221 51 11MB
German Pages 70 [72] Year 1904
Ricbarb Roeflcke. 7^ 7^
Sein sehen und Wirken
dem Volke bargestellt
Berlin. Verlag von Georg Reimer 1904.
Drude von lj. 5. D rt’l, Dessau.
Ilur mit Zögern, aus der Besorgniß heraus, daß es mir kaum gelingen
dürfte, ein getreues Bild von dem Leben und Wirken dieses einzigen Mannes
iti geben, der Vielen so viel war, gehe ich an die Niederschrift der nachfolgenden Blätter.
Richard Roe ficke, in seinem Wesen die Einfachheit selbst, gehörte als Mensch wie als Schaffender zu den komplizirten Naturen, die auf den ersten Blick zu erkennen, unmöglich ist; ja, selbst von Denen, die näher in den Kreis
ihrer Werthungsmöglichkeit treten, verkannt und vielfach mißverstanden zu werden, scheint ihr Loos.
Ihn
so schwieriger die Aufgabe, einem
einem in sich abgeschlossenen Urtheile gerecht zu werden.
solchen Manne
in
Ich hätte mich dieser
nun sicher nicht unterzogen, ihre Lösung vielmehr Berufeneren überlaffen, wenn in erster Reihe nicht Forderungen der Pietät und dankbarer Freundschaft für mich in Frage kämen.
Gelegentlich einer freundlichen Plauderstunde in seinem
Hause, an demselben Tische, an dem
ich dieses nicderschreibe, im glücklichen
Besitze seiner vollen Gesundheit und seines geradezu einzigen Schaffensdranges
äußerte der nunmehr Verewigte leichthin zu mir: „Sie werden mir einmal den
Nachruf schreiben . .
Vielleicht wollte
er damit
sagen,
daß
ich
zu
dem
kleinen Kreise Derer gehörte, die ein langjähriger Verkehr mit ihm ermächtigt
hatte, die Behauptung aufzustellcn, daß sie ihn kennten.
Das leichthin gesprochene
Wort von damals habe ich nicht vergeßen, es ist in mir haften geblieben.
Es
wahr zu machen, erscheint mir nun eine ernste Pflicht, da der seltene Mann
rascher
von
uns
gegangen ist,
als
selbst zarteste Liebe befürchten zu sollen
meinte . . . Auch meine politischen Freunde drängen, gerade auch aus meiner Feder Notizen über des Entschlafenen Leben und Wirken zu erhalten, da sie annehmen,
es könnte gerade aus diesen möglich sein, sein Bild für immer so festzuhalten,
1*
wie es noch vor ihrem geistigen Auge schwebt.
Ich
bin ihnen dafür bekannt,
kein Schönredner zu sein; nackte Wahrheit schätze ich, das wissen sie.
Das
wußte auch der verblichene Freund, denn die Liebe zur ehrlichen, ungeschminkten Wahrheit führte uns näher zu einander, ich möchte sagen:
gleich beim
ersten
Zusammentreffen.
Wenn ich es also unternehme, das Bild des todten Freundes zu zeichnen, so könnte Mancher meinen, daß verehrungsvolle Freundschaft ebensowenig Garantie
bietet für eine streng objektive Zeichnung, wie eine persönliche
oder sachliche
Gegnerschaft; dort ein dem Enthusiasmus entstammendes Zuviel, hier ein allzu
kritisches,
bewußter
oder
unbewußter Zurückhaltung
entsprungenes Zuwenig.
Trotzdem wage ich zu behaupten: die nachfolgenden Blätter mögen manchen Mangel aufzuweisen haben, den gebe ich ohne Weiteres zu; sie sind aber vom
Geiste herbster Unparteilichkeit getragen, strengster Sichtung, sorgsamster Wägung. In allem diesen war der nahe Verkehr mit dem Freunde während fast zwanzig
Jahren
für
mich,
den Jüngeren, der gern zu dem früh im Getriebe
verantwortungsvollen Lebens gereiften Manne aufblickte, ich zu lernen mich bemühte.
eines
eine Schule, in der
Und wie könnte ich mich dem todten Meister besser
dankbar erweisen, als dadurch, daß ich all das, was er Zeitlebens so über Alles
werth schätzte, von dem er nirgends abzuweichen sich strengstens bestrebte, ihm
nun selbst zuwende!
Dieser Gedanke beherrscht mich dermaßen, daß ich meine,
sein Stirnrunzeln sehen zu müssen, sollte wirklich einmal das schwellende Gefühl freundschaftlicher Liebe ein Zuviel auf Kosten der Wirklichkeit
entstehen
wollen. Dessau, den 21. Juli 1904.
l). 5. Rrt’l.
lassen
Richard Rocs icke
wurde
am
24. Juli
1845 in Berlin
geboren.
Sein Vater war der Kaufmann Adolf Roesicke, seine Mutter Pauline eine geborene
Goschenhofcr.
Unter mehreren Geschwistern, auf.
wuchs Richard Roesicke
Kindern
darunter drei jüngeren Brüdern,
sorgfältige Erziehung
überaus
Eine
des vornehm gesinnten Elternpaares
zu Theil.
ward allen
Wie innig aber mag
das Familienleben in dem Elternhause Richard Roesicke's gewesen sein, wie viel daß er die zärtlichste Liebe,
nachhaltige Anregung mag eS ihm geboten haben, die tiefste Verehrung
seine Eltern im Herzen
seinem Tode für
bis zu
trug!
Rührend war das Verhältniß Richard Roesicke's zu seinem Vater; er schätzte in ihm nicht nur seinen ersten und besten Erzieher,
er blickte zn ihm als dem
erfahrenen, besonnenen, wohlwollenden Menschen auf, er schätzte seine vorbildliche
Tüchtigkeit als Kaufmann,
dem es
seltene Klugheit,
durch
durch Fleiß und
Ausdauer gelungen war, sich aus kleinen, fast ärmlichen Verhältnisien zu einer angesehenen Stellung emporzuarbeiten und durch Begründung des noch heute in
hoher Achtung
stehenden Hauses Goschenhofer und Roesicke
zu Wohlhabenheit
zu gelangen.
Richard Roesicke's Art, nichts Verbindliches.
sich
zu
geben,
hatte im Verkehr
mit Fremden
Gemeßen und knapp in der Form, nur das Thatsächliche
im Auge haltend, war sein Verkehr selbst mit seinen ihm unterstellten Mit arbeitern.
Er verlangte viel von allen seinen Untergebenen, da er noch höhere
Anforderungen an seine eigene Thatkraft stellte. überlegtheit oder Nachlässigkeit
ihm in
Zuweilen konnte er,
den Weg trat,
Und doch thronte die Güte selbst in seinem Herzen.
barsch,
wo Un
ja schroff sein.
Mit der That,
die ganz
still vor sich ging, verstand er sie zu beweisen. Unvergeßlich ist mir eine Episode,
deren Zeuge ich einmal war.
Wir saßen an einem Abende spät, wie so oft,
nach des Tages Arbeit,
in seinem Arbeitszimmer, er — wie fast stets — an
seinem Schreibtisch, ich
ihm gegenüber.
Die Unterhaltung erstreckte sich auf
mannigfache Gebiete des öffentlichen Lebens.
Während deffen wurden Notizen
gemacht, ja es kam vor, daß irgend eine Tagesstage von uns gemeinsam sofort durch Abfassung
eines
Artikels
für
die
Preffe
behandelt
wurde,
mitten in
Da erschien sein Diener, der seinen Auftrag irgendwie
unserer Unterhaltung.
mißverstanden hatte und beging eine Ungeschicklichkeit.
Roesicke brauste auf und
ließ den armen Tölpel hart an, der zitternd und schweigend dastand, sich gar nicht
zu entschuldigen wagte.
Das besänftigte den strengen Herrn aber auch wieder
sehr bald. Er brummte nur noch leise vor sich hin und hieß den Diener, sich — schlafen legen. Als dieser fort war, entstand eine Pause in unserem Gespräch. „Ich war wohl sehr grob zu ihm — — ?" kam es endlich von seinen Lippen. „Na,
es — geht.
Es war ja aber auch zu ungeschickt von ihm — ich
glaube, die Dummheit, die er begangen, war nur die Folge seiner Aengstlich-
keit" — entgegnete ich,
um das merkbar in ihm aufsteigende Gefühl seiner
Unzufriedenheit mit sich selbst schonend zu dämpfen. Rasch griff er das Gesagte auf.
„Nicht wahr, der Mann war ängstlich.
Ueberhaupt haben alle meine Leute Angst vor mir, Da ist ein
jüngerer Herr
Telephon spreche,
in unseren Comptoirs;
und sie zeigen mir das.
ihm durch'ü
ich mit
wenn
versteht er mich aus purer Angst gar nicht ...
B i n ich
denn nur ein so fürchterlicher Mensch?"
Ich sprach mich freimüthig aus. in seine Eigenart bald hineinfinden.
Wer ihn genauer kennte, würde sich ja
Freilich,
etwas herb
wäre ja wohl diese
Eigenart. Dadurch, daß er immer nur die Sache fest im Auge hielte und z. B. Abschweisirngen, wie solche bei tragen könnte,
würde er leicht
vielen Leuten
die Regel bilden,
ungeduldig und
nicht er
gar
Das
dann barsch.
wiffen die
In sich gekehrt,
Leute, werden ängstlich und dadurch schließlich noch unsicherer.
nachdenklich nickte er dem zu. „Ich weiß,
daß ich so bin;
schon als Knabe so.
das liegt aber in meiner Natur.
Wenn ich dagegen meinen Pater betrachte,
Ich war
wie e r
war: was gäbe ich darum, wenn ich sein liebenswürdiges, verbindliches Wesen hätte!
Wie verstand der Mann mit den Leuten umzugehen!
Selbst zu den
Geringsten war er stets freundlich; bei aller Entschiedenheit in der Durchsetzung seines Willens doch verbindlich, angenehm ...
die
man Einen beneiden kann."
Ja,
das ist eine Gabe, um
Und wieder versank er
in minutenlanges
Sinnen — ich fühlte, er lebte in Erinnerungen an seinen heißgeliebten Vater.
Daß er ihn so unerwartet rasch hatte verlieren müffen
seine Mutter
war dem trefflichen Gatten wenige Monate im Tode vorangegangen
erfüllte
ihn mit tiefstem Schmerz, machte ihn nahezu fassungslos; so innerlich gebrochen, rote damals, herber Schlag
habe ich den Freund nie wieder gesehen. des Schicksals,
der
ihn
damals,
Richard Roesicke kennen gelernt hatte, getroffen.
Es war aber auch ein
wenige Jahre,
nachdem
ich
Die Familie hatte im Spät-
sommer 1886
das
der Vater weilte
Ostseebad Heiligendamm aufgesucht,
bei
ihr; seine Gesundheit ließ zwar Manches zu wünschen übrig. Niemand dachte
aber an eine so nahe bevorstehende Katastrophe.
Weilten
Richard Rocsicke gönnte sich ja nur selten eine längere Erholung.
die Seinigen im Bade, so sorgte er für sie in jeder nur erdenklichen Weise,
geleitete sie bis an Ort und Stelle, aber lange hielt es ihn nicht am Meeres
strande oder im Gebirge; bald war er wieder zu seiner gewohnten Thätigkeit zurückgekehrt — Entfernungen und Reisestrapazen spielten bei ihm keine Rolle —
befand er sich wieder mitten in seinen Geschäften, beruflichen oder politischen,
und nur, wenn er meinte, wieder abkommen zu können, suchte er seine Familie So auch in jenen Spätsommertagen des genannten Jahres.
auf.
Ich blättere in vergilbten Papieren Hand,
der
mir
Das Schreiben
den Tod
ist
viel
seines,
zu
und
finde
einen Brief von
seiner
auch von mir hochverehrten Vaters anzeigt.
charakteristisch
für
innerste
das
Richard
Wesen
Roesicke's, als daß ich es hier nicht wortgetreu wiedergeben sollte:
Heil. Damm, 3. September 86. Geehrter Herr!
Mein guter lieber Vater, mein bester Freund, mein Rathgeber und mein Leiter in allen
schwierigen Lagen
meines Lebens
ist nicht
mehr!
Diese erschütternde Nachricht erwartete mich, als ich heute früh hier eintraf!
Ich habe ihn nicht einmal mehr sehen, können!
ihm nicht mehr die Hand drücken
Wenige Stunden vor meiner Ankunft ist er in den Armen meiner KeinS seiner Kinder war bei ihm!
Frau gestorben!
Ich bin so überwältigt von dem
harten Schlag, daß ich mich für
heut auf die obige Mittheilung beschränken muß. Nicht ahnend, welches Schicksal mich hier erfassen würde, schrieb ich
heute Morgen
weder
im Eisenbahn Coupoe
redigiren,
inwieweit
noch prüfen
Tie
davon
kann.
Gebrauch
ändern, was Ihnen nicht paßt.
anliegenden
Ich
Artikel,
überlasse
machen
den
es Ihnen,
können.
Bitte
ich
nun
o b und
event,
zu
Ich wollte ihn nur nicht gerade fortwerfen.
Ihr sehr gebeugter und trauriger
Richard Roesicke. Der in obigem Briefe erwähnte Artikel betraf das erbärmliche Verhalten der deutschen offiziösen und eines Theils der iiatianalliberalen Presse zu dem
Schurkenstreich der Bulgaren gegen ihren Fürüeu Alexander von Battenberg.
verstand es Roesicke, in diesen
Wie klar und eindringlich und wie vomehm
Ausführungen die Haltung des überwiegenden Theils des deutschen Volkes und insbesondere der deutschfreisinnigen Presie gegenüber den Angriffen der Offiziösen in Schutz zu nehmen!
An dem Artikel, der beweist, wie eingehend fich Richard
Roesicke schon damals auch als Publizist für alle öffentlichen Vorgänge interesfirte,
war kein Wort zu ändern; er wurde als willkommener Beitrag in der Nummer 208
des
„Anhaltischen Tageblatts"
vom 7. September
an leitender Stelle ab
gedruckt. —
*
*
* Richard Roesicke hatte das französische Gymnasium in Berlin bis zur
Prima besucht.
Das wurde damals in kaufmännischen Kreisen als eine genügende
allgemeine Vorbildung für den kaufmännischen Beruf erachtet, und Roesicke
hatte bereits frühzeitig seine Neigung bekundet, sich diesem Berufe zu widmen.
Nicht ohne Bedauern berührte er öfter gesprächsweise den Mangel eines Abschluffes seiner wisienschaftlichen Vorbildung; doch dieser Mangel wurde später reichlich wett gemacht durch eifrigstes Selbststudium, sodaß sich Roesicke auch
hinsichtlich seines allgemeinen Wiffens mit Manchem meßen durfte, der die herkömmlichen Grade schulmäßiger Ausbildung formgerecht erledigt hatte.
Ein angehender Jüngling, schlank, sogar etwas schmächtig, verließ er das
Vaterhaus,
um
seine
kaufmännische Lehre
Frankfurt a. M. anzutreten.
im Hause Ferdinand Heuer
zu
Dort arbeitete er sozusagen „von der Pike auf",
denn ein gar strenger Lehrherr war ihm in dem Freunde seines Elternhauses
Frankfurt, die alte freie Stadt, und Berlin, das im wohlbegründeten
geworden.
Rufe stand,
seine Söhne ebenfalls scharf zu prägen — es mochte kaum einen
stärkeren Kontrast für den angehenden Handlungsbeflissenen geben.
Genau ging
es in dem Hause Heuer zu, auf Zucht, Ordnung und Sitte wurde streng gehalten,
nach
der Altvorderen
Satzung und
Regel.
Mit Behagen
konnte
Richard Roesicke von mancherlei ernsten, aber auch gar heiteren Erlebniffen aus seiner
strammen Lehrzeit
erzählen;
wie er
an
Sonn- und Feiertagen dem
Prinzipal und deffen Familienangehörigen zur Kirche folgen mußte, das dicke
Gesangbuch fest unter den Arm geklemmt, und wie trotz aller Strenge der junge, geweckte Berliner den Schalk,
springen ließ.
Manches
der ihm im Nacken saß, doch zuweilen
Gegensätzliche
im
Wesen
mochte
zwischen
seinem
Lehrherrn und ihm bestehen, was sich auch später nie ganz verwischt hat; für
Eines aber war Richard Roesicke seinem „Prinzipal" gewiß zu stetem Danke verbunden: daß er in deffen Hause seine nachmalige liebreizende Gattin hatte
finden sollen.
Und mit welchem Stolzgefühl blickte Herr Ferdinand Heuer zu
seinem Schwiegersöhne in späteren Jahren empor, wie schätzte er ihn hoch! Aus dem eigenen Munde des alten, angesehenen Frankfurter Patriziers habe
ich es oft vernommen.
er hatte eben seine Lehrzeit beendet, ward
Noch nicht zwanzig Jahr alt,
Richard Roesicke im Jahre 1864 von seinem Vater nach Berlin zurückberufen, um die Leitung einer von ihm käuflich erworbenen Brauerei zu übernehmen. Das war für den jungen Kaufmann, der sich hauptsächlich mit feinen Tuchen
beschäftigt hatte, ein ganz fremdes Gebiet, und nicht ohne Bedenken, nicht ohne Sorge folgte er dem väterlichen Wunsche.
Er ahnte nicht, wie eng er sich für
immer mit diesem Unternehmen verbinden sollte, welche Bedeutung er selbst
für die Entwickelung des ganzen Brauereiwesens in Deutschland gewinnen würde. Die in
der bleuen Jakobstraße belegene, nach ihrem Vorbesitzer Jobst
Schultheiß genannte Brauerei war nach heutigen Begriffen kaum ein Mittel betrieb zu nennen, sie entbehrte jeglicher Maschinenkraft.
für ihn das neue Arbeitsfeld zu übersehen.
Mit
Um so leichter war
jener Energie,
ihn
die
in
allen seinen Unternehmungen auszcichncte, mit einer Zähigkeit, die alle Hinder-
Wie ich von ihm selbst weiß,
niffe überwand, widmete er sich seinem Berufe.
fühlte er sich nie als „der Sohn seines reichen Vaters"; mit einem aus starker Selbstdisziplin hervorgegangenen Stolze, nur das, was er sich selbst erworben,
zu besitzen, verstand er cs, Rechner und Haushalter
Einkünfte es ihm
zunächst mit Wenigem auszukommen.
ist er
dann
auch
ermöglichten,
noch
geblieben,
seinem Herzenswünsche
Ein guter
als seine großen
nachzugehen
und
mit
offenen Händen Wohlthaten auszustrcuen.
Ersichtlich waren die Erfolge Jahren.
Unzweifelhaft
er
hatte
Arbeitskraft übernommen
seiner Thätigkeit
sich
aber
in
den
bereits
nach
den
Anforderungen an
ersten
seine
er muthete sich ja auf diesem Felde immer zu viel
zu -- - denn er verfiel Ende der sechziger Jahre einem Brustleiden,
sehr ernsten Charakter anzunchmen drohte.
das einen
Das Leben seines herzlich geliebten
ältesten Sohnes zu retten, war nunmehr sein Vater aufs Eifrigste bedacht. Aerzte ricthen dringend einen
längeren Aufenthalt im
damit begannen für Richard Roesicke die Wanderjahre.
Die
südlichen Klima, und In diesen genoß er so
recht eigentlich die einzige Muße während seines ganzen Lebens, „der Roth ge horchend, nicht dem eignen Triebe".
Er nahm seinen Aufenthalt abwechselnd in
Italien, Egypten, Spanien und in der Schweiz. Die unfreiwillige Muße wurde für den,
mit
offenen Augen um sich
blickenden Jüngling eine Quelle reichster geistiger und seelischer Anregung. Ein träges in den Tag Hincinlcbcn gab cs selbst für den Erkrankten nicht; dem Geiste
fortgesetzt neue Nahrung zuzuführen,
war
ihm
selbstverständliches
Bedürfniß.
Hatte er bereits daheim, im gastlichen Hause seines freisinnigen Vaters,
den Umgang bedeutender Männer und Frauen genoffen, ich nenne nur die Namen Adolf Stahr, Fanny Lewald, Dr. Wolff, den Begründer der NationalZeitung, Professor Hosemann,
Kommerzienrath Schwartzkopff, Prediger
Geh.
Weitling, so verstand er es, in der Fremde sich neue Freunde unter geistigen Tonangebern zu erwerben.
gedachte er oft des ihn weit über die
Dankbar
Grenzen des Gewöhnlichen hinaus fördernden Verkehrs mit Männern, wie Karl Vogt, Friedrich Lange, Anton Dohrn, dem Begründer der zoologischen Station
in Neapel, die später auch
mit namhaften Beiträgen unterstützen zu können,
ihm eine besondere Freude war. In jener Periode seiner Krankheit erwachte zuerst sein soziales Empfinden.
Wie ihm ging es Tausenden und Abertausenden, denen es aber nicht möglich war, Heilung in fernen Gegenden einer südlichen Sonne zu suchen und zu finden. Das ergriff sein Innerstes, und auch diesen armen und ärmsten Mitmenschen etwas nützen zu können, ward für ihn ein Ziel, das er, wieder völlig gesundet,
mit verdoppelter Energie verfolgte. Wie er alle Vorrechte gründlich verschmähte, mochte ihn auch der Gedanke bedrücken, daß ihm der glückliche Zufall vor so vielen Anderen einen Vorzug
gewährt hatte;
das zu ebenen, womöglich „wieder gut zu machen", reifte in
ihm zu einem heiligen Entschluß. In diesen Empfindungen vornehmlich ist bei ihm der Antrieb zu suchen,
sich in materieller Hinsicht eine bedeutende Position
zu
schaffen,
zu
verdienen
und zu erwerben, nicht so sehr, um selbst zu genießen, als vielmehr, um Anderen,
vornehmlich den wirthschaftlich Schwachen, etwas leisten zu können. Es dürfte hier die paffende Gelegenheit sein, zwei an sich ja unbedeutende Thatsachen anzuführen, die aber den Zug
seines echtesten sozialen Empfindens
so recht markant hervortreten lassen. Als Richard Roesicke schon längst der bestens anerkannte und viel beneidete Direktor des großen Brauerei-Unternehmens war, kam seine Gattin einmal da
hinter, daß er sich insofern ein recht
mangelhaftes Nachtlager zu
wußte, als er seine wärmenden Bettkiffen entfernt und sich
ganz leichten Decke versehen
hatte.
verschaffen
dafür mit einer
Da es Winter war, machte ihm die um
seine Gesundheit besorgte Gattin freundliche Vorhaltungen wegen eines Beginnens,
das sie zunächst nicht recht
einzusehen vermochte.
Erst nach und nach erfuhr
sie, was der Grund dieser absonderlichen Vorkehrungen war:
ihr Gatte wollte
am eigenen Leibe Studien machen, aus eigenem Empfinden erfahren, wie Jenen
wohl zu Muthe sei,
die überhaupt nicht in der Lage sind,
sich ein warmes
Bett zu verschaffen . . . Auch mir wäre wohl diese Episode aus dem diskretesten
Familienleben niemals bekannt geworden,
ähnlichen Gelegenheit Anlaß genommen
wenn nicht seine Gattin bei einer
hätte, dem auf seine Gesundheit nie
sonderlich bedachten Gemahl sanfte Vorstellungen zu machen und dabei,
in der
Gewißheit, in mir einen Bundesgenossen zu finden, jenen Vorgang zu erwähnen. Ich sehe noch das leise Lächeln, das um die Lippen des Freundes bei Erwähnung dieser seiner „Tünde" spielte, sehe auch den milden Blick eines stillen Vorwurfs,
der sich nach der Gattin richtete, solche Heimlichkeiten zu verrathen, die er ganz
für sich zu behalten doch so sicher gehofft hatte . . .
vielleicht noch belangloser, aber nicht weniger be
Und nun das Zweite;
zeichnend.
Und
aus kleinen Zügen vermag man
ja am Besten, das Wesen
des Menschen zu erkennen. Nachdem die in Deffau befindliche Brauerei zum Waldschlößchen, zunächst
Privatbesitz
Richard
Roesicke'S,
durch
wesentlich vergrößert worden war,
Tpargcl in Deffau Tpargclkulturen
werden konnte.
Zuziehung
ist auch eine,
des
anliegenden
Geländes
namentlich durch vorzüglichen
gewesene Gärtnerei mit einbezogcn worden.
bekannt
Die
lieferten so reichen Ertrag, daß davon an Bekannte verkauft Auch ich war ein dankbarer Käufer des vortrefflichen Gemüses.
Da, mit einem Male,
hatte es „geschnappt";
eS
hieß, Spargel würde nicht
mehr abgegeben, selbst an die nächsten Bekannten nicht. Eines Abends kam ich
als Gast Roesicke'S auf diesen plötzlichen „Umschwung der Dinge"
zu sprechen
und erkundigte mich beim Abendeffen nach der Ursache desselben;
ob denn die
Tpargelbecte jetzt weniger Ertrag gäben oder was sonst vorlägc. Rocsicke schwieg; seine Gattin lächelte schalkhaft,
ihn
erwartungsvoll anblinzelnd.
Da ich die
Antwort noch immer vermißte, sah ich ihn fragend an. Zögernd, sozusagen knurrend ward mir endlich die in ganz selbstverständlichem Tone vorgctragcnc Auskunft zu Theil: „Ja, denken Sic beim, meine Arbeiter essen nicht a u ch gern Spargel?"
Diese Antwort Brauerei
war
die Küche
geradezu kostbar; bezw.
ich
Arbeiterkantine
wußte Bescheid, eben
war doch
eingerichtet
ober
in
der
erweitert
worden.
Im Jahre 1871 wurde die inzwischen neu aufgcbaute und mit den Er findungen derNeuzeit ausgestattete Schultheiß' Brauerei aus der Reuen Jakob
straße nach der Schönhauser Allee verlegt, in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, ihre Leitung verblieb in den Händen Richard Roesicke'S.
Um sich bezw. seiner
Familie einen angenehmen Aufenthalt während einiger Sommermonate zu sichern, erwarb Rocsicke im Jahre 1877, wie bereits angedeutct, die frühere Herzogliche
Bierbrauerei in Deffau,
die unter der Firma „Brauerei zum Waldschlößchen"
in wenigen Jahren gleichfalls
zu einem großen Betriebe emporwuchs und im
Jahre 1896 mit der Schultheiß' Brauerei vereinigt wurde. seitdem stetig gewachsen und jetzt
Das Unternehmen,
aus sechs großen und einer Reihe kleinerer
Betriebsstätten bestehend,
nimmt schon seit Jahren die erste Stelle unter allen
Brauereibetrieben Deutschlands ein. Nicht selten hörte man es aussprechen und konnte man es auch wohl ge
legentlich in gewissen Fachblättern lesen, daß dieses Gedeihen und stetige Wachsen der unter Richard Roeficke's Leitung stehenden Unternehmungen hauptsächlich, wenn
nicht gar ausschließlich seiner Kapitalkraft zuzuschreiben sei.
Demgegenüber ist
der Hinweis darauf geradezu nothwendig, daß die Stammbrauerei in Berlin, wie schon erwähnt, von Jobst Schultheiß übernommen, nicht als ein neues, nach
sorgsam ausgearbeiteten Plänen groß angelegtes Unternehmen aus der Erde wuchs, sondern aus den bescheidensten Anfängen sich allmälig entwickelte.
Und was die
Desiauer Brauerei zum Waldschlößchen anbelangt, so trifft dasselbe auch für
dieses Unternehmen zu. Das in sich abgeschloffene Fertige reizte Roesicke überhaupt nicht.
Aus
Nichts etwas zu schaffen, seine ganze Intelligenz, seine volle Thatkraft dem zunächst
Unscheinbaren zuzuwenden, es emporzubringcn durch ein schier ungewöhnliches Aufgebot von Fleiß, Mühen, Ausdauer und zuversichtlichem Glauben an den
späteren Erfolg, der unter solchen Voraussetzungen nothwendig kommen mußte, das vermochte in ihm alle Kräfte auszulösen.
Er sagte mir einmal bei einem
Gange durch die großartigen Anlagen der ehemaligen Waldschlößchen-Brauerei, als
ich
mich
eines
begeisterten Wortes iiber die
musterhafte Ordnung
saubere Eleganz der Betriebsräume nicht zu enthalten vermochte:
und
„Sie hätten
die Brauerei sehen müffen, als ich sie übernahm . . . Von allen Seiten wurde ich gewarnt, gerade diese Brauerei zu erwerben.
In Deffau schüttelte man den
Kopf, da es als Dogma galt, das Waffer auf diesem Terrain sei zum Bierbrauen
gar nicht geeignet.
Aber gerade das reizte mich.
ist mir eine besondere Lust".
Widerstände zu überwinden,
Nun, über einen Mangel an Widerständen hatte
er sich weder in Berlin, noch in Deffau zu beklagen, und solche lagen nicht
immer nur in der Sache . . . Spielend, möchte man sagen, hat er sie überwunden; wenigstens für den außenstehenden, oberflächlichen Beurtheiler.
Wer in das
Triebwerk seines rastlos schaffenden Geistes hineinzublicken vermochte, wird ersehen
haben, wie sich in Roeficke's Thätigkeit das Wort bewahrheitete, daß die Götter vor den Erfolg den Schweiß der Edlen gesetzt haben.
eigen, die selbst das Geringste nicht übersah. stellten Betrieb anging, wußte er Bescheid.
Ihm war eine Genauigkeit
In Allem, was den ihm unter
Um Alles kümmerte er sich, oft
zum stillen Aerger der Beamten auch dann noch, als nur noch von „Betrieben" gesprochen werden konnte, die anfingen, eine Riesenausdehnung
anzunehmen.
Vermuthete man ihn in Berlin, so stand er plötzlich vor den Keffeln im Maschinen hause der Deffauer Brauerei.
War er in Berlin gesellschaftlichen Verpflichtungen
nachgegangen und war es spät geworden, sodaß Alles ermüdet und froh war.
endlich sein Heim aufzusuchen und zur Ruhe zu kommen, so nahm er die
„prächtige Gelegenheit" wahr, schnell noch den weit draußen, im Norden belegenen Betrieb zu kontrolliren.
Denn so wie er, mußte jeder Mann auf dem Posten
sein, auf den ihn das Vertrauen berufen hatte.
Ich citire seine eigenen Worte.
Bei der Einweihung des Kinderheim» der Schultheiß' Brauerei, vor den Thoren
Berlins, im lauschigen Pankow belegen, sagte er in seiner Ansprache an die
Versammelten: „Es ist ganz gleich, unter welcher Form, in welcher Eigenschaft man etwas leistet, sofern man nur den Platz ausfüllt, der Einem
angewiesen ist.
Das ist es, was man heutzutage gar nicht oft genug
hervorheben kann; nicht Alle fömtcn das Gleiche sein; nicht Jeder kann
der Erste, es kann nicht Jeder Arbeitgeber, nicht Jeder Besitzer eines Unternehmens sein.
Das Eine aber ist möglich und auch nöthig, daß wir
Alle uns gegenseitig achten und lieben, lieben in echt christlichem Sinne,
indem wir einander nur Gutes zutrauen und uns gegenseitig zu nützen suchen". Stieß er auf Pflichtverletzung, hatte man ihn in seinem guten Glauben
auch nur einmal getäuscht, so war es schwer, wenn nicht unmöglich, sein Vertrauen
wiederzugewinnen.
Wie verstand es derselbe Mann aber auch, Pflichterfüllung, Zuverlässigkeit und Fleiß anzuerkennen! Hatte er solche, ihm als selbstverständliche Nothwendigkeit erscheinenden Tugenden bei „seinen Leuten" erst erprobt und bewährt befunden,
so konnte nichts ihm seinen Glauben an solch einen Mitarbeiter erschüttern;
auf ihn baute er Felsen, an ihm hing er mit einer Treue, die seiner Energie
entsprach. Es konnte ja nicht ausbleiben, daß ein solches „Auf dem Posten sein"
bei manchen seiner Beamten und noch weit mehr in den Kreisen der Arbeiter
höchst unbequem empfunden und mißliebig ausgenommen wurde.
Wie es aber
so geht: nicht bloß verderben schlechte Beispiele gute Sitten, das gute Beispiel
macht auch seine Schule.
Die Beamten mußten, wenn sie nur sonst aus gutem
Material geformt waren, die staunenswerthe Umsicht, Gewandtheit, den kaufmännischen Scharffinn, die kluge Voraussicht, den ausdauernden Fleiß und nicht zuletzt die
großen Gesichtspunkte anerkennen, von denen sich ihr Oberster in Allem allein leiten ließ; sie wußten, daß ihm alles Kleinliche in der Seele zuwider war, sie
wußten aber auch, daß er das Gleichmaß von Pflichten und Rechten, von Leistung und Gegenleistung als oberstes Gesetz für jedes gewerbliche und kauf
männische Unternehmen angewendet wissen wollte.
Und seine Arbeiter!
Es ist
ja selbstverständlich, daß Eigenschaften, wie sie Richard Roesicke als Arbeitgeber
besaß, in Arbeiterkreisen nicht sonderlich beliebt sind.
Das Bewußtsein, „das
Auge des Herrn" stets wachend zu wißen, seine Vorwürfe, ja seinen ganzen
Zorn bei jeder Pflichtvergeffenheit über sich ergehen laßen zu müßen, war sicher
Was seine
nicht geeignet, ihn in diesen Kreisen zunächst beliebt zu machen.
ausgeprägte Tugend war, mochte in unklaren Köpfen der ihm Unterstellten als Gott weiß was ausgelegt werden, als hungrige Gier nach möglichst großem Gewinn, als einzig dastehende Profitwuth, nur nicht als eine ihm selbswerständlich
scheinende Nothwendigkeit, auf jedem Posten das Mögliche zu leisten. Als Roesicke die Deßauer Brauerei übernahm, war auch in den Arbeiter
kreisen der damals noch kleinen, wenig industriellen Residenz, sage ich es getrost, Es ging Alles gemächlich zu, nach der Melodie:
der Schlendrian Hofmeister.
was heute nicht geschehen kann, kommt möglicherweise morgen dran; und ist es morgen noch nicht so weit, gut Ding will haben gute Zeit.
Die Löhne waren
meist niedrig, den Arbeitsleistungen vielleicht gerade entsprechend.
man sich vor:
also gewohnten Arbeiterschaft! Waßer.
Und nun stelle
ein Feuergeist, wie der Richard Roesicke's, an der Spitze einer Das mußte zu einander paßen wie Feuer und
Man verstand sich zunächst gegenseitig nicht, aber — man lernte
sich mälig verstehen.
Das diene. Ungewohnte und höchlichst Unbequeme wurde von
manchem Arbeitnehmer des Roesicke'schen Betriebes überhaupt als unerträglich
aufgefaßt, man wandte ihm höhnend den Rücken; andere, einsichtigere und der Erziehung fähigere Elemente stutzten zwar, aber sie hielten aus; denn wenn auch eine solche Ordnung und Genauigkeit bis dahin in Deßauer Betrieben unerhört
war, ihr gegenüber stand doch eine weitgehende Bereitwilligkeit, auch entsprechend zu entlohnen.
tüchtige Arbeit
Und aus solchen Denkern unter den ersten
Arbeitern Roesicke's in Deßau bildete sich mit der Zeit ein Stamm tüchtiger, zuverlässiger Männer, die den Werth ihres Arbeitgebers mehr und mehr erkannten
und schätzen lernten. Gewiß hatte Richard Roesicke, wie man zu sagen pflegt, eine „glückliche
Hand" für alle seine Unternehmungen; aber er war doch so recht der Schmied seines Glückes, das ihm so vielfach geneidet wurde.
Nicht ohne Humor erzählte
sich,
dem
er in späteren Jahren
in befreundetem Kreise,
Geschäftsmanne gleich,
als „Anfänger" persönlich um seine Kunden bemüht
wie er
kleinsten
hatte, wie er mancher robusten Wirthsfrau die artigsten Komplimente machte und ihre Göhren als Wunderkinder zu preisen verstand.
Er wußte wohl, selbst das
beste Bier hat seinen Beruf verfehlt, wenn cs •- keine Abnehmer findet und, wie Alexander Meyer einst sagte, nicht getrunken wird. Neben dem unausgesetzten Bemühen, diesen Kreis der Abnehmer zu erweitern,
ging selbstverständlich das eifrigste Bestreben, die Güte des Produkts zu einer musterhaften zu gestalten.
Jeder maschinelle Fortschritt im Gewerbe ward ver-
folgt, geprüft und je nach Befinden dem Betriebe einverleibt.
Beachtung ward den Rohmaterialien beim Einkauf zu Theil.
Die sorgsamste
Für gutes Geld
die beste Ware, hieß der Leitsatz, nach dem der Chef des Unternehmens und seine
Vertreter handelten.
Das beste Malz und der beste Hopfen, aber nichts Anderes,
wurde dem Brauprozeß unterworfen.
Die Gerste-, Malz- und Hopfenhändler
konnten von Glück sagen, wenn es ihnen gelang, mit den von Roesicke geleiteten
Unternehmungen „ins Geschäft" zu kommen.
Als Führer seiner Fachgenoffen
war es sein unausgesetztes Bestreben, von der Gesetzgebung das strikte Verbot aller Surrogate für die norddeutsche Braugemeinschaft zu erreichen, wie es für Süddeutschland längst besteht. Dieser bis ins Einzelne gehende, intime Umgang mit seinem Unternehmen
führte ihn mit der Zeit dahin, daß er, der „gelernte Kaufmann", als „Brauer" für so sachverständig galt, wie nur Einer, der den Wahlspruch: „Hopfen und
Malz, Gott erhalt's!" von Jugend auf erkoren und das Brauen „von unten
auf" erlernt hatte.
Ein bis ins Feinste gehender Geschmackssinn unterstützte ihn,
jedes Gebräu auf seinen Werth und seine Güte treffsicher zu beurtheilen.
Ich
traf ihn nicht selten, wie er vier, fünf Brauproben vor sich stehen hatte und sie schluckweise auf ihren Geschmack prüfte.
Zunge,
dafür
und
wußten
ihm
Nur das Beste fand Gnade vor seiner
ungezählte Tausende von fröhlichen Zechern
Dank. — Stand
das Braugewerbe
beim Eintritt Richard Roesicke's in
dasselbe
ausschließlich auf dem Boden der Empirie, so war er einer der Ersten, sicherlich aber der Thatkräftigste unter diesen, der Praris die wiffcnschaftliche Theorie
zuzuführen und das ihm am Herzen liegende Gewerbe so aus einem tastenden
Dunkel zu
wiffenschaftlicher
Klarheit
und
Erkenntniß
emporznheben.
Seiner
Initiative zu verdanken ist vor Allem die verdienstliche Begründung der Versuchs
und Lehranstalt für Brauerei in Berlin, die er als Vorsitzender während zehn Jahren leitete.
* Es
ist erklärlich, daß an den Leiter eines
so
großen, weitverzweigten
Unternehmens auch immer größere Anforderungen sowohl auf beruflichem, wie
auf öffentlichem Gebiete gestellt wurden, denen sich Richard Roesicke bei seinem
regen Jntereffe
für gemeinnütziges Wirken niemals entzog.
Nur der Voll
ständigkeit halber will ich erwähnen, daß er jahrelang die Stellung eines Handels-
richters in Berlin und
eines nichtständigen stellvertretenden Mitgliedes des
Reichsversicherungsamts bekleidet hatte.
Im Jahre 1890 wurde er zum Vor
sitzenden des Verbandes der Deutschen BerufSgenoffenschasten erwählt, welche
Stellung er im Jahre 1898 wegen seiner abweichenden Meinung in Fragen der Arbeiterversicherung niederlegte.
In Anerkennung der den Genossenschaften
geleisteten Dienste wurde er zum Ehrenmitglied ernannt, als welches er sich bis
zu seinem Tode an den Aufgaben des Verbandes lebhaft betheiligte.
Richard
Roeficke war Mitglied verschiedener wirthschaftlicher Verbände und sozialpolitischer
Vereinigungen, welche im Sinne der Kaiserlichen Erlasse vom 4. Februar 1890
den weiteren Ausbau der sozialpolitischen Gesetzgebung anstreben
und
einer
vernünftigen Sozialreform auf liberalem Boden die Wege ebnen wollen. —
Der sich mehrende Wohlstand der deutschen Industrie, angeregt durch die
ihr Haupt immer kühner erhebende sozialistische Partei, ging bereit» zu Anfang der achtziger Jahre daran,
den Arbeiten, gewisse Wohlthaten zukommen zu
lassen, die außerhalb des Rahmens des von der neuen sozialpolitischen Gesetz
Es entstand allenthalben unter den größeren
gebung Vorgeschriebenen lagen.
industriellen Etablissements Deutschlands ein löblicher Wettstreit, einander in der Schaffung sogenannter Arbeiterwohlfahrts-Einrichtungen zu übertreffen. Richard Roesicke war ein viel zu gewiegter Kenner unserer Arbeiter
verhältnisse, um sich von dieser Art, den Arbeitern wohlzuthun, eine dämpfende Einwirkung auf das Wachsthum der deutschen Sozialdemokratie zu versprechen.
An sich waren ja, auch von seinem Standpunkte aus,
alle den Arbeitern zu
Gute kommenden positiven Leistungen der Unternehmer zu billigen und jenen
zu gönnen.
Aber den Geist, durch den sich die große Mehrzahl dieser Wohl
fahrtsbestrebungen in Deutschland leiten ließ, heißen.
Er verstand
es eben,
vermochte Roesicke nicht gut zu
sich in die Seele
denkenden deutschen
eines
Arbeiters hineinzuversetzen, der nicht so sehr Gnade heischt, als das ihm nach der Verfassung zustehende Recht eines Staatsbürgers ungeschmälert auch für
sich in Anspruch nehmen will.
Aber wie ging man vielfach — und das ist
heute noch nicht viel besser geworden — mit sogenannten Musterbetrieben um, während
den Arbeitern
man
selbst in großen,
ihnen auf Geschäftsunkosten
nette Häuser baute, Hilfskassen errichtete und was derlei an sich lobenswerthe
Dinge mehr sind!
Zu gleicher Zeit
suchte man sie mit den Arbeiterhäusern
mehr oder minder zu Hörigen der Arbeitgeber zu machen,
man beschränkte sie
in allem Möglichen, selbst in Angelegenheiten, in denen der Arbeitgeber, kraft
seiner anticipirten
besseren Einsicht,
selbstverständlicher
Entrüstung
sich jeden Eingriff
verbitten
würde.
Arbeiter in das Wahllokal und zwang sie,
von dritter Seite mit
Man kommandirte
„seine"
den ihnen überreichten Stimmzettel
mit dem Namen des „Ordnungsmannes" in der erhobenen Hand,
den Wahl-
kontrolleuren sichtbar,
zu tragen,
in der Wahlurne verschwunden war;
bis er
man beschränkte sie in der Wahl ihrer Lektüre,*) insonderheit der Tageszeitungen
und was dergleichen erbauliche Dinge, den klugen Köpfen „staatserhaltender" Unternehmer und „DrdnungSstützen" entsprossen, mehr sind. Alle diese Erscheinungen, welche in der engsten Gefolgschaft solcher Wohl
fahrtseinrichtungen auftraten und das an sich Gute stark zu degradiren bestens
im Stande
ließen
waren,
skeptisch sich
Wohlthaten,
welche
Anfangs
Roesicke
recht
gegenüber, den Arbeitern Wohlthaten zu Wohlhabenheit zieht Pflichten
Sein Grundsatz war:
sich Denen gegenüber,
helfen.
Richard
Arbeitgeber
neuen Drange
diesem
erweisen, verhalten. nach
den
diese Wohlhabenheit
haben
mit
schaffen
der ermatteten Dankbarkeit in
welche den Stachel
bergen, galten ihm, Arbeitern erwiesen,
so gut
wie nichts.
sich
Was daher
an Wohlfahrtseinrichtungen in den Betrieben Richard Roesicke's auch eingeführt
wurde fein der
-
und ihre Reihe dürfte kaum von einem anderen Betriebe übertroffen es
stand Alles unter dem Zeichen der Selbstverständlichkeit,
Geschäftsleitung
ein
war den Arbeitern räumt.
anerkannten Nothwendigkeit, und
sehr
weitgehendes Recht
in
der Selbstverwaltung einge wo ich für die
„Ich habe in meinem Leben nie auf Dank gerechnet,
wirthschaftlich Schwachen
auf Kosten
irgend etwas habe leisten können",
das waren seine
Als unter seiner Würde stehend hätte er es aber weit von
eigenen Worte.
sich gewiesen,
der von
allen Institutionen
wenn
ihrer
ihm Jemand zugemuthet hätte,
staatsbürgerlichen
eine Gegenleistung etwa
oder persönlichen Freiheit
von den
ihm
unterstellten Arbeiteni zu fordern.
-licht unerwähnt darf bleiben, daß der schaffende Geist Richard Roesicke's
Manchem
vorausgeeilt
ist,
was
später
staatliche Fürsorge im Interesse
Mit der Verkürzung der Arbeitszeit
Arbeiter einzuführen sich gedrungen fühlte.
war
er
erhöhen,
im Braugewerbe war
bahnbrechend
vorangegangen;
sein unausgesetztes Bemühen,
selbst solche Wünsche kundgcthan hatten.
der
die Arbeitslöhne
zu
noch bevor oft die Interessenten
Klare Arbeitsordnungen regelten, noch
bevor solche vom Staate gefordert waren,
in den Roesicke'schen Betrieben das
Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
In gerechter Weise wurde
die Tag- und Nachtarbeit geordnet, die Sonntagsruhe, die Kranken-Unterstützung
eingeführt, die Bildung von Arbeiter-Ausschüssen zur Vertretung der Interessen
der Arbeiter vorgenommen u. A. m. *) Freiherr von Stumm äußerte sich in der RcichStagSsitzung vom 19. Mai 1890 wie folgt:
„Wenn ein Arbeiter eine von mir nicht gewünschte Zeitung liest, dann bestrafe ich ihn nicht, sondern entlasse ihn, und ich werde eS auch in Zukunft so halten. DaS persön liche Verhältniß zwischen Arbeitern und Arbeitgebern darf nicht untergraben werden." 2
Unter den
Wohlfahrtseinrichtungen der
Roesicke'schen Betriebe
obenan
stehen die reich dotirten, liberal funktionirenden Unterstützungskassen; aus ihren Mitteln werden Unterstützungen an Arbeiter gezahlt sowie ärztliche Hilfe und
Arzeneien für deren Angehörige bewilligt.
Sodann die Sparkaffe,
Einlagen der Arbeiter in Höhe der Dividende,
welche die
an die Aktionäre gezahlt
Alte oder invalide Arbeiter erhalten, sofern ihnen nicht leichte,
wird, verzinst. ihren Kräften
die
entsprechende Posten übertragen werden
können, Renten bezw.
Zuschüsse zu den ihnen gesetzlich zustehenden Alters- oder Invalidenrenten.
Wittwen
verstorbener
Arbeiter wird
Unterstützung für
einen
ebenso
Den
langen
Zeitraum gewährt, als die letzteren in den Betrieben der Schultheiß' Brauerei
thätig gewesen sind.
Roesicke's.
Gut eingerichtete Badeanstalten entstanden in den Betrieben
Nicht bloß an die Arbeiter der Schultheiß' Brauerei selbst, sondern
auch an deren Familienangehörige werden Bäder unentgeltlich verabreicht Ich denke daran,
wie sich Roesicke,
Brauerei an der Schönhauser Allee eingerichtet hatte, dieselbe zu mir darüber beklagte,
Badezellen
für die
. . .
als er die erste Badeanstalt in der
bei einem Gange durch
daß sie so wenig benutzt würde,
obwohl die
in dem Etablissement wohnenden Arbeiter überaus bequem
lagen; die Leute, unverheirathete Brauer, brauchten nur einen, wenn ich nicht
irre, geheizten Korridor zu überschreiten, die Badezellen gerade gegenüber.
Weit
entfernt davon,
sich
durch
lagen
ihren Stuben
einen solchen Mißerfolg
einer auf das leibliche Wohl der Arbeiter bedachten Einrichtung dauernd ver stimmen zu lassen, äußerte sich Roesicke also zu mir: „Man sieht, wie Arbeiter
auch
erst
zu sein."
erzogen werden müssen,
Und was geschah?
eingeführt! . . .
um für ihr körperliches Wohl besorgt
Es wurden Prämien für jedes genommene Bad
Das half; bald erfreute sich das Baden einer solchen Beliebt
heit, daß jenes originelle Reizmittel fortfallen konnte, die Badeanstalten wurden
von Alt und Jung, Männern und Frauen in der gewünschten Weise benutzt.
Daß
in allen
größeren Betrieben der Schultheiß' Brauerei Küchen und
Kantinen eingerichtet wurden, ist selbstverständlich; sie wurden aber auch mustergiltig bedient und geleitet, Roesicke pflegte nicht
selten
sich von der Güte der
dort zubereiteten oder verabreichten Speisen und Getränke zu überzeugen. nenne unter den Wohlfahrtseinrichtungen
Ich
der Schultheiß' Brauerei weiter die
Einrichtung einer Jnvalidenwerkstatt, das ErholungshauS in Pankow für Die
jenigen, welche nach überstandener Krankheit oder aus anderem Grunde einer Zeit der Ruhe und Schonung bedurften.
Wie aus dem Gesagten schon hervorgeht, beschränkte sich Roesicke's wahrhaft
väterliche Fürsorge nicht bloß auf die Arbeiter, sie erstreckte sich auch auf deren Familien.
So entstanden für die Kinder der Arbeiter in jedem
der Haupt
betriebsstätten der Schultheiß' Brauerei eine Kleinkinderschule, eine Strick- und
Handarbeitsschule, eine Schülenverkstatt für Knabenhandarbeit, das Familienhaus zur Unterbringung von Kindern, wenn Krankheitsfälle deren zeitweise Entfernung
aus dem Elternhause wünschenSwerth erscheinen lassen, und vor Allem die Kinder in
heime
Berlin,
Desiau und Pankow,
Kindern Aufnahme
Leitung
zur Erholung
dieser Anstalten liegt
in
denen alljährlich Hunderte von
Die
während der Sommermonate finden.
in den Händen von Diakonissen, die
auch den
Arbeitern selbst und deren Familien in Krankheitsfällen Hilfe leisten.
Um den
Kindern der Arbeiter die
erwünschte
Abwechslung zu
bieten,
tauschten die einzelnen Großbetriebe ihre „Ferienkolonien" gegenseitig aus,
so,
daß z. B. die Berliner nach Desiau, und die Desiauer Kinder nach Berlin bezw. Pankow für die Ferienwochen übersiedelten. Sein frommes, kindlich-reines Herz
wandte sich diesen Kindern besonders freundlich zu.
Daß es ihnen an nichts
fehle, dafür sorgte er unermüdlich. War es doch erst noch im vorigen Sommer,
wenige Wochen vor seinem Tode, bald nach der für ihn unsagbar anstrengenden Reichstagswahlkampagne, daß er es sich nicht nehmen ließ, die Berliner Ferien kolonie in das wohnliche Haus
nach Desiau persönlich zu begleiten.
Auf dem
Bahnhof Wittenberg traf ihn ein Bekannter. „Ich fahre mit „meinen Kindern" nach Dessau", rief er ihm fröhlich zu und wies auf die beglückte Schaar kleiner
die ihm,
Berliner und Berlinerinnen,
begleitet von ihren Pflegerinnen,
auf
dem Fuße folgte, um den Zugwechscl vorzunehmen . . .
Besonders schwächliche Kinder, für die der Arzt einen Aufenthalt an der See als wünschenSwerth erachtet hatte, war in einem unserer besten Nordsee
bäder Unterkunft
geschaffen
worden.
Als Zeichen
dankbarer Gesinnung war
ihm einmal eine Photographie eines solchen „Seebataillons" überreicht worden. Diesem unscheinbaren Bildchen, ohne Rahmen,
hatte er einen Platz in seinem
Desiauer Arbeitszimmer eingeräumt, so, daß seine Blicke oft auf dem Bilde
weilen konnten. Das schönste Fest der Deutschen, Weihnachten, ging auch in den Betriebs stätten der Schultheiß' Brauerei nicht, ohne freundliche Spuren zu hinterlasien,
vorüber. punkte
Ja, diese Weihnachtsfeiern gestalteten sich zu einem wahrhaften Licht in dem
arbeitsreichen Einerlei des Jahres.
Wenn es irgend anging,
betheiligten sich auch die Familienangehörigen Roesicke's an diesen Feiern, die
dadurch den trauten Charakter
eines familiären Festes annahmen.
Es wurde
gesungen, gesprochen und beschenkt, sodaß Helle Freude auf allen Gesichtern erstrahlte. Immer neue Mittel ersann Roesicke, um das Leben seiner Arbeiter zu
einem erträglichen zu gestalten.
Dankbar war er,
wenn ihm Anregungen von
dritter Seite kamen, die sich praktisch verwirklichen ließen.
Arbeiter, welche in
Folge einer schweren Erkrankung oder aus sonstigen Gründen einer besonderen
2*
Fortbtldungs- und Geselligkeitspflege.
20
Erholung bedurften, wurden theils auf Kosten der Gesellschaft, theils auf Kosten der Nnterstützungskasie nach Heilstätten, z. B. nach Braunlage a. Harz, Grabowsee, Görbersdorf usw. gesandt. Wo von der Schultheiß' Brauerei technische Betriebe unterhalten wurden, erhielten die Arbeiter das Feuerungsmaterial zum Einkaufs
preise ; sie durften die Kohlen usw. zu den hierfür festgesetzten Zeiten in beliebig
kleinen Quantitäten in Empfang nehmen,
in Desiau
wird den Arbeitern das
Feuerungsmaterial auf Wunsch in ihre Wohnung geliefert.
Um den Arbeitern
Gelegenheit zu geben, unter günstigen Bedingungen in den Besitz eines Fahrrades
zu gelangen, wurde ihnen ein entsprechendes zinsfreies Darlehn gewährt, welches in wöchentlichen Raten von 2 Mk. bezw. 1,50 Mk. zurückgezahlt werden mußte.
Es war den Einzelnen freigestellt, den Ankauf selbst zu besorgen oder hierzu die
Vermittelung der Direktion
zu
benutzen.
Den Arbeitern in Desiau wurden
kleine Parzellen des der Gesellschaft gehörigen oder von ihr gepachteten Ackers
gegen mäßigen Pachtzins theilweise im Wege des MeistbietungSverfahrenS, theilweife zum Selbstkostenpreise überlasten.
die NnterstützungSkasie.
Die eingehenden Pachtgelder stoßen in
Das Pflügen und Düngen des Ackers wurde auf Kosten
der Gesellschaft besorgt. Aber nicht nur um das materielle Wohl seiner Arbeiter war Richard
Roesicke
besorgt.
Von
den Arbeitern
der Schultheiß' Brauerei
wurden von
Zeit zu Zeit Vergnügungen veranstaltet, an welchen auch die Familienangehörigen theilnahmen, so von den Berliner Arbeitern Landpartien, selbstredend auf Kosten
der Gesellschaft, diesem Zwecke
von den Arbeitern in Desiau Konzerte, Bälle in einem zu von der Brauerei
hergerichteten Festsaale.
In Desiau fanden
für die Arbeiter ferner von Zeit zu Zeit wisienschaftliche und allgemein bildende Vorträge statt.
Traten Wünsche, die auf Erweiterung ihrer Allgemeinbildung
hinzielten, von Seiten der Arbeiter an ihn heran, so griff er sie mit besonderer
Genugthuung auf, so eine Anregung, ihnen den Besuch guter Theater zu billigen Preisen zu ermöglichen. In der Betriebsstätte zu Desiau wurde eine Bibliothek
errichtet, bestehend aus etwa 400 Bänden unterhaltenden und belehrenden Inhalts.
Aus dieser Bibliothek durften die Arbeiter und deren Angehörige Bücher un entgeltlich zum Lesen mit nach Hause nehmen.
geworden,
Es ist mir zufällig bekannt
daß sich um die Auswahl der Bücher für diese Bibliothek bei ihrer
Begründung nicht bloß Roesicke selbst, sondern auch seine Gattin bemüht haben, so ernsthaft ließ man sich die Sache angelegen sein. An derselben Betriebsstätte
erhielten die Arbeiter auf Wunsch Musikunterricht.
für die Instrumente, Roten usw.
trug die Brauerei.
den Vergnügungen der Arbeiter
und
Alle Söhne von Arbeitern
bei
Die Kosten für denselben, Die Kapelle
spielte bei
sonstigen feierlichen Gelegenheiten.
der Desiauer Betriebsstätte im Alter von 6
bis
14 Jahren konnten am Turnunterricht theilnehmen, für welchen von der Brauerei
ein Turnlehrer bestellt war. Einzelnen befähigten Turnern wurde Unterricht im Trommeln und Pfeifen von dem Musiklehrer der Erwachsenen ertheilt. Auf einer durchaus liberalen Grundlage hatte Richard Roesicke insonderheit
auch die Arbeiter-Ausschüsse in den seiner Leitung folgenden Betrieben ausgebaut. Mit Recht erblickte er in ihnen, sofern sie streng auf dem Prinzip der Selbst verwaltung basirten, ein geeignetes Mittel, das gute Einvernehmen zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erhalten und zu fördern. Nichts für die Arbeiter ohne ihre Mithilfe und ihre Mitbestimmung! Wie oft hörte ich diesen Satz aus seinem Munde; er war für ihn ein Dogma, das sich in der Praris aber auch vollkommen bewährt hatte.
Wenn derartige Arbeiter-Ausschüsie anderwärts kaum mehr als eine soziale Dekoration bedeuten, so geht schon aus Programm und Satzungen der in Roesicke's Betrieben für die einzelnen Arbeitcrgruppen bestehenden Arbeiter-Ausschüsse die ernsthafte Bedeutung derselben hervor.
Sie waren geschaffen:
„Zur Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer der Schultheiß'
Brauerei Aktien-Gescllschaft, soweit es sich um deren Verhältniß zur Gesell schaft
handelt; zur Berathung und Beschlußfasiung über die ihnen von
der Direktion zugewiesenen Angelegenheiten; zur Begutachtung der zu er-
lasienden Arbeits- und Strafordnungen; zur Ucberwachung bestehender und
zur Berathung neuer Wohlfahrtseinrichtungen; zur Beaufsichtigung und Anregung von Vorrichtungen zum Schutze von Leben und Gesundheit
sowie zur Unterstützung der Direktion und der Beamten behufs Aufrecht erhaltung von Ehrenhaftigkeit, Ordnung und Sitte und endlich zur Schlichtung
von Streitigkeiten aller Art." Die Satzungen bestimmen u. A. : „Die Ausschußmitglieder werden alljährlich in geheimer Wahl neu gewählt und erhalten außer dem Ersatz ihrer Baaranslagcn als Entschädigung
für Zeitvcrsäumniß bei Ausübung ihres Amtes eine jährliche Vergütung
von 100 Mk.
Jeder Arbeitnehmer, der in den Ausschuß gewählt ist, hat
Anspnich auf eine vierwöchige Kündigungsfrist
.
.
.
Die Ausschüße
treten zur Berathung zusammen, so oft dies der Direktion erforderlich
erscheint oder mindestens zwei Mitglieder eines AuSschuffeS unter Angabe der zur Berathung zu stellenden Angelegenheiten cs verlangen. ladung
erfolgt durch einen
Die Ein
beauftragten Beamten der Gesellschaft . . .
An den Abstimmungen nehmen nur die Ausschußmitglieder theil . . . Bei
Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des der Einstellung nach ältesten Mitgliedes . . . Alle Beschlüße sind in ein im Bureau der Gesellschaft aufzubewahrendes Protokollbuch einzutragen und von den an der Sitzung
Die Protokolle gelten
beteiligten Ausschußmitgliedern zu unterzeichnen. als genehmigt,
sofern mindestens die Hälfte der betreffenden Mitglieder
unterzeichnet hat.
Die Direktion kann die Protokolle in einer ihr geeignet
erscheinenden Weise zur Kenntniß der übrigen Arbeitnehmer bringen . . ." Der letzte Satz deutet schon darauf hin, daß weitgehendste Oeffentlichkeit
für Alles, was geschah und die Arbeiter anging, als Prinzip galt.
Als sehr
geeignet erwies sich für derartige Veröffentlichungen der „Schultheiß-Bote", ein
Organ, welches Roesicke für die Arbeitnehmer seiner Betriebe eigens geschaffen hatte. — Nicht ohne Jntereffe auch für weitere Kreise dürften gereifte, für den so
genannten Haustrunk,
wie solcher
geschaffenen Bestimmungen
sein.
in
jeder Brauerei üblich ist,
von Roesicke
Ihn abzuschaffen und durch Zuschlag zum
Lohne zu ersetzen, erschien ihm aus verschiedenen Gründen als ein nicht gangbarer Weg.
Es heißt nun in den betreffenden Bestimmungen:
„Allen bei der Schultheiß'
Brauerei
beschäftigten Arbeitern wird
Freibier gewährt. Das Freibier wird während der Pausen und nach Feierabend im
Haustrunk - Ausschank, der sich in jedem Betriebe befindet, gegen Marken verabfolgt.
Die Arbeitnehmer sind berechtigt, ihre Biermarken in Zahlung zu geben, bezw.
sie erhalten
5 Pfennige ausgezahlt.
für jede zurückgegebene Biermarke ä V2 Liter
Außerdem zahlt die Gesellschaft für jede zurück
gegebene Biermarke 2x/2 Pfennige in die Unterstützungskasse. Bier darf in der Regel nicht mit zur Arbeitsstelle genommen, vielmehr
nur in den dazu bestimmten Räumen genossen werden. Das Schnapstrinken ist verboten. Dagegen erhalten die Arbeitnehmer
im Sommer bei
warmer Witterung kalten Kaffee und
im Winter bei
kalter Witterung warmen Kaffee unentgeltlich, den sie während der Arbeit genießen dürfen."
Daß Richard Roesicke weit entfernt davon war, den Kreis der Fürsorge
für die Arbeiter
der ihm unterstellten Betriebe
mit
den
bisher
geschaffenen
Wohlfahrtseinrichtungen als geschloffen zu betrachten, geht daraus hervor,
daß
er in seiner Ansprache bei Gelegenheit der letzten Dessauer Weihnachtsfeier sich
wie folgt äußerte: „Es ist noch viel Arbeit zu schaffen, da wir noch lange nicht an dem Ziele angelangt sind, welches wir uns gesteckt haben, und gerade thürmen
die jetzigen Zeitverhältnisse neue Schwierigkeiten empor, die überwunden werden müssen."
Die Zeiten wandeln sich und die Menschen ändern sich mit ihnen.
schloßen hatte,
Als
seine Augen für immer ge
Richard Roesicke am Abend des 21. Juli 1903
als seine thatkräftige Hand erlahmt war, da mochte wohl auch
manches Arbeiters Auge bei dieser Trauerkunde feucht geworden sein und ihm eine Thräne der Dankbarkeit gewidmet haben . . .
Ungemein
charakteristisch
für
beide
aber,
Theile
für die Art
unserer
modernen Arbeiter sowohl, wie für den Arbeiterfreund Richard Roesicke ist es,
daß es denjenigen Arbeitern, die sich seiner selbstlosen Fürsorge in erster Linie zu erfreuen hatten, mit ganz vereinzelt stehenden Ausnahmen nie in den Sinn gekommen ist, öffentlich Zeugniß für ihn abzulegen,
mochten sich -- besonders
in politisch erregter Zeit — die Angriffe gegen ihn, selbst gegen die unantastbare
Lauterkeit seiner Gesinnung, gegen seine wahrhaft einzig dastehende Gerechtigkeits
liebe auch bis zu niedriger Gehässigkeit verirren! an
schmachvollen,
gegenüber doppelt
solchen Zeiten.
wegen
ihrer Verstecktheit,
Dafür fehlte es aber nicht
der Offenherzigkeit
verächtlichen Ausflüffen eines kraffen
eines Roesicke
Parteifanatismus in
Ich weiß, wie weh solche Niedrigkeit des Charakters und der
Gesinnung dem Herzen
des Freundes
9iie aber, auch nicht vorüber
gethan.
gehend, selbst nicht im ersten schmerzlichsten Gefühl eines solchen absichtsvollen Verkennens konnte der Edle in seiner Liebe und Sorge für „seine Arbeiter"
wankend gemacht werden. Nachsicht und Mitleid mit den Schwächen der Menschen natur behielten selbst in Augenblicken trübsten Unmuths bei ihm die Oberhand. „Alles verstehen heißt alles verzeihen"; nach diesem nur auch recht zu verstehenden
Wahr-Worte richtete er sich. Es
Recht
hat
sich
erwiesen,
behalten sollte.
freilich erst bei seinem Tode, daß er auch darin
An der Bahre des
sich selbst ungerechteste Parteileidenschaft
guter, ein
edlen Menschenfreundes
wandelte
in ehrliche Trauer darüber, daß ein
braver Mensch, der aufrichtigste und
hingebungsvollste Freund der
Mühseligen und Beladenen für immer verstummt war . . .
Ich lese
in einem Flugblatte,
welches
sich
mit
dem Politiker Richard
Roesicke beschäftigt, nachstehenden, knapp gehaltenen Satz: „Die im Jahre 1889 veranstaltete,
auf dem Gebiete des Arbeiter
schutzes epochemachende Ausstellung für Unfallverhütung verdankte ihre Ent
stehung seiner Anregung und ihre Erfolge vornehmlich seiner Leitung."
Vielleicht war der Gedanke einer solchen Ausstellung von einem
seiner
Mitarbeiter auf sozialem Gebiete zuerst ausgesprochen worden; ich glaube mich wenigstens zu erinnern,
geäußert hatte.
daß Richard Roesicke sich damals zu mir dahingehend
Nie aber wäre dieser Gedanke fruchtbringend geworden, roettn
nicht er ihn sofort aufgegriffen und nach seiner Art verfolgt hätte. Es war wahrlich keine leichte Aufgabe,
in einer ausstellungsmüden Zeit
den Gedanken einer neuen Ausstellung in Berlin praktisch zu verwerthen und
lwch dazu einer Ausstellung, die nichts an Kurzweil, leichtem Amüsement und blöden Volksbelustigungen zu bieten sich vorgenommen hatte, sich vielmehr nur
an den sittlichen Ernst der Nation zu wenden gedachte und darum einen finanziellen Erfolg von vornherein ausschloß.
Unfälle in industriellen Betrieben zu verhüten, das war ein Thema, welches Richard Roesicke seit Langem beschäftigt hatte.
Wir sprachen oft über dasselbe.
Jeder Unfall, der sich in seinen eigenen Betrieben ereignete, war für ihn nicht etwa nur ein unliebsames Ereigniß für die Tageschronik,
er griff ihn direkt
an's Herz, und immer wieder überwältigte ihn der Gedanke, daß sich das Unglück bei vermehrter Sorgsamkeit vielleicht doch hätte verhüten kaffen können.
und Gesundheit des
Leben
einfachen, auf seiner Hände Arbeit angewiesenen Mannes
erschien ihm als ein auf's Peinlichste zu schützendes Gut; Vorrichtungen zur Ab
wendung von Betriebsunfällen zu treffen,
als
eine
der vornehmsten Pflichten
Zu jener Zeit stand man aber noch in den Anfängen aus
des Unternehmers.
diesem menschenfreundlichen Gebiete; bis dahin waren Maschinen und Arbeits
apparate ohne jegliche Schutzvorrichtung konstruirt und auf den Markt gebracht worden.
Erst durch die Berufsgenoffenschaften und das ReichSversichcrungSamt
war eine Initiative zur Einführung solcher Sicherheitsmaßnahmen hervorgerufen
worden.
Die Nothwendigkeit
einer Ausstellung solcher Schutzvorrichtungen für
alle gewerblichen und industriellen Gebiete lag auf der Hand,
sie sollte eine
Uebersicht gewähren über das bisher Erreichte, sollte Vergleiche ermöglichen und
neue Anregungen zum Besten der werkthätigen Bevölkerung bieten.
Daß eine solche, der
dem Arbeiterwohl dienende Ausstellung nur in großem,
Bedeutung der Sache entsprechenden Maßstabe in's Leben treten konnte,
stand
für ihn fest.
Daher
wurde kein Opfer an Zeit und Geld für zu groß
erachtet, um der vortrefflichen Idee eine würdige Ausgestaltung zu verschaffen.
Die Seele
des Arbeitsausschuffes war Richard Roesicke.
Nahmen
auch
die Vorarbeiten und dann die Tage der glänzend gelungenen Ausstellung selbst einen
großen Theil
ihm doch Genuß. —
seiner
Arbeitskraft
in Anspruch:
diese
Arbeiten
boten
auch wieder reichstes Jntereffe und verschafften ihm einen seltenen
In jenen Tagen war es, daß Richard Roesicke wiederholt Gelegenheit
fand,
mit dem
kurz vorher zur Regierung gelangten Kaiser Wilhelm IT. in
persönliche Berührung zu kommen.
Freimüthig, wie er es gewohnt ist, äußerte
sich der Kaiser zu Roesicke auch über Arbeiterfragen. Hocherfreut war Letzterer,
ein so tiefes, weitgehendes Verständniß bei dem jugendlichen Herrscher selbst für schwierige soziale Probleme vorzusinden und er meinte, weitgehende Hoffnungen
im Jnteresie der deutschen Arbeiter an dieses Verstehen und Mitempfinden knüpfen zu dürfen . . .
Damals
war
Roesicke
Richard
Kaiser
von
Wilhelm
II.
auch
in
Die große Ausstandsbcwegung der westphälischen
Audienz empfangen worden.
bei der sich der Hochmuth der Grubenbesitzer so recht in dem
Bergarbeiter,
Ausspruch eines Bergasiesiors offenbarte: „Mit Arbeitern verhandeln wir nicht",
hielt alle Welt in Athem; manch kräftiges Wort mochte auch aus dem Munde des Kaisers über die schwierigen und dem Monarchen höchst unliebsamen Verhältniffe, welche zu jenem Ausstande geführt Richard Roesicke gewohnt war, aber
—
das
auch
und
Wie es
charakterisirt
ausführliche Aufzeichnungen gemacht,
wieder
den
vornehmen Charakter
des
in die Dcffentlichkeit drang aus dieser und seinen späteren Be
Mannes gegnungen was für
auf der Stelle
dem Kaiser
redung mit
hatten, gefallen sein.
hatte er sich auch über seine eingehende Unter
mit dem Kaiser
in
den Räumen
die breite Deffentlichkeit
geworfene Wort verwahrte Roesicke
bestimmt
der Ausstellung selbst mir das,
sein konnte;
treu für sich,
das vertraulich hin
nie hatte er
auch nur ver
traulich Jemandem Mittheilung davon gemacht.
Es war wohl eine der herbsten und schmerzlichsten Enttäuschungen, die ihm
bcschieden war,
zu sehen,
Kurs wieder änderte.
wie rasch sich der so frisch und fröhlich begonnene
Richard Roesicke, dem Kaiser Wilhelm II. bei seinem
Besuche der anhaltischcn Residenz noch huldvoll zugcwinkt hatte, als er ihn inmitten
seiner Arbeiter im
festlichen Spalier erblickte, war rasch wieder vergeffen, die
Episode der Ausstellung durch andere Eindrücke bald überholt, ja, der ihm einst so gnädig gesinnte Kaiser erinnerte sich des von ihm ausgezeichneten Mannes
nicht einmal mehr,
als sich die Rcichshauptstadt zu desien Bestattung anschickte
und weite Bevölkerungsschichten dem todten Roesicke eine Ehrung bereiteten, wie sie nur den besten und verdientesten Bürgern je zu Theil geworden ist . . . Rach Schluß der in allen
ihren Phasen zwar bestens gelungenen, für die
Unternehmer aber freilich recht kostspieligen Ausstellung ward ihm, sehr unerwartet, der Rothe Adlerorden verliehen; wie ausdrücklich betont wurde, nicht als bloße Anerkennung
für die Verdienste um das Ausstellungsunternehmen.
Trotzdem
lag es nahe, daß diese Ehrung von seinen Mitarbeitern im Arbeitsausschuß in Verbindung gebracht
werden würde mit
dieser Ausstellung.
Das erweckte die
peinlichsten Empfindungen in der Brust des feinfühligen Mannes. hätte er,
wenn es nach seinem Willen allein gegangen wäre,
Weit lieber
auf jede äußere
Auszeichnung, die den Schein der Bevorzugung erwecken konnte, verzichtet, aber
er war, wie ich noch bei einer anderen Gelegenheit nachweisen werde, viel zu aufrichtig
monarchisch
gesinnt, um eine Ehrung zurückzuweisen,
die
ihm sein
König zugedacht hatte.
Im Spätherbst des Ausstellungsjahres hatte ich die Freude, auf
einer Reise nach Paris
zu begleiten,
um die dort in
den Freund
den letzten Zügen
liegende Weltausstellung noch vor Thoresschluß zu besichtigen.
Es war in der
Seinestadt, wo ihm aus Berlin die beglückende Kunde ward, daß seine Bemühungen,
nunmehr auch für seine eifrigsten Mitarbeiter an dem Ausstellungswerke Aus zeichnungen zu erwirken, Aussicht auf Erfolg haben dürften.
Und da saß der
selbstlose Mann viele Stunden lang einsam in seinem Pariser Hotel und ar
beitete im Jnteresie Jener ...
Der Königlich Preußische Orden vom Rothen Adler blieb nicht die einzige Auszeichnung, welche ihm in diesem Jahre zu Theil ward, es folgten ihr noch
mehrere aus dem
dem Deutschen Reiche befreundeten Auslande.
Orden erhielten einen Ehrenplatz
in einer
vornehmen
Casiette.
Sämmtliche
Bezeichnend
für den bescheidenen Sinn Richard Roesicke's war es aber, daß Niemand über den engsten Kreis
seiner Angehörigen
und Freunde
hinaus
auch
nur
eine
Ahnung von seinem kostbaren Ordensbesitz hatte. -
Nach Inkrafttreten der ArbciterversicherungSgesetze ist Richard Roesickc —
außer im Verbände der Deutschen BerufSgenosienschaften — als Mitglied des Vorstandes der Brauerei- und MälzereiberufSgenosicnschaft und als Vorsitzender des
Ausschußes in
der
„Landesversicherungsanstalt Berlin"
thätig gewesen.
Von dem Vertrauen seiner Berliner Benifsgenosien getragen, galt er seit langer Zeit als deren geistiger Führer und nahm auch in der inzwischen begründeten
Potsdamer Handelskammer eine hervorragende Stellung ein. — Es könnte vielleicht überraschend scheinen, daß cd bei seiner weitgehenden und steten Geneigtheit, einerseits den Arbeitern Entgegenkommen zu beweisen, und bei seiner geistigen Führerschaft innerhalb des Braucreigewerbes anderseits,
in den Jahren 1890 und 1894 zu den Berliner Brauerstreiks und den Boykotts
der Berliner Großbrauereien kommen, daß Beides nicht verhütet werden konnte.
Ich werde
stets
auch
noch
sachlich
wie Richard Roesicke streng,
nachzuweiscn haben,
zu
unterscheiden
verstand
zwischen
aber
berechtigten und un
berechtigten Forderungen der Arbeiter, zu welch letzteren stets doch nur partei
leidenschaftliche Aufreizungen von Leiten gewerbsmäßiger Agitatoren den Anstoß
boten.
Zu
beiden
erwähnten Streik-
und
Boykottbewegungen
im Berliner
Braugewerbe hatten solche, vom einseitigsten Parteiinteresse angefachten Forder die jeder noch so weit gehende Arbeiterfreund und
ungen den Anreiz gegeben,
Sozialpolitiker zu den unberechtigten zählen mußte;
in beiden Fällen handelte
es sich lediglich darum, die betreffenden Großbetriebe die übermüthig gewordene berathener und bedienter Arbeiter fühlen zu
Macht sozialistisch gesinnter, übel
So war es im Jahre 1890 eilt Berliner Buchdrucke r, Wilhelm
lassen. Werner
geheißen,
der
die
Brauereiarbeiter
bedauerlichen Bewegung aufgereizt hatte.
in
gewissenloser
Weise
kurz
der
kandidat ausgetreten war,
Triumph
zuvor
schwebte
des Proletariats über
auch
der
Dem sehr
der Radikalen, deren Stärke in den Geheimkomitees verborgen lag. strebsamen Manne,
zu
Er war ein Häuptling der „Jungen",
als sozialdemokratischer Reichstags
als herrliches Ziel
die Vertreter
vor der wirthschaftliche
der bürgerlichen Gesellschafts
ordnung ; als zweite Etappe dachte er sich die Erringung der politischen Macht durch seine Gesinnungsgenosien.
Außerdem scheint dieser rücksichtslose Agitator
bei seinem fanatischen Eintreten für den Bierboykott, wofür gravirende Ver dachtsmomente vorlagen,
zu sein.
auch
durch persöuliche Jnteresien beeinflußt
gewesen
Wie Richard Roesicke im Jahre 1890 schrieb, waren es „entwürdigende"
Zumuthungen, welche von jenen Agitatoren an die Berliner Brauereien gestellt wurden.
Der
Ausstand
ist
denn
auch
kläglich
verunglückt,
Boykott, welcher über die Brauereien verhängt worden war.
genau
wie
der
Bebel selbst hatte
durch eine in Berlin gehaltene Rede bewirkt, daß dieser Boykott, den er „eine
Dummheit" nannte, ausdrücklich aufgehoben wurde. Entsprang somit so
der 1890 er Bierboykott einer kapitalen „Dummheit",
lag dem sozialdemokratischen Boykott
1894 der frivolste Uebermuth zu Grunde.
der Berliner Brauereien
vom Jahre
Ich schrieb am 11. Mai desselben
Jahres im „Anhaltischen Tageblatt":
„Obwohl seitens der sozialdemokratischen Parteileitung für die sog.
Maifeier die Parole ausgegeben war, die Arbeit nur dort ruhen zu laßen, wo dies ohne Beeinträchtigung der Arbeiterinteresien durchführbar
wäre, hielten sich die in Berliner Brauereien und Faßfabriken beschäftigten
Böttchergesellen, vertrauend auf ihre straffe Organisation, für berufen, der
staunenden Mitwelt eine außerordentliche Probe ihrer Kraft zu liefern. Am 19. April erhielten nämlich die Berliner Brauereien ein Rund
schreiben, worin auf Grund des BeschlnffeS einer Versammlnng von Brauern
und Brauerei-Hilfsarbeitern an die Brauereibesitzer
und Direktoren
die
Aufforderung gerichtet wurde, ihren Arbeitern den 1. Mai freizugeben. Die Brauereien dagegen, falls
beschlosien, eine
dieses Schriftstück
derartige Aufforderung
unbeantwortet
zu lasten,
von den Arbeitnehmenr der
einzelnen Brauereien an die betreffenden Besitzer bezw. Direktoren direkt gerichtet werden sollte, ihnen folgende Antwort zu ertheilen:
„In Anbetracht, daß der Betrieb eines Brauerei-Unternehmens, nament lich während der Dauer der Mälzungsperiode, sowie
der Versandt des
Bieres bezw. die Bedienung der Kundschaft nicht willkürlich zu unter brechen ist, kann dem Wunsche eines Theils der Brauerei-Arbeitnehmer,
ihnen den 1. Mai freizugeben, nicht entsprochen werden."
Kurz
darauf
ersuchten
die
Böttchergesellen
in
der
Mehrzahl
der
dortigen Brauereien die betreffenden Vorgesetzten um Freigabe des 1. Mai
mit der Motivirung, daß auch ihr Verein einen solchen Beschluß gefaßt
habe und, wenn ihnen auch persönlich an dem Ruhenlasten der Arbeit nichts gelegen sei, sie doch verpflichtet seien, diesem Beschluste Folge zu
Es
geben.
wurde
den
Böttchergesellen
von
den
Braumeistern
bezw.
Direktoren der in Rede stehenden Brauereien die vorbezeichnete Antwort
ertheilt.
Am 30. April erhielten die Brauereien eine weitere, vom 29. April datirte Zuschrift folgenden Wortlauts: „Die heutige öffentliche Versammlung der Böttcher Berlins hat beschlosten,
daß sämmtliche in Berlin und Umgegend arbeitenden Böttcher die Arbeit am
1. Mai ruhen lasten, und sich am I. Mai, Morgens H Uhr, in
unserem Vereinslokal cinfinden." Der Verein der Berliner Brauereien
beschloß
darauf,
denjenigen
Böttchergesellen, welche in Folge des von ihrem Verein gefaßten Beschlustcs am 1. Mai thatsächlich
nicht zur Arbeit erscheinen sollten, am 2. Mai
Morgens bei ihrem etwaigen Wicdcrantritt zu erklären, daß sie vor dem
7. Mai nicht wieder zur Arbeit zügelnsten werden könnten und daß sie für diese Zeit, d. h. vom 1. bis 6. Mai, auch keinen Lohn erhalten würden. Sollten sie hiermit nicht einverstanden sein, so hätten sie sich als entlasten
zu betrachten. Thatsächlich haben die Böttchergesellcn in der Mehrzahl der Brauereien
und einer Anzahl Faßfabriken am 1. Mai nicht gearbeitet, in anderen aber wie an jedem Tage die Arbeiten ausgeführt.
Es ist demgemäß am 2. Mai in
denjenigen Brauereien, wo die Böttchergesellen nicht gearbeitet
der vorbezeichneten Weise verfahren worden.
haben, in
Am 3. Mai hielten darauf
die Böttchergesellen
große Versammlung ab,
eine
in welcher sie einen
General-Streik beschloßen mit der Maßgabe, die Arbeit nicht eher wieder aufzunehmen, bevor ihr neuer Tarif genehmigt worden sei.
im Vergleich zu dem von den Berliner Böttchern im Jahre
Dieser läuft
1890 aufgestellten darauf hinaus: „Daß der Lohn pro Woche
von 6 Tagen von Mk. 27.— auf
Mk. 30.— erhöht wird, daß die Arbeitszeit von 91/« Stunden auf 9
Stunden
4 Uhr,
ermäßigt wird, daß
6
statt um
an den Tagen vor den Hauptfesten um
Uhr Feierabend gemacht wird,
daß Ueberstunden,
die bisher mit 60 Pfg. bezahlt wurden, gänzlich fortfallen und Akkord
arbeiten in Brauereien in Zukunft unterbleiben sollen und daß schließlich jedesmal am 1. Mai die Arbeit ruhen soll."
Die Arbeitsniederlegung ist nun in denjenigen Brauereien, in welchen
Böttchergesellen noch am erfolgt.
1. Mai gearbeitet hatten, am Freitag, 4. Mai
In denjenigen Brauereien, in welchen
sie wegen der Maifeier
nicht vor dem 7. Mai wieder anfangen sollten, sind sie an diesem Tage nicht angetreten und haben in einer Zuschrift, ihrer Lohnkommission entsprechend, erklärt, daß sie die Arbeit nicht wieder aufnchmen würden, bevor überall
die neuen Lohnforderungen bewilligt sein würden.
Die Brauereien haben ihrerseits beschloßen, die Forderungen nicht
zu
bewilligen,
sondern zu versuchen,
außerhalb des Verbandes
stehende
Böttchergesellen zu dem bisherigen, nach ihrer Meinung günstigen Lohnsätze
zu bekommen;
bis dahin aber sich mit den wenigen verbliebenen Gesellen
bezw. Arbeitern zu
Letzteres ist um so eher möglich,
behelfen.
als
die
Winterarbeit vollendet ist und auch die Vorbereitungen für das Pfingstfest
bereits getroffen sind.
Zur Beschaffung neuer Hilfskräfte haben die Berliner Brauereien in einer Reihe deutscher Zeitungen ein Inserat veröffentlicht, durch welches
zum sofortigen Eintritt Böttcher gesucht werden unter den Bedingungen des
Lohntarifs der Berliner Böttchergesellen von 1890. mindestens
27
Mk.,
tägliche
Arbeitszeit
Das heißt: Wochenlohn
9^2 Stunden.
Ueberstunden
60 Pfg., du jour:, Sonntags- und Feiertagsarbcit wird bezahlt. mindestens 4 Liter Freibier.
Inzwischen
haben
Täglich
Rach 14 tägiger Arbeit Ersatz der Reisekosten.
nun in einer Versammlung vom 6. d. M. die
Brauer und Brauereihilfsarbeiter beschloßen, die Böttchergesellen zu unter stützen und keine Arbeiten zu verrichten, die von Böttchergesellen zu machen sind.
Auf diese Beschlüße hin haben in den letzten Tagen auch einige
Brauer und Brauereihilfsarbeiter die ihnen übertragenen Arbeiten verweigert, und zwar erstere, weil man sie aus den Transportgefäßen Spunde heraus-
schlagen und die Reifen anschlagen hieß, eine Arbeit, zu der, abgesehen
von ganz großen Brauereien, immer Brauergesellen benützt worden
sind.
Letztere, weil sie die Hilfsleistung des Pichens von Fäsiern mittels der
Pichmaschine als ihnen nicht zukommende Arbeiten bezeichneten. einer
in
öffentlichen Versammlung zu Rirdorf
beschlosien
Auch ist
worden,
die
Vereinsbrauerei daselbst zu boykottiren, um sie zur Anerkennung der For
derungen
der Böttchergesellen zu zwingen.
haben sich
Die Brauereien
selbstverständlich mit dieser Vereinsbrauerei solidarisch erklärt und beschlosien, daß für den Fall, daß jener Boykottbeschluß bis zum Ablauf des 15. Mai d. I. nicht ausdrücklich zurückgenommen ist, folgende Maßnahmen getroffen werden:
1. Die dem genannten Verein angehörigen Brauereien beschränken ihren
Betrieb. 2. Die Brauereien entlassen 20 Proz. ihrer Arbeitnehmer und zwar in erster Linie diejenigen, welche sich bisher an den Bestrebungen Ber liner Arbeiter, durch Boykottirung einzelner Brauereien Zugeständnisie
in Sachen des Böttcherstreiks zu erzwingen, betheiligt haben. 3. Der vom Verein der Brauereien Berlins und der Umgegend unter
haltene Arbeitsnachweis für Brauergesellen wird aufgehoben. Vorstehender Beschluß ist der Berliner Gewerkschaftskommission und der Gewerkschaftskommission zu Rirdorf vom Verein der Brauereien Berlins
und der Umgegend mitgetheilt worden. Die Energie Hrn.
des Generaldirektors der
Kommerzienraths
Frivolität
geradezu
Roesicke,
lächerlichen
Maifaullenzer geradezu heraus;
in der
Vorstoßes,
größten Berliner Brauerei,
Abwehr
forderte
dieses,
nun
in
seiner
die Wuth
der
als ob der gesunde Menschenverstand bei
jenen Agitatoren am 1. Mai für immer auf- und davongegangen wäre,
wird in einem Versammlungsbericht des „Vorwärts" von einer seitens der Brauereileiter „in Szene gesetzten A u s s p e r r u n g der Böttcher"
gefabelt
und
hinzugesetzt,
daß
dieselbe
„ein
seit
Langem
vorbereitetes
Manöver war, um die Organisationen aller im Brauereibetriebe beschäftigten Arbeiter zu zerstören." Echo
des
Daß all diesen Unsinn das hiesige sozialdemokratische
Berliner „Vorwärts"
bis auf die Schimpfnamen gewisienhaft
nachbetet, ist selbstverständlich.
Also den Arbeitern soll es freistehen, das Recht willkürlich zu beugen
und
den
eingegangenen
Arbeitsvertrag zu brechen, an einem beliebigen
Wochentage zu faullenzen; fordert der gemaßregelte Arbeitgeber dagegen eine auch noch so milde Sühne für diesen Vertragsbruch, so stehen die
„ausgesperrten" Arbeiter plötzlich als „Märtyrer" da und finden unter
Die Böttchergesellcn der Schultheiß' Brauerei.
81
ihren Kollegen verständnißinnige Theilnahme und Unterstützung. Was bedeuten hier und da vorkommende Mißgriffe von Unternehmern gegen
einen solchen unerträglichen Ucbermuth von Seiten der Arbeitnehmer?! Welches Halloh würde gerade die sozialistische Hetzpresse, und mit Recht, erheben, wenn ein gleiches Verfahren irgendwo gegen Arbeiter beliebt würde!
Was nun speziell die Hrn. Generaldirektor R o e s i ck e unterstellte
Schultheiß' Brauerei anbetrifft, so hatten die Böttchergesellen gegen das ausdrückliche Verbot am 1. Mai sämtlich gefeiert und wurde ihnen, wie in den übrigen Brauereien Berlins, erklärt, daß sie erst am 7. Mai die Arbeit aufnehmen könnten. Es ist richtig, wie im „Vorwärts" und in deffen hiesigem Echo behauptet wird, daß Hr. Roesicke am letzten Sonntag bei seiner Anwesenheit in Desiau vier der in dem hiesigen Betriebe beschäftigten Böttchcrgesellen gefragt hatte, ob sie eventuell auf zwei Tage nach Berlin kommen wollten, um einige Arbeiten, die nicht gut von anderen
Arbeitern auszuführen sind, zu verrichten. Die betreffenden Gesellen er klärten sich anstandslos dazu bereit. Hr. Roesicke glaubte aber trotzdem auf ihre Thätigkeit verzichten zu sollen, da er sie für ihren guten Willen nicht Unannehmlichkeiten seitens ihrer dortigen Kollegen aussetzen wollte.
Wie frivol die Niederlegung der Arbeit gerade in der Schultheiß' Brauerei A.-G. ist, crgiebt sich unter Anderm aus Folgendem:
Die Gesellen haben dort außer dem Lohne von 27 Mk. für sechs Tage ä 9^ Stunden Arbeitszeit noch einen freiwillig gewährten sogen. Wohnungs-Zuschuß von 2 Mk. pro Woche bekommen.
Alle diejenigen,
die 3 Jahre im Betriebe thätig sind, und das ist bei Weitem die Mehrzahl,
erhalten pro Jahr eine Alterszulage von 100 Mk.
Sic haben außerdem Anspruch auf unentgeltliche ärztliche Behandlung und freie Medizin für ihre Familien und verfügen selbständig über eine
Unterstützungskasie, aus der sie im vergangenen Jahre 1524 Mk. (also 50 Mk. pro Mann) entnommen haben.
Ferner steht ihnen die Benützung der Badeeinrichtung für sich und
ihre Familien nnentgeltlich frei.
Ihre Kinder können sie tagtäglich in die
Kinder- und Handarbcitsschule der Brauerei schicken und sie im Sommer je für 4 Wochen in dem von der Brauerei errichteten „Kinderheim" in Pankow bei freier Verpflegung unterbringen. Diejenigen Böttchergesellen, die beim Pichen beschäftigt sind, erhalten
pro Woche eine Zulage von 1 Mk. und 50 Pfg., und sämmtliche Böttcher gesellen per Tag 4—5 Liter Freibier.
Wie alle übrigen Arbeitnehmer der Schultheiß' Brauerei, A.-G., haben auch die Böttchergesellen das Recht, ihre Ersparniffe in die Spar-
Berurtheilung des Büttchergeselle,«-Streiks.
32
fasse der Brauerei zu thun, und werden dieselben mit demselben Zinssätze
verzinst, der den Aktionären gewährt wird, also mit 15 resp. 16 pCt.
Diejenigen Gesellen, welche 1 Jahr im Betriebe sind,
haben eine
8-tägige, diejenigen, die 2 Jahre im Betriebe thätig sind, eine 14-tägige
und diejenigen, welche über 3 Jahre in der Schultheiß' Brauerei thätig sind,
eine vierwöchige Kündigungsfrist,
wogegen
die Arbeitnehmer selbst
die Arbeit jederzeit ohne Kündigungsfrist niederlegen können.
Wie frivol das Vorgehe«« der sozialdemokratischen Agitatoren gewesen ist,
denen übrigens der Leiter einer Berliner Brauerei, obwohl
demokratischen Partei gehörig,
nicht
thatkräftige Unterstützung geliehen,
zur sozial
wurde den
Friedensstörern
in einer energischen „Erklärung" vorgehalten, welche Namens
der Mitglieder
des
Vereins Berliner Brauergesellen,
sowie der Zimmerleute,
Maurer, Schmiede, Stellmacher, Sattler, Schlosser, Maler, Glaser und Klempner in der Schultheiß' Brauerei Abtheilung I in veröffentlicht worden ist. gesagt wurde,
verschiedenen Berliner Blättern
Diese Erklärung gipfelte darin, daß kurz und bündig
die Unterzeichner
seien „mit
dem Streik
nicht
einverstanden,
verurtheilen solchen vielmehr als frivol und unbegründet auf's Schärfste." Was
von Seiten
sozialdemokratischen „Rufer im Streite" damals
der
gegen Richard Roesicke an Verunglimpfungen geleistet worden ist, übertraf alles bisher für möglich Gehaltene.
den Arbeitern zu nützen,
Die Thoren!
Sie meinten,
ihrer Sache und
anstatt dessen lieferten sie bei« Gegnern der arbeiter
freundlichen Bestrebungen Richard Roesicke's Waffen in die Hände.
wenn selbst
ein so
Natürlich,
weitgehender Sozialpolitiker wie Richard Roesicke vor bei«
niedrigsten Verunglimpfungen der Sozialdemokratie nicht sicher sei, hieß es in
den Reihen Jener, so ist damit der Beweis erbracht, daß jede arbeiterfreund liche Politik vom Uebel sei, denn sie vermöge die sozialistischen Agitatorei« eben nicht zu befriedigen.
Nur Roesicke selbst dachte anders.
Er ließ sich selbst durch das wüsteste
Schreiei« und Toben eraltirter Fanatiker ebensowenig aus der Fassung bringen,
wie ihn die Treulosigkeit von irregeleiteten Arbeitern, die das ihnen durch seine Fürsorge bisher Geleistete nicht anerkennen wollten, von dem einmal für recht erkannten Wege abzubringen vermochte.
*
*
Die Entwickelung Richard Roesicke's vom kleinen Industriellen zum Arbeit
geber großen Stils drängte förinlich darauf hin, diesen arbeitsf« endigen, ziel-
bewußten,
umsichtigen und
gestellt zu sehen.
kundigen Mann in den Dienst der Oeffentlichkeit
Sein klarer Blick hatte sich ja schon frühzeitig den politischen
Verhältnissen seines Vaterlandes zugewandt; bereits in seinen Jünglingsjahren hatte er „Partei ergriffen", und zwar feffelten ihn, wie es ja nicht anders sein konnte, damals die Emanationen der deutschen Freiheitshelden, die verstimmt abseits stehen mußten, nachdem die wüthendste Reaktion den politischen Adlerflug
des Jahres 1848 zum Schaden Alldeutschlands abgelöst hatte.
Lächelnd erzählte
er mir in freundlichen Plauderstunden mit kritischem Behagen, wie er damals als
begeisterter Publizist zur Feder gegriffen und seine unreifsten politischen
Ansichten zu begeisterten, schwülstigen Aufsätzen verdichtet hatte. mit
als
Muth
Einsicht
Beglückt wurden
die Redaktionen solcher Blätter, welche mit mehr
solchen Federübungen
bemühten,
sich
die
vom
Lehre
politischen Liberalismus
im deutschen Volke wach zu erhalten; ob sie je gedruckt worden sind, weiß ich nicht mehr. Indem sich seine politischen Anschauungen mit den Jahren klärten, ver
harrten sie doch auf dem Boden einer liberalen Weltanschauung, ja, sie faßten
in demselben immer mehr Wurzel, wozu nicht wenig das innige Sichverstehen mit dem Vater beitrug, der streng liberalen Grundsätzen huldigte. Wie anders aber war Richard Roesicke's politischer Werdegang, als dies
heutzutage, namentlich
in den Reihen gewisicr extremer Parteien,
der Fall zu
Roesicke stand bereits in den dreißiger Jahren und noch fühlte er
sein pflegt!
sich in politicis
Meines Wiffens trat er als
nicht „zu Höherem geboren".
Politiker zum ersten Male erst Ende der siebziger bezw. Anfang Jahre, und auch da nur in aller Bescheidenheit, hervor,
anhaltischen
Rcichstagswahlkreise
darum
handelte,
der
achtziger
als es sich im ersten in
einen
der
Vertretung
liberaler Grundsätze mehr und mehr unsicher gewordenen, überaus unzuverlässigen Politiker and seinem langjährigen Reichstagssitze zu entfernen.
Richard Roesicke rechnete sich, seitdem seine politischen Anschauungen gereift waren, der nationalliberalen Partei zu.
Staatsmanne zu Liebe anfing, schon immer Männern zu,
auf dem
Später, da diese Partei dem führenden
liberale Grundsätze preiszugeben, neigte er, der
linken Flügel der Partei
welche aus
der
nationalliberalen
gestanden
Partei
hatte,
denjenigen
ausschieden und
die
Liberale Vereinigung begründeten.
Die neue Partei,
welche auch im Reichstagswahlkreise Deffau—Zerbst
Anklang gefunden hatte, stellte hier im Jahre 1881 in der Person des Rechts
anwalts
Dr.
kandidirte,
Tello dem
einen
bisherigen Abgeordneten von Cuny, der wiederum
Gegenkandidaten gegenüber,
und das
liberale
Bürgerthum
des Wahlkreises trat, geführt von einer Reihe tüchtiger und entschloffener Männer,
mit einer bisher noch nicht erlebten Begeisterung in den Wahlkampf ein.
Einer
3
solchen frischen Regsamkeit gegenüber vermochte Richard Roesicke nicht lange
Da er selbst nicht Wähler in Anhalt I
mit verschränkten Armen zuzusehen.
war, meinte er zwar, sich zunächst den politischen Angelegenheiten des Wahl
kreises fernhalten zu
sollen.
Vielleicht hielt er auch bei der Zusammensetzung
der Bürgerschaft in dem Wahlkreise, dessen Vorort die Residenzstadt Dessau war,
den gegen den bisherigen, vom Beamtenthum getragenen Abgeordneten unter nommenen Wahlfeldzug nicht für recht aussichtsvoll, genug, er beteiligte sich
an dem Kampfe vor der Hauptwahl nicht.
Als aber, wider alles Erwarten,
der Kandidat der Liberalen Vereinigung in die Stichwahl mit dem National
liberalen gekommen war, trat Roesicke aus seiner bisherigen Reserve heraus und
verstand es, die liberalen Gesinnungsgenossen für die bevorstehende Stichwahl überzeugenden Kraft seiner
mit der
schlicht vorgetragenen Gründe zu festigen,
sie zu weiterer Kraftentfaltung anzufeuern.
Und es geschah, daß der bisherige
Vertreter der in ihren liberalen Anschauungen immer brüchiger gewordenen Partei
aus
seinem
langjährigen
Mandate
durch
den
entschieden
liberalen
Kandidaten verdrängt wurde.
Der neu gewählte Abgeordnete Rechtsanwalt Dr. Sello nahm, wie er es
versprochen hatte, im Reichstage auf den Bänken der Liberalen Vereinigung seinen Platz ein.
In den ersten Jahren seiner politischen Thätigkeit verstand
er es auch, die an ihn geknüpften Erwartungen zu befriedigen, aber allmälig war er, der gewiegte Jurist und vielbegehrte Anwalt,
vielfach in Zwiespalt
gerathen mit den Forderungen seines politischen Amtes und seinen Berufspflichten, auch noch Anderes wurde von seinen Wählern in Anhalt mißliebig ausgenommen,
sodaß man sich in den führenden Kreisen des Wahlkreises dahin schlüssig geworden
war,
von
einer Wiederaufstellung
des Reichstagsabgeordneten bei den
bevorstehenden Neuwahlen abzuschen.
Man
nahe
war damit auch seinen eigenen
Wünschen entgegengckommen, denn Rechtsanwalt Dr. Sello hat nachmals nie wieder eine Rcichstagskandidatur angenommen, sich vielmehr aus dem politischen
Leben gänzlich zurückgezogen. Der erste anhaltische Reichstagswahlkreis war aber zum ersten Diale dem
entschiedenen Liberalismus gewonnen worden, es gesetzt werden, ihn der Partei zu erhalten.
mußte darum Alles daran
Daß dies am Besten möglich war
durch Aufstellung eines angesehenen, im Wahlkreise bestens bekannten Mannes
und wenn irgend möglich eines Mannes aus dem gewerblichen Bürgcrthum,
darüber war man sich schneller klar geworden, als ein solcher Mann gefunden war.
Es fehlte nicht an Vorschlägen für die neue Kandidatur; die alten An
hänger der Fortschrittspartei im Wahlkreise hielten mit ihren Wünschen ebenfalls nicht zurück, da sic meinten, die Zeit wäre gekommen, wo auch ein Mann der
schärferen Tonart Aussicht hätte, das Mandat zu übernehmen.
Bei aller freundnachbarlichen Gesinnung für die Fortschrittspartei und
vor Allem für ihre wackeren, im Wahlkreise angesesienen Anhänger gewann aber doch die Ansicht die Oberhand, es dürfte mit Aussicht auf Erfolg lediglich
ein Mann der „mittleren Linie", wie es ja auch Dr. Tello war, in Frage kommen. Als dann der Name Richard Roesicke in der Debatte genannt war, ergab es sich, daß er schon damals in
beiden Lagern
der entschieden
Liberalen
des
Wahlkreises weitgehende Sympathien genoß, denn es erhob sich nicht nur kein Widerspruch, man war sich vielmehr sogleich darüber klar, daß für unseren, voraus
sichtlich wieder arg umstrittenen Wahlkreis ein geeigneterer Kandidat gar nicht
ausfindig gemacht werden könnte, vorausgesetzt daß — Richard Roesicke über
haupt geneigt sein würde, die ihm angebotene Kandidatur anzunehmen.
Trotz
meiner Vorstellungen, die schwierige Frage durch Jemanden lösen zu lasicn, der mit dem in Aussicht genommenen Kandidaten persönlich bekannt sei, wurde ich dazu bestimmt, denselben zu sondiren und ihm mit aller nöthigen Entschiedenheit
die Bitte vorzutragcn, sich dem
ersten anhaltischen Wahlkreise zur Verfügung
zu stellen. Die Schwierigkeit der zwar sehr ehrenvollen, in ihrer Verantwortlichkeit von mir aber auch keinen Augenblick unterschätzten Mission ward mir noch weit klarer, als ich Einiges über das Wesen des in Aussicht genommenen Kandidaten in Erfahrung gebracht hatte:
er
lebe
dermaßen
seinem gewerblichen Berufe,
daß er sozusagen ganz und gar in ihm aufginge und daher zu den meistbeschäf tigten Personen in ganz Berlin gerechnet werden könne.
Das war aber nur
eine Schwierigkeit und, wie sich bald herausstellen sollte, noch nicht einmal
die größte.
Als ich mich nun brieflich an die mir aufgegebene Adresie des
mir persönlich
unbekannten Mannes
mit freundlichen Vorstellungen gewandt
hatte, wurde mir zwar sehr prompt eine in sehr verbindlichem Tone gehaltene Antivort zu Theil, die nur den einen Nachtheil hatte, daß sie — eine Absage
war.
Es wäre ihm -
so hieß eS in dem Schreiben
ganz unmöglich, sich
einem politischen Amte zu unterziehen, vorausgesetzt, daß er gewählt würde, denn seine Benifspflichten nähmen bereits seine ganze Arbeitskraft in Anspruch.
Was nun thun?
Die Büchse ins Korn werfen, die Vertrauensmänner
znsammenberufen und sie der Qual einer neuen Wahl preisgeben?
Ich weiß nicht, woran es lag, daß ich davon vorderhand nichts wißen wollte; die Art der mir gewordenen Antwort feßelte mich; ich fühlte aus ihr heraus, es mit einer Persönlichkeit, mit einem ganzen Manne zu thun zu haben, den für die politische Arena und gar für die offizielle Vertretung
des Liberalismus zu gewinnen,
mir von Bedeutung erschien.
Ich ließ daher
nicht locker, sondern wurde eindringlicher mit meinen Vorstellungen, gestattete
mir den Hinweis darauf, daß es nicht viele liberale Männer im Reiche gäbe, 3*
welche keine Opfer durch Uebernahme einer Kandidatur bezw. eines Mandats
für den Reichstag zu bringen hätten, und wenn alle tüchtigen Männer, denen sich
das Vertrauen
ihrer Gesinnungsgenossen
sich entscheiden wollten,
zuwendete,
ebenso
wie mein sehr geehrter Herr Partner,
denken und so stünde es
traurig um die Vertretung des Liberalismus im deutschen Parlamente.
Und
wieder prompt die Antwort; wieder sehr verbindlich, zwar um einen Grad ent gegenkommender, aber auch nicht viel mehr darüber hinaus.
entschlossen,
es durchzusetzen,
daß
Ich war fest
der Kandidat der vereinigten Liberalen in
unserem nächsten Wahlkampfe Richard Roesicke heißen müsse; denn die nun noch
von ihm ins Treffen geführten Gründe, daß er auch in politischer Beziehung
den führenden Kreisen unseres Wahlbezirks insofern nicht ganz genehm sein dürfte, als ihn von der inzwischen durch die Fusion der Fortschrittspartei und
der
Liberalen Vereinigung
Deutschfreisinnigen Partei
entstandenen
Manches
trennte, vor Allem seine Anschauungen über soziale Fragen, hoffte ich durch den Hinweis darauf hinfällig werden lassen zu können, daß die liberalen Vertrauensmänner des Wahlkreises in dem Namen Richard Roesicke ein Pro
gramm erblicken dürften, das sie gewiß gern und ohne Vorbehalt annehmen würden.
würde
Und abermals eine prompte Antwort, aber noch keine Zusage.
demnächst Gelegenheit
nehmen,
eine
persönliche Aussprache
Er
mit
mir
herbeizuführen, welche sicher den Erfolg haben würde, daß von seiner Kandidatur
— definitiv Abstand genommen werden dürfte.
Auf diese persönliche Aussprache war ich gespannt, brannte ich doch darauf, den Mann nun auch von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, der mir bereits aus
dem voraufgegangenen Briefwechsel ein so weitgehendes Interesse abgenöthigt hatte. Eines Mittags, ich saß über meine Schreibereien gebeugt, klopfte es an
die Thür meines Arbeitszimmers und es erschien auf der Schwelle derselben
ein jüngerer, schlanker, nicht sehr großer Herr, überaus bescheiden auftretend,
dessen klare, freundlich blickende blaue Augen sich fragend nach mir richteten. Ich muß in meinem ersten Benehmen etwas wie Stumpfheit verrathen haben, als ich erfuhr, daß es mein Partner in dem eingehenden Briefwechsel, Richard Roesicke war, der da vor mir stand.
-Nach all' den mir gewordenen Schilderungen
von Seiten der Parteifreunde hatte sich ja in meiner
Phantasie bereits
ein
Bild von dem Manne, mit dem ich so sehr ernsthafte Briefe gewechselt, gestaltet,
wenn auch nur in losen Umrissen; ich hatte mir einen sehr alten, sehr ehrwürdig
aussehenden,
womöglich
Herrn
weißbärtigen
Lebenserfahrung zurückblicken durfte, Dienste seines Berufs ...
an
der
einen
mit
vorgestellt,
der
einem Worte
so jugendlichen,
auf eine
ergraut
lange
war im
elastischen Mann, der
kaum neun Jahre mehr zählte, als ich selber: an diese Möglichkeit hatte ich bei
dem Namen Richard Roesicke nicht gedacht.
Als meine erste Berwirrung gelöst war, ich mich aus dem Banne meiner
Vorstellungen glücklich befreit hatte, schien es mir das Richtigste zu sein, dem Gaste den Grund meines ersten Befangenseins offen darzulegen: er möge aus
diesem nun ersehen, wie ich mit seinem Namen nur die übliche Personifikation
der Weisheit habe in Verbindung bringen können und danach den Grad meiner
ihm gezollten Werthschätzung bestimmen.
Das bereitete ihm offenbar Vergnügen,
denn bald sprachen wir so vertraut mit einander, als ob wir uns bereits seit
Jahren gekannt hätten. Noch einmal versuchte er, mich zu überzeugen, daß seine bereits angeführten
Gründe nicht von der Hand zu weisen wären;
ich aber blieb
hartnäckig, wich
keinen Zoll breit zurück, ja, gestattete mir nun auch noch den Hinweis darauf,
daß ein Mann in den besten Jahren gar nicht berechtigt sei, den Ruf seiner Mitbürger abzulehnen, namentlich wenn er auf so festem liberalen Boden stünde,
wie er.
Dieser Appell an sein Pflichtgefühl blieb nicht ohne Eindruck auf ihn,
nun aber enthüllte
er
mir seinen letzten und, wie er meinte, eindringlichsten
Grund, doch auf seinem ablehnenden Standpunkte beharren zu sollen: er wäre
bis jetzt eigentlich noch nie politisch hervorgetrcten; um eine so schwerwiegende Aufgabe zu übernehmen, wie das Mandat eines Volksvertreters, dazu gehöre
vor Allem reiche politische Erfahrung, diese mangele ihm.
Für einen liberalen
Kandidaten
einzutreten,
geeignet zu
halten, eine Wählerschaft politisch zrr vertreten.
wäre
denn
doch
etwas Anderes,
sich selbst für
als
Er wolle gewiß
gern mit all seiner Kraft an dem bevorstehenden Wahlkampfe sich betheiligen,
da seine volle Pflicht erfüllen, aber er halte sich, den bescheidenen Industriellen, doch nicht für geeignet, um in diesem Wahlkampfe auf dem Schilde zu para-
diren, dazu brauche man, wie gesagt, politisch erfahrene, tüchtige Männer. Nun hatte ich
— das fühlte ich
gewonnenes Spiel.
letzten Position ihn herauszuheben, sollte mir nicht schwer werden.
Aus
dieser
Und wirklich,
als er sich von mir verabschiedete, drückte er mir fest die Hand, ich that das Gleiche, und er versprach, mir nach kurzer Bedenkzeit
seinen Entschluß
mit-
zutheilen.
Unter klar stipulirten Bedingungen, daß Richard Roesicke im Falle seiner Wahl nicht gebunden sein sollte, sich der Deutschfreisinnigen Fraktion des Reichs tages anzuschließen, daß ihm volle Bewegungsfreiheit eingeräumt werde, erklärte
er sich nun bereit, die ihm von den vereinigten Liberalen angebotene Kandidatur anzunehmen.
Der bei Weitem größte Theil der freisinnigen Vertrauensmänner
meinte, auf die gestellten Bedingungen ohne Weiteres, im vollen Vertrauen auf die in dem Charakter Richard Roesicke's und seinen grundechten liberalen An schauungen begründeten Garantien,
eingehen zu sollen;
der ehemaligen Fortschrittspartei verhielten sich zögernd.
nur einige Anhänger
Die Partei und ihr
Programm schien ihnen so werthvoll zu sein, daß sie meinten, die Persönlichkeit
des in Frage stehenden Kandidaten müsse sich der Schablone anpasien, wenn es etwas Vollkommenes werden solle.
Schließlich erklärten aber auch sie sich
mit der Kandidatur Roesicke einverstanden, mit welcher man nun im Herbste
des Jahres 1884 gegen den Nationalliberalen in den Wahlkampf zog. Am Abend des 2. Oktober
hatte sich im Saale des Gasthofs „Zum
goldenen Schiff" eine größere Versammlung liberaler Vertrauensmänner ein gefunden, in welcher ich die Ehre und Freude hatte, nach einem Bericht des
„Anhaltischen Tageblatts" vom 4. Oktober 1884, Folgendes zu sagen:
„ ... Es ist uns gelungen, einen Mann für uns zu gewinnen, welcher mitten im praktischen Leben stehend und aus ihm hervorgegangcn,
wohl im Stande ist, unsere Sache im Reichstage so zu vertreten, wie es nur der Wunsch aller aufrichtig Liberalen von rechts nach links sein kann;
er ist der Unsere, einer unserer geachtetsten Mitbürger: der auch Herren!
heut
Meine
unter uns weilende Herr Richard Roesicke (Lautes Bravorufen).
Der Jubelrus, welcher der Nennung dieses Namens soeben gefolgt
ist, ist uns Beweis, daß wir ganz in Ihrem Sinne gehandelt, daß wir das Herr Roesicke hat
Rechte getroffen, den rechten Mann gefunden haben.
wiederholt den Beweis geliefert, daß er treu zur freiheitlichen Sache des
Volkes hält; ich hoffe, ja ich glaube es ganz bestimmt zu wiffen, daß diese Kandidatur von allen Liberalen unseres Wahlkreises mit Freuden begrüßt
werden wird (Wiederholtes Bravo)." Der erwähnte Bericht sagt dann noch weiter:
„Jetzt erscheint Herr Roesicke am Vorstandstische, von allen Seiten
auf's Herzlichste beglückwünscht, und manch kräftiger Händednrck mochte dem verehrten Manne in stummer und
doch so beredter Sprache sagen, wie
dankbar sein Entschluß, sich in dieser schweren Zeit der freiheitlichen Sache
zur Verfügung zu stellen, empfunden worden ist. — Ist es doch allbekannt,
daß Herr Roesicke
unserer Stadt ist,
ganzer Mann, der hält, das
einer
der pflichteifrigsten
und
mit Arbeiten fast überbürdet, nach
thätigsten Männer
aber zugleich
auch ein
echt deutscher Art ein gegebenes Versprechen
mit voller Hingebung
ausführt, was er einmal
übernommen.
Mit folgenden Worten wendete sich der Herr Kandidat, nachdem sich
der Jubel gelegt, an die Versammlung: „Wie bereits im
engeren Kreise,
den Männern gegenüber,
welche
den ehrenvollen Ruf an mich erlassen haben, so danke ich vorerst auch Ihnen,
m.
H.,
für
das
ehrenvolle
Vertrauen,
das
Sic
mir
entgegenbringen.
Seien Sie überzeugt, daß ich die Ehre zu schätzen weiß, welche mir soeben
Politische Bekenntnisse. zu Theil geworden. zustellen hatte,
reifliche Erwägungen,
Es waren
ehe ich Ja sagte;
die ich vorher an
ich mußte mich vorerst fragen,
ob ich
auch angesichts meiner Berufsgeschäfte im Stande sein würde, ein Mandat so auszuüben,
Aber die Bedenken vermehrter Arbeitslast
wie ich es soll.
schwanden, als der Ruf noch dringender an mich erging, und ich sagte mir,
es ist eine schwere Zeit, in der wir leben, die an Jeden erhöhte Anforderungen
stellt, in der die kostbarsten Errungenschaften einer freiheitlichen Vergangen heit auf dem Spiele stehen,
und in einer solchen Zeit heiße die Parole:
„Alle Mann auf Deck!" (Bravo!)
Ob ich mich der deutschfreisinnigen Fraktion anschließen Falle meiner Wahl, vermag ich allerdings heute hinzustellen.
werde
im
noch nicht als bestimmt
Es mag m. H. genügen, daß ich treu zu den Prinzipien des
aufrichtigen deutschen Liberalismus halte; der Anschluß an eine Fraktion,
meine ich, kann erst nach einer vorangegangencn Prüfung der Verhältnisse
Sollte die Wahl auf mich fallen, so darf ich Ihnen heute schon
erfolgen.
sagen, daß ich zuversichtlich hoffe, Ihr Vertrauen,
das Sie mir entgegen
bringen, auch zu rechtfertigen (Bravo!). Soll
ich Ihnen
kurzen Zügen
in
heute
schon
meinen politischen
so bin ich dereinst nationalliberal gewesen und habe
Standpunkt skizziren,
mich später der Liberalen Vereinigung angeschloffcn, als sich die national
liberale Partei nach rechts neigte. und
ganzes
Sinnen
großen
liberalen Partei
verlieren wir niemals
ein gutes Omen
steht,
Trachten
im
Mein Ideal, nach welchem auch mein
ganzen
ist
die
dereinstige
Bildung
deutschen Vaterlande.
dieses große, schöne Ziel aus dem Auge!
betrachte
ich
cs,
daß
allen Punkten,
Als
der Präsident der kürzlich
abgehaltenen gegnerischen Versammlung ein Programm für die
kommenden Reichstag zu
einer
Ja, m. H.,
hier
in den
wählenden Männer entwickelte, dem ich in fast
— und Sie mit mir, —
entsprechen kann.
Demzufolge
soll ein liberaler Kandidat einerseits „die liberale Grundidee des Deutschen
Reiches" zur seinigen machen, und andererseits national denken. M. £>., das
thue
ich;
der Herr
Präsident
erklärte sodann die sogenannten Berufs-
parlamentarier und Berufspolitiker für „den Krebsschaden des Parlaments". Run, m. H., ich habe nicht die Ehre, „Berufspolitiker" zu sein, ich glaube vielmehr, ganz im Sinne des Herrn Präsidenten, „ein ehrlicher, im prak tischen Leben stehender Mann" zu sein. 9hir nationalliberal bin ich freilich
nicht.
Der Herr Präsident meinte ferner, „es sollte uns nichts abhaltcn,
einen Anhaltiner in den Reichstag zu schicken;" Anhaltiner bin ich allerdings
nicht, Ich
wenn Sic
darunter
habe aber hier,
einen
in Anhalt
geborenen Mann
in unserem herrlichen Anhalt,
verstehen.
eine zweite Heimath
gefunden, mir sind Anhalt und seine gewerbfleißigen, biederen Bewohner von Herzen lieb geworden,
sodaß ich zwischen meinem Geburtslande und
dem Lande, in welchem ich die Ehre habe, Ihr Mitbürger zu sein, keinen Unterschied machen könnte.
Und somit erkläre ich mich denn bereit, ein rechts und
zutreten in den Kampf gegen unsere Gegner
links."
(Stür
mischer, lang anhaltender Beifall.)" Das war der erste Schritt Richard Roesicke's
in seiner bedeutungsvollen
politischen Laufbahn. Bemerkenswerth dürfte noch sein, daß sich Roesicke in der Diskussion des
selben
Abends einem Zerbster Fortschrittsmanne gegenüber, seine ersten Aus
führungen erläuternd, noch dahin aussprach, daß er das Programm der deutsch
freisinnigen Partei deutscher Mann
anerkenne,
—
nur
wolle
er sich — und sonst wäre er kein
die Freiheit seiner Entschließungen wahren bezüglich des
eventuellen Anschlußes an die Fraktion; über die Zustimmung seiner politischen Freunde in der Fraktion habe er sich bereits vor seiner Annahme -Erklärung
informirt. In einer am 7. Oktober stattgehabten Versammlung, zu welcher die liberalen
Vertrauensmänner aus dem ganzen Wahlkreise eingeladen worden waren, Richard Roesicke seine
erste Programmrede,
welche nach
hielt
den Aufzeichnungen
des wiederholt angeführten Blattes folgenden Inhalt hatte: Meine Herren!
Nachdem ich schon neulich meine Bereitwilligkeit zur Annahme einer Kandidatur im I. anhaltischen Wahlkreis erklärt habe, wiederhole ich dieselbe
heute und spreche zugleich meinen Dank aus für das Vertrauen,
wie aus den Mittheilungen des Herrn Vorsitzenden ersichtlich,
von den auswärtigen Vertrauensmännern entgegcngebracht es schon an sich ein
welches, mir auch
wird.
Wenn
erhebendes Gefühl ist, von seinen Mitbürgern als
Vertreter ihrer Jnteresicn erwählt zu werden, so erhöht sich dasselbe, wenn die Wahl mit möglichster Einstimmigkeit erfolgt, wie hier.
M. H.! Es ist mir nicht leicht geworden, bezgl. der mir vom Wahl komitee angebotenen Ehre eine Entscheidung
in Ihrem Sinne zu treffen,
denn einerseits ist meine Zeit schon ohnedies sehr in Anspruch genommen,
andererseits sind die Anforderungen an einen Parlamentarier heutzutage sehr
große.
Ich
war mir daher völlig bewußt,
daß mich
die Annahme
eines solchen Ehrenamtes zwingen würde, mancherlei Privatrücksichten hint anzusetzen,
um den für den Fall meiner Wahl erwachsenden neuen Ver
pflichtungen genügen zu können. Deshalb werden Sie cs begreiflich finden.
daß ich meine Zustimmung erst gegeben habe, nachdem man mir versichert
hatte, daß kein Besierer, kein Würdigerer zu Ihrer Vertretung vorhanden, nachdem man mir erklärt hatte, daß der Wahlkreis in Gefahr stände, für
die liberale Sache verloren zu gehen.
M. H.! Wenn dem in der That so ist, und ich hatte keinen Grund,
an diesen Versicherungen zu zweifeln,
zaudern,
dann mußte ich meine
dann durfte ich allerdings nicht geringen Kräfte
der liberalen Sache
zur Verfügung stellen, denn die Zeiten sind ernst, und an Feinden fehlt es den Liberalen weder von rechts noch von links! Nicht um einen Angriff von unserer Seite handelt es sich, sondern
um die Vertheidigung unserer Rechte. Es handelt sich barum, zu verhindern, daß die wenigen freiheitlichen Errungenschaften früherer Jahre uns wiederum
entrisien werden.
Sehen sich doch selbst nationalliberale Abgeordnete ver
anlaßt, ihren Wählern gegenüber das Versprechen abzugebcn, auch fernerhin
die verfasiungsmäßigen Rechte
des Reichstages
vertheidigen und schützen
zu wollen. Kann man nun auch annehmen, daß die bisherigen Mitglieder dieser Partei ihrem Grundsatz treu bleiben,
vorauszusetzen von solchen Abgeordneten, Konservativen hervorgehen.
M. H.!
so ist dies doch absolut nicht
die aus einer Koalition mit den
Waren denn liberal und konservativ
bisher nicht zwei entgegengesetzte Begriffe und sind sie es nicht heute noch? Kann denn auch nur der gutgläubigste Bürger annehmen, daß die Konser
vativen deshalb sich mit den Nationalliberalen verbinden wollen, um liberale Politik zu treiben?
Ist es wahrscheinlicher, daß die Nationalliberalen im
Stande sein werden, die konservativen Bundesgenossen mit sich nach links, nach der Seite der ihnen verhaßten Dcutschfreisinnigcn zu ziehen?
Oder
ist es wahrscheinlicher, daß die Konservativen die nationalliberalen Freunde triumphirend
in ihr
rechtes Lager cinführen werden?
Die Antwort auf
diese Frage kann für Niemand zweifelhaft sein und die Wähler werden an ihr die Gefahr, in welcher die liberale Sache in Deutschland schwebt, er kennen.
Je größer aber die Gefahr,
desto mehr Veranlaffung
haben die
übrigen Liberalen, zusammenzustehen und nur Männer in's Parlament zu
schicken, die bereit sind, jedem Ansturm auf die freiheitlichen Institutionen des Volkes zu trotzen.
Zu solchen Männern rechne ich auch mich.
Wenn ich auch früher der nationalliberalen Partei angehörte, so hat doch den
die
damalige Partei
Namen.
Damals
mit der heutigen nicht viel mehr gemein, wie
befanden
sich
Männer
wie Rickert,
Forckenbeck,
Bunsen, Stauffenberg in ihren Reihen; heute ist selbst Herr v. Bennigsen nicht mehr aktives Mitglied, sondern nur ruhiger Zuschauer!
Soviel mir
bekannt, hat auch der hiesige Wahlkreis früher immer im nationalliberalen
Sinne gestimmt und erst
im Jahre 1881,
die
nachdem
nationalliberale
Partei, ihr voran der frühere Vertreter dieses Wahlkreises, immer weiter nach rechts abgeschwenkt war, wandte man sich der inzwischen neubegründeten
Liberalen Vereinigung zu. M. H.l Es ist in der neulichen'Versammlung von einem
angesehenen Vertrauensmann der liberalen Wählerschaft
in Zerbst
meiner Thätigkeit in jenem Wahlkampf von 1881 gedacht und ein Vergleich
zwischen damals und jetzt.
gezogen worden Wahlkampf
heutigen insofern
mit dem
Allerdings
Aehnlichkeit,
hat der damalige als
auch
damals
die liberale Sache in Gefahr stand, einer Verbrüderung der Nationalliberalen
mit auch
den Konservativen
meine
heute
Wie damals,
zum Opfer zu fallen.
geringen
dem
Kräfte
liberalen
so stelle ich
zur
Bürgerthum
Verfügung! M. H. Die liberale Partei befand sich im letzten Reichstag in einer
merkwürdigen Position.
Statt angreifen und für die freiheitlichen Ideen
Bahn brechen zu können, mußte sie sich auf die Erhaltung der bestehenden
Ordnung beschränken, mußte sie konservative Politik im wahren Sinne des
Wortes treiben.
Denn,
m. H.,
es sind die konservativen Parteien,
sind die Männer der Regierung selbst,
aufhörlich zu rütteln für gut finden.
es
welche an allem Bestehenden un
Auch der nächste Reichstag wird der
liberalen Partei voraussichtlich eine ähnliche Verpflichtung auferlegen. Ich gebe daher schon heute die Erklärung ab,
daß ich im Falle meiner Wahl
weder dem Tabak-, noch anderen Monopolen, ebensowenig der Verstaatlichung des Versicheningswesens
zustimmen werde,
daß ich jeden Angriff auf die
Verfaffung, jeder Beschränkung der Gewerbe- und Verkehrüfreiheit energischen
Widerstand leisten und daß ich mich neuen Steuerprojekten so lange ab lehnend gegenüber verhalten werde, bis mir die Nothwendigkeit neuer Ein nahmen nachgewiesen ist.
m. H.,
Denn,
Regierung Steuern
denn,
m. H.,
Ausnutzung
dem Jahre 1879 der
daß seit
unter Beihilfe der nationalliberalen Partei! —
—
bereits
besondere aber
vergeffen wir nicht,
140 Millionen
werde ich
an neuen
per Jahr bewilligt worden sind!
mich jeder Erhöhung der Kornzölle
wenn etwas meiner Anschauung widerstrebt,
der Gesetzgebung zum Nutzen und
Ins
widersetzen, so ist es die
zum Vortheil Einzelner.
Nichts Anderes ist es aber, was jene konservativen Großgrundbesitzer, jene
Junker erstreben, die sich aufspielen, für die Verbesserung des Looses der
arbeitenden Klaffen für die Männer,
bedacht zu sein.
welche von
Giebt es denn etwas Schlimmeres
ihrer Hände Arbeit
zu leben
als wenn man ihnen ihr tägliches Brod vertheuert?
Herren haben
daneben die Kühnheit,
berufen sind,
Diese konservativen
den Handel und die Industrie,
den
Müller,
den Fleischer rc. der unberechtigten Bereicherung an
den Bäcker,
ihren Mitmenschen zu bezichtigen.
Ja, diese Anklagen gehen jetzt so weit,
daß man fast glauben möchte, „Steuern zahlen" ist zwar für Jedermann
recht und gerecht, „Geld verdienen" aber an sich schon ein Unrecht, es sei denn,
es
daß
besteht.
in der Verpachtung und Bewirthschaftung
größerer Güter
Wenn jene konservativen Herren, welche perfider Weise uns Liberale
so häufig
als Republikaner
etwa die Gleichheit verstehen,
bezeichnen,
vor dem Gesetz,
unter republikanischer Gesinnung
die Opposition
gegen alle Vorrechte
dann, m. H., können wir uns diese Bezeichnung auch fernerhin
gefallen laßen.
Ich bin mir aber auch bewußt, m. H., daß oppositionell und liberal
Ich werde daher ohne Vorurtheil die Vor
nicht identische Begriffe sind. lagen
der Regierung
prüfen
und event,
meine Zustimmung denjenigen
nicht verweigern, welche o h n e B e e i n t r ä ch t i g u n g f r e i h e i t l i ch er Errungenschaften
geeignet sind, dem deutschen Volke zum Nutzen,
dem Vaterlande zur Ehre und Sicherheit und der
Aufbefferung ihrer Lage zu dienen.
arbeitenden Klaffe zur
So hoffe ich denn, falls ich die Ehre
habe, zum Vertreter des ersten anhaltischcn Wahlkreises erwählt zu werden, dereinst vor meine Wähler treten und sagen zu können: auch ich habe nach
besten Kräften mitgeholfen an der Erhaltung und Förderung der Freiheit und des Gedeihens unseres deutschen Vaterlandes.
Diese Rede
hatte
„laute,
jubelnde Zustimmung"
und
die
einstimmige
Annahme der Kandidatur Rocsicke zur Folge. Als ob man den langjährigen, erprobten Parlamentarier Richard Roesicke während des letzten Wahlkampfes sprechen hörte, so mnthet diese seine
Rede aus dem Jahre 1884 an.
Keinen Zoll breit abgcwichen ist der Mann
von dem, was er zu Beginn seiner politischen Laufbahn als seine Ueberzeugung feierlich nicdergclcgt hatte. Sehr bald nach diesen Vorgängen, am 11. Oktober, erschien Heinrich Rickert, der Unvergeffene, Unvergeßliche,
in der anhaltischcn Hauptstadt, um die Wahl
seines politischen Freundes den Liberalen dringend ans Herz zu legen.
In
derselben, sehr stark besuchten Versammlung, welche im „Weißen Schwan" zu Dcffau abgchalten wurde, entwickelte Richard Roesicke in einer etwa cinstündigen
Rede eingehend sein Programm. In Bezug auf die sozialpolitische Gesetzgebung präzisirt er bereits in dieser
seiner ersten öffentlichen Rede seinen, von der Haltung der deutschfreisinnigen Partei in Manchem
abweichenden
Standpunkt.
näher, als es später der Fall war.
Immerhin
stand er ihr aber damals
Er sagt — und ich folge hier stenographischen.
von
ihm
selbst
einer Durchsicht unterzogenen Aufzeichnungen
—
zu diesem
Thema Folgendes:
«... Ferner, m. H., wird der nächste Reichstag sich wahrscheinlich auch wieder mit sozialpolitischen Fragen zu beschäftigen haben. — Es ist den liberalen Parteien oft vorgeworfen worden, daß sie in den die Lage der arbeitenden Klasien betreffenden Fragen nicht genügend die Initiative
ergreifen, daß sie Alles der Selbsthilfe überlasien und dem Staate nur die Berpflichtung auferlegen wollen, diese Selbsthilfe zu schaffen. — M. H., die große Mehrzahl der Liberalen und auch ich stehen auf einem andern
Ich weise dem Staate unzweifelhaft das Recht zu, im Wege
Standpunkt.
des Zwanges einzuwirken, nicht nur auf diejenigen, denen geholfen werden
soll, sondern auch auf diejenigen, die zu helfen berufen sind.
Denn wer
so im praktischen Leben steht, wie ich, und sieht, wie wenig durch freiwillige
Thätigkeit der Einen und freiwillige Hilfe der Anderen im Allgemeinen geschieht, der muß sich sagen, daß, wenn den Arbeitern wirklich geholfen
werden soll, es ohne Zwang nicht gut abgeht. ich nicht, daß nun auch der Staat nach
Aber, m. H., damit meine
staatssozialistischer oder sozial
demokratischer Art diese Hilfe selbst leisten, daß er zu
Gunsten der
Einen auf Kosten der Anderen mit eigenen Mitteln eintreten soll; ich
meine damit nicht, daß er nun auch vorschreiben soll, wie, und wie nicht Ich meine, es ist genügend,
anders, diese Hilfe geleistet werden muß.
wenn er die Verpflichtung zur Leistung und die Höhe der letzteren feststellt und sich das Aufsichtsrecht bewahrt.
Ich bin daher auch mit dem Kranken
kaffengesetz und dem Unfallversicherungsgesetz insofern einverstanden, als es den Arbeitnehmern wie den Arbeitgebern die Verpflichtungen zu gewiffen
Leistungen
und
auferlegt
die
Sicherstellung
dieser
Leistungen
verlangt.
Ich bin aber nicht damit einverstanden, daß die Betreffenden nun lediglich in die eine Art der Versicherung, in die der Berufsgenoffenschaft,
gezwängt werden; < Bravo!) ich
bin nicht damit einverstanden, daß der
Staat nun auch die Garantie für diese
Bcrufsgenoffenschaft übernimmt
und damit einen Staatszuschuß konstituirt.
einverstanden,
daß
nun
die
der
Ich bin ferner nicht damit
Privatversichcrung
aufgehoben ist und kann mich große Masse
hinein
ebensowenig
kleineren Unfälle, nämlich
für
damit 95
Unfallgefahr
damit
befreunden, daß
Prozent
aller
die
Unfälle,
die eine Arbeitsunfähigkeit bis zu 13 Wochen nach sich ziehen, den Kranken kassen
überwiesen
ist,
zu
denen
der Arbeitgeber
Arbeitnehmer aber zwei Drittel beizutragen haben.
nur
ein
Drittel,
die
(Bravo!)
Aber, m. H., trotzdem also meine Freunde und ich diesem Gesetz in vielen Punkten unsympathisch gegenüber stehen, so ist es doch nun einmal
Gesetz und
wir werden, falls
die Regierung, wie sie angekündigt, die
Ausdehnung desielben auf alle übrigen Arbeiter, die heute noch ausgeschlosien sind, beantragen sollte, mit Freuden beistimmen, damit auch diese Andern
wenigstens die Vortheile erlangen, welche die Einen bereits erreicht haben.
< Bravo!) Dies um so mehr, m. H., als für die Ersteren durch das Aufhören der Privatversicherungsgesellschaften die Möglichkeit einer Versicherung jetzt
ganz genommen ist. Sollte die Regierung, wie ebenfalls mehrfach angekündigt ist, mit
neuen sozialpolitischen Vorlagen an den Reichstag herantreten, so werden
meine Freunde und ich dieselben ohne Vorurtheil prüfen und, falls sie
unseren Grundsätzen abermals widersprechen sollten, doch davon heraus zuschälen suchen, was irgendwie zur Aufbefferung der Lage der arbeitenden
Klasien bcizutragen geeignet erscheint.
(Bravo!)"
Je eingehender Richard Roesicke sich mit den sozialen Problemen beschäftigte,
desto entschlosiencr wurde seine Haltung, den wirthschaftlich Schwachen mit den
Mitteln
der Gesetzgebung und
der Allgemeinheit helfend beizuspringen.
entwickelte er sich allmälig zu jenem beachteten Führer
der Liberalen
aber
vielfach mißverstandenen,
sozialpolitischem Gebiete,
auf
So
auch viel
der schließlich
nicht davor zurückschreckte, die berechtigten Forderungen der Arbeiter auch dann
zu unterstützen, wenn sie von der Sozialdemokratie erhoben wurden.
im Laufe
hatte sich Richard Roesicke
einer
politischen Vorurtheilslosigkeit
selbst
von
objektiv urtheilenden
Ueberhaupt
seiner parlamentarischen Thätigkeit zu
durchgerungen,
Gegnern
nicht
der
ein Zug in's Große werden
abgesprochen
konnte.
Gewiß bekämpfte er die Sozialdemokratie in ihren sogenannten Endzielen nach wie vor mit aller ihm zu Gebote stehenden Energie. zwischen berechtigten und
Aber er unterschied eben
unberechtigten Forderungen
dieser Partei
und ver-
urtheilte diese nicht in Bausch und Bogen nur deshalb, weil sie nebenbei auch gewißen Utopien, welche die sogenannten Endziele ausmachen,
nachjagt.
So
weit die Sozialdemokratie Gegenwartspolitik zu treiben sich anschickte, so lange
sie auf dem Boden der geltenden Wirthschafts- und Gesellschaftsordnung fußte, fand sie
an ihm
sogar
einen bereitwilligen Helfer.
Mangelnde Einsicht und
der mehr bequeme, als zweckdienliche Standpunkt, die Sozialdemokratie zu verurtheilen, nur weil sie i st, mehr ihre Feindschaft zu,
wandten der Politik Richard Roesicke's mehr und was ihn
freilich
in seiner,
von
der Gerechtigkeit
diktirten Haltung nicht im Geringsten zu beirren vermochte. — Es war tief bedauerlich, daß die Wähler in Anhalt I
nicht
schon
im
Jahre 1884 diesen fähigen Mann in den Reichstag entsandten, ihre Mehrzahl
vielmehr sich bescheidentlich mit einer politischen Null als ihrem Vertreter im
Reichsparlament begnügte.
Freilich wurde die Wahl seines nationalliberalen
Gegenkandidaten, des anhaltischen Geheimen Kommerzicnrathes Ziegler in Dessau,
nur ermöglicht durch eine Agitation, welche sich, um es kurz zu sagen, durch
An der Spitze dieser Agitation
das Gegentheil von Sachlichkeit auszeichnete. stand
des Desiauischen Beamtenthums
die Elite
des
Führung
unter
ersten
richterlichen Beamten im Lande Anhalt! Und als im Jahre 1887 nach der Auflösung des Reichstages zur Wahl
geschritten wurde
Richard Roesicke auf
sich
und
abermals
dringenden
den
Wunsch seiner bisherigen Wähler wiederum zur Verfügung gestellt hatte, wenn er auch
dem Gebote seiner Aerzte folgend,
nicht in der Lage war, persönlich
in den Wahlkampf einzugreifen, erkürte die konservativ-nationalliberale Wähler
schaft des
ersten
anhaltischen Wahlkreises
abermals Herrn Ziegler
als ihren,
freilid) anhaltend stumm gebliebenen „Sprecher" im Reichstage. Rur noch mitleidig zu lächeln vermag ich, wenn ich heute an den tollen
Spuk der konservativ-nationalliberalcn Wahlmacher vom Jahre 1887 in unseren Gauen zurückdenke. das
Es
sich
handelte
sogenannte Septennat,
damals bekanntlich in erster Reihe um
dcsien Gegner Roesicke nicht
einmal
war.
Im
Gegentheil, er hatte sogar noch vor der Auflösung des Reichstages offen erklärt,
daß er die Frage, ob die FriedenSpräscnzstärke der Armee für drei oder sieben Jahre festgesetzt werde, niemals für eine Prinzipienfrage gehalten habe, zumal entschieden liberale Abgeordnete schon wiederholt die Friedenspräsenz für sieben
Jahre gesetzlich festzulegen mit geholfen hatten.
Trotzdem wurde gegen Roesicke
von den Agitatoren der Kartellparteien gekämpft, als ob er die freventliche Ab
schaffung des gesammten deutschen Heeres auf sein Programm geschrieben hätte! Es
in
fehlte
einzig
diesem
dastehenden
selbst
Wahlkampfe
nicht
an
politischen Harlekinaden auf Seiten der im Kartell unseligen Angedenkens ver
brüderten Nationalliberalen und Konservativen.
Man
hatte
im gegnerischen
Lager offenbar keine Ahnung davon, wie Roesicke sich zu der Militärfrage stelle,
obwohl man das
bei einiger Aufmerksamkeit, wie
man
solche
doch voraussetzen sollte,
leicht hätte erfahren können.
Flugblatt und
in Tausenden von Exemplaren drucken,
ließ cs
bei Politikern
Man verfaßte
nun ein
ein Flugblatt,
das den Hauptunterschied zwischen dem Kartellmann Ziegler und dem Liberalen
Roesicke in der Gegnerschaft Roesicke's gegen das Septennat fand! mit
jenes
dieser Unwahrheit operirte Flugblatt
allenthalben
man
im
verbreitete!
wirthschaftlich verfahren zu sollen
Wahlkreise skrupellos,
Wahrscheinlich
und scheute
sich daher,
dachte
Und
indem man man,
recht
die Druckkosten für
jenes seltsame Flugblatt als herausgeworfenes Geld zu verbuchen!
Aber damit
nicht genug: den Wählern wurde von dem Ziegler-Wahlkomitee mit hochpatriotischcn
Phrasen
und
sorgenvoller
Miene
auch
noch
ein
fürchterlicher
Bilderbogen
47
Französische Turco's entscheiden die Wahlschlacht.
in
gedrückt,
die Hand
auf
dem
die Gefahren
und Folgen einer feindlichen
Invasion mehr schrecklich, als künstlerisch dargestellt waren, falls — nicht der „Wer Ziegler wählt, der
Kartellkandidat den Lieg im Wahlkampfe erringe!
wählt den Frieden", dieser unglaubliche Unsinn konnte damals zum geflügelten
Worte und allen Ernstes — wenigstens dem Scheine nach — von den Gegnern
Roesicke's kolportirt werden! Diese „Angstwahl" des Jahres 1887 hatte
ja nun auch den herrlichen
Erfolg, daß die politische Null als Vertreter des ersten anhaltischen Wahlkreises abermals in den Reichstag einzog und die nach Bethätigung drängende Kraft
weiterhin
eines Roesicke
Sozialdemokraten
kamen
liegen
brach
damals im
mußte.
Immerhin hatten sich — die
Wahlkreise
mangels
einer
einheitlichen
Organisation nicht in Betracht — 7309 Wähler für den abwesenden liberalen
Kandidaten
erklärt,
während
Herr Ziegler
10926
und der
Sozialdemokrat
Die Städte des Wahlkreises hatten
Hasenclevcr 2078 Stimmen erhalten hatte.
für Roesicke 5181 und für den „Friedens"-Mann Ziegler nur 4600 Stimmen
abgegeben, sich also mit einem Mehr von 581 Stimmen für Richard Roesicke entschieden.
Aber das platte Land!
Hier hatten die das Vieh aus den Ställen
schleppenden, die Weiber mißhandelnden Turcos
jenes Bilderbogens Eindruck
zu Gunsten des „FriedcnS"-Mannes Ziegler gemacht. die Angriffe des Kartells gegen Richard Roesicke während
Trugen also dieses Wahlkampfes
das Zeichen
sozusagen an der Stirn,
so
der Unwahrhaftigkeit,
fehlte es doch auch nicht
ja,
der Lächerlichkeit
an betrübenden
Die „Freisinnige Zeitung" Eugen Richter's hatte es für an
Erscheinungen.
gebracht gehalten, folgende "Notiz zu veröffentlichen:
„Herr Roesicke hat ebensowenig, wie irgend ein anderer Septennatsfrcund,
auf
rechnen.
irgend
eine Unterstützung
seitens der freisinnigen Partei zu
Wer nicht für uns ist, ist wider uns;
gegenwärtigen Lage die schlimmsten.
die Halben sind in der
Wir hoffen, daß Herr Roesicke dies
mal in Deffau so gründlich durchfällt, daß er es endlich aufgiebt, fernerhin
den Wahlkreis Deffau zum Objekt seiner diplomatischen Kunst zu machen." Eugen Richter hat in der Vertretung des deutschen Liberalismus nicht
immer eine glückliche Hand bewiesen; auch das war keine glückliche Stunde, in
welcher sein Organ sich zu jenem ebenso unverständlichen, wie bedauernswerthen
Angriff gegen Richard Roesicke entschloß, zu Gunsten -
indirekt wenigstens —
eines Kartellkandidaten! — 3m Herbste desselben Jahres erschien aus der Feder Richard Roesicke's
die Broschüre:
„Arbeiterschutz".
Eine Antwort auf Wilhelm Oechelhaeuser's
„Die Arbeiterfrage" und „Die sozialen Aufgaben der Arbeitgeber." *)
*) Deffau, 1887.
Verlag von H. S. Art'l.
welcher minutiösen Genauigkeit Roeficke bei
Mit welcher Sorgfalt, mit
der Abfassung seiner Schrift vorging, davon vermag sich Niemand eine Vorstellung
zu machen, der nicht selbst die einzelnen Phasen der Entstehung dieses werthvollen Werkes zu beobachten Gelegenheit hatte.
Wie schon aus dem Titel des Buches
Ueber den Rahmen einer
hervorgeht, sollte sein Grundzug ein kritischer sein.
Kritik hinaus wuchs aber die Schrift ganz von selbst — dem Autor unter der
Feder — zu einem sozialpolitischen Bekenntniß empor.
Wie er
in Arbeiterfragen dachte, selbst handelte und gehandelt wisien wollte, das ist in
diesem Buche niedergelegt.
Bescheiden sagt er in dem Vorwort:
„Natürlich beruhen die nachfolgenden Ausführungen auf rein
Grundlage. thätigen
sollen nicht mehr sein,
Sie
Mitwirkung
der
Arbeitgeber
eine
als
behufs
praktischer
neue Anregung
Besserung
zur
Arbeiter
der
verhältnisse, nicht mehr, als ein neuer Versuch, die Nothwendigkeit und die Möglichkeit eines gesetzlichen Arbeiterschutzes zu beweisen. — Soviel auch die Wissenschaft
mit
sich
der
zukünftigen Lage der
arbeitenden Klassen
so wird doch die Gestaltung derselben von ihr allein nicht
beschäftigt hat,
abhängen, und werden daher die Worte von Männern, welche selbst im
praktischen Leben stehen, vielleicht nicht ganz ohne Nutzen verhallen."
Wie Roesicke in demselben Vorwort erkennen läßt,
lastete die weit ver
breitete Ansicht schwer auf ihm, „daß ein Eintreten für die Hilfe des Staates zu
besitzlosen Klassen,
Gunsten der
Schutzes gegen
daß
die Befürwortung
eines
gesetzlichen
unberechtigte Ausnutzung menschlicher Arbeitskräfte mit einer Er selbst war und fühlte
liberalen Gesinnung nicht in Einklang zu bringen sei".
sich als der lebendige Beweis nicht nur für die Zulässigkeit dieser Verbindung,
er ging noch weiter und betonte,
als der Erste in den Reihen der entschiede»
Liberalen, daß gerade der steifnackige Liberalismus die Pflicht habe, sich der
besitzlosen Klassen in
Die Schrift
der von
weitgehende Beachtung
fand
gewerblichen Kreisen;
ihm gewollten Weise gesetzgeberisch anzunehmen. in
politischen sowohl wie
und zwar war es vornehmlich
die Stimme
in
des groß
kapitalistischen Arbeitgebers, welche sich Gehör zu verschaffen wußte. Einen
greifbaren praktischen Erfolg hatte sie — worauf wohl ihr Ver
fasser am Wenigsten gerechnet hatte — zunächst auf politischem Gebiete; sie bildete den Anstoß
zu
einem
gänzlichen Umschwung
in dem
der Dinge
jenigen Reichstagswahlkreise, welchen Richard Roesicke zweimal für den von ihm vertretenen
Liberalismus
zu
gewinnen
versucht
hatte.
Der
im
Wahlkreise
Dessau ansässige Reichstagsabgeordnete für Anhalt II, Wilhelm Oechelhaeuser, schon
längst aufmerksam
geworden
auf
die frische,
treibende Kraft
in
der
Persönlichkeit Roesicke's auf sozialpolitischen» Gebiete sowie auf sein selbständiges
Richard Roesicke Kandidat der Nationalliberalen.
49
Denken in anderen wichtigen Fragen, z. B. in der Militärfrage,
brachte es,
dank seines starken Einflusses auf die führenden Personen der nationalliberalen
Partei des Wahlkreises,
zu Stande,
daß im Frühjahr 1890 der zweimal von
seinen Parteifreunden arg befehdete Kandidat der freisinnigen Partei nunmehr
von der nationalliberalen Partei selbst auf den Schild erhoben wurde. Richard Roesicke nahm diesen, in der Geschichte des deutschen Liberalismus
Er durfte ihn
wohl einzig dastehenden Antrag an.
umso leichter
annehmen,
als mit diesem an sich ehrenvollen Anerbieten keinerlei Bedingungen verknüpft waren,
den überzeugten,
welche
aufrecht stehenden Liberalen irgendwie hätten
stutzig machen können. Es steht für mich fest, daß sich Roesicke — im Hinblick auf die beiden voraufgegangcnen Wahlkämpfe — trotzdem geweigert hätte, die ihm Nationalliberalen
des Wahlkreises
von den
wenn
anzunehmen,
angebotene Kandidatur
ihn nicht eine parteipolitische Ungeschicklichkeit aus dem freisinnigen Lager arg
verdrossen hätte. Der linke Flügel
Zerbst befand,
der Freisinnigen
im Wahlkreise,
desien Lager
war ja schon immer mehr geneigt gewesen,
sich in
sich einem Partei
manne sans phrase zuzuneigcn, als eine, ihre eigenen Wege gehende, selbständige
Persönlichkeit, wie sie sich in Richard Roesicke verkörpert zeigte, verstehen der Aufforderung ganz
zu
Aus diesem Lager war man nun im Februar 1889 an Roesicke mit
wollen.
anzuschließen,
herangetreten, widrigenfalls
sich
der deutschfreisinnigen Partei
man sich
für
voll
und
die bevorstehende Wahl nach
einem anderen Kandidaten umsehen müsse.
Daß sich Roesicke
dieser Forderung
nicht
fügen würde,
hätte man auf
Grund seiner früheren Erklärungen voraussehen müssen, zumal sich die trennenden
Momente zwischen ihm und der damaligen deutschfreisinnigen Fraktion inzwischen noch vermehrt
und vertieft
hatten.
Deren Haltung
insonderheit
auf sozial
politischem Gebiete sowie Roesicke's abweichende Meinung hinsichtlich der Taktik einiger Führer der freisinnigen Partei hatten die zwischen ihm und der Partei schon
immer bestandene Kluft
man,
im nationalliberalen Lager,
noch
erweitert.
Auf der
Hatte doch der Reichstagsabgeordnete Oechelhaeuser sich bewegung
anderen Seite war
zu weitgehenden Konzessionen an ihn bereit.
des Jahres 1887 über Roesicke — mit
bereits in der Wahl
welcher
sachlichen Haltung
er allerdings damals ziemlich allein stand — also geäußert:
„Herr Roesicke steht nicht selben Boden wie wir,
bloß bezüglich des Septennats auf dem
sondern auch
noch in
z. B. in Bezug auf die sozialen Fragen.
anderen wichtigen Dingen,
Er hat sich — und ich freue
mich darüber — für das Kranken- und Unfallgesetz, für Altersversorgung usw. 4
ausgesprochen,
er hat gesagt,
daß er die Pflicht des Staates anerkenne,
in humanem Sinne durch die Gesetzgebung in die persönliche Gestaltung
des
wirthschaftlichen
Lebens
Noth der unteren Klaffen
und
einzugreifen
thätig
überhaupt viel zu sehr den Luxus
zu
sein.
für
die
Beseitigung der
Herr Roesicke gestattet sich
einer eigenen Meinung, als daß ihm
unter der Führung Eugen Richter's wohl sein könnte." Freilich, die logische Konsequenz solcher Ansichten hätte schon im Jahre
1887 die sein müssen, nicht die Kandidatur Roesicke zu bekämpfen, sondern sie zu unterstützen.
Aber damals glaubte man wohl, an dem nationalliberalen
Kandidaten aus persönlichen und Gründen der Parteiliebe festhalten zu sollen.
Vielleicht wäre man auch jetzt noch nicht zu dem Entschluffe gelangt, sich an Roesicke zu wenden, wenn denselben nicht die Erkrankung des bisherigen Ab geordneten Ziegler und
die daraus bei ihm entstandene Unlust, sich aufs Neue
um das Mandat zu bewerben, begünstigt hätte. Der weite Blick Oechelhaeusers, eines Mannes, der sich gern von großen
Gesichtspunkten leiten ließ, geht' noch näher aus einem Schreiben hervor, das
er zur Empfehlung der neuen Kandidatur nach
Deffau
gesandt hatte.
Es
heißt in demselben: „ ... Ich empfehle Herrn Roesicke allen Parteien.
In zweijährigem
Zusammenwirken
Gelegenheit
Fähigkeiten,
auf
Gebieten,
wo
man
am
Besten
hat,
Gesinnungen und Charakter eines Menschen zu prüfen, habe
ich die feste Ueberzeugung gewonnen, daß Herr Roesicke ein echter Patriot ist, daß er bei der positiven Arbeit am Wohl des Staates und der leidenden
Menschheit nie fehlen, daß er besonders auf dem hochwichtigen, die ganze Zukunft beherrschenden sozialen Gebiet Bedeutendes leisten wird.
Was
ihn mit uns verbindet, ist viel durchgreifender und größer, als etwaige
kleine Meinungsverschiedenheiten, die uns in einzelnen, meist untergeordneten Fragen
trennen
können.
Mögen die Wähler sich stets den
ganzen
Mann ansehen, was er ist und thut und leistet; das leitet bester, als die Beurtheilung nach dem formalen Bekenntniß zu diesem oder jenem bestimmt
formulirten Parteiprogramm oder durch
die
Brille der
Parteischablonc.
Haben Sic Vertrauen zu Herrn Roesicke und gewähren Sie ihm das vcr
langte Maß freier Selbstbestimmung innerhalb der von ihm selbst gezogenen Schranken; er wird cs nicht täuschen ..." Es sollte sich später erweisen, daß die von Oechelhaeuser als untergeordnet
erwähnten Fragen doch den Keim zu einer immer größer werdenden Verstimmung zwischen Roesicke und der nationallibcralen Partei enthielten —
das freundliche
Verhältniß mit dieser Partei, das sich aus einer gewiffen inneren Nothwendigkeit
hatte, war nur eine, wenn auch erfreulicher Weise lange
heraus entwickelt
Jahre anhaltende Phase ...
Gruppe der freisinnigen Partei im Wahlkreise
Der Fehler, den eine
Rocsicke gegenüber sich hatte zu Schulden kommen lasten, wurde wieder aus
geglichen dadurch, erklärten, bei
daß
die freisinnigen Vertrauensmänner nahezu einstimmig
aller Festhaltung an
Richard Roesicke einzutreten.
ihrem Parteiprogramm auch diesmal für
Ein, ich möchte sagen, klassisches Dokument dafür,
wie schließlich die bessere Beurtheilung Roesicke's durch die Freisinnigen doch
die Oberhand gewinnen mußte, liefert ein unterm 8. Februar 1890 veröffent lichter Aufruf, unterschrieben von angesehenen Männern der Dessauer Freisinnigen
unter Führung des Landgerichtsraths Kraus. „Parteigenossen!
Es wird in demselben gesagt:
Unser Reichstagskandidat ist Herr Roesicke.
Ob
wohl gleichzeitig von früheren, jetzt seinen vollen Werth erkennenden Gegnern aufgestellt, hat er doch nach wie vor unser Vertrauen.
Seine Anschauungen,
wie er sie öffentlich dargelegt, weichen von denen der Nationalliberalen in Punkten ab, die wir, im Gegensatz zu letzteren, für wesentlich erachten.
Seiner wahrhaft liberalen Gesinnung, nicht blos, wie unsere
diesmaligen Wahlverbündeten, seines sozialpolitischen Wirkens halber wählen wir ihn.
Er ist
—
dafür
treten wir
auf Grund gewonnener sicherer
Ueberzeugung ein — in Wirklichkeit sich treu geblieben.
Seine Meinungen
decken sich überwiegend mit den unsrigen und verbieten ihm, seinen Anschluß
da zu suchen, wo es auf Unterdrückung des entschiedeneren Liberalismus grundsätzlich abgesehen ist.
Der Versuch der Aufstellung einer anderweiten
liberalen Kandidatur ist zeitig verlassen, und die ihn gemacht, sind, obschon auf der Linken unserer Partei stehend, unumwunden für Herrn Roesicke eingetreten.
Es steht uns innerhalb des Wahlkreises kein besserer Kandidat
zu Diensten; auch den Nationalliberalen nicht. diese jetzt
mi t
uns
gehen?
Was verschlägt es, daß
Geschieht nicht AehnlicheS,
Sache zum Vortheil, auch in diesem und jenem andern Kreise? nicht bei Wahlen die Hilfe, wo er sie findet?
der
liberalen
Wer nimmt
Setzen wir uns, Partei
genossen, nicht außer Gefecht, zerfallen wir nicht untereinander, sondern
treten als große, selbständige, nur eigenen Erwägungen und Entschließungen folgende Partei, jede Empfindsamkeit um des großen Zweckes willen bei
Seite setzend, wie früher so auch jetzt einmüthig für Roesicke ein, eingedenk
der guten Dienste, die er Jahre hindurch — schon zu Zeiten, ehe er selbst
kandidirte — aller Anfeindungen ungeachtet, unserer Sache geleistet hat! Die Stimmen,
die die Konservativen ihm verweigern, rechtfertigen die
unsrigen nur um so mehr . . ."
Was die Freisinnigen aus eigener Kraft bis dahin nicht vermocht hatten:
Richard Roesicke wurde gewählt und zwar sogleich in der Hauptwahl.
Allerdings
zeitigte die diesmalige Wahl ein unverhältnißmäßig starkes Anwachsen der sozial
demokratischen
Stimmen,
ein Beweis,
daß
vielen Wählern,
welche
früher
Roesicke gewählt hatten, der Zusammenschluß mit den Nationalliberalen nicht genehm erschien; um dieser ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben, schlosien sie sich der sozialdemokratischen Zählkandidatur an, die auf solche Weise eine
ungeahnte Bedeutung erhalten sollte. —
♦
*
*
Die Thätigkeit Richard Roesicke's im Reichstage war, wie zu erwarten
stand, eine überaus rege.
Er hatte sich,
seiner Zusage entsprechend, keiner
Fraktion angeschlosien, desien ungeachtet wurde seine Bedeutung auf allen Seiten des Hauses mehr und mehr anerkannt,
besonders bei der Erörterung aller in
das Gebiet der Sozialpolitik einschlagenden Fragen.
nationalliberalen Fraktion gegenüber zunächst auch
War seine Stellung der
eine freundliche, zuweilen
sogar eine freundschaftliche, so war das in den Verhältnisien seines Wahlkreises, vornehmlich aber auch in den
Verhältnisien der
deutschfreisinnigen Fraktion
begründet, deren Spannung in sich ja bereits im Mai 1893 zu einer Spaltung der Fraktion führte.
Die Nothwendigkeit dieser Spaltung, zu welcher bekanntlich
die Militärfragen den letzten Anlaß gaben, erscheint als ein Beweis mehr für die Richtigkeit der Roesicke'schen Stellungnahme zu diesen Fragen, wie er sie schon im Jahre 1884 begründet hatte. —
Im Jahre 1893 erschien eine zweite Schrift *) aus der Feder Roesicke's, in welcher er als Fachmann und Politiker zu der im Reichstage mangels jeder
Sachkenntniß vielfach arg mißhandelten Frage der Brausteuer wichtige Beiträge lieferte. —
Allmälig trat ein, was eintreten mußte: die nationalliberale Reichstags fraktion
erwies
sich
in ihrer Haltung zu den liberalen Grundfragen immer
schwankender und unzuverlässiger, so daß Roesicke's kerniger Liberalismus sich
ihr aufs Neue mehr und mehr entfremden mußte. Es wurde ihm von den Nationalliberalen seines Wahlkreises sehr verübelt,
daß er aus diesem Zwiespalt heraus, in den ihn das Verhalten ihrer Partei*) »Rückblick auf die Verhandlungen de» Reichstage», betreffend die Erhöhung der Brausteuer am 10. und 11. Januar 1893.“ — Dessau, H. S. Art'!.
freunde im Reichstage versetzt hatte, dem nationalliberalen Wahlkomitee in einem
Anschreiben vom 1. Juli 1895 sein Mandat wieder zur Verfügung gestellt hatte.
ein hervorragender Beitrag zur Charakteristik des
Das Schriftstück darf als
Politikers Roesicke angesehen werden, wie er sich seit Beginn seiner parlamen
tarischen Thätigkeit entwickelt hatte; es sei darum im Wortlaut hier mitgetheilt: Als mir im Mai 1893 von den Vertrauensmännern der national
liberalen Partei abermals die Kandidatur für den ersten anhaltischen Wahl
kreis angeboten wurde, annehmen zu können,
glaubte ich, daß auch
dieselbe nur unter der Voraussetzung
die freisinnige Partei derselben ihre Zu
stimmung geben und mir hinsichtlich meiner Partei st ellung volle Freiheit gelassen würde.
Wenn nun auch diese Bedingungen
erfüllt worden sind, und
ich
daraufhin zum Vertreter des I. anhaltischen Wahlkreises gewählt worden
bin, so glaube ich doch annehmen zu müsicn, daß die Anhänger der national
ich würde mich zum Mindesten in den
liberalen Partei erwartet hatten, hauptsächlichen Fragen
mit
der national
den Ansichten und Beschlüßen
liberalen Fraktion des Reichstags in Uebereinstimmung befinden. nicht stattgefunden hat und auch
Daß eine solche Uebereinstimmung voraussichtlich
in
Zukunft
stattfinden
nicht
wird,
wollen Sie aus dem Nachstehenden ersehen.
Die von nationalliberaler Seite lebhaft befürwortete Verschärfung
der Strafgesetze zur Bekämpfung der sozialdemokratischen und anarchistischen Propaganda hatte bekanntlich zur Vorlage
gesetzes"
geführt.
Allerdings
hat
des sogenannten „Umsturz
die
nationalliberalc
Partei
sich
schließlich gegen den von der Kommission im klerikalen und konservativen
Sinne abgeänderten Entwurf erklärt, jedoch ließen die Redner der Partei weder beim Beginn,
Zweifel bestehen,
noch beim Schluß der Verhandlungen darüber einen
daß sie die Regierungsvorlage
in ihrer
ursprünglichen
Faßung mit wenigen Abänderungen anzunehmen bereit gewesen wären.
Ich bin von vornherein
ein Gegner
dieses Gesetzentwurfs gewesen,
nicht nur, weil ich glaube, daß unsere Gesetzgebung auch sozialdemokratischen
und anarchistischen Ausschreitungen gegenüber genügende Handhaben bietet, sondern weil ich
bestehenden
es
auch für verfehlt
Gesellschaftsordnung
bestimmungen bekämpfen
öffnen.
halte,
gerichteten
zu wollen,
die auf den Umsturz der
Bestrebungen
durch
Straf
welche der Willkür Thür und Thor
Nicht in der Einschränkung der Preß- und Redefreiheit, sondern
in der freien Diskussion erkenne ich den besten Schutz gegen die
Irrlehren der Sozialdemokratie.
Ich habe mich ferner im Gegensatz zur nationalliberalen Partei gegen die Tabak steuervorlage erklären müssen, weil ich cs für ungerecht
fertigt halte, zur Aufbringung der Kosten für die Wehrkraft des deutschen Volkes einzelne Gewerbe herauszugreifen; insbesondere wenn dadurch zugleich die minder wohlhabenden Klassen
der Bevölkerung in stärkerem Maße be
lastet werden, als die wohlhabenden. Ferner habe ich dem von der nationalliberalen Partei angenommenen Branntwein st euergesetz meine Zustimmung versagt, weil ich in
diesem Gesetz
eine unberechtigte Bevorzugung
einzelner Theile
der
Be
völkerung erblicke. Dasselbe gilt von dem, allerdings nicht zur Verhandlung gelangten, aber von der Partei unterstützten Anträge des nationalliberalen Abgeordneten Dr. Paasche, betreffend die Abänderung des Z u ck e r st c n e r
g e s e tz e S, welcher der Regierung willkommene Veranlaffung bieten wird, dem Reichstage
in
seiner nächsten Session einen entsprechenden
Gesetz
entwurf vorzulegen. Auch sonstige Vorgänge laffen mir keinen Zweifel darüber, daß die
Auffaffung der nationalliberalen Partei in Bezug auf die auf der Tages ordnung stehenden Fragen je länger je mehr von der meinigen abweicht.
So habe ich mich dem Votum der Partei, durch welches die Reichs
regierung aufgefordert worden ist, eine internationale M ü n z k o n f e r e n z
zu berufen, nicht anschließen können, weil ich darin lediglich eine Konzession
gegenüber den Gegnern der Goldwährung erblicke,
die geeignet ist,
eine
Unsicherheit nicht nur in unseren Geldverhältniffen, sondern auch über die Absichten der gesetzgebenden Faktoren hcrbeizuführen. Der von nationalliberalen Abgeordneten eingebrachte Antrag, betreffend die Kündigung
des Handelsvertrages
mit
Argentinien,
die Bereitwilligkeit, den von den Führern der Partei in der vorigen Session als „gemeingefährlich" bezeichneten Antrag K a n i tz in eine Kommission
zu verweisen, liefern zu meinem Bedauern den Beweis, daß man innerhalb
der
nationalliberalen
Partei
geneigt
ist,
auch
weitgehenden
agrarischen
Forderungen entgegen zu kommen.
Roch schärfer als auf wirthschaftlichem und politischem Gebiete tritt meine anderweitige Auffaffung der Verhältniffe auf sozialem Gebiet hervor. Während die Mehrheit der nationalliberalen Partei in Rücksicht auf
die gefährdete Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie zur Zeit weder
eine
Ausdehnung
der
V e r s i ch e r u n g s g e s e tz c,
noch
eine
Erweiterung des Arbeitcrschutzes für zulässig erachtet, halte
ich — weit entfernt, eine solche Gefahr für unsere Industrie zuzugestehcn —
die Fortführung der durch diese Gesetze eingeleiteten Sozialreform dringend
geboten. Mit dem Hinweis auf den zunehmenden Einfluß der Sozialdemokratie und die hierauf zurückgeführte Geneigtheit zu Arbeitseinstellungen hat sich
die nationalliberale Partei gegen die Gewährung von Korporations
rechten an Arbeitervereine erklärt. In der Parteiprcsie werden
ferner Maßregeln
empfohlen,
welche sich
Koalitionsfreiheit der Arbeiter
mehr
oder
minder
gegen die
und man behandelt die
richten,
Aufrechterhaltung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts, naturgemäß
an welchem
die nichtbesitzcnden Klasien
das größte Jnteresie
haben, als eine diskutable Frage.
Dagegen erkenne ich die Bestrebungen der Arbeiter, ihre Lage zu verbcsiern, nicht nur als voll berechtigt an, sondern ich bin auch der Ansicht,
daß denselben zu diesem Zwecke die gleichen Rechte einzuräumen sind, wie
sie den Arbeitgebern
thatsächlich
zur Verfügung
stehen und wie sie
namentlich dem „Kapital" zum Zwecke der Association seit lange gewähr
Ich bin
leistet sind.
insbesondere gegen
jede Beeinträchtigung der Koa
litionsfreiheit und gegen jeden Versuch einer Aenderung des Wahlgesetzes. Je mehr sind,
die Vertheidiger
der heutigen Gesellschaftsordnung
bereit
vorhandene Schäden einzugestehen und den berechtigten Forderungen
der Arbeiter Rechnung zu tragen, desto eher wird es gelingen, dem Ansturm der „Umsturzparteien" erfolgreichen Widerstand entgegenzusctzen.
Wenn dagegen
die gesetzgebenden Körperschaften zum Tummelplatz
einseitiger und materieller Jnteresie» gemacht werden, darf es ilicht Wunder
nehmen, daß die Achtung vor unserer heutigen Staatsverfassung nach und nach untergraben wird, und die Zahl Derer zunimmt, welche eine Bcsierung
der Verhältnisie und eine gerechte Vertheilung der Lasten des Volkes nur von dem „sozialdemokratischen Zukunftsstaat" erwarten.
die Aufgabe der liberalen Parteien,
Es ist daher meines Erachtens
diese Jnteresienpolitik
mit
aller Kraft
zu bekämpfen und
die
Gleich
berechtigung aller Staatsbürger u. 91. auch dadurch herbei zuführen,
daß unsere
vornehmlich auf
den Schutz des
Eigenthums
gerichtete Gesetzgebung mehr und mehr auf den Schutz der 9l r b e i t über geleitet wird.
Die mein
verehrten Mitglieder
im Vorstehenden
liberalen Partei
in so
des Wahlkomitccs
dargelegter
Standpunkt
werden
von
wesentlichen Punkten abweicht,
dem
zugeben, der
daß
national
daß ich mich nicht
mehr als einen geeigneten Vertreter der nationalliberalen Partei des I. an-
haltischen Wahlkreises betrachten kann.
Ich glaube daher, das mir in so
hohem Maße entgegengebrachte Vertrauen, für welches ich stets aufrichtig dankbar fein werde, nicht besser rechtfertigen zu können,
als daß ich das
mir übertragene Mandat in die Hände meiner Wähler zurücklege. Indem ich hinzufüge, daß ich von diesem Schreiben auch dem Wahl
komitee der freisinnigen Partei Kenntniß geben werde,
habe ich die Ehre,
zu zeichnen
mit vorzüglicher Hochachtung sehr ergebenst
Richard Roesicke. Man fand
es
der
unter Hintanstellung
sehr ernsthaften Motive dieses
Schreibens überaus unbequem, daß gerade mitten im Sommer, wo Leute von Bildung und Besitz der Ruhe pflegen und an alles Andere lieber denken, als
an eine anstrengende politische Thätigkeit, der Reichstagsabgeordnete das Komitee
vor eine so ernsthafte Frage gestellt hatte.
Man sah in den nationalliberalen
Kreisen des Wahlbezirks bereits die vielen Unbequemlichkeiten und Aufregungen, welche eine Neuwahl mit sich bringen mußte, voraus, und so entschloß man sich
„fünf gerade sein zu lassen" und den Abgeordneten, der es mit seinen
denn,
Pflichten gar so genau nahm, zu versichern, daß er nach wie vor des Vertrauens
des nationalliberalen Wahlkomitees für würdig erachtet werde.
Möglicherweise
genoß Roesicke auch wirklich dieses Vertrauen bei einzelnen der einflußreichsten und ausschlaggebenden Männer dieses Komitees, denn er
nächstfolgenden Reichstagswahl im Juni
wurde auch noch bei der
im Verein mit den
1898 von ihnen
Freisinnigen als Kandidat aufgestellt und den Wählern warm empfohlen, allein es machte sich bereits damals schon in den breiteren Schichten der Nationalliberalcn
ein Abbröckeln von der liberalen Kandidatur und eine Lauheit bemerkbar, welcher mit ernsthaften Vorhaltungen entgegenzutreten sich kein Geringerer, als Wilhelm
Oechelhaeuser genöthigt sah.
Roesicke zog denn auch abermals als Vertreter des
Wahlkreises in den Reichstag ein. —
Die folgenden Jahre beschleunigten bei ihm diejenige Entwickelung, welche er nach seiner ganzen Anlage, nach seinem ganzen Fühlen und Denken nehmen
mußte.
Im Lager der Freisinnigen Vereinigung hatte sich die Ueberzeugung mehr und
mehr
durchgerungen,
daß
die
von
Richard
Roesicke
vertretene
liberale
Politik eine Nothwendigkeit sei, daß in ihr die Zukunft des deutschen Liberalismus liege; man trat mit ihm für die berechtigten Forderungen der Arbeiter energisch
ein und ließ bei Militärfragen usw. jene weiteren Gesichtspunkte gelten, welche Roesicke
schon
Umständen
lag
immer
für
als
ihn
die
kein
allein
richtigen
Hinderungsgrund
erklärt mehr
hatte. vor,
Unter diesen
nunmehr
— es
Roesicke's Anschluß an die Freisinnige Bereinigung.
57
war im Dezember 1902 — auch seinen formellen Anschluß an die Fraktion der
Freisinnigen Vereinigung zu erklären. Da schon im Laufe des nächsten Jahres Neuwahlen stattfinden mußten, hielt
er es nicht
geboten,
für
dem
nationalliberalen Wahlkomitee in Desiau
von
seinem Entschlusie Mittheilung zu machen, und dies um so weniger, als dieses Komitee schon seit längerer Zeit nähere Fühlung mit ihm nicht mehr gesucht hatte,
dafür aber als Meinung einflußreicher Desiauer Nationalliberaler die Kunde in die Oeffentlichkeit durchgesickert war, daß Roesicke unmöglich auch noch weiterhin
Vor Allem
als ein Kandidat, den man unterstützen könne, anzusehen sein dürfte. wurde
seine
fortgeschrittene Sozialpolitik als Stein des Anstoßes
betrachtet.
Oechelhaeuser war gestorben, in weiten Kreisen empfand man schon die bisherigen,
mit den sozialpolitischen Gesetzen verbundenen Lasten als schwer genug, wenn nicht schon zu weit gehend, sodaß man sich nach neuen nicht zu sehnen brauche, und
Aehnlichcs mehr.
Vor Allem aber stieß dem Fasie den Boden aus Richard
Roesicke's Anschluß an die Freisinnige Vereinigung. Dieser war aber mehr und mehr eine Nothwendigkeit geworden, auch schon
rein praktischen Gesichtspunkten.
aus
hervorragenden
Zwar
hatte
es Roesicke,
dank seiner
Stellung im Reichstage, vermocht, auch ohne daß er einer
Fraktion angehörte, an den Arbeiten bestimmter Kommissionen theilzunehmen;
der außerhalb eines Fraktionsverbandes
stehende Abgeordnete fühlt sich aber
immer mehr oder weniger isolirt, und ist dadurch seiner initiativen und sonstigen
Thätigkeit manche Schranke gezogen.
Dieser Umstand war von ihm schon seit
Jahren drückend empfunden worden und, nachdem jeder innere Gnind für ihn gefallen war, sich der ihm nunmehr am nächsten stehenden Fraktion anzuschließen, war es lediglich die Rücksicht auf seine nationalliberalen Wähler gewesen,
welche ihn von jenem längst ersehnten Schritte immer wieder zurückgehaltcn hatte. Nun kam das Jahr 1903 heran; früher als sonst setzte die Wahlbewegung ein.
Eine innere Unruhe, wie sie noch nie vorher an ihm beobachtet worden
war, hatte Roesicke erfaßt, die neue Konstellation brachte neue Unklarheit mit, und ohne Klarheit, ohne klar zu sehen, vermochte er nicht zu wirken.
Schon zu
Beginn des neuen Jahres hatte er das Bedürfniß, sich mit seiner Wählerschaft
auseinander zu setzen, und in einer großen, imposanten Versammlung zu Desiau am
19. Januar erfolgte der Bruch mit den Nationalliberalen.
Einer ihrer
Sprecher war beauftragt, zu erklären, daß
„Herrn Roesicke's gänzlich veränderte Stellung der Sozialdemokratie gegen über und sein Bündniß mit dieser Partei bei den letzten Landtagswahlen die
nationalliberale Partei
des
Wahlkreises
habe
zu der Ueberzeugung
bringen müssen, daß sie in Herrn Roesicke nicht mehr einen geeigneten
Vertreter des Bürgerthums erblicken kann.*)" Der anhaltische Nationalliberalismus hatte damit endlich wieder sich selbst gefunden; die Jahre der Wandlung zu einer gewisien Entschiedenheit in der
Beurtheilung Roesicke's
sozialer Fragen waren vorüber,
konsequente
die
Entwickelung
war ihm unverständlich; Konsequenzen zu ziehen, wenn solche auf
anderem Gebiete, als dem des politischen Opportunismus lagen, war ja seit 1879
nie mehr seine Stärke gewesen. Der Vorwurf, Richard Roesicke habe seine Stellung gegenüber der Sozial demokratie gänzlich verändert, war unzutreffend; nach wie vor war er der ent
schiedenste Gegner ihrer auf den Umsturz der heutigen Staats-, Wirthschafts
und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen.
Daraus
letzten Tage seines Wirkens nie ein Hehl gemacht.
Der Sprecher der national
hat er bis in die
liberalen Partei des Wahlkreises wurde hinsichtlich dieser Behauptung durch die
Haltung
der Sozialdemokratie
in Anhalt
Zum
auf's Schlagendste widerlegt.
Beweise seiner Anklage warf er die Frage auf: „Wird Herr Roesicke jetzt auch noch von der Sozialdemokratie ver
folgt und verlästert, wird er auch jetzt noch unaufhörlich angegriffen?" Die Angriffe der sozialdemokratischen Agitatoren
Die Antwort lautet: ja.
gegen Richard Roesicke gerade während dieses früheren Leistungen dieser Art noch Überboten.
letzten Wahlkampfes
hatten alle
Gerade gegen Roesicke richteten
sich die sozialdemokratischen Angriffe bedeutend heftiger, als gegen den Kandidaten der nationalliberalen Partei.
Der Grund lag nahe: die bis zum Aeußerften
gehende Gerechtigkeit Roesicke's auch gegen die Arbeiter und die Sozialdemokratie
ließ
letztere
in
ihm
den
ihr
gefährlicheren
Gegner
erkennen;
mit
„Bourgeois" meint die Sozialdemokratie ungleich leichter und eher fertig zu
werden.
Zu diesen rechnete sie den Kandidaten der „Reichstreuen" im Wahl
kreise, unter welchem Deckblatt diesmal die politische Verbrüderung der Nationalliberalen mit Konservativen, Landwirthschaftsbündlern, Zünftlern und bergt, sich
vollzogen hatte. Bleibt noch der gegen Richard Roesicke erhobene Vorwurf, mit der Sozial demokratie ein Wahlbündniß eingegangen zu sein.
Im Anhaltischen Landtage hatten sich die Nationalliberalen jederzeit ge neigt gezeigt, reaktionären Bestrebungen der Regierung Gefolgschaft zu leisten; sie hatten in den letzten Jahren insbesondere geholfen, das Wahlgesetz zu Ungunsten der kleinsten Steuerzahler —
aus Angst vor der Sozialdemokratie — zu
ändern,
*) Nr. 1 der Wahlzeitung für Anhalt I, Organ des reichstreuen Bürgerthums.
sie hatten einem Gesetze zugestimmt, das den Kontraktbnich ländlicher Arbeiter Angesichts solcher Vorgänge, zu denen kein aufrichtiger liberaler
kriminell bestraft.
seine Zustimmung
Mann
geben
darf,
politischen Versammlung dahin geäußert,
hatte sich Roesicke in einer Dessauer
daß es bei den bevorstehenden Land
tagswahlen vor Allem darauf ankomme, entschieden liberale Männer zu wählen;
sei man
dazu
allein nicht stark genug,
Sozialdemokratie der
so
sei
ein Zusammengehen
mit
der
reaktionären Kandidaten gebotenen Wahlhilfe ent
einem
schieden vorzuziehen. Diese
seine Gedanken vervollständigte
in nachstehendem,
an mich
bezw. interpretirte er bald darauf
gerichteten und von mir
öffentlicher Kenntniß
zu
gebrachten Schreiben: Berlin, 7. November 1902.
Verehrter Herr und Freund!
Sie theilen mir mit, daß in dortigen liberalen Kreisen meine Aus
führungen
in
der „Tivoli"-Versammlung
vom
16. Oktober d. I. eine
verschiedene Auffaffung erfahren haben, und ersuchen mich, meine Stellung
nahme der Sozialdemokratie
gegenüber in Rücksicht auf die bevorstehende
Landtagsmahl nochmals klarzulegen.
Hierzu bin ich gern bereit, wenngleich
ich angenommen hatte, daß meine Worte nicht mißzuverstehen seien. Ich nehme an, daß in allen wirklich liberalen Bürgerkreisen Anhalts
die Ueberzeugung
sich Bahn
gebrochen hat,
daß
die
dortigen politischen
Zustände unhaltbare sind, daß dem immer weiteren Vor
dringen des A g r a r i e r t h u m s Einhalt geboten und daß zu diesem Zwecke die Landschaftsordnung durch eine zeitgemäße Verfaffung und ein neues Wahlgesetz
ersetzt
werden
muß.
Dies
in
absehbarer Zeit zu er
reichen, wird nur möglich sein, wenn eine Anzahl
entschieden liberaler
Männer schon in den nächsten Landtag einzieht, die -
wie Tie — ■ be
reit und gewillt sind, die Rechte des Volkes mit Energie und Zähigkeit auch einer Uebermacht gegenüber zu vertreten.
Insoweit der Liberalismus in Anhalt stark genug ist, dieses Ziel
allein zu erreichen, giebt es für ihn keine andere Aufgabe, als diesem Ziel rücksichtslos zuzusteuern.
Da er aber, wie als notorisch gelten kann,
diese Macht in Anhalt für sich allein nicht besitzt, muß er mit anderen Parteien zusammengehen, die das gleiche Ziel ebenso energisch erstreben, und da giebt es unter den bestehenden Parteien leider nur eine,
die
Sozialdemokratie.
liberalen
das ist
Unbeschadet des bestehenden Gegensatzes zwischen
Gnmdsätzen und denen der überzeugten
Anhänger der
sozial
demokratischen Partei halte ich den Liberalismus nicht nur für berechtigt.
sondern sogar für verpflichtet, die angebotene Mitarbeit der Sozialdemokratie anzunehmen, so lange die Partei sich auf den Boden der heutigen Ge
sellschaftsordnung stellt und Reformen herbeizuführen sucht, die auch ro i r
für erstrebenSwerth halten.
Dies umsomehr, als ein großer Theil der
jenigen deutschen Arbeiter, die einem gewaltsamen Umsturz der bestehenden
nicht nur abhold, sondern gut
Staatsordnung
monarchisch gesinnt sind,
dennoch
in der sozialdemokratischen Partei ihre politische Vertretung er
blicken.
Gerade die Arbeiter sind es aber, die durch die neuere Gesetz
gebung Anhalts, durch die kriminelle Bestrafung des Kontraktbruchs und durch das neue Wahlgesetz am Meisten in ihren staatsbürgerlichen Rechten
beeinträchtigt worden sind. Liberalismus,
dafür zu
Es ist daher
sorgen,
daß
die
die Aufgabe
Anhänger
des entschiedenen der
Reaktion auf
politischem und wirthschaftlichem Gebiete wenigstens zum Theil durch Männer
ersetzt werden, die auch die Rechte der Arbeiter zu vertreten bereit sind!
Gelingt es ihm nicht, den Vertretern seiner politischen Richtung allein zum Siege zu verhelfen, so darf er sich nicht scheuen, auch einem Sozialdemokraten seine Stimme zu geben!
Das hindert ihn nicht, diese
Partei nach wie vor energisch zu bekämpfen, da, wo die Wege sich scheiden, wo sie sich anschickt, die bestehende Gesellschaftsordnung zu unter graben oder berechtigte Jnteresien anderer Klassen zu schädigen. Für jetzt kommt es allein darauf an, liberalen Ansichten und der
Gleichberechtigung aller Stände auch in Anhalt zum Siege zu verhelfen.
Hochachtungsvoll
Ihr aufrichtig ergebener Richard Roesicke
Mitglied des Reichstages. Der Nationalliberalismus hat sich für alle Zeiten dadurch gekennzeichnet,
daß er die
den
feierliche Erklärung abgab,
Standpunkt
Alle
der
ein Mann,
Gerechtigkeit,
des
der,
wie Richard Roesicke,
gleichen
Rechtes
also betone und rücksichtslos festgehalten wissen wolle, von ihm
für „nicht
mehr als ein geeigneter Vertreter des Bürgerthums" angesehen werde . . .
Diesem kläglichen Programm der Absage entsprach die „reichstreuc" Be kämpfung des nunmehr wieder von den Freisinnigen allein — und mit welchem
Erfolge!
—
aufgestellten
bisherigen Reichstagsabgeordneten Richard Roesicke;
auch sie bildet kein Ruhmesblatt in der Geschichte des anhaltischen National
liberalismus. —
Auf den Ausgang dieser Wahl blickte das gesammte politische Deutschland mit gespanntem Interesse: sollte doch in ihr „die Probe auf's Exempel" gefunden
werden, ob die Roesicke'sche Politik wirklich im Stande sei, der Sozialdemokratie,
welche auch in Anhalt von Wahl zu Wahl an Stimmen gewonnen hatte,
Ab
Und diese Probe gelang; sie gelang sogar glänzend; die sozial
bruch zu thun.
demokratische Parteileitung mußte zugestehen, daß ihr die bürgerliche Politik eines Roesicke wirklich gefährlich werden könne.
Der Wahlstatistik*) in Roesicke's Wahlkreise war unschwer zu entnehmen, von Arbeitern und sonstigen „kleinen Leuten" weder
daß sich Hunderte
durch
Lockungen, noch durch moralische Drohungen hatten verleiten taffen, den Sozial
demokraten zu wählen: sie wählten Richard Roesicke.
*
Wie oft habe ich
*
mir im Laufe der Jahre,
welcher ich mit
während
meinem unvergeßlichen Freunde in treuester Waffenbrüderschaft im politischen
Kampfe stand,
die Frage vorgelegt, woher es kommen mochte, daß sich gerade
auch gegen ihn, diesen aufrichtigen, patriotisch gesinnten, edlen und uneigen
nützigen Menschen, die politische und sonstige Gegnerschaft mit ihren häßlichsten
Waffen wendete!
Ich
glaube,
des Räthsels
Roesicke ein Streber gewesen;
gesucht,
der einfache,
Lösung
gefunden
zu
haben:
wäre
Richard
hätte er seinen ganzen Stolz nicht bloß darin
schlichte Bürger zu sein und nur als solcher zu gelten,
seine Angreifer hätten sich ihm gegenüber einer gewissen Mäßigung befleißigt.
Da er aber nur als Gleicher unter Gleichen gelten wollte,
und
andere Vor
züge, als die in dem Menschen selbst ruhenden, ihm wenig oder nichts bedeuteten, meinten eben seine Gegner, sich ihm gegenüber jeder Rücksicht entledigen, sich
jede Dreistigkeit
herausnehmen
zu
dürfen.
Vor dem
hohen Beamten,
vor
selbstbewußt zur Schau getragenen Orden und Titeln pflegt man ja in Deutsch
land scheue Ehrfurcht zu hegen,
und gerade in solchen Kreisen waren — ich
darf sagen — alle bürgerlichen Gegner Roesicke's zu Hause, die ihn in Wort und Schrift zu lästern nicht müde wurden.
Den bürgerlichen ServilismuS reizte zudem die aufrechte Art, mit welcher Roesicke sich
zu seinen freiheitlichen und volksfreundlichen Ansichten bekannte;
*) DaS Stimmenverhältnis hatte sich wie folgt gestaltet: Richard Roesicke erhielt 11416 Stimmen (im Jahre 1898 : 9271), der .reich-treue" Kandidat 5704 (im Jahre 1898 der konservative Agrarier 3897), der Sozialdemokrat 12268 (gegen 10731 Stimmen bei der Wahl im Jahre 1898), ein Centrumsmann 138
Stimmen.
aber auch seine sachliche Schärfe in der Bloßstellung gerade der empfindlichsten Seiten seiner Gegner.
scharfen Verstände«,
eine Lust, zu
Es war
seiner
gründlichen
die Sonde seines
sehen, wie
Sachkenntniß
und
aus
der
Beiden
resultirenden Ueberlegenheit in die Argumente der Gegner hineinfuhr und sie
in ihrer Armseligkeit bloßlegte.
Wie fein pointirt waren seine Ausführungen
im Reichstage sowohl, wie in der Volksversammlung!
gab es, aber auch keinen vornehmeren.
Keinen besieren Debatter
Wurde der in die Enge getriebene
erregt und dann ausfallend und persönlich — Roesicke
Gegner leidenschaftlich
konnte ja a u ch erregt werden,
die er vertrat,
ihn die Sache,
sei es, wenn
begeisterte, oder wenn sein Zorn aufflammte — nie ließ er sich hinreißen, dem niedrigen Gegner zu folgen,
des Niedrigen hinabzusteigen. —
in die Sphäre
Die Bedeutsamkeit und die Aufmerksamkeit, welche man seinen Reden im daß er sich nicht über Alles
hatte ihren Grund darin,
Reichstage zuerkannte,
zu sprechen berufen fühlte, sondern nur dann das Wort ergriff, wenn ihn seine daß er auch inhaltlich etwas
Sachkenntniß dazu herausforderte und er wußte,
zu sagen habe.
Seine Reichstagsreden beschränken sich daher mit wenigen Aus
nahmen auf dasjenige Gebiet, welches er völlig beherrschte: die Sozialpolitik. — Als Versammlungsredner zeichnete er sich nicht so sehr durch die Flüssig
keit seiner Ausdrucksweise,
als durch streng logischen Aufbau seiner Gedanken
und
der Beweisführung
eine
subtile Klarheit
Mit Schlagworten die
aus.
Hörer zu feffeln, sie durch Exkursionen auf das Gebiet des Scherzes zu amüsiren, verschmähte er.
Wenn
man ihn
neben dem Vorstandstische stehen
anders, als schwarz gekleidet, nie in salopper Haltung;
blickendes Auge
sah,
nie
wenn sein gutes, treu
von innerem Feuer erglühte und glänzte,
da hatte
man das
Gefühl: dieser Mann glaubt an das, was er behauptet, es ist ihm heiliger Ernst um seine Ueberzeugung und um das,
was er vertritt.
als Redner mit der Schwierigkeit der Situation.
staltet hatte, je verworrener sie Allen erschien, das
erlösende Wort,
überraschte
er
diese
sich ge
desto prägnanter fügte sich ihm
die Zuhörer
Eleganz der von Allen herbeigesehnten Lösung.
Er wuchs auch
Je kritischer
die
durch
Leichtigkeit
und
Wo es sich um das über das
Niveau der Alltäglichkeit weit hinausreichende Große und Bedeutende handelte,
da wurde
seine
Rede hinreißend,
und
nicht
selten
ihm
brachte
in
solchen
Momenten seelischer und körperlicher Hochspannung der begeistert ausbrechcnde, minutenlange Beifall die erwünschte Pause. Ich sprach vorhin von einem Aufflammen seines Zornes.
Es war vor
Jahren, während einer Wahlbewegung, in einem kleineren Orte seines Rcichstagswahlkreises.
Roesicke
hatte
eine sehr lebhafte Diskussion
eben
seine Kandidatenrede gehalten,
entbrannt,
sozialdemokratische Gegenkandidat,
in
welcher
ein jüngerer Mann,
ihn
der
mit
cd
war
mit anwesende
allerhand Gegen-
ausführungen zu widerlegen suchte. der Hörer
Durch die unter dem fröhlichsten Beifall
erfolgenden schlagenden Abfertigungen Roesicke's
in die Enge ge
trieben und dadurch maßlos erregt geworden, verstieg sich der Sozialdemokrat
zu einer persönlichen Beschimpfung seines Gegners in einem gereizten Zwischen rufe.
Was
nun folgte, war hochdramatisch.
Roesicke
hielt —
gleichsam
erschreckt von der Möglichkeit eines so niedrigen Kampfmittels — in seiner Rede inne, seine Augen blitzten zornig auf, die Blicke hefteten sich wie scharfe Pfeile an seinen Gegner, als ob sie ihn durchbohren wollten, langsam verließ er
seinen Platz und schritt unter der lautlosen Spannung der Versammlung auf den Frevler an seiner Ehre zu . . . Dieser war kreidebleich geworden und entschuldigte sich, er habe seine Worte nicht so gemeint. „Das wollte ich Ihnen auch gerathen haben!" war Alles, was Roesicke darauf erwiderte, schritt besänftigt auf seinen Platz zurück und fuhr in seinen Ausführungen fort, während der Gegner es vorzog, mit feinem Anhang die Versammlung zu
verlasien. — Nichts Anderes,
als ein Bürger wollte Roesicke sei».
Crbcii und Titeln lockte ihm ein Lächeln des Mitleids ab.
Die Sucht nach Und doch — hatte
er den Titel eines Herzoglich Anhaltischen Kommerzienraths Ende der achtziger
Jahre angenommen; jawohl,
angenommen, denn begehrt hatte er ihn nicht.
Man war in den damaligen Regierungskreisen Anhalts auf den menschen freundlichen Großindustriellen aufmerksam geworden oder aufmerksam gemacht
worden
und wünschte,
sträubte
sich
ihn
in
der üblichen Weise auszuzeichnen.
guten Namen, den er so zu behalten wünschte, ererbt hatte.
ihn,
Roesicke
seine Einwilligung zu ertheilen, er war stolz auf seinen
lange,
wie er ihn von seinem Vater
Es bedurfte wiederholter und eindringlichster Einwirkungen auf
einer Mühe,
welcher sich
Großhandel unterzog,
einer seiner Desiauischen Freunde aus dem
um seinen Widerstand zu brechen.
Vielleicht habe auch
ich Einiges dazu beigetragen, ihn mitbestimmen helfen, — nicht zur Freude des
Tresilichen.
Von jedem einzelnen Schreiben, welches in dieser Angelegenheit
zwischen ihm und dem Mittelsmanne gewechselt nehmen.
Roesicke
hatte
den
Mittler
bereits
wurde, wiederholt
durfte ich Kenntniß
ersucht, von jener.
Titelfrage Abstand zu nehmen, als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß die
Absicht, ihn durch diese Titelverleihung auszuzeichnen, doch auch aus einem andereil Gesichtspunkte betrachtet werden könne. Mit Recht beschweren sich die Liberalen, daß ihnen die Anhänger der politischen Rechtsparteien überall von
StaatSwcgcn vorgezogcn würden. Wenn nun einem liberalen Manne, wie ihm, ein Titel angeboten würde, auf die anständigste Weise, so spräche dies doch immerhin für eine wohlthuende Objektivität der Staatsleitung. Kaiser Friedrich habe ebenfalls liberale Männer durch Verleihlmg von Orden und
Titeln ausgezeichnet und wäre mit Recht verstimmt gewesen, ablehnend verhalten wollen.
hätten Jene sich
überdies so harmlos,
Der Titel sei
daß er ihn,
Roesicke, in seinen Ueberzeugungen sicher nicht schwankend machen oder ihm gar zu Kopfe steigen
Weshalb
würde.
sollte eS
schließlich,
denn
der Abwechselung
da
einen entschieden liberalen Kommerzienrath geben,
nicht auch
halber,
die deutsche Erde mit konservativen und nationalliberalen Kommerzienräthen wie
mit Brillanten übersäet sei . . .
Endlich
sagte Roesicke — aber
nicht etwa
Später hat ihn dieses Jawort gereut; je älter, ent
leichten Herzens — Ja.
schloßener und gefestigter er in seinen Anschauungen wurde, desto schwerer trug
er an
einem Titel, der ihm geeignet schien, vor der Welt den Schein zu er
wecken, als ob auch er vor den Einwirkungen landläufiger Eitelkeit nicht gefeit Nach und nach
genug gewesen wäre.
Anwendung seines Titels derartig
hatte er aber seine Umgebung
entwöhnt,
daß er
von der
ihn kaum noch zu hören
bekam, höchstens von Fremden, die aus konventioneller Höflichkeit das Prädikat
ihm gegenüber anwenden zu sollen glaubten. war,
Seine feste, wohlerwogene Absicht
bei Gelegenheit des Thronwechsels in Anhalt
Ehrfurcht zu
ersuchen,
von dem
das ihm
den neuen Herzog in aller
früheren Herrn wohlmeinend
ver
liehene Patent in die Hände des Thronfolgers zurücklegen zu dürfen. — — aus
Wer
dieser
seiner Absicht
aber
etwa
den Schluß ziehen
möchte,
Richard Roesicke wäre im Grunde seines Herzens doch nicht so treu monarchisch
gesinnt gewesen,
wie er es wiederholt öffentlich versichert hatte,
oder aber,
es
hätte sich zuletzt in ihm eine Wandlung vollzogen, der würde ihm Unrecht thun.
ich
Nie habe
aus
solche selbst in Kreisen Loyalität
in
die
ein unehrerbietiges Wort gegen
seinem Munde auch nur
einen unserer deutschen Fürsten vernommen;
als erlaubt angesehen werden,
vorderste Reihe
eindruckslos vorüber,
gewiße medisante Bonmots,
gestellt
zu
er griff sie weder auf,
wie
welche hinsichtlich ihrer
sein wünschen, gingen
an ihm
noch gab er sie weiter.
Bis in
die letzte Zeit konnte man ihn in jeder Versammlung laut in die Hochrufe mit
einstimmen
hören,
auf Kaiser
Landesfürst ausgebracht
wurden.
Richard Roesicke war einer von jenen monarchisch gesinnten Männern,
auf die
welche
und
sich ein Landesfürst unbedingt verlaßen darf. — Mit seinem ehrlichen Abscheu vor Titeln,
an private Männer verliehen,
Hand in Hand ging sein Widerwille vor allem protzenhaften Wesen. dafür,
daß
in der Preße
von
Er sorgte
seinen Wohlthaten niemals gesprochen wurde.
Leistete er namhafte Beiträge, so geschah dies unter der Bedingung, daß sein Name verschwiegen, zum Mindesten nicht an die große Glocke gehängt würde. —
Wieder ein bezeichnendes Beispiel für seine Schlichtheit.
Als daö Kinder
heim auf dem Grundstück der Deßauer Schultheiß' Brauerei fertiggestellt war,
war die Aufschrift
an dem Hause in großen, vergoldeten Lettern von Seiten
des Bauausführenden angebracht
moquirte sich
Jemand
worden.
gelegentlich
Mich verletzte dies und ich hatte nichts Eiligeres zu
darob mir gegenüber.
thun, als den Freund auf jene Aufschrift aufmerksam zu machen, die ihm bis Sehr bald darauf war die goldige Aufschrift durch eine
dahin entgangen war.
ganz schlichte, schwarze ersetzt. Ueberaus
schwer
hielt
sein Bild
es,
von
erhalten.
zu
ihm
Nur bei
Gelegenheit einer bedeutungsvollen Betriebsfeier der Schultheiß' Brauerei er
hielten Beamte und Arbeiter sein Portrait. Ich selbst habe bei seinen Lebzeiten
nie ein Bild von ihm besesien.
„Sie sehen mich ja oft genug", pflegte er zu
sagen, „wozu brauchen Sie da noch ein Bild von mir?" Ein in Oel gemaltes
Portrait
cristirt überhaupt nicht von ihm,
auch keine Portraitbüste, was von
Und doch verstand er es,
manchem seiner Freunde bedauernd empfunden wird.
die Kunst nicht blos zu lieben, sondern auch, sie auf die feinfühligste Weise zu unterstützen.
Manch werthvolles Gemälde,
das Aufnahme in seinem vornehm
eingerichteten Heim gefunden hatte, verdankt seiner sinnigen Anregung seine Ent
stehung. Durch Vermittelung seines Freundes Dr. Dohr» in Neapel ließ Roesicke Arnold Böcklin,
den etwas eigensinnigen
war,
ersuchen,
kam diesem Wunsche nach
gezählt werden Honorar zu Theil handelte,
mit
welchem Dr. Dohrn befreundet
ein größeres Bild für ihn zu schaffen. darf.
und es
Das
entstand
war ein
Der berühmte Meister
ein Werk,
glücklicher Zufall.
das
zu seinen
Das reich
besten
bemeffene
sollte dem genialen Künstler aber auch formell in feinfühliger Weise werden:
Roesicke
sorgte dafür,
noten übermittelt wurde. seine Ehrerbietung zu
Atich
es sich
daß die Summe, um die
an Böcklin in frisch von der Preffe gekommenen,
ungcknickte» Bank
darin suchte er eben dem schaffenden Künstler
beweisen.
Obwohl
nichts weniger
er doch, wo es darauf ankam, selbst in den kleinsten,
als kleinlich, pflegte
zumeist als nebensächlich
betrachteten Dingen die gute Form zu wahren.
Als
einmal
im
Reichstage
eine
jener
wilden Künstdebatten
entfeffelt
wurde, die in Kunstkreisen unliebsames Aufsehen erregten, und ein in München lebender moderner Maler
von Bedeutung besonders
unfein
behandelt
worden
war, richtete er an diesen ein Schreiben, in welchem er ihm gestand, daß ihn als Rcichstagsabgcordneten die Art dieser Kunstdebatte beschämt habe, es dränge
ihn daher, dieses peinliche Vorkommniß, soweit es ihm allein möglich sei, da
durch gut zu machen,
daß
er ihn
bitte,
für ihn
ein Bild zu
malen,
deffen
mündlich oder schriftlich,
durfte
Motiv er dem Künstler zu bestimmen anheimgebe.
Wer auch immer sich
an ihn wandte,
sicher auf eine Antwort rechnen.
und ihrer waren Legion
Eingehend wurde jedes fremde Anliegen
geprüft; es ablehnen zu müssen, wurde ihm schwer;
meist gab das gute Herz den Ausschlag.
Richard Roesicke als Mensch.
ES ist bekannt und von Gegnern mißliebig bemerkt worden, daß Richard Roesicke beim Tode des „alten Liebknecht" einer von Denen war, die dem sozial
demokratischen Führer die
letzte
Als Reichstagsabgeordneter
Ehre erwiesen.
hielt er sich dazu verpflichtet, als Privatmann hätte er es Unterlasten.
Sein
Hang zur Gerechtigkeit überwog eben jedes kleinliche Bedenken.
Als am Charfreitag des Jahres 1903 der ihm befreundete Chefredakteur der „National - Zeitung" Köbner in Berlin zur letzten Ruhe bestattet wurde,
befand
auch er sich
in dem wenig zahlreichen Trauergefolge,
um der Wittwe
und den Kindern des von ihm geschätzten, verdienten Mannes Trost zu spenden. Ich hatte
jenes Tages
den Abend
in
seinem
reizenden Tuskulum auf dem
Tornow bei Potsdam in seiner Gesellschaft verbringen dürfen und weiß, wie
ihn
dieser Trauerfall mit tiefstem Mitgefühl
engeren Gesinnungsgenosten
erfüllte.
Obwohl
nicht zu den
des verstorbenen Politikers gehörend, kam er im
Laufe jenes Abends doch immer wieder auf das selbstlose Wirken des Verewigten
zu sprechen und bedauerte, daß nationalliberale Parlamentarier in dem Trauer gefolge nicht zu bemerken waren. —
Fremdes Leid mit zu empfinden, es nach Kräften zu lindern, war ihm überhaupt Herzensbedürfniß.
bewies er bei
im Leben bewährt hatten, einer
Wie vielen seiner Beamten und Arbeiter, die sich
seiner ersten Beamten in Berlin,
besonders schätzte, starb,
deren Tode
die letzte Ehrung!
ein langjähriger Mitarbeiter,
sollte Roesicke gerade
an
Als
den er
ernsten und festlichen Ver
anstaltungen politischer Art theilnehmen. Er gestand mir, daß es ihm unmöglich sei, fröhlich zu sein unter Fröhlichen, ließ sich entschuldigen und widmete sich —
es war an einem Sonntage — fast den ganzen Tag über hilfsbereit den Hinter bliebenen.
Zeit,
Oft stahl er sich sozusagen — inmitten dringender Geschäfte — die
um eigens nach Destau zu kommen und dort an der Beerdigung eines
verstorbenen pflichttreuen Beamten oder Arbeiters theilzunehmen . . .
Seiner Familie bedeutete er Alles, entbehren mußte.
obwohl gerade diese ihn so sehr viel
Es waren Sonnentage für sie, wenn der Gatte und Vater,
von äußeren Anforderungen unbehelligt, sich ihr einmal so ganz widmen konnte.
Die
glücklichste
Ehe
verband
ihn
mit
seiner
Gattin Luise
seit
dem
6. Februar 1872 — einunddreißig Jahre hindurch. Die zarte, wiederholt auf's
Schwerste erschütterte Gesundheit dieser edlen Frau, zu der er mit stolzer Liebe aufblickte, erfüllte sein zärtliches Herz nicht selten mit banger Sorge; sie war ihm, den sie so prächtig verstand, geradezu unentbehrlich geworden; sie war ihm
nicht nur die
treue Gefährtin,
seiner Kinder, sondern auch Wo er auch weilte,
die umsichtige Hausfrau,
die sorgsame Mutter
eine kluge Beratherin und nimmermüde Helferin.
ihrer gedachte er immer,
sei es in ein paar während der
Eisenbahnfahrt flüchtig hingeworfenen Zeilen, in einem Telegramm oder in aus führlichem Briefe. Töchter,
Und
wie
an diesem Vater!
hingen
der Sohn und
die Kinder,
weniger wie an
Nicht
die
beiden
Eine wohl
der Mutter!
überlegte, sorgfältige Erziehung hatte er ihnen zu Theil werden lassen.
Früh
zeitig hatte er es verstanden, ihren Sinn auf das Wichtige im Leben hinzulenken, die Spreu vom Weizen unterscheiden zu lernen. Häuser fast zur Regel
Richard
Roesicke's keinen Eingang gefunden: das Vorbild des
machen.
Achtung
Bescheiden
den Werth Anderer
vor der Arbeit
Selbstverständlichkeit.
Elternpaares
sich zu bethätigen,
zu lernen,
schuf in ihnen den gleichen Drang, zu
Der bei den Töchtern reicher
gewordene geschäftige Müßiggang hatte in der Familie
zu schätzen,
in jeder Gestalt ward ihnen,
sich nützlich
wurden sie gelehrt.
gleich
den ©kern,
Und wahre Herzcnsfrömmigkeit lebte in ihnen Allen.
zur
Auch
besaß jenen herrlichen frommen Sinn, der echter Herzens
Richard Roesickc
reinheit entspringt. Jeder Kirchlichkeit gegenüber hielt er sich fern, achtete aber auch die Bethätigung
einer solchen
bei Anderen,
denen sie
inneres Bedürfen
war. In Glaubenssachen duldsam, nie voreingenommen; sein eigenes Glaubens
bekenntniß aber blieb die Liebe zum Guten. — Und fröhlich konnte er fein, wenn Fröhlichkeit ihre Berechtigung hatte!
So
nach
im Kreise
gcthaner Arbeit
der Familie,
Da leuchtete das Auge und das Herz schlug höher.
int Kreise Gleichgesinnter.
Fiel gar ein gutes, launiges
oder witziges Wort, da konnte er lachen, so herzhaft, daß selbst der Griesgram hätte mit einstimmen müssen.
Der „lieben Unschuld", wenn sie sich auch spreizte
und über Gebühr wichtig thun wollte, vermochte er nie gram zu sein, er sah in ihr nur das Komische.
Dann
aber zuckte
es
um seine Mundwinkel,
ein
fein-ironisches Lächeln, kaum merkbar, gab Zeugniß von seiner kritischen Stimmung.
Grausamer Spott, seiner Seele;
beißende Ironie
aber witzig
fand man jedoch
verstand er zu sein,
nicht
schlagfertig,
in
den Registern
und
oft barg sich
bei ihm unter Scherz und Witz eine wohlverdiente Kritik. — Hatte ihn das vielgestaltige, unerbittlich und rücksichtslos immer neue An forderungen an ihn stellende Leben auch stark mitgenommen, wollten die mehr
und mehr ergrauenden Haare
seine Jahre auch Lügen strafen und hatte seine
Gesundheit in der letzten Zeit auch Manches zu wünschen gelassen: sein frisches, fröhliches Herz,
seine Regsamkeit und Thatkraft waren ihm treu geblieben —
bis zuletzt.
„Noch einmal jung sein können, so recht aus dem Vollen heraus schaffen
und in die Entwickelung der Dinge mit eingreifen können, gerade jetzt — das wäre Etwas!
Es ist doch eine hochintereffante Zeit, in der wir leben" — mit
diesem aus tiefstem Herzen aufsteigenden Stoßseufzer schloß er vor nicht langer
5*
Zeit eine Unterhaltung,
die uns,
wie so oft,
über alle möglichen Gebiete des
wirthschaftlichen und politischen Lebens geführt hatte. Mit Vorliebe verweilte er bei dem Thema der Arbeiterfrage.
Der sittliche
Ernst, mit dem die deutschen Arbeiter an die Hebung ihres Standes herantreten, nöthigte ihm höchste Achtung, ja Bewunderung ab.
Er glaubte zuversichtlich an
eine ruhige Entwickelung der Dinge im Vaterlande, sofern nur die Nothwendigkeit
der
politischen Gleichberechtigung zwischen Besitzenden und Besitzlosen Stellen
leitenden
eingesehen
dieses sein Streben,
einsah,
so
den Arbeiter
verschaffte ihm
vergaß darüber
Wenn der schlichte Mann
würde. als
der
die
Arbeit
gleichberechtigten Faktor anzuerkennen,
dieses Zugeständniß freudige Genugthuung
manche Unbill,
an den
ihm
aus
und er
den Kreisen seiner erbittertsten
Gegner erwachsen war.
Als ich ihm während der Hochfluth gehäßiger Anfeindungen, die dem
Redlichen die letzte Wahlbewegung eingetragen hatte, einmal darüber Vorstellungen
machte, daß es doch der ganzen Selbstverleugnung eines Mannes bedürfe, um
deffen ungeachtet seine ganze Kraft, sein Wollen und Können für die Arbeiter
einznsetzen, wie er es thue, gestand er mir, daß ihn gerade die Anfeindungen aus Arbeiterkreisen am Meisten schmerzten.
„Wenn mich gewiffe Großkapitalisten
und Arbeitgeber nicht leiden mögen, so ist das ja verständlich.
Doch lasten Sie
es gut sein, die Arbeiter in ihrer Mehrzahl denken doch schon anders, als wie die sozialistischen Agitatoren und Führer, und -
werden", waren seine Worte.
auch diese werden noch anders
Dabei verklärte sein Antlitz ein mildes Lächeln,
aus der Kraft der Ueberzeugung geboren.
Und
doch
war
er
müde
geworden und matt von den schier
endlosen
Anstrengungen, die ihm die leidenschaftliche Geschäftigkeit seiner sozialdemokratischen
Gegner in diesem letzten, langwierigen Wahlkampfe aufcrlegt hatte. sich nach Ruhe, wenigstens für seinen leidenden Körper.
Er sehnte
Sie sollte ihm zu
Theil werden, nur zu rasch und anders, wie er selbst und alle seine Getreuen
es gedacht hatten ... in der Stille der monumentalen Gruft auf dem PctriFriedhofe zu Berlin, die er einst seinem Vater erbaut hatte. Die tückische Krankheit, welche er trotz mancher Beschwerden doch nicht
geahnt, die aber im Geheimen schon längst an seinem Marke gezehrt hatte,
warf ihn, kaum vier Wochen nach seinem letzten und schönsten Triumphe, da er unter dem Jubel seiner Anhänger und Freunde heimgekehrt war nach Berlin,
auf das schwerste Krankenlager.
Aerztliche Kunst erwies sich der unheimlichen
Macht seines Leidens gegenüber als zu schwach, nur wenige Tage nach einer
glücklich vollzogenen Operation that er in den Armen seiner Gattin und treuesten
Pflegerin seinen letzten Athemzug.
-
Richard Roestcke'S Tod.
Wie Richard Roesicke an alle Zufälligkeiten des Lebens stets zu rechter Zeit gedacht, so hatte er auch die Möglichkeit seines plötzlichen Todes schon
Daß die ihm bevorstehende Operation eine schwere
früh in Betracht gezogen.
sei, vielleicht einen verhängnißvollen Ausgang nehmen könnte, war ihm bekannt.
Danach richtete er sich in den letzten Stunden, da er noch klar zu blicken vermochte, ein.
daß
Er blickte dem Tode in's dunkle Auge und zuckte nicht.
seine Angehörigen
durch
das Mögliche,
Wahrscheinliche nicht
Nur
vorzeitig
geängstigt würden, war seine zarte Sorge . . . Gleich einer elementaren Katastrophe wirkte die Kunde von seinem Tode, der Allen so unerwartet wie möglich kam, in allen Kreisen, denen er
gestanden.
näher
Geradezu bestürzt waren seine politischen Anhänger im Wahlkreise;
durch den dumpfen Schmerz drang das Bewußtsein, daß ihnen „ein Roesicke"
Was hatten
nicht wiederkehren werde.
sie mit diesem einzigen Manne nicht
verloren! . . . Und doch mußte man es — bei allem Schmerz darüber, daß es das Schicksal so bestimmt hatte — als eine Wohlthat bezeichnen, daß der Tod ihn
in seine Arme nahm, noch
bewußt
geworden
war:
bevor er sich der Tragweite seines Leidens voll
nie wäre Richard Roesicke wieder in den Vollbesitz
seiner körperlichen Kräfte gelangt — Siechthum wäre fürder sein Loos gewesen,
und das hätte der regsame, thätige Mann, hätte sein Feuergeist nicht ertragen. Aus
seinem vollen Schaffen
heraus, aus seiner Thätigkeit, die ihm Lebens
bedürfniß war, wurde er gewaltsam herauSgcrisien, so, wie er es sich immer gewünscht.
Aber seine letzten
Tage waren verklärt
von der
Gewißheit, daß sein
Lcbcnswcrk kein vergebliches gewesen ist.
Wie Richard Roesicke das Volk im besten Sinne des Wortes geliebt, so
erntete unter seiner
er im Tode einer gleichen Liebe reichste Kränze.
Daß ein Großer
den im Leben Wirkenden dahingegangen, bezeugten die Ehrungen, die
sterblichen
Hülle
zu
Theil
wurden in
nicht
geringerem
Grade, als
diejenigen, welche seinem Wollen und Wirken in der Presie aller politischen Parteien dargebracht wurden.
Er dachte im Leben immer bescheiden von sich;
daß ihm bei seinem Tode eine so weit reichende Anerkennung zu Theil werden
könnte, hätte er nie geglaubt.
Es war, als ob mit einem Male ein lichtvolles
Erkennen durch die Herzen der deutschen Bürger zuckte, was Richard Roesicke
Mit Recht bekundete die ihm gesinnungsverwandte
dem deutschen Volke gewesen.
Presse in ihren Nachrufen: sein Name bedeutet ein Programm.
Dieses Programm präzisirte er noch kurz vor seinem Tode in einer Zu schrift
vom
8. Juli
1903
an den Leiter einer
ihm
befreundeten Berliner
Zeitung mit folgenden Sätzen: „. . . Mit Ihnen bin
ich eben der Meinung,
daß
wir Liberalen
nur dann die uns zukommende Stellung wiedererlangen werden, wenn wir —
über kleinliche Differenzen
hinweggehend
—
energisch den Kampf gegen
die Reaktion im Auge behalten und auf sozialem Gebiete, uns frei machend
von alten Ueberlieferungen, den Bedürfnissen der Neuzeit in jeder Beziehung
Rechnung tragen.
Daß wir hierbei die Bundesgenossen acceptiren, wo sie
sich bieten, ist nicht nur klug, sondern auch ungefährlich, weil sie mit uns
vereint immer nur liberale Politik treiben und fördern können . . ."
Möge
der
deutsche
Liberalismus
im
Geiste
Richard
Roesicke's
Zukunft im Auge behalten zum Wohle des deutschen Vaterlandes!
seine