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German Pages [277] Year 2019
Helmut Rönz und Elsbeth Andre (Hg.)
Rheinische Lebensbilder Band 20 Redaktion: Keywan Klaus Münster
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landschaftsverbandes Rheinland
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen : Wim Thoelke mit den goldenen »Wum und Wendelin« im Rahmen der Sendung »Der Große Preis«, undatiert (© ZDF/Barbara Oloffs) Mutter Maria Ignatia von Hertling, Porträtfoto, undatiert (© Archiv des Klosters Bethlehem) Joseph Breitbach an seinem Schreibtisch, 1975 (© Rhein-Museum e. V.) Korrektorat : Patricia Simon, Langerwehe Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien Bildredaktion : Yorick Fastenrath Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51707-6
Inhalt Knut Schulz
Karl von der Salzgasse (gestorben 1213/14). Kölner Ritterbürger und Abt des Zisterzienserklosters Villers-en-Brabant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Thomas Becker
Hermann Löher (1595–1678). Gegner der Hexenverfolgung . . . . . . . . . . . 29 Michael Rohrschneider
Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg. Kurkölnischer Kanzler/Reichstagsgesandter. . . . . . . . .
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Hermann Josef Roth
Philipp Wirtgen (1806–1870). Natur- und Heimatforscher . . . . . . . . . . . .
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Gisela Fleckenstein
Paula Reinhard (1850–1908). Katholische Mäzenatin und Klostergründerin . . .
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Alena Saam
August Dicke (1859–1929). Oberbürgermeister von Solingen . . . . . . . . . . . 119 Keywan Klaus Münster
Emmerich David (1882–1953). Rektor des Campo Santo Teutonico und Generalvikar des Erzbistums Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Wolfgang Löhr
Thomas Michels (1892–1979). Benediktiner und Mitbegründer der Salzburger Hochschulwochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Martin Schlemmer
Joseph Breitbach (1903–1980). Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Andreas Burtscheidt
Stefan Andres (1906–1970). Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Martin Pesch
Wim Thoelke (1927–1995). Fernsehmoderator, Sportfunktionär und Unternehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Inhalt
Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Autorinnen und Autoren.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Inhalt der vorhergehenden Bände in der Bandfolge . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Lebensbilder der vorhergehenden Bände in alphabetischer Folge . . . . . . . . . 269
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Knut Schulz
Karl von der Salzgasse (gestorben 1213/14) Kölner Ritterbürger und Abt des Zisterzienserklosters Villers-en-Brabant
Was hebt einen Kölner der Zeit um 1200 so aus seinem Umfeld heraus, dass er als eine historische Persönlichkeit von allgemeinem Interesse zu betrachten ist ? Als erste Antwort seien dafür einige kleine Hinweise zur Orientierung gegeben : Für Karl (gestorben am 29. Januar 1213 oder 1214) liegen ungewöhnlich zahlreiche und aufschlussreiche Quellenzeugnisse vor, die auf seine Bekanntheit und Wertschätzung durch die Zeitgenossen verweisen. Sein Eintritt in den Zisterzienserorden und die Erlangung der Würde eines Abts in Brabant haben nicht nur in Köln und im Orden, sondern auch bei zahlreichen Fürsten Aufmerksamkeit und Interesse gefunden. Schließlich war die Rolle, die er in dieser Zeit und in diesem Raum wahrgenommen hat, auffällig genug, um entsprechende Reaktionen auszulösen, nämlich durch die Wahrnehmung politischer Missionen, die Vermittlung wichtiger Geld- und Kreditgeschäfte sowie von großräumigen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. Es ist vergleichsweise selten, dass man in dieser Zeit die »Handschrift« des Abts eines Reformordens auf sehr verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Gebieten so deutlich nachzeichnen kann. Die beiden zur Einordnung und Charakterisierung vorangestellten Begriffe »Ritterbürger« und »Zisterzienserabt« verweisen einerseits auf die unterschiedlichen Lebensphasen beziehungsweise Tätigkeitsfelder, vor allem aber auf den kontrastreichen Wechsel von der militia secularis zum miles Dei, also von der weltlichen Ritterschaft zum »Streiter Gottes«. Es wird später zu fragen sein, inwieweit dabei das von Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153), dem berühmten Generalabt der Zisterzienser, propagierte Ideal der nova militia, der »Neuen Ritterschaft«, einen Einfluss ausgeübt hat. Denn entsprechende Wertvorstellungen und Begriffe finden sich auch in den konkreten Zeugnissen, die uns für den Lebensweg Karls, seine Persönlichkeit und Handlungsweise, überliefert sind. Wer sich mit Köln und seiner Führungsschicht im 12. Jahrhundert beschäftigt hat, wird um den unvergleichlichen Quellenreichtum der Rheinmetropole, gerade auch für den urbanen-bürgerlichen Bereich dieser frühen Zeit wissen. Neben den aufschlussreichen Zeugnissen des kirchlichen und klösterlichen Lebens werden hier auch die Kölner Sondergemeinden mit ihren verschiedenen Zuständigkeiten (besonders für das kommunale und wirtschaftliche Leben der aufblühenden Stadt) einschließlich ihrer Grund- und Hausbesitzer detailreich vor Augen geführt. Diese gut erfassbare Herkunft aus und Verbundenheit Karls von der Salzgasse mit Köln ist immer zu bedenken, wenn man sich seiner späteren Wirksamkeit im Zisterzi7
Knut Schulz Abb. 1: Grabmal für Erzbischof Philipp von Heinsberg im Kölner Dom, Liegefigur auf einer als Festung dargestellten Tumba, um 1368
enserorden zuwendet. Als entscheidende Einschnitte in seinem Leben lassen sich das berühmte Mainzer Hoffest von 1184 mit dem Auftritt des Ritters Karl unmittelbar an der Seite des Kölner Erzbischofs Philipp von Heinsberg (um 1130–1191) und das Ereignis der conversio mit dem nachfolgenden Eintritt in den Zisterzienserorden 1185/87 benennen. Diese Daten dürften die Mitte seines Lebens markieren, etwa in einem Alter von 30 Jahren. Eine ähnlich lange Zeitspanne umfasste sein zweiter Lebensabschnitt bis zum 29. Januar 1213 oder 1214 ; zuerst als Novize und Mönch im Kloster Himmerod, 1189 als Prior des von Himmerod gegründeten Klosters Heisterbach bei Königswinter im Siebengebirge und schließlich als Abt von Villers in Brabant von 1197 bis 1209 und von St. Agatha in Hocht von 1210 bis 1213/14. Für diese Zeit sind dank seines tatkräftigen Wirkens zwei Zeugnisse überliefert, die aus unterschiedlichen Gründen größere Aufmerksamkeit und Interesse auf sich gezogen haben. Am bekanntesten ist wohl der »Dialogus Miraculorum«, »Der Dialog über die Wunder« des Caesarius von Heisterbach (um 1180–um 1240), in dem Karl in meist auffälligen oder außergewöhnlichen Situationen Erwähnung findet. Der Autor berichtet oft aus persönlicher Kenntnis und Anschauung oder aufgrund von Erzählungen aus seiner vertrauten Umgebung. Caesarius traf als Mönch, Novizenmeister und Begleiter der Äbte von Heisterbach mehrfach, wie er selbst betont, mit Abt Karl 8
Karl von der Salzgasse (gestorben 1213/14)
zusammen. Außerdem hatte er durch seine Jugendjahre und Ausbildung in Köln sowie seine Aufenthalte im Kloster Himmerod und bei Klosterbesuchen in Holland und Brabant viel über diese so einflussreiche Persönlichkeit erfahren. Seine Berichte und Anekdoten ergänzen auf das Vorteilhafteste die für den verehrten Abt verfasste Vita, wie sie im »Liber de gestis illustrorum virorum Villariensis cenobii : De domino Carolo abbate Villariensi« in zwei Fassungen überliefert ist. Entstanden ist die älteste und hier zugrunde gelegte Vita zwischen 1219 und 1231, abgefasst von einem Klosterbruder in Villers, der von »unserem« Kloster spricht. Die Datierung ergibt sich aus der Erwähnung von Konrad von Urach (um 1180–1227) aus dem Geschlecht der Zähringer – dem Nachfolger Karls als Abt des Klosters Villers von 1209 bis 1214, dann Abt von Clairvaux 1214 und Cîteaux 1217 – als Kardinalbischof von Porto und S. Rufina ; eine Würde, die er 1219 erlangte. Der Schlusspunkt der Vita ist aus der Erwähnung von Grangien im Klosterbesitz, die nach 1231 nicht mehr vorhanden waren, zu erschließen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die »Vita Caroli« die einzige erhaltene Würdigung eines Abtes aus der »Belle époque de l’abbaye de Villers (1197–1250)« ist, wie sie der Verfasser der Geschichte des Klosters, Édouard Moreau (1879–1952), 1909 charakterisiert hat. Sie liegt also selbst für eine so herausragende Persönlichkeit wie Konrad von Urach nicht vor. Angesichts der kraftvollen Rolle des Zisterzienserordens in dieser Zeit und dem starken Interesse, das viele Herrscher, Adlige, Ritter und nicht zuletzt Bürgergemeinden daran zeigten, überrascht es nicht, dass außerdem begleitende Zeugnisse, vor allem urkundlicher Art, überliefert sind, die direkt oder indirekt das Handeln und Umfeld Karls hervortreten lassen. Neben der Vermittlung des Bildes seiner Persönlichkeit werden vier Sachkomplexe scheinbar ganz unterschiedlicher Art zu erörtern sein, die in seiner Person gebündelt hervortreten und so allgemeinere Zusammenhänge anschaulich vermitteln : 1. Die Herkunft des Ritterbürgers Karl von der Salzgasse und der Charakter der Kölner Führungsschicht des 12. Jahrhunderts. 2. Die Motive für den Eintritt des Kölner Ritters Karl in den Zisterzienserorden in Verbindung mit Vergleichsbeispielen. 3. Die Beziehungen der großen rheinisch-moselländischen Zisterzienserklöster zu Köln und darüber hinaus in die Niederlande, nach Flandern und Brabant. 4. Die Interessenwahrnehmung der staufischen Herrscher in diesem Raum und die Einbeziehung Karls als Mönch und Abt des Zisterzienserordens in die Reichspolitik.
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1. Der Ritterbürger Karl von der Salzgasse und die Kölner Führungsschicht im 12. Jahrhundert Was ist unter einem »Ritterbürger« im Unterschied zu anderen Kölner Bürgern überhaupt zu verstehen ? Bezogen auf die vornehmsten und einflussreichsten Bürger dieser Zeit sprach man quellennah von »Meliorat« und »Optimaten« (so Hans Planitz und Edith Ennen), dann in der Fortentwicklung von »Patriziat« oder auch von »Führungsschicht« (Erich Maschke etc.), heute eher unspezifisch von »politischer Elite«. Die Wortbildung »Ritterbürger« überträgt die für diese Personengruppe nachweisbaren lateinischen Begriffe miles und burgensis/civis ins Deutsche und bringt damit zum Ausdruck, dass es sich um Ritter und zugleich Bürger oder auch um Bürger, die zur Ritterwürde gelangten, handelte. Mit dieser Begrifflichkeit trug man der Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre geführten Diskussion um das Verhältnis von Ministerialität und Bürgertum in ihrer Bedeutung für das aufblühende Städtewesen des 11. bis 13. Jahrhunderts Rechnung. Dabei unterschied man zwischen ritterlichen und bürgerlichen Ministerialen als zwei in Lebensstil und Selbstverständnis verschieden orientierten Gruppen der städtischen Führungsschicht. Aus dem Kreis der Ritterbürger ging unter Hinzutritt einiger Familien des Landadels der im Spätmittelalter oft einflussreiche »Stadtadel« hervor, der mehrfach Gegenstand von Einzelstudien und Tagungsbänden wurde. Als sich die Kölner Führungsschicht im Verlauf des 12. Jahrhunderts formierte und zunehmend an Einfluss in der Stadt und auf deren Entwicklung gewann, trat der gleichnamige Vater unseres Karls in wichtigen Ämtern hervor. Caesarius von Heisterbach fasst dies in seinem »Dialogus Miraculorum« treffend zusammen : In Colonia burgensis quidam erat, homo dives et potens, Karolus nomine, pater domini Karoli abbatis quandoque Vilariensis (In Köln lebte ein Bürger, vermögend und einflussreich, namens Karl, Vater des Herrn Karl, ehemals Abt von Villers). Der Vater, so weiß Caesarius zu berichten, schenkte der Kirche zu St. Aposteln für das Fundament eines Neu- oder Erweiterungsbaus die schweren Anker- beziehungsweise Ecksteine. Sie sollten auf der Waagschale seiner Taten mit ihrem großen Gewicht zu seinen Gunsten wirken, sozusagen als Gegengewicht zu dem nicht ohne Sünde erworbenen Reichtum. Dieser ältere Karl von der Salzgasse, der erstmals unter den optimates civitatis 1150 genannt wird, fand einfach als Karolus bereits 1149 in der Reihe der virorum illustrium ac totius civitatis probatissimorum (der berühmten und erfahrensten Männer der Stadt) bei der Bestätigung der Bruderschaft der Decklakenweber mit dem Stadtsiegel (sigillo civium) durch die »Senatoren« als dem »Meliorat der Stadt« im »Haus der Bürger« (in Domo Civium) in hervorgehobener Stellung Erwähnung. Hier ist eine solche Vielzahl zentraler Begriffe und Sachaussagen aufgelistet, dass man von einer klar organisierten Kölner Stadtgemeinde mit einer im Schöffenkolleg vereinten Führungsgruppe sprechen kann. Letztere umfasste die Optimaten, die Besten der Bürger, die überwiegend der Ministerialität angehörten – also bürgerliche Führungsämter, Geld- und 10
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Handelsgeschäfte verschiedentlich mit dem Streben nach ritterlicher Würde und Lebensformen verbanden. Sie waren es, die die Stadtentwicklung zunächst lenkten und dominierten. Karl der Ältere von der Salzgasse testierte 1150 auch den zwischen Köln und Trier geschlossenen Zollvertrag. Von 1158 bis zu seinem Tod Mitte der 1180er Jahre ist er als einer der Zöllner Kölns nachweisbar, und zwar seit 1169 zusammen mit dem in Köln berühmten Gerhard Unmaze (vor 1145–1198) oder ante curiam/de curia/uten hove, der möglicherweise als Vorbild für die literarische Gestalt des »Guten Gerhard« der Dichtung des Rudolf von Ems (um 1200–um 1250/54) gedient hat. Wie dieser gehörte Karl von der Salzgasse auch der um 1180 erstmals direkt bezeugten Richerzeche an, dem bruderschaftlich organisierten Kölner Amtleutekolleg, das mit dem Gremium der Schöffen eng verzahnt war und aus dem jeweils die beiden Bürgermeister der Stadt mit dem Recht der städtischen Siegelführung hervorgingen. Worauf schon manche frühen Zeugnisse hindeuten, findet 1183 seine klare Bestätigung : Karl von der Salzgasse, Vater und Sohn, waren zugleich erzbischöfliche Dienstmannen (ministeriales sancti Petri), was in dieser Zeit ein status- und gruppenprägendes Element darstellte. Hinzu kam eine weitere Verbindung, die für den Zöllner Karl und seine Familie wichtig war und für uns aufschlussreich ist, nämlich die familiäre und ständische Beziehung zu seinem Neffen Rikolf, dem sogenannten Schultheiß von Aachen, der zum Gefolge des Kaisers zählte, aber zugleich Dienstmann des Kölner Erzbischofs war und ebenfalls dem Schöffenkolleg und der Richerzeche von Köln angehörte. Er ist möglicherweise sogar mit Ricolfus, dem 1166/67 für Köln erwähnten Zöllner, identisch. Dies ließe zumindest für die genannte Dreiergruppe dieser besonders einflussreichen Kölner Familien (von der Salzgasse, Unmaze und Rikolf von Aachen), wie noch zu zeigen sein wird, auf eine größere Nähe zu den Staufern und zum Reich schließen ; mit einigen Konsequenzen, die sich daraus für die politische Konstellation im Kölner Raum gegen Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts ergäben. 2. Die Konversion Karls von der Salzgasse. Motive und Vergleichsfälle In diesem persönlichen Umfeld und gesellschaftlichen Rahmen ist also Karl, der Sohn, aufgewachsen und herangebildet worden. Dabei hatte er zweifellos das Ziel, den Spuren seines Vaters zu folgen, also in der damals wichtigsten Stadt des Königreiches einen bestimmenden Platz zu erlangen und ihren Ruhm zu mehren. So stellt ihn Caesarius von Heisterbach bildhaft vor, als miles in armis strenuus, pulcher satisque nominatus, als eine glänzende Erscheinung, waffengewandt und athletisch, wegen seines gewinnenden Wesens überall wohlbekannt und geschätzt, wie es an anderer Stelle in dem »Dialogus Miraculorum« heißt. Die zitierte Charakterisierung benutzte Caesarius, um einem Novizen von Kloster Heisterbach klarzumachen, welche Attraktivität Karl noch als Abt auf das weibliche Geschlecht ausgeübt habe. Dennoch habe dieser 11
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als Beichtvater ein eindeutiges Angebot einer femina (matrona) praeclara et potens genauso souverän wie klug zurückgewiesen. Mit ähnlichen Worten stellt die schon erwähnte Vita des Klosters Villers in Brabant ihren verehrten Abt vor : Dominus Carolus, octavus abbas Villariensis, quondam miles famosus et strenuus in saeculo, a scolis ad militiam acceptus est, heißt es einleitend. Auch hier findet sich also das Bild des berühmten und tatkräftigen Ritters, aber sogleich differenzierend ergänzt um den Hinweis auf die schulische Ausbildung. Beides gehört miteinander zu der eigentlich vorgesehenen weltlichen Karriere an der Spitze der Kölner Bürgergemeinde, bildet aber zugleich eine wichtige Qualifikation, um den Wechsel vom miles […] in saeculo zur sacra militia, vom Ritter in der Welt zur heiligen Ritterschaft, zu vollziehen und damit die Voraussetzung für die Übernahme des Abbatiats zu erfüllen. Dazu gehörten nicht zuletzt die Fähigkeit des Lesens und Schreibens, Lateinkenntnisse und die Beherrschung der französischen Sprache, die Karl offensichtlich als Knabe in einer der Kölner Stiftsschulen erworben hatte. In seiner instruktiven Behandlung dieses Themas hat Thomas Zotz 1984 auf einen um wenige Jahrzehnte früher liegenden Vergleichsfall aufmerksam gemacht. Nämlich auf den ebenfalls der Spitzengruppe der Kölner Ministerialität angehörenden miles Gerwig aus der Familie der Herren von Volmarstein, wie er später in dem um 1300 verfassten Gründungsbericht des Zisterzienserklosters Waldsassen in der Oberpfalz geschildert wird. Danach habe Gerwig bei einem Turnier den Diepoldinger Markgrafen Diepold III. (1075–1146) schwer verletzt, darüber tiefe Reue empfunden, der Welt entsagt, sich anfangs in das Kloster Siegburg zurückgezogen und sich dann zusammen mit dem Markgrafen an der Gründung des Klosters Waldsassen beteiligt. Was ihm im Unterschied zum »Ritterbürger« Karl noch fehlte, waren wohl die Ausbildung und Weltläufigkeit, die ihn zur Übernahme eines geistlichen Amtes qualifiziert hätten. Ebenfalls der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts gehört der Fall des heiligen Eckenbert (um 1080–1132) an, welcher aber wie Karl der städtisch-bürgerlichen Führungsschicht zuzuordnen ist. Er war der Gründer und zweite Propst des Augustinerchorherrenstifts Frankenthal südlich von Worms. Er entstammte einer angesehenen Wormser Ministerialenfamilie, einem Zweig der Kämmerer von Worms. Von Bischof und Papst wird er urkundlich als huius Urbis nostre civis beziehungsweise als nobilis vir, in der für ihn verfassten Vita als civis nobili genere, vor allem aber als miles und später als zuchtiger ritter bezeichnet. Auch er erlebt die conversio, die Bekehrung, von der saecularis militia zum miles Christi – also vom Ritter zum Streiter Gottes. Dabei wünschten seine Eltern, dass er die Familientradition fortsetze und nicht in den geistlichen Stand trete. Gleichwohl hatte er in jungen Jahren eine schulische Ausbildung erhalten. Zusammen mit anderen Söhnen des Adels (filii nobilium), die auf ihr späteres Auftreten und ihre Verantwortlichkeit (exempla honestatis et curialis administrationis) vorbereitet werden sollten, besuchte er die Klosterschule von Limburg/Hardt. Später schloss sich Eckenbert in Worms der Gemeinschaft der Scholaren (scolarium familiaritati) an und nahm an literarisch-gelehrten Tischgesprächen (litteralibus iste ferculis assidens) teil. Im 12
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Übrigen beherrschte er das Lautenspiel und gewann auf diese Weise das Ohr und die Gnade Kaiser Heinrichs V. (um 1086–1125). Die reizvolle Schilderung seiner unstandesgemäßen, aber herzlichen Liebesbeziehung sowie seiner durch Krankheit ausgelösten conversio und seines Entschlusses zur Gründung des Stifts Frankenthal müssen hier allerdings außer Acht bleiben. Viel näher – zeitlich und sachlich – an Karl und seinen Lebensweg führt uns schließlich noch das dritte und letzte Vergleichsbeispiel heran, nämlich das des Ritters Peter von der Brücke aus Trier, wie es von Wolfgang Bender vorgestellt worden ist. In dem Bruderschaftsbuch des Klosters Himmerod, das man dort 1613 aus dem Profess- und Totenbuch zusammengestellt hatte, wird neben anderen Petrus miles de Ponte aufgeführt. Dieser Ritter Peter von der Brücke ist von 1228 bis 1257 als Abt des lothringischen Zisterzienserklosters Weiler-Bettnach (Villers-Bettnach nordöstlich von Metz) nachweisbar, nachdem er zuvor Novize und Mönch im Kloster Himmerod war. Als Abt von Weiler-Bettnach reiste dieser häufig in Wirtschaftsangelegenheiten seines Klosters und Ordens, aber auch im Auftrag des Papstes. Aus diesen Zeugnissen sind sowohl seine Herkunft aus der bekannten ritterlich lebenden Trierer Familie der Herren von der Brücke als auch eine schulische Ausbildung ersichtlich. Diese Lebensform, verbunden mit der unvermuteten conversio, hat zwar in allen erwähnten Fällen bei den Zeitgenossen Aufmerksamkeit – ja, Verwunderung – ausgelöst und zur Aufzeichnung dieser besonderen Biographien sicherlich beigetragen. Sie passt aber gleichwohl bestens zum Bild der Zeit mit dem Aufstieg der Reformorden der Zisterzienser und Augustinerchorherren in ihrer Verbindung zum Bürgertum. Bei aller Vergleichbarkeit wird doch ersichtlich, dass alle vier Biographien recht verschieden sind und durchaus individuelle Persönlichkeiten zeigen. Gerwig von Volmarstein mag als Beispiel für den Reifungsprozess eines jugendlich ungestümen, das Abenteuer des Kampfsports suchenden Draufgängers gelten, der, mit einem Schuldgefühl belastet, dem Fingerzeig Gottes folgt. Eckenbert war ein musisch-literarisch und religiös veranlagter und bestimmter Mensch. Karl wird sich als politisch und wirtschaftlich orientiert und motiviert erweisen – eine Person, die ins Große wirken wollte und wichtige Aufgaben mit bedeutenden Begegnungen suchte. Peter von der Brücke sah seine Rolle hingegen eher als die eines Repräsentanten und Interessenvertreters seines Geschlechts im Mosel-Ruwer-Sauer-Saarraum. Der strahlende Ritter Karl sei, so heißt es in seiner Vita, bei Königen und Fürsten beliebt und willkommen (regibus et principibus carus et acceptus) gewesen. Als der Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg (1167–1191) um sein Leben fürchtete (entweder wegen des Rangstreites mit dem Abt von Fulda oder der Rivalität mit Heinrich dem Löwen), wurde Karl auf dem berühmten Mainzer Hoffest von 1184 zum specialem custodem, also zum besonderen Begleiter oder Leibwächter des Erzbischofs erwählt. Immerhin war er damit für jedermann sichtbar in einer vorrangigen Position der 1700 Kölner Ritter, von denen der Chronist Gislebert von Mons (um 1150–1224) auf dem Mainzer Hoffest spricht. 13
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Kurz darauf kam es zu der Situation, die Karl zusammen mit dem domino Gerardo Wascardo (oder Wastardo) zur Umkehr, zur conversio, veranlasste. Gemeinsam, so berichtet die Vita Karls, ritten sie von einem Turnier von Worms kommend schweigend über eine lieblich in allen Farben erblühte Wiese mit sprudelnden Bächen und wurden beide, wie sie sich anschließend gegenseitig offenbarten, von dem Gedanken und Gefühl der vanitas, der Vergänglichkeit alles Irdischen, ergriffen. Spontan beschlossen sie, eine Kreuzfahrt zum Kampf gegen die Ungläubigen ins Heilige Land anzutreten : Transeamus mare. Bald darauf machten sie Bedenken und Gegenargumente geltend : »Was alles müssten wir zurücklassen und schmerzlich vermissen, welchen Kummer anderen zufügen ?« So beschlossen sie, erst einmal auf Probe (conditionabiliter) dem Zisterzienserkloster Himmerod in der Eifel beizutreten und für fünf Jahre auf die Teilnahme an Turnieren zu verzichten. Ihr Entschluss, sich den lupinas vestes de Hemmerode zuzuwenden, also das wolfsgraue Gewand der Zisterzienser anzulegen, stieß auf heftigen Widerstand in ganz Köln. Auf ihrem Weg über Neuss versuchte ihr »ritterlicher Kampfgefährte« Ulrich Flasco (Flasse), sie erneut zur Teilnahme am Kreuzzug zu überreden, entschied sich aber letztlich ebenfalls für die Eifel-Zisterze. So gelangte diese Gruppe »ehrenwerter und in der Welt berühmter Ritter, nämlich Ulrich mit dem Beinamen Flasse und Gerhard mit dem Beinamen Waschart, die Kölner Karl (von der Salzgasse) und Markmann sowie andere reiche Männer nach Himmerod«, um Mönche zu werden, wie es Caesarius von Heisterbach in seinen »Wundergeschichten« zu berichten weiß. Geschickt verband er damit die Frage an einen Novizen, wie solche hochstehenden und luxusgewohnten Herren die bei den Zisterziensern geübte Askese überhaupt ertragen konnten. Die überraschende Antwort lautete : »Zu der ungesalzenen Gemüsespeise fügen wir drei Pfefferkörner hinzu. Das erste Pfefferkorn sind die langen Nachtwachen, das zweite ist die Handarbeit, das dritte aber, dass es nichts anderes an Speisen gibt.« Karl legte sehr bald die Profess ab, wohl schon vor dem Ende des Sommers 1185. Denn im September war der neugeweihte Mönch Karl (zusammen mit seinem nunmehrigen Klosterbruder Ulrich Flasco/Flasse von Neuss) bereits auf dem Hoftag und der Heeresversammlung bei Lüttich anzutreffen. Nach Aussage der Vita habe die Ankunft der beiden bewirkt, dass Graf Philipp von Flandern (gest. 1191) und die große Zahl der dort versammelten Adligen ihnen entgegeneilten, hingegen König Heinrich VI. (1165–1197) fast allein zurückgeblieben sei (solus fere remansit). Aber, so fügt die Vita gleich hinzu, habe dies an der Gunst und Zuneigung des Herrschers ihnen gegenüber nichts geändert. Die geschilderte Szene verdeutlicht sehr anschaulich, dass Karl und Ulrich durchaus nicht in die Einsamkeit der Eifelzisterze verschwunden waren, sondern nach der conversio sogleich wieder dort erschienen, wo man sie kannte, schätzte und ihre Nähe suchte : in einem »höfischen« Umfeld. Der Einschnitt in ihre Lebensführung scheint nicht allzu tiefgreifend ausgefallen zu sein. Dennoch ist es überraschend, dass der Anblick einer voll erblühten Frühlingswiese zwei vom Turnier heimziehende Ritter den wiederkehrenden und somit vertrau14
Karl von der Salzgasse (gestorben 1213/14) Abb. 2 : Das Mainzer Hoffest von 1184, Darstellung in der Sächsischen Weltchronik, 14. Jahrhundert
ten Eindruck der Vergänglichkeit so stark als vanitas empfinden ließ, dass daraus der radikale Entschluss zum Rückzug aus dieser Welt resultierte. Sollte ihnen das Wissen um das regelmäßige Wiedererblühen entfallen sein ? Auch das Schwanken zwischen Teilnahme am Kreuzzug und Beitritt zum Zisterzienserorden – Letzteres auch nur auf Probe – löst zunächst Verwunderung aus. Das mag auch ein Stilmittel sein, um zu verdeutlichen, dass es sich um einen durchaus schweren Entscheidungsprozess mit einem umso bemerkenswerteren Ergebnis gehandelt habe. Daneben drängt sich die Frage auf, warum zwischen der Alternative Kreuzzug oder Zisterzienserorden zu wählen war. Hier dürfte Bernhard von Clairvaux eine wesentliche Rolle gespielt haben. Zum einen war er es, dem der Orden einen phänomenalen Aufstieg verdankte – dank ihm war er in aller Munde. Zwar entsprach der Orden mittlerweile nicht mehr dem einstigen Ideal von Rückzug und Gebet, von Abgeschiedenheit und Askese, von Armut und Selbstgenügsamkeit. Doch musste dessen inzwischen akzeptiertes Vordringen, auch in die aufblühenden Städte, in die Räume des Handels und Geldgeschäfts, der agrarischen und technischen Spezialisierung, für die die Zisterzienser nun Berühmtheit erlangt hatten, auf unsere Gruppe von Ritterbürgern besonders attraktiv wirken. Hier konnten sich – gerade im Zusammenspiel mit der Herkunft und dem vertrauten Politisch-Wirtschaftlichen – interessante Möglichkeiten eröffnen. Andererseits hatte derselbe Bernhard von Clairvaux ein neues Ritterideal propagiert, nun nicht für den Zisterzienserorden, sondern für den »Heidenkampf« im Heiligen Land. Seine um 1130 entstandene Schrift »Ad Milites Templi. De Laude Novae 15
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Militiae« bringt eine tiefe Verachtung gegenüber dem Erscheinungsbild und dem Auftreten der höfischen Ritter seiner Zeit zum Ausdruck, gegenüber deren Hochmut, ihrer Eitelkeit, dem Schmuck und Zierat, vor allem aber ihrem gottfernen Handeln. Die nova militia der Tempelritter hingegen verkörpere Außergewöhnliches ; sie umfasse die wahren milites Christi (III,4, S. 276). Ein solcher Streiter sei »ein unerschrockener Ritter […], er umgibt seinen Leib mit einem Panzer aus Eisen, seine Seele aber mit dem des Glaubens, […] so fürchtet er weder Teufel noch Menschen. Nicht einmal vor dem Tod ist dem bange, der sich zu sterben sehnt. Denn was könnte der im Leben oder Tod fürchten, dem Christus Leben und Sterben Gewinn ist ?« (S. 271). Diese radikale Position entsprach natürlich nicht Bernhards Ideal für den Zisterzienserorden, sodass den zögerlichen Ritterbürgern letztlich die Entscheidung zwischen »Kreuzzug« und »Orden« nicht schwergefallen sein dürfte, nachdem der Zweifel an der Lebensform des »höfischen Ritters« offensichtlich übermächtig geworden war, auch wenn dafür nur Hinweise vorliegen. 3. Die Beziehungen der großen rheinisch-moselländischen Zisterzienserklöster zu Köln, nach Brabant, in die Niederlande und nach Flandern Wie wird diese Gratwanderung zwischen Welt und Kloster von der Vita, die letztlich bei der göttlichen Segnung und später sogar bei der Seligkeit Karls endete, darstellerisch bewältigt ? Für die Jahre als Novize und Mönch von Himmerod (1185–1189) und anschließend als Prior von Heisterbach (1189–1197) werden zwei Verdienste Karls von der Salzgasse hervorgehoben : der durch ihn zustande gekommene wirtschaftliche und geschäftliche Aufschwung und die durch ihn vermittelte enge Verbindung zum Adel des Landes, aus dessen Reihen mehrere für den Beitritt zum Zisterzienserorden gewonnen werden konnten. Als Karl zum Abt von Villers-en-Brabant gewählt wurde, versuchte er angeblich, sich dieser Aufgabe zunächst zu entziehen, und zwar aus Sorge um sein Seelenheil, wie es heißt. Aber kaum in Villers angekommen, habe er die Herzen aller gewonnen ; der Geistlichen wie der Laien, der nobiles wie der ignobiles. Er verwandelte die Strohhütten in steinerne Klostergebäude und vermehrte bald die Einkünfte. Allerdings plagten ihn dabei Zweifel und Sorgen vor dem Gericht Gottes angesichts seiner unzulänglichen religiösen Betreuung der ihm anvertrauten Klostergemeinschaft. So beantragte er wiederholt beim Abt von Clairvaux, ihn von seinem Amt zu entbinden. Damit hatte er zumindest vorerst keinen Erfolg ; im Gegenteil : Man feierte den durch ihn bewirkten Aufstieg. Grangie fügte sich an Grangie, die Einkünfte wuchsen, sodass er 600 Mark an andere Kirchen und Konvente abgeben konnte, wohl als Kredit. Hier findet sich in der Vita die pointierte Aussage : Semper de acquirendo sollicitus [erat]. »Er war von einem heftigen Gewinnstreben getrieben«, so lässt sich diese Bemerkung frei über16
Karl von der Salzgasse (gestorben 1213/14)
Abb. 3: Die Abtei Villers-la-Ville in Brabant, Blick von Westen, Stich, 1607
setzen, was angesichts seiner Herkunft als Kölner Ritterbürger und Kaufmannssohn naheliegend und glaubhaft erscheint. Dann erfolgte ein Bruch in Karls Karriere. Dem dritten Antrag auf Befreiung von seinem Amt gab der Vaterabt von Clairvaux 1209 schließlich nach. Aufschlussreich ist die Begründung, die der Abt von Clairvaux für seine Entscheidung angibt. Sie ist als wörtliches Zitat in die Vita eingefügt : »Dieser Mensch ist von den höchsten Fürsten geehrt worden (honoratur) und von der terra, in der er gewirkt hat, wurde er geschätzt und geliebt, verdienstvoll war er für seinen Konvent. Sein Kloster hat durch ihn viel profitiert, sei es durch die Errichtung neuer Gebäude, sei es durch den Erwerb von Besitzungen, aber die Kraft der Religiosität sei unter ihm nicht verloren gegangen« – vigor religionis sub eo non deferbuit. Karl durfte zwar zu Gebet und Besinnung in sein geliebtes Kloster Himmerod zurückkehren, jedoch nur auf Zeit. Da er in so vielen weltlichen Dingen nützlich war (mundo necessarius extiterat) und die Zisterze S. Agatha bei Hocht (westlich von Maastricht) auf ihren Niedergang zusteuerte, blieb dem Generalkapitel nur übrig, ihn als unentbehrlichen Wirtschaftsexperten erneut zum Einsatz hinauszuschicken. Die Sanierung von S. Agatha gelang ihm sehr bald ; unter seiner Führung nahm die kurz nach 1180 von Kloster Eberbach im Rheingau aus gegründete und schon seit der Jahrhundertwende im Verfall begriffene Zisterze einen neuen Aufschwung – »von Schulden befreit und mit allem Notwendigen nun reich versorgt«. Dort verstarb Karl am 29. Januar 1213 oder 1214 ; allerdings nicht, wie der Zusatz zur Vita es behauptet, in dem Konvent der Zisterzienserinnen. Ein solcher wurde dort erst 1219/20 eingerichtet, nachdem die Mönche von S. Agatha 1216/17 in Val-Dieu/ 17
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Gottesthal (zwischen Aachen und Lüttich bei Battice) ihr neues Kloster bezogen hatten. Beim Tod des von Gott erwählten Herrn Karl seien Engel erschienen, so heißt es in dem glorifizierenden Zusatz zur Vita. Zeitgenossen schwankten zwischen Bewunderung und vorsichtiger Skepsis gegenüber der Verhaltensweise einiger Vertreter der damals überaus erfolgreichen Zisterzienser. Zu beiden Reaktionen hatte Karl mit seinem Verhalten erkennbar Anlass gegeben. Zweifellos war der große ökonomische Aufschwung seiner Heimatstadt Köln um 1200 durch die vielfältigen wirtschaftlichen Aktivitäten benachbarter oder auch ferner gelegener Zisterzienserklöster mitbestimmt worden. Aber der dadurch zugleich entstandene Konkurrenzdruck wurde ebenfalls spürbar, den man unter kaufmännischen Gesichtspunkten als unlauter bewerten konnte. Schon Mitte der 1970er-Jahre hatte die Zisterzienserforschung die wirtschaftliche Bedeutung der Stadthöfe dieses Ordens herausgearbeitet (Reinhard Schneider, Winfried Schich, Eva Gießler-Wirsig) sowie 1979 die Fragen von »Fernhandel und Zollpolitik großer rheinischer Zisterzen« (Knut Schulz) behandelt. Mit der vorbildlichen Untersuchung von Gerd Steinwascher über »Die ZisterzienserStadthöfe in Köln« 1981 ist dies für die Rheinmetropole im Detail erforscht und auch kartographisch dargestellt worden. Dadurch wurde sowohl für die Wirtschaftstopographie der Stadt als auch für deren Handelsverbindungen ein klares Bild vermittelt. Die Verteilung der Stadthöfe von Zisterzienserklöstern aus einem großen Einzugsgebiet, wie sie die Eintragung auf dem für mittelalterliche Verhältnisse sehr ausgedehnten Stadtplan Kölns ausweist, ist nicht nur von der Zahl und Größe her auffällig. Die Lage der Stadthöfe nahe der Stadtmauer hin zum Rheinhafen, aber auch zum Marktbereich und zu den Ausfallstraßen verweist auf ihre Bedeutung für den Handel. Das gilt für Köln selbst, aber auch als Zwischenstation und Warenumschlag für den darüber hinausführenden Fernhandel mancher Zisterzen, besonders auf dem Wasserweg. Wenn wir zur Skizzierung solcher Unternehmungen die Beispiele der Klöster Himmerod, Heisterbach und Villers in Brabant wählen, dann geschieht dies verständlicherweise mit Bezug auf Karl in seiner Wirksamkeit als Mönch, Prior und Abt seines Ordens. Das gilt besonders für den ersten Stadthof des Klosters Himmerod in Köln, das der ansehnliche Wohnsitz des Geschlechts von der Salzgasse war. Er gelangte vermutlich mit dem Eintritt Karls in das Eifelkloster bei Trier 1185/86 in den Besitz des Klosters, während seine Schwester eine andere Ausstattung erhielt. Schon vor 1215 muss dieser durchaus verkehrsgünstig gelegene einstige Familiensitz weiterverkauft worden sein. Denn seit 1212 wird Himmerod als Eigentümer eines Anwesens im Schreinsbezirk Airsbach am Mühlengraben genannt, das dann der stattliche Himmeroder Stadthof war und blieb. Ganz in der Nähe befand sich der Hof des Tochterklosters Heisterbach, der nur ungefähr auf »vor 1213« datierbar ist, also durchaus noch in der Zeit Karls an das Kloster gelangt sein kann. Diese domus, curie oder curtes der großen rheinisch-moselländischen Zisterzen waren zwar nicht nur, aber vorrangig Handelsstützpunkte für Wein- und Getreideliefe18
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rungen nach Köln. Von dort aus transportierte man die Waren teilweise noch weiter rheinabwärts bis zum Mündungsgebiet bei Dordrecht und Geervliet. Die Handelswege verliefen auch maasaufwärts nach Maastricht und Lüttich, scheldeaufwärts nach Antwerpen und Gent und entlang der seeländischen Küste nach Flandern, besonders nach Brügge. Dies wird durch eine Anzahl von Privilegien bezeugt, die den Zisterziensern seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert und im beginnenden 13. Jahrhundert Zollbefreiungen für ihre systematisch betriebenen Handelsfahrten mit klostereigenen Transportschiffen von Königen, Fürsten und adligen Herren gewährt wurden. Dies gilt etwa für Neuburg bei Hagenau im Elsass, Eußerthal und Otterberg in der Rheinpfalz, Eberbach im Rheingau, Altenberg im Bergischen Land oder Kamp am Niederrhein, vor allem aber für Himmerod und Heisterbach, beide mit Fernbesitz bei Speyer. An Zahl und Inhalt vergleichbare Rechtsverleihungen gibt es in dieser Zeit weder für Kaufleute noch für Städte oder andere religiöse Gemeinschaften. In der Vita Karls finden sich an verschiedenen Stellen Andeutungen oder wichtige Hinweise für die Förderung von Handelsgeschäften dieser Art. So wird etwa im Falle seiner Verdienste um das Kloster Villers mitgeteilt, dass er »dank der Gunst und Sympathie, die er bei den Adligen genoss, uns Weinberge an Rhein und Mosel als Schenkungen vermittelte, auch Fischrechte in der Sambre für die Fasten- und Krankenspeise sowie Einkünfte in Dordrecht«. Diese redditus in Dordrecht lassen sich inhaltlich konkretisieren und zeitlich zuordnen. 1203 schenkte Graf Dietrich von Holland (gest. 1203) der Abtei Heisterbach ein Tempelvelt genanntes Areal mit den Zehnteinkünften bei Dordrecht, fünf Pfund jährlicher Einkünfte aus den dortigen Fischteichen sowie die Rechte an der Dordrechter Pfarrkirche, um dort vorerst eine Grangie und später ein Tochterkloster durch Heisterbach errichten zu lassen. Karl ist, wie die Vita es besagt, als ehemaliger Mönch von Himmerod und Prior von Heisterbach an dem Aufbau von Handelsverbindungen und Stützpunkten »seiner« Klöster nach Köln und bis zur Rheinmündung offensichtlich erfolgreich beteiligt gewesen. Zugleich zeigt sich sein Bemühen um die Ausgestaltung der Beziehungen rheinisch-moselländischer Zisterzen mit Holland, Seeland, dem Maas-Schelde-Raum und Flandern sowie den Herrschern dieser Territorien. Wie das im Einzelnen ablief, besagen die Privilegien für Heisterbach : 1217 bewilligte Kaiser Friedrich II. (1194– 1250) dem Kloster auch an seiner Zollstelle in Kaiserswerth, mit dem Klosterschiff cum vino proprio et aliis rebus zollfrei passieren zu dürfen. 1232 bestätigte sein Sohn Heinrich (VII.) (1211–1242) das Privileg, beschränkte jedoch das Quantum auf 100 Weinfässer pro Jahr und auf die Rückfracht von Salz, Kork und Butter. 1259 erlangte Heisterbach von König Wilhelm von Holland (1227/28–1256) die Erhöhung auf 150 Fässer. Später wurde es verwarnt, im Zusammenspiel mit Himmerod keinen Zollbetrug mit Weinschiffen bei Geervliet zu begehen und damit Gefahr zu laufen, alle dortigen Privilegien zu verlieren. Noch reicher und anschaulicher ist die mit Kloster Himmerod zusammenhängende Überlieferung zur Zollpolitik und Handelstätigkeit, wie sie besonders während der 19
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Zugehörigkeit und weiteren engen Beziehung Karls zu diesem Kloster beziehungsweise bald danach fassbar wird. Neben den Zollprivilegien sind dafür vor allem die »Wundergeschichten« des Caesarius von Heisterbach heranzuziehen. Er betont besonders die Rolle Walters von Birbech/Birbach (Dorf bei Löwen in Belgien) als angesehener und bald verehrter Mönch des Klosters, der aus dem Ritteradel stammend als Verehrer der heiligen Jungfrau unter dem Namen »Marienritter« berühmt wurde. In der Vita Karls wird er als ein ebenfalls von diesem zu Konversion und zum Eintritt in das Kloster Himmerod motivierter Ritter vorgestellt, der dem Kloster von großem Nutzen war. Es war Karl, der Walters Fähigkeiten richtig eingeschätzt und ihn für die Zisterzienser gewonnen hatte. Über seine Taten weiß Caesarius in seinen »Wundergeschichten« vielerlei zu berichten. Ein Beispiel ist die oft nacherzählte Anekdote, dass das Kloster dank seiner erfolgreichen Pferdezucht einen so ungewöhnlich prachtvollen Streithengst besaß, dass sowohl der Erzbischof von Trier als auch der Herzog von Lothringen dafür etwa 40 Mark Silber bezahlen wollten. Um Konflikte zu vermeiden, entschloss sich der Konvent, das Pferd dem Grafen von Holland zu schenken und es durch Walter von Birbech und zwei Konversen überbringen zu lassen. Als sie jedoch auf dem Weg dorthin an einer Wiese vorbeikamen, auf der eine Herde von Stuten weidete, habe sich der Hengst losgerissen und sei den fliehenden Stuten hinterhergestürmt. Der Versuch der Konversen, dem Hengst zu folgen, sei erfolglos geblieben, sodass sich Walter von Birbech zur Fortsetzung der Reise entschlossen und erklärt habe : »Jenes Pferd ist für uns verloren, wenn nicht die Heilige Jungfrau Maria es uns zurückschenkt.« Schon nach zwei Meilen sei der Hengst herbeigeeilt und habe am Zügel zum vorgesehenen Ziel geführt werden können. In diesen räumlichen und sachlichen Zusammenhang fügt sich die zweite »Wundergeschichte« vorzüglich ein. Sie berichtet von der Errettung Walters aus großen Gefahren auf einer seiner Handelsreisen auf dem Klosterschiff. Da Walter den nobilibus terrae gut bekannt war und wegen seiner Herkunft und seines frommen Lebenswandels sehr verehrt wurde, habe er gegen seinen Willen wiederholt in Angelegenheiten von Himmerod Reisen unternehmen müssen. So sei er einst auf einem mit Wein beladenen Schiff des Klosters vor Seeland in einen schweren Sturm geraten. Zu dieser Bedrohung trat eine weitere hinzu : Seeräuber hätten sich genähert, um das Schiff zu kapern und zu plündern. Doch dank göttlicher Hilfe sei das Boot der Piraten gekentert, woraufhin es mit der Mannschaft in die Tiefe gerissen worden sei. Himmerod betrieb also Weinhandel über die Rheinmündung hinaus entlang der seeländischen Küste wohl über Sluis nach Brügge oder scheldeaufwärts nach Antwerpen, vermutlich nach Gent beziehungsweise über die Maas nach Maastricht. Schon 1218 hatte das Kloster von Herzog Heinrich I. von Lothringen und Brabant (um 1165–1235) die Befreiung von Zoll und Weinsteuer in Antwerpen erlangt. Dies galt im gesamten Territorium für alle Waren, die sie herbeiführen oder dort erwerben würden und mit ihren Schiffen oder anderen Transportfahrzeugen zu ihrem Gebrauch von dort fortführten. 1228 errichtete der Fürst sogar eine Memorienstiftung in dem 20
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weit entfernten Eifelkloster, die aus dem Tuchhaus in Antwerpen für die Versorgung des Konvents mit Salzheringen als Fastenspeise finanziert wurde. Zwar unternahmen die hier erwähnten Zisterzen offensichtlich keine Handelsfahrten nach England, die ein Vorrecht in der Hand der großen englischen und flämischen Klöster des Ordens blieben, aber die Gegenfracht für die begehrte hochwertige Wolle aus England stellte dort nicht zuletzt der beliebte Wein von Rhein und Mosel dar. Als einmal die Schiffe des Ordens, so berichtet Caesarius von Heisterbach an anderer Stelle, aus Furcht vor Seeräuberei keine Fahrten nach Seeland unternahmen, kam in Köln das Gerücht auf, die Schiffe seien gekapert worden. Bei Kölner Kaufleuten habe dies den gehässigen Kommentar ausgelöst : »Recht ist ihnen geschehen, denn diese Mönche sind habgierig, sie sind eigentlich Kaufleute, deren Profitgier Gott nicht gutheißen kann«. Auch wenn der Kommentar Caesarius offensichtlich missfiel, so war er doch begründet. Die Statuten des Ordens sahen ausdrücklich eine distanzierte Haltung der Konvente gegenüber Waren- und Geldgeschäften vor, erlaubten eigentlich nur den Verkauf von Überschüssen und den Einkauf von Artikeln, die man dringend brauchte, aber nicht selbst zur Verfügung hatte. Längere Handelsreisen zur Steigerung des Gewinns waren im Prinzip verboten, sind jedoch Ausdruck für die wirtschaftliche Dynamik und die damit zusammenhängende Bedeutung des Ordens im späten 12. und 13. Jahrhundert. Als einer der maßgeblichen Vermittler der guten persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen des Kloster Himmerod zu den Herzögen von Brabant und auch den Grafen von Namur ist wiederum Karl auszumachen. Wie es besonders der Vita, aber auch der urkundlichen Überlieferung zu entnehmen ist, hatte er bereits vor 1200 manche Fäden dieser Art geknüpft. Hierbei muss schließlich Villers-en-Brabant Berücksichtigung finden. Auch wenn die Zisterze für den Weinhandel vergleichsweise verkehrsungünstig gelegen schien, war sie doch an diesem wesentlich beteiligt. Bei einem großen Kauf- und Geldgeschäft im Jahr 1264 von Himmerod mit St. Truiden/SaintTrond fungierte Villers als Partner und Vermittler. Darauf verweisen die seit Langem dorthin erfolgenden Weinlieferungen, und zwar in einem Umfang, dass St. Truiden daran partizipieren konnte. Villers hatte bereits am Ende des 12. Jahrhunderts von Graf Heinrich von Namur (1112–1196) und Herzog Heinrich von Brabant sowie später von den Herzögen von Limburg und König Wilhelm von Holland Zollprivilegien erlangt. Diese betrafen Transporte von Wein, Eisen, Leder und Agrarprodukten (Moreau, S. 224–226). Karl hatte als Abt des Klosters die enge Verbindung von Villers zu Himmerod nicht nur vermittelt, sondern, wie es die Vita ausweist, seiner Abtei auch zu Schenkungen von Weinbergen an Mosel und Rhein verholfen. Der Transport, urkundlich schon um 1200 erschließbar, erfolgte entweder auf dem Wasserweg über Mosel/Rhein/Maas oder vom Kölner Stadthof auf dem Landweg in Richtung Aachen, Maastricht und Namur. Hier war schon um 1200 ein großes Netz von zisterziensischen Wirtschaftsverflechtungen entstanden, das im 14. Jahrhundert allerdings bald an Bedeutung verlor. 21
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4. Die Beziehungen zu den staufischen Herrschern Blickt man abschließend noch einmal in die Vita Karls von der Salzgasse, so stößt man auf verschiedenartige Aussagen, die seine Nähe zu den staufischen Herrschern beleuchten. So heißt es dort pointiert : Sicut enim gratiam imperatoris in seculo habuerant, ita in religione eos dilexit et honoravit, oder zu Deutsch : »So wie Kaiser Friedrich Barbarossa Karl und Ulrich Flasse seine Gunst in der Welt zugewandt hatte, so liebte und ehrte er sie auch im geistlichen Stand«. Die von Karl Bosl und erneut von Jan Ulrich Keupp vorgetragene Vermutung, dass zumindest die Spitzengruppe der Reichsministerialität und der den Staufern nahestehenden Reichskirchenministerialität von der Größe der staufischen Politik fasziniert gewesen sei und eine ungewöhnliche Einsatzbereitschaft gezeigt habe, dürfte besonders auf Karl (auch noch als Mitglied des Zisterzienserordens) zugetroffen haben. Zwei Berichte verdeutlichen diesen Sachverhalt und weisen zugleich die darin erwähnten Zisterzen als Partner der Staufer aus. Die erste einschlägige Aussage dieser Art lautet : »Dank der Unterstützung durch Kaiser Friedrich Barbarossa und der seines Sohnes Kaiser Heinrichs erlangte Karl zusammen mit Ulrich Flasse für Kloster Himmerod die curia de Spirca [Speyer]. Auch schenkte Kaiser Heinrich dem Herrn Karl ein mit Edelsteinen und Gemmen geschmücktes Kreuz, sodass dieser seinem Herrn treu ergeben diente, unter sorgfältiger Beachtung der Ordensregel«. Mit der curia de Spirca ist ein Stichwort genannt, das große – ja reichsweite – Assoziationen auslöst, die hier allerdings nur angedeutet werden können. Damit ist sicher nicht der eher unbedeutende Stadthof von Himmerod in Speyer gemeint. Vielmehr handelt es sich um die Nova Curia, die große Grangie Neuhofen bei Speyer, wie sie zum Zeitpunkt der Abfassung der Vita hieß und im Blickfeld stand. 1203 erwarb dort auch das Himmeroder Tochterkloster Heisterbach in unmittelbarer Nachbarschaft den Besitz Affolterloch, was 1213 von Himmerod aufgekauft und zu einem größeren Besitzkomplex vereinigt und ausgebaut wurde. Die Anfänge gehen laut Vita auf Absprachen der beiden genannten Herrscher mit Karl und Ulrich Flasse als Vertretern des Klosters Himmerod zurück, somit auf die Jahre 1185 bis 1196. Vielleicht schon 1185, als König Heinrich VI. und Karl auf dem Hoftag zu Lüttich zusammentrafen, erfolgte eine erste und 1191 eine zweite Schenkung, die die Kirche und das Patronatsrecht der Kirche in Altrip bei Neuhofen betrafen. Das Hauptgeschäft und das damit verbundene politische Geschehen lassen sich jedoch auf den Ort und Tag genau bestimmen, nämlich auf den 9. und 10. Mai 1194, hoch oben auf dem Trifels, dem damals zentralen Ort des Reiches. In beiden von Kaiser Heinrich vermittelten Geschäften ging es um den Besitz von Mettenheim und Rechholz, die zusammen mit Altrip, Affolterloch, Mutterstadt und weiteren Orten wenig später die Grangie Neuhofen ausmachten. Im ersten Fall arrangierte und bestätigte der Kaiser den Tausch dieser Güter zwischen Abt Gottfried von Weissenburg und Abt Hermann von Himmerod (1150–1225). Einen Tag spä22
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ter erteilte er durch seinen Vertrauten, den Reichstruchsess Markward von Annweiler (gest. 1202), seine Zustimmung zur Verpfändung der Güter an Himmerod, wobei eine ganze Lehnskette aufgehoben werden musste. Der Paukenschlag des ganzen Geschehens, bei dem viele Spitzenvertreter des Reiches zugegen waren, lag zweifellos in der Geldsumme von 2000 Mark, die Himmerod dafür zur Verfügung stellte. Daran könnte auch noch die besonders staufernahe Zisterze Eußerthal beim Trifels beteiligt gewesen sein, die an demselben Tag und Ort eine kaiserliche Schutzzusage erlangte und vom Reichsministerialen Heinrich von Meistersel(e) Vogteirechte im Tausch erhielt. Dennoch bleibt der genannte Betrag so ungewöhnlich hoch, dass man sich unwillkürlich fragt, was wohl dahintersteckte. Die Antwort bietet sich vom Geschehensablauf sogleich an. Denn zwei Tage später, am 12. Mai 1194, brachen der Kaiser und Markward von Annweiler mit dem Reichsheer vom Trifels auf, um das Königreich Sizilien in Besitz zu nehmen – notfalls mit militärischer Gewalt. Wenn Karl hinter dieser Transaktion stand, wie es die Vita zu verstehen gibt, wusste er zweifellos, welchen Stellenwert sein Handeln hatte. 1174 hatte er in jungen Jahren miterlebt, wie der mit seinem Vater eng verbundene Gerhard Unmaze dem Erzbischof Philipp von Heinsberg 600 Mark kreditierte und dafür den Stadtzoll verpfändet bekam. Dies geschah natürlich auch mit Beteiligung des Zöllners Karl von der Salzgasse. Für weitere 1000 Mark verpfändete der Erzbischof die Kölner Münze, die er zur Finanzierung des Italienzuges Friedrichs Barbarossas brauchte. Diese Summen waren nach Wissen des Autors bis zum Auftreten des Himmeroder »Bankiers« Karl im Jahre 1194 die höchsten Geldzahlungen, die nördlich der Alpen von der politischen »Hochfinanz« geleistet wurden. Offensichtlich begannen die berühmten Lösegelder für Richard Löwenherz (1157–1199) aus England erst langsam im Frühjahr 1194 zu fließen. Auch der normannische Staatsschatz musste erst erobert und etwa ein Jahr später mit sprichwörtlich langen Maultierkolonnen von Palermo bis auf den Trifels gebracht werden. Bezeichnenderweise war eine der ersten Handlungen des Kaisers nach seiner Rückkehr in das Deutsche Reich Ende Juni 1195 eine komplizierte Gütertransaktion, die wiederum die Besitzungen Himmerods bei Neuhofen betraf. Was hatte das alles zu bedeuten, was bezweckte man damit ? Der Güterkomplex lag viel zu weit vom Kloster entfernt – etwa 120 Kilometer Luftlinie und wohl fast das Doppelte in reeller Wegstrecke –, um noch mit den Normen des Ordens und den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit vereinbar zu sein. Im Übrigen handelte es sich um eine Überschwemmungszone des Rheins, ein Sumpf- und Kiesgebiet. Außerdem waren für eine gewinnbringende Nutzung die umstrittenen Rechtstitel und Ansprüche daran so zahlreich, dass letztlich nichts anderes übrig blieb, als diesen Grangienkomplex im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert wieder zu verkaufen. Was also war der Grund ? Nicht zuletzt ging es wohl um die Nähe zu Speyer/Worms und zu Trifels/Annweiler, den Zentren des staufischen Reiches. Dies lag in beiderseitigem Interesse. Dort war Karl mehrfach anzutreffen, schon 1194 und auch als Abt von Villers-en-Brabant, heißt es doch in seiner Vita : »König Philipp von Schwaben, als er 23
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hörte, dass dieser in der Burgstadt Annweiler sei, ritt von der Burg Trifels hinab, suchte dessen Herberge auf, traf dort mit ihm zu einem freundschaftlichen Gespräch [amicabili colloquio] zusammen, übergab ihn der Fürsorge seines Marschalls und schenkte ihm als Unterpfand seiner reinen Liebe [purae dilectionis] einen wertvollen Mantel«. Waren bei Karl wohl die Nähe zur Macht, politischer Einfluss sowie das Bemühen um Förderung seines Ordens durch den Kaiser ausschlaggebend, so stand für die Staufer die Territorialpolitik, die Schaffung möglichst geschlossener Herrschaftsgebiete, im Vordergrund. Für die Herrscher ist angefangen von dem ganz frühen und wiederum späten Friedrich Barbarossa über Heinrich VI. und Philipp von Schwaben bis hin zu Friedrich II. und Heinrich (VII.), also für insgesamt 70 Jahre bis 1236/37, die Absicht zu erkennen, im Bündnis und mithilfe der staufernahen Zisterzienserklöster ein Netz von Verbindungen zu knüpfen oder zu stärken. Dieses sollte die eigenen Einflusszonen möglichst sichern oder gar ausdehnen. Auch wenn dies ziemlich unbestimmt klingen mag, so mangelt es dafür doch nicht an klaren Quellenaussagen, wie sie vom Autor in einem Beitrag zum Ergänzungsband des Zisterzienserkatalogs von 1982 vorgestellt und ausgewertet worden sind. Einen wichtigen Maßstab dafür stellt erstens die abgestufte Häufigkeit von staufischen Privilegien für staufernahe Zisterzen und ihre räumliche Verteilung dar. An ihnen lassen sich bereits grob die Schwerpunkte im Rahmen der angestrebten Bildung solcher terrae imperii ablesen, um damit den ersten Indikator zu nennen. An zweiter Stelle verdienen die frühe Gewährung und Anzahl herrschaftlicher Privilegien Erwähnung. Diese beinhalteten die Freigabe von Schenkungen aus Reichsgut und Reichslehen durch Reichsministerialen und -vasallen an ganz bestimmte Zisterzen ohne spezielle königlich/kaiserliche Zustimmung, da dies keine Entfremdung vom Reich bedeutete. Drittens ist die Gewährung des königlichen Schutzes durch die Zusage der Schirmvogtei zwecks Absicherung gegen »fremde« territorialpolitische Einflussnahme ein weiterer wichtiger Anhaltspunkt. Viertens sind die königliche Erteilung von Handels- und Zollfreiheiten und die Befreiung von städtischen Abgaben zu nennen. Fünftens ist eine gezielte Herstellung fester rechtlicher und wirtschaftlicher Verbindungen von Reichsstädten zu staufernahen Zisterzen und umgekehrt durch die Herrscher zu beobachten. Dies betraf beispielsweise die Aufnahme solcher Klöster in das Bürgerrecht, die Gewährung von militärischen und rechtlichen Schutzzusagen durch die Bürgergemeinden und das Versprechen der Förderung von Stadthöfen und Handelsaktivitäten des speziellen Zisterzienserklosters, das seinerseits etwa am Mauerbau mitwirkte, karitative Aufgaben in der Stadt übernahm und die Einbeziehung der Stadt in das Gebet und die Fürbitte zusagte. Erwähnung finden sollen schließlich (sechstens) die Begrenzung und Festlegung von Gastungsfunktionen staufernaher Konvente gegenüber königlichen Beauftragten und bei der Inanspruchnahme von Experten des Ordens, wie etwa von Karl in Finanzfragen und bei diplomatischen Missionen. 24
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Mit diesem Namen sind wir wieder bei unserem Thema und nochmals bei Caesarius von Heisterbach und seinen »Wundergeschichten« angelangt. Besonders sein Bericht über eine außergewöhnliche Konstellation von Sonne und Mond, welche die Menschen verwirrt und beunruhigt habe, führt erneut in die großen politischen Zusammenhänge der Zeit. Auf dem Hoftag von Gelnhausen zu Mariä Lichtmess, also am 2. Februar 1207, beobachtete man dieses Zeichen des Himmels als signum magnum satisque mirabile. Man deutete das Bild der dreigeteilten Sonne gleich den Kelchblättern der Lilie, das wenig später zu ihrer normalen Geschlossenheit zurückkehrte, als Verheißung der Wiedererlangung der Einheit. Die Erscheinung wurde als Spiegelbild der widergöttlichen Drei-Königs-Situation erfasst, was mit dem Verschwinden zweier Sonnenbilder, nämlich dem frühzeitigen Tod Philipps von Schwaben (1177–1208) und der Absetzung Ottos IV. (1175/76–1218), zur rechten Gestalt zurückfinden werde : mit der Übernahme der Alleinherrschaft durch Friedrich II. Gewiss eine schöne, aber noch weit in die Zukunft weisende Geschichte. Aktuell standen andere Fragen im Vordergrund. Zusammen mit dem König waren der Landgraf von Thüringen, die Großen vom Niederrhein und aus dem Maasraum sowie Abt Karl von Villers-en-Brabant auf dem Hoftag in Gelnhausen versammelt. Dort wurde die schon länger angestrebte Aussöhnung König Philipps von Schwaben mit der Stadt Köln auf den Weg gebracht, woran der allseits geschätzte Zisterzienserabt offensichtlich tatkräftig mitgewirkt hatte. Die Beziehungen zu den Staufern waren zeitweilig gestört beziehungsweise zwischen zwei Parteiungen in der Stadt umstritten, wie es Manfred Groten im Einzelnen herausgearbeitet hat. Dies lag nicht zuletzt an den engen Beziehungen Kölns zu England und an dem von der englischen Krone, aber zeitweilig auch vom Kölner Erzbischof und dem Papst geförderten (Gegen-) König Otto IV. Hinzu kamen territorialpolitische Spannungen am Niederrhein und in Niederlothringen sowie konkurrierende wirtschaftliche Ansprüche, wie sie in ihrer komplizierten Struktur hier nicht erörtert werden können. Der Ausgleich mit Köln kam jedenfalls zustande, wenn auch nach erneuten kurzfristigen Rückschlägen. Der staufische König wurde wieder jubelnd empfangen und seinem Rivalen eine Absage erteilt. Die andere wichtige und schwierig zu lösende Frage in Gelnhausen betraf die Herrschaftsansprüche am Niederrhein und vor allem im Herzogtum NiederlothringenBrabant, wobei die Staufer versuchten, in dieser sichtbar aufstrebenden Region selbst wieder vermehrt Einfluss zu erlangen. Dazu wurde die Verlobung einer Tochter des Königs mit einem Sohn des Herzogs von Brabant verabredet. Diese sollte der Abt von Villers auf den Weg bringen, was sich letztlich nicht realisieren ließ. Betrachtet man von diesem Punkt aus rückblickend den Werdegang Karls unter (reichs)politischen Vorzeichen, so kann man den Eindruck gewinnen, dass diesem Abt mit seiner engen Beziehung zu den staufischen Herrschern vor allem zwei Aufgaben zugedacht worden waren. Einerseits sollte die schwächer, gar problematisch gewordene Verbindung zu Köln gestärkt werden. Andererseits sollte Karl im Sinne der Reichspolitik in der großen territorialpolitisch umkämpften Region Niederlothringens stabilisierend 25
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und Sympathie vermittelnd wirken. Jedenfalls ist die Vita Karls, sind die »Wundergeschichten« des Caesarius von Heisterbach voll von Andeutungen, die in diese Richtung weisen und in der Tendenz auch von manchen »amtlichen« Zeugnissen gestützt werden. Insofern war Karl von Villers ein wichtiger Helfer der Staufer, wenn auch keineswegs einseitig. Langfristig war er zwar nicht sonderlich erfolgreich, dennoch ist Karl ein interessantes Beispiel dafür, wie unterschiedliche persönliche Begabungen und Fähigkeiten zum Einsatz gebracht werden konnten, um solche Effekte zu erzielen. Quellen Ex Gestis Sanctorum Vilariensium. Liber De Gestis Illustrium Virorum Vilariensis Cenobii : De Domino Karolo Abbate Vilariensi, hg. von Georg Waitz, in : MGH SS 25, S. 220–226 ; Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum, hg. von Joseph Strange, 2 Bde., Köln/Bonn/ Brüssel 1851, ND Ridgewood 1966 ; Urkundenbuch zur Geschichte der jetzt die Preußischen Regierungsbezirke Coblenz und Trier bildenden mittelrheinischen Territorien, hg. von Heinrich Beyer/Leopold Eltester/Adam Goerz, Bd. I–III, Koblenz 1860–1874 ; Mittelrheinische Regesten, 4 Bde., hg. von Adam Goerz, Koblenz 1876–1886 ; Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. 2 und 3, bearb. von Richard Knipping (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XXI/2–3), Bonn 1901 und 1909–1913 ; Urkundenbuch der Abtei Heisterbach, hg. von Ferdinand Schmitz, Bonn 1908 ; Die Wundergeschichten des Caesarius von Heisterbach, Bd. 1 und 2, hg. von Alfons Hilka (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XLIII), Bonn 1933/1937 ; Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum. Dialog über Wunder. Lateinisch-Deutsch, eingeleitet von Horst Schneider. Übersetzt und kommentiert von Nikolaus Nösges und Horst Schneider, Bd. 1–5 (Fontes Christiani 86/1–86/5), Turnhout 2009. Literatur Wolfgang Bender, Zisterzienser und Städte. Studien zu den Beziehungen zwischen den Zisterzienserklöstern und den großen urbanen Zentren des mittleren Moselraumes (12.–14. Jahrhundert) (Trierer Historische Forschungen 20), Trier 1992 ; Jacques Brouwers, Hocht, Abbaye de Moines (1185–1216), in : Cîteaux (commentarii cistercienses) 34 (1983), S. 201–220 ; J. Ceyssens, Les origines des abbayes de Hocht et de Val Dieu, Liège 1905 ; Thomas Coomans, L’Abbaye de Villers-en-Brabant (Commentarii cistercienses. Studia et Documenta XI), Brecht/Citeaux 2000 ; Eva Gießler-Wirsig, Die Beziehungen mittel- und niederrheinischer Zisterzienserklöster zur Stadt Köln bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Verkehrsgeschichte, in : Zisterzienser-Studien IV, Berlin 1979, S. 61–132 ; Marian Gloning, Der selige Walter von Birbach, in : Cisterzienserchronik 9 (1897), S. 170–174 ; Manfred Groten, Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung (Städteforschung A 36), Köln/ Weimar/Wien 1995 ; ders., Köln und das Reich. Zum Verhältnis von Kirche und Stadt zu den staufischen Herrschern 1151–1198, in : Stefan Weinfurter (Hg.), Stauferreich im Wandel. Ord-
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Karl von der Salzgasse (gestorben 1213/14)
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Thomas Becker
Hermann Löher (1595–1678) Gegner der Hexenverfolgung
Der Rheinbacher Schöffe Hermann Löher war jahrhundertelang nur wenigen Menschen bekannt. Dabei hat er uns in seinem Buch, das unter dem Kurztitel »Wemütige Klage« bekannt geworden ist, einzigartige Einblicke in die Verfahrensweise und in die Atmosphäre eines frühneuzeitlichen Hexengerichts hinterlassen. Durch sein Buch wurde Hermann Löher im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer historischen Persönlichkeit, die in der Lokalgeschichte der Städte Bad Münstereifel und Rheinbach eine Rolle spielte. Aber erst durch das Internet ist der Name »Hermann Löher« in Verbindung mit dem Thema »Hexenverfolgung« in der ganzen Welt bekannt geworden. Das Besondere an der »Wemütigen Klage« ist, dass es beide Seiten des Geschehens zeigt. Löher schrieb es als ein entschiedener Gegner der Hexenverfolgung. Als er die Prozesse jedoch erlebte, war er als Mitglied des Rheinbacher Schöffengerichts auf der Seite der Verfolger und nicht der Opfer. Diese Einblicke in die Mechanismen einer Hexenverfolgung machen die »Wemütige Klage« zu einem einzigartigen Dokument. In der Zeit seiner Entstehung hat es allerdings keine Wirkung entfalten können, denn es ist nie erschienen. Nur zwei Exemplare des Buches sind noch erhalten, eines in der Stadtbibliothek in Amsterdam, das andere in der Bibliothek des St. Michael-Gymnasiums in Bad Münstereifel. 1. Herkunft und Ausbildung Hermann Löher war der älteste Sohn des Tuchhändlers Gerhard Löher (gest. 1625). Er wurde 1595 in Münstereifel geboren, das zum Herzogtum Jülich gehörte. Der Name und die Herkunft seiner Mutter sind nicht überliefert. Die Wollweberei und damit verbunden der Tuchhandel hatten Münstereifel im späten Mittelalter reich gemacht. Doch war das Geschäft der Tuchhändler im Verlauf des 16. Jahrhunderts immer schwieriger geworden, weil die großen Kölner Handelshäuser zunehmend dazu übergingen, ihre Tuche nicht mehr über den lokalen Zwischenhandel zu beziehen, sondern sie direkt bei den Webern zu kaufen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass die Familie Löher im Jahr 1601 nach Rheinbach übersiedelte. Auch wenn das nur eine Reise von wenigen Stunden war, überquerte die Familie damit eine Landesgrenze, denn Rheinbach gehörte zum Kurfürstentum Köln. Schon neun Jahre später bekleidete Gerhard Löher in seiner neuen Heimatstadt das Amt des Bürgermeisters. Da sich 29
Thomas Becker Abb. 1: Hermann Löher, Porträt, Kupferstich, aus : Hermann Löher, Hochnötige Unterthanige Wemütige Klage Der Frommen Unschültigen, Amsterdam 1676
für diese Wahl immer vier Männer aus den reichsten Familien der Stadt als Kandidaten zur Verfügung stellten, können wir davon ausgehen, dass die Familie Löher ein für lokale Verhältnisse beachtliches Vermögen mitgebracht hatte. Der Rheinbacher Stadtrat bestand aus sieben Gerichtsschöffen und sieben Vertretern der sogenannten »Ratsverwandten«. Die erste Gruppe, die im Auftrag des Fürsten bei Gericht für die Schuldsprüche verantwortlich war, vertrat im Rat eher die Interessen des Fürsten, die zweite die der städtischen Bürger. Da Rheinbach eine jener kurkölnischen Städte war, in der zwei Drittel der circa 600 Einwohner in der einen oder anderen Weise von der Agrarwirtschaft lebten, spielten Zünfte keine wesentliche Rolle. Die Schöffen wählten einen von ihnen zum Schultheißen (daher zum Richter), der nach dem Schuldspruch der Schöffen das Urteil zu fällen und die Strafe festzusetzen hatte. Dieser Schultheiß war zugleich der Bürgermeister. Er stand dem gesamten Rat vor. Jeder Rheinbacher Bürger hatte das Recht, sich zum Schöffen aufstellen zu lassen. In der Praxis waren es jedoch immer die wohlhabendsten und einflussreichsten Familien, deren Vertreter in das Schöffenamt gewählt wurden. Hermann Löhers früheste Kindheitserinnerung in seiner neuen Heimat ist das Strolchen durch den Rheinbacher Stadtwald. In seinem Buch berichtet er über das Sammeln und Naschen von Walderdbeeren und Brombeeren oder das Ausnehmen von 30
Hermann Löher (1595–1678)
Vogelnestern. Die Erinnerung des alten Mannes ist die einer unbeschwerten Kindheit. Das hat durchaus seine Berechtigung, denn die schweren Bedrückungen des Kölnischen Krieges, der in den 1580er Jahren das Rheinland verwüstet hatte, und auch die Belastungen der Nachkriegszeit mit vielfachen Gefahren durch herumziehende Banden von ehemaligen Söldnern sowie massiven Ernteeinbrüchen durch die fortschreitende Klimaverschlechterung waren zu Beginn des 17. Jahrhunderts überwunden. Die für Köln erhaltenen Getreidepreise, die in den 1620er Jahren in schwindelerregende Höhen steigen sollten, zeigen für das erste Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts eine Entspannung des Marktes an. Das kurkölnische Rheinbach wurde auch von dem 1609 ausbrechenden jülich-klevischen Erbfolgestreit nicht weiter berührt. Hermann Löher besuchte die Pfarrschule in Rheinbach. Die Stadt verfügte über keine anderen kirchlichen Einrichtungen und wies daher keine weiterführenden, an Stifte oder Klöster angelehnten Lateinschulen auf. Anders als sein Schulkamerad, der spätere Dominikanerpater Johannes Freylinck (1594–1676) aus Oberdrees, wurde Löher von seinen Eltern nicht nach Köln oder Deventer auf eine der internatsähnlichen Lateinschulen geschickt, die auf den Besuch einer Universität vorbereiteten. Vielmehr trat er nach Beendigung der Elementarschule in das elterliche Geschäft ein. Löher berichtet uns in seinem Buch davon : In den 7 Freyen Kunsten der Wissenschaft bin ich nicht erfahren/ als da seind Grammatica, Dialectica, Rhetorica, Musica, Arithmetica, Geometria, Astronomia, ich bin auch in keiner frembder Sprache erfahren, viel weniger in die Bücher der Rechtsgelehrten studiert, als das ich hier und da ein lateinisch Wort ex usu von langen Jahren her mit lesen und hören reden aufgefangen. Mit 23 Jahren, im November 1618, heiratete Hermann Löher Kunigunde (gest. 1662), die Stieftochter des Flerzheimer Schultheißen Mattias Frembgen. Flerzheim lag zwischen den Orten Rheinbach und Meckenheim. Das Dorf gehörte der Abtei Heisterbach auf der anderen Rheinseite. Matthias Frembgen hatte eine enge Beziehung zum Kloster Heisterbach. Als 1584 im Kölnischen Krieg evangelische Söldner, die auf Seiten des evangelisch gewordenen Kölner Erzbischofs Gebhard Truchseß von Waldburg (1547–1601) standen, den Abt von Heisterbach gefangen nahmen und auf der Godesburg einkerkerten, um ein hohes Lösegeld zu erpressen, war der Knabe Matthias Frembgen als sein Diener mit in die Gefangenschaft gegangen. Da die Schultheißen zu den reichsten Einwohnern eines Ortes gehörten, liegt es nahe, dass Frembgen ein Halfe oder »Halfwinner«, also ein Pächter, war. Das bedeutet, dass er einen großen kirchlichen oder adligen Hof, vermutlich den Hof des Klosters Heisterbach, gegen eine festgelegte Abgabe (ursprünglich die Hälfte der Ernte) bewirtschaften durfte. Da diese Höfe nicht, wie bei den normalen Bauern üblich, bei jedem Erbfall geteilt wurden, warfen sie am meisten Gewinn ab. Die sie bewirtschaftenden »dicken Bauern« – so der gebräuchliche Name für die Halfen – bildeten die Oberschicht des Dorfes. Das Ehepaar Löher bekam bis 1634 insgesamt acht Kinder. Wie viele von ihnen das Erwachsenenalter erlebten, ist nicht bekannt. Der Name des ältesten Sohnes war 31
Thomas Becker
Bartholomäus, die Namen der anderen Kinder und auch ihr weiteres Schicksal sind nicht überliefert. Bartholomäus Löher, der später in Bonn lebte, hatte zur Zeit der Abfassung der »Wemütigen Klage« drei Söhne und drei Töchter ; alle Söhne hatten eine gute Ausbildung genossen. Der älteste Enkelsohn Hermann Löhers hieß ebenfalls Hermann. Er war 1676 wohl 25 Jahre alt und hatte schon etliche Reisen unternommen, auf denen er sich verschiedene Sprachen angeeignet hatte. Der zweitälteste Sohn von Bartholomäus war Geistlicher geworden, der jüngste besuchte mit 17 Jahren eine weiterführende Schule, in der er die »fünfte Schul« erreicht hatte ; er befand sich also mitten im Studium des »Quadriviums«, der Naturwissenschaften unter den »sieben freien Künsten« (Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie). Die drei Töchter waren in Ehr vnd Tugend wol erzogen, die älteste von ihnen, 27 Jahre alt, hatte 1676 drei schöne lebende Kinder. Wann Bartholomäus starb, wissen wir nicht. Immerhin hat er seinem Vater und seinem Großvater 1685 auf dem Friedhof in Rheinbach einen Gedenkstein errichtet. Damals dürfte er etwa 65 Jahre alt gewesen sein. Einige Monate nach seiner Heirat erlangte Hermann Löher 1619 das Rheinbacher Bürgerrecht. Er half dem Vater bei seinem Handel. Als Gerhard Löher 1625 starb, übernahm Hermann als ältester Sohn das Geschäft. Nach seiner Beschreibung war es seine Beschäftigung, mit reyssen im lande nach Franckfurt, Achen, Theuren und Cölln wahren dahin zu brengen und ab zu holen, mit Stahl, Yssen, Wüllen und Linnen, Spezereyen, Fruchten und Weynen gelt und Gutter zu gewinnen. Als angesehener Rheinbacher Kaufmann wurde er 1631 im Alter von 36 Jahren in das siebenköpfige Schöffenkollegium aufgenommen. Es war ein Jahr, das ihm für immer im Gedächtnis bleiben sollte. Er schreibt : Als Reimbach Anno 1631 in Fleur Gluck und Wolstandt wahr/ bin ich Burgermeister/ Schöpffen und Raht erwehlet/ das wahr das ungluckliche Jahr/ als man daselbsten die fromme ehrliche Leute auff peinliche Lügen besagen unschultig für Zäuberer und Zäuberinnen verbrent. 2. Die Hexenverfolgungen in Rheinbach In diesem Jahr 1631 hatte das Rheinbacher Gericht nach einer Anzeige durch den Gerichtsschreiber Melchior Heimbach und durch den Einfluss des kurfürstlichen Amtmannes Heinrich Degenhardt Schall von Bell zum ersten Mal einen Prozess wegen Hexerei eröffnet. Der letzte und wohl auch einzige Hexenprozess in Rheinbach war zu Anfang des 16. Jahrhunderts gegen eine Frau namens Styne Donnernails eröffnet worden, die von einer gewissen Guetgin angezeigt worden war. Der Ausgang des Prozesses ist nicht überliefert. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass dieses Verfahren weitere Prozesse nach sich gezogen hätte, wie es bei Anwendung des sogenannten »gelehrten Hexenbegriffes« (der Theorie über eine Verschwörung vieler Menschen mit dem Teufel, um die Welt ins Unglück zu stürzen) eigentlich üblich war. 1563 war ein weiterer Zaubereiprozess eröffnet worden, aber nicht in Rheinbach, sondern in dem fünf Ki32
Hermann Löher (1595–1678)
lometer entfernten Dorf Neukirchen an der Sürst in der jülichischen Unterherrschaft Winterburg. Der Prozess, der vom dortigen Grundherrn mit großer Härte und unter Einsatz der Folter geführt worden war, führte dennoch nicht zu einem Todesurteil, sondern zu einer lebenslangen Verbannung mit gleichzeitiger Güterkonfiskation. In den Dörfern im Umland von Rheinbach hatte es allerdings seit etwa 1626 immer mehr Hexenprozesse gegeben. Den Höhepunkt dieser intensiven Verfolgungswelle stellt das Jahr 1628 dar, als auch im nahen Flerzheim (Herrschaft Tomburg) eine Anzeige wegen Hexenverfolgung bei Gericht einging. Sie wurde allerdings vom Schulheißen Matthias Frembgen niedergeschlagen. Vermutlich hat es auch in Rheinbach solche Anzeigen gegeben, aber Schultheiß und Schöffen hatten keine Neigung gezeigt, die Anzeigen zuzulassen. Am schlimmsten wütete die Hexenjagd in Schweinheim, einem winzigen Dorf auf der Strecke zwischen Rheinbach und Euskirchen. Dieses Dorf gehörte zur jülichischen Unterherrschaft Schweinheim im Amt Münstereifel. Seit dem 15. Jahrhundert gehörte es der Familie Spieß von Büllesheim. Hier leitete Wilhelm Spieß von Büllesheim eine an Gnadenlosigkeit nicht mehr zu überbietende Verfolgung in die Wege, der etwa die Hälfte der Einwohner zum Opfer fiel. Er versuchte offensichtlich, durch die exzessive Anwendung der Todesstrafe seine gerichtliche Zuständigkeit in der Herrschaft gegen die zentralistischen Tendenzen der herzoglichen Regierung in Düsseldorf durchzusetzen, wie das etwa gleichzeitig auch in der Herrschaft Wildenburg in der Eifel geschah. Eine der verdächtigten Frauen schaffte es, zu entfliehen und sich nach Rheinbach in vermeintliche Sicherheit zu bringen. Der Magistrat der Stadt Rheinbach, dem nun auch Hermann Löher als Schöffe angehörte, entschied aber nach einiger Zeit, dem Begehren des Herrn von Schweinheim nachzugeben und die Frau auszuliefern. Sie wurde nach ihrer Rücküberstellung erbarmungslos gefoltert und nach ihren Komplizinnen gefragt, bevor man das Todesurteil an ihr vollstreckte und sie verbrannte. In ihrer Not hatte die gefolterte Frau auch eine Rheinbacher Einwohnerin, eine Dienstmagd, als Mitverschwörerin »besagt«. Im Gegensatz zu einer einfachen Denunziation sah man eine »Besagung«, also die Beschuldigung einer Person durch eine schuldig gesprochene Hexe, die auch vor ihrer Hinrichtung diese Beschuldigung nicht widerrief, als ausreichendes Indiz für eine Verhaftung an. Die dahinterstehende Rechtsauffassung war, dass niemand, der den sicheren Tod vor Augen hatte, die Sünde einer falschen Beschuldigung auf sich lud. Diese habe er nicht mehr beichten und bereuen können, was ihm also vor Gottes Richterstuhl schwer angelastet werden müsse. Eine solche Besagung lag nun vor. Der mit Verfahrensfragen wohlvertraute Gerichtsschreiber Melchior Heimbach sah darin eine Chance, in Rheinbach nun auch eine Hexenverfolgung in die Wege zu leiten. Zumindest lesen wir bei Hermann Löher, dass er ursach war daß die arme Dingstmagt am ersten gefangen/ und verfolgens die Bürger und Weiber. Vermutlich Anfang Mai 1631 war damit der erste regelrechte Hexenprozess in Rheinbach eröffnet worden. Die nun verhaftete und im Bergfried der kurfürstlichen Burg (dem heutigen »Hexenturm«) in Rheinbach eingekerkerte Dienstmagd wird zwar in der Literatur über 33
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die Hexenverfolgung im Rheinland immer wieder erwähnt, aber wir wissen nicht einmal ihren Namen. Prozessunterlagen des Rheinbacher Schöffengerichts aus dieser Zeit sind nicht erhalten. Wir wissen lediglich, dass es sich nicht um eine gebürtige Rheinbacherin handelte, sondern dass sie aus einem Dorf irgendwo in der Eifel stammte. Von Anfang an hatte der kurkölnische Amtmann Heinrich Degenhardt Schall von Bell seinen Einfluss geltend gemacht, um diesen Prozess zu eröffnen. Er war es auch, der direkt zu Beginn des Verfahrens den für seine effizienten Hexenjagden, etwa in Bonn und Umgebung, bekannt gewordenen »Hexenkommissar« Franz Buirmann (1590–nach 1638) aus Bonn nach Rheinbach kommen ließ. Man kann durchaus spekulieren, dass den Amtmann ähnliche Motive trieben wie die Unterherren im Herzogtum Jülich, denn das kurkölnische Amt Rheinbach war von 1446 bis 1606 an die Grafen von Sayn verpfändet worden, die von 1606 bis 1627 die Pfandschaft an die Herren von Brempt weiterverpachteten. Erst dann gelang es dem Kölner Kurfürsten und Erzbischof Ferdinand von Wittelsbach (1577–1650), das Amt wieder auszulösen. Die Zeit, in der die Rheinbacher Hexenprozesse stattfanden, war also die erste Periode in der Geschichte der Stadt in der Frühen Neuzeit, in der kein Pfandherr über die Stadt herrschte. Da Hexenprozesse ein probates Mittel waren, um obrigkeitliche Rechtsansprüche durchzusetzen, liegt der Verdacht nahe, dass Schall von Bell hier eine Chance sah, die Machtansprüche seines Fürsten gegen die Widerstände der tonangebenden Schichten am Ort, also etwa der Tuchhändler, durchzusetzen. Eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, war auf jeden Fall die Zusammenarbeit mit dem angeforderten Hexenkommissar. Wer waren diese Hexenkommissare ? Kurfürst Ferdinand von Wittelsbach sah in der Verfolgung der abscheulichen Zauberer und Hexen ein gottgefälliges Werk, das es zu befördern galt. Gleichzeitig lag ihm viel daran, die Auswüchse zu bekämpfen, die mit der lokalen Hexenverfolgung einhergingen. So befahl er, bei Schwierigkeiten mit Hexenprozessen ausgebildete Juristen von den beiden höchsten kurkölnischen Gerichten in Köln und Bonn, sogenannte Kommissare, hinzuzuziehen, die auf die Korrektheit des Verfahrens und die Anwendung der juristischen Lehre zu achten hatten. Sie agierten gemäß der kurkölnischen Hexenprozessordnung erst auf Anforderung. Da sie dann aber häufig direkt in den jeweiligen Orten erschienen und die laufenden Prozesse in die Hand nahmen, hatte ihr Auftreten eine katalysierende Wirkung für den weiteren Verlauf der Verfolgung. In der 1608 zum ersten Mal verabschiedeten kurkölnischen Hexenprozessordnung findet sich ein verhängnisvoller Satz : Und Anfangs sollen sie wissen, daß sie in zweiffelhafftigen undt ihrem Verstandt überstiegenen pfhällen, allezeit unpartheyische Rechtsverstendige oder daß Oberhaubtgericht vermögh der peinlichen Halßgerichts-Ordtnungh consuliren und für sich selbsten nichts vornehmen oder erkennen sollen. Die Idee dahinter war, die Prozesse nicht durch ein dezentrales System der Rechtsberatung in Hexereiverfahren in die Länge zu ziehen und zu verteuern, indem man die Akten an eine zentrale Institution oder eine juristische Fakultät einreichen ließ 34
Hermann Löher (1595–1678)
Abb. 2: Eine Zeugenaussage vor dem Schöffengericht, im Hintergrund werden vermeintliche Hexen zum Schindacker gefahren, Kupferstich, aus : Löher, Wemütige Klage
(wie das etwa das Herzogtum Jülich-Berg machte). Vielmehr ging man den gegenteiligen Weg, indem man ausgebildete Juristen (allezeit unpartheyische Rechtsverstendige) in die einzelnen Dörfer und Städte entsandte. Sie sollten dafür Sorge tragen, dass die komplizierten Hexereiverfahren, deren zentrale Verbrechen (der Pakt mit dem Teufel und der Abfall von Gott) keine handfesten Beweise hinterließen, entsprechend den Gesetzen des Reiches und des Landes geführt und den Angeklagten die nach der damaligen Rechtsordnung vorgeschriebenen Chancen zum Beweis ihrer Unschuld (etwa Verweigerung eines Geständnisses trotz dreimaliger Folter) auch zugestanden wurden. Das war ein edler Gedanke, aber er berücksichtigte nicht, dass die entsandten Rechtsgelehrten manchmal nicht unpartheyisch agierten und keineswegs eine Garantie für die Einhaltung der Prozessordnung und der Reichsgesetze waren. Im Gegenteil : Hexenkommissare wie Franz Buirmann im rheinischen Erzstift Köln, Heinrich von Schultheiß (1580–1648) im kurkölnischen Westfalen oder Jan Möden (1592–1663) in den Grafschaften der Eifel heizten die schon bestehenden Verfolgungen ungemein an und sorgten dafür, dass immer neue Prozesse eröffnet wurden. Wir können davon ausgehen, dass nun Zeugenaussagen über verdächtige Worte und Handlungen der gefangenen Dienstmagd unter der Rheinbacher Bevölkerung gesammelt wurden. Sie dürften ausgereicht haben, um das Schöffengericht zum Einsatz der Folter zu veranlassen. Diese wurde als ein Mittel der Wahrheitsfindung angesehen 35
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und konnte nicht einfach willkürlich eingesetzt werden. Zu den Indizien, die eine Folter erlaubten, gehörte die Besagung, die in diesem Fall vorlag. Aber auch mehrere Zeugenaussagen, die Übereinstimmungen aufwiesen, konnten schon als hinreichende Begründung angesehen werden. In Rheinbach hatte man mit allen diesen Sachen keine Erfahrung. Daher wog das Wort des Bonner Kommissars schwer ; er hatte die Dienstmagd erst alleine befragt und dann die Verhaftung als gerechtfertigt bestätigt. Die zweite Verhaftung ließ nicht lange auf sich warten. Es handelte sich um eine alte Frau namens Grete Hardt. Löher hat sie wohl nicht näher gekannt, er spricht nur immer wieder davon, dass sie arm und alt gewesen sei. Etwas anderes hatte er von diesem zweiten Prozess wohl nicht in Erinnerung. Dabei wurde bei ihr in der üblichen Art verfahren, die man in Kurköln anwandte, wenn eine Person wegen Hexerei verurteilt und hingerichtet worden war, nämlich die Hälfte des Besitzes zur Deckung der Kosten zu pfänden. Dagegen erhoben die Erben von Grete Hardt beim Hofrat Einspruch. Dieser Hofrat war die Regierung des Kurfürstentums, die dem Kurfürsten direkt unterstand, und zudem das oberste Gericht im kurkölnischen Instanzenzug. In ihrem Fall meldeten sich nur »Erben« und nicht etwa der Ehemann, wie das eigentlich hätte sein müssen. Daraus können wir schließen, dass Grete Hardt Witwe war und dass sie durchaus Vermögen besessen hatte. Zu den vornehmen Schöffenfamilien gehörte sie aber wohl nicht, weshalb Löher auch nie näher mit ihr zu tun gehabt hatte. Das war beim dritten Opfer dieser Prozessserie völlig anders. Christina Böffgens war die Witwe des ehemaligen Rheinbacher Schöffen Peter Böffgens, der 1604 und 1621 das Amt des Bürgermeisters bekleidet hatte. Dieser Prozess war ein Angriff, der direkt gegen die städtische Führungsschicht gerichtet war. Für Löher war die Anschuldigung gegen die Frau erschreckend, denn sie war wie der Schöffe eine Tuchhändlerin. Was ihr während der Haft widerfuhr, hat ihn geradezu traumatisiert, denn immer wieder kommt er in seinem Buch auf ihr tragisches Schicksal zu sprechen. Die dämonische Gestalt des Hexenkommissars Franz Buirmann, den er vor allen anderen für die furchtbaren Hexenverfolgungen in Rheinbach verantwortlich machte, tritt durch die Schilderung Löhers von der Folter Christina Böffgens klar zutage. Löher ist sich des Motivs, das Buirmann zu der immer weiter fortgeführten Folterung Christina Böffgens verleitet hat, völlig sicher : umb an Gelt zu kommen/ […] eine reiche 60. 65. jarige Wittfrauw/ Nahmen Christina Böffgens sonder Kinder/ gefanglich […] ingezogen/ und cito citissime exorcisirt, probirt, geschoren/ und zum bekennen gepeiniget/ und im revociren/ nicht Mordt/ Lügen zu conformiren/ wirdt sie ohne einige Gnade Anno 1631 im Junii innerhalb 3. 4. dagen gefangen zu todt gefoltert : eben über der todt folterung binnen der zeit wurden in ihren Hauß Secreten/ Geltkisten/ Kassen und Verborgen in ihren Keller in 2000 Thal. an contant Gelt mit noch in 2000 Thal. an sigell und brieffen […] registrirt und confiscirt. Löher zählt hier die üblichen Schritte der »peinlichen« Befragung, also des Verhörs unter Zufügung von Schmerzen (»Pein«), nacheinander auf : Am Anfang des gesamten Verfahrens stand ein Exorzismus durch herbeigeholte Bettelmönche. Damit sollte 36
Hermann Löher (1595–1678)
Abb. 3: Darstellung einer Nadelprobe, Kupferstich, aus : Löher, Wemütige Klage
der Teufel vertrieben werden, der ansonsten unerkannt seiner Anhängerin beistehen könnte. Dann folgte ein »gütliches« Verhör, in dem die Angeklagte (im Durchschnitt war nur etwa ein Viertel der Beklagten Männer) mit den Anschuldigungen und Zeugenaussagen konfrontiert und zum Geständnis aufgefordert wurde. Das nun folgende probiren bezieht sich auf die sogenannte »Nadelprobe«. Sie galt in Kurköln, im Gegensatz zu der als Aberglaube verworfenen Wasserprobe, als ein wissenschaftlich anerkanntes Mittel zur Beweissicherung. Dabei wurde der komplett entkleidete Körper der Beschuldigten vom Henker auf ungewöhnliche Hautmale (Muttermale etc.) untersucht. In diese stach er dann mit einer spitzen Nadel. Trat nun ein Blutstropfen aus, sah man die Stelle als ein gewöhnliches Muttermal an. Blutete sie jedoch nicht, so war dies der Hinweis auf ein »Teufelsmal«. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass der Teufel während des Geschlechtsverkehrs – nach der von Theologen und Juristen entwickelten »Hexenlehre« besiegelte er den Teufelspakt – seiner neu rekrutierten Anhängerin den Daumen auf den nackten Körper drückte. Damit habe er einen sichtbaren Beweis der neu geschmiedeten Verbindung zwischen Teufel und Hexe hinterlassen. Bei Männern, denen man Hexerei vorwarf, glaubte man, dass sich der Teufel in Gestalt einer schönen jungen Frau (diese bezeichnete man als Succubus) näherte. Der Nadelprobe ging eine Prozedur voraus, die Löher bei seiner Aufzählung versehentlich hinter das »probiren« gesetzt hat : das Scheren der Haare. Man ging davon 37
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aus, dass sich der Teufel in den Haaren seiner Anhänger verbergen konnte. Sollte er also den Exorzismus überstanden haben, so war es denkbar, dass er auf diese Weise beim peinlichen Verhör anwesend sein und seine Anhängerin stärken und beeinflussen konnte. Daher wurde die Angeklagte von den Henkersknechten nackt ausgezogen und mit Rasiermessern geschoren. Die Prozedur umfasste nicht nur das Kopfhaar, sondern die gesamte Körperbehaarung. Bedenkt man, dass fast nur Frauen angeklagt wurden und dass die bei der Befragung anwesenden Personen nur Männer waren, so war allein diese Nadelprobe mit ihrer Zurschaustellung des nackten und vollständig rasierten Körpers eine Folter für sich, die dazu diente, die Würde der angeklagten Person zu zerstören. Der Henker, der nicht selten entsprechend instruiert war, schaffte es in der Regel, ein nicht blutendes Mal zu präsentieren. Das war dann ein ausreichendes Indiz, um mit der Folter zu beginnen. Die Folter war nach den geltenden Gesetzen streng limitiert. Aber Hexerei galt als Ausnahmeverbrechen, als crimen exeptum. Daher vertraten nicht wenige Juristen die Auffassung, dass die Schutzbestimmungen der »Peinlichen Halsgerichtsordnung« Kaiser Karls V., also des damals für das ganze Reich geltenden Strafgesetzbuches, bei der Untersuchung dieses Verbrechens außer Kraft gesetzt werden konnten. Auch der berüchtigte »Hexenhammer« hatte schon Ende des 15. Jahrhunderts Tipps dafür gegeben, wie man eventuell vorhandene Beschränkungen der Folter umgehen könne. Infolgedessen gelang es in den meisten Fällen, von der angeklagten Person nach entsprechend langer und intensiver Folter das geforderte Geständnis zu erhalten. Nicht so bei Christina Böffgens. Die Tuchhändlerin, die vermutlich über entsprechende Rechtskenntnisse verfügte, wusste, dass ohne Geständnis eine Verurteilung fast unmöglich war. Ein erstes unter der Folter erpresstes Geständnis hat sie hinterher »revocirt«, also zurückgezogen. Daraufhin wurde sie nach Löhers Bericht mehrere Tage lang erneut gefoltert. Doch nun hielt sie alle Folterungen aus und verweigerte dem Hexenkommissar, der die Verhöre leitete, die erwarteten Antworten auf seine Fragen. Der Henker sah, dass die 65-jährige Frau die weitere Folter nicht mehr überstehen konnte. Er wollte die Tortur abbrechen, was jedoch einem Freispruch gleichgekommen wäre. Aber der Hexenkommissar ließ das nicht zu. Hermann Löher schildert das Martyrium der tapferen Frau in ergreifender Weise : Als Christina Böffgens sich in der folter auff Gott Jesum Christum in tods nodt vertröstet/ und ihr die sprach mit ablassung ihres wassers entfallet und des lebens Geist hinweg in der folterung gehet/ und als ein Marterin todt war/ und der Hencker den todt an den Frewel Richter Frans Beurman in volgenten worten bekent machet und saget : ich foltere die Frauw aus eweren geheiß und sie ist in der Folterung des todts gestorben/ als ich vorhin gesagt habe. Da lauffet der Bößwicht Frans Beurman umb und umb unter den Scheffen wie ein doller desperater Mensch/ dem woll wissent ist/ daß er die Göttliche und Keyserliche Rechten im folteren und peinigen zu seiner verdamnuß solte verdient haben/ Herbert unnd Jan Bewel sagt er : höret ihr auch/ wie es oben im Hals krachet/ als ihr der Teuffel den Hals zerbrach/ was dunckt euch Gotthardt Peller, was eine verstockte Hex ist das gewessen : was sagt ihr Jan Thyen und Hermann Löher 38
Hermann Löher (1595–1678)
dar zu/ höret ihr auch wie es krachet/ da ihr der Teuffel den Halß zerbrach/ das hat der Teuffel gethan/ daß sie nicht sahligh solte werden und die complicen nicht besagen soll. Uber dem komt Doctor Schweygel mit seinen Käyserlichen Halß Gerichts Ordnung/ und sehet die zu todt gefolterte Fraw vor seinen Augen zwischen den Scheffen miserabel unnd elend im groben Hemb Kiddel todt liggen/ da seufftzet er in den Himmel/ und wiste sich kömerlich in worten und geberden zu besturen und stil zu halten/ und sagt : diese that die wir heuten an dieser Frawen so sie bekent wirdt/ begangen haben/ das können wir vor Gott/ dem Landts Fürsten und allen Menschen nicht verantworten/ und er redet zornent und keyffen in Latein mit den Falschen Richter Frans Beurman, das ich nicht verstanden/ Frans Beurman sagt und bestundt dar bey/ der Teuffel habe der Ertzhexen den Hals zerbrochen/ pfuy/ pfuy/ pfuy/ sagt er : wie stinckt es hier/ der Teuffel ist mit einen faulen gestanck gescheiden/ pfuy lasset uns von dem bestie der Hexen gehen. Niemandt von den 3 Eltesten/ viel weiniger die 2 Jungsten Scheffen Thy[n]en und Löher darffte die Beschaffenheyt der zu todt Folterung sagen und den Vogt Schwiegel in seinen worten assistiren. Unmittelbar nach dem Tod der Christina Böffgens eilten der Hexenkommissar und seine Anhänger – Hermann Löher nennt sie verächtlich die »Ja-Schöffen« – in ihr Haus. Dort eigneten sie sich Bargeld, Schmuck und Wertpapiere im Wert von 4000 Reichstalern an. Für den Kommissar Buirmann sollte das später noch ein böses Nachspiel haben, denn die Erben Böffgens zeigten ihn beim Hofrat an, der im Gegensatz zum Verfahren gegen Grete Hardt reagierte und eine Untersuchung der Angelegenheit anordnete. Buirmann hatte allerdings nicht nur durch sein Eingreifen während der Folter von Christina Böffgens die gesamte Untersuchung der Hexereivorwürfe an sich gezogen und in seinem Interesse manipuliert. Wie Löher schreibt, hatte er schon Grete Hardt bei der Befragung wegen der anderen Rheinbacher Teilnehmer am Hexensabbat, der für die Teufelsbündler angeblich obligatorisch war, sehr genau zu verstehen gegeben, welche Namen sie nennen sollte, indem er gezielt nach den Wohnorten fragte (umb die Kirch, umb das Bürgerhauß, umb den Tauffen und Herbert Putzen). Dort lagen die Häuser der reicheren Leute, wo auch die Schöffenfamilien wohnten. Da nun der Hexenkommissar Franz Buirmann weder in Rheinbach wohnte noch von dort stammte (er war ein gebürtiger Euskirchener), kann man davon ausgehen, dass er kein persönliches Interesse daran hatte, dass bestimmte Personen in den Fokus der Verfolgung gerieten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es in Rheinbach eine Gruppe von Einwohnern gab, die hinter den Verfolgungen stand. Wir können von ihr nur den Gerichtsschreiber Melchior Heimbach und die beiden »Ja-Schöffen« Jan Theynen und Dietrich Halfmann erkennen. Vermutlich waren jedoch noch weitere Rheinbacher Bürger daran beteiligt, welche die Hexenverfolgung für ihre Ziele benutzten. Es zeigt sich, dass die Anschuldigungen nach den beiden ersten Prozessen immer mehr in die Schicht der schöffenbürtigen Familien vorgetragen wurden. Diese Beobachtung ist keine Rheinbacher Besonderheit. Es entspricht ganz dem Modell, das Walter Rummel für Orte wie Winningen an der Mosel nachweisen konnte. Die Verfolgung zielte ganz 39
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offensichtlich auf die einflussreichen und vermögenden Familien, die nach deren Ende von anderen Familien aus ihrem Platz im Sozialgefüge des Ortes verdrängt wurden. Diese Gruppe bleibt im Fall von Rheinbach im Dunkeln. Da keine Prozessunterlagen erhalten sind, bleibt uns nur Hermann Löhers Bericht als Quelle für die damaligen Geschehnisse, und gerade in diesem so wichtigen Punkt bleibt er stumm. Das vierte Opfer der Verfolgung in Rheinbach war der Bauer Hilger Lirtz. Mit seiner Verhaftung wird deutlich, dass hier nicht durch bloßen Zufall der Name einer armen Rheinbacher Dienstmagd bei den Verhören im benachbarten Schweinheim aufgetaucht war. Eventuell hatte schon zu diesem Zeitpunkt die Rheinbacher Verfolgergruppe eingegriffen und den Schweinheimer Folterern einen Hinweis gegeben, welchen Namen sie unter den erfolterten Besagungen denn gerne hören würde. Die Löher namentlich nicht bekannte Dienstmagd, die man als erstes Opfer der Verfolgung in Rheinbach verbrannt hatte, war nämlich bei Hilger Lirtz in Diensten. Vermutlich war also schon ihre Besagung Teil einer Verschwörung gegen die Rheinbacher Oberschicht. Die arme Grete Hardt passt nicht in dieses Bild, aber wir wissen viel zu wenig, um die Abläufe im Ganzen beurteilen zu können. Vermutlich entwickelte die Verfolgung eine Eigendynamik. Vielleicht wollten die Verfolger zusammen mit dem Amtmann auch erst einmal testen, wie die Rheinbacher Bevölkerung auf die Verurteilungen angeblicher Hexen reagierte, bevor man sich an die eigentlichen Opfer heranwagte. Auch Hilger Lirtz überstand die Zumutungen und Entwürdigungen des Verfahrens. Sein Beruf als Bauer täuscht schnell darüber hinweg, dass er ein reicher und gebildeter Mann war. Auch er war (wie der Ehemann von Christina Böffgens) Bürgermeister und Schöffe gewesen. Auch er kannte die Bestimmungen der Peinlichen Halsgerichtsordnung über den Einsatz der Folter. So saß er nackt und kahlgeschoren auf dem Folterstuhl, umgeben von seinen Nachbarn und Freunden, die nun als Schöffen über seine Schuld urteilen sollten und als Zeugen der Folterung beiwohnten. Es war der Tag der Fronleichnamsprozession, der 19. Juni 1631. Seit dem Beginn des Prozesses gegen seine Dienstmagd waren nun schon sechs Wochen vergangen. Hilger Lirtz weigerte sich zu gestehen. Er wusste, dass er nur bis zum Abend durchhalten musste, um freigelassen zu werden. Während die Turmuhr schlug, bemerkte der Hexenkommissar, dass Lirtz die Schläge leise mitzählte, um herauszufinden, wie lange er noch unter der Folter auszuhalten habe. Aber das kümmerte den Kommissar nicht, der doch extra geschickt worden war, um die Einhaltung der Gesetze zu überwachen. Hermann Löher schildert die Situation sehr genau : unter allem schlaget Hora septima, die zellet der gefolterte Man binnen monde/ mit bewegen seiner lippen secretlich/ das belaustert D. Frans Beurman ; wie dan/ sagt er : zellestu Zauberer die uhren und stunden/ und rechnestu die zeit der folter/ das kan und mach dir Ertzzauberer nicht helffen/ Es kan mir wol helffen/ sagt heyliger/ wan ich noch 5. 6. stunden die Folter außstehe/ dan hab ich gerechtlich die Keyserliche peinliche Rechten außgestanden/ dan müsset ihr mörder/ schelmen und dieben mich loß und frey geben. (Er wahr von natur ein frecher/ klucher Baursman. den Acker zu bawen wahr niemandt/ der ihm zu boven ging.) Ich dich Hexen-Meister loß geben sagt Frans Beurman ? du solt mir/ 40
Hermann Löher (1595–1678) Abb. 4: Darstellung der Folterung des Hilger Lirtz, Kupferstich, aus : Löher, Wemütige Klage
im nicht bekennen/ zweymahl 24. stunden nach meinen willen/ auff dem Peinstull sitzen/ bistu deine Zauberkunst bekennest/ und deine Mitgespillen nennest und besagest. Buirmann machte seine Drohung wahr. Durch Schmerz und Schlafentzug zermürbte er die Widerstandskraft des alten Mannes so sehr, dass er am Ende alles zugab, was seine Peiniger hören wollten. Die brutale Folter hatte den Körper des Angeklagten so zerschunden, dass er vier Wochen lang im Kerker im Fieber lag. Der Schöffe Jan Bewel hatte gegen die Verhaftung und die anschließende Folter des Hilger Lirtz energisch protestiert, denn Lirtz war sein Schwiegervater. Dass er gegen die Hinrichtung nichts mehr zu tun vermochte, hat ihn psychisch gebrochen. Von nun an suchte er sein Heil in der Flasche und gab Buirmann bei den weiteren Prozessen nur noch teilnahmslos nach. Er wurde, um mit Hermann Löher zu sprechen, ein dritte Ja Scheffen. Doch der Hexenkommissar und diejenigen, die hinter ihm standen, hatten ihre Angriffe auf die Schöffenschicht noch nicht beendet. Als nächstes verlangte Buirmann von den Schöffen einen Blanko-Haftbefehl gegen eine verdächtige Frau, deren Namen er nicht nennen wollte. Dagegen protestierten die Schöffen, allen voran der Schöffenälteste und Sprecher des Schöffenkollegiums, Herbert Lapp. Doch gaben sie schließlich nach, nachdem die Angriffe und Drohungen des Kommissars immer heftiger geworden waren. Zu ihrem Schrecken mussten sie feststellen, dass die Verhaftete 41
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die Ehefrau des Schöffen Gotthart Peller war. Dieser war einer der angesehensten Männer in Rheinbach. Peller war zweimal Bürgermeister, dazu Schöffe, Baumeister, Ratsverwandter und Hospitalmeister. Er war nicht bereit, die Verhaftung seiner Frau Anna Kemmerling hinzunehmen. Doch seine Wut und Verzweiflung erwiesen sich als vergeblich. Buirmann ließ sich nicht beirren, vielmehr drohte er dem erzürnten Schöffen unverhohlen : wan er sein protestiren und zornige gebärden und reden nicht lassen wolte/ und sich anstund von den Scheffen nicht absentiren würde/ dan wolte er ihm in ein gefänglich arrest behalten ; dan welche den Hexen/ Zäuberer und Zauberinnen fürsprechen/ al wehr es Vatter und Sohn/ die sagt er : sein selber Hexenmeister und Zauberer/ er wiste/ was ihm dieses theils zu thun stunde. Der Amtmann und der Gerichtsdiener, die ebenfalls anwesend waren, pflichteten wie gewöhnlich dem Kommissar bei. Das trieb Peller in die Flucht. Das Schicksal seiner Frau, die man ohne lange gütliche Befragung sogleich entkleidet, geschoren und mit Beinschrauben gepeinigt hatte, konnte er nicht mehr ändern. Auch sie konnte nicht gegen die brutale Folter ankommen. Entsprechend den Vorgaben Buirmanns formulierte sie ein ebenso absurdes Geständnis wie alle anderen Opfer. Anschließend wurde sie von den Schöffen verurteilt und zusammen mit Hilger Lirtz auf den Scheiterhaufen geschickt. So wurden zwischen Mai und Oktober 1631 mindestens 20 Menschen in Rheinbach wegen Hexerei hingerichtet. Darunter waren auch die Schöffenwitwe Apollonia Sinnigs oder der Ratsverwandte Gotthart Krautwich. Aber auch andere Personen befanden sich darunter, etwa die geistig verwirrte Kloster Beel. Die Verfolgung erfasste also auch andere Schichten der Rheinbacher Gesellschaft, doch zielte der Schwerpunkt auf das aktive Schöffenkollegium und sein Umfeld. Mit Gotthart Peller und den beiden »Ja-Schöffen« folgten nun schon drei von sieben Schöffen den Befehlen des Hexenkommissars. Um auch die anderen Schöffen gefügig zu machen, wollte Buirmann ein Exempel statuieren. Das Verfahren, das auch zur Verhaftung von Anna Kemmerling geführt hatte, wiederholte sich. Buirmann verlangte eine Blanko-Vollmacht. Herbert Lapp widersprach vehement, aber die übrigen Schöffen wurden von Buirmann so eingeschüchtert, dass sie schließlich zustimmten. Kommissar, Amtmann und Gerichtsschreiber sowie einer der »Ja-Schöffen« berieten sich kurz in einem Nebenzimmer, ob sie diesen endgültigen Schritt wagen sollten. Schließlich kamen sie wieder hervor und verhafteten die Person, gegen die sich der Blanko-Haftbefehl richtete. Es war der Schöffenführer Herbert Lapp selbst. Zu seiner Überführung wurden einige inhaftierte Frauen, Kloster Beel, Gilis Popertz und Magdalena Schumacherin, nacheinander aus dem Kerker geholt und Lapp gegenübergestellt. Auf Befragen des Hexenkommissars sagten sie jedes Mal aus, dass Lapp ein Hexer sei. Als der Schöffe Magdalena Schumacher verzweifelt hinterherrief, warum sie solche Lügen über ihn verbreite, antwortete sie ihm nach Löhers Bericht : Eia Eia/ lieber Herberd/ ihr seidt der elteste Scheffen/ wie sein andere an mich kommen zu besagen/ also bin ich auch an euch zu besagen kommen/ wir sollen es nicht allein sein/ uns sollen noch viel andere folgen. 42
Hermann Löher (1595–1678)
Kurz darauf wurde auch Herbert Lapps Frau verhaftet, die nach dem ursprünglichen Plan das eigentliche Opfer dieser Aktion hatte sein sollen. Offensichtlich hatten sich die Verfolger spontan entschlossen, den Einsatz zu erhöhen. Die verbleibenden drei Schöffen, die nicht die Seiten gewechselt hatten, sahen durchaus die Gefahr für sich und ihre Angehörigen. Tatsächlich tauchte bald das Gerücht auf, Hermann Löhers Ehefrau Kunigunde sei eine Hexe. Der Hintergrund war, dass sich in Flerzheim die Machtverhältnisse gedreht hatten. Der aufrechte Schultheiß Matthias Frembgen, Kunigundes Vater, war selbst wegen Hexerei verhaftet und hingerichtet worden. Man glaubte, dass Hexer und Hexen ihre teuflische Macht an ihre Kinder weitergaben. Kind eines angeblichen Hexers oder einer Hexe zu sein, das war in dieser Zeit ein Umstand, der leicht den Verdacht der anderen Ortsbewohner auf eine Person lenken konnte. Hermann Löher reagierte darauf schnell, denn er kannte die Machtverhältnisse. So war ihm bewusst, dass es nur eine Person am Ort gab, die den Hexenkommissar zurückhalten konnte. Daher schickte er zwei seiner Söhne mit einer Lampe aus vergoldetem Silber und einem kostbaren Waschbecken zum Amtmann Schall von Bell, die zusammen einen Wert von 200 Reichstalern hatten. Dazu kam noch etwa die gleiche Summe in Bargeld. Die Bestechungen schützten ihn und seine Familie zunächst einmal vor der Verfolgung. Was Löher außerdem half, war die Klage, die von den Erben Christina Böffgens mittlerweile beim Hofrat in Bonn eingereicht worden war. Der Gerichtsschreiber Melchior Heimbach wurde mit sämtlichen Prozessprotokollen nach Bonn beordert und gründlich befragt. Als Ergebnis dieser Untersuchung wurde eine genaue Aufstellung der konfiszierten Güter aller Verurteilten verlangt und vor allem der angeschuldigte Kommissar Franz Buirmann nach Bonn zurückbeordert. Damit waren die Verfahren noch nicht vorbei. Der Lizenziat Dietrich von der Steegen wurde als Nachfolger Buirmanns nach Rheinbach entsandt. Im Februar 1632 wurden der Schöffenälteste Herbert Lapp und seine Frau, die drei inhaftierten Frauen, die ihn beschuldigt hatten, und eine Frau namens Maria Kriegs auf den Scheiterhaufen geschickt. Vielleicht gab es auch noch mehr Hinrichtungen, von denen keine Quellen mehr vorhanden sind. In jedem Fall war im Frühjahr 1632 diese erste Rheinbacher Verfolgungswelle beendet. Verschiedene Gründe haben zum Aussetzen der Hexenverfolgung im Kurfürstentum Köln in diesen Jahren geführt. Einer war sicher die Wirkung der (anonym erschienenen) cautio criminalis des Jesuitenpaters Friedrich Spee von Langenfeld (1591– 1635). Löher kannte das Buch nicht, erst in seiner Amsterdamer Zeit hat sein Freund Johannes Freylinck OP es ihm zugeschickt. Aber der Hofrat in Bonn wurde nach der Lektüre vorsichtiger mit dem weiteren Vorgehen gegen die vermeintlichen Hexen. Entscheidend war aber ein anderes Ereignis : Der Krieg kam empfindlich näher. Bis dahin hatte der Dreißigjährige Krieg das Rheinland nur indirekt erreicht. 1620 hatte ein Vorstoß der Niederländer, die auf einer Rheininsel namens »Pfaffenmütz« in der Nähe von Bonn eine Festung errichteten, von dem aus sie die Schifffahrt störten und die Umgebung plünderten, für einen Einmarsch der Spanier gesorgt. Erst 1622 43
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Abb. 5: Eine Verbrennungshütte, in der die verurteilten Opfer der Hexenprozesse verbrannt wurden, Kupferstich, aus : Löher, Wemütige Klage
waren die Niederländer von der Insel wieder vertrieben worden. Danach hatten sich sowohl der spanisch-niederländische Krieg als auch der Dreißigjährige Krieg eher in der Ferne abgespielt. Nun aber zogen die Schweden von Norden heran. Im Oktober 1632 besetzten sie Siegburg, wo sie sich für drei Jahre festsetzten. Damit war ein unbesiegbar erscheinender Feind in die unmittelbare Nähe Kurkölns gerückt, von dem man nicht wusste, wie schnell er auf der anderen Rheinseite sein konnte. Damit hatte man andere Sorgen als eine Bedrohung durch angebliche Hexen. Als die Schweden 1636 wieder abgezogen waren, flackerten an etlichen Orten die Hexenverfolgungen wieder auf, so auch in Rheinbach, Meckenheim und Flerzheim. Franz Buirmann widmete sich ebenfalls wieder Hexenprozessen, aber nicht mehr in Rheinbach, sondern im rechtsrheinischen Siegburg. An seiner Stelle versah nun ein anderer gefürchteter Hexenkommissar sein Amt in Rheinbach. Dieser stand nicht einmal in kurkölnischen Diensten, sondern ernährte sich seit vielen Jahren von Hexenjagden. Es handelte sich um den Koblenzer Jan Möden, der zeitweise in Münstereifel wohnte und dort auch zum Bürgermeister aufstieg. Eines der ersten Opfer war die Ehefrau von Neyß Schmid, dem man für ihre Hinrichtung 200 Reichstaler in Rechnung stellte. Sein Vater war auch schon als Hexer hingerichtet worden, auch wenn wir darüber bei Hermann Löher weiter nichts erfahren. Da die Bedenken, die 44
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durch die cautio criminalis ausgelöst worden waren, mittlerweile abgeebbt waren und die Regierung daher den Verfolgern keine Steine mehr in den Weg legte, fühlte sich die Rheinbacher Verfolgungspartei nunmehr so sicher, dass sie sich an den ranghöchsten kurfürstlichen Beamten des Ortes heranwagte, den Vogt Andreas Schweigel (um 1566–1636). Mitte August 1636 wurde der kinderlose Witwer, der sich in Kurköln und noch mehr in Jülich-Berg als Gegner der Hexenverfolgung positioniert hatte, wegen Hexerei verhaftet. Ihm erging es wie Christina Böffgens, wegen deren Tod er dem Hexenkommissar Franz Buirmann einst so große Vorwürfe gemacht hatte : Er wurde sieben Stunden lang ohne Pause derart hart gefoltert, dass auch er während der Tortur starb. Um ihren Triumph in der Bekämpfung der gegnerischen Partei zu zeigen, bestanden die Verfolger darauf, dass der Leichnam Schweigels von seinem eigenen Pferd zum Richtplatz gebracht und er mit seinem eigenen Holz verbrannt wurde. Nun wurde den verbleibenden Rheinbacher Schöffen Peller, Gertzen und Löher klar, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie und ihre Frauen ebenfalls auf dem Scheiterhaufen sterben mussten. Gotthart Peller entging diesem Schicksal, weil er im Sommer 1636 eines natürlichen Todes starb. Aber Richard Gertzen und Hermann Löher befanden sich dadurch noch mehr in Gefahr. Sie waren die einzigen Lebenden unter den sieben Schöffen, die 1631 nicht sofort und rückhaltlos die Partei des Hexenkommissars und des Gerichtsschreibers ergriffen hatten. 3. Flucht nach Amsterdam Im Winter ging die Serie der Hexenprozesse weiter. Die Frau des Ratsherren Gotthart Krautwich, der alte Johann Treingen, Pius Leinen, Apollonia Stroms, Annichen Jacob, Peter Henckels und seine Frau, die Frau des neuen Kramers und noch weitere Rheinbacher Einwohner wurden bis Mitte Februar 1637 verbrannt. Zu diesem Zeitpunkt war Hermann Löher allerdings schon gar nicht mehr in Rheinbach. Seit der Verhaftung Herbert Lapps hatte Löher geahnt, dass er auf Dauer nicht in Rheinbach würde bleiben können. Die Bestechung des Amtmanns und dessen Frau im Jahr 1632 war erst der Anfang für seine Fluchtvorbereitung. Löher bezeichnet sie in seinem Buch als eine güldene und silberne Brück mit welcher ich nach Holland auff Amsterdam gereyset. Nach und nach hatte er 3000 Reichstaler als Grundstock für einen Neuanfang nach Köln geschafft. Als nach dem Ende der Schwedengefahr sogleich wieder Gerüchte gegen seine Frau und seine Schwiegermutter auflebten, erschien ihm der Zeitpunkt zum Handeln gekommen. Heimlich suchte er einen Käufer für sein Haus, das ihm noch einmal 4000 Reichstaler einbringen sollte. Die Summe erhielt er nie. Noch bevor der Käufer ihm das Geld übergeben konnte, musste Hermann Löher am 3. August zusammen mit seiner Schwiegermutter und seiner Frau Kunigunde die Flucht antreten. Ihr erstes Ziel war Köln, wohin sie ihr Geld geschafft hatten. Von hier aus reisten sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit über Wesel nach Amsterdam. Löher hatte 45
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sich kundig gemacht und erfahren, dass von dort aus niemand wegen des Verdachts der Hexerei ausgeliefert wurde. In der niederländischen Provinz Holland hatte man die Hexenverfolgung schon seit 1608 eingestellt, in Amsterdam selbst sogar schon seit 1564. Kaum waren sie in Amsterdam angekommen, erging der Haftbefehl gegen Hermann Löher. Er erhielt die Aufforderung, sich dem Gericht zu stellen und sich von allen Anschuldigungen zu reinigen. Sicher hätte er dem gerne Folge geleistet, um den Namen seiner Familie reinzuwaschen. Doch war ihm klar, dass ihn in Rheinbach kein fairer Prozess erwartete. Er wandte sich brieflich mit der Bitte um Rat an den kurfürstlichen Rat Adam Heresbach und an seinen alten Freund Pater Freylinck. Beide rieten ihm dringend davon ab, in das Rheinland zurückzukehren. Vermutlich wurde Löher anschließend in Abwesenheit verurteilt, denn der Hexenkommissar beschlagnahmte sein gesamtes Vermögen, darunter die 4000 Reichstaler, die er noch für das Haus zu erhalten hatte. Doch konnten die am Rhein verbliebenen Söhne Löhers durch eine Eingabe beim Hofrat die Freigabe des Geldes erreichen. In Amsterdam eröffnete Löher erneut ein Handelsgeschäft. 1640 zog er in ein Haus an der Koningsstraat. Das war weder eine gute Gegend, noch war der Wert seines Hauses dem Durchschnittswert Amsterdamer Häuser entsprechend. Dem niederländischen Historiker Hans de Waardt verdanken wir Studien über Hermann Löhers Leben in Amsterdam. Er hat anhand der Steuereinschätzungen für Löhers Haus und Geschäft festgestellt, dass dessen neues Geschäft längst nicht das abwarf, was er aus Rheinbach gewohnt war. Dabei war Amsterdam damals eine wirtschaftlich aufstrebende Stadt, in der ein geschickter Kaufmann durchaus zu Wohlstand gelangen konnte. Als Hermann Löher 1678 starb, betrug sein Erbe, abgesehen von seinem Haus, gerade einmal 1000 Gulden. Sein Textilgeschäft wird auch in den ersten Jahren nach seiner Flucht nicht wesentlich besser dagestanden haben. Aber immerhin hatte er nach dem Tod seiner ersten Frau Kunigunde im Jahre 1662 genügend Geld übrig, um für 100 Reichstaler in ihrem Heimatort Flerzheim eine Stiftung für ein Jahrgedächtnis einzurichten. Am Tag der heiligen Kunigunde, am 3. März, wurden den Armen in Flerzheim aus den Kapitalerträgen der Stiftung fünf Reichstaler als Spende für ihre Gebete zugunsten Kunigundes überlassen. Es ist nicht auszuschließen, dass Hermann Löher nach dem Tod Kunigundes seinen wohl schon seit seiner Ankunft in Amsterdam gehegten Plan, seine Rheinbacher Erlebnisse als Warnung für seine Mitmenschen aufzuschreiben, verwirklichen wollte und daher sein Geschäft vernachlässigte. Das hinderte ihn nicht daran, erneut zu heiraten. Löhers zweite Frau war eine Witwe, die ebenfalls aus Deutschland stammte. In den von Hans de Waardt aufgefundenen Registereinträgen steht sie als Catharina Hendrix Geel aus Grevenbroeck. Darunter könnte Grevenbrück bei Lennestadt oder aber Grevenbroich gemeint sein. Letzteres wird eher der Fall sein, denn ihr verstorbener Mann stammte aus Elberfeld, das Grevenbroich deutlich näher lag. Dies ist auch angesichts von Handelswegen und Geschäftsbeziehungen wahrscheinlicher. Sie war vermutlich viel jünger als Hermann Löher, denn sie hatte fünf Kinder, von de46
Hermann Löher (1595–1678)
nen das älteste bei ihrer Heirat 13 Jahre, das jüngste erst 4 Jahre alt war. Als die beiden am 13. Oktober 1668 heirateten, war Hermann Löher 73 Jahre alt. 4. Die »Wemütige Klage« Wann genau Hermann Löher mit den Manuskripten zu seinem Buch begonnen hat, wissen wir nicht. Die Endfassung brachte er jedenfalls erst 1675, nach seinem 80. Geburtstag, zu Papier, vermutlich basierend auf wesentlich älteren Notizen. Wann immer er einen Stapel Blätter fertig beschrieben hatte, brachte er sie zum Drucker, der die Texte setzte. Das tat er wohl eher nebenbei, denn das Buch ist ausgesprochen schlampig gedruckt, mit öfter wechselnden Schrifttypen und manchen Ungenauigkeiten. So sind Anweisungen für den Setzer an zwei Stellen des Buches einfach mitgedruckt worden, und auch andere Fehler finden sich, etwa eine unterschiedliche Seitenzählung im Inhaltsverzeichnis auf S. 556 und im Buch selbst. Dies und auch andere Fehler zeigen immer wieder, dass das Buch erst nach und nach entstanden ist. Löher brachte immer dann neue Seiten zum Drucker, wenn er wieder ein Kapitel fertig verfasst hatte und auch genügend Geld da war, um die vorige Lieferung zu bezahlen. Das Druckbild ist äußerst uneinheitlich. Schriftgröße und Schrifttyp variieren, Umlaute sind teilweise mit übergeschriebenem »e«, manchmal aber auch mit diakritischen Zeichen gesetzt, die Druckfarbe ist nicht immer sehr sorgfältig aufgetragen worden. Das Papier ist ebenfalls nicht von bester Qualität, sodass manche der zahlreichen Setzfehler oder schlecht lesbaren Buchstaben auf Fehler im Papierfilz zurückgehen. Der Buchdrucker hat also alles in allem nur wenig Sorgfalt aufgewandt, was nicht gerade dafür spricht, dass er ein inhaltliches Interesse an der »Wemütigen Klage« hatte. Das Ergebnis seiner Bemühungen wirkt eher wie ein Gelegenheitsauftrag, zumal etliche Setzfehler darauf schließen lassen, dass der Setzer den hochdeutschen Text gar nicht verstanden hat. Kurios ist der Aufbau des Buches. Es beginnt mit einer Vorrede. Dies war jedoch keineswegs der ursprüngliche Anfang. Das kann man aus den Datierungen erkennen, die der Autor selbst im Manuskript seines Buches untergebracht hat. Die Vorrede ist – das wird aus der ersten Seite ersichtlich – 1676 geschrieben worden. Die ersten Kapitel des Buches sind aber schon 1675 entstanden. Vermutlich war der ursprüngliche Anfang das heutige erste Kapitel, das die Leserinnen und Leser allerdings erst erreichte, nachdem sie sich durch zwei Vorreden gekämpft hatten. Ab hier beginnt auch erst die Seitenzählung mit arabischen Ziffern, und zwar mit Seite 1. Die Vorreden haben eine eigene Seitenzählung mit Asterisken, was ebenfalls darauf hinweist, dass diese Vorreden erst später hinzugefügt worden sind. Auch das erste Kapitel, also der ursprüngliche Anfang des Buches, ist eher eine Art Vorrede, die im Grunde durch die beiden Vorkapitel überflüssig geworden war. Das zeigt, dass Löher sein Buch nicht mehr überarbeitet hat. Was immer fertig war, wurde 47
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beiseitegelegt, um an das nächste Kapitel zu gehen. Die ersten Kapitel des Gesamtwerkes, vor allem die Kapitel zwei und drei, entsprachen noch ganz dem Gedanken, einen Augenzeugenbericht der Rheinbacher Geschehnisse zu liefern. Der Konflikt zwischen den ungebildeten und dem alten Herkommen verhafteten Schöffen, die mithelfen müssen, Nachbarn aus ihrer eigenen sozialen Schicht, sogar Angehörige der eigenen Familie verhaften und foltern zu lassen, wird von Löher mit großer Eindringlichkeit geschildert. Besondere Authentizität sollen diese Schilderungen noch einmal dadurch gewinnen, dass sie im fünften Kapitel (während das vierte Kapitel einen Exkurs zum Thema »Wahrsager« darstellt) durch einige Briefe ergänzt werden, die Löher 1636 und 1637 (die Jahreszahl 1647, die unter einem der Briefe steht, ist mit Sicherheit ein Setzfehler) aus Rheinbach erhalten hat. Auch das sechste Kapitel setzt die Schilderung der Rheinbacher Hexenprozesse fort. Mit dem siebten Kapitel beginnt der zweite Teil des Buches. Ab hier werden in zehn Kapiteln die Werke von Befürwortern und Gegnern der Hexenverfolgung analysiert und kommentiert. Auch hier lässt der Autor immer wieder Rheinbacher Erinnerungsschnipsel einfließen, die eine wertvolle Ergänzung zu den ersten sechs Kapiteln darstellen, das Buch aber gleichzeitig sehr schwer lesbar machen. Ein Teil dieser Kapitel, nämlich die Kapitel zwölf und dreizehn, ist keine Kommentierung anderer Bücher mehr. Vielmehr nimmt er das Manuskript des Sauerländer Pfarrers Michael Stappert (Stapirius) (1585/1590–1663) wörtlich auf, das Löher wohl durch die Vermittlung von Johannes Freylinck zugespielt wurde. Es war bis dahin noch nicht gedruckt worden. Dieser »Brillen-Marter-Traktat« ist ein Tatsachenbericht, der die Verfolgungen rund um Hirschberg im Sauerland sehr nüchtern schildert. Das vierzehnte Kapitel stellt insofern eine Kommentierung von Stappert dar, als es den wiedergegebenen Text zu den Rheinbacher Geschehnissen in Beziehung setzt. Danach folgt die Kommentierung anderer dämonologischer Bücher. Bis zum 33. Kapitel, dem letzten, wird das fortgesetzt. Damit war das Buch eigentlich fertiggestellt. Zu diesem Zeitpunkt, im November 1676, wurden vermutlich auch die beiden Vorreden geschrieben und dem Werk vorangestellt. Die erste wird wohl zuerst fertiggestellt worden sein, denn sie beschäftigt sich noch mit dem Thema. Aber die zweite ist ein religiöser Text, der nach einer Auslegung der verschiedenen Bibelstellen, die sich mit Hexen beschäftigen, auch Zeugnisse zu Löhers eigener Frömmigkeit liefert und etwa seine Morgen- und Abendgebete abdruckt. Doch auch damit konnte sich der Autor noch nicht von seinem Werk trennen. Ein erster Appendix ab Seite 556, das Register nämlich, also das ausführliche Inhaltsverzeichnis, ist ein nachvollziehbarer Anhang und wird vom Leser auch erwartet. Dem folgt jedoch noch ein zweyter Appendix, in dem Erörterungen allgemeiner Art zur cautio criminalis durch Schilderungen der Rheinbacher Vorfälle abgelöst werden, die in Einzelheiten über die bisherigen Informationen hinausgehen. Anschließend werden auch wieder die teilweise schon bekannten Briefe abgedruckt. Der zweite Appendix ist dadurch sozusagen eine Kurzfassung der gesamten »Wemütigen Klage«. Auf diesen 48
Hermann Löher (1595–1678)
Text folgt noch ein dritter Appendix, darauf dann ein Verfolg auf den dreyten Appendix, geschrieben nach dem 16. Dezember 1676. Beide gelangen wieder vom Allgemeinen der Hexenverfolgung zum Besonderen der Rheinbacher Verhältnisse. Dann endlich konnte sich der Autor aufraffen, sein Buch in einer Auflage von 1000 Exemplaren drucken zu lassen. Das Erscheinungsjahr 1676 stimmt eigentlich gar nicht. Es war nur schon gesetzt, als das Buch endlich im Ganzen gedruckt wurde – in Wahrheit hätte hier 1677 stehen müssen. Das eigentliche Buch ist also mit zahlreichen Schichten umlegt. Das macht die Lektüre einigermaßen schwierig. Die Kapitel, die Rheinbach gewidmet sind, können den Leser fesseln, denn Löher schreibt über das, was er selbst erlebt hat, anschaulich und packend. Gerade hier entwickelt das Buch seine Besonderheit : Es ist eine schonungslose Schilderung der Verfolgung, während die Quellen in anderen Fällen von Hexenverfolgungen in der Regel nur aus den nüchternen und verzerrenden Prozessakten bestehen. Der pompöse barocke Titel des Buches lautete natürlich nicht einfach »Wemütige Klage«. Vielmehr steht auf dem Titelblatt : Hochnötige Unterthanige wemütige Klage Der Frommen Unschültigen ; Worin alle Hohe und Nidrige Oberkeit/ sampt ihren Unterthanen klärlich/ Augenscheinlich zu sehen und zu lesen haben/ wie die arme unschültige fromme Leute durch Fahm und Ehrenrauben von den falschen Zauber-richtern angegriffen/ durch die unchristliche Folter- und Pein-banck von ihnen gezwungen werden/ erschreckliche/ unthunliche Mord- und Todt-Sünden auff sich selbsten und anderen mehr zu liegen/ und sie ungerechtlich/ falschlich zu besagen. Welches auch die Herren Herren Tannerus/ Cautio Criminalis/ Michael Stapirius/ härlich bekräfftigen. Mit unterschiedlichen schönen Kupfferstücken nach dem leben zierlich abgebildet. Alles mit großem Fleiß und Mühe/ zu Trost und Heyl der frommen Christ-Catholischen Leuten zu sammengestelt : Durch Hermannum Loher Der Stadt Amsterdam Bürger. Gedruckt zu Amsterdam. Vor dem Auctor/ bey Jacob de Jonge Anno 1676. Hermann Löher hat sich durch den Druck des Buches finanziell ruiniert. Vermutlich erwartete er, dass sich sein Buch gut und schnell verkauft. Tatsache ist, dass keines der Bücher je in den Handel gelangt ist. Als Hermann Löher am 12. November 1678 starb, waren noch nicht einmal die Rechnungen des Papierhändlers bezahlt. Zur Deckung der Schulden überließ die enttäuschte Witwe, deren in die Ehe eingebrachtes Vermögen von rund 5000 Gulden Hermann Löher für sein Projekt verpulvert hatte, die gesamten Exemplare dem Papierhändler zum Einstampfen. Nur zwei Bücher sind der Vernichtung entgangen. Eines ist vermutlich von einem Freund Löhers behalten worden. Das andere – es liegt heute in Bad Münstereifel – ist wahrscheinlich von seinem Enkel mit dem gleichlautenden Namen Hermann Löher für seinen Vater Bartholomäus Löher aus der Amsterdamer Wohnung nach Bonn gebracht worden. Dort gelangte es irgendwann in die Bibliothek des Cassiusstiftes und von da aus in das Jesuitenkolleg in Löhers Geburtsort Münstereifel. Heute ist das im Internet im Originaltext und auch in einer Übertragung ins heutige Deutsch verfügbare Buch eine höchst wertvolle Quelle für die Geschichte der 49
Thomas Becker
Hexenverfolgung im Rheinland und darüber hinaus. Hermann Löher, dem zu seinen Lebzeiten nicht vergönnt war, den Verkauf seines Buches zu erleben, hat so nach mehr als 300 Jahren sein Ziel erreicht : die Menschen vor dem Wahnsinn von Hexenverfolgungen, vor Intoleranz, Skrupellosigkeit und Fanatismus zu warnen. Quellen Hermann Löher, Hochnötige Unterthanige Wemütige Klage Der Frommen Unschültigen, bearb. v. Thomas Becker u. Mitarbeit v. Theresia Becker, abgerufen unter : https://langzeitarchivierung. bib-bvb.de/wayback/20120822131736/http://extern.historicum.net/loeher/ (Stand : 21.3.2019). Literatur (Auswahl) Thomas P. Becker, Hermann Löher als Augenzeuge der Hexenverfolgung in Rheinbach, in : Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 206 (2003), S. 129–157 ; Hans de Waardt, Asyl in Amsterdam – Hermann Löhers Leben nach der Flucht, in : Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 206 (2003), S. 169–184 ; Rainer Decker, Der Brillen-Traktat des Michael Stappert als Bestandteil von Hermann Löhers wehmütiger Klage, in : Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 206 (2003), S. 159–168 ; ders., Hexen. Magie, Mythen und die Wahrheit, Darmstadt 2004 ; Lois Oliphant Gibbons, A Seventeenth Century Humanitarian. Hermann Löher, in : Persecution and Liberty. Essays in honor of George Lincoln Burr, New York 1931, S. 335–359 ; Walter Rummel, Bauern, Herren und Hexen. Studien zur Sozialgeschichte sponheimischer und kurtrierischer Hexenprozesse 1574–1664 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 94), Göttingen 1991. Online Thomas P. Becker, Hermann Löher, in : Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter : http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hermann-loeher/DE-2086/lido/ 57c942771c1252.13292011 (Stand : 4.3.2019).
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Michael Rohrschneider
Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg Kurkölnischer Kanzler/Reichstagsgesandter
Johann Friedrich und Friedrich Karl Karg Freiherren von Bebenburg zählen zu den Funktionseliten des Kurfürstentums Köln, welche die kurkölnische Politik auf unterschiedliche Art und Weise über einen langen Zeitraum hinweg substanziell geprägt haben. Während Johann Friedrich seit den späten 1680er Jahren als enger Mitarbeiter des Kölner Kurfürsten Joseph Clemens (1671–1723) den Kurs der inneren und auswärtigen Politik des kurkölnischen Hofes entscheidend mitbestimmte, hatte sein Großneffe Friedrich Karl rund drei Jahrzehnte lang als Reichstagsgesandter der Kurfürsten Clemens August (1700–1761) und Maximilian Friedrich (1708–1784) die wichtige Aufgabe, die Interessen des Kurfürstentums Köln am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg zu vertreten. Die Familie Karg von Bebenburg stammt ursprünglich nicht aus den kurkölnischen Landen, sondern aus dem Süden des Heiligen Römischen Reiches Deutscher N ation. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren Angehörige dieser in Ulm und Augsburg ansässigen Patrizierfamilie nach Bamberg übergesiedelt, nachdem sie im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen offenbar Vermögensverluste erlitten hatten. In der fränkischen Residenzstadt machten Angehörige der Familie zunächst in fürstbischöflichen Diensten Karriere und zählten dort zum gehobenen Bürgertum. Nicht mehr zweifelsfrei zu klären ist die Frage möglicher genealogischer Verbindungen der Familie zu dem altadligen fränkischen Geschlecht der Herren von Bebenburg (Boibenburg). Überliefert ist jedenfalls, dass die Familie Karg durch Heirat zu dem Eigennamen »von Bebenburg« gelangte und dass im November 1621 ein Bestätigungsdiplom mit dem adligen Prädikat »von Bebenburg« ausgestellt wurde. Erblich war dieser Adelstitel zunächst jedoch nicht. So ist davon auszugehen, dass Johann Friedrichs Vater, der fürstbischöflich-bambergische Obereinnehmer Friedrich Karg (um 1610–1679), kein Adelsprädikat führte. Für den nachfolgenden Aufstieg der Karg von Bebenburg lassen sich mehrere Gründe anführen : Sie bewährten sich in fürstbischöflich-bambergischen und später dann in wittelsbachischen Diensten, sie brachten akademisch gebildete Theologen und Juristen hervor, positionierten sich treu auf der katholischen Seite und schlossen nicht zuletzt Heiraten, die sich im Hinblick auf ihr gesellschaftliches Fortkommen als vorteilhaft erwiesen. Die Standeserhebung Johann Friedrichs in den Reichsfreiherrenstand im Jahre 1698 stand am Ende dieser Entwicklung. 51
Michael Rohrschneider Abb. 1: Johann Friedrich Karg von Bebenburg, Tuschezeichnung, laviert, eventuell Vorzeichnung zum Stich von Nicolas van Haaften
1. Dr. Johann Friedrich Karg von Bebenburg : der ›zweite Mann im Staat‹ Blicken wir in einem ersten Schritt auf Dr. Johann Friedrich Karg von Bebenburg. Geboren in der Endphase des Dreißigjährigen Krieges, wahrscheinlich am 19. Februar 1648, als ältester Sohn aus der Ehe seines Vaters Friedrich mit Eva Schweigker (gestorben 1696), studierte Johann Friedrich in den Jahren 1664 bis 1666 zunächst Philosophie in seiner Geburtsstadt Bamberg, dann seit 1666 in Rom, Prag und Padua Theologie beziehungsweise Jura. In allen drei Fächern erlangte er den Doktortitel. Unter seinen sieben Geschwistern ragt sein jüngerer Bruder Hieronymus Karl (1651–1723) hervor, ebenfalls ein promovierter Jurist, der als Hof- und Geheimer Rat, Hofgerichtspräsident und Kanzler in bambergischen und kurmainzischen Diensten Karriere machte. Schon in vergleichsweise jungen Jahren reiste Johann Friedrich in fürstbischöflichbambergischem Auftrag nach Frankreich, in die Niederlande und wiederholt nach Rom. 1672 wurde er zum Priester geweiht. Sein maßgeblicher Förderer war zunächst der Fürstbischof von Bamberg und Würzburg, Peter Philipp von Dernbach (1619– 1683). Er ernannte ihn zum Geistlichen und Geheimen Rat sowie zum Generalvikar. 52
Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg
Mitte der 1670er Jahre entsandte er ihn außerdem in Angelegenheiten seiner Fürstbistümer nach Rom sowie 1681 an den kurbayerischen Hof, der später so wichtig für Johann Friedrich wurde. Insbesondere seit den späten 1670er Jahren trat Karg, dem jansenistische Tendenzen nachgesagt wurden, als Verfasser mehrerer umfangreicher theologischer und kirchenpolitischer Schriften publizistisch in den Vordergrund. Seine 1680 erschienene Schrift Pax Religiosa Sive De exemptionibus, & subjectionibus Religiosorum, in der er die Jurisdiktionsrechte der Bischöfe gegenüber den geistlichen Orden verteidigte, wurde 1693 auf den Index Librorum Prohibitorum gesetzt. Nach dem Tod Dernbachs im April 1683 wechselte Johann Friedrich in die Dienste des Kurfürsten Maximilian II. Emanuel von Bayern (1662–1726). Hier wurde er mit dem Direktorium des Geistlichen Rates betraut und erlangte die Stellung eines Dechanten des Münchener Liebfrauenstifts. Der Wittelsbacher betraute Johann Friedrich in der Folgezeit ferner mit wichtigen Gesandtschaften, unter anderem 1684 an den Hof des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688). Weitere Missionen führten Johann Friedrich nach Wien und erneut nach Rom. Als richtungsweisend für seinen weiteren Werdegang erwies sich die Tatsache, dass er auf das Engste mit der kurkölnischen Politik in Verbindung geriet. Nachdem er schon 1683/84 mit dazu beigetragen hatte, dem noch jungen bayerischen Prinzen Joseph Clemens das Amt des Koadjutors in den Fürstbistümern Regensburg und Freising zu verschaffen, entsandte ihn der bayerische Kurfürst 1687 nach Köln, um den Kölner Erzbischof und Kurfürsten Maximilian Heinrich (1621–1688) dazu zu bewegen, ebenfalls Joseph Clemens als Koadjutor anzunehmen. Zwar gelang es Johann Friedrich im Verbund mit der antifranzösischen Partei letztlich nicht, zu verhindern, dass mit Wilhelm Egon von Fürstenberg (1629–1704) ein Protegé Ludwigs XIV. von Frankreich (1638–1715) zum Koadjutor und damit designierten Nachfolger Maximilian Heinrichs erwählt wurde. Den Anhängern Joseph Clemens’ kam jedoch zugute, dass der Kölner Kurfürst am 3. Juni 1688 starb, bevor eine Bestätigung Fürstenbergs durch Papst Innozenz XI. (1611–1689) erfolgt war. Die am 19. Juli des Jahres durchgeführte Wahl eines neuen Erzbischofs durch das Kölner Domkapitel nahm – trotz einer Mehrheit der Stimmen für Fürstenberg – nach kanonischem Recht keinen eindeutigen Ausgang. Der Papst, dem nicht daran gelegen war, mit Fürstenberg einen Parteigänger des Sonnenkönigs auf dem Kölner Kurstuhl zu etablieren, entschied schließlich aus politischen Gründen zugunsten des wittelsbachischen Prinzen Joseph Clemens – aus Sicht des französischen Monarchen ein offener Affront. Da sich zudem die Situation in England (Glorious Revolution), die Entwicklung des Krieges Kaiser Leopolds I. (1640–1705) gegen das Osmanische Reich und nicht zuletzt die Auseinandersetzung um die französischen Ansprüche in der Frage der pfälzischen Erbfolge nicht nach dem Wunsche Ludwigs XIV. gestalteten, sah sich der französische Monarch veranlasst, Krieg gegen Kaiser und Reich zu führen. 53
Michael Rohrschneider
Der nun einsetzende Neunjährige Krieg beziehungsweise Pfälzische Erbfolgekrieg (1688–1697) entwickelte sich zu einer echten Bewährungs- und Belastungsprobe für Johann Friedrich. Inzwischen in den Adelsstand erhoben (Karg von Bebenburg) und im November 1688 aufgrund seiner Verdienste zum kurkölnischen Geheimen Rat ernannt, agierte er im Auftrag Kurbayerns als Plenipotentiarius für den abwesenden Joseph Clemens vor Ort im Kurfürstentum Köln. Fürstenberg setzte sich zunächst zwar mit militärischer Unterstützung Frankreichs im Kölner Erzstift fest. Schon im Verlauf des Jahres 1689 wurde er jedoch von den Truppen der antiludovizianischen Allianz vertrieben, wobei es Johann Friedrich unter anderem gelang, den kampflosen Abzug fremder Truppen aus der von Parteigängern Fürstenbergs besetzten kurkölnischen Festung Rheinberg auszuhandeln. Allerdings musste er erleben, dass die von französischen Truppen besetzte Residenzstadt Bonn beschossen und zu großen Teilen zerstört wurde. Ich habe, schrieb Johann Friedrich an Kurfürst Joseph Clemens über das Bombardement vom 24. Juli 1689, beim Anfang von 8 Uhr Abends bis 3 Uhr nach Mitternacht dem Elend in einem Stück zugesehen, so mit der Feder nicht zu beschreiben ist (Zitat nach Braubach, Kampf, S. 78 f.). Trotz massiver Widerstände gelang es Johann Friedrich im Verbund mit den Anhängern Joseph Clemens’, dem jungen Wittelsbacher in den Wirren jener Jahre die Kurwürde zu sichern. Der neue Kurfürst überließ ihm die Regierung des Erzstifts nahezu vollständig, teils wohl aus Dankbarkeit für dessen Unterstützung, womöglich aber auch, wie in der Forschung gemutmaßt wird, aus eigenem Desinteresse. Max Braubach (1899-1975) hat die Jahre 1688/89 daher als die »eigentliche Glanzzeit« Johann Friedrichs bezeichnet, in der er »an einem der Brennpunkte der großen euro päischen Auseinandersetzung als einer der Hauptakteure mit sichtbarem Geschick und Erfolg tätig war« (Braubach, Miniaturen, S. 84). Im weiteren Verlauf des Krieges, der die kurkölnischen Lande schwer traf, war Johann Friedrich an unterschiedlichen Orten politisch und diplomatisch tätig. Gesundheitlich angegriffen – vor allem die Gicht machte ihm schwer zu schaffen –, absolvierte er 1690 in Wiesbaden eine Kur und reiste anschließend zu Verhandlungen an den Kaiserhof, um Entlastungen für Kurköln im fortwährenden Krieg zu erlangen und stellvertretend für Joseph Clemens die kaiserliche Belehnung zu empfangen. Während einer Gesandtschaft, die Johann Friedrich 1692 nach Rom führte, brach ein offener Konflikt mit Kurfürst Max Emanuel in der Frage der Exemtion von 16 Benediktinerklöstern aus. Eine von Innozenz XI. getroffene Entscheidung hatte die Klöster der bischöflichen Jurisdiktion entzogen und direkt dem Papst unterstellt. Johann Friedrich zählte zu den energischsten Gegnern der Exemtion, was seinen bayerischen Dienstherren, der in dieser Frage auf eine Stärkung seiner eigenen Stellung bedacht war, sehr erzürnte. Ihr könnt dem Karg gut teütsch sagen, daß, wann er sich nicht anders comportiert, und seine impertinente Feder nicht umbkehrt, auch sich dergleichen Negotiationen begiebt, daß Ich ihme mit nechstem zeigen wolle, mit wem er zu thun habe, heißt es 54
Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg Abb. 2: Kurfürst Joseph Clemens von Köln, zeitgenössische Kopie nach einem Gemälde von Joseph Vivien
erbost in einem Schreiben Kurfürst Max Emanuels vom 27. Februar 1693 an seinen Gesandten am Kaiserhof (Zitat nach Blacha, S. 211). Folge dieser Verwerfungen war der Austritt Johann Friedrichs aus kurbayerischen sowie sein 1694 vollzogener Übertritt in kurkölnische Dienste. Zuvor hatte er mit Erfolg die Koadjutorwahl Joseph Clemens’ in Hildesheim betrieben, und auch die im April 1694 erfolgte Wahl des Wittelsbachers zum Bischof von Lüttich war ganz maßgeblich auf seine Bemühungen und Unterhandlungen zurückzuführen. Seit dem 2. Februar 1694 Kanzler des Geheimen Rates avancierte der ehrgeizige enge Vertraute Joseph Clemens’ nun endgültig zum maßgeblichen kurkölnischen Politiker. Seine Karriere gipfelte im Jahre 1698 in seiner Ernennung zum Obristkanzler – dieses Amt wurde für ihn neu geschaffen und nach seinem Tod nicht wieder neu besetzt – und der Erhebung in den Reichsfreiherrenstand mit der Bezeichnung »Freiherr von Bebenburg, Erbsass zu Kirchschletten«, einem von Johann Friedrich gekauften Rittergut in seiner fränkischen Heimat, durch dessen Erwerb er Mitglied der fränkischen Ritterschaft geworden war. Da Johann Friedrich geistlichen Standes und ohne Nachkommen war, konzedierte der Kaiser, daß derjenige, welchen er aus seines Bruders Söhnen oder andern Verwandten per adoptionem ultimam voluntatem oder auch donationem inter vivos quocunque modo an- und aufnehmen belieben wird (Zitat nach Roth, S. 83), 55
Michael Rohrschneider
sich des Freiherrentitels, des entsprechenden Wappens und sämtlicher Rechte, die damit verbunden waren, bedienen dürfe. Mit diesem gesellschaftlichen Aufstieg korrespondierte sein repräsentationsbewusstes öffentliches Auftreten. Während seiner diplomatischen Missionen reiste und logierte er mit entsprechendem Aufwand, sein fränkisches Rittergut wies ein prächtiges Schloss mit Dreiflügelanlage auf. Am nördlichen Ende von Plittersdorf kaufte er das landtagsfähige Rittergut Turmhof und ließ die St.-Georgs-Kapelle restaurieren. Formell an der Spitze der Hierarchie des kurkölnischen Hofes stand zwar nach wie vor der Obristhofmeister. Johann Friedrich war als Obristkanzler in der Folgezeit auch nicht in sämtliche Details der Regierungsgeschäfte seines Herren involviert. Gleichwohl war er spätestens seit 1698 de facto der ›zweite Mann im Staat‹. Die wesentlichen politischen Entscheidungen fielen in der Regel in seinen Beratungen mit dem Kurfürsten und eben nicht in den anderen zentralen Gremien des Kurstaates (Geheimer Rat, Geistlicher Rat, Hofrat, Hofkammer und Kriegsrat). Johann Friedrich entsprach somit in klassischer Art und Weise dem Typus des leitenden Amtsträgers oder Favoriten, der sich zeitgenössisch vielerorts herausgebildet hatte. Politische Herrschaftsgewalt war in der Frühen Neuzeit bekanntlich nie ausschließlich in der jeweiligen Person des Herrschers gebündelt. Das gilt für Kurköln nicht weniger als für alle anderen frühneuzeitlichen politischen Gemeinwesen Europas. Insbesondere seit dem 16. und dann verstärkt im 17. Jahrhundert hatte sich vielmehr ein Sozialtypus an den europäischen Höfen herausgebildet, der neben dem jeweiligen Herrscher herausragende politische Bedeutung erlangte : der höfische Favorit oder oberste Amtsträger. Persönlichkeiten wie die französischen Kardinalpremiers Richelieu (1585–1642) und Mazarin (1602–1661), der Herzog von Buckingham (1592–1628) oder auch der Conde-duque de Olivares (1587–1645) vermochten es, in außerordentlichem Maße Einfluss auf die Politik ihres jeweiligen Hofes zu nehmen, da sie in der besonderen Gunst ihres Monarchen beziehungsweise ihrer Monarchin standen und zu diesen zumeist immediate Zugangsmöglichkeiten besaßen. Eine solche Favoritenstellung war allerdings ein überaus zweischneidiges Schwert, das große Chancen, aber auch immense Risiken bereithielt : Einerseits profitierte der ›zweite Mann im Staat‹ häufig finanziell und nicht zuletzt auch sozial von seiner exklusiven Stellung ; Johann Friedrich ist ein gutes Beispiel für diesen Sachverhalt. Andererseits bestand im Falle des Todes des Monarchen oder des Entzugs der herrscherlichen Gunst das große Risiko des persönlichen Scheiterns. Generell hat die jüngere Forschung betont, dass das Vorhandensein von obersten Amtsträgern und Favoriten »als Indikator einer sich entwickelnden Staatlichkeit [gelten kann], in der die politische Entscheidungsfindung bereits weitgehend dem Einfluß ständischer Mitsprache entzogen und im persönlichen Umkreis des Monarchen konzentriert war« (Kaiser/Pečar, S. 10). Erreichte diese Entwicklung im Europa des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts einen Höhepunkt, so war das 18. Jahrhundert in zunehmendem Maße von Bürokratisierungsprozessen geprägt. Sie engten den 56
Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg
Handlungsspielraum des ›zweiten Mannes‹ tendenziell ein, da die Etablierung ausdifferenzierter Bürokratien mit eher unpersönlichen Formen politischer Einflussnahme einherging. Am Ende dieser Entwicklung stand dann der an Fachressorts gebundene Minister beziehungsweise Beamte modernen Typs. Wenn man vom ›zweiten Mann im Staat‹ spricht, lassen sich drei Grundtypen unterscheiden, die allerdings nicht ganz trennscharf voneinander zu differenzieren sind : zum einen der Typus des leitenden Amtsträgers, zum anderen der höfische Favorit oder Günstling im engeren Sinn und zum Dritten der Reformminister, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt auftrat. Alle drei Typen lassen sich im Kurfürstentum Köln nachweisen. Johann Friedrich entsprach weitgehend dem Typus des leitenden Amtsträgers. Sein Wirken war in aller Regel maßgeblich davon geprägt, dass er stärker als alle anderen Amtsträger mit der politischen Entscheidungsfindung und wichtigen administrativen Aufgaben betraut war. Zudem verstand er es geschickt, sich unentbehrlich zu machen. Schon die Zeitgenossen haben dies so wahrgenommen. So konstatierte Kurfürst Max Emanuel im Februar 1701, Johann Friedrich vereinige das gesamte Conseil Joseph Clemens’ in seiner Person. Zeitweise sah sich der Jüngere der beiden Wittelsbacher sogar genötigt, sich gegen den Vorwurf seines tonangebenden älteren Bruders zu verteidigen, er lasse sich zu stark von Johann Friedrich beeinflussen. Auch auswärtigen Beobachtern blieb dessen starke Stellung nicht verborgen. In der Instruktion für den französischen Abgesandten am kurkölnischen Hof vom 11. April 1698 heißt es im Hinblick auf die Regierungspraxis des Kölner Kurfürsten, Johann Friedrich sei le seul homme de son conseil capable d’empescher l’entier désordre des affaires et les résolutions que l’on pouroit faire prendre à son maistre au préjudice de ses intérests. Il en a une connaissance parfaite et n’est pas moins instruit des affaires de l’Empire. Il paroist que l’Electeur en est persuadé et qu’il préf ère beaucoup à ses avis. Ausschlaggebend für den Aufstieg in diese führende Position waren, wie im Falle Johann Friedrichs, zumeist juristische Kenntnisse, große fachliche Kompetenz oder auch diplomatisches Geschick. Zudem korrelierten die innen- wie außenpolitischen Grundüberzeugungen Johann Friedrichs und Joseph Clemens’ in hohem Maße. Nicht selten war der ›zweite Mann‹ bürgerlicher Herkunft. Im Falle Johann Friedrichs hatte dies zur Folge, dass er in deutlich stärkerem Maße auf die Protektion seines Dienstherren angewiesen war als die Brüder Franz Egon (1626–1682) und Wilhelm Egon von Fürstenberg. Die ›Egoniten‹ hatten unter Kurfürst Maximilian Heinrich eine favoritenähnliche Stellung eingenommen, waren aber im Gegensatz zu Johann Friedrich hochadliger Herkunft und wurden zudem durch den französischen König protegiert. Typischerweise sah sich ein Favorit massiv mit Neid, Missgunst und Intrigen jedweder Art konfrontiert. Aufgrund seiner exponierten Stellung zog er Kritik nahezu magnetisch an, was sogar lebensgefährliche Folgen haben konnte, denkt man etwa an das Schicksal Joseph Süß Oppenheimers (1698–1738). Auch Johann Friedrich zählte 57
Michael Rohrschneider
zu diesem grundsätzlich höchst gefährdeten Personenkreis, der sich nahezu kontinuierlich massiven Anfeindungen ausgesetzt sah. Das ging in seinem Falle mit dem wiederkehrenden, aber nie umgesetzten Wunsch einher, sich in seine Heimat nach Bamberg zurückzuziehen und dort als Weihbischof tätig zu werden. Wie konnte sich der ›zweite Mann im Staat‹ gegen die vielfältigen Anfeindungen wehren ? Eine bewährte Strategie war, eine eigene Klientel aufzubauen, die er dann als Patron bei Bedarf für die eigenen Interessen instrumentalisieren und mobilisieren konnte. Die frühneuzeitliche Gesellschaft war generell sehr stark durch solche Klientel- und Patronageverhältnisse strukturiert. Charakteristische Merkmale waren unter anderem die Ungleichheit der Macht- und Mittelausstattung von Patron und Klient, die relative Dauerhaftigkeit der Beziehungen, das Prinzip von Leistung und Gegenleistung (do ut des) sowie insbesondere Protektion vonseiten des Patrons im Austausch für Dienste und Ergebenheit seitens des Klienten. Auch und gerade leitende Amtsträger und Favoriten wie Johann Friedrich waren auf solche Netzwerke existenziell angewiesen. Oft kam deren Stunde »genau dann, wenn es im Interesse des Landesherrn lag, ständische Mitsprache an der politischen Entscheidungsfindung zurückzudrängen und auch die Ratsgremien nur eingeschränkt ins Vertrauen zu ziehen« (Kaiser/Pečar, S. 14). So konnte der Monarch den ›zweiten Mann‹ mitunter gezielt im Sinne einer Aushebelung der traditionellen Institutionen, wie zum Beispiel des Geheimen Rates, einsetzen, da er seine politischen Interessen eher durch seinen engsten Mitarbeiter und Vertrauten als durch die traditionellen Ratsgremien gewahrt sah. Denn diese hatten keineswegs nur Loyalität gegenüber ihrem Landesherrn zu wahren, sondern fühlten sich oftmals auch den Interessen der Landstände verpflichtet. Diese Rahmenbedingungen eröffneten einem Favoriten Handlungsspielräume, wenn es aus Sicht des Herrschers darum ging, in absolutistischer Manier ständische Einflussnahme zurückzudrängen. Insgesamt gesehen ist Kurköln ein exzellentes Beispiel dafür, dass das Phänomen des ›zweiten Mannes‹ in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mit einer gewissen Verspätung auftrat. England, Frankreich und vor allem Spanien, wo die Figur des Favoriten (valido) schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts regelrecht institutionalisiert wurde, gingen bei dieser Entwicklung zeitlich deutlich voran. In Kurköln finden wir den Typus des Favoriten in solch ausgeprägter Weise erst seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Seitdem jedoch war die Politik des Kurstaates ganz entscheidend von der Existenz leitender Amtsträger und Favoriten bestimmt. Man kann sogar mit guten Gründen die These aufstellen, dass die kurkölnischen Ersten Minister die konkrete Politik des Bonner Hofes in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und auch im 18. Jahrhundert – zumindest phasenweise – weit stärker prägten als die Herrscher selbst. Das politische Wirken Johann Friedrichs ließe sich in diesem Zusammenhang exemplarisch anfügen, war er doch gerade in den Zeiten der Abwesenheit Joseph Clemens’ mehr als nur die rechte Hand des Herrschers 58
Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg
im Kurstaat. Das Hauptwerk, schrieb Johann Friedrich dem bayerischen Kurfürsten in aufschlussreicher Weise im August 1688 mit Blick auf Hofstaat und Regierung in Kurköln, beruht auf dem Premierminister, der dem Lande angenehm, freundlich, in Reichsund Staatssachen wohl geübt, von großer Autorität, treu und des Serenissimi Electi rechte Hand sein müßte, auch beständig im Lande verbleibt (Zitat nach Braubach, Miniaturen, S. 86). Besonders deutlich spiegelte sich die außerordentliche Stellung Johann Friedrichs in den Auseinandersetzungen mit den kurkölnischen Ständen wider. So ließ der Obristkanzler in den zeitweise heftigen ständepolitischen Auseinandersetzungen, die insbesondere aus den finanziellen Erfordernissen der nahezu fortwährenden Kriege des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts resultierten, keine Zweifel darüber aufkommen, dass die Landstände (mit dem Kölner Domkapitel an der Spitze) seiner Ansicht nach in erster Linie Untertanen waren, die den landesherrlichen Weisungen zu gehorchen hatten. Dass der homo novus angesichts seiner Intransigenz zu einer der meist gehassten Persönlichkeiten der kurkölnischen Politik seiner Zeit wurde, verwundert nicht und korrespondiert mit dem Schicksal der Favoriten und leitenden Minister in anderen Territorien. Im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) kulminierte diese Entwicklung. Johann Friedrich war maßgeblich verantwortlich dafür, dass der Kölner Kurfürst gemeinsam mit Kurbayern auf die Seite Ludwigs XIV. trat. Der Kölner Kurfürst hatte sich somit in paradox anmutender Weise gegen den Kaiser positioniert, mit dessen ausdrücklicher Unterstützung er 1688 Kurfürst geworden war. Im Februar 1701 hatte er sich ausgerechnet mit Ludwig XIV. verbündet, der ihm im Neunjährigen Krieg den Kölner Kurhut zugunsten seines Protegés Fürstenberg mit militärischen Mitteln hatte abnehmen wollen. Hinter dieser ebenso aufsehenerregenden wie reichspolitisch fatalen Kehrtwendung Joseph Clemens’ stand zweifellos der massive Druck, der von Max Emanuel, dem tonangebenden der beiden bayerischen Brüder, auf Kurköln ausgeübt wurde − mit verheerenden Folgen : Kaiserliche Truppen fielen ins Kölner Erzstift ein. Joseph Clemens – über den gemeinsam mit seinem Bruder Max Emanuel 1706 sogar die Reichsacht verhängt wurde – und sein Obristkanzler gingen 1702 ins Exil (Namur, Lille und Valenciennes). Am Kaiserhof galt Johann Friedrich sogar als maßgeblicher Initiator dieses bemerkenswerten Kurswechsels Joseph Clemens’ auf die französische Seite. Diese Einschätzung ist sicherlich nicht ganz falsch, da Johann Friedrich offenbar zu der Überzeugung gelangt war, »daß der Kampf um die Macht im Innern, in dem er seit über einem Jahrzehnt an exponierter Stelle stand, auf die Dauer nur erfolgreich durchgefochten werden konnte, wenn der Kurfürst an dem Nachbarn im Westen einen mächtigen Rückhalt fand« (Braubach, Miniaturen, S. 94). Immerhin erhielt Johann Friedrich von Ludwig XIV. die berühmte Abtei Mont-Saint-Michel in der Normandie, was mit erheblichen Einkünften verbunden war. 59
Michael Rohrschneider
Erst durch die Friedensordnung von 1713/14 wurden die Kurfürsten von Bayern und Köln restituiert. Johann Friedrich war zuvor wiederholt im Auftrag Joseph Clemens’ zu diplomatischen Unterhandlungen nach Paris, Compiègne und Utrecht entsandt worden. Auch in die Friedensverhandlungen des Reiches mit Frankreich in Baden 1714 war er involviert. Anlässlich seiner dortigen Tätigkeit wurde sogar eigens eine Münze geprägt, welche die Umschrift Utilitati Publicae trägt (Abbildung bei Roth, S. 89). Nach dem Ende des Krieges kehrte Johann Friedrich in die Residenzstadt Bonn zurück, wo er am 30. November 1719 im Alter von 71 Jahren kinderlos verstarb. Bestattet wurde er in der Bonner Martinskirche. Ein Epitaph würdigte seine Verdienste. Sein Gut Kirchschletten und sein großes Vermögen fielen an die Kinder seines Bruders Hieronymus Karl. Teile seiner Privatbibliothek wurden von dem Aachener Zeitungsverleger und Journalisten Peter Josef Franz Dautzenberg (1769–1828) aufgekauft und gelangten so nach dessen Tod in die Bestände der heutigen Stadtbibliothek Aachen. Die bisherige Forschung hat ein vergleichsweise ambivalentes Bild Johann Friedrichs gezeichnet. So hat sich Max Braubach in der »Neuen Deutschen Biographie« wie folgt über ihn geäußert : Er »war ein fähiger Diplomat, ein kenntnisreicher und geschickter Publizist, ein zäher Kämpfer für die fürstlichen Rechte und Ansprüche, wirklich Staatsmännisches aber ging ihm ab. Charakterlich und moralisch nicht vorwurfsfrei, hat er auch in religiöser Beziehung keine klare Rolle gespielt« (Braubach, Karg, S. 154). Auch Rainer Egon Blacha hat in seiner Dissertation über das politische Wirken Johann Friedrichs in den Jahren 1688 bis 1694 Lob und Kritik zu vereinbaren versucht : »Im fesselnden Bild seiner Persönlichkeit liegen dicht neben den Tugenden die Schwächen, die häufig nichts anderes als ins Äußerste getriebene Tugenden waren : Geradlinigkeit konnte zu Starrheit werden, und zuzeiten erlaubte dieser hochbegabte Diplomat es sich, auf jegliche Diplomatie zu verzichten […]. Manche Handlungen und Äußerungen Kargs halten strengen moralischen Maßstäben nicht stand. Mehr als einmal erlag er der Versuchung, seinen politischen und persönlichen Gegnern unehrenhafte Motive zu unterstellen, und scheute sich nicht, verleumderische Gerüchte zu kolportieren […]. Wenn wir jedoch fragen, wie seine kurfürstlichen Herren sein Wirken beurteilten, so antwortet uns eine beeindruckende Vielzahl von Äußerungen höchsten Lobes« (Blacha, S. 260–263). Gerade angesichts der differenzierten Befunde der jüngeren Forschung zu den höfischen Favoriten und obersten Amtsträgern der in Entstehung begriffenen frühneuzeitlichen ›Staaten‹ wird man das skizzierte janusköpfige Bild Johann Friedrichs in der bisherigen Geschichtswissenschaft – persönliche Verdienste und fachliche Befähigung einerseits, fehlende staatsmännische Fähigkeiten und charakterliche Defizite andererseits – mit einigen Nuancen versehen müssen. Denn zu den wesentlichen Forschungsergebnissen der letzten Jahre zählt die Erkenntnis, dass die besonders exponierte Stellung der Favoriten und leitenden Minister oftmals zu einem parteiisch verzerrten Bild in den greifbaren Quellen führte. Gerade die Tatsache, dass im Konfliktfall häufig der 60
Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg
›zweite Mann‹ als Sündenbock herhalten musste und Herrscherkritik zumeist indirekt über den Umweg der Kritik am Verhalten des wichtigsten Vertrauten artikuliert wurde, gilt es zu berücksichtigen, will man zu einem angemessenen Urteil über das politische Wirken der leitenden Amtsträger gelangen. Dies soll keineswegs heißen, dass die Urteile der Zeitgenossen und bisherigen Forschung über Johann Friedrich gänzlich in Frage gestellt werden müssen. Wohl aber ist stets zu bedenken, dass viele zeitgenössische Charakterisierungen auch und gerade ein Ausdruck der systembedingten Spannungen waren, die aus der herausragenden Stellung des ›zweiten Mannes‹ resultierten und nicht selten seinen spektakulären Sturz zur Folge hatten. Dass Johann Friedrich letztlich nicht stürzte, sondern es vermochte, sich die Gunst Joseph Clemens’ bis zu seinem Lebensende zu sichern, ist zweifellos der beste Beweis für seine ausgeprägte Fähigkeit, sein politisches Überleben auch in schwierigsten Zeiten zu sichern. 2. Friedrich Karl Karg von Bebenburg : der thermomètre Comitial Dass Friedrich Karl Karg von Bebenburg, der Großneffe des 1719 verstorbenen Obristkanzlers, 1742 zum Gesandten Kurfürst Clemens Augusts am Immerwährenden Reichstag in Regensburg ernannt wurde, kann als Indikator dafür gelten, dass der Name Karg von Bebenburg am kurkölnischen Hof auch noch nach dem Tod Johann Friedrichs und Kurfürst Joseph Clemens’ offenbar nicht unerhebliches Ansehen genoss. Friedrich Karl, geboren am 7. November 1709 als erstes Kind aus der 1708 geschlossenen Ehe des Georg Karl Karg von Bebenburg (1686–1747) und der Anna Margaretha geborene von Münch (1689–1732), stammte ebenfalls aus Bamberg. Er hatte insgesamt sieben Geschwister, darunter zwei Brüder, die jedoch schon früh starben. Seine älteste Schwester Amalia (1716–1789) wurde Ordensoberin der Kölner Karmelitinnen. Die 1733 geschlossene zweite Ehe seines Vaters blieb kinderlos. Auch der Beginn der Karriere Friedrich Karls war eng mit seiner fränkischen Heimat verbunden, trat er doch, unmittelbar nachdem er in Rom das Lizenziat der Rechte erworben hatte, Ende des Jahres 1728 als adliger Hofrat in bambergische Dienste. Wegweisend wurde jedoch, dass er nachfolgend in die Fußstapfen seines Vaters als Reichstagsgesandter trat. Die Karg von Bebenburg entwickelten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einer regelrechten Gesandtendynastie. Schon der Vater Friedrich Karls hatte mehrere Reichsstände als Gesandter am Reichstag vertreten – unter anderem die Fürstbistümer Bamberg, Speyer und Straßburg sowie das Kurfürstentum Trier –, und auch Friedrich Karls dritter Sohn Maximilian Joseph Franz Xaver (1745–1797) wurde später Reichstagsgesandter. Damit zählten die Karg von Bebenburg zu denjenigen Familien, die über mehrere Generationen hinweg Gesandte am Immerwährenden Reichstag stellten. Das bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist sicherlich die Familie Thurn und Taxis, die im 18. Jahrhundert wiederholt kaiserliche Prinzipalkommissare hervorbrachte. 61
Michael Rohrschneider Abb. 3: Friedrich Karl Karg von Bebenburg, Porträtgemälde von Cyriacus Ries, 1771, Foto : Peter Ferstl
Im Jahre 1742 heiratete Friedrich Karl Maria Johanna Franziska (1719–1784), Tochter des in kurbayerischen Diensten tätigen Sebastian Anton Grafen von Seinsheim-Weng (1694–1735) und der Maria Franziska Theresia Freiin von Muggenthal (1700–1771). Friedrich Karl wurde zum Stifter der bayerischen Linie der Familie. Aus seiner Ehe gingen insgesamt zwölf Kinder hervor, zehn Söhne und zwei Töchter. Sein ältester Sohn Clemens August Franz Karl (1743–1786) hatte mit Kurfürst Clemens August einen prominenten Taufpaten, was als eindeutiger Gunsterweis des Wittelsbachers gegenüber seinem Reichstagsgesandten gelten kann. Auf Kosten des französischen Königs wurde der junge Karg am Collège Louis-le-Grand in Paris erzogen. Er starb 1786 ohne Nachkommen. Die übrigen Söhne Friedrich Karls schlugen unterschiedliche Wege ein. Sein zweiter Sohn Ludwig Karl (1744–1784) trat in kurbayerische Dienste. Durch seine im Jahre 1768 erfolgte Vermählung mit Maria Theresia von Hannakam auf Trausnitz (1754–1785) gelangten die Karg von Bebenburg in den Besitz von Trausnitz, Hohentreswitz und Kaimling (Oberpfalz). Friedrich Karls dritter Sohn wurde ebenfalls Reichstagsgesandter, sein vierter Sohn Friedrich Heinrich Karl (1747–1802) schlug eine geistliche Laufbahn ein. Weitere Söhne nahmen militärische Dienste an. Stifter 62
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des österreichisch-böhmischen Zweigs der Familie war der fünfte Sohn, Franz Xaver Ignaz Damasus (1749–1808), der als Jurist Karriere machte. Von den beiden Töchtern Friedrich Karls heiratete die ältere, Maria Amalia Therese (1742–1804), im Jahr 1762 Karl Albert Graf von Thürheim (1740–1797), der später die Titel eines pfalzbayerischen Kämmerers und Hofkammerrats führte. Sie war Mitglied des adligen Sternkreuzordens. Die zweite Tochter, Franziska Philippina Aloysia (1751–1769), heiratete 1768 den kurpfälzischen Kämmerer August Baron Grill von Altorf auf Donhausen. Im Jahre 1747 erbte Friedrich Karl die fränkischen Familiengüter (Kirchschletten, Ober-, Mittel- und Unterweilersbach, Grasmannsdorf und Buch) sowie das pfalzneuburgische Landsassengut Hochdorf (nahe Burglengenfeld). Darüber hinaus erwarb er in den 1750er Jahren Güter in der oberpfälzischen Region (Winklarn, Schönsee, Frauenstein und Reichenstein). Dies war zweifellos seiner langjährigen Tätigkeit in Regensburg geschuldet. Landgüter in der Oberpfalz boten den Reichstagsgesandten die Möglichkeit, sich in den Reichstagsferien rasch von Regensburg aus dorthin zu begeben. Dies war in logistischer Hinsicht ein erheblicher Vorteil und daher bei vielen Reichstagsgesandten gängige Praxis, zumal ein Kauf von Grundbesitz und Immobilien in der Stadt Regensburg selbst nicht möglich war. Die Gesandten besaßen kein Bürgerrecht und galten juristisch als Fremde. Sie unterstanden nicht der lokalen Obrigkeit. Verfügte man als Reichstagsgesandter nicht über ein solches Landgut, konnte dies durchaus als sozialer Makel empfunden werden. Friedrich Karls bevorzugter Aufenthaltsort war jedenfalls die nahe der heutigen Grenze zu Tschechien gelegene Herrschaft Winklarn. Hier hielt er sich gewöhnlich mehrere Monate im Jahr auf. Das dortige Schloss ließ er renovieren. Friedrich Karl war Träger des Großkreuzes des von Kurfürst Joseph Clemens 1693 gegründeten Ritterordens vom Heiligen Michael – ein exklusiver adliger Orden, dessen Mitglieder zur Verteidigung des katholischen Glaubens verpflichtet waren. Sitz des rheinischen Ordenszweigs war das Koblenzer Tor in Bonn, als Hauskapelle fungierte die Michaelskapelle im heutigen Bonner Stadtteil Bad Godesberg. Blicken wir nun auf die Tätigkeit Friedrich Karls am Regensburger Reichstag. Der Immerwährende Reichstag (1663–1806) war insofern eine Institution ›wider Willen‹, als es zum Zeitpunkt seiner Eröffnung am 20. Januar 1663 weder vorgesehen noch absehbar war, dass er nahezu 150 Jahre lang die Geschicke des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation maßgeblich mitbestimmen sollte. Eigentlich war erwartet worden, dass der Reichstag nach der Erledigung der in der Proposition vorgelegten Agenda und der Verabschiedung eines Reichsschlusses wieder auseinandergehen sollte, wie man es von den frühneuzeitlichen Reichstagen gewohnt war. Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Der Regensburger Reichstag vermochte es nicht, sämtliche Aufgaben zu erledigen, die ihm im Westfälischen Frieden 1648 gestellt worden waren (negotia remissa), sodass er sich in unvorhergesehener Weise zu einer permanenten Institution entwickelte. 63
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Drei neue Charakteristika bildeten sich in der Folgezeit heraus : Der Reichstag tagte – mit wenigen ausnahmebedingten Unterbrechungen aufgrund der Pest und infolge von Kriegsereignissen – seit 1663 an einem festen Ort (Regensburg), wohingegen der institutionelle Vorgänger, der sogenannte periodische beziehungsweise Ad-hoc-Reichstag, in wechselnden Reichsstädten (Augsburg, Worms, Speyer usw.) beraten hatte. Zudem ging der Regensburger Reichstag nicht mehr auseinander, sondern tagte permanent ; er wurde somit zum ›Immerwährenden‹ Reichstag – eine Bezeichnung, die seit den 1740er Jahren in den Quellen nachweisbar ist. Darüber hinaus waren die Reichsstände aufs Ganze gesehen nur noch durch Gesandte vertreten. Die Herrscher selbst konnten infolge der Permanenz der Beratungen nicht mehr dauerhaft in Regensburg anwesend sein. Daher entsandten sie Vertreter, die in ihrem Namen Sitz und Stimme führten. Friedrich Karl war insofern ein außergewöhnlicher Reichstagsgesandter, als er in einem so großen Maße Reichstagsvoten unterschiedlicher Dienstherren anhäufte, dass dies schon von den Zeitgenossen als ungewöhnlich angesehen wurde. Dabei war das Phänomen der Kumulation unterschiedlicher Reichstagsvoten in der Hand eines einzigen Gesandten eine verbreitete Praxis. Zum einen bestand die Möglichkeit, Kosten einzusparen, indem man das eigene Votum durch den Gesandten eines anderen Reichsstandes führen ließ ; dies war gerade für die finanziell weniger potenten Reichsstände ein gewichtiges Motiv. Zum anderen zählte Friedrich Karl zu dem kleinen und begehrten Kreis derjenigen, die das sehr komplexe Reichstagsgeschehen aus langjähriger Erfahrung in- und auswendig kannten. Reichstagsgesandte wie er waren eine hochprofessionell agierende Funktionselite, auf deren Kenntnisse ihre Prinzipalen oftmals angewiesen waren, wollten sie in Regensburg eine erfolgreiche Interessenpolitik betreiben. Zum Dritten zeichnete sich Friedrich Karl aber noch durch eine individuelle Eigenschaft aus, die ihn als potenziellen Gesandten für die Reichsstände attraktiv machte : Er galt als besonders gebildet. So verfügte er in Regensburg über eine umfangreiche Privatbibliothek, die nach seinem Tod versteigert wurde. Dass Friedrich Karl zumeist 15 bis 18 Voten gleichzeitig führte, war dennoch außergewöhnlich. Er war mit dem Votum des Kölner Kurfürsten im Kurfürstenrat, der politisch maßgeblichen Reichstagskurie, und darüber hinaus im Fürstenrat mit den fünf Stimmen Clemens Augusts (Monsieur de Cinq-églises) als Fürstbischof von Hildesheim, Münster, Osnabrück und Paderborn sowie als Hoch- und Deutschmeister betraut. Nach dem Tod des Wittelsbachers führte Friedrich Karl auch die Stimmen Maximilian Friedrichs von Königsegg-Rothenfels (1708–1784) als Kurfürst von Köln und Fürstbischof von Münster. Zudem vertrat Friedrich Karl zahlreiche weitere Fürsten in Regensburg, darunter die Kurfürsten von Bayern (interimistisch) und der Pfalz, zumeist aber mindermächtige katholische geistliche Reichsstände (Augsburg, Brixen, Corvey, Freising, Lüttich, Regensburg, Stablo, Straßburg und Trient), daneben aber auch einige kleinere weltliche Herrscher, wie zum Beispiel Fürstenberg, Hohenzollern und Lobkowitz. 64
Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg
Abb. 4: Der Immerwährende Reichstag zu Regensburg, Kupferstich, 1663
Von französischer Seite wurde er aufgrund dieser Anhäufung von Reichstagsvoten in einer einzelnen Hand treffend als thermomètre Comitial bezeichnet. Andere kritisierten diese Kumulation an Voten, da ein Gesandter wie Friedrich Karl durch die vielen in seiner Hand vereinigten Stimmen den Ausgang der Beratungen erheblich beeinflussen konnte. Gerade die Vertreter des Wiener Hofes am Reichstag, die ihn zwar grundsätzlich zu den Gutgesinnten zählten, ohne ihn aber zu den festen Parteigängern Österreichs rechnen zu können, äußerten sich mitunter besorgt darüber, dass Friedrich Karl zahlreiche kurfürstliche und fürstliche Voten führte (HHStA, RK, PK, Berichte Fasz. 99). Hinzu kam, dass die geschilderte Praxis der Anhäufung von Reichstagsvoten in den Beratungen der Kurien zu paradoxen Situationen führen konnte. So war es nicht ungewöhnlich, dass Friedrich Karl in ein und derselben Angelegenheit ganz unterschiedliche Voten abgab. In einer Sitzung des Kurfürstenrates vom 27. Juli 1761, um ein konkretes Beispiel aufzugreifen, votierte er als Stimmvertreter Kurkölns, Kurbayerns und der Kurpfalz jeweils vollkommen unterschiedlich. Von französischer Seite wurden die daraus resultierenden Probleme zutreffend erkannt und pointiert zum Ausdruck gebracht : Le baron de Karg, porteur de ce suffrage [i. e. das kurkölnische Votum] et d’un 65
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grand nombre d’autres, ne peut avoir de caractère décidé ni de conduite suivie. Obligé de dire oui et non dans le même instant, il n’est qu’un organe purement passif. Ob und inwiefern die für jeden Gesandten als verpflichtend angesehene Loyalität zu seinem Dienstherren in einem so extremen Fall von Mehrfachdiensten überhaupt zu gewährleisten war, haben sich also schon die Zeitgenossen gefragt, zumal in diesem Zusammenhang mitunter auch eine gewisse Nähe zum Phänomen der Korruption nicht von der Hand zu weisen war. Friedrich Karl gelang es jedoch offenbar, die mit dieser Problematik einhergehende Gratwanderung zu bewältigen. Mit der skizzierten Kumulation von Voten korrespondiert, dass Friedrich Karl auch mehrere Ratswürden verliehen wurden (Kurköln, Kurpfalz, Kurbayern, Fürstbistümer Augsburg und Trient). Darüber hinaus führte er den Titel eines kurfürstlichen Kämmerers. Diese zusätzliche Anhäufung von Titeln und Würden sollte schon allein deshalb nicht unterschätzt werden, da solche Chargen, die keineswegs immer mit konkreten Diensten verbunden waren, zumeist zusätzliche Einnahmequellen darstellten. Die Ambivalenz dieser Praktiken aus der Sicht Friedrich Karls liegt auf der Hand : Einerseits musste er stets darauf bedacht sein, auf dem glatten Regensburger Parkett so zu agieren, dass er nicht in Loyalitätskonflikte geriet. Andererseits war Mehrfachstimmführung in ganz banalem Sinne gleichbedeutend mit Mehrfacheinnahmen. Nicht zuletzt aufgrund des vergleichsweise hohen repräsentativen Aufwands, den ein Reichstagsgesandter betreiben musste, stellten die Finanzen ein Dauerproblem dar, zumal die Soldzahlungen keineswegs immer pünktlich und in voller Höhe eintrafen. Dass sich Friedrich Karl nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) gezwungen sah, Tafelgeschirr und Schmuck seiner Gemahlin zu veräußern, ist in diesem Kontext symptomatisch. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu : Dienste bei verschiedenen Dienstherren konnten einem Reichstagsgesandten durchaus gewisse Möglichkeiten eröffnen, die eigenen Handlungsspielräume zu erweitern. Denn die Prinzipalen der Reichstagsgesandten mussten ein genuines Interesse daran haben, in Regensburg durch fähiges Personal vertreten zu werden und ausgewiesene Experten an sich zu binden. Das Bewusstsein der Dienstherren, mit anderen Reichsständen um diese Funktionselite zu konkurrieren, konnte sich für die Reichstagsgesandten als nützlich erweisen, wenn es galt, eigene Interessen zu vertreten. Blicken wir nun auf Friedrich Karls Aufgaben in Regensburg und die Charakteristika seines dortigen Wirkens. Ähnlich wie frühneuzeitliche Diplomaten hatten Reichstagsgesandte im Wesentlichen eine Aufgabentrias zu bewältigen : Sie sollten verhandeln, ihre Dienstherren informieren und sie nicht zuletzt angemessen repräsentieren. Auf Friedrich Karl bezogen bedeutet dies, dass seine zentrale Aufgabe darin bestand, für seine Auftraggeber im Kurfürsten- beziehungsweise im Fürstenrat zu votieren. In diesem Punkt war er strikt weisungsgebunden. Verstieß ein Reichstagsgesandter gegen die ausdrücklichen Weisungen seines Dienstherren, konnte dies seine Entlassung zur Folge haben. 66
Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg
Genauso wichtig war Friedrich Karls Funktion als Auge und Ohr seiner Dienstherren. Der Immerwährende Reichstag hatte sich im Laufe der Zeit zu einem regelrechten Kommunikations- und Informationszentrum entwickelt, für das Susanne Friedrich die treffende Formulierung »Drehscheibe Regensburg« geprägt hat. Nicht nur für den Kaiser und die Reichsstände, sondern auch für auswärtige Mächte war der Reichstag eine wichtige Nachrichtenbörse zur Gewinnung und Verbreitung von Informationen über das Geschehen im Heiligen Römischen Reich und in Europa. Im Hinblick auf diese Reichstagsöffentlichkeit kam den Reichstagsgesandten eine wichtige Funktion zu, denn zu ihren wesentlichen Aufgaben zählten explizit die Informationssammlung und -distribution. Dieser Aufgabenbereich betraf keineswegs ausschließlich politische Sachverhalte. Das Beispiel Friedrich Karls zeigt vielmehr, dass er Kurfürst Clemens August gegebenenfalls auch Informationen zukommen ließ, welche die persönlichen Vorlieben des Wittelsbachers betrafen und dem Bereich des Kulturtransfers zuzuordnen sind. So enthalten die heute im Duisburger Landesarchiv Nordrhein-Westfalen liegenden Berichte Friedrich Karls Hinweise zu den Themen Kunsthandwerk und Musik oder auch auf spezielle Sammlungen, die für seinen Dienstherren von Interesse waren (LAV NRW, Abt. Rheinland, Kurköln VI Nr. 768). Dass die Erfordernisse eines adäquaten repräsentativen Auftretens einer Gesandtschaft wie der kurkölnischen für einen Reichstagsgesandten eine erhebliche Belastung darstellte, wurde bereits erwähnt. In den Korrespondenzen Friedrich Karls hat sich dieser Sachverhalt unter anderem in entsprechenden Bitten niedergeschlagen, aus Repräsentationsgründen angefallene Kosten erstattet zu bekommen (LAV NRW, Abt. Rheinland, Kurköln VI Nr. 186). Nicht nur auf der Ebene der formellen Beratungen musste sich der Gesandte angemessen in Szene setzen. Auch die zahlreichen Kontakte auf informeller Ebene erforderten ein repräsentatives, kostenintensives Auftreten. Hierzu zählen vor allem die gesellschaftlichen Aktivitäten der Reichstagsgesandten in der Stadt Regensburg oder im Umland, etwa gemeinsame Mahlzeiten und Abendveranstaltungen, Festivitäten und Gedenkveranstaltungen jedweder Art, Musik- und Theateraufführungen oder auch Schlittenfahrten im Winter. Das langjährige politische Wirken Friedrich Karls im engeren Sinne war konstant durch mehrere Faktoren geprägt. In einer Zeit, die ganz wesentlich durch den österreichisch-preußischen Dualismus im Reich und in Europa geprägt war, galt es für Friedrich Karl, einen politischen Kurs zu steuern, der den zahlreichen, durchaus divergierenden Interessen seiner Dienstherren gerecht wurde und zugleich mit seinen persönlichen Motiven vereinbar war. In konfessioneller Hinsicht ist Friedrich Karl zu denjenigen wichtigen katholischen Reichstagsgesandten zu zählen, die in aller Regel vorrangig einen Interessenausgleich mit dem ebenfalls katholischen Reichsoberhaupt suchten, ohne dabei in Abhängigkeit vom Wiener Hof zu geraten. Übergeordnetes Ziel war es vielmehr, ein enges Zusammenwirken zwischen dem Kaiser und den katholischen Reichsständen zu etablieren. Gerade die geistlichen Reichsstände zählten zur traditionellen Klientel des Reichs67
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oberhauptes, von dem sie sich Schutz und Unterstützung erhofften, zumal seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das Damoklesschwert möglicher Säkularisationen über ihnen hing. Dass diese Rechnung langfristig nicht aufging, offenbarte die napoleonische Zeit, die zum Untergang der Germania Sacra führte. Dementsprechend lässt sich Friedrich Karl der Gruppe von Reichstagsgesandten zuordnen, die sich politisch an der Wiener Hofburg orientierten und in Preußen ihren entschiedensten Gegner sahen. Diese von österreichischer Seite als Confidentiores bezeichnete Parthey war jedoch keineswegs ein bloßes Anhängsel der Wiener Politik. Vielmehr setzte sie sich aus selbstständig agierenden Reichsständen (beziehungsweise deren Gesandten) zusammen, denen es primär darum ging, sich im Zusammenwirken von Reichsoberhaupt und katholischen Reichsständen den Herausforderungen durch die protestantischen Vormächte im Reich mit Preußen und Hannover an der Spitze erfolgreich entgegenzustellen. Angesichts der offenkundigen Geringschätzung, die insbesondere Friedrich der Große (1712–1786) gegenüber den mindermächtigen geistlichen Reichsständen an den Tag legte, die er als bloße Kreaturen und Erfüllungsgehilfen Wiens wahrnahm, war dies sicherlich kein schlechtes Konzept. Im Falle Friedrich Karls kam noch hinzu, dass er durch das preußische Vorgehen im Siebenjährigen Krieg in mehrfacher Hinsicht direkt und unmittelbar persönlich betroffen war, da er um seine Landgüter fürchtete und sein Onkel Georg Joseph (1698–1779), der in fürstbischöflich-bambergischen Diensten tätig war, zwischenzeitlich von preußischen Truppen in Geiselhaft genommen wurde. Aufschlussreich ist in diesem Kontext ein Blick auf die zeitgenössische Wahrnehmung Friedrich Karls. Ausführliche Charakterisierungen sind den Instruktionen für die französischen Gesandten in Regensburg zu entnehmen. Während die Franzosen im Siebenjährigen Krieg noch glaubten, ihn möglicherweise auf die eigene Seite ziehen zu können, dominierte in späterer Zeit ein negatives und desillusioniertes Bild von seiner Persönlichkeit. So heißt es in einer Personenbeschreibung Friedrich Karls für den Comte de Bulkeley vom 11. April 1772 : M. de Karg […] n’a point d’autre patrie que la Diète. Il a bien étudié son pays natal, et l’on peut le regarder comme le plus instruit d’entre les catholiques. Son caractère moral est subordonné à celui de Ministre ; il est le plus ferme appui de l’Excellence Comitiale, et croit de bonne foi être un ambassadeur ; sa vanité ne connaît point de bornes. Tout est compassé chez lui sur l’étiquette, jusqu’aux dîners qu’il donne et aux bals qu’il fréquente. Père d’une nombreuse famillie qu’il doit noblement pourvoir, sa vanité ne s’humanise que pour en trouver les moyens. […] Il a reçu beaucoup de bienfaits du Roi, sans en être devenu meilleur français. […] Comme M[onsieur] Karg est vain, timide et avare, on a le choix des moyens pour le gagner ; mais il ne sera jamais bon de s’y fier. Demgegenüber fielen die Urteile der österreichischen Seite über Friedrich Karl merklich positiver aus. Obwohl man längst nicht immer auf einer politischen Linie mit seinen Voten im Kurfürsten- und Fürstenrat lag, ordneten ihn die österreichischen Akteure der Parthey der Wohlmeinenden und Gutgesinnten zu. Allerdings glaubte man, einen gewissen Wankelmut Friedrich Karls und eine Abhängigkeit vom kurpfälzischen Reichstagsgesandten Ferdinand von Menshengen (1700–1756) zu erkennen (HHStA, 68
Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg
RK, PK, Berichte Fasz. 81 b und 98). Zudem wurde die auffällige Stimmenkumulation in seiner Hand kritisch gesehen. Im Raum stand hierbei der Vorwurf, dass solche Gesandten eher auf privaten Nutzen aus seien und weniger öffentliche Interessen im Blick hätten (HHStA, RK, PK, Berichte Fasz. 78a). Dass Friedrich Karl preußischerseits als vollkommen abhängig von der österreichischen Politik wahrgenommen wurde (GStA PK, I. HA Rep. 10 Nr. 79 Fasz. 113), ist angesichts seiner konfessionellen und politischen Ausrichtung nicht verwunderlich. Einschränkend muss aber darauf hingewiesen werden, dass Reichstagsgesandte wie Friedrich Karl aus der Perspektive des preußischen Königs letztlich nur eine Quantité négligeable darstellten. Dagegen fällt das Urteil der bisherigen Forschung nahezu einhellig positiver aus. In einer bei Max Braubach entstandenen Bonner Dissertation zur Politik des Reichstags im Siebenjährigen Krieg liest man, Friedrich Karl sei »ein Mann von ausgeglichenem Charakter, diplomatischer Geschicklichkeit und vorsichtig abwägenden Entscheidungen« gewesen (Koch, S. IX f.). In einer weiteren bei Braubach entstandenen Dissertation über die Reichstagspolitik der Jahre 1763 bis 1778 heißt es : »Er versuchte, sowohl gut ›kaiserlich‹ als auch gut ›reichisch‹ zu sein, und galt als eifriger, einsichtsvoller und geschickter Diplomat, der stets auf Ausgleich der Interessen bedacht war« (Rohr, S. 38). Auch Untersuchungen jüngeren Datums rücken nicht grundsätzlich von den Urteilen der älteren Forschung ab. Zu diesem recht homogenen Eindruck trägt sicherlich bei, dass die zeitgenössischen Urteile über das Leben und Wirken Friedrich Karls bei Weitem nicht so disparat sind, wie dies im Falle seines Großonkels Johann Friedrich der Fall ist. Eine so exponierte Reizfigur wie der Obristkanzler war er zweifellos nicht, weder am Reichstag noch anderswo. Friedrich Karl starb am 14. November 1773 in Regensburg, wo er in der Minoritenkirche begraben wurde. Seine Frau überlebte ihn um rund zehn Jahre und starb 1784 ebenfalls in Regensburg. Sein Sohn Maximilian Joseph übernahm nach seinem Tod einige der von ihm geführten Reichstagsstimmen, darunter das kurkölnische Votum. In späteren Jahren wurde er zudem interimshalber mit dem kurmainzischen Votum betraut. Maximilian Joseph setzte damit die Tradition der Karg von Bebenburg als Reichstagsgesandte fort, die sein Großvater begründet hatte und die von seinem Vater mit Erfolg fortgeführt worden war. 3. Fazit Johann Friedrich und Friedrich Karl Karg von Bebenburg haben die kurkölnische Politik während der Regierungszeiten der Kurfürsten Joseph Clemens, Clemens August und Maximilian Friedrich nachhaltig geprägt – Rheinländer waren sie jedoch nicht. Ihre Karriereverläufe stehen symptomatisch für charakteristische Praktiken und Erscheinungsformen im Rahmen der zunehmenden herrschaftlichen Verdichtung und 69
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Staatsbildung im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. »Gerade der mit der Ausweitung der zentralen Staatsgewalt einhergehende Aufgabenzuwachs der öffentlichen Hand, der entsprechende Bürokratisierungsvorgänge nach sich zog, schuf am Beginn der Frühen Neuzeit einen florierenden Arbeitsmarkt für akademisch gebildete Juristen. Die hier zur Verfügung stehenden Beschäftigungschancen wurden von diesen im 16. und 17. Jahrhundert als Portal für den Eintritt in die aristokratische Elite genutzt« (Barth, S. 263). Expertenwissen und individuelle Fähigkeiten, die Bereitschaft zur Mobilität, der Aufbau von Klientel- und Patronagenetzwerken, ein gehöriges Maß an Machtinstinkt und Durchsetzungsfähigkeit, vor allem aber die Fähigkeit, die Gunst des Herrschers zu erlangen und zu wahren, waren in ihrem Fall maßgebliche Faktoren für den politischen und sozialen Aufstieg der Familie. Insofern reihen sich Johann Friedrich und Friedrich Karl Karg Freiherren von Bebenburg in den elitären Kreis derjenigen Persönlichkeiten ein, welche den politischen Kurs des frühneuzeitlichen Kurfürstentums Köln über einen längeren Zeitraum hinweg an exponierter Stelle mitbestimmt und somit tiefe Spuren in der rheinischen Geschichte hinterlassen haben. Werke (Auswahl) Johann Friedrich Karg von Bebenburg, Friedreiche Gedancken Uber die Religions-Vereinigung in Teutschland/ auß dem H. Wort Gottes/ allgemeinen Conciliis, SS. Canonibus, Heiligen Vättern/ vnd uralten Kirchen-Geschichten zusammen getragen/ und herauß gegeben An St. Friedrichs-Tag. Im Jahr 1679, Würzburg : Hertz, 1679 (VD 17 : 12 :110853M) ; ders., Pax Religiosa Sive De exemptionibus, & subiectionibus Religiosorum. Opusculum curiosum, utile, ac universam prope Authoritatis Episcopalis materiam, facili & plana methodo, Theologice, NomoCanonice, Historiceq[ue] pertractans, hodiernis juribus ac usibus accommodatum, Würzburg : Hertz, 1680 (VD 17 : 12 :110843E) ; ders., Christlich- oder wunderthätiges Vertrauen zu Gott Oder Lehr und Thaten des frommen P. Marci ab Aviano Capucciner Ordens/ etc., Sambt einer Theologischen aus dem Wort Gottes und heiligen Vättern/ absonderlich dem H. Kirchenlehrer Augustino Erklärung Uber die Natur/ Eigenschafft und Warheit der Wunderthaten […], Würzburg : Hertz, 1680 (VD 17 : 12 :117818D) ; ders., Fecialis Pacis Religiosae. […] Vindicatae Contra Consultationes Canonicas Admodum Reverendi & Religiosissimi P. F. Jacobi a S. Antonio, S. Ord. FF. B. M. V. De Monte Carmelo Ex-Provincialis, olim S. Theol. nunc S. Scripturae Professoris Lovanii &c. Anno 1682. in lucem emissas, Bamberg : Typis Episcopalibus, 1683 (VD 17 : 12 :110818Y ) ; ders., Isagoge Parascevastica Ad Conferentias Clericales Bambergenses & Herbipolenses Succinctam modi meditandi, Utriusq[ue] Testamenti, S. Concilii Tridentini, & status Ecclesiastici notitiam continens Ex SS. Litteris, Canonibus, Conciliis, Patribus, probatioribus, Historiis, & Selectissimis Authoribus, in Conferentium usum deprompta. Ornata figuris aeneis Christi, Templi Hierosolymitani, & Terrae Sanctae, Würzburg : Hertz, 1683 (VD 17 : 12 :122812Q) ; ders., Dissertationi Historiche, Canoniche, e Teologiche Sopra i Concilij Romani II. e III. di Giovanni VIII. Il Conciliabolo Constantinopolitano di Fozio, il Concilio Tolo-
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Johann Friedrich (1648–1719) und Friedrich Karl (1709–1773) Karg von Bebenburg
sano, le Constitutioni d’Alveredo Magno Re d’Inghilterra, & il Concilio Triburiense del Secolo nono, Rom : Cam. Apost., 1686 ; ders., Dissertationes Theologicae, Nomo-Canonicae, Historicae, & Politicae Ad Constitutionem Gregorianam De Immunitate locali Ecclesiarum, seu de Jure sacri Asyli, Köln : Alstorff, 1690 (VD 17 : 12 :131983X) ; ders., Die Uber den Todt der Bethlehemitischen Kinder Weinende : Und durch den lang hernach an eben selbigen Tag erfolgten seeligsten Hintritt Deß Heiligen Francisci von Sales Getröstete Rachel […], München : Gelder, 1692 (VD 17 : 12 :203819T) ; ders., Documenta Canonico-Historica Concernentia Revocabilitatem Pastorum assumptorum Ex Ordine Praemonstratensi, Valenciennes 1712 ; ND in : Nicolas Richart, Jus Pastorum Titularium Et Ecclesiarum Parochialium Ad Oblationes, Primitias, Decimas, & maxime Novales […]. 2 Teile, Lüttich/Brüssel : t’Serstevens, 1716. Quellen Ungedruckte Quellen Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (LAV NRW ), Abteilung Rheinland, Kurköln VI Nr. 186 und 768 ; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) Berlin, I. Hauptabteilung (HA) Rep. 10 Nr. 79 Fasz. 113 ; Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA) Wien, Reichskanzlei (RK), Prinzipalkommission (PK), Berichte Fasz. 78a, 81b, 98 und 99. Gedruckte Quellen Leonard Ennen, Der spanische Erbfolgekrieg und der Churfürst Joseph Clemens von Cöln. Aus gedruckten und handschriftlichen Quellen bearbeitet […]. Nebst einer Zugabe von sehr vielen, meist ungedruckten Dokumenten und Briefen des Churfürsten Joseph Clemens, des Kanzlers Freiherrn von Karg zu Bebenburg, des Erzbischofs Fenelon und verschiedener anderer großen und berühmten Männer der damaligen Zeit, Jena 1851 (hier S. I–CCXXXII u. a. Korrespondenzen Johann Friedrichs) ; Louis Jadin, L’europe au début du XVIIIe siècle. Correspondance du baron Karg de Bebenbourg chancelier du prince-évêque de Liège Joseph-Clément de Bavière, archevêque électeur de Cologne, avec le cardinal Paolucci secrétaire d’état (1700–1719). 2 Bde. (Bibliothèque de l’Institut historique belge de Rome, 15/16), Brüssel/Rom 1968 ; Recueil des instructions données aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traités de Westphalie jusqu’à la Révolution Française. Bd. 18 : Diète germanique, bearb. von Bertrand Auerbach, Paris 1912 ; Bd. 28/2 : L’électorat de Cologne, bearb. von Georges Livet, Paris 1963 ; Verzeichniß auserlesener Bücher, die Weyl[and] der Hochwohlgebohrne Herr, Friederich Carl, Reichs-Freyherr Karg von Bebenburg […] seinen Erben hinterlassen hat […], Regensburg : Montag, 1777. Literatur Thomas Barth, Diplomatie und ländliche Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Die Bedeutung des Immerwährenden Reichstags in Regensburg für den pfalz-neuburgischen und oberpfälzischen Landadel in der Oberpfalz, in : Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und
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Michael Rohrschneider
Regensburg 143 (2003), S. 241–294 ; Rainer Egon Blacha, Johann Friedrich Karg von Bebenburg. Ein Diplomat der Kurfürsten Joseph Clemens von Köln und Max Emanuel von Bayern 1688–1694, Bonn 1983 ; Max Braubach, Der Kampf um Kurstaat und Stadt Köln in den Jahren 1688/89, in : Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das alte Erzbistum Köln 124 (1934), S. 25–94 ; ders., Minister und Kanzler, Konferenz und Kabinett in Kurköln im 17. und 18. Jahrhundert, in : Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das alte Erzbistum Köln 144/145 (1945/1947), S. 141–209 ; ders., Kurkölnische Miniaturen, Münster 1954, S. 78–104 ; ders., Artikel »Karg von Bebenburg, Johann Friedrich Freiherr«, in : Neue Deutsche Biographie, Bd. 11, Berlin 1977, S. 153 f.; Sven Düwel, Ad bellum Sacri Romano-Germanici Imperii solenne decernendum : Die Reichskriegserklärung gegen Brandenburg-Preußen im Jahr 1757. Das Verfahren der »preußischen Befehdungssache« 1756/57 zwischen Immerwährendem Reichstag und Wiener Reichsbehörden, Berlin 2016 (hier insbesondere Teil I, S. 196 und S. 221–224) ; Michael Kaiser/Andreas Pečar (Hgg.), Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 32), Berlin 2003 ; Marcus Leifeld, Macht und Ohnmacht der Kölner Kurfürsten um 1700. Vier kurkölnische »Erste Minister« als politische Bedeutungsträger, in : Frank Günter Zehnder (Hg.), Im Wechselspiel der Kräfte. Politische Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Kurköln (Der Riss im Himmel. Clemens August und seine Epoche, 2), Köln 1999, S. 62–95 ; Frank Pohle, Dautzenbergs Bücher. Leben und Wirken des Peter Joseph Franz Dautzenberg (1769–1828) im Spiegel seiner Bibliothek, Aachen 1999 ; Michael Rohrschneider, Friedrich Karl Karg Freiherr von Bebenburg (1709–1773) : Ein kurkölnischer Reichstagsgesandter im Spannungsfeld von Region, Reich und internationaler Politik, in : Rheinische Vierteljahrsblätter 81 (2017), S. 118–138 ; E[mil] Roth, Geschichte der Freiherrlichen Familie Karg v. Bebenburg. Hg. von Joseph Freiherr von Karg-Bebenburg, München 1891 ; von Schulte, Artikel »Karg, Johann Friedrich Ignaz Freiherr von Bebenburg«, in : Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 15, ND Berlin 1969, S. 121. Online Martin Bock, Johann Friedrich Karg von Bebenburg (1648–1719), kurkölnischer Kanzler, in : Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter : http://www.rheinische-geschichte.lvr. de/persoenlichkeiten/K/Seiten/JohannFriedrichKargvonBebenburg.aspx (Stand : 22.2.2019). Michael Rohrschneider, Friedrich Karl Karg Freiherr von Bebenburg (1709–1773), kurkölnischer Reichstagsgesandter, in : Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter : http://www. rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/K/Seiten/FriedrichKarlKargvonBebenburg. aspx (Stand : 22.2.2019).
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Hermann Josef Roth
Philipp Wirtgen (1806–1870) Natur- und Heimatforscher
Der aus Neuwied stammende Handwerkersohn Philipp Wirtgen war rastlos als Naturund Heimatforscher tätig. Als herausragender Botaniker lieferte er bis heute geltende Standards zur Kenntnis und Beschreibung der rheinischen Pflanzenwelt. Wenn ein Grundschullehrer die Würde eines Ehrendoktors erhält und in renommierte Wissenschaftsakademien gewählt wird, ist das sicher etwas Besonderes. Erst recht zu Zeiten, als »Professor« noch ein seltener Titel war. Die Universität Bonn jedenfalls hielt im Jahre 1853 Philipp Wirtgen der Ehre eines »Dr. phil. h. c.« für würdig. Die renommierten Bonner Professoren Ludolf Christian Treviranus (1776–1837, Botanik) und Johann Noeggerath (1788–1877, Mineralogie) schrieben zur Begründung : Seit mehr als 20 Jahren wirkt er in Koblenz mit ausgezeichnetem Erfolg bei der Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse. […] Als Mensch, Bürger und Jugendlehrer genießt er unsere ungeteilte Hochachtung (dieses und alle folgenden Zitate, sofern nicht anders angegeben : Archiv des Naturhistorischen Vereins der Rheinlande und Westfalens, Bonn = NHV). Die Leopoldinisch-Carolinische Akademie der Naturforscher (»Leopoldina«) in Halle bezeichnete ihn gar als Florae Rhenanae cultor eximius (hervorragenden Hüter der Rheinischen Pflanzenwelt). Wirtgen hatte sich den guten Ruf durch botanische Untersuchungen und entsprechende Publikationen erworben, aber auch durch Leitfäden für den naturkundlichen Unterricht an höheren Schulen. Als Botaniker befasste er sich ebenfalls mit dem Substrat, auf dem die Pflanzen wachsen, was später zum Standard der ökologisch orientierten Forschung werden sollte. Nicht weit war der Weg zu gründlichen Studien zur Erdgeschichte der Rheinlande. Von der Naturkunde machte Wirtgen den Schritt zur Heimatkunde, für die er sich lebhaft interessierte. 1. Herkunft Philipp Wilhelm Wirtgen wurde am 4. Dezember 1806 in Neuwied als Sohn des Handwerkers Johann Wirthgen (geb. 1778) und dessen Ehefrau Justina Christina geborene Moser (1779–1849) aus Weilburg geboren. Der Vater war »Blechschläger«, also Klempner. Der Junge besuchte die Elementarschule in Neuwied. Wenig hat er aus dieser Zeit berichtet. Nur der Durchmarsch der zaristischen Soldaten gegen Napoleon muss großen Eindruck hinterlassen haben, notierte er doch : In den ersten Tagen des 73
Hermann Josef Roth Abb. 1: Philipp Wirtgen, Porträtfoto, um 1860
Novembers 1813 erschienen die Kosaken, die als Befreier mit Jubel begrüßt wurden. Auf der Kuhweide zu Heddesdorf wurde ein russisches Lager, in welchem der zahlreiche Besuch aus Neuwied die Eigentümlichkeiten der Kosaken, Baschkiren und Kirgisen bewundern konnte. Ganze Reihen von Kamelen wurden durch unsere Straßen getrieben. Zum Missfallen seiner Eltern beschäftigte sich Philipp viel mit Naturkunde, insbesondere mit der Botanik, deren Anfangsgründe er durch einen Apothekergehilfen erfuhr. Er sollte Handwerker werden und später einmal die Nachfolge seines Vaters antreten. Deshalb arbeitete er zunächst als Lehrling in dessen Werkstatt. Doch der evangelisch-reformierte Kirchenrat Johann Jacob Meß, seit 1815 Pfarrer in Neuwied, erkannte das Talent des Vierzehnjährigen und verschaffte ihm einen Platz an der Präparandenanstalt zu Neuwied. Als junger Anwärter auf den Lehrerberuf wirkte Wirtgen als »Schulhelfer« beim Unterricht in den überfüllten Klassenzimmern mit. 1824 legte er nach dreijähriger Ausbildung die Lehramtsprüfung mit der Note »vorzüglich« ab. Zunächst unterrichtete er als Zweitlehrer an der Elementarschule in Remagen. Noch zum Jahresende wechselte Wirtgen in derselben Funktion an die Elementarschule in Winningen, wo er ein deutlich höheres Gehalt bezog und sieben Jahre lang tätig bleiben sollte. Hier lernte er die Tochter eines Winzers, Anna Hofbauer (1808– 1875) kennen. Beide heirateten am 20. September 1831. Aus der Ehe gingen zehn 74
Philipp Wirtgen (1806–1870) Abb. 2: Anstellungsurkunde für Koblenz, 1831/35, Foto : Wolfgang Schmid
Kinder hervor : Sophia (geb. 1832), Friedrich (geb. 1834), Justus (geb. 1837), Henriette (geb. 1839), Otto (geb. 1841), Julius (geb. 1843), Hermann (geb. 1845), Ferdinand (1848–1924), Maximilian (geb. 1850) und Alfred (geb. 1852). Allein Ferdinand sollte als Botaniker und Apotheker das Vermächtnis des Vaters fortsetzen. Seine Ehefrau unterstützte ihn bei seinen wissenschaftlichen Forschungen. Voller Eifer konzentrierte er sich zunächst auf die Flora der unteren Mosel. Die enge Freundschaft mit dem Distriktarzt und passionierten Naturforscher Karl Wilhelm Arnoldi (1809–1876) in Winningen bildete eine wertvolle Ergänzung und Hilfe bei seiner Arbeit. Die Ergebnisse seiner Forschungen hat Wirtgen gerne durch volkstümliche Vorträge im Winzerverein vermittelt. Zum Bekannten- und Kollegenkreis gehörten Pädagogen wie der Gymnasialdirektor und Geistliche Rat Jakob Katzfey (1791–1873) in Münstereifel, ferner in Winningen selbst die Apotheker Julius (1808–1884) und Karl Oskar Schlickum. Sie haben ebenfalls erheblich zur Kenntnis der Eifler Naturgeschichte beigetragen. Ihr Herbarium wurde erst kürzlich wieder aufgefunden und befindet sich zurzeit im Heimatmuseum zu Winningen. Es sollte einer fachlichen Prüfung unterzogen werden. All dies aber waren brotlose Künste, mit denen auf Dauer keine Familie unterhalten werden konnte. Teils wegen der unsicheren Weinbesoldung, teils um seinen Wirkungskreis 75
Hermann Josef Roth
zu erweitern, wechselte er nach Auskunft der Schulchronik 1831 als Zweitlehrer an die Evangelische Grundschule zu Koblenz (Altlöhrtor). Als ihm der preußische Kultusminister Karl vom Stein zum Altenstein (1770–1840) 1833 die Möglichkeit zum Weiterstudium anbot, verweigerte der Schulträger eine Beurlaubung bis zur Wiedereinstellung. Daraufhin wies der Minister die Regierung an, Wirtgen eine seinen Fähigkeiten angemessene Stelle zu verschaffen. Im Herbst 1835 wechselte Wirtgen als Fachlehrer an die neue »Höhere evangelische Stadtschule« (Altlöhrtor/Ecke Görgengasse), die ihm ein höheres Gehalt und freie Wohnung bot. Aus dieser Lehranstalt ist das heutige Hilda-Gymnasium in der Kurfürstenstraße hervorgegangen. 2. Wissenschaftler und Lehrer Die Einheit von Forschung und Lehre war für Wirtgen keine Floskel, sondern ein Anliegen. Sein unbändiger Forscherdrang war gepaart mit einem ausgeprägten Mitteilungsbedürfnis, das seiner Liebe zur Natur entsprang. Der mühsame Schulbetrieb ließ freilich wenig Raum für Unterricht, der an seine Forschungen angelehnt war. Der Lehrer musste allzu viel Kraft auf die Wahrung der Disziplin und die Erfüllung des vorgeschriebenen Pensums aufwenden. In volkstümlichen Vorträgen und Vereinsaktivitäten hingegen kam der begabte Lehrer voll zum Zuge. Deshalb sollte der Pädagoge und Didaktiker nicht vom Wissenschaftler getrennt werden, auch wenn diese kurze biographische Skizze das Forscherleben stärker konturiert. So sehr Wirtgen die Rahmenbedingungen im Schulbetrieb hemmten und bedrückten, so sehr war er pädagogisch interessiert und didaktisch begabt. Sein »Leitfaden für den botanischen Unterricht an höheren Schulen« (1839) erschien 1846 sogar in zweiter Auflage. Dem folgte in den Jahren 1857 bis 1860 eine »›Anleitung zur landwirthschaftlichen und technischen Pflanzenkunde für Lehranstalten und zum Selbstunterricht‹ in 2 Cursen«. Schon der relativ kurze Aufenthalt als Zweitlehrer in Remagen war für Wirtgens Ambitionen günstig gewesen. Hier hatte er in der Freizeit die heimischen Pflanzen gründlich studiert und war auf diesem Wege mit der benachbarten Bonner Universität in Berührung gekommen. Dort machte Wirtgen die nähere Bekanntschaft zweier Professoren : des Zoologen und Mineralogen Georg August Goldfuß (1782–1848) und des Botanikers und Garteninspektors Theodor Friedrich Ludwig Nees von Esenbeck (1787–1837). Deren Angebot einer Anstellung im Botanischen Garten klang zwar verlockend, konnte es doch die »Lücken seiner Bildung ausfüllen« helfen, aber aus Rücksicht auf seine Eltern glaubte er ablehnen zu müssen. Mit dem jüngeren Nees – in Unterscheidung zu dessen älterem Bruder Christian Gottfried Daniel (1776–1858) – war er eng befreundet. Nees galt als Schlüsselfigur der rheinischen Botanik und dürfte Wirtgen wertvolle Anregungen gegeben haben. Dieser dankte es ihm später, indem er eine entdeckte Pflanzenart »Nees’ Braunwurz« 76
Philipp Wirtgen (1806–1870)
(Scrophularia neesii) nach ihm benannte. Die Pflanze wird heute als eine der beiden Unterarten der Geflügelten Braunwurz oder Flügel-Braunwurz angesehen und als Gekerbte Braunwurz (Scrophularia umbrosa subsp. neesii) bezeichnet. Bei ihr sind die unteren Laubblätter gekerbt, die mittleren und oberen aber gesägt, was den Namen erklärt. In Würdigung des Fundortes benannte er eine neue Art der Königskerze, die er 1850 bei Hatzenport an der Mosel entdeckt hatte, Verbascum mosellanum. In diesem Zusammenhang wären außer Nees noch andere Botaniker zu erwähnen, vor allem der Fabrikant Louis Clamor Marquart (1804–1881) oder der Kölner Apotheker Johann Friedrich Sehlmeyer (1788–1856), die ebenso wie Wirtgen nebenberuflich tätig waren. Schon 1833 veröffentlichte Wirtgen eine »Übersicht der im Rheintal zwischen Bingen und Bonn wild wachsenden Pflanzen«. Es folgten umfängliche Arbeiten über »Flora des Regierungsbezirks Koblenz« und »Gefäßpflanzen der preußischen Rheinlande«. Dabei beschränkte sich Wirtgen nicht auf die Registrierung von Arten und Fundstellen, sondern versuchte die Ursachen von Vorkommen und Verbreitung zu ergründen. Pflanzengeographie und Bodenkunde ergänzten in seiner Sicht ganz wesentlich die Floristik, die bei ihm bereits ökologisch orientiert war. 3. Eifel, Mosel- und Ahrtal Remagen und Winningen als Stätten der Berufsausübung stellten geographisch gewissermaßen die Weichen zur Erkundung von Eifel und Moseltal, die Wirtgen vorrangig betrieb. Er scheint zunächst im Mündungsgebiet der Ahr, im Koblenz-Neuwieder Becken und an der unteren Mosel botanisiert zu haben. Von da an unternahm er zahllose Ausflüge zu Standorten in der Eifel. Später wandte er seine Aufmerksamkeit auch dem Hunsrück und dem Westerwald sowie angrenzenden Zonen zu. Rechtsrheinisch durchstreifte er beobachtend und sammelnd das Lahntal und den Taunus, linksrheinisch das Nahetal. Bereits in der Remagener Zeit dürfte Wirtgen das nahe Ahrtal näher ins Auge gefasst haben. Kurz zuvor hatte Friedrich Nees von Esenbeck eine kleine Studie zu dieser Landschaft in seinen »Beiträgen zur Charakteristik der Flora von Bonn und seiner Umgegend« (1822) veröffentlicht. Als 1837 Wirtgens »Abhandlung über die Pflanzenwelt des Mittelrheingebietes« erschien, betonte er darin die naturkundliche Eigenart des Ahrtales – »ein gemessen am Kenntnisstand der damaligen Zeit außerordentlich moderner und bis heute aufschlussreicher Zugang zur Regionalfloristik« (Bruno P. Kremer). Darauf aufbauend begab sich Wirtgen schließlich an die Gesamtdarstellung des Ahrtales (1839, 1844). Es darf heute nicht vergessen werden, mit welchen Anstrengungen diese Arbeiten – zumal in der Freizeit ausgeübt – verbunden waren. Die Verkehrsverhältnisse waren selten gut, meist wurden die Exkursionen zu Fuß bewältigt. Die Postkutsche begrüßte Wirtgen als »vortreffliche Einrichtung, die ihn leicht an die entfernteren Orte gebracht« 77
Hermann Josef Roth
habe. Einen Einblick in die Verhältnisse und Anstrengungen erlangt man zwischen den Zeilen : Um das vorgesteckte Ziel zu erreichen war es nothwendig […], dass ich Sonnabends Nachmittags und Nachts so weit als möglich in die Eifel fuhr, den ganzen folgenden Tag zu Untersuchungen verwendete und Abends wieder auf der Poststation anlangte, von wo ich am anderen Morgen vor Beginn der Unterrichtsstunden wieder zu Hause sein konnte. Längere Exkursionen waren nur während der Schulferien möglich, wie sie beispielsweise zu Pfingsten 1836 stattfand. Über sie berichtet Wirtgen : Am 20. Mai gegen Abend verließ ich mit Herrn Flöck, Lehrer am hiesigen Gymnasium, Koblenz. Wir gingen über den südöstlichen Teil des Maienfeldes durch die Dörfer Rübenach und Bassenheim, und erreichten bei Sonnenuntergang Ochtendung. Am nächsten Tag ging es weiter nach Mayen und Virneburg, auf die Hohe Acht ; gegen Abend erreichte man Adenau. Am dritten Tag zogen Wirtgen und Flöck über Rodder, den Aremberg nach Ahütte und Nohn bis Kelberg. Von dort ging es am darauffolgenden Tag über Mosbruch, Hörschhausen und Ulmen hinunter nach (Bad) Bertrich. Die sehr viel später erschienene Flora Bertricensis (1849) fußt auf diesen Erkundungen. Am fünften und letzten Tag erreichten die beiden bei Alf die Mosel. Über Eller und Bremm gelangten sie nach Cochem und bestiegen dort ein Boot nach Koblenz. Solche Touren wurden offensichtlich als normal empfunden. Günter Matzke-Hajek, der Wirtgens wissenschaftliche Leistungen beschrieben und gewürdigt hat, zitiert zur Begründung dieser Annahme aus dem Vorwort eines der Werke des Botanikers : Möchte es [das Buch] aber auch vorzüglich dazu dahin wirken, dass die immer mehr schwindende Lust an die [sic !] für Körper und Geist so wohltätigen Fußreisen mächtig gefördert würde ! Die Eifel ist dafür ein ganz vortreffliches Terrain. Die Ergebnisse seiner Ausflüge fanden in Korrespondenzen und Tauschgeschäften mit Wissenschaftlern und auswärtigen Fachgesellschaften ihren Niederschlag. Eine der ältesten von ihnen war die wetterauische Gesellschaft für Naturkunde in Hanau (gegründet 1808), bei der Wirtgen gelegentlich als Referent weilte. Bei einem dieser Besuche sprach er über die Versteinerungen der Eifel und machte dem Verein eine Reihe von Eifel-Fossilien zum Geschenk. Dieser bedankte sich, indem er Wirtgen 1853 zum korrespondierenden Mitglied ernannte. Die Fossilien wurden mit dem Museum des Vereins 1945 durch Bomben vernichtet (Schriftliche Mitteilung von Dr. W. Heinemann, Hanau). Die starke inhaltlich-personelle Vernetzung belegen die Protokolle des Naturhistorischen Vereins der Rheinlande und Westfalens eindrucksvoll. Zudem zeigen sie, dass die übergeordnete Behörde von den wissenschaftlichen Aktivitäten ihrer Gymnasiallehrer durchaus Notiz genommen und sie auf ihre Weise gefördert hat. Es heißt in den Verhandlungen des Naturhistorischen Vereins von 1861 (18. Jg., Corr-Bl. 2, S. 43) : Nach Erledigung […] begann Dr. Wirtgen aus Coblenz die Reihe der wissenschaftlichen Vorträge mit einem Bericht über die Thätigkeit des Vereins auf dem Gebiete der Botanik. Derselbe berichtete zunächst über die Fortschritte unserer Kenntniss der rheinischen Flora, welche in den beiden letzten Jahren durch die Forschungen der Herren Bochkolz in Trier, Hausknecht 78
Philipp Wirtgen (1806–1870)
Abb. 3: Philipp Wirtgen über den Naturforscher Franz Wilhelm Junghuhn
in Mülheim a. d. R., Polscher in Duisburg, Herrenkohl in Cleve und durch eigene Untersuchungen bedeutend erweitert worden sei. Namentlich sei es ihm durch die Güte Sr. Excellenz des Herrn Cultusministers möglich geworden, durch eine längere Sommerreise durch die Eifel die Vegetation dieses interessanten Landes noch näher kennenzulernen. Sodann legte er ausgezeichnete Exemplare des Sedum trevirense Rosbach von den Abhängen von Castel an der Saar vor und bemerkte, dass er diese vom Kreis-Physikus Dr. Rosbach entdeckte Pflanze in grösster Verbreitung durch die ganze vulkanische und Sandstein-Eifel gefunden habe. Ergänzend dazu sei angemerkt, dass dieser »trierische Mauerpfeffer« heute unter der wissenschaftlichen Bezeichnung Petrosedum forsterianum V. Grulich geführt wird. Die Eifel lockte allein schon der geologischen Phänomene wegen auch Forscher an, deren Tätigkeitsfeld sonst außerhalb der Rheinlande lag. So hatte Wirtgen im Lazarett zu Koblenz den Naturforscher Franz Wilhelm Junghuhn (1812–1884) kennengelernt. Er kehrte 1841 zu Besuch nach Koblenz zurück, um mit Wirtgen zu botanisieren. Anderthalb Monate durchstreiften beide im Spätherbst die Waldgebiete von Eifel und Hunsrück. Zu dieser Jahreszeit ist die Ausbeute an Pilzen reichhaltig und durch manche Seltenheit auch wertvoll gewesen. Junghuhn weilte bereits seit 1834 in Niederländisch Indien (Indonesien), von wo er Wirtgen brieflich vorschwärmte : Hier […] gibt’s zu botanisieren. Vor seiner Reise durch die Eifel hatte der Verfasser einer Flora Javae 79
Hermann Josef Roth
in einem Brief (1836) an Wirtgen betont, dass er bestrebt sei, Naturschilderungen zu entwerfen, bei denen mir Alexander von Humboldts Ansichten der Natur als, freilich unerreichbares, Muster dienen. 4. Geologie Das Thema führt uns zu den geologischen Studien Wirtgens, die schon im Zusammen hang mit seinen Eifeltouren Erwähnung fanden. Seine geognostischen Kenntnisse hatte er sich am Mittelrhein in der Umgebung von Koblenz autodidaktisch erworben. Bei den Fundpunkten dieser Gegend handelte es sich nicht um irgendwelche Vorkommen von Versteinerungen, sondern um solche, die mehrfach für Gesteinsschichten und Fossilien des Devon namen- und maßgebend geworden sind. Die Koblenz-Schichten, heute Ems-Schichten (Emsium), sind längst Standards der Fachliteratur. Ein devonischer Armfüßer (Brachiopode) trug die wissenschaftliche Bezeichnung Terebratula wirtgeni ( J. Schnur 1853. Heute : Chamerodoechia livonensis). Zusammen mit dem Regierungsrat F. Zeiler untersuchte Wirtgen die »Versteinerun gen in der rheinischen Grauwacke« (1854). Diese und andere Studien veröffentlichten sie bis auf eine Ausnahme in den Verhandlungen des Naturhistorischen Vereins (1847, 1854, 1857). Wirtgen bot ebendort 1854 eine spezielle Übersicht zum Devon im Raum von Bad Bertrich. Der Trierer Gymnasiallehrer J. Schnur, der sich intensiv mit den Armfüßern der Eifel befasst hat und dessen Namen in der fossilen Art Schnurella schnuri verewigt ist, urteilt über Wirtgen : »Seine Arbeit über die mitteldevonischen Brachiopoden der Eifel genießt immer noch hohes Ansehen.« (Schriftliche Mitteilung von Wolfhart Langer vom 10.11.2007) Wirtgen steht damit in einer Reihe von Forschern wie Georg August Goldfuss (1782–1848) und Carl Ferdinand Roemer (1818–1891), die zu den Ersten gehörten, die »den Fossilreichthum des Eifel-Devon systematisch erfasst haben« (Kayser 1871). Von ähnlicher Bedeutung sind die Arbeiten zweier Trierer Kollegen, des bereits erwähnten J. Schnur mit seiner »Eifel-Stratigraphie« von 1851 und Johann Steininger (1794–1874), der 1865 die erste geologische Karte der gesamten Eifel vorgelegt hat. Wirtgen beließ es aber nicht bei der (dem Biologen näherstehenden) Paläontologie, sondern richtete sein Interesse auch auf die übrigen naturkundlichen Phänomene der durchwanderten Landschaften. Hier beschäftigte er sich weniger mit Spezialstudien, sondern war ganz im Stile einer fundierten »Heimatkunde« auch um Verständnis und Deutung von Landschaftsstrukturen bemüht. Abermals begann er im direkten Umfeld, wo die geologischen Phänomene des Laacher-See-Gebietes und der benachbarten Täler von Nette- und Brohlbach lohnende Beobachtungen zuließen. Deren naturkundliche Phänomene beschrieb er genau und ausführlich, wobei er sich um eine Darstellung bemühte, die für jedermann verständlich ist. 80
Philipp Wirtgen (1806–1870)
5. Wissenschaftliche Gesellschaften Bei dem bescheidenen Lehrergehalt konnte Wirtgen gerade seine elfköpfige Familie unterhalten. Als ihm 1857 für die »Flora der preußischen Rheinprovinz« eine Anerkennung über 100 Taler ausgezahlt wurde, notierte er : Das Geld kam mir in hohem Grade erwünscht, denn schwer bedrängt von allen Seiten war schon seit Wochen die vollständige Verteilung an verschiedene Gläubiger vorgenommen und zugesagt, so dass nach einer Stunde kein Taler davon mehr in meiner Hand war. Verständnis und Tatkraft seiner Ehefrau Anna Hofbauer trugen wesentlich dazu bei, diese Belastungen zu meistern. Gesellschaftlich häufig auf sich selbst gestellt und ohne reguläre Förderung durch staatliche Stellen bildeten Vereine damals oft das einzige Forum für Naturwissenschaftler ohne Hochschulposten. Sie führten die Fachkollegen zusammen, vermittelten Kontakte auch über die Region hinaus und ermöglichten Publikationen. Eine wichtige Arbeitsweise für Botaniker war das Anlegen von Herbarien. Zum einen waren sie dabei bestrebt, ausreichend Belege für ihre Florenwerke vorzuweisen. So trug Wirtgen »die selteneren und weniger bekannten Pflanzen der Rheinprovinz« zusammen, aber auch sehr Spezifisches wie die rheinischen Minz- und Brombeerarten. Dann haben auch die bald einsetzenden Diskussionen über die Evolutionslehre Arbeiten in Systematik und Taxonomie beflügelt. Schließlich konnte eine gute »ExsiccatenSammlung«, wie man damals sagte, mitunter sogar gut verkauft werden. Offensichtlich hat Wirtgen angesichts seiner eben angedeuteten finanziellen Lage deshalb neben rein wissenschaftlichen Herbarien auch Sammlungen mit den »ökonomisch-technischen Pflanzen Deutschlands« oder Alben der »Forst- und Holzgewächse«, »Arzneipflanzen« sowie der »wichtigsten Giftpflanzen« angelegt. Vor diesem Hintergrund ist Wirtgens Engagement bei der Gründung des »Botanischen Vereins am Mittel- und Niederrhein« zu verstehen. Nachdem der preußische Innenminister von Altenstein gegen die am 13. Juni 1834 in Berlin vorgelegten Statuten keine Bedenken erhoben hatte, beantragte Wirtgen beim Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Ernst von Bodelschwingh-Velmede (1794–1854), die Erlaubnis, eine Gründungsversammlung einzuberufen. Sie erfolgte am 20. Mai 1835, allerdings mit der Auflage, auf Verlangen der Obrigkeit Gegenstand und Absicht der Vereinszusammenkünfte mitzuteilen. Wirtgen und Nees luden nun für den 28. Juni 1835 zu einer Tagung in Brohl ein. Der erste von fünf Jahresberichten des »botanischen Vereins« erschien 1837 mit dem bis heute gültigen Motto Concordia res parvae crescunt (Kleine Dinge wachsen durch Eintracht). Seitdem »war Wirtgen die Seele dieses jungen sich kräftig entwickelnden Vereins«, wie Adolf Felix Dronke (1837–1898), der Gründer des Eifelvereins, bezeugte. Die ersten Mitglieder kamen aus dem Raum Aachen, Trier, Saarbrücken, Bad Kreuznach, Weilburg, Essen und Krefeld. Schon bei der Gründung hatte man die Einrichtung einer Fachbibliothek und das Anlegen eines Herbars für das Vereinsgebiet beschlossen. Dank eifriger Sammeltätig81
Hermann Josef Roth Abb. 4: Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des Naturwissenschaftlichen Vereins Koblenz, erschienen 1926
keit der Vereinsmitglieder verzeichnete man 1840 für das Herbar ungefähr 2200 Exemplare aus 1100 Arten. Sie waren nicht etwa nach dem System von Linné, sondern nach dem System des Genfer Botanikers Augustin Pyrame De Candolle (1778–1841) angeordnet. Auf dieser Grundlage erarbeitete Wirtgen mit anderen einen »Prodromus der Flora der preußischen Rheinlande« (1842). Die Vereinsmitglieder erhielten neben ihrem Handstück eine Ausgabe, die mit Papier durchschossen war. Darauf sollten eigene Beobachtungen aufgezeichnet und an Wirtgen zurückgereicht werden. Die Auswertung aller Meldungen fand ihren Niederschlag in der »Flora der preußischen Rheinprovinz« von 1857. Das Arbeitsgebiet des Vereins wurde 1843 auf alle deskriptiven Naturwissenschaften ausgeweitet und die Bezeichnung entsprechend geändert durch den Zusatz »… und Westfalens«. Seitdem arbeitete die Gesellschaft unter dem noch heute gültigen Namen. Zu Wirtgens Vorstandskollegen zählten auch die beiden Entdecker des Neandertalers Johann Carl Fuhlrott (1803–1877) und der Koblenzer Anatomieprofessor Hermann Schaafhausen (1816–1893), ferner Michael Bach (1808–1878) aus Boppard und Ludwig Clamor Marquart (1804–1881) aus Bonn. Wirtgen leitete zeitlebens die Botanische Sektion. 82
Philipp Wirtgen (1806–1870)
Dronke berichtete, in Winningen sei es zur Begegnung mit dem Oberberghauptmann und Professor Ernst Heinrich Carl von Dechen (1800–1889) gekommen, die zu einer dauernden Freundschaft mit unserem Botaniker führte. Dechen würdigte als Präsident des Naturhistorischen Vereins die Verdienste Wirtgens. Dieser wiederum konnte nicht zuletzt bei der Suche nach den Ursachen der Pflanzenverbreitung auf Dechens Erfahrungen bei der Kartierung der geologischen Verhältnisse der Rheinlande zurückgreifen. Bei der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte 1852 in Wiesbaden regte Wirtgen erfolgreich an, Floren nach Flußgebieten, also konsequent in Anlehnung an die natürlichen Grundlagen, durchzuführen. Zu diesem Zweck hatte er bereits am 1. Mai 1851 den Naturwissenschaftlichen Verein Koblenz ins Leben gerufen. Er sollte sich speziell der Erforschung des engeren Rhein-Mosel-Raumes widmen. Nach seinem Tod übernahm Adolf Felix Dronke, zu dieser Zeit Direktor des Koblenzer Realgymnasiums, die Leitung des Vereins. Wie Dronke notierte, gehörte eine grosse Anzahl hochstehender Militär- und Civilbeamten dem Verein an und stärkte dessen Prestige. Zuwendungen ermöglichten den Aufbau einer reichhaltigen Sammlung. Dieses »Naturalienkabinett« war im ehemaligen Eltzerhof untergebracht, wurde von Wirtgen betreut und war regelmäßig für Besucher geöffnet. Im Zweiten Weltkrieg ist die Sammlung restlos vernichtet worden. 6. Anerkennung Qualität und Umfang seiner Arbeiten weckten die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt. Zu seinen vielen Freunden zählte Wirtgen geachtete Wissenschaftler wie den Geologen Freiherr Christian Leopold von Buch (1774–1853), der unter anderem die Umgebung des Laacher Sees kartierte, den belgischen Mediziner Laurent Guillaume de Koninck (1809–1887) oder die Botaniker Alexander Heinrich Braun (1805–1877) und Carl Heinrich Schultz Bipontinus (1765–1837). Sogar Alexander von Humboldt (1769–1859) lernte er auf dem Landsitz der Mendelssohns in (Koblenz-)Horchheim persönlich kennen. Schließlich berief ihn die angesehene Kaiserlich-Leopoldinisch-Carolinische Akademie der Naturforscher in Halle an der Saale (gegr. 1818) am 21. September 1852 zu ihrem Mitglied. Ferner war er Mitglied der Bayerischen Botanischen Gesellschaft in Regensburg (gegr. 1834) und der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur : Die Société royale de Botanique Belgique ernannte ihn 1862 zum auswärtigen Mitglied. Auf Antrag der Bonner Professoren Ludolph Christian Treviranus und Johann Jacob Noeggerath verlieh ihm die Universität Bonn am 18. Januar 1853 die Ehrendoktorwürde. Die praktische Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse behielten die Amateure stets im Auge. So mussten sie sich stets um die Finanzierung ihrer Vorha83
Hermann Josef Roth
ben sorgen. Sodann waren sie durchweg berufstätig. Schon in Winningen hatte nicht nur Wirtgen mit der Bevölkerung in engem Kontakt gestanden. Sein Freund Karl Wilhelm Arnoldi befasste sich mit konkreten Problemen des Weinbaues. Hier und in Steeg am Mittelrhein regten beide die Gründung von Winzer-Vereinen an und hielten in deren Versammlungen naturkundliche Vorträge. In Bonn bot der »Landwirtschaftliche Verein« von Peter Kaufmann (1803–1872) ein entsprechendes Forum, das Wirtgen fleißig nutzte. Im Jahr der Bundesgartenschau zu Koblenz (2011) erinnerte man sich, dass Wirtgen »verschiedene Blumenausstellungen (auch in Koblenz) zur Förderung der Blumenpflege«, sicher aber auch zur Popularisierung der Botanik, ausgerichtet hatte. Bemerkenswert ist auch Wirtgens Gönnerschaft außerhalb des Kreises der Fachkollegen. So gewährte ihm die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft auf allen Strecken freie Fahrt. Zu seinen Förderern zählte auch die Prinzessin Louise Wilhelmine Thecla zu Wied (1817–1867), bei der er des Öfteren botanische Vorträge hielt. Nicht zuletzt genoss Wirtgen die Huld der Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach (1811–1890), der späteren Königin von Preußen und deutschen Kaiserin. Wenn sie im Koblenzer Schloss residierte, empfing sie Wirtgen häufig zu Fachgesprächen oder hörte seine Vorträge. Sie vermittelte ihm diverse Reisemöglichkeiten. Neben einer Exkursion durch den Schwarzwald und dem Besuch der internationalen Gartenbauausstellung in Hamburg waren dies zwei Reisen durch die Alpen (1844) und Norditalien (1851), die er sonst nicht hätte durchführen können. Trotz höchster Empfehlungen scheiterten alle Bemühungen um einen akademischen Lehrstuhl. Nach der Gründung der Landwirtschaftlichen Lehranstalt Poppels dorf (heute Bonn) im Jahre 1847 bewarb sich Wirtgen zweimal bei Vakanzen (1857, 1858). In beiden Fällen wog der akademische Hintergrund mehr als die praktische Erfahrung. 7. Nachleben Am 7. September 1870 verstarb Philipp Wirtgen im Alter von 64 Jahren. Er wurde auf dem Hauptfriedhof zu Koblenz nicht weit vom Haupteingang und der Leichenhalle (Feld 6) in einem Ehrengrab beigesetzt. Die Pflegelasten trägt die Stadt Koblenz. Aus Anlass der Bundesgartenschau 2011 legte der Naturhistorische Verein zur Erinnerung daran, dass Wirtgen bereits unter bescheideneren Bedingungen Gartenschauen angeregt und organisiert hatte, ein Blumengebinde auf dem Grab nieder. Es bleibt zu hoffen, dass seiner Person und seiner Bedeutung für die Erforschung von Natur und Heimat weiterhin angemessen gedacht wird. Wissenschaftlich hat Wirtgen rund 60 Publikationen hinterlassen. Eine Auswahl von Titeln mit deutlichem Bezug zur Eifel ist dem Anhang zu entnehmen. Naturalien aus seinem Besitz werden im Museum Wiesbaden (Naturwissenschaftliche Sammlung) verwahrt. 84
Philipp Wirtgen (1806–1870)
Abb. 5: Grabstein Philipp Wirtgens auf dem Koblenzer Hauptfriedhof, 2007
Einer seiner Söhne, Ferdinand Paul Wirtgen, trat in die Fußstapfen des Vaters. Nach dem Studium der Pharmazie betrieb er unter anderem in St. Johann (heute Saarbrücken) eine Apotheke. Seit 1889 lebte er in Bonn. Als Florist hinterließ er umfangreiche Sammlungen von Gefäßpflanzen und Moosen. Er hat das sinnfälligste und vielleicht wichtigste Vermächtnis von Philipp Wirtgen gesichert, das Rheinische Herbar. Dieses wurde seit 1835 in Koblenz geführt und war als Vergleichsherbar für die Rheinlande gedacht. Seit 1846 befand sich das Herbarium in Bonn. Nach dem Tod seines Vaters ordnete Ferdinand die Sammlung neu und trennte den rheinischen Teil mit etwa 70.000 Belegen aus dem ursprünglich breiter angelegten Herbar ab. Er ist annähernd in dieser Form erhalten und wird heute vom Naturhistorischen Verein der Rheinlande und Westfalens (NHV) in Bonn verwaltet. Inzwischen enthält das Herbar rund 100.000 Belege, deren ältester 1805 durch Nees von Esenbeck im Umland von Bonn gesammelt wurde. Bedenkt man, dass »ein sorgfältig gesammelter und präparierter Herbarbeleg auch nach Jahrhunderten noch fast alle Merkmale der Pflanze« zeigt (R. Wisskirchen), offenbart sich die wissenschaftliche Bedeutung einer solchen Sammlung. Die noch von Wirtgen gesammelten Originalpflanzen (Typuspflanzen) werden greifbar und belegen mit Sicherheit »das Vorkommen einer Pflanze zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort«. Heute lassen sich so die seit dem 19. Jahrhundert eingetretenen 85
Hermann Josef Roth Abb. 6: Blatt aus dem Rheinischen Herbar, auf dem handschriftlich Ophrys arachnites notiert ist. Nach heute gültiger Taxonomie handelt es sich um die in unserem Gebiet in mehreren Unterarten vorkommende Hummel-Ragwurz [Ophrys holoserica (Burm fil.) Greuter)]
Veränderungen des betreffenden Lebensraumes abschätzen. Das wiederum liefert Anhaltspunkte für die Bewertung eines Areals, wenn es um seine Nutzung oder Schutzwürdigkeit geht. Deshalb mahnen die Berichte des Botanischen Vereins immer wieder an, dass auch Abweichungen im typischen Aussehen oder Monstrositäten gesammelt werden sollen. Außerdem seien geologische Bedingungen und Höhenlage des Standorts, die Blühund Fruchtzeit sowie das pflanzensoziologische Gefüge zu beachten. Damit schärften Wirtgen und seine Mitarbeiter den nichtakademischen Botanikern damals schon Methoden ein, die heute zu den Standards zählen. Überdies erinnert eine Eiche an der Koblenzer »Schwedenschanze« an Wirtgen, die der damalige Regierungspräsident Wilhelm Sommer (1891–1971) 1952 pflanzte. Auf dem Asterstein in Koblenz, in Neuwied und in Köln-Riehl wurden Straßen nach ihm benannt. Auch in seiner Rolle als Lehrer blieb Wirtgen in Erinnerung. Zu seinem 100. Geburtstag (1906) widmete ihm der Rheinische Provinzial-Lehrerverein ein Gedenkblatt. Es erinnerte an ihn, »der einer war der Besten / Der forschend stand als Priester der Natur«. Die Botanik ehrte den Lehrer mit wissenschaftlichen Bezeichnungen für Pflanzenarten wie Agrimonia wirtgenii, eine Odermennigart, Fumaria wirtgenii für Wirtgens 86
Philipp Wirtgen (1806–1870)
Erdrauch, Galium wirtgeni für Wirtgens Labkraut und Rumex wirtgenii, eine Sauerampferart, oder die Bezeichnung Wirtgenia Nees für eine nordamerikanische Gattung der Süßgräser (Poaceae). Auch die Orchideen-Hybride Dactylorhiza x wirtgenii (Höppner) Sóo sei in diesem Zusammenhang erwähnt. Auch Wirtgen benannte Neuentdeckungen nach Kollegen, außer der bereits erwähnten Braunwurz (Scrophularia neesii) die Dechen-Brombeere (Rubus dechenii). Dronke schrieb in seinem Nachruf : »Machten ihn seine großen botanischen Kenntnisse schon zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten in den wissenschaftlichen Kreisen der preußischen Rheinprovinz, so sind seine Erfolge noch weit mehr anzuerkennen, wenn man den durch so viele Hindernisse gehemmten Gang seiner Bildung beachtet.« Dronkes »Kurzes Lebensbild« bildet die Grundlage für einige biographische Aufsätze, die bald nach Wirtgens Tod erschienen sind, wie die von Oelsner (1871), Wunschmann (1898) und eines Anonymus (1906). Steiner (1957) und Matzke-Hajek (2003–2005) haben den Forschungsstand später zum Teil beträchtlich erweitert. Letzterer hat auch außerhalb des Rheinlandes Wirtgens Korrespondenz mit Fachkollegen ausfindig gemacht, nämlich in den Archives du Conservatoire et Jardin botaniques de Genève, der Universitätsbibliothek Graz und im Botanischen Institut der Universität Halle an der Saale. Besonders originell pflegt die Hilda-Schule das Andenken an ihren berühmten Kollegen und Lehrer. In einer ihrer Jubiläumsschriften bat man zuletzt einen erdachten Philipp Wirtgen zu einem treffenden Interview. Bei einem Festakt der Universität Bonn anlässlich des 150. Geburtstages von Philipp Wirtgen sagte der Botaniker und Vorsitzende des Naturhistorischen Vereins, Maximilian Steiner (1904–1988) : Man macht sich keiner Übertreibung schuldig, wenn man Philipp Wirtgen als den größten Floristen und Pflanzengeographen der Rheinlande preist. Werke (Auswahl nach Themengebieten) Rheinisches Schiefergebirge (Naturkunde) Bericht über eine botanische Reise durch einen Theil der Eifel, in : Flora 21 (1838), S. 1–37 ; Das Ahrtal und seine sehenswerten Umgebungen, Bonn 1839 ; Flora des Regierungsbezirks Coblenz, Koblenz 1841 ; Bad Bertrich im Üsbachtal an der Mosel. Mit einleitenden Worten von Alexander von Humboldt und einer geognostischen Übersicht von Oberberghauptmann von Dechen, Koblenz 1847, S. I–VIII, 1–128 ; Florula Bertricensis, in : Verhandlungen des Naturhistorischen Vereins der preussischen Rheinlande und Westphalens [im Folgenden : Verh. Naturhist. Vereins] 5 (1848), S. 189–227 ; Rheinische Reiseflora. Kurze Übersicht und Charakteristik aller in dem Stromgebiet des Rheins, mit Ausnahme des alpinen Teils, vorkommenden Gefäßpflanzen, Koblenz 1857 ; Ueber die Vegetation der hohen und der vulkanischen Eifel, Bonn 1865 [ebenso erschienen in : Verh. Naturhist. Vereins 22,3 (1865), S. 63.291] ; Flora der preußischen Rheinlande oder die Vegetation des rheinischen Schiefergebirges und des deutschen niederrheinischen Flachlandes, Bonn 1869.
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Hermann Josef Roth
Didaktik Leitfaden für den Unterricht in der Botanik an Gymnasien und höheren Bürgerschulen. Zugleich als Anleitung zur leichteren Bestimmung der wildwachsenden Gefässpflanzen des mittleren und nördlichen Deutschlands, 3. Aufl., Koblenz 1852 ; Anleitung zur landwirtschaftlichen und technischen Pflanzenkunde für Lehranstalten und zum Selbstunterricht, 2 Teile, Koblenz 1857/1860. Geowissenschaften Uebersicht der um Coblenz in den unteren Lagen der devonischen Schichten vorkommenden Versteinerungen, Stuttgart 1852 ; Uebersicht der um Coblenz in den unteren Lagen der devonischen Schichten vorkommenden Petrefakten, in : Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie und Petrefaktenkunde 1852, S. 920–939 [mit F. Zeiler] ; Vergleichende Uebersicht der Versteinerungen in der rheinischen Grauwacke, in : Verh. Naturhist. Vereins 11 (1854), S. 459–481 [mit F. Zeiler] ; Bemerkungen über die Petrefacten der älteren devonischen Gebirge vom Rheine, insbesondere über die in der Gegend von Coblenz vorkommenden Arten, in : Verh. Naturhist. Vereins 12 (1855), S. 1–28, 10 Taf. Heimatkunde Die drei Jungfern von Auw. Eine Volkssage aus dem Killtale, in : Gemeinnützige und unterhaltende Rheinische Provinzial-Blätter 5 (1836), S. 253–261 ; Reiserouten durch die Eifel, in : Gemeinnützige und unterhaltende Rheinische Provinzial-Blätter 6 (1839), S. 230–277 ; Die Eifel in Bildern und Darstellungen. Natur, Geschichte, Sage, 2 Bde., Bonn 1864–1866 [Bd. 1 : Nette- und Brohlthal und Laach (1864), Bd. 2 : Das Ahrthal (1866)] ; Aus dem Hochwalde (Voigtländer’s rheinische Reisebibliothek, Bd. 3), Kreuznach 1867 ; Neuwied und seine Umgebung in beschreibender, geschichtlicher und naturhistorischer Darstellung. Ein Familienbuch, 2. mit einem umfassenden Anhang ergänzte Aufl., Neuwied 1891 (ND Leipzig 1902). Literatur François Crépin, Philipp Wirtgen. Notice nécrologique, in : Bulletin de la société royale de Botanique de Belgique 7. V. 1871 ; Adolf Felix Dronke, Dr. Philipp Wirtgen. Kurzes Lebensbild, theilweise nach eigenen Aufzeichnungen des Verstorbenen, in : Correspondenzblatt des Naturhistorischen Vereins 1 (1871), S. 8–14 ; Hans Frick, Dr. Philipp Wilhelm Wirtgen, in : Ders./ Heinrich Müller (Hgg.), Geschichte der Staatlichen Hildaschule, Koblenz 1935 ; Emanuel Kayser, Studien aus dem Gebiete des Rheinischen Devon, in : Zeitschrift der Deutschen Geologischen Gesellschaft 23,2 (1871), S. 289–376 ; Max Koernicke, Ferdinand Wirtgen, in : Verh. Naturhist. Vereins 81 (1924), S. 277–326 ; Bruno P. Kremer, Philipp Wirtgen. Zum 175. Geburtstag eines bedeutenden rheinischen Naturwissenschaftlers, in : Rheinische Heimatpflege 18,4 (1981), S. 264–268 ; ders., Philipp Wirtgen. Lehrer und Wissenschaftler. Zum 175. Geburtstag des bedeutenden rheinischen Botanikers, in : Heimatjahrbuch des Kreises Neuwied 1982, S. 128–131 ;
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Philipp Wirtgen (1806–1870)
Wolfhart Langer, Der botanische Verein am Mittel- und Niederrhein. Vorgänger des Naturhistorischen Vereins der Rheinlande und Westfalens (NHV), in : Landeskundliche Vierteljahresblätter 52,2 (2008), S. 143–145 ; Günter Matzke-Hajek, Liste der wissenschaftlichen Schriften von Philipp Wirtgen, in : Decheniana 156 (2003), S. 113–117 ; ders., Philipp Wirtgen (1806–1870). Taxonom und Pflanzengeograph, in : Decheniana 158 (2005), S. 31–42 ; ders./Heinrich E. Weber, Revision des von Ph. W. Wirtgen zwischen 1854 und 1861 herausgegebenen »Herbarium Ruborum rhenanorum«, eines Exsikkatenwerks über die rheinischen Brombeeren, in : Decheniana 157 (2004), S. 65–89 ; Th. Oelsner, Nekrolog der im Jahre 1870 verstorbenen Mitglieder der »Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur«, in : Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur 48 (1871), S. 271–311, hier S. 294–298 ; o. V., 150 Jahre Hilda-Schule in Koblenz. Bilder einer Schule in Erinnerungen und Berichten von Schülern und Lehrern des Hilda-Gymansiums, Koblenz 1985 ; [Hiltrud Wambach], 175 Jahre Hilda-Schule in Koblenz, Koblenz 2010 ; G[eorg] A[ugust] Pritzel, Thesaurus literaturae botanicae, 2. Aufl., Leipzig 1872 ; Uwe Raabe, Zur Geschichte der floristischen Erforschung des rheinischen Landesteils, in : Henning Haeupler u. a. (Bearb.), Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen in NRW, Recklinghausen 2003, S. 15–28 ; Hermann Josef Roth, Philipp Wirtgen, in : Biologie in unserer Zeit 36,6 (2006), S. 392 ; J. Schnur, Zusammenstellung und Beschreibung sämtlicher im Übergangsgebirge der Eifel vorkommenden Brachiopoden nebst Abbildung derselben, in : Paleaontographica 3 (1853), S. 169–254 ; Wolfgang Schütz, Koblenzer Köpfe. Personen der Stadtgeschichte, Namensgeber für Straßen und Plätze, 2. Aufl., Koblenz 2005, S. 582–583 ; Maximilian Steiner, Philipp Wirtgen, in : Decheniana 110 (1957), S. 279–288 ; Ernst Wunschmann, Artikel »Wirtgen, Philipp«, in : Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 43, Leipzig 1898, S. 525–527. Online Internetpräsenz der Familie Wirtgen, abgerufen unter : http://www.familie-wirtgen.de/index1. htm (Stand : 2.1.2019). Internetpräsenz des Naturhistorischen Vereins der Rheinlande und Westfalens e. V., abgerufen unter : http://www.naturhistorischerverein.de/index.html (Stand : 2.1.2019). International Plant Names Index. Verzeichnis aller Pflanzennamen, die taxonomisch mit Wirtgen in Verbindung stehen, abgerufen unter : https://www.ipni.org/ ?q=author%20std%3AWirtg. (Stand : 31.3.2019).
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Gisela Fleckenstein
Paula Reinhard (1850–1908) Katholische Mäzenatin und Klostergründerin
Die erste Lebensbeschreibung der tieffrommen Katholikin und Klostergründerin Paula Reinhard aus Koblenz-Ehrenbreitstein stammt aus der Feder des dänischen Schriftstellers und Konvertiten Johannes Jörgensen (1866–1956). Er nannte sein 1911 erschienenes Buch »Die Geschichte eines verborgenen Lebens«. Jörgensen, bekannt vor allem durch seine 1907 erschienene Biographie des heiligen Franz von Assisi, konnte für sein Buch aus verschiedenen zum Teil heute nicht mehr vorhandenen Quellen schöpfen. Er benutzte Briefe, Familienchroniken, Aufzeichnungen der Freundinnen und ganz ausgiebig die Tagebücher der Paula Reinhard. Das Tagebuch wurde nach dem Tode ihres Vaters nicht mehr täglich geführt, sondern während der jährlichen Exerzitien wurde ein rückblickender Eintrag getätigt. Die tagebuchartigen Aufzeichnungen führte Paula Reinhard auf Anraten und Wunsch ihrer jeweiligen Beichtväter. Sie erzählt darin in rührender Einfachheit ihr Leben von Kindheit an. Die Angaben beziehen sich aber zuerst immer auf ihr inneres Erleben. Sie schreibt immer wieder von ihren Fehlern, die sie verurteilt und beweint. Aus heutiger Sicht erscheint vieles sehr skrupulös. So das Naschen, Streit mit der Schwester oder das Lesen von Romanen. »Ein verborgenes Leben« – Johannes Jörgensen versteht darunter ein still mit Christus geführtes Leben, in dem viel Gutes geschehen ist. Ein solch stilles Leben kann in der Familie, am Krankenbett, im Hospital, bei der Arbeit mit Kindern oder auch im Tiefen Frieden und Schweigen der einsamen Klosterzelle ( J. Jörgensen, S. VI f.) geführt werden. Ihr Lebensmotto hat Paula Reinhard dem geistlichen Tagebuch anvertraut : O mein Jesus, mein Gott und Heiland, könnte ich mein Leben dafür hingeben, dass du von allen Menschen erkannt und geliebt und nicht mehr beleidigt würdest ! […] Ich will nur leben und sterben für dich und zu deiner Ehre ! ( J. Jörgensen, S. 7). Diese Formulierung der Ganzhingabe an Gott klingt nach einem Abschied von der Welt. Dieses Leben wurde dennoch nicht ganz im Verborgenen geführt. Begeben wir uns auf die Spuren von Paula Reinhard. 1. Familie und Herkunft Die Eltern von Paula waren Franz Reinhard (1814–1889) und Pauline Mittweg (1827–1850). Ihr Vater wurde am 2. Mai 1814 zu Haus Baldeney bei Werden an der Ruhr geboren. Haus Baldeney war ein Landsitz der freiherrlichen Familie von 91
Gisela Fleckenstein Abb. 1: Paula Reinhard, Porträtfoto, undatiert, aus : Johannes Jörgensen, Die Geschichte eines verborgenen Lebens, Freiburg 1919
dem Bottlenberg gen. von Schirp, aus deren Linie der Vater stammte. Die Großeltern der väterlichen Linie waren Bernhardine von dem Bottlenberg gen. von Schirp (gest. 1862) und der Leutnant bei den ehemals Großherzoglich Bergischen Truppen, Karl Reinhard. Franz Reinhard besuchte die Gymnasien in Essen und Dortmund. Er kam früh mit der romantischen Poesie in Berührung und griff selbst sein Leben lang zur Feder. Er legte 1833 seine Abiturprüfung ab und ging dann an die Universität Bonn, um Philologie zu studieren. Schon bald wechselte er zu den Rechtswissenschaften, bestand das Examen und wurde Referendar in Hamm und dann Assessor in Hohenlimburg (Hagen). 1844 kam er als Regierungs- und Obergerichtsrat an die Fürstlich Solms-Braunfels’sche Regierung nach Braunfels bei Wetzlar. Franz Reinhard sympathisierte mit dem Bonner Theologen Georg Hermes (1775–1831) und litt unter dessen römischer beziehungsweise kirchlicher Verurteilung (Hermesianismus). Er lernte die 18-jährige Pauline Mittweg kennen, mit der er sich im Mai 1846 verlobte. Sie stammte ebenfalls aus Essen und war die jüngste Tochter des Rechtsanwalts und Justizkommissars Johann Carl Heinrich Mittweg (1793–1843) und seiner Ehefrau Maria Anna Sophia geb. Brockhoff (1789–1869). Es war eine durch und durch katholische Familie. Dies ging so weit, dass Pauline ihrem Verlobten, der ihr brieflich von der Lektüre von Alphonse de Lamartines (1790–1869) »Voyage en Orient« (1835) 92
Paula Reinhard (1850–1908)
berichtete, zum Verzicht auf die Lektüre riet, weil das Buch auf dem Index verbotener Bücher stand. Er sollte sich zumindest die Erlaubnis seines Beichtvaters einholen, was er auch tat. Pauline machte davon ihr und ihres Verlobten Seelenheil abhängig. Die Heirat mit der 13 Jahre jüngeren Frau erfolgte am 1. Mai 1847 in Essen. Nach einer kurzen Hochzeitsreise siedelte das junge Paar nach Braunfels über. Die erste Tochter, Maria Theresia (1848–1919), wurde im Februar 1848 in Essen geboren, wo Pauline wegen der politischen Unruhen weilte. 1848 wurde ihr Ehemann nach Koblenz geschickt, um Truppen (ein Detachement) zur Verteidigung der Braunfels’schen Herrschaft zu requirieren. Solms-Braunsfeld und damit seine Gerichtsbarkeit kam dann zu Preußen. Franz Reinhard plante zunächst, die Laufbahn eines Richters einzuschlagen, ging dann aber nach Ehrenbreitstein, um sich dort 1849 als Rechtsanwalt niederzulassen. Er wurde zum königlichen Justizrat ernannt und wirkte fortan als Rechtsanwalt am Justizsenat in Ehrenbreitstein. Seine Familie folgte ihm, woraufhin er mit seiner Frau täglich um 6 Uhr vor Arbeitsbeginn die heilige Messe besuchte. Am 11. März 1850 wurde in der Wohnung im Bayerlehenhof in Ehrenbreitstein die zweite Tochter geboren. Am folgenden Tag wurde sie in der Pfarrei Heilig Kreuz auf die Namen Pauline Franziska Elisabeth getauft. Paten waren Elisabeth Mittweg (1820–1857) und ihr Vater Franz Reinhard. Vier Tage nach der Geburt ihres zweiten Kindes starb Pauline Reinhard im Alter von 23 Jahren am 15. März 1850. Der Vater widmete sich nun nur noch seiner Arbeit, seinen Kindern und seinen philosophischtheologischen Studien. Er hat nicht wieder geheiratet. Franz Reinhard beschäftigte sich intensiv mit privaten wissenschaftlich-theologischen Studien, die auch in einige Veröffentlichungen mündeten. Ihn interessierte vornehmlich die Auslegung der Heiligen Schrift. Ihm ging es vor allem darum, Spuren göttlichen Handelns in der Welt zu entdecken, wobei ihm auch die Lektüre der Kirchenväter eine Hilfe war. Daneben entfaltete Reinhard, der wegen seiner Studien auch der »Laientheologe am Rhein« genannt wurde, eine schriftstellerisch-dichterische Tätigkeit. Über 30 Jahre hinweg erschienen in den von Adolph Kolping (1813–1865) herausgegebenen »Rheinischen Volksblättern für Haus, Familie und Handwerk« wöchentlich Gedichte gezeichnet von »Ehr. Rhd.«. Diese wurden nach seinem Tode von seiner ältesten Tochter Maria in den beiden Gedichtbänden »Emanuel« (1899) und »Auf nach Bethlehem, zum Hause des Brotes« (1904) – erschienen zur Weihe der Pfaffendorfer Klosterkapelle – herausgegeben. Reinhard vertrat aktiv die Ideen Kolpings und unterstützte 1851 die von dem Juristen und Politiker August Reichensperger (1808–1895) in Koblenz vorangetriebene Gründung eines Gesellenvereins. Nach der Verabschiedung der preußischen Verfassung von 1849 hatte sich die Lage der katholischen Kirche in Preußen entspannt und auch in Koblenz wirkten zahlreiche Laien mit, die sich um die ultramontanen Pfarrer Philipp Krementz (1819–1899) – den späteren Bischof – und Philipp de Lorenzi (1849–1868) gruppierten. Zu dieser Gruppe gehörten der Arzt des Bürgerspitals Franz Aloys Heinrich Duhr (1815–1884, ab 1844 in Koblenz), die Justizräte Franz Adams (1828–1891) und Franz Reinhard, die oft ihren 93
Gisela Fleckenstein
Einfluss geltend machten. Reinhard beschäftigte sich sehr mit aktuellen theologischen Fragen. Er beteiligte sich auch an der Diskussion um das Unfehlbarkeitsdogma, welches er 1874 mit einem als Broschüre veröffentlichten Aufsatz »Worte des Friedens in stürmischer Zeit« (im Koblenzer Verlag Hergt) für sich annahm. Sein schriftstellerisches Talent war auf seine Tochter Maria übergegangen, die sich daneben auch für Malerei und Musik interessierte. Sie gab nicht nur die Gedichte des Vaters heraus, sondern auch ein eigenes Buch mit dem Titel »In hoc signo«. Dieses veröffentlichte sie 1913 unter dem Pseudonym M. vom Helfenstein, wohl gewählt nach der Burg Helfenstein auf dem Ehrenbreitstein. 2. Kindheit und Jugend Franz Reinhard fand nach dem frühen Tod seiner Frau in Gertrud Feigel (gest. 1893) eine »liebe Tante«, wie sie allgemein genannt wurde, welche den Haushalt und die Erziehung von Maria und Paula übernahm. Auch sie war sehr religiös und besuchte täglich die Messe. Pflegemutter und Vater sorgten für eine zum Teil strenge religiöse Erziehung. Paula hatte früh Kontakt zu den 1861 wieder nach Koblenz-Ehrenbreitstein gekommenen Kapuzinern. Sie war eine gute Schülerin und wurde von der Pflegemutter in alle Fertigkeiten einer höheren Tochter eingewiesen (Haushalt, Weißnähen, Zuschneiden, Feinbügeln, Spitzenklöppeln, Blumenmachen und Paramentik). Sie besuchte auch eine auswärtige Kunstgewerbeschule. Nicht fremd waren ihr das Zeichnen, die Porzellanmalerei, das Klavierspiel und der Tanzunterricht. Die Sommerferien verbrachten die Geschwister Maria und Paula regelmäßig bei der Großmutter Bernhardine Reinhard (gest. 1862) in Essen. Ein Erziehungsgrundsatz von Franz Reinhard waren – neben der religiösen Erziehung – Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit. In Koblenz besuchte Paula zur Ausbildung das Institut Brockmann. Dabei handelte es sich um eine von einem Fräulein Brockmann geleitete private katholische höhere Töchterschule in der Castorpfaffenstraße, an der Pfarrer Krementz auch Religion unterrichtete. Dort standen unter anderem Deutsch, Englisch, Französisch und Gesang auf dem Stundenplan. 3. Geistliches Leben Paula Reinhard wurde früh mit den Sakramenten der Kirche vertraut gemacht. Sie selbst schreibt, dass sie mit sieben Jahren ihre erste Beichte abgelegt habe. Mit 13 Jahren – am 12. April 1863 – empfing sie die erste heilige Kommunion. Sie ging als Kind alle zwei Monate zu den Sakramenten und hatte auch kein Verlangen, dies öfter zu tun. Obwohl sie die große romantische Liebe aus der Lektüre englischer Romane kannte, schrieb sie in ihrem Tagebuch : Trotzdem ließ der liebe Gott in seiner unendlichen Liebe es 94
Paula Reinhard (1850–1908)
nie zu, dass mein Herz sich zu einer irdischen Liebe neigte, und obschon die meisten meiner Freundinnen irgendeine jugendliche Schwärmerei hatten, so konnte ich doch nie für Fremde ein Interesse lassen, so dass ich das in meiner kindlichen Auffassung für einen Mangel meinerseits hielt ( J. Jörgensen, S. 51). Am 12. Oktober 1866 wurde sie in der Koblenzer Kirche St. Kastor vom Trierer Bischof Leopold Pelldram (1811–1867) gefirmt. Für Paula bedeutete dies eine starke Wende in ihrem geistlichen Leben. Sie wiederholte ihre Generalbeichte bei einem Kapuzinerpater, in dessen geistliche Begleitung sie sich begab. Sie widmete sich, da sie zu Hause keinerlei Pflichten übernehmen musste, in den nächsten fünf Jahren ganz ihrem Gebetsleben und der Nächstenliebe. Diese bestand praktisch in der Unterstützung von Armen, Alten und Kranken. Als Jugendliche besuchte Paula mit einer Freundin, die später bei den Heimsuchungs schwestern (Salesianerinnen) eintrat, fast täglich die heilige Messe und hielt auch eine Zeit der Betrachtung, um – wie sie sagte – einen Grad der Vollkommenheit zu erreichen. Ein der Reinhard’schen Familie nahestehender Priester aus Recklinghausen, Gottfried Wesener (1820–1892), genannt »Onkel Gottfried«, sah darin kein Problem, wie er dem Vater versicherte. Stark beeinflusst wurden Paula und Maria auch von einer in der Fastenzeit 1867 durch die Jesuiten abgehaltenen Volksmission in St. Kastor in Koblenz. Einer der Missionsprediger war der mitreißende Pater Peter Roh (1811–1872). Eine Wende in Paulas Leben erfolgte kurz darauf am Gründonnerstag 1867. Nach einem Gebet am Heiligen Grab in der Krypta der Heilig-Kreuz-Kirche in Ehrenbreitenstein war sie sich ihrer Berufung sicher. Sie wollte Krankenschwester werden und dazu bei den Armen Schwestern des Heiligen Franziskus eintreten. Diese in Aachen von der Industriellentochter Franziska Schervier (1819–1876) im Jahre 1845 gegründete Kongregation widmete sich vor allem der ambulanten Kranken- und Armenpflege. Die Gemeinschaft hatte seit 1854 auch eine Niederlassung in Koblenz. Ihr Vater war von dem Gedanken nicht angetan und entschied, dass seine beiden Töchter vor ihrem 25. Lebensjahr weder heiraten noch in ein Kloster eintreten durften. Damit wurde der geistliche Weg der 17-Jährigen zunächst gestoppt. Zur Erinnerung an den Tag ihrer Berufung ließ sich Paula einen Ring mit dem Datum und den franziskanischen Worten Deus meus et omnia, einem Wiederholungsgebet des heiligen Franziskus von Assisi, anfertigen. Der Gedanke an einen Ordenseintritt lag in der (mütterlichen) Familie Mittweg eigentlich nicht fern, waren doch zwei Tanten Paulas in Ordensgemeinschaften eingetreten : Elisabeth Mittweg (1820–1857), Ordensfrau in Rüdesheim/Bingen, und Maria Christine Mittweg (1822–1862), Ordensfrau bei den Borromäerinnen in Trier. Kurzzeitig hatte Paula 1869 den Jesuiten Pater Joseph von Lamezan (1816–1873) zum Beichtvater. Doch ihr Vater führte einen Wechsel herbei, da er nicht wollte, dass seine Tochter bei einem Opponenten der damaligen kirchenpolitischen Richtung beichtete. Paula wechselte wieder zu einem Kapuziner. Pater Ignatius von Weldige (1830–1903) war über lange Jahre ihr geistlicher Führer und Begleiter. Dieser ver95
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langte von seinem Beichtkind oft strengen Gehorsam, Entschuldigungen und Selbstdemütigungen für Kleinigkeiten. In ihrem Tagebuch notierte Paula im Juli 1872 auch Momente dunkler Nacht in ihrer Glaubenskraft. Ihr Biograph Johannes Jörgensen vergleicht ihre Situation gar mit den Geschichten großer Heiliger, wie Johannes vom Kreuz (1542–1591), Angela von Foligno (1248–1309), Jean-Marie Vianney gen. der Pfarrer von Ars (1786–1859) oder Franz von Sales (1568–1622). Paula legte nach der Tätigkeit in der Verwundetenpflege bei ihrem Beichtvater die privaten Gelübde der Jungfräulichkeit (Ehelosigkeit), des Gehorsams und der standesgemäßen Armut ab. Die Gelübde waren jeweils zeitlich befristet und konnten erneuert werden, was Paula regelmäßig tat. Am 24. Juni 1872 ließ sie sich in den Dritten Orden des heiligen Franziskus aufnehmen. Sie nahm den Ordensnamen Schwester Veronika vom Dritten Orden des heiligen Franziskus an. Dem Dritten Orden gehören Männer und Frauen an, die in der Welt nach dem Vorbild des heiligen Franziskus von Assisi leben. Er wird heute Ordo Franciscanus Saecularis genannt und kennt keine Ablegung von Ordensgelübden und kein Ordenskleid. Ihren weltlichen Tagesablauf hatte Paula Reinhard mit Gebetszeiten klösterlich strukturiert. Der dunklen Nacht – ihrer Gottverlassenheit – begegnete sie mit vermehrtem Gebet, Gesprächen mit ihrem Seelenführer sowie Exerzitien und einer besonderen Vorbereitung auf die kirchlichen Hochfeste. Dazwischen lassen sich immer wieder Gedanken ausmachen, in ein Kloster mit strenger Klausur (Klarissen) einzutreten. Bei den jährlichen Exerzitien, die sie im Oktober 1903 zusammen mit den St. Josephsschwestern in Trier verbrachte, schrieb Paula Reinhard in ihr Tagebuch : Ich fühle mich im Kloster immer wie ein Fisch im Wasser. Alle die schönen, klösterlichen Übungen haben noch denselben Zauber für meine Seele wie in der glücklichen Zeit meiner Kindheit. Das fühlte ich auch diesen Sommer in [der Villa] Emmaus, als ich die ersten Tage dort mit den Schwestern zusammen verleben durfte. Das Kloster ist nun einmal mein Paradies auf Erden ( J. Jörgensen, S. 238). 4. Franziskanisch leben ? Seit November 1872 kannte Paula Reinhard das 1860 gegründete Kloster der Kapuzinerinnen der Ewigen Anbetung in Mainz, welches sie zu dieser Zeit erstmals besuchte. Der Vater hatte ihr erlaubt, acht Exerzitientage in einem Kloster zu verbringen. Die Mainzer Anbetungsschwestern boten einzelnen Damen die Gelegenheit, sich für einige Tage in die Einsamkeit zurückzuziehen, um alleine oder unter der Anleitung einer Schwester geistliche Übungen abzuhalten. Besonders fasziniert war Paula Reinhard von der Einfachheit des Mainzer Klosters und vom Breviergebet der Schwestern. Schon in Ehrenbreitstein hatte sie oft das Gebet der Kapuziner gehört. Im Mainzer Kapuziner-Klarissenkonvent befanden sich damals 48 Schwestern unterschiedlicher 96
Paula Reinhard (1850–1908)
Herkunft. Während der Exerzitienwoche bereitete sie sich erneut auf die Verlängerung ihres Armuts- und Gehorsamsgelübdes vor. Franz Reinhard war die Klostersehnsucht seiner Tochter wohlbekannt ; trotzdem beförderte er einen Eintritt nicht. Er erlaubte lediglich kürzere Klosteraufenthalte. So hatte die Oberin der Mainzer Kapuzinerinnen von der Ewigen Anbetung Paula Reinhard nach ihrem ersten Aufenthalt 1872 angeboten, mit Erlaubnis des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811–1877) eine Zeit lang mit im Klausurbereich des Klosters zu leben, auch ohne in die Ordensgemeinschaft einzutreten. Paula machte davon um das Herz-Jesu-Fest 1873 Gebrauch. Sie beabsichtigte damals, in den Orden einzutreten. Bei den Kapuzinerinnen galt sie schon als Kandidatin. Sie erhielt dort Besuch von Bischof Ketteler, der ein Freund ihres Vaters war. In Mainz nahm sie am klösterlichen Alltagsleben mit Hausarbeiten und Gebetszeiten teil. Ihr Beichtvater befahl ihr jedoch im Gehorsam, ob ihres angegriffenen Gesundheitszustandes nach Ehrenbreitstein zurückzukommen und nicht in den Orden einzutreten. Ein Schlag für Paula Reinhard war, dass ihr Seelenführer kurze Zeit später als Guardian (Hausoberer) in ein Kloster seiner Ordensprovinz nach Münster (Westfalen) versetzt wurde. Sie hielt brieflichen Kontakt und besuchte ihn ab und an. Aufgrund der 1875 erlassenen Kulturkampfgesetze wurde das Münsteraner Kloster aufgehoben. Pater Ignatius ging als Hausgeistlicher in das Mutterhaus der Kongregation der Franziskanerinnen vom heiligen Martyrer Georg nach Thuine. Im November 1875 nahm Paula Reinhard dort einige Tage an Exerzitien teil. Schließlich trat der Pater 1879 in die Bayerische Ordensprovinz über und verbrachte seine letzten Lebensjahre in Alt ötting. Auch dort besuchte ihn Paula, die sich mehrmals zu Exerzitien im Kloster der Heimsuchungsschwestern in Zangberg aufhielt. In Zangberg gingen den Exerzitien immer Tage der Erholung voraus, um befreundete Schwestern zu treffen, wie Schwester Maria Seraphica (Claudine) Brentano (1840–1927), eine Tochter von Christian Brentano (1784–1851). Auf Einladung von Franz Reinhard weilte Pater Ignatius im Herbst 1880 wieder in Ehrenbreitstein. Grund war, dass die dortige Pfarrstelle wegen der Kulturkampfereignisse verwaist war und Paulas Schwester Maria aufgrund ihrer Gesundheit keinen anderen Gottesdienst besuchen konnte. Der geistliche Besuch des Kapuziners sollte drei Tage dauern, doch es wurden drei Monate daraus, weil er schwer erkrankte und dann im Hause Reinhard gepflegt wurde. Immer wieder nahm Paula Reinhard an Exerzitien teil, so vom 26. August bis zum 2. September 1882 im Kloster der Heimsuchungsschwestern im bayerischen Dietramszell. Wenn Pater Ignatius nicht zur Verfügung stand, beichtete sie bei Pfarrer Peter Ditscheid (1846–1897) in Koblenz, der auch ihre geistliche Führung übernahm. Lange Jahre ihres Lebens kämpfte Paula Reinhard innerlich mit ihrer Gottverlassenheit und dem Gefühl eines immerwährenden Versagens vor Gott. Ihre selbst auferlegten klösterlichen Pflichten im Alltag, was vor allen Dingen das Einhalten der großen Gebetszeiten des Breviers und vieler zusätzlicher Gebete bedeutete, konnte 97
Gisela Fleckenstein Abb. 2: Mutter Maria Ignatia von Hertling, Porträtfoto, undatiert
sie in ihrem normalen Tagesablauf oft nicht durchhalten. Diese Verletzung der selbstauferlegten Pflichterfüllung führte immer wieder zu Selbstanklagen vor Gott, was sie wiederholt ihrem Tagebuch anvertraute. Immer wieder drängte sich ihr der Gedanke an ein Klosterleben auf. Dies war angesichts des Alltags mit der Pflege der oft kranken Schwester Maria und der Fürsorge für den Vater und das Haus nicht realisierbar. Paula Reinhard erbat sich im Advent 1884 die Erlaubnis, das Ordenskleid des Franziskus während der Nacht tragen zu dürfen. Auf ihre Bitte hin übersandten ihr die Kapuzinerinnen in Mainz einen Habit, Skapulier, Gürtel und Schleier. Als Schwester Veronika vom Dritten Orden des heiligen Franziskus schlief sie ab Weihnachten 1884 mit dem Ordensgewand. Sie selbst sah es als Ausdruck ihrer Klostersehnsucht (Braut Christi) und als Gewand der Buße. Die Idee hatte sie aus Mainz übernommen. Während des Kulturkampfes galt im Mainzer Kloster ein Aufnahmestopp, dem sich die Oberin Maria Ignatia von Hertling (1838–1909) im Einverständnis mit dem Mainzer Bistumsverweser Christoph Moufang (1817–1890) verweigerte. Sie nahm 1883 fünf Postulantinnen auf, die offiziell andere Tätigkeiten im Haus verrichteten. 1884 begann das Noviziat. Die Novizinnen durften das Ordenskleid aus Furcht vor den Behörden jedoch nur über Nacht anziehen und im Habit schlafen. 98
Paula Reinhard (1850–1908)
Im Jahr 1885 fand Paula Reinhard endlich ihren inneren geistlichen Frieden und so einen Ausweg aus der dunklen Nacht. Die Angst, Gott zu verlieren, wich dem Gefühl, von Gott geführt und angenommen zu sein. Ab 1886 machte sie jeden Sommer Exerzitien. Nach diesem langen Weg zum inneren Frieden gestand ihr der Beichtvater die Ablegung eines vierten Gelübdes, der Ganzhingabe an Gott, zu. Dazu bereitete sie sich intensiv durch Exerzitien im Kloster Marienthal im Rheingau vor. Zur Ablegung dieses vierten Gelübdes am 22. Juli 1886 besuchte auch Pater Ignatius den Wallfahrtsort. In ihren letzten Lebensjahren verbrachte sie die Kartage in der Regel in Trier, um an den Feierlichkeiten im Dom teilzunehmen. Ostern wurde wieder in der hauseigenen Kapelle in Ehrenbreitstein gefeiert. Der Kapuziner Ignatius von Weldige starb im Oktober 1903 in Altötting, während Paula Reinhard Exerzitien in Trier machte. Peter Ditscheid, Pfarrer von St. Josef von Koblenz, war im Januar 1897 in Ehrenbreitstein verstorben. Er war ein Freund des Reinhard’schen Hauses und hatte schon während des Kulturkampfes zweimal in der Woche die Messe in der hauseigenen Kapelle gelesen. Da in Ehrenbreitstein kein Pfarrer war, hatte er sich auch Gertrud Feigels und Maria Reinhards angenommen. 5. Karitative Tätigkeiten Eine erste Tätigkeit außerhalb des elterlichen Hauses nahm Paula Reinhard 1866 auf. Mit 16 Jahren half sie bei den Barmherzigen Schwestern in Koblenz bei der Pflege der Verwundeten im Lazarett. Die Krankenpflege war ihr Metier, doch sie überanstrengte sich dabei körperlich. Paula konnte aufgrund der Restriktionen durch ihren Vater den geplanten Ordenseinstritt bei den Armen Schwestern vom heiligen Franziskus nicht realisieren, doch sie blieb der Grundidee treu, als 1870 der Deutsch-Französische Krieg ausbrach. Sie schloss sich wiederum den Barmherzigen Schwestern vom heiligen Karl Borromäus an, die sich in einem Koblenzer Militärlazarett in Ehrenbreitstein um die Pflege der Verwundeten kümmerten. Als »Schwester Paula« trat sie morgens nach der Messe ihren Gang zu den Hilfsbedürftigen an. Im Lazarett kam sie mit ansteckenden Krankheiten wie Typhus in Berührung und wurde mit Tod und Sterben konfrontiert. In vielen Dingen wurde sie durch ihren Beichtvater und Seelenführer, Pater Ignatius, beraten, der auch Lazarettseelsorger war. Sie selbst laborierte mehrere Tage hindurch an einer fiebrigen Erkrankung. Für ihren Einsatz im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 wurde sie am 18. August 1872 mit der vom Kaiser gestifteten Kriegsdenkmünze aus Stahl (für Nichtkombattanten) ausgezeichnet. Paula hielt an ihrer Berufung fest und näherte sich so dem ursprünglich angestrebten Ordensleben bei den Armen Schwestern an. Sie kümmerte sich um Arme und Kranke in Ehrenbreitstein und Umgebung und wurde von der Bevölkerung Engel des Tales genannt. Eine ambulante Kranken- und Armenpflege gab es noch nicht. Dabei 99
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hatte Paula Reinhard mit ihrem Verhalten großen Einfluss auf ihre Freundinnen. In vielen anderen Fällen des 19. Jahrhunderts hatte eine solche Tätigkeit zur Gründung eines Ordens beziehungsweise einer Kongregation geführt, wie die Beispiele Maria (Katharina) Kasper (1820–1898, Gründerin der Armen Dienstmägde Jesu Christi) aus Dernbach oder Rosa Flesch (1826–1906, Gründerin der Franziskanerinnen von Waldbreitbach) zeigen. Die ambulante Pflege von Armen und Kranken blieb Paula Reinhard immer ein Anliegen. Daneben war sie über viele Jahre hinweg auch in (karitativen) Vereinen aktiv. Sie gründete in Ehrenbreitstein eine Marianische Kongregation, für die sie eine Barmherzige Schwester erbat, die diese dann weiterführte. Eine weitere Einrichtung für die Jugend war eine Jugendbibliothek im Elternhaus, in dem Paula Reinhard die Ausleihe der Bücher übernahm. 1885 initiierte sie in Koblenz – angeregt durch eine Österreicherin, die eine erfolgreiche Mission in einem Gefängnis hatte abhalten lassen – mit ihrer Schwester Maria eine Art Gefängnisseelsorge. Der Gefängnisgeistliche bat sie, Besuche bei weiblichen Strafgefangenen zu übernehmen. Später war auch Maria Le Hanne geb. Reichensperger (1848–1921) beteiligt, die mit in das Koblenzer Gefängnis ging. Sie war die jüngste Tochter von August Reichensperger und die Mitbegründerin und stellvertretende Vorsitzende des Zentralverbandes des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder. Ihr Ehemann und ihre Tochter starben früh, doch ihren Wunsch, in ein Kloster einzutreten, stellte sie zurück, weil sie ihren Vater pflegte. Die Besuche wurden später auch auf das Gefängnis in Siegburg ausgedehnt und 1896 noch einmal intensiviert. Paula Reinhard besuchte an Sonntagen weibliche Strafgefangene, um ihnen etwas vorzulesen, mit ihnen religiöse Lieder zu singen oder gut auf sie einzuwirken. Es ging nicht nur um die Unterhaltung der Strafgefangenen, sondern darum, ein möglichst vertrauensvolles Verhältnis zu den Frauen herzustellen, sie auf ihre Entlassung vorzubereiten und ihnen für die erste Zeit nach der Haftentlassung eine Unterkunft zu vermitteln. Um Paula Reinhards Gesundheit war es nicht immer gut bestellt. In Begleitung ihrer Schwester und einer Freundin verbrachte sie daher im Sommer 1873 eine Kur in Langenschwalbach im Taunus, die ihr aber keine Linderung verschaffte. Auch die Zeiten des Kuraufenthaltes wurden mit selbstauferlegten religiösen Übungen gefüllt. In ihr Tagebuch notierte Paula : Mein Zimmer soll, solange ich noch in der Welt bleiben muß, meine Klarissenzelle sein ( J. Jörgensen, S. 114). Sie selbst hatte sich eine strenge, klosterangepasste Tagesordnung mit vielfachen täglichen, wöchentlichen und monatlichen Gebetsübungen, geistlichen Lesungen und Betrachtungen auferlegt. Daneben widmete sich Reinhard aber auch durchaus praktisch-weltlichen Tätigkeiten. Sie verwaltete das Familienvermögen, organisierte den Reinhard’schen Haushalt mit den zahlreichen Besuchern und dem dazugehörigen Aufenthaltsprogramm. Ihr Vater, ihre kränkelnde Schwester Maria und die altgewordene Pflegemutter waren von allen Arbeiten befreit. Franz Reinhard nutzte diese Zeit für seine intensiven Studien und die Konversation mit den Gästen. Die Einnahmen des Reinhard’schen Hauses wurden 100
Paula Reinhard (1850–1908)
dreigeteilt : ein Teil für die Armen, ein Teil für Missionen, Kirchen und gute Zwecke und ein Teil für den familiären Unterhalt. Paula Reinhard schrieb nach dem Tod ihres Vaters in ihr Tagebuch : Mein Leben gestaltet sich nach Papas Tode etwas anders wie bisher. Ich bin in mancher Beziehung freier geworden und auch wieder abhängiger, weil ich jetzt noch unbehinderter nach dem heiligen Gehorsam leben kann ( J. Jörgensen, S. 208). Es fiel nun den beiden Schwestern zu, sich um die Verwaltung des Reinhard’schen Vermögens zu kümmern, dafür erbat sie von ihrem Seelenführer – weil sie dies jetzt als Erbin tat – um Ausnahmebestimmungen von ihrem Armutsgelübde. 6. Gesellschaftliches Leben – »Gasthaus zur freundlichen Aufnahme« Franz Reinhard hatte durch seine Veröffentlichungen einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt. Sein Haus am Fuße der Festung Ehrenbreitstein wurde zu einem Treffpunkt katholischen Lebens. Er selbst war politisch nicht aktiv, stand aber der Zentrumspartei nahe. Zum Haus – oder besser zu den drei nebeneinanderliegenden Häusern, die Reinhard in der heutigen Straße Obertal Nr. 30, 32 (diese beiden Häuser wurden 1890 erworben, um einen Fabrikbau zu verhindern) und 34 kaufte – gehörte ein in zwölf Terrassen zur Festung hin aufsteigender Garten. Reinhard hatte das Haus Nr. 34 mit Garten und Hinterhaus 1872 gekauft, worin ein Zimmer zu einer Privatkapelle umgebaut wurde. Das Hinterhaus wurde 1882 abgerissen und an seiner Stelle – zwischen Wohn- und Gewächshaus – ließ Reinhard durch seinen Verwandten, den bekannten Berliner Architekten August Menken (1858–1903), eine private neogotische Hauskapelle bauen. Von 1883 bis zu seinem Tode 1893 wurde darin (wenn möglich täglich) die heilige Messe gelesen, weil Franz Reinhard den Weg zur höher gelegenen Pfarrkirche aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr bewältigen konnte. Nach der Benediktion durch den Trierer Bischof Michael Felix Korum (1840–1921) wurde in der Kapelle am 21. April 1883 vom Kölner Weihbischof Johann Anton Friedrich Baudri (1804–1893) die erste Messe gehalten. Schon 1877 hatten die Reinhards auf ihrer Rückreise von einer Audienz bei Papst Pius IX. (1846–1878) in Padua die entsprechende Erlaubnis erhalten. Ab 1887 durfte – mit päpstlicher Erlaubnis, die über den Bischof eingeholt worden war – auch das Allerheiligste in der Kapelle verwahrt und auch ausgesetzt werden. In der Kirche musste dann mindestens wöchentlich eine Messe gelesen werden, was während des Kulturkampfes nicht immer einfach war. Gottfried Wesener setzte am 11. August 1887 das Allerheiligste ein. Der Bilderschmuck der Kapelle war von dem Beuroner Künstler Pater Lukas Steiner (1849–1906) zwischen 1888 und 1889 geschaffen worden. Das Haus und die Kapelle der Familie Reinhard wurden später zu einer Niederlassung der Pallottiner. Am 7. Dezember 1892 zogen diese ein und nutzten die Gebäude bis 1939 hauptsächlich als Klosterschule. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden Flüchtlinge und Vertriebene dort Aufnahme. Die Pallottiner gaben die Gebäude 1978 endgültig auf. Anschließend erwarb die Stadt Koblenz die Gebäude vom Bischöfli101
Gisela Fleckenstein Abb. 3: Garten und Kapelle der Familie Reinhard in Ehrenbreitstein, undatiert, aus : Jörgensen, Die Geschichte
chen Stuhl in Trier, jedoch ohne ein Nutzungskonzept dafür zu haben. Die ehemalige Pallottiner-Kapelle mit den angrenzenden Räumlichkeiten sollte 1980 für eine Umlegung der Straße Obertal abgerissen werden. Doch wurde das ruinöse, aber denkmalwürdige Ensemble zwischen 1989 bis 1991 saniert. Die barocken Wohnhäuser wurden für soziale Wohnzwecke renoviert und die Kapelle einer kulturellen Nutzung durch den neuen Mieter, die Gesellschaft »Schlaraffia Confluentia«, der diese am 28. September 1991 übernahm, zugeführt. Ein Aquarell des Hauses im Fremdenbuch (Haus- bzw. Gastbuch) aus dem Jahre 1880 zeigt die Fassade mit der fiktiven Inschrift »Gasthaus zur freundlichen Aufnahme von F. Reinhard«. Dies zeugt von der Gastfreundschaft, mit der die Reinhards Freunde und Gäste aufnahmen. Die Familie Reinhard führte das Fremdenbuch ab Juni 1880. Der Erste, der sich dort eintrug, war Landgerichtsrat Ernst Mittweg (1824–1900, »Onkel Ernst«), der auf Gut Lonne (Fürstenau) lebte und ein persönlicher Freund Adolph Kolpings war. Die Familie Reinhard unternahm 1869 eine Reise in die Schweiz. Den Reinhards hatte sich, so Johannes Jörgensen, ein »hervorragender Katholik des Rheinlandes« – ein Name wird nicht genannt – angeschlossen, der den Koblenzer Justizrat auf die Seite der Unfehlbarkeitsgegner um Ignaz von Döllinger (1799–1890) bringen wollte. 102
Paula Reinhard (1850–1908)
Dies hatten auch schon einige Bonner Professoren versucht. Man wollte ihn zur Unterzeichnung der von dem Gymnasiallehrer und Begründer des Koblenzer Alt-Katholikenvereins Theodor Stumpf (1831–1873) verfassten »Koblenzer Laienadresse« bewegen, was Franz Reinhard aber ablehnte. Paula Reinhard litt sehr unter den Zweifeln des Vaters und betete für sein Bekenntnis zum Dogma. Sie gelobte die Stiftung einer Statue des heiligen Joseph für die Kapuzinerkirche, doch ihr Vater entschied sich nicht nur 1871 für die Unterstützung des Dogmas, sondern stiftete von sich aus eine Josephsstatue für die Pfarrkirche. 1883 betete Paula Reinhard in Lourdes darum, dass ihr Vater häufiger die Sakramente empfangen möge. Die Schweiz, St. Moritz im Oberengadin, war auch 1872 ein Ziel für die Sommerfrische. Maria, Paula und eine Freundin verbrachten dort mehrere Wochen. Das Reinhard’sche Haus stand offen für Verwandte, Freunde und Gäste aus der katholischen Welt. So fanden sich dort zum Beispiel ein : Kardinal Fürsterzbischof Anton Joseph Gruscha (1820–1911) von Wien, Bischof Philipp Krementz von Ermland (bzw. Köln), Erzbischof Johannes Christian Roos (1826–1896) von Freiburg, die Bischöfe von Trier, Mainz und Limburg, Weihbischof Johann Anton Friedrich Baudri von Köln, Domkapitulare der genannten Diözesen, Äbte, Ordensleute, Professoren, Juristen, Geistliche und Laien. Darunter waren auch Ludwig Windthorst (1812–1891), August Reichensperger, Pater Arnold Janssen SVD (1837–1909) und in früheren Zeiten auch Adolph Kolping. Paula Reinhard organisierte das Haus, sorgte für die Bereitung der Kapelle, die Vorbereitung der Bewirtung, für Ausfahrten und Spaziergänge. Das Haus am Fuß der Festung war ein Sammelpunkt für ein aktives katholisches und gesellschaftliches Geistesleben. Dort wurden auch Kontakte organisiert, die keine große Öffentlichkeit erlangen sollten : Wenn die Kaiserin Augusta (1811–1890) Bischof Krementz sprechen wollte, kam dieser aus dem Reinhard’sche Haus in das nahe gelegene und von der Kaiserin gestiftete Hospital, in dem er dann zum Gespräch empfangen wurde. Krementz hatte aus seiner Zeit als Koblenzer Pfarrer noch intensive Kontakte zur Kaiserin, die zwischen 1850 und 1858 in Koblenz lebte, als ihr Mann (der spätere Kaiser Wilhelm I., 1797–1888) als Kronprinz Oberbefehlshaber der preußischen Truppen in Rheinland und Westfalen war. Zum Alltag gehörten auch Wallfahrten und andere Reiseunternehmungen mit zumeist religiösen Komponenten. So wurde im Oktober 1884 mit Maria eine zweitägige Wallfahrt nach Kevelaer unternommen. Paula Reinhard trat mehrere Wallfahrten nach Altötting an. Sie reiste auch nach Kaufbeuren zum Grab der seligen Maria Kreszentia Höss (1682–1744). Bevorzugte Ausflugsziele waren die Wallfahrtsorte Kamp-Bornhofen und Marienthal im Rheingau. Auf dieser Route lagen auch die Not-Gottes-Kapelle, der Johannisberg und Eibingen. Sie war auch am Grab des heiligen Bonifatius in Fulda, auf den Spuren der heiligen Elisabeth in Marburg und in Aix-les-Bains, von wo sie nach Annecy zum Grab des heiligen Franz von Sales pilgerte. Im Mai 1877 reiste sie mit Maria und anderen Verwandten erstmals nach Italien. In Rom erhielten sie mit einer deutschen Pilgergruppe am 7. Juni 1877 eine Audienz bei Pius IX. 103
Gisela Fleckenstein Abb. 4: Maria und Paula Reinhard, Porträtfoto, Foto : Atelier Jean Baptiste Feilner, Borkum [1901]
In Belgien besuchte sie in Bois d’Haine in der Nähe von Brüssel (Diözese Tournai) 1879 die stigmatisierte Jungfrau Louise Lateau (1850–1883), bei der sich seit April 1868 jeden Freitag die Wundmale zeigten. Die Besuche und Gespräche – Paula Reinhard hatte die Gelegenheit zu einer Unterhaltung – waren organisiert. Denn die Wundmale Lateaus wurden im Kulturkampf durchaus politisch gedeutet – als Zeichen dafür, dass Gott seine Kirche in diesem Kampf nicht verlässt. Im Oktober 1883 besuchte Paula Reinhard mit Gottfried Wesener und ihrer Schwester Maria, die auf die Linderung ihrer Leiden hoffte, den schon zu dieser Zeit berühmten französischen Wallfahrtsort Lourdes. Die kleine Gruppe reiste wie die Mehrzahl der Pilger mit der Bahn an und blieb dort eine Woche. Sie erwarben eine Statue, die dann im Reinhard’schen Garten in einer nachgebauten Lourdesgrotte aufgestellt wurde. Die Rückreise erfolgte über Paray-le-Monial, dem zentralen Pilgerort der Herz-Jesu-Verehrung, Toulouse (Grab des heiligen Thomas von Aquin in der Dominikanerkirche) und Paris (Grab von Vinzenz von Paul). Die Reise nach Lourdes wurde mit Maria im Mai 1896 wiederholt. Nach einigen Wochen der Krankheit verstarb der Vater am 28. Januar 1893 in seinem Haus in Ehrenbreitstein. In den letzten Lebensjahren hatte er seine Töchter auf ihren Reisen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr begleiten können ; er hatte sich seinen Büchern und Gedichten gewidmet. Franz Reinhard wurde unter großer Anteilnahme – auch Vertreter der Gesellenvereine aus Köln, Koblenz, Vallendar, Horchheim und Ehrenbreitstein waren anwesend – am 1. Februar 1893 auf dem Friedhof in Ehrenbreitstein beigesetzt. Gertrud Feigel, die lange Jahre das Reinhard’sche Haus geführt hatte, starb im selben Jahr in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember 1893. Beide Gräber wurden später auf den neuen Pfaffendorfer Friedhof überführt. Nach dem Tod des Vaters verbrachte Paula mit ihrer leidenden Schwester Maria und einigen Freundinnen sieben Wochen in Rigi-Scheidegg (Zentralschweiz). Im Sommer 1901 reisten die Schwestern nach Borkum. Da sich Marias Leiden nicht besserten, wurde ein Arzt in Straßburg aufgesucht, der zu einem längeren Aufenthalt an der itali104
Paula Reinhard (1850–1908)
enischen Riviera riet. Maria blieb in Straßburg und Paula bereitete in Ehrenbreitstein alles für den Umzug vor. Dies war der erste Schritt zur Aufgabe des Reinhard’schen Hauses, das bald darauf vollständig den Pallottinern überlassen wurde. Die Freude an der Wohnung war auch deshalb getrübt, weil inzwischen eine elektrische Trambahn dicht um das Haus gebaut worden war und sich unmittelbar eine Haltestelle anschloss. Zum Leidwesen der Bewohner verursachte jeder Wagen kreischende Geräusche. Die Reinhards hatten bereits vergeblich beim Magistrat protestiert. Der Aufenthalt in Bordighera an der italienischen Riviera dauerte bis zum Frühling des folgenden Jahres 1902. Dann erfolgte der Umzug nach Koblenz-Pfaffendorf. Vom 21. März bis Mitte Juni 1904 weilten die Geschwister Reinhard noch einmal länger in Italien, während das Haus in Pfaffendorf umgebaut wurde. Sie hielten sich in Rom auf und Paula sah in dieser Zeit Papst Pius X. (1903–1914) bei sieben verschiedenen Anlässen. Eine Audienz wurde den Schwestern und ihrer Freundin Marie Le Hanne am 13. April 1904 gewährt, während der ihnen eine silberne Medaille überreicht wurde. Eine zweite Privataudienz fand am 30. Mai 1904 statt. Die Rückreise der Gefährtinnen führte über Assisi, Perugia und Padua nach Wien. Anschließend reisten sie wieder nach Marienhof bei Koblenz, weil die inzwischen aus Mainz gekommenen Anbetungsschwestern noch die als neues Wohnhaus der Geschwister vorgesehene »Villa Emmaus« bewohnten und die Häuser in Ehrenbreitstein schon den Pallottinern überlassen worden waren. 7. Klostergründungen und Stiftungen In Koblenz waren mehrere Ordensgemeinschaften ansässig, die sich insbesondere in der Amtszeit der ultramontanen und ordensfreundlichen jungen Pfarrer Philipp de Lorenzi (1818–1898, Pfarrer an der Oberpfarrei Unserer Lieben Frau) und Philipp Krementz (damals Pfarrer an St. Kastor) ansiedelten. Beide waren durch Bischof Wilhelm Arnoldi (1798–1864) eingesetzt worden, der ebenfalls diese Richtung vertrat. 1859 siedelten sich die Jesuiten an, 1861 die Kapuziner in Ehrenbreitstein. Bereits 1851 hatte Peter Friedhofens (1819–1860) junge Gemeinschaft der Barmherzigen Brüder mit großer Unterstützung de Lorenzis mit der Krankenpflege begonnen. 1857 nahm die ebenfalls mit de Lorenzis Hilfe neu gegründete Kongregation der Schwestern vom Heiligen Geist ihre sozial-karitative Arbeit auf. 1863 kamen die Salesianerinnen (Heimsuchungsschwestern) nach Moselweiß, 1868 die neu gegründeten Dominikanerinnen auf den Arenberg, und in den zwischen 1851 bis 1861 eingerichteten Lehr- und Erziehungsanstalten unterrichteten die Schulbrüder aus Paris. Die Schwestern vom Guten Hirten aus Köln gründeten 1888 das Kloster Maria Trost. Schon 1854 hatten die Armen Schwestern vom heiligen Franziskus aus Aachen eine Niederlassung in der Elzerhoffstraße gegründet, die sich hauptsächlich der ambulanten Krankenpflege widmete. Das Wirken der nicht krankenpflegenden Gemein105
Gisela Fleckenstein
schaften, also der Orden und Kongregationen, die in Schule und Seelsorge tätig waren, wurde durch den preußischen Kulturkampf zwischen 1875 und 1887 jäh unterbrochen. Das preußische »Gesetz, betreffend die geistlichen Orden und ordensähnlichen Kongregationen der katholischen Kirche« vom 31. Mai 1875 betraf im Bistum Trier 37 Ordensniederlassungen (12 Männer- und 25 Frauenklöster), von denen 18 Niederlassungen vollständig aufgehoben wurden. Vielfach siedelten sich die Gemeinschaften im belgisch-holländischen Grenzgebiet an. 7.1 Die Pallottiner
Nach dem Tode von Franz Reinhard beschäftigten sich Paula und Maria Reinhard intensiv mit Klostergründungen. Vinzenz Pallotti (1795–1850) hatte 1835 in Rom eine »Fromme Missionsgesellschaft« (Pia società del apostolato cattolico) gegründet, die am 29. September 1892 in Limburg an der Lahn ihre erste deutsche Niederlassung errichtete. Es waren 20 Pallottiner, die aus Masio in Oberitalien in die Lahnstadt zogen. Im Dezember 1892 hatten Franz, Paula und Maria Reinhard ihr Testament niedergeschrieben. Die drei waren sich einig, dass die Häuser in Ehrenbreitstein an den Bischöflichen Stuhl fallen sollten ; mit der Auflage, dort ein Missionshaus zu errichten. Zu seinem ursprünglichen Haus in Ehrenbreitstein hatte Franz Reinhard, wie bereits erwähnt, Ende 1888 noch zwei benachbarte Häuser hinzugekauft. Die kontemplativen Schwestern der Ewigen Anbetung von Mainz hatten um ein Haus für eine mögliche Gründung angefragt, doch Paula Reinhard hielt die Häuser dafür nicht geeignet. Vielmehr bewog sie ihren Vater, den Limburger Pallottinern ein Haus mietfrei zu überlassen, damit einige Zöglinge der Pallottiner das Gymnasium in Koblenz besuchen könnten. Auch der Ordensobere wollte nach Ehrenbreitstein kommen, um dies mit Franz Reinhard zu verabreden, der jedoch vorher verstarb. Die Pallottiner hatten ihre Missionstätigkeit in Kamerun schon 1890 auf dem Katholikentag vorgestellt, der in Koblenz stattgefunden hatte. Sie waren dabei von den Brüdern Reichensperger unterstützt worden. Die über die Pallottiner durch den Kölner Bischof Krementz in Rom eingeholten Auskünfte waren positiv und auch der Trierer Bischof Michael Felix Korum hatte keine Einwände gegen das Vorhaben der befreundeten Familie. Paula Reinhard bat außerdem den ebenfalls mit der Familie befreundeten Limburger Bischof Karl Klein (1819–1898), ein entsprechendes Empfehlungsschreiben an den Oberpräsidenten zu richten. Im Juni 1893 besuchten der Vizegeneral der Pallottiner Pater Joseph Bannin (1851–1915) und der Leiter der Pallottinerprovinz Pater Max Kugelmann (1857– 1935) die Reinhards sowie Bischof Korum. Am 28. September 1892 war aus Berlin die Genehmigung für die Niederlassung gekommen, die schließlich am 7. Dezember 1892 bezogen werden konnte. Bis zur Genehmigung durch die Regierung drang über die geplante Verwendung der Reinhard’schen Häuser nichts an die Öffentlichkeit, da die Angelegenheit bis dahin von den Geschwistern als Geheimnis gehütet wurde. Ihr 106
Paula Reinhard (1850–1908)
Agieren auf dem kirchlichen und staatlichen Parkett war gelungen. Erst jetzt wurde den Mietern gekündigt. Die Pallottiner und ihre Zöglinge konnten das Weihnachtsfest 1893 im Hause der Geschwister Reinhard feiern. Als geistliche Gegenleistung hatten diese von den Pallottinern die Instandhaltung der Familiengräber auf dem Friedhof in Ehrenbreitstein gefordert. Außerdem sollte für die Eltern, die Pflegemutter und nach dem Tode der Geschwister an jedem zugehörigen Namens- und Sterbetag in der Kapelle eine heilige Messe gelesen werden. Die Kommunion sämtlicher Hausbewohner sollte an diesen Tagen für die Genannten aufgeopfert werden. Außerdem wurden die Pallottiner vertraglich dazu verpflichtet, zu Lebzeiten der Geschwister jeden Morgen zwischen 7 und 8 Uhr die Messe in der Reinhard’schen Hauskapelle zu lesen. Um die notwendigen kirchlichen und staatlichen Genehmigungen für die Niederlassung der Pallottiner zu erlangen, nutzten die Geschwister Reinhard ihre vielfältigen Kontakte. Zusätzlich besuchte Provinzialminister Max Kugelmann im August 1893 den Bürgermeister von Ehrenbreitstein, den Regierungspräsidenten und den Oberpräsidenten in Koblenz. Der Bürgermeister stand der Niederlassung zunächst skeptisch gegenüber, da die Stadt auch auf Steuereinnahmen aus den Mieten angewiesen war und außerdem Offizierswohnungen fehlten. Er stimmte der Unternehmung schließlich zu, da die Ausbildung der Missionare für die deutschen Schutzgebiete beziehungsweise für Kamerun in Koblenz erfolgte. Zu seinem Besuch beim Oberpräsidenten Berthold Nasse (1831–1906) nahm Kugelmann zwei dunkelhäutige Schüler mit, die großen Eindruck machten. Jener holte sofort seine Frau hinzu, die von den Deutschkenntnissen der Knaben angetan war, wie Kugelmann in der Provinzgeschichte der Pallottiner berichtet. Die Niederlassung wurde zum Zwecke der Ausbildung deutscher Missionare für die Heidenmission, namentlich in den deutschen Schutzgebieten am 12. September 1893 durch das preußische Kultusministerium genehmigt. Es war das erste im Regierungsbezirk Koblenz nach dem Kulturkampf zugelassene Missionshaus. Paula Reinhard notierte, dass die Wut der Liberalen und Kirchenfeinde über das neue Kloster sehr groß gewesen sei. Der Gegenbericht des Bürgermeisters war angesichts der katholischen Macht ungehört verhallt. In einem Brief an Bischof Korum vom 30. September 1893 schrieb sie über die Reaktion der Ehrenbreitsteiner Bürger wie erbost die Hölle ist ! (beide Zitate aus A. Leugers, S. 261 f.). Die Geschwister Reinhard stellten für die Pallottiner nur die Gebäude zur Verfügung, finanzierten aber nicht deren Unterhalt, wie die Ehrenbreitsteiner Bevölkerung annahm. Die Reinhards sorgten aber in der Bevölkerung für die Richtigstellung dieser Auffassung. Ein Versprechen von Paula Reinhard, den Ordensleuten noch circa 200.000 Mark zukommen zu lassen, verlief im Sande ; es wurden nur beim Neubau des Missionshauses (in Limburg) ungefragt 150.000 Mark als erste Hypothek gegen vier Prozent Zinsen zur Verfügung gestellt. Die Schwestern Reinhard verfügten 1898 über ein Vermögen von mehr als einer Million Mark und erwirtschafteten jährlich Einnahmen von 42.000 Mark. 107
Gisela Fleckenstein
Die Zusammenarbeit mit den Pallottinern gestaltete sich nicht immer reibungslos, wie Kugelmann in seiner Provinzgeschichte festhielt : Diese Neugründung war doch recht vielen Schwierigkeiten, Hindernissen und allerlei Hemmungen unterworfen, von denen ›Außenstehende‹ gar keine Ahnung hatten. Die beiden Damen Maria und Paula Reinhardt meinten es ja recht gut, wollten uns aus unserer Verlegenheit helfen und so schnell als nur immer möglich war, die neu eingerichtete Anstalt in ihrem vollen und tadelfreien Betrieb sehen, und dabei sollte alles so gehen und bewerkstelligt werden, wie sie es gerne wünschten und haben wollten. Weiter heißt es : Die erste große Enttäuschung mussten die guten Damen erleben, als ich ihnen in schonendster Art und Weise die Mitteilung machen musste : dass ich nicht in Ehrenbreitstein bleiben werde, sondern nach den Weihnachtsferien nach Limburg zurückreisen müsse wegen Übernahme meiner bisherigen Stelle. Alle Einwendungen der Damen halfen nichts […]. Der Nachfolger Kugelmanns wurde Pater Georg Walter (1865–1939). Er war lange in der Mission tätig und hatte in tropischen Gebieten mehrere Krankheiten überstanden. Bei den Reinhards übernahm er auch den täglichen Gottesdienst in der Kapelle, was bald zu großen Klagen der Geschwister führte. Maria Reinhard nahm aus gesundheitlichen Gründen oft nicht an der Messe teil und war liturgisch weniger bewandert als Paula, die auch das Amt der Sakristanin übernommen hatte. Diese beklagte sich beim Provinzial über Walter, da dieser die vorgeschriebenen Zeremonien wiederholt nicht einhielt. Auch Pastor Peter Ditscheid, lange Zeit der geistliche Begleiter von Paula Reinhard, stimmte wiederholt in das Klagelied ein, da der Pallottiner in St. Josef nicht zu seiner Zufriedenheit predigte. Kugelmann, der bei seinen monatlichen Besuchen in Ehrenbreitsein auch immer bei den Wohltäterinnen vorbeischaute, schrieb in seiner Provinzgeschichte : Diese Damen waren die Besuche nicht bloß von hohen Würdenträgern wie Bischöfe, Äbte, ja sogar Cardinäle (Cardinal Cremenz v. Köln) gewohnt, sondern auch von Ordenspriestern wie von den Patres aus Marienstatt, den Benediktinern aus Maria-Laach und anderen ; alle diese Patres zeigten sich bei ihren Besuchen natürlich ganz nach Form und Regel, so dass gar nichts an ihnen auszusetzen gab ; ganz anders zeigten sich die Patres in Ehrenbreitstein während der Recreation ; da wurde gesungen im Hofe, lebhaft disputiert, gescherzt und gelacht und geraucht, wenn mal mehrere zusammen kamen ; alles dieses wurde beanstandet. In der Reinhard’schen Kapelle musste die Messe nach dem Trierer Directorium gelesen werden, was Pater Georg Walter, der sich die Rubriken oft nur oberflächlich anschaute, unter der Kontrolle von Paula Reinhard immer lästig fand und deshalb seine Rektorstelle gerne wieder mit der Mission vertauscht hätte. Er schickte daher oft seinen Mitbruder Pater Friedrich Bancken (1862–1909), der es offensichtlich besser verstand, mit den liturgisch überaus anspruchsvollen Damen umzugehen. Kritische Äußerungen der Patres über sie oder die Koblenzer Pfarrer wurden Paula und Maria Reinhard von der Geistlichkeit mitgeteilt, was das Ansehen der Pallottiner belastete. Erst der Nachfolger Banckens, der erst 25-jährige Pater Johann Mayer (geb. 1876), führte sein Amt erfolgreich und entsprach voll und ganz den Erwartungen und Anforderungen der Geschwister. Trotz aller Beschwerden veranstalteten die Geschwister Reinhard zu 108
Paula Reinhard (1850–1908)
Weihnachten immer eine großzügige Feier für Studenten, Brüder und Patres. Ebenso gewährten sie regelmäßig den Erlass der Miete für die Häuser. Die Schenkung der Ehrenbreitsteiner Häuser an den Bischöflichen Stuhl von Trier erfolgte am 18. April 1905 in einem notariell beurkundeten und staatlich genehmigten Schenkungsakt. Darin erklärten Paula und Maria Reinhard : Wir glauben daher, durch diese Schenkung sowohl der Kirche wie unserem Deutschen Vaterlande einen Dienst zu erweisen ; sind die Missionare ja nicht allein die Verbreiter des Christentums, sondern auch die Träger deutscher Kultur und Zivilisation und unterziehen sich für diese erhabenen Zwecke den größten Mühsalen und Gefahren (A. Leugers, S. 455). Der Gebäudewert wurde mit 170.700 Mark angegeben. Das Gesamtvermögen der Reinhards betrug zu diesem Zeitpunkt 1.340.000 Mark. An die Schenkung war die Bedingung geknüpft, dass die Pallottiner, solange sie in Deutschland staatlich und kirchlich genehmigt waren, die Häuser unentgeltlich für Zwecke der Missionskongregation nutzen konnten. Die Pallottiner arrangierten sich notgedrungen in Ehrenbreitstein. Das Haus entsprach erst nach den Umbauarbeiten und dem Auszug aller Mieter annähernd den Bedürfnissen eines Ausbildungshauses. 7.2 Die Kapuzinerinnen von der Ewigen Anbetung
Paula und Maria Reinhard nahmen eine weitere Klostergründung vor. Das Anbetungskloster der Kapuzinerinnen in Mainz war 1860 mit Unterstützung von Bischof Ketteler gegründet worden. Es hatte die Wirren des hessischen Kulturkampfes überstanden. Dennoch wollte man ein weiteres Kloster – möglichst in einer katholischen Gegend – gründen, in das man gegebenenfalls hätte ausweichen können. Zwischen 1891 und 1894 dachte man an Westfalen oder das Rheinland. Die Mainzer Schwestern nahmen deshalb wieder Kontakt zu der ehemaligen Klosterkandidatin Paula Reinhard auf. Sie riet ihnen von einer Gründung in Ehrenbreitstein ab, empfahl jedoch ein anderes Grundstück in Koblenz (Maria-Hilf-Kapellchen). Letztlich verlief das Vorhaben im Sande. Der nächste Impuls zu einer Neugründung ging vom zunehmenden Platzmangel in Mainz aus. Doch zunächst dachte man an eine bauliche Erweiterung. In den Blick der Geschwister Reinhard gerieten die Schwestern der Ewigen Anbetung aus Mainz erst während ihres mehrmonatigen Aufenthaltes an der italienischen Riviera im Januar 1902. Hier machte Maria Reinhard den Vorschlag, den Schwestern Kloster und Kapelle zu bauen und selbst in ein Haus neben der Kapelle zu ziehen. In dieser Angelegenheit schrieb Paula Reinhard am 12. Januar 1902 einen Brief an Mutter Maria Ignatia von Hertling (1838–1909). Der Vorschlag wurde in Mainz positiv aufgegriffen, da man sich nun schon länger um eine Neugründung bemüht hatte und Pläne in Bayern fehlgeschlagen waren. Die Mainzer Oberin machte in ihrem Antwortschreiben schon auf wesentliche und konkrete Aspekte des geplanten Projektes aufmerksam : Die Auswahl eines geeigneten Bauplatzes (ein Anbetungskloster durfte von außen nicht einsehbar sein), das Einholen der bischöflichen und staatli109
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chen Genehmigung sowie die Finanzierung des Klosters. Im Mai 1902 nahm Paula Reinhard das anvisierte Grundstück in Pfaffendorf sowie eine danebenliegende Villa in Augenschein. In den folgenden Wochen regelte sie auch die Grundstückkäufe und sonstige rechtliche Angelegenheiten. Ebenso führte sie die Korrespondenz mit den Schwestern in Mainz, von der rund 120 Briefe im Archiv von Kloster Bethlehem in Pfaffendorf zeugen. Maria Reinhard war inzwischen von der Riviera nach Magglingen/Macolin in der Schweiz gefahren, wo sie auf ihre Schwester traf. Die Reinhards beabsichtigten, den Bauplatz zu schenken sowie die Hälfte der Kosten für den Kirchenbau und die Kircheneinrichtung zu übernehmen. Das angrenzende Wohnhaus der Geschwister Reinhard sollte nach ihrem Ableben dem Kloster zufallen. Die Reinhards trugen ein Viertel aller Kosten, da sie durch ihr finanzielles Engagement ihre anderen Unternehmungen nicht gefährden wollten. Eine Summe von 100.000 Mark sollte von den Mainzer Schwestern hinzukommen, die diese aus ihrem Vermögen entnehmen sollten. Der befreundete Trierer Domkapitular Ägidius Ditscheid (1840–1914), ein Bruder des Pfarrers von St. Joseph, hatte mit einem Grundstück und einer Villa in der Pfaffendorfer Hermannstraße einen geeigneten Platz gefunden. Bischof Michael Felix Korum von Trier hatte von Hertling und das Mainzer Anbetungskloster bereits im Oktober 1888 während eines Besuchs des Mainzer Bischofs Paul Leopold Haffner (1829–1899) kennengelernt. Die beantragte staatliche Genehmigung lag am 27. Juni 1902 vor, die päpstliche folgte im Frühjahr 1903. Der Mainzer Bischof machte seine Zustimmung von dem mehrheitlichen Einverständnis des Konventes abhängig. Maria Ignatia von Hertling wollte ihre Mitschwestern von der Angelegenheit eigentlich erst nach dem Eingang der Berliner Genehmigung unterrichten. Doch die Schwestern stimmten dem Vorhaben bereits am 10. April 1902 mehrheitlich zu. Dabei ging es auch um das Vermögen des Hauses, denn jeder der zehn für die Neugründung vorgesehenen Schwestern sollte eine Mitgift über 10.000 Mark mitgegeben werden. Das Geld stammte aus dem Vermögen von Schwester Fidelis Lauteren (1844–1920). Im Herbst 1902 zogen Paula und Maria Reinhard in die am 22. Mai 1902 angekaufte Villa ein, die den Namen »Villa Emmaus« erhielt. Zu Haus und Garten gehörten noch zwei angrenzende Äcker. Den Geschwistern Reinhard war (wie schon in Ehrenbreitstein) gestattet worden, das Allerheiligste in einem zur Kapelle hergerichteten Zimmer aufzubewahren. Altar und Paramente nahm man aus Ehrenbreitstein mit. Der Aufenthalt währte nicht lange, da die Reinhards Anfang Mai 1903 nach Marienhof bei Koblenz übersiedelten. Währenddessen stellten sie den Mainzer Schwestern, die den Klosterbau beaufsichtigen sollten, vorläufig die (ebenfalls umbaubedürftige) Villa zur Verfügung. Die in Mainz entpflichtete Oberin Maria Ignatia von Hertling traf mit drei Schwestern, darunter Schwester Fidelis Lauteren, am 24. Mai 1903 ein. Die Schwestern wohnten zuerst in der »Villa Emmaus« und zogen aufgrund der Umbauarbeiten im April 1904 in das sogenannte »Franziskushäuschen«. Dabei handelte es sich um ein Wohnhaus, das von einem angrenzenden Grundstück hinzugekauft worden war und in dem auch das Baubüro eingerichtet wurde. Die Grundsteinlegung des Klosters fand 110
Paula Reinhard (1850–1908)
Abb. 5: Kloster Bethlehem in Pfaffendorf am Rhein und Villa Emmaus, Ansichtskarte, vor 1914
am 13. September 1903 statt. Die Pläne für Kloster und Kirche waren auf Kosten der Reinhards wiederum von ihrem Vetter, dem Berliner Regierungsbaumeister August Menken, erstellt worden. Er nahm auch die Umbauten in Ehrenbreitstein bei den Pallottinern vor. Da Menken überraschend kurz nach der Grundsteinlegung des Anbetungsklosters starb, übernahmen die Architekten Wilhelm Bunte und Peter Friedrich die Bauleitung. Das Kircheninnere wurde von einem Mitarbeiter Menkens, dem protestantischen Architekten und Chef des Menken’schen Baubüros M. Schlenzig geplant. Ein besonderer Fokus lag dabei auf dem Lettner, der gleichzeitig die Rückwand für den jeweiligen Altar von Nonnenchor und Laienkirche bildete. Vor der Auftragsvergabe holte man sich für die Pläne des Altars noch eine katholische Rückversicherung bei dem Maria Laacher Benediktiner und Architekten Pater Ludger Rincklake (1851–1927), dem Erbauer des Benediktinerinnenklosters Eibingen, ein. Der Klosterneubau sollte Raum für circa 30 Schwestern bieten. Zur ersten Oberin wurde Maria Ignatia von Hertling gewählt, die in ihrem Amt nach kurzer Krankheit am 27. März 1909 verstarb. Sie wurde auf der von Paula Reinhard 1908 geschenkten Grabstätte auf dem Pfaffendorfer Friedhof als Erste der Schwestern beigesetzt. Die neue Klosterkirche wurde am 17. Oktober 1904 durch den Trierer Bischof Michael Felix Korum konsekriert. Anschließend wurde im Kloster Bethlehem, wie die neue Niederlassung genannt wurde, feierlich die Ewige Anbetung eröffnet. Der Bau war zwar noch nicht ganz fertiggestellt, aber Paula Reinhard hatte mit dem Bischof schon den Eröffnungstermin abgesprochen. Die »Villa Emmaus« stand neben 111
Gisela Fleckenstein
Abb. 6: Die ersten vier Schwestern des Klosters Bethlehem in Koblenz, 1904
der Kirche und war durch einen eigens errichteten überdachten Gang mit dem an die Kirche angebauten Oratorium verbunden. Im Gegensatz zu den Pallottinern wurden die Kapuzinerklarissen sofort von der Bevölkerung angenommen. Sie erhielten viele Spenden für ihren Lebensunterhalt. Auch die Kapuziner und besonders die Barmherzigen Brüder von Maria-Hilf sorgten sich um Lebensmittelspenden und Almosen. Gemäß der vertraglichen Vereinbarung mit den Geschwistern Reinhard kam täglich ein Pallottiner zur Messe und sonntags zusätzlich zur Andacht mit eucharistischem Segen. Die Kapuzinerinnen selbst hatten schon auf sich aufmerksam gemacht, indem sie zur Grundsteinlegung von Kloster Bethlehem am 13. September 1903 eine von Schwester Fidelis Lauteren verfasste und auf Kosten von Paula Reinhard gedruckte Broschüre an Freunde und Bekannte versandten, um auf den Zweck der Neugründung aufmerksam zu machen. Auch Mainzer Zeitungen hatten über die Neugründung berichtet. Dies brachte junge Frauen auf die Idee, in das neue Kloster einzutreten, und inspirierte Wohltäter zu Gaben. So wurden beispielsweise die beiden Glocken vom Mainzer Domkapellmeister Georg Weber (1838–1911) gestiftet. Die zwischen 1902 und 1904 errichtete Klosteranlage in Pfaffendorf kostete 250.000 Mark. Es war misslich, dass Paula Reinhard die Eigentumsverhältnisse des Klosters Bethlehem vor ihrem Tod am 18. Juni 1908 noch nicht rechtlich geregelt hatte. Da das Kloster aufgrund der preußischen Gesetzgebung (im Gegensatz zu Hessen) keine 112
Paula Reinhard (1850–1908)
Korporationsrechte erwerben konnte, wollte sie ihr Eigentumsrecht als Schenkung auf den Bischöflichen Stuhl in Trier übertragen. Dies hatte sie von Hertling Weihnachten 1907 mitgeteilt. Maria Reinhard, die Erbin, war es nicht gewohnt, sich um geschäftliche Angelegenheiten zu kümmern. Sie wollte wohl die letzten ihr bekannten Wünsche der verstorbenen Schwester erfüllen, doch ihre kränkliche Verfassung hinderte sie an vielen Aktivitäten. So war sie dabei, die Statuten für ein neu zu gründendes Damenstift in der »Villa Emmaus« abzufassen, ein noch mit Paula erdachter Plan. Dies geschah zum Entsetzen der Kapuzinerinnen, da die Villa direkt an ihre Klausur grenzte. Die Oberin suchte das sehr schwierige Gespräch mit Maria Reinhard, die weniger klösterlich dachte als ihre Schwester. Schließlich hielt sie aber an der ursprünglichen Absicht fest und übertrug den Besitz in einer notariell beglaubigten Schenkungsurkunde vom 24. März 1909 an den Bischöflichen Stuhl in Trier – eine Nachricht, die Mutter Maria Ignatia von Hertling noch auf dem Totenbett empfing. Nur die »Villa Emmaus« gelangte nicht in den Besitz des Klosters. 7.3 Arme Dienstmägde Jesu Christi
Paula Reinhard hatte keinesfalls den tätigen Aspekt in ihrem Leben vergessen. Durch Vermittlung und Finanzierung der Geschwister konnten die Armen Dienstmägde Jesu Christi (Dernbacher Schwestern) 1906 in Pfaffendorf eine Niederlassung eröffnen. Diese wohnten zunächst seit Herbst 1905 im sogenannten Franziskushäuschen, dem ehemaligen Baubüro in der Hermannstraße. Dort blieben die Schwestern, bis sie im August 1908 für den Kindergarten und die Nähschule in der Augustinergasse in Ehrenbreitstein eine Unterbringung fanden. Die Geschwister Reinhard unterstützten auch den Bau der neuen Pfarrkirchen St. Josef und Herz-Jesu in Koblenz, die nach der Stadterweiterung eingerichtet wurden. Neben den Ordensleuten wurde auch die Pfarrei bedacht. So stellten die Geschwister Reinhard 1894 die Mittel für eine Mission in Ehrenbreitstein zur Verfügung (Volksmission). 8. »Koffer für den Himmel« Im November 1907 brach Paula zu ihren jährlichen Exerzitien zu den Josephsschwestern nach Trier auf. Diese beiden Wochen sollten die letzten Exerzitien werden, bei denen sie auch eine Generalbeichte über die Hauptpunkte ihres bisherigen Lebens ablegte. Die restlichen Tage ihres Lebens wollte sie dem Gebet widmen. Noch immer stand ihr der Gedanke an den Klostereintritt vor Augen, wie sie in ihrem Tagebuch mitteilte : Wenn ich ganz frei wäre, würde ich bitten, noch jetzt alles verlassen zu dürfen, um in irgend einem Kloster, wohin der Gehorsam mich schickt, Gott zu dienen. Da ich das aber nicht kann, will ich mein Leben so viel wie möglich klösterlich einrichten und immer mehr die Verborgenheit mit dem göttlichen Heilande lieben und teilen ( J. Jörgensen, S. 250). 113
Gisela Fleckenstein
Die letzten Exerzitien, die bis zum 7. Dezember 1907 dauerten und unter der persönlichen Leitung von Bischof Korum standen, hatten schon die Vorbereitung auf den Tod und das Sterben zum Inhalt. Der Bischof war seit 1897, nach dem Tod von Pfarrer Peter Ditscheid, ihr geistlicher Begleiter. Einige Monate nach ihrer Rückkehr machte ihr ein Halsleiden sehr zu schaffen, das aus einer in Trier zugezogenen Erkältung resultierte. Hinzu kam Anfang 1908 eine »Nierenkrisis«, die sich als Nierentumor herausstellte. Eine Operation konnte vermieden werden, doch Paula erzählte Besuchenden, dass sie schon ihr Köfferchen für die Reise in den Himmel fertig gepackt habe ( J. Jörgensen, S. 253). Nach Ostern – die Kartage wurden nicht wie sonst in Trier verbracht – verschlimmerte sich ihr Zustand und sie konsultierte einen Spezialisten im Marienhospital auf dem Bonner Venusberg. Tumore drückten bereits auf Kehlkopf und Luftröhre. Eine Arsenikkur zeigte nur geringe Wirkung. Auch von Maria geschicktes Lourdeswasser und die Gebete der Anbetungsschwestern in Pfaffendorf verschafften keine Linderung. Mitte Mai wurde die Behandlung in Bonn abgebrochen. Jetzt wurde zum letzten Mittel gegriffen : Zwei Verwandte, der Aachener Justizrat Heinrich Gatzen (1843–1929) und Maria Menken (1852–1924) sowie ein Hausmädchen begleiteten die Kranke zu einer letzten Wallfahrt nach Lourdes, wo im Jubiläumsjahr 1908 von vielen aufsehenerregenden Heilungen berichtet worden war. Die Reise startete am 1. Juni und ging über Köln und Aachen – wo sich noch zwei Personen anschlossen – nach Paris, Pau und dann nach Lourdes. Dort stellte sie sich zunächst Gustave Boissarie (1836–1917) im »Bureau des Constatations Médicales« vor. Dieser untersuchte täglich ihren Hals. Reinhard nahm, soweit es ihr Gesundheitszustand erlaubte, am Wallfahrtsprogramm in Lourdes teil (Messe, Kommunion, Besuch der Grotte, Trinken aus der heiligen Quelle, Gebete, Teilnahme an Prozessionen). Die Abreise aus Lourdes erfolgte am 12. Juni 1908. Paula Reinhard, die vor Reiseantritt schon die Sterbesakramente sowie die Generalabsolution erhalten hatte, hoffte am Gnadenort vergeblich auf ein Heilungswunder. Die Rückreise erfolgte wieder über Paris, wo die Gruppe auf Reinhards Wunsch noch eine Messe in NotreDame-des-Victoires besuchte. Am 14. Juni kam die Todkranke in Pfaffendorf an. Sie litt an großer Atemnot, aber ein Luftröhrenschnitt war wegen der Anschwellungen am Hals nicht möglich. In der Sterbestunde waren auch die Freundin Marie Le Hanne aus Köln und der emeritierte Pfarrer Anton Sebastian Stöck (1840–1920) aus Moselweiß zugegen. Paula Reinhard starb am 18. Juni 1908, dem Fronleichnamsfest, in der »Villa Emmaus«. An ihrem Sterbetag kam Bischof Michael Felix Korum aus Trier, der am folgenden Tag im Sterbezimmer eine heilige Messe hielt. Paula Reinhard wurde gemäß ihrem letzten Willen mit dem Habit der Kapuzinerinnen der Ewigen Anbetung bekleidet. Der Leichnam wurde am 21. Juni (Fest des heiligen Aloysius) in der Klosterkapelle aufgebahrt und dann auf dem Friedhof in Pfaffendorf in der von ihr im Frühjahr 1908 erworbenen Familiengrabstätte beigesetzt. 114
Paula Reinhard (1850–1908)
Sie hatte für sich und das Kloster 20 Grabstätten auf dem neu angelegten Friedhof in Pfaffendorf erworben. Dieser war ursprünglich als Simultanfriedhof geplant, doch entsprach dies nicht dem erklärten Willen von Reinhard. Die Gemeinde machte ihren Entschluss rückgängig. Der Friedhof wurde 1956 geschlossen und die Kapuzinerinnen verlegten ihre Grabstätte in den Klostergarten. Die Gebeine der Mitbegründerinnen des Klosters, Paula und Maria Reinhard, wurden 1968 auf den Klosterfriedhof überführt. Nach dem Tod Paula Reinhards war Maria nun die erste Ansprechpartnerin für die Kapuzinerinnen. Maria Franziska von Hertling, die Biographin von Ignatia von Hertling, schreibt über Maria Reinhard : Ihre Schwester Maria hatte sich nie um geschäftliche Dinge bekümmert. Nun stürmte alles auf sie ein, die ihr Leben lang gewohnt gewesen war, einfach dem zuzustimmen, was Paula sagte und tat. Sie betrachtete es jetzt als ihre Aufgabe, jeden ihr noch bekannten Wunsch der lieben Toten zu erfüllen, auch dem Kloster gegenüber. Aber ihre kranken Nerven, die sich häufig als Angstzustände, zuweilen fast als Gemütsleiden auswirkten, erschwerten ihr und anderen die Sache (A. Hertling, S. 174). Wenige Wochen nach Paulas Tod nahm sich Maria Reinhard eine junge Gesellschafterin. Alle laufenden Geschäfte überließ sie nun der Hausdame Maria von Gelder (gest. 1944), die sie auch als Erbin einsetzte (sie erhielt die »Villa Emmaus«). Maria Reinhard widmete sich nun gänzlich der Idee des geplanten Damenstifts und dem Andenken ihrer Schwester. Dazu konnte sie den Schriftsteller Johannes Jörgensen gewinnen, der unter ihrer Mitwirkung die »Geschichte eines verborgenen Lebens« verfasste. Jörgensen weilte 1909 mehrere Wochen in der »Villa Emmaus«. Die Biographie erschien 1911 im Herder Verlag und fand durch mehrere Auflagen bis 1922 (9. Auflage) eine weite Verbreitung. Maria Reinhard setzte damit der verstorbenen Schwester ein literarisches Denkmal. Seitdem ist das Leben von Paula Reinhard keinesfalls mehr verborgen. 9. Zusammenfassung Paula Reinhard hatte ein intensives geistliches Leben geführt. Man kann sie durchaus als eine Frau zwischen drei Vätern sehen. Eine Hauptrolle spielte zunächst ihr leiblicher Vater, von dessen Zustimmung und Erlaubnis viele Dinge abhängig waren, wie Klostereintritt, Reisen, Exerzitien oder Heirat. Hinzu kam die ständige Begleitung durch einen (freilich wechselnden) geistlichen Vater als Seelenführer sowie den Vater im Himmel. Die Berufung zu einem Ordensleben führte Paula Reinhard eindeutig auf den Anruf des himmlischen Vaters am Gründonnerstag des Jahres 1867 beim Gebet am Heiligen Grab in der Krypta der Pfarrkirche Heilig Kreuz zurück. Franz Reinhard hingegen verzögerte die Erlaubnis für Heirat und Ordenseintritt seiner Töchter bis zu deren 25. Lebensjahr. Demnach lag der frühestmögliche Termin für einen Ordenseintritt im März 1875. Eine schwierige Zeit, da sich schon die Kulturkampfgesetzgebung 115
Gisela Fleckenstein
zur Auflösung der meisten Ordensgemeinschaften abzeichnete. Ob Franz Reinhard die Seelenführer seiner Tochter gegen den Ordenseintritt beeinflusste ? Darüber kann nur spekuliert werden. Doch vieles spricht dafür : die Einsamkeit des Franz Reinhard, die Sorge um die oft kränkliche Tochter Maria, die Sorge um die Verwendung und Verwaltung des Familienvermögens, die Leitung des Reinhard’schen Haushalts. Das alles hätte eine Tochter im Kloster nicht leisten können. So suchte Paula Reinhard einen Ausweg und entschied sich zu einem Ordensleben mitten in der Welt. Sie selbst legte sich ein klösterliches Tagesprogramm auf, was weit über Gebetsverpflichtungen im Dritten Orden hinausging und was im Grunde im Lebensalltag nie wirklich zu erfüllen war. Daher rührten auch ihre kontinuierlichen Selbstanklagen des Ungenügens vor Gott, die sich in ihren Tagebuchaufzeichnungen finden. Paula Reinhard war in ihren Abhängigkeiten keine emanzipierte Frau, doch sie handelte zielorientiert. Das nicht unbeträchtliche Familienvermögen wurde zu Gunsten kirchlicher Projekte verwendet, so dass sie und ihre Schwester Maria zu katholischen Mäzenatinnen wurden. Die Klostergründungen verliefen planvoll und nicht ganz uneigennützig. Erst holten sie einen Männerorden wie die Pallottiner nach Ehrenbreitstein und sicherten damit auch ihre geistliche Grundversorgung im Alter ab. Die Pallottiner waren zu diesem Zeitpunkt eine arme Gemeinschaft und auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Einen zweiten Baustein legten sie mit der Gründung von Kloster Bethlehem. Die geistliche Versorgung durch die Pallottiner wurde auf das Kloster übertragen. Außerdem sicherten sich die Geschwister Reinhard dadurch ein lebenslanges An- und Gedenken. Der sozial-karitative Aspekt kam jedoch nicht zu kurz. Dieser wurde ausgefüllt durch die Armen Dienstmägde Jesu Christi beziehungsweise durch die Begründung der Näh-, Bewahr- und Handarbeitsschule in Ehrenbreitstein. Für alle Einrichtungen konnten die Reinhards ihre Verbindungen in kirchliche und gesellschaftliche Kreise gezielt nutzen. Sie wirkten damit weit über die private Sphäre hinaus. Das Andenken an die Geschwister Reinhard wird bis heute im Kloster Bethlehem in Koblenz-Pfaffendorf bewahrt. Werke Paula und Maria Reinhard (Hgg.), Letzte Gedichte unseres lieben Vaters Franz Reinhard, Koblenz 1893 ; [Franz Reinhard], Gedichte aus Adolf Kolpings Rheinischen Volksblättern von Rhd. in Ehr [= Franz Reinhard in Ehrenbreitstein], Osnabrück 1896 ; Franz Reinhard, Emanuel. Das Gotteskind von Bethlehem (Dichtungen aus hinterlassenen Papieren zusammengestellt), Heiligenstadt 1899 [2. Aufl. 1901] ; Franz Reinhard, Auf nach Bethlehem zum Hause des Brotes (Dichtungen über die hl. Eucharistie aus dem Nachlasse herausgegeben), Münster 1904 ; M. vom Helfenstein [= Maria Reinhard], In hoc signo, Donauwörth 1913 ; dies. Näher, o Gott, zu
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Paula Reinhard (1850–1908)
dir, unserem Hort und Helfer. Gedanken der Ermutigung in den Drangsalen des Lebens, Donauwörth 1919. Quellen Ungedruckte Quellen Archiv Kloster Bethlehem, Chronik des Klosters Bethlehem Bd. 2 ; Briefe von Paula Reinhard ; Provinzarchiv der Pallottiner in Limburg, Haus- und Fremdenbuch der Familie Reinhard ab 1880 ; Max Kugelmann, Provinzgeschichte der Norddeutschen Pallottiner. Unveröffentlichtes Manuskript Abschrift AS7c, S. 260–262. Gedruckte Quellen Adreß-Buch der Stadt Coblenz für 1863, hg. von F. C. Hell, Coblenz 1863 ; Johannes Jörgensen, Die Geschichte eines verborgenen Lebens, 6./7. Aufl., Freiburg im Breisgau 1919 [Der Autor benutzt die Tagebuchaufzeichnungen von Paula Reinhard. Die Tagebücher von Paula Reinhard sind nicht mehr vorhanden. Die Spuren darüber verlieren sich 1944 mit dem Tode der Haushälterin von Maria Reinhard] ; Zentralblatt der Bauverwaltung 30 (1910) Nr. 3, 16. Literatur Manfred Berger, Marie Le Hanne, in : Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 21, Nordhausen 2003, Sp. 793–798 ; Arnold Bongartz, Die Klöster in Preußen und ihre Zerstörung oder ›Was kostet der »Kulturkampf« dem preußischen Volke ?‹, Berlin 1884 ; Heinrich Denzer, Eine katholische Stadt im protestantischen Preußen, in : Energieversorgung Mittelrhein GmbH (Hg.), Geschichte der Stadt Koblenz, Band 2, Stuttgart 1993, S. 253–281 ; Gisela Fleckenstein, Johannes Jörgensen. Ein Konvertit schreibt Ordensgeschichte, in : Dies./Michael Klöcker/Norbert Schlossmacher (Hgg.), Kirchengeschichte. Alte und neue Wege. Festschrift für Christoph Weber, Band 2, Frankfurt am Main u. a. 2008, S. 809–827 ; dies., Reinhard, Paula, in : Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 30, Herzberg 2009, S. 1129–1130 ; Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803–1945, Berlin 1983 ; ders. (Hg.), Klöster und Ordensgemeinschaften (Geschichte des kirchlichen Lebens, Bd. 7), Freiburg 2006 ; Maria Franziska von Hertling, Mutter Maria Ignatia von Hertling. Kapuzinerin von der Ewigen Anbetung. Gründerin und erste Oberin des Klosters Bethlehem zu KoblenzPfaffendorf, Koblenz 1961 ; Helene Hofmann, Meine Besuche bei der belgischen Stigmatisierten Rosalie Püt, Stein am Rhein 1990 ; Anne Koelblin, August Menken (1856–1903). Späthistorist zwischen Köln, Berlin und Danzig, Peterberg 2004 ; Andreas J. Kotulla, »Nach Lourdes !« Der französische Marienwallfahrtsort und die Katholiken im Deutschen Kaiserreich (1871–1914), München 2006 ; F[riedrich]. Lauchert, Franz Reinhard, in : Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8, 2. Aufl., Freiburg 1936, Sp. 747 ; Antonia Leugers, Das Geheimnis wurde erst spät gelüftet. Heute vor 110 Jahren : Im Dahl öffnete das erste Missionsseminar im nördlichen RheinlandPfalz, in : Rhein-Zeitung, Nr. 284 vom 8.12.2003 ; dies., Eine geistliche Unternehmensge-
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schichte. Die Limburger Pallottiner-Provinz 1892–1932, St. Ottilien 2004 ; Alfons Maria von München, Totenbuch der Bayerischen Kapuzinerprovinz, Altötting 1938 ; Johann Jac[ob] Wagner, Coblenz-Ehrenbreitstein. Biographische Nachrichten über einige älteren Coblenzer und Ehrenbreitsteiner Familien, Coblenz 1923 ; Nachruf Franz Reinhard, in : Rheinische Volksblätter für Haus, Familie und Handwerk 40 (1893), S. 1 f.; Nachruf Franz Reinhard, in : Historisch politische Blätter 112 (1893), S. 76–80 ; Franz Reinhard, in : Wilhelm Kosch, Das Katholische Deutschland. Biographisch-Bibliographisches Lexikon, Bd. 3, Augsburg 1938, Sp. 3873 f.; Erhard Schlund, Handbuch für das franziskanische Deutschland, München 1926 ; Wolfgang Schütz, Koblenzer Köpfe. Personen der Stadtgeschichte und Namensgeber für Straßen und Plätze, 2. überarb. u. erw. Aufl., Mülheim-Kärlich 2005, S. 437 f.; Klaus-Bernward Springer, Roh, Peter, in : Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 8, Herzberg 1994, Sp. 557–559 ; Clemens Steinbicker (Bearb.), Westfälisches Geschlechterbuch, Bd. 4 (Deutsches Geschlechterbuch. Ein genealogisches Handbuch bürgerlicher Familien, Bd. 173), Limburg an der Lahn 1976 ; Christoph Weber, Kirchliche Politik zwischen Rom, Berlin und Trier 1876–1888. Die Beilegung des preußischen Kulturkampfes (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 7), Mainz 1970 ; Otto Weiß, Seherinnen und Stigmatisierte, in : Irmtraud Götz von Olenhusen (Hg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 1995 ; Verkehrs- und Verschönerungsverein Pfaffendorf e. V. (Hg.), 100 Jahre Kloster Bethlehem 1904–2004, Lahnstein 2004 ; ders. (Hg.), Sie folgten dem Stern – die Gründerinnen des Klosters Bethlehem. Maria Ignatia von Hertling mit Paula und Maria Reinhard, Koblenz 2009. Online Eintrag »Paula Reinhard«, in : Rheinland-Pfälzische Personendatenbank, abgerufen unter : http://rpb.lbz-rlp.de/cgi-bin/wwwalleg/goorppd.pl ?s1=-pka0721- (Stand : 31.1.2019). Paula Reinhard. Stifterin Kloster Bethlehem – Koblenz, Seite des Klosters Bethlehem, abgerufen unter : http://www.paula-reinhard.de (Stand : 31.1.2019). Onlineauftritt des Klosters Bethlehem. Klarissen-Kapuzinerinnen von der Ewigen Anbetung, abgerufen unter : http://www.klosterbethlehem.de (Stand : 31.1.2019). Stammbaum der Familie Mittweg, abgerufen unter : http://www.gen-mittweg.de (Stand : 31.1.2019).
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Alena Saam
August Dicke (1859–1929) Oberbürgermeister von Solingen
1. Ein Kommunalpolitiker zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik August Dicke war für knapp 32 Jahre Oberbürgermeister von Solingen und damit eines der amtsältesten Stadtoberhäupter der preußischen Rheinprovinz. Seine Amtszeit wurde begleitet vom Ersten Weltkrieg, dem Übergang von der Monarchie zur Demokratie, der britischen Besatzung und dem Aufstieg der politischen Extreme. Dass Dicke im Vergleich zu vorherigen Bürgermeistern eine von Umbrüchen gekennzeichnete Amtszeit hatte, bemerkten schon die Zeitgenossen. Anlässlich seines 30-jährigen Dienstjubiläums im Jahr 1926 schrieb der Journalist Max Schmidt (1873–1929) im Solinger Tageblatt : In den 30 Jahren, die Oberbürgermeister Dicke jetzt an der Spitze der Solinger Stadtverwaltung steht, hat sich vieles, vieles geändert. Nicht an die Zeit der Revolution sei zuerst gedacht, sondern wir gedenken auch der Zeit vom Amtsantritt des Oberbürgermeisters bis in die Kriegszeit hinein. Wie ist August Dicke mit der politischen Umwälzung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik als Kommunalpolitiker und Staatsdiener umgegangen ? Die Solinger Bürger erlebten während Dickes Amtszeit zahlreiche Veränderungen. Die Stadt erfuhr infrastrukturelle Neuerungen und Verbesserungen, zu denen beispielsweise die Einrichtung der Straßenbahn sowie der Bau eines Schwimmbads, der Sengbachtalsperre und des städtischen Krankenhauses zählen. Dicke arbeitete außerdem schon früh auf die Vereinigung der damals noch im Kreis Solingen zusammengefassten Städte Ohligs, Wald, Höhscheid und Gräfrath mit dem Stadtkreis Solingen hin. Sein großer Gegenspieler hierbei war der Landrat des Kreises Solingen Adolf Lucas (1862–1945), der stets auf den Zusammenhalt des Kreises bedacht war. Die von ihm angestoßene Vereinigung erlebte Dicke nicht mehr. Nicht nur die historischen Umstände und die kommunalpolitischen Erfolge und Misserfolge sind für die Untersuchung August Dickes von Relevanz. Auch die Kommunalpolitiker, mit denen er zusammenarbeitete und die zu mittel- und langfristigen Wegbegleitern wurden, sind einer genaueren Betrachtung wert. Das wohl bekannteste Beispiel ist Carl Friedrich Goerdeler (1884–1945), der von 1911 bis 1920 als Beigeordneter in Solingen wirkte. Nach der Machtübernahme im Jahr 1933 entwickelte er sich schnell zu einem erklärten Gegner des Nationalsozialismus. Er baute zu verschiedenen Widerstandsgruppen im Reich Kontakte auf, die überwiegend einen konser119
Alena Saam Abb. 1: August Dicke, Porträtfoto, Aufnahme nach dem Ersten Weltkrieg
vativen, nationalliberalen und christlich-gewerkschaftlichen Hintergrund hatten. Zu diesem sogenannten Goerdeler-Kreis gehörten unter anderem der Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke (1907–1945) und Peter Graf Yorck von Wartenburg (1904–1944) sowie der Kölner Kreis um Jakob Kaiser (1888–1961), Bernhard Letterhaus (1894–1944), Nikolaus Groß (1898–1945) und Heinrich Körner (1892–1945). Der Goerdeler-Kreis hatte ebenfalls Kontakte zu den Attentätern vom 20. Juli 1944. Aufgrund Goerdelers Verbindungen und seiner Pläne für die Zeit nach dem Sturz Adolf Hitlers (1889–1945) wurde er am 2. Februar 1945 hingerichtet. Bisherige Publikationen haben dem ehemaligen Oberbürgermeister August Dicke große Bedeutung zugemessen. In den 1980er-Jahren bezeichneten Solinger Regionalund Heimatforscher wie Volker Wünderich und Hans Lohausen seine Amtszeit als »Ära Dicke« und seinen kommunalpolitischen Führungsstil als »System Dicke«. Für viele seiner Zeitgenossen habe er sich in Solingen als Konstante in Zeiten der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit erwiesen. Diesen Ruf genießt er bis heute. Für Auswärtige, wie Carl Friedrich Goerdelers Tochter, wirkte August Dicke hingegen als »Autokrat von eigenartiger Prägung«. Wie sind diese divergierenden Bilder überein zu bringen ? Was waren die entscheidenden internen und externen Faktoren, die zu seiner langen Amtszeit geführt haben ? Damit zusammenhängend ist auch zu fragen, 120
August Dicke (1859–1929)
wie er sich als Nationalliberaler selbst nach der Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in einer Stadt behaupten konnte, in der linke Parteien, insbesondere die KPD, die politische Landschaft dominierten. Weiterhin soll untersucht werden, ob sich sein politischer Führungsstil signifikant von dem anderer (Ober-)Bürgermeister im Bergischen Land unterschied. Bei der Beschäftigung mit August Dicke wird schnell klar, dass seine Person bisher keineswegs zufriedenstellend und erschöpfend erforscht wurde. In erster Linie liegt dies an der schwierigen Quellenlage : Es gibt kaum Egodokumente und keinen Nachlass, die Einblick in seine Denkweise und Entscheidungsprozesse geben könnten. Die Beurteilung des Oberbürgermeisters und seiner Handlungsweisen ist dementsprechend schwierig und lässt zuweilen nur Spekulationen zu. Auch in dem von Heinz Rosenthal verfassten Werk »Solingen – Geschichte einer Stadt«, der ersten umfassenden Publikation über die Geschichte Solingens, findet sich kein Beitrag zu August Dicke. Umso wichtiger sind daher die archivalischen Quellen, die sich vornehmlich im Stadtarchiv Solingen und ferner in der Abteilung Rheinland des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen befinden. Der vorliegende Beitrag stützt sich deswegen hauptsächlich auf archivalische Bestände, die unter anderem Zeitungsartikel, Dickes Personalakte, zeitgenössische Beurteilungen durch sein Umfeld, Sitzungsprotokolle der Stadtverordnetenversammlungen und Drucksachen der Stadt umfassen. August Dickes politische Haltung und sein Charakter werden exemplarisch anhand von bestimmten Ereignissen, wie dem Bau der Sengbachtalsperre und des städtischen Krankenhauses, oder seinem Verhalten in der Frage der Städtevereinigung und dem Korruptionsskandal von 1927 herausgearbeitet. 2. Herkunft und Ausbildung Geboren in Schwelm am 17. Juli 1859 ist August Dicke zwar gebürtiger Westfale, aber nicht weit vom Bergischen Land aufgewachsen. Seine Eltern waren der Kaufmann David Dicke und dessen Ehefrau Louise geborene Penner (1839–1922), die ihn im evangelischen Glauben erzogen. Er besuchte das Gymnasium in Bielefeld und legte dort 1880 erfolgreich die Reifeprüfung ab. Anschließend entschloss er sich für ein Studium der Rechtswissenschaften und schlug eine klassische Karrierelaufbahn ein : Nach vier Jahren Studium an den Universitäten Heidelberg, Leipzig und Berlin bestand er am 8. Februar 1884 die erste juristische Prüfung. Schon im März des gleichen Jahres wurde er als Gerichtsreferendar vereidigt. Im Anschluss an seine am 1. Dezember 1888 erfolgreich abgelegte zweite juristische Prüfung wechselte Dicke als unbezahlter Gerichtsassessor nach Schwelm. Am 9. April 1892 kam er erstmals mit den Mechanismen einer Stadtverwaltung in Berührung, als er eine informatorische Beschäftigung bei der Stadt Hagen annahm. Dort hielt es ihn zwar nur für ein halbes Jahr, doch scheint ihm der Dienst in einer kom121
Alena Saam
munalen Verwaltung zugesagt zu haben. Am 16. November 1892 führte ihn sein Weg schließlich ins Bergische Land : Er trat bei der Stadt Elberfeld (heute Wuppertal) eine von sechs Beigeordnetenstellen an. Der Hagener Oberbürgermeister August Prentzel (1843–1900) hatte August Dicke am 18. August 1892 ein positives Zeugnis ausgestellt, in dem er ihm bescheinigte, daß er sich leicht und rasch in allen ihn zugetheilten Arbeiten zurechtgefunden hat und, ausgerüstet mit vortrefflichen juristischen Kenntnissen, sowie wohl veranlagt für den Verwaltungsdienst, mit Fleiß, Eifer und Erfolg bemüht gewesen ist, sich in die ihm neuen und fremden Materien einzuarbeiten. August Dicke konnte in Elberfeld die ersten wertvollen Erfahrungen in der Verwaltung sammeln und verdiente mit 5000 Mark im Jahr sein erstes festes Gehalt. Schon bald darauf wurde am 2. Mai 1893 die Hochzeit mit Helene Falkenroth (geb. 1868) gefeiert. Helene war die Tochter von Wilhelm (1835–1921) und Cornelia Falkenroth (1837–1911) geborene Schulte, war evangelisch und stammte ebenfalls aus Schwelm. Am 28. September 1895 kam die erste Tochter Louise Caroline Gisela (1895–1970) in Elberfeld zur Welt. Es folgten Helene Else am 20. August 1897 und Maria Hildegard am 14. Juni 1901 ; die jüngste Tochter verstarb jedoch knapp ein Jahr später. In Elberfeld konnte Dicke 1894 eine Gehaltserhöhung erreichen, die ihm ein jährliches Einkommen von 6000 Mark einbrachte und der jungen Familie ein finanzielles Polster bescherte. Dicke hatte die Stadtverordneten unter Druck gesetzt, indem er seine Absicht bekundete, eine ertragreichere Stelle anzunehmen. Oberbürgermeister Adolf Hermann Jaeger (1832–1899) verteidigte die Mehrausgaben in einem Schreiben vom 21. Juli 1894 an den Düsseldorfer Regierungspräsidenten Eberhard von der Recke von der Horst (1847–1911) damit, daß es dem städtischen Interesse entspricht, den häufigen Personenwechsel in den Stellen der besoldeten Beigeordneten möglichst zu vermeiden. Hier zeigte sich früh Dickes Verhandlungsgeschick. Bis 1896 blieb er als Beigeordneter in Elberfeld tätig. Erst als der amtierende Solinger Oberbürgermeister Friedrich Haumann (1857–1924) im Juni 1896 sein Amt aufgab, sah Dicke die Chance für einen Stellenwechsel. Dieser hätte einen beruflichen und finanziellen Aufstieg bedeutet. Auch die Nähe Solingens zu Elberfeld und die bereits vorhandenen Kenntnisse der bergischen Verhältnisse werden Dickes Entscheidung beeinflusst haben. Neben ihm bewarben sich auch der Kölner Beigeordnete Wilhelm Klußmann (1864–1941) und der Düsseldorfer Landesrat Gustav Friedrich Kehl (1854–1924). Die Solinger Stadtverordneten hatten sich am 24. Juni 1896 in einer geheimen Sitzung zusammengefunden, um sich auf einen Kandidaten festzulegen. Die Wahl August Dickes war durchaus knapp und nicht selbstverständlich : 13 Stadtverordnete votierten für ihn, während Klußmann zwölf und Kehl drei Stimmen erhielten. Erst bei der Stichwahl zwischen Dicke und Klußmann wurde er mit einer deutlicheren Mehrheit von 17 gegen elf Stimmen gewählt. Einen Tag später verfasste der noch im Amt befindliche Oberbürgermeister Haumann ein kurzes Urteil über Dicke, in dem es heißt : In politischer und gesellschaftlicher Beziehung liegen nach den diesseitigen Erkundigungen keinerlei Bedenken vor. […] Herr Dicke erfreut sich eines sehr guten Rufes und es ist 122
August Dicke (1859–1929)
Abb. 2: Amtskette des Oberbürgermeisters, von Dicke getragen. Im Ersten Weltkrieg (vermutlich 1917) eingeschmolzen, vor 1917
von allen Seiten seine Tüchtigkeit und Pflichttreue anerkannt worden. Einen Monat später, am 24. August 1896, wählte die Solinger Stadtverordnetenversammlung August Dicke offiziell einstimmig zum neuen Oberbürgermeister. Zwei Tage später erfolgte seine Bestätigung und am 31. August die Amtseinführung. Der Oberbürgermeistertitel wurde ihm am 10. Oktober 1897 verliehen, nachdem die preußische Regierung die Wahl abgesegnet hatte. 3. Ausgangssituation in Solingen Was erwartete Dicke im Solingen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ? Max Schmidt urteilte rückblickend : Als Oberbürgermeister Dicke nach Solingen kam, da hatte die Stadt den kleinstädtischen, ja dörflichen Charakter noch nicht abgestreift. Man denke nur an die Verkehrsverhältnisse und vergegenwärtige sich das frühere Stadtbild ! Zum Zeitpunkt von Dickes Amtsantritt war das deutlichste Merkmal des dörflichen Charakter[s] die geringe Einwohnerzahl von nur knapp 40.000. Sie stieg bis zum Ende des Ersten Weltkriegs um lediglich 10.000 an. Damit gehörte Solingen eindeutig zu den kleineren Städten im Bergischen Land und lag beispielsweise weit hinter den Einwohnerzahlen von Elberfeld und Barmen, die 1910 jeweils die 150.000-Marke überschritten hatten. Die 123
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Voraussetzungen für eine eigenständige Stadt hatte Solingen mit 40.000 Einwohnern im Jahr 1896 dennoch erfüllt, was unter anderem auf die Eingemeindung der Bürgermeisterei Dorp (1889) zurückzuführen war. Das Jahr 1896 war demnach nicht nur im Hinblick auf den Bürgermeisterwechsel von Bedeutung, sondern auch aufgrund der in diesem Jahr erteilten Selbstständigkeit der Stadt. Zuvor war Solingen Teil des gleichnamigen Landkreises gewesen, der zum einen aus den Bürgermeistereien Solingen, Wald, Merscheid, Höhscheid, Gräfrath und Dorp sowie aus dem 1819 aufgelösten Kreis Opladen bestand. Die Stadt war außerdem seit 1830 Sitz der Kreisverwaltung. Sie blieb es (auch nach der Herauslösung aus dem Kreis) bis 1914. Mit der städtischen Selbstständigkeit war auch die Einrichtung des Oberbürgermeisteramts einhergegangen. Friedrich Haumann war der Erste, dem dieses Amt übertragen wurde. Bereits eineinhalb Monate nach seiner Amtseinführung am 15. Mai 1896 hatte er dieses jedoch niedergelegt. Grund dafür war ein Stellenangebot als Direktor der »Rheinischen Bahngesellschaft AG« in Düsseldorf. Wirtschaftlich war es vor allem die Klingenindustrie, die Solingen, aber auch andere bergische Städte, prägte. Insbesondere die Solinger Schneid- und Stahlwarenindustrie hatte sich auf nationaler und internationaler Ebene einen Namen gemacht und erlebte in den ersten zwei Amtsperioden August Dickes zwischen 1895 und 1914 einen regelrechten Exportboom. Die Branche unterzog sich in diesen Jahren jedoch vermehrt Veränderungs- und Modernisierungsprozessen, die zu offenen Konflikten zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft führten. Durch die Einführung der Dampfkraft und der Elektrizität bildeten sich Fabriken, die auf Massenproduktion ausgerichtet waren. Die Solinger Industrie war jedoch ursprünglich stark von Kleinbetrieben und Heimarbeitern geprägt. In der Schneidwarenindustrie arbeiteten beispielsweise bis 1913 noch Dreiviertel der knapp 19.000 Arbeiter in Fabriken mit weniger als 100 Beschäftigten oder in Heimarbeit. Ein Rückgang ist erst in den 1920er-Jahren auszumachen. Arbeitnehmer hatten sich in Fachvereinen, Arbeitgeber in Fabrikantenvereinen zusammengeschlossen, welche die jeweiligen Interessen auf lokaler Ebene vertraten. Konflikte wurden meist über die Vereine beigelegt, bedurften zuweilen aber auch der Vermittlung des Oberbürgermeisters. Neben anderen bergischen Städten wie Elberfeld und Barmen war Solingen aufgrund der numerisch starken Arbeiterschaft schon früh sozialdemokratisch geprägt. Seit der Gründung des Kaiserreiches erzielte die SPD im Wahlkreis Solingen Ergebnisse, die deutlich über dem Reichsdurchschnitt lagen : Bei den Reichstagswahlen stieg der Stimmenanteil der Sozialdemokraten von 28 Prozent (1874, Reich : 7 Prozent) auf 55 Prozent (1912, Reich : 34,8 Prozent). Zweitstärkste Kraft waren stets die Nationalliberalen (nach 1918 Deutsche Volkspartei, DVP), zu denen auch Dicke zählte. Bei seiner Einstellung als Beigeordneter in Elberfeld hatte der damalige Oberbürgermeister Jaeger diesbezüglich an den Düsseldorfer Regierungspräsidenten berichtet : Auskünfte über sein Vorleben sind durchaus gut. Er gehört nicht der Fortschrittspartei an, und ist seine Treue zu Kaiser und Reich unzweifelhaft. Auch in seiner Personalakte heißt 124
August Dicke (1859–1929)
es, Dicke huldige den Anschauungen der gemäßigt Liberalen – ein Urteil, das im Hinblick auf die Ablehnung der Vorhaben der »Fortschrittspartei« durch die preußische Regierung für Dickes Bestätigung im Amt wichtig war. Aufgrund des Dreiklassenwahlrechts und der steuerabhängigen Gewichtung der Stimmen waren in der Solinger Stadtverordnetenversammlung zu Beginn seiner Amtszeit in erster Linie Fabrikanten und Unternehmer des liberalen und konservativen Spektrums und nur wenige Sozialdemokraten vertreten. Die Verhältnisse glichen sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs zugunsten der SPD an. Nach dem Krieg erlangte die KPD sogar kurzzeitig die Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung. Für August Dicke bedeutete dies, dass er ausgleichend zwischen konservativen, nationalliberalen, sozialdemokratischen und später auch kommunistischen Forderungen agieren musste. 4. Erste Amtsperiode : bloßer Repräsentant ? Die ersten öffentlichen Amtshandlungen August Dickes waren zunächst verkehrspolitischer Natur und erzielten eine breite, über Solingen hinausgehende Öffentlichkeit : Im Juni 1897 wurde die elektrische Straßenbahn eingeweiht. Einen Monat später folgte die Eröffnung der Müngstener Eisenbahnbrücke, die bis heute Solingen und Remscheid verbindet. Hierbei kamen August Dicke lediglich repräsentative Aufgaben zu. Auch wenn ihm diese kommunalpolitischen Leistungen schon von den Zeitgenossen zugeschrieben und später von Hans Lohausen weitergetragen wurden, waren sie bereits von Dickes Vorgängern beschlossen worden. So hatte der Stadtrat schon zu Beginn des Jahres 1896 den Vertrag über den Bau einer elektrischen Straßenbahn in Solingen mit der »Union-Elektricitäts-Gesellschaft« geschlossen. Die Arbeiten an der Müngstener Brücke hatten ebenfalls bereits 1893 begonnen. Dickes Tätigkeiten beschränkten sich daher auf Begrüßungen und Einweihungsreden, durch die er sich aber zu profilieren wusste. Insbesondere die Müngstener Brücke, die damals unter dem Namen Kaiser-Wilhelm-Brücke eingeweiht wurde, erfuhr aufgrund ihrer Rekordhöhe von 107 Metern ein großes Medienecho. Zwar kam Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) der Einladung der Stadtverordnetenversammlung zur Einweihung der Brücke nicht nach, ließ sich jedoch von seinem Schwager Prinz Friedrich Leopold von Preußen (1895–1959) vertreten. Der Kaiser sollte die Brücke erst zwei Jahre später besuchen. Anlässlich dessen nahm dieser huldvoll einen Prunkpallasch der Stadt entgegen, während er August Dicke das Rote Adlerkreuz IV. Klasse verlieh. Das nächste Projekt betraf die Verbesserung der Wasserversorgung Solingens durch den Bau einer Talsperre im Sengbachtal. In der städtischen Gas- und Wasserwerkskommission herrschte schon längere Zeit die Erkenntnis, dass die Wasserversorgung durch das Wasserwerk Grunenburg auf lange Sicht nicht bedarfsdeckend geleistet werden könne und nach Alternativen gesucht werden müsse. Der städtische Wasserwerksdirektor Karl Klose (1853–1910) schlug deshalb vor, den Bauingenieur und Pro125
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Abb. 3: Die Sengbachtalsperre, 1914
fessor an der Technischen Hochschule Aachen Otto Intze (1843–1904) mit einem Gutachten zu beauftragen. Intze hatte sich schon auf nationaler Ebene einen guten Ruf für Wasserbau erarbeitet und bereits in Remscheid, Hückeswagen und Barmen Talsperren gebaut. Am 10. Mai 1897 präsentierte er dem Stadtrat sein Gutachten und empfahl […] die Errichtung einer Thalsperre im oberen Thalbecken des Sengbachthales. Auch August Dicke nahm das Problem der Wasserversorgung sehr ernst und pochte in der Stadtverordnetenversammlung auf eine Lösung. Unmittelbar vor Intzes Vortrag hatte er die vorherrschenden Unzulänglichkeiten betont ; ein ungewöhnlich aktives Verhalten, das er in seinen ersten fünf Amtsjahren lediglich bei der Wasserversorgung und der (mangelhaften) Eisenbahnanbindung Solingens zeigte. Bei der Einweihung der Talsperre am 28. Mai 1903 sagte Dicke, dass nun eine Anlage geschaffen worden sei, die für die Existenz und Weiterentwicklung des Gemeinwesens eine absolute Notwendigkeit war. Die Wasserfrage [sei] zweifellos eine der wichtigsten für ein Gemeinwesen. Die Rede gibt außerdem einen Einblick in sein Verständnis von Stadtverwaltung und der Arbeit der Stadtverordnetenversammlung. Das Recht der Selbstverwaltung habe für Dicke die Pflicht in sich, die Angelegenheiten der Gemeinde so zu behandeln, daß das Gemeinwohl die einzige Richtschnur für ihre Verwaltung bleibe. Weiter argumentierte er, dass das Wohl der Gemeinde darauf beruhe, daß allen kommunalen Bedürfnissen, realen, wie idealen, durch entsprechende Einrichtungen 126
August Dicke (1859–1929)
Rechnung getragen werde. Dieses Verständnis ist auch bei der Eingemeindungsfrage – ein Vorhaben, das Dicke bis zu seinem Rücktritt entschlossen verfolgte – zu erkennen. 5. Erste Versuche einer Städtevereinigung Eine Vorstufe zur Vereinigung der Gemeinden Höhscheid, Wald, Gräfrath und Ohligs mit Solingen war schon vor Dickes Amtsantritt mit der Eingemeindung Dorps 1889 erreicht worden. Der rein flächenmäßige Gewinn Solingens bot seitdem zwar Platz für räumliche Ausdehnung, jedoch konnte sich die Stadt wirtschaftlich im verkehrstechnisch schlecht angebundenen Dorp kaum entfalten. Daher lag es nahe, weitere Eingemeindungen anzustreben, die vor allem auf die Gemeinden im oberen Kreis Solingen, welche die heutigen fünf Stadtteile der Stadt bilden, abzielten. Die Bürgermeister von Höhscheid und Gräfrath, Louis Gläßner (1844–1920) und Friedrich Kürten (1850– 1921), sowie anfänglich auch Walds Bürgermeister, Gottlieb Heinrich (1856–1927), sprachen sich ebenfalls für eine Eingemeindung aus. In dieser Frage zeigte sich August Dickes energischer und hartnäckiger Charakter. Am 16. Juni 1902 richtete Dicke ein Schreiben an Adolf Lucas, Landrat des Kreises Solingen. Er trug ihm seinen Plan vor, Höhscheid sowie die an Solingen angrenzenden Teile Gräfraths und Walds einzugemeinden, und erkundigte sich gleichzeitig nach den Bedingungen. Dicke merkte dabei an, dass Solingen bereits zu diesem Zeitpunkt der wirthschaftliche Mittelpunkt der Bewohner der hier in Betracht kommenden Gemeinden sei. Die gemeinsame Nutzung der Schulen und des Schlachthauses sowie die Versorgung der Gemeinden durch das Solinger Gas- und Wasserwerk, aber auch die Straßenbahn führte Dicke als Argumente an. Ebenso zählte er zahlreiche Probleme auf, die mit der bisherigen Situation einhergingen. Diese zeigten sich unter anderem bei Bränden oder Polizeiermittlungen in den jeweiligen Grenzgebieten, denn es müsse immer erst die Zuständigkeit der Behörden geklärt werden. Auch seien bereits über 100 Arbeiterfamilien in die Grenzgebiete Höhscheids, Walds und Gräfraths gezogen, da dort die Mietpreise niedriger seien. Dicke gab zu bedenken, dass die Steuerkraft der Gemeinden [dadurch aber] nicht gehoben werde, sondern die Schul- und Armenlasten stiegen. Lucas weigerte sich jedoch, den Eingemeindungsgelüsten des Oberbürgermeisters – wie er 1959 in seinen Erinnerungen schrieb – nachzugeben. Für ihn waren Dickes Argumente hinfällig. Er habe genügend Personen getroffen, die dem Solinger Stadtoberhaupt in der Frage der Eingemeindung widersprechen würden. Lediglich die an der Grenze zu Solingen lebenden Bewohner stünden einer Eingemeindung positiv gegenüber, während die Bevölkerung im Stadtkern diese ablehne. Die Gemeinden Höhscheid und Gräfrath, die beide bevölkerungsmäßig und finanziell deutlich schwächer aufgestellt waren als Solingen, Wald und Ohligs, unterstützten das Vorhaben Dickes. Auch Wald befürwortete zunächst die Eingemeindungen, während Ohligs die Städtevereinigung von vornherein ablehnte. An einer Kompromisslösung war Dicke jedoch 127
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nicht interessiert ; er verfolgte langfristig die Eingemeindung aller Gemeinden. Dabei ließ er keine Gelegenheit ungenutzt, Werbung für sein Vorhaben zu machen : Anlässlich der Einweihung der Sengbachtalsperre wurde im Solinger Kaisersaal ein Festessen abgehalten, an dem auch der Regierungspräsident Arthur Schreiber (1849–1921) teilnahm. Dicke hielt eine weitere Rede, in der er gezielt den Regierungspräsidenten auf die Eingemeindungen ansprach : Die Einwohnerschaft unserer Stadt könnte von 45.000 durch einen einzigen Griff um 20.000 Einwohner vermehrt werden, 20.000 Einwohner, die an der Grenze Solingens wohnen und stürmisch Einlaß begehren und die wir auch herzlich willkommen heißen würden. Aber bis jetzt ist es selbst energischen Bemühungen nicht gelungen, den hemmenden Riegel zu beseitigen. Da könnte es denn sein, daß wir eines Tages zu Ihnen kommen und sagen, helfen Sie uns doch. Dann würde es uns sehr lieb sein, wenn Sie mit der Macht Ihrer Persönlichkeit für uns eintreten würden. Wir hoffen dann in Ihnen einen kräftigen Bundesgenossen gefunden zu haben. Diese Hoffnung ging jedoch nicht in Erfüllung. Zwar erhielt die Eingemeindungsfrage in den folgenden Jahren weiteren Auftrieb – im Jahre 1910 sogar in einem solchen Maße, dass sich in den Stadtverordnetenversammlungen von Solingen, Wald, Gräfrath und Höhscheid Kommissionen bildeten. Jedoch nahmen an den Vorberatungen von vornherein keine Vertreter Ohligs’ teil. Außerdem hatte sich innerhalb der Gemeinde Wald Widerstand gegen die Vereinigung mit Solingen geregt und der Vorschlag eines Zusammenschlusses mit Ohligs Auftrieb erhalten. Die Gründe dafür lagen einerseits in der zwischen 1900 und 1910 steigenden Wirtschaftskraft Walds, die eine größere Unabhängigkeit von Solingen ermöglichte. Andererseits entwickelte sich in der Walder Stadtverordnetenversammlung der Gedanke, durch einen Zusammenschluss mit Ohligs ein Gegengewicht zu einem »Groß-Solingen« zu bilden. Zwar votierten die Walder Kommissionsmitglieder mehrheitlich für die Städtevereinigung in August Dickes Sinne, doch reichten deren Gegner eine Petition beim Regierungspräsidenten ein, die sich eindeutig gegen eine Vereinigung aussprach. Dieser wandte sich schließlich an Dicke, um ihm seine starke[n] Bedenken gegen die Städtevereinigung mitzuteilen. Nicht nur die Walder und Ohligser Gegner hätten ihn dazu verleitet. Er habe zudem Zweifel daran, dass eine solch große Gemeinde, wie sie nach der Städtevereinigung bestünde, wirtschaftlich zu verwalten sei. Die Beratungen scheiterten letztendlich. 6. August Dicke als Realpolitiker Hinsichtlich der Städtevereinigung zeigte sich Dicke weiterhin energisch und zielstrebig, wenn auch nicht erfolgreich. Ein weiterer Charakterzug lässt sich ebenfalls im Zuge der Einweihung der Sengbachtalsperre im Jahr 1903 erkennen. Aufgrund der Feierlichkeiten hatte Dicke einen Kuraufenthalt im nordhessischen Bad Wildungen aufgeschoben, den er wegen eines Blasen- und Nierenleidens vom Arzt verordnet bekommen hatte. Der Kuraufenthalt sollte daraufhin vom 3. Juni bis 8. Juli 1903 stattfinden. Wur128
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den Dickes Beurlaubungen in der Regel ohne Beanstandungen zügig genehmigt, erhielt Dicke in diesem Fall keine sofortige Genehmigung von Regierungspräsident Schreiber. Dieser schrieb, dass es ihm wünschenswert erscheine, dass Oberbürgermeister Dicke mindestens an dem Tage der Reichstagswahl [16.6.1903] selbst […] zu Solingen anwesend sei. Er befürchte Krawalle von Sozialdemokraten am Wahltag. Der Oberbürgermeister entgegnete jedoch nonchalant : Nach meiner Erfahrung sind hier Unruhen irgendwelcher Art nicht zu erwarten. […] Die Führer der Socialdemokraten werden schon selbst dafür sorgen, daß Crawalle etc. nicht entstehen. Endlich aber kann das Resultat der Wahl gar nicht zweifelhaft sein, da der socialdemokratische Candidat siegen wird. Weiterhin ging er auf die letzte Reichstagswahl 1898 ein, als das Reichstagsmandat wegen Streitigkeiten innerhalb der Solinger SPD an den Liberalen Louis Sabin (1851–1914) ging. Gleichzeitig charakterisierte er die Solinger Arbeiterschaft sowie die sozialdemokratische Presse : Als vor 5 Jahren zum ersten Mal seit langen Jahren ein liberaler Candidat gegen den Candidaten der Socialdemokraten gewählt wurde, die Wahlagitation eine aeußerst lebhafte […] war, ist doch nicht ein Fall von Beunruhigung vorgekommen. Die Solinger Arbeiter an sich bleiben ruhig, sofern sie nicht gereizt werden. Jeder Anreiz durch die Polizei wird aufs Strengste vermieden. […] Die ungewöhnliche Schärfe in welcher das hiesige socialdemokratische Organ sich bemerkbar macht, ist lediglich auf die beiden socialdemokratischen Redakteure – zugezogene Personen – zurückzuführen. Dicke sollte Recht behalten : Die Wahl verlief friedlich und Philipp Scheidemann (1835–1939) erhielt das Solinger Reichstagsmandat. Am 6. Juli übernahm der Oberbürgermeister wieder die Dienstgeschäfte. In seiner Einschätzung der Solinger Arbeiterschaft und Sozialdemokratie lässt sich Dickes realpolitische Linie ablesen, keine politischen Grundsatzdiskussionen zu führen, sondern Politik anhand der Gegebenheiten zu gestalten. Ein Realpolitiker musste Dicke in einer Stadt mit einer starken sozialdemokratisch geprägten Arbeiterschaft auch sein. Zwar bestand die Stadtverordnetenversammlung zum größten Teil aus Fabrikanten und Kaufmännern mit national- oder linksliberalen Ansichten. Dennoch neigten Solinger Arbeiter dazu, schnell in Streik zu treten, wenn sie mit arbeitstechnischen oder tariflichen Änderungen gereizt wurden, wie Dicke es formulierte. Durch die praktische Selbstständigkeit der Heimarbeiter und den hohen Grad an Organisation in lokalen Berufsverbänden konnte es durchaus vorkommen, dass eine Firma mehrere Jahre von einer bestimmten Berufsgruppe (z. B. Schleifern, Reidern oder Ausmachern) bestreikt wurde, ohne dass die Arbeiter erwerbslos waren. Sie belieferten einfach die anderen in Solingen und Umgebung ansässigen Firmen weiter, ohne größere Einbußen zu verzeichnen. In diesen für heutige Verhältnisse paradox anmutenden Situationen musste das Stadtoberhaupt als Vermittler aktiv werden. So beispielsweise im Jahr 1907 während eines Streits zwischen den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen über die Einführung der Lohnschleiferei im Unternehmen »Hugo Linder Deltawerk«. Die Auseinandersetzung hatte sich zugespitzt und keine Konfliktpartei war mehr zu Verhandlungen bereit. Nur durch die Vermittlung August Dickes kam es 1910 zu einer Einigung. 129
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7. Wiederwahl im Jahr 1907 Am 17. Oktober 1907 fand sich die Stadtverordnetenversammlung zu einer nichtöffentlichen Sitzung im Hotel Monopol in der Solinger Innenstadt zusammen. Einziger Tagesordnungspunkt der Sitzung war die Wahl des Oberbürgermeisters unter Festsetzung der Gehalts-Bedingungen. Laut Protokoll einigten sich die Stadtverordneten einstimmig darauf, von der Ausschreibung der Oberbürgermeisterstelle Abstand zu nehmen. Anschließend erfolgte die Stimmzettelabgabe : Die 28 Stadtverordneten wählten August Dicke einstimmig zum Stadtoberhaupt. Der Protokollant hielt fest : Herr Oberbürgermeister August Dicke ist somit vom 31. August 1908 ab für eine weitere 12-jährige Amtsperiode zum Bürgermeister von Solingen gewählt worden. Im Gegensatz zu seiner ersten Wahl 1896 wurde August Dicke nun einstimmig gewählt. Einen Monat später musste die Familie Dicke den frühzeitigen Tod von Helene Dicke verkraften, die am 14. Februar 1907 verstarb. Der Einblick in die persönliche Gedankenwelt Dickes und seiner Töchter kann wegen der fehlenden Egodokumente nicht nachvollzogen werden. August Dicke hatte sich nun alleine um seine beiden Töchter Gisela und Helene Else zu sorgen ; bis zu seinem Tod im Jahr 1929 heiratete er nicht erneut. Dickes Ziel einer Städtevereinigung blieb nach seiner Wiederwahl bestehen, auch als Regierungspräsident Schreiber dem Vorhaben 1910 einen Riegel vorschob. Eine weitere Chance, wieder für die Städtevereinigung zu werben, sah er in dem benötigten Neubau eines Krankenhauses. Die Initiative lag (wie schon bei anderen Projekten) nicht bei Dicke, sondern in diesem Fall bei Carl August Hülsmann (1862–1930), dem Oberarzt des bisherigen städtischen Krankenhauses. Dieses war 1863 an der damaligen Nordstraße (heute Potsdamer Straße) gebaut worden. Hülsmann war wie sein Vorgänger August Stratmann (1838–1903) Mitglied der Stadtverordnetenversammlung und hatte bereits im Jahr 1906 eine Denkschrift betreffend das Solinger Krankenhaus und seine Zukunft verfasst. Darin warnte er, dass die Kapazitäten des Krankenhauses nicht mehr lange vorhalten könnten. Anstelle eines Erweiterungsbaus – die erste Erweiterung war 1867 eröffnet worden – eigne sich ein Neubau besser. Außerdem seien die Heizungs- und Sanitäranlagen mangelhaft und eine Isolierstation fehle vollständig. Der Grund für die Kapazitätenknappheit lag darin, dass man auch Patienten aus den Nachbargemeinden Höhscheid, Gräfrath und Wald aufnahm, da diese über keine eigenen Krankenhäuser verfügten. Anders gestaltete sich die Lage in Ohligs ; hier hatte die Stadtverordnetenversammlung den Bau eines eigenen Krankenhauses beschlossen und 1897 an der Virchowstraße eingeweiht. Die restlichen vier Stadtverordnetenversammlungen beschlossen 1911 den Bau eines gemeinsamen Krankenhauses. Wald stellte dafür das Baugelände zur Verfügung, das sich unmittelbar an der Stadtgrenze zu Solingen befand. Dicke musste das Projekt besonders vor dem Hintergrund der vergangenen Eingemeindungsdebatte freuen. Mit der gemeinsamen Finanzierung und Nutzung der Krankenanstalten hatte er einen 130
August Dicke (1859–1929) Abb. 4: August Dicke, Aufnahme vor dem Ersten Weltkrieg
weiteren Beweis dafür, dass Solingen eine zentrale Rolle bei der Versorgung der drei Nachbarn spielte und die Städtevereinigung nun einen natürlichen Verlauf nahm. Dafür billigten er und die Solinger Stadtverordnetenversammlung, einen Großteil der Betriebskosten zu übernehmen, da diese nach Steueraufkommen festgesetzt wurden. Der Grundstein der Städtischen Krankenanstalten wurde im April 1913 gelegt. Ihre Eröffnung am 23. September 1915 fand während des Ersten Weltkriegs statt. 8. August Dicke und Carl Friedrich Goerdeler Zeitgleich mit den beginnenden Bauplanungen der neuen Krankenanstalten begann Carl Friedrich Goerdeler im Oktober 1911 ein (zunächst unbezahltes) Praktikum bei der Stadt Solingen. Dieses wurde im Juni 1912 in eine juristische Hilfsarbeiterstelle umgewandelt. Für Goerdelers Tochter scheint die Gemeindeordnung Solingens, die rheinische Bürgermeisterverfassung, ein ausschlaggebender Aspekt für die Wahl ihres Vaters gewesen zu sein. Bei dieser Form der Gemeindeordnung war der Bürgermeister weisungsbefugt gegenüber den Stadtverordneten und sollte vor allem repräsentative Aufgaben übernehmen. Der wesentliche Unterschied zu anderen Gemeindeordnungen im Kaiserreich war die Wahl des Stadtoberhaupts durch die Stadtverordnetenversammlung und nicht durch die Bürger. Goerdeler strebte aber höhere Karriereziele an. 131
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Er wollte nicht weiterhin als juristischer Hilfsarbeiter arbeiten. Außerdem musste er die finanzielle Situation seiner Familie verbessern, da seine Frau Anneliese geborene Ulrich (1888–1961), das erste Kind erwartete. Er bewarb sich deswegen in Halberstadt bei Magdeburg sowie in Görlitz auf Stadtratsstellen, die ein festes Einkommen versprachen. Aus Halberstadt erhielt er die Zusage, dass er als Stadtrat mit einem Gehalt von 5000 Mark beginnen könne. Dies teilte er der Solinger Stadtverordnetenversammlung mit. Diese bot ihm in Absprache mit dem Oberbürgermeister wiederum eine Beigeordnetenstelle mit einem Gehalt von 6000 Mark an. Goerdeler nahm das bessere Solinger Angebot an und wurde am 17. Dezember 1912 zum Beigeordneten auf zwölf Jahre gewählt. Goerdelers Tochter resümierte, dass August Dicke ihrem Vater mit gewisser reservatio gegenüberstand. Aus den Quellen geht diese Skepsis nicht hervor. Einerseits wurde Goerdeler rasch zum Beigeordneten befördert ; andererseits stellte Dicke im Jahr 1914 in einem Gutachten fest : Dr. Goerdeler ist ein geistig hervorragend begabter Mann, der sich sehr leicht in die wichtigsten Dezernate eingearbeitet hat. […] Goerdeler ist ein vornehmer, ehrenhafter Charakter, der unbedingtes Vertrauen verdient. Auch die relativ schnelle Übertragung städtischer Dezernatsleitungen zeugt vom Vertrauen in Goerdelers Fähigkeiten. Er übernahm weiterhin rasch Aufgaben, die zuvor Dicke ausgeführt hatte, wie den Vorsitz der Armenkommission im Juli 1912. Auch wurde ihm aufgetragen, die Festrede auf der Kaisergeburtstagsfeier in der Schützenburg am 26. Januar 1913 zu halten – eine Aufgabe, die eigentlich dem Oberbürgermeister zugekommen wäre. Dicke hielt jedoch viel von Goerdelers rhetorischen Fähigkeiten : Er hat ein sehr gutes klares Urteil, gewandten, fliessenden Vortrag. Freilich liegt die Vermutung nahe, dass Dicke Goerdeler schwierigere Aufgaben übertrug, um diesen zu fördern. Auch in dem oben zitierten Zeugnis über Goerdelers Arbeit in der Solinger Stadtverwaltung schrieb Dicke, dass man es Goerdeler nicht verübeln könne, wenn er sich für ein grösseres Gemeinwesen melde, [d]a Solingen aus örtlichen und wirtschaftlichen Gründen in seiner Entwicklung beschränkt ist. 9. Der Erste Weltkrieg Im Sommer 1914 vertrat Goerdeler August Dicke in seinen Dienstgeschäften als Oberbürgermeister. Er war es, der die Mobilmachung der deutschen Truppen am 1. August auf der Treppe des Solinger Rathauses verkündete. Dicke hatte am 13. Juni einen Urlaubsantrag für die Zeit zwischen dem 15. Juli und 19. August 1914 gestellt und befand sich deshalb bei Kriegsausbruch in der Schweiz. Nachdem ihn die Nachricht erreicht hatte, kehrte er jedoch frühzeitig nach Solingen zurück und übernahm am 2. August die Dienstgeschäfte. Dass Dicke die Stadt in einer angespannten Lage verließ, geht aus damaligen Zeitungsberichten hervor : Die Bergische Arbeiterstimme, das täglich erscheinende sozialdemokratische Presseorgan in Solingen, fragte am 132
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25. Juli 1914 in seinem Leitartikel An der Schwelle zum Weltkrieg ? und rief zwei Tage später Arbeiter und Arbeiterinnen des Kreises Solingen auf, Protest gegen den drohenden Völkerkrieg zu leisten. Die SPD hatte anlässlich des Kriegsbeginns mehrere Versammlungen in Solingen, Wald und Ohligs organisiert, auf denen der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Wilhelm Dittmann (1874–1954) und der Landtagskandidat Otto Niebuhr (1878–1917) sprachen. Das Solinger Tageblatt meldete am 3. August 1914 : Die nervenzerreißende Spannung der letzten Tage, sie löste sich am Samstag abend um 6 Uhr, als die Kunde von der vom Kaiser befohlenen Mobilmachung der deutschen Streitkräfte hier eintraf. Aus beiden Artikeln geht die Zerrissenheit der Bevölkerung zwischen Aufbruchsstimmung und Unsicherheit vor dem Kommenden hervor. Kommunalpolitisch hatte August Dicke in den Jahren 1914 bis 1918 mit typischen kriegsbedingten Aufgaben und Problemen zu kämpfen. Nach seiner Rückkehr musste er die Bevölkerung zunächst beruhigen, da viele Solinger Bürger ihr Sparvermögen von den Banken abhoben und das Papiergeld in Münzen umtauschen lassen wollten. Außerdem stand Dicke der Herausforderung gegenüber, die Lebensmittelversorgung Solingens sicherzustellen. Dies gelang anfangs noch mit Preisverzeichnissen, die Wucherpreise auf Lebensmittel, Baumwolle, Kohle und andere Rohstoffe verhinderten. Im Laufe des Kriegs führte die britische Seeblockade jedoch zu einem Nahrungsmittelmangel, sodass Lebensmittelkarten eingeführt wurden. Im »Steckrübenwinter« 1916/17 fielen auch Solinger der Mangel- und Unterernährung zum Opfer. Die städtische Stahlwarenindustrie wurde auf Kriegswirtschaft und die Produktion von Rüstungsgütern umgestellt. Diejenigen Unternehmen, die sich dabei behaupten konnten (vor allem die Großbetriebe), konnten ihren Gewinn um bis zu 355 Prozent steigern. Währenddessen sanken jedoch die Reallöhne der Arbeiter und Angestellten, aber auch der Beamten. Dicke nahm, wie üblich für sein Amt, selbst nicht als Soldat am Krieg teil, bekam aber am 21. Oktober 1916 die Rote-Kreuz-Medaille III. Klasse verliehen. Vom 21. Juni bis 5. Juli 1917 machte Dicke sogar Urlaub, da die gegenwärtige Geschäftslage der Verwaltung […] eine 14 tägige Abwesenheit zulasse. Wie auf Reichsebene lässt sich auch in Solingen eine politische Radikalisierung der SPD feststellen. Die Konflikte rund um die Aufnahme weiterer Kriegskredite strahlten bis auf kommunale Ebene. Die Solinger Sozialdemokraten agitierten gegen neue Kredite und traten 1917 weitestgehend zur abgespaltenen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) über. Letztlich forderten sie Philipp Scheidemann dazu auf, sein Mandat niederzulegen ; der Vorstoß blieb erfolglos. 10. Die Nachkriegszeit : der Umgang mit den Besatzern und der KPD Während der Novemberrevolution 1918 wurde auch in Solingen ein Arbeiter- und Soldatenrat gegründet. Oberbürgermeister Dicke kam der Anweisung des Düsseldorfer Regierungspräsidenten Francis Heinrich Friedrich Wilhelm Kruse (1854–1930) 133
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einen Tag zuvor, als er sich am 8. November 1918 zur Zusammenarbeit bereit erklärte. Entscheidender Beweggrund dafür war, die öffentliche Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ohnehin sah der Arbeiter- und Soldatenrat keine andere Möglichkeit, als die bestehende Verwaltungsspitze im Amt zu belassen. Anders war das Funktionieren von städtischer Verwaltung und Versorgung nicht zu gewährleisten. Im gesamten Bergischen Land blieben aus diesem Grund zwei Drittel der bisherigen Oberbürgermeister und Landräte im Amt. Dies galt für Remscheid, Elberfeld und Barmen sowie die Landkreise Solingen und Mettmann. Mit der Ankunft der britischen Besatzungstruppen wurde die Revolution in Solingen frühzeitig beendet. Am 14. und 15. Dezember 1918 wurde die Stadt als Teil des Kölner Brückenkopfes besetzt. Dicke blieb weiterhin im Amt, auch wenn er mit der britischen Besatzung, die in Solingen durch den kommandierenden General George Carter Campbell (1869–1921) vertreten wurde, in einem ambivalenten Verhältnis stand. Der Oberbürgermeister musste nun als Vermittler dienen, was durchaus Spannungen hervorrufen konnte. Besonders deutlich wurde dies bei einem Zwischenfall am 14. März 1919, bei dem ein britischer Soldat von einem Unbekannten mit einem Sandsack niedergeschlagen wurde. Campbell verhängte eine Geldstrafe von 25.000 Mark über die Stadt und ordnete eine Ausweitung der Ausgangssperre von 21 auf 20 Uhr an. Dicke reichte Beschwerde ein und entgegnete Campbell : Die Kollektivstrafe sei unpassend, außerdem würden Solinger Bürger häufiger von britischen Soldaten überfallen oder misshandelt. Weiter heißt es : Ich darf aber nicht verhehlen, dass die Stimmung der Bürgerschaft immer mehr gereizt worden ist und man annimmt, dass ich ihre Interessen gegenüber der britischen Behörde nicht ausreichend vertrete. Denn als Oberbürgermeister stehe er unter stetem Rechtfertigungsdruck. Am Ende setzte sich Dicke durch und erwirkte die Widerrufung der Strafen. Neben dem Umgang mit der Besatzungsmacht stellte sich auch das Verhältnis zu den neuen politischen Kräften als schwierig heraus. Die politische Landschaft Solingens wurde mit der Kommunalwahl am 2. November 1919 umgewälzt. Die Unabhängigen Sozialdemokraten konnten in der Stadtverordnetenversammlung 22 von 48 Sitzen erringen, die SPD hatte hingegen lediglich neun Sitze und die bürgerlichen Parteien (DNVP, DVP, DDP und Zentrum) insgesamt 17. Die Wiederwahl des nationalliberalen Dickes am 23. März 1920 war daher umstritten, doch stellte er sich während der Verhandlungen als einzige Option heraus. Die Situation in Solingen war zu diesem Zeitpunkt, wie in anderen Städten Deutschlands, angespannt. Solinger Industriearbeiter und Dienstleistungsangestellte waren schon lange mit ihren Löhnen unzufrieden ; nun sollten zusätzlich die Arbeitszeiten verlängert werden. Das führte zur Ausrufung eines Generalstreiks in der Stadt, der etwa 40.000 Arbeiter und Angestellte umfasste. Die USPD stellte in der Stadtverordnetenversammlung nachdrücklich die Forderung, Volksküchen für bedürftige Streikende einzurichten. Dicke beugte sich der Forderung, selbst als der Düsseldorfer Regierungspräsident die Volksküchen für gesetzeswidrig erklärte. Sein eigenes politisches Lager kritisierte hingegen, dass 134
August Dicke (1859–1929)
Abb. 5: Der Trauerzug, der für die während des Kapp-Putsches getöteten Solinger abgehalten wurde. Auch August Dicke nahm an ihm teil, 1920
er dem Druck der Majorität seit der Revolution zu sehr nachgebe. Noch anlässlich Dickes 30-jährigen Amtsjubiläums 1926 erinnerte der Beigeordnete Richard Meuser (1875–1957) in einer Rede daran, dass die Stadtverordneten nicht immer mit Dicke einig gewesen seien. Auch die Bürgerliche Arbeitsgemeinschaft habe sich häufig in Widerspruch zum Oberbürgermeister gesehen. Der Solinger Generalstreik wurde unterdessen von den Ereignissen des »KappPutsches« überschattet. Während die USPD die amtierenden Bürgermeister in Nachbargemeinden wie Wald und Ohligs absetzte, da sie angeblich mit den Putschisten sympathisierten, blieb es in Solingen bei Großdemonstrationen und einem neuen Generalstreik, der sich nun nicht mehr gegen die Arbeitszeitverlängerungen, sondern gegen die Putschisten richtete. Im Vergleich zu den Vorgängen in Wald und Ohligs mag es verwundern, dass die USPD-dominierte Solinger Stadtverordnetenversammlung nur knapp eine Woche nach Beendigung des Putsches einen nationalliberalen DVP-Politiker erneut einstimmig zum Oberbürgermeister wählte und seine Amtszeit bis zum Renteneintritt am 30. September 1927 verlängerte. Dicke profitierte davon, dass Solingen immer noch unter englischer Besatzung stand. Diese hätte einen Bürgermeister der USPD nicht geduldet. Dies wurde durch die Ereignisse in den Nachbarstädten deutlich. Unmittelbar nachdem die USPD die Bürgermeister von Wald und Ohligs ihrer Ämter enthoben und ihre Beigeordneten eingesetzt hatte, revidierte 135
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die britische Besatzungsmacht den Vorgang. Sie machte damit deutlich, dass man kein sozialistisches Stadtoberhaupt duldete. Der Umgang mit der im November 1920 zur KPD übergetretenen USPD-Fraktion sollte in den nächsten Jahren stetig schwieriger werden. Konflikte traten insbesondere in Krisenzeiten immer häufiger zutage : Als im Jahr 1923 die Hyperinflation eine Zunahme der Arbeitslosigkeit und Versorgungsnot verursachte, fanden Lohnverhandlungen für die Solinger Fabrikarbeiter statt. Diese erregten die Solinger Arbeiterschaft so sehr, dass sich am Tag der Verhandlungen (6. August 1923) zahlreiche und teilweise gewaltbereite Arbeiter vor dem Verhandlungsgebäude auf der Kaiserstraße versammelten. Die Stimmung drohte zu kippen. Dicke wandte sich an die britischen Besatzer, welche die Straßen weitläufig räumten. Die Bergische Arbeiterstimme, seit 1920 Presseorgan der KPD, wandte sich in mehreren kritischen Artikeln gegen den Oberbürgermeister. Nach dem Ende der Besatzungszeit verschärften sich die Konflikte mit der KPD zunehmend. Dies zeigt auch Dickes am 31. August 1926 im Stadtverordnetensaal gefeiertes 30-jähriges Dienstjubiläum. Von der Stadt und der Bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft (bestehend aus DNVP, DVP, DDP und Zentrum) wurde Dicke mit einer mietfreien Wohnung im Alter sowie einem im Saal aufgehängten Porträt geehrt, das als leuchtendes Vorbild für [seine] Nachfolger dienen sollte. Auch eine geplante Schule sowie eine Stiftung für Bedürftige sollten nun seinen Namen tragen. Die Bergische Arbeiterstimme und die KPD sahen hingegen die Gelegenheit, mit Dickes Amtszeit abzurechnen. Die Solinger Arbeiter hätten keinen Grund, das Amtsjubiläum feierlich zu begehen, denn der Oberbürgermeister sei seit 30 Jahren nichts anderes als ein typischer Vertreter des kapitalistischen Staates und stehe auf dem Boden der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Die Verschärfung war auch Ausdruck einer steigenden politischen Radikalität auf Reichsebene. Die Wahlniederlage bei den Kommunalwahlen im Mai 1924 hatte ebenfalls dazu beigetragen. Hier waren die KPD auf 13 und die Bürgerliche Arbeitsgemeinschaft auf 21 Sitze in der Stadtverordnetenversammlung gekommen. 11. Ein unrühmliches Ende ? Auch wenn sich die Haltung der KPD gegenüber August Dicke in den 1920er-Jahren zunehmend trübte, fand man doch in einem grundlegenden Punkt eine Gemeinsamkeit : der Städtevereinigung. Das Projekt erhielt im Jahr 1926 wieder Auftrieb. Einen unterstützenden, zeitweise eigenständig agierenden Partner hatte Dicke in dem seit 1925 amtierenden Beigeordneter Matthias Rudolf Vollmar (1893–1969) gefunden. Gemeinsam arbeiteten sie entschlossen auf die Städtevereinigung hin und konnten im Februar 1927 einen ersten Erfolg verzeichnen. Der preußische Innenminister veranlasste, dass der Direktor des Ruhrsiedlungsverbands Robert Schmidt-Essen (1869– 1934) ein Gutachten über die Städtevereinigung erstellen solle. Dieser kam schließlich 136
August Dicke (1859–1929)
zu einem positiven Ergebnis und bestätigte Dickes Auffassung, dass wirtschaftlich und baulich zusammenhängende Siedlungen einheitlich verwaltet werden müssen, da aus dem Zusammenhange sich einheitliche Interessen ergeben. Von nun an veranstaltete die Stadt Solingen unter Federführung Dickes und Vollmars eine Werbekampagne. Neben Gutachten, Publikationen und Plakaten wurde sogar ein Werbefilm veröffentlicht. Auch setzte die Stadt am 20. und 21. September 1927 eine Pressebesprechung an, zu der sie zahlreiche Journalisten einlud. Dicke wies hierbei Einwände der Gegner der Städtevereinigung zurück. Zu diesen gehörte unter anderem der Vorwurf, Solingen sei nur wegen seiner schlechten Finanzlage an der Vereinigung interessiert. Dicke wies dies von sich und argumentierte, dass die fünf Städte bisher Konkurrenten seien und einzeln nicht das leisten würden, was sie vereint schaffen könnten. Von den Eingemeindungen, insbesondere von Ohligs und Wald, versprach sich Dicke wirtschaftliche Vorteile im Hinblick auf dort angesiedelte Firmen und den Ohligser Bahnhof. Solingen war zwar finanziell nicht in Schwierigkeiten, sollte aber auch nicht ins Hintertreffen geraten. Unterstützung erfuhren Dicke und Vollmar nicht nur von der eigenen Fraktion, sondern vom linken Spektrum. Beispielsweise stellte die SPD in der Stadtverordnetenversammlung am 20. Juli 1926 den Antrag auf Verlängerung von Dickes Amtszeit bis zu seiner Pensionierung am 1. Oktober 1927. Als Begründung führte sie die Städtevereinigung an. Selbst als Dicke schließlich in den Ruhestand gehen sollte – eine Wiederwahl war nicht mehr möglich –, beschloss die Stadtverordnetenversammlung am 13. September 1927, ihn als Regierungskommissar zu bestellen, der die Verwaltungsgeschäfte weiterhin betreuen solle. Hierfür war wiederum die Städtevereinigung der alleinige Grund, wie aus einem Schreiben Dickes an den Regierungspräsidenten hervorgeht : Das Stadtverordneten-Kollegium hat von einer Ausschreibung der Stelle des Bürgermeisters in Solingen abgesehen, mit der Rücksicht auf die schwebenden Vereinigungsverhandlungen des Stadtkreises Solingen, damit für den Fall der Vereinigung von dem neu zu wählenden Stadtverordneten-Kollegium die Wahl des Bürgermeisters vorgenommen werden kann. Die Stadtverordneten wähnten die Städtevereinigung demnach in greifbarer Nähe. Auch nach mehreren Gegengutachten der Stadt Ohligs sowie einer negativen Stellungnahme des Landrats Lucas standen die Chancen für eine Eingemeindung gut. Zudem wurde von staatlicher Seite eine kommunale Neugliederung des rheinischwestfälischen Industriegebiets angestrebt, deren Gestaltung zu den Vorstellungen des Solinger Oberbürgermeisters passte. August Dicke schien den Eingemeindungskampf, der nach Lucas sein Lieblings- und Lebensziel war, zu gewinnen. Am 27. Oktober 1927, nicht einmal einen Monat nach Dickes Einsetzung als Regierungskommissar, titelte die Bergische Arbeiterstimme jedoch Korruptionsskandal in Solingen. Sie warf dem ehemaligen Oberbürgermeister und Vollmar vor, Journalisten des Solinger Tageblatts und der Bergischen Post sowie den Gutachter Schmidt-Essen bestochen und große Geldsummen für die Werbekampagne (ohne Zustimmung der entsprechenden Gremien) ausgegeben zu haben. Ein eingesetzter Untersuchungsaus137
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schuss bestätigte im November 1927 einige der Vorwürfe und stellte fest, dass knapp 160.000 Reichsmark für die Kampagne ausgegeben wurden, von denen ein Teil nicht genehmigt worden war. Während der Untersuchung des Vorfalls hatte sich August Dicke in Widersprüche verwickelt. Außerdem fehlten wichtige Schlüsseldokumente, was dazu führte, dass nicht alle Vorwürfe restlos aufgeklärt werden konnten. Der Skandal nahm einen kläglichen Höhepunkt, als bekannt wurde, dass Vollmar versucht hatte, den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zu fälschen und dabei von Dicke gedeckt wurde. Aufgrund der Vorfälle stoppte die preußische Regierung die kommunale Neugliederung Solingens. Am 23. November 1927 zog Dicke die Konsequenz und teilte der Stadtverordnetenversammlung seinen Rücktritt zum 1. April 1928 mit. Seine Entscheidung führte er offiziell nicht auf sein Fehlverhalten zurück, sondern auf die Entscheidung der preußischen Regierung, von der Städtevereinigung abzulassen. Seinem Ruf schadete der Skandal langfristig nur geringfügig. Zum Eintritt in den Ruhestand erhielt Dicke die Ehrenbürgerwürde der Stadt. Lediglich die Kommunisten hatten in der Stadtverordnetenversammlung dagegen gestimmt. Nach seinem Rücktritt wurde es ruhig um den ehemaligen Oberbürgermeister. Aus seinem Nachruf im Solinger Tageblatt geht hervor, dass er sich in dieser Zeit stark zurückgezogen und gegen alle amtlichen Besuche seiner ehemaligen Mitarbeiter gesträubt hatte. Auch seine Ehrenbürgerurkunde nahm er allein, ohne Beisein der Stadtverordnetenversammlung oder Journalisten, von seinem kommissarischen Nachfolger Hermann Schmidthäußler (1875–1963) entgegen. Nicht einmal ein Jahr nach seinem Rücktritt starb Dicke am 22. März 1929 an einem Herzinfarkt. Schon im Jahr 1924 waren ihm vom Kreisarzt ein erhebliche[r] Grad nervöser Erschöpfung und […] eine unregelmässige Herztätigkeit attestiert worden. Die Trauerfeier fand im Stadtverordnetensaal statt, anlässlich derer Schmidthäußler die Abschiedsrede hielt. Von da setzte sich der Trauerzug in Richtung des evangelischen Friedhofs Kasinostraße in Bewegung. Hier schlossen sich zahlreiche Stadtbedienstete, Vereine und Bürger an, um der Beisetzung des ehemaligen Oberbürgermeisters beizuwohnen. 12. Schlussbetrachtung August Dicke unterscheidet sich in seinem kommunalpolitischen Handeln kaum von anderen liberalen Oberbürgermeistern in der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. So fallen infrastrukturelle Verbesserungen in seine Amtszeit, die Solingens Stadtbild prägten und teilweise bis heute prägen. Gleiche Entwicklungen finden sich aber auch in der unmittelbaren Nachbarschaft. In Ohligs wurden beispielsweise in der gleichen Zeit eine eigene Gasanstalt (1892), ein Wasserwerk (1897), ein Krankenhaus (1897) und ein Schlachthof (1901) errichtet. Auch aus diesem Grund verweigerten sich die Ohligser Stadtverordneten stets der Städtevereinigung. 138
August Dicke (1859–1929)
August Dicke übernahm als Oberbürgermeister in erster Linie repräsentative Aufgaben und zeichnete sich nur bedingt durch eigene Initiativen aus. In der Frage der Städtevereinigung war Dicke jedoch nicht mehr bloßer Repräsentant, er zeigte sich äußerst hartnäckig und legte jahrelangen Durchhaltewillen an den Tag. Dieses Thema war am Ende eng mit seiner Person verbunden. Nur aufgrund der Vereinigungsverhandlungen blieb er weiter im Amt, selbst als eine Wiederwahl rechtlich nicht mehr möglich war. Letztlich ging Dicke sogar über die Grenzen seiner zugeschriebenen Kompetenzen und der Legalität hinaus, um sein Lebensziel zu erfüllen. Der Autokrat – wie ihn die Tochter Carl Friedrich Goerdelers bezeichnete – trat nun deutlich hervor, stand aber auch dem kompromissbereiten Realpolitiker gegenüber. Die Städtevereinigung wurde schließlich als Teil der großangelegten Gebietsreform, die mit dem Gesetz zur kommunalen Neugliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets vom 29. Juli 1929 in Kraft trat, verwirklicht. Dicke erlebte dies nicht mehr, da er nur knapp vier Monate zuvor verstorben war. Dickes Pläne für ein »Groß-Solingen«, das Höhscheid, Gräfrath, Wald und Ohligs umfasst und für das er sich jahrelang energisch eingesetzt hatte, wurden bei der Neugliederung vollständig übernommen. In der Literatur markiert August Dickes Rücktritt bis heute den Beginn eines politischen Machtvakuums. Das »System Dicke«, das in Solingen als ausgleichendes Element zwischen Sozialdemokratie, Kommunismus und Bürgertum gewirkt habe, sei zusammengebrochen. Diese Beurteilung lässt jedoch die schon 1928 klar auszumachende politische Radikalisierung außer Acht, die sich sowohl auf Reichsebene, aber auch auf kommunaler Ebene manifestiert und insbesondere in Solingen durch die kommunistische Partei Ausdruck gefunden hatte. Die NSDAP hatte in den Kommunalwahlen vom 17. November 1929 nur 1,9 Prozent der Stimmen erhalten und spielte zu diesem Zeitpunkt in der Stadtverordnetenversammlung noch keine Rolle. Freilich ging der Realpolitiker August Dicke meist Kompromisse mit allen politischen Richtungen ein, das auch auf Kosten seiner eigenen Partei. Dass sich die Stadtverordneten jedoch so lange auf keinen neuen Oberbürgermeister einigen konnten, war den schwierigen Mehrheitsverhältnissen in der Stadtverordnetenversammlung und stark divergierenden politischen Vorstellungen geschuldet. Bereits zuvor hatte es an Alternativen für das Amt des Oberbürgermeisters gefehlt ; dieses Problem stellte sich nicht erst 1928. Am Ende setzte die preußische Regierung den Beigeordneten Hermann Schmidthäußler als kommissarischen Oberbürgermeister ein. Bei den Neuwahlen im Januar 1930 wurde der Kommunist Hermann Weber (1888–1937) gewählt. Die preußische Regierung bestätigte ihn jedoch nicht im Amt und ersetzte ihn stattdessen durch den Sozialdemokraten Josef Brisch (1889–1952). Für die Stadt Solingen begann nun eine kommunalpolitisch chaotische Zeit. Dies jedoch als unmittelbare Folge des Rücktritts Dickes zu werten, überhöht die Bedeutung des Einzelnen und ignoriert die politischen Entwicklungen zum Ende der Weimarer Republik.
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Quellen Ungedruckte Quellen Stadtarchiv Solingen (StaS), Na 13, Bd. 83 ; StaS V-A-1 ; StaS V-A-2 ; StaS VI-4 BA (Bergische Arbeiterstimme) vom 31. August 1926, 27. Oktober 1927, 28. Oktober 1927 ; StaS VI- ST (Solinger Tageblatt) vom 29.05.1903, 30. August 1926, 23. März 1929 ; Landesarchiv NordrheinWestfalen, Abteilung Rheinland (LAV NRW R), BR7, Nr. 32418. Gedruckte Quellen Erich Becker, Die Eingemeindungsfrage im Kreise Solingen, Solingen-Ohligs 1930 ; Ludwig Czimatis, Über Organisation der Arbeit im Bezirk des Königlichen Gewerbegebiets, Solingen 1904 ; August Dicke, Eingabe der Stadt Solingen an den Königlichen Landrath Herrn Dr. Lucas betr. Eingemeindung d. Stadtgemeinde Höhscheid u. Theile d. Gemeinden Wald und Gräfrath, Solingen 1902 ; ders., Die Entwicklung der Städtevereinigung, in : Pressebesprechung über die Städtevereinigung im Solinger Industriegebiet am 20. und 21. September 1927, Solingen 1927, S. 1–4 ; Carl August Hülsmann, Denkschrift betreffend das Solinger Krankenhaus und seine Zukunft, Solingen 1906 ; Adolf Lucas, Zur Frage der Eingemeindung der Städte Ohligs, Wald, Gräfrath, Höhscheid nach Solingen. Landrat Dr. Lucas zu den Fragen von Verbandsdirektor Dr. Schmidt-Essen vom 19. März 1927, Opladen 1927 ; Robert Schmidt-Essen, Das im Auftrage des Preußischen Staatsministeriums erstattete Gutachten über die Städtevereinigung im oberen Landkreise Solingen, in : Pressebesprechung über die Städtevereinigung im Solinger Industriegebiet. 20. und 21. September 1927, Solingen 1927 ; Stadt Ohligs (Hg.), Drei Einzelgutachten zur Frage der Zweckmäßigkeit der Vereinigung der vier Städte Ohligs, Wald Gräfrath und Höhscheid des oberen Landkreises Solingen mit dem Stadtkreis Solingen, Ohligs o. J.; Stadt Solingen (Hg.), Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Solingen. Erstattet für die Jahre 1896–1901, Solingen 1902. Literatur Annette Döpp, Arbeiterbewegung in Solingen 1918–1920, Köln 1981 ; Stefan Gorißen/Horst Sassin/Kurt Wesoly (Hgg.), Geschichte des Bergischen Landes, Band 2, Bielefeld 2016 ; Hein Hoebink, Kommunale Neugliederung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet 1919–1929. Ziele und Aufgaben aus der Sicht der Staatsregierung, in : Kurt Düwell/Wolfgang Köllmann (Hgg.), Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter. Beiträge zur Landesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 3, Wuppertal 1984, S. 51–61 ; Peter Hoffmann, Carl Goerdeler gegen die Verfolgung der Juden 1933–1942, Köln 2013 ; Reinhold Kaiser, Solingen (Rheinischer Städteatlas Lfg. V, Nr. 30), Köln 1979 ; Rainer Koch, Freisinnige Volkspartei (FVP), in : Frank Wende (Hg.), Lexikon zur Geschichte der Parteien in Europa, Stuttgart 1981, S. 106–108 ; Jürgen Lehmann, Straßenbahn und Obus in Solingen, Nordhorn 2007 ; Hans Lohhausen, »System Dicke« als politisches Prinzip. Der gemäßigt Liberale überzeugte als Krisenmanager, in : Solinger Morgenpost, 14.7.1984 ; ders., Die »Ära« August Dicke. Über dreißig Jahre Oberbürgermeister von Solingen (1896–1928), in : Die Heimat 7 (1991), S. 27–35 ; Ina Susanne Lorenz, Eugen Richter. Der
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August Dicke (1859–1929)
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Emmerich David (1882–1953) Rektor des Campo Santo Teutonico und Generalvikar des Erzbistums Köln
Emmerich David zählt zweifelsohne zu den großen Priestergestalten des 20. Jahrhunderts. Den beiden Kölner Erzbischöfen Karl Joseph Schulte (1871–1941) und Josef Frings (1887–1978) diente er als Generalvikar und Berater. In der schweren und außergewöhnlich langen Zeit der Sedisvakanz nach Kardinal Schultes Tod im Jahre 1941 führte er die Erzdiözese als Kapitularvikar. Während des Ersten Weltkrieges hatte David in geheimer Mission des Vatikans die türkischen Verbrechen an den Armeniern zu lindern versucht. Er gelangte international zu hohem Ansehen und lenkte anschließend die Geschicke des Campo Santo Teutonico als Rektor. Sein breiter Erfahrungshorizont und seine allseits bewunderte Auffassungsgabe machten ihn vor a llem im Angesicht der (kirchen)politischen Herausforderungen des »Dritten Reiches« zu einem unverzichtbaren Ratgeber, dessen vielseitiges Wirken (als Mann der zweiten Reihe) bis heute unerforscht geblieben ist. 1. Herkunft und Ausbildung Der am Rande des Pulvermaars gelegene Ort Gillenfeld (Bistum Trier) zählte rund 700 Einwohner, als Emmerich David hier am 7. Mai 1882 geboren wurde. Der 1854 in Trier geborene Vater, Anton David (1854–1938), stammte aus einer angesehenen Bürgermeisterfamilie und hatte nach einer steilen Verwaltungskarriere im Jahre 1880 die Verwaltung der Landbürgermeisterei Gillenfeld übernommen. Davids Mutter Theresia Schmitz stammte aus Schweich. Ihr Vater, Emmerich Schmitz, hatte als einstiger Bürgermeister der Moselstadt gewirkt und war Namenspate seines Enkels. Auch wenn ihm der spätere Erzbischof Karl Joseph Schulte stets den vermeintlichen Vorzug zugutehielt, kein typischer »Rheinländer« zu sein, verbrachte der junge Emmerich David seine Jugend an Rhein und Mosel. Nach einer Zwischenstation in Kröv hatte sein Vater am 20. November 1893 eine neue Stelle in Eckamp am Niederrhein angetreten. Als sich sechs Jahre später das heute zu Düsseldorf zählende Rath aus der Bürgermeisterei Eckamp löste, übernahm er die dort neu geschaffene Bürgermeisterposition. Als populärer Verwaltungschef erlangte Anton David und mit ihm seine Familie hohes Ansehen. Nach dem Anschluss Raths an Düssel dorf im Jahre 1909 kandidierte das Zentrumsmitglied Anton David für den Landtag. 143
Keywan Klaus Münster Abb. 1: Emmerich David als junger Priester, Porträtfoto, Neuss, um 1907/08
In der Rather Wirkungsstätte seines Vaters besuchte der junge Emmerich David das städtische Gymnasium. Nach der Reifeprüfung 1901 fasste er den Entschluss, Priester zu werden. Das Studium der katholischen Theologie begann David zunächst an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Anschließend wechselte er an die Universität Freiburg. Dort trat er 1902 der katholischen Studentenverbindung Ripuaria Freiburg im Breisgau (gegründet 1899) bei. Die dort geschlossenen Lebensbünde, beispielsweise mit dem späteren Kölner Beigeordneten Heinrich Billstein, begleiteten den stets bestens vernetzten Emmerich David bis zu seinem Tod im Jahre 1953. Nach dem Besuch des Priesterseminars und dem Abschluss seines Studiums wurde der mit Bestnoten ausgezeichnete David am 17. Juni 1905 vom amtierenden Kölner Erzbischof Anton Hubert Fischer (1840–1912) zum Priester geweiht. Die Primiz feierte David mit erlesener Speisen- und Weinauswahl – die Station in Kröv hatte offenbar seine Spuren hinterlassen – am 25. Juni 1905 in seinem Heimatort Rath. Anschließend wirkte er kurzzeitig als Assistent am Neusser Konvikt Marianum. Davids geistliche Karriere begann vielversprechend. 1908 wurde er daher folgerichtig zu weiteren Studien nach Rom beurlaubt. Bis 1910 wirkte er dort zusammen mit dem späteren Paderborner Weihbischof Joseph Freusberg (1881–1964) als Kaplan des 144
Emmerich David (1882–1953) Abb. 2: Emmerich David, Porträtfoto, Bonn, Wintersemester 1903/04
Priesterkollegs Santa Maria dell’Anima. In dieser Zeit besuchte er die Dominikanerhochschule Angelicum, wo er in Dogmatik promoviert wurde. Kurz darauf sandte Erzbischof Fischer David nach Genua, um die deutsche Seelsorge in der Hafenstadt wiederaufzubauen. Die dort befindliche deutschsprachige Gemeinde war bereits seit dem Tod des Jesuitenpaters Joseph Jansen im Jahre 1908 verwaist. Davids Anstrengungen richteten sich zunächst auf den Wiederaufbau seelsorglicher Strukturen und die Unterstützung der deutschen Schule. Der wohl größte Erfolg stellte sich über die Gründung einer katholischen Seemannsseelsorge in der Hafenstadt ein. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die zahlreichen katholischen Seeleute auf ein evangelisches Seemannsheim angewiesen. Bei all seinen Vorhaben konnte sich der ambitionierte David auf die Förderung Edoardo Pulcianos (1852–1911), des Erzbischofs von Genua, verlassen. Dieser hatte auch in der Zeit der Vakanz dafür gesorgt, dass der deutsche Beichtstuhl der Kollegiatsbasilika Santa Maria Immacolata besetzt blieb. Für David handelte sich der Aufenthalt in der Küstenstadt jedoch nur um eine Zwischenstation. Als der Erste Weltkrieg der Tätigkeit der Auslandsseelsorge ein Ende bereitete, hatte er sein Amt bereits an einen eigens dafür von Pulciano ausgebildeten Priester übergeben. 145
Keywan Klaus Münster
Noch vor dem Ausbruch des Weltkrieges war David nach Bonn zurückgekehrt, um hier am 17. Oktober 1912 eine offene Repetentenstelle am Bonner Collegium Albertinum anzutreten. Seine Bonner Wirkzeit war jedoch nicht von langer Dauer, denn von 1912 bis 1914 begleitete er die beiden Orientalisten Adolf Rücker (1880–1948) und Andreas Evarist Mader (1881–1949) vom Jerusalemer Görres-Institut auf ihren Orientreisen. Mader war bereits 1911 nach Jerusalem gereist, um alte kanaanäische Opferstätten zu erforschen und eine groß angelegte topographische und archäologische Beschreibung des Heiligen Landes vorzubereiten. Eingehendere Zeugnisse über Davids dort gemachte Erfahrungen und Erlebnisse sind nicht erhalten. 2. Angora : in päpstlicher Mission Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges markierte einen erheblichen Einschnitt im Leben des jungen Geistlichen. 1914 wechselte Emmerich David als Feldgeistlicher in die Lager der auf dem Balkan und in Palästina stationierten kaiserlichen Truppen. Offiziell fungierte David seit dem Ende des Jahres 1915 als Pfarrer der deutschsprachigen Arbeiter am Bau der Bagdadbahn im türkischen Angora (heute : Ankara). In Wahrheit setzte er sich jedoch in geheimer Mission des Vatikans für die systematisch verfolgten und deportierten Armenier ein. Denn das einst so florierende armenisch-katholische Bistum in Angora (gegründet 1850) glich seit dem Jahreswechsel 1915/16 nur noch einem Schatten seiner selbst. Von den zehn- bis zwölftausend katholischen Armeniern waren nur rund zweitausend Personen in der Stadt verblieben – meist zwangsislamisierte Frauen und Kinder. Der apostolische Delegat Angelo Dolci (1867–1939) zog eine erschreckende Bilanz : Bis zum Ende des Jahres 1915 waren im gesamten Osmanischen Reich eine Million Armenier, darunter 48 Bischöfe und 4500 Priester, ermordet worden. Das zahlenmäßige Ausmaß der Vernichtung bewog den Vatikan zum Einschreiten. Für Papst Benedikt XV. (1854-1922, Pontifikat 1914-1922) bestand angesichts der zahlreichen Schreckensmeldungen kein Zweifel, dass das unglückliche Volk der Armenier fast vollständig der Vernichtung zugeführt werde. Im September hatte er ein Handschreiben an Sultan Mehmet V. (1844–1918) gerichtet, um gegen die Deportationen und Morde zu protestieren. Der Sultan lenkte ein und gestand dem Papst zu, zumindest die katholischen Armenier bis Weihnachten aus den Lagern zu befreien. Doch die Zusage blieb ohne Folgen und die Hoffnung Benedikts auf eine zeitnahe Rettung der betroffenen Armenier unerfüllt. Um das Leid durch humanitäre und seelsorgliche Hilfen zu lindern, sandte der Papst Emmerich David nach Angora. Dieser kam dort allzu rasch mit den radikalen Auswirkungen der Repressionen in Kontakt. In einem Brief an die deutsche Botschaft in Konstantinopel vom 10. Mai 1916 beschwerte er sich darüber, dass seine Haushälterin und zwei andere armenisch-katholische Frauen ins Gefängnis geworfen wurden und 146
Emmerich David (1882–1953) Abb. 3: Emmerich David während seiner Zeit als Feldgeistlicher im Osmanischen Reich
anscheinend noch Schlimmerem entgegengehen. Die drei Frauen waren inhaftiert worden, weil sie in seinem Auftrag mittellos gewordenen armenischen Familien Brot gebracht hatten. Davids Tätigkeiten bestanden vor allem in humanitärer Hilfe, allem voran der Nahrungsversorgung, sowie dem Offenhalten seelsorglicher Rückzugsräume für die in Armenvierteln lebenden letzten katholischen Armenier Angoras. Die im Historischen Archiv des Erzbistums Köln liegenden Notizen im Nachlass des Geistlichen enthalten detaillierte Verteilungspläne über Brotrationen und zeugen von dem ausgeklügelten Versorgungssystem, das David in den Armenvierteln entwickelt hatte. Parallel war er durchweg mit der Finanzierung seiner Hilfsprojekte befasst. Die Vorhaben waren auf kirchliche Zuwendungen (vor allem aus seinem Heimatbistum) und Spenden angewiesen. Eine bedeutende Rolle nahm hierbei auch der in Köln ansässige Deutsche Verein vom Heiligen Lande ein. Geschickt platzierte David in der Kölnischen Volkszeitung Artikel, die über das Leid der Armenier informierten und die Öffentlichkeit für die Zustände in Angora sensibilisierten. So berichtete er beispielsweise am 14. September 1916 über einen Großbrand, dem nahezu alle verbliebenen Wohnviertel der Armenier zum Opfer gefallen waren. Der damit verbundene Spendenaufruf traf den Nagel auf den Kopf : Zwei Wochen später konnte das Sekretariat des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande David neben den regelmäßigen Zu147
Keywan Klaus Münster
Abb. 4: Handschriftliche Liste, mit denen die Zuteilungen von Brotrationen an die armenischen Familien organisiert und dokumentiert wurden, undatiert
wendungen aus den Schatullen von Verein und Erzbischof weitere 20.000 Reichsmark (rund 1000 türkische Pfund) zukommen lassen. Erreichen konnte man David meist nur sehr verspätet ; überhaupt wusste sowohl in Köln als auch in Rom meist niemand, wo sich der Geistliche gerade aufhielt. Bis zum Kriegsende verschlimmerte sich die Lage der in Angora verbliebenen Armenier zunehmend. Nach dem hoffnungsvollen Antritt eines armenisch-katholischen Priesters im Dezember 1916 begann das neue Jahr mit weitreichenden Einschränkungen und Zwangsmaßnahmen. Zunächst habe die so hart geprüfte Bevölkerung wieder aufatmen und neue Lebenshoffnung [schöpfen können], heißt es in einem Brief Davids vom 3. Juni 1917 an Matthias Erzberger (1875–1921). Damit sei es nun wieder völlig vorbei : Der Besuch seiner Gottesdienste werde seit Februar verhindert, indem man während der hl. Messe in brutalster Weise lärmend mit Polizei und Gendarmerie in meine Wohnung eindrang und alle Armenier hinauswies. Zudem seien Vorkehrungen im Gange, die eine neue Exilierung vermuten ließen. Gleichzeitig fügte David an, dass es sich bei den Maßnahmen auch um ein geschicktes Manöver handeln könne, um Katholiken einzuschüchtern und den Weg für weitere Zwangsislamisierungen zu ebnen. David war mit seiner Bitte um weitere Unterstützung der Hilfsmaßnahmen an den richtigen Mann geraten. Erzberger zählte zu den wenigen Abgeordneten, die sich im Reichstag für die verfolgten Armenier einsetzten. Dabei lieferte David die besten Ar148
Emmerich David (1882–1953)
gumente : Für die Vernichtung der Armenier könnten nicht einmal [Gründe militärischer Art] vorgeschützt werden. Insbesondere den deutschen Katholiken werde das Schicksal der Armenier, wenn wir nicht alles Mögliche zu ihrem Schutze tun, später vom katholischen Auslande mit weit mehr Recht […] aufs Schuldkonto gesetzt. Immer wieder hatte der Vatikan vergebens versucht, die deutsche und österreichische Regierung zum offenen Protest zu bewegen. Die genozidalen Ausmaße des Terrors wurden von den osmanischen Verantwortlichen derweil öffentlich geleugnet oder verfälscht dargestellt. Auch der deutschen Presse wurde aus bündnispolitischen Erwägungen einstweiliges Stillschweigen verordnet. Den nach Kriegsende anhaltenden Leidensweg der Armenier konnte David nicht mehr begleiten. 1919 wurde er aus dem Land ausgewiesen. Für Davids Karriere eröffneten sich durch sein Wirken in Angora gänzlich neue Perspektiven. Wie sich sein späterer Nachfolger Joseph Teusch (1902–1976) erinnerte, waren es vor allem der erlebte Terror und das Leid der armenischen Christen, die seinen Werdegang prägten. Die Axt an den Wurzeln katholischer Glaubensausübung hatte ihn für jede Form des staatlichen Zugriffs auf die Rechte der Kirche sensibilisiert. Zunächst einmal wurde er jedoch vom Ende 1919 aus Rom kommenden Ruf, die Leitung des Campo Santo Teutonico zu übernehmen, überrascht. 3. doch recht jugendlich und unerfahren – Rektor des Campo Santo Teutonico Wenige Tage vor seinem Tod hatte der Kölner Erzbischof Felix Kardinal von Hartmann (1859–1919) David als potenziellen Nachfolger des verstorbenen Anton de Waals (1837–1917) ins Spiel gebracht. Der renommierte Kirchenhistoriker und Christliche Archäologe hatte in Rom ein deutsches Priesterkolleg mit einer bedeutenden Spezialbibliothek und Sammlung altchristlicher Kunst etabliert. Die nun angestoßene Wahl zwischen David und dem Bonner Pfarrer Bernhard Custodis (1876–1951) um die Nachfolge de Waals fiel rasch zugunsten Davids aus. In seiner Zeit in Angora hatte sich der junge Geistliche einen Ruf als scharfsinniges Verwaltungstalent erworben. Dabei schien die Entscheidung zugunsten Davids aus fachlichen Gesichtspunkten keineswegs sicher. Noch wenige Monate zuvor hatten sich 22 ehemalige Mitglieder des Priesterkollegs an die deutschen Erzbischöfe gewandt, um ihre Vorstellungen eines geeigneten Kandidaten bekannt zu geben : Er muß auf archäologischem und historischem Gebiet geschult, er muß selber noch ein Schüler de Waals sein, er muß endlich durch bewährte römische Beziehungen und Kenntnis der wissenschaftlichen Hilfsmittel Roms imstande sein, die umfangreiche Arbeit de Waals fortzusetzen und die Gelehrtenschule des Campo Santo nicht nur weiterzuführen, sondern auch auszubauen. David war weder Schüler de Waals noch profilierter Historiker oder Archäologe. Aus politischen Gründen stand ein Beharren auf rein wissenschaftlichen Kriterien jedoch nicht zur Debatte. Erzbischof Hartmann hatte zu bedenken gegeben, dass es bei 149
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der Personalsache vielmehr darum gehen müsse, die nationalen deutschen Interessen auf kirchlichem Gebiet mit Geschick und Tatkraft zu vertreten. Nicht zu vergessen : Es musste ein deutscher Kandidat sein, war das Rektorat doch die einzige herausgehobene »römische« Stellung, die auf Vorschlag der deutschen Bischöfe zu besetzen war. David sagte zu und reiste sofort nach Rom. Am 1. Februar 1920 übernahm er die Leitung von Kolleg und Erzbruderschaft. Doch seine neue Wirkungsstätte befand sich in einer gänzlich schwierigen Lage. Der reichsdeutsche Charakter des Kollegs war über die Verheerungen des Ersten Weltkrieges verloren gegangen. Beim Kriegseintritt Italiens zählte es gerade einmal ein deutschsprachiges Mitglied. Auch die finanzielle Lage des Priesterkollegs war katastrophal und sollte sich über die gesamte zehnjährige Amtszeit Davids nur sehr schleppend konsolidieren. Nicht alleine die für das Überleben des Kollegs entscheidenden Spenden blieben aus. Auch der 1920 in Köln gegründete Verein von Freunden des Campo Santo verlor seine Mittel durch die inflationsbedingte finanzielle Talfahrt. Nun zahlte sich das Kalkül der drei deutschen Erzbischöfe aus, das Rektorat mit einem Deutschen zu besetzen : Anders als zu de Waals Amtszeit unterstützte die neue Reichsregierung das Kolleg nun finanziell, vermochte die existenziellen Sorgen jedoch kaum zu lindern. Davids erster großer Erfolg stellte sich über die Zusammenarbeit mit dem neuen Kölner Erzbischof Schulte ein. Über dessen Vermittlung erreichte David eine Niederlassung der ursprünglich in Paderborn ansässigen Schwestern der christlichen Liebe, die von 1920 an die Betreuung von Kolleg und Sakristei übernahmen. Derweil hatte er eine Neukonstituierung des Verwaltungsrates veranlasst, der seit 1921 vermehrt mit den Konsequenzen des eigenen Vermögensverlustes zu kämpfen hatte. Um die notwendigsten Reparaturen und Instandhaltungen durchzuführen, wurden Stücke der Gemäldesammlung verkauft, was zu Auseinandersetzungen mit dem italienischen Unterrichtsministerium führte. Bei alledem verzichtete David auf jeglichen Komfort, um die wirtschaftliche Lage des Hauses nicht weiter zu belasten. Seine Wohnung bestand praktisch nur aus einem Zimmer, Gehalt bezog er lange keines. Seine Sparsamkeit konnte so weit gehen, dass vermehrt Klagen über mangelhafte Verpflegung aufkamen, da der Rektor die Kollegmittel für den Ausbau der Bibliothek und der christlichen Altertumssammlung zurückhielt. Davids dynamisches Auftreten und seine konkreten, häufig unkonventionellen Lösungsstrategien führten auch zu weitreichenderer Kritik. Paul Styger (1887–1939), ehemaliger Mitarbeiter de Waals, kritisierte die vermeintlich mangelhafte Befähigung zur wissenschaftlichen Führung, zu deren Grundlage er ein steriles Vegetieren des Priesterkollegs machte. Auch der geistliche Botschaftsrat Joseph Steinmann (1870–1940) merkte gegenüber Adolf Kardinal Bertram (1859–1945) an, der 38-jährige David sei doch recht jugendlich und unerfahren. Über allem schwebte das Damoklesschwert fachlicher Bedenken, obwohl das Kolleg unter Davids Rektorat eine neue, freilich den Rahmenbedingungen entsprechende 150
Emmerich David (1882–1953)
Abb. 5: Karl Joseph Kardinal Schulte zu Besuch auf dem Campo Santo Teutonico, rechts von ihm der Direktor Emmerich David, 1920er-Jahre
Blütezeit erlebte. Davon zeugen beispielsweise die beachtliche Zunahme der Sabbatinen, wissenschaftlicher Vorträge am Samstagabend, sowie das Wiedererscheinen der renommierten Römischen Quartalschrift seit 1923. Das Heilige Jahr 1925 und die 50-Jahr-Feier des Kollegs nutzte der 1923 zum Päpstlichen Hausprälaten ernannte David geschickt, um seine Wirkungsstätte stärker in die Öffentlichkeit treten zu lassen. Sein Plan, die Bruderschaft in nationaler und religiöser Hinsicht neu zu beleben, ging auf. Auch wenn sich Davids Wahl als ein Glücksgriff erwies, verstummte die Kritik an seiner fachlichen Eignung nicht. Unter den Mitgliedern des Kollegs war David hingegen beliebt. Seine Offenherzigkeit, Fairness und kompromisslose Verteidigung der Redefreiheit im Seminar brachte ihm rasch das Ansehen seiner Schützlinge ein. Der seit 1926 in Rom weilende Hubert Jedin (1900–1980) erinnerte sich später : »Jeder darf alles sagen, was er denkt und auf dem Herzen hat, niemand darf den anderen verketzern. […] Man lernte historisch zu denken und nüchtern zu urteilen, das Große und das Kleine in seinen richtigen Dimensionen zu sehen.« Zu weiteren Mitgliedern des Priesterkollegs zählten neben Hans Barion (1899–1973) auch Werner Schöllgen (1893–1985) und Karl Theodor Schäfer (1900–1974). 1929 lernte David seinen späteren Nachfolger und Vertrauten Joseph Teusch kennen. Beeindruckt von dessen Arbeitseifer bezog er den jungen Geistlichen in die von ihm verantwortete Auslands151
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seelsorge in Italien ein. Die Wege zwischen den jungen Priestern Teusch, Schöllgen, Schäfer – von den Mitgliedern im halben Ernst »Bubi« getauft – und David sollten sich spätestens 1934 erneut kreuzen. Ein politisch einschneidendes Ereignis seiner römischen Zeit bildeten der Abschluss der Lateranverträge am 11. Februar 1929 und die Folgen. Der Campo Santo genoss von nun an das Privileg der Exterritorialität, verlor durch die durchgeführte Grenzbegradigung aber auch erhebliche Gebäudeteile. Die Folge war der Neubau des Traktes an der Via Teutonica. Wie sich David zu den politischen Rahmenbedingungen positionierte, geht aus den herangezogenen Quellen nicht hervor. In der ganzen Zeit seines Rektorates diente David dem Kölner Erzbischof Karl Joseph Schulte als Vertrauensperson in Rom – eine Rolle, die sich während der vermehrten politischen Spannungen am Rhein als unerlässlich erweisen sollte. Schon 1919 war er vom Kölner Domkapitel damit beauftragt worden, dessen von der Kurie bedrohte Rechte bei der anstehenden Wahl eines Erzbischofs an höchster Stelle zu vertreten. Doch auch nach der Ernennung von Karl Joseph Schulte zum Erzbischof von Köln zahlte sich Davids über die Jahre gepflegtes Netzwerk im Verbund mit seinem Verhandlungsgeschick aus. Er führte weiterhin Gespräche mit zahlreichen römischen Stellen und Spitzendiplomaten ; so beispielsweise vor dem Hintergrund der von Erzbischof Schulte unter Zuhilfenahme des Trierer Bischofs Franz Rudolf Bornewasser (1866–1951) initiierten Kampagne gegen die französische Besetzung des Ruhrgebietes im Jahre 1923. Parallel zu den Vorgängen an Rhein und Ruhr vertrat er die Sachen des Erzbischofs in Rom und gab gleichzeitig regelmäßige Lageeinschätzungen nach Köln. So erfuhr Schulte im Juni 1921 erst von David, dass eine baldige Abtrennung der Gebiete Eupen und Malmedy von der Erzdiözese bevorstand. Auch später schätzte man David aufgrund seines »guten Instinkt[es] für die römische Betrachtungsweise« (Zitat nach Edmund Freiherr Raitz von Frentz, 1887–1964). Als sich 1930 angesichts der Neuerrichtung des Bistums Aachen große Veränderungen in der Heimat abzeichneten, war es kein Zufall, dass Schulte seinen Vertrauten nach Köln rief. David sollte dem zum Domdechanten ernannten Otto Paschen (1873– 1947) nachfolgen. Die Leitung des Campo Santo übernahm der aus dem Erzbistum München-Freising stammende Priester Hermann Maria Stoeckle (1888–1972). Bereits am 5. Juli 1930 hatte Schulte gegenüber dem Münchener Kardinal Michael von Faulhaber (1869–1952) erklärt, David habe ihm vor Zeiten versichert, dass er nach einem zehnjährigen Romaufenthalt wieder in der Heimat tätig werden wolle. Dabei war Davids Ankunft in der Domstadt aufgrund kirchenrechtlicher Spannungen zwischen Rom, Köln und Berlin keineswegs reibungslos verlaufen. Nach dem Weggang Paschens hatte sich der Heilige Stuhl die Besetzung der freigewordenen Domherrenstelle ausdrücklich reserviert. Umgehend informierte Schulte den päpstlichen Nuntius Eugenio Pacelli (1876–1958) über die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten, verstoße die Reservation doch ausdrücklich gegen das mit Preußen geschlossene Konkordat. Nach der (dennoch) von Schulte erbetenen Bestallung 152
Emmerich David (1882–1953)
Davids durch Rom protestierte das Domkapitel gegen das konkordatswidrige Vorgehen des Vatikans. Auch Ministerialdirektor Friedrich Trendelenburg (1878–1962) erkundigte sich in Vertretung des preußischen Kultusministeriums bei Schulte über die schwebende Personalangelegenheit ; vielmehr liege die Kanonikatsbesetzung doch nach Artikel 8 des »Preußenkonkordates« alleine beim Diözesanbischof. Berlin befürchtete eine entsprechende Machtverschiebung von Köln nach Rom, die Schulte keineswegs zu unterstützen gewillt war. Seine im Oktober 1930 bei Pacelli vorgetragene Bitte, die Ernennung secondo il Concordato ein zweites Mal, nun aber persönlich, vorzunehmen, wies dieser zurück. Davids Einführung in das Kölner Domkapitel erfolgte planmäßig am 2. November 1930. Zwei Monate später meldete Schulte den Vorgang an Kardinal Bertram, der die Mitglieder der Fuldaer Bischofskonferenz derweil aufgefordert hatte, über das römische Vorgehen zu berichten. Schulte bezeichnete die in der Korrespondenz durchscheinende Haltung des Nuntius als kanonistisch keineswegs [überzeugend]. Bertram solle eine gemeinsame Erklärung der Bischofskonferenz vorbereiten, sei es doch an der Zeit, die schwebende Besetzungsfrage für Preußen zu klären, zumal die preußische Regierung bereits diplomatische Verhandlungen über Artikel 13 des Konkordates (Die Hohen Vertragschließenden werden eine etwa in Zukunft zwischen ihnen entstehende Meinungsverschiedenheit über die Auslegung einer Bestimmung dieses Vertrages auf freundschaftliche Weise beseitigen.) aufgenommen habe. Am 23. März 1931 ernannte Schulte seinen Vertrauten zum neuen Generalvikar. Emmerich David folgte Joseph Vogt (1865–1937), der zwei Tage später als neuer Bischof von Aachen eingeführt wurde. 4. »Die entschlossene Unnachgiebigkeit der Kirche« – Generalvikar des Erzbistums Köln Nach dem Urteil der Zeitgenossen übernahm David die undankbare Aufgabe, das Erzbischöfliche Generalvikariat in einer Zeit der Umbrüche zu leiten, mit unbestreitbarer Autorität. Wie sich zeigen sollte, war es eine richtungs- und wegweisende Entscheidung Schultes, den elf Jahre jüngeren David nach Köln zu rufen. Die größten Herausforderungen seiner Amtszeit begannen jedoch erst mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Jahre 1933. Insbesondere in einer politisch komplexen Gemengelage, wie sie sich nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten darstellte, fällt es schwer, die Rolle von Akteuren der zweiten Reihe zu bemessen. Klar ist hingegen, dass die Erforschung der deutschen Bischöfe während des »Dritten Reiches« nicht ohne eine Betrachtung ihrer Generalvikare auskommt – ein Aspekt, der bislang nur stiefmütterliche Beachtung gefunden hat. Einige Aspekte sollen hier beispielhaft herausgegriffen werden. Als Leiter der kirchlichen Verwaltung im Erzbistum Köln, häufig als Alter Ego des Erzbischofs bezeichnet, war David direkt mit den totalitären Ansprüchen der neuen 153
Keywan Klaus Münster Abb. 6: Emmerich David als Generalvikar der Erzdiözese Köln, Porträtfoto, undatiert
Machthaber konfrontiert. Seinem Erzbischof stand David in dieser Zeit als unerlässlicher Berater in kirchenpolitischen Angelegenheiten zur Seite. Gegenüber seinem Oberhirten, dem von der Forschung bisher allzu große Zurückhaltung im Umgang mit den nationalsozialistischen Machthabern attestiert wird, verkörperte er in den Augen des Kölner Regierungspräsidenten Rudolf Diels (1900–1957) gar »die entschlossene Unnachgiebigkeit der Kirche« : ein Eindruck, der insbesondere in Bezug auf das gegenseitige Verhältnis von Erzbischof und Generalvikar zu Fehlurteilen führte. Anlässlich der Veröffentlichung eines NS-kritischen Artikels des Osservatore Romano (4.8.1935) im Kirchlichen Anzeiger der Erzdiözese Köln geißelte das Kölner Regierungspräsidium die Haltung des Generalvikars. Einerseits sei der Sachverhalt symptomatisch für die Einstellung in weiten kirchlichen Kreisen. Andererseits kennzeichne die Veröffentlichung die Lage im erzbischöflichen Generalvikariat, das immer wieder die auf Verständigung gerichtete Politik des Kardinals zu durchkreuzen sucht. Auch in Diels’ 1949 veröffentlichtem schillernden Rechenschaftsbericht »Lucifer ante portas« erinnerte er an das Agieren Davids : Dieser habe »alle juristischen und menschlichen Handhaben« genutzt, »um die tolerante Haltung des Kardinals auszugleichen«. Das von staatlichen Stellen vermutete Gegeneinander von Erzbischof und Generalvikar lässt sich unter Berücksichtigung der internen Überlieferung allerdings in die154
Emmerich David (1882–1953)
sem Ausmaß nicht bestätigen. Im Gegenteil : Häufig ließ Schulte seinen Generalvikar, um dessen energische und dynamische Haltung in politisch diffizilen Situationen er wusste, gewähren. Davids Vernetzung mit staatlichen Stellen bis hin zu Ministerialkreisen, auf die zuletzt Ulrich Helbach hingewiesen hat, wird daran ihren Anteil gehabt haben. Auch ein außergewöhnlich enges Vertrauensverhältnis ließ David nicht das zeittypische hierarchische Bewusstsein verlieren : Ein Generalvikar handelte schlichtweg »ad mentem episcopi«, auch wenn in manchen Fragen Meinungsverschiedenheiten bestanden. Besonders aufschlussreich, wenn auch mit ähnlicher Stoßrichtung gegen den Kardinal, erinnerte sich der 1935 verhaftete ehemalige Generalsekretär der katholischen Jugend, Joseph Clemens, nach dem Tod des Generalvikars in einem Kondolenzschreiben : Sein Rat traf immer den Nagel auf den Kopf. Wenn er selbst damals freier gewesen wäre in seinen Entscheidungen, wäre manches anders gelaufen. Wenn man mit ihm verhandelte, erlebte man immer wieder seine geistige Schärfe und sein umfassendes Wissen. Dabei war er persönlich immer gleichmütig und ruhig. Seine Ruhe fiel der Gestapo auf die Nerven. Nimmer werde ich ihm vergessen, daß er mich im Gefängnis in Düsseldorf besucht hat. Fast eine Stunde war er bei mir in der Zelle und hat auf geschickte Weise den begleitenden Kriminalrat herauskomplimentiert, um mir dann wichtige Dinge zu sagen. Der Erste, der mich nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis besuchte, war er. Das Schreiben deutet bereits an, dass David eine besondere Rolle im Kampf gegen die Zunahme völkischer Stimmen und deren institutionalisierter Einflussnahme auf die Schulung und Erziehung der Jugend eingenommen hatte. Mit Schulte in der grundsätzlichen Ablehnung des nationalsozialistischen Totalitätsanspruches übereinstimmend, zeigten sich beide insbesondere um die Zukunft der Jugend zutiefst beunruhigt. Vor dem Hintergrund der zunehmenden ideologischen Gefahrenlage war der Kölner Erzbischof am 7. Februar 1934 nach Berlin gereist, um bei Adolf Hitler (1889–1945) gegen die Übergriffe und Konkordatsverstöße zu protestieren. Das geplante Zusammentreffen stand gänzlich unter dem Vorzeichen der kürzlich erfolgten Ernennung Alfred Rosenbergs (1893–1946) zum weltanschaulichen Schulungsleiter der NSDAP, die – so der Kardinal gegenüber Ministerialdirektor Rudolf Buttmann (1885–1947) – auf uns als wie eine Ohrfeige ins Gesicht des Heiligen Vaters gewirkt habe. Das Gespräch zeitigte keinerlei Ergebnisse. Auch nach einer vom Reichsinnenministerium vorgenommenen Untersuchung der von Kardinal Schulte vorgebrachten Vorwürfe wies die Regierung jede Verantwortung von sich. Generalvikar David erklärte vor dem Hintergrund des unbefriedigenden Ergebnisses : Je mehr eine gefährliche Irrlehre in der außerkirchlichen Welt propagiert wird, desto häufiger und eingehender muß die entgegenstehende Wahrheit in den gewöhnlichen Formen der kirchlichen Lehrverkündigung vorgetragen werden. Auf der Bensberger Konferenz, die infolge der Unterredung Schultes mit Hitler am 18. und 19. Februar 1934 einberufen worden war, hatten sich die Vertreter der Kölner Kirchenprovinz auf eine überregionale seelsorgliche Offensive geeinigt. Daran anknüpfend wurde unter der Leitung des jungen Domvikars Joseph Teusch eine Arbeitsstelle zur Observation 155
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antichristlicher Tendenzen und Propaganda eingerichtet. Gemäß der oben zitierten Stoßrichtung beschränkte sich die später als »Abwehrstelle« bekannt gewordene Institution jedoch keineswegs auf die »Observation«. Vielmehr versuchten die Beteiligten, durch die Veröffentlichung zahlreicher Abhandlungen, Broschüren und Flugblätter dem lauten Konzert völkischer Verlautbarungen in einer ansonsten gleichgeschalteten Öffentlichkeit einen wissenschaftlich und theologisch untermauerten Widerspruch entgegenzusetzen. Der Generalvikar kannte den schaffensfrohen Kaplan noch aus seiner Zeit am Campo Santo Teutonico, von wo David den 28-jährigen Teusch als Seelsorger der Gemeinden Genua, Venedig und Florenz vermittelt hatte. Nach Köln zurückgekehrt, hatte Teusch zum Jahreswechsel 1933/34 die Gefahrenlage für das kirchliche Leben als stellvertretender Bezirkspräses der katholischen Jugend erstmals kennengelernt und dabei sowohl Geschick als auch Konsequenz bewiesen. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Einflusses Alfred Rosenbergs und der Begleitmusik anderer völkischer Bewegungen galt der junge, an der Bonner Theologischen Fakultät ausgebildete Teusch als ideale Besetzung. Aufgrund seiner näheren Bekanntschaft mit David, der bereits vom Bonner Kirchenhistoriker Wilhelm Neuss (1880–1965) über die katastrophalen Einflüsse von Alfred Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« an den Universitäten unterrichtet worden war, übernahm David die entscheidende Scharnierfunktion zwischen Teusch und dem letztlich verantwortlichen Erzbischof Schulte. Die massenhafte Verbreitung der Kleinschriften fiel auch der Gestapo unangenehm auf. In ihrem Gesamtlagebericht vom 5. März 1935 bemerkte die Staatspolizeistelle Düsseldorf, dass die Wühlarbeit Teuschs ihre stärkste Stützte [in] dem derzeitigen Generalvikar Dr. David gefunden habe ; dieser gehöre zu den gefährlichsten Inspiratoren in der Bekämpfung des Neuheidentums. Das Hauptaugenmerk der Beteiligten lag auf dem kirchenfeindlichen Pamphlet des NS-Chefideologen Rosenberg. Auch die Erstellung der bald als »Antimythus« bekannt gewordenen »Studien zum Mythus des 20. Jahrhunderts« wurde von David maßgeblich initiiert und unterstützt. Wie sich der an der Abfassung der Schrift beteiligte Wilhelm Neuss erinnerte, konnte es sich dabei nicht nur um eine inhaltliche Auseinandersetzung handeln, »sondern es mußte einmal die unwissenschaftliche und unehrliche Art des Mythus dem Leser aufgedeckt werden«. Die Schrift war als Gemeinschaftswerk konzipiert. Verschiedene Fachgelehrte – darunter Werner Schöllgen und Karl Theodor Schäfer, David noch bestens aus Rom bekannt – verfassten Einzelbeiträge zu den unterschiedlichen Bestandteilen des »Mythus«. Geplant war eine gesammelte Veröffentlichung als Beilage des Kirchlichen Anzeigers der Erzdiözese Köln ; ein Vorgehen, mit dem sich David gänzlich einverstanden zeigte. Als Schulte die Veröffentlichung der »Studien« im Kirchlichen Anzeiger aus Angst vor zu großen Konsequenzen unterband, folgte auch David dem Veto. Noch wenige Tage zuvor hatte er sich an die deutschen Bischöfe gewandt, um die kommende Gegenschrift anzukündigen und ihnen sofort eine grössere Verbreitung ausserhalb des Buch156
Emmerich David (1882–1953)
handels zu empfehlen. Nach der unvorhergesehenen Wendung umgingen die Beteiligten den Einspruch von Erzbischof und Generalvikar, indem sie die »Studien« im Amtsblatt des Bistums Münster veröffentlichten. Clemens August Graf von Galen hatte sofort zugesagt und sich dazu bereit erklärt, ein kurzes Vorwort anzufertigen. Teusch begründete »den Ungehorsam« wie folgt : Der Generalvikar David verbietet, daß wir nach Münster gehen, aber Dr. Emmerich freut sich, wenn wir es tun. Wissend um das Erfordernis der Tat und seiner gleichzeitigen Verantwortung ließ David seinen Mitarbeitern die benötigten Freiräume und förderte dort, wo das Eingreifen der erzbischöflichen Behörde sinnvoll erschien. Derartige Initiativen, politisches Geschick und die nach außen gezeigte Festigkeit trugen maßgeblich zu seinem hohen Ansehen bei. Nach Davids Tod im Jahre 1953 bezeichnete ihn Erzbischof Frings gar als »die Seele eines ebenso klaren wie klugen Widerstandes in Deutschland«. Dabei wurde er nicht müde zu erläutern, wie dem nationalsozialistischen Totalitätsanspruch aus seiner Sicht zu begegnen sei. Zur Vorbereitung auf die Fuldaer Bischofskonferenz 1935 hatte David seinem Oberhirten umfassende Vorüberlegungen an die Seite gestellt. In nie dagewesener Form befinde sich, heißt es dort, das deutsche Volk in einer Gewissensbedrängnis und einer akuten Gefahr des Abfalles von Kirche und Christentum. Gegenüber dieser furchtbaren Wirklichkeit rückten alle übrigen Elemente [gemeint sind Fragen nach der Schuld an der gegenwärtigen Lage, Konkordatsbrüche etc.] […] in die zweite Linie. In vielen Fragen wünschten sich die Laien klarere und einheitliche Weisungen der Bischöfe. Neben dem Wert der katholischen Vereine zählte auch die Frage der Zwangssterilisierungen dazu : Man ist zu grossen Opfern bereit, will aber gewiss sein, dass sie an der rechten Stelle gebracht werden. Was David daraus schloss, war ein ganzer Katalog an zeitgemässen Gegenmaßnahmen, die auch die Einrichtung der »Abwehrstelle« berührten. Für den Generalvikar sollte der Kampf um die eigenen Glaubenswahrheiten in einer gleichgeschalteten Öffentlichkeit mithilfe theologischer Schulung ausgefochten werden. Es ging nie um politische Fundamental opposition, sondern eine Form der »offensiven Seelsorge« (Ulrich von Hehl), die auch der Kölner Oberhirte zu tragen gewillt war. Spätestens seit 1936 sah sich Schulte umfassender Kritik an seinem Kurs, darunter auch aus dem eigenen Klerus, ausgesetzt. Trotz übereinstimmender Zielsetzungen nahmen im Verlauf der folgenden Jahre auch Differenzen zwischen Erzbischof und Generalvikar zu. Dies war beispielsweise 1937 der Fall, als sich Schulte für eine Besetzung des Bonner Lehrstuhls für Kirchenrecht mit Hans Barion offen zeigte. Barion war Mitglied der NSDAP und unterstützte die Regierung in kirchenpolitischen Fragen. David sprach sich vehement gegen seinen ehemaligen Schützling aus, doch es nutzte nichts. 1939 folgte Barion auf Albert Michael Koeniger (1874–1950). David wollte über Quellen aus dem Ministerium erfahren haben, dass Barion die Nationalsozialisten weiterhin bei der Planung und Umsetzung von kirchenfeindlichen Gesetzen und Maßnahmen unterstütze. Es liegt nahe, dass sich Schulte auch in dieser Entscheidung mit seinem Generalvikar beraten hatte, damit also von Barions Tätigkeit wusste. 157
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Festzuhalten bleibt, dass es eingehendere Untersuchungen benötigt, um derartige Entscheidungsprozesse adäquat nachzeichnen zu können. Bereits seit 1927 hatte Schulte ein starkes Herzleiden begleitet. Dennoch traf der Tod des Kölner Kardinals im März 1941 seine Erzdiözese und den Generalvikar unerwartet. Nach nächtlichen Fliegerangriffen auf die Domstadt hatten Atembeschwerden und innere Blutungen dem Leben des Oberhirten in der Nacht zum 11. März 1941 ein unverhofft jähes Ende bereitet. Bereits am darauffolgenden Tag wählte das Metropolitankapitel Emmerich David zum Kapitularvikar. Nun oblag ihm die volle bischöfliche Jurisdiktionsgewalt. Die ungewöhnlich langen Jahre der Sedisvakanz und die immense Verschärfung der staatlichen Angriffe auf die Kirche beanspruchten vor allem die Gesundheit des einstigen Generalvikars. Wenige Wochen vor der Inthronisation von Josef Frings erlitt er einen Schlaganfall. Der Staatspolizeistelle Düsseldorf gab ein befreundeter Pfarrer zu Protokoll, David sei morgens stets der erste und abends der letzte im Dienst gewesen. Zudem seien ihm die zahlreichen politischen Aufregungen bestimmt nicht in den Kleidern hängen geblieben. Weit über ein Jahr hatte David der Erzdiözese während der kirchenpolitisch turbulenten Ereignisse vorgestanden. In diese Zeit fielen die Beseitigung der noch existierenden katholischen Presse, die Aufhebung des staatlichen Schutzes kirchlicher Feiertage und die Aufhebung katholischer Kindergärten im Regierungsbezirk Köln. Die Einrichtungen im Zuständigkeitsbereich der Staatspolizei Düsseldorf blieben hingegen von der staatlichen Übernahme verschont, was David zur Zurückhaltung öffentlicher Proteste bewog. Vielmehr forderte er den betroffenen Kölner Klerus zu individuellen Protestschreiben auf. Seine wohl größte Aufmerksamkeit hatte jedoch die als »Klostersturm« in Erinnerung gebliebene Enteignung von Klöstern, Ordenskomplexen und anderen kirchlichen Anstalten verlangt. Das Erzbistum Köln war davon besonders betroffen. Denn unter den beschlagnahmten Komplexen befanden sich auch das (eigentlich vom Reichskonkordat geschützte) Erzbischöfliche Priesterseminar in Bensberg und das Altenberger Exerzitienhaus. David, der bei zahlreichen Stellen gegen die Beschlagnahme des Priesterseminars protestiert hatte, blieb lange ohne offiziellen Bescheid. Nach der ausgesprochenen Enteignung (die zugunsten der Napola Bensberg erfolgt war) wandte sich David im Januar 1942 schließlich an die Öffentlichkeit. Vor ihr geißelte er den Vorgang als eine objektiv in hohem Maße staats- und volksschädliche Maßnahme – ohne Erfolg. Auch die Unterstützung des Nuntius Cesare Orsenigo (1873–1946) zeitigte im Falle der enteigneten Gebäude keine Wirkung. In seiner Zeit als Kapitularvikar agierte David politisch häufig beherzter als Schulte, wenngleich sein Vorgehen angesichts der zunehmenden Verschärfung der kirchenpolitischen Situation nicht von Erfolg gekrönt wurde. Einem seiner Schreiben an das Reichsinnenministerium folgend, legte er sich vielmehr eine bis zur äußersten Grenze der vor dem Gewissen noch zu verantwortenden Zurückhaltung auf. David wusste um die Wirkmacht der öffentlichen Mobilisierung ; die fragile und von Unsicherheit geprägte 158
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Situation der Erzdiözese ließ ihn dennoch von offensiveren Schritten absehen. Diese hätten, so die Angst des Kapitularvikars, die Wahl eines neuen Erzbischofs verhindern oder die Erzdiözese gar in einen offenen, aber führungslosen Konflikt mit den Machthabern stürzen können. Trotz der langen Vakanz kam die Ernennung von Josef Frings zum Erzbischof von Köln für viele überraschend. Im Vorfeld der Inthronisation hatte es auf Seiten der Gestapo zahlreiche alarmierende Gerüchte gegeben. Von Vertrauensmännern wollte man erfahren haben, dass unter anderem sowohl Konrad Graf von Preysing (1880– 1950) als auch der Kirchenhistoriker Wilhelm Neuss im Gespräch für die Nachfolge Schultes gewesen seien. Wie Norbert Trippen dargelegt hat, schätzte das NS-Regime den ehemaligen Regens des Priesterseminars als fromm, aber politisch unkritisch ein. Umso überraschter zeigten sich die staatlichen Stellen über Frings’ kirchenpolitische Unerschrockenheit nach seiner Inthronisation. Als Generalvikar berief er den gesundheitlich noch immer angeschlagenen David. Frings erinnerte sich später : »Er hat mich, der ich als ein völliger Neuling in der kirchlichen Verwaltung mit der Leitung der größten deutschen Diözese beauftragt worden war, vorzüglich eingeführt, und ich schulde ihm nie endenden Dank dafür.« Der neue Erzbischof wusste um Davids Erfahrung und Kenntnisse, vermutete rückblickend gar, David habe mit seiner »Klugheit und Festigkeit« die Haltung der westdeutschen Bischöfe entscheidend beeinflusst. 5. Nachkriegszeit und letzte Jahre Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellte sich David eine breite Palette materieller und seelsorglicher Herausforderungen. Nach dem Urteil der kirchlichen Presse schenkte ihnen der 63-jährige Generalvikar »seine ganzen Kräfte […], ohne sich eine Schonung zu gönnen«. Eine Verwaltung wollte neu geschaffen, Kirchen, Pfarrhäuser und Klöster wiederaufgebaut werden. Als Erzbischof Frings 1946 seine berühmte Silvesterpredigt hielt, stand ihm der Kölner Dom nicht zur Verfügung – erst ab August 1948 wurden wieder Gottesdienste in der Kathedrale gefeiert. Neben dem Einsatz des Klerus waren es aber auch die Klärung katholischer Grundsätze sowie brennende Fragen eines seelischen Wiederaufbaus der Bevölkerung, bei denen sich Kardinal Frings der Unterstützung Davids sicher sein durfte. Die Erinnerung an sein Wirken als Kapitularvikar und seinen unermüdlichen Einsatz nach dem Krieg blieb nicht vergessen. Als 1952 bekannt wurde, dass David die Leitung des Generalvikariats aus gesundheitlichen Gründen abgeben wolle, überschlug sich die Presse förmlich : »Sein enormes Wissen, seine weitgehende Ueberschau, seine Kenntnis im diplomatischen Raum, seine unbedingte Treue und Festigkeit haben die Kölner Kirche durch alle Stürme sicher hindurch geleitet.« Die Diözese, vor allem der Klerus »und wohl alle[n], die menschlich oder amtlich mit ihm zu tun hatten«, müssten ihn verehren als »den klugen Führer, den treuen Berater, den stillen Freund«. Im Februar 1952 bat der gesundheit159
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Abb. 7: Aufbahrung des Sargs von Emmerich David im Kölner Dom, Foto : Theo Felten, Februar 1953
lich angeschlagene David schließlich bei Frings um seine Entpflichtung als Generalvikar, die am 4. März erfolgte. Im gleichen Jahr erhielt er das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Nach rund 21 Jahren als Leiter der erzbischöflichen Behörde sollte ihm der bestens bekannte Joseph Teusch folgen. Dieser hatte in seiner Zeit als Domvikar und Leiter der »antichristlichen Abwehrstelle« Respekt und Vertrauen des Generalvikars gewonnen. Nach Trippen liegt auch hier die Vermutung nahe, dass David ausschlaggebenden Einfluss auf die von Kardinal Frings zu treffende und »für sein eigenes Wirken so wichtige Personalentscheidung« nahm. Am 4. Februar 1953 verstarb Emmerich David in Köln. Nach vorherigem Requiem im Kölner Dom erfolgte am 10. Februar 1953 die Beisetzung auf dem Domherrenfriedhof. Quellen Ungedruckte Quellen Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) Bestände NS 22, R 1601, R58 ; Historisches Archiv des Erzbistums Köln (AEK) Bestände CR I, Gen I sowie AEK NL David, AEK NL Teusch, AEK JTW und AEK NL Schulte ; Landeshauptarchiv Koblenz (LHAK) Bestand 403 ; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (LAV NRW R) RW 58, Nr. 17455.
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Emmerich David (1882–1953)
Gedruckte Quellen Wilhelm Corsten (Bearb.), Kölner Aktenstücke zur Lage der katholischen Kirche in Deutschland 1933–1945, Köln 1949 ; Anselm Faust/Bernd-A. Rusinek/Burkard Dietz (Bearb.), Lageberichte rheinischer Gestapostellen, 4 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde LXXXI), Düsseldorf 2013–2016 ; Josef Frings, Für die Menschen bestellt. Erinnerungen des Alterzbischofes von Köln Josef Kardinal Frings, 7. Aufl., Köln 1974 ; Wardges Mikaeljan (Bearb.), Die armenische Frage und der Genozid an den Armeniern in der Türkei (1913–1919). Dokumente aus dem politischen Archiv des Deutschen Auswärtigen Amts, Eriwan 2014 ; Bernhard Stasiewski/Ludwig Volk (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933– 1945, 6 Bde. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bde. 5, 20, 25, 30, 34, 38), Mainz 1968–1985. Literatur (Auswahl) Biographisch ist Emmerich David bislang nur bruchstückhaft gewürdigt worden. Zu nennen sind Bodo Bost, In geheimer Mission des Vatikans. Emmerich David half den katholischen Armeniern und wurde Generalvikar, in : Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln, 17.6.2016 sowie Stefan Heid, Emmerich David. Generalvikar, in : Ders./Martin Dennert (Hgg.), Personenlexikon zur Christlichen Archäologie. Forscher und Persönlichkeiten vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, Bd. 1, Regensburg 2012, S. 359 und neuerdings Hermann Simon/Gregor Brand, Kinder der Eifel – aus anderer Zeit II, o. O. 2018. Daneben vor allem Eduard Hegel, Das Erzbistum Köln zwischen der Restauration des 19. Jahrhunderts und der Restauration des 20. Jahrhunderts 1815–1962 (Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 5), Köln 1987 ; Ulrich von Hehl, Katholische Kirche und Nationalsozialismus im Erzbistum Köln 1933–1945 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 23), Mainz 1977 ; Ulrich Helbach, Dienst im tiefen Ernst der Gegenwart. Karl Joseph Kardinal Schulte 1871–1941. Erzbischof von Köln 1920–1941, in : Anna Maria Zumholz/Michael Hirschfeld (Hgg.), Zwischen Seelsorge und Politik. Katholische Bischöfe in der NS-Zeit, Münster 2017, S. 133–172 ; Hubert Jedin, Was nicht in den Akten steht. Erinnerungen an das Priesterkolleg unter dem Rektorat David, in : Erwin Gatz (Hg.), Hundert Jahre deutsches Priesterkolleg. 1876–1976. Beiträge zu seiner Geschichte (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, Supplementheft 35), Rom u. a. 1977, S. 174–186 ; Keywan Klaus Münster, »Dein Volk – oder Christus ?«. Joseph Teusch, die Kölner »Abwehrstelle« und die Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit dem völkischen Nationalsozialismus, in : Christoph Kösters/Hans Maier/Frank Kleinehagenbrock (Hgg.), Profil und Prägung. Historische Perspektiven auf 100 deutsche Katholikentage (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Bd. 34), Paderborn 2017, S. 67–88 ; ders., »König oder Privatmann«. Das kirchliche Lehramt und die Einrichtung der »Abwehrstelle gegen die antichristliche Propaganda« in Köln, in : Geschichte in Köln 64 (2017), S. 214–240 ; Wilhelm Neuss, Kampf gegen den Mythus des 20. Jahrhunderts. Ein Gedenkblatt an Clemens August Kardinal Graf von Galen (Dokumente zur Zeitgeschichte, Bd. 4), Köln 1947 ; Joseph Teusch, Über die Entstehung der »Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts«, in : Theologisches 60 (1975),
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Keywan Klaus Münster
S. 1570–1576 ; Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887–1978), Bd. 1 : Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 94), Paderborn u. a. 2003.
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Wolfgang Löhr
Thomas Michels (1892–1979) Benediktiner und Mitbegründer der Salzburger Hochschulwochen
Der aus Krefeld stammende Benediktinerpater Thomas Michels zählt zu den einflussreichen Persönlichkeiten des deutschsprachigen Katholizismus des vergangenen Jahrhunderts. Er hat zwar die längste Zeit seines Lebens in Österreich verbracht, pflegte aber sorgfältig die Verbindungen zu seiner rheinischen Heimat, vor allem zum Kloster Maria Laach in der Eifel. Gemäß der benediktinischen Regel respektierte er dessen Abt wie seinen Vater. Bis zu seinem Tod verstand er sich als Laacher Mönch. Das gilt auch für die Jahre seines Exils in den USA von 1938 bis 1947, in die er als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus hatte fliehen müssen. 1928 kam er nach Österreich und war ab 1931 mitverantwortlich für die in Salzburg veranstalteten Hochschulwochen, auf denen bis heute über aktuelle Themen aus Kirche, Staat, Kultur und dem öffentlichen Leben informiert und diskutiert wird. Von 1950 bis 1971 fungierte er nicht nur als deren hauptverantwortlicher Organisator, sondern ebenso als einer der wichtigsten Ideengeber dieser von angehenden und etablierten Akademikern besuchten Sommeruniversität. Er stand im intensiven Gedankenaustausch mit Wissenschaftlern, Führungskräften aus Politik und Wirtschaft sowie mit Künstlern aus ganz Europa und gehörte mit zu den Impulsgebern für die Gestaltung der Zukunft aus christlicher Sicht. Um die Stadt Salzburg machte er sich besonders verdient. So ist Michels zu den Gründungsvätern der jetzigen Universität zu rechnen, die 1962 als staatliche Einrichtung nach über 150 Jahren wiedererstand, wenn er selbst auch eine katholische und europäische Hochschule vorgezogen hätte. Seine besondere Aufmerksamkeit galt der Erforschung der Grundfragen von Wissenschaft und Gesellschaft. Dazu regte er die Gründung eines Forschungszentrums an, das bis heute auf dem Mönchsberg in Salzburg besteht und als dessen erster Präsident er amtierte. 1. Jugendjahre, Eintritt ins Kloster Maria Laach, Studium Am 28. Oktober 1892 kam Peter Franz Michels, der später als Benediktinernovize den Ordensnamen Thomas erhielt, als Sohn des Schuhmachermeisters Peter Michels (geb. 1866, Todesdatum unbekannt) und der Johanna Michels geb. Dorlöchter (1865–1898), Magd aus Recklinghausen, in Krefeld zur Welt. Nach dem frühen Tod seiner geliebten Mutter heiratete sein Vater ein zweites Mal, was dem Sohn zu akzeptieren schwerfiel. Ab seinem neunten Lebensjahr wuchs er bei seinem Großvater, dem Seidenweber163
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Abb. 1: Thomas Michels beim Studieren der ihm gewidmeten Festschrift »Perennitas«, 1963
meister Peter Anton Michels (1833–1915), auf. Dieser war im katholischen Arbeiterverein aktiv und betätigte sich als christlicher Gewerkschafter und Kommunalpolitiker der Zentrumspartei. Auf Grund des restriktiven preußischen Dreiklassenwahlrechts scheiterte er, in die Stadtverordnetenversammlung gewählt zu werden. Die bescheidenen Verhältnisse, unter denen Thomas Michels aufwuchs, belasteten ihn. 1948 schrieb er in einem Entwurf für seine geplanten, aber nie vollendeten Lebenserinnerungen, dass er alles, was man als Kind einer nicht durch eigene Schuld sozial gedrückten Familie durchmachen kann, durchgemacht habe. Nach dem Abitur in Krefeld, bei dem er als guter Schüler von der mündlichen Prüfung befreit worden war, trat er 1911 in das Benediktinerkloster Maria Laach ein. Schon anderthalb Jahre zuvor stand der Entschluss fest, Priester zu werden. 1912 legte er die Profess ab. Er begann mit dem Studium der Philosophie und Theologie innerhalb des Klosters Maria Laach und ging danach von 1913 bis 1914 nach Rom an die Benediktinerhochschule Sant’ Anselmo. Darauf wechselte er mit einer Unterbrechung als Lazaretthelfer in Andernach an die ordensinterne Hochschule in Beuron bei Sigmaringen. 1917 wurde er in Maria Laach zum Priester geweiht. Seine wissenschaftliche Begabung blieb nicht unentdeckt. Deshalb entsandte ihn sein Abt 1919 zum Studium zu dem Religionswissenschaftler und »Reformkatholiken« Franz 164
Thomas Michels (1892–1979)
Dölger (1887–1922) nach Münster. Seine bei ihm begonnene Doktorarbeit mit dem Titel »Der Kranz der Toten« brach er aus ungeklärten Gründen ab. Bei Dölger ist er dann noch einmal 1928, als dieser in Breslau lehrte, kurze Zeit gewesen. In Münster studierte er ferner bei dem klassischen Archäologen Arnold von Salis (1881–1958) und dem Kirchenhistoriker und einflussreichen Zentrumspolitiker Georg Schreiber (1882–1963). Noch im Alter erinnerte er sich, dass er sich mit Schreiber einmal stritt, weil dieser die Zisterzienser auf Kosten der Benediktiner bevorzugt habe. Mit ihm blieb er zeit seines Lebens in Verbindung, obgleich sich Schreiber seiner Meinung nach gerne hofieren ließ und ihn zunächst von oben herab behandelt hatte. Später trug sich Schreiber noch kurz vor seinem Tod in die Liste der Gratulanten in der zu Pater Thomas’ 70. Geburtstag publizierten Festschrift ein ; er lieferte für sie sogar einen Beitrag über die »Weinlese in der kirchlichen Kultur«. An die Universitätsstadt Münster und seinen dortigen Freundeskreis dachte Pater Thomas sehr gerne zurück. Hier trat er sogar mit Erlaubnis seines Abtes einem studentischen Zirkel bei, der »Freien Vereinigung«. Wie er später schrieb, wollte sie damals in Frontstellung gegen die überlebten Korporationen die unabhängigeren Studenten in sich vereinigen. Als Leiter der Salzburger Hochschulwochen nach dem Zweiten Weltkrieg hat er aber kein Problem darin gesehen, an Kommersen der Korporationsstudenten teilzunehmen. In Münster lebte er im Haus der verwitweten Freifrau Maria von Wendt (1848–1941), die als die »Großmutter des westfälischen Adels« gilt. Bei ihr lernte er die Mitglieder fast aller Adelsfamilien Westfalens kennen. Vermutlich rührt daher seine lebenslange Zuneigung zum Adel. Von Münster wechselte er 1920 zum weiteren Studium nach Bonn. Dort hatte sein Kloster ein Haus auf der Beethovenstraße erhalten, von dem man bequem zu Fuß zum Universitätsgebäude gehen konnte. Pater Thomas, den nach eigenem Bekunden die Philosophie erst an zweiter Stelle ansprach, konzentrierte sich nun auf die Fächer Liturgiewissenschaft, Patristik, Geschichte und Kunstgeschichte. Er wurde Schüler des Historikers jüdischen Glaubens Wilhelm Levison (1876–1947), bei dem er eine Dissertation mit dem Titel »Beiträge zur Geschichte des Bischofsweihetages im christlichen Altertum und Mittelalter« verfasste, mit der er 1925 zum Dr. phil. promoviert wurde. Zwei Jahre später erschien die Arbeit in der Reihe »Liturgiegeschichtliche Forschungen« in Münster im Druck. Neben Levison gehörten zu seinen akademischen Lehrern in Bonn der Kirchenhistoriker und Patristiker Albert Erhard (1862–1940), der wegen seines Buchs »Der Katholizismus und das 20. Jahrhundert« zu den katholischen Reformern zählte und als »Modernist« denunziert worden war, sowie der Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Paul Clemen (1866–1947), ein Pfarrerssohn und zeitweiliger Prinzenerzieher. Außerdem war er Schüler des Orientalisten und Liturgiewissenschaftlers Anton Baumstark (1872–1948). Inwieweit er dessen stark national-konservative Einstellung geteilt hat, ist nicht bekannt. Er schätzte ihn ohne Zweifel als Wissenschaftler ; 1932 widmete er ihm eine Festschrift. In den 1950er-Jahren, als er über dessen politische und menschliche Verfehlungen während 165
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des »Dritten Reiches« Bescheid wusste, nannte er ihn einschränkend einen begabten Psychopaten. »Geistig geprägt« haben Pater Thomas nach Aussage eines seiner Bonner Studienfreunde besonders Wilhelm Levison und Albert Erhard (P. Wolff ). Während seines Studiums in Bonn scharte der junge Laacher Mönch einen Kreis reformorientierter Katholiken um sich, mit denen er donnerstags in der Krypta des dortigen Münsters eine sogenannte »Missa recitata« (Gemeinschaftsmesse) feierte. Damit ließ er sie aktiv am liturgischen Geschehen teilhaben, eine kühne und aufsehenerregende Neuerung. Jedes Mal hielt er während der Messe auch eine kleine Ansprache. Außerdem sang er im Laacher Studienhaus mit seinen Bekannten und Freunden abends das in der Benediktinerregel grundgelegte Nachtgebet, die Komplet. In Bonn kam er zudem in enge Fühlung mit der aus der Jugendbewegung hervorgegangenen katholischen Vereinigung »Quickborn«. 1924 besuchte er deren geistiges Zentrum auf der Burg Rothenfels im Spessart. Vorbildcharakter für den Benediktinermönch Thomas Michels hatte ohne Zweifel der aus Köln stammende Ildefons Herwegen (1874–1946), der 1913 zum Abt von Maria Laach gewählt worden war. Er gilt als einer der Promotoren der reformerischen »Liturgischen Bewegung« in der katholischen Kirche. Das untergegangene Kaiserreich verklärte er »nostalgisch« (M. Albert) und tat sich mit der Weimarer Republik schwer. Das wurde bei der Reichspräsidentenwahl 1925 deutlich, als er und die Laacher Mönche sich der Stimme enthielten und nicht den Kandidaten der republikanischen Parteien, den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx (1863–1946), unterstützten. Wie sich Pater Thomas dabei verhielt, ist nicht bekannt. Abt Herwegens Vorhaben, Anknüpfungspunkte zwischen NS-Ideologie und katholischer Kirche auszumachen, und der damit zusammenhängende Grundgedanke einer katholischen »Reichstheologie« relativierten sich spätestens 1934. Ein Jahr danach wurde er »selbst bedroht« und musste »mehrere Monate Zuflucht im Ausland suchen« (E. v. Severus). Pater Thomas unterstützte seinen Abt von Anfang an bei dessen Bemühen um eine liturgische Erneuerung. Auch bei Zwistigkeiten innerhalb des Konvents stand er zu ihm, doch blieb das Verhältnis zueinander stets auf achtungsvoller Distanz. Wie Ildefons Herwegen ließ sich Thomas Michels, wie er im Rückblick meinte, von der pseudoromantischen Begeisterung für den Ersten Weltkrieg mitreißen. Er war erschüttert, als die Abdankung des Kaisers, der so viel für Maria Laach getan hatte, im Refektorium verlesen wurde. Die Revolution von 1918 billigte er nach eigenen Worten ebenfalls nicht. Trotzdem musste er später einsehen, dass der wenig rühmliche Abgang der Hohenzollern ein Segen für Deutschland gewesen war. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr, in welch infamer Weise sich Wilhelm II. (1859–1941) über den Reichskanzler Heinrich Brüning (1885–1970) und über die katholische Kirche geäußert hatte, hielt er fest : Nur keine Hohenzollern mehr ! Die Habsburger schätzte er hingegen und blieb sein Leben lang in Kontakt mit ihren höchsten Vertretern und mit anderen monar chistischen Kreisen. In der Zeit des österreichischen »Ständestaats« gehörte er zu den Legitimisten. Nach seiner Rückkehr aus den USA nach Österreich 1947 hatte er frei166
Thomas Michels (1892–1979)
lich kein problematisches Verhältnis zur demokratischen Staatsform, akzeptierte sie vielmehr uneingeschränkt. Auch die »Weimarer Republik« lehnte er nicht ab und hielt sie für im Ganzen noch sehr konservativ. Dass sie während seines Studiums in Münster in katholischen Adelskreisen beschimpft wurde, befremdete ihn, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg festhielt. Ähnlich wie Abt Ildefons unterschätzte er die Nationalsozialisten anfangs, trat aber nicht als »Brückenbauer« hervor und sagte dem NS-Regime spätestens ab 1934 offen den Kampf an. Der »Politischen Theologie« des Staatsrechtslehrers Carl Schmitt (1888–1985), den er 1921 in Bonn kennengelernt hatte, schloss er sich unter Einfluss seines guten Bekannten, des Kirchenhistorikers und 1930 zum Katholizismus übergetretenen Theologen Erik Peterson (1890–1960), nicht an. Einen Kontakt zu Schmitt hat er in Österreich nicht mehr gepflegt. Deshalb erscheint dieser auch nicht unter den Gratulanten in der Festgabe zu seinem 70. Geburtstag. Peterson zeigte sich schon in einem Brief an Pater Thomas aus dem Jahr 1935 von Schmitt tief enttäuscht und schrieb ihm : Daß Schmitt als Freund sinnlos gewesen ist, das habe ich bis heute nicht überwunden. 2. Erste Jahre in Maria Laach, Entsendung nach Salzburg Ab 1921 schrieb Thomas Michels als junger Mönch in Maria Laach Artikel für das in Münster erscheinende »Jahrbuch für Liturgiewissenschaft«. »In einigen frühen Arbeiten« erkennt man noch »die bestätigende und ergänzende Hand« (N. Brox/A. Paus) seines etwas älteren Confraters Odo Casel (1886–1948), des Mitbegründers der sogenannten Mysterientheologie. Doch scheint er später Abstand zu ihm gehalten zu haben. Außerdem unterstützte er seinen Studienfreund aus Münster Gottfried Hasenkamp (1902–1990) bei der Redaktion des 1925 und 1926 herausgebrachten Anniversariums »Das Siegel«. Eine dort von Hasenkamp beigesteuerte unreife Dichtung, die den Titel »Hochdienst der Weltbrüder von Maria Laach« trug, ließ Pater Thomas unbeanstandet, was Abt Ildefons monierte, ohne es ihm lange nachzutragen. In dem Jahrbuch veröffentlichte Pater Thomas einige Übersetzungen aus dem Griechischen, Lateinischen und Französischen, die davon zeugen, wie einfühlsam er Dichtung nachzuschöpfen vermochte. Seine Übertragungen der Texte der alten Kirchenväter gelten als »meisterlich« (P. Wolff ). Latein beherrschte er perfekt und schmückte gerne seine manchmal ein wenig pathetischen Reden mit lateinischen Sentenzen. Eine besondere Freude war es ihm, das Distichon auf dem 1960 eröffneten Großen Festspielhaus in Salzburg in lateinischer Sprache abfassen zu dürfen, wo es noch heute zu lesen ist. In seiner Laacher Zeit bereitete er ferner eine neue Ausgabe der Übersetzung der Amtsgebete des römischen Messbuchs durch den richtungsweisenden Pastoraltheologen, den Regensburger Bischof Johann Michael Sailer (1751–1832), vor. Sie ging aber »wegen des Konkurses des vorgesehenen Verlages nicht mehr in Druck« (A. Häußling). 167
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1928 schickte Abt Ildefons Pater Thomas nach Salzburg, um den Beuroner Benediktiner Alois Mager (1883–1946) bei den Vorbereitungen zur Gründung einer katholischen Universität zu unterstützen. Zuvor hatte er drei Jahre lang Kirchengeschichte beim ordensinternen Studium in Maria Laach doziert. In Salzburg habilitierte er sich 1929 an der Theologischen Fakultät für Liturgiewissenschaft in Patrologie und Religionsgeschichte. Die damals eingereichte liturgiewissenschaftliche Untersuchung mit dem Titel »Die Synaxisordnung der Kirche von Konstantinopel von ihren Anfängen bis zum Ende der byzantinischen Zeit« blieb ungedruckt. Nach einigen Jahren als Privatdozent wurde er 1937 zum »außerordentlichen Professor« an der Theologischen Fakultät ernannt. 1962, mit 70 Jahren, erhielt er die Ernennung zum »ordentlichen öffentlichen Professor« an der gerade wiederbegründeten Salzburger Universität. 3. Die Salzburger Hochschulwochen Die erneute Ansiedlung einer katholischen Universität in Salzburg hat eine lange und bewegte Vorgeschichte. Schon 1848 befasste sich die erste deutsche Bischofskonferenz in Würzburg damit und nannte neben anderen Orten auch Salzburg als möglichen Standort. Daraus leiteten die Salzburger eine besondere Präferenz für ihre Stadt ab, in der noch bis 1810 eine katholische Hochschule bestanden hatte. Nach ihrer Schließung war ein Lyzeum für die Lehrerausbildung eröffnet worden, aus dem 1850 die vom Staat unterhaltene Theologische Fakultät mit Promotionsrecht hervorgegangen war. Diese bestand noch, als Pater Thomas nach Salzburg kam. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde über die Idee einer Hochschulgründung immer wieder auf den Katholikentagen diskutiert. In Salzburg brach deswegen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sogar eine Art »Kulturkampf« aus, bei dem von liberaler Seite vor einer »klerikalen Partei-Universität« gewarnt wurde. 1918 endete die Debatte, wurde aber 1923 erneut aufgegriffen. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, ob nicht die in Salzburg seit Jahrhunderten angesiedelten Benediktiner die Universität übernehmen könnten. 1928 beschloss dann der Katholische Akademikerverband Deutschlands in Zusammenarbeit mit dem Erzbistum Salzburg, der dortigen Theologischen Fakultät und der Salzburger Äbtekonferenz der Benediktiner, jährlich in Salzburg Hochschulwochen abzuhalten. Dafür setzte sich nachdrücklich auch der in Köln geborene Generalsekretär des Akademikerverbandes, Prälat Franz Xaver Münch (1883–1940), ein. Michels meinte, dieser habe den Verband diktatorisch geführt. Die Hochschulwochen verstanden sich als Vorstufe einer späteren katholischen Universität. Die Herbsttagung des Verbandes im Jahr 1930, die dieses Mal bewusst in Salzburg abgehalten wurde, sollte das Modell der künftigen »Salzburger Hochschulwochen« bilden. Übrigens sprach auf ihr neben Ildefons Herwegen ebenfalls die inzwischen heiliggesprochene Philosophin Edith Stein (1892–1942). Auch Michels nahm an der Tagung teil. 168
Thomas Michels (1892–1979)
Im August 1931 starteten die ersten Salzburger Hochschulwochen. An ihrem Programm und ihrer Organisation war Pater Thomas als Mitglied des geschäftsführenden Direktoriums verantwortlich beteiligt. Ihm waren alle »technischen Vorbereitungen« anvertraut worden. Die Hochschulwochen wurden für den deutschsprachigen Katholizismus ein Ereignis von kaum zu überschätzender Bedeutung. Sie standen in enger Verbindung mit der katholischen Erneuerungsbewegung. Die »geistige Elite des christlichen Europas« kam hier zu Wort (P. Gordan). Ohne die Bemühungen von Thomas Michels wäre es vermutlich nicht gelungen, die Görres-Gesellschaft von der Notwendigkeit einer katholischen Universität und der Ausrichtung der Hochschulwochen zu überzeugen. Ihre Vertreter hatten Bedenken, die Universität werde die wenigen Katholiken staatlicher Hochschulen abziehen. Michels argumentierte hingegen, eine neue katholische Einrichtung könne mehr Dozenten für die staatlichen Universitäten heranbilden. In der Ablehnung sah er eine Nachwirkung des Minderwertigkeitskomplexes katholischer Hochschullehrer, die seit den Auseinandersetzungen des Staates mit der katholischen Kirche zum Ende des 19. Jahrhunderts nur mit Mühen an die Universität gekommen waren. In der bei ihm nicht seltenen Schärfe monierte er in seinen unveröffentlichten Erinnerungen, dass einige sich nach außen hin als Liberale ausgegeben und ihre religiöse Praxis versteckt gehalten hätten. Nach der »Machtergreifung« Adolf Hitlers 1933 sahen sich die Veranstalter der Hochschulwochen mit der Herausforderung konfrontiert, alleine Österreicher, im Ausland wohnende Deutsche oder Ausländer als Redner gewinnen zu müssen. Denn für die Einreise nach Österreich war ab dem 27. Mai 1933 eine Zwangsabgabe von 1000 Mark zu entrichten, was nach heutigem Geldwert mehr als 4000 Euro entsprach. Das machte den Besuch der Hochschulwochen für Dozenten und Zuhörer aus Deutschland unmöglich. Um ein Zeichen bewusster Kooperation zu setzen, ergriff der österreichische Justiz- und Unterrichtsminister Kurt Schuschnigg (1897–1977) während des Festaktes im Jahr 1933 vor einem überwiegend österreichischen Publikum das Wort und versuchte das Unmögliche : »katholisch, gesamtdeutsch und österreichisch auf einen Nenner zu bringen« (E. Weinzierl). Noch stärker als zu Schuschnigg unterhielten die Verantwortlichen (einschließlich Thomas Michels) intensiven Kontakt zum österreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (1892–1934), obgleich er ab März 1933 begonnen hatte, einen autoritären Staat zu etablieren und die Demokratie außer Kraft zu setzen. Wie sehr er die Hochschulwochen schätzte, ging deutlich sichtbar aus seiner Anwesenheit bei ihrer Eröffnung am 22. August 1933 hervor. Im Juli 1934 trat Dollfuß dann auf einer Besprechung im Benediktinerkloster Seitenstetten bei Amstetten in Niederösterreich, an der auch Pater Thomas teilnahm, »mit völlig unkonventionellen Ideen« für die neue Salzburger Universität ein (F. Ortner). Zwei Wochen später, am 25. Juli 1934, wurde er während eines Putschversuches österreichischer Nationalsozialisten im Bundeskanzleramt getötet. Seine Ermordung, so Michels, war der schwerste Schlag nicht nur für Ös169
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terreich und den Frieden in Europa, sondern auch für […] die Bestrebungen, in Salzburg eine Universität zu schaffen. Der Benediktiner war dem Ermordeten so verbunden, dass er als einziges Mitglied der Salzburger Theologischen Fakultät an dessen Beerdigung in Wien teilnahm. Selbstverständlich war es für ihn, am 15. November 1934 zu den Gründern des »Dollfuß-Kreises« in Salzburg zu gehören. Dazu zählten auch der damalige Salzburger Landeshauptmann Franz Rehrl (1890–1947) und sein Bruder Josef (1895–1960), Landeshauptmann von 1947 bis 1949, sowie der Chirurg Erwin Domanig (1898–1985). 1935 widmete Michels »in schönem Latein leicht verklausuliert« (A. Häußling) seine Publikation »Das Heilswerk der Kirche« Bundeskanzler Dollfuß. Thomas Michels hatte ebenfalls dafür gesorgt, dass der aus Deutschland geflohene Philosoph Dietrich von Hildebrand (1889–1977), der bereits 1931 auf den Hochschulwochen gesprochen hatte, mit Dollfuß bekannt wurde. In seiner Zeitschrift »Der christliche Ständestaat«, die ab Ende 1933 in Wien erschien, bekämpfte Hildebrand den Nationalsozialismus und stellte »den achristlichen, apersonalen und rassistischen Kern« dieser Ideologie deutlich heraus (E. Seefried). Michels stand Hildebrand gedanklich nahe, hat aber in seiner Zeitschrift nie publiziert. Nach dem Krieg lud er ihn 1955 noch einmal als Dozenten nach Salzburg ein. Thomas Michels blieb Dollfuß gegenüber bis zuletzt völlig unkritisch und verehrte ihn wie einen Märtyrer. Symptomatisch dafür kann der Umstand gelten, dass er bei seiner Flucht aus Österreich 1938 neben einer Reliquie des heiligen Thomas ein in eine Kapsel eingeschlossenes Stück des blutbefleckten Hemdes des Ermordeten mit der Inschrift »Vom Blute Engelbert Dollfuß« in der inneren Tasche seines Habits trug. Nach seiner Flucht übergab er das Hemd Alwine Dollfuß (1897–1973), der Witwe des Ermordeten, die damals in der Schweiz lebte, bevor sie nach England und später nach Kanada ging. Den Kontakt zu ihr hat Michels sorgfältig gewahrt. Die enge Zusammenarbeit mit den Repräsentanten des Dollfuß-Regimes und deren Unterstützung der Hochschulwochen von 1933 bis 1937 hat Michels nicht geleugnet. Kurz vor Kriegsende stellte er gar Dollfuß und Schuschnigg – Letzterer hatte das NS-Regime in Gefangenschaft überlebt – trotz ihrer diktatorischen Maßnahmen als Vorbilder wegen ihrer »Opfertat für Österreich« heraus (A. Pinwinkler). 4. Ablehnung des Nationalsozialismus Thomas Michels war sich zwar bewusst, wie schwierig die Zukunft Deutschlands nach 1933 werden würde, unterschätzte den Nationalsozialismus in seinem totalitären Anspruch jedoch unübersehbar. In einem 1934 veröffentlichten Rückblick auf die gerade vergangenen Hochschulwochen schrieb er : Das Jahr 1933 hat eine solche Umwälzung aller bisher geltenden Anschauungen und Einrichtungen im Deutschen Reich gebracht, daß wir noch nicht absehen können, was sich aus dieser nationalen Revolution, die fast mehr noch eine soziale und weltanschauliche ist, an bleibenden Werten [ !] herauskristallisieren wird, ins170
Thomas Michels (1892–1979)
besondere wie sich in den »totalen Staat« des Nationalsozialismus eine freie katholische Universität einzugliedern vermöchte. Er blieb immerhin skeptisch genug, um die Bemerkung anzuschließen, in Österreich sei trotz aller inneren Auseinandersetzungen in seinem politischen und kulturellen Leben eine solche Gründung noch eher garantiert. Neu ist sein Hinweis, eine in Salzburg geplante Universität solle ungeachtet ihrer Bedeutung für den gesamten deutschen Katholizismus einen universalen Charakter haben. Dabei hoffte er auf eine zukünftige Einigung mit den christlichen Ostkirchen, die in Salzburg vorbereitet werden könne. Eine Idee, die er weiterverfolgte und deren Scheitern ihn enttäuscht hat. Die vom Nationalsozialismus ausgehenden Gefahren standen Michels ab 1934 deutlich vor Augen. Deshalb nahm er nach der Beerdigung von Dollfuß die Gelegenheit wahr, vor dem von Hitler nach Wien entsandten Franz von Papen (1879–1969) zu warnen. Zu Schuschnigg sei er nicht vorgelassen worden, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg aufzeichnete. Daher habe er sein Anliegen am 29. Juni 1934 dem Bundespräsidenten Wilhelm Miklas (1872–1956) vorgetragen und gesagt, dass Papen, wie er die deutschen Katholiken ans Messer geliefert habe [eine von seinem Bonner Bekannten, dem Dechanten Johannes Hinsenkamp (1870–1949) übernommene Formulierung] so auch die österreichischen Katholiken dahin bringen werde. Miklas entgegnete, er könne von Papen nicht für so schlimm halten. Zudem könne man die von Hitler dargebotene Hand nicht zurückweisen. Als der mit ihm befreundete Musiker, Lyriker und Musikkritiker Wilhelm Eduard Schmid (1893–1934) während des sogenannten »Röhmputsches« am 30. Juni 1934 in der Nähe des Konzentrationslagers Dachau aufgrund einer Namensverwechslung getötet wurde, bezeichnete Michels die Täter in einer österreichischen Zeitschrift unmissverständlich als Mörder. Im August 1934 nannte er Adolf Hitler in der Salzburger Kirchenzeitung ausdrücklich einen absoluten Diktator. 1935 stellte er sich als Referent auf den Hochschulwochen – er sprach über den »Eintritt der Germanen in die christlich-abendländische Kultur- und Völkergemeinschaft« – dezidiert gegen einen Gedanken an ein »Volk« im heutigen rassisch-verengten Sinne. Ein Anflug der strittigen »Reichstheologie« ist bei ihm freilich immer noch zu spüren. In seinem Referat deutete er die Grabstätte Kaiser Karls des Großen (747/48–814) im Aachener Münster mit dem Symbol seines Throns als eine beständige Mahnung an das Abendland und innerhalb des Abendlandes an die einstigen Träger des Imperiums, an die Deutschen, zu denen er selbstverständlich die Österreicher zählte, ihre höchste Aufgabe darin zu sehen, worin Karl d. Gr. sie gesehen habe : im Dienst am Reich Christi. Im gleichen Jahr legte er ein fragmentarisches Konzept eines Katholiken vor, der die große Vergangenheit seines Volkes glühend liebt und in Ehrfurcht vor dem geschichtlich Gewordenen [darin] auch das Heil für die Zukunft des deutschen Volkes verbürgt sah. Sein Wegbegleiter Erik Peterson wusste, was Michels über die Nationalsozialisten dachte. Sie schrieben sich Briefe, die sie im Falle des Bekanntwerdens in Schwierigkeiten gebracht hätten. Peterson und Michels, der eine Vielzahl jüdischer Freunde besaß, fehlte zudem jedes Verständnis für den Antisemitismus. Von ihm war auch 171
Wolfgang Löhr Abb. 2: Heimatschein der Landeshauptstadt Salzburg für Dr. Peter Franz (Pater Thomas) Michels, 30.10.1935
der »Ständestaat« nicht frei, doch zählte er nun zu den Grundpfeilern des nationalsozialistischen Staates. 1932 hatte Peterson auf den Salzburger Hochschulwochen mit drei Vorlesungen über »Die Kirche aus Juden und Heiden« Aufsehen erregt. Ein Jahr später wurden sie in Salzburg in der von Michels betreuten Reihe »Bücherei der Salzburger Hochschulwochen« veröffentlicht. Diese Publikation half bei der Öffnung der katholischen Kirche zum Judentum und gilt als Meilenstein auf dem Weg zu einem gegenseitigen Verständnis. Thomas Michels wird auch nicht die Zurückweisung des nationalsozialistischen Gedankenguts durch seinen Duzfreund Alois Dempf (1891–1982) entgangen sein. Der Philosoph hatte bereits 1933 vor dem Abschluss des Reichskonkordates gewarnt, war an der theologischen Gegenschrift zu Alfred Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« beteiligt und wurde als erwiesener Antifaschist und Gegner Mussolinis bekannt. Die Freundschaft zwischen Michels und Dempf hielt über die Jahrzehnte hinweg. Noch 1963 berichtete Dempf amüsiert von einem Streitgespräch über die Autorität der Kirchenväter, das er mit Michels und Peterson 1932 auf dem Weg durch das nächtliche Salzburg ausgetragen hatte. Thomas Michels’ Ablehnung der NS-Ideologie war den Nationalsozialisten schon vor dem Einmarsch nach Österreich 1938 bekannt geworden. Dem Sicherheitsdienst 172
Thomas Michels (1892–1979)
des Reichsführers SS (SD) galt er als einer der berüchtigtsten Hetzpriester im Umkreis der Salzburger Benediktinerabtei St. Peter. Man warf ihm zudem »seine Kontakte zu bekannten Nazi-Gegnern wie etwa Irene Harand (1900–1975)« (A. Pinwinkler) vor. 1935 war deren als Kampfansage gedachtes Buch »Sein Kampf. Antwort an Hitler« erschienen. Das NS-Regime blieb nicht untätig. Michels wurde die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt, weshalb er am 30. Oktober 1935 die österreichische annahm. Wegen seiner Verdammung des »mörderischen Ungeistes des Hitlertums« (B. Schwarz) verlor er nicht nur seine deutsche Staatsangehörigkeit ; 1940 wurde ihm zudem die Bonner Doktorwürde entzogen. Beides sollte er erst 1967 zurückerhalten. Viele österreichische Bischöfe haben Thomas Michels zu Zeiten des »Ständestaates« und der NS-Herrschaft tief enttäuscht. Dies ist seinen unvollendeten Lebenserinnerungen zu entnehmen. Dem Wiener Erzbischof Theodor Kardinal Innitzer (1875– 1955) warf er vor, die von Franz von Papen ausgehenden Gefahren nicht erkannt zu haben und später mit seiner sudetendeutschen Konnivenz Hitler nicht entschieden genug entgegengetreten zu sein. Er sei alles in allem ein guter, aber schwacher Mann gewesen, ohne große Gesichtspunkte, der geglaubt habe, mit einem freundlichen Lächeln alles machen zu können. Dollfuß habe Innitzer verübelt, dass er weder bei der Signierung des österreichischen Konkordats 1933 noch bei der Verkündigung der Maiverfassung 1934 zugegen gewesen sei. Deshalb habe er versucht, ihn als Kurienkardinal nach Rom abschieben zu lassen. Das Urteil über den Salzburger Erzbischof Sigismund Waitz (1864–1941) fiel noch heftiger aus. Michels hielt ihn für dumm, plump, eitel, für jedes Lob empfänglich, brutal und bereit, jeden niederzuknüppeln, der nicht seiner Ansicht war. 5. Flucht in die USA In der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Um Mitternacht läuteten die Salzburger Glocken, wie Thomas Michels später empört festhielt. Als bekannter Gegner der Nationalsozialisten wusste er, was er zu tun hatte, um der Inhaftierung zu entgehen. Ausgestattet mit zwei Koffern stieg er am Morgen des 12. März um 5 :25 Uhr in Salzburg in einen Zug in Richtung Innsbruck. Von dort reiste er nach Italien. 1945 hat er dieses für ihn traumatische Erlebnis so geschildert : Vor meinen Augen steht die letzte Nacht in Salzburg, die erste unter der Herrschaft der Nazis. Vor der Residenz [dort war das Polizeipräsidium untergebracht] heulen die Haufen im Unisono der Hölle : Heil Hitler ! Nieder mit Schuschnigg, nieder mit dem Erzbischof ! Am Brennerpass wurde er zunächst festgehalten – man soll ihn für den NSkritischen Jesuiten Friedrich Muckermann (1883–1946) gehalten haben –, aber durch wunderbare Fügung wieder freigelassen. Nach einer Zwischenstation im Benediktinerkloster Muri-Gries bei Bozen in Südtirol gelangte er am 18. März 1938 in die Schweiz. Am 14. Mai 1938 besuchte ihn in Luzern Hermann M. Görgen (1908–1994), Historiker und Vertreter einer übernationalen Reichsidee, die sich »als katholische Anti173
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these zum Nationalsozialismus und zu groß- wie gesamtdeutschem Denken« verstand (E. Seefried). Pater Thomas kannte ihn aus Salzburg, wo Görgen ab 1935 lebte. Von hier war dieser nach dem Anschluss Österreichs nach Prag geflohen. Görgen schlug Michels die Gründung einer Zeitschrift mit dem Titel »Österreichisches Archiv für Wissenschaft und Kunst« vor. Neben anderen sollte hier auch der Autor des 1932 erschienenen Romans »Radetzkymarsch«, Joseph Roth (1894–1939), publizieren. Roth hatte eindrucksvoll den Untergang der Donaumonarchie geschildert. Aus der Idee wurde jedoch nichts. Ebenso blieb der Versuch auf der Strecke, für Pater Thomas in der Schweiz eine neue Wirkungsstätte zu finden (etwa an der von den Dominikanern betreuten theologischen Fakultät der Universität Fribourg), weil die offizielle Schweiz, so Michels, zu sehr von der Rücksicht auf die Nazis bewegt war. Aber auch in Rom an der Hochschule seines Ordens oder im niederländischen Nimwegen an der katholischen Universität fand man keinen Platz für ihn. Deshalb blieb nur die Emigration in die Vereinigten Staaten übrig. Am 14. September 1938 reiste er zum Kloster St. Engelbert, wo er sich von seinem Abt Ildefons Herwegen, der extra aus Maria Laach angereist war, verabschiedete. Dieser drängte ihn zur sofortigen Abreise. So bin ich wirklich in Gehorsam gegangen, schrieb Michels später. Am 22. September 1938 begann von Le Havre aus seine Überfahrt nach Amerika. Am 29. September legte die »Manhattan«, an deren Bord er sich befand, im Hafen von New York an. Voller Dankbarkeit pries Michels die USA im Oktober 1938 als das wahre Europa […], wo der überlieferte Glaube unserer Väter noch geehrt, bekannt und gepflegt wird. […] Dort, wo die Geschichte des deutschen Volkes nicht durch willige Professoren und unwissende Literaten entstellt wird. […] Dort, wo nicht für ein mannhaftes Bekenntnis einer anderen Überzeugung Konzentrationslager – diese untilgbare Schmach unseres Jahrhunderts – errichtet werden, sondern jeder in Frieden leben kann. Wie Alexander Pinwinkler angemerkt hat, fiel Michels in den USA (im Gegensatz zu vielen anderen Emigranten) nicht in ein tiefes Loch, da sich seine amerikanischen Ordensbrüder seiner annahmen. Zunächst lebte er in dem zur englischen Benediktinerkongregation zählenden Priorat St. Anselm (Washington, DC). Ab 1942 leitete er die kleine »St. Paul’s Priory« der Beuroner Benediktiner im Exil in Keyport/New Jersey ; ein Priorat, zu dem nur drei Mönche zählten. Am nördlich von New York City gelegenen »Manhattanville College« lehrte er als »Research Professor« Liturgie und Christliches Altertum. Gelegentlich unterrichtete er Geschichte am katholischen »St. Michael’s College« in Colchester, Vermont – dem »Green Mountain State«, der ihn an Österreich erinnerte. Heimweh blieb ihm nicht fremd. In den USA stand er in Berührung mit anderen Emigranten und lernte einflussreiche US-Bürger kennen, nachdem er sich mit der englischen Sprache vertraut gemacht hatte. Zudem wurde er politisch aktiv. So unterstützte er den legitimistischen »Free Austrian National Council« und stand in Verbindung mit dessen Mitgründer, dem Kirchenrechtler Willibald Plöchl (1907–1984). Michels kannte den Hochschullehrer an der »Catholic University of America« (Washington, DC) bereits aus Öster174
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Abb. 3: Thomas Michels auf dem Schiff »SMS Manhattan«, zwischen Le Havre und Southampton, September 1938
reich. 1942 erfuhr er von ihm, dass die Bildung einer österreichischen Exilregierung an den Schwierigkeiten mit Otto von Habsburg (1912–2011) gescheitert war. Diesen besuchte Michels des Öfteren und sprach auch gelegentlich bei seiner Mutter, der Kaiserin Zita (1892–1989), vor. Für ihn selbstverständlich war 1944 die Beteiligung an der Gründung einer österreichischen christlich-sozialen Partei im Exil, die jedoch scheiterte. Obendrein erschien er 1945 unter den Persönlichkeiten, die ein Memorandum für die Wiederherstellung der österreichischen Universitäten vorlegten, »das der österreichischen Regierung« nahelegte, »einen deutlichen personalpolitischen Bruch mit der NS-Zeit herbeizuführen« (A. Pinwinkler). Die Initiative blieb freilich ohne erkennbare Wirkung. 6. Freundschaften in den USA Von den vielen Freundschaften, welche die Biographie von Thomas Michels seit seinem Exil in den USA prägten, seien nur einige genannt : Erwähnt sei die aus Salzburg stammende, 1938 in die Vereinigten Staaten emigrierte Trapp-Familie, die dort als »Trapp-Family-Singers« auftrat. Zu seinen Freunden zählte auch der Schriftsteller Carl Zuckmayer (1896–1977), dessen Stücke »Der Hauptmann von Köpenick« und »Des Teufels General« Nachkriegsgeschichte schrieben. Zu nennen ist auch der zum Kreis um Stefan George (1868–1933) zählende, freilich völlig unorthodoxe Ernst Kantorowicz (1895–1963). Dieser lehrte seit 1939 in Berkeley. 1927 hatte er eine viel 175
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diskutierte Biographie über den mittelalterlichen Kaiser Friedrich II. geschrieben und 1957 als Professor in Princeton mit seinem Buch über die »politische Theologie« des Mittelalters (»The King’s two Bodies«) anhaltendes Aufsehen erregt. Kantorowicz ehrte Michels in dessen Festschrift mit einem Beitrag in englischer Sprache. Nicht zu vergessen ist außerdem der Philosoph, Pädagoge und Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster (1869–1966), dem Michels in New York mehrfach begegnete und bei dem sein Bekannter Görgen Assistent gewesen war. Michels blieb ihm in bewundernder Anhänglichkeit verbunden und hielt ihn für eine geniale Persönlichkeit, wie er in seinen unvollendeten Lebenserinnerungen festhielt. Weiter seien genannt : Die Dirigenten Otto Klemperer (1885–1973), den Michels nach dessen Konversion zum Katholizismus 1919 in Laach getauft hatte, George Szell (1897–1970) und Bruno Walter (1876–1962). Letzterer wurde sogar Mitglied des Beirats des von ihm 1946 geschaffenen Vereins »Friends for the University of Salzburg«. Die Bekanntschaft mit Walter war schon älter. Kurz vor der Eingliederung Österreichs 1938 hatte Walter während eines Gesprächs mit Michels Hitler als den Antichristen bezeichnet und tief erschüttert gemeint : Dahin kommt ein Volk, wenn es die zehn Gebote nicht mehr hält ! Zu den amerikanischen Freunden der Universität Salzburg zählte ebenfalls der damals noch gänzlich unbekannte Senator John F. Kennedy (1917–1963). Thomas Michels hat ihn persönlich kennengelernt und wurde von dessen in Boston lebender Mutter Rose (1890–1995) des Öfteren zu sich eingeladen. 1947 warb der Verein sogar im amerikanischen Repräsentantenhaus durch eine Rede des demokratischen Abgeordneten Aimé J. Forand (1895–1972) für sich. Wie Kennedy war dieser Mitglied des Vereinsbeirats. Forand teilte mit, man würde 80 Studenten und einige Professoren zu den Hochschulwochen nach Salzburg entsenden, »einem vortrefflichen Ort für eine weder in Österreich noch in Deutschland bestehende Universität, die sich christlichen Idealen im Denken und Leben widmen wolle, in einer Zeit, in der die antichristlichen Ideologien Ost-, West- und Südeuropa überschwemmen«. Ferner hatte Michels in New York die »Austrian-American Catholic Association« begründet und den Historiker Friedrich Engel-Jánosi (1881–1973) von einer Teilnahme überzeugt. Der Verein arbeitete eng mit der katholischen Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten zusammen. Deren Vorsitzender, der Erzbischof von New York Francis Spelman (1889–1967), »fürchtete eine sozialistische Dominanz in einem befreiten Österreich«. Weil er glaubte, damit »den christlich-katholischen Charakter Österreichs und Mitteleuropas« erhalten zu können, unterstützte er Vereinigungen wie jene von Pater Thomas (A. Pinwinkler). Dieser war mit ihrer weiteren Entwicklung jedoch nicht einverstanden, weshalb er 1946 vom Vorsitz zurücktrat. Über die Gründe schweigt sich Michels in seinen autobiografischen Aufzeichnungen aus.
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7. Rückkehr nach Salzburg Schon im September 1945 hoffte der Benediktinerpater darauf, bald wieder nach Europa zurückzukehren. Doch er täuschte sich. 1946 stellte er schweren Herzens ein Gesuch zur Einbürgerung in die USA, da nicht feststand, ob er die »St. Paul’s Priory« weiterführen musste. Ildefons Herwegen spielte gar mit dem Gedanken, dorthin weitere sechs bis acht Laacher Mönche zu entsenden. Nachdem mit dessen Tod die Schließung des Priorats feststand, konnte Michels die Heimreise nach Österreich antreten. Am 25. Oktober 1947 kam er endlich, wie er in seinem Notizkalender festhielt, in Salzburg an. Trotz aller anfänglichen Bewunderung waren ihm die USA – ein Land ohne Götter und Tempel, wie er dem Schriftsteller Karl Wolfskehl (1869–1948) am 1. September 1945 geschrieben hatte – fremd geblieben. Der entscheidende Grund für seine Rückkehr nach Salzburg war der plötzliche Tod von Alois Mager, der die Hochschulwochen lange geleitet hatte. Nun sollte Michels die Aufgaben des 1946 verstorbenen Paters übernehmen. Im Nachhinein urteilte er, dass ihm in den folgenden Jahren die meisten Schwierigkeiten erspart geblieben wären, hätte sein Mitbruder länger gelebt. Durch ihre gemeinsamen Bemühungen wäre gar die Katholische Universität […] nicht so leicht aufgegeben worden, wie es 1961 geschehen sei. In Salzburg wurde Pater Thomas längst nicht von allen mit offenen Armen empfangen. So zeigte der Erzabt von St. Peter, Jakob Reimer (1877–1958), »nur wenig Verständnis für die Motive seiner Flucht« (A. Pinwinkler). Noch am 2. April 1950 schrieb er an seinen Mitbruder, die Gestapo habe ihn als Abt für seine Flucht und für seine politischen Verbindungen in der »Systemzeit« verantwortlich gemacht. Er habe mit Mühen »die Drangsal« für sich und die Erzabtei mit dem beständigen Hinweis abwenden können, Michels fiele nicht unter seine Jurisdiktion, sondern nach wie vor unter die des Abts von Maria Laach. Michels entgegnete, er habe keine Alternativen zu einer Flucht gehabt. Trotzdem hat er Erzabt Reimer nichts nachgetragen und mit ihm weitgehend gut zusammengearbeitet. Übrigens hatte auch die Salzburger Theologische Fakultät noch acht Monate vor seiner Rückkehr nach Österreich einen Verbleib in den USA bevorzugt, wo er die »Salzburger Bestrebungen« besser hätte vertreten können (A. Pinwinkler). Auch das könnte ein Hinweis darauf sein, dass er nicht besonders willkommen schien. 1950 wurde Michels zum Leiter (in Österreich : Obmann) der bereits 1945 wiederbelebten Hochschulwochen bestellt – ein Amt, das er bis 1971 ausübte. Zudem übernahm er den Vorsitz des wiedererrichteten »Katholischen Universitätsvereins«. Wie schon in den USA setzte er sich unermüdlich für die Entstehung einer katholischen Universität in Salzburg ein. Zu ihr sollten auch die Hochschulwochen beitragen. Dabei stieß er zunächst auf offene Ohren zahlreicher Politiker der Österreichischen Volkspartei. Die Hochschulwochen blühten auf. Aufgrund seines großen Bekanntenund Freundeskreises gelang es Michels, alle, die Rang und Namen in der katholischen Theologie hatten, nach Salzburg zu holen. Dazu zählten etwa Romano Guardini 177
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(1885–1968), den er schon aus seiner Bonner Zeit kannte, Hans Urs von Balthasar (1905–1988), Otto Karrer (1888–1976), Karl Lehmann (1936–2018), Henri de Lubac (1886–1991), Johann Baptist Metz (geb. 1928), Karl Rahner (1904–1984) und Joseph Ratzinger (geb. 1933). Geschickt verstand er es zudem, in Deutschland viele christdemokratische Politiker und hohe Beamte über die Konfessionsgrenzen hinweg für seine Planungen zu gewinnen und Geldmittel – in Politik wie Wirtschaft – zu akquirieren. Genannt seien nur der Bundesaußenminister Heinrich von Brentano (1904–1964), der 1962 den Festvortrag hielt, ferner der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Franz Meyers (1908–2002) und die nordrhein-westfälischen Kultusminister Werner Schütz (1900–1975) und Paul Mikat (1924–2011) sowie der rheinland-pfälzische Kultusminister Eduard Orth (1902–1968). Mit dem evangelischen Christen Werner Schütz (1900–1975) verstand er sich besonders gut. Auch den nordrhein-westfälischen Kultusminister Paul Luchtenberg (1890–1973), welcher der FDP angehörte, schätzte er. Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) gratulierte ihm zwar zu seinem 75. Geburtstag, hielt aber – was Michels stets wusste – nichts von einer katholischen Universität in Salzburg. 8. Leiter der Salzburger Hochschulwochen »Dieser geistig und leiblich mächtige Mann war sicher für seine Umgebung oft nicht bequem«, urteilte Paul Wolff. In der Tat hielt sich Thomas Michels mit Kritik nur selten zurück und achtete penibel auf Disziplin, die er auch vorlebte. Von den ersten Hochschulwochen 1931 berichtete sein späterer Mitbruder Paulus Gordan (1912– 1999) von einer für Michels typischen Begebenheit : Die in der Abtei St. Peter untergebrachten jungen Leute durften »in den Chorstallen der Mönche« eine »missa recitata« mitfeiern. Michels – »noch jung und schlank« habe dabei als »Geleitengel« der Teilnehmer alle »streng« zurechtgewiesen, die es »gewagt hatten, bei der großen Hitze nur im Oberhemd mit Krawatte, aber ohne Jacke, bei der heiligen Handlung zu erscheinen«. Kontroversen ging Pater Thomas als Verantwortlicher für die Hochschulwochen, die er immer als Forum verstand und »das Katholische sehr weit fasste« (E. Hanisch), nie aus dem Weg. Einige seien herausgegriffen : 1950 bekannte sich Otto Mauer (1907–1973), der Mäzen und Gründer der »Galerie nebst St. Stephan«, mit Verve zur zeitgenössischen Kunst. Ihm widersprach der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr (1896– 1984), der den »Verlust der Mitte« durch die Moderne und die Gegenwartskunst beklagte. Sechs Jahre später überwarf sich Otto Mauer mit Michels und behauptete, man ließe keine Diskussion zu und nehme seine Themata nicht auf. 1955 griff Pater Thomas sogar in die Vorlesung seines alten Freundes Dietrich von Hildebrand ein, weil dieser durch seinen langen Aufenthalt in [den] USA den Problemen der österreichischen und deutschen Jugend fremd geworden sei und sie mit seinen extremen 178
Thomas Michels (1892–1979) Abb. 4: Thomas Michels beim Auszug einer Auftakt veranstaltung der »Salzburger Hochschulwochen«, im Hintergrund links Erzbischof Andreas Rohracher, undatiert
ethischen Forderungen völlig unbefriedigt zurückgelassen habe. Mit diesen Worten sollte er sich später entschuldigen. 1957 machte die Beauftragung Kurt Schuschniggs mit der Festrede auf den Hochschulwochen Schlagzeilen. Die Idee zu der Einladung stammte aber nicht von Michels, wie er betonte, sondern vom Salzburger Landeshauptmann und späteren österreichischen Bundeskanzler Josef Klaus (1910–2001). Dieser habe sich wiederum beim damaligen Bundeskanzler Julius Raab (1891–1964), seinerzeit Handelsminister im letzten Kabinett Schuschnigg, abgesichert. Der Dekan der Theologischen Fakultät Carl Holböck (1905–1984) geriet in höchste Erregung als er den Namen Schuschnigg auf der Einladung las. Ihm sekundierte beinahe die ganze Professorenschaft. Michels musste sich auf der Fakultätssitzung rechtfertigen. Dies habe er, wie er später schrieb, mit sachlicher Entschiedenheit getan. Doch kündigte er nach dem Ende der Hochschulwochen dem Salzburger Erzbischof Ferdinand Rohracher (1882–1976) an, er wolle nach Maria Laach zurückkehren. Dieser bat ihn zu bleiben und ernannte ihn zum »Kurator aller Universitätsbestrebungen« in Salzburg. Die Rede Schuschniggs, in der er die christlich-europäische Universität in wohlgesetzter Sprache zu seinem Thema machte, entsprach den Vorstellungen von Pater Thomas. Widerspruch rief die Tatsache hervor, dass Schuschnigg, der diktatorisch regiert 179
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hatte und der für die Hinrichtung sozialistischer Schutzbündler verantwortlich war, zum ersten Mal wieder »nach 1945 die Gelegenheit« erhielt, »in Österreich öffentlich aufzutreten« (A. Pinwinkler). Die empörte Reaktion einiger sozialistischer und kommunistischer Zeitungen störte Pater Thomas und seine Mitstreiter wenig. Ein Jahr später kam Schuschnigg ein weiteres Mal zu den Hochschulwochen. 1968 erregte sich der Salzburger Erzbischof Andreas Rohracher über die Einladung des Moraltheologen Franz Böckle (1921–1991) als Festredner. Er berief sich auf einen nicht veröffentlichten Beschluss der Österreichischen Bischofskonferenz, diesen in Österreich nicht reden zu lassen. Thomas Michels nahm es gelassen. Dabei war Böckles Rede nicht ohne Brisanz, nicht nur weil er »den Dialog zwischen Wissenschaft und Lehramt betonte«, sondern auch »vor den Gefahren eines sektiererischen Schwärmertums und einer kritiklosen Anpassung warnte« (F. Padinger). Zuvor hatte Michels eine Resolution der Hörerschaft der Hochschulwochen an Papst Paul VI., dessen umstrittene Enzyklika »Humanae vitae« über die christliche Ehe gerade am 29. Juli 1968 veröffentlicht worden war, zu verhindern gewusst und ihre Behandlung in einem wissenschaftlichen Gremium angekündigt. Die Kassation stieß auch bei engen Vertrauten auf Unverständnis. Was Pater Thomas von dem päpstlichen Rundschreiben hielt, verriet er nicht. 1969 lud Pater Thomas den saarländischen Theologen Josef F. Blank (1926–1989) nach Salzburg ein. Er gab seit 1968 den Evangelisch-katholischen Kommentar zum Neuen Testament (EKK) heraus. Seine Vorlesung über den Protest der biblischen Propheten rief lebhafte Auseinandersetzungen unter den Teilnehmern hervor, weil er die Gesellschaftskritik des Alten Testaments »auf die sozialen Probleme der Gegenwart« bezog (F. Padinger). 9. Zum Dialog bereit. Neuerungen Schon früh setzte sich Thomas Michels für einen Dialog der christlichen Konfessionen ein. 1956 entstand zum Beispiel auf den Hochschulwochen eine Arbeitsgemeinschaft »Glaubenstrennung und Glaubenseinigung«. Darin legten der umstrittene und damals noch nicht voll rehabilitierte katholische Ökumeniker Otto Karrer (1888–1976) und der lutherische Theologe Hans Assmussen (1888–1976), der 1945 am Stuttgarter Schuldbekenntnis mitgewirkt hatte, »das Gemeinsame und das Trennende im Glauben taktvoll und dennoch ohne Beschönigung« dar (F. Padinger). Konfessionelle Grenzen liebte Pater Thomas als Leiter der Hochschulwochen bei der Auswahl seiner Dozenten ebenso zu überschreiten wie territoriale oder sprachliche. Unter seiner Leitung kam auch zum ersten Mal eine Frau auf den Hochschulwochen zu Wort : Gertrud von le Fort (1876–1971). Sie las 1951 aus ihren Werken. 1946 war ihr Roman »Der Kranz der Engel« erschienen. In ihm hielt sie mit ihrer Kritik an Teilen der katholischen Kirche, zu der sie 1926 übergetreten war, nicht zurück. Das 180
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Verhältnis der Kirche zur Emanzipation der Frau blieb für sie ein wichtiges Feld. Pater Thomas wird sich bewusst gewesen sein, dass er mit der Einladung einer Frau zu den Hochschulwochen eine Wende einleitete. Vorbehalte gegenüber Frauen waren ihm immer fremd geblieben. Schon 1935 hat er sich im Vorwort seines Buches über das »Heilswerk der Kirche« bei zwei »Nicht-Theologinnen« und »Nicht-Katholikinnen« für ihre Belehrung bedankt (A. Häußling). Gemeint waren die Frauenrechtlerin und liberale Politikerin Gertrud Bäumer (1873–1954), die 1933 ihre politischen Ämter verloren hatte, und die Schriftstellerin Ricarda Huch (1864–1947), die ebenfalls zur »Frauenbewegung« zählte. In ihrer 1934 erschienenen »Deutschen Geschichte« konnte man zwischen den Zeilen eine Ablehnung der nationalsozialistischen Herrschaft herauslesen. Pater Michels lud außerdem Gertrud von le Fort (1876–1971) nach Salzburg ein, weil sie zu dem von ihm geschätzten deutschen literarischen »Renouveau Catholique« gehörte. Zu diesem zählte ebenso Werner Bergengruen (1892–1964), der zweimal bei den Hochschulwochen auftrat. 1958 las mit dem damals recht bekannten Stefan Andres (1906–1970) zum letzten Mal ein Schriftsteller aus seinen Werken bei den Hochschulwochen. Warum diese von Pater Thomas geförderte Besonderheit nicht mehr weitergeführt wurde, muss offenbleiben. Die zukünftige Bedeutung der Christlichen Soziallehre und der Sozialen Marktwirtschaft war Pater Thomas Michels nicht verborgen geblieben. Deshalb sprachen 1950 der Walberberger Dominikaner und Sozialethiker Eberhard Welty (1902–1965), der im »Dritten Reich« einem Kölner Widerstandskreis (»Kölner Kreis«) angehört hatte, sowie 1952 der Jesuit Gustav Grundlach (1882–1962). Dieser beriet damals Pius XII. wie schon zuvor Pius XI. Er hatte an der Enzyklika »Quadragesimo anno« mitgewirkt, auf die sich der »Ständestaat« zu berufen versucht hatte. Neun Jahre später, 1961, kam Alfred Müller-Armack (1901–1978), der Mitbegründer der Sozialen Marktwirtschaft, zu Wort. Pater Thomas setzte damit ein Zeichen für eine stärkere Berücksichtigung ökonomischer Fragen während der Hochschulwochen. 10. Christliches Abendland. Deutsch-französische Aussöhnung 1956 trat Thomas Michels mit einer Denkschrift über die zukünftige Salzburger Universität an die Öffentlichkeit. Sie sollte in Erinnerung an den großen deutschen mittelalterlichen Philosophen und Dominikaner den Namen »Albertus Magnus Universität« tragen nicht mehr gesamtdeutsch, sondern europäisch sein und auf dem Boden der universalen Tradition des christlichen Abendlandes stehen. »Abendland« ist hier nicht als Ausgrenzungsbegriff zu verstehen, sondern als Synonym für ein christliches Europa einschließlich seines Ostens, dem Pater Thomas schon in den 1930er-Jahren große Aufmerksamkeit geschenkt hatte. »Abendland« war eine Absage an jedweden Nationalismus und stand für ihn für das andere Europa : ein Europa, an das er im Exil geglaubt hatte und von dem er annahm, dass es aus der Läuterung so vieler Menschen 181
Wolfgang Löhr Abb. 5: Thomas Michels mit dem französischen Politiker Robert Schuman vor der Hostientaube aus Limoges (1200/1225), undatiert
und der Entsühnung für große Schuld wieder erstehen werde. Für ihn war es eine Hoffnung, von der er nicht lassen wollte und die ihn das oft nicht leichte Geschick in den USA ertragen ließ, so Michels in einem Schreiben an Karl Wolfskehl vom 29. März 1939. Deshalb setzte er sich nach seiner Rückkehr nach Österreich unentwegt für eine baldige europäische Einigung ein. In diesem Zusammenhang ist die Einladung an den von ihm bewunderten ehemaligen französischen Ministerpräsidenten und Außenminister Robert Schuman (1886–1963) zum Festvortrag auf der Akademischen Feier der Hochschulwochen 1956 zu sehen. Mit Genugtuung hielt Pater Thomas dessen Äußerung in Bezug auf die geplante Salzburger katholische und europäische Hochschule fest : Das ist es, was wir für ein Vereintes Europa brauchen. Besonders lag Pater Thomas im Einklang mit Alois Dempf, seinem Freund aus Bonner Tagen, die deutsch-französische Aussöhnung am Herzen. So gestaltete 1952 die »Nouvelle Équipe Internationale«, eine 1947 gegründete Vereinigung christlichdemokratischer Politiker, die zweite Woche der Hochschulwochen und bot Vorlesungen sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache an. Schon früh hatte seine Liebe zu Frankreich und seiner Kultur begonnen : 1928 übertrug er das drei Jahre zuvor erschienene Buch von Jacques (1882–1973) und Raïssa Maritain (1883–1960) »De la vie d’oraison« ins Deutsche. 1931 sprach auf seine Initiative hin Maritain auf den Hochschulwochen ; 1951 kam er ein weiteres Mal. 1957 zeichnete der Erzbischof von Paris Maurice Kardinal Feltin (1883–1975) die Hochschulwochen durch seinen Besuch aus, wie Pater Thomas später erfreut bemerkte. 182
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11. Universitätspläne Die Studentenzahl der neuen Hochschule wurde in Michels’ Denkschrift aus dem Jahr 1956 bewusst klein gehalten. 500 bis 1000 Studenten sollten in Colleges zusammenleben. Das erinnerte an die 1934 in Erwägung gezogene »katholische Gelehrtenschule«, die von Dollfuß begrüßt worden war. Im Memorandum von Pater Thomas findet sich ebenso die schon damals auffällige Betonung der Geisteswissenschaften wieder. Alles in allem schwebte ihm eine private Benediktinerhochschule mit der Rechtsstellung einer staatlichen Universität vor. Das stieß auf wenig Gegenliebe und erwies sich auch im »katholischen Lager« als eine Illusion. Eine andere Lösung war die gleichzeitig diskutierte katholische europäische Universität. Etwa 200 Hochschullehrer wurden weltweit um eine Stellungnahme gebeten. Das Ergebnis blieb für Pater Thomas ernüchternd. Die meisten Befragten zweifelten an der Realisierbarkeit einer solchen Einrichtung. Der Theologe Karl Rahner hielt eine »Weltanschauungsuniversität« sogar für überholt (E. Hanisch). 1958 hatte zudem der Staatswissenschaftler und ÖVPPolitiker Felix Ermacora (1906–1989) in einem Gutachten davon abgeraten, »den bisherigen Weg weiter zu verfolgen« (M. Kaindl-Hönig). Trotz allem bemühte sich Pater Thomas Jahr für Jahr um Geldmittel für die Hochschule. Das Ende seiner Pläne wollte er lange nicht wahrhaben. Wie immer reiste er quer durch Deutschland und sprach an vielen Stellen vor. Besondere Hoffnung machte er sich auf eine Unterstützung der Deutschen Bischofskonferenz, erfuhr aber Anfang 1961, dass die Mehrheit eine katholische Universität in Salzburg ablehnte. Jetzt wurde ihm völlig bewusst, dass seine Bemühungen wegen der Nichteinhaltung versprochener finanzieller Unterstützung, aber auch vieler Intrigen und Ungeschicklichkeiten der Verantwortlichen in Salzburg vergeblich gewesen waren. Viele Voraussetzungen im Menschlichen hätten gefehlt, resümierte er nicht ohne Bitternis. Dabei konnte er sich des Verdachts nicht erwehren, Erzbischof Rohracher habe schon 1959 auf die katholische Universität verzichtet. 12. Wiederbegründung der Universität Salzburg 1962 entschied sich der österreichische Nationalrat für die Gründung einer staatlichen Universität in Salzburg. In Erinnerung an den ersten Hochschulgründer aus dem 17. Jahrhundert erhielt sie den Namen »Paris-Lodron«. 1964 erfolgte zu Pater Thomas’ erklärtem Bedauern die Berufung des Geographen Egon Lendl (1906–1989) zum ersten Rektor. Lendl war bereits 1932 der NSDAP beigetreten. In Salzburg herrschte »mit Erzbischof Rohracher an der Spitze eine Kultur des Verzeihens« vor (E. Hanisch). Davon war Pater Thomas ebenfalls nicht frei, hatte er doch Hans Sedlmayr 1950 auf den Hochschulwochen sprechen lassen, »ein entschiedener Antimoderner, aber auf einem hohen methodischen und analytischen Niveau, ein Hitlerverehrer, aber kein 183
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Rassist« (E. Hanisch). Auch dem Maler Albert Servaes (1883–1966) hat Pater Thomas seine Sympathien für die nationalsozialistische Kulturpolitik in Belgien während des Zweiten Weltkriegs nicht vorgeworfen, als er 1963 und 1965 Laudationes auf diesen hielt. Dabei bedauerte Michels, dass Servaes als Staatenloser in der Schweiz leben musste und nicht nach Hause zurückkehren konnte. Immerhin war es für Pater Thomas eine Genugtuung, dass die Hochschulwochen nach der Gründung einer staatlichen Universität mit ihm als Obmann bestehen und unabhängig blieben. Umso freudiger besorgte er, wie schon zuvor vor allem in Deutschland, die notwendigen finanziellen Mittel. Nach und nach hatte er sich geradezu zur Verkörperung der Hochschulwochen entwickelt. Deren Erhalt und Weiterentwicklung waren ihm zur Berufung geworden. Mit seinem »mächtigen Körper und weißen, kurzgeschnittenen Haaren« (E. Hanisch) blieb er während der Hochschulwochen unübersehbar. Geschickt verstand er es, Menschen anzusprechen, zu begeistern und einmal geknüpfte Verbindungen zu pflegen. Sein gutes Gedächtnis und seine Korres pondenzen halfen ihm dabei, niemanden zu vergessen. Die eigene wissenschaftliche Forschung musste er weitgehend aufgeben. Ihm blieb zu seinem eigenen Bedauern kaum mehr, als sich über die von ihm gelesene Literatur und über Rezensionen in Fachzeitschriften auf dem Laufenden zu halten, ein paar Besprechungen und kleine Beiträge in Zeitschriften zu veröffentlichen und sich als Herausgeber zu betätigen. Dass er bei den Hochschulwochen selbst kaum als Referent in Erscheinung trat, war beabsichtigt : Zuvörderst sah er nämlich seine Aufgabe als deren Spiritus Rector. Allen Zeitströmungen stand er offen gegenüber und scheute keine Diskussionen. Seine Antworten kamen »eindeutig«, ob sie »gelegen oder ungelegen« waren, aus seinem festen katholischen Glauben (P. Wolff ). Er verstand sich immer als einer der Söhne Benedikts ; dies hat er zusätzlich durch das konsequente Tragen des Ordensgewands der Beuroner Benediktinerkongregation dokumentiert. Als Aufgabe seines Ordens sah er bis zuletzt, wie er 1974 in einem Aufsatz schrieb, die Neubildung einer europäischen Geistigkeit. Dazu gehörte die Pflege jener Werte der römischen und griechischen Antike, die in das Leben der Klöster aufgenommen worden waren. Er hielt es außerdem für an der Zeit, sich wieder dem zuzuwenden, was die Ehre und Würde des Ordens in der Geschichte des abendländischen Geistes und der abendländischen Kultur gewesen sei : neben dem Bewusstsein der göttlichen Berufung zum monastischen Leben […] der offene Blick für das, was aus dem universellen Erbe der Vorzeit in die Zukunft hineinwirken könne. Doch war er sich selbst nicht sicher, ob dies gelingen könne. 13. Das »Internationale Forschungszentrum« Salzburg 1961 – noch bevor die staatliche Universität ins Leben trat – entstand in Salzburg als eine Art Ersatz für die gescheiterte katholische Hochschule das vom »Katholischen Universitätsverein« getragene »Internationale Forschungszentrum« mit sieben 184
Thomas Michels (1892–1979)
Instituten. Das Zentrum griff den von Michels liebgewonnen Gedanken auf, sich mit Grundfragen der Wissenschaften zu beschäftigen. Er wurde erster Präsident der neuen Einrichtung, sicherte sie finanziell ab und gewann bedeutende Persönlichkeiten für seine Sache. Bis 1977 stand er an der Spitze des Forschungszentrums. 1964 übernahm auf seine Veranlassung hin die Historikerin Erika Weinzierl (1925–2014) die Leitung des Instituts für kirchliche Zeitgeschichte. Sie bezeichnete sich selbst als »Linkskatholikin« und befasste sich intensiv mit der Haltung des österreichischen Episkopats während der NS-Zeit. Pater Thomas war sie von seinem Freund Friedrich Engel-Jánosi, ihrem akademischen Lehrer, empfohlen worden. Mit ihr – sie saß zeitweise auch im Direktorium der Hochschulwochen – war Michels nicht immer im Einklang ; dennoch stellte er nie ihre wissenschaftliche Kompetenz in Frage. Bei den vom Forschungszentrum veranstalteten »Forschungsgesprächen« bemühte sich Michels um ein weites Spektrum. Die Referenten mussten in keiner Weise seine Meinung vertreten. So sprach etwa der Staatsrechtler Hans Kelsen (1881–1973), einer der Väter der österreichischen Bundesverfassung von 1920. Er hatte sich kritisch mit der »Politischen Theologie« Carls Schmitts auseinandergesetzt und die »Reine Rechtslehre« entwickelt. Sie stellte einen viel diskutierten Versuch dar, »eine methodisch saubere, bloß intellektuelle und damit ›wissenschaftlicheʻ Betrachtung des positiven Rechts zu begründen« (W. Schild). Zu nennen ist ferner der Kelsen-Schüler Eric Voegelin (1901–1985), der zunächst den »Ständestaat« unterstützt hatte, sich dann aber davon distanzierte, in den USA die »New Science of Politics« begründete und sich mit der »politischen Religion« befasste, um totalitäre Herrschaftssysteme zu analysieren. Von seinem 1964 gehaltenen Vortrag über die Zeit in der Geschichte in verschiedenen Perioden und Ländern war Pater Thomas begeistert (Großartiger Aufriss). Ein Referat des marxistischen Philosophen Ernst Bloch (1885–1977), der ebenfalls 1964 sprach, hielt er zwar für klug und gut ; dennoch widersprach er ihm in der Diskussion und versuchte, Bloch unberechtigte und unbefugte Verwendung christlicher Begriffe und Worte für seine […] Anschauungen nachzuweisen. In guter Erinnerung blieb ihm die 1973 ausgesprochene Verleihung der Ehrenmitgliedschaft am Salzburger Internationalen Zentrum an den Ökumeniker und ehemaligen evangelischen Bischof Wilhelm Stählin (1883–1975). Dieser hatte dort Vorlesungen und Vorträge gehalten. 14. Politische Enttäuschungen Politische Enttäuschungen blieben Pater Thomas nach seiner Rückkehr nach Österreich nicht erspart. Er spürte deutlich »das Weiterwirken nationalsozialistischen Ungeists in der österreichischen Gesellschaft der Nachkriegsjahrzehnte« (A. Pinwinkler). Besonders schmerzte ihn das Schicksal seines Freundes Egon Wellesz (1885–1974), Komponist und Musikwissenschaftler aus Wien, den er aus der legitimistischen Bewe185
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gung im Vorkriegs-Österreich kannte. Wellesz war wegen der nationalsozialistischen Judenverfolgung 1938 nach England emigriert, wo er seitdem lebte. Pater Thomas setzte sich für ihn beim Wiener Unterrichtsministerium ein, um einen Rückruf nach Österreich zu erreichen. Gegen das »offenkundige Desinteresse, welches das offizielle Österreich exilierten Landsleuten entgegenbrachte« (A. Pinwinkler), kam er trotz aller guten Beziehungen nicht an. Dabei mögen vielleicht auch Vorbehalte wegen seiner Unterstützung des Dollfuß-Regimes und seine politisch-konservative Überzeugung eine Rolle gespielt haben. Symptomatisch für Letzteres ist die zusammen mit dem aus dem Exil in Kolumbien heimgekehrten Thomas Chaimowicz (1924–2002) gegründete Gesellschaft zur Erforschung der Werke des britischen Staatstheoretikers und Politikers Edmund Burke (1727–1797). 15. Intensive Pflege von Kontakten Pater Thomas war ein unermüdlicher Briefeschreiber. Zuweilen sah er darin auch so etwas wie eine erweiterte Seelsorge. Eine bemerkenswerte Korrespondenz hat er mit dem im neuseeländischen Exil verharrenden, schon mehrfach erwähnten deutschjüdischen Schriftsteller Karl Wolfskehl von 1938 bis 1946 geführt. Hier berichtete er sehr offen auch von sich selbst. Die beiden hatten sich bei dem 1934 ermordeten Musikkritiker und Lyriker Willi Schmid kennengelernt. Wolfskehl fühlte sich von Thomas Michels im Gegensatz zu anderen verstanden, wofür er ihm ausdrücklich dankbar war. Auf seine Heimatverbundenheit weist Pater Thomas’ Briefwechsel mit seinem Krefelder Landsmann, dem Maler und Bühnenbildner Fritz Huhnen (1895–1981), hin. Darin berichtet er von seiner Schulzeit und seinen Lehrern, von Schulkameraden, darunter dem Dirigenten Rudolf Mengelberg (1892–1959), bedankt sich für Zusendungen und Glückwünsche, lädt ihn nach Salzburg und Maria Laach ein und schildert Eindrücke von Besuchen in seiner Heimatstadt. Diese machte ihm 1967 mit der Verleihung der Stadtplakette eine besondere Freude. Die Bundesrepublik Deutschland ehrte ihn 1968 mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern. Im gleichen Jahr würdigte ihn die Universität Salzburg mit der Ernennung zum Ehrensenator. Die Republik Österreich zeichnete ihn mit dem Kreuz für Wissenschaft und Kunst aus. Obendrein war er 1963 mit der schon erwähnten, weit mehr als 700 Seiten umfassenden Festschrift mit dem bezeichnenden Titel »Perennitas« (Beständigkeit) geehrt worden. In deren »Tabula gratulatoria« hatten sich mehr als 280 Personen aus elf Ländern eintragen lassen ; 46 Autoren ehrten den Jubilar mit einem eigenen Beitrag. Das ist außergewöhnlich und spricht für eine besondere Hochachtung, wie sie selten jemand erwirbt. Von seinen musischen Neigungen zeugen nicht nur seine Freundschaften mit Künstlern sowie der regelmäßige Besuch der Salzburger Festspiele und des Salzburger 186
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Abb. 6: Thomas Michels mit dem Galeristen Friedrich Welz (Mitte) und dem Maler, Grafiker und Schriftsteller Oskar Kokoschka, 1953
Landestheaters, sondern auch die Fortsetzung der von Franz Xaver Münch übernommenen »spezifisch kulturell-künstlerischen Note« der Salzburger Hochschulwochen (B. Schwarz). Deshalb wurde für die Hochschulwochen von 1953 das Generalthema »Der Gegenwartsauftrag der christlich-abendländischen Kunst« gewählt. Dabei wurde nicht nur deren Theorie behandelt, sondern auch Künstler und ein noch umstrittener Architekt ergriffen das Wort : der Maler Richard Seewald (1889–1976), der damals gerade wiederentdeckt wurde, der Komponist und Chorleiter Johann Baptist Hilber (1891–1973) und der Komponist und Linzer Domkapellmeister Josef Kronsteiner (1910–1988) – beide keine »Neutöner«. Der Architekt und Städteplaner Rudolf Schwarz (1897–1961) hingegen galt wegen der 1930 fertiggestellten Fronleichnamskirche in Aachen immer noch als Revolutionär. In Salzburg fragte er, ob der moderne Kirchenbau »dem Bauern seine Tenne und dem Arbeiter seinen Fabrikraum« wiederholen solle oder nicht. Wie zu erwarten löste Schwarz damit eine heftige Debatte aus. Als Ergänzung zu den Vorlesungen von 1953 zeigte die Salzburger Galerie Welz Werke moderner Kunst. Von der Eröffnung hat sich eine Fotografie erhalten, die Pater Thomas mit dem expressionistischen Maler und Grafiker Oskar Kokoschka (1886– 1980) zeigt, der im gleichen Jahr in Salzburg die »Schule des Sehens« gegründet hatte. Besonders schätzte Michels auch den bereits genannten flämischen Expressionisten Albert Servaes. Sein 1919 geschaffener Kreuzweg für die Kirche von Luithagen bei Antwerpen war wegen ihrer brutalen Darstellung der Leiden Christi von vielen heftig abgelehnt worden. In seiner 1963 auf ihn gehaltenen Laudatio bemerkte Pater 187
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Thomas : Auch die sichtbare Kirche unterliegt in ihrer Hierarchie und in ihren Gläubigen menschlichen, zeitbedingten Entwicklungen. Weiter fragte er, ob der bildhaften Darstellung versagt sein sollte, was dem gesprochenen Wort der Schrift und der Liturgie gestattet sei. Servaes war für ihn in Anlehnung an den evangelische Theologen Walter Nigg (1903–1988) ein Maler des Ewigen. Pater Thomas beteiligte sich obendrein an dem Zustandekommen der Salzburger Biennale für Christliche Kunst, die 1956 begann und im Oratorium des Salzburger Domes Kunstwerke ausstellte. Dazu zählten Plastiken seines rheinischen Landsmanns Ewald Mataré (1887–1965), der ihm gut bekannt war und eine der drei Bronzetüren für den Salzburger Dom geschaffen hatte, sowie Gemälde Alfred Menassiers (1911– 1993) und Georges Rouaults (1871–1958). Pater Thomas, dessen Interesse für die moderne Kunst schon während seines Studiums in Münster geweckt worden war, organisierte und besuchte nicht nur Ausstellungen. Er regte auch Kunst an und entwarf etwa die ikonographischen Programme der Domtüren in Salzburg 1958 und in Speyer 1971 für den befreundeten Bildhauer Toni Schneider-Manzell (1911–1996). Ihn inspirierte er zudem theologisch. Michels schätzte die Expressionisten und bevorzugte die gemäßigte Moderne, hatte aber Zugang zur nichtfigurativen Kunst ; sonst hätte er nicht Werke Alfred Menassiers zeigen lassen, der zu den Abstrakten der »Nouvelle École de Paris« gerechnet wird. Viele Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur, die mit Pater Thomas verbunden waren, sind bereits genannt worden. Hier seien noch einige nachgetragen, um den Kreis zu schließen : der Dirigent Eugen Jochum (1902–1987) und der Komponist Carl Orff (1895–1982), den er nachweislich beriet. Zu nennen sind aber auch die Architekten Clemens Holzmeister (1886–1983) und Hans Schwippert (1899–1973) sowie die Schauspielerin und Schriftstellerin Johanna von Koczian (geb. 1933). 16. Lebensende Am 13. Januar 1979 starb Thomas Michels nach längerer Krankheit und ging »in Freude und Hoffnung Christus, dem wahren König, entgegen«, wie es in seinem Totenzettel heißt. »Die Hoffnung«, so sein Mitbruder Emmanuel von Severus (1908–1997), »war das Geheimnis der Freude, die P. Thomas ausstrahlte und die so viele Freunde und Verehrer anzog, nicht zuletzt die vielen Kinder, denen er in seinem priesterlichen Wirken die Taufe spendete«. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Friedhof des Benediktinerinnenklosters auf dem Salzburger Nonnberg, das ihm während seiner Salzburger Jahre seit 1957 ein Zuhause geworden war und in dem er morgens die heilige Messe las. Sein Grabmal schuf Toni Schneider-Manzell. In Salzburg ist ein Studentenheim nach ihm benannt. 2016 wurde ihm in Salzburg eine Ausstellung gewidmet, in der seine Zeit in den USA und im Salzburg der Nachkriegszeit im Mittelpunkt stand. 188
Thomas Michels (1892–1979)
Werke (Auswahl) Die Liturgie im Lichte der kirchlichen Gemeinschaftsidee, in : Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 1 (1921), S. 109–121, Wiederabdruck in : Norbert Brox/Ansgar Paus, Sarmenta. Gesammelte Schriften von Thomas Michels, Münster 1972, S. 130–137 ; Die heiligen Sakramente, in : Die Betende Kirche 1 (1924), S. 330–407 ; Heilige Ordnung, in : Die betende Kirche 2 (1926), S. 106–156 ; Das Glied der Kirche, in : ebd., S. 157–178 ; Das Frühjahrssymbol in österlicher Liturgie. Rede und Dichtung des christlichen Altertums, in : Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 6 (1926), S. 1–15, Wiederabdruck in : Brox/Paus, S. 1–15 ; Beiträge zur Geschichte des Bischofsweihetages im christlichen Altertum und Mittelalter (Liturgische Forschungen 10), Münster 1927 ; Heilige Gabe. Begleittexte zum Offertorium aus dem Antiphonar der römischen Kirche (Übersetzung und Kommentar mit A. Wintersig), Berlin 1927 ; Zeno von Verona – Österliche Ansprachen (Übersetzung und Kommentar), Berlin 1927 ; Jacques und Raïssa Maritain, Vom Leben des Gebets (Übersetzung), Augsburg 1928 ; Christus entgegen. Drei Ansprachen zum Fest der heiligen Scholastika, Klosterneuburg 1934 ; Cyprian, Das Gebet des Herrn (Übersetzung), Klosterneuburg 1935 ; Das Heilswerk der Kirche. Ein Beitrag zu einer Theologie der Geschichte, Salzburg 1935 ; Der Eintritt der Germanen in die christlich-abendländische Völker- und Kulturgemeinschaft, in : Die fünften Salzburger Hochschulwochen vom 6.–25. August 1935, Salzburg 1935, S. 105–115 ; Hoheit und Würde der Herrschaft, in : Zeitschrift für Kultur und Politik 1 (1936), S. 389–397 ; Das Gottesgnadentum. Ursprung und wahre Bedeutung, in : Nachrichtenblatt des alten Ritterordens von St. Georg 39 (1936), S. 322–336 ; Die göttliche Gabe der Vollkommenheit, Innsbruck u. a. 1938 ; Blessed Mysteries. Liturgical Prayers by Serapion of Thmuis (Übersetzung), Keyport 1945 ; Mysterium des neuen Lebens. Homilien des hl. Augustinus zum Paschamysterium, Salzburg 1952 ; Anfang des Jahres. Liturgische Texte von Advent bis Pfingsten, Münster 1952 ; Mysterien Christi. Frühchristliche Hymnen aus dem Griechischen übertragen, Münster 1952 ; Gregor von Nazianz. Sechs geistliche Reden zu den Hochtagen der Kirche (Übersetzung und Kommentar), Düsseldorf 1956 ; Die Dornenkrönung als Triumph Christi, in : Getrude Gsodam (Hg.), Festschrift für W. Sas-Zaloziecky zum 60. Geburtstag, Graz 1956, S. 119–124, Wiederabdruck, in : Brox/Paus, S. 217–224 ; Zeitloses Mönchtum in unserer Zeit, in : Österreichisches Klerusblatt 18/19, S. 193–195, Wiederabdruck in : Brox/Paus, S. 208–216 ; Parabeln Christi, Hamburg 1959 ; Caristia, Maria Laach u. a. 1963 ; Der Maler des Ewigen. Laudatio zum 80. Geburtstag von Albert Servaes in Luzern am 20. April 1963, in : Thomas Michels (Hg.), Laudes Europaeae. Europäer wurden geehrt, Salzburg 1979, S. 107–118 ; Erinnerungen an die Besetzung Österreichs 1938, in : Rheinischer Merkur vom 15. März 1968 ; Die Dimension des Prophetischen in der Liturgie und die Geschichtlichkeit der Theologie, in : Thomas Michels (Hg.), Neuntes Forschungsgespräch, Salzburg 1979, S. 97–108, Wiederabdruck in : Brox/Paus, S. 43–55 ; Erinnerung an den 30. Juni 1934, in : Rheinischer Merkur vom 28. Juni 1974 ; Die Benediktinerregel als Faktor christlich-europäischer Geistigkeit, in : Städtisches Museum Mönchengladbach (Hg.), Die Abtei Gladbach 974–1802. Ausstellung zur Jahrtausendfeier der Gründung, Mönchengladbach 1974, S. 15–20 ; Reich Gottes. Kirche. Civitas Dei (Forschungsgespräche des Internationalen Forschungszentrums Salzburg 16), Salzburg u. a. 1980.
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Quellen Der noch unverzeichnete schriftliche Nachlass befindet sich im Archiv des Klosters Maria Laach. Er besteht aus mehreren Tausend Briefen, ferner Zeitungsausschnitten, Fotos, Notizbüchern und bis 1972 reichende autobiografische Ausarbeitungen und Datensammlungen. Wegen der Beschlagnahme seiner Unterlagen durch die Gestapo 1938 ist aus der Zeit des »Ständestaats« vieles vernichtet worden. Literatur Marcel Albert, Die Benediktinerabtei Maria Laach und der Nationalsozialismus (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 95), Paderborn u. a. 2004 ; Cornelia Blasberg (Hg.), Karl Wolfskehls Briefwechsel 1938–1948 (Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Sprache und Dichtung, Bd. 1), 2. Aufl., Darmstadt 1988 ; Wilhelm Blum, Michels, Thomas, in : Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 14, Herzberg 1998, Sp. 1260–1263 ; Chronik der Abtei Maria Laach 1979, S. 12–17 ; Alois Dempf, Die Autorität der Väter, in : Hugo Rahner/Emmanuel von Severus (Hgg), Perennitas. Beiträge zur Geschichte der Christlichen Archäologie und der Kunst, zur Geschichte der Literatur, der Liturgie und des Mönchtums sowie zur Philosophie des Rechts und zur politischen Philosophie. P. Thomas Michels zum 70. Geburtstag, Münster 1963, S. 8–10 ; Paulus Gordan (Hg.), Christliche Weltdeutung. Salzburger Hochschulwochen 1931–1981, Kevelaer u. a. 1981 ; ders., Zum Geleit, in : Gordan, Christliche Weltdeutung, S. 17–21 ; Ernst Hanisch, Die Wiedererrichtung der Universität 1962 im historischen Kontext, in : Reinhold Reith (Hg.), Die Paris Lodron Universität, Salzburg 2012, S. 80–88 ; Gottfried Hasenkamp, Epilog, in : Rahner/Severus, S. 724–734 ; Angelus A. Häußling, »Michels, Thomas«, in : Neue Deutsche Biographie, Bd. 17, Berlin 1994, S. 452–453 ; ders., Thomas Michels OSB (1892–1979), in : Benedikt Kranemannn/Klaus Raschzok (Hgg.), Gottesdienst als Feld theologischer Wissenschaft im 20. Jahrhundert : deutschsprachige Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert in Einzelporträts, Band I/II (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 98), Münster 2011, S. 761–766 ; Max Kaindl-Hönig, Die Salzburger Universität im Ablauf der Jahrhunderte, in : Ders. (Hg.), Die Salzburger Universität 1622–1964, Salzburg 1964, S. 11– 108 ; Wolfgang Löhr, Ein Krefelder in Österreich. Zum Gedenken an P. Thomas Michels OSB (1892–1979), in : Die Heimat 88 (2017), S. 194–201 ; Barbara Nichtweiss, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, 2. Aufl., Freiburg i. Br. u. a. 1992 ; Franz Ortner, Die Universität in Salzburg. Die dramatischen Bemühungen um ihre Wiedererrichtung (1810–1962), Salzburg 1987 ; Franz Padinger, Geschichte der Salzburger Hochschulwochen, in : Gordan, Christliche Weltdeutung, S. 23–58 ; Alexander Pinwinkler, Thomas Michels. Flucht, Exil und Remigration. Ein Lebensbild im Kontext politischer Umbrüche, in : Salzburg. Geschichte und Politik. Mitteilungen der Dr. Hans Lechner Forschungsgesellschaft 26 (2016), S. 32–58 ; ders., An American Catholic Mission in America. P. Thomas Michels OSB (1892–1979) and the Legitimist Movement in the United States and the Early Second Republic, in : Günter Bischof (Hg.), Quiet Invaders Revisited, Innsbruck u. a. 2017, S. 259–276 ; Wolfgang Schild, Kelsen, in : Staatslexikon, Bd. 3, 7. Aufl., Freiburg i. Br. 1987. Sp. 378–380 ; Balduin Schwarz, Erinnerungen an die frühen Jahre der Salzburger Hochschulwochen, in : Gordan, Christliche Weltdeutung, S. 89–98 ; Em-
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Thomas Michels (1892–1979)
manuel von Severus, »Herwegen, Ildefons«, in : Neue Deutsche Biographie, Bd. 8, Berlin 1969, S. 723 ; ders., Thomas Michels zum Gedenken, in : Thomas Michels (Hg.), Laudes Europaeae. Europäer wurden geehrt, Salzburg 1979, S. 9–14 ; Erika Weinzierl, Die Salzburger Hochschulwochen 1931–1937 und die Bestrebungen zur Errichtung einer Katholischen Universität in Salzburg, in : Thomas Michels (Hg.), Heuresis. Festschrift für Andreas Rohracher. 25 Jahre Erzbischof von Salzburg, Salzburg 1969, S. 338–362 ; Paul Wolff, Von den Vätern der Hochschulwochen, in : Gordan, Christliche Weltdeutung, S. 79–88. Online Website des an der Universität Salzburg beheimateten Forschungsprojektes »Thomas M ichels. Mönch, Gelehrter, Politiker«, abgerufen unter : http://www.thomasmichels.at (Stand : 22.2.2019).
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Joseph Breitbach (1903–1980) Schriftsteller
Joseph Breitbach zählt zu den großen Literaten des 20. Jahrhunderts, die ihr Werk in den Dienst der deutsch-französischen Annäherung stellten. Dabei fühlte er sich Deutschland und seiner rheinischen Heimat verpflichtet. Auch in seinem literarischen Schaffen kam diese Verbundenheit mit dem Rheinland zum Ausdruck. In seiner Wahlheimat Paris wurde der durch Erbschaft zu Wohlstand gelangte Breitbach zu einer Anlaufstelle – ja, gar zu einer gesellschaftlichen Schnittstelle –, in der sich Intel lektuelle unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung wohlfühlten. Sein » Salon« entwickelte eine atemberaubende Anziehungskraft. Er avancierte nach Heimo Schwilk zu einem »der bekanntesten Salons der Stadt« ; Breitbach war schließlich »in ein weitreichendes Beziehungsgeflecht eingesponnen«. Neben dem Rheinland und Paris wurde die Stadt München seine dritte große Liebe und chronologisch letzte Anlaufstation. Breitbachs Aufenthalte in Paris und München wechselten sich in seinem letzten Lebensabschnitt ab. Sein beachtliches literarisches Schaffen wird nicht zuletzt gewürdigt durch den seit 1998 von der Stiftung Joseph Breitbach sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz verliehenen Joseph-Breitbach-Preis für deutschsprachige Schriftsteller. Diese Preisvergabe hatte Breitbach nach einem Herzinfarkt im Sommer 1968 in seinem Testament verfügt. Zur Höhe des Preisgeldes heißt es im Reglement : Die Höhe des Preises wird sich nach den jeweiligen Ertragsverhältnissen der Stiftung richten und kann daher variieren. Demzufolge wird das Preisgeld jedes Jahr vom Stiftungsrat neu fixiert. Seit 2003 ist die Stadt Koblenz der Ort der jährlichen Preisverleihung. Breitbachs Elternhaus in (Koblenz-)Ehrenbreitstein, in dem heute das »Rhein-Museum« untergebracht ist, ziert eine Gedenktafel. Am Eingang des Museums befindet sich eine Bronzebüste des Literaten. Eine schmale Gasse gegenüber der ehemaligen Volks- und späteren Grundschule trägt seinen Namen (»Joseph-Breitbach-Straße«). 1. Leben Joseph Breitbach wurde am 20. September 1903 als zweites von vier Kindern des Volksschullehrers Johann Breitbach und dessen Ehefrau Charlotte in der ehemaligen kurtrierischen Residenzstadt Ehrenbreitstein (heute Koblenz-Ehrenbreitstein) geboren. Neben den Eltern übte vor allem der Großvater mütterlicherseits, der Königliche 193
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Abb. 1: Joseph Breitbach an seinem Schreibtisch, 1975 Abb. 2: Joseph Breitbach, Büste, Foto : Rhein-Museum e. V., 2016
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Joseph Breitbach (1903–1980)
Revierförster von Aremberg (Eifel) Peter Joseph Saleck, einen prägenden Einfluss auf den jungen Breitbach aus, der regelmäßig seine Sommerferien in Aremberg verbrachte. In seiner Heimatstadt Ehrenbreitstein lernte Breitbach den aus einer großbürgerlichen Trierer Familie stammenden Maler Alexander Mohr (1892–1974) kennen. Es entwickelten sich eine intensive Freundschaft und ein reger Briefwechsel zwischen den beiden. Mohr hatte sein Atelier und auch seine offizielle Postadresse im linksrheinischen Koblenz, im Haus seiner Eltern, wenngleich er bereits im Jahr 1922 mit seiner Familie zurück nach Trier ging. Zeitlebens sollte Breitbach der gemeinsamen Zeit in Ehrenbreitstein und Koblenz nachtrauern. Allerdings traf man sich auch in Mohrs Trierer Elternhaus noch häufiger zum Teetrinken. Ein verbindendes Element zwischen Breitbach und Mohr war die Tatsache, dass beide (zeitversetzt) das Königliche Kaiserin-Augusta-Gymnasium besuchten. Auf dem nachmaligen Görres-Gymnasium genossen sie eine umfassende humanistische Bildung. Darüber hinaus teilten sie eine Affinität zur französischen Kultur. Mohr war es auch, der den etliche Jahre jüngeren Breitbach auf den französischen Schriftsteller Marcel Proust (1871–1922) aufmerksam machte. Eine weitere Person, die in Breitbach Interesse für Frankreich zu wecken verstand, war seine Klavierlehrerin Emilie Merz. An die Stelle des Klavierunterrichts trat häufig die Beschäftigung mit der Sprache und der Kultur des westlichen Nachbarstaates, insbesondere mit Literatur und Lyrik. Die französischen Versuche zur kulturellen Durchdringung des besetzten rheinischen Gebietes nach dem Ersten Weltkrieg, die sogenannte »Pénétration pacifique«, lehnte Breitbach indes ab. Ein Jahr vor der Reifeprüfung, im Jahr 1921, verließ Breitbach das Gymnasium, um bis April 1924 bei der »Rheinischen Rundschau« Sportteil und Literaturbeilage zu leiten. Die Koblenzer Tageszeitung stand der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) nahe. Ein Kaufhaus – jene neuartige Betriebsform des Einzelhandels, die erst wenige Jahre zuvor ihren Siegeszug durch Europa angetreten hatte – war Breitbachs nächste Arbeitsstätte : Im Sommer des Jahres 1924 begann er eine Ausbildung in der Buch- und Musikalienabteilung des Koblenzer Kaufhauses Leonhard Tietz (dem späteren »Kaufhof«). Im Folgejahr avancierte er zum Leiter der Buchabteilung des Augsburger Kaufhauses Landauer. Zu dieser Zeit entwickelte Breitbach Sympathien für den Kommunismus, von dem er sich um 1929 wieder abwandte, nachdem er sich intensiv mit den Lehren des Marxismus beschäftigt hatte. Breitbach selbst sagte später von sich, er sei mit dem Herzen in die Partei eingetreten, um mit dem Verstand wieder auszutreten. Sein erster, 1929 bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschienener Band mit den Erzählungen »Rot gegen Rot« schildert Breitbachs eigene Arbeitswelt. Während die Literaturkritik positiv reagierte und Hermann Kesten (1900–1996) Breitbach zum Gustav Kiepenheuer Verlag nach Berlin holte, sah sich der in Stuttgart ansässige Landauer-Konzern gezwungen, Breitbach zu entlassen. Die realitätsnahe Schilderung der Arbeitsbedingungen in einem Kaufhaus war dem jungen Autor zum Verhängnis geworden. Seit 1929 lebte Breitbach vornehmlich in Paris, wo er sich 1931 dauerhaft niederließ, stets bemüht um eine kulturelle Annäherung zwischen den »Erbfeinden« 195
Martin Schlemmer Abb. 3: Joseph Breitbach, Porträtfoto, 1926 oder 1927
Deutschland und Frankreich. Wie Helmuth Kiesel hervorhebt, sollte sich dies auch nach 1933 nicht ändern : »Zum Mißvergnügen mancher Exulanten setzte Breitbach diese Bemühungen […] fort, weil seiner Meinung nach die in Deutschland verbliebenen Autoren weder automatisch mit dem Nationalsozialismus identifiziert noch dem Nationalsozialismus zugetrieben werden sollten.« Aus diesem Grunde nahm er etwa Kontakt mit Ernst Jünger (1895–1998) auf, der ihn vor Kriegsbeginn noch zweimal in Paris besuchen sollte. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 traf Breitbach in dreifacher Hinsicht schwer : weltanschaulich, künstlerisch und ökonomisch. Seine Schriften wurden verboten, seine Partizipation am Diskurs der deutschsprachigen respektive der in Deutschland verbliebenen Kulturschaffenden brach abrupt ab. Breitbach prägte – bereits deutlich vor Hitlers Machtübernahme – die Parole : Hitler c’est la guerre. Im Jahr 1937 gab Breitbach seine deutsche Staatsangehörigkeit auf und blieb in der Folgezeit staatenlos. Dennoch wurde er zu Kriegsbeginn in einem Lager für Ausländer interniert, bis er sich Ende November 1939 freiwillig zur Fremdenlegion meldete. Zu Beginn des Jahres 1940 entsandte der französische Militärische Nachrichtendienst Breitbach in die Schweiz. Nach einer Zwischenstation in Marseille im September 1940 lebte er seit 1941, von Freunden versteckt und mit einem gefälsch196
Joseph Breitbach (1903–1980) Abb. 4: Joseph Breitbach beim Reiten, 1933
ten französischen Pass ausgestattet, unter dem Pseudonym »Brion« in Südwestfrankreich. Sein Pariser Besitz wurde indessen von der deutschen Besatzung beschlagnahmt. Zweimal konnte er sich der Festnahme durch deutsche Stellen nur knapp entziehen. Einmal wurde Breitbach von einem aus Koblenz stammenden Deutschen erkannt. Nach dem Ende der deutschen Besetzung und der NS-Herrschaft über Paris erhielt er im Jahr 1945 schließlich die französische Staatsangehörigkeit. Joseph Breitbach kann als ausgesprochen geselliger und kontaktfreudiger Mensch betrachtet werden. Von Freunden und Bekannten wurde er häufig »José« genannt ; Jean Schlumberger (1877–1968) bezeichnete ihn in seinen Briefen in der Regel als »Spatz«. Seinem Naturell kam die Atmosphäre entgegen, die der homosexuelle Breitbach in der Weltstadt Paris vorfand. Diese Situation lässt sich mit derjenigen vergleichen, die Didier Eribon in seiner autobiografischen Erzählung »Rückkehr nach Reims« schildert. Eribon spricht von »der typischen Entwicklung eines jungen Schwulen, der sich in der Großstadt in neue gesellschaftliche Netzwerke begibt, der sein eigenes Schwulsein zusammen mit einer ganzen schwulen ›Welt‹ entdeckt und sich selbst nach ihr formt«. Viele namhafte Intellektuelle zählten zu Breitbachs Bekannten- und Freundeskreis, darunter nicht nur Literaten wie der Kreis um das französische Zentrum der neuen Literatur, die »Nouvelle Revue Française« (NRF). Zu finden waren auch Politiker, Un197
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ternehmer, Wissenschaftler und Künstler, die sich nicht der Literatur verschrieben hatten. Auf seiner USA-Reise im Jahr 1963 traf er beispielsweise mit Salvador Dalí (1904–1989) zusammen. Mit dem lothringischen Journalisten und NS-Gegner Paul Ravoux (1898–1957), der bis zu seiner Emigration nach Paris im Jahr 1937 in Berlin eine französische Presseagentur geleitet hatte, war Breitbach gut bekannt. Um das Jahr 1936 herum muss Breitbach einen Briefwechsel mit dem in der Schweiz weilenden Ernst Jünger unterhalten haben. Dessen Inhalte waren brisant genug, dass Breitbach Jünger die Information zukommen ließ, dass die Korrespondenz in einem Banksafe lagere. Hieraufhin gelang es Jünger, in den Besitz der Briefe zu kommen und diese zu verbrennen. Im Sommer 1937 vermittelte Breitbach eine Reise Ernst Jüngers nach Paris. Dort traf dieser im November 1937 mit den Literaten André Gide (1869–1951), Julien Green (1900–1998) und Julien Gracq (1910–2007), ferner mit Breitbachs väterlichem Freund Jean Schlumberger – Breitbach bezeichnete Schlumberger in der Widmung, die seinem Roman »Bericht über Bruno« aus dem Jahr 1964 vorangestellt ist, als zweiten Vater : Meinen beiden Vätern Jean Breitbach und Jean Schlumberger – und der 1933 nach Frankreich emigrierten Annette Kolb (1870–1967) zusammen. Breitbach half Jünger auch dabei, die Chancen für eine Veröffentlichung seiner Werke in Frankreich auszuloten. Im Jahr 1938 übersandte ihm Jünger eine Auswahl seiner Prosaminiaturen. Von seinem zweiten Parisbesuch im Sommer 1938 »nachhaltig beeindruckt« (Helmuth Kiesel) zurückgekehrt, schrieb Jünger an Breitbach mit Datum vom 13. Juli : Die, wenn auch flüchtigen Einblicke, waren für mich nicht ohne Wert. Ich werde sie in meinem Innern bewahren wie Herodot, wenn er bei der Erzählung seiner Reisen die Mysterien erwähnt. Es war Joseph Breitbach, der später der Öffentlichkeit mitteilte, dass Jünger zahlreichen französischen Juden während der 1942 beginnenden Deportationen in Paris das Leben rettete, indem er die Résistance über beabsichtigte Transporte in Kenntnis setzte. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wechselten Breitbach und Jünger »einige verbitterte Briefe« (Helmuth Kiesel). Scharf kritisierte Jünger selbst seine französischen Unterstützer Breitbach und Schlumberger, wenn diese etwas von Jünger als nachteilig Empfundenes äußerten. Im Herbst des Jahres 1951 trat Breitbach in Paris für eine Druckerlaubnis von Jüngers »Strahlungen« ein, der in Ravensburg in der französischen Besatzungszone lebte. Auch warnte Breitbach seinen Schriftstellerkollegen in einem Brief vom 17. Oktober 1951, dass dieser sowohl auf einer amerikanischen als auch auf einer französischen Liste deutscher intellektueller Kriegsverbrecher stehe. Auch mit Carl Schmitt (1888–1985) stand Breitbach bis kurz vor seinem Tode in Kontakt. Hiervon zeugen die Widmungen seiner Bücher, die er Schmitt zukommen ließ. So lautet die Eintragung in Breitbachs »Feuilletons« vom September 1978 etwa : Herrn Professor Dr. Carl Schmitt diese bescheidenen Anmerkungen zum Geschehen des Tages einer Epoche, die ihrem Ende zuneigt[,] als Zeichen meiner langjährigen Verehrung für seine illusionslose Denkart[.] Joseph Breitbach. 198
Joseph Breitbach (1903–1980)
Abb. 5: Widmung Joseph Breitbachs in dessen Publikation »Feuilletons« an Carl Schmitt, Nachlass Carl Schmitt im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen
Nach 1945 wirkte Breitbach gemeinsam mit seinem väterlichen Freund Jean Schlumberger unermüdlich für die Aussöhnung der »Erbfeinde« Deutschland und Frankreich. Hiervon zeugt sein Einsatz für die deutschen Kriegsgefangenen oder in der »Saarfrage«, in der Breitbach um Verständigung und Vermittlung bemüht war. Dem ebenfalls aus dem südlichen Rheinland stammenden Schriftsteller Stefan Andres (1906–1970) gegenüber klagte Breitbach in einem Schreiben vom 23. Dezember 1953 : Ich werde hier aufgefressen von den deutsch-fr[an]z[ösischen] Dingen, ohne dies näher auszuführen. In der französischen Presse ließ Breitbach wiederholt Schlumberger für sich schreiben. Er befürchtete – vermutlich nicht ganz zu Unrecht –, dass ihm als gebürtigem Deutschen ein gehöriges Maß an Misstrauen seitens der französischen Öffentlichkeit entgegengebracht worden wäre, hätte er die Artikel unter seinem eigenen Namen publiziert. Seit 1961 unterhielt Breitbach auch wieder einen festen Wohnsitz in Deutschland, allerdings nicht in seinem Heimatort Ehrenbreitstein (bzw. Koblenz), sondern in München. Auch in dieser Hinsicht stand er nun mit jeweils einem »Bein« 199
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in Frankreich und in Deutschland, lebte die Annäherung der beiden Nationen in unspektakulärer, aber eindringlicher Weise vor. Öffentliche Auftritte in eigener Sache wie Vortragsreisen oder Autorenlesungen lehnte Breitbach konsequent ab. Sich hörbar zu Wort zu melden, wenn eine Angelegenheit es seiner Meinung nach verlangte, scheute sich Breitbach hingegen nie. Breitbach lässt sich am ehesten als Realist beschreiben, der nicht gewillt war, sich von einer politischen Strömung vereinnahmen zu lassen, wenngleich er stets seine Sympathie für das Proletariat bekundete. Hatte Breitbach noch 1926 kommunistischen Ideen nahegestanden, so tendierte er gegen Ende der Weimarer Republik zur Deutschen Staatspartei (DStP), die nach dem Ersten Weltkrieg als Deutsche Demokratische Partei (DDP) gegründet worden war. Diese vertrat den linken Flügel des Liberalismus, schloss sich 1930 allerdings mit dem politisch rechtsstehenden, antisemitisch angehauchten Jungdeutschen Orden zur Deutschen Staatspartei zusammen. Einen Tag vor der Reichstagswahl am 14. September 1930 schrieb Breitbach an Alexander Mohr : Ich hoffe, daß Du morgen Staatspartei wählst. Zur Musik fand Breitbach nur schwer bis gar nicht Zugang, wie er Theodor W. Adorno (1903–1969) in einem Schreiben aus Paris vom 12. November 1964 wissen ließ. In seinem Brief gesteht er, dass ihm das Thema »Musik« nicht liege, da ich mich durchaus zu denen zählen muss, von denen Cocteau einmal gesagt hat ›Musik ist ihm nicht unangenehm‹. Breitbach befürchtete, er wäre einem Vortrag Adornos in Paris, der wohl auch musiktheoretische Aspekte behandeln sollte, als Musik unwürdiger Mensch bestimmt nicht gewachsen gewesen. So bedauerte Breitbach schließlich, Adorno aufgrund einer Englandreise zu verpassen : Bin ich doch – von Ihren Schriften über Musik abgesehen – seit Ihren [ !] Kierkegard-Buch Ihr Leser. Joseph Breitbachs Verhältnis zu Religion und Kirche muss als kritisch-distanziert beschrieben werden. Vor allem Bigotterie, Doppelmoral sowie der Versuch der Religionen, in die Privatsphäre des Sexuellen vorzudringen und dort Vorschriften der Sexualmoral geltend zu machen, erregten seinen Widerspruch. Dies galt bei Weitem nicht nur für die christlichen Kirchen und deren Sexualmoral, wie er Adorno in dem bereits zitierten Brief vom 12. November 1964 mitteilte : Sie suchen die Gründe für jene Miseren, die Sie in Ihren ›Eingriffen‹ behandeln, vor allem in dem bürgerlichen Charakter der deutschen Gesellschaft. In diesem Punkt kann ich Ihnen leider nicht folgen, denn meine ausgedehnten Aufenthalte in Südamerika, im stark islamisierten französischen Kongo und in Nordafrika, wo es keine bürgerliche Gesellschaft gibt, lassen mich die Gründe für alle Tabus immer nur in den religiösen Vorstellungen suchen. Im Gegensatz zu Max Horkheimer glaube ich nicht, dass sich daran in den christlichen Ländern zunächst etwas ändern wird, denn die Liberalisierung des Katholizismus, an die Max Horkheimer […] glaubt, […] wird von dem neuen Papst schon abgepfiffen, und was die progressistischen oder reinmarxistischen nord- und innerafrikanischen neunen [ !] Staatschefs sich an Wiederaufwertung der islamischen Religion leisten, kann uns nur pessimistisch stimmen. Ben Bella zum Beispiel hat jüngst in seiner Hauptstadt Alger wieder das öffentliche Gebet ausserhalb der Moschee eingeführt und sich selbst als den Vorbeter auf dem Forum von Alger, also 200
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Abb. 6: Joseph Breitbach beim Studium des »The Christian Science Monitor«, 1963
als Hüter einer Religion aufgespielt, die sich gerade dort, am Sitz eines Erzbischofs, mit dem Christentum um den Anspruch der einzigen Rechtmässigkeit zankt. Für die Wünsche und Anliegen seiner Freunde und Bekannten hatte Breitbach stets ein offenes Ohr. So wurde er regelmäßig um Obdach, Vermittlung von Kontakten, Patronage sowie Unterstützung – auch finanzieller Art – ersucht. Dabei wurde auf allen Seiten durchaus ein anspruchsvolles, gehobenes Niveau vorausgesetzt. Adorno richtete mit Schreiben vom 22. Dezember 1964 an Breitbach die Bitte um Empfehlung einer geeigneten Unterkunft in Paris – und nannte gleich die Bedingungen, welche das Hotelzimmer erfüllen sollte : Seit langen Jahren habe ich in Paris immer im Hôtel Lutétia gewohnt, war aber zuletzt so unzufrieden damit, fühlte mich so schlecht behandelt, daß ich, obwohl ich dort seit 30 Jahren mehr oder minder zu Hause war, keine Lust habe, wieder hinzugehen. Würden Sie mir wohl einen Rat geben können, wo ich diesmal wohnen soll ? Nicht in einem der prätentiösesten Hotels wie dem Crillon, sondern in einem kleinen, möglichst pariserischen aber wirklich guten, das zwei Voraussetzungen erfüllt : daß man im Zimmer von jedem Lärm verschont ist, und daß ich ein Privatbad habe. Hoffentlich fällt Ihnen der Rat nicht beschwerlich – das hat man davon, wenn man einem persönlich Unbekannten so wahrhaft freundschaftlich entgegenkommt, wie Sie es getan haben. Bei dieser Gelegenheit empfahl Adorno auch seinen Schüler Heinz-Klaus Metzger (1932–2009), der momentan in Paris weile : […] wenn Sie eine sehr bohèmienne Erscheinung nicht fürchten, so wäre es hübsch, wenn auch er eingeladen würde […]. Auf jeden Fall würde ich 201
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ihn gern Ihnen vorstellen, da ich mir denken könnte, daß Sie ihm vielleicht helfen, irgend etwas verschaffen können ; wenn anders ich Ihnen damit nicht Ungebührliches zumute. Mitunter ging die Initiative zu Zusammenkünften und Gefälligkeiten durchaus von Breitbach selbst aus. So auch in dem erwähnten Fall. Breitbach ließ Adorno in einem vom 16. Dezember 1964 datierenden Brief wissen : Nichts könnte mich mehr erfreuen, als ein Dejeuner oder ein Diner bei mir. Es wäre mir, falls Sie dies annehmen können, angenehm zu wissen, ob Sie die eine oder andere Persönlichkeit dabei wünschen. Stefan Andres brachte in seinem Schreiben an Breitbach vom 8. Mai 1952 ein ähnliches Anliegen vor. Auch ihm ging es um die Empfehlung einer geeigneten Unterkunft in Paris : Könntest Du oder einer Deiner Freunde mir in Paris im quartier latin ein billiges Hotelzimmer mit Bad besorgen ! […] Ich werde Dich dann sofort nach meiner Ankunft anläuten, und Du gibst mir bitte dann die Adresse. Geht das wohl ? Seinem Schriftstellerkollegen Thomas Bernhard (1931–1989) scheint Breitbach ähnliche Dienste erwiesen zu haben, dieses Mal jedoch in München. Bernhard bedankte sich in einem Brief vom 28. Juni 1966 mit den Worten : Lieber Herr Breitbach, zuerst meinen ausdrücklichen Dank für Ihr Augenmerk, das Sie auf meine Münchner Quartierlosigkeit geworfen haben, für das in allen Einzelheiten ausgezeichnete Zimmer im Königshof und ganz besonders für das Souper in den Maximilianstuben, von dem mein Gaumen noch längere Zeit wird zehren müssen. Horst Bienek (1930– 1990) schwärmte in seinem Dankesbrief an Breitbach vom 8. April 1965 regelrecht in Superlativen : Sie haben Ihre Sympathie, Ihr Wohlwollen und Ihre Gastfreundschaft in so verschwenderischer Fülle über mich ausgeschüttet, dass ich noch jetzt ganz benommen davon bin. Wie soll ich Ihnen meinen Dank ausdrücken ? Vielleicht am ehesten dadurch, dass ich sage : diese Pariser Tage waren für mich einige der schönsten Tage meines Lebens ? Ich war jetzt zum dritten Mal in Paris, niemals zuvor aber habe ich diese Stadt so intensiv, so sehr durch verschiedene Schichten hindurch erlebt. […]. Vor allem Joseph, dafür möchte ich Ihnen besonders danken, dass Sie doch immer wieder einen Abend oder ein paar Mittagsstunden Zeit für mich hatten ! Ich weiss, das war nicht immer einfach für Sie. Für mich waren es die wichtigsten Stunden in Paris. (Das Laster wollen wir ausnehmen, das steht auf einer anderen Seite meines Kontos geschrieben.) Insofern dürften die Worte, welche Bienek in seinem auf den 14. Mai 1980 datierten, maschinenschriftlich angefertigten und handschriftlich korrigierten Konzept der Grabrede »Wörter danach« für Joseph Breitbach fand, die Gastgeberqualitäten des Verstorbenen recht gut wiedergeben : Joseph in Town. […] Das bedeutete für seine Freunde Geselligkeit, gute, intensive, leidenschaftliche Gespräche, exquisite Mittagessen, Begegnungen mit Menschen, die man sonst nie traf. Freundschaft bestand für ihn darin, immer neue Freundschaften zu stiften, oder wenigstens Begegnungen, er brachte Menschen zusammen, die sich sonst aus dem Wege gingen, literarisch, auch politisch. Eine gelungene Mittagsrunde war ihm genauso wichtig wie eine geglückte Erzählung. Mit ebensoviel Umsicht bereitete er sie auch vor. Er investierte seine Kunst nicht allein in einen Prosatext oder Dialog, sondern auch in Menschen. […] Nicht der Gast – er war es, der den Text jenes autors [ !] las, den er geladen hatte, und er überraschte durch seine genaue Kenntnis nicht nur des letzten Buches, des jüngsten Aufsatzes, auch durch das Zitat einiger Gedicht202
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zeilen oder von Prosasätzen. […] So, denke ich, werden wir uns künftig nicht nur bei der Lektüre der ›Rabenschlacht‹ oder des ›Clemens‹ oder des ›Berichts über Bruno‹ seiner erinnern, sondern auch bei einem geglückten harmonischen, gesprächigen, geselligen Fest. 2. Werk Wie kaum ein zweiter Literat von dieser Bedeutung beschäftigte sich Joseph Breitbach in seinen Veröffentlichungen mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen im Rheinland der Zwischenkriegszeit. Dies gilt insbesondere für Breitbachs 1932 erschienenen Roman »Die Wandlung der Susanne Dasseldorf«, der ein Licht auf die Verhältnisse in der rechtsrheinischen Stadt Ehrenbreitstein sowie der direkt gegenüber gelegenen linksrheinischen Stadt Koblenz in den Jahren der Besatzungszeit wirft. Noch während seiner Zeit im besetzten Rheinland betätigte sich Breitbach journalistisch. Er schrieb unter anderem für die »Rheinische Rundschau« sowie für die »Neue Bücherschau«, die von der Verlegerin Elena Gottschalk begründet worden war und bereits nach kurzer Zeit ihr Erscheinen einstellen musste. Früh nahm Breitbach Fühlung zu französischen Kulturschaffenden auf, zum Beispiel zur Redaktion der »Nouvelle Revue Française«, bei der er die Besprechung deutschsprachiger Werke anregte. Breitbach publizierte als Dramatiker und Erzähler in deutscher wie in französischer Sprache. Er gilt als ausgesprochener Stilist. Allerdings ging Breitbach weit über die reine Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit hinaus. Nicht nur seine Dramen haben weltanschauliche und politische Fragen zum Gegenstand. Breitbach glaubte an eine moralische Aufklärungsfunktion der Literatur, sah sich in der Rolle des Aufklärers und Entlarvers. Zeitgenossen wie der Literaturkritiker Joachim Kaiser (1928–2017) bezeichneten ihn als »Moralisten« – und dennoch : Ideologien und Dogmatismus blieben Breitbach zeitlebens fremd, was wohl auch zu seinem Bruch mit der kommunistischen Partei führte, von der er sich wegen deren politischen Dogmatismus enttäuscht abwandte. In seinem Brief an Helmut Domke (1914–1986) vom 9. März 1956 schrieb Breitbach : Mein Ansehen in der Pariser politischen Welt und Gesellschaft beruht einzig darauf, daß ich mich nie einer Partei verschrieben habe und meine Urteile immer ethisch bestimmte sind. Ich lehne alles Leidenschaftliche in der Politik ab. Das sollte ausdrücklich nicht bedeuten, dass ein Autor keine Position zu beziehen habe. Diejenige Breitbachs zeichnete sich nach eigenem Bekunden durch Alltagsnähe und Praxisbezug aus. So erklärte er dem Verleger Siegfried Unseld (1924–2002) in einem Brief vom 22. Dezember 1964 : Sie sollten wissen, dass ich ein Mann von links bin, durch den Kommunismus gegangen, aber im Gegensatz zu so vielen meiner Kollegen jede abstrakte Optik auf öffentliche Dinge ablehne. Dies ist auch der Grund, warum ich immer lieber mit Gewerkschaftsleuten als mit journalistischen [Intellektuellen] zu tun habe. Breitbachs Erstlingsroman (»Die Wandlung der Susanne Dasseldorf«) gibt den historischen Kontext recht originalgetreu wieder : die Besetzung seiner Heimatregion als 203
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Folge des Ersten Weltkrieges, zunächst durch die amerikanischen Truppen – die später durch französische ersetzt wurden –, die Ortschaften und Stadtteile, die Gebäude und Kirchen, den Koblenzer Dialekt (»Kowelenzer Platt«). Die Warenhauswelt und die Angestellten werden in Breitbachs Erzählungen »Rot gegen Rot« geschildert, was dem Autor den Titel des »Angestelltenkenners« eintrug. In der Regel kannte Breitbach die Schauplätze seiner Publikationen aus eigener Anschauung. Zwischen seiner Inkriminierung 1933 und seinem Roman »Bericht über Bruno« (1962) publizierte er in französischer Sprache. 1960 wurde seine Komödie »La jubilaire« in Paris uraufgeführt. Mitunter bediente Breitbach sich, die Namen der Eltern beziehungsweise des Großvaters aufgreifend, des Pseudonyms »Jean-Charlot Saleck«. Breitbach selbst gewährte immer wieder Einblicke in seine Arbeitsweise. So war er der Auffassung, ein Roman werde stets von hinten nach vorne geschrieben. Erst mit dem Schlusssatz des Manuskripts beginne der eigentliche stilistische Feinschliff am Gesamttext. Auch las Breitbach seine Textentwürfe gerne mit lauter Stimme, um die Wirkung des Geschriebenen auf den Leser ermessen zu können. An Druckfahnen pflegte Breitbach durchgehend großzügige Änderungen vorzunehmen, gelegentlich bis zu zwölf Korrekturen pro Seite. Breitbachs Gesamtwerk nimmt sich mit drei vollendeten Romanen, 14 Erzählungen, vier Theaterstücken, diversen Essays, Zeitungsartikeln, Rezensionen sowie unveröffentlichten Werken vom Umfang her bescheidener aus als die Œuvres vieler anderer bedeutender Literaten. Dies schmälert seine Bedeutung für die rheinische beziehungsweise deutsche Literatur jedoch in keiner Weise. Hiervon zeugt auch die Tatsache, dass die Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz im Jahr 2001 beschloss, die Hauptwerke Breitbachs in Einzelausgaben herauszugeben. Dies geschah seit 2006 in der »Mainzer Reihe« durch die als Herausgeber gewonnene Germanistin Alexandra Plettenberg-Serban sowie den Verwalter des Breitbach-Nachlasses, Wolfgang Mettmann. Das Projekt konnte 2013 abgeschlossen werden. Im Folgenden soll exemplarisch auf zwei bedeutende Werke Breitbachs eingegangen werden. Der 1962 erschienene, in sieben Sprachen übersetzte und zum Bestseller avancierte Roman »Bericht über Bruno« wird mitunter als einer der bedeutendsten politischen Romane der Nachkriegszeit gehandelt. Die beiden Hauptfiguren – der Innenminister einer europäischen Monarchie und dessen Enkel, der den Sturz seines Großvaters bewirkt – stehen stellvertretend für zwei maßgebliche ideologische Positionen des 20. Jahrhunderts : den konservativen Liberalismus und den revoltierenden Terrorismus. Zwischen den beiden Protagonisten entfacht sich ein gnadenloses Kräftemessen, das Breitbach in einer kühlen, einfachen und zugleich suggestiven Sprache zu schildern versteht, wobei ihm namentlich die indirekte Rede als Stilmittel dient. Besonders hervorzuheben ist Breitbachs innovative Erzähltechnik in seinem Roman »Das blaue Bidet oder das Das eigentliche Leben«, die allerdings nicht nur Zustimmung fand. In diesem 1978 erschienenen Roman wechselt Breitbach nach etwa einem Sechstel des Buches die Erzählperspektive. Statt des allwissenden Erzählers 204
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übernimmt Ferdinand, eine Figur des Romans, die Rolle des Erzählers. Das 19. Kapitel trägt entsprechend den Titel »Ablösung des Erzählers und Dienstantritt eines neuen«. Der neue Erzähler wendet sich direkt an den Leser, um diesen Perspektivwechsel zu begründen : Aber bevor der Leser erfahre, wo und wie dies geschah, nehme ich dem verspielten Autor die Feder aus der Hand und versuche, in Barbes Geschichte ein durchgeführtes Prinzip der Erzählweise zu bringen. Da hapert es auffallend. In der Neuausgabe der »Mainzer Reihe« ist dem Roman zwischen den Kapiteln 27 und 28 ein »Unnumeriertes Kapitel« eingefügt. Breitbach hatte dieses zunächst zur Publikation vorgesehen, doch fand es auf Betreiben der Leiterin des S. Fischer Verlags, Monika Schoeller, doch keinen Eingang in die Erstausgabe. Dieses Kapitel richtet sich unter Verwendung des Klarnamens im Roman an den Kritiker Günter Blöcker (1913–2006), der Breitbachs Roman »Bericht über Bruno« in der Wochenzeitung »Die Zeit« vom 12. Oktober 1962 verrissen hatte. Der Wechsel der Erzählperspektive sollte später noch von anderen Autoren vorgenommen werden, so etwa von Kapitel zu Kapitel in Claire Fullers Roman »Eine englische Ehe«. »Das blaue Bidet« wurde 1982 unter der Regie von Claus Peter Witt (1932–2017) verfilmt ; Klaus Schwarzkopf (1922–1991) übernahm die Rolle des Barbe. Verfilmt wurden ferner »Die Jubilarin« (1968 und 1979), »Hinter dem Vorhang oder Genosse Veygond« (1978) und »Radieschen« (1979). Ein Hauptmotiv, das sich durch Breitbachs Werk zieht, ist die Beobachtung, dass Unrecht immer wieder neues Unrecht gebiert. Insofern führten Neid, Missgunst und Bosheit zu nichts anderem als zu Rachedurst und erneutem Fehlverhalten. Der 140 Kästen umfassende Nachlass Breitbachs befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Auch andere dort aufbewahrte Vor- und Nachlässe enthalten Korrespondenz mit dem Schriftsteller, so etwa der Vorlass Marcel Reich-Ranickis (1920–2013), die Nachlässe von Kurt Erich Rotter (1907–1979) und Willi Richard Fehse (1906–1977) sowie der Teilnachlass von Jan Herchenröder (1911–1986). Viele Unterlagen gingen allerdings, nicht zuletzt während des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besetzung, verloren, so etwa der Briefwechsel Breitbachs mit Robert Walser (1878–1956). Das Manuskript von »Rot gegen Rot« überließ Breitbach seinem Schriftstellerkollegen Stefan Zweig (1881–1942), Arbeiten seines Frühwerkes sowie eine Fassung des verloren gegangenen »Clemens« seinem Jugendfreund Kurt Bösch (1907–2000). Der Entwurf seines Romans »Bericht über Bruno« muss hingegen als verschollen gelten. Werke Rot gegen Rot, Erzählungen, 1929, neu 2008, französisch 1948 unter dem Titel Le Liftier amoureux ; Mademoiselle Schmidt, Komödie, 1929 (Bühnenmanuskript) ; Die Wandlung der Susanne Dasseldorf, Roman, 1932, neu 1981 und 2006, französisch 1936 unter dem Titel Rival
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et Rivale, Neuauflage 1946 ; Fräulein Schmidt, 1932 ; Le liftier amoureux, 1948 ; Jean Schlumberger, 1954 ; Das Jubiläum. Komödie in drei Akten, 1960, unter dem Titel Die Jubilarin. Eine Kaufhausgeschichte in vier Bildern, 1962, französisch 1960 unter dem Titel La Jubilaire. Comédie en trois actes ; Bericht über Bruno, Roman, Frankfurt/Main 1962, neu Göttingen 2009, französisch 1964 unter dem Titel Rapport sur Bruno ; Clemens, Romanfragment, 1963 ; Die Jubilarin. Schauspiel in vier Akten. Neufassung 1965 (Bühnenmanuskript) ; Die Jubilarin. Volksstück in vier Akten, 1968 ; Genosse Weigon oder ein teurer Kasten Bier. Komödie in fünf Akten, 1969 (Bühnenmanuskript) ; Genosse Veygond. Komödie in fünf Akten, 1969 (Bühnenmanuskript, Frankfurt/Main) ; Genosse Veygond. Komödie in fünf Akten (Frankfurt/Main), 1970 ; Genosse Veygond. Komödie in vier Akten, Neufassung 1971 (Bühnenmanuskript), französisch 1975 unter dem Titel Derrière le Rideau ; Requiem für die Kirche. Zeitgenössisches Melodrama in sechs Akten, 1971 (Bühnenmanuskript, Frankfurt/Main) ; Die Jubilarin/Genosse Veygond/ Requiem für die Kirche, 1972 ; Die Rabenschlacht und andere Erzählungen, 1973 ; Derrière le Rideau ou Le parti d’en rire, 1975 ; Hinter den Kulissen oder Genosse Veygond, 1976 (Bühnenmanuskript) ; Requiem für die Kirche. Zeitgenössisches Melodrama in acht Bildern, 1977 (Bühnenmanuskript, Frankfurt/Main) ; Feuilletons. Zu Literatur und Politik, hg. von Wolfgang Mettmann, Pfullingen 1978 ; Das blaue Bidet oder Das eigentliche Leben, Roman, Frankfurt/ Main 1978, neu Göttingen 2013 ; Zweierlei Helden. Schauspiel in drei Akten, 1980 (maschinenschriftliches Manuskript). Quellen Ungedruckte Quellen Deutsches Literaturarchiv Marbach, Handschriften-Magazin, Nachlass Joseph Breitbach, Korrespondenz ; Stadtarchiv Koblenz, N 1 (Nachlass Alexander Baldus [unverzeichnet]), Mappe »Korrespondenz mit Josef [ !] Breitbach« ; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, RW 265 (Nachlass Carl Schmitt). Gedruckte Quellen Joseph Breitbach/Jean Schlumberger, Man hätte es von allen Dächern rufen sollen. Briefwechsel 1940–1968, hg. und aus dem Französischen übersetzt von Alexandra Plettenberg und Wolfgang Mettmann, Berlin 2018. Literatur Artikel »Breitbach«, in : Lexikon der Weltliteratur, Band 1 : Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch nach Autoren und anonymen Werken A–K, hg. von Gero von Wilpert unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter, 3., neubearbeitete Auflage, Stuttgart 1988, DTV-Ausgabe München 1997, S. 215 ; Artikel »Joseph Breitbach«, in : Kindlers Neues Literatur Lexikon, hg. von Walter Jens, Band 3, München 1989, S. 117–118 ; Karin Doerr, Joseph Breitbach. Thema-
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Joseph Breitbach (1903–1980)
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Nr. 2 (September 2016), S. 10, abgerufen unter : https://www.vgkm.de/fileadmin/user_upload/ Redakteure/vgkm/K3/Infobrief_09_2016.pdf (Stand : 23.1.2019). Kay Wolfinger, Joseph Breitbach, in : Literaturportal Bayern, abgerufen unter : https://www. literaturportal-bayern.de/autorenlexikon ?task=lpbauthor.default&pnd=118514865 (Stand : 17.3.2019). Renate Wiggershaus, Joseph Breitbach. Der Angestelltenkenner, in : Frankfurter Rundschau, 9.1.2009, abgerufen unter : http://www.fr.de/kultur/joseph-breitbach-der-angestelltenkennera-1132663 (Stand : 23.1.2019). Verfilmungen Die Jubilarin, TV-Inszenierung 1968, Regie : Paul Vasil ; TV-Inszenierung nach der Aufführung im Frankfurter Volkstheater 1979, Regie : Wolfgang Kaus ; Hinter dem Vorhang oder Genosse Veygond, TV-Inszenierung nach einer Aufführung des Ernst-Deutsch-Theaters Hamburg 1978, Regie : Wolf Dietrich ; Radieschen, TV-Film nach den Erzählungen »Rot gegen Rot« und »Das Radieschen« 1979, Regie : Rolf Busch ; Das blaue Bidet, TV-Film 1982, Regie : Claus Peter Witt.
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Andreas Burtscheidt
Stefan Andres (1906–1970) Schriftsteller
Der gebürtige Moselaner Stefan Andres, dessen reiches Schaffen in Deutschland vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ein breites Publikum fesselte, blieb in seinem schriftstellerisch-intellektuellen Kosmos zeitlebens mit den Ursprüngen seiner Herkunft verbunden. Geprägt von seiner rheinisch-moselländischen Heimat beeinflussten der Katholizismus, die lateinisch-römische Kultur und die abendländische Philosophie sein Werk am stärksten und machten ihn zu einem christlich-existentialistischen Autoren, der sich trotz aller politischen Widrigkeiten von Diktatur und Meinungsrepressionen zwischen Deutschland und Italien frei und im Denken unabhängig zu bewegen erlaubte. Sein Eintreten für den Pazifismus war eine wichtige Komponente seines gesellschaftlichen wie schriftstellerischen Engagements. 1. Herkunft als Prägung : die Mosel und der Katholizismus Als neuntes Kind des Müllermeisters Stefan Andres (1861–1916) und seiner Frau Susanna geborene Rausch (1864–1938) wurde Stefan Paul Andres am 26. Juni 1906 in Dhrönchen, einem Ortsteil von Trittenheim, an der Mosel geboren. Schon 1910 musste die eigene Breitwiesmühle wegen des Baus der Dhrontalsperre aufgegeben werden. Die Familie zog nach Schweich in der Nähe von Trier, wo Stefan Andres seine Kindheit verbrachte. Wie es sich für kinderreiche, ärmliche, aber fromme Bauernfamilien an der Mosel gehörte, war für den letztgeborenen Sohn eine geistliche Berufung vorgesehen. Nach dem Besuch der Volksschule von 1912 bis 1918 schickte man Stefan daher zur gymnasialen Ausbildung auf das zum Orden der Redemptoristen gehörende Collegium Josephinum im niederländischen Vaals bei Aachen. Doch schon im Herbst 1920 rieten ihm seine Oberen, das Kolleg als Untertertianer wieder zu verlassen. An dres versuchte sich ab 1921 für kurze Zeit als Postulant in der Krankenpflege bei den Barmherzigen Brüdern von Maria Hilf in Trier, die er aber im April 1921 auch wieder verließ. Er ging nach Bleyerheide in die Nähe von Aachen zurück, wo er sich bei den Armen Brüdern vom heiligen Franz Xaver im Juvenat versuchte. Dort blieb er drei Jahre und es entstanden bis 1924 die ersten kleineren dramatischen Stücke. Immer klarer erkannte Stefan Andres, dass das klösterliche Leben nicht sein Lebensweg sein würde, denn auch bei den Armen Brüdern fand er keine dauerhafte Heimat. Er bereitete sich nun auf das Lehrerexamen vor, das er am 17. März 1926 ablegte. 209
Andreas Burtscheidt
Abb. 1: Stefan Andres in Düsseldorf, Foto : Erica Loos, 1.5.1957
Währenddessen wohnte er in Dormagen, wo er 1925/26 neben den Vorbereitungen auf das Examen an einer geschlossenen Anstalt für Fürsorgezöglinge arbeitete. Noch ein weiteres und letztes Mal versuchte er es mit dem Ordensleben. Im September 1926 trat Andres als Novize dem Kapuzinerorden in Krefeld-Inrath bei, doch es kam nicht zur endgültigen Aufnahme in den Orden, worüber die Brüder vor der endgültigen Profess nach alter Tradition abzustimmen hatten – sie lehnten ihn ab. Er sei in seinen Ansichten zu radikal. Zudem war Andres selbst längst weit davon entfernt, sich irgendwelchen klösterlichen Regelungen unterordnen zu wollen ; vielmehr war er auf der Suche nach den Sinnfragen des Lebens – auf seine eigene Weise. Im Januar 1928 übernahm der 21-jährige Stefan Andres die Schriftleitung der katholischen Monatszeitschrift »Der Marienborn«, die ihm zudem Raum für die Veröffentlichung früher – von ihm später wenig geschätzter – Arbeiten bot. In dem in Bensberg neu errichteten Priesterseminar des Erzbistums Köln konnte er zugleich als Lateinlehrer unterrichten. Außerdem bereitete er sich auf das Abitur für Nichtschüler vor, das er im Februar 1929 ablegen konnte. Nach einer kurzzeitigen Rückkehr in sein Elternhaus fiel die endgültige Entscheidung, die Theologie aufzugeben. Stattdessen begann er 1929 ein Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Köln, das er ab dem Sommersemester 1931 210
Stefan Andres (1906–1970)
an der Friedrich-Schiller-Universität Jena fortsetzte. Hier lernte er die Medizinstudentin Dorothee Freudiger (1911–2002) kennen, die aus Lomnitz im Riesengebirge stammte. Ihr Vater betrieb dort ein Sägewerk sowie eine Fabrikation von Kleiderbügeln und war durchaus wohlhabend. Stefan Andres hatte mittlerweile seinen ersten Roman »Bruder Luzifer«, der einige Erfahrungen seines Noviziats bei den Kapuzinern verarbeitete, vorgelegt. Das Buch war in einem Jenaer Verlag erschienen – auch ein Grund für die Wahl seines zweiten Studienortes. Als er nun mit Dorothee gemeinsam deren Eltern im Riesengebirge besuchte, trafen zwei Welten aufeinander. Ihr Vater konnte mit dem jungen Mann aus ärmlichen Verhältnissen, der sich mit Schriftstellerei eine Existenz aufbauen wollte, zunächst nichts anfangen ; im Gegensatz zu ihrer jüdischen Mutter, die ein Interesse an Literatur hatte. Dorothee entschied sich für Stefan Andres und beide wechselten zum Wintersemester 1931 nach Berlin an die damalige Friedrich-Wilhelms-Universität, die heutige Humboldt-Universität zu Berlin. Ein Stipendium der amerikanischen Abraham-Lincoln-Stiftung für seinen Roman erstling in Höhe von 600 RM ließ Andres sich im Sommer einen Traum erfüllen : Mitten im Sommersemester 1932 reiste er allein für mehrere Monate zum ersten Mal nach Italien, wo er weitere Stücke schrieb. Er kehrte mit dem Entschluss zurück, sein Studium ganz aufzugeben und fortan als freier Schriftsteller zu arbeiten. Stefan An dres heiratete Dorothee standesamtlich, da sie noch evangelischen Bekenntnisses war. Bis zu seinem Tod blieb Dorothee Andres an seiner Seite. Beide zogen zurück an den Rhein nach Köln, da er innerhalb Deutschlands zeitlebens nur jenen Teil für erträglich hielt, der früher einmal von den Römern besiedelt und von ihrer Kultur geprägt war. 2. Zwischen innerer Emigration und verdeckter Regimekritik Sein Entschluss, nur noch als freier Autor zu arbeiten, fiel politisch mit der »Machtergreifung« Adolf Hitlers (1889–1945) zusammen. Unter diesen Vorzeichen konnte es dem jungen Autor nur schwer gelingen, sich im nunmehr nationalsozialistischen Deutschland weiterhin zu etablieren. Und dies, obwohl Stefan Andres – allerdings auf recht zweifelhafte Weise – in den Dreißigerjahren noch einen durchaus guten Ruf weiter hätte kultivieren können, der vorübergehend auf seinen »Moselländischen Novellen« beruhte. Diese waren seit 1931 entstanden und wurden 1937 als Sammelband im Paul List Verlag in Leipzig publiziert. Doch verband Andres mit dieser Publikation sicher andere Intentionen als die in ihn gesetzten Erwartungen des neuen nationalsozialistischen Literaturbetriebs. Dessen Kritiker sahen in Andres bereits einen großen Hoffnungsträger und wollten ihm die Hommage an seine moselländische Heimat, die er mit diesem Sammelband wiederentdeckte, als eine besondere Treue zur nationalsozialistischen Blut- und Bodenideologie auslegen. Zudem war die Veröffentlichung mit einer jederzeit widerrufbaren Sondergenehmigung des Propagandaministeriums von Joseph Goebbels (1897–1945) erkauft. Nichts aber lag Andres ferner, als sich mit den 211
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völkischen Ideologien der neuen NS-Ideologie zu identifizieren. Jede Form der politischen Anpassung an die neuen Verhältnisse im Reich war ihm unmöglich. Vielmehr sah er sich als moselländischen Heimatdichter, der mit seinen »dialektgenauen und realistischen Beschreibungen Landschaft und Leute an der Mosel, im Hunsrück und in der Eifel zu porträtieren wusste – nah genug, um Wiedererkennungseffekte auszulösen, aber wiederum auch distanziert genug, um Ironie und Zeitkritik zuzulassen« (M. Braun, Heimat). Ein Stil, der dem Carl Zuckmayers (1896–1977) in den Zwanzigerjahren nicht unähnlich war. Anfangs war Andres noch eine kurze Zeit als freier Mitarbeiter beim Kölner Rundfunk tätig, lehnte das neue NS-Regime aber strikt ab. So zog es ihn bereits im Frühjahr 1933 wieder zurück nach Italien. Gemeinsam mit Dorothee ließ er sich für einige Wochen in Positano am Golf von Salerno nieder. Zunächst kamen beide noch einmal nach Köln zurück. Dort erhielt er jedoch 1935 wegen des fehlenden »Ariernachweises« (Dorothees jüdische Vorfahren mütterlicherseits und Stefans unehelicher Großvater) die endgültige Kündigung beim Rundfunk. Eine Odyssee von Wohnungs- und Ortswechseln setzte sich in den nächsten Jahren fort. Siebenmal wechselte Stefan Andres zwischen 1933 und 1937 die Wohnung, dreimal die Stadt. In den Dreißigerjahren wuchs auch die Familie Andres. Insgesamt wurden drei Töchter geboren : 1933 Mechthild, 1934 Beatrice (genannt Bice) und 1939 Irene Maria (genannt Ima). Der Weg führte Stefan und Dorothee Andres mit den beiden ältesten Töchtern wieder zu den Schwiegereltern nach Lomnitz, wo 1936 mit »El Greco malt den Großinquisitor« eine seiner bekanntesten Novellen entstand. In ihr schien das große Lebensthema des Humanismus bereits klar auf ; seine Kritik an den herrschenden Zuständen im »Dritten Reich« übertrug er dabei auf die Zeitspanne der spanischen Inquisition in der ausgehenden Renaissance. Mit dieser Novelle hatte sich Andres endgültig von einer reinen konflikt- und kritikscheuen Heimatdichtung abgesetzt, bei der ihn so manche gerne verortet hätten. Vielmehr erreichte er hier schon sehr deutlich die Ebene des inneren Emigranten. In der Novelle wird der bekannte Maler El Greco nach Sevilla gerufen, um dort den Großinquisitor Kardinal Fernando Niño de Guevara zu malen. El Greco ist hin- und hergerissen zwischen seinem Anspruch, ein wahres Abbild einer blutbefleckten Kirche in der Zeit der Inquisition zu schaffen, und der Faszination, die für ihn von der Macht des Inquisitors ausgeht. Dieser droht er zu erliegen, weil sie ihm gottgewollt erscheint. Während des Schaffensprozesses erkrankt aber der Kardinal und El Greco soll seinen Freund, den Arzt Cazalla, rufen, dessen Bruder bereits der Inquisition zum Opfer gefallen ist. Cazalla aber rettet dem todkranken Großinquisitor das Leben und gibt ihm damit die Möglichkeit, seine Machtposition weiter auszunutzen und Angst und Schrecken zu verbreiten. Stefan Andres beschreibt in dieser Novelle die Konfrontation zweier Gegner der Inquisition mit der Brutalität des Großinquisitors, die sie direkt miterleben müssen. Cazalla und El Greco – beide ihrem hohen Berufsethos als Maler und Arzt ebenso 212
Stefan Andres (1906–1970)
wie einem gewaltlosen Widerstand verpflichtet – erkennen zwar die Grausamkeit der herrschenden Macht, aber auch die Unmöglichkeit, sich ihr zu widersetzen, da sie sonst selbst zu Mördern hätten werden müssen. Dabei lässt Andres deutliche Parallelen zu seiner eigenen Lebensrealität im »Dritten Reich« entstehen. Auch er lehnte die Gewaltausübung des NS-Staates ab, konstatierte gleichzeitig aber auch – hierin El Greco gleich – die eigene Hilflosigkeit. Wer wollte, konnte der Novelle Regimekritik entnehmen – aber eben »zwischenden-Zeilen«. Mit der Bearbeitung ihrer aus der Jetztzeit transferierten Stoffe in eine weit zurückliegende Vergangenheit vermochte es Andres, als innerer Emigrant angreifbar, zugleich aber auch geschützt zu sein. Trotzdem ging er bis 1937 keine größeren Wagnisse ein. In diesem Jahr zog die Familie Andres nach München weiter. Noch im gleichen Jahr siedelte Stefan Andres mit seiner Familie endgültig nach Positano über, wo er die nächsten zwölf Jahre fast ununterbrochen blieb. 3. Zuflucht auf Widerruf – Übersiedelung nach Positano Bis zum Kriegende lebte Stefan Andres in innerer Emigration und musste mit ansehen, wie Hitlerdeutschland mit dem Italien Benito Mussolinis (1883–1945) die »Achse Rom-Berlin« bildete. Dennoch war es ihm trotz vieler Einschränkungen möglich, im Süden Italiens als freier und unabhängiger Schriftsteller zu leben und zu arbeiten. Seine dortige Schaffensphase bis 1949 mit all ihren Romanen, Novellen, Erzählungen und Gedichten ist als die fruchtbarste Zeit seines Lebens anzusehen. Der traumhafte Küstenort Positano am Golf von Salerno, in dem er sich mit seiner Frau und den Kindern einrichtete, war ihm dennoch eine prekäre Zuflucht auf Widerruf geworden, die Andres so unfreiwillig zum Weltbürger werden ließ : »Inspiriert von der malerischen Kulisse, die Motive für eine Reihe italienischer Novellen und Romane abgab, feierte er mit der kleinen internationalen Künstlerszene in den dreißiger Jahren ausgelassene Terrassenfeste ›mit billigem Rotwein und Sardinen‹. Doch die Lebensumstände waren von Armut geprägt, die Schreibtinte wurde aus Galläpfeln hergestellt und das Farbband mit Dieselöl aufgefüllt. Die Einkünfte aus den Publikationen bei deutschen Verlagen und Zeitungen, die ihm in schwindendem Maße noch möglich waren, halfen wenig. Vor allem aber drohten die Gefahren von Denunziation und Deportation, vor den Folgen regimekritischer Äußerungen bewahrte ihn manches Mal die Protektion des deutschen Generalkonsuls in Neapel und seine mutige Frau Dorothee, die in einer Märznacht 1943 von Sorrent nach Neapel reiste, um eine Aufhebung des Ausweisungsbefehls zu erwirken.« (M. Braun, Heimat) Angesichts der Achsenbildung zwischen Rom-Berlin und des Besuchs Adolf Hitlers in der italienischen Hauptstadt 1938 verschärfte sich die Lage für Emigranten in Italien zunehmend. Andres kehrte schließlich noch einmal für zwei Monate nach Deutschland zurück. In Berlin erlebte er das Judenpogrom am 9. November 1938 und 213
Andreas Burtscheidt
war angewidert von der Brutalität der Übergriffe, die in staatlichem Namen verübt wurden und denen sich kein sichtbarer Widerstand entgegenzustellen schien. Andres kehrte nach Positano zurück. Bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieb der Küstenort nun sein Refugium, auch wenn er sich zwischenzeitlich ebenso in Rom aufhielt. Es entstanden die griechischen Novellen und die italienischen Romane mit zumeist antik-mythischen Themen, in denen Andres eine Ersatzheimat für das Deutschland suchte, in das zurückzukehren ihm jetzt unmöglich erschien. In seinem Hauptwerk, der 2000-seitigen Sintflut-Trilogie, versucht Andres die Interpretation der Diktatur mithilfe von Mythos und Allegorie. Hierbei macht er sich unter anderem den biblischen Noahstoff zu eigen und stellt christliche Werte der Gewalt entgegen. Mit der Wahl dieses Stoffes war Andres ähnlich vorgegangen wie der bedeutendste deutsche Exilautor in derselben Zeitspanne : Auch Thomas Mann (1875–1955) wählte in den Dreißigerjahren die Gestalt des alttestamentlichen Josephs, um sich in seinen Exiljahren in der Schweiz und in den USA mit seiner Tetralogie der Entwertung der christlichen Werte entgegenzustemmen. Gleiches galt für Thomas Manns kürzere Novelle »Das Gesetz«, die 1943 in der Zeit der totalen Entfesselung des Krieges und des Holocausts entstand und die mosaischen zehn Gebote zum »ABC des Menschenbenehmens« erklärte. Etwas früher schrieb 1942 Stefan Andres sein wohl bekanntestes Werk : die Novelle »Wir sind Utopia«, das mehrfach verfilmt, als Drama auf die Bühne gebracht und später von Gustaf Gründgens (1899–1963) inszeniert wurde. Nicht das faschistische Italien oder das nationalsozialistische Deutschland sind Ort der Handlung, sondern ein in den Wirren des Spanischen Bürgerkrieges zum Kriegsgefangenenlager umfunktioniertes altes Kloster. Wie so oft in seinen Werken schimmerte durch die Charaktere seiner Protagonisten auch vieles der eigenen Biographie und Geisteshaltung durch. Mit anderen Gefangenen gelangt der Matrose Paco in ebenjenes ehemalige Kloster, das Paco noch 20 Jahre zuvor als Mönch verlassen hatte. Wieder kommt er in seine alte Zelle zurück. Vor seinem geistigen Auge entsteht abermals die schöne Fantasiewelt Utopia, die er während seiner vormaligen Zeit im Kloster als Hort des Friedens erträumte. Als der Lagerkommandant Pedro von Paco die Absolution für seine Kriegsverbrechen erbittet, bietet sich Paco die Gelegenheit, den Kommandanten zu ermorden und damit seine Mitgefangenen zu befreien. Paco entscheidet sich aber dafür, seinem damals gegebenen Gelübde treu zu bleiben und sich nicht auf eine Stufe mit dem Gewalttäter zu stellen (hierin El Greco und Cazalla ähnlich). Für die Familie Andres war der Tod der ältesten Tochter Mechthild (mit neun Jahren) am 25. November 1942 als Folge einer Typhusinfektion wohl der schwerste Einschnitt in den Jahren des italienischen Exils. Seinen Verlust verarbeitete Stefan Andres in lyrischer Form. Ein halbes Jahr zuvor, am Ostersonntag des Jahres 1942, hatten Stefan und Dorothee Andres in der deutschen Nationalkirche in Rom, der Santa Maria dell’Anima, kirchlich geheiratet. Während der Zeremonie wurde auch die Konversion Dorothees zum katholischen Glauben vollzogen. Nach dem Ende des 214
Stefan Andres (1906–1970) Abb. 2: Stefan Andres, Porträtfoto, um 1938
Zweiten Weltkrieges dauerte es noch weitere drei Jahre, ehe Stefan Andres 1948 zu einer ersten Lesung nach Deutschland zurückkehrte. 4. Nachkriegsautor in der jungen Bundesrepublik Die Heimkehr des Autors war freilich eine »Rückkehr mit Hindernissen« (M. Braun, Heimat). Einreisegesuche nach Trier wurden sowohl 1946 als auch 1949 abgelehnt ; zwischenzeitlich galt Andres sogar als verschollen. Erst 1950 kehrte die Familie im Zuge der Repatriierung wieder zurück an den Rhein. In Unkel am Rhein ließ sich die Familie bis 1961 nieder ; hier wurde das erste Eigenheim gebaut. In der Nähe seines Geburtsortes Trittenheim ließ sich Stefan Andres in den Weinbergen später noch eine kleine Klausur errichten, in die er sich immer wieder zum Schreiben zurückziehen konnte. Mit dem Piper-Verlag in München fand Andres 1949 auch den Verlag, der fortan seine Werke verlegte. Eines der bedeutendsten Dramen von Stefan Andres war »Gottes Utopia«, das 1950 unter der Regie von Gustaf Gründgens in Düsseldorf uraufgeführt wurde. Sein autobiografisch gefärbter Roman »Der Knabe im Brunnen« erschien 1953. Es folgten ab 1950 reiche Schaffensjahre, in denen Stefan Andres viele Preise und Ehrungen erhielt. Bereits 1949 erhielt er den Rheinischen Literaturpreis, 1952 den Literaturpreis von Rheinland-Pfalz, 1954 den Großen Kunstpreis Nordrhein-West215
Andreas Burtscheidt
falens. Auch in Italien würdigte man das Werk des Schriftstellers, der das Land als Exilort gewählt hatte, 1957 mit der Verleihung des Komturkreuzes. Die Bundesrepublik Deutschland verlieh ihm 1958 das Große Verdienstkreuz. Ein Jahr zuvor erhielt Andres den Dramatikerpreis der Stadt Oldenburg. In den Fünfzigerjahren bestand insbesondere bei der jüngeren Generation ein starkes Verlangen, in der Literatur eine philosophisch-moralische Auseinandersetzung mit dem Geschehen und Erleben der Jahre der NS-Diktatur zu suchen. Vor diesem Hintergrund erreichte Andres den Zenit seiner Popularität. Zwischen 1949 und 1961 erschienen 22 eigenständige Werke. Als Autor war er nicht nur in der deutschen Presse vertreten, die häufig seine Texte abdruckte, sondern unternahm auch zahlreiche Lesereisen nach Westeuropa und Amerika. Sein Unkeler Haus wurde zu einer beliebten Begegnungsstätte, egal ob dort Intellektuelle oder einfach nur die Nachbarschaft zusammenkamen. In der Bonner Residenz des Bundespräsidenten, der Villa Hammerschmid, war er häufiger zu Gast. Von den deutschen Nachkriegspolitikern stand ihm der liberale erste Bundespräsident Theodor Heuss (1884–1963) politisch wohl am nächsten. Nach 1945 scheint ein ebenfalls aufstrebender deutscher Literat ein besonders anregender Geist für Stefan Andres zu werden : Heinrich Böll (1917–1985). Es steht außer Frage, dass sich beide Autoren in den Fünfzigerjahren literarisch gegenseitig in ihrer Stilistik, Textstruktur und Themenenwahl beeinflussten. So zeigen sich zahlreiche Ähnlichkeiten, wenn in »Briefe eines jungen Klarinettisten« (Andres) und »Ansichten eines Clowns« (Böll) jeweils eine Clownfigur als Medium ihre »Ansichten« vermittelt – mal mit Klarinetten-, mal mit Gitarrenbegleitung. In »Wir sind Utopia« (Andres) und »Wanderer kommst du nach Spa…« (Böll) liegt die Ähnlichkeit in der zufallsbestimmten Rückkehr der Hauptfiguren zu ihren früheren Ausgangspunkten. Thematische Verwandtschaft zeigen die Texte »Die beiden Pharaonen« (Andres) und »Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral« (Böll). In beiden werden die ziel- und zweckorientierte Mentalität des Mitteleuropäers der Lebensweise des süd- beziehungsweise westeuropäischen Küstenbewohners gegenübergestellt. (Vgl. Rundbrief der Stefan-Andres-Gesellschaft, Juli 2012) In den Fünfzigerjahren engagierte sich Andres zunehmend politisch. Er wurde Mitglied des P. E. N. und der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. Auch zu aktuellen politischen Fragen nahm er öffentlich Stellung. Als überzeugter Pazifist lehnte er die Wiederbewaffnung der Bundeswehr ebenso ab wie die atomare Aufrüstung – hiervon zeugt die Streitkorrespondenz mit Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967). Ebenso beteiligte er sich an Ostermärschen gegen die Stationierung von amerikanischen Raketen in Deutschland und sprach sich wiederholt in Aufsätzen und Reden gegen das Wettrüsten aus. Im Kalten Krieg stand er für eine Politik der Verständigung zwischen Ost und West und hoffte auf eine deutsche Wiedervereinigung. Vehement forderte er im »Kuratorium Unteilbares Deutschland« die Aufhebung des Wiedervereinigungstabus und das Niederreißen der Berliner Mauer. Für die Idee eines 216
Stefan Andres (1906–1970)
geeinten Europas hatte er bereits geworben, als dies nur wenige taten. Die Politik der Regierung Adenauer sagte ihm ebenso wenig zu wie die oppositionelle SPD in den späteren Fünfzigerjahren. Auf sie hatte er seine Hoffnungen gesetzt, zeigte sich nach der Verabschiedung des Godesberger Programms 1959 aber enttäuscht. Ab dem Ende der Fünfzigerjahre setzte bei Andres ein Entfremdungsprozess ein – Andres fühlte sich in Deutschland nicht mehr wohl, nicht mehr beheimatet. Dies zeigte sich auch in der Nichtbeachtung durch die jüngere Schriftstellergeneration. Zu den Tagungen der Gruppe 47 wurde er nie eingeladen. Nicht uninteressant erscheint in diesem Zusammenhang auch eine wachsende Entfremdung zwischen Böll und Andres. Ausdruck fand dies in der negativen Darstellung der Figur des »Schnitzler« in Bölls »Ansichten eines Clowns« (1963), die unverkennbar Züge von Stefan An dres trägt. Andres’ Stern begann zu sinken. Seine recht umständliche, metaphernreiche Erzählweise und sein idealistisches Selbstverständnis mit einem christlich geprägten Humanismus überzeugten die neuen Geister der Literaturkritik längst nicht mehr. Immer mehr setzte sich bei Stefan Andres die Auffassung durch, dass die westdeutsche Bundesrepublik nicht seinen Vorstellungen eines erneuerten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg entsprach. Nach einer längeren Studien- und Urlaubsreise durch Italien 1960 reifte bei Dorothee und Stefan Andres der Entschluss heran – die beiden Töchter hatten längst geheiratet und das Unkeler Haus verlassen –, nach Italien zurückzukehren. Im Herbst 1961 siedelte das Ehepaar nach Rom über. Die Wahl fiel bewusst nicht auf Positano, das Andres im Jahr zuvor noch besucht hatte. Nachdem Papst Johannes XXIII. (1881–1963) die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils angekündigt hatte, erschien ihm Rom als der für ihn faszinierendste Ort, wo er Anregungen für sein Schaffen erwartete. In Rom konnte er Literaten wie Theologen und Geistliche treffen, die seinem Denken nahestanden. Innerhalb der um die Anima versammelten deutschen Gemeinde wuchs Stefan Andres zu einer festen Größe empor. 5. Rom als letzte Lebensstation Zur Mitte der Sechzigerjahre wurde es stiller um den Autor, seine Werke immer philosophischer. Dennoch ist Stefan Andres vielleicht von dem letzten römischen Lebensjahrzehnt her am besten zu verstehen : »Der politische Autor wandelte sich endgültig zum philosophischen Dichter, der dionysische Daseinsfreude mit apollinischer Askese vereinen konnte. Sein Weltbild war frei von Lügen, aber nicht von Widersprüchen : Heimat und Weltbürgertum, Utopie und Welterfahrung, Christentum und Platonismus gehören als entgegengesetzte Pole zusammen. Stefan Andres hat viel über seine Heimat und sein Vaterland geschrieben, Freundliches und Kritisches, Denkwürdiges und Bedenkenswertes, aber er hat in Deutschland immer Europa und die Welt gesucht, eine nationale und politische Grenzen überschreitende kulturelle Einheit auf dem Fundament der christlich-huma217
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nistischen Werteordnung. Andres war, wenn überhaupt, ein unbehauster, ein obdachloser Heimatdichter. Für den Weltbürger Stefan Andres war die Heimat letztlich die deutsche Literatur.« (M. Braun, Heimat) 1968 brach er noch einmal zu einer großen Reise nach Asien und in den Orient auf. Im Juni 1970 musste er sich einem leichten urologischen Eingriff unterziehen, der jedoch eine Komplikation nach sich zog. Der in Deutschland mittlerweile schon fast in Vergessenheit geratene Schriftsteller starb drei Tage nach seinem 64. Geburtstag am 29. Juni 1970 in Rom. Er wurde auf dem Friedhof der Deutschen im Vatikan, dem Campo Santo Teutonico beigesetzt ; auch seine Witwe Dorothee Andres fand hier 2002 ihre letzte Ruhe. Stefan Andres war ein vielseitiger Autor, dessen Werke in den Fünfziger- und Sechzigerjahren regelmäßig mit einer Millionenauflage auf den Bestsellerlisten zu finden waren. Mehrere seiner Stücke wurden verfilmt ; »Wir sind Utopia« gleich viermal. In seinen Werken vertrat Andres eine Form des christlichen Existentialismus – immer wieder setzte er sich mit der Lebensgestaltung des Menschen zwischen Freiheit und Schuld auseinander, wobei die aktuellen Stoffe meist auf antike und mythologische Handlungsebenen transferiert wurden, dabei aber nie den Anspruch einer kritischen Zeitzeugenschaft verloren. Gerade die Beschränkungen von Diktatur, Gewalt und Fanatismus, die seine eigene Lebensspanne prägten, finden sich in seinen Stücken – wenn auch in andere Zeiten versetzt – wieder. Andres’ christliche Prägung, seine lebenslange Suche nach Gott und Wahrheit artikulierte er in einer schnörkellos-reduzierten Sprache, die immerzu einem höheren Humanismus verpflichtet blieb. Wirklich angekommen ist der Autor Stefan Andres so aber nie : »Das pränationalsozialistische Deutschland wollte und konnte Stefan Andres als ›Heimatdichter‹ haben, aber er wollte nicht diese Heimat als Diktatur. In der inneren Emigration im faschistischen Italien durfte er keine Heimat sein eigen nennen und suchte sich eine Ersatzheimat im weltbürgerlichen Humanismus der griechisch-römischen Antike. Und die Heimat, die Stefan Andres, als der Krieg zu Ende war, in Unkel am Rhein fand, wollte ihn nicht mehr, den Ostermarschierer und unzeitgemäßen Anwalt der deutschen und europäischen Einheit, so dass er 1961 dem Vaterland den Rücken kehrte und nach Rom zog.« (M. Braun, Heimat) Der Nachlass von Stefan Andres befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Die Stefan-Andres-Gesellschaft bemüht sich seit 1979 um das Andenken des Dichters durch regelmäßig abgehaltene Veranstaltungen, Konferenzen, Lesungen und Diskussionen. Seit 1986 verleiht sie alle drei Jahre den Stefan-Andres-Preis der Stadt Schweich.
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Stefan Andres (1906–1970)
Werke Romane Das Heilige Heimweh. Originalroman von Paulus Andres, Leipzig, 1928/29 ; Bruder Luzifer, Jena 1932 ; Eberhard im Kontrapunkt. Ein Roman, Köln 1933 ; Die unsichtbare Mauer, Jena 1934 ; Der Mann von Asteri, Berlin, 1939 ; Die Hochzeit der Feinde, Zürich, 1947 ; Ritter der Gerechtigkeit, München 1948 ; Das Tier aus der Tiefe, München 1949 ; Die Arche, München 1951 ; Die Liebesschaukel, München 1951 ; Der Knabe im Brunnen, München 1953 ; Die Reise nach Portiuncula, München 1954 ; Der graue Regenbogen, München 1959 ; Der Mann im Fisch, München 1963 ; Der Taubenturm, München 1966 ; Die Dumme, München 1969 ; Die Versuchung des Synesios, München 1971 ; Die Sintflut. Stefan Andres Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. John Klapper, Göttingen 2007 ; Tanz durchs Labyrinth – Lyrik, Drama, Hörspiel. Stefan Andres Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Claude D. Conter, Göttingen 2012. Erzählungen Das Märchen im Liebfrauendom. Fünf Märchen für Marienkinder, Leipzig 1928 [veröffentlicht als Paulus Andres] ; Der kleine Klunk. Drei Erzählungen, in : Münchner Neueste Nachrichten vom 9. Februar 1936, 9. August 1936 und 24. November 1936 ; El Greco malt den Großinquisitor. Erzählung, Leipzig 1936 ; Vom heiligen Pfäfflein Domenico. Erzählung, Leipzig 1936 ; Utz, der Nachfahr. Novelle, Saarlautern 1936 ; Moselländische Novellen, Leipzig 1937 [Neuauflage 1949 als Gäste im Paradies. Moselländische Novellen] ; Das Grab des Neides. Novellen, Berlin 1940 ; Der gefrorene Dionysos. Erzählung, Berlin 1943 [Neuauflage 1951 als Die Liebesschaukel. Roman] ; Wir sind Utopia. Novelle, Berlin 1942 ; Wirtshaus zur weiten Welt. Erzählungen, Jena 1943 ; Das goldene Gitter. Erzählung, Berlin 1943 ; Die Häuser auf der Wolke. Kindermärchen, Opladen 1950 ; Das Antlitz. Erzählung, München 1951 ; Die Rache der Schmetterlinge. Eine Legende, Freiburg i. Br. 1953 ; Positano. Geschichten aus einer Stadt am Meer, München 1957 ; Die Verteidigung der Xanthippe. Zwölf Geschichten, München 1960 ; Novellen und Erzählungen [enthält : El Greco malt den Großinquisitor, Die Vermummten, Die unglaubwürdige Reise des Knaben Titus, Das Grab des Neides, Wir sind Utopia, Wirtshaus zur weiten Welt, Das Antlitz, Am Brunnen der Hera], München 1962 ; Das goldene Gitter. Novellen und Erzählungen II [enthält : Der Mörderbock, Das goldene Gitter, Der Menschendieb, Gäste im Paradies, Der olympische Frieden, Der Weg durch den Zwinger, Die Rache der Schmetterlinge, Die beiden Pharaonen, Amelia], München 1964 ; Die biblische Geschichte. Erzählt von Stefan Andres, München/Zürich 1965 ; Noah und seine Kinder. 15 Legenden, München 1968 ; Die große Lüge. Erzählungen, München 1973 ; Gäste im Paradies. Moselländische Novellen. Stefan Andres Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Hans Wagener, Göttingen 2008 ; Terrassen im Licht. Italienische Erzählungen. Stefan Andres Werke in Einzelausgaben. [Enthält u. a. einige hier erstmals veröffentlichte Texte mit Italien-Thematik], hrsg. v. Dieter Richter, Göttingen 2009 ; Wir sind Utopia. Prosa aus den Jahren 1933–1945. Stefan Andres Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Erwin Roterm und Heidrun Ehrke-Roterm unter Mitarbeit von Thomas Hilsheimer, Göttingen 2010.
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Andreas Burtscheidt
Dramatische Werke Der ewige Strom. Oratorium. Musik von Wilhelm Maler, Mainz/Leipzig 1936 ; Schwarze Strahlen. Kammerspiel, Berlin 1938 ; Ein Herz, wie man’s braucht. Schauspiel, Stockholm/ New York 1946 ; Die Söhne Platons. Komödie, Berlin 1946 [Neuausgabe 1956 als : Die Touristen. Eine burleske Komödie] ; Tanz durchs Labyrinth. Dramatische Dichtung in fünf Bildern, München 1948 ; Gottes Utopia. Tragödie, Berlin 1949 ; Der Reporter Gottes. Eine Hörfolge in 10 Kapiteln, Frankfurt a. M. 1952 ; Wann kommen die Götter ? Drama, Berlin 1956 ; Sperrzonen. Eine deutsche Tragödie, Berlin 1957 ; Sperrzonen. Hörspiel, Hamburg 1959 ; Vom Abenteuer der Freude. Chorwerk. Musik von Harald Genzmer, Mainz 1960. Lyrik Die Löwenkanzel, Köln 1933 ; Requiem für ein Kind, Hamburg 1948 ; Der Granatapfel. Oden, Gedichte, Sonette, München 1950 [Erweiterte Neuausgabe 1976 als : Gedichte] ; Gedichte, München 1966. Autobiographisches und Briefwechsel Selbstdarstellung. Autobiographische Skizze. in : Wirrnis und Ewigkeit, Witten (Württemberg) 1934 ; Ein Briefwechsel um Trier. Geführt zwischen Stefan Andres und W. B. [= Wilhelm Bracht], Trier 1946 ; Lieber Freund, lieber Denunziant. Briefe, München 1977 ; Günther Nicolin (Hg.), Briefwechsel mit Ernst Jünger 1937–1970, Stuttgart 2007. Essays Innere Emigration, in : Willy Sternfeld (Hg.), Innere Emigration, Rudolstadt 1946 ; An einen Staatssklavenbildner. Der Fall Johannes R. Becher, in : Der Monat 29/1951, S. 487 ff.; Von der Würde des Schriftstellers, in : Deutsche Rundschau 7/1954, S. 698 ff.; Daran glaube ich, in : Kristall (Hamburg) 16/1955 ; Bild und Maßstab, in : Karlheinz Deschner (Hg.), Was halten Sie vom Christentum ?, o. O. 1957, S. 116 ff.; Toleranz. Die Brücke zwischen Wahrheit und Freiheit, Oldenburg 1958 ; Nie wieder Hiroshima. Hrsg. zusammen mit Helmut Gollwitzer u. a., Lahr 1960 ; Der 20. Juli. Tat und Testament, Frankfurt a. M. 1966 ; Der Dichter in dieser Zeit. Reden und Aufsätze, München 1974. Reise- und Weinbücher Italiener, Berlin 1943 [Neuauflage als : Umgang mit Italienern, Nürnberg 1949] ; Main Nahe(zu) Rhein Ahrisches Saar Pfalz Mosel Lahnisches Weinpilgerbuch, Neuwied 1951 ; Die großen Weine Deutschlands, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1960 ; Ägyptisches Tagebuch, München 1967 ; Die Mosel. Mit Fotos von Hermann Weisweiler, Köln 1968.
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Stefan Andres (1906–1970)
Literatur (Auswahl) Clément André, Dichtung im Dritten Reich. Stefan Andres »Die Arche« (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 10), Bonn 1960 ; Dorothee Andres, »Carpe diem …« Mein Leben mit Stefan Andres, Bonn 2009 ; Sieghild von Blumenthal, Christentum und Antike im Werk von Stefan Andres (Schriftenreihe Poetica, Bd. 37), Hamburg 1999 ; Karl Bongardt, Stefan Andres (Reihe Christ in der Welt, Bd. 72), Berlin 1990 ; Michael Braun, Stefan Andres. Leben und Werk, Bonn 1997 ; ders. (Hg.), Stefan Andres. Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts (Trierer Studien zur Literatur, Bd. 32), Frankfurt a. M. u. a. 1999 ; ders./Georg Guntermann/Christiane Gandner (Hgg.), Gerettet und zugleich von Scham verschlungen – Neue Annäherungen an die Literatur der »Inneren Emigration«. Hrsg. für die Stefan-Andres-Gesellschaft, Werner Bergengruen-Gesellschaft, Elisabeth Langgässer-Gesellschaft, Gertrud von le Fort-Gesellschaft. Internationales Symposium anlässlich des 100. Geburtstages von Stefan Andres im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, 30. Juni–1. Juli 2006 (Trierer Studien zur Literatur, Bd. 48), Frankfurt a. M. 2007 ; Eric Sigurd Gabe, Macht und Religion. Analogie zum Dritten Reich in Stefan Andres’ Trilogie »Die Sintflut«, Bern u. a. 2000 ; Hans Henneke, Stefan Andres. Eine Einführung in sein Werk, München 1962 ; John Klapper, Stefan Andres. Der christliche Humanist als Kritiker seiner Zeit, Bern 1998 ; Uwe Klein, Stefan Andres. Innere Emigration in Deutschland und im »Exil«, Diss., Mainz 1990 ; Leonard Reinirkens, Stefan Andres. Sein Jahrzehnt in Unkel und sieben Jahre Nachbarschaft, Unkel 2011 ; Christoph Schmitt, Andres, Stefan Paul, in : Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 18, Herzberg 2001, Sp. 64–70 ; Utopia und Welterfahrung. Stefan Andres und sein Werk im Gedächtnis seiner Freunde, München 1972. Online Michael Braun, Heimat und Weltbürgertum. Rede zur Veranstaltung »Sonderbriefmarke Stefan Andres« der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., abgerufen unter : https://www.kas.de/c/ document_library/get_file ?uuid=6c40c70c-65a9-cc0f-a1e0-e35278b1ea2f&groupId=252038 (Stand : 31.3.2019). Internetpräsenz der Stefan-Andres-Gesellschaft, abgerufen unter : http://stefan-andres-gesellschaft.de (Stand : 31.3.2019).
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Martin Pesch
Wim Thoelke (1927–1995) Fernsehmoderator, Sportfunktionär und Unternehmer
»Wer hauptberuflich Heiterkeit und Entspannung verbreitet, kommt nicht in das Buch der Geschichte.« Mit diesem Fazit schloss Wim Thoelke 1995 seine Autobiographie und versuchte damit gleichzeitig eine historische Einordnung seiner Person und Lebensleistung. Bei einem genaueren Blick auf die Vita des Moderators wird jedoch schnell klar, dass diese für Thoelkes bodenständiges Image typisch bescheidene Aussage seinem Stellenwert in der Pop- und Fernsehkultur der damaligen Bundesrepublik keineswegs gerecht wird. Schließlich prägte der Moderator über 30 Jahre lang die deutsche TV-Unterhaltung entscheidend mit. Durch seine charmant-kumpelhafte und seriös-faire Art war er als Moderator des »Aktuellen Sportstudios« beim jungen ZDF in den 1960er-Jahren zum Publikumsliebling avanciert. Im nächsten Jahrzehnt folgte durch seine beiden sozialen Lotterie- und Quizshows »3x9« und »Der Große Preis« der endgültige Aufstieg zu einem der beliebtesten Unterhaltungsstars im deutschen Fernsehen. In dieser Zeit lockten seine Shows durchschnittlich 25 Millionen Zuschauer vor den Bildschirm. Noch heute erinnert man sich zahlreicher Ereignisse in Thoelkes Sendungen als Programmhöhepunkte damaliger Fernsehunterhaltung. Dazu zählen zum Beispiel der aufsehenerregende Auftritt des Löffel verbiegenden Mentalisten Uri Geller (geb. 1946) bei »3x9« oder auch der dortige Gesangsvortrag des damaligen Außenministers und Vizekanzlers Walter Scheel (1919–2016) von »Hoch auf dem gelben Wagen«, der diesem eine Platzierung in den Top Ten der deutschen Singlecharts einbrachte. Im kollektiven Gedächtnis bleibt Thoelkes Name bis heute vor allem mit zwei Begriffen untrennbar verknüpft : der Behindertenhilfe »Aktion Sorgenkind« (heute »Aktion Mensch«), für die er mit seinen Lotteriesendungen in über 20 Jahren 1,7 Milliarden D-Mark sammelte, und den Zeichentrickfiguren »Wum« und »Wendelin«, die in Thoelkes Sendungen für das Gewinnspiel der Aktion warben. Dabei reichte der Wirkungsgrad des aus dem rheinischen Teil des Ruhrgebiets stammenden Moderators weit über die Fernseharbeit hinaus. Schon vor seiner Karriere als Massenunterhalter konnte Thoelke als Geschäftsführer des Deutschen Handballbundes drei Weltmeisterschaftserfolge im Feldhandball feiern. Wenig später versuchte er als kaufmännischer Leiter einer bayerischen Fluggesellschaft, dem neu zu schaffenden deutschen Nachtluftpostdienst seinen Stempel aufzudrücken. Auf dem Gipfel seiner Popularität als Showmaster reichten seine nebenberuflichen Beschäftigungen vom Zeitungsherausgeber und Mitbegründer einer österreichischen Fluglinie über Tätigkeiten als Modemacher, Raketeninvestor und Autohändler. 223
Martin Pesch Abb. 1: Wim Thoelke mit den goldenen »Wum und Wendelin« im Rahmen der Sendung »Der Große Preis«, Foto : Barbara Oloffs, undatiert
Mag das neugierige und umtriebige Multitalent auch einen Großteil seines Berufsund Privatlebens außerhalb des Rheinlands, vor allem an dessen südlicher Grenze verbracht haben, rechtfertigen nicht nur seine frühen Lebensjahre in Mülheim an der Ruhr und Köln das Erscheinen seiner Biographie in dieser Buchreihe. Als »rheinische Persönlichkeit« fühlte er sich seiner Heimat zeitlebens verbunden. So bekundete er noch 1989 nach einem Gastvortrag in Mülheim, wie sehr er sich in seiner Geburtsstadt zu Hause fühle. 1. Kindheit, Jugend und Studienzeit Georg Heinrich Wilhelm Thoelke kam am 9. Mai 1927 als erstes von drei Kindern des Studienrats Josef Wilhelm Thoelke (1889–1973) und dessen Ehefrau Martha geborene Stiepermann (1895–1969) in Mülheim an der Ruhr zur Welt. Der in Frankfurt am Main geborene Vater – ein promovierter Historiker – war nach seinem Studium von 1919 bis 1920 zunächst als Studienassessor an der höheren Schule in Haspe tätig. Anschließend wechselte er auf das Mercator-Gymnasium in Duisburg ; ebendort wurde er 1939 Oberstudiendirektor am Frau-Rat-Goethe-Gymnasium. Der früh verstorbene 224
Wim Thoelke (1927–1995)
Großvater Georg Wilhelm Thoelke (1859–1895) stammte aus dem niedersächsischen Gockenholz und hatte in Frankfurt als Postassistent gearbeitet. Seine Ehefrau Bertha Bader (1866–1922) kam aus dem badischen Malsch. Während Wim Thoelke keinen dieser beiden Großelternteile kennenlernte, besaß er ein enges Verhältnis zu seinem aus Aplerbeck (heute Dortmund) stammenden Großvater mütterlicherseits, Heinrich Stiepermann (1859–1947). Mit ihm verbrachte er in seiner Kindheit viel Zeit. Stiepermann war zunächst Stabstrompeter im preußischen »3. Garde-Regiment zu Fuß«, danach Meldeamtssekretär in Mülheim an der Ruhr. Nach seiner Verrentung führte er einen Zigarrenladen, der wenig später in Konkurs ging. Seine Ehefrau Wilhelmine Holtwisch (1866–1944) war gebürtig aus Mülheim-Speldorf. Bereits seit seiner Kindheit wurde Thoelke »Wim« genannt, eine plattdeutsche Abwandlung seines Rufnamens Wilhelm, die in seinem Geburtsort geläufig war. Als Fernsehmoderator sollte später der Spitzname »Big Wim« hinzukommen, der sich nicht nur auf seine körperliche Statur und Größe, sondern auch auf seinen Erfolg und seine Popularität beim Publikum bezog. Der spätere Showmaster wuchs gemeinsam mit den beiden Geschwistern Rosemarie (geb. 1928) und Karl (1930–1983) auf, der 1966 beim Duisburger Stahlkonzern »Klöckner & Co« zunächst Mitglied in der Direktion Stahl und später Mitgesellschafter wurde. In Speldorf bewohnte die Familie eine Wohnung im Haus des Bauunternehmers Anton Fuchs in der Schumannstraße 18. Seine Kindheit in einem gutbürgerlichen Haushalt in dem ländlich geprägten Ortsteil beschrieb Thoelke später als behütet und unbeschwert. So erinnerte er sich in seiner Autobiographie an sonntägliche Familienspaziergänge zu einem Ausflugslokal in Mülheim-Saarn und das Mithelfen auf einem in der Nachbarschaft liegenden Bauernhof. Im Elternhaus habe ein toleranter Ton und großer Zusammenhalt geherrscht ; die Mutter liebevoll, Freundin klassischer Musik und Operngängerin – der Vater streng, gebildet, aber ohne Sinn für die Künste, vor allem die modernen Medien Film und später das Fernsehen. Wichtige Bezugsperson für den jungen Wim war das Kindermädchen Agnes, das er als »Glück« seiner Kindheit bezeichnete. Ab 1933 besuchte er die Volksschule am Blötter Weg in Mülheim-Speldorf. Eine Affinität zum Sport war schon früh vorhanden. Wie sich Theo Münten, ein Freund aus Kindertagen, erinnerte, habe man als Kinder so oft wie möglich die Partien des damals in der Bezirksliga Niederrhein spielenden VfB Speldorf gesehen und dabei das gemeinsame Torwartidol Fritz Buchloh (1909–1998), damals Keeper der deutschen Nationalmannschaft, bewundert. Wenige Jahre später spielte Thoelke als Torwart selbst für den Verein. Jedoch musste er dort meist auf der Ersatzbank Platz nehmen und wechselte schließlich als Torhüter zum Kahlenberger Hockeyclub. Ab April 1937 besuchte Wim das Mercator-Gymnasium in Duisburg, das er im Februar 1943 vorzeitig verlassen musste, weil er als Luftwaffenhelfer eingezogen wurde. Stationiert an einer Flakbatterie in Duisburg-Beeck erlebte Wim in den kommenden Monaten die verheerenden alliierten Luftangriffe auf die Ruhrgebietsstadt, so zum 225
Martin Pesch
Beispiel am 12./13. Mai 1943 sowie im Mai und Oktober 1944. Anfang November 1944 wurde Thoelke schließlich zum Reichsarbeitsdienst in Aalen und später in Jitschin (heute Jičín, Tschechien) einberufen. Dort erhielt er eine kurze Fliegerausbildung in Form eines Segelfliegerkurses, die in ihm eine lebenslange Leidenschaft für das Fliegen weckte. Zu einem Gefechtseinsatz scheint es aufgrund einer Verletzung durch einen Granatsplitter, die sich Thoelke als Mitglied der Infanterie-Division »Friedrich Ludwig Jahn« bei Michendorf (Brandenburg) zugezogen hatte, nicht mehr gekommen zu sein. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges half Thoelke zunächst für kurze Zeit als Hilfsarbeiter beim Wiederaufbau in Hamburg. Nach seiner Rückkehr in den elterlichen Haushalt im Oktober 1945 besuchte er wieder das Mercator-Gymnasium in Duisburg, an dem er 1946 das Abitur ablegte. Anschließend begann er eine kaufmännische Lehre bei einer Bergbaufirma, in der er bis zum Direktionsassistenten aufstieg. Jedoch brach er diese Laufbahn wenig später ab, um im Sommer 1946 ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Köln aufzunehmen. Die Hochschule gehörte aufgrund ihres Lehrkörpers in dem Fachbereich schon damals zu den renommiertesten Deutschlands. Zu Thoelkes Lehrern zählten der spätere Präsident des Bundesarbeitsgerichts Hans Nipperdey (1895–1968), bei dem er Bürgerliches Recht hörte, der Zivilprozessrechtler Heinrich Lehmann (1876–1963) und der Finanzexperte Günter Schmölders (1903–1991). Während seiner Studienzeit mietete Thoelke ein Zimmer beim Ehepaar Wilhelm Reuß in der Siemensstraße 20 im Stadtteil Ehrenfeld. Die finanzielle Situation seines Vaters, der aufgrund seiner NS-Vergangenheit zum Studienrat zurückgestuft, erst ab 1948 wieder für ein Jahr am Mercator-Gymnasium unterrichtet hatte und dann bis 1954 als Lehrer am Duisburger Steinbart-Gymnasium tätig war, ließ eine Unterstützung des Sohnes kaum zu. Daher übernahm Thoelke – vor allem in den Semesterferien – verschiedene Gelegenheitsjobs zur Finanzierung seines Lebensunterhalts. So arbeitete er unter anderem im Baugewerbe, in der Duisburger Kupferhütte, einem Schwefelwerk sowie als Nachtwächter, Schriftenmaler oder Statist bei den städtischen Bühnen Köln. Während des Studiums blieb er auch sportlich aktiv. Als Torwart spielte er für die Handball-, Hockey- und Fußballmannschaft der Universität Köln. Neben ihm im Tor des Fußballteams stand der spätere Nationaltorhüter Fritz Herkenrath (1928–2016), mit dem er in dieser Zeit auch gemeinsam Tennis spielte. In Köln lernte er zudem an Karneval 1952 seine spätere Ehefrau Ursula Oertel – genannt Ulla – kennen, die aus Simmern stammt. Im Laufe des Studiums hatte der Rundfunk, der sich infolge der Landesrundfunkgesetze 1948/49 und der Gründung der ARD 1950 im Wiederaufbau befand, Thoelkes Interesse geweckt. Laut seinen Memoiren hegte er nunmehr den Traum, Sportreporter zu werden. So übte er privat unter anderem mit Aufnahmegeräten, um sich die Sprechtechnik eines Reporters anzueignen. Entertainerqualitäten besaß der lustige und sprachgewandte Student laut seinem Freund und Kommilitonen Hans-Jürgen Schumacher (1928–2019) schon damals. Derweil schwand Thoelkes Begeisterung für 226
Wim Thoelke (1927–1995)
die Rechtswissenschaften zunehmend. In der Hoffnung, durch die Recherche in Kontakt zum Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) zu kommen, begann Thoelke eine Dissertation zum Thema »Rechtliche, besonders urheberrechtliche Probleme des Fernsehens«. Zwar schloss er sich daraufhin dem Jugendorchester des NWDR an, Fernsehschaffende lernte er aber nicht kennen. 2. Geschäftsführer des Deutschen Handballbundes und erste Schritte als Sportreporter Sein Studium und die Promotion brach Thoelke 1952 ab, nachdem er sich durch einen selbstbewussten Auftritt erfolgreich auf die in einer Tageszeitung inserierte Stelle als Geschäftsführer des Deutschen Handballbundes (DHB) beworben hatte. Der Verband wurde damals von seinem Gründungspräsidenten Willi Daume (1913–1996) geleitet, der neben mehreren Ämtern als Sportfunktionär, wie dem Vorsitz des Deutschen Sportbundes, auch an verschiedenen Wirtschaftsunternehmen beteiligt war. Unter anderem führte er eine eigene Eisengießerei in Dortmund. Zwischen Thoelke und dem 14 Jahre älteren Daume entwickelte sich bald nicht nur eine enge Freundschaft. Für den jungen Geschäftsführer wurde sein Vorgesetzter auch zum Mentor. So äußerte Thoelke rückblickend, dass Daume ein Mann gewesen sei, dem er »viel zu verdanken« und der ihm »verschiedene Fenster zur Welt geöffnet« habe. Dazu zählte zweifellos auch Daumes Rat, im Leben nicht nur auf einem beruflichen Standbein zu stehen. Bei dem in Dortmund ansässigen Verband übernahm Thoelke vor allem organisatorische Tätigkeiten. In dieser Zeit wurde besonders der Länderspielbetrieb ausgebaut, wobei sich Thoelke um die Vorbereitung der Spiele, Reisen und Devisenanträge kümmerte. Er organisierte aber auch andere Veranstaltungen, wie Sportverbandstagungen. Bereits im Jahr seiner Einstellung erlebte er mit dem DHB einen ersten großen Erfolg, als Deutschland Weltmeister im Feldhandball wurde. Für die folgende Weltmeisterschaft 1955 im eigenen Land, bei der Deutschland den Titel verteidigen konnte, übernahm Thoelke die Leitung des WM-Organisationsbüros. Die Stärke Deutschlands im Feldhandball brachte der Nationalmannschaft für den September des folgenden Jahres eine Einladung vom japanischen Handballverband zu einer mehrwöchigen Spielreise durch Japan ein. Diese stand unter Schirmherrschaft des Prinzen Takamatsu (1905– 1987), der als Ehrenpräsident verschiedener Organisationen unter anderem für den interkulturellen Austausch und Sport zuständig war. Die Rundreise fand unter großer medialer Beachtung und regem Interesse der Bevölkerung statt. Beim Abschlussspiel nutzte Thoelke, der inzwischen auch für den Rundfunk tätig war, die Gelegenheit, ein Radiointerview mit Takamatsu zu führen. Den Kontakt zu den Medien hatte die Arbeit als Geschäftsführer eines nationalen Sportverbands zwangsläufig mit sich gebracht. Die erhoffte Chance, im Sportjourna227
Martin Pesch
lismus Fuß zu fassen, ergab sich schließlich Anfang 1953 infolge einer internationalen Schiedsrichterkonferenz in Karlsruhe. Von hier hatte Thoelke auf Bitten des damaligen Sportfunkleiters des Süddeutschen Rundfunks (SDR) Gerd Krämer (1920–2010) ein zehnminütiges Interview mit vier der anwesenden Schiedsrichter aufgezeichnet. Dank der wetterbedingten Absage sämtlicher deutscher Freiluftsportveranstaltungen am nächsten Tag fehlte Sendematerial, weshalb der Beitrag laut Thoelke von zahlreichen Sendern übernommen worden sei. Das Interview blieb bei Rundfunkmachern im Gedächtnis. So erhielt Thoelke am 31. Januar 1953 vom NWDR als Vertreter für einen Reporter die Gelegenheit, von der Westdeutschen Hallenhandball-Meisterschaft in der Dortmunder Westfalenhalle zu berichten. Bereits am darauffolgenden Tag sei von Herbert Zimmermann (1917–1966) die nächste Vertretungsanfrage für den NWDR gekommen. Er suchte einen Reporter, der vom Handballländerspiel zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei in Prag berichtete. Als Geschäftsführer des Handballbundes bildete Thoelke einen geeigneten fachlichen Ersatz und konnte wohl auch durch seine sprachlichen Fähigkeiten überzeugen, die er, wie sich seine spätere Sekretärin Bärbel Puchert erinnert, regelmäßig in seinem Büro beim Handballbund erprobte. Schnell häuften und diversifizierten sich in der Folgezeit Thoelkes Sprechertätigkeiten. So war er am 18. November 1953 unter anderem als Hallensprecher bei einem Handballturnier im Berliner Sportpalast in Erscheinung getreten. Seit 1955 arbeitete er regelmäßig als freier Reporter für die Sportberichterstattung des SDR und NWDR beziehungsweise ab 1956 des WDR. Zu seinen dortigen Kollegen gehörte unter anderem der schon damals berühmte Sportkommentator Kurt Brumme (1923– 2005), von dem Thoelke das Rüstzeug für den Reporterberuf lernte. Die rheinische Arbeitsmentalität beim WDR schätzte Thoelke rückblickend sehr. Am 25. März 1955 hatte Thoelke in Dortmund seine Freundin Ulla Oertel geheiratet. Zum Ende des Jahres war das Paar in eine von Willi Daume vermietete Wohnung in der Landgrafenstraße 38 gezogen. Ein halbes Jahr später kam in der Ruhrgebietsstadt der Sohn Jan zur Welt, dem 1958 seine Schwester May folgte. Nachdem Thoelke den Deutschen Handballbund 1960 nach einem weiteren WM-Erfolg im Feldhandball (1959) verlassen hatte, zog es den ehrgeizigen Geschäftsmann, der sich selbst stets als unruhigen und neugierigen Menschen charakterisierte, mit der Familie nach Stuttgart. Dort arbeitete er auf Vermittlung seines Bruders als Vermögensberater für Heinrich Sauter. Dieser war Mitinhaber der Firma »Hahn & Kolb«, des damals größten Werkzeugmaschinenhändlers der Welt. Thoelke kümmerte sich vor allem um die Sanierung von Sauters Finanzen, der durch seinen ausschweifenden Lebensstil ständig in finanzielle Not geriet. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass sich der unbeherrschte Unternehmer mit dem Kauf teurer Autos und Schiffe weiter schadete. Thoelke erinnerte sich später daran, dass Sauter beispielsweise einmal 900.000 Mark als Wechsel in einen Film finanziert habe, nur um auf diese Weise in Kontakt zu einem darin auftretenden Starlet zu kommen. Sauters Bruder Hermann und der Mitgesellschafter Wilhelm Hahn versuchten, ihn aufgrund derartiger Eskapaden aus der Firma 228
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zu drängen. 1963 wurde er schließlich wegen firmenschädigenden Verhaltens gerichtlich zum Kommanditisten degradiert. Laut »Der Spiegel« sei sein Vermögen dadurch um 11 Millionen D-Mark beschnitten worden. Die Verbindung zu Sauter hatte Thoelke aber auch zahlreiche geschäftliche Kontakte eingebracht. So hatte er über den Unternehmer, der auch ein begeisterter Rennfahrer war, Kontakt zu dem am Hockenheimring tätigen Motortuner Albrecht Wolf Mantzel erhalten. Zusammen mit dem Schauspieler Adrian Hoven (1922–1981), den Thoelke zur gleichen Zeit kennengelernt hatte, gründeten sie die »Mantzel Hoven GmbH«. Für den deutschen Markt entwickelte die Firma 1961 ein schnelles und bezahlbares Coupé namens »HM Jet 850«. Es bestand aus einer leichten Kunststoffkarosserie der Firma »Ginetta Cars« der Gebrüder Walklett (Woodbridge/England) und einem von Mantzel getunten DKW-Motor. Unklar ist, wie genau Thoelke in das Projekt involviert war. Vermutlich übernahm er vor allem kaufmännische Aufgaben. Das Käuferinteresse an der Vorserie war nach Verzögerungen in der Fertigstellung jedoch derart gering, dass das Projekt eingestellt wurde. Zeitlebens übte Thoelke meist mehrere berufliche Aktivitäten zur gleichen Zeit aus, was dazu führte, dass er wiederholt auf Urlaub und Freizeit verzichtete. Der ihm später oft nachgesagte Vorwurf, ein »Workaholic« zu sein, scheint daher nicht unbegründet. Neben der Arbeit für Sauter fertigte Thoelke an den Wochenenden als freier Mitarbeiter weiterhin Rundfunkreportagen für den WDR und den in Stuttgart ansässigen SDR an. Diese bezeichnete er als seine damalige finanzielle Basis. Für die gemeinschaftliche Hörfunksendung des SDR und Südwestfunks (SWF) »Sport am Wochenende« berichtete er nicht nur über Handball und Fußball, sondern auch über Randsportarten wie Volleyball, Frauen-Motorsport und Querfeldeinrennen. In dieser Zeit sammelte Thoelke zudem erste Erfahrungen als Fernsehreporter, da seine Sportberichte im Auftrag des SDR/SWF auch für die »Abendschau« – die Nachrichtensendung des Regionalfensters der ARD – produziert wurden. Darüber hinaus fertigte er als freier Reporter für die 1961 aus der Taufe gehobene »Sportschau«, die zunächst im zweiten Programm der ARD ausgestrahlt wurde, sporadisch Filmbeiträge an. 3. Die »Bavaria Fluggesellschaft« und die Schaffung der deutschen Nachtluftpost Thoelke, der schon als Kind große Begeisterung für Flugzeuge hegte, hatte die Luftfahrt inzwischen auch als professionelles Betätigungsfeld für sich entdeckt. Bereits in den 1950er-Jahren hatte der beruflich experimentierfreudige Geschäftsmann auf der Suche nach zusätzlichem Einkommen laut eigener Aussage erfolglos versucht, eine Charterfluglinie für Afrika namens »Air Safari Service« zu gründen. Erste Einblicke in die Führung einer Fluggesellschaft sammelte er als freiwilliger Mitarbeiter bei der in Dortmund ansässigen »Allgemeinen Aero-Lloyd Luftverkehrsgesellschaft« des 229
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Unternehmers Klaus Schulte. Mit einem Flugzeugpark von drei Maschinen bot diese unter anderem Werbe- und Rundflüge, Bedarfsflüge aller Art und Charterflüge vom Ruhrgebiet auf die Ostfriesischen Inseln an. Diese Erfahrungen sowie ein jahrelanges Studium amerikanischer Fachliteratur über Verkehrsluftfahrt bildeten die Voraussetzung dafür, dass er 1960 den Posten des kaufmännischen Direktors der »BAC Bavaria« übernehmen konnte. Die Fluggesellschaft war 1958 vom ehemaligen Kunstflieger Max Schwabe (1929–1970) und dem Bauunternehmer Johann Holzmüller (1926–1989) gegründet worden. Vor Thoelkes Eintritt in die Firma war die in München ansässige Bavaria eine mit zwei kleinen zweimotorigen Maschinen operierende Gelegenheitsverkehrsgesellschaft, die zum einen Rundflüge anbot, zum anderen im Anforderungsverkehr neben Fracht vor allem Geschäftsleute, Politiker und Prominente beförderte. Seit jüngster Zeit führte sie für die Schule der Bundesanstalt für Flugsicherung in München Stellungsflüge zur Ausbildung von Radarlotsen sowie Zeitungstransporte durch. In der Jahresbilanz 1959 wies der drei Mitarbeiter umfassende Kleinbetrieb, der erst im Mai des Jahres die Genehmigung zum Betrieb eines Luftfahrtunternehmens erhalten hatte, einen Verlust von über 20.000 D-Mark auf. In dieser Situation bot die öffentlich diskutierte Schaffung eines Nachtluftpostdienstes ein lukratives Millionenprojekt zur Steigerung des Ansehens und zur Sicherung der wirtschaftlichen Rentabilität der Firma. Da der Entstehung des deutschen Nachtluftpostnetzes in der Forschung bisher meist wenig Beachtung geschenkt wurde, sei diesem Thema im Folgenden ein größerer Raum gestattet. Schon 1956 war aufgrund der immer langsamer werdenden Postverbindungen beim Bundespostministerium der Gedanke diskutiert worden, den bereits zwischen 1929 und dem Zweiten Weltkrieg betriebenen zuschlagsfreien Nachtluftpostdienst wiedereinzuführen. Nachdem Kritik aus der Wirtschaft über die untragbare Geschwindigkeit der Post laut geworden war und die Lufthansa 1958 hinsichtlich eines Frachtdienstvertrags nach England die Einrichtung eines Nachtflugdienstes angeregt hatte, waren bis Mai 1959 erste Projektpläne der Bundespost zum Aufbau eines solchen innerdeutschen Luftpostnetzes gediehen. Es sollte den Postverkehr beschleunigen und somit garantieren, dass am späten Nachmittag aufgegebene Briefe, Postkarten und -anweisungen innerhalb der Bundesrepublik auch über weite Entfernungen in der Regel am nächsten Werktag zugestellt würden. Thoelke, auch später beim Fernsehen für seinen Ideenreichtum und Innovationsgeist bekannt, griff die Idee für die Bavaria auf. Für ein kürzlich von der Lufthansa abgekauftes Flugzeug des Typs »Douglas DC-3« entwickelte er ein eigenes Nachtluftpostnetz, das er nach eigener Aussage Bundespostminister Richard Stücklen (1916–2002) schriftlich anbot. Dieser habe Interesse an dem Plan gefunden, sodass zu einem persönlichen Treffen geladen wurde. Tatsächlich fand auf Stücklens Anweisung am 5. Oktober 1960 ein Gespräch zwischen Ministerialrat Karl Schuch, Referent für den Luftpostdienst, und Max Schwabe sowie seinem juristischen Berater Karl Roesen statt. Dabei wurde die Möglichkeit einer Einbindung der Bavaria in ein nationales Nachtluftpostnetz erör230
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tert. Während das Ministerium seine noch unreifen Ideen über die Ausgestaltung eines solchen Flugdienstes darlegte, stellten Schwabe und Roesen den eigenen Entwurf vor. In ihm erkannte das Postministerium Ähnlichkeiten mit seinen bisherigen Plänen. Die dem Ministerium wenige Tage später überreichten vertraulichen Aufzeichnungen und Anregungen betreffs der Beförderung von Nachtpost beinhalteten neben Vorschlägen zu Flugzeugwahl und Zeitplan auch eine Streckenführung. In der Auswahl der damals neun deutschen internationalen Flughäfen mit dem Drehkreuz und Umschlagsplatz Frankfurt spiegelte sie bereits das Grundkonzept des später realisierten Netzes wider. Mitte Februar übersandte Thoelke Ministerialrat Schuch dann ein weiterentwickeltes Exposé über Voraussetzungen und Durchführungsmöglichkeiten des Post-Nachtflugverkehrs, das gleichzeitig als Angebot der Bavaria ausgelegt war und die DC-3 sowie die Ausbildung der Besatzung, allen voran das Fliegerass Schwabe, pries. Das Konzept, in dem Anregungen der Post übernommen worden waren, sollte bei einem Gespräch zwischen Thoelke, Roesen und Schuch am 17. Februar 1961 im Hinblick auf den Aufbau des Nachtflugdienstes besprochen werden. Die Post machte in der Unterredung allerdings deutlich, bereits einen Flugplan und Bedingungen festgelegt zu haben, die in Kürze als Ausschreibung an jene Luftfahrtunternehmen geschickt würden, die sich um die Nachtluftpost beworben hatten. Laut Thoelke übernahm die Post sein Konzept als Basis für die am 27. Februar erfolgte öffentliche Ausschreibung. Die Fluglinienführung beider Entwürfe wiesen aber durchaus Unterschiede auf. Bei der Ausschreibung konkurrierte die Bavaria neben zahlreichen kleineren Flugbetrieben (darunter auch die »Continentale Deutsche Luftreederei«) mit der logistisch und finanziell übermächtigen Deutschen Lufthansa (DLH) um die ab dem 1. Juni anvisierte Durchführung. Die DLH arbeitete seit ihrer Inbetriebnahme 1955 bei der Luftpost in wachsendem Maße mit dem Bundesministerium zusammen und hatte schon 1957 zwei Drittel des innerdeutschen Luftpostnetzes beflogen. Diese erfolgreiche Zusammenarbeit, der Kontakt zu ausländischen Postverwaltungen, Niederlassungen an Flughäfen sowie moderne Maschinen machten die Fluglinie von Beginn an zum potenziell geeignetsten Partner. Dies galt vor allem auch im Hinblick auf die geplante europäische Ausweitung des Nachtluftpostdiensts. Tatsächlich hatte das Ministerium die DLH bereits 1959 als Partner ins Auge gefasst. Da eine Beauftragung für die Bavaria nicht nur ökonomische Sicherheit, sondern auch einen enormen wirtschaftlichen Aufstieg bedeutet hätte, zeigte die Gesellschaft in der Folgezeit großen Einsatz, den Zuschlag für das nächtliche Netz zu erhalten. Am 20. März 1961 überbrachte Thoelke das Angebot der Fluggesellschaft für sechs DC-3 persönlich und führte diesbezüglich ein Gespräch mit Karl Schuch. Um erste Erfahrungen im Nachtluftpostverkehr zu sammeln, hatte die Bavaria zuvor einen Kurzzeitvertrag mit der Gesellschaft »Transair Sweden« geschlossen, die ab dem 1. März 1961 fünfmal wöchentlich Flugzeuge der Bavaria auf der Strecke Stockholm-Göteborg im schwedischen Nachtluftpostdienst einsetzte. Für »Scandinavian Airlines« beflog man zudem die internationale Poststrecke Stockholm-Kopenhagen. Um die Eignung des 231
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Unternehmens erneut zu unterstreichen und sich durch Anregungen als Partner im Gespräch zu halten, übersandte Thoelke dem Ministerium nach zwei Monaten einen Bericht Max Schwabes über Einsatz und Erfahrungen von Bavaria-Maschinen im schwedischen Nachtflugdienst. In diesem wurden die Erfolgsquote der Fluglinie (98,8 Prozent) und nochmals die Qualität ihrer Piloten und Maschinen hervorgehoben. Am 18. April befanden sich Thoelke und Schwabe dann erneut zu einem Gespräch mit Schuch in Bonn. Sie erfuhren, dass für die Nachtluftpostbeförderung nun größere Flugmaschinen benötigt würden und sich die Inbetriebnahme aufgrund der dadurch bedingten organisatorischen Änderungen verzögerte. Um den angekündigten Starttermin am 1. Juni einzuhalten und die Erwartungen der Bevölkerung zu befriedigen, schlug Thoelke daraufhin vor, provisorisch einen Teil des Netzes mit den beiden DC-3 der Bavaria zu bedienen. Der im Mai noch zweimal wiederholte Vorschlag, der die Fluggesellschaft einem Vertragsabschluss zweifellos näherbringen sollte, wurde vom Ministerium jedoch abgelehnt. Angesichts der geänderten Ausschreibungsbedingungen zeigte sich Thoelke im Namen der Firma nicht im Stande, bis zur neugesetzten Bewerbungsfrist so umzudisponieren, dass ein Flugdienst für vier andere Flugzeuge mit fünf Tonnen Ladekapazität gesichert werden könne. Daher bat er um ein erneutes Gespräch und eine Verlängerung der Frist. Der Bavaria gelang es letztendlich, durch ein der befreundeten Transair entlocktes Angebot zur Vercharterung von fünf »Curtiss-Wright Super C 46« noch zwei angepasste Bewerbungen einzureichen. Das Postministerium forderte von der Fluggesellschaft nun aber wiederum Sicherheit über die Verfügbarkeit der besagten fünf Maschinen. In der Hoffnung, sich als Vertragspartner unumgänglich zu machen, zeigte Thoelke weiterhin großes Engagement bei der Organisation des Flugnetzes. So legte er ein eigenes Konzept für einen schnellen, reibungslosen und ökonomischen Postaustausch am Drehkreuz, dem Flughafen Frankfurt, vor. Er besichtigte Flughäfen und führte Gespräche mit deren Leitungen sowie mit den Postleitstellen, die sich in den ausgewählten neun Städten mit internationalen Flughäfen befanden. Zudem verhandelte er mit den Flughäfen Hannover und Nürnberg um eine 24-stündige Öffnungszeit. Trotz dieser intensiven Bemühungen, des Vorhandenseins von speziellen Frachtflugzeugen und der Erfahrung im schwedischen Nachtluftpostverkehr befürchtete das Postministerium, dass die Bavaria als Partner nicht geeignet wäre. Schließlich verfügte sie über keine Bodenorganisation auf den relevanten Flughäfen, vor allem nicht in Frankfurt. Eigenes Fluggerät fehlte weitgehend und die Flugzeuge erschienen der Post für den Zeitplan zu langsam. Daher bestünde auch ein höheres Flugausfallrisiko. Diese Ansicht teilte auch das Bundesverkehrsministerium, das zum einen die Fähigkeit zur Bodenorganisation und Bereitstellung von Anlagen auf den angeflogenen Flughäfen bezweifelte. Zum anderen weigerte man sich, die notwendige Einflug- und Verkehrserlaubnis für die zu charternden (schwedischen) Transair-Maschinen zu erteilen, solange auch deutsche Maschinen mit der Beförderung beauftragt werden könnten. Dabei ist erwähnenswert, dass die DLH 1959 von der belgischen »Sabena« und 1960 232
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von der englischen »Overseas Aviation Ltd.« je eine Maschine für Frachtdienste gechartert hatte. Angesichts derartiger Vorgänge ist es nicht unbegründet, wenn bei der Bavaria der Eindruck entstand, dass die Bundespost sie zu entmutigen versuchte, während man die DLH protegierte. Bestätigt sah Thoelke dies rückblickend durch einen vermeintlichen Bestechungsversuch der Lufthansa, die Karl Schuch im Entscheidungsprozess mit einer Flugreise nach Rio de Janeiro gelockt haben soll. Trotz des Wissens um die vom Verkehrsministerium verweigerte Einflug- und Verkehrserlaubnis für die Bavaria forderte das Postministerium am 27. Juni von der Fluggesellschaft innerhalb von acht Tagen die Vorlage eben jener Genehmigung. Dies war wohl der ausschlaggebende Grund, dass die Gesellschaft als Vertragspartner ausschied. An der Entscheidung änderte auch ein weiteres Gespräch am 30. Juni ebenso wenig wie Thoelkes darauffolgende Zusicherung, die Maschinen der Transair bei Auftragserteilung in das Eigentum der Bavaria zu übernehmen. Das Postministerium vergab den Auftrag schließlich an seine zweifellos geeignetere staatliche Schwester, die Lufthansa, mit der am 22. August 1961 der Beförderungsvertrag unterzeichnet wurde. In einem Gespräch Thoelkes mit den DLH-Vorstandsmitgliedern Hans Süssenguth (1913–2002) und Wolfgang Kittel (1899–1967) Anfang August hatte man sich jedoch darauf einigen können, dass die Bavaria im Namen der Lufthansa eine Strecke im Nachtflugnetz übernähme. Um das Einverständnis der Post zu erfragen, war Thoelke daraufhin nochmals zu einem Abschiedsbesuch im Ministerium erschienen. Der Plan kam zwar nicht zustande ; stattdessen sorgte Thoelke – der, wie sein Sohn Jan später äußerte, beruflich knallhart sein konnte – aber dafür, dass seine Firma mit Frachtflugdiensten der Lufthansa beauftragt wurde. Diese wurden am 26. September 1961 durch einen Chartervertrag geregelt, den man später für die Anfang 1961 erworbene zweite DC-3 erweiterte. Die Bavaria bediente zunächst für kurze Zeit eine Nordroute zwischen Frankfurt-HannoverHamburg und eine südliche Strecke zwischen München-Nürnberg-Frankfurt. Letztere wurde bis Ende Oktober 1963 beflogen. Durch diese Frachtdienste und die mit ihnen einhergehende Flugauslastung wuchs der Betrieb 1962 auf 20 Mitarbeiter an und konnte das Jahr erstmals gewinnbringend abschließen. Daran war Thoelke maßgeblich beteiligt. Der Nachtflugdienst war indessen von Bundespost und Lufthansa am 1. September 1961 mit fünf Flugzeugen in Betrieb genommen worden und etablierte sich schnell als unersetzlicher Bestandteil des Postbeförderungssystems. Sicherlich kann Thoelke nicht als geistiger Vater der deutschen Nachtluftpost von 1961 betrachtet werden, jedoch trug er mit seinen konzeptionellen Vorschlägen und organisatorischen Vorbereitungen zur Umsetzung des Flugnetzes bei. Privat brachte die Arbeit in dem Münchner Flugunternehmen 1962 einen Umzug nach Geiselgasteig (Grünwald) mit sich. Die Familie wohnte dort vor den Toren der Bavaria-Filmstudios in einem angemieteten Haus in der Graf-Seyssel-Straße und schloss Freundschaft zu dem benachbarten Schauspieler Heinz Rühmann (1902– 1994). Thoelke kannte ihn schon von seiner Tätigkeit bei der Bavaria-Fluggesellschaft. 233
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Durch den engagierten Einsatz für seinen Arbeitgeber hatte sich Thoelke derweil ins Blickfeld der Lufthansa gerückt, die ihm im Sommer 1962 die Geschäftsführung ihrer Tochtergesellschaft »Condor« anbot. Fast zeitgleich erreichte ihn eine Offerte der Sportjournalisten Horst Peets (geb. 1919) und Willi Krämer (1926–2015), die ihm bei dem im Aufbau befindlichen ZDF die Leitung der Zentralredaktion in der Hauptabteilung »Sport« antrugen. Die zweite deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt war im Juni 1961 durch einen von den Bundesländern unterzeichneten Staatsvertrag ins Leben gerufen worden und hatte auf Betreiben des damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Peter Altmeier (1899–1977) den Standort Mainz erhalten. Dort konnte zunächst jedoch nur die Verwaltung in mehreren Gebäuden untergebracht werden. Der Sender verfolgte in dieser Zeit mit lukrativen Verträgen eine erfolgreiche und offensive Abwerbepolitik von Fachkräften bei Presse, ARD und Landesrundfunkanstalten. Thoelke hatte man sicherlich als geeigneten Kandidaten ins Auge gefasst, da er sich durch seine zahlreichen Sportreportagen für ARD, SDR und WDR ein gewisses Renommee erworben hatte. Aufgrund seiner Positionen beim Handballbund und der Bavaria konnte er zudem bereits Führungsqualitäten nachweisen. Interessiert, am Aufbau von etwas Neuem mitzuwirken, folgte Thoelke, der beruflich immer das Risiko und die Herausforderung suchte, trotz geringerer Verdienstaussichten letztendlich dem Werben des ZDF. Dort trat er seine Stelle zum 1. Januar des folgenden Jahres an. Damit endete seine Tätigkeit für WDR, ARD und SDR, für den er noch Ende 1962 letzte Sportberichte angefertigt hatte. Es folgten sieben Jahre beim ZDF-Sport, die er später als »menschlich und beruflich schönste Zeit« seines Lebens bezeichnete. 4. Redaktionsleiter beim ZDF-Sport und ein kurzes Intermezzo als Nachrichtensprecher Mit dem Anspruch, ein Alternativ- beziehungsweise Kontrastprogramm zur ARD zu bieten, hatte das ZDF unter dem Slogan am Ersten das Zweite am 1. April 1963 den Sendebetrieb aufgenommen. Thoelke, damals in erster Linie mit dem Aufbau der Sport-Zentralredaktion beschäftigt, moderierte von nun an bis zum September des Jahres in wöchentlichem Wechsel mit Carl Weiss (1925–2018) und Erich Helmens dorfer (1920–2017) die 25-minütige Nachrichtensendung »heute«. Wie die beim Konkurrenzsender ARD 30 Minuten später ausgestrahlte »Tagesschau« sollte das Format einen möglichst umfassenden Überblick über das Tagesgeschehen geben. Das Alleinstellungsmerkmal der Sendung sahen ihre Macher darin, dem Zuschauer die Meldungen zum besseren Verständnis der Gesamtzusammenhänge mit erläuternden Hintergrundinformationen zu präsentieren. Auch im Programmbereich »Sport« sollten die Kontextbildung und Analyse einen wichtigen Bestandteil im Sendekonzept des ZDF einnehmen. Die Einschaltquoten der »heute«-Nachrichten blieben gegenüber der etablierten »Tagesschau« in den ersten Monaten auf einem sehr niedrigen 234
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Niveau, was auch darin begründet lag, dass zunächst nur 40 Prozent der Fernsehgeräte das zweite Programm empfangen konnten. Thoelke, der anders als seine beiden Kollegen nicht aus dem Politjournalismus stammte, war wohl in Ermangelung fähiger Sprecher mit Fernseherfahrung in die Position berufen worden. Sicherlich spielte hier auch eine Rolle, dass er sich als vertragliche Bedingung beim ZDF honorarfähige Nebentätigkeiten hatte zusichern lassen. Mit seinem unkonventionellen Moderationsstil begründete er beim Sender schon bald seinen Ruf als innovationswilliger Kreativer und Tabubrecher journalistischer Gepflogenheiten. So verärgerte er die Sendungsverantwortlichen zum Beispiel, indem er zu Beginn der Ausgabe vom 22. Juni 1963 mit einem Blumenstrauß in der Hand verkündete, dass die wichtigste Nachricht des Tages der Sommeranfang sei. Thoelke ließ sich durch derartige Kritik jedoch nicht von seinen Vorstellungen moderner Fernseharbeit abbringen. Wie er bekundete, sei Trotz für ihn vielmehr die größte Motivation gewesen. So wie wenige Monate später auch das »Aktuelle Sportstudio« wurde das »heute«Format bis zum Umzug in die Wiesbadener »Taunusfilm«-Studios im April 1964 im hessischen Eschborn produziert. Die erste Sendezentrale des ZDF bestand aus teils baufälligen Arbeitsbaracken und einem Bauernhof. Unter welch desolaten Gegebenheiten hier gearbeitet wurde, zeigt die Tatsache, dass den Mitarbeitern aufgrund der beschwerlichen und langwierigen Wege zum Arbeitsplatz sowie der mangelhaften hygienischen Verhältnisse später eine Erschwerniszulage gezahlt wurde. Die als »Telesibirsk« bekannt gewordenen Bauten hatte man samt Technik von der privatrechtlichen, von Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) initiierten »Freies Fernsehen GmbH« übernommen. Noch bevor die Gesellschaft, an der der Bund beteiligt war, auf Sendung gehen konnte, war sie im Februar 1961 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden. In dieser ersten provisorischen Sendezentrale des als Pleitesender verschrienen und überschuldeten ZDF befand sich auch der Sitz von Thoelkes Zentralredaktion »Sport«. Sie wuchs bald auf 14 Mitarbeiter an. Als kreatives Zentrum der Abteilung bestückte sie unter anderem auch den Sportteil der »heute«-Nachrichten. Neben Klaus Angermann (geb. 1938), Norbert Thielmann (geb. 1940), Karl Senne (geb. 1934), Wolfram Esser (1934–1993), Oskar Wark (1934–2009) und Bruno Moravetz (1921–2013) gehörte ihr auch der Zeitungsjournalist Dieter Kürten (geb. 1935) an, der in Duisburg Schüler von Thoelkes Vater gewesen war. Ein Großteil der damaligen Mitarbeiter der ZDF-Sportabteilung kam aus der Sportpresse und besaß keinerlei oder nur wenig Fernseherfahrung, war dafür hochmotiviert und brachte viele kreative Ideen mit. Thoelke, willens beim ZDF neue Wege zu beschreiten, dabei festgefahrene Klischees zu überwinden und mit überlebten Konventionen zu brechen, schaffte es bei seinen Mitarbeitern, diesen Innovationsgeist weiter anzufachen. So gelang es in der fordernden Phase des Redaktionsaufbaus innerhalb kürzester Zeit (oft redaktionsübergreifend), einige neuartige und unkonventionelle Sendungsformate zu entwickeln. Wie sich Dieter Kürten später erinnerte, war sein Vorbild und Mentor Thoelke ein Chef, der seinen Mitarbeitern aufmunternd und unterstützend begegnete, ihnen viele 235
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Freiheiten ließ, sie zu eigenem Handeln ermutigte und es verstand, im Team einen starken Gemeinschaftsgeist zu erzeugen. Gleichzeitig sei er aber auch für seine launische Art gefürchtet und sein manchmal penetrant belehrendes Verhalten berüchtigt gewesen. Diese Charakterisierungen werden von Norbert Thielmann in weiten Teilen bestätigt. Klaus Angermann hob zudem ergänzend hervor, dass sich der fürsorgliche und auf eine harmonische Zusammenarbeit bedachte Redaktionsleiter Thoelke stets um ein menschliches Verhältnis zu seinen Kollegen bemühte. Bei Kritik von außen habe er sich in väterlicher Weise schützend vor diese gestellt. Thoelkes große Begabung und Verdienst als Leiter der Zentralredaktion waren es darüber hinaus, die Talentlage junger Kollegen früh erkannt und diese als Lehrmeister dementsprechend gefördert und auf ihren Beruf vorbereitet zu haben. Sein untrügliches Gespür für die Begabung seiner Mitarbeiter wird besonders anhand der ursprünglich bei ihm als Sekretärin angestellten Magdalena Müller (1941–2004) deutlich. Mit einem schon damals ungeheuren Sportwissen ausgestattet, wurde sie von ihrem Vorgesetzten dazu animiert, eine Karriere als Sportredakteurin zu beginnen. Wenige Jahre später gehörte Müller zu den renommiertesten Sportjournalistinnen im deutschen Fernsehen. 5. Das »Aktuelle Sportstudio« und Thoelkes Aufstieg zum Publikumsliebling Zu den ersten Sendungskonzepten der ZDF-Sport-Hauptabteilung gehörte neben dem modernen kritischen Feature- und Dokumentationsformat »Sport-Spiegel« auch das Magazin »Sport-Information«. Mit seiner von Thoelke erdachten Serie »Was ist eigentlich… ?«, in dem von prominenten Persönlichkeiten allgemein bekannte, aber unverständliche Fachbegriffe aus der Welt des Sports erklärt wurden, diente es zur unterhaltsamen Einstimmung auf das Sportwochenende. Das Unterhaltungswesen bildete im Sportprogramm des Senders einen wichtigen Teil, so auch beim bis heute produzierten und bekanntesten Konzept der Sportredaktion, dem »Aktuellen Sportstudio«. Das Magazinformat war im August 1963 innerhalb weniger Wochen im Auftrag der Programmdirektion entstanden, um zum Start der neueingeführten Fußball-Bundesliga am 24. des Monats einen konkurrenzfähigen und neuartigen Gegenentwurf zur sachlich-konservativen Berichterstattung der ARD-»Sportschau« anzubieten. Die Idee zu dem unkonventionellen Sendungskonzept in Form einer Mischung aus ungezwungenem, informativem Gespräch, seriöser sportlicher Berichterstattung und Unterhaltungsshow mit spielerischen Demonstrationen prominenter Gäste stammte von Horst Peets, dem damaligen Leiter der Hauptabteilung Sport. Im späten Samstagabendprogramm platziert, konzentrierte sich das Liveformat von Beginn an auf eine unterhaltsame vertiefend-analytische Nachbereitung des aktuellen Sportgeschehens. Die reinen Ergebnisinformationen waren den Zuschauern zu diesem Zeitpunkt bereits durch die am frühen Abend ausgestrahlte ARD-Sportschau bekannt. Mit diesem Konzept folgte die Sendung dem Anspruch der Hauptabtei236
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lung, den Sport mit »seinen Hintergründen, gesellschaftlichen Verflechtungen und Verpflichtungen, seinen menschlichen Bezügen und seinen Problemen zu zeigen«. So geschah es beispielsweise auch im intellektueller ausgerichteten »Sport-Spiegel«. Entsprechend dem Gründungsanlass des Sportstudios lag der thematische Fokus von Anfang an auf dem Fußball. Doch wurde schon damals durchgehend, besonders in der spielfreien Zeit, über diverse andere, teils unbekannte Sportarten berichtet. Da das Format das Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer am Samstagabend bediente, fand die Sendung auch beim sportlich weniger begeisterten Publikum Anklang. Nach seiner ersten, überlangen Ausgabe von der Presse noch als Mainzer Käse oder Totgeborenes Kind verrissen, stieg das Sportstudio somit schnell zu einem Aushängeschild des ZDF und in den folgenden Jahren zur beliebtesten Sportsendung im deutschen Fernsehen auf. Dabei erreichte man Einschaltquoten von circa 15 Prozent und Zuschauerbeurteilungswerte von +5,9 (die Skala der telefonisch eingeholten Beurteilungen reichte von –10 bis +10, wobei –10 den schlechtestmöglichen Wert darstellte). In der Sendung erwiesen sich die Interviews mit Spitzensportlern sowie Gästen aus Unterhaltung, Politik und Wirtschaft als besonders beliebt. Als Folge drängten sich Sportler geradezu, im Sportstudio auftreten zu dürfen. Bei der technischen Leitung war das revolutionäre Konzept hingegen zunächst auf Skepsis gestoßen. Dies lag vor allem daran, dass die live ausgestrahlte Sendung aufgrund fehlender bundesweiter Einspielstudios für die zu zeigenden Spielberichte erst während ihrer Ausstrahlung vor Ort entstand. Improvisation bildete bei dem Format also einen wesentlichen, teils auch gewollten Faktor. Dies verdeutlichen besonders die während der Sendung im Bild auftauchenden Studiokameras, Scheinwerfer und Produktionsmitarbeiter, wodurch sich die Sendungsmacher allein schon optisch von der Konkurrenz abzugrenzen versuchten. Dieses von Thoelke als »schmutziges Fernsehen« bezeichnete Konzept fand später weltweit mehrfach Nachahmung. Zum bekanntesten Markenzeichen der auch aus Rücksicht auf den Zuschauergeschmack bis heute nur unwesentlich veränderten Sendung entwickelte sich neben der 1965 vorgestellten Titelmelodie »Up to date« von Ernst Simon (1924–1975) und der Studiouhr vor allem das 1964 eingeführte »Torwandschießen«. Auch von diesem kurzweiligen Ritual abgesehen nahmen besonders in den experimentierfreudigen Anfangsjahren der Sendung Spiel und Witz stets einen großen Raum im Sendungskonzept ein. So fanden sich neben den sportlichen Demonstrationen der Studiogäste auch klamaukhafte Showteile, die teilweise nur wenig mit Sport zu tun hatten. Dazu zählte beispielsweise eine 1967 von Thoelke moderierte Bademodenschau. Im eigenen Team war Thoelke geradezu berüchtigt für solch groteske Ideen, mit denen er die Zuschauer vor den Bildschirm locken wollte, die in der Redaktion jedoch nicht immer Anklang fanden. Wie Klaus Angermann feststellte, sei es allerdings gerade das Kalkül des Moderators gewesen, mit derartigen Vorschlägen Diskussionen im Team anzuregen. Durch diese wollte Thoelke Meinungen und weitere Vorschläge einholen und somit letztendlich zu einer guten Sendungsunterhaltung gelangen. Ähnlich wie die unterhaltsamen Showblöcke betrachtete Thoelke auch die Interviews im Sportstudio 237
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nicht nur als reines Mittel zum Informationsgewinn, sondern als weitere Form der Unterhaltung innerhalb des Konzepts der lockeren Sendungspräsentation. So hoffte er, wie Norbert Thielmann äußerte, auch mit diesen Gesprächen die für gewöhnlich sportlich uninteressierteren Zuschauer, vor allem die Damenwelt, für seine Sendung zu gewinnen. Das gelang ihm tatsächlich so gut, dass ihm bald der Ruf als Liebling des weiblichen Publikums zuteilwurde. Dieter Kürtens Aussage, dass Thoelke das Sportstudio als Unterhaltungsshow mit »stark sportlichem Charakter« betrachtete, findet sich durch die vorigen Ausführungen bestätigt. Auch tritt in dem erhofften Gewinn der weiblichen Zuschauer Thoelkes Anspruch zutage, den TV-Sport für jedermann interessant zu gestalten. Innovation und Spektakel bildeten dabei wie ein überhaupt in der gesamten ZDF-Sportabteilung spürbarer Neuerungswille in dieser Zeit stets ein wesentliches Ziel der Sendungsverantwortlichen. So fand beispielsweise 1966 die deutsche Meisterschaft im Halbschwergewichtsboxen im Sportstudio statt. Am 2. September 1967 wurde das Format mit den Gastgebern Wim Thoelke, Rainer Günzler (1927–1977) und Harry Valérien (1923–2012) als erste europäische Sportsendung im Rahmen einer riesigen Showveranstaltung in der Berliner Deutschlandhalle in Farbe ausgestrahlt. Thoelke, der im August 1963 mit der Familie nach Wehen gezogen war, führte am 2. November des Jahres erstmals selbst durch die Sendung. Neben Günzler und Valérien wurde er zur prägenden Gestalt der Anfangsjahre des Formats, das er bis Ende März 1970 insgesamt 116-mal moderierte. Am Erfolg des Sportstudios hatten die drei Conférenciers mit ihren unterschiedlichen Präsentationsstilen entscheidenden Anteil. Im Januar 1966 wurde das Moderatorentrio in der Kategorie »Team« denn auch mit dem erstmals verliehenen Publikumspreis »Goldene Kamera« ausgezeichnet. Dabei hatte die »Welt« in einem Artikel im Herbst 1963 noch Thoelkes erschreckend laienhafte Weise kritisiert, beim Interview, nicht, wie in dieser Zeit üblich, in die Kamera, sondern seinen Gesprächspartner anzuschauen. Es sollte sich jedoch zeigen, dass Thoelke gerade dieser damals neuartige, lockere Interviewstil, verbunden mit seinen Entertainerqualitäten (Charme, Ironie und Normalität), eine große Popularität beim Publikum einbrachte und ihn zum Star der Sendung machte. Besonders geschätzt wurde Thoelkes Interviewstil vor allem auch wegen seiner oft über das Sportliche hinausgehenden Fragen zu brisanten Hintergrundinformationen und Privatem. 1970 erhielt er für seine Moderation des Sportstudios folgerichtig den Fernsehpreis »Bambi« in Gold als beliebtester Sportreporter. Laut Dieter Kürten haben für Thoelke »Sport, Spiel und Unterhaltung stets eine Einheit« gebildet. Somit war das Sendungskonzept des Sportstudios, das von dem im Fokus stehenden Moderator neben journalistischen Kompetenzen auch Entertainerqualitäten verlangte, wie geschaffen für »Big Wim«. Dies wird auch durch Thoelke selbst bestätigt, wenn er bekundete, immer ein Fan der Verknüpfung von Informationsvermittlung und Unterhaltung gewesen zu sein, also jenes Modells, das später als Infotainment bekannt werden sollte. Diesem Konzept folgten auch Thoelkes spätere 238
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Abb. 2: Wim Thoelke als Moderator des »Aktuellen Sportstudios«, Foto : Georg Meyer-Hanno, München, 8.3.1969
Quizshows und sein erstes 1969 erschienenes Buch »Vor allem Sport«. Dort verband er Erzählungen über die Arbeit und Erlebnisse als Moderator des »Aktuellen Sportstudios« mit Statistiken, anekdotenreichen Episoden und Hintergrundinformationen aus der Welt des Sports. Darüber hinaus enthielt das Buch Privates über Sportler und Interessantes zur Arbeit und Entstehung einer Fernsehsendung sowie Bildwitze und Fotoquizfragen. Ähnlich wie seine im folgenden Jahr konzipierte Unterhaltungsshow »3x9« war es also eine »bunte Kiste«, die seinem Anspruch gemäß für jedermann Ansprechendes bereithielt. 6. Von »3 x 9« zur erfolgreichsten Fernsehsoziallotterie der Welt Beim ZDF erstmals als Conférencier im klassischen Unterhaltungsbereich in Erscheinung getreten war Thoelke im Mai 1965 in der Quizsendung »Rate mit, Reise mit«. Das Fernsehen wandelte sich in dieser Zeit immer mehr von einem Bildungs- und Erziehungs- zum Unterhaltungsmedium einer vermehrt freizeitorientierten Gesellschaft. Wie auch Thoelkes spätere Quizsendungen bildete »Rate mit, Reise mit« damit eine Klammer, da Bildungsauftrag und Unterhaltung vereint wurden. In dem sporadisch 239
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ausgestrahlten Format, das sich mit dem Thema Reisen beschäftigte, spielten vier Kandidaten um den Gewinn eines vierzehntägigen exklusiven Urlaubstrips für zwei Personen. Thoelke, der für die Sendung auch Spielideen entwickelte, leitete sie bis zu deren Einstellung im Jahr 1967. Bis zu seinem endgültigen Wechsel ins klassische Unterhaltungsfach sollte es noch bis zum Sommer 1970 dauern. Nach der Absetzung von Peter Frankenfelds (1913–1979) Quizsendung »Vergißmeinnicht« plante das ZDF für den freiwerdenden Sendeplatz am Donnerstagabend eine Unterhaltungsshow mit Thoelke als Gastgeber. Dass man den Sportmoderator ins Auge gefasst hatte, mag angesichts seiner durch den Bambigewinn bestätigten Popularität und im Sportstudio unter Beweis gestellten Entertainerqualitäten nicht verwundern. Bei den Verhandlungen zu dem Projekt kündigte der Moderator seinen Dienstvertrag mit dem ZDF, um fortan als freier Mitarbeiter für den Sender zu arbeiten. Auf diese Weise hatte er mehr Zeit für seine beruflichen Nebentätigkeiten in der freien Wirtschaft und war damit, wie er einmal äußerte, sein eigener Herr. Die Beschäftigung als freier Mitarbeiter eröffnete ihm zudem die Möglichkeit, für seine Moderation ein höheres Gehalt zu verlangen, da er jetzt nicht mehr an die tariflichen Bedingungen für ZDF-Angestellte gebunden war. Hatte er nach eigener Aussage für »Rate mit, Reise mit« pro Sendung noch 1.500 DMark erhalten, stieg sein Verdienst bei dem neuen Format nun auf 15.000 D-Mark pro Ausgabe. Seine Stelle als Leiter der Abteilung »Sportreportage/Information«, ehemals die Zentralredaktion Sport, wurde von seinem Sportmoderatorkollegen Ulrich Braun (1926–2016) übernommen. Thoelke, der als Selbstständiger wenig später eigene Büroräume in Wiesbaden bezog, entwickelte nach Vertragsabschluss die abwechslungsreiche 90-minütige Quizund Unterhaltungssendung »3x9«. In ihr traten vier Kandidaten zunächst in drei Spielrunden in Zweierteams – je ein Mann und eine Frau – gegeneinander an. Unter dem Gewinnerpaar wurde dann in einer letzten Spielrunde, dem »Prominentenraten«, der endgültige Sieger ermittelt. Um möglichst sämtliche Publikumsgeschmäcker zu befriedigen und gleichzeitig Tempo in die Sendung zu bringen, integrierte Thoelke viele kürzere Showelemente. Sie war gespickt mit Sketchen, wie der Kolumne »Der Rat des Monats«, und Musikbeiträgen, die als Kompilationen auf Schallplatte veröffentlicht wurden. Von diesen erreichten vier Alben die Top Ten der Deutschen Albumcharts. Beliebt wurde das Format schnell auch wegen des Auftritts prominenter Persönlichkeiten unter anderem aus Politik und Sport, die als Laien nach der ersten Spielrunde musikalische Darbietungen präsentieren mussten. Darüber hinaus traten in der Show auch Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Wirtschaft als Interviewgäste auf, die teilweise von Thoelke selbst eingeladen wurden. Unterstützt wurde der Moderator während des Sendungsablaufs von den beiden Assistentinnen Gabi Schnelle (geb. 1944) und Rabea Hartmann (geb. 1947), die anders als in anderen Shows der Zeit eine tragende Rolle erhielten. Zum Stammpersonal des Formats gehörte auch die Bigband Max Gregers (1926–2015), die die Titelmelodie spielte, die Showblöcke teilweise musikalisch untermalte und einen eigenen Showpart besaß, sowie das ZDF-Tanzballett, 240
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das bei Intro, Outro und anderen Showteilen auftrat. Die Drehbücher und Spiele, zum Teil auch Sketche und Lieder, verfasste Thoelke für jede Ausgabe selbst. Auf Bitten des ZDF-Gründungsintendanten Karl Holzamer (1906–2007) hatte der Moderator die Soziallotterie der »Aktion Sorgenkind«, die heutige »Aktion Mensch«, zugunsten Kinder und Jugendlicher mit Behinderung als Teil der Sendung von Frankenfelds Spielshow »Vergißmeinnicht« übernommen. Die Förderinitiative war 1964 als Reaktion auf den Contergan-Skandal vom ZDF sowie Wohlfahrtspflege- und Elternverbänden als gemeinnütziger Verein gegründet worden. Zeitgleich mit der in diesem Jahr initiierten Fernsehlotterie »Vergißmeinnicht« startete eine Spendenkampagne als zweite Einnahmequelle der Aktion. Mit der Soziallotterie kam dem Fernsehen, wie der Philosophieprofessor Holzamer hoffte, die Aufgabe zur Lebenshilfe und Humanisierung zu. Erreicht werden sollten diese durch Ausnutzung des Unterhaltungsbedürfnisses der Zuschauer. Für »3x9« wurde dabei ein neues Lotteriekonzept entwickelt, bei dem die Teilnehmer Geldbeträge zwischen 1,11 und 9,99 D-Mark einzahlen konnten. Auf den höchstmöglichen Einzahlungsbetrag der Lotterie bezog sich auch der von Thoelke erdachte Sendungstitel. Der Einzahlungsbetrag diente gleichzeitig als Losnummer für die dreistellige Glückszahl, die durch drei Glücksräder ermittelt wurde. Die Auslosung der Lotteriegewinner führte vor der dritten Spielrunde der »Glücksbote« Walter Spahrbier (1905–1982) durch, den Thoelke von der Vorgängersendung übernommen hatte. Die Hauptgewinner wurden schließlich von dem in der letzten Spielrunde erratenen Prominenten am Ende einer Ausgabe gezogen. Ganz neu war das Lotteriespiel in einer eigenen Show für Thoelke nicht, hatte er hierin doch schon Erfahrung beim »Aktuellen Sportstudio« gesammelt. Dort fand seit 1967 die Ziehung der Olympia-Lotterie zur Finanzierung der Sommerspiele von München 1972 statt. Ab der zweiten Ausgabe von »3x9« übernahm Thoelke von einem Spot, der für seine Sendung warb, die von Loriot (1923–2011) geschaffene Zeichentrickfigur eines Hundes als Showpart, der die Zuschauer auf die Teilnahme an der kommenden Lotterie hinweisen sollte. Als Gag ausgerichtet, bei dem der Moderator von dem vorlauten Tier zunächst stets mit »Thööölke« herbeigerufen wurde, führte der Gastgeber vor diesem Hintergrund mit dem Hund fortan in jeder Folge ein amüsantes Gespräch. Die Figur erhielt nach ihrem ersten Auftritt vom Publikum den Namen »Wum«. Bei den Zuschauern, vor allem bei Kindern, wurde sie derart beliebt, dass man »Wum« auch in Thoelkes Nachfolgeshow »Der Große Preis« einband, in der sie 1975 um einen Elefanten ergänzt wurde, der ebenfalls durch Zuschauerwahl den Namen »Wendelin« erhielt. Beide Figuren bildeten in der Bevölkerung schnell eine feste Assoziation mit der »Aktion Sorgenkind« und wurden daher intensiv als Werbemittel genutzt. Durch den Verkauf von »Wum«- und »Wendelin«-Figuren der Firma Schleich und dem »Wums Gesang« Nummer-1-Hit »Ich wünsch mir ne kleine Miezekatze« flossen der Aktion weitere Spendengelder zu. Wie Thoelke später einmal zu Recht äußerte, hatten die beiden Figuren am Erfolg seiner Lotteriesendungen entscheidenden Anteil. 241
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Die in wechselnden Städten aufgenommene Livesendung »3x9« war nach erfolgreicher Pilotfolge im Juli 1970 bereits am 10. September 1970 erstmals ausgestrahlt worden. Hatte man die Sendung in »Die Zeit« ob Thoelkes Moderationsstil in Art eines braven, langatmigen Reiseführer[s] als zäh dahinfließend bezeichnet, wurde sie bei Telefonumfragen mit einem Beurteilungsindex von +4 von den Zuschauern überwiegend positiv bewertet. Für die gute Aufnahme beim Publikum spricht vor allem die Einschaltquote von 54 Prozent, die nach einem Einbruch im Oktober bis zur letzten Folge des Jahres auf 73 Prozent gestiegen war. Das Format entwickelte sich in den beiden folgenden Jahren mit einer durchschnittlichen Einschaltquote von 52 Prozent, sprich 25 Millionen Zuschauern, vor Hans Rosenthals (1925–1987) ProminentenQuizshow »Dalli Dalli« zur mit Abstand erfolgreichsten Unterhaltungsreihe des ZDF. Die Popularität stieg bis zum Sommer 1974 sogar bis auf 65 Prozent. Als die Sendung schließlich nach 31 Folgen eingestellt wurde, war Thoelke endgültig in die erste Riege der deutschen Fernsehstars aufgestiegen. Der allgemeinen Beliebtheit des Moderators hatte es auch keinen Abbruch getan, als die Presse 1972 von einem außerehelichen Verhältnis Thoelkes mit der Münchnerin Monika Krebs berichtete. Beleg dafür ist, dass er bei Meinungsumfragen zu den beliebtesten Deutschen in den folgenden Jahren wiederholt auf die vorderen Plätze gewählt wurde. Bei der »Aktion Sorgenkind« hatte schon die erste Folge von »3x9« mit einem Reinerlös von 2,08 Millionen D-Mark einen neuen Monatsrekord der Lotterie aufgestellt. Mit dem wachsenden Erfolg der Sendung stiegen auch die Lotterieerlöse weiter an. So erreichte der jährliche Reinerlös 1971 7,29 Millionen D-Mark. Bei »Vergißmeinnicht« hatte dieser im Vergleich dazu 1969 noch bei 1,72 Millionen gelegen. Der Quotengarant »3x9« wurde vom ZDF im Sommer 1974 aufgrund der hohen Kosten der live ausgestrahlten Wandershow eingestellt. Auch mögen die 1972 und 1973 gesunkenen Reinerlöse aus der Lotterie sowie deren umständliches Abrechnungssystem ein Grund für die Absetzung gewesen sein. Für den Nachfolger »Der Große Preis«, der auf der erfolgreichen italienischen Quizsendung »Rischiatutto« basierte, änderte man daher das Konzept, wobei vor allem kostenintensive Showteile entfielen. Ohne die bekannte Bigband Max Gregers und das ZDF-Tanzballet fand die von nun an aufgezeichnete Show monatlich in den Studios der »Union-Film« in Berlin-Tempelhof statt. Am Infotainmentkonzept von »3x9« wurde indes festgehalten. In dem neuen Format traten drei Kandidaten in drei Fragespielrunden gegeneinander an. Nach kurzer Verkündung der aktuellen monatlichen Lotterieeinzahlungssumme begann die erste Spielrunde. Thoelke stellte den Mitspielern dort zunächst getrennt voneinander in unterschiedlichen szenischen Kulissen fünf Quizfragen zu einem persönlichen Fachgebiet, bei denen 1.000 D-Mark erspielt werden konnten. Zur Überprüfung bei unklaren Antworten saß für jeden Mitspieler ein Fachexperte bereit, der im Gespräch mit Thoelke darüber hinaus Informatives zu seiner Disziplin preisgab. Nach Ende der ersten Spielrunde erfolgte durch das Glücksrad, bis zu seinem Tod von Walter Spahrbier bedient, die Ziehung der Gewinnzahl (die letzten vier Ziffern eines 242
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Lotterieloses). Anschließend fand ein Gespräch mit einem prominenten Gast statt, der danach die Lotteriehauptgewinner an der Lostrommel zog. In der zweiten Spielrunde traten die Kandidaten in futuristischen Kugeln sitzend im direkten Duell an einer »Multivisionswand« an, an der sie ihr bis dato erspieltes Geld weiter vermehren konnten. Die an der Allgemeinbildung orientierten Fragen wurden zum größeren Unterhaltungsfaktor teilweise im Zusammenhang mit Bilderrätseln, Kurzfilmen oder Sketchen vorgetragen und betrafen in jeder Ausgabe ein bestimmtes Themengebiet. Fragen wurden auch im Kontext mit auftretenden Gästen gestellt, die, wie der Raketenwissenschaftler Kurt Debus (1908–1983), oft von Thoelke selbst für die Show vorgeschlagen wurden. Überwacht wurde der Spielablauf von einem Schiedsrichter. Neben den gewöhnlichen Fragen im Wert von 100 D-Mark konnten die Spieler bei der Auswahl verborgener Fragefelder auf der Multivisionswand »Risiko«-Fragen erhalten. Bei diesen bestimmte der Kandidat die Höhe des aus seinem bisherigen Gewinn eingesetzten Betrags selbst. Zudem gab es »Glücksfragen«, die bei richtiger Antwort 500 D-Mark einbrachten, sowie »Joker« in Höhe von 100 D-Mark. Nach dem obligatorischen Gespräch mit »Wum« und »Wendelin« musste jeder Spieler in der letzten Spielrunde einen von drei Umschlägen wählen, der eine dreiteilige Abschlussfrage zu seinem Fachgebiet enthielt und innerhalb von 60 Sekunden beantwortet werden musste. Bei richtiger Lösung konnte er seinen bisherigen Gewinn verdoppeln. Scheiterte der Kandidat an den Abschlussfragen, fiel sein bis dahin erspieltes Geld der »Aktion Sorgenkind« zu. Ab der zweiten Sendung durften die erfolglosen Kandidaten zumindest ihren in der ersten Runde erspielten Geldbetrag behalten. Der Gewinner der Sendung nahm als Champion in der folgenden Ausgabe erneut teil. Das Konzept wurde unter Einbeziehung Thoelkes, der Innovationen auch weiterhin offen gegenüberstand, im Laufe der Jahre mehrfach überarbeitet. So wurden beispielsweise schon bald wieder Musikbeiträge integriert, für die erste Spielrunde eine Masterfrage eingeführt und die Ausgaben ab Februar 1987 mit neuem Bühnenbild wieder live übertragen. Dabei wurden unter anderem die futuristischen Kugeln durch »Trick«-Kästen ersetzt, in der zweiten Runde eine Meinungsfrage und an deren Ende eine Temporunde zu Fragen aus dem Tagesgeschehen des vergangenen Monats hinzugefügt sowie eine Bücherkiste mit Literatur zu den Fachgebieten der Kandidaten präsentiert. In 220 Sendungen, die Thoelke zwischen 1974 und 1992 moderierte, nahm die Lotterie 1,7 Milliarden D-Mark (Brutto inklusive Gewinnausschüttung sogar über 3 Milliarden) ein. Dank des mit Sendungsbeginn neueingeführten Losprinzips konnten die Einnahmen im Vergleich zu »3x9« nochmals erheblich gesteigert werden. Damit ließ die Lotterie die ebenfalls zunehmenden Spenden endgültig als wichtigste Einnahmequelle der Aktion hinter sich. Hatte der Reinerlös schon 1975 jährlich 35,4 Millionen Mark erreicht, stieg er trotz beginnenden Zuschauerrückgangs bis 1979 auf über 101 Millionen D-Mark. Dies gründete vor allem auf der Einführung des Jahresloses für 36 D-Mark im Jahr 1978 und wohl auch auf ausgeweiteten Werbemaßnahmen sowie den gestiegenen und garantierten Gewinnchancen für die Teilnehmer. Zweifellos 243
Martin Pesch Abb. 3: Wim Thoelke bei »Der Große Preis«, Foto : Barbara Oloffs, undatiert
war auch die Transparenz bei der Verwendung der Erlöse – Rechenschaft legte man in der »Bilanz der guten Taten«, später »Die große Hilfe«, ab – entscheidend für die Teilnahmebereitschaft vieler Zuschauer. Damit stieg die Sendung zur erfolgreichsten Lotterieshow der Welt auf. Zusätzliche Einnahmen für die Aktion brachten weiterhin die erfolgreichen Pop-Schlager-Kompilationen, von denen zunächst zwei, später drei D-Mark an die Einrichtung abgeführt wurden. Bis 1991 brachten sie über 46 Millionen D-Mark ein. Ihren Erfolg hatte die Lotterie unbestritten der Popularität der Sendung zu verdanken, während beide wiederum maßgeblichen Einfluss auf das soziale Image des ZDF nahmen. »Der Große Preis« erreichte nach Sendestart mit 57 Prozent zunächst ähnlich hohe Zuschauerwerte wie sein Vorgänger. Ausdruck dieses Erfolgs von Format und Moderator war Thoelkes Wahl zum drittbeliebtesten Spielshow-Moderator durch »Hörzu«-Leser bei der Goldenen Kamera 1975. Ab 1978 verlor die Sendung allerdings leicht, aber kontinuierlich an Zuschauern. »Der Große Preis« blieb neben »Dalli Dalli« dennoch das meistgesehene Unterhaltungsformat des Senders, auch wenn Frank Elstners (geb. 1942) skurrile Wett-Spielshow »Wetten, dass… ?« ihm ab 1983 zunehmend den Rang als das Erfolgsformat der Familienunterhaltung ablief. Einen drastischeren Einbruch erlebten die Zuschauerquoten dann ab 1987 (38 Prozent, 244
Wim Thoelke (1927–1995)
13,1 Millionen) – vor allem bei der jüngeren Zielgruppe –, sodass diese 1992 »nur« noch bei durchschnittlich 18 Prozent (7,79 Millionen) lagen. Die Gründe für den Abwärtstrend sind nicht zuletzt im sich ab Mitte der 1980er-Jahre ausbreitenden Privatfernsehen zu finden. Auf dem Sendeplatz lockten bei der Konkurrenz von RTLplus und SAT.1 unter anderem amerikanische Krimi- und Actionserien, Spielfilme und moderne Spielshows die Gruppe der unter Fünfzigjährigen weg. Über den sinkenden Zuschauertrend konnte letztendlich auch nicht der im Januar 1991 aufgestellte Monatsrekord für Lotterieeinnahmen von 19,5 Millionen D-Mark hinwegtäuschen, der durch den Teilnehmerzuwachs aus den neuen Bundesländern zustande gekommen war. Dort war das Format zum Ende der Siebzigerjahre mit bis zu 70 Prozent Zuschauerbeteiligung im Unterhaltungssektor ebenfalls führend gewesen. Im Osten aber sank die Sendung in der Publikumsgunst noch schneller als im Westen, sodass die Sehbeteiligung schon 1981 bei 18 Prozent lag. Hatte laut »Der Spiegel« das Konzept der sozialen Selbsthilfe die DDR-Zuschauer zunächst beeindruckt, sollen diese laut späteren Umfragen in der Sendung ein Instrument zur Ablenkung von sozialen Missständen in Westdeutschland erkannt haben. Was das Publikum im Westen neben der Mischung aus bildungsorientiertem Ratespaß, Showunterhaltung und der Ziehung der Lotteriezahlen an dem Format begeisterte, offenbaren Tausende Zuschauerbriefe und -anrufe, die das ZDF während der Laufzeit der Sendung erhalten hat. Wie diese zeigen, identifizierten sich die Zuschauer mit den Kandidaten, da jene wie sie selbst »gewöhnliche« Bürger waren. Sie bangten und freuten sich mit ihnen und protestierten bei ihrer Ansicht nach ungerechter Behandlung der Kandidaten. Vor allem bei umstrittenen Entscheidungen des Schiedsrichters waren immer wieder vermehrte Zuschauermeldungen zu registrieren. Damit derartige Konflikte gar nicht erst entstanden, bemühte sich Thoelke in einem Gespräch mit den Fachexperten am Vorabend jeder Ausgabe um die Formulierung unmissverständlicher Fragen und Antworten. Das Mitgefühl des Publikums mit den Showkandidaten wurde besonders in Zuschauerreaktionen nach der Sendung vom 18. September 1980 deutlich, die eine Änderung der Spielmodalitäten forderten, nachdem ein Kandidat die von ihm erspielte Rekordsumme von 30.640 D-Mark verloren hatte. Hinsichtlich der »Aktion Sorgenkind« ist der Vorwurf an Thoelkes Lotteriespielen sicherlich nicht unberechtigt, dass abgesehen von vereinzelten Showkandidaten Menschen mit Behinderung aufgrund des Unterhaltungsfaktors der Sendungen stets ausgeklammert blieben. Auch mögen für viele der an der Fernsehlotterie teilnehmenden Zuschauer weniger altruistische Gründe als vielmehr der potenzielle Geldgewinn im Fokus gestanden haben. Dennoch ist es das unbestreitbare Verdienst der Fernsehlotterie, mit ihren Reinerlösen das Fundament für eine im Laufe der Jahre bedeutende Verbesserung der vormals katastrophalen Zustände in der Pflege, Schulung und Betreuung behinderter Kinder und Jugendlicher geschaffen zu haben. Verwendet wurden die Fördergelder unter anderem zum Aufbau und zur Modernisierung gemeinnüt245
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ziger Einrichtungen, wie Heime, Tages- und Werkstätten, Sonderkindergärten und -schulen, zur Anstellung ambulanter Pflegekräfte, Berater sowie Anschaffung von Fahrzeugen. Darüber hinaus trug der Erfolg der Fernsehlotterie zur Verbesserung der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Integration behinderter Menschen und somit zum Abbau von Vorurteilen und Berührungsängsten in der deutschen Bevölkerung bei. Entscheidenden Anteil daran besaßen die im Anschluss an die Lotteriesendungen ausgestrahlten informativen Berichte über die geförderten Maßnahmen und Einrichtungen. Durch sie wurde die Aktion selbst stärker in die Öffentlichkeit gerückt und zur Mithilfe aufgerufen. Bei der Bevölkerung trat eine soziale Sensibilisierung ein und in ihr wurde ein soziales Verantwortungsbewusstsein geweckt. Dieses kam in den bis 1991 Hunderttausenden Privatspenden und den über Jahre hinweg veranstalteten Spendenaktionen und -festivals von Städten, Vereinen, Organisationen und Privatleuten zum Ausdruck. Hatte die Lotterie, wie der Name »Sorgenkind« bereits verrät, von Personen mit Behinderung zunächst ein ambivalentes Bild bemitleidenswerter und unselbstständiger Menschen vermittelt und damit ihre eigenen Zielsetzungen teilweise konterkariert, setzte die Initiative infolge von Protesten von Behindertengruppen, die nach mehr Emanzipation verlangten, ab den 1980er-Jahren verstärkt auf Maßnahmen zur Aufklärung und gesellschaftlichen Integration beziehungsweise Inklusion. Auch ältere Menschen mit Behinderung (ab 35 Jahren) wurden bald gefördert und kamen nun auch in den Sendungen erstmals selbst zu Wort. Durch seine beiden Shows »3x9« und »Der Große Preis« erhielt die »Aktion Sorgenkind« mit Thoelke ein öffentlichkeitswirksames Werbegesicht. Mit seinem seriösen, sachlichen Image bildete er den perfekten Botschafter (Testimonial) für die Initiative ; eine Persönlichkeit, die Vertrauen zum Publikum schuf und somit dessen Spendenbereitschaft förderte. In Hunderten Werbespots rief er unterstützt von »Wum« und »Wendelin« zur Teilnahme an der Lotterie auf. Umgekehrt trug die Fernsehlotterie nicht unwesentlich zu Thoelkes Image des biederen Beamten bei. Die große Bedeutung Thoelkes für die Soziallotterie ist unbestritten. Sie wird auch im Nachruf Dieter Stoltes (geb. 1934) auf den Moderator deutlich, der dessen Engagement für die Behindertenhilfe als Lebensleistung würdigte, die unvergessen bleiben und nach Thoelkes Tod als Vorbild weiterwirken werde. Wie von ihm beabsichtigt, gab Thoelke nach Erreichen des Rentenalters die Moderation des »Großen Preises« zum Jahresende 1992 ab. Dabei kam es zwischen ihm und den ZDF-Verantwortlichen zur Auseinandersetzung über die Fortführung des Formats. In seiner Autobiographie, die nicht nur Anekdotenreiches aus seinem Berufsleben, sondern auch Informatives über die Funktions- und Arbeitsweise der Fernsehbranche enthält, legte er seine Sicht der Dinge dar. Anstatt die Sendung, wie von ihm vorgeschlagen, durch einen Moderator zu verjüngen und somit zu modernisieren, übergab man die Moderation Hans-Joachim Kulenkampff (1921–1998), für den das Format nun um 25 Minuten verlängert und auf den Samstagabend verlegt wurde. Thoelke warf dem seiner Ansicht nach inkompetenten Unterhaltungschef Wolfgang Neumann und »unbelehrbaren« Intendanten Dieter Stolte, die seine angebotene Hilfe 246
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Abb. 4: Gastgeber Wim Thoelke in der Sendung »Klassentreffen«, Foto : Hermann Roth, undatiert
ausgeschlagen hätten, rückblickend vor, mit derartigen Änderungen die Sendung bewusst demontiert zu haben. Dies sei bereits in seinem letzten Moderationsjahr versucht worden. Stolte ließ nach Erscheinen des Buchs im Mai 1995 Thoelkes Anschuldigungen auch wegen der dortigen Aussagen über korrupte Machenschaften einiger Fernsehredakteure intern einer juristischen Prüfung unterziehen. Diese kam zu dem Ergebnis, dass die Vorwürfe haltlos seien. Das ZDF forderte Thoelke unter Androhung gerichtlicher Schritte daher zur Unterlassung solcher Äußerungen auf. Im Juni 1995 fand ein klärendes Gespräch zwischen beiden Parteien statt. Der von Thoelke als Fehlbesetzung erachtete Kulenkampff gab die Sendungsmoderation aufgrund Zuschauerschwunds bereits nach fünf Folgen wieder ab. Dass sich das Publikum mit dem neuen Gastgeber nicht anfreunden konnte, zeigen fast 2.800 Zuschauerbriefe und -anrufe, die sich kritisch über die Wahl des neuen Moderators äußerten. Denen gegenüber standen nur knapp 300 positive Bekundungen. Die Show wurde danach von Carolin Reiber (geb. 1940) moderiert. Die Wahl erregte zwar deutlich weniger Aufsehen. Zustimmung und Ablehnung der Zuschauer waren zudem gleich verteilt. Allerdings konnte auch Reiber das Format nicht retten, sodass es im Dezember 1993 eingestellt wurde. Die Lotterie zugunsten der »Aktion Sorgenkind« wurde danach in die Nachfolge-Quizsendung »Goldmillion« integriert, jedoch brachen die Lotterieeinnahmen dort weiter ein. »Der Große Preis« erfuhr 2002 nochmals eine wenig erfolgreiche Wiederbelebung und wurde 2003 erneut eingestellt. 247
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Thoelke leitete beim ZDF unterdessen noch bis 1994 das 1990 von Elke Heidenreich (geb. 1943) übernommene, sporadisch ausgestrahlte Format »Klassentreffen« ; eine 45-minütige Sendung, in der Prominente auf ehemalige Klassenkameraden trafen und über die gemeinsame Schulzeit sprachen. Auch nach seinem Abschied von »Klassentreffen« zog sich der Moderator nicht aus der Medienlandschaft zurück. So hatte er im Januar 1993 beim öffentlich-rechtlichen »Sender Freies Berlin« und dem MDR eine eigene monatliche Talkrunde namens »Talk Thoelke« übernommen. 1994 war er neben Peter Bosse (1931–2018) Mitbegründer des Berliner Radiosenders »50Plus«, der ein Programm mit Information, Musik, Service und Unterhaltung für Zuhörer ab 50 Jahren anbot. An dem 1995 in »Spreeradio« umbenannten Sender war Thoelke als Gesellschafter mit acht Prozent beteiligt und moderierte bis zu seinem Tod die zweistündige Sendung »Thoelke am Sonnabend«. Eine Marktlücke im Segment der 35- bis 55-Jährigen wähnte der Showmaster auch beim Musikfernsehen. Daher engagierte er sich als Gesellschafter beim Aufbau des von John Garman konzipierten Musiksenders »Center of Music TV« (kurz »Com-TV«), der Countrymusik und Oldies spielen sollte. Der Spartenkanal, an dem Thoelke 16 Prozent hielt, ging jedoch nie auf Sendung. 7. Arbeitsweise, Selbstbild und öffentliche Wirkung als Moderator Thoelke verstand seine Fernseharbeit nicht als Kunst, sondern als Handwerk. Sich selbst sah er als Dienstleister eines Publikums aller Altersklassen und sozialer Schichten. Dieser Anspruch wird besonders in seiner Aussage deutlich, nach der er »wie ein Kellner [sei], der etwas serviert, von dem er hofft, daß die Leute es bestellt hätten«. Als Maxime galt es ihm, den Zuschauern unverfängliche Unterhaltung zur Entspannung zu bieten, wobei Information und Bildung für ihn stets wichtige Konzepte seiner Programmformate waren. Das Publikum sollte nach jeder Sendung das Gefühl haben, seine Zeit sinnvoll verbracht zu haben. Für Thoelke, der bei der Moderation lieber intuitiv agierte, bildete auch Spontaneität einen wichtigen Faktor in der Unterhaltung. Daher sagten ihm vor allem Livesendungen, die unvorhergesehene, besondere Momente und Höhepunkte hervorbringen konnten, zu. Allzu strikt gefasste Regularien im Sendungsablauf störten ihn sehr, wie seine Autobiographie offenbart. Anders als viele seiner damaligen Moderatorenkollegen nutzte Thoelke in seinen Quizshows die Bühne nicht als Plattform zur Selbstinszenierung, sondern hielt sich getreu seines Dienstleistungsprinzips, die Sendung und nicht sich selbst zu verkaufen, im Hintergrund. Diese Sichtweise setzte sich auch hinter der Kamera fort, wo er zu betonen wusste, dass der Erfolg einer Fernsehshow erst durch die Gesamtleistung eines Teams und nicht die bloße Einzelleistung des Moderators möglich werde. Seinem Anspruch entsprechend, ein Fernsehprogramm für alle zu gestalten, bemühte er sich in Moderationen und Interviews stets darum, einfach und direkt, also für jeden Zuschauer verständlich zu sprechen. Sich selbst bezeichnete er einmal als auf den 248
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Punkt Sprecher. Auch Fragen stellte Thoelke bewusst so, dass sie allgemeinverständliche Antworten hervorrufen mussten. Dieser Grundsatz kommt auch in einer Aussage Klaus Angermanns zum Ausdruck, laut der sich Thoelke zur Gewährleistung der Verständlichkeit als Fragensteller bei Interviews bewusst naiv gestellt habe. Als Leiter der Zentralredaktion Sport hatte er diesen Stil, wie sich unter anderem Dieter Kürten und Bruno Moravetz erinnerten, auch seinen jungen Kollegen zu vermitteln versucht. Beim Publikum kam die teils lehrerhafte Art, komplexe Sachverhalte in einfachen Worten darzustellen, sehr gut an. Dieter Kürten betitelte ihn folglich nicht zu Unrecht als »begnadete[n] Vereinfacher«. Konsequenterweise vertrat Thoelke umgekehrt die Ansicht, dass eine überlegene Intellektualität beim Moderator nicht sichtbar werden dürfe, weil jener dadurch als Angeber erscheine. Diese Haltung trug erheblich zu seiner großen Beliebtheit bei, da die Zuschauer sich so noch stärker mit ihm identifizierten. Auf seine Moderation bereitete Thoelke sich immer akribisch vor. Wie sich der Regisseur Georg Martin Lange (geb. 1937) erinnerte, sei das Team oft von Thoelkes Detailwissen zu Themen und Kandidaten überrascht gewesen. In der Sendung konnte der Moderator mit diesem Wissen beim Publikum glänzen, was seinen Ruf als Lehrerfigur wesentlich stärkte. Hatte Thoelke womöglich schon als Sportreporter die journalistische Wichtigkeit einer detaillierten Vorbereitung erkannt, wurde sie in der Zeit als Moderator des »Aktuellen Sportstudios« laut Klaus Angermann zu einer hervorstechenden Eigenschaft. Ein ständiger Informationsfluss sowie sportliche Entwicklungen und die Bandbreite der Sendung erforderten hier für eine kompetente Moderation, das schnelle Aneignen von Wissen. Seine minutiöse Art der Vorbereitung wusste Thoelke auch bei seinen späteren Quizshows zu nutzen. Wesentliche Voraussetzung für seine Fähigkeit, sich Daten schnell zu merken, war vor allem sein ausgezeichnetes Kurzzeitgedächtnis. Wie er in seiner Autobiographie äußerte, reichte es ihm oft aus, eine Information einmal zu lesen, um diese gedanklich zu speichern. In der Moderation half ihm diese Begabung, Fragen und Ansprachen aus dem Gedächtnis abzurufen und frei vorzutragen. Bei »Der Große Preis« erlaubte ihm das angelesene Wissen über die jeweiligen Fachgebiete wiederum, Kandidaten bei ungenauen Antworten in die richtige Richtung zu leiten oder falsche Antworten ohne Rückfrage mit den Experten zu erkennen ; ein weiterer Faktor, der seinem Image des souveränen und »guten« Spielleiters zuträglich war. Bei den meisten Zuschauern galt Thoelke als seriöser und gutmütiger sowie charmanter, kumpelhafter Typ, der auch scharfzüngig sein konnte, dabei jedoch stets fair und gerecht blieb. Kritiker hielten ihm hingegen sein oft unbeholfen wirkendes Auftreten vor. Sie fanden ihn zudem zu langweilig und bieder. Dabei war gerade dieses Image des gemütlichen »Teddybären«, des bodenständigen Menschen »von Nebenan«, in großen Teilen für seine Popularität verantwortlich. Vor allem im Hinblick auf das Showkonzept von »Der Große Preis« war Thoelkes Art des korrekten, fairen Spielleiters und seriösen Lotterievertreters von essentieller Bedeutung. Eine besonders negative Einordnung des Showmasters zog rückblickend Nikolaus von Festenberg (geb. 249
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1946), der im Beginn von Thoelkes Lotterieshowkarriere den »Einzug der Ungenialen und Unbegabten« erkannt haben will. Durchaus lässt sich in dem Moderator ein Wandel zu wortwitzigen Schwadroneuren und Charmeuren wie Frankenfeld oder Kulenkampff erkennen, die die deutsche Fernsehunterhaltung bis dahin geprägt hatten. Von Festenbergs Begriff des »Unbegabten« wirkt an dieser Stelle jedoch recht befremdlich. Immerhin hatte es Thoelke über zwei Jahrzehnte geschafft, mit seinen »harmlosen« Spielideen Millionen vor die Bildschirme zu locken, also durchaus ein Sehbedürfnis des Publikums zu befriedigen. Darüber hinaus war die TV-Persönlichkeit »Thoelke« zu einem gewissen Grad eine Rolle, die der Moderator spielte, weil sie dem Publikum gefiel. Dies bestätigt er selbst, wenn er schreibt, dass im Fernsehen eine vorgebliche Naivität notwendig sei. Ein Showmaster benötige die »Fähigkeit, sich ernsthaft rühren zu lassen, die Bereitschaft, sich für andere zu begeistern, eine gewisse treuherzige Zuverlässigkeit und das Gefühl, daß man verletzlich ist«. Dadurch könne sich der Zuschauer eher mit ihm identifizieren. Auch abseits der TV-Präsenz bemühte sich Thoelke, diese Rolle gegenüber seiner »Kundschaft«, den Zuschauern, auszufüllen. Privat sei der Showmaster, wie sein Sohn Jan äußerte, zwar ebenso bodenständig, aber eher ein tiefsinniger, gutinformierter und scharfzüngiger Intellektueller gewesen. An anderer Stelle ergänzte er, dass ihn so nur wenige gekannt haben. Jene kaum bekannte Seite Thoelkes wurde auch von Dieter Kürten hervorgehoben, der ihn als extrovertiert, temperamentvoll und zur Exzentrik neigend charakterisierte. Es sind Attribute, die einer Person, die drei Jahrzehnte lang ins Rampenlicht strebte, zweifellos nicht fremd waren und von Thoelke teils selbst bestätigt wurden, wenn er 1994 einem Reporter der »Berliner Zeitung« offenbarte, sein »Bedürfnis nach Selbstdarstellung und […] Eitelkeit« im Leben gut ausgelebt zu haben. 8. Wirtschaftliche Nebentätigkeiten eines Fernsehstars Neben seiner Fernseharbeit verfolgte Thoelke seit der Kündigung seines Angestelltenverhältnisses beim ZDF (1970) eine Vielzahl unterschiedlichster wirtschaftlicher Unternehmungen. Abgesehen von den lukrativen Aspekten lässt sich die Vielfältigkeit dieser oft gleichzeitig laufenden Projekte dadurch erklären, dass Thoelke, wie er selbst wiederholt berichtete, an vielen Gebieten Interesse fand und stets neugierig auf neue Herausforderungen war. Da er sich leicht ablenken ließ, schnell ungeduldig wurde und von erworbenen Fähigkeiten bald gelangweilt war, wandte er sich bei sich auftuenden geschäftlichen Chancen einem neuen Gebiet zu. Seine Neugierde und Risikobereitschaft verführten ihn dabei auch zu Investitionen in Geschäftsbereiche, in denen er keine Erfahrung besaß. Dies führte gelegentlich zum Scheitern von Projekten und zu teilweise großen finanziellen Verlusten. 1971 machte Franz Burda (1903–1986) den vormaligen Sportmoderator zum Herausgeber seines neuerworbenen Magazins »Sport-Illustrierte«. Für diese Aufgabe 250
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pendelte Thoelke einmal wöchentlich zwischen Wiesbaden und der Verlagszentrale in Offenburg oder dem zweiten Firmensitz in München. Die von nun an alle sieben Tage erscheinende Zeitschrift war bei ihren sportinteressierten Lesern ehemals dafür beliebt, nicht nur Ergebnisinformationen, sondern auch kompetente Hintergrundberichte zu bieten. Die nach der Übernahme erfolgte Einstellung von fachfremden Journalisten führte allerdings zur Abnahme der Qualität und zu Fehlern im Inhalt. Das Blatt konnte seine Auflage zwar auf 165.000 Exemplare steigern, wurde aber aufgrund weiterhin bestehender fehlender Rentabilität und journalistischer Kompetenz bereits 1973 vom Verlag eingestellt. Wie bei vielen seiner Kollegen brachte Thoelkes gleichzeitig wachsender Erfolg als Fernsehstar ihm die Möglichkeit, durch Moderationen von Firmen- und Werbeveranstaltungen, Modeschauen, Stadtfesten sowie Galas Geld zu verdienen. Mit ihnen erzielte er teilweise wohl bis zu 50 Prozent seiner Jahreseinkünfte. Die Einnahmen aus solchen Auftritten boten ihm in den folgenden Jahren oft eine Ausgleichsmöglichkeit, wenn er in anderen wirtschaftlichen Unternehmungen, bei denen er oft finanziell hohe Risiken einging, Verluste erlitten hatte. Wie auf seine Fernsehauftritte bereitete Thoelke sich auch auf diese Veranstaltungen akribisch vor. Moderierte er beispielsweise ein Stadtfest, las er oft schon längere Zeit vorher die betreffenden Lokalzeitungen, um über die örtlichen Verhältnisse informiert zu sein. Dadurch konnte er sowohl eine fachlich kompetente Moderation bieten als auch Nähe zum Publikum aufbauen. Thoelkes Beziehung zur Mode ging indessen weit über die regelmäßige Moderation von Modeschauen hinaus. Bereits in den 1950er-Jahren hatte er auf Anregung seines damaligen Vorgesetzten Willi Daume versucht, ein zweites Standbein in der Kinderbekleidung aufzubauen. Durch Vermittlung von Daumes Ehefrau Rosemarie vertrieb Thoelke mit seiner Ehefrau, einer ausgebildeten Schneidergesellin, als Lizenznehmer des Pariser Textilverlags »Édition de Montsouris« unter dem Namen »Bambi-Moden« in Deutschland Kollektionen des Hauses. Laut Ulla Thoelke gedieh das Projekt jedoch nicht richtig, da schon die erste Lieferung eine miserable Qualität aufwies. Ein weiteres Engagement im Modesektor folgte zu Anfang der 1970er-Jahre, als der modebewusste Fernsehstar die deutsche Vertretung für die Modefirma eines französischen Kabarettisten übernahm. Das Projekt, das zunächst vielversprechend anlief, scheiterte jedoch anscheinend bald daran, dass der überforderte Firmenbesitzer Thoelkes Bestellungen nicht nachkam. Finanziell erfolgreicher brachte der Showmaster danach mit dem Solinger Krawattenfabrikanten Helmut Winnenbrock eine eigene Kollektion (Collection Wim Thoelke) in dessen Firma »Fabio« heraus. Dabei wirkte Thoelke selbst an der Gestaltung der Modelle mit. Der gewiefte Geschäftsmann verstand es auch hier, seine enorme Popularität zu nutzen, um die Linie durch werbewirksame Geschäftsauftritte zu vermarkten. Später folgte unter seinem Namen eine eigene Kollektion von Oberhemden. Einigen Gewinn erzielte Thoelke kurzzeitig auch mit dem Verkauf einer eigens entworfenen »Dehnbundhose« (Stretchhose), die sich einem wechselnden Körperumfang anpasste. Das Bekleidungsstück, für das er beim Patent251
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amt einen Gebrauchsmusterschutz eintragen ließ, wurde über die großen deutschen Kaufhausketten vertrieben. Ein anderes Beispiel dafür, wie sehr Thoelke es verstand, seinen Namen in dieser Zeit gewinnbringend zu vermarkten, bilden drei Brettspiele, die er Mitte der 1970erJahre mit der Firma »Pelikan« entwickelte. Diese wurden ebenso wie die 1979 herausgegebene Wissensquizreihe »Pfiffi« der Spielefirma »ASS« mit seinem Konterfei vertrieben. Seine Popularität ermöglichte es dem eher unmusikalischen Showmaster auch, ermutigt durch den Film- und Fernsehkomponisten Peter Thomas (geb. 1925), 1979 beim Musiklabel »Polydor« die Langspielplatte »Ich pfeif ’ euch was« samt einer Singleauskopplung aufzunehmen. Die LP enthielt 18 Musikstücke, die von dem Moderator auf Blockflöte eingespielt und von Thomas’ Orchester begleitet wurden. Thoelke, der auf Anregung Frieder Burdas (1936–2019) im Frühjahr 1973 seinen Pilotenschein gemacht hatte und seitdem eigene Privatmaschinen am Flughafen Egelsbach unterhielt und vercharterte, wandte sich 1974 erneut der gewerblichen Luftfahrt zu, als ihm eine Lizenz zum Aufbau einer nationalen Flugverkehrsgesellschaft für den karibischen Inselstaat St. Kitts & Nevis angeboten wurde. Thoelke erhoffte sich von dem Projekt, seine bisherigen kaufmännischen Erfahrungen im kommerziellen Luftverkehr nutzen zu können, um die Fluglinie wirtschaftlich in Fahrt zu bringen und dann gewinnbringend zu verkaufen. Die von St. Kitts aus operierende »Air Caribbean« sollte zum einen für deutsche Hotels und Ferienclubs Touristenflüge zu den umliegenden Inseln anbieten. Zum anderen hoffte man, für ein geplantes Casino amerikanische Touristen von Flughäfen in Florida ins Land zu locken. Das Projekt diente also vornehmlich der Ankurbelung des Fremdenverkehrs in dem wirtschaftlich angeschlagenen Land, das damals gleichzeitig den Bau mehrerer Ferienanlagen und Golfplätze forcierte. Bei den Verhandlungen mit Premierminister Robert Llewellyn Bradshaw (1916–1978) einigte man sich darauf, dass Thoelke ohne staatliche Zuschüsse sämtliche Flugverkehrsrechte erhielt. Zur Aufnahme des Betriebs hatte Thoelkes Firma »Montgomery Corporation« Ende November von der »New Zealand National Airways« ein Flugzeug des Modells »Vickers Viscount« gekauft. Die Maschine wurde für die notwendigen Umrüstungs- und Wartungsmaßnahmen anschließend teilweise im Beisein Thoelkes über Papua-Neuguinea, Malaysia und Frankfurt zum Flughafen Basel-Mülhausen überführt. Die Fluglinie ging nach abgeschlossenem Leasingvertrag und der Überstellung des Flugzeugs nach St. Johns auf Antigua im Juni 1975 jedoch nie in Betrieb. Nach eigener Aussage gab Thoelke das Projekt wegen Schikanen der britischen Behörden und mafiöser Umtriebe auf der Insel auf. Erfolgreicher verlief im gleichen Jahr die Gründung der »Montana Flugdienst GmbH«, besser bekannt als »Montana Austria«. Die Firma wurde von Thoelke und dem Piloten Hans-Jörg Stöckl (gest. 2011) ins Leben gerufen, der in Österreich eine Lizenz für eine internationale Fluglinie erhalten hatte. Sie führte Interkontinentalflüge unter anderem nach Fernost und in die USA durch, die von der staatlich-österreichischen Fluggesellschaft »Austria Airlines« (AUA) damals noch nicht angeboten 252
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wurden. Zur Protektion der nationalen AUA blieben der Montana im Gegenzug Inlands- und innereuropäische Flüge untersagt. Nach eigener Aussage kümmerte sich Thoelke bei dem Unternehmen um den organisatorischen Aufbau und kaufte mithilfe befreundeter Finanziers im September 1976 die erste Boeing 707 der Gesellschaft, ursprünglich eine Maschine der australischen »Quantas«. Anschließend ließ er die Maschine im Boeingwerk in Seattle flugtauglich machen und für die Bedürfnisse der Montana umrüsten. Als wichtiger Ratgeber diente ihm wie schon beim »Air Caribbean«-Projekt sein deutschstämmiger Freund »Hank« Warton (geb. 1916) ; ein abenteuerbereiter Pilot und unkonventioneller Flugunternehmer, der unter anderem in den 1960ern mit seiner Firma im nigerianischen Bürgerkrieg Versorgungsflüge für die Igbo nach Biafra durchgeführt hatte. Der erste Flug der »Montana«-Gesellschaft konnte am 7. November 1976 von Wien nach Bangkok durchgeführt werden. Kurze Zeit später verkaufte Thoelke anscheinend seine Beteiligung an der Airline gewinnbringend an den deutschen Großspediteur Carl E. Press, den er als Hauptgeldgeber vermittelt hatte. Thoelkes Tochter May arbeitete bei der Airline einige Zeit als Flugbegleiterin. 1981 musste das Unternehmen Konkurs anmelden und wurde liquidiert. Gemeinsam mit seiner Tochter importierte Thoelke später Turnierpferde aus Irland, die in einem Wiesbadener Stall gehalten wurden. Neben der Luftfahrt engagierte sich der Moderator in den 1970er-Jahren auch in der Raumfahrt. So war er stiller Teilhaber der 1974 von Lutz Kayser (1939–2017) gegründeten privaten Raumfahrtfirma »Orbital Transport- und Raketen AG« (OTRAG). Das zuvor vom Bundesforschungsministerium geförderte Projekt arbeitete an der Entwicklung einer kostengünstigen Alternative zum europäischen Raketenantrieb »Ariane«, mit der Satelliten ins All transportiert werden sollten. Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft war der ehemalige Direktor des Kennedy Space Centers Kurt Debus, zu dem Thoelke in freundschaftlichem Verhältnis stand. Zweiter Haupteigner neben Kayser war Thoelkes Bekannter Carl E. Press. Auch ein weiterer Freund des Moderators, Rolf Huhn, Direktor des Münchner Bankhauses »Merck, Finck & Co.«, war unter anderem als Kontaktvermittler in das Projekt involviert. Für die mehr als 1.500 stillen Teilhaber der Firma, meist deutsche Großverdiener, bildete das als Abschreibungsgesellschaft aufgebaute Unternehmen ein lukratives Investment, das den Anlegern laut Firmenwerbung 240 Prozent Verlustzuweisungen versprach. Durch Verfügung des Finanzamts Offenbach-Land war es den Investoren bald möglich, ihre Einlagen als Entwicklungshilfe zu verbuchen und somit steuerliche Erleichterung zu erhalten. Gleichfalls konnten auch die aus fiktiven Pachtzinsen und Mietausgaben resultierenden Firmenverluste als steuerliche Abschreibungen beim Finanzamt geltend gemacht werden, wobei das ersparte Geld wiederum in das Unternehmen investiert wurde. Die »OTRAG« löste einen internationalen politischen Skandal aus, als 1977/78 öffentlich bekannt wurde, dass sie Raketentests im vom Diktatoren Joseph Désiré Mobutu (1930–1997) regierten Zaire durchführte. Das Unternehmen hatte 1976 mit diesem einen bis zum Jahr 2000 befristeten und unkündbaren Pachtvertrag mit unein253
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geschränkter Verfügungsgewalt über ein 100.000 km2 großes Testgelände in der Provinz Shaba abgeschlossen. Seit Mai 1977 fanden hier drei Raketenstarts statt. Schnell wurde international, vor allem von sowjetischer und ostdeutscher Seite die Vermutung geäußert, dass die Bundesregierung an dem Projekt beteiligt sei. Kritische Stimmen wurden aber nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen auch in westlichen Ländern laut. Für die Bundesregierung entstand dadurch auch bei Zaires besorgten Nachbarländern Sambia, Tansania und Angola, die eine militärische Nutzung der Raketen fürchteten, ein enormer außenpolitischer Schaden. Nachdem auf politischen Druck Helmut Schmidts (1918–2015) und Valéry Giscard d’Estaings (geb. 1926) die Raketentests 1979 von Mobutu verboten worden waren, wanderte das Unternehmen zu Beginn der 1980er-Jahre nach Libyen ab, wo ihm von Muammar al-Gaddafi (1942–2011) ein neues Testgelände nahe der Stadt Sabha zur Verfügung gestellt wurde. Die Anwesenheit führte auch hier bei den Anrainerstaaten dazu, dass man einen militärischen Missbrauch der Technik fürchtete. Gleichfalls betrachteten westliche Geheimdienste wie die CIA das Projekt nun zunehmend mit Misstrauen. Darüber hinaus fühlten sich die »OTRAG«-Investoren durch den Gang nach Libyen betrogen und forderten Kaysers Abdankung. Das Testgelände wurde nach einem ersten Raketenstart von Gaddafis Truppen besetzt. Die Firma zog sich schließlich 1981 aus Libyen zurück. Kayser war inzwischen durch seinen Partner Frank Wukasch abgelöst worden, der das wenig später in München ansässige Unternehmen aber nicht mehr retten konnte und es Mitte der 1980er-Jahre samt Teilhaberkonten auflöste. Zeitgleich zu seinem Engagement in der »OTRAG« eröffnete Thoelke mit zwei Geschäftspartnern eine »Mitsubishi«-Vertretung in Frankfurt am Main. Seine Beteiligung an dem Unternehmen sollte später Thoelkes Sohn Jan übernehmen, der seit Beginn der 1980er-Jahre Rennfahrer in der Formel 3 war. Der Vertretung folgten bald weitere Filialen im Rhein-Main-Gebiet, unter anderem in Wiesbaden. Damit zählten die Geschäftspartner zu den größten Mitsubishi-Händlern Deutschlands. Thoelkes Sohn, der Mitte der 1980er-Jahre in die USA ging, wo er unter anderem als Immobilienhändler in Miami South Beach tätig wurde, stieg letztendlich nicht in den Autohandel ein, sodass sein Vater die Teilhaberschaft weiterführte. Mit seinen beiden Geschäftspartnern bekannt gemacht hatte ihn der befreundete Bankdirektor Rolf Huhn. Nach dem Ausstieg eines der beiden Teilhaber besaß Thoelke, der 1982 von Wehen nach Niedernhausen-Engenhahn gezogen war, 50 Prozent der Firmenanteile. Die Geschäftsführung überließ er wegen Zeitmangels und fehlender Fachkenntnisse gutgläubig seinem gesellschaftlich angesehenen Geschäftspartner Hans-Henning Kammler, der unter seinem Namen eine Holding mit Autohäusern betrieb. Dieser fälschte in den folgenden Jahren mit Luftbuchungen seine Geschäftsbilanzen, zweigte Gewinne aus den Autohäusern ab und betrog den Moderator damit um einen Millionenbetrag. Kurz bevor Thoelke hiervon erfuhr, hatte er sich im März 1991 wegen fortgeschrittener Arterienverkalkung in einer Genfer Spezialklinik einer Herzoperation unterziehen müssen, bei der ihm drei Bypässe eingesetzt wurden. Der Moderator, 254
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der bis Ende der 1960er-Jahre starker Raucher und später noch ein exzessiver Esser war, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seit Längerem mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen gehabt. Dies lag nicht zuletzt daran, dass der selbstständige »Workaholic« wenig Rücksicht auf seinen Körper nahm. Vor der Operation war Thoelkes gesundheitlicher Zustand schließlich derart kritisch, dass die Ärzte ihm ohne den Eingriff nur noch wenige Wochen zu leben gaben. Schon zwei Monate nach dem Eingriff und einem mehrwöchigen Genesungsaufenthalt in der Max Grundig Klinik auf der Bühlerhöhe bei Baden-Baden moderierte er – von der Operation noch sichtlich gezeichnet – die 200. Ausgabe von »Der Große Preis«. An den Rat der Ärzte, sportlich aktiver zu werden und gesundheitlich bewusster zu leben, hielt er sich nicht. Den geliebten Flugsport, der für ihn Stressabbau und Entspannung vom Alltag bedeutete, konnte er nach der Operation indessen nicht mehr ausüben. Seine letzten Fernsehauftritte hatte Thoelke als Gast der am 17. November 1995 ausgestrahlten WDR-Kochsendung »alfredissimo !« sowie im Vormonat im MDR»Tatort« »Bomben für Ehrlicher«. Am 26. November 1995 starb Thoelke in seinem Haus in Niedernhausen-Engenhahn an einem Herzstillstand. Noch am Freitag zuvor hatte er im Krankenbett für das »Spreeradio« eine letzte Ausgabe seines Talks am Sonnabend aufgezeichnet. Werke Vor allem Sport. Gesammelt in Stadion und Studio, Frankfurt am Main 1969 ; Stars, Kollegen und Ganoven. Eine Art Biographie, Bergisch Gladbach 1995. Quellen Der nur noch in Teilen erhaltene schriftliche Nachlass Wim Thoelkes befindet sich in Händen seiner Ehefrau Ursula. Der Autor bedankt sich bei ihr, ihrem Sohn Jan sowie Klaus Angermann, Norbert Thielmann, Georg Martin Lange, Hans-Jürgen Schumacher, Heide Stöckl und Bärbel Puchert, die mit wertvollen biografischen Informationen zum Gelingen des Artikels beigetragen haben. Ein Dank gebührt auch Siegfried Plehn, der Archivalien und Zeitschriftenartikel aus seinem privaten Handballarchiv zur Verfügung gestellt hat. Erwähnt werden soll auch die Hilfe Klaus Pradlers vom Westfälischen Wirtschaftsarchiv Dortmund, der unter anderem nach Zeitzeugen für Thoelkes Zeit beim Handballbund gesucht hat und den Kontakt zu Frau Puchert vermitteln konnte. Wichtiges Quellenmaterial zur Person findet sich in : Unternehmensarchiv des ZDF, Mainz ; Bundesarchiv Koblenz B 257/14721 und 257/14722 ; Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt ; Historisches Archiv des Südwestrundfunks und des Saarländischen Rundfunks, Stuttgart ; Unternehmensarchiv des WDR, Köln.
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Literatur (Auswahl) Knut Hickethier, Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart/Weimar 1998 ; Helmut Kreuzer/ Christian W. Thomsen (Hgg.), Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, 5 Bde., München 1993/94 ; Dieter Kürten, Drei unten, drei oben. Erinnerungen eines Sportjournalisten. Hamburg 2003 ; Gabriele Lingelbach, Konstruktionen von »Behinderung« in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964, in : Elsbeth Bösl/ Anne Klein/Anne Waldschmidt (Hgg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 127–150 ; Wolf-Dieter Poschmann, Sportstudio-Moderation – Gestern, heute, morgen, in : Michael Schaffrath (Hg.), Sport ist Kommunikation. Festschrift zum 60. Geburtstag Prof. Dr. Dr. hc. Josef Hackforth, Berlin 2009, S. 213–226 ; Ricarda Strobel/Werner Faulstich, Die deutschen Fernsehstars. Stars für die ganze Familie, Bd. 3, Göttingen 1998, S. 18–35 ; Klaus Wehmeier, Geschichte des ZDF. Entstehung und Entwicklung 1961–1966, Mainz 1979 ; ZDF Jahrbuch, Jahrgänge 1962/64–1995.
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Abbildungsnachweis Abtei Maria Laach/Nachlass Pater Thomas Michels : S. 172, 175, 179, 187 Archiv der Erzdiözese Salzburg : S. 164, 182 Archiv des Klosters Bethlehem : S. 98, 104, 112 Archiv des Naturhistorischen Vereins der Rheinlande und Westfalens : S. 74, 79 Bildarchiv Foto Marburg : S. 8 Deutsches Literaturarchiv Marbach/Erica Loos : S. 210 Historisches Archiv der Erzdiözese Köln : S. 144, 145, 147, 148, 151, 154, 160 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland/RW 265, Nr. 27912 : S. 199 Museen der Stadt Regensburg, Historisches Museum : S. 62 Museum Winningen : S. 75 Rhein-Museum e. V. : S. 194 (unten) Stadtarchiv Koblenz/FA 4,21 Nr. 6–129 : S. 111 Stadtarchiv Solingen : S. 120 (RS 10228), 123 (RS 06898), 126 (RS 16701), 131 (RS 19924), 135 (RS 25726) Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn : S. 52 StadtMuseum Bonn : S. 55 Stefan-Andres-Stiftung : S. 215 Stiftung Joseph Breitbach : S. 194 (oben), 196, 197, 201 ZDF/Barbara Oloffs : S. 224, 244 ZDF/Georg Meyer-Hanno : S. 239 ZDF/Hermann Roth : S. 247
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Autorinnen und Autoren Dr. Thomas Becker, Leiter des Universitätsarchivs in Bonn und Lehrbeauftragter am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dr. Andreas Burtscheidt, Referatsleiter Altstipendiaten (Inland) und Promotionsförderung der Hanns-Seidel-Stiftung, München. Dr. Gisela Fleckenstein, Archivarin und Historikerin, stellv. Leiterin des Landesarchivs Speyer. Dr. Wolfgang Löhr, ehemaliger Direktor des Stadtarchivs Mönchengladbach und Dozent an der Archivschule Marburg. Keywan Klaus Münster M. A., Doktorand an der Universität Bonn (Karl Joseph Kardinal Schulte, 1871–1941). Martin Pesch M. A., Doktorand an der Universität Düsseldorf (Luise Rainer, 1910– 2014), freier wissenschaftlicher Autor mit zahlreichen Publikationen zur rheinischen Kulturgeschichte. Prof. Dr. Michael Rohrschneider, seit 2016 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn, zugleich Leiter des Zentrums für Historische Friedensforschung. Dr. Hermann Josef Roth, Studiendirektor i. R., Theologe und Naturwissenschaftler, unter anderem Gründungsmitglied der Dt. Gesellschaft für Geschichte und Theorie der Biologie (DGGTB). Alena Saam M. A., Promotionsstipendiatin der Hanns-Seidel-Stiftung, Projektmitarbeiterin im LVR-Projekt »Widerstand im Rheinland 1933–1945«, Wissenschaftliche Hilfskraft im Stadtarchiv Solingen. Dr. Martin Schlemmer, Oberstaatsarchivrat am Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Grundsätze, und Dozent an der Fortbildungsakademie des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen.
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Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Knut Schulz, bis 2003 Professor für Mittelalterliche Geschichte mit dem Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.
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Inhalt der vorhergehenden Bände in der Bandfolge Band 1. Hrsg. von Edmund Strutz. 3. Aufl. 1971. 264 S., 17 Taf., 1 Kt. Inhalt : Bruno I. (925–965) Philipp von Heinsberg Engelbert I. von Berg (etwa 1182–1225) Dietrich von Moers (etwa 1385–1463) Jost Maximilian Graf von Gronsfeld (1598–1662) Johann Wilhelm, Kurfürst von der Pfalz (1658–1716) Elias Eller (1690–1750) Johann Joseph Couven (1701–1763) Johann Gottfried Brügelmann (1750–1802) Johannes Müller (1801–1858) Gottfried Kinkel (1815–1882) Franz Bücheler (1837–1908) Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) Heinrich Lersch (1889–1936) Franz Oppenhoff (1902–1945)
Robert Haass Gerhard Kallen Erich Wisplinghoff Georg Droege Helmut Lahrkamp Max Braubach Edmund Strutz Paul Schoenen Marie Luise Baum Johannes Steudel Edith Ennen Hans Herter Leo Norpoth Inge Meidinger-Geise Bernhard Poll
Band 2. Hrsg. von Bernhard Poll. 1966. 287 S., 21 Taf., 1 Kt. Inhalt : Konrad von Hochstaden (1205–1261) Winrich von Kniprode (1310–1382) Bartholomäus Bruyn (1493–1555) Johann von Vlatten (vor 1500–1562) Johannes Gropper (1503–1559) Jakob III. von Eltz (1510–1581) Maximilian Pasqualini (1534–1572) und seine Familie Friedrich Spee von Langenfeld (1591–1635) Gerhard Reumont (1765–1828) Christian von Stramberg (1785–1868) Hermann von Beckerath (1801–1870) Ludolf Camphausen (1803–1890) Alfred Rethel (1816–1859) Maximilian Graf von Spee (1861–1914) Paul Freiherr von Eltz-Rübenach (1875–1943) Josef Ponten (1883–1940)
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Erich Wisplinghoff Erich Weise Hildegard Westhoff-Krummacher Anton J. Gail Walter Lipgens Victor Conzemius Dorothea Herkenrath Emmy Rosenfeld Egon Schmitz-Cliever Karl-Georg Faber Heinz Boberach Erich Angermann Heinrich Schmidt DietrichHöroldt Jürgen Huck Gerhard Lohse
Inhalt der vorhergehenden Bände in der Bandfolge
Band 3. Hrsg. von Bernhard Poll. 2. Aufl. 1971. 271 S., 22 Taf. Inhalt : Karl der Große (742–814) Albertus Magnus (ca. 1200–1280) Nikolaus von Kues (1401–1464) Hermann von Wied (1477–1552) Johannes Sleidanus (1506–1556) Jan von Werth (1591–1652) Jakob Ignaz Hittorff (1792–1867) Johannes von Geissel (1796–1864) Clemens August Alertz (1800–1866) Ernst Friedrich Zwirner (1802–1861) Johann Wilhelm Schirmer (1807–1863) Clemens Theodor Perthes (1809–1867) Adolf Kolping (1813–1865) Karl Trimborn (1854–1921) Robert Lehr (1883–1956)
François Louis Ganshof Heinrich Ostlender Erich Meuthen August Franzen Heinz-Otto Sieburg Helmut Lahrkamp Karl Hammer Rudolf Lill Egon Schmitz-Cliever Willy Weyres Heinrich Appel Albert Rosenkranz Victor Conzemius Rudolf Morsey Walter Först
Band 4. Hrsg. von Bernhard Poll. 2. Aufl. 1980. 302 S., 20 u. 4 farb. Taf. Inhalt : Reinald von Dassel (um 1120–1167) Balduin von Luxemburg (1285–1354) Walram von Jülich (1304–1349) Agrippa von Nettesheim (1486–1535) Peter Hasenclever (1716–1793) Januarius Zick (1730–1797) Ludwig van Beethoven (1770–1827) Johann Claudius von Lassaulx (1781–1848) Sulpiz Boisserée (1783–1854) Heinrich Heine (1797–1856) Friedrich Engels (1820–1895) Joseph Reinkens (1821–1896) Heinrich Nauen (1880–1940) Walter Hasenclever (1890–1940) Ludwig Strauss (1892–1953)
Rainer Maria Herkenrath Franz-Josef Heyen Wilhelm Janssen Charles G. Nauert, Jr. Hermann Kellenbenz Othmar Metzger Joseph Schmidt-Görg Willy Weyres Wolfgang Braunfels Eberhard Galley Helmut Hirsch Victor Conzemius Eberhard Marx Horst Denkler Werner Kraft
Band 5. Hrsg. von Bernhard Poll. 2. Aufl. 1982. 259 S., 21 Taf. Inhalt : Nikolaus Wilhelm Beckers Freiherr von Walhorn (1630–1705) Johann Nikolaus von Hontheim (1701–1790)
Wilhelm Mummenhoff und Bernhard Paul Heribert Raab
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Inhalt der vorhergehenden Bände in der Bandfolge
Johann Hugo Wyttenbach (1767–1848) Peter Cornelius (1783–1867) Theodor Fliedner (1800–1864) Alfred von Reumont (1808–1887) Johann Wilhelm Frenken (1809–1887) Franziska Schervier (1819–1876) Jacques Offenbach (1819–1880) Max Bruch (1838–1920) Alexander Schnütgen (1843–1918) Julius Bachem (1845–1918) Else Lasker-Schüler (1869–1945) Johann Victor Bredt (1879–1940)
Richard Laufner Herbert von Einem Anna Sticker Hubert Jedin Norbert Trippen Erwin Gatz Anna-Dorothee v. den Brincken Karl-Gustav Fellerer Armin Spiller Hugo Stehkämper Werner Kraft Klaus Goebel
Band 6. Hrsg. von Bernhard Poll. 2. Aufl. 1982. 288 S., 17 Taf. Inhalt : Regino von Prüm (gest. 915) Wilhelm von Jülich (ca. 1299–1361) Peter Rinck (gest. 1501) Johann Friedrich von Schaesberg (1663/64–1723) Ferdinand Hiller (1811–1885) Vincenz Statz (1819–1899) Philipp Krementz (1819–1899) Friedrich Wilhelm Dörpfeld (1824–1893) Jacob Gerhard Engels (1862–1897) Wilhelm Marx (1863–1946) Heinrich Brauns (1868–1939) Konrad Adenauer (1876–1967) Wilhelm Sollmann (1881–1951)
Eduard Hlawitschka Wilhelm Janssen Franz Irsigler Leo Peters Reinhold Sietz Willy Weyres Erwin Gatz Klaus Goebel Hans Horn Hugo Stehkämper Hubert Mockenhaupt Hans Maier Felix Hirsch
Band 7. Hrsg. von Bernhard Poll. 2. Aufl. 1982. 316 S., 18 Taf. Inhalt : Anno II. von Köln (ca. 1010–1075) Johannes Rode (gest. 1439) Jakobe von Baden (1558–1597) Franz Dautzenberg (1769–1828) Ernst Moritz Arndt (1769–1860) Matthias Joseph de Noël (1782–1849) Franz Ludwig Zahn (1798–1890) Engelbert Humperdinck (1854–1921) Heinrich Pesch (1854–1926) Paul Clemen (1866–1947) Ernst Poensgen (1871–1949)
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Dieter Lück P. Petrus Becker OSB Burkhard Roberg Klaus Müller Max Braubach Elga Böhm Klaus Goebel Hans-Josef Irmen Franz H. Mueller Albert Verbeeck Lutz Hatzfeld
Inhalt der vorhergehenden Bände in der Bandfolge
Wilhelm Levison (1876–1947) Paul Moldenhauer (1876–1946) Robert Pferdmenges (1880–1962) Karl Arnold (1901–1958)
Paul Egon Hübinger Horst Romeyk Wilhelm Treue Walter Först
Band 8. Hrsg. von Bernhard Poll. 1980. 323 S., 16 Taf., 1 Faltkt. Inhalt : Heribert von Köln (um 970–1021) Arnold von Wied (um 1098–1156) Hilger Quattermart von der Stesse (um 1340–1398) Hermann von Goch (gest. 1398) Konrad von Heresbach (1496–1576) Hermann von Neuenahr (1520–1578) Johann Hugo von Orsbeck (1634–1711) Wilhelm Arnold Günther (1763–1843) Johann Baptist Geich (1767–1824) Joseph Görres (1776–1848) Heinrich von Wittgenstein (1797–1869) Gerhard Dürselen (1808–1887) Moses Hess (1812–1875) Leopold Kaufmann (1821–1898) Carmen Sylva (1843–1916) Hermann Cardauns (1847–1925)
Heribert Müller Heinz Wolter Klaus Militzer Franz Irsigler Corinne Beutler und Franz Irsigler Heiner Faulenbach Franz Schorn Alois Thomas Klaus Müller Heribert Raab Hasso von Wedel Klaus Goebel Bruno Frei Dietrich Höroldt Uwe Eckardt Manfred Bierganz
Band 9. Hrsg. von Wilhelm Janssen. 1982. 294 S., 18 Taf. Inhalt : Wibald von Stablo (1098–1158) Arnold von Isenburg (um 1190–1259) Heinrich von Finstingen (gest. 1286) Siegfried von Westerburg (um 1235–1297) Heinrich Egher von Kalkar (1328–1408) Adolf Clarenbach (um 1495–1529) Johann Adam Schall von Bell (1592–1666) Jean Ignace Roderique (1696–1756) Clara Fey (1815–1894) Carl Schurz (1829–1906) Anton de Waal (1837–1917) Carl Johannes Senfft (1858–1927) Hugo Stinnes (1870–1924) Karl Joseph Kardinal Schulte (1871–1941) Wilhelm Lehmbruck (1881–1919) Peter Altmeier (1899–1977)
Franz-Josef Jakobi Rudolf Holbach Volker Henn Franz-Reiner Erkens Gertrud Wegener Klaus Goebel Heinz Doepgen Herbert Hömig Dieter Wynands Walter Keßler Erwin Gatz Lutz Hatzfeld Peter Wulf Ulrich von Hehl Siegfried Salzmann Franz-Josef Heyen
263
Inhalt der vorhergehenden Bände in der Bandfolge
Band 10. Hrsg. von Wilhelm Janssen. 1984. 260 S., 15 Taf. Inhalt : Hildegard von Bingen (1098–1179) Heinrich Sudermann (1520–1591) Josef von Hommer (1760–1836) Ludwig Gall (1791–1863) Peter Nikolaus Caspar Egen (1793–1849) August Hermann (1803–1843) Sophie von Hatzfeldt (1805–1881) August Reichensperger (1808–1895) Philipp Höver (1816–1864) Heinrich Schrörs (1852–1928) Benedikt Schmittmann (1872–1939) Ludwig Kaas (1881–1952) Johannes Derksen (1898–1973)
Adelgundis Führkötter Klaus Wriedt Martin Persch Heinz Monz Klaus Goebel Ekkehard Krumme Helmut Hirsch Hans-Jürgen Becker Dieter P. J. Wynands Norbert Trippen Hugo Stehkämper Georg May Herbert Hömig
Band 11. Hrsg. von Wilhelm Janssen. 1988. 388 S., 18 Taf. Inhalt : Rupert von Deutz (um 1075–1129) Nicasius Hackeney (–1518) Hermann von Weinsberg (1518–1597) Laurentius Surius (1523–1578) Karl Friedrich August Grashof (1770–1841) Franz Raveaux (1810–1851) Carl D’Ester (1813–1859) Andreas Gottschalk (1815–1849) Philipp von Berg (1815–1866) Paul Stumpf (1826–1912) Mathilde Wesendonk (1828–1902) Ludwig Weber (1846–1922) Wilhelm Dörpfeld (1853–1940) Ernst Wilmanns (1882–1960) Georg Freiherr von Boeselager (1915–1944)
Hubert Silvestre Wolfgang Schmid Wolfgang Herborn Gérald Chaix Hans-Jürgen Apel Marcel Seyppel Kurt Koszyk Karl Stommel Herbert Hömig Heinz Monz Günter Schwabe Gert Lewek Uwe Eckardt Klaus Goebel Heinz Doepgen
Band 12. Hrsg. von Franz-Josef Heyen. 1991. 334 S., 14 Taf. Inhalt : Kunibert von Köln (um 590–633 ?) Königin Richeza (um 1000–1063) Oliverus scholasticus et cardinalis (gest. 1227) Dieter von Nassau (um 1250–1307) Loretta Gräfin von Sponheim (um 1300– um 1346)
264
Heribert Müller Marlene Nikolay-Panter Anna-Dorothee v. den Brincken Rudolf Holbach Johannes Mötsch
Inhalt der vorhergehenden Bände in der Bandfolge
Johannes Rethius SJ (1532–1574) Anna Maria – die letzte Medici, Kurfürstin zu Düsseldorf (1667–1743) Johannes Fastenrath (1839–1908) Hermann Joseph Schmitz (1841–1899) Fritz von Wille (1860–1941) Clara Viebig (1860–1952) Max Isidor Bodenheimer (1865–1940) Paul Tirard (1879–1945) Hermann Pünder (1888–1976) Franz Albert Kramer (1900–1950)
Lothar Schilling Carl Vossen Ursula Vones-Liebenstein Klaus-Peter Vosen Kurt Eitelbach Josef Ruland Henriette Hannah Bodenheimer Henning Köhler Rudolf Morsey Eduard Verhülsdonk
Band 13. Hrsg. von Franz-Josef Heyen. 1993. 327 S., 15 Taf. Inhalt : Kaiserin Theophanu (ca. 960–991) Burchard von Worms (ca. 965–1025) Hermann IV. der Friedsame von Hessen, Erzbischof von Köln (1480–1508) Heinrich Simon van Alpen (1761–1830) Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg (1790–1866) Johann Peter Weyer (1794–1864) Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877) Hermann Heinrich Becker (1820–1885) Gerhard August Fischer (1833–1906) Maria Lenssen (1836–1919) Carl Scheibler (1852–1920) Joseph Hansen (1862–1943) Johannes Maria Haw (1871–1949) Josef Winckler (1881–1966)
Odilo Engels Peter Brommer Werner Beutler Leo Peters Horst F. Rupp Konrad Adenauer Bernd Goldmann Andreas Biefang Norbert Aleweld Therese Frauenrath Heinrich Freiherr von Teuffel Everhard Kleinertz Werner Schönhofen und Johannes Weber Wolfgang Delseit
Band 14. Hrsg. von Franz-Josef Heyen. 1994. 344 S., 15 Taf. Inhalt : Agrippina (15–59) Mechthild von Sayn (1205–1284/85) Rudolf Losse (um 1310–1364) Franz von Sickingen (1481–1523) Gisbert Longolius (1507–1543) Gerhard Mercator (1512–1594) Maximilian Prinz zu Wied (1782–1867) Friedrich Ueberweg (1826–1871) Ludwig Arntz (1855–1941)
Werner Eck Joachim J. Halbekann Friedhelm Burgard Reinhard Scholzen Heinz Finger Peter H. Meurer Hermann Josef Roth Volkmar Wittmütz Udo Liessem
265
Inhalt der vorhergehenden Bände in der Bandfolge
Helene Stöcker (1869–1943) Friedrich Karl Ströher (1876–1925) Josef Kentnich (1885–1968) Franz M. Jansen (1885–1958) Robert Ley (1890–1945) Georg Kliesing (1911–1992) Paul Wilhelm Wenger (1912–1983)
Johannes Abresch Klemens Kroh Joachim Schmiedl Wolfgang Delseit Heinz Boberach Horst Ferdinand Hans Filbinger
Band 15. Hrsg. von Franz-Josef Heyen. 1995. 291 S., 15 Taf. Inhalt : Norbert von Xanten (1080/85–1134) Ermesinde Gräfin von Luxemburg (1186–1247) Winand von Steeg (1371–1453) Andreas Gaill (1526–1587) Adam Adami (1610–1663) Bernhard Bardenheuer (1839–1913) Joseph von Lauff (1855–1933) Franz Kaufmann (1862–1920) Ewald Mataré (1887–1965) Gerhard Marcks (1889–1981) Joseph Goebbels (1897–1945) Hubert Jedin (1900–1980) Joseph Teusch (1902–1976) Fritz Straßmann (1902–1980) Stefan Andres (1906–1970)
Kaspar Elm Michel Margue Enno Bünz Karl von Kempis Helmut Lahrkamp Friedrich Moll Gerhard Kaldewei Herbert Lepper Franz Joseph van der Grinten Martina Rudloff Josef Henke Konrad Repgen Norbert Trippen Jost Lemmerich Bernd Goldmann
Band 16. Hrsg. von Franz-Josef Heyen. 1997. 304 S., 15 Taf. Inhalt : Engelbert von Falkenburg (ca. 1225–1274) Albrecht Brendler Johann II. von Baden, Erzbischof und Kurfürst von Trier (1456–1503) Dieter Kerber Johannes Trithemius (1462–1516) Klaus Arnold Johann Butzbach (1477–1516/17) Bertram Resmini Margaretha von der Marck-Arenberg (1525–1599) Peter Neu Adelberdt Graf von der Recke-Volmerstein (1791–1878) Gerlinde Viertel Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) Monika Windbergs Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923) Friedrich Moll Georg Friedrich Dasbach (1846–1907) Helmut Kampmann August Horch (1868–1951) Peter Kirchberg Jakob Kneip (1881–1958) Wolfgang Delseit Christine Teusch (1888–1968) Heinrich Küppers Otto Brües (1897–1967) Franz Janssen
266
Inhalt der vorhergehenden Bände in der Bandfolge
Gustaf Gründgens (1899–1963) Gustav Simon (1900–1948)
Winrich Meiszies Emile Krier
Band 17. Hrsg. von Franz-Josef Heyen. 1997. 287 S., 46 Abb. Inhalt : Adalbert von St. Maximin, Erzbischof von Magdeburg (968–981) Heinrich I. von Müllenark, Erzbischof von Köln (1225–1238) Gottfried Hagen (ca. 1230–1299) Abraham und David Roentgen (1711–1793 ; 1743–1807) Sophie von La Roche (1730–1807) Karl Marx (1818–1883) Johannes Janssen (1829–1891) Henriette Hertz (1846–1913) Friedrich Moritz (1861–1938) Heinrich Haake (1892–1945) Otto Pankok (1893–1966) Josef Grohé (1902–1987)
Theo Kölzer Michael Matscha Manfred Groten Melanie Doderer-Winkler Ulrike Weckel Heinz Monz Kaspar Elm Günter Schwabe Manuel E. Cornely Horst Romeyk Karlheinz Pieroth Rolf Zerlett
Band 18. Hrsg. von Georg Mölich. 2000. 256 S., 40 Abb. Inhalt : Irmgard von Hammerstein (gest. 1042) Bruno IV. von Sayn, Erzb. von Köln (um 1150–1208) Reinhard von Schönau (um1305–1376) Nikolaus Lauxen (1722–1791) Ferdinand von Hompesch (1744–1805) Hermann Josef Stübben (1845–1936) Alfred Flechtheim (1878–1937) Thea Sternheim (1883–1971) Johannes Hoffmann (1890–1967) Joseph Kaspar Witsch (1906–1967)
Mathias Koch Joachim J. Halbekann Florian Gläser Claudia Euskirchen Wolfgang Löhr Oliver Karnau Ottfried Dascher Birgit Bernard Heinrich Küppers Everhard Hofsümmer
Band 19. Hrsg. von Helmut Rönz u. Elsbeth Andre. Redaktion : Andrea Rönz. 2013. 347 S., 43 Abb. Inhalt : Everger (gest. 999) Poppo von Babenberg (986–1047) Friedrich III. von Saarwerden (um 1348–1414) Anna von Kleve (1515–1557) Maximilian Heinrich von Bayern (1621–1688) Peter Joseph Neunzig (1797–1877) Stephan von Sarter (1833–1902)
Heribert Müller Wolfgang Schmid Frank Engel Jennifer Striewski Hansgeorg Molitor Norbert Schloßmacher Ansgar Sebastian Klein
267
Inhalt der vorhergehenden Bände in der Bandfolge
Friedrich Althoff (1839–1908) Theodor Eduard Julius Lerner (1866–1931) Walter Kaesbach (1879–1961) Anton Betz (1893–1984) Edith Stein, Teresa Benedicta a Cruce (1891–1942) Walter Markow (1909–1993)
268
Björn Thomann Andrea Rönz Lothar Weiß Christoph Kaltscheuer Susan Gottlöber Ralf Forsbach
Lebensbilder der vorhergehenden Bände in alphabetischer Folge Adalbert von St. Maximin, Erzbischof von Magdeburg (968–981), Theo Kölzer 17/7–18 Aadmi, Adam (1610–1663) Helmut Lahrkamp 15/81–99 Adenauer, Konrad (1876–1967) Hans Maier 6/233–256 Agrippa von Nettesheim (1486–1535) Charles G. Nauert 4/57–77 Agrippina (15–59) Werner Eck 14/7–27 Albertus Magnus (ca. 1200–1280) Heinrich Ostlender 3/21–34 Alertz, Clemens August (1800–1866) Egon Schmitz-Cliever 3/159–172 Alpen, Heinrich Simon van (1761–1830) Leo Peters 13/73–96 Altmeier, Peter (1899–1977) Franz-Josef Heyen 9/283–290 Althoff, Friedrich (1839–1908) Björn Thomann 19/167–196 Andres, Stefan (1906–1970) Bernd Goldmann 15/267–274 Anno II., Erzbischof von Köln (ca. 1010–1075) Dieter Lück 7/7–24 Arndt, Ernst Moritz (1769–1860) Max Braubach 7/83–107 Arnold von Wied, Erzbischof von Köln (um 1098–1156) Heinz Wolter 8/21–39 Arnold, Karl (1901–1958) Walter Först 7/295–317 Arnzt, Ludwig (1855–1941) Udo Liessem 14/173–190 Bachem, Julius (1845–1918) Hugo Stehkämper 5/213–226 Baden, Jakobe von (1558–1597) Burkhard Roberg 7/43–62 Balduin von Luxemburg, Erzbischof von Trier (1285–1354) Franz-Josef Heyen 4/23–36 Bardenheuer, Bernhard (1839–1913) Friedrich Moll 15/101–108 Bayern, Maximilian Heinrich von, Erzbischof und Kurfürst von Köln (1621–1688) Hansgeorg Molitor 19/91–106 Becker, Hermann Heinrich (1820–1885) Andreas Biefang 13/153–181 Beckerath, Hermann von (1801–1870) Heinz Boberach 2/177–193 Beckers, Nikolaus Wilhelm Freiherr von Walhorn (1630–1705) Wilhelm Mummenhoff/ Bernhard Paul 5/7 Beethoven, Ludwig van (1770–1827) Joseph Schmidt-Görg 4/119–139 Berg, Grafen von s. Engelbert Berg, Philipp von (1815–1866) Herbert Hömig 11/189–221 Betz, Anton (1893–1984) Christoph Kaltscheuer 19/253–282 Bodenheimer, Max Isidor (1865–1940) Henriette Hannah Bodenheimer 12/233–256 Boeslager, Georg Freiherr von (1915–1944) Heinz Doepgen 11/343–377 Boisserée, Sulpiz (1783–1854) Wolfgang Braunfels 4/159–174 Brauns, Heinrich (1868–1939) Hubert Mockenhaupt 6/211–232 Bredt, Johann Victor (1879–1940) Klaus Goebel 5/243–257 Bruch, Max (1838–1920) Karl-Gustav Fellerer 5/175–189 Brües, Otto (1897–1967) Franz Janssen 16/217–238 Brügelmann, Johann Gottfried (1750–1802) Marie Luise Baum 1/136–151
269
Lebensbilder der vorhergehenden Bände in alphabetischer Folge
Bruno I., Erzbischof von Köln (925–965) Robert Haaß 1/1–11 Bruno IV. von Sayn, Erzbischof von Köln (um 1150–1208) Joachim J. Halbekann 18/27–48 Bruyn, Bartholomäus (1493–1555) Hildegard Westhoff-Krummacher 2/43–52 Bücheler, Franz (1837–1908) Hans Herter 1/189–206 Burchard von Worms (ca. 965–1025) Peter Brommer 12/29–49 Butzbach, Johann (1477–1516/17) Bertram Resmini 16/65–80 Camphausen, Ludolf (1803–1890) Erich Angermann 2/195–219 Cardauns, Hermann (1847–1925) Manfred Bierganz 8/305–323 Clarenbach, Adolf (um 1495–1529) Klaus Goebel 9/119–132 Clemen, Paul (1866–1947) Albert Verbeeck 7/181–201 Cornelius, Peter (1783–1867) Herbert von Einem 5/57–74 Couven, Johann Joseph (1701–1763) Paul Schoenen 1/121–135 Dasbach, Georg Friedrich (1846–1907) Helmut Kampmann 16/147–160 Dautzenberg, Franz (1769–1828) Klaus Müller 7/63–81 De Noel, Matthias Joseph (1782–1849) Elga Böhm 7/109–131 Derksen, Johannes (1898–1973) Herbert Hömig 10/237–251 Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm (1790–1866) Horst F. Rupp 13/97–114 Dieter von Nassau, Erzbischof von Trier (um 1250–1307) Rudolf Holbach 12/69–90 Dietrich von Moers, Erzbischof von Köln (etwa 1385–1463) Georg Droege 1/49–65 Dörpfeld, Friedrich Wilhelm (1824–1893) Klaus Goebel 6/149–168 Dörpfeld, Wilhelm (1853–1940) Uwe Eckardt 11/285–315 Dürselen, Gerhard (1808–1887) Klaus Goebel 8/225–244 Egen, Peter Nikolaus Caspar (1793–1849) Klaus Goebel 10/81–102 Eller, Elias (1690–1750) Edmund Strutz 1/102–120 Eltz, Jakob III. von, Erzbischof von Trier (1510–1581) Victor Conzemius 2/93–108 Eltz-Rübenach, Paul Freiherr von (1875–1943) Jürgen Huck 2/257–274 Engelbert I. von Berg, Erzbischof von Köln (etwa 1182–1225) Erich Wisplinghoff 1/30– 48 Engelbert von Falkenburg (ca. 1225–1274) Albrecht Brendler 16/7–31 Engels, Friedrich (1820–1895) Helmut Hirsch 4/191–208 Engels, Jacob Gerhard (1862–1897) Hans Horn 6/169–187 Ermensinde Gräfin von Luxemburg (1186–1247) Michel Margue 15/23–41 Ester, Carl de (1813–1859) Kurt Koszyk 11/149–165 Everger, Erzbischof von Köln (gest. 999) Heribert Müller 19/1–12 Fastenrath, Johannes (1839–1908) Ursula Vones-Liebenstein 12/157–178 Fey, Clara (1815–1894) Dieter Wynands 9/179–198 Finstingen, Grafen von s. Heinrich Fischer, Gerhard August (1833–1906) Norbert Aleweld 13/183–210 Flechtheim, Alfred (1878–1937) Ottfried Dascher 18/147–166 Fliedner, Theodor (1800–1864) Anna Sticker 5/75–93 Frenken, Johann Wilhelm (1809–1887) Norbert Trippen 5/113–133 Friedrich III. von Saarwerden, Erzbischof von Köln (um 1348–1414) Frank Engel 19/33–66 Gaill, Andreas (1526–1587) Karl von Kempis 15/65–80
270
Lebensbilder der vorhergehenden Bände in alphabetischer Folge
Gall, Ludwig (1791–1863) Heinz Monz 10/67–80 Geich, Johann Baptist (1767–1824) Klaus Müller 8/163–182 Geissel, Johannes von (1796–1864) Rudolf Lill 3/133–157 Goebbels, Joseph (1897–1945) Josef Henke 15/175–204 Görres, Joseph (1776–1848) Heribert Raab 8/183–204 Gottfried Hagen (ca. 1230–1299) Manfred Groten 17/41–56 Gottschalk, Andreas (1815–1849) Karl Stommel 11/167–189 Grashof, Karl Friedrich August (1770–1841) Hans-Jürgen Apel 11/101–125 Grohé, Josef (1902–1987) Rolf Zerlett 17/247–276 Gronsfeld, Jost Maximilian Graf von (1598–1662) Helmut Lahrkamp 1/66–82 Gropper, Johannes (1503–1559) Walter Lipgens 2/75–91 Gründgens, Gustaf (1899–1963) Winrich Meiszies 16/239–254 Günther, Wilhelm Arnold (1763–1843) Alois Thomas 8/141–162 Haake, Heinrich (1892–1945) Horst Romeyk 17/187–222 Hackeney, Nicasius (–1518) Wolfgang Schmid 11/37–22 Hansen, Joseph (1862–1943) Everhard Kleinertz 13/249–276 Hasenclever, Peter (1716–1793) Hermann Kellenbenz 4/251–272 Hasenclever, Walter (1890–1940) Horst Denkler 4/251–272 Hatzfeld, Sophie von (1805–1881) Helmut Hirsch 10/121–140 Haw, Johannes Maria (1871–1949) Werner Schönhofen/Johannes Weber 13/277–295 Heine, Heinrich (1797–1856) Eberhard Galley 4/175–190 Heinrich Egher von Kalkar, Kartäuser (1328–1408) Gertrud Wegener 9/101–118 Heinrich I. von Müllenark, Erzbischof von Köln (1225–1238) Michael Matscha 17/19– 40 Heinrich von Finstingen, Erzbischof von Trier (gest. 1286) Volker Henn 9/61–78 Heresbach, Konrad von (1496–1576) Corinne Beutler/Franz Irsigler 8/81–104 Heribert, Erzbischof von Köln (um 970–1021) Heribert Müller 8/7–20 Hermann von Goch (gest. 1398) Franz Irsigler 8/61–80 Hermann, August (1803–1843) Ekkehard Krumme 10/103–120 Hermann von Hessen s. Hessen, Hermann IV. der Friedsame von Hertz, Henriette (1846–1913) Günter Schwabe 17/141–166 Hess, Moses (1812–1875) Bruno Frei 8/245–262 Hessen, Hermann IV. der Friedsame von, Erzbischof von Köln (1480–1508) Werner Beutler 13/51–71 Hildegard von Bingen (1098–1179) Adelgundis Führkötter 10/7–30 Hilger Quattermart von der Stesse (um 1340–1398) Wolfgang Herborn/Klaus Militzer 8/41–60 Hiller, Ferdinand (1811–1885) Reinhold Sietz 6/89–96 Hittorf, Jakob Ignaz (1792–1867) Karl Hammer 3/117–131 Hoffmann, Johannes (1890–1967) Heinrich Küppers 18/191–224 Höver, Philipp (1816–1864) Dieter P. J. Wynands 10/159–178 Hommer, Josef von (1760–1836) Martin Persch 10/47–66 Hompesch, Ferdinand von (1744–1805) Wolfgang Löhr 18/99–116 Hontheim, Johann Nikolaus von (1701–1790) Heribert Raab 5/23–45
271
Lebensbilder der vorhergehenden Bände in alphabetischer Folge
Horch, August (1868–1951) Peter Kirchberg 16/161–179 Humperdinck, Engelbert (1854–1921) Hans-Josef Irmen 7/151–166 Irmgard von Hammerstein (gest. 1042) Mathias Koch 18/7–26 Isenburg, Arnold von, Erzbischof und Kurfürst zu Trier (um 1190–1259) Rudolf Holbach 9/41–59 Jansen, Franz M. (1885–1958) Wolfgang Delseit 14/251–272 Janssen, Johannes (1829–1891) Kaspar Elm 17/121–140 Jedin, Hubert (1900–1980) Konrad Repgen 15/205–222 Johann II. von Baden, Erzbischof und Kurfürst von Trier (1456–1503) Dieter Kerber 16/33–52 Johann Wilhelm, Kurfürst von der Pfalz (1658–1716) Max Braubach 1/83–101 Johannes Rode (gest. 1439) P. Petrus Becker OSB 7/25–42 Johannes Trithemius (1462–1516) Klaus Arnold 16/53–64 Jülich, Grafen von s. Walram ; Wilhelm Kaas, Ludwig (1881–1952) Georg May 10/223–235 Kaesbach, Walter (1879–1961) Lothar Weiß 19/221–252 Karl der Grosse (742–814) François Louis Ganshof 3/7–19 Kaufmann, Franz (1862–1920) Herbert Lepper 15/127–146 Kaufmann, Leopold (1821–1898) Dietrich Höroldt 8/263–283 Kentenich, Josef (1885–1968) Joachim Schmiedl 14/233–249 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von (1811–1877) Bernd Goldmann 13/137–152 Kinkel, Gottfried (1815–1882) Edith Ennen 1/168–188 Kleve, Anna von (1515–1557) Jennifer Striewski 19/67–90 Kliesing, Georg (1911–1992) Horst Ferdinand 14/293–310 Kneip, Jakob (1881–1958) Wolfgang Delseit 16/181–195 Köln, Erzbischöfe (bis 1802) s. Arnold II., Arnold von Wied, Bruno, Dietrich von Moers, Engelbert von Berg, Engelbert von Falkenburg, Everger, Friedrich III. von Saarwerden, Heribert ; Hermann von Hessen, Konrad von Hochstaden, Kunibert, Maximilian Heinrich von Bayern, Philipp von Heinsberg, Reinald von Dassel, Siegfried von Westerburg, Walram von Jülich Kolping, Adolf (1813–1865) Victor Conzemius 3/221–233 Konrad von Hochstaden, Erzbischof von Köln (1205–1261) Erich Wisplinghoff 2/7–14 Kramer, Franz Albert (1900–1950) Eduard Verhülsdonk 12/297–320 Krementz, Philipp (1819–1899) Erwin Gatz 6/121–147 Kunibert von Köln (um 590–633 ?) Heribert Müller 12/7–23 La Roche, Sophie von (1730–1807) Ulrike Weckel 17/79–100 Lasker-Schüler, Else (1869–1945) Werner Kraft 5/227–242 Lassaulx, Johann Claudius von (1781–1848) Willy Weyres 4/141–157 Lauff, Joseph von (1855–1933) Gerhard Kaldewei 15/109–126 Lauxen, Nikolaus (1722–1791) Claudia Euskirchen 18/77–98 Lehmbruck, Wilhelm (1881–1919) Siegfried Salzmann 9/275–282 Lehr, Robert (1883–1956) Walter Först 3/249–269 Lenssen, Maria (1836–1919) Therese Frauenrath 13/211–231 Lerner, Theodor Eduard Julius (1866–1931) Andrea Rönz 19/197–220
272
Lebensbilder der vorhergehenden Bände in alphabetischer Folge
Lersch, Heinrich (1889–1936) Inge Meidinger-Geise 1/224–243 Levison, Wilhelm (1876–1947) Paul Egon Hübinger 7/227–252 Ley, Robert (1890–1945) Heinz Boberach 14/273–292 Longolius, Gisbert (1507–1543) Heinz Finger 14/93–114 Loretta Gräfin von Sponheim (um 1300– um 1346) Johannes Mötsch 12/91–110 Luxemburg, Grafen von s. Balduin, Ermensinde Marck-Arenberg, Margaretha von (1525–1599) Peter Neu 16/81–96 Marcks, Gerhard (1889–1981) Martina Rudloff 15/161–174 Markow, Walter (1909–1993) Ralf Forsbach 19/309–329 Marx, Karl (1818–1883) Heinz Monz 17/101–120 Marx, Wilhelm (1863–1946) Hugo Stehkämper 6/189–210 Mataré, Ewald (1887–1965) Franz Joseph van der Grinten 15/147–160 Mechthild Gräfin von Sayn (1205–1284/85) Joachim J. Halbekann 14/29–46 Medici, Anna Maria Louisa de (1667–1743) Carl Vossen 12/141–156 Mercator, Gerhard (1512–1594) Peter H. Meurer 14/115–134 Moers, Grafen von s. Dietrich Moldenhauer, Paul (1876–1946) Horst Romeyk 7/253–269 Moritz, Friedrich (1861–1938) Manuel E. Cornely 17/167–186 Müllenark, Heinrich I. von s. Heinrich I. Müller, Johannes (1801–1858) Johannes Steudel 1/152–167 Nassau, Grafen von s.Dieter Nauen, Heinrich (1880–1940) Eberhard Marx 4/235–250 Nettesheim s. Agrippa von Neuenahr, Hermann Graf von (1520–1578) Heiner Faulenbach 8/105–123 Neunzig, Peter Joseph (1797–1877) Norbert Schloßmacher 19/107–134 Nikolaus von Kues (1401–1464) Erich Meuthen 3/35–56 Norbert von Xanten (1080/85–1134) Kaspar Elm 15/7–21 Offenbach, Jacques (1819–1880) Anna-Dorothee v. den Brincken 5/151–173 Oliverus Scholasticus et Cardinalis (gest. 1227) Anna-Dorothee v. den Brincken 12/47– 67 Oppenhoff, Franz (1902–1945) Bernhard Poll 1/244–264 Orsbeck, Johann Hugo von, Erzbischof von Trier (1634–1711) Franz Schorn 8/125–140 Pankok, Otto (1893–1966) Karlheinz Pieroth 17/223–246 Pasqualini, Maximilian (1534–1572) Dorothea Herkenrath 2/109–124 Perthes, Clemens Theodor (1809–1867) Albert Rosenkranz 3/207–220 Pesch, Heinrich (1854–1926) Franz H. Mueller 7/167–180 Pferdmenges, Robert (1880–1962) Wilhelm Treue 7/271–293 Philipp von Heinsberg (1130–1191) Gerhard Kallen 1/12–29 Poensgen, Ernst (1871–1949) Lutz Hatzfeld 7/203–225 Ponten, Josef (1883–1940) Gerhard Lohse 2/275–287 Poppo von Babenberg, Erzbischof von Trier (986–1047) Wolfgang Schmid 19/13–32 Pünder, Hermann (1888–1976) Rudolf Morsey 12/275–296 Raiffeisen, Friedrich Wilhelm (1818–1888) Monika Windbergs 16/121–138 Raveaux, Franz (1810–1851) Marcel Seyppel 11/125–149
273
Lebensbilder der vorhergehenden Bände in alphabetischer Folge
Recke-Volmerstein, Adelbert Graf von (1791–1878) Gerlinde Viertel 16/97–119 Regino von Prüm (gest. 915) Eduard Hlawitschka 6/7–27 Reichensperger, August (1808–1895) Hans-Jürgen Becker 10/141–158 Reinald von Dassel, Erzbischof von Köln (um 1120–1167) Rainer Maria Herkenrath 7/7–21 Reinhard von Schönau (um1305–1376) Florian Gläser 18/49–76 Reinkens, Joseph (1821–1896) Victor Conzemius 4/209–233 Rethel, Alfred (1816–1859) Heinrich Schmidt 2/221–236 Rethius, Johannes SJ (1532–1574) Lothar Schilling 12/111–140 Reumont, Alfred von (1808–1887) Hubert Jedin 5/95–112 Reumont, Gerhard (1765–1828) Egon Schmitz-Cliever 2/143–158 Richeza, Königin von Polen (um 1000–1063) Marlene Nikolay-Panter 12/25–46 Rinck, Peter (gest. 1501) Franz Irsigler 6/55–69 Roderique, Jean Ignace (1696–1756) Herbert Hömig 9/159–177 Röntgen, Abraham u. David (1711–1793 ; 1743–1807) Melanie Doderer-Winkler 17/57–78 Röntgen, Wilhelm Conrad (1845–1923) Friedrich Moll 16/139–146 Rudolf Losse (um 1310–1364) Friedhelm Burgard 14/47–70 Rupert von Deutz (um 1075–1129) Hubert Silvestre 11/7–37 Sarter, Stephan von (1833–1902) Ansgar Sebastian Klein 19/135–166 Sauerbruch, Ferdinand (1875–1951) Leo Norpoth 17207–223 Sayn, Grafen von s. Mechthild Schaesberg, Johann Friedrich von (1663/64–1723) Leo Peters 6/71–87 Schall von Bell, Johann Adam (1592–1666) Heinz Doepgen 9/133–157 Scheibler, Carl (1852–1920) Heinrich Freiherr von Teuffel 13/233–247 Schervier, Franziska (1819–1876) Erwin Gatz 5/135–150 Schirmer, Johann Wilhelm (1807–1863) Heinrich Appel 3/191–206 Schmittmann, Benedikt (1872–1939) Hugo Stehkämper 10/199–221 Schmitz, Hermann Joseph (1841–1899) Klaus-Peter Vosen 12/179–197 Schnütgen, Alexander (1843–1918) Armin Spiller 5/191–211 Schrörs, Heinrich (1852–1928) Norbert Trippen 10/179–198 Schulte, Karl Joseph Kardinal, Erzbischof von Köln (1871–1941) Ulrich von Hehl 9/261–274 Schurz, Carl (1829–1906) Walter Keßler 9/199–216 Senfft, Carl Johannes (1858–1927) Lutz Hatzfeld 9/227–246 Sickingen, Franz von (1481–1523) Reinhard Scholzen 14/71–91 Siegfried von Westerburg (um 1235–1297) Franz-Reiner Erkens 9/79–99 Simon, Gustav (1900–1948) Emile Krier 16/255–285 Sleidanus, Johannes (1506–1556) Heinz-Otto Sieburg 3/79–96 Sollmann, Wilhelm (1881–1951) Felix Hirsch 6/257–286 Spee, Maximilian Graf von (1861–1914) Dietrich Höroldt 2/237–255 Spee von Langenfeld, Friedrich (1591–1635) Emmy Rosenfeld 2/125–141 Sponheim, Grafen von s. Loretta Statz, Vincenz (1819–1899) Willy Weyres 6/97–120 Stein, Edith (1891–1942) Susan Gottlöber 19/283–308
274
Lebensbilder der vorhergehenden Bände in alphabetischer Folge
Sternheim, Thea (1883–1971) Birgit Bernard 18/167–190 Stinnes, Hugo (1870–1924) Peter Wulf 9/247–260 Stöcker, Helene (1869–1943) Johannes Abresch 14/191–213 Stramberg, Christian von (1785–1868) Karl-Georg Faber 2/159–175 Strassmann, Fritz (1902–1980) Jost Lemmerich 15/247–266 Strauss, Ludwig (1892–1953) Werner Kraft 4/273–299 Ströher, Friedrich Karl (1876–1925) Klemens Kroh 14/215–231 Stübben, Hermann Josef (1845–1936) Oliver Karnau 18/117–146 Stumpf, Paul (1826–1912) Heinz Monz 11/221–235 Sudermann, Heinrich (1520–1591) Klaus Wriedt 10/31–45 Surius, Laurentius (1523–1578) Gérald Chaix 11/77–100 Sylva, Carmen (1843–1916) Uwe Eckardt 8/285–303 Teusch, Christine (1888–1968) Heinrich Küppers 16/197–215 Teusch, Joseph (1902–1976) Norbert Trippen 15/223–246 Theophanu, Kaiserin (ca. 960–991) Odilo Engels 13/7–27 Tirard, Paul (1879–1945) Henning Köhler 12/257–273 Trier, Erzbischöfe s. Arnold von Isenburg, Balduin von Luxemburg, Dieter von Nassau, Heinrich von Finstingen, Jakob von Eltz, Johann Hugo von Orsbeck, Poppo von Babenberg Trimborn, Karl (1854–1921) Rudolf Morsey 3/235–248 Ueberweg, Friedrich (1826–1871) Volkmar Wittmütz 14/153–172 Viebig, Clara (1860–1952) Josef Ruland 12/215–231 Vlatten, Johann von (1500–1562) Anton J. Gail 2/53–73 Waal, Anton de (1837–1917) Erwin Gatz 9/217–226 Walhorn, Freiherr von s. Beckers Walram von Jülich, Erzbischof von Köln (1304–1349) Wilhelm Janssen 4/37–56 Weber, Ludwig (1846–1922) Gert Lewek 11/257–285 Weinsberg, Hermann von (1518–1597) Wolfgang Herborn 11/59–76 Wenger, Paul Wilhelm (1912–1983) Hans Filbinger 14/311–328 Werth, Jan von (1591–1652) Helmut Lahrkamp 3797–115 Wesendonk, Mathilde (1828–1902) Günter Schwabe 11/235–257 Westerburg, Grafen von s. Siegfried Weyer, Johann Peter (1794–1864) Konrad Adenauer 13/115–136 Wibald von Stablo (1098–1158) Franz-Josef Jakobi 9/7–39 Wied, Hermann von (1477–1552) August Franzen 3/57–77 Wied, Maximilian Prinz zu (1782–1867) Hermann Josef Roth 14/135–152 Wilhelm Graf von Jülich (ca. 1299–1361) Wilhelm Janssen 6/29–54 Wille, Fritz von (1860–1941) Kurt Eitelbach 12/199–214 Wilmans, Ernst (1882–1960) Klaus Goebel 11/317–341 Winand von Steeg (1371–1453) Enno Bünz 15/43–64 Winckler, Josef (1881–1966) Wolfgang Delseit 13/297–312 Winrich von Kniprode (1310–1382) Erich Weise 2/25–42 Wittgenstein, Heinrich von (1797–1869) Hasso von Wedel 8/205–223 Witsch, Joseph Kaspar (1906–1967) Everhard Hofsümmer 18/225–244 Wyttenbach, Johann Hugo (1767–1848) Richard Laufner 5/45–56
275
Lebensbilder der vorhergehenden Bände in alphabetischer Folge
Zahn, Franz Ludwig (1798–1890) Klaus Goebel 7/133–150 Zick, Januarius (1730–1797) Othmar Metzger 4/101–117 Zwirner, Ernst Friedrich (1802–1861) Willy Weyres 3/173–189
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