichen Lehre bzw. die Summe des Christentums überhaupt als einheitlichen und strukturierten Aussa‐ gezusammenhang: Gottes Willen und Werk sowie die Praxissituation des Menschen, wie sie in Gottes Werk impliziert und durch dessen Willen bestimmt sei. 468 Insbesondere Luthers Auslegung des dritten Credoarti‐ kels bündle und strukturiere den Gesamtzusammenhang aller Aspekte der christlichen Lehre, indem die Konstitution des einheitlichen Glaubensge‐ genstands am Ort der Glaubenden zum Thema gemacht werde. 469 Herms zufolge eignet dem gesprochenen Credo immer ein doppelter Charakter: Es sei niemals nur „Lehre über den Glauben und zugleich seinen 464 465 466 467

Ebd., 154. Im Orig. teilw. kursiv. Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 372. Vgl. etwa Herms, Auslegung, Vf. Vgl. ebd., VI. Zu dieser Bewertung kommt Herms, indem er das Augsburger Bekenntnis als sekundäre, referierende Darstellung der lutherischen Lehre betrachtet, wie sie au‐ thentisch in Luthers Katechismen entfaltet sei. Er setzt sich damit ab von einer breiten und bereits mit dem Konkordienbuch beginnenden Tradition, welche umgekehrt im Augsburger Bekenntnis die schlechthin maßgebliche Gestalt lutherischer Lehre sieht. Vgl. aber auch die Anlage bei Wenz, Theologie, bes. 242 f. Zu Luthers Katechismen siehe ausführlicher oben unter 3.3. 468 Vgl. Herms, Auslegung, 16 f. Herms beruft sich hier auf Aussagen Luthers aus De servo arbitrio (vgl. WA 18, 614, Z. 15–18) sowie die Formel vom „Homo peccator et Deus iustificans“ (WA 40 II, 327, Z. 11). 469 Vgl. ebd., VII. Im pneumatologischen Glaubensartikel liege eine „einheitliche und zu‐ sammenhängende Beschreibung der geistlichen Selbstvergegenwärtigung der Christu‐ soffenbarung“ (ebd., VIII) für den Menschen vor, vermittels derer erst der Inhalt der anderen beiden Glaubensartikel erkannt sowie wirksam und existenzbestimmend ange‐ eignet werden könne. Zur Argumentation für diese These, vgl. ebd., 18–34.

Die Lehre im Leben der Kirche

Gegenstand, der auch sein Grund ist“, sondern immer „zugleich Ausdruck dieses Glaubens selbst“. 470 Das gesprochene Glaubensbekenntnis sei die as‐ sertorische und in gewissem Sinne auch performative Vergegenwärtigung der göttlichen Verheißung am Ort des unvertretbar Einzelnen, insofern dieser sich im Vollzug des Bekennens der befreienden Wahrheit unter‐ stellt: „Die Lehre des Glaubensbekenntnisses redet nicht nur von der Gnade Gottes, sondern bringt sie“. 471 Das Wirksamwerden dieser Gnade stehe al‐ lerdings immer unter der Bedingung, dass sich das Werk Gottes, von dem das Glaubensbekenntnis spreche, auch selbst durch den Geist am Sprecher vergegenwärtige. 472 Hier wird deutlich, wie Herms die Lehre als assertori‐ sche Artikulation der Glaubensgewissheit auf den Glaubensakt bezieht, der wiederum immer auf das unverfügbare Handeln Gottes zurückzuführen ist. Diese Selbstrelativierung des Offenbarungszeugnisses, welches sein Wirk‐ samwerden am Einzelnen und seine Anerkennung als Lehrkonsens vom Werk des Geistes erhofft, ist in die Lehre selbst aufzunehmen, woran laut Herms mit Luthers Katechismen auch die maßgeblichen Lehrurkunden der lutherischen Tradition erinnern. Nicht verbunden ist mit dieser Selbstrelativierung allerdings ein Verzicht auf den Anspruch, eine allgemeine Wahrheit von universaler Bedeutung zur Sprache zu bringen. Als methodisch disziplinierte und damit sach‐ gemäße Auslegung der maßgeblichen Konsensartikulationen erhebt für Herms daher insbesondere die Systematische Theologie den Anspruch, „in einem bestimmten Sinne nicht-positional“ zu sein. 473 Die individuelle Po‐ sition des Theologen sei zurückzustellen um der Zielsetzung willen, nichts als die – schon kirchenrechtlich maßgebliche – Intention des Autors eines verbindlichen Lehrtextes freizulegen. 474 Dieses hermeneutische Selbstver‐ ständnis Systematischer Theologie kann hier eine Brücke zu einem weiteren Kriterium schlagen: der Entdogmatisierung der theologischen Arbeit an der Lehre.

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Ebd., 15. Herv. im Orig. Ebd., 16. Herv. im Orig. Vgl. ebd., 15. Ebd., Vf. Herv. im Orig. Bezeichne der christliche Glaube immer eine spezifische und individuelle Gestalt von Wahrheitsbewusstsein, habe die Systematische Theologie es mit dessen „universalen Werdebedingungen“ (Herms, Art. Wahrheit, 364) zu tun, wäh‐ rend die Historische Theologie sich den jeweils „individuellen Entstehungsgeschichten“ (ebd.) zuwende. 474 Vgl. auch Herms, Calvin, 158, Anm. 8: „Die Leistung theologischer Arbeit kann nicht an ihrer Originalität gemessen werden, sondern nur an der sachlichen Treue, in der sie alte Einsichten des Glaubens im Kontext der jeweils zeitgenössischen Bildung argumentativ, nachvollziehbar und plausibel zur Sprache bringt“ (Herv. TG).

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6.6.5 Die Entdogmatisierung der Dogmatik Auf den ersten Blick scheint es widersprüchlich, die Forderung einer Ent‐ dogmatisierung theologischer Wissenschaft unter die Bedingungen und Kriterien rechter Lehre zu zählen. Allerdings wird mit diesem Problem bei Herms nicht nur das Selbstverständnis der Theologie als Wissenschaft, son‐ dern auch eine spezifische Selbstbindung der Lehre zum Thema. Mit die‐ ser Forderung will Herms der Vorgegebenheit von Wirklichkeit Rechnung tragen, die Rechenschaftsfähigkeit theologischer Reflexion begründen und damit auch deren willkürliche Funktionalisierung für beliebige Zwecke ver‐ hindern. 475 Mit dem Begriff des „Antidogmatismus“ bezeichnet Herms allgemein ein Verhältnis wissenschaftlicher Arbeit zu ihrem Gegenstand, das diese davor schützt, „das durch sie erkennbar Seiende als unhinterfragbar Gege‐ benes und d.h.: die erkennbare Wirklichkeit als absolut zu denken“. 476 Dazu müsse die „Selektionstätigkeit aller Urheber von problemkonstituierenden und problemlösenden Selektionen“ auf Bedingungen verpflichtet werden, die ihren Selektionsakten vorgegeben sind. 477 Die Begriffe der Rationalität und Intersubjektivität verweisen laut Herms gemeinsam auf den „Horizont der sinnkongruenten Welt“, der ein „Erschlossensein von Selektionsurhe‐ bern für sie selber“ in der wechselseitigen Präsenz füreinander impliziert. 478 Diese Existenzbedingung, unterschiedene und darin aufeinander bezogene Individuen unter einem geteilten Sinnhorizont zu sein, ist nach Herms allen endlichen Urhebern rationaler Selektionsakte schlechthin vorgegeben. 479 Der Sinnbegriff bezeichne somit das Bestimmbarsein einer schlechthin vor‐ gegebenen, aber uns zur Bestimmung erschlossenen Welt. Nur unter dieser ebenso transzendentalen wie ontologischen Annahme sei Wissenschaft als Praxis der „Entdogmatisierung“ und „Steigerung von Rationalität“ mög‐ lich. 480 Denn der Inbegriff des Erkennbaren werde so fundiert und er‐ schlossen als ein „Bereich nicht des bloßen Scheins, sondern der Sachen selbst“. 481 Richte sich die Erkenntnis an der Übereinstimmung mit den Sachen selbst aus, werde sie der Willkür der Einzelnen entzogen und die 475 Vgl. Herms, Sinn, 385. Es gehe hier um den „Sachbezug der theologischen Theoriear‐ beit“ (ebd., 388). 476 Ebd., 372. Auch das von Herms später entworfene Programm einer phänomenologi‐ schen Theologie soll genau dies leisten, vgl. TaP. 477 Herms, Sinn, 380. 478 Ebd., 382 f. Herv. im Orig. 479 Vgl. ebd., 384. 480 Ebd. 481 Ebd., 393. Primär sei dieser „Kern der Erfahrungswirklichkeit“ (ebd.) im Selbstgefühl manifestiert.

Die Lehre im Leben der Kirche

vorgegebene Sachwahrheit könne als allgemeines Kriterium wahrer Aussa‐ gen an einzelne Wahrheitsbehauptungen angelegt werden. 482 Verstehe sich entsprechend auch die Theologie als ein „Aussagezusam‐ menhang, der auf die Sachen selbst hinweist und im Medium der eigenen freien Einsicht von jedermann verstanden, kommuniziert und verbessert werden will“, vollziehe sie sich als ein „konsequent antiautoritäres“ Un‐ ternehmen. 483 Unter Antiautoritarismus will Herms dabei verstehen, dass jede „menschliche Autorität im Namen der Phänomene“, und das heißt theologisch: „im Namen der Autorität Gottes in seiner Offenbarung als Schöpfer, Versöhner und Vollender“ der Kritik unterzogen werde. 484 Dabei gelte für den christlichen Gottesgedanken, dass dieser in seinem „Hinaus‐ weisen über die Sphäre der sinnkongruenten Welt“ für die theologische Er‐ kenntnis ihr „Unterworfensein unter die Bestimmtheit und Rationalität des Bestimmbarseins“ festhalte. 485 Aus diesem Grund erklärt Herms die phä‐ nomenologische Vollzugsform von Theologie und ein angemessenes Ver‐ ständnis von Offenbarung – als Theorie des Gegenstandsbezugs von Glau‐ ben und Theologie – zu Bedingungen jeder sachgemäßen Entfaltung der christlichen Lehre. Als Phänomenologie des Glaubens konzipiert, könne die Theologie die Entdogmatisierung im hier skizzierten Sinne befördern, weil sie im Zuge ihres antiautoritären Unternehmens alle menschlichen Autoritätsbeweise für die Begründung des Wahrseins der Christusbotschaft ausschließe. 486 Deshalb habe die Theologie auch keinesfalls die Wahrheit des Glaubens zu beweisen, weil die Selbstgewissheit des Glaubens für sie „nicht Reflexionsresultat, sondern Reflexionsgegenstand“ sei. 487 Herms ur‐ teilt folglich: „Im Ansatz unangemessen ist jeder Versuch der argumentie‐ renden Begründung von christlichem Wahrheitsbewußtsein.“ 488 Stattdes‐ 482 Vgl. Herms, Art. Wahrheit. 483 TaP, 236. In diesem Sinne sei Theologie notwendig „kritische Wissenschaft“, die „den Wahrheitsbegriff anderer Erkenntisbemühungen kritisiert“ und gegen deren entfrem‐ dende Tendenzen gerade den „Begriff wahrer Humanität“ (ebd., 235) geltend mache. Vgl. auch ebd., 216. 484 Ebd., 236. 485 Herms, Sinn, 386. Dieses Unterworfensein gelte allerdings nicht für Gott selbst als den „alle innerweltliche Selektivität der Rationalität unterwerfenden Grund“ (ebd. Herv. im Orig.). 486 Phänomenologie bestimmt Herms der Form nach als „aktiv anerkennende (glaubende) Ausdifferenzierung der passiv konstituierten Selbstgewißheit des Selbst (Erscheinenden, Offenbaren) durch dieses selbst“ (TaP, 207). Hier steht, wie sich durch den einschlägigen Begriff der Phänomenologie bereits nahe legt, neben F. Schleiermacher insbesondere M. Heidegger im Hintergrund. Vgl. dazu auch Goltz, Werden, 246–258. 487 OuG, XIV. Vgl. dazu Härle, Gewißheit, 185–187. 488 Herms, Art. Wahrheit, 375. Zur Unmöglichkeit ‚zwingender‘ Beweisführung vgl. auch TaP, 205.

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sen sei eine nach diesem Programm entdogmatisierte Theologie als „Selbst‐ erfassung des Glaubens“, die der Erscheinung eines ihr vorgegebenen Ge‐ genstand nachdenkt, zu konzipieren. 489 Nun setzen nach Herms bereits „alle möglichen expliziten Konsense über die semantische Konkretisierung und Klärung von theologischen Aussagen einen expliziten Konsens über ihren Gegenstandsbezug voraus“. 490 Dies impliziere für die Theologie eine Bindung an bestimmte Artikulationen des Offenbarungszeugnisses, die sich in der Kirche bewährt und dabei als wahr erschlossen haben – maßgeblich die Schrift. Diese Theologie sei damit zugleich „Auslegung der christlichen Überlieferung und der kirchlichen Lehre im Medium des Denkens“. 491 Ihr Gegenwarts- und Traditionsbezug stehen dabei nicht im Widerspruch zueinander, „weil eben in der selbst‐ reflexiven Wirklichkeit des Glaubens sein verstehender und zustimmender Traditionsbezug mitenthalten“ sei. 492 Die Theologie habe sich um ihrer Sachlichkeit willen an den ihr vorgegebenen Gegenstand des Offenbarungs‐ geschehens und dessen maßgebliche Bezeugungen zu halten und danach zu streben, deren Eigensinn angemessen zu erfassen. Diesen drücke sie sodann „in – nicht beliebigen, sondern rationalen, auf ihre Gegenstandsangemes‐ senheit hin überprüfbaren – theologischen Metaphern“ aus. 493 Die phänomenologische Selbsterfassung des Glaubens durch Lehre und Theologie findet für Herms somit immer im Rahmen eines kirchlichen Lebens- und Kommunikationszusammenhangs statt, der durch die Offen‐ barung begründet ist: „Die kirchliche Lehrbildung und ihre theologisch-wissenschaftliche Rekonstruktion in der Dogmatik ist nichts anderes als die phänomenologische – durch die extern konstituierte Selbstgewißheit des Glaubens ermöglichte und verlangte – Selbstbesin‐ nung des Glaubens auf Ursprung, Wesen und Bestimmung seiner eigenen Wirklich‐ keit.“ 494

Konkret habe die christliche Theologie „alle wesentlichen Momente des Bestimmtwordenseins und des weiteren Bestimmtwerdens dieser Selbstge‐ wißheit und ihres spezifischen transzendentalen Horizonts“ als einheitli‐ 489 490 491 492

OuG, X. TaP, 237. Herms, Wirklichkeit, 319 Herms, Glaube, 458. Herv. TG. Diese immer schon vorausgesetzte Zustimmung zur Tradition wirft freilich die Frage auf, ob Herms in der Durchführung tatsächlich Ernst macht mit seinem antiautoriären Programm einer allein auf die Einsichtigkeit der Sache gestützten Plausibilisierung oder dieses hier bereits wieder unterläuft. 493 Herms, Sinn, 386. Herv. im Orig. 494 OuG, XI. Herv. TG. Vgl. auch Herms, Grundprobleme, 343; vgl. ferner ders., Glaube, 458 f.

Die Lehre im Leben der Kirche

ches Werk des trinitarischen Gottes zur Darstellung zu bringen. 495 Damit sei sie als Phänomenologie der Glaubens zugleich Theologie „im genauen Sinn einer reflexiven Erfassung Gottes in seiner Selbstoffenbarung“. 496 Die Theologie teilt für Herms mit allen Spielarten wissenschaftlicher Arbeit also die inhärente Grenze, das abkünftige „Oberflächenphänomen“ eines vorgängigen Lebensverhältnisses zu sein. 497 Jeder theologische Wahr‐ heitsanspruch bleibe von der Gewissheit des Glaubens abgeleitet und müsse daher auch die Einladung implizieren, von den Adressaten „auf dem Bo‐ den und im Licht der ihnen jeweils erschlossenen Sachwahrheit“ überprüft zu werden. 498 Das Zeugnis für die Wahrheit der Christusbotschaft könne zwar unterschiedliche „Konkretionsgrade“ erreichen, aber nie die Evidenz einer unbezweifelbaren Gewissheit herstellen. 499 Müsse das Offenbarungs‐ zeugnis von Lehre und Theologie also auf jede zwingende Beweisführung verzichten, appelliert Herms stattdessen an das befreiende „Zutrauen“ auf die Selbstdurchsetzungskraft der „Symbole, Texte, Bilder, Riten“, die „in der biblisch-christlichen Überlieferung enthalten“ sind – gerade angesichts der Infragestellung durch andere Religionen und Weltanschauungen. 500 Als ein Kriterium angemessener Lehrartikulationen erscheint somit, dass diese zur Bewährung ihres theologischen Wahrheitsanspruchs ihren Ge‐ genstandsbezug offenlegen und damit auf eine schlechthin vorgegebene Wirklichkeit verweisen müssen, was sie wiederum mit anderen Bezeugun‐ gen dieser Wirklichkeit in eine bestimmte, relativ vorgegebene Überliefe‐ rungsgeschichte einstellt. Sie dürfen nicht einfach im Sinne eines Autoritä‐ tenbeweises auf diese Tradition verweisen oder auch selbst den Anspruch erheben, die hinreichende Begründung ihres Wahrheitsanspruchs zu leis‐ ten. Vielmehr haben sie den Eigensinn der Überlieferung als Einladung zu vertreten, sich selbst der darin bezeugten Wirklichkeit auszusetzen und auf menschlich unverfügbare Weise durch den Geist Gottes von der Wahrheit dieses Zeugnisses überwunden zu werden.

495 TaP, 232. 496 Ebd., 234. 497 Herms, Sinn, 405. Für die Verhältnisbestimmung von wissenschaftlicher Praxis und Offenbarung bzw. Erleben folge aus der Struktur von Erfahrung, dass „alle unsere Ver‐ gewisserungspraktiken nur auf dem Boden von vorgängigen Gewißheiten möglich sind und daß sie auch für ihren Erfolg auf die Kraft des Gewißheit schaffenden Erlebens angewiesen sind“ (WOV, 109). 498 Herms, Art. Wahrheit, 375. Theologie als Phänomenologie könne und dürfe nur zur Erkenntnis des Phänomens selbst einladen, da ihre Resultate „ipso facto ihre Adressaten nach ihrer eigenen Erkenntnis des Erscheinenden“ (TaP, 230) fragen. 499 Herms, Sinn, 404 f. 500 Herms, Rücken, 502. Vgl. dazu Härle, Gewißheit, 186 f.

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6.6.6 Rückblick und Interpretation Von seiner Ekklesiologie aus gelangt Herms zur Notwendigkeit einer Lehr‐ ordnung, die die für das Gottesdienstgeschehen zentrale Wortverkündi‐ gung ordnet sowie deren Ursprungstreue und Gegenstandsbezug sicher‐ stellt. Im sprachlich-ausdrücklichen Offenbarungszeugnis der Lehre behaf‐ tet sich der Glaube selbst bei seinem Wesen als Wahrheitsgewissheit. Als Artikulation von Wahrheitsgewissheit ist die Lehre immer individuell ver‐ antwortet und zugleich auf einen Konsens innerhalb der Kirche ausgerich‐ tet, den sie zum Ausdruck bringen und in den sie wiederum Aufnahme finden möchte. Dabei wird die Lehre von Herms als durchgängig eingebettet in einen Lebenszusammenhang kirchlicher Glaubenskommunikation und gottesdienstlicher Feier verstanden. Dies arbeitet er in seinen Texten zuneh‐ mend deutlicher heraus, indem er die Erfüllung des Gründonnerstagsgebots als Urvollzug der Kirche und ‚Kanon der Kanonisierung‘ zur Geltung bringt. Die Funktion der Lehre ist hier allerdings nicht ausschließlich auf die Bin‐ nenkommunikation der Kirche beschränkt, weil das Offenbarungszeugnis der Kirche immer schon den apologetischen Auftrag impliziert, in die Aus‐ einandersetzung mit anderen Perspektiven einzutreten. Von anderen universalisierenden und spezifisch disziplinierten Sprach‐ formen ist die christliche Lehre bei Herms durch ihren semantischen Bezug auf das Offenbarungsgeschehen, nicht aber durch ihre syntaktische Struk‐ tur unterschieden. Pragmatisch kann die Lehre unterschiedliche Funktio‐ nen innerhalb der Kirche erfüllen. Ausgehend von den Kommunikations‐ bedürfnissen der Kirche kommt Herms somit zu einem weiten, in sich nach verschiedenen Zweckzusammenhängen differenzierten Lehrbegriff. Durch den Bezug auf verschiedene Adressatenkreise und Zweckzusammenhänge bilden sich Untergattungen der Lehre heraus, wobei der Reproduktion des ursprungstreuen Glaubenszeugnisses in Unterweisung und Verkündigung eine für alle weiteren Funktionen fundierende Bedeutung zukommt. Die Lehre selbst bringt niemals als hinreichende Ursache den Glauben hervor, aber artikulierte Offenbarungszeugnisse sowie auch ein Lehrkonsens über den Inhalt und Vollzug dieses Zeugnisses sind für Herms notwendige Be‐ dingungen des Erschließungsgeschehens, bei dem sich der Heilige Geist in der Glaubenskonstitution des menschlichen Überlieferungshandelns frei bedient. Dass sich eine Lehrgestalt innerhalb der Kirche als Konsens impo‐ niert, ist von menschlicher Seite her ebenfalls unverfügbar und geschieht durch den Geist – die Kanonisierung der biblischen Schriften ist für Herms das maßgebliche Modell, wie sich ein solcher Konsens ausgehend von der liturgischen Praxis der Gemeinden einstellt. Aufgrund ihres Wahrheitsanspruchs und ihrer Unterschiedenheit vom Bezeugten selbst ist jede konkret-sprachliche Artikulation von Lehre po‐

Die Lehre im Streit der Wahrheitsansprüche

tentiell strittig und der Kritik unterworfen. Als zentrale Kriterien rechter, das heißt sachlich ihrem Gegenstand angemessener Lehre bestimmt Herms daher ihre Ursprungstreue und Konsensfähigkeit. Für die Ursprungstreue ist zunächst die Selbstunterscheidung der Lehre von der Offenbarung er‐ forderlich – die Lehre überliefert nicht die Offenbarung selbst oder deren Inhalt, sondern bezeugt das Offenbarungsgeschehen im Rückgriff auf einen Überlieferungszusammenhang. Auch die biblischen Schriften stehen als Kanon und Maßstab nicht jenseits, sondern innerhalb dieses umfassenden Überlieferungszusammenhangs. Als geschichtliche Muster der christlichen Kommunikation über das Alte Testament im Lichte des Christusgesche‐ hens erfüllen insbesondere die neutestamentlichen Schriften die Funktion, eine Beziehung zum bleibend bestimmenden, sich selbst vergegenwärtigen‐ den Ursprungsgeschehen der Kirche aufrecht zu erhalten. Die Bekennt‐ nisse wiederum orientieren innerhalb einer Kirche hinsichtlich des rechten Verständnisses der Schrift, weil sie als herausragende Manifestationen des kirchlichen Lehrkonsenses gelten, als solche Achtung verdienen und nicht zuletzt auch rechtlich verbindlich geworden sind. Sachgemäße und ihrer Form nach konsensfähige Lehrartikulationen zeichnen sich ferner durch die theologisch geschulte Disziplin aus, die bei ihrer Formulierung zur Anwendung kommt – sprachliche Disziplin hin‐ sichtlich ihrer Klarheit, hermeneutische Disziplin hinsichtlich ihres Um‐ gangs mit der kanonischen Schrift und deren Eigensinn. Dabei ist darauf zu achten, dass Lehraussagen niemals als inhuman-objektivistische Sprachflos‐ keln den Weg zur individuellen Aneignung ihres Sachgehalts und zum per‐ sönlichen Ausdruck des Glaubens verstellen. Aufgrund ihrer spezifischen Sachlichkeit eignet für Herms der reformatorischen Lehre vielmehr immer ein autoritätskritisches und freiheitsförderliches Moment – da sie die Un‐ verfügbarkeit der Offenbarung wahrt und auf unverfügbare, schlechthin persönliche Einsicht zielt, erlaubt sie, Gottes alleinige Autorität über die Gewissen gegen alle kirchlichen oder anderweitigen Autoritätszumutungen ins Feld zu führen. 501 6.7 Die Lehre im Streit der Wahrheitsansprüche Herms leitet die Lehre als unverzichtbare Konsensartikulation aus dem Überlieferungszusammenhang der Kirche ab, wie ihn das Offenbarungsge‐ schehen selbst aus sich heraussetzt, um geschichtlich als Grund und Gegen‐

501 Vgl. auch die Würdigung dieses autoritätskritischen Wahrheitsbezugs bei Härle, Ge‐ wißheit, 186–189.

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stand des Glaubens fortzuwirken. Allerdings lässt sich die Bedeutung der Lehre und damit auch die Behandlung des Lehrproblems bei Herms nicht auf den Binnenraum innerkirchlicher Kommunikation beschränken. Dem christlichen Glauben eigne nämlich ein spezifischer Wahrheitsanspruch, den er allen Manifestationen christlicher Lebensführung und insbesondere seinen sprachlichen Artikulationen mitteile. Jede gestaltgebende Darstel‐ lung der christlichen Glaubensgewissheit weist für Herms daher eine apolo‐ getische Dimension auf. Apologetik versteht er dabei nicht lediglich defen‐ siv als Verteidigung des Christentums gegen seine Infragestellung, sondern in einem weiteren Sinne „als positive Darstellung des christlichen Glaubens in seiner wesentlichen Eigenart“. 502 Die apologetische „Anerkennung einer vorgegebenen Kommunikations‐ situation“ meine also keinesfalls einseitige Anpassung an fremde Erwartun‐ gen, sondern vielmehr die Selbstbehauptung in einer Konflikt- oder „Kon‐ kurrenzsituation“. 503 Das Wahrheitsbewusstsein des christlichen Glaubens müsse den Anspruch erheben, „alle anderweit überhaupt mögliche Wirk‐ lichkeitserkenntnis“ zu überbieten und in sich aufzuheben, weil sich der Glaube selbst verstehe als offenbarte (und deshalb schlechthin gewisse) „Er‐ kenntnis Gottes, der die Wahrheit selber ist“. 504 Diesen Wahrheitsanspruch erhebe der christliche Glaube einerseits im Namen einer „objektiv vorge‐ gebenen Überlieferung“, aber andererseits immer auch „für eine jeweils in einer bestimmten Gegenwart einleuchtende Wahrheit“, womit gerade die Übereinstimmung zwischen „überlieferter und gegenwärtig selbst eingese‐ hener Wahrheit“ behauptet werde. 505 Der christliche Glaube beanspruche zudem notwendig, ein „inhaltlich identisches Wahrheitsbewußtsein“ aus‐ zuprägen, das die wahren Christen zu allen Zeiten und an allen Orten vereine. 506 Dieser Anspruch führe angesichts der konkurrierenden Ansprü‐ che der christlichen Kirchen und ihrer Lehrtraditionen zum Sonderfall der ökumenischen Problematik. 507 Als theologisches Grundproblem erscheint hier die Spannung zwischen Universalität und Partikularität der Glaubensgewissheit. Zwischen deren schlechthin universalem Inhalt und der gänzlich unverfügbaren Weise ih‐ 502 Herms, Rücken, 487. Entsprechend sei Apologetik kein Abweg, sondern die Urgestalt christlicher Theologie und Reaktion auf ein bleibendes Kommunikationsbedürfnis der Kirche. 503 Ebd., 491. 504 Herms, Art. Offenbarung, 201. Herv. im Orig. Konkret erweise sich Gott in Christus als die absolute „Identität von Wahrheit und Liebe“ (ebd.). 505 Herms, Rücken, 511 f. Vgl. auch die Formulierung: „nur aus Gegenwart auf Gegenwart hin“ (ebd., 512. Im Orig. teilw. kursiv). 506 Ebd., 513. 507 Siehe auch oben, 472.

Die Lehre im Streit der Wahrheitsansprüche

res Zustandekommens scheint ein Widerspruch zu bestehen: „Für den Inhalt der Gewißheit – Wahrheit für alle Menschen – ist wesentlich: Zu‐ gänglichkeit für jedermann. Hingegen für ihr Zustandekommen: Unver‐ fügbarkeit sogar für den Betroffenen“. 508 Diese Spannung ist laut Herms allerdings kein Sonderproblem der christlichen Glaubensgewissheit, son‐ dern das grundlegende Problem jeder konkreten Wirklichkeitsauffassung. Schlechthin jede inhaltlich bestimmte Gewissheit setze voraus, dass es in der „Begegnung mit einer bestimmten Tradition geschichtlicher Erfah‐ rung“ zu einer „individuellen unverwechselbaren Erschließungssituation“ komme, wobei deren Geschichtlichkeit und Individualität „selbst mit in den Inhalt dieser Gewißheit“ aufgenommen werde. 509 Für jedes konkrete Wirklichkeitsverständnis gelte daher, dass es seine unverwechselbare Spitze erst in Aussagen erreiche, die „zwar denkmöglich, aber keineswegs denk‐ notwendig sind“. 510 Die Konkretheit einer Wirklichkeitsauffassung steht bei Herms also in einem inneren Zusammenhang mit ihrer unhintergeh‐ baren Perspektivität. 511 Die Einsicht in diese Perspektivität sei jedoch kein Grund für relativistische Skepsis, sondern die „Bedingung jeder möglichen Gewinnung und Kommunikation von Erkenntnis unter Menschen“. 512 Das Offenbarungsgeschehen der Christusoffenbarung erschließe daher auch keine Sonderwirklichkeit. Vielmehr sei die christliche Wirklichkeitsauf‐ fassung mit allen konkret bestimmten und deshalb konkurrierenden Per‐ spektiven „auf einen in sich identischen Gegenstand bezogen“ 513 – die hierarchische Struktur von Selbst-, Welt- und Ursprungsverhältnis, die alle endliche Personalität auszeichne. Für den Glauben selbst als konkrete Wahrheitsgewissheit sei dieser Kon‐ flikt der Perspektiven – zumindest Herms zufolge – immer schon aufgelöst. Doch die Frage, die sich mit der Spannung von Universalität und Partiku‐ larität des Glaubens anmeldet, nötige ihn dennoch dazu, das Verhältnis des christlich-protestantischen Wirklichkeitsverständnisses zu anderen Gestal‐ ten der Selbst-, Welt- und Transzendenzgewissheit theologisch zu klären. Damit sei nicht zuletzt die Anfrage verbunden, ob sich dieses Konzept von Glaubensgewissheit mit den praktischen Erfordernissen des ökume‐ 508 OuE, 246. Herv. im Orig. Weil dieses Verhältnis von Partikularität und Universalität in der Geschichte der Theologie oft nicht angemessen erfasst worden sei, wurden verschie‐ dene Abwege beschritten, vgl. dazu Herms, Art. Wahrheit, 375 f. 509 Herms, Rücken, 499. Vgl. auch ebd., 512. Zu diesem Erschließungsgeschehen und seiner Struktur siehe oben, 6.3.3. 510 Ebd., 506. 511 Vgl. ebd., 514 f. 512 Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 365. 513 Herms, Rücken, 513. Vgl. OuE, 271. Vgl. zu dieser Grundstruktur Munzinger, Welt, 168; 178.

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nischen Dialogs und des interreligiösen Miteinanders verträgt. Spielt für die Ausarbeitung des eigenen Ökumeneverständnisses bei Herms zunächst die Auseinandersetzung mit einem Vorstoß der katholischen Theologen Karl Rahner und Heinrich Fries eine wichtige Rolle (6.7.1), beantwortet er diesen auf Grundlage seines Offenbarungsverständnisse mit einem evan‐ gelischen Gegenentwurf (6.7.2 und 6.7.3). Die in diesem Zusammenhang gewonnenen Einsichten lassen sich nach Herms wiederum generalisieren und auf das Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft allgemein an‐ wenden (6.7.4). 6.7.1 Die ökumenische Herausforderung des Rahner-Plans Detailliert setzt Herms sich erstmals in seiner 1984 erschienenen Schrift Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen mit der Frage ausein‐ ander, wie sich die unterschiedlichen konfessionellen Gestalten des Chris‐ tentums zueinander verhalten. Dieser Text ist eine Auseinandersetzung mit dem sog. „Rahner-Plan“ zur Vereinigung der protestantischen Kirchen mit der römisch-katholischen Kirche, wie er in einem 1983 veröffentlichten Text der katholischen Theologen Karl Rahner und Heinrich Fries entwor‐ fen wird. 514 Dem Vorstoß der katholischen Theologen setzt Herms eine ei‐ gene Leitvorstellung von Ökumene entgegen, für die eine „klare Erfassung und Achtung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Gestalten des christlichen Bewußtseins und des christlichen Lebens“ bestimmend sein soll. 515 Seine Auseinandersetzung mit den Vorschlägen von Rahner und Fries hat für Herms daher exemplarischen Charakter. Er erhebt mit seiner Antwort den Anspruch, eine grundsätzliche Klärung des protestantischen Ökumeneverständnisses herbeizuführen. Neben einzelnen wahrheits- und erkenntnistheoretischen Vorausset‐ zungen des katholischen Vorschlags kritisiert Herms insbesondere das zu‐ grundeliegende ökumenepolitische Programm, welches auf die „kirchliche Durchsetzung einer bestimmten theologischen Überzeugung“ abziele. 516 Diese Überzeugung sei, dass die reformatorische Lehre in der Fülle der Wahrheit, wie sie die römische Lehre verkörpere, implizit mitenthalten sei. 517 Für die kirchenpolitische Umsetzung des angestrebten Vereini‐

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Vgl. Fries/Rahner, Einigung. Herms, Einheit, 5. Ebd., 35. Der Zustand, der durch eine faktische, wenn auch stillschweigende Anerkennung des römischen Lehramts und seiner Unfehlbarkeit durch die Protestanten erreicht werden solle, sei dabei folgendermaßen zu charakterisieren: „Die reformatorische Lehrposition wird in einem weiten Sinne römisch. Dabei gilt, daß gerade diese weite, die ‚reformatori‐

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gungsprozesses, im Zuge dessen die römische Kirche „innerhalb ihres insti‐ tutionellen und organisatorischen Gefüges“ Raum für das reformatorische Christentum schaffen soll, erscheine den Autoren daher als entscheidende Bedingung, dass zunächst „die kirchliche Öffentlichkeit im Protestantis‐ mus in ähnlicher Weise von oben her bestimmbar“ werde wie im Katho‐ lizismus. 518 Sie sehen den Protestantismus auf diesem Weg bereits weit fortgeschritten. Herms allerdings kritisiert, dass dieser Einschätzung eine „interpretatio Romana der ökumenischen Bewegung im Bereich des Pro‐ testantismus“ zugrunde liege, wie sie vor allem die Zeitdiagnose des Zwei‐ ten Vatikanischen Konzils für das römisch-katholische Ökumenemodell fruchtbar gemacht habe. 519 Diese Einschätzung sei eher von den Voraus‐ setzungen und Erfordernissen der römisch-katholischen Dogmatik geprägt als von einer unvoreingenommenen Wahrnehmung der Gegenwart. Eine weitere Zeitdiagnose erfüllt laut Herms ebenfalls eine zentrale Funktion für die Argumentation der katholischen Autoren: Die „gesamtge‐ sellschaftliche Differenzierung des Wissens“ habe in der Spätmoderne eine Komplexität erreicht, welche die Einzelnen nicht mehr rational bewältigen können, so dass die Komplexität „in Entdifferenzierung des individuellen Bewußtseins und damit dann rückwirkend wiederum der gesamten öffent‐ lichen Meinung“ umschlage. 520 Sei diese Entwicklung auch für die katholi‐ schen Autoren prinzipiell bedauerlich, befördere sie doch die Möglichkeit einer Vereinigung der Kirchen. Denn die Entdifferenzierung des öffentli‐ chen Bewusstseins führe zu einem erstarkenden „Bedürfnis nach autoritati‐ ven Garantieren für die Anteilhabe an gesellschaftseinheitlich anerkannter und garantierter Wahrheit“. 521 Herms stellt diese Zeitdiagnose nicht grund‐ sätzlich in Frage, wendet sie allerdings kritisch auf die Autoren des Rahner‐ Plans zurück: Diese selbst tragen zur Entdifferenzierung bei, weil sie nicht die „Deutlichkeit und Unmißverständlichkeit“ der dogmatischen Aussage anstreben, sondern lediglich eine „praktisch möglichst breite Zustimmung“ zum Dogma der katholischen Kirche erzielen wollen. 522

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sche‘ Theologie einschließende Position die spezifisch römische – nämlich katholische, alle Wahrheit in sich enthaltende – ist.“ (ebd., 33). Ebd., 34 f. Ebd., 64. Das Ökumenismusdekret Unitatis redintegratio meine, im zeitgenössischen Protestantismus eine Sehnsucht nach der Vereinigung mit Rom sowie eine „Abstoßung des Individualismus“ (ebd., 69) zu erkennen, wie er vormals besonders für das Luther‐ tum prägend gewesen sei. Zur Auseinandersetzung mit dem konziliaren Ökumenismus, vgl. ebd., 62–71. Ebd., 40. Ebd. Ebd., 44. Zur rhetorischen Verschränkung dogmatischer und zeitdiagnostischer Argu‐ mente in Rahners Vorschlag, die Herms zurückweist, vgl. ebd., 177 f.

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Am Rahner-Plan kritisiert Herms daher besonders scharf, dass die „das Gewissen bindenden Wahrheitsüberzeugung“ der Glaubenden zugunsten vordergründiger Übereinstimmung eingeklammert oder sogar „systema‐ tisch vergleichgültigt“ werden soll. 523 Der römisch-katholischen Konzils‐ theologie allgemein macht er zum Vorwurf, dass sie mit ihrer Terminolo‐ giepolitik bewusst auf die „Uneindeutigkeit von strukturbildenden Grund‐ worten“ gesetzt habe, um den Schein eines ökumenischen Konsenses zu erzeugen und dem Protestantismus ein katholisches Verständnis seiner Grundbegriffe unterzuschieben. 524 Der römischen Kirche stehe diese Stra‐ tegie terminologischer Verschleierung zur Verfügung, weil sie sich im Unterschied zur evangelischen „nicht über einen diskursiv gewonnenen Konsens, sondern grundlegend vorsprachlich durch die praktizierte Ge‐ meinschaft mit der Hierarchie“ identifiziere. 525 Deshalb seien semantische Unschärfen für die Institution Kirche erträglich, solange nur die interne Öffentlichkeit der Amtsträger unter lehramtlicher Kontrolle bleibe. 526 Nach evangelischem Verständnis gründe dagegen – so Herms – der Zusammenhalt der Kirche allein in einem bewussten und sprachlich ar‐ tikulierten Sachkonsens, der „durch öffentliches Lehren und öffentliches Beurteilen von Lehre gewonnen“ und reproduziert werde. 527 Deshalb sei es zentrale Aufgabe des evangelisch verstandenen Amtes, die Sprachkom‐ petenz und damit die Mündigkeit innerhalb der kirchlichen Öffentlichkeit 523 Ebd., 94. Herms wirft den Autoren vor, mit ihrer Konzeption wieder hinter die Würdi‐ gung der Personalität und Gewissensfreiheit zurückzufallen, die im Zweiten Vatikani‐ schen Konzil ausgesprochen und lehrmäßig verankert wurde. 524 Ebd., 72. Zu den betreffenden Begriffen gehören Herms zufolge nicht zuletzt die Zen‐ tralbegriffe ‚Offenbarung‘ und ‚Glaube‘, vgl. ebd., 77f; 93 f. Für eine detaillierte Ausein‐ andersetzung mit dem Offenbarungsverständnis der römisch-katholischen Theologie vgl. auch Herms, Art. Offenbarung, 167–169; 173f (Tridentinum und Barockscholastik) sowie 182–189 (seit der Aufklärung). 525 Herms, Einheit, 73. Nach römisch-katholischem Verständnis sei die Hierarchie als Mitt‐ lerin der Offenbarung „selbst durch die Gegenwart des göttlichen Traditionsgutes in ihr definiert und qualifiziert“ (ebd., 79) und bilde damit zugleich das „Prinzip und Funda‐ ment der kirchlichen Einheit“ (ebd., 84), vgl. ebd., 79–87. 526 Vgl. ebd., 73. Was diesen lehramtlichen Anspruch auf Kontrolle betrifft, relativiert laut Herms das Zweite Vatikanische Konzil keinesfalls den päpstlichen Primat und die Un‐ fehlbarkeit päpstlicher Ex-cathedra-Entscheidungen, wie sie im Ersten Vatikanischen Konzil fixiert worden waren. Vielmehr sei der Anspruch diese Lehre durch den Versuch einer biblischen Begründung noch einmal untermauert worden, vgl. ebd., 74–79. Auch bei der Subsistenzaussage in der Kirchenkonstitution Lumen Gentium 8 (DH 4119) habe man es mit einer „Intensivierung und Ausdehnung“ (ebd., 88) des römisch-katholi‐ schen Anspruchs zu tun, insofern erst auf dieser Grundlage Elemente der christlichen Wahrheit außerhalb der römischen Kirche denkbar werden, die im Zuge ökumenischer Bemühungen in diese einzugliedern seien. 527 Ebd., 73.

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zu befördern. Dazu gehöre nicht zuletzt, auf eine „hinlängliche Eindeutig‐ keit der derjenigen Leitausdrücke“ hinzuarbeiten, die für diesen Lehrdis‐ kurs unverzichtbar seien. 528 Auch mit Blick auf die Gesellschaft habe die evangelische Kirche deshalb die Aufgabe „einer aktiven Verantwortung für die Herausbildung und die Erhaltung der Kommunikationsfähigkeit“ zu übernehmen, weshalb ganz allgemein der „semantischen und syntaktischen Ungenauigkeit des Redens nicht Vorschub geleistet werden“ dürfe. 529 Mit dieser Aufgabe aber sei eine Strategie terminologiepolitischer Verschleie‐ rung nicht vereinbar. Das evangelische Verständnis der kirchlichen Öffentlichkeit und die damit einhergehende Sendung in die Gesellschaft sind für Herms im re‐ formatorischen Amtsverständnis begründet, welches wiederum aus dem Offenbarungsverständnis erwächst. 530 Aus diesem folge die grundlegende Regel, dass sich alles menschliche Handeln in der Kirche „explizit gegen das Verwechseltwerden mit dem göttlichen Offenbarungshandeln selber“ zu schützen habe. 531 Dies erfordere, dass gerade in Sakramentsverwaltung, Lehre und Kirchenordnung der kirchliche Dienst am Wort sich „unmißver‐ ständlich von dem Offenbarungshandeln des göttlichen Geistes unterschei‐ det“. 532 Evangelische Lehre verstehe sich daher nicht als unfehlbare Ausle‐ gung und erst recht nicht als Überlieferung der Offenbarung. Sie begreife sich als allein durch das göttliche Offenbarungshandeln dazu bestimmt und befähigt, auf unverfügbare Weise „von Gott selber zur Vollendung seines Offenbarungshandeln“ in Dienst genommen zu werden. 533 Diese funda‐ mentalen Unterscheidungen führen als Konsequenz notwendig die Kriti‐ sierbarkeit allen kirchenordnenden Handelns und die Korrigierbarkeit aller kirchlicher Lehre mit sich. Herms sieht diese Einsichten in der römisch-ka‐ tholischen Theologie, insbesondere in ihrem Amtsverständnis, zumindest vernachlässigt, wenn nicht grundsätzlich verfehlt. Bei der Selbstunterscheidung des kirchlichen Zeugnishandelns von der Offenbarung geht es für Herms um nichts weniger als die zentrale refor‐ matorische Einsicht Luthers, weil für ihn das reformatorische Offenba‐ rungsverständnis notwendiges Implikat der Rechtfertigungslehre – refor‐ 528 Ebd., 74. 529 Ebd., 126. Eine wichtige sozialethische Aufgabe der reformatorischen Kirchen sei, allen „Entdifferenzierungs- und Verdummungstendenzen der spätindustriellen Gesellschaft entgegenzuwirken“ (ebd., 189). 530 Vgl. ebd., 112 f. 531 Ebd., 114. Im Orig. kursiv. 532 Ebd. Im Original kursiv. Vgl. ebd., 116: „Der Dienst des Wortes ist ein im Gehorsam des Glaubens vollzogenes menschliches Werk. Als solches ist er nicht ein Handeln Gottes, sondern ausschließlich ein von Gott gebotenes menschliches Handeln“. 533 Ebd., 115.

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matorisch der articulus stantis et cadentis ecclesiae – ist. 534 Gleichzeitig sei auch das römisch-katholische Papstdogma „das Integral und der poin‐ tierte Ausdruck der römischen Gnadenlehre und Ekklesiologie“, weil sich darin präzise die Vorstellung von Offenbarung als Inbegriff tradierbarer, objektiv wahrer Sätze ausdrücke. 535 Es sei die ökumenische Sendung der reformatorischen Theologie, diesen im Wortsinne katholischen Grundsatz der Unverfügbarkeit des Offenbarungsgeschehens zu bezeugen und darauf hinzuwirken, dass dieser auch allgemein anerkannt werde. 536 Mit Protestantismus und Katholizismus stellt Herms folglich zwei Posi‐ tionen gegenüber, die sich in ihrem Offenbarungs- und Kirchenverständnis als „exklusive Alternativen“ zueinander verhalten, aber beide auf die Schrift berufen können. 537 Allein auf der Basis des biblischen Ursprungszeugnisses sei dieser Gegensatz nicht zu entscheiden. 538 Da es beim Offenbarungsver‐ ständnis um Gegenstandsbezug und Gegenstandsgewissheit der Theologie, mithin das „zentrale Thema der dogmatischen Prinzipienlehre“ gehe, lasse sich der Gegensatz nicht in einzelnen materialdogmatischen Problemkom‐ plexen isolieren. 539 Ein solcher Fundamentalwiderspruch habe vielmehr zur Folge, dass auch dort, wo man sich einig scheint – etwa bezüglich des Kanons oder der altkirchlichen Bekenntnisse –, unter der Oberfläche des Einverständnisses ein grundsätzlicher Dissens fortbestehen müsse. Mit diesem fundamentalen Gegensatz steht für Herms auch nichts Geringeres als die Identität der beiden Konfessionen auf dem Spiel. 540 Er weist Rah‐ ners „Versuch, das römische Dogma so einladend vorzutragen, daß die

534 Vgl. ebd., 139 f. Herms zielt auf den Nachweis, dass die Exkommunikation Luthers genau aus diesem Widerspruch gegen das römische Offenbarungsverständnis resultiert habe, wobei Luther sich mit seiner Berufung auf die Evidenz des Gewissens zurecht auf einen „genuin christlichen, allgemeinen, das Wesen der christlichen Sittlichkeit anrührenden“ (ebd., 142), d.h.: katholischen Grundsatz berufen habe. 535 Ebd., 145. Vgl. ebd., 158. 536 Vgl. ebd., 144. Auffällig ist, dass Herms in seiner Schrift durchgängig vermeidet, der ‚römischen‘ Theologie das Attribut ‚katholisch‘ zuzuordnen, das er stattdessen etwa für Luthers reformatorische Einsicht heranzieht. Die vorliegende Arbeit folgt Herms in die‐ sem Sprachgebrauch nicht. 537 Ebd., 124. 538 Erst das Offenbarungsverständnis entscheide nämlich über „das Verhältnis der Überlie‐ ferungstätigkeit zum Offenbarungsgeschehen“ (ebd., 114) und damit implizit auch über das angemessene Schriftverständnis. Deshalb greife der Streit darum, welche Position die Bibel auf ihrer Seite habe, zu kurz. Vgl. zu diesem Thema auch Herms, Offenbarung, 213–216. 539 Herms, Einheit, 139. 540 Vgl. ebd., 143 f. Für eine Rekonstruktion und Beurteilung der durch Herms geäußerten und mehrfach wiederholten Kritik am katholischen Offenbarungsverständnis vgl. auch Goltz, Werden, 333–346.

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maßgeblichen Personen der reformatorischen Kirchen sich für sie erwär‐ men können“, somit strikt zurück, weil das reformatorische Verständnis der Offenbarung der lehramtlich-katholischen Konzeption fundamental und „kontradiktorisch“ widerspreche. 541 Entsprechend weist Herms auch einen Vorschlag Eberhard Jüngels ab, die reformatorische Kategorie der Adiaphora für die im Rahner-Plan identifizierten Teilprobleme fruchtbar zu machen. Solche Mitteldinge könne es hinsichtlich strittiger Lehre und in statu confessionis gerade nicht geben, sondern dieser Status sei allein bei Unterschieden in Liturgie und Kirchenordnung einzuräumen. 542 Die‐ sem Urteil ist grundsätzlich zuzustimmen, wobei die entscheidende Frage bleibt, ob man den von Herms konstatierten Fundamentalgegensatz im Of‐ fenbarungsverständnis ebenfalls für unüberwindbar hält. 6.7.2 Eine reformatorische Alternative? Herms belässt es nun nicht bei dieser Kritik am Plan der katholischen Theo‐ logen, sondern er unterbreitet den Gegenvorschlag eines eigenen, mit der reformatorischen Theologie vereinbaren Ökumenemodells. Der kontradik‐ torische Gegensatz sei auf der Ebene der Lehre tatsächlich nicht aufzuhe‐ ben, „solange die beiden Positionen in ihrer Identität erhalten bleiben“. 543 Nur auf der Grundlage eines „klaren und offen anerkannten Differenzbe‐ wußtseins“ 544 könne man in einen symmetrischen Dialog treten, der sich von der bisherigen ökumenischen Praxis durch eine Steigerung von Realis‐ mus und Empathie, aber auch mehr Redlichkeit und das Vertrauen auf die „Evidenz der strittigen Sache selbst“ 545 unterscheide. Herms strebt daher eine „Ökumene der konstruktiven Spannung“ an, in der die grundlegenden Gegensätze nicht verschleiert, sondern vielmehr klar herausgearbeitet wer‐ den. 546

541 Herms, Einheit, 136. Wenn andere evangelische Theologen aufgrund der verbesserten Atmosphäre zwischen den Konfessionen dies verkennen, dann handle es sich folglich um bloße Selbsttäuschung, die aus einer thematischen Verengung des ökumenischen Dialogs sowie den dort wirksamen Diskursregeln resultiere, die sich „tabuisierend und erkenntnisverhindernd“ (ebd., 149) auswirken. Vgl. auch ebd., 179. 542 Vgl. ebd., 168–177. Des weiteren wirft Herms Jüngel eine mangelhafte Unterscheidung von Bezeugung und Repräsentation des Bezeugten vor sowie die Tatsache, dass er wie Rahner historische und dogmatische Argumente unzulässigerweise vermische, vgl. ebd., 162–168; 177 f. Für Jüngels Text vgl. Jüngel, Einheit. 543 Herms, Einheit, 200. Herv. im Orig. 544 Ebd., 184. 545 Ebd., 186. Dieses Vertrauen glaubhaft und überzeugend zum Ausdruck zu bringen, sei zugleich der zentrale ökumenische Dienst der reformatorischen Kirchen. 546 Ebd. 189. Vgl. auch ebd., 183 f.

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Ist damit jeder Weg für eine weitere Annäherung oder gar Einigung der Kirchen versperrt? Herms verneint dies. Bedingung für eine gelin‐ gende Verständigung und Fortschritte der Ökumene sei vielmehr zunächst „die wechselseitige Anerkennung, daß alle Seiten sich in der gleichen Lage befinden“, nämlich: nur „im Rahmen der Spielräume jeweils ihrer Sach‐ gewißheit“ frei zu sein. 547 Herms sieht grundsätzlich beide Seiten in der Pflicht, ihre Spielräume besser auszuschöpfen, doch attestiert er faktisch vor allem der römisch-katholischen Seite Versäumnisse. Aus evangelischer Perspektive sieht er zumindest die entscheidende Einsicht schon erreicht, die darin bestehe, dass der Gegensatz der Konfessionen – trotz seines kon‐ tradiktorischen Charakters – „nicht auf der Ebene der Offenbarung selbst liegt, sondern lediglich auf der Ebene der theologischen Beschreibung der Offenbarung“. 548 Dies bedeute eine spezifische Relativierung der Lehrun‐ terschiede: Es dürfe „keiner Gestalt theologischer Lehre die Kraft zuerkannt werden, die unfehlbare Lehre des Geistes selbst endgültig außer Kraft setzen zu können“. 549 Aus evangelischer Perspektive sei deshalb das Urteil, dass in einer Kirche „Mängel der theologischen Theorie“ bestehen, schon jetzt nicht ausreichend, um eine „Aufkündigung der christlichen Glaubens- und Lebensgemeinschaft“ zu rechtfertigen. 550 Wo sieht Herms nun Spielräume auf Seiten der römisch-katholischen Kirche, die noch nicht ausreichend ausgeschöpft sind? Schon die Exkom‐ munikation Luthers und damit die Spaltung der Kirchen führt Herms dar‐ auf zurück, dass die römische Seite Luthers Theologie „nicht nur lehrmä‐ ßig als einen kontradiktorischen Gegensatz empfand“, sondern darin zu‐ gleich einen mit der Kirchengemeinschaft unvereinbaren praktischen Wi‐ derspruch sah, der die Exkommunikation fordere. 551 Würde dieses Urteil revidiert, wäre es möglich, auch die praktische Konsequenz einer Exkom‐ munikation und die damit unausweichliche, aber eigentlich „unerwünschte Folge des Beziehungsabbruchs“ zu vermeiden. 552 Die katholische Kirche könnte auf der Basis dieser Unterscheidung protestantischen Christen, aber auch Abweichlern innerhalb der römisch-katholischen Kirche eine „provi‐ dentiellen Behindertheit oder Eingeschränktheit der freien Zustimmungs‐ fähigkeit“ attestieren und deren Gewissensfreiheit gegenüber „bestimmten

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Ebd., 161. Herv. im Orig. Herms, Offenbarung, 216. Ebd. Ebd. Folge dieser Einsicht sei die Einladung zur Interkommunikation, welche die VELKD an römisch-katholische Christen ausgesprochen hat. 551 Herms, Einheit, 142 f. 552 Ebd., 195.

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Ansprüchen der Hierarchie“ respektieren. 553 Für dieses Zugeständnis sei gerade kein Verzicht auf eigenen Wahrheitsanspruch erforderlich und auch nicht die Aufgabe der „eigenen Rechtsansprüche auf alles Christliche auch außerhalb der römischen Kirche“. 554 Vielmehr erkenne das Lehramt damit lediglich an, dass „von niemandem für irgendeine Definition ein unsittli‐ cher apersonaler Gehorsam verlangt werden“ dürfe. 555 Herms äußert die Hoffnung, dass eine solche Selbstbeschränkung angesichts der Gewissens‐ bindung der Individuen zunächst den „Widerruf der einmal irrtümlich mit dem Lehrwiderspruch verbundenen Exkommunikation der reformatori‐ schen Theologie und Kirche“ und schließlich auch die „Wiederaufnahme der Abendmahlsgemeinschaft“ nach sich ziehen könnte. 556 Langfristig sei auch denkbar und wünschenswert, dass die Kirchen schrittweise „zu in‐ stitutionellen Formen der einheitlichen Bezeugung des Gegenstands des Glaubens“ gelangen, ohne jedoch die Vielzahl der Kirchen und deren iden‐ titätskonstitutive Lehrgegensätze zum Verschwinden zu bringen. 557 Was diesen Gegenvorschlag betrifft, so kann man mit Fries und anderen Kritikern die Frage stellen, ob es tatsächlich möglich ist, einen kontradikto‐ rischen Grundgegensatz zwischen reformatorischem und römisch-katholi‐ schem Offenbarungsverständnis zu behaupten und dennoch zu vermeiden, dass „der ökumenische Dialog de facto zu einem Kampf um Leben und Tod verschiedener Gestalten christlicher Überzeugung“ verkommt. 558 Herms will mit seinem Modell ausdrücklich plausibel machen, dass „die Treue zur eigenen Grundüberzeugung nicht den offenen oder heimlichen Religions‐ krieg verlangt“ und „die Achtung und Solidarität mit Andersglaubenden nicht das Verschweigen oder die praktische Vergleichgültigung der eige‐ nen Überzeugungen“ bedeuten muss. 559 Dennoch setzt sein Leitmodell von Ökumene, das jede Annäherung als Verschleierung des kontradiktorischen Widerspruchs verdächtig macht, einer echten Würdigung der Differenz und einer gegenseitigen Bereicherung im Dialog sehr enge Grenzen. An‐ gesichts seines konkreten Vorschlages liegt außerdem der Verdacht nahe, 553 Ebd., 191. Für einen konkreten Formulierungsvorschlag, welche Lehraussagen in der Fluchtlinie des Zweiten Vatikanischen Konzils sich das römisch-katholische Lehramt zu eigen machen sollte, vgl. ebd., 190. 554 Ebd., 194. 555 Ebd., 196. Eine solche Gehorsamsforderung gegen die eigene Einsicht sieht Herms da‐ gegen im Programm der erkenntnistheoretischen Toleranz verborgen, wie Fries und Rahner es vertreten. 556 Ebd., 199. 557 Ebd., 201. Vgl. auch Herms, Offenbarung, 216. 558 Herms, Einheit, 200. Im Orig. kursiv. Für Fries’ ausführliche Reaktion auf Herms im Nachwort der Neuauflage vgl. Fries/Rahner, Einigung, 178–189. 559 Herms, Ist Religion noch gefragt?, 43.

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dass Herms den Katholizismus unter der Hand doch auf das reformato‐ rische Offenbarungsverständnis und damit die Struktur der lutherischen Rechtfertigungslehre verpflichten möchte. 6.7.3 Kirchengemeinschaft ohne Lehrkonsens? Diese Anfragen an die praktischen Konsequenzen seines Ökumenemodells sind Herms durchaus bewusst. In seiner Thesenreihe Lehrkonsens und Kir‐ chengemeinschaft arbeitet Herms die Implikationen seines Ökumenever‐ ständnisses hinsichlich des Lehrbergriffs noch einmal in neun erläuterten Leitsätzen aus. Dabei konturiert er seinen Vorschlag, auch ohne einen Lehr‐ konsens auf die Vertiefung der Gemeinschaft zwischen den Kirchen hin‐ zuarbeiten. Ausgangspunkt sind drei mögliche Antworten auf die Frage, wie die „Bedeutung kirchlicher Lehre und einer Übereinstimmung in ihr (Lehrkonsens) für die Kirchengemeinschaft“ konkret zu fassen ist. 560 Mit Blick auf die Kirchengemeinschaft könne man erstens die Irrelevanz oder zweitens die Unabdingbarkeit einer wechselseitig erklärten Übereinstim‐ mung in der Lehre behaupten. Dagegen will Herms als dritte Alternative die eigene Position plausibel machen, dass ein Lehrkonsens nicht als Vor‐ bedingung, aber als das „notwendige Medium für die Erklärung und Prak‐ tizierung der Kirchengemeinschaft“ zu gelten habe. 561 Herms streicht in diesem Zusammenhang noch einmal heraus, dass der Begriff der kirchlichen Lehre „weit oder eng“ verstanden werden könne. 562 Im weiten Verständnis umfasse der Lehrbegriff „den ganzen Umfang der Erfüllung des kirchlichen Auftrags, das Evangelium zu verkünden“, da‐ mit auch die Predigt, die Seelsorge, die Jugendunterweisung und weitere Handlungsfelder kirchlicher Praxis. 563 In seiner engsten Fassung dagegen beziehe er sich nur auf „diejenigen theologischen Texte, die in der Lehr‐ ordnung einer Kirche rechtsförmig als maßgebliche Fixierungen des Inhalts aller jener Verkündigungsvollzüge festgestellt sind“. 564 Dieser enge Sinn sei 560 Herms, Lehrkonsens, 251. 561 Ebd. Vgl. auch Herms, Kirche und Kirchenverfassung, 381: „Die kirchliche Lehre ist nicht der Grund und Gegenstand des Glaubens und der Glaubensgemeinschaft, daher auch nicht Grund der zu erklärenden und zu praktizierenden Gemeinschaft von Orts‐ kirchen (Landeskirchen, Diözesen), wohl aber ist kirchliche Lehre (als Lehre eben über das Verhältnis des Lebens im Glauben zu seinem Grund und Gegenstand) das unabding‐ bare Medium, in dem der verbindliche Grund für die Erklärung und Praktizierung von Kirchengemeinschaft auszusprechen ist“. 562 Herms, Lehrkonsens, 251. Zur Unterscheidung eines weiten, reformatorischen und en‐ gen, auf die kirchliche Lehrordnung bezogenen Lehrbegriffs siehe oben, 464. 563 Ebd. 564 Ebd.

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für die Frage nach dem Verhältnis von Lehrkonsens und Kirchengemein‐ schaft entscheidend. Ein Lehrkonsens zwischen Kirchen liege dann vor, wenn „die rechtsförmige Lehrordnung von Kirchen Texte enthält, die in identischer Gestalt auch in der rechtsförmigen Lehrordnung anderer Kir‐ chen enthalten sind“ – und zwar ohne, dass diese Texte „gegensätzlichen Auslegungsregeln unterworfen“ werden. 565 Herausragendes Beispiel eines solchen Lehrkonsenses sei die Leuenberger Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa von 1973. 566 Für das „Sein der Kirche als communio sanctorum“ sei allein der Glaube grundlegend, weil die Kirche wesentlich „Gemeinschaft der Glaubenden“ sei und daher nur der gemeinsame Glaube auch die „Gemeinschaft aller Kirchen“ begründen könne. 567 Um die Frage nach der Bedeutung des Lehr‐ konsenses für die Kirchengemeinschaft entscheiden zu können, sei also zunächst der Gegenstandbezug von Glaube und Lehre zu bestimmen. Denn wäre der Gegenstandsbezug der Lehre identisch mit dem Gegenstandsbezug des Glaubens, dann müsste der Glaubensgemeinschaft notwendig auch die Übereinstimmung in der Lehre entsprechen. Der Gegenstandsbezug des Glaubens wird nach Herms durch diesen Ge‐ genstand selbst konstituiert, indem sich das „Gegenwärtigsein des dreieini‐ gen Gottes“ so erschließe, „wie es in dessen Eigenidentität, also von sich aus und durch sich selbst, in seiner Möglichkeit und Wirklichkeit hinreichend bedingt ist“. 568 Der Glaube wisse sich „exklusiv durch diesen Gegenstand selbst“ konstituiert und sei deshalb „exklusiv opus Dei“. 569 Auch im Grund‐ akt des Glaubens walte die „Autorität der Wahrheit selbst direkt und unein‐ geschränkt“, was die absolute Gewissheit dieses „geschaffenen unfehlbaren Inneseins von Wahrheit“ begründe. 570 Dieser schlechthin passive Charak‐

565 Ebd. Letzteres sei zwischen der römisch-katholischen Kirche und den lutherischen Kir‐ chen etwa bezüglich der biblischen Texte sowie der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse der Fall. Die Lehrordnung der römisch-katholischen Kirche schließe nämlich anders als die lutherischen die Möglichkeit aus, dass „die biblischen Texte auch als kritische Norm aller jüngeren Texte“ zu gebrauchen und diese gegebenenfalls auch „entsprechend zu korrigieren“ (ebd.) seien. 566 Ebd., 252. Zur Entstehung der Leuenberger Konkordie, ihren theologischen Grundla‐ gen sowie den programmatischen Implikationen für das ökumenische Engagement der evangelischen Kirchen vgl. Behr, Kirchengemeinschaft. Zu Herms vgl. besonders die umfassende Rekonstruktion ebd., 167–220. 567 Ebd., 253. 568 Ebd. 254. Maßgeblich sei hier das „in der Trinitätslehre exegesierte kanonische Selbst‐ zeugnis des Glaubens über seinen Grund, der zugleich sein Gegenstand ist“ (Ebd., 255.) Konzentriert begegne dies etwa in 2Kor 4,6. 569 Ebd. 256. 570 Ebd., 257 f.

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ter eigne dem Glauben, solange er sich als reine Hingabe und Verzicht auf jede Selbstbestimmung vollziehe. Allerdings impliziere der Glaube als Gehorsam notwendig auch „Akte der Selbsthinnahme und damit auch der Selbstbestimmung“. 571 Diese von Glauben geforderten Akte seien immer „vermittelt durch eine Gegenstandsauffassung“ und damit nicht unmittel‐ bar in der Wahrheit, sondern „auf Wahrheit verpflichtet und wahrheitsfä‐ hig“. 572 Sie können dem Glaubensgegenstand entsprechen oder nicht, sind also auch immer kritisch an diesem zu messen und prinzipiell fallibel. Anders als der Glaube sei der Gegenstandsbezug der kirchlichen Lehre nicht exklusiv durch den Gegenstand konstituiert und deshalb auch nicht dem unmittelbaren Walten der Sachwahrheit unterworfen. Bei der Lehre gehe schon in die Konstitution ihres Gegenstandsbezugs immer auch das „Selbstzeugnis des Glaubenden als opus hominis credentis“ oder korrekter: das gemeinschaftliche „opus hominum credentium“ mit ein. 573 Die Lehre sei daher nicht exklusiv auf das Offenbarungsgeschehen selbst, sondern immer auch auf dessen Fortwirken innerhalb des kirchlichen Kommunika‐ tionszusammenhangs bezogen und damit durch eine vorangehende Gegen‐ standsauffassung vermittelt. Sie beziehe sich zunächst einmal immer „auf fallible Gestalten des Selbstzeugnisses des Glaubens“ und sei darüber hin‐ aus in ihrer konkreten Artikulationsgestalt selbst noch einmal „Ausdruck und Resultat fallibler menschlicher Akte“. 574 Daher habe die reformatori‐ sche Theologie zurecht „zwischen dem Gegenstandsbezug des Glaubens in seiner unfehlbaren Wahrheit und dem Gegenstandsbezug kirchlicher Lehre in ihrer Wahrheitsfähigkeit und Fehlbarkeit“ unterschieden. 575 Die „Notwendigkeit kirchlicher Lehre für den leibhaften Glaubensvoll‐ zug des Glaubensgehorsams“ will Herms mit dieser Unterscheidung kei‐ nesfalls bestreiten. 576 Die „Übernahme des immer riskant bleibenden Ge‐ schäfts der Ausgestaltung und Pflege einer fehlbar bleibenden Lehre“ sei um der Ordnung innerhalb der Kirche und ihrer Grundvollzüge willen unaus‐ weichlich. 577 Doch ein Zeugnis könne „dem Bezeugten nur entsprechen“ und dieses niemals „in seiner Eigenidentität und Gegenständlichkeit in sich hineinnehmen“. 578 Allerdings könne die Lehre sich selbst erst dann wirklich 571 572 573 574 575 576 577

Ebd., 258. Ebd. Ebd., 257. Ebd., 258. Ebd., 256. Ebd. Ebd., 259. Die mitunter im protestantischen Bereich vertretene „Behauptung der Ver‐ zichtbarkeit einer rechtsförmigen Lehrordnung für das kirchliche Leben“ (ebd., 252) ist laut Herms nicht überzeugend zu begründen. 578 Herms, Lehrkonsens, 257.

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ihrer Sache gemäß verstehen, wenn sie „sich in ihrem Gegenstandsbezug unterscheidet vom Glauben“. 579 Dazu aber müssen laut Herms „in der nor‐ mativen Lehrgestalt selbst“ deren Selbstunterscheidung vom Glauben sowie ihre sekundäre Abhängigkeit vom Gegenstandsbezug des Glaubens explizit festgehalten werden. 580 Das angemessene Lehrverständnis, der abgeleitete Status von Lehre sowie eine Beschreibung, wie in der Lehre „die Autorität der Wahrheit selber waltet“, müssen dazu selbst lehrmäßig in den Ordnun‐ gen der Kirche verankert werden. 581 Exemplarisch verwirklicht sieht Herms eine solche Klärung wiederum in der Leuenberger Konkordie, welche den Unterzeichnerkirchen keine „Veränderung, Korrektur oder Weiterentwicklung“ ihrer Bekenntnisse zu‐ gemutet habe und als Konsensartikulation dennoch keine „Vergleichgülti‐ gung geltender kirchlicher Lehre“ bedeute. 582 Stattdessen werde „im Me‐ dium der Lehre“ trotz aller weiterbestehenden Differenzen zwischen den Lehrgestalten ein „Konsens über den Grund der Glaubens- und Kirchen‐ gemeinschaft“ erklärt. 583 Auf diese Weise werde die Konsequenz aus der Einsicht gezogen, dass „Gegensätze in der kirchlichen Lehre einfach als solche“ nicht ausreichen, um die „Erklärung und Praktizierung von Kir‐ chengemeinschaft“ zu verhindern. 584 Denn die wahre Einheit, die alle Par‐ tikularkirchen verbinde und so die volle Kirchengemeinschaft ermögli‐ che, gründe allein im Evangelium. Der reformatorische Grundsatz von der Rechtfertigungslehre als dem Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt, stehe dazu gerade nicht in Widerspruch, weil mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre gerade die Unterscheidung des göttlichen Handelns vom Handeln der Glaubenden festgehalten werde. 585 Somit eröffne insbe‐ sondere die recht verstandene Rechtfertigungslehre die Möglichkeit einer Einigung bekenntnisverschiedener Kirchen ungeachtet ihrer bleibend un‐ terschiedlichen Lehrgestalten. Die ökumenischen Bemühungen müssten aus evangelischer Sicht – so folgert Herms – auch gegenüber der römisch-katholischen Kirche auf eine Konsenserklärung nach dem Modell der Leuenberger Konkordie zielen, die für beide Seiten ohne „Uminterpretation oder Umformung der Lehr‐ ordnung“ akzeptabel sein müsse. 586 Eine ökumenische Haltung jenseits 579 580 581 582 583 584 585 586

Ebd., 256. Ebd., 259. Ebd. Ebd., 260. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., 261. Vgl. ebd. Herms urteilt – sicher korrekt – dass der vorliegende Text der Leuenberger Konkordie dafür kaum brauchbar sei.

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von „Unverbindlichkeit und Beliebigkeit“ sei nur möglich, wenn auf allen Seiten eine „positiv verstandene Relativität kirchlicher Lehre“ anerkannt und angesichts „unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Gestalten kirchlicher Lehre“ dennoch ein geordneter Vollzug von Kirchengemeinschaft ange‐ strebt werde. 587 Die entscheidende Frage müsse hier sein, ob auch in der geltenden römisch-katholischen Lehre „de facto eine Selbstunterscheidung der kirchlichen Lehre von Gegenstand und Grund des Glaubens“ vorge‐ nommen sei oder ob diese sich tatsächlich „als aus dem Himmel stammen‐ des Dictamen der wahren Erkenntnis Gottes, der Welt und des Menschen“ verstehe. 588 Solle der ökumenische Dialog seiner Aufgabe nicht untreu werden, müsse diese Grundfrage ins Zentrum rücken und dürfe nicht aus‐ geklammert oder durch das Ausweichen auf Einzelthemen umschifft wer‐ den. 589 Die ökumenischen Dialoge, die gegenwärtig gepflegt werden, leiden dagegen darunter, dass „gegenüber dem Versuch einer Klarstellung der Gegensätze von vornherein das Bemühen um ihre Überwindung“ über‐ wiege. 590 Doch erst wenn jede Seite zunächst „zu einem besseren Selbstver‐ ständnis und zu größerer Treue zu ihrer eigenen Geschichte und Tradition“ gekommen sei, könne der Dialog „den ganzen spannungsvollen Reichtum christlichen Glaubensverständnisses und Glaubenslebens“ erschließen. 591 Eine „Steigerung der institutionellen Artikulation des christlichen Lebens“ und die „Verbesserung seiner Erlebbarkeit“ sei für die evangelischen Kir‐ chen gerade nicht von einer „Anlehnung an die römisch-katholische Kir‐ che“ zu erhoffen, sondern nur von der Rückbesinnung auf die eigene Tra‐ dition. 592 Insbesondere den evangelischen Kirchen bereite das „Sammeln und Hüten der Kräfte“, die eine Kirche benötige, um „die Zeichen der Jetztzeit zu erkennen und darin ihre konkreten Gegenwartsaufgaben zu formulieren“, erhebliche Schwierigkeiten. 593 Daneben gehe von den „öku‐ menepraktischen Erwartungen“ der Öffentlichkeit eine große Gefahr aus, weil diese mit dem „Ausbleiben konkreter praktischer Ergebnisse in allen entscheidenden Bereichen“ leicht in Enttäuschung umschlagen. 594 Herms befürchtet daher, dass das Harmoniestreben im ökumenischen Dialog und 587 Ebd., 264. 588 Ebd., 262. 589 Vgl. ebd., 263–265. Nicht die Suche „nach einem Konsens in den diversen Teilinhalten“ führe ökumenisch weiter, sondern nur ein „Konsens über den Status aller Aussagen kirchlicher Lehre“ (ebd., 264). 590 Ebd., 265. 591 Ebd. 592 Ebd., 267. 593 Ebd. 594 Ebd., 266.

Die Lehre im Streit der Wahrheitsansprüche

die Ausklammerung der fundamentalen Differenzen entgegen der Absicht aller Beteiligten den „wachsenden Haß auf kirchliche Ordnung, kirchliche Lehre und Theologie überhaupt“ schüren. 595 Herms ist deutlich daran gelegen, alle unmittelbaren Erwartungen öku‐ menischer Annäherung zu dämpfen und dem ökumenischen Dialog eine aus seiner Sicht notwendige Verlangsamung aufzuerlegen, indem dieser zu‐ nächst auf fundamentaltheologische Fragen zum Status von Lehraussagen, der kirchlichen Geltung der Lehre und den Bedingungen von Kirchenge‐ meinschaft gelenkt werden soll. Die Überzeugungskraft dieses Programms soll hier nicht ausführlicher diskutiert werden, weil dazu nicht zuletzt der Vergleich mit alternativen Ökumenemodellen erforderlich wäre. Zu kon‐ statieren ist jedenfalls, dass Herms das Lehrproblem ins Zentrum der öku‐ menischen Verständigungsbemühungen rückt und von dieser Grundent‐ scheidung her eine im Rahmen seines Theologieverständnisses schlüssige Ökumenekonzeption ausarbeitet. Darüber hinaus hat er auch ein beträcht‐ liches Engagement an den Tag gelegt, um die Vorzüge dieser Konzeption im ökumenischen Dialog praktisch unter Beweis zu stellen. 596 6.7.4 Religiöser Pluralismus „aus Prinzip“ Der christliche Glaube impliziert für Herms als „Anerkennung der Erschei‐ nung des Wahrseins des Evangeliums“ wesentlich die „Abstoßung, Nega‐ tion aller anderen ontologischen Wahrheitsansprüche“ und vollzieht sich somit als der „kontinuierliche Aktzusammenhang des dauernden Behar‐ rens bei der Wahrheit in standhafter Abwehr aller Wahrheitsansprüche“, die mit der Wahrheit des Evangeliums konkurrieren. 597 Das Problem, das sich angesichts der verschiedenen Konfessionskirchen und ihrer Lehrge‐ stalten stellt, lässt sich daher verallgemeinern und auf das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen und Weltanschauungen übertragen. Deshalb wendet Herms seine in der Auseinandersetzung mit der Konzep‐ tion von Rahner und Fries entwickelte Konzeption auch auf das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen und Weltanschauungen auf der

595 Ebd., 267. 596 Niedergeschlagen hat sich dieses Engagement zunächst in verschiedenen kürzeren und längeren Beiträgen zu ökumenischen Fragen, vgl. Herms, Glaubenseinheit, 2 Bd. Fort‐ gesetzt wurde dieses Engagement in einem intensiven – nach Herms Vorstellungen von fundamentaltheologischen Klärungen zu materialen Fragestellungen voranschrei‐ tenden – Dialogprozess, den folgende Sammelbände dokumentieren: Vgl. Herms/Žak (Hg.), Grund; vgl. dies. (Hg.), Sakrament; vgl. dies. (Hg.), Taufe. 597 Herms, Existenz, 313 f.

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Basis eines „Pluralismus aus Prinzip“ an. 598 Allerdings fällt hier die gemein‐ same Basis der ursprünglichen Christusoffenbarung aus, so dass Herms ausgehend von der allgemeinen Struktur des Offenbarungsgeschehens ar‐ gumentieren muss. Jedes Erschließungsgeschehen dieser Art sei nun für seinen personalen Empfänger „absolut im Sinne der Alternativenlosigkeit“, da es einen schlechthin vorgegebenen „Horizont der für ihn erkennba‐ ren Wirklichkeit“ konstituiere. 599 Jedes so durch Offenbarung erschlossene Wahrheitsbewusstsein sei passiv bestimmt, absolut verpflichtend und je‐ dem theoretisch-distanzierten Urteil über seinen Anspruch auf Absolutheit entzogen. 600 Eine „uneingeschränkte“ und „innerweltlich unüberbietbare“ Absolut‐ heit, wie sie neben dem Christentum auch andere Religionen und Welt‐ anschauungen beanspruchen, impliziere darüber hinaus die Überzeugung, dass der Inhalt der so erschlossenen Offenbarung „nicht nur allen uns bekannten religiösen Anschauungen überlegen ist, sondern allen, die wir überhaupt für möglich halten.“ 601 Soll dieser Anspruch gerechtfertigt sein, müsse sich von einer konkreten Offenbarung zeigen lassen, dass sie „die Wahrheitsmomente aller überhaupt möglichen Inhalte von Offenbarung“ zu integrieren vermöge. 602 Da über einen solchen Anspruch nun „nir‐ gendwo anders als im Wahrheitsbewußtsein einzelner Personen“ entschie‐ den werden könne, lasse sich nur demonstrieren, ob eine bestimmte Of‐ fenbarung dieses Kriterium potentiell erfülle. 603 Das Wirklichwerden einer solchen Absolutheit, also die universale Anerkennung einer solchen Offen‐ barung, würde dagegen voraussetzen, dass dieser konkrete Gehalt tatsäch‐ 598 Vgl. Herms, Pluralismus. Zur Bedeutung der Ökumene als Entdeckungszusammen‐ hang der pluralistischen Gesellschaftstheorie vgl. die Selbstdarstellung Herms, Herms, 337–341; vgl. auch Munzinger, Welt, 165–167. 599 Herms, Offenbarung, 217. Jede Bemühung um aposteriorische Erkenntnis stehe unter der Bedingung ihres Fundiertseins in Offenbarung. Selbst in dem Fall, dass theoretisch verschiedene solche Auffassungen von Wirklichkeit bekannt seien, könne doch immer nur eine davon als evidentermaßen wahr gelten und den Rahmen abgeben, in den mög‐ licherweise Elemente anderer Weltanschauungen integriert werden. 600 Vgl. Herms, Offenbarung, 219. Zu dieser epistemologischen Grundstruktur im Kontext des Gesamtentwurfs vgl. Munzinger, Welt, 171–208. 601 Herms, Offenbarung, 218. Im Orig. teilw. kursiv. Das christliche Wahrheitsbewusst‐ sein verstehe sich als „abschließende Klimax einer kontinuierlichen Kette von Erschlie‐ ßungsereignissen“ (Herms, Art. Wahrheit, 374). Alle anderen Gestalten von Wahr‐ heitsgewissheit könne es nur als „notwendige Vorstufen“ (ebd.) verstehen, die auf es selbst hingeordnet seien, was allerdings nicht bedeute, dass auch für einzelne sprachliche Artikulationen dieses christlichen Wahrheitsbewusstseins Unüberholbarkeit behauptet werden könne. 602 Herms, Offenbarung, 218. 603 Ebd.

Die Lehre im Streit der Wahrheitsansprüche

lich durch ein universales Offenbarungsgeschehen allen Vernunftwesen „als uneingeschränkt integrationskräftig erschlossen“ werde. 604 Leicht ist zu erkennen, dass es sich hier um eine Variation des pneumatologischen Vorbehalts handelt, den Herms auch der römisch-katholischen Theologie beliebt machen will: Der Anspruch auf Absolutheit und Universalität eines durch Offenbarung erschlossenen Wirklichkeitsverständnisses dürfe nicht mit Zwang durchgesetzt werden, sondern müsse seine Bewährung von einem unverfügbaren Offenbarungsgeschehen erhalten, in dem sich der Inhalt selbst für die einzelnen Empfänger in seinem evidenten Wahrsein präsentiere. Eine Gehorsamsforderung gegenüber einer nicht als evident erschlossenen Wahrheit widerspreche dagegen nicht nur dem Charakter des christlichen Glaubens, sondern bereits der Struktur von Offenbarung. Entsprechend dieser Grundeinsicht überträgt Herms das Programm, das er für die ökumenische Begegnung zwischen den Kirchen vertritt, unter der Programmformel eines „Pluralismus aus Prinzip“ auf das Feld konkurrie‐ render weltanschaulich-ethischer Überzeugungen. 605 Pluralismus bezeich‐ net für Herms dabei einen Zustand des Religionssystems einer Gesellschaft, das für die Individuen die unverzichtbare kulturelle Leistung einer „Ver‐ ständigung über die ursprüngliche Bestimmung des Daseins“ erbringt. 606 Der pluralistische Zustand dieses Systems sei dadurch gekennzeichnet, dass sich diese Verständigung in einer Gesellschaft „nicht mehr als ein einheitli‐ cher Kommunikations- und Traditionszusammenhang über einen einheit‐ lichen Symbolbestand mit tendenziell einheitlichem Ergebnis“ vollziehe. 607 Von einem echten Pluralismus könne man allerdings erst sprechen, wenn die Konkurrenz verschiedener Kommunikationszusammenhänge sich auch nicht mehr „innerhalb eines immer noch einheitlich konzipierten und fun‐ gierenden – freilich inhaltlich minimalisierten – zivilreligiösen Horizonts“ abspiele. 608 Der echte Pluralismus kenne keine „Abfederung und Relati‐ vierung“ durch eine „wechselseitige Konsensunterstellung“ mehr, die an‐ gesichts der faktischen Gegensätze notwendig davon lebe, dass dieser nur unterstellte Konsens gerade nicht klar artikuliert und fixiert werde. 609 Au‐ 604 605 606 607 608

Ebd., 219. Herms, Pluralismus, 467. Ebd., 469. Vgl. dazu Munzinger, Welt, 185–193. Herms, Pluralismus, 471. Ebd., 472. Zur Zivilreligion vgl. ebd., 472–474. Diese habe einen „inneren Hang zum To‐ talitarismus“, insofern sie einen „Superbegriff der Wirklichkeit“ (ebd., 473) voraussetze, der (zumindest potentiell) definitiv erfasst werden kann. Spielarten eines solchen zivilre‐ ligiös restringierten Scheinpluralismus wirft Herms etwa Trutz Rendtorff und Wolfhart Pannenberg vor. 609 Ebd., 474. Die Entwicklung, die zu einem solchen unrestringierten Pluralismus ge‐ führt habe, sei die Emanzipation des Wirtschaftssystems von der Dominanz des poli‐

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ßer diesem Scheinpluralismus lehnt Herms auch einen „Pluralismus der Beliebigkeit“ ab, der durch „programmatische Privatisierung“ die Frage nach der ursprünglichen Bestimmung des Daseins überhaupt dem öffent‐ lichen Diskurs und damit der Nötigung zu einer intersubjektiv plausiblen Begründung entziehe. 610 Durch diese Privatisierung werde die öffentliche Sphäre der Eigengesetzlichkeit ihrer Subsysteme oder einer Herrschaft der unausdrücklichen, privaten Präferenzen bestimmter Entscheidungsträger ausgeliefert, während für die Einzelnen die je eigene Lebensorientierung zunehmend ungewiss und unklar werden müsse. 611 Ausgangspunkt für einen nicht-beliebigen, sondern begründeten und unrestringierten „Pluralismus aus Prinzip“ ist für Herms dagegen die Ein‐ sicht, dass „das für den Pluralismus in Anspruch genommene Prinzip selbst im Plural auftritt“ und „jede beteiligte Position über ein eigenes Prinzip für den religiös-ethischen Pluralismus verfügt“. 612 Nur so könne die grundsätz‐ liche Verschiedenheit dieser inhaltlich nicht-reduzierbaren Positionen ge‐ wahrt bleiben. Entspreche dies aber nicht einer „Konkurrenzsituation von sich gegenseitig ausschließenden Totalansprüchen, die nur solange eine pluralistische bleibt, wie sich die koexistierenden Positionen und Über‐ zeugungen gegenseitig de facto an der Realisierung ihrer Totalansprüche hindern“ 613 – also sozusagen einen ‚kalten Religionskrieg‘? Herms will diese Konsequenz vermeiden, indem er alle pluralismusfähigen Positionen trotz ihrer kontradiktorischen inhaltlichen Besonderheiten auf ein forma‐ les Kriterium verpflichtet: Alle müssen anerkennen, dass religiös-weltan‐ schauliche Gewissheit niemals „geplant, geschaffen, zielstrebig erzeugt oder herbeigeführt werden“ könne, sondern immer ein unverfügbares Erschlie‐ ßungsgeschehen voraussetze. 614 Wenn einmal durchschaut sei, dass die Pluralität der Perspektiven „in der Verfassung des Daseins selber“ begründet sei, dann können auch ent‐

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tischen Systems. Insofern die gesellschaftliche Dominanz des Wirtschaftssystems eine „auf Selbstverwirklichung der Individuen gerichtete Haltung“ (ebd., 476) – man könnte auch sagen: den homo oeconomicus – hervorbringe, zwinge sie das Religionssystem in die Alternative zwischen völliger Privatisierung oder Autonomisierung. Ebd., 477. Vgl. ebd., 478. Letztlich führe diese Entwicklung zu Konsumismus, Propagandaanfällig‐ keit und Fragmentarisierung persönlicher Identität. Herms sieht in der protestantischen Theologie der Gegenwart eine verbreitete Tendenz, diese destruktiven Gesellschaft‐ strends zu verkennen oder gar positiv als Freiheitsgewinn zu überhöhen, vgl. ebd., 479 f. Ebd., 482. Ebd. Ebd., 483. Dieses Formmerkmal sei jeweils „am Inhalt der verschiedenen koexistieren‐ den Überzeugungen“ (ebd.) aufzuweisen und bewusst zu machen, also aus den einzelnen Traditionen selbst zu entwickeln und so konkret einzuholen.

Die Lehre im Streit der Wahrheitsansprüche

gegengesetzte Positionen einander in einer „praktischen Anerkennung der Pluralität konkurrierender Totalperspektiven“ begegnen – unabhängig da‐ von, wie diese Verfasstheit des Daseins von ihnen inhaltlich bestimmt werde. 615 Prinzipiell nicht pluralismusfähig sind laut Herms nur ein De‐ terminismus, der die Freiheit der Einzelnen und die Kontingenz ihrer Lebensüberzeugungen negiert, sowie alle Weltanschauungen, die eine re‐ ligiös-weltanschauliche Gewissheit auf dem Wege einer Sozialtechnologie herstellen und durchsetzen wollen. 616 Weltanschauungen dieser Art setzen Herms zufolge unweigerlich eine Dynamik hin zu totalitären Verhältnissen frei. Außerdem müsse gegen laizistische Programme einer Verdrängung weltanschaulich-religiöser Überzeugungen ins Private die „Öffentlichkeits‐ wirksamkeit und -relevanz“, also auch die gleichberechtigte Konkurrenz solcher kontingent erschlossenen Überzeugungen zugestanden werden. 617 Aus seiner Rekonstruktion des reformatorischen Offenbarungsverständ‐ nisse ergibt sich für Herms, dass das reformatorische Christentum diese Bedingungen der Pluralismusfähigkeit vollumfänglich erfüllt. Durch die Einsicht in die Unverfügbarkeit des Offenbarungsgeschehens und die darin immer schon gefallene vorgängige Entscheidung, welche die eigene Ein‐ stimmung des Glaubensaktes erst ermögliche, sei der Kirche immer schon der „Verzicht auf Überzeugungszwang“ auferlegt – wobei es sich um eine „Toleranz aus Prinzipientreue“ handle und keinesfalls um die Vergleich‐ gültigung des eigenen Standpunktes. 618 Damit ist für Herms das Grund‐ problem der Apologetik gelöst und eines seiner zentralen theologischen Anliegen eingeholt: Die Spannung von Universalität und Partikularität, die den christlichen Glauben auszeichnet, und damit dessen konkreten Wahrheitsanspruch ist festgehalten, aber dennoch eine Perspektive für das Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft zu eröffnet, die wiederum

615 Ebd., 483. Das Potential dieser Pluralismuskonzeption angesichts einer interkulturellen Gesellschaft und zunehmend globalisierten Welt unterzieht Munzinger einer umfassen‐ den, vergleichenden Bewertung, vgl. Munzinger, Welt, bes. 282–289; 293–306. 616 Vgl. Herms, Pluralismus, 483. Aus dem Schleiermacher’schen Religionsverständnis lei‐ tet Herms auch für jede philosophische Erkenntnis der Wirklichkeit die „formale Stim‐ migkeitsbedingung der Anerkennung der eigenen prinzipiellen Geschichtlichkeit, Nich‐ tabsolutheit, Perspektivität, Unfertigkeit und Partikularität“ (Herms, Art. Offenbarung, 179) ab. 617 Herms, Pluralismus, 485. 618 RuO, 71. Vgl. auch Herms, Art. Apologetik. So gelte: „Die für die Mitgliedschaft in der Kirche konstitutive Glaubensüberzeugung schließt die Pflicht zur Toleranz abweichen‐ der Überzeugungen in der Umwelt des Systems ein“ (RuO, 71). Zur Schwierigkeit, dieses Potential angesichts der allgemeinen Tendenz zur Privatisierung religiöser Lebensüber‐ zeugungen zu plausibilisieren, vgl. Herms, Leitung, 93–95.

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evangelisch mittels der rechtfertigungstheologisch zentralen Unterschei‐ dung von Gottes- und Menschenwerk begründbar ist. 6.8 Zusammenfassung und Ertrag Herms gelingt es durchaus überzeugend, der Lehre einen zentralen Platz im Leben der Kirche zuzuweisen und zugleich die Lehrkritik der Wort-Got‐ tes-Theologie produktiv aufzunehmen, die insbesondere die Unverfügbar‐ keit der Offenbarung gegenüber vergegenständlichen Denkmodellen einer kontinuierlichen Lehrüberlieferung herausgestrichen hatte. So geht Herms von einer Theorie des Offenbarungsgeschehens aus, das sich in biographi‐ schen Schlüsselsituationen vollzieht, indem der Heilige Geist das menschli‐ che Zeugnis für die geschehene Offenbarung zur Vergegenwärtigung des Christusgeschehens in Dienst nimmt und so den Schöpferwillen Gottes erschließt. Diese Erschließungssituationen sind immer konkret-inhaltlich sowie durch personale Interaktion bestimmt, so dass Herms der Überlie‐ ferung als Raum der unverfügbaren Offenbarung eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedeutung für die Konstitution des Glaubens als Wahrheitsgewissheit zuschreiben kann. Ist nach Herms die Kirche als ganze eine Zeugnisgemeinschaft, die das Christusereignis durch die liturgische Erfüllung des Gründonnerstagsge‐ bots, die Überlieferung und Auslegung der kanonischen Ursprungszeug‐ nisse sowie auch ihre Ämterordnung bezeugt, bringt die Lehre den kirch‐ lichen Konsens hinsichtlich des Inhalts dieses Zeugnisses zum Ausdruck und ordnet den Vollzug dieses übersprachlichen Zeugnishandelns. Neben dieser kirchlich-regulativen Bedeutung kann Herms auch die Beziehung der Lehre zum individuellen und unverfügbaren Glauben, wie er sich im Durchlaufen einer Kette von Erschließungsereignissen einstellt, beschrei‐ ben. Es sind konkrete und inhaltlich bestimmte Artikulationen des Glau‐ bens, die sich im Offenbarungsgeschehen als Wahrheit über die erlebte Lebensgegenwart erschließen. Und indem der Glaubende seinen Glauben wiederum in Form von Lehre artikuliert oder sich eine solche Artikulation zu eigen macht, kommt er selbst der Nötigung nach, den Wahrheits- und Sachbezug seiner Glaubensgewissheit transparent zu machen. Im Medium der Lehre behaftet sich der Glaube selbst bei seinem universalen Wahrheits‐ anspruch und seinem Wesen als bindende Wahrheitsgewissheit. Aus dieser Bestimmung des Lehrbegriffs, die die Lehre als Ausdrucks‐ gestalt der Wahrheitsgewissheit zugleich vom persönlichen Glauben und einem schlechthin vorgegebenen Offenbarungsgeschehen unterscheidet, entwickelt Herms detaillierte Kriterien für angemessene und damit kon‐ sensfähige Lehrartikulation. Zentral und grundlegend ist dabei erstens, dass

Zusammenfassung und Ertrag

bezüglich der Glaubenskonstitution die Unterscheidung von opus Dei und opus hominum konsequent durchgehalten wird. Dies ist für Herms nicht zuletzt das Anliegen hinter der reformatorischen Rechtfertigungslehre, die im Interesse des vorgängigen und allein heilswirksamen Gnadenhandelns Gottes genau diese Unterscheidung herausgestellt hatte, weshalb diesem Grundsatz durch die Lehrartikulationen selbst sowie die Ordnung der Lehrvollzüge Rechnung zu tragen ist. Außerdem darf zweitens die Bezie‐ hung zum bleibend tragenden Ursprungsgeschehen niemals abreißen, wo‐ für besonders die kanonischen Zeugnisse der biblischen Schriften einste‐ hen. Ferner muss jedem bereits erzielten Konsens in der Kirche zumindest Achtung erwiesen und Rechnung getragen werden, auch wenn dieser in kirchlich rezipierten Bekenntnistexten fixierte Konsens prinzipiell immer überbietbar und der Vertiefung fähig bleibt. Darüber hinaus sind drittens die Regeln hermeneutischer, logischer und rhetorischer Disziplin unein‐ geschränkt anzuwenden, um der Lehre eine Sprachgestalt zu geben, die sich durch maximale Bestimmtheit und Klarheit auszeichnet. Dies wird von Herms unter anderem mit einer Besonderheit des reformatorischen Kir‐ chenverständnisses begründet, der zufolge sich Kirchenzugehörigkeit allein auf persönlich verantwortete Einsicht in den tragenden Lehrkonsens und nicht die Gemeinschaft mit der Hierarchie gründet. Schließlich und viertens ist die Lehre immer daraufhin offen zu halten, dass die Glaubenden sie an ihrer Selbsterfahrung bewähren und ihr auch eigenständig einen sprach‐ lichen Ausdruck verleihen können. Verbindliche Lehrartikulationen sind dem persönlichen Glaubenszeugnis dienend zugeordnet und dürfen dieses nicht in formelhafter Sprache ‚gleichschalten‘. Herms bezieht den Geschehensaspekt des je aktuellen Offenbarungser‐ eignisses, den Inhaltsaspekt des Christuszeugnisses und den kirchlichen Kommunikationsprozess als Anlass und äußeren Rahmen der Offenbarung in ihrer Unterschiedenheit aufeinander. Damit kann er zentrale Anliegen der Wort-Gottes-Theologie aufnehmen, ohne doch in einen Aktualismus punktueller Ereignisse oder eine abstrakten Gegensatz von dynamischem Offenbarungsgeschehen und gegenständlichen Verfestigungen der Lehre zu verfallen. Die kirchliche Lehre und ihre sprachlichen Artikulationen können daher nicht mehr nur eine negativ-begrenzende, sondern durchaus auch eine positiv-orientierende Rolle für die Gestaltung des Glaubens, der Verkündigung und allgemein des christlichen Lebenszeugnisses in der Welt spielen. Aus dem Lehrbedarf der Kirche, der sich aus ihren grundlegenden Kommunikationsbedürfnissen gegenüber der Umwelt und innerhalb der Organisation ergibt, und auf der Basis reformatorischer Theologie kann Herms ein ganzes Ensemble kirchlicher Lehrinstitutionen ableiten. Auch bei Herms lässt sich somit das Interesse erkennen, durch eine Dynamisierung des Lehrbegriffs der geschichtlichen Lehrentwicklung und

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einer Pluralität konkurrierender Lehrgestalten zu entsprechen, was über die Orientierung am Kommunikationsbegriff eingelöst werden soll. Ein be‐ sonderes Anliegen ist ihm, auch die Kanonisierung und Lehrbildung als pneumatologisches Geschehen zu verstehen, ohne die fundamentale Un‐ terscheidung von Gott und Mensch in einem göttlich legitimierten Lehr‐ amt oder auch einem selbstwirksamen Überlieferungsprozess einzuziehen. Wann immer sich innerhalb der Kirche ein Konsens über die Lehre ein‐ stellt, ist dies ein unverfügbares Geschenk des Geistes. Jeder einzelne Lehr‐ konsens bleibt grundsätzlich der Kritik unterworfen und überbietbar, wäh‐ rend Unbezweifelbarkeit und Alternativlosigkeit allein der persönlichen Glaubensgewissheit zukommen. Der kirchliche Anspruch auf einen Lehr‐ gehorsam der Glaubenden wird hier spezifisch begrenzt, indem die Geltung von Lehraussagen wie auch die Glaubenskonstitution an ein unverfügbares Evidenzerleben und die Einsichtigkeit ihrer Sachwahrheit geknüpft wird. Entsprechend hält Herms fest, dass die unausweichliche Lehrordnung in‐ nerhalb der Organisation Kirche auf die öffentliche Kommunikation des Christuszeugnisses beschränkt bleibt. Mit dieser Beschränkung wird der inhärente Wahrheitsanspruch der Lehre nicht negiert, aber als Möglichkeit zur Durchsetzung dieses Anspruchs bleibt der Kirche allein das Wortbe‐ kenntnis zur offenbarten Wahrheit und das Vertrauen auf deren Selbst‐ durchsetzung. Die zentrale Schwierigkeit dieses beeindruckend geschlossenen Theorie‐ gebäudes kommt in den Blick, sobald man – etwa angesichts der ökume‐ nischen oder interreligiösen Verständigung – auf das Problem konkurrie‐ render Wahrheitsansprüche stößt. Hier wirkt sich Herms’ Modell eher re‐ striktiv aus, es lässt kaum Spielraum zwischen den Fronten sich kontradik‐ torisch widersprechender Positionen. Dies liegt bei Herms an der program‐ matischen Verbindung zweier Theorieperspektiven zu einem geschlossen, spezifisch asymmetrischen Konstitutionszusammenhang. Herms bestimmt die Lehre einerseits als dynamischen Konsens über das öffentliche Offen‐ barungszeugnis, andererseits und letztlich grundlegend aber auch als Aus‐ druck einer schlechthin innerlichen, je persönlichen und unbezweifelbaren Gewissheitsstruktur. Diese Ebenen verbinden sich im Gesamtprogramm ei‐ ner Letztbegründung kirchlichen und kirchenleitenden Handelns aus der Evidenz des unmittelbaren Selbsterlebens. Daraus folgt für Herms, dass Lehrartikulationen der Kirche sich beim Einzelnen – vermittelt durch das übersprachliche Christuszeugnis und biographische Schlüsselszenen – in unbezweifelbaren, weil subjektiv alternativlosen Gewissheiten niederschla‐ gen. Diese konkret-inhaltsbestimmten Gewissheiten sind zwar auf ein ge‐ meinsames anthropologisches Fundament – ontologisch bestimmbar als Transzendenzabhängigkeit des endlichen Daseins – bezogen, aber in ihrer konkreten Inhaltsbestimmtheit partikular und unversöhnlich. Im Fall des

Zusammenfassung und Ertrag

katholischen und evangelischen Christentums betrifft dieser kontradikto‐ rische Gegensatz das Offenbarungsverständnis, aus dem sich wiederum die Gesamtheit der kirchlichen Lehren, Ordnungen und Institutionen ableitet. Im Namen seines Pluralismuskonzepts will Herms diese Differenzen zwar durch eine allen konkreten Wirklichkeitsverständnissen zugrunde liegende Struktur des Erschließungsgeschehens relativieren, aber insistiert dennoch auf einer unüberwindbaren Trennung. Der ‚Pluralismus aus Prinzip‘, den Herms vorschlägt, bleibt daher in ge‐ wisser Weise defensiv: Eine Überwältigung des Anderen wird aufgrund der Einsicht in die Unverfügbarkeit der Wahrheit zurückgewiesen, aber eine positive Vision für eine Überwindung der Gegensätze wird nur in Ansätzen sichtbar. Wäre sie unter diesen Voraussetzungen überhaupt denkbar und wünschenswert? Wohl zurecht empfinden Kritiker wie Fries diesen Vor‐ schlag als unbefriedigendes Ausweichen auf das Nebenfeld der praktischen Kooperation trotz unversöhnlicher Grundüberzeugungen oder gar eine Va‐ riante des ‚eingefrorenen Religionskriegs‘. Ob Herms’ voraussetzungsreiche und abstrakte Metatheorie einer Offenbarungsabhängigkeit schlechthin al‐ ler Gewissheiten das Aufflammen von Konflikten wirksam unterbinden kann und als Grundlage für vertiefte ökumenische oder auch interreligiöse Beziehungen tragfähig ist, ist zu bezweifeln. Damit ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass sich die Begründung des Pluralismus bei Herms in ihrer Struktur stark der reformatorischen Rechtfertigungslehre annähert. Reicht es, anderen Konfessionen oder Weltanschauungen strukturell äqui‐ valente Ausformungen dieser Grundstruktur auf der Basis ihrer jeweiligen Traditionen einzuräumen, um ihnen diese als allgemeine Voraussetzung plausibel zu machen? Noch einmal verschärft wird die systematische Rigidität der Herms’schen Letztbegründungstheorie durch den starken protologischen Überhang, den er seiner Theologie einzeichnet. Eschatologische Vollendung bedeutet unter dieser Voraussetzung, dass eine im Anfang schon angelegte Bestimmung des Menschen durchgehalten wird und so zugleich der unirritierbare Schöpfer‐ wille zu seinem Ziel kommt. Im geschichtlichen Wandel gilt es daher auch für Kirche und Glaubende, sich immer wieder auf das eigene Ursprungsge‐ schehen zu besinnen, um der geschenkten Gewissheit treu zu bleiben und das eigene Wesen unbeirrt durchzuhalten. Teilt Herms mit der reformatorischen Theologie Luthers zweifellos das Insistieren auf einer Daseinsgewissheit, die aller menschlichen Verfügbar‐ keit entzogen bleiben muss, so ändert sich doch der Status dieser existenz‐ bestimmenden Gewissheit: Statt als zentrales Problem, mit dem evangeli‐ sche Frömmigkeit und Theologie angesichts der Anfechtungen des Recht‐ fertigungsglaubens umzugehen haben, kommt sie nun als metaphysisch ab‐ gesicherte Voraussetzung und tragende Struktur einer Letztbegründungs‐

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theorie ins Spiel. Die Frage ist, ob Herms dabei nicht letzten Endes die Ein‐ zelnen in ihre einmal durch das punktuelle Zusammenwirken von kirch‐ lichem Zeugnis und unverfügbarer Offenbarung konstituierten Gewiss‐ heitsstrukturen einsperrt. Dann aber erscheint die Kritik der Wort-Gottes‐ Theologie an einer Vergegenständlichung des Glaubens zum verfügbaren Besitz doch wieder naheliegend – und die dynamisch-pneumatologische Lehrtheorie, die Herms aus den kirchlichen Kommunikationsbedürfnissen entwickelt, kann ihr volles Potential zur Orientierung des christlichen Le‐ benszeugnisses in Kirche und Welt nicht ausspielen.

7 Kirche und Lehre nach der Moderne? G. A. Lindbecks Entwurf einer postliberalen Theologie Eilert Herms wurde hier dargestellt und interpretiert als Vertreter ei‐ ner Theologie, die sich in apologetischer Absicht darum bemüht, die christliche Wirklichkeitsauffassung durch die Rückführung auf ein Fun‐ dament anthropologisch-ontologischer Strukturen zu rechtfertigen. Entwi‐ ckelt Herms seine Theorie der Lehre und die Kriterien rechter Lehre auch aus dem christlichen Offenbarungsgeschehen, das sich für sein Fortwirken des Kommunikationszusammenhangs der Kirche bedient, will er zugleich Offenbarung als allgemeinen Grund unhinterfragbarer Gewissheit plausibel machen. Eine Strukturtheorie der ereignishaften Erschließung von inhalt‐ lich bestimmter Wahrheitsgewissheit steckt deshalb den Rahmen ab, an dem sich nicht zuletzt die kirchliche Lehre in ihrem Vollzug und ihrer Ausgestaltung zu orientieren hat. Wie sich zeigen ließ, führt dieses Vor‐ gehen angesichts der Konkurrenz verschiedener Wahrheitsansprüche, die wiederum auf inkommensurable Gewissheitsstrukturen rückführbar sind, zu spezifischen Problemen: Wenn einzelne Weltanschauungen und Kon‐ fessionen sich von einem letzten unbezweifelbaren Grund her aufbauen, aber an dieser Wurzel kontradiktorisch verschieden sind, kann jede Über‐ einstimmung in – dann nachgeordneten – Einzelfragen sich nur einer Täu‐ schung verdanken. Weil die konkurrierenden Wahrheitsansprüche gerade nicht im Namen einer höheren Einheit in der Vielfalt relativiert werden sol‐ len, bleibt als Zielvorstellung des Dialogs letztlich nur, sich aufgrund eines pneumatologischen oder gewissheitstheoretischen Vorbehalts gegenseitig das Recht zum Irrtum einzuräumen: „We agree to disagree!“ Eine alternative Herangehensweise, die insbesondere in der angloame‐ rikanischen Theologie verbreitet ist, will diesen Konsequenzen entgehen und schöpft dazu aus der Rezeption einer metaphysikkritischen Denktra‐ dition. Beeinflusst von kulturwissenschaftlichen Konzepten, die exempla‐ risch etwa bei dem oben unter 2.1 schon dargestellten C. Geertz zu greifen sind, sowie der nun unter 7.1 zu behandelnden Spätphilosophie L. Witt‐ gensteins, zeichnen sich die Vertreter dieser Tradition durch ihre Skepsis gegenüber von Ontologie und Epistemologie her ansetzenden Letztbegrün‐ dungstheorien aus. Stattdessen richten sie ihren Blick gerade auf die ‚Ober‐ fläche‘ der Kommunikation und Zeichenbenutzung, suchen Zusammen‐ hänge und Regeln dieses unhintergehbar sozialen Gebrauchs von Sprache. Die Kritik an der philosophischen Letztbegründung innerhalb der Theo‐ logie wird dabei oft mit einer Kritik an gesellschaftlichen und politischen Tendenzen der klassischen Moderne und mitunter auch der Postmoderne verbunden, teilweise wird auch ein neuer Anschluss an die Vormoderne

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Kirche und Lehre nach der Moderne? G. A. Lindbecks Entwurf einer postliberalen Theologie

gesucht. Dies gilt auch im Fall der „post-liberalen“ Theologie der sog. Yale‐ Schule, für deren Ausgestaltung neben ihrem Vordenker Hans W. Frei vor allem der lutherische Theologe George A. Lindbeck prägend war. 1 Dabei steht der Problemhorizont des ökumenischen Dialogs und des religiösen Pluralismus im Zentrum der theologischen Aufmerksamkeit, statt ein ge‐ genüber der apologetischen Begründung des Glaubens abgeleitetes Folge‐ problem zu sein. Um diesen theologischen Ansatz angemessen einordnen zu können, sind zunächst einige hier bedeutsame Grundzüge der Spätphilosophie Witt‐ gensteins zu rekapitulieren (7.1). Im Anschluss daran wird der program‐ matische und viel diskutierte Beitrag G. A. Lindbecks zu einer kulturwis‐ senschaftlich-linguistischen Neukonfiguration der Lehrtheorie dargestellt (7.2) und einer Beurteilung unterzogen (7.3). 7.1 L. Wittgenstein: Sprachphilosophische Annäherung an das Lehrproblem Die folgende Rekonstruktion stützt sich auf Ludwig Wittgensteins (1889–1951) Spätphilosophie, wie sie in den Philosophischen Untersuchun‐ gen begegnet. 2 Diese Textgrundlage ist aufgrund ihrer komplexen Entste‐ hungsgeschichte und ihrer Eigenheit, eine Art dialogische Argumentation mit nicht explizit ausgezeichneten Sprecherrollen zu präsentieren, schwer in einer eindeutigen und kohärenten Weise zu interpretieren – sollte eine solche Interpretation überhaupt möglich und vom Autor angestrebt sein. 3 Allerdings lassen sich auch ohne detaillierte Auseinandersetzung mit die‐ sen Schwierigkeiten Grundlinien der Argumentation herausarbeiten, die für das Interesse dieser Fallstudie weiterführend sind.

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Für eine Gesamtdarstellung der Theologie Lindbecks und eine Einordnung in ihren Kon‐ text vgl. Eckerstorfer, Kirche. Zu H. W. Frei ist hier insbesondere hinzuweisen auf eine posthum herausgegebene Reihe von Vorträgen, die ausgehend von der Frage nach dem Literalsinn des Neuen Testaments verschiedene Typen der gegenwärtigen Theologie unterscheidet und sich dabei nicht nur hinsichtlich der Grundausrichtung, sondern auch in vielen Details mit den Überlegungen Lindbecks berührt, vgl. Frei, Types. Vgl. Wittgenstein, Untersuchungen. Die einzelnen Bemerkungen der Philosophischen Untersuchungen werden mit Nummerierung und Seitenzahl zitiert. Zu den Schwierigkeiten der Interpretation vgl. etwa das Vorwort in v. Savigny, Kom‐ mentar, Bd. 1, 1–32, bes. 1–9. Vgl. ebenso das Nachwort von Joachim Schulte in Witt‐ genstein, Untersuchungen, 281–300. Zur Kontextualisierung der ‚Untersuchungen‘ und ihrer Stellung im Werk Wittgensteins vgl. Hacker, Wittgenstein.

L. Wittgenstein: Sprachphilosophische Annäherung an das Lehrproblem

Das übergreifende Thema, das Wittgenstein in den gesammelten Bemer‐ kungen der Philosophischen Untersuchungen behandelt, ist die Sprache. 4 Einzelne Argumentationsgänge verschiedener Länge behandeln Probleme wie den Spracherwerb, die Syntax elementarer Sätze, den Akt der hin‐ weisenden Definition, die Frage nach der Extension und Intension von Begriffen, ein spezifisches Verständnis von Grammatik und Sprachregeln, den Zusammenhang von Sprache und Lebensform oder das spezifische Problem der Privatsprache, an welchem wiederum die Frage nach dem Verhältnis von Sprechen und innerer Empfindung aufbricht. 5 Dabei wei‐ sen die Philosophischen Untersuchungen gerade die Verflochtenheit dieser verschiedenen Problemkomplexe auf. Eine zusammenhängende Theorie ist dabei kaum zu rekonstruieren und wohl auch nicht intendiert, doch lassen sich wiederkehrende argumentative Muster aufweisen, charakteristische Begriffe und Thesen in ein Verhältnis setzen und so im Ergebnis eine Art „Physiognomie“ der Untersuchungen erstellen. 6 Im Rahmen einer „thera‐ peutischen Konzeption“ von Philosophie geht es Wittgenstein darum, die Orientierungslosigkeit zu beheben, die sich etwa einstellt, wenn dem Nach‐ denken über den Sprachgebrauch unangemessene Bilder vom Funktionie‐ ren der Sprache zugrunde gelegt werden. 7 Dabei provoziere die Sprache selbst solche Verstrickungen, insofern bestimmte Bilder „in die Formen un‐ 4 5

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Vgl. ebd., 237–250. Hacker beispielsweise zählt ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgende durch Wittgen‐ stein neu in den philosophischen Diskurs eingebrachte oder in neuer Form als Problem aufgeworfene Themenkomplexe auf: „Zur ersten dieser Kategorien gehören die Möglich‐ keit einer privaten Sprache, die Analyse der hinweisenden Definition, das Thema Aspekt‐ wahrnehmung, die herausragende Bedeutung der Familienähnlichkeitsbegriffe und das Rätsel des Regelfolgens. Zur zweiten Kategorie gehören das Wesen der notwendigen Wahrheit, die [...] Debatte metaphilosophischer Fragen, die Analyse des Gebrauchs der Wörter sowie die daraus folgende philosophische Zentralstellung des Begriffs der sprach‐ lichen Bedeutung, das erneute Interesse an der Handlungstheorie und die Analyse des Begriffs der Absicht.“ (ebd., 16). All diese und weitere Themenkomplexe werden in den Philosophischen Untersuchungen in teils unterbrochenen, teils miteinander verflochtenen und oft fließend ineinander übergehenden Argumentationsgängen behandelt. Der Begriff der Physiognomie greift dabei einen Terminus der Untersuchungen auf, vgl. Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 235, 143. Mit der Prämisse einer solchen Physio‐ gnomie oder eines solchen „Witzes“ (ebenfalls ein einschlägiger Begriff bei Wittgenstein) wird ein bloß aphoristisches oder anti-philosophisches Verständnis der Untersuchungen abgelehnt, ohne im Gegenzug das System einer geschlossenen philosophischen Position im oder hinter dem Text zu unterstellen. Vgl. Hacker, Wittgenstein, 189–192. Zur me‐ thodischen und thematischen Einheit der Untersuchungen vgl. ebd., 238. Wittgenstein, Untersuchungen, 285 (Nachwort). Vgl. ebd., Nr. 255, 150: „Der Philo‐ soph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit“ . Er entdecke dabei „die Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat“ (ebd., Nr. 119, 83). Ziel sei, dass die Behandlung der Aporien „die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie

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serer Sprache aufgenommen“ seien und das Nachdenken gefangen halten. 8 Das Ziel sei somit, unangemessene Bilder für das Funktionieren der Spra‐ che durch angemessenere zu ersetzen. 9 Die Auswahl passender Beispiele ist also zentral für eine philosophische Untersuchung: „Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen.“ 10 7.1.1 Die Sprache als Spiel und ihre Regeln Das philosophisch angemessene Bild von Sprache, das Wittgenstein in sei‐ nen Philosophischen Untersuchungen entwickelt und plausibilisiert, ist das Bild des „Sprachspiels“. 11 Ein Sprachspiel ist eine regelmäßige Interaktion von Personen, bei der Sprache – verstanden in einem weiten Sinn, der etwa auch Gesten und die Mimik umgreift – gebraucht werde. 12 Dabei sei die Ähnlichkeit, welche die Sprachspiele als solche erkennbar mache und die nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen“ (ebd., Nr. 133, 87. Herv. im Orig.). Der Philosoph solle vom Zwang des Philosophierens befreit und dazu befähigt werden, nach Belieben „das Philosophieren abzubrechen“ (ebd.). Neben dem therapeutischen Bild kann Wittgenstein auch das des magischen Banns bzw. des Exorzismus bemühen: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Ver‐ standes durch die Mittel unserer Sprache.“ (ebd., Nr. 109, 81). Vgl. Hacker, Wittgenstein, 211–226. 8 Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 112, 82. Vgl. ebd., Nr. 115, 82: „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.“ (Herv. im Orig.). Damit verwandt ist die Vertau‐ schung von der Grammatik inhärenten Einschränkungen mit Eigenschaften der Sachen selbst, vgl. ebd., Nr. 103 f., 78. Der Grammatik selbst fehle es an der „Übersichtlichkeit“ (ebd., Nr. 122, 84) einer Metaperspektive, die Sprache sei daher „ein Labyrinth von We‐ gen“ (ebd., Nr. 203, 134). „Eine unpassende Ausdrucksweise ist ein sicheres Mittel, in der Verwirrung stecken zu bleiben. Sie verriegelt gleichsam den Ausweg aus ihr“ (ebd., Nr. 339, 178), der nur durch eine genaue Beobachtung des tatsächlichen Sprachgebrauchs wieder geöffnet werden könne. 9 Unangemessen sei etwa das Bild einer geistigen Einwirkung nach dem Modell physikali‐ scher Kausalität, um Erklärungslücken in der Analyse des Sprachgebrauchs zu schließen, vgl. ebd., Nr. 36, 36; ebenso die Bildtheorie des Satzes, die Wittgenstein zunächst selbst vertreten hatte, vgl. Hacker, Wittgenstein, 65–70. Zu Wittgensteins Selbstkritik vgl. ebd., 154–167. 10 Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 593, 251. 11 Ebd., Nr. 7, 16. Vgl. dazu Hacker, Wittgenstein, 240. 12 Zur Regelmäßigkeit vgl. Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 207f, 135–137. Das Bild des Spiels soll dabei auch „hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“ (ebd., Nr. 23, 26. Herv. im Orig.). Grundsätzlich gelte dabei: „Der Apparat unserer gewöhnlichen Sprache, unserer Wortsprache, ist vor allem das, was wir ‚Sprache‘ nennen; und dann anderes nach seiner Analogie oder Vergleich‐ barkeit mit ihr.“ (ebd., Nr. 494, 223. Herv. im Orig.). Entsprechend lasse sich auch mit

L. Wittgenstein: Sprachphilosophische Annäherung an das Lehrproblem

offene Gesamtheit einer Sprache konstituiere, eine Familienähnlichkeit. 13 Diese Art von „Verwandtschaft“ werde nicht durch ein Wesensmerkmal der Klasse konstituiert, das schlechthin allen Einzelfällen der Klasse gemeinsam sei, sondern vielmehr durch ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“. 14 Ein Ensemble solcher Sprachspiele in ihrer Familienähnlichkeit bilde eine Sprache: „Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt eine Technik beherr‐ schen“. 15 Die übergreifende Einheit, welche eine gemeinsame Sprache kon‐ stituiert, ist für Wittgenstein also „keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.“ 16 In diesem Zusammenhang seien alle Elemente des Spiels und Teilnehmer miteinander verbunden, was sich mit dem Bild einer Maschine ausdrücken lasse: „das Rad gehört nicht zur Maschine, das man drehen kann, ohne daß Anderes sich mitbewegt.“ 17 Allen Sprachen und Lebensformen wird von Wittgenstein wiederum eine „gemeinsame menschliche Handlungsweise“ als umfassendes Bezugssystem zugrunde ge‐ legt. 18 Die Bedeutung eines Wortes oder Satzes ergibt sich nach den Untersu‐ chungen Wittgensteins aus ihrer alltäglichen und damit normalen Verwen‐ dung im jeweiligen Sprachspiel. 19 Eine zentrale, verschiedentlich variierte These lautet daher: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. 20 Einen Begriff oder Namen erlernen könne daher nur, wer be‐

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Blick auf Sinneseindrücke in übertragenem Sinne von einer Sprache sprechen. Vgl. auch v. Savigny, Kommentar, 13. Zu diesem Begriff vgl. Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 65–69, 56–59. Ebd., Nr. 66, 57. Man müsse daher „radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken zu übertragen“ (ebd., Nr. 304, 167. Herv. im Orig.). Ebd., Nr. 199, 133. Ebd., Nr. 241, 145. Vgl. ebd., Nr. 19, 21: „Eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Le‐ bensform vorstellen.“. Zur Einbettung der Sprache in die Lebensform vgl. v. Savigny, Kommentar, 9. Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 271, 156. Das Bild soll an dieser Stelle zwar die Unmöglichkeit rein privater Empfindung aufweisen, aber lässt sich wohl gerade deshalb für Sprache allgemein anwenden. Ebd., Nr. 206, 135. Zu beachten ist der Hinweis v. Savignys, dass sich Wittgenstein in den Untersuchungen um eine ‚Reinigung‘ der Philosophie auf der begrifflichen Ebene durch eine Beschreibung der Grammatik zentraler Ausdrücke und Redeformen bemühe. Diese Herangehensweise sei von „spekulativ-soziologischen Thesen“ über die Abhängig‐ keit des Bewusstseins von der (Struktur der) Gesellschaft ebenso zu unterscheiden wie von „empirisch-psychologischen Theorien“ (v. Savigny, Kommentar, 14) über das Zu‐ standekommen seelischer Zustände. Vgl. Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 142, 94 f. Ebd., Nr. 43, 40. Dies gelte zumindest „für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘– wenn auch nicht für alle Fälle“ (ebd. Herv. im Orig.). Vgl. auch ebd.,

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reits das oder ein Sprachspiel beherrsche, in dem dieser gebraucht werden könne. 21 Die Bedeutung eines Wortes anzugeben erfordere somit eine Be‐ schreibung der Regeln, nach denen es in Sprachspielen gebraucht werde. Die Suche nach dieser Bedeutung sei die Frage nach der Grammatik, welche damit als Fundament der Philosophie (und auch der Theologie) hervor‐ trete: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.“ 22 Muss man für die Beschreibung einer solchen Grammatik einen Ge‐ brauch der Sprache und ihrer Wörter unterstellen, der „überall von Regeln begrenzt ist?“ 23 Gerade nicht, denn auch die Begriffe sind laut Wittgenstein nie eindeutig, abschließend und umfassend definiert, sondern fassen ledig‐ lich ein Bündel von Gebrauchsweisen mit einer gewissen Familienähnlich‐ keit zusammen. Angesichts des Einwands, ob „ein Begriff mit verschwom‐ menen Rändern“ 24 überhaupt als Begriff bezeichnet werden könne, ergibt sich für Wittgenstein im Gegenteil: „Wenn Einer eine scharfe Grenze zöge, so könnte ich sie nicht als die anerkennen, die ich auch schon immer ziehen wollte, oder im Geist gezogen habe. Denn ich wollte gar keine ziehen. Man kann dann sagen: sein Begriff ist nicht der gleiche wie der meine, aber ihm verwandt“. 25 Jedes Wort umfasse eine ganze „Familie von Bedeutungen“, die sich daraus ergeben, in welchen Sprachspielen es gebraucht und erlernt werde. 26 Das Erlernen von Sprachspielen und damit der Spracherwerb all‐ gemein erfolgen für Wittgenstein auf der elementaren Ebene nicht durch Erklärung oder Definition, sondern durch eine interaktive Praxis, die er „Abrichten“ nennen kann. 27 Auf dieser Ebene sei eine weitere Begründung

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Nr. 432, 208. Daraus ergebe sich, dass ‚verstehen‘, ‚wissen‘, ‚können‘ oder ‚eine Technik beherrschen‘ verwandte Sprachspiele bezeichnen, die nicht als geistige Vorgänge ideali‐ siert oder als seelische Zustände verdinglicht werden dürfen. Vgl. dazu ebd., Nr. 146–155, 97–102; ferner ebd., Nr. 180, 121. Hacker unterscheidet plausibel drei zusammenhän‐ gende Elemente der Bedeutungstheorie der Philosophischen Untersuchungen: „So heißt es, 1) die Bedeutung sei der Gebrauch des Ausdrucks bzw. sie werde durch Gebrauch bestimmt; 2) sie sei das, was durch eine Erklärung der Bedeutung erklärt wird, wobei die Bedeutungserklärung als Regel des Gebrauchs gilt; 3) die Bedeutung sei das, was beim Verstehen des Ausdrucks verstanden wird“ (Hacker, Wittgenstein, 240f). „Nach der Benennung fragt nur der sinnvoll, wer schon etwas damit anzufangen weiß.“ (Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 31, 32). Ebd., Nr. 371, 189. Herv. im Orig. Ebd., Nr. 84, 68. Ebd., Nr. 71, 60 Ebd., Nr. 76, 63. Ebd., Nr. 77, 64. Man könne Begriffe daher als strukturierte Strukturen und heuristische „Instrumente“ (ebd., Nr. 569, 244) beschreiben: „Begriffe leiten uns zu Untersuchungen. Sind der Ausdruck unseres Interesses, und lenken unser Interesse.“ (ebd., Nr. 570, 244). Ebd., Nr. 5, 14 u.ö.

L. Wittgenstein: Sprachphilosophische Annäherung an das Lehrproblem

nicht möglich. 28 An die Stelle des Erklärens tritt hier das „Exemplifizieren“: „So spielen wir eben das Spiel.“ 29 Regeln können daher unterschiedliche Rollen im Sprachspiel einneh‐ men: Als erklärendes Mittel des Unterrichts, als Norm für die Praxis der Spielenden oder als Beschreibung dieses Spiels von außen. 30 Was aber be‐ deutet es, einer Regel zu folgen? Handelt es sich dabei um „etwas, was nur ein Mensch, nur einmal im Leben tun könnte?“ 31 Nein, denn die Gramma‐ tik dieses Ausdrucks lasse sich mit einem doppelten Ausschlusskriterium umschreiben: „Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Re‐ gel gefolgt sein“. 32 Entweder die mehrfache Wiederholung einer Handlung oder die Intersubjektivität ihrer Befolgung müsse für eine Regel gegeben sein. Der Begriff Regel beschreibe einen „ständigen Gebrauch, eine Gepflo‐ genheit“. 33 Auch die Regeln, denen bei Verwendung der Worte in einem Sprachspiel gefolgt werde, müssen, ja können dafür nicht abschließend de‐ finiert sein, sondern nur jeweils ausreichend bestimmt für ihren konkreten Gebrauch im Rahmen dieses Spiels: „Können wir uns nicht eine Regel den‐ ken, die die Anwendung der Regel regelt? Und einen Zweifel, den jene Regel behebt, – und so fort?“ 34 Die Antwort lautet: Eine solche Betrachtungsweise wäre abstrakt, weil eine Regel im tatsächlichen Gebrauch gar nicht alle denkbaren Fälle bestimmen muss und auch nicht zwingend zur Anwen‐ dung kommt. Ein philosophisch angemessenes Bild der Sprachregel ist für Wittgenstein daher das Bild eines Wegweisers. Dieser sei „in Ordnung, – wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt“. 35 Diese nor‐ malen Verhältnisse seien die Bedingungen der Alltagskommunikation, nur

28 Vgl. ebd., Nr. 206, 135: „Einer Regel folgen, das ist analog dem: einen Befehl befolgen. Man wird dazu abgerichtet und man reagiert auf ihn in bestimmter Weise“. 29 Ebd., Nr. 71, 61. Herv. im Orig. 30 Vgl. ebd., Nr. 54, 49. 31 Ebd., Nr. 199, 133. Herv. im Orig. Auf die zentrale Bedeutung dieser Bemerkung weist Albrecht Wellmer hin, vgl. Wellmer, Sprachphilosophie, 90 f. 32 Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 199, 133. 33 Ebd., Nr. 198, 132. Diese Nebeneinanderstellung ist wohl so zu interpretieren, dass ein‐ mal besonders auf die Wiederholung, das andere Mal auf die Intersubjektivität abgestellt wird. Die Bezeichnungen „Gebräuche“ und „Institutionen“ sind dabei mit dem Begriff der Gepflogenheit austauschbar oder diesem zumindest verwandt, vgl. ebd., Nr. 199, 133. Würde die „Institution ihrer Anwendung“ fehlen (ebd., Nr. 380, 191), „hingen die Regeln wirklich in der Luft“ (ebd.). 34 Ebd., Nr. 84, 69. Vgl. Hacker, Wittgenstein, 244 f. 35 Wittgenstein, Untersuchung, Nr. 87, 71. Somit determiniere die Regel die Handlungen ihrer Befolgung nicht, da sie nie alle Fälle ihrer Anwendung umgreife, vgl. ebd., Nr. 292, 163.

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im Fall eines tatsächlichen Missverständnisses werden zusätzliche Regeln und Erklärungen nötig. 36 Den offenen Grenzen der Begriffe entspricht somit in der Sprache eine „Vagheit in den Regeln“, die allerdings wiederum nicht mit einer Präzisie‐ rungsbedürftigkeit oder Deutungsoffenheit der Regeln und ihrer Forde‐ rung verwechselt werden dürfe. 37 Eine Regel sei gerade nicht auf einen von ihr unterschiedenen Akt der Deutung angewiesen: Zur „Physiognomie“ 38 des Regelfolgens selbst gehöre vielmehr, dass eine Regel verstanden und regelmäßig – ohne eine bewusste und ausdrückliche Wahl – befolgt werde: „Wir sind nicht gespannt darauf, was sie uns wohl jetzt sagen wird, sondern sie sagt uns immer dasselbe, und wir tun, was sie uns sagt“. 39 Allerdings bedeute das Bestehen einer Regel nicht, dass dieser immer und notwen‐ digerweise gefolgt werde – sondern nur, dass ihr eben in der Regel und normalerweise gefolgt werde. 40 7.1.2 Der Primat der Alltagssprache Als Kriterium, um den richtigen und falschen (d.h. widersprüchlichen und damit verwirrenden) Gebrauch von Sprache zu unterscheiden, schält sich im Zuge der Untersuchungen Wittgensteins nicht eine logisch konstru‐ ierbare Idealsprache, sondern der alltägliche Gebrauch heraus, in dem die Sprachbenutzer sich immer schon zurechtgefunden haben: „Einerseits ist klar, daß jeder Satz unsrer Sprache ‚in Ordnung ist, wie er ist‘. D.h., daß wir nicht ein Ideal anstreben: Als hätten unsere gewöhnlichen, vagen Sätze noch keinen ganz untadelhaften Sinn und eine vollkommene Sprache wäre von uns erst zu

36 Das philosophische „Ideal der Genauigkeit“ meine daher nicht abstrakte Exaktheit, son‐ dern werde bereits erreicht, wenn das Ergebnis „befriedigt“ (ebd., Nr. 88, 72). In dieser ‚pragmatischen‘ Wende und der daraus folgenden Auseinandersetzung mit jedem Ideal logischer Eindeutigkeit (dem „Vorurteil der Kristallreinheit“ , ebd., Nr. 108, 80. Herv. im Orig.) zeigt sich besonders deutlich die Abwendung Wittgensteins von eigenen Positio‐ nen des Frühwerks, vgl. ebd., Nr. 89–107, 73 80. 37 Ebd., Nr. 100, 77. Herv. im Orig. 38 Ebd., Nr. 235, 143. 39 Ebd., Nr. 223, 141. Entsprechend kann Wittgenstein auch sagen: „Ich folge der Regel blind“ (ebd., Nr. 219, 140. Herv. im. Orig.). Das bedeutet wohl, dass die Regel als Regel, der gefolgt wird, nicht auf eine von ihr unterschiedene Erkenntnis oder eine hinzutretende Willensentscheidung angewiesen ist. Zum falschen Bild des Willens, das diesen als ein „unmittelbares, nichtkausales, Herbeiführen“ (ebd., Nr. 613, 258) denkt, das zwei Ma‐ schinenteile eines Mechanismus verbindet, vgl. dagegen ebd., Nr. 611–619, 257–260. 40 Vgl. ebd., Nr. 345, 179 f.

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konstruieren. – Andererseits scheint es klar: Wo Sinn ist, muß vollkommene Ord‐ nung sein. – Also muß die vollkommene Ordnung auch im vagsten Satze stecken.“ 41

Die Bemühungen der therapeutischen Philosophie Wittgensteins orientie‐ ren sich somit am Alltagsgebrauch der Sprache und ihre Leitfrage lau‐ tet: „Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?“ 42 Die Philosophie entlarve auf diese Weise insbesondere die unangemessenen Übertragungen von Sprachbildern und führe „die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück“. 43 Sozusagen als Gegenprobe dieser Auffassung von Sprache dient Wittgenstein die Auseinandersetzung mit dem Privatspra‐ chenproblem, im Zuge derer er die Möglichkeit einer rein privaten Sprache zur Bezeichnung innerer, schlechthin unkommunizierbarer Empfindungen diskutiert. 44 Die Untersuchung kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Möglichkeit solcher Empfindungen zwar nicht bestritten werden müsse, aber diese Empfindungen nur in Verbindung mit einem sozial vermittelten Sprachspiel eine stabile Bedeutung für das Individuum haben können. 45 Gerechtfertigt werden könne der Gebrauch eines Wortes in einer Aus‐ sage nie durch eine private Empfindung oder Erinnerung, sondern eine Rechtfertigung liege erst vor, wenn man erfolgreich „an eine unabhängige Stelle appelliert“ habe. 46 Die Kette der Begründungen sei als nachträgliche Benennung von hinführenden Ursachen potentiell unabschließbar, so dass 41 Ebd., Nr. 98, 77. Herv. im Orig. Für diesen Zusammenhang ist es unerheblich, ob und inwiefern der Untersatz problematisiert und die Vorstellung dieser ‚vollkommenen Ord‐ nung‘ neu bestimmt wird, vgl. dazu ebd., Nr. 402, 197 f. 42 Ebd., Nr. 116, 82. 43 Ebd. Ein typisches Irrtum dieser Art ist die hypostasierende Verdoppelung, die entsteht, wenn verschiedene Hinsichten auf ein ganzheitliches Geschehen als Elemente eines zu‐ sammengesetzten Mechanismus missverstanden werden, vgl. ebd., Nr. 316, 170; vgl. auch ebd., Nr. 401, 197. Vgl. dazu auch v. Savigny, Kommentar, 5. Vgl. ferner Hacker, Witt‐ genstein, 254 f. 44 Im Kern gehe es dabei um das „Mißverständnis, das Fundament der Sprache liege in der subjektiven Erfahrung“ (ebd., 247). Vgl. Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 243–351, 145–170. 45 Vgl. ebd., Nr. 257, 150 f. Vgl. auch ebd., Nr. 272, 156; Nr. 305, 169. Für die Ergebnisse der Untersuchungen zum Privatsprachenargument vgl. ebd., Nr. 338, 177: „Man kann doch nur etwas sagen, wenn man sprechen gelernt hat. Wer also etwas sagen will, muß dazu auch gelernt haben, eine Sprache zu beherrschen“ (Herv. im Orig.). Vgl. ferner ebd., Nr. 344, 179: „Unser Kriterium dafür, daß Einer zu sich selbst spricht, ist das, was er uns sagt, und sein übriges Verhalten; und wir sagen nur von dem, er spräche zu sich selbst, der, im gewöhnlichen Sinne, sprechen kann“ (Herv. im Orig.). Als allgemeine Regel gelte: „Ein ‚innerer Vorgang‘ bedarf äußerer Kriterien“ (ebd., Nr. 580, 247). 46 Ebd., Nr. 265, 153. Vgl. ebd., Nr. 268, 154. Dies könne eine Sinneswahrnehmung oder ein erfolgreiches Experiment sein, aber auch die Übereinstimmung mit der Alltagssprache.

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Rechtfertigung nur auf einem anderen Wege erreicht werden könne: „Wenn das heißt ‚Habe ich Gründe?‘, so ist die Antwort: die Gründe werden mir bald ausgehen. Und ich werde dann, ohne Gründe, handeln.“ 47 An dem (variablen) Punkt, wo die Begründungen durch den Rückgang auf Ursa‐ chen „erschöpft“ seien, bleibe als Rechtfertigung nur die faktische Praxis des Sprachgebrauchs und die mit einem Exempel bewährte Aussage: „So handle ich eben“ 48 bzw. „Ein guter Grund ist einer, der so aussieht“ 49. Eine mögliche Quelle solcher Exempel sei auch die Erfahrung, die Erwartungen für die Zukunft aus der Vergangenheit ableite – und dabei gerade keine unvollkommene Annäherung an logische Schlüsse vornehme, sondern eine besondere Form des Exemplifizierens nutze. 50 Die Gesamtheit der zulässigen Rechtfertigungspraktiken ist für Witt‐ genstein wiederum in die Lebensform eingebettet: „Was die Menschen als Rechtfertigung gelten lassen, – zeigt, wie sie denken und leben.“ 51 Dies hat Auswirkungen auf den Sinnbegriff: „Sieh den Satz als ein Instrument

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Zu beachten sei, dass für die Evidenz die Unterscheidung von 1. und 3. Person unhin‐ tergehbar sei: „Was ist das Kriterium der Gleichheit zweier Vorstellungen? – Was ist das Kriterium der Röte einer Vorstellung? Für mich, wenn der Andre sie hat: was er sagt und tut. Für mich, wenn ich sie habe: gar nichts. Und was für ‚rot‘ gilt, gilt auch für ‚gleich‘.“ (ebd., Nr. 377, 190). Es sei das Charakteristikum (aber auch die Einseitigkeit) der physi‐ kalisch-naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, von dieser Differenz zu abstrahieren, vgl. ebd., Nr. 401, 197; Nr. 410, 200. Ebd., Nr. 211, 138. Der Gebrauch des Wortes ‚Grund‘ weise dabei eine konstitutive Un‐ schärfe auf, der ihn auch mit dem Begriff der Ursache verwechselbar mache, vgl. ebd., Nr. 479, 219. Vgl. zu dieser Verwechslung auch Hacker, Wittgenstein, 259 f. Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 217, 139 f. Ebd., Nr. 483, 221. Vgl. auch ebd., Nr. 490, 222. Statt eines Zirkels der Erklärungen oder Begründungen findet die Kette der Rechtfertigung also ihr Ende in einer Setzung, in letz‐ ter Konsequenz in der (ihrerseits exemplifizierenden) Abrichtung, vgl. ebd., Nr. 208, 136. Es wäre zu erwägen, ob als Extremfall dieser Rechtfertigung oder Erweis ihres Scheiterns nicht die „Tätlichkeiten“ (ebd., Nr. 240, 144) zum Stehen kommen. Für den Fall der Rechtfertigung mittels Erfahrung vgl. ebd., Nr. 481–490, 220–222. Die Akzeptanz der Möglichkeit, aus der Vergangenheit etwas für die Zukunft abzuleiten, sei dabei neben dem „Gebrauch der Rede und der Schrift“ (ebd., Nr. 491, 223) eine der Bedingungen von Verständigung, vgl. ebd., Nr. 472, 218; Nr. 481, 220. Auch hier gelte allerdings: „Die Rechtfertigung durch Erfahrung hat ein Ende. Hätte sie keins, so wäre sie keine Rechtfertigung“ (ebd., Nr. 485, 221). Zur Evidenz und ihren Grundlagen im Körpererleben vgl. ebd., Nr. 624f, 260 f. Problemen wie der Begründung mittels Evidenz und Induktion, der Möglichkeit des Zweifels oder der Voraussetzung eines Weltbildes widmet Wittgenstein auch seine eigens gesammelten Bemerkungen über Gewissheit, vgl. Wittgenstein, Gewißheit. Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 325, 173.

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an, seinen Sinn als seine Verwendung!“ 52 Sinn sei abhängig von dem tat‐ sächlichen, vorstellbaren oder imaginierten Kontext, in dem ein Satz steht: „Eine Menge wohlbekannter Pfade führen von diesen Worten aus in alle Richtungen“. 53 Die Untersuchungen gelangen auf diesem Wege zu einer ex‐ tremen Forderung, die im Rahmen einer therapeutischen Konzeption von Philosophie allerdings konsequent erscheint: „Die Philosophie darf den tat‐ sächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie läßt alles wie es ist“. 54 Dieser programmatische Verzicht auf Normativität und Erklärungsan‐ spruch eröffnet im Rahmen der therapeutischen Konzeption von Philoso‐ phie den Raum für eine Beschreibung des faktischen Sprachgebrauchs, von dem sich die in die Sprache eingelassenen Bilder in ihrer philosophischen Verselbständigung entfernt haben. 55 Auch die dazu angewandten Grundoder Reflexionsbegriffe wie Grammatik, Sprache und Bedeutung sind nicht zu definieren, sondern von ihrem Gebrauch her zu beschreiben: „D.h.: willst du den Gebrauch des Worts ‚Bedeutung‘ verstehen, so sieh nach, was man ‚Erklärung der Bedeutung‘ nennt“. 56 Viele philosophische Pro‐ bleme wurzeln dieser Perspektive zufolge in der verhängnisvollen Neigung des Philosophen und möglicherweise des Menschen allgemein, am falschen Ort nach weiteren Erklärungen und einer Letztbegründung für das unmit‐

52 Ebd., Nr. 421, 205. Vgl. auch ebd., Nr. 500, 225: „Wenn gesagt wird, ein Satz sei sinnlos, so ist nicht, quasi, sein Sinn sinnlos. Sondern eine Wortverbindung wird aus der Sprache ausgeschlossen, aus dem Verkehr gezogen“. Vgl. ferner ebd., Nr. 520, 230. 53 Ebd., Nr. 525, 231. Vgl. wortgleich Nr. 534, 233). Zu Verstehen und Bedeutung vgl. auch ebd., Nr. 527–570, 232–244. Zur Kontextabhängigkeit von Bedeutung vgl. die Beispiele ebd., Nr. 583–587, 247–249. Auf diese Pointe der bedeutungskonstitutiven Umgebung als zentrale These der Untersuchungen hebt insbesondere ab: v. Savigny, Kommentar, 9–16. 54 Wittgenstein, Untersuchungen, Nr. 124, 85. Die Philosophie „stellt nur fest, was Jeder ihr zugibt“ (ebd., Nr. 599, 253). Vgl. auch ebd., Nr. 126–128, 86; vgl. ferner ebd., Nr. 496, 224: „Grammatik sagt nicht, wie die Sprache gebaut sein muß, um ihren Zweck zu er‐ füllen, um so und so auf Menschen zu wirken. Sie beschreibt nur, aber erklärt in keiner Weise, den Gebrauch der Zeichen“. Behelfsmäßig schlägt Wittgenstein vor, zwischen ei‐ ner „Oberflächengrammatik“ hinsichtlich der „Verwendungsweise im Satzbau“ und einer „Tiefengrammatik“ (ebd., Nr. 644, 271) als der umfassende Beschreibung des Gebrauchs eines Wortes zu unterscheiden. 55 Eine mögliche Herangehensweise ist dafür: „Das Bild ist da; und ich bestreite seine Rich‐ tigkeit nicht. Aber was ist seine Anwendung?“ (ebd., Nr. 424, 205. Herv. im Orig.). Es geht Wittgenstein um die Beschreibung des Anwendungsbereichs solcher Bilder und damit um ihre Zuordnung zu einem passenden Sprachspiel, in dem sie angemessen gebraucht werden können. 56 Ebd., Nr. 560, 242. Gegen die Vorstellung einer ‚Philosophie zweiter Ordnung‘ vgl. ebd., Nr. 121, 84.

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telbar Gegebene zu suchen: „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene‘ sehen sollten. D.h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt.“ 57 Dagegen sei der sprachphilosophische Imperativ zu befolgen: „Sieh auf das Sprachspiel als das Primäre!“. 58 7.1.3 Ertrag: Lehre als Grammatik religiöser Sprachspiele Einen Anknüpfungspunkt für die Theologie innerhalb seiner Sprachphilo‐ sophie markiert Wittgenstein selbst mit einer Andeutung: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik.)“. 59 Verschiedene Theologen wie George A. Lindbeck oder im deutschsprachi‐ gen Raum Ingolf U. Dalferth, Christoph Schwöbel oder Klaus v. Stosch haben diesen Fingerzeig aufgenommen. In ihren Methoden und Ergebnis‐ sen unterscheiden sich die verschiedenen Rezeptionslinien allerdings. Der Ertrag dieser sprachphilosophischen Perspektive wird hier daher mit Blick auf die anschließend rekonstruierte Position Lindbecks formuliert. Wendet man die Beobachtungen, die Wittgenstein hinsichtlich der Spra‐ che formuliert, auf das Phänomen der Religion an, dann ergeben sich gegenüber einer klassisch-hermeneutischen Betrachtung einige Verschie‐ bungen. Zunächst einmal wird die Untersuchung einer Fragestellung eher auf die beobachtbaren Vollzüge blicken als auf die verborgenen Motiva‐ tionen, inneren Erfahrungen und Aussageabsichten der Individuen. Reli‐ giöse Begriffe und Praktiken erhalten ihre Bedeutung dann aus ihrem Ge‐ brauch, der wiederum als ein Ensemble verwandter und vielfach verbunde‐ ner Sprachspiele beschrieben werden kann. Die Einbettung in eine soziale, etwa kirchliche Lebensform wird für diese Sprachspiele schlechthin kon‐ stitutiv, ebenso wie die Reproduktion dieser Praxis durch Einübung und ‚Abrichtung‘, die an die Stelle einer Unterweisung in kognitiven Gehalten tritt. Für Lehraussagen tritt ihre Funktionsweise als Glaubensgrammatik an die Stelle einer semantischen Übereinstimmung mit bestimmten Gegen‐ ständen oder anthropologischen Strukturen. Wenn zudem Wittgensteins Begriff der Regel adaptiert wird, dann macht dieser auf eine spezifische Mehrdeutigkeit im Lehrbegriff aufmerksam: So kann auch die Lehre als eine kirchliche Regel sowohl das innere Modell ei‐ ner Handlung oder Sprechweise, als auch die nachträgliche Rechtfertigung oder schlicht die deskriptive Beschreibung einer Regelmäßigkeit religiösen 57 Ebd., Nr. 654, 269. Herv. im Orig. Vgl. dazu den gesamten Zusammenhang ebd., Nr. 654–656, 269 f. 58 Ebd., Nr. 656, 269. Herv. im Orig. 59 Ebd., Nr. 373, 189.

L. Wittgenstein: Sprachphilosophische Annäherung an das Lehrproblem

Handelns meinen. 60 Die Tendenz der dogmatischen Analyse von Lehraus‐ sagen könnte dann dahin gehen, auch diese eher als Regeln im zweiten oder dritten Sinn zu verstehen, statt sich kognitivistisch auf deren Funktion als bewusst befolgter, explizit anerkannter Verhaltensvorgaben für Verkündi‐ gung und Frömmigkeit zu beschränken. Zudem weisen Regeln nach Witt‐ genstein immer eine gewisse, für ihr Funktionieren gerade konstitutive Un‐ schärfe auf. Beides zusammengenommen verweist auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen offiziellen Lehrartikulationen und einem der Praxis normalerweise impliziten, in deren Regelmäßigkeiten zunächst verborgenen Bestand an Frömmigkeitsregeln. Gleichzeitig muss diese Un‐ terscheidung nicht als strikte Trennung verstanden werden, was für einen weiten, beide Bereiche umfassenden Lehrbegriff spricht. Wittgensteins Zurückweisung einer Privatsprache und seine Orientie‐ rung am alltäglichen Sprachgebrauch können ebenfalls eine Verschiebung des theologischen Interesses motivieren. Als Kriterium der Angemessen‐ heit theologischer Aussagen erscheint dann nicht der theologisch konstru‐ ierte, ‚reine‘ Begriff oder eine innere Erfahrung, sondern der Gebrauch religiöser Formen in der gelebten Frömmigkeit. Liturgie, Gebetssprache und Erzählpraxis werden damit für das Verständnis der kirchlichen Gel‐ tung einer Lehre tendenziell wichtiger als Lehrdokumente und theologische Systembildungen. Eine theologische Begründung der Geltung von Lehre lässt sich auf dieser Grundlage überhaupt nicht theoretisch konstruieren, sondern ist mit dem Spiel des religiösen Sprachspiels immer schon selbst gesetzt und diesem immanent. Theologische Probleme wären dann grund‐ sätzlich eher aufzulösen, indem die einzelnen Begriffe wieder in ihren from‐ men Alltagsgebrauch eingebettet und Unterscheidungen hinsichtlich ver‐ flochtener Sprachspiele vorgenommen werden. Ihre Bearbeitung erfolgte nicht durch eine theologische Normierung der religiösen Praxis ausgehend von einem theologischen Erkenntnisprinzip – etwa der Schrift oder der Vernunft. Die kodifizierte Lehre einer kirchlichen Gemeinschaft erscheint als abstrahierende Artikulation einer sozialen Rechtfertigungs- und Be‐ gründungspraxis, die in ihrer Gesamtheit nur deskriptiv zu erfassen ist. Allerdings zeigen sich aus theologischer Perspektive auch Grenzen die‐ ser Herangehensweise, die hier nicht zuletzt deshalb zu markieren sind, weil sich Lindbeck solche radikalen Konsequenzen entgegen der Vorwürfe vieler Kritiker gerade nicht zu Eigen macht. So erscheint beim späten Witt‐ genstein eine Lesart möglich, die die Sphäre der Sprachvollzüge als de‐ ckungsgleich mit der Sphäre des Sinns setzt, was faktisch keine positiven Aussagen über Transzendenz oder ontologische Korrespondenz mehr zu‐

60 Darauf weist unter Berufung auf Wittgenstein auch Bourdieu hin, siehe oben, 97.

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lässt. So paraphrasiert Hacker: „Wer sagt, daß ein Ausdruck eine Bedeutung habe, sagt damit nichts über die Beziehung des Wortes zu etwas Außer‐ sprachlichem, denn jede Erklärung der Bedeutung eines Wortes erklärt dessen Bedeutung durch Bezugnahme auf andere Worte und Symbole und verbleibt daher im Rahmen der Sprache“. 61 Und die „Grammatik braucht sich, was die Richtigkeit betrifft, nicht vor der Realität zu verantworten“. 62 Eine solche Sprachimmanenz ohne Möglichkeit eines kritischen Ausgriffs auf eine sprachtranszendente Wirklichkeit erscheint für eine theologische Bearbeitung des Lehrproblems problematisch – zumindest, wenn damit mehr als eine methodische Beschränkung auf den deskriptiv zugänglichen Sprachgebrauch und seine grammatischen Regeln verbunden sein sollte. Hier droht die Konsequenz, dass die fundamentale Unterscheidung zwi‐ schen Gottesrede und Gott selbst eingezogen wird. 63 Allgemein werden bei einem so dezidiert deskriptiven Vorgehen der Dogmatik die Möglichkeiten normativer Sachkritik an der Lehre der Kirche stark beschnitten. Seinen Aussagen nach dürfte auch George A. Lindbeck das Unbehagen geteilt ha‐ ben, das sein Weggefährte Hans W. Frei gegenüber einer an Wittgenstein orientierten Religionsphilosphie empfunden und in deutlicher Kritik an ei‐ ner rein internen Beschreibung der Glaubenssprache ausgedrückt hat: „In matters of doctrinal statement, pure self-confinement to Christian self-descrip‐ tion means no self-description. To the extent that this situation is a product of making theology purely internal to the religion, its result is a theology of total silence when one cannot simply and uncritically parrot biblical and traditional formulae“. 64

Unabhängig von der Frage nach einer angemessenen philosophischen Interpretation der Position Wittgensteins und deren theologischer An‐ schlussfähigkeit ist jedenfalls festzuhalten, dass Lindbeck sich in seiner Be‐ handlung des Lehrproblems sowie der religiösen Wahrheitsfrage durchweg von den ‚postmodern-relativistischen‘ Konsequenzen distanziert, die aus einer solchen Grundeinstellung gezogen wurden. Vielmehr will er am Be‐ zug religiöser Sprachvollzüge zu einer außersprachlichen Wirklichkeit und damit auch der Möglichkeit eines zumindest ‚pragmatischen‘ Abgleichs ra‐

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Hacker, Wittgenstein, 244. Ebd., 249. Vgl. für eine entsprechende Lesart auch Körtner, Dogmatik, 91. Frei, Types, 55. Vgl. ebd., 46–66. Faktisch bedeute dies das Ende der akademischen Theo‐ logie in ihrer gegenwärtigen Gestalt, vgl. ebd., 92–94. Frei bezieht sich dabei direkt auf D. Z. Phillips. Damit soll nicht bestritten werden, dass auch andere, weniger radikale oder auf breitere Textbasis gestellte Lesarten des späten Wittgensteins möglich sind, die entsprechend andere Anknüpfungspunkte für Theologie und Dogmatik bieten. Vgl. als Beispiel eines solchen Rückgriffs: Oehl, Theologie.

G. A. Lindbeck: Eine Regeltheorie kirchlicher Lehre

dikal verschiedener Binnenperspektiven mit dieser geteilten Wirklichkeit festhalten. 7.2 G. A. Lindbeck: Eine Regeltheorie kirchlicher Lehre Bei George A. Lindbeck (1923–2018) wurzelt die Auseinandersetzung mit dem Wesen der Lehre (The Nature of Doctrine, Erstausgabe 1984) in ei‐ nem regen praktischen Interesse an der ökumenischen Verständigung der Kirchen. 65 Ursprünglich waren die Überlegungen zum Lehrbegriff, die Lindbeck ausgehend von seinen Erfahrungen im ökumenischen Dialog an‐ gestellt hatte, lediglich als Vorarbeit für eine komparative Dogmatik ge‐ dacht. 66 Auf dem Weg zu diesem Ziel sieht er sich allerdings genötigt, ein umfassendes Programm einer postliberalen Theologie (engl. post-liberal approach to theology) zu umreißen, welches aus kulturanthropologischen und linguistischen Einsichten zur Religionstheorie (engl. cultural-linguistic theory of religions) schöpft und eng mit einer bestimmten Zeitdiagnose ver‐ flochten ist. 67 Aufgrund dieses umfassend programmatischen Charakters und der Tatsache, dass Lindbeck scheinbar gegenläufige Anliegen aus liberalen und konservativen Traditionen zusammenführt, hat sein Text eine breite, grundsätzliche Diskussion über Religionstheorie, die Theologie der Reli‐ gionen sowie die Rolle der Religion in der Gesellschaft angestoßen. Ist auf theologischer Seite die Auseinandersetzung mit scholastischer Theologie – insbesondere in Gestalt Thomas von Aquins – ebenso deutlich zu erkennen wie der Einfluss Karl Barths, zieht Lindbeck zusätzlich Ludwig Wittgenstein und Clifford Geertz als kultur- und sprachtheoretische Referenztheorien heran. 68 Angesichts dieser unüblichen Kombination verschiedener Theo‐

65 Zur Kontextualisierung, dem Einfluss der mittelalterlichen Theologie und der prägenden Erfahrung des Zweiten Vatikanischen Konzils vgl. die Einleitung von Bruce D. Marshall in NoD, IX-XII. Für eine biographische Skizze vgl. auch Eckerstorfer, Kirche, 71–77; zum Konzil vgl ebd., 98–106. 66 Vgl. NoD, XXIXf. 67 Vgl. erneut die Einleitung von Marshall, ebd., VII. In Lindbecks Vorwort zur deutschen Übersetzung ist die Rede von „postliberal cultural-linguistic approaches“ (ebd., XXXI). Im Folgenden wird dieser kulturwissenschaftlich-linguistische Theorietyp teilweise ver‐ kürzend mit ‚kulturlinguistisch‘ übersetzt. Zur Wahl der Selbstbezeichnung ‚postliberal‘ anstelle von möglichen Alternativen wie ‚postmodern‘ oder ‚post-neo-orthodox‘ und der damit implizierten zentralen Frontstellung vgl. ebd., 121, Anm. 1. 68 Zu den theologischen Einflüssen vgl. NoD, 121. Clifford Geertz als außertheologischer Gesprächspartner wird dabei nicht als Einzelkonzeption, sondern als Vertreter eines breiten kulturlinguistischen Konsenses herangezogen: „little more than a semiotic ver‐

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rieversatzstücke und Anliegen war die Rezeption von Linbecks Vorschlag sehr kontrovers, weshalb sein Schüler Bruce D. Marshall konstatiert: „As a result, while practically everybody has found something to like in The Nature of Doctrine, many have also found elements needing serious, even fierce, resistance.“ 69 Bevor auch in dieser Arbeit eine Bilanz gezogen werden soll, was jeweils an Lindbecks Vorschlag weiterführend und problematisch erscheint, hat die Rekonstruktion seiner Argumente zu erfolgen, die sich eng am Aufbau von The Nature of Doctrine orientiert. Zunächst ist dazu die ökumenische Problemstellung zu skizzieren, auf die Lindbeck seine Arbeit durchgängig bezogen wissen wollte (7.2.1). Es folgt eine Darstellung der kulturwissen‐ schaftlich-linguistischen Religionstheorie, die für ihn den Neueinsatz mit einer Regeltheorie der Lehre vorbereitet (7.2.2), sowie der direkten Kon‐ sequenzen, die diese Herangehensweise für die Verhältnisbestimmung der Religionen untereinander und den interreligiösen Dialog hat (7.2.3). Der eigentlichen Lehrtheorie sowie deren Anwendung auf ökumenisch strittige Themenkomplexe widmet sich der nächste Abschnitt (7.2.4). Schließlich werden Lindbecks Gesamtprogramm einer ‚postliberalen Theologie‘ (7.2.5) und einige der Präzisierungen betrachtet, die er ausgehend von kritischen Reaktionen auf seine Konzeption vorgenommen hat (7.2.6). 7.2.1 Die ökumenische Problemstellung Die Problemstellung, zu deren Bearbeitung Lindbeck seinen Beitrag leisten möchte, ergibt sich für ihn aus der ökumenischen Herausforderung, sich – zumindest vordergründig – gegenseitig ausschließende dogmatische Lehr‐ fixierungen so zu vermitteln, dass Fortschritte hin zur vertieften Einheit

sion of the mélange of ideas from Weber, Durkheim, Hegel and Marx used by everyone who talks about religion in our day“ (ebd., XXX). Lindbeck geht es nicht darum, eine neue Religionstheorie entwickeln, sondern er möchte lediglich eine nicht-theologische Betrachtungsweise, die außerhalb der Theologie bereits ihre Erschließungskraft bewiesen habe, auch in Anwendung auf genuin theologische Probleme erproben, vgl. ebd., XXXIIIf. 69 Ebd., IX. In Lindbecks eigenen Worten: „The reason, it would seem, is that the book’s combination of avant garde conceptualities and commitment to historic doctrine was per‐ cieved as a direct attack on liberalism, on the one hand, and as seductively dangerous to conservatism, on the other.“ (ebd., XXX). Entgegen seiner Zielsetzung habe, so Lindbeck, sein Buch „not functioned as an ecumenical prolegomenon, but as a contribution to the wider discussion, weather or how modernity (and its parasitic negation in postmodernity) is being replaced by a new cultural, religious, intellectual and theological situation.“ (ebd., XXXI). Zur zentralen Stellung des Textes innerhalb von Lindbecks Werkzusammenhang vgl. Eckerstorfer, Kirche, 114.

G. A. Lindbeck: Eine Regeltheorie kirchlicher Lehre

der christlichen Kirchen möglich werden. 70 Gesucht werde daher eine theo‐ retische Fassung des Lehrbegriffs (engl. conceptualization of doctrine), die für die Ökumene förderlich (engl. ecumenically useful) und zugleich auch dem Selbstverständnis der beteiligten Partner angemessen (engl. nonecu‐ menically plausible) sei. 71 Bei seiner Suche geht Lindbeck nun von einer Beobachtung aus, die ihm zufolge viele Beteiligte bei ökumenischen Be‐ gegnungen äußern. Trotz ihrer Treue zu den je eigenen, historisch einan‐ der entgegengesetzten Lehrtraditionen behaupten diese oft, sich mit ihren Dialogpartnern in weitgehender Übereinstimmung zu wissen. Kritiker der ökumenischen Annäherung seien – so Lindbeck – allzu schnell geneigt, dies als Selbstbetrug abzutun. 72 Lindbeck hingegen sieht die theoretische Auf‐ gabe nicht darin, diese Behauptung einer „merkwürdigen Kombination von Konstanz und Veränderung, Einheit und Verschiedenheit“ (engl. strange combination of constancy and change, unity and diversity) zu widerlegen, sondern er möchte vielmehr untersuchen, wie dieser Eindruck der Beteilig‐ ten zu erklären ist. 73 Als ein grundlegendes Problem identifiziert er die Schwierigkeit, klare Kriterien dafür anzugeben, welche dynamische Interpretation oder Verän‐ derung der eigenen Lehrgrundlagen noch als treue Fortschreibung im Rah‐ men der jeweiligen Lehrtradition empfunden wird und ab wann die Grenze legitimer Veränderung überschritten ist. 74 Durch die Klärung dieser Frage würde auch eine präzisere Bestimmung möglich, welche Lehrdifferenzen als kirchentrennend bewertet werden müssen und welche nicht. Als loh‐ nenswertes Ziel ökumenisch-theologischer Bemühungen steht ihm dabei vor Augen, die Möglichkeit einer Versöhnung der Lehrunterschiede ohne einseitige Kapitulation eines Dialogpartners auszuloten. 75 Die von Lind‐ 70 Lindbeck konstatiert in den neunziger Jahren rückblickend, dass sich seither das ökume‐ nische Interesse verschoben habe. So suchten die Beteiligten die Einheit eher „co-ope‐ rating in common struggles for, to use the World Council of Churches formula, Justice, Peace and the Integrity of Creation“ (NoD, XXX), während die Lehrunterschiede in den Hintergrund treten. Zu Lindbecks Selbstverständnis als „evangelical catholic“ und seiner Sicht auf die ökumenischen Entwicklungen vgl. Eckerstorfer, 198–219. 71 Vgl. NoD, XXXIV. 72 Prägnant formuliert: „They are inclined to think that the very notion of doctrinal reconci‐ liation without doctrinal change is self-contradictory, and they suspect that the dialogue participants are self-decieved victims of their desire to combine ecumenical harmony with denominational loyalty“ (ebd., 1). 73 Ebd. Vgl. auch ebd., 127. Für eine ganz ähnliche Beschreibung der Erfahrungen, die sich bei am ökumenischen Dialog beteiligten Theologen einstellen, vgl. Schlink, Struktur, 24. 74 Vgl. NoD, XXXIII: „specify the criteria we implicitly employ when we say that some chan‐ ges are faithful to a doctrinal tradition and others unfaithful“. 75 Vgl. ebd., 127: „Is it imaginable [...] that opposing Catholic and Protestant orthodoxies could coexist in full ecclesial fellowship?“. Dies sei wenn überhaupt, dann nur als „doctri‐

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beck für seine Überlegungen beanspruchte religiös-ökumenische ‚Neu‐ tralität‘ (engl. ecumenically and religiously neutral) und der Verzicht auf die dogmatische Bewertung konkreter Lehrunterschiede implizieren dabei keinen Anspruch der Voraussetzungslosigkeit, keine nicht-konfessionelle Standpunktlosigkeit und auch keine Distanzierung vom kirchlich-ökume‐ nischen Engagement. 76 Stattdessen gelte hier wie bei jeder wissenschaft‐ lichen Betrachtung eine strikte Perspektivität, die auch die Kriterien der Entscheidung bestimmt: „[E]ach of the all-embracing and fundamentally different perspectives on religion and doctrine that we shall discuss has a particular view of what is relevant evidence for or against its own adequacy. [...] all observation terms and all observation sen‐ tences are theory-laden. [...] There is no higher neutral standpoint from which to adjudicate their competing perceptions of what is factual and/or anomalous.“ 77

Daher ist dieser Terminus statt mit ‚Neutralität‘ besser als konfessionelle und religiöse ‚Unparteilichkeit‘ zu übersetzen, die der Theorie ihre ökume‐ nische Anwendbarkeit als gemeinsame Grundlage der produktiven Ausein‐ andersetzung sichern soll. Einer gründlichen Betrachtung des Phänomens der Lehre wirke nun allerdings, wie Lindbeck konstatiert, eine generelle Antipathie der Gegen‐ wart gegen alle gemeinschaftlichen Normen entgegen. Allgemein gelten individuelle Freiheit, Autonomie und Authentizität als hohe Werte, was wiederum religiösen Gemeinschaften einen Druck in Richtung Privatisie‐ rung und Subjektivismus (engl. privatism and subjectivism) auferlege. 78 Eine Reglementierung der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft durch normierte Überzeugungen und Praktiken erscheine deshalb grund‐ sätzlich als unzulässige Einschränkung der freien Selbstentfaltung. Lind‐ beck hält dieser Fundamentalkritik kirchlicher Lehre nun erstens entge‐ gen, dass sie sich genau wie die frühere Dominanz der Kirchenlehre über das gesellschaftliche Leben ganz spezifischen sozio-ökonomischen Bedin‐

nal reconciliation without capitulation“ (ebd., 128) zu denken. Lindbeck verknüpft seine Zielvorstellung explizit mit der im Kontext der Leuenberger Konkordie geprägten Formel der ‚versöhnten Verschiedenheit‘. Diese Zielvorstellung ökumenischer Einigung sei al‐ lerdings im interreligiösen Dialog mangels grundlegender Übereinstimmung hinsichtlich der religiösen Grundkategorien nicht zu erreichen, vgl. ebd., 137. 76 Ebd., XXXV. Lindbeck begreift seine Arbeit vielmehr als „service to the church and to the glory of god“ (ebd., XXXVI). 77 Ebd. 78 Vgl. ebd., 63. Es lasse sich somit als Tendenz beobachten: „communal loyalties weaken and are replaced by an emphasis on individual freedom, autonomy, and authenticity“ (ebd.).

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gungen verdanke. 79 Diese historisch kontingenten Rahmenbedingungen allein können aber, besonders wenn sie einmal durchschaut sind, keine theologische Begründung leisten. Zweitens fragt Lindbeck, ob durch diese Individualisierung nicht die Widerstandskraft der Gesellschaft gegen ihre Zersplitterung oder nicht zuletzt auch totalitäre Herrschaftsprogramme geschwächt werde. 80 Allerdings gesteht Lindbeck diesem verbreiteten An‐ tidoktrinalimus (engl. antidoctrinalism) durchaus zu, auf eine Unfähigkeit der klassischen und verbreiteten theoretischen Modelle zu reagieren, die Funktion und Entstehung von Lehre, ihren Wandel sowie ihre Identität im Wandel nicht angemessen verstehen und beschreiben können. 81 Die man‐ gelnde Praxistauglichkeit dieser Ansätze begünstige gegenläufige Abwege: einerseits den Relativismus, der einen im historischen Wandel bleibenden Identitätskern (engl. self-identical core) grundsätzlich leugne, sowie an‐ dererseits den biblizistischen oder traditionalistischen Fundamentalismus, der gerade in seinem Versuch, die überlieferten Formen in einem veränder‐ ten Kontext unverändert zu wiederholen, ihren ursprünglichen Sinn und Geist (engl. original meaning, original spirit) verrate. 82 In Lindbecks Abwehr der antidoktrinalistischen Vorbehalte gegenüber dem Lehrbegriff scheint bereits auf, welche Hoffnungen er auf die Wieder‐ gewinnung eines angemessenen Lehrverständnisses setzt: Die normative Funktion der Lehre besser zu durchschauen, sie neu für das Selbstverständ‐ nis und die Selbstorganisation der christlichen Kirchen zur Geltung zu bringen und damit auch für religiöse Gemeinschaften die soziale Rolle ei‐ nes kritisch-konstruktiven Korrektivs gegenüber destruktiven Gesellschaft‐ strends zurückzugewinnen. 7.2.2 Eine kulturwissenschaftlich-linguistische Religionstheorie Für Lindbeck gilt grundsätzlich, dass sich Religionstheorie und Lehrtheorie wechselseitig beeinflussen. 83 Daher kann er drei Zugänge zum religiösen

79 Vgl. ebd. 80 Durch Lehre identifizierbare und zusammengehaltene soziale Gruppen seien faktisch „chief bulwarks against chaos and against totalitarian efforts to master chaos.“(ebd., 63f). 81 Vgl. ebd., 64. Insbesondere der Propositionalismus traditioneller Lehrtheorien habe dazu beigetragen, unnötige und kontraproduktive Starrheit in praktischen Fragen zu legiti‐ mieren: „They have helped legitimate unnecessary and counterproductive rigidities in practice“ (ebd.). 82 Vgl. ebd., 64 f. 83 Vgl. ebd., XXXIII: „Theories of religion and of doctrine are interdependent, and deficien‐ cies in one area are inseparable from deficencies in the other“.

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Phänomen der Lehre nach ihren religionstheoretischen Grundmodellen. 84 Der erste dieser Grundtypen sei der klassische Propositionalimus. Dieser kognitiv-propositionalistischer Zugang (engl. cognitively propositional) zur Religion begreife Lehren als informationshaltige diskursive Aussagesätze über objektive Realitäten, mit denen ein allgemeiner Wahrheitsanspruch verbunden sei. 85 Das Modell für das Religionsverständnis geben hier ins‐ besondere die Naturwissenschaften ab. Als zweiter Grundtyp und in gewis‐ sem Sinne Spiegelbild stehe dem Propositionalismus der expressivistische Symbolismus gegenüber. Mittels eines erfahrungsbasiert-ausdrucksorien‐ tierten Zugangs (engl. experiential-expressive) werde religiöse Lehre hier als nicht-diskursive, nicht-informierende Ausdrucksgestalten der individu‐ ellen Gefühlswelt oder einer existentiellen Entscheidung betrachtet. 86 Als Modell werde dabei die Kunst beziehungsweise das Kunstwerk herange‐ zogen. Wenn man allein diese beiden Zugänge zur Verfügung hätte, dann müsste man – so Lindbeck – angesichts der ökumenischen Ausgangserfah‐ rung entweder die Vermittelbarkeit widerstreitender Lehrbestände oder die geschichtliche Identitätsbehauptung dieser Lehrtraditionen bestreiten. 87 Neben diesen Grundtypen in ihren mehr oder weniger reinen Ausprägun‐ gen begegnen auch verschiedene Versuche (etwa bei Karl Rahner oder Ber‐ nard Lonergan), beide Perspektiven innerhalb einer umfassenden Theorie zu vermitteln und aufeinander zu beziehen. So ein kombinierter Theorie‐ typ könne Stärken beider Typen aufnehmen und etwa bezüglich der Lehre grundsätzlich variable wie invariable Aspekte anerkennen, doch gelinge dies nur um den Preis einer enormen Steigerung der theoretischen Komple‐ xität. Insbesondere gestalte sich schwierig, die Anwendungsfälle der einzel‐ nen Grundtypen gegeneinander abzugrenzen und die Regeln für die Wahl zwischen ihnen hinreichend klar zu bestimmen – was sich laut Lindbeck wiederum in einer starken Neigung auswirkt, solche Entscheidungen der

84 Dieser mit idealtypischen Konstrukten operierende Zugriff ist nicht nur für Lindbeck, sondern auch für andere Vertreter der amerikanischen Universitätstheologie charakte‐ ristisch, als weitere Beispiele vgl. Frei, Types; Kelsey, Doctrine. Zu dieser spezifischen Denkart vgl. auch Eckerstorfer, Kirche, 30–41. Zu den religionstheologischen Model‐ len nach Lindbeck und deren Verhältnis zum Schema präliberal-liberal-postliberal vgl. ebd., 115–124. 85 Vgl. NoD, 2: „emphasizes the cognitive aspects of religion and stresses the ways in which church doctrines funcion as informative propositions or truth claims about objective rea‐ lities“. 86 Vgl. ebd.: „interprets doctrines as noninformative and nondiscursive symbols of inner feelings, attitudes, or existential orientations“. 87 Vgl. ebd., 2f: „either doctrinal reconciliation or constancy must be rejected“.

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Autorität eines kirchlichen Lehramtes zu delegieren. 88 Unter römisch-ka‐ tholischen Bedingungen mag das ein gangbarer Weg sein, doch mit dem protestantischen Selbstverständnis sei dies nicht vereinbar. Als dritte, echte Alternative zu den kognitivistischen und expressivisti‐ schen Zugängen schlägt Lindbeck deshalb eine neue Betrachtungsweise vor, die Religion als Zusammenhang von Sprache und Lebensform in den Blick nimmt. Auf der Grundlage eines semiotischen Kulturbegriffs zeige sich nämlich eine Strukturähnlichkeit von Religion und Kultur. 89 Lindbecks kulturwissenschaftlich-linguistischer (engl. cultural-linguistic) Zugang be‐ trachtet die Lehre der Kirche entsprechend als implizite, sozusagen ‚kul‐ turelle‘ Regeln, die in einer Gemeinschaft faktisch gelten und so den Dis‐ kurs, die Einstellungen und das Handeln prägen. 90 Als ersten Vorzug die‐ ses kulturwissenschaftlich-linguistischen Verständnisses identifiziert Lind‐ beck, dass Regeln auch unter wechselnden Umständen ihre Bedeutung be‐ halten können und ihnen daher eine komplexere Art von Identität in der Veränderung zukomme, als das bei Aussagesätzen oder Ausdrucksgestal‐ ten individueller Erfahrung der Fall sei. 91 Zweitens lassen sich scheinbar widersprechende Regeln in bestimmten Fällen vermitteln – falls man sie etwa hinsichtlich ihres zeitlichen oder räumlichen Anwendungsbereichs so spezifizieren könne, dass kein direkter Widerspruch auftrete, oder wenn sie sich in eine Anwendungshierarchie bringen lassen. 92 Dies, so Lindbeck, beschreibe nicht zuletzt vergleichsweise präzise den faktischen Umgang mit Lehraussagen, wie er sich schon im altkirchlichen Verständnis der re‐ gula fidei niedergeschlagen habe und in ökumenischen Einigungsprozessen vielfach zu beobachten sei. Dass Lehrsätze selten ausschließlich als Regeln gebraucht werden – Lindbeck denkt besonders an den liturgische Gebrauch von Dogmen in den Ostkirchen – müsse damit nicht bestritten werden, doch werde in solcher Verwendung die Sprachgestalt eines Lehrsatzes eben gerade nicht als Lehre gebraucht.

88 Vgl. ebd., 3: „They are also weak in criteria for determining when a given doctrinal deve‐ lopment is consistent with the sources of faith, and they are therefore unable to avoid a rather greater reliance on the magisterium“. 89 Vgl. ebd., 3 f.: „emphasis is placed on the aspects in which religions resemble languages together with their correlative forms of life and are thus similar to cultures (insofar these are understood semiotically as reality and value systems [...])“. 90 Vgl. ebd., 4: „communally authoritative rules of discourse, attitude, and action“. 91 Vgl. ebd.: „Rules, unlike propositions or expressive symbols, retain an invariant meaning under changeing conditions of compatibility and conflict“. 92 Vgl. ebd.: „Thus opposition between rules can in some instances be resolved, not by alte‐ ring one or both of them, but by specifying when or where they apply, or by stipulating which of the competing directives takes precedece“.

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Diese drei Modelle: Propositionalismus, Symbolismus und kulturwissen‐ schaftlich-linguistisches Regelmodell stehen für alternative, zum Teil ge‐ gensätzliche Herangehensweisen an Religionen allgemein und damit auch konkret an das Phänomen kirchlicher Lehre. Es gibt für Lindbeck keinen neutralen Theoriestandpunkt, von dem aus sich die Differenzen dieser drei Herangehensweisen aufheben lassen, weil die Wahl der jeweiligen Per‐ spektive bereits bestimmt, welche Kriterien und Beweisgründe überhaupt Berücksichtigung finden. 93 Ihre Erschließungskraft soll die vorgeschlagene Herangehensweise daher praktisch unter Beweis stellen, indem sie Anoma‐ lien aufhebt oder minimiert, die im Rahmen der bisher dominanten Para‐ digmen nicht befriedigend oder nur unter großem Aufwand erklärt werden können. 94 a) Die Auseinandersetzung mit der expressivistischen Erfahrungstheorie Als der entscheidende theoretische Konkurrent seines Modells erscheint Lindbeck die expressivistische Alternative, der – wie oben bereits mit Blick auf den Antidoktrinalismus beschrieben – die kulturelle Gesamtlage aktuell besonders entgegen komme. 95 So habe die moderne Gesellschaft mit ihrem Individualismus, ihrem raschen sozialen Wandel und ihrem Pluralismus für die meisten Glaubenden zu einer Entgegenständlichung (engl. de-objec‐ tification) von religiösen Überzeugungen und Lehren geführt. 96 Darunter versteht Lindbeck eine Subjektivierung und Verinnerlichung dessen, was als Kern des Religiösen begriffen wird. Mit den Werten der Moderne er‐ scheine es am Besten vereinbar, Religion als individuelles Streben nach persönlicher Sinnerfahrung (engl. individual quest for personal meaning) zu

93 Vgl. ebd., 59. Die Überlegenheit eines theoretischen Modells lasse sich nie im strikten Sinne demonstrieren, da die Präferenz für ein Modell zugleich auch die Kriterien modifi‐ ziere, was überhaupt als relevanter Beleg für die Überlegenheit oder Unterlegenheit eines (religions)theoretischen Modells zu gelten habe, vgl. ebd., 27 f. Im Hintergrund stehen hier deutlich die wissenschaftssoziologischen Entdeckungen T. S. Kuhns zum typischen Verlauf wissenschaftlicher Revolutionen, vgl. Kuhn, Struktur. Vgl. zur Rezeption der Ge‐ danken Kuhns auch Eckerstorfer, Kirche, 108–113. 94 Vgl. NoD, XXXIV. 95 Vgl. ebd., 5–11. Daneben spreche auch eine Art wissenssoziologische Pfadabhängigkeit für diese Entwürfe, die an eine lange, kontinuierliche und in sich vielfältige Tradition anschließen können, die bis auf Friedrich Schleiermacher und die Romantik zurück‐ gehe: „The habits of thought it has fostered are ingrained in the soul of the modern West, perhaps particularly in the souls of theologians“ (ebd., 7). Kulturwissenschaft‐ lich-linguistische Modelle seien dagegen viel jünger und fast nur unter nicht-theologi‐ schem oder atheistischem Vorzeichen erprobt worden. 96 Lindbeck verweist hier auf Thomas Luckmann und Peter L. Berger, vgl. ebd.

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betrachten. 97 In der Folge werde die religiöse Erfahrung von Religionskri‐ tikern wie religiös Praktizierenden als etwas unhintergehbar Privates und Individuelles betrachtet. Die Individualisierung und Pluralisierung stellen schon allein aufgrund der damit nun verbundenen praktischen Hindernisse die Sicht in Frage, dass Religion wie eine Kultur oder Sprache durch Hinein‐ wachsen in eine Gemeinschaft und Internalisierung vorgegebener sozialer Strukturen erworben werden müsse. 98 Dagegen eröffne die Annahme ei‐ ner tiefen Innerlichkeit (engl. inwardness) der religiösen Erfahrung eine Möglichkeit, auch unter post-kantischen, subjektivistischen Denkvoraus‐ setzungen einen von den Ansprüchen der Wissenschaft und Philosophie unberührten Bereich zu verteidigen. 99 Nicht zuletzt lasse sich in dieser gesamtkulturellen Situation Religion am besten vermarkten (engl. market most easily), wenn man ihr eine besondere existenzielle Erfahrungs- und Erlebnisdimension zuschreibe. 100 Das expressivistische Modell von Reli‐ gion erscheint in Lindbecks Rekonstruktion also eng mit gesellschaftlichen Trends verflochten, die er als Rahmenbedingungen theologischer Arbeit diagnostiziert und denen er selbst kritisch gegenübersteht. Als letztes und vermeintlich entscheidendes Argument für die Über‐ legenheit des erfahrungsbasiert-ausdrucksorientierten Zugangs angesichts der gesamtkulturellen Situation der Gegenwart werde nun – so Lindbeck – oft angeführt, dass allein dieser eine tragfähige Basis für den interreligiösen Dialog bieten könne. 101 Dies hänge allerdings davon ab, ob es tatsächlich überzeugt, die verschiedenen Religionen als Ausdrucksgestalten ein und derselben invarianten religiösen Grunderfahrung zu betrachten. Aus die‐ sem Grund setzt sich Lindbeck mit der Frage auseinander, ob Religionen besser als Ergebnis spezifischer Tiefenerfahrung (engl. products of deep ex‐ periences) oder als erfahrungsproduktiver Grund solcher und anderer Erfah‐

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Vgl. ebd., 8. Diese Betrachtungsweise sei durch Pietismus und Erweckungstheologie selbst unter Konservativen weit verbreitet. 98 Vgl. ebd.: „difficulties for thinking of the process of becoming religious as similar to that of acquiring a culture or learning a language – that is, interiorizing outlooks that others have created, and mastering skills that others have honed“. 99 Vgl. ebd., 10. 100 Lindbeck konstatiert, dass professionelle Theologen unabhängig von jeder persönlichen, konservativen oder liberalen Präferenz diesbezüglich unter starken Zwängen stehen: „the exigencies of communicating their messages in a privatistic cultural and social milieu lead them to commend public and communal traditions as optional aids in in‐ dividual self-realization rather than as bearers of normative realities to be interiorized“ (ebd., 9). 101 Vgl. ebd.: „supply a rationale for the interreligious dialogue and cooperation that is so urgently needed“.

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rung (engl. producers of experience) zu betrachten sind. 102 Der erfahrungs‐ basiert-ausdrucksorientierten Zugangs gehe aus von der Grundannahme der Universalität und Einheit einer religiösen Urerfahrung, die wiederum schlechthin zentrale Voraussetzung für die expressivistische Begründung des interreligiösen Dialogs bilden solle. 103 Doch gerade diese Grundan‐ nahme erscheine aus kulturwissenschaftlich-linguistischer Perspektive als problematisch, weil sich ein solcher invarianter Erfahrungskern in der Fülle des empirischen Material schlicht nirgends auffinden lasse. 104 Wie man ge‐ wiss nicht von Sprache an sich sprechen könne, so könne man wohl auch keine religiöse Erfahrung an sich machen. 105 In der Subjektivierung und Verinnerlichung des expressivistischen Modells, mittels derer die Religion auf eine Tiefenerfahrung gegründet werden soll, sieht Lindbeck vor allem eine apologetische Fluchtbewegung wirksam. Diese verkenne nicht nur die religiöse Bedeutung gemeinschaftlicher Praxis, sondern gefährde auch die Anschlussfähigkeit der Theologie an den Diskurs anderer Wissenschaften. Wenn allein die Theologie die empirisch nirgends greifbare Abstraktion einer kulturinvarianten Urerfahrung behaupte und in ihrer Arbeit voraus‐ setze, drohe nicht zuletzt ein immer weiteres Auseinanderklaffen zwischen theologischen und nicht-theologischen Zugängen zum Phänomen prakti‐ zierter Religion. 106 Im Gegensatz dazu geht Lindbecks kulturwissenschaftlich-linguistische Perspektive davon aus, dass Religionen umfassende Interpretationsrahmen (engl. comprehensive interpretive schemes) für menschliches Erleben und Verstehen bereithalten, die in Mythen und Erzählungen narrativ verkör‐ pert sind und in Ritualen zur Darstellung gebracht werden. 107 Wie eine Sprache sei eine Religion wesentlich gemeinschaftlich vermittelt und der Subjektivität der Einzelnen vorgegeben. Religion präge und forme diese

102 Vgl. ebd., 16. Dazu vergleicht Lindbeck seine kulturwissenschaftlich-linguistische Her‐ angehensweise mit der des jesuitischen Theologen und Religionsphilosophen Bernard Lonergan, zunächst unter Ausklammerung genuin theologischer Interessen, vgl. ebd., 16–28. 103 Bei Lonergan werde diese Erfahrung etwa als Erfahrung umfassender Liebe bezeichnet, was laut Lindbeck bereits deutlich auf eine christliche Voreingenommenheit hinweise, vgl. ebd., 17 f. 104 Ebd., 18: „affirming the underlying unity of religious experience [...] is the most proble‐ matic element in his, as in other, experiential-expressive theories“. 105 Vgl. ebd., 9: „it is just as hard to think of religions as it is to think of cultures an languages as having a single generic or universal experiential essence“. 106 Vgl. ebd., 11. 107 Vgl. ebd., 18. In dieser hier paraphrasierten Passage sieht Eckerstorfer „Lindbecks ge‐ samtes postliberales Projekt“ zusammengefasst, Eckerstorfer, Kirche, 119. Vgl. auch NoD, 66: „comprehensive interpretive medium or categorial framework“.

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Subjektivität selbst, statt nur kulturell gefärbtes Ausdrucksphänomen in‐ nerer Erfahrung zu sein. 108 Sie bringe als dieser Interpretationsrahmen allererst die Bedingungen für bestimmte Beschreibungen der Wirklichkeit, für die Artikulation entsprechender Überzeugungen und sogar das Erleben korrespondierender Gemütszustände hervor. 109 Erst seine Interpretations‐ rahmen ermöglichen dem Subjekt, bestimmte Erfahrungen zu machen, aus‐ zudrücken und mit anderen abzugleichen. Im direkten Vergleich zwischen expressivem und kulturwissenschaftli‐ chem Modell zeige sich also, dass das Verhältnis zwischen der Erfahrung einerseits, ihrer Konzeptualisierung und Symbolisierung andererseits je‐ weils umgekehrt bestimmt werde. 110 Für Lindbeck bedingt das Vorhan‐ densein eines kulturellen Instrumentariums kommunikativer und symbo‐ lischer Mittel quasi-transzendental jedwede Erfahrung: „we cannot iden‐ tify, describe, or recognize experience qua experience without the use of signs and symbols“. 111 Die Differenziertheit auf Seiten der sprachlich-sym‐ bolischen Mittel limitiere die Bandbreite möglicher Erfahrung. 112 Es gebe eine nahezu unendliche Fülle möglicher Gedanken, Gefühle und Wahrneh‐ mungen, die den Einzelnen erst erschlossen seien, wenn diesen ein ange‐ messener symbolischer Interpretationsrahmen zur Verfügung stehe. 113 Ein gemeinsamer Erfahrungskern (engl. experiential core), der allen bekannten Religionen gemeinsam ist, erscheine unter diesen Bedingungen weder als wahrscheinlich, noch überhaupt als theoretisch erforderlich. 114 Mit Witt‐ 108 Vgl. ebd., 19: „a communal phenomenon that shapes the subjectivities of individuals rather than being primarily a manifestation of those subjectivities“. 109 Vgl. ebd. Lindbeck verknüpft diese Position bewusst mit der reformatorischen Lehre vom verbum externum, vgl. ebd., 20. 110 Vgl. ebd., 22. Allerdings sei die Beziehung von Religion und Erfahrung wohl nicht als einlinige Ableitung, sondern dialektisch zu verstehen (engl. not unilateral but dialecti‐ cal), vgl. ebd., 19 f. 111 Ebd., 22. Lindbeck weist daher jede Vorstellung von nicht-interpretierten und nicht‐ schematisierten (engl. uninterpreted and unschematized) Basiserfahrungen zurück, ohne damit die Möglichkeit vorreflexiver Sinneseindrücke (engl. nonreflective) zu bestreiten. Ungeachtet dessen sei es auch durchaus möglich, dass kulturell vermittelte Schemata bereits vorreflexiv in der Sinneswahrnehmung wirksam werden. 112 Vgl. ebd., 23. Dies verweise auf das theoretische Grundproblem, wie sich Sprache und Wirklichkeit zueinander verhalten, vgl. ebd., 23–25. Lindbeck erwägt mit Noam Chomsky und Clifford Geertz angeborene Strukturen, die den Spracherwerb ermög‐ lichen, aber nur durch das Erlernen einer konkreten Sprache entfaltet und realisiert werden können. 113 Vgl. ebd., 20: „There are numberless thoughts we cannot think, sentiments we cannot have, and realities we cannot perceive unless we learn to use the appropriate symbol systems“. Vgl. auch ebd., 48. 114 Ebd., 26. Lindbeck rekapituliert in diesem Zusammenhang auch Wittgensteins Privat‐ sprachenargument gegen die Möglichkeit rein privater Erfahrung als solcher, vgl. ebd.,

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genstein könne man vielmehr von einer Familienähnlichkeit (engl. a set of family resemblances) ausgehen, die alle religiösen Konzepte und Erfah‐ rungen verbinde. 115 Zwischen den Kulturen rechnet Lindbeck mit funda‐ mentalen Unterschieden hinsichtlich der religiösen Erfahrungsdimension, die sich auch auf die scheinbar säkularen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auswirken. 116 Jede Religion verbinde auf der strukturellen Ebene ein bestimmtes se‐ mantisches Sprach- und Symbolsystem (engl. vocabulary of discursive and nondiscursive symbols) mit einer spezifischen Grammatik (engl. distinc‐ tive logic or grammar), welche den Gebrauch dieser Symbole regle. 117 In Analogie zum Verhältnis von Sprache und Kultur müsse man daher religi‐ öse Lehre immer eingebettet in den Gesamtzusammenhang einer gemein‐ schaftlich gelebten Religion betrachten: „Its doctrines, cosmic stories or myths, and ethical directives are integrally related to the rituals it practices, the sentiments or experiences it evokes, the actions it recommends, and the institutional forms it develops.“ 118 Religiös ist für Lindbeck jeder Interpre‐ tationsrahmen, der Menschen dazu dient, dasjenige zu identifizieren und zu beschreiben, was für sie von schlechthin allerhöchster Bedeutung ist. 119 Ein solcher Rahmen sei potentiell allumfassend und daher auch in der Lage, die gesamte Lebensführung, das Verhalten und die Überzeugungen (engl. all of life, including both behavior and beliefs) zu strukturieren. 120 Sein kulturwissenschaftlich-linguistischer Zugang könne – so bean‐ sprucht Lindbeck – durchaus einzelne Wahrheitsmomente des expressi‐ ven Modells aufnehmen. Etwa könne man die kulturprägende Kraft (engl. culture-forming power) religiöser Erfahrung anerkennen, obwohl diese Er‐ fahrung des Einzelnen gegenüber dem religiösen Interpretationsrahmen

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24 f. Letztlich votiert er nicht strikt für die Unmöglichkeit, sondern für die Verzicht‐ barkeit jeder Annahme einer vorsprachlich-privaten Erfahrung. Vgl. Eckerstorfer, Kirche, 123. Vgl. NoD, 26. Konzepte wie ‚das Heilige‘, ‚die Mystik‘ oder auch ‚Religion‘ seien somit klassifizierende Oberbegriffe für ein vielfältiges Feld kultureller Symbolsysteme (engl. variegated set of cultural-linguistic systems) vgl. ebd. Vgl. ebd., 27: „fundamentally divergent depth experiences of what it is to be human“. Ebd., 19. Mit Wittgenstein sei dabei immer auf den Zusammenhang dieses religiösen Sprachspiels mit der umfassenden Lebensform zu achten, in die es sozial eingebettet sei. Zu Wittgensteins Verhältnisbestimmung siehe oben, 16. Ebd., 19. Vgl. auch ebd., 26; vgl. ferner die Zusammenfassung ebd., 48. Vgl. ebd., 18 f. Von William Christian übernimmt Lindbeck die Charakterisierung von Religionen als „idioms for dealing with what is most important“. Vgl. ebd., 19. Ein kultureller oder religiöser Interpretationsrahmen ähnele in seiner Funktion dem kantischen Apriori, aber sei eben gerade nicht a priori gegeben, sondern geschichtlich-kontingent, sozial vermittelt und kulturell variabel.

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wiederum als abgeleitet (engl. derivative) und nicht als ursprünglich (engl. primordial) betrachtet werde. 121 Zudem lasse sich auch eine unreflektierte und vorbewusste Dimension menschlicher Existenz einholen, die dem er‐ fahrungsbasierten Zugang wichtig und bei einem kognitivistischen oder voluntaristischen Verständnis von Religion verstellt sei. 122 b) Die Auseinandersetzung mit der propositionalistischen Wahrheitstheorie Am propositionalistischen Modell kritisiert Lindbeck insbesondere die in‐ tellektualistische Verengung der Perspektive auf Religion, während er hin‐ sichtlich der Bedeutung religiöser Wahrheitsansprüche und auch des Vor‐ rangs einer – in einem noch näher zu bestimmenden Sinn – objektiven Dimension des religiösen Verhältnisses durchaus Übereinstimmungen mit seiner kulturwissenschaftlich-linguistischer Perspektive erkennt. Um nun in Auseinandersetzung mit diesen Zugängen diese ‚objektive‘ Dimension der Religion angemessen zu beschreiben, nimmt Lindbeck eine Verdoppe‐ lung des Wahrheitsbegriffs vor, welche die Unterscheidung zweier Ebenen von Wahrheit zulässt. Die erste Ebene betreffe die Adäquatheit der Kate‐ gorien, die eine Religion gegenüber der letzten Wirklichkeit in Anschlag bringe. 123 Die Angemessenheit dieser Kategorien ermögliche wiederum die zweite Ebene einer propositionalen, praktischen oder symbolischen Wahr‐ heit (engl. propositional, practical, and symbolic truth). 124 Auf Grundlage dieser Ebenenunterscheidung lassen sich direkte Wahrheitsbehauptungen der zweiten Ebene (engl. first-order truth claims) von Urteilen über die grammatischen Regeln und Kategorien unterscheiden, auf welche die Al‐ ternative von wahr und falsch zumindest nicht im ontologischen Sinne, sondern eben nur hinsichtlich ihrer Angemessenheit an die religiöse Wirk‐ lichkeit anwendbar sei. 125 Der Gebrauch religiös angemessener Kategorien

121 Vgl. ebd., 20 f. 122 Vgl. ebd., 21: „Religion cannot be pictured in the cognitivist (and voluntarist) manner as primarily a matter of deliberately choosing to believe or follow explicitly known propositions or directives“. Für religiöse Praxis sei charakteristisch, dass sie nicht nur das Bewusstsein, sondern gerade auch das individuelle und kollektive Unterbewusstsein präge, vgl. ebd., 26 f. 123 Vgl. ebd., 34: „Adequate categories are those which can be made to apply to what is taken to be real“. 124 Vgl. ebd. 125 Vgl. ebd. Religiöse Symbolsysteme seien hier, wie Lindbeck argumentiert, vergleichbar mit mathematischen Systemen.

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garantiere nicht schon die Wahrheit religiöser Aussagen, aber sei die Be‐ dingung der für ihr Wahrsein notwendigen Sinnhaftigkeit. 126 Dieses gestufte Verständnis von Wahrheit verweise die Wahrheitsfrage angesichts der Konkurrenz verschiedener Religionen – dem theologischen wie nicht-theologischen Common sense entgegen – weg von den einzelnen Lehraussagen einer Religion und ihrer postulierten Übereinstimmung mit einem spezifischen Gegenstand. 127 Stattdessen entscheide über die Wahr‐ heit einer Religion, ob ihre Kategorien der Wirklichkeit angemessen seien. Jede Religion als umfassender, ganzheitlicher Lebenszusammenhang glei‐ che dabei einer gigantischen ‚Gesamtproposition‘ (engl. single gigantic pro‐ position). 128 Dieses Verständnis als Gesamtproposition lasse Urteile über die mögliche kategoriale Übereinstimmung einer Religion mit der von ihr angezielten Wirklichkeit und über ihre Annäherung an das ihr inhärente Ideal zu, aber – so muss man Lindbeck hier konsequent interpretieren – keinen von der Bindung an dieses Ideal unabhängigen Standpunkt zur Be‐ urteilung solcher Ansprüche: „It is a true proposition to the extent that its objectivities are interiorized and exerci‐ sed by groups and individuals in such a way to conform them in some measure in the various dimensions of their existence to the ultimate reality and goodness that lies at the heart of things“. 129

In Analogie zu einer Landkarte werde eine Religion überhaupt nur dann zur Proposition, wenn sie ‚benutzt‘, d.h. praktiziert wird, um das mit ihr bezeichnete Ziel zu erreichen – und nur in Hinblick auf diese Verwendung und dieses Ziel sei ihre Angemessenheit und Präzision zu beurteilen. 130 Doch kann dieses Modell kategorialer Angemessenheit auch dem – für die religiöse Perspektive selbst möglicherweise unverzichtbaren – An‐ 126 Vgl. ebd.: „categorial adequacy does not guarantee propositional truth, but only makes meaningful statements possible: [...] a categorially true religion would be one in which it is possible to speak meaningfully of that which is, e.g., most important“. Zu Lindbecks Wahrheitstheorie vgl. auch Marshall, Absorbing, bes. 71 f. 127 Vgl. NoD, 37. In diesem Verständnis, dass ontologische Wahrheit eine Eigenschaft ein‐ zelner Propositionen ist, berühren sich laut Lindbeck antike Philosophie, cartesischer Rationalismus und religiöser Fundamentalismus, der somit nicht minder als der symbo‐ lische Expressivismus ein genuines Produkt der Moderne sei. 128 Vgl. ebd. 129 Ebd. 130 Vgl. ebd., 37 f. Die wahre Religion erweise sich als solche in ihrem Gebrauch, selbst wenn der Missbrauch vorherrschen sollte: „the categorially and unsurpassably true religion is capable of being rightly utilized, of guiding thought, passions, and action in a way that corresponds to ultimate reality, and of thus being ontologically (and ‚propositionally‘) true, but is not always and perhaps not even usually so employed“ (ebd., 38). Dieses Bild der Land- oder Stadtkarte begegnet auch bei Wittgenstein, wie oben gezeigt wurde.

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spruch auf eine ontologische Übereinstimmung von Propositionen mit der Wirklichkeit gerecht werden? 131 Zu diesem Zweck unterscheidet Lindbeck zwischen der instrasystemischen Wahrheit (engl. truth of coherence), wie sie die Kohärenztheorie der Wahrheit behaupte, und der ontologischen Wahrheit, die der Korrespondenztheorie zugrunde liege (engl. truth of cor‐ responence to reality). 132 Kohärenz als Übereinstimmung mit dem Ganzen eines relevanten Kontextes (engl. total relevant context) sei notwendige Bedingung der Möglichkeit ontologischer Wahrheit. 133 Jede einzelne Äu‐ ßerung erhebe ihren Wahrheitsanspruch innerhalb eines übergreifenden Zusammenhanges von Sprache, Denken, Gefühl und Handeln. 134 Dieser sinngebende Kontext erstreckt sich für Lindbeck also nicht nur auf ver‐ bale Äußerungen, sondern auch auf die Lebens- und Verhaltensformen, in denen diese getätigt werden. Im Fall des Christentums sei dieser relevante Kontext insbesondere durch die biblischen Geschichten bestimmt. 135 Nun sei die ontologische Wahrheit, die Religionen behaupten, durch eine Besonderheit von den Wahrheitsbehauptungen anderer Diskurszu‐ sammenhänge (engl. realms of discourse) unterschieden. 136 Religiöse Spra‐

131 Vgl. ebd., 49: „If we are to do justice to the actual speech and practice of religious people, we must go farther than in our earlier discussion of unsurpassability. [...] we must also allow for its possible propositional truth“. 132 Ebd., 50. 133 Vgl. ebd: „coherence is necessary for truth in nonreligious as well as religious domains“. Epistemische Realisten (wie Lindbeck selbst) betrachten somit die intrasystemische Ko‐ härenzwahrheit als zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für ontologi‐ sche Wahrheit. Sei eine Aussage intrasystemisch kohärent, könne sie noch immer be‐ deutungslos (engl. meaningless) sein, wenn sie Teil eines Systems ist, welches sich nicht in kategorialer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit (engl. correspondence to reality) befinde, vgl. ebd., 50 f. In einer späteren Reaktion auf Kritik an dieser Terminologie übernimmt Lindbeck die Unterscheidung von ‚gerechtfertigt‘ (engl. justified) und ‚wahr‘ (engl. true), vgl. ebd., 133. Gerechtfertigte Annahmen können dennoch falsch sein, wäh‐ rend wahre Aussagen noch ihrer (überzeugenden) Rechtfertigung harren können. Diese begriffliche Unterscheidung von gerechtfertigt und wahr, die Lindbecks frühere Unter‐ scheidung zwischen der intrasystemischen und ontologischen Wahrheit später ersetzen soll, übernimmt er aufgrund einer Anregung durch B. D. Marshall, vgl. Marshall, Aquinas. Vgl. dazu Lindbeck, Response. 134 Vgl. NoD, 50: Utterances „are true only as parts of a total pattern of speaking, thinking, feeling, and acting“. 135 Vgl. ebd.: „in the Christian case the system is constituted, not in purely intellectual terms by axioms, definitions, and corollaries, but by a set of stories used in specifiable ways to interpret and live in the world“. Den Unterschied zwischen Erzählungen und theoretischen Aussagensystemen zu verkennen sei der grundlegende Fehler kognitivis‐ tisch-propositionalistischer Religionstheorien, vgl. ebd.: „a religious system is more like a natural language than a formally organized set of explicit statements“. 136 Vgl. ebd., 51.

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che stelle etwa im Gebet die spezifisch religiöse Korrespondenz, die durch sie als ontologische Wahrheit ausgesagt werden solle, selbst her oder bringe sie zumindest mit hervor. Religiösen Propositionen könne ihre Wahrheit somit nicht einfach als solchen zukommen (engl. when considered in and of themselves), sondern immer relativ auf ihre religiöse Funktion, die darin be‐ stehe, eine bestimmte Lebensform zu konstituieren und zu regeln. 137 Ent‐ sprechend erhalten religiöse Aussagen über das schlechthin Bedeutendste ihre propositionale Kraft (engl. propositional force) nur durch ihren perfor‐ mativen Gebrauch (engl. performatory use), weil eine assertorische Äuße‐ rung wie etwa das Christusbekenntnis als Sprechakt notwendig impliziere, sich zugleich, d.h. in eodem actu in bestimmter Weise zu der ausgesag‐ ten Realität zu verhalten und zu einer Lebensform zu verpflichten (engl. commit oneself to a way of life). 138 Die Begriffe, die auf die göttliche Rea‐ lität angewendet werden, seien dabei in einem gewissen Sinne leer, weil ihr Gehalt den menschlichen Verstand und damit auch die menschlichen Bezeichnungsakte (lat. modus significandi) übersteige. 139 Aber sie ermögli‐ chen laut Lindbeck nichtsdestotrotz eine Korrespondenz des menschlichen Verhaltens mit Gottes Willen, wie dieser sich in den biblischen Geschichten offenbart habe. 140 Auf dieser Basis könne erklärt werden, woran kognitivis‐ tisch-propositionale und erfahrungsbasiert-ausdrucksorientierte Modelle scheitern – nämlich daran, das spezifisch religiöse Ineinander von subjek‐ tiver Haltung und objektivem Wahrheitsanspruch präzise zu erfassen. Lindbeck kommt so zu dem Ergebnis, dass durch die kulturwissenschaft‐ lich-linguistische Betrachtungsweise einem epistemischen Realismus sowie dem Anspruch der Glaubenden, im religiösen Vollzug wahre Aussagen auszusprechen und sich dabei in Übereinstimmung mit einer göttlichen Wirklichkeit zu befinden, nicht widersprochen werden muss. 141 Allerdings

137 Vgl. ebd. Die scholastische Übereinstimmung von Intellekt und Sache (lat. adaequatio mentis ad rem) sei daher aus religiöser Perspektive als ‚abkünftiger‘ Sonderfall einer grundlegenden Relation zu begreifen: „this mental isomorphism of the knowing and the known can be pictured as part and parcel of a wider conformity of the self to God“ (ebd.). 138 Vgl. ebd., 52. Lindbeck bezieht sich dabei auf Aussagen Luthers, was es bedeute, Christus als den Herrn zu bekennen. In religiöser Rede als Aussageform sui generis sei möglich, was sonst gerade ausgeschlossen sei: dass eine Äußerung zugleich propositional-konsta‐ tiv und performativ sei, vgl. ebd., 51 f. 139 Vgl. ebd., 52 f. Dieses Verständnis sei vereinbar mit einer milden Form des Propositio‐ nalismus, wie Lindbeck sie etwa in der Analogielehre des Thomas von Aquin erkennen möchte. 140 Vgl. ebd., 53: „the claim that God truly is good in himself is of utmost importance be‐ cause it authorizes responding as if he were good in the ways indicated by the stories of creation, providence, and redemption“. 141 Vgl. ebd., 54 f.

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müsse man hinsichtlich der Theologie eine entscheidende Verschiebung der Ebenen mitvollziehen: Als ontologische Wahrheitsbehauptungen erster Ordnung seien religiöse Aussprüche nur im unmittelbaren Gebrauch eines religiösen Vollzugs zu betrachten. Allein in diesem Kontext performati‐ ver Äußerungen könne eine direkte Übereinstimmung mit der göttlichen Wirklichkeit behauptet werden. 142 Theologische Aussagen und Lehrformu‐ lierungen seien dagegen als Aussagen zweiter Ordnung (engl. second order discourse) über solche religiösen Aussagen erster Ordnung zu verstehen, wie sie in performativ-unmittelbaren Lebensvollzügen getätigt werden. 143 Wie die Grammatik, die keine richtigen oder falschen Aussagen über die Welt mache, sondern Regeln des Sprachgebrauchs formuliere, sei auch die Theologie niemals direkt auf die Wirklichkeit bezogen. 144 Dabei ist nach Lindbeck immer zu beachten, dass eine propositionale Aussage in Gestalt verschiedener Sätze ausgesprochen werden und derselbe Satz sowohl als Aussage, als auch nicht-propositional gebraucht werden könne. 145 c) Zwischenbetrachtung Mit Hilfe seines kulturwissenschaftlich-linguistischen Paradigmas lassen sich nach Lindbeck die soziale Dimension, die kognitiv-propositionale Di‐ mension, die Erfahrungsdimension, die existenzielle Dimension sowie die Ausdrucksdimension einer Religion integrieren und in ihrer jeweiligen Funktion beschreiben. Den Wesenskern einer Religion sieht er dabei in den charakteristischen Mustern ihrer religiöser Erzählungen, Überzeugun‐ gen, Rituale und Verhaltensweisen (engl. distinctive patterns of story, belief, ritual, and behavior), die einen übergreifenden Lebenszusammenhang bil‐ den, der den einzelnen Begriffen und Aussagen erst ihre Bedeutung gibt. 146 Als ursprünglicher Entstehungszusammenhang von Frömmigkeit erscheint daher weder eine individuelle Erfahrung noch eine Belehrung über Aus‐

142 Vgl. ebd., 54: „only as it is used in the activities of adoration, proclamation, obedience, promise-hearing, and promise keeping which shape individuals and communities into conformity to the mind of Christ“. 143 Vgl. ebd., 55. Der Theologe als Theologe spreche in der Regel nicht affirmativ, sondern „engages in explaining, defending, analyzing and regulating the liturgical, kerygmatic, and ethical modes of speech and action“ (ebd.). 144 Dies bedeute im Vergleich mit dem traditionellen Kognitivismus nicht weniger als die Vertauschung dessen, was als Proposition zu gelten hat: „they [propositions] are located on quite different linguistic strata. For the cognitivist, it is chiefly technical theology and doctrine which are propositional, while on the alternate model, propositional truth and falsity characterize ordinary religious language when it is used to mold lives through prayer, praise, preaching, and exhortation“ (ebd.). 145 Vgl. ebd., 53 f. 146 Vgl. ebd., 28.

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sagesätze, sondern die Verinnerlichung bestimmter Fertigkeiten durch ge‐ meinschaftliche religiöse Praxis. 147 Auch die kreative Ausdrucksdimension des Religiösen, der in der Religionstheorie durchaus Rechnung zu tragen sei, habe schließlich in den praktischen Vollzügen, mittels derer die Grund‐ muster (engl. basic patterns) einer Religion verinnerlicht, dargestellt und vermittelt (engl. interiorized, exhibited, and transmitted) werden, ihren an‐ gestammten Ort. 148 Diese Betrachtungsweise prägt wiederum das Verständnis des religiösen Wandels, der in Lindbecks Sicht nicht durch das Aufkommen neuer Er‐ fahrungen oder Gefühle, sondern durch die Interaktion eines kulturell-lin‐ guistischen Symbolsystems mit seiner Umwelt zu erklären ist. 149 Innova‐ tion entstehe dadurch, dass Anomalien und kognitive Dissonanzen durch bestimmte Konzepte befriedigender aufgelöst werden können als durch an‐ dere. 150 Die Unterscheidung zwischen einem relativ flexiblen Vokabular und einer relativ unveränderlichen Grammatik und Syntax erlaube, religi‐ ösen Wandel bei grundlegender Kontinuität zum Ursprung, wie er leben‐ dige Religionen in ihrer geschichtlichen Entwicklung auszeichnet, ange‐ messen zu beschreiben. 151 Und sie soll damit auch mit Blick auf die ökume‐ nische Fragestellung ermöglichen, bestehende Lehrgegensätze als abgelei‐ tete Diskurse (engl. second-order discourse) auf der Basis unterschiedlicher lexikalischer Vokabulare oder als Regeln mit spezifischem Geltungsbereich zu verstehen, anstatt sie als sich kontradiktorisch ausschließende Aussagen über die Wirklichkeit begreifen zu müssen. 152 7.2.3 Kategoriale Wahrheit und das Selbstverständnis der Religionen Soll die vorgeschlagene religionstheoretische Perspektive auch theologisch überzeugen, muss sie – so Lindbeck – in der Lage sein, bestimmte Probleme überzeugender zu lösen als ihre Konkurrenten und dabei zugleich dem Selbstverständnis der jeweiligen – in diesem Fall christlichen – Religion 147 Vgl. ebd., 21: „interiorize a set of skills by practice and training“. 148 Vgl. ebd., 21 f. 149 Vgl. ebd., 25: „as resulting from the interactions of a cultural-linguistic system with changing situations“. 150 Im Hintergrund steht hier Thomas S. Kuhns wissenssoziologisches Konzept des Para‐ digmenwechsels, das Lindbeck etwa auf Luthers reformatorische Erkenntnis anwendet, vgl. ebd., 28. 151 Vgl. ebd., 127: „Both can be seen as semiotic systems (or languages) consisting of a changeable vocabulary of nonverbal as well as verbal signs and a relatively unchanging grammar or syntax which, in the Christian case, church doctrines instatiate“. 152 Vgl. ebd., 128.

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entsprechen. Daher wendet Lindbeck seinen Theorievorschlag probeweise auf verschiedene Problemkomplexe an, um seine Hypothesen hinsichtlich ihrer Erklärungskraft zu überprüfen. Der erste Komplex betrifft das Ver‐ hältnis der positiven Religionen zueinander: Konkret könne eine Religi‐ onstheorie ihre Überlegenheit nur erweisen, wenn sie eine kohärente Inter‐ pretation religiöser Wahrheits- und Überlegenheitsansprüche erlaube, die weder deren Berechtigung grundsätzlich negiere, noch den Erfordernissen des interreligiösen Dialogs zuwiderlaufe. 153 Auch eine überzeugende Ant‐ wort auf die Frage nach einer Heilsmöglichkeit für Nichtglaubende müsse möglich oder zumindest nicht ausgeschlossen sein. a) Der Anspruch auf Unüberbietbarkeit Zum Selbstverständnis vieler – wenn nicht sogar aller – Religionen ge‐ hört nach Lindbeck rein deskriptiv der Anspruch der eigenen Überlegen‐ heit und Unüberbietbarkeit. 154 Neben den klassisch-propositionalistischen Theorien seien auch expressive Modelle grundsätzlich in der Lage, solche Überlegenheitsansprüche zu formulieren und zu begründen. Für Sprachen und Kulturen dagegen werde ein solcher Anspruch – zumindest heutzutage und in der Regel – gerade nicht erhoben. 155 Zeigt sich hier also mit der Grenze des zugrundeliegenden Vergleichs auch die entscheidende Schwä‐ che des kulturwissenschaftlich-linguistischen Modells? Eine Vergleichbarkeit verschiedener Religionen, die in jedem Anspruch auf Unüberbietbarkeit (engl. unsurpassibility) logisch vorausgesetzt sei, werde nun je nach Modell unterschiedlich hergestellt. Religionen können hinsichtlich der Wahrheit ihrer Aussagesätze (engl. propositional truth), ihrer symbolischen Wirksamkeit (engl. symbolic efficacy) oder ihrer kate‐ gorialen Angemessenheit an die Wirklichkeit (engl. categorial adequacy) verglichen werden. 156 Diese letzte Vergleichsmöglichkeit entspricht dem von Lindbeck favorisierten Modell der Religion: Religionen wären dann als Kategoriensysteme miteinander inkommensurabel, so dass ihre jeweiligen 153 Vgl. ebd., 32 f. Angesichts der erneuten Durchsicht dieses Kapitels, die Lindbeck für die Neuausgabe 2003 vorgenommen hat, konstatiert er, dass dieser Problemkomplex gegen‐ über der ökumenischen Frage nach der Einheit der Christenheit seither noch einmal deutlich an Bedeutung gewonnen habe. Noch immer erhofft er sich von der ökumeni‐ schen Annäherung allerdings deutlich mehr als vom interreligiösen Dialog, vgl. ebd., 125 f. 154 Vgl. ebd., 32. 155 Vgl. ebd., 9. 156 Vgl. ebd., 33. Dabei lasse der Vergleich hinsichtlich der propositional verstandenen Wahrheit ontologischer Aussagen keine unterschiedlichen Grade zu, während bei einem Vergleich hinsichtlich der Wirksamkeit symbolischer Repräsentationen solche Abstu‐ fungen möglich seien.

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Begriffe, Vorstellungen und Formeln sich wechselseitig nicht oder zumin‐ dest nicht vollständig übersetzen lassen: „In short, the cultural-linguistic model is open to the possibility, that different religi‐ ons and/or philosophies may have incommensurable notions of truth, of experience, and of categorial adequacy, and therefore also of what it would mean for something to be most important (i.e., ‚God‘).“ 157

Dabei müsse gerade kein gemeinsamer Rahmen (engl. common framework) vorausgesetzt werden, in dem sich diese Unterschiede auf unparteiische Weise modellieren und nebeneinanderstellen lassen. 158 Je nachdem, wie die Vergleichbarkeit der Religionen konstruiert werde, nehme auch der Anspruch auf Unüberbietbarkeit unterschiedliche For‐ men an. Klassischerweise sei er mit einem propositionalen Verständnis von Wahrheit verbunden, das neben einer unüberbietbar wahren Religion auch andere als überbietbar (engl. surpassable) oder nur teilweise wahr (engl. mixture of truth and error) anerkennen könne. 159 Unter einem erfahrungs‐ basiert-ausdrucksorientierten Paradigma werde der Anspruch dagegen im schwachen Sinne einer faktischen Unüberbotenheit einer Religion hin‐ sichtlich ihrer symbolischen Ausdruckskraft erhoben. 160 Ausgehend von einem kategorialen Wahrheitsbegriff schließlich lasse sich der Anspruch auf Unüberbietbarkeit so formulieren, dass allein eine einzige Religion die Kategorien bereitstelle, um sinnvolle religiöse Aussagen über ihren Ge‐ genstand – verstanden dann als Gegenstand der Religion schlechthin – zu treffen. 161 Entsprechend stehen andere Religionen, die dann als kategorial falsch (engl. categorially false) gelten müssen, gänzlich jenseits von wahr und falsch im religiösen Sinn. 162 Allerdings schütze auch die exklusive An‐ gemessenheit des religiösen Kategoriensystems nicht davor, alle möglichen falschen Aussagen über Gott beziehungsweise die letzte Wirklichkeit zu for‐ mulieren: „it makes error as well as truth possible“. 163 Festzuhalten ist, dass 157 Ebd., 35. Lindbeck vergleicht das mit der Unterscheidung zwischen qualitativen und quantitativen Weisen der Beschreibung. 158 Vgl. ebd. Im propositionalistischen Ansatz stelle die Wahrheitstheorie, im Erfahrungs‐ -Ausdrucks-Modell die Theorie der Erfahrung einen solchen übergreifenden Rahmen bereit. 159 Vgl. ebd. 160 Vgl. ebd., 36. 161 Vgl. ebd.: „there is only one religion which has the concepts and categories that enable it to refer to the religious object“. 162 Vgl. ebd.: „they would be neither true nor false. They would be religiously meaningless“. Dieser Anspruch auf Unüberbietbarkeit sei offensichtlich deutlich stärker als der, den propositionalistische Theorien vorbringen, denn diese erkennen selbst in der falschen Religion noch die Sinnhaftigkeit der (falschen) Aussagen an, vgl. ebd., 36 f. 163 Vgl. ebd., 37.

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Lindbeck diese exklusive Angemessenheit eines einzigen religiösen Kate‐ goriensystems hier zwar als Denkmöglichkeit einräumt, aber auf der Ebene seiner Religionstheorie gerade keine Vorentscheidung treffen möchte. b) Eine Motivation für den interreligiösen Dialog Was aber bedeutet diese Sicht für den interreligiösen Dialog, der sich den Religionen heute unabhängig von ihrem Selbstverständnis als praktische Nötigung aufdrängt? Auch darauf muss laut Lindbeck das kulturwissen‐ schaftlich-linguistische Modell eine plausible Antwort geben, soll es religi‐ onstheoretisch überzeugen. Er beschreibt daher verschiedene Möglichkei‐ ten, wie sich das Verhältnis von Religionen modellieren lasse. So können Religionen gemäß einem propositionalen Verständnis einander als unvoll‐ ständig und vollständig (engl. incomplete/complete) gegenüberstehen, etwa im klassischen Schema von Verheißung und Erfüllung. Außerdem könne man sie – wie im expressivistischen Modell – als verschiedene Ausdrucks‐ gestalten derselben Erfahrung begreifen. 164 Religionen können weiterhin als komplementär (engl. complementary) oder sich hinsichtlich geteilter Parameter direkt widersprechend (engl. direct opposition) betrachtet wer‐ den. 165 Schließlich könne man graduelle Abstufungen der Kohärenz (engl. coherent/incoherent) oder der Authentizität (engl. authentic/inauthentic) ihrer individuellen und gemeinschaftlichen Manifestation annehmen. 166 Laut Lindbeck erlaube der kulturwissenschaftlich-linguistische Ansatz jede dieser Vergleichsperspektiven und eröffne damit auch vielfältige Mög‐ lichkeiten des interreligiösen Dialogs, doch komme keine dieser Ver‐ gleichsperspektiven als die ausschließliche, dominante oder grundlegende Perspektive zu stehen. 167 Zu verzichten sei lediglich auf den allgemeinen Rahmen der Theorie einer religiösen Erfahrung, die als gemeinsames und einheitliches Fundament (engl. common foundation) allen Religionen zu‐ grunde liege. 168 Stattdessen habe sich der Dialog an einer Vielfalt von Einzelfragen auszurichten und von diesen her aufzubauen. Der spezifische Vorteil dieser Betrachtungsweise für den interreligiösen Dialog bestehe darin, dass verschiedene Religionen gerade als schlechthin unterschiedlich anerkannt werden können, also auch nicht notwendig als unter- oder über‐ legene Ausdrucksgestalt derselben Erfahrung betrachtet werden müssen. 169 Keinesfalls ausgeschlossen sei die Hoffnung, dass sich jeweils aus den ein‐ 164 165 166 167 168 169

Vgl. ebd., 38. Vgl. ebd., 39. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 39 f. Vgl. ebd., 41. Vgl. auch Lindbeck, NoD, 39 f. Vgl. ebd., 40 f.

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zelnen Religionen überzeugende Gründe für ihr interreligiöses Engagement und eine vertiefte Zusammenarbeit entwickeln lassen. Allerdings bleiben all diese konkreten Motivationen dann in den jeweiligen religiösen Systemen selbst verankert, statt beliebig übertragbar oder auf ein allgemeines Mo‐ dell reduzierbar zu sein. 170 Lindbeck erhofft sich, dass auf diesem Weg in Zukunft „kraftvolle theologische Begründungen für einen nüchternen und effektiven Einsatz für Dialog und Kooperation zwischen den Religionen“ gefunden werden. 171 c) Eine Heilsmöglichkeit für Nichtglaubende? Neben der Frage des interreligiösen Dialogs diskutiert Lindbeck in die‐ sem Zusammenhang zuletzt auch die genuin theologische Frage nach der Möglichkeit des Heils für die Anhänger anderer Glaubensrichtungen und Religionen. Einerseits stehe nämlich mit dieser Frage die Bedeutung des Religiösen insgesamt auf dem Spiel, da es für die religiöse Selbstachtung (engl. religious self-respect) unverzichtbar sei, auch der Frage nach der rich‐ tigen Religion hohe Bedeutung zuzumessen. 172 Andererseits scheine da‐ mit – gerade in Kombination mit der Behauptung einer Unüberbietbarkeit oder Überlegenheit der eigenen Religion – die Konsequenz unausweich‐ lich, dass andere Religionen das Heil ihrer Anhänger gefährden und daher keine Existenzberechtigung haben. 173 Dies sei ein großes moralisches Di‐ lemma, das die Religionen alle auf unterschiedliche Weise bearbeiten – das Christentum unter der Frage nach der alleinigen Heilsbedeutung Christi. Für Lindbeck ist dabei zunächst festzuhalten: Die unüberbietbare und allei‐ nige Heilsbedeutung Jesu Christi müsse immer das treibende theologische Motiv sein, während die Bestreitung einer Heilsmöglichkeit für Nichtglau‐ bende deren unvermeidbare Konsequenz, aber für sich genommen kein legitimes Motiv sein könne. 174 Dieses soteriologische Problem könne nun laut Lindbeck in der Be‐ schränkung auf den Rahmen des diesseitigen Lebens oder in einer erwei‐ terten eschatologischen Perspektive verhandelt werden. 175 Während seine 170 Vgl. dazu ebd., 41: „different religions are likely to have different warrants for interreli‐ gious conversation and cooperation“. 171 Vgl. ebd.: „powerful theological rationales for sober and practically efficacious commit‐ ment to interreligious discussion and cooperation“. 172 Vgl. ebd.: „there must be some value in being religiously right if this is to preferred to being religiously wrong“. Vgl. zu diesem Problem auch Lindbeck, Unbelievers. 173 Vgl. NoD, 41 f. 174 Vgl. ebd., 42: „The major doctrinal concern has been to preserve the Christus solus“. 175 Vgl. ebd.: „One of these pictures God’s saving work in Jesus Christ as effective for all hu‐ man beings here and now, within the confines oft the present life. The other, in contrast, prefers prospective or eschatological imagery“.

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katholischen Gesprächspartner Karl Rahner und Bernard Lonergan mit ih‐ ren Theorien eines ‚anonymen Christentums‘ den ersten Weg einschlagen, votiert Lindbeck für den zweiten, eschatologischen Weg. Diese Theorien eines impliziten Christseins können schließlich weder auf der Grundlage eines kognitivistischen, noch unter den Voraussetzungen eines kulturwis‐ senschaftlichen Religionsverständnisses wirklich überzeugen. 176 Daher sei eine eschatologische Konzeption vorzuziehen, die eine zukünftige Heilsteil‐ habe für Nichtchristen nicht ausschließt, obwohl die Wirklichkeit des Heils in ihrem diesseitigen Leben noch nicht wirksam geworden sei. 177 Lindbeck skizziert also sein eschatologisches Alternativmodell, das als „a prospective fides ex auditu explanation“ mit dem Schriftzeugnis, ur‐ christlicher Praxis und theologischer Tradition mindestens so gut vereinbar sei wie die Vorstellung eines anonymen Christentums. 178 Eine über das diesseitige Leben hinaus offene Heilsmöglichkeit, die mit dem rettenden Glauben an die Christusbotschaft verknüpft sei, entspreche der kulturwis‐ senschaftlichen Sicht auch deshalb, weil dieser zufolge eine Äußerung wie das Christusbekenntnis als kohärente und bestimmte Aussage überhaupt nur in einem relevanten Kontext (engl. inside the relevant context) möglich sei. In der Konsequenz könne jemand, der mit der christlichen Sprache und Lebensform nicht vertraut sei, ein solches Bekenntnis weder sinnvoll tätigen noch bestreiten. 179 Deshalb werde auch Apostasie als Abfall von der rechten Religion im Allgemeinen als schwerwiegender empfunden als schlichter Unglaube. Zusammen mit der Erkenntnis, dass das explizite Bekenntnis des Glau‐ bens nicht Ausdruck einer vorangehenden Erfahrung, sondern erst Beginn einer prozesshaften Transformation sei, schließt für Lindbeck diese Be‐ trachtungsweise jede christliche Überheblichkeit gegenüber Nichtglauben‐ den aus. 180 Wenn dieser Prozess erst am Ende des Weges, das heißt: im

176 Vgl. ebd., 43. Der propositionalistische Weg, einen Minimalbestand an allgemein-re‐ ligiösen Überzeugungen zu identifizieren und als heilsnotwendig zu behaupten, führe dagegen meist in einen rationalistischen Deismus und sei daher ebenfalls wenig attrak‐ tiv. 177 Vgl. ebd. 178 Ebd., Herv. im Orig. Für die Gesamtargumentation vgl. ebd., 44–48. Vgl. auch Lind‐ beck, Unbelievers. Vgl. ferner Eckerstorfer, Kirche, 134–138. 179 Vgl. NoD, 54. Vgl. ebd.: „one must have some skill in how to use its [= any religions, d. Verf.] language and practice its way of life“. Dies spreche zusätzlich für die von Lindbeck vorgeschlagene Sichtweise, dass ohne eine gewisse Vertrautheit (engl. familiarity) der Nichtglaubenden mit der jeweiligen Religion sich ihre Heilsfrage noch gar nicht sinnvoll stellen lasse. 180 Vgl. ebd., 46: „For Christians, even mature Christians, this process has just begun. They have only begun to confess Jesus as Lord, to speak the Christian language, the language

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Eschaton sein Ziel erreiche, bedeute das freilich nicht, dass dieses begin‐ nende Heil unter irdischen Bedingungen eine nur fiktive oder imaginäre (engl. merely fictive or imaginary, not ontologically real) Größe wäre. 181 Die irdische Situation von Christinnen und Christen sei vielmehr zu ver‐ gleichen mit der von Kindern, die sich ihre Muttersprache erst aneignen, wobei sich hinsichtlich deren Erschließungskraft und Reichhaltigkeit auch verschiedene Sprachniveaus zeigen können. 182 Auf dieser Grundlage lasse sich der Anspruch der Unüberbietbarkeit so reformulieren, dass der inter‐ religiöse Dialog und die Zusammenarbeit der Religionen nicht wesentlich beeinträchtigt werden. 183 Dagegen sei vielmehr der Theorie eines anony‐ men oder impliziten Christseins ein Hang zu Überheblichkeit und religi‐ ösem Imperialismus inhärent, weil eine solche Theorie beanspruche, dass Christen die religiöse Erfahrung anderer Religionen besser verstehen und deuten könnten als diese selbst. 7.2.4 Die ökumenische Anwendbarkeit einer Regeltheorie der Lehre Religionstheologisch erscheint Lindbeck seine Theorieperspektive damit als den Konkurrenzmodellen zumindest gleichwertig. Darüber hinaus ist allerdings noch zu zeigen, dass sie auch produktiv für ihren ursprünglich intendierten Anwendungsfall – den Umgang mit widerstreitenden Lehren im ökumenischen Dialog – anwendbar und zugleich mit dem Selbstver‐ ständnis der Beteiligten vereinbar ist. Dazu arbeitet Lindbeck zunächst heraus, wie sich in kulturwissenschaftlich-linguistischer Perspektive die Funktion religiöser und nun insbesondere kirchlicher Lehre verstehen lässt. Im Anschluss wendet er seine Theorie auf einen fundamentaltheologischen Problemkomplex – den Anspruch auf Unfehlbarkeit der Lehre – sowie auf drei materialdogmatische Streitfragen zwischen den christlichen Konfes‐ sionen an. Dies ist für ihn der entscheidende Test, ob das von ihm vorge‐

of the coming kingdom. Their thoughts, volitions, and affections are just beginnig to be conformed to the One who is the express image of the Father (Heb. 1:3)“. 181 Vgl. ebd. 182 Vgl. ebd. Vgl. auch ebd., 48: „just as an individual becomes human by learning a lan‐ guage, so he or she begins to become a new creature through hearing and interiorizing the language that speaks of Christ“. Diese Sprachmuster können auch latent werden, so dass selbst eine post-christliche Gesellschaft dem Christentum verbunden bleibe – und möglicherweise von diesem zehre. 183 Vgl. ebd., 47: „To hold that a particular language is the only one that has the words and concepts that can authentically speak of the ground of being, the goal of history, and true humanity [...] is not at all the same as denying that other religions have resources for speaking truths and referring to realities, even highly important truths and realities, of which Christianity as yet knows nothing and by which it could be greatly enriched“.

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schlagene Paradigma in der ökumenischen Anwendung tragfähig oder gar anderen theologischen Zugängen vorzuziehen ist. a) Die konstitutiven Regeln einer religiösen Gemeinschaft Lindbeck will seiner Theorie der Lehre zunächst eine deskriptive und mög‐ lichst unkontroverse Beschreibung des Wesens kirchlicher Lehraussagen zugrunde legen. Diese lautet: „Church doctrines are communally authorita‐ tive teachings regarding beliefs and practices that are considered essential to the identity or welfare of the group in question“. 184 Lehraussagen ma‐ chen laut Lindbeck kenntlich und artikulieren in sprachlicher Form, was treue Anhängerschaft (engl. faithful adherence) zu einer Gemeinschaft be‐ deutet. 185 Alles, was durch Lehre festgehalten werde, gelte einer religiösen Gemeinschaft als notwendig für ihre Identität und ihren Fortbestand. Aus dieser weiten Betrachtungsweise, die auch implizit geteilte Überzeugungen und Praxisinstruktionen in den Begriff der Lehre einbezieht, ergibt sich für Lindbeck, dass eine schlechthin ‚bekenntnislose‘ Kirche (engl. creedless church) gar nicht gedacht werden kann. 186 Vielmehr nehme für manche Kirchen gerade der Verzicht auf kodifizierte Doktrin die Rolle einer iden‐ titätsstiftenden Lehre ein. 187 Allerdings seien formal-kodifizierte (engl. for‐ mally stated) von informell-operativen (engl. informally operative) Lehren zu unterscheiden. 188 Innerhalb einer Kirche kann es laut Lindbeck daher eine Differenz zwi‐ schen dem Bestand an offiziellen (engl. official) und wirksamen (engl. ope‐ rational) Lehren geben. Es sei einerseits möglich und aus der Kirchenge‐ schichte bekannt, dass offiziell noch verbindliche Lehren faktisch aufge‐ hört haben, für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft konstitutiv zu sein. Andererseits könne es geschehen, dass offizielle Festlegungen aufge‐ geben werden, aber die entsprechenden Lehren faktisch weiterwirken. 189 Insbesondere sei zu beachten, dass gerade diejenigen Lehren, die von den Glaubenden als selbstevident betrachtet werden und die daher ganz un‐ hinterfragt gelten, nur in seltenen Fällen explizit artikuliert und offiziell fixiert werden. Eine formale Entscheidung über Lehraussagen setze in der Regel voraus, dass eine vormals implizite Lehre in der Gemeinschaft strit‐

184 Ebd., 60. 185 Vgl. ebd. Dabei klingen im engl. faithful zugleich ‚treu/loyal‘ und ‚gläubig‘ an, was schwer ins Deutsche zu übersetzen ist. 186 Vgl. ebd. 187 Vgl. ebd. Auch und gerade die evangelikale Parole „No creed but the Bible!“ sei eine Lehre in diesem Sinn. 188 Vgl. ebd. 189 Vgl. ebd.

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tig geworden sei. 190 Es sei daher zu vermuten, dass gerade die wichtigsten Überzeugungen und Regeln einer religiösen Gemeinschaft nur ganz selten Gegenstand solcher Lehrentscheidungen werden, weil eine solche den An‐ hängern unter nahezu allen Umständen trivial erscheinen würde. 191 Inso‐ fern gilt nach Lindbeck: Offizielle Lehren sind das Ergebnis von Konflikten (engl. products of conflict), sie decken nur den strittig gewordenen Teil der grundlegenden Überzeugungen ab und sind immer aus ihren jeweiligen Frontstellungen heraus zu verstehen. 192 Der lehrmäßige Rahmen sei dabei außerdem von der theologischen Reflexion und Kommunikation zu un‐ terscheiden, die sich interpretierend auf diese Lehren richte. 193 Lehre und Theologie stehen in Wechselwirkung, aber seien nicht aufeinander zu redu‐ zieren – der Themenbestand selbst einer dezidiert ‚kirchlichen Dogmatik‘ sei normalerweise deutlich weiter als der kodifizierte Bestand essentieller Lehren in einer kirchlichen Gemeinschaft. 194 Als den entscheidenden Neuansatz seiner Regeltheorie christlicher Lehre betrachtet Lindbeck die Verschiebung des Identitätskerns einer Religion von den propositionalen Aussagesätzen oder einer existenziellen Tiefener‐ fahrung hin zu ihrer zentralen story. 195 Der umfassende Interpretationsrah‐ men des Christentums sei strukturiert durch die biblischen Erzählungen, in deren Mitte die Christusgeschichte steht. 196 Jede authentische Erzählung dieser Geschichte folge dabei bestimmten Regeln, einer spezifischen Gram‐ matik (engl. grammar). 197 Von dieser Grammatik zu unterscheiden sei das Vokabular (engl. vocabulary) aus Symbolen, Begriffen, Ritualen, Verbin‐ dungen und Einzelgeschichten, auf das bei der Erzählung dieser Grund‐ geschichte zurückgegriffen werde. 198 Dieses Vokabular in seiner relativen Variationsbreite weise wiederum einen relativ stabilen lexikalischen Kern

190 Vgl. ebd., 61: „only when disputes arise about what is permissible to teach or to practice does a community make up its collective mind and formally make a doctrinal decision“. 191 Vgl. ebd. Auch Luther und J. H. Newman haben laut Lindbeck um diesen verzerrenden Effekt gewusst. 192 Vgl. ebd. 193 Vgl. ebd., 62. Die Interpretation einzelner Lehraussagen und ihres Gehaltes könne auch innerkonfessionell in hohem Maße strittig sein, während sich in einzelnen Fragen oder auch einem theologischen Gesamtstil weitgehende Übereinstimmung über die konfes‐ sionellen Grenzen hinweg einstellen könne. 194 Vgl. ebd. 195 Vgl. ebd., 66. 196 Vgl. ebd.: „biblical narratives interrelated in certain specific ways (e.g., by Christ as cen‐ ter)“. 197 Vgl. ebd.: „in the story it tells and in the grammar that informs the way the story is told and used“. 198 Vgl. ebd., 66 f.

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(engl. relatively fixed core of lexical elements) auf, der sich größtenteils – aber nicht exklusiv – aus den Schriften des biblischen Kanons speise. 199 Das Konzept der sich gleichenden Erzählung (engl. selfsame story), das Lind‐ beck freilich nicht weiter erzähl- oder literaturtheoretisch präzisiert, soll eine lockere, schwach systematisierte und damit relativ flexible Integration des christlichen Symbolbestands mittels beschreibbarer Verknüpfungsre‐ geln leisten, die für jeweils neue Kontextualisierungen offen (engl. of chan‐ ging selves in changing circumstance), aber dennoch über die Zeit hinweg stabil bleibt. 200 Die Lehre der Kirche beziehe sich primär auf die Grammatik dieser core story, aber beeinflusse mittelbar (etwa als Bestimmung über den Umfang des Kanons oder das Verhältnis von Schrift und Tradition) auch das Voka‐ bular der Erzählung. 201 Dabei könne eine grammatische Regel unmöglich alle denkbaren Anwendungsfälle und Ausnahmen antizipieren, so dass der Fixierung der Lehre eine innere Grenze gesetzt sei. 202 Es gebe zudem einen Unterschied zwischen Oberflächen- und Tiefengrammatik, wobei letztere in ihrer Struktur auch Experten oft entzogen bleibe, obwohl sie einem kom‐ petenten Sprecher intuitiv zugänglich sei. 203 Lehre sei somit ein notwendig unvollständiger, aber dennoch unverzichtbarer Notbehelf – etwa für die Initiation in ein religiöses System oder zur Grenzziehung gegen Entstellun‐ gen. Seine regulative Funktion für den religiösen Sprachgebrauch könne ein Lehrsatz in Gestalt einer expliziten Regelaussage erfüllen oder auch als

199 Vgl. ebd., 67. 200 Ebd., 69. Eckerstorfer sieht bei Lindbeck eine sehr dynamischen Ansatz in der Religions‐ theorie mit einer grundsätzlich „eher statische[n] regulative[n] Lehrtheorie“ (Ecker‐ storfer, Kirche, 124) verbunden. Zweifellos richtig ist die Beobachtung, dass die Re‐ geltheorie hier gerade für die übergreifende Kontinuität und Identität innerhalb der Geschichte des Christentums einsteht. Inwiefern bezüglich der Festlegung auf die iden‐ titätskonstitutive Story der biblischen Christusgeschichte bereits der Vorwurf einer statischen Identitätskonzeption angebracht ist, lässt sich gerade im Lichte des Historis‐ musproblems unterschiedlich bewerten. Lindbecks Interesse dürfte sein, Flexibilität und Stabilität innerhalb eines kontinuierlichen Überlieferungszusammenhangs auszubalan‐ cieren. 201 Vgl. NoD, 67. Hermeneutische Regeln seien den Regeln der sprachlichen Syntax ana‐ log, etwa wenn sie die Verknüpfung Jesu mit den Verheißungen des Alten Testaments vornehmen. Manche dieser Regeln bleiben der Erzählung nicht immanent, sondern stiften darüber hinaus einen semantischen Bezug auf geschichtlich-außersprachliche Re‐ ferenzen, etwa wenn christologische Hoheitstitel mit dem Individuum Jesus verknüpft werden, vgl. ebd. 202 Vgl. ebd.: „church doctrine is an inevitable imperfect and often misleading guide [...] because every formulated rule has more exceptions than the [...] theologians are aware of“. 203 Vgl. ebd., 68.

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illustrierendes Beispiel für den korrekten Sprachgebrauch, wobei letzteres weitaus häufiger vorkomme. 204 Damit führt Lindbeck die für seine weitere Argumentation zentrale Kategorie des Lehrparadigmas (engl. exemplary in‐ stantiations or paradigms of the application) ein, dem viele Lehrsätze der Theologiegeschichte zuzuordnen seien. 205 Einer solchen Regel zu folgen bedeute nicht, einfach die Formulierung des Lehrsatzes zu wiederholen, sondern: die an ihm aufweisbaren generativen Prinzipien (engl. directi‐ ves) bei der eigenständigen Formulierung neuer Sätze zu beachten. 206 Ein Lehrparadigma angemessen zu gebrauchen bedeutet nach Lindbeck also Treue zum religiösen Anliegen, das in der Formulierung seinen exempla‐ rischen Ausdruck gefunden hat – nicht notwendigerweise zum Wortlaut eines kirchlichen Dogmas. b) Die Identität der Grammatik im Wandel der Geschichte Wie ist nun auf der Basis dieses grammatischen Modells der Lehre die spe‐ zifische Identität im Wandel der geschichtlichen Artikulationsformen der Religion zu bestimmen, an der Lindbeck mit Blick auf die Lehre beson‐ ders gelegen ist? Gegenüber propositionalistischen Anfragen hält Lindbeck zunächst fest, dass auch die Regeltheorie einen Aussagecharakter von Lehr‐ sätzen anerkenne, aber diese nicht als Aussagen erster Ordnung, sondern als Aussagen über Aussagen, d.h. Aussagen zweiter Ordnung betrachte. Da‐ mit beziehe sich die Lehre nicht direkt auf eine außersprachliche Realität, sondern auf den religiösen Sprachgebrauch. 207 Mit Lehraussagen, die in ihrer eigentlichen Funktion als Lehrsätze gebraucht werden (engl. doctrines qua doctrines), werden daher keine direkt-ontologischen, sondern vielmehr intrasystemische Wahrheitsansprüche erhoben. 208 Bei Aussagen erster und zweiter Ordnung sei jeweils die Unterscheidung von Form und Gehalt möglich, so dass dieselbe Aussage oder Regel im Wortlaut verschiedener sprachlicher Sätze begegnen könne. Deren gemeinsamer Sinn – und hier ist der Unterschied zu propositionalistischen Modellen zu markieren – sei nun keinesfalls abstrakt, also unabhängig von jeder solchen Einzelformulie‐ rung als ablösbare Struktur zu fixieren. 209 Dieser gemeinsame, ja identische 204 205 206 207

Vgl. ebd., 67: „most doctrines illustrate correct usage rather than define it“. Vgl. ebd. Vgl. besonders auch ebd., 81 f. Vgl. ebd., 67. Vgl. ebd., 66: „These are, however, second-order rather than first-order propositions and affirm nothing about extra-linguistic or extra-human reality“. 208 Vgl. ebd. Dies schließe nicht aus, dass eine Lehrformulierung in anderen Verwendungs‐ weisen, etwa im liturgischen Gebrauch, auch „symbolically or as a first-order proposi‐ tion“ (ebd.) gebraucht werden könne. 209 Vgl. ebd., 79: „Yet while the same content can be expressed in different formulations, there is no way of stating independently what that content is“.

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Gehalt könne vielmehr nur in Form einer Äquivalenzbeziehung der ver‐ schiedenen Sätze erkannt und ausgedrückt werden. 210 Die religiösen Aussagen erster Ordnung wandeln sich nun laut Lind‐ beck notwendig, weil sich auch die Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, im stetigen Wandel befinde. 211 Das Material unterschiedlicher Weltbilder (engl. world views) müsse und könne auf diese Weise durch ein und dieselbe Religion interpretiert werden, wobei auch einzelne Anpassungen (engl. ad‐ justments) des religiösen Interpretationsrahmens erforderlich werden kön‐ nen. 212 Diese notwendigen Transformationen seien allerdings nicht relati‐ vistisch als Widerlegung eines identischen Wesens zu verstehen, sondern als Produkt der je neuen Verschmelzung (engl. fusion) einer gleichbleiben‐ den Geschichte mit unterschiedlichen Erzählsituationen in einer sich wan‐ delnden Welt. 213 Beispielsweise bleibe die Grunderzählung von Passion und Auferstehung Christi im Wesentlichen unverändert, auch wenn die christologischen Formeln (engl. affirmations) und die korrespondierenden Erfahrungen (engl. corresponding experiences) in der Theologiegeschichte vielfach variieren. 214 Dies illustriert Lindbeck anhand der christlichen Iko‐ nographie: Die Empfindungen, die ein byzantinischer Pantokrator und der Isenheimer Altar Grünewalds hervorrufen, unterscheiden sich vermutlich ebenso wie die Erfahrungen, die künstlerisch in sie eingegangen sind. Den‐ noch seien sie unmittelbar identifizierbar als Produkte einer kreativen Ver‐ schmelzung der im Christusgeschehen von Kreuz und Auferstehung zen‐ trierten biblischen Heilsgeschichte mit wechselnden Weltauffassungen. So werde eine Vielzahl kultureller Bedingungen (engl. cultural conditions) und eine Mannigfaltigkeit affektiver Zustände (engl. affective materials) durch die biblischen Geschichten in einer charakteristischen Weise geformt, ohne

210 Vgl. ebd.: „only by seeing that the diverse formulations are equivalent and, usually in a second step, by stating the equivalency rules“. 211 Ebd., 68: „these arise from the application of the interpretive scheme to the shifting worlds that human beings inhabit“. Lindbeck beschreibt dies mit der Terminologie Thomas von Aquins so, dass hinsichtlich Gottes als des Ursprungs dieses Wandels das significatum gleich bleiben könne, der modus significandi aber nicht. 212 Vgl. ebd. Religion und Kultur werden von Lindbeck als Linse oder Medium der Welter‐ fassung (engl. „lenses or media“) verstanden; aber auch auf die Bilder des genetischen Codes oder des Computerprogrammes kann er zurückgreifen, was dann den produkti‐ ven gegenüber dem rezeptiven Aspekt stärker betont, vgl. ebd., 69. Die religiösen Erfah‐ rungen und die religiösen Aussagen erster Ordnung erscheinen in dieser Perspektive als gleichermaßen variabel und umweltabhängig. 213 Vgl. ebd., 69. Diese besondere Stabilität im Wandel der Zeit teile die Religion mit Spra‐ che und Kultur. Lindbeck weist somit eine starke Lesart des Historismus, die schlechthin jedes sich in der Geschichte durchhaltende Wesen bestreitet, zurück. 214 Vgl. ebd., 68 f.

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dass die kulturellen Produkte deshalb gleichförmig wären. 215 Dass es zu solchen Veränderungen kommt, ist für Lindbeck also gerade keine Verfalls‐ erscheinung, sondern ein Zeichen religiöser Vitalität. Das konstante Element der christlichen Religion sei für ein grammati‐ sches Modell der Lehre nicht in einer oder mehreren seiner mannigfalti‐ gen Ausdrucksgestalten, Erfahrungen oder Glaubensaussagen zu suchen, sondern in dem für das Christentum charakteristischen Kategorienrah‐ men und Erfahrungsmedium. 216 Eine Theorie nach dem Modell gramma‐ tischer Regeln werde mithin dem Phänomen der relativen Beständigkeit und Einheit der kirchlichen Lehre im Wandel ihrer zeitbedingten Formu‐ lierungen am Besten gerecht. Aber kann dieses Verständnis von Lehraus‐ sagen als grammatischen Regeln, die verschiedene Verschmelzungen der Grunderzählung mit einer sich wandelnden Welt ermöglichen, auch dem Geltungsanspruch gerecht werden, den Kirchen faktisch mit ihren Lehr‐ sätzen erheben? Kann ein solches, nicht-propositionales Verständnis von Lehraussagen etwa die Behauptung einer Unveränderlichkeit der Lehre (engl. permanence), die im ökumenischen Vergleich bis hin zum Extrem des römischen Unfehlbarkeitsdogmas (engl. infallibility) gesteigert sein kann, integrieren? 217 Andernfalls wäre Lindbecks Regeltheorie im ökumenischen Kontext nicht ausreichend unparteiisch und damit unbrauchbar. Um diese Frage zu beantworten, entwickelt Lindbeck ausgehend von praktisch-ethischen Lehrsätzen wie der absoluten Pflicht des Liebesgebots oder dem in der Alten Kirche aufgegebenen strikten Pazifismus ein allge‐ meines Unterscheidungsraster (engl. taxonomy) für die Geltungsweise von Lehrregeln. 218 Lehren können demnach entweder unbedingt (engl. uncon‐ ditionally) gelten, weil sie unverzichtbar für die Grammatik des Glaubens sind, oder lediglich unter bestimmten Bedingungen (engl. conditionally). 219 Bezüglich der Lehren, die nur unter bestimmte Bedingungen gelten, unter‐ scheidet Lindbeck wiederum zwischen solchen, die aufgrund ihrer Bedin‐ gungen dauerhaft in Geltung bleiben, und solchen, die direkt auf historisch kontingente Umstände bezogen und damit auch hinsichtlich ihrer Geltung

215 Vgl. ebd., 70. 216 Vgl. ebd.: „the framework and the medium in which Christians know and experience“. 217 Vgl. ebd., 55. Vgl. auch ebd., 59. Lindbeck beschränkt sich in seiner Auseinandersetzung auf moderne Fassungen des propositionalistischen Modells, da symbolische Interpreta‐ tionen von Lehre der hier postulierten Funktion von Lehre grundsätzlich zuwiderlaufen, vgl. ebd., 65. 218 Vgl. ebd., 71. 219 Vgl. ebd.: „Some practical doctrines, such as the ‚law of love‘ in Christianity, are held to be unconditionally necessary. They are part of the indispensable grammar or logic of the faith. [...] Other rules, however, are conditionally essential“.

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zeitlich limitiert seien. 220 Alle zeitlich-bedingten Lehren seien schließlich entweder reversibel oder nicht-reversibel, denn wenn man davon ausgehe, dass bestimmte historische Entwicklungen – wie etwa die Abschaffung der Sklaverei – irreversibel seien, müsse das auch für Veränderungen der Lehre gelten, die auf diese Entwicklungen reagieren. 221 Als letzten Fall erwägt Lindbeck, ob bestimmte Lehren nachgeordnet notwendig (engl. acciden‐ tally necessary) sein könnten, weil zwar an sich kontingent seien, aber sozu‐ sagen ‚einklinken‘ und nach ihrer Fixierung nicht mehr sinnvoll verändert werden können. 222 Entscheidend ist für Lindbeck allein das vorläufige Ergebnis, dass aus Sicht der Regeltheorie nichts prinzipiell dagegen spricht, im Extremfall schlechthin alle bedingten Lehrsätze als dauerhaft-bedingt zu begreifen. Mit dem römisch-katholischen Dogmenverständnis und dessen Unverän‐ derlichkeitspostulat sollte daher die Annahme bedingter und zeitlich li‐ mitierter Lehraussagen nicht im Widerspruch stehen, weil dieses streng genommen nur beanspruche, dass auch faktisch zeitbedingte Regeln wei‐ terhin in potentieller Geltung bleiben – selbst wenn die Bedingungen nicht mehr realisiert oder auch gar nicht mehr realisierbar sein sollten. 223 Anzu‐ setzen wäre für eine Versöhnung widerstreitender Lehrsätze folglich nicht bei den unveränderlichen Dogmen selbst, sondern bei der Spezifizierung der Bedingungen, unter denen sie tatsächlich Anwendung finden müs‐ sen. 224 c) Anwendung auf ökumenisch strittige Themenkomplexe Die Anwendbarkeit seiner Regeltheorie sowie dieses Unterscheidungsras‐ ters der Geltungsweisen auf konkrete Lehraussagen prüft Lindbeck schließ‐ lich in einem eigenen Kapitel anhand innerhalb der Ökumene strittiger Beispiele. 225 Er verfolgt dabei wiederum nur das begrenzte Ziel, die Verein‐ barkeit seiner Theorieperspektive mit dem Anspruch bestimmter Lehrent‐

220 Vgl. ebd.: „the conditional variety may be either permanent or temporary“. Gerade in Fragen der Sexualethik sei gegenwärtig strittig, zu welchem Typ die entsprechenden Normen gehören. 221 Ebd.: „If [...] some historical changes are irreversible, then the doctrines occasioned by these changes are themselves irreversible“. 222 Vgl. ebd., 72. Beispiele könnten die Festlegung der wöchentlichen Gottesdienstzeit auf den Sonntag oder – aus protestantischer Sicht – das Papstamt innerhalb der römisch‐ katholischen Kirche sein. 223 Vgl. ebd., 73. 224 Vgl. ebd.: „It is thus the condition, not the doctrine, which is temporary or ‚reformable.‘“. Alles spitzt sich damit auf die Interpretation des irreformabiles der päpstlichen ex-cathe‐ dra-Definitionen in DH 3074 zu. 225 Vgl. ebd., 73–97.

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scheidungen aufzuweisen. Weder soll für die Alternativlosigkeit der Regel‐ theorie argumentiert werden, noch erfolgt eine detaillierte Prüfung, ob ein‐ zelne Lehrentscheidungen inhaltlich sachgemäß und die Konflikte im Falle ökumenischer Streitfragen tatsächlich überzeugend beizulegen sind. 226 Das zentrale Problem der altkirchlichen Christologie und Trinitätslehre besteht für Lindbeck darin, dass deren im Zuge heftiger Auseinanderset‐ zungen fixierten Lehrformeln für viele Kirchen als schlechthin verbindlich gelten, aber zugleich auf eine nachbiblische Terminologie zurückgreifen, die deutlich an die Bedingung eines hellenistischen Denkhorizonts gebun‐ den sei. Daher ist laut Lindbeck zwischen dem Gehalt der Lehraussagen und der dabei verwendeten philosophisch-theologischen Terminologie zu un‐ terscheiden. Ohne diese Unterscheidung wären die betreffenden Dogmen grundsätzlich als nur bedingt – nämlich auf ein hellenistisches Milieu be‐ zogen – zu verstehen oder ihre Unüberholbarkeit müsste auch den begriffli‐ chen Rahmen der hellenistischen Philosophie und die entsprechende Vor‐ stellungswelt einschließen. 227 Beide Alternativen führen in große Schwie‐ rigkeiten und seien kaum plausibel zu machen. 228 Ein solches nichtbuch‐ stäbliches (engl. nonliteralistic) Verständnis der Geltung bestimmter Lehr‐ aussagen sei für das Christentum allerdings schon angesichts der Breite und historischen Varianz seines Schriftenkanons faktisch unerlässlich, soll des‐ sen Einheit und Einheitlichkeit behauptet werden. 229 Ein Verständnis der antiken Dogmen als Regeln des christlichen Sprach‐ gebrauchs kann sich laut Lindbeck nun nicht zuletzt auf den Entstehungs‐ kontext dieser Dogmen selbst berufen. 230 Die altkirchlichen Dogmen seien in dieser Sichtweise zu verstehen als paradigmatische Beispiele für die an‐ gemessene Anwendung von selbst nicht explizit formulierten Prinzipien, die in der Christenheit bereits lange vor Fixierung der entsprechenden Be‐ kenntnistexte in Geltung standen. 231 Lindbeck versucht entsprechend, die Formeln der antiken Christologie und Trinitätslehre auf drei Grundregeln

226 Vgl. ebd., 77 f. 227 Vgl. ebd., 78. 228 Vgl. ebd.: „The argument – to repeat – is compelling unless a distinction can be made between doctrine and formulation, between content and form“. 229 Für einen erfahrungsbasierten Expressivismus stelle sich dieses Problem gar nicht, da der Anspruch einer Einheit hinter den verschiedenen Symbolen auf die Behauptung einer invariante Grunderfahrung verlagert werde, vgl. ebd., 78 f. Bei nicht-diskursiven Symbolen dieser Art entfalle die Unterscheidung von Form, Inhalt und Kontext: „when the form or context alters, so does the content or substance of the symbol“ (ebd.). 230 Vgl. ebd., 80: „second order guidelines for Christian discourse“. Als Kronzeuge dieser Sicht führt Lindbeck Athanasius an: „For him [= Athanasius, TG], to accept the doctrine meant to agree to speak in a certain way“ (ebd.). 231 Vgl. ebd., 81.

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zurückzuführen: Erstens das Prinzip des Monotheismus (engl. monotheistic principle), zweitens das Prinzip der Geschichtlichkeit Jesu (engl. principle of historical specificity) und drittens die Regel eines sog. christologischen Ma‐ ximalismus (engl. christological maximalism), die vorschreibe, dass Jesus ein Maximum an Bedeutung zukommen müsse, solange die ersten beiden Prinzipien nicht verletzt werden. 232 Mit Hilfe dieses Regelsystems lasse sich die Verurteilung der verschiedenen altkirchlichen Häresien schlüssig erklä‐ ren: Ihre Untragbarkeit wurde im Leben der Kirche und ihren liturgischen Vollzügen deutlich, weil sie die Grenzen dieses impliziten Regelsystems verletzten. 233 Als orthodoxe Formulierungen setzten sich dagegen immer diejenigen Formeln durch, welche in Anwendung dieser Regeln das ge‐ ringste Ausmaß an kognitiver Dissonanz abverlangten. 234 Als Lehrparadigmen impliziter Regeln können nach Lindbeck die alt‐ kirchlichen Symbola unverändert in Geltung bleiben, auch wenn sich die philosophische Terminologie und der allgemeine Horizont des Denkens verändert haben. Dabei trage – laut Lindbeck nur scheinbar paradox – ge‐ rade die archaische und sperrige Begrifflichkeit (engl. archaic and even un‐ intelligible conceptuality) zu ihrem Gebrauch als Paradigmen und norma‐ tive Modelle für die Neuformulierung von Glaubensaussagen bei. 235 Denn die für heutige Menschen zunächst sperrigen Begriffe verweisen durch ihre Unverständlichkeit darauf, dass sie die Funktion von Variablen innerhalb einer paradigmatischen Verknüpfung einzelner Elemente erfüllen. 236 Es komme bei den altkirchlichen Dogmen also nicht auf die philosophischen Konzepte (wie etwa den Person- oder Naturbegriff) und deren hellenisti‐ schen Bedeutungsgehalt an, sondern auf die rechte Verknüpfung des bib‐ lischen Vokabulars im kirchlichen Sprachgebrauch. Dem buchstäblichen

232 Vgl. ebd., 80. Dieses Regelgefüge sei freilich nie bewusst und in Form artikulierter Ge‐ setze im Einsatz gewesen, vgl. zur Klarstellung ebd., 95, Anm. 10. 233 Vgl. ebd., 81: „they were felt in the concrete life and worship of the Christian community to violate the limits of what was acceptable as defined by the interaction of these three criteria“. Ob das zu Recht auch auf den besonders heftig umstrittenen Arianismus in all seinen Spielarten zutrifft, lässt Lindbeck vorerst offen, vgl. ebd., 94f, Anm. 9. 234 Vgl. ebd., 81. Vgl. auch ebd., 95f, Anm. 10: „What guided development, one might say, was the avoidance of cognitive dissonance rather than positive collective desires“. Hier steht erneut die wissenschaftssoziologische Theorie T. S. Kuhns im Hintergrund, der die Paradigmenwechsel in der Physik auf ähnliche Weise beschrieben hat. 235 Vgl. ebd., 81. 236 Vgl. ebd.: „They function as ‚x’s,‘ blanks, or open variables to be filled by whatever symbolic or intellectual content is most effective in a given setting“. Aus diesem Grund votiert Lindbeck strikt gegen jede Anpassung der im Gottesdienst gesprochenen Be‐ kenntnisse an den gegenwärtigen Sprachgebrauch. Außerdem stelle sich ein so weitge‐ hender Konsens, wie er hier gegeben ist, in der Geschichte der Kirche selten ein.

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Wortlaut der Dogmen komme so paradigmatische Geltung, aber keine di‐ rekte Autorität und Notwendigkeit zu. 237 Als weiteren Prüfstein für die Regeltheorie betrachtet Lindbeck den dogmatisch formulierten Anspruch auf Unfehlbarkeit bestimmter Lehrent‐ scheidungen, wie ihn etwa die römisch-katholische Kirche erhebt. Dieser Anspruch habe gegenüber der Geltung der christologischen oder auch ma‐ riologischen Dogmen einen anderen theologischen Status, weil er nicht die Grammatik der story des Christentums, sondern die formale Definition von Dogmen als solchen betreffe. 238 Die Unfehlbarkeit beziehe sich zu‐ dem im Unterschied zur Unveränderlichkeit, die den Dogmen zukomme, auf den formalen Akt der Entscheidung. Im Anschluss an Karl Rahner lasse sich dieser Anspruch aber in einer Weise reformulieren, die für ein Regelmodell der Lehre anschlussfähig sei: Eine unfehlbare Instanz könne diesem Verständnis zufolge bezüglich der für die Gemeinschaft schlechthin notwendigen Glaubensgrundsätze oder Praktiken niemals in einer so fun‐ damentalen Weise irren, dass durch ihre Entscheidung die Identität dieser Gemeinschaft gefährdet werde oder verloren gehe. 239 Diese Betrachtungs‐ weise eröffnet nach Lindbeck sogar eine vertiefte, empirisch angereicherte Perspektive auf den Anspruch der Unfehlbarkeit sowie das Phänomen, das mit den traditionellen Begriffen des consensus fidelium oder consensus ecclesiae beschrieben werden soll. In diesen Begriffen erkennt er dogma‐ tische Explikationsversuche des allgemeinen Phänomens, dass – analog zu kompetenten Sprachbenutzern – die kompetenten Anhänger einer Religion einen mehr oder weniger untrüglichen Sinn dafür haben, was der Gram‐ matik ihres Glaubens als ‚anstößige‘ Formulierung (engl. offensive to pious ears) widerspreche. 240 So wie die Beherrschung einer Sprache lasse sich diese Kompetenz zumindest in Ansätzen auch empirisch aufweisen. Bei einer komplex ausdifferenzierten Religion wie dem Christentum stel‐ len sich für Lindbeck allerdings umgehend die Folgefragen, wer tatsächlich

237 Für die mariologischen Dogmen der römisch-katholischen Kirche sei hier ein auffälli‐ ger Unterschied zu den trinitarischen und christologischen Dogmen zu erkennen: Diese seien eher aus dem Kult und der Frömmigkeit, weniger aus der systematischen Reflexion hervorgegangen und werden auch von ihren Verfechtern als dogmatische Neuerungen (bzw. Neuentdeckungen) erkannt, die gleichwohl beanspruchen, irreversibel zu sein, vgl. ebd., 83 f. 238 Vgl. ebd., 84. 239 Vgl. ebd.: „an infallible church or magisterium would be one thet does not make defi‐ nitive (i.e., dogmatic) mistakes about what beliefs and practices are vitally necessary – or perilous – to the identity and welfare of the community“. Im Falle der christlichen Kirchen würde ein solcher Fehler bedeuten, dass die Verbindung zu Christus durch den Geist Gottes verloren gehe. 240 Vgl. ebd., 85.

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als kompetenter ‚Sprecher‘ gelten kann und ab wann nicht mehr von unter‐ schiedlichen ‚Dialekten‘ ein und derselben Religion oder auch Konfession zu sprechen, sondern der gemeinsame Rahmen verlassen ist. 241 Um einen solchen Rahmen ‚orthodoxer‘ Religion zu konstruieren, könnte man nun eine statistisch repräsentative Auswahl aus möglichst diversem Material anstreben, um durch deren Breite und Streuung den Mainstream einer Re‐ ligion einigermaßen verlässlich zu erfassen. 242 Allerdings – so ein sogleich von Lindbeck antizipierter Einwand – spiegle der statistische Mainstream einer Religion noch nicht notwendig ihren normativen Kern wider – ganz zu schweigen von ihrem offiziellen Lehrbestand. 243 Dies mache es unmög‐ lich, den geistgewirkten consensus fidelium bzw. die religiöse Kompetenz als sein empirisches Korrelat direkt mit einem statistischen Querschnitt zu identifizieren. Die Annahme, dass die kompetent Praktizierenden sich eher im statistischen Mainstream der Religion befinden als an den Rändern, sei daher ein wichtiges, aber allein noch nicht ausreichendes Kriterium. 244 Als zusätzliches Kriterium der Kompetenz sei eine flexible Form der Frömmig‐ keit (engl. kaum befriedigend übersetzbar: flexibly devout) zu suchen. 245 Flexibilität im Umgang mit religiöser Sprache und rituellen Formen ist nämlich für Lindbeck nahezu immer das Ergebnis einer tief internalisierten religiösen Praxis, weshalb sie in der Regel auch mit einer innigen Vertraut‐ heit mit der Bibel sowie der Liturgie einhergehe. 246 Sie befähige dazu, selbst produktiv und innovativ Ausdrucksformen für den eigenen Glauben zu fin‐ den, die sich trotzdem kohärent zu den traditionellen Paradigmen und den impliziten wie expliziten Regeln der Gemeinschaft verhalten. Ein Konsens innerhalb dieser Gruppe der kompetent und flexibel Prakti‐ zierenden wäre – so Lindbeck – mit gewissem Recht als unfehlbar im oben for‐ mulierten Sinne zu betrachten. Die praktischen Schwierigkeiten, diese Gruppe trennscharf zu identifizieren und entsprechende Hypothesen empirisch zu

241 Vgl. ebd., 85. 242 Vgl. ebd., 86 f. 243 Vgl. ebd., 86: „most Christians through most of Christian history have spoken their own official tongue very poorly. It has not become a native language, the primary medium in which they think, feel, act, and dream“. 244 Vgl. ebd. Es liegt für Lindbeck gegenwärtig auch nahe, insbesondere die ökumenisch Ge‐ sinnten zu berücksichtigen, insofern eine ökumenische Orientierung heute am ehesten dem entspreche, was in der Alten Kirche einmal mit ‚Katholizität‘ gemeint war. 245 Vgl. ebd. 246 Vgl. ebd.: „they are likely to be saturated with the language of Scripture and/or liturgy“. Auf der Habitualisierung religiöser Grundfähigkeiten baue nicht zuletzt der zweifel‐ los existierende, aber schwer greifbare „skill of the saint“ (ebd., 22) auf: eine intuitive Vertrautheit mit der jeweiligen Religion und eine Sicherheit in der Unterscheidung zwi‐ schen ihren authentischen und nicht-authentischen Ausdrucksformen.

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verifizieren, mögen nun äußerst groß und möglicherweise unüberwindbar sein. 247 Allerdings könne man in Analogie zu anderen empirischen Wissens‐ feldern durchaus eine asymptotische Annäherung der induktiv befestigten Erkenntnis an jene Gewissheit erhoffen, die die religiöse Kompetenz der au‐ thentisch Praktizierenden immer schon besitze. 248 Dies gelte umso mehr, wenn nicht einzelne Entscheidungen bewertet, sondern allgemein zugrunde‐ liegende Prinzipien solcher Lehrentscheidungen erhoben werden sollen. Kann eine solche praktisch-religiöse Gewissheit, die empirisch aus dem Urteil der kompetent Praktizierenden einer Religion erhoben wird, auch als theologische Begründung ausreichen? Oder müsste vielmehr im Namen der Glaubensgewissheit jede Geltung beanspruchende Lehrentscheidung dar‐ über hinaus noch anders und besser – etwa auf der Basis vernunftlogischer Begründung oder durch eine übernatürlich legitimierte Autorität – fundiert werden? 249 Lindbeck erwidert auf diese mögliche Anfrage zunächst, dass es ihm in diesem Zusammenhang nicht um die existenzielle Frage gehe, ob das Christentum und seine Lehraussagen ontologisch wahr seien, sondern um das theoretische Problem, was als authentisch christlich gelten könne. Zu diesem begrenzten Zweck sei ein solcher empirischer Näherungswert völ‐ lig ausreichend. 250 Dennoch argumentiert Lindbeck auch auf theologischer Ebene, dass mit dieser Kritik ein abstrakter Gegensatz zwischen Gewiss‐ heit aufgrund supranaturaler Offenbarung und der Verlässlichkeit empiri‐ schen Wissens konstruiert werde: Die unfehlbare Gewissheit hinsichtlich der inneren Logik des Glaubens (engl. inner logic of faith) könne je nach Betrachtungsweise gleichermaßen empirisch aufgewiesen und gnadenhaft erschlossen (engl. unmerited gift of grace) sein. 251 Die autoritative und unfehlbare Instanz für die empirisch zugängliche Normativität der Lehre ist für Lindbeck also grundsätzlich die Gemein‐ schaft der kompetent Praktizierenden einer Religion. Ihm erscheint daher theoretisch die ostkirchliche Position einer Unfehlbarkeit der Gesamtkir‐

247 Vgl. ebd. 248 Vgl. ebd., 87: „a kind of unshakable empirical certitude is theoretically available and asymptotically approachable [...] for we have similar certainities regarding other types of empirical knowledge“. Eine funktionierende Theorie der Lehre wäre dann der tendenzi‐ ell umständliche, aber dafür kommunizierbare Ersatzbehelf für die religiöse Vertrautheit einzelner Virtuosen (engl. saints and prophets), die ihre Unterscheidung zwischen legiti‐ mer und identitätsgefährdender Veränderung sicher auf intuitive Weise treffen können, vgl. ebd., 65. 249 Vgl. ebd., 87: „Do not believers depend on the infallible testimony of the Holy Spirit, or of Scripture, or of the magisterium, rather than on an empirically based confidence that the consensus fideliorum cannot mortally err?“ (Herv. im Orig.). 250 Vgl. ebd. 251 Vgl. ebd., 88.

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che und ihrer Tradition angemessener als die traditionell-protestantische Fixierung auf die Schrift oder das römisch-katholische Lehramt. 252 Aller‐ dings gesteht er zu, dass es angesichts der vollzogenen Kirchenspaltung für die Kirchen noch praktisch notwendig sein dürfte, ihre autoritativen Lehrinstanzen enger und präziser zu bestimmen, um auch weiterhin hand‐ lungs- und entscheidungsfähig zu bleiben. 253 Sowohl das protestantische sola scriptura als auch das katholische Lehramt können dagegen eine solche Handlungsfähigkeit gewährleisten – Lindbeck schlägt deshalb vor, sie als unter dieser Bedingung notwendige, aber grundsätzlich reversible Lehren zu betrachten. 254 Allerdings sei mit der Entscheidung für das Regelmodell der Lehre noch keine dieser Alternativen von vornherein ausgeschlos‐ sen. 255 Es erscheine zudem denkbar, die protestantische und römisch-ka‐ tholische Lehre mit dem Fortschritt der ökumenischen Annäherung zuneh‐ mend so zu interpretieren, dass sie faktisch – also bezüglich ihrer opera‐ tional consequences – mit der ostkirchlichen Lehre konvergieren. In dieser langfristigen ökumenischen Perspektive ist für Lindbeck ein Gewinn seiner Regeltheorie zu sehen. d) Gründe für die Überlegenheit einer Regeltheorie Nach dieser Überprüfung am Material einzelner Probleme und Streitfra‐ gen, welche den begrenzten Anspruch einer ökumenischen Anwendbarkeit der Regeltheorie der Lehre begründen sollte, argumentiert Lindbeck dar‐ über hinausgehend doch noch für eine relative Überlegenheit seines Re‐ gelmodells gegenüber propositionalistischen Modellen. Seine Betrachtungsweise habe nämlich erstens das Gebot einer ökono‐ mischen Minimierung der benötigten Hypothesen (Ockham’s Razor) auf seiner Seite, da sich in der Folge die Beschäftigung mit dem ontologischen Wahrheitsanspruch (engl. ontological reference) einzelner Lehraussagen als schlicht verzichtbar erweise. 256 Die Behauptung einer ontologischen Korre‐ spondenz einzelner Lehraussagen mit der Wirklichkeit bleibe zwar weiter‐ 252 Vgl. ebd.: „Infallibility for the Orthodox belongs to the church as a whole insofar as it is open to the Spirit and is united in space and time with all faithful witnessses from scriptural times to the present. It does not have a privileged localization in the Bible, after the Protestant manner, nor in the official magisterium, as Catholics have said. Not even ecumenical councils are infallible by themselves, but only insofar as their decrees are recieved by the churches“. 253 Vgl. ebd. Die Ostkirchen seien angesichts der Spaltungen auch der ostkirchlichen Chris‐ tenheit faktisch „frozen into traditionalistic immobility“, was eben aus dem „lack of a theory of final authority appropriate to a broken Christendom“ (ebd., 89) resultiere. 254 Vgl. ebd.: „conditionally necessary but reversible doctrines“. 255 Vgl. ebd., 90. 256 Vgl. ebd., 92 f.

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hin legitim, aber jeder Anspruch, eine solche ontologische Interpretation als für die Glaubenden verbindliche Norm zu fixieren, sollte auf dieser Grundlage zurückgewiesen werden. 257 Dies sei schon deshalb sachgemäß, weil in diesen Fragen zumeist sowieso keine Klärung vor dem eschatologi‐ schen Selbsterweis Gottes zu erwarten sei und sie von drängenden prakti‐ schen Fragen ablenken. 258 Zweitens könne auf der Basis des Regelmodells die fatale Konsequenz einer propositionalistischen Betrachtungsweise ver‐ mieden werden, dass angesichts der Spaltungen der Christenheit – relativ vom eigenen Standpunkt aus betrachtet – unvermeidlich deren Mehrheit oder zumindest ein breiter Strom ihres theologischen Denkens als häretisch zu verwerfen wäre. 259 Allgemein erwartet Lindbeck, dass sich der Fokus theologischer Ar‐ beit mit einem solchen Regelmodell von der Suche nach spekulativen (Re-)Interpretationen des Dogmas auf die konkreten Fragen des kirchlichen Lebens verschieben würde, in dem die strittigen Regeln der Lehre bereits wirksam seien und weiterhin zu Orientierung dienen sollen. 260 Er erhofft sich daher von der Regeltheorie keine Schwächung, sondern eine Steigerung der normativen Autorität der Lehre, insofern diese sich dann direkt in ihrem Gebrauch als konkrete Norm religiösen Lebens bewähren könne. 261 Den‐ noch zerstreut Lindbeck allzu weitreichende Hoffnungen, dass sich mit einer Entscheidung für sein Regelmodell alle materialen Streitfragen zwischen verschiedenen Konfessionen und Frömmigkeitskulturen schnell überwin‐ den lassen. Kurzfristig sei bestenfalls eine Verflüssigung der Gegensätze zu erwarten, weil der neue begriffliche Rahmen bestimmte bislang dominante Lehrdifferenzen aus dem Zentrum der Auseinandersetzung rücke und neue Wege hin zur Verständigung sichtbar mache. 262 257 Vgl. ebd., 92. Dies entspreche dem Vorgehen der modernen Wissenschaft, die ebenfalls auf eine verbindliche metaphysische Interpretation ihrer Gesetze und Regelsysteme ver‐ zichte. 258 Nicht nur für das Problem der immanenten Trinität und trinitarischer Begrifflichkeit sei zu vermuten: „That question is unanswerable this side of the Eschaton. It is also irrele‐ vant to theological assessment. Which theory is theologically best depends on how well it organizes the data [!] of Scripture and tradition with a view to their use in Christian worship and life.“ (ebd.). 259 Vgl. ebd., 93. 260 Vgl. ebd.: „concrete life and language of the community“. 261 Vgl. ebd., 93f: „The focus on praxis, and the opposition to the doctrinal relevance (though not necessarily to the intellectual enjoyment) of metaphysically oriented theo‐ logical speculation, makes it easier to specify what is normative about doctrines“. Vgl. auch ebd., 77. 262 Vgl. ebd., 99. Ein Beispiel könnte die Überwindung der „polarization between tradition and innovation“ (ebd.) durch die Unterscheidung von invarianter Grammatik und va‐ riablen Vokabularen sein.

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7.2.5 Das Programm einer postliberalen Theologie Im letzten Kapitel seines Buches diskutiert Lindbeck, welche Auswir‐ kung seine kulturwissenschaftlich-linguistische Neubestimmung des Lehr‐ begriffs für das Ganze der Theologie haben könnte. 263 Dabei geht er von Ursprungstreue (engl. faithfulness), Anwendbarkeit (engl. applicability) und Verständlichkeit (engl. intelligibility) als den drei zentralen Qualitäts‐ merkmalen guter Theologie aus. 264 Auch an diesen Kriterien lässt sich er‐ kennen, welche weitreichenden Konsequenzen Lindbecks Grundentschei‐ dung hat, den normativen Kern des Christlichen nicht mit einzelnen Pro‐ positionen zu identifizieren, sondern als eine story mit invarianter Gram‐ matik zu bestimmen. Die Frage der Ursprungstreue oder Sachgemäßheit (engl. faithfulness) wird für Lindbeck zwar vornehmlich, aber nicht ausschließlich in der Syste‐ matischen Theologie zum Thema. Diese habe die Aufgabe, die religiöse Be‐ deutung oder den Sinn (engl. meaning), den eine Religion für ihre Anhän‐ ger stifte, in normativer Absicht deskriptiv zu entfalten. 265 Dieser religiöse Sinn könne nun entweder extratextuell oder intratextuell (engl. intratextual bzw. intrasemiotic) beschrieben werden. 266 Denn der Sinn eines semio‐ tischen Geflechts könne entweder außerhalb dieses Systems lokalisiert – etwa in der objektiven Realität oder einer subjektiven Erfahrung – oder als diesem System selbst immanent begriffen werden. 267 Der kulturwissen‐ schaftlich-linguistische Ansatz, den Lindbeck favorisiert, steht für letzteres: Die Bedeutung religiöser Aussagen und Praktiken ist konstituiert durch die performative Verwendung einer bestimmten religiösen Sprache. 268 Allge‐

263 In diesem Zusammenhang wendet Lindbeck das Schema von vorliberal (engl. preliberal), liberal und post-liberal an, dem er die propositionalistischen, erfahrungsbasiert-aus‐ drucksorientierten und kulturwissenschaftlich-linguistischen Theologiemodelle zuord‐ net, vgl. ebd., 98. Gleichwohl lässt sich diese Typologie konkurrierender Zugänge, wie aus dem Ganzen der Argumentation ersichtlich ist, nicht in ein geschichtliches Fort‐ schrittsmodell der stufenweisen Höherentwicklung übersetzen. 264 Vgl. ebd. 265 Vgl. ebd., 99. 266 Vgl. ebd., 100. Zum Begriff der Intratextualität und seiner Abgrenzung von Dekon‐ struktivismus und Intertextualität vgl. die knappen Bemerkungen ebd., 122, Anm. 5. Der Unterschied liege primär darin, dass bei diesem Konzept von Intratextualität einem bestimmten Textbestand (der Bibel und auch z.B. den Dogmen der Alten Kirche) eine herausgehobene, privilegierte, d.h. kanonische Position zuerkannt werde. 267 Vgl. ebd., 100. Religion als Symbolsystem wird hier – parallel etwa zu C. Geertz’ ethno‐ graphischer Beschreibung – allgemein nach dem Modell eines Textes verstanden. 268 Vgl. ebd.: „Meaning is constituted by the uses of a specific language rather than being distinguishable from it“.

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mein gebe nur der Gebrauch sprachlicher Zeichen Aufschluss über ihre Bedeutung, nicht ihre Beziehung auf eine externe Gegebenheit. 269 Mit Blick auf Schriftreligionen wie das Christentum, deren semiotisches Universum paradigmatisch in kanonischen Schriften niedergelegt sei, will Lindbeck dabei ‚intratextuell‘ nicht als bloße Metapher verstehen. 270 Die Weltsicht, die durch einen klassischen Text oder gar eine Heilige Schrift für den Leser erschaffen werde, könne diesem ‚realer‘ erscheinen als jede andere Perspektive auf die Welt und als umfassende Weltanschauung das Universum in sich absorbieren: „A scriptural world is able to absorb the universe“. 271 Aufgrund dieser reflexiven und potentiell allumfassenden Struktur habe daher auch die Theologie nicht nur das religiöse Symbolsys‐ tem selbst aus einer Innenperspektive darzustellen (engl. explicating reli‐ gion from within), sondern vielmehr die Gesamtheit der Wirklichkeit aus dieser Innenperspektive heraus zu beschreiben (engl. describing everything as inside). 272 In der klassischen Theologie vor der Aufklärung war das wichtigste Ver‐ fahren für diese Absorption der Welt die Typologie, die zunächst den bib‐ lischen Kanon durch typologische Beziehungen zusammenhalten konnte. Darüber hinaus habe die typologische Lektüre auch erlaubt, in der Kir‐ chengeschichte oder der jeweiligen Gegenwart biblische Figurationen und Konstellationen ‚wiederzufinden‘. 273 Auf diese Weise sei in der religiösen 269 Dies gelte, so Lindbeck, allgemein für die Beschreibung von „rule-governed human behavior“ (ebd.), aber sei insbesondere für allumfassende und reflexive semiotische Sys‐ teme wie Sprachen, Kulturen und Religionen zu beachten. Mit dieser am Gebrauch orientierte Betrachtungsweise schließt sich Lindbeck an die 1975 erstmals veröffent‐ lichte Studie von David H. Kelsey zur Schriftautorität an, vgl. ebd., 123, Anm. 11. Vgl. Kelsey, Doctrine. 270 Vgl. NoD, 102: „in the instance of religions more than any other type of semiotic sys‐ tem, description is not simply metaphorically but literally intratextual“ (Herv. TG). Laut Lindbeck ist die Existenz kanonischer Texte die Ermöglichungsbedingung der Heraus‐ bildung normativer Theologie, die somit in vorschriftlicher Religion noch nicht gegeben sei. 271 Vgl. ebd., 103. Vgl. auch ebd.: „no world is more real“. Für eine Rekonstruktion und Diskussion diese Leitvorstellung einer Absorption der Welt vgl. Marshall, Absorbing, 83–90. 272 Vgl. ebd., 100 f. Dieses Ziel einer umfassenden ‚Einholung‘ des Kosmos habe die traditio‐ nelle Exegese, etwa bei Augustin, geleitet und ihre Inanspruchnahme nicht-christlicher Traditionen legitimiert. Thomas von Aquin habe dieses Vorgehen dann in exempla‐ rischer Form als Methode niedergelegt. Methodisch verlange dies nach einer ‚dichten Beschreibung‘ im Sinne von G. Ryle und C. Geertz, nicht nach Abstraktion und Forma‐ lisierung, vgl. ebd., 101–103. Zur dichten Beschreibung siehe oben, 2.1.1. 273 Vgl. ebd., 103. Dies habe sich nicht nur auf die Historie, sondern auch auf den Kosmos bezogen. Vgl. zu dieser Auslegungsart und ihren biblischen Wurzeln auch Goppelt, Typos, bes. 1–22; 239–249.

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Imagination ein christuszentriertes Weltbild (engl. christ-centered world) geschaffen worden. 274 Diese Theologie sei intratextuell, weil sie die Wirk‐ lichkeit in einen der Schrift entnommenen Symbolrahmen versetze und durch diesen erschließe, umdeute und transformiere. 275 Entscheidend sei dabei immer die Richtung des Interpretationsgefälles: Die außerbiblische Wirklichkeiten (engl. extrascriptural realities) werden als Metaphern für biblische Gehalte gelesen und auf diesem Wege erst als Wirklichkeit er‐ schlossen. 276 Schon immer habe gleichwohl die Gefahr bestanden, dass sich dieses Gefälle umkehrt und die interpretierten außerbiblischen Reali‐ täten sich selbst zum interpretativen Rahmen erheben. 277 Auf diese Gefahr reagieren nach Lindbeck etwa das reformatorische Schriftprinzip und die Regel der sich selbst auslegenden Schrift (lat. scriptura sui ipsius interpres), die das Interpretationsgefälle von der Schrift zur Wirklichkeit für Theologie und Verkündigung festschreiben. 278 Die neuzeitliche Kritik am Schriftprinzip und der typologischen Me‐ thode habe – so Lindbeck – diese Sicherungen zerstört und zu einer kon‐ sequenten Umkehr dieses Interpretationsgefälles geführt. Die alternativen Interpretationstechniken, die an die Stelle der typologischen Auslegung getreten seien, verbinde bei allen Unterschieden die Gemeinsamkeit ih‐ rer dezidiert extratextuellen Perspektive. 279 Nun erscheine als die zentrale Aufgabe theologischer Auslegung, die ‚eigentliche‘ Realität hinter der Er‐ zählung – etwa der Jesusgeschichte – zu rekonstruieren. 280 Nicht nur auf‐ grund der fehlenden Übereinstimmung hinsichtlich der Frage, was dort hinter den Texten und Erzählungen überhaupt zu suchen sei, betrachtet Lindbeck diese Projekte als theologisch unfruchtbar. Dagegen will er mit seiner postliberalen Perspektive neue Wege eröffnen und die intratextuelle 274 Vgl. NoD, 104. Von einer Allegorie unterscheide sich die Typologie dadurch, dass sie den biblischen Texten keinen ‚eigentlichen‘ Sinn unterschiebe, sondern ihren Typen trotz und jenseits aller typologischen Beziehungen ihre eigene Realität belasse. 275 Vgl. ebd.: „Intratextual theology rediscribes reality within the scriptural framework rat‐ her than translating Scripture into extrascriptural categories“. 276 Vgl. auch ebd.: „It does not suggest, as is often said in our days, that believers find their stories in the Bible, but rather that they make the story of the Bible their story. The cross is not to be viewed as a figurative representation of suffering [...]; rather, suffering should be cruciform“. 277 Klassisches Beispiel dafür sei der Gnostizismus, im Zuge dessen sich hellenistische Ka‐ tegorien zum Interpretationsrahmen verselbständigt hätten, vgl. ebd. 278 Vgl. ebd., 105. 279 Vgl. ebd.: „The primarily literary approaches of the past with their affinities to informal ways of reading the classics in their own terms were replaced by fundamentalist, his‐ torical-critical, and expressivist preoccupations with facticity or experience.“. Zu dieser Erosion vgl. auch Eckerstorfer, Kirche, 180–183. 280 Vgl. NoD, 105 f.

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Interpretation in der Theologie durch eine literarische Gebrauchsweise der Schrift erneuern. 281 Der entscheidende Unterschied zur vorkritischen bzw. vorliberalen Auslegung sei dabei, dass postkritisch-literarische Zugänge zur Schrift deren religiöse Textgattungen trennscharf von anderen wie der na‐ turwissenschaftlichen Studie oder dem historischen Bericht unterscheiden können. 282 In dieser Sichtweise gewinnen literarische Gesichtspunkte theo‐ logisch an Gewicht gegenüber den Erkenntnissen einer literarkritischen Untersuchung, die physisch-physikalischen Vorgänge oder die historische Faktizität der geschilderten Ereignisse erscheinen als größtenteils irrele‐ vant. 283 Wie lässt sich dieser Perspektivwechsel methodisch umsetzen? Als ers‐ ter Ansatzpunkt für die normative Bedeutung eines Textes sei zu beachten, wie und mit welchem Anspruch ein Text durch die religiöse Gemeinschaft tatsächlich gelesen werde. 284 Der Interpretationsrahmen sei dann – so weit‐ gehend wie nur möglich – aus der literarischen Struktur des Textes selbst zu erheben. 285 Handle es sich bei den Evangelien etwa um „realistische Erzäh‐ lungen“ (engl. realistic narratives), dann könne der Sinn dieser Erzählungen kein esoterischer sein, der hinter dem oder jenseits des Textes zu finden wäre. Die normative und für den Glauben vorbildliche Beschreibung Jesu sei somit nicht hinter den Texten in einer historischen Rekonstruktion, ei‐ ner metaphysischen Struktur oder einer postulierten Gotteserfahrung zu suchen. Vielmehr müsse er auf der Oberfläche liegen: in der Identitäts‐ beschreibung Jesu als handelnder Person (engl. identity description of an agent), die in diesen Erzählungen geboten werde. 286 Man kann sagen, dass Lindbeck hier die klassisch-reformatorische Lehre von der claritas scriptu‐ rae im Sinne Wittgensteins reformuliert. Die biblische Überlieferung bietet somit nach Lindbeck ihren Leserin‐ nen und Lesern eine übergreifende, zusammenhängende realistische Erzäh‐ 281 Vgl. ebd., 106. 282 Vgl. ebd., 108. Die veränderte Konstellation der Neuzeit mit ihrer Infragestellung durch die historische Kritik zwinge gerade nicht zur Aufgabe dieser Perspektive, sondern vielmehr zu einer verschärften (engl. more rigorous) Intratextualität, vgl. ebd., 109. Zu diesem hermeneutischen Programm und seiner Umsetzung im Spätwerk Lindbecks vgl. Eckerstorfer, Kirche, 175–190. 283 Vgl. NoD, 109. Dass die historische Faktizität theologisch nur selten tatsächlich die zentrale Rolle spiele, zeige sich deutlich bei den biblischen Gleichnissen als bewusst gestalteten Modellerzählungen ohne jeden historischen Ankerpunkt. 284 Vgl. ebd., 106: „The normative or literal meaning must be consistent with the kind of text it is taken to be by the community for which it is important“. 285 Vgl. ebd.: „An intratextual reading tries to derive the interpretative framework [...] from the literary structure of the text itself“. 286 Vgl. ebd. Diese Erkenntnis lasse sich wiederum im Anschluss an Karl Barth auf die ge‐ samte Bibel übertragen.

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lung dar. In dieser werde Gott durch seine Interaktion mit der Schöpfung identifiziert und charakterisiert – mit einer Klimax in der Geschichte Jesu Christi. 287 Werde mit der Treue zu dieser biblischen Gesamterzählung eine gemeinsame intratextuellen Norm für die christliche Theologie (engl. com‐ mon intratextual norm of faithfulness) greifbar, bleibe dennoch eine große Bandbreite an Ausgestaltungsmöglichkeiten in der theologischen Beschrei‐ bung. 288 Allgemein, so Lindbecks Erwartung, dürfte sich dabei der Fokus theologischer Arbeit graduell von metaphysischen zu lebenspraktischen Fragestellungen verschieben: „The primary focus is not on God’s being in itself, for that is not what the text is about, but on how life is to be lived and reality construed in the light of God’s charac‐ ter as an agent as this is depicted in the stories of Israel and of Jesus. Life, however, is not the same in catacombs and space shuttles, and reality is different for, let us say, Platonists and Whiteheadians.“ 289

Der Kontextbezug der theologischen Praxis sei damit unweigerlich intensi‐ ver als bei einer extratextuellen Methode, die nicht von der konkreten Aus‐ einandersetzung mit wechselnden Weltbildern, sondern von theoretischen Anforderungen ausgeht. Für die Entwicklung der entsprechenden theologi‐ schen Kompetenzen hält Lindbeck eine unterstützenden Umgebung (engl. supportive environment), die Einweisung durch erfahrende Praktiker (engl. tutelage of expert practitioners) sowie ein komplexes Bündel durch Übung erworbener Fähigkeiten (engl. complex set of unformalizable skills) für er‐ forderlich. 290 Diese Überlegungen zum Verhältnis der theologischen Theorie zur pas‐ toralen oder religiösen Praxis leiten für Lindbeck zur Frage nach der prak‐ tischen Anwendbarkeit (engl. applicability) seines Modells über. Die An‐ 287 Vgl. ebd., 106 f. 288 Vgl. ebd., 108. Den gemeinsamen inhaltlichen Nenner aller Theologien, die sich der in‐ tratextuellen Perspektive und der Bibel als realistic narrative verschrieben haben, kann Lindbeck folgendermaßen umreißen: „God is appropriately depicted in stories about a being who created the cosmos without any humanly fathomable reason, but – simply for his own good pleasure and the pleasure of his goodness – appointed Homo sapiens stewards of one minuscule part of this cosmos, permitted appalling evils, chose Israel and the church as witnessing peoples, and sent Jesus as Messiah and Immanuel, God with us“ (ebd., 107). Lindbeck überlegt, ob darüber hinaus für die westliche Theologie nicht auch die klassische abendländische Philosophie zumindest faktisch einen Teil des kanonischen Textbestandes bilde, in dem sich eine intratextuelle Theologie bewegen müsse, vgl. ebd., 108. 289 Ebd., 107. Vgl. ebd., 109: „The consequences inevitably will often be very different be‐ cause of changes in the extrabiblical realities that are to be typologically interpreted“. 290 Vgl. ebd., 109. Zur besonderen Bedeutung, die damit der Spiritualität in der theologi‐ schen Ausbildung zukommt, vgl. Eckerstorfer, Kirche, 148 f.

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wendbarkeit von Theologie bemesse sich nicht allein an der Treffsicherheit ihrer Vorhersagen für einzelne Situationen, sondern insbesondere daran, ob sie den Zusammenhang christlichen Handelns an der vom Glauben an‐ tizipierten und erhofften Zukunft auszurichten vermöge. 291 Dazu sei erfor‐ derlich, die spezifischen Möglichkeiten der jeweils aktuellen Situation auf der Basis eines empirisch wie eschatologisch plausiblen Erwartungshorizont zu erfassen und zu bewerten. 292 Anders als die liberale Theologie, die eine Gegenwartsdiagnose vorschalte, um ihre theologische Zukunftsvision ent‐ sprechend anzupassen, habe postliberale Theologie dabei intratextuell vom eigenen eschatologischen Zukunftsbild auszugehen und die Strömungen der Gegenwart in dessen Licht zu beurteilen. 293 Dies bedeute, dass sie weder zu traditionalistischen noch zu progressiven Programmen eine besondere Affinität habe, auch wenn eine gewisse Resistenz gegenüber modischen Trends (engl. resistance to current fashions) als konservative Grundhaltung interpretiert werden könne. 294 Auf dieser Grundlage zeigt sich für Lindbeck hinsichtlich seiner Ge‐ genwart ein ambivalentes Bild: Die wissenschaftliche Entwicklung in den außertheologischen Disziplinen komme einer postliberalen Theologie eher entgegen, während das gesellschaftliche und kirchliche Gesamtklima die liberalen Entwürfe bevorzuge. 295 Allerdings könnte es laut Lindbeck durch‐ aus sein, dass statt einer bruchlosen Verlängerung gegenwärtiger Trends in die Zukunft irgendwann ein Umschlag der Entwicklung erfolge. 296 Sollten das liberale Gesamtklima in gesellschaftliches Chaos ausarten und autori‐ täre Strömungen an Gewicht gewinnen, könne eine Konstellation eintre‐ ten, in der das Fortbestehen der liberalen Gesellschaften – scheinbar para‐ dox – davon abhänge, dass partikulare Gruppen mit einem klar definierten

291 Vgl. NoD, 111: „the purpose is not to foretell what is to come, but to shape present action to fit the anticipated and hoped-for future“. Dieses Struktur verbinde moderne Futurologie und ihr theologisches Gegenstück bei allen Unterschieden mit der bibli‐ schen Prophetie. 292 Vgl. ebd. Ein „eschatologically and empirically defensible scenario of what is to come“ ermögliche die Unterscheidung der realisierbaren Möglichkeiten: „to discern those pos‐ sibilities in current situations that can and should be cultivated as anticipations or preparations for the hoped-for future“ (ebd.). 293 Vgl. ebd., 111 f. Diese Gegenüberstellung wirft auch ein Licht auf den Status, der bei Lindbeck soziologischen und linguistischen Theorien zukommt, vgl. auch Eckerstor‐ fer, Kirche, 107. 294 Vgl. NoD, 112. 295 Vgl. ebd. Lindbeck redet daher keinem Rückzug der Theologie aus den Universitäten das Wort. Zu seiner Verortung der postliberalen Theologie im Gefüge des amerikanischen Hochschulwesens vgl. Eckerstorfer, Kirche, 155–160. 296 Vgl. NoD, 113.

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Ethos ihre Mitglieder auf eine gemeinwohlorientierte und verantwortungs‐ bewusste Haltung verpflichten. 297 In diesem Fall wäre die wichtigste ge‐ sellschaftliche Aufgabe der Kirchen (und des Judentums), ihre biblische Tradition sowie ihre eigene Integrität als Gemeinschaften zu bewahren, um in der Absage an kurzfristige Bedeutungsgewinne ihre langfristige Relevanz als Reservoir gemeinschaftsorientierter Lebensformen aufrecht zu erhal‐ ten. 298 Neben der Frage der gesellschaftlichen Relevanz stelle sich für ein post‐ liberales Christentum schließlich die Frage nach der Verstehbarkeit (engl. intelligibility) seiner Botschaft für die Zeitgenossen. Damit verbunden sei auch die Möglichkeit einer rationalen Rechenschaft für die Entscheidung zugunsten einer bestimmten Religion. 299 Liberale Theologen verstehen laut Lindbeck ihre Aufgabe in der Regel so, dass die typischen Fragen des modernen Menschen zu identifizieren seien, um daraufhin die frohe Bot‐ schaft zu explizieren und so eine für den modernen Menschen verständ‐ liche Sprache zu übersetzen. 300 In dieser Übersetzungsleistung und der apologetischen Begründung der Religion auf rational einsichtige Struktu‐ ren haben liberale Modelle ihre unbestreitbare Stärke, die nicht zuletzt mit einer missionarischen Grundausrichtung konvergieren könne. 301 Lind‐ becks postliberaler Ansatz bezweifelt allerdings das Vorhandensein solcher Prinzipien und Strukturen sowie die Übersetzbarkeit religiöser Sprache in nicht-religiöse Begrifflichkeit. Diese Skepsis decke sich mit der Beobach‐ tung, dass die Behauptung solch universaler Strukturen und der Mehrwert dieser Begründungsversuche in zunehmendem Maße nur noch Theologen und professionelle Religionsvertreter überzeugen könne. 302 Dennoch müsse der Vorwurf des Fideismus oder Irrationalismus be‐ gründet zurückgewiesen werden. Dazu sei zwischen Irrationalismus und einer Zurückweisung des Fundierungs- bzw. Letztbegründungsgedankens

297 Vgl. ebd., 113 f. Lindbeck erwägt daher, ob nicht ein gewisses Maß an ‚Sektierertum‘ (engl. sociological sectarianism, im Orig. in Anführungszeichen) notwendig sein könnte, um die Grundlagen der freiheitlichen Gesellschaft zu bewahren und die psychosozialen Bedingungen zu reproduzieren, unter denen Individuen handlungsfähig bleiben, vgl. ebd., 64. 298 Vgl. ebd., 114. 299 Vgl. ebd., 114 f. 300 Vgl. ebd., 118. 301 Vgl. ebd., 115. 302 Vgl. ebd., 115 f. Lindbeck spitzt das auf ein vernichtendes Urteil zu: „liberal theology, with its apologetic focus on making religion more widely credible, seems increasingly to be a nineteenth-century enclave in a twentieth-century milieu“ (ebd., 116). Mit der Ablehnung solcher Fundierungsprojekte sei allerdings eine Art von problembezogener ad-hoc-Apologetik problemlos vereinbar, vgl. ebd., 118.

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(engl. antifoundationalism) zu unterscheiden: Die postliberale Theologie bestreite nicht die Existenz universaler Vernunftnormen, sondern nur die Möglichkeit, diese in einer standpunktneutralen und formalen Form zu fixieren. 303 Die Tiefengrammatik der Rationalitätsprinzipien sei zu reich‐ haltig, zu komplex und zu eng mit den relevanten Kontexten ihrer Anwen‐ dung verflochten, um in der Gestalt allgemeiner Kriterien formalisiert zu werden. Sie werde zwar praktisch beherrscht und angewandt, aber entziehe sich der abschließenden und allgemeinen Darstellung in Form einer Letzt‐ begründungs- oder Wissenschaftstheorie. 304 Die Rationalität einer Religion bemesse sich folglich an ihrer Fähigkeit, sich in verändernden Situationen praktisch zu bewähren und neue Phänomene so zu interpretieren, dass die kognitive Dissonanz für ihre Anhänger minimiert werde. 305 Eine Religion muss sich nach Lindbeck für ihre Anhänger also dadurch bewähren, dass sie Herausforderungen durch neue Erkenntnisse, konkurrierende Wahr‐ heitsansprüche oder irritierende Differenzerfahrungen so zu verarbeiten erlaubt, dass die Spannungen zwischen der angebotenen Perspektive und der erlebten Wirklichkeit nicht unerträglich werden, sondern – fromm ge‐ sprochen – diesem Leben ein Sinn abgewonnen werden kann. Die Aufgabe, vor die sich postliberale Theologie nach Lindbeck gestellt sieht, sei also nicht zuerst die Übersetzung von kirchlicher Binnenkom‐ munikation in allgemein-rationale Konzepte, sondern vor allem die ka‐ techetische Einübung einer Sprachfähigkeit: „to teach the language and practices of the religion to potential adherents.“ 306 Er konstatiert für den Westen seiner Gegenwart allerdings eine Krise der biographiebegleitenden Sozialisation, während der Rückweg zu einer dem urchristlichen Modell entsprechenden Taufkatechese noch durch das Nachwirken latenter Christ‐

303 Vgl. ebd., 116: „The issue is not whether there are universal norms of reasonableness, but whether these can be formulated in some neutral, framework-independent language“. 304 Vgl. ebd., 117: „intelligibility comes from skill, not theory, and credibility comes from good performance, not adherence to independently formulated criteria“. 305 Vgl. ebd.: „the reasonableness of a religion is largely a function of its assimilative po‐ wers, of its ability to provide an intelligible interpretation in its own terms of the varied situations and realities“. Falsifiziert werden können Religionen daher auch nicht durch Experimente oder die Widerlegung einzelner Glaubenssätze, sondern allein durch das Verschwinden einer Gemeinschaft von Anhängern, nachdem sie sich als unfähig erwie‐ sen haben, neue Daten produktiv zu verarbeiten. Im Unterschied zur Fundierungstheo‐ rie sei dieses Rationalitätkonzept vereinbar mit vormodernen Theologiekonzeptionen: sowohl mit der thomistischen Hochschätzung der Vernunft, als auch mit Luthers Ver‐ nunftkritik, vgl. ebd., 117 f. Vgl. auch Marshall, Absorbing, 78–82. 306 Vgl. NoD, 118. Vgl. auch Eckerstorfer, Kirche, 131–134. Dies entspricht Wittgen‐ steins Hinweis auf Exemplifizieren und „Abrichtung“ als der letzten Basis aller Recht‐ fertigungspraktiken.

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lichkeit versperrt sei. 307 Diese Zwickmühle begründe die Attraktivität li‐ beraler Übersetzungsmodelle angesichts der unchurched masses. 308 Dabei werde jedoch die Notwendigkeit religiöser Lebensformen sowie die unlös‐ liche Bindung religiöser Gehalte an ihren intratextuellen Gesamtkontext verkannt. Lindbeck vermutet daher: Nur eine radikale Minderheitenpo‐ sition und ein Fremdwerden des Christlichen könnte die Kirchen erneut dazu befähigen, eine der Urchristenheit vergleichbare Balance zwischen dem Bemühen um Integrität und Traditionsbezug einerseits, um missio‐ narische Flexibilität und Offenheit andererseits zu erreichen. 309 Während dieser „merkwürdigen Zwischenzeit“ und unabhängig von allen Zukunfts‐ prognosen müsse sich der postliberale, kulturwissenschaftliche Ansatz in der Theologie zunächst durch seine Fruchtbarkeit für die religiöse Praxis bewähren: „The ultimate test in this as in other areas is performance“. 310 7.2.6 Lindbecks Reaktion auf Kritik und Weiterentwicklungen Die maßgebliche Kritik, die in der Folge dieses Debattenaufschlags an Lind‐ beck geäußert wurde, betrifft den Problemkomplex einer Theologie der Religionen sowie das Verhältnis von intrasystemischer und ontologischer Wahrheit. In seinem neuen Nachwort von 2009 geht er auf diese Kritik ein und stellt diesbezüglich klar, dass der Religion in seiner Konzeption eine spezifische Form von partikularistischem Universalismus (engl. parti‐ cularistic universalism) zukommt. 311 Seinen liberalen Kritikern gesteht er zu, in der Anwendung auf die interreligiöse Fragestellung zunächst den partikularistischen Aspekt gegenüber dem universalistischen überbetont zu haben. 312 Lindbeck geht dabei auf die verbreitete religionstheologische Typologie von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus ein. 313 Sowohl ein reli‐ gionstheologischer Inklusivismus als auch der Pluralismus wurden bisher

307 Vgl. NoD, 119. 308 Vgl. ebd. Für viele potentielle Adressaten der christlichen Evangeliumsbotschaft gelte heute: „They are immunized against catechesis, but are sometimes interested in trans‐ lations of the gospel into existential, depth-psychological, or liberationist language that articulates their latent Christianity“ (ebd.). 309 Vgl. ebd., 119 f. Bis dahin gelte die Vermutung: „the intratextual intelligibility that postli‐ beralism emphasizes may not fit the needs of religions [...] in the awkwardly intermediate stage of having once been culturally established but are not yet clearly disestablished“ (ebd., 120). 310 Ebd. 311 Ebd., 126. Diesen Begriff übernimmt Lindbeck von J. A. Di Noia, vgl. ebd., 139, Anm. 3. 312 Vgl. ebd., 126. 313 Vgl. ebd., 128 f. Zu dieser Typologie vgl. etwa Schmidt-Leukel, Gott, 62–71.

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in der Regel ausgehend von einem erfahrungsbasiert-ausdrucksorientier‐ ten Modell von Religion begründet. Aus dieser Perspektive liege gegenüber dem kulturlinguistischen Theorietypus der Vorwurf des Exklusivismus, Fi‐ deismus und Isolationismus nahe. 314 Aber anders als inklusivistische Er‐ füllungsmodelle (engl. fulfillment models), die notwendig einen gemeinsa‐ men Kern der religiösen Erfahrungen annehmen müssen, sind für Lindbeck pluralistische Modelle der wechselseitigen Ergänzung (engl. mutuality mo‐ dels) mit einer kulturlinguistischen Betrachtungsweise grundsätzlich ver‐ einbar. 315 Wie diese lege seine Konzeption als Grundlage des Dialogs ein Akzeptanzmodell nahe, das auf eine allgemeine Begründung für interreligi‐ öse Verständigung verzichten müsse, aber stattdessen umso offener sei für die je eigenen Motive, die sich aus den radikal verschiedenen Religionen selbst ergeben. 316 Mit diesem Modell werde dem Dialog nicht theoretisch vorgegriffen, sondern die gesamte Bandbreite von völliger Übereinstim‐ mung bis zu schärfstem Gegensatz und damit die Anerkennung von Ähn‐ lichkeit oder Differenz (engl. full range of their similarities and differences) offen gehalten. 317 Die konkurrierenden Ansprüche auf Unüberbietbarkeit, die von den Re‐ ligionen erhoben werden, seien ebenso wie ihre Familienähnlichkeiten aus der Struktur des partikularen Universalismus zu erklären: „each is separa‐ ted from the other by its particularism and overlaps with the other because of its universalism“. 318 Beziehe sich jede Religion auf das, was in ihrer Per‐ spektive als wichtiger als alles sonst im Universum erscheine, dann seien die jeweiligen Kategorien notwendig inkommensurabel. Es könne laut Lind‐ beck keinen gemeinsamen und neutralen Maßstab geben, um beispielsweise das unpersonale höchste Gut des Buddhisten mit dem trinitarischen Gott des Christen zu vergleichen. 319 Im Fall der religiösen Totalperspektiven sei es gerade nicht möglich, diesen gerecht zu werden und sie distanziert zu vergleichen, in ein Verhältnis zu setzen oder gegebenenfalls zu verschmel‐ zen. 320 Schließlich sei es noch nicht einmal möglich, sich von der eigenen religiösen Perspektive zu distanzieren, ohne damit als religiöses Subjekt zu‐ gleich auch die eigene Identität zu verändern. Liegt mit dieser Offenheit für radikale Konzepte eines religiösen Pluralismus aber nicht der gegenteilige

314 Vgl. NoD, 131. 315 Vgl. ebd., 129. 316 Vgl. ebd., 131. Dieses „acceptance model of interreligious relations“ (ebd.) übernimmt Lindbeck von P. Knitter. 317 Vgl. ebd., 137. 318 Ebd., 132. 319 Vgl. ebd., 132: „they lack any common measure acceptable to both“. 320 Vgl. ebd., 136.

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Vorwurf des Relativismus nahe? Diesen will Lindbeck entkräften, indem er auf den Totalitätsbezug der Religionen verweist, der durchaus als ein Kriterium der Entscheidung zwischen ontologisch wahren und falschen Aussagen angelegt werden könne: Die radikal unterschiedenen Perspek‐ tiven der Religionen bezögen sich als umfassende Interpretationsrahmen auf eine gemeinsame Welt. 321 Dieser analoge Totalitätsbezug impliziere trotz ihrer unübersetzbaren internen Wahrheitskriterien einen formalen Rahmen der Auseinandersetzung, der sie zumindest in einer bestimmten Hinsicht vergleichbar mache. 322 Durch das Überlappen (engl. overlapping) ihrer Perspektiven auf die Wirklichkeit sei immer schon eine Basis für den Dialog gelegt und ein Feld des gemeinsamen Interesses abgesteckt. 323 Gerade die postliberale Sensibilität für die Unübersetzbarkeit religiöser Ka‐ tegorien schaffe im Zusammenspiel mit einem universalen Anspruch auf Absorption der Welt eine starke Motivation für interreligiöse Verständi‐ gung und Kooperation, während abstrakt vorausgesetzte Gemeinsamkeit diese eher betäube. 324 Als Kriterium eines Religionsvergleichs lege sich aufgrund der Struk‐ tur des partikularen Universalismus die Assimilationskraft der Religionen nahe – ihre Fähigkeit, bisher fremde Realitäten produktiv zu interpretieren, ohne ihre Identität zu verlieren. 325 Lindbeck entwickelt in diesem Zusam‐ menhang eine typische Abfolge von Bewältigungsschritten, wie eine Reli‐ gion erfolgreich mit der Infragestellung durch vormals unbekannte Phäno‐ menen umgehen kann. 326 Dabei spielt für ihn die Fähigkeit zu religiöser Selbstkritik eine entscheidende Rolle. Erst auf das grundlegende Einge‐ ständnis, noch keine vorgefertigten Antworten (engl. ready-made answers) zu besitzen, könne eine Suche nach passenden Kriterien und Strategien in den eigenen Texten und Traditionen folgen, um auf die Herausforde‐ rung angemessen zu reagieren. Dies führe in der Regel zu Meinungsver‐ schiedenheiten innerhalb der Gemeinschaft, welche Anpassungen mit der Tiefengrammatik des Glaubens vereinbar seien und welche nicht. Führe 321 Vgl. ebd., 132. 322 Vgl. ebd., 136: „opposing claimants to comprehensiveness can be reasonably evaluated against each other despite the absence of universally agreed upon standards of compari‐ sion“. 323 Vgl. ebd., 132. Die radikale Perspektivität einer religiösen Sicht bleibe allerdings unter‐ bestimmt, wenn man abstrahierend annehme, es sei möglich „to view a common world from different angles“ (ebd., 136. Herv. TG). Die Hypostasierung oder Objektivierung der perspektivisch erfassten Wirklichkeit als Welt ist also zu vermeiden. 324 Vgl. ebd., 133. 325 Vgl. ebd., 136: „their ability to assimilate others without losing their own distinctive identity“. 326 Vgl. ebd., 135: „alien realities [...] previously unknown by a given religion“.

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diese Meinungsverschiedenheit zunächst zu Selbstabschließung bestimm‐ ter Gruppen (engl. parochialism), so sei für die Wiedergewinnung eines echten Konsenses (engl. genuine consensus) wiederum ein Element der Selbstkritik erforderlich. 327 Ziel müsse immer eine neue, durch die Zwi‐ schenschritte der Differenzierung und des Dialogs wiedergewonnene Ge‐ meinschaft derer sein, die von der wechselseitigen Selbstabschließung der Konfliktgruppen abkehren und Übereinstimmung in einer möglichst kon‐ sensfähigen, ökumenischen und mit der Tradition vereinbaren Interpreta‐ tion suchen. Durch die Fähigkeit zu einer solchen Verarbeitung kritischer Heraus‐ forderungen kann sich laut Lindbeck eine Religion als anderen praktisch überlegen erweisen – und zugleich lässt sich das Ringen um wechselseitige Assimilation als Motivation für den interreligiösen Dialog nutzen. Ein er‐ folgreicher Dialog habe sich dabei immer an einer Variante von Donald Davidsons „principle of charity“ zu orientieren, also die in höchstem Maße günstige Beschreibung (engl. maximally favorable redescription) der ande‐ ren Position anzustreben und mit der eigenen zu vergleichen. 328 Gelinge es einer Religion, die Stärken anderer Religionen in sich aufzunehmen, ohne eigene Stärken zu verlieren und die eigene Identität zu gefährden, so könne dies als Anzeichen ihrer Überlegenheit gewertet werden, wenn auch die letztgültige Entscheidung des Streits kaum vor dem Eschaton zu erwarten sei. 329 Eine letzte von Lindbeck selbst aufgeworfene Folgefrage ist freilich, ob dieses Akzeptanzmodell des interreligiösen Dialogs nicht eine anspruchs‐ volle, letztlich unrealistische Möglichkeit bleibt, während der religiöse Im‐ perialismus (engl. religious imperialism) eine konkrete und akute Bedro‐ hung darstellt. 330 Im Zusammenhang mit dieser Anfrage sieht sich Lind‐ beck genötigt klarzustellen, dass seine Metapher einer ‚Absorption der Welt‘ in Nature of Doctrine gerade kein imperialistisches Projekt, sondern nur eine umfassende Beschreibung der äußeren Welt mit Hilfe immanen‐

327 Vgl. ebd. 328 Vgl. ebd., 137. 329 Vgl. ebd., 138: „To put it crassly, the religion that can better incorporate strengths from the other without losing its own is the one that wins. Conclusive victories will rarely if ever conclude such competitions before the eschaton“. Lindbeck behauptet, dass auf diese Weise kein externer Maßstab an die einzelnen Religionen angelegt werde. 330 Vgl. ebd., 134–138. Handelt es sich dabei meist nur um ‚epistemologischen‘ (engl. epis‐ temological) Imperialismus, so bestehe doch immer die Gefahr, dass sich dieser mit politischem Imperialismus verbinde oder in diesen umschlage, vgl. ebd., 134. Beispiele sind für Lindbeck der Marxismus-Leninismus, der Islamismus oder der christliche Im‐ perialismus einiger Präsidenten der USA.

Zusammenfassung und Ertrag

ter Kategorien meint, die aus einem bestimmten Textkorpus stammen. 331 Die Vision einer umfassenden Absorption der Welt lasse sich daher als unabschließbare Auslegungsbewegung mit eschatologischer Fluchtlinie be‐ schreiben: „Absorbing the world, in short, need not lead to imperialistic indifference to outside challenges but may rather be a never fully successful struggle within history to see everything, including one’s own religion, in the textually mediated light of what is, for the community, the unsurpassable vision of the whole.“ 332

Die letztgültigen Kriterien seien der jeweiligen Texttradition selbst zu ent‐ nehmen, die aus der Sicht des Glaubens eine privilegierte, aber dennoch erst rudimentäre Perspektive auf das Ganze der Wirklichkeit erschließe. 333 Alle grundlegenden religiösen und theologischen Alternativen lassen sich in Lindbecks Sicht also nur eschatologisch entscheiden. 334 Diese Erkenntnis fordere immer auch zum selbstkritischen Blick auf die eigene Gemeinschaft und Tradition heraus. 335 Auf diese Weise nimmt Lindbeck eine Eschatolo‐ gisierung nicht nur der Heils-, sondern auch der Wahrheitsfrage vor, um den Gefahren eines aggressiven und imperialistischen Exklusivismus ge‐ genzusteuern. 7.3 Zusammenfassung und Ertrag Lindbeck setzt für seine Theorie der Lehre an dem ökumenischen Problem der zwischenkirchlichen Verständigung über die noch kirchentrennende Lehre an. Er greift dabei ein verbreitetes Gefühl ökumenischer Überein‐ stimmung auf, das nur zu einem geringen Ausmaß durch die tatsächlichen Fortschritte bei der Vermittlung sich widersprechender Lehrformulierun‐ gen gedeckt zu sein scheint, und sucht ein Verständnis von Lehrsätzen, das dieser Erfahrung gerecht werden kann. Als zentrale Herausforderung iden‐ 331 Vgl. ebd., 134. Vgl. auch Marshall, Absorbing, 85–90. 332 NoD, 135. Herv. TG. 333 Vgl. ebd.: „Scripture gives privileged though exceedingly rudimentary acces to the ulti‐ mate interpretive framework, God’s Vision of the whole“. 334 Ebd., 133: „To be sure, such generally accepted decisions will not normally be possible in the interreligious realm until the eschaton“. Vgl. auch ebd., 92. Die Eschatologie spielt neben der Wiedergewinnung einer typologischen Bibelhermeneutik für Lindbecks Vi‐ sion einer postmodernen Erneuerung der Kirche somit eine zentrale Rolle, vgl. Ecker‐ storfer, Kirche, 170; 184 f.; 197. 335 Vgl. ebd., 134: „Communal self-criticism is also implied.“; diese kritischen Stimmen können „at a time rise to the level of prophetic denunciations of communal blunders“ (ebd., 135).

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tifiziert er, zwischen der Treue zur jeweiligen religiösen bzw. konfessionel‐ len Identität auf der einen und einer unvermeidlichen Flexibilität in deren konkreter Ausgestaltung auf der anderen Seite zu vermitteln, damit die christlichen Kirchen auf veränderte Lebenswelten eingehen und ökumeni‐ sche Fortschritte erzielen können. Die Probleme des ökumenischen Dialogs verweisen Lindbeck umgehend auf Grundsatzfragen der Religionstheorie und das Problem, wie angesichts schroffer Unüberbietbarkeitsbehauptun‐ gen einzelner Religionen dennoch ein produktiver Dialog der Religionen möglich wird – wobei die Bedeutung dieser interreligiösen Fragestellungen in der nachfolgenden Debatte um Lindbecks Vorschlag noch einmal zuge‐ nommen hat. Für seinen Neuentwurf nimmt Lindbeck eher eklektisch Einsichten aus den Kultur-, Sprach- und Literaturwissenschaften in seine Theorieperspek‐ tive auf, die er als Gegenprogramm zu einer auf anthropologische oder ontologische Letztbegründung zielenden Apologetik konzipiert. Daneben trägt die selektive Aufnahme von Gedanken Wittgensteins zu einer tie‐ fen Skepsis gegenüber Letztbegründungstheorien und einer gesteigerten Aufmerksamkeit auf die ‚Oberfläche‘ des religiösen Sprachgebrauchs bei. Lindbeck will mit dieser Umstellung der außertheologischen Referenz‐ theorien auf eine gesamtkulturelle Situation reagieren, in der nicht nur alle religiösen Geltungsansprüche hinterfragbar geworden sind, sondern auch kein einheitliches philosophisches oder weltanschauliches Funda‐ ment mehr vorausgesetzt werden kann, auf dem ein apologetischer Ver‐ mittlungsversuch aufbauen könnte. In dieser Konstellation schlägt er eine Religionstheorie vor, die „Religionen als gemeinschaftsbildende semioti‐ sche Systeme sieht, die in ihrer Einzigartigkeit aus unübersetzbaren, narra‐ tiv strukturierten und leibhaftig gelebten Gedächtnistraditionen bestehen, welche die Welt der Gläubigen formen“. 336 Charakteristisch und weiterführend erscheint im Rahmen dieser Arbeit erstens, dass Lindbeck seine Behandlung des Lehrproblems konsequent auf die Bedürfnisse gemeinschaftlich praktizierter Religion bezieht: Lehrsätze artikulieren strittig gewordene Grundregeln, die für die Identität einer re‐ ligiösen Gemeinschaft als unverzichtbar betrachtet werden und daher die Anforderungen der Gemeinschaft an treue Anhänger umschreiben sollen. Durchweg zielen seine Überlegungen darauf, die konkrete religiöse Praxis christlicher Gemeinschaften sowie deren Verhältnis untereinander besser zu verstehen und bewusster zu gestalten. Vorbildlich erscheinen Lindbeck in dieser Hinsicht nicht zuletzt Luthers Katechismen. 337 Die Lehre wird

336 Eckerstorfer, Kirche, 162. 337 Vgl. ebd., 143.

Zusammenfassung und Ertrag

so von der Gemeinschaft der Glaubenden her verstanden, wie auch Reli‐ gion immer als gemeinschaftliche Praxis betrachtet wird. Damit tritt das theoretische Problem, einen Überschritt von einer innerlich-individuellen Glaubensgewissheit zu einer nachträglich hinzukommenden Vergemein‐ schaftung theologisch zu rechtfertigen, gar nicht erst auf. 338 Zweitens wird der bleibende Identitätskern der christlichen Religion von Lindbeck in einer beide Testamente der Bibel übergreifenden, in der Jesus‐ geschichte gipfelnden ‚realistischen Erzählung‘ lokalisiert. Die Metapher des Kerns darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine solche core story auf immer neue Erzählung angewiesen und damit eine dynamische Größe ist: die Identität hält sich nicht gegen den Wandel, sondern gerade im Wandel durch. Charakteristisch für Lindbecks von Wittgenstein gepräg‐ ten Zugang ist, dass die Oberfläche der Symbolwelten, Vokabulare, Er‐ zählungen und religiösen Handlungen durchweg gegenüber einer ‚Hinter‐ welt‘ des gemeinten Sinns privilegiert wird. Die kirchliche Lehre expliziert dann grammatische Regeln, nach denen diese Erzählungen weitergegeben und im Leben der Gemeinde mittels je neuer Verschmelzungen mit sich wandelnden Weltbildern fortgeschrieben werden. Die theologische Arbeit besteht wiederum in der entfaltenden Beschreibung teils impliziter, teils of‐ fizieller Regeln, die dadurch übersichtlicher und besser handhabbar werden sollen – nicht in einer Begründung, Ergänzung oder Kritik dieser Regeln. Dabei unterscheidet Lindbeck zwischen Aussagen erster Ordnung, die im religiösen Vollzug selbst ihren Ort haben und mit denen ein ontologischer Wahrheitsanspruch verbunden wird, und abgeleiteten Aussagen zweiter Ordnung, wie kirchliche Lehre und Theologie sie formulieren. Drittens ermöglicht Lindbeck der besondere Lehrsatztyp des Paradig‐ mas, eine geschichtliche Dynamik der Lehranwendung und -fortschreibung mit dem Anspruch unbedingt verbindlicher Lehrformulierungen zu verein‐ baren. Ein solches Lehrparadigma veranschaulicht invariante, aber nur in Einzelfällen abstrakt formulierbare Regeln, die der Grammatik des Glau‐ bens zugehören und für die Formulierung von Glaubensaussagen verbind‐ lich bleiben, ohne diesen dauerhaften und unbedingten Geltungsanspruch auch für die eigene Sprachgestalt und Begrifflichkeit erheben zu müssen. Wo sie nicht zum biblisch-kanonischen Grundvokabular gehören, können diese Begriffe vielmehr als Platzhalter betrachtet werden, so dass die Ver‐ schmelzung der grammatisch-syntaktischen Regel mit neuen Sprachwelten geradezu gefordert wird. Als Paradigmen dieser Art funktionieren viertens bei Lindbeck auch die biblischen Erzählungen. Mit dem Programm einer Absorption der Welt

338 Zu diesem Problem vgl. prägnant Laube, Unterscheidung, 17.

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in den Text kann Lindbeck den Anspruch der traditionellen Schriftlehre und der typologischen Methode reformulieren, ohne hinter die Einsicht in den literarischen Charakter und die historische Bedingtheit der bibli‐ schen Texte zurückzufallen. Er weist die Dogmatik als Reflexion über die Regeln der Grammatik dieser biblischen Grunderzählung sehr eng an den Text der Bibel, was insbesondere auch die produktive Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlichen Zugängen in der Exegese ermöglicht. 339 Der tatsächliche Gebrauch, den die Theologie von biblischen Texten macht, erscheint damit als eigenständiges, möglicherweise kritisch wirksames Ge‐ genstück zu ihren offiziell-lehrhaften Festlegungen hinsichtlich der Heili‐ gen Schrift als Norm und Erkenntnisquelle. 340 Nicht zuletzt mit Blick auf die kirchliche Praxis der Verkündigung und Unterweisung erscheint dieser pragmatisch-theologische Zugang weiterführend. Insbesondere in der deutschsprachigen, aber auch in der nordamerikani‐ schen Theologie hat Lindbecks Vorschlag allerdings auch heftige Kritik auf sich gezogen. Diese hat unter anderem damit zu tun, dass die Lehre der Kir‐ che bei Lindbeck – durchaus nicht unbeabsichtigt! – ihren direkten Bezug auf eine außersprachliche, oder präziser: von der Praxis religiöser Vollzüge abgelöste Realität verliert. Eine solche Referenz erscheint Lindbeck auch unter Berufung auf Luther schlicht als verzichtbar. 341 Eilert Herms und viele weitere Kritiker werfen Lindbeck daher vor, dass bei ihm die Lehre zur Regel eines kirchlichen Sprachspiels werde, das „selber keinen Gegen‐ stand, sondern nur noch einen Zweck hat“, nämlich die „eigene Erhal‐ tung“. 342 Herms sieht hier einen philosophischen „Wahrheitsskeptizismus“ am Werk, der dem an der persönlichen Wahrheitsgewissheit orientierten christlichen Lehrverständnis direkt entgegengesetzt sei. 343 Dieser Vorwurf des Wahrheitsskeptizismus greift allerdings zu kurz, weil Lindbeck den Wahrheitsanspruch der gelebten christlichen Religion als ‚Gesamtproposition‘, die der Wirklichkeit angemessen zu sein bean‐ sprucht, gerade nicht negiert und auch die Möglichkeit religiöser Wahr‐ 339 Für eine Typologie literaturwissenschaftlicher Zugänge vgl. Frei, Narrative. Als ein klas‐ sisches Beispiel dieser Strömung exegetischer Forschung vgl. Alter, Art. 340 Für solche Fragestellungen steht etwa die bereits für Lindbeck prägende Studie David H. Kelseys zum Schriftgebrauch, deren Herangehensweise seither viele weitere Arbeiten inspiriert hat, vgl. Kelsey, Doctrine. Die nicht allein theologiegeschichtliche Fruchtbar‐ keit einer Untersuchung der Schriftautorität „im Gebrauch“ hat jüngst beispielsweise die Arbeit von Alexander Kupsch am Beispiel Luthers unter Beweis gestellt, vgl. Kupsch, Gebrauch, 1–8; 392–408. 341 Vgl. Luthers Bemerkung im Großen Katechismus: „allein das trauen und gleuben des hertzens macht beide, Gott und Abgott“ (BSELK, 930, Z. 16f). 342 Herms, Art. Lehre, 201. 343 Ebd.

Zusammenfassung und Ertrag

heitsbehauptungen nicht bestreitet. Können die einzelnen Lehrsätze diese Perspektive zufolge nicht sinnvoll mit einer von den christlichen Kate‐ gorien unabhängigen Welt abgeglichen werden, kann das gesamte, in die christliche Lebensform eingelassene Kategoriensystem sehr wohl daran ge‐ messen werden, ob es die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit erlaubt, also beispielsweise auch in der Lage ist, produktiv auf immer neue Her‐ ausforderungen zu reagieren und diese zu ‚assimilieren‘. Auch der Befund, dass Lindbeck sich intensiv auf theologische Autoritäten wie Athanasius, Thomas von Aquin, Luther und Karl Barth beruft, während die Aufnahme philosophischer Gedanken eher selektiv und eklektisch erfolgt, lässt den Vorwurf einer einseitigen Anpassung an die philosophischen Diskurse der Postmoderne fragwürdig erscheinen. Allerdings klammert Lindbeck die Wahrheitsansprüche erster Ordnung programmatisch aus seiner Unter‐ suchung und letztlich aus der theologischen Reflexion aus, indem er sie an einen praktischen Wettstreit der Religionen übergibt. Dass er damit das christliche Verständnis von Lehre preisgegeben habe, ist nur dann zu konstatieren, wenn man – mit Herms – die christliche Lehre als die Aus‐ sageform versteht, mittels derer sich der Glaube bei seinem Charakter als Wahrheitsbewusstsein behaftet. Lindbeck überantwortet die Theologie folglich nicht einfach der postmo‐ dernen Philosophie, doch will er mit seinen Vorschlägen die Dogmatik für kulturwissenschaftliche, 344 soziologische und dabei nicht zuletzt auch ge‐ nuin empirische Fragestellungen öffnen. Unabhängig davon, ob man seine Vorschläge zur empirischen Identifikation der Geistbegabten für überzeu‐ gend hält, kann Lindbeck doch den notorisch wolkigen Reflexionsbegriff eines sensus fidelium durch ein Verständnis als religiöse Sprachkompetenz erden, die bis zu einem gewissen Grad auch methodisch zu erheben und praktisch zu befördern ist. Die Frage, welcher Bestand der Lehre tatsäch‐ lich gilt und wo die Grenzen ihrer Veränderlichkeit liegen, wird durch die Befragung kompetent Praktizierender zumindest in Ansätzen empirisch überprüfbar. Die schriftlichen Dokumente einer Religion verlieren dabei gegenüber der gelebten Frömmigkeit und liturgischen Praxis an Bedeutung, wobei Lindbeck durch die Orientierung am gewöhnlichen, alltagstaugli‐ chen Sprachgebrauch zugleich eine reine Virtuosentheorie vermeiden will. Treten mit dieser methodisch gemischten Herangehensweise auch neue theoretische wie praktische Herausforderungen auf, lässt sich doch eine dogmatistische Normierung der gelebten Religion durch eine privilegierte Lehrinstanz oder von den offiziellen Lehrdokumenten aus vermeiden –

344 Für eine produktive Fortführung dieser Öffnungsbewegungen hin zur Kulturtheorie vgl. etwa Tanner, Theories.

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ohne, dass der normative Anspruch der Lehre völlig preisgegeben würde. Die flexible ‚Normativität des Faktischen‘, die laut Lindbeck der kirchlichen Lehre eignet, lässt sich als Grammatik empirisch aus dem gemeinschaft‐ lichen Sprachgebrauch erheben, dogmatisch zur Darstellung bringen und praktisch am Urteil der religiös Praktizierenden überprüfen. Mit Blick auf weitere Kritikpunkte ist sodann zu beachten, welchen grundsätzlich begrenzten Status Lindbeck seiner Untersuchung zugemes‐ sen hat: Sie sollte die theoretische Möglichkeit, religiös-theologische Zu‐ lässigkeit und praktische Anwendbarkeit einer kulturwissenschaftlich-lin‐ guistischen Herangehensweise in der Lehrtheorie plausibel machen, aber nicht selbst den Beweis für deren Überlegenheit oder gar Alternativlosigkeit führen. Es handelt sich um eine Vorstudie – der freilich eine umfassende materielle Durchführung des Programms in Form einer ökumenischen Dogmatik nie gefolgt ist. Dies wiederum verweist möglicherweise auf in‐ härente Schwierigkeiten des Vorschlags. Wo deuten sich nun die Grenze dieser Herangehensweise an? Erstens leistet Lindbeck bestenfalls in Ansätzen eine theologische Be‐ gründung seiner Theorie auf dem Boden der biblischen Überlieferung und der lutherischen Bekenntnistradition. 345 Weshalb kommt es dazu, dass Christinnen und Christen eine bestimmte Erzählung als definitive Kund‐ gabe über Gott und Medium der Übereinstimmung mit der letzten Wirk‐ lichkeit des göttlichen Willens gilt? Was ist darin über Gott selbst ausge‐ drückt und wie verhält sich der so gewonnene Gottesbegriff wiederum zur Weitergabe dieser Erzählung? Welche bleibenden Institutionen der Ver‐ mittlung sind aus der Grundgeschichte selbst abzuleiten, so dass es sich nicht nur um pragmatische Einrichtungen, sondern um Kernvollzüge der Kirche handelt? Viele dieser Fragen dürfte Lindbeck als spekulativ und unfruchtbar zurückweisen, auch weil sie auf der Ebene der kirchlichen Praxis oft schon faktisch beantwortet scheinen. Aber es spricht einiges da‐ für, dass die christliche Frömmigkeit oder zumindest bestimmte Typen der Frömmigkeit an solchen Fragen ein großes Interesse haben. Die deskriptive Zurückhaltung, die Lindbeck seiner Lehrtheorie auferlegt, dürfte in dem Moment zu bröckeln beginnen, in dem unter kompetent Praktizierenden einer Religion tatsächlich strittig wird, warum die religiöse Sprache sich verbindlich an dieser oder jener grammatischen Regelung ausrichten soll. Zweitens stellt sich die Frage, ob Lindbeck die Entflechtung zweier Ebe‐ nen von Wahrheitsansprüchen – ontologisch und intrasystemisch – tat‐ 345 Vgl. auch Eckerstorfer, Kirche, 356. Ob diese theologische Begründung aber schöp‐ fungstheologisch erfolgen, das Lehramt einzeichnen und eine Neubewertung der Ver‐ nunft im katholischen Sinne nach sich ziehen muss, wäre aus lutherischer Perspektive zu hinterfragen.

Zusammenfassung und Ertrag

sächlich gelingt. 346 Es erscheint nämlich zumindest sehr unintuitiv und nicht unmittelbar verständlich, wie beispielsweise ein Lehrparadigma on‐ tologisch falsch sein, aber dennoch die Veranschaulichung einer Regel leis‐ ten soll, die wiederum zur Formulierung von möglicherweise begründeten ontologischen Wahrheitsansprüchen unverzichtbar ist. Ein umfassendes Kohärenzideal, wie es dem Wahrheitsbegriff wohl auch nach Lindbeck ein‐ geschrieben ist, erlaubt solche Differenzierungen eigentlich nicht. Beden‐ kenswert allerdings ist der Hinweis darauf, dass über die Wahrheitsansprü‐ che verschiedener Religionen nicht auf der Ebene einzelner Behauptungen entschieden werden kann, sondern nur hinsichtlich der Angemessenheit ihres umfassenden Kategorienrahmens an das Ganze der Wirklichkeit – beziehungsweise mit C. Geertz gesprochen: das ‚wirklich Wirkliche‘. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der „realistischen Erzählung“ (engl. realistic narrative) genauer zu betrachten. Offensichtlich ist, dass Lindbeck damit subjektivistischen oder ästhetisierenden Versuchen ent‐ gegenwirken will, mit einer narrativen Grundlegung der Theologie deren Gegenstandsbezug ganz zu tilgen und der produktiven Deutungsleistung des Individuums völlig freie Hand zu lassen. Vielmehr will er dem Selbst‐ verständnis des religiösen Bewusstseins darin entsprechen, sich auf das Gegenüber einer eigenständigen und vorgegebenen Wirklichkeit bezogen zu wissen und von dieser her einen die Willkür begrenzenden Spielraum sachgemäßer Auslegung zu erhalten. Trotzdem erscheint diese pragma‐ tisch-hemdsärmelige Begriffsschöpfung eher als offene Problemanzeige: li‐ teraturtheoretisch unterbestimmt, exegetisch mit Blick auf viele Texte der Bibel kaum zu halten sowie philosophisch hinsichtlich des implizierten Wirklichkeitsbegriffs unklar. Eine zentrale Anfrage bleibt drittens, wie in dieser normativen Regel‐ theorie mit ihrer starken Betonung auf der gemeinschaftlichen Einübung und dem Konsens der kompetent Praktizierenden ein kritisches Korrektiv gegenüber der Gemeinschaft und Versuchen der heteronomen Indoktrina‐ tion gedacht werden kann. 347 Lässt sich die Unterscheidung von privatem Glauben und öffentlicher Religion hier noch angemessen berücksichtigen oder soll diese gerade eingezogen werden? Überzeugend ist die Zurück‐ weisung aller Versuche, die Religion auf eine allgemein-anthropologische Tiefenerfahrung zu gründen, die schon aufgrund ihrer Abstraktheit kaum

346 Vgl. hier die vom Anspruch der Christologie und Trinitätslehre ausgehende Kritik bei Robert W. Jenson, Jenson, Theology, Bd. 1, 18–20; vgl. bes. ebd., 19, Anm. 45. 347 Vgl. hier auch die Kritik Hans W. Freis an einer normativ allein innerhalb der Christian self-description verbleibenden Religionsphilosophie: Frei, Types, 46–55. Es ist zu fragen, ob es Lindbeck tatsächlich gelingt, die von Frei markierten problematischen Konsequen‐ zen zu vermeiden.

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als kritisches Korrektiv einzelner Erscheinungsformen der Religion wirken könnte. Aber wo kann dann von Einzelnen ein ‚entdogmatisierendes‘ oder ‚antiautoritäres‘ Potential gegenüber der Gemeinschaft und ihrer Tradition geltend gemacht werden? Gibt es einen religiösen Gewissensschutz und wie lässt sich dieser theologisch begründen? Die Bibel scheint als kritische Instanz hier nur bedingt geeignet, da laut Lindbeck ja deren authenti‐ sche Auslegung in die gemeinschaftliche Praxis eingebettet bleiben muss. 348 Schließlich fällt aber auch die Theologie weitgehend aus, die als deskriptive Tätigkeit zweiter Ordnung von den religiösen Vollzügen abkünftig bleibt. Immerhin hat Lindbeck – wie Eckerstorfer zeigen kann – in späteren Schriften die Korrektivfunktion der theologischen Reflexion gegenüber der religiösen Praxis zunehmend stärker herausgearbeitet. 349 Der Ansatz ei‐ nes solchen Korrektivs scheint darüber hinaus in einer pneumatologischen Figur auf, deren mögliches Potential allerdings nicht genauer ausgelotet wird. Lindbeck merkt an einer Stelle an, dass er es für notwendig hält, die Formulierung und Entwicklung der Dogmen in einer unpersönlichen und nicht-intentionalen Weise zu beschreiben, um dem Schein entgegen‐ zuwirken, als hätten diese Prozesse einen gemeinsamen Willen ‚der‘ Kirche zur Ursache. 350 Empirisch, so Lindbeck, werde die Entwicklung der Lehre nicht durch die positiven Anliegen eines Kollektivs (engl. positive collective desires), sondern vielmehr indirekt durch die Vermeidung kognitiver Dis‐ sonanz (engl. avoidance of cognitive dissonance) vorangetrieben. 351 Wenn also jeder hypostasierte Gesamtwille der Kirche ausgeschlossen werden soll, legt sich eine Theorie des dialektischen Zusammenwirkens pluraler Einzel‐ willen nahe. Und damit es zur Herausbildung verschiedener Alternativen kommen kann, müsste dann zumindest ein gewisses Maß an individueller Abweichung von der erst im Nachhinein sichtbaren Entwicklungslinie ein‐ geräumt werden. In eine ähnliche Richtung weist nicht zuletzt das Ideal der ‚flexiblen‘ Frömmigkeit, die laut Lindbeck das Produkt intensiver religiöser Praxis und das entscheidende Kennzeichen religiöser Kompetenz ist. Doch all diese weiterführenden Gedanken zum religiösen Recht des Individuums bleiben in The Nature of Doctrine bestenfalls angedeutet – wohl auch, weil 348 Vgl. Eckerstorfer, Kirche, 178. 349 Vgl. ebd., 145–147. Dennoch bleibt es bei einem abgeleiteten Status dieser Reflexion: „Kritische Dimensionen der Theologie werden hierbei nicht ausgespart, sondern auf ihren naturgemäß sekundären Charakter verwiesen“ (ebd., 148). 350 Metaphorischen Aussagen, welche die Kirche als handelndes Subjekt beschreiben, „can be given an acceptable construal, but as it stands, it is too vague to suggest any histori‐ cally testable hypotheses, and when combined with such terms as ‚aim‘ and ‚objective,‘ it has the defect of suggesting some kind of collective purpose. A more impersonal termi‐ nology is needed.“ (NoD, 95, Anm. 10). 351 Vgl. ebd., 96, Anm. 10.

Zusammenfassung und Ertrag

sie den zentralen Anliegen Lindbecks nicht unbedingt zuträglich sind: Ihm geht es in seiner Argumentation um eine ökumenische Verständigung auf der kollektiven Ebene der Konfessionen, eine selbstbewusste Minderhei‐ tenposition christlicher Gemeinschaften und damit gerade ein religiöses Widerlager gegen den übersteigerten und chaotischen Individualismus sei‐ ner Gegenwart. 352

352 Vgl. Eckerstorfer, Kirche, 190. Zur zunehmend scharfen Liberalismuskritik Lind‐ becks, die zugleich immer auch Kritik an traditionalistischen Projekten der Repristina‐ tion vorliberaler Theologie mitführt, vgl. ebd., 163–166.

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8 Lebensraum des Glaubens und Richtschnur der Verkündigung Auf der Grundlage der vorangegangenen Studien erfolgt nun der Entwurf einer zusammenhängenden Antwort auf die einzelnen Aspekte des Lehr‐ problems (siehe oben unter 1.2.4). Dazu sind die weiterführenden Unter‐ scheidungen und Teilantworten auf einzelne Problemaspekte, die im Rah‐ men dieser Arbeit hinsichtlich des Lehrbegriffs gewonnen wurden, zusam‐ menzuführen. Es handelt sich um die exemplarische Bilanz dessen, was sich der Verfasser dieser Arbeit im Durchgang durch die Beschäftigung mit den dargestellten Einzelpositionen zum Lehrproblem erarbeitet hat. Angestrebt wird im Folgenden eine dogmatisch-theologische Gesamtinterpretation, die den Lehrbegriff nicht nur als hilfreiche Reflexions- und Beschreibungskate‐ gorie würdigt, sondern seine Bedeutung auch aus dem Selbstverständnis ei‐ ner reformatorisch-lutherischen Frömmigkeit heraus plausibilisiert. Da der Anweg aber von den allgemeinen Bedingungen religiöser Praxis her erfolgt, wird diese theologische Interpretationsperspektive zunehmend deutlicher werden, wobei sie implizit schon von Anfang an leitend ist. Der Anspruch ist, so die grundlegenden Bestimmungen des lutherischen Lehrverständnisses, wie sie aus den lutherischen Bekenntnisschriften sowie den theologischen Konzeptionen Philipp Melanchthons und Johann Con‐ rad Dannhauers erhoben wurden, für die Gegenwart zu aktualisieren. Dies soll in enger Auseinandersetzung mit den ethnographischen und soziologi‐ schen Perspektiven auf Religion und insbesondere das Phänomen religiöser Lehre erfolgen, die im zweiten Kapitel anhand von Texten Clifford Geertz’ und Pierre Bourdieus erarbeitet wurden. Ferner sind die seit der Aufklä‐ rungstheologie erarbeiteten Unterscheidungen des ersten Kapitels sowie die grundlegende Kritik der Wort-Gottes-Theologie an vergegenständli‐ chenden Aussageformen zu beachten. Die Beiträge von Eilert Herms und George A. Lindbeck schließlich dienen für diesen Versuch als Inspiration und ständige Gesprächspartner. Darüber hinaus wird in geringem Maße auch weitere Literatur hinzugezogen. 1 Zunächst bietet sich an, religionstheoretisch vom Symbolsystem der christlichen Religion auszugehen (8.1). Ein solches Symbolsystem bean‐ sprucht, die Welt in der religiösen Perspektive des schlechthin Bedeuten‐ den oder ‚wirklich Wirklichen‘ umfassend zu erschließen. Aufgrund dieses 1

Die zahlreichen Querverweise zu früheren Kapiteln wurden für die Veröffentlichung größtenteils getilgt, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Das ausführliche Sachregister im Anhang sollte Leserinnen und Lesern ermöglichen, bei Interesse die Verknüpfungen und Linien innerhalb dieses Buches anhand einzelner Stichworte nachzuvollziehen.

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Lebensraum des Glaubens und Richtschnur der Verkündigung

Welterschließungsanspruchs ist ein religiöses Symbolsystems darauf ange‐ legt und zu seinem Fortbestehen auch darauf angewiesen, als Lehre in einem weiten Sinn artikuliert und kommuniziert zu werden. In einem nächsten Schritt werden diese Lehrartikulationen wiederum in ihrem Verhältnis zur Herausbildung religiöser Institutionen der Lehrvermittlung und Lehrpflege betrachtet, womit der Blick auf die kirchlich geltende Lehre fokussiert wird (8.2). Auf diese beiden Ebenen des Lehrbegriffs, die doch aufeinander auf‐ bauen und ein Kontinuum bilden, zielen die zwei Begriffe, mit denen das Schlusskapitel überschrieben ist: Lebensraum und Richtschnur. Zwischen diesen Ebenen vermitteln Vorgänge der offizialisierenden Darstellung und kirchlichen Rezeption, die aus der Lehrdimension christlicher Frömmigkeit die geltende Lehre einer Kirche machen, sowie Vorgänge der Habitualisie‐ rung und Aneignung, die diese kirchliche Lehre wiederum am Ort der In‐ dividuen verankern. Die Reflexion dieser Prozesse, die faktisch immer mit den Macht- und Verteilungskämpfen eines kirchlich-theologischen Kon‐ fliktfeldes verflochten sind, wird hier als Aufgabe der theologischen Unter‐ disziplin der Dogmatik beschrieben (8.3). Schließlich wird der Lehrbegriff noch einmal theologisch mit den Problemen der diachronen Lehrentwick‐ lung sowie der synchronen Pluralität konkurrierender Lehren konfrontiert, was die dogmatische Theorie der Lehre in einen pneumatologischen und eschatologischen Horizont einzeichnet (8.4). 8.1 Der Glaube im Raum der Lehre Mit Clifford Geertz, Pierre Bourdieu und George A. Lindbeck ist die christ‐ liche Religion formal als ein Symbolsystem zu verstehen, das in verschiede‐ nen Konfessionen hinsichtlich seiner Elemente und Verknüpfungen vari‐ iert, ohne dass eine grundlegende morphologische Ähnlichkeit des Christli‐ chen verloren geht. Elemente dieses Symbolsystems sind etwa Rituale, Riten und Liturgien, ikonographische Codes und musikalische Motive, Kleider und Gesten, Metaphern und Vorstellungskomplexe, biblische und außer‐ biblische Erzählungen, Namen, Formeln und Begriffe. 2 Die Integration dieser Elemente ist sinnbasiert und syntaktisch – sie sind nicht über Kausa‐ litätsbeziehungen oder formal-logische Ableitungsverhältnisse verbunden, sondern werden durch meist implizite, quasi-grammatische Regeln ver‐ knüpft, was sie in diesem Rahmen auch relativ frei kombinierbar macht. Erst aus diesen Beziehungen und Kombinationsmöglichkeiten erhalten ein‐

2

Als ein instruktives Beispiel dafür, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang der Klei‐ dung zukommen kann, vgl. Kaufmann, Filzhut, 281–294.

Der Glaube im Raum der Lehre

zelne Elemente ihre jeweilige Bedeutung. 3 Vermittelt wird dieses System durch Sozialisations-, Initiations- und Unterweisungsvollzüge, die oft fa‐ miliär verankert sind, gemeinschaftlich gepflegt und dabei doch immer individuell gestaltet werden. 4 Eine besondere Rolle für die Vermittlung spielen dabei – mit Clifford Geertz und Pierre Bourdieu – öffentliche oder zumindest gemeinschaftlich begangene Rituale, in denen die Übereinstimmung von Alltagswelt und Symbolwelt performativ zur Darstellung gebracht wird. Die Gesamtheit des christlichen Symbolsystems, bei der immer die Zusammengehörigkeit von Körperpraktiken, Bildern und Sprachformen mitzuführen und daher eine kognitivistische Engführung strikt zu vermeiden ist, bestimmt den ‚seman‐ tischen‘ Inhaltsbezug des Glaubens. 5 8.1.1 Religion als Umgang mit Symbolsystemen Die symbolisch strukturierte Interpretationsperspektive der Religion erfüllt für die Einzelnen eine hermeneutische Erschließungsfunktion hinsichtlich der Wirklichkeit. Sie erschließt denen, die mit ihr vertraut sind, das Ganze dieser Wirklichkeit sowie einzelne Teilaspekte in einer bestimmten, nicht weiter reduzierbaren, symbolisch vermittelten Perspektive. Als religiöses System spiegelt dieses Gewebe von Symbolen für Christinnen und Christen die letzte Wahrheit über die Wirklichkeit, die schlechthin wirkliche und alles bestimmende Wirklichkeit – deren Bild mit der Alltagsauffassung des common sense nicht übereinstimmen muss, aber die doch gerade in diesem Alltag zu ihrem Recht kommen soll. 6 Die Übereinstimmung des abhän‐ gigen Geschöpfes mit dieser alles bestimmenden Wirklichkeit, also dem göttlichen Willen, soll im menschlichen Leben individuelle Gestalt gewin‐ nen und verheißt dabei schon jetzt einen Vorgeschmack auf das erhoffte Heil, ohne diesen – so ein reformatorischer Vorbehalt – in irgend einer Weise zu verdienen oder selbst hervorzubringen. Es ist hier noch einmal explizit darauf hinzuweisen, dass diese religiös begehbare letzte Wirklich‐ 3

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Dies stellt etwa Johann Anselm Steiger am Beispiel der Theologie Luthers dar, vgl. Stei‐ ger, communicatio idiomatum, 20 f. Auf diesen umfassenden Zusammenhang der Heils‐ wahrheit und die ihr innewohnende Dynamik weist auch Karl Rahner hin, der dabei allerdings mit seinem Begriff der Glaubenslehre auf der kognitiven Ebene verbleibt, vgl. Rahner, Häresie, 550–553. Hier ist freilich ein offener Familienbegriff anzulegen, der keine eindeutigen Aussagen über die Größe, rechtliche Beschaffenheit und interne Gliederung eines solchen Kernver‐ bands impliziert. Für den hier verwendeten Begriff von Semantik siehe oben, 465. Zum Begriff der alles bestimmenden Wirklichkeit vgl. Bultmann, Sinn, 28–30. Vgl. auch Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 304–307.

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keit sich von der nur scheinbar unmittelbar gegebenen Wirklichkeit, wie sie die Alltagseinstellung des common sense voraussetzt, unterscheidet und auch radikal kritisch zu dieser verhalten kann. Als erschließendes Modell letzter Wirklichkeit und orientierendes Modell für die Übereinstimmung mit dieser Wirklichkeit impliziert ein religiöses Symbolsystem immer schon einen gewissen überpersönlichen und situa‐ tionsunabhängigen Regelcharakter religiöser Aussagen. Denn keine rein situative und individuelle Auffassung von etwas als etwas könnte überzeu‐ gend eine entsprechende Letztgeltung hinsichtlich der Wirklichkeit bean‐ spruchen oder das Leben stetig auf ein absolutes Ziel ausrichten. 7 Wann immer Christinnen und Christen ihr religiöses Symbolsystem unter diesem Regelaspekt in den Blick nehmen und sprachlich zum Ausdruck bringen, bilden diese Ausdrucksformen in einem weiten Sinne ein Lehrsystem: die doctrina christiana der fides quae creditur. 8 Definition: Christliche Lehre ist die sprachliche Artikulation von stetigen Beziehun‐ gen innerhalb eines christlich-religiösen Symbolsystems, die auf überindividuelle Nachvollziehbarkeit, möglichst allgemeines Einverständnis und gemeinschaftliche Einstimmung zielt.

In der Sprachhandlung, mittels derer diese christliche Lehre artikuliert wird, spricht sich gerade keine neutral-distanzierte und persönlich unenga‐ gierte „Zuschauertheologie“, sondern eine in hohem Maße engagierte und darin persönliche Vernunft aus. 9 Jede artikulierte Einzellehre führt den Bezug auf einen ganzheitlichen Aussagezusammenhang mit, der mit dem Lebenszusammenhang christlicher Existenz sowie dem darin inkarnierten christlichen Symbolsystem nicht einfach identisch ist, sondern dieses im‐ 7

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Dies bringt auch Herms mit seiner These zum Ausdruck, dass sich der Glaube in der Lehre bei seinem Charakter als gegenwärtiges Wahrheitsbewusstsein behaftet, siehe oben unter 6.6.1 und 6.6.2. Allerdings verbindet er dies im Unterschied zu der hier vorgeschlagene Konzeption mit einem voraussetzungsreichen Gewissheitsbegriff und einem kognitivisti‐ schen Wahrheitsverständnis. Wird etwa aus Sorge vor dem Aufeinanderprallen solcher Wahrheitsansprüche gefordert, Glaubensaussagen nur als persönliche Überzeugung zur Sprache zu bringen, bedeutet dies eine nachträgliche Einschränkung des umfassenden Anspruchs, der auch Artikula‐ tionen des christlichen Glaubens als religiösen Aussagen inhärent ist. Genau gegenläu‐ fig dazu erscheint die reformatorische Forderung, dass es in Glaubensdingen nicht bei dieser allgemeinen Wahrheitsbehauptung bleiben darf, sondern diese Einsicht in ihrem pro-me-Bezug zu durchschauen, affirmativ auf den eigenen Fall anzuwenden und per‐ sönlich zu verantworten ist. Die subjektivistische Einschränkung religiöser Wahrheits‐ ansprüche auf individuelle Überzeugungen sollte daher nicht mit dem reformatorischen Insistieren auf einer persönlichen Aneignung der Lehre verwechselt oder vermischt wer‐ den. Vgl. dazu auch Körtner, Dogmatik, 9.

Der Glaube im Raum der Lehre

mer auf situationsbezogene, perspektivische, damit geschichtliche und kei‐ nesfalls interesselose Weise zur Darstellung bringt. Dennoch ist Lehre der Anspruch inhärent, diese geschichtliche Partikularität ihrer Artikulations‐ bedingungen auf Allgemeinheit hin zu öffnen und möglichst zu überschrei‐ ten. Nur durch eine solche Artikulation als Lehre oder auch umfassendes Lehrsystem lassen sich die christlich-religiöse Wahrnehmungsperspektive sowie der praktische Umgang mit ihren Symbolen vermitteln und überlie‐ fern, einüben und habitualisieren. Durch schlichte lebensmäßige Vertraut‐ heit, aber auch durch verschiedene Lehr-Lern-Vollzüge der Unterweisung und zielgerichteten Pädagogik lässt sich eine grundlegende Kompetenz im Umgang mit diesem Symbolsystem und ihrer Verknüpfung erreichen. 10 Diese religiöse Elementarkompetenz kann in einem zweiten Schritt in Rich‐ tung einer mündigen und Anderen gegenüber auskunftsfähigen basalen Lehrkompetenz vertieft werden. 11 Diese Stufe religiöser Mündigkeit wie‐ derum lässt sich entwickeln bis hin zu einer weitgehend intuitiven Sicher‐ heit im Umgang mit der Lehre, wie sie für eine ausgezeichnete Position innerhalb der Gemeinde oder auch für die Anerkennung als religiöser Autorität befähigt – ein praktischer theologischer Habitus. Sind diese Bil‐ dungsunterschiede auch nicht heilsrelevant, ist der Frömmigkeit doch das innere Ziel einer fortschreitenden Entwicklung der religiösen Kompetenz eingeschrieben. Das Symbolsystem der christlichen Lehre, seine inneren Zusammen‐ hänge und seine mehr oder weniger kompetente Anwendung auf verschie‐ dene Situationen lassen sich – mit mehr oder weniger Aufwand – auch mit‐ tels einer distanzierten, aber ‚dichten‘ Beschreibung darstellen und nach‐ vollziehen. Auch religiöse und theologische Kompetenz sind zumindest bis zu einem gewissen Grad der empirischen Untersuchung und einer nicht‐ theologischen Beschreibung zugänglich. 12 Bis zu diesem Punkt konvergie‐ ren somit theologische und außertheologische Beschreibungen christlicher Religion – zumindest wenn letztere der Innenperspektive der religiös Prak‐ tizierenden Rechnung tragen. Und bis zu diesem Punkt reichen auch die Möglichkeiten kirchlicher Reproduktionsinstitutionen – Erziehung, Un‐ terweisung, Unterricht –, die keinesfalls den Glauben hervorbringen, aber

10 Dem diente im Luthertum traditionell das Programm einer Elementarunterweisung, das mit dem Kleinen Katechismus verbunden ist, siehe exemplarisch oben unter 3.3.1 (Lu‐ ther) und 4.1.2. c) (Dannhauer). Vgl. auch Kaufmann, Bekenntnis, 294–301. 11 Diese Mündigkeit ist etwa bei Dannhauer Ziel der Unterweisung im Kleinen Katechismus, aber zugleich auf weitere Vertiefung durch den Großen Katechismus angelegt. 12 Darauf weisen etwa Lindbecks Überlegungen zum sensus fidelium hin, siehe oben, 570–572.

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dennoch eine praktische Vertrautheit mit dem christlichen Lehrsystem so‐ wie kognitives Wissen über seine Zusammenhänge und Grammatik ver‐ mitteln können. Daher kann eine Theorie der christlichen Lehre in diesem weiten Sinn möglicherweise einen Beitrag zur Selbstklärung religionsdidak‐ tischer und -pädagogischer Konzepte hinsichtlich ihrer Zielsetzung sowie zu ihrer Begründung leisten. Gegen allein am Subjekt und dessen vorgän‐ giger Erfahrung orientierten Konzeptionen ist jedenfalls herauszustellen, dass sich religiöse Symbolsysteme, wie sie auch die christliche Lehre ar‐ tikuliert, als strukturierende Strukturen erfahrungskonstitutiv auswirken. Sie erschließen Menschen allererst die entsprechenden Erfahrungen mit der Wirklichkeit, statt sekundäre Ausdrucksgestalt subjektiver Erfahrungen oder Summe individueller Deutungsakte zu sein. 8.1.2 Der Glaube an Gott und das Medium der Lehre Von dieser habitualisierbaren Kompetenz im Umgang mit dem christlichen Symbolsystem strikt zu unterscheiden, aber zugleich unlöslich auf dieses und seine lehrmäßigen Artikulationsformen bezogen, ist der individuelle und schlechthin persönliche Glaube. Die Einsicht in die Unverfügbarkeit der Offenbarung und die äußerliche Unerkennbarkeit des wahren Glaubens verbieten es zumindest der evangelischen Theologie, den Glauben als Wir‐ kung der Lehre selbst oder auch als Ergebnis einer individuellen Entschei‐ dung für die als schlüssig angesehene Lehre zu verstehen. 13 Dass der Glaube schlechthin persönlich ist, bedeutet zugleich dessen Entzogenheit für jede beschreibende Außenperspektive. 14 Der Glaube, der sich persönlich zur christlichen Lehre verhält, kann auf keine Weise als beschreibbare und ab‐ lesbare Größe gegeben sein, so dass nicht-theologische Rekonstruktionen ihn entweder methodisch ausblenden (Geertz) oder auf sozio-psychologi‐ sche Mechanismen der Konditionierung reduzieren (Bourdieu) müssen. 15 Wie verhalten sich dann aber Glaube und Lehre zueinander? Für den Glauben und im Glauben bewährt ein als Lehre artikuliertes Symbolsys‐ tem seine wirklichkeitserschließende Kraft, durch den Glauben wird die

13 Ist diese Betonung der Unverfügbarkeit des Glaubens ein besonderes Anliegen der WortEreignis-Theologie des 20. Jahrhunderts, bringt diese damit doch ein Anliegen bereits der reformatorischen und nachreformatorischen Theologie zur Geltung, die den Glaubensakt trotz aller Unschärfen der assensus-Lehre immer auf das vorgängige Wirken des Geistes gegründet hat. 14 Es ist sachgemäß, wenn etwa im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer unter der Person das schlechthin Entzogene des Anderen verstanden wird, vgl. Bonhoeffer, Christologievor‐ lesung, 283–286; 293. 15 Dies hält auch Dalferth, Radikale Theologie, 217, fest.

Der Glaube im Raum der Lehre

Lehre existenzbestimmend angeeignet. Glaube ohne Lehre wäre ein ab‐ strakter und gerade für religiöse Menschen uninteressanter Formalglaube oder ein nur punktuelles Erlebnis – erst die Lehre sichert den kontextuellen und lebensgeschichtlichen Wirklichkeitsbezug des Glaubens. 16 Lehre ohne Glaube hingegen bleibt als nur theoretisches Wissen steril. Die Lehre ist unhintergehbares Medium des Glaubens, weil der Glaube in einer schlecht‐ hin individuellen Evidenzerfahrung gegründet ist, die sich nur im Lichte der Lehre mit der Wirklichkeit machen lässt. Denn jede Glaubenserfah‐ rung bewährt das Evangelium, das den Glaubenden inhaltlich bestimmt als Christusbotschaft erschlossen und zugeeignet wird, als Schlüssel zur erleb‐ ten Wirklichkeit. Diese Evangeliumsbotschaft impliziert und aktiviert als persönliche Anrede immer ein zumindest rudimentäres Symbolsystem, das lehrmäßig vermittelt und mit dem ein nicht nur punktuellen Anspruch ver‐ bunden wird. Auf dieser Grundlage lassen sich die einschlägigen Reflexionsbegriffe der dogmatischen Tradition in ein klar bestimmtes Verhältnis bringen: Allein die Evidenzerfahrung der Glaubenskonstitution (lat. testimonium internum), die sich als grundlegende Übereinstimmung des Lehrvollzugs (lat. verbum externum) mit einer Selbstoffenbarung der letzten Wirklichkeit (lat. revelatio oder patefactio Dei) in der und gegen die Alltagseinstellung des sündigen Menschen ereignet, kann das lebensbestimmende Vertrauen (lat. fiducia) auf diese Wirklichkeit als personales Gegenüber begründen. Daher ist das Evangelium nie nur Kerygma im Sinne eines je aktuellen Ent‐ scheidungsrufes, sondern begegnet als christliche Lehre (lat. doctrina), also als artikuliertes und kommunizierbares Symbolsystem, das in der christo‐ logisch zentrierten Auslegung der Schrift empfangen, durch den Glauben angeeignet und persönlich verantwortet wird. Im Anschluss an barocke Nährmetaphern kann man die Lehre als den Körper veranschaulichen, in dem der Glaube lebt und wirkt – ein Körper, der durch die religiöse Praxis genährt und gestärkt wird, aber dessen Lebensprinzip dennoch allein durch den Geist Gottes eingehaucht ist. 17 Und damit lässt sich auch die Frage be‐ antworten, inwiefern eine solche Lehre für die Einzelnen ihre verbindliche Geltung erhält: Die persönliche Bindung an die Lehre ist darin begründet, dass sich in ihr als Medium der Glaube einstellt, so dass sie sich an der

16 Dies ist gegen Paul Tillichs Aktualisierung von Meister Eckharts ‚Gott über Gott‘ und strukturell ähnliche Konzeptionen einzuwenden – zumindest, sobald diese sich von je‐ dem Bezug auf eine konkrete, aber fraglich gewordenen Symbolisierung Gottes ablösen. Vgl. Tillich, Mut, 137–139. 17 Zu diesen Nährmetaphern siehe oben unter 4.1.2 a). Für die funktional ähnliche Me‐ tapher der Lehre als „Spielraum“ des Glaubens votiert Kücherer, Katechismuspredigt, 209 f.

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Wirklichkeit bewährt und deshalb als existenzbestimmende Orientierung angeeignet werden kann. Wenn dieses zirkuläre Verhältnis zweier unableitbarer Größen korrekt beschrieben ist, also: wenn sich der Glaube immer im Umgang mit dem semantisch bestimmten Symbolsystem der christlichen Lehre einstellt und dieses Symbolsystem sich wiederum im Glauben an der Wirklichkeit be‐ währt, dann scheint die Frage, ob der individuelle Glaube sich überhaupt in einem Lehrsystem ausdrücken muss oder diesen Schritt auch unterlas‐ sen könnte, schlicht falsch gestellt. 18 Mit dieser Frage wird vielmehr ein verdeckter Überschritt von einer Gattung zur anderen vollzogen. Denn die Lehre begegnet als ein fait social, der Glaube ist ein persönliches und so dem objektivierenden Zugriff entzogenes Verhältnis zu jemandem oder etwas. Lehre existiert nur im Überlieferungsprozess, aber Glaube lässt sich nicht überliefern. Faktisch ‚kommt‘ Lehre immer schon von Lehre, während der – nach reformatorischem Verständnis je und je geistgewirkte – Glaube direkt von Gott kommt und daher diesem Überlieferungs- und Fortschreibungs‐ prozess kategorial unterschieden gegenübersteht. Die Frage nach dem letz‐ ten Ursprung der Überlieferungsgeschichte sich in immer neuer Auslegung fortschreibender Lehrgestalten – also dem Anfang des mythologischen Pro‐ zesses – ist eine anthropologische Frage, die hier nicht zu klären ist. Aber nichts spricht dafür, für jedes Individuum einen voraussetzungslosen, ‚ab‐ soluten‘ Anfang der Religion zu setzen, denn Menschen werden seit vor‐ geschichtlichen Zeiten in bestehende Sprachen, Kulturen und Religionen hinein sozialisiert, eignen sich diese auf individuelle Weise an und werden in diesem Prozess zu unverwechselbar-geschichtlichen Personen. Sollte es – wie hier gar nicht bestritten werden muss – spezielle religiöse Verschmel‐ zungszustände geben, in deren Erleben jede Vermittlung durch ein über‐ liefertes Symbolsystem erlischt, spricht außerdem viel dafür, diese ‚mysti‐ schen‘ Erfahrungen als spezifische Transzendierungserfahrungen mit der Lehre innerhalb eines durch die Lehre eröffneten Raumes religiöser Praxis zu begreifen. Hier liegt allerdings ein grundlegender kritischer Einwand nahe: Han‐ delt es sich nach dieser Beschreibung nicht streng genommen um einen Glauben an die Lehre, während sich der Glaube selbst als Glaube an Gott versteht? Oder fallen hier Gott und Lehre zusammen, so dass der Glaube an Gott mit dem Glauben an die Lehre identisch wird? In diesem Fall wäre ebenfalls eine Verwechslung der Kategorien zu konstatieren. Doch von der Lehre als Medium ist nicht nur der Glaube als persönliches Verhältnis kategorial zu unterscheiden, sondern ebenso die alles bestimmende Dimen‐

18 Vgl. hier ähnlich Schäfer, Hermeneutik, 142 f.

Der Glaube im Raum der Lehre

sion der letzten Wirklichkeit, mit der die Lehre als Symbolsystem überein‐ zustimmen beansprucht, also christlich-theologisch gesprochen: mit Gott selbst, seinem freien Willen sowie seinem Wissen um sich selbst, seine Ge‐ schöpfe und deren Bestimmung. Diese uneinholbare Differenz hat etwa die Barocktheologie mit der Un‐ terscheidung der ektypischen von der archetypischen Theologie zum Aus‐ druck gebracht. Das ektypische Symbolsystem der Lehre bildet das arche‐ typische Wissen Gottes um sich selbst und seine Schöpfung immer nur gebrochen ab – beschränkt durch die geschöpfliche Endlichkeit und zu‐ sätzlich verzerrt durch die menschliche Sünde. Zugänglich macht sich die letzte Wirklichkeit durch Gottes Selbstoffenbarung am Ort des Geschöp‐ fes, welche die manifeste Perversion durch die Sünde durchbricht, aber die Beschränkung und graduelle Verzerrung einer Theologie der Wanderer (theologia viatoris) nicht aufhebt. 19 Die Lehre wird so verstanden als dyna‐ misches Symbolsystem, das ursprünglich von Gott her kommt, schon jetzt gebrochen am Leben Gottes partizipiert und auf die vollendete Teilhabe an Gottes Selbstdurchsichtigkeit hinstrebt. Zu Heil und Trost des homo via‐ tor wird diese Lehre, wo die Evangeliumsbotschaft als persönliche Anrede vernommen und der Mensch durch den Heiligen Geist in dieses Spiel der Lehre einbezogen wird. Wie die Gebrochenheit dieser Vermittlung zwischen göttlicher Wahrheit und menschlicher Lehre genau zu denken ist, kann sich je nach konfes‐ sioneller und theologischer Herangehensweise unterscheiden und ist da‐ her Gegenstand bleibender Debatten um die Anwendbarkeit von Analogie, Paradox, Spekulation und Metapher für die religiöse Symbolisierung der letzten Wirklichkeit Gottes. 20 Diesem Problem ist hier nicht weiter nach‐ zugehen, doch ist festzuhalten, dass in der theologischen Arbeit die Unter‐ scheidung jeder – auch jeder offenbarten – Lehrgestalt von der letzten und alles bestimmenden Wirklichkeit sowie vom persönlichen und unvertret‐ baren Glauben bewusst zu halten ist. Durch die Lehre vermittelt, bezieht sich der Glaube so auf Gott selbst, dass nicht an die Lehre, aber auch nicht an der Lehre vorbei, sondern im Raum der Lehre, die die Gesamtheit der Wirklichkeit symbolisch als Raum der freien Selbstoffenbarung Gottes er‐ schließt, an den offenbaren Gott geglaubt wird.

19 In diesem traditionellen Sinn ist jede Ausdrucksgestalt der christlichen Lehre als Theo‐ logie zu bezeichnen, während die Bezeichnung der akademischen Theologie allein für einen reflektierenden und als Reflexionsinstanz institutionalisierten Umgang mit diesem Symbolsystem vorbehalten sein sollte. 20 Vgl. etwa konzentriert Rahner, Aussage, 163 f.

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8.1.3 Die Vorzüge eines weiten Lehrbegriffs Die terminologische Entscheidung, Lehre in diesem weiten und grund‐ legenden Sinn als Medium der religiösen Wirklichkeitserschließung und Raum der persönlichen Gottesbeziehung zu verstehen, ist nun alles andere als selbstverständlich. Angesichts der in der Einleitung skizzierten Vorbe‐ halte gegenüber dem Lehrbegriff könnte es zunächst plausibler erscheinen, den Lehrbegriff auf dieser Ebene noch zu vermeiden und beispielsweise von sozial vermittelter Glaubenskommunikation oder den Glaubensgehalten zu sprechen. Ist der Lehrbegriff nicht besser auf die institutionalisierte Glau‐ benskommunikation oder sogar allein den rechtlich bestimmten Bereich der kirchlichen Lehrordnung zu beschränken? Das weite Lehrverständnis, das hier vorgeschlagen wurde, wirkt möglicherweise überspannt, während ein präziserer Lehrbegriff attraktiv erscheint. 21 Allerdings sprechen drei Gründe gegen diese scheinbare Präzisierung. Erstens wird mit einem solchen engen Lehrbegriff gerade einer Katego‐ rienverwechslung zwischen Glaube und Lehre Vorschub geleistet, indem faktisch eine elementare oder rudimentäre Gestalt von Lehre als dem Glau‐ ben impliziter Inhaltsbezug gesetzt wird. Es kann dabei sogar so erscheinen, als ob der Glaube sich zum Zweck seiner Kommunikation selbst seine Vor‐ stellungsgehalte produzieren würde, statt sich auf ihm vorgegebene Gehalte zu beziehen. Damit wird der Glaube als eine innerliche Quelle noch undif‐ ferenzierter Erfahrung verstanden, die sich nachträglich erst in bestimmten Gehalten ausspricht, was nicht nur religionssoziologisch, sondern – wie Herms und Lindbeck zeigen – gerade auch theologisch unplausibel ist. Der Glaube kommt aus dem Hören (lat. ex auditu) und Verstehen einer zuge‐ sprochenen Botschaft. Zweitens entspricht ein weiter Lehrbegriff dem reformatorischen und barocken Lehrverständnis. 22 Die Reformatoren und die ihnen folgenden Theologen des Konfessionellen Zeitalters hatten gerade die existenzielle, hermeneutische und darin soteriologische Bedeutung der Lehre heraus‐ gestellt, statt diese nur auf den äußeren Bereich der Kirchen- und Ge‐ sellschaftsordnung (die vielmehr der Sphäre der disciplina zugeschlagen wurde!) einzuschränken. Erst auf dieser Grundlage wird überhaupt ver‐ ständlich, weshalb für sie der rechten Lehre, der kompetenten Vermittlung dieser Lehre und auch der kirchlichen Lehrzucht eine so hohe Bedeutung zukommt. Wo dieser weite Lehrbegriff in Vergessenheit gerät, liegt dagegen ein doktrinalistisches oder juridisches Missverständnis der entsprechenden 21 So beispielsweise Ebeling, Wort, 163 f. 22 Dies erkennt auch Ebeling explizit an, doch betrachtet er den gegenwärtigen Sprachge‐ brauch und die darin eingelassenen Intuitionen als verbindlicher, vgl. ebd., 164.

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Texte nahe, das dem vormodernen Lehrverständnis anachronistisch einen weitaus engeren, tendenziell verrechtlichten Lehrbegriff unterschiebt. Da‐ mit aber wird die unvoreingenommene Würdigung dieser Theologien un‐ möglich – ihre Vertreter eignen sich dann bestenfalls noch zur Veranschau‐ lichung historischer Irrwege. Drittens wird mit dieser Verengung des Lehrbegriffs nicht nur eine Ver‐ stehensbrücke zur theologischen Tradition abgebrochen, sondern auch das Gegenüber von je aktueller Glaubenskommunikation und kirchlicher In‐ stitutionenwelt stark betont. Damit aber kommen die gemeinschaftlichen und institutionalisierten Vollzüge der Kirche nur schwer als – möglicher‐ weise auch immer ambivalente – Ermöglichungsbedingung des individu‐ ellen Glaubenslebens in den Blick. Stattdessen wird einem antiinstitutio‐ nellen und antidoktrinalen Vorurteil der Weg bereitet, das die kirchlichen Institutionen und offiziellen Lehrformulierungen nur als statisch-starren Überbau einer dynamischen Glaubenskommunikation betrachten kann. Wenn, wie im Folgenden, gerade die Beziehungen zwischen einer dynami‐ schen Glaubenskommunikation und den ebenfalls dynamischen Prozessen der Lehrformulierungen und Lehrfixierung betrachtet werden sollen, dann ist eher naheliegend, schon auf der Ebene der Begrifflichkeit nicht das Ge‐ genüber von Religion und Kirche, sondern das übergreifende Kontinuum der Lehre zu betonen. Die Einsicht in die Dynamik kirchlicher Lehrprozesse führte wiederum Theologen wie Wolfgang Huber und Hans-Georg Geyer zu der Spitzen‐ these, dass „die kirchliche Lehre sensu strictiori nur in dem kritischen Prozeß zwischen den Funktionen der Verkündigung einerseits und ihrer Beurteilung andererseits bestehen“ könne. 23 Angesichts dieser radikalen Verflüssigung, die den kirchlichen Lehrbestand faktisch in einzelne Akte der Lehrbeurteilung auflöst, ist im Folgenden plausibel zu machen, warum es innerhalb dieser Dynamik zur relativen Beständigkeit einzelner Lehrge‐ stalten kommt und welche kontinuierlichen Strukturen sich innerhalb des Lehrprozesses herausbilden. 24

23 Geyer, Überlegungen, 282. 24 Bei Geyer hängt diese Verflüssigung des Lehrbegriffs mit seiner strikten Zurückweisung abstrahierender Aussagesätze zusammen, was aber in der Konsequenz die Abgrenzbarkeit der Lehraussage von Sprachformen wie Verheißung oder auch Bitte unmöglich macht. Lehre als Tätigkeit fällt in dieser Perspektive daher weitgehend mit Liturgie, Zeugnis und Handeln der Kirche zusammen, vgl. Geyer, Thesen.

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8.2 Die Lehre als Richtschnur der Gemeinde Obwohl der Glaube selbst als opus Dei zumindest nach protestantischem Verständnis schlechthin unverfügbar ist, lässt sich dennoch angeben, in welchen Vollzügen das glaubensbegründende Geschehen sich zumeist und typischerweise einstellt: Es ist insbesondere das gemeinschaftliche Erleben einer Übereinstimmung zwischen einem zur Darstellung gebrachten Sym‐ bolsystem und der letzten Wirklichkeit, in dem die Erschließungskraft der Lehre einzelnen Menschen evident werden kann. Diese These erscheint so‐ ziologisch, religionspsychologisch wie theologisch plausibel. Theologisch ist freilich der Anspruch der christlichen Lehre mitzuführen, als Medium der Heilsoffenbarung Gottes selbst in dieser letzten Wirklichkeit zu grün‐ den und für diese Erschließungsleistung auf das Wirken des göttlichen Geistes angewiesen zu sein. Zum Glauben kann es dieser Sicht zufolge kommen, wenn eine exempla‐ rische Deutung der Wirklichkeit im Lichte des christlichen Symbolsystems einen Einzelnen so trifft, dass er sich selbst in ihr wiederfinden kann – etwa in der auslegenden Verkündigung der Predigt. Oder, wenn diese Überein‐ stimmung des Symbolsystems mit der Wirklichkeit durch die gemeinsame Feier rituell zu Darstellung gebracht wird – beispielsweise sakramental ver‐ dichtet in Taufe und Abendmahl. Sind die Wortverkündigung und die Sakramentsfeier im Bereich des Christentums die herausgehobenen Voll‐ züge, in denen eine solche Übereinstimmung erlebt werden und sich die Lehre im Glauben bewähren kann, dann ist auch die Kirche als der Raum, in dem es je unverfügbar zum Glauben kommt, von diesen Vollzügen her bestimmt. Diesen gottesdienstlichen Vollzügen ist gemeinsam, dass sie im‐ mer gemeinschaftlich begangen werden und bleibend auf ihren Ursprung in Christus bezogen sind. Eingebettet sind sie in eine Liturgie, die durch das Zusammenspiel von Wiederholung und Variation der Habitualisierung des Symbolsystems dient. 25 Da sich der religiöse Sozialisationsprozess, in dem sich der Glaube unverfügbar einstellt, trotz gewisser Strukturähnlichkeiten immer individuell gestaltet, begegnet auch das auf diesem Wege verankerte Symbolsystem der christlichen Lehre nur als Überlappung von unzähligen Individuationsgestalten, die sich durch viele kleinere und größere Varia‐ tionen der Einzelelemente und ihrer Zusammenhänge unterscheiden. Auf‐ grund der lebensgeschichtlichen Dynamik religiöser Praxis dürfte es kaum

25 Dabei ist nach reformatorischem Vorbild nicht nur an den Gemeindegottesdienst, son‐ dern auch an die Durchdringung des Alltags mit kleinen liturgischen Formen wie dem Morgen-, Tisch- oder Abendgebet zu denken.

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möglich sein, auch nur eine dieser Gestalten abschließend zu kartografie‐ ren, also umfassend zu beschreiben. Weil das Symbolsystem der christliche Lehre nun immer in gemein‐ schaftlicher religiöser Praxis vermittelt, gepflegt und fortentwickelt wird, bilden sich entlang dieser Praxisformen verschiedene Systemtypen und schließlich konfessionell bestimmte Frömmigkeitskulturen heraus. Auf dieser Ebene treten die geteilten Grundzüge und spezifischen Unterschiede der Gemeinden klarer hervor, so dass sie auch einer vergleichenden Be‐ schreibung besser zugänglich sind. Verbunden bleiben die Konfessionen durch ein geteiltes semantisches Vokabular sowie gewisse syntaktische Ver‐ knüpfungsregeln, die eine weitgehende – wenn auch zum Teil möglicher‐ weise trügerische – Übersetzbarkeit der Bedeutung einzelner Vorstellun‐ gen und Praktiken sicherstellen. Die tieferen und mentalitätsprägenden Unterschiede dürften tatsächlich meist die religiöse Praxis betreffen, so‐ bald die wechselseitige Teilnahme an gemeinschaftlichen Vollzügen nicht mehr reibungslos funktioniert. Hinzu kommen Unterschiede im Lehrbe‐ stand, die erst eingebettet in den Kontext einer Frömmigkeitskultur ihre ganze Bedeutung erhalten. Ein gewisses Maß an Übereinstimmungen oder Überlappung der religiösen Symbolsysteme bildet dabei für jede religiöse Gemeinde, Konfession, Religion oder Religionsfamilie ihren implizit gel‐ tenden Lehrkonsens. 26 Auf der Ebene der gelebten Gemeinschaft ist dies derjenige Konsens, der eine gemeinsame religiöse Praxis ermöglicht und für die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gemeinde zumindest im Regelfall als unverzichtbar betrachtet wird. 27 Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Übereinstimmung zu großen Teilen auf der objektiven Abgestimmtheit von Habitusformen beruht, wes‐ halb sie nicht ausdrücklich formuliert und erklärt sein muss. Einzelne Regeln des religiösen Sprachgebrauchs, der rituellen Praxis oder des Um‐ gangs mit Symbolen müssen nicht oder zumindest nicht allen Gliedern der Gemeinschaft bewusst sein, um im Falle einer Grenzüberschreitung als trennend empfunden zu werden. Ein religiöses Symbolsystem wirkt gerade dann, wenn es Glaubenden in den Körper eingeschrieben und inkarniert ist. Ausgehend von diesem Basiszustand impliziter und inkarnierter Über‐ einstimmung lässt sich typologisch ein Entwicklungsschema der Herausbil‐

26 Dass dieser Konsens auch nur scheinbar sein kann, solange er implizit bleibt und die Artikulation von Lehraussagen vermieden wird, ist das Problem, das Rahner unter dem Begriff der „kryptogamen Häresie“ verhandelt, vgl. Rahner, Häresie, 560–576. 27 Um eine Phänomenologie dieser Verbindlichkeit bemüht sich: Plathow, Lehren. Al‐ lerdings fällt auf, dass dabei ein möglicher Unterschied in der Geltungsweise zwischen authentischen Lehrvollzügen und expliziten Lehrnormen nicht in den Blick kommt.

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dung von artikulierter Lehre (8.2.1) und zunehmend entfalteten Orthodo‐ xiestrukturen (8.2.2) beschreiben. 8.2.1 Versprachlichung und Verschriftlichung Einzelne Züge des impliziten Konsenses können zunächst sprachlich als überpersönliche und relativ situationsunabhängige Lehre artikuliert wer‐ den. 28 Darüber hinaus können solche sprachlichen Artikulationen habitua‐ lisierter Überlappungen auch als gemeinschaftlicher Lehrkonsens explizit gemacht und als Lehrsystem offizialisiert werden. Ist das religiöse Symbolsystem selbst auf eine lehrförmige Artikulation angelegt und darauf nicht zuletzt für seine geschichtliche Fortwirkung an‐ gewiesen, ist die gemeinschaftliche Verständigung über einen offiziellen Lehrkonsens über verbindliche Artikulationen in der Regel einer konkre‐ ten Nötigung geschuldet. Dieser motivierende Faktor kann ein organisa‐ torisches Erfordernis (etwa die Optimierung von Unterweisungsvollzügen oder die Ausbildung von Amtsträgern), ein interner Streit (etwa um die angemessene Auslegung der gemeinsamen Tradition oder den Status ein‐ zelner Autoritäten), eine äußere Infragestellung (etwa durch eine andere Religion oder Weltanschauung, wissenschaftliche Erkenntnisse oder politi‐ sche Programme) oder eine Veränderung der Reproduktionsbedingungen (etwa eine Veränderung der Umgangssprache, der ökonomischen Ressour‐ cen oder der sozialen Zusammensetzung einer Gemeinschaft) sein. Sicher spielen offene Konflikte in den meisten Fällen eine wichtige Rolle als Anlass für die Artikulation einer Lehre, doch kann die Lehrbildung auch prä‐ ventiv einem befürchteten Konflikt vorgreifen. Die spezifische Sprachform der Lehre erlaubt dabei nicht nur, den schon sprachlichen Elementen des Symbolsystems eine formelhaft geprägte, paradigmatische Form zu geben. Darüber hinaus können auch andere Elemente versprachlicht und in den Modus einer anleitenden Regelaussage transformiert werden: Regeln für die Ausführung einer Geste oder Kurzliturgie, für die Herstellung einer Ikone oder eines Symbols, für das Verhalten im Rahmen eines Rituals, für den sozialen Umgang in Alltags- und Ausnahmesituationen, für die Wahl von Amtsträgerinnen und Amtsträgern usw. Bezüglich der normativen Geltung sprachlicher Lehrartikulationen ist dabei eine Veränderung der Geltungsweise zu konstatieren: Die unwillkür‐ liche, faktische Geltung eines durch Habitualisierung inkarnierten Symbol‐ systems setzt in der Regel keine bewussten Akte der Anerkennung voraus. 28 Für eine Strukturbestimmung dieser Aussageform siehe oben, 600. Zur „dogmatische[n] Normalform theologischer Aussagen“ seit der Reformationszeit treffend vgl. Stegmann, König, 110–115. Vgl. auch Pannenberg, Aussage.

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Dies ändert sich mit ihrer Artikulation und Exkarnation. Nicht allein auf‐ grund persönlicher Überzeugung oder durch den impliziten Konsens einer Gemeinschaft, sondern aufgrund offizieller und öffentlicher Anerkennung als legitimer Lehre kommt der artikulierten Lehre ihre Geltung zu. 29 Denn im Fall einer sprachlich artikulierten Lehraussage ist den Einzelnen immer das Einstimmen oder die Zurückweisung, also die individuelle Zustimmung oder Ablehnung dieser Lehrartikulation möglich. Aufgrund ihrer Bestreit‐ barkeit ist artikulierte Lehre per se strittig. 30 Dabei kann sich eine Ablehnung allein auf die Sprachgestalt beziehen oder auf den gemeinten und ausge‐ drückten Inhalt, dem beispielsweise als nur randständigem Element der Status eines identitätskonstitutiven Teils des Lehrsystems verweigert wird. 31 Ein Sonderfall ist schließlich die Zurückweisung aufgrund des Sprechers, dem etwa mit Verweis auf mangelnde persönliche Integrität oder fehlende Amtsautorität die Legitimation zu einer authentischen Lehrartikulation be‐ stritten werden kann. Dass dieser Prozess der Artikulation mit der Notwen‐ digkeit einer ausdrücklichen Stellungnahme auch ein Potential persönlicher Freiheit gegenüber einem sonst stillschweigenden Konsens oder einer nur formalen Autoritätsbehauptung entbindet, ist eine Einsicht, die gegenüber jeder Fundamentalkritik der Lehraussage herauszustellen ist. 32 Um die Legitimität einer Lehraussage zu gewährleisten, werden daher oftmals im Modus expliziter Lehre selbst die Verfahrensregeln für das Zu‐ standekommen legitimer Lehre, deren Artikulation und Anwendung auf konkrete Streitfälle formuliert. Die kirchliche Lehre in diesem präzisen Sinn ist nicht mehr nur ein kommunizierbares Symbolsystem als Raum des in‐ dividuellen Glaubens, sondern in ihr sind bestimmte Züge dieser Gesamt‐ heit als Lehrkorpus hervorgehoben und zur normativen Richtschnur der kirchlichen Praxis erklärt. In der Terminologie Bourdieus bedeutet die Ar‐ tikulation und Offizialisierung von Lehren einen partiellen Übergang des Lehrsystems aus dem Zustand der Doxa in den Zustand der Orthodoxie – oder einer mit dieser konkurrierenden Heterodoxie. 33 29 Dies arbeitet insbesondere Bourdieu als Unterschied zwischen der Doxa und einem Feld der Meinungen heraus, siehe oben unter 73. 30 Zur Strittigkeit von Aussagen vgl. Wellmer, Sprachphilosophie, 244–277, 455–467. Vgl. auch Dalferth, Radikale Theologie, 106; 127. 31 Diese Frage, wie der Umfang des verbindlichen Lehrkonsenses zu bestimmen ist, war etwa zwischen konkordistischen Theologen wie Dannhauer und ihren „synkretistischen“ Gegnern strittig, siehe oben unter 4.1.6 c). 32 Bei Rahner bleibt dieser Freiheitsgewinn unterbelichtet und klingt nur in verschiedenen Wendungen an, wenn er sich mit der Gefahr der „kryptogamen Häresien“ unterhalb dieser Artikulationsschwelle auseinandersetzt und den Mut zur Auseinandersetzung um explizite Lehraussagen einfordert, vgl. Rahner, Häresie, 565–571. 33 Zu Bourdieus Rekonstruktion dieser Entwicklung siehe oben unter 2.2.2.

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Die als kirchliches Lehrkorpus artikulierten Regeln müssen dabei nicht mit den impliziten Regeln und Praxistheorien übereinstimmen, die kom‐ petent Praktizierende selbst zur Hervorbringung religiöser Handlungen an‐ wenden. 34 Beispielsweise ist es möglich, dass beide Ebenen nur – sozusagen pragmatisch – in ihrem Resultat vollständig oder weitestgehend konvergie‐ ren. Zudem können verschiedene Regelwerke – etwa implizite Praxisregeln und ausdrückliche Gebote – unverbunden nebeneinander bestehen, so‐ lange sie nur nicht allzu deutlich voneinander abweichen. Grundsätzlich bedeutet die offizielle Geltung von Regeln auch nicht notwendig, dass diese im Verhalten tatsächlich befolgt werden. Ihr normativer Status kann sich vielmehr darin ausdrücken, dass sie den Einzelnen trotz häufiger Zuwi‐ derhandlung eine gewisse Achtung als legitime und damit grundsätzlich geltende Regeln abverlangen. Eine besondere Form der Lehrartikulation ist schließlich die Verschrift‐ lichung, durch die einzelne Lehrformeln und Regeln sowie ihre Vermitt‐ lung der unmittelbaren Orts-, Zeit- und Persongebundenheit enthoben, also exkarniert werden. 35 Diese Exkarnation erhöht die Präzision, Stabilität und Vermittelbarkeit eines Lehrkorpus signifikant, aber macht andererseits die Interpretation und Auslegung notwendig. An dieser Exkarnation setzt daher die Kritik der Kerygmatheologie und des religiösen Personalismus an, die gegen die Möglichkeit einer solchen Exkarnation die ereignishafte Unverfügbarkeit, Unvertretbarkeit und Geschichtlichkeit des Wortgesche‐ hens herausstellen. Allerdings trifft diese Fundamentalkritik die Lehre nur, sobald diese sich selbst missversteht oder missverstanden wird – weil der Unterschied zwischen persönlichem Glauben, je individuellem Symbol‐ system, implizitem Lehrkonsens und gemeinschaftlich-überindividuellem Lehrkorpus nicht mehr beachtet wird. Daher kann diese Kritik als wichtige Erinnerung dienen, um eine Abstraktion der Lehre vom „Lebensverhältnis“ (so der Terminus bei Martin Heidegger und Rudolf Bultmann) des Glau‐ bens zu vermeiden und auf die richtige Beziehung dieser unterschiedenen Ebenen zu achten. 36 Auf das Problem dieser Exkarnation reagiert außerdem die Entwicklung einer spezifischen Schriftfrömmigkeit: Der Umgang mit heiligen Schriften und gegebenenfalls auch heiligen Büchern wird selbst zum Teil einer religi‐

34 Daher fällt auch die Bekenntnisbindung einer Kirche nicht einfach mit der rechtlichen Geltung von Bekenntnissen zusammen, vgl. Ebeling, Wort, 166 f. 35 Zu dieser Ablösung der theologischen Aussage von der Kopräsenzsituation vgl. KoTh, 121–125; 144–154. Vgl. auch die Darstellung des Verschriftlichungs- und Kanonisie‐ rungsprozesses bei Dalferth, Wort, 177–189; 207–225. 36 Zu Bultmann siehe oben unter 5.2.2. Vgl. aus katholischer Perspektive Rahner, Häresie, 570 f.

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ösen Praxis, so dass die objektivierende Artikulationsform wieder in das re‐ ligiöse Leben eingebettet, ihre Inhalte immer neu angeeignet und habitua‐ lisiert werden. 37 Man kann in dieser Entwicklung eine Re-Dynamisierung der als Buchstabe fixierten Schrift sehen, die einer der Verschriftlichung inhärenten Tendenz zur Vergegenständlichung der Lehre entgegenwirkt. Auch im Kontext protestantischer Frömmigkeit stellt sich die Frage, ob diese Schriftfrömmigkeit sich ausschließlich auf die biblischen Texte be‐ zieht. Der persönliche und regelmäßige Umgang, den Luther mit seinen Katechismen anzielt und den auch Dannhauer für seinen ausgeweiteten Bereich der Katechismuslehre im Blick hat, scheint sich der religiösen Pra‐ xis der Schriftmeditation zumindest anzunähern. 38 Begründet ist dies im Selbstverständnis dieser Lehrtexte, nichts anderes als das aus der Schrift geschöpfte Verständnis des Evangeliums neu und frömmigkeitsprägend zur Sprache zu bringen. 39 Daneben gibt es weitere Möglichkeiten, auf die Exkarnation der ver‐ schriftlichten Lehre zu reagieren und diese erneut habituell als Frömmig‐ keit zu verankern. Neben den kognitiven Erkenntnisvermögen müssen dazu weitere Sinne des Körpers in den Prozess der Lehrvermittlung ein‐ bezogen werden. Die besondere Bedeutung der Sakramente und anderer Rituale (Segnung, Tauferinnerung u.ä.) liegt hier auf der Hand. Allgemein kann die Liturgie mit ihren gebundenen Gesten und Symbolisierungen, die den Körper der Liturgen und auch der Gemeinde einbeziehen und mit bestimmten Sprachformen verknüpfen, zu einer solchen Verankerung beitragen. Diesem Zweck dient ferner auch in besonders effektiver Weise die Vertonung der Lehre als religiöses Liedgut, wie sie Luther mit seinen populären Liedern und besonders den Katechismusliedern vorangetrieben hat. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch die bildliche Illustra‐ tion zu sehen, die beispielsweise Dannhauer mit seinem metaphernreichen Predigtstil und seiner emblematischen Darstellungsmethode der Dogmatik anstrebt. Dannhauer begründet dies explizit mit der Eigenart des Geis‐ tes, zum Zweck größerer Klarheit und affektiver Bindungskraft der Lehre verschiedene Sinne einzubeziehen. Diese Illustration muss freilich nicht auf die Verkündigungssprache beschränkt bleiben, sondern umfasst auch die ikonische oder sogar architektonische Umsetzungen von Lehrgehalten.

37 Für Dannhauer als ein Beispiel aus dem 17. Jh. siehe oben unter 4.1.4. 38 Siehe besonders oben unter 3.3.1 (Luther) und 4.1.2 (Dannhauer). Mit Blick auf die Be‐ kenntnistexte des Konkordienbuches vgl. auch Kaufmann, Bekenntnis, 285f; 295. 39 Lindbeck weist zudem darauf hin, dass auf diesem Wege offizielle Lehrsätze in ihrer spezifischen Sprachgestalt auch Eingang in den religiösen, etwa liturgischen Gebrauch finden können, ohne dass mit diesem Gebrauch notwendig eine Geltung als Lehrnorm verbunden ist, siehe oben, 543; 561.

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Lindbeck sieht bei dieser katechetisch-kreativen Umsetzung der Lehre in sinnlich erfahrbare Formen die expressive Dimension von Religion gefor‐ dert. Anzumerken ist an dieser Stelle nur, dass die kreative Umsetzung der Lehre in den verschiedenen Ausdrucksformen darstellenden Handelns keinesfalls in diesem instrumentellen Gebrauch zur Illustration und Ha‐ bitualisierung der Lehrgehalte aufgeht, sondern auf diese Weise auch die Wahrheit des Evangeliums ganzheitlich bezeugt und Christus in umfassen‐ der Weise die Ehre gegeben werden kann. Hier ist nicht zuletzt eine der vielen Schnittstellen der Dogmatik zur Praktischen Theologie und ihren verschiedenen Unterdisziplinen zu iden‐ tifizieren, die sich in Ausrichtung auf die Praxis der Fülle konkreter Aus‐ drucksformen zuwendet, mittels derer sich die Kommunikation der Lehre des Evangeliums unter den je gegenwärtigen Bedingungen vollzieht. Wenn hier der Begriff der Lehre – dem Sprachgebrauch der Bekenntnisschriften folgend – mit dem Evangelium verknüpft und in eine verbreitete Pro‐ grammformel der Praktischen Theologie eingetragen wird, 40 dann soll dies auf zweierlei hinweisen: Einerseits ist die Unverfügbarkeit des Geschehens, in dem das äußere Wort der Verkündigung tatsächlich als Evangelium ge‐ hört wird, zu berücksichtigen, weshalb das Evangelium selbst im umfassen‐ den Sinn eben nicht direkt kommuniziert, sondern nur auf die Verheißung des Geistes hin bezeugt werden kann. Andererseits wird so deutlich, dass diese Kommunikation nicht einfach in Einzelsituationen zerfällt, sondern in einen kontinuierlichen Überlieferungszusammenhang eingebettet ist, in dem nicht zuletzt die spezifische Sprachform der Lehraussage und ein zu‐ mindest impliziter Lehrkonsens eine Rolle spielen. Damit soll explizit keine Kritik an der Einsicht in den dialogischen Charakter dieser Kommuni‐ kation verbunden werden – auch Lehren und Lernen können und sollten schließlich als dialogische Vollzüge verstanden werden. 8.2.2 Die Herausbildung von Orthodoxiestrukturen Spätestens mit der Verschriftlichung der Lehre, die eng verbunden ist mit sozialen Differenzierungsprozessen innerhalb einer religiösen Gemein‐ schaft, erscheinen normalerweise feste und überdauernde Orthodoxie‐ strukturen. Dazu gehören typischerweise ein Lehrkorpus normativer Texte, spezifische Auslegungspraktiken sowie eine Polarisierung des religiösen Feldes in herrschende und beherrschte Positionen. Zu diesen Positionen können die offiziellen Instanzen der Lehrartikulation und Lehrfixierung, die autorisierten und nicht-autorisierten Ausleger dieser Lehre sowie alle

40 Zu dieser Formel und ihren Hintergründen vgl. Gretlein, Theologie, § 1, 1–11.

Die Lehre als Richtschnur der Gemeinde

Gemeindeämter und untergeordneten Rollen zählen, die in Anwendung der Lehre zugeteilt werden. Für diese Positionen werden in der Regel Aus‐ bildungsinstitutionen geschaffen, die bestimmte Kompetenzen vermitteln und dabei auch einen den typischen Amtstätigkeiten entsprechenden Habi‐ tus einprägen sollen. Nicht selten verbindet sich mit Orthodoxiestrukturen auch eine mehr oder weniger institutionalisierte Gewaltausübung, mit de‐ ren Hilfe die geltende Orthodoxie verteidigt oder anderen aufgezwungen werden soll. 41 Die legitime Ausübung religiöser Macht geschieht dabei immer im Na‐ men der Gemeinde. Bestimmte Positionen werden mit delegierter Macht ausgestattet, zu denen nicht zuletzt die Lehrvollmacht als Definitionshoheit über verbindliche Lehre gehört. Die Verteilung von Herrschaftspositionen ergibt sich faktisch aus einem Kampf um die als legitim anerkannte An‐ wendung dieser Machtmittel, in den alle religiös Interessierten auf die ein oder andere Weise – etwa als Kombattanten, Schiedsrichter oder Publi‐ kum – verstrickt sind. Mit der Herausbildung von Orthodoxiestrukturen erscheint die Lehre nicht nur als strittig, sondern zunehmend auch als umkämpft. 42 Spätestens hier wird sichtbar, dass die Herausbildung von Orthodoxiestrukturen ambivalent ist: Dem Rationalitäts- und Verlässlich‐ keitsgewinn der religiösen Institutionalisierung stehen als Kehrseite die Freiheitseinschränkung gegenüber, die auch eine wenig übergriffige Ortho‐ doxie den Einzelnen auferlegt, sowie das inhärente Konfliktpotential. Aber kann angesichts dessen die Ausbildung von umkämpften Orthodo‐ xiestrukturen nicht unterbleiben, verhindert oder rückgängig gemacht wer‐ den? Lässt sich das ambivalente Ineinander von politischer Macht, sozialem Einfluss, religiöser Autorität und intellektueller Deutungshoheit, wie es eine fest installierte Orthodoxie auszeichnet, nicht endgültig entflechten? Gerade innerhalb des Protestantismus kommen solche Hoffnungen leicht auf, weil Protestantinnen und Protestanten auf traditions- und hierar‐ chiekritische Potentiale der eigenen Lehrtradition zurückgreifen können. 43 Doch der Preis einer völligen Vermeidung oder Abschaffung von Orthodo‐ xiestrukturen erscheint aus drei Gründen hoch. Erstens führt die Ablehnung expliziter und fixierter Lehrbestände, die von einer Körperschaft von Spezialistinnen und Spezialisten verwaltet wer‐ den, nicht schon automatisch dazu, dass die Machtdynamik des religiösen

41 Dieses problematische Verhältnis zur Gewalt wird etwa dort sichtbar, wo in der reforma‐ torischen und nachreformatorischen Theologie die politische Obrigkeit zur Förderung und zum Schutz der wahren Lehre in die Pflicht genommen wird. 42 Darauf weist insbesondere Bourdieus Konflikttheorie des religiösen und kirchlichen Fel‐ des hin, wie sie unter 2.2.2 und 2.2.3 dargestellt wurde. 43 Für reformatorische Beispiele solcher Traditionen vgl. Kaufmann, Filzhut.

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Feldes erlischt. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass religiöse Ausschlie‐ ßungsmechanismen und Konflikte sich stattdessen unterhalb der Ebene be‐ wusster und erklärter Abgrenzungen abspielen, was sie für Einzelne weitaus schwerer identifizierbar und kritisierbar macht. 44 Alternativ können auch soziale oder politische Gegensätze die Funktion des Differenzmarkers über‐ nehmen, die religiöse Symbolik nicht mehr erfüllt, so dass externe Konflikte direkt in das religiöse Feld importiert werden. 45 Dem gegenüber bietet eine identifizierbare Orthodoxie, die sich selbst auf bestimmte religiöse Inhalte und Verfahren festlegt, für die Einzelnen entscheidende Vorteile – unab‐ hängig davon, ob sie sich mit dieser Orthodoxie arrangieren oder diese herausfordern wollen. Sie ist zumindest bis zu einem Grad berechenbar, ihre Vertreter sind öffentlich erkennbar und einer gewissen Sozialkontrolle ausgesetzt, an bestimmbare Regeln und Grundsätze gebunden sowie prin‐ zipiell gegenüber ‚prophetischer‘ Kritik verwundbar. Orthodoxiestrukturen sind zweitens auch eine Folge dessen, dass ein lebendiges religiöses Interesse besteht – es ‚geht um etwas‘ auf dem re‐ ligiösen Feld, und wenn es nur die Deutungsmacht über eine bestimmte Tradition (etwa: das Kanzelrecht der Prediger) oder eine hervorgehobene Rolle innerhalb religiöser Vollzüge (etwa: die Rolle eines Vorbeters oder einer Liturgin) sein sollte. In der Regel sind mit einer besonders legiti‐ mierten Position auf dem religiösen Feld freilich auch soziale und mitun‐ ter ökonomische Privilegien verbunden. Der Konflikt religiöser Gruppen und Individuen um diese Positionen ist Triebfeder religiöser Innovation und – wenn Bourdieu Recht haben sollte – Bedingung der Möglichkeit einer raschen und unwillkürlich-abgestimmten Anpassung an sich verän‐ dernde Situationen. 46 Dieser Konflikt muss aber irgendwie geordnet und in bestimmte Konfliktmuster gelenkt werden, soll er eine religiöse oder kirchliche Gemeinschaft nicht zerreißen – was eben zur Ausbildung von Orthodoxiestrukturen führt. Schließlich und drittens spricht die Ökonomie der Praxisformen für Or‐ thodoxiestrukturen. Denn es wäre zwar prinzipiell denkbar, dass eine re‐ ligiöse Gemeinschaft alle Konflikte hinsichtlich ihrer Lehre, ihres gemein‐ samen kultischen Handelns oder ihrer sozialen Organisationsgestalt durch eine voraussetzungslose Verständigung über die aktuell geteilten Grund‐ sätze beizulegen versucht. Aber weitaus effizienter und damit praktikabler

44 Dies arbeitet Bourdieu mit dem Begriff der doxa heraus, die im Unterschied zur Ortho‐ doxie keiner Kritik unterworfen ist, siehe oben unter 2.2.1. 45 Die Homologie der Felder sorgt nach Bourdieu dafür, dass solche Übertragungen faktisch immer geschehen, doch dürfte sich ihr Ausmaß in einem abgeschlossenen Feld mit eige‐ ner Feldlogik eher begrenzen lassen. 46 Siehe oben unter 2.2.3 a).

Die Dogmatik als Arbeit am Lehrkonflikt

erscheint es, einmal einen verbindlichen Konsens über Grundsätze sol‐ cher Entscheidungen festzuhalten und bei konkreten Herausforderungen auf ihn zurückzugreifen. Dies erfordert stützende Strukturen, die neben der Konsensfindung auch die Dokumentation, sitationsgerechte Anwen‐ dung und effektive Durchsetzung dieses Lehrkonsenses erlauben. Mit der Herausbildung solcher Strukturen entsteht wiederum auch ein mehr oder weniger starkes Interesse verschiedener Fraktionen, sich der Machtpositio‐ nen innerhalb dieser Orthodoxiestrukturen zu bemächtigen. Insgesamt erscheint daher die Vision einer egalitären religiösen Gemein‐ schaft, in der das religiöse Interesse trotzdem nicht erlischt und die religiöse Dynamik nicht zum Stillstand kommt, als kaum zu verwirklichende Utopie. Als solche ist sie allerdings theologisch durchaus wertvoll, auch weil sie Menschen im Umgang mit der Ambivalenz konkreter Orthodoxiestruktu‐ ren orientieren und orthodoxiekritische Potentiale entbinden kann. Taugt eine solche Vision auch nicht als ekklesiologische Leitvorstellung, lässt sie sich dennoch als eschatologische Hoffnung im Symbolsystem der Lehre selbst verankern und damit wachhalten. Mit Ebeling ist zudem als kritischer Grundsatz festzuhalten, dass die Ambivalenz von Orthodoxiestrukturen leicht kippt und sich in Richtung eines bloßen Machtapparats vereindeu‐ tigt, wenn die Selbstunterscheidung der Kirche und ihrer Lehre von Gott und seiner unverfügbarer Offenbarung nicht mehr bewusst vollzogen wird: „So eng beides zueinander gehört, darf doch kirchliche Lehre nicht sich mit Gottes Wort verwechseln, so wenig wie die Kirche mit Gott selbst“. 47 Zu verhindern, dass es dazu kommt, ist nicht zuletzt Aufgabe einer konstruk‐ tiv-kritischen Form kirchlicher Dogmatik. 8.3 Die Dogmatik als Arbeit am Lehrkonflikt Diese Beschreibung des Charakters religiöser Lehre und der Herausbildung von Orthodoxiestrukturen lässt sich nun auch fruchtbar machen für eine Aufgabenbestimmung der Dogmatik als wissenschaftlich-theologischer Re‐ flexion dieser Lehrsysteme. Skizziert wird dabei ein kirchliches Verständnis von Dogmatik, das diese als Konfliktwissenschaft auf den Streit um die geltende Lehre und die Machtkämpfe des religiösen Feldes bezieht. 48 Der Lehrbegriff erscheint dabei als das zentrale Scharnier zwischen kirchlicher Praxis und der theologischen Reflexion dieser Praxis. Dieser Aufgabenbe‐ 47 Ebeling, Wort, 161. 48 Ein anderes Verständnis von Theologie als Konfliktwissenschaft findet sich bei Bayer, Theologie, 115–117. Bayer scheint diese Konfliktorientierung lediglich nach außen auf das Verhältnis zur natürlichen Vernunft bzw. Philosophie zu beziehen.

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schreibung zufolge ist sachgemäße dogmatische Arbeit immer positionell und engagiert zu leisten. Zur unhintergehbaren Positionalität theologi‐ scher Arbeit gehört, dass jede Artikulation von Lehre und jedes Lehrurteil persönlich zu verantworten ist, man sich also nie auf einen ‚rein bibli‐ schen‘, allgemein-christlichen oder konfessionellen Standpunkt zurückzie‐ hen kann. 49 Engagiert ist die Dogmatik, weil sie als praktische Wissenschaft nicht nur der Selbstklärung des Dogmatikers, sondern auch der Einheit der Kirche und dem gesellschaftlichen Frieden dienen will, also auf die Vertiefung des Verständnisses zwischen Konfliktpartnern und die Trans‐ formation religiös begründeter Feindschaft in einen produktiven ‚edlen Wettstreit‘ hinwirkt. Dogmatik im Anschluss an die reformatorische Theologie will ermögli‐ chen, dass das Evangelium Jesu Christi unverfälscht zur Sprache kommen kann, und hat sich daher am Ideal der reinen Lehre auszurichten. Dieses Ideal ist allerdings unter Voraussetzung eines umfassend kritischen Be‐ wusstseins nicht mehr einfach als Übereinstimmung mit dem Urchristen‐ tum zu verstehen, sondern im Sinne einer kritischen Kontrolle möglicher Machtverstrickungen zu reformulieren (8.3.1). Darüber hinaus lassen sich in Rückbesinnung auf die impliziten und expliziten Grundsätze der Be‐ kenntnisschriften dogmatische Kriterien entwickeln, was im lutherischen Sinn als rechte Lehre gelten kann (8.3.2). 8.3.1 Das Ideal der reinen Lehre Aus einem kritischen Bewusstsein für die Machtdimension von Orthodo‐ xiestrukturen und Lehrprozessen ergibt sich für eine konstruktiv-kritische Theorie der Lehre: Das reformatorische Ideal der ‚reinen Lehre‘ (lat. pura doctrina) ist so zu verstehen, dass der unhintergehbaren Machtdimen‐ sion von Lehrartikulation, Lehrfixierung und Lehrentwicklung angemessen Rechnung getragen werden kann. Damit das übergreifende Anliegen der Lehre, dem Evangelium als befreiender Christusbotschaft einen Raum zu geben und allen Menschen die persönliche Aneignung dieser Botschaft zu ermöglichen, nicht durch Machtverstrickungen und Voreingenommenheit der Lehrenden gefährdet oder beeinträchtigt wird, muss diese Machtdi‐ mension in selbstkritischer Absicht reflektiert und so kontrolliert werden. In den Prozessen, die zur Artikulation und Fixierung von Lehre führen, waltet faktisch nie einfach nur die Kraft des besseren Arguments, weil in der Regel schon die Fragen, welche Autorität zu hören und welches Argu‐

49 Zu diesem assertorischen Charakter der Theologie bei Herms siehe oben, 6.6.4. Vgl. auch Ebeling, Wort, 156 f.

Die Dogmatik als Arbeit am Lehrkonflikt

ment wie zu gewichten ist, strittig sind. 50 Ein Mehrheitsentscheid, dem sich die Minderheit beugen muss, ist nicht weniger Machtgeschehen als eine Entscheidung, die eine besonders legitimierte Minderheit trifft. Die Macht‐ verhältnisse des theologischen Feldes beeinflussen unter Umständen nicht nur, welche theologische Position sich am Ende akademisch oder kirchlich durchsetzt, sondern wirken sich schon darauf aus, wer überhaupt die Mög‐ lichkeit erhält, seinen Standpunkt prominent darzulegen und angemessen zu verteidigen. Dass die Bedingungen einer Teilnahme am Kampf um eine Anerkennung als orthodoxe Position für alle Kontrahenten fair sind, ist ein unwahrscheinlicher Grenzfall, der nicht einfach vorausgesetzt werden darf. Gerade wenn man die Wahrheitsorientierung theologischer Wissenschaft nicht aufgeben will, ist dieser Machtdimension durch die Aufnahme des Interessenbegriffs in die Dogmatik Rechnung zu tragen. Wie aber ist dann das Feld der theologischen Auseinandersetzung zu bereiten? Im Namen der befreienden Botschaft des Evangeliums und der Un‐ voreingenommenheit der theologischen Beurteilung sind in einem ersten Schritt die immunisierenden Reinheitskonstrukte zu überwinden, die ei‐ ner orthodoxen Lehre oftmals zu ihrer Legitimation eingeschrieben sind. Mit Hilfe solcher Reinheitskonstrukte wird beispielsweise eine bestimmte Lehrgestalt unter Berufung auf eine angeblich zeitlose und geschichtslose Wahrheit jeder Kritik enthoben (Fundamentalismus). In einer abgemilder‐ ten, doch im Ergebnis ähnlichen Variante wird zwar eine Entwicklung der Lehre zugestanden, aber mittels der Behauptung einer bruchlosen Über‐ einstimmung mit dem Ursprung eine exklusive Sachwalterschaft der ei‐ genen Fraktion für die Lehre behauptet. Als immunisierende Legitimati‐ onskonstrukte dieser Art eignen sich gleichermaßen eine protestantische Inspirationslehre, eine römisch-katholisches Sukzessionsvorstellung oder ein ostkirchliches Traditionsverständnis. 51 Gleichzeitig dürfte es wohl auch bei jeder dieser konfessionellen Lehrbildungen möglich sein, die Einsicht in die Geschichtlichkeit und Strittigkeit der Lehre sowie deren spezifische Kontinuität im Wandel bewusst in das eigene Lehrverständnis zu integrie‐ ren. Nur unter dieser Bedingung kann eine Verzerrung der Lehrprozesse durch die sich geschichtlich wandelnden Machtverhältnisse überhaupt in den Blick kommen. 50 Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig plausibel, wenn Härle der „sachorientierten theologischen Arbeit“ die Kraft zuschreibt, ipso facto „gruppendynamische Rangeleien“ (Härle, Gewißheit, 187) zu überwinden. Das Vertrauen auf die „Selbstdurchsetzungs‐ kraft der Wahrheit“ (ebd., 189) dürfte ohne methodische Berücksichtigung der Machtdy‐ namik eher zu einer Verschleierung als zu einer Neutralisierung der kirchenpolitischen Machtkämpfe führen. 51 Nicht zuletzt der Anspruch der lutherischen Bekenntnisschriften, sich in eine bruchlose Kontinuität mit der Alten Kirche einzustellen, kann in dieser Weise verstanden werden.

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An dieser Stelle bildet die Kirchengeschichte als Dogmen-, Sozial- und Institutionengeschichte das unverzichtbare Korrektiv einer auf die kri‐ tisch-konstruktive Reflexion der Lehre ausgerichteten Dogmatik. Denn die kirchengeschichtliche Rekonstruktion hilft zunächst, diese Reinheitskon‐ strukte mit Hilfe der historischen Quellen und ihrer unbestreitbaren Viel‐ stimmigkeit aufzubrechen. Außerdem kann sie in vielen Fällen auch positiv die Verflechtung von Konkurrenzkämpfen, sozio-ökonomischen Prozes‐ sen, theologischen und außertheologischen Diskursen erhellen, die den Rahmen für die theologische Arbeit Einzelner abstecken und damit auch die Bedingungen für kirchliche Entscheidungen über die geltende Lehre be‐ einflussen. Reinheit kann angesichts der unhintergehbaren Geschichtlich‐ keit der Lehrentwicklung somit nicht bedeuten, dass alle Veränderungen oder Übernahmen fremder Symbole ausgeschieden und ein abstrakter, will‐ kürlich verabsolutierter Ursprungszustand wiederhergestellt wird. 52 Aber das wechselseitig kritische Zusammenspiel von Dogmatik und Kirchenge‐ schichte erlaubt – zumindest in Ansätzen –, das Feld der Meinungen und Akteure, auf dem sich eine bestimmte Lehrformulierung erstmals durchge‐ setzt hat, zu rekonstruieren und in die dogmatische Beurteilung einzube‐ ziehen. 53 Allerdings wäre es nicht ausreichend, diese Machtdimension nur im historischen Rückblick zu berücksichtigen, etwa als Voreingenommenheit der Überlieferung und ihrer Tradenten. Vielmehr muss sich der Theologe bzw. die Theologin auch immer die eigene Position innerhalb eines sozia‐ len Kräftefeldes bewusst halten. Dies betrifft erstens diachron die eigene Bindung an die Traditionen und Lehrbestände, die einer Untersuchung unterworfen und zur Darstellung gebracht werden sollen. Mit Gadamer könnte man dies als „wirkungsgeschichtliches Bewusstsein“ bezeichnen, das hier dezidiert selbstkritisch zu wenden ist. 54 Nur die geklärte und be‐ wusst akzeptierte Positionalität – und das bedeutet etwa: die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu einer Konfession oder Frömmigkeitskultur, die Prägung durch die eigene Glaubensbiographie oder den theologischen Bildungsweg und dessen Curriculum – ermöglicht, die unwillkürliche Vor‐ eingenommenheit für die eine oder andere Position zumindest bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren und verschiedene Anliegen unparteiisch zu

52 Vgl. dazu auch Sparn, Art. Synkretismus. 53 Als anschlussfähig dürften sich hier wohl besonders Programme der Kirchengeschichte erweisen, die ihrerseits auf Kritik und Legitimierung der Gestalten des gegenwärtigen Christentums ausgerichtet sind. Solche haben in jüngerer Zeit etwa Volker Leppin und Wolf-Friedrich Schäufle vorgelegt, vgl. Leppin, Kirchengeschichte. Vgl. Schäufele, Kir‐ chengeschichtsschreibung. 54 Vgl. Gadamer, Wahrheit, 305 f.

Die Dogmatik als Arbeit am Lehrkonflikt

würdigen. 55 Eine offene und wohl am besten im Zusammenspiel mit der Praktischen Theologie zu beantwortende Frage ist, wie dieses Bewusstsein im Rahmen der theologischen Ausbildung geschult werden kann. Zweitens ist auch synchron auf die Interessen zu reflektieren, die sich aus der Verstrickung in ein akademisches oder kirchliches Konkurrenz‐ feld ergeben. 56 So sind etwa die Profilierungs- und Vernetzungszwänge einer akademischen Karriere sowie die Beteiligung an kirchenpolitischen Richtungskämpfen durchaus geeignet, die eigene Perspektive auf die Lehre zu beeinflussen. 57 Eigeninteressen bleiben der theologischen Forschungs‐ arbeit nicht äußerlich, weil sie schon vor aller echten Positionierung auf dem Forschungsfeld die Fragestellungen und Auswahl des Materials in be‐ stimmten Bahnen lenken. Es ist auch weder möglich noch wünschenswert, diese Verbindungen zu kappen, um sich einer abstrakt-interesselosen Be‐ obachterperspektive anzunähern. Denn die Ablösung von konkreten Inter‐ essen oder ein Bruch mit der praktizierten Religion bringen ebenfalls ihre Verzerrungen mit sich – dann drohen etwa ein Philologismus, der bei der Herstellung von Sinnbezügen vom konkreten Gebrauch der Lehre und den religiösen Interessen ihrer Produzenten absieht, oder die Verabsolutierung einer privilegiert-akademischen Draufsicht auf die Praxis. Deshalb führt der Weg nur über eine realistische Konstruktion des theologischen bzw. kirchenpolitischen Feldes und die transparente Offenlegung der eigenen Interessen. Dies erfordert zumindest eine präzise Selbstverortung auf dem religiösen und akademischen Feld, aber darüber hinaus auch eine Transpa‐ renzverpflichtung hinsichtlich der Strukturen, in denen theologische Ar‐ beit stattfindet. Jeder Gegensatz von positioneller und kritischer Theologie erscheint auf dieser Grundlage als schief konstruiert – kritische Theologie muss sich vielmehr immer als positionelle Theologie vollziehen, die sich der eigenen Positionalität bewusst ist und diese offenlegt. 58 Will die Dogmatik dem Evangelium als befreiender Botschaft angesichts der Mächte und Gewalten dieser Welt entsprechen, indem sie sich dem 55 Zu dieser Forderung einer Selbstobjektivierung des wissenschaftlichen Subjekts siehe oben, 2.2.5. Auf den unhintergehbar konfessionellen Standpunkt bei der Behandlung des Lehrproblems wie in der theologischen Arbeit überhaupt weist auch Ebeling hin, vgl. Ebeling, Wort, 155 f. 56 Bekanntester Versuch einer solchen Analyse ist bislang wohl: Bourdieu, Homo acade‐ micus. Für die Anwendung dieser Forderung auf die Theologie und den Ansatz einer solchen Reflexion, der gleichwohl empirisch wohl zu schwach kontrolliert und damit möglicherweise noch unzureichend gegen das eigene Ressentiment abgesichert ist, vgl. Schäfer, Hermeneutik, 128–138; 144 f. 57 In der historischen Rückschau tritt dies meist klarer hervor als mit Blick auf die Gegen‐ wart. Vgl. aber Dalferth, Radikale Theologie, 100. 58 Zu dieser bekannten Typologie vgl. Rössler, Theologie.

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Lebensraum des Glaubens und Richtschnur der Verkündigung

Ideal der reinen Lehre verpflichtet, dann muss sie sich die wirkungsge‐ schichtlichen, theologie- und kirchenpolitischen Verzerrungen des Streits um die Wahrheit soweit wie nur möglich bewusst halten, um die Argumente in diesem Streit auch möglichst unvoreingenommen gewichten zu können. Dem Ideal dieser Unvoreingenommenheit nähert man sich an, wo bei der Beurteilung einer Kontroverse weder die orthodoxen ‚Sieger‘, noch die als Häretiker gebrandmarkten ‚Verlierer‘ bevorzugt werden. Reinheit bedeutet in diesem Fall also ein Ideal wissenschaftlicher Praxis: Transparenz hin‐ sichtlich der eigenen Voraussetzungen und weitgehende Kontrolle einer sonst unwillkürlich wirksamen Voreingenommenheit für die eine oder an‐ dere Position. Folglich muss der Interessenbegriff nicht nur mit Blick auf das beschriebene Feld religiöser Konflikte, sondern auch mit Blick auf die beurteilenden Subjekte theologischer Forschung angewandt werden. 8.3.2 Lutherische Kriterien rechter Lehre Lassen sich neben diesem allgemeinen Reinheitsideal speziell für die luthe‐ rische Dogmatik weitere Kriterien identifizieren, die zur Unterscheidung rechter und falscher Lehre anwendbar sind? Diese Frage ist auf der Grund‐ lage dieser Arbeit zu bejahen. Die Kriterien zur Unterscheidung rechter und falscher Lehre sind dabei – wie insbesondere Dalferth und Lindbeck aufweisen – relativ zur Lebensform der religiösen Gemeinschaft, d.h. Kir‐ che, und aus dem Anspruch der jeweiligen Lehrgestalt selbst zu erheben. 59 Hier ist der Überschritt zu markieren zwischen der – faktisch immer schon positionell gefärbten – Reflexion auf die allgemeinen Bedingungen einer theologischen Lehrtheorie und der materialiter bestimmten Reflexion auf die rechte Lehre, die nur nach einer expliziten Positionierung auf dem kon‐ fessionellen Feld konkurrierender Lehrbildungen möglich ist. Auf dieser Grundlage lassen sich als Kriterien einerseits Aussagen als ka‐ nonisch akzeptierter Texte heranziehen (lutherisch: die biblischen Schrif‐ ten, die altkirchlichen Dogmen und die reformatorischen Lehrbekennt‐ nisse), aber daneben auch die – als solche historisch dekonstruierten, aber damit nicht sinnlosen! – Legitimationskonstrukte, die einzelnen Lehrfor‐ mulierungen beigegeben sind. Denn nach der Dekonstruktion ihres Be‐ gründungsanspruchs können sie als regulative Ideale erneut in den Blick kommen. So lassen sich mindestens fünf Kriterien identifizieren, die bei 59 Zu dieser Perspektivengebundenheit theologischer Rationalitätsstandards siehe oben, 392 (Dalferth) und 584 (Lindbeck). Die folgenden Kriterien lassen sich allerdings durchaus als lutherische Präzisierung und Systematisierung der allgemein christlichen Kriterien‐ sammlung verstehen, die Plathow in ökumenischer Absicht direkt aus den neutestament‐ lichen Schriften erheben möchte, vgl. Plathow, Lehren, 120–122.

Die Dogmatik als Arbeit am Lehrkonflikt

der Gestaltung und Prüfung verbindlicher Lehre innerhalb der lutherischen Kirchen sowie von lutherischen Theologinnen und Theologen auch im Rahmen der ökumenischen Verständigung anzuwenden sind. Erstens beansprucht die lutherische Lehre, in Ursprungstreue das Zeugnis der ersten Kirche zu bewahren und zu bekennen. Als Kirche Jesu Christi weiß sie sich bleibend bezogen auf das Christusgeschehen von Tod und Auferstehung Jesu, wie es von den Auferstehungszeugen nachösterlich be‐ zeugt wurde und in den neutestamentlichen Schriften niedergelegt ist. Sie steht damit immer auch in – durch Kreuz und Auferstehung spezifisch gebrochener, aber nie aufgehobener – Kontinuität zur vorösterlichen Je‐ susgemeinde, zum Monotheismus Israels und der Überlieferung der alt‐ testamentlichen Schriften. Die rechte Lehre hat daher dafür zu sorgen, dass diese Ursprungsbeziehung intakt und lebendig bleibt. Das bedeutet, gerade in der geschichtlich-dynamischen Entwicklung des kirchlichen Kom‐ munikationsprozesses die Verwiesenheit auf dieses Ursprungsgeschehen aufrecht zu erhalten, statt einen bestimmten Zustand der Religions- oder Kirchengeschichte zu konservieren. Innerhalb des Überlieferungsprozesses der christlichen Verkündigung ist darauf zu achten, dass diese bleibende Abhängigkeit der Kirche und des Glaubens von der eschatologischen Heils‐ offenbarung Gottes in der geschichtlichen Person Jesus Christus festge‐ halten und bewusst bleibt. Sind dabei Phasen unterschiedlicher Nähe zum Ursprung denkbar, so kann dieses Kriterium an einzelne Lehrgestalten und Zustände kirchlicher Organisation angelegt werden: Inwiefern lassen sie sich unter gewandelten Rahmenbedingungen als Ausdruck der Treue zum Ursprung der Kirche verstehen? Inwiefern ermöglichen sie, dass das Evan‐ gelium als befreiende Botschaft der Rechtfertigung um Jesu Christi willen gehört und angeeignet wird? Darüber hinaus gilt für die lutherische Theologie zweitens eine sote‐ riologische Fokussierung der kirchlichen Lehre auf die Rechtfertigung des Sünders als verbindlich. Dies bringen die Reformatoren explizit mit der Bezeichnung der Rechtfertigungslehre als articulus stantis et cadentis ec‐ clesiae zum Ausdruck, implizit auch mit dem wiederkehrenden Verweis der Bekenntnisse auf die Heilsbedeutung des Werkes Jesu Christi, das zum Trost der angefochtenen Gewissen zu verkünden ist. 60 Die prakti‐ sche Ausrichtung der Lehre auf den Gewissenstrost in der Anfechtung ist dabei keinesfalls nur psychologisch und sozial stabilisierend zu verstehen. Denn die tröstende Verkündigung an Einzelne und Gemeinden ist gerade dann notwendig, wenn das Bekenntnis zu Christus in einen Gegensatz zu den herrschenden Verhältnissen und damit in die Kreuzesnachfolge führt.

60 So etwa Luther in seinen Schmalkaldischen Artikeln, vgl. BSELK, 726–729.

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Diese soteriologische Fokussierung verhindert, dass die kirchliche Lehre den Glauben exklusiv und unabänderlich auf eine bestimmte Metaphysik, eine gesellschaftliche Moral oder eine bestimmte Gestalt der sozialen Insti‐ tutionenwelt festlegen könnte. 61 Stattdessen ist die Ausrichtung aller kirch‐ lichen Vollzüge und Institutionen auf das Evangelium von Jesus Christus festzuhalten. Drittens entspricht dieser Fokussierung auf die soteriologische Mitte der Evangeliumsbotschaft auch die grundlegende Unterscheidung von doctrina und disciplina: Nur direkt oder zumindest indirekt auf die tröstende An‐ eignung des Heils in Christus bezogene Aussagen und Vollzüge haben Anspruch auf lehrmäßige Kodifizierung. Und nur Differenzen, die die‐ sen Bereich der doctrina betreffen, können theologisch einen Bruch der kirchlichen Gemeinschaft rechtfertigen oder die Verpflichtung zum sozia‐ len Frieden mit Christen anderer Konfession und Nichtchristen aufheben (d.h. im Extremfall ein genuin religiöses Widerstandsrecht begründen). Re‐ gelungen, die um der guten Ordnung in Kirche und Gesellschaft willen vor‐ genommen werden, sind dagegen – jedenfalls innerhalb eines weiten, durch die Ursprungstreue gesteckten Rahmens – hinterfragbar und wandelbar, aber grundsätzlich zu tolerieren. In diesem Zusammenhang erscheint es als sachgemäß, wenn nicht sogar notwendig, auch lehrmäßig eine klare Grenze zwischen dem Gefüge der religiösen Lehrinstitutionen und einer säkularen, gegenüber dem Einfluss religiöser Orthodoxiestrukturen möglichst unab‐ hängigen Rechtsordnung anzuerkennen. Diese ermöglicht die Aufrechter‐ haltung einer gesellschaftlichen disciplina selbst unter den Bedingungen des unversöhnlichen Lehrstreits, aber gewährleistet mit der positiven wie negativen Religionsfreiheit auch das Recht der Einzelnen, sich aufgrund von Differenzen hinsichtlich der doctrina (oder schlichtem Unglauben) von einer Glaubensgemeinschaft loszusagen und von deren Ansprüchen zu be‐ freien. Mit der soteriologischen Fokussierung und dieser Unterscheidung sach‐ lich eng verbunden ist viertens auch das reformatorische Satis-Prinzip der Lehrgenügsamkeit, welches das zugrundeliegende theologische Interesse noch einmal bezüglich eines anderen Aspektes zuspitzt. 62 Denn die Trost‐ funktion der Lehre setzt gemeinsam mit dem Ideal religiöser Mündigkeit,

61 Reformatorische Lehre beschränkt sich nach Ebeling auf das, was „Kirche zur Kirche macht“ und aus der Perspektive des Evangeliums den „Charakter des schlechterdings Notwendigen“ (Ebeling, Wort, 173) besitzt. Auch Karl Gerhard Steck schärft ein, dass heutzutage der Begriff der Häresie nur noch in Fragen von soteriologischer Relevanz Anwendung finden darf, vgl. Steck, Wahrheit, 43 f. Zur Unverzichtbarkeit und Erschlie‐ ßungskraft des Häresiebegriffs vgl. dazu Wirsching, Kirche. 62 Vgl. hier auch Ebeling, Wort, 170–173.

Die Dogmatik als Arbeit am Lehrkonflikt

das grundsätzlich alle Glaubenden darauf verpflichtet, die Lehre ihrer Kir‐ che zu verstehen und argumentativ zu vertreten, eine breite und effizi‐ ente Vermittlung dieser Kerngehalte voraus. Nicht zuletzt durch diesen Anspruch auf allgemeine Verständlichkeit und Verbindlichkeit sind der lutherischen Lehre die inhaltliche Beschränkung auf das Notwendige und die Knappheit ihrer sprachlichen Ausdrucksgestalt auferlegt. Hier kommt der kritische Minimalismus eines praktischen Ökonomieprinzips zur An‐ wendung, das jedem umfassend-systematischen Anspruch theoretischer Rekonstruktion entgegenwirkt. Seinen Ausdruck findet dieses Kriterium nicht nur in einer Unterscheidung zwischen Fundamentalartikeln, sekun‐ där vertiefenden Lehrartikeln und Adiaphora – einer Unterscheidung, die im Vergleich zum Überschwang der Barocktheologie deutlich strikter und eher nach Maßgabe des Augsburger Bekenntnisses gehandhabt werden sollte. Es findet zudem auch seinen Niederschlag in einer hermeneutischen Ausrichtung der Lehre auf die biblischen Schriften, zu deren eigenständiger Lektüre die Lehre anleiten will. Daher sollten Lehrformulierungen nur Fin‐ gerzeige und ‚Leitplanken‘ einer angemessenen Auslegung bieten, statt der interpretierenden Beschäftigung und existenziellen Anwendung mit dem Bibeltext schon so stark vorzugreifen, dass der Anschein einer Ersetzung der Schrift durch die Lehrtexte entstehen kann. Der Pflicht zur persönlichen Verantwortung hinsichtlich der Lehre korrespondiert schließlich auch das Recht auf eine individuelle Aneignung der Heilsverkündigung, woraus sich eine Selbstbeschränkung der öffentlichen Lehre gegenüber dem privaten Glauben ableitet. 63 Schließlich und fünftens verweist – scheinbar paradox – bereits das Ideal der Ursprungstreue auf einen eschatologischen Horizont, womit sich eine Klammer zum ersten Kriterium schließt. 64 Denn Kreuz und Auferstehung Jesu Christi sind Heilsgeschehen nicht als vergangenes historisches Da‐ tum, sondern als schlechthin einmaliges Geschehen, das dem eschatologi‐ schen Selbsterweis des trinitarischen Gottes vorgreift. Konkret wird dieser Selbsterweis als Wiederkunft Christi zum Gericht erhofft, die auch die end‐ gültige Entscheidung aller Lehrstreitigkeiten mit sich bringen wird. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass hier kein Begriff, sondern ein konkret-reli‐ giöses Vorstellungsbild die Funktion eines theologischen Kriteriums ein‐

63 Die Lehre darf folglich trotz ihrer Verbindlichkeit niemals auf eine bloße Wiederholung ihrer Lehrformeln zielen: „Vielmehr muß überlieferte Sprache freimachen zu eigenem Sprechen ; und dasselbe kann möglicherweise nur dadurch gesagt werden, daß es anders gesagt wird“ (ebd., 167). 64 Dieser eschatologische Horizont lässt sich bei allen hier dargestellten Positionen aufwei‐ sen, wobei Bultmanns präsentische Eschatologie einen Sonderfall und tendenziell eine Vereinseitigung darstellt, siehe oben, 86.

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nimmt, das sich in Regeln für sprachlich verfasste Lehre transformieren lässt. Jede Lehrgestalt, die ihrem Anspruch nach dem Christusgeschehen treu bleibt, ist nicht nur auf immer neue Bewährung an der gegenwär‐ tigen Wirklichkeit angelegt, sondern zugleich auch immer unterwegs zu ihrer eschatologischen Bewahrheitung – und überbietenden Korrektur im Lichte der Ewigkeit. 65 Diese allgemeine Struktur theologischer Aussagen erscheint noch einmal konzentriert, wenn die rechte Lehre im Akt eines öffentlichen Bekenntnisses vor Gott und der Welt (lat. in statu confessionis) oder angesichts einer Verfolgungssituation zur Sprache gebracht wird. 66 Die christliche Lehre wird dann als Wahrheit artikuliert und persönlich af‐ firmiert in der Hoffnung, dereinst von Gott in Christus selbst bestätigt oder zurechtgebracht zu werden: „Wer nun mich bekennt vor den Menschen, zu dem will ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel“ (Mt 10,32). Dieser Aspekt, der alle konkreten kirchlichen Lehrartikulationen auf charakteristische Weise relativiert gegenüber einer allein dem wiederkeh‐ renden Christus vorbehaltenen Souveränität, wird am Ende dieser Arbeit noch einmal aufzugreifen sein. An dieser Stelle ist bereits festzuhalten: Diese Vorstellung des Endgerichts als Scheidung von wahrer und falscher Lehre impliziert, dass dem persönlichen Bekenntnis des Glaubens ein in‐ haltlicher Bezug auf die Lehre und ein spezifischer Bewahrheitungsan‐ spruch implizit sind. Dieser wiederum erfordert, dass ein Höchstmaß an sprachlicher und sachlicher Deutlichkeit angestrebt wird. Gefordert ist da‐ bei neben sachlicher Klarheit auch sprachliche Disziplin, für deren kon‐ krete Ausgestaltung gleichwohl zeitbedingt unterschiedliche Akzente ge‐ wichtet und verschiedene Sprachkriterien herangezogen werden können. Das Glaubensbekenntnis, das sich vor der Welt zur rechten Lehre hält, muss darauf zielen, so klar und eindeutig wie möglich artikuliert zu sein, weil es sich der göttlichen Bewahrheitung oder Falsifizierung ja nicht durch Un‐ klarheit oder Mehrdeutigkeit entziehen will, sondern schon ‚hier und heute‘ eschatologische Position bezieht. 67 Diese Klarheit klagen altprotestantische Theologen wie Johann Hülsemann, Johann Conrad Dannhauer oder Abra‐ ham Calov gegenüber den sog. Synkretisten ein, die – ihrer Meinung nach – Lehrdifferenzen aus politischem Kalkül oder mangelnder Einsicht in die

65 Vgl. Pannenberg, Aussage, 174–180. Vgl. auch ders., Wahrheit, bes. 220–223. 66 Zum biblischen Hintergrund dieses Bekenntnisverständnisses vgl. auch Plathow, Leh‐ ren, 126 f. Vgl. auch Kaufmann, Bekenntnis, 308–312. Vgl. ferner Ebeling, Wort, 170. 67 Überhaupt aussichtsreich könnten solche Ausweichversuche ja nur durch eine sündhafte Verblendung erscheinen, die meint, den ‚herzkündigen‘ Gott (vgl. Apg 15,8) damit täu‐ schen zu können.

Die Dogmatik als Arbeit am Lehrkonflikt

tatsächliche Tragweite der Unterschiede verschleiern wollen. 68 Diese Klar‐ heit betrachtet ganz analog auch Herms als unverzichtbare Grundlage aller ökumenischen Bestrebungen. 69 In dieser Positionalität des Bekenntnisses ist ferner immer eine – aktuelle oder zumindest potentielle – Abgrenzung von anderen Positionen mitgesetzt. Ob zu einem solchen Bekenntnis des‐ halb auch die explizite Verwerfung falscher Lehren gehören muss, lässt sich unterschiedlich beurteilen und vielleicht auch gar nicht unter Absehung von konkreten Herausforderungen entscheiden. 70 Wenn die Verwerfung unausgesprochen und der positiven Darlegung der eigenen Position impli‐ zit bleibt, hat dies nicht zuletzt den Vorteil, dass man sich einem abschlie‐ ßenden Urteil über den ‚eigentlichen‘ Sinn konkurrierender Lehrgestalten enthalten kann. Ist mit dieser Einsicht in die Positionalität und Geschichtlichkeit jeder Lehrbildung das Problem konkurrierender Lehren und Lehrbekenntnisse aufgeworfen, lässt sich hier eine theologische Interpretation des dynami‐ schen Geschehens der geschichtlichen Lehrentwicklung anschließen. Die leitende Vorstellung vom Wirken des Heiligen Geistes in diesem Gesche‐ hen kann nicht nur auf Grundsätze einer angemessenen Ausgestaltung der kirchlichen Lehrinstitutionen hinweisen, sondern möglicherweise auch zur agonistischen Transformation religiöser Konflikte beitragen. 71 Aus dem ge‐ meinschaftszerstörenden Kampf unversöhnlicher Gegensätze kann dann ein Wettstreit (griech. ἀγών) radikal verschiedener, aber in ihrer Verschie‐ denheit produktiv zusammenwirkender Gesamtentwürfe werden.

68 Siehe oben unter 4.1.5 und 4.1.6 c). Ob sie die Motive ihrer Gegner damit angemessen erfasst haben und ihre konkreten Urteile hinsichtlich der Unverzichtbarkeit bestimmter Lehrabgrenzungen überzeugen, ist noch einmal eine andere Frage. 69 Siehe oben unter 6.7.3. Vgl. auch Ebeling, Wort, 159. 70 Die Praxis der Lehrverwerfung begegnet im Augsburger Bekenntnis und wird in der Kon‐ kordienformel programmatisch aufgegriffen. Auch von Dannhauer wird die Notwendig‐ keit des Anathematismus wiederholt eingeschärft. Die Lehrverwerfung wurde daneben etwa von Bonhoeffer verteidigt und mit der Barmer Theologischen Erklärung angesichts konkreter Bedrohungen vollzogen. Ihre Unverzichtbarkeit schärft auch Wirsching ein, weil gerade im Damnamus die christliche Wahrheit ihren „Aufstand gegen den Tod“ voll‐ ziehe und sich als Evangelium gegen das entropische „Gefälle zum Nichts“ (Wirsching, Wahrheit, 171) behaupte. 71 Inspiration für diesen theologischen Vorschlag bietet – neben den hier bereits dargestell‐ ten Konzepten der Religions- und Lehrtheorie – auch die agonistische Politiktheorie, wie Chantal Mouffe und Ernesto Laclau sie ausgearbeitet haben, vgl. dazu Mouffe, Illusion, bes. 7–47; vgl. dies., Agonistik, 11–43.

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8.4 Das Wirken des Geistes im Streit um die Wahrheit Der Glaube als innerliche Bestätigung und Bewährung einer Lehrgestalt wurde oben unter 8.1.2 bereits als Werk des Heiligen Geistes am Men‐ schen verstanden. 72 Aber auch der geschichtliche Überlieferungsprozess, innerhalb dessen sich das Symbolsystem der christlichen Lehre entwickelt und einzelne Artikulationsgestalten durchläuft, lässt sich theologisch so interpretieren, dass er sich unter dem Wirken des Geistes vollzieht. Die‐ ses Wirken ist allerdings verborgen, also der Geschichte oder einem ihrer Teilbereiche – etwa der Dogmenentfaltung oder einem ‚mythologischen Prozess‘ – nirgends eindeutig abzulesen. 73 Der Heilige Geist ist personale Wirkmacht, die das Individuell-Ge‐ schichtliche und das Allgemein-Ewige dynamisch vermittelt. Er heiligt die Einzelnen, indem er sie in eine geschichtliche Gesamtbewegung hinein‐ zieht, die auf die ewige Vollendung des göttlichen Schöpfungsplans und da‐ mit zugleich auf die Seligkeit der Einzelnen zielt. Im Offenbarungsgesche‐ hen übergreift er das Gegenüber zwischen einem schlechthin innerlichen, jedem menschlichen Zugriff entzogenen Persongrund und den kirchlichen Manifestationen des christlichen Lebenszeugnisses. Er tut dies spekulativ – also durch eine Spiegelungsbewegung wechselseitiger Präsentwerdung, die neben der Differenz von Zeuge und Zeugnis auch das Gegenüber der be‐ zeugenden und hörenden Person festhält. 74 Das Geistwirken schaltet die Einzelnen nicht gleich und lässt die Fülle der Ausdrucksformen des Glau‐ bens nirgends in eine tote Identität mit ihrem Ursprung zusammenfallen, sondern versöhnt und verbindet das Verschiedene. Dieser Geist kommt an den Einzelnen somit immer durch die äußer‐ lichen Ausdrucksformen des Offenbarungszeugnisses (lat. verbum exter‐ num) zu seiner heiligenden Wirkung, indem er dieses Zeugnis innerlich bewährt (lat. verbum internum), den Menschen zur Aneignung und Ein‐ stimmung provoziert und sie damit zugleich in die Gemeinschaft des Leibes 72 Zum engen Zusammenhang von Lehrproblem und Pneumatologie, der auch bei Luther hervortritt, vgl. Ebeling, Wort, 170 f. 73 Vgl. Plathow, Lehren, 123, der darauf hinweist, dass sich schon bei der Herausbil‐ dung des Kanons als dem Musterprozess der Lehrbildung anonyme historische Struktur‐ entwicklungen, theologische Entscheidungen, pastorale Bewährung und pneumatisches Wirken so durchdringen, dass sie nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Im Folgenden wird insbesondere auf Gedanken zurückgegriffen, die in der Auseinander‐ setzung mit der Konzeption von Eilert Herms entwickelt wurden. Zu dieser siehe oben, Kapitel 6. 74 Für die im Wortsinn „reflektierende“ Struktur des Zeugnisbegriffs vgl. auch Geyer, Über‐ legungen, 269–276; bes. ebd., 271.

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Christi einbezieht. Glaube und Gemeinde erscheinen in diesem Geschehen als strikt gleichursprünglich. Urvollzüge dieses gemeinschaftlich vermittel‐ ten Offenbarungsgeschehens sind die nachösterliche Erfüllung des Grün‐ donnestagsgebotes und die Fortsetzung der Taufpraxis Jesu durch seine Jüngerinnen und Jünger. In beidem ist eine vorbereitende und auslegende Lehrtätigkeit der Apostel notwendig eingeschlossen. Denn sakramentales Handeln erhält seine Bestimmtheit und Verständlichkeit als performative Vergegenwärtigung nur im Zusammenspiel mit der Wortverkündigung, die wiederum auf Vorwissen hinsichtlich der Erzähltraditionen, der Sym‐ bolsprache und des Vokabulars aufbaut. Diese umfassende Lehrpraxis ver‐ weist zugleich immer auf die performativen Darstellungen des christlichen Symbolsystems in liturgischem und sakramentalem Handeln zurück. 75 All diese Vollzüge bilden das gottesdienstliche Zentrum, aus dem das ganzheit‐ liche Lebenszeugnis der Gemeinde seine Bestimmtheit und Kraft bezieht, wenn es im Zusammenspiel der christenmenschlichen Berufe und in situa‐ tiven Akten der Nächstenliebe tätig wird. 76 Durch dieses Zusammenspiel von rituell-performativen und verkündi‐ genden Vollzügen bestimmt, vergegenwärtigt sich der Heilige Geist immer konkret als Geist Jesu Christi, wie er in der Lebensgeschichte des inkar‐ nierten Gotteswortes auf unüberbietbare Weise wirksam war und bleibt. Zugleich wird er als Geist Gottes und dritte Person der Trinität bekannt: der Geist der Liebe, der vom Vater auf den Sohn übergeht und zum Vater zurückkehrt, der die gesamte Schöpfung in diese Bewegung hineinzieht und in dieser Einholungsbewegung Vater und Sohn verherrlicht. Der Geist Got‐ tes wird daher nicht nur in den Glaubenden als Geist Jesu Christi wirksam, sondern ist schon als verborgenes Lebensprinzip in der gefallenen Schöp‐ fung und ihren mannigfaltigen Einzelgestalten am Werk. Wo er wirkt, da richtet der Geist die Einzelnen in ihren konvergenten und widerstrebenden Lebensbewegungen auf eine gemeinsame Mitte aus – Jesus Christus als den „Spiegel des väterlichen Herzens“, der selbst Gott und Mensch so inein‐ ander spiegelt, dass in der engsten Vereinigung die Unterschiedenheit des

75 Auch hier ist Dannhauers ‚emblematisches‘ Kriterium einer wechselseitigen Klärung von Bildebene und Sprachebene aufzugreifen und sakramentstheologisch zu fundieren, siehe oben 190; ferner siehe oben unter 4.2.1. Anhand von Luther vgl. auch Steiger, commu‐ nicatio idiomatum, bes. 16–23. 76 Man kann mit Hans-Georg Geyer sagen: Das „spezifische Dasein christlicher Kirche be‐ steht in der Bezeugung derselben Wahrheit, von der die biblische Überlieferung Kunde gibt“ (Geyer, Überlegungen, 261). Dass in diesem umfassenden Lebenszeugnis die Lehre keinesfalls „zu einer scholastischen quantité négligeable“ (ebd., 264) wird, ist nicht zu‐ letzt darin begründet, dass sie für die bleibende Beziehung des Zeugnisses zur bezeugten Wahrheit einsteht.

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echten Gegenübers gewahrt bleibt. 77 Gott wird Mensch, ohne dass Mensch‐ heit und Gottheit zusammenfallen oder die geschichtliche Individualität Jesu Christi einer abstrakten Gottmenschheit geopfert wird. Dieser Gott‐ mensch hat das Heilswerk von Kreuzestod und Auferstehung vollbracht, auf das sich das Evangelium als tröstliche und befreiende Verkündigung der Rechtfertigungsbotschaft bezieht. Auf der Grundlage dieser freilich nur rudimentär skizzierten Pneumato‐ logie ist nun eine präzisierte Vorstellung vom Wirken des Geistes im Pro‐ zess der kirchlichen Lehrentwicklung zu entwerfen (8.4.1). Im Anschluss daran findet sich ein konkreter Vorschlag, welche Konsequenzen dieses Verständnis für die Ausgestaltung des Ensembles kirchlicher Leitungs- und Lehrinstitutionen haben könnte (8.4.2). 8.4.1 Eine agonistische Theorie der Lehrentwicklung Das durch das Zeugnis der Kirche vermittelte Wirken des Heiligen Geis‐ tes ist nun – so soll hier vorgeschlagen werden – nicht nach dem Modell einer einfachen Ermächtigung der überliefernden Kirche zu verstehen. 78 Ein solches Modell ließe sich in etwa so konstruieren: Der Geist ermäch‐ tigt bestimmte Individuen in der christlichen Gemeinde, fügt sie zu einer geordneten Körperschaft zusammen, leitet diese unfehlbar in ihrer Lehr‐ tätigkeit und schafft unter dieser Leitung eine harmonische Gemeinschaft. Alle, die sich aus dieser Gemeinschaft lösen und ihren Regeln nicht un‐ terwerfen, fallen aus dem Bereich des Geistwirkens heraus, so dass eine scharfe Grenze zwischen den Geistbesitzenden einerseits, den Häretikern und Ungläubigern andererseits zu ziehen ist. Der Geist wäre damit einzel‐ nen Amtsträgern oder einer Einzelgemeinschaft wie ein Besitz überantwor‐ tet: aus dem auch der Kirche gegenüber souveränen Geist Jesu Christi wird der verfügbare Geist einer Partikularkirche. Diese Partikularkirche müsste sich konsequenterweise als exklusive Partei Gottes in der Welt begreifen. Ist mit diesem Fundamentalgegensatz von Kirche und Welt normalerweise die Vorstellung einer hierarchischen und geschlossenen Organisation ver‐ bunden, lässt sich auch auf Seiten der Glaubenden keine echte Vielfalt der Lebensformen und Aneignungsgestalten der Lehre mehr denken. Die christliche Freiheit erscheint dann als Gehorsam gegenüber dem Partiku‐ largeist der Kirche und seinen bevollmächtigten Trägern, aber zugleich als

77 Vgl. Luther in seinem Großen Katechismus: BSELK, 1068, Z. 10–15. 78 Ein solches Modell kritisiert Herms bei Rahner und dem römisch-katholischen Lehramt, siehe oben unter 6.7.1. Ob diese Kritik die römisch-katholische Position tatsächlich trifft, kann hier offen bleiben. Vgl. auch Vogel, Satz.

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Befreiung von der Welt und deren konkurrierenden Partikulargeistern. 79 Einem letztlich statischen Ideal innerkirchlicher Harmonie, das nur ober‐ flächliche Verschiedenheit zulassen kann, korrespondiert ein unversöhnli‐ cher Dualismus von Kirche und spirituell feindlicher Welt. Angesichts dieser Konsequenzen scheint ein solches Modell wenig at‐ traktiv. Für eine Alternative ist stattdessen bei Dannhauers grundlegen‐ der Überzeugung anzusetzen, dass der eigentliche Ort der Wahrheit die freie und öffentliche Disputation ist. 80 Hinzuzunehmen ist die ebenfalls bei Dannhauer auffindbare Beobachtung, dass Gottes Geist in der Geschichte vielfach die häretische Infragestellung als Anlass zur fortschreitenden Ex‐ plikation und Befestigung der Lehre gebrauchen kann. 81 Nach dieser Vor‐ stellung wirkt Gottes Geist die Versöhnung der Gegensätze so, dass er die bleibenden Interessenkonflikte innerhalb der Gemeinschaft der gerechtfer‐ tigten Sünder dazu nutzt, neue Kombinationsmöglichkeiten der christli‐ chen Grundsymbole und damit neue, zeitgemäße Gestalten des Lehrsys‐ tems zu verwirklichen. 82 Die Wahrheit der Lehre wird der Kirche oder einzelnen Theologen nie als Besitz verfügbar. 83 Gottes Geist inspiriert oder ratifiziert diesem Modell zufolge nicht einfach die Lehrartikulationen der führenden Theologen, sondern wirkt im Streit um die Wahrheit – und zwar häufig so, dass gegnerische Positionen dialektisch aufgehoben und in einer neuen Lehrgestalt vermittelt werden. Das ermöglicht eine Trennung der Person der Theologinnen und Theo‐ logen von ihrem theologischen Werk. Wenn im Geistprozess manche Posi‐ tionen als orthodox affirmiert, andere als häretisch kritisiert oder überbo‐ ten werden, dann impliziert dies kein negatives Urteil über die Integrität der Personen oder deren Heilsstand. 84 Dies trägt auch der Beobachtung Rechnung, dass viele Kontinuitätslinien erst in der historisierenden Rück‐

79 Diese Konstruktion hat den Charakter eines idealtypischen Modells und ist nicht mit der Behauptung verbunden, dass damit etwa die Position des römisch-katholischen Lehram‐ tes angemessen erfasst wäre. 80 Vgl. Bolliger, Methodus, 169f; 174. Zum Bedeutung der akademischen Disputation als Institution der Wahrheits- und Konsensfindung in der nachreformatorischen Theologie vgl. auch Appold, Orthodoxie, 15–35; 64–77. 81 Siehe oben, 254; 271. 82 Dies liegt grundsätzlich auf der Linie der Verhältnisbestimmung von orthodoxen und heterodoxen Elementen, die bereits Schleiermacher um der Lebendigkeit der Lehre willen vorgenommen hat, vgl. Schleiermacher, Darstellung, §§ 203–208 (2. Aufl.). Vgl. ferner Axt-Piscalar, Dogmatik, 101 f. 83 Dies ist auch das zentrale Anliegen hinter Vogels Konzeption des „Herrengeheimnisses“, vgl. Vogel, Satz, 183; 189. Vgl. ferner Geyer, Überlegungen, 275. 84 Vgl. zur Möglichkeit dieser Zweideutigkeit und den Konsequenzen dieser bleibenden Spannung auch Rahner, Häresie, 539–541.

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schau sichtbar werden und beispielsweise eine kurzfristige, scheinbar un‐ hinterfragte Orthodoxie im Horizont einer distanzierten Betrachtung als ‚häretische‘ Episode erscheinen kann. 85 Die Vertreterinnen und Vertreter der orthodoxen wie der heterodoxen Position sind vor Gott nicht um ih‐ rer theologischen oder kirchenpolitischen Leistungen willen gerechtfertigt, sondern unabhängig davon. Und sie sind dies gerade als komplementäre Pole eines Gesamtprozesses, in dem sich der Geist Jesu Christi so manifes‐ tiert, dass er einen an sich destruktiven Konflikt verarbeitet und für sich und die Gemeinde in Leben verwandelt. Dies bedeutet nun allerdings nicht notwendig, dass auch einzelnen Betei‐ ligten oder den am Streit Unbeteiligten der Rückzug auf eine menschliche Vermittlungsposition jenseits der streitenden Lager möglich wäre. In die‐ sem Fall müsste sich der Konflikt ja als nur uneigentlicher Gegensatz entlar‐ ven lassen. 86 Es ist aber zumindest mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die religiösen Interessen, die in einem Konflikt auf dem Spiel stehen, tatsäch‐ lich widerstreitend und die Lehrartikulationen daher in ihrer Sprachgestalt und Sachintention unversöhnlich sind. 87 Und es steht den widerstreitenden Lagern auch die Hoffnung offen, dass gerade ihr theologischer Beitrag vom Wirken des Geistes bestätigend aufgegriffen und vertieft wird, statt als Ma‐ terial für einen dialektischen Gegenstoß in einer vielleicht sogar konträren Lehrgestalt aufgehoben zu werden. Nicht zuletzt darf jede Partei darauf hoffen, dass ihre Position im eschatologischen Gericht von Christus be‐ wahrheitet und die Position der Gegenseite entsprechend zurechtgebracht wird. Aber ist die Gleichursprünglichkeit von Orthodoxie und Häresie ein‐ mal durchschaut, dann erzwingt der Geist, der im Zwischenraum streitender Lehrpositionen wirkt und auf beiden Seiten das Feuer des Eifers um die rechte Lehre anfacht, die Konsequenz einer Rechtfertigung des Spalters. Auf der Basis einer solchen Vorstellung vom Wirken des Geistes im Zwischenraum dürfte sich auch das Verhältnis der Theologie zu kon‐ kurrierenden Wissenschaftsprojekten (beispielsweise der Soziologie Pierre Bourdieus) dynamischer und angemessener bestimmen lassen als mit den Modellen einer bloßen Kontradiktion oder gar einer ‚einseitigen Kapitu‐ lation‘. Und eröffnet dies nicht zuletzt eine Denkmöglichkeit, den Streit um die Wahrheit, den die Religionen untereinander austragen, theologisch

85 Vgl. Jenson, Theology, 18–20. 86 Ebeling konstatiert, dass eine solche Auflösung zumindest auf der Ebene des konfessio‐ nellen Gegensatzes nur äußerst selten möglich ist, vgl. Ebeling, Wort, 159. 87 Diese Unversöhnlichkeit der religiösen Interessen haben Dannhauer und andere luthe‐ rische Theologen im Synkretismusstreit geltend gemacht gegen alle Versuche, das Kon‐ fliktpotential der innerevangelisch strittigen Lehren als nur scholastischer Distinktionen ohne Bezug zum Kern der Frömmigkeit zu entschärfen.

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als ‚edlen Wettstreit‘ und Wirkraum des einen Gottesgeistes zu verstehen? Hier erscheint es lohnenswert, die Ringparabel aus G. E. Lessings Nathan der Weise noch einmal auf ihre Tragfähigkeit als Leiterzählung des in‐ terreligiösen Dialogs zu befragen, wobei insbesondere die Einsicht in die nicht durch ein allgemein anerkanntes Kriterium oder eine unabhängige Instanz entscheidbare Konkurrenz der Wahrheitsansprüche herauszuar‐ beiten wäre. 88 Zu einem solchen agonistischen Verständnis des Geistwirkens passt je‐ denfalls Bourdieus bedenkenswerte These, dass die in der kirchlichen Feld‐ logik eingeschriebenen Konflikte erst die notwendigen Differenzierungen und Anpassungen des christlichen Lehrsystems ermöglichen, die der Kir‐ che erlauben, breite Gesellschaftsschichten zu erreichen und geschichtlich zu überdauern. 89 Sollte dies der Fall sein, dann darf die streitende Kirche (lat. ecclesia militans) ihr Idealbild nicht in der statischen Harmonie eines hierarchisch geordneten Heereszuges 90 oder nur scheinbar moderner: einer religiösen Einheitskultur sehen. 91 Sie müsste sich als auch intern streitende, also dynamische Einheit einer in sich pluralen Kirchengesellschaft mit teils widerstrebenden Interessen verstehen und dies auch als sachgemäß wür‐ digen: Eine kirchliche Öffentlichkeit, in der Spaltungen sein und bleiben müssen (1Kor 11,19), aber diese dennoch nicht als endgültige Trennung festgeschrieben werden, weil sich eine tiefere Einheit durch den Geist im‐ mer wieder einstellen wird. 92 Im Vergleich mit Eilert Herms’ Programm ei‐ nes ‚Pluralismus aus Prinzip‘ erscheint diese Vorstellung weniger defensiv, da die Hoffnung auf eine im Durchgang durch den echten Konflikt jeweils neu gewonnene und darin möglicherweise vertiefte Einheit eine positive Vision anbietet, statt nur das Verbot einer gewaltsamen oder rhetorischen Überwältigung festzuschreiben. Auf diesem Wege könnte nicht zuletzt die Pluralität der Konfessionen und die innerkirchliche Vielfalt verschiedener Frömmigkeitskulturen stärker gewürdigt werden.

88 Zu dieser Einsicht, die in der Problemkonstellation der Ringparabel narrativ entfaltet ist, siehe oben bei Lindbeck unter 7.2.6. Zur Diskussion um die Tragweite dieser Konzeption siehe exemplarisch die Beiträge in: Tück/Langthaler, Wette. 89 Siehe oben, 90. 90 So etwa Dannhauers barocke Leitvorstellung, siehe oben, 259. 91 In diese Richtung tendiert Lindbeck, wenn er – um der Erhaltung der freien Gesellschaft willen! – ein kirchliches Sektierertum erwägt. Vgl. dazu Eckerstorfer, Kirche, 102–106; 148. 92 Von einer produktiven „Spannung, die die Bemühung um vertieftes Verstehen in Gang hält“ (Ebeling, Wort, 159), geht auch Ebeling aus. Diese sieht er im Verhältnis von Wort Gottes und kirchlicher Lehre begründet. Koch führt dieses wiederum auf eine grundle‐ gende Spannung zwischen Ewigkeit und Endlichkeit zurück, vgl. Koch, Freiheit, 245.

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Auf jeden Fall lässt sich mit einer solchen Konzeption der Kritik Bour‐ dieus begegnen, dass die religiöse Ideologie einer kirchlichen Versöhnung aller Gegensätze den echten Konflikt der Interessen verdrängen und damit immer den Herrschaftsverhältnissen zuarbeiten muss. 93 Es wäre kirchen‐ politisch zumindest zu bedenken, ob ein die religiösen Interessen und Un‐ terschiede theologischer Positionen relativierendes Zudecken von Konflik‐ ten dem kirchlichen Leben nicht auf Dauer mehr schadet als theologische Lagerbildung und eine gut gepflegte innerkirchliche Streitkultur. Es könnte sein, dass die ‚synkretistische‘ Leitvorstellung eines einheitlichen Außen‐ bildes und geschlossenen Auftretens in der Öffentlichkeit einer ‚asymme‐ trischen Demobilisierung‘ unter den engagierten Christenmenschen zu‐ arbeitet, die ihren Glaubenseifer unter einer kirchlichen Harmoniekultur erstickt sehen. 8.4.2 Der Rahmen der kirchlichen Institutionen Allerdings erhebt sich angesichts dieser pneumatologischen Neubewertung des religiösen Konflikts wohl zurecht ein intuitives Unbehagen, sobald man an die Gewaltgeschichte der Religionen und Konfessionen denkt. Um die‐ sem Unbehagen zu begegnen, reicht es noch nicht aus, darauf hinzuweisen, dass es meist gerade die theologisch-religiösen Uniformitätsideale waren, die diesen Konflikten ihre vernichtende Schärfe gegeben haben. 94 Stattdes‐ sen verweist dieses Unbehagen auf die Notwendigkeit robuster und effizi‐ enter Institutionen innerhalb der Kirche sowie auf dem religiösen Feld. 95 Denn die theologischen und religiösen Konflikte müssen institutionell ein‐ gehegt werden, um das religiöse Gewaltpotential zu entschärfen. Eine Antwort auf der gesellschaftlichen Ebene des religiösen Feldes ist unter den Bedingungen einer religiös-pluralen Gesellschaft dem säkula‐ ren, das heißt aufgrund seiner unabhängigen Institutionalisierung mög‐ lichst unparteiischen Religionsverfassungsrecht aufgetragen. Wie aber sind die kirchlichen Institutionen zu gestalten, damit der Heilige Geist seine Wirkung der dynamischen Versöhnung echter Gegensätze entfalten kann?

93 Vgl. dazu auch Müller, Bourdieu, 85 f. 94 Für die Beobachtung der „sakralisierten Schärfe“ religiös-politischer Mischkonflikte aus ethnologischer Sicht siehe oben, 58. Die Forschung zum Konfessionellen Zeitalter kann hier eine Vielzahl weiterer Beispiele anführen, für eine knappe Analyse vgl. Burkhardt, Krieg, 128–178. 95 Die Herausbildung solcher Institutionen im Zuge des Dreißigjährigen Krieges beschreibt etwa Heckel, Deutschland.

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Dazu lassen sich auf der Basis reformatorischer Theologie zumindest einige Grundlinien angeben. 96 a) Der religiöse Gewaltverzicht Das erste Glied in der Kette dieser Institutionen ist das reformatorische Prinzip, dass das kirchliche Amt non vi sed verbo, also allein mit der Gewalt des Wortes und der überzeugenden Argumentation, in der Hoffnung auf innere Bewahrheitung durch den Geist selbst auszuüben ist. 97 Das bedeutet, dass alle Konflikte um die rechte Lehre, in denen der Geist der Wahrheit sich manifestieren soll, gewaltlos und in einem möglichst freien Diskurs gleichberechtigter Partner auszutragen sind. Herms ‚Pluralismus aus Prin‐ zip‘ hat sein Recht darin, dieses Prinzip der Gewaltlosigkeit in einer Theorie der Gewissensbindung zu verankern. Die Eskalation religiöser Gegensätze zur gewalttätigen Auseinandersetzung erscheint daher als schlechthin nicht zulässig. Immer gilt hier das Vorbild Jesu und insbesondere dessen Wort an seinen eifernden Jünger: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der wird durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, und er würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken?“ (Mt 26,53f). Wie diese Gewaltlosigkeit des religiösen Diskurses wirksam zu gewähr‐ leisten und institutionell zu sichern ist – nicht zuletzt extern durch das Gewaltmonopol des Staates, der über die Religionsfreiheit der Bürger und Religionsgemeinschaften wacht –, lässt sich unterschiedlich beantworten und ist hier nicht zu diskutieren. Gerade innerhalb der Kirche ist aber über die staatlich garantierten Minimalbedingungen hinauszugehen und ein weiter Gewaltbegriff anzulegen, der nicht nur physische Gewalt, son‐ dern auch subtilere Arten, Druck auf Menschen auszuüben, als legitime Mittel im religiösen Konflikt ausschließt. Es erscheint sachgemäß, sich ein möglichst striktes Überwältigungsverbot für missionarische Verkündigung und apologetische Auseinandersetzungen aufzuerlegen. b) Unabhängigkeit des Predigtamtes Darüber hinaus ist das Predigtamt als Gegenüber zur Gemeinde zu gestalten und mit einer relativen Freiheit auszustatten, so dass die Gottesdienstge‐ meinde intern eine wechselseitige Korrektivfunktion von Wortdienst und

96 Für einen alternativen Vorschlag, der am strukturellen Gegenüber von theologischem und kirchlichem Lehramt orientiert ist, vgl. Koch, Freiheit, 231–250. 97 Für eine klassische Argumentation bei Melanchthon ausgehend vom regnum Christi und dem eschatologischen Vorbehalt einer Scheidung von Gerechten und Ungerechten vgl. LocPr2, 216–221.

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Gemeindevertretung verankert hat. 98 Dies ist nicht nur deshalb sachgemäß, weil damit das Wort Gottes in der Doppelgestalt von Gesetz und Evange‐ lium der Gemeinde tatsächlich zugesprochen wird. Wenn das Amt völlig von der Gemeinde und ihren Mehrheitsverhältnissen abhängig wäre, dann würde dies dem Missverständnis Vorschub leisten, als ob die Verkündigung eine Selbstdarstellung der Gemeinde in ihrer Geschlossenheit wäre und das Wort aus der Einheit der Gemeinde ihre Kraft bezöge. Der Geist Gottes aber wirkt den Glauben nicht nur durch den Eindruck der Einheit und Geschlos‐ senheit einer Kirche, sondern gerade im Zwischenraum des wechselseitigen Zeugnisses verschiedener Individuen. Daher muss die Verkündigung im‐ mer individuell, in relativer Freiheit, gewagt und persönlich verantwortet werden. Gleichzeitig dürfen Amtsträgerinnen und Amtsträger sich nicht als Herrscher über die Gemeinde missverstehen, weshalb sie sich als Gegen‐ über zur Gemeinde auf dem Boden der Gemeinde zu begreifen und der umfassenden Kritik ihrer Lehre durch die Gemeinde auszusetzen haben. 99 Ihr Dienst ist ausgerichtet auf die Förderung des allgemeinen Lehramtes, das von allen Getauften gemeinsam zu verantworten ist. Der Freiheit der Verkündigung und des Gewissens der Amtsträger korrespondiert die Frei‐ heit der Gemeindeglieder, deren private Religion und innerlicher Glaube dem Zugriff des Amtes entzogen bleiben müssen – Versuche einer Glau‐ bensprüfung oder einer umfassenden Kirchenzucht sind daher nicht ange‐ messen. 100 Die Auseinandersetzungen um die rechte Lehre der Gemeinde sind auf die öffentliche Verkündigung, die Verwaltung der Sakramente und die Ordnung gemeinsamer Vollzüge (etwa der missionarischen oder diako‐ nischen Tätigkeit) zu beschränken. Mit Blick auf diese gemeinsamen Vollzüge muss es allerdings die Mög‐ lichkeit geben, dass Gemeindeglieder von den Amtsträgern persönliche Rechenschaft über ihre öffentliche Lehr-, Verkündigungs- und Leitungstä‐ tigkeit einfordern. Geyer spricht diesbezüglich im Rückgriff auf Luther von einer „ekklesiologischen Gewaltenteilung“ zwischen dem predigenden (lat. ekklesia praedicans) und dem hörenden Teil der Gemeinde (lat. ekklesia au‐ diens). 101 Dies wiederum bedeutet aber, dass es innerhalb der Kirche eine allgemeine Lehrunterweisung geben muss, die ein elementares Verständ‐

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In einem zweiten Schritt kann dann, wie von Koch vorgeschlagen, auch die wissenschaft‐ liche Theologie als ein Gegenüber zur Kirche und ihren Leitungsämtern institutionali‐ siert werden, vgl. Koch, Freiheit, 244. 99 Vgl. ebd., 245 f. 100 Entsprechend ist auch die reformatorische Praxis eines öffentlichen Predigt- oder Kate‐ chismusverhörs zu kritisieren. 101 Geyer, Überlegungen, 280. Vgl. zu dieser Forderung ebd., 279–284.

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nis hinsichtlich der wesentlichen Lehrgehalte in der Gemeinde vermittelt und möglichst viele Gemeindeglieder zum Streit um die Lehre befähigt. Nur wenn – mit einem juristischen Bild gesprochen – annähernde ‚Waffen‐ gleichheit‘, also auf beiden Seiten eine basale und praktische theologische Kompetenz im Umgang mit dem christlichen Symbolsystem, gegeben ist, kann man alle Beteiligten auf eine theologische Bearbeitung ihrer Kon‐ flikte im geschwisterlichen Gespräch über die Lehre verpflichten. 102 Dieses Bildungsideal einer allgemeinen Mündigkeit der Gemeindeglieder ist dem christlichen, zumindest jedenfalls dem protestantischen Lehrbegriff einge‐ schrieben. c) Das Schriftprinzip Die Rechtfertigungspflicht der Amtsträger verweist daneben auch auf die Notwendigkeit, einen allgemeinen Standard zur theologischen Beilegung von Konflikten zu etablieren. An dieser Stelle kommt für die protestanti‐ sche Theologie das reformatorische Schriftprinzip (lat. sola scriptura) ins Spiel, das sich in einer konflikttheoretischen Reformulierung durchaus be‐ währen dürfte. Denn wo der Streit um die rechte Verkündigung aufkommt, muss er in einem geteilten Rahmen beziehungsweise auf einer gemeinsa‐ men Grundlage geführt werden. Die Kriterien rechter Lehre müssen dazu möglichst klar umrissen und praktisch zu handhaben sein, sie dürfen zudem keine – verschleierte oder explizite – Vorentscheidung zugunsten der akademisch und theologisch geschulten Amtsträgerinnen und Amtsträger bedeuten. Dies wäre bei ei‐ nem allzu weit gefassten Traditionsbegriff leicht der Fall, insofern dann das zu berücksichtigende Material und dessen Gewichtung schnell nur noch für berufsmäßig damit vertraute Spezialisten überschaubar wäre. Wird das Lehrkriterium der Ursprungstreue dagegen als Schriftgemäßheit präzisiert und der Kreis der kanonischen Autoritäten auf die biblischen Texte be‐ schränkt, so ist damit angesichts der inneren Pluralität dieser Schriften noch keine Vorentscheidung hinsichtlich bestimmter Frömmigkeitskultu‐ ren getroffen, aber doch annähernd gewährleistet, dass mündige Gemein‐ deglieder sich auch ohne theologische Ausbildung kompetent an Lehraus‐ einandersetzungen beteiligen können. Eine bestimmte Auslegungsmethode darf dabei freilich genauso wenig festgeschrieben werden wie die Gewich‐ tung einzelner Bibelstellen, doch die allgemeine Ausrichtung auf die Mitte der Schrift in Jesus Christus, die befreiende Botschaft des Evangeliums als

102 Vgl. ebd., 283.

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Fluchtlinie der Auslegung sowie der gemeindliche Gebrauch der Schrift sind als maßgeblicher Kontext festzuhalten. 103 Dies bedeutet gerade nicht, dass Vernunft- und Erfahrungsargumente aus dem Diskurs ausgeschlossen sind, doch alle am Konflikt Beteiligten sind damit verpflichtet, ihre eigenen Vernunftgründe und Erfahrungen anhand der Schrift prüfen zu lassen und einer Kritik von der Schrift her auszuset‐ zen. 104 Anspruch auf gemeindliche, also intersubjektive Geltung darf erhe‐ ben, was sich in dieser Diskussion auf der gemeinsamen Basis der Schrift bewährt – ohne dass mit einer solchen Entscheidung auch das Gewissen der Einzelnen gebunden wird. Zu bedenken allerdings ist, dass dieses Kri‐ terium seine Wirkung verfehlen dürfte, wenn der mündige Umgang mit der Schrift nicht durch eine regelmäßige Frömmigkeitspraxis eingeübt wird und ein Grundbestand biblischer Texte nicht mehr im Leben der Glauben‐ den verankert ist. 105 Aus dieser Grundbedingung ergeben sich Folgerungen für die Gestaltung kirchlicher Unterweisung, Bildungsarbeit und Gottes‐ dienstpraxis, die hier allerdings nicht auszuführen und grundsätzlich im Zusammenspiel mit der Praktischen Theologie zu diskutieren sind. d) Synodalität der Leitungsstruktur Die inneren Interessenkonflikte, deren Unausweichlichkeit nicht nur zuge‐ standen werden soll, sondern denen hier auch eine konstitutive Funktion für die Lebendigkeit des kirchlichen Lebens zugesprochen wurde, erfor‐ dern außerdem, dass die Leitungsstruktur der Kirche auf allen Ebenen nicht monarchisch, sondern synodal konzipiert wird. 106 Allein synodale Gremien, zusammengesetzt aus Amtsträgerinnen und Amtsträgern sowie gewählten Gemeindegliedern, die einen möglichst breiten Ausschnitt verschiedener Berufe und Lebensalter bilden, können die konstitutive Spannung zwischen Amt und Gemeinde sowie die innere Vielfalt der gemeindlichen Sozial‐ struktur auch nur näherungsweise abbilden. In synodalen Diskussionspro‐ zessen, die sich dem Schriftprinzip unterstellen, kann der Heilige Geist sich 103 Zu den hier aufbrechenden Fragen sei verwiesen auf Dalferth, Wort. Vgl. komplemen‐ tär auch die Beiträge in Costanza u.a., Claritas. 104 Für den Vorschlag einer Kriteriologie, die von der praktischen Bewährung der umfas‐ senden Assimilationskraft einer von der Bibel her strukturierten Symbolwelt bezüglich fremder Wahrheitsansprüche und neuer Erfahrung ausgeht, vgl. Marshall, Absorbing, 70–82; 93–95. 105 Zu Lindbecks Hoffnung auf einer Erneuerung der Kirche vom Schriftgebrauch der Ge‐ meinde her vgl. Eckerstorfer, Kirche, 184–186. Eckerstorfer kritisiert dabei aus ka‐ tholischer Perspektive die Vernachlässigung von Tradition und Lehramt. 106 Für eine Übersicht über die Vertreter synodaler und episkopaler Modelle, die kirchliche Ämterstruktur ausgehend von der reformatorischen Lehrverantwortung aller Christen zu gestalten, vgl. Plathow, Lehren, 127 f.

Das Wirken des Geistes im Streit um die Wahrheit

des Agonismus der konkurrierenden Interessen bedienen, um seiner Kirche tragfähige Lösungen für wechselnde Herausforderungen zuzuspielen, sie in der Wahrheit zu halten und ihr immer neues religiöses Leben einzuhau‐ chen. 107 Dazu sind diese Synoden allerdings dezidiert als geistliche Leitungs‐ organe und theologische Lehrinstitutionen zu verstehen, nicht allein als Verwaltungsgremien und Austragungsort für innerkirchliche Verteilungs‐ kämpfe. Wenn die Lehrautorität einer Kirche bei der Synode verankert wird und strittige Lehrfragen in ihr zur Entscheidung kommen müssen, spricht dies gerade nicht gegen die Einrichtung und Beauftragung von Ausschüs‐ sen, die theologisches und allgemein wissenschaftliches Material bündeln, Lehrartikulationen entwerfen und so einem Konsens vorarbeiten. Insbe‐ sondere in solchen beratenden Gremien kann – neben der Vorarbeit für die gemeindliche Unterweisung und Verkündigung – die Dogmatik als wissen‐ schaftliche Disziplin ihre kirchliche Funktion erfüllen. 108 e) Das Konsensprinzip bei Lehrentscheidungen Die Synode und ihre Praxis ist schließlich und letztens auch die angemes‐ sene Form, die Ausrichtung der Kirche auf das Ideal eines großen Konsen‐ ses (lat. magnus consensus) in der Lehre zum Ausdruck zu bringen. Dieses Ideal widerspricht dabei nicht der Anerkennung legitimer Konflikte, weil seine Manifestation in jedem Fall als dem menschlichen Handeln unver‐ fügbares Ereignis verstanden wird. Nicht die Gemeinde oder Synode stellt den großen Konsens her, sondern er wird von ihr erhofft und möglicher‐ weise durch den Heiligen Geist geschenkt. Jeder Konsens, der sich so auf der Synode einstellt und auch über sie hinaus in der Kirche Zustimmung findet, ist als Werk des Geistes und Vorgriff der eschatologischen Zukunft der Kirche. Das Konsensprinzip ist immer dann verpflichtend, wenn Entscheidun‐ gen im Bereich der doctrina zu fällen sind – Entscheidungen hinsichtlich der disciplina, also der Ordnung der kirchlichen Vollzüge und Organi‐ sation, können auch als unterschiedlich qualifizierte Mehrheitsentscheide ausreichen. 109 Solange sich aber kein Konsens herstellen lässt oder auch die 107 Zur Aufgabe der kirchlichen Lehrinstitutionen, einer Verabsolutierung einzelner Po‐ sitionen entgegenzuwirken und so den Freiraum für Positionalität offenzuhalten, vgl. Koch, Freiheit, 247 f. 108 Vgl. ebd., 244. 109 Plathow verweist im Zusammenhang mit Lehrbeanstandungen kritisch auf die bibli‐ schen Schriften, die eine Trennung von Lehre und Leben nicht kennen, doch ließe sich wohl auch in seinem Sinne die Unterscheidung von doctrina und disciplina als präzi‐ sierende Auslegung des biblischen Befundes vertreten, solange eine abstrakte Trennung ausgeschlossen bleibt, vgl. Plathow, Lehren, 129 f. Vgl. auch Ebeling, Wort, 172 f.

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Zuordnung eines Problems zu doctrina oder disciplina – also die soterio‐ logische Bedeutung des betreffenden Konflikts – umstritten bleibt, kann keine definitive Entscheidung gefällt und der Konflikt nur so eingehegt werden, dass die kirchliche Gemeinschaft weiterhin gepflegt werden kann. Diese theologische Unterscheidung dürfte daher die wenigsten der aktuell virulenten Konflikte beseitigen, bei denen ethische Streitfragen, Differen‐ zen in Schriftgebrauch und theologischer Hermeneutik sowie konkurrie‐ rende Zeitdiagnosen meist so verschränkt sind, dass sie kaum entflochten werden können. Allerdings könnte sie hilfreich sein, um die einzelnen Teil‐ fragen abzuschichten sowie die Bedingungen einer Einigung und die theo‐ logisch legitimen Handlungsoptionen innerhalb eines solchen Konfliktes präziser zu bestimmen. Koch formuliert hier als prägnante Regel: „Nötig ist, daß die strittige Sache deutlich markiert wird, nicht primär daß sie ‚ent‐ schieden‘ wird“. 110 Der große Konsens in der Lehre ist nicht durch kirch‐ liche Entscheidungen hervorzubringen, sondern allein als Selbstdurchset‐ zung der göttlichen Wahrheit im Streit der auf die Mitte in Christus ausge‐ richteten Positionen zu erhoffen. Solange das nicht geschieht, ist der Streit bis auf weiteres und in der Hoffnung auf eine konsensual verantwortbare Klärung auszuhalten – oder die Konsequenz echter Spaltung auf sich zu nehmen, die dann aber auch Einzelne persönlich zu erklären, vor Gott und den Menschen zu verantworten haben. Die lutherischen Bekenntnisse und insbesondere die Confessio Augu‐ stana von 1530 werden innerhalb des konfessionellen Luthertums als Ur‐ situation lutherischen Bekennens und zugleich geistgewirkte, unüberbiet‐ bare Manifestationen eines eschatologischen Konsenses verstanden. 111 Sie erinnern nicht nur historische Ereignisse, sondern adressieren bleibende Bedrohungen der Kirche, gegen die sie das Evangelium als befreiende Bot‐ schaft und zugleich schlechthin bindende Wahrheit aufbieten. Sind diese Konsensdokumente für das Luthertum als eigenständige christliche Kon‐ fession konstitutiv und ein bleibender Bezugspunkt, schließt das nicht aus, dass der Streit um die Wahrheit auf der Basis der Schrift und unter der Leitung des Geistes erneut zu einem großen, als verbindlich anerkannten Konsens führt. Dieser Konsens dürfte aber in der Regel Einzelfragen be‐ treffen, die in den alten Bekenntnissen noch nicht abzusehen waren, doch unter gewandelten Bedingungen das Kirchesein der Kirche, die Treue zu ihrem Ursprung und den Gewissenstrost der Einzelnen bedrohen. In öku‐ menischer Perspektive ist ebenfalls zu erhoffen, dass sich in Einzelfragen oder auch hinsichtlich der konfessionellen Lehrgestalten in ihrer Ganzheit

110 Koch, Freiheit, 249. 111 Vgl. auch Ebeling, Wort, 169 f. Vgl. ferner Axt-Piscalar, Theologie, 132–149.

Epilog: Vollendung des Stückwerks

weitere Lehrvereinbarungen nach dem Modell der Leuenberger Konkordie erzielen lassen, die eine Vertiefung der Kirchengemeinschaft ermöglichen, ohne die Vielfalt und Verschiedenheit der Konfessionen aufzuheben. In den Zwischenzeiten vollzieht sich in der Frömmigkeit der Einzelnen und im Gottesdienst der Kirche eine stetige Auslegung, Umbildung und Neukombination der symbolischen Elemente, die die habitualisierten und expliziten Gestalten der christlichen Lehre in immer neuer Annäherung an die göttliche Wahrheit verknüpfen – eine Wahrheit, deren Verheißung die Konfessionen und Religionen noch im Streit verbindet. 112 Denn wie der katholische Theologe Karl Rahner prägnant und treffend formuliert hat: „Die Häresie ist nur unter Brüdern des Geistes möglich“. 113 8.5 Epilog: Vollendung des Stückwerks Dem Prozess der Lehrbildung und Lehrentwicklung ist mit seiner escha‐ tologischen Fluchtlinie ein inneres Ideal eingeschrieben: Der Weg soll vom Konflikt zur versöhnter Verschiedenheit und von der Zersplitterung zur ge‐ stalteten Vielfalt führen. Diese Versöhnung muss zunächst die christlichen Kirchen einbeziehen, aber weitet sich aufgrund des allgemeinen Anspruchs Gottes auf die Menschheit notwendig über diesen Bereich hinaus zum Frie‐ den zwischen den Religionen und Weltanschauungen. Eine solche Bewe‐ gung ist nirgends einfach an der Geschichte der Beziehungen zwischen den Kirchen oder Religionen abzulesen, aber aufgrund der biblischen Verhei‐ ßung als Hoffnung zu verkünden und präsent zu halten. Diese begründen einen Überhang an Vertrauen, dass auch echte Konflikte nicht zum unwi‐ derruflichen Bruch und zum Untergang der Kirche führen, sondern über Umwege früher oder später in vertiefte Gemeinschaft münden. Indem dieses Ideal entschieden festgehalten und hier noch einmal be‐ kräftigt wird, ist dem erwartbaren Vorwurf zu begegnen, mit einer Kon‐ flikttheorie der Lehre würde lediglich der gegenwärtige Zustand der Spal‐ tung theologisch überhöht und einem zynischen Interessenkalkül Raum innerhalb der Kirche gegeben. Dies ist nicht der Fall, denn hinter diesem theologischen Vorschlag stehen vielmehr – neben der Hoffnung auf einen Gewinn an theoretischer Beschreibungskraft – genuin religiöse Anliegen: Die Unterscheidung von Gotteswerk und Menschenwerk konsequent zur Geltung zu bringen; die Lehre der Kirche als geschichtlich-dynamische Größe zu verstehen; totalitären Modellen kirchenpolitischer oder auch ge‐

112 Zu diesem übergreifenden Wahrheitshorizont vgl. Koch, Freiheit, 238–242. 113 Rahner, Häresie, 529.

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sellschaftlicher Gleichschaltung im Namen der Vielfalt und Freiheit der Ge‐ schöpfe wirksam entgegenzutreten; auch eine Rechtfertigung des Spalters glauben zu dürfen, an der reformatorische Christenmenschen schon aus konfessioneller Selbstachtung ein Interesse haben müssen. Über allem steht die Hoffnung auf eine Versöhnung der Gegensätze, die nicht von mensch‐ lichem Tun, sondern von Gottes endgültiger Selbstoffenbarung erwartet wird. Unbefriedigend muss dies nur erscheinen, wenn man diese eschatolo‐ gische Fluchtline als Entwirklichung der innergeschichtlichen Versöhnung und Entmutigung auf der Suche nach konkreten Fortschritten versteht. Dies aber scheint dem christlichen Glauben und seiner Wirklichkeitsauffassung nicht angemessen. Solange die gefallene Menschheit noch im Kampf zwischen den Wirk‐ mächten der Sünde und dem Heiligen Geist steht, wird auch jede ein‐ zelne Lehrgestalt sich in mehr oder weniger starker Weise der Vereinseiti‐ gung, der Undeutlichkeit, der Unvollständigkeit und der Verzerrung durch Partikularinteressen schuldig machen. Es gibt diesseits der letztgültigen Selbstoffenbarung Gottes keinen festen Besitz der göttlichen Wahrheit. De‐ ren Vollendungsgestalt wird erhofft als die seligmachende Wahrheit, die in umfassender Weise die Sinne, den Willen und den Verstand in Über‐ einstimmung mit der ewigen Wirklichkeit des trinitarischen Lebens Gottes bringt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ (1Kor 13,12). Dies umfasst auch die Versöhntheit der Gemeinde unter dem Herrn Jesus Christus und die Einheit der Menschheit im ewigen Frieden Gottes (vgl. 1Kor 15,28). Bis dahin ist die Wahrheit nur zu erreichen als immer neuer Vorgriff auf ihre Vollendung, als erstrebtes Ziel und ereignishaft geschenktes Angeld. Sie wird nie Besitz, sondern ihr wird nachgejagt in der Hoffnung auf immer neue Bewährung im Geist und endgültige Bewahrheitung durch das Ur‐ teil Christi, der sich zum Unvollkommenen bekennt und es dadurch wahr macht. Die dogmatische Arbeit an der Lehre ist ein menschliches Werk, von dem auch im Fall dieser Fallstudien und ihrer Interpretation gilt: „Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden. Der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen; denn mit Feuer wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist, wird das Feuer erweisen“ (1Kor 3,12f).

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10 Register 10.1 Sachregister Abendmahl 31, 150, 153–155, 157, 160 f, 163, 187, 194, 204, 213, 220, 241, 257, 269, 273, 280, 507, 608 Abendmahlsgemeinschaft 507 Abgrund/Abyss 159, 193, 246, 299 Absolutheit 353, 392, 514 f, 517 Absorption, absorbing 324, 576, 585–587, 589 Abstraktion, Abstraktheit 50, 99 f, 111, 337, 339, 358, 367, 400, 403, 484, 546, 576, 593, 612 Adiaphora 121, 147, 174–178, 182, 197, 246, 300, 505, 625 Agon, Antagonismus 71, 74, 88, 259, 396, 455, 457, 639 Agonistik 627, 630–634 Akademismus 85 Akkomodation 299 Akteur 65, 71 f, 75 f, 86 f, 95 f, 116, 620 religiöse Akteure 77, 79, 115 Allgemeinheit 34, 38, 244, 257, 335, 389, 422, 601 Allgemeinheitsanspruch 70 Gattungsallgemeinheit 412 Alt- und Neuprotestantismus 41, 325, 329–331 Ambivalenz, ambivalent 56 f, 59, 65, 74, 78, 82, 85, 101, 106, 108, 149, 184, 331, 369, 374, 580, 607, 615, 617 Amme, Ammendienst 223, 225, 227 Amt 19, 74, 138, 141 f, 144–146, 148, 169, 181, 197, 205, 219, 222, 228, 247, 260 f, 264, 312–314, 358, 449, 451, 454, 458, 461 f, 467 f, 475, 487, 635 f, 638 Amtsautorität 454, 472, 475, 611 Amtscharisma 80 Amtsführung 451 Amtsgewalt 313 Amtsphilosophie 397 Amtstätigkeiten 615 Amtsträger 19 f, 31, 36, 43, 80, 95, 137, 141, 155, 169, 179, 181, 212, 236 f, 263,

270, 312, 319, 321, 328, 380, 449–451, 453, 458, 460, 462, 467, 469, 477, 502, 610, 630, 636–638 Amtsverständnis 94, 459, 502 f apostolisches Amt 255 bischöfliches Amt 260 Bischofsamt 122 Amtsphilosophie 376 Anatomie 191, 239, 255 Aneignung 26, 34, 43, 80 f, 112, 135, 145, 149 f, 153 f, 160–162, 172, 180 f, 188, 215, 217 f, 280, 291, 294, 317, 321, 323, 330, 338, 355, 367, 397, 430, 437, 450 f, 453, 471, 488, 497, 598, 600, 618, 624 f, 628, 630 Anfechtung, angefochten 74, 108, 114, 120, 125, 129, 148, 160–162, 164, 169, 176, 180 f, 192, 202, 208, 210, 215, 217, 254 f, 270, 277 f, 281, 298 f, 309, 318, 324, 355, 401, 623 Anonymes Christentum 559 f Antithese, Antithetik 185 f, 190, 258, 309, 318, 320, 333 Apokalyptik, apokalyptisch 43, 124, 152, 166, 175, 189, 238, 265, 276, 319 Apologetik, apologetisch 29, 130, 212, 349, 357, 362, 392, 422, 426, 464, 468 f, 471–473, 477, 496, 498, 517, 523 f, 546, 581, 588, 635 Arianismus 271, 569 Artikulation 34, 38, 43, 59–61, 108, 111–113, 115, 162, 346, 369, 377, 380, 383–385, 418 f, 434 f, 461–463, 468, 473 f, 485–488, 491, 494, 496, 498, 510, 512, 514, 518 f, 535, 547, 564, 600–602, 609–611, 613, 618, 628 Atheismus 89, 224, 255, 372 Aufklärung 24 f, 44, 130, 183, 325–327, 330, 332, 366, 368, 374, 399, 449, 459, 483, 502, 576, 597 Aussage, Aussageform 24, 27–36, 38, 44, 52, 60, 65, 83, 98 f, 107, 132, 136, 162, 164,

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Register

169, 172, 180, 196, 204, 206, 226, 285, 301, 319, 321, 326, 335–337, 339, 343, 347, 349, 352 f, 362, 367 f, 373, 389, 403, 418, 422, 431, 436, 446, 453, 466, 468–470, 474 f, 486, 489, 493 f, 499, 501, 512, 531 f, 535, 542 f, 550–556, 559, 562, 564 f, 575, 585, 589, 591, 597, 599 f, 607, 610–612, 622, 624, 626 Aussageintention 301, 534 Aussagezusammenhang 398, 466, 470, 474, 490, 493, 551, 600 Autorität 20, 38, 40, 51, 54, 76, 81, 93, 123, 127, 139, 178, 182, 187, 228, 247, 253, 268, 282, 299, 304, 307, 315, 330, 359 f, 374, 379, 395, 401, 407, 417, 419, 446, 458, 462, 472, 475, 479, 497, 509, 511, 543, 570, 572, 574, 591, 601, 610 f, 615, 618 Antiautoritarismus 493 Autoritätenbeweis 495 Autoritätsbeweis 493 Schriftautorität 117, 133, 141, 202, 295, 298, 315, 350, 473, 479, 482, 637 Barmer Theologische Erklärung 329, 370, 453, 485, 627 Beichte 30, 146, 154 Bekenntnis 30–33, 37, 43, 58, 83, 106, 115, 118 f, 123, 125, 128 f, 147 f, 165–171, 175 f, 178, 181 f, 189, 213, 229, 242, 259, 264–279, 304, 307, 309, 311 f, 319, 341, 370 f, 377, 379–381, 383 f, 393 f, 396, 440, 444–446, 456, 469, 478, 486, 497, 511, 559, 561, 569, 623, 626 f, 640 Altkirchliche Bekenntnisse 171, 177, 216, 266, 270, 476, 504, 509 Apostolikum 32, 125, 154, 159, 164, 234, 266, 272, 491 Athanasium 32 Augsburger Bekenntnis 32, 43, 116–130, 143, 150, 152, 166, 171, 174, 177, 179, 183, 249, 267–269, 275, 445 f, 472, 490, 625, 627, 640 Bekenntnisakt 31, 34, 105, 168, 178 f, 370, 374, 394, 552, 626 Bekenntnisbildung 370 Bekenntnisbindung 612 Bekenntnisfall 148, 175 Bekenntnishermeneutik 171, 491 Bekenntnisinhalte 367

Bekenntnisverständnis 165, 270 Betheler Bekenntnis 329 Dreigliedrige Bekenntnisformel 168 Glaubensbekenntnis 626 Herzensbekenntnis 277 Lehrbekenntnis 32, 43, 61, 105, 115, 130, 153, 169, 178–181, 221, 270, 275, 305, 327, 374, 394, 446, 455 f, 490 f, 519, 568, 622, 627 Nizäno-Konstantinopolitanum 266 Nizänum 32, 266, 270, 277 Ursituation 166, 179, 266, 282, 640 Wortbekenntnis 520 Bekenntniskorpus 172, 178, 181 Bekenntnisschriften 32, 116 f, 131, 153, 165, 216, 280, 440, 597, 614, 618 f Bewusstwerdung 74 f, 102–106, 111 Bild, Bildlichkeit 51, 60, 62, 68, 86, 93, 115, 128, 132, 154, 190–192, 194 f, 200 f, 203, 209, 214, 216 f, 219, 221 f, 230, 236, 239, 241 f, 245 f, 248, 250, 253, 255, 257–259, 261 f, 264 f, 267, 276, 278 f, 284–286, 290 f, 293, 296, 299, 302, 305 f, 308, 311, 316–318, 320, 426, 495, 525–527, 529 f, 533, 550, 565, 599, 629, 637, 642 Bilderverbot 291 Bildung 84, 88, 102, 145, 184, 230–232, 280, 325, 412, 430, 441, 451, 491, 601, 620, 637 f Ausbildung 34, 36, 68, 84, 87 f, 116, 122, 131, 179, 183, 202, 232 f, 253, 384, 388, 437, 450–453, 458, 477, 579, 610, 615, 621, 637 Bildungsgeschehen 430, 436 Bildungsprogramm 43, 181 Bildungsprozess 85, 108, 409, 412, 434, 450 f Bischof, Bischofsamt 20, 87, 115, 122 f, 152, 160, 181, 231, 261, 263 f, 312 Episkopat 19, 86, 88, 91, 93 Summepiskopat 314 Brüste 200, 204, 220, 225, 230, 279 Chaos 53 f, 59, 401, 580 Christus Christusbekenntnis 431, 552, 559

Sachregister

Christusbotschaft 120, 418 f, 429 f, 434, 436 f, 440, 442, 464, 493, 495, 559, 603, 618 Wohltaten Christi 126, 134 f, 139, 150 Common sense 48, 51–54, 59–61, 72, 83, 550, 599 f Dasein 70, 77, 99, 333–339, 341 f, 355 f, 362, 410, 425, 434 f, 456, 478, 515–517, 520, 629 Auslegungsbedürftigkeit 408 Daseinsgewissheit 490 Definition, offizielle bzw. verbindliche 71, 83 f, 95, 108, 121, 288, 440, 507, 525, 528, 551, 567, 570, 615 Determinismus 63, 97, 517 Strukturdeterminismus 62, 64, 66 Dialektik, dialektisch 42, 63–66, 72, 80, 82, 85, 90, 94, 99, 109 f, 185 f, 207, 293, 303, 329, 366, 368, 372 f, 377, 394, 398, 482, 547, 594, 631 f dichte Beschreibung 48 f, 56, 60, 576 Didaktik, didaktisch 130, 154, 164, 189, 205–211, 221, 285, 290, 294 f, 319, 321, 402, 602 Diskurs 36, 50, 72, 74, 84, 89, 94, 103, 105, 111, 176, 178, 319, 330, 375, 384, 392, 465, 478, 502 f, 505, 516, 525, 542 f, 546, 551, 554, 568, 591, 620, 635, 638 prophetischer Diskurs 79 Disposition 52, 54, 61, 63 f, 69, 77, 90, 95, 196, 294 Disputation 126, 164, 185, 255, 274 f, 280, 282, 304, 325, 631 Dogma 30, 32 f, 57, 69, 80 f, 85, 90, 117, 137, 360, 364, 383, 394, 396, 399, 501, 504, 543, 567–570, 575, 594, 622 Dogmenentwicklung 32, 171, 470, 481, 628 Dogmengeschichte 470 f, 620 Papstdogma 504 Dogmatik 17, 21 f, 33, 35, 38, 60 f, 131, 293, 305, 320, 330, 365 f, 369, 383, 386, 453, 465–467, 494, 501, 536 f, 562, 590–592, 598, 613 f, 617–627, 639 Aufgabe 17, 33, 466 Lehrbücher 21 Dogmatikkompendium 283, 294

Doxa 69, 72–75, 78 f, 83, 94, 98, 108, 611, 616 Doxologie 28, 30, 32–34, 60, 324 Eid, Fahneneid 228, 270 Eigenleib 424, 428, 436 Eigentlichkeit 335, 338 Einheit 19, 31–33, 84, 86, 118, 146, 163, 166, 174, 295 f, 299 f, 311, 329, 369, 377, 391, 393 f, 403, 414, 432, 441, 458, 472–474, 500, 502, 511, 523, 525, 527, 538 f, 546, 555, 566, 568, 618, 633, 636, 642 Einheitlichkeit 80, 88, 91, 100, 299, 387, 451, 468, 568 Einheitskultur 633 Eintracht, concordia 118, 120, 124 Einübung 43, 84, 156, 158, 161 f, 164, 181, 191, 193, 204, 222, 233 f, 289, 469, 534, 582, 593 Eltern 155, 222, 231, 233–236, 458 Emblem, emblematisch 44, 188, 240, 290 f, 293, 305, 320, 323, 613, 629 Entdifferenzierung 501, 503 Entdogmatisierung 491–495 Entfremdung 36, 338 Entgegenständlichung 544 Entscheidung 69 f, 73–75, 108, 113 f, 315, 338 f, 341–344, 356, 366, 402, 420 f, 432, 439–442, 449 f, 454, 456, 467, 474, 480, 517, 530, 540, 542, 561, 570, 581, 585 f, 602, 606, 617, 619 f, 625, 628, 638–640 Entscheidungsruf 339, 343, 366 f, 603 Entscheidungsvermögen 314 Leitungsentscheidung 442, 449, 454 Enzyklopädie, theologische 340, 347, 403 Erfahrung 53 f, 56, 59, 73, 85, 89, 92 f, 98, 105 f, 108, 142, 160, 191, 199, 244, 256, 278, 280–282, 368, 371 f, 375, 391, 393 f, 401 f, 406, 408–411, 423 f, 426, 431 f, 435, 451, 454, 479, 489, 495, 499, 531 f, 534 f, 543, 545–549, 553 f, 556 f, 559, 565 f, 575, 578, 587, 602, 604, 606, 638 Differenzerfahrung 240, 582 Erfahrungsraum 194, 327, 401 Erfahrungswelt 92, 105, 409 Erfahrungswirklichkeit 492 Evidenzerfahrung 419, 603 Gewissheitserfahrung 428

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Glaubenserfahrung 361, 393, 603 Grunderfahrung 401 f, 545, 568 Ontologie der Erfahrung 408, 426 religiöse Erfahrung 33, 422, 433, 545 f, 548, 557, 560, 565, 584 Selbsterfahrung 393, 519 Sinnerfahrung 544 Tiefenerfahrung 545 f, 562, 593 Urerfahrung 546 Wahrheitserfahrung 423 Welterfahrung 43, 212, 317, 323, 376, 401, 425, 471 Wirklichkeitserfahrung 451 Erinnerung 127, 132, 192, 334, 432, 487, 531, 612 szenische Erinnerung 432 f, 478, 487 Tauferinnerung 613 Erschließung 51, 59, 200, 211, 253, 280, 319, 398, 418, 423 f, 426, 428, 434, 489, 499, 518, 523, 608 Erschließungsereignis 45, 514, 518 Erschließungsfunktion 180, 599 Erschließungsgeschehen 423 f, 426 f, 429, 431, 435, 475, 496, 499, 514, 516, 521 Erschließungskraft 39, 68, 282, 321, 406, 538, 544, 560, 608, 624 Selbsterschließung 248, 252, 429 Welterschließung, Wirklichkeitserschließung 42, 54 f, 193, 325, 598, 602, 606 Erschlossenheit 45, 334, 338 f, 395 Selbsterschlossenheit 410, 412, 428, 433, 436 Erzählung 404, 465, 546, 551, 553, 562 f, 565 f, 570, 575, 577–579, 589 f, 592, 598, 633 core story 563, 589 realistische Erzählung 578 f, 589, 593 Ethik 19, 29, 54 f, 60, 76, 79, 95, 98, 134, 234, 240, 253, 256, 258, 387, 414, 439 f, 466, 471, 484, 503, 515 f, 548, 553, 566 f, 640 ethische Häresie 471 Ethos 51 f, 60, 105, 112, 444, 581 Evangelium Evangeliumsbotschaft 29 f, 114, 129, 135, 143, 153, 172, 174 f, 177, 196, 282,

313, 322, 330, 367, 374, 419, 462, 583, 603, 605, 624 Lehre des Evangeliums 120, 125 f, 129, 135, 137, 141, 143 f, 149 f, 180, 311, 317 Evidenz 73, 102, 212, 290, 395, 418–420, 422, 424, 427 f, 431–437, 449, 456, 472, 489, 495, 504 f, 514 f, 520, 532, 540, 561, 603, 608 Evidentwerden 418, 429, 475, 479 f Evidenzerfahrung siehe Erfahrung Evidenzerleben 431–433, 520 Evidenzgeschehen 432 Existentialismus, Existenzphilosophie 62, 339, 357, 366, 402 Existenz 30, 49, 74, 78, 93, 155, 160, 163, 210, 253, 258 f, 268, 281, 304, 317, 319, 324, 332–336, 338, 347, 354, 356–358, 360 f, 363–367, 379, 393, 400, 408–411, 416, 418, 420, 423 f, 427–429, 444, 470, 492, 545, 549 f, 553, 572, 583, 600, 606, 625 Existentialisierung 293 Existentialität 259 Existenzberechtigung 558 Existenzgrund 438 existenzielles Bedürfnis 137, 265, 318 geschichtliche Existenz 370 Glaubensexistenz 30 Exkarnation 78, 611–613 Exklusivismus 583 f, 587 Exklusivpartikel, particulae exclusivae 173 Feld 40, 42, 48, 61, 64, 67–73, 75–79, 81, 86–88, 91, 94–96, 102, 104, 107 f, 110 f, 113, 115, 152, 182, 383, 387, 395, 451, 515, 521, 548, 572, 585, 598, 616, 619–622 Abschließung 86 f, 96, 107 f, 115 f, 616 akademisches Feld 110, 621 Feld der Meinungen 74 f, 108, 611, 620 Handlungsfeld 450, 508 kirchliches Feld 63, 86 f, 89, 91, 96, 101, 107, 109, 116, 615, 633 religiöses Feld 72, 75–78, 81, 84, 86 f, 92, 96, 101, 103 f, 106, 108–112, 115 f, 327, 614, 616 f, 634 semantisches Feld 24 theologisches Feld 88, 619

Sachregister

Feldzeichen, Standarte 108, 259 f, 264, 266 f, 270 f, 309 Festmahl, Festbankett 44, 217, 280 Fixierung 34, 59, 82, 174, 356, 382, 471, 477–479, 508, 563, 567 f, 573, 618 Fortschritt 23, 74, 288, 323, 575 Glaubensfortschritt 199, 204, 215, 217 f, 222, 235, 243, 253, 280, 319 ökumenische Fortschritte 20, 506, 538, 573, 587 f, 642 technischer Fortschritt 401 wissenschaftlicher Fortschritt 327 Frau, Frauen 231, 249, 303, 306 Frieden 19, 118, 137, 144 f, 147 f, 152, 166, 175, 182, 223 f, 229, 257, 259, 262, 271, 273–276, 284, 286, 323, 618, 624, 641 f Frömmigkeit 22, 25, 27, 34, 36, 38, 59 f, 106 f, 111, 117, 126, 129, 131, 137, 150, 153 f, 158, 162 f, 179–181, 237, 244, 249, 252, 256, 270, 280, 284, 288 f, 322, 324, 374, 407, 411, 455, 457, 535, 553, 570, 591 f, 597 f, 601, 613, 632, 641 flexible Frömmigkeit 571, 594 Frömmigkeitskultur 154, 574, 609, 620, 633, 637 Frömmigkeitspraxis 26, 42, 51, 101, 114, 134, 136, 150, 164, 226, 233, 322, 367, 403, 638 Katechismusfrömmigkeit 319, 397 Schriftfrömmigkeit, Bibelfrömmigkeit 236, 246, 282, 319, 325, 327, 612 f fundamentum fidei siehe Glaube, Grund und Gegenstand des Glaubens Funktionalismus 56, 58, 61, 113, 441, 492 Fürsten 145 f, 152, 165 f, 168, 178, 193, 222 f, 260, 267, 274, 315, 323 Ganzheit, ganzheitlich 33, 54, 109, 281, 301, 309, 318, 334–336, 361, 463 f, 476, 531, 550, 600, 614, 629, 640 Gattung 22, 123, 153, 183, 187 f, 283, 290 f, 293, 329, 379, 387, 468 f, 496, 578, 604 Gebet 27–30, 32–34, 60, 76, 82, 137, 150, 154, 156, 160, 163, 188, 196, 217, 220, 231 f, 234, 243 f, 246, 249, 253, 255, 261, 263, 381, 384, 396, 445, 535, 552, 608 Vaterunser 137, 154, 156 f, 160 f, 164, 211

Gedächtnis 76, 78, 82, 105, 155, 189, 214, 220, 234, 249, 444, 588 Gefühl 43, 56, 59, 111, 401, 410, 542, 547, 551, 554, 587 Abhängigkeitsgefühl 410 Selbstgefühl 411, 492 Gegenstandsbezug 36, 164, 348, 351, 413, 464 f, 468, 470, 474, 493–496, 504, 509–511, 593 Gegenwart 38 f, 42, 74, 86, 112, 142 f, 146, 152, 167, 183, 189, 195, 202, 213, 235, 242, 256, 258, 261, 265, 267, 269, 271, 275 f, 284, 339, 369–375, 393, 399, 401, 412, 414 f, 417, 426, 447, 463 f, 471, 494, 498, 501 f, 512, 516, 540, 545, 576, 580, 582, 595, 597, 621 Gottesgegenwart 340 f, 381, 399 Lebensgegenwart 420, 434, 442, 518 Selbstvergegenwärtigung 367, 378, 381, 395, 414 f, 420, 436, 465 f, 473, 475, 490 Vergegenwärtigung 49, 120, 161, 296, 306, 313, 363, 365, 380, 413–416, 421, 431, 435, 464, 475, 480, 488, 491, 497, 518, 629 Geheimnis 190, 202, 208, 300 Göttliche Geheimnisse 242, 288 göttliche Geheimnisse 134, 174 Herrengeheimnis 631 Gehorsam 123, 143, 176, 207, 222 f, 232 f, 264, 267, 343, 345, 350, 356 f, 365, 370, 420, 507, 510, 520, 630 Gehorsamsforderung 182, 430, 507, 515 Glaubensgehorsam 150, 344 f, 356 f, 361, 419 f, 457, 467, 475, 503, 510 Geistliche 87 f, 90 f, 93, 95 f, 122, 223, 263, 458 Geltung 30, 37–39, 42, 47, 55, 60, 69, 81, 83 f, 94, 108, 112, 115 f, 129, 150, 181, 247, 253, 280, 322 f, 328, 343, 369, 376, 396, 398, 419, 435, 457, 460, 466, 468, 470 f, 474, 496, 513, 520, 535, 541, 566–570, 572, 602 f, 610–613, 638 faktische Geltung 37, 83, 457, 610 Geltungsanspruch 17 f, 20, 35, 37, 372, 457, 566, 588 f Geltungsbereich 37, 165, 554 Geltungsweise 37, 566 f, 609 f Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre 20, 473

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664

Register

Gemeinschaft 30, 33, 37, 42 f, 45, 57, 59, 82, 118, 125, 128, 141, 144, 148, 155, 354, 372, 378, 381, 384–387, 393, 399, 436, 440, 446, 449, 467, 470, 472, 475, 477 f, 485, 500, 502, 508–510, 519, 535, 540, 543, 545 f, 557, 561 f, 570–572, 581 f, 585–588, 592–595, 600, 607–612, 616, 627–631, 641 gemeinschaftliche religiöse Praxis 45, 54 f, 57, 60 f, 83 f, 101, 108, 112, 115, 327 f, 361, 381, 383, 403, 444, 546, 548, 554, 588 f, 594, 599, 608 f Gewissheitsgemeinschaft 429, 435, 440, 462 Glaubensgemeinschaft 82, 377, 440, 462 f, 466, 468, 471, 482, 506, 508 f, 511, 589, 624 Kirchengemeinschaft 174, 322, 472, 506, 508 f, 511–513, 624, 640 f Lebensgemeinschaft 377, 463, 506 religiöse Gemeinschaft, Religionsgemeinschaft 26, 43, 47, 50, 57, 59, 61, 80, 108, 115, 118, 374, 540 f, 561 f, 578, 588, 614, 616 f, 622, 635 Vergemeinschaftung 23, 79, 93, 589 Zeugnisgemeinschaft 460, 463, 475, 477, 479, 518 Gemeinwesen 143, 145–147, 149, 151 f, 155, 166, 172, 178, 228, 235 f, 260, 263, 265, 280, 304, 306, 319, 440 Gericht, Endgericht 167, 177, 179, 223, 238, 242, 276, 294, 312, 430, 625, 632, 642 Gesamtproposition 550, 590 Geschichtlichkeit 28–34, 66 f, 69, 76, 78, 101, 141, 171, 178, 335, 341 f, 345–348, 355 f, 360 f, 365 f, 368, 370, 378, 381, 383 f, 393, 400 f, 406, 427, 432, 443 f, 471, 483 f, 497, 499, 517, 519, 521, 548, 569, 612, 619 f, 623, 627 Gesetz Gesetz und Evangelium 126 f, 129, 149, 163, 174, 180, 202, 293, 298, 318, 322, 429, 447, 636 Lehre des Gesetzes 126 f, 129, 143, 149, 180 Gewalt 144, 148, 176, 205, 228, 313, 615, 634 f ekklesiologische Gewaltenteilung 636 Gewaltmonopol 145, 635

Gewissen 117, 120, 127, 129, 133 f, 182, 228, 273, 277, 287, 299, 304, 309, 312 f, 323, 327, 447, 458, 462, 473, 497, 502, 504, 506, 594, 623, 636 Gewissensbindung 229, 253, 276, 507, 635, 638 Gewissenstrost 120, 126, 129, 150, 220, 623, 640 Gewissheit 45, 159, 221, 245, 247, 249, 278, 295, 299, 310, 395, 401, 410, 412–414, 418, 420 f, 423 f, 427–433, 435, 456, 465, 486, 495, 499, 504, 506, 516 f, 520 f, 523, 532, 572, 600 absolute Gewissheit 100, 114, 425, 509 existenzbestimmende Gewissheit 61, 432–434, 436, 521 Gewissheitsstruktur, -gefüge 427, 429–431, 435 f, 520, 522 f Glaubensgewissheit 385, 395, 420, 435–437, 440, 462, 467, 469 f, 472 f, 491, 495, 498 f, 518, 520, 572, 589 Gottes-, Transzendenzgewissheit 428, 430, 499 Heilsgewissheit 273, 356 f, 427 Ostergewissheit 483 Selbstgewissheit 421, 424, 427–430, 433, 493 f Wahrheitsgewissheit 45, 395, 456, 465, 468, 470, 472 f, 496, 499, 514, 518, 523, 590 Glaube 24, 26–28, 30–38, 44, 50, 54 f, 66, 69, 81, 86, 104, 108, 110, 113 f, 120, 122, 125 f, 132 f, 135, 146–148, 150, 155 f, 158–163, 165–169, 172–178, 180 f, 186, 190, 192, 194, 198, 204, 208, 212 f, 215, 217–219, 225, 229, 233, 236, 240, 242, 244 f, 247, 256, 259, 264 f, 267–271, 273, 275–279, 281, 284, 286 f, 296, 298, 300, 303, 307, 312, 314, 321, 324, 326, 339, 343 f, 346, 348–351, 353, 355–358, 360 f, 363–366, 368–376, 380–382, 385–387, 389–393, 395–398, 402 f, 405, 409, 411, 413, 416, 419–422, 427, 430–432, 434–438, 443 f, 447, 457 f, 462 f, 465 f, 469 f, 474 f, 482, 485, 490 f, 493 f, 496–499, 502, 507–510, 513, 515, 518 f, 522, 524, 559, 572, 578, 580, 582, 599 f, 602–604, 606, 608, 612, 623 f, 628, 636, 642 assensus 350, 363, 602

Sachregister

Auge des Glaubens 306, 308, 322 Glaube und Werke 120, 163, 318, 421 glaubender Glaube, fides qua creditur 190, 348, 350 f Glaubensakt 38, 351, 357, 363, 367 f, 389, 420 f, 444, 491, 509, 517, 602 Glaubensansichten 390–392 Glaubensantwort 27, 457 Glaubensartikel 125, 133, 138, 159, 211, 213, 216, 237, 268, 271 f, 280, 300, 308, 490 Fundamentalartikel 133, 308, 322, 470, 625 Glaubensaussage 33, 35, 273, 300, 321, 326, 349, 382, 488, 566, 569, 589, 600 Glaubensbewegung 163, 193, 364, 374, 389, 444 Glaubensdurst 200 Glaubenserfahrung siehe Erfahrung Glaubenserkenntnis 344, 395 Glaubensgegenstand 350, 363 f, 413, 470, 490, 510, 604 Glaubensgehalte, fides quae creditur 606 Glaubensgewissheit siehe Gewissheit Glaubensgrund 159, 280, 295, 351, 474 Glaubensinhalt, Glaubensgehalt, fides quae creditur 34, 60, 79, 267, 269, 348–351, 356, 363, 367, 371, 385, 418, 600, 606 Glaubenskommunikation 27, 31, 33 f, 359, 377, 381 f, 384–386, 392, 394, 396, 398, 468, 479, 496, 606 f Glaubenskonstitution 324, 378, 384, 395–397, 422, 431, 435, 475, 496, 518 f, 601, 603 Glaubensleben 357, 376, 392, 395, 403, 413, 422, 512, 607 Glaubensreflexion 377, 381 Glaubenssystem 399 Glaubensüberzeugung 103, 517 Glaubensverhältnis, fiducia 200, 245, 350, 363, 371, 603 Glaubensvollzug 398, 401, 444, 510 Glaubenswachstum siehe Fortschritt, Glaubensfortschritt Glaubenswissen 135, 139, 155, 169, 288, 300, 319, 376 f, 381–390, 395, 397 f, 403, 452

Glaubenszeugnis 34, 170 f, 307, 381, 395, 399, 464, 479, 496, 510 Grund und Gegenstand des Glaubens 311, 413, 466, 473–475, 480, 491, 498, 508, 512 Heilsglaube, seligmachender Glaube 114, 135, 190, 240, 242, 265, 267, 278 f individueller Glaube, Glaube der Einzelnen 22, 26, 38, 114, 168 f, 281, 324, 394, 397 f, 437, 464, 466, 604, 611 individueller Glaube, Glaube des Einzelnen 309 notitia, fides historica 277, 350, 355 persönlichen Glaube 392 persönlicher Glaube 38, 61, 114, 155, 168, 212, 325, 518 f, 571, 602 f, 605 praktischer Glaube 69, 112 privater Glaube 55, 328, 625 Schöpfungsglaube 416, 438 Gleichnis 197, 202, 239, 285, 289, 308, 578 Gleichursprünglichkeit 75, 110, 428, 632 Gliederung, Gliederungsmethode 132, 138 f, 184, 186, 188, 191, 211, 291, 293 f, 305, 320, 599 Gnade 28, 134, 143, 172, 181, 193, 195, 215, 279, 294, 297, 307, 313, 316, 415 f, 419, 430, 467, 491, 504 Gnadenhandeln 416, 421 f, 519 Gott Gottesbegriff 362, 428, 592 Gottesbeziehung, Gottesverhältnis 159, 163 f, 320, 398, 429, 606 Gotteserkenntnis 143, 159, 197, 216, 238, 242, 394 f Gottesgedanke 213, 493 Grammatik 45, 85, 98, 316, 393 f, 396, 447, 525–529, 533 f, 536, 548, 553 f, 562 f, 566, 570, 574 f, 589 f, 592, 602 Tiefengrammatik 533, 563, 582, 585 Grenzmarker 37 Habitus, Habitusformen 42, 64–70, 72 f, 75, 78–82, 84, 87, 93, 95 f, 99, 101 f, 106, 108, 114 f, 287–289, 318, 609, 615 Habitualisierung 61, 66, 69, 76, 101, 111, 114, 181, 318, 571, 598, 601 f, 608, 610, 613 f, 641 Klassenhabitus 67, 71, 102

665

666

Register

pastoraler bzw. klerikaler Habitus 87, 93 Primärhabitus 96 theologischer Habitus 601 Hahn 261 f, 265 Häresie 74, 81, 89, 110–112, 119, 142–144, 173, 176 f, 227, 237, 257, 272 f, 298, 311, 319, 329, 348, 471, 569, 609, 611, 622, 624, 630, 641 Orthodoxie und Häresie siehe Orthodoxie Hausgemeinde, Hausvater 117, 153 f, 156, 162, 233, 235, 259 Heil Heilsbedeutung Christi 558, 623 Heilsbedeutung der Lehre 128 Heilsgeschehen 43, 120, 134, 139, 150, 160, 162, 179, 463, 625 Heilstat 28, 30 f, 180, 267, 342, 344 Heiligung 157, 160 f, 163, 236, 279, 324 f, 415, 419, 421, 444 Heilkunst, Heilmetaphorik 191, 254 f, 258 f, 264, 280, 282, 318 Heimat 44, 167, 195, 283 f, 287, 289, 293, 317, 401, 437, 531 Hellenismus, Hellenisierung 144, 337, 343 f, 370, 373 f, 568 f, 577 Hermeneutik, hermeneutisch 50, 97, 107, 173, 185 f, 243, 280, 282, 291, 301, 303, 313, 319, 379 f, 384, 399, 416, 449–451, 453, 467, 491, 578, 606, 625, 640 hermeneutische Disziplin 488, 497, 519 hermeneutische Funktion 26, 59, 112, 115, 133, 151, 318, 373, 398, 448, 599 hermeneutischer Schlüssel 43, 132, 328 hermeneutischer Zirkel 244 Herrschaftsform, Herrschaftsstruktur 43, 71 f, 75, 81, 89, 113, 327 Hierarchie, hierarchisch 39, 49, 81, 84, 88 f, 91, 96, 108, 163, 173, 186, 259, 280, 314, 391, 398, 420, 430, 459, 462, 474, 481, 485, 499, 502, 507, 519, 543, 615, 630, 633 Himmel, Himmelreich 191, 194 f, 198, 206 f, 221, 225, 239, 251, 265, 283, 287, 289, 295, 300, 305 f, 320, 512, 626 himmlisches Vaterland 192, 240, 284, 305 Himmelfahrt 260 Himmelserscheinungen 238, 295

Himmelsleiter 193–195, 291, 301, 320 Historismus 366, 400 f, 563 Historismusproblems 565 Hyäne 264 Hysteresis 67 f Imperialismus 586 f Improvisation 65 f, 82 Individualisierung 349, 541, 545 Indoktrinierung, Indoktrination 87–89, 593 Inkarnation 75 f, 134, 206, 320, 365, 370, 417, 446, 464, 600, 609 f, 629 Inklusivismus 583 f Innenwelt, Innerlichkeit 25 f, 49, 113, 188, 192, 201, 277 f, 299, 520, 545, 589, 606, 628, 636 Verinnerlichung 93, 95, 108, 162, 290, 416 f, 420, 544, 546, 554 Inspiration, inspiriert 201 f, 296 f, 299, 350, 363, 446, 480, 597, 619 Institution 36, 38 f, 42 f, 55, 59, 65–67, 74, 76, 85 f, 90 f, 93–95, 101 f, 104, 108 f, 115 f, 136, 141, 179, 183, 218, 222, 235, 246, 308, 314, 317, 347, 375 f, 383, 388–390, 397, 437, 441, 443, 445, 449–454, 457, 459 f, 462, 466 f, 481, 501 f, 507, 512, 521, 529, 548, 592, 598, 601, 624, 631, 634 f Ausbildungsinstitutionen 122, 450, 452, 458, 615 Forschungsinstitutionen 453 Foschungsinstitutionen 452 Institutionalisierung 61, 66, 79, 84 f, 88 f, 96, 376, 385 f, 444, 461, 472, 605–607, 615, 634, 636 Institutionenwelt, -gefüge 36, 129, 179, 327, 437, 444, 452, 462, 607, 624 Institutionsritual 95 kirchliche Institutionen 20, 25, 45, 82, 85, 109, 121 f, 151, 153, 181, 223, 259, 316 f, 376, 436, 443, 455, 607 Lehrinstitutionen 108, 118, 122, 178, 181, 222, 460, 519, 624, 627, 630, 639 theologische Institutionen 382, 451 Traditionsinstitutionen 441 Zentralinstitution, Kerninstitutionen 236, 437, 444 f Integration 53, 57–60, 82, 92, 101, 113, 235, 391, 441, 450, 515, 563, 598

Sachregister

Desintegration 57 f, 71, 441 Interesse 40 f, 47 f, 52–54, 59, 64, 70, 74 f, 81, 87 f, 90–92, 94, 96, 98–100, 103–109, 113, 117 f, 151 f, 174, 177, 225, 323 f, 328, 334, 348, 366, 406, 412, 418, 451, 460, 476, 519, 525, 528, 546, 585, 592, 597, 617, 621 f, 633, 639, 642 Eigeninteresse 104, 272, 621, 642 Interesse am Eigensinn 482, 489 Interesselosigkeit 98 f, 104, 140, 361 f, 385, 601, 621 Interessengegensatz, konflikt 634 Interessengegensatz, -konflikt 100, 102, 111, 631, 638 Lebensinteresse 358, 362, 389 ökumenisches Interesse 19, 33, 537, 539 religiöses Interesse 77, 80–82, 104, 108, 321, 616 f, 621, 632, 634 theologisches Interesse 111, 149, 535, 624 Interpretation 21, 40, 47, 49, 52, 56, 61, 76, 80, 86, 97, 99, 137, 142, 188 f, 293, 301, 303, 348, 360, 364 f, 382, 391, 409, 424, 433, 476, 489, 524, 539, 542, 547, 550 f, 555, 562, 565–567, 574, 577 f, 582, 586, 597, 599, 612, 625, 627 Interpretationsarbeit 50, 90 Interpretationsgefälle 577 Interpretationsrahmen 398, 546–548, 562, 565, 577 f, 585 Uminterpretation, Neuinterpretation 80, 90, 511, 574 Intratextualität 575–580, 583 Investition 68 f, 88, 96 Irrtumslosigkeit 461 Jerusalem 195, 239 Judentum 25, 139, 198 f, 201, 228, 240, 344–346, 581 Jüngster Tag 124, 169, 179, 198, 202, 223, 242, 262, 264, 271, 276, 296 Juridismus 97 Kampf 19, 70–72, 76 f, 79, 81 f, 86, 90, 102, 104 f, 108, 161–163, 167, 251, 259, 263, 276 f, 282, 321, 328, 507, 526, 615, 619, 627, 642 Machtkampf 72, 81, 108, 598, 617, 619

Kanon 94, 106, 203, 297, 300, 315, 328, 382 f, 393, 399 f, 446 f, 451, 453, 460 f, 464, 476–483, 485, 489, 497, 504, 509, 518 f, 563, 579, 589, 622, 628, 637 biblischer Kanon 170, 446, 448, 484, 563, 576 Kanon der Schrift 393, 464, 479, 482 f, 568 Kanon im Kanon 480 f kanonische Schriften 132, 295, 446, 482, 484, 497, 576 Kanonisierung 117, 165, 480 f, 496, 520, 612 Kapital 66, 68–71, 80, 86, 90, 93, 108 religiöses Kapital 68, 72, 76, 78–80, 85, 96, 108 f Kapitulation 45, 539, 632 Katechese 172, 181, 203, 215, 402, 469, 477, 582 Katechetik 96, 288, 369 Katechismus 153–164, 183, 196–201, 203–205, 211, 222, 227, 231, 234, 239, 250, 264, 289, 319, 455, 464 Großer Katechismus 154–157, 199, 211 f, 215–218, 221, 280, 590, 601 Katechismusauslegung 190, 196, 199, 205, 270, 317 Katechismuslehre 156, 158, 162, 164, 199 f, 203–205, 208 f, 218, 222, 233 f, 318, 613 Katechismuslieder 613 Katechismuspredigt 43, 153, 158, 163, 187 f, 191, 199, 272, 280, 282, 294, 316 Katechismusprogramm 162, 164, 213, 443 Katechismustradition 199, 204 Katechismusunterricht 159, 222 Katechismusverhör 122, 157, 218, 231, 636 Kleiner Katechismus 154 f, 211–215, 221 f, 280, 601 Katholizismus 19–21, 37, 57, 76, 86, 89, 91–93, 95 f, 197, 270, 272, 276, 304, 330 f, 353, 355, 366, 370, 380, 413 f, 417, 419, 435, 461, 475, 477, 480, 485, 500–509, 511 f, 515, 521, 543, 559, 567, 570, 573, 592, 619, 630 f, 638, 641 Katholizität 119, 142, 307, 571

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Register

Kerygma 29, 31, 44, 339 f, 342–346, 349, 352, 354, 357, 359 f, 363–367, 373 f, 378 f, 385, 389, 396, 446–448, 469, 479, 484, 553, 603 Osterkerygma 479 Kirche Heiligkeit der Kirche 307, 316 Kirchenjahr 17, 36, 109, 259, 261, 328, 380, 397, 449, 452–454, 458 f, 461, 467 f, 471, 475, 486, 520 Kirchenordnung 121, 179, 216, 224, 249, 313, 330, 437, 439, 449 f, 453, 485 f, 503, 505 Kirchenrecht 37 f, 42, 178, 443, 450, 490 f Merkmale der Kirche, nota ecclesiae 20, 125, 306 f, 472 Papstkirche 143, 179, 216, 227, 268 sichtbare Kirche 125, 140 f, 305–308, 315 f, 437 streitende Kirche 305, 633 unsichtbare Kirche 307, 316 wahre Kirche 20, 119 f, 125, 136, 141, 145, 148, 221, 259, 269, 272, 307 f, 312, 472 wandernde Kirche 141, 305 f Kirchenjahr 122, 159, 250 Kochen, Zubereitung 213, 217, 235, 319 Kohärenz, kohärent 40, 55, 65, 73, 82, 100, 107, 151, 286, 294, 327, 349, 387 f, 390, 405, 438, 472, 524, 551, 555, 557, 559, 571, 593 Kommunikationszusammenhang 375, 407, 411, 413, 416 f, 421, 426, 430, 436 f, 443, 446, 465, 494, 510, 523 Kompetenz, kompetent 66, 101, 147, 164, 198, 264, 282, 388, 407, 411, 441 f, 448–452, 460, 462, 467, 487, 502, 563, 570 f, 591, 601 f, 606, 615, 637 kompetent Praktizierende 571 f, 591–593, 612 Lehrkompetenz 453, 601 religiöse Kompetenz 80, 571 f, 594, 601 theologische Kompetenz 88, 227, 450, 452 f, 579, 601, 637 Konfession, Konfessionalität 19–21, 35, 37, 40, 42 f, 102, 105–107, 110 f, 116, 176, 183, 189, 199, 205, 222, 224, 228 f, 235, 237, 262 f, 282, 288, 299, 323, 327, 332,

370, 376 f, 396, 413, 440, 454, 464, 476, 485, 490, 500, 504–506, 513, 521, 523, 540, 560, 562, 571, 574, 588, 595, 598, 605, 609, 618–622, 624, 632–634, 640–642 Konfessionelles Zeitalter 152, 323, 606, 634 Konflikt 21, 42 f, 58 f, 70–72, 81 f, 86 f, 90–93, 96, 99, 108, 110, 115 f, 118, 151 f, 180, 235, 272, 276, 383, 387, 390, 402, 471, 478, 498 f, 521, 562, 568, 586, 598, 610, 616–618, 632–635, 637–641 kirchlicher Konflikt 81, 92 Konfliktdynamik 42, 86 f, 90, 96, 106, 109 Konfliktmuster 20, 43, 81, 88 f, 96, 616 Konfliktmuster 87 Konfliktpotential 615, 632 Konflikttheorie 615, 637, 641 religiöser Konflikt 57, 61, 63, 68, 92, 109, 112, 115, 616, 622, 627, 634 f Konkordienbuch, Konkordienwerk 116 f, 123, 153, 165–179, 183, 211, 216, 269 f, 490, 613 Konkordienformel 43, 117, 165–179, 182, 186, 270, 275, 328, 627 Konsekration 78 Konsens 17, 43, 59, 72, 94, 118 f, 121, 124, 128, 136, 140, 182, 282, 314, 372, 380, 382–384, 386–390, 397 f, 413, 439, 449, 451, 453, 456, 462–464, 470–473, 478, 480 f, 483–486, 488, 494, 496, 502, 508 f, 511 f, 518–520, 537, 569, 571, 586, 593, 609, 611, 639 f differenzierter Konsens 20, 176 dissimulierender Konsens 94 Glaubenskonsens 382–385, 485 f großer Konsens, magnus consensus 128, 461, 639 f Grundkonsens 121, 451 Kanonkonsens 480 Konsens zweiter Ordnung 484 Konsensartikulation 59, 484, 491, 497, 511, 610 Konsensfähigkeit 380, 382, 385 f, 389, 394, 396, 406, 469, 485 f, 488, 497, 518, 586 Konsensfindung 617, 631 Konsensunterstellung 315, 515, 639

Sachregister

Lehrkonsens 26, 118, 168, 361, 380, 383–385, 390, 397, 458, 461 f, 469, 480, 484, 490 f, 496 f, 508–511, 519 f, 609–612, 614, 617 Minimalkonsens 324, 439 theologischer Konsens 384 Kontingenz, kontingent 29, 53–55, 60, 242, 328, 354, 358, 362, 410, 414, 418, 423, 426, 428, 431, 433–436, 440, 517, 541, 548, 566 f Kontinuität 29, 34, 38, 44, 57, 76, 80, 90, 119, 141–143, 151 f, 179, 204, 288, 324, 332 f, 355, 357, 361, 366 f, 372, 378, 387, 393, 414, 420, 459 f, 463, 477, 483, 513 f, 518, 544, 554, 563, 607, 614, 619, 623, 631 Konvention 23, 50, 60, 146, 377, 407, 419, 487 f Redekonvention, Sprachkonvention 106, 487 f Konzil 32, 89, 133, 247, 271, 315, 329, 501, 507, 537 allgemeines Konzil 119, 130, 274, 323 altkirchliche Konzilien 119, 247 Erstes Vatikanisches Konzil 20, 502 Konzil von Trient 227, 247 Zweites Vatikanisches Konzil 20, 37, 89, 91, 501 f Korrespondenz 17, 30, 42, 49, 63, 87, 112, 129, 173, 184, 386, 408, 418, 455, 468, 535, 547, 551 f, 565, 573, 625, 631, 636 Kosmos, Kosmologie 35, 76, 238, 240, 341, 401 f, 576 Kosmokrator 416 Krieg 62, 109, 189, 191, 226, 230, 257, 259 f, 263, 265–267, 269, 275 f, 282, 284, 288, 319, 323, 328, 507, 516, 521, 634 Kultur 48–52, 55–57, 59, 71, 78, 103, 115, 260, 337, 347 f, 358, 362, 399, 403, 407, 439 f, 543, 545, 548, 555, 565, 576, 591, 604 klerikale Kultur 93 Kulturanthropologie 42, 111, 537 kulturelles Kapital 68 f, 78, 99 kulturelles System 52 f, 57, 59, 113 Kulturwissenschaft 61, 523 f, 537 f, 543 f, 546–549, 552 f, 555, 559 f, 575, 583, 588, 591 Kunst, Kunstwerk 53, 61, 68, 77 f, 90, 133, 157, 191, 197 f, 207, 209, 212, 219–221,

231 f, 236, 250, 264, 271, 275, 283, 288, 297, 489, 542 Laien 43, 68, 75, 77–82, 86–93, 107, 109, 117, 128, 153, 163, 175, 181, 183, 202, 209, 237, 327, 459 f, 462 Laienintellektualismus 82 Lebensreise, Lebensweg 195, 204, 218, 230, 288, 318 Legalismus 98 Legitimation 108, 144, 146, 166, 170, 178, 315, 356, 447, 454, 520, 539, 541, 558, 572, 576, 611 f, 615 f, 619 f, 635, 639 f Legitimationskonstrukt 38, 619, 622 Legitimierungsbedürfnis 107 Legitimität 145, 182, 274, 375, 443, 448, 611 Lehre Definition Lehre 38, 561, 600 Glaubenslehre 387 f, 599 heilsame bzw. gesunde Lehre 24, 127, 220, 230, 248, 254, 317, 488 Klarheit der Lehre 80, 94, 121, 175, 178 f, 212, 221, 258, 272, 319 f, 380, 467, 472, 497, 519, 613, 626 f Lehramt 20, 89, 152, 181, 201, 261, 414, 451, 454, 456–463, 466, 485, 500, 502, 505, 507, 520, 543, 573, 592, 630 f, 635 f, 638 Lehraufsicht 122 f, 229 Lehrautorität 123, 133, 281, 310, 326, 455, 639 Lehrbegriff 17–26, 39–42, 44 f, 47, 49, 51, 63, 107, 116, 120, 190, 259, 281, 289, 324, 328–333, 340, 363, 365 f, 368, 370, 374, 379, 389, 397 f, 400, 403, 405, 464, 473, 496, 508, 518 f, 534 f, 537, 539, 541, 575, 597 f, 606 f, 617, 637 Lehrbuch 21 f, 184, 284, 320, 350 Lehrentscheidung 173, 374, 454, 458, 461, 562, 568, 570, 572, 639 Lehrentwicklung 34, 105, 107, 111, 152, 216, 221, 322, 332, 374, 389, 417, 473, 483, 519, 598, 618, 620, 627, 630, 641 Lehrformel 60, 85, 94, 177, 180, 265, 326, 464, 553, 564, 568, 587, 589, 607, 612, 620, 622, 625 Lehrgehalte 134, 138, 153, 156, 162,

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Register

172, 204, 211, 218, 294, 322, 324, 402, 613 f, 637 Lehrkritik 21, 44, 129, 330–334, 368, 374, 403, 518 Lehrpraxis 206 f, 321, 459, 629 Lehrpredigt 120, 207, 264, 319 Lehrproblem 18, 21, 23 f, 38 f, 41, 44–47, 59 f, 75, 106, 111, 321, 330, 333, 363, 368, 375 f, 380 f, 388, 398, 400, 402 f, 405, 411, 421, 435, 455, 498, 513, 536, 588, 597, 621, 628 Lehrsatz 34, 60, 84, 117, 146, 218, 284, 300, 328, 364–366, 543, 563 f, 566 f, 587–589, 591, 613 Lehrsystem 56, 59, 96, 163, 322, 387, 600–602, 604, 610 f, 617, 631, 633 Lehrverwerfung 119, 122, 129, 167–169, 172 f, 177, 227, 256, 274, 329, 574, 627 Lehrvollzug 31, 34, 145, 169, 236, 298, 461, 463 f, 470, 519, 603, 609 Lern- und Lehrgeschichte 171 offizielle Lehre 42, 96, 98, 562 rechte Lehre 18, 115, 120, 123, 125, 129 f, 137, 141 f, 145–147, 152, 165, 169, 182, 189, 222, 227 f, 233, 253, 257, 263, 265 f, 329 f, 347 f, 366, 374, 487, 492, 523, 606, 618, 623, 626, 632, 635–637 reine Lehre, Reinheit der Lehre 43, 121, 125, 129, 141, 145–147, 149, 166 f, 199 f, 211, 225, 230, 253, 274–276, 313, 329 f, 355, 359, 364 f, 476, 483, 618 f, 622 schriftgemäße Lehre 43, 149, 204, 307, 310, 397 Letztbegründung 45, 54, 70, 246, 332, 406, 421, 428, 520–523, 533, 581 f, 588 Leuenberger Konkordie 321, 472 f, 509, 511, 540, 641 Libertinismus 153, 224, 274, 282 Licht, Lichtmetaphorik 137, 142 f, 193 f, 196 f, 219, 240, 243, 248 f, 256, 280 f, 287, 289 f, 293–295, 298 f, 301, 303, 306, 310, 313, 315 f, 322, 334, 483 f Liturgie, liturgisch 31–33, 60, 81, 84, 87, 91, 122, 174, 383, 445, 480 f, 496, 505, 518, 535, 543, 553, 564, 569, 571, 591, 598, 607 f, 610, 613, 616, 629 Logik 76, 92, 97, 99, 101, 113, 186, 214, 259, 318, 362, 392, 572

Feldlogik 68, 70, 91, 96, 107, 113, 616, 633 praktische Logik 73, 99–101, 107, 113 Macht 26, 66, 68, 70–72, 75 f, 81, 83, 88–90, 93–96, 99, 108, 115, 123, 142, 148 f, 152, 214, 313, 315, 425 f, 615, 617 f Macht der linken Hand 94 Macht der Sünde 157, 192 Machtanspruch 20, 94 Machtdimension 63, 74 f, 618–620 Machtdynamik 615, 619 Machtposition 71, 79, 90, 96, 617 Machtverhältnisse 74, 84, 89, 95, 418, 619 Weltmächte, Unheilsmächte 30, 160, 163, 259, 275 f, 281, 317, 443, 621, 642 Markt 68, 80, 111, 545 Mensch conditio humana 191, 266, 283, 290 Gott und Mensch 28, 355, 416, 520, 629 homo viator 191, 195, 605 Menschenbild 191 Metapher, Metaphorik 44, 60, 65, 68, 70, 93, 190 f, 196, 199, 209, 219, 222 f, 230, 238, 253, 265, 279, 282, 285 f, 290, 308, 318, 426, 494, 576 f, 586, 589, 594, 598, 603, 605 Leitmetapher 190 f, 196, 211, 225, 235, 285 f Metaphysik, metaphysisch 33, 51, 60, 76, 112, 325, 337, 339, 349 f, 410 f, 521, 523, 531, 574, 578 f, 624 Methode, methodisch 20, 36 f, 39, 44, 48, 50, 52 f, 63, 97, 99, 104, 110 f, 131, 138, 150, 169, 173, 176, 184, 186, 189 f, 210, 212, 220 f, 240, 243 f, 248, 250, 253–256, 282–286, 288, 291, 293 f, 302, 305, 317, 319 f, 333, 360, 362, 372, 376, 384, 399, 407, 450, 476, 486, 489, 491, 534, 536, 576–579, 590 f, 602, 613, 619, 637 Milch 44, 189, 196, 198–200, 204, 206, 208, 210 f, 213, 215 f, 225, 227, 256, 258, 280, 318 Katechismusmilch 187, 190, 198, 200, 319 Muttermilch 198–200, 202, 225, 318 Wolfsmilch 214, 225, 256 Mitgliedschaft 439–441, 517

Sachregister

Mitgliedschaftsregel 439–441 Mitteldinge siehe Adiaphora Mobilisierung, Mobilmachung 43, 68, 76, 80, 88, 105 f, 189, 215, 325 Demobilisierung 105, 634 Motivation 51 f, 136, 252, 270, 272, 534, 558, 585 f Mündigkeit 43, 106, 117, 135, 147, 162, 164, 172, 178 f, 181, 189 f, 209, 212, 235, 237, 257, 259, 264, 282, 304, 311, 325, 327, 460, 462, 502, 601, 624, 637 f Mutter 199 f, 202 f, 223, 226, 230, 242, 279, 302, 310 f Adoptivmutter 225 Mysterium 133, 199, 241 f, 294, 298, 300 Mystik 49, 54, 193, 246, 301, 350, 548, 604 Nahrung, Nährmetaphorik 44, 137, 145, 191, 196, 199 f, 213, 221, 225, 258 f, 273, 280, 282, 318, 328, 603 Naturalisierung 72, 84, 111 Naturalismus 402 Nichtglaubende 30, 104, 299, 555, 558–560 Norm, Normativität 21, 23 f, 26 f, 32, 37 f, 75, 84, 97, 108, 113, 121, 132, 165, 167, 169 f, 204, 268–270, 277, 303 f, 314 f, 365, 369 f, 372 f, 382, 384, 446 f, 477, 479, 481, 487, 509, 511, 529, 533, 535 f, 540 f, 545, 567, 569, 571 f, 574–576, 578 f, 582, 590–593, 609–614 Obrigkeit 118, 123, 129, 144–146, 152, 154 f, 166, 178, 182, 203, 222–230, 233, 262 f, 274, 282, 312, 325, 485, 615 Offenbarung 20, 44, 52, 57, 139 f, 179, 190, 193, 195, 201 f, 205, 211, 219, 239, 241, 254, 265, 278, 290, 295, 297, 299–301, 308, 311, 317, 323, 326, 339, 344–346, 348, 351–355, 360 f, 363–366, 394, 398, 402 f, 406, 412–421, 429, 432 f, 436, 446, 454, 462 f, 465, 467–471, 473–476, 479, 481 f, 484 f, 493–495, 497, 502–506, 514 f, 518 f, 521–523, 572, 602, 617 Christusoffenbarung 240, 432, 484, 490, 499, 514 Heilsoffenbarung 177, 316, 608, 623 Offenbarungsbegriff 45, 344, 353 f, 412, 422–424, 426 f, 470, 502

Offenbarungsbewegung 140, 151, 287, 296, 322 Offenbarungsereignis 331, 350, 352, 366, 519 Offenbarungsgeschehen 45, 140, 151, 306, 337, 346, 367, 401, 403, 405, 413–421, 423–426, 429–431, 434–436, 440, 443, 446, 448, 455, 461, 463 f, 466, 468, 470, 473–475, 477–479, 482 f, 494, 496 f, 499, 504, 510, 514 f, 517–519, 523, 628 f Offenbarungshandeln 414, 416, 419, 454, 458, 503 Offenbarungsquelle 201, 205, 239 Offenbarungstheorie 190, 405, 435, 438 Offenbarungsverständnis 45, 353, 412–414, 418, 421 f, 432, 455, 459, 484–486, 500, 502–505, 507 f, 517, 521 Offenbarungszeugnis 309, 379 f, 417, 419, 421, 424, 464, 469, 471, 475, 477 f, 483 f, 488 f, 491, 494–496, 520, 628 Schriftoffenbarung 240 f Selbstoffenbarung 139, 159, 324, 331, 414, 418, 435 f, 456, 475, 495, 603, 605, 642 Wortoffenbarung 293, 331 f, 373 Öffentlichkeit, öffentlich 24 f, 32, 36, 49, 54, 60, 83, 89, 95, 118 f, 121, 124, 136, 144–146, 148, 168 f, 172, 178–180, 183, 187, 189, 229–232, 234, 237, 246 f, 249, 260, 262, 268, 272–275, 277, 280, 282, 304, 307–309, 315 f, 323, 327 f, 376, 386, 388, 390, 397, 407, 440, 445–448, 452, 458–460, 462, 467, 469, 473, 486, 501 f, 512, 516 f, 520, 599, 611, 616, 626, 631, 634, 636 kirchliche Öffentlichkeit 124, 129, 179, 340, 451–453, 459 f, 467, 484, 501–503, 633 kirchliche Öffentlichkeit 459 öffentliche Lehre 26, 325, 625 öffentliche Verkündigung 249, 262, 636 Offizialisierung 71, 83 f, 89, 96, 108, 112, 178, 598, 610 f Ökonomie 68–70, 73, 76, 82, 90, 96, 100 f, 203, 402 f, 462, 540, 573, 610, 616, 620 Heilsökonomie 82, 415, 474 Ökonomie der Praxisformen 70, 107, 616

671

672

Register

Ökonomieprinzip 101, 625 Ökumene 19 f, 45, 177, 183, 328, 386, 405 f, 412, 446, 472–474, 498, 500–502, 504 f, 507–509, 511–515, 520 f, 538–540, 542 f, 554 f, 561, 566–568, 571, 573, 586 f, 592, 622, 627, 640 Ökumenemodell 501, 505, 508, 513 ökumenische Annäherung 513, 539, 555, 573 ökumenische Verständigung 46, 329, 446, 513, 537, 595, 623 ökumenischer Dialog 45, 472, 500, 505, 507, 512 f, 524, 537, 539, 560, 588 Ontologie 33, 45, 333–335, 337 f, 406, 408–412, 421, 425, 435, 466, 484, 489, 492, 513, 520, 523, 535, 555, 560, 564, 573 f, 588 f, 592 f Ordination 249, 313, 449 Ordnungsvorstellungen 51 Organisation 73, 125, 179, 374–376, 437–442, 449, 451, 459 f, 463, 519 f, 541, 623, 630, 639 Organisationsgestalt 109, 141, 314, 437, 616 Orientierung 55, 149, 160, 196, 248, 284, 289 f, 295, 304, 318 f, 372 f, 376, 393 f, 396, 410, 451 f, 456 f, 468, 471, 520, 522, 525, 574, 604 Lebensorientierung 318, 516 Orientierungsfunktion 55, 59, 204, 408 Orientierungswissen 376, 407, 450–453 Wahrheitsorientierung 109, 376, 619 Orthodoxie 43, 72–75, 78 f, 81–83, 85, 89, 93, 104, 108–111, 293, 330, 332, 349 f, 353, 363, 455, 466, 539, 611, 615 f, 632 altprotestantische Orthodoxie 184, 350, 352 Frühorthodoxie 151, 183 Hochorthodoxie 183, 281 Neo-Orthodoxie 330 f, 537 Orthodoxie und Häresie 63, 70, 77, 81, 96, 109–111, 115, 632 Orthodoxie und Heterodoxie 72, 74 f, 78, 111, 611, 631 f Orthodoxiestrukturen 63, 76, 82, 85, 94, 101, 108 f, 112, 610, 614–618, 624 Orthodoxietheorie 101, 106, 110, 487 Spätorthodoxie 295

Pädagogik 84 f, 150, 369, 601 f stille Pädagogik 76 Papagei 197, 218, 250 Papst, Papsttum 123, 133, 148, 176, 182, 204 f, 213, 268, 274, 304, 567 Paradox 58, 99 f, 113, 157, 241 f, 245 f, 308, 331, 362, 364–366, 368, 370, 374, 389, 569, 580, 605, 625 Perspektive 20 f, 23, 39–43, 46 f, 52, 55, 57 f, 61–63, 66, 76, 99, 104, 107, 110–112, 114, 119, 131, 134, 167, 179, 187, 194, 319, 321, 355, 374–377, 387, 389–393, 396 f, 422, 431, 442, 496, 499, 506, 516 f, 526, 533–535, 540, 542, 544, 549 f, 554, 557 f, 565, 570, 573, 576–579, 582, 584 f, 587, 591 f, 597, 599, 601, 607, 621 f, 624, 638, 640 Außenperspektive 21, 47, 61, 101, 111, 374, 390, 392, 398, 602 Beobachterperspektive 385, 621 Glaubensperspektive 388, 391 f, 398, 464, 484 Innenperspektive, Binnenperspektive 43, 108, 389, 393 f, 537, 576, 601 Theorieperspektive 47, 110, 463, 520, 560, 567, 588 Universalperspektive, Totalperspektive 181, 399, 517, 584 Weltperspektive 391 Pfarramt 437, 448–450, 452, 461 Phänomenologie 27, 63, 163, 333, 408, 423, 492–495, 609 Philologie 107, 110, 138, 202, 210, 243, 245, 253, 299 Philologismus 98 f, 621 Philosophie 44, 78, 103 f, 159, 164, 173, 180, 184–186, 190 f, 193, 206 f, 238 f, 251, 253, 265, 274, 281, 284, 303, 318, 322, 332–334, 336, 364, 368–370, 374, 423, 425, 431, 517, 523–531, 533 f, 536, 545, 550, 556, 568 f, 579, 588, 590 f, 593, 617 aristotelische Philosophie 114, 131, 214, 287, 293, 321, 371, 475 griechische bzw. hellenistische Philosophie 198, 336 f, 370, 568 therapeutische Philosophie 525, 531, 533 Pietismus 151, 183–185, 324 f, 327, 332, 350, 366, 399, 455, 545

Sachregister

Pilger, Pilgerschaft 44, 195, 201, 218, 283, 313 Pluralismus, Pluralisierung 45, 169, 330, 392, 399, 440 f, 455–457, 513–518, 521, 524, 544 f, 583 f, 633, 635 Polemik, polemisch 111, 119, 124 f, 130, 135, 151, 169, 177, 183, 185 f, 189, 207, 212, 215, 219, 256, 258, 275, 281 f, 284, 303, 317, 319, 321, 345 f, 403 Porträt 203, 221 Positionalität 102, 451, 453, 459, 491, 618, 620 f, 627, 639 Praxis Praxisform 65, 67 f, 70, 107, 609, 616 Praxissituation 100, 405, 407, 427, 467, 490 Praxistheorie 61, 612 religiöse Praxis 23, 38, 42 f, 55, 63, 67, 97 f, 101, 104, 107, 110, 112–114, 535, 549, 571, 579, 583, 594, 597, 604, 608 f, 613 Predigt, Verkündigung 32, 34, 42 f, 95 f, 120, 131, 138, 148, 150, 158, 162, 169, 173 f, 178–181, 184, 186, 196 f, 206–208, 218, 220, 222 f, 225, 236, 248–252, 264, 280 f, 285, 290 f, 300, 308 f, 316, 319, 321, 323 f, 326, 328, 343 f, 346–348, 354–357, 359–361, 363–365, 368, 371–373, 377–381, 384, 386, 389, 394 f, 397, 400, 405, 416–418, 420, 429, 444–449, 458, 464 f, 469 f, 476 f, 483–485, 488, 496, 508, 519, 535, 577, 590, 597, 607 f, 613 f, 623, 630, 635–637, 639 Evangeliumsverkündigung 120, 140–142, 146, 179 f, 344, 378, 380, 394 f, 441, 446, 448, 475, 479 Prediger 127, 147, 150, 153 f, 156, 163, 194, 207, 209, 213, 215, 220 f, 237, 247–251, 255, 260–263, 265, 269, 282, 309, 320, 326, 447, 459, 616 Predigtamt, Predigtdienst 119 f, 122, 138, 140, 144, 146, 154, 194, 225 f, 246, 248, 260, 319, 388, 444, 448 f, 452, 455, 467, 486, 635 Predigthörer 194, 197, 236, 252, 282 Predigtsammlungen 183 Verkündigungssprache 191, 359, 385, 613 Verkündigungsvollzüge 397, 435, 508

Priester, Priesterschaft 66, 77, 79 f, 82, 87, 91, 95, 194, 207, 222, 255, 264, 306 f, 312 f Allgemeines Priestertum 455, 458, 468 Prophet 68, 77, 79–82, 85, 89, 109, 186, 194, 211, 214, 217, 219–221, 230, 236, 243, 249, 260, 285, 298, 302, 343, 572, 580, 587, 616 falsche Propheten 264, 303 Propheten und Apostel 128 f, 136–138, 140, 149, 157, 170, 201, 269, 288, 297 prophetisches Charisma 79 f, 82 Proposition, Propositionalismus 403, 436, 541–544, 549–553, 555–557, 559, 562, 564, 566, 573–575 Rationalität 70, 375–377 Rechenschaft 36, 118, 124, 128, 146, 179, 223, 468, 489, 492, 581, 636 Rechtfertigung 77, 126–128, 149, 181, 273, 318, 359, 415, 531 f, 534 f, 551, 623, 637 Rechtfertigung des Spalters 632, 642 Rechtfertigungsartikel 43, 119 f, 123, 125 f, 128, 173, 175 Rechtfertigungsbotschaft 121, 150, 161, 164, 173, 180, 630 Rechtfertigungsglaube 364 f, 443, 521 Rechtfertigungslehre 114, 126, 129, 136, 173 f, 178, 180, 213, 304, 503, 508, 511, 519, 521, 623 Rechtfertigungspraktiken 532, 582 Reduktionismus 57, 70, 110, 398, 401 f Reflexionsbegriff 23, 38, 317, 365, 378, 400, 410, 413, 466, 533, 591, 603 Reformation 43, 81, 109, 116, 130, 139, 151 f, 171 f, 179, 182 f, 186 f, 204, 213, 219, 228, 260, 274, 304 f, 330, 438, 449, 454 f, 463, 471, 476, 610 Wittenberger Reformation 130, 156, 176, 186 Regel 29, 36 f, 45, 65 f, 68–70, 72, 75, 83 f, 86, 95, 97–99, 107, 112 f, 127, 134, 142, 169 f, 173 f, 176, 178, 203, 213, 218, 240, 248 f, 253, 271, 297, 303, 315, 382, 392–394, 428, 438 f, 441–445, 447, 449–451, 454, 456, 486, 488–490, 503, 505, 509, 519, 523, 525, 528–531, 534 f, 542 f, 554, 562–564, 566–569, 571, 574,

673

674

Register

577, 581, 584 f, 588–590, 593, 598, 600, 609–612, 615 f, 624, 630, 640 grammatische Regel 536, 549, 563, 566, 589, 592 Regelhaftigkeit 31, 34 f, 38, 65 Regelmäßigkeit 84, 97, 100, 113, 143, 146, 156, 158, 161, 163, 218, 231, 262, 444 f, 526, 530, 534 f, 613, 638 Regelmodell 544, 570, 573 f Regelsystem 85, 443, 487, 569, 574 Regeltheorie 45, 538, 562–564, 566–568, 570, 573 f, 593 Regelungsbereiche 437, 441 f Regelwissen 85, 451, 453 Sprachregel 172 f, 177 f, 487, 525, 529, 553 systemkonstitutive Regeln 439, 442 Religion Definition von Religion 51 interreligöser Dialog 405, 500, 520 f, 538, 540, 545 f, 555, 557 f, 560, 583–586, 588, 633 öffentliche Religion 25 f, 61, 593 private Religion 24–26, 35, 38, 61, 168, 328, 330, 368, 516 f, 636 Religionen 55, 61, 80, 159, 199, 224, 257 f, 265, 270, 313, 354, 412, 425 f, 495, 513 f, 538, 544–548, 550 f, 554–558, 560, 576, 582, 584–586, 588, 591, 593, 604, 632, 634, 641 Religionspädagogik 369, 601 Religionsphilosophie 18, 349, 536, 546, 593 Religionstheologie 537, 542, 560, 583 Religionstheorie 18, 46–49, 55 f, 59, 61 f, 441, 537 f, 541 f, 551, 554 f, 557, 563, 588, 597 religiöse Rede 35 Reliquien 316 f Richtschnur 37, 169 f, 176, 180, 203 f, 268, 303 f, 315, 394, 476 f, 598, 611 Ritus, Ritual 42, 49, 51, 54–58, 60 f, 76, 82–84, 96, 103, 108, 112, 115, 125, 204, 308, 314, 317, 404, 546, 548, 553, 562, 571, 598 f, 608–610, 613, 629 Sachgemäßheit 35 f, 39, 45, 132, 137, 176 f, 322 f, 345, 350, 359, 372, 388 f, 391, 397, 403, 419, 428, 438, 440, 442, 447, 449,

451, 455, 461, 470, 473, 482 f, 486, 491, 493, 497, 568, 574 f, 593, 602, 618, 624, 633, 635 f sacrificium intellectus 350, 363 Sakrament 24, 31, 95, 120, 125, 141, 144, 148, 157, 160–163, 211, 234, 294, 307, 313, 321 f, 328, 331, 344, 355, 378, 395, 444–446, 448–450, 476, 608, 613, 629, 636 Sakramentsverwaltung 314, 458, 503 Satis-Prinzip 121, 129, 135, 168, 174, 177, 181, 212, 322, 367, 624 Schatz, Kirchenschatz 161, 189, 201, 241, 244, 278 f, 286, 316 f Scheidekunst 149, 190, 303, 308 Schlüsselsituation, Schlüsselszene 171, 433–436, 518, 520 Schlüssigkeit, schlüssig 18, 70, 100 f, 208, 513, 569, 602 Scholastik, scholastisch 114, 128, 131, 164, 204, 275, 286 f, 318, 352–354, 371, 417, 424, 502, 537, 552, 629, 632 Scholastisierung 85, 324 Schrift Buchstabe 65, 134, 188, 196, 198, 210, 219 f, 237, 239 f, 250, 266, 295, 302, 400, 476, 613 Heilige Schrift 186, 202, 204 f, 212, 219, 226, 240, 243, 251, 258, 261, 283, 295–297, 313, 315, 371, 464, 478, 576 Klarheit der Schrift 241, 295, 300, 310, 418, 431, 447 Mitte der Schrift 134, 278, 298, 637 Schriftauslegung 46, 218, 220, 237, 245 f, 251, 282, 302, 313, 481, 485 f, 603 Schriftgemäßheit, schriftgemäß 43, 121, 141, 315, 394, 460, 482 f, 637 Schriftlehre 298, 304 f, 325, 366, 419, 476, 590 Schriftlichkeit 78, 97, 188, 195, 244, 269, 295, 382, 446, 477–479, 482, 591 Schriftprinzip 183, 447, 476, 483, 577, 637 f Schriftsinn siehe Sinn Verschriftlichung 61, 97, 99, 113, 140, 151, 295 f, 298, 417, 612–614 Vollkommenheit der Schrift 295, 297 f, 300, 302 Wirksamkeit der Schrift 244, 281, 295, 297, 299 f, 304, 310, 314

Sachregister

Schule 85, 95, 122, 137, 141, 144 f, 165, 172 f, 197, 209, 217 f, 222 f, 225–228, 230–234, 236, 239 f, 242, 255, 269, 272, 274, 280, 284, 296, 309, 316, 349, 450, 459 Schulgezänk 235, 274 theologische Schule 272, 413, 450, 452, 466 Theorieschule 62 Universität, Hochschule 22, 36, 116, 145, 179, 183 f, 208, 216, 218, 232, 238, 274, 376, 386, 397, 450, 542, 580 Seelsorge 32, 34, 42 f, 80, 90, 95 f, 129, 136, 150, 176, 178, 223, 260, 262, 270, 277, 280, 282, 319, 324, 355, 412, 457, 467, 469, 508 Sekte 79–82, 112, 189, 224 f, 262, 269, 330, 581, 633 Selbstbeschränkung 26, 43, 121, 129, 174, 181, 367, 448, 461, 507, 625 Selbstbindung 446, 448, 485, 492 Selbstobjektivierung 104, 621 Selbstrelativierung 63, 491 Selbstunterscheidung 395, 448, 473, 497, 503, 511 f, 617 Selbstverständigung 18, 22, 36, 44 f, 361, 380, 386, 412, 468 f, 488 Selbstversuch 255 Selektion 67, 87, 276, 390, 433, 492 f, 588, 591 Sinn 53 f, 97, 134, 166, 194, 211, 219, 221, 234, 239, 241 f, 244 f, 248, 300–302, 317, 340, 401, 418, 479 f, 483, 488, 495, 530 f, 533, 541, 549, 564, 570, 575, 577 f, 582, 627 Eigensinn 424, 451, 453, 456, 460, 462, 489, 494 f, 497 Formalsinn 301 Literalsinn 301 f, 418, 447, 451, 457, 524 Sinn der Schrift 142, 211, 218, 242, 248, 253, 301–303, 324, 360, 418 Sinn von Sein 333 Skandal, Skandalon 125, 147 f, 248, 333 soteriologische Fokussierung 101, 129, 134 f, 146, 164, 168, 173, 181, 322, 460, 623 f Sozialisation 69, 84, 95 f, 101, 107 f, 112, 114, 582, 599, 604, 608 Sozialstruktur 49, 56 f, 59, 66, 72, 77, 638 Soziodizee 73, 77

Spiel 68–71, 75, 78, 81, 87, 89, 93 f, 96, 98, 102, 104, 108, 111 f, 302, 341, 347, 449, 467, 504, 506, 526 f, 529, 558, 605, 632 Doppelspiel 20, 94, 98, 103 f Spielfeld 68 Spielhaus, Theater 249 Spielraum 177, 334, 447, 463, 487, 520, 593, 603 Spielregeln 70, 72 Sprachspiel 45, 526–529, 531, 533–535, 548, 590 Wortspiel 222, 285, 302 Sprache formelhafte Sprache 31, 33, 60, 82, 106, 112, 240, 257, 382 f, 478, 519, 556, 565, 569, 598, 610 gebundene Sprache 31 Privatsprache 525, 531, 535, 547 Sprachanalyse 24, 27, 34 Stand, Stände 43, 118 f, 121, 124, 128, 130, 166, 178, 183, 186, 232, 235, 259, 272, 282, 307, 312 f, 323 Drei-Stände-Lehre 186, 222, 259 f, 312, 315 Stand, Ständelehre 116 Standhaftigkeit 147, 170, 513 Sterben, Sterbestunde 57, 135, 160, 172, 181, 444 Stillen, Stillmetapher 199 f, 203, 209, 214 Stimmung 51 f, 79, 334 Story siehe Erzählung Streit 43, 58, 70, 143, 149, 152, 165, 169, 171, 174 f, 202, 241, 258, 263 f, 268, 271–274, 282, 300, 303, 311 f, 321, 323, 332, 453–455, 470–472, 476, 504, 586, 610 f, 617, 632, 634, 637, 640 f Streit um die Lehre 473, 637 Streit um die Wahrheit 327, 372, 374, 472 f, 622, 631 f, 640 Streitfragen, Streitpunkte 117, 119 f, 138, 165, 176, 178, 258, 315, 327, 377, 454, 560, 568, 573 f, 640 Strittigkeit 58 f, 112, 119, 147, 168, 174, 178 f, 270, 280, 321, 349, 377, 391, 396, 451, 454, 470 f, 473, 476, 505, 538, 562, 567, 574, 588, 592, 611, 615, 619, 632, 639 f Strittigkeit der Lehre 468, 470–473, 497, 619

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Strukturalismus 62, 97, 100, 409 Sukzession 141, 307, 619 Symbol 32, 50–53, 56, 59–61, 67, 99 f, 216, 255, 259, 261, 264, 267, 291, 323, 404, 410, 432, 495, 515, 536, 548, 562 f, 568, 599, 601, 609 f, 616, 620, 629 Symbolisierung 547, 603, 605, 613 Symbolismus 542, 544 Symbolsystem 42, 49, 51, 53–55, 59–61, 76, 84, 98, 100, 110, 112–115, 164, 548 f, 554, 575 f, 597–605, 608–612, 617, 628 f, 637 Symbolum 268–270, 273, 569 Symbolwelt 60, 97, 112, 280, 318, 327, 401, 589, 599, 638 Synkretismus, synkretistisch 57 f, 184, 187, 216, 225, 235, 257 f, 264, 270–274, 282, 309, 321, 323 f Synode, synodal 123, 452, 455, 458, 460–462, 638 f Synode von Dordrecht 268 Systematisierung 53, 60 f, 73 f, 79, 113, 173, 385, 563, 622 Systemtheorie 435, 438 Taufe 31, 95, 154, 157, 160 f, 163, 197, 200, 205, 608 Taufunterricht 31 Tentation siehe Anfechtung Terminologiepolitik 502 f Theologie akademische Theologie 22 f, 35 f, 99, 184, 288 f, 376, 379, 387–390, 399, 403, 453, 459, 467 f, 536, 605, 619, 621, 637 ektypische und archetypische Theologie 288, 605 Kerygmatheologie 44, 333, 400 f, 403, 612 kirchenbezogene Theologie 377, 386–389, 397, 399 Körperschaft der Theologen 88, 615 liberale Theologie 25, 40, 44 f, 330, 348–351, 353, 363, 537, 542, 580 f, 583 natürliche Theologie 23, 350, 415 postliberale Theologie 45, 404, 524, 537 f, 542, 546, 575, 577, 580–583, 585 Theologie der Wanderer, theologia viatoris 33, 140, 167, 177, 195, 230, 284, 384, 605

weltbezogene Theologie 377, 386–390, 397 f Wortgeschehens-Theologie 44, 400 Wort-Gottes-Theologie 42, 325, 331–333, 337, 368, 400, 403, 405, 518 f, 522, 597 Topik, topisch 132, 138, 285, 293, 320 Tora 188, 480 Tradition 25, 29, 38, 47, 54, 58 f, 68, 73, 79, 90, 95, 103, 108, 110, 118, 125, 127–129, 142, 164, 170, 174–176, 185, 216, 219, 247, 253, 261, 282, 287, 291, 300, 302, 312, 318, 323, 330–332, 336, 340, 342–344, 352, 354, 356, 358, 360, 365 f, 374, 408, 412, 419, 423, 438, 440, 451, 454, 457, 459, 463, 475–477, 481, 490 f, 494, 499, 502, 512, 515 f, 521, 523, 537, 544, 559, 563, 573, 576, 581, 585–587, 594, 603, 607, 610, 615 f, 619 f, 637 f Traditionalismus 149, 248 Traditionsbezug 343, 494, 583 Traditionsprinzip 323, 366 Tranchier, Scissor 209 f Transformation 23, 26, 31, 40, 56, 60, 66, 78, 93, 97, 105, 130, 236, 332, 339 f, 367, 395, 559, 565, 577, 610, 618, 626 Transzendenzabhängigkeit 45, 408–412, 416, 421, 425, 431, 435, 520 Traum 193–195, 245, 259, 277, 401 Typos, Typologie, typologisch 44, 46, 77, 94, 119, 128, 140, 186, 188, 193 f, 196, 200 f, 208, 211, 221, 230, 235, 237, 239, 242 f, 248, 250, 286, 290, 300 f, 305, 313, 317 f, 320, 346, 575–579, 583, 587, 590, 609, 621 Überhang der Vergangenheit, protologischer Überhang 142, 372 f, 415, 428, 521 Überlieferung 31, 34, 60, 78, 151, 297, 323, 340, 355, 359, 361, 366, 378, 401, 413, 446, 467, 475–477, 479, 488, 494–496, 498, 503 f, 518, 578, 592, 620, 623, 629 Lehrüberlieferung 44, 281, 356, 370, 373, 518 Überlieferungsgeschichte 124, 495, 604 Überlieferungsprozess 477, 520, 604, 623, 628

Sachregister

Überlieferungszusammenhang 29, 45, 355, 417, 497, 563, 614 Übersetzung 48, 88, 193, 203, 210, 261, 316, 359, 364, 474, 540, 556, 561, 581–583 Übersetzbarkeit 581, 585, 588, 609 Überwältigung 309, 462, 521, 633 Überwältigungsverbot 473, 635 Unfehlbarkeit 20, 201 f, 219, 236, 247 f, 283, 299, 315, 461, 475, 500, 502 f, 506, 509 f, 560, 566, 570–572, 630 Universalismus 583–585 Universalität, Universalitätsanspruch 377, 391 f, 498 f, 515, 517, 546 Universität, Hochschule 22 Unterweisung 32, 34, 42, 80, 84, 127, 130, 135, 145, 156, 178, 189 f, 203, 211, 214 f, 222, 225, 231–234, 249, 257, 280–282, 289 f, 370, 469, 496, 508, 534, 590, 599, 601, 610, 638 f Elementarunterweisung 153, 236, 601 Lehrunterweisung 144, 154, 184, 205, 636 Unüberbietbarkeit 44, 158, 206, 359, 514, 555 f, 558, 560, 584, 588, 629, 640 Unverfügbarkeit 45, 114, 246, 252 f, 312, 354, 361, 364–366, 378, 395, 398–402, 418, 422, 426, 431, 433, 442, 457, 461–463, 466, 472, 475, 482, 485, 489, 491, 495–499, 503 f, 515–518, 520–522, 602, 608, 612, 614, 617, 639 Ursprung 52, 80, 128, 151, 168, 171, 177, 180, 200, 206, 237, 249, 298, 308–310, 322, 340, 353, 359, 382, 387, 393 f, 401, 415 f, 425 f, 428, 437, 445–447, 460, 464 f, 476, 481, 494, 499, 554, 565, 604, 608, 619 f, 623, 628, 640 Ursprungsbeziehung 171, 302, 393, 429, 483, 623 Ursprungsgeschehen 340, 372, 394, 442, 446, 448, 461, 472 f, 483, 497, 519, 521, 623 Ursprungsmacht 426, 428 Ursprungstreue 141, 179, 475, 477, 483, 496 f, 575, 623–625, 637 Ursprungszeugnis 482 f, 504, 518 Vater 137, 139, 161, 163, 200, 222, 224, 230, 247, 278, 296, 626, 629, 635 Vaterunser siehe Gebet

Veralltäglichung 80 Verbindlichkeit, verbindlich 20 f, 23, 25, 34, 38, 42 f, 45, 59, 61, 71, 101, 117 f, 121, 128 f, 134, 152, 154, 166, 172, 174, 176, 178, 181, 268 f, 272, 322, 337, 356, 367, 372 f, 379, 382, 393, 401, 424, 427, 431, 439, 446, 449, 451, 456, 458, 462, 464, 469, 473 f, 476 f, 481, 485, 488–491, 497, 508, 512, 519, 561, 568, 574, 589, 592, 603, 606, 609–611, 617, 623, 625, 640 Vereinheitlichung, Vereinheitlichungsarbeit 87 f, 92, 96, 106, 109, 174 Verfolgung 30, 146, 152, 160, 174 f, 215, 228, 263, 267, 306 f, 626 Vergegenständlichung 31, 44, 244, 324, 326, 343, 349–351, 363–366, 373, 382, 389, 398–400, 402 f, 405, 518, 522, 597, 613 Verschmelzung 45, 308, 345, 565 f, 584, 589, 604 Verstehen 49, 99, 127, 164, 218, 247 f, 334, 342, 358 f, 398, 528, 533, 546, 606, 633 glaubendes Verstehen 345 Verstehbarkeit 49, 581 Verstehenszumutung 434 f, 437 Vertrautheit 85, 104, 253, 559, 571 f, 601 f Visitation 153, 181, 222, 262, 280 Vokabular 19, 58, 554, 562 f, 569, 574, 589, 609, 629 Voreingenommenheit 62, 102, 104, 110, 227, 245, 248, 303, 315, 501, 546, 607, 618–620, 622 Vorhandenes 334–338, 341 f, 346, 354–358, 360 f, 364, 366, 389, 581 Vorverständnis 18, 20, 22 f, 47, 51, 333, 340–344, 346, 351, 362, 402, 482, 489 Wächter, Wächteramt 137, 260–265, 461 Wahrheit 28, 34, 36, 40, 44, 53 f, 63, 83 f, 88, 91 f, 94, 98, 104, 113, 119, 124, 137, 148 f, 167, 205, 210, 227–229, 236, 247 f, 253 f, 267, 273, 275 f, 285, 288, 290, 295, 297–299, 303, 306–310, 312, 316, 318, 323 f, 329, 335–339, 347, 355, 360, 363 f, 372, 381, 386 f, 391, 397, 418–422, 427, 429, 431 f, 436, 447–449, 456 f, 461, 465 f, 471 f, 477, 479 f, 489, 491, 493, 495 f, 498–502, 509–511, 513–515, 518, 520 f,

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678

Register

525, 548–552, 555 f, 585, 599, 605, 619, 626 f, 629, 631, 639–642 allgemeine Wahrheit 331, 349–352, 356, 365, 367, 390, 491, 542, 600 Geist der Wahrheit 635 intrasystemische Wahrheit 551, 564, 583, 592 ontologische Wahrheit 550–553, 573, 583, 593 Streit um die Wahrheit siehe Streit Wahrheit der Lehre 151 f, 281 f, 307, 631 Wahrheit des Evangeliums 119, 177–179, 181, 429, 437, 440, 456, 513, 614 Wahrheitsanspruch 115, 179, 182, 369, 374, 380, 387, 389 f, 396, 406, 421, 437, 465, 472, 475, 495, 498, 507, 513, 517 f, 520, 523, 549, 551 f, 564, 582, 589–593, 600, 633, 638 Wahrheitsbegriff 336 f, 370 f, 427, 465, 493, 549, 556, 593 Wahrheitsbehauptung 36, 349, 465, 493, 549, 551, 553, 591 Wahrheitsbewusstsein 21, 45, 118, 375, 381, 385, 387 f, 406, 427, 431, 434, 465, 471, 491, 493, 498, 514, 591, 600 Wahrheitsbezug 372, 379, 390, 473, 497 Wahrheitserkenntnis 182, 367, 401, 424 Wahrheitsfähigkeit 424, 489, 510 Wahrheitsfrage 62, 348, 353, 372, 469, 536, 550, 587 Wahrheitsgewissheit siehe Gewissheit Wahrheitspostulat 390 Wahrheitsskeptizismus 590 Wahrheitsverständnis 334, 373 f, 600 zeitlose Wahrheit 331, 355, 373 Wandel 43, 55, 58, 61, 68, 77, 90, 108, 112, 175, 203, 327, 385, 400, 403, 414, 428, 442, 445, 521, 541, 544, 554, 564–566, 589, 619, 623 f, 640 Wandelbarkeit 36, 67 Wanderer, Wanderschaft 141, 192, 194 f, 204, 235, 286, 293, 299, 317, 320 Wüstenwanderung 200 f Weihe, Weihehandlung 94–96, 103, 213 Welt Alltagswelt 52, 54, 103, 599 Weltabend 197

Weltanschauung 159, 240, 349, 351, 355 f, 358, 425, 439 f, 472, 495, 513 f, 517, 521, 523, 576, 610, 641 Weltbild 151, 327, 401 f, 532, 565, 577, 579, 589 Welttheater 194 f, 401 Weltverhältnis 351, 400 Weltverstehen, Weltverständnis 44, 59, 341, 400 Willkür 21, 66, 78, 84, 110 f, 210, 217, 269, 353, 492, 593, 620 Willkürcharakter 72, 74 Wirklichkeit 17, 28, 43, 49–53, 55, 60, 84, 95, 115, 164, 212, 280, 291, 322, 339, 354, 375, 380, 386 f, 390 f, 395–397, 401, 408, 410, 413, 425, 428, 433, 436, 438, 450, 492, 494 f, 498, 509, 514, 517, 536 f, 547, 549–551, 553–555, 559, 565, 573, 576 f, 582, 585, 587, 590, 593, 599 f, 602–605, 608, 626, 642 alles bestimmende Wirklichkeit 599, 605 göttliche Wirklichkeit 28, 552 f Lebenswirklichkeit 407, 409 f, 431, 433 f letzte Wirklichkeit 112, 414, 549, 556, 592, 599 f, 603, 605, 608 Wirklichkeitsauffassung 318, 389, 391, 433, 499, 523, 642 Wirklichkeitsbezug 50, 425, 603 Wirklichkeitspostulat 390 Wirklichkeitsverständnis 409, 412 f, 415, 422, 424, 442, 453, 499, 515, 521 Wirkraum 157, 162, 164, 181, 417, 633 Wissen Gemeinschaftswissen 381 f Wissenschaft 17, 22, 47, 50, 52 f, 61–63, 68, 70, 78, 98 f, 102 f, 114, 133, 145, 180, 184, 209, 212, 235, 277, 281, 323, 328, 340, 347–352, 357 f, 361–366, 372, 375 f, 380, 384, 388–390, 397, 405–408, 425, 439, 482, 492 f, 495, 540, 545 f, 574, 580, 610, 618 f, 621, 632, 639 Berufswissenschaft 380, 409 Erbauungswissenschaft 103 f, 110 Erfahrungswissenschaft 406–408, 411 f Geisteswissenschaft 62, 328, 402 Hilfswissenschaften 207, 289 Humanwissenschaft 407 f, 438 Konfliktwissenschaft 617

Bibelstellen

Literaturwissenschaft 36, 588, 590 Naturwissenschaft 327 f, 375, 401 f, 408, 532, 542, 578 Pseudowissenschaft 109 Sozialwissenschaft 97, 102, 115 wissenschaftliche Theologie 98, 352, 357, 365, 372, 378, 384, 387 f, 398 f, 617, 636 Wissenschaftlichkeit 22, 24, 35, 38, 50, 53, 63, 75, 99, 102–104, 110, 350, 357, 362, 371, 375, 406, 492, 622 Wissenschaftsbegriff 345, 362, 371 f Wissenschaftscharakter 17, 36, 371, 465 Wissenschaftscharakter der Theologie 362 Wissenschaftssoziologie 110, 544, 569 Wissenschaftstheorie 36 f, 52, 67, 104, 109, 113, 213, 293, 362, 371 f, 375, 405 f, 411, 582 Wissenschaftsverständnis 357, 402, 475 Wort Gottes 129, 141, 144, 163, 171, 174, 193, 201–203, 206 f, 236 f, 240, 243–248, 250–252, 268 f, 276, 279, 296 f, 299, 302 f, 309, 315, 328, 331, 333, 345 f, 354, 361, 372, 399 f, 418, 420, 429, 436 f, 446 f, 463 f, 476, 629, 633, 636 Wortgeschehen 27, 29, 363, 398, 400, 612

Zehn Gebote, Dekalog 140, 154, 157–159, 164, 211, 213, 234, 244, 443–445 Zeitgebundenheit 142, 345 f, 373, 379, 443 Zensur 227, 313 Selbstzensur 93 Zeugnis 27–34, 136, 140, 142, 148, 155, 167 f, 170 f, 255, 268, 275, 278, 281, 298, 302, 306–309, 329, 352, 365, 394, 397 f, 417, 419, 434 f, 448, 451 f, 460 f, 464, 466, 469 f, 472, 474 f, 477, 483, 485, 487–489, 495 f, 510, 518 f, 522, 607, 623, 628–630, 636 Christuszeugnis 162, 417, 430 f, 435, 446 f, 474, 478, 519 f Zeugnischarakter 32 Zeugnishandeln 437, 448, 455, 458, 463, 503, 518 Zeugnispraxis 483 Zucht, Disziplin, diciplina 87 f, 93, 109, 127, 143 f, 152, 173, 181, 230–233, 235, 281, 329, 488, 491, 496 f, 519 sprachliche Disziplin 103, 467, 488, 497, 626 Zweideutigkeit 94, 338, 344, 348, 368, 372, 631 Verzweideutigung 94

10.2 Bibelstellen Gen 1 Gen 2 Gen 28,12f Gen 28,14 Gen 3,15 Gen 37,5–11 Gen 50,20 Gen 8,9 Ex 15,27 Ex 2,5–10 Ex 25,31–40 Ex 3,17–19 Ex 3,6 Ex 33,23 Num 10,31 Num 21,8f Dtn 17,18

256 316 301 194 204 259 272 320 200 223 305 263 302 288 230 301 224

Dtn 30,11 Dtn 33,8–11 Dtn 6,6–9 Dtn 6,7f Jos 2 Ri 12,6 Ri 9,7 1Sam 14,12 2Sam 20,18f 2Kön 18 2Kön 22f 2Kön 6,8–23 2Chr 17,8f Neh 8 Hi 31,7 Ps 1,2 Ps 102,19

300 147 205, 237 157 306 269 230 320 230 304 304 220 222 304 190 217, 237 140, 188

679

680

Register

Ps 105,22 Ps 112 Ps 119 Ps 119,105 Ps 126,1 Ps 19 Ps 19,5 Ps 41,8 (VUL) Ps 42,2 Ps 42,8 Ps 55,7 Ps 74,8f Spr 10,17 Spr 16,31 Spr 18,30f Spr 4,11 Pred 12,12 Pred 6,7 Hld 2,13f Jes 49,23 Jes 55,1f Jer 1,11 Ez 1 Ez 2,8–3,3 Ez 20,49 (VUL) Ez 21,5 Ez 3,1 Ez 40,4 Dan 12,3 Joel 2,28 Am 8,2 Hab 2,1 Mt 10,32 Mt 10,32f Mt 12,41f Mt 20,25–28 Mt 22,29–31 Mt 26,53f Mt 28,10 Mt 28,18–20 Mt 5,14 Mt 5,15 Mt 7,14 Mt 8,29 Mk 1,7 Mk 4,26–29 Mk 4,9 Mk 8,24 Lk 1,3f

204 214 243 170 245 220 302 193 200 193 320 197 286 286 203 286 283 210 320 223 217 302 254 217 285 285 252 251 198 197 302 263 626 119 189 205 302 635 205 279 289 305 286 271 320 197 246 221 288

Lk 1,79 Lk 11,27 Lk 12,42 Lk 19,11–27 Lk 24,34 Joh 1,18 Joh 1,49–51 Joh 10,35 Joh 11,50 Joh 13,35 Joh 14,16f (VUL) Joh 5,35 Joh 7,16f Joh 7,37 Apg 13,11 Apg 15,8 Apg 16,17 Apg 16,30 Apg 17 Apg 17,11 Apg 17,27 Apg 17,28 Apg 18,12 Apg 18,25 Apg 4,12 Apg 9,2 Röm 1,6 Röm 10,17 Röm 10,18 Röm 10,6–8 Röm 11,36 Röm 12,1 Röm 2,20 Röm 3,2 Röm 6,17 Röm 9–11 1Kor 11,19 1Kor 12,28 1Kor 13,12 1Kor 13,8–12 1Kor 13,9 1Kor 15,28 1Kor 2,10 1Kor 2,10–13 1Kor 3,10 1Kor 3,12f 1Kor 9,24 1Kor 9,24f 1Kor3,11

286 200 210 197 434 288 194 296 302 311 139 289 301 188, 198 290 626 286 265 206 304 290 287 224 286 267 286 297 236 302 300 287 197 288 287 286 132 272, 509, 633 219 642 288 198 642 288 287 286 642 286 259 133

Personen

2Kor 5,1–4 2Kor 5,20 Gal 1,8 Gal 1,9 Gal 3,1 Eph 6,4 Phil 3,12–21 Phil 3,13 Kol 2,2 Kol 2,8 Kol 3,16 Kol 3,21 1Tim 2,1–4 1Tim 2,12 1Tim 2,15 1Tim 3,2–6 1Tim 6,3 2Tim 1,13 2Tim 2,15 2Tim 2,2

286 344 170 142 255, 286 232 286 286 288 255 237 232 224 231 255 154 288 288 127, 174, 210 249

2Tim 3,15 2Tim 3,16 2Tim 4,3 Tit 1,13 Tit 1,9 1Petr 1,25 1Petr 2,2 1Petr 4,11 Hebr 1,3 Hebr 4,11 Hebr 4,12 Hebr 5,12 Hebr 5,12–14 Hebr 5,14 Hebr 6,2 Offb 1,2 Offb 1,20 Offb 10,9f Offb 11,4 Offb 22,18f

205 240 24 290 249, 290 296 198 287 560 203 297 196, 198, 287, 288 210, 318 255, 290 197 237 289, 305 217 305 202

10.3 Personen Albertus Magnus 287 Ambrosius von Mailand 242, 266 f Anselm von Canterbury 396 Anselm, Reiner 222 Appold, Kenneth G. 274, 282, 305, 631 Aristoteles 198, 285, 336 Arius 257, 263, 271, 273, 275 Arndt, Johann 226, 246 Athanasius 189, 568, 591 Augustin 142, 193, 199, 213, 216, 228, 267, 272, 274, 576 Aurifaber, Johannes 217 Axt-Piscalar, Christine 17, 25 f, 35, 130, 154, 159 f, 173, 183, 325, 329, 340, 631, 640 Barner, Wilfried 195 f Barth, Karl 330, 332, 339, 357, 373, 425, 466, 480, 537, 578, 591 Barth, Ulrich 21, 402 Baur, Jörg 21, 177, 183, 328–331 Bayer, Oswald 35, 130 f, 136, 150, 154, 163 f, 256, 617 Becht, Michael 128, 136, 142

Behr, Jan-Philipp 23, 509 Bellarmin, Robert 260, 276, 310 f Berger, Peter L. 48, 74, 544 Bernhard von Clairvaux 142, 193, 199 Bertalanffy, Ludwig 438 Birkner, Hans-Joachim 17, 407 Blumenberg, Hans 238, 327, 401 Bodenstein, Andreas 273 Bodin, Jean 274 Bolliger, Daniel 185–188, 190 f, 195, 197–199, 211, 213, 216, 253, 256, 259, 264, 270, 274, 276, 278, 281, 283 f, 286, 289, 293 f, 302, 308, 318 f, 324, 631 Bonhoeffer, Dietrich 328 f, 331, 602, 627 Bourdieu, Pierre 18, 40–42, 47 f, 62–115, 463, 535, 597–599, 602, 611, 615 f, 621, 632–634 Bretschneider, Karl G. 18 Buber, Martin 332, 368 Bultmann, Rudolf 29, 42, 44, 332–334, 339–368, 373–375, 378 f, 382, 389, 395–397, 401, 403, 466, 470, 599, 612, 625 Burkhardt, Johannes 152, 634

681

682

Register

Calixt, Georg 257, 272, 289, 322 Calov, Abraham 626 Calvin, Johannes 273, 414 Campeggio, Lorenzo 124 Canisius, Petrus 214 Cano, Melchior 276 Cassirer, Ernst 48 Chemnitz, Martin 476 Chomsky, Noam 547 Christian I. (Pfalzgraf) 283 Christian, William 548 Chrysostomos, Johannes 218 Congar, Yves 272 Coors, Michael 295 Dalferth, Ingolf U. 22, 24, 36, 44, 295, 329, 332 f, 339, 367 f Danneberg, Lutz 127, 185, 210, 255, 325 Dannhauer, Johann Conrad 41, 43 f, 127, 141, 183–327, 401, 597, 601, 611, 613, 626 f, 631–633 Danz, Christian 21 f David 145, 152, 193, 204, 217, 244, 320 Davidson, Donald 586 De Saint Martin, Monique 18, 86, 88 f, 91–94, 96 de Saussure, Ferdinand 62, 97 del Alcazar, Luis 194 Derrida, Jacques 40, 104 Di Noia, Joseph Augustine 583 Dingel, Irene 116, 165 f Dreyfus, Hubert L. 333 Duraeus, Johannes 272 Durkheim, Émile 48, 56, 75, 538 Ebeling, Gerhard 114, 483, 606, 612, 617 f, 621, 624–628, 632 f, 639 f Eckerstorfer, Andreas 524, 537–539, 542, 544, 546, 548, 559, 563, 577–580, 582, 587 f, 592, 594 f, 633, 638 Egger, Stephan 68 Ferdinand I. (Kaiser) 224 Fichte, Johann Gottlieb 42 Foucault, Michel 104 Frazer, James George 56 Fries, Heinrich 500, 507, 513, 521 Gadamer, Hans-Georg

185, 401 f, 620

Gaß, Wilhelm 317 Geertz, Clifford 42, 47–62, 72, 84, 112 f, 115, 523, 537, 547, 575 f, 593, 597–599, 602 Gerhard, Johann 183, 186, 287 Geyer, Hans-Georg 23, 35, 607, 628 f, 631, 636 Gretser, Jakob 298 Grisebach, Eberhard 332 Hacker, Peter M. S. 524–526, 528 f, 531 f, 536 Hafenreffer, Matthias 305 Härle, Wilfried 21 f, 413, 425, 427, 436, 493, 495, 497, 619 Harnack, Adolf 40, 330, 337 Heckel, Martin 152, 182, 222, 634 Hegel, Georg W. F. 18, 42, 408, 538 Heidegger, Martin 44, 332–339, 342, 357, 366–368, 389, 408, 493, 612 Herder, Johann Gottfried 482 Herms, Eilert 17, 23, 41 f, 44 f, 153, 163, 329, 379, 389, 403, 405–523, 590 f, 597, 600, 606, 618, 627 f, 630, 633, 635 Herrmann, Wilhelm 42, 350, 353, 356 Hieronymus 237, 246 Hoffmann, Georg 240 Hoffmann, Heinrich 326, 329 Honecker, Martin 471 Horning, Wilhelm 184, 187 f, 220, 253, 259, 270, 280, 284 Huber, Wolfgang 44, 329, 333, 368–375, 378 f, 390, 397, 403, 607 Hülsemann, Johannes 305, 626 Husserl, Edmund 408 Hutter, Leonhard 183, 305 Jammerthal, Tobias 131, 150 f Jenson, Robert W. 593, 632 Jetter, Werner 153, 187, 319 Johannes der Täufer 286 Jüngel, Eberhard 342, 344, 347–351, 357, 361, 367, 505 Kaufmann, Thomas 116, 153–155, 165, 281, 598, 601, 613, 615, 626 Kelsey, David H. 542, 576, 590 Kierkegaard, Søren 55, 332 Koch, Ernst 191, 203

Personen

Koch, Traugott 23, 633, 635 f, 639–641 König, Johann Friedrich 183, 283, 305 Konstantin I. der Große (Kaiser) 152, 224, 229, 266, 274 Körtner, Ulrich H. J. 21 f, 332, 342, 346 f, 361, 536, 600 Kücherer, Heiner 22, 184, 189, 191, 195 f, 198, 201, 203 f, 206, 236, 318 f, 324 f, 603 Kupsch, Alexander 590 Laube, Martin 25 f, 35, 589 Lauster, Jörg 48, 59, 171, 325 Laymann, Paul 276 Leonhardt, Rochus 21 f Leppin, Volker 119, 620 Lévi-Strauss, Claude 62, 97 Lindbeck, George A. 19, 27, 36, 42, 45, 50, 404, 523 f, 534–595, 597 f, 601, 606, 613 f, 622, 633, 638 Lonergan, Bernard 542, 546, 559 Luckmann, Thomas 48, 544 Luhmann, Niklas 48, 409, 435, 438 Luther, Martin 24, 43, 114, 117, 120, 123, 126 f, 129 f, 134 f, 149–165, 172, 176, 178, 180 f, 186, 188 f, 193, 197, 199, 207 f, 210 f, 213 f, 217, 219, 222, 243, 245, 247, 250 f, 256, 260, 262, 266, 268 f, 275, 278, 281 f, 306, 319, 345, 371 f, 374, 412–414, 416, 418, 420 f, 423, 426–428, 431, 443–446, 464, 475, 490 f, 503 f, 506, 552, 554, 562, 582, 588, 590 f, 599, 601, 613, 623, 628–630, 636 Mahlmann, Theodor 35, 136, 149, 184, 287 Malinowski, Bronisław 48, 56 Manuel I. Komnenus (byz. Kaiser) 225 Marshall, Bruce D. 537 f, 550 f, 576, 582, 587, 638 Martikainen, Eeva 164 Marx, Karl 70, 75 f, 538 McGinn, Bernard 193 Meisner, Balthasar 287 Meister Eckhart 193, 603 Melanchthon, Philipp 43, 116 f, 119 f, 122–128, 130–153, 174, 176 f, 179, 181–183, 187, 248, 268, 597, 635 Mose 136, 143, 145, 147, 188, 204, 206, 214, 219, 223, 236, 243, 247, 258, 260, 288

Mouffe, Chantal 627 Munsonius, Hendrik 37, 178 Newman, James Henry 562 Nietzsche, Friedrich 332 Ohlemacher, Andreas 183, 198 Ostorodt, Krysztof 214, 269 Pannenberg, Wolfhart 27, 36, 104, 325, 372, 402, 425, 482, 515, 599, 610, 626 Pappus, Johannes 275 Pareus, David 272 Parsons, Talcott 438 Paulus von Tarsus 29, 122, 195, 200, 206 f, 219, 236, 250, 259, 263, 265, 286, 311, 314, 343 f, 366, 478 Peters, Albrecht 153, 379 Peters, Christian 124 Petrus (Apostel) 206, 219, 243, 246, 307, 314 Philipps, Dewi Zephania 536 Piscator, Johannes 273 Plathow, Michael 609, 622, 626, 628, 638 f Quenstedt, Johann Andreas

183

Radcliffe-Brown, Alfred 56 Rahner, Karl 20, 81, 412, 414, 500–502, 504 f, 507, 513, 542, 559, 570, 599, 605, 609, 611 f, 630 f, 641 Ramsey, Ian T. 423 Rendtorff, Trutz 372, 407, 515 Ritschl, Dietrich 27, 379, 390 Robertson-Smith, William 56 Rössler, Dietrich 102, 407, 459, 621 Ryle, Gilbert 49, 576 Sanders, Hans-Joachim 86 Sartre, Jean-Paul 62 Sauter, Gerhard 372 Schäfer, Heinrich Wilhelm 107, 604, 621 Schäufele, Wolf-Friedrich 620 Scheible, Heinz 130, 149 Schelling, Friedrich W. J. 18, 42 Schleiermacher, Friedrich D. E. 17 f, 38, 40, 42, 325, 349, 383, 406, 408, 410 f, 414, 428, 433, 439, 466, 482, 493, 517, 544, 631

683

684

Register

Schlink, Edmund 19, 27–35, 37, 50, 116, 123, 177, 539 Schwöbel, Christoph 534 Seebaß, Gottfried 119 Semler, Johann S. 25 f, 35, 40, 325, 327 f Slenczka, Notger 21, 116, 118, 121, 123, 129 f, 155, 158, 163, 165, 168 f, 172 f, 175–178, 330 Slenczka, Reinhard 21, 287 Sorokin, Pitirim 57 Sparn, Walter 322, 324, 620 Spener, Philipp J. 185, 284, 324 f, 327 Steck, Karl G. 624 Stegmann, Andreas 183, 283 f, 610 Steiger, Johann Anselm 183, 253, 291, 599, 629 Tauler 193 Tholuck, August G. 184 f, 291, 317 f, 324 Thomas von Aquin 296, 371, 537, 552, 565, 576, 591 Tillich, Paul 42, 603 Tracy, David 386

Troeltsch, Ernst 40–42, 347, 349, 353, 401 Tylor, Edward B. 56 v. Savigny, Eike v. Stosch, Klaus

524, 527, 531, 533 534

Wagner, Falk 99 Wallmann, Johannes 116, 120, 149, 151, 165, 180, 183–185, 187, 248, 272, 325 Weber, Max 48, 68, 75, 77, 538 Wellmer, Albrecht 34, 333, 529, 611 Wenz, Gunther 116, 118, 153 f, 163, 165, 175, 490 Wirsching, Johannes 112, 118, 624, 627 Wittekind, Folkart 22, 36 Wittgenstein, Ludwig 45, 49, 97, 392, 523–537, 547 f, 550, 578, 582, 588 f Wittram, Reinhard 401 Wobbermin, Georg 349 Zabarella, Jacopo

213