Richard Roesicke: Sein Leben und Wirken dem Volke dargestellt [Reprint 2019 ed.] 9783111640624, 9783111257969


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Vorwort
Richard Roesicke. Sein sehen und Wirken dem Volke bargestellt
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Richard Roesicke: Sein Leben und Wirken dem Volke dargestellt [Reprint 2019 ed.]
 9783111640624, 9783111257969

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Ricbarb Roeflcke. 7^ 7^

Sein sehen und Wirken

dem Volke bargestellt

Berlin. Verlag von Georg Reimer 1904.

Drude von lj. 5. D rt’l, Dessau.

Ilur mit Zögern, aus der Besorgniß heraus, daß es mir kaum gelingen

dürfte, ein getreues Bild von dem Leben und Wirken dieses einzigen Mannes

iti geben, der Vielen so viel war, gehe ich an die Niederschrift der nachfolgenden Blätter.

Richard Roe ficke, in seinem Wesen die Einfachheit selbst, gehörte als Mensch wie als Schaffender zu den komplizirten Naturen, die auf den ersten Blick zu erkennen, unmöglich ist; ja, selbst von Denen, die näher in den Kreis

ihrer Werthungsmöglichkeit treten, verkannt und vielfach mißverstanden zu werden, scheint ihr Loos.

Ihn

so schwieriger die Aufgabe, einem

einem in sich abgeschlossenen Urtheile gerecht zu werden.

solchen Manne

in

Ich hätte mich dieser

nun sicher nicht unterzogen, ihre Lösung vielmehr Berufeneren überlaffen, wenn in erster Reihe nicht Forderungen der Pietät und dankbarer Freundschaft für mich in Frage kämen.

Gelegentlich einer freundlichen Plauderstunde in seinem

Hause, an demselben Tische, an dem

ich dieses nicderschreibe, im glücklichen

Besitze seiner vollen Gesundheit und seines geradezu einzigen Schaffensdranges

äußerte der nunmehr Verewigte leichthin zu mir: „Sie werden mir einmal den

Nachruf schreiben . .

Vielleicht wollte

er damit

sagen,

daß

ich

zu

dem

kleinen Kreise Derer gehörte, die ein langjähriger Verkehr mit ihm ermächtigt

hatte, die Behauptung aufzustellcn, daß sie ihn kennten.

Das leichthin gesprochene

Wort von damals habe ich nicht vergeßen, es ist in mir haften geblieben.

Es

wahr zu machen, erscheint mir nun eine ernste Pflicht, da der seltene Mann

rascher

von

uns

gegangen ist,

als

selbst zarteste Liebe befürchten zu sollen

meinte . . . Auch meine politischen Freunde drängen, gerade auch aus meiner Feder Notizen über des Entschlafenen Leben und Wirken zu erhalten, da sie annehmen,

es könnte gerade aus diesen möglich sein, sein Bild für immer so festzuhalten,

1*

wie es noch vor ihrem geistigen Auge schwebt.

Ich

bin ihnen dafür bekannt,

kein Schönredner zu sein; nackte Wahrheit schätze ich, das wissen sie.

Das

wußte auch der verblichene Freund, denn die Liebe zur ehrlichen, ungeschminkten Wahrheit führte uns näher zu einander, ich möchte sagen:

gleich beim

ersten

Zusammentreffen.

Wenn ich es also unternehme, das Bild des todten Freundes zu zeichnen, so könnte Mancher meinen, daß verehrungsvolle Freundschaft ebensowenig Garantie

bietet für eine streng objektive Zeichnung, wie eine persönliche

oder sachliche

Gegnerschaft; dort ein dem Enthusiasmus entstammendes Zuviel, hier ein allzu

kritisches,

bewußter

oder

unbewußter Zurückhaltung

entsprungenes Zuwenig.

Trotzdem wage ich zu behaupten: die nachfolgenden Blätter mögen manchen Mangel aufzuweisen haben, den gebe ich ohne Weiteres zu; sie sind aber vom

Geiste herbster Unparteilichkeit getragen, strengster Sichtung, sorgsamster Wägung. In allem diesen war der nahe Verkehr mit dem Freunde während fast zwanzig

Jahren

für

mich,

den Jüngeren, der gern zu dem früh im Getriebe

verantwortungsvollen Lebens gereiften Manne aufblickte, ich zu lernen mich bemühte.

eines

eine Schule, in der

Und wie könnte ich mich dem todten Meister besser

dankbar erweisen, als dadurch, daß ich all das, was er Zeitlebens so über Alles

werth schätzte, von dem er nirgends abzuweichen sich strengstens bestrebte, ihm

nun selbst zuwende!

Dieser Gedanke beherrscht mich dermaßen, daß ich meine,

sein Stirnrunzeln sehen zu müssen, sollte wirklich einmal das schwellende Gefühl freundschaftlicher Liebe ein Zuviel auf Kosten der Wirklichkeit

entstehen

wollen. Dessau, den 21. Juli 1904.

l). 5. Rrt’l.

lassen

Richard Rocs icke

wurde

am

24. Juli

1845 in Berlin

geboren.

Sein Vater war der Kaufmann Adolf Roesicke, seine Mutter Pauline eine geborene

Goschenhofcr.

Unter mehreren Geschwistern, auf.

wuchs Richard Roesicke

Kindern

darunter drei jüngeren Brüdern,

sorgfältige Erziehung

überaus

Eine

des vornehm gesinnten Elternpaares

zu Theil.

ward allen

Wie innig aber mag

das Familienleben in dem Elternhause Richard Roesicke's gewesen sein, wie viel daß er die zärtlichste Liebe,

nachhaltige Anregung mag eS ihm geboten haben, die tiefste Verehrung

seine Eltern im Herzen

seinem Tode für

bis zu

trug!

Rührend war das Verhältniß Richard Roesicke's zu seinem Vater; er schätzte in ihm nicht nur seinen ersten und besten Erzieher,

er blickte zn ihm als dem

erfahrenen, besonnenen, wohlwollenden Menschen auf, er schätzte seine vorbildliche

Tüchtigkeit als Kaufmann,

dem es

seltene Klugheit,

durch

durch Fleiß und

Ausdauer gelungen war, sich aus kleinen, fast ärmlichen Verhältnisien zu einer angesehenen Stellung emporzuarbeiten und durch Begründung des noch heute in

hoher Achtung

stehenden Hauses Goschenhofer und Roesicke

zu Wohlhabenheit

zu gelangen.

Richard Roesicke's Art, nichts Verbindliches.

sich

zu

geben,

hatte im Verkehr

mit Fremden

Gemeßen und knapp in der Form, nur das Thatsächliche

im Auge haltend, war sein Verkehr selbst mit seinen ihm unterstellten Mit­ arbeitern.

Er verlangte viel von allen seinen Untergebenen, da er noch höhere

Anforderungen an seine eigene Thatkraft stellte. überlegtheit oder Nachlässigkeit

ihm in

Zuweilen konnte er,

den Weg trat,

Und doch thronte die Güte selbst in seinem Herzen.

barsch,

wo Un­

ja schroff sein.

Mit der That,

die ganz

still vor sich ging, verstand er sie zu beweisen. Unvergeßlich ist mir eine Episode,

deren Zeuge ich einmal war.

Wir saßen an einem Abende spät, wie so oft,

nach des Tages Arbeit,

in seinem Arbeitszimmer, er — wie fast stets — an

seinem Schreibtisch, ich

ihm gegenüber.

Die Unterhaltung erstreckte sich auf

mannigfache Gebiete des öffentlichen Lebens.

Während deffen wurden Notizen

gemacht, ja es kam vor, daß irgend eine Tagesstage von uns gemeinsam sofort durch Abfassung

eines

Artikels

für

die

Preffe

behandelt

wurde,

mitten in

Da erschien sein Diener, der seinen Auftrag irgendwie

unserer Unterhaltung.

mißverstanden hatte und beging eine Ungeschicklichkeit.

Roesicke brauste auf und

ließ den armen Tölpel hart an, der zitternd und schweigend dastand, sich gar nicht

zu entschuldigen wagte.

Das besänftigte den strengen Herrn aber auch wieder

sehr bald. Er brummte nur noch leise vor sich hin und hieß den Diener, sich — schlafen legen. Als dieser fort war, entstand eine Pause in unserem Gespräch. „Ich war wohl sehr grob zu ihm — — ?" kam es endlich von seinen Lippen. „Na,

es — geht.

Es war ja aber auch zu ungeschickt von ihm — ich

glaube, die Dummheit, die er begangen, war nur die Folge seiner Aengstlich-

keit" — entgegnete ich,

um das merkbar in ihm aufsteigende Gefühl seiner

Unzufriedenheit mit sich selbst schonend zu dämpfen. Rasch griff er das Gesagte auf.

„Nicht wahr, der Mann war ängstlich.

Ueberhaupt haben alle meine Leute Angst vor mir, Da ist ein

jüngerer Herr

Telephon spreche,

in unseren Comptoirs;

und sie zeigen mir das.

ihm durch'ü

ich mit

wenn

versteht er mich aus purer Angst gar nicht ...

B i n ich

denn nur ein so fürchterlicher Mensch?"

Ich sprach mich freimüthig aus. in seine Eigenart bald hineinfinden.

Wer ihn genauer kennte, würde sich ja

Freilich,

etwas herb

wäre ja wohl diese

Eigenart. Dadurch, daß er immer nur die Sache fest im Auge hielte und z. B. Abschweisirngen, wie solche bei tragen könnte,

würde er leicht

vielen Leuten

die Regel bilden,

ungeduldig und

nicht er­

gar

Das

dann barsch.

wiffen die

In sich gekehrt,

Leute, werden ängstlich und dadurch schließlich noch unsicherer.

nachdenklich nickte er dem zu. „Ich weiß,

daß ich so bin;

schon als Knabe so.

das liegt aber in meiner Natur.

Wenn ich dagegen meinen Pater betrachte,

Ich war

wie e r

war: was gäbe ich darum, wenn ich sein liebenswürdiges, verbindliches Wesen hätte!

Wie verstand der Mann mit den Leuten umzugehen!

Selbst zu den

Geringsten war er stets freundlich; bei aller Entschiedenheit in der Durchsetzung seines Willens doch verbindlich, angenehm ...

die

man Einen beneiden kann."

Ja,

das ist eine Gabe, um

Und wieder versank er

in minutenlanges

Sinnen — ich fühlte, er lebte in Erinnerungen an seinen heißgeliebten Vater.

Daß er ihn so unerwartet rasch hatte verlieren müffen

seine Mutter

war dem trefflichen Gatten wenige Monate im Tode vorangegangen

erfüllte

ihn mit tiefstem Schmerz, machte ihn nahezu fassungslos; so innerlich gebrochen, rote damals, herber Schlag

habe ich den Freund nie wieder gesehen. des Schicksals,

der

ihn

damals,

Richard Roesicke kennen gelernt hatte, getroffen.

Es war aber auch ein

wenige Jahre,

nachdem

ich

Die Familie hatte im Spät-

sommer 1886

das

der Vater weilte

Ostseebad Heiligendamm aufgesucht,

bei

ihr; seine Gesundheit ließ zwar Manches zu wünschen übrig. Niemand dachte

aber an eine so nahe bevorstehende Katastrophe.

Weilten

Richard Rocsicke gönnte sich ja nur selten eine längere Erholung.

die Seinigen im Bade, so sorgte er für sie in jeder nur erdenklichen Weise,

geleitete sie bis an Ort und Stelle, aber lange hielt es ihn nicht am Meeres­

strande oder im Gebirge; bald war er wieder zu seiner gewohnten Thätigkeit zurückgekehrt — Entfernungen und Reisestrapazen spielten bei ihm keine Rolle —

befand er sich wieder mitten in seinen Geschäften, beruflichen oder politischen,

und nur, wenn er meinte, wieder abkommen zu können, suchte er seine Familie So auch in jenen Spätsommertagen des genannten Jahres.

auf.

Ich blättere in vergilbten Papieren Hand,

der

mir

Das Schreiben

den Tod

ist

viel

seines,

zu

und

finde

einen Brief von

seiner

auch von mir hochverehrten Vaters anzeigt.

charakteristisch

für

innerste

das

Richard

Wesen

Roesicke's, als daß ich es hier nicht wortgetreu wiedergeben sollte:

Heil. Damm, 3. September 86. Geehrter Herr!

Mein guter lieber Vater, mein bester Freund, mein Rathgeber und mein Leiter in allen

schwierigen Lagen

meines Lebens

ist nicht

mehr!

Diese erschütternde Nachricht erwartete mich, als ich heute früh hier eintraf!

Ich habe ihn nicht einmal mehr sehen, können!

ihm nicht mehr die Hand drücken

Wenige Stunden vor meiner Ankunft ist er in den Armen meiner KeinS seiner Kinder war bei ihm!

Frau gestorben!

Ich bin so überwältigt von dem

harten Schlag, daß ich mich für

heut auf die obige Mittheilung beschränken muß. Nicht ahnend, welches Schicksal mich hier erfassen würde, schrieb ich

heute Morgen

weder

im Eisenbahn Coupoe

redigiren,

inwieweit

noch prüfen

Tie

davon

kann.

Gebrauch

ändern, was Ihnen nicht paßt.

anliegenden

Ich

Artikel,

überlasse

machen

den

es Ihnen,

können.

Bitte

ich

nun

o b und

event,

zu

Ich wollte ihn nur nicht gerade fortwerfen.

Ihr sehr gebeugter und trauriger

Richard Roesicke. Der in obigem Briefe erwähnte Artikel betraf das erbärmliche Verhalten der deutschen offiziösen und eines Theils der iiatianalliberalen Presse zu dem

Schurkenstreich der Bulgaren gegen ihren Fürüeu Alexander von Battenberg.

verstand es Roesicke, in diesen

Wie klar und eindringlich und wie vomehm

Ausführungen die Haltung des überwiegenden Theils des deutschen Volkes und insbesondere der deutschfreisinnigen Presie gegenüber den Angriffen der Offiziösen in Schutz zu nehmen!

An dem Artikel, der beweist, wie eingehend fich Richard

Roesicke schon damals auch als Publizist für alle öffentlichen Vorgänge interesfirte,

war kein Wort zu ändern; er wurde als willkommener Beitrag in der Nummer 208

des

„Anhaltischen Tageblatts"

vom 7. September

an leitender Stelle ab­

gedruckt. —

*

*

* Richard Roesicke hatte das französische Gymnasium in Berlin bis zur

Prima besucht.

Das wurde damals in kaufmännischen Kreisen als eine genügende

allgemeine Vorbildung für den kaufmännischen Beruf erachtet, und Roesicke

hatte bereits frühzeitig seine Neigung bekundet, sich diesem Berufe zu widmen.

Nicht ohne Bedauern berührte er öfter gesprächsweise den Mangel eines Abschluffes seiner wisienschaftlichen Vorbildung; doch dieser Mangel wurde später reichlich wett gemacht durch eifrigstes Selbststudium, sodaß sich Roesicke auch

hinsichtlich seines allgemeinen Wiffens mit Manchem meßen durfte, der die herkömmlichen Grade schulmäßiger Ausbildung formgerecht erledigt hatte.

Ein angehender Jüngling, schlank, sogar etwas schmächtig, verließ er das

Vaterhaus,

um

seine

kaufmännische Lehre

Frankfurt a. M. anzutreten.

im Hause Ferdinand Heuer

zu

Dort arbeitete er sozusagen „von der Pike auf",

denn ein gar strenger Lehrherr war ihm in dem Freunde seines Elternhauses

Frankfurt, die alte freie Stadt, und Berlin, das im wohlbegründeten

geworden.

Rufe stand,

seine Söhne ebenfalls scharf zu prägen — es mochte kaum einen

stärkeren Kontrast für den angehenden Handlungsbeflissenen geben.

Genau ging

es in dem Hause Heuer zu, auf Zucht, Ordnung und Sitte wurde streng gehalten,

nach

der Altvorderen

Satzung und

Regel.

Mit Behagen

konnte

Richard Roesicke von mancherlei ernsten, aber auch gar heiteren Erlebniffen aus seiner

strammen Lehrzeit

erzählen;

wie er

an

Sonn- und Feiertagen dem

Prinzipal und deffen Familienangehörigen zur Kirche folgen mußte, das dicke

Gesangbuch fest unter den Arm geklemmt, und wie trotz aller Strenge der junge, geweckte Berliner den Schalk,

springen ließ.

Manches

der ihm im Nacken saß, doch zuweilen

Gegensätzliche

im

Wesen

mochte

zwischen

seinem

Lehrherrn und ihm bestehen, was sich auch später nie ganz verwischt hat; für

Eines aber war Richard Roesicke seinem „Prinzipal" gewiß zu stetem Danke verbunden: daß er in deffen Hause seine nachmalige liebreizende Gattin hatte

finden sollen.

Und mit welchem Stolzgefühl blickte Herr Ferdinand Heuer zu

seinem Schwiegersöhne in späteren Jahren empor, wie schätzte er ihn hoch! Aus dem eigenen Munde des alten, angesehenen Frankfurter Patriziers habe

ich es oft vernommen.

er hatte eben seine Lehrzeit beendet, ward

Noch nicht zwanzig Jahr alt,

Richard Roesicke im Jahre 1864 von seinem Vater nach Berlin zurückberufen, um die Leitung einer von ihm käuflich erworbenen Brauerei zu übernehmen. Das war für den jungen Kaufmann, der sich hauptsächlich mit feinen Tuchen

beschäftigt hatte, ein ganz fremdes Gebiet, und nicht ohne Bedenken, nicht ohne Sorge folgte er dem väterlichen Wunsche.

Er ahnte nicht, wie eng er sich für

immer mit diesem Unternehmen verbinden sollte, welche Bedeutung er selbst

für die Entwickelung des ganzen Brauereiwesens in Deutschland gewinnen würde. Die in

der bleuen Jakobstraße belegene, nach ihrem Vorbesitzer Jobst

Schultheiß genannte Brauerei war nach heutigen Begriffen kaum ein Mittel­ betrieb zu nennen, sie entbehrte jeglicher Maschinenkraft.

für ihn das neue Arbeitsfeld zu übersehen.

Mit

Um so leichter war

jener Energie,

ihn

die

in

allen seinen Unternehmungen auszcichncte, mit einer Zähigkeit, die alle Hinder-

Wie ich von ihm selbst weiß,

niffe überwand, widmete er sich seinem Berufe.

fühlte er sich nie als „der Sohn seines reichen Vaters"; mit einem aus starker Selbstdisziplin hervorgegangenen Stolze, nur das, was er sich selbst erworben,

zu besitzen, verstand er cs, Rechner und Haushalter

Einkünfte es ihm

zunächst mit Wenigem auszukommen.

ist er

dann

auch

ermöglichten,

noch

geblieben,

seinem Herzenswünsche

Ein guter

als seine großen

nachzugehen

und

mit

offenen Händen Wohlthaten auszustrcuen.

Ersichtlich waren die Erfolge Jahren.

Unzweifelhaft

er

hatte

Arbeitskraft übernommen

seiner Thätigkeit

sich

aber

in

den

bereits

nach

den

Anforderungen an

ersten

seine

er muthete sich ja auf diesem Felde immer zu viel

zu -- - denn er verfiel Ende der sechziger Jahre einem Brustleiden,

sehr ernsten Charakter anzunchmen drohte.

das einen

Das Leben seines herzlich geliebten

ältesten Sohnes zu retten, war nunmehr sein Vater aufs Eifrigste bedacht. Aerzte ricthen dringend einen

längeren Aufenthalt im

damit begannen für Richard Roesicke die Wanderjahre.

Die

südlichen Klima, und In diesen genoß er so

recht eigentlich die einzige Muße während seines ganzen Lebens, „der Roth ge­ horchend, nicht dem eignen Triebe".

Er nahm seinen Aufenthalt abwechselnd in

Italien, Egypten, Spanien und in der Schweiz. Die unfreiwillige Muße wurde für den,

mit

offenen Augen um sich

blickenden Jüngling eine Quelle reichster geistiger und seelischer Anregung. Ein träges in den Tag Hincinlcbcn gab cs selbst für den Erkrankten nicht; dem Geiste

fortgesetzt neue Nahrung zuzuführen,

war

ihm

selbstverständliches

Bedürfniß.

Hatte er bereits daheim, im gastlichen Hause seines freisinnigen Vaters,

den Umgang bedeutender Männer und Frauen genoffen, ich nenne nur die Namen Adolf Stahr, Fanny Lewald, Dr. Wolff, den Begründer der NationalZeitung, Professor Hosemann,

Kommerzienrath Schwartzkopff, Prediger

Geh.

Weitling, so verstand er es, in der Fremde sich neue Freunde unter geistigen Tonangebern zu erwerben.

gedachte er oft des ihn weit über die

Dankbar

Grenzen des Gewöhnlichen hinaus fördernden Verkehrs mit Männern, wie Karl Vogt, Friedrich Lange, Anton Dohrn, dem Begründer der zoologischen Station

in Neapel, die später auch

mit namhaften Beiträgen unterstützen zu können,

ihm eine besondere Freude war. In jener Periode seiner Krankheit erwachte zuerst sein soziales Empfinden.

Wie ihm ging es Tausenden und Abertausenden, denen es aber nicht möglich war, Heilung in fernen Gegenden einer südlichen Sonne zu suchen und zu finden. Das ergriff sein Innerstes, und auch diesen armen und ärmsten Mitmenschen etwas nützen zu können, ward für ihn ein Ziel, das er, wieder völlig gesundet,

mit verdoppelter Energie verfolgte. Wie er alle Vorrechte gründlich verschmähte, mochte ihn auch der Gedanke bedrücken, daß ihm der glückliche Zufall vor so vielen Anderen einen Vorzug

gewährt hatte;

das zu ebenen, womöglich „wieder gut zu machen", reifte in

ihm zu einem heiligen Entschluß. In diesen Empfindungen vornehmlich ist bei ihm der Antrieb zu suchen,

sich in materieller Hinsicht eine bedeutende Position

zu

schaffen,

zu

verdienen

und zu erwerben, nicht so sehr, um selbst zu genießen, als vielmehr, um Anderen,

vornehmlich den wirthschaftlich Schwachen, etwas leisten zu können. Es dürfte hier die paffende Gelegenheit sein, zwei an sich ja unbedeutende Thatsachen anzuführen, die aber den Zug

seines echtesten sozialen Empfindens

so recht markant hervortreten lassen. Als Richard Roesicke schon längst der bestens anerkannte und viel beneidete Direktor des großen Brauerei-Unternehmens war, kam seine Gattin einmal da­

hinter, daß er sich insofern ein recht

mangelhaftes Nachtlager zu

wußte, als er seine wärmenden Bettkiffen entfernt und sich

ganz leichten Decke versehen

hatte.

verschaffen

dafür mit einer

Da es Winter war, machte ihm die um

seine Gesundheit besorgte Gattin freundliche Vorhaltungen wegen eines Beginnens,

das sie zunächst nicht recht

einzusehen vermochte.

Erst nach und nach erfuhr

sie, was der Grund dieser absonderlichen Vorkehrungen war:

ihr Gatte wollte

am eigenen Leibe Studien machen, aus eigenem Empfinden erfahren, wie Jenen

wohl zu Muthe sei,

die überhaupt nicht in der Lage sind,

sich ein warmes

Bett zu verschaffen . . . Auch mir wäre wohl diese Episode aus dem diskretesten

Familienleben niemals bekannt geworden,

ähnlichen Gelegenheit Anlaß genommen

wenn nicht seine Gattin bei einer

hätte, dem auf seine Gesundheit nie

sonderlich bedachten Gemahl sanfte Vorstellungen zu machen und dabei,

in der

Gewißheit, in mir einen Bundesgenossen zu finden, jenen Vorgang zu erwähnen. Ich sehe noch das leise Lächeln, das um die Lippen des Freundes bei Erwähnung dieser seiner „Tünde" spielte, sehe auch den milden Blick eines stillen Vorwurfs,

der sich nach der Gattin richtete, solche Heimlichkeiten zu verrathen, die er ganz

für sich zu behalten doch so sicher gehofft hatte . . .

vielleicht noch belangloser, aber nicht weniger be­

Und nun das Zweite;

zeichnend.

Und

aus kleinen Zügen vermag man

ja am Besten, das Wesen

des Menschen zu erkennen. Nachdem die in Deffau befindliche Brauerei zum Waldschlößchen, zunächst

Privatbesitz

Richard

Roesicke'S,

durch

wesentlich vergrößert worden war,

Tpargcl in Deffau Tpargclkulturen

werden konnte.

Zuziehung

ist auch eine,

des

anliegenden

Geländes

namentlich durch vorzüglichen

gewesene Gärtnerei mit einbezogcn worden.

bekannt

Die

lieferten so reichen Ertrag, daß davon an Bekannte verkauft Auch ich war ein dankbarer Käufer des vortrefflichen Gemüses.

Da, mit einem Male,

hatte es „geschnappt";

eS

hieß, Spargel würde nicht

mehr abgegeben, selbst an die nächsten Bekannten nicht. Eines Abends kam ich

als Gast Roesicke'S auf diesen plötzlichen „Umschwung der Dinge"

zu sprechen

und erkundigte mich beim Abendeffen nach der Ursache desselben;

ob denn die

Tpargelbecte jetzt weniger Ertrag gäben oder was sonst vorlägc. Rocsicke schwieg; seine Gattin lächelte schalkhaft,

ihn

erwartungsvoll anblinzelnd.

Da ich die

Antwort noch immer vermißte, sah ich ihn fragend an. Zögernd, sozusagen knurrend ward mir endlich die in ganz selbstverständlichem Tone vorgctragcnc Auskunft zu Theil: „Ja, denken Sic beim, meine Arbeiter essen nicht a u ch gern Spargel?"

Diese Antwort Brauerei

war

die Küche

geradezu kostbar; bezw.

ich

Arbeiterkantine

wußte Bescheid, eben

war doch

eingerichtet

ober

in

der

erweitert

worden.

Im Jahre 1871 wurde die inzwischen neu aufgcbaute und mit den Er­ findungen derNeuzeit ausgestattete Schultheiß' Brauerei aus der Reuen Jakob­

straße nach der Schönhauser Allee verlegt, in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, ihre Leitung verblieb in den Händen Richard Roesicke'S.

Um sich bezw. seiner

Familie einen angenehmen Aufenthalt während einiger Sommermonate zu sichern, erwarb Rocsicke im Jahre 1877, wie bereits angedeutct, die frühere Herzogliche

Bierbrauerei in Deffau,

die unter der Firma „Brauerei zum Waldschlößchen"

in wenigen Jahren gleichfalls

zu einem großen Betriebe emporwuchs und im

Jahre 1896 mit der Schultheiß' Brauerei vereinigt wurde. seitdem stetig gewachsen und jetzt

Das Unternehmen,

aus sechs großen und einer Reihe kleinerer

Betriebsstätten bestehend,

nimmt schon seit Jahren die erste Stelle unter allen

Brauereibetrieben Deutschlands ein. Nicht selten hörte man es aussprechen und konnte man es auch wohl ge­

legentlich in gewissen Fachblättern lesen, daß dieses Gedeihen und stetige Wachsen der unter Richard Roeficke's Leitung stehenden Unternehmungen hauptsächlich, wenn

nicht gar ausschließlich seiner Kapitalkraft zuzuschreiben sei.

Demgegenüber ist

der Hinweis darauf geradezu nothwendig, daß die Stammbrauerei in Berlin, wie schon erwähnt, von Jobst Schultheiß übernommen, nicht als ein neues, nach

sorgsam ausgearbeiteten Plänen groß angelegtes Unternehmen aus der Erde wuchs, sondern aus den bescheidensten Anfängen sich allmälig entwickelte.

Und was die

Desiauer Brauerei zum Waldschlößchen anbelangt, so trifft dasselbe auch für

dieses Unternehmen zu. Das in sich abgeschloffene Fertige reizte Roesicke überhaupt nicht.

Aus

Nichts etwas zu schaffen, seine ganze Intelligenz, seine volle Thatkraft dem zunächst

Unscheinbaren zuzuwenden, es emporzubringcn durch ein schier ungewöhnliches Aufgebot von Fleiß, Mühen, Ausdauer und zuversichtlichem Glauben an den

späteren Erfolg, der unter solchen Voraussetzungen nothwendig kommen mußte, das vermochte in ihm alle Kräfte auszulösen.

Er sagte mir einmal bei einem

Gange durch die großartigen Anlagen der ehemaligen Waldschlößchen-Brauerei, als

ich

mich

eines

begeisterten Wortes iiber die

musterhafte Ordnung

saubere Eleganz der Betriebsräume nicht zu enthalten vermochte:

und

„Sie hätten

die Brauerei sehen müffen, als ich sie übernahm . . . Von allen Seiten wurde ich gewarnt, gerade diese Brauerei zu erwerben.

In Deffau schüttelte man den

Kopf, da es als Dogma galt, das Waffer auf diesem Terrain sei zum Bierbrauen

gar nicht geeignet.

Aber gerade das reizte mich.

ist mir eine besondere Lust".

Widerstände zu überwinden,

Nun, über einen Mangel an Widerständen hatte

er sich weder in Berlin, noch in Deffau zu beklagen, und solche lagen nicht

immer nur in der Sache . . . Spielend, möchte man sagen, hat er sie überwunden; wenigstens für den außenstehenden, oberflächlichen Beurtheiler.

Wer in das

Triebwerk seines rastlos schaffenden Geistes hineinzublicken vermochte, wird ersehen

haben, wie sich in Roeficke's Thätigkeit das Wort bewahrheitete, daß die Götter vor den Erfolg den Schweiß der Edlen gesetzt haben.

eigen, die selbst das Geringste nicht übersah. stellten Betrieb anging, wußte er Bescheid.

Ihm war eine Genauigkeit

In Allem, was den ihm unter­

Um Alles kümmerte er sich, oft

zum stillen Aerger der Beamten auch dann noch, als nur noch von „Betrieben" gesprochen werden konnte, die anfingen, eine Riesenausdehnung

anzunehmen.

Vermuthete man ihn in Berlin, so stand er plötzlich vor den Keffeln im Maschinen­ hause der Deffauer Brauerei.

War er in Berlin gesellschaftlichen Verpflichtungen

nachgegangen und war es spät geworden, sodaß Alles ermüdet und froh war.

endlich sein Heim aufzusuchen und zur Ruhe zu kommen, so nahm er die

„prächtige Gelegenheit" wahr, schnell noch den weit draußen, im Norden belegenen Betrieb zu kontrolliren.

Denn so wie er, mußte jeder Mann auf dem Posten

sein, auf den ihn das Vertrauen berufen hatte.

Ich citire seine eigenen Worte.

Bei der Einweihung des Kinderheim» der Schultheiß' Brauerei, vor den Thoren

Berlins, im lauschigen Pankow belegen, sagte er in seiner Ansprache an die

Versammelten: „Es ist ganz gleich, unter welcher Form, in welcher Eigenschaft man etwas leistet, sofern man nur den Platz ausfüllt, der Einem

angewiesen ist.

Das ist es, was man heutzutage gar nicht oft genug

hervorheben kann; nicht Alle fömtcn das Gleiche sein; nicht Jeder kann

der Erste, es kann nicht Jeder Arbeitgeber, nicht Jeder Besitzer eines Unternehmens sein.

Das Eine aber ist möglich und auch nöthig, daß wir

Alle uns gegenseitig achten und lieben, lieben in echt christlichem Sinne,

indem wir einander nur Gutes zutrauen und uns gegenseitig zu nützen suchen". Stieß er auf Pflichtverletzung, hatte man ihn in seinem guten Glauben

auch nur einmal getäuscht, so war es schwer, wenn nicht unmöglich, sein Vertrauen

wiederzugewinnen.

Wie verstand es derselbe Mann aber auch, Pflichterfüllung, Zuverlässigkeit und Fleiß anzuerkennen! Hatte er solche, ihm als selbstverständliche Nothwendigkeit erscheinenden Tugenden bei „seinen Leuten" erst erprobt und bewährt befunden,

so konnte nichts ihm seinen Glauben an solch einen Mitarbeiter erschüttern;

auf ihn baute er Felsen, an ihm hing er mit einer Treue, die seiner Energie

entsprach. Es konnte ja nicht ausbleiben, daß ein solches „Auf dem Posten sein"

bei manchen seiner Beamten und noch weit mehr in den Kreisen der Arbeiter

höchst unbequem empfunden und mißliebig ausgenommen wurde.

Wie es aber

so geht: nicht bloß verderben schlechte Beispiele gute Sitten, das gute Beispiel

macht auch seine Schule.

Die Beamten mußten, wenn sie nur sonst aus gutem

Material geformt waren, die staunenswerthe Umsicht, Gewandtheit, den kaufmännischen Scharffinn, die kluge Voraussicht, den ausdauernden Fleiß und nicht zuletzt die

großen Gesichtspunkte anerkennen, von denen sich ihr Oberster in Allem allein leiten ließ; sie wußten, daß ihm alles Kleinliche in der Seele zuwider war, sie

wußten aber auch, daß er das Gleichmaß von Pflichten und Rechten, von Leistung und Gegenleistung als oberstes Gesetz für jedes gewerbliche und kauf­

männische Unternehmen angewendet wissen wollte.

Und seine Arbeiter!

Es ist

ja selbstverständlich, daß Eigenschaften, wie sie Richard Roesicke als Arbeitgeber

besaß, in Arbeiterkreisen nicht sonderlich beliebt sind.

Das Bewußtsein, „das

Auge des Herrn" stets wachend zu wißen, seine Vorwürfe, ja seinen ganzen

Zorn bei jeder Pflichtvergeffenheit über sich ergehen laßen zu müßen, war sicher

Was seine

nicht geeignet, ihn in diesen Kreisen zunächst beliebt zu machen.

ausgeprägte Tugend war, mochte in unklaren Köpfen der ihm Unterstellten als Gott weiß was ausgelegt werden, als hungrige Gier nach möglichst großem Gewinn, als einzig dastehende Profitwuth, nur nicht als eine ihm selbswerständlich

scheinende Nothwendigkeit, auf jedem Posten das Mögliche zu leisten. Als Roesicke die Deßauer Brauerei übernahm, war auch in den Arbeiter­

kreisen der damals noch kleinen, wenig industriellen Residenz, sage ich es getrost, Es ging Alles gemächlich zu, nach der Melodie:

der Schlendrian Hofmeister.

was heute nicht geschehen kann, kommt möglicherweise morgen dran; und ist es morgen noch nicht so weit, gut Ding will haben gute Zeit.

Die Löhne waren

meist niedrig, den Arbeitsleistungen vielleicht gerade entsprechend.

man sich vor:

also gewohnten Arbeiterschaft! Waßer.

Und nun stelle

ein Feuergeist, wie der Richard Roesicke's, an der Spitze einer Das mußte zu einander paßen wie Feuer und

Man verstand sich zunächst gegenseitig nicht, aber — man lernte

sich mälig verstehen.

Das diene. Ungewohnte und höchlichst Unbequeme wurde von

manchem Arbeitnehmer des Roesicke'schen Betriebes überhaupt als unerträglich

aufgefaßt, man wandte ihm höhnend den Rücken; andere, einsichtigere und der Erziehung fähigere Elemente stutzten zwar, aber sie hielten aus; denn wenn auch eine solche Ordnung und Genauigkeit bis dahin in Deßauer Betrieben unerhört

war, ihr gegenüber stand doch eine weitgehende Bereitwilligkeit, auch entsprechend zu entlohnen.

tüchtige Arbeit

Und aus solchen Denkern unter den ersten

Arbeitern Roesicke's in Deßau bildete sich mit der Zeit ein Stamm tüchtiger, zuverlässiger Männer, die den Werth ihres Arbeitgebers mehr und mehr erkannten

und schätzen lernten. Gewiß hatte Richard Roesicke, wie man zu sagen pflegt, eine „glückliche

Hand" für alle seine Unternehmungen; aber er war doch so recht der Schmied seines Glückes, das ihm so vielfach geneidet wurde.

Nicht ohne Humor erzählte

sich,

dem

er in späteren Jahren

in befreundetem Kreise,

Geschäftsmanne gleich,

als „Anfänger" persönlich um seine Kunden bemüht

wie er

kleinsten

hatte, wie er mancher robusten Wirthsfrau die artigsten Komplimente machte und ihre Göhren als Wunderkinder zu preisen verstand.

Er wußte wohl, selbst das

beste Bier hat seinen Beruf verfehlt, wenn cs •- keine Abnehmer findet und, wie Alexander Meyer einst sagte, nicht getrunken wird. Neben dem unausgesetzten Bemühen, diesen Kreis der Abnehmer zu erweitern,

ging selbstverständlich das eifrigste Bestreben, die Güte des Produkts zu einer musterhaften zu gestalten.

Jeder maschinelle Fortschritt im Gewerbe ward ver-

folgt, geprüft und je nach Befinden dem Betriebe einverleibt.

Beachtung ward den Rohmaterialien beim Einkauf zu Theil.

Die sorgsamste

Für gutes Geld

die beste Ware, hieß der Leitsatz, nach dem der Chef des Unternehmens und seine

Vertreter handelten.

Das beste Malz und der beste Hopfen, aber nichts Anderes,

wurde dem Brauprozeß unterworfen.

Die Gerste-, Malz- und Hopfenhändler

konnten von Glück sagen, wenn es ihnen gelang, mit den von Roesicke geleiteten

Unternehmungen „ins Geschäft" zu kommen.

Als Führer seiner Fachgenoffen

war es sein unausgesetztes Bestreben, von der Gesetzgebung das strikte Verbot aller Surrogate für die norddeutsche Braugemeinschaft zu erreichen, wie es für Süddeutschland längst besteht. Dieser bis ins Einzelne gehende, intime Umgang mit seinem Unternehmen

führte ihn mit der Zeit dahin, daß er, der „gelernte Kaufmann", als „Brauer" für so sachverständig galt, wie nur Einer, der den Wahlspruch: „Hopfen und

Malz, Gott erhalt's!" von Jugend auf erkoren und das Brauen „von unten

auf" erlernt hatte.

Ein bis ins Feinste gehender Geschmackssinn unterstützte ihn,

jedes Gebräu auf seinen Werth und seine Güte treffsicher zu beurtheilen.

Ich

traf ihn nicht selten, wie er vier, fünf Brauproben vor sich stehen hatte und sie schluckweise auf ihren Geschmack prüfte.

Zunge,

dafür

und

wußten

ihm

Nur das Beste fand Gnade vor seiner

ungezählte Tausende von fröhlichen Zechern

Dank. — Stand

das Braugewerbe

beim Eintritt Richard Roesicke's in

dasselbe

ausschließlich auf dem Boden der Empirie, so war er einer der Ersten, sicherlich aber der Thatkräftigste unter diesen, der Praris die wiffcnschaftliche Theorie

zuzuführen und das ihm am Herzen liegende Gewerbe so aus einem tastenden

Dunkel zu

wiffenschaftlicher

Klarheit

und

Erkenntniß

emporznheben.

Seiner

Initiative zu verdanken ist vor Allem die verdienstliche Begründung der Versuchs­

und Lehranstalt für Brauerei in Berlin, die er als Vorsitzender während zehn Jahren leitete.

* Es

ist erklärlich, daß an den Leiter eines

so

großen, weitverzweigten

Unternehmens auch immer größere Anforderungen sowohl auf beruflichem, wie

auf öffentlichem Gebiete gestellt wurden, denen sich Richard Roesicke bei seinem

regen Jntereffe

für gemeinnütziges Wirken niemals entzog.

Nur der Voll­

ständigkeit halber will ich erwähnen, daß er jahrelang die Stellung eines Handels-

richters in Berlin und

eines nichtständigen stellvertretenden Mitgliedes des

Reichsversicherungsamts bekleidet hatte.

Im Jahre 1890 wurde er zum Vor­

sitzenden des Verbandes der Deutschen BerufSgenoffenschasten erwählt, welche

Stellung er im Jahre 1898 wegen seiner abweichenden Meinung in Fragen der Arbeiterversicherung niederlegte.

In Anerkennung der den Genossenschaften

geleisteten Dienste wurde er zum Ehrenmitglied ernannt, als welches er sich bis

zu seinem Tode an den Aufgaben des Verbandes lebhaft betheiligte.

Richard

Roeficke war Mitglied verschiedener wirthschaftlicher Verbände und sozialpolitischer

Vereinigungen, welche im Sinne der Kaiserlichen Erlasse vom 4. Februar 1890

den weiteren Ausbau der sozialpolitischen Gesetzgebung anstreben

und

einer

vernünftigen Sozialreform auf liberalem Boden die Wege ebnen wollen. —

Der sich mehrende Wohlstand der deutschen Industrie, angeregt durch die

ihr Haupt immer kühner erhebende sozialistische Partei, ging bereit» zu Anfang der achtziger Jahre daran,

den Arbeiten, gewisse Wohlthaten zukommen zu

lassen, die außerhalb des Rahmens des von der neuen sozialpolitischen Gesetz­

Es entstand allenthalben unter den größeren

gebung Vorgeschriebenen lagen.

industriellen Etablissements Deutschlands ein löblicher Wettstreit, einander in der Schaffung sogenannter Arbeiterwohlfahrts-Einrichtungen zu übertreffen. Richard Roesicke war ein viel zu gewiegter Kenner unserer Arbeiter­

verhältnisse, um sich von dieser Art, den Arbeitern wohlzuthun, eine dämpfende Einwirkung auf das Wachsthum der deutschen Sozialdemokratie zu versprechen.

An sich waren ja, auch von seinem Standpunkte aus,

alle den Arbeitern zu

Gute kommenden positiven Leistungen der Unternehmer zu billigen und jenen

zu gönnen.

Aber den Geist, durch den sich die große Mehrzahl dieser Wohl­

fahrtsbestrebungen in Deutschland leiten ließ, heißen.

Er verstand

es eben,

vermochte Roesicke nicht gut zu

sich in die Seele

denkenden deutschen

eines

Arbeiters hineinzuversetzen, der nicht so sehr Gnade heischt, als das ihm nach der Verfassung zustehende Recht eines Staatsbürgers ungeschmälert auch für

sich in Anspruch nehmen will.

Aber wie ging man vielfach — und das ist

heute noch nicht viel besser geworden — mit sogenannten Musterbetrieben um, während

den Arbeitern

man

selbst in großen,

ihnen auf Geschäftsunkosten

nette Häuser baute, Hilfskassen errichtete und was derlei an sich lobenswerthe

Dinge mehr sind!

Zu gleicher Zeit

suchte man sie mit den Arbeiterhäusern

mehr oder minder zu Hörigen der Arbeitgeber zu machen,

man beschränkte sie

in allem Möglichen, selbst in Angelegenheiten, in denen der Arbeitgeber, kraft

seiner anticipirten

besseren Einsicht,

selbstverständlicher

Entrüstung

sich jeden Eingriff

verbitten

würde.

Arbeiter in das Wahllokal und zwang sie,

von dritter Seite mit

Man kommandirte

„seine"

den ihnen überreichten Stimmzettel

mit dem Namen des „Ordnungsmannes" in der erhobenen Hand,

den Wahl-

kontrolleuren sichtbar,

zu tragen,

in der Wahlurne verschwunden war;

bis er

man beschränkte sie in der Wahl ihrer Lektüre,*) insonderheit der Tageszeitungen

und was dergleichen erbauliche Dinge, den klugen Köpfen „staatserhaltender" Unternehmer und „DrdnungSstützen" entsprossen, mehr sind. Alle diese Erscheinungen, welche in der engsten Gefolgschaft solcher Wohl­

fahrtseinrichtungen auftraten und das an sich Gute stark zu degradiren bestens

im Stande

ließen

waren,

skeptisch sich

Wohlthaten,

welche

Anfangs

Roesicke

recht

gegenüber, den Arbeitern Wohlthaten zu Wohlhabenheit zieht Pflichten

Sein Grundsatz war:

sich Denen gegenüber,

helfen.

Richard

Arbeitgeber

neuen Drange

diesem

erweisen, verhalten. nach

den

diese Wohlhabenheit

haben

mit

schaffen

der ermatteten Dankbarkeit in

welche den Stachel

bergen, galten ihm, Arbeitern erwiesen,

so gut

wie nichts.

sich

Was daher

an Wohlfahrtseinrichtungen in den Betrieben Richard Roesicke's auch eingeführt

wurde fein der

-

und ihre Reihe dürfte kaum von einem anderen Betriebe übertroffen es

stand Alles unter dem Zeichen der Selbstverständlichkeit,

Geschäftsleitung

ein

war den Arbeitern räumt.

anerkannten Nothwendigkeit, und

sehr

weitgehendes Recht

in

der Selbstverwaltung einge­ wo ich für die

„Ich habe in meinem Leben nie auf Dank gerechnet,

wirthschaftlich Schwachen

auf Kosten

irgend etwas habe leisten können",

das waren seine

Als unter seiner Würde stehend hätte er es aber weit von

eigenen Worte.

sich gewiesen,

der von

allen Institutionen

wenn

ihrer

ihm Jemand zugemuthet hätte,

staatsbürgerlichen

eine Gegenleistung etwa

oder persönlichen Freiheit

von den

ihm

unterstellten Arbeiteni zu fordern.

-licht unerwähnt darf bleiben, daß der schaffende Geist Richard Roesicke's

Manchem

vorausgeeilt

ist,

was

später

staatliche Fürsorge im Interesse

Mit der Verkürzung der Arbeitszeit

Arbeiter einzuführen sich gedrungen fühlte.

war

er

erhöhen,

im Braugewerbe war

bahnbrechend

vorangegangen;

sein unausgesetztes Bemühen,

selbst solche Wünsche kundgcthan hatten.

der

die Arbeitslöhne

zu

noch bevor oft die Interessenten

Klare Arbeitsordnungen regelten, noch

bevor solche vom Staate gefordert waren,

in den Roesicke'schen Betrieben das

Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

In gerechter Weise wurde

die Tag- und Nachtarbeit geordnet, die Sonntagsruhe, die Kranken-Unterstützung

eingeführt, die Bildung von Arbeiter-Ausschüssen zur Vertretung der Interessen

der Arbeiter vorgenommen u. A. m. *) Freiherr von Stumm äußerte sich in der RcichStagSsitzung vom 19. Mai 1890 wie folgt:

„Wenn ein Arbeiter eine von mir nicht gewünschte Zeitung liest, dann bestrafe ich ihn nicht, sondern entlasse ihn, und ich werde eS auch in Zukunft so halten. DaS persön­ liche Verhältniß zwischen Arbeitern und Arbeitgebern darf nicht untergraben werden." 2

Unter den

Wohlfahrtseinrichtungen der

Roesicke'schen Betriebe

obenan

stehen die reich dotirten, liberal funktionirenden Unterstützungskassen; aus ihren Mitteln werden Unterstützungen an Arbeiter gezahlt sowie ärztliche Hilfe und

Arzeneien für deren Angehörige bewilligt.

Sodann die Sparkaffe,

Einlagen der Arbeiter in Höhe der Dividende,

welche die

an die Aktionäre gezahlt

Alte oder invalide Arbeiter erhalten, sofern ihnen nicht leichte,

wird, verzinst. ihren Kräften

die

entsprechende Posten übertragen werden

können, Renten bezw.

Zuschüsse zu den ihnen gesetzlich zustehenden Alters- oder Invalidenrenten.

Wittwen

verstorbener

Arbeiter wird

Unterstützung für

einen

ebenso

Den

langen

Zeitraum gewährt, als die letzteren in den Betrieben der Schultheiß' Brauerei

thätig gewesen sind.

Roesicke's.

Gut eingerichtete Badeanstalten entstanden in den Betrieben

Nicht bloß an die Arbeiter der Schultheiß' Brauerei selbst, sondern

auch an deren Familienangehörige werden Bäder unentgeltlich verabreicht Ich denke daran,

wie sich Roesicke,

Brauerei an der Schönhauser Allee eingerichtet hatte, dieselbe zu mir darüber beklagte,

Badezellen

für die

. . .

als er die erste Badeanstalt in der

bei einem Gange durch

daß sie so wenig benutzt würde,

obwohl die

in dem Etablissement wohnenden Arbeiter überaus bequem

lagen; die Leute, unverheirathete Brauer, brauchten nur einen, wenn ich nicht

irre, geheizten Korridor zu überschreiten, die Badezellen gerade gegenüber.

Weit

entfernt davon,

sich

durch

lagen

ihren Stuben

einen solchen Mißerfolg

einer auf das leibliche Wohl der Arbeiter bedachten Einrichtung dauernd ver­ stimmen zu lassen, äußerte sich Roesicke also zu mir: „Man sieht, wie Arbeiter

auch

erst

zu sein."

erzogen werden müssen,

Und was geschah?

eingeführt! . . .

um für ihr körperliches Wohl besorgt

Es wurden Prämien für jedes genommene Bad

Das half; bald erfreute sich das Baden einer solchen Beliebt­

heit, daß jenes originelle Reizmittel fortfallen konnte, die Badeanstalten wurden

von Alt und Jung, Männern und Frauen in der gewünschten Weise benutzt.

Daß

in allen

größeren Betrieben der Schultheiß' Brauerei Küchen und

Kantinen eingerichtet wurden, ist selbstverständlich; sie wurden aber auch mustergiltig bedient und geleitet, Roesicke pflegte nicht

selten

sich von der Güte der

dort zubereiteten oder verabreichten Speisen und Getränke zu überzeugen. nenne unter den Wohlfahrtseinrichtungen

Ich

der Schultheiß' Brauerei weiter die

Einrichtung einer Jnvalidenwerkstatt, das ErholungshauS in Pankow für Die­

jenigen, welche nach überstandener Krankheit oder aus anderem Grunde einer Zeit der Ruhe und Schonung bedurften.

Wie aus dem Gesagten schon hervorgeht, beschränkte sich Roesicke's wahrhaft

väterliche Fürsorge nicht bloß auf die Arbeiter, sie erstreckte sich auch auf deren Familien.

So entstanden für die Kinder der Arbeiter in jedem

der Haupt

betriebsstätten der Schultheiß' Brauerei eine Kleinkinderschule, eine Strick- und

Handarbeitsschule, eine Schülenverkstatt für Knabenhandarbeit, das Familienhaus zur Unterbringung von Kindern, wenn Krankheitsfälle deren zeitweise Entfernung

aus dem Elternhause wünschenSwerth erscheinen lassen, und vor Allem die Kinder­ in

heime

Berlin,

Desiau und Pankow,

Kindern Aufnahme

Leitung

zur Erholung

dieser Anstalten liegt

in

denen alljährlich Hunderte von

Die

während der Sommermonate finden.

in den Händen von Diakonissen, die

auch den

Arbeitern selbst und deren Familien in Krankheitsfällen Hilfe leisten.

Um den

Kindern der Arbeiter die

erwünschte

Abwechslung zu

bieten,

tauschten die einzelnen Großbetriebe ihre „Ferienkolonien" gegenseitig aus,

so,

daß z. B. die Berliner nach Desiau, und die Desiauer Kinder nach Berlin bezw. Pankow für die Ferienwochen übersiedelten. Sein frommes, kindlich-reines Herz

wandte sich diesen Kindern besonders freundlich zu.

Daß es ihnen an nichts

fehle, dafür sorgte er unermüdlich. War es doch erst noch im vorigen Sommer,

wenige Wochen vor seinem Tode, bald nach der für ihn unsagbar anstrengenden Reichstagswahlkampagne, daß er es sich nicht nehmen ließ, die Berliner Ferien­ kolonie in das wohnliche Haus

nach Desiau persönlich zu begleiten.

Auf dem

Bahnhof Wittenberg traf ihn ein Bekannter. „Ich fahre mit „meinen Kindern" nach Dessau", rief er ihm fröhlich zu und wies auf die beglückte Schaar kleiner

die ihm,

Berliner und Berlinerinnen,

begleitet von ihren Pflegerinnen,

auf

dem Fuße folgte, um den Zugwechscl vorzunehmen . . .

Besonders schwächliche Kinder, für die der Arzt einen Aufenthalt an der See als wünschenSwerth erachtet hatte, war in einem unserer besten Nordsee­

bäder Unterkunft

geschaffen

worden.

Als Zeichen

dankbarer Gesinnung war

ihm einmal eine Photographie eines solchen „Seebataillons" überreicht worden. Diesem unscheinbaren Bildchen, ohne Rahmen,

hatte er einen Platz in seinem

Desiauer Arbeitszimmer eingeräumt, so, daß seine Blicke oft auf dem Bilde

weilen konnten. Das schönste Fest der Deutschen, Weihnachten, ging auch in den Betriebs­ stätten der Schultheiß' Brauerei nicht, ohne freundliche Spuren zu hinterlasien,

vorüber. punkte

Ja, diese Weihnachtsfeiern gestalteten sich zu einem wahrhaften Licht­ in dem

arbeitsreichen Einerlei des Jahres.

Wenn es irgend anging,

betheiligten sich auch die Familienangehörigen Roesicke's an diesen Feiern, die

dadurch den trauten Charakter

eines familiären Festes annahmen.

Es wurde

gesungen, gesprochen und beschenkt, sodaß Helle Freude auf allen Gesichtern erstrahlte. Immer neue Mittel ersann Roesicke, um das Leben seiner Arbeiter zu

einem erträglichen zu gestalten.

Dankbar war er,

wenn ihm Anregungen von

dritter Seite kamen, die sich praktisch verwirklichen ließen.

Arbeiter, welche in

Folge einer schweren Erkrankung oder aus sonstigen Gründen einer besonderen

2*

Fortbtldungs- und Geselligkeitspflege.

20

Erholung bedurften, wurden theils auf Kosten der Gesellschaft, theils auf Kosten der Nnterstützungskasie nach Heilstätten, z. B. nach Braunlage a. Harz, Grabowsee, Görbersdorf usw. gesandt. Wo von der Schultheiß' Brauerei technische Betriebe unterhalten wurden, erhielten die Arbeiter das Feuerungsmaterial zum Einkaufs­

preise ; sie durften die Kohlen usw. zu den hierfür festgesetzten Zeiten in beliebig

kleinen Quantitäten in Empfang nehmen,

in Desiau

wird den Arbeitern das

Feuerungsmaterial auf Wunsch in ihre Wohnung geliefert.

Um den Arbeitern

Gelegenheit zu geben, unter günstigen Bedingungen in den Besitz eines Fahrrades

zu gelangen, wurde ihnen ein entsprechendes zinsfreies Darlehn gewährt, welches in wöchentlichen Raten von 2 Mk. bezw. 1,50 Mk. zurückgezahlt werden mußte.

Es war den Einzelnen freigestellt, den Ankauf selbst zu besorgen oder hierzu die

Vermittelung der Direktion

zu

benutzen.

Den Arbeitern in Desiau wurden

kleine Parzellen des der Gesellschaft gehörigen oder von ihr gepachteten Ackers

gegen mäßigen Pachtzins theilweise im Wege des MeistbietungSverfahrenS, theilweife zum Selbstkostenpreise überlasten.

die NnterstützungSkasie.

Die eingehenden Pachtgelder stoßen in

Das Pflügen und Düngen des Ackers wurde auf Kosten

der Gesellschaft besorgt. Aber nicht nur um das materielle Wohl seiner Arbeiter war Richard

Roesicke

besorgt.

Von

den Arbeitern

der Schultheiß' Brauerei

wurden von

Zeit zu Zeit Vergnügungen veranstaltet, an welchen auch die Familienangehörigen theilnahmen, so von den Berliner Arbeitern Landpartien, selbstredend auf Kosten

der Gesellschaft, diesem Zwecke

von den Arbeitern in Desiau Konzerte, Bälle in einem zu von der Brauerei

hergerichteten Festsaale.

In Desiau fanden

für die Arbeiter ferner von Zeit zu Zeit wisienschaftliche und allgemein bildende Vorträge statt.

Traten Wünsche, die auf Erweiterung ihrer Allgemeinbildung

hinzielten, von Seiten der Arbeiter an ihn heran, so griff er sie mit besonderer

Genugthuung auf, so eine Anregung, ihnen den Besuch guter Theater zu billigen Preisen zu ermöglichen. In der Betriebsstätte zu Desiau wurde eine Bibliothek

errichtet, bestehend aus etwa 400 Bänden unterhaltenden und belehrenden Inhalts.

Aus dieser Bibliothek durften die Arbeiter und deren Angehörige Bücher un­ entgeltlich zum Lesen mit nach Hause nehmen.

geworden,

Es ist mir zufällig bekannt

daß sich um die Auswahl der Bücher für diese Bibliothek bei ihrer

Begründung nicht bloß Roesicke selbst, sondern auch seine Gattin bemüht haben, so ernsthaft ließ man sich die Sache angelegen sein. An derselben Betriebsstätte

erhielten die Arbeiter auf Wunsch Musikunterricht.

für die Instrumente, Roten usw.

trug die Brauerei.

den Vergnügungen der Arbeiter

und

Alle Söhne von Arbeitern

bei

Die Kosten für denselben, Die Kapelle

spielte bei

sonstigen feierlichen Gelegenheiten.

der Desiauer Betriebsstätte im Alter von 6

bis

14 Jahren konnten am Turnunterricht theilnehmen, für welchen von der Brauerei

ein Turnlehrer bestellt war. Einzelnen befähigten Turnern wurde Unterricht im Trommeln und Pfeifen von dem Musiklehrer der Erwachsenen ertheilt. Auf einer durchaus liberalen Grundlage hatte Richard Roesicke insonderheit

auch die Arbeiter-Ausschüsse in den seiner Leitung folgenden Betrieben ausgebaut. Mit Recht erblickte er in ihnen, sofern sie streng auf dem Prinzip der Selbst­ verwaltung basirten, ein geeignetes Mittel, das gute Einvernehmen zwischen

Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erhalten und zu fördern. Nichts für die Arbeiter ohne ihre Mithilfe und ihre Mitbestimmung! Wie oft hörte ich diesen Satz aus seinem Munde; er war für ihn ein Dogma, das sich in der Praris aber auch vollkommen bewährt hatte.

Wenn derartige Arbeiter-Ausschüsie anderwärts kaum mehr als eine soziale Dekoration bedeuten, so geht schon aus Programm und Satzungen der in Roesicke's Betrieben für die einzelnen Arbeitcrgruppen bestehenden Arbeiter-Ausschüsse die ernsthafte Bedeutung derselben hervor.

Sie waren geschaffen:

„Zur Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer der Schultheiß'

Brauerei Aktien-Gescllschaft, soweit es sich um deren Verhältniß zur Gesell­ schaft

handelt; zur Berathung und Beschlußfasiung über die ihnen von

der Direktion zugewiesenen Angelegenheiten; zur Begutachtung der zu er-

lasienden Arbeits- und Strafordnungen; zur Ucberwachung bestehender und

zur Berathung neuer Wohlfahrtseinrichtungen; zur Beaufsichtigung und Anregung von Vorrichtungen zum Schutze von Leben und Gesundheit

sowie zur Unterstützung der Direktion und der Beamten behufs Aufrecht­ erhaltung von Ehrenhaftigkeit, Ordnung und Sitte und endlich zur Schlichtung

von Streitigkeiten aller Art." Die Satzungen bestimmen u. A. : „Die Ausschußmitglieder werden alljährlich in geheimer Wahl neu gewählt und erhalten außer dem Ersatz ihrer Baaranslagcn als Entschädigung

für Zeitvcrsäumniß bei Ausübung ihres Amtes eine jährliche Vergütung

von 100 Mk.

Jeder Arbeitnehmer, der in den Ausschuß gewählt ist, hat

Anspnich auf eine vierwöchige Kündigungsfrist

.

.

.

Die Ausschüße

treten zur Berathung zusammen, so oft dies der Direktion erforderlich

erscheint oder mindestens zwei Mitglieder eines AuSschuffeS unter Angabe der zur Berathung zu stellenden Angelegenheiten cs verlangen. ladung

erfolgt durch einen

Die Ein­

beauftragten Beamten der Gesellschaft . . .

An den Abstimmungen nehmen nur die Ausschußmitglieder theil . . . Bei

Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des der Einstellung nach ältesten Mitgliedes . . . Alle Beschlüße sind in ein im Bureau der Gesellschaft aufzubewahrendes Protokollbuch einzutragen und von den an der Sitzung

Die Protokolle gelten

beteiligten Ausschußmitgliedern zu unterzeichnen. als genehmigt,

sofern mindestens die Hälfte der betreffenden Mitglieder

unterzeichnet hat.

Die Direktion kann die Protokolle in einer ihr geeignet

erscheinenden Weise zur Kenntniß der übrigen Arbeitnehmer bringen . . ." Der letzte Satz deutet schon darauf hin, daß weitgehendste Oeffentlichkeit

für Alles, was geschah und die Arbeiter anging, als Prinzip galt.

Als sehr

geeignet erwies sich für derartige Veröffentlichungen der „Schultheiß-Bote", ein

Organ, welches Roesicke für die Arbeitnehmer seiner Betriebe eigens geschaffen hatte. — Nicht ohne Jntereffe auch für weitere Kreise dürften gereifte, für den so­

genannten Haustrunk,

wie solcher

geschaffenen Bestimmungen

sein.

in

jeder Brauerei üblich ist,

von Roesicke

Ihn abzuschaffen und durch Zuschlag zum

Lohne zu ersetzen, erschien ihm aus verschiedenen Gründen als ein nicht gangbarer Weg.

Es heißt nun in den betreffenden Bestimmungen:

„Allen bei der Schultheiß'

Brauerei

beschäftigten Arbeitern wird

Freibier gewährt. Das Freibier wird während der Pausen und nach Feierabend im

Haustrunk - Ausschank, der sich in jedem Betriebe befindet, gegen Marken verabfolgt.

Die Arbeitnehmer sind berechtigt, ihre Biermarken in Zahlung zu geben, bezw.

sie erhalten

5 Pfennige ausgezahlt.

für jede zurückgegebene Biermarke ä V2 Liter

Außerdem zahlt die Gesellschaft für jede zurück­

gegebene Biermarke 2x/2 Pfennige in die Unterstützungskasse. Bier darf in der Regel nicht mit zur Arbeitsstelle genommen, vielmehr

nur in den dazu bestimmten Räumen genossen werden. Das Schnapstrinken ist verboten. Dagegen erhalten die Arbeitnehmer

im Sommer bei

warmer Witterung kalten Kaffee und

im Winter bei

kalter Witterung warmen Kaffee unentgeltlich, den sie während der Arbeit genießen dürfen."

Daß Richard Roesicke weit entfernt davon war, den Kreis der Fürsorge

für die Arbeiter

der ihm unterstellten Betriebe

mit

den

bisher

geschaffenen

Wohlfahrtseinrichtungen als geschloffen zu betrachten, geht daraus hervor,

daß

er in seiner Ansprache bei Gelegenheit der letzten Dessauer Weihnachtsfeier sich

wie folgt äußerte: „Es ist noch viel Arbeit zu schaffen, da wir noch lange nicht an dem Ziele angelangt sind, welches wir uns gesteckt haben, und gerade thürmen

die jetzigen Zeitverhältnisse neue Schwierigkeiten empor, die überwunden werden müssen."

Die Zeiten wandeln sich und die Menschen ändern sich mit ihnen.

schloßen hatte,

Als

seine Augen für immer ge­

Richard Roesicke am Abend des 21. Juli 1903

als seine thatkräftige Hand erlahmt war, da mochte wohl auch

manches Arbeiters Auge bei dieser Trauerkunde feucht geworden sein und ihm eine Thräne der Dankbarkeit gewidmet haben . . .

Ungemein

charakteristisch

für

beide

aber,

Theile

für die Art

unserer

modernen Arbeiter sowohl, wie für den Arbeiterfreund Richard Roesicke ist es,

daß es denjenigen Arbeitern, die sich seiner selbstlosen Fürsorge in erster Linie zu erfreuen hatten, mit ganz vereinzelt stehenden Ausnahmen nie in den Sinn gekommen ist, öffentlich Zeugniß für ihn abzulegen,

mochten sich -- besonders

in politisch erregter Zeit — die Angriffe gegen ihn, selbst gegen die unantastbare

Lauterkeit seiner Gesinnung, gegen seine wahrhaft einzig dastehende Gerechtigkeits­

liebe auch bis zu niedriger Gehässigkeit verirren! an

schmachvollen,

gegenüber doppelt

solchen Zeiten.

wegen

ihrer Verstecktheit,

Dafür fehlte es aber nicht

der Offenherzigkeit

verächtlichen Ausflüffen eines kraffen

eines Roesicke

Parteifanatismus in

Ich weiß, wie weh solche Niedrigkeit des Charakters und der

Gesinnung dem Herzen

des Freundes

9iie aber, auch nicht vorüber­

gethan.

gehend, selbst nicht im ersten schmerzlichsten Gefühl eines solchen absichtsvollen Verkennens konnte der Edle in seiner Liebe und Sorge für „seine Arbeiter"

wankend gemacht werden. Nachsicht und Mitleid mit den Schwächen der Menschen­ natur behielten selbst in Augenblicken trübsten Unmuths bei ihm die Oberhand. „Alles verstehen heißt alles verzeihen"; nach diesem nur auch recht zu verstehenden

Wahr-Worte richtete er sich. Es

Recht

hat

sich

erwiesen,

behalten sollte.

freilich erst bei seinem Tode, daß er auch darin

An der Bahre des

sich selbst ungerechteste Parteileidenschaft

guter, ein

edlen Menschenfreundes

wandelte

in ehrliche Trauer darüber, daß ein

braver Mensch, der aufrichtigste und

hingebungsvollste Freund der

Mühseligen und Beladenen für immer verstummt war . . .

Ich lese

in einem Flugblatte,

welches

sich

mit

dem Politiker Richard

Roesicke beschäftigt, nachstehenden, knapp gehaltenen Satz: „Die im Jahre 1889 veranstaltete,

auf dem Gebiete des Arbeiter­

schutzes epochemachende Ausstellung für Unfallverhütung verdankte ihre Ent­

stehung seiner Anregung und ihre Erfolge vornehmlich seiner Leitung."

Vielleicht war der Gedanke einer solchen Ausstellung von einem

seiner

Mitarbeiter auf sozialem Gebiete zuerst ausgesprochen worden; ich glaube mich wenigstens zu erinnern,

geäußert hatte.

daß Richard Roesicke sich damals zu mir dahingehend

Nie aber wäre dieser Gedanke fruchtbringend geworden, roettn

nicht er ihn sofort aufgegriffen und nach seiner Art verfolgt hätte. Es war wahrlich keine leichte Aufgabe,

in einer ausstellungsmüden Zeit

den Gedanken einer neuen Ausstellung in Berlin praktisch zu verwerthen und

lwch dazu einer Ausstellung, die nichts an Kurzweil, leichtem Amüsement und blöden Volksbelustigungen zu bieten sich vorgenommen hatte, sich vielmehr nur

an den sittlichen Ernst der Nation zu wenden gedachte und darum einen finanziellen Erfolg von vornherein ausschloß.

Unfälle in industriellen Betrieben zu verhüten, das war ein Thema, welches Richard Roesicke seit Langem beschäftigt hatte.

Wir sprachen oft über dasselbe.

Jeder Unfall, der sich in seinen eigenen Betrieben ereignete, war für ihn nicht etwa nur ein unliebsames Ereigniß für die Tageschronik,

er griff ihn direkt

an's Herz, und immer wieder überwältigte ihn der Gedanke, daß sich das Unglück bei vermehrter Sorgsamkeit vielleicht doch hätte verhüten kaffen können.

und Gesundheit des

Leben

einfachen, auf seiner Hände Arbeit angewiesenen Mannes

erschien ihm als ein auf's Peinlichste zu schützendes Gut; Vorrichtungen zur Ab­

wendung von Betriebsunfällen zu treffen,

als

eine

der vornehmsten Pflichten

Zu jener Zeit stand man aber noch in den Anfängen aus

des Unternehmers.

diesem menschenfreundlichen Gebiete; bis dahin waren Maschinen und Arbeits­

apparate ohne jegliche Schutzvorrichtung konstruirt und auf den Markt gebracht worden.

Erst durch die Berufsgenoffenschaften und das ReichSversichcrungSamt

war eine Initiative zur Einführung solcher Sicherheitsmaßnahmen hervorgerufen

worden.

Die Nothwendigkeit

einer Ausstellung solcher Schutzvorrichtungen für

alle gewerblichen und industriellen Gebiete lag auf der Hand,

sie sollte eine

Uebersicht gewähren über das bisher Erreichte, sollte Vergleiche ermöglichen und

neue Anregungen zum Besten der werkthätigen Bevölkerung bieten.

Daß eine solche, der

dem Arbeiterwohl dienende Ausstellung nur in großem,

Bedeutung der Sache entsprechenden Maßstabe in's Leben treten konnte,

stand

für ihn fest.

Daher

wurde kein Opfer an Zeit und Geld für zu groß

erachtet, um der vortrefflichen Idee eine würdige Ausgestaltung zu verschaffen.

Die Seele

des Arbeitsausschuffes war Richard Roesicke.

Nahmen

auch

die Vorarbeiten und dann die Tage der glänzend gelungenen Ausstellung selbst einen

großen Theil

ihm doch Genuß. —

seiner

Arbeitskraft

in Anspruch:

diese

Arbeiten

boten

auch wieder reichstes Jntereffe und verschafften ihm einen seltenen

In jenen Tagen war es, daß Richard Roesicke wiederholt Gelegenheit

fand,

mit dem

kurz vorher zur Regierung gelangten Kaiser Wilhelm IT. in

persönliche Berührung zu kommen.

Freimüthig, wie er es gewohnt ist, äußerte

sich der Kaiser zu Roesicke auch über Arbeiterfragen. Hocherfreut war Letzterer,

ein so tiefes, weitgehendes Verständniß bei dem jugendlichen Herrscher selbst für schwierige soziale Probleme vorzusinden und er meinte, weitgehende Hoffnungen

im Jnteresie der deutschen Arbeiter an dieses Verstehen und Mitempfinden knüpfen zu dürfen . . .

Damals

war

Roesicke

Richard

Kaiser

von

Wilhelm

II.

auch

in

Die große Ausstandsbcwegung der westphälischen

Audienz empfangen worden.

bei der sich der Hochmuth der Grubenbesitzer so recht in dem

Bergarbeiter,

Ausspruch eines Bergasiesiors offenbarte: „Mit Arbeitern verhandeln wir nicht",

hielt alle Welt in Athem; manch kräftiges Wort mochte auch aus dem Munde des Kaisers über die schwierigen und dem Monarchen höchst unliebsamen Verhältniffe, welche zu jenem Ausstande geführt Richard Roesicke gewohnt war, aber



das

auch

und

Wie es

charakterisirt

ausführliche Aufzeichnungen gemacht,

wieder

den

vornehmen Charakter

des

in die Dcffentlichkeit drang aus dieser und seinen späteren Be­

Mannes gegnungen was für

auf der Stelle

dem Kaiser

redung mit

hatten, gefallen sein.

hatte er sich auch über seine eingehende Unter­

mit dem Kaiser

in

den Räumen

die breite Deffentlichkeit

geworfene Wort verwahrte Roesicke

bestimmt

der Ausstellung selbst mir das,

sein konnte;

treu für sich,

das vertraulich hin­

nie hatte er

auch nur ver­

traulich Jemandem Mittheilung davon gemacht.

Es war wohl eine der herbsten und schmerzlichsten Enttäuschungen, die ihm

bcschieden war,

zu sehen,

Kurs wieder änderte.

wie rasch sich der so frisch und fröhlich begonnene

Richard Roesicke, dem Kaiser Wilhelm II. bei seinem

Besuche der anhaltischcn Residenz noch huldvoll zugcwinkt hatte, als er ihn inmitten

seiner Arbeiter im

festlichen Spalier erblickte, war rasch wieder vergeffen, die

Episode der Ausstellung durch andere Eindrücke bald überholt, ja, der ihm einst so gnädig gesinnte Kaiser erinnerte sich des von ihm ausgezeichneten Mannes

nicht einmal mehr,

als sich die Rcichshauptstadt zu desien Bestattung anschickte

und weite Bevölkerungsschichten dem todten Roesicke eine Ehrung bereiteten, wie sie nur den besten und verdientesten Bürgern je zu Theil geworden ist . . . Rach Schluß der in allen

ihren Phasen zwar bestens gelungenen, für die

Unternehmer aber freilich recht kostspieligen Ausstellung ward ihm, sehr unerwartet, der Rothe Adlerorden verliehen; wie ausdrücklich betont wurde, nicht als bloße Anerkennung

für die Verdienste um das Ausstellungsunternehmen.

Trotzdem

lag es nahe, daß diese Ehrung von seinen Mitarbeitern im Arbeitsausschuß in Verbindung gebracht

werden würde mit

dieser Ausstellung.

Das erweckte die

peinlichsten Empfindungen in der Brust des feinfühligen Mannes. hätte er,

wenn es nach seinem Willen allein gegangen wäre,

Weit lieber

auf jede äußere

Auszeichnung, die den Schein der Bevorzugung erwecken konnte, verzichtet, aber

er war, wie ich noch bei einer anderen Gelegenheit nachweisen werde, viel zu aufrichtig

monarchisch

gesinnt, um eine Ehrung zurückzuweisen,

die

ihm sein

König zugedacht hatte.

Im Spätherbst des Ausstellungsjahres hatte ich die Freude, auf

einer Reise nach Paris

zu begleiten,

um die dort in

den Freund

den letzten Zügen

liegende Weltausstellung noch vor Thoresschluß zu besichtigen.

Es war in der

Seinestadt, wo ihm aus Berlin die beglückende Kunde ward, daß seine Bemühungen,

nunmehr auch für seine eifrigsten Mitarbeiter an dem Ausstellungswerke Aus­ zeichnungen zu erwirken, Aussicht auf Erfolg haben dürften.

Und da saß der

selbstlose Mann viele Stunden lang einsam in seinem Pariser Hotel und ar­

beitete im Jnteresie Jener ...

Der Königlich Preußische Orden vom Rothen Adler blieb nicht die einzige Auszeichnung, welche ihm in diesem Jahre zu Theil ward, es folgten ihr noch

mehrere aus dem

dem Deutschen Reiche befreundeten Auslande.

Orden erhielten einen Ehrenplatz

in einer

vornehmen

Casiette.

Sämmtliche

Bezeichnend

für den bescheidenen Sinn Richard Roesicke's war es aber, daß Niemand über den engsten Kreis

seiner Angehörigen

und Freunde

hinaus

auch

nur

eine

Ahnung von seinem kostbaren Ordensbesitz hatte. -

Nach Inkrafttreten der ArbciterversicherungSgesetze ist Richard Roesickc —

außer im Verbände der Deutschen BerufSgenosienschaften — als Mitglied des Vorstandes der Brauerei- und MälzereiberufSgenosicnschaft und als Vorsitzender des

Ausschußes in

der

„Landesversicherungsanstalt Berlin"

thätig gewesen.

Von dem Vertrauen seiner Berliner Benifsgenosien getragen, galt er seit langer Zeit als deren geistiger Führer und nahm auch in der inzwischen begründeten

Potsdamer Handelskammer eine hervorragende Stellung ein. — Es könnte vielleicht überraschend scheinen, daß cd bei seiner weitgehenden und steten Geneigtheit, einerseits den Arbeitern Entgegenkommen zu beweisen, und bei seiner geistigen Führerschaft innerhalb des Braucreigewerbes anderseits,

in den Jahren 1890 und 1894 zu den Berliner Brauerstreiks und den Boykotts

der Berliner Großbrauereien kommen, daß Beides nicht verhütet werden konnte.

Ich werde

stets

auch

noch

sachlich

wie Richard Roesicke streng,

nachzuweiscn haben,

zu

unterscheiden

verstand

zwischen

aber

berechtigten und un­

berechtigten Forderungen der Arbeiter, zu welch letzteren stets doch nur partei­

leidenschaftliche Aufreizungen von Leiten gewerbsmäßiger Agitatoren den Anstoß

boten.

Zu

beiden

erwähnten Streik-

und

Boykottbewegungen

im Berliner

Braugewerbe hatten solche, vom einseitigsten Parteiinteresse angefachten Forder­ die jeder noch so weit gehende Arbeiterfreund und

ungen den Anreiz gegeben,

Sozialpolitiker zu den unberechtigten zählen mußte;

in beiden Fällen handelte

es sich lediglich darum, die betreffenden Großbetriebe die übermüthig gewordene berathener und bedienter Arbeiter fühlen zu

Macht sozialistisch gesinnter, übel

So war es im Jahre 1890 eilt Berliner Buchdrucke r, Wilhelm

lassen. Werner

geheißen,

der

die

Brauereiarbeiter

bedauerlichen Bewegung aufgereizt hatte.

in

gewissenloser

Weise

kurz

der

kandidat ausgetreten war,

Triumph

zuvor

schwebte

des Proletariats über

auch

der

Dem sehr

der Radikalen, deren Stärke in den Geheimkomitees verborgen lag. strebsamen Manne,

zu

Er war ein Häuptling der „Jungen",

als sozialdemokratischer Reichstags­

als herrliches Ziel

die Vertreter

vor der wirthschaftliche

der bürgerlichen Gesellschafts­

ordnung ; als zweite Etappe dachte er sich die Erringung der politischen Macht durch seine Gesinnungsgenosien.

Außerdem scheint dieser rücksichtslose Agitator

bei seinem fanatischen Eintreten für den Bierboykott, wofür gravirende Ver­ dachtsmomente vorlagen,

zu sein.

auch

durch persöuliche Jnteresien beeinflußt

gewesen

Wie Richard Roesicke im Jahre 1890 schrieb, waren es „entwürdigende"

Zumuthungen, welche von jenen Agitatoren an die Berliner Brauereien gestellt wurden.

Der

Ausstand

ist

denn

auch

kläglich

verunglückt,

Boykott, welcher über die Brauereien verhängt worden war.

genau

wie

der

Bebel selbst hatte

durch eine in Berlin gehaltene Rede bewirkt, daß dieser Boykott, den er „eine

Dummheit" nannte, ausdrücklich aufgehoben wurde. Entsprang somit so

der 1890 er Bierboykott einer kapitalen „Dummheit",

lag dem sozialdemokratischen Boykott

1894 der frivolste Uebermuth zu Grunde.

der Berliner Brauereien

vom Jahre

Ich schrieb am 11. Mai desselben

Jahres im „Anhaltischen Tageblatt":

„Obwohl seitens der sozialdemokratischen Parteileitung für die sog.

Maifeier die Parole ausgegeben war, die Arbeit nur dort ruhen zu laßen, wo dies ohne Beeinträchtigung der Arbeiterinteresien durchführbar

wäre, hielten sich die in Berliner Brauereien und Faßfabriken beschäftigten

Böttchergesellen, vertrauend auf ihre straffe Organisation, für berufen, der

staunenden Mitwelt eine außerordentliche Probe ihrer Kraft zu liefern. Am 19. April erhielten nämlich die Berliner Brauereien ein Rund­

schreiben, worin auf Grund des BeschlnffeS einer Versammlnng von Brauern

und Brauerei-Hilfsarbeitern an die Brauereibesitzer

und Direktoren

die

Aufforderung gerichtet wurde, ihren Arbeitern den 1. Mai freizugeben. Die Brauereien dagegen, falls

beschlosien, eine

dieses Schriftstück

derartige Aufforderung

unbeantwortet

zu lasten,

von den Arbeitnehmenr der

einzelnen Brauereien an die betreffenden Besitzer bezw. Direktoren direkt gerichtet werden sollte, ihnen folgende Antwort zu ertheilen:

„In Anbetracht, daß der Betrieb eines Brauerei-Unternehmens, nament­ lich während der Dauer der Mälzungsperiode, sowie

der Versandt des

Bieres bezw. die Bedienung der Kundschaft nicht willkürlich zu unter­ brechen ist, kann dem Wunsche eines Theils der Brauerei-Arbeitnehmer,

ihnen den 1. Mai freizugeben, nicht entsprochen werden."

Kurz

darauf

ersuchten

die

Böttchergesellen

in

der

Mehrzahl

der

dortigen Brauereien die betreffenden Vorgesetzten um Freigabe des 1. Mai

mit der Motivirung, daß auch ihr Verein einen solchen Beschluß gefaßt

habe und, wenn ihnen auch persönlich an dem Ruhenlasten der Arbeit nichts gelegen sei, sie doch verpflichtet seien, diesem Beschluste Folge zu

Es

geben.

wurde

den

Böttchergesellen

von

den

Braumeistern

bezw.

Direktoren der in Rede stehenden Brauereien die vorbezeichnete Antwort

ertheilt.

Am 30. April erhielten die Brauereien eine weitere, vom 29. April datirte Zuschrift folgenden Wortlauts: „Die heutige öffentliche Versammlung der Böttcher Berlins hat beschlosten,

daß sämmtliche in Berlin und Umgegend arbeitenden Böttcher die Arbeit am

1. Mai ruhen lasten, und sich am I. Mai, Morgens H Uhr, in

unserem Vereinslokal cinfinden." Der Verein der Berliner Brauereien

beschloß

darauf,

denjenigen

Böttchergesellen, welche in Folge des von ihrem Verein gefaßten Beschlustcs am 1. Mai thatsächlich

nicht zur Arbeit erscheinen sollten, am 2. Mai

Morgens bei ihrem etwaigen Wicdcrantritt zu erklären, daß sie vor dem

7. Mai nicht wieder zur Arbeit zügelnsten werden könnten und daß sie für diese Zeit, d. h. vom 1. bis 6. Mai, auch keinen Lohn erhalten würden. Sollten sie hiermit nicht einverstanden sein, so hätten sie sich als entlasten

zu betrachten. Thatsächlich haben die Böttchergesellcn in der Mehrzahl der Brauereien

und einer Anzahl Faßfabriken am 1. Mai nicht gearbeitet, in anderen aber wie an jedem Tage die Arbeiten ausgeführt.

Es ist demgemäß am 2. Mai in

denjenigen Brauereien, wo die Böttchergesellen nicht gearbeitet

der vorbezeichneten Weise verfahren worden.

haben, in

Am 3. Mai hielten darauf

die Böttchergesellen

große Versammlung ab,

eine

in welcher sie einen

General-Streik beschloßen mit der Maßgabe, die Arbeit nicht eher wieder aufzunehmen, bevor ihr neuer Tarif genehmigt worden sei.

im Vergleich zu dem von den Berliner Böttchern im Jahre

Dieser läuft

1890 aufgestellten darauf hinaus: „Daß der Lohn pro Woche

von 6 Tagen von Mk. 27.— auf

Mk. 30.— erhöht wird, daß die Arbeitszeit von 91/« Stunden auf 9

Stunden

4 Uhr,

ermäßigt wird, daß

6

statt um

an den Tagen vor den Hauptfesten um

Uhr Feierabend gemacht wird,

daß Ueberstunden,

die bisher mit 60 Pfg. bezahlt wurden, gänzlich fortfallen und Akkord­

arbeiten in Brauereien in Zukunft unterbleiben sollen und daß schließlich jedesmal am 1. Mai die Arbeit ruhen soll."

Die Arbeitsniederlegung ist nun in denjenigen Brauereien, in welchen

Böttchergesellen noch am erfolgt.

1. Mai gearbeitet hatten, am Freitag, 4. Mai

In denjenigen Brauereien, in welchen

sie wegen der Maifeier

nicht vor dem 7. Mai wieder anfangen sollten, sind sie an diesem Tage nicht angetreten und haben in einer Zuschrift, ihrer Lohnkommission entsprechend, erklärt, daß sie die Arbeit nicht wieder aufnchmen würden, bevor überall

die neuen Lohnforderungen bewilligt sein würden.

Die Brauereien haben ihrerseits beschloßen, die Forderungen nicht

zu

bewilligen,

sondern zu versuchen,

außerhalb des Verbandes

stehende

Böttchergesellen zu dem bisherigen, nach ihrer Meinung günstigen Lohnsätze

zu bekommen;

bis dahin aber sich mit den wenigen verbliebenen Gesellen

bezw. Arbeitern zu

Letzteres ist um so eher möglich,

behelfen.

als

die

Winterarbeit vollendet ist und auch die Vorbereitungen für das Pfingstfest

bereits getroffen sind.

Zur Beschaffung neuer Hilfskräfte haben die Berliner Brauereien in einer Reihe deutscher Zeitungen ein Inserat veröffentlicht, durch welches

zum sofortigen Eintritt Böttcher gesucht werden unter den Bedingungen des

Lohntarifs der Berliner Böttchergesellen von 1890. mindestens

27

Mk.,

tägliche

Arbeitszeit

Das heißt: Wochenlohn

9^2 Stunden.

Ueberstunden

60 Pfg., du jour:, Sonntags- und Feiertagsarbcit wird bezahlt. mindestens 4 Liter Freibier.

Inzwischen

haben

Täglich

Rach 14 tägiger Arbeit Ersatz der Reisekosten.

nun in einer Versammlung vom 6. d. M. die

Brauer und Brauereihilfsarbeiter beschloßen, die Böttchergesellen zu unter­ stützen und keine Arbeiten zu verrichten, die von Böttchergesellen zu machen sind.

Auf diese Beschlüße hin haben in den letzten Tagen auch einige

Brauer und Brauereihilfsarbeiter die ihnen übertragenen Arbeiten verweigert, und zwar erstere, weil man sie aus den Transportgefäßen Spunde heraus-

schlagen und die Reifen anschlagen hieß, eine Arbeit, zu der, abgesehen

von ganz großen Brauereien, immer Brauergesellen benützt worden

sind.

Letztere, weil sie die Hilfsleistung des Pichens von Fäsiern mittels der

Pichmaschine als ihnen nicht zukommende Arbeiten bezeichneten. einer

in

öffentlichen Versammlung zu Rirdorf

beschlosien

Auch ist

worden,

die

Vereinsbrauerei daselbst zu boykottiren, um sie zur Anerkennung der For­

derungen

der Böttchergesellen zu zwingen.

haben sich

Die Brauereien

selbstverständlich mit dieser Vereinsbrauerei solidarisch erklärt und beschlosien, daß für den Fall, daß jener Boykottbeschluß bis zum Ablauf des 15. Mai d. I. nicht ausdrücklich zurückgenommen ist, folgende Maßnahmen getroffen werden:

1. Die dem genannten Verein angehörigen Brauereien beschränken ihren

Betrieb. 2. Die Brauereien entlassen 20 Proz. ihrer Arbeitnehmer und zwar in erster Linie diejenigen, welche sich bisher an den Bestrebungen Ber­ liner Arbeiter, durch Boykottirung einzelner Brauereien Zugeständnisie

in Sachen des Böttcherstreiks zu erzwingen, betheiligt haben. 3. Der vom Verein der Brauereien Berlins und der Umgegend unter­

haltene Arbeitsnachweis für Brauergesellen wird aufgehoben. Vorstehender Beschluß ist der Berliner Gewerkschaftskommission und der Gewerkschaftskommission zu Rirdorf vom Verein der Brauereien Berlins

und der Umgegend mitgetheilt worden. Die Energie Hrn.

des Generaldirektors der

Kommerzienraths

Frivolität

geradezu

Roesicke,

lächerlichen

Maifaullenzer geradezu heraus;

in der

Vorstoßes,

größten Berliner Brauerei,

Abwehr

forderte

dieses,

nun

in

seiner

die Wuth

der

als ob der gesunde Menschenverstand bei

jenen Agitatoren am 1. Mai für immer auf- und davongegangen wäre,

wird in einem Versammlungsbericht des „Vorwärts" von einer seitens der Brauereileiter „in Szene gesetzten A u s s p e r r u n g der Böttcher"

gefabelt

und

hinzugesetzt,

daß

dieselbe

„ein

seit

Langem

vorbereitetes

Manöver war, um die Organisationen aller im Brauereibetriebe beschäftigten Arbeiter zu zerstören." Echo

des

Daß all diesen Unsinn das hiesige sozialdemokratische

Berliner „Vorwärts"

bis auf die Schimpfnamen gewisienhaft

nachbetet, ist selbstverständlich.

Also den Arbeitern soll es freistehen, das Recht willkürlich zu beugen

und

den

eingegangenen

Arbeitsvertrag zu brechen, an einem beliebigen

Wochentage zu faullenzen; fordert der gemaßregelte Arbeitgeber dagegen eine auch noch so milde Sühne für diesen Vertragsbruch, so stehen die

„ausgesperrten" Arbeiter plötzlich als „Märtyrer" da und finden unter

Die Böttchergesellcn der Schultheiß' Brauerei.

81

ihren Kollegen verständnißinnige Theilnahme und Unterstützung. Was bedeuten hier und da vorkommende Mißgriffe von Unternehmern gegen

einen solchen unerträglichen Ucbermuth von Seiten der Arbeitnehmer?! Welches Halloh würde gerade die sozialistische Hetzpresse, und mit Recht, erheben, wenn ein gleiches Verfahren irgendwo gegen Arbeiter beliebt würde!

Was nun speziell die Hrn. Generaldirektor R o e s i ck e unterstellte

Schultheiß' Brauerei anbetrifft, so hatten die Böttchergesellen gegen das ausdrückliche Verbot am 1. Mai sämtlich gefeiert und wurde ihnen, wie in den übrigen Brauereien Berlins, erklärt, daß sie erst am 7. Mai die Arbeit aufnehmen könnten. Es ist richtig, wie im „Vorwärts" und in deffen hiesigem Echo behauptet wird, daß Hr. Roesicke am letzten Sonntag bei seiner Anwesenheit in Desiau vier der in dem hiesigen Betriebe beschäftigten Böttchcrgesellen gefragt hatte, ob sie eventuell auf zwei Tage nach Berlin kommen wollten, um einige Arbeiten, die nicht gut von anderen

Arbeitern auszuführen sind, zu verrichten. Die betreffenden Gesellen er­ klärten sich anstandslos dazu bereit. Hr. Roesicke glaubte aber trotzdem auf ihre Thätigkeit verzichten zu sollen, da er sie für ihren guten Willen nicht Unannehmlichkeiten seitens ihrer dortigen Kollegen aussetzen wollte.

Wie frivol die Niederlegung der Arbeit gerade in der Schultheiß' Brauerei A.-G. ist, crgiebt sich unter Anderm aus Folgendem:

Die Gesellen haben dort außer dem Lohne von 27 Mk. für sechs Tage ä 9^ Stunden Arbeitszeit noch einen freiwillig gewährten sogen. Wohnungs-Zuschuß von 2 Mk. pro Woche bekommen.

Alle diejenigen,

die 3 Jahre im Betriebe thätig sind, und das ist bei Weitem die Mehrzahl,

erhalten pro Jahr eine Alterszulage von 100 Mk.

Sic haben außerdem Anspruch auf unentgeltliche ärztliche Behandlung und freie Medizin für ihre Familien und verfügen selbständig über eine

Unterstützungskasie, aus der sie im vergangenen Jahre 1524 Mk. (also 50 Mk. pro Mann) entnommen haben.

Ferner steht ihnen die Benützung der Badeeinrichtung für sich und

ihre Familien nnentgeltlich frei.

Ihre Kinder können sie tagtäglich in die

Kinder- und Handarbcitsschule der Brauerei schicken und sie im Sommer je für 4 Wochen in dem von der Brauerei errichteten „Kinderheim" in Pankow bei freier Verpflegung unterbringen. Diejenigen Böttchergesellen, die beim Pichen beschäftigt sind, erhalten

pro Woche eine Zulage von 1 Mk. und 50 Pfg., und sämmtliche Böttcher­ gesellen per Tag 4—5 Liter Freibier.

Wie alle übrigen Arbeitnehmer der Schultheiß' Brauerei, A.-G., haben auch die Böttchergesellen das Recht, ihre Ersparniffe in die Spar-

Berurtheilung des Büttchergeselle,«-Streiks.

32

fasse der Brauerei zu thun, und werden dieselben mit demselben Zinssätze

verzinst, der den Aktionären gewährt wird, also mit 15 resp. 16 pCt.

Diejenigen Gesellen, welche 1 Jahr im Betriebe sind,

haben eine

8-tägige, diejenigen, die 2 Jahre im Betriebe thätig sind, eine 14-tägige

und diejenigen, welche über 3 Jahre in der Schultheiß' Brauerei thätig sind,

eine vierwöchige Kündigungsfrist,

wogegen

die Arbeitnehmer selbst

die Arbeit jederzeit ohne Kündigungsfrist niederlegen können.

Wie frivol das Vorgehe«« der sozialdemokratischen Agitatoren gewesen ist,

denen übrigens der Leiter einer Berliner Brauerei, obwohl

demokratischen Partei gehörig,

nicht

thatkräftige Unterstützung geliehen,

zur sozial­

wurde den

Friedensstörern

in einer energischen „Erklärung" vorgehalten, welche Namens

der Mitglieder

des

Vereins Berliner Brauergesellen,

sowie der Zimmerleute,

Maurer, Schmiede, Stellmacher, Sattler, Schlosser, Maler, Glaser und Klempner in der Schultheiß' Brauerei Abtheilung I in veröffentlicht worden ist. gesagt wurde,

verschiedenen Berliner Blättern

Diese Erklärung gipfelte darin, daß kurz und bündig

die Unterzeichner

seien „mit

dem Streik

nicht

einverstanden,

verurtheilen solchen vielmehr als frivol und unbegründet auf's Schärfste." Was

von Seiten

sozialdemokratischen „Rufer im Streite" damals

der

gegen Richard Roesicke an Verunglimpfungen geleistet worden ist, übertraf alles bisher für möglich Gehaltene.

den Arbeitern zu nützen,

Die Thoren!

Sie meinten,

ihrer Sache und

anstatt dessen lieferten sie bei« Gegnern der arbeiter­

freundlichen Bestrebungen Richard Roesicke's Waffen in die Hände.

wenn selbst

ein so

Natürlich,

weitgehender Sozialpolitiker wie Richard Roesicke vor bei«

niedrigsten Verunglimpfungen der Sozialdemokratie nicht sicher sei, hieß es in

den Reihen Jener, so ist damit der Beweis erbracht, daß jede arbeiterfreund­ liche Politik vom Uebel sei, denn sie vermöge die sozialistischen Agitatorei« eben nicht zu befriedigen.

Nur Roesicke selbst dachte anders.

Er ließ sich selbst durch das wüsteste

Schreiei« und Toben eraltirter Fanatiker ebensowenig aus der Fassung bringen,

wie ihn die Treulosigkeit von irregeleiteten Arbeitern, die das ihnen durch seine Fürsorge bisher Geleistete nicht anerkennen wollten, von dem einmal für recht erkannten Wege abzubringen vermochte.

*

*

Die Entwickelung Richard Roesicke's vom kleinen Industriellen zum Arbeit­

geber großen Stils drängte förinlich darauf hin, diesen arbeitsf« endigen, ziel-

bewußten,

umsichtigen und

gestellt zu sehen.

kundigen Mann in den Dienst der Oeffentlichkeit

Sein klarer Blick hatte sich ja schon frühzeitig den politischen

Verhältnissen seines Vaterlandes zugewandt; bereits in seinen Jünglingsjahren hatte er „Partei ergriffen", und zwar feffelten ihn, wie es ja nicht anders sein konnte, damals die Emanationen der deutschen Freiheitshelden, die verstimmt abseits stehen mußten, nachdem die wüthendste Reaktion den politischen Adlerflug

des Jahres 1848 zum Schaden Alldeutschlands abgelöst hatte.

Lächelnd erzählte

er mir in freundlichen Plauderstunden mit kritischem Behagen, wie er damals als

begeisterter Publizist zur Feder gegriffen und seine unreifsten politischen

Ansichten zu begeisterten, schwülstigen Aufsätzen verdichtet hatte. mit

als

Muth

Einsicht

Beglückt wurden

die Redaktionen solcher Blätter, welche mit mehr

solchen Federübungen

bemühten,

sich

die

vom

Lehre

politischen Liberalismus

im deutschen Volke wach zu erhalten; ob sie je gedruckt worden sind, weiß ich nicht mehr. Indem sich seine politischen Anschauungen mit den Jahren klärten, ver­

harrten sie doch auf dem Boden einer liberalen Weltanschauung, ja, sie faßten

in demselben immer mehr Wurzel, wozu nicht wenig das innige Sichverstehen mit dem Vater beitrug, der streng liberalen Grundsätzen huldigte. Wie anders aber war Richard Roesicke's politischer Werdegang, als dies

heutzutage, namentlich

in den Reihen gewisicr extremer Parteien,

der Fall zu

Roesicke stand bereits in den dreißiger Jahren und noch fühlte er

sein pflegt!

sich in politicis

Meines Wiffens trat er als

nicht „zu Höherem geboren".

Politiker zum ersten Male erst Ende der siebziger bezw. Anfang Jahre, und auch da nur in aller Bescheidenheit, hervor,

anhaltischen

Rcichstagswahlkreise

darum

handelte,

der

achtziger

als es sich im ersten in

einen

der

Vertretung

liberaler Grundsätze mehr und mehr unsicher gewordenen, überaus unzuverlässigen Politiker and seinem langjährigen Reichstagssitze zu entfernen.

Richard Roesicke rechnete sich, seitdem seine politischen Anschauungen gereift waren, der nationalliberalen Partei zu.

Staatsmanne zu Liebe anfing, schon immer Männern zu,

auf dem

Später, da diese Partei dem führenden

liberale Grundsätze preiszugeben, neigte er, der

linken Flügel der Partei

welche aus

der

nationalliberalen

gestanden

Partei

hatte,

denjenigen

ausschieden und

die

Liberale Vereinigung begründeten.

Die neue Partei,

welche auch im Reichstagswahlkreise Deffau—Zerbst

Anklang gefunden hatte, stellte hier im Jahre 1881 in der Person des Rechts­

anwalts

Dr.

kandidirte,

Tello dem

einen

bisherigen Abgeordneten von Cuny, der wiederum

Gegenkandidaten gegenüber,

und das

liberale

Bürgerthum

des Wahlkreises trat, geführt von einer Reihe tüchtiger und entschloffener Männer,

mit einer bisher noch nicht erlebten Begeisterung in den Wahlkampf ein.

Einer

3

solchen frischen Regsamkeit gegenüber vermochte Richard Roesicke nicht lange

Da er selbst nicht Wähler in Anhalt I

mit verschränkten Armen zuzusehen.

war, meinte er zwar, sich zunächst den politischen Angelegenheiten des Wahl­

kreises fernhalten zu

sollen.

Vielleicht hielt er auch bei der Zusammensetzung

der Bürgerschaft in dem Wahlkreise, dessen Vorort die Residenzstadt Dessau war,

den gegen den bisherigen, vom Beamtenthum getragenen Abgeordneten unter­ nommenen Wahlfeldzug nicht für recht aussichtsvoll, genug, er beteiligte sich

an dem Kampfe vor der Hauptwahl nicht.

Als aber, wider alles Erwarten,

der Kandidat der Liberalen Vereinigung in die Stichwahl mit dem National­

liberalen gekommen war, trat Roesicke aus seiner bisherigen Reserve heraus und

verstand es, die liberalen Gesinnungsgenossen für die bevorstehende Stichwahl überzeugenden Kraft seiner

mit der

schlicht vorgetragenen Gründe zu festigen,

sie zu weiterer Kraftentfaltung anzufeuern.

Und es geschah, daß der bisherige

Vertreter der in ihren liberalen Anschauungen immer brüchiger gewordenen Partei

aus

seinem

langjährigen

Mandate

durch

den

entschieden

liberalen

Kandidaten verdrängt wurde.

Der neu gewählte Abgeordnete Rechtsanwalt Dr. Sello nahm, wie er es

versprochen hatte, im Reichstage auf den Bänken der Liberalen Vereinigung seinen Platz ein.

In den ersten Jahren seiner politischen Thätigkeit verstand

er es auch, die an ihn geknüpften Erwartungen zu befriedigen, aber allmälig war er, der gewiegte Jurist und vielbegehrte Anwalt,

vielfach in Zwiespalt

gerathen mit den Forderungen seines politischen Amtes und seinen Berufspflichten, auch noch Anderes wurde von seinen Wählern in Anhalt mißliebig ausgenommen,

sodaß man sich in den führenden Kreisen des Wahlkreises dahin schlüssig geworden

war,

von

einer Wiederaufstellung

des Reichstagsabgeordneten bei den

bevorstehenden Neuwahlen abzuschen.

Man

nahe

war damit auch seinen eigenen

Wünschen entgegengckommen, denn Rechtsanwalt Dr. Sello hat nachmals nie wieder eine Rcichstagskandidatur angenommen, sich vielmehr aus dem politischen

Leben gänzlich zurückgezogen. Der erste anhaltische Reichstagswahlkreis war aber zum ersten Diale dem

entschiedenen Liberalismus gewonnen worden, es gesetzt werden, ihn der Partei zu erhalten.

mußte darum Alles daran

Daß dies am Besten möglich war

durch Aufstellung eines angesehenen, im Wahlkreise bestens bekannten Mannes

und wenn irgend möglich eines Mannes aus dem gewerblichen Bürgcrthum,

darüber war man sich schneller klar geworden, als ein solcher Mann gefunden war.

Es fehlte nicht an Vorschlägen für die neue Kandidatur; die alten An­

hänger der Fortschrittspartei im Wahlkreise hielten mit ihren Wünschen ebenfalls nicht zurück, da sic meinten, die Zeit wäre gekommen, wo auch ein Mann der

schärferen Tonart Aussicht hätte, das Mandat zu übernehmen.

Bei aller freundnachbarlichen Gesinnung für die Fortschrittspartei und

vor Allem für ihre wackeren, im Wahlkreise angesesienen Anhänger gewann aber doch die Ansicht die Oberhand, es dürfte mit Aussicht auf Erfolg lediglich

ein Mann der „mittleren Linie", wie es ja auch Dr. Tello war, in Frage kommen. Als dann der Name Richard Roesicke in der Debatte genannt war, ergab es sich, daß er schon damals in

beiden Lagern

der entschieden

Liberalen

des

Wahlkreises weitgehende Sympathien genoß, denn es erhob sich nicht nur kein Widerspruch, man war sich vielmehr sogleich darüber klar, daß für unseren, voraus­

sichtlich wieder arg umstrittenen Wahlkreis ein geeigneterer Kandidat gar nicht

ausfindig gemacht werden könnte, vorausgesetzt daß — Richard Roesicke über­

haupt geneigt sein würde, die ihm angebotene Kandidatur anzunehmen.

Trotz

meiner Vorstellungen, die schwierige Frage durch Jemanden lösen zu lasicn, der mit dem in Aussicht genommenen Kandidaten persönlich bekannt sei, wurde ich dazu bestimmt, denselben zu sondiren und ihm mit aller nöthigen Entschiedenheit

die Bitte vorzutragcn, sich dem

ersten anhaltischen Wahlkreise zur Verfügung

zu stellen. Die Schwierigkeit der zwar sehr ehrenvollen, in ihrer Verantwortlichkeit von mir aber auch keinen Augenblick unterschätzten Mission ward mir noch weit klarer, als ich Einiges über das Wesen des in Aussicht genommenen Kandidaten in Erfahrung gebracht hatte:

er

lebe

dermaßen

seinem gewerblichen Berufe,

daß er sozusagen ganz und gar in ihm aufginge und daher zu den meistbeschäf­ tigten Personen in ganz Berlin gerechnet werden könne.

Das war aber nur

eine Schwierigkeit und, wie sich bald herausstellen sollte, noch nicht einmal

die größte.

Als ich mich nun brieflich an die mir aufgegebene Adresie des

mir persönlich

unbekannten Mannes

mit freundlichen Vorstellungen gewandt

hatte, wurde mir zwar sehr prompt eine in sehr verbindlichem Tone gehaltene Antivort zu Theil, die nur den einen Nachtheil hatte, daß sie — eine Absage

war.

Es wäre ihm -

so hieß eS in dem Schreiben

ganz unmöglich, sich

einem politischen Amte zu unterziehen, vorausgesetzt, daß er gewählt würde, denn seine Benifspflichten nähmen bereits seine ganze Arbeitskraft in Anspruch.

Was nun thun?

Die Büchse ins Korn werfen, die Vertrauensmänner

znsammenberufen und sie der Qual einer neuen Wahl preisgeben?

Ich weiß nicht, woran es lag, daß ich davon vorderhand nichts wißen wollte; die Art der mir gewordenen Antwort feßelte mich; ich fühlte aus ihr heraus, es mit einer Persönlichkeit, mit einem ganzen Manne zu thun zu haben, den für die politische Arena und gar für die offizielle Vertretung

des Liberalismus zu gewinnen,

mir von Bedeutung erschien.

Ich ließ daher

nicht locker, sondern wurde eindringlicher mit meinen Vorstellungen, gestattete

mir den Hinweis darauf, daß es nicht viele liberale Männer im Reiche gäbe, 3*

welche keine Opfer durch Uebernahme einer Kandidatur bezw. eines Mandats

für den Reichstag zu bringen hätten, und wenn alle tüchtigen Männer, denen sich

das Vertrauen

ihrer Gesinnungsgenossen

sich entscheiden wollten,

zuwendete,

ebenso

wie mein sehr geehrter Herr Partner,

denken und so stünde es

traurig um die Vertretung des Liberalismus im deutschen Parlamente.

Und

wieder prompt die Antwort; wieder sehr verbindlich, zwar um einen Grad ent­ gegenkommender, aber auch nicht viel mehr darüber hinaus.

entschlossen,

es durchzusetzen,

daß

Ich war fest

der Kandidat der vereinigten Liberalen in

unserem nächsten Wahlkampfe Richard Roesicke heißen müsse; denn die nun noch

von ihm ins Treffen geführten Gründe, daß er auch in politischer Beziehung

den führenden Kreisen unseres Wahlbezirks insofern nicht ganz genehm sein dürfte, als ihn von der inzwischen durch die Fusion der Fortschrittspartei und

der

Liberalen Vereinigung

Deutschfreisinnigen Partei

entstandenen

Manches

trennte, vor Allem seine Anschauungen über soziale Fragen, hoffte ich durch den Hinweis darauf hinfällig werden lassen zu können, daß die liberalen Vertrauensmänner des Wahlkreises in dem Namen Richard Roesicke ein Pro­

gramm erblicken dürften, das sie gewiß gern und ohne Vorbehalt annehmen würden.

würde

Und abermals eine prompte Antwort, aber noch keine Zusage.

demnächst Gelegenheit

nehmen,

eine

persönliche Aussprache

Er

mit

mir

herbeizuführen, welche sicher den Erfolg haben würde, daß von seiner Kandidatur

— definitiv Abstand genommen werden dürfte.

Auf diese persönliche Aussprache war ich gespannt, brannte ich doch darauf, den Mann nun auch von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, der mir bereits aus

dem voraufgegangenen Briefwechsel ein so weitgehendes Interesse abgenöthigt hatte. Eines Mittags, ich saß über meine Schreibereien gebeugt, klopfte es an

die Thür meines Arbeitszimmers und es erschien auf der Schwelle derselben

ein jüngerer, schlanker, nicht sehr großer Herr, überaus bescheiden auftretend,

dessen klare, freundlich blickende blaue Augen sich fragend nach mir richteten. Ich muß in meinem ersten Benehmen etwas wie Stumpfheit verrathen haben, als ich erfuhr, daß es mein Partner in dem eingehenden Briefwechsel, Richard Roesicke war, der da vor mir stand.

-Nach all' den mir gewordenen Schilderungen

von Seiten der Parteifreunde hatte sich ja in meiner

Phantasie bereits

ein

Bild von dem Manne, mit dem ich so sehr ernsthafte Briefe gewechselt, gestaltet,

wenn auch nur in losen Umrissen; ich hatte mir einen sehr alten, sehr ehrwürdig

aussehenden,

womöglich

Herrn

weißbärtigen

Lebenserfahrung zurückblicken durfte, Dienste seines Berufs ...

an

der

einen

mit

vorgestellt,

der

einem Worte

so jugendlichen,

auf eine

ergraut

lange

war im

elastischen Mann, der

kaum neun Jahre mehr zählte, als ich selber: an diese Möglichkeit hatte ich bei

dem Namen Richard Roesicke nicht gedacht.

Als meine erste Berwirrung gelöst war, ich mich aus dem Banne meiner

Vorstellungen glücklich befreit hatte, schien es mir das Richtigste zu sein, dem Gaste den Grund meines ersten Befangenseins offen darzulegen: er möge aus

diesem nun ersehen, wie ich mit seinem Namen nur die übliche Personifikation

der Weisheit habe in Verbindung bringen können und danach den Grad meiner

ihm gezollten Werthschätzung bestimmen.

Das bereitete ihm offenbar Vergnügen,

denn bald sprachen wir so vertraut mit einander, als ob wir uns bereits seit

Jahren gekannt hätten. Noch einmal versuchte er, mich zu überzeugen, daß seine bereits angeführten

Gründe nicht von der Hand zu weisen wären;

ich aber blieb

hartnäckig, wich

keinen Zoll breit zurück, ja, gestattete mir nun auch noch den Hinweis darauf,

daß ein Mann in den besten Jahren gar nicht berechtigt sei, den Ruf seiner Mitbürger abzulehnen, namentlich wenn er auf so festem liberalen Boden stünde,

wie er.

Dieser Appell an sein Pflichtgefühl blieb nicht ohne Eindruck auf ihn,

nun aber enthüllte

er

mir seinen letzten und, wie er meinte, eindringlichsten

Grund, doch auf seinem ablehnenden Standpunkte beharren zu sollen: er wäre

bis jetzt eigentlich noch nie politisch hervorgetrcten; um eine so schwerwiegende Aufgabe zu übernehmen, wie das Mandat eines Volksvertreters, dazu gehöre

vor Allem reiche politische Erfahrung, diese mangele ihm.

Für einen liberalen

Kandidaten

einzutreten,

geeignet zu

halten, eine Wählerschaft politisch zrr vertreten.

wäre

denn

doch

etwas Anderes,

sich selbst für­

als

Er wolle gewiß

gern mit all seiner Kraft an dem bevorstehenden Wahlkampfe sich betheiligen,

da seine volle Pflicht erfüllen, aber er halte sich, den bescheidenen Industriellen, doch nicht für geeignet, um in diesem Wahlkampfe auf dem Schilde zu para-

diren, dazu brauche man, wie gesagt, politisch erfahrene, tüchtige Männer. Nun hatte ich

— das fühlte ich

gewonnenes Spiel.

letzten Position ihn herauszuheben, sollte mir nicht schwer werden.

Aus

dieser

Und wirklich,

als er sich von mir verabschiedete, drückte er mir fest die Hand, ich that das Gleiche, und er versprach, mir nach kurzer Bedenkzeit

seinen Entschluß

mit-

zutheilen.

Unter klar stipulirten Bedingungen, daß Richard Roesicke im Falle seiner Wahl nicht gebunden sein sollte, sich der Deutschfreisinnigen Fraktion des Reichs­ tages anzuschließen, daß ihm volle Bewegungsfreiheit eingeräumt werde, erklärte

er sich nun bereit, die ihm von den vereinigten Liberalen angebotene Kandidatur anzunehmen.

Der bei Weitem größte Theil der freisinnigen Vertrauensmänner

meinte, auf die gestellten Bedingungen ohne Weiteres, im vollen Vertrauen auf die in dem Charakter Richard Roesicke's und seinen grundechten liberalen An­ schauungen begründeten Garantien,

eingehen zu sollen;

der ehemaligen Fortschrittspartei verhielten sich zögernd.

nur einige Anhänger

Die Partei und ihr

Programm schien ihnen so werthvoll zu sein, daß sie meinten, die Persönlichkeit

des in Frage stehenden Kandidaten müsse sich der Schablone anpasien, wenn es etwas Vollkommenes werden solle.

Schließlich erklärten aber auch sie sich

mit der Kandidatur Roesicke einverstanden, mit welcher man nun im Herbste

des Jahres 1884 gegen den Nationalliberalen in den Wahlkampf zog. Am Abend des 2. Oktober

hatte sich im Saale des Gasthofs „Zum

goldenen Schiff" eine größere Versammlung liberaler Vertrauensmänner ein­ gefunden, in welcher ich die Ehre und Freude hatte, nach einem Bericht des

„Anhaltischen Tageblatts" vom 4. Oktober 1884, Folgendes zu sagen:

„ ... Es ist uns gelungen, einen Mann für uns zu gewinnen, welcher mitten im praktischen Leben stehend und aus ihm hervorgegangcn,

wohl im Stande ist, unsere Sache im Reichstage so zu vertreten, wie es nur der Wunsch aller aufrichtig Liberalen von rechts nach links sein kann;

er ist der Unsere, einer unserer geachtetsten Mitbürger: der auch Herren!

heut

Meine

unter uns weilende Herr Richard Roesicke (Lautes Bravorufen).

Der Jubelrus, welcher der Nennung dieses Namens soeben gefolgt

ist, ist uns Beweis, daß wir ganz in Ihrem Sinne gehandelt, daß wir das Herr Roesicke hat

Rechte getroffen, den rechten Mann gefunden haben.

wiederholt den Beweis geliefert, daß er treu zur freiheitlichen Sache des

Volkes hält; ich hoffe, ja ich glaube es ganz bestimmt zu wiffen, daß diese Kandidatur von allen Liberalen unseres Wahlkreises mit Freuden begrüßt

werden wird (Wiederholtes Bravo)." Der erwähnte Bericht sagt dann noch weiter:

„Jetzt erscheint Herr Roesicke am Vorstandstische, von allen Seiten

auf's Herzlichste beglückwünscht, und manch kräftiger Händednrck mochte dem verehrten Manne in stummer und

doch so beredter Sprache sagen, wie

dankbar sein Entschluß, sich in dieser schweren Zeit der freiheitlichen Sache

zur Verfügung zu stellen, empfunden worden ist. — Ist es doch allbekannt,

daß Herr Roesicke

unserer Stadt ist,

ganzer Mann, der hält, das

einer

der pflichteifrigsten

und

mit Arbeiten fast überbürdet, nach

thätigsten Männer

aber zugleich

auch ein

echt deutscher Art ein gegebenes Versprechen

mit voller Hingebung

ausführt, was er einmal

übernommen.

Mit folgenden Worten wendete sich der Herr Kandidat, nachdem sich

der Jubel gelegt, an die Versammlung: „Wie bereits im

engeren Kreise,

den Männern gegenüber,

welche

den ehrenvollen Ruf an mich erlassen haben, so danke ich vorerst auch Ihnen,

m.

H.,

für

das

ehrenvolle

Vertrauen,

das

Sic

mir

entgegenbringen.

Seien Sie überzeugt, daß ich die Ehre zu schätzen weiß, welche mir soeben

Politische Bekenntnisse. zu Theil geworden. zustellen hatte,

reifliche Erwägungen,

Es waren

ehe ich Ja sagte;

die ich vorher an­

ich mußte mich vorerst fragen,

ob ich

auch angesichts meiner Berufsgeschäfte im Stande sein würde, ein Mandat so auszuüben,

Aber die Bedenken vermehrter Arbeitslast

wie ich es soll.

schwanden, als der Ruf noch dringender an mich erging, und ich sagte mir,

es ist eine schwere Zeit, in der wir leben, die an Jeden erhöhte Anforderungen

stellt, in der die kostbarsten Errungenschaften einer freiheitlichen Vergangen­ heit auf dem Spiele stehen,

und in einer solchen Zeit heiße die Parole:

„Alle Mann auf Deck!" (Bravo!)

Ob ich mich der deutschfreisinnigen Fraktion anschließen Falle meiner Wahl, vermag ich allerdings heute hinzustellen.

werde

im

noch nicht als bestimmt

Es mag m. H. genügen, daß ich treu zu den Prinzipien des

aufrichtigen deutschen Liberalismus halte; der Anschluß an eine Fraktion,

meine ich, kann erst nach einer vorangegangencn Prüfung der Verhältnisse

Sollte die Wahl auf mich fallen, so darf ich Ihnen heute schon

erfolgen.

sagen, daß ich zuversichtlich hoffe, Ihr Vertrauen,

das Sie mir entgegen­

bringen, auch zu rechtfertigen (Bravo!). Soll

ich Ihnen

kurzen Zügen

in

heute

schon

meinen politischen

so bin ich dereinst nationalliberal gewesen und habe

Standpunkt skizziren,

mich später der Liberalen Vereinigung angeschloffcn, als sich die national­

liberale Partei nach rechts neigte. und

ganzes

Sinnen

großen

liberalen Partei

verlieren wir niemals

ein gutes Omen

steht,

Trachten

im

Mein Ideal, nach welchem auch mein

ganzen

ist

die

dereinstige

Bildung

deutschen Vaterlande.

dieses große, schöne Ziel aus dem Auge!

betrachte

ich

cs,

daß

allen Punkten,

Als

der Präsident der kürzlich

abgehaltenen gegnerischen Versammlung ein Programm für die

kommenden Reichstag zu

einer

Ja, m. H.,

hier

in den

wählenden Männer entwickelte, dem ich in fast

— und Sie mit mir, —

entsprechen kann.

Demzufolge

soll ein liberaler Kandidat einerseits „die liberale Grundidee des Deutschen

Reiches" zur seinigen machen, und andererseits national denken. M. £>., das

thue

ich;

der Herr

Präsident

erklärte sodann die sogenannten Berufs-

parlamentarier und Berufspolitiker für „den Krebsschaden des Parlaments". Run, m. H., ich habe nicht die Ehre, „Berufspolitiker" zu sein, ich glaube vielmehr, ganz im Sinne des Herrn Präsidenten, „ein ehrlicher, im prak­ tischen Leben stehender Mann" zu sein. 9hir nationalliberal bin ich freilich

nicht.

Der Herr Präsident meinte ferner, „es sollte uns nichts abhaltcn,

einen Anhaltiner in den Reichstag zu schicken;" Anhaltiner bin ich allerdings

nicht, Ich

wenn Sic

darunter

habe aber hier,

einen

in Anhalt

geborenen Mann

in unserem herrlichen Anhalt,

verstehen.

eine zweite Heimath

gefunden, mir sind Anhalt und seine gewerbfleißigen, biederen Bewohner von Herzen lieb geworden,

sodaß ich zwischen meinem Geburtslande und

dem Lande, in welchem ich die Ehre habe, Ihr Mitbürger zu sein, keinen Unterschied machen könnte.

Und somit erkläre ich mich denn bereit, ein­ rechts und

zutreten in den Kampf gegen unsere Gegner

links."

(Stür­

mischer, lang anhaltender Beifall.)" Das war der erste Schritt Richard Roesicke's

in seiner bedeutungsvollen

politischen Laufbahn. Bemerkenswerth dürfte noch sein, daß sich Roesicke in der Diskussion des­

selben

Abends einem Zerbster Fortschrittsmanne gegenüber, seine ersten Aus­

führungen erläuternd, noch dahin aussprach, daß er das Programm der deutsch­

freisinnigen Partei deutscher Mann

anerkenne,



nur

wolle

er sich — und sonst wäre er kein

die Freiheit seiner Entschließungen wahren bezüglich des

eventuellen Anschlußes an die Fraktion; über die Zustimmung seiner politischen Freunde in der Fraktion habe er sich bereits vor seiner Annahme -Erklärung

informirt. In einer am 7. Oktober stattgehabten Versammlung, zu welcher die liberalen

Vertrauensmänner aus dem ganzen Wahlkreise eingeladen worden waren, Richard Roesicke seine

erste Programmrede,

welche nach

hielt

den Aufzeichnungen

des wiederholt angeführten Blattes folgenden Inhalt hatte: Meine Herren!

Nachdem ich schon neulich meine Bereitwilligkeit zur Annahme einer Kandidatur im I. anhaltischen Wahlkreis erklärt habe, wiederhole ich dieselbe

heute und spreche zugleich meinen Dank aus für das Vertrauen,

wie aus den Mittheilungen des Herrn Vorsitzenden ersichtlich,

von den auswärtigen Vertrauensmännern entgegcngebracht es schon an sich ein

welches, mir auch

wird.

Wenn

erhebendes Gefühl ist, von seinen Mitbürgern als

Vertreter ihrer Jnteresicn erwählt zu werden, so erhöht sich dasselbe, wenn die Wahl mit möglichster Einstimmigkeit erfolgt, wie hier.

M. H.! Es ist mir nicht leicht geworden, bezgl. der mir vom Wahl­ komitee angebotenen Ehre eine Entscheidung

in Ihrem Sinne zu treffen,

denn einerseits ist meine Zeit schon ohnedies sehr in Anspruch genommen,

andererseits sind die Anforderungen an einen Parlamentarier heutzutage sehr

große.

Ich

war mir daher völlig bewußt,

daß mich

die Annahme

eines solchen Ehrenamtes zwingen würde, mancherlei Privatrücksichten hint­ anzusetzen,

um den für den Fall meiner Wahl erwachsenden neuen Ver­

pflichtungen genügen zu können. Deshalb werden Sie cs begreiflich finden.

daß ich meine Zustimmung erst gegeben habe, nachdem man mir versichert

hatte, daß kein Besierer, kein Würdigerer zu Ihrer Vertretung vorhanden, nachdem man mir erklärt hatte, daß der Wahlkreis in Gefahr stände, für

die liberale Sache verloren zu gehen.

M. H.! Wenn dem in der That so ist, und ich hatte keinen Grund,

an diesen Versicherungen zu zweifeln,

zaudern,

dann mußte ich meine

dann durfte ich allerdings nicht geringen Kräfte

der liberalen Sache

zur Verfügung stellen, denn die Zeiten sind ernst, und an Feinden fehlt es den Liberalen weder von rechts noch von links! Nicht um einen Angriff von unserer Seite handelt es sich, sondern

um die Vertheidigung unserer Rechte. Es handelt sich barum, zu verhindern, daß die wenigen freiheitlichen Errungenschaften früherer Jahre uns wiederum

entrisien werden.

Sehen sich doch selbst nationalliberale Abgeordnete ver­

anlaßt, ihren Wählern gegenüber das Versprechen abzugebcn, auch fernerhin

die verfasiungsmäßigen Rechte

des Reichstages

vertheidigen und schützen

zu wollen. Kann man nun auch annehmen, daß die bisherigen Mitglieder dieser Partei ihrem Grundsatz treu bleiben,

vorauszusetzen von solchen Abgeordneten, Konservativen hervorgehen.

M. H.!

so ist dies doch absolut nicht

die aus einer Koalition mit den

Waren denn liberal und konservativ

bisher nicht zwei entgegengesetzte Begriffe und sind sie es nicht heute noch? Kann denn auch nur der gutgläubigste Bürger annehmen, daß die Konser­

vativen deshalb sich mit den Nationalliberalen verbinden wollen, um liberale Politik zu treiben?

Ist es wahrscheinlicher, daß die Nationalliberalen im

Stande sein werden, die konservativen Bundesgenossen mit sich nach links, nach der Seite der ihnen verhaßten Dcutschfreisinnigcn zu ziehen?

Oder

ist es wahrscheinlicher, daß die Konservativen die nationalliberalen Freunde triumphirend

in ihr

rechtes Lager cinführen werden?

Die Antwort auf

diese Frage kann für Niemand zweifelhaft sein und die Wähler werden an ihr die Gefahr, in welcher die liberale Sache in Deutschland schwebt, er­ kennen.

Je größer aber die Gefahr,

desto mehr Veranlaffung

haben die

übrigen Liberalen, zusammenzustehen und nur Männer in's Parlament zu

schicken, die bereit sind, jedem Ansturm auf die freiheitlichen Institutionen des Volkes zu trotzen.

Zu solchen Männern rechne ich auch mich.

Wenn ich auch früher der nationalliberalen Partei angehörte, so hat doch den

die

damalige Partei

Namen.

Damals

mit der heutigen nicht viel mehr gemein, wie

befanden

sich

Männer

wie Rickert,

Forckenbeck,

Bunsen, Stauffenberg in ihren Reihen; heute ist selbst Herr v. Bennigsen nicht mehr aktives Mitglied, sondern nur ruhiger Zuschauer!

Soviel mir

bekannt, hat auch der hiesige Wahlkreis früher immer im nationalliberalen

Sinne gestimmt und erst

im Jahre 1881,

die

nachdem

nationalliberale

Partei, ihr voran der frühere Vertreter dieses Wahlkreises, immer weiter nach rechts abgeschwenkt war, wandte man sich der inzwischen neubegründeten

Liberalen Vereinigung zu. M. H.l Es ist in der neulichen'Versammlung von einem

angesehenen Vertrauensmann der liberalen Wählerschaft

in Zerbst

meiner Thätigkeit in jenem Wahlkampf von 1881 gedacht und ein Vergleich

zwischen damals und jetzt.

gezogen worden Wahlkampf

heutigen insofern

mit dem

Allerdings

Aehnlichkeit,

hat der damalige als

auch

damals

die liberale Sache in Gefahr stand, einer Verbrüderung der Nationalliberalen

mit auch

den Konservativen

meine

heute

Wie damals,

zum Opfer zu fallen.

geringen

dem

Kräfte

liberalen

so stelle ich

zur

Bürgerthum

Verfügung! M. H. Die liberale Partei befand sich im letzten Reichstag in einer

merkwürdigen Position.

Statt angreifen und für die freiheitlichen Ideen

Bahn brechen zu können, mußte sie sich auf die Erhaltung der bestehenden

Ordnung beschränken, mußte sie konservative Politik im wahren Sinne des

Wortes treiben.

Denn,

m. H.,

es sind die konservativen Parteien,

sind die Männer der Regierung selbst,

aufhörlich zu rütteln für gut finden.

es

welche an allem Bestehenden un­

Auch der nächste Reichstag wird der

liberalen Partei voraussichtlich eine ähnliche Verpflichtung auferlegen. Ich gebe daher schon heute die Erklärung ab,

daß ich im Falle meiner Wahl

weder dem Tabak-, noch anderen Monopolen, ebensowenig der Verstaatlichung des Versicheningswesens

zustimmen werde,

daß ich jeden Angriff auf die

Verfaffung, jeder Beschränkung der Gewerbe- und Verkehrüfreiheit energischen

Widerstand leisten und daß ich mich neuen Steuerprojekten so lange ab­ lehnend gegenüber verhalten werde, bis mir die Nothwendigkeit neuer Ein nahmen nachgewiesen ist.

m. H.,

Denn,

Regierung Steuern

denn,

m. H.,

Ausnutzung

dem Jahre 1879 der

daß seit

unter Beihilfe der nationalliberalen Partei! —



bereits

besondere aber

vergeffen wir nicht,

140 Millionen

werde ich

an neuen

per Jahr bewilligt worden sind!

mich jeder Erhöhung der Kornzölle

wenn etwas meiner Anschauung widerstrebt,

der Gesetzgebung zum Nutzen und

Ins­

widersetzen, so ist es die

zum Vortheil Einzelner.

Nichts Anderes ist es aber, was jene konservativen Großgrundbesitzer, jene

Junker erstreben, die sich aufspielen, für die Verbesserung des Looses der

arbeitenden Klaffen für die Männer,

bedacht zu sein.

welche von

Giebt es denn etwas Schlimmeres

ihrer Hände Arbeit

zu leben

als wenn man ihnen ihr tägliches Brod vertheuert?

Herren haben

daneben die Kühnheit,

berufen sind,

Diese konservativen

den Handel und die Industrie,

den

Müller,

den Fleischer rc. der unberechtigten Bereicherung an

den Bäcker,

ihren Mitmenschen zu bezichtigen.

Ja, diese Anklagen gehen jetzt so weit,

daß man fast glauben möchte, „Steuern zahlen" ist zwar für Jedermann

recht und gerecht, „Geld verdienen" aber an sich schon ein Unrecht, es sei denn,

es

daß

besteht.

in der Verpachtung und Bewirthschaftung

größerer Güter

Wenn jene konservativen Herren, welche perfider Weise uns Liberale

so häufig

als Republikaner

etwa die Gleichheit verstehen,

bezeichnen,

vor dem Gesetz,

unter republikanischer Gesinnung

die Opposition

gegen alle Vorrechte

dann, m. H., können wir uns diese Bezeichnung auch fernerhin

gefallen laßen.

Ich bin mir aber auch bewußt, m. H., daß oppositionell und liberal

Ich werde daher ohne Vorurtheil die Vor­

nicht identische Begriffe sind. lagen

der Regierung

prüfen

und event,

meine Zustimmung denjenigen

nicht verweigern, welche o h n e B e e i n t r ä ch t i g u n g f r e i h e i t l i ch er Errungenschaften

geeignet sind, dem deutschen Volke zum Nutzen,

dem Vaterlande zur Ehre und Sicherheit und der

Aufbefferung ihrer Lage zu dienen.

arbeitenden Klaffe zur

So hoffe ich denn, falls ich die Ehre

habe, zum Vertreter des ersten anhaltischcn Wahlkreises erwählt zu werden, dereinst vor meine Wähler treten und sagen zu können: auch ich habe nach

besten Kräften mitgeholfen an der Erhaltung und Förderung der Freiheit und des Gedeihens unseres deutschen Vaterlandes.

Diese Rede

hatte

„laute,

jubelnde Zustimmung"

und

die

einstimmige

Annahme der Kandidatur Rocsicke zur Folge. Als ob man den langjährigen, erprobten Parlamentarier Richard Roesicke während des letzten Wahlkampfes sprechen hörte, so mnthet diese seine

Rede aus dem Jahre 1884 an.

Keinen Zoll breit abgcwichen ist der Mann

von dem, was er zu Beginn seiner politischen Laufbahn als seine Ueberzeugung feierlich nicdergclcgt hatte. Sehr bald nach diesen Vorgängen, am 11. Oktober, erschien Heinrich Rickert, der Unvergeffene, Unvergeßliche,

in der anhaltischcn Hauptstadt, um die Wahl

seines politischen Freundes den Liberalen dringend ans Herz zu legen.

In

derselben, sehr stark besuchten Versammlung, welche im „Weißen Schwan" zu Dcffau abgchalten wurde, entwickelte Richard Roesicke in einer etwa cinstündigen

Rede eingehend sein Programm. In Bezug auf die sozialpolitische Gesetzgebung präzisirt er bereits in dieser

seiner ersten öffentlichen Rede seinen, von der Haltung der deutschfreisinnigen Partei in Manchem

abweichenden

Standpunkt.

näher, als es später der Fall war.

Immerhin

stand er ihr aber damals

Er sagt — und ich folge hier stenographischen.

von

ihm

selbst

einer Durchsicht unterzogenen Aufzeichnungen



zu diesem

Thema Folgendes:

«... Ferner, m. H., wird der nächste Reichstag sich wahrscheinlich auch wieder mit sozialpolitischen Fragen zu beschäftigen haben. — Es ist den liberalen Parteien oft vorgeworfen worden, daß sie in den die Lage der arbeitenden Klasien betreffenden Fragen nicht genügend die Initiative

ergreifen, daß sie Alles der Selbsthilfe überlasien und dem Staate nur die Berpflichtung auferlegen wollen, diese Selbsthilfe zu schaffen. — M. H., die große Mehrzahl der Liberalen und auch ich stehen auf einem andern

Ich weise dem Staate unzweifelhaft das Recht zu, im Wege

Standpunkt.

des Zwanges einzuwirken, nicht nur auf diejenigen, denen geholfen werden

soll, sondern auch auf diejenigen, die zu helfen berufen sind.

Denn wer

so im praktischen Leben steht, wie ich, und sieht, wie wenig durch freiwillige

Thätigkeit der Einen und freiwillige Hilfe der Anderen im Allgemeinen geschieht, der muß sich sagen, daß, wenn den Arbeitern wirklich geholfen

werden soll, es ohne Zwang nicht gut abgeht. ich nicht, daß nun auch der Staat nach

Aber, m. H., damit meine

staatssozialistischer oder sozial­

demokratischer Art diese Hilfe selbst leisten, daß er zu

Gunsten der

Einen auf Kosten der Anderen mit eigenen Mitteln eintreten soll; ich

meine damit nicht, daß er nun auch vorschreiben soll, wie, und wie nicht Ich meine, es ist genügend,

anders, diese Hilfe geleistet werden muß.

wenn er die Verpflichtung zur Leistung und die Höhe der letzteren feststellt und sich das Aufsichtsrecht bewahrt.

Ich bin daher auch mit dem Kranken­

kaffengesetz und dem Unfallversicherungsgesetz insofern einverstanden, als es den Arbeitnehmern wie den Arbeitgebern die Verpflichtungen zu gewiffen

Leistungen

und

auferlegt

die

Sicherstellung

dieser

Leistungen

verlangt.

Ich bin aber nicht damit einverstanden, daß die Betreffenden nun lediglich in die eine Art der Versicherung, in die der Berufsgenoffenschaft,

gezwängt werden; < Bravo!) ich

bin nicht damit einverstanden, daß der

Staat nun auch die Garantie für diese

Bcrufsgenoffenschaft übernimmt

und damit einen Staatszuschuß konstituirt.

einverstanden,

daß

nun

die

der

Ich bin ferner nicht damit

Privatversichcrung

aufgehoben ist und kann mich große Masse

hinein­

ebensowenig

kleineren Unfälle, nämlich

für

damit 95

Unfallgefahr

damit

befreunden, daß

Prozent

aller

die

Unfälle,

die eine Arbeitsunfähigkeit bis zu 13 Wochen nach sich ziehen, den Kranken­ kassen

überwiesen

ist,

zu

denen

der Arbeitgeber

Arbeitnehmer aber zwei Drittel beizutragen haben.

nur

ein

Drittel,

die

(Bravo!)

Aber, m. H., trotzdem also meine Freunde und ich diesem Gesetz in vielen Punkten unsympathisch gegenüber stehen, so ist es doch nun einmal

Gesetz und

wir werden, falls

die Regierung, wie sie angekündigt, die

Ausdehnung desielben auf alle übrigen Arbeiter, die heute noch ausgeschlosien sind, beantragen sollte, mit Freuden beistimmen, damit auch diese Andern

wenigstens die Vortheile erlangen, welche die Einen bereits erreicht haben.

< Bravo!) Dies um so mehr, m. H., als für die Ersteren durch das Aufhören der Privatversicherungsgesellschaften die Möglichkeit einer Versicherung jetzt

ganz genommen ist. Sollte die Regierung, wie ebenfalls mehrfach angekündigt ist, mit

neuen sozialpolitischen Vorlagen an den Reichstag herantreten, so werden

meine Freunde und ich dieselben ohne Vorurtheil prüfen und, falls sie

unseren Grundsätzen abermals widersprechen sollten, doch davon heraus­ zuschälen suchen, was irgendwie zur Aufbefferung der Lage der arbeitenden

Klasien bcizutragen geeignet erscheint.

(Bravo!)"

Je eingehender Richard Roesicke sich mit den sozialen Problemen beschäftigte,

desto entschlosiencr wurde seine Haltung, den wirthschaftlich Schwachen mit den

Mitteln

der Gesetzgebung und

der Allgemeinheit helfend beizuspringen.

entwickelte er sich allmälig zu jenem beachteten Führer

der Liberalen

aber

vielfach mißverstandenen,

sozialpolitischem Gebiete,

auf

So

auch viel

der schließlich

nicht davor zurückschreckte, die berechtigten Forderungen der Arbeiter auch dann

zu unterstützen, wenn sie von der Sozialdemokratie erhoben wurden.

im Laufe

hatte sich Richard Roesicke

einer

politischen Vorurtheilslosigkeit

selbst

von

objektiv urtheilenden

Ueberhaupt

seiner parlamentarischen Thätigkeit zu

durchgerungen,

Gegnern

nicht

der

ein Zug in's Große werden

abgesprochen

konnte.

Gewiß bekämpfte er die Sozialdemokratie in ihren sogenannten Endzielen nach wie vor mit aller ihm zu Gebote stehenden Energie. zwischen berechtigten und

Aber er unterschied eben

unberechtigten Forderungen

dieser Partei

und ver-

urtheilte diese nicht in Bausch und Bogen nur deshalb, weil sie nebenbei auch gewißen Utopien, welche die sogenannten Endziele ausmachen,

nachjagt.

So­

weit die Sozialdemokratie Gegenwartspolitik zu treiben sich anschickte, so lange

sie auf dem Boden der geltenden Wirthschafts- und Gesellschaftsordnung fußte, fand sie

an ihm

sogar

einen bereitwilligen Helfer.

Mangelnde Einsicht und

der mehr bequeme, als zweckdienliche Standpunkt, die Sozialdemokratie zu verurtheilen, nur weil sie i st, mehr ihre Feindschaft zu,

wandten der Politik Richard Roesicke's mehr und was ihn

freilich

in seiner,

von

der Gerechtigkeit

diktirten Haltung nicht im Geringsten zu beirren vermochte. — Es war tief bedauerlich, daß die Wähler in Anhalt I

nicht

schon

im

Jahre 1884 diesen fähigen Mann in den Reichstag entsandten, ihre Mehrzahl

vielmehr sich bescheidentlich mit einer politischen Null als ihrem Vertreter im

Reichsparlament begnügte.

Freilich wurde die Wahl seines nationalliberalen

Gegenkandidaten, des anhaltischen Geheimen Kommerzicnrathes Ziegler in Dessau,

nur ermöglicht durch eine Agitation, welche sich, um es kurz zu sagen, durch

An der Spitze dieser Agitation

das Gegentheil von Sachlichkeit auszeichnete. stand

des Desiauischen Beamtenthums

die Elite

des

Führung

unter

ersten

richterlichen Beamten im Lande Anhalt! Und als im Jahre 1887 nach der Auflösung des Reichstages zur Wahl

geschritten wurde

Richard Roesicke auf

sich

und

abermals

dringenden

den

Wunsch seiner bisherigen Wähler wiederum zur Verfügung gestellt hatte, wenn er auch

dem Gebote seiner Aerzte folgend,

nicht in der Lage war, persönlich

in den Wahlkampf einzugreifen, erkürte die konservativ-nationalliberale Wähler­

schaft des

ersten

anhaltischen Wahlkreises

abermals Herrn Ziegler

als ihren,

freilid) anhaltend stumm gebliebenen „Sprecher" im Reichstage. Rur noch mitleidig zu lächeln vermag ich, wenn ich heute an den tollen

Spuk der konservativ-nationalliberalcn Wahlmacher vom Jahre 1887 in unseren Gauen zurückdenke. das

Es

sich

handelte

sogenannte Septennat,

damals bekanntlich in erster Reihe um

dcsien Gegner Roesicke nicht

einmal

war.

Im

Gegentheil, er hatte sogar noch vor der Auflösung des Reichstages offen erklärt,

daß er die Frage, ob die FriedenSpräscnzstärke der Armee für drei oder sieben Jahre festgesetzt werde, niemals für eine Prinzipienfrage gehalten habe, zumal entschieden liberale Abgeordnete schon wiederholt die Friedenspräsenz für sieben

Jahre gesetzlich festzulegen mit geholfen hatten.

Trotzdem wurde gegen Roesicke

von den Agitatoren der Kartellparteien gekämpft, als ob er die freventliche Ab­

schaffung des gesammten deutschen Heeres auf sein Programm geschrieben hätte! Es

in

fehlte

einzig

diesem

dastehenden

selbst

Wahlkampfe

nicht

an

politischen Harlekinaden auf Seiten der im Kartell unseligen Angedenkens ver­

brüderten Nationalliberalen und Konservativen.

Man

hatte

im gegnerischen

Lager offenbar keine Ahnung davon, wie Roesicke sich zu der Militärfrage stelle,

obwohl man das

bei einiger Aufmerksamkeit, wie

man

solche

doch voraussetzen sollte,

leicht hätte erfahren können.

Flugblatt und

in Tausenden von Exemplaren drucken,

ließ cs

bei Politikern

Man verfaßte

nun ein

ein Flugblatt,

das den Hauptunterschied zwischen dem Kartellmann Ziegler und dem Liberalen

Roesicke in der Gegnerschaft Roesicke's gegen das Septennat fand! mit

jenes

dieser Unwahrheit operirte Flugblatt

allenthalben

man

im

verbreitete!

wirthschaftlich verfahren zu sollen

Wahlkreise skrupellos,

Wahrscheinlich

und scheute

sich daher,

dachte

Und

indem man man,

recht

die Druckkosten für

jenes seltsame Flugblatt als herausgeworfenes Geld zu verbuchen!

Aber damit

nicht genug: den Wählern wurde von dem Ziegler-Wahlkomitee mit hochpatriotischcn

Phrasen

und

sorgenvoller

Miene

auch

noch

ein

fürchterlicher

Bilderbogen

47

Französische Turco's entscheiden die Wahlschlacht.

in

gedrückt,

die Hand

auf

dem

die Gefahren

und Folgen einer feindlichen

Invasion mehr schrecklich, als künstlerisch dargestellt waren, falls — nicht der „Wer Ziegler wählt, der

Kartellkandidat den Lieg im Wahlkampfe erringe!

wählt den Frieden", dieser unglaubliche Unsinn konnte damals zum geflügelten

Worte und allen Ernstes — wenigstens dem Scheine nach — von den Gegnern

Roesicke's kolportirt werden! Diese „Angstwahl" des Jahres 1887 hatte

ja nun auch den herrlichen

Erfolg, daß die politische Null als Vertreter des ersten anhaltischen Wahlkreises abermals in den Reichstag einzog und die nach Bethätigung drängende Kraft

weiterhin

eines Roesicke

Sozialdemokraten

kamen

liegen

brach

damals im

mußte.

Immerhin hatten sich — die

Wahlkreise

mangels

einer

einheitlichen

Organisation nicht in Betracht — 7309 Wähler für den abwesenden liberalen

Kandidaten

erklärt,

während

Herr Ziegler

10926

und der

Sozialdemokrat

Die Städte des Wahlkreises hatten

Hasenclevcr 2078 Stimmen erhalten hatte.

für Roesicke 5181 und für den „Friedens"-Mann Ziegler nur 4600 Stimmen

abgegeben, sich also mit einem Mehr von 581 Stimmen für Richard Roesicke entschieden.

Aber das platte Land!

Hier hatten die das Vieh aus den Ställen

schleppenden, die Weiber mißhandelnden Turcos

jenes Bilderbogens Eindruck

zu Gunsten des „FriedcnS"-Mannes Ziegler gemacht. die Angriffe des Kartells gegen Richard Roesicke während

Trugen also dieses Wahlkampfes

das Zeichen

sozusagen an der Stirn,

so

der Unwahrhaftigkeit,

fehlte es doch auch nicht

ja,

der Lächerlichkeit

an betrübenden

Die „Freisinnige Zeitung" Eugen Richter's hatte es für an­

Erscheinungen.

gebracht gehalten, folgende "Notiz zu veröffentlichen:

„Herr Roesicke hat ebensowenig, wie irgend ein anderer Septennatsfrcund,

auf

rechnen.

irgend

eine Unterstützung

seitens der freisinnigen Partei zu

Wer nicht für uns ist, ist wider uns;

gegenwärtigen Lage die schlimmsten.

die Halben sind in der

Wir hoffen, daß Herr Roesicke dies­

mal in Deffau so gründlich durchfällt, daß er es endlich aufgiebt, fernerhin

den Wahlkreis Deffau zum Objekt seiner diplomatischen Kunst zu machen." Eugen Richter hat in der Vertretung des deutschen Liberalismus nicht

immer eine glückliche Hand bewiesen; auch das war keine glückliche Stunde, in

welcher sein Organ sich zu jenem ebenso unverständlichen, wie bedauernswerthen

Angriff gegen Richard Roesicke entschloß, zu Gunsten -

indirekt wenigstens —

eines Kartellkandidaten! — 3m Herbste desselben Jahres erschien aus der Feder Richard Roesicke's

die Broschüre:

„Arbeiterschutz".

Eine Antwort auf Wilhelm Oechelhaeuser's

„Die Arbeiterfrage" und „Die sozialen Aufgaben der Arbeitgeber." *)

*) Deffau, 1887.

Verlag von H. S. Art'l.

welcher minutiösen Genauigkeit Roeficke bei

Mit welcher Sorgfalt, mit

der Abfassung seiner Schrift vorging, davon vermag sich Niemand eine Vorstellung

zu machen, der nicht selbst die einzelnen Phasen der Entstehung dieses werthvollen Werkes zu beobachten Gelegenheit hatte.

Wie schon aus dem Titel des Buches

Ueber den Rahmen einer

hervorgeht, sollte sein Grundzug ein kritischer sein.

Kritik hinaus wuchs aber die Schrift ganz von selbst — dem Autor unter der

Feder — zu einem sozialpolitischen Bekenntniß empor.

Wie er

in Arbeiterfragen dachte, selbst handelte und gehandelt wisien wollte, das ist in

diesem Buche niedergelegt.

Bescheiden sagt er in dem Vorwort:

„Natürlich beruhen die nachfolgenden Ausführungen auf rein

Grundlage. thätigen

sollen nicht mehr sein,

Sie

Mitwirkung

der

Arbeitgeber

eine

als

behufs

praktischer

neue Anregung

Besserung

zur

Arbeiter­

der

verhältnisse, nicht mehr, als ein neuer Versuch, die Nothwendigkeit und die Möglichkeit eines gesetzlichen Arbeiterschutzes zu beweisen. — Soviel auch die Wissenschaft

mit

sich

der

zukünftigen Lage der

arbeitenden Klassen

so wird doch die Gestaltung derselben von ihr allein nicht

beschäftigt hat,

abhängen, und werden daher die Worte von Männern, welche selbst im

praktischen Leben stehen, vielleicht nicht ganz ohne Nutzen verhallen."

Wie Roesicke in demselben Vorwort erkennen läßt,

lastete die weit ver­

breitete Ansicht schwer auf ihm, „daß ein Eintreten für die Hilfe des Staates zu

besitzlosen Klassen,

Gunsten der

Schutzes gegen

daß

die Befürwortung

eines

gesetzlichen

unberechtigte Ausnutzung menschlicher Arbeitskräfte mit einer Er selbst war und fühlte

liberalen Gesinnung nicht in Einklang zu bringen sei".

sich als der lebendige Beweis nicht nur für die Zulässigkeit dieser Verbindung,

er ging noch weiter und betonte,

als der Erste in den Reihen der entschiede»

Liberalen, daß gerade der steifnackige Liberalismus die Pflicht habe, sich der

besitzlosen Klassen in

Die Schrift

der von

weitgehende Beachtung

fand

gewerblichen Kreisen;

ihm gewollten Weise gesetzgeberisch anzunehmen. in

politischen sowohl wie

und zwar war es vornehmlich

die Stimme

in

des groß­

kapitalistischen Arbeitgebers, welche sich Gehör zu verschaffen wußte. Einen

greifbaren praktischen Erfolg hatte sie — worauf wohl ihr Ver­

fasser am Wenigsten gerechnet hatte — zunächst auf politischem Gebiete; sie bildete den Anstoß

zu

einem

gänzlichen Umschwung

in dem­

der Dinge

jenigen Reichstagswahlkreise, welchen Richard Roesicke zweimal für den von ihm vertretenen

Liberalismus

zu

gewinnen

versucht

hatte.

Der

im

Wahlkreise

Dessau ansässige Reichstagsabgeordnete für Anhalt II, Wilhelm Oechelhaeuser, schon

längst aufmerksam

geworden

auf

die frische,

treibende Kraft

in

der

Persönlichkeit Roesicke's auf sozialpolitischen» Gebiete sowie auf sein selbständiges

Richard Roesicke Kandidat der Nationalliberalen.

49

Denken in anderen wichtigen Fragen, z. B. in der Militärfrage,

brachte es,

dank seines starken Einflusses auf die führenden Personen der nationalliberalen

Partei des Wahlkreises,

zu Stande,

daß im Frühjahr 1890 der zweimal von

seinen Parteifreunden arg befehdete Kandidat der freisinnigen Partei nunmehr

von der nationalliberalen Partei selbst auf den Schild erhoben wurde. Richard Roesicke nahm diesen, in der Geschichte des deutschen Liberalismus

Er durfte ihn

wohl einzig dastehenden Antrag an.

umso leichter

annehmen,

als mit diesem an sich ehrenvollen Anerbieten keinerlei Bedingungen verknüpft waren,

den überzeugten,

welche

aufrecht stehenden Liberalen irgendwie hätten

stutzig machen können. Es steht für mich fest, daß sich Roesicke — im Hinblick auf die beiden voraufgegangcnen Wahlkämpfe — trotzdem geweigert hätte, die ihm Nationalliberalen

des Wahlkreises

von den

wenn

anzunehmen,

angebotene Kandidatur

ihn nicht eine parteipolitische Ungeschicklichkeit aus dem freisinnigen Lager arg

verdrossen hätte. Der linke Flügel

Zerbst befand,

der Freisinnigen

im Wahlkreise,

desien Lager

war ja schon immer mehr geneigt gewesen,

sich in

sich einem Partei­

manne sans phrase zuzuneigcn, als eine, ihre eigenen Wege gehende, selbständige

Persönlichkeit, wie sie sich in Richard Roesicke verkörpert zeigte, verstehen der Aufforderung ganz

zu

Aus diesem Lager war man nun im Februar 1889 an Roesicke mit

wollen.

anzuschließen,

herangetreten, widrigenfalls

sich

der deutschfreisinnigen Partei

man sich

für

voll

und

die bevorstehende Wahl nach

einem anderen Kandidaten umsehen müsse.

Daß sich Roesicke

dieser Forderung

nicht

fügen würde,

hätte man auf

Grund seiner früheren Erklärungen voraussehen müssen, zumal sich die trennenden

Momente zwischen ihm und der damaligen deutschfreisinnigen Fraktion inzwischen noch vermehrt

und vertieft

hatten.

Deren Haltung

insonderheit

auf sozial­

politischem Gebiete sowie Roesicke's abweichende Meinung hinsichtlich der Taktik einiger Führer der freisinnigen Partei hatten die zwischen ihm und der Partei schon

immer bestandene Kluft

man,

im nationalliberalen Lager,

noch

erweitert.

Auf der

Hatte doch der Reichstagsabgeordnete Oechelhaeuser sich bewegung

anderen Seite war

zu weitgehenden Konzessionen an ihn bereit.

des Jahres 1887 über Roesicke — mit

bereits in der Wahl­

welcher

sachlichen Haltung

er allerdings damals ziemlich allein stand — also geäußert:

„Herr Roesicke steht nicht selben Boden wie wir,

bloß bezüglich des Septennats auf dem­

sondern auch

noch in

z. B. in Bezug auf die sozialen Fragen.

anderen wichtigen Dingen,

Er hat sich — und ich freue

mich darüber — für das Kranken- und Unfallgesetz, für Altersversorgung usw. 4

ausgesprochen,

er hat gesagt,

daß er die Pflicht des Staates anerkenne,

in humanem Sinne durch die Gesetzgebung in die persönliche Gestaltung

des

wirthschaftlichen

Lebens

Noth der unteren Klaffen

und

einzugreifen

thätig

überhaupt viel zu sehr den Luxus

zu

sein.

für

die

Beseitigung der

Herr Roesicke gestattet sich

einer eigenen Meinung, als daß ihm

unter der Führung Eugen Richter's wohl sein könnte." Freilich, die logische Konsequenz solcher Ansichten hätte schon im Jahre

1887 die sein müssen, nicht die Kandidatur Roesicke zu bekämpfen, sondern sie zu unterstützen.

Aber damals glaubte man wohl, an dem nationalliberalen

Kandidaten aus persönlichen und Gründen der Parteiliebe festhalten zu sollen.

Vielleicht wäre man auch jetzt noch nicht zu dem Entschluffe gelangt, sich an Roesicke zu wenden, wenn denselben nicht die Erkrankung des bisherigen Ab­ geordneten Ziegler und

die daraus bei ihm entstandene Unlust, sich aufs Neue

um das Mandat zu bewerben, begünstigt hätte. Der weite Blick Oechelhaeusers, eines Mannes, der sich gern von großen

Gesichtspunkten leiten ließ, geht' noch näher aus einem Schreiben hervor, das

er zur Empfehlung der neuen Kandidatur nach

Deffau

gesandt hatte.

Es

heißt in demselben: „ ... Ich empfehle Herrn Roesicke allen Parteien.

In zweijährigem

Zusammenwirken

Gelegenheit

Fähigkeiten,

auf

Gebieten,

wo

man

am

Besten

hat,

Gesinnungen und Charakter eines Menschen zu prüfen, habe

ich die feste Ueberzeugung gewonnen, daß Herr Roesicke ein echter Patriot ist, daß er bei der positiven Arbeit am Wohl des Staates und der leidenden

Menschheit nie fehlen, daß er besonders auf dem hochwichtigen, die ganze Zukunft beherrschenden sozialen Gebiet Bedeutendes leisten wird.

Was

ihn mit uns verbindet, ist viel durchgreifender und größer, als etwaige

kleine Meinungsverschiedenheiten, die uns in einzelnen, meist untergeordneten Fragen

trennen

können.

Mögen die Wähler sich stets den

ganzen

Mann ansehen, was er ist und thut und leistet; das leitet bester, als die Beurtheilung nach dem formalen Bekenntniß zu diesem oder jenem bestimmt

formulirten Parteiprogramm oder durch

die

Brille der

Parteischablonc.

Haben Sic Vertrauen zu Herrn Roesicke und gewähren Sie ihm das vcr

langte Maß freier Selbstbestimmung innerhalb der von ihm selbst gezogenen Schranken; er wird cs nicht täuschen ..." Es sollte sich später erweisen, daß die von Oechelhaeuser als untergeordnet

erwähnten Fragen doch den Keim zu einer immer größer werdenden Verstimmung zwischen Roesicke und der nationallibcralen Partei enthielten —

das freundliche

Verhältniß mit dieser Partei, das sich aus einer gewiffen inneren Nothwendigkeit

hatte, war nur eine, wenn auch erfreulicher Weise lange

heraus entwickelt

Jahre anhaltende Phase ...

Gruppe der freisinnigen Partei im Wahlkreise

Der Fehler, den eine

Rocsicke gegenüber sich hatte zu Schulden kommen lasten, wurde wieder aus­

geglichen dadurch, erklärten, bei

daß

die freisinnigen Vertrauensmänner nahezu einstimmig

aller Festhaltung an

Richard Roesicke einzutreten.

ihrem Parteiprogramm auch diesmal für

Ein, ich möchte sagen, klassisches Dokument dafür,

wie schließlich die bessere Beurtheilung Roesicke's durch die Freisinnigen doch

die Oberhand gewinnen mußte, liefert ein unterm 8. Februar 1890 veröffent­ lichter Aufruf, unterschrieben von angesehenen Männern der Dessauer Freisinnigen

unter Führung des Landgerichtsraths Kraus. „Parteigenossen!

Es wird in demselben gesagt:

Unser Reichstagskandidat ist Herr Roesicke.

Ob­

wohl gleichzeitig von früheren, jetzt seinen vollen Werth erkennenden Gegnern aufgestellt, hat er doch nach wie vor unser Vertrauen.

Seine Anschauungen,

wie er sie öffentlich dargelegt, weichen von denen der Nationalliberalen in Punkten ab, die wir, im Gegensatz zu letzteren, für wesentlich erachten.

Seiner wahrhaft liberalen Gesinnung, nicht blos, wie unsere

diesmaligen Wahlverbündeten, seines sozialpolitischen Wirkens halber wählen wir ihn.

Er ist



dafür

treten wir

auf Grund gewonnener sicherer

Ueberzeugung ein — in Wirklichkeit sich treu geblieben.

Seine Meinungen

decken sich überwiegend mit den unsrigen und verbieten ihm, seinen Anschluß

da zu suchen, wo es auf Unterdrückung des entschiedeneren Liberalismus grundsätzlich abgesehen ist.

Der Versuch der Aufstellung einer anderweiten

liberalen Kandidatur ist zeitig verlassen, und die ihn gemacht, sind, obschon auf der Linken unserer Partei stehend, unumwunden für Herrn Roesicke eingetreten.

Es steht uns innerhalb des Wahlkreises kein besserer Kandidat

zu Diensten; auch den Nationalliberalen nicht. diese jetzt

mi t

uns

gehen?

Was verschlägt es, daß

Geschieht nicht AehnlicheS,

Sache zum Vortheil, auch in diesem und jenem andern Kreise? nicht bei Wahlen die Hilfe, wo er sie findet?

der

liberalen

Wer nimmt

Setzen wir uns, Partei­

genossen, nicht außer Gefecht, zerfallen wir nicht untereinander, sondern

treten als große, selbständige, nur eigenen Erwägungen und Entschließungen folgende Partei, jede Empfindsamkeit um des großen Zweckes willen bei

Seite setzend, wie früher so auch jetzt einmüthig für Roesicke ein, eingedenk

der guten Dienste, die er Jahre hindurch — schon zu Zeiten, ehe er selbst

kandidirte — aller Anfeindungen ungeachtet, unserer Sache geleistet hat! Die Stimmen,

die die Konservativen ihm verweigern, rechtfertigen die

unsrigen nur um so mehr . . ."

Was die Freisinnigen aus eigener Kraft bis dahin nicht vermocht hatten:

Richard Roesicke wurde gewählt und zwar sogleich in der Hauptwahl.

Allerdings

zeitigte die diesmalige Wahl ein unverhältnißmäßig starkes Anwachsen der sozial­

demokratischen

Stimmen,

ein Beweis,

daß

vielen Wählern,

welche

früher

Roesicke gewählt hatten, der Zusammenschluß mit den Nationalliberalen nicht genehm erschien; um dieser ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben, schlosien sie sich der sozialdemokratischen Zählkandidatur an, die auf solche Weise eine

ungeahnte Bedeutung erhalten sollte. —



*

*

Die Thätigkeit Richard Roesicke's im Reichstage war, wie zu erwarten

stand, eine überaus rege.

Er hatte sich,

seiner Zusage entsprechend, keiner

Fraktion angeschlosien, desien ungeachtet wurde seine Bedeutung auf allen Seiten des Hauses mehr und mehr anerkannt,

besonders bei der Erörterung aller in

das Gebiet der Sozialpolitik einschlagenden Fragen.

nationalliberalen Fraktion gegenüber zunächst auch

War seine Stellung der

eine freundliche, zuweilen

sogar eine freundschaftliche, so war das in den Verhältnisien seines Wahlkreises, vornehmlich aber auch in den

Verhältnisien der

deutschfreisinnigen Fraktion

begründet, deren Spannung in sich ja bereits im Mai 1893 zu einer Spaltung der Fraktion führte.

Die Nothwendigkeit dieser Spaltung, zu welcher bekanntlich

die Militärfragen den letzten Anlaß gaben, erscheint als ein Beweis mehr für die Richtigkeit der Roesicke'schen Stellungnahme zu diesen Fragen, wie er sie schon im Jahre 1884 begründet hatte. —

Im Jahre 1893 erschien eine zweite Schrift *) aus der Feder Roesicke's, in welcher er als Fachmann und Politiker zu der im Reichstage mangels jeder

Sachkenntniß vielfach arg mißhandelten Frage der Brausteuer wichtige Beiträge lieferte. —

Allmälig trat ein, was eintreten mußte: die nationalliberale Reichstags­ fraktion

erwies

sich

in ihrer Haltung zu den liberalen Grundfragen immer

schwankender und unzuverlässiger, so daß Roesicke's kerniger Liberalismus sich

ihr aufs Neue mehr und mehr entfremden mußte. Es wurde ihm von den Nationalliberalen seines Wahlkreises sehr verübelt,

daß er aus diesem Zwiespalt heraus, in den ihn das Verhalten ihrer Partei*) »Rückblick auf die Verhandlungen de» Reichstage», betreffend die Erhöhung der Brausteuer am 10. und 11. Januar 1893.“ — Dessau, H. S. Art'!.

freunde im Reichstage versetzt hatte, dem nationalliberalen Wahlkomitee in einem

Anschreiben vom 1. Juli 1895 sein Mandat wieder zur Verfügung gestellt hatte.

ein hervorragender Beitrag zur Charakteristik des

Das Schriftstück darf als

Politikers Roesicke angesehen werden, wie er sich seit Beginn seiner parlamen­

tarischen Thätigkeit entwickelt hatte; es sei darum im Wortlaut hier mitgetheilt: Als mir im Mai 1893 von den Vertrauensmännern der national­

liberalen Partei abermals die Kandidatur für den ersten anhaltischen Wahl­

kreis angeboten wurde, annehmen zu können,

glaubte ich, daß auch

dieselbe nur unter der Voraussetzung

die freisinnige Partei derselben ihre Zu­

stimmung geben und mir hinsichtlich meiner Partei st ellung volle Freiheit gelassen würde.

Wenn nun auch diese Bedingungen

erfüllt worden sind, und

ich

daraufhin zum Vertreter des I. anhaltischen Wahlkreises gewählt worden

bin, so glaube ich doch annehmen zu müsicn, daß die Anhänger der national­

ich würde mich zum Mindesten in den

liberalen Partei erwartet hatten, hauptsächlichen Fragen

mit

der national­

den Ansichten und Beschlüßen

liberalen Fraktion des Reichstags in Uebereinstimmung befinden. nicht stattgefunden hat und auch

Daß eine solche Uebereinstimmung voraussichtlich

in

Zukunft

stattfinden

nicht

wird,

wollen Sie aus dem Nachstehenden ersehen.

Die von nationalliberaler Seite lebhaft befürwortete Verschärfung

der Strafgesetze zur Bekämpfung der sozialdemokratischen und anarchistischen Propaganda hatte bekanntlich zur Vorlage

gesetzes"

geführt.

Allerdings

hat

des sogenannten „Umsturz­

die

nationalliberalc

Partei

sich

schließlich gegen den von der Kommission im klerikalen und konservativen

Sinne abgeänderten Entwurf erklärt, jedoch ließen die Redner der Partei weder beim Beginn,

Zweifel bestehen,

noch beim Schluß der Verhandlungen darüber einen

daß sie die Regierungsvorlage

in ihrer

ursprünglichen

Faßung mit wenigen Abänderungen anzunehmen bereit gewesen wären.

Ich bin von vornherein

ein Gegner

dieses Gesetzentwurfs gewesen,

nicht nur, weil ich glaube, daß unsere Gesetzgebung auch sozialdemokratischen

und anarchistischen Ausschreitungen gegenüber genügende Handhaben bietet, sondern weil ich

bestehenden

es

auch für verfehlt

Gesellschaftsordnung

bestimmungen bekämpfen

öffnen.

halte,

gerichteten

zu wollen,

die auf den Umsturz der

Bestrebungen

durch

Straf­

welche der Willkür Thür und Thor

Nicht in der Einschränkung der Preß- und Redefreiheit, sondern

in der freien Diskussion erkenne ich den besten Schutz gegen die

Irrlehren der Sozialdemokratie.

Ich habe mich ferner im Gegensatz zur nationalliberalen Partei gegen die Tabak steuervorlage erklären müssen, weil ich cs für ungerecht­

fertigt halte, zur Aufbringung der Kosten für die Wehrkraft des deutschen Volkes einzelne Gewerbe herauszugreifen; insbesondere wenn dadurch zugleich die minder wohlhabenden Klassen

der Bevölkerung in stärkerem Maße be­

lastet werden, als die wohlhabenden. Ferner habe ich dem von der nationalliberalen Partei angenommenen Branntwein st euergesetz meine Zustimmung versagt, weil ich in

diesem Gesetz

eine unberechtigte Bevorzugung

einzelner Theile

der

Be­

völkerung erblicke. Dasselbe gilt von dem, allerdings nicht zur Verhandlung gelangten, aber von der Partei unterstützten Anträge des nationalliberalen Abgeordneten Dr. Paasche, betreffend die Abänderung des Z u ck e r st c n e r

g e s e tz e S, welcher der Regierung willkommene Veranlaffung bieten wird, dem Reichstage

in

seiner nächsten Session einen entsprechenden

Gesetz­

entwurf vorzulegen. Auch sonstige Vorgänge laffen mir keinen Zweifel darüber, daß die

Auffaffung der nationalliberalen Partei in Bezug auf die auf der Tages­ ordnung stehenden Fragen je länger je mehr von der meinigen abweicht.

So habe ich mich dem Votum der Partei, durch welches die Reichs­

regierung aufgefordert worden ist, eine internationale M ü n z k o n f e r e n z

zu berufen, nicht anschließen können, weil ich darin lediglich eine Konzession

gegenüber den Gegnern der Goldwährung erblicke,

die geeignet ist,

eine

Unsicherheit nicht nur in unseren Geldverhältniffen, sondern auch über die Absichten der gesetzgebenden Faktoren hcrbeizuführen. Der von nationalliberalen Abgeordneten eingebrachte Antrag, betreffend die Kündigung

des Handelsvertrages

mit

Argentinien,

die Bereitwilligkeit, den von den Führern der Partei in der vorigen Session als „gemeingefährlich" bezeichneten Antrag K a n i tz in eine Kommission

zu verweisen, liefern zu meinem Bedauern den Beweis, daß man innerhalb

der

nationalliberalen

Partei

geneigt

ist,

auch

weitgehenden

agrarischen

Forderungen entgegen zu kommen.

Roch schärfer als auf wirthschaftlichem und politischem Gebiete tritt meine anderweitige Auffaffung der Verhältniffe auf sozialem Gebiet hervor. Während die Mehrheit der nationalliberalen Partei in Rücksicht auf

die gefährdete Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie zur Zeit weder

eine

Ausdehnung

der

V e r s i ch e r u n g s g e s e tz c,

noch

eine

Erweiterung des Arbeitcrschutzes für zulässig erachtet, halte

ich — weit entfernt, eine solche Gefahr für unsere Industrie zuzugestehcn —

die Fortführung der durch diese Gesetze eingeleiteten Sozialreform dringend

geboten. Mit dem Hinweis auf den zunehmenden Einfluß der Sozialdemokratie und die hierauf zurückgeführte Geneigtheit zu Arbeitseinstellungen hat sich

die nationalliberale Partei gegen die Gewährung von Korporations­

rechten an Arbeitervereine erklärt. In der Parteiprcsie werden

ferner Maßregeln

empfohlen,

welche sich

Koalitionsfreiheit der Arbeiter

mehr

oder

minder

gegen die

und man behandelt die

richten,

Aufrechterhaltung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts, naturgemäß

an welchem

die nichtbesitzcnden Klasien

das größte Jnteresie

haben, als eine diskutable Frage.

Dagegen erkenne ich die Bestrebungen der Arbeiter, ihre Lage zu verbcsiern, nicht nur als voll berechtigt an, sondern ich bin auch der Ansicht,

daß denselben zu diesem Zwecke die gleichen Rechte einzuräumen sind, wie

sie den Arbeitgebern

thatsächlich

zur Verfügung

stehen und wie sie

namentlich dem „Kapital" zum Zwecke der Association seit lange gewähr­

Ich bin

leistet sind.

insbesondere gegen

jede Beeinträchtigung der Koa­

litionsfreiheit und gegen jeden Versuch einer Aenderung des Wahlgesetzes. Je mehr sind,

die Vertheidiger

der heutigen Gesellschaftsordnung

bereit

vorhandene Schäden einzugestehen und den berechtigten Forderungen

der Arbeiter Rechnung zu tragen, desto eher wird es gelingen, dem Ansturm der „Umsturzparteien" erfolgreichen Widerstand entgegenzusctzen.

Wenn dagegen

die gesetzgebenden Körperschaften zum Tummelplatz

einseitiger und materieller Jnteresie» gemacht werden, darf es ilicht Wunder

nehmen, daß die Achtung vor unserer heutigen Staatsverfassung nach und nach untergraben wird, und die Zahl Derer zunimmt, welche eine Bcsierung

der Verhältnisie und eine gerechte Vertheilung der Lasten des Volkes nur von dem „sozialdemokratischen Zukunftsstaat" erwarten.

die Aufgabe der liberalen Parteien,

Es ist daher meines Erachtens

diese Jnteresienpolitik

mit

aller Kraft

zu bekämpfen und

die

Gleich­

berechtigung aller Staatsbürger u. 91. auch dadurch herbei­ zuführen,

daß unsere

vornehmlich auf

den Schutz des

Eigenthums

gerichtete Gesetzgebung mehr und mehr auf den Schutz der 9l r b e i t über­ geleitet wird.

Die mein

verehrten Mitglieder

im Vorstehenden

liberalen Partei

in so

des Wahlkomitccs

dargelegter

Standpunkt

werden

von

wesentlichen Punkten abweicht,

dem

zugeben, der

daß

national­

daß ich mich nicht

mehr als einen geeigneten Vertreter der nationalliberalen Partei des I. an-

haltischen Wahlkreises betrachten kann.

Ich glaube daher, das mir in so

hohem Maße entgegengebrachte Vertrauen, für welches ich stets aufrichtig dankbar fein werde, nicht besser rechtfertigen zu können,

als daß ich das

mir übertragene Mandat in die Hände meiner Wähler zurücklege. Indem ich hinzufüge, daß ich von diesem Schreiben auch dem Wahl­

komitee der freisinnigen Partei Kenntniß geben werde,

habe ich die Ehre,

zu zeichnen

mit vorzüglicher Hochachtung sehr ergebenst

Richard Roesicke. Man fand

es

der

unter Hintanstellung

sehr ernsthaften Motive dieses

Schreibens überaus unbequem, daß gerade mitten im Sommer, wo Leute von Bildung und Besitz der Ruhe pflegen und an alles Andere lieber denken, als

an eine anstrengende politische Thätigkeit, der Reichstagsabgeordnete das Komitee

vor eine so ernsthafte Frage gestellt hatte.

Man sah in den nationalliberalen

Kreisen des Wahlbezirks bereits die vielen Unbequemlichkeiten und Aufregungen, welche eine Neuwahl mit sich bringen mußte, voraus, und so entschloß man sich

„fünf gerade sein zu lassen" und den Abgeordneten, der es mit seinen

denn,

Pflichten gar so genau nahm, zu versichern, daß er nach wie vor des Vertrauens

des nationalliberalen Wahlkomitees für würdig erachtet werde.

Möglicherweise

genoß Roesicke auch wirklich dieses Vertrauen bei einzelnen der einflußreichsten und ausschlaggebenden Männer dieses Komitees, denn er

nächstfolgenden Reichstagswahl im Juni

wurde auch noch bei der

im Verein mit den

1898 von ihnen

Freisinnigen als Kandidat aufgestellt und den Wählern warm empfohlen, allein es machte sich bereits damals schon in den breiteren Schichten der Nationalliberalcn

ein Abbröckeln von der liberalen Kandidatur und eine Lauheit bemerkbar, welcher mit ernsthaften Vorhaltungen entgegenzutreten sich kein Geringerer, als Wilhelm

Oechelhaeuser genöthigt sah.

Roesicke zog denn auch abermals als Vertreter des

Wahlkreises in den Reichstag ein. —

Die folgenden Jahre beschleunigten bei ihm diejenige Entwickelung, welche er nach seiner ganzen Anlage, nach seinem ganzen Fühlen und Denken nehmen

mußte.

Im Lager der Freisinnigen Vereinigung hatte sich die Ueberzeugung mehr und

mehr

durchgerungen,

daß

die

von

Richard

Roesicke

vertretene

liberale

Politik eine Nothwendigkeit sei, daß in ihr die Zukunft des deutschen Liberalismus liege; man trat mit ihm für die berechtigten Forderungen der Arbeiter energisch

ein und ließ bei Militärfragen usw. jene weiteren Gesichtspunkte gelten, welche Roesicke

schon

Umständen

lag

immer

für

als

ihn

die

kein

allein

richtigen

Hinderungsgrund

erklärt mehr

hatte. vor,

Unter diesen

nunmehr

— es

Roesicke's Anschluß an die Freisinnige Bereinigung.

57

war im Dezember 1902 — auch seinen formellen Anschluß an die Fraktion der

Freisinnigen Vereinigung zu erklären. Da schon im Laufe des nächsten Jahres Neuwahlen stattfinden mußten, hielt

er es nicht

geboten,

für

dem

nationalliberalen Wahlkomitee in Desiau

von

seinem Entschlusie Mittheilung zu machen, und dies um so weniger, als dieses Komitee schon seit längerer Zeit nähere Fühlung mit ihm nicht mehr gesucht hatte,

dafür aber als Meinung einflußreicher Desiauer Nationalliberaler die Kunde in die Oeffentlichkeit durchgesickert war, daß Roesicke unmöglich auch noch weiterhin

Vor Allem

als ein Kandidat, den man unterstützen könne, anzusehen sein dürfte. wurde

seine

fortgeschrittene Sozialpolitik als Stein des Anstoßes

betrachtet.

Oechelhaeuser war gestorben, in weiten Kreisen empfand man schon die bisherigen,

mit den sozialpolitischen Gesetzen verbundenen Lasten als schwer genug, wenn nicht schon zu weit gehend, sodaß man sich nach neuen nicht zu sehnen brauche, und

Aehnlichcs mehr.

Vor Allem aber stieß dem Fasie den Boden aus Richard

Roesicke's Anschluß an die Freisinnige Vereinigung. Dieser war aber mehr und mehr eine Nothwendigkeit geworden, auch schon

rein praktischen Gesichtspunkten.

aus

hervorragenden

Zwar

hatte

es Roesicke,

dank seiner

Stellung im Reichstage, vermocht, auch ohne daß er einer

Fraktion angehörte, an den Arbeiten bestimmter Kommissionen theilzunehmen;

der außerhalb eines Fraktionsverbandes

stehende Abgeordnete fühlt sich aber

immer mehr oder weniger isolirt, und ist dadurch seiner initiativen und sonstigen

Thätigkeit manche Schranke gezogen.

Dieser Umstand war von ihm schon seit

Jahren drückend empfunden worden und, nachdem jeder innere Gnind für ihn gefallen war, sich der ihm nunmehr am nächsten stehenden Fraktion anzuschließen, war es lediglich die Rücksicht auf seine nationalliberalen Wähler gewesen,

welche ihn von jenem längst ersehnten Schritte immer wieder zurückgehaltcn hatte. Nun kam das Jahr 1903 heran; früher als sonst setzte die Wahlbewegung ein.

Eine innere Unruhe, wie sie noch nie vorher an ihm beobachtet worden

war, hatte Roesicke erfaßt, die neue Konstellation brachte neue Unklarheit mit, und ohne Klarheit, ohne klar zu sehen, vermochte er nicht zu wirken.

Schon zu

Beginn des neuen Jahres hatte er das Bedürfniß, sich mit seiner Wählerschaft

auseinander zu setzen, und in einer großen, imposanten Versammlung zu Desiau am

19. Januar erfolgte der Bruch mit den Nationalliberalen.

Einer ihrer

Sprecher war beauftragt, zu erklären, daß

„Herrn Roesicke's gänzlich veränderte Stellung der Sozialdemokratie gegen­ über und sein Bündniß mit dieser Partei bei den letzten Landtagswahlen die

nationalliberale Partei

des

Wahlkreises

habe

zu der Ueberzeugung

bringen müssen, daß sie in Herrn Roesicke nicht mehr einen geeigneten

Vertreter des Bürgerthums erblicken kann.*)" Der anhaltische Nationalliberalismus hatte damit endlich wieder sich selbst gefunden; die Jahre der Wandlung zu einer gewisien Entschiedenheit in der

Beurtheilung Roesicke's

sozialer Fragen waren vorüber,

konsequente

die

Entwickelung

war ihm unverständlich; Konsequenzen zu ziehen, wenn solche auf

anderem Gebiete, als dem des politischen Opportunismus lagen, war ja seit 1879

nie mehr seine Stärke gewesen. Der Vorwurf, Richard Roesicke habe seine Stellung gegenüber der Sozial­ demokratie gänzlich verändert, war unzutreffend; nach wie vor war er der ent­

schiedenste Gegner ihrer auf den Umsturz der heutigen Staats-, Wirthschafts­

und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen.

Daraus

letzten Tage seines Wirkens nie ein Hehl gemacht.

Der Sprecher der national­

hat er bis in die

liberalen Partei des Wahlkreises wurde hinsichtlich dieser Behauptung durch die

Haltung

der Sozialdemokratie

in Anhalt

Zum

auf's Schlagendste widerlegt.

Beweise seiner Anklage warf er die Frage auf: „Wird Herr Roesicke jetzt auch noch von der Sozialdemokratie ver­

folgt und verlästert, wird er auch jetzt noch unaufhörlich angegriffen?" Die Angriffe der sozialdemokratischen Agitatoren

Die Antwort lautet: ja.

gegen Richard Roesicke gerade während dieses früheren Leistungen dieser Art noch Überboten.

letzten Wahlkampfes

hatten alle

Gerade gegen Roesicke richteten

sich die sozialdemokratischen Angriffe bedeutend heftiger, als gegen den Kandidaten der nationalliberalen Partei.

Der Grund lag nahe: die bis zum Aeußerften

gehende Gerechtigkeit Roesicke's auch gegen die Arbeiter und die Sozialdemokratie

ließ

letztere

in

ihm

den

ihr

gefährlicheren

Gegner

erkennen;

mit

„Bourgeois" meint die Sozialdemokratie ungleich leichter und eher fertig zu

werden.

Zu diesen rechnete sie den Kandidaten der „Reichstreuen" im Wahl­

kreise, unter welchem Deckblatt diesmal die politische Verbrüderung der Nationalliberalen mit Konservativen, Landwirthschaftsbündlern, Zünftlern und bergt, sich

vollzogen hatte. Bleibt noch der gegen Richard Roesicke erhobene Vorwurf, mit der Sozial­ demokratie ein Wahlbündniß eingegangen zu sein.

Im Anhaltischen Landtage hatten sich die Nationalliberalen jederzeit ge­ neigt gezeigt, reaktionären Bestrebungen der Regierung Gefolgschaft zu leisten; sie hatten in den letzten Jahren insbesondere geholfen, das Wahlgesetz zu Ungunsten der kleinsten Steuerzahler —

aus Angst vor der Sozialdemokratie — zu

ändern,

*) Nr. 1 der Wahlzeitung für Anhalt I, Organ des reichstreuen Bürgerthums.

sie hatten einem Gesetze zugestimmt, das den Kontraktbnich ländlicher Arbeiter Angesichts solcher Vorgänge, zu denen kein aufrichtiger liberaler

kriminell bestraft.

seine Zustimmung

Mann

geben

darf,

politischen Versammlung dahin geäußert,

hatte sich Roesicke in einer Dessauer

daß es bei den bevorstehenden Land­

tagswahlen vor Allem darauf ankomme, entschieden liberale Männer zu wählen;

sei man

dazu

allein nicht stark genug,

Sozialdemokratie der

so

sei

ein Zusammengehen

mit

der

reaktionären Kandidaten gebotenen Wahlhilfe ent­

einem

schieden vorzuziehen. Diese

seine Gedanken vervollständigte

in nachstehendem,

an mich

bezw. interpretirte er bald darauf

gerichteten und von mir

öffentlicher Kenntniß

zu

gebrachten Schreiben: Berlin, 7. November 1902.

Verehrter Herr und Freund!

Sie theilen mir mit, daß in dortigen liberalen Kreisen meine Aus­

führungen

in

der „Tivoli"-Versammlung

vom

16. Oktober d. I. eine

verschiedene Auffaffung erfahren haben, und ersuchen mich, meine Stellung­

nahme der Sozialdemokratie

gegenüber in Rücksicht auf die bevorstehende

Landtagsmahl nochmals klarzulegen.

Hierzu bin ich gern bereit, wenngleich

ich angenommen hatte, daß meine Worte nicht mißzuverstehen seien. Ich nehme an, daß in allen wirklich liberalen Bürgerkreisen Anhalts

die Ueberzeugung

sich Bahn

gebrochen hat,

daß

die

dortigen politischen

Zustände unhaltbare sind, daß dem immer weiteren Vor­

dringen des A g r a r i e r t h u m s Einhalt geboten und daß zu diesem Zwecke die Landschaftsordnung durch eine zeitgemäße Verfaffung und ein neues Wahlgesetz

ersetzt

werden

muß.

Dies

in

absehbarer Zeit zu er­

reichen, wird nur möglich sein, wenn eine Anzahl

entschieden liberaler

Männer schon in den nächsten Landtag einzieht, die -

wie Tie — ■ be­

reit und gewillt sind, die Rechte des Volkes mit Energie und Zähigkeit auch einer Uebermacht gegenüber zu vertreten.

Insoweit der Liberalismus in Anhalt stark genug ist, dieses Ziel

allein zu erreichen, giebt es für ihn keine andere Aufgabe, als diesem Ziel rücksichtslos zuzusteuern.

Da er aber, wie als notorisch gelten kann,

diese Macht in Anhalt für sich allein nicht besitzt, muß er mit anderen Parteien zusammengehen, die das gleiche Ziel ebenso energisch erstreben, und da giebt es unter den bestehenden Parteien leider nur eine,

die

Sozialdemokratie.

liberalen

das ist

Unbeschadet des bestehenden Gegensatzes zwischen

Gnmdsätzen und denen der überzeugten

Anhänger der

sozial­

demokratischen Partei halte ich den Liberalismus nicht nur für berechtigt.

sondern sogar für verpflichtet, die angebotene Mitarbeit der Sozialdemokratie anzunehmen, so lange die Partei sich auf den Boden der heutigen Ge­

sellschaftsordnung stellt und Reformen herbeizuführen sucht, die auch ro i r

für erstrebenSwerth halten.

Dies umsomehr, als ein großer Theil der­

jenigen deutschen Arbeiter, die einem gewaltsamen Umsturz der bestehenden

nicht nur abhold, sondern gut

Staatsordnung

monarchisch gesinnt sind,

dennoch

in der sozialdemokratischen Partei ihre politische Vertretung er­

blicken.

Gerade die Arbeiter sind es aber, die durch die neuere Gesetz­

gebung Anhalts, durch die kriminelle Bestrafung des Kontraktbruchs und durch das neue Wahlgesetz am Meisten in ihren staatsbürgerlichen Rechten

beeinträchtigt worden sind. Liberalismus,

dafür zu

Es ist daher

sorgen,

daß

die

die Aufgabe

Anhänger

des entschiedenen der

Reaktion auf

politischem und wirthschaftlichem Gebiete wenigstens zum Theil durch Männer

ersetzt werden, die auch die Rechte der Arbeiter zu vertreten bereit sind!

Gelingt es ihm nicht, den Vertretern seiner politischen Richtung allein zum Siege zu verhelfen, so darf er sich nicht scheuen, auch einem Sozialdemokraten seine Stimme zu geben!

Das hindert ihn nicht, diese

Partei nach wie vor energisch zu bekämpfen, da, wo die Wege sich scheiden, wo sie sich anschickt, die bestehende Gesellschaftsordnung zu unter­ graben oder berechtigte Jnteresien anderer Klassen zu schädigen. Für jetzt kommt es allein darauf an, liberalen Ansichten und der

Gleichberechtigung aller Stände auch in Anhalt zum Siege zu verhelfen.

Hochachtungsvoll

Ihr aufrichtig ergebener Richard Roesicke

Mitglied des Reichstages. Der Nationalliberalismus hat sich für alle Zeiten dadurch gekennzeichnet,

daß er die

den

feierliche Erklärung abgab,

Standpunkt

Alle

der

ein Mann,

Gerechtigkeit,

des

der,

wie Richard Roesicke,

gleichen

Rechtes

also betone und rücksichtslos festgehalten wissen wolle, von ihm

für „nicht

mehr als ein geeigneter Vertreter des Bürgerthums" angesehen werde . . .

Diesem kläglichen Programm der Absage entsprach die „reichstreuc" Be­ kämpfung des nunmehr wieder von den Freisinnigen allein — und mit welchem

Erfolge!



aufgestellten

bisherigen Reichstagsabgeordneten Richard Roesicke;

auch sie bildet kein Ruhmesblatt in der Geschichte des anhaltischen National­

liberalismus. —

Auf den Ausgang dieser Wahl blickte das gesammte politische Deutschland mit gespanntem Interesse: sollte doch in ihr „die Probe auf's Exempel" gefunden

werden, ob die Roesicke'sche Politik wirklich im Stande sei, der Sozialdemokratie,

welche auch in Anhalt von Wahl zu Wahl an Stimmen gewonnen hatte,

Ab­

Und diese Probe gelang; sie gelang sogar glänzend; die sozial­

bruch zu thun.

demokratische Parteileitung mußte zugestehen, daß ihr die bürgerliche Politik eines Roesicke wirklich gefährlich werden könne.

Der Wahlstatistik*) in Roesicke's Wahlkreise war unschwer zu entnehmen, von Arbeitern und sonstigen „kleinen Leuten" weder

daß sich Hunderte

durch

Lockungen, noch durch moralische Drohungen hatten verleiten taffen, den Sozial­

demokraten zu wählen: sie wählten Richard Roesicke.

*

Wie oft habe ich

*

mir im Laufe der Jahre,

welcher ich mit

während

meinem unvergeßlichen Freunde in treuester Waffenbrüderschaft im politischen

Kampfe stand,

die Frage vorgelegt, woher es kommen mochte, daß sich gerade

auch gegen ihn, diesen aufrichtigen, patriotisch gesinnten, edlen und uneigen­

nützigen Menschen, die politische und sonstige Gegnerschaft mit ihren häßlichsten

Waffen wendete!

Ich

glaube,

des Räthsels

Roesicke ein Streber gewesen;

gesucht,

der einfache,

Lösung

gefunden

zu

haben:

wäre

Richard

hätte er seinen ganzen Stolz nicht bloß darin

schlichte Bürger zu sein und nur als solcher zu gelten,

seine Angreifer hätten sich ihm gegenüber einer gewissen Mäßigung befleißigt.

Da er aber nur als Gleicher unter Gleichen gelten wollte,

und

andere Vor­

züge, als die in dem Menschen selbst ruhenden, ihm wenig oder nichts bedeuteten, meinten eben seine Gegner, sich ihm gegenüber jeder Rücksicht entledigen, sich

jede Dreistigkeit

herausnehmen

zu

dürfen.

Vor dem

hohen Beamten,

vor

selbstbewußt zur Schau getragenen Orden und Titeln pflegt man ja in Deutsch­

land scheue Ehrfurcht zu hegen,

und gerade in solchen Kreisen waren — ich

darf sagen — alle bürgerlichen Gegner Roesicke's zu Hause, die ihn in Wort und Schrift zu lästern nicht müde wurden.

Den bürgerlichen ServilismuS reizte zudem die aufrechte Art, mit welcher Roesicke sich

zu seinen freiheitlichen und volksfreundlichen Ansichten bekannte;

*) DaS Stimmenverhältnis hatte sich wie folgt gestaltet: Richard Roesicke erhielt 11416 Stimmen (im Jahre 1898 : 9271), der .reich-treue" Kandidat 5704 (im Jahre 1898 der konservative Agrarier 3897), der Sozialdemokrat 12268 (gegen 10731 Stimmen bei der Wahl im Jahre 1898), ein Centrumsmann 138

Stimmen.

aber auch seine sachliche Schärfe in der Bloßstellung gerade der empfindlichsten Seiten seiner Gegner.

scharfen Verstände«,

eine Lust, zu

Es war

seiner

gründlichen

die Sonde seines

sehen, wie

Sachkenntniß

und

aus

der

Beiden

resultirenden Ueberlegenheit in die Argumente der Gegner hineinfuhr und sie

in ihrer Armseligkeit bloßlegte.

Wie fein pointirt waren seine Ausführungen

im Reichstage sowohl, wie in der Volksversammlung!

gab es, aber auch keinen vornehmeren.

Keinen besieren Debatter

Wurde der in die Enge getriebene

erregt und dann ausfallend und persönlich — Roesicke

Gegner leidenschaftlich

konnte ja a u ch erregt werden,

die er vertrat,

ihn die Sache,

sei es, wenn

begeisterte, oder wenn sein Zorn aufflammte — nie ließ er sich hinreißen, dem niedrigen Gegner zu folgen,

des Niedrigen hinabzusteigen. —

in die Sphäre

Die Bedeutsamkeit und die Aufmerksamkeit, welche man seinen Reden im daß er sich nicht über Alles

hatte ihren Grund darin,

Reichstage zuerkannte,

zu sprechen berufen fühlte, sondern nur dann das Wort ergriff, wenn ihn seine daß er auch inhaltlich etwas

Sachkenntniß dazu herausforderte und er wußte,

zu sagen habe.

Seine Reichstagsreden beschränken sich daher mit wenigen Aus­

nahmen auf dasjenige Gebiet, welches er völlig beherrschte: die Sozialpolitik. — Als Versammlungsredner zeichnete er sich nicht so sehr durch die Flüssig­

keit seiner Ausdrucksweise,

als durch streng logischen Aufbau seiner Gedanken

und

der Beweisführung

eine

subtile Klarheit

Mit Schlagworten die

aus.

Hörer zu feffeln, sie durch Exkursionen auf das Gebiet des Scherzes zu amüsiren, verschmähte er.

Wenn

man ihn

neben dem Vorstandstische stehen

anders, als schwarz gekleidet, nie in salopper Haltung;

blickendes Auge

sah,

nie

wenn sein gutes, treu

von innerem Feuer erglühte und glänzte,

da hatte

man das

Gefühl: dieser Mann glaubt an das, was er behauptet, es ist ihm heiliger Ernst um seine Ueberzeugung und um das,

was er vertritt.

als Redner mit der Schwierigkeit der Situation.

staltet hatte, je verworrener sie Allen erschien, das

erlösende Wort,

überraschte

er

diese

sich ge­

desto prägnanter fügte sich ihm

die Zuhörer

Eleganz der von Allen herbeigesehnten Lösung.

Er wuchs auch

Je kritischer

die

durch

Leichtigkeit

und

Wo es sich um das über das

Niveau der Alltäglichkeit weit hinausreichende Große und Bedeutende handelte,

da wurde

seine

Rede hinreißend,

und

nicht

selten

ihm

brachte

in

solchen

Momenten seelischer und körperlicher Hochspannung der begeistert ausbrechcnde, minutenlange Beifall die erwünschte Pause. Ich sprach vorhin von einem Aufflammen seines Zornes.

Es war vor

Jahren, während einer Wahlbewegung, in einem kleineren Orte seines Rcichstagswahlkreises.

Roesicke

hatte

eine sehr lebhafte Diskussion

eben

seine Kandidatenrede gehalten,

entbrannt,

sozialdemokratische Gegenkandidat,

in

welcher

ein jüngerer Mann,

ihn

der

mit

cd

war

mit anwesende

allerhand Gegen-

ausführungen zu widerlegen suchte. der Hörer

Durch die unter dem fröhlichsten Beifall

erfolgenden schlagenden Abfertigungen Roesicke's

in die Enge ge­

trieben und dadurch maßlos erregt geworden, verstieg sich der Sozialdemokrat

zu einer persönlichen Beschimpfung seines Gegners in einem gereizten Zwischen­ rufe.

Was

nun folgte, war hochdramatisch.

Roesicke

hielt —

gleichsam

erschreckt von der Möglichkeit eines so niedrigen Kampfmittels — in seiner Rede inne, seine Augen blitzten zornig auf, die Blicke hefteten sich wie scharfe Pfeile an seinen Gegner, als ob sie ihn durchbohren wollten, langsam verließ er

seinen Platz und schritt unter der lautlosen Spannung der Versammlung auf den Frevler an seiner Ehre zu . . . Dieser war kreidebleich geworden und entschuldigte sich, er habe seine Worte nicht so gemeint. „Das wollte ich Ihnen auch gerathen haben!" war Alles, was Roesicke darauf erwiderte, schritt besänftigt auf seinen Platz zurück und fuhr in seinen Ausführungen fort, während der Gegner es vorzog, mit feinem Anhang die Versammlung zu

verlasien. — Nichts Anderes,

als ein Bürger wollte Roesicke sei».

Crbcii und Titeln lockte ihm ein Lächeln des Mitleids ab.

Die Sucht nach Und doch — hatte

er den Titel eines Herzoglich Anhaltischen Kommerzienraths Ende der achtziger

Jahre angenommen; jawohl,

angenommen, denn begehrt hatte er ihn nicht.

Man war in den damaligen Regierungskreisen Anhalts auf den menschen­ freundlichen Großindustriellen aufmerksam geworden oder aufmerksam gemacht

worden

und wünschte,

sträubte

sich

ihn

in

der üblichen Weise auszuzeichnen.

guten Namen, den er so zu behalten wünschte, ererbt hatte.

ihn,

Roesicke

seine Einwilligung zu ertheilen, er war stolz auf seinen

lange,

wie er ihn von seinem Vater

Es bedurfte wiederholter und eindringlichster Einwirkungen auf

einer Mühe,

welcher sich

Großhandel unterzog,

einer seiner Desiauischen Freunde aus dem

um seinen Widerstand zu brechen.

Vielleicht habe auch

ich Einiges dazu beigetragen, ihn mitbestimmen helfen, — nicht zur Freude des

Tresilichen.

Von jedem einzelnen Schreiben, welches in dieser Angelegenheit

zwischen ihm und dem Mittelsmanne gewechselt nehmen.

Roesicke

hatte

den

Mittler

bereits

wurde, wiederholt

durfte ich Kenntniß

ersucht, von jener.

Titelfrage Abstand zu nehmen, als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß die

Absicht, ihn durch diese Titelverleihung auszuzeichnen, doch auch aus einem andereil Gesichtspunkte betrachtet werden könne. Mit Recht beschweren sich die Liberalen, daß ihnen die Anhänger der politischen Rechtsparteien überall von

StaatSwcgcn vorgezogcn würden. Wenn nun einem liberalen Manne, wie ihm, ein Titel angeboten würde, auf die anständigste Weise, so spräche dies doch immerhin für eine wohlthuende Objektivität der Staatsleitung. Kaiser Friedrich habe ebenfalls liberale Männer durch Verleihlmg von Orden und

Titeln ausgezeichnet und wäre mit Recht verstimmt gewesen, ablehnend verhalten wollen.

hätten Jene sich

überdies so harmlos,

Der Titel sei

daß er ihn,

Roesicke, in seinen Ueberzeugungen sicher nicht schwankend machen oder ihm gar zu Kopfe steigen

Weshalb

würde.

sollte eS

schließlich,

denn

der Abwechselung

da

einen entschieden liberalen Kommerzienrath geben,

nicht auch

halber,

die deutsche Erde mit konservativen und nationalliberalen Kommerzienräthen wie

mit Brillanten übersäet sei . . .

Endlich

sagte Roesicke — aber

nicht etwa

Später hat ihn dieses Jawort gereut; je älter, ent­

leichten Herzens — Ja.

schloßener und gefestigter er in seinen Anschauungen wurde, desto schwerer trug

er an

einem Titel, der ihm geeignet schien, vor der Welt den Schein zu er­

wecken, als ob auch er vor den Einwirkungen landläufiger Eitelkeit nicht gefeit Nach und nach

genug gewesen wäre.

Anwendung seines Titels derartig

hatte er aber seine Umgebung

entwöhnt,

daß er

von der

ihn kaum noch zu hören

bekam, höchstens von Fremden, die aus konventioneller Höflichkeit das Prädikat

ihm gegenüber anwenden zu sollen glaubten. war,

Seine feste, wohlerwogene Absicht

bei Gelegenheit des Thronwechsels in Anhalt

Ehrfurcht zu

ersuchen,

von dem

das ihm

den neuen Herzog in aller

früheren Herrn wohlmeinend

ver­

liehene Patent in die Hände des Thronfolgers zurücklegen zu dürfen. — — aus

Wer

dieser

seiner Absicht

aber

etwa

den Schluß ziehen

möchte,

Richard Roesicke wäre im Grunde seines Herzens doch nicht so treu monarchisch

gesinnt gewesen,

wie er es wiederholt öffentlich versichert hatte,

oder aber,

es

hätte sich zuletzt in ihm eine Wandlung vollzogen, der würde ihm Unrecht thun.

ich

Nie habe

aus

solche selbst in Kreisen Loyalität

in

die

ein unehrerbietiges Wort gegen

seinem Munde auch nur

einen unserer deutschen Fürsten vernommen;

als erlaubt angesehen werden,

vorderste Reihe

eindruckslos vorüber,

gewiße medisante Bonmots,

gestellt

zu

er griff sie weder auf,

wie

welche hinsichtlich ihrer

sein wünschen, gingen

an ihm

noch gab er sie weiter.

Bis in

die letzte Zeit konnte man ihn in jeder Versammlung laut in die Hochrufe mit

einstimmen

hören,

auf Kaiser

Landesfürst ausgebracht

wurden.

Richard Roesicke war einer von jenen monarchisch gesinnten Männern,

auf die

welche

und

sich ein Landesfürst unbedingt verlaßen darf. — Mit seinem ehrlichen Abscheu vor Titeln,

an private Männer verliehen,

Hand in Hand ging sein Widerwille vor allem protzenhaften Wesen. dafür,

daß

in der Preße

von

Er sorgte

seinen Wohlthaten niemals gesprochen wurde.

Leistete er namhafte Beiträge, so geschah dies unter der Bedingung, daß sein Name verschwiegen, zum Mindesten nicht an die große Glocke gehängt würde. —

Wieder ein bezeichnendes Beispiel für seine Schlichtheit.

Als daö Kinder­

heim auf dem Grundstück der Deßauer Schultheiß' Brauerei fertiggestellt war,

war die Aufschrift

an dem Hause in großen, vergoldeten Lettern von Seiten

des Bauausführenden angebracht

moquirte sich

Jemand

worden.

gelegentlich

Mich verletzte dies und ich hatte nichts Eiligeres zu

darob mir gegenüber.

thun, als den Freund auf jene Aufschrift aufmerksam zu machen, die ihm bis Sehr bald darauf war die goldige Aufschrift durch eine

dahin entgangen war.

ganz schlichte, schwarze ersetzt. Ueberaus

schwer

hielt

sein Bild

es,

von

erhalten.

zu

ihm

Nur bei

Gelegenheit einer bedeutungsvollen Betriebsfeier der Schultheiß' Brauerei er­

hielten Beamte und Arbeiter sein Portrait. Ich selbst habe bei seinen Lebzeiten

nie ein Bild von ihm besesien.

„Sie sehen mich ja oft genug", pflegte er zu

sagen, „wozu brauchen Sie da noch ein Bild von mir?" Ein in Oel gemaltes

Portrait

cristirt überhaupt nicht von ihm,

auch keine Portraitbüste, was von

Und doch verstand er es,

manchem seiner Freunde bedauernd empfunden wird.

die Kunst nicht blos zu lieben, sondern auch, sie auf die feinfühligste Weise zu unterstützen.

Manch werthvolles Gemälde,

das Aufnahme in seinem vornehm

eingerichteten Heim gefunden hatte, verdankt seiner sinnigen Anregung seine Ent­

stehung. Durch Vermittelung seines Freundes Dr. Dohr» in Neapel ließ Roesicke Arnold Böcklin,

den etwas eigensinnigen

war,

ersuchen,

kam diesem Wunsche nach

gezählt werden Honorar zu Theil handelte,

mit

welchem Dr. Dohrn befreundet

ein größeres Bild für ihn zu schaffen. darf.

und es

Das

entstand

war ein

Der berühmte Meister

ein Werk,

glücklicher Zufall.

das

zu seinen

Das reich

besten

bemeffene

sollte dem genialen Künstler aber auch formell in feinfühliger Weise werden:

Roesicke

sorgte dafür,

noten übermittelt wurde. seine Ehrerbietung zu

Atich

es sich

daß die Summe, um die

an Böcklin in frisch von der Preffe gekommenen,

ungcknickte» Bank­

darin suchte er eben dem schaffenden Künstler

beweisen.

Obwohl

nichts weniger

er doch, wo es darauf ankam, selbst in den kleinsten,

als kleinlich, pflegte

zumeist als nebensächlich

betrachteten Dingen die gute Form zu wahren.

Als

einmal

im

Reichstage

eine

jener

wilden Künstdebatten

entfeffelt

wurde, die in Kunstkreisen unliebsames Aufsehen erregten, und ein in München lebender moderner Maler

von Bedeutung besonders

unfein

behandelt

worden

war, richtete er an diesen ein Schreiben, in welchem er ihm gestand, daß ihn als Rcichstagsabgcordneten die Art dieser Kunstdebatte beschämt habe, es dränge

ihn daher, dieses peinliche Vorkommniß, soweit es ihm allein möglich sei, da­

durch gut zu machen,

daß

er ihn

bitte,

für ihn

ein Bild zu

malen,

deffen

mündlich oder schriftlich,

durfte

Motiv er dem Künstler zu bestimmen anheimgebe.

Wer auch immer sich

an ihn wandte,

sicher auf eine Antwort rechnen.

und ihrer waren Legion

Eingehend wurde jedes fremde Anliegen

geprüft; es ablehnen zu müssen, wurde ihm schwer;

meist gab das gute Herz den Ausschlag.

Richard Roesicke als Mensch.

ES ist bekannt und von Gegnern mißliebig bemerkt worden, daß Richard Roesicke beim Tode des „alten Liebknecht" einer von Denen war, die dem sozial­

demokratischen Führer die

letzte

Als Reichstagsabgeordneter

Ehre erwiesen.

hielt er sich dazu verpflichtet, als Privatmann hätte er es Unterlasten.

Sein

Hang zur Gerechtigkeit überwog eben jedes kleinliche Bedenken.

Als am Charfreitag des Jahres 1903 der ihm befreundete Chefredakteur der „National - Zeitung" Köbner in Berlin zur letzten Ruhe bestattet wurde,

befand

auch er sich

in dem wenig zahlreichen Trauergefolge,

um der Wittwe

und den Kindern des von ihm geschätzten, verdienten Mannes Trost zu spenden. Ich hatte

jenes Tages

den Abend

in

seinem

reizenden Tuskulum auf dem

Tornow bei Potsdam in seiner Gesellschaft verbringen dürfen und weiß, wie

ihn

dieser Trauerfall mit tiefstem Mitgefühl

engeren Gesinnungsgenosten

erfüllte.

Obwohl

nicht zu den

des verstorbenen Politikers gehörend, kam er im

Laufe jenes Abends doch immer wieder auf das selbstlose Wirken des Verewigten

zu sprechen und bedauerte, daß nationalliberale Parlamentarier in dem Trauer­ gefolge nicht zu bemerken waren. —

Fremdes Leid mit zu empfinden, es nach Kräften zu lindern, war ihm überhaupt Herzensbedürfniß.

bewies er bei

im Leben bewährt hatten, einer

Wie vielen seiner Beamten und Arbeiter, die sich

seiner ersten Beamten in Berlin,

besonders schätzte, starb,

deren Tode

die letzte Ehrung!

ein langjähriger Mitarbeiter,

sollte Roesicke gerade

an

Als

den er

ernsten und festlichen Ver­

anstaltungen politischer Art theilnehmen. Er gestand mir, daß es ihm unmöglich sei, fröhlich zu sein unter Fröhlichen, ließ sich entschuldigen und widmete sich —

es war an einem Sonntage — fast den ganzen Tag über hilfsbereit den Hinter­ bliebenen.

Zeit,

Oft stahl er sich sozusagen — inmitten dringender Geschäfte — die

um eigens nach Destau zu kommen und dort an der Beerdigung eines

verstorbenen pflichttreuen Beamten oder Arbeiters theilzunehmen . . .

Seiner Familie bedeutete er Alles, entbehren mußte.

obwohl gerade diese ihn so sehr viel

Es waren Sonnentage für sie, wenn der Gatte und Vater,

von äußeren Anforderungen unbehelligt, sich ihr einmal so ganz widmen konnte.

Die

glücklichste

Ehe

verband

ihn

mit

seiner

Gattin Luise

seit

dem

6. Februar 1872 — einunddreißig Jahre hindurch. Die zarte, wiederholt auf's

Schwerste erschütterte Gesundheit dieser edlen Frau, zu der er mit stolzer Liebe aufblickte, erfüllte sein zärtliches Herz nicht selten mit banger Sorge; sie war ihm, den sie so prächtig verstand, geradezu unentbehrlich geworden; sie war ihm

nicht nur die

treue Gefährtin,

seiner Kinder, sondern auch Wo er auch weilte,

die umsichtige Hausfrau,

die sorgsame Mutter

eine kluge Beratherin und nimmermüde Helferin.

ihrer gedachte er immer,

sei es in ein paar während der

Eisenbahnfahrt flüchtig hingeworfenen Zeilen, in einem Telegramm oder in aus­ führlichem Briefe. Töchter,

Und

wie

an diesem Vater!

hingen

der Sohn und

die Kinder,

weniger wie an

Nicht

die

beiden

Eine wohl­

der Mutter!

überlegte, sorgfältige Erziehung hatte er ihnen zu Theil werden lassen.

Früh­

zeitig hatte er es verstanden, ihren Sinn auf das Wichtige im Leben hinzulenken, die Spreu vom Weizen unterscheiden zu lernen. Häuser fast zur Regel

Richard

Roesicke's keinen Eingang gefunden: das Vorbild des

machen.

Achtung

Bescheiden

den Werth Anderer

vor der Arbeit

Selbstverständlichkeit.

Elternpaares

sich zu bethätigen,

zu lernen,

schuf in ihnen den gleichen Drang, zu

Der bei den Töchtern reicher

gewordene geschäftige Müßiggang hatte in der Familie

zu schätzen,

in jeder Gestalt ward ihnen,

sich nützlich

wurden sie gelehrt.

gleich

den ©kern,

Und wahre Herzcnsfrömmigkeit lebte in ihnen Allen.

zur

Auch

besaß jenen herrlichen frommen Sinn, der echter Herzens­

Richard Roesickc

reinheit entspringt. Jeder Kirchlichkeit gegenüber hielt er sich fern, achtete aber auch die Bethätigung

einer solchen

bei Anderen,

denen sie

inneres Bedürfen

war. In Glaubenssachen duldsam, nie voreingenommen; sein eigenes Glaubens­

bekenntniß aber blieb die Liebe zum Guten. — Und fröhlich konnte er fein, wenn Fröhlichkeit ihre Berechtigung hatte!

So

nach

im Kreise

gcthaner Arbeit

der Familie,

Da leuchtete das Auge und das Herz schlug höher.

int Kreise Gleichgesinnter.

Fiel gar ein gutes, launiges

oder witziges Wort, da konnte er lachen, so herzhaft, daß selbst der Griesgram hätte mit einstimmen müssen.

Der „lieben Unschuld", wenn sie sich auch spreizte

und über Gebühr wichtig thun wollte, vermochte er nie gram zu sein, er sah in ihr nur das Komische.

Dann

aber zuckte

es

um seine Mundwinkel,

ein

fein-ironisches Lächeln, kaum merkbar, gab Zeugniß von seiner kritischen Stimmung.

Grausamer Spott, seiner Seele;

beißende Ironie

aber witzig

fand man jedoch

verstand er zu sein,

nicht

schlagfertig,

in

den Registern

und

oft barg sich

bei ihm unter Scherz und Witz eine wohlverdiente Kritik. — Hatte ihn das vielgestaltige, unerbittlich und rücksichtslos immer neue An­ forderungen an ihn stellende Leben auch stark mitgenommen, wollten die mehr

und mehr ergrauenden Haare

seine Jahre auch Lügen strafen und hatte seine

Gesundheit in der letzten Zeit auch Manches zu wünschen gelassen: sein frisches, fröhliches Herz,

seine Regsamkeit und Thatkraft waren ihm treu geblieben —

bis zuletzt.

„Noch einmal jung sein können, so recht aus dem Vollen heraus schaffen

und in die Entwickelung der Dinge mit eingreifen können, gerade jetzt — das wäre Etwas!

Es ist doch eine hochintereffante Zeit, in der wir leben" — mit

diesem aus tiefstem Herzen aufsteigenden Stoßseufzer schloß er vor nicht langer

5*

Zeit eine Unterhaltung,

die uns,

wie so oft,

über alle möglichen Gebiete des

wirthschaftlichen und politischen Lebens geführt hatte. Mit Vorliebe verweilte er bei dem Thema der Arbeiterfrage.

Der sittliche

Ernst, mit dem die deutschen Arbeiter an die Hebung ihres Standes herantreten, nöthigte ihm höchste Achtung, ja Bewunderung ab.

Er glaubte zuversichtlich an

eine ruhige Entwickelung der Dinge im Vaterlande, sofern nur die Nothwendigkeit

der

politischen Gleichberechtigung zwischen Besitzenden und Besitzlosen Stellen

leitenden

eingesehen

dieses sein Streben,

einsah,

so

den Arbeiter

verschaffte ihm

vergaß darüber

Wenn der schlichte Mann

würde. als

der

die

Arbeit

gleichberechtigten Faktor anzuerkennen,

dieses Zugeständniß freudige Genugthuung

manche Unbill,

an den

ihm

aus

und er

den Kreisen seiner erbittertsten

Gegner erwachsen war.

Als ich ihm während der Hochfluth gehäßiger Anfeindungen, die dem

Redlichen die letzte Wahlbewegung eingetragen hatte, einmal darüber Vorstellungen

machte, daß es doch der ganzen Selbstverleugnung eines Mannes bedürfe, um

deffen ungeachtet seine ganze Kraft, sein Wollen und Können für die Arbeiter

einznsetzen, wie er es thue, gestand er mir, daß ihn gerade die Anfeindungen aus Arbeiterkreisen am Meisten schmerzten.

„Wenn mich gewiffe Großkapitalisten

und Arbeitgeber nicht leiden mögen, so ist das ja verständlich.

Doch lasten Sie

es gut sein, die Arbeiter in ihrer Mehrzahl denken doch schon anders, als wie die sozialistischen Agitatoren und Führer, und -

werden", waren seine Worte.

auch diese werden noch anders

Dabei verklärte sein Antlitz ein mildes Lächeln,

aus der Kraft der Ueberzeugung geboren.

Und

doch

war

er

müde

geworden und matt von den schier

endlosen

Anstrengungen, die ihm die leidenschaftliche Geschäftigkeit seiner sozialdemokratischen

Gegner in diesem letzten, langwierigen Wahlkampfe aufcrlegt hatte. sich nach Ruhe, wenigstens für seinen leidenden Körper.

Er sehnte

Sie sollte ihm zu

Theil werden, nur zu rasch und anders, wie er selbst und alle seine Getreuen

es gedacht hatten ... in der Stille der monumentalen Gruft auf dem PctriFriedhofe zu Berlin, die er einst seinem Vater erbaut hatte. Die tückische Krankheit, welche er trotz mancher Beschwerden doch nicht

geahnt, die aber im Geheimen schon längst an seinem Marke gezehrt hatte,

warf ihn, kaum vier Wochen nach seinem letzten und schönsten Triumphe, da er unter dem Jubel seiner Anhänger und Freunde heimgekehrt war nach Berlin,

auf das schwerste Krankenlager.

Aerztliche Kunst erwies sich der unheimlichen

Macht seines Leidens gegenüber als zu schwach, nur wenige Tage nach einer

glücklich vollzogenen Operation that er in den Armen seiner Gattin und treuesten

Pflegerin seinen letzten Athemzug.

-

Richard Roestcke'S Tod.

Wie Richard Roesicke an alle Zufälligkeiten des Lebens stets zu rechter Zeit gedacht, so hatte er auch die Möglichkeit seines plötzlichen Todes schon

Daß die ihm bevorstehende Operation eine schwere

früh in Betracht gezogen.

sei, vielleicht einen verhängnißvollen Ausgang nehmen könnte, war ihm bekannt.

Danach richtete er sich in den letzten Stunden, da er noch klar zu blicken vermochte, ein.

daß

Er blickte dem Tode in's dunkle Auge und zuckte nicht.

seine Angehörigen

durch

das Mögliche,

Wahrscheinliche nicht

Nur

vorzeitig

geängstigt würden, war seine zarte Sorge . . . Gleich einer elementaren Katastrophe wirkte die Kunde von seinem Tode, der Allen so unerwartet wie möglich kam, in allen Kreisen, denen er

gestanden.

näher

Geradezu bestürzt waren seine politischen Anhänger im Wahlkreise;

durch den dumpfen Schmerz drang das Bewußtsein, daß ihnen „ein Roesicke"

Was hatten

nicht wiederkehren werde.

sie mit diesem einzigen Manne nicht

verloren! . . . Und doch mußte man es — bei allem Schmerz darüber, daß es das Schicksal so bestimmt hatte — als eine Wohlthat bezeichnen, daß der Tod ihn

in seine Arme nahm, noch

bewußt

geworden

war:

bevor er sich der Tragweite seines Leidens voll

nie wäre Richard Roesicke wieder in den Vollbesitz

seiner körperlichen Kräfte gelangt — Siechthum wäre fürder sein Loos gewesen,

und das hätte der regsame, thätige Mann, hätte sein Feuergeist nicht ertragen. Aus

seinem vollen Schaffen

heraus, aus seiner Thätigkeit, die ihm Lebens­

bedürfniß war, wurde er gewaltsam herauSgcrisien, so, wie er es sich immer gewünscht.

Aber seine letzten

Tage waren verklärt

von der

Gewißheit, daß sein

Lcbcnswcrk kein vergebliches gewesen ist.

Wie Richard Roesicke das Volk im besten Sinne des Wortes geliebt, so

erntete unter seiner

er im Tode einer gleichen Liebe reichste Kränze.

Daß ein Großer

den im Leben Wirkenden dahingegangen, bezeugten die Ehrungen, die

sterblichen

Hülle

zu

Theil

wurden in

nicht

geringerem

Grade, als

diejenigen, welche seinem Wollen und Wirken in der Presie aller politischen Parteien dargebracht wurden.

Er dachte im Leben immer bescheiden von sich;

daß ihm bei seinem Tode eine so weit reichende Anerkennung zu Theil werden

könnte, hätte er nie geglaubt.

Es war, als ob mit einem Male ein lichtvolles

Erkennen durch die Herzen der deutschen Bürger zuckte, was Richard Roesicke

Mit Recht bekundete die ihm gesinnungsverwandte

dem deutschen Volke gewesen.

Presse in ihren Nachrufen: sein Name bedeutet ein Programm.

Dieses Programm präzisirte er noch kurz vor seinem Tode in einer Zu­ schrift

vom

8. Juli

1903

an den Leiter einer

ihm

befreundeten Berliner

Zeitung mit folgenden Sätzen: „. . . Mit Ihnen bin

ich eben der Meinung,

daß

wir Liberalen

nur dann die uns zukommende Stellung wiedererlangen werden, wenn wir —

über kleinliche Differenzen

hinweggehend



energisch den Kampf gegen

die Reaktion im Auge behalten und auf sozialem Gebiete, uns frei machend

von alten Ueberlieferungen, den Bedürfnissen der Neuzeit in jeder Beziehung

Rechnung tragen.

Daß wir hierbei die Bundesgenossen acceptiren, wo sie

sich bieten, ist nicht nur klug, sondern auch ungefährlich, weil sie mit uns

vereint immer nur liberale Politik treiben und fördern können . . ."

Möge

der

deutsche

Liberalismus

im

Geiste

Richard

Roesicke's

Zukunft im Auge behalten zum Wohle des deutschen Vaterlandes!

seine