Rezeption und Anerkennung: Die ökumenische Hermeneutik von Paul Ricœur im Spiegel aktueller Dialogprozesse in Frankreich 9783666564499, 9783525564493, 9783647564494


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Rezeption und Anerkennung: Die ökumenische Hermeneutik von Paul Ricœur im Spiegel aktueller Dialogprozesse in Frankreich
 9783666564499, 9783525564493, 9783647564494

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© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564493 — ISBN E-Book: 9783647564494

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie

Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Christiane Tietz

Band 151

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564493 — ISBN E-Book: 9783647564494

Beate Bengard

Rezeption und Anerkennung Die ökumenische Hermeneutik von Paul Ricœur im Spiegel aktueller Dialogprozesse in Frankreich

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564493 — ISBN E-Book: 9783647564494

Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Februar 2014 von den Evangelisch-Theologischen Fakultäten der Unversitäten Leipzig und Strasbourg als Promotionsschrift angenommen wurde. Der Druck erfolgte mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0429-162X ISBN 978-3-647-56449-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564493 — ISBN E-Book: 9783647564494

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Ökumenische Rezeption – Begriff und Erforschung . . . . . . 2.1 Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Etappen der Begriffsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Impulse aus dem innerkatholischen Gebrauch des Rezeptionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Neue Arbeitsfelder : Hermeneutik, Kontextualität und Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 klassische und un-klassische Rezeption . . . . . . . . 2.2.4 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Rezeptionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Methodisches Spektrum . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Der kirchenrechtliche Ansatz . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Kontextuelle Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Rezeptionsästhetische Studien . . . . . . . . . . . . . 2.3.5.1 Theorien der Rezeptionsästhetik . . . . . . . . 2.3.5.2 Ökumenische Untersuchungen mit rezeptionsästhetischem Ansatz . . . . . . . . . 2.3.5.3 Die Rezeptionsästhetik in der ökumenischen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Aspekte der ökumenischen Rezeption im Werk von Paul Ricœur . . . 3.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Paul Ricœur und die Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.3 Zur Hermeneutik Ricœurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.1 Wahrnehmung seitens der ökumenischen Theologie . 3.3.1.2 Anton Houtepen: Ökumenische Hermeneutik (1990). 3.3.1.3 Zur Auseinandersetzung mit dem (Post-) Strukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Textrezeption und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.3 Narrative Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.4 Die Identität einer Glaubensgemeinschaft . . . . . . . 3.4 Der ökumenische Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Das Paradigma der Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.1 Die Analogie von Religion und Sprache . . . . . . . . 3.4.3.2 Die Übersetzung als linguistisches Paradigma . . . . 3.4.3.3 Die Übersetzung als ökumenisches Paradigma . . . . 3.4.3.4 Übersetzung, Andersheit und Identität . . . . . . . . 3.4.4 Das Paradigma der Vergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4.1 Der Geist der Vergebung und sein Inkognito . . . . . 3.4.4.2 Der Geist der Vergebung im ökumenischen Dialog . . 3.4.4.3 Der Andere als Quelle der Offenbarung . . . . . . . . 3.4.5 Eine Poetik des ökumenischen Diskurses . . . . . . . . . . . 3.4.6 Der Status ökumenischer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.7 Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Rezeptionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Alterität und Identitätswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Ökumenische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Ökumene der Glaubenden – Ökumene der Institutionen . . 3.5.5 Zur Einordnung von Ricœurs ökumenischer Theorie . . . . 4 Beispiele aus der Praxis der ökumenischen Rezeption . . . . . . 4.1 Untersuchungskriterien und Beispiele . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa und ihre Rezeption in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Rezeptionsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Identitätsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der ökumenische Dialog. Übersetzung und Vergebung . . . . . . . . [= Vom Trienter Konzil zum Kolloquium von Trient] von Paul Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.2.4 Textgebrauch . . . . 4.3 Die Groupe des Dombes . 4.3.1 Vorstellung . . . . . 4.3.2 Rezeptionsverlauf . . 4.3.3 Identitätsverständnis 4.3.4 Textgebrauch . . . . 4.4 Die Communaut¦ de Taiz¦ 4.4.1 Vorstellung . . . . . 4.4.2 Rezeptionsverlauf . . 4.4.3 Identitätsverständnis 4.4.4 Textgebrauch . . . . 4.5 Zusammenfassung . . . . 4.5.1 Rezeptionsverlauf . . 4.5.2 Identitätsverständnis 4.5.3 Textgebrauch . . . .

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Februar 2014 an den Evangelisch-Theologischen Fakultäten der Universitäten von Strasbourg und Leipzig als Promotionsschrift angenommen. Sie ist das Resultat einer Co-tutelle de thÀse, eines deutsch-französischen Promotionsverfahrens, für das sich die beiden Fakultäten in Leipzig und Strasbourg zu gleichen Teilen engagiert haben. Es hat sich für mich als überaus inspirierend erwiesen, das Thema der »ökumenischen Rezeption« in einer deutsch-französischen Perspektive zu bearbeiten. Dabei hat das Glück, als ›Grenzgängerin‹ in Deutschland und Frankreich forschen zu dürfen und dabei Synergien und Übergänge im Bereich von ökumenischer Theologie, Hermeneutik und Literaturtheorie aufzuspüren, den bürokratischen Mehraufwand dieses Unternehmens mehr als aufgewogen. Im Juni 2015 wurde die Arbeit mit dem Dissertationspreis der Soci¦t¦ des Amis des Universit¦s de l’Acad¦mie de Strasbourg und der Fondation Entente franco-allemande ausgezeichnet. Mein Dank gilt all denjenigen, die mich bei diesem Projekt unterstützt haben, an erster Stelle meinen beiden Forschungsdirektoren Prof. Êlisabeth Parmentier aus Strasbourg und Prof. Matthias Petzoldt aus Leipzig. Ihre Art, mich zu begleiten und sich für mich einzusetzen, hat mich ermutigt, motiviert und gestärkt. Eine bessere Betreuung hätte ich mir nicht wünschen können. Des Weiteren möchte ich den Kollegen vom Institut für Ökumenische Forschung des Lutherischen Weltbundes in Strasbourg herzlich danken, insbesondere Prof. Theodor Dieter und Prof. Andr¦ Birmel¦, die mir Gastfreundschaft in ihrem Institut gewährten, mich an ihrer ökumenischen Erfahrung Anteil nehmen ließen und mir viele wichtige Impulse für die Entwicklung meiner Forschungsfragen gaben. Ermöglicht wurden meine Forschungen auch durch die finanzielle Beihilfe verschiedener Institutionen. Dem Gustav-Adolf-Werk e.V., dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, dem MinistÀre d¦l¦gu¦ — l’enseignement sup¦rieur et — la recherche, dem CollÀge doctoral europ¦en de Strasbourg und der

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Vorwort

Deutsch-Französischen Hochschule danke ich in diesem Zusammenhang für ihre großzügige Unterstützung. Die vorliegende Arbeit wurde verfasst, um die Hermeneutik von Paul Ricœur als Inspirationsquelle für die ökumenische Theologie greifbar zu machen. Der geneigte Leser wird darin als wiederkehrendes Motiv die Freude am dialogischen Denken entdecken. Dabei handelt es sich nicht nur um eine inhaltliche Komponente. Auch die Entstehung dieser Arbeit beruhte zu wesentlichen Teilen auf dem fruchtbaren Austausch mit Betreuern, Kollegen und Freunden, deren Wege sich in den vergangenen Jahren mit den meinen gekreuzt haben. Ihnen allen sei an dieser Stelle Dank gesagt für ihre fachliche und menschliche Beratung und Ermutigung. Besonders nennen möchte ich Markus Franz und Ronny Valdorf, meine langjährigen Kollegen am Institut für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät in Leipzig, die für mich Kollegen, Mitstreiter und Freunde waren. Danken möchte ich zudem Dieter Brandes und Martin Hüneburg für ihre Hilfe bei der Realisierung des Co-tutelle-Projekts, Catherine Goldenstein vom Fonds Ricœur in Paris für ihre Verlässlichkeit und ihre Intuition bei der Suche nach Manuskripten sowie Prof. Karsten Lehmkühler, der mir den Weg zu Vandenhoeck & Ruprecht wies. Den Leipziger Professoren Klaus Fitschen und Jens Herzer danke ich für ihren Sinn für die interdisziplinäre theologische Arbeit, FrÀre Richard aus Taiz¦ für sein Vertrauen sowie Jane Stranz und Stephen Brown für ihre Freundschaft. Paris im Juli 2015

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Beate Bengard

1.

Einleitung

In dieser Untersuchung beschäftigen wir uns mit dem französischen Philosophen Paul Ricœur (1913 – 2005). Dabei interessiert uns ein Aspekt seines Gesamtwerks, der bisher noch nicht im Einzelnen untersucht worden ist. Während die bisher aus theologischer Perspektive über Ricœur publizierten Studien sich zumeist mit seiner Metapherntheorie, seiner Narratologie oder der Arbeit zum Symbolbegriff befassen, ist die ökumenische Dimension in seinen Schriften weitgehend unbeachtet geblieben. Mit der vorliegenden Untersuchung möchten wir dazu beitragen, diese Lücke zu schließen und Ricœurs Beitrag zur ökumenischen Theologie anschaulich zu machen. Der Bereich, in dem der Philosoph Paul Ricœur für die ökumenische Theologie primär interessant wird, ist der der ökumenischen Rezeption. Als ökumenische Rezeption wird in der Regel die Aneignung von ökumenischen Dokumenten verstanden. Die Texte, um die es dabei geht, sind das Resultat interkonfessioneller Dialoge. Sie dokumentieren deren Ergebnisse und erklären im günstigsten Fall einen theologischen Konsens. Wird ein solcher Konsens von den Kirchenleitungen verbindlich bestätigt, kann dadurch ein neues Verhältnis der am Dialog beteiligten Kirchen eingeleitet werden. Seit es Forschungen zum ökumenischen Rezeptionsprozess gibt, gibt es auch die Einsicht, dass dieses Geschehen komplexer ist, als der Vorgang einer juristischen Ratifikation es vermuten lässt. Einen Grund für kritische Anfragen stellt vor allem der Rezeptionsverlauf dar. Durch das geschilderte Modell könnte nämlich der Eindruck entstehen, die Rezeption sei nur auf den Kontakt von Dialogkomissionen und Kirchenleitungen beschränkt, welche ein theologisches Spezialwissen austauschen, das keine Relevanz für die Mitglieder der Kirchen besitzt. Aus Gründen der Kirchenverfassung spricht aber einiges dagegen, dass die Aufgabe der breiten kirchlichen Basis nur darin bestehen würde, sich in Glaubensfragen die Meinung der Kirchenleitungen anzueignen und deren Beschlüsse zu befolgen, ohne dieselben gewissensmäßig mitzutragen. Dabei bedarf es keines kommunikationstheoretischen Spezialwissens, um sich auszurechnen, dass ein Dialogergebnis in

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Einleitung

einer Glaubensfrage, um als rezipiert zu gelten, gelebt werden muss und nicht einfach nur befolgt werden kann. Wie aber ereignet sich eine solche ökumenische Rezeption im Leben der Glaubenden? Derartigen Fragen zum ökumenischen Rezeptionsgeschehen soll sich unsere nun folgende Studie widmen. Wir werden Begriffsdefinitionen und methodische Ansätze zur Erforschung der ökumenischen Rezeption untersuchen und uns der Praxis ökumenischer Prozesse zuwenden. Unsere ganze Untersuchung wird sich dabei an Impulsen aus dem Werk von Paul Ricœur orientieren. Eine ausführliche Darstellung von Ricœurs Werk aus ökumenisch-theologischer Perspektive werden wir in Kapitel 3 geben. Sie stellt sozusagen das Herzstück unserer Untersuchung dar. Die Verbindung Ricœurs zur ökumenischen Theologie ist nicht ohne Weiteres evident. In Deutschland gilt Paul Ricœur vor allem als ein wichtiger Vertreter der Hermeneutik, der zunächst durch seine sprachphilosophischen Beiträge bekannt wurde. Sein philosophischer Ansatz ist freilich breiter angelegt. Obwohl Ricœur als einer der bedeutendsten französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts angesehen wird, gilt er für das geistige Umfeld, aus dem er stammte – die französische Philosophie von den späten 1940er Jahren bis zur Jahrtausendwende – nicht als repräsentativ. Das liegt daran, dass Ricœur sich vorrangig mit Phänomenologie und Hermeneutik befasste. Er beschäftigte sich mit Karl Jaspers und Edmund Husserl, dem deutschen Idealismus, der Psychologie Freuds und schon seit den 1970er Jahren mit anglophoner Sprachphilosophie. Ricœur bevorzugte also bewusst eine Pluralität von Zugängen und setzte sich infolge dessen mit der in Frankreich dominierenden Richtung des Strukturalismus durchaus kritisch auseinander. Eine besondere Bedeutung im Werk von Ricœur nehmen anthropologische und politisch-ethische Fragen ein. Er entwickelte seinen eigenen Ansatz einer Hermeneutik des Selbst.1 Darin räumte er dessen innere Gebrochenheit (»le Cogito bris¦«)2 ein, die dieses einer direkten Beschreibung entzieht und ging, der rationalistischen Position entsagend, zu einer Inventarisierung jener poetischen Formen über, die das Selbst auf dem Weg der Interpretation überhaupt erst zugänglich machen. In diesem Sinn wandte er sich der Metapher,3 der Erzählung4 und in seinen letzten Werken auch der Geschichtsschreibung5 zu. Die Konsequenz dieser vermittelten Herangehensweise an die menschliche Wirk-

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Ricœur, Selbst. Ebd. Ders., Metapher. Ders., Zeit und Erzählung. Ricœur, Gedächtnis.

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Einleitung

lichkeit ist in Ricœurs Theorie ein Konflikt der Interpretationen,6 der sich aber als sinnstiftend erweist, weil darin neue Denkmöglichkeiten erprobt werden, wie er selbst in seinen philosophischen Schriften, die oft als Relektüren anderer Autoren verfasst sind, eindrucksvoll vorführte. Angesichts seines Interesses für den Konflikt nimmt es nicht wunder, dass sich Ricœur in seinem Spätwerk damit beschäftigte, was Identität, Gerechtigkeit, Dialog und Anerkennung7 von jener Hermeneutik des Selbst ausgehend bedeuten. Bei unserem Unterfangen, die ökumenische Rezeption und mithin den ökumenischen Dialog vor dem Hintergrund seines Werks zu untersuchen, werden wir auf eben diese hermeneutischen Kategorien zurückgreifen. Obwohl Ricœur sich Zeit seines Lebens dagegen wehrte, dass Kritiker seine Philosophie als Kryptotheologie8 hinstellten, ist die Nähe vieler Beiträge zum theologischen Denken nicht zu übersehen. Ricœur, der in seinen Schriften »niemals ein Bekenntnis ablegte«9 und eine Dialogizität von philosophischer und theologischer Hermeneutik anstrebte, wobei er auch auf die Unvereinbarkeit der ihnen zu Grunde liegenden Logiken verwies, verwahrte sich gegen derartige Vorwürfe mit dem Argument, dass seine anthropologischen Grundannahmen philosophisch begründet seien und dass darüber hinaus der christliche Glaube ebenso wenig ein Hindernis für die philosophische Argumentation darstelle wie ein (z. B. von dem populärsten französischen Nachkriegsphilosophen Jean-Paul Sartre zu Schau gestellter) dezidierter Atheismus.10 Ricœur war Mitglied der reformierten Gemeinden von Palaiseau und Robinson südlich von Paris und darüber hinaus in verschiedenen protestantischen Verbänden aktiv. Seit seiner Jugend publizierte er in kirchlichen Zeitschriften und bereits in den 1970er Jahren fand seine Philosophie auch Eingang in die theologischen Fakultäten.11 Zunächst geschah dies vor allem in Deutschland und der französischen Schweiz, wobei sich seine hermeneutischen Beiträge (Le conflit des interpr¦tations, 1969 und La m¦taphore vive, 1975) als Anknüpfungspunkte erwiesen. Doch auch seine Auseinandersetzungen mit Gerhard Ebeling12 und – insbesondere – dem Programm der Entmythologisierung von Rudolf Bultmann13 ließen Ricœurs Arbeit als eine Schnittstelle von Theologie und Philosophie erkennbar werden. Heute ist Paul Ricœurs hermeneutischer Ansatz an den meisten theologischen Fakultäten im frankophonen Raum fest 6 7 8 9 10 11 12 13

Ders., Konflikt. Ders., Anerkennung. Ders., Selbst, 36. Ders., Autobiographie, 36. Henriques, Le pr¦jug¦, 187. Dosse, Ricoeur. Ricœur, Ebeling. Vgl. Ricœurs Vorwort in Bultmann, J¦sus, 9ff.

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Einleitung

etabliert.14 Die Originalität seines Ansatzes beruht auf der Dialektik von Selbstheit und Andersheit, die den Dialog mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen ebenso ermöglicht wie die Reflexion unterschiedlicher kultureller und gesellschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten anhand ihrer symbolischen Formen. Wenn im Folgenden versucht wird, den Rezeptionsbegriff aus ökumenischtheologischer Perspektive zu erläutern, so interessiert dabei die Verhältnisbestimmung von Textrezeption und interkonfessioneller Anerkennung. Ricœurs Hermeneutik wird dabei nützlich sein, denn auch bei ihm lassen sich Verknüpfungen von Texttheorie und Handlungstheorie ausmachen. Bevor wir aber in die Untersuchung einsteigen, wollen wir klären, auf welcher Grundlage wir Ricœur berechtigterweise als einen Akteur des ökumenischen Dialogs ansehen können. Dazu begeben wir uns gedanklich in die späten 1960er Jahre, als das Interesse Ricœurs an der interkonfessionellen Situation zum ersten Mal weithin sichtbar wurde. Damals, inmitten der Pariser Mai-Unruhen von 1968, wurde Ricœur, zu jener Zeit Philosophieprofessor an der Universität von Paris-Nanterre, zum Mitinitiator einer ungewöhnlichen ökumenischen Aktion. Einundsechzig katholische und evangelische Christen – Frauen, Männer, Priester, Pfarrer, Angestellte, Arbeiter und Studierende – feierten einmalig miteinander eine »ökumenische Eucharistie«.15 Es war Pfingsten und man nahm den Anspruch, miteinander zu kommunizieren sehr ernst. Nicht nur, dass die Einsetzungsworte zum Abendmahl von der ganzen Gemeinde zusammen gesprochen wurden. Man unterrichtete auch umgehend die kirchlichen Autoritäten und die Presse von dem Vorgang und es erschien in der Zeitschrift Christianisme Social ein umfangreiches Dossier zum Thema, welches Auskunft über die Situation und die Motive der zelebrierenden Gemeinde und ihrer Kritiker gab.16 Von der katholischen Kirchenleitung wurde die Aktion im Nachhinein verurteilt. Auf protestantischer Seite gab man sich gelassener und lobte mancherorts sogar den sichtbaren ökumenischen Fortschritt.17 Ricœurs damalige ökumenische Motive lassen sich anhand der publizierten Texte nachvollziehen. Aus ihnen geht hervor, dass das gemeinsame Abendmahl zwischen Katholiken und Protestanten zu diesem Zeitpunkt in Frankreich schon vielerorts praktiziert wurde, zwar nicht offiziell, aber doch mit dem Wissen der kirchlichen Autoritäten. Ricœur und seine Mitstreiter machten kein Hehl daraus, dass die gemeinsame Kommunion über die Grenzen der Konfessionskir14 15 16 17

Leiner, Theologie, 779. o. A., Avant propos, 393. Christianisme social, 6 (1968) H. 7 – 10. Richard-Molard, Ökumene.

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Einleitung

chen hinweg einem tiefen Bedürfnis der Menschen entsprach und dass man sich nun auch offiziell eine Anerkennung dieser Praxis wünschte. Die Frage der Eucharistie unter den Christen ist dringend und schwierig zugleich. Sie wirft eine Menge Fragen auf, die wir nun, aus Anlass der willentlichen Überschreitung der geltenden konfessionellen und ökumenischen Regeln […], in Angriff nehmen wollen. Die Kirchen können durch diese Konfrontation nur gewinnen. Es wäre ein Skandal, in dieser Stunde zu schweigen, in der an die Gewissen appelliert wird und in der tausende von Christen auf der ganzen Welt miteinander die Eucharistie feiern, obwohl sie Mitglieder von noch getrennten Kirchen sind; in der die Theologen und Kirchenleiter von den Jugendlichen bedrängt werden, endlich zu neuen Worten und zu kreativen Gesten zu finden.18

Abgesehen davon, dass die Interkommunion von Katholiken und Protestanten also auch damals schon kein Novum mehr darstellte, war manches dennoch neu an der Situation zu Pfingsten 1968. Von Paul Ricœur, der während der gemeinsamen Abendmahlsfeier eine kurze Meditation hielt, wurde ausdrücklich der Zusammenhang zwischen der Abendmahlsgemeinschaft und der erlebten politischen Solidarität während der zurückliegenden sozialen Unruhen betont. Er wies darauf hin, dass die gemeinsame Eucharistie zwar institutionelle Grenzen überschritt, aber nicht in erster Linie deswegen gefeiert worden war. Vielmehr hatte es sich so verhalten, dass aus dem gemeinsamen Erleben und in der Anspannung der gesellschaftlichen Situation das Abendmahl als eine Gelegenheit zur Orientierung wahrgenommen und gleichsam als Wegzehrung gemeinsam begangen wurde. Ricœurs Äußerung macht deutlich, dass es sich zwar um eine basisökumenische Aktion, aber keinesfalls um ein unreflektiertes Streben nach Einheit oder um eine absichtliche Verwischung aller Unterschiede handelte. Im Gegenteil. Offensichtlich war man sich der Besonderheit der Umstände durchaus bewusst und begegnete einander mit Wertschätzung: Ich denke, dass wir heute, indem wir diesen Pfingstmorgen miteinander teilen, den überraschenden Sinn dieser Feier des Wortes wiederentdeckt haben. […] Wir sind hier versammelt als Katholiken und Protestanten, mit den Traditionen unserer Kirchen, aber auch mit der Tradition derjenigen, die nicht da sind – vor allem den Orthodoxen – mit unseren Kulturen, unseren Milieus und unseren Engagements. All das wird sich nicht verflüchtigen zugunsten einer Einheit ohne Grenzen und ohne Geschmack. Das Wort, das zwischen uns zirkuliert, bringt uns in eine echte Beziehung zueinander. Es erlaubt uns, gemeinsam seinen Sinn zu entschlüsseln, inmitten von all dem, was wir in den letzten Wochen zusammen erlebt haben.19 18 Beaumont, Casalis, Lochard, Ricœur, Au lecteur, 385ff. [Alle französisch- und italienischsprachigen Quellen erscheinen im Folgenden in deutscher Übersetzung. Sämtliche Übersetzungen wurden von der Verfasserin angefertigt. In Zitaten aus deutschsprachigen Quellen wurde die Rechtschreibung stillschweigend korrigiert.] 19 o. A., L’Êv¦nement, 401.

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Einleitung

Neu war im Vergleich zu anderen Gelegenheiten auch, dass man die geschehene Interkommunion sogleich öffentlich machte. Damit setzte man sich zwar einiger Kritik aus. Vor allem aber tat man die Hoffnung kund, es könnte sich auf diese Weise etwas an der Situation der Kirchentrennung verändern: Die Teilnehmer wollten nicht, dass ihre Zusammenkunft geheim bleibt. Indem sie die verantwortlichen Autoritäten informierten, haben sie eine Situation geschaffen, die gesünder ist als viele der anderen Interkommunionsfeiern in Europa und Amerika. Diese fanden im Verborgenen statt, was vernünftiger war, aber auch eine Anpassung an die kirchlichen Autoritäten darstellte. Diesmal sind die Autoritäten informiert worden und die Frage wurde offen gestellt. Nun kann man hoffen, dass sich in dem Ringen um das Für und Wider eine Antwort Bahn bricht, die von allen getragen werden kann.20

Was man also anstrebte und durch die öffentliche Interkommunion zu erreichen suchte, war eine möglichst breite Debatte in den Kirchen. Böswillig könnte vermutet werden, dass dahinter nur der Wunsch nach medialem Interesse stand, damit man umso effektiver Druck auf die kirchlichen Entscheidungsträger ausüben konnte. Das scheint aber durchaus nicht der Fall gewesen zu sein. Vielmehr entspricht dieses Vorgehen, d. h. der Versuch, Institutionen auf dem Weg der Diskussion zu verändern, ganz dem Ansatz von Paul Ricœur. In einem Vortrag, den er im selben Jahr im Centre Protestant de Recherche et de Rencontre du Nord (Protestantisches Forschungs- und Begegnungszentrum von Nordfrankreich) in Lille hielt, stellte er einige ekklesiologische Überlegungen an, die diese Vermutung bestätigen. Ricœurs Überlegungen zielen ab auf die Dialektik von Institution und Ereignis bzw. von Institution und Prophetie. Die Kirchen haben Ricœur zufolge einen besonderen Grund, sich auf diese Art der inneren Erneuerung einzulassen. Denn sie müssen nicht nur ihre Wortbotschaft in immer neuen Kontexten aktualisieren und übersetzen. Auch in ihren Strukturen sollte dieser geistliche Prozess sichtbar werden. Ricœur zufolge kann in diesem Prozess der Erneuerung auf keinen der beiden Pole verzichtet werden. Am Ende einer erfolgreichen prophetischen Handlung steht stets die erneute Institutionalisierung bzw. institutionelle Neujustierung ihres Resultats. In diesem wechselseitigen Verhältnis von Institution und Prophetie sind die Rollen klar verteilt. Während die Prophetie einen Bruch mit dem Bisherigen bewirkt, sichert die Institution die Dauerhaftigkeit der durch sie geregelten menschlichen Beziehungen.21 Es gibt nicht auf der einen Seite die enorme Macht der Institution und auf der anderen Seite die machtlosen Propheten. Es gibt zwei Kräfte, die gegeneinander arbeiten und miteinander vorankommen, wenn sie nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden. […] Es gibt einen Dialog, der geführt wird und voranschreitet. Genau so ist es auch in 20 Ricœur, L’un des participants, 424. 21 Ders., Sens et fonction, 72.

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Einleitung

der Kirche, allerdings unter der Bedingung, dass die Macht nicht zur Unterdrückung wird. […] Das Schlimmste, was einer Gemeinschaft passieren kann, ist, dass die Macht der Organisation über die Kraft der Prophetie siegt. Das ist sehr schlimm. Denn der Prophetie fehlt es nicht an Macht, aber es kann einem an Prophetie fehlen.22

Auch in der ökumenischen Entwicklung ist Ricœur zufolge dieser Prozess der Erneuerung und Aktualisierung von Strukturen am Wirken. Dies geschieht aber nicht aus Eigennutz oder aus willkürlicher Grenzüberschreitung, sondern weil die Bewegung zu einer Versöhnung unter den Menschen das tiefste Anliegen des Glaubens darstellt. Wenn Institutionen diese Bewegung hin zur Gemeinschaft verhindern, dann ist Ricœur zufolge auch ein Bruch mit deren Strukturen legitim: Wir finden den Kern des Glaubens, die tiefe Absicht des Glaubens, wenn wir entdecken, dass da nichts anderes ist, in dem, was wir Offenbarung nennen, als der Ursprung einer Bewegung, die mich zum Anderen trägt und die mich dazu bringen wird, stets die Gesetzlichkeit von Institutionen zu überschreiten, die dieses Ereignis überleben wollen und deren Strukturen verhärten, um zu einem ›Geschäft‹ zu werden, das nur sich selbst nährt.23

Die Initiative bei ökumenischen Veränderungen sieht Ricœur aber eindeutig nicht auf der Seite der Institution. Es bedarf einer anderen, einer prophetischen Kraft, welche die Differenz zwischen dem status quo der getrennten Kirchen und der Vision einer umfassenderen Einheit durch konkretes Handeln überwindet. In der Frage des gemeinsamen Abendmahls räumt Ricœur dabei selbst einen Konflikt der Interpretationen ein. Was von den einen als prophetische Geste und als notwendiger Bruch interpretiert wird, halten andere schlicht für Anarchie. Die Lösung besteht für die ›Propheten der Ökumene‹ darin, sich nicht einschüchtern zu lassen und den sachlichen Dialog mit den Autoritäten zu suchen. Allerdings lässt das folgende Zitat Ricœurs keinen Zweifel darüber, welche Kraft innerhalb der Kirche bei der Entscheidungsfindung seiner Meinung nach die Orientierung vorgeben müsste: Ein sehr konkretes Beispiel des Ungehorsams, das bald Probleme machen wird, sind die vielen Verstöße gegen die Kirchenordnung durch die Interkommunion in Holland, Deutschland und Amerika, wo Protestanten und Katholiken entgegen den Regeln ihrer Kirchen gemeinsam zum Abendmahl gegangen sind. In diesen Fällen ist man nicht in der Lage, zu entscheiden, ob es sich nicht im ganz wörtlichen Sinn um ein revolutionäres Phänomen handelt, d. h. eines, bei dem das Gesetz verletzt wird, jedoch mit einer prophetischen Bedeutung. Sie nennen das Ökumene? Das hängt von den Reaktionen der Spitze ab. Handelt es sich um das Versprechen der großen Kirche? Oder ist es ein Fall von Anarchie? Ich denke, dass die Dinge sich durch Brüche entwickeln und durch 22 Ebd., 74. 23 Ebd., 55.

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Einleitung

Menschen, die durch ihr Handeln eine Neuordnung der Regeln erzwingen. Es gibt genügend Juristen, die dazu da sind, das Gesetz im Sinne der tatsächlichen Handlungen der Menschen neu zu definieren.24

Zweifellos herrschte Ende der 1960er Jahre, ein besonders günstiges politisches Klima, in dem mit Vehemenz die Frage aufgeworfen werden konnte, bei wem in der Kirche eigentlich die Initiative für Veränderungen liegt, sei es von institutionellen Strukturen, ökumenischen Beziehungen oder dem Bekenntnisstand. Die Antwort darauf fällt in diesem letzten Zitat Ricœurs überraschend eindeutig aus. Denn anders als die Position, die wir weiter oben kurz skizzierten, ist Ricœur ganz offensichtlich nicht der Meinung, dass erst ein theologischer Konsens auf institutioneller Ebene herbeigeführt und formal rezipiert werden muss, bevor eine Veränderung in den Beziehungen der Glaubenden stattfinden kann. Ganz im Gegenteil. Für ihn erweisen sich die institutionellen Strukturen der Kirche und ihre Vertreter, die er schlicht als »Juristen« bezeichnet, als die eigentlichen Rezipienten jener Entscheidungen, welche die Mitglieder einer Gemeinschaft in prophetischer Absicht getroffen haben. Buchstäblich auf den Kopf gestellt wird auf diese Weise ein formal an der Textrezeption orientiertes Rezeptionsverständnis, welches den kirchenleitenden Beschluss der konkreten ökumenischen Aktion der Glaubenden vorordnen würde. In der geschilderten Situation wird die Position Ricœurs für die Basisökumene sicherlich höchst ermutigend gewirkt haben. Aber folgt daraus auch etwas für heutiges Nachdenken über ökumenische Prozesse, im Besonderen für die Vorstellung von ökumenischer Rezeption? Wir werden im Folgenden zeigen, dass diese Frage positiv beantwortet werden kann und dass es sich lohnt, von diesem ersten Befund in Ricœurs Schriften aus weiterzudenken. Uns wird es darum gehen, nachzuforschen, an welchen Stellen von Ricœurs Werk sein ökumenisches Engagement Spuren hinterlassen hat und auf welche Elemente seiner Philosophie er dabei Rekurs nimmt. Ein besonderes Augenmerk werden wir auf die Stellen legen, wo Ricœurs Hermeneutik dem aktuellen Diskurs über die ökumenische Rezeption kritisch begegnet und sich möglicherweise gerade deshalb als inspirierend und weiterführend erweisen könnte. Zunächst aber gilt es, den Hintergrund der bis hierher gemachten Äußerungen zu erläutern. Dazu wollen wir uns in Kapitel 2 mit dem Rezeptionsbegriff beschäftigen. Unsere Frage wird sein, ob der hier von Ricœur vorgestellte Weg der Rezeption – von der Basisbewegung zur formalen Institutionalisierung – tatsächlich in Spannung zu anderen Rezeptionsverständnissen steht. 24 Ebd., 71.

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Einleitung

Kapitel 3 wird sich dann ausführlich mit den ökumenischen Aspekten im Werk von Paul Ricœur befassen und dazu weitere Textzeugnisse analysieren. Ricœurs Verständnis der ökumenischen Rezeption soll in diesem Kapitel klar umrissen und anhand von Kriterien vergleichbar gemacht werden. In Kapitel 4 werden wir drei ökumenische Rezeptionsprozesse aus Frankreich analysieren. Dabei soll festgestellt werden, ob es in der Praxis ökumenischer Begegnungen Anhaltspunkte für Ricœurs Vorstellung des Rezeptionsverlaufs gibt. Außerdem soll versucht werden, eine mögliche Kritik Ricœurs am Rezeptionsbegriff auch auf reale Rezeptionsprozesse anzuwenden, um deren häufige Schwierigkeiten ein Stück weit erklärbar zu machen. Kapitel 5 schließlich dient der Zusammenfassung unserer Ergebnisse und liefert einige Schlussbetrachtungen. Als Anhang präsentieren wir eine deutsche Übersetzung des für unsere Studie wichtigsten Beitrags von Paul Ricœur zum ökumenischen Dialog.

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2.

Ökumenische Rezeption – Begriff und Erforschung

2.1

Plan

Der Begriff Rezeption gehört zu den am ausführlichsten beschriebenen Termini in der ökumenischen Theologie.1 Seine lateinische Wurzel recipere, recipio bedeutet annehmen und weist all jene Bedeutungen auf, die das Wort auch im Deutschen entfaltet, wenn es auf die Beziehung zwischen Menschen oder Institutionen angewendet wird (annehmen, aufnehmen, übernehmen, empfangen, anerkennen). Die Rezeption kann sich in einem engeren Sinn auf konkrete Objekte oder Glaubensaussagen richten, die von einem (oder jedem) der ökumenischen Partner angenommen werden. Aber auch ein viel umfassenderer Aushandlungsprozess kann damit gemeint sein und zwar dann, wenn das Rezeptionsobjekt im Grunde mit der Identität einer anderen Gemeinschaft zusammenfällt, deren anderes Glaubensbekenntnis es in die eigene theologische Weltsicht zu integrieren gilt. An dieser Stelle trifft der Begriff der Rezeption auf den der Anerkennung.2 In diesem extensiven Verständnis, das die Rolle von Gemeinschaften und Texten gleichermaßen in den Blick nimmt, ist ökumenische Rezeption ebenso ein Fall für das Kirchenrecht wie für die Pneumatologie. Denn Rezeption wird hier als Relationsbegriff aufgefasst, der sich auf die Gegenseitigkeit von Partnern bezieht und anzeigt, dass deren Verhältnis zwar mehr oder weniger verbindlich geregelt wurde, es aber dennoch unabgeschlossen ist, weil jeder der Beteiligten rezeptiv – d. h. empfänglich – für die Impulse des Anderen bleibt. Eine fortgesetzte Interaktion ist für das Gelingen eines solchen Rezeptionsprozesses unverzichtbar. Dessen nicht genug, tun sich auch noch konfessionelle Unterschiede beim Verständnis des Begriffes Rezeption auf. Diese Differenzen sind von den ver1 Die Sekundärliteratur zum Thema ökumenische Rezeption ist ausufernd. Übersichtliche Bibliographien finden sich in: Goertz, Dialog, 206ff; Unzueta, Vaticanum II, XXIVff. 2 Meyer, Anerkennung; Kelly, Recognition.

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Ökumenische Rezeption – Begriff und Erforschung

schiedenen kirchlichen Institutionen bedingt, in denen Rezeption geschieht und somit auch von den sie begründenden ekklesiologischen Grundkonzeptionen. Auf diese Weise avanciert der Begriff Rezeption schließlich vom ökumenischen Konzept zum kontroverstheologischen Thema. Aber der Reihe nach. In diesem Kapitel wollen wir klären, an welcher Stelle die Äußerungen von Paul Ricœur für die ökumenische Hermeneutik von Interesse sind. Wir werden deshalb im Folgenden die Diskussion um die ökumenische Rezeption in Grundzügen nachvollziehen. Dabei gehen wir in zwei Schritten vor. Zuerst gehen wir auf wichtige Beiträge ein, in denen der Begriff der ökumenischen Rezeption entfaltet wird. Dies soll uns helfen, seine verschiedenen Aspekte in den Blick zu nehmen. Anschließend werden wir zeigen, welche Methoden man verwendet und welche Kriterien man anlegt, wenn es gilt, den Erfolg oder Misserfolg eines ökumenischen Rezeptionsprozesses zu beurteilen. Dabei soll festgestellt werden, ob sich die in der Begriffsdiskussion andeutende Komplexität des Rezeptionsbegriffs bei der Beurteilung von ökumenischen Ereignissen in der Praxis wiederfindet.

2.2

Etappen der Begriffsdiskussion

Unsere heutige Kenntnis vom Vorgang der ökumenischen Rezeption ist das Resultat der theologischen Beschäftigung mit diesem Begriff in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anlass dafür waren zwei Ereignisse. Einerseits die institutionalisierte ökumenische Konsenssuche – wie sie sich etwa im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) vollzog und als deren Ergebnis sich schon bald eine große Zahl von Dokumenten zur Rezeption anbot – und andererseits die veränderte innerkirchliche Praxis der römisch-katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Sowohl von ökumenisch-protestantischer als auch von katholischer Seite erwies sich die Frage der Autorität und Verbindlichkeit im Prozess der Bekenntnisbildung als Motor für die Beschäftigung mit dem Vorgang der Rezeption. Die Verschiedenartigkeit der theologischen Anschauungen trat in der ökumenischen Bewegung am deutlichsten zu Tage. Um die Vermittlung zwischen diesen verschiedenen Positionen auf theologischer Ebene bemühte man sich im Wesentlichen in der Sektion Glaube und Kirchenverfassung (Faith and Order) des ÖRK sowie in zahlreichen nationalen und internationalen Dialoggruppen, auf deren Treffen punktuelle ökumenische Übereinkünfte erzielt wurden.3 Bei

3 Viele der Dialogpapiere sind dokumentiert in: Kommission für Glauben und Kirchenver-

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Etappen der Begriffsdiskussion

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der Vermittlung dieser Ergebnisse, die in Form von Konsens- oder Konvergenzdokumenten niedergelegt wurden, ergab sich eine grundlegende Schwierigkeit: Aufgrund der institutionellen Trennung und mehr noch angesichts des protestantischen Lehramtsbegriffs, war eine einfache Durchsetzung der neugewonnenen theologischen Aussagen selbstverständlich ausgeschlossen. Es galt vielmehr, die in komplexen Dialogverfahren gewonnenen ökumenischen Übereinstimmungen gegenüber den betroffenen Kirchen bzw. Kirchenmitgliedern so zu kommunizieren, dass sie durch eine breite Anerkennung theologisch und kirchenrechtlich gerechtfertigt wurden. Hier also kam der Rezeptionsvorgang in den Blick, der zwangsläufig mehr zu sein hatte als ein nachträglicher Gehorsam. Zu seinem Verständnis und seiner Ausgestaltung bedurfte es einer umfangreichen Auseinandersetzung mit der Praxis innerkirchlicher Vermittlungsprozesse. Obwohl ihr im Grunde kein kirchengeschichtliches Interesse zu Grunde lag, fand diese Auseinandersetzung zuerst in historischer Perspektive statt. In den Jahren 1965 und 1968 erarbeitete der ÖRK Studien4 zur Konzilspraxis der Alten Kirche, die auf eine Wiedergewinnung des Communio-Gedankens als Einheitsmodell für die weltweite christliche Gemeinschaft zielten und auch erhebliche Impulse für die Beschäftigung mit dem Begriff der Rezeption ermöglichten.5 Communio beschreibt die partikulare Gemeinschaft eines jeden Gläubigen mit Christus als ununterscheidbar von der universalen Gemeinschaft der Christen untereinander. Der Begriff Communio bezeichnet die empfangende Gemeinschaft, zuerst als Sakramentsgemeinschaft, die Christus empfängt und daher zum Ort der gegenseitigen Annahme wird. Im Rahmen der Communio-Ekklesiologie lässt sich der ökumenische Rezeptionsprozess also als Schnittstelle von partikularer und universaler Communio verorten. Im ökumenischen Geschehen zwischen Kirchen verschiedener Konfessionen ist Rezeption jener Vorgang, in dem die ursprüngliche Gemeinschaft jedes Gläubigen mit Christus in der gegenseitigen Öffnung bisher getrennter Gemeinschaften aktualisiert wird.6

2.2.1 Impulse aus dem innerkatholischen Gebrauch des Rezeptionsbegriffs Einer der bis heute wichtigsten Beiträge zum Thema Rezeption stammt von dem katholischen Theologen Yves Congar, der ein bedeutender Vertreter der Nouvelle th¦ologie in Frankreich und Teilnehmer des Zweiten Vatikanischen Konzils fassung (Genf), Institut für Ökumenische Forschung (Straßburg), Johann-Adam-MöhlerInstitut (Paderborn), Centro pro Unione (Rom), Dokumente wachsender Übereinstimmung. 4 World Council of Churches and John Anastasiou, Councils. 5 Routhier, La r¦ception dans le d¦bat, 66. 6 Tillard, Reception, 311.

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Ökumenische Rezeption – Begriff und Erforschung

war. Auch er gelangte über die Beschäftigung mit den altkirchlichen Konzilien zu seinem Konzept von Rezeption.7 Allerdings formulierte er es im Blick auf die innerkatholische Lehrbildung, die von anderen Voraussetzungen ausgeht als der ökumenische Dialog: Während man sich im ÖRK mit der Konziliarität der Alten Kirche befasste, war auch in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils die Reaktualisierung der Communio-Struktur als Aspekt der innerkirchlichen Erneuerung in Angriff genommen worden. Doch war dies nicht mit letzter Konsequenz geschehen. Die Kirchenkonstitution Lumen gentium bestätigte hinsichtlich der Entscheidungshoheit in Lehrfragen die Unfehlbarkeit des Papstes und der päpstlichen Verlautbarungen und erklärte, dass Lehrentscheide um gültig zu sein der »Zustimmung der Kirche« ausdrücklich nicht bedürften.8 Congar focht diese Behauptung an und erklärte, dass »die Rezeption durch die Kirche […] gewiß ihren eigenen Stellenwert«9 habe. Er zeigte, dass es in Theorie und Praxis der Rezeption zu einer Bedeutungsverschiebung gekommen war. Ursprünglich meinte Rezeption die Aneignung einer promulgierten Regel durch eine kirchliche Körperschaft, weil diese »ihrem Leben entspricht.«10 Dieser Prozess von Vorschlag, Prüfung und Zustimmung bezog sich auf die Rezeption der altkirchlichen Konzilien, die erst dadurch als »rezipiert« gelten konnten, dass ihnen die Zustimmung der Lokalkirchen nicht verweigert wurde. Fälle von Nichtrezeption zeugten davon, dass es konziliare Entscheidungen gab, die formal gültig waren, in den Kirchen aber keine Lebenskraft zu wecken vermochten. Congar wies darauf hin, dass es ursprünglich im Denken der Kirche eine Einheit von Entscheidung und Zustimmung gegeben habe. Diese aber sei inzwischen auseinanderdividiert und zu einer Doppelstruktur von Autorität und Gehorsam geworden, die sich von der alleinigen Entscheidungsgewalt des Papstes herleitete. Diese Auffassung, welche die Rezeption als einen kirchenrechtlichen Vorgang begriff und ihn nachprüfbar und einklagbar machte, stand Congar zufolge in einem Widerspruch zum internen Ringen der Kirche um die Glaubenswahrheit.11 Wenn es eine Wahrheit gibt, die seit dem Altertum bis und mit dem Zweiten Vatikanum ganz allgemein bekräftigt wird, so ist es die, daß der Glaube und die Überlieferung von der gesamten Kirche getragen werden, daß die Gesamtkirche ihr einziges adäquates Subjekt ist unter der Souveränität des Geistes, der ihr verheißen worden ist und ihr innewohnt: ›Ecclesia universale non potest errare.‹ […] Darum haben die Einmütig7 8 9 10 11

Congar, Rezeption. o. A., Dogmatische Konstitution, 270. Congar, Rezeption, 504. Ebd., 501. Ebd., 507. »Die Rezeptionsidee hat darunter gelitten, daß sie auf verfassungsrechtlicher Ebene, als Rechtstheorie aufgestellt und vorgelegt wurde.«

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Etappen der Begriffsdiskussion

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keit, das Einvernehmen, der Consensus möglichst aller Beteiligten stets als ein Zeichen für das Walten des Heiligen Geistes und somit auch als eine Gewähr für die Wahrheit gegolten.12 Der Begriff der Rezeption – aber nicht gänzlich deren Wirklichkeit, denn das Leben widersteht den Theorien – wurde, wo noch nicht ausdrücklich zurückgewiesen, so doch ausgemerzt, als man an die Stelle von all dem ein ganz pyramidal gestuftes Bild der Kirche stellte, als einer Masse, die völlig von ihrem Gipfel her bestimmt wird […]. Dieser ekklesiologische Prozeß war mit einem weiteren Vorgang verbunden, der ganz mit ihm zusammenhängt: mit dem Übergang von einem Primat des Wahrheitsgehaltes, den zu bewahren jede Kirche die Gnade und Sendung hat, zum Primat einer Autorität. […] Und doch ist in der Überlieferung der Kirche nicht alles Vorschrift und die dogmatischen Formulierungen selbst rufen nach einer Zustimmung, die nicht einzig und allein den Willen ins Spiel bringt, sondern auch die Intelligenz mit ihren Bedingtheiten, die durch die Kultur, die Kenntnis, die Sprache usw. gegeben sind. […] So gewahren wir zwei Wege, um zur Einhelligkeit zu gelangen: Den Gehorsam und die Rezeption oder Zustimmung.13

Es besteht kein Zweifel darüber, dass Congar für die Rezeption als Zustimmung zu einer Glaubenswahrheit eintrat und von deren Bedeutung als »gesetzlichem Gehorsam« weitgehend absah. Zwar kann auch dieser Aspekt nicht vollkommen vernachlässigt werden. Aber er trifft Congar zufolge doch nicht den Kern des Rezeptionsgeschehens, weil dieses eine grundlegende Funktion der Kirche und äußerst komplex ist. Rezeption meint für ihn nicht nur die einmalige Zustimmung zu dieser oder jener Glaubensaussage. Rezeption bezieht sich als ReRezeption auf alle Glaubensaussagen der Tradition, die um ihrer Wirksamkeit willen und ungeachtet ihrer kirchenrechtlichen Geltung immer wieder aufs Neue geprüft und ausgelegt werden.14 Congar räumte sogar ein, dass sich die Rezeption einer Glaubenswahrheit auch vollkommen ohne Mitwirkung juristischer Instanzen vollziehen könne, die dann erst im Nachhinein deren Legitimität feststellen. Die Bildung des Schriftkanons stellte in seinen Augen einen solchen Prozess dar.15 Der Prüfstein für die Rechtmäßigkeit all dieser Vorgänge ist Congar zufolge ihr Zweck. Gesetzlicher Gehorsam dient nur der Festigung der Autorität an der Spitze einer pyramidalen Kirchenhierarchie. Ihr Nutzen für die eine Kirche ist 12 Ebd., 505. 13 Ebd., 508 f. 14 Ebd., 503. »Chalkedon steht zwar fest und wird nicht in Frage gestellt. Doch im Zusammenhang mit einer neuen christologischen Sicht und einem neuen ökumenischen Bestreben muß man zu einem Neuverständnis seiner Geschichte und seiner tiefen Intention schreiten und es so von neuem rezipieren.« 15 Ebd., 505. »Dieser offiziellen, normativen, ausdrücklichen Rezeption ist eine tatsächliche Rezeption in den Kirchen vorausgegangen, worüber uns die betreffenden Geschichtswerke ins Bild setzen.«

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Ökumenische Rezeption – Begriff und Erforschung

gering. Rezeption als Zustimmung zur Wahrheit des Glaubens hingegen, die die lokale Kultur der Rezipienten nicht übersieht, nützt dem Aufbau der kirchlichen Gemeinschaft, indem sie den Zusammenhalt und das Hören aufeinander fördert.

2.2.2 Neue Arbeitsfelder: Hermeneutik, Kontextualität und Spiritualität Obwohl Yves Congar sich im Blick auf die Vorgänge innerhalb der katholischen Kirche geäußert hatte, hielt man seine Bestimmung des Rezeptionsbegriffs unter vielen anderen katholischen Studien16 auch seitens der ökumenischen Theologie für wegweisend. Insbesondere der Gedanke der Re-Rezeption der eigenen Tradition sowie die Unterscheidung von gesetzlichem Gehorsam und der Rezeption derselben Glaubenswahrheit auf allen Ebenen der christlichen Communio wurden häufig aufgegriffen und verbunden mit der Forderung nach der Schaffung von »lebendigen Strukturen«, in denen sich die ökumenische Rezeption vollziehen sollte.17 Die Erfahrung zeigte, dass nicht allein theologische Divergenzen die ökumenische Rezeption verhinderten, sondern dass auch hermeneutische und strukturelle Schwierigkeiten dafür verantwortlich waren. Für Kirchenleitungen und Synoden stellte sich die Frage, in welchem Verhältnis ökumenische Erklärungen, die einen neugewonnenen Konsens formulierten, zum überlieferten Bekenntnis der Kirche standen bzw. ob jenes einer legitimen Revision unterzogen werden durfte. Auch die Form der ökumenischen Texte, die den potenziellen Rezipienten – in der Regel den Ausschüssen von Synoden und Kirchenleitungen – vorgelegt wurden, warf Fragen auf. Es stellte sich bald heraus, dass diese Texte oft zu formal oder zu umfangreich waren, um verständlich zu sein. Die ökumenischen Dokumente behandelten nicht selten Spezialfragen und bezogen sich auf kontroverstheologische Spannungen aus der Reformationszeit, die in Fachsprache erörtert wurden. Selbst wenn das theologische Anliegen nachvollziehbar war, so war seine Relevanz nicht in jedem Kontext gegeben und der ökumenische Geist der Verfasser schien sich nicht ohne Weiteres auf ihre Adressaten zu übertragen: [Die] Formulierungsaufgabe [der ökumenischen Texte] ist nicht rein theologisch, sie ist auch verhandlungstaktisch. Was zu sagen ist, muß möglichst knapp und möglichst eindrücklich gesagt werden. Ich weiß, man ist immer froh, wenn man es überhaupt geschafft hat, den Konsens zu erreichen und aufzuschreiben. Man darf aber die Aufnahme- und Eindrucksdimension der Formulierungsaufgabe nicht gänzlich vernach16 Köhler, Rezeption. Vgl. Sieben, Apostelkonzil; Unzueta, Vaticanum II. 17 Houtepen, Rezeption, 171.

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lässigen. Nur dann kann man erwarten, daß die kirchliche Rezeption solcher Dokumente ausreichend stimuliert wird. […] Kommissionsdokumente entstammen einem Gruppenprozeß, dessen Schritte sich in den Papieren kaum jemals erkennen lassen. Es ist schwer, in ihn nachträglich einzusteigen. Kommissionsdokumente formulieren normalerweise den erreichten Konsens, aber sie erklären nicht, was er bedeutet und wo die Punkte liegen, in denen noch Dissens besteht. Kommissionsdokumente verwenden die theologische Fachsprache denken aber wenig daran, wenigstens Übersetzungsansätze zu geben.18

Ein anderes Problem, das die Frage nach der ökumenischen Rezeption im Allgemeinen und der Rezeption der Dokumente im Besonderen wieder aufwarf, war die Diskrepanz zwischen dem kirchleitenden Handeln und den Aktivitäten der Gemeinden am Ort. Eine Studie des Straßburger Ökumenischen Instituts zeigte, dass es durchaus eine Menge ökumenischer Initiativen an der Basis gab.19 Die ökumenischen Dokumente bzw. theologische Lehrfragen spielten für diese aber kaum eine Rolle, so dass eine Verbindung zum offiziellen Dialog zwischen den Kirchen kaum hergestellt und von Rezeption in einem juristischen Sinn eigentlich nicht gesprochen werden konnte. Auch an der Basis konstatierte man hermeneutische Probleme im Umgang mit den offiziellen Dokumenten. Diese waren aber nicht allein durch die theologische Fachsprache bedingt. Auch das den meisten Texten zugrunde liegende Modell von ökumenischer Einheit (Einheit in versöhnter Verschiedenheit) war intellektuell anspruchsvoll und nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen. Es behauptete die Legitimität einer wachsenden Übereinstimmung, wobei die bestehenden Unterschiede nicht verwischt, sondern im Gegenteil im gemeinsamen Dialog in der Hoffnung auf eine schrittweise Einigung immer wieder aufgerufen werden sollten. Dieses langsame Konsensverfahren war mit dem Gefühl an der Basis, wo man vielerorts auf eine rasche Einigung drängte, nur schlecht kompatibel.20 Die Gründe, die an der Basis den Konsens beförderten, beruhten nicht selten auf lokalen Konstellationen, d. h. jenen kontextuellen Zusammenhängen, welche in ökumenischen Papieren unerwähnt blieben, weil man dort im Sinne einer allgemeingültigen, theologisch begründeten Einheit argumentierte:

18 Seils, Problematik, 111 f. 19 Institut für Ökumenische Forschung Straßburg, Ort. 20 Birmel¦, Ökumene, 122. »Man hat meistens Angst vor Unterschieden, da jeglicher Unterschied als trennend empfunden wird. Nur selten findet man Verständnis für berechtigte Differenzierungen. Ökumenisches Verständnis wird oft so gedeutet, dass man über bestehende Unterschiede eher schweigen sollte, in der Hoffnung, daß dadurch diese Verschiedenheiten überwunden würden. Das Einheitsbild, das die lokalen Gemeinden vor Augen haben, ist also oft ein Model, das auf Uniformität zielt. Dieses uniformierende Einheitsverständnis verursacht dann aber wiederum die Furcht, man müßte für das Erreichen der Einheit seine Eigenständigkeit preisgeben.«

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Ökumenische Rezeption – Begriff und Erforschung

Das kirchlich-ökumenische Element ist oft nur ein Teil eines viel allgemeineren Strebens nach Gemeinschaft unter Menschen, die am gleichen Ort leben. […] Die sogenannten nicht-lehrmäßigen Faktoren spielen eine entscheidende Rolle. Grenzen zwischen Konfessionen am Ort sind oft identisch mit Grenzen zwischen ethnisch, kulturell, sprachlich, soziologisch, wirtschaftlich oder politisch verschiedenen Gruppen. Verhärtung dieser Grenzen bedeutet Erschwerung der Zusammenarbeit der kirchlichen Gemeinden, Auflockerung oder Verwischung dieser Grenzen ist meist das entscheidende Element, das eine ökumenische Annäherung aufweist. Auch die Tatsache, dass man einer Mehrheits- oder Minderheitskirche angehört, wäre zu diesen ›nichtlehrmäßigen‹ Faktoren zu zählen.21

Einige Ökumeniker wiesen darauf hin, dass die ökumenische Rezeption nur dann mehr sein könnte als ein administrativer Vorgang und weitreichendere Konsequenzen haben könnte als den symbolischen Austausch ökumenischer Gefälligkeiten in den immer gleichen konfessionellen Grenzen, wenn die Glaubenden in den Gemeinden sie als existenzielles Anliegen der christlichen Gemeinschaft betrachten würden. Dazu wäre es notwendig, den Zusammenhang plausibel zu machen zwischen dem Bedürfnis verschiedener kirchlicher Gemeinschaften nach interkonfessioneller Annäherung und ihrer christlichen Identität. In diesem Sinne den ökumenischen Dialog zu führen, würde dann bedeuten, nicht nur den Austausch, sondern auch den Wandel von Identitäten in Kauf zu nehmen, sowohl auf individueller, als auch auf kollektiver Ebene. Ein Konzept, das dieser Dimension der Rezeption Rechnung trägt und dadurch den Rezeptionsbegriff an sich präzisiert hat, ist das der ökumenischen Spiritualität. Ökumenische Spiritualität – ein Konzept das schon auf der ersten wissenschaftlichen Tagung der Societas Oecumenica zum Thema Theologischer Konsens und kirchliche Rezeption dargelegt wurde – verweist auf die geistgewirkte, »religiös-praktische Grundeinstellung«,22 die aus der Einheit von Glaube und Lebensstil hervorgeht und ökumenische Beziehungen unter denselben anthropologisch-theologischen Voraussetzungen betrachtet wie die eigene Existenz. Auch für die ökumenische Rezeption bedarf es diesem Gedanken folgend einer spirituellen Grundhaltung, der nämlich, auf das Wort zu hören, sich versöhnen und die eigene Identität verwandeln zu lassen, um eine christusgemäßere Existenz zu führen. Wechselseitige Rezeption ist eine Voraussetzung für kirchliche Einigung; Rezeptionsfähigkeit hat ihrerseits zur Voraussetzung eine ökumenische Spiritualität, die die Bereitschaft zum Identitätswandel einschließt. […] Vor allem ist dabei klarzustellen, daß die angestrebte Einigung wie auch die reziproke Rezeption keine rein technokratisch oder bürokratisch zu bewältigenden Vorgänge sind, sondern ein religiös 21 Ebd., 122 ff. 22 Lengsfeld, Spiritualität, 126.

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geistiger Prozeß, der vom Gebet und von der persönlichen Umkehr aller zu radikalerem Christsein getragen sein muß.23

2.2.3 klassische und un-klassische Rezeption Der Ausgangspunkt für die erneute umfangreiche Beschäftigung mit dem Rezeptionsbegriff, der daraufhin zeitweilig sogar zum »new holy word«24 der ökumenischen Bewegung erklärt wurde, war die sogenannte Lima-Erklärung, die der Ökumenischen Rat der Kirchen 1982 herausgab. Der von der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung erarbeitete Text stellte eine umfangreiche Konvergenzerklärung über die Themen Taufe, Eucharistie und Amt (Baptism, Eucharist and Ministry = BEM) dar und wurde den Kirchen als Arbeitspapier und zur weiteren Reflexion vorgelegt. Die Mitgliedskirchen wurden darin ausdrücklich ersucht, eine Stellungnahme darüber abzugeben, ob der vorgelegte Text den Glauben der Kirchen ausdrücke und welche Konsequenzen für den Dialog sich von den gemachten Aussagen eventuell ableiten ließen. Man stieß auf diese Weise einen umfangreichen Rezeptionsprozess an. Allerdings zeigten die Rückmeldungen aus den Kirchen, dass über den Text von Glauben und Kirchenverfassung keine Einhelligkeit bestand.25 Das war darauf zurückzuführen, dass die sogenannten Konvergenzaussagen des Lima-Papiers neben einiger Zustimmung vor allem eine Rückbesinnung auf die konfessionellen Eigenheiten in Lehre und Tradition förderten. In dem gemeinsam verfassten Dokument waren konfessionelle Unterschiede zwangsläufig unerwähnt geblieben und wurden nun von manchen Rezipienten vermisst. Die im Laufe des Rezeptionsprozesses eingeholten Antworten der Kirchen waren von einem Konsens daher noch weit entfernt und demonstrierten eher die hermeneutische Schwierigkeit, den in interkonfessioneller Verantwortung geschriebenen Text als legitimen Ausdruck der eigenen Tradition anzusehen. Die breite Diskussion der Erklärung und die vielen ökumenischen Stellungnahmen, die sie hervorrief – selbst wenn diese ablehnend oder zurückhaltend ausfielen –, waren letztendlich das entscheidende Resultat dieses Rezeptionsprozesses!26 Um Verbindlichkeit in theologischen Fragen zu erzielen und in gemeinsamen Dokumenten festzuhalten, musste der Status der zu rezipierenden Texte eindeutiger geklärt werden. Dieser Meinung war auch William G. Rusch, der 1988 im Auftrag des Lutherischen Weltbundes den Diskussionsstand zur Rezeption inventarisierte:

23 24 25 26

Ebd., 127. Ryan, New Holy Word. Thurian, Churches. Ders., Perspektiven.

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Even the most positive responses [to BEM] tend to temper their words of encouragement with caveats. This is not surprising, for in reception churches in the final analysis are accepting not ecumenical texts but one another as churches. They are seeking behind the text a common conviction that they share the same gospel. No doubt a step beyond responses will be the further refinement of existing texts or the production of new texts to add clarity. For many churches and large parts of the ecumenical movement, this stage is just beginning.27

Dass die Ermöglichung von ökumenischer Rezeption aber nicht allein an die Methodologie, d. h. an ein kirchenrechtlich geregeltes Verfahren oder ein pädagogisches Vorgehen geknüpft war, sondern in erster Linie an ein Verständnis der ökumenischen Situation, zeigten die Überlegungen, die der französische Theologe Andr¦ Birmel¦ im Jahr 1996 vor der Kommission von Glauben und Kirchenverfassung vortrug. Er verwies nochmals auf die Position von Yves Congar und betonte stärker als seine Vorgänger die Eigenständigkeit der ökumenischen Rezeption gegenüber der Rezeption eines Konzils innerhalb derselben Kirche. Denn während innerhalb derselben Kirche über das gemeinsame Verständnis des Evangeliums ein Konsens herrsche und der Auslegungsspielraum des gemeinsamen Bekenntnisses klar sei, seien diese Fragen im Dialog der Kirchen untereinander strittig. Bevor hier als ökumenische Maximalforderung die gegenseitige Übernahme von Glaubensaussagen beansprucht werden könne, gelte es zu klären, ob und auf welcher Grundlage die Aussagen und die Praxis einer anderen Kirche als evangeliumsgemäß angesehen werden könnten. Tatsächlich sei die Interpretation und Ausgestaltung desselben Evangeliums unter den Kirchen der ökumenischen Bewegung sehr unterschiedlich. Die meisten dieser kirchlichen und theologischen Traditionen seien an Kontexte gebunden, in denen sie sinnvoll ausgeübt würden. Auf der Suche nach gemeinsamen Glaubensaussagen wäre es angesichts dieser Fülle von Ausdrücken vollkommen aussichtslos und darüber hinaus theologisch höchst problematisch, gegenüber der eigenen oder anderen Tradition restriktiv vorzugehen oder voreilig einen gemeinsamen Bekenntnisstand festlegen zu wollen, der anschließend von allen Kirchen zu rezipieren sein müsste. Gewiss bestünde der Anspruch der Dialoge darin, eine gemeinsame Glaubensbasis zu formulieren. Doch dies könne nicht anders geschehen als im Dialog und als Resultat eines gemeinsamen spirituellen Prozesses, in dessen Verlauf ein Konsens gemeinsam entdeckt und dokumentiert wird. Die Abschaffung der legitimen theologischen Unterschiede sei jedenfalls nicht das Ziel der Dialoge. Vielmehr gehe es um die Vermittlung und die Überwindung des kirchentrennenden Charakters, den manche traditionelle Glaubensaussagen angenommen hätten, besonders, wenn sie als Lehrverurteilungen geäußert würden. Dieser Anspruch von Konsens und Verschiedenheit 27 Rusch, Reception, 68.

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müsste sich auch in der Struktur des zu rezipierenden Dokuments niederschlagen: Auch wenn einige Schlussfolgerungen der Dialoge oft einer gemeinsamen Glaubensformulierung ähnlich sind, die Intention des Dialogs ist eine andere: sein Ziel ist die Suche eines Konsenses, der die gemeinsame Überzeugung ausdrückt, ohne jedoch das Verschwinden einer legitimen lehrmäßigen Verschiedenheit, die es zwischen Kirchen gibt, zu verlangen oder zu wünschen. […] Der Dialog versucht also nicht, ein neues Glaubensbekenntnis zu formulieren, sein Ziel ist ein Brückenbau zwischen kirchlichen Identitäten. Beim Bau dieser Brücken sollen nicht die Unterschiede als solche, sondern lediglich der trennende Charakter der Unterschiede überwunden werden. Dieses Ziel des Dialogs hebt sich deutlich vom Ziel eines klassischen Konzils ab. Es liegt daher auf der Hand, dass die Rezeption eines solchen Vorgangs von anderer Art ist als die Rezeption »klassischer« Konzilsentscheide.28

Im Konzept der »un-klassischen« ökumenischen Rezeption wird also nicht nur das Moment der Übereinstimmung bedacht, sondern auch das der Divergenz, der Nichtidentität. Anders als man meinen könnte, ist die Rezeption der NichtÜbereinstimmung in einer Glaubensfrage hier aber nicht in eins zu setzen mit einer Nicht-Rezeption. Stattdessen haben wir es mit einer Rezeption der Andersheit zu tun. Diese Überlegungen führen im Konzept von Andr¦ Birmel¦ zu dem Modell des sogenannten differenzierten Konsenses. Es besagt, dass neben der grundlegenden Übereinstimmung auch die konfessionelle Verschiedenheit Bestand hat, ohne dass der Konsens sich deswegen auflösen würde. Als Schlüssel zum Verständnis dieser Konsensmethode erweist sich der Begriff der Anerkennung, der den Rezeptionsbegriff im ökumenischen Zusammenhang ergänzt. Dazu Birmel¦: Gewiß gibt es Schlussfolgerungen des Dialogs, die zum gemeinsamen Glaubensbekenntnis gehören und die unverzichtbare Grundlage für die Versöhnung sind. Jede Kirche ist aufgefordert, sie anzunehmen, und diese Annahme bringt eine notwendige kirchliche Bekehrung mit sich und ermöglicht sowohl eine Korrektur als auch eine Öffnung auf eine größere Fülle hin. Die Schlussfolgerungen des Dialogs haben jedoch die gegenseitige Anerkennung zum Ziel, d. h. die Anerkennung der anderen Kirche als anderen, aber legitimen und wahren Ausdruck der einen Kirche Jesu Christi. Man kann nun gewiß »Rezeption« und »Anerkennung« nicht gleichsetzen. Beide Begriffe ergänzen sich jedoch gegenseitig. Es kann keine Rezeption geben ohne Anerkennung der Legitimität und der Authentizität (Wahrhaftigkeit) des anderen, diese »Anerkennung« führt umgekehrt zu einem Prozess der Annahme der Partikularität des anderen, ohne dass dabei das Anderssein der anderen Tradition in Frage gestellt wird. Die Kirchen werden letztlich dazu aufgefordert, die von den Dialogen vorgeschlagene gegenseitige Anerkennung, die die erste Etappe auf dem Weg zu einem wahrhaft gemeinsamen Leben darstellt, zu »rezipieren«. Solch eine Rezeption eines legitimen Andersseins ist 28 Birmel¦, Erfordernis, 348.

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für Kirchen, die Rezeption im »klassischen« Sinne des Wortes gewohnt sind, unüblich. Es ist wohl nicht nötig hinzuzufügen, daß solch ein Schritt keine Suche eines Kompromisses um des Kompromisses willen ist. Hier handelt es sich um eine wahre Versöhnung. Wenn die gegenseitige Anerkennung Sinn haben soll, muss ihr ein wirklich gemeinsames Leben folgen, eine wahre Gemeinschaft an einem Ort von Kirchen, die legitim verschieden sind. Es geht nicht um die Beibehaltung des status quo, der jegliche Andersheit tolerieren und somit die Trennung nur noch festigen würde.29

In dem Maße wie der Vorgang der Rezeption hier von Birmel¦ präzisiert wird, erweist er sich als ein Geschehen in Etappen der wachsenden Anerkennung. Jede Etappe ist Birmel¦ zufolge das Ereignis eines geistgewirkten Geschehens, das auf Wandel durch Annäherung zielt. »[Ö]kumenische Rezeption hat das Konzil und die Versöhnung als Ziel und nicht als Ausgangspunkt«,30 schreibt Birmel¦. Um die Positionierung einzelner Kirchen zu den theologischen Ergebnissen ökumenischer Dialogkommissionen anzuregen und die ökumenische Annäherung nachhaltiger zu gestalten, empfahl Birmel¦ das, was sich in einigen Rezeptionsverfahren bereits bewährt hatte. Er regte an, dass die theologischen Instanzen der Kirchen kurze Erklärungen verfassen, in denen dargelegt wird, was dieses oder jenes Dialogergebnis für Konsequenzen für die betreffende Kirche und ihre ökumenischen Partner hat.31 Dabei ging es darum, den Kontext in Rechnung zu stellen und ein Dokument nur dann als verbindlich anzusehen, wenn eine Kirche den Aussagen des Dokuments für ihre eigene Situation zustimmt. Denn die Ergebnisse einer interkonfessionellen Dialogkommission allein können noch keine Geltung beanspruchen. Birmel¦s Ansatz nach erhalten Dialogpapiere erst in dem Moment Wirksamkeit, wo sie von den Entscheidungsträgern in den Kirchen in modifizierter Weise, d. h. in Form von eigenständigen Erklärungen angeeignet werden. Eine andere Autorität als die des Gebrauchs, d. h. seiner Rezeption kann kein Konsensdokument beanspruchen.

2.2.4 Zwischenbilanz Unsere Darstellung des Rezeptionsbegriffs wollen wir nun kurz zusammenfassen. Dabei werden wir zuerst die Aspekte des Begriffs unterscheiden, die sich in der Untersuchung herauskristallisiert haben. Anschließend werden wir eine vorläufige Antwort auf die Frage, nach der Kompatibilität von Ricœurs Bemerkungen zum Rezeptionsverlauf mit dem bis hierher erhobenen ökumenischen Rezeptionsverständnis geben. 29 Ebd., 348 f. 30 Ebd., 349. 31 Ebd., 354.

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Die Darstellung zeigt, dass der Rezeptionsbegriff sowohl den Status der gegenseitigen Verbindlichkeit beschreibt, als auch den Prozess des EinanderVerbindlich-Werdens. Zu unterscheiden ist außerdem zwischen einem innerkirchlichen Gebrauch des Rezeptionsbegriffs und seiner Anwendung auf ein zwischenkirchliches Geschehen in der ökumenischen Bewegung. Bei letzterem Gebrauch, der uns in dieser Untersuchung vorrangig beschäftigt, sind zwei konkurrierende Verständnisse des Begriffs auszumachen – ein existenzielles und ein juristisches. In den meisten Studien werden beide Bedeutungen zugestanden, wobei jedoch in der Regel eine deutliche Gewichtung zugunsten einer der beiden zu beobachten ist. Die Interpretation der ökumenischen Rezeption als existenzielles Geschehen ist verbunden mit pneumatologischen Überlegungen. Die pneumatologische Rede von Rezeption verweist darauf, dass das Rezeptionsgeschehen, egal ob es einen innerkirchlichen oder einen ökumenischen Vorgang beschreibt, nicht von der christlichen Existenz einer Gemeinschaft getrennt werden kann. Wenn daher eine Gemeinschaft das ökumenische Gespräch mit einer anderen sucht und in dessen Verlauf gegenseitige Verurteilungen beilegt, weil sie die Dialogpartnerin als andere Gestalt derselben Kirche Jesu Christi erkennt und als Schwester im Glauben annimmt, so handelt es sich um ein Geschehen, das »zugleich das Werk der rezipierenden Gemeinschaft und das Werk des Heiligen Geistes ist«.32 In der Literatur zum Rezeptionsbegriff wird daher von einer zweiten horizontalen und einer ihr vorausgehenden ersten, vertikalen Dimension der Rezeption gesprochen.33 Die vertikale Dimension meint die Versöhnung des Menschen mit Gott, deren Ermöglichungsgrund die bedingungslose Rechtfertigung und Annahme des Menschen in Jesus Christus ist. Von dort aus kann die Rezeption auch eine horizontale Richtung nehmen und zum Movens der gegenseitigen Annahme unter den Menschen werden. Unübersehbar ist dieses Geschehen verknüpft mit der Vorstellung eines dynamischen Identitätswandels, der sich in den Äußerungen ökumenischer Theologen auch bestätigt: »[D]ie Kirchen sind durch ihren Eintritt in die ökumenische Bewegung de facto andere geworden, als sie vorher waren.«34 Das Verständnis der Rezeption als juristisches Geschehen beruht auf der Einsicht, dass die Entstehung und Rezeption ökumenischer Dokumente einem kirchenpolitisch geregelten Verfahren folgt. Die ersten Etappen dieses Verfahrens sind der Entschluss zum Dialog und die Einsetzung und Mandatierung einer Kommission, in der die theologische Reflexion stellvertretend für die beteiligten Kirchen bzw. für die Interessen eines ökumenischen Verbundes geführt 32 Ebd., 344. 33 Kühn, Bedingungen, 197. 34 Ders., Rezeption, 185.

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wird. Es geschieht, dass manche der in diesem Zusammenhang erarbeiteten Ergebnispapiere nochmals diskutiert und auf kirchenleitender Ebene anerkannt werden. Alternativ kann auch das Studiendokument selbst von den Kirchen unterzeichnet werden. Dass dieses Rezeptionsverständnis für den Vorgang der ökumenischen Rezeption oft nicht für ausreichend gehalten wird, haben wir mit Verweis auf den Beitrag Yves Congars belegt. Andererseits erscheint die kirchenrechtliche In-Geltung-Setzung eines ökumenischen Beschlusses trotzdem notwendig. Obwohl sie auf einer anderen Ebene stattfindet, ist sie wohl ebenso unerlässlich für seine Wirksamkeit wie die breite Zustimmung der Communio – zumindest in jenen kirchlichen Gemeinschaften, die sich als komplexe Institutionen verwalten und in denen die Dauerhaftigkeit der Beziehung untereinander und zu anderen Kirchen auch durch gemeinsame Strukturen vermittelt wird. Der Vorgang der ökumenischen Rezeption ist eine Schnittstelle des existenziellen und des juristischen Rezeptionsverständnisses. Die ursprüngliche Gemeinschaft jedes Gläubigen mit Christus wird in der gegenseitigen Öffnung und Anerkennung bisher getrennter Gemeinschaften reaktualisiert.35 Zur Wahrung der gegenseitig erfahrenen Anerkennung bedarf die ökumenische Gemeinschaft auch eines sichtbaren Ausdrucks und einer rechtsverbindlichen Struktur.36 Mit Verweis auf die Position von Andr¦ Birmel¦ stellten wir fest, was das Alleinstellungsmerkmal der ökumenischen Rezeption ist. Es ist die Behauptung der Legitimität einer konfessionellen Verschiedenheit im Rahmen einer grundlegenden Übereinstimmung. Das Glaubensbekenntnis einer anderen Gemeinschaft wird ›rezipiert‹, ohne übernommen zu werden. Damit wird klar, dass Rezeption im ökumenischen Zusammenhang eine große Nähe zum Begriff der Anerkennung besitzt. Zwar wird eventuell ein bestimmtes Konsenspapier rezipiert – d. h. angeeignet – und damit eine Übereinstimmung in einem wesentlichen Punkt. Dies bedeutet aber keine komplette Übereinstimmung, denn jede Gemeinschaft strukturiert ihre Glaubensidentität nach einer komplexen Semantik und drückt sie in unterschiedlichen Gestalten aus. Die bleibende Alterität des Anderen ist das eigentliche Proprium und die Herausforderung des 35 Tillard, Reception, 310 f. »Recognition is the means to come to the certitude that this radical communion may effectively exist because the groups concerned really share the same basic vision and conviction.« 36 Gassmann, Rezeption, 314. »Im ökumenischen Kontext ist Rezeption ein komplexer Prozess, der sich in den Kirchen auf verschiedenen Ebenen sowohl in informellen als auch formalinstitutionellen Vorgängen, entweder parallel oder in Stufen, vollzieht. Im Verlauf dieses Prozesses werden ökumenische multilaterale oder bilaterale Übereinstimmungen, Konvergenzen und Einsichten im Leben und Denken der rezipierenden Kirchen ganz oder partiell aufgenommen und durch Entscheidungen der Leitungsorgane verbindlich akzeptiert. Solche Entscheidungen, die von unterschiedlichen Kriterien bestimmt werden, haben konkrete Auswirkungen auf die eigene rezipierende Kirche und auf deren Verhältnis zu anderen Kirchen im Rahmen des Bemühens um größere Gemeinschaft und Einheit.«

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ökumenischen Rezeptionsprozesses und macht diesen zu einem Vorgang, der eine permanente Verständigung fordert, damit ein einmal erklärter Konsens authentisch bleibt. In unserem Einleitungskapitel haben wir im Anschluss an Ricœurs Position die Frage aufgeworfen, welchen Weg der Rezeptionsverlauf in der institutionalisierten Kirche nimmt. Dabei ging es besonders im Blick auf die Möglichkeit eines gemeinsamen Abendmahls von katholischen und evangelischen Christen darum, ob die Initiative zur Überwindung der Trennung am Altar durch eine theologische Entscheidung seitens der Kirchenleitungen oder durch den konsequenten Vollzug an der Basis eingeleitet werden könnte. Wir hatten gesehen, dass Ricœur sich für einen prophetischen Akt des Ungehorsams seitens der Gläubigen an der Basis stark gemacht hatte. Weiterhin hatten wir angenommen, dass damit ein Konflikt mit dem – vermeintlich weit verbreiteten – juristischen Rezeptionsverständnis aufgemacht würde. Nach der Sichtung der theologischen Positionen können wir nun feststellen, dass Ricœur mit seiner Position im Grunde nicht allein dasteht. Ein ausschließlich juristisches Rezeptionsverständnis und ein Rezeptionsverlauf, der nur von kirchenleitender Ebene ausgeht, werden weder von katholischen noch von protestantischen Ökumenikern wirklich vertreten. Ist Ricœurs Kritik damit gegenstandslos geworden? Durchaus nicht. Denn was die uns bis hierher vorliegenden Theorien zum Rezeptionsbegriff nicht liefern können, ist eine plausible Deutung für den Vorgang, den Ricœur beschrieb. Was die bisherigen Konzepte beschreiben, ist – im Idealfall – ein Zusammenwirken von theologischem Konsens und Glaubensleben. Es besteht Einigkeit darüber, dass eine ökumenische Entscheidung, die nur von der Kirchenleitung getroffen wird, aber kein Verständnis bei den Glaubenden findet, nicht gültig ist. Aber handelt es sich dabei bereits um eine Auffassung von Institution und Ereignis, wie Ricœur sie beschrieben hatte? Wie würden die hier vorgestellten Autoren den umgekehrten Fall beurteilen? Was passiert, wenn eine ökumenische Gemeinschaft in prophetischer Absicht ihre Institutionen zur Veränderung bewegen will? Die Position von Yves Congar, die von den progressiven Stimmen in der römisch-katholischen Kirche unterstützt wird,37 besagt, dass die Billigung der lokalen Gemeinschaften das wesentliche Moment der Rezeption sei. Stärker noch betonen die synodal verfassten evangelischen Kirchen, dass, zumindest 37 Beinert, Rezeption, 24 f. Der Autor ist der Meinung, dass es in der römisch-katholischen Kirche inzwischen allgemein anerkannt sei, dass es neben der gemeinschaftlichen Rezeption in der Communio keine unabhängig von ihr gültige, rechtsverbindliche Rezeption gebe. Soviel Optimismus wird freilich getrübt durch die eindeutigen Aussagen zur Unfehlbarkeit des Papstes in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils, die offensichtlich Zweideutigkeiten in Glaubensfragen zulassen.

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der Theorie und der formalen Struktur nach, bei der Lehrbildung die tatsächliche Anerkennung in den Gemeinden der kirchenrechtlichen Fixierung einer Glaubensaussage vorausgeht.38 Diese Aussagen scheinen aber nur dann möglich zu sein, wenn sie aus der Perspektive eines bereits eingeleiteten institutionalisierten Prozesses getroffen werden und sich die Aktivitäten der Glaubenden als Zustimmung interpretieren lassen. Wie aber lassen sich informelle, ökumenische Aktivitäten, deren Charakter Paul Ricœur als ›prophetisch‹ beschreibt und die einen Bruch mit dem bestehenden Kirchenrecht bedeuten, in einen solchen Rezeptionsbegriff einordnen? Werden sie von ihm überhaupt erfasst? Wenn man wirklich der Meinung ist, dass der essentielle Beitrag zur ökumenischen Rezeption von den Glaubenden in den Kirchen gestiftet wird, hätte es dann nicht längst eine Erlaubnis zur Interkommunion zwischen evangelischen und katholischen Christen geben müssen? Wie sich zeigt, besteht der eigentliche Widerspruch zwischen der Position Ricœurs und dem gängigen Rezeptionsverständnis also weniger in der Frage, ob Rezeption einen existenziellen oder einen juristischen Prozess beschreibt, sondern in der Beurteilung des Rezeptionsverlaufs und in der Frage, wer die Initiatoren eines ökumenischen Wandels sind. Gerade an dem Beispiel, das Ricœur in seinem Vortrag nannte, zeigt sich die Unklarheit des Rezeptionsbegriffs. Das rechtsverbindliche Rezeptionsverständnis ließe sich mit diesem konkreten Fall überhaupt nicht vereinbaren. Ihm zufolge hätte es sich bei dem gemeinsamen Abendmahl in Paris im Jahr 1968 eindeutig um einen Fall von Nicht-Rezeption gehandelt – und zwar Nicht-Rezeption der bestehenden Regelungen über das Abendmahl bzw. die Eucharistie. Ein existenzieller Rezeptionsbegriff, den wir mit dem Begriff der Anerkennung einer anderskonfessionellen Gemeinschaft und ihrer Alterität in Zusammenhang brachten, lässt sich dafür hingegen auf den ersten Blick durchaus anlegen. Wir zeigten, dass das Anliegen von ökumenischer Rezeption nicht in der Verwischung oder Uniformisierung von Unterschieden besteht, sondern im gemeinsamen Entdecken eines Konsenses, der die Alterität zwischen den Partnern achtet. Wurde diese Dimension bei der besagten Abendmahlsfeier gewahrt? Weiter oben zeigten wir, dass vieles darauf hindeutete, dass man sich trotz der gegenseitigen Verbundenheit auch der Unterschiede bewusst blieb. Um dies allerdings genau zu beurteilen, müsste man wissen, was es im Zusammensein 38 Kühn, Bedingungen, 200. »In den evangelischen Kirchen wird man darauf hinzuweisen haben, daß die Bekenntnisschriften aus dem Zeitalter der Reformation ihre kirchliche Geltung ebenfalls erst aufgrund der Rezeption bekamen, die sie in den Kirchen gefunden haben. Das gilt ebenfalls für die Barmer Theologische Erklärung: ihre Aufnahme in die Kirchenordnungen deutscher evangelischer Landeskirchen und in das allgemeine kirchliche Bewußtsein muß ebenfalls als das Ergebnis eines vorangegangenen Rezeptionsprozesses angesehen werden.«

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der Glaubenden eigentlich bedeutet, Alterität anzuerkennen und trotzdem die Einheit der Kirchen symbolisch auszudrücken. Ricœur selbst wies auf diese Unentscheidbarkeit hin: In diesen Fällen ist man nicht in der Lage zu entscheiden, ob es sich nicht im ganz wörtlichen Sinn um ein revolutionäres Phänomen handelt, d. h. eines bei dem das Gesetz verletzt wird, jedoch mit einer prophetischen Bedeutung. Sie nennen das Ökumene? Das hängt von den Reaktionen der Spitze ab. Handelt es sich um das Versprechen der großen Kirche? Oder ist es ein Fall von Anarchie?39

Obwohl der von Ricœur beschriebene Prozess nicht in ein gängiges Rezeptionsschema passt, wurde er doch von den Teilnehmern dieses Ereignisses in einer existenziellen Weise als ökumenisch erlebt. Hier gingen Menschen verschiedener Konfessionen und verschiedener Lebenshintergründe aufeinander zu. Sie bestätigten und bestärkten die in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation untereinander erfahrene gegenseitige Annahme, indem sie zusammen Abendmahl feierten. Ökumenische Rezeption im Leben der Glaubenden muss also mehr sein als die erfreuliche Zustimmung zu einem kirchenleitenden Beschluss und dessen anschließende Umsetzung. Situationen wie die, welche Ricœur beschrieb, zeigen, dass es sich bei der gegenseitigen Anerkennung von Glaubensgemeinschaften um einen komplexen Prozess handelt, der die konfessionellen Identitäten in einem bestimmten Kontext in Bewegung bringt und Ausdrücke von Loyalität und Kreativität, aber auch von Distanzierung und Reformwillen gegenüber der eigenen Kirche hervorbringt. Will man Prozesse der ökumenischen Rezeption erkennen, sie nicht nur von der Deutungshoheit der Kirchenleitungen abhängig machen, sondern wie oben mehrfach gefordert sie auch in ihrem informellen Charakter würdigen, so braucht es ein Nachdenken über die Aktivitäten von konfessionellen Glaubensgemeinschaften im Kontakt miteinander. Dies sollte das Arbeitsfeld der Rezeptionsforschung sein, mit deren Ergebnissen wir uns im Folgenden beschäftigen. Wir konzentrieren uns dabei besonders auf die Frage, ob neben den kirchenleitenden juristischen Maßnahmen auch jene Aktivitäten untersucht werden, welche die existenziellen Aspekte der ökumenischen Rezeption aufzeigen.

39 Ricœur, Sens et fonction, 71.

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Ökumenische Rezeption – Begriff und Erforschung

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2.3.1 Vorüberlegung Wir wenden uns nun der Frage zu, wie das konkrete Geschehen, auf das der Rezeptionsprozess sich bezieht, untersucht wird. Einige Studien aktueller Rezeptionsprozesse sollen kurz vorgestellt und die darin verwendeten Methoden geprüft werden. Bis hierher haben wir gezeigt, dass sich verschiedene Bedeutungen überschneiden, wenn man den Rezeptionsbegriff im ökumenischen Kontext anwendet. Wir stellten fest, dass alteritätstheoretische Überlegungen den Hintergrund für ein eher juristisch oder eher existenziell orientiertes Rezeptionsverständnis bilden. Dabei schien uns das Letztere am ehesten in der Lage zu sein, nicht nur formale, sondern auch informelle ökumenische Prozesse zu integrieren. Nun soll sich zeigen, ob die vorliegenden Ansätze eine Beschreibung solcher Prozesse leisten können und welche Methoden dabei verwendet werden.

2.3.2 Methodisches Spektrum Welche Methoden sind es also, die man der Untersuchung der ökumenischen Rezeption zu Grunde legt? Eine Antwort auf diese Frage gibt der franko-kanadische Theologe Gilles Routhier, der sich schwerpunkmäßig mit der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils und darüber hinaus auch mit der Rezeption im ökumenischen Kontext befasst hat.40 Routhiers Verdienst besteht darin, den theologischen Ansatz in den größeren Zusammenhang der Rezeptionsforschung gestellt zu haben, die von vielen wissenschaftlichen Disziplinen betrieben wird. Auf diese Weise wird klar, dass sich die theologische Rezeptionsforschung nicht einfach parallel zu anderen Ansätzen entwickelt, sondern beständig Impulse erhält, die, wenn sie auch nicht sofort umgesetzt werden, doch eine Herausforderung bzw. eine methodische Ressource darstellen. Als einflussreich zu nennen sind dabei besonders die Literaturwissenschaft, die Kommunikations- und Medienwissenschaften und die Soziologie. Jede dieser Disziplinen befasst sich unter anderem mit der Vermittlung und Weitergabe von Botschaften, wobei es nicht nur um die unmittelbare Bedeutung, sondern auch deren Einbettung in ein größeres Traditionsgeschehen geht. Routhier zeigt, dass in all diesen Disziplinen ein komplexes Sender-Empfänger-Modell einfachere methodische Konstruktionen abgelöst hat. Letztere verstanden den Begriff der Rezeption eines Textes im Wesentlichen als dessen Applikation, d. h. als ein 40 Routhier, La r¦ception; ders.; La r¦ception dans le d¦bat; ders., Vatican II.

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»steuerbares« Verfahren, dessen Wirkung absehbar und in jedwedem Kontext gleich war.41 Die seit den 1960er Jahren angestellten Untersuchungen beweisen jedoch, dass eine Nachricht sich ihren Adressaten durchaus nicht einfach ›einprägt‹ und dass die Empfänger nicht beliebig manipulierbar sind, wenngleich zurückliegende Konzepte der ›Propaganda‹ dies postulierten und umzusetzen meinten.42 Demgegenüber hat sich herausgestellt, dass die Aufnahme und Umsetzung einer Botschaft wesentlich von dem »Erwartungshorizont« der Empfänger abhängig ist und dass dieser wiederum von persönlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen bestimmt wird. Die wichtigsten Theoretiker, die im geisteswissenschaftlichen Bereich zur Verbreitung dieser hermeneutischen Idee beitrugen, waren die Vertreter der Rezeptionsästhetik. Ihr Modell erwies sich als besonders einflussreich in der Literaturwissenschaft, aber auch im Bereich der bildenden Kunst und – nicht zuletzt – der Homiletik und der biblischen Exegese.43 Abgesehen von der Disposition und der Intelligenz des Empfängers, spielt im Vorgang der Rezeption ein weiterer Aspekt eine Rolle und zwar der des intersubjektiven Gebrauchs. Da wir im Vorangegangenen die Intersubjektivität zwischen den Glaubenden als den eigentlichen Ort der ökumenischen Rezeption dargestellt haben, sind Forschungen auf diesem Gebiet für uns besonders wichtig. Durch sie ist klar geworden, dass eine ästhetische Botschaft – also auch eine Glaubensaussage – nicht isoliert aufgenommen wird, sondern in der Regel im Rahmen einer Gemeinschaft, wo sie begrüßt, kritisiert und diskutiert wird. In diesem komplexen Prozess der Meinungsbildung wird die zu rezipierende Botschaft einer kollektiven Bewertung unterzogen, die niemals einmütig ist, sondern ihrerseits von verschiedensten Befindlichkeiten bestimmt wird, die in einem Kontext virulent sind. Die Sensibilität für das intersubjektive Geschehen in einem bestimmten Kontext erfuhr besonders durch soziologische Studien Auftrieb. Es ist seitens der Theologie in den letzten Jahren unter dem Begriff der Inkulturation behandelt und vertieft worden.44 Beachtlich ist, dass sich dank solcher Studien ein Verständnis für den theologischen Eigenwert kontextueller Interpretationen und die ihnen zu Grunde liegende Kreativität entwickeln konnte. Trifft das auch auf die kontextuell unterschiedliche Gestaltung von ökumenischer Rezeption zu? Tut sich mit dem kontextuellen und dem rezeptionsästhetischen Ansatz für die ökumenische Rezeptionsforschung vielleicht eine Möglichkeit auf, eine Hermeneutik der informellen ökumenischen Prozesse 41 Routhier, La r¦ception dans le d¦bat, 42. 42 Funke, Rezeptionstheorie. 43 Engemann, Rezeptionsästehtik; Dieckmann, Segen; Haldimann, Rekonstruktion; Iversen, Epistolarität; Huizing, Körtner, Müller, Lesen; Nißlmüller, Rezeptionsästhetik. 44 Schreiter, Inkulturation.

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abzuleiten und deren Eigenwert sachgemäßer einzuschätzen als bisher? Gilles Routhier gelangt nach Sichtung der ihm vorliegenden Rezeptionsuntersuchungen zu einem interessanten Schluss. Er vergleicht die Rezeptionsforschung auf theologischer Seite mit der der anderen Wissenschaften. Zur Wahl der Untersuchungsmethoden seitens der Theologen schreibt er : Alle Theologen, ob sie nun über die Rezeption der Konzilien arbeiten oder im ökumenischen Bereich, übernehmen ohne Ausnahme die methodischen Perspektiven der Rechtshistoriker. Bestenfalls einigen von ihnen ist noch bekannt, dass sich die Kunsthistoriker ebenfalls mit der Frage der Rezeption beschäftigen. Doch darin erschöpfen sich die Anspielungen auch schon. […] Noch immer hat kein Theologe diese erstaunliche Tatsache bemerkt und sich bezüglich der Ignoranz gegenüber der kunstgeschichtlichen Methode geäußert.45

Es zeigt sich also, dass in der ökumenischen Rezeptionsforschung die oben gezeigten Ansätze, die auf einem modifizierten Kommunikationsmodell gründen, nicht denselben Einfluss besitzen wie in den anderen Disziplinen. Rechtshistorische Untersuchungsansätze, d. h. Methoden, die die Formulierung und das In-Kraft-Treten von kirchenrechtlich verbindlichen Beschlüssen analysieren, scheinen nach wie vor – Routhiers Einschätzung stammt aus dem Jahr 1993 – eine entscheidende Rolle zu spielen. Sollte sich dieser Verdacht erhärten, würde das Fragen über das tatsächliche Verständnis des Rezeptionsvorgangs im ökumenischen Bereich aufwerfen. Unsere vorangegangene Erörterung hat gezeigt, dass es einen theologischen Fortschritt darstellte, den ökumenischen Rezeptionsbegriff auch über seine rechtsverbindlichen Aspekte hinaus wahrzunehmen und die theologische Fundiertheit einer existentiellen Rede von ökumenischer Rezeption einzugestehen. Sollte dies auf der Ebene der konkreten Untersuchungen von Rezeptionsgeschehen gänzlich folgenlos geblieben sein?

2.3.3 Der kirchenrechtliche Ansatz In der Tat scheint es leichter zu sein, in der Sekundärliteratur zur ökumenischen Rezeption Beiträge zu finden, die die kirchenrechtliche Ratifizierung ökumenischer Dokumente anmahnen bzw. ihr Ausbleiben beklagen oder rechtfertigen, als solche, die sich dem Problem der zwischenmenschlichen Aushandlung von Alterität stellen.46 Sehen wir auf einen jüngst erschienen Beitrag von Harald Goertz, der im Auftrag der VELKD erstellt wurde: 45 Routhier, La r¦ception, 235. 46 Thiessen, Seeking, 36 f. »In short the problem is that the many documents worked out in painstaking fashion are not put into practice in the churches. […] The lack of reception hinders and limits striving towards unity and catholicity, towards a greater understanding of,

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Goertz beschäftigt sich in seiner 2002 erschienen Studie Dialog und Rezeption mit der Rezeption verschiedener ökumenischer Dokumente in der katholischen Kirche und in den Kirchen der VELKD.47 Dabei legt er eine Terminologie zu Grunde, die die einzelnen Etappen der Rezeption eines Dialogdokuments genau markiert.48 Er unterscheidet zwischen dem »Rezeptionsprozeß« als umfassendem geistgewirktem Vorgang und dem »Rezeptionsverfahren«. Letzteres beschreibt die formal-rechtliche Prozedur, in der ein Dokument durch die offiziellen kirchlichen Instanzen angenommen oder abgelehnt wird. Diesem Verfahren gilt im Folgenden seine Aufmerksamkeit. Als entscheidende Etappen identifiziert er darin die »offizielle Stellungnahme« und die »offizielle Rezeptionsentscheidung«, die der Umsetzung des Dokuments notwendig vorausgehen. Goertz räumt ein, dass dieser vorrangig dem kirchenrechtlichen Verfahren verpflichtete Ansatz in Spannung zu dem existenziellen Aspekt der Rezeption steht und er gesteht zu, dass es Situationen gibt, die von der formalen Prozedur nicht erfasst werden. Diese werden von ihm als »begleitende, inoffizielle Rezeption«49 bezeichnet. Nachdem er das juristische Rezeptionsverfahren zum entscheidenden Vorgang erklärt hat, zieht er für seine Untersuchung folgende Konsequenz: Soweit die kirchliche Rezeption der Dialogdokumente erhoben werden soll, muß dies im Rahmen der vorliegenden Studie auf die Dokumentation der formellen Rezeptionsverfahren der genannten Dokumente in den beteiligten Kirchen beschränkt bleiben. […] Nicht eingegangen werden kann im folgenden auf die Reaktionen der wissenschaftlichen Theologie auf die Dialogdokumente. […] Ebenso können weder vorbereitende Rezeptionsprozesse während der Entstehung der Texte noch begleitende Phänomene inoffizieller Rezeption während der kirchlichen Rezeptionsverfahren Berücksichtigung finden. Gleiches gilt für die inhaltliche Umsetzung der Dokumente im Fortgang des Rezeptionsprozesses.50

Goertz’ methodische Entscheidung hat nicht nur Konsequenzen für den Gegenstand und die Ergebnisse seiner Untersuchung, sie gibt auch Aufschluss über den Rezeptionsbegriff, der hier zu Grunde gelegt wird. Offenbar versteht Goertz

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and life in, apostolicity, in particular the notion of the primacy of the apostolicity of the whole church as favored among ecumenists today.« Goertz, Dialog. Goertz befasst sich mit der Rezeption folgender Texte: »Das Evangelium und die Kirche« (1972), »Das Herrenmahl« (1978), »Wege zur Gemeinschaft« (1980), »Alle unter einem Christus« (1980), »Das geistliche Amt in der Kirche« (1981), »Taufe, Eucharistie und Amt« (1982), »Martin Luther – Zeuge Jesu Christi« (1983), »Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament« (1983), »Einheit vor uns« (1985), »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?« (1986), »Kirche und Rechtfertigung« (1994), »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (1999). Ebd., 40 f. Ebd., 191. Ebd., 89 f.

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unter ökumenischer Rezeption in erster Linie die Abfassung und Verabschiedung von Dokumenten, die ratifiziert und anschließend in den Kirchen umgesetzt werden. Die Diskrepanz gegenüber einem Verständnis, das nicht nur die offiziellen Instanzen, sondern alle Gläubigen aus verschiedenen Konfessionen in den Rezeptionsprozess involviert sieht, wird zwar benannt, es werden aus dieser Tatsache aber dennoch keine methodischen Konsequenzen gezogen. Der Schwerpunkt von Goertz’ Untersuchung ist der Frage gewidmet, welche institutionalisierten Verfahren zur Diskussion und Verabschiedung der Dokumente bereit stehen und ob es zu offiziellen Stellungnahmen aus den Kirchen kommt. Tatsächlich wird auf diese Weise ein Rezeptionsverständnis erneuert, das ziemlich genau dem der »klassischen Rezeption« entspricht. Dieses zielt auf die Übernahme eines exogenen Entscheides, der durch die Vollmacht eines Konzils erlassen wurde. Sie erweist sich in kirchengeschichtlicher Perspektive als durchaus anwendbar auf die Kommunikation zwischen Konzilien und Lokalkirchen innerhalb der hierarchisch geordneten Ekklesiologie der katholischen Kirche. Auch lässt sich dieses Geschehen anhand von kirchenrechtlichen Vorgängen nachweisen, allerdings kritisierte bereits Congar, dass man damit nicht das Wesen der Rezeption erfassen würde. Wenn Goertz die Antwort auf die Frage, ob gewisse ökumenische Entscheidungen erfolgreich rezipiert wurden, nun aber auch im ökumenischen Bereich auf den kirchenrechtlichen Aspekt reduziert, so scheint dies problematisch, selbst wenn jener – wie wir zeigten – auch im ökumenischen Zusammenhang eine Rolle spielt. Denn die Behauptung einer offiziellen Einigung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Realität die Dialogkommissionen, deren Ergebnisse den Kirchenleitungen zur Stellungnahme vorgelegt werden, weit davon entfernt sind, die Autorität eines Konzils zu besitzen. In den Kommissionen wurde ein gemeinsamer Konsens entdeckt und formuliert. Ihn gilt es nun wachzuhalten bzw. dort bekannt zu machen, wo er womöglich noch nicht erkannt wurde. Folglich besteht das eigentliche Ziel darin, den Konsens in einem erweiterten intersubjektiven Geschehen aufgehen zu lassen. Die Plausibilität des Konsenses erweist sich dann anhand der Autorität, die er durch den Gebrauch und die innere Überzeugung der Akteure gewinnt. Durch die kirchenrechtlichen Beschlüsse, die Goertz so wichtig sind, werden der theologische Status und die institutionellen Konsequenzen einer ökumenischen Einigung formuliert. Die Frage nach dem Gelingen der Rezeption auf diesen institutionalisierten Vorgang zu beschränken, greift aber zu kurz. Denn zwar können kirchenleitende Beschlüsse die spätere intersubjektive Einigung vorstrukturieren, der Komplexität ihrer realen Bedingungen, die dem Konsenspapier nicht nur nachfolgen, sondern eventuell auch vorausgehen könnten, kommt man damit aber nicht auf die Spur. Am Ende seiner Untersuchung zieht Goertz ein ernüchterndes Fazit:

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Nach ihrem eigenen Verständnis und dem der beauftragenden Kirchen intendieren Lehrgesprächsergebnisse notwendig und vorrangig eine offizielle, verfahrensmäßig geordnete Rezeptionsentscheidung durch alle beteiligten Kirchen. Tatsache ist, dass solche Entscheidungen bisher weder positiv noch negativ, sondern überhaupt nicht erfolgten.51

In der Analyse der Schwierigkeiten auf juristischer Ebene kann schließlich auch der entscheidende Beitrag von Goertz’ Studie gesehen werden. Goertz zeigt, dass die Verfahrensordnungen, die in den Kirchen aufgestellt wurden, um die Rezeption zu regeln, in der Vergangenheit oft versagt haben und dass es immense Kommunikationsprobleme gibt, sowohl zwischen den Dialogkommissionen und den Kirchen als auch zwischen den Kirchenleitungen und ihren Ökumenereferaten und Gemeinden. Wichtige Dokumente bleiben nicht selten in den Kirchen unbemerkt. Dies wird für Goertz daran deutlich, dass, von der LimaErklärung einmal abgesehen, die römisch-katholische Kirche keine einzige offizielle Stellungnahme zu einem katholischen Konsens verlautbart hat. Insgesamt verharrt der Dialog, so beklagt Goertz, auf Kommissionsebene. Allerdings trägt er selbst mit der Stoßrichtung seiner Studie auch nicht unbedingt dazu bei, diesen Eindruck zu verändern. Goertz möchte zeigen, dass sich für die Entwicklung der ökumenischen Bewegung in den untersuchten Kirchen kaum positive Anhaltspunkte auf kirchenrechtlicher Ebene finden lassen. Dass dieser Eindruck sich auch auf die Ökumene im Allgemeinen bezieht, wird dadurch suggeriert, dass alle ökumenischen Bemühungen, die nicht in das von Goertz als normativ verstandene Rezeptionsverfahren hineinpassen, als »inoffiziell«, »informell« oder »begleitend« qualifiziert werden. Selbst die augenfälligste ökumenische Einigung zwischen der römisch-katholischen Kirche und Kirchen der VELKD, die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999,52 kann Goertz nicht als auf institutioneller Ebene erfolgreichen Konsens gelten lassen.53 Die offizielle Unterzeichnung dieses elementaren Textes kann Goertz’ Ansicht nach nicht über die noch immer ausstehende Erfüllung des Rezeptionsverfahrens seiner vielen Vorgängerdokumente hinwegtäuschen. Dass das Interesse von Goertz Studie nur in der Analyse kirchenrechtlicher Verfahren besteht, erweist sich als eine große Schwäche dieses Ansatzes. Dargestellt werden die Kirchenleitungen als Akteure des Rezeptionsgeschehens,

51 Ebd., 197. 52 Lutheran World Federation, Die gemeinsame Erklärung. 53 Goertz, Dialog, 203. Der Autor bezweifelt, die Legitimität, mit der man sich in der GE auf vorangegangene Konsense zur Rechtfertigungslehre beruft und behauptet, dass »ein zwar direkter, aber keineswegs rezeptionswirksamer Bezug der GER zu den rechtfertigungstheologischen Abschnitten der genannten Dokumente« besteht.

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denen ein rechtsgültiges Rezeptionsverfahren den zeitlichen Rahmen für die Anerkennung und Verwirklichung eines interkonfessionellen Rezeptionsprozesses angibt. Doch obwohl Goertz die auch an anderer Stelle geäußerte Meinung unterstützt, der zufolge Dialogergebnisse umso erfolgreicher rezipiert werden, je mehr sie die sich bereits vollziehenden Veränderungsprozesse aufnehmen, bleibt sein Modell an die Einhaltung dieses spezifischen ökumenischen Verfahrens gebunden und widmet dem tatsächlichen Prozess der Vermittlung zwischen den beteiligten Instanzen und den Kirchenmitgliedern überhaupt keine Aufmerksamkeit. Die ganze Studie dient der Entwicklung eines normativen Rezeptionsbegriffs. Das ist insofern verständlich, als sie den Auftrag hat, im Rahmen der VELKD eine Bilanz im Dialog der römisch-katholischen und der evangelisch-lutherischen Kirchen zu ziehen. Viele Untersuchungen sind aus ähnlichen Beweggründen entstanden und versuchen, durch eine Normierung des Verfahrens Vorgänge in der Praxis zu beschleunigen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass durch diese normativen Ansätze entscheidende Aspekte und Motive der Rezeption sowie die eigentliche Dynamik der Konsensfindung nicht erfasst werden. Vor allem die Rolle der Glaubenden bleibt unterbelichtet und Mentalitätsverschiebungen vom Institutionengehorsam zur Selbstbestimmung in Glaubensfragen werden gar nicht in den Blick genommen. Dass die Dialogdokumente ihre Legitimierung ausschlie ßlich aus dem positiven Votum der Kirchenleitungen beziehen, erscheint fragw ü rdig. Gerade in Bezug auf den katholisch-evangelischen Dialog l ä sst sich sagen, dass die Konsenssuche seit Jahren von einem steigenden Druck an der Basis nicht nur legitimiert, sondern geradezu herausgefordert wird. Man denke nur an gemeinsame Kirchentage oder gemeinsame Abendmahlsfeiern wie Ricœur sie beschrieb. Diese Tatsachen als »inoffiziell« oder »begleitend« neben einem »offiziellen« Verfahren zu bezeichnen ist unangemessen, weil man damit den realen Vorg ä ngen am Ort ihre Repr ä sentativit ä t in Bezug auf den Erfolg der ö kumenischen Bewegung abspricht. Mit Goertz’ Analyse k ö nnte man zu dem Schluss gelangen, dass die ö kumenische Bewegung an ihr Ende gelangt ist, weil institutionelle Rezeptionsverfahren misslingen. Dies kann in Bezug auf ein geistliches Geschehen einfach nicht die ganze Wahrheit sein. Doch nicht nur gelingende Begegnungen werden übersehen, wenn man sich, wie Goertz es vorschlägt, ausschließlich auf die offiziellen Stellungnahmen bezieht. Blicken wir auf die Leuenberger Konkordie, deren Rezeption wir im Folgenden noch eingehender untersuchen wollen. Nicht nur in Goertz Studie, sondern auch bei vielen anderen ökumenischen Kritikern, gilt sie als eines der wenigen, erfolgreich rezipierten Konsensdokumente. Dieser Erfolg wird in der Regel an der großen Zahl ihrer Unterzeichnerkirchen (tatsächlich sind es aktuell

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105) festgemacht.54 Bei genauerer Betrachtung dieses Rezeptionsprozesses stellt man allerdings fest, dass er begleitet wird von einem stetigen Lamento über die geringe Bekanntheit, die der Text unter Pfarrern und Kirchenmitgliedern genießt. Auch seine ungenügende Relevanz in manchen kulturellen Kontexten wird moniert, ebenso wie die geringe Tendenz vieler Unterzeichnerkirchen, das im Dialog Erreichte vor Ort umzusetzen, wenn andere, nicht-theologische Gründe dagegen sprechen.55 Darüber hinaus gibt es noch immer Synoden, die sich trotz der Unterzeichnung der Konkordie durch ihre Landeskirche weigern, die historische Weiterentwicklung des eigenen Bekenntnisses durch den ökumenischen Dialog zu akzeptieren.56 Im Fall der Leuenberger Konkordie ist die rein kirchenrechtliche Perspektive von Harald Goertz nicht in der Lage, neben den Errungenschaften auch die Schwierigkeiten des realen ökumenischen Prozesses zu diagnostizieren. Stattdessen stellt sie ihn in der oberflächlichen Bewertung seines kirchenrechtlichen Status’ als »gelungen« dar. Von dieser Sicht kann nur eine hochgradig institutionalisierte Ökumene profitieren, die nominell und durch politisches Prestige überzeugt. Die rezeptionsverhindernden Faktoren, aber auch die theologischen Fortschritte, die die Rezeption tatsächlich ausmachen, werden von einer solchen Sicht der Dinge nicht nur nicht erfasst, sondern sogar als sekundär abgewiesen. Zwar lässt sich auf diese Weise die juristische Gültigkeit eines Konsenspapiers im Rahmen des geltenden Kirchenrechts nachweisen, doch die Autorität eines Dokuments durch seinen Vollzug, die eigentlich im Rezeptionsprozess gewonnen werden soll, wird dadurch nicht überprüft.

2.3.4 Kontextuelle Studien Es hat durchaus andere Versuche gegeben, die ökumenische Rezeption zu beschreiben. Allerdings sind diese nicht sehr zahlreich gewesen und sind deshalb kaum in der Lage, die eingangs zitierte Äußerung Routhiers zu widerlegen. Dennoch können wir, einer groben Unterscheidung folgend, zwei Gruppen auseinanderhalten. Einerseits haben wir es mit Untersuchungen zu tun, die die Rezeption in einem bestimmten Kontext beschreiben. Andererseits handelt es sich um Beiträge, die beim Rezeptionsbegriff selbst ansetzen und diesen unter Zuhilfenahme literaturwissenschaftlicher Konzepte für die ökumenische Diskussion neu bestimmen.

54 Friedrich, 30 Jahre. 55 Rusterholz, Ökumene; Schwier, Präsenz; Wandel, Charisma. 56 Petzoldt, Bekenntnisbildung.

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Besonders die dem »klassischen« Rezeptionsschema folgende Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils hat viele Studien zur Aneignung von dessen Ergebnissen bzw. der dadurch motivierten Inkulturation theologischer Aussagen hervorgebracht.57 Auch in ökumenischer Perspektive gibt es einige Untersuchungen, deren Gegenstand die Relevanz und Aneignung von Dialogergebnissen am Ort ist. Diese Vorgänge lassen sich unter Zuhilfenahme von kommunikationstheoretischen und empirisch-soziologischen Methoden erschließen.58 Dabei führt die Auswertung von Umfrageergebnissen nicht selten zu dem Ergebnis, dass die ökumenischen Dialoge an der Basis der Kirchen kaum wahrgenommen werden. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass es dort keine ökumenischen Aktivitäten gäbe – im Gegenteil. Sabine Pemsel-Meier, die eine Studie zur Basisökumene in Deutschland unternommen hat, kommt zu dem Schluss, dass die Schwierigkeit in der unterschiedlichen Logik der ökumenischen Bemühungen auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen besteht. An der Basis zeigt sich deutlich, dass die Beschäftigung mit einem Text, die reale Begegnung mit Gläubigen anderer Konfessionen nicht ersetzen kann. Gleichwohl werden Konsens- und Konvergenzdokumente hier bisweilen wahrgenommen und gelesen. Die genannte Studie zeigt, dass diese Dokumente in Basisgruppen durchaus als Ressource nutzbar sind und Gespräche anregen, sofern man sich einmal auf sie einlässt: Im Erleben wachsender Gemeinschaftlichkeit werden jene Erfahrungen nachvollzogen, die bei den Teilnehmern offizieller Dialoge in vielen Fällen einen prägenden Eindruck hinterlassen. Solche Erfahrungen sind in der Sprache der Konsensdokumente schlechterdings nicht kommunikabel, weil Texte allein die mit dem Dialog verbundene Wirklichkeit, die die Form des Konferenzgesprächs weit überschreitet, niemals einfangen oder adäquat wiederspiegeln können. Nur im gemeinschaftlichen ›Nachspielen‹ der Gespräche und wiederum im Dialog können die genannten Erfahrungen nacherlebt werden. Der Zeitfaktor sollte dabei nicht unterschätzt werden: der bei den Mitgliedern ökumenischer Kommissionen oft jahrelang andauernde Prozeß des gegenseitigen Sich-Kennenlernens und Miteinander-Vertrautwerdens kann auf Ortsebene nicht einfach an einem Abend nachgeholt werden. Im Lauf der Zeit kann aus solchem Miteinander eine echte Lerngemeinschaft erwachsen, innerhalb derer dann auch neue ökumenische Einsichten auf fruchtbaren Boden fallen.59

Neben den hermeneutischen Schwierigkeiten beim Textverständnis lässt sich auch der Begriff der »ökumenischen Spiritualität« als Grundbedürfnis vieler ökumenischer Basisgruppen in der Studie von Pemsel-Meier wiederentdecken. Die Notwendigkeit, die ökumenische Begegnung in den Kontext von Liturgie und Gebet zu stellen, wird außerdem begleitet von sozialethischen Interessen, 57 Routhier, La r¦ception de Vatican II; Unzueta, Vaticanum II. 58 Institut für Ökumenische Forschung Straßburg, Ort. 59 Pemsel-Maier, Rezeption, 76 f.

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die konfessionsübergreifend bestehen und die ökumenische Begegnung eher in der gemeinsamen Praxis als im dogmatischen Dialog ermöglichen wollen. Das bedeutet, so die Verfasserin, dass in der Praxis neben den kontroverstheologischen Dialog der »Dialog der Liebe« gestellt wird und dass man sich die Gemeinschaft der Kirchen idealtypisch als Communio vorstellt, die durch andere Faktoren zusammengehalten wird als durch die theologisch-lehrhaften. Allerdings gibt auch Pemsel-Meier zu bedenken, dass die tatsächlich entscheidenden Faktoren der Ökumene am Ort die kontextuell bedingten sind. Damit wird der Kontext jedoch nicht abgewertet, sondern durchaus aufgewertet, weil sich herausstellt, dass die sogenannten »nicht-theologischen« Faktoren nicht nur die gegenseitige Annahme verhindern, wie es manchmal in der ökumenischen Sekundärliteratur dargestellt wird,60 sondern dass sie die Etablierung einer gemeinsamen ökumenischen Identität durchaus auch sehr unterstützen können.

2.3.5 Rezeptionsästhetische Studien Neben den kontextorientierten Studien fallen jene Untersuchungen ins Gewicht, deren Autoren sich am Rezeptionsbegriff anderer Disziplinen orientieren. Dabei erweist sich besonders die in der Literaturwissenschaft entwickelte Rezeptionsästhetik als methodische Ressource für die ökumenische Theologie. Das Grundanliegen der Rezeptionsästhetik besteht darin, die Wirkung fiktionaler Texte als Zusammenspiel der Erwartungshorizonte von Text und Leser darzustellen.61 Beide Pole des Rezeptionsgeschehens, so die Idee, würden im Lesevorgang aktiviert und verändert. Das Interesse konzentriert sich allerdings vor allem auf den leserseitigen Beitrag und dies schien lange Zeit unvereinbar mit der vorrangig an kirchenrechtlichen Konsequenzen interessierten ökumenischen Forschung. Nichtsdestotrotz wurde eine Berücksichtigung dieses Ansatzes bereits in der Rezeptionsstudie von William G. Rusch im Jahr 1988 als Forschungsdesiderat formuliert. Es gelte, so Rusch, zu klären, »how readers (individuals or churches) understand and finally receive the texts existentially so that both receptors and texts are changed.«62 Auch der katholische Autor Frederick Bliss hält in seiner Zusammenschau unterschiedlicher Rezeptionsanalysen, eine rezeptionsästhetische Betrachtungsweise der ökumenischen Dialoge für dringend geboten. Sein Motiv besteht vor allem in der Aufwertung der kulturellen und sozialen Eigenheiten der verschiedenen Kontexte, in denen die Rezeption eines anderswo beschlossenen ökumenischen Konsenses sich 60 Meyer, Behandlung. 61 Warning, Rezeptionsästhetik; Eco, Kunstwerk; Ingarden, Kunstwerk. 62 Rusch, Reception, 31.

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vollzieht. Während eine kirchenrechtlich orientierte Rezeptionsanalyse im Rahmen eines juristischen Zugangs gegenüber ökumenischen Dialogtexten diese kontextuellen Faktoren unberücksichtigt lässt oder als rezeptionsverhindernd auffasst, könnte die Übertragung des rezeptionsästhetischen Modells auf den ökumenischen Bereich zu einer genaueren Kenntnis darüber führen, wieso manche theologischen Aussagen in einigen Kontexten mehr oder weniger erfolgreich rezipiert wurden. Daraus ließen sich möglicherweise sogar Strategien für eine effektivere Vermittlung zukünftiger Texte entwickeln. Bliss erweitert den Kontextbegriff um eine temporale Dimension und zeigt, dass eine weitere Schwierigkeit der Rezeption von Dialogen darin besteht, deren Bedeutung zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt an einem später folgenden wieder aufleben zu lassen. Bliss aufnehmend könnte man daher sagen, dass es die ökumenische Rezeption in besonderer Weise mit dem Phänomen der »Ungleichzeitigkeit«63 zu tun hat. Die Schwierigkeit, eine Beziehung zwischen dem historischen Text und den gegenwärtigen Lebensbezügen des Lesers herzustellen, ist freilich nicht auf ökumenische Dokumente beschränkt. Den Anspruch der historischen Aktualisierung in einem neuen Kontext teilen ökumenische mit biblischen Texten. Auf letztere wird das rezeptionsästhetische Verfahren bereits seit Jahren erfolgreich angewendet: The church is acquainted with the one textual certainty : that texts need to be received in order to have an effect. This applies to the scriptures as well as to the libraries of written works that have ever increasingly become available within the church. Besides the classics, there is also the written heritage of the Tradition, the theological agreements issuing from bilateral and multilateral dialogues and the wealth of associated documents now available in this ecumenical age, all of which need to be understood. If past and present are related, and if past and present texts have a relationship and relevance, what is needed is a methodology of text interpretation. Such will provide a way for the reception process to reach completion: through enabling the significant past to have significance in the present.64

63 Hasselmann, Gleichzeitigkeit, 517. »Wir können dabei die Gleich-Zeitigkeit von uns aus nicht ohne weiteres herstellen, auch wenn uns die anthropologischen Konstanten, die Sakramente, die Symbole, die Ur-Situationen, die Essentialien sowie viele Fundamentalien bekannt sind, die über das Diachronische hinaus und auch über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg auf gewisse Konstanten unter allen Menschen hinweisen.« Hailer, Ungleichzeitigkeit, 180. »Ist also als ein Element der ökumenischen Hermeneutik die konsequente Kontextualisierung des Sinns zu nennen, so darf diese an den Zeit- und Epochenkonstrukten nicht vorbeigehen.« 64 Bliss, Understanding, 56 f.

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2.3.5.1 Theorien der Rezeptionsästhetik Im Folgenden werden wir die theoretischen Grundlagen der Rezeptionsästhetik skizzieren, um darzustellen, wie die Analogie zwischen Textrezeption und ökumenischer Rezeption begründbar wird. Von Interesse sind dabei besonders die Forschungsleistungen der sogenannten Konstanzer Schule mit ihren Hauptvertretern Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser.65 Doch auch auf den Beitrag der Medienwirkungsforschung soll eingegangen werden, weil diese den textorientierten Ansatz um eine handlungstheoretische Dimension erweitert, die die ökumenische Forschung nicht vernachlässigen kann. Das Interesse der Theologie an Prozessen der Annahme von Glaubensaussagen und ihrer Durchsetzung bzw. möglichen Transformation entwickelte sich parallel zu der Tendenz in einigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, wo man seit Beginn der 1960er Jahre unter dem Einfluss ideologiekritischer und strukturalistischer Ansätze vom Formalismus tradierter Interpretationen abkam und sich stattdessen intensiver mit den Bedingungen der Möglichkeiten des Verstehens befasste.66 Jauß’ ursprüngliche Intention bestand darin, zu klären, was die Kanonizität eines Textes ausmacht, bzw. unter welchen Umständen dieser als Klassiker bezeichnet werden kann.67 Seine Antwort verhielt sich der literaturwissenschaftlichen Kanonbildung gegenüber kritisch, insofern er für die Bedeutung eines Werks stets dessen Relevanz für die Lebenswelt der Rezipienten verantwortlich machte, in deren Zusammenhang sich die innovatorische Kraft des Textes erst erweist. Bereits Hans Georg Gadamer hatte den Prozess des Textverstehens als Horizontverschmelzung beschrieben, dessen Ergebnis in der Applikation des Textes auf das geschichtliche Wissen des Verstehenden besteht.68 In Abgrenzung von den früheren hermeneutischen Konzepten Schleiermachers und Diltheys einerseits sowie der werkimmanenten Interpretation der Strukturalisten andererseits, entwickelte Hans Robert Jauß die Hermeneutik Gadamers weiter.69 Er suspendierte Gadamers Begriff des Klassischen, das als »ursprüngliche Sagkraft« der Horizontverschmelzung voraus geht und sich angeblich als Korrektiv gegenüber falschen Interpretationen verhält.70 In Jauß Theorie ist eine derartige Präfiguration des Verständnisses unzulässig geworden, weil der Wert eines Kunstwerks dem Interpreten niemals vorgegeben ist, sondern von ihm in Ab65 66 67 68 69 70

Jauß, Literaturgeschichte; ders., Erfahrung; Iser, Lesevorgang; ders., Akt. Funke, Rezeptionstheorie. Jauß, Literaturgeschichte, 127. Gadamer, Wirkungsgeschichte. Jauß, Probleme, 213 ff. Ders., Literaturgeschichte, 139 f.

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hängigkeit von der Relevanz des Werks für seinen gegenwärtigen Lebenszusammenhang bestimmt wird. Neben der Darstellung des Verstehensvorgangs als Prozess71 besteht das Potenzial der rezeptionsästhetischen Theorie deshalb Jauß zufolge in der Erschließung des Erwartungshorizonts der Leser, d. h. in der Bestimmung der leserseitigen Dispositionen, denen gegenüber das ästhetische Werk aufgrund seiner spezifischen semiotischen Struktur als Sinnreservoir wirksam wird. Gleichwohl stützt sich auch Jauß’ Theorie auf Gadamers hermeneutische Triade von Verstehen, Auslegen und Anwenden als konstitutive Elemente der Sinnbildung.72 Jauß verweist davon ausgehend auf drei mögliche Lesarten eines Textes, die er als »produktionsästhetisch, darstellungsästhetisch und rezeptionsästhetisch« definiert. Im Blick auf den zu erschließenden Textsinn verhalten diese sich nicht exklusiv, sondern komplementär. Jauß’ Theorie besteht zwar nicht darin, die bis dahin dominierende und auf die Autorintention konzentrierte, produktionsästhetische Textauslegung zu suspendieren oder sich im Zuge des aufkommenden Strukturalismus einer ausschließlich werkimmanenten Interpretation anzuschließen. Gleichwohl befasst er sich intensiv mit dem Anteil des Adressaten und beschreibt die Sinnbildung als leserseitiges, d. h. rezeptionsästhetisches Phänomen. So führt Jauß den Leser als kritische Instanz gegenüber dem literarischen Kunstwerk ein: Das geschichtliche Leben des literarischen Werks ist ohne den aktiven Anteil seines Adressaten nicht denkbar. Denn erst durch seine Vermittlung tritt das Werk in den sich wandelnden Erfahrungshorizont einer Kontinuität, in der sich die ständige Umsetzung

71 Ebd., 131. »Ein literarisches Werk auch wenn es neu erscheint, präsentiert sich nicht als absolute Neuheit in einem informatorischen Vakuum, sondern prädisponiert sein Publikum durch Ankündigungen, offene und versteckte Signale, vertraute Merkmale oder implizite Hinweise für eine ganz bestimmte Weise der Rezeption. Es weckt Erinnerungen an schon Gelesenes, bringt den Leser in eine bestimmte emotionale Einstellung und stiftet schon mit seinem Anfang Erwartungen für ›Mitte und Ende‹, die im Fortgang der Lektüre nach bestimmten Spielregeln der Gattung oder Textart aufrechterhalten oder abgewandelt, umorientiert oder auch ironisch aufgelöst werden können. Der psychische Vorgang bei der Aufnahme eines Textes ist im primären Horizont der ästhetischen Erfahrung keineswegs nur eine willkürliche Folge nur subjektiver Erfahrungen, sondern der Vollzug bestimmter Anweisungen in einem Prozess gelenkter Wahrnehmung, der nach seinen konstituierenden Motivationen und auslösenden Signalen erfasst und auch textlinguistisch beschrieben werden kann.«. 72 Ders., Abgrenzung, 461 f. »[Die literarische Hermeneutik] stand offenbar am längsten im Banne der Paradigmen des Historismus und der werkimmanenten Interpretation, woraus sich ihr gegenwärtiger Rückstand erklärt. Sie hat ihre Theorie auf die Auslegung verkürzt, ihren Verstehensbegriff unartikuliert gelassen und das Problem der Applikation so völlig vernachlässigt, dass die Wendung zur Rezeptionsästhetik, die diesen Rückstand in den Sechzigerjahren aufzuholen begann, der unerwartete Erfolg eines ›Paradigmenwechsels‹ zuteilwurde.«

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von einfacher Aufnahme in kritisches Verstehen, von passiver in aktive Rezeption, von anerkannten ästhetischen Normen in neue, sie übersteigende Produktion vollzieht.73

Gegenüber einer nur auf historischer Tatsächlichkeit beruhenden Literaturgeschichte, will Jauß den Ereignischarakter eines Kunstwerks zurückgewinnen. Zum Ereignis wird die Rezeption dann, wenn die jeweiligen Vorverständnisse von Text und Leser – d. h. deren Erwartungshorizonte – im Prozess der Lektüre miteinander verschmelzen. Der Erwartungshorizont des Lesers tritt dabei in eine produktive Spannung zum Sinnangebot des Textes, so dass der rezipierte Textsinn sich als Resultat einer fortgesetzten Horizontstiftung und Horizontveränderung bildet. Hatte Jauß sich mit der Rolle des Lesers und der ästhetischen Distanz seines Erwartungshorizonts zum Sinnhorizont des Textes beschäftigt, so wendet sich Wolfgang Iser nun der Struktur des Textes zu. Er widmet seine Überlegungen der linguistischen Form der darin ausgedrückten Identifikations- bzw. Rollenangebote und schließt sich Jauß’ Interpretation an, der zufolge diese vom Leser stets perspektivisch, d. h. in Abhängigkeit von dessen Erfahrungshaushalt (»Erwartungshorizont«) angeeignet werden.74 Er wendet sich gegen die Auffassung, dass »sich ein Text dem Bewusstsein seiner Leser gleichsam von selbst ›einbilden‹ würde«. Es geht darum, zu zeigen, dass dem Rollenangebot des Textes an den Leser eine Appellstruktur innewohnt, der sich dieser nicht entziehen kann. Die provozierte hermeneutische Aktivität ist jedoch nicht vom Text vorherbestimmt und dieser leistet auch keine »Programmierung des Dispositionsrepertoires seiner Empfänger«.75 Das Werk ist »das Konstituiertsein des Textes im Bewusstsein des Lesers«.76 Diese Konstruktion ist schließlich das, was mit dem Begriff »Bedeutung« belegt wird. Da es sich jedoch um keine beliebige Konstruktion handelt, machte es Iser sich zur Aufgabe, jene textinternen Mechanismen zu beschreiben, die den Lesevorgang bedingen und in dessen Verlauf sich das Werk zu seinem eigentlichen Charakter hin entfaltet.77 Der Text funktioniert »primär als Anweisung auf das,

73 74 75 76 77

Ders., Literaturgeschichte, 127. Iser, Akt, 66 f. Ebd., 175. Ders., Lesevorgang, 253. Ebd., 274. »Fremdes, das wir noch nicht erfahren haben, im Akt der Lektüre denken zu müssen, bedeutet daher nicht nur, dass wir in der Lage sind es aufzufassen; es bedeutet darüber hinaus, dass solche Auffassungsakte in dem Maße erfolgreich werden, in dem durch sie etwas in uns formuliert wird. Denn die Gedanken eines Anderen lassen sich in unserem Bewusstsein nur formulieren, wenn die vom Text in uns mobilisierte Spontaneität ihrerseits Gestalt gewinnt. Da eine solche Formulierung der geweckten Spontaneität nun zu den Bedingungen eines anderen geschieht, dessen Gedanken wir im Lesen thematisch machen, formulieren wir unsere Spontaneität nicht zu den für uns geltenden Orientierungen.«

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was es hervorzubringen gilt, und kann daher selbst noch nicht das Hervorgebrachte sein«.78 Den Prozess der »Konsistenzbildung« durch den Rezipienten im Akt des Lesens bezeichnet Iser als Wirkungsästhetik. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch für die ökumenische Rezeptionsforschung vor allem Isers Einsicht in die existenzielle »Verstricktheit«79 des Lesers in den Text als »Modus, durch den wir in der Gegenwart des Textes sind, und durch den der Text für uns zur Gegenwart geworden ist.«80 Der rezeptionsästhetische Ansatz ist nicht nur auf literarische bzw. fiktionale Texte angewandt worden, sondern auch auf andere Medien in nichtfiktionalen Zusammenhängen. Dieser als Medienwirkungsforschung bezeichnete Bereich ist für die ökumenische Rezeptionstheorie von Bedeutung, weil er Perspektiven auf Medieneffekte in wechselnden gesellschaftlichen Kontexten eröffnet und zeigt, dass es letztlich auch der »Rezeptionsästhetik […] um eine Politik der Anerkennung von Lebenspraktiken gehen« muss.81 Die Medienwirkungsforschung beschäftigt sich mit den soziostrukturellen Implikationen des Textverstehens und liefert Hinweise auf dessen sichtbaren Ausdruck. Außerdem versucht sie zu klären, in welchen Etappen der Rezeptionsvorgang sich vollzieht, was die materielle Basis dieses Geschehens ist und welche Motivation für die Interrelation von Text und Rezipient aus dem Kontext der Aneignung heraus gegeben ist. Der Medienwissenschaftler Lothar Mikos interpretiert den Rezeptionsprozess als kommunikative »Bewältigung von Situationen«82 vor einem spezifischen soziokulturellen Hintergrund und unterscheidet nochmals zwischen Rezeption und Aneignung. Unter Rezeption versteht Mikos »die konkrete Interaktion des Zuschauers mit dem Text«,83 ohne die der Text nur als materielle Basis, aber nicht als Sinnangebot wahrnehmbar wäre. Die Aneignung hingegen bezeichnet »die Übernahme des rezipierten Texts in den alltags- und lebensweltlichen Diskurs und die soziokulturelle Praxis.«84 Der Schritt von der Rezeption zur Aneignung ist entscheidend, denn erst in 78 Ders., Akt, 175. 79 Ebd., 210. »Wir fassen ihn [den Text] nicht auf wie ein gegebenes Objekt, wir begreifen ihn auch nicht wie einen Sachverhalt, der durch prädikative Urteile bestimmt wird; vielmehr ist er uns durch unsere Reaktionen gegenwärtig. Der Sinn des Werks gewinnt damit selbst den Charakter des Geschehens, und da wir dieses als das Bewusstseinskorrelat des Textes erzeugen, erfahren wir dessen Sinn als Wirklichkeit.« 80 Ebd., 214. 81 Mikos, Cultural Studies, 337. 82 Ders., Rezeption, 66. 83 Ebd., 62. 84 Ebd., 63. »Darüber hinaus handelt es sich um zwei Formen des Alltagshandelns, die im Kontext der lebensweltlichen Bedingungen gesehen werden müssen.«

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dieser Phase entwickelt sich eine »Folgekommunikation«, die weitere materielle Textzeugen hervorbringt und so den Rezeptionsprozess auch empirisch nachweisbar macht. Die Ursache von Rezeption und Aneignung sieht Mikos in der Fähigkeit des Medientexts, zum symbolischen Träger einer Bedeutung zu werden, die in seinem Rezipienten bereits angelegt ist. Text und Leser besitzen eine situativ bedingte Affinität, welche das Interaktionsgeschehen auslöst.85 Der Schlüssel zur Herstellung einer solchen Affinität ist der soziostrukturelle Kontext des Lesers, in dem bestimmte Bedeutungen virulent sind, an die der Text anknüpft.86 So wie der Leser notwendigerweise ein Vorverständnis von dem Inhalt des Textes besitzen muss, muss auch der Text eine Bedeutungsrelevanz für den Leser haben, um verstanden zu werden. Es wird hier sehr deutlich, dass auch die Medienwirkungsforschung Kontextualität nicht als Hindernis für Verständigung, sondern als deren Voraussetzung begreift. Text und Rezipient stehen in einem permanenten semiotischen Verweisungszusammenhang, in dem der Text den Status einer kommunikativen Ressource erhält. Zum einen eignet sich der Rezipient den Text an, weil dieser es vermag, sein lebensweltliches Wissen zu bezeichnen und symbolisch auszudrücken. Zum anderen wird die Botschaft des Textes nur dann übermittelt und als Folgekommunikation gesellschaftlich wirksam, wenn der Leser sie in seinen Erfahrungshaushalt integriert und im kollektiven Code ausdrückt. Bezüglich der Tradierung des Textsinns wird festgestellt: Erst über die Interaktion mit den Zuschauern können Texte in deren alltägliche und lebensweltliche Kontexte eingehen, indem sie angeeignet werden; denn über das Wissen der Zuschauer verknüpfen sie sich mit kulturellen Diskursen.87

2.3.5.2 Ökumenische Untersuchungen mit rezeptionsästhetischem Ansatz Für die Rezeption ökumenischer Dokumente hat die Rezeptionsästhetik entscheidende Hinweise geliefert. Gerade der zuletzt vorgestellte Beitrag von Lothar Mikos zeigt, dass der Effekt des Textmediums anhand seiner Folgekommunikation empirisch nachweisbar wird. Für die ökumenische Forschung bedeutet dies, dass die Auseinandersetzung mit den Zeugnissen der Textrezeption loh85 Ebd., 65. »Im rezipierten Text ist lebensweltliches Wissen im Rahmen dieser Kontexte [der Zuschauer] realisiert. Der rezipierte Text stellt damit eine lebensweltliche Manifestation des Zuschauer-Wissens dar, das an einem Text realisiert wurde. Er gehört damit strukturell dem lebensweltlichen Kontext an und ist immer im Rahmen der Diskurspraxis und der soziokulturellen Praxis zu sehen.« 86 Ders., Cultural Studies, 330. »Ein Film kann beispielsweise nur zu einem Kultfilm werden, wenn es ihm gelingt, sich im sozialen Netz spezifischer Zielgruppen mit bestimmten dort zirkulierenden Bedeutungen zu verankern. Der Text strukturiert hier nicht nur die konkrete Interaktion vor, sondern ebenso die Aneignung, indem er auf soziale Kontexte verweist.« 87 Ebd., 336 f.

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nend ist. Diese liegen in Form weiterer Texte vor und dokumentieren die Vielgestaltigkeit der Aneignung und Verwirklichung. Jene Studien aus dem katholischen Bereich, in denen die Aneignung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils in speziellen nationalen Kontexten untersucht wurden, sind eben diesem Ansatz gefolgt und haben sich teilweise auch explizit auf den Begriff des Erwartungshorizonts berufen, um die Dispositionen bestimmter kirchlicher Gemeinschaften sichtbar zu machen.88 Bereits Frederick Bliss hat in seiner Studie von 1993 angemerkt, dass darüber hinaus die Rezeptionsästhetik die privilegierte Methode darstelle, um in der aktuellen ökumenischen Situation das Verhältnis von grundlegenden Texten und Bekenntnisschriften einerseits, und den Konsensdokumenten der ökumenischen Bewegung andererseits zu klären.89 Dieser Überlegung zufolge könnte der Rezeptionsästhetik in der ökumenischen Forschung die Aufgabe zukommen, Dialogverfahren auf methodischer Ebene zu begleiten und als Metatheorie der Textinterpretation zu wirken, die in Dialogkommissionen geleistet wird. Obwohl die Zahl der seither vorgelegten Studien, denen der literaturwissenschaftliche Ansatz zu Grunde liegt, äußerst überschaubar geblieben ist, lässt sich der von Bliss geäußerte Vorschlag darin wieder finden. Wir wollen zwei Studien aus dem anglophonen Raum von Ormond Rush und Linda Gaither kurz beleuchten, um die Reichweite dieses Gedankens zu verdeutlichen. Ormond Rush hat die Rezeption von Konzilsentscheidungen in der katholischen Kirche anhand der Theorien von Hans Robert Jauß neu bewertet und diese als Instrument der Dogmenhermeneutik verwandt. Rushs Grundthese stellt den generalisierten Gültigkeitsanspruch des Lehramts in Frage und lautet: »Dogmas are like an open work that remains unfinalised until received by a reader.«90 Ebenso wie auf die Rezeption eines Kunstwerks, lassen sich auch auf die kirchlichen Dogmen drei Perspektiven anwenden. Das Rezeptionsobjekt lässt sich nach drei Seiten hin entfalten, so dass dessen historische, wirkungsgeschichtliche und gegenwärtige Bedeutung untersucht werden kann. In der katholischen Kirche kann Rush zwölf »loci receptionis« benennen, an denen sich die Aneignung des Dogmas vollzieht.91 In dieser differenzierten 88 89 90 91

Routhier, Vatican II. Bliss, Understanding, 63. Rush, The reception, 309. Ebd., 331 ff. (1) reception between God and humanity, (2) reception between God and the whole community of believers, (3) reception between God and the Roman Catholic Church as a communion of churches, (4) reception between the episcopal magisterium and the sensus fidelium of the whole body of the faithful, (5) reception between a local church and its particular context in the world, (6) reception between local churches in communion, (7) reception between local churches and the church of Rome in communion, (8) reception between theologians and their local church in its context, (9) reception within and between diverse theologies, (10) reception between the episcopal magisterium and theology, (11)

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Beschreibung der Rezeptionssituationen besteht der besondere Beitrag von Rushs Studie, weil darin Pluralität und Komplexität des Aneignungsprozesses in zutreffender Weise erfasst werden.92 Durch die dreifache Lektüre der Lehrentscheidung als Wort Gottes, als biblische Überlieferung und als Geschehen im Kontext der Gemeinde wird Rush zufolge die Relevanz eines Dogmas in der Gegenwart ermittelbar. Die Aktualisierbarkeit einer Glaubenslehre wird auf diese Weise zum entscheidenden Kriterium für Rushs Dogmenhermeneutik. Hat ein Dogma seine Relevanz verloren, ist es nicht länger durchsetzbar und es müssen gegenüber aktuellen Fragestellungen neue oder andere Lehrentscheidungen konsultiert oder getroffen werden.93 Die Untersuchung der anglikanischen Theologin Linda Gaither will als interdisziplinär angelegte Studie Synergieeffekte zwischen Theologie und Literaturwissenschaft herbeiführen.94 Ihrer ökumenischen Studie geht eine Bestandsaufnahme von literarischen Theorien voraus. Anhand der Fragestellung »What is at stake for readers?« entwirft Gaither ein Spektrum literaturwissenschaftlicher Positionen, welche entweder den Text bzw. seinen Autor oder den Leser bzw. dessen soziokulturellen Hintergrund als entscheidendsten Faktor des Interpretationsprozesses annehmen.95 Dieses literaturwissenschaftliche Meinungsspektrum wird nun übertragen auf einen konkreten ökumenischen Dialog, um festzustellen, welche Auffassung vom Vorgang der Rezeption dort vertreten wird. Gaither analysiert dazu Äußerungen, die im Zusammenhang mit der Anglican-Roman Catholic International Commission (ARCIC) stehen und weist nach, dass es auch in der ökumenischen Diskussion sowohl formal-juristische als auch stark leserorientierte Auffassungen darüber gibt, wie sich der ökumenische Rezeptionsprozess gestalten soll. Unter der Fragestellung »What is at stake for believers?« will Gaither anhand dieser Untersuchung den Gläubigen und potenziellen Rezipienten der ARCIC-Dokumente das Instrumentarium

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reception between separated churches and ecclesial communities, (12) reception between Christian churches and other religions. Rushs Studie, die zunächst eine deskriptive Darstellung des Rezeptionsgeschehens liefert, ist von Richard R. Gaillardetz aufgegriffen worden, der im Anschluss daran ein konkretes Rezeptionsmodell entworfen hat. Darin nimmt er den Gedanken der Re-Rezeption wieder auf und entwickelt das Konzept eines permanenten zirkularen Rezeptionsprozesses zwischen Gläubigen, Bischof und Lehramt als Spannung von traditio und redditio. Vgl. Gaillardetz, The reception, 95 ff. Rush, The reception, 323. »If the text does not provide such an answer then [these questions] are to be discarded, not as illegitimate questions in themselves, but discarded only as questions which this text cannot answer. Other texts may provide an answer.« Gaither, Receive. Im Zentrum dieses Spektrums lokalisiert Gaither die Rezeptionstheorie Wolfgang Isers, die im Akt des Lesens weder die Vereinnahmung des Lesers durch eine linguistische Struktur, noch die Projektion einer Gruppenillusion auf den Text diagnostiziert, sondern in der sowohl das strukturelle Repertoire des Textes als auch die Imagination des Lesers an der Sinnkonstitution mitwirken.

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liefern, diese verschiedenen Auffassungen über den Verlauf der ökumenischen Rezeption in das zuvor erklärte literarische Spektrum einzuordnen und so deren Kompatibilität mit dem Konzept der Communio zutreffend einzuschätzen.96 Die Autorin begreift die Communio aller Kirchen als eine Versammlung von autonomen »reading audiences«, die sich durch die Beteiligung aller ihrer Mitglieder am Prozess der Imagination und Interiorisierung eines »second self« auszeichnet. Sie zeigt, dass im Text der ARCIC-Dokumente eine Rezeptionsauffassung vertreten wird, die jener der Konstanzer Schule ähnlich ist. Daneben gibt es jedoch auch anderslautende Meinungen, welche die Autonomie der einzelnen Rezipienten einschränken. Dies geschieht, so Gaither, beispielsweise dort, wo der sensus fidelium zwar postuliert, dann aber auf die Zustimmung des päpstlichen Lehramts reduziert wird, oder wo das Dokument selbst konventionelle Interpretationen vorgibt. Ein derartiges Verständnis, das eine Homogenisierung und Standardisierung theologischer Aussagen anstrebt, verhält sich Gaither zufolge konträr zum Gedanken der Communio als möglichem ökumenischem Einheitsmodell. Denn als soziale Realität kann dieses nur dann erfahren werden, wenn ihm die Interiorisierung der vom Text angebotenen ökumenischen Identität als individuelle kognitive Leistung der Gläubigen vorausgeht. Fassen wir zusammen: Der besondere Beitrag rezeptionsästhetischer Verfahren auf die Interpretation ökumenischer Dialoge besteht darin, dass sie anders als rechtshistorisch orientierte Untersuchungsmethoden »nicht nur in der Plausibilität der Außensicht verharren, sondern zugleich die religiöse Teilnehmerperspektive reflektieren.«97 Anders als der rechtshistorische Zugang, welcher unter Rückgriff auf offizielle Dokumente das Rezeptionsgeschehen als formal-juristischen Akt der Integration eines exogenen theologischen Inhalts in eine institutionelle Struktur beschreibt, bietet die Rezeptionsästhetik ein hermeneutisches Verfahren, welches die Komplexität und den prozessualen Charakter der Aneignung zugesteht. Dies ermöglicht eine angemessene Verhältnisbestimmung der im Rezeptionsprozess wirksamen Textinstitutionen und ihrer Leser, die sich in einem Prozess von Auseinandersetzung und wachsender Übereinstimmung befinden. Der wesentliche Beitrag der Rezeptionsästhetik für die Literaturwissenschaft bestand darin, den Standpunkt des Rezipienten, d. h. des Lesers, für die Sinnerschließung erstmals ernst genommen zu haben. Etwas Ähnliches vollzieht sich, wenn die Rezeptionsästhetik die ökumenische Hermeneutik inspiriert. Auch dabei kommt es zu einem Perspektivwechsel. Der Leser, d. h. die Gemeinschaft der Glaubenden, wird in einer solchen Hermeneutik sichtbar als gestaltende Kraft, in deren Kontext ein ökumenischer Konsens so oder so aufgenommen und umgesetzt wird. Durch die kontextuelle 96 Ebd., 239. 97 Petzoldt, Kulturhermeneutik, 49.

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Gebundenheit der Akteure wird der Rezeptionsprozess aber nicht verzerrt, sondern überhaupt erst ermöglicht. Zudem korrespondiert die Rezeptionsästhetik mit aktuellen Forschungsinteressen der ökumenischen Bewegung, weil sie selbst das Resultat eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels ist, den in den 1960er Jahren die meisten geisteswissenschaftlichen Disziplinen vollzogen.98 Wie wir in unserer vorangegangenen Darstellung der Geschichte des Rezeptionsbegriffs gezeigt haben, hat ein ähnlicher Paradigmenwechsel in den letzten Jahrzehnten auch in der ökumenischen Theologie stattgefunden und sich im wachsenden Einfluss der Communio-Theologie als favorisiertem Einheitsmodell niedergeschlagen.99 Die Betonung der individuellen Teilhabe am Glaubensgeschehen hat das Interesse an Rezeptionsprozessen auf die Ebene der lokalen Gemeinschaften verlagert. Auch wenn die letztendliche Relativität aller Kontexte gegenüber der Botschaft des Evangeliums damit keineswegs in Frage gestellt wird, ist die Bedeutung kontextabhängiger Strategien zu seiner Vermittlung unstrittig.100 Die Frage, wie erfolgreich ein ökumenisches Dokument in einer bestimmten gesellschaftlichen Umgebung aufgenommen wird,101 ist von Bedeutung für die ökumenische Bewegung, deren Effektivität neben normativen Verfahren wesentlich auf dezentralisierten Aneignungsprozessen beruht. 2.3.5.3 Die Rezeptionsästhetik in der ökumenischen Diskussion Die Grundlagen der literarischen und medientheoretischen Rezeptionsästhetik haben wir gezeigt und dargestellt, wie sie bereits in der ökumenischen Forschung Verwendung finden. Obwohl die beiden vorgestellten Untersuchungen neben anderen theologischen Ansätzen bisher recht allein stehen, haben sich daran bereits erste Diskussionen entzündet. Die Frage ist, ob die Ergebnisse der Rezeptionsästhetik tatsächlich auf den Vorgang der ökumenischen Rezeption bzw. der Rezeption ökumenischer Dokumente übertragbar ist. Neben einer allgemeinen Befürwortung neuer texttheoretischer Ansätze in der ökumenischen Forschung102 gibt es auch etliche Einwände dagegen, die wir im Folgenden prüfen wollen. 98 Bliss, Understanding, 55. 99 Schwöbel, Kirche. 100 Raiser, Tradition. Besonders deutlich wurde die Problematik der legitimen Kontextualisierung in auf der Vollversammlung des ÖRK in Canberra 1991 anhand der Diskussion um die Rede der koreanischen Teilnehmerin Kyung. Vgl. Kyung, Chung Hyun: ›Komm, Heiliger Geist – erneuere die ganze Schöpfung‹. Eine Einführung in das theologische Thema. In: Kyung, Geist. 101 Routhier, La r¦ception, 239. 102 World Council of Churches, Commission on Faith and Order, A treasure. Kap. 2.2. »Other methods are those inherent in traditional biblical interpretation including patristic, litur-

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Der häufigste Einwand betrifft den fiktionalen Charakter jener Texte, auf die sich Jauß und Iser ursprünglich bezogen. In Isers Theorie enthält der Text sogenannte »Leerstellen«, deren Inhalt vom Leser imaginiert wird, wodurch das Werk erst seine inhaltliche Konsistenz erhält. Manchen Kritikern erscheint es unangemessen, diese Herangehensweise auf ökumenische Texte zu übertragen, die nicht fiktional sind, sondern sich auf reale Situationen beziehen: It is obvious that gaps in the description of a fictional character in a novel have to be filled out by the reader’s imagination. If the one who is portrayed is a real person, however, then the indeterminacies can only be truthfully completed by reality itself. […] Nevertheless, to the extent that theological and doctrinal texts do involve some kind of truth claim and that this truth is not a construction of the human imagination; their reception must be distinguished from the reception of fictional texts. For it is God’s truth that sets the believer free.103

Die Kritik von de Witte geht davon aus, dass nur fiktionale Texte der interpretierenden Aneignung ihrer Leser bedürften. Die Interpretation von Texten mit realem Weltbezug und christlichem Wahrheitsanspruch würde demgegenüber eine Einmischung des Lesers darstellen, da de Witte die hermeneutische Intervention des Lesers nicht als Teil der Wirklichkeit (»reality«) betrachtet. Die Leistung des Lesers wird als »imagination« beschrieben und gerät auf diese Weise unter den Verdacht, die Wahrheit zu verfälschen. Hier scheint wohl eher die Befürchtung zugrunde zu liegen, dass ein theologischer Lehrtext an Glaubwürdigkeit einbüßen würde, wenn man seine Interpretationsbedürftigkeit und damit seine Verhandelbarkeit zugestehen würde. Mit anderen Worten, wäre der Leser konstitutiv für die Bedeutung des Textes, würde der Anspruch des Textes, Gottes Wahrheit zu vermitteln, in Frage gestellt, weil die »imagination« dieser Wahrheit zwangsläufig weniger vollständig ist als die Wahrheit selbst. Weil diese Kritik nicht unterscheidet zwischen der Autorität Gottes und der Autorität des Textes, muss jegliche Interpretationsarbeit am Text als Einmischung oder Verzerrung der Wahrheit abgewiesen werden. gical, homiletic, dogmatic and allegorical approaches to the text. Contemporary methods include those that focus on the original social setting of the texts (e. g. sociological methods); those that focus on the literary form of texts and the internal relationships within a text and between texts (e. g. semiotic and canonical methods); and those that focus on the potential of the text for readings generated by the encounter of the text with human reality (e. g. reader-response method). All these methods can also be used to deal with extrabiblical sources. Some methods help to open up neglected dimensions of the past from the perspective of marginalized groups.« Vgl. Körtner, Lage, 68 »Für eine Neufassung der Lehre vom Wort Gottes ist es daher unerlässlich, sich mit der neueren Theoriebildung innerhalb der Literaturwissenschaften auseinander zu setzen, d. h. mit Ansätzen einer literarischen Hermeneutik, der Rezeptionsästhetik bzw. ganz allgemein mit poststrukturalistischen Texttheorien.« 103 Witte, Reading, 75.

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Die Bedenken des Kritikers, dass das Resultat einer Textinterpretation stets hinter der Fülle der letztgültigen Wahrheit Gottes zurück bleibt, ist offenbarungstheologisch nicht von der Hand zu weisen. Die Frage ist aber, ob das prinzipiell gegen die Interpretationsbedürftigkeit der von Menschen verfassten Textzeugnisse dieses Offenbarungsgeschehens sprechen kann? Wohl kaum, vielmehr handelt es sich hier um ein Grundaxiom der Interpretation von religiösen Texten, das auch auf ökumenische Dokumente anwendbar ist und sich insofern mit dem Offenbarungsgedanken als kompatibel erweist. Mit den Worten von Ulrich Körtner, der der Rezeptionsästhetik eine ausführliche theologische Untersuchung gewidmet hat, ist der Vorgang der Interpretation von Offenbarungstexten vollkommen legitim, weil jedes »extra nos« nicht anders denn als »pro nobis« und daher auch »in nobis« zu verstehen ist.104 Obwohl der tatsächliche Status ökumenischer Texte offensichtlich nicht endgültig zu klären ist (»They are certainly not merely fictional. Nor can they be called descriptive in the same manner as empirically verifiable language is descriptive.«),105 scheint uns jedenfalls eine Überforderung vorzuliegen, wenn man – wie hier geschehen – postuliert, diese Texte seien Träger einer universal und zeitlos gültigen transzendenten Wahrheit und bedürften nicht der Interpretation ihrer Leser, um von diesen verstanden und als relevant eingeschätzt zu werden. Zwar ist es evident, dass auch oder gerade ökumenische Dialogdokumente von einem Versöhnungsgeschehen zeugen, das ein geistliches Geschehen ist. Das der Textinterpretation zugrunde liegende Verweisungsschema zwischen Referent und Zeichen wird aber dennoch missverstanden, wenn man annimmt, dass der Text sozusagen identisch sein müsste mit der Wahrheit, die er verkündet und dass diese Botschaft nicht durch Interpretation vermittelt, sondern direkt zugänglich sei. Dem Einwand des Autors, dass die Leerstellen eines ökumenischen Textes nur von Gottes Wirklichkeit selbst geschlossen werden könnten, muss man deshalb wohl entgegenhalten, dass er sich dennoch an menschliche Leser richtet, bei denen die Interpretationsarbeit liegt, weil ohne sie kein Text seine Bedeutung prozessual entfalten kann. Dass schließlich nicht nur fiktionale, sondern alle Medientexte der Interpretation ihrer Leser und der Integration in deren Lebenskontexte bedürfen, damit ihre Botschaft aufgenommen wird, hat unser Exkurs in die Medienwirkungsforschung bereits anschaulich gemacht. Das Genre der von Jauß und Iser ursprünglich verwendeten Texte ist also kein Argument gegen die theologische Aufnahme ihrer Ergebnisse. Die Position des katholischen Theologen Gilles Routhier wurde bereits erwähnt. Er hat in seiner eigenen Studie über die Rezeption des Zweiten Vatika104 Körtner, Leser, 104 ff. 105 Witte, Reading, 75.

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nischen Konzils den rezeptionsästhetischen Ansatz als Hinweis auf die Bedeutung des soziostrukturellen Kontexts und die Aktivität der Rezipienten zwar gelten lassen, das Ergebnis der Rezeption aber dennoch als juristisches Phänomen beschrieben. Begründet hat er dieses Vorgehen mit der Exogenität des Rezeptionsguts, das seiner Auffassung nach der eigentliche Ausgangspunkt des Rezepionsgeschehens ist. Routhier zufolge existiert diese Exogenität in einem doppelten Sinn, sowohl zwischen dem Evangelium und dem es vertretenden Konzil als auch zwischen der Botschaft des Konzils und den rezipierenden Kirchen: [Die rechtshistorische Methode] betont das geistliche Gut, das sich zur Rezeption anbietet. Das geistliche Gut umfasst das Heilsangebot selbst und verweist im Letzten auf Gott, der sich selbst schenkt. […] Selbst wenn sich die Aussage eines Konzils an eine bestimmte Öffentlichkeit richtet und dem Glauben der Kirche niemals fremd ist, so bleibt sie doch in gewisser Weise exogen und ist niemals nur das Produkt der Kirche selbst und noch weniger das einer lokalen Gemeinschaft.106

Die Aneignung dieser exogenen Botschaft begreift Routhier als Anamnese, in der sich das Konzil und die Gemeinden gegenseitig bestärken. Der Ansatz von Jauß, dem zufolge der Leser einen Text in Abhängigkeit von seinem individuellen Erwartungshorizont subjektiv versteht, erscheint Routhier zur Beschreibung des Prozesses der Aneignung des Evangeliums als unangemessen. Denn obwohl er die kulturelle Spezifik von Lokalkirchen für unhintergehbar im Verstehensprozess hält, bleibt auch für ihn die Heilsbotschaft stets der Lebenswelt exogen, d. h. jenseits eines jeglichen menschlichen Erwartungshorizonts. Das Evangelium kann auf diese Weise niemals das subjektive Produkt einer menschlichen Gemeinschaft sein.107 Die Durchsetzungskraft dieses Rezeptionsguts ist für Routhier unbestreitbar, der Erwartungshorizont einzelner Leser bleibt demgegenüber vergleichsweise unwichtig. Das trifft umso mehr zu, als der Rezeptionsprozess nach Routhiers Verständnis nicht zwischen Individuen verläuft, sondern sich in einem ekklesialen Rahmen vollzieht, d. h. zwischen dem Konzil als Repräsentant der Gemeinschaft der Glaubenden einerseits und den lokalen Gemeinden andererseits.108 Routhier wendet sich gegen den Versuch, die Rezeption durch die einzelnen Gläubigen gegenüber der Rolle der lokalen Kirchen 106 Routhier, La r¦ception, 240. 107 Ebd., 239 f. »Weil die Offenbarung und der bekannte Glaube im Konzil stets etwas von außen kommendes (exogenes) bleiben, etwas, das die Kirche nicht selbst produziert, hat eine Untersuchung, welche die Exogenität des Gegebenen betont, das alle Erwartungshorizonte der menschlichen Gemeinschaft übersteigt, viele Vorteile und ist eine fruchtbare Methode, um zu untersuchen, was die Evangeliumsverkündigung und das Glaubensbekenntnis in einer bestimmten Gemeinschaft bewirken.« 108 Ebd., 63.

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höher zu bewerten, denn der sensus fidelium könne nicht außerhalb seiner organischen Struktur betrachtet werden. Nun haben wir mit von de Witte und Routhier zwei Positionen dargestellt, welche die Rezeptionsästhetik als ökumenische Methode ablehnen. Beide Positionen gründen in der römisch-katholischen Ekklesiologie. Hier zeigt sich ein zentraler ökumenischer Konflikt. Denn die Rezeptionsforschung an ökumenischen Dokumenten berührt an dieser Stelle das Problem der Erschließung des Evangeliums und damit die verschiedenen Grundentscheidungen, zu denen katholische und evangelische Theologen in dieser Frage gelangt sind.109 Handelt es sich bei dem rezeptionsästhetischen Zugang vielleicht um einen Ansatz, welcher der reformatorischen Ekklesiologie in privilegierterer Weise entspricht? Möglicherweise. Doch gewiss nicht in dem Sinne, dass reformatorische Theologen die Exogenität des Evangeliums, verstanden als ganz anderes Geschehen unabhängig vom Erwartungshorizont seiner Hörer, bestreiten würden. Einigkeit besteht über die äußerliche Gegebenheit des in der Heiligen Schrift bezeugten Evangeliums, doch die Vermittlung dieser Botschaft wird konfessionell verschieden betrachtet. Während ihre Bewahrung und Weitergabe nach katholischem Verständnis durch die ekklesiale Tradition geleistet wird, welche subjektivistische Vereinnahmungen durch bindende lehramtliche Entscheidungen abwehrt, sieht die evangelische Theologie die Kraft des Heiligen Geistes als ausreichend für die Vermittlung an.110 Routhiers Rezeptionsmodell ist schlüssig im Rahmen der römisch-katholischen Ekklesiologie, in der die Kirche sakramentalen Charakter hat und als Instrument der Auslegung mit exklusivem Zugang dem Evangelium gegenübergestellt wird. Der reformatorische Ansatz ist davon insofern vollkommen verschieden, als er die Kirche als creatura verbi versteht, die erst durch die Evangeliumsverkündigung als Kirche konstituiert wird und gar nicht losgelöst von der Verkündigung des Wortes objektiviert werden kann. Diesen Vorgang des existenziellen Konstituiertseins hat der evangelische Theologe Gerhard Ebeling als »Wortgeschehen« bezeichnet, um damit das hermeneutische Proprium der reformatorischen Theologie auszuweisen. Das Verhältnis von Evangeliumsverständnis und Tradition wird auf diese Weise umgekehrt, weil nicht länger das Verständnis der Schrift von der Aktivität der sie auslegenden Gemeinschaft abhängt, sondern stattdessen die Gemeinschaft ihre Identität erst im Verstehensvorgang findet: Zum reformatorischen Schriftprinzip gesellte sich nicht etwa ein hermeneutisches Prinzip, vielmehr ist das reformatorische Schriftprinzip, recht verstanden, nichts anderes als ein hermeneutisches Prinzip. Es besagt: Die Schrift ist nicht dunkel, so dass es 109 Herms, Ökumene. 110 Witte, Reading, 69.

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Ökumenische Rezeption – Begriff und Erforschung

zu ihrem Verständnis der Tradition bedürfte. Der Schrift eignet vielmehr claritas, d. h. sie hat erhellende Kraft, so dass von ihr klärendes Licht ausstrahlt, u. a. auch auf die Tradition.111

Es ist die Idee des Verstehens als existenziellem Vorgang, die das reformatorische Verständnis vom katholischen unterscheidet und – tatsächlich – eine Parallele zum rezeptionsästhetischen Verfahren darstellt. Da sie selbst durch das Wort konstitutiert werden, dieses aber nicht anders als in seiner Auslegung verfügbar ist, existieren reformatorische Kirchen als Interpretationsgemeinschaften, die aus der ständigen Aktualisierung ihres Grundes leben. Wir haben gesehen, dass Routhiers Entwurf eine individualistische – d. h. außerhalb der institutionalisierten Struktur seiner Kirche stattfindende – Rezeption nicht vorsieht, da diese im Verdacht steht, eine subjektivistische Interpretation des Evangeliums zu riskieren. Da wir den rezeptionsästhetischen und den reformatorischen Ansatz parallelisiert haben, wollen wir uns diesem Vorwurf im Blick auf die protestantischen Kirchen stellen und nachfragen, ob die ihnen eigene Vorstellung des Priestertums aller Getauften durch die Idee des existenziellen Verstehens in individualistischer, wenn nicht anti-institutioneller Weise interpretiert wird. Dazu wenden wir uns ein weiteres Mal Paul Ricœur zu, dessen Philosophie ebenfalls rezeptionsästhetische Züge aufweist. Ein Beitrag von ihm kann uns bei der hier gestellten Frage weiterbringen. Denn Paul Ricœur hat in einem weniger bekannten Artikel Gerhard Ebelings Argumentation über die Theologie des Wortes nachvollzogen.112 Dies ist für ihn insofern naheliegend, als er sich in seinem eigenen hermeneutischen Entwurf ebenfalls mit der wirklichkeitsverändernden Kraft von Texten im Zuge ihrer Rezeption beschäftigt.113 Ebeling hatte Schrift und Tradition einander gegenüber gestellt und die Autonomie der ersten betont. Er hatte darauf hingewiesen, dass nicht das göttliche Wort der Schrift durch die Gemeinschaft in ein profanes, menschliches Wort übersetzt werden müsse, sondern dass es dem Leser zugänglich sei durch seinen unmittelbaren Anredecharakter. Die Tradition verliert, so Ebeling, auf diese Weise ihren privilegierten Charakter als übermittelnde Instanz, was schon von den Reformatoren in der Formel sola scriptura ausgedrückt wurde. Ricœur überträgt Ebelings diesbezügliche Argumentation auch auf das sola fide, um seinerseits die Verhältnisbestimmung von individuellem Glauben und Institution zu formulieren: Wenn Luther sagt ›allein durch den Glauben‹, sola fide, äußert er nicht etwa ein moralisches oder gar ein Lebensprinzip, sondern vielmehr ein hermeneutisches Prinzip. 111 Ebeling, Wort, 321. 112 Ricœur, Ebeling. In deutscher Übersetzung zu finden in: ders., Gerhard Ebeling. 113 Ricœur, Du texte — l’action.

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Rezeptionsforschung

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Denn das sola fide, ›allein durch den Glauben‹, schließt jede andere Mediation aus als die des Wortes, das in einer lebendigen Aktualität ausgelegt wird. Das sola fide bedeutet, dass das einmalige Geschehen allein gegenwärtig wird durch ein anderes, ihm homogenes Geschehen, und dieses nämlich ist ein anderes Wortgeschehen.114

Ricœur weist ebenfalls darauf hin, dass die Polemik gegenüber Institutionen und Autoritäten, die den reformatorischen ›soli‹ entspringt, deren hermeneutischen Tiefgang unzureichend wiedergibt.115 Demgegenüber betont er das Anliegen der Reformatoren, die Doppelstruktur von Schrift und Tradition in der Kirche gerade aufzuheben und durch die Einsicht in das historische Beziehungsgeschehen von Wort und Auslegung abzulösen. Eine Kirche, die sich als katholische Kirche versteht, ist eine Kirche die denkt, sie entgehe der Geschichte. Sie ist unwandelbar, während alles andere sich verändert […] Die Kirche der Reformation hingegen ist eine Kirche, die sich durch und durch als historische wahrnimmt, denn es gibt sie nur durch die Beziehung von Wort und Auslegung.116

Die Gestalt der aus der Aktualisierung des Wortes lebenden Kirche ist stets in einem Wandel begriffen, der alle ihre Ebenen einschließt. Das ›sola fide‹, welches Ricœur analog zum ›sola scriptura‹ gänzlich hermeneutisch versteht, kann deswegen auch nicht das Anliegen haben, die Hierarchien der institutionalisierten Kirche gegenüber dem persönlichen Glaubensgewissen auszuspielen oder in einem Autoritätskonflikt gegenüberzustellen. Es wird jedoch insofern Kritik an der Autorität der institutionalisierten Kirche geübt, als jedweder hermeneutischer Überlegenheitsanspruch dekonstruiert wird. Ihre Auslegung besitzt keinen Mehrwert gegenüber dem persönlichen Glaubensgewissen, doch auch die subjektive Glaubensentscheidung des Einzelnen besitzt diesen autoritären Mehrwert nicht. Grund dafür ist, dass beide Instanzen der Auslegung in ihren Interpretationen fehlbar bleiben, weil beide von der verwandelnden Kraft des Wortes ausgerichtet werden. Das Priestertum aller Getauften ist in seinem hermeneutischen Ringen ebenso tastend wie das Amtspriestertum. Die Analogie zur Rezeptionsästhetik ist zutreffend, weil diese tastende hermeneutische Aktivität der Interpretationsgemeinschaft der einzige Weg ist, den Sinn des Evangeliums zu artikulieren. Es wird aber keinem Individualismus Vorschub geleistet. Stattdessen kommt im Wortgeschehen allen Akteuren dieselbe interpretative Autorität zu. Grund dafür ist, dass es nur einen Wortprozess gibt, wie Ricœur mit Ebeling betont und dass dieser alle Ebenen der 114 Ders., Gerhard Ebeling, 82. 115 Ebd., »Die Schrift ist Interpretin ihrer selbst. Dies hatte bei Luther einen polemischen Sinn, da er sagte, dass deshalb kein Bedarf an Priestern sein: das Wort selbst entwickelt ein eigenes Verständnis.« 116 Ebd., 83.

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Ökumenische Rezeption – Begriff und Erforschung

Kirche einschließt, wobei die Sprache der Heilsbotschaft ausschließlich als Medium dient, welches ganz und gar profan ist.117 Das Geschehen der Auslegung ist demzufolge ein hermeneutischer Prozess, welcher zu immer neuen historischen Ausdrücken und Gestalten führt, weil der Text von jeder Generation aufs neue ›bewohnt‹ wird, sobald sie sich die Botschaft hinter der Sprache aktualisierend aneignet.

2.4

Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Kapitel haben wir Differenzierungen im Verständnis von ökumenischer Rezeption vorgenommen. Wir haben beim Rezeptionsbegriff angesetzt und gezeigt, dass dieser ein erhebliches Bedeutungsspektrum entfaltet. Aufgrund ihrer zugleich juristischen und existenziellen Bedeutung haftet der ökumenischen Rezeption eine grundlegende Spannung an. Wir entdeckten Ambivalenzen im Rezeptionsbegriff aber nicht nur zwischen Existenzialhermeneutik und Rechtsverbindlichkeit, sondern auch in der Frage des Rezeptionsverlaufs bzw. bei der Wahrnehmung informeller ökumenischer Prozesse und ihrer Bewertung als Rezeptionsereignisse. Eine gewisse Aufklärung dieser Mehrdeutigkeit und Aufschluss über die Verteilung der Aktivitäten im Rezeptionsverlauf haben wir uns von den Rezeptionsstudien erwartet. Wie sich herausstellte, sind deren Ergebnisse jedoch sichtbar beeinflusst von ihrem konfessionellen Hintergrund sowie den zu Grunde gelegten Methoden. Zwei dieser methodischen Ansätze – den kirchenrechtlichen und den rezeptionsästhetischen – haben wir im Einzelnen vorgestellt. Der kirchenrechtliche Ansatz konnte aus unserer Sicht nicht überzeugen. Er bewegte sich noch sehr nah an einem normativen Rezeptionsbegriff und war gerade in der Lage, den Grad der Komplikationslosigkeit eines realen Vorgangs gegenüber der als idealtypisch angenommenen juristischen Rezeptionsidee seines Autors zu erfassen. Die existenzielle Seite der Rezeption wird in diesem Verfahren vernachlässigt wie auch das zwischenmenschliche Anerkennungsgeschehen, das wir als das entscheidende ökumenische Moment benannt hatten. Stattdessen wird nach dieser Methode die Rezeption auf einen steuerbaren Vorgang auf administrativer Ebene reduziert. Eine solche Beschreibung ist kaum geeignet, Phänomene der Alteritätswahrnehmung und der intersubjektiven Anerkennung zu erfassen und damit eine Deutung für informelle Rezeptionsereignisse anzubieten. Mit den rezeptionsästhetischen Studien, die wir im Anschluss ausführlich untersuchten, ließen sich einige dieser methodischen Schwierigkeiten ansatz117 Ebd., 88.

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Zusammenfassung und Ausblick

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weise überwinden. In der ökumenischen Hermeneutik stellt die Anwendung der Rezeptionsästhetik den Versuch dar, die Auffassung zu widerlegen, dass ökumenische Dokumente unabhängig von der sie rezipierenden Gemeinschaft Gültigkeit besäßen. Die von der Literaturwissenschaft entlehnte grundsätzliche Einsicht besagt, dass ein Text gelesen werden muss, damit sein Sinn offenbar wird. Der Text – egal ob literarischer Text, ideologische Botschaft oder ökumenisches Dokument – ist nicht von sich aus universal gültig. Er wirkt als Rezeptionsanweisung, deren Leerstellen es zu schließen gilt. Angeeignet und wirksam wird der Text aber erst aufgrund von individuellen und kollektiven Affinitäten, die der jeweilige Kontext seiner Rezipienten bereitstellt. Deshalb kommt den Eigenheiten am Ort in rezeptionsästhetisch orientierten Untersuchungen eine katalysierende Rolle zwischen dem ökumenischen Anspruch des Textes und ihrer Umsetzung zu. Weil sie sich auf die Aktivitäten der Rezipienten konzentriert und deren Erwartungshorizont untersucht, ist die rezeptionsästhetische Theorie auch im Stande, einen methodischen Rahmen zu liefern, in dem informelle Aktivitäten als Bestandteil des Rezeptionsprozesses gewürdigt werden können. Durch die Integration rezeptionsästhetischer Theorien in die ökumenische Methodologie ist damit vor allem dem »klassischen« Rezeptionsbegriff etwas Entscheidendes hinzugefügt worden. Als »klassische« Rezeption hatten wir die Entwicklung und Durchsetzung einer Glaubensaussage innerhalb derselben Kirche bezeichnet. Zutreffend ist dieses Modell u. a. für die innerekklesiale Rezeption in der katholischen Kirche. Durch die dogmengeschichtliche Entwicklung ist es dort bekanntlich zu einer Autoritätsverschiebung gekommen, durch die die Rezeption nicht einmal mehr als Zustimmung, sondern nur noch als notwendig geschuldeter Gehorsam gegenüber dem höchsten Lehramt angesehen wird. Bereits die Position von Yves Congar übte Kritik an dieser Entwicklung und nicht von ungefähr haben sich einige katholische Theologen ausgerechnet der Rezeptionsästhetik bedient, um den Eigenwert der kontextuellen Zustimmung zu einer Glaubensaussage zu betonen und auch dem Phänomen der Inkulturation auf die Spur zu kommen. In einem kurzen Exkurs zur ökumenischen Diskussion um die Rezeptionsästhetik zeigten wir, dass aber bei Weitem nicht alle katholischen Ökumeniker dieser Methode gegenüber aufgeschlossen sind. Wir zeigten, dass tatsächlich fundamentaltheologische Gründe dafür sprechen, dass die Rezeptionsästhetik eher ein Arbeitsfeld der evangelischen Theologie ist. Der entscheidende Aspekt der »un-klassischen«, d. h. der ökumenischen Rezeption wurde von der kirchenhistorischen und der rezeptionsästhetischen Methode aber noch nicht thematisiert. Wir hatten festgestellt, dass er in der Herausforderung besteht, die bleibende Alterität des ökumenischen Partners anzuerkennen. Eine solche Form der Anerkennung geht über die Zustimmung zu einem Text hinaus. Mit ihr verbunden ist immer die Anerkennung der

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Ökumenische Rezeption – Begriff und Erforschung

Existenz der anderen Gemeinschaft bzw. ihrer Mitglieder. Diese Existenz anzuerkennen und wertzuschätzen bedeutet, sich auf einen intersubjektiven Austausch einzulassen, in dem der gemeinsame Grund, der ungeachtet der erklärten Alterität besteht, erfahrbar wird. Weder die rechtshistorische noch die rezeptionsästhetische Methode werden aber diesem Umstand gerecht. Der Grund dafür ist, dass beide Ansätze auf das Rezeptionsschema der Textrezeption festgelegt sind. Zwar wird auch seitens der Rezeptionsästhetik die Andersheit im Rezeptionsprozess zugestanden, jedoch bleibt die Interaktion auf das Verhältnis der beiden Pole Text und Leser beschränkt. Nun liegt es aber auf der Hand, dass Ökumene nicht die unilaterale Lektüre und Umsetzung offizieller kirchlicher Dokumente meint, sondern auch deren kritische Diskussion bzw. den unabhängig von Dialogdokumenten geführten Dialog zwischen den Menschen verschiedener Konfessionen. Die Frage, ob ökumenische Anerkennung geschieht, ist die, ob zwischen diesen Menschen verbindliche Beziehungen über konfessionelle Grenzen hinweg unterhalten werden. Nachdem wir das eingangs von Paul Ricœur genannte Beispiel des gemeinsamen Abendmahls von Katholiken und Protestanten wahrgenommen haben, können wir schlussfolgern, dass solche verbindlichen ökumenischen Beziehungen auch ganz unabhängig von ökumenischen Dokumenten entstehen können. Trotzdem erfüllen sie einen Teil der bis hierher erhobenen Bedeutung des ökumenischen Rezeptionsbegriffs, indem sie die Anerkennung der anderen Konfession in einer existenziellen Weise leben und sichtbar machen. Die Möglichkeit, dass die Glaubenden auch außerhalb institutioneller Formen zuerst die ökumenische Initiative ergreifen, die erst später als offizieller Konsens verlautbart wird, wurde in den hier vorgestellten Theorien nicht eingeräumt, scheint sich in der Realität aber zu vollziehen. Das Fazit dieses Abschnitts lautet daher, dass es gilt, eine umfassendere Theorie zu etablieren, die den Zusammenhang von Texttheorie und Handlungstheorie auf dem Gebiet der Ökumene in überzeugenderer Weise als die bis hierher vorgestellten Ansätze darstellt. Die Theorie, die es aus unserer Sicht braucht, um Rezeptionsverläufe in ihrer Komplexität zu beschreiben, muss sich von anderen Ansätzen abgrenzen. Argumente zugunsten einer solchen Abgrenzung haben wir bereits dargestellt, indem wir zwischen den verschiedenen Aspekten des Rezeptionsbegriffs differenzierten. Auf diese Weise wurde ersichtlich, dass eine umfassendere Rezeptionstheorie wie wir sie uns vorstellen auch auf das Moment der ökumenischen Spiritualität abheben und den Gedanken des Identitätswandels ins Auge fassen müsste. Ist es das, was ökumenische Rezeption ausmacht, so benötigen wir jedoch eine Theorie, die uns den Zusammenhang von Anerkennung der Andersheit, Textrezeption und Identitätswandel plausibel macht. Um es nochmals zu betonen: aus unserer Sicht geht es bei der ökumenischen

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Zusammenfassung und Ausblick

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Rezeption nicht um die Beziehung, welche eine einzelne Gemeinschaft zu einem theologischen Konsenstext hat, sondern es geht um die Beziehung der Glaubensgemeinschaften untereinander. Das Interesse sollte deshalb der Frage gelten, wie unter den Glaubenden jenes Vertrauen entstehen kann, dem der Text am Ende Ausdruck verleiht. Da wir eingeräumt haben, dass auch Texte eine wichtige Rolle in ökumenischen Prozessen spielen und da wir die älteren ökumenischen Studien ernst nehmen müssen, welche die ökumenische Initiative sogar vorrangig beim Text sehen, bedarf es auch eines Verständnisses der Institution die diese Texte darstellen sowie einer Kenntnis von ihrer fortgesetzten Wirksamkeit im Rezeptionsverlauf. Methoden wie die von Harald Goertz haben uns gezeigt, wie diffizil der administrative Rezeptionsweg auf institutioneller Ebene sein kann. Nun wäre es zu begrüßen, wenn wir über eine ähnlich differenzierte Theorie verfügen würden, die uns die intersubjektive und interekklesiale Anerkennung als ökumenisches Geschehen unter Berücksichtigung des Alteritätsaspekts plausibel machen würde. Die Schwierigkeit einer solchen Theorie ist auf jeden Fall darin zu sehen, dass es sich dabei um die Beschreibung eines tendenziell unabschließbaren Dialogs handelt, der unbequemer zu konzeptualisieren ist als ein einmaliger administrativer Prozess. Doch sollte dies kein Grund sein, eine Beschreibung unversucht zu lassen. Das gilt umso mehr, da die ökumenische Bewegung durch einen derartigen Perspektivwechsel durchaus noch etwas hinzugewinnen könnte. Eine – wenn auch theoretisch vermittelte – Einsicht in den intersubjektiven Umgang mit Andersheit und die Möglichkeiten der Verständigung, könnten die Wahrnehmung für das schärfen, was sich tatsächlich zwischen den Glaubenden vollzieht. Die ausschließliche Fixierung auf bestimmte rechtliche Verfahren, von deren Einhaltung der Fortgang der Ökumene eventuell etwas vorschnell abhängig gemacht worden ist, ließe sich aus dieser Perspektive nochmals überdenken. Die ökumenische Theologie hat in den letzten Jahrzehnten zu immer feineren Differenzierungen in ihren Konsensmodellen gefunden, die sich in komplexen theologischen Dialogpapieren niederschlagen. Dem gegenüber steht eine seltsame Unkenntnis darüber, was sich zwischen den Glaubenden verschiedener Konfessionen an theologisch Relevantem ereignet und wie dies theologisch auszudrücken und zu beurteilen ist. Jemand, der sich intensiv mit dem Verhältnis von Text, Identität und gelingender Gemeinschaft auseinandersetzte, war Paul Ricœur. Dass er auch ökumenisch tätig war, ist kaum bekannt. Wir werden im Folgenden Elemente aus der Philosophie von Ricœur heranziehen, um eine authentischere Beschreibung von ökumenischen Rezeptionsprozessen zu liefern und dabei gleichzeitig einen Einblick in sein philosophisches und ökumenisches Denken zu geben.

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3

Aspekte der ökumenischen Rezeption im Werk von Paul Ricœur

3.1

Vorbemerkung

Nachdem wir die aktuelle Debatte um die ökumenische Rezeption skizziert und die darin offenen Fragen bestimmt haben, wenden wir uns, noch immer auf der theoretischen Ebene der Rezeption verbleibend, der Philosophie Paul Ricœurs zu. Mit Bezug auf einige wichtige Partien seines Werkes werden wir versuchen, den Zusammenhang von Textrezeption und Gemeinschaftsbildung genauer zu bestimmen. Nachdem Paul Ricœur uns bereits zu Anfang dieser Untersuchung als Zeuge des gesellschaftlichen und ökumenischen Engagements der französischen Protestanten begegnete und wir im letzten Kapitel seine Meinung zur Verteidigung der Rezeptionsästhetik heranzogen, geht es nun darum, zu zeigen, inwiefern seine philosophischen Überlegungen für das Problem der Rezeption ökumenischer Dokumente von Bedeutung sind. Beginnen werden wir mit einigen Bemerkungen über Ricœurs Verhältnis zur Theologie. Anschließend konzentrieren wir uns darauf, in welcher Weise die ökumenische Theologie bisher von Ricœurs Hermeneutik Notiz genommen hat und stellen einen kaum beachteten ökumenischen Beitrag Ricœurs ausführlich vor.

3.2

Paul Ricœur und die Theologie

Die Entscheidung, gerade Paul Ricœur zum Thema der ökumenischen Rezeption zu befragen, ist kein Zufall. Paul Ricœur, der im Jahr 2005 verstarb, ist nicht nur einer der wichtigsten französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er ist auch der Philosoph der französischen Protestanten und hat in vielen seiner Beiträge eine große Nähe zur Theologie gezeigt, die sich in der Rezeption seines Werkes fortsetzt. Dies zeigt nicht zuletzt die unlängst erfolgte Einrichtung des Fonds Ricœur auf dem Gelände der evangelisch-theologischen Fakultät von Paris, wo neben Ricœurs Privatbibliothek auch ein neugegründetes Forschungsinstitut untergebracht wurde, das u. a. der Pflege und Erschließung

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Aspekte der ökumenischen Rezeption im Werk von Paul Ricœur

seines umfangreichen Textnachlasses dient.1 Daneben gibt es auch eine beträchtliche und beständig wachsende Zahl von theologischen Sekundärwerken, die sich mit Ricœurs Philosophie auseinandersetzen. Dieser großen Wertschätzung Ricœurs von Seiten der Theologie steht allerdings die von ihm selbst an vielen Stellen seines Werks bekundete Absicht gegenüber, die Autonomie des philosophischen Diskurses zu wahren und weder die Theologie noch die Philosophie vorschnell zur Beantwortung letzter Fragen in der anderen Disziplin zu instrumentalisieren.2 Theologie im Anschluss an Ricœur zu betreiben heißt deshalb, die kritische Distanz seines Ansatzes zum theologischen Denken zu akzeptieren und davon ausgehend den Erklärungswert seiner hermeneutischen Analysen überhaupt erst schätzen zu lernen. Im Grunde befindet man sich mit diesem Anspruch ganz auf der Linie von Ricœurs philosophischer Methode, weil deren Spezifik gerade in ihrer Dialogizität liegt. Diese Dialogizität äußert sich darin, dass Ricœurs Philosophie über weite Strecken auf der kritischen Relektüre konkurrierender Interpretationsweisen beruht. Die dadurch erzeugte Gegenüberstellung verschiedener interpretativer Zugänge stellt den Versuch dar, einen methodischen und sachlichen Reduktionismus zu vermeiden und dem Absolutheitsanspruch jedes einzelnen Zugangs die praktische Weisheit des Kompromisses gegenüberzustellen.3 Die Überkreuzung von Philosophie, Textlinguistik, Bibelhermeneutik, Rechtsphilosophie, Psychologie, Geschichtswissenschaft u. a. ist für Ricœurs Denken charakteristisch geworden. Der so vorgeführte Konflikt der Interpretationen erweist sich als eigentlich sinnstiftend und macht nicht nur die epistemologische Breite, sondern auch die vielfältige Anschlussfähigkeit von Ricœurs Werk gegenüber anderen Disziplinen aus. In der französischen Forschungslandschaft nimmt Ricœurs Werk eine Sonderstellung ein. Er ist dort bis heute der wichtigste Vertreter der hermeneutischen Philosophie und damit Repräsentant einer in Frankreich weniger vertretenen philosophischen Richtung. Obwohl auch Ricœur das in Frankreich dominierende Paradigma des Strukturalismus aufnimmt, welches linguistische Phänomene und soziale Vorgänge auf ihre internen Strukturen zurückführt und die Akteure dadurch ihrer eigenen Determiniertheit überführt, ist die allgemeine Orientierung seiner Hermeneutik doch eine gänzlich andere. Denn im Mittelpunkt von Ricœurs Philosophie steht das seiner vielfältigen Bedingtheit zum Trotz handelnde Subjekt (l’homme capable / der fähige Mensch) im Horizont seiner Endlichkeit und Fehlbarkeit, aber auch seiner Fähigkeiten und

1 www.fondsricoeur.fr 2 Ricœur, Selbst, 36; ders., Autobiographie, 36. 3 Greisch, La sagesse.

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Paul Ricœur und die Theologie

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seiner Imaginationskraft.4 Ricœur entschlüsselt die Grammatik jener symbolischen Ausdrücke, in denen das Subjekt sich seiner selbst bewusst wird und durch deren Interpretation es sich und seine Welt versteht. Dabei geht es nicht darum, die hinter einer Aussage, einem Text oder einer Handlung liegenden Strukturen aufzudecken, sondern darum, die Dynamik der Sinnbildung aufzuzeigen, die sich zwischen Texten und Handlungen sowie ihren Rezipienten entspinnt. Ricœurs vielfältige Analysen des erzählenden, handelnden, anerkennenden, erinnernden, verzeihenden – kurzum des sich bezeugenden – Selbst laufen schlussendlich auf eine komplexe Poetik zu.5 Die enge Beziehung, die Ricœur zur Theologie unterhält, ist zunächst lebensgeschichtlich begründet. Ricœur, der aus einem protestantischen Elternhaus stammte, stand als Jugendlicher dem Religiösen Sozialismus nahe und veröffentlichte seine frühesten Beiträge in den Journalen dieser Bewegung. Nach dem Krieg und der anschließenden Kriegsgefangenschaft in Pommern unterrichtete er einige Jahre lang Philosophie am CollÀge C¦venol, einem evangelischen Gymnasium in der südfranzösischen Kleinstadt Chambon-sur-Lignon. Später, als Professor für Philosophie in Strasbourg, Paris und Chicago, griff er in seinen Schriften immer wieder Motive aus der jüdisch-christlichen Tradition auf. Dennoch werden in Ricœurs Werk theologische Fragen selten explizit verhandelt. Eine Ausnahme bildet in gewisser Hinsicht das 1998 gemeinsam mit dem Alttestamentler Andr¦ LaCocque publizierte Buch Penser la Bible.6 Allerdings zeigt sich gerade im Dialog mit dem Exegeten LaCocque, dass der Philosoph Ricœur weniger an dogmatischen Fragen Anteil nimmt, sondern im Wesentlichen an den multiplen hermeneutischen Zirkeln der Textredaktion und der Textlektüre interessiert ist. Die Entdeckung dieser komplexen Hermeneutik und der damit verbundenen Polyphonie der Glaubenszeugnisse bzw. der Arten »Gott zu nennen«,7 sowohl in den heiligen Schriften selbst als auch in den sich auf sie berufenden Interpretationsgemeinschaften, bilden schließlich die Basis von Ricœurs Religionsphilosophie. Systematisch dargelegt hat er sie allerdings nirgends. Stattdessen ist sie an vielen Stellen seines Werks auffindbar, besonders in jenen Aufsätzen, die in dem Band Lectures 3: Aux frontiÀres de la philosophie zusammengefasst und publiziert wurden.8 4 5 6 7

Fiasse, Paul Ricoeur. Thomasset, Paul Ricoeur. LaCocque, Ricoeur, Patte, Bible. Ricœur, Gott, 164. »Es ist die Aufgabe einer philosophischen Hermeneutik, von dem doppelten Absoluten der ontotheologischen Spekulation und der transzendentalen Reflexion zurückzuführen zu den ursprünglicheren Weisen der Sprache, durch die die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft ihre Erfahrung für sich selbst und für die anderen interpretiert haben. Hier ist der Ort an dem Gott genannt wurde.« 8 Ders., Lectures 3.

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Aspekte der ökumenischen Rezeption im Werk von Paul Ricœur

Eine scharfe Trennung von Kritik und Glaube nahm Ricœur immer dann vor, wenn es darum ging, seine philosophische Arbeit vor dem Vorwurf zu schützen, in Wahrheit eine Kryptotheologie zu sein.9 Dies geschah bisweilen sogar um den Preis entscheidender inhaltlicher Kürzungen. Das prägnanteste Beispiel dafür ist Das Selbst als ein Anderer, Ricœurs große Studie über den Status des Subjekts. Er analysiert darin die Ontologie der Selbstheit und tut dies, seiner hermeneutischen Methode der Interpretation symbolischer Formen folgend, anhand der Handlungen, in denen das Selbst sich selbst zu Bewusstsein kommt. Als unverzichtbar für die Konstruktion der Selbstheit erweist sich dabei die Anwesenheit eines Anderen, die dem Selbst in Form einer Anrede immer schon voraus liegt. Dabei bleibt es unentschieden, ob das vorausliegende Andere im Mitmenschen, in der historischen Tradition oder in einem transzendenten Gott zu suchen ist. Im letzten Kapitel von Das Selbst als ein Anderer lehnt es Ricœur sogar dezidiert ab, diese Frage zu beantworten und benennt die Unbestimmtheit des Anderen, die sich hier auftut, als die ausdrückliche Grenze des philosophischen Diskurses.10 Nun ist es allerdings so, dass Das Selbst als ein Anderer aus den von Ricœur 1986 in Edinburgh gehaltenen Gifford Lectures hervorging. An deren Ende standen ursprünglich zwei Beiträge, welche die Konstitution der Identität des Selbst als Resultat einer biblischen Hermeneutik schildern (Le sujet dans le miroir de l’Êcriture / Das Selbst im Spiegel der Schrift) bzw. im Rahmen einer Appellstruktur, in der das menschliche Gewissen vom unbedingt Angehenden betroffen wird (Le soi mandat¦ / Das aufgerufene Selbst).11 Die Identität des Anderen wird darin deutlich auf die Präsenz Gottes zugespitzt und es wird ein Anrede-Antwort-Schema zwischen Gott und Mensch als letzte Quelle der Bewusstwerdung des Selbst in der Instanz des Gewissens suggeriert.12 Ricœur, der in diesem Zusammenhang Ebelings Konzept der dreifachen coram-Relation anschneidet, beendete seine Überlegungen ursprünglich mit der Dialektik des aufgerufenen Selbst. Diese Dialektik tut sich auf zwischen dem nachaufklärerischen Anspruch der Gewissensfreiheit und der nicht auf dem souveränen Denken beruhenden, sondern nur auf Umwegen zu entschlüsselnden Symbolik des Glaubens. In der publizierten Version von Das Selbst als ein Anderer wurden 9 Ders., Selbst, 36. »Wenn ich meine philosophischen Schriften gegen den Vorwurf einer Kryptotheologie verteidige, so hüte ich mich mit gleicher Sorgfalt davor, dem biblischen Glauben eine kryptophilosophische Funktion zuzuschreiben.« 10 Ebd., 426. »Vielleicht muß der Philosoph als Philosoph zugeben, daß er nicht weiß und nicht sagen kann, ob dieses Andere, als Quelle der Aufforderung, ein Anderer ist, dem ich ins Angesicht sehen oder der mich anstarren kann, oder meine Ahnen, von denen es keinerlei Vorstellung gibt, sosehr konstituiert mich meine Schuld ihnen gegenüber, oder Gott – der lebendige, der abwesende Gott – oder eine Leerstelle. Bei dieser Aporie des Anderen bleibt der philosophische Diskurs stehen.« 11 Die beiden Lectures sind zu finden in: ders., Amour. 12 Ebd., 92.

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Zur Hermeneutik Ricœurs

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diese beiden Lectures dann aber schließlich weggelassen und durch jene rein philosophische Schlussbetrachtung ersetzt. Ungeachtet dieser Beschränkungen im Sinne seiner philosophischen Glaubwürdigkeit, wurde der theologische Subtext im Werk Ricœurs wahrgenommen. Dies war gerade auf Seiten der Theologie der Fall, wo insbesondere seine biblische Hermeneutik und seine Ethik zahlreiche Studien inspiriert haben. Nicht nur in Frankreich13 haben Theologen das Werk Ricœurs breit rezipiert, auch international14 fanden seine Ideen Anklang. In Deutschland sind zahlreiche Artikel und mehrere Monographien erschienen, die Ricœurs narratologische,15 texthermeneutische,16 ethische17 und religionsphilosophische18 Ideen aus theologischer Sicht aufgreifen und weiterführen. Da sie bereits vorliegt, ist eine genauere Vorstellung von Ricœurs Gesamtwerk und seines theologischen Potentials an dieser Stelle also nicht notwendig.19 Stattdessen werden wir uns auf die mögliche Bedeutung von Ricœurs Ideen im ökumenischen Zusammenhang konzentrieren und damit sozusagen Neuland betreten. Zuvor soll allerdings gefragt werden, inwiefern Ricœurs Theorie von Vertretern der ökumenischen Hermeneutik bereits wahrgenommen wurde.

3.3

Zur Hermeneutik Ricœurs

3.3.1 Forschungsstand 3.3.1.1 Wahrnehmung seitens der ökumenischen Theologie Dass man in den Publikationen aus dem Bereich der Ökumene bislang bis auf verschwindend wenige Ausnahmen vergebens nach expliziten Darstellungen von Ricœurs Hermeneutik suchte, ist mindestens aus zwei Gründen überraschend. Zum einen deshalb, weil der Philosoph Ricœur offensichtlich noch zu Lebzeiten als Wegbereiter des ökumenischen Dialogs wahrgenommen wurde und zwar sogar von Seiten der Kirchen, insbesondere von der römisch-katholischen Kirche. Zum anderen, weil die wenigen ökumenischen Beiträge, in denen 13 Abel, La promesse et la rÀgle; ders., La juste m¦moire; Causse, L’instant; Dosse, Ricoeur ; Greisch, Paul Ricœur ; Thomasset, Paul Ricoeur. 14 Fiasse, L’autre; dies., Paul Ricoeur ; Mealey, The identity ; Stiver, Theology. 15 Hiller, Geschichte. 16 Orth, Text; Prammer, Hermeneutik. 17 Waldmüller, Erinnerung. 18 Eckholt, Hermeneutik; dies., Dogmatik; Hoffmann, Offenbarung 19 Eine sehr fundierte Einführung in Ricœurs Hermeneutik aus theologischer Sicht ist zu finden in: Wenzel, Glaube. Eine knappe, höchst instruktive Einführung findet sich auch in: Bühler, Leser.

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Aspekte der ökumenischen Rezeption im Werk von Paul Ricœur

Ricœur erwähnt wird, dennoch grundsätzliche Neuorientierungen im Anschluss an sein Denken einfordern. Dass es, wenngleich auch zögerlich, zu einer Rezeption Ricœurs durch ökumenische Theologen kam, liegt daran, dass sich die ökumenische Bewegung in den letzten Jahren zunehmend mit hermeneutischen Fragen auseinander zu setzen hatte und sich Ricœurs Hermeneutik dabei für die Theologie als weitgehend anschlussfähig herausgestellt hat.20 Im Jahr 2003 erhielt Paul Ricœur aus den Händen von Papst Johannes Paul II. den Premio Internazionale Paolo VI. (den Internationalen Preis Papst Paul VI.). Diese Auszeichnung, die zuvor bereits an so bedeutende Theologen wie Hans Urs von Balthasar und Oscar Cullmann vergeben worden war, wurde Paul Ricœur ausdrücklich für seinen »Beitrag zum ökumenischen Dialog zwischen Katholiken und Reformierten« verliehen.21 Die Auszeichnung kam insofern überraschend, als Ricœur, ganz ähnlich wie im Fall seiner Religionsphilosophie, in keiner Phase seines Schaffens seine ökumenische Theorie systematisch entfaltet hat. Gerechtfertigt erscheint die Zueignung dieses Preises gleichwohl, wenn man bedenkt, dass das Paradigma des Dialogs Ricœurs gesamtes Werk durchzieht und dass der Philosoph bei weitem nicht nur über Dialogsituationen schrieb, sondern sich offensichtlich auch immer wieder in diese hineinbegab, ob sie nun interdisziplinärer oder interkonfessioneller Natur waren. Will man seine ökumenische Theorie darstellen, so setzt das allerdings eine gewisse Detektivarbeit voraus, weil Elemente aus verschiedenen Etappen seines philosophischen Werks in sie einfließen und ein Gesamtbild anhand verstreuter Beiträge rekonstruiert werden muss.

3.3.1.2 Anton Houtepen: Ökumenische Hermeneutik (1990) Die einzigen uns vorliegenden Beiträge, die Ricœurs Theorie für die ökumenische Hermeneutik explizit ins Spiel bringen, stammen aus den frühen 1990er Jahren von dem niederländischen Ökumeniker Anton Houtepen.22 Houtepen setzt an einer Stelle an, die auch uns beschäftigt, nämlich bei der Frage nach der Rezeption ökumenischer Texte. Er konstatiert zunächst die geringe Durchsetzungskraft der meisten aus der Konsensökumene hervorgegangenen Texte und fragt nach der Ursache für ihren ins Stocken geratenen Rezeptionsprozess. Die Quelle dieser Schwierigkeiten lokalisiert er schließlich in der Hermeneutik der Texte, die von der ökumenischen Bewegung produziert wurden. In diesen Dokumenten, so stellt er fest, ist man bestrebt, die ökumenische Einheit auf dem gemeinsamen Verständnis des überlieferten biblischen Kanons zu begründen. 20 World Council of Churches, Commission on Faith and Order, A treasure. 21 o. A., Vernunft. 22 Houtepen, Hermeneutik; ders., Ökumene.

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Deshalb steht die Verifikation der übereinstimmenden Auffassung der biblischen Texte in ihrem Fokus. Zu retrospektiv, so Houtepen, ist diese Hermeneutik ausgerichtet. Houtepen analysiert das hermeneutische Vorgehen bei der Schließung ökumenischer Vereinbarungen und stellt fest, dass es im Wesentlichen inspiriert ist von der historisch-kritischen Forschung und damit von einer Art des Textverstehens, welches die ursprüngliche Bedeutung eines Textes in seinem Entstehungszusammenhang freilegen möchte. Tatsächlich hat sich diese Methode durchaus als einheitsstiftend erwiesen, weil »der Rückgang zu den historischen Quellen, zur Ebene der Entstehung der biblischen Schriften oder der historischen Trennungen […] schon öfters [die] anfängliche Verwandtschaft späterer Divergenzen und somit [die] Konvergenz aufgedeckt« hat.23 Auf dem Weg der Textkritik ist es möglich, Fehlinterpretationen aufzudecken, über ein historisches Verständnis Einigkeit zu erzielen und die Anerkennung dieses Verständnisses gemeinsam auszusagen. Dennoch, so Houtepen, ist diese Art der ökumenischen Einigung eher eine Einigung über historische Differenzpunkte, die zu keiner neuen Qualität der Gemeinschaft führt. Der Zustand der ökumenischen Bewegung führt dies vor Augen: »Die Aufdeckung historischer Fehldeutungen führte zwar zum Ende der Exkommunikationen, aber paradoxerweise nicht zur Wiederherstellung der Communio, der koinonia.«24 Genau das ist Houtepen zufolge aber das Ziel der ökumenischen Bewegung: eine Gemeinschaft der Kirchen als Interpretationsgemeinschaft von Christinnen und Christen, die auf einem gemeinsamen Verstehen, Erzählen und Auslegen des biblischen Kanons in der Gegenwart gründet. Die retrospektive Hermeneutik und die in ihr wirksame historische Kritik verfehlen dieses Ziel, weil sie nicht das wesentliche Anliegen der ökumenischen Bewegung zum Ausdruck bringen. Ihnen geht es um den Litteralsinn des Textes und darum, wie dieser ursprünglich gemeint gewesen sein könnte. Das Anliegen der ökumenischen Bewegung, so Houtepen, besteht aber in der Erfahrung des Reichs Gottes und darin, diese Erfahrung heute gemeinsam zu machen, weiterzuerzählen und zu deuten. Er sucht deshalb nach einer prospektiv ausgerichteten Hermeneutik der Kohärenz, einer Hermeneutik, welche die Einheit in Versöhnter Verschiedenheit zulässt und die Gemeinschaftsbildung innerhalb dieser Verschiedenheit nicht ausschließt oder aus Konfessionalismus unterdrückt.25 Wie könnte das Konzept einer solchen Hermeneutik entfaltet werden und wie würde sie sich gegenüber anderen Konzepten des Textverstehens und der Gemeinschaftsbildung verhalten? 23 Houtepen, Hermeneutik, 281. 24 Ebd., 282. 25 Ebd., 286.

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Houtepen zeigt, dass nicht nur der unzeitgemäße Historismus im Umgang mit der biblischen Überlieferung eine Anfechtung für die ökumenische Bewegung darstellt. Auch die postmoderne Kritik, welche die Möglichkeit des Textverstehens und der Textproduktion anzweifelt, indem sie die Referenzfunktion eines Textes, d. h. seine Funktion auf die Wirklichkeit zu verweisen, erst dekonstruiert und dann einer Ideologiekritik unterwirft, lässt ihr Streben nach Einheit fraglich werden. Obwohl der Poststrukturalismus das Forschungsparadigma des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist, scheint es, dass die ökumenische Bewegung in Auseinandersetzung damit nichts zu gewinnen hat. Impulse für eine Hermeneutik der Kohärenz seien im Poststrukturalismus jedenfalls nicht zu finden. Denn wie könnte eine Interpretationsgemeinschaft sich einen durch den Text vermittelten Sinn aneignen, wenn jeglicher Hermeneutik des Sinns eine Absage erteilt wird, wie dies in den Entwürfen von Foucault, Derrida, Lyotard und Baudrillard geschieht?26 Die postmoderne Kritik, die die Verbindung von Signifikanten und Signifikaten aufgelöst hat, lässt stattdessen den Prozess der diss¦mination – der Sinnstreuung – zur Grundbedingung der Beschäftigung mit Texten werden. Das bedeutet: Eine semiotische Analyse von Texten ist zwar möglich: ihre Aktanten und Kodierungen, ihre Transformationen und Verschiebungen, ihre Phänomene und Lexeme können beschrieben werden. Wer dazu Lust hat, kann solche Analysen bei seinem eigenen Wahrheitsspiel benutzen, aber eine hermeneutische Gemeinschaft, die mehr als ein Spiel mit den Texten sein möchte, gibt es überhaupt nicht. Jede Interpretation ist ein willkürlicher Eingriff in einen Prozess der Zerstreuung (diss¦mination) von Sinn. Es kann keine Wahrheit-in-Einheit mehr geben. Es gibt nur Diaspora.27

Wie Houtepen bemerkt, stellen aber auch die klassischen hermeneutischen Konzepte von Gadamer und Dilthey keine echten Alternativen bereit. Denn letztere betonen den Wahrheitsgehalt des Ausgangstextes, demgegenüber jegliches Verstehen ein Anders-Verstehen ist, welches nur die Qualität einer subjektiven Inszenierung hat. Die Normativität der Schriften und die Identität der Interpretationsgemeinschaft sind auch damit nicht zurückzugewinnen. So wendet Houtepen sich schließlich der Theorie Paul Ricœurs zu, der zwar eine Textkritik, eine sogenannte »Hermeneutik des Misstrauens«, als Etappe des Interpretationsprozesses befürwortet, der darüber hinaus jedoch an der Möglichkeit der Sinnbildung festhält. Während das poststrukturalistische Paradigma der Dissemination in den Geisteswissenschaften für Unruhe sorgt, weil jede Behauptung von Sinnhaftigkeit – also im Grunde jeder Diskurs – als Bemächtigungsversuch (miss-)verstanden und darüber hinaus noch als willkürliches Aufrufen von Signifikanten ohne feststehenden Sinn diskreditiert wird, ist Ri26 Ebd., 288. 27 Ebd., 288 f.

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cœur so etwas wie der philosophische Gewährsmann dafür, dass die Sinnsuche noch lohnt. Hier kann, so Houtepen, die ökumenische Bewegung anknüpfen und zwar umso mehr, als Ricœur die Sinnstiftung nicht anders denn als Bewegung der Sinnsammlung versteht, wo »Sprache und Leben, Bios und Logos miteinander verknüpft sind.«28 Die Stiftung eines Sinnzusammenhangs ereignet sich für Ricœur stets im Lebensvollzug als Resultat von Gabe und Aneignung. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine schlichte ideologische Setzung. Ricœur nimmt vielmehr eine feinere Unterscheidung von Sprachsystem und Diskurs vor, als seine (post-) strukturalistischen Kollegen es getan haben. Entscheidend für sein Plädoyer zugunsten einer gelingenden Semiose ist, dass der Sinn auf dem Level des Diskurses gebildet und erfahren wird, d. h. in Sprechakten, komplexen Texten oder Erzählungen, aber nicht auf der Ebene des sprachlichen Systems, wo die Analyse der strukturalistischen Kritik ansetzt. Diese Unterscheidung entspricht dem Perspektivwechsel von der Semiotik zur Semantik. Die Arbitrarität von Zeichen (Signifikant) und Bezeichnetem (Signifikat), die im Poststrukturalismus generalisiert und auf die Ebene des Diskurses übertragen wird, ist ein semiotisches Prinzip, das für das Sprachsystem Gültigkeit hat, für den Diskurs jedoch nicht. Denn auf der diskursiven Ebene der Narration entfaltet der Text seine Referenzfunktion im Akt der Lektüre stets neu, so dass die Referenz gerade kein arbiträres Postulat des Systems darstellt, sondern in jedem Sprechakt neu hergestellt wird.29 Weil der in der Lektüre realisierte Text der diskursiven Sphäre angehört, ist zwischen dem Text und seiner Rezeptionsgemeinschaft die sinnbildende Dynamik unbestreitbar am Werk. Der Vorgang entspinnt sich in der Wahrnehmung seiner Leser an der komplexen Metaphorik des Textes. Für die biblische Überlieferung bedeutet das, dass die in der Schrift gegebenen Symbole nicht im legalistischen Sinn normativ sind, sondern allein in ihrer Funktion, einen göttlichen Sinnzusammenhang entdecken zu lassen, der »die Sache des Textes« ist. Diese Dynamik der Entdeckung, welche die Gemeinschaft auf einen sich vor ihr entfalteten Sinn hin orientiert, erstattet ihrem Selbstverständnis seine prospektive Dimension zurück, die in der historisierenden Texthermeneutik verloren gegangen war. Houtepen stellt fest, dass sich unter den Vorzeichen der postmodernen Dissemination, die nur noch Entwurzelte und Inszenierungen produziert, eine Gemeinschaft, die ausgerichtet ist auf einen ihr vorausgehenden 28 Ebd., 290. 29 Ricœur, Hermeneutik, 111. »Dieses Vordringen des (idealen) Sinnes zur (realen) Bedeutung, Bezogenheit, ist die Seele der Sprache (langage) selbst. […] Das Moment, in dem sich die Wende der Idealität des Sinnes zur Realität des Dinges vollzieht, ist das der Transzendenz des Zeichens. Dieses Moment ist dem Satz gleichzeitig. Erst auf der Stufe des Satzes sagt die Sprache etwas, nicht früher.«

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Sinn, als »kritische Kontrastgemeinschaft« konstituiert. Dieses Selbstverständnis der Kirche Jesu Christi kann nicht ohne Folgen für die Identität der ökumenischen Gemeinschaft bleiben: Ihre ökumenische Aufgabe im 20./21. Jahrhundert ist nicht länger eine zentrifugale Expansion bis an die Grenzen der Erde – das Bild, das die Oikoumene des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat –, sondern eine zentripetale Kohäsion all dessen, was sie in ihren vielen Zentren an Zeichen und Symbolen des gemeinsamen Reiseziels findet. Sie muß hören und sammeln, was der Geist allen Kirchen über den Baum des Lebens im Garten Gottes zu sagen hat (Offb 2,7), damit wir aus einem Munde den Gott loben, der in unserer Zerstreuung bei uns wohnt.30

3.3.1.3 Zur Auseinandersetzung mit dem (Post-)Strukturalismus Houtepen hat in der in der Kürze seines Beitrags die Hermeneutik Ricœurs nur grob skizziert. Doch indem er auf dem Konflikt zwischen Strukturalismus und Hermeneutik abhebt, legt er einen entscheidenden Aspekt in Ricœurs Werk frei – so entscheidend, dass wir Ricœurs Argumentation in dieser Frage näher beleuchten, bevor wir zur Rezeptionsfrage im engeren Sinn zurückkehren. Festzuhalten ist, dass es sich bei Ricœurs Hermeneutik nicht um einen AntiStrukturalismus handelt, wiewohl die Auseinandersetzung damit Spuren in Ricœurs Werk hinterlassen hat. Zwei Dinge machen den Strukturalismus in seinen Augen unplausibel für die Erklärung sprachlicher und sozialer Phänomene: zum einen die Negation der Zeit als Modus der Veränderung von Sprachsystemen und zum anderen die Negation des Subjekts als Sprechendem und im Modus der Sprache Handelndem.31 Strukturalisten und Poststrukturalisten trennen das Sprachsystem (langue) vom Akt des Sprechens (parole) und machen von den internen Relationen des Sprachsystems bzw. von ihrer Auflösung das Gelingen bzw. Scheitern eines Diskurses abhängig. Ricœur stellt fest, dass es sich dabei um eine Reduktion des Phänomens der Sprache handelt und zwar deshalb, weil die Unterscheidung von Sprachsystem und Sprechakt zwar möglich ist, Sprechakte sich jedoch durchaus nicht konform zum Sprachsystem verhalten. So bestreitet er vehement die Unterordnung der Rede unter die invarianten semiotischen Regeln des Systems. Ebenso weist er die poststrukturalistische Vorstellung von Jacques Derrida ab, der ein Subjekt postuliert, welches unter den Bedingungen des zerbrochenen Sprachsystems im dezentrierten, referenzlosen Spiel frei fluktuierender Signifikanten ohnmächtig und willkürlich agiert:32 30 Houtepen, Hermeneutik, 291. 31 Reussner, Paul Ricoeur, Kap.: Une reponse au structuralisme. 32 Derrida, La diss¦mination; ders., L’¦criture.

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Unsere Erfahrung von Sprache enthüllt uns etwas von ihrem Seinsmodus, der sich dieser Reduktion widersetzt. Für uns als Sprechende ist die Sprache nicht ein Gegenstand, sondern eine Vermittlung; sie ist das wodurch und mit dessen Hilfe wir uns ausdrücken und die Dinge zum Ausdruck bringen. Das Sprechen ist ein Akt, durch den der Sprecher die Abgeschlossenheit der Welt der Zeichen mit der Absicht übersteigt, jemandem etwas über etwas zu sagen; das Sprechen ist der Akt, durch den die Sprache sich als Zeichen in Richtung auf ihre Bezogenheit und auf ihr Gegenüber hin überschreitet. Die Sprache will verschwinden und sich als Objekt selber aufheben. […] So stellt sich uns […] die Aufgabe, für das Verständnis der Sprache (langage) das wiederzugewinnen, was vom strukturalen Modell ausgeschlossen wird und was vielleicht die Sprache selbst als Sprechakt, als Sagen (dire) ausmacht.33

Die strukturalistische Trennung von Sprachsystem (langue) und Sprechakt (parole) erfasst Ricœur zufolge noch nicht das Wesen der Sprache. Was die Sprache ausmacht, ist ihr Ereignischarakter. Jedes Mal wenn sich im Element der Rede die Struktur der Sprache in den Sprechakt (bei Ricœur im Anschluss an Emile Benvenistes Linguistik auch »Rede-Instanz« genannt) umwandelt, wird dieser Ereignischarakter in der Dynamik der Semiose anschaulich. Die Strukturalisten waren von der Invarianz des sprachlichen Systems ausgegangen, deren Regeln den Akt der Rede determinierten. Ricœur zeigt auf, dass jeder Sprechakt, d. h. jeder Moment der Aktualisierung der sprachlichen Struktur, auch eine Strukturveränderung herbeiführen kann. Sprechakt und Sprachsystem existieren überhaupt nicht unabhängig voneinander, sondern sie sind durch die Dynamik der Semiose miteinander verbunden. Die sinngebende Funktion der Sprache ist an ihre kommunikative Funktion geknüpft. Jedes sprachlich realisierte Zeichen des Sprachsystems, d. h. jedes Wort, hat zudem ein Potential der Vieldeutigkeit. Das bedeutet, dass es im Prozess der Sinnübertragung (Ricœur spricht hier von der Metapher)34 »die Fähigkeit besitzt, neue Sinndimensionen anzugliedern, ohne die alten zu verlieren.«35 Diese neuen Bedeutungen, die in der Rede kraft neuer Kontexte gefunden werden, wirken umgekehrt auf das Sprachsystem zurück. Gleichwohl ist die Aufladung der Wörter mit neuen Bedeutungen nicht unendlich, sondern wird von der Lexik des Zeichensystems begrenzt – ein Prozess, dessen Resultat Ricœur als »geregelte Polysemie« bezeichnet: Will man diese Arbeit der Sprache (langage) aber korrekt interpretieren, dann muss man es wieder lernen, wie Humboldt mehr in Begriffen des Prozesses als des Systems, mehr in solchen der Strukturierung als der Struktur zu denken. Das Wort (mot) erschien mir als Kristallisations- und Knotenpunkt aller Wechselbeziehungen zwischen der Struktur und der Funktion. Wenn das Wort das Vermögen hat, die Schaffung 33 Ricœur, Hermeneutik, 108. 34 Vgl. ders., Metapher. 35 Ders., Hermeneutik, 118.

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neuer Verstehensmodelle zu erzwingen, so liegt der Grund dafür darin, dass es selber am Schnittpunkt von Sprache (langue) und Sprechen (parole) von Synchronie und Diachronie, von System und Prozess steht. Indem es mittels der Rede-Instanz aus dem System in das Ereignis übergeht, trägt es die Struktur in den Akt des Sprechens hinein. Indem es aber vom Ereignis zum System zurückkehrt, vermittelt es dem System eine Kontingenz und eine Labilität, ohne die dieses sich nicht verändern könnte, ohne die es auch keine zeitliche Dauer erhielte; kurz, es verleiht der Struktur, die an sich außerhalb der Zeit steht, eine »Tradition«.36

Ricœurs Wiederentdeckung der Zeitlichkeit innerhalb der Sprache in Form ihrer Tradition ist das nicht unbedeutende Resultat seiner Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus. Diese Definition von Tradition, die niemals ein abgeschlossenes System darstellt, sondern innovativer Akte dringend bedarf, um überhaupt eine zeitliche Existenz zu haben, ist für Ricœurs Hermeneutik enorm wichtig und taucht in seinem Werk auch dort wieder auf, wo es um politische Institutionen, soziale und – wie in dem eingangs geschilderten Ereignis von 1968 gezeigt – kirchliche Gemeinschaften geht.37 Auf dieser Linie des Zusammenspiels von Tradition und Innovation konstatiert Ricœur zwar die theoretische Möglichkeit einer strukturalistischen Systemanalyse, wendet sich aber in seiner Hermeneutik in einer gegenläufigen Bewegung der nach vorn gerichteten Sinnbildung im Moment des Sagen zu: Je weiter wir uns von der Ebene der Manifestation entfernen, um auf der Suche nach den sublexikalischen Einheiten in die Dichte der Sprache (langage) einzudringen, um so nachhaltiger verstärken wir die Abgeschlossenheit der Sprache. Denn die Einheiten, die wir mittels der Analyse enthüllen, bedeuten nichts. Sie sind bloß kombinatorische Möglichkeiten; sie sagen nichts aus […] Die Heraufkunft des Sagens in unserem Sprechen birgt das Geheimnis der Sprache selbst; das Sagen (le dire) ist das, was ich die Offenheit oder besser : die Öffnung der Sprache (langage) nenne.38

3.3.1.4 Zusammenfassung In diesem Abschnitt haben wir anhand des Beitrags von Anton Houtepen gezeigt, inwiefern die Theorie Paul Ricœurs ein Konzept für die ökumenische Theologie bereitstellen kann. Aus theologischer Sicht entscheidend war dabei zum einen die Wiedergewinnung der zeitlichen Dimension der Sinnbildung. Sie ermöglicht es, wie Houtepen vorführt, von einer retrospektiven Hermeneutik, welche die Einheit der Gemeinschaft in ihrer historischen Überlieferung sucht, abzulassen und zu dem Prozess einer vorwärtsgerichteten Sinnstiftung bzw. Sinnfindung vorzudringen. Unter diesen Vorzeichen erhält die ökumenische 36 Ebd., 121. 37 Vincent, Le concept. 38 Ricœur, Hermeneutik, 122.

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Gemeinschaft das Gesicht einer Interpretations- und Erzählgemeinschaft, die zwar ihr gemeinsames Bekenntnis zur Einheit an ihren überlieferten Quellen ausrichtet, es aber andererseits unter stets veränderten kontextuellen Bedingungen erst auffindet und neu zur Sprache bringt. Entscheidend in Ricœurs Hermeneutik ist auch die Wiederentdeckung des interpretierenden Subjekts. Houtepen überträgt sie auf die ökumenische Gemeinschaft und ihre Akteure, deren Aktivitäten weder prädeterminiert (vs. Strukturalismus) noch insignifikant (vs. Poststrukturalismus) sind. Über den Exkurs in den Strukturalismus und die Entscheidung für eine kritische Hermeneutik hinaus, liefert die Beschäftigung mit dem Beitrag von Anton Houtepen noch eine Einsicht hinsichtlich der Richtung, die wir in unserer Rezeptionsanalyse eingeschlagen haben: Mit der Entscheidung, die Rezeption ökumenischer Texte nicht auf ein juristisches Verfahren zu begrenzen, sondern sie als komplexen Interaktionsprozess, von Texten, Lesern und Institutionen zu betrachten, verkomplizieren wir das Problem der ökumenischen Rezeption erheblich! Ein Stück weit ist dies der Preis für die Entscheidung, das Wortgeschehen, als dessen Teil wir die ökumenische Rezeption theologisch ansehen müssen, im Anschluss an Ricœur und Ebeling als profanes Geschehen zu beschreiben.39 Denn das bedeutet, dass es denselben individuellen und sozialen Kommunikationsbedingungen unterliegt wie alle anderen sozialen Diskurse auch. Auf diese Weise geraten wir nun in unvorhergesehene philosophische Debatten hinein, die z. B. um die Frage geführt werden, inwieweit es eine intersubjektiv gültige Möglichkeit der Sinnerschließung in der Lektüre von Texten oder auch im Dialog miteinander geben kann. Wir sind der Ansicht, dass diese Verkomplizierung zugunsten einer authentischeren Darstellung des Rezeptionsvorgangs sinnvoll ist. Darüber hinaus scheint sie uns dem Denken Paul Ricœurs absolut angemessen zu sein, der allzu oberflächlichen Kategorisierungen gern mit folgendem Dictum zu begegnen pflegte: »Compliquons, compliquons tout!«40 Die von Houtepen Anfang der 1990er Jahre bereits gesuchte Auseinandersetzung mit der poststrukturalistischen Theorie werden wir an dieser Stelle nicht weiter verfolgen. Stattdessen sehen wir die elementare Frage nach der Möglichkeit der Semiose bzw. der Behauptung von verbindlicher ökumenischer Gemeinschaft als Sinnperspektive nach dieser knappen Einführung in Ricœurs Hermeneutik im Horizont der Ökumene als beantwortet an. Damit gibt Houtepens Argumentation uns die weitere Richtung unserer Arbeit vor. Wir legen in 39 Vgl. Kap. 2.2.5.3. 40 »Machen wir es kompliziert. Machen wir alles kompliziert!« Der mit Paul Ricœur befreundete Philosoph Olivier Abel berichtet von diesem ›Slogan‹ Ricœurs in: Reussner, Paul Ricoeur, Kap. Le style Ricœur.

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Form von Ricœurs Ansatz eine Hermeneutik an, welche die Frage nach der Möglichkeit der Sinnerschließung im Rahmen einer Semantik des Diskurses positiv beantwortet. Wir nehmen auch den Gedanken mit, dass es sich dabei nicht nur um eine retrospektive, sondern auch um eine prospektive – und demzufolge eine tendenziell unabgeschlossene – Aktivität der Sinnerschließung handelt. Andererseits würden wir gegen Houtepen bestreiten, dass sich die ökumenische Gemeinschaft ausschließlich auf eine Hermeneutik der Kohärenz festlegen kann.41 Vielmehr scheint es durchaus so zu sein, dass auch sie in mancher Hinsicht einer poststrukturalistisch motivierten, internen Kritik an ihrer eigenen Argumentationsweise bedarf – zwar nicht als globale Bestreitung der Möglichkeit der gemeinsamen Sinnsuche, wohl aber in Bezug auf ihre Motive der Selbstbehauptung in einer globalisierten Umwelt oder ihren Umgang mit Minderheitsvoten in den eigenen Reihen. Doch diese Kritik wurde bereits an anderer Stelle vollzogen und ist nicht der Schwerpunkt unserer Untersuchung.42 Wir konzentrieren uns im Folgenden wieder auf das Gebiet der Rezeption. Das fragile Verhältnis von Textrezeption und Gemeinschaftsbildung, das auch Houtepen schon im Blick hatte, soll anhand von Ricœurs Schriften weiter erhellt werden. Houtepen hatte die ökumenische Gemeinschaft in toto betrachtet, sich auf ihr Verhältnis zu Schrift und Bekenntnis konzentriert und die Bedingungen ihres Verstehens in den Mittelpunkt seiner Untersuchung gestellt. Wir werden diesen Aspekt ebenfalls vertiefen. Darüber hinaus werden wir den Blick auf die Interaktionen innerhalb der ökumenischen Gemeinschaft lenken, um nachzufragen, wie ein gegenseitiges Verstehen und eine Anerkennung zwischen unterschiedlichen konfessionellen Traditionen auf dem Boden derselben Überlieferung denkbar ist und welchen Vorschlag Ricœur zum Problem der gegenseitigen Rezeption bzw. der Rezeption unter den Bedingungen der Alterität macht. Der Einstieg in die Auseinandersetzung Ricœurs mit dem Verhältnis von Identität und Alterität führt über eine Beschäftigung mit seiner Texttheorie.

3.3.2 Textrezeption und Identität 3.3.2.1 Vorbemerkung Wenn wir im Folgenden Teile von Ricœurs Hermeneutik eingehender vorstellen, so wenden wir uns erneut einem Verfahren zu, das sich auf die Erkenntnisse der Textlinguistik stützt. Das könnte im Duktus unserer Untersuchung wider41 Auch von Sinner hat Houtepens Auslegung von Ricœurs Ansatz in diesem Punkt widersprochen. Vgl. Sinner, Hermeneutics. 42 Brandner, Einheit.

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sprüchlich erscheinen. Denn schließlich hatten wir am Ende von Kapitel 2 erklärt, dass es gerade darum ginge, dass einseitige Text-Leser-Schema zu überwinden, wenn wir die Rezeption ökumenischer Dokumente untersuchen wollen. Dafür gab es eine empirische und eine hermeneutische Überlegung. Zum einen fanden wir nicht wenige Hinweise darauf, dass die in den ökumenischen Dialogen produzierten Texte kaum oder nur mit großen Schwierigkeiten von den kirchenleitenden Instanzen rezipiert werden – ganz zu schweigen von der breiten Masse der Glaubenden. Zum anderen hatten wir behauptet, dass das Objekt der Rezeption niemals der ökumenische Text selbst sei, sondern dass dieser bloß ein Vehikel darstellt, um eine Beziehung zu den Glaubenden einer anderskonfessionellen Gemeinschaft zu bezeugen und zu regeln. Kurz gesagt geht es uns nicht um die Rezeption von Texten, sondern um die Rezeption, d. h. die Anerkennung, von Menschen. Den Status der ökumenischen Texte hatten wir deshalb vorläufig zur Disposition gestellt. Denn offensichtlich setzt die Reflexion auf die ökumenischen Dokumente erst eine Reflexion auf das viel fundamentalere Geschehen der wechselseitigen Anerkennung von Glaubensgemeinschaften voraus. Wenn sie aber nicht die bloße Rezeption von Gesetzestexten meint, so kann die wechselseitige Anerkennung nirgendwo anders ansetzen als bei der Identität der verschiedenen christlichen Konfessionsgemeinschaften. Ökumenische Rezeption würde dann jenen Vorgang beschreiben, in dem Mitglieder verschiedener Glaubensgemeinschaften in Interaktion treten, sich ihrer verschiedenen konfessionellen Identitäten versichern und diese in Bewegung bringen. Wie die Verfasstheit dieser Identitäten beschrieben werden könnte, darauf hat der Beitrag von Anton Houtepen bereits wichtige Hinweise gegeben. Ohne jeden Zweifel ist sie aufs Engste verknüpft mit den überlieferten Schriftzeugnissen. Der Grund, weshalb wir an dieser Stelle nun mit Ricœur aufs Neue eine Lektüretheorie für die ökumenische Rezeption ins Spiel bringen, ist genau diesem Umstand zuzuschreiben. Denn von einer Vielfalt der Identitäten unter den christlichen Gemeinschaften zu sprechen, bedeutet, die Unterschiedlichkeit ihrer Lektüre- und Auslegungstraditionen anzuerkennen. Wir werden also im Folgenden noch einmal das Instrumentarium der Rezeptionsästhetik aufrufen, diesmal jedoch nicht, um damit die Lektüre der ökumenischen Konsenstexte zu erhellen, sondern um zu klären welche Bedeutung die Lektüre der biblischen Bücher und die der eigenen Tradition für die Konstitution der Identität einer Gemeinschaft hat. Dabei entfalten wir Ricœurs Konzept der narrativen Identität, das er an verschiedenen Stellen seines Werks entwickelt hat. Die Besinnung auf die identitäre Konstitution von Glaubensgemeinschaften kann dazu dienen, die Bedingungen des ökumenischen Dialogs besser nachzuvollziehen. Zudem lassen sich anhand von Ricœurs Texttheorie einige der bisherigen Annahmen über

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die Textrezeption verifizieren und der Status ökumenischer Dokumente erneut überprüfen. 3.3.2.2 Der Text Ricœurs Texttheorie ist keine Hermeneutik, die dem Leser ein unmittelbares Textverstehen zubilligt. Damit unterscheidet sie sich fundamental von anderen Ansätzen, z. B. von dem Hans Georg Gadamers, der im Akt der Lektüre, genauer gesagt im Prozess der Applikation des Textes, ein Einrücken in dessen Wirkungsgeschehen beobachtete. Auch die Annahme der Romantik, die Lektüre ziele auf ein Gleichziehen mit der Autorintention, unter Umständen sogar auf ein Besserverstehen als der Autor sich selbst verstand, ist für Ricœur nicht mehr nachvollziehbar. Der Idee eines solch unmittelbaren Verstehens bzw. der Vorstellung einer harmonischen Horizontverschmelzung setzt er den Gedanken der Fremdheit bzw. der Distanzierung von Text und Leser entgegen und betont gerade das retardierende Moment im Prozess der Lektüre und damit all das, was sich gegen ein zu rasches Verständnis des Textes verwehrt.43 Begründet wird die Entfremdung von Text und Leser mit dem medialen und strukturellen Wechsel, den ein Diskurs bei seinem Übergang von der mündlichen Rede zum schriftlichen Text durchläuft. Weil der Text als Schrift begegnet, unterscheidet sich die Diskurssituation der Lektüre grundlegend von der des Gesprächs. Ricœur integriert in seine Überlegungen zwei Paradigmen, die bis dato in der Hermeneutik eher unüblich waren. Zum einen die poststrukturalistische Kritik an der bemächtigenden Geste, die dem Verstehen innewohnt und die droht, jeden Verstehensakt in einen Herrschaftsdiskurs zu verwandeln. Diese wird von ihm widerlegt, indem er zeigt, dass der Leser dem Text durchaus nicht jegliche Bedeutung aufzwingen kann, sondern vielmehr als Leser vom Text her interpretiert wird.44 Zum anderen bezieht Ricœur den strukturalistischen Ansatz ein, der den Text in seine semiotischen Bestandteile zergliedert und einer Analyse unterwirft, die scheinbar keinem hermeneutischen, sondern vielmehr einem naturwissenschaftlichen Verfahren entspricht.45 Die Differenz von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Sinnbildung, die traditionell in der Gegenüberstellung von Erklären und Verstehen erfasst wurde, hält Ricœur für überwunden. Obwohl er sich, wie wir zeigten, vom strukturalistischen Vorgehen abgrenzt, schließt er die objektivierende Analyse eines Textes nicht aus, sondern beschreibt sie im Gegenteil als notwendige explikative Phase, die dem Unternehmen der Sinnfindung nützlich 43 Bühler, Leser, 402. 44 Ricœur, Text, 103 ff. 45 Vgl. 3.3.1.3.

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ist. Anders als seine hermeneutischen Vorgänger begreift Ricœur die Anwendung der objektivierenden strukturalistischen Untersuchungsmethoden auf Texte also nicht als unangemessen. Eine solche Textkritik kann im Gegenteil hilfreich sein, um die Legitimität von subjektiven Lesarten zu überprüfen und vereinnahmende Interpretationen zurückzuweisen. Es wäre sogar möglich – und die strukturalistische Textanalyse führt dies vor –, den Text ausschließlich anhand seiner immanenten Relationen auszulegen. Allerdings darf es dabei nicht bleiben, weil die Reduktion auf dieses objektivierende Verfahren dem Gegenstand der Geisteswissenschaften, d. h. dem Engagement des sprechenden und handelnden Subjekts nicht gerecht würde.46 Diese Neubewertung des Verhältnisses von Erklären und Verstehen drückt Ricœur in der Formel »Mehr erklären, um besser zu verstehen« aus.47 Ricœur hält also an der Möglichkeit der Interpretation, d. h. der sinnvollen Erschließung des Textes durch den Leser fest. Er lokalisiert die Bedingung ihrer Möglichkeit allerdings an ungewohnter Stelle, nämlich genau in der Spannung, die sich aus dem Willen zur Sinnaneignung seitens des Lesers und der strukturellen Fremdheit des Textes ergibt. Damit nicht genug, ist es genau diese Spannung, die sich letztendlich für den Leser als Quelle des Bedeutungsgewinns im Vorgang der Lektüre herausstellt. Denn gerade weil der Text sich einem unmittelbaren Verstehen widersetzt, versetzt er seinen Leser in Spannung und zwar in Spannung zu den Wahrnehmungs- und Urteilsgewohnheiten seiner Lebenswelt. Wie ist das möglich? Zunächst gilt es sich bewusst zu machen, was im Vorgang der schriftlichen Fixierung eines Textes geschieht, d. h. im Übergang von der Rede zur Schrift. Stand die Rede noch ganz im Zeichen der Sprecherintention, so lässt sich dies vom geschriebenen Text nicht mehr behaupten. Eine Rede, die verschriftlicht wird bzw. eine Äußerung, die überhaupt nicht ausgesprochen, sondern ausschließlich in Schriftform übertragen wird, bewahrt den Diskurs und weist ihm zugleich, indem sie ihn in die Form des Textes gießt, die Funktion des Archivs zu.48 Nun ist es nicht mehr der Sprecher bzw. der Autor, der den Sinn der gemachten Äußerung verbürgt. Vielmehr steht die Äußerung als Text unbegrenzt vielen Lesern und Lesegemeinschaften zur Verfügung. Der Text, der 46 Ebd., 90. »Wir können als Leser in der Schwebe des Textes bleiben, ihn wie einen Text ohne Welt und ohne Autor behandeln. Dann erklären wir ihn durch seine inneren Beziehungen, durch seine Struktur. Oder aber wir können die Schwebe des Textes aufheben, den Text im Sprechen zum Abschluss bringen, indem wir ihn für die lebendige Kommunikation wiederherstellen. Dann interpretieren wir ihn. Diese zwei Möglichkeiten gehören alle beide zur Lektüre, und die Lektüre ist die Dialektik dieser beiden Haltungen.« 47 Ders., Autobiographie, 44 f. 48 Ders., Text, 82.

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durch den Vorgang der schriftlichen Fixierung gegenüber der Intention seines Autors autonom wurde, »fällt nicht mehr mit dem zusammen, was der Autor sagen wollte. Wörtliche, d. h. Text gewordene, und gedachte oder psychologische Bedeutung haben von nun an unterschiedliche Schicksale.«49 Anders als die hermeneutische Tradition der Romantik, die auf eine Rückgewinnung der Autorintention zielte sowie im Gegensatz zu anderen, welche die Loslösung des Textes von seinem Autor als Degradierung des Textsinns begriffen, betont Ricœur den positiven Wert dieser neugewonnen Autonomie des Textes. Nur scheinbar, so zeigt er, ist diese mit einem Verlust an Bedeutung verbunden. Als dekontextualisierter Diskurs steht der Text nämlich fortan als Sinnressource bereit, um seine Referenz in anderen Kontexten aufs Neue zu entfalten.50 Im Grunde ist auch die Referenzlosigkeit des Textes nur scheinbar. Denn auf der Ebene der Textstruktur sind die sprachlichen Referenzmarker in Form von Demonstrativpronomen, Deiktika, Adverbialbestimmungen von Ort und Zeit etc. erhalten geblieben. Dieses Referenzsystem steht bereit, um die Bedeutung des Textes in jedem Akt seiner Lektüre aufs Neue zu entfalten. Zu einer Deckungsgleichheit mit der Autorintention kommt es dabei allerdings nie. Es zeigt sich, dass der Begriff der Entfremdung oder Distanz (distanciation) von Ricœur nicht nur mit einer ambivalenten, sondern eindeutig mit einer positiven Bedeutung, d. h. mit einer hermeneutischen Funktion belegt wird.51 Wirksam wird die Dimension der Verfremdung im Prozess der Verschriftlichung, wo sie den Text von der Herrschaft seines Autors befreit und auf neue Auslegungen hin öffnet: Diese Autonomie des Textes hat nun eine erste wichtige hermeneutische Konsequenz: die Verfremdung ist nicht das Ergebnis der Methode und also nicht etwas nachträglich Zugefügtes oder gar Schädliches; sie konstituiert vielmehr die Erscheinung des Textes als Schrift; zugleich ist sie die Bedingung der Interpretation. Die Verfremdung ist nicht nur das, was das Verstehen besiegen muss, sondern auch das, was dieses bedingt.52

Andererseits ist die Lektüre auch die unhintergehbare Bedingung der Sinnerschließung. Solange er nicht unter dem Eindruck der Erwartungen eines neuen 49 Ders., Philosophische und theologische Hermeneutik, 28. 50 Ebd., 28. »Diese erste Modalität von Autonomie ermutigt uns dazu, der Verfremdung eine positive Bedeutung zuzuerkennen, im Gegensatz zu dem Verfallscharakter, den Gadamer darin erblickt. In dieser Autonomie des Textes ist vielmehr bereits die Möglichkeit dafür gegeben, dass das, was Gadamer die »Sache« des Textes nennt, dem begrenzten, intentionalen Horizont des Autors entzogen wird; anders gesagt, dank der Schrift kann die Welt des Textes die Welt des Autors zerbrechen lassen. […] der Text muss sich, sowohl unter soziologischem wie unter psychologischem Gesichtspunkt, aus seinem Kontext lösen lassen, um sich in einer neuen Situation wieder in einen neuen Kontext einfügen zu lassen: eben dies tut der Akt des Lesens.« 51 Ders., La fonction herm¦neutique. 52 Ders., Philosophische und theologische Hermeneutik, 29.

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Rezipienten gelesen wird, ist die Referenz eines Textes aufgeschoben. Erst die kreative Lektüre gibt dem Text seine diskursive Bedeutung wieder. Einen Text zu rezipieren heißt also, die Welt des Textes zu aktualisieren und zwar unter den Bedingungen einer doppelten Fremdheit. Zur Fremdheit aufgrund der Loslösung des Textes von der Intention seines Autors gesellt sich die Fremdheit gegenüber dem Leser. Obwohl auch dieser in die Sphäre des Diskurses gehört, unterscheidet diese doppelte Fremdheit den Akt der Lektüre fundamental von der Situation des Dialogs zwischen zwei Sprechern, zwischen denen Einigkeit über den Verweisungsbezug (Referenz) ihres Diskurses herrscht. Wie aber kann es geschehen, dass die Aussage des Textes in der Lebenswelt ihrer Rezipienten eine Wirkung entfaltet? Das hängt mit dem Charakter des Textes zusammen. Die Fremdheit zwischen Text und Leser besteht auf der Ebene ihres Zeit- und Weltverständnisses. Was sich dem Leser im Akt der Lektüre durch sprachliche Zeichen vermittelt erschließt, ist ein Entwurf von Welt, der nicht seinem eigenen Weltverständnis entspricht. Aber diesem Unterschied zwischen der Textwelt und der Welt des Lesers zum Trotz, kann die eine im Lichte der anderen interpretiert und dadurch beeinflusst und transformiert werden. Ursache dafür ist der Modus, in dem die Textwelt dem Leser gegenübertritt: Und dennoch gibt es keine fiktive Rede, die nicht Wirklichkeit erreichen würde, allerdings auf einer anderen, viel fundamentaleren Ebene als der, welche die deskriptive, konstatierende Rede der Umgangssprache erreicht. Ich behaupte, daß die Zerstörung eines primären Verweisungsbezugs durch Fiktion und Poesie die Bedingung der Möglichkeit dafür sei, daß ein sekundärer Verweisungsbezug freigelegt werde, der die Welt nicht mehr nur als Bereich verfügbarer Gegenstände erreicht, sondern als das, was Husserl »Lebenswelt« und Heidegger »In-der-Welt-Sein« nennt. Diese Dimension des Verweisungsbezugs, die wesentlich dem fiktiven und dichterischen Werk entspringt, stellt das tiefste Problem der Hermeneutik dar. Was bleibt zu interpretieren, wenn wir die Hermeneutik nicht mehr definieren können als Frage nach den hinter dem Text verborgenen inneren Absichten eines anderen, wenn wir die Interpretation aber auch nicht auf die Zerlegung der Strukturen beschränken wollen? Ich würde sagen: interpretieren heißt, die Weise des vor dem Text entfalteten In-der-Welt-Seins darzustellen.53

Hier zeigt sich, wie sehr die Sinnerschließung dennoch von der Aktivität des Lesers abhängig bleibt. Den Sinn eines Textes vor dem Text zu interpretieren, bedeutet, das Referenzsystem des Textes als auf die Erwartungen, Entwürfe und Projektionen des Lesers ausgerichtet zu begreifen. Es kann nur insofern von einem hinter dem Text die Rede sein, als der Text stets ein noch unausgeschöpftes Potential der Bedeutung in sich trägt, das bisher nicht realisiert wurde, weil kein Leser mit seinen Erwartungen daran appelliert hat. Dieses Unbewußte 53 Ebd., 32.

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im Text kommt zur Anschauung mit jedem Leser, der eine neue Lektüre wagt und die Welt des Textes auf sein In-der-Welt-Sein bezieht. Doch muss man nun davon ausgehen, dass der Leser letztlich der Meister der Sinnerschließung ist, wenn man schon behauptet hat, dass der Text einer Lektüre bedarf, um seine Bedeutung zu entfalten? Ricœur bestreitet das und erklärt demgegenüber, dass nicht nur der Text durch die Begegnung mit dem Leser eine Referenz gewinnt, sondern dass auch der Leser durch den Text veranlasst wird, sich selbst auf eine neue Weise zu verstehen. Dieses von Ricœur als »SichVerstehen-vor-dem-Text«54 bezeichnete Verstehen ist in seiner Theorie identisch mit der Aneignung jenes Weltvorschlags, den der Text in der Situation dieses speziellen Lesers unterbreitet. Damit ist der weitreichendste Schritt der Interpretation vollzogen. Wohl gemerkt handelt es sich dabei aber weder um einen willkürlichen oder gar bemächtigenden Verständnisakt durch den Leser. Noch haben wir es mit einer vollständigen Übertragung der Textwelt auf die Welt des Lesers, d. h. mit der Aufgabe seiner Subjektivität zu tun. Das Resultat des Verstehensaktes hat vielmehr den Charakter einer »r¦alit¦ mixte«, einer Realität des Zusammenwirkens von Leser und Text, die für den Leser aber durchaus wirklichkeitsverändernd ist, denn: Es heißt nicht, dem Text die eigene begrenzte Fähigkeit des Verstehens aufzuzwingen, sondern sich dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs. Nicht das Subjekt konstituiert also das Verstehen, sondern – so wäre wohl richtiger zu sagen – das Selbst wird durch die »Sache« des Textes konstituiert. Man muss hier aber ohne Zweifel noch viel weiter gehen. Wie die Textwelt nur in dem Maße wirklich ist, als sie fiktiv ist, gelangt die Subjektivität des Lesers zu sich selbst nur in dem Maße, als sie in die Schwebe versetzt, aus ihrer Wirklichkeit gelöst und in eine neue Möglichkeit gebracht wird, wie die Welt selbst, die der Text entfaltet. Anders gesagt: die Fiktion ist eine ebenso grundlegende Dimension des Verweisungsbezugs des Textes wie die Subjektivität des Lesers. Ich, der Leser, finde mich nur, indem ich mich verliere. Die Lektüre bringt mich in die imaginativen Veränderungen des Ich. Die Verwandlung der Welt im Spiel ist auch die spielerische Verwandlung des Ich.55

Es ist charakteristisch für Ricœurs Hermeneutik, dass das Verstehen letztlich ein Sich-Selbst-Verstehen ist, angesichts der Fremdheit der Welt, die der Text aufspannt und jenseits jeglicher Prätention eines kongenialen Gleichziehens mit dem Autor. Den Begriff der imaginativen Veränderungen bzw. Variationen entlehnt Ricœur aus Husserls Phänomenologie. Dennoch, so geheimnisumwittert die Begriffe des »Selbstverlusts« bzw. »Selbstgewinns des Lesers« und der »Textwelt« in der Terminologie von Ricœur 54 Ebd., 33. 55 Ebd.

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und von so manchen seiner Rezensenten auch erscheinen mögen, man sollte sich vor einem Mystizismus oder einer Hypostasierung des Textes hüten. Wie wir schon im Abschnitt über Ricœurs Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus anklingen ließen, hat diese Theorie neben ihrer hermeneutischen Gesamtperspektive auch ein solides textlinguistisches Fundament, d. h. die Metaphorik und die narratologischen Strukturen des Textes, die jene »spielerische Verwandlung des Ich« induzieren, sind überprüfbar.56 Gewiss erscheint der Leser gegenüber dem Text wie ein passiv Beschenkter,57 der um eine neue Perspektive auf sich selbst und seine Welt reicher ist, andererseits gelangt die Sinnstiftung zu keinem Ergebnis ohne die selbstreflexive Aktivität des Lesers. Obwohl es ein Verhältnis der Reziprozität zwischen Text und Leser bzw. einen Synergismus der Interpretation gibt, ist dieses Verhältnis aus unserer Sicht in Ricœurs Ansatz auf die maßgebliche Aktivität des Lesers hin aufzulösen. Die neuen Seinsmöglichkeiten, die der Text dem Leser zuspielt, müssen auch erprobt, die neue Weltsicht in die eigene Weltsicht hineingenommen werden. An dieser Stelle erweist sich Ricœurs rezeptionsästhetischer Ansatz als differenzierter als jener der Konstanzer Schule. Den Bezug zur Lebenswelt des Lesers arbeitet Ricœur genauestens heraus, indem er zeigt, dass die Lektüre und die dabei durchschrittenen imaginativen Variationen den Leser nicht nur auf dem Niveau seiner Phantasie erreichen, sondern tatsächlich sein In-der-Welt-Sein betreffen. Zwar gibt es in der Lektüre tatsächlich ein Moment, das Ricœur als »Stasis« bezeichnet. Darin unterwirft sich der Leser der fiktiven Welt des Textes bzw. zieht sich auf diese zurück, so dass auch seine Lektüre »zu einem gleichfalls unwirklichen Ort [wird], wo das Denken von sich selbst ausruht.«58 Doch wohnt der Lektüre darüber hinaus noch ein anderes, bedeutenderes Moment inne – nämlich das des »Neuaufbruchs«. Darin wird der Leser von der fiktiven Welt des Textes auf seine eigene Lebenswelt zurückgeführt, deren »Lesbarkeit« sich unter dem Eindruck des Lektüreereignisses erhöht hat. An dieser Stelle macht Ricœur eine Verbindung von der Theorie der Lektüre zur Ethik geltend. Ihm zufolge werden im irrealen Bereich der Fiktion stets auch neue ethische Bewertungsweisen von Handlungen und Figuren erforscht und erprobt. Die Erschließungs- und Verwandlungsfunktion des Textes beruht auf diesen imaginativen ethischen Erkundungen, deren Ertrag als Sinnangebot in der Welt des Lesers zur Verfügung steht.59 Selbst wenn der rezipierte Text also nicht in Form eines politischen Programms auf die Le56 Diese ausführliche Darstellung der Semantik des Textes ließ Ricœur in den Büchern Temps et R¦cit (Zeit und Erzählung), Bd. I – III und La m¦taphore vive (Die lebendige Metapher) folgen. 57 Bühler, Leser, 411. 58 Ricœur, Zeit und Erzählung I, 292. 59 Ders., Selbst, 201.

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benswirklichkeit des Lesers zugreift und Befehlsgewalt über sie hat, bleibt er doch nicht ohne Wirkung auf sie. Grund dafür ist, dass der Text das Wichtigste zu verändern vermag, das auch keiner politischen Handlung fehlt: das Verständnis des Handelnden von sich selbst.

3.3.2.3 Narrative Identität Das Konzept der narrativen Identität ist hervorgegangen aus Ricœurs Beschäftigung mit der Erzähltheorie in dem dreibändigen Werk Temps et r¦cit (Zeit und Erzählung). Indem er das Thema der Zeit und ihrer erzählerischen Darstellung aufgreift, knüpft Ricœur an das Problem des »Willentlichen und des Unwillentlichen« an, das er schon in seiner Dissertationsschrift Le volontaire et l’involontaire entwickelt hatte.60 Im Grunde erweist sich die Zeit als die Ebene, auf welcher der dort geschilderte innere Konflikt des Wollens zutage tritt. Er äußert sich darin, dass die eigene Geburt, der Tod oder auch schwere Schicksalsschläge als Zeitphänomene erlitten werden. Sie machen das menschliche Unvermögen, die eigene Existenz zu beherrschen, offenkundig. Zwar sind Geburt und Tod in den Lauf der Zeit eingetragen, doch sind sie in der menschlichen Wahrnehmung mit keiner Erinnerung und keiner Zukunftserwartung verknüpft wie andere Ereignisse. Geht man von dieser Beobachtung aus, so erscheint der kontinuierliche Ablauf der Weltzeit als der eigentliche Akteur der menschlichen Existenz und nicht die vielfältigen Handlungs- und Erinnerungszusammenhänge eines Lebens. Diese nüchterne Erkenntnis wird allerdings nuanciert durch die Beobachtungen Ricœurs in seinem Werk La symbolique du mal (Die Symbolik des Bösen).61 Darin zeigt er, dass das Böse, d. h. das in der Zeit Erlittene, in Erzählungen konserviert und mitgeteilt wird. Bereits in der frühen Phase seines Werks tritt also die Erzählung gleichsam als die Hüterin der Zeit auf. Wohlgemerkt geht der Theorie der Erzählung bei Ricœur immer die Einsicht in die fundamentale Passivität des Menschen gegenüber den in der Zeit geschehenen Ereignissen voraus. Was die Erzählung also letztlich vor Augen führt, ist das menschliche Scheitern am Versuch, das eigene Leben zu beherrschen. Wohl ist in den Erzählungen eine gestaltende Kraft am Werk, die zweifellos von den Erzählenden ausgeübt wird. Doch Ricœurs Perspektive macht deutlich, dass dieses Erzählen die Kontinuität eines Menschenlebens angesichts all dessen was erlebt und erlitten wurde nur zu sichern versucht. Der Erzähler triumphiert nicht über sein Schicksal, indem er es einer Ordnung unterwirft, sondern er muss das Gewesene metaphorisch durcharbeiten.62 60 Ders., Le volontaire et l’involontaire. 61 Ders., Symbolik, 15 ff. 62 Reussner, Paul Ricoeur, Kap. Le r¦cit est le gardien du temps.

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Kehren wir zum Problem der menschlichen Zeit zurück. Es ergibt sich aus der Unvereinbarkeit von zwei Arten, diese wahrzunehmen. Ricœur illustriert sie anhand der Positionen von Augustinus und Aristoteles.63 Einerseits erscheint die Zeit als kosmologische Weltzeit, die in Jahrmillionen zählbar ist, andererseits ist sie erlebte Lebenszeit, die subjektiv als höchst inkohärent wahrgenommen wird. Zwar ist die menschliche Zeit gegenüber dem immensen Ausmaß der kosmologischen Zeit nur ein verschwindendes Fragment. Doch genau in dieser Fragmentierung wird die Frage nach der Bedeutung der Zeit gestellt und ein anderer Zeitbegriff entwickelt. Dieser andere Zeitbegriff, ist das Resultat der Fähigkeit, Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche in die Zukunft zu entwerfen, sich der Vergangenheit zu erinnern und den Augenblick des Jetzt, d. h. die lebendige Gegenwart, als Zeit der Initiative wahrzunehmen. Ricœur rekonstruiert den Konflikt zwischen kosmologischer und phänomenologischer Zeit anhand der Einsicht des Augustinus, dass es unmöglich sei, die Gegenwart zu erfassen, d. h. zu messen, weil das, was gemessen wird, stets schon Vergangenheit ist. Innerhalb einer kosmologischen Zeit, die als insignifikanter, ignoranter Ablauf von Jetztpunkten konstituiert ist, kann der Moment der Gegenwart, ein Heute oder Jetzt als menschlich wahrgenommener Initiativmoment nicht eingeschrieben werden. Doch während es der messbaren Weltzeit an einer Kategorie fehlt, um bedeutungsvolle Zeiträume zu bezeichnen, scheitert andererseits die Seelenzeit des Augustinus daran, die Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachvollziehbar auszusagen. Stattdessen erscheint die Zerrissenheit und Dissonanz zwischen verschiedenen Lebensabschnitten letztlich das Charakteristikum der menschlichen Seele selbst zu sein. Die zwei antiken Ansätze sind unmöglich zu vereinen. Die kosmologische Zeit scheint die Lebenszeit zu ignorieren, aber die phänomenologische Zeit ist unfähig, die Masse der kosmologischen Zeit zu umfassen und wird außerdem durch deren unaufhörliches Voranschreiten zerstört. Für Ricœur lautet schließlich die Frage, wie angesichts des indifferenten, messbaren Verstreichens der Zeit die Vorstellung einer sinnvollen Lebenszeit entfaltet werden kann. Seine Lösung besteht darin, zu sagen, dass der dichterische Akt der Fabelkomposition in der Poetik des Aristoteles eine Antwort auf diese Frage darstellt.64 Die Dissonanz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird in der Erzählung – bzw. im antiken Mythos, der die Referenz für Aristoteles’ Poetik darstellt – in eine konkordante Struktur gebracht. Die Erzählung ist auf diese Weise nicht nur die Hüterin der Zeit, sie heilt auch die zeitliche Zerrissenheit der menschlichen Seele, indem sie eine dritte, narrative Zeit etabliert. Wie ist das vorzustellen? 63 Ricœur, Zeit und Erzählung I. 64 Ebd., 39.

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Ricœur geht davon aus, dass eine Fabelkomposition eigentlich den Versuch darstellt, die Zeit und die darin erlebten willentlichen und unwillentlichen Handlungen und Ereignisse zu ordnen und auszusagen. Er zeigt, dass eine narrative Komposition geprägt ist von zwei widersprüchlichen Prinzipien: von der Forderung nach Konkordanz einerseits und andererseits von der Anerkennung der Diskordanzen in der Handlung, die bis zum Schluss die Einheit der Erzählung gefährden.65 Diejenige Kompositionskunst, die zwischen Konkordanz und Diskordanz vermittelt, bezeichnet Ricœur als Konfiguration.66 Ihre vielfältigen narratologischen Umsetzungen hat er im zweiten Teil von Temps et r¦cit untersucht.67 Sie bewirken auf dem Niveau der Fabelkomposition eine Synthese des Heterogenen. So entsteht eine Dialektik zwischen der vereinheitlichenden Kraft des Konfigurationsaktes und der episodischen Streuung der disparaten Erzählhandlungen. Der Zweck dieses Verfahrens besteht darin, das tatsächliche Handeln der Menschen auf schöpferische Weise nachzuahmen, es neu zu interpretieren und einer Refiguration zu unterwerfen.68 Das Problem der Refiguration der Zeit durch die Erzählung, so notiert Ricœur, wird zwar in der Erzählung aufgeworfen, dort allerdings nicht gelöst.69 Die Refiguration vollzieht sich nämlich erst im Vorgang der Lektüre, den wir im vorangegangenen Abschnitt schon geschildert hatten. Durch die imaginativen Variationen, die der Leser in der Begegnung mit dem Text durchschreitet, werden ihm neue Perspektiven auf seine eigene Lebenswelt und auf diese Weise auch neue Handlungsoptionen eröffnet. Damit die fiktive Handlung aber in der Weltwahrnehmung des Lesers verfängt und schließlich eine Brücke zu dessen Identität zu schlagen vermag, bedarf es eines mächtigen Identifikationspunktes in der Erzählung. Ricœur findet diesen in der Figur, d. h. im fiktiven Aktanten einer Erzählung. Von der Poetik des Aristoteles bis hin zur modernen Narratologie lässt sich nachweisen, dass die Handlung einer Erzählung mit der Identität der Aktanten korreliert bzw. dass die Aktantensemiotik und die Semiotik narrativer Verläufe einander bestärken, so sehr, dass Narration und Identität der Figur auf dem Level der Erzählung in Eins fallen.70 Die gleiche Korrelation nur mit umgekehrter Wirkung lässt sich 65 66 67 68 69 70

Ders., Narrative Identität, 212. Ders., Selbst, 174. Ders., Zeit und Erzählung II. Ders., Narrative Identität, 221. Ders., Zeit und Erzählung III, 293. Ders., Selbst, 182. »Die als Figur der Erzählung begriffene Person ist keine von ihren »Erfahrungen« verschiedene Entität. Ganz im Gegenteil: Sie hat Anteil an dem der erzählten Geschichte eigentümlichen Regelsystem dynamischer Einheit. Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt.«

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beispielsweise im modernen Roman feststellen, wo die Erosion der narrativen Formen mit einem Identitätsverlust der Figur verbunden ist. In jedem Fall ist die Figur, durch die diskordante Konkordanz ihres Handelns und Erleidens charakterisiert, deren Synthese im Rahmen einer (Lebens-)Geschichte in der Erzählung geleistet wird. Im Moment der Aneignung der Textwelt, die Ricœur als Refiguration bezeichnet, sieht sich der Leser nun seinerseits durch den Text interpretiert und dieses Sich-Selbst-Verstehen geschieht bevorzugt durch die Identifikation mit der in der Erzählung gestalteten Figur. »[Der] Gestaltcharakter der Erzählfigur […] bewirkt, daß das Selbst, erzählerisch interpretiert, sich als ein ebenfalls figuriertes Ich erweist, ein ich, das sich so oder so figuriert.«71 Es besteht also eine Parallele zwischen dem in der Erzählung wirksamen Kompositionsprinzip einerseits und andererseits der Art und Weise, wie der Leser die Diskordanz der Ereignisse seiner eigenen Lebenszeit narrativ organisiert. Die Lektüre fiktiver Erzählungen ist der Moment, in dem diese Parallele zutage tritt. Sowohl in der Konfiguration einer Erzählung als auch in der Erzählung einer realen Lebensgeschichte vollzieht sich dieselbe Dialektik, die zunächst nur auf der Ebene der Fabel angesiedelt worden war.72 In beiden Fällen schöpft eine Figur ihre Einzigartigkeit aus der Einheit ihres Lebens. Allerdings sieht diese Einheit in der Zeit sich bedroht durch den Unterbrechungseffekt unvorhersehbarer Ereignisse und Schicksale, so dass die Erzählung einer Fabel, ebenso wie die eines Lebens, einen diskordant konkordanten Charakter aufweist. In Temps et r¦cit III überprüft Ricœur die Parallele von fiktionalen und nichtfiktionalen Texten, indem er die narrativen Strukturen literarischer Erzählungen mit denen der Geschichtsschreibung vergleicht. Dabei zeigt sich eine Überkreuzung: beide nehmen Elemente der jeweils anderen Disziplin in sich auf.73 Selbst die reine Fiktion kann ihren Anspruch auf Wahrscheinlichkeit nicht leugnen und auch die Geschichtsschreibung macht sich die vermittelnde Kraft der Phantasie zunutze, um das Vergangene vor Augen zu führen. Historie und Fiktion nehmen jeweils Anteil am Projekt der Refiguration der Zeit in Form der narrativen Synthese heterogener Ereignisse. Die Refiguration der Zeit in der Erzählung ist demzufolge die angemessene praktische Lösung für das anfangs geschilderte Zeitproblem: die erlebte Zeit erhält im Modus der Erzählung den Status einer sinnvollen Abfolge und die Bestätigung ihres inneren Zusammenhangs. Ricœur lässt die Beziehung zwischen der Identität der Erzählfigur und der Identität einer Person in der Zeit in dem Konzept der narrativen Identität aufgehen: 71 Ders., Narrative Identität, 222. 72 Ders., Selbst, 181. 73 Ders., Zeit und Erzählung III, 294 ff.

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Der zarte Sprößling, der aus der Vereinigung von Geschichte und Fiktion hervorgeht, ist die Zuweisung einer spezifischen Identität an ein Individuum oder eine Gemeinschaft, die man ihre narrative Identität nennen kann. […] Die Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft angeben, heißt auf die Frage antworten: wer hat diese Handlung ausgeführt, wer ist der Handelnde, der Urheber? […] Auf die Frage »wer?« antworten, heißt, wie Hannah Arendt nachdrücklich betont hat, die Geschichte eines Lebens erzählen. Die erzählte Geschichte gibt das wer der Handlung an. Die Identität des wer ist also selber bloß eine narrative Identität.74

Die Grundthese des Konzepts der narrativen Identität lautet, dass ein Mensch oder eine Gemeinschaft für sich oder für andere wiedererkennbar wird anhand der Geschichte, die er oder sie über sich selbst erzählt. Das ist gewiss keine unproblematische Behauptung, die zudem einen komplexen hermeneutischen Zirkel entwirft. Das Selbst, dessen Identität narrativ konstituiert wird, ist gleichzeitig Autor und Leser seines Lebens. Eine solche Identität der diskordanten Konkordanz ist keine stabile, bruchlose Einheit, d. h. sie ist in ständiger Bildung, Umformung und auch Auflösung begriffen. Ricœur notiert, dass das Konzept der narrativen Identität deshalb mindestens ebenso ein Problem, wie eine Lösung darstellt.75 Andererseits ist es genau diese narrative Identität, dieses »Gemisch von Phantasiegebilde und lebendiger Erfahrung«,76 die es ermöglicht, den flüchtigen Charakter des realen Lebens rückblickend zu organisieren und ihm eine Form zu geben, die das Geschehene trotz seiner Brüche und Unwägbarkeiten als notwendig und sinnvoll zu erkennen gibt. Vor dem Hintergrund des Zeitbegriffs, handelt es sich um eine Operation, die den Ereignissen in der Kontingenz der verrinnenden Zeit nachträglich eine Notwendigkeit zuspricht und diese Notwendigkeit in der fortgesetzten Lektüre weiter affirmiert. Um es mit einer häufig von Ricœur verwendeten Formel auszudrücken, handelt es sich um einen Zufall, der zu einem Schicksal wird aufgrund einer kontinuierlichen Auswahl.77 Das Selbst, das auf diese Weise konstituiert ist, ist quasi der Co-Autor des eigenen Lebens, behaftet mit der Einsicht, sein Leben nicht selbst begonnen zu haben. Angefangen bei seiner Geburt, stimmt er in die Wiederfahrnisse seines Lebens ein, indem er in einer retrospektiven hermeneutischen Geste diese in eine diskordante Konkordanz setzt, die die Quelle des Sich-Selbst-Verstehens in der Gegenwart wird. Aber nicht nur die Lektüre der eigenen Lebensgeschichte ist im 74 75 76 77

Ebd., 395. Ebd., 396. Ders., Selbst, 199. Ebd., 182. »Die konkordant-diskordante Synthesis bewirkt, daß die Kontingenz eines Ereignisses zur gewissermaßen nachträglichen Notwendigkeit einer Lebensgeschichte beiträgt, mit der die Identität einer Figur gleichzusetzen ist. So wird der Zufall in ein Geschick verwandelt. Und die Identität der Figur, von der man sagen kann, dass sie in die Fabelkomposition verstrickt ist, läßt sich nur im Zeichen dieser Dialektik verstehen.«

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Konzept der narrativen Identität bedacht. Auch die historischen und fiktiven Erzählungen der umgebenden Kultur, die das Selbst auf sich selbst appliziert, tragen zu seiner Identität bei, in dem Maße, wie es sich deren imaginativen Variationen aussetzt.78 Der Charakter einer solchen Identität bleibt provisorisch und revisionsbedürftig, schon deshalb, weil das Kompositionsprinzip der narrativen Identität nicht auf ein isoliertes Selbst zugeschnitten ist, sondern stets von einer Vielzahl sich ergänzender und konkurrierender Erzählprogramme ausgeht. Die Perspektiven auf die erlebte Lebenszeit von verschiedenen Menschen überlagern einander und sind nicht selten in der Weise verstrickt, dass Erinnerungen nicht der Besitz eines einzigen Identitätsentwurfs sind, sondern in anderen, möglicherweise sogar widersprechenden Gestalten in fremden Lebenserzählungen vorkommen. Hier zeigt sich dann auch ein maßgeblicher Unterschied zwischen den Figuren der literarischen Erzählungen und den Akteuren realer Lebensgeschichten. In Form ihrer konfigurativen Verfahren liefert die Literatur zwar die nützliche Vorlage, um Abbrüche und Neuanfänge des menschlichen Lebens in eine plausible und zumindest befristet gültige Lebensgeschichte zu bringen. Damit ist es aber nicht getan. Das Ziel der narrativen Identität besteht nicht in ihrer narrativen Abgeschlossenheit, sondern im Gegenteil in ihrer diskursiven Offenheit. Diesen Anspruch der Offenheit gilt es doppelt einzulösen und zwar sowohl in der Lektüre des eigenen Lebens als auch im Dialog mit anderen Menschen und Gemeinschaften, deren Zeit- und Weltverständnis sich vom eigenen unterscheidet. Mit der Möglichkeit der subjektiven und intersubjektiven Verhandelbarkeit von Identitätsentwürfen schlägt Ricœurs Theorie erneut eine Brücke von der Narratologie zur Ethik, die auch für die Betrachtung des ökumenischen Dialogs von Bedeutung sein wird. Machen wir uns am Ende dieser Darstellung von Ricœurs Entwurf der narrativen Identität noch einmal bewusst, welcher Art die hier beschriebene Identität der diskordanten Konkordanz ist. Bekanntlich unterscheidet Ricœur am Ende von Temps et r¦cit III bzw. gleich am Anfang von Das Selbst als ein Anderer zwei Figuren von Identität und zwar die Identität des »idem«, die für die Gleichheit im Sinne eines unveränderlichen Selben steht und die Identität des »ipse«, die die Selbstheit im Gegensatz zur Fremdheit meint.79 Der Unterschied zwischen idem und ipse ist kein anderer als der zwischen einer substantialen oder formalen und der narrativen Identität. Die Ipseität entgeht dem Dilemma des Selben und des Anderen insofern, als ihre Identität auf einer Temporalstruktur beruht, die dem Modell einer dynamischen Identität entspricht, wie sie der poetischen Komposition eines narrativen Textes entspringt. Vom Selbst läßt sich daher 78 Ders., Zeit und Erzählung III, 396. 79 Ebd., 394ff; ders., Selbst, 9 ff.

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sagen, dass es durch die reflexive Anwendung der narrativen Konfigurationen refiguriert wird. Im Unterschied zur abstrakten Identität des Selben kann die für die Ipseität konstitutive narrative Identität auch die Veränderungen und Bewegtheiten im Zusammenhang eines Lebens einbegreifen.80

Wir verstehen Ricœurs Unterscheidung von idem und ipse nur dann richtig, wenn wir uns klarmachen, dass es sich im Rahmen einer individuellen oder kollektiven Identität um Pole der Identität handelt, die einander nicht ausschließen, sondern nebeneinander bestehen. Die Stärke der narrativen Identität besteht darin, die beiden Pole des idem und des ipse, d. h. die unveränderlichen Merkmale einer Existenz und die zahlreichen Veränderungen, die sie ohne ihre Selbstheit zu verlieren durchschreitet, zu verbinden. Gewiss gibt es unveränderliche Identitätsmarker eines Menschen und einer Gemeinschaft. Ricœur verwendet dafür den Begriff des Charakters.81 Doch weil derartige Begriffe dazu neigen, die elementare Veränderlichkeit zu verschleiern und damit auch die Einsicht in die individuelle und kollektive Entwicklungsfähigkeit, ist es geboten, innerhalb der Narration einer Existenz den Pol der idemit¦ stets auf die ips¦it¦ hin zu überschreiten. Obwohl beispielsweise die Zuschreibung ein und desselben Namens im Lauf desselben Lebens die Unveränderlichkeit der Identität im Sinne der idemit¦ suggeriert, widerspricht die Lebenserfahrung diesem Eindruck der Invarianz doch fundamental. Körperliche und geistige Veränderungen im Laufe eines Lebens bzw. institutionelle und personelle Veränderungen innerhalb einer Gemeinschaft zeigen deutlich, dass alles im Leben einer Veränderung unterliegt. Bedingt wird die Veränderung durch unwillkürlich Erlittenes, wie z. B. den Alterungsprozess, ebenso wie durch bewusste Veränderungen, z. B. die Aneignung neuer Fähigkeiten und Gewohnheiten. Die Notwendigkeit der Veränderung, d. h. die retrospektive Konstruktion dieser Notwendigkeit mit dem Ziel einer Sinnstiftung, ist nirgendwo anders zu erfassen als in einer Erzählung, die immer einen nachgeordneten Charakter in Bezug auf die ihr vorausliegenden Ereignisse hat. Aber die narrative Identität hat auch eine prospektive Ausrichtung, denn die Relektüre der eigenen Geschichte und der darin unerfüllt gebliebenen Erwartungen wird für das Selbst zu einer Quelle der Gegenwart. Auch die Sorge und die Hoffnung erweisen sich auf diese Weise als kompatibel mit der narrativen Identität, oder wie Ricœur sagen würde: Die stärksten Utopien kommen aus dem, was in der Vergangenheit unrealisiert geblieben ist. Dennoch würde man diesem Konzept nicht gerecht werden, betonte man nur seine Fähigkeit zur Integration und Konfiguration des Heterogenen. Wir müssen noch einmal zur Theorie der Lektüre zurückkehren, um die ganze Stärke der 80 Ricœur, Zeit und Erzählung III, 396. 81 Ders., Selbst, 152.

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narrativen Identität zu erkennen. Wir hatten gezeigt, dass das Sinnangebot eines Textes sich seinem Leser nicht ohne weiteres aufzuzwingen vermag bzw. dass dem Leser unterschiedliche Lektürehaltungen zur Wahl stehen. Die eine hatten wir als »Stasis« bezeichnet und darunter die Art, sich dem Text auszuliefern verstanden, die den Ort der Lektüre zu einem Fluchtpunkt aus der Wirklichkeit werden ließ. Gewiss müsste man verschiedene Textsorten unterscheiden, wenn es um den Charakter der Weltflucht, der Alibiation, geht, den die Lektüre anzunehmen vermag. Eines ist jedoch sicher : Egal welche Art des Welt- und Zeitverständnisses ein Text auch anbietet, es handelt sich niemals um einen ethisch neutralen Standpunkt.82 Deshalb ist jeder Akt der Lektüre auch der Moment einer Entscheidung darüber, in welcher Weise das Gelesene die eigene Weltsicht refiguriert. Wir hatten deshalb mit Ricœur ein zweites Moment der Lektüre stark gemacht, das den Charakter eines Neubeginns aufweist, in dem sich der Leser bewusst oder unbewusst von der Textwelt wieder distanziert und das Gelesene als Aufforderung versteht, anders zu handeln – im Sinne des im Text gemachten Weltvorschlags oder gerade auch nicht. Wenn dies für die Lektüre fiktionaler Texte zutrifft, um wie viel mehr müsste es nicht auch für die Lektüre der eigenen Lebensgeschichte gelten? Gewiss lässt sich das nur von Fall zu Fall beantworten, festzuhalten bleibt aber : Auch die Lebensgeschichten, die im Sinne einer narrativen Identität entwickelt werden, stehen für unterschiedliche Lektürehaltungen offen. Auf den ersten Blick scheint dies seltsam, da Autor, Leser und Protagonist ja ein und dieselbe Person sind. Dennoch ist es plausibel, anzunehmen, dass gerade die Lektüre der eigenen Lebensgeschichte nicht zu einem Ort der Unwirklichkeit wird, in dem der Leser sich in seinen vorgefassten Ansichten über sich selbst bestätigt, sondern dass es zu einem Moment des Neuaufbruchs kommt, in dem er als kritischer Leser seiner eigenen Existenz diese einer Revision unterzieht und sich sein Handeln nicht länger von persönlich tradierten Vorurteilen diktieren lässt. Oder auch als Moment der Selbstbesinnung, in dem die nichterfüllten Visionen des eigenen Lebensentwurfs aufgedeckt und zum Anlass für einen Neubeginn genommen werden. Die eigentliche Stärke der Ipseität als angemessene Auffassung menschlicher Identität besteht Ricœur zufolge genau darin, dieses Moment der ethischen Verantwortlichkeit im Umgang mit der eigenen Lebenserzählung einzufordern und zuzulassen.83 Bleibt diese Chance der Öffnung und des Neuaufbruchs im Rahmen der Identitätskonstruktion ungenutzt, so offenbart dieses Identitätskonzept auch Schwächen. Betrachten wir mit Ricœur zwei Grenzsituationen, welche die mögliche Krisenhaftigkeit im Konzept der narrativen Identität klarmachen. 82 Ebd., 201. 83 Ders., Zeit und Erzählung III, 400.

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Zum einen ist es denkbar, dass der Versuch eine Synthese des eigenen Lebens herzustellen scheitert bzw. dass die Vielzahl der kulturellen und sozialen Identifikationsangebote als unzutreffend empfunden wird und die willentliche Identifikation geradezu verhindert. Diese Krise des Erzählens, die eine Krise der Ichlosigkeit und des Identitätsverlusts ist, konfrontiert das Selbst mit der Hypothese seiner eigenen Nichtigkeit.84 »Wie kann man dann auf der ethischen Ebene ein Selbst aufrechterhalten, das sich auf der narrativen Ebene aufzulösen droht? Wie kann man zugleich sagen Wer bin ich? und Hier sieh mich!« Wie real ein solches Szenario ist zeigen nicht nur Beispiele gescheiterter Identitätsentwürfe in der modernen Literatur, auch das postmoderne Postulat vom Ende der großen Erzählungen lässt das Ausmaß einer solchen Krise erahnen.85 Das Beunruhigende daran ist der Verlust an Einfluss und Kontrolle, der mit dem Verlust der eigenen Identität verbunden zu sein scheint. Doch sind dies überhaupt angemessene Kriterien für die Konstitution einer Identität? Andererseits ist nicht nur ein zu geringes Vermögen, die eigene Identität zu erzählen verhängnisvoll, dasselbe gilt auch für sein Gegenteil. Auch die übermäßige erzählerische Affirmation der eigenen Identität, die gleichbedeutend ist mit dem Rückzug auf die eigene Geschichte, verhindert den intersubjektiven Austausch und führt eventuell sogar zu Verletzungen der moralischen Grenzen einer andersdenkenden Interpretationsgemeinschaft.86 Welches Licht, so ist zu fragen, werfen derartige Entgleisungen auf das Konzept der narrativen Identität? Zunächst zeigen sie die Ambivalenz des Strebens nach Identität, sei es, dass ein Mangel an Identitätsbewusstsein die gegenseitige Zurechenbarkeit unterbindet, weil sich die Indifferenz gegenüber sich selbst auf den Anderen überträgt, sei es, dass ein Übermaß an Selbstbeharrlichkeit keine alternativen Lebenserzählungen zulässt. Darüber hinaus beweisen sie, dass die ursprüngliche Passivität, die der Identitätserzählung vorausgeht bzw. ihr Konstruktcharakter nicht vergessen werden dürfen. Eine Position, welche die Identität als Eigentum ansieht, ist jedenfalls eine Sackgasse und kann leicht in einen Identitätsfetischismus münden. Gerade die »Charakterisierung der Selbstheit durch ein Eigentumsverhältnis zwischen der Person und ihren Gedanken, ihren Handlungen, ihren Leidenschaften, kurzum: ihren ›Erfahrungen‹ ist auf ethischer Ebene nicht ohne Zweideutigkeit.« Mit anderen Worten: »Besitz ist nicht das, worauf es ankommt.«87 84 Ders., Narrative Identität, 224. Als repräsentatives Beispiel dafür nennt Ricœur Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. 85 Ders., Selbst, 205. 86 Ebd., 205. »Zwischen der Einbildungskraft, die sagt, ›Alles kann ich versuchen‹, und der Stimme, die sagt: ›Alles ist möglich, aber nicht alles günstig (wohlgemerkt: für den Anderen und für dich selbst)‹, stellt sich eine tiefe Diskordanz ein.« 87 Ebd., 206.

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Wird die konkordante Diskordanz der eigenen Lebenserzählung als Besitz aufgefasst, so kann die oben geschilderte Öffnung und Transformation nicht aus freien Stücken erfolgen, weil die Refiguration der eigenen Geschichte dann nur als Verzicht empfunden bzw. als Preisgabe der Selbstheit abgelehnt werden muss. Wird das Konzept der narrativen Identität mit dieser Kritik am Besitzdenken hinfällig? Keineswegs. Ganz im Gegenteil zeigt sich nämlich, dass seine Fähigkeit zur Integration und Selbstaffirmation limitierbar ist durch die Anwesenheit des Anderen, für den das Selbst sich zugunsten eines gelingenden Zusammenlebens öffnet, verändert und verfügbar macht. Zwar könnte der Eindruck entstehen, dass Ricœurs Unterscheidung von idemit¦ und ips¦it¦ bzw. sein deutliches Plädoyer für letztere, die Veränderlichkeit der Identität in den Vordergrund rücken. Doch tatsächlich ist die Veränderlichkeit nur ein Aspekt der Ips¦it¦. Gewiss ist die narrative Identität ein authentisches Modell der Diskordanz menschlichen Lebens bzw. der Versuche diese zu überwinden. Das Interesse Ricœurs liegt aber nicht bei der Möglichkeit der Akkumulation persönlicher Erfahrungen in unendlich vielen differenten Lebensgeschichten. Die eigentliche Frage ist, wie Menschen unter den Bedingungen der narrativen Identität verbindliche Formen des Zusammenlebens entwickeln. Einerseits geht es darum, wie Menschen, deren Identität sich unter dem Ansturm immer neuer Erfahrungen und Veränderungen permanent wandelt, füreinander verlässlich und wiedererkennbar bleiben. Andererseits stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, differierende Lesarten der menschlichen Existenz miteinander im Dialog zu vermitteln. Auf das Problem der gegenseitigen Zurechenbarkeit unter den Bedingungen der Veränderlichkeit antwortet bei Ricœur die Phänomenologie des Versprechens.88 Die zweite Frage nach dem Gelingen des intersubjektiven Verstehens werden wir versuchen weiter unten im Blick auf den ökumenischen Dialog zu erhellen.

88 Ricœur, Azouvi, Ehni, Kritik, 126. »Ich habe eine Unterscheidung zwischen zwei Figuren der Identität gewagt, die mir nicht nur sprachlich, sondern auf eine Tiefenstruktur bezogen zu sein scheint: diejenige, die ich idem-Identität nenne, die ›Selbigkeit‹ oder sameness, und diejenige, die ich ipse-Identität nenne, die ›Selbstheit‹ selfhood. Ich gebe gleich ein konkretes Beispiel dafür : Die Selbigkeit ist die Beständigkeit der Fingerabdrücke eines Menschen oder seiner genetischen Beschaffenheit; was sich auf psychologischer Ebene in Form des Charakters zeigt. Das Wort ›caractÀre‹ ist übrigens interessant, denn man verwendet es im Druckgewerbe, um eine unveränderliche Form zu bezeichnen. Dagegen ist das Paradigma der ipse-Identität für mich das Versprechen. Ich werde dabei bleiben, auch wenn ich mich verändert habe; das ist eine gewollte, aufrechterhaltene Identität, die sich trotz der Veränderung verkündet.« Vgl. Ricœur, Selbst, 154.

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3.3.2.4 Die Identität einer Glaubensgemeinschaft Das Konzept der narrativen Identität ist auf das Selbstverständnis von Individuen und auch von Gemeinschaften anwendbar. Unmittelbar nachdem Ricœur den Begriff der narrativen Identität in den Schlussfolgerungen von Zeit und Erzählung eingeführt hat, macht er ihn am Beispiel des biblischen Volkes Israel konkret.89 Die in existenzieller Weise auf ihre schriftliche Überlieferung bezogene Glaubensgemeinschaft stellt das Beispiel schlechthin für eine Identitätstheorie dar, die sich wesentlich auf eine Text- und Schrifthermeneutik stützt. Kein anderes Volk, so stellt Ricœur fest, wurde von seinen eigenen Erzählungen »so ausschließlich und so leidenschaftlich ergriffen.« Die narrative Identität ist selbstverständlich kein exklusives Erkennungsmerkmal der jüdisch-christlichen Gemeinschaften und noch nicht einmal der religiösen Gemeinschaften insgesamt. Dennoch ist die Dynamik innerhalb der narrativen Identität dort besonders gut nachvollziehbar, weil religiöse Gemeinschaften sich insbesondere durch ihre hermeneutische Aktivität auszeichnen und auch unterscheiden. »Das Vorangehen eines konstituierenden Wortes, die Vermittlung durch die Schrift und die Geschichte einer Interpretation« sind schließlich für Ricœur die drei notwendigen Kriterien, die eine Gemeinschaft als religiöse Gemeinschaft charakterisieren.90 Wir können daher im Folgenden die Identität einer Glaubensgemeinschaft als repräsentatives Beispiel für die Konstruktion einer narrativen Identität betrachten und dieses Konzept an ihrem Beispiel weiter vertiefen. Freilich existieren auch Unterschiede zwischen der Identität einer Glaubensgemeinschaft und anderen Formen der narrativen Identität. Dies hängt vor allem mit der normativen Fixierung des religiösen Narrativs in Form von heiligen Schriften zusammen. Die weiter oben schon angeklungene Frage nach der Öffnung und Umformulierung der Identität wird durch das Vorhandensein heiliger Texte nochmals verschärft. Denn obwohl Lebensgeschichten im Rahmen der narrativen Identität als prinzipiell revidierbar dargestellt wurden, erscheint diese Option für den schriftlichen Kanon einer Glaubensgemeinschaft doch wohl eher unplausibel. An welcher Stelle also tritt im Rahmen einer Glaubensidentität die innovative, konfigurierende Kraft der Erzählung zutage und wenn sie zutage tritt, wie ist die Verschiedenheit von Glaubenszeugnissen dann der normierenden Kraft der Überlieferung zuzuordnen? Das Verhältnis von Schrift und Gemeinschaft ist Ricœur zufolge zirkulär : Im Kanon der heiligen Schriften wird zum einen etwas über den Charakter der Gemeinschaft ausgesagt anhand ihrer Gründungsgeschichte und ihres morali89 Ders., Zeit und Erzählung III, 397 f. 90 Ricœur, Azouvi, Ehni, Kritik, 200.

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schen Regelwerks. Andererseits aber wird dieser Charakter überhaupt erst durch die Schriften erschaffen, die ihn bezeugen, in Szene setzen und so die Existenz der Glaubensgemeinschaft historisch verbürgen. »Das Verhältnis ist zirkulär : die historische Gemeinschaft, die sich jüdisches Volk nennt, hat ihre Identität aus der Rezeption jener Texte geschöpft, die sie selbst produziert hat.«91 Da der Begriff des Zirkels für die Identität einer Glaubensgemeinschaft nun einmal eingeführt worden ist, stellt sich die Frage, ob es sich um einen sinnstiftenden hermeneutischen Zirkel handelt, der legitimerweise aus dem Konzept der narrativen Identität hervorgeht oder doch um einen ›circulus vitiosus‹. Die Vorstellung eines solchen geschlossenen Zirkels würde einer Glaubensgemeinschaft, die den Anspruch hat, sich als offene, nicht nur auf ihre Überlieferung, sondern auch auf ihre Gegenwart und Zukunft ausgerichtete Gemeinschaft zu konstituieren, eigentlich nicht entsprechen. Angesichts der kollektiven Bedeutung der Schriften stellt sich im Blick auf die einzelnen Glieder der Gemeinschaft dann besonders die Frage, ob ihre hermeneutischen Aktivitäten im Schema der Zirkularität überhaupt eine produktive Rolle spielen. Die Diskussion darüber, ob der hermeneutische Zirkel eine legitime Weise des Verstehens darstellt, ist eine Debatte, die in Theologie und Philosophie seit langem geführt wird. Erinnern wir uns an Heideggers Dictum, demzufolge es nicht darum ginge, den Zirkel zu vermeiden, sondern im Gegenteil, in ihn einzusteigen, weil nur aus dieser Teilnehmerperspektive das Woraufhin des Daseins nachvollziehbar sei, welches ohnehin das eigentliche Objekt allen Verstehens bilde. Oder an Gadamers Standpunkt, der an Heideggers ontologischen Verstehensbegriff anknüpfte und den hermeneutischen Zirkel dort für am konsequentesten vollzogen hielt, wo der Leser sich in der Wirkungsgeschichte des Textes stehend und dadurch in seinem Vorverständnis korrigiert wiederfand. Man wird zugeben müssen, dass man im Fall des hermeneutischen Zirkels die Vorstellung eines circulus vitiosus und den Vorwurf, dieser hätte nichts Neues hervorzubringen, angesichts seiner zahlreichen Fürsprecher ad acta legen muss. Insbesondere der Begriff des Zirkels selbst bedarf hier freilich einer Präzisierung. Denn tatsächlich beschreibt er ja nicht etwa den logisch irrelevanten Schluss aus einer zuvor induzierten Voraussetzung, sondern er rekurriert vielmehr auf die Vorstellung einer Spirale des Verstehens, welche eine vorwärtsgerichtete, stufenweise Gewinnung von Sinn beschreibt.92 Ricœur macht im Blick auf die narrative Identität der christlichen Glaubensgemeinschaft nicht einen einzigen, sondern gleich mehrere Zirkel geltend. Der erste ergibt sich aus der jüdisch-christlichen Vorstellung des geoffenbarten Wortes. Das Wort ist der Gemeinschaft äußerlich, wird aber nur in den Zeug91 Ricœur, Zeit und Erzählung III, 398. 92 Ströker, Bedeutung.

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nissen der Gemeinschaft konkret erfassbar, insbesondere in ihren heiligen Schriften. Die Schrift ist die Stiftung des Wortes, die ihm gegenüber nur den Status einer »Spur« aufweist, obwohl sie ihm gleichzeitig »so etwas wie einen Leib« gibt.93 Das Wort begründet die Schrift, ist aber nicht anders als nur über die Schrift zugänglich. Der zweite Zirkel ist das Resultat der »gegenseitigen Erwählung« zwischen dem inspirierten Wort und der interpretierenden und bekennenden Gemeinschaft. Er schließt den ersten Zirkel in sich ein, sofern er sich zwischen dem Pol der Offenbarung (Wort/Schrift) und dem Pol ihrer Interpretation (Glaubensgemeinschaft) entspinnt. Die Gemeinschaft sieht sich gegründet durch die Schriften, deren Offenbarungscharakter sie erst anerkennt. An dieser Stelle finden wir den ersten Hinweis darauf, dass es sich hier nicht um einen geschlossenen, sondern einen offenen Zirkel handelt. Dieser Hinweis wird von der hebräischen Bibel gegeben – genauer gesagt von dem, was Ricœur als deren »Rhythmus« bezeichnet.94 In Anlehnung an die Ideen des Exegeten Paul Beauchamp95 unterscheidet er die Schrift in Gesetz, Propheten und Weisheit und zeigt, dass jede dieser drei Textsorten, das Außerhalb des Textes, d. h. die Identität der sie rezipierenden Gemeinschaft, auf eine andere Art darstellt. Im Gesetz und in den Ursprungserzählungen wird die Interpretationsgemeinschaft mit einer stabilen, geschlossenen ethisch-narrativen Identität ausgestattet. Demgegenüber haben die Prophetenbücher eine genau entgegengesetzte Wirkung, weil sie die Fragilität der Verkündigung und die bedrohlichen historischen Umstände, unter denen ihre Hörergemeinschaft lebt, unverhohlen aussprechen. Die Schriften der Weisheit schließlich bedienen sich einer Diskursform aus der nicht-jüdischen Umwelt und öffnen die Identität der Gemeinschaft damit auf die Universalität der Kulturen hin.96 Auch dieses Verhältnis von Austausch, kultureller Aneignung und Abgrenzung zwischen verschiedenen Religionen und Kulturen bezeichnet Ricœur als zirkulär.97 Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass es bereits im biblischen Kanon einen Rhythmus von Offenheit und Geschlossenheit gibt, der sich zur Rezeption anbietet. Suggeriert man nämlich ausgehend von diesem polyphonen Befund an biblischen Textsorten mit dem Konzept der narrativen Identität einen herme93 94 95 96 97

Ricœur, Phänomenologie, 87. Ders., Verflechtung, 114. Beauchamp, L’un et l’autre testament. Ricœur, Verflechtung, 109 f. Ders., Phänomenologie, 92. »Man hätte folglich Unrecht, diese wechselseitigen Erklärungen für bedauerliche Kontaminationen oder gar für Perversionen zu halten; es handelt sich vielmehr um ein unausweichliches historisches Schicksal, denn niemand lebt und denkt, außer indem er sich über seinen anderen versteht. Ein anderer logos als derjenige der jüdischen, christlichen und muslimischen Schriften vermittelt unaufhörlich zwischen den Glaubenden und dem lebendigen Wort Gottes.«

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neutischen Zirkel der Identitätsbegründung, so muss bzw. darf die außerhalb des Textes konstituierte Identität dieser polyphonen Spannung von Offenheit und Geschlossenheit in den biblischen Büchern entsprechen. Das bedeutet: Im hermeneutischen Zirkel der Schriftauslegung und der Identitätskonstitution ist nicht ein zirkuläres Gleichverstehen, sondern ein offenes Neu- und Andersverstehen angelegt. Nicht erst zwischen dem kanonisierten Text und seinen heutigen Lesern, sondern bereits innerhalb der biblischen Texte finden sich Anhaltspunkte für das, was Ricœur folgendermaßen ausdrückt: »Geschlossenheit der Tradition, die Depositum geworden ist; Offenheit der Einbildungskraft, die auf neue kulturelle Situationen antwortet.«98 Das christliche Kerygma, das mit dem Anspruch auftritt, »die Schrift zu erfüllen«, impliziert also nicht deren moralische Verengung, sondern im Gegenteil die Realisierung der vielfältigen Weltvorschläge der biblischen Bücher, deren Gemeinsamkeit nur darin besteht, dass sie alle »Gott anzielen.«99 Das christliche Kerygma stellt eine Erweiterung des ursprünglichen Zirkels der Schriftinterpretation dar und es zeigt, wie groß die Kapazität dieser Schriften ist, sich zu öffnen bzw. in neuen kulturellen Kontexten Anerkennung zu finden. Diese Anerkennung wird in den christlichen Kirchen begleitet von einem vielschichtigen und vieldeutigen Interpretationsgeschehen, aus dem verschiedene Interpretationstraditionen hervorgehen – eine Bewegung, die Ricœur als »geregelten Pluralismus« (pluralisme r¦gl¦) bezeichnet.100 Ricœur betont weiterhin, dass sich im religiösen Verstehensakt jedes einzelnen Glaubenden die bis hierhin für die Gemeinschaft beschriebene zirkuläre Bewegung der gegenseitigen Erwählung »miniaturisiert« und wiederholt. In der Verkündigung artikuliert sich das Wort je neu, muss aber von den Glaubenden erfasst und angeeignet werden, um von konstituierender Kraft zu sein: Im Unterschied zur Anhängerschaft an eine philosophische Schule, eine Anhängerschaft, die argumentativ vertreten und gerechtfertigt werden kann, zumindest bis zu einem gewissen Punkt, hat die Zugehörigkeit zu einem religiösen Bekenntnis einen einzigartigen Charakter. Zu Beginn handelt es sich für die meisten um einen Zufall der Geburt, für manche um das Risiko einer Konversion; unterwegs verwandelt sich die Kontingenz in eine begründete Wahl, um in einer Art Schicksal zu kulminieren, das dem umfassenden Verständnis der anderen, von einem selbst und der Welt sein Siegel aufdrückt, im Zeichen der Rezeption des Wortes eines Anderen, das in seinen historischen Spuren aufgefunden und über lange Interpretationsverkettungen vermittelt wird. Solcherart ist der existenzielle Zirkel: ein Zufall, der durch eine kontinuierliche

98 Ders., Verflechtung, 114. 99 Ders., Gott, 170. 100 Ders., Verflechtung, 114. Ricœur zitiert in diesem Zusammenhang gern das Dictum Gregors des Großen: »Die Schrift wächst mit denen, die sie lesen.«

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Wahl in ein Schicksal verwandelt wird. Die Wette des Glaubenden ist, dass dieser Zirkel nicht vitiös, sondern gesund und belebend sei.101

Dieser existenzielle Zirkel des Glaubens, der vom Zufall des Angeredetseins, über die Wahl zum Schicksal voranschreitet, bringt eine spezielle Form der Zugehörigkeit hervor, die am treffendsten mit der Figur des Zeugen beschrieben werden kann.102 Bei Ricœur gibt es eine deutliche Parallele zwischen dem Zeugen, d. h. dem Anhänger einer Interpretations- und Glaubensgemeinschaft und dem Rezipienten eines Textes. Beide werden von einer externen Anrede getroffen und durch diese Begegnung zu ihrem eigenen Selbst- und Weltverständnis in Spannung versetzt. Die verfremdende Funktion des Textes und ihre weltverändernde Wirkung werden in Ricœurs Theorie so stark betont, dass sich unwillkürlich die Frage nach der Autonomie des Zeugen bzw. des lesenden Subjekts stellt. Auf der Ebene des Textverstehens wurde gesagt, »dass das Selbst durch die Sache des Textes konstituiert würde.«103 Dieselbe Erfahrung ist es, die Ricœur zufolge auch von einem Glaubenden gemacht wird. Doch was ist es, das dann in Ricœurs Theorie an die Stelle der Autonomie des glaubenden Subjekts tritt? Der schlichte Gedanke einer Heteronomie, einer Fremdbestimmung wäre – gerade in Analogie zu Ricœurs Texttheorie – unplausibel. Schließlich hatte sich darin gezeigt, dass der Leser ungeachtet der Entfremdung, in die der Text ihn versetzt, ein nicht unerhebliches Maß an ethischer Entscheidungskraft behält. Ricœur geht es darum, genau diesen oberflächlichen Widerspruch zwischen einem autonomen, sich selbst setzenden Subjekt einerseits und einem autoritären Offenbarungsbegriff andererseits zu überwinden.104 An die Stelle dieser Aporie von absoluter Souveränität und absolutem Gehorsam tritt bei ihm die Vorstellung einer nicht-heteronomen Abhängigkeit. Abhängigkeit und Selbstbestimmtheit werden also fast bis zur Ununterscheidbarkeit verschmolzen. Doch was trägt dieser Begriff aus? Einerseits weist er darauf hin, dass sich der Glaubende in einer Abhängigkeit befindet, die der kartesianischen Vorstellung eines souveränen Bewusstseins vollkommen widerspricht. Die aus der Theorie der Lektüre bekannte Überlegung, der zufolge der Leser den rezipierten Text nicht meistert, d. h. ihm keinen beliebigen Sinn aufzuzwingen vermag, wird dabei übertragen auf den Glaubenden, der seine eigene Existenz liest wie einen Text. Ricœur liefert uns hier ein Beispiel, an dem die Fragilität und die Konstrukthaftigkeit der narrativen Identität greifbar werden. Denn auch die Glaubensbiographie ist narrativ kon101 102 103 104

Ebd., 93 f. Ders., Zeugnisses. Ders., Offenbarung, 74. Ebd., 62; ders., Theonomie.

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struiert, doch das glaubende Selbst ist nicht fähig, deren Rohmaterial nur aus sich selbst heraus zu setzen. Mehr noch, es ist so vollkommen ergriffen von den Ereignissen, die es durch die Offenbarung erfährt, dass die Arbeit der heterogenen Synthese demgegenüber vollkommen provisorisch erscheint. Schließlich ist es genau diese Einsicht in die Abhängigkeit von einem größeren Überlieferungszusammenhang, gerade diese Bewegung des Entsagens des Bewusstseins, der Einstimmung in die eigene Passivität, die die Gestalt des Zeugen konstituiert. Die Sache des Zeugen ist kein deskriptiver Diskurs, sondern eine hermeneutische Geste, die eher Ergriffenheit als Verständnis zum Ausdruck bringt: Wir existieren weil wir erfasst werden von den Ereignissen, die uns im starken Sinn des Wortes zustoßen: diesen völlig zufälligen Begegnungen, diesen Dramen, diesen Erfahrungen von Glück und Unglück, die, wie man sagt, den Kurs unserer Existenz geändert haben. Die Aufgabe uns mit ihrer Hilfe zu verstehen, ist die Aufgabe, den Zufall in Schicksal zu verwandeln. Das Ereignis ist unser Meister. Das gilt für die Existenz jedes Einzelnen von uns wie für diejenige der Gemeinschaften, zu denen wir gehören: Wir sind völlig abhängig von bestimmten Gründungsereignissen. Diese sind keine Ereignisse, die vorübergehen, sondern Ereignisse, die andauern. Sie sind in sich Ereignis-Zeichen. Uns selbst zu verstehen heißt fortzufahren, sie zu bezeugen, von ihnen zu zeugen.105

Wie ist es nun um den anderen, den nicht-heteronomen Pol der Glaubensexistenz bestellt? Ist er mit diesem Offenbarungsverständnis, das sich in vollständiger Ergriffenheit äußert kompatibel? Man kommt Ricœurs Begriff der nichtheteronomen Abhängigkeit vielleicht am Ehesten auf die Spur, wenn man sich klarmacht, dass Abhängigkeit nicht Unterwerfung meint. Dem Einstieg in den Zirkel des Glaubens geht eine externe Anrede voraus, die zu unterscheiden ist von einer unberechtigten Forderung nach Gehorsam. Stattdessen so Ricœur, ist die Anrede durch Gott in der polyphonen Gestalt des Textes ein Anruf, der seine Annahme nicht erzwingt.106 Formuliert in dichterischer Sprache appelliert dieser Ruf zuerst an die Einbildungskraft seiner Empfänger und an ihre Fähigkeit, sich selbst als in einem anderen Überlieferungszusammenhang stehend wahrzunehmen. Die biblische Anrede ist kein moralischer Diskurs, sondern ein poetischer.107 Seine Referenz ist nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche, eine 105 Ricœur, Offenbarung, 80. 106 Ebd., 83. 107 Ebd., 70. »Der Entwurf einer Welt, die sich in der biblischen Sprache neue Welt, Neuer Bund, Reich Gottes nennt, ist die ›Sache‹ des biblischen Textes, die vor dem Text entfaltet wird. Schließlich und vor allem ist die Sache des biblischen Textes indirekt angezielt, jenseits der Suspension des deskriptiven, didaktischen, informativen Diskurses. Und diese Aufhebung der Referenz auf die von uns manipulierbaren Objekte, lässt die Welt unseres ursprünglichen Verwurzeltseins aufscheinen. Schließlich bahnt sich, ebenso wie die Welt der poetischen Texte sich einen Weg durch die Trümmer der innerweltlichen Objekte der alltäglichen Realität und der Wissenschaft bahnt, das neue Sein, das vom biblischen Text

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andere Art des In-der-Welt-Seins. Diese Textwelt besitzt die Durchsetzungskraft einer starken Utopie und kann deshalb auch auf die ethischen Entscheidungen seiner Empfänger einwirken. Gewiss führt sie ihre Leser zuerst in die Krise und konfrontiert sie mit der Forderung eines neuen Selbst- und Weltverständnisses.108 Aber dennoch erzwingt der Text seine Aneignung nicht. Die Welt der biblischen Texte begegnet zudem in einer solchen inhaltlichen und formalen Fülle, dass sie ihren Lesern ein immenses Interpretationsspektrum anbietet und neben der Autorität des Überlieferungszusammenhanges und der Passivität der Angeredeten gerade die Zwanglosigkeit und Vieldeutigkeit seiner Interpretationsmöglichkeiten zum Vorschein bringt. Dies ist schließlich der Ort der innovativen Narrative, die unter dem Eindruck der Offenbarung als Lebens- und Glaubenserzählungen ausgesagt werden. Dabei verschiebt sich der Blick von der Annahme einer Inspiration der biblischen Texte zur tatsächlich erfahrbaren Inspiriertheit seiner Leser, deren Interpretationsleistungen den Text realisieren, indem sie ihn interpretierend immer wieder überschreiten. Den größten hermeneutischen Zirkel, der die Beziehung von Wort und Schrift sowie von Schrift und Gemeinschaft umfasst, erkennt Ricœur folgerichtig im Geist: Der Glaube, wie er von den Gläubigen bekannt wird, aber auch wie er in Imagination und Wohlwollen unter Aussetzung des Glaubensvollzugs verstanden werden kann, besteht also darin, zu glauben, dass das ›innere Zeugnis des Heiligen Geistes‹ – seitens der Gemeinschaftsform der Hörenden und Interpretierenden – und die Inspiration, die den Schriften von diesen Gemeinschaften zugeschrieben wird, das Werk ein und desselben Geistes sind.109

Der Geist ist bei Ricœur also der Raum, der den »geregelten Pluralismus« der Glaubenszeugnisse zusammenhält. In ihm bewegen sich die unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften und Auslegungstraditionen, die ihrerseits konstituiert sind durch die existenziellen Glaubensaussagen ihrer Mitglieder. Es ist eine Gemeinschaft, die einerseits ein Maß an Geregeltheit besitzt durch ihre gemeinsame Überlieferung, die als Textwelt durchaus normierend wirkt und die die Glaubensaussagen nicht beliebig sein lässt. Andererseits ist der Gemeinschaft auch eine Pluralität eigen, die in derselben Überlieferung gründet und sich aus ihrer jeweils nur kontextuell und historisch bedingten Aneignung ergibt. Die Zuordnung von Einheit und Verschiedenheit in dieser Theorie ist markant. Zum einen ist sie geprägt von der Vorstellung der Unverfügbarkeit des entworfen wird, einen Weg durch die Welt der alltäglichen Erfahrung trotz der Geschlossenheit dieser Erfahrung. Die Macht zur Projektion dieser Welt ist eine Macht des Bruchs und der Öffnung.« 108 Hoffmann, Pneumatologie, 72. 109 Ricœur, Verflechtung, 115.

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gemeinsamen Ursprungs. Die Einsicht, dass das die Gemeinschaft begründende Wort nur in der »Spur« der Schrift zugänglich wird und dass diese »Spur« ihrerseits nur unter den Bedingungen einer doppelten Verfremdung – durch die Polyphonie der Schrift und die Unterschiedlichkeit der Kontexte – interpretiert wird, suggeriert ein bestimmtes Konzept des Dialogs zwischen verschiedenen derart konstituierten Gemeinschaften. Der Dialog kann demzufolge nämlich nicht über den gemeinsamen Ursprung geführt werden, weil dieser nirgends objektivierbar ist, sondern nur über die unterschiedlichen Arten seiner Auslegung, die wiederum den Selbstverständnissen der Interpretationsgemeinschaften entsprechen. Damit dieses Gespräch nicht an einem heillosen Relativismus scheitert, sondern ein innerer Zusammenhang der einzelnen Glaubensausdrücke behauptet werden kann, muss ihm die nicht anders als in Form einer analogisierenden Übertragung110 zu habende Annahme vorausgehen, dass jede der Interpretationsgemeinschaften am Zirkel des Geistes teilhat. Diese Haltung des Vertrauens in die geistliche Begründetheit der Glaubensäußerung eines Anderen bezeichnet Ricœur als »interkonfessionelle, interreligiöse Gastfreundschaft«.111 Ricœurs religionsphänomenologische Überlegungen sind wie geschaffen, um als Ausgangspunkt für eine ökumenische bzw. eine interreligiöse Hermeneutik zu dienen. Umso erstaunlicher ist es, dass man dieser Schnittstelle in der theologischen Forschung bisher kaum nachging. Wir werden dies im Folgenden tun und dazu Äußerungen Ricœurs heranziehen, die das Problem des interkonfessionellen Dialogs direkt aufgreifen.

3.4

Der ökumenische Dialog

3.4.1 Vorbemerkung Der einzige zusammenhängende Beitrag den Paul Ricœur unseres Wissens nach dem Thema der Ökumene gewidmet hat, stammt aus dem Jahr 2000. Es handelt sich um einen kurzen Vortrag, der auf einem Kolloquium in Trient (Italien) gehalten wurde. Das gemischt-konfessionelle Kolloquium fand dort drei Tage lang zum Thema Lutero e i linguaggi dell’Occidente (Luther und die Sprachen des Abendlandes) statt. Den Ort und den Titel des Kolloquiums nahm Paul Ricœur zum Anlass, um ökumenische Fragen zu thematisieren und eine Verbindung von Sprachphilosophie und Theologie herzustellen. Zudem fand die Veranstaltung unter dem 110 Ders., Phänomenologie, 89. 111 Ebd., 90.

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Aspekte der ökumenischen Rezeption im Werk von Paul Ricœur

Eindruck der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GE) statt, die nicht lange zuvor im Oktober 1999 unterzeichnet worden war.112 Erstmals publiziert wurde Ricœurs Vortrag in den Akten des Kolloquiums113 und dann ein weiteres Mal in einem Sammelband zum Thema Übersetzung.114 In der französischen protestantischen Wochenzeitung R¦forme erschien zudem ein ›Interview‹, das in einigen Passagen mit diesem Vortrag übereinstimmt.115 Da der Text bislang nur auf Italienisch publiziert wurde, fügen wir unsere eigene Übersetzung von Ricœurs Trienter Vortrag ins Deutsche dieser Arbeit als Anhang bei.116 Im Folgenden geben wir zunächst ein kurzes Resümee von Ricœurs Vortrag und konzentrieren uns anschließend in einer ausführlicheren Lektüre auf seine Schlüsselstellen.

3.4.2 Resümee Paul Ricœur hat in mehreren Texten und Interviews seine Skepsis gegenüber der offiziellen Konsensökumene ausgedrückt.117 Auch den Beitrag auf dem Trienter Kolloquium beginnt er mit einem sachlichen, aber kritischen Blick auf die Übereinstimmung, die zuletzt zwischen Lutheranern und Katholiken in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre erreicht wurde. Seine Kritik trifft allerdings nicht den Inhalt des Konsenses und dessen mögliche oder unmögliche Vereinbarkeit mit den Bekenntnisschriften, was bekanntlich der Gegenstand der im Vorfeld der Unterzeichnung der GE heftig geführten Debatte war.118 Auch die Legitimität des »differenzierten Konsenses« – des der GE zugrunde liegenden hermeneutischen Modells – diskutiert Ricœur nicht. Stattdessen zollt er der erreichten Übereinstimmung seine Anerkennung, zitiert die GE wörtlich und betont, dass diese die »Denkarbeit« zeigt, welche »in jeder der Traditionen (die ich lieber als Lektüre- und Interpretationsgemeinschaften der biblischen Schriften bezeichnen würde) geleistet wurde.«119 Bereits in diesem Zitat wird deutlich, dass Ricœurs Verständnis vom ökumenischen Dialog sich vor dem Hintergrund seines Modells der narrativen Identität einer Glaubensgemeinschaft bildet, welches wir im vorangegangenen Kapitel ausführlich darLutheran World Federation, Die gemeinsame Erklärung. Ricœur, Concilio. Ders., Il dialogo ecumenico. Mouton, Paul Ricoeur. Das französische Originalmanuskript, auf dem unsere Übersetzung beruht, befindet sich im Fonds Ricœur in Paris. Der Abdruck im Rahmen der vorliegenden Arbeit erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fonds Ricœur, der alle Rechte an diesem Text besitzt. 117 Ricœur, Azouvi, Ehni, Kritik, 227; ders., Les protestants vus par un protestant, 7. 118 o. A., Stellungnahme theologischer Hochschullehrer. 119 Ricœur, Il dialogo ecumenico, 94.

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gestellt hatten. Die Relevanz dieses Konzepts für die ökumenische Hermeneutik konkretisiert sich nun. Zu Beginn seines Vortrags zeichnet Ricœur den Konsens in der Rechtfertigungslehre nach, den er für »grundlegend und unverzichtbar« hält. Dennoch äußert er Zweifel an der ökumenischen Reichweite der GE, weil jene im Konsens über die Rechtfertigungslehre doch nur den »harten Kern« der biblischen Botschaft ausdrückt, ohne aber dessen »Sinngehalt« zu erfassen. Letzterer wird, so Ricœur, erst in dem »Handeln und dem Fühlen« einer Interpretationsgemeinschaft wirklich anschaulich. Wenn der Konsens also darauf zielen soll, verbindlich und tragfähig zu sein, so müsste er den interkonfessionellen Austausch über die »persönlich[en], gemeinschaftlich[en], sozial[en] [und] politischen« Konsequenzen der Rechtfertigungslehre anregen. Aus der gegenwärtigen Gestalt des Konsenstextes kann Ricœur ein solches Engagement aber nicht ableiten trotz seiner Plausibilität in der Sache: Der gesuchte Konsens in diesen vielfältigen Dimensionen des Sinns scheint nicht reduzierbar zu sein auf eine Übereinstimmung über Aussagen, deren Begrifflichkeiten sorgfältig abgewogen wurden, wo jedes Komma wohl kalkuliert ist und in denen die Argumente einer unflexiblen Logik der Nicht-Widersprüchlichkeit unterworfen wurden, die wenig sensibel ist für die Paradoxa und die Arbeit an Symbolen.120

Ricœurs Skepsis gegenüber diesem Konsenspapier resultiert also daraus, dass seine »Formulierungen« die Dynamik des Glaubens, d. h. die Zirkularität, die narrative Kraft, den Zeugnischarakter und das subtile Verhältnis der nichtheteronomen Abhängigkeit nicht erfassen und angemessen zur Sprache bringen. Der zu beanstandende Perspektivverlust auf die Struktur des Glaubensverständnisses veranlasst Ricœur schließlich dazu, die ökumenische Hermeneutik der GE in seinem Beitrag beiseite zu lassen und ihm einen eigenen ökumenischen Entwurf an die Seite zu stellen. Dieser setzt folgerichtig genau beim Problem des Glaubensverständnisses an. In gewohnt poetischer Weise schildert Ricœur in seinem Trienter Vortrag das Phänomen des Glaubens: Der Akt des Glaubens richtet sich nicht auf isolierte Aussagen und auch nicht auf einen Lehrkorpus, der aus einer Aneinanderreihung von Aussagen besteht, so wie jene, über welche sich die Unterzeichner der Gemeinsamen Erklärung von Augsburg geeinigt haben. Stattdessen richtet er sich auf das, was ich »Sinnkonstellationen« [paquets de sens] nennen möchte. Wenn beispielsweise Paul Claudel an einem Weihnachtsabend zum Katholizismus konvertiert, gelehnt an eine Säule der Kathedrale Notre-Dame in Paris, so bekennt er sich nicht auf eine quasi enumerative Weise zu einer Sammlung von Glaubensartikeln, Satz für Satz, sondern zu einem organischen Ganzen, dessen spirituelle Kohärenz er erahnt. Er wendet sich sozusagen dem Katholizismus seiner Zeit insgesamt zu, in einer gewagten Geste des Glaubens, des Vertrauens gegenüber einer 120 Ebd., 96.

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Tradition, die durch einen Eigennamen identifiziert wird, einen Titel, eine Autorität, eine Ausstrahlung, einen Einfluss, der für wohltuend erachtet wird. Genau das bezeichne ich mit dem vorläufigen Terminus der »Sinnkonstellation«: so wie sich die mehr oder weniger gelehrten Formulierungen der großen christlichen Konfessionen dem Denken und dem Herzen zur Einstimmung anbieten.121

In dieser Passage zum Glaubensverständnis können wir Ricœurs Konzept des existenziellen Zirkels wiedererkennen (möglicherweise leicht angepasst an die Erwartungen seiner mehrheitlich katholischen Zuhörer in Trient). Der komplexe Sachverhalt des Zirkels wird an dieser Stelle nicht entfaltet, sondern durch den weniger belasteten Begriff ›Sinnkonstellation‹ ersetzt. An der Beschreibung des Glaubensaktes ändert sich dadurch aber nicht viel. Geschildert wird auch hier der Beginn einer Glaubensbeziehung. Das durch eine schriftliche Überlieferung empfangene Wort schickt sich an, zu einem Schicksal zu werden aufgrund der kontinuierlichen Wahl seines Empfängers. Diese äußert sich schließlich in der narrativen Integration in eine Lebensgeschichte, die wiedererzählt werden kann wie das Bekehrungserlebnis von Paul Claudel. Wie wir im vorangegangenen Kapitel zeigten, bildet diese Glaubensstruktur den unverzichtbaren Kern der christlichen Gemeinschaft, die ihre kollektive Identität in den schriftlichen Überlieferungen empfängt und objektiviert. Die christlichen Gemeinschaften sind demnach, so betont Ricœur, in erster Linie Trägerinnen einer »spirituellen Ganzheit«, d. h. einer von vielfältigen Narrativen und Praktiken geprägten Tradition. Die daraus entstehende Interpretationsvielfalt kann am Ehesten mit dem weiter oben eingeführten Begriff des »geregelten Pluralismus« (pluralisme r¦gl¦) erfasst werden. »Geregelter Pluralismus« meint, dass die »Formulierungen« einzelner Interpretationsgemeinschaften, d. h. die kollektiv anerkannten Glaubensaussagen einzelner Konfessionen, punktuelle Zuspitzungen darstellen, die sich innerhalb der »spirituellen Ganzheit« des Christentums bewegen, aber diese nicht ausschöpfen. Die NichtÜbereinstimmung zwischen der spirituellen Ganzheit des Glaubens und der Begrenztheit einzelner Formulierungen entwickelt sich schließlich, so Ricœur weiter, zur Quelle der ökumenischen Konflikte. Aus der Perspektive Ricœurs kann gefolgert werden, dass schmerzhafte ökumenische Konflikte, die sich vom Beziehungsabbruch bis zur Unterdrückung Andersdenkender steigern können, der Preis sind für den Anspruch, angesichts des fundamentalen Pluralismus der Glaubensgemeinschaften ein absolutes, abgeschlossenes Glaubenssystem aufrichten und exklusiv durchsetzen zu wollen. Gleichwohl wird genau dieser Anspruch immer wieder vertreten, wie die Vielfalt der christlichen Bekenntnisschriften zeigt, in denen auch mit Exklusivaussagen nicht gespart wird. Der 121 Ebd., 97.

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Versuch der gewaltsamen Durchsetzung einzelner Interpretationsweisen in Vergangenheit und Gegenwart stellt das bedauerliche Resultat einer solchen hermeneutischen Verengung dar. Der Philosoph Ricœur formuliert demgegenüber eine zweifache hermeneutische Aufgabe. Ihr Ziel ist es, die wachsende interkonfessionelle Verständigung zu fördern, dabei aber den »geregelten Pluralismus« der Glaubenszugänge nicht zu übergehen. Diesem Anliegen dient letztlich auch Ricœurs Aufdeckung der existenziellen Glaubensstruktur. Denn die hermeneutische Aktivität jedes einzelnen Glaubenden im Vorgang der Bekenntnisbildung zeigt die Relativität und die Grenzen dogmatischer Exklusivaussagen und weist demgegenüber auf die Bedeutung aller Glaubenden als Akteure im Rahmen einer authentischeren ökumenischen Hermeneutik hin. Die erste hermeneutische Aufgabe besteht Ricœur zufolge darin, ein Bewusstsein für die eigene Tradition zu entwickeln. Das geschieht, indem ausgehend von den eigenen Bekenntnisaussagen der Weg der Traditionsbildung zurückverfolgt wird zu den ›Sinnkonstellationen‹, welche die Entwicklung der Bekenntnisse einst in die eine oder andere Richtung beeinflusst haben. Die Tradition einer christlichen Gemeinschaft, wie sie heute in Narrativen und Bekenntnisaussagen bereitgehalten wird, kann auf diese Weise wieder in der »Dynamik ihrer Ausgestaltung«, d. h. auch in ihrer Bedingtheit und Revidierbarkeit sichtbar werden. Die Glaubensgemeinschaft, die sich dieser Aufgabe unterzieht, erarbeitet sich sozusagen im Akt der Relektüre der eigenen Gründungserzählung ein anderes »Selbst-Bewusstsein«: Auf diesem Weg habe ich meine eigenen Überzeugungen definiert, die das sind, was sie sind, wie eine Folge von Zufällen, die sich in ein Schicksal verwandelt haben, dank einer kontinuierlichen Auswahl. Die großen Konfessionen – und ebenso die kleinen – haben sich selbst so konstituiert, bis sie die Trägerinnen der verschiedenen Lektüre- und Interpretationstraditionen der Gründungstexte wurden.122

Der zweite Teil der selbstgestellten hermeneutischen Aufgabe, dem Ricœur den übrigen Teil seines Vortrags widmet, besteht darin, ein Verfahren zur Überwindung der Kontroverspunkte vorzuschlagen, welche zwischen den verschiedenen Interpretations- und Glaubensgemeinschaften bestehen. Ricœur zieht dazu zwei Paradigmata heran, das Paradigma der Übersetzung und das Paradigma der Vergebung. Er beendet seinen Beitrag schließlich mit einem Plädoyer für die Beteiligung aller Glaubenden am ökumenischen Dialog und setzt sich dafür ein, diesen stärker als Aufgabe auf dem elementaren, existenziellen Niveau der ›Sinnkonstellationen‹ wahrzunehmen.

122 Ebd., 98.

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3.4.3 Das Paradigma der Übersetzung 3.4.3.1 Die Analogie von Religion und Sprache Den Zusammenhang von Glaubensverständnis, Übersetzung und Vergebung werden wir in den beiden folgenden Abschnitten ausführlicher darstellen. Dabei wird der Hintergrund von Ricœurs Trienter Vortrag im Rückgriff auf andere Texte deutlich werden. Bevor Ricœur die Analogie zwischen Sprache und Religion im Paradigma der Übersetzung für den ökumenischen Dialog fruchtbar macht, hat er sie bereits an anderer Stelle anklingen lassen. Bereits in einem früheren Essay zur Phänomenologie der Religion hebt er die Verwandtschaft von Religion und Sprache hervor. Er führt sie auf die Tatsache zurück, dass beide zwar als universale Erscheinungen angesehen werden, auf der anderen Seite aber immer nur in ihren partikularen Ausprägungen wahrnehmbar sind: »Kurz gesagt ist die Religion wie die Sprache selbst, die sich nur in einzelnen Sprachen realisiert.«123 Das philosophische Anliegen, eine generelle Religionsphänomenologie zu entwickeln, gerät durch diesen Umstand an seine Grenzen. Zwar versucht die vergleichende Religionswissenschaft genau dies, indem sie eine externe Perspektive auf die Erscheinungsformen des Religiösen einnimmt und den übergreifenden Zusammenhang der partikularen religiösen Gemeinschaften in einem System plausibilisiert. Doch lässt sich Ricœur zufolge solch ein objektivierender Standpunkt unabhängig von jeder religiösen Zugehörigkeit mit dem einzelnen existenziellen Glaubensakt nicht auf einen Nenner bringen. Die beiden Perspektiven sind schlicht nicht ineinander wiederzufinden. Wenn nun aber aus der Perspektive eines Glaubenden, der im existenziellen Zirkel der Offenbarungserfahrung steht, dennoch die gemeinsame Teilhabe aller Glaubenden an einem Phänomen des Religiösen behauptet werden soll, so kann das nur in Form einer Analogiebildung geschehen. Diese besteht darin, dass dem Mitglied einer anderen Glaubensgemeinschaft, dieselbe rezeptive und imaginative Fähigkeit gegenüber dem Angeredetsein durch Gott zugetraut wird wie sich selbst. Der Begriff des Zutrauens ist markant in diesem Zusammenhang. Denn eine Sicherheit darüber, dass der Andere tatsächlich in demselben existenziellen Zirkel steht, kann es nicht geben. Es gibt sie gewiss nicht auf dem Niveau einer religionswissenschaftlichen Gesamtsicht und sie ergibt sich auch nicht einfach aus der Begegnung mit einem Andersgläubigen, dessen Weltsicht dem Selbst in letzter Konsequenz verborgen bleibt. Die gegenseitige Anerkennung, die sich dennoch zwischen den Glaubenden verschiedener Religionsgemeinschaften ergeben kann und die, weil sie durch keine Metaperspektive ver123 Ders., Exp¦rience, 162.

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bürgt wird, ein außerordentliches, zuerst nur als gemeinsamer Wunsch formuliertes Verhältnis ist, bezeichnet Ricœur mit dem Begriff der Gastfreundschaft. Bezogen auf das Verhältnis von Religions- bzw. Konfessionsgemeinschaften prägt Ricœur dafür die Formel der »interreligiösen, interkonfessionellen Gastfreundschaft.«124 Der Terminus ergibt sich erst durch eine Ableitung vom Begriff der »linguistischen Gastfreundschaft«. Letzteren wendet Ricœur auf das Verhältnis von Fremdsprachen im Zustand ihrer gegenseitigen Übersetzung an. Dieses Modell der Übersetzung, das Ricœur auch in seinem Trienter Vortrag in ökumenischer Hinsicht erläutert, wollen wir nun genauer betrachten. Wie ist, so lautet unsere Frage, die Übertragung einer linguistischen Konstellation auf das Niveau des ökumenischen Dialoges möglich? Wir betrachten zuerst die Übersetzung als linguistisches Paradigma und wenden uns jenen Eigenschaften der Sprache zu, die im Vorgang der Übersetzung entscheidend sind. Anschließend gilt es, Ricœurs Phänomenologie der Selbstheit zu erfassen, um neben der linguistischen auch die anthropologische und letztlich die interkonfessionelle Dimension der Übersetzung aufzudecken. Übersetzung zwischen Sprachen – Übersetzung zwischen Glaubensgemeinschaften, wie ist diese Analogie nachvollziehbar? 3.4.3.2 Die Übersetzung als linguistisches Paradigma Ricœur geht von der Übersetzung als einer praktischen Tatsache aus. Eine universale Sprache gibt es nicht, ungeachtet aller Versuche, die Linguisten und Sprachphilosophen unternommen haben, um diese bzw. deren grundlegende Strukturen wiederzufinden. Dennoch gibt es eine Universalität und zwar in dem Vermögen zu sprechen. Dieses Vermögen, das die Fähigkeit einschließt, Dinge symbolisch zu bezeichnen und die Symbolisierung in einem System zu institutionalisieren, ist für Ricœur ein »Kriterium der Menschlichkeit.«125 Die Universalität der Sprachfähigkeit bestätigt sich einerseits im allgemeinen Sprachgebrauch und wird andererseits genau darin auch widerlegt. Das liegt daran, dass sich die universale Sprachfähigkeit immer nur in verschiedenen regionalen Ausprägungen, d. h. in unterschiedlichen Sprachen und Dialekten zeigt. Dadurch gewinnt die Sprache den Charakter der konfusen Zerstreuung und nicht etwa den der Einheitlichkeit. Die Rede von einer absoluten Sprache, auf die alle anderen zurückführbar wären, tritt angesichts der Realität der sprachlichen Streuung in ihrer bloßen Konstrukthaftigkeit zutage. In der Praxis zeigt sich nun allerdings, dass diese Dissemination der Sprachen 124 Ebd., 164. 125 Ders., Le paradigme, 23.

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durchaus kein Katastrophenszenario darstellt, sondern ein alltäglicher Zustand ist. Mehr noch, dieser Zustand wird nicht nur ausgehalten, sondern von den verschiedenen sprachlichen Gemeinschaften in der Wechselseitigkeit der Begegnung effektiv gemeistert. Dies geschieht auf dem Weg der Übersetzung. Mehrsprachigkeit bzw. die Fähigkeit, fremde Sprachen zu erlernen, hat es zu allen Zeiten gegeben. Interlinguistische Übersetzung findet statt und sie stellt eine der Zerstreuung gegenläufige Bewegung dar : Die Übersetzung gehört zur großen Litanei des ›Trotzdem‹. Trotz der Bruderkriege setzen wir uns für die universelle Brüderlichkeit ein. Trotz der Heterogenität der Idiome gibt es Zweisprachige und Mehrsprachige, Interpreten und Übersetzer.126

Dieses Zitat deutet es an: Hinter dem Paradigma der Übersetzung verbirgt sich für Ricœur viel mehr als ein sprachliches Phänomen. Auch hier wird eine Brücke zur Ethik geschlagen, indem die Pluralität der unterschiedlichen Sprachen mit der Pluralität der unterschiedlichen Weltsichten und moralischen Prinzipien parallelisiert und als vermittelbar dargestellt wird. Das Paradigma der Übersetzung stellt auf diese Weise in Ricœurs Philosophie das exakte Gegenstück zum Pluralismus der narrativen Identitätsbildung dar. Wir werden diesen Punkt später vertiefen. Kehren wir zunächst zum linguistischen Paradigma zurück. Jede Übersetzung und jeder Übersetzer sieht sich mit einem Dilemma konfrontiert, das Ricœur in der Alternative von Treue oder Verrat gegenüber dem Ursprungstext erblickt. Etwas weniger dramatisch ausgedrückt handelt sich dabei um das Risiko, eine schlechte Übersetzung anzufertigen, die dem Sinn des Ausgangstextes nicht gerecht wird. Deutet sich eine Lösung dieses Dilemmas an? Für Ricœur nicht. Er macht darauf aufmerksam, dass die prinzipielle Möglichkeit der Übersetzung zwar besteht, dass dies aber nicht bedeutet, dass es ebenfalls möglich wäre, die Identität zwischen dem Ausgangstext und dem übersetzten Text logisch zu verifizieren. Was eine Übersetzung zu erreichen vermag, ist bestenfalls eine Äquivalenz der Sinnsphären. Diese Äquivalenz vermag aber niemals in eine nachprüfbare Sinnidentität zwischen Ausgangssprache und Empfangssprache umzuschlagen. Grund dafür ist, dass es zwischen den beiden Texten keinen dritten gibt, der als Schiedsrichter dienen und authentische Kriterien für den tatsächlichen Sinn liefern könnte. Es muss also bei einer Äquivalenz bleiben, die vom Anspruch einer absoluten Übereinstimmung abrückt. Ebenso gilt es, die Vorstellung der einen, absoluten und guten Übersetzung aufzugeben, mangels ausreichender Kriterien, diese zu bestimmen. Was aber nicht aufgegeben werden muss, ist das Unternehmen der Übersetzung selbst. Statt zur Konzentration auf den absoluten Sinn, lädt Ricœurs Beitrag deshalb dazu ein, in die Praxis der Übersetzung einzutreten. Diese 126 Ebd., 33.

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zeichnet sich weniger durch eine Technik aus als vielmehr durch einen Geist. Der Geist der Übersetzung ist der Geist der Gastfreundschaft. Er umfasst die Trauer über den Verlust der Eindeutigkeit, aber auch die Schaffensfreude, wenn es darum geht, diesen Verlust zu überbrücken. Die Trauer über den Verlust der absoluten Übersetzung macht das Glück des Übersetzens aus. Ausgehend vom Verlust einer absoluten Sprache ist das Glück zu Übersetzen ein Gewinn, wenn die Diskrepanz zwischen der Übereinstimmung [ad¦quation] und der Äquivalenz akzeptiert wird und die Äquivalenz ohne die Übereinstimmung. Darin besteht sein Glück. Wenn der Übersetzer die Nicht-Reduzierbarkeit in dem Verhältnis des Eigenen und des Fremden eingesteht und auf sich nimmt, wird er mit der Anerkennung der unüberschreitbaren Dialogizität des Übersetzungsaktes belohnt, die der vernünftige Horizont des Verlangens zu Übersetzen ist. [… Der Übersetzer] vermag […] sein Glück in dem zu finden, was ich gern als »sprachliche Gastfreundschaft« bezeichne.127

Der Verzicht auf die Behauptung einer absoluten Sprache bildet hier den Rahmen für die Absage an die Möglichkeit einer absoluten Übersetzung und auch für die Absage an die Omnipotenz des Übersetzers gegenüber seinem Text. Dieser Verzicht auf eine absolute, eindeutige Form befreit den übersetzten Text ein Stück weit von rigoristischen Urteilen. Denn er bedeutet, dass ein Text durch seine Übersetzung nicht zwangsläufig eine Degradierung erfährt. Kein Text ist schlecht, nur weil es sich bloß um eine Übersetzung handelt. Gewiss ist er mit dem Ausgangstext nicht identisch, doch über seine Sinnhaftigkeit wird nicht pauschal, sondern in jedem Akt der Rezeption neu entschieden. Andererseits ist aber ein letzter Zweifel, ob wirklich ein Verhältnis der Äquivalenz zwischen Ausgangstext und Empfangstext hergestellt wurde, niemals auszuräumen. Sicherheit darüber liefert nur eine Rückübersetzung und die einzig mögliche Kritik an einer Übersetzung besteht darin, ihr eine neue, anderslautende gegenüberzustellen.128 Dieses Vorgehen bestätigt eine Annahme, die der Schlüssel für das Funktionieren jeder Übersetzung ist: unter der Bedingung des Eingeständnisses der Nicht-Identität und auf das Risiko einer Verfälschung hin, ist es immer möglich, dasselbe auch in anderen Worten zu sagen. Wohlgemerkt ist dieses AndersSagen nicht mit einem Sinnverlust, sondern im Gegenteil, mit einer Sinnfindung verbunden, die genau an diesen Vorgang des Paraphrasierens gebunden ist. Das gilt im Übrigen sowohl zwischen verschiedenen Fremdsprachen als auch innerhalb derselben Sprachgemeinschaft.129 Darüber hinaus deutet die von Ricœur genannte »Dialogizität« der Über127 Ders., D¦fi, 19. 128 Ders., Le paradigme, 120. 129 Ebd., 45.

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setzung an, dass dieser Prozess niemals abgeschlossen ist. Besonders deutlich zeigt sich das an den Werken klassischer Autoren, aber auch am biblischen Text. Obwohl einige Übersetzungen durch die Rezeption einer Interpretationsgemeinschaft verbindlich wurden und Normativität erlangten, hat jede Generation in einem Prozess der historischen und kontextuellen Relativierung und Neuaneignung neue, ihr angemessenere Übersetzungen hervorgebracht. Letztlich unterscheidet sich die Arbeit des Übersetzers also nicht sehr von der des Interpreten eines Textes. Denn auch das Textverstehen ist ja ein Akt des Übersetzens. Die Einsicht, dass es keine perfekte Übersetzung bzw. keine endgültige Interpretation geben kann, stellt im Grunde eine nochmalige Betonung des Verhältnisses der Fremdheit zwischen Text und Leser dar, die Ricœur bereits in seiner Lektüretheorie konstatiert hatte. In der Übersetzung tritt die Distanz von Text und Leser nun besonders deutlich zu Tage: Jeder neue Übersetzungsversuch stellt auch einen Versuch der Textapplikation dar, bei dem der Text ein Stück von seiner Fremdheit verliert, indem er gelesen, verstanden und übertragen wird. Andererseits bezeugt die jederzeit gegebene Möglichkeit der Neuübersetzung auch die Autonomie und Fremdheit des Ausgangstextes, weil dessen Sinn eben nicht in einer einzigen Interpretation aufgeht. 3.4.3.3 Die Übersetzung als ökumenisches Paradigma Welche Verbindung gibt es nun zum ökumenischen Dialog? Zunächst sollte klar sein, dass es in der von Ricœur vorgelegten elementaren ökumenischen Hermeneutik noch nicht um die Konsenssuche in einzelnen theologischen Kontroverspunkten geht, sondern um die prinzipielle Verständnismöglichkeit zwischen verschiedenen Konfessionen vor dem Hintergrund eines pluralistischen Offenbarungsverständnisses. Diese Verständnismöglichkeit wird durch das Paradigma der Übersetzung begründet. Ricœur geht davon aus, dass es sich bei den sprachlich vermittelten Traditionen der unterschiedlichen Konfessionsgemeinschaften um »Sinnkonstellationen« handelt. Den ökumenischen Dialog versteht er als einen Prozess der Übersetzung, bei dem diese Sinnkonstellationen in das jeweils andere Glaubensverständnis übertragen werden. Der Dialog beginnt mit einer doppelten Geste der »Gastfreundschaft«: »Ich bin eingeladen, in der Sprache meiner Konfession das auszusagen, was ich in der Sprache einer anderen Konfession bereits gesagt finde.«130 Wie weiter oben am Beispiel von Claudels Bekehrungserlebnis klar wurde, erschöpfen sich die Sinnkonstellationen einer Glaubensgemeinschaft nicht nur in einzelnen dogmatischen Aussagen. Stattdessen können alle Sinnkonstella130 Ders., Il dialogo ecumenico, 99.

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tionen, die sich aus dem existenziellen Erleben einer Glaubensgemeinschaft ergeben und zu Glaubensaussagen führen, zum Gegenstand der Übersetzung werden. Zwischen diesen Konstellationen kann sehr wohl übersetzt werden. Allerdings räumt Ricœur ein, dass es »Unübersetzbarkeiten«, »Ungesagtes« und »Konnotationen« gibt, deren Zugang dem Übersetzer verwehrt bleibt. Diese Unübersetzbarkeiten sind der poetischen Qualität der Glaubensaussagen geschuldet, deren Sinn situativ im existenziellen Zirkel der Glaubenserfahrung gebildet wurde, bevor man ihn in dogmatischen Texten tradierte. Auch die großen Bekenntnistexte, die Ricœur zufolge als »Idiome« der einzelnen Gemeinschaften überliefert werden, schwanken »zwischen dem technisch-wissenschaftlichen Niveau und dem poetischen Niveau.«131 Im ökumenischen Dialog geht es nun nicht darum, nur eine technische Übersetzung anzufertigen, welche die Glaubensaussagen eines konfessionell Anderen ihrem wortwörtlichen Gehalt nach aufschlüsselt und theologisch identifiziert. Der Vorgang der Übersetzung ist also nicht nur auf sein Ergebnis konzentriert, das darin bestehen könnte, sich die Perspektive des Anderen anzueignen, um sie desto besser kontrollieren und widerlegen zu können. Im Gegenteil. Ricœur weist darauf hin, dass das Zeugnis des Anderen gerade in seiner poetischen Qualität wertvoll ist, in der es sich einer umstandslosen Aneignung entzieht. Ricœur zeigt, dass die Praxis der interkonfessionellen Gastfreundschaft eine Erfahrung darstellt, die ihrerseits nicht auf die Bereicherung bzw. auf den semantischen Gewinn im Zuge des interkonfessionellen Kontakts aus ist. Mit dem Paradigma der Übersetzung betont Ricœur den Eigenwert, den die Fähigkeit zum Umgang mit der Alterität darstellt. Dazu gehört auch die Akzeptanz einer letzten Unübersetzbarkeit, die im Geist der gegenseitigen Gastfreundschaft zugelassen und ausgehalten werden kann. Auf den ökumenischen Dialog das Paradigma der Übersetzung anzuwenden, bedeutet deshalb, der Poetizität in der Sprache des Anderen zu vertrauen und in Form von Unübersetzbarkeiten die Alterität selbst willkommen zu heißen. Wenn die Glaubensbekenntnisse der Kirchen sich gegenseitig wie fremde Sprachen geworden sind, so obliegt es der linguistischen Gastfreundschaft, anzuleiten zu geduldigen Übungen der Übersetzung von der einen in die andere, die im Stande sind, den Weg für neue Konsense zu öffnen, aber vor allem im Stande, im Geist des gegenseitigen Wohlwollens die verbliebenen Dissense auszuhalten.132

131 Ebd. 132 Ebd., 100.

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3.4.3.4 Übersetzung, Andersheit und Identität Es hat sich herausgestellt, dass die Übersetzung nicht nur ein linguistisches, sondern auch ein anthropologisches Paradigma ist.133 Deshalb gibt es bei Ricœur auch einen direkten Zusammenhang zwischen dem Paradigma der Übersetzung und dem Modell der narrativen Identität. Im folgenden Abschnitt werden wir die verschiedenen Elemente von Ricœurs Identitäts- und Texttheorie bündeln, um diesen Zusammenhang plausibel zu machen und dessen Interesse für den ökumenischen Dialog zu verdeutlichen. Im letzten Kapitel von Das Selbst als ein Anderer macht Ricœur nochmals eindrücklich klar, worum es sich bei seinem Modell der narrativen Identität handelt. Wir haben es hier nicht mit der willkürlichen Aktivität eines sich selbst setzenden Subjekts zu tun, sondern mit einer Identität als permanenter Bezeugung der Selbstheit angesichts der vielfältigen Appelle, die das Subjekt aus seiner Umgebung empfängt. Das grundlegende Moment, welches die Schaffung der narrativen Identität in Form einer Lebenserzählung induziert, ist die Erfahrung der Passivität, des Empfangens, der Rezeption des Fremden, das gehört, erlebt und erlitten wird. Ricœur zufolge geht dieser Appell der Fremdheit an das Selbst von drei Instanzen aus. Diese sind der eigene Leib, der Andere und das eigene Gewissen.134 Vor diesen drei Instanzen der Andersheit, die an das Selbst appellieren und von ihm nicht dominiert werden können, bildet sich Ricœur zufolge die narrative Identität eines Subjekts. Eine neue Dialektik von Selbem und Anderem wird durch diese Hermeneutik hervorgerufen, die auf vielfältige Art und Weise bezeugt, daß hier das Andere nicht nur das Gegenstück des Selben bildet, sondern zu seiner innersten Sinnkonstitution dazugehört. Auf der eigentlichen phänomenologischen Ebene kennzeichnen in der Tat die vielfältigen Weisen, wie der Andere als das Selbst das eigene Selbstverständnis berührt [affecte], genau den Unterschied zwischen dem ego, das sich setzt und dem Selbst, das sich nur durch diese Affektionen hindurch erkennt.135

Konzentrieren wir uns auf den dritten und damit auf den im ökumenischen Dialog entscheidenden Aspekt der Andersheit (die Begegnung mit dem Selbst des Anderen), so sehen wir nun endlich mit Deutlichkeit, welchen Zweck die Verbindung von literarischer Rezeptionsästhetik und ökumenischer Hermeneutik in unserer Untersuchung hat: Die Theorie Ricœurs zeigt, dass eine Analogie besteht zwischen dem Begreifen von literarischen Texten und der Begegnung mit anderen Menschen. Genaugenommen besteht diese Analogie in 133 Kearney, Le paradigme, 170 ff. 134 Ricœur, Selbst, 384. 135 Ebd., 395.

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dem Charakter der Fremdheit (distanciation), mit der der Leser bzw. das Selbst in der Begegnung mit dem Zeugnis des Anderen konfrontiert werden. Durch diese Fremdheitserfahrung und die Auseinandersetzung mit dem Votum des Anderen wird das Selbst in die Schwebe und zu sich selbst in Spannung versetzt und gelangt zu einem neuen Selbstverständnis, das in der narrativen Identität ausbuchstabiert wird. Eine solche Bewegung findet im Kontakt mit dem Fremden statt und auch im Kontakt mit dem konfessionell Anderen. Wenn wir die aus der Rezeptionsästhetik abgeleitete Identitätstheorie auf den ökumenischen Dialog anwenden, so kann uns dies einen Hinweis auf die Qualität des im Dialog angezielten Konsenses geben, insbesondere auf die Möglichkeit des Verständnisses zwischen Glaubenden unterschiedlicher Traditionen, deren Identitäten, d. h. deren Selbstverständnisse und Selbstbezeugungen, im Lauf des Dialogs in Vermittlung treten. Es ist damit zu rechnen, dass sich im Dialog der ökumenischen Partner ein neues Verständnis voneinander bildet, das so vorher nicht vorhanden war, weder als Vorurteil noch als Selbstverständnis. Dieses neue Verständnis ergibt sich aus der Auseinandersetzung mit dem Glaubenszeugnis eines Anderen, mit dessen poetischer Qualität und all seinen unübersetzbaren Anteilen. Analog zum Textverstehen bleibt auch in diesem Übersetzungsvorgang eine letzte Fremdheit unüberwindbar und erweist sich dennoch gerade als sinnstiftend, weil sie die Selbstdeutung der interpretierenden Akteure beflügelt. Den Anderen zu verstehen bzw. dies zu versuchen bedeutet, seinen inneren Weg interpretierend nachzuvollziehen, der ihn zu diesen oder jenen, mir fremden oder mir ähnlichen Glaubensaussagen geführt hat. Folgen wir Ricœur bis hier her, so könnte es scheinen, als ob die Alterität eine Sphäre darstellt, die sich gegenüber allen Verstehensversuchen als undurchdringlich erweist. Für den ökumenischen Dialog bedeutete dies, dass die Konsenssuche nur bis zu einem bestimmten Punkt fortgeführt werden kann, bevor sie an der Unübersetzbarkeit der konfessionellen Idiolekte notwendigerweise scheitern muss. Alterität wäre dann nicht nur die Kehrseite einer Identitätstheorie, sie wäre auch der bedrohliche Schatten über dem Projekt der Konsensökumene. Gegenseitige Toleranz, im Sinne eines »Aushaltens des eigentlich nicht Akzeptierbaren« wäre von dieser Perspektive ausgehend der einzige realistische Umgang mit konfessionellen Unübersetzbarkeiten. Zwar plädiert Ricœur in der Tat für eine letzte Unübersetzbarkeit, dieser pessimistischen Sicht auf die Möglichkeiten des ökumenischen Dialoges schließt er sich dennoch nicht an. Um seine Zuordnung richtig nachzuvollziehen, haben wir uns mit seiner Auffassung von Alterität auseinanderzusetzen. Welche Bedeutung, so fragen wir, hat der Kontakt mit dem Anderen und welche Option der Anerkennung gibt es über die schlichte Form der Toleranz hinaus? Das oben stehende Zitat macht es deutlich: Die Begegnung mit dem Anderen

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– d. h. das Phänomen der Alterität – ist bei Ricœur für die Konstituierung des Selbst unerlässlich. Ricœurs phänomenologische Grundentscheidung lautet, dass die eigene Identität nicht unmittelbar erfasst, sondern immer nur als Resultat der Interpretation seiner symbolischen Ausdrucksweisen bestimmt werden kann. Das Cogito setzt sich nicht selbst, der eigene Ursprung ist dem Menschen ebenso unzugänglich wie die Alterität des Fremden, die in der Begegnung erfahren wird. Zwar lassen diese Dimensionen sich sehr wohl ausloten, in der Erfahrung deuten und in einen Zusammenhang zur eigenen Lebensgeschichte stellen. Genau das geschieht im Vorgang der narrativen Identitätsbildung. Aber tatsächlich wird die Andersheit dadurch niemals aufgehoben, wird der Andere nicht substanziell angeeignet, sondern immer nur interpretativ erschlossen. Dasselbe gilt für den Zugang zur eigenen Identität, der ebenfalls stets interpretativ vermitteltet ist. Diese Überlegungen beweisen nun aber nicht die Schwäche, sondern im Gegenteil gerade die Stärke des Alteritätsmoments. Wie ist das vorzustellen? Dass die Alterität absolut konstitutiv ist für die Bezeugung der Selbstheit, zeigt sich zunächst auf semantischer Ebene, wo die Aktivität des Selbst durch die Anwesenheit des Anderen überhaupt erst ermöglicht wird. Mehr noch, der Andere ist nicht einfach der passive Empfänger der Handlungen eines ausführenden Selbst. Er gibt Antwort, führt das Selbst über seine ursprünglichen Intentionalitäten hinaus und ermöglicht einen Identitätswandel. Man denke an die semantische Überkreuzung von Sprechen und Hören oder Handeln und Erleiden, wo »die Intentionalitäten, die auf den Anderen als Fremden, d. h. als einen Anderen als mich, gerichtet sind, […] die Eigenheitssphäre, in der sie dennoch verwurzelt sind [übersteigen].«136 Doch wie sieht das praktisch aus? Indem es bei Ricœur kein Subjekt mehr gibt, das sich selbst setzen kann, wird der direkte Zugang zum Ich ersetzt durch eine implizite Selbstheit, die dem durch Interpretationsakte vermittelten Selbstverständnis zuzurechnen ist. Wann, so lautet deshalb die entscheidende Frage, kommt jener Moment, in dem die Selbstbezeugung herausgefordert wird und eine Refiguration des Selbst geschieht? Dies geschieht, so können wir mit Ricœur annehmen, im Zuge der Begegnung mit dem Anderen. Das Selbst findet sich selbst erst wieder, nach einer Etappe der Entfremdung, in der es die Erfahrung der Alterität macht, die seine Selbstbesinnung und Selbstbezeugung einfordert.137 Diese Art der

136 Ebd., 400. 137 Kearney, Le paradigme, 174. Markant in diesem Zusammenhang ist Ricœurs Dictum »Le plus court chemin de soi — soi passe par l’autre.« (Der kürzeste Weg des Selbst zu sich selbst führt über den anderen.) Vgl. Ricœur, Erzählung, 248 »Es gibt kein Verständnis von sich, das nicht durch Zeichen, Symbole und Texte vermittelt wird; das Verständnis von sich fällt

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Selbstbezeugung, welche die Selbstheit trotz des identitären Wandels verbürgt, bezeichnet Ricœur schließlich als »Ipseität«. Wie wir sehen, ist Ricœur trotz seines Insistierens auf den konstitutiven Charakter der Alterität weit entfernt von einer Philosophie der Andersheit, wie sie von Emmanuel Levinas vertreten wird, mit dem er sich intensiv auseinandersetzte.138 Denn während Levinas eine absolute Andersheit verficht, in der der Fremde dem Selbst bald als moralischer Anrufer, bald als Angreifer gegenübersteht und dessen Widerständigkeit als Unbegreiflichkeit erscheint, plädiert Ricœur für einen vermittelnden Ansatz zwischen dem Selbst und dem Anderen. Von der Philosophie Husserls herkommend postuliert Ricœur die Möglichkeit des Empfangens des Anderen – die Möglichkeit seiner Rezeption. Diese beruht auf der Fähigkeit des Selbst, eine analogisierende Übertragung zu vollziehen, als deren Resultat der Fremde als ein anderes Selbst anerkannt wird.139 Ganz im Einklang mit Levinas ist auch für Ricœur der Appell des Anderen die Quelle des verantwortlichen Handelns. Bekanntlich ist es so, dass Levinas auf der ethischen Dimension der Aufforderung durch den Anderen insistiert und betont, dass der Andere das Selbst mit einer ethischen Anrufung konfrontiert und es dadurch in Beschlag nimmt und zur Verantwortung vorlädt. Ricœur mahnt an, dass es für die Entwicklung einer verantwortlichen Haltung mehr braucht als die Dominanz der Andersheit über die Selbstheit, nämlich »eine Fähigkeit der Empfänglichkeit, der Unterscheidung und der Achtung«: »Braucht es nicht eine Dialogik, die die vorgebliche ab-solute Distanz zwischen dem getrennten Ich und dem belehrenden Anderen durch eine Beziehung überlagert?«140 Gerade im Sinne der gegenseitigen Verantwortlichkeit wäre es fatal, eine absolute Trennung des Selben und des Anderen anzunehmen. Doch wie ließe sich eine Beziehung der Wechselseitigkeit vorstellen, die den Gedanken der unaufhebbaren Alterität wahrt und keine Vereinnahmung des Anderen darstellt, wenn man schon zugeben muss, dass das Selbst wie auch der Andere niemals unmittelbar, sondern immer nur auf dem hermeneutischen Umweg, d. h. durch einen Akt der Interpretation begriffen werden können? Die Antwort auf diese Frage stellt für Ricœur das Paradigma der Übersetzung dar. Angewendet auf die Konstellation zwischen dem Selbst und dem Anderen weist es dieselben Stärken und dieselbe Fragilität auf, die wir auch auf interlinguistischem Gebiet festgestellt hatten. Die Begegnung zwischen dem Anderen und dem Selbst bewirkt ein ständiges Übersetzen und Interpretieren. Wie wir in letzter Instanz mit der Interpretation zusammen, die auf diese vermittelnden Begriffe angewandt wird.« 138 Ricœur, Selbst, 403 ff. 139 Ebd., 402. Ricœur betont, dass es sich dabei um eine präreflexive, vorprädikative Operation, d. h. um keine rationale Schlussfolgerung, sondern um eine passive Synthese handelt. 140 Ebd., 408.

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sahen, setzt in Ricœurs Theorie die Aneignung die Distanz zum Anderen voraus, die aber weder aufgelöst noch verabsolutiert wird. Übersetzen und Verstehen erweisen sich stattdessen als elementare Tätigkeiten des Daseins, die dazu führen, dass der Andere ein wenig weniger anders ist – ohne aber jemals mit dem Selbst identisch (idem) zu werden bzw. ohne je mit einer seiner Interpretationen in Eins zu fallen. In der Begegnung zwischen dem Selbst und dem Anderen gerät nicht nur das Selbst zu sich selbst in Spannung, weil es einer imaginativen Variation ausgesetzt wird, sobald es übersetzt und sich in der Sprache des Anderen ausgedrückt wiederfindet. Auch die Fremdheit gerät in die Schwebe. Denn in dem Moment, da sie in der anderen Sprache empfangen wird, ist sie durch die interpretative Aneignung schon ein Teil des Selbst geworden. Nähe und Andersheit stellen im Moment der gegenseitigen Übersetzung und des gegenseitigen Empfangens keinen Widerspruch mehr dar. Der Prozess der Übersetzung und der gegenseitig gewährten »Gastfreundschaft« ist deshalb mehr als ein Akt der Toleranz oder des gegenseitigen Aushaltens. In der Dialogizität der Vermittlung konstituiert sich auf dem Weg der gegenseitigen Bezeugung Selbstheit, die ihren jeweiligen Platz in einer narrativ konstruierten Lebenserzählung hat. Deshalb vollzieht sich in diesem Prozess der Übersetzung, d. h. in der gegenseitigen Interpretation eine Überkreuzung von Lebenserzählungen, in deren Folge der Andere ein Teil des Selbst und das Selbst ein Teil des Anderen wird. Hier weicht die Toleranz, das schlichte Aushalten des Anderen, einem tatsächlichen Verhältnis der Wechselseitigkeit. Wir stellen fest, dass Ricœurs Identitätsverständnis im Sinne der Ipseität, welches Veränderungen und Revisionen von ein und derselben Identität nicht nur zulässt, sondern sogar als deren Bedingung betrachtet, der eigentliche Schlüssel für das Verständnis der anthropologischen Dimension im Paradigma der Übersetzung ist. Denn die eigene Identität im Sinne der Ipseität als Selbstheit zu bezeugen heißt, sie nicht etwa als abgeschlossen zu betrachten und vor möglichen Verfälschungen bewahren zu wollen, sondern sie im Gegenteil immer wieder im Handeln neu aufzufinden und zwar im Handeln gegenüber einem anderen Selbst. Wo es aber zur Interaktion kommt, werden Übersetzungen notwendig, sowohl gegenüber dem anderen Selbst als auch gegenüber der eigenen Lebenserzählung, in der das eigene Selbst als ein Anderer erscheint. Halten wir für den ökumenischen Dialog fest: Die Vermittlung von Identitäten im Dialog ist nicht etwa der Konstituierung der Selbstheit abträglich. Er ist für sie im Gegenteil konstitutiv, weil er den Prozess der Selbstbezeugung anstößt. Gleichwohl meint Selbstbezeugung nicht die Wiederholung eines immer gleichen (idem) Selbstverständnisses. Stattdessen ist die Selbstheit, die in der Begegnung mit dem Anderen bezeugt wird, stets neu, weil die Begegnung mit dem Anderen stets eine Neuerzählung der eigenen Identität herausfordert.

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Deutlich ist, dass die Vermitteltheit der Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen einen unabschließbaren Prozess der Übersetzung in Gang setzt, weil – wie auch im Fall der interlinguistischen Übersetzung – eine absolute, objektive Übersetzung nirgends existiert. Doch auch hier treten wie in der interlinguistischen Situation neben die Trauer über diesen Verlust und über die letzte Unüberwindlichkeit der Andersheit die Schaffensfreude und die »Gastfreundschaft« gegenüber dem Fremden. Ricœurs Modelle der Übersetzung und der narrativen Identität implizieren ein Dialogkonzept und eine Weltvorstellung, die nicht auf Wollen, Besitzen und Besiegen von Identitäten abzielen. Stattdessen wird mit dem Paradigma der Übersetzung das Paradigma des Empfangens, der Rezeption und damit des unausgesetzten Dialogs mit dem, was anders ist, stark gemacht.141 In linguistischer Hinsicht äußerte sich diese Unabgeschlossenheit in einem besonderen Verhältnis der am Dialog Beteiligten zur Sprache.142 Mit Ricœur hatten wir gesagt, dass es keine absolute Sprache gibt, sondern dass die Sprache stets nur in einzelnen Sprachen vorkommt. Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass auch auf die partikularen Sprachen kein Besitzanspruch besteht. Denn die Absolutheit der einen Sprache durch die Absolutheit der vielen Sprachen ersetzen zu wollen wäre fatal. Das würde der Behauptung einer absoluten Andersheit gleichkommen. Tatsächlich hat jedoch kein Sprecher seine linguistische Tradition selbst gewählt oder ist für immer auf diese festgelegt. Alle wurden in die Situation der Disparatheit der Sprachtraditionen hineingestellt, ebenso wie in die Möglichkeit, zwischen diesen zu vermitteln. Daher sind auch alle eingeladen, sich nicht auf ihre Sprache zurückzuziehen, sondern ihre Tradition, die selbst das Resultat multipler Übersetzungen ist, dadurch fortzuführen, dass sie die Vielfalt der anderen Traditionen als vielfältiges Angesprochensein wertschätzen. Tradition und Innovation stehen hier, wie bei Ricœur so oft, in enger Beziehung. Analog zur linguistischen Konstellation zeichnet sich mit Ricœurs Theorie eine andere Vision für den interkonfessionellen Dialog ab. Diese besteht darin, die eigene Tradition nicht zu verabsolutieren und auch deren Profilierung im Kontakt mit anderen Konfessionen nicht als letztes Anliegen zu begreifen. Vielmehr gilt es, sie im Modus des Gegebenseins aufzufassen, im Prozess der Übersetzung ihre Revision zu riskieren und gerade dadurch ihre Fortschreibung zu sichern. Die Einsicht, in den hermeneutischen Zirkel des Glaubens, in dem jede konfessionelle Gemeinschaft notwendigerweise steht, ist eine gute Begründung dafür, anderen Gemeinschaften und Glaubensentscheidungen im ökumenischen Dialog mit Respekt zu begegnen. Die Einsicht, dass eine Glau141 Vincent, Pens¦e, 27. 142 Ebd., 28.

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bensgemeinschaft vom Kontakt mit dem Anderen profitiert, weil dessen Anwesenheit eine Poetizität entfaltet, die neue leidenschaftliche Glaubensnarrative inspiriert, kann dazu verhelfen, die Freude am ökumenischen Dialog wiederzuentdecken und ihn nicht nur als juristisches Unternehmen anzusehen. Eine gegenseitige Relativierung und schlichte Homogenisierung der Vielfalt konfessioneller Ausdrucksweisen ist auf keinen Fall das Ziel des Dialogs. Doch wie lassen sich letzte Unübersetzbarkeiten mit dem Willen zur Verständigung verbinden? Darauf antwortet bei Ricœur das Paradigma der Vergebung.

3.4.4 Das Paradigma der Vergebung 3.4.4.1 Der Geist der Vergebung und sein Inkognito Auch das zweite Paradigma, das Ricœur in seinem Trienter Vortrag anführt, betrifft den ökumenischen Dialog nicht auf dem Niveau seiner konkreten kontroverstheologischen Fragen, sondern auf dem einer allgemeinen Hermeneutik. Doch es verschärft sich dabei Ricœurs Perspektive in Bezug auf das Ausmaß der Alteritätserfahrung. Mit dem Paradigma der Übersetzung hatte Ricœur auf der Möglichkeit der Vermittlung von Identität und Alterität insistiert, sowohl in linguistischer als auch – davon abgeleitet – in anthropologischer Hinsicht. Im Paradigma der Vergebung wird dem nun eine weitere Dimension hinzugefügt. Sie ruft in Erinnerung, dass die im Dialog angezielte Verständigung auch eine inhaltliche Auseinandersetzung fordert, welche sich auf konkrete Dissense bezieht. Im ökumenischen Dialog kommen schließlich jene historischen Verletzungen in den Blick, die man einander seit dem konfessionellen Zeitalter nachträgt und die den Ruf nach Vergebung oder Vergessen laut werden lassen. Die historische Distanz der konfessionell ererbten Konflikte bringt es mit sich, dass hier zuerst von einer Praxis des Erinnerns die Rede sein muss, bevor von der Hoffnung auf Vergebung gesprochen werden kann. Was vermag der Dialog dabei wirklich zu leisten? Bereits für das Paradigma der Übersetzung hatte Ricœur angezeigt, dass sein Beitrag nicht auf eine Technik, sondern vielmehr auf eine innere Haltung der am Dialog Beteiligten abzielt. In derselben Absicht ist nun auch von der Vergebung die Rede: Ich werde von dem Geist der Vergebung in dem Sinne sprechen, in dem ich vom Geist der Übersetzung gesprochen habe. Er besteht in etwas viel Größerem und viel Tieferem als nur der Vergebung von Verletzungen, die sich auf eine viel zu juristische Weise in der Form des Freispruchs am Ende eines Prozesses zeigt oder im Vollzug der Verjährung, die in der Einstellung der Strafverfolgung besteht oder noch besser in der Am-

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nestie, die von einer politischen Autorität ausgesprochen wird, angesichts schwerwiegender ziviler Wirren und im Blick auf den öffentlichen Frieden.143

Wie wir erkennen und wie vielleicht auf den ersten Blick aus einer konsensökumenischen Perspektive, die vorrangig an der Klärung theologischer Sachfragen interessiert ist, überraschend erscheinen mag, ist für Ricœur das Moment der wechselseitigen Vergebung zentral. Die gleichzeitig ausgesprochene Einschränkung besagt daher, dass Vergebung hier etwas anderes meint als das Nichtverfolgen von Schuld oder das Fallenlassen der Anklage. Auf dieser institutionellen Ebene, so Ricœur, verharrt jedoch der ökumenische Dialog, wenn er sich nur auf die Annullierung der gegenseitigen Verwerfungen aus dem konfessionellen Zeitalter beschränkt. Die Aufhebung der in der Vergangenheit durch die Kirchen ausgesprochenen Verdammungen beteiligt sich noch an dieser begrenzten Interpretation der Vergebung: Die christlichen Konfessionen haben sich in der Vergangenheit gegenseitig beleidigt und heben ihre Anathemata nun im Namen des erklärten Konsenses auf. Aber was ist mit den bleibenden Dissensen? An dieser Stelle ist es notwendig, das Thema der Vergebung über die schlichte Vergebung der Beleidigungen hinaus zu erweitern, um es auf der Höhe des Geistes der Übersetzung zu behandeln.[…] Der Weg der schwierigen Vergebung wird eingeleitet auf dem Niveau der Institutionen und vollzieht sich in der Tiefe der Herzen.144

Wir lesen in diesen beiden Passagen eine Kritik an dem Versuch, einen ökumenischen Konflikt dann für gelöst anzusehen, wenn die Beziehungen der Konfliktparteien auf institutioneller Ebene beigelegt wurden. Eine ausschließlich institutionelle Lösung scheint Ricœur aus mehreren Gründen unplausibel. Ein erster Grund ist die schuldhafte Verstrickung der Dialogpartner. Sie macht eine besondere Form der Vergangenheitsbewältigung nötig. Ganz allgemein besteht diese Form in einer dem Vergessen entgegengesetzten Bewegung des Erinnerns, in dessen Vollzug die historischen Konflikte nicht einfach verdrängt oder für ungültig erklärt werden. Stattdessen setzt Ricœur sich dafür ein, Konflikte zu rekapitulieren, offenzulegen und auf diese Weise die nicht gehaltenen Versprechen der Vergangenheit aufzudecken. Die Offenlegung des Konflikts macht deutlich, in welchem Maß die Konfliktpartner aufgrund von begangenen oder erlittenen Verletzungen ihre individuelle oder kollektive Handlungsfähigkeit verloren haben. So wird deutlich, mit welcher Hoffnung die Bitte um Vergebung eigentlich verbunden ist. Vergebung bedeutet, den Verlust der Brüderlichkeit zu heilen und dadurch die Handlungsfähigkeit wieder herzustellen. Auf der institutionellen Ebene stehen Instrumente bereit, um die gegenseitige 143 Ricœur, Il dialogo ecumenico, 100 f. 144 Ebd., 101.

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Schuld zu regeln. So z. B. in Gestalt von vergleichenden Urteilen, Begnadigungen, Amnestien oder auch in offiziellen Konsenserklärungen. Ricœur bezeichnet diese Formen nicht als die eigentliche Vergebung, sondern als ihr »Inkognito«. Dabei problematisiert der Begriff die Aporie zwischen der Schwere und Komplexität der gegenseitigen Verletzungen und dem Anspruch, diese im Rahmen eines formalisierten Verfahrens für überwunden zu erklären. Vom Inkognito der Vergebung zu sprechen bedeutet, von der Begrenztheit einer formal-juristischen Vergebung gegenüber der kollektiv oder individuell erlittenen Tragweite der Schuld zu sprechen. Den Begriff des Inkognitos entnimmt Ricœur der Theorie von Klaus-Michael Kodalle.145 Dort bezeichnet der Begriff die Art und Weise, wie die Versöhnung auf der Ebene der Gesetzgebung präsent sein kann. Sie kann es in Gestalt von Institutionen, in denen »nicht Verbrüderung, sondern Korrektheit der wechselseitigen Beziehungen« angestrebt wird. Was das Inkognito der Vergebung auf institutioneller Ebene einzuleiten vermag, ist also eine »Kultur der Nachsichtigkeit« zwischen Gemeinschaften. Zwischen Völkern, die bis vor kurzer Zeit noch Feinde waren, besteht diese Wertschätzung in der Einführung von »normalen« Beziehungen: Das ist das Mindeste zwischen den großen kirchlichen Einrichtungen.146

Ricœur behauptet also nicht, dass die institutionalisierten Formen der Vergebung null und nichtig wären. Er erkennt ihnen im Gegenteil sogar die Fähigkeit zu, den Weg der Vergebung unter Umständen einzuleiten. Aber die Erfahrung und das gegenseitige Zeugnisgeben von der Vergebung siedelt er nicht auf der Ebene institutionalisierter Erklärungen, sondern auf jener, der konkreten, wechselseitigen Gesten an. In seinem Buch Gedächtnis, Geschichte, Vergessen finden wir an dieser Stelle jene Überlegung Ricœurs wieder, die wir bereits ganz an den Anfang unserer Untersuchung über den Rezeptionsbegriff stellten und die den Zusammenhang von strukturverändernden Ereignissen einerseits und ihrer Institutionalisierung andererseits betrifft. Die Ereignisse sind, so die These, nicht von der institutionellen Ebene getrennt, sondern wirken im Gegenteil in ihrem Ereignischarakter auf diese orientierend: »Sie sind aufgrund einer geheimen Alchimie in der Lage, auf Institutionen zu wirken, indem sie eine ›Disposition zur Nachsichtigkeit‹ bewirken«.147 An dieser Stelle zeigt sich der Rezeptionsverlauf in seiner Komplexität. Das was Ricœur im Anschluss an Kodalle als das Inkognito der Versöhnung bezeichnet – nämliche ihre offizielle Erklärung und Fixierung – müsste auf der konkreten zwischenmenschlichen Erfahrung der Versöhnung beruhen. Die institutionalisierte Form der Verge145 Kodalle, Verzeihung, 727 ff. 146 Ricœur, Il dialogo ecumenico, 101. 147 Ders., Gedächtnis, 730.

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bung könnte ihrerseits aber auch in der Lage sein, weitere Gesten der Versöhnung einzuleiten. Die eigentliche Versöhnung gehört jedoch nicht jener politischen Sphäre an, in der Gleichheit und Gerechtigkeit die leitenden Handlungsmaßstäbe sind. Vergebung gehört in Ricœurs Hermeneutik zu einer anderen Ordnung – keiner Ordnung der politischen Gleichheit, sondern einer dem Handeln vorausliegenden »Ordnung der Barmherzigkeit«. Die Besonderheit dieser anderen Ordnung in Bezug auf den Versöhnungsprozess erläutert Ricœur in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, indem er seine eigene Position mit der von Hannah Arendt diskutiert.148 Gemeinsam ist beiden philosophischen Ansätzen die Einsicht in die zentrale Stellung der Handlungen von Versprechen und Vergeben, die bei Hannah Arendt auch in dem Begriffspaar binden und entbinden vorkommen. Für Arendt resultieren beide Arten zu handeln aus der Pluralität der Lebensbedingungen, die jeden Menschen in die Ungewissheit über die Verbindlichkeit und die Tragweite seiner Handlungen setzen. Das Versprechen und die Vergebung stellen unter diesen Umständen Verbindlichkeit und Orientierung her. Erinnern wir uns nur an Ricœurs Ausführungen zur narrativen Identität, wo gezeigt wurde, dass das Versprechen angesichts der Entwicklungsoffenheit individueller Identitäten die angemessene Möglichkeit darstellt, intersubjektiv verbindlich zu handeln und die Kontinuität der Selbstheit gegenüber sich selbst und seinen Mitmenschen zu bezeugen.149 Oder an Hannah Arendts Plädoyer für die menschliche Fähigkeit zum Neubeginn, die aber ihrerseits davon abhängt, dass innerhalb einer Gesellschaft Entlastung und Verzeihung praktiziert werden und gelingen.150 Bei Hannah Arendt scheinen Versprechen und Verzeihen derselben Ordnung anzugehören, indem sie in derselben Weise auf die Pluralität der Lebenswelt bezogen und in der Interaktion der Handelnden verortet sind. Hinsichtlich dieser Symmetrie von Versprechen und Verzeihen meldet Ricœur Zweifel an. Was für das Versprechen plausibel ist, nämlich dass seine Wirksamkeit der politischen Pluralität geschuldet und dem menschlichen Handeln immanent ist, scheint für das Vermögen zu vergeben nicht in der gleichen Weise zuzutreffen. Ricœur zeigt, dass auch Hannah Arendts Analyse hier nicht ganz eindeutig ist. 148 Ebd., 745 ff. 149 Ders., Selbst, 154. 150 Arendt, Vita activa, 301. »[D]enn das menschliche Leben könnte gar nicht weitergehen, wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien würden, was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun. Nur durch dieses dauernde gegenseitige SichEntlasten und Entbinden können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in der Welt frei bleiben, und nur in dem Maße, wie sie gewillt sind, ihren Sinn zu ändern und neu anzufangen, werden sie instand gesetzt, ein so ungeheures und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnens einigermaßen zu handhaben.«

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Die Zugehörigkeit der Vergebung entweder zur Sphäre des politischen Handelns oder zur anti-politischen Sphäre der Liebe bzw. der Ordnung der Barmherzigkeit bleibt in Vita activa zumindest implizit in der Schwebe.151 Von Hannah Arendts Analyse und ihrem Begriff der anti-politischen Liebe ausgehend, ordnet Ricœur die Vergebung ganz eindeutig der »Sphäre der Barmherzigkeit« bzw. der »Logik des Überflusses« zu. Dies geschieht mit Verweis auf den besonderen Charakter der Vergebung, die mehr tut, als der politische Bereich zulässt und die diesen dadurch permanent transzendiert. Denn das Entbinden, das in der Vergebung geschieht, impliziert mehr, als dass eine politische Schuld aufgedeckt und getilgt wird oder dass der Handelnde von einem zuvor eingegangenen politischen Engagement entlastet wird. Ricœurs Urteil hebt darauf ab, dass im Prozess der Vergebung der Handelnde von seiner Handlung entbunden wird und zwar so, dass seine elementare Handlungsfähigkeit wieder hergestellt ist: Diese Trennung [von Handlungsfähigkeit und Handlung] bringt einen Akt des Vertrauens zum Ausdruck, einen Kredit, der den Erneuerungsmöglichkeiten des Selbst eingeräumt wird.152

In der politischen Sphäre muss diese Rede »von einem Kredit der Erneuerungsmöglichkeit« angesichts der Nichterfüllung einer Schuld paradox erscheinen. Hier liegt schnell der Verdacht nahe, die Schuld solle einfach minimiert oder dem Vergessen anheimgestellt werden. Darum, so Ricœur, geht es im Prozess der Versöhnung aber nicht. Es geht stattdessen darum, die Schuld zu durchbrechen (»briser la dette«). Auf der Ebene der Reflexion ist das nur dadurch nachvollziehbar, dass eine Kategorie des Guten eingeführt wird, welche das Böse der Schuld permanent transzendiert. Ricœur gibt zu bedenken, dass beispielsweise in der Philosophie Kants, die Idee einer Anlage zum Guten als fundamentalontologische Annahme durchaus präsent ist. In noch stärkerem Maße freilich wird die Idee der Überwindung des Bösen in der christlichen Tradition vertreten. Dabei ist die Hoffnung auf die Wiederherstellung des Guten eng verbunden mit dem Gedanken der Erlösung. Der Erlösungsgedanke, dogmatisch ausgeführt in der Lehre von der Rechtfertigung aus Gnade allein, ist in der Lage, das Vorfindliche zu transzendieren und Menschen durch Nichtanrechnung von Schuld zu befreien. Ob man sich auf humanistisches Gedankengut bezieht oder auf die theologische Tradition, in beiden Fällen ergibt sich die Möglichkeit, den Kreislauf der Schuld zu durchbrechen dadurch, dass zwischen einem dem Menschen zugesprochenen Wert – Gottebenbildlichkeit oder Menschenwürde – und seiner bösen Tat unterschieden wird. Im Inkognito der Ver151 Ricœur, Gedächtnis, 753 ff. 152 Ebd., 755.

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söhnung auf institutioneller Ebene blitzt etwas auf von diesem prinzipiellen Zutrauen, das sich auch auf die Antagonisten historischer Konflikte erstreckt und ihnen die Fähigkeit zuerkennt, ihre Beziehung friedlich fortzusetzen und dabei anders, d. h. versöhnt miteinander zu handeln. Auch auf institutioneller Ebene wird diese Erfahrung der Befreiung bejaht, die an das Moment des Zuspruchs einer unverlierbaren Menschlichkeit geknüpft ist: Unter dem Zeichen der Vergebung würde dem Schuldigen die Möglichkeit zugestanden, zu etwas anderem als seinen Delikten und Verfehlungen fähig zu sein. Er selbst wäre seinem Handlungsvermögen und das Handeln wäre seiner Fortsetzbarkeit zurückgegeben. Ebendieses Vermögen würde in seinen verschiedenen Akten der Nachsicht und Beachtung begrüßt, in denen wir das auf öffentlicher Bühne stattfindende Inkognito der Vergebung erkannt haben. Auf dieses wiederhergestellte Vermögen würde schließlich das Versprechen zurückgreifen, dass das Handeln in die Zukunft projiziert. Die Formel dieses befreienden Wortes würde, in aller Nüchternheit ausgesprochen, lauten: Du bist besser als deine Taten.153

Der Begriff der »Logik des Überflusses« deutet es an: Mit dem Paradigma der Vergebung hat der Philosoph Ricœur wiederum einen Grenzbereich zur Theologie angeschnitten, in dem Anklänge an christliches Denken unüberhörbar sind. In Bezug auf das Konzept der Offenbarung wurde Ricœur seitens der Theologie unlängst eine gewisse Engführung vorgeworfen. Um sie theologisch handhabbar zu machen, müsse man Ricœurs philosophisches Offenbarungsverständnis erst »pneumatologisch anreichern«, so die Kritik.154 In Bezug auf seine ökumenische Hermeneutik können wir ein solches pneumatologisches Defizit nun nicht feststellen. Im Gegenteil.155 Hatte sich der Geist bereits als unabdingbare Größe in der Zuordnung von Gemeinschaftsidentität und polyphoner Schriftauslegung erwiesen,156 so bestätigt sich die Relevanz der Pneumatologie nun auch explizit in Ricœurs ökumenischem Beitrag aus Trient. Ausdrücklich ist hier vom »Geist« der Übersetzung bzw. der Vergebung die Rede. Konnte im Fall der Übersetzung der »Geist« noch eher als aktive Einstellung der am Dialog Beteiligten verstanden werden, zeigt sich im Fall der Vergebung, dass auch Ricœur dem Geist personale Qualität zuerkennt, gegenüber der die am Dialog beteiligten in eine – heilsame – Passivität versetzt werden. Gewiss handelt es sich auch beim »Geist der Vergebung« um eine innere 153 Ebd., 759. 154 Hoffmann, Offenbarung, 240. 155 Eine einzelne Studie zur Pneumatologie Ricœurs gibt es unseres Wissens nach noch nicht. Im Rahmen unserer Untersuchung können wir der Frage hier nicht weiter nachgehen. Möglicherweise könnte es aber interessant sein, die beiden Gifford-Lectures, die nicht in Das Selbst als ein Anderer aufgenommen wurden, auf pneumatologische Querverbindungen hin zu untersuchen. Die beiden Lectures sind abgedruckt in: Ricœur, Amour. 156 Vgl. Kap. 3.3.2.4.

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Haltung, auf deren Höhe sich zu begeben Ricœur den Glaubenden empfiehlt. Gleichwohl hat die Erlangung dieser Haltung wiederum mit der Bereitschaft zu einer doppelten Rezeption zu tun und ist daher als Glaubensakt und mithin als pneumatologisch qualifizierbares Geschehen erkennbar. Dies werden wir im Folgenden zeigen und uns genauer mit der Vergebung im ökumenischen Dialog befassen. 3.4.4.2 Der Geist der Vergebung im ökumenischen Dialog Welche Bedeutung der Geist der Vergebung für den ökumenischen Dialog besitzt, können wir nachvollziehen, wenn wir uns an unsere Ausführungen zur Identität einer Glaubensgemeinschaft (Abschnitt 3.3.2.4) erinnern. Diese Überlegungen hatten wir im Anschluss an Ricœurs Konzept der narrativen Identität dargestellt und anklingen lassen, dass sie den möglichen Ausgangspunkt für eine ökumenische Hermeneutik darstellen. Diese Vermutung konkretisiert sich nun. Wir hatten dargestellt, dass nach Ricœurs Modell eine Glaubensgemeinschaft ihre Identität zirkulär entwirft, wobei hier im Hintergrund nicht die Vorstellung eines geschlossenen »circulus viciosus«, sondern die einer sich weiterentwickelnden hermeneutischen Spirale steht. Auf die Identitätsbildung angewendet bedeutet das, dass auch die Identität einer Gemeinschaft nicht geschlossen, sondern nach vorn offen, d. h. entwicklungsfähig ist. Gleichzeitig, so hatten wir mit Ricœur festgestellt, bleibt die Gemeinschaft als solche in ihrer Identität erkennbar, auch wenn in den hermeneutischen Einzelleistungen ihrer Mitglieder permanent neue und innovative Narrative auf der Grundlage der überlieferten Texte gebildet werden und so das Gesicht der Gemeinschaft verändern. Ricœur zufolge ist es die polyphone Offenbarung in den biblischen Texten, d. h. die Vielfalt an Textsorten und Glaubenserzählungen in der Bibel, die nun in der Gegenwart eine ebensolche Polyphonie von Glaubensaussagen hervorbringt. Denn die biblischen Texte enthalten ein Mehr an Sinn, einen Sinnüberschuss, der dadurch realisiert wird, dass neue Leser an ihn appellieren und bisher unentdeckte Dimensionen des Textes vor ihrem eigenen lebensweltlichen Hintergrund zur Sprache bringen. Weiterhin hatten wir Ricœurs Konzept der religiösen Gemeinschaftsidentität mit einem partizipativ-pneumatologischen157 Offenbarungsmodell in Einklang gebracht. Es zeigte sich im Anschluss an Ricœurs Texthermeneutik, dass dabei nicht die Texte selbst, sondern vielmehr ihre Leser inspiriert sind. Die Glau157 Den Begriff des partizipativ-pneumatologischen Modells haben wir gebildet unter Bezugnahme auf Ricœurs Überlegungen zum mehrfachen Glaubenszirkel (Vgl. Kap. 3.3.2.4) und in Analogie zu der Alternative von instruktionstheoretischem und partizipativ-kommunikativem Offenbarungsmodell, die Veronika Hoffmann anbietet. Vgl. Hoffmann, Offenbarung, 236.

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benden – also die potentiellen Akteure eines ökumenischen Dialogs – treten als Zeugen einer Offenbarungserfahrung auf. Zeuge zu sein heißt, zu wissen, dass die eigene Glaubensidentität von einem äußeren Ereignis abhängt, welches sich durch Auswahl, d. h. durch fortgesetztes Bezeugen, in ein Schicksal verwandelt hat. Die Erfahrung der Offenbarung ist nicht einfach nur an die Textlektüre der biblischen Schriften gebunden, wenngleich die Schrift für Ricœur immer einen fundamentalen Status für die Glaubensidentität besitzt. Aber das, was den Glauben konstituiert bzw. worauf der Glaube sich richtet, ist ein breiteres Geschehen der Überlieferung und ihrer Interpretation. So unterschiedlich wie die Lebenssituationen der Glaubenden, sind auch ihre Glaubenszeugnisse. Aus diesem Pluralismus der Glaubenszeugnisse resultieren die ökumenischen Konflikte, bei denen sich nicht mehr nur einzelne Glaubende, sondern ganze Institutionen gegenüberstehen. Der Pluralismus ist es, der die ökumenischen Konflikte herbeiführt. Ricœurs These in dem Trienter Vortrag besteht nun darin, zu behaupten, dass der Pluralismus die Konflikte nicht nur herbeizuführen, sondern auch zu lösen vermag. Von einem partizipativ-pneumatologischen Offenbarungsmodell zu sprechen bedeutet anzunehmen, dass es ein und derselbe Geist ist, der sich in den überlieferten Texten und in den vielfältigen Lebensäußerungen der Glaubenden ausdrückt. Die Identität einer Gemeinschaft von Glaubenden gründet sich auf der Hoffnung, dass es Gottes Geist sei, der den »geregelten Pluralismus« der divergierenden Glaubensaussagen durchdringt und vereint.158 Er ist in der Entstehung und Aktualisierung der überlieferten heiligen Schriften ebenso am Werk wie in den von ihnen mehr oder weniger abgeleiteten Zeugnissen von Gotteserfahrungen in der Gegenwart. Die Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft gewinnen ihre Identität aus beiden Vermittlungsweisen der Offenbarung, die sich in ihrer Wahrnehmung zu sinnstiftenden spirituellen Ganzheiten (Sinnkonstellationen) verbinden. Auch Ricœurs Überlegungen zur Versöhnung von ökumenischen Konflikten sind vor dem Hintergrund dieser Hermeneutik des Glaubenszirkels bzw. des Offenbarungszirkels zu verstehen: Der Geist der Vergebung setzt seinen Lauf fort und leitet an zur Erinnerungsarbeit und zum Kampf gegen die Amnesie, gegen das Vergessen aus Flucht oder Bequemlichkeit. Ich spreche eher von der Arbeit der Erinnerung als von der Pflicht der Erinnerung und zwar um den Kampf gegen die Widerstände aus dem tiefen Unterbewusstsein zu unterstreichen und weil diese in den Tricks der Entlastung und Entschuldigung einen Vorwand finden, um der Erinnerungsarbeit zu entkommen. Aber die Arbeit der Erinnerung kommt nicht ohne eine Trauerarbeit aus, die sich auf alle verlorenen Objekte der Liebe (oder des Hasses) bezieht: sich mit dem Verlust zu versöhnen ist das Werk 158 Ricœur, Verflechtung, 115.

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dieser Trauer. In der religiösen Sphäre hat diese Trauerarbeit ihren Platz in Bezug auf den Verlust der Brüderlichkeit der urchristlichen Kirche, auf dem Niveau ihrer tatsächlichen Erfahrungen betrachtet, aber auch auf dem ihrer unerfüllten Träume und erst recht dem ihres offensichtlichen Scheiterns. An dieser Stelle nimmt sich der Geist der Vergebung des Dissenses an. Der Geist der Vergebung bekennt, dass etwas für immer verloren ist, etwas, das man im Übrigen niemals besessen hat.

Abseits von offiziellen Bekundungen und Absichtserklärungen, so die Hoffnung, die sich hier ausspricht, stehen die Mitglieder der am Dialog beteiligten Kirchen in demselben Geist. Bei diesem Geist handelt es sich um keinen anderen als Gottes Geist, der zu Übersetzung und Vergebung befähigt. Gottes Geist ist in der Lage, Versöhnung zu bewirken und die Handlungsfähigkeit wiederherzustellen, von der wir oben gesagt hatten, dass ihr Verlust häufig das Resultat von kollektiv erlittenen Verletzungen ist. Aber wie soll der Umgang mit den Verletzungen zwischen den Gemeinschaften konkret aussehen? Ricœur behauptet, dass Versöhnung nicht einfach angeordnet werden kann und dass darüber hinaus auch nicht jede Art von Erinnerungsarbeit zu einer gelingenden Versöhnung führt. Denn Versöhnung setzt eine Arbeit des Ringens mit der eigenen Erinnerung voraus und Ricœur schildert die Schwierigkeiten im Umgang mit den historischen Konflikten, die bisweilen unversöhnbar erscheinen. In der Knappheit von Ricœurs Vortrag zeichnen sich drei Arten der Erinnerung ab. Die erste besteht in der von Ricœur kritisierten Haltung der Ausflucht und des Vergessens. Wie wir sahen, läuft dieses Vergessen auf kein Verzeihen hinaus und ist daher auch kein Weg, den der ökumenische Dialog einschlagen könnte. Die zweite Art im Verhältnis von Erinnern und Vergeben impliziert einen tragischen Kreislauf des Wiedererinnerns. Wir können diese Figur als ›unendlich aufgeschobene Vergebung‹ bezeichnen, weil darin die Erinnerung an den Verlust der Brüderlichkeit ebenso redundant wie unentrinnbar und seine Ursachen unentwirrbar bleiben. Aus dieser unversöhnlichen Wiederholung des Konflikts resultiert schließlich die Handlungsunfähigkeit der Dialogpartner : Das Verlorene nimmt verschiedene Formen an: die Form des Unentwirrbaren (es werden sich niemals alle Intrigen aufklären, die zu der aktuellen Komplexität der Situation geführt haben), die Form des Unversöhnlichen (es wird immer widerstreitende Positionen geben, für die es an einem höheren Richter mangelt), die Form des nicht wieder gut zu machenden (wo sich die Frage der Ungerechtigkeiten wiederfindet, für die es aber wie für die Verletzungen keine endgültige und vollständige Heilung gibt, weil die Opfer nicht mehr da sind, um zu verzeihen).159

159 Ders., Il dialogo ecumenico, 102.

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Hier zeigt sich, wie das Erinnern der Verletzungen und das Vergessen einer ursprünglichen Gegenseitigkeit das Verzeihen verhindern. Der Dialog, der bei der Thematisierung des Verlorenen stehen bleibt, verwandelt sich folgerichtig in eine ausweglose Trauerarbeit, die über kurz oder lang zur Abkehr vom Dialog und zur ökumenischen Resignation führen muss.160 Der dritte von Ricœur vorgeschlagene Weg besteht nun darin, den Geist der Vergebung zu empfangen und in sein Wirken einzutreten. In seinem Ausgangspunkt ist dieser Weg von dem zweiten nur minimal unterschieden. Denn auch er setzt dabei an, die Sackgassen, ›Eiszeiten‹ und Unverzeihlichkeiten, die der ökumenische Dialog kennt, nicht zu bemänteln, sondern sie zu erinnern und damit anzuerkennen und zu betrauern als reale Verluste der »Brüderlichkeit«. Der Geist der Vergebung vervollständigt seinen Weg im Herzen von jedem und von allen in unseren lebendigen Gemeinschaften in der Form einer erklärten Gewissheit und zwar in dem Sinne, dass die Zugehörigkeit eines jeden zu seinen eigenen Überzeugungen unausgeschöpfte Sinnressourcen enthält. Die Vergebung spricht zu dem Schuldigen: Du bist mehr wert als deine Taten! Dasselbe Wort der Ermutigung ist den Lektüre- und Interpretationsgemeinschaften gesagt. Es sagt: Es gibt mehr Sinn als das, was du glaubst, in dem, was du bekennst; und das Mehr an Sinn [surplus de sens] ist anderswo gesagt als bei dir, von Anderen als dir. Aus dieser Versicherung geht eine befriedete Erinnerung hervor.161

Diese Passage des Trienter Vortrags bringt in verdichteter Form die Essenz von Ricœurs ökumenischer Hermeneutik zur Sprache. Deutlich wird, in den Geist der Vergebung einzutreten bedeutet für die beteiligten Glaubensgemeinschaften sowohl ein aktives Gestalten des Dialogs als auch den passiven Empfang des Evangeliums. Die Verflechtung von institutioneller und informeller Ebene ist komplex. Doch was ist es, das hier versöhnt werden soll? Ricœur bezeichnet es als den Verlust der Brüderlichkeit. Der Verlust der Brüderlichkeit ist zweifellos ein reales Phänomen. Er ist dort zu beklagen, wo Glaubensüberzeugungen mit Gewalt durchgesetzt werden und auch dort, wo der Wille zur Beherrschung des Anderen, sei es durch die Fortschreibung von Missverständnissen oder durch pauschale Verurteilungen, die interkonfessionelle Übersetzung verhindern. Diese mehr oder weniger gewaltsamen Formen der Kolonisierung des konfessionell Anderen können als individuelle oder kollektive Schuld am Verlust der 160 Ders., Gedächtnis, 772. »[…] weniger mit dem Gedächtnis als mit der Trauer als einer dauerhaften Disposition. Die drei erwähnten Figuren sind nämlich Figuren des Verlusts, das Eingeständnis, dass es immer Verlust gibt, wäre eine Weisheitsmaxime, die es wert wäre, als Inkognito der Vergebung in der Tragik des Handelns betrachtet zu werden. Die geduldige Suche nach dem Kompromiß, doch auch die Hinnahme des Dissenses in der Ethik der Diskussion, wäre seine kleinste Münze.« 161 Ders., Il dialogo ecumenico, 102 f.

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Brüderlichkeit aufgedeckt und anerkannt werden. In vielen Fällen mag die Schuldfrage eindeutig sein. Gelegentlich jedoch lässt sich der Verlust der Brüderlichkeit nicht einem einzigen ökumenischen Akteur anlasten, bleiben seine Ursachen »unentwirrbar«. Wenn in solchen Fällen Verletzungen und gegenseitiges Misstrauen miteinander verstrickt sind, verhindert die kollektive Schuld die eindeutige Identifizierung von Opfern und Tätern. In diesen Situationen scheint nicht die Rede von Schuld, sondern eher die Rede von einem universellen, strukturellen Mangel an Brüderlichkeit angemessen zu sein. Gleichwohl sollte der Verlust der Brüderlichkeit von dem unterschieden werden, was Ricœur den »geregelten Pluralismus« der Konfessionen nennt, d. h. von der legitimen Vielfalt der Glaubenszeugnisse, die nicht den Verlust der Einheit markieren, sondern das Resultat der nicht anders als existenziell zu machenden Offenbarungserfahrung sind. Wie aber ist es möglich, in den Geist der Vergebung einzutreten und Barmherzigkeit zu üben, die, wie wir oben sagten, der Ordnung der Vergebung entspricht? Folgt man Ricœurs Position, so gibt es einen zweifachen Zugang. Die Versöhnung kennt einen subjektiven und einen intersubjektiven Weg. Prinzipiell gilt, dass der Ursprung der Versöhnung eine Anrede ist, bei der das versöhnende Wort in die Unentwirrbarkeit der Konflikte hinein gesprochen wird. Es handelt sich um ein äußeres Wort, das jeder der am ökumenischen Dialog Beteiligten zuerst im Hören auf sein eigenes Bekenntnis wahrnehmen kann. An dieser Stelle macht Ricœur die Zentralität der Rechtfertigungslehre in der protestantischen Theologie für den ökumenischen Dialog fruchtbar. Die Zusage »Du bist mehr wert als deine Taten« ist es, die den einzelnen Glaubenden bzw. die Glaubensgemeinschaft von ihrer Schuld am Verlust der Brüderlichkeit entbindet. Im Hören auf diese Zusage findet im Sinne der christlichen Rechtfertigungslehre die Entbindung des Handelnden von seiner Handlung und damit die Wiederherstellung seiner Handlungsfähigkeit statt. Diese Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit, die, wie wir weiter oben sagten, für Ricœur den eigentlichen Zweck der Versöhnung darstellt, initiiert ein anderes, brüderliches Handeln der ökumenischen Akteure untereinander. Das Hören und Verstehen der externen Zusage gehört zu jenem Offenbarungsgeschehen, das zeitlich nach vorn offen ist und unabschließbar bleibt. Vergebung, wenn damit die Versöhnung mit dem Verlust und dem Dissens gemeint ist, ist deshalb zuerst eine Interpretationsarbeit, die das Selbst vor seinem eigenen Gewissen vollzieht. Aber handelt es sich bei dieser Weise der Versöhnung des Selbst vor seinem eigenen Gewissen um einen selbstgerechten Akt, einen Versuch der Selbsterlösung etwa? In Ricœurs Sinn nicht. Denn im Rahmen seiner Identitätstheorie stellt das eigene Gewissen – neben dem Anderen und dem eigenen Leib – eine Instanz der Alterität dar, in Auseinander-

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setzung mit der sich das Selbst erst konstituiert. Wir erkennen an dieser Stelle deutlich, dass das Gewissen in Ricœurs Theorie jener Ort ist, an dem das Selbst den Ruf des Evangeliums empfängt. Versöhnung meint hier ein passives SichVersöhnen-Lassen bzw. die Annahme (Rezeption) des Identitätsangebots eines versöhnten Selbst in der Zusage »Du bist mehr wert als deine Taten!« Doch damit ist noch nicht alles, ja noch nicht einmal das Entscheidende von Ricœurs Hermeneutik für den ökumenischen Dialog gesagt. Das obige Zitat deutet es an. Zu der subjektiven Ebene der Versöhnung gesellt sich eine intersubjektive Dimension, die freilich nicht ganz losgelöst von der ersten existiert. Nicht nur im Hören auf das eigene Bekenntnis entwirft sich das Selbst als Versöhntes, sondern auch im Hören auf den Anderen. Im ersten Moment mag das widersprüchlich erscheinen, war zuvor doch gesagt worden, dass die Versöhnung im ökumenischen Dialog nicht an den intersubjektiven Austausch gebunden ist, sondern eine Interpretationsleistung von Individuen bzw. Gemeinschaften in der subjektiven Wahrnehmung des Evangeliums darstellt. Weil diese Interpretationsleistung stets unabgeschlossen ist, hatte Ricœur »die Zugehörigkeit eines jeden zu seinen eigenen Überzeugungen« als »eine unausgeschöpfte Sinnressource« bezeichnen können, die – ähnlich wie ein Text – stets einen Sinnüberschuss gegenüber ihrer momentanen Auslegung beinhaltet. Die aktualisierende Erschließung dieses Sinnüberschusses ist eine Quelle der permanenten Interpretation des Selbst vor der Instanz des eigenen Gewissens, in der Gott ihm begegnet.162 Vergebung, so könnte man diesen ersten Teil von Ricœurs Position zusammenfassen, entsteht dann nicht durch den Austausch der Gedächtnisse und auch nicht durch die Suche nach Übereinstimmungen im Dialog, sondern im gemeinsamen Hören auf das rechtfertigende Wort des Evangeliums, das den Einzelnen freispricht. Wie wir nun aber sehen, bleibt es nicht bei dieser subjektiven Dimension. Der zweite Teil des obigen Zitats macht dies klar : Dasselbe Wort der Ermutigung ist den Lektüre- und Interpretationsgemeinschaften gesagt. Es sagt: Es gibt mehr Sinn als das, was du glaubst, in dem, was du bekennst; und das Mehr an Sinn [surplus de sens] ist anderswo gesagt als bei dir, von Anderen als dir. Aus dieser Versicherung geht eine befriedete Erinnerung hervor.163

War der ›Sinnüberschuss‹ bis hierher ein Phänomen, welches zeitlich versetzt neue, aktualisierende Interpretationen der gleichen Lektüregemeinschaft denkbar werden ließ, so zeigt sich nun, dass das ›Mehr an Sinn‹ der christlichen Überlieferung auch zeitgleich erreichbar wird und zwar im Hören auf das Bekenntnis der anderen Gemeinschaft. 162 Zur Verbindung von göttlicher Anrede und Gewissen vgl. ders., Le sujet. 163 Ders., Il dialogo ecumenico, 102 f.

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Auf diese Weise erscheint neben dem Hören auf die eigene Bekenntnisaussage eine weitere Möglichkeit, wie Versöhnung vermittelt und erfahren werden kann. Versöhnung bzw. die Möglichkeit, nicht im Wiederspruch zu der ursprünglich verheißenen Brüderlichkeit zu handeln, wird dem Selbst angeboten von der anderen Gemeinschaft, d. h. vom ökumenischen Dialogpartner. Dieser tritt dabei als Interpret derselben christlichen Überlieferung bzw. als ihr Zeuge auf und gibt ein Angebot sich versöhnen zu lassen weiter, welches er selbst in Auseinandersetzung mit der Überlieferung erfahren hat. Dieser intersubjektive Weg der Versöhnung hat dieselbe externe Quelle – die Botschaft des Evangeliums – wie der subjektive. Obwohl ihre Gestalt in Form der Glaubensaussagen des Dialogpartners verschieden ist, verweist der Inhalt doch auf dieselbe Offenbarung. Wenn es sich um dieselbe Offenbarung handelt, wirft dies die Frage auf, wieso dann das Wissen um das Mehr an Sinn in der Glaubensaussage des Anderen für Ricœur eine »befriedete Erinnerung« zu erzeugen vermag. Zwei Antworten scheinen denkbar. Zum einen zeigt sich, dass – nimmt man die Möglichkeit einer intersubjektiven Vermittlung an – die Verantwortung, Versöhnung herzustellen nicht auf den Schultern einer einzigen Gemeinschaft oder gar einzelner Glaubender liegt. Die Ermutigung besteht darin, die von Ricœur oft gewählte Denkfigur der analogisierenden Übertragung ins Spiel zu bringen, etwas vereinfacht, der anderen Gemeinschaft einen Vertrauensvorschuss zu geben. Demzufolge könnte auf den Willen des Anderen zur Versöhnung vertraut werden. Versöhnung zwischen den Gemeinschaften würde dann nicht mehr bedeuten, mühsame Überzeugungsarbeit zu leisten und sich gegenseitig dogmatische Kompromisse abzuringen. Stattdessen ließe sich darauf vertrauen bzw. im Dialog miteinander feststellen, dass das Zeugnis der anderen Gemeinschaft, obwohl seine Gestalt notwendigerweise verschieden ist, vom selben Geist inspiriert wurde wie das eigene und dass es ein Sinnangebot enthält. Wenn dies so ist, kann das Zeugnis des Anderen ohne Angst vor Vereinnahmung oder Überfremdung gehört und in der Hoffnung angenommen werden, dass der Andere es nicht vorträgt, um die eigenen Glaubensaussagen zu widerlegen, sondern dass es Ausdruck einer externen geistlichen Bewegung ist. Deren Resultat ist eine Polyphonie von Glaubensausdrücken, ihr Ziel aber besteht in der Versöhnung, die sich dadurch Bahn bricht, dass sie die konfessionellen Identitäten wandelt. Auch der Möglichkeit des Wandels der eigenen Identität, z. B. durch die Integration neuer dogmatischer Aussagen oder Frömmigkeitsstile, könnte dann zuversichtlich begegnet werden, weil sie kein Zeichen von Identitätsverlust wären, sondern im Gegenteil ein Ausdruck spiritueller Vielfalt, die der Wiedergewinnung ökumenischer Brüderlichkeit dienen kann. Es könnte andererseits darauf gehofft werden, dass das eigene Zeugnis in der anderen Gemeinschaft wohlwollend empfangen wird – eine Hoffnung, die ge-

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rade dann von Bedeutung ist, wenn die anderswo als bei sich selbst vollzogene Aktualisierung des »Sinnüberschusses« zu einem Konflikt der Interpretationen führt, d. h. wenn sich Glaubensüberzeugungen wiedersprechen oder gar ausschließen. Diese Möglichkeit muss natürlich in Kauf genommen werden und die Lösung lautet für Ricœur dann gewiss nicht, dass das Zeugnis des Anderen entgegen der eigenen Überzeugung dem Auftrag der Brüderlichkeit gehorchend übernommen werden müsste. Tatsächlich schlägt Ricœur für diesen Fall vor, den Dialog nicht auszusetzen, sondern ihn im Gegenteil fortzuführen und in geduldigen Versuchen der gegenseitigen Übersetzung nach Konsensen zu suchen bzw. verbleibende Dissense auszuhalten, ohne die Gemeinschaftlichkeit aufzukündigen. Auch der Umgang mit den historischen Konflikten zwischen den Glaubensgemeinschaften könnte unter diesen Voraussetzungen ein anderer sein.164 An die Stelle der einseitigen Wiederholung von historischen Verletzungen könnte ein bewusstes Einlassen auf die Perspektive des Anderen treten, weil der Andere im Geist der Vergebung nicht länger als Angreifer identifiziert würde, sondern als Partner bei der Revision einer nunmehr als gemeinsam empfundenen Geschichte, in die verschiedene Perspektiven integriert werden können. Auch hier lässt sich feststellen, dass in Ricœurs Sicht der Dinge im ökumenischen Dialog nicht zwangsläufig die Thematisierung theologischer Sachfragen im Vordergrund steht. Der ökumenische Dialog gehört vielmehr in den weiter oben beschriebenen Glaubenszirkel hinein, weil das, was darin ausgetauscht und übersetzt wird, »Sinnkonstellationen« sind, die eine eher narrative als assertorische Struktur besitzen. Als narratives Geschehen, das – als Zeugnisgeben gegenüber dem Anderen – auch eine unmittelbare Bedeutung für die Identitätskonstruktion einer Gemeinschaft hat, stellt der ökumenische Dialog also bereits das her, was er nach einem herkömmlichen Ökumeneverständnis erst diskursiv vorbereiten will: die Brüderlichkeit unter den christlichen Glaubenden und Gemeinschaften. Dadurch verschiebt sich – auch in der Frage der ökumenischen Rezeption – der Fokus von den ökumenischen Dokumenten, die ein Begegnungsgeschehen erst vorbereiten und einleiten sollen, hin zu einer theologischen Pragmatik der Dialoge, in der die Begegnung erlebt und interkonfessionelle Übersetzung auf allen Ebenen von allen Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft praktiziert wird.

164 Ein an Ricœur anschließendes Modell der Versöhnung im rumänischen Kontext wird entworfen in: Tat, Identit¦.

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3.4.4.3 Der Andere als Quelle der Offenbarung Um diesen Perspektivwechsel von der subjektiven zur intersubjektiv erfahrbaren Vergebung nachvollziehbar zu machen und seine theologische Bedeutung auszuloten, wollen wir nun einen weiteren Text heranziehen – ein Interview, welches Paul Ricœur einige Jahre vor seinem Tod mit Hans Küng führte. In der Diskussion der beiden ging es um die Frage, wie Gewaltausbrüche zwischen den Weltreligionen zu unterbinden seien bzw. wie der interreligiöse Diskurs dazu beitragen könnte, Kriegszustände zu befrieden und nicht – wie leider so oft – einen ideologischen Vorwand für politische Auseinandersetzungen zu liefern. Das dabei Gesagte lässt sich, obwohl es sich ursprünglich um einen Beitrag zum interreligiösen Dialog handelt, seiner hermeneutischen Struktur nach auch auf den interkonfessionellen Diskurs anwenden. Bekanntlich besteht das Projekt von Hans Küng darin, eine Erklärung zum Weltethos ins Leben zu rufen. Alle großen Weltreligionen einigen sich darin auf elementare ethische Standards. Der Umfang von Küngs Vorhaben kann an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden. Von Interesse ist für uns nur, welche Bedeutung in der Diskussion zwischen Hans Küng und Paul Ricœur dem Dialog bzw. den daraus resultierenden Dokumenten zugemessen wird. Küngs Position in dieser Frage ist relativ klar. Er geht von dem gesteckten Ziel aus, das in der globalen Reduzierung von Gewalt mittels des friedlichen Zusammenlebens der Religionsgemeinschaften besteht. Es bedarf dafür seiner Meinung nach einer Grundlage in Form einer gemeinsamen Erklärung, die einen verbindlichen Katalog von Regeln enthält, deren wichtigste lautet: »Du sollst nicht töten!« Weil in allen großen Weltreligionen, in mehr oder weniger expliziter Weise ein solches Tötungsverbot auffindbar ist, ist Küng der Meinung, dass es ein gemeinsames, elementares Ethos gibt, welches den einzelnen Glaubensaussagen vorgeordnet ist und von diesen sauber unterschieden werden kann. Sein Projekt möchte von den dogmatischen Einzelaussagen der verschiedenen Religionen absehen, vor allem von jenen Exklusivaussagen, von denen her die Gewaltanwendung gegenüber Andersgläubigen motiviert werden kann. Stattdessen konzentriert er sich darauf, die moralischen Übereinstimmungen zu finden und deutlich herauszustellen: Ich habe lange überlegt, um herauszufinden, wie man einen Konsens herstellen könnte. Im Dialog habe ich festgestellt, dass es einige große Orientierungslinien zwischen uns Christen gibt. Bei den Juden finden sie sich im Dekalog und diese ethischen Vorschriften finden sich ebenfalls im Koran und in den asiatischen Religionen. Worum geht es dabei? Es geht darum, von der Tatsache abzusehen, dass auf der Ebene der Theorie, des Glaubens oder der Dogmen viele Divergenzen, wenn nicht gar Konflikte existieren. Eine Überzeugung muss uns leiten: Wir müssen zusammenleben. Denken wir nur an all die Erfahrungen, die wir bei uns machen. Wir kennen alle Menschen, die aus anderen Religionen kommen und wir denken, dass wir ohne weiteres mit ihnen

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einen Dialog führen können, sogar besser als mit denjenigen Anhängern unserer eigenen Religion, die reaktionär denken.165

Die gemeinsame Erklärung, die das Parlament der Weltreligionen in Chicago im Jahr 1993 unterzeichnete, bewies, dass dieses Anliegen von Hans Küng eine große Zahl von Unterstützern aus allen Religionsgemeinschaften fand. Das konkrete Vorgehen Küngs und seiner Mitstreiter bestand schließlich darin, ein gemeinsames Manifest zu schreiben. In dieser gemeinsamen Erklärung sollte es gelingen, allen offensichtlichen Differenzen zum Trotz ein Mindestmaß an ethischer Übereinstimmung als Grundlage für das Zusammenleben verbindlich festzulegen.166 Paul Ricœur kritisierte Küngs Ansatz und seinen Versuch, die fundamentale Ethik aus den verschiedenen Religionen heraus zu präparieren und in Form eines Manifests verbindlich zu machen. Vollziehen wir die Schwerpunkte seiner Argumentation nach. (1) Die Frage, wie gewaltsame Konflikte zwischen Religionsgemeinschaften unterbunden werden können und wie stattdessen eine Kultur des gegenseitigen Respekts Einzug halten kann, betrachtet Ricœur nicht nur als Problem auf der inhaltlichen Ebene von Glaubensaussagen, sondern hinsichtlich der Glaubenshermeneutik. Ricœurs Frage lautet: In welcher Weise müssten die ethischen Vereinbarungen den Glaubenden begegnen, um tatsächlich auf Toleranz und Verständigung hin zu orientieren? Seine Antwort darauf lautet: Das, was nicht in ihrem Glaubenszirkel verwurzelt ist, kann auf die Glaubenden nicht überzeugend wirken. Anders gesagt, das Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit muss Teil des Glaubensbekenntnisses sein, damit es überzeugend ist. Gerade weil auch Missachtung und Gewalt gegen Andersglaubende durch den Bezug auf Tradition und Schriftauslegung als Grundlagen des Glaubens gerechtfertigt werden, müssen die Gründe, anders zu handeln, d. h. gastfreundlich und wohlwollend miteinander umzugehen, ebenfalls im eigenen Glaubenszirkel aufgefunden werden. Ricœur zufolge tendiert Küngs Ansatz jedoch dazu, von der Dynamik dieses Glaubenszirkels abzusehen und eine vergleichende Perspektive einzunehmen. Ricœur selbst ist nicht der Meinung, dass der eigene Glaubenszirkel einfach so verlassen und mit der Innenperspektive anderer Gemeinschaften verglichen werden könnte.167 Denn ebenso wenig, wie die eigene Muttersprache 165 Ricœur, Küng, Entretien, 216 f. 166 Ebd., 220. 167 Ricœur, Phänomenologie, 89 f. »Die innere Hermeneutik einer Religion kann eine Angleichung an eine universale Phänomenologie nur mit Hilfe einer sekundären Erweiterung anstreben, die durch ein Verfahren der analogisierenden Übertragung geregelt und Schritt für Schritt von dem Ort aus durchgeführt wird, an dem man sich zu Beginn befindet. Ich stelle dieses Verfahren demjenigen der vergleichenden Religionsgeschichte entgegen, das, zumindest idealerweise, die Einnahme eines Außenstandpunkts, eines Übersichtsstand-

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verlassen werden kann, kann sich jemand außerhalb des eigenen Glaubensverständnisses stellen. Weil er nicht im Bekenntnis wurzelt, sondern unter Absehung von den einzelnen Bekenntnissen formuliert wurde, ist der von Küng intendierte Katalog allgemeiner Regeln nach Ricœurs Ansicht deshalb nicht der Ausdruck eines übergreifenden Ethos, sondern eine kontextlose Moral ohne Überzeugungskraft. Ricœurs Perspektive auf die Reichweite gemeinsamer Absichtserklärungen ist – wie bereits im Trienter Vortrag – kritisch: Gelangen wir auf diese Weise nicht zu einer ›einfachen Erklärung‹, die darin besteht zu sagen: »Wir haben beschlossen das nicht zur Kenntnis zu nehmen, was uns trennt!« Dabei ist es vielleicht gerade das Anliegen, zu verstehen, was uns trennt, damit wir durch die Arbeit an uns selbst, durch Imagination und Sympathie, dahin gelangen zu sagen: »Man kann zu dieser Regel auch gelangen, wenn man von einem anderen Standpunkt ausgeht bzw. wenn man eine andere Verwurzelung im Fundamentalen hat.« Ich komme auf den Ausdruck des Fundamentalen zurück, diese Art Überschuss, die es in einem Bekenntnis gibt und von dem ich annehme, dass er sich nicht in einer Erklärung ausdrücken lässt. In ihrem Buch [Hans Küng: Das Projekt Weltethos168] benutzen sie manchmal den Begriff »fundamentale Wirklichkeit«. Der Begriff ist sehr abstrakt und gehört eher zur Philosophie als zur Religion. Zudem ist er abstrakt in einem schlechten, d. h. in einem konzeptuellen, rationalistischen Sinn. Sollte man ihn nicht der tiefen Dynamik des Glaubens zurückgeben, damit er seine treibende und bejahende Kraft einbringen kann? Denn wir haben doch das Gefühl, dass es ein Wort [Parole] gibt, dass sowohl vorgängig ist als auch übergeordnet und richtunggebend. Aus diesem Grund komme ich dahin zu sagen: »Nicht ich habe diese oder jene Regel aufgestellt, sondern sie wurde mir in gewisser Weise anvertraut.« Ich komme also auf meine Frage zurück: Geht es nicht viel weniger darum, die gemeinsamen moralischen Überzeugungen anzuerkennen, als vielmehr darum, den Weg aufzuzeigen, den jede einzelne Religion genommen hat, um zu ihnen zu gelangen?169

(2) Klar wird, es zählen für Ricœur weniger die offiziellen gemeinsamen Aussagen, die von verschiedenen Interpretationsgemeinschaften getroffen werden. Was es eigentlich bedeutet, einander im Dialog anzuerkennen, macht demgegenüber das obige Zitat deutlich. Es geht darum, den Anderen als Mitglied einer Interpretations- und Lektüregemeinschaft anzuerkennen, die Zeugin gegenüber demselben Offenbarungsgeschehen ist, dem auch die eigene Gemeinschaft ihre punkts voraussetzt, von wo aus das unbeteiligte epistemologische Subjekt mit einem neutralen und bloß interessierten Blick das disparate Feld der religiösen Überzeugungen betrachtet. Mag einem solchen Blick von Nirgendwo eine gewisse Außenbeschreibung zugänglich sein, das Verständnis dessen, wovon die Rede ist, das Woraufhin, ist ihm unerreichbar […] Wenn also, entgegen dem Anspruch eines losgelösten Verstehens, nur eine analogisierende Übertragung erlaubt bleibt […], dann [motiviert die Idee einer Phänomenologie der Religion] das, was ich mir erlauben werde als den Wunsch nach einer interkonfessionellen, interreligiösen Gastfreundschaft zu bezeichnen.« 168 Küng, Weltethos. 169 Ricœur, Küng, Entretien, 219.

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Identität verdankt. Als was wird der Andere demzufolge anerkannt? Er wird anerkannt als Vertreter einer Gemeinschaft, die im selben Offenbarungsprozess steht und im selben Geist agiert wie das Selbst, obwohl der dabei von ihr zurückgelegte »Weg« ein anderer ist. Zweifellos kann es hierfür keine letzte Gewissheit geben. Die Annahme, der Andere würde im selben Geist handeln wie das Selbst, ist nur in der von Ricœur präferierten Denkfigur der analogisierenden Übertragung zu haben, die vorsieht, dem Anderen einen Vorschuss an Vertrauen zu geben. Die Schwierigkeit einer solchen Position besteht darin, dass sie von den Glaubenden fordert, eine doppelte Realität zu bezeugen – die Wahrheit des eigenen Bekenntnisses einerseits und andererseits eine größere, »fundamentale« Wahrheit, welche die eigene stets überschreitet. Ricœurs Vorschlag läuft darauf hinaus, zu sagen, dass keine Auslegungstradition die Wahrheit in Gänze besitzt, sondern dass die transzendente Ursache gegenüber dem einzelnen Zeugnis stets einen Überschuss an Sinn (surplus de sens) behält, ja dass die Qualität des Überschusses (surplus) letztlich das entscheidende Merkmal der göttlichen Realität ist, die von verschiedenen Gemeinschaften erfahren wird: Man muss sozusagen auf zwei Ebenen gleichzeitig leben. Einerseits dem seiner eigenen Überzeugung: Ich persönlich glaube wie Sie, dass im christlichen Zeugnis von der Inkarnation, vom Kreuz, von der Auferstehung etwas absolut Spezifisches liegt. Gleichzeitig aber, obwohl ich diese Botschaft für sehr spezifisch halte, kann ich zugeben, dass es etwas noch Fundamentaleres gibt, das sich darin vielleicht ausspricht, aber das nicht vollständig davon ausgesagt wird. Dieses Fundamentale zirkuliert in gewisser Weise zwischen den Gesprächspartnern. Hier treffen wir auf den ethischen Aspekt dieses Fundamentalen, das vielleicht sogar in gewisser Weise etwas Ethisches ist. Wie kann man gleichzeitig auf zwei Ebenen seiner Überzeugung leben? Wie kann man verstehen, dass es so etwas gibt wie einen Hintergrund, der nicht ausgesprochen wird und den ich dennoch in einigen gnadenvollen Momenten der Begegnung mit dem Anderen erahne? Denn genau da ist es doch gesagt, nehmen Sie z. B. die buddhistische Idee des Mitleidens. Sie sagen in ihrem Buch, dass der Buddhismus ganz klar ist darin, dass von einem persönlichen Gott keine Rede ist. Aber es ist die Rede vom Mitleiden. Könnte ich deshalb nicht sagen, dass es etwas gibt, das durch die Botschaft des Anderen verstärkt werden muss. Die Bergpredigt und insbesondere die Idee der Sorglosigkeit, die im Alltag so schwer umzusetzen ist, ist vielleicht noch deutlicher ausgedrückt in den buddhistischen Ideen des Nicht-Anhaftens und des Mitleidens.170

Das Fundamentale, der Grund des Glaubens, ist also etwas, das in jeder einzelnen Position enthalten ist, doch nirgends vollumfänglich, so dass es alle Positionen überschreitet und gleichzeitig deren Quelle darstellt. Die einzelnen Glaubenden und Gemeinschaften verhalten sich dem Fundamentalen gegenüber als Zeuginnen. Das bedeutet, dass die Glaubenswahrheit sinnvollerweise nicht 170 Ebd., 215 f.

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als ›Besitz‹ einer einzelnen Gemeinschaft aufgefasst werden kann, bzw. dass keine Gemeinschaft die Deutungshoheit darüber inne hat. Aus dieser hermeneutischen Entscheidung resultiert eine legitime Pluralität der Glaubensauffassungen, die im Dialog erfahren wird. Die Besonderheit von Ricœurs Position besteht nun darin, dass seiner Meinung nach die Konstatierung der Differenzen im Dialog nicht zum gegenseitigen Ausschluss führt. Ganz im Gegenteil hat für ihn die Erfahrung der Pluralität der Glaubensweisen eine ethische Funktion, denn sie lässt den Schluss zu, dass die Glaubensaussagen der verschiedenen Gemeinschaften sich zueinander komplementär verhalten. Unter dieser Voraussetzung ist eine Haltung der gegenseitigen Exklusion nicht sinnvoll. Stattdessen richtet die Einsicht, im Geist derselben Offenbarung zu stehen, die Glaubenden und Gemeinschaften auf eine Haltung der Friedfertigkeit hin aus. Es ist wichtig, dass jeder entdeckt, dass das, was ihn zum Respekt vor dem Leben […] führt, von einem Punkt herkommt, der sich eben nicht auf der Ebene der ethischen Erklärungen befindet. […] Was macht sie als Religionen aus, wenn nicht die Tatsache, dass jedes Mal etwas von einem Punkt aus gesagt wird, den nicht ich einnehme. Von diesem Punkt aus, den nicht ich einnehme, geht die Verpflichtung aus, diese gemeinsamen ethischen Aussagen zu machen. Aber gleichzeitig gehört der Grund für diese Aussagen nicht mir. Ich kann verstehen, dass ein anderer auf einem anderen Weg dorthin gelangt. Das Fundamentale zirkuliert von dem ausgehend, das weder der eine noch die andere beherrschen. Darin liegt auch der Grund für die Gewaltlosigkeit einer Religion. Verstehen Sie mich richtig. Wenn ich im Laufe dieser Diskussion immer auf dem Fundamentalen, dem tiefen Grund, insistiert habe, so nicht, um anderswohin zu flüchten, sondern um die Ursachen zu finden für den Kampf gegen die Gewalt und die Tendenzen des Fundamentalismus und gegen all das, was eine Quelle der Gewalt sein könnte, hier bei uns und in unseren Konfessionen. Um die Motivation zur Gewaltlosigkeit in meinem eigenen Bekenntnis wiederzufinden, muss ich am Grund meines Bekenntnisses das finden, was das Moment der Gewalt im Bekenntnis zerbricht und verdammt und so am Grund meines Bekenntnisses das finden, was ich nicht beherrsche. Mit anderen Worten, ich bin nicht der Meister des Sinnes. Ich denke, dass man sich daran jedes Mal erinnern sollte, wenn man sich für den Träger einer Botschaft hält. Diese Botschaft übertrifft mich nicht nur, sie entwaffnet mich auch. Und in dem Maße, wie sie mich entwaffnet, kann ich mich an den Anderen wenden, in der Hoffnung, dass er denselben Weg geht.171

(3) Das Ziel des Dialoges besteht also einerseits darin, anzuerkennen, dass sich der fundamentale Grund des Glaubens gegenüber dem eigenen Zeugnis als »Sinnüberschuss« bemerkbar macht und dass das Bekenntnis des Anderen trotz seiner andersartigen Gestalt vom selben Grund inspiriert ist, der sich auf andere Weise offenbart hat bzw. bezeugt wird. Darüber hinaus ist der Dialog mit Ver171 Ebd., 225 f.

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tretern einer anderen Glaubensgemeinschaft auch der Ort, an dem dieser fundamentale Grund erfahren wird. Ricœur spricht davon, dass das Fundamentale zwischen den Glaubenden »zirkuliert«.172 Diese Überlegungen Ricœurs legen eine überraschende Konsequenz nahe. Im Vertrauen darauf, dass die Vertreter einer anderen Glaubensgemeinschaft im selben Glaubenszirkel stehen bzw. dass ihr Zeugnis vom selben Geist inspiriert ist wie das eigene, hat ihr Zeugnis für die je eigene Gemeinschaft einen Offenbarungscharakter. Bereits als wir Ricœurs Verständnis der Identität einer Glaubensgemeinschaft darstellten, waren wir zu einem Verständnis von Offenbarung gelangt, dass sich am ehesten als pneumatologisch-partizipativ beschreiben ließ, weil es offensichtlich eine Vielzahl von Glaubensnarrativen im Rahmen von ein und derselben Gemeinschaft zuließ. Nun kommen wir zu dem Schluss, dass der Glaubenszirkel sich noch viel weiter erstreckt und Glaubende anderer Gemeinschaften einschließt, sofern diese als im selben Geist stehend angenommen werden. Die Entgrenzung des Offenbarungsgeschehens umfasst dabei, wie wir sehen, nicht nur die Vertreter anderer christlicher Gemeinschaften im ökumenischen Dialog, wo uns der Gedanke eines Mehr an Sinn im Zeugnis des Anderen in Ricœurs Trienter Vortrag ja das erste Mal begegnete. In dem Gespräch mit Hans Küng wird klar, dass Ricœur sich auch im Sinne des religionstheologischen Pluralismus äußert. Nicht nur die Glaubenszeugnisse unterschiedlicher Konfessionen des Christentums verhalten sich in ihren Glaubensaussagen komplementär in Bezug auf ihren gemeinsamen Grund. Auch die Aussagen anderer Religionsgemeinschaften können für die christlichen Kirchen offenbarungsrelevant sein, d. h. in den Aussagen von Angehörigen einer anderen Konfessions- oder auch Religionsgemeinschaft begegnen Elemente der göttlichen Wirklichkeit. Das ist ein ermutigender Gedanke, dessen religionstheologischer Tragweite wir an dieser Stelle allerdings nicht weiter nachgehen können. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Glaubensaussagen der Anderen sich in Ricœurs Perspektive gegenüber dem eigenen Zeugnis nicht defizitär verhalten, wie es die klassische Position des religionstheologischen Inklusivismus bzw. des Exklusivismus annehmen würde. Vielmehr geht Ricœur davon aus, dass im Bekenntnis des Anderen Aspekte des Glaubens bezeugt werden können, die in der eigenen Tradition nicht oder nur abgeschwächt vorkommen. Trotzdem stellt der Dialog mit dem Anderen höchstens in zweiter Linie einen Informationsaustausch über ethisch-dogmatische Fragen dar. Vordergründig betont Ricœur das Moment der Zirkulation der Offenbarung zwischen den Gesprächs172 Konkret ist dabei wohl an ein Geschehen des Wiedererkennens bestimmter Aspekte im Zeugnis des Anderen und deren modifizierende Verstärkung zu denken (wie weiter oben am Beispiel von dem buddhistischem Mitleiden und dem christlichen Appell zur NichtSorge illustriert wurde).

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partnern. Der Dialog selbst kann also geistliches Geschehen sein, in dem das Fundamentale sich mitteilt. Man könnte formulieren, dass im Kontakt mit dem Anderen die Quelle der Offenbarung aufscheint, ohne dass diese in erschöpfender oder dauerhafter Weise von einem der Partner besessen wird. Auf das uns hier beschäftigende Beispiel der Vergebung angewendet, bedeutet dies, dass der Impuls, einander zu vergeben nicht in der Form von theoretischem Wissen ausgetauscht wird, sondern als Erfahrung präsent ist. Die Ordnung der Barmherzigkeit bzw. der Geist der Vergebung, in den man eintreten müsste, um die vorfindlichen zwischenmenschlichen Konflikte zu transzendieren und beizulegen, werden als Angebot erlebt, das sich den Gemeinschaften auch im Dialog miteinander eröffnet. Die Vergebung wird gleichsam auch im Dialog entdeckt, ohne dass sie auf die Initiative einer Seite zurückgeführt werden könnte. Dies geschieht in der gegenseitigen Bezeugung der Glaubenserfahrung gegenüber dem fundamentalen Impuls zu Gewaltlosigkeit und Barmherzigkeit. Weiter oben hatten wir gesagt, dass in Ricœurs Perspektive der Pluralismus nicht nur als die Quelle der Konflikte, sondern auch als deren Lösung angesehen werden könnte. Was damit gemeint ist, tritt nun deutlicher zutage: Im Aufeinanderhören und in dem von Ricœur vorgeschlagenen Modus der gegenseitigen Übersetzung wird es möglich, den Anderen nicht nur als Angreifer und potentiellen ›Kolonisator‹ anzusehen, sondern es kann gelingen das Zeugnis des Anderen als Quelle der Offenbarung und der Vergebung wahrzunehmen. Die Kraft, aufeinander zu hören, Konflikte beizulegen und mehr Gemeinschaft zu wagen kommt aus dem Zeugnis des Anderen, dem gegenüber – folgt man Ricœurs wichtigstem Axiom für den interreligiösen oder interkonfessionellen Dialog – ich den Vertrauensvorschuss formuliere, er würde im selben Geist stehen wie ich selbst. Die Annahme, dass der eigene Glaube und die Verständigung mit dem anders Glaubenden Elemente von ein und demselben hermeneutischen Zirkel ans Licht bringen, stellt die Spezifik von Ricœurs Dialoghermeneutik dar. Sie besagt: Im Zeugnis des Anderen begegnet mir derselbe Geist, von dem getragen ich den Dialog eröffne und auf dem die Versöhnung beruht, zu der ich durch die Begegnung bereit werde. Obwohl alle Glaubensbekenntnisse Ausdruck desselben Offenbarungsgeschehens sind, bedürfen die am Dialog Beteiligten zur Beilegung ökumenischer Differenzen nicht nur der Besinnung auf den Aufruf zur Gewaltlosigkeit im eigenen Bekenntnis, sondern auch der lebendigen Erfahrung des jeweils anderen Zeugnisses, um gegenüber der eigenen Verstricktheit in theologische oder historische Konflikte ein Wort der Ermutigung zu empfangen. Praktizieren lässt sich diese Vergebung am ehesten als ein Ethos des interkonfessionellen Dialoges.

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3.4.5 Eine Poetik des ökumenischen Diskurses Folgen wir Ricœurs Ausführungen aus dem Trienter Vortrag, deren Tragweite wir nun anhand weiterer Texte zur kleinen bzw. großen Ökumene ausgelotet haben, so fallen uns einige Dinge auf, die diese ökumenische Theorie ihrem Status nach schwierig verortbar erscheinen lassen. Da ist zunächst die explizit ausgesprochene Kritik an der Theorieförmigkeit ökumenischer Konzepte. Ricœurs Vorbehalte beruhen darauf, dass die meisten ökumenischen Konzepte in ihrem normativen Anspruch kaum in der Lage sind, die Dynamik des tatsächlichen Glaubenszirkels einzufangen. Was der Autor daneben stellt – sei es gegen das Modell des differenzierten Konsenses im Trienter Vortrag oder gegen Hans Küngs Projekt Weltethos – ist eine ökumenische Hermeneutik, die ausdrücklich auf die zwischenmenschliche Begegnung, die Haltung gegenseitiger Gastfreundschaft und den Dialog setzt und damit die ökumenische Einigung zu einem Wort-Ereignis in der Gemeinschaft der Glaubenden werden lässt. Obwohl das von Ricœur vorgesehene Szenario der interkonfessionellen bzw. interreligiösen Begegnung kaum strukturell verankert wird und institutionellen Aspekten – beispielsweise der Redaktion und Rezeption offizieller Erklärungen – nur wenig Bedeutung beimisst, räumt er der Möglichkeit, auf dem Weg des Dialogs über Dissense hinweg intersubjektive Einigung und tragfähige Kompromisse herzustellen, gewaltige Chancen ein. Soviel Optimismus könnte misstrauisch machen, wenn man bedenkt, wie kritisch in den letzten Jahren und Jahrzehnten die ökumenische Einheitssuche betrachtet worden ist. Diese Kritik am ökumenischen Gedanken aber scheint für Ricœur – obwohl auch er sich kritisch gegenüber der Konsensökumene positioniert – insofern keine Rolle zu spielen, als er konsequent auf den Dialog setzt und ein tiefgehendes Verständnis sowie eine gelingende Übersetzung zwischen Bekenntnisgemeinschaften prinzipiell für möglich hält. Welchen Status, so müssen wir uns fragen, kann eine solche Theorie beanspruchen, die den ökumenischen Dialog deshalb für vielversprechend hält, weil sie ihn stärker im spirituellen Erleben verortet und sich wenig um die viel beklagte ›Eiszeit‹ auf der institutionellen Ebene schert? Klar geworden ist im Laufe dieses Kapitels, dass Ricœur in seiner ökumenischen Hermeneutik eine Einheit von Wahrheit und Methode anstrebt. Mit anderen Worten, die Art, wie Verständigung zwischen verschiedenen Glaubenszeugnissen erreicht werden soll, kann nicht unabhängig sein von der Art, wie ein jeder der Dialogpartner bzw. die Mitglieder der am Dialog beteiligten Interpretationsgemeinschaften zu ihrer Glaubenswahrheit gelangt sind. Die Frage, welchen Status dann eine ökumenisch-theologische Theorie besitzt, die sich in dem geschilderten Auslegungsprozess bewegt, trifft die Frage nach der Spezifik des Glaubensdiskurses gegenüber anderen Theorien der Gemeinschaftsbildung, die nicht unter den Voraussetzungen einer sich auf Offenbarung

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gründenden Interpretationsgemeinschaft formuliert wurden. Wie wir im Folgenden zeigen werden, lässt Ricœurs Werk den Schluss zu, dass die Spezifik des Glaubensdiskurses in seiner Qualität liegt, sich als poetische Rede zu äußern. Auch Ricœurs ökumenische Hermeneutik ist in dieser Weise als Poetik zu verstehen. Aber was meint Ricœur wenn er von Poetik spricht? Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Vorstellung, die Ricœurs gesamtes Werk durchzieht. Poetik meint eine Art des Diskurses, die unterschieden ist vom rhetorischen Diskurs einerseits, der argumentieren und überzeugen will und andererseits von dem hermeneutischen Diskurs, der mehrheitlich an der Interpretation interessiert ist. Diesen beiden gegenüber ist ein Diskurs dann poetisch zu nennen, wenn es ihm darum geht, durch den Appell an die produktive Einbildungskraft seiner Adressaten bzw. mittels der metaphorischen Kraft der Sprache ein neues Wirklichkeitsverständnis zu generieren. Poetik bezieht sich für Ricœur also nicht auf das literarische Genre der Poesie im engeren Sinn, sondern wird wie bei Aristoteles im Sinne der poiesis verwendet, d. h. als Hinweis auf die Schöpferkraft der Sprache im literarischen Werk und der Welt ihrer Leser. Was im Zuge einer solchen Sprachschöpfung entsteht und dem Leser im Werk begegnet, hat den Charakter einer neuen Weltsicht: Das Hauptziel der Poetik besteht im Wandel von Vorstellungen [conversion de l’imaginaire]. Dadurch bringt die Poetik das gesicherte Universum der einmal gefassten Ideen und Prämissen der rhetorischen Argumentation in Bewegung. Dieser Einbruch des Imaginären entwurzelt die Ordnung der Überredung [persuasion], weil es weniger darum geht, bestimmte Kontroversen zu entscheiden als vielmehr, neue Überzeugungen [convictions] zu generieren.173

Wenn wir das Werk Ricœurs betrachten, so stellen wir fest, dass die Idee der Poetik darin auf zwei verschiedene Weisen begegnet – sowohl als ein aktives gestalterisches Moment als auch als ein passives. Die aktive Seite der Poetik wird überall dort untersucht, wo sich Ricœur mit der Textproduktion bzw. dem Funktionieren von Texten und Metaphern auseinandersetzt und deren Potential beschreibt, menschliches Handeln und Erleiden zur Sprache zu bringen bzw. anzuregen.174 Als passive poetische Erfahrung lässt sich demgegenüber nicht die Produktion von Diskursen, sondern deren Rezeption ansehen. Der Begriff der Poetik rekurriert an dieser Stelle also auf die Erfahrung von Lesern, die sich bzw. ihre Lebenswelt als durch die Sprache von Texten passiv konstituiert empfinden. Erinnern wir uns an das, was wir weiter oben über die Identität einer Glaubensgemeinschaft – insbesondere der christlichen Gemeinschaft – sagten: Eine Gemeinschaft konstituiert sich, indem ein äußeres Wiederfahrnis in Form eines 173 Ricœur, Rh¦torique, 487. 174 Siehe Kapitel 3.3.2.2. Im Werk Ricœurs ist hier besonders an die Bände Die lebendige Metapher und Zeit und Erzählung zu denken.

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an sie ergangenen Wortes durch eine kontinuierliche Auswahl in das Schicksal einer Identität verwandelt wird. Ricœurs Gedanke der Poetik als Wirklichkeit konstituierende Funktion von Texten begegnet uns hier in der Vorstellung einer hermeneutischen Gemeinschaft, die sozusagen ihr Gegenstück bildet. Weit davon entfernt ein bestimmtes Textgenre zu bezeichnen, meint Poetik im passiven Sinn also die Eigenschaft von Texten, Wirklichkeit zu kreieren, wobei die Schaffung von Gruppenidentitäten durch religiöse Gründungsdokumente eine gesteigerte Form der Wirkung einer Poetik darstellt.175 Die Glaubensgemeinschaft wird durch das sie erreichende äußere Wort im Sinne einer nicht-heteronomen Abhängigkeit176 konstituiert und in Dienst genommen: Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem Glauben und dem Vernehmen eines Wortes. Ich würde diese Beziehung zuerst negativ charakterisieren als ein Nicht-Beherrschen. Alle anderen Arten von Diskurs haben mehr oder weniger eine Tendenz zur Dominanz. […] Nun gibt es aber einen Ort, an dem sich diese Beziehung zur Sprache umkehrt. Nicht mehr ich beherrsche, sondern sie ruft mich an und fordert mich heraus. Dieser Umschwung in Sprachgebrauch und Sprachpraxis stellt für mich im starken Sinn eine poetische Erfahrung dar. Unter Poesie verstehe ich allerdings keine Sprache in Versform im Gegensatz zur Prosa, sondern in fundamentalerer Weise die poiesis, d. h. die Erfahrung durch die Sprache geschaffen zu werden. Ich denke, dass das eine Ontologie ist, vielleicht die einzige Ontologie, die das Evangelium tatsächlich enthält, nämlich das Wissen durch die Macht des Wortes zu existieren.177

Die Gemeinschaft, die im Hören auf dieses äußere Wort existiert, verliert nicht ihre Autonomie, sondern sie gewinnt sie Ricœur zufolge erst dadurch, dass das Hören auf das externe verbum gefolgt ist von einer Etappe der Selbstauslegung. Darin erfährt die Gemeinschaft unter dem Eindruck des äußeren Wortes sich selbst als unabhängig von den determinierenden Zuschreibungen der sie umgebenden Welt. Denkbar ist dies, weil das von außen ergehende Wort des Evangeliums klar abgegrenzt ist von der technischen und deskriptiven Sprache seiner Umwelt und demgegenüber als performative, befreiende Rede vernommen wird. Es handelt sich hier im Sinne von Ricœurs Texthermeneutik um ein Sinnangebot, welches der biblische Text bzw. die Narrative eines fortgesetzten Offenbarungsgeschehens ihren Rezipienten vorschlagen. Im Hören darauf bzw. 175 Ricœur, Poetry, 455. »I should say that what makes the difference between poetry and religious kerygma is that poetry opens ways for my imagination to try, ways of thinking, ways of seeing the world, under the rule of play – that is to say, I am not committed. I have only to open my imagination. Religious experience, whatever it may be, adds at least three elements which are not the non-poetical side but which add to this capacity of opening an element of commitment. Second the belonging to a certain community. And third, the attempt to connect that to a social, ethical, political stance.« 176 Siehe Kapitel 3.3.2.4. 177 Thomasset, Paul Ricoeur, 327.

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im Zuge einer fortgesetzten hermeneutischen Aktivität erlebt sich die Gemeinschaft in ihrer mythisch-poetischen Identität. Denn die Sprache selbst ist der Ort des Vergessens. In ihr konstituiert sich der Sprachgebrauch, der für die logische Sprache steht oder es wird die Kraft der Sprache vergessen, die darin besteht, den Menschen anzureden und ihm Möglichkeiten zu eröffnen. Möglichkeiten eröffnen, d. h. Möglichkeiten als Mensch zu existieren und seine Geschichte zu entfalten. Der Kampf gegen dieses zentrale Vergessen treibt mich dazu an, neben der objektivierenden Sprache der Technik und der Logik die Sprache des Verstehens zu bewahren. Neben der Sprache der Technik, in der ich über alle Dinge verfüge, eine Sprache, die Möglichkeiten weckt. […] Das heißt auch, eine Sprache sprechen zu lassen, von der ich sagte, dass sie mehr an uns gerichtet ist, als dass wir sie sprechen, dass sie zu uns gesprochen wurde, mehr, als dass wir sie sprachen. Diese Sprache nenne ich eine Sprache der Begründung. Aber nicht der Existenz oder der Geschichte. Ich halte an diesem Begriff des Möglichen fest, denn er hat zwei Gegenspieler. Er wendet sich einerseits gegen die Notwendigkeit einer determinierten Welt, auf die letzten Endes alle Entmystifizierungen hinführen. Man kann sich über den spinozistischen Einschlag bei Nietzsche, Marx und Freud nur wundern. Sie sprechen von der ›wohlverstandenen Notwendigkeit‹, der ›Liebe zum Schicksal‹, dem ›Prinzip der Realität‹. Gewiss, ich bewundere diese Askese der Notwendigkeit und in vielerlei Hinsicht ist sie verführerisch, aber es gibt mehr und es gibt Besseres, und zwar die Gnade der Vorstellung, die Gnade des Auftauchens… An dieser Stelle antworte ich mit meiner kierkegaardschen Seite auf den spinozistischen Mythos von Totalität und Notwendigkeit. Ich versuche zu verstehen, dass der Mensch stets in seinem mythischpoetischen Kern hervortritt, geschaffen und wiedererschaffen von einer Anrede, die ihn hervorbringt.178

Entscheidend an diesem Zitat ist für uns, dass die von der Poetik in der Sprache des Evangeliums getroffene Gemeinschaft gleichsam den Schnittpunkt zwischen aktivem und passivem poetischen Element, d. h. zwischen Weitergabe und Rezeption dieses äußeren Wortes darstellt. Der empfangene und durch die Interpretation angeeignete Sinn wird weitergegeben. Die Art und Weise dieser Weitergabe bezeichnet Ricœur als »Utopie«. Dieser Terminus mag zunächst verwirren, doch in Ricœurs System entspricht die Utopie dem poetischen Diskurs auf der Ebene der kollektiven Einbildungskraft, des sozialen Imaginären, während der auf Argumentation und Abwägung beruhende rhetorische Diskurs im Modus der »Ideologie« präsent ist.179 Die Utopie: 178 Ricœur, Sens et fonction, 12. 179 Ders., Ideologie, 142. »Wenn es so einfach ist, sich dieser beiden Ausdrücke [von Utopie und Ideologie] in einem polemischen Sinn zu bedienen, so deshalb, weil selbst für Soziologen, die auf bloße Beschreibungen bedacht sind, jeder dieser Ausdrücke einen positiven und einen negativen Aspekt oder, wenn Sie lieber wollen, eine konstruktive und eine destruktive Funktion darbietet.«

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ist der Traum eines anderen Modus der familiären Existenz, einer anderen Weise, sich die Dinge anzueignen und die Güter zu verbrauchen, einer anderen Weise das politische Leben zu organisieren, einer anderen Weise, das religiöse Leben zu erfahren… Das ›Anderswo‹, das ›Jenseits des Seins‹ der Utopie, ist die rigorose Antwort auf das ›So und nicht anders sein‹, das durch die – an ihrer Wurzel gefasste – Ideologie ausgesprochen wird.180

Ricœur versteht die Utopie als Korrektiv, das eine Gesellschaft daran hindert, mit ihrer momentanen Verfasstheit in eins zu fallen und dadurch selbstgenügsam oder bar jeder Hoffnung zu agieren. Obwohl Ricœur zubilligt, dass alle Gemeinschaften sich notwendigerweise in beiden Diskursarten ausdrücken müssen, um sich sowohl institutionell zu konsolidieren, als auch zu Innovationen fähig zu sein, kann die befreiende Botschaft des Evangeliums, auf der sich die Identität einer kirchlichen Gemeinschaft gründet, nur weitergegeben werden, wenn sie in die Form der Utopie gegossen wird. Angesichts von all dem [dem Mangel an Orientierung in der modernen Welt] geht es nicht um Schuldzuweisung oder um Bedauern, sondern darum, einen grundlegenden Sinn zu bezeugen. Und wie? Wenn das Wort nicht zu suspekt oder zu ambivalent ist, würde ich sagen: Treten wir für die Utopie ein! […] Für mich ist dies die erste Art und Weise, mein Glaubensbekenntnis verständlich zu machen und – noch auf eine äußere Art – die Notwendigkeit einer Spannung für unsere modernen Gesellschaften zu zeigen, einer endlosen Dialektik zwischen dem utopischen Anspruch [l’exigence utopique] und dem vernünftigen Optimum des ökonomischen, sozialen und politischen Handelns. Weiter sehen, mehr fordern. Das ist die Hoffnung, sie erwartet stets mehr als das Machbare. Wir sind die Träger eines ›Mehr‹ an Hoffnung auf die Zukunft. […] Ich sage, dass ein Christ besondere Gründe dafür hat: die Ankündigung von Christi Tod und Auferstehung ist für ihn die Lektüre einer historischen Chiffre, die das Mehr an Sinn gegenüber dem Unsinn bezeugt.181

Der Anspruch, die eigene Botschaft im Sinne einer starken Utopie weiterzugeben geht für Ricœur Hand in Hand mit dem Rekurs auf bestimmte sprachliche Formen. Die Gemeinschaft, die von der poetischen Sprache der sie erreichenden Botschaft passiv getroffen und in ihrem Selbst- und Weltverständnis verwandelt wurde, müsste dieser Erfahrung des permanenten Wandels auch in ihrem Zeugnis Ausdruck geben. Hier eine Kohärenz von Wahrheit und Methode anzustreben, würde bedeuten, von der Erfahrung des Identitätswandels zu zeugen und die Möglichkeit eines Wandels – im christlichen Sinne die Hoffnung auf Erlösung und Versöhnung – als Perspektive für die sie umgebende Welt auszusagen. Weiterhin würde es bedeuten, die Hoffnung auf Veränderung nicht in Form von absoluten, dogmatischen Glaubensaussagen vorzubringen, denn 180 Ebd., 146 f. 181 Ders., Sens et fonction, 3 f.

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damit befände man sich wiederum in einem rhetorischen Diskurs, der auf Überredung der Zuhörer abzielen würde. Vielmehr erschiene es sinnvoll, wenn man das Anliegen der Verkündigung auch auf das Niveau der Sprache übersetzen würde. Das würde bedeuten, das Potenzial einer als unzulänglich erlebten Wirklichkeit freizulegen, indem man vermittels metaphorischer Rede die Hoffnung auf bzw. die Erfahrung von einem möglichen, heilsamen Wandel als realistische Utopie zur Sprache bringt. Aristotle speaks of poetics for all kinds of making in terms of language, both in fiction and poetry. But also because through this recovery of the capacity of language to create and re-create, we discover reality itself in the process of being created. So we are connected with this dimension of reality which is itself unfinished […]. And then, once more I should like to use the vocabulary of Aristotle when he speaks of the entelecheia, the potentiality to see things in terms of potentialities and not in terms of actualities. There is a place in my book on metaphor when I say that when language is itself in the process of becoming once more potential it is attuned to this dimension of reality which is itself unfinished and in the making. Language in the making celebrates reality in the making.182

Diese Theorie Ricœurs, der zufolge die Spezifik christlicher Rede in ihrer poetischen Qualität zu finden ist, d. h. in ihrer Fähigkeit, dem was ist sein Entwicklungspotential zuzusprechen, die Realität in ihrer dynamischen Dimension zu sehen und an das ihr innewohnende Mehr an Sinn zu erinnern, erstreckt sich nun als Deutungsangebot auch auf den ökumenischen Diskurs bzw. jede Theorie, die antritt, diesen normativ gestalten zu wollen. Es folgt also daraus, dass wir die ökumenische Hermeneutik Ricœurs ihrem Status nach dann richtig verstehen, wenn wir sie als Poetik des ökumenischen Dialoges erkennen. Eine solche Poetik des ökumenischen Dialoges ist gegenüber anderen ökumenischen Hermeneutiken in der Lage, den Standpunkt der Akteure als Glaubende in einem unausgesetzten Offenbarungsgeschehen anzuerkennen. Und sie ist in der Lage, Voraussetzungen und Resultate bestimmter ökumenischer Diskurse innerhalb der doppelten Bewegung zu deuten, in der sich jeder Rezipient, aber auch jede hermeneutische Gemeinschaft unter dem Eindruck einer poetischen Rede befindet: als die passive Rezipientin der poetischen Sprache des Evangeliums in überlieferter Schrift bzw. lebendigem Zeugnis und als sprachschöpferische Produzentin und Zeugin eines Sinnüberschusses. Der ökumenische Dialog bewegt sich folgerichtig zwischen den Polen von passivem AufgerufenSein durch das poetische Wort des Evangeliums einerseits, welches eine kirchliche Gemeinschaft konstituiert, indem es sie zu ihrer mythisch-poetischen Identität befreit und andererseits zu dem aktiven Bezeugen, Weitersagen und Auslegen dieses Aufrufs. 182 Ders., Poetry, 462.

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Das Vernehmen des Wortes, die Deutung der eigenen Existenz und das Richten von Deutungsvorschlägen an den jeweils Anderen bilden das starke Band, welches in Ricœurs Theorie dem Umstand der bleibenden Alterität zum Trotz eine tragfähige Beziehung zwischen den Dialogpartnern herstellen. Es genügt, die letzten Zeilen von Ricœurs Trienter Vortrag zu rekapitulieren, um zu ersehen, wie eine ökumenische Hermeneutik beschaffen ist, die sich an der Deutungskompetenz einer ganzen Gemeinschaft orientiert und in ihrem Status als Theorie zugleich als Utopie zur Sprache kommt, d. h. die an die Dynamik der Realität und ihre bisher unrealisierten Möglichkeiten appelliert: Mögen die autorisierten Sprecher der christlichen Konfessionen damit fortfahren, den Kreis des Lehrkonsenses auszuweiten – darin besteht ihre Aufgabe. Aber es ist an allen Gläubigen im Zentrum und an den Rändern und an allen, die sich aus der Nähe oder der Ferne als Hörer und Interpreten der Gründungstexte verantwortlich fühlen, diese doktrinale Arbeit in ein viel größeres und stets unvollendetes Unternehmen der »Reform« einzuschreiben, welches sich mit diesen »Sinnkonstellationen« befasst, die die Glaubensbekenntnisse der christlichen Gemeinschaft darstellen. Diese Arbeit am Sinn wird nicht umsonst sein, wenn sie sich weiterhin der Obhut des Geistes der Übersetzung und des Geistes der Vergebung anvertraut.183

Mit Hilfe dieses letzten Zitats aus dem Trienter Vortrag können wir den Status von Ricœurs Theorie nochmals verfeinernd erfassen. Der Abschnitt zeigt, dass es sich um eine Hermeneutik handelt, für die ökumenisches Handeln nicht einigen wenigen Experten vorbehalten ist, sondern notwendigerweise Akteure auf alle Ebenen der kirchlichen Gemeinschaften einschließt. Das kann nicht anders sein, da die Verständigung zwischen Kirchen sich speist aus dem Bezeugen und Weitersagen des empfangenen Wortes in Gestalt einer wechselseitigen Ermutigung durch dessen schöpferische Weitergabe und Neuauslegung. Dabei stellt Ricœurs Text selbst eine Art Ermutigung dar und wahrscheinlich wird man seinem Beitrag zur ökumenischen Hermeneutik nur dann gerecht, wenn man sich klar macht, dass er diesen ebenfalls im Sinne einer Utopie, d. h. nicht als Deskription realer Rezeptionsprozesse und nicht als normative Anweisung zu ihrer Gestaltung formuliert hat. Was Ricœur offensichtlich nicht im Sinn hat, ist eine neue ökumenische Konsensmethode (wie z. B. der differenzierte Konsens eine darstellt) zu entwickeln. Den Gedanken einer konkreten Umsetzung dieser Methode lässt dies zunächst nicht besonders plausibel erscheinen. Gleichwohl formuliert er aber mit dem Paradigma der Übersetzung und dem Paradigma der Vergebung auch Regeln für das ökumenische Gespräch, die tatsächlich in die Praxis umsetzbar sind und deshalb eine gewisse normative Kraft haben. Allerdings betreffen diese Regeln die ökumenische Begegnung nicht auf dem Niveau spezialisierter kontroverstheologischer Dialoge, sondern 183 Ders., Il dialogo ecumenico, 103.

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im Sinne einer Ethik der Begegnung, welche alle Bereiche des kirchlichen Lebens durchziehen soll und deshalb auch von allen Glaubenden gemeinsam verantwortet wird. Dies scheint die Stoßrichtung von Ricœurs ökumenischer Theorie zu sein: Ökumene ist kein spezialisierter Bereich des theologischen Diskurses, sondern eine Funktion der Gemeinschaft, die sich an der gesamtgesellschaftlichen christlichen Utopie beteiligt, welche darin besteht, mehr Gemeinschaft zu wagen und Versöhnung als ein zutiefst menschliches Anliegen zu begreifen, zu dem alle Glaubenden berufen und befreit sind. Ricœur legt also eine Phänomenologie der Versöhnung vor, die keine ökumenische Methode mit voraussagbarem Ergebnis sein will, sondern vielmehr eine Deutung der gegebenen Umstände im Hinblick auf die ihnen innewohnenden Möglichkeiten. Er geht zwar fest aus von der praktischen Möglichkeit der ökumenischen Gastfreundschaft, die sich in Übersetzung und Vergebung äußert. Er geht aber nicht so weit, einen Automatismus der Versöhnung anzunehmen. Seine ganze Theorie sperrt sich gegen eine derartige Objektivierung. Weil die Kraft zur gegenseitigen Vergebung nicht in der Fähigkeit zum politischen Handeln allein begründet ist, sondern sich aus der Utopie eines Mehr an Sinn und Mehr an Gemeinschaft speist, erscheint es unplausibel, die Rede von der Vergebung allein auf juristische Weise festzuschreiben oder in theologischer Rede theorieförmig werden zu lassen. In Ricœurs Philosophie steht die Versöhnung deshalb zwar zentral, wird aber verstanden als »irreduzibel praktische« Erfahrung und sprachlich markiert durch die »Grammatik des Optativs«, d. h. einer semantischen Möglichkeitsform.184 Eine ökumenische Hermeneutik muss im Anschluss an Ricœur diesen kategorialen Unterschied beachten und zugeben, dass von der Vergebung im ökumenischen Dialog zu sprechen, bedeutet, von der Hoffnung auf ihre Verwirklichung zu sprechen, die sich der Sphäre der politischen Machbarkeit in letzter Konsequenz entzieht. Gleichwohl eröffnet für den, der sich im Glaubenszirkel befindet, das empfangene und im eigenen Gewissen bezeugte Wort des Evangeliums eben diese Hoffnung, dass die selbst oder von einem Anderen ererbten, erlittenen oder geschürten Konflikte nicht die unverrückbare Grenze des interkonfessionellen Gesprächs sein müssen. Denn mit der Zusage: »Du bist mehr wert als deine Taten« ist ein Wort der Befreiung gesprochen. Im ökumenischen Dialog wird es bezeugt und zirkuliert zwischen den Partnern. Es enthält die Option, zukünftig anders zu erinnern und zu handeln. Dies eröffnet die Möglichkeit, die empfangene Zusage an den Anderen, der um Vergebung bittet, weiterzugeben und genau dadurch Vergebung zu leisten. Die Hoffnung auf die Möglichkeit einer 184 Ders., Gedächtnis, 759. »Von diesem Paradox […] darf man nicht auf spekulative oder transzendentale Weise sprechen. Da es in irreduzibler Weise praktischer Natur ist, lässt es sich nur in der Grammatik des Optativs zum Ausdruck bringen.«

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gemeinsamen Umkehr, die alle Dialogpartner umfasst, stellt sich vor einem solchen Selbstverständnis als begründet und wahr heraus. Wenn wir diese Anliegen Ricœurs in Rechnung stellen, kann es nun nicht verwundern, dass seine Position zum Status ökumenischer Gespräche sich ganz deutlich von anderen, wie etwa von der Hans Küngs unterscheidet, die wir weiter oben dargestellt hatten. Küngs Position, die wir auch als paradigmatisch für Stimmen aus der Konsensökumene annehmen dürfen, läuft darauf hinaus, im ökumenischen Dialog Argumente für ein Miteinander der Gemeinschaften zu sammeln und dieses Miteinander in Texten zu institutionalisieren und verbindlich zu machen. Ganz anders verhält sich demgegenüber die Position Ricœurs. Für ihn geht es im ökumenischen Gespräch vorrangig darum, aufeinander zu hören, Positionen zu übersetzen, sich durch den anderen auslegen zu lassen, im gelingenden Miteinander den Appell zur Versöhnung zu erfahren und diese einander zu bezeugen. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven auf den Status der Dialoge resultiert auch ein gänzlich anderer Blick auf die Rolle von ökumenischen Dokumenten, der wir uns im Folgenden zuwenden wollen.

3.4.6 Der Status ökumenischer Texte Während also Hans Küng hinsichtlich der Wirksamkeit ökumenischer Dokumente ganz auf deren normative Funktion vertraut, geht Ricœur von ihrer Begrenztheit aus, weil das gemeinsame äußere Wort, der fundamentale Grund, auf den alle Gemeinschaften sich beziehen, nicht festgeschrieben, sondern nur im Hören auf das eigene Zeugnis bzw. das des Anderen erspürt werden kann. Das Gemeinsame zirkuliert im Dialog zwischen den Partnern. Dieses Erspüren in der Begegnung miteinander ist ein Moment der Offenbarung. Wenn Bekenntnistraditionen im Gespräch vermittelt werden, d. h. wenn man einander übersetzt und sich in Gastfreundschaft begegnet, so wird die gegenseitige Anerkennung als Brüderlichkeit erfahren. Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Positionen besteht darin, dass für Küng der Abschluss eines Dialoges denkbar ist, welchem – eingeleitet durch die explizite Einigung auf einen verbindlichen Konsenstext – eine veränderte Qualität der zwischengemeinschaftlichen Beziehungen nachfolgt. Für Ricœur verhält es sich anders. Institutionalisierte Texte flankieren zwar das Geschehen der wachsenden Versöhnung, aber sie bilden dabei auf der Ebene der politischen Neuordnung eine Annäherung ab, ohne dass sie es vermögen, deren eigentliches Wesen auszudrücken. Bloß die Erfahrung des Dialoges, nicht das darüber verfasste Dokument, vermag die Glaubenden zu versichern, dass der

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Dialogpartner im selben Geist agiert und dass sein Zeugnis für sie selbst identitätsstiftend ist, weil darin etwas Konstitutives und anders nicht zu Erlangendes zur Sprache kommt. Von diesem Widerspruch zwischen den Positionen von Küng und Ricœur ausgehend, wollen wir uns im Folgenden Gedanken über den Status ökumenischer Dokumente im Ansatz Ricœurs machen. In Ricœurs Theorie kehrt sich der klassischerweise angenommene Verlauf der ökumenischen Rezeption um. Das bedeutet, dass nicht die kirchliche Basis die Entscheidungen ökumenischer Experten rezipiert und damit die Dokumente, durch welche die ökumenischen Entwicklungen übermittelt werden. Stattdessen sind es die Texte bzw. gesetzgebenden Stellen, welche das rezipieren, was zwischen den Menschen geschah, d. h. welche die Qualität der erreichten Beziehungen institutionalisieren, indem sie sie kirchenrechtlich verbindlich machen. Ihre kirchenrechtliche Festschreibung entspricht dem, was in der Theorie Ricœurs als politische Ordnung fungiert und von der Ordnung der Barmherzigkeit / Ordnung der Versöhnung zu unterscheiden ist. In der politischen Sphäre ist die Haltung der Großzügigkeit und Gastfreundschaft im Umgang miteinander nur in Form eines Inkognitos präsent, d. h. in Form von normierenden Anordnungen und der gegenseitigen Festlegung auf bestimmte Umgangsformen, welche die Befriedung des Miteinanders im Sinn haben. Bis dahin können wir Ricœur ohne Probleme folgen, doch nun stellt sich uns eine Frage. Müssten wir nach allem, was wir aus Ricœurs Hermeneutik über die Bedeutung von Texten erfahren haben, nicht mehr sagen können über deren Reichweite im ökumenischen Dialog? Ricœur spricht sich für die Bewegung aus, in deren Verlauf die ökumenische Erfahrung zwischen Menschen in Texte überführt wird. Müssten wir nicht auch den umgekehrten Weg annehmen können, bei dem der Text zur Erfahrung führt? Es scheinen uns zwei Gründe dafür zu sprechen, dass die ökumenische Gemeinschaft Texte benötigt und ihre Fortschritte auch in Texten niederlegt. Der erste Grund ergibt sich aus kirchenrechtlichen Überlegungen: Ohne jeden Zweifel sind Kirchen hierarchisch strukturierte Organismen und die Tragweite der durch sie initiierten Interaktionen ist an Entscheidungsstrukturen gebunden. Für die ökumenische Entwicklung bedeutet dies, dass es institutionalisierte Entscheidungen gibt, an denen der ökumenische Fortschritt gelegentlich scheitert. Um ein eindrückliches Beispiel zu geben, denke man nur an das gemeinsame Abendmahl von katholischen und protestantischen Christen. Obwohl es von Seiten der kirchlichen Basis den nicht zu überhörenden Wunsch nach einer Ermöglichung der gemeinsamen Abendmahlsfeier gibt und obwohl ökumenisch gesinnte Theologen beider Konfessionen längst die theologische Be-

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gründetheit eines solchen Schritts bewiesen haben,185 scheitert das Unterfangen an einer offiziellen Erlaubnis. Zumindest gilt das für die Fälle, wo sich Glaubende noch an die Entscheidungen von Kirchenleitungen gebunden fühlen. Ganz egal, ob man dieser Struktur zustimmen will – sei es der lehramtlichen Befugnis in Bezug auf geistliche Entscheidungen, sei es ihrer bewussten Umgehung – oder nicht, man wird sich für den ökumenischen Dialog der Tatsache stellen müssen, dass auch solche Dokumente, die lediglich auf der Ebene der politischen Ordnung etwas aussagen, in der Lage sind, ökumenische Erfahrungsräume zu öffnen oder eben zu verschließen. Wenn man daher daran interessiert ist, die in der zwischenmenschlichen Begegnung erfahrene gegenseitige Anerkennung als Möglichkeit intersubjektiv bekannt zu machen und auf ihre Verallgemeinerung hinzuarbeiten, so wird man einen Weg finden müssen, diese kirchenrechtliche Ebene zu erreichen. Obwohl wir damit die kirchenrechtliche Rolle ökumenischer Dokumente höher einschätzen als Ricœur dies in seinem Trienter Vortrag getan hat, sind wir trotz allem seiner Argumentation an dieser Stelle noch sehr nah. Schließlich hat er – an den Stellen, wo er politischen Texten attestiert, ein Inkognito der Versöhnung zu vermitteln – diesen Übergang von ökumenischen Ereignissen zu ökumenischen Institutionen ja explizit vorgesehen und eingeräumt, dass auch Institutionen daran beteiligt sind, dass Versöhnung sich vollzieht. Juristische Texte, so heißt es in diesem Zusammenhang, sind in der Lage Beziehungen zwischen Konfliktpartnern dauerhaft zu normalisieren. Sie ersetzen die Dynamik, die zu ihrer Redaktion geführt hat nicht, sind aber unter Umständen in der Lage, Begegnungen einzuleiten, in deren Verlauf der Geist der Übersetzung und Versöhnung wieder erlebt wird. Diese kirchenrechtliche Bedeutung ökumenischer Dokumente erstreckt sich auch auf den ökumenischen Dialog, der in offiziell dafür mandatierten Kommissionen geführt wird. Hier ist die Frage freilich nicht, ob es Dokumente geben sollte, sondern vielmehr, welcher Art diese sein sollten. Dokumente, welche die Dialogergebnisse festhalten und von den Kirchenleitungen verbindlich anerkannt wurden, sind eine Voraussetzung dafür, dass der offizielle Dialog sich nicht in Redundanzen verliert, sondern an die Ergebnisse vorhergehender Kommissionen anschließen und diese weiterentwickeln kann. Besteht jedoch keine Sicherheit darüber, welchen Status die vorausliegenden ökumenischen Gespräche erreicht haben, so haben möglicherweise darin errungene theologische Fortschritte und Konsense nicht die Chance, sich durchzusetzen und ökumenische Kairoi verstreichen ungenutzt. Ein weiteres Argument, welches dafür spricht, den ökumenischen Doku185 Centre d’Êtudes Œcum¦niques, Institut für Ökumenische Forschung, Konfessionskundliches Institut, Abendmahlsgemeinschaft.

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menten mehr Aufmerksamkeit zu schenken, ergibt sich in hermeneutischer Hinsicht. Im vorangegangenen Abschnitt hatten wir Ricœurs Theorie als eine Poetik des ökumenischen Diskurses beschrieben. Die ökumenische Gemeinschaft, so hatten wir gesagt, befindet sich im Rahmen einer ökumenischen Poetik an der Schnittstelle zwischen Vernehmen und Bezeugen der identitätskonstituierenden Botschaft des Evangeliums. Bezeugt und weitergegeben wird diese Botschaft sowohl von den biblischen Texten als auch von den mündlichen und schriftlichen Narrativen der Glaubenden, denen deshalb auch eine offenbarungstheologische Rolle zukommt. Innerhalb eines derart angenommenen Szenarios einer polyphonen Poetik liegt die Frage nahe, wieso nicht auch ökumenische Texte eine poetische Funktion entfalten könnten. Konkret verbirgt sich hinter dieser Anfrage die Vorstellung, dass ökumenische Texte wie andere Texte auch in der Lage sind, die produktive Einbildungskraft ihrer Leser anzuregen, indem sie sie mit einer anderen Weltsicht konfrontieren. Indem wir dies vorschlagen gehen wir offenbar ›mit Ricœur über Ricœur hinaus‹! Dieser hatte im Trienter Vortrag ja die Grenzen ökumenischer Dokumente deutlich benannt und darauf hingewiesen, dass die »Logik der Nichtwidersprüchlichkeit«, der diese verpflichtet seien, zu wenig Raum lasse für poetische Sprache, Übersetzungsversuche und metaphorische Symbolik.186 In der Tat müssen wir annehmen, dass diese Beobachtung Ricœurs nicht nur auf die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zutrifft, um die es im Trienter Vortrag ging, sondern auch auf viele andere Texte, die im Nachgang ökumenischer Gespräche redigiert wurden, um den errungenen Konsens bzw. die erreichte Annäherung festzuhalten. So diskussionswürdig der Begriff für die protestantische Theologie auch sein mag, in der Optik Ricœurs bewegen sich die ökumenischen Texte offensichtlich auf der Ebene des ›Lehramts‹. Sie haben damit eine Position inne, die – ausgehend vom Offenbarungsgeschehen in der Glaubensgemeinschaft – eigentlich einen »abgeleiteten und untergeordneten Charakter« aufweist.187 Denn die ursprünglichen Glaubensaussagen, die von der Dynamik der Offenbarungserfahrung zeugen – mögen sie in Auseinandersetzung mit Texten oder wie hier im ökumenischen Dialog in der Begegnung mit Menschen gemacht worden sein –, weisen eine Polyphonie und Polysemie auf, die erst im Nachhinein normiert wird. Ihre Normierung und Abstraktion mag in Form einer kirchlichen Dog186 Ricœur, Il dialogo ecumenico, 96. »Der gesuchte Konsens in diesen vielfältigen Dimensionen des Sinns scheint nicht reduzierbar zu sein auf eine Übereinstimmung über Aussagen, deren Begrifflichkeiten sorgfältig abgewogen wurden, wo jedes Komma wohl kalkuliert ist und in denen die Argumente einer unflexiblen Logik der Nicht-Widersprüchlichkeit unterworfen wurden, die wenig sensibel ist für die Paradoxa und die Arbeit an Symbolen.« 187 Ders., Offenbarung, 42.

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matik der Verständigung innerhalb einer Glaubensgemeinschaft durchaus dienlich sein. Wird jedoch auf der Ebene des Lehramtes diesen höchst formalisierten Glaubensaussagen der Status von »geoffenbarten Wahrheiten« verliehen, so besteht die Gefahr, dass die ursprüngliche Vielfalt der Glaubensaussagen unterschlagen und der Toleranzgedanke gegenüber anderslautenden Bekenntnissen sowie die Einsicht in die historische Kontingenz der eigenen Aussagen verweigert wird. So kontaminiert die Vorschrift, was zu glauben ist, in absteigender Linie die anderen Ebenen, die wir in aufsteigender Linie durchquert haben. Die Lehre einer Bekenntnisgemeinschaft verliert das Verständnis für den historischen Charakter ihrer Interpretationen und begibt sich unter die Vormundschaft der starren Aussagen des Lehramtes. Das Glaubensbekenntnis verliert seinerseits die Flexibilität und Beweglichkeit der lebendigen Verkündigung und wird mit den dogmatischen Aussagen einer Tradition und dem theologischen Diskurs einer Schule identifiziert, deren zentrale Kategorien das Lehramt festsetzt. Aus dieser Vermischung und Kontamination geht das schwerfällige und undurchdringliche Konzept der »geoffenbarten Wahrheit« – häufig im Plural der »geoffenbarten Wahrheiten« – hervor, um den diskursiven Charakter des Gesamtkomplexes an dogmatischen Aussagen zu unterstreichen, die für identisch mit dem zugrunde liegenden Glauben gehalten werden.188

Dennoch, handelt es sich dabei um einen prinzipiellen Einwand, der gegen die Inspirationskraft ökumenischer Dokumente spricht? Denkbar und in der ökumenischen Praxis durchaus anzutreffen sind ja auch Dokumente, die keinen lehramtlichen Charakter haben und deshalb interpretationsoffener sind. Wenn, wie in Ricœurs Texttheorie angenommen, Texte aufgrund ihrer Autonomie die Fähigkeit besitzen, mit Hilfe von Metaphern eine neue Referentialität auf die Lebenswirklichkeit ihrer Leser hin zu entwerfen und so in deren Wirklichkeit modifizierend einzugreifen, so würde dies für die Wirkung ökumenischer Texte eine Möglichkeit aufzeigen, Erfahrungsräume bereitzustellen, welche über die normierende Funktion kirchlicher Gesetzgebung hinausgeht. Bekanntlich besagt Ricœurs Theorie noch mehr. Ihr zufolge greift nicht nur der Text auf die Lebenswirklichkeit der Leser zu, auch die Leser sind gewissermaßen auf der Suche nach Interpretationsstrukturen für ihr Leben und finden diese bevorzugt in Texten auf. In seinem Buch Das Selbst als ein Anderer zeigt Ricœur, dass es der Einspruch eines Anderen ist, an dem sich die Identität des Selbst bezeugen und weiterentwickeln kann. Weiter oben hatten wir erläutert, dass dieser Kern von Ricœurs Alteritätstheorie eigentlich eine Ableitung aus seiner Texttheorie darstellt, weil diese Funktion des Einspruchs in Ricœurs früher Texthermeneutik etwas war, was vornehmlich Texte leisten konnten und damit zur Identitätskonstitution ihrer Leser beitrugen. Im Konzept der »nar188 Ebd.

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rativen Identität« hatte Ricœur diese beiden theoretischen Teile seines Werks dann wieder zusammengeführt. Das Konzept der »narrativen Identität« besagte, dass wir den Sinn, die Kohärenz bzw. die Identität unseres Lebens nur einholen können, indem wir im Nachhinein die vollkommen aleatorisch erlebten Episoden unseres Daseins in einer bewusst erzählten Lebensgeschichte einordnen. Das Leben erscheint auf diese Weise als Rohmaterial von unerzählten Geschichten, deren narrative Konfiguration etwas Heilsames darstellt. Without leaving the sphere of everyday experience, are we not inclined to see in a given chain of episodes in our own life something like stories that have not yet been told, stories that demand to be told, stories that offer points of anchorage for the narrative? […] This narrative interpretation of psychoanalytic theory implies that the story of a life grows out of stories that have not been recounted and that have been repressed in the direction of actual stories which the subject should take charge of and consider to be constitutive of his personal identity. It is the quest of personal identity which assures the continuity between the potential or virtual story and the explicit story for which we assume responsibility. […] And as they [the stories] emerge, the implied subject also emerges. We can then say : the story answers to the man. The main consequence of this existential analysis of man as being entangled in stories is that narrating is a secondary process grafted on our ›being-entangled in stories‹. Recounting, following, understanding stories is then simply the continuation of these unspoken stories. From this double analysis, it follows that fiction, in particular narrative fiction, is an irreducible dimension of self-understanding. If it is true that fiction is only completed in life and that life can be understood only through the stories that we tell about it, then an examined life, in the sense of the word as we have borrowed it from Socrates, is a life recounted.189

In diesem Zitat klingt die weiter oben erwähnte Potenz von Texten an, einen Erfahrungsraum zu öffnen. An dieser Stelle allerdings bezieht sie sich auf die Neuerzählung der eigenen Lebensgeschichte. Deren prinzipielle Funktion besteht darin, die Lebenserfahrungen ihrer Leser so zu konfigurieren, dass sie deren Selbstverständnis erklären und verändern: Geschichten werden also vor allem deshalb gebraucht, damit die Leser sich selbst erkennen und die – wenn auch fragile – Kohärenz des eigenen Lebens als Ganzheit akzeptieren können. Die Vorlage, um aus den Episoden eines Lebens eine Geschichte zu formen, findet sich in den jeden Menschen kulturell bedingt umgebenden symbolischen Erzählungen, deren Protagonisten starke Identifikationsfiguren darstellen. An dieser Stelle bestätigt sich eine weitere Funktion von Texten, die, neben ihrer therapeutischen Wirksamkeit als Lebensgeschichten darin besteht, in Gestalt der umgebenden narrativen Stimmen Visionen einer anderen Wirklichkeit durch kulturelle Symbolik kraftvoll zu vergegenwärtigen: 189 Ders., Life, 30 f.

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We can become our own narrator, in imitation of these narrative voices, without being able to become the author. This is the great difference between life and fiction. In this sense, it is true that life is lived and that stories are told. An unbridgeable difference does remain, but this difference is partially abolished by our power of applying to ourselves the plots that we have received from our culture and of trying on the different roles assumed by the favorite characters of the stories most dear to us. It is therefore by means of the imaginative variations of our own ego that we attempt to obtain a narrative understanding of ourselves, the only kind that escapes the apparent choice between sheer change and absolute identity. Between the two lies narrative identity. In conclusion, allow me to say that what we call the subject is never given at the start. Or, if it is, it is in danger of being reduced to the narcissistic, egoistic and stingy ego, from which literature, precisely, can free us. So, what we lose on the side of narcissism, we win back on the side of narrative. In place of an ego enamored of itself arises a self instructed by cultural symbols, the first among which are the narratives handed down in our literary tradition. And these narratives give us a unity which is not substantial but narrative.190

Unsere Überlegung besteht nun darin anzunehmen, dass ökumenische Texte in der Lage sein könnten, eine ebensolche Wirksamkeit zu entfalten. Kraft ihrer metaphorischen Referentialität könnten Texte in der Lage sein, ihre Leser an der Vision eines ökumenisch-friedlichen Zusammenlebens, getragen von Übersetzung und Versöhnung teilhaben zu lassen und sie aus einem ängstlichen Traditionalismus, der den Dialog gerade verhindert, zu befreien. An die Stelle der Fortschreibung der immer gleichen Konflikte und die Wiedererzählung von deren historischen Ursachen, könnte die aufdeckende Darstellung transversaler Beziehungen unter den Konfessionen treten, die sich am Ende als viel entscheidender für eine gemeinsame Praxis herausstellen, selbst wenn sie bislang zugunsten einer ideologischen Perspektive der Selbstbestätigung unterdrückt wurden. Andererseits freilich müssen wir auch Ricœurs Einwand hinsichtlich der unzureichenden poetischen Qualität ökumenischer Texte ernst nehmen. Indem sie die Resultate der Dialoge darbieten, ohne die verbliebenen Differenzen und die vollzogene gegenseitige Interpretationsarbeit offen zu legen, verlocken die meisten ökumenischen Texte in der Tat ihre Leser kaum dazu, sich zu engagieren und auf den konfessionell Anderen zuzugehen. Schon bei oberflächlicher Betrachtung zeigt sich, dass der Stil der meisten Dokumente nur wenige Leerstellen aufweist, die spielerisch zu füllen eine Gemeinschaft sich berufen fühlen könnte. Doch das müsste nicht zwangsläufig so sein und es bedürfte dazu sicherlich einer anderen Art ökumenischer Texte, die, wie uns scheint, eine andere Haltung erfordern müssten und zwar sowohl bei ihrer Redaktion als auch bei ihrer Lektüre. 190 Ebd., 32 f.

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Zunächst würde es darum gehen, ökumenische Dokumente anders zu verfassen als bisher. Ziel ihrer Redaktion müsste sein, sie als Zeugnisse gelebter Ökumene zu Symbolen der Einheit werden zu lassen sowie vermittels der Texte ein Bewusstsein für den geregelten Pluralismus der Interpretationsprozesse innerhalb der christlichen Gemeinschaft zu schaffen. Dabei müsste es gelten, den Eindruck, es handele sich im Wesentlichen um kirchenrechtliche Dokumente, zu vermeiden und vielmehr Mut zu poetischer Sprache zu beweisen. Die Texte, die die ökumenische Begegnung reflektieren, müssten stärker darum bemüht sein, der dort erfahrenen Vielstimmigkeit gerecht zu werden und diese abzubilden. Auf diese Weise ließe sich einer Forderung aus Ricœurs Theorie gerecht werden, die darin besteht, nicht die Nichtwidersprüchlichkeit, sondern neben dem Konsens auch die überwundene bzw. die bleibende Widersprüchlichkeit zu dokumentieren. In einer solchen – möglicherweise synoptisch angelegten – Darstellung von Positionen könnte etwas aufscheinen von der Vielfalt der Metaphern, der sich Glaubensaussagen bedienen und vielleicht auch etwas von der Vielfalt der hermeneutischen Wege, die bei der Interpretation von Schrift und Welt eingeschlagen werden und dennoch zu ähnlichen Ergebnissen führen. Die Dokumente, bei denen es sich der ökumenischen Terminologie nach freilich um Konvergenz- und nicht um Konsenstexte handeln würde, dürften die eventuelle Widersprüchlichkeit mancher Positionen nicht vorschnell mit einer allzu konsensuellen Sprache bemänteln. Denn gerade das Aufzeigen von Widersprüchen, verbunden mit einer in Ricœurs Sinne utopischen Aussage der Hoffnung auf ihre Überwindung, könnte die Notwendigkeit der Übersetzungsarbeit zwischen den Konfessionen aufzeigen und Rezipienten die Notwendigkeit ihres ökumenischen Engagements vor Augen führen. Nicht nur die Verfasser, sondern auch die Leser ökumenischer Papiere müssten diesen eine Haltung entgegenbringen, welche sich von der gegenüber juristischen Texten unterscheidet. Schließlich geht es nicht darum, eine ökumenische Übereinstimmung in einer Logik der Administration zu ratifizieren. Ein Gespür für ökumenische Dokumente seitens der Lektüregemeinschaft zu entwickeln müsste damit einhergehen, auch ihre eventuelle Fremdheit schätzen zu lernen. Könnte es sich bei dem, was im Text als fremd empfunden wird, vielleicht um ein Symbol der Einheit handeln, das den Aufwand einer vertieften Lektüre lohnt? Oder kommt im ökumenischen Text etwas bislang Unerhörtes zur Sprache, das sich der konfessionellen Tradition einer anderen Gemeinschaft erschlossen hat und in der Auseinandersetzung etwas Wesentliches in der Tradition meiner eigenen zutage fördern könnte? Im Anschluss an Ricœurs Texttheorie wäre es nur konsequent, ökumenischen Texten nicht nur eine juristische, sondern zugleich eine spielerische Lektürehaltung entgegenzubringen, in der sich neue Sinnebenen erschließen und imaginativ ausprobiert werden können.

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Wünschenswert wäre eine Haltung der Offenheit, welche die Interpretationsbedürftigkeit vieler theologischer Aussagen aushielte und diese nicht als Ärgernis, sondern als dem Gegenstand des Glaubens angemessen begreifen würde. All das könnte dazu führen, dass ökumenische Texte eine Ermutigung für den Dialog darstellen und etwas bewirken, was Ricœur im Trienter Vortrag eingefordert hat: den Weg der eigenen Identitätsbildung in seiner kontextuellen und historischen Bedingtheit zu reflektieren und Toleranz für andere Lektüregemeinschaften aufzubringen, die auf dem Weg der Interpretation andere Entscheidungen getroffen haben. Die ganze Gemeinschaft der Christen könnte auf diese Weise sichtbar werden als Gemeinschaft von rezeptiven Subjekten, die ihre Glaubensaussagen treffen unter dem Eindruck eines starken poetischen Diskurses, der von der Schrift und vom Anderen ausgeht und unterschiedliche Gestalten hervorbringt, die in der ihnen innewohnenden Interpretationsarbeit Respekt verdienen, selbst wenn sie sich gegen eine vorschnelle Synthese verwehren. Das so gestaltete ökumenische Dokument würde dennoch nicht ausschließlich zu einem poetischen Text werden, sondern könnte auch weiterhin argumentative Teile enthalten. Seine Attraktivität müsste sich aber im Wesentlichen darauf gründen, dass es der Ideologie der Diskurse getrennter Kirchen eine starke Utopie der Gemeinschaft entgegenzusetzen verstünde. Wir wollen gewiss nicht suggerieren, dass der Dialog zwischen den Glaubenden durch die Lektüre von Texten ersetzt werden könnte. Selbst Texte, die wie vorgeschlagen die Metaphorik und Vielgestaltigkeit menschlicher Glaubensaussagen abbilden, könnten die reale Begegnung und das wirkliche Entgegenkommen niemals ersetzen. Trotzdem sollte man den Einfluss von Dokumenten nicht zu gering achten. Gut verfasste ökumenische Texte würden helfen, einen Einstieg in den Dialog zu finden und sie könnten eine Ahnung davon geben, an welchen Stellen die Gemeinschaften der ökumenischen Gastfreundschaft der jeweils anderen bedürfen. Würden diese Überlegungen sich als umsetzbar erweisen, könnten ökumenische Dokumente eine performative Dimension erfüllen. Es wäre denkbar, dass sie tatsächlich ein Mehr an Sinn kommunizieren würden. Neben dem Moment der Fixierung und Institutionalisierung wären sie als Einladung zum Dialog und zur Aufarbeitung und Neuschreibung der gemeinsamen Geschichte verstehbar. Sie würden als Memoranden der gegenseitigen Annäherung wirken und wären – kurzum – in umfassenderer Weise als bisher als Sinnangebot wirksam.

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3.4.7 Anerkennung Als wir uns mit dem Paradigma der Vergebung auseinandersetzten, haben wir Rezeptionsgeschehen auf der subjektiven und der intersubjektiven Ebene untersucht. Im zweiten Fall, so zeigten wir, wird Versöhnung möglich im Hören auf das Zeugnis des Anderen. Das andere Zeugnis bringt nicht nur die rechtfertigende Botschaft des Evangeliums zur Sprache, sondern es vermittelt auch ein Bewusstsein für das Mehr an Sinn im gemeinsamen Offenbarungsgrund und dadurch die Einsicht in die notwendige Komplementarität verschieden gestalteter Glaubenszeugnisse. Diesem Gedanken folgend, erkennt man im ökumenischen Dialog ein fortdauerndes Übersetzungsgeschehen, in dem die Zirkulation des Fundamentalen zwischen den Gesprächspartnern erfahren wird. Nimmt man die gegenseitige Vermittlung von Glaubenspositionen nun als Perspektive für den gesamten Dialog an, so tritt zu dem Aspekt der Vergebung ein zweiter hinzu: Der Austausch von Glaubensüberzeugungen dient nicht nur der Versöhnung mit historischen Konflikten, er ermöglicht auch die gegenseitige Anerkennung. Den ökumenischen Dialog nicht nur als Versöhnungsgeschehen, sondern auch als Anerkennungsgeschehen zu begreifen erscheint sinnvoll – gerade im Blick auf die aktuelle ökumenische Situation. Denn einerseits begegnen sich im ökumenischen Dialog auch Gemeinschaften, zwischen denen es zwar keine historischen Verwerfungen gibt, die sich aber dennoch als Kirchen zu einander positionieren müssen. Andererseits ist es in der öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Kirchen besonders die Anerkennung der anderen als legitimer Ausdruck der una sancta – der einen Kirche Jesu Christi –, die immer wieder für heftige Auseinandersetzungen sorgt. Ähnlich wie im Fall der Versöhnung der Gemeinschaften untereinander, stellt sich für die gegenseitige Anerkennung die Frage, wie dieser Prozess gestaltet werden kann. Um diese Fragen zu beantworten, wenden wir uns im Folgenden Ricœurs letztem Buch Parcours de la reconnaissance (Wege der Anerkennung) zu.191 Ricœur untersucht darin den Begriff der Anerkennung anhand des ganzen Bedeutungsspektrums, das dieser im Französischen wie auch im Deutschen entfaltet. Nachdem er den Begriff in der Bedeutung von Erkennen und Wiedererkennen behandelt hat, besinnt Ricœur sich im vorletzten Kapitel Der Kampf um Anerkennung und die Friedenszustände auf die Phänomenologie der Anerkennung in politischen Konfliktlagen. Er geht dabei aus von der friedenssichernden Kraft gelingender Anerkennungsprozesse: Konfliktsituationen sind in

191 Ders., Anerkennung.

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Friedenszustände überführbar durch die »befriedeten Erfahrungen wechselseitiger Anerkennung«.192 Diesem Dictum Ricœurs folgend wollen wir uns fragen, wann wechselseitige Anerkennung zwischen Gemeinschaften als gelingender Prozess angesehen werden kann und welche mögliche Vision sich davon für die Ökumene ableiten lässt. Zunächst könnte man annehmen, dass die gegenseitige Anerkennung einen Prozess auf politischer Ebene bezeichnet. Zwei Dinge gehen mit dieser Annahme einher. Zum einen, dass die gegenseitige Anerkennung eine Frage der Machbarkeit und des politischen Willens sei. Zum anderen, dass die Anerkennung eine Verpflichtung darstellt, d. h. dass man es sich irgendwie schuldig wäre, einander anzuerkennen und dass diese Haltung sogar einklagbar ist. Anerkennung wäre dann einer Folge verbindlicher Transaktionen zwischen zwei oder mehr verhandelnden Parteien. Wenn wir uns Ricœurs Analyse von Anerkennungsprozessen ansehen, so wird jedoch klar, dass er sie – wie bereits die Vergebung – nicht primär auf der politischen Ebene verortet. Ricœur betont, dass es sich bei den Erfahrungen der Anerkennung um solche handelt, »die auf symbolischen Vermittlungen beruhen und sowohl der Rechtssphäre als auch derjenigen des Warentauschs entzogen sind.«193 Gleichwohl ist der Begriff der Vermittlungen an dieser Stelle aufschlussreich. Er zeigt an, dass es trotz der Zugehörigkeit der Anerkennung zu einer anderen Ordnung als der politischen einen Zusammenhang gibt zwischen dem Phänomen der Anerkennung und konkreten Aushandlungsprozessen. Das bedeutet, dass die Anerkennung sehr wohl eine Art von Reziprozität und eine Aktivität der Beteiligten impliziert, selbst wenn diese nicht der politischen Ordnung und der Maßgabe, Gleiches mit Gleichem zu vergelten entspringt. Aber wäre die Anerkennung der politischen Sphäre vollkommen fremd, wäre sie unter keinen Umständen in der Lage, Konflikte in Friedenszustände zu überführen. Die Frage ist daher, welche Art der Reziprozität erfahren wird in Momenten der Anerkennung und wie der politische Spielraum der beteiligten Akteure dabei aussieht. Zur Art der Reziprozität: Von den verschiedenen Weisen, Frieden zwischen Individuen zu leben, gehört die Anerkennung für Ricœur ins Reich der Agape – der sich selbst und ohne Anspruch auf eine Gegenleistung schenkenden Liebe. Auch Ricœurs Definition von Anerkennung nimmt diesen Modus des Beschenktwerdens auf:

192 Ebd., 274. 193 Ebd.

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Anerkannt werden, wenn es denn jemals geschieht, hieße für jeden, dank der Anerkennung seines Reichs von Fähigkeiten durch andere die vollständige Gewissheit seiner Identität zu erlangen.194

Wir können hier eine Figur wiederfinden, die uns zuvor schon in Ricœurs Überlegungen zu Identität und Alterität aufgefallen ist: in der Begegnung mit dem Anderen wird sich das Selbst seiner Selbstheit im Modus des Bezeugens bewusst – daher der Satz: »Der kürzeste Weg vom Selbst zu sich selbst führt über den Anderen.«195 Die Selbstheit impliziert einen Zugewinn an Identität, den das Selbst in Folge der imaginativen Variationen empfängt, in die der Kontakt mit dem Anderen es versetzt. In der obigen Definition bestätigt sich die Bezeugung des Selbst und des Anderen auch im Vorgang der Anerkennung. Gegenüber den früheren alteritätstheoretischen Überlegungen Ricœurs wird die Funktion des Zeugnisses hier noch einmal zugespitzt: Es gibt einen Teil der Identität, der nur in der Wechselseitigkeit durch das Zeugnis des Anderen gegenüber dem Selbst erfahrbar ist. Die Anerkennung ist kein einmaliges Geschehen, sondern ein Prozess und das Selbst ist in diesem Prozess Empfänger. Die Analogie zwischen Vermittlung und Anerkennung ist also zutreffend. Das Selbst ist Rezipient. Es empfängt etwas, das für sein Selbstsein konstitutiv ist und das es sich selbst nicht geben kann. An dieser Stelle ergibt sich eine Analogie zwischen dem Prozess der Anerkennung und anderen Tauschprozessen, die politisch bzw. ökonomisch relevant sind. Diese Analogie kann sich auf eine Idee berufen, die in den Sozialwissenschaften und auch in der Theologie in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat: das Modell des Gabentauschs. Dieses Modell ist in den Geisteswissenschaften inzwischen weitgehend etabliert, weil es erlaubt, die soziale Kohärenz und das Zusammenspiel von Kräften innerhalb von Gesellschaften anhand eines einfachen Paradigmas sichtbar zu machen. Dazu setzt die Phänomenologie der Gabe bei dem Vorhandensein von Tauschobjekten an, die innerhalb einer jeden sozialen Gemeinschaft zirkulieren. Wie unschwer zu erkennen ist, gehört dieses Modell ursprünglich zur Ordnung der Ökonomie. Theorien, die diesen Warenkreislauf beschreiben und ihn als soziales Paradigma auch auf nicht wirtschaftliche Beziehungen übertragen, beziehen sich in der Regel auf Marcel Mauss’ Essai sur le don,196 der das Phänomen des Gabentauschs ausgehend von der Praxis in archaischen Gemeinschaften beschrieb. Kurz gesagt besteht die Logik dieser Theorie darin zu behaupten, dass die Praxis des Gebens niemals eine einseitige Handlung ist, weil jede Gabe die Pflicht zur Gegengabe impliziert. Eine Gesellschaft, so kann davon ausgehend angenommen werden, 194 Ebd., 310. 195 Ders., Selbst, 378. 196 Mauss, Gabe.

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funktioniert, weil die sozialen Akteure untereinander durch die Pflicht verbunden sind, erhaltene Gaben in angemessener Form zurückzugeben. Diese Pflicht zur Gegengabe macht es schwer, die Gabephänomenologie auch auf die von Ricœur gemeinten Anerkennungsprozesse zu übertragen. Schließlich fußen diese auf dem Gedanken der Agape, d. h. auf einem Modus des Gebens aus Liebe, welcher den Gedanken der Pflicht zur Gegengabe gerade suspendiert hat. Es mag also zunächst verwundern, dass Ricœurs Anerkennungstheorie sich ebenfalls auf das Modell des Gabentauschs beruft und mehr noch, dass wir sein Modell als ein mögliches Vorbild für ökumenische Prozesse ansehen wollen. Der Versuch, auch gesellschaftliche oder sogar ökumenische Konflikte vor dem Hintergrund eines solchen wirtschaftlichen Modells zu deuten, könnte auch deshalb irreführend sein, weil der Austausch materieller Güter ja nicht das Anliegen des Dialogs, auch nicht des ökumenischen Dialogs, ist. Erst ein extensiverer Begriff der Gabe lässt diese Analogie schlüssig erscheinen: Tauschobjekte sind im Dialog auch nichtmaterielle, sogar nichtkäufliche Güter, d. h. Leistungen »ohne Preis« wie z. B. die gegenseitige Anerkennung. Bereits dieser Kategorienwechsel auf der Ebene der getauschten Güter deutet an, dass die Anerkennung im Geist der Agape eine etwas andere Struktur aufweist als jener Gabentausch, der auf der Pflicht zur Gegengabe beruht.197 Ricœur bedient sich des Modells des Gabentauschs, um zu zeigen, dass Anerkennungsprozesse, die auf dem Prinzip der Agape und nicht auf dem der Pflicht beruhen, in das gewöhnliche politische Handeln Eingang finden, dieses aber zugleich transzendieren. Ricœur ist der Ansicht, dass die besondere Reziprozität, d. h. die Gesinnung der Agape, auf der die Anerkennung beruht, Anteil hat an der gesellschaftlichen Praxis des Gabentauschs und dass ihre davon dennoch unterschiedene Praxis auf dieser Ebene erfahrbar und explizierbar wird. Auch die Gabe der Anerkennung kleidet sich in den Gestus des Tauschs, wenngleich sie von der Logik des Warentauschs unterschieden ist. Wie ist dieser Unterschied nun zu präzisieren? Wie berühren sich die beiden Sphären der Agape und der politischen Gerechtigkeit in der Weise, dass sich Konfliktsituationen durch geschenkte Anerkennung in Friedenszustände verwandeln können? Wie wir sahen, deuten das Modell des Warentauschs und die davon abgeleiteten soziologischen Theorien soziale Interaktionen stets unter Verweis auf einen ökonomisch geprägten Kreislauf, welcher die Aktivitäten der Beteiligten determiniert. Die Theorie, die diese Gegenseitigkeit beschreibt, bewegt sich nicht auf der Ebene der individuellen, willkürlichen Tauschhandlungen und des realen Erlebens. Sie liefert stattdessen eine allgemeine systemische Erklärung, 197 Ricœur, Anerkennung, 296. Ricœur nennt als Beispiele für Güter ohne Preis »Sicherheit, Autoritätsfunktionen, Aufgaben und Ehrungen«.

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eine transzendente Theorie, die sozusagen über den Köpfen der Handelnden kreist und ihr Verhalten vorhersagbar macht. Das Gefüge der Geld-, Macht- und Rechtsbeziehungen, so wird davon ausgehend behauptet, ist durch unbewusste Zirkulationsprozesse gesteuert und verbindet die sozialen Akteure durch die gegenseitige Pflicht, empfangene Waren durch entsprechende Gegenleistungen zu erwidern. Der ganze Bereich des Marktes, die Entsprechungslogik des Rechtssystems, aber auch der Kreislauf von Rache und Vergeltung können mit diesem Modell der Gegenseitigkeit soziologisch erklärt werden. Obwohl auch die Anerkennung auf einer Reziprozität beruht und sich deshalb scheinbar ebenfalls in Tauschhandlungen ausdrückt, ist sie vom Modell des Warentausches dennoch fundamental unterschieden. Die Reziprozität, die am Werk ist, wenn nicht aus Pflicht gegeben wird, bezeichnet Ricœur in Abgrenzung gegen die systemische Gegenseitigkeit als »Wechselseitigkeit«.198 Wechselseitigkeit bei Ricœur meint ebenfalls die Interaktion eines Tauschvorgangs, allerdings nicht auf der Ebene des Systems, sondern zwischen Individuen, deren Verhalten weder in Bezug auf die ihm vorausliegenden Ursachen noch auf die resultierenden Konsequenzen vorhersagbar ist. Zu diesen anderen Tauschbeziehungen gehören etwa Geschenke unter Freunden, die im Geist der Großzügigkeit getätigt werden und bei weitem nicht bloß materielle Gaben umfassen. Sie zeigen, dass Tauschbeziehungen und Wechselseitigkeit auch da aufzufinden sind, wo keine Pflicht zur Gegengabe besteht. Das Charakteristische dieser Tauschhandlungen ist für Ricœur ihr »Festcharakter«,199 d. h. die Ausnahme von der Regel der Gegenseitigkeit und der Entsprechungslogik des Alltags, die sie zeremoniell markieren. Diese andere Perspektive auf nicht institutionalisierte, nicht theoretisch verzweckbare Tauschbeziehungen erlaubt es, aus dem ökonomischen Paradigma auszusteigen und Gabephänomene zu erforschen, die nicht auf der Logik der Pflicht zur Gegengabe beruhen. Doch wieso wird gegeben? Was? Und weshalb wird die Gabe erwidert, wenn doch keine Pflicht dazu besteht? Der Gegenstand, das Wort, die Aufgabe etc., die in diesen zeremoniellen Momenten des Gabentausches gegeben werden, sind Ricœur zufolge nicht nach einem materiellen Wert einzuschätzen. Sofern tatsächliche Waren getauscht werden, so erscheinen diese in Wahrheit nur als Unterpfand in einem Prozess, bei dem etwas Anderes zwischen den Beteiligten zirkuliert: Was man sich eigentlich schenkt, ist die wechselseitige Anerkennung. Anerkennung zu geben, heißt im Grunde nicht etwas, sondern sich selbst zu schenken. Sich selbst als Zeugen, in dessen Gegenüber sich die Identität des Anderen erhält und fortschreibt. 198 Ebd., 290 – 291. 199 Ebd., 297.

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Das Geschenk der Anerkennung, das im Geist der Agape, d. h. im Geist der Liebe und der Freiwilligkeit gegeben wird, ist mit keiner Pflicht, weder zur Annahme noch zur Gegengabe verbunden. Deshalb stellt die einseitig verliehene Anerkennung nicht nur ein Fest, sondern auch ein Wagnis dar. Eine solche Gabe geht stets einher mit der Ungewissheit über und der Hoffnung auf ihre Rezeption. Ricœur spricht in diesem Zusammenhang von einem »Appell der Großherzigkeit«, der seine Annahme nicht zu erzwingen, sondern nur in der Grammatik des Optativs zu erbitten vermag.200 Dennoch gibt es eine Form der Wechselseitigkeit, die in der Anerkennung wirksam ist. Die als Geschenk erfahrene Anerkennung ruft eine Antwort bei ihrem Empfänger hervor. Das heißt, auch im Anerkennungsprozess gibt es eine Zirkulation von Gaben. Aber es ist nicht der verpflichtende Charakter der ersten Geste, welcher die Gegengabe hervorruft. Es ist die Dankbarkeit über die empfangene Anerkennung. Deshalb, so zeigt Ricœur, ist es der Moment des Empfangens – der Rezeption –, welcher zur entscheidenden Etappe des Anerkennungsgeschehens wird und über die Motivation zur Gegengabe sowie den Fortgang der Tauschbeziehung entscheidet. Das Risiko dieses Moments besteht u. a. darin, dass die Anerkennung im Sinne der ökonomischen Logik missverstanden werden kann. Ein solches Missverständnis würde eintreten, wenn die erfahrene Anerkennung beim Empfänger nicht Dankbarkeit, sondern ein Pflicht- bzw. Schuldgefühl gegenüber dem Geber hervorruft. Gelungen sind das Gabegeschehen bzw. die Anerkennung deswegen erst dann, wenn die großzügige Gabe vom Empfänger in Dankbarkeit angenommen und nicht als Verpflichtung zur Gegengabe missverstanden wird. Es ist diese Dankbarkeit201 im Moment des Empfangens, welche die Gegengabe auf dieselbe Haltung der Großzügigkeit hin orientiert. Die Großzügigkeit mit der die zweite Gabe vollzogen wird, gleicht dann der, welche die erste Gabe motivierte. Da der wechselseitige Gabentausch nicht der Verpflichtung zu Geben unterliegt, ist der Begriff der Gegengabe an dieser Stelle im Grunde nicht ganz zutreffend. Ricœur bemerkt, dass »man sich die erste Gabe als Modell der zweiten und die zweite Gabe als eine Art […] zweiter erster Gabe vorzustellen«202 hat. Der zu erreichende Friedenszustand beruht auf dieser wechselseitigen Großzügigkeit, in der sich jede Seite geschätzt und vermittels des gegebenen Tauschobjekts anerkannt weiß. 200 Ebd., 302. Der »Appell der Großherzigkeit« als Element des Anerkennungsprozesses weist zweifellos eine Verwandtschaft zum »Imperativ der Liebe« auf, den Ricœur an anderer Stelle beschreibt. Vgl. ders., Amour, 19 f. 201 Die Begriffe gratitude (Dankbarkeit) und reconnaissance (Anerkennung, Dankbarkeit) können im Französischen auch als Synonyme verwendet werden. 202 Ricœur, Anerkennung, 301.

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Das entscheidende Glied zwischen den Etappen des Gabentausches ist also der Prozess des Empfangens, der Rezeption. Nur die Rezeption der Gabe in Dankbarkeit lässt den Gebenden zu einem großzügigen Spender und die Gegengabe zu einer freiwilligen Geste werden, die durch nichts anderes motiviert ist als durch die Hoffnung auf ihre Anerkennung. Der Geber setzt sich dem Wagnis aus, um die Annahme seiner Gabe, d. h. um die Anerkennung seiner Person zu bitten und das Erbetene seinerseits in einem vorauseilenden Akt der Anerkennung zu schenken. Die Dankbarkeit im Moment der Rezeption bewegt die Nehmenden dazu, ihrerseits zu geben, dabei aber dennoch mit der ökonomischen Logik der Gegenseitigkeit zu brechen. Dies ist ein doppelter Bruch. Er ereignet sich zum einen in Bezug auf die Zeitlichkeit, denn die Großzügigkeit der ersten Gabe erzwingt weder eine unmittelbare Reaktion, noch ächtet sie das Versäumnis der zweiten. Zum anderen auch in Bezug auf den Wert des Tauschobjekts, denn die zweite muss der ersten Gabe an materiellem Wert nicht entsprechen, weil Wert und Wirkung der Gabe im wechselseitigen Gabentausch niemals in einem logischen Verhältnis stehen. Ricœur attestiert dem Phänomen der Anerkennung überdies eine zweifache Verkennung. Die erste besteht darin, dass die Anerkennung sich zwar in die alltägliche Form des Gabentauschs kleidet, deren Logik aber permanent transzendiert. Zwar ist sie dieser ersten Logik gegenüber als deviant markiert, weil sie durch ihre Gestik der Unverhältnismäßigkeit nicht der üblichen Entsprechungslogik der Gegenseitigkeit folgt. Dennoch kommt es im Alltag permanent zur Verwechslung der beiden Logiken und auch zu dem Missverständnis, dass Anerkennung auf dem Wege der Entsprechungslogik durch die Verpflichtung der am Tausch beteiligten Partner realisiert werden könnte. Ricœurs Theorie insistiert demgegenüber darauf, dass Anerkennung nicht eingefordert werden kann, obwohl sie offensichtlich unverzichtbar ist, um situativ Frieden herzustellen. Damit bewegt sich die Anerkennung wie auch die Vergebung bei Ricœur in einer heiklen Zone der Unverfügbarkeit. Erreichbar und punktuell realisierbar werden beide nur, weil die politischen Akteure um ihre Existenz wissen und in Gesten untereinander daran appellieren: Mit dem Festlichen in der konkreten Praxis der Gabe verhält es sich wie mit der Feierlichkeit der um Verzeihung bittenden Geste, von der ich im Epilog meines letzten Buchs spreche, der Geste von Bundeskanzler Brandt, der vor dem Warschauer Mahnmal für die Opfer der Shoa auf die Knie fiel. Solche Gesten, habe ich dort gesagt, können nicht institutionalisiert werden; doch indem sie die Grenzen der ÄquivalenzGerechtigkeit ans Licht bringen und der Politik und dem Recht auf der nachnationalen und internationalen Ebene einen Raum der Hoffnung eröffnen, haben solche Gesten Ausstrahlungen, die im Verborgenen und auf Umwegen dazu beitragen mögen, dass die Geschichte sich auf Friedenszustände hin entwickelt. Das Festliche, das Ritualen in der Kunst des Liebens ob Erotik, Freundschaft oder Geselligkeit, innewohnen kann, gehört

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derselben geistigen Familie an wie die erwähnte Geste der Bitte um Vergebung. Zudem ist das Festliche der Gabe auf der Ebene der Gesten, was die Hymne auf der Ebene der Worte ist; so vereint es sich mit der Gesamtheit der Formeln, die ich unter die grammatikalische Schirmherrschaft des Optativs stellen möchte, eines Modus, der weder deskriptiv noch normativ ist.203

Die Geste der Anerkennung oder die Bitte um Vergebung machen auf die Grenzen der politischen Gerechtigkeit aufmerksam. Offenbar kann für Ricœur keine Gesellschaft nur auf der Grundlage der nach jener Logik verfassten Gesetzlichkeit funktionieren. Ganz eindeutig braucht es Momente, in denen die Ethik sich poetisch ausdrückt, d. h. Momente, in denen im politischen Handeln an die Kraft der Utopie bzw. an die alternative Logik der Liebe appelliert wird. Die Gesten, in denen das geschieht, sind in einer Gesellschaft, die nach den Gesetzen der politischen Logik funktioniert, Wiederfahrnisse der Fremdheit, der Alterität. Solche Gesten geben zu denken und entwurzeln ihre Rezipienten in derselben Weise, wie fremde Texte oder Menschen es in Ricœurs Theorie zu tun imstande sind. Solche Gesten sind Symbole, die auf ein Mehr an Sinn, ein Mehr an Gerechtigkeit verweisen, das sich infolge ihrer Interpretation erschließen könnte. Ricœurs Idee besteht überdies darin zu sagen, dass diese Gesten, die sich selbst nicht institutionalisieren lassen, dennoch eine Konsequenz für Strukturen und Institutionen besitzen. Das ist plausibel, setzt aber freilich einen so flexiblen und prozesshaften Begriff von Institution und Tradition voraus, wie Ricœur ihn entwickelt hat. Davon ausgehend ist es durchaus denkbar, dass durch einzelne supraethische Gesten der Anerkennung und Barmherzigkeit, die wie Fremdkörper im politischen Alltag stehen, Denkanstöße ausgehen, die ihren Niederschlag in den institutionalisierten Instrumenten des Zusammenlebens finden. Mit ihrer Nichtinstitutionalisierbarkeit wird der Fokus auf die Kontingenz und die Unwiederholbarkeit dieser Gesten gelegt. Dennoch deutet das oben stehende Zitat an, dass die Supraethik nicht ganz zufällig in das politische Geschehen eingreift. Selbst wenn sich die Logik der Barmherzigkeit nicht in den verfassungsmäßigen Ordnungen und Gesetzen des Zusammenlebens wiederfindet, so gibt es doch Orte, Handlungen oder schlicht Symbole, welche ihr Auftauchen inspirieren. Etwas präziser könnte man sagen, dass es im weitesten Sinne Texte bzw. Praktiken gibt, die sich einem poetischen oder utopischen Gebrauch durch ihre Interpreten anbieten. Gemeinsam ist ihnen ein Fest- oder Ausnahmecharakter gegenüber dem determiniert ablaufenden Warentausch, der auf Gegenseitigkeit beruht. Im Rückgriff auf diese Symboliken liegt der Handlungsspielraum der politischen Akteure. Wir hatten gesagt, dass das Phänomen der Anerkennung in doppelter Weise sich selbst verkennt. In Gefahr im Prozess der Anerkennung verkannt zu werden 203 Ebd., 305.

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steht nicht nur der Ausnahmecharakter ihrer supraethischen Logik. In einem zweiten Sinn findet ein Verkennen statt. Diese Art des Verkennens bezieht sich auf die Tendenz der Anerkennung, die Asymmetrie zwischen den an ihr Beteiligten vergessen zu lassen: Welches Verkennen? Das der originären Asymmetrie zwischen dem Ich und dem anderen, die von der Gegenseitigkeit als Wechselseitigkeit nicht aufgehoben wird. Eine Asymmetrie, die sich im Glück des »einander« jedoch gern vergessen machen würde. Aber der andere in seiner Alterität ist auch im festlichen Gabentausch unerreichbar. Ob verkannt oder anerkannt, der andere bleibt – in dem Sinn, wie mein Selbst für mich unmittelbar zu erfassen ist – unbekannt. Verkannt wird hier keine Person, sondern die Asymmetrie im Verhältnis des Ich zum anderen.204

In theoretischer Hinsicht ist dieses Insistieren Ricœurs auf der erkenntnistheoretischen Unüberwindbarkeit der Alterität vollkommen plausibel. Seine umfangreiche Auseinandersetzung mit Husserl und Levinas in Das Selbst als ein Anderer diente dazu, genau diese fundamentale Alterität zu eruieren. Auch in seinem ökumenischen Beitrag hat er sie herausgestellt und offenbarungstheologisch als »geregelten Pluralismus«205 bezeichnet, wobei die Übersetzung und die Vergebung über diese Fremdheit hinweg Brücken der Verständigung schlagen können. Dennoch stellt sich im Blick auf die friedenssichernde Anerkennung die Frage, welchen Zweck es hat, hier weniger die Übereinstimmung, als vielmehr die Verschiedenheit der Beteiligten in den Mittelpunkt zu rücken. Würde das von Ricœur vorgeschlagene punktuell realisierte Vergessen der Alterität im Zustand der gegenseitigen Anerkennung sich nicht ganz im Sinne einer politischen oder ökumenischen Einheitssuche verhalten und diese unterstützen? Schließlich scheint der schwer zu wiederlegende Vorwurf postmoderner Theorien zu jedweder Art von kollektiver Konsenssuche doch gerade darin zu bestehen, diese Möglichkeit der Einheit anzuzweifeln. Indem der intersubjektiven Verständigung von Seiten mancher Theoretiker in Form der Alteritätstheorie ihre Grenze aufgezeigt wird, droht die Verschiedenheit die Einheit permanent zu untergraben. Scheinbar hatte sich mit Ricœurs Idee der Anerkennung ein supraethisches Modell der Versöhnung aufgetan, in dem Selbstheit und Andersheit kommunizierbar wurden. Welchen Zweck hat also jetzt am Ende seiner Abhandlung über die Anerkennung die nochmalige Betonung der Verschiedenheit? Ricœurs Antwort am Ende des Parcours hält eine Überraschung bereit. Es zeigt sich, dass die Überwindung der Distanz zwischen dem Selbst und dem Anderen gar nicht das Ziel der wechselseitigen Anerkennung ist. 204 Ebd., 321. 205 Ders., Verflechtung, 114.

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Das Problem war scheinbar, die Asymmetrie zu überwinden, um der Gegenseitigkeit und Wechselseitigkeit gerecht zu werden. Nun stellt es sich als das Umgekehrte heraus: Wie kann man die originäre Asymmetrie mit der Wechselseitigkeit zusammendenken, um dem Verdacht entgegenzutreten, diese Asymmetrie untergrabe von innen her das Vertrauen in die mit dem Anerkennungsprozess verbundene Versöhnungsmacht? Meine These ist, dass es für die wechselseitige Gestalt der Anerkennung im Gegenteil ein Segen ist, wenn das Vergessen der originären Asymmetrie aufgedeckt wird.206

Der Versuch, die Unterschiede zu überwinden, so zeigt sich hier, ist gar nicht das entscheidende Anliegen. Ricœur argumentiert, dass die Aufdeckung der Asymmetrie, die Versöhnung durchaus nicht von innen untergräbt. Sie untergräbt sie nicht, weil das Insistieren auf der Alterität die Unersetzlichkeit jedes einzelnen Akteurs im Vorgang der Versöhnung zu Bewusstsein bringt. Dies, so Ricœur, ist dem Vorgang der Anerkennung, der zuvor als Vorgang des Gabentauschs beschrieben wurde, nur nützlich. Zwar mag es die Vorstellung der Verschmelzungseinheit im Sinne eines identischen Verstehens auf der Ebene der politischen Akteure durchaus geben, wie es sie auch im Spektrum der ökumenischen Einheitsvorstellungen gibt. Ricœurs alteritätstheoretische Überlegungen wiederlegen diese Möglichkeit jedoch unter Berufung auf die existenziell begrenzten Verständnismöglichkeiten des Selbst. Eine bewusstseinsmäßige Verschmelzung mit bzw. eine totale Erkenntnis von dem Anderen sind auch im Akt der Anerkennung unmöglich. Das bedeutet einerseits, dass der Wunsch nach Anerkennung niemals ganz zur Ruhe kommen wird. Die Perspektive des Anderen, die dem Selbst in Momenten der Anerkennung aufscheint, wird ungeachtet des Begehrens der gegenseitigen Aneignung niemals endgültig besessen. Andererseits ist die Erfahrung der Anerkennung mit dieser letzten intersubjektiven Unüberwindbarkeit keineswegs hinfällig geworden. Durchaus nicht. Das Zugeständnis der Andersheit an jeden der beteiligten Akteure ist zum einen eine Sache des Respekts voreinander : Es schützt die Wechselseitigkeit vor den Fallen der Verschmelzungseinheit, ob in der Liebe, in der Freundschaft oder in der Brüderlichkeit in kommunitaristischem oder kosmopolitischem Maßstab; so bleibt in der Wechselseitigkeit der richtige Abstand gewahrt, der neben der Nähe auch Achtung zulässt.207

Der entscheidende Punkt in Ricœurs Anerkennungskonzept ist aber noch ein anderer. Die Einsicht in die bleibende Unterschiedlichkeit der Partner schützt den fragilen Kern der Anerkennung: den Moment des Empfangens, den Moment der Rezeption. Nur in dem Wissen um die Verschiedenheit kann die Gabe der Anerkennung 206 Ders., Anerkennung, 314. 207 Ebd.

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in Dankbarkeit empfangen werden, weil das Wissen um die Unterschiede auch die Kenntnis von dem Mangel bzw. dem Begehren des Selbst gegenüber dem Anderen bewahrt. Diese Erfahrung bildet die tiefe Motivation, um die Präsenz des Anderen im Augenblick der Anerkennung dankbar zu begrüßen. Die Dankbarkeit schließlich […] erhält durch die Dialektik von Asymmetrie und Wechselseitigkeit einen Bedeutungszugewinn. Im »Empfangen« hatte ich das Bindeglied zwischen »Geben« und »Erwidern« gesehen; und im Empfangen, dem Ort der Dankbarkeit, bestätigt sich die Asymmetrie zwischen Gebendem und Empfangendem doppelt: wer gibt, ist ein anderer als der, der empfängt und wer empfängt ein anderer als der, der erwidert. Im Akt des Empfangens und in der Dankbarkeit, die er erweckt, wird diese doppelte Alterität gewahrt.208

Ricœurs Theorie der Rezeption fußt, wie wir bereits sahen, nicht auf dem Gedanken der Pflicht. Nun zeigt sich, dass es die Lust und die Dankbarkeit sind angesichts der Anerkennung, die das Selbst vom Anderen empfängt, welche die Rezeption motivieren. Durch die Art, wie Ricœur die Alterität in den Vorgang der Anerkennung hinein verlegt, wird die Bedeutung der Anerkennung keinesfalls heruntergespielt. Die Betonung des Alteritätsaspekts stellt vielmehr eine realistische, an der postmodernen Kritik geschulte Sicht auf die Möglichkeiten intersubjektiver Übereinstimmung dar. Der Versuch, diese Übereinstimmung durch Strategien der Assimilation oder der Kolonisierung des Anderen zu erreichen, kann nach allem was die Erforschung von Alterität und Differenz in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, nicht mehr unternommen werden. Ricœurs Konzept der Anerkennung modifiziert die Vorstellung der intersubjektiven Konsenssuche also erheblich. Mit einem reduzierten Anspruch der Anerkennung haben wir es in der Theorie Ricœurs dennoch nicht zu tun, selbst wenn sich herausstellt, dass im Vorgang der Anerkennung keine Verschmelzungseinheit zu erreichen ist. Was demgegenüber erreicht werden kann, ist, dass man verhindert, dass die unhintergehbare Erfahrung der Alterität in eigensinnige Profilierung oder gegenseitige Gewalt umschlägt. Denn Ricœurs Anerkennungstheorie zeigt den positiven Wert der Alterität für das menschliche Miteinander auf. Auf der Grundlage von Ricœurs positiver Theorie der »distanciation« (Fremdheit) wird mit der dankbaren Rezeption des andersartigen Zeugnisses im Vorgang der Anerkennung ein dritter Weg zwischen Exklusivismus und Assimilation des Anderen eingeschlagen. Die mittelfristige Perspektive dieses Ansatzes besteht in einem institutionalisierten, friedlichen Zusammenleben, das von den Gesten der gegenseitigen Anerkennung genährt und erneuert wird. Wenn wir diese Überlegungen Ricœurs auch auf den ökumenischen Dialog 208 Ebd., 324 f.

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beziehen, so ergeben sich neue Perspektiven. Auch für das Geschehen zwischen Kirchen müsste dann gelten, dass es nicht die Pflicht, sondern die Dankbarkeit für den Anderen und sein Zeugnis ist, die Menschen dazu bringt, einander anzuerkennen. Darüber hinaus ist die ökumenische Rezeption dann nicht mehr der Ort, an dem konfessionelle Identitäten miteinander verschmelzen, sondern der, an dem sie einander in ihrer Andersheit erfahren und diese – entgegen aller sonstigen Erfahrung – nicht mehr als trennend, sondern als verbindend erleben. Diese gegenseitige Rezeption in Andersheit wäre der Motor der Ökumene und würde auch die Quelle des angestrebten Identitätswandels darstellen. Die Möglichkeit des Identitätswandels ist denkbar, weil in der Theorie Ricœurs die Begegnung mit einem anderen Selbst, das Selbst nicht bei sich lässt, sondern ihm neue Möglichkeiten des Seins zuspielt. Mit der Theorie Ricœurs kann also eine deutliche Antwort auf die Frage formuliert werden, auf welche Weise der ökumenische Dialog, von dem wir sagten, dass er ein permanentes Übersetzungsgeschehen sei, sich gestaltet und welche ökumenische Einheitsvorstellung damit einher geht. Abgewiesen wird zum einen die Vorstellung von einer Verschmelzungseinheit aller Glaubenden, sei es auf institutioneller oder zwischenmenschlicher Ebene. Doch auch ihr Gegenteil, die Idee einer Profilökumene, in der die Kirchen sich ihre Differenzen im Dialog vorhalten und diese möglicherweise noch vertiefen, wird abgewiesen. Die Verschmelzungsökumene ist für Ricœur keine Option, weil sie die Rezeption in Dankbarkeit verhindert, welche stets das Zugeständnis und die Wertschätzung der Andersartigkeit voraussetzt. Ein Dialog hingegen, der nur auf Profilierung setzt, ist abzulehnen, weil er die Selbstbestätigung zum Maßstab macht und die Möglichkeit zur Veränderung des Selbst im Antlitz des Anderen negiert. Entscheidend für den ökumenischen Dialog wie für jedes andere Anerkennungsgeschehen, das nach Ricœurs Hermeneutik gedeutet wird, ist der Impuls, die Alterität nicht länger als Hemmschuh des Konsenses anzusehen, sondern sie als konstitutiv für den Prozess der gegenseitigen Annahme zu erkennen. Ricœur geht es ganz offensichtlich nicht darum, die Alterität einfach festzuschreiben, womöglich noch um dadurch die Unveränderlichkeit einer Konfliktsituation zu unterstreichen. Stattdessen möchte er anhand des Alteritätskonzepts die Asymmetrie zwischen den Partnern aufzeigen und bejahen. In der dialogischen Ausrichtung von Ricœurs Philosophie wird dieser Begriff der Asymmetrie eindeutig positiv besetzt. Denn für Ricœur ist nicht die Selbstbestätigung, sondern die Begegnung mit der Fremdheit sinnstiftend. Sind Dialogpartner zu einer organischen Einheit verschmolzen, kann weder Wechselseitigkeit noch Anerkennung erfahren werden. Die Unterschiedlichkeit der Partner im Sinne einer Asymmetrie zu wahren, ist hingegen gleichbedeutend damit, sie als dialogfähig anzusehen und die Möglichkeit der gegenseitigen Anerkennung und

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Aspekte der ökumenischen Rezeption im Werk von Paul Ricœur

damit der ökumenischen Verständigung nicht bloß offen, sondern auch in einem positiven Sinn für unabschließbar zu halten. Die Rede von der Asymmetrie der Dialogpartner stellt einen Unterschied zum Konzept einer Profilökumene dar, welche ebenfalls die Unterschiedlichkeit und Gleichrangigkeit der institutionellen Gestalten verschiedener Konfessionen annimmt. Während die Profilökumene die Vollständigkeit und Legitimität eines jeden Profils herausstellt, von denen – vor allem aus protestantischer Sicht – keines sich ein geistliches Defizit vorwerfen lassen möchte, betont Ricœurs Konzept die bleibende Angewiesenheit auf den Anderen. Der Profilökumene geht es – wie der Name es andeutet – vor allem darum, ein konfessionelles Profil neben einem Anderen zu verteidigen und seine Effektivität in der Bezeugung des Evangeliums zu untermauern. Deshalb eignet der Profilökumene stets eine gewisse Tendenz zur Apologie und zur Selbstgenügsamkeit. Weil die Alterität der Dialogpartner für Ricœur fundamental gegeben ist, muss in seinem Konzept der Anerkennung kein Profil verteidigt werden und die Feststellung der individuellen Identität ist nicht das entscheidende Interesse. Wie wir zeigten, besteht Ricœurs Interesse stattdessen in der Frage, wie, aus welchen Motiven und durch welche sprachlichen Konstruktionen die Andersheit überbrückt und gleichwohl die gegenseitige Wertschätzung ausgedrückt wird. Auch eine ökumenische Hermeneutik im Anschluss an Ricœur wird deshalb über die Frage der Profilierung hinausgreifen und sich möglichen Wegen der Anerkennung zuwenden, welche die eigene Identität stets auch in eine Perspektive der Veränderung und der Bewegung auf den anderen zu rückt.

3.5

Zusammenfassung

3.5.1 Rezeptionsbegriff Das Anliegen dieses 3. Kapitels bestand darin den Beitrag Paul Ricœurs zur ökumenischen Hermeneutik zu klären. Untersucht werden sollte in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Textrezeption, Gemeinschaftsbildung und gegenseitiger Anerkennung, wobei die Frage der Alterität im ökumenischen Rezeptionsprozess zentral war. Wir sind auf diesem Weg zu einer anderen Sicht auf die Alterität und auch zu einem anderen Rezeptionsbegriff gelangt. Den Vorgang der ökumenischen Rezeption können wir im Anschluss an das zuvor Gesagte und unter Berücksichtigung von Ricœurs Anspruch, ökumenische Theorie nicht normativ, sondern im Sinne einer utopischen Vision formulieren zu wollen, wie folgt definieren:

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Zusammenfassung

Ökumenische Rezeption bezeichnet einen wechselseitigen Prozess zwischen Christen, die einander vor dem Hintergrund ihrer jeweils existenziell gebildeten Glaubenserzählungen anerkennen. In der Glaubenserzählung des Anderen leuchtet ungeachtet ihrer Fremdheit der gemeinsame Offenbarungsgrund auf. Die Alterität ist Ausdruck des inkommensurablen ›Mehr an Sinn‹ dieses Grundes und der Interpretationsarbeit, welche die andere Glaubensgemeinschaft ihm gegenüber geleistet hat. Das Resultat dieser Anerkennung ist nicht das Ersetzen der Aussagen des Einen durch die des Anderen, sondern die dankbare Einsicht in die Unersetzlichkeit eines jeden Partners. Ökumenische Rezeption im Sinne der ›Gastfreundschaft‹ impliziert einen Wandel der Identitäten. Wenn sich die Dialogpartner in Offenheit und Vergebungsbereitschaft begegnen und sich in die Fähigkeit der Übersetzung ihrer konfessionellen Traditionen einüben, ist der Identitätswandel die Folge des Interpretationsprozesses der eigenen Glaubensexistenz unter dem Eindruck des Anderen. Die dabei erlebte Überbrückung der Fremdheit wird in Gesten der Vergebung und der Anerkennung symbolisch ausgedrückt. Von da aus vollzieht sich auch die Veränderung der kirchlichen Institutionen. Die Anerkennung und Versöhnung mit dem Anderen ist eine Gabe, die jeder Glaubende weiterzugeben vermag, weil er sie von Gott in seiner bedingungslosen Rechtfertigung zuerst erfahren hat. Das Wissen um diese Gabe Gottes wird aufgrund des ihm innewohnenden ›Sinnüberschusses‹ aber nicht exklusiv besessen, sondern zirkuliert zwischen den Glaubenden. Es orientiert sie darauf, sich gegenseitig im Hören aufeinander anzuerkennen, sich geistlich Anteil zu geben und gegenseitig eine Ermutigung zur Versöhnung zu sein.

3.5.2 Alterität und Identitätswandel Unser Kapitel über den Rezeptionsbegriff (Kapitel 2) hatte das Phänomen der Alterität als das entscheidende Merkmal der ökumenischen Rezeption gegenüber anderen Rezeptionsprozessen herausgestellt. Der entscheidende Unterschied zur Rezeption in einer monokonfessionellen Glaubensgemeinschaft schien darin zu bestehen, dass das Rezeptionsgut in der Ökumene von zwei oder mehr Gemeinschaften rezipiert wird, die einen unterschiedlichen Bekenntnisstand und unterschiedliche kirchliche Strukturen aufweisen. Deshalb hatte am Schluss von Kapitel 2 die Frage gestanden, wie das Phänomen der Alterität mit der Vorstellung der Rezeption vereinbar sei. Im Verlauf unserer Beschäftigung mit Ricœur sind wir zu dem Schluss gelangt, dass die Alterität nicht einfach nur die Bedingung der ökumenischen Rezeption ist, sondern ihr eigentlicher Gegenstand, sei es in Form verschiedener konfessioneller Grammatiken, sei es in

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Aspekte der ökumenischen Rezeption im Werk von Paul Ricœur

Gestalt historischer Konflikte, um deren Versöhnung man sich bemüht. Dieser Perspektivwechsel von der Überbrückung von ökumenischen Kontroversen zur offenbarungstheologisch und historisch begründeten Annahme von Alterität verändert den Blick auf die Rezeption. Mit Ricœurs Theorie steht die Alterität nun der Identität im Vorgang der Rezeption nicht mehr feindlich gegenüber. Stattdessen erweist sie sich in der Triade von Geben – Empfangen – Wiedergeben als Antrieb der Rezeption selbst. Das ›Objekt‹ der Rezeption ist der konfessionell Andere, der in einem Geschehen der Anerkennung, das wir als die eigentliche ökumenische Rezeption identifiziert haben, vertraut wird. Diese Rezeption bleibt an den persönlichen Glaubenszirkel gebunden. Auf epistemologischer Ebene konstatiert Ricœur eine Unüberwindbarkeit der Alterität in der Begegnung mit dem anders Glaubenden. Von da stellt der ökumenische Dialog sich als ein dynamisches Geschehen heraus, in dem Übereinstimmung in Momenten der gegenseitigen Anerkennung punktuell als transzendentes Geschehen erfahren wird. Diese Art der Anerkennung ist weit entfernt von der Vorstellung einer ökumenischen Verschmelzungseinheit. Im Anschluss an Ricœurs Hermeneutik kann diese also nicht das letzte Ziel der ökumenischen Gemeinschaftsbildung sein, wenngleich die Notwendigkeit und die Möglichkeit der gegenseitigen Übersetzung und Annäherung nicht widerlegt werden. Das von Ricœur etablierte Konzept der Anerkennung folgt bewusst keiner Logik der Pflicht, stattdessen werden Anerkennung und Vergebung ausdrücklich mit der Logik der Barmherzigkeit in Verbindung gebracht. Diese Zugehörigkeit zu einer anderen Logik, die weder normativ noch institutionalisierbar ist und sich dagegen wehrt, theorieförmig zu werden, drückt sich in scheinbar paradoxen Sprachbildungen wie dem »Appell der Großzügigkeit« oder der grammatischen Optativform aus. Was dabei auf sprachlicher Ebene ausgedrückt wird, hat sein Gegenüber in der Praxis. Hier zeigt sich, dass ökumenische Einheit keine Frage der politischen Machbarkeit ist und sich auch nicht »über die Köpfe der Beteiligten hinweg« anordnen lässt. Anerkennung und Vergebung beruhen nicht auf einer praktischen Verpflichtung. Ein Anerkennungsverhältnis, das auf der Logik der Pflicht beruht, ist Ricœur zufolge keine gelingende Beziehung. Vielmehr ist es die tatsächliche Freiheit des Empfangens des Anderen, welche die Dankbarkeit und die Lust auf die Erwiderung und Fortsetzung der Beziehung erst entstehen lässt. Ricœurs Überlegungen zur Anerkennung lassen sich nun abschließend kontrastieren mit der Bedeutung, die der Begriff in der ökumenischen Hermeneutik bereits hat. Ziehen wir dazu einen Text heran, den der ökumenische Theologe Harding Meyer dem Thema widmete. Es zeigt sich, dass Meyers Begriff der Anerkennung dem von Ricœur beinahe entspricht. Allerdings grenzt Meyer die Anerkennung deutlich von dem Begriff der Rezeption ab:

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Damit hebt sich zugleich klarer ab, was »anerkennen« nicht bedeutet und was es bedeutet. »Anerkennung« heißt nicht »übernehmen«, »sich aneignen«, »sich zu eigen machen«. Es läuft deshalb auf eine völlige Richtungsveränderung hinaus, den Begriff der »Anerkennung« durch den der »Rezeption« ersetzen oder auch nur interpretieren zu wollen. […] Sicherlich lassen sich Ähnlichkeiten und gemeinsame Merkmale zwischen »Anerkennung« und »Rezeption« aufzeigen und besteht kein Zweifel darüber, dass man den Begriff »Anerkennen« durch Zusätze so qualifizieren kann und oftmals qualifiziert, dass er auf ein »Sich-aneignen«, »Sich-zu-eigen-machen« und damit auf Rezeption hinausläuft. Aber das hieße das Spezifikum des Anerkennungsbegriffs […] völlig zu verfehlen, das ja gerade darin besteht, das Anderssein des anderen als legitim zu erkennen und zu bejahen, ohne es darum für sich selbst zu übernehmen und damit in seinem Anderssein aufzuheben.209

Nachdem wir uns an Ricœurs Theorie orientiert haben, können wir mit Meyer vollkommen darin übereinstimmen, dass Anerkennung nicht bedeutet, sich jemanden bzw. seine Perspektive »zu eigen zu machen«. Allerdings gibt es auch einen gewichtigen Unterschied zwischen den Perspektiven von Meyer und Ricœur. Meyer lässt für die ökumenische Bewegung neben dem Begriff der Anerkennung einen anderen und zwar den der ›Rezeption‹ zu, der offensichtlich vom ersten unterschieden ist. Demnach gäbe es neben der Anerkennung noch eine weitere, höhere Ebene, auf der eine vollkommenere Einheit erreichbar ist und diese würde sich dadurch zeigen, dass es Dinge gibt – theologische Ansichten oder institutionelle Merkmale – die von einem Anderen so angeeignet, d. h. rezipiert werden, dass sich die Andersheit zugunsten einer vollkommenen Einheit auflöst. Ricœurs epistemologische Überlegungen über die Dialektik von Selbstheit und Andersheit in Das Selbst als ein Anderer zeigen aber, dass diese absolute Aneignung des Anderen unmöglich ist. Aus diesem Grund – und hier würde Ricœur Meyer widersprechen – gibt es neben der wechselseitigen Anerkennung keinen Rezeptionsbegriff, der diese noch an Wechselseitigkeit übertreffen würde. Von ökumenischer Rezeption zu sprechen bedeutet, von wechselseitiger Anerkennung zu sprechen, welche die Unterschiedlichkeit der Partner nicht aufhebt, sondern überbrückt. Indem wir die Alterität im Dialog als unüberwindbar annehmen, könnte der Eindruck entstehen, dass auch an Ricœurs ökumenische Theorie der oft gehörte Vorwurf zu richten ist, sie sei ein versteckter Konfessionalismus, der eigentlich nur dazu diene, den ›status quo‹ der konfessionellen Trennungen zu erhalten. Dieser Vorwurf trifft aber nicht zu. Wechselseitige Anerkennung, bzw. die Begegnung des Selbst mit dem Anderen impliziert stets eine Veränderung des Selbst, weil sich im Kontakt mit dem Anderen zu befinden auch bedeutet, sich 209 Meyer, Anerkennung, 37.

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aus dessen Perspektive zu betrachten und dadurch ein verändertes Selbstverständnis zu empfangen. Offensichtlich ist also eine identitäre Veränderung mit dem Konzept der Anerkennung verknüpft. Auch für die Veränderung von Glaubensidentitäten trifft dies zu. Denn gerade für sie gilt, dass sie – egal ob individuell oder auf kollektiver Ebene – durch Sprache konstituiert sind und zustande kommen durch ein äußeres Wort, das zum Bekenntnis herausfordert. Nicht nur im Zeugnis der Heiligen Schrift oder in den Narrativen der direkten Glaubensgeschwister, sondern auch in den Zeugnissen anderer Glaubensgemeinschaften wird Ricœur zufolge das glaubenskonstitutive Wort der Offenbarung vernehmbar. Wenn sich Glaubende diesem Wort im Zeugnis anderer Glaubender öffnen, bekommen sie Deutungsangebote für die eigene Existenz angeboten, denen gegenüber sie sich positionieren müssen bzw. dürfen. In dem Maße, wie die Zeugnisse der Anderen in das eigene Glaubensnarrativ integriert werden, wird durch die Begegnung ein Wandel im Sinne einer permanenten Weiterentwicklung initiiert. Dies geschieht aber nicht im Sinne einer Verpflichtung gegenüber dem Anderen, sondern lässt sich mit dem von Ricœur gebrauchten Terminus der nicht-heteronomen Abhängigkeit gegenüber dem Grund der Offenbarung beschreiben, an der jedes Glaubenszeugnis in partikularer Weise partizipiert.

3.5.3 Ökumenische Texte Ricœurs Hermeneutik stellt klar heraus, dass ökumenische Rezeption nicht die Rezeption von Texten, sondern das Anerkennungs- und Versöhnungshandeln zwischen Menschen meint. Gleichwohl hatten wir in unserer Auseinandersetzung mit Ricœur angemerkt, dass die ökumenischen Dokumente eine Rolle spielen müssten im ökumenischen Geschehen, weil sie die kirchenrechtliche Ebene repräsentieren, auf der Entscheidungen getroffen werden, die in der Lage sind, ökumenische Begegnungen zwischen Menschen zu erleichtern oder zu erschweren. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass sich aus Ricœurs ökumenischer Theorie sowohl eine textkritische Tendenz (1) ablesen lässt als auch ein Ansatz zur Neubestimmung der Rolle ökumenischer Dokumente (2). (1) Kritisch einzuschätzen ist der Anspruch, einen Fortschritt der ökumenischen Beziehungen vornehmlich über die Lektüre und Ratifikation von Dokumenten zu erreichen. Gegenwärtig sind unter ökumenischen Theologen nicht wenige Stimmen zu vernehmen, welche die Rezeption der Konsens- und Konvergenzdokumente aus den letzten rund 50 Jahren als dringliche Aufgabe ansehen.210 Durch die Bekanntmachung der weitreichenden Konsense, die in 210 Kleinschwärzer-Meister, Dialoge, 192.

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mandatierten Dialoggruppen gefunden wurden, ließe sich, so die Vorstellung, vor allem unter Kirchenleitern, d. h. auf der Ebene der Entscheidungsträger, die Bereitschaft zu mehr überkonfessionellen Aktionen erzeugen. Vor dem Hintergrund von Ricœurs Theorie ist ein solcher Vorschlag kritisch einzuschätzen. Denn so wünschenswert eine genauere Kenntnis der ökumenischen Vorgänge auch ist, läuft der Vorschlag doch Gefahr, die Logik der Anerkennung zu verkennen. Ein ökumenischer Text, der zwar auf offiziellem Wege, aber ohne die – weil nicht zu institutionalisierende – dankende Anteilnahme einer Gemeinschaft empfangen wird, würde genau dem entsprechen, was Ricœur als »schlechte Gegenseitigkeit« bezeichnet.211 Sie grenzt sich ab von der »guten Gegenseitigkeit«, bei der eine Gabe in Dankbarkeit empfangen und deshalb erwidert wird. Demgegenüber bedeutet »schlechte Gegenseitigkeit«, dass die ursprünglich gute Intention der Gabe verkannt wird und beim Empfänger kein Dank- sondern ein Pflichtgefühl und den Zwang zur Gegengabe hervorruft. Wir können in dieser Analyse Ricœurs eine treffende Beschreibung für das Schicksal so mancher ökumenischer Dokumente erkennen, die aus der authentischen Erfahrung wechselseitiger Anerkennung hervorgegangen sind. Diese Anerkennung wurde ursprünglich in den institutionalisierten Strukturen von mandatierten Kommissionen erfahren. Das in der Dialoggruppe Erreichte wurde textlich fixiert und weitergegeben. Der Moment, in dem sich das Schicksal der Texte dann aber entschied, war der ihres Empfangs in den Gemeinschaften. Wenn sie nicht schon aufgrund von Überbelastung überhaupt nicht bis zu den Entscheidungsträgern vordrangen, wurden derartige Texte nicht selten als Glaubensanweisungen eines »Lehramtes« angesehen (was freilich besonders in den protestantischen Kirchen fragwürdig erscheint) und als mit einem Auftrag zur Rezeption versehen aufgefasst. Diese Rezeptionshaltung als »schlechte Gegenseitigkeit« anzusehen ist durchaus angebracht. Denn auf diese Weise und unter dem Vorzeichen einer als autoritativ verstandenen Rezeptionsanweisung, ist es kaum denkbar, dass den Resultaten der geistlichen und konsenstheologischen Ökumene aus den Dialoggruppen von Seiten der Gemeinden und Mitgliedern der Kirchen viel Dankbarkeit entgegenschlägt. Im Gegenteil. Wahrscheinlicher ist, dass man vor dem Hintergrund demokratischer Entscheidungskultur ihre Basisferne beklagt und moniert, an der Konsensfindung nicht ausreichend beteiligt worden zu sein. Eine dankbare Aneignung anderskonfessioneller Glaubenszeugnisse ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Theorien wie die von Harald Goertz, die wir in Kapitel 2 vorgestellt haben, sind in dieser Hinsicht nochmals kritisch zu beurteilen. Denn indem man wie Goertz die ökumenische Rezeption nur als ein juristisches Verfahren beurteilt, 211 Ricœur, Anerkennung, 301.

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lässt man sich nicht nur auf eine methodisch zweifelhafte Reduktion der realen Vorgänge ein. Man trägt auch gleichzeitig zum Scheitern der wechselseitigen Anerkennung bei, weil man ein Missverständnis schürt, welches darin besteht, diese Dokumente von den Gesten, die zu ihrer Entstehung führten, zu entbinden und ihre elementare Verbindung zur spirituellen Ebene zu unterschlagen. Die Rezeption von ökumenischen Texten kann sich nicht in der Weise vollziehen, dass ein Text oder ein Dogma ohne ein Korrelat der Erfahrung von den Glaubenden oder von einer Gemeinschaft übernommen wird, selbst wenn damit dem juristischen Verfahren Genüge getan wird. Der Akt der Anerkennung bedarf eines personalen Gegenübers, um Dankbarkeit zu erwecken, die, wie wir sahen, die Seele der Anerkennung ist. Diese so sehr um die Rezeption bemühten Studien, welche sie als ein geregeltes Verfahren darstellen und objektiv nachvollziehbar machen wollen, tragen daher paradoxerweise genau zu ihrem Misserfolg bei. Denn indem man die Rezeption auf einer juristischen Ebene betrachtet, missversteht man sie in einer Logik der Pflicht und lässt so etwas wie Dankbarkeit und Lust an der Gegengabe gar nicht erst aufkommen. In einer Institution aber, die ökumenische Rezeption so versteht, kann sich die Freude an der wechselseitigen Anerkennung erst wieder als Bewegung »von unten« bemerkbar machen, obwohl diese Ebene der Zwischenmenschlichkeit doch eigentlich für die Ökumene zentral sein sollten. (2) Auf der anderen Seite lässt sich aus Ricœurs Texttheorie ableiten, dass den ökumenischen Dokumenten mehr zuzutrauen ist. In Kapitel 3.5.6 haben wir angezeigt, dass ihnen sowohl eine formale als auch eine inhaltliche Aufgabe im Prozess der Rezeption zukommt. In formaler Hinsicht besteht die Rolle der Dokumente darin, auf politischer Ebene auszudrücken, was in der zwischenmenschlichen Begegnung an Versöhnung erfahren wurde und diese Befriedung interkonfessioneller Konflikte als aktualisierten status quo der gegenseitigen Beziehungen dauerhaft auszusagen. Mit Ricœur gesprochen handelt es sich dabei nur um ein Inkognito der Versöhnung, d. h. nicht um die Versöhnung selbst, aber durchaus um die institutionelle Schaffung des Rahmens, in dem sich das eigentliche Übersetzungsgeschehen der Akteure dann vollziehen bzw. fortschreiben kann. Auch eine inhaltliche Vermittlung wird durch die Dokumente geleistet. Die Texte sind in der Lage, das historische Bewusstsein einer Glaubensgemeinschaft zu bewahren und zu aktualisieren, indem sie ein Narrativ bereit halten, in dem der eigene Weg zum gegenwärtigen Bekenntnisstand der Gemeinschaft reflektiert wird. Implizit enthält die Reflexion auf die selektive Konfiguration des eigenen Bekenntnisses auch die Annahme, dass eine andere Glaubensgemeinschaft legitimerweise einen anderen Weg gewählt hat. Was die Texte darüber hinaus dem Vorschlag Ricœurs zufolge noch leisten könnten, wäre, die ökumenische Hoffnung auf die Brüderlichkeit aller Gemeinschaften zur Sprache zu

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bringen. Um diese Utopie auf eine Weise zu äußern, welche die Glaubenden dazu verlockt, als ökumenische Akteure tätig zu werden, bedürfen die Dokumente – so unser Vorschlag – einer angemessenen sprachlichen Form, die in Ricœurs Sinne poetisch, d. h. anrufend und wirklichkeitsgestaltend ist.

3.5.4 Ökumene der Glaubenden – Ökumene der Institutionen Ricœurs Position zur Reichweite von ökumenischen Dokumenten deutet es an: Die Ebene des zwischenmenschlichen Handelns ist im ökumenischen Dialog die entscheidendere, entscheidender als die der Institutionen. Letztere sind dazu da, das Geschehen zwischen den Glaubenden zu ›rezipieren‹ und einen Rahmen für die weitere Verständigung zu schaffen. Besteht das Anliegen von Ricœur also darin, die Notwendigkeit des institutionalisierten ökumenischen Handelns zu bestreiten und alle Versuche der wechselseitigen Annäherung den Glaubenden anheim zustellen? Durchaus nicht. Allerdings gibt es Äußerungen, in denen Ricœur eine deutliche Ebenenunterscheidung in Bezug auf die Ökumene vornimmt.212 Ich denke, dass es tatsächlich drei Ebenen der Ökumene gibt, zuerst eine Ökumene der Basis, auf der Ebene der nahen Beziehungen. Zweitens auf wissenschaftlicher Ebene, in einer sehr zersplitterten Kultur, auf der Suche nach Orientierung. […] Hier sind Katholiken und Protestanten beide von einer Erosion ihrer Bezugspunkte betroffen. Aber gleichzeitig sind wir dabei, etwas zu rekonstruieren. Da gibt es ein gemeinsames Projekt, das in unserer Existenz als verantwortliche und nicht schüchterne Minderheit besteht, umgeben von einer weitgehend entchristianisierten Kultur. In der Tat besteht hier eine große Nähe zwischen dem aktiven und lebendigen Katholizismus und dem Protestantismus. Außerhalb dieser zwei Ebenen sehe ich, zwischen beiden eine institutionalisierte Ökumene am Werk, die mir völlig gelähmt zu sein scheint. Doch diese Frage hat mich nie wirklich beschäftigt. Die Frage der Rückkehr nach Rom stellt sich nicht. Das römische und das germanisch lutherische Erbe kommen derzeit gut miteinander aus: man liegt miteinander im Wettstreit, aber es gibt einen echten Austausch.213

Derartige Äußerungen zeigen jedoch auch, dass es Ricœur nicht um eine simple Gegenüberstellung von Leitungsebene und Basis geht. Entscheidend scheint für ihn vielmehr zu sein, ob der Wille zur Einheit eine reale Entsprechung in der Begegnung von Menschen besitzt – egal auf welcher Ebene sie stattfindet. Gewiss ist Ricœurs Modell der Anerkennung eher geeignet für die Vermittlung von individuellen als von kollektiven, institutionalisierten Identitäten, weil 212 Ders., Les protestants vus par un protestant; ders., Azouvi, Ehni, Kritik, 226 f; Ricœur, Quelques r¦ponses. 213 Ders., Les protestants vus par un protestant, 7.

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der Fokus bei ihm eindeutig auf dem Handeln und Vermögen der tatsächlichen Akteure liegt. Alles andere wäre vor dem Hintergrund von Ricœurs philosophischem Werk aber auch überraschend und eigentlich nicht denkbar gewesen. Ricœur, der den fähigen Menschen214 ins Zentrum seiner Reflexion stellt und diesen als Handelnden im Angesicht von Hemmnissen und Bedingtheiten sichtbar macht, rückt auch bei seiner Beurteilung des ökumenischen Dialoges nicht von der Perspektive auf den Einzelnen ab. Doch es geht nicht darum, in der Frage der gegenseitigen Anerkennung zwischen Christen verschiedener Konfessionen die Aktivitäten der kirchlichen Basis gegen die der Kirchenleitung auszuspielen. Auch geht es nicht darum, die Rolle der Institutionen zu negieren, die sicherlich unerlässlich ist, um der erfahrenen Übereinstimmung Dauerhaftigkeit zu verleihen. Zweifellos begegnen sich ökumenische Akteure stets in mehr oder weniger stark institutionalisierten Zusammenhängen. Für Ricœur kommt es darauf an, dass es sich um gerechte Institutionen215 handelt, d. h. um solche, in denen die Handlungsfähigkeit des Einzelnen nicht unterdrückt, sondern gestärkt wird. Entscheidend ist darüber hinaus, dass es den ökumenischen Akteuren gelingt, aus der alltäglichen Logik der Pflicht herauszufinden und zu entdecken, dass sich wirkliches ökumenisches Handeln nicht im Modus der Sorge und der Pflicht ereignet, sondern in der Praxis der interkonfessionellen Gastfreundschaft und mit der Erfahrung der Dankbarkeit für den Anderen einher geht. Es ist durchaus denkbar, dass sich die Spur dieser Erfahrung ebenfalls in den institutionalisierten Formen der Ökumene wiederfindet – als poetische Sprache in Konsensdokumenten beispielsweise oder als echte Erfahrung der Wechselseitigkeit unter ökumenischen Akteuren oder in mandatierten Dialoggruppen. Der ökumenische Fortschritt hat, wie wir zeigten, neben seinem Begegnungscharakter auch etwas mit einem Identitätswandel zu tun und dadurch auch mit der Veränderung von institutionellen Strukturen. Beachtet man jedoch, wie sich in Ricœurs Denken dieser Strukturwandel vollziehen soll, so wird klar, dass dieser sich das Verhältnis von Glaubenden und Institutionen als organisch vorstellt. Ricœur zufolge ist die ökumenische Bewegung ein permanentes Reformgeschehen, das alle Glaubenden dazu aufruft, die Vision der Brüderlichkeit im eigenen Glaubenszeugnis und in dem des Anderen zu entdecken, sie zur Anschauung zu bringen und durch das eigene Zeugnis trennende institutionelle Strukturen herauszufordern und zu verändern.

214 Ricœur, Azouvi, Ehni, Kritik, 126. 215 Ricœur, Selbst, 236.

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3.5.5 Zur Einordnung von Ricœurs ökumenischer Theorie Welchen Platz nehmen die ökumenischen Überlegungen Ricœurs schließlich in dessen Gesamtwerk ein und welche Entwicklung haben sie durchgemacht? Wurde unsere Lesart Ricœurs Anliegen in Bezug auf die christliche Ökumene gerecht? Zweifellos war der ökumenische Dialog für Ricœur nur ein Nebenschauplatz, dessen theoretische Formulierung erst in die späte Phase seines Schaffens fällt. Für den Trienter Vortrag aus dem Jahr 2000, dessen Relektüre sozusagen den Kern des vorliegenden Kapitels bildete, schöpfte Ricœur bereits aus dem breiten Spektrum seines hermeneutischen Ansatzes. Deshalb ließ auch erst die Zusammenschau verschiedener Aspekte seines Werks in diesem Kapitel, von der Text- und Identitätstheorie bis hin zu Fragen der politischen Gerechtigkeit und des gelingenden interreligiösen Dialogs, seine ökumenische Argumentation nachvollziehbar werden. Ricœur war zeitlebens nicht nur auf theoretischer Ebene ökumenisch interessiert: Zu Beginn unserer Untersuchung stellten wir ihn als Mitinitiator einer unkonventionellen ökumenischen Aktion vor – des gemeinsamen Abendmahls zwischen Katholiken und Protestanten in Paris im Jahr 1968. Vor allem von katholischer Seite wurde diese Aktion damals abgelehnt. Die Nummer der Zeitschrift Christianisme Social, in der die Diskussion um jene gemeinsame Abendmahlsfeier im Juni 1968 anhand diverser Beiträge vorgestellt wurde, enthielt auch eine Äußerung des damaligen Papstes Paul VI. Dieser zeigte sich über diesen und ähnliche Vorfälle der unerlaubten Interkommunion entrüstet.216 Rückblickend ist es deshalb umso erstaunlicher, dass Paul Ricœur rund dreißig Jahre später, im Jahr 2003, ausgerechnet den nach Papst Paul VI. benannten Preis aus den Händen von dessen Nachfolger Papst Johannes Paul II. erhielt und zwar unter anderem für seine Verdienste um den ökumenischen Dialog!217 Inwiefern den Laudatoren die Ereignisse des Jahres 1968 noch in Erinnerung 216 o. A., Extrait. »Was soll man sagen zu einigen der jüngsten Ereignisse wie der Besetzung von Gotteshäusern, der Befürwortung unakzeptabler Filme, den kollektiven und konzertierten Protesten gegen unsere neueste Enzyklika, der Propaganda für politische Gewalt zugunsten sozialer Ziele, den anarchischen Protesten und der Anpassung an eine globale Antihaltung, den Fällen von Interkommunion, die im Widerspruch stehen zu der richtigen ökumenischen Linie. Wo sind die Kohärenz und der Anstand, der den wahren Christen zukommt? Wo ist der Sinn für die Verantwortung gegenüber dem eigenen katholischen Glauben und dem der anderen? Wo ist die Liebe zur Kirche?« 217 o. A., Vernunft. »Er [Papst Johannes Paul II.] wolle den großzügigen Beitrag Ricœurs – er ist evangelischer Christ – zum ökumenischen Dialog würdigen […]. Ricœur habe aber vor allem einen wichtigen Beitrag zum Verhältnis von Philosophie und Theologie, von Kultur und Religion geleistet. Sein Wirken – unter anderem zur Sprach- und Symbolforschung – zeigt, wie fruchtbar jene Vernunft, die den Glauben sucht, gerade auch heute unter den Bedingungen der Moderne und Postmoderne ist.«

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waren, können wir nicht mehr beurteilen. Bei der Preisverleihung wurden sie jedenfalls nicht zur Sprache gebracht. Für uns und für diejenigen, die an Ricœurs Gesamtwerk Interesse haben, wirft diese Preisverleihung jedoch die Frage auf, ob es im Denken Ricœurs in Bezug auf den ökumenischen Dialog eine Kontinuität gegeben hat, denn die spätere Würdigung durch die katholische Kirche könnte durchaus den Schluss zulassen, dass Ricœurs Position sich wandelte. Diese Annahme, es habe einen grundlegenden Wandel in Ricœurs ökumenischem Denken gegeben, bestätigt sich aus unserer Sicht nicht. Zwar sind seine späteren Überlegungen zu den Paradigmen von Übersetzung und Vergebung gewiss differenzierter und weniger radikal, als sein Plädoyer für den offenen Bruch mit der Tradition (»transgression«) von 1968 es war. In anderer Hinsicht zeichnet sich aber ganz deutlich eine Kontinuität ab. Diese besteht vor allem darin, dass Ricœur den ökumenischen Fortschritt auf der unmittelbaren Ebene des Austauschs zwischen den Glaubenden verwirklicht sah, wo Übersetzung und Vergebung vollzogen werden und sich in wirkmächtigen Gesten ausdrücken. Dieses Geschehen unter den Glaubenden ist seiner Ansicht nach in der Lage, auf die Tradition zurückzuwirken und diese zu verändern. Die Ausführungen zum Phänomen der Anerkennung in seinem letzten Buch bekräftigen das wie auch im Trienter Vortrag der Aufruf, alle Gläubigen am ökumenischen Dialog, der ein permanentes »Reformprojekt« darstellt, zu beteiligen. Gerade in dieser Anspielung auf die permanente Notwendigkeit einer innerkirchlichen Reform können wir eine Parallele zu den Überlegungen von 1968 erkennen, in denen Ricœur ausdrücklich die notwendige Synergie von Institution und Prophetie im Rahmen der Kirchenverfassung betonte. Am augenfälligsten ist die Kontinuität in Ricœurs Theorie schließlich in Bezug auf den Status der Texte bzw. den Verlauf der Rezeption. In der Einleitung unserer Arbeit zitierten wir Ricœurs Position, der zufolge die juristische Fixierung dem tatsächlichen ökumenischen Geschehen nachgeordnet sein müsse. Diese Haltung hat sich nicht verändert. Sie ist im Gegenteil fundierter geworden in der Idee vom Text als Inkognito bzw. durch die Einbeziehung der Phänomenologie der Gabe sowie den unterschiedlichen Ordnungen von Gegenseitigkeit und Wechselseitigkeit im Dialog. Die Verleihung des vatikanischen Preises an Ricœur ist dennoch nicht in jeder Hinsicht unverständlich. Es gibt im Gegenteil erstaunliche Parallelen zwischen Ricœurs Ausführungen und dem, was in der katholischen Kirche seit einiger Zeit unter dem Stichwort der »Ökumene des Lebens«218 vertreten wird. In dieser ökumenischen Hermeneutik nach katholischem Verständnis, die sich als »geistliche Ökumene« verstanden wissen will und deren bekanntester Vertreter derzeit Kardinal Walter Kasper sein dürfte, lebt zum einen die Vorstellung des 218 Kasper, Ökumene.

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Dialogs und der Öffnung wieder auf, welche die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils so bedeutsam machte. Zum anderen zeichnet sich darin auch eine Abwendung von der Ebene der offiziellen ökumenischen Dialoge ab sowie eine Hinwendung zu einer gemeinsamen Gebets- und Dienstgemeinschaft von katholischen und nichtkatholischen Christen.219 Allerdings gibt es auch klare Unterschiede zwischen diesem ökumenischen Programm und Ricœurs Position, welche seine Ehrung durch den Vatikan wiederum bemerkenswert erscheinen lassen. Denn selbstverständlich sind in der katholischen Interpretation der geistlichen Ökumene die Aktivitäten der Glaubenden begrenzt durch die institutionelle Verfassung der Kirche, deren Bestehen in der gegenwärtigen Form nicht anzuzweifeln ist. Eine gewisse Vielfalt der bekenntnismäßigen Ausdrucksweisen und eine Bereicherung der bestehenden Frömmigkeit durch die Begegnung mit Andersgläubigen sind nur möglich, solange sie im Rahmen des geltenden Amts- und Sakramentsverständnisses bleiben. In Ricœurs Verständnis erscheinen die Glaubenden hingegen nicht als diejenigen, welche nach Möglichkeiten des gemeinsamen geistlichen Lebens unter den lähmenden Bedingungen einer unverrückbaren Struktur suchen. Vielmehr sind sie klar markiert als Handelnde, auf deren Interpretation des geoffenbarten Zeugnisses hin diese – profane! – Struktur erst zustande kommt und daher auch verändert werden kann. In Ricœurs Perspektive ist es ganz klar, dass mit der Vorstellung einer veränderlichen Kirchenstruktur die Vorstellung einer sich verändernden Identität verbunden ist. Dieser Wandel könnte sogar einen Bruch mit der bisherigen konfessionellen Tradition erzeugen – eine Schlussfolgerung, welche dem katholischen Kirchenverständnis klar zuwiderläuft. Auf der Ebene der ökumenischen Hermeneutik erkennen wir also recht deutlich die konfessionelle Prägung Ricœurs wieder. Und ungeachtet der höchst erfreulichen Parallelen zum Entwurf katholischer Ökumeniker lassen sich in den Unterschieden zwischen Ricœurs Konzept und dem der »Ökumene des Lebens« auch die bereits bekannten katholisch-evangelischen Differenzen im Amts- und Kirchenverständnis wiederfinden. Natürlich stellt sich für Protestanten die Frage, wie es ungeachtet der abstrahierenden theologischen Sicht in den reformatorischen Kirchen in der Praxis tatsächlich um die Bereitschaft zum 219 Ebd., 11. »Das Herz der Ökumene sind nämlich nicht Papiere und Dokumente. Sie sind gewiss auch wichtig; aber manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es in der gegenwärtigen Kirche zu viel mit Druckerschwärze versehenes Papier gibt. An Pfingsten ist der Heilige Geist nicht in Form von Papier sondern in Form von Feuerzungen erschienen, und Feuer verbrennt zum Glück unnützes Papier. Auf was es vor allem ankommt ist die geistliche Ökumene. Mit Freundeskreisen hat die Ökumene vor dem Konzil angefangen; vor allem mit Freundeskreisen, Gemeinschaften, Lebenszentren kann sie heute wieder neu Schwung aufnehmen.«

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Identitätswandel bestellt ist. Wir werden dieser Frage in unserem nächsten Kapitel an einem praktischen Beispiel wieder begegnen. Verweilen wir zunächst noch bei einem anderen Punkt, in dem sich eine überraschende Kontinuität von Ricœurs früherem und späterem Werk auftut. Die Vorstellung von einer inkommensurablen Andersheit, welche sich sowohl begrenzend als auch sinnstiftend für das gegenseitige Verstehen auswirkt, war schon früh in Ricœurs Werk angelegt, lange bevor er sie in Das Selbst als ein Anderer ausführte. Wie wir zeigten, bildet die Alteritätstheorie das Fundament für die Phänomenologie der Anerkennung: Erst die Andersheit der Partner lässt sie den Mangel und die Freude aneinander wahrnehmen und erst im Moment der Anerkennung, kann sich das Selbst als ganz empfinden. Für Ricœur ist dieses Geschehen vor allem ein geistliches Geschehen. Anerkennung wird nicht gemacht, sie wird geschenkt und erfahren. Was der geistliche Kontext dieser Erfahrung des Anderen ist, darüber geht Ricœur im Parcours de la reconnaissance wie schon in Das Selbst als ein Anderer nicht ins Detail, sondern respektiert die in seinem Werk mehr oder weniger konsequent durchgehaltene Trennung der theologischen und der philosophischen Sphäre. In einem sehr viel früheren Text Ricœurs aber wird dieser Zusammenhang von geistlichem Geschehen und Anerkennungsgeschehen greifbar. Dieser kurze Abschnitt, in dem Ricœur im Anschluss an den Neutestamentler Markus Barth – einem Sohn des Theologen Karl Barth – Gal 3,28 interpretiert, ist bedeutsam und soll hier zitiert werden. Im Rückblick bildet dieser Text eine Brücke zwischen Ricœurs frühem und späterem Denken. Er zeigt die Kontinuität in Bezug auf die Interaktion des Selbst und des Anderen im Prozess der Identitätskonstruktion auf, der, wie wir sehen, für Ricœur ein geistlicher Prozess ist: Wenn er sagt: »Es gibt weder Juden noch Griechen, noch Heiden, noch freie Männer«, so beschreibt Paulus in diesem Moment den Menschen […]. Der Mensch, das sind nicht Sie oder ich ganz individuell, sondern einen Menschen gibt es immer dann, wenn es einen Akt der Versöhnung gibt, jedes Mal, wenn ein Gegensatz überwunden wird. Ein Mensch, das ist nicht so einer und so einer, das ist ein Prozess der Versöhnung. Wenn Paulus sagt, »Christus hat den trennenden Zaun abgebrochen«, so definiert er den Menschen. Den Menschen gibt es dort, wo ein Widerspruch überwunden wird. Das kann uns sehr helfen gegen den bürgerlichen Individualismus oder einfach gegen den Individualismus aller bei der Verfolgung ihres eigenen Wohls. Es gibt keinen Menschen, wenn wir für uns ganz allein versuchen, unser Lebensniveau zu steigern und unsere persönlichen Ziele zu verfolgen. Und es gibt keine Gemeinde und keine Gemeinschaft, wenn wir nur einfach Menschen versammeln, die einander ähnlich sind. Einen ekklesialen Akt gibt es nur dann, wenn ein Akt der Versöhnung hinzukommt. […] Dort gibt es einen trennenden Zaun. Und dort wo es keinen Zaun gibt, wo sich die Menschen versöhnt haben, da gibt es einfach

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Zusammenfassung

Menschen. Das bedeutet, wenn Paulus sagt »durch die Versöhnung«, so ist das kein moralisierender Zusatz, der an eine Lehre vom Menschen angehängt wird, das ist die Definition selbst.220

Dieses Zitat zeigt, dass der zutiefst ökumenische Gedanke der Versöhnung gleichsam das Rückgrat der christlichen Anthropologie darstellt. Umgekehrt gerät damit die ökumenische Bewegung theologisch in den Bereich von Erlösung und Rechtfertigung und wie diese auch in einen Konflikt mit der Vorstellung von ihrer institutionellen »Machbarkeit«. Im Verlauf dieses ganzen Kapitels haben wir gezeigt, dass dies die Stoßrichtung von Ricœurs ökumenischem Ansatz ist. Ihm geht es darum, die Poetik einer ökumenischen Vision aufzudecken, die im Herzen der Botschaft des Evangeliums selbst zu finden ist und an die eine Gemeinschaft in Worten und Gesten der Versöhnung appellieren kann. Durch dieses Plädoyer für die Unverfügbarkeit der ökumenischen Anerkennung hat Ricœur einen starken Kontrapunkt gesetzt gegen die Vorstellung, dass ökumenische Einheit sich einfach herstellen ließe und dann verifizierbar oder einklagbar wäre. Sie ist es nicht und doch, so zeigt Ricœur, wird sie entdeckt und erfahren, wobei die Interpretationsleistung ihrer Akteure – auf allen Ebenen der Kirche – unerlässlich ist. Werfen wir einen letzten Blick auf unsere Lesart von Ricœurs Werk. Wurde sie ihm gerecht? Wir haben Ricœur gelesen vor dem Hintergrund einer Vielzahl uns vorliegender ökumenischer Dokumente. Für uns stellte sich daher zuerst die Frage nach dem Status der Rezeption sowie dem möglichen Beitrag dieser Texte für die interkonfessionelle Annäherung. Wahrscheinlich sind wir mit dieser Herangehensweise Ricœurs 68er-Perspektive nicht ganz gerecht geworden. Denn zu dem damaligen Zeitpunkt, insbesondere zu den Ereignissen rund um die ›ökumenischen Eucharistie‹ von 1968, die offenbar prägend waren für Ricœurs Perspektive auf die Ökumene und die es bis zu seinem Lebensende blieben, ging es nicht darum, herauszufinden, welche Gültigkeit zukünftige interkonfessionelle Vereinbarungen haben könnten. Es ging vielmehr darum, die Ungültigkeit bestehender Trennungen herauszustellen. Diese Ungültigkeit wurde damals nicht in mandatierten Kommissionen verhandelt, sie wurde vielmehr in der Situation des allgemeinen gesellschaftlichen Umbruchs empfunden und konstatiert. Ricœurs nachträglicher Kommentar zu den Ereignissen von Pfingsten 1968 bestätigt dies: 220 Ricœur, Sens et fonction, 37. Ricœur nimmt an dieser Stelle Bezug auf die Interpretation von Barth, Jews and Gentiles, 259. »Sharing in the death and resurrection of Jesus Christ is the means of justification: only in Christ’s death and resurrection is the new man created. But this new man is not any individual, this one or that one: he is created from at least two: a Jew and a Greek, a man and a woman, a slave and a free man, etc.«

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Aspekte der ökumenischen Rezeption im Werk von Paul Ricœur

Zunächst einmal ist diese Feier [des gemeinsamen Abendmahls] nicht im eigentlichen Sinn durch einen gewaltsamen Willen beschlossen und gewollt worden. Sie wurde vielmehr durch das Ereignis eingegeben, das heißt durch eine Handlung, die im selben Evangelium gründete und dessen revolutionäre Tragweite für unsere Zeit bewies. Mehr noch, es war nicht nur das Ereignis – die Mairevolution –, sondern die Welt, die uns eingab, vereint zu sein: die Welt, in Person dieser Studierenden und dieser Arbeiter, an deren Seite wir uns während dieses außergewöhnlichen Monats wiederfanden – aus den verschiedensten Gründen. Weil diese quer durch unsere Konfessionen gingen, begannen sie, Brücken zu bauen, die unsere Theologien und unsere Ekklesiologien noch nicht gebaut hatten. So konnte die Eucharistie eine wahre Gemeinschaft krönen, die der Feier vorausgegangen war. Diese wiederum begann, wie eine Geste zu existieren, die uns vorauseilte, bevor unsere Theologien in der Lage waren, ihren theoretischen Umriss zu zeichnen.221

Diese Passage untermauert die These von der ökumenischen Relevanz realer Erfahrungen der Wechselseitigkeit und sie ist deshalb ein starkes Zeugnis für die ökumenische Rezeption, wie wir sie in diesem Kapitel definiert haben. Rezeption meint die Versöhnung mit bzw. die Anerkennung des Anderen. Diese wechselseitige Rezeption gipfelt schließlich bei Ricœur in der Geste des gemeinsamen Abendmahls – einer Geste, welche die interkonfessionelle Versöhnung als Realität sichtbar macht und an welche die Hoffnung geknüpft ist, sie würde von Außenstehenden gerade wegen ihrer Fremdheit ›gelesen‹ und interpretiert werden. Die Zustände vom Mai 1968 in Paris sind vollkommen verschieden von der heutigen gesellschaftlichen Situation und auch die ökumenischen Herausforderungen sind andere geworden. Nach Jahrzehnten umfangreicher ökumenischer Dialoge besteht das Anliegen heute scheinbar darin, herauszufinden, wie die Resultate dieser Dialoge rezipiert und wie die Einheit in Form von Kirchengemeinschaft verbindlich hergestellt werden kann. Wir sehen, dass dies keineswegs dem Anliegen von damals entspricht, als man die Einheit untereinander bzw. die Sehnsucht danach inmitten von politischen Unruhen auffand und in eine symbolische Geste übersetzte. Die heutige Herangehensweise ist eine ganz andere. Heute gilt es, unter den Vorzeichen einer differenzierteren ökumenischen Hermeneutik zu klären, wie im konkreten Fall eine ökumenische Übereinkunft gefunden, formuliert und verstanden werden kann.222 Vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Einheitsvorstellungen muss dabei geklärt werden, welche Art der kirchlichen Einheit man überhaupt anstrebt.223 Ein hohes Maß an Verantwortungsgefühl ist im Dialog präsent, sei es in Form der Sorge, um die eigene konfessionelle Identität, sei es in der Anteilnahme am Schicksal 221 Ricœur, L’un des participants, 423. 222 Hietamäki, Agreeable agreement. 223 Koslowski, Einheit.

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Zusammenfassung

des kontextuell und konfessionell Anderen oder im Rahmen von sich immer neu entwickelnden Dokumenten und strukturellen Konstellationen. Ricœurs ökumenische Überlegungen heben sich von dieser Herangehensweise deutlich ab. Ökumenische Anerkennung, so sein Plädoyer, lässt sich nicht anordnen! Diese Überlegungen Ricœurs könnten sich im Prozess der Wiedergewinnung des ökumenischen Gedankens als durchaus hilfreiche Erinnerung erweisen. Gerade sein Insistieren auf der Alterität im Dialog macht klar, dass es der ökumenischen Bewegung nicht vorrangig um die Einheit gehen muss, weil diese sich eben nicht herstellen, sondern nur als Gabe empfangen lässt. Die Einheit sollte gleichwohl als Vision (Utopie) aufrechterhalten werden und die Haltungen der Übersetzung und der Versöhnungsbereitschaft stecken einen deutlichen Spielraum zu ihrer Ausgestaltung ab. Aber die Einheit dennoch nicht zur Hauptsorge der ökumenischen Bewegung werden zu lassen, dafür gibt es gute Gründe: Wenn nämlich die Einheit die Priorität im Dialog darstellt, kann der Andere in seiner Andersheit schnell zum Ärgernis werden. Ricœur aber, der zeitlebens am Dialog mit Andersdenkenden interessiert war, hat gezeigt, dass Alterität und Dialog einander nicht ausschließen, sondern im Gegenteil bedingen. Dies schlägt sich auch darin nieder, dass er weniger den Willen zur Einheit, als vielmehr die Tendenz zur Anerkennung der Fremdheit betont. Diese Haltung hat er auch auf den ökumenischen Dialog übertragen. In seiner Theorie vermag er es auf diese Weise, der Konsenssuche den Charakter der Sorge zu nehmen und ihm stattdessen den der Gelassenheit und Dankbarkeit zurückzugeben. In Ricœurs Perspektive ist die Nicht-Identität mit dem Anderen kein Anlass zum Ärger, sondern ein Anlass zur Freude. Freude macht sich breit, weil unter der Bedingung einer wechselseitigen Übersetzung der Andere eine Quelle der unausgesetzten Offenbarung darstellt, dessen Alterität dankbar rezipiert werden kann. Momente in denen das geschieht, sind Momente der Gnade. Die ökumenische Hoffnung, die dann der Hoffnung auf Einheit sehr verwandt ist, besteht in der Annahme, dass dieses wechselseitige Geschehen der Dankbarkeit füreinander und für die erfahrene Anerkennung nicht ohne seine Konsequenzen für die individuelle und die institutionelle Identität der Glaubenden bleiben wird.

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Beispiele aus der Praxis der ökumenischen Rezeption

4.1

Untersuchungskriterien und Beispiele

In Kapitel 2 haben wir den Begriff der ökumenischen Rezeption untersucht. Anschließend präsentierten wir in Kapitel 3 ökumenische Ansätze im Werk von Paul Ricœur und erläuterten, inwiefern diese als Erweiterung gängiger Rezeptionsverständnisse betrachtet werden können. Nun soll uns die Frage beschäftigen, ob sich der modifizierte Rezeptionsbegriff Ricœurs als hilfreich bei der Deutung realer ökumenischer Prozesse erweist. Wir werden dazu einen Blick in die Praxis werfen und ausgewählte ökumenische Vorgänge untersuchen. Im Anschluss an Ricœur verstehen wir unter ökumenischer Rezeption nicht die offizielle Annahme ökumenischer Dialogergebnisse durch die Kirchenleitungen, sondern die gegenseitige Anerkennung zwischen den Glaubenden. Wenn wir uns im Folgenden auf bestimmte ökumenische Prozesse konzentrieren, fragen wir deshalb danach, inwiefern diese zu Schauplätzen einer solchen Anerkennung werden und welche Rolle lehrmäßige Übereinstimmungen dabei spielen. Die Kriterien dieser Untersuchung leiten wir ab von den Schwerpunkten, die sich bei der Untersuchung von Ricœurs ökumenischer Hermeneutik herauskristallisiert haben. Es lassen sich drei Punkte ausmachen, die für Ricœurs ökumenischen Ansatz spezifisch sind und für die es Anhaltspunkte in den zu untersuchenden Prozessen geben müsste: 1. die Wahrnehmung des Rezeptionsverlaufs, 2. das Postulat eines Identitätswandels, 3. die Annahme, dass ökumenische Texte eine narrative bzw. poetische Qualität aufweisen. Zu 1.: Ricœurs Idee vom Verlauf der ökumenischen Rezeption ist eng verknüpft mit seiner Vorstellung von der Gestaltung (kirchlicher) Institutionen. Die ökumenische Annäherung ereignet sich demzufolge zuerst in der wirklichen Begegnung zwischen den Glaubenden, d. h. als intersubjektive Alteritätserfahrung, in der sich ein Mehr an Sinn erschließt. Später wird dieses Begegnungsgeschehen reflektiert und in Form von Dokumenten institutionalisiert. Die Rolle der Dokumente besteht darin, ihrerseits das Geschehene zu rezipieren, der erreichten Qualität der wechselseitigen Beziehungen Verbindlichkeit und Dauer-

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Beispiele aus der Praxis der ökumenischen Rezeption

haftigkeit zu verleihen sowie neue Begegnungen einzuleiten. Aber nicht nur eine solche organische Weiterentwicklung der institutionellen Gestalten kann eine Folge der Begegnung zwischen den Glaubenden sein. Auch ein Bruch mit den existierenden Strukturen ist als Resultat der ökumenischen Gastfreundschaft möglich. Er kann sich ereignen, wenn die wechselseitig erlebte Anerkennung unter den Glaubenden die bis dato existierenden institutionellen Grenzen zwischen den Konfessionen in Frage stellt und überwindet. Zu 2.: Nach Ricœurs Argumentation ist die ökumenische Annäherung mit einem Identitätswandel unter den beteiligten Gemeinschaften verbunden. Genauer gesagt handelt es sich dabei um eine spezifische Art der Fortschreibung der eigenen Geschichte im Rahmen der narrativen Identität einer Gemeinschaft. Eine gewandelte Identität gibt sich daran zu erkennen, dass die Perspektive des Anderen darin als Bezugspunkt erscheint und in ihrer relativierenden Kraft gegenüber der Eindeutigkeit der eigenen Welt- und Selbstsicht gelten gelassen wird. Ob eine solche Neuerzählung der eigenen Geschichte möglich ist, hängt unter anderem davon ab, welche Vorstellung die Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft von ihrer individuellen oder institutionellen Identität haben. Genauer gesagt, ob die eigene Identität als wandlungsfähig vorgestellt wird oder ob man vornehmlich um die Konservierung der gewachsenen Strukturen bemüht ist. Den Umgang mit der eigenen Identität und die Einstellung gegenüber ihrem möglichen Wandel sind demzufolge wesentliche Kriterien, welche über die ökumenische Orientierung einer konfessionellen Gemeinschaft entscheiden. Gewiss dürfte es schwierig sein, den ökumenischen Identitätswandel einer Gemeinschaft untersuchen und konstatieren zu wollen. Gleichwohl lässt sich der Identitätsdiskurs einer Glaubensgemeinschaft oder einer ökumenische Gruppe als Anhaltspunkt für einen möglichen Identitätswandel betrachten. Auskunft darüber können uns einzelne Zeugnisses und Stellungnahmen ökumenischer Akteure geben. Zu 3.: Texten schließlich kann im ökumenischen Dialog der Theorie Ricœurs zufolge eine besondere Aufgabe zukommen. Unbestritten ist zum einen die Notwendigkeit ihrer kirchenrechtlichen Funktion. Da die Texte aber nicht die Versöhnung zwischen Glaubenden verschiedener Konfessionen als solche repräsentieren, sondern nur deren Inkognito, ist ihre primäre Aufgabe für Ricœur an anderer Stelle zu suchen. Zwei Momente sind hier in den Blick zu nehmen: Zum einen ist da der Umstand, dass Texte eine Dimension der Reflexion in ökumenische Prozesse einbringen. Das geschieht derart, dass sie den Weg der Tradition nachzeichnen und dadurch den Glaubensgemeinschaften vor Augen führen, was sie zu ihrer unterschiedlichen Bekenntnisbildung geführt hat. Neben der Einsicht in die eigene Traditionsbildung kann so ein tieferes Verständnis für

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Untersuchungskriterien und Beispiele

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die Glaubensentscheidungen der eigenen wie auch der anderen Gemeinschaft gewonnen werden. Zum anderen ist Texten zuzutrauen, dass sie gegenüber ihrer Lektüregemeinschaft eine Poetizität entwickeln, d. h. dass sie performativ wirken, ihre Leser ansprechen und sie zu ökumenischem Handeln ermutigen, indem sie eine Utopie der Brüderlichkeit weitergeben. Wir werden dieser Spur, welche die Theorie Ricœurs uns vorgibt, folgen und untersuchen, welchen Status Texte und Dokumente in der Praxis einnehmen bzw. welche ihrer vielfältigen Funktionen – juristisch, poetisch, vergewissernd oder reflexiv – in der Praxis realisiert werden. Anhand dieser drei Kriterien sollte es nun möglich sein, konkretes Handeln zu untersuchen und zu erfahren, ob Ricœurs Theorie eine genauere Beurteilung der Rezeptionsprozesse erlaubt bzw. ob sie Neuansätze zu ihrer Gestaltung zu geben vermag. Drei Vorgänge haben wir für die folgende Untersuchung ausgewählt. Sie stellen alle Rezeptionsprozesse dar, insofern dabei auf die eine oder andere Weise die Anerkennung zwischen Glaubenden verschiedener Konfessionen realisiert wird. Unser erstes Beispiel ist die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (besser bekannt als Leuenberger Konkordie). Wir werden uns mit ihrer Entstehung und ihren Konsequenzen in den Kirchen Frankreichs beschäftigen. Unser zweites Beispiel betrifft die Arbeit der Groupe des Dombes, einer ebenfalls im französischen Sprachraum tätigen ökumenischen Gruppe von Theologen. Schließlich wenden wir uns den Aktivitäten der Communaut¦ de Taiz¦ zu. Bei allen drei Beispielen handelt es sich um ökumenische Vorgänge aus Frankreich bzw. dem französischsprachigen Raum. Das gibt uns die Möglichkeit, eine gewisse geographische Kohärenz auch gegenüber der Theorie von Paul Ricœur herzustellen. Neben dieser Gemeinsamkeit sind die drei gewählten Vorgänge recht unterschiedlich und können repräsentativ für verschiedene Weisen stehen, den ökumenischen Dialog zu führen. So ist die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) ein Beispiel für die klassische Konsensökumene und außerdem für den innerreformatorischen Dialog. Ihr gegenüber fokussiert die Groupe des Dombes zwar ebenfalls die Lehre der beteiligten Kirchen, sie tut dies jedoch überkonfessionell zwischen der katholischen Kirche und den reformatorischen Kirchen und noch dazu ohne ein offizielles Mandat von Seiten der Kirchenleitungen erhalten zu haben. Die Communaut¦ de Taiz¦ schließlich ist wahrscheinlich das bekannteste Beispiel für die Ökumene in Frankreich. Ihre monastische Gemeinschaft verzichtet auf ökumenische Konsensdokumente und setzt stattdessen auf die Erfahrung der unmittelbaren Begegnung zwischen den Glaubenden.

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4.2

Beispiele aus der Praxis der ökumenischen Rezeption

Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa und ihre Rezeption in Frankreich

4.2.1 Vorstellung Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa, besser bekannt als Leuenberger Konkordie, wurde 1973 verabschiedet und trat ein Jahr später in Kraft. Sie ist das Resultat internationaler theologischer Gespräche zwischen Vertretern der lutherischen und der reformierten Kirchen Europas. Der Text der Konkordie führt aus, dass im Zuge sorgfältiger theologischer Gespräche eine Einigung über die Themen von Prädestination, Christologie und Abendmahl erzielt wurde und dass dadurch die gegenseitigen Verurteilungen, welche Lutheraner und Reformierte seit dem 16. Jahrhundert theologisch trennten, heute überwunden sind. Nicht nur die Aufhebung der Lehrverurteilungen wird in der Konkordie erklärt, es wird auch eine positive Aussage über die Qualität der ökumenischen Beziehungen der sie unterzeichnenden Kirchen getroffen: So erklärt man aufgrund der festgestellten Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums einander gegenseitig »Kirchengemeinschaft«. Dadurch werden Kanzeltausch und Abendmahlsgemeinschaft unter den Unterzeichnerkirchen offiziell ermöglicht. Außerdem werden die Ordination und die Ämter wechselseitig anerkannt. Diese Gemeinschaft unter den Kirchen kann praktiziert werden, obwohl die kirchlichen Institutionen weiterhin strukturell voneinander getrennt sind. Aus verschiedenen Gründen gilt die Leuenberger Konkordie bis heute als außerordentlich erfolgreiches ökumenisches Projekt. Ein Grund dafür ist die nach wie vor wachsende Zahl ihrer Unterzeichnerkirchen. Waren es im Jahr 1974 erst 49 Kirchen, deren Synoden bzw. Leitungen sich die Konkordie zu Eigen machten, so ist diese Zahl mittlerweile bis auf 105 angewachsen. In der Konkordie selbst werden neben gemeindlichen und gottesdienstlichen Begegnungen nur wenige institutionelle Konsequenzen benannt. Dennoch hat sich die Zusammenarbeit der Unterzeichnerkirchen seit den 1970er Jahren deutlich intensiviert. Die Leuenberger Kirchengemeinschaft, deren Kernstück zunächst die theologische Lehrgesprächsarbeit darstellte, hat sich inzwischen zur Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) weiterentwickelt und damit zu einem beachtlichen lutherisch-reformierten Kirchenbund, dessen Teilnehmer sich ca. alle sechs Jahre zu Vollversammlungen zusammenfinden. Von einem rein theologischen Konsens ausgehend hat die GEKE sich inzwischen die Vertretung der evangelischen Kirchen in politischen und ethischen Belangen zur Aufgabe gemacht und tritt mit dem Anspruch auf, die religiösen Bedingungen des geeinten europäischen Wirtschaftsraums zu reflektieren. Darüber hinaus gibt es im Rahmen der GEKE Initiativen, die darauf abzielen, auch in der Ge-

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Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa

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staltung von Liturgie und Gottesdienst stärker von der Arbeit der anderen Kirchen Notiz zu nehmen und voneinander zu lernen. Diverse regionale und überregionale Arbeitsgruppen von Kirchenvertretern und Theologen sowie ein virtuelles Netzwerk zur Verbreitung der Ergebnisse sind die vorrangigen Instrumente der Gemeinschaft.1 Die der Konkordie zugrundeliegende ökumenische Methodik hat sich als paradigmatisch erwiesen und in weiteren Dialogen Verwendung gefunden. Das gilt besonders für ihr Einheitsmodell (Kirchengemeinschaft bzw. Einheit in versöhnter Verschiedenheit)2 und die ihm korrespondierende Konsensmethode (differenzierter Konsens),3 die in einer Vielzahl von Studien ausführlich dargestellt werden.4 Charakteristisch für den Ansatz der Konkordie ist ihr Anliegen, 1 www.leuenberg.net 2 Das Einheitsmodell der Kirchengemeinschaft stimmt im Wesentlichen mit dem etwas später entstandenen Modell der ›Einheit in versöhnter Verschiedenheit‹ überein, weshalb in diesem Zusammenhang auch von ›Schwesternkonzepten‹ die Rede ist. Vgl. Meyer, Prägung, 41. Beide Konzepte sind das Ergebnis einer Entwicklungsphase der ökumenischen Bewegung, in der man durch den Einfluss der konfessionellen Weltbünde eine erneute identitäre Vergewisserung anstrebte und sich von dem zuvor als ideal betrachteten Modell einer Fusion der Kirchen verabschiedete. Die Vorstellung einer ›Einheit in versöhnter Verschiedenheit‹ wurde auf den Konsultationen des lutherischen und des reformierten Weltbundes in den Jahren 1974 und 1977 entwickelt. Die Vorgespräche zur Konkordie, die in den Jahren 1964 bis 1973 stattfanden und im Modell der ›Kirchengemeinschaft‹ einen vergleichbaren Ansatz verfolgten, haben dessen Entwicklung nachweislich beeinflusst. Die Stärke des neuen Modells besteht darin, dass es die Versöhnung der überlieferten konfessionellen Traditionen denkbar macht, ohne eine institutionelle Vereinheitlichung zu erzwingen. Es handelt sich um ein den Kirchen der Reformation eigenes Modell. Die eigentliche ökumenische Zielvorstellung besteht im gemeinsamen sichtbaren Wachstum der verschiedenen institutionellen Strukturen auf die integrale christliche Botschaft hin. Der Begriff der ›Einheit in versöhnter Verschiedenheit‹ bezieht sich auf die Dynamik der dabei auftretenden Varietäten und Widersprüche, weniger auf den Umgang mit tatsächlichen historischen Verletzungen. 3 Die Methode des differenzierten Konsenses ermöglicht die Integration legitimer konfessioneller Identitätsmerkmale und zeigt einen Weg zur Überwindung ihres kirchentrennenden Charakters auf. Vgl. Birmel¦, Kirchengemeinschaft, 106 ff. Ein ökumenisches Dokument, welches der Struktur des differenzierten Konsenses folgt, beruft sich auf den bestehenden Grundkonsens und bildet die konfessionell unterschiedlichen Positionen als Resultat der kontextuell determinierten Bezugsarbeit gegenüber diesem Grundkonsens ab: »Der ›differenzierte‹ Konsens […] sucht die letzte theologische Intention einer Lehraussage zu erfassen und zu erkunden, ob es bezüglich der Grundwahrheit eine Gemeinsamkeit gibt, die die beiden Auffassungen jeweils in ihrer Geschichte und ihrem besonderen Kontext auszudrücken versuchten. Für eine einzelne Lehrfrage erfordert die Suche nach einem ›differenzierten‹ Konsens einen doppelten Schritt: (1) eine Verständigung darüber, was sich aus einer Grundwahrheit für die geforderte gemeinsame Aussage in der umstrittenen Frage ergibt und (2) eine Verdeutlichung der jeweiligen Auffassungen, die unterschiedlich bleiben, deren legitime Verschiedenheit aber untersucht und geprüft werden muss, damit sie nicht mehr die gemeinsame Grundaussage in Frage stellen kann. So entsteht die ›Einheit in versöhnter Verschiedenheit‹.« 4 Dank dieser umfassenden und differenzierten Dokumentation können wir uns hier auf die wesentlichsten Aspekte beschränken. Die theologische Argumentation wird hier nur summarisch wiedergegeben. Eine Zusammenfassung der Lehrgespräche, die zur Konkorde

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die gewachsene Übereinstimmung zwischen den Konfessionen zu erklären und eine plausible Lösung für den Umgang mit den historischen Lehrdifferenzen aufzuzeigen. Überwunden werden können diese Differenzen, indem man sie als »unterschiedliche Darstellungen ein und derselben Grundwahrheit« anerkennt.5 Dazu besinnt man sich auf einen Grundkonsens, der von den beteiligten Kirchen unumschränkt geteilt wird und die Suche nach Versöhnung motiviert. Dieser Konsens besteht in der Rechtfertigungslehre, die in § 12 der Leuenberger Konkordie als Dialogregel formuliert wird.6 Sie besagt, dass die Kraft zur Versöhnung den Kirchen aus dem Evangelium zukommt, welches die Versöhnung des Einzelnen mit Gott stiftet. Im Text der Konkordie wird die Universalität und Wirksamkeit dieser versöhnenden Kraft in allen Kirchen festgestellt und es werden die hermeneutischen Konsequenzen daraus gezogen. Entscheidend für die Konsensmethode ist dabei die Unterscheidung zwischen dem Grund des Glaubens im Evangelium und der unterschiedlichen Gestalt, in der die Kirchen diesen bezeugen. Auf der Grundlage von CA VII wird in der Konkordie erklärt, dass die verschiedenen institutionellen Gestalten der Kirchen keinen kirchentrennenden Charakter haben, solange Einigkeit im Verständnis des Evangeliums und der daraus folgenden Praxis von Wort und Sakrament besteht. Weil die ekklesiologische Qualität der reformatorischen Kirchen darin besteht, sich als durch das Evangelium konstituierte Gemeinschaft zu begreifen, ist die Einigung über die evangelische Grundwahrheit in Form der Rechtfertigungsbotschaft ausreichend, um sich gegenseitig als institutionelle Vertretungen derselben Kirche Jesu Christi und mithin als eine Kirche anzuerkennen. Der Terminus der Kirchengemeinschaft drückt aus, dass es sich dabei nach wie vor um getrennte Institutionen handelt, die sich die prinzipielle Anerkennung notwendigerweise in Form einer Erklärung, wie die Konkordie sie darstellt, erklären müssen. Die Unterscheidung von Grund und Gestalt lässt sich auch in diachroner Hinsicht auf die Lehrbildung der protestantischen Kirchen anwenden. Sie führt dahin, zum einen die historische Bedingtheit und Wandelbarkeit der eigenen Lehrentwicklung zu akzeptieren und zum anderen den Innovationsbedarf in der Lehre anzuerkennen und notwendige Aktualisierungen vorzunehmen. Ihren Erklärungs- und Verpflichtungscharakter gewinnt die Konkordie schließlich führten einschließlich der gehaltenen Referate und Gesprächsprotokolle ist zu finden in Schieffer, Schauenburg. Ebenfalls dazu Lienhard, Kirchengemeinschaft; Neuser, Entstehung. 5 Birmel¦, Kirchengemeinschaft, 116. 6 Ebd., 217. »Die Rechtfertigungsbotschaft bzw. ihr Ausdruck in der Lehre verhält sich als Dialogregel, indem sie »Einzelaussagen begründet und überprüft, ohne jedoch ein Reduktionswerkzeug zu sein. Die Rechtfertigungslehre orientiert das Ganze der Theologie, insofern sie uns lehrt, was wahre Kirche ist und verhindert, dass wir aus dem Blick verlieren, dass die Kirche ihr einziges Fundament im Versöhnungswerk Gottes hat. […] Von Gott sprechen bedeutet immer von der Versöhnung sprechen, die Gott dem Sünder anbietet.«

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Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa

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dadurch, dass sie bindende theologische Aussagen macht und zugleich eine plausible Neuinterpretation der ökumenischen Situation liefert, die aus der Erfahrung und aktuellen Auseinandersetzung der Kirchen mit ihrer Geschichte folgt. Mit den Worten der Konkordie: Mit dieser Konkordie erkennen die beteiligten Kirchen an, dass sich ihr Verhältnis zueinander seit der Reformationszeit gewandelt hat. […] Aus dem geschichtlichen Abstand heraus lässt sich heute deutlicher erkennen, was trotz aller Gegensätze den Kirchen der Reformation in ihrem Zeugnis gemeinsam war : Sie gingen aus, von einer neuen befreienden und gewissmachenden Erfahrung des Evangeliums.7

4.2.2 Rezeptionsverlauf Der definitive Text der Leuenberger Konkordie wurde den lutherischen und reformierten Kirchen Europas im März 1973 zur Stellungnahme übergeben.8 Diesem Schritt war ein mehrjähriger ökumenischer Konsultationsprozess vorausgegangen, an dem sich Theologen und Kirchenvertreter aus vielen europäischen Ländern beteiligten.9 Es handelt sich bei der Leuenberger Konkordie also um eine Konsenserklärung, die zentral formuliert wurde und daraufhin in den verschiedenen Unterzeichnerkirchen Zustimmung und Gültigkeit erhielt. Auf den Weg gebracht wurde der Konsens aber nicht durch die Arbeit einer einzigen Dialogkommission. Zwar hatten die Gespräche zwischen 1969 und 1973 auf dem Leuenberg bei Basel eine theologische Begründung und eine zustimmungsfähige Formel für die gegenseitige Erklärung von Kirchengemeinschaft hervorgebracht. Der lutherisch-reformierte Dialog reichte aber weiter zurück. Lutherisch-reformierte Gespräche waren seit den 50er Jahren bereits vielerorts auf nationaler Ebene geführt worden, vor allem in den Niederlanden, in Deutschland und Frankreich.10 Die darin erzielten Ergebnisse flossen zum Teil wortwörtlich in die spätere Leuenberger Konkordie ein und es gab zahlreiche personelle Überschneidungen zwischen den Dialogkommissionen.11 Auch der 7 Der Text der Leuenberger Konkordie wird im Folgenden zitiert in der Ausgabe von Hüffmeier, Konkordie reformatorischer Kirchen. 8 Lienhard, Concorde, 170. 9 Die Gespräche, die der Abfassung der Konkordie vorausgingen sind ausführlich dokumentiert in o. A., Auf dem Weg zur gemeinsamen Stimme; Friedrich, Marburg; Schieffer, Schauenburg. 10 Lienhard, Kirchengemeinschaft. Der Autor beschreibt folgende Lehrgespräche bzw. Konsensdokumente: Abendmahlsthesen in Holland (1956), »Arnoldshainer Abendmahlsthesen« (BRD, 1957), Lehrgespräche der Evangelischen Kirche von Westfalen (1959), »ThÀses de Lyon« (Frankreich, 1964 – 68), Lehrgespräche in der DDR (1969 – 71), »Thesen zur Kirchengemeinschaft« (BRD, 1970). 11 Ders., Gespräch; ders., La communion, 254.

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Beispiele aus der Praxis der ökumenischen Rezeption

ÖRK und die konfessionellen Weltbünde regten derartige Gespräche an und reagierten damit auf die sich verändernden konfessionellen Realitäten.12 Betrachten wir dieses Zusammenwirken zwischen den nationalen ökumenischen Gesprächen und der schließlich auf gesamteuropäischer Ebene verfassten Konkordie, so zeigt sich, dass die Konkordie selbst von vorhergehenden Ereignissen abhängig war. Eine Vielzahl von Vorgängergesprächen hatte den abschließend erklärten Konsens vorbereitet. Dies weist die Konkordie selbst als ein Rezeptionsereignis aus. Vieles deutet zudem darauf hin, dass es die Veränderungen vor Ort waren, die langfristig zu einem gemeinsam formulierten ökumenischen Konsens führten, der dann entsprechend institutionalisiert wurde. Doch wie gestaltete sich die Situation auf nationaler Ebene? Bestätigt sich hier die These Ricœurs, der zufolge es die konkrete Erfahrung zwischen den Glaubenden war, die schließlich zur Veränderung von Theologie und Kirchenrecht führte? Und selbst wenn es sich so verhielt, konnte dieser Prozess problemlos vonstattengehen oder riskierte man einen Bruch mit den institutionellen Strukturen? Wir werden im Folgenden die Situation in Frankreich nachzeichnen, um herauszufinden, wie sich der Rezeptionsverlauf im lutherisch-reformierten Dialog vor Ort gestaltete. An den Gesprächen, die schließlich in die Leuenberger Konkordie mündeten, beteiligten sich vier französische Kirchen. Auf reformierter Seite handelte es sich dabei um die Êglise Reform¦e de France (ERF), die zahlenmäßig größte protestantische Kirche reformierter Konfession in Innerfrankreich sowie die Êglise Reform¦e d’Alsace et de Lorraine (ERAL), die reformierte Kirche in der Region Alsace-Moselle. Die Lutheraner waren vertreten durch die Êglise de la Confession d’Augsbourg d’Alsace et de Lorraine (ECAAL) und die Êglise Êvang¦lique Luth¦rienne de France (EELF).13 12 Seitens des ÖRK geschah dies seit 1955 auf Initiative des Sekretariats von Glauben und Kirchenverfassung. Bereits damals griff man die kontroverstheologischen Themen auf, die im 16. Jahrhundert zwischen lutherischen und reformierten Kirchen zur Spaltung geführt hatten und formulierte einige Thesenreihen über Schrift, Christologie und Sakramentenlehre. Diese Thesen wurden dann wiederum zur Grundlage für weitere Konsultationen, an denen sich nun auch die konfessionellen Weltbünde stärker beteiligten. Dies führte zu den sogenannten Schauenburger Gesprächen von 1964 – 1967. In ihrem Abschlussbericht konstatierte man weitreichende theologische Übereinstimmungen und bemühte sich, diese in ein konstruktives Verhältnis zu der offiziell noch immer bestehenden Kirchentrennung zu setzen. Die Gespräche führten zu der Einsicht, dass die vorhandenen Unterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten innerhalb einer Gemeinsamkeit existierten, die die Beteiligten zu diesem Zeitpunkt und in dieser Qualität gegenüber anderen Konfessionen nicht empfanden. Vgl. Lienhard, Concorde, 173; ders., Einheit. 13 Da es in Frankreich aufgrund des laizistischen Systems keine staatlich geführte Statistik über die Religionszugehörigkeit gibt, beruhen die folgenden Zahlen auf den Angaben der Kirchen. EPUdF: 340 000 Mitglieder (davon: ERF: 300 000 Mitglieder ; EELF: 40 000 Mitglie-

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Diese mehrfache Unterscheidung der Kirchen, sowohl ihres konfessionellen als auch ihres regionalen Ursprungs nach, muss an dieser Stelle kurz erläutert werden. Neben den konfessionellen Unterschieden zwischen Lutheranern und Reformierten besteht in Frankreich bis heute eine regionale Trennung zwischen den Kirchen der Region Alsace-Moselle (sie umfasst die Departements HautRhin, Bas-Rhin und Moselle) einerseits und andererseits den Kirchen in Innerfrankreich. Diese Zersplitterung hat ihren Grund in der historischen Entwicklung Frankreichs. In ihrer Folge bildete jede der vier Kirchen eigene, regional begrenzte Verwaltungsstrukturen. Die geographische Trennung der Kirchen zwischen Ostfrankreich und dem Rest des Landes ist der deutschen Besatzung in den Jahren 1871 – 1918 geschuldet. Die heutigen drei Departements Haut-Rhin, Bas-Rhin und Moselle waren zu jener Zeit als Reichsland ElsaßLothringen dem Deutschen Reich angegliedert. Aufgrund dieser Zugehörigkeit wurde das Gesetz, welches seit 1905 das Verhältnis von Staat und Kirche in Frankreich neu regelte, in diesen Gebieten nicht eingeführt. In Innerfrankreich führte man das Prinzip der Laizität, d. h. die strikte Trennung von Staat und Kirche ein. In den drei Departements an der Grenze zu Deutschland blieb – auch nach dem Ende der Besatzung – das sogenannte Konkordatssystem in Kraft, welches auf die Gesetzgebung unter Napoleon zurückgeht.14 Für unsere Untersuchung der ökumenischen Rezeption ist es wichtig, festzuhalten, dass die lutherischen und reformierten Kirchen bereits vor der Unterzeichnung der Konkordie verbindliche ökumenische Beziehungen unterhielten. Theologisch waren diese zwar nicht sehr weitreichend, im Kontext der staatlich angeordneten Laizität aber recht bedeutsam. Die vier schlossen sich gemeinsam mit einigen anderen evangelischen Kirchen zur F¦d¦ration Protestante de France (FPF) zusammen und gründeten einen evangelischen Dachverband.15 der), UEPAL: 243 000 Mitglieder (davon EPCAAL: 210 000 Mitglieder, EPRAL: 33 000 Mitglieder). 14 Es gewährte den bedeutendsten lokalen Religionsgemeinschaften staatliche Anerkennung und finanzielle Unterstützung. In diesem kirchenrechtlichen System werden die Seelsorger vom Staat bezahlt, es gibt anders als in Restfrankreich christlichen Religionsunterricht an staatlichen Schulen und es existieren theologische Fakultäten an einer staatlichen Universität. Auch nachdem die Region zwischen den Weltkriegen bzw. nach 1945 wieder zu Frankreich gehörte, wurde das Konkordatssystem beibehalten. Es besteht bis heute und garantiert den Kirchen der UEPAL gewisse Vorteile gegenüber den Kirchen in Innerfrankreich, die der strikten Trennung von Staat und Kirche (Laizität) unterliegen. 15 Heute umfasst die FPF insgesamt 23 Kirchen, neben den reformierten und den lutherischen auch zahlreiche Gemeinschaften aus dem Spektrum der traditionellen Freikirchen, baptistische, pfingstlerische und adventistische Kirchen sowie einige Immigrationskirchen wie z. B. die Zigeunermission und die Union afrikanischer Kirchen in Frankreich. Darüber hinaus sind die meisten protestantischen Hilfswerke und Vereine eigenständige Mitglieder der FPF. Vgl. o. A., La F¦d¦ration Protestante de France.

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Ursprünglich handelte es sich bei der FPF um ein administratives und kein theologisch begründetes Bündnis. Die F¦d¦ration wurde 1905 gegründet und anfangs bestand ihre Hauptaufgabe darin, für die zerstreuten protestantischen Kirchen eine verbindliche Interessenvertretung gegenüber den staatlichen Behörden zu schaffen. Inzwischen hat sich das Aufgabenspektrum der FPF gegenüber ihrer Gründungszeit zusehends erweitert und das einst administrative Bündnis hat sich mehr und mehr zu einem Forum aller französischen Protestanten entwickelt.16 Einige ihrer Aufgaben in Diakonie und Öffentlichkeitsarbeit haben alle Mitgliedskirchen an die FPF übertragen, die diese Bereiche von Paris aus zentral koordiniert. Die FPF ist auch berechtigt, theologische Ausschüsse zu bestimmen und ihnen das Mandat für die Bearbeitung ökumenischer Fragen zu erteilen.17 Auch der Dialog zwischen Reformierten und Lutheranern wurde seitens der FPF seit ihrer Gründung immer wieder angeregt. Das erklärte Ziel dieser Initiativen war die größtmögliche Einheit aller Protestanten in Frankreich, deren größten Teil die Mitglieder der vier reformierten und lutherischen Kirchen ausmachen. Wir sehen an dieser Stelle deutlich, dass die ökumenische Zusammenarbeit von dem speziellen Staats-Kirchen-Verhältnis sowohl motiviert, als auch beeinträchtigt wird. Die extreme Minderheitssituation der französischen Protestanten (nur 2 % der französischen Bevölkerung geben an, evangelisch zu sein) spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Diasporasituation der Protestanten in Frankreich nährt das Bedürfnis, ein glaubwürdigeres, einheitlicheres Zeugnis gegenüber der katholischen Mehrheitskirche und der laizistischen Öffentlichkeit abzulegen. Das lutherisch-reformierte Gespräch der 1950er und 60er Jahre zeigt, dass das Bedürfnis nach einem gemeinsamen protestantischen Profil angesichts der geographischen und konfessionellen Zersplitterung auf nationaler Ebene die wohl stärkste ökumenische Motivation darstellt. Wie aber gestalteten sich die Gespräche zwischen Lutheranern und Reformierten in Frankreich im Einzelnen? Im Jahr 1952 nahm die »Theologische Kommission für Fragen der Kircheneinheit«, parallel zu den lutherisch-reformierten Dialogen in anderen Ländern Europas in Frankreich ihre Arbeit auf. Sie arbeitete sich an den klassischen kontroverstheologischen Fragen ab – allerdings ohne Konsequenzen für die 16 Wenn es um die Verteidigung der Religionsfreiheit ging, trat die FPF in den letzten Jahren sogar häufig als Fürsprecherin aller französischen Glaubensgemeinschaften auf und beschränkte ihre Interessenvertretung nicht nur auf die protestantischen Kirchen. So äußerte sie sich beispielsweise im sogenannten »Kopftuchstreit« im Sinne der freien Religionsausübung und verteidigte das Recht der islamischen Gemeinschaften in Frankreich. 17 In diesem Punkt kommt es häufig zu Überschneidungen mit regional bzw. international tätigen Gremien (z. B. dem ÖRK oder den konfessionellen Weltbünden), in denen einzelne Kirchen aktiv sind.

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Praxis zu ziehen. In den Kirchen erntete dieses Gespräch kaum Resonanz.18 Das relativ geringe Interesse der Kirchenmitglieder an solchen theologischen Gesprächen mag darauf zurückzuführen sein, dass der wohl strittigste Punkt in theologischer Hinsicht – das gemeinsame Verständnis des Abendmahls – sich in der Praxis paradoxerweise kaum je als Problem erwiesen hatte. Die Synode der Reformierten Kirche sprach die Einladung zum Abendmahl gegenüber den Lutheranern bereits im Jahr 1631 aus19 und sogar im lutherisch geprägten Elsass gab es die gegenseitige Zulassung zum Abendmahl, lange bevor die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts in der Leuenberger Konkordie offiziell überwunden wurden.20 Es wurde also auch ohne den theologischen Konsens bereits vielerorts unreflektiert Kirchengemeinschaft gelebt und auch gemeinsam Abendmahl gefeiert. Zwar gibt es einige wenige Äußerungen, die darauf hindeuten, dass es Kirchenmitglieder gab, die diese stillschweigende Interkommunion ablehnten.21 Faktisch hatten sich die konfessionellen Unterschiede jedoch abgeschliffen. Ende der 1960er Jahre wurde dieser Umstand an der kirchlichen Basis mehrheitlich nicht bedauert, sondern im Gegenteil begrüßt und durch gemeinsame Aktionen gefestigt. Gerade im Zuge der allgemeinen Institutionenkritik dieser Zeit wuchs in den Gemeinden das Gespür für die

18 Mehl, Suche. Ihre Mitglieder wandten sich dem Verständnis von Schrift, Amt und Abendmahl zu, wobei sich das gemeinsame Schriftverständnis bald als tragfähiger Grund der Einheit herausstellte. Man kam zu dem Ergebnis, dass – abgesehen von Abendmahl und Sakramentenlehre – eine weitgehende theologische Übereinstimmung zwischen Lutheranern und Reformierten bestand. Die theologischen Kontroversen wurden als methodische Probleme der Schriftauslegung angesehen. Der Grund der Kirchentrennung sei demzufolge in »philosophischen Elementen« zu suchen, die sich »in die Auslegung der Schrift und der Lehraussagen eingeschlichen« hätten. Das Gespräch konzentrierte sich stark auf die Wahrheitsfrage und ließ den lutherisch-reformierten Konflikt um das Verständnis der Einsetzungsworte beim Abendmahl wieder aufleben, wobei auch hier um das rechte Verhältnis von Schriftzeugnis und Interpretationswahrheit gestritten wurde, allerdings ohne durchschlagende Ergebnisse. Folglich konnte auch keine Übereinstimmung in der Frage erzielt werden, ob das gemeinsame Abendmahl als Instrument der Einheit angesehen werden könnte oder ob die Interkommunion erst nach Erreichen eines Lehrkonsenses möglich sei. Empfehlungen für die Praxis der Kirchen wurden ebenfalls nicht gegeben. Vgl. Süss, R¦flexions, 83 f. 1955 wurde der lutherisch-reformierte Dialog in der FPF fortgesetzt, parallel zu einer gleichzeitig vom Sekretariat für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK auf internationaler Ebene eingeleiteten Konsultation. Auch die Kirchen in Alsace-Moselle setzten 1956 eine regionale ökumenische Kommission ein, so dass der lutherisch-reformierte Dialog mit direkter oder indirekter französischer Beteiligung zur selben Zeit an drei Stellen offiziell geführt wurde. 19 Congar, Marburg, 52. 20 Lienhard, Gespräch, 325; Mehl, Suche, 62. 21 Lienhard, Gespräch, 325. »Die Kirchengemeinschaft als Abendmahlsgemeinschaft hat faktisch, auch ohne Lehrkonsensus, seit jeher bestanden, was natürlich für strenge Lutheraner eine ernste Frage bedeuten musste.«

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Diskrepanz zwischen der offiziellen Kirche und ihrer praktischen Gestalt auf Gemeindeebene.22 Die Stimme der Basis, die sich eine Modernisierung wünschte, wurde im Jahr 1960 deutlich vernehmbar. Zur der damals in Monbeliard stattfindenden Vollversammlung der FPF waren erstmals auch die Vertreter der zahlreichen protestantischen Werke und Vereinigungen eingeladen worden und man hatte ihnen Stimmrecht verliehen. Aufgrund ihres Einsatzes für alle französischen Protestanten, forderten die Vertreter der evangelischen Werke die Schaffung einer vereinigten protestantischen Kirche, die ihrem eigenen überkonfessionellen Dienst entsprechen sollte.23 Obwohl die Übereinstimmung im Leben der Kirchen kaum zu übersehen war, wurde über die Einheitsfrage nicht kurzfristig entschieden. Stattdessen entließ die Vollversammlung ihre Mitgliedskirchen mit dem Auftrag, den Wunsch nach der »deutlicheren Bekundung der fundamentalen Einheit des französischen Protestantismus« durch die Vertiefung der bestehenden Kontakte zu unterstützen.24 Als langfristige Konsequenz der Forderungen von Montb¦liard wurde zwei Jahre später eine theologische Kommission eingesetzt, die den Auftrag erhielt »in der Lehre die Interkommunion und Interzelebration zu bestätigen, die in der Praxis unserer Kirchen existieren.«25 Es bestand ein entscheidender Unterschied zwischen dieser Initiative der FPF und anderen lutherisch-reformierten Gesprächen, die etwa zur selben Zeit vom ÖRK geführt wurden. Denn die Vollversammlung von Montb¦liard bat ihre Mitgliedskirchen um ökumenische Anstrengungen, die zur Schaffung einer Evangelischen Kirche Frankreichs führen sollten. Indem man eine nationale 22 Mehl, Suche, 72. Der Autor berichtet von einer lutherisch-reformierten Versammlung im Jahr 1957: »Andere unterstrichen, wie konventionell die Unterscheidung zwischen Lutheranern und Reformierten in bestimmten Gebieten Frankreichs geworden sei, besonders in der Umgebung von Paris, wo die Gemeinden nach 1870 durch ein rein konventionelles Abkommen zwischen den beiden Konfessionen aufgeteilt wurden, so dass man allein durch die Tatsache seines Wohnungswechsels auch seine Konfession wechselt! Erfahrungen aus Evangelisationen, die von reformierten und lutherischen Gemeinden im Gebiet von Paris gemeinsam unternommen wurden, haben einen starken und unvergesslichen Eindruck hinterlassen. Schließlich näherte sich die Versammlung der Auffassung, es bestehe zur gegenwärtigen Stunde ein fatales Auseinanderklaffen zwischen der offiziellen und der wirklichen Kirche.« 23 Boury, Montb¦liard, 70. 24 Lods, Introduction, 222. »Angesichts der Aufgaben von Zeugnis und Dienst zu denen der Herr die protestantischen Kirchen in Frankreich heute beruft, kommt die Vollversammlung zu der Einsicht, dass diese Aufgaben nach einer deutlicheren Bekundung der fundamentalen Einheit des französischen Protestantismus verlangen. In der Erwartung der Gläubigen sieht sie ein Zeichen für diesen Anspruch […]. Sie bittet die Kirchen, auf den Willen des Herrn zu antworten, unverdrossen nach Kontakten zu suchen und diese innerhalb und außerhalb der FPF zu vermehren, damit sie durch ihre Verschiedenheiten bereichert auf dem Weg zur Einheit voranschreiten.« 25 Lienhard, Kirchengemeinschaft, 18.

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Kirche als strukturelle organische Einheit anstrebte, setzte man sich ein ehrgeizigeres Ziel als die anderen Dialoge und machte die gesellschaftlichen Erfordernisse nun auch offiziell zu dem entscheidenden ökumenischen Kriterium, das man von der theologischen Begründung freilich nicht getrennt sehen wollte. Gemessen an der realen Situation der protestantischen Kirchen und ihrer theologischen und geographischen Zerstreuung wurde mit der Idee der strukturellen Vereinigung eine Maximalforderung aufgestellt, die jedoch durchaus die Stimmung der versammelten Laien ausdrückte und auch theologisch einen Nerv traf. Der versierte Ökumeniker und damalige Präsident der FPF Marc Boegner äußerte sich zwar zurückhaltend, aber dennoch deutlich positiv zu dem Einheitsprojekt: Das Bewusstsein einer sich vertiefenden, von Christus geschenkten Einheit wird zu einer Quelle der Freude und der Hoffnung. Sollte es denn lehrmäßig und spirituell unmöglich sein, dass all dies […] zu einem ähnlichen Resultat wie beispielsweise dem in Südindien führen könnte, was für alle christlichen Kirchen ein beeindruckendes Ereignis war? Ich persönlich muss sagen, dass ich das nicht glaube.26

Die Initiative wurde im Wesentlichen von Vertretern der evangelischen Hilfswerke und Vereinigungen und damit von den »progressiven«27 Kräften der FPF eingebracht, deren radikale politische Stellungnahmen in den 1960er und 70er Jahren noch zu einigen Zerreisproben innerhalb des französischen Protestantismus führen sollten.28 Das daraus hervorgehende ökumenische Programm stellte Zeugnis und Dienst der Kirchen in der säkularen Umwelt in den Mittelpunkt. Zieht man das Stimmungsbild jener Zeit heran, so scheint dieser Ansatz in den Kirchen durchaus konsensfähig gewesen zu sein. Es entsprach dem Selbstverständnis der meisten französischen Protestanten, sich über ihre Sonderstellung im laizistischen System mindestens ebenso sehr oder sogar mehr zu definieren als über ihre konfessionelle Tradition: In Frankreich sind alle reformatorischen Kirchen – Kraft ihrer Berufung – verbunden durch die Konfrontation mit der säkularisierten Welt. Im Blick darauf ist ein Austausch über ihre Standpunkte und Erfahrungen nötig.29

Man beschäftigte sich im Zuge der Einheitssuche intensiv mit der Frage, worin genau die Botschaft der Kirchen an ihre säkulare Umwelt in dieser historischen Situation bestünde und stellte sich vor, dass gerade die Einheitssuche der 26 Appel, Sens et dimension, 231. 27 Bizeul, Gemeinschaften, 117 ff. Der Autor nennt unter den protestantischen Werken besonders das Flüchtlingshilfswerk CIMADE, die Missionswerke Mission Populaire Êvang¦lique de France, Commission g¦n¦rale d’Êvang¦lisation de l’ERF sowie den Studentenbund Association des ¦tudiants protestants de Paris. 28 Baub¦rot, Le pouvoir de contester. 29 Appel, Sens et dimension, 234.

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französischen Protestanten einen wesentlichen Teil dieser Botschaft darstellen würde. Im Sinne der äußeren aber auch der inneren Glaubwürdigkeit der christlichen Gemeinschaften, v. a. gegenüber der Jugend, wurde ein rasches Vorgehen angemahnt.30 Konflikte in der Lehre und gegenseitige Verwerfungen in dieser Situation zu sehr zu exponieren, erschien dem gesteckten Ziel der Einheit nicht förderlich zu sein: Diese neue Weise, den lutherisch-reformierten Dialog über die Einheit zu führen, gibt noch keine Sicherheit, dass wir die gegenwärtigen Widersprüche überwinden. Die Hoffnung der Vollversammlung von Montb¦liard wird dennoch nicht enttäuscht werden, aber es geht selbstverständlich nicht darum, irgendeinen ekklesialen Stolz zu befriedigen. Es geht darum, unserer Berufung in der Welt auf eine umfassendere Weise gerecht zu werden. Vielleicht wäre es nützlich, uns vor Augen zu führen, welches Verständnis die ersten christlichen Kirchen von ihrer Universalität hatten. Ihre Einheit drückte sich nicht in der Uniformität der Lehre aus, sondern in der Überzeugung, dass jede Gemeinde gegenüber einer ungläubigen Welt das Volk Gottes und die Kirche Gottes repräsentierte.31

Die eigene Glaubwürdigkeit als Kirche Jesu Christi spielte neben der Antwort auf die gemeinsame Berufung also eine entscheidende Rolle. Es überrascht auch nicht, dass sich in diesem Zusammenhang spontan eine theologische Arbeitsgruppe bildete, mit dem Ziel ein modernes Glaubensbekenntnis – zugeschnitten auf die neuen sprachlichen und geistlichen Bedürfnisse der Zeit – zu verfassen. Die Art und Weise des Einigungsprojekts erntete freilich nicht überall nur Zustimmung. Vor allem einige Vertreter aus den beiden lutherischen Kirchen kritisierten vehement den Versuch, die Notwendigkeit zur Einheit der Kirchen aus der aktuellen gesellschaftlichen Situation abzuleiten. Man argumentierte, dass die praktische Erfahrung der Gemeinschaft, z. B. im gemeinsamen Abendmahl, nicht ausreiche. Als Voraussetzung einer sichtbaren Einheit müsse die fundamentale Einheit in einem Lehrkonsens erarbeitet, begründet und erklärt werden. Ein Lutheraner, der auf die fundamentale Einheit der Kirche angesprochen wird, denkt sofort und notwendigerweise an etwas wirklich Fundamentales in der Kirche, z. B. Christus selbst und die Kirche, die an ihn gebunden ist. Wenn aber im Votum von 30 Süss, R¦flexions, 80. Der Autor zitiert eine Stellungnahme aus der reformierten Tageszeitung R¦forme: »Das Leid, das gegenwärtig durch die Trennung erzeugt wird, ist so groß, dass man alles Mögliche befürchten muss. Ich bin überzeugt […], dass die Ursache, weshalb Zeugnis und Dienst der Kirche in Frankreich derzeit blockiert sind, in ihrer Trennung besteht. […] Wer kennt schon den Ärger und die Rebellion vieler unserer Jugendlicher : Nachdem sie in unseren Jugendorganisationen – diesen wunderbaren ökumenischen Gemeinschaften – aufgewachsen sind, nehmen sie die Komplikationen, die Spitzfindigkeiten, die Verschwendung, die Verwirrung und auch die Konkurrenz, die aus unseren Trennungen resultieren, nicht hin.« 31 Appel, Sens et dimension, 235.

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Montb¦liard dieser Terminus benutzt wird, so soll damit auf empirische Fakten angespielt werden wie die Einheit im Geiste, der während der Sitzungen der Vollversammlung herrschte oder die Tatsache der Interkommunion und der gemeinsamen Dienste in den Missionsgesellschaften und in der Seelsorge. Das alles sind äußerliche Einheitsbekundungen und ein Lutheraner muss enttäuscht feststellen, dass hier nichts von dem angesprochen wurde, was wirklich fundamental ist. Denn für das lutherische Denken ist es selbstverständlich, dass jedes Wachsen in der äußeren Einheit der Kirche nur durch die Besinnung auf die fundamentale Einheit geschieht.32

Wie die Struktur der zukünftigen Einheitskirche aussehen und welchen Bekenntnisstand sie haben würde, war in Montb¦liard nicht geklärt worden. Die Societ¦ Êvang¦lique Luth¦rienne – die lutherische Gesellschaft für innere und äußere Mission – warnte in ihrer Stellungnahme zu dem Einheitsprojekt ausdrücklich vor einer Bekenntnisunion der Kirchen und vor dem damit verbundenen drohenden Verlust der lutherischen Identität. Demgegenüber betonte sie die spirituelle Zugehörigkeit zur lutherischen Weltgemeinschaft und mahnte an, dass diese durch eine Verwischung des Bekenntnisstandes gefährdet sei. Auch hier wurde also im Sinne der Glaubwürdigkeit argumentiert. Allerdings ging es der lutherischen Seite dabei um die Glaubwürdigkeit vor der Weltgemeinschaft der Kirchen – auch vor der römisch-katholischen Kirche.33 Gerade mit letzterer sei ein Dialog nur auf der Grundlage verlässlicher theologischer Lehraussagen zu führen.34 Mit einem nationalen Alleingang in Sachen lutherisch-reformierter Dialog aber, so die Argumentation, würden die französischen Protestanten sich konfessionell diskreditieren. Diesem Anschein wollten die Lutheraner auf jeden Fall widersprechen. Ungeachtet der schon praktizierten Interkommunion plädierten einige deshalb nun wieder vehement für das lutherische Verständnis des Abendmahls und für dessen Unaufgebbarkeit. Die in anderen Ländern bereits erreichten Übereinkünfte – besonders die Arnoldshainer Abendmahlsthesen aus Deutschland – ernteten von einigen französischen Lutheranern heftige Kritik, da sie scheinbar aus Opportunismus einen Konsens herstellten, ohne eine überzeugende Neuauslegung oder Richtigstellung der einen oder anderen konfessionellen Interpretation zu liefern. Die Autoren der Arnoldshainer Thesen haben einen Weg eingeschlagen, dem man unserer Meinung nach nicht folgen sollte. Sie haben viele wertvolle Dinge gesagt, aber es ist ihnen nicht gelungen, eine überzeugende Interpretation der Einsetzungsworte des Abendmahls zu geben. […] Solange dieser Beweis nicht erbracht ist, in wessen Namen sollte man von einem Lutheraner verlangen, dass er die traditionelle Form seiner Kirche aufgibt, um dafür eine neue anzunehmen. Die zentrale Festung der lutherischen Kirche ist ihre Auslegung der Einsetzungsworte, wenn diese Festung 32 Süss, R¦flexions, 82. 33 Ebd., 79. 34 Societ¦ Êvang¦lique Luth¦rienne, Allons-nous, 152.

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einmal genommen ist, dann kann sich die lutherische Kirche nur noch ergeben. Doch solange sie noch intakt ist und sich die Lutheraner auf ihre »wortwörtliche« Auslegung der Einsetzungsworte berufen können, können alle aufrichtigen und intelligenten Christen sie nur in dieser Meinung und dieser Position bestärken.35

Der strittigste Punkt, in dem gleichsam alle Argumente zusammenliefen, bestand in der Bewertung des historischen Wandels, den die Kirchen in ihren Beziehungen untereinander vollzogen hatten. Es war unbestreitbar, dass man sich im Lauf der letzten Jahrhunderte aufeinander zu bewegt hatte und dass die Glaubenden das Verbindende stärker empfanden und wertschätzten als das Trennende. Der Erfolg des Einheitsprojekts, so zeigte sich bald, hing entscheidend davon ab, wie man das Verhältnis von konfessioneller Tradition und historischem Wandel einschätzte. Ob man es als einen Verlust an konfessionellem Profil beklagte oder als Zugewinn an christlicher Brüderlichkeit begrüßen konnte. Selbst von den Vertretern der lutherischen Kirchen wurde diese Frage unterschiedlich beantwortet. Tatsächlich gab es auch auf lutherischer Seite moderierende Stimmen, die nicht nur vor einer Ignoranz gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung warnten und vor einer Missachtung der Bedürfnisse der Glaubenden, sondern auch vor einer antiökumenischen Rekonfessionalisierung: Die Notwendigkeit einer Einheit in der Lehre darf auf keinen Fall geopfert werden. Gegenüber dem römischen Katholizismus und dem vielerorts aufkeimendem Synkretismus besteht unsere Berufung darin, die Wahrheit zu bezeugen. Aber da, wo sie uns nur als Bollwerk dient, um eine Position der Vorsicht und des Partikularismus zu verteidigen, ist es gut, wenn sie von der Ungeduld unserer Laien in Frage gestellt wird. Denn sie erleben jene Spannung sehr viel stärker, die aus dem Wunsch entsteht, ihren Glauben in einer Welt zu leben, die ihren Gott verworfen hat. Die Reinheit der Lehre führt zu nichts, wenn sie zu einem Skandal wird und unser Eifer gegenüber den NichtGläubigen führt zu nichts, wenn wir deshalb Kompromisse eingehen müssen.36

Doch während in Montb¦liard noch die Mehrheit der Mitglieder der FPF dafür gestimmt hatte, die Zeichen der Zeit ernst zu nehmen und ihnen durch ein verändertes Bekenntnis zu entsprechen, gewannen später wieder jene die Oberhand, die meinten, die kirchliche Tradition nicht dem Zeitgeist opfern zu dürfen. Dem Argument Ricœurs, die Kirchenleitung solle den ökumenischen Prozess unter den Glaubenden anerkennen und die institutionelle Struktur anpassen, wurde dabei ausdrücklich widersprochen: Wir weigern uns folgende Argumentation anzunehmen: Die Einheit des Protestantismus ist Wirklichkeit geworden, deshalb bleibt uns nur, das Begonnene zu vollenden. […] Es widerspricht dem Geist der Reform, das Recht durch Fakten zu beweisen. Die 35 Süss, R¦flexions, 78. 36 Appel, Sens et dimension, 238.

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Treue gegenüber der Reform, die wir als grundlegende Haltung von der zukünftigen vereinigten evangelischen Kirche erwarten und einfordern, legt uns die umgekehrte Regel auf: Man muss die Fakten durch das Recht rechtfertigen oder, falls das unmöglich sein sollte, sie im Sinne des Rechts verändern. Da die Einheit tatsächlich durch eine Reihe wichtiger Fakten realisiert worden ist, ist es demzufolge höchste Zeit, das Versäumte nachzuholen und die Frage der Einheit in der Lehre wieder aufzunehmen.37

Immerhin zeigt der Verlauf der Diskussion, soweit wir sie hier skizziert haben, dass man sogar auf lutherischer Seite damit begann, die Möglichkeit der eigenen Lehrentwicklung einzuräumen. Doch an einem Lehrkonsens, der die bereits vollzogene Einheit rechtfertigte, schien kein Weg vorbeizuführen wollte man die theologische Integrität der eigenen Kirche bewahren. Schließlich konnten sich die Lutheraner mit dem Anliegen, dem historischen Wandel auch ein lehrmäßiges Fundament zu geben, durchsetzen. Die FPF setzte eine Kommission ein, die in den Jahren 1962 – 1968 drei Thesenreihen zu den Themen Schrift, Abendmahl und Taufe erarbeitete. Sie wurden als Thesen von Lyon (benannt nach dem Versammlungsort der Dialogkommission) bekannt.38 Es handelte sich um Konsensthesen, die dem ursprünglichen Auftrag der Dialogkommission »in der Lehre die Interkommunion und Interzelebration zu bestätigen, die in der Praxis unserer Kirchen existieren« dadurch nachkommen, dass sie die gemeinsamen Überzeugungen von Lutheranern und Reformierten in bekenntnishafter Form aussagen. Die Thesen geben das gemeinsame Abendmahlsverständnis wieder und sie bedienen sich dazu einer verständlichen und wenig akademischen Sprache. Sie wiederholen nicht die kontroversen historischen Positionen, liefern keine konfessionelle Gegenüberstellung, sondern drücken aus, was gemeinsam geglaubt wird. Nach einem einige Jahre währenden Konsultationsverfahren wurden die Texte von den Synoden und Konsistorien aller vier Kirchen angenommen. Der theologische Konsens in der Lehre war damit erreicht worden. Die Thesen lieferten das, was die stärksten Gegner des Projekts der vereinigten protestantischen Kirche gefordert hatten, indem sie eine theologische Rechtfertigung der gewachsenen ökumenischen Praxis vorlegten und damit belegten, dass die gelebte interkonfessionelle Einheit nun nicht mehr im Widerspruch zur Lehre der Kirchen stand. Damit hatte man einen beachtlichen ökumenischen Fortschritt erzielt. Die gemeinsame theologische Grundlage war nun nicht mehr zu bestreiten und ihr angebliches Fehlen konnte gegen eine strukturelle Einigung nicht mehr ins Feld geführt werden. Tatsächliche strukturelle Veränderungen hatte man damit al37 Süss, R¦flexions, 83. 38 Im Volltext zu finden bei Birmel¦, Accords. In deutscher Übersetzung bei Geyer, Lienhard, Auf dem Weg II, 153 ff.

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lerdings noch nicht vollzogen, ja noch nicht einmal angedacht. So verwundert es nicht, dass die Thesen von Lyon die Anhänger des Projekts einer vereinigten Kirche nicht überzeugten und insgesamt an der Basis nur wenig Resonanz fanden. Andere politische und gesellschaftliche Entwicklungen beschäftigten die französische Öffentlichkeit Ende der 1960er Jahre weitaus mehr, besonders natürlich die Proteste von Gewerkschaften und Studierenden im Mai 1968 sowie deren Auswirkungen. Das allgemeine Aufbegehren gegenüber den etablierten Institutionen ging auch an den Kirchen nicht spurlos vorbei. Erinnern wir uns nur an jenes gemeinsame Abendmahl zwischen Katholiken und Protestanten zu Pfingsten 1968, an dem auch Paul Ricœur als einer der Initiatoren teilnahm. Dieser »Akt der Übertretung« (transgression), der sich damals im gemeinsamen Abendmahl von Katholiken und Protestanten vollzog, entsprach einem weitreichenden ökumenischen Willen vieler protestantischer Glaubender, die begrüßten, dass endlich umgesetzt wurde, was man seit langer Zeit herbeisehnte.39 Der Vorgang wurde in der Öffentlichkeit entsprechend lanciert, von den katholischen Autoritäten bedauert und von der reformierten Presse mit wohlwollendem Interesse verfolgt. Demgegenüber stellte die innerprotestantische Übereinstimmung in der Abendmahlsehre, die in der Praxis bereits gelebt worden war und die ohne institutionelle Konsequenzen blieb, ein vergleichsweise bescheidenes Ereignis dar.40 Trotz des schwindenden Elans wurde das Projekt der Kircheneinheit nicht völlig fallengelassen. Nach 1966 realisierte man einen beachtlichen institutionellen Zusammenschluss – wenn auch von geringerem Umfang als dem einer Kirchenunion. Die vier historischen reformatorischen Kirchen (EELF, ERF, ECAAL, ERAL), die weiterhin an einer strukturellen Einheit interessiert waren, 39 Richard-Molard, Ökumene, 64. 40 Ebenso zurückhaltende Reaktionen erfuhr der Entwurf des modernen Glaubensbekenntnisses, das ebenfalls im Nachgang der Versammlung von Montb¦liard erarbeitet worden war. Anders als die »Thesen von Lyon« sollte dieser Text den Erwartungen der Vollversammlung voll entsprechen und den Glauben der in der FPF vereinigten Kirchen in zeitgemäßer Form ausdrücken. Doch der Text vermochte nicht zu überzeugen. Man kritisierte sein mangelndes Identifikationspotential, seine zu geringe innovatorische Kraft und hielt ihn für nicht dezidiert und nicht einprägsam genug, um eine Wirkung in der nichtgläubigen Umwelt zu erzielen. Projektbeschreibung und Text in: Chapal, Le rúle, 18. Vgl. o. A., Table ronde, 23 ff. »Wir waren froh, dass wir keine Häresien verurteilen, sondern uns positiv an die Menschen wenden konnten, um ihnen den Weg der Befreiung aufzuzeigen. Indem wir Jesus vom biblischen Thema des Dieners aus bekannten, konnten wir die Fülle, die sich in ihm offenbart ausdrücken, ohne nach Formulierungen zu suchen, die die Rechtgläubigkeit des Einzelnen kontrollieren.« Allerdings schien das neue Glaubensbekenntnis, das die Einheit der Kirchen fördern sollte, die Unsicherheit über die eigene Botschaft noch zu vermehren. Eine Stimme aus der Aussprache über den Textentwurf: »Können wir in der aktuellen theologischen Spannung der Welt gemeinsam etwas sagen? Wenn nicht, sollten wir dann nicht besser schweigen oder wenigstens keine Aussagen machen, sondern Fragen stellen. Etwa: ›Wer ist Gott? Wer ist Jesus Christus? Wie lesen wir die Bibel heute? etc.«

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schlossen sich zu einer Arbeitsgemeinschaft, den sogenannten »Quatre Bureaux« (»Vier Büros«), zusammen. Ihr Sinn bestand in der Zusammenlegung jener Bereiche, in denen man organisatorisch und theologisch effektiver zusammenarbeiten konnte. Die »Quatre Bureaux« wurden u. a. damit beauftragt, eine Skizze für die mögliche Struktur einer vereinigten Kirche vorzulegen, die nach einjähriger Arbeit den Kirchen zur Prüfung vorgelegt wurde. Aber auch sie konnte sich letzten Endes nicht durchsetzen.41 In der Meinung der Mitglieder der »Quatre Bureaux« bedeutete das Scheitern all dieser Einheitsbemühungen zwar nicht das Ende der Zusammenarbeit, aber doch die Absage an eine bestimmte Einheitsvorstellung. Man konzentrierte sich von da an auf eine Kooperation in den Bereichen der Pastorenweiterbildung, der internationalen ökumenischen Kontakte, der Liturgie, der Katechese etc. All das war auch ohne einen institutionellen Zusammenschluss möglich. Die »Quatre Bureaux« bildeten 1972 den »Conseil Permanent Luthero-R¦form¦« (CPLR, ständiger lutherisch-reformierter Rat, seit 2001, »Communion protestante luth¦ro-r¦form¦e«).42 Dieser entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem Organ der kontinuierlichen Zusammenarbeit und die dort gemeinsam getroffenen Entscheidungen besaßen eine Verbindlichkeit, welche die in der FPF getroffenen Beschlüsse an Tragweite bei Weitem übertraf. Trotz des gescheiterten Versuchs, eine organische Einheit mit allen Vereinigungen und Werken der FPF zu bilden, war die intensive ökumenische Vorarbeit, die zu den Thesen von Lyon geführt hatte, nicht umsonst gewesen. Zumindest war die Grundlage ihrer Zusammenarbeit für die vier Kirchen zu Beginn der 1970er Jahre klar. Trotz des Scheiterns der größtmöglichen ökumenischen Einheit aller französischen Protestanten ebneten die Thesen von Lyon den Weg zu einer neuen Qualität der Gemeinschaft. Man begann zu erkennen, dass die Kirchengemeinschaft aufgrund der Einheit in den entscheidenden theologischen Fragen auch ohne eine strukturelle Zusammenlegung für immer bestand und dass man sie sichtbar praktizieren konnte: Die reformierten und lutherischen Kirchen Frankreichs müssen erkennen, dass die Annahme der drei Thesen (Das Wort Gottes und Heilige Schrift, Das Herrenmahl, Die Taufe im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes) eine Übereinstimmung in der Lehre zeigt und so eine sichtbare Form der Einheit unter ihnen ermöglicht. Dank dieser Übereinstimmung können sie in ökumenischen Gesprächen unter Reformierten und Lutheranern bezeugen, dass die Kirchen Frankreichs volle Gemeinschaft in Predigt und Sakramenten haben.43

41 Die beiden reformierten Kirchen äußerten sich positiv, von den Lutheranern in der ECAAL und der EELF wurde der Vorschlag abgelehnt. Vgl. Gassmann, Fiasko. 42 Jürgensen, Conseil. 43 Bruston, Dossier, 6.

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Beispiele aus der Praxis der ökumenischen Rezeption

Die Gemeinschaft in Predigt und Sakrament, die hier als Kriterium der Einheit von Reformierten und Lutheranern benannt wird, ist als hermeneutisches Instrument der Feststellung von Kirchengemeinschaft auch in die komplexe Struktur der Leuenberger Konkordie eingeflossen. An dieser Stelle wird nachvollziehbar, wie entscheidend die Ergebnisse der einzelnen nationalen Dialoge gerade in hermeneutischer Hinsicht für die Erarbeitung des lutherisch-reformierten Konsenses auf europäischer Ebene gewesen sind. Eine weitere Entwicklung ist ökumenisch bedeutsam: Gegenüber den zehn Jahre zurück liegenden Einheitsbemühungen hatte man Anfang der 1970er Jahre einen deutlichen ökumenisch-hermeneutischen Fortschritt erzielt, der in den theologischen Äußerungen dieser Zeit nachvollziehbar wird. Man begann damit, den eigenen internen Pluralismus positiv einzuschätzen und es deutete sich eine Lösung für das Problem des historischen Wandels in der theologischen Lehre an. Marc Lienhard, ein lutherischer Theologe, der an den Thesen von Lyon mitgearbeitet hatte und später einer der Redakteure der Konkordie war, erklärte diesen Schritt auf der Versammlung der »Quatre Bureaux« im Jahr 1970: Es besteht ein qualitativer Unterschied zwischen dem Objekt des Glaubens und seinem sprachlichen Ausdruck. Deshalb muss derselbe und einzige Herr Jesus Christus sich notwendigerweise in einer Vielfalt von Zeichen und Konzepten ausdrücken. […] Aber gleichzeitig muss in dieser Verschiedenheit eine gemeinsame Vision aufscheinen, die Vision desselben Herrn und desselben Evangeliums. Die fundamentale Einheit des christlichen Denkens muss sich in einer Sprache der Einheit ausdrücken, um keine Abstraktion zu werden. […] Der Pluralismus ist eine Tatsache. […] Aber den Pluralismus als solchen zu befürworten kann auch Rückzug oder Faulheit bedeuten. Der Verzicht darauf, die Wahrnehmung desselben Objekts des Glaubens in eine gemeinsame Sprache zu übersetzen (unsere, nicht nur die der Lehre), bedeutet, den Streit der Erfahrungen individueller Glaubensweisen zuzulassen, ohne danach zu suchen, wo der gemeinsame Referenzpunkt, d. h. Jesus Christus darin sichtbar wird. […] So ist ›Pluralismus‹ die Übersetzung dafür, was wir in der Theologie die Katholizität der Kirche oder des Evangeliums nennen, d. h. der Ausdruck des Evangeliums in den verschiedensten Zivilisationen. […] Die Kirchen und Gemeinschaften, die der Welt gegenüber ihre »Einheit im Herrn« bekunden wollen, sind zu einem Prozess der Verifikation und der Authentifikation aufgerufen. Ist es dasselbe Evangelium, das wir verkündigen? […] Die Thesen von Lyon sollten diese Verifikation versuchen und zeigen, dass die einen wie die anderen dasselbe Verständnis davon haben, wie Christus seine Kirche baut. […] Die Thesen von Lyon sollen keine neue Orthodoxie errichten und sie sind aus vielen Gründen auch kein Glaubensbekenntnis. Aber wenn es stimmt, dass es um eine Einheit auf der Basis des Evangeliums geht und nicht um irgendeine soziologische Gemeinschaft, dann sind sie eine unverzichtbare Etappe in der Verifikation der Einheit. Nur so sind die Sorgen der Lutheraner zu verstehen, die diese Untersuchung und seine Ergebnisse nicht auf die leichte Schulter nehmen. […] Die Verifikation der Einheit ist kein mechanischer Vergleich der Lehre oder der Praxis, sondern der Versuch die Vision

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dahinter zu erkennen, und zu sehen, ob es sich um denselben Christus, Herrn und Retter handelt oder nicht. Die Verifikation der Einheit ist also ein hermeneutischer Prozess.44

Man begann zu verstehen, dass es 1.) einen Unterschied gibt zwischen dem Grund des Glaubens und seinen unterschiedlichen konfessionellen Grammatiken, d. h. seinen historisch geformten, sprachlichen Ausdrücken und dass 2.) die theologische Lehre selbst ein historisch bedingtes und deshalb notwendigerweise unabgeschlossenes Geschehen darstellt, welches Selbstkritik, Veränderung und Innovation impliziert. Zwar war die institutionelle Einheit noch immer nicht greifbar, dennoch war der Unterschied zu der zehn Jahre zurückliegenden Argumentation einiger Lutheraner enorm. Damals hatte man im Zuge einer Veränderung der Lehre den Verlust der konfessionellen Identität befürchtet und sich dagegen gesträubt, Tendenzen der ökumenischen Annäherung in den Gemeinden als evangeliumsgemäß anzuerkennen. Nun verfügte man mit den Thesen von Lyon über eine Lehrgrundlage, aufgrund derer man sicher sein konnte, dass in Fragen von Wort und Sakrament Übereinstimmung bestand. Zum anderen wurde die Tatsache, dass der Prozess der Schrift- und Bekenntnisinterpretation in den darüber hinausgehenden Fragen noch nicht abgeschlossen war, nicht mehr als Hindernis für das gemeinsame ökumenische Handeln angesehen. Indem man mit den Thesen von Lyon eine gemeinsame Lehrgrundlage formulierte, hatte man nicht nur den offensichtlichen Gemeinsamkeiten im praktischen Miteinander der Kirchen auf der Ebene der Lehre Rechnung getragen. Man hatte sich auch zu einer Beurteilung der Unterschiede und der noch zu überwindenden theologischen Kontroversen durchgerungen und zwar auf eine Weise, die tatsächlich ökumenisch weiterführend war. Der ökumenische Prozess erwies sich nun als ein hermeneutischer Prozess, dessen Anliegen die Verifikation der Gemeinsamkeit auf dem Weg des Austauschs unterschiedlicher Glaubensidiome war. In diesem Sinn konnte nun von einer »gemeinsamen Vision« die Rede sein, die zwar in unterschiedlichen Gestalten artikuliert wird, bei deren hermeneutischer Erschließung die Kirchen aber kooperieren. Die bleibende Interpretationsoffenheit stellte für dieses Projekt geradezu eine Voraussetzung dar. Die Anhänger der Idee einer nationalen protestantischen Kirche mag dieser immense Fortschritt auf dem Gebiet der ökumenischen Hermeneutik wohl nicht wirklich überzeugt haben, denn gewiss war die gesellschaftliche Außenwirkung einer institutionalisierten Einheitskirche mit einer nur theologisch behaupteten Einheit in der Lehre nicht vergleichbar. 44 Lienhard, Unit¦, 22 ff.

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Beispiele aus der Praxis der ökumenischen Rezeption

Als 1973 die Leuenberger Konkordie vorgelegt wurde, erhielt man gegenüber den Thesen von Lyon eine noch deutlichere Begründung der lutherisch-reformierten Übereinstimmung und eine weitreichendere Fixierung ihrer theologischen und kirchenrechtlichen Konsequenzen. Nun erstreckte sich der Konsens nicht mehr nur auf Frankreich, sondern auf die meisten evangelischen Kirchen in Europa und durch die angestrebte Lehrgesprächsarbeit erhielt der lutherischreformierte Dialog eine Perspektive, die über einen pragmatischen Minimalkonsens sichtbar hinausging. Dennoch wurde die Konkordie in Frankreich zunächst mit Zurückhaltung aufgenommen. Zwar konnte sie sich in den französischen Kirchenleitungen in den Jahren 1973/74 schnell durchsetzen.45 Schließlich waren die Mitglieder des Conseil Synodal der ERAL und des Direktoriums der lutherischen Kirche im Elsass bereits 1972 im Rahmen einer Konsultation mit Roger Mehl und Marc Lienhard mit dem Projekt und seinem Vorentwurf vertraut gemacht worden.46 Nachdem der Conseil g¦n¦ral der ERF im Februar 1974 der Konkordie zugestimmt hatte, schloss sich die ERAL ebenfalls an.47 Die Voten, die das Sekretariat von Glaube und Kirchenverfassung, das den juristischen Rezeptionsprozess verantwortete, von den französischen Kirchen erhielt waren zwar durchweg befürwortend, sie verwiesen aber dennoch auf die noch zu leistende Arbeit und schätzten den Konsens als nicht wirklich innovativ ein. Im Votum des lutherischen Konsistoriums im Elsass erklärte man: Das Resultat ist auf europäischer Ebene dem vergleichbar, was die französischen Kirchen mit der Annahme der Thesen von Lyon erreicht haben, durch die die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten offizialisiert wurde. […] [Das Konsistorium] schätzt, dass dieser Text nur ein Ausgangspunkt sein kann, denn selbst wenn ein Streit geregelt wurde, so bleiben doch noch Fragen, vor allem in den Bereichen Ekklesiologie und Amt. Eine solche ›Konkordie‹ hat nur dann Sinn, wenn sie jeder Kirche und allen gemeinsam erlaubt, ein besseres Zeugnis des Evangeliums Jesu Christi vor der Welt abzulegen.48 45 Zwischen den lutherisch-reformierten Dialogkommissionen und den französischen Kirchenleitungen bestanden seit dem Beginn der Gespräche persönliche Verbindungen, die den Weg für die Rezeption der Konkordie ebnen halfen. Bereits an den ersten Konsultationen 1955 unter Leitung des Sekretariats für Glaube und Kirchenverfassung waren die französischen Theologen Jean Bosc, Roger Mehl und Th¦obald Suss beteiligt. Andr¦ Dumas und Robert Wolff nahmen an den Schauenburger Gesprächen teil und Andr¦ Dumas, Guy Wagner, Alain Blancy und Marc Lienhard begleiteten schließlich auch die Leuenberger Gespräche von 1969 bis 1973. 46 Êglise R¦form¦e d’Alsace et de Lorraine, Actes du Synode de Huningue, 20 et 21 octobre 1973, Kap. 4.5.1. 47 Êglise R¦form¦e d’Alsace et de Lorraine, Actes du Synode du Liebfrauenberg, 11 et 12 mars 1974, Kap. 4.6.1. 48 Êglise de la Confession d’Augsbourg d’Alsace et de Lorraine, Consistoire Sup¦rieure, Session 1973, S¦ance du 16 juin 1973, S. 161.

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Und in der Stellungnahme der ERAL hieß es: [Der Conseil Synodal] meint, dass diese Übereinkunft nur eine Etappe auf dem Weg zur Einheit sein kann. Die Kirchen […] sollten es als eine ernste und anspruchsvolle Mahnung aufnehmen, ihre Zusammenarbeit unaufhörlich zu vertiefen und ihrem gemeinsamen Amt der Evangeliumsverkündigung heute und in Zukunft tatsächlich gemeinsam nachzukommen.49

Obwohl Marc Lienhard schrieb, dass die französischen Kirchen zur Leuenberger Konkordie »umso mehr stehen würden, weil diese ja nur zur Bestätigung der schon existierenden Situation beitrage«,50 kann bezweifelt werden, dass angesichts des gescheiterten Einheitsprojekts in Frankreich und der gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse der komplexen Hermeneutik der Konkordie von Seiten der Glaubenden viel Beifall entgegenschlug. In theologischer Hinsicht hatte man in getrennten Institutionen den Status einer ungetrennten Kirche erreicht. Doch das schien jene wenig zu beeindrucken, die – vor allem unter den Reformierten Frankreichs – die Einheit als gemeinsamen Dienst in der säkularen Welt verstanden und die faktisch bestehende Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft als ökumenische Errungenschaft der Basis längst als alltäglich betrachteten. »Was fehlt denn noch, um die Gemeinschaft im Glauben und im Gottesdienst zwischen unseren Kirchen zu unterstreichen oder zu erweitern?«, nahm der reformierte Theologe Alain Blancy die an der Basis vorherrschende Meinung in seinem Bericht über die Konkordie in der reformierten Wochenzeitung R¦forme auf.51 Angesichts der massiven Brüche zwischen konservativen und progressiven Kräften, die sich zu diesem Zeitpunkt aufgrund politischer Unstimmigkeiten nicht nur in den Kirchen, sondern quer durch die Gesellschaft hindurch auftaten, schien der theologisch errungene Lehrkonsens manchem geradezu aberwitzig: Brauchte es wirklich vier Jahrhunderte um sich darüber klar zu werden und die nötigen Anpassungen vorzunehmen? Ist die Überwindung dieses Konflikts heutzutage nicht von einem rein archäologischen Interesse, da sie zu spät kommt und scheinbar nur wenig zu tun hat mit den anderen brennenden Problemen, die sich aktuell den Kirchen 49 Êglise R¦form¦e d’Alsace et de Lorraine, Actes du Synode du Liebfrauenberg, 11 et 12 mars 1974, Kap. 4.6.2. 50 Lienhard, La communion, 256. »In Frankreich sollte die Konkordie uns nicht daran hindern, unseren eigenen Weg fortzusetzen. Gleichzeitig lädt sie uns auch dazu ein, andere Erfahrungen und Meinungen aus jenen Kirchen zu teilen, mit denen wir in Europa verbunden sind. Auch in der Kirche wird es immer wichtiger nicht nur im nationalen Rahmen eingeschlossen zu sein. Zweifellos sind wir heute gerade dabei, die Realität der lokalen Kirche wiederzuentdecken – die nicht unbedingt die der nationalen ist – doch gleichzeitig sollten wir für die Universalität der Kirche wachsam bleiben.« 51 Blancy, Un projet, 7.

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Beispiele aus der Praxis der ökumenischen Rezeption

und den Christen stellen und diese auseinander zu reißen drohen an ganz anderen Fronten als den alten konfessionellen Grenzen? Und selbst wenn die gegenwärtigen Konflikte formal nicht zu neuen Kirchenspaltungen führen, liegt dies nicht bloß daran, dass die Einheit der Kirche jegliche Glaubwürdigkeit verloren hat, weil sie so lange ignoriert oder verhindert worden ist und in diesem Bereich schon längst nicht mehr gekämpft wird, weil man ihn – zu Recht oder zu Unrecht – als kirchenintern und ohne Belang für die aktuelle Verantwortung der Christen in der Gesellschaft ansieht? Sollten wir also dem Paradox beiwohnen, dass in dem Moment, da ein Konsens in der Lehre eine konfessionelle Spaltung beendet, eine tatsächliche Spaltung sich jenseits des Lehrkonsenses auftut? Was hätte man denn damit gewonnen?52

Trotz dieses kritischen Urteils hinsichtlich der Relevanz der Konkordie schien auch etwas für diesen Text zu sprechen und das Anliegen, die Kirchen mögen sich nicht in theologischen Binnendiskursen verlieren, zu unterstützen. Gerade die Frustration auf Seiten der Reformierten über die wiederholt gescheiterten Versuche, die kirchliche Einheit in Frankreich im Gespräch mit den Lutheranern herzustellen, machte diese Kirchen empfänglich für die Idee, die wesentlichen Übereinstimmungen in der Lehre nun ein für alle Mal verbindlich zu fixieren, um sich dann umso freier und entschlossener der Aktualisierung dieser Lehre, d. h. dem Dienst in und an der Gesellschaft zuwenden zu können. In dieser Hinsicht konnte Marc Lienhards Vermutung, dass die Konkordie die Zustimmung der französischen Protestanten leicht erringen würde, durchaus zutreffen, allerdings nicht aufgrund der breiten Akzeptanz ihres theologischen Konsenses, sondern vielmehr wegen des pragmatischen Umgangs mit der eigenen Tradition. Es waren also nicht die konkreten theologischen Aussagen, sondern Elemente der hermeneutischen Methode von Leuenberg, die sich – zumindest in der Interpretation des Reformierten Alain Blancy – im konkreten Kontext als anschlussfähig herausstellten: Weit davon entfernt die Väter zu ignorieren oder gar ihre eigenen Verdammungen gegen sie zu verwenden und nur nicht-theologische Faktoren für die Spaltungen von früher verantwortlich zu machen – was darauf hinausliefe, diesen abwertenden Urteilen von früher unsere heutigen Ansichten und Verpflichtungen entgegenzuhalten – kommt es darauf an, das Zentrale und bleibend Wichtige in ihrem Ansinnen zu erfassen und es besser von dem zu unterscheiden, was notwendigerweise – und glücklicherweise – sein aktueller Ausdruck ist, damit wir es auf eine dynamische und befreiende Art in unsere Gegenwart übersetzen können. An diesem Bemühen wird sich die wirkliche Treue zu den Reformatoren messen lassen müssen.53

Fassen wir zusammen: Ricœurs Verständnis des ökumenischen Rezeptionsverlaufs bestätigt sich im Fall der Leuenberger Konkordie und ihrer Rezeption in 52 Ebd., 8. 53 Ebd.

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Frankreich durchaus. Wir haben zu Beginn dieses Kapitels die Konsensstruktur skizziert, auf der die Leuenberger Konkordie beruht. Diese Struktur ermöglicht zwar die gegenseitige institutionelle Anerkennung. Am Beginn dieser Veränderung im Verhältnis der Institutionen zueinander, welche die Unterzeichnung der Konkordie schlussendlich markiert, steht jedoch die veränderte Praxis in der Erfahrung der Glaubenden. Diese gemeinsame Praxis geht der ökumenischen Anerkennung auf institutioneller Ebene voraus. Weder die Thesen von Lyon noch die Leuenberger Konkordie wären ohne diese vorausgehende ökumenische Realität der informellen Anerkennung vor Ort möglich gewesen. Auf offizieller Ebene wurden die ökumenischen Erfahrungen miteinander erst im Nachhinein theologisch reflektiert und begründet. Daneben existieren auch Reibungspunkte zwischen Ricœurs Theorie und dem hier geschilderten ökumenischen Prozess. Der von Ricœur einst vorgeschlagene Bruch (»transgression«) mit den bestehenden Institutionen ist nicht ohne Weiteres zu vollziehen bzw. wird auch nicht von allen Akteuren in gleicher Weise herbeigesehnt. Die Diskussion um das Projekt der vereinigten evangelischen Kirche, insbesondere seine vehemente Abwehr von Seiten mancher lutherischer Theologen, zeigt das ganz deutlich. Obwohl man sich am Ende zu einer Befürwortung des Wandels in der eigenen Lehre durchringt, benötigt dieser Wandel wiederum eine starke Vergewisserung darüber, nicht auf Kosten fundamentaler Anteile der eigenen Tradition vollzogen worden zu sein. Von einem Bruch mit der Tradition kann also an dieser Stelle keinesfalls die Rede sein. Die Stärke der Leuenberger Konkordie besteht offenbar darin, beides zu leisten und sowohl den Wandel zu markieren, d. h. ihm eine narrative Gestalt zu geben, als auch den Bezug zur Tradition aufrechtzuerhalten. Was wir in der Entwicklung vom Projekt einer Kirchenunion hin zu den Thesen von Lyon und schließlich zur Leuenberger Konkordie als hermeneutischen Fortschritt bezeichnet haben, ist jedoch offensichtlich eine Hinwendung zu einem Rezeptionsbegriff von wechselseitigem Ausschluss hin zur gegenseitigen Anerkennung, wie auch Ricœur ihn dargelegt hat. Die Leuenberger Konkordie legt Zeugnis davon ab, dass ein Prozess der Besinnung über die eigene Bekenntnisbildung stattgefunden hat, der zu einer Anerkennung des Erkenntniswegs der anderen Gemeinschaft führte. So vereint die Konkordie in ihrem komplexen Gesamtaufbau verschiedene Etappen, die sich wie Entwicklungsschritte auf dem Weg zu einem Verständnis der Konfessionen untereinander lesen lassen. Mit der Unterscheidung zwischen dem Grund des Glaubens und seiner legitimerweise unterschiedlichen Gestalt in den Konfessionen werden die Unterschiede entdramatisiert und müssen nicht mehr zum Ausschluss und zur gegenseitigen Verdammung führen. Indem man diesen Unterschied auch auf die eigene Lehrtradition anwendet, wird es außerdem möglich historische Gestalten der Evangeliumsauslegung zu prüfen und die eigene Lehre einer Kritik zu un-

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terwerfen, die dennoch nicht zum Traditionsabbruch führt. Die entscheidende Konsequenz aus diesen Voraussetzungen zieht Lienhard, indem er die Idee des ökumenischen Dialogs als permanente Verifikation einer gemeinsamen christlichen Vision entfaltet. Hier hat sich das Verhältnis der beteiligten Konfessionen am deutlichsten vom theologischen Antagonismus hin zur Kooperation und zur Anerkennung gewandelt. Ohne dass sich ein direkter Einfluss von Ricœur an dieser Stelle nachweisen ließe, zeigen die hermeneutischen Überlegungen der französischen Protestanten an dieser Stelle eine ganz deutliche Verwandtschaft. Diese Nähe zeigt sich auch in späteren Beiträgen zur Verwirklichung, d. h. zur Rezeption der Konkordie, die seit den 1980er Jahren vor allem von dem französischen Ökumeniker Andr¦ Birmel¦ vorgelegt wurden. Seine Ausführungen machen deutlich, dass das Modell der Leuenberger Konkordie sehr wohl eines ist, das nicht die institutionelle Uniformisierung, sondern die Anerkennung von Alterität befördern will. Der entscheidende Akt der ökumenischen Rezeption ist die gegenseitige Anerkennung, die Annahme der anderen Kirche als anderer, aber legitimer und authentischer Ausdruck der einen Kirche Jesu Christi. Die Kirchen sind aufgerufen, die vorgeschlagene gegenseitige Anerkennung einer anderen Gemeinschaft und die daraus sich ergebende Kirchengemeinschaft zu »rezipieren«, eine gegenseitige Anerkennung, welche die erste Etappe auf dem Weg zu einem wahrhaft gemeinsamen Leben darstellt. […] Diese Vorgehensweise verlangt nach Kreativität und braucht ihre Zeit. Dabei geht es nicht um einen Kompromiss, sondern um wahre Versöhnung. Die gegenseitige Anerkennung im Anderssein öffnet den Weg für ein tatsächlich gemeinsames Leben, eine wahrhaftige Gemeinschaft legitim unterschiedlicher Kirchen an einem Ort. Eine solche Konzeption umfasst eine Reform »meiner« eigenen Tradition, eine Überprüfung oder gar Modifizierung »meiner« Überzeugungen sowie eine andere Einschätzung der »Wahrheit« einer anderen Tradition, die »meine« Kirche nicht mehr als häretisch einstuft, sondern nunmehr als legitimen Ausdruck der einen Kirche Jesu Christi versteht.54

Allerdings tut sich in der Frage dieses speziellen Rezeptionsverständnisses eine grundlegende Spannung auf, die auf den Charakter eines stark institutionalisierten Versöhnungsprozesses zurückzuführen ist, wie die Leuenberger Konkordie ihn darstellt. Anders als in der Theorie Ricœurs wird an dieser Stelle nämlich nicht unterschieden zwischen dem informellen Prozess der zwischenmenschlichen Versöhnung und ihrem Inkognito in Form der offiziellen Erklärung. Zwar unterscheidet die Konkordie selbst zwischen ihrer Erklärung und ihrer Verwirklichung. Es ist aber im Rahmen des skizzierten ekklesiologischen Verständnisses klar, dass die Kirchengemeinschaft bereits in dem Moment besteht, wo man sich als Zeugen derselben Evangeliumsbotschaft anerkennt und die zuvor begonnene Praxis der gegenseitigen Teilhabe an Wort und Sakrament 54 Birmel¦, Leuenberger Konkordie, 20 f.

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fortsetzt. Da es sich bei der Kirchengemeinschaft um eine von Gott geschenkte Qualität handelt, kann keine Form einer zwischenmenschlichen Verwirklichung die geleistete Anerkennung, geschweige denn die geistliche Realität überbieten.55 Nach einer solchen Erklärung noch eine Rezeption zu fordern und deren Gelingen an institutionelle Maßnahmen der Unterzeichnerkirchen zu binden, ist im Grunde paradox. Die Verfasser der Konkordie haben dies auch nicht getan, sondern im Gegenteil in einem eigenen Paragraphen darauf hingewiesen, dass auf der Grundlage dieser Konkordie keine Mitgliedskirche zu strukturellen Konsequenzen gezwungen werden darf, erst recht nicht, wenn sie sich in einer Minderheitssituation befindet (§ 45). Andererseits ließ man es dabei aber nicht bewenden, sondern wies in der Konkordie selbst im Detail auf mögliche Arbeitsfelder hin, in denen die Zusammenarbeit sich vertiefen sollte. Dies war wichtig, damit die Arbeit des »Post-Leuenberg-Prozesses« eine Orientierung bekam und man nicht die Situation herbeiführte, einen ökumenischen Konsens zu beschließen und gleichzeitig den status quo der gegenseitigen Nichtwahrnehmung unangetastet zu lassen.56 Doch ließ sich der für den Rezeptionsprozess gewünschte Wandel der Mentalitäten auf diese Weise effektiv einleiten? Noch einmal aus der Perspektive von Ricœurs Theorie betrachtet, steht man an dieser Stelle vor der Schwierigkeit, dass die Ebene des Inkognitos bei dieser Vorausnahme einer möglichen Rezeption (bzw. Verwirklichung) niemals verlassen wurde. Trotz der in diesem Abschnitt konstatierten Übereinstimmung mit Ricœur in der Frage des Rezeptionsverlaufs bleibt also zu klären, ob jenseits der theologischen Absichtserklärung im lutherisch-reformierten Dialog die Bereitschaft besteht, den Anderen nicht nur formal anzuerkennen, sondern sich selbst durch diesen Kontakt auch verändern zu lassen. Der folgende Abschnitt wird sich daher mit der Frage befassen, ob und wie sehr neben der Legitimierung der konfessionellen Unterschiede auch die Tendenz zum Identitätswandel im Projekt der Leuenberger Konkordie anzutreffen ist.

4.2.3 Identitätsverständnis Die Frage, ob im Projekt der Konkordie auch die Idee eines Identitätswandels angelegt ist, lässt sich auf mehreren Ebenen untersuchen. Zum einen kann der Text der Konkordie selbst untersucht werden. Wird darin ein Identitätswandel 55 Ebd., 19. 56 Andr¦ Birmel¦ hat für diese Situation den sehr treffenden Vergleich eines »Trauscheins ohne Ehe« gefunden. Vgl. ebd., 23.

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erklärt (1)? Zum anderen ist zu untersuchen, wie sich die Unterzeichnerkirchen zu dieser Frage positionieren. Hier kann nochmals differenziert werden zwischen dem internen Identitätsdiskurs der protestantischen Kirchen in Frankreich (2) und der Art, wie die Frage der Identität im gemeinsamen Diskurs aller Unterzeichnerkirchen, d. h. im Rahmen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) behandelt wird (3). (1) Zur Ebene des Textes: Obwohl die Konkordie zuerst als theologischer Lehrtext bzw. als kirchenrechtlich verbindliche Erklärung aufzufassen ist, enthält sie narrative Anteile, die in Anbetracht von Ricœurs Identitätskonzept sogleich eine Verbindung zum Identitätsdiskurs erahnen lassen. Mit Ricœur können wir behaupten, dass der Text der Konkordie eine Form der sprachlichen Aneignung von Sinn darstellt bzw. dass seine Rezeption eine solche induzieren soll. In der Konkordie werden die Konsequenzen der lange Zeit unkommentiert vollzogenen Annäherung zwischen reformatorischen Kirchen gezogen und sprachlich formuliert. Jedem konfessionell vorgeprägten Leser wird in dieser Hinsicht ein Sinnangebot gemacht. In § 17 der Konkordie wird erinnert: »Die Gegensätze, die von der Reformationszeit an eine Kirchengemeinschaft zwischen den lutherischen und den reformierten Kirchen unmöglich gemacht und zu gegenseitigen Verwerfungsurteilen geführt haben, betrafen die Abendmahlslehre, die Christologie und die Lehre von der Prädestination«. Die in diesen zentralen Fragen bestehende Lehrdifferenz wird vom Standpunkt der gegenwärtigen Auslegungssituation einer Relektüre unterzogen. In § 3 – 5 wird dieser historische Identitätswandel reflektiert. Ausgangspunkt für die Aufhebung der seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Trennung zwischen den Kirchen ist die Feststellung, dass »sich ihr Verhältnis zueinander seit der Reformationszeit gewandelt hat« (§ 3). Die Reformulierung von Lehraussagen in der Konkordie ist also selbst Ausdruck des sich aktualisierenden Lehrgeschehens. Zu den Bedingungen dieses Wandels gehört auch die Verlagerung dogmatischer Prioritäten. Das Bekenntnis »einer neuen befreienden und gewiss machenden Erfahrung des Evangeliums« (§ 4) wird als reformatorisches Erbe ins Zentrum des gemeinsamen theologischen Interesses gerückt. Ebenso werden die »veränderte[n] Voraussetzungen heutiger kirchlicher Situation« als gemeinsame Herausforderung erkannt. § 5 formuliert die Neubestimmung im Verhältnis von Grund und Gestalt: »All dies veranlasste die Kirchen in neuer Weise, das biblische Zeugnis wie die reformatorischen Bekenntnisse, vor allem seit den Erweckungsbewegungen, für die Gegenwart zu aktualisieren. Auf diesen Wegen haben sie [die Kirchen] gelernt, das grundlegende Zeugnis der reformatorischen Bekenntnisse von ihren geschichtlich bedingten Denkformen zu unterscheiden.«

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Über Abendmahl, Christologie und Prädestination werden übereinstimmende Aussagen getroffen (§ 18 – 26), so dass für jeden der historisch trennenden Streitpunkte erklärt werden kann: »Wo solche Übereinstimmung zwischen Kirchen besteht, betreffen die Verwerfungen der reformatorischen Bekenntnisse nicht den Stand der Lehre dieser Kirche« (§ 20, analog § 23, § 26).57 Aufgrund dieser historischen Einordnung der gegenseitigen Verurteilungen wird schließlich ihre Relativierung möglich. Denn, so folgert § 27, »damit werden die von den Vätern vollzogenen Verwerfungen nicht als unsachgemäß bezeichnet, sie sind jedoch kein Hindernis mehr für die Kirchengemeinschaft.« Der Text lässt also keinen Zweifel darüber, dass er selbst der Ausdruck eines ökumenischen Identitätswandels ist. Er enthält Lehraussagen, die als aktualisierte Identitätsbestimmung der beteiligten lutherischen und reformierten Kirchen aufzufassen sind. Gleichzeitig vermittelt er ein Sinnangebot, welches darin besteht, sich auf einen Weg der Relektüre der eigenen theologischen Tradition zu begeben und dabei eine neue, gemeinschaftliche Identität zu entdecken. Im Bewusstsein des Lesers werden die einzelnen Schritte der historischen Relativierung, der reformatorischen Selbstreflexion, der Reformulierung von Lehraussagen, der Erklärung von Gemeinschaft und der Ableitung von Folgerungen als dynamisches Geschehen und als Identifikationspunkte aufgerufen. Hier wird ein Umgang mit der eigenen Tradition aufgezeigt. Wie sich herausstellt, entfaltet die Konkordie also nicht nur eine ökumenische Vision, sondern sie enthält auch eine anthropologische Grundannahme, die besagt, dass die Identitäten einzelner Glaubender, ebenso wie die von Glaubensgemeinschaften, sich wandeln können. Vom Auffinden eines gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums ausgehend wird eine neue Qualität der Gemeinschaft zwischen den Konfessionen festgestellt, welche vergangene Trennungen hinter sich lässt. Hier zeigt sich deutlich, dass Bekenntnis und Identitätswandel einander nicht ausschließen. Im Gegenteil. Die Redaktion der Konkordie, die auf der Einsicht in die historische Entwicklung der eigenen Lehre und die Unterscheidung von Grund und Gestalt des Evangeliums beruht, zeigt, dass eine konfessionelle Identität unter dem Zuspruch des Evangeliums eine sich wandelnde Identität ist. Der Text deutet an, dass sich der Identitätswandel in der Interpretationsgemeinschaft der Konkordie nicht nur auf den Umgang mit den Bekenntnisschriften und den darin enthaltenen gegenseitigen Lehrverurteilungen bezieht. Andere soziale Realitäten gingen dem Voraus und werden folgen. Der ökumenische Dialog stellt sich in der Konkordie als ein prozessuales Geschehen mit aktiven und passiven Anteilen der beteiligten Kirchen dar. Die Aktivität besteht in der Erklärung des Konsenses, die aber im Grunde ihrerseits einen Akt der Rezeption darstellt. Denn die Einheit, d. h. hier die Kirchenge57 Eine Darstellung und Erläuterung der theologischen Aussagen in: Lienhard, Gespräch.

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meinschaft, die man einander erklärt, wird in der gemeinsamen Praxis entdeckt, ohne dass sie dort mühsam erstrebt wurde. Die Konsensfindung beruht auf einem Identitätswandel, der von den Verfassern nicht bewusst herbeigeführt wurde, sondern vielmehr schon das Fundament ihrer Bemühungen darstellte, die eher eine Sache der Bewusstwerdung und Verifikation sind. Im Text der Konkordie wird dieser Umstand ausgedrückt in der »Dankbarkeit«, welche die Kirchen gegenüber der historischen Entwicklung bezeugen. Diese Entwicklung wird von den Verfassern nicht nur als soziologische Gegebenheit, sondern als »Führung« (§ 1) verstanden. Wir können hier von der Entwicklung eines Identitätsverständnisses sprechen, das sowohl prozessual als auch explorativ ist. (2) Im Text der Konkordie scheint der Wandel der Identitäten also angelegt zu sein. Eine Gemeinschaft von Kirchen nimmt Einsicht in ihre lehrmäßigen Veränderungen, bekennt sich zu ihnen und drückt ihre Dankbarkeit für die Qualität ihres Zusammenseins aus. Unsere Frage ist nun, ob diesem Identitätswandel, der auf kirchenleitender Ebene erklärt wurde eine Bereitschaft zur Veränderung unter den Mitgliedern dieser Kirchen korrespondiert?58 Im vorhergehenden Abschnitt zum Rezeptionsverlauf zeigten wir die Schwierigkeiten der Kirchen in Frankreich vor 1973, als es darum ging, die eigetretenen gesellschaftlichen und theologischen Veränderungen als evangeliumsgemäß zu akzeptieren. Auf welche Reaktion stößt nun ein institutionalisierter Text wie die Leuenberger Konkordie, die diesen Gedanken des Wandels ganz offiziell entfaltet? Machen wir uns zunächst ein wichtiges Merkmal der evangelischen Kirchen in Frankreich bewusst: Diese Kirchen sind Minderheitsgemeinschaften. Als historisch gewachsene Minderheit bestehen sie seit mehr als vier Jahrhunderten in einer katholisch, später laizistisch geprägten Gesellschaft. Dieser Umstand hat das Selbstbild der französischen Protestanten entscheidend beeinflusst. Auffallend sind die ausgeprägte Erinnerungskultur dieser Kirchen sowie ihre Tendenz, sich in der Öffentlichkeit für Demokratie und besonders für die Rechte von Minderheiten einzusetzen.59 Die Furcht vor kultureller Vereinnahmung und die Kritik an totalitären Regierungsformen haben eine lange Tradition. Bis zur Einführung der Laizität in Frankreich im Gesetz von 1905 war die römischkatholische Kirche als dominante Konfession bzw. als Staatsreligion in der Gesellschaft präsent. Die protestantischen Kirchen waren demgegenüber immer wieder staatlichen Verfolgungswellen ausgesetzt. Obwohl auch die protestantischen Kirchen seit 1905 von der staatlich verordneten Verdrängung religiöser Fragen aus dem öffentlichen Leben betroffen sind, unterstützen sie die Laizität seit deren Einführung entschieden, weil diese dazu führt, dass offiziell keine

58 Der folgende Abschnitt beruht teilweise auf unserem Beitrag: Bengard, Rede. 59 Vgl. Konferenz der Kirchen am Rhein, GEKE, Liebfrauenberg-Erklärung.

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religiöse Gemeinschaft – auch nicht die römisch-katholische Kirche – eine politische oder kulturelle Hegemonie ausüben kann. Welchen Einfluss die Minderheitssituation auf die Art der französischen Protestanten, sich politisch zu positionieren hat, können wir an einem aktuellen Beispiel nachvollziehen. In den letzten Jahren wurde in Frankreich heftig über die religiöse Gesetzgebung debattiert, unter anderem ging es um die Präsenz religiöser Symbole, z. B. des muslimischen Kopftuchs im öffentlichen Raum. Die gesetzliche Begrenzung von Kirchen und Glaubensgemeinschaften im Bereich der Erziehung und der Jugendarbeit ließ bei den Protestanten sofort wieder die Furcht vor dem Zentralismus aufkeimen. Folgerichtig positionierte sich die FPF in dieser Debatte deutlich auf Seiten der muslimischen Gemeinschaften. Trotz der Befürwortung der Laizität als religiöser Neutralität des Staates setzen die Protestanten sich also gegen eine staatlich gedeckte Säuberung des öffentlichen Raumes von religiösen Diskursen zur Wehr. Man ist zwar ganz offen gegen einen staatlichen Zentralismus, der einer Religionsgemeinschaft den Vorzug geben würde und stellt die eigene Konformität mit den laizistischen republikanischen Werten in dieser Hinsicht häufig zur Schau. Man möchte darüber hinaus aber auch keine Verdrängung sämtlicher Religionen, sondern ein religiöses Gleichgewicht, das die Gesellschaft stabilisieren soll. Viele Selbstdeutungen aus französischen Kirchen werden erst vor diesem Hintergrund klar. Der französische Religionssoziologe Yves Bizeul geht so weit zu sagen, dass Identitätsaffirmationen in Minderheitskirchen stets gerichtet sind »gegen eine Differenz-abschaffende Uniformität und gegen eine Totalität, die immer droht in einen Totalitarismus zu versinken.«60 Diese Einschätzung bestätigt sich insofern, als die historische Verfolgungsgeschichte der Protestanten, die Laizisierung und der Widerstand gegen die bis heute andauernde Rigidität des französischen Staates gegenüber kulturellen Minderheiten Anhaltspunkte sind, die im Identitätsdiskurs der Protestanten immer wieder auftauchen. Die eigene Identität auf diese Weise, d. h. vornehmlich in Abgrenzung gegen dominierende gesellschaftliche Strukturen zu bestimmen, heißt andererseits oftmals auch, die Identität der eigenen Gemeinschaft als soziologisches und weniger als theologisches Phänomen wahrzunehmen. Dies zeigt bereits ein Blick in die Encyclop¦die du protestantisme, das repräsentative Nachschlagewerk der französischen Protestanten. Die darin zu findende Definition von »Identität« ist sehr aufschlussreich, weil sie Identität als Netzwerk beschreibt und darin die als zentral empfundenen protestantischen Bezugspunkte benennt. Es handelt sich um eine konstruktivistische soziologische Definition: Konstitutiv sind Geschichte und Sozialisation einer Gruppe, während ihr theologisches Bekenntnis in den Hintergrund rückt. 60 Bizeul, Gemeinschaften, 25.

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In den meisten Strömungen des Protestantismus haben bestimmte Ereignisse den Charakter von »Ursprungsmythen«, z. B. die Reformation, die Erweckungsbewegung oder in Frankreich die Widerrufung des Edikts von Nantes. Sie sind derzeit Gegenstand tiefgreifender symbolischer Neuinterpretation. Hingegen haben die großen protestantischen Prinzipien wie sola scriptura, sola gratia und solus Christus unter dem Einfluss der wachsenden religiösen Indifferenz an Bedeutung verloren. Ein zentrales Charakteristikum der protestantischen Gemeinschaften ist der hohe Level ihrer »Metastabilität« […] Sie stärkt das protestantische Millieu und erklärt dessen Neigung zu Kritik und Reform sowie die Tendenz zu Aktivitäten außerhalb des religiösen Feldes.61

Auch seitens der FPF wird das politische Gewicht der protestantischen Minderheit in Frankreich stets aufs Neue hervorgehoben. Man verweist auf das Potential der Protestanten, eine Rolle der Solidarität und der Vermittlung zwischen anderen Minderheiten bzw. sozialen Randgruppen und dem laizistischen Staat zu übernehmen und führt als Grund die kulturelle Erfahrung und die historische Verfolgungsgeschichte an. In der gegebenen Situation soll diese Haltung mehr ausdrücken als eine prinzipielle Übereinstimmung mit demokratischen Grundwerten. Sie zeigt auch den Versuch, ein alternatives protestantisches Modell der Laizität zu entwerfen und mit dem traditionell zentralistisch verfassten politischen und religiösen System in Frankreich zu kontrastieren. In der Solidarität mit den diskriminierten Minderheiten bleibt der Protestantismus seiner Geschichte treu und dem Erbe, welches er trägt und das er heute fruchtbar machen kann. Er besitzt eine große Erfahrung mit Diskriminierungen, die vielleicht eines der größten Übel unserer Zeit darstellen. […] Unserer Meinung nach muss die Laizität auf die aktuelle Situation nicht durch Gesetze reagieren, sondern indem sie eine öffentliche Debatte anregt, welche […], geführt in der Haltung des Respekts vor den Minderheiten und begleitet von einem nachhaltigen politischen Willen, wieder zur Basis unserer Demokratie wird.62

Der Grund, weshalb diese und andere Identitätsentwürfe nun auch für die ökumenische Theologie und für unsere Untersuchung interessant werden, liegt in der eingangs geäußerten These, der zufolge das Selbstbild einer Kirche wesentlich über ihre ökumenischen Orientierungen entscheidet. Es zeigt sich, dass dies bis zur Ablehnung ökumenischer Modelle führen kann, wenn diese ebenfalls die Konstituierung einer Gruppenidentität im Sinn haben, dabei aber nicht auf Abgrenzung, sondern auf die Vermittlung von Diversität durch theologische Konsensbildung setzen. So wandelt sich die Totalitarismuskritik gegenüber dem französischen Staat 61 Ders., Identit¦. 62 Clermont, Laicit¦ et minorit¦s.

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bzw. der katholischen Mehrheitskonfession in den Äußerungen mancher protestantischer Vertreter in ein tiefes Misstrauen gegenüber den Zielen der ökumenischen Bewegung, weil hinter deren Einheitsbemühungen ebenfalls der Versuch einer religiösen Uniformisierung vermutet wird. Von vielen französischen Religionssoziologen wird die ökumenische Bewegung zuerst auf ihrem institutionalisierten Level, d. h. in Form der internationalen Organisationen wahrgenommen, welche die kulturelle Spezifik ihrer Mitgliedskirchen – scheinbar – ungenügend berücksichtigen. Deutlich wird dieser Konflikt in der Position des französischen Soziologen Jean Baub¦rot: Eine Möglichkeit, den Zusammenhalt der Protestanten und die Offenheit gegenüber der Umwelt zu sichern, ist das Ausleben der protestantischen Pluri-Identität. […] Aber es gibt bei Evangelikalen, Lutheranern und Reformierten mono-identitäre Tendenzen. Die werden deutlich, wenn die Suche nach einer christlichen Identität die protestantische Identität reduziert oder erstickt anstatt sie zu erneuern.63 Der ökumenische Protestantismus ist als Reaktion auf den Kulturprotestantismus entstanden. Sein Ziel ist es, zu den Quellen zurückzukehren von der Kultur zur Theologie und die sogenannten ›nicht-theologischen Faktoren der Kirchentrennung‹ abzuschaffen. […] Aber es ist Vorsicht geboten, damit der ökumenische Protestantismus nicht zur Entkulturalisierung des Protestantismus führt, denn die Kultur ist auch Inkarnation der Theologie.64

Doch der ökumenischen Bewegung wird nicht nur der Vorwurf der Uniformisierung gemacht, es wird ihr bisweilen auch ein totalitärer Herrschaftsanspruch unterstellt. Dieser zweite Vorwurf weist auf ein noch weiter reichendes ökumenisches Problem hin. Es besteht in der Annahme, der ökumenische Dialog werde zwischen theologischen Experten geführt und besitze keine Relevanz für die kirchliche Basis. Mittels der ökumenischen Vereinbarungen auf Leitungsebene sollten demzufolge die religiösen Entscheidungen an der Basis »gesteuert« werden. Wenngleich sie nicht nur in Frankreich anzutreffen ist, so wird doch auch diese pessimistische Sicht auf die ökumenische Bewegungen von den Bedingungen in einer zentralistisch organisierten Gesellschaft verstärkt. Als ökumenische Akteure werden in dieser Logik nicht die Gläubigen selbst, sondern die Kirchenleitungen wahrgenommen und diese werden einer soziologischen Institutionenkritik unterzogen. In Frankreich wurde diese Kritik unlängst von dem einflussreiche Religionssoziologen Jean-Paul Willaime vorgetragen.65 Willaime erklärt, dass in der gegenwärtig gelebten »Ultramodernität« pro63 Baub¦rot, Le protestantisme doit-il mourir?, 246. 64 Ders., Quelle place, 85. »Es besteht auch das Risiko, dass die Protestanten sich gelegentlich innerhalb der ökumenischen Bewegung im Stich gelassen fühlen, genauso wie sie sich von der Republik allein gelassen fühlen.« 65 Willaime, L’ultramodernit¦.

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testantische Identitätsbildung und interkonfessionelle Ökumene einer »Logik des religiösen Marktes« verpflichtet seien. Die ultramoderne Epoche sei durch einen totalen Kommunikationsabbruch zwischen den institutionalisierten Kirchen und den einzelnen Glaubenden geprägt. Zwar gäbe es auf beiden Ebenen ökumenische Aktivitäten, doch diese unterschieden sich stark und blieben deshalb ohne gegenseitigen Bezug. Die Akteure der institutionalisierten Ökumene, d. h. Dialogkommissionen und Kirchenleitungen, betrieben eine versteckte Rekonfessionalisierung, indem sie traditionelle Lehrformeln aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus wiederaufleben ließen, um den soziokulturellen Veränderungen der Ultramoderne nicht begegnen und auch die schwindende Verbindlichkeit konfessioneller Überzeugungen nicht wahrnehmen zu müssen. Ganz im Sinne der weiter oben erklärten soziologischen Identitätsstrategie bestehe das Ziel offizieller Dialoge gerade nicht in der Aufhebung der Unterschiede, sondern in der institutionellen Konsolidierung. Denn schließlich bräuchten die Institutionen einander, um sich – durch gegenseitige Exklusion – ihrer eigenen Identität bewusst zu sein. Selbst wenn die Einheit das angebliche Ziel der ökumenischen Akteure ist, so ist es doch nicht sicher, dass es sich auch in der Praxis so verhält. Auf der Ebene der praktischen Ökumene scheint es weniger um die Wiedervereinigung der christlichen Kirchen zu gehen als darum, ihre Zusammenarbeit friedlich und für alle fruchtbar zu gestalten. […] Im Dialog mit dem Anderen re-katholisiert sich der Katholizismus und re-protestantisiert sich der Protestantismus, weil der Dialog die Konfessionen einlädt, sich eher im Spiegel der anderen zu betrachten als im Spiegel der soziokulturellen Herausforderungen dieses Jahrhunderts. Anders ausgedrückt tragen ökumenische Beziehungen zu einem Stillstand der Theologie bei und verhelfen traditionellen Formulierungen zu neuer Blüte. […] Die Rekonfessionalisierung der einen Kirche nährt die der anderen.66

Demgegenüber, so der Soziologe Willaime, betreiben die Gläubigen als Konsumenten auf dem »religiösen Markt« eine unvermittelte, aber objektiv wahrnehmbare, d. h. die eigentliche Ökumene. Diese entziehe sich dem Herrschaftsanspruch der Institutionen, würde von diesen aber vollkommen ignoriert.67 Weil die institutionalisierten Konfessionen kaum noch soziale Verbindlichkeit besitzen, werden auch kontroverstheologische Fragen im Leben der Kirchenmitglieder nicht mehr als trennend empfunden. Darüber hinaus werden konfessionelle Unterschiede von den Glaubenden nun positiv bewertet, weil sie

66 Ebd., 182. 67 Ebd., 202. »Es ist eine Zeit des Synkretismus und der Vermischung von Traditionen: die symbolischen Grenzen sind durchlässig geworden und der Einzelne ist allen Arten von Angeboten ausgesetzt.«

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der Wiedererkennbarkeit des religiösen Angebots dienen.68 Weil Gläubige als wählerische Konsumenten und Glaubensgemeinschaften als Anbieter auf dem religiösen Markt betrachtet werden, haben die Minderheitskirchen dem Religionssoziologen zufolge einen Vorsprung an Originalität, den sie auf keinen Fall aufgeben sollten: In einer säkularisierten und pluralistischen Gesellschaft wird Minderheiten aufgrund ihrer kulturellen Differenz ein sozialer Mehrwert zugebilligt unabhängig davon, welcher Art diese Differenz ist.69

Die Stimmen von Baub¦rot und Willaime zeigen, dass der Anspruch des Identitätswandels von den französischen Unterzeichnerkirchen der Leuenberger Konkordie nicht ohne Weiteres angeeignet wird. Die Minderheitssituation scheint eher Identitätsängste hervorzubringen als die Bereitschaft zum ökumenischen Wandel. Unter Umständen führt die generelle Skepsis gegenüber Versuchen der strukturellen Zentralisierung dazu, dass die ökumenische Bewegung vorschnell als totalisierende Bewegung aufgefasst und abgelehnt wird. Dabei kann sich die Tatsache, dass die französischen Protestanten aufgrund ihrer Minderheitssituation Tendenzen der Zentralisierung besonders kritisch gegenüber stehen, in der ökumenischen Diskussion durchaus als konstruktiv erweisen. Gerade das von Willaime vertretene Marktmodell legt die Ebene der Glaubenden als die eigentlich entscheidende frei und stellt im Grunde ein Plädoyer für die Handlungsfähigkeit der Akteure an der Basis dar. Auch hier gibt es, etwas überraschend, eine große Ähnlichkeit zum Modell Ricœurs, der dafür argumentierte, dass die entscheidende ökumenische Rezeptionsarbeit unter den Glaubenden und nicht auf dem institutionellen Level stattfinden müsse. Einschränkend muss aber darauf hingewiesen werden, dass das soziologische Marktmodell zu große Schwächen aufweist, um als ökumenisches Modell sinnvoll zu sein. Denn trotz aller Kritik an den Bemächtigungsversuchen konfessioneller Institutionen, die im Einzelfall ihre Berechtigung haben mag, kommt das soziologische Modell selbst nicht ohne neuerliche Verabsolutierungen aus. So fordert die starke Konzentration auf den Minderheitenstatus theologische Anfragen heraus. Obwohl scheinbar die Ebene der Akteure gestärkt wird, erweist sich im Rahmen dieses Modells die Befreiung des religiösen Individuums vom Zugriff der Institutionen nur als vorläufig. Tatsächlich wird Befreiung hier um den Preis neuer existenzieller Abhängigkeiten vollzogen. Der religiöse Markt erweist sich nur scheinbar als ein ökumenischer Freiraum. Zwar dürfen Minderheiten dort präsent sein, ohne ideologische Verfolgung be68 Ebd., 203. »In der Ultramodernität ist es ›chic‹, seine Differenz zu zeigen und seine Identität abzugrenzen.« 69 Ebd.

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fürchten zu müssen. Ihre Individualität muss sich jedoch der Logik dieses Marktes anpassen und dieser fragt nach einem wiedererkennbaren Profil. Individuelle und kollektive Identitäten werden verzweckt und stehen unter einem enormen Profilierungsdruck. Schließlich dienen sie dazu, gesellschaftliches Ansehen zu begründen, weil Identitäten ohne Profilierung im Rahmen des Marktmodells überhaupt nicht wahrnehmbar sind. Die beiden Positionen von Baub¦rot und Willaime stärken zwar den identitären Status der Minderheitsgemeinschaften, doch zugleich schüren sie die Angst vor einem möglichen Wandel, weil dieser ihre kulturelle Vielseitigkeit und damit verbunden ihre gesellschaftliche Attraktivität in Frage stellen könnte. Unter diesen Umständen wäre es besser für die Kirchen, keinen Identitätswandel anzustreben, schon gar nicht in der Weise, dass sie in einer größeren ökumenischen Identität aufgehen würden. Baub¦rot und Willaime stellen beide die kirchliche Identität der Minderheitsgemeinschaften heraus, schreiben sie damit aber gleichzeitig fest und haben in der Angst vor dem Identitätsverlust ihr stärkstes Argument. Zu dem für normativ erklärten ultramodernen Individualitätsbegriff, der doch eigentlich eine freie Wahl der Identitätsmerkmale vorsehen soll, ergibt sich dadurch eine merkwürdige Spannung. Der französische Theologe Jean-Daniel Causse hat diesen inneren Widerspruch zwischen Individualität und Standardisierung im postmodernen Denken sehr deutlich kritisiert: Wir halten uns für die Akteure unserer Worte und Gesten, während die Wissenschaft (Soziologie, Geschichte, Psychologie etc.) uns als vorhersehbar beschreibt und unsere intimsten Handlungen auf allgemeine Gesetzlichkeiten zurückführt. Der Mensch, der sich selbst zu entwerfen und zu konstruieren glaubt, ist ergriffen von einem Wissen, welches ihm vorschreibt, was er sein wird. Die westlichen Gesellschaften sind gefangen in einem Widerspruch, der darin besteht, dass der permanente Anspruch der Selbstentfaltung begleitet wird von einer fortlaufenden Standardisierung des Individuums.70

Demgegenüber betont Causse eine andere, mehr theologisch als soziologisch begründete Auffassung von Identität: Identität wird gestiftet in der gnadenvollen Begegnung mit Jesus Christus. Sie ist die Konsequenz eines Zuspruchs, der von Fremdzuschreibungen befreit und die Fähigkeit zu souveränem ethischen Handeln verleiht, weil ihm selbst eine bedingungslose Annahme und Indienstnahme vorausliegt. Eine so verstandene christliche Identität ist befreiend und nicht festlegend. Politischem Profilierungsdruck könnte sie mit einer Haltung der Gelassenheit begegnen, weil sie sich letztlich nicht in der Verantwortung sehen muss, ihre Identität selbst zu begründen. Auch auf das Selbstverständnis der Minderheitsgemeinschaften könnte eine solche Position sich auswirken. 70 Causse, L’instant, 109.

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Einen Entwurf, der diesen Gedanken aufnimmt, hat der praktische Theologe Gerard Delteil vorgelegt.71 Delteil, der sich ebenfalls mit der Identität der französischen Protestanten beschäftigt, geht nicht vom Begriff der »Minderheit«, sondern von dem der »Diaspora« bzw. der »Zerstreuung« aus. Er plädiert dafür, diesen Zustand nicht als Beschränkung der Handlungsfähigkeit, sondern als spirituelle Berufung anzusehen. Nicht die ängstliche Verteidigung der Minderheitssituation empfiehlt Delteil, sondern den mutigen Aufbruch und – im Anschluss an Paul Ricœur – das Einlösen der nicht gehaltenen Versprechen der Vergangenheit.72 Die Frage, was die Identität der Kirche sei, ist zentral für Delteils Ansatz und er beantwortet sie unter Verweis auf Luther und Bonhoeffer : Kirche ist nicht Institution, sondern Ereignis – Wortereignis. Als creatura verbi ist ihre Identität nicht das Eigentum, sondern vielmehr ein geistliches Geschenk, das die Glaubenden versammelt und das es unter den Bedingungen der Diasporasituation neu zu entdecken gilt. Im Rahmen einer solchen pneumatologisch fundierten Ekklesiologie der Diasporagemeinschaften ist es der Geist, der die Kommunikation zwischen den Glaubenden erst herstellt und sie zu einem Leib zusammenfügt. Von den verschiedenen Funktionen der Kirchen, die dazu dienen, diesen Leib zu bewahren, ist es die »ökumenische Funktion«, welche den Vorgang der Beziehungsbildung aufrechterhält. Die Beziehungen der Glaubenden, d. h. ihr wechselseitiger Austausch, dienen der authentischen Übermittlung des Evangeliums, das letztlich auf die Etablierung gemeinschaftlicher Strukturen (innerhalb der communio) abzielt. Für Delteil liegt es auf der Hand, dass dieser Austausch auch mit einer Veränderung der einzelnen Identitäten durch die Begegnung mit dem Anderen einhergeht. Interessanterweise geht Delteil dabei am Rande auch auf die Theorie der Rezeptionsästhetik ein und überträgt diese ähnlich wie Paul Ricœur auf die Ekklesiologie: Die ökumenische Funktion soll bekanntlich die Verbindung zwischen den christlichen Gemeinschaften ausdrücken. Diese ökumenische Verbindung gibt ihnen die Qualität von ›offenen‹* Gemeinschaften, die flexibel und unabgeschlossen genug sind, um zu empfangen ohne anzugleichen und um das Risiko einzugehen, durch die Begegnung mit dem Anderen verändert zu werden. [*Fußnote 1] Umberto Eco spricht in einer übertragbaren Weise vom Offenen Kunstwerk (Êd. du Seuil, 1965). Er unterstreicht die Fähigkeit des Kunstwerks, nicht auf eine einzige Interpretation festgelegt zu sein. Stattdessen bietet es die Möglichkeit zu einer Vielzahl von Anordnungen und Figuren. In Die Grenzen der Interpretation (Êd. du Seuil, 1991) setzt sich diese Überlegung fort. In dieser Hinsicht gibt sich auch eine ›offene‹ Gemeinschaft keine definitive Form. Eine gewisse Unbestimmtheit ermöglicht 71 Delteil, Keller, L’Êglise diss¦min¦e. 72 Delteil, Diaspora, 67. »Eine Tradition ist nur dann lebendig, wenn sie die Möglichkeit schafft, Neuerungen einzuführen […]. Paradoxerweise basieren die stärksten Utopien auf in der Tradition Unerfülltem. Dies stellt die Quelle für Bedeutungen dar, eine Sinnreserve.«

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es ihr, Beziehungen aufzunehmen, die sie in bestimmten Grenzen verändern und für ein neues Verständnis von sich selbst öffnen.73 Indem sie den Glauben und die individuelle oder kollektive Glaubensexistenz vom Empfangen des Wortes abhängig macht, stellt die Reformation ein entscheidendes Prinzip auf: ein Anderer ist stets in meine eigene Existenz einbezogen. Dieses anthropologische Prinzip lässt sich auf zwei Ebenen betrachten. Zunächst erkennt ein jeder von den zwei oder drei, die im Namen Christi versammelt sind, dass er seine wirkliche Identität von ihm empfängt. Er ist der Andere, dessen Wort sie in ihm entstehen lässt. […] Andererseits bleibt der Andere in der Beziehung zu Christus niemals außen vor, sondern spielt eine Rolle, indem man miteinander teilt und sucht. Als Jünger Jesu ist man nicht allein und keine Gemeinschaft und keine Kirche steht allein vor dem Gott Jesu Christi. Der Andere ist konstitutiv für das, was ich bin. Gemeinschaft gibt es nur, weil es Kommunikation und Teilhabe gibt.74

Anders als in den religionssoziologischen Theorien aus dem von uns untersuchten Raum, klingt im Ansatz Delteils die Vorstellung des Identitätswandels durch die Begegnung mit dem Anderen deutlich an. Dieser Möglichkeit zu vertrauen und sie als Funktion der Kirche zu betrachten würde in letzter Konsequenz bedeuten, auch die notwendigen institutionellen Strukturen zu schaffen, in denen sich die Glaubenskommunikation auch mit den Mitgliedern anderer kirchlicher Gemeinschaften vollziehen kann. Letztlich stellt auch die aus der Leuenberger Konkordie hervorgegangene Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) ein solches kommunikatives ökumenisches Netzwerk dar. Die Tatsache, dass die historischen reformatorischen Kirchen Frankreichs diesem angehören, hat tatsächlich zu einer Veränderung ihres Selbstbildes geführt. Dies zumindest ist die Auffassung einiger französischer Theologen, darunter der Ökumenikerin Elisabeth Parmentier, die selbst einige Jahre lang im Präsidium der GEKE mitgearbeitet hat. In der folgenden Äußerung deutet sie an, worin aus der Perspektive der französischen Protestanten der Gewinn eines solchen breiten ökumenischen Austauschs besteht: Die Einheit auf theologischer Ebene kann nicht getrennt werden von ihrer ekklesialen und institutionellen Gestalt. Unsere Situation zeigt, dass man sehr wohl einen theologischen Konsens erreichen kann, ohne ihn direkt strukturell umsetzen zu können. Diese Umsetzung verlangt insbesondere die Bereitschaft, Machtgefüge zu verlagern, Privilegien loszulassen, die Stimmen der Minderheiten wichtig zu nehmen. In unserer französischen Minderheitssituation in einer laizistischen Umwelt bedeutet die LK [Leuenberger Konkordie] buchstäblich das Rückgrat, das den französischen Protestantismus aufrecht stehen lässt. Unser gemeinsamer Rat, der CPLR, nimmt Gestalt an durch die LK, die seine gemeinsamen Orientierungen und Perspektiven prägt. Die LK 73 Delteil, Keller, L’Êglise diss¦min¦e, 193. 74 Ebd., 202.

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erlaubt, ermutigt und motiviert unsere Zusammenarbeit. […] Die LK schließt uns auf für die europäische Wirklichkeit. Frankreich ist ein Schnittpunkt zwischen der lateinischen, der germanischen und der angelsächsischen Welt. Aber der französische Protestantismus konnte diese Position nie so recht halten, da er durch die Minderheitssituation eher zur Abkapselung und zum Individualismus neigte. Die LK ermöglicht beides: Sie öffnet uns neue Horizonte und gewährt zugleich unseren kleinen Kirchen Sichtbarkeit, eine Stimme, finanziellen Rückhalt und Solidarität sowie ein viel größeres theologisches Forum.75

Blicken wir nun abschließend auf das Stimmungsbild aus den französischen Kirchen hinsichtlich der Idee des Identitätswandels, so tut sich ein beachtliches Spektrum unterschiedlicher Meinungen auf, wobei vor allem der Unterschied zwischen soziologischen und theologischen Positionen ins Auge fällt. Letztere stehen der Idee eines Wandels freundlicher gegenüber, haben es aber in der von medialen Stereotypen geprägten Öffentlichkeit relativ schwer sich Gehör zu verschaffen. Dort ist eher der religionssoziologische Diskurs dominierend.76 Die französische Situation verallgemeinernd können wir sagen, dass der nationale Kontext den Erfolg des in der Konkordie erklärten Identitätswandels entscheidend mitbestimmt. Die letzte Äußerung zeigte, dass im Fall der französischen Protestanten die Minderheitssituation zwar einige Gründe bereitstellt, ökumenischen Kontakte über den eigenen Kontext hinaus wertzuschätzen. Andererseits ergab unser Blick auf die religionssoziologischen Positionen, dass sie auch die Angst vor einem Identitätsverlust nährt und Profilierungstendenzen Vorschub leistet. Religionssoziologen, die das Marktmodell vertreten und dieses auf einen bestimmten nationalen Rahmen übertragen, müssten Minderheitsgemeinschaften im Grunde empfehlen, ihre historisch gewachsene Form beizubehalten und nicht zu verändern, weil diese ihre Unverwechselbarkeit garantiert. Die Rezeption der Leuenberger Konkordie in Frankreich findet also im Spannungsfeld von theologischen und soziologischen Argumenten statt. Wie werden demgegenüber die Weichen in der Identitätsdebatte auf internationaler ökumenischer Ebene gestellt? Welches Identitätsverständnis dominiert innerhalb der GEKE und wie äußert dieses sich programmatisch? (3) Schon bald nach ihrer Gründung musste sich die Leuenberger Kirchengemeinschaft mit der Frage auseinandersetzen, ob die Leuenberger Konkordie im Wesentlichen der Selbstvergewisserung der reformatorischen Identität dienen sollte. Dieser Vorstellung von einer protestantischen Blockbildung standen andere Meinungen gegenüber, die hinsichtlich der Wahl der ökumenischen Dialogpartner keine zwingende Affinität zwischen Lutheranern und Refor-

75 Parmentier, Erfahrungen, 93 f. 76 Bizeul, L’identit¦ des groupes.

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mierten sehen wollten.77 Günther Gassmann wies auf der Vollversammlung in Strasbourg 1987 darauf hin, dass es für die Signatarkirchen essentiell sei, ihre Partizipation an der Kirchengemeinschaft nicht als Ausdruck der »Ideologie reformatorischer Gemeinsamkeit« zu begreifen, sondern diese im Kontext der »noch nicht an ihr Ziel gelangten ökumenischen Pilgerschaft« zu betrachten. Für die Signatarkirchen bedeute dies, »nur ein Teilstück in diesem umfassenderen Versöhnungswerk [zu] sein.«78 Als problematisch erwies sich für ihn an der Idee der Selbstvergewisserung vor allem die Tendenz, stets auf die gleichen Lehrunterschiede zwischen den Kirchen der Reformation zu rekurrieren und darüber den Blick für den ökumenischen Gesamtzusammenhang und die tagesaktuellen Herausforderungen aufzugeben.79 Die GEKE hat seitdem in mehrfacher Weise ihren Willen, den ökumenischen Dialog auch über die Grenzen der reformatorischen Kirchen hinaus betreiben zu wollen, ausgedrückt. Als von der Vollversammlung die Ekklesiologiestudie »Die Kirche Jesu Christi«80 angenommen wurde, die sich als »reformatorischer Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit« versteht, signalisierte die Gemeinschaft damit einerseits ihr Selbstverständnis als Kirche, das klar unterschieden ist von einem soziologischen Gemeinschaftsbegriff und andererseits die Bereitschaft, sich der großen Ökumene zuzuwenden.81 Eine weitere Zäsur stellte die Gemeinsame Erklärung zur Kirchengemeinschaft dar, in deren Folge die Methodistischen Kirchen der Leuenberger Kirchengemeinschaft beitraten.82 Die Leuenberger Kirchengemeinschaft war mit dieser gemeinsamen Erklärung an den Punkt ihrer Verwirklichung gelangt, an dem die ökumenische Öffnung gegenüber »konfessionell verwandten Kirchen in Europa« (§ 47) umgesetzt wurde, die weder lutherisch noch reformiert waren.83 77 Birmel¦, La r¦alisation. 78 Gassmann, Leuenberger, 122. 79 Die Rezeptionserwartung der Konkordie bestünde stattdessen in der Weitergabe des zu Grunde liegenden hermeneutischen Modells, das die Signatarkirchen »zur größeren Ökumene befreit.« Ebd., 125. 80 Hüffmeier, Kirche Jesu Christi. Entsprechend selbstbewusst scheute man nicht den Vergleich des Textes mit den ekklesiologischen Grundlagendokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils und lancierte ihn als Versuch »sowohl das Wesen der Kirche nach evangelischem Verständnis als auch ihr[en] Auftrag in der Welt von heute, ihr Ökumeneverständnis und die Leitlinien ihres Verhältnisses zum Judentum und den nichtchristlichen Religionen und Weltanschauungen« darzulegen. 81 Beintker, Studie; Schwöbel, Kirche Jesu Christi. 82 Konsultation Leuenberger Konkordie – Methodistische Kirche in Europa, Gemeinsame Erklärung. 83 Walter Klaiber, der amtierende Bischof der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland beschrieb in seinem Hauptreferat die Kirchengemeinschaft als »Gemeinschaft der Gnade«, die den »Menschen in Europa eine Rechtfertigungsbotschaft schuldig« sei und unter Vermeidung neuer Spaltungen einem »konstruktiven und vertrauensvollen Miteinander« Ausdruck geben müsse. Klaiber, Gnade.

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Auf ihrer Vollversammlung in Wien 1994 entschloss sich die Gemeinschaft schließlich, in ihren Lehrgesprächen nicht länger nur die bekannten kontroverstheologischen Topoi zu behandeln, sondern ethische und historische Themen aufzunehmen – auch auf die Gefahr hin, dass diese Themen extrem polarisierend wirken könnten. Einen entscheidenden Anstoß dazu hatte das Hauptreferat der Veranstaltung gegeben, gehalten von dem Politikwissenschaftler Alfred Grosser. Dieser hatte sich äußerst kritisch geäußert, indem er die gemeinsame Reflexion über ethische Urteilsfindung als Desiderat der Lehrgesprächsarbeit benannte und den Kirchen ihre Selbstgenügsamkeit in der Vergangenheit und ihre gegenseitige Abgrenzung durch exklusivistische Identitätsbildung vorwarf.84 Die Identitätsthematik nicht mehr unter dem Aspekt der dogmatischen Tradition, sondern im Zusammenhang mit ihrem möglichen Beitrag für die kulturelle und politische Entwicklung Europas zu verhandeln, ist eine selbstgewählte Aufgabe, für welche die GEKE bis heute viel Energie aufwendet. Man ist allerdings darauf bedacht, herauszustellen, dass das elementare Identitätsverständnis der Gemeinschaft zunächst immer das einer gottesdienstlichen Gemeinschaft ist, die »von der Verkündigung des Evangeliums und der Feier der Sakramente«85 lebt. In den Regionen, wo Lutheraner und Reformierte eng zusammen leben, wird dieses Verständnis einer gemeinsamen lutherisch-reformierten Identität vor allem in der Erfahrung des gemeinsamen Abendmahls erlebt und genährt. Doch auch beinahe vier Jahrzehnte nach Unterzeichnung der Konkordie versteht sich dieses Bewusstsein einer gemeinsamen Identität, die sich den Kirchen in der gegenseitigen Anteilhabe als geistliche Erfahrung schenkt, nicht an allen Orten ganz von selbst. Deshalb bemüht sich die Gemeinschaft seit einigen Jahren darum, die gottesdienstliche Gemeinschaft zu stärken, indem sie beispielsweise Initiativen zur Erstellung von gemeinsamem liturgischem Material unterstützt.86 Daneben hat auch die theologische Arbeit dazu beigetragen, den Kirchen das Angebot einer gemeinsamen Identität zu unterbreiten. Dass dieser theologische Dialog nicht zentralisiert an einer Stelle, sondern regional verteilt in verschiedenen Gruppen, Konsultationen und Begegnungstagungen stattfindet, in denen repräsentative Vertreter der Kirchen zusammenkommen, führt dazu, dass die in der Konkordie festgestellte gegenseitige Anerkennung sich heute auf eine breite Erfahrungswirklichkeit in den 84 Grosser, Politik, 26. »Darf der Außenstehende bekennen, daß er überrascht war, in der Konkordie von 1973 eher einen Kompromiß in einem in vier Jahrhunderten durchfochtenen Streit über Lehrunterschiede zu finden als eine nun gemeinschaftliche Verkündigung der Kirchen, wie sie die Verwirklichung der christlichen Ethik in der heutigen Welt vornehmen wollen?« 85 Parmentier, Beintker, Wipf, Bericht, 189. 86 Ebd., 190.

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Kirchen, auch unter Gemeindemitgliedern, gründet, selbst wenn letzteren der Text der Konkordie als solcher in den seltensten Fällen bekannt ist. Gemeinsam produzierte Dokumente, insbesondere die Ekklesiologiestudie Die Kirche Jesu Christi, haben außerdem dazu beigetragen, die theologische Verbindlichkeit der Gemeinschaft nach innen und außen zu bekräftigen. Zugleich ist die konkrete Verwirklichung des lutherisch-reformierten Konsenses in Form der gemeinsamen Übersetzung der Versöhnungsbotschaft in sichtbare Strukturen seit 1973 für die GEKE ihr am schwierigsten zu realisierender Arbeitsbereich.87 Trotz des Willens, eine gemeinsamen Identität zu bezeugen und ›Stimme der Protestanten in Europa‹ zu sein, erweist es sich für die Gemeinschaft oft schon als eine Hürde, in offiziellen Verlautbarungen ›mit einer Stimme‹ zu sprechen, ohne dass die Botschaft aus Rücksichtnahme auf einzelne Befindlichkeiten der Mitgliedskirchen bis zur Irrelevanz abgeschliffen wird. An dieser Stelle, wo jenseits des prinzipiellen theologischen Konsenses regionale Motive sich als schwer übersetzbar erweisen, leidet die Gemeinschaft gelegentlich unter einem gewissen »nationalen Kongregationalismus.«88 Es überrascht nicht, dass es unter diesen Umständen bis heute nicht gelungen ist, eine gemeinsame europäische Synode zu bilden und sie mit einer echten Autorität gegenüber den einzelnen Kirchenleitungen auszustatten.89 Sehen wir uns im Folgenden die Hauptreferate der beiden Vollversammlungen von Belfast 2001 und Budapest 2006 an, um einen plastischen Eindruck von dem gegenwärtigen Stand der Identitätsdebatte innerhalb der GEKE zu erhalten. In Belfast sprach die norwegische Theologin Turid Karlsen Seim, die sich in ihrem Referat mit dem Begriff der Versöhnten Verschiedenheit auseinandersetzte.90 Vor dem Hintergrund des im ÖRK vertretenen Modells des »ecumenical space«,91 der Unterzeichnung der Charta Oecumenica92 und der politischen Neuordnung nach 1989 stellte Seim die Frage, wie Versöhnte Verschiedenheit sichtbar werden könne. Sie rekurrierte auf die Begriffe Versöhnung und Verschiedenheit als zwei Pole ökumenischer Hermeneutik und stellte ihnen den 87 Birmel¦, Probleme. 88 Ders., Leuenberger Konkordie, 22. 89 Das Projekt der gemeinsamen Synode wurde vor allem in den 1990er Jahren diskutiert, hat aber mittlerweile an Schwung verloren. Vgl. Schwier, Präsenz. 90 Seim, Diversity. 91 Raiser, Bericht. Seim zitiert Raisers Konzept des ›ecumenical space‹, welches sich an der postmodernen Theorie des ›dritten Raumes‹ orientiert. Zum ›dritten Raum‹ vgl. Bhabha, The third space. Seim kommt jedoch zu dem Urteil: »There is an affinity between this language of space and the affirmation of diversity. But in fact it blurs any distinction between division, difference and diversity, and helps evade controversial issues of structure. […] Apart from mingling in the same space, there is no impetus towards change, no need for transformation through reconciliation, no insistence on patterns of accountability but for the willingness to come together.« Seim, Diversity, 333. 92 Conference of European Churches, Council of European Bishops’ Conferences, Charta.

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Begriff der Identität als entscheidende Kategorie gegenüber. Auch sie zeigte, dass im westlichen Diskurs Identität oft als Resultat individueller Entscheidung definiert wird und als positiver Wert eine Nähe zu demokratischen Prinzipien wie Gleichheit und Meinungsfreiheit besitzt. Individualismus könne jedoch auch negative Konsequenzen haben und die Rede von der Koexistenz stabiler, individuell konfigurierter Identitäten berge Gefahren, insbesondere bei der Übertragung auf konfessionelle oder nationale Zusammenhänge. Willentliche Abgrenzung gegenüber anderen Identitäten, z. B. durch Ethnizismus und Nationalismus, sei verbunden mit Machtansprüchen und beruhe auf der wiederholenden Erinnerung an historische Verletzungen. Wo solche Verletzungen aber als identitätskonstitutiv erlebt würden könnte es geschehen, dass Gemeinschaften in einen Kreislauf der gegenseitigen Ablehnung eingeschlossen blieben, der durch »Diversitäts-Enthusiasmus« auf politischer Ebene verschleiert würde. Die christliche Auffassung von Identität sei demgegenüber aber eine andere. Identität ereigne sich als Befreiungserfahrung, weil Trennungen aufgrund von Geschlecht, Ethnie und sozialer Stellung in der Gemeinschaft mit Jesus Christus aufgehoben werden. Auf den Begriff der Versöhnten Verschiedenheit übertragen müsste das bedeuten, dass es nicht einfach darum ginge Verschiedenheiten gut zu heißen und zu entdramatisieren, wie es im liberalen Denken geschieht, sondern sie zu erkennen als Zustand des Leidens an schuldhafter Trennung, der der Versöhnung bedarf. Manche ökumenische Dokumente wie etwa die Charta Oecumenica würden diesen Unterschied nicht ausreichend in den Blick nehmen und im Zuge dessen würden auch staatliche Identität und christliche Identität zu schnell in eins gesetzt. Der Auftrag der christlichen Kirchen sei aber nicht die Aufrechterhaltung von politischen Herrschaftsstrukturen – im Gegenteil. Nur indem sie den Mangel an Versöhnung in der Welt wahrnehmen und demgegenüber die versöhnende Botschaft des Evangeliums bezeugen, werden Kirchen selbst als Werkzeuge des identitären Wandels sichtbar. The immediate and urgent mission of Protestant churches in Europe is not to convince the strong and mighty about one’s suitability as a uniting moral force. It is rather to constantly question any place of power, to be an independent voice, a sign and instrument of reconciliation in transparent process of integration.

Christliche Identität, die auf die Überwindung von reduzierenden Zuschreibungen abzielt, müsste deshalb andere Strategien anwenden. Weder mit der schlichten Profilierung und der Konfrontation von identitären Profilen noch mit dem indifferenten Rückzug auf den gesellschaftlichen status quo dürfe man sich zufrieden geben:

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The mission of Protestant churches in Europe is not to seek to become a privileged instrument or to establish identity primarily through protest and resistance. What is the positive identity in ›ecclesia semper reformanda‹?93 […] The mission of the churches is to initiate a learning process of mutuality through a methodology of listening and mutuality, that is a methodology of dialogue, where the Other is not made secondary and enemy images are abolished. This is indeed the truth of the biblical vision of unity as it is expressed in the baptismal formula in Gal. 3,26 – 28. The basic categories of opposition are brought together in unity and the polarization by otherness is challenged, – not to become equal in terms of sameness or similarity, but by taking on Christ, who came among us as one who serves knowing each one of us by name.94

Die ökumenische Methode, die auch die Methode der Konkordie selbst ist, zeigt dass Versöhnung dadurch gelingt, dass man aufeinander hört, dass die Verletzung des anderen anerkannt und die Wiederholung kollektiver Stereotypen eingestellt wird. Ökumene hat nicht Bereicherung oder Kontrolle zugunsten eines einzigen konfessionellen Ausdrucks im Sinn, sondern verfolgt einen gemeinsamen Identitätswandel, der die Mühe der Reflexion konfessioneller Spezifika nicht scheut. Die Sichtbarkeit der Kirchen in Europa sollte den Machtverzicht und die Hingabe an den Anderen zum Ausdruck bringen. In diesem Sinn politisch zu handeln würde für die Kirchen bedeuten, denjenigen Raum zu geben, die sonst nirgendwo angehört werden. Die eigentliche Sichtbarkeit der Kirchen wäre Kenose, d. h. Selbstaufgabe, und würde bedeuten, ihre Identität in Solidarität zu finden – nicht mit den Wenigen, sondern mit den Schwachen und unter dem Zeichen des Kreuzes. Das Bemerkenswerte an Seims Referat war, dass aus einer radikalen Perspektive der theologia crucis vorgetragen wurde, wodurch implizit mehrere entscheidende Anliegen der Debatte um die ekklesiale Struktur der Kirchengemeinschaft subvertiert wurden. Identitäre Abgrenzung wurde als Machtstreben, Verschiedenheit als leidvolle Trennung und Rückzug als eigentliche Sichtbarkeit re-definiert. Seims Referat wurde von den Delegierten der Kirchen in Belfast 2001 keinesfalls enthusiastisch aufgenommen, sondern im Gegenteil als Provokation aufgefasst. Es kam zu einer heftigen, wenngleich wenig konstruktiven Auseinandersetzung mit dem ebenfalls anwesenden deutschen Theologen Eilert Herms, dessen Programm der Vertiefung konfessioneller Unterschiede Seims Vortrag implizit angegriffen hatte.95 Eine bei weitem positivere Reaktion erntete das Referat von Wolfgang Huber, 93 Seim, Diversity, 337. 94 Ebd., 339. 95 Die Debatte im Plenum ist im Tagungsband nicht dokumentiert. Für die vorliegende Untersuchung stellte das Sekretariat der GEKE den Tonbandmitschnitt zur Verfügung. Zu Herms’ Theorie vgl. Herms, Kraft.

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der auf der darauffolgenden Vollversammlung der GEKE in Budapest im Jahr 2006 vortrug. Das Thema der Veranstaltung lautete Gemeinschaft gestalten – Evangelisches Profil in Europa. Nicht nur bei der Rolle der Kirchen im politischen Geschehen, sondern auch im Blick auf den ökumenischen Dialog setzte Huber deutlich andere Akzente als Seim in ihrem Referat fünf Jahre zuvor. Man könnte sogar sagen, dass er in einigen Punkten – insbesondere in der Frage der Synergie von Kirche und Politik bzw. der Identifikation der Kirchen mit politischen Zielen – eine zu dem Vortrag Seims konträre Position einnahm. Besonders auffällig war seine positive Sicht auf die Charta Oecumenica und deren wegweisende Bedeutung für den Platz der Kirchen im politischen Europa.96 Hatte Seim noch den Unterschied zwischen der Logik der ökumenischen Dialoge einerseits und den Strategien der politischen Integration andererseits herausgestellt, so wurde die Nähe des Modells der Versöhnten Verschiedenheit zum europapolitischen Konzept der Einheit in Vielfalt von Huber ausdrücklich betont. In beiden Modellen sei eine Pluralität von Identitäten und Überzeugungen angelegt, die nach Aushandlungsstrategien verlangten und sich deshalb gegenseitig bereichern könnten. Die reformatorischen Kirchen seien wegen ihrer dezentralen Organisationsstruktur, die auf die Befreiung und die Beteiligung des Einzelnen abziele, besonders geeignet, den politischen Prozess der europäischen Integration zu fördern. Die Kirchen müssten sich verstärkt mit gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen und aufkeimenden fundamentalistischen Tendenzen wehren. Die Wahrnehmung demokratischer Rechte und Pflichten sei ein Arbeitsfeld der christlichen Ethik, in das noch mehr Kraft als bisher investiert werden müsse. Seims Vorschlag, die christliche Identität in der Bereitschaft zu Wandel und Rückzug erkennbar werden zu lassen und sich dadurch deutlich von politischen Selbstbehauptungsstrategien abzugrenzen wurde nicht erneuert. Huber plädierte für eine »klare[n] und gut erkennbare[n]« Identität der reformatorischen Kirchen in der Öffentlichkeit und im ökumenischen Dialog. Unter dem Stichwort »Ökumene der Profile« widmete sich Huber besonders dem Verhältnis der GEKE zur römisch-katholischen Kirche. Er setzte sich für eine deutlichere Formulierung der kirchentrennenden Unterschiede ein. Es sollen nicht alte, schon überwundene Gegensätze künstlich wieder belebt werden, um sich zu profilieren. Wohl aber sollen zentrale, für den jeweiligen Glauben unhintergehbare Einsichten ebenso fair wie klar benannt werden. Eine präzise Beschreibung dieser Einsichten ist darum der erste Beitrag zu einer Ökumene der Profile.

Dieses Zulassen der Betonung kirchentrennender Unterschiede interpretierte Huber als Zeichen der Anerkennung. An die Adresse der römisch-katholischen 96 Huber, Hauptreferat.

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Kirche vor dem Hintergrund der im Jahr 2000 von Rom verlautbarten Erklärung Dominus Iesus erklärte Huber : »die Verweigerung des Respekts vor dem Kirchesein eines ökumenischen Partners ist kein geeignetes Mittel, die Gemeinschaft mit ihm wachsen zu lassen«. Nichtdestotrotz hielt Huber an der Möglichkeit fest, auch in getrennten Kirchen den missionarischen Dienst an der Welt zu versehen: Ökumenisch verbunden sind wir nicht zuletzt durch den Auftrag zu einem gemeinsamen Wirken nach außen. Dieses wird nicht geschwächt, wenn die bleibenden Unterschiede zwischen den Kirchen hervortreten und verständlich gemacht werden. Es wird vielmehr dann geschwächt, wenn die Kirchen zwar voneinander getrennt bleiben, aber niemand weiß warum. Wenn die Kirchen in Europa auf je unterschiedliche Weise dazu beitragen, dass das eine Evangelium die Menschen erreicht, brauchen sie sich ihrer Unterschiede nicht zu schämen.

Der Identitätsdiskurs in der GEKE zeigt, dass die Spannung zwischen ökumenischer Öffnung bzw. Identitätswandel und Profilierung, die schon am Anfang der Post-Leuenberg-Arbeit zu beobachteten war, bis heute ein Thema ist. Stimmen, die den Wandel der reformatorischen Identität bis hin zur Selbstaufgabe befürworten, treffen bald auf Widerstände. Die Entwicklung von Belfast nach Budapest lässt den Schluss zu, dass es innerhalb der GEKE eine stärkere Tendenz zur reformatorischen Selbstvergewisserung und zur Profilökumene gibt, die auf Kosten der ökumenischen Öffnung gehen könnte. Im französischen Kontext lässt sich zeigen, dass derartige Tendenzen als Reaktion auf den äußeren gesellschaftlichen Druck unter den Bedingungen der Minderheitssituation zu Stande kommen. Hier, auf dem Niveau der internationalen ökumenischen Institutionen, scheint es ebenfalls die Notwendigkeit der Profilierung – allerdings gegenüber der katholischen Kirche einerseits und dem europolitischen Umfeld andererseits – zu sein, der dazu führt, dass man die Wiedererkennbarkeit der eigenen Identität betont, um sich als berechenbaren Ansprechpartner aller protestantischen Kirchen darzustellen.

4.2.4 Textgebrauch Ein drittes Kriterium, an dem sich zeigen könnte, ob Ricœurs ökumenischer Ansatz in der Praxis zutrifft, ist der Gebrauch der ökumenischen Dokumente. Wir hatten gezeigt, dass Ricœur zwischen der ökumenischen Erfahrung und ihrer juristischen Institutionalisierung in Texten klar unterscheidet, wobei der Weg zunächst von der Erfahrung zum Text verläuft. Aber auch die umgekehrte Bewegung, nämlich dass der Text seinerseits Grundlage neuer Erfahrungen wird, ist im Anschluss an Ricœurs Theorie denkbar. Texte, welche die Fähigkeit

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besitzen, eine breite Leserschaft – nicht nur theologische Experten – für ökumenische Gedanken zu begeistern, müssten solche sein, die eine Poetizität entwickeln und eine Utopie der Brüderlichkeit vermitteln können. Die Frage ist nun, ob die Leuenberger Konkordie dazu in der Lage sein könnte. Eine Voraussetzung dafür wäre, dass die Konkordie eine breite Leserschaft findet und zwar unter interessierten Gemeindegliedern, beispielsweise denjenigen, die in den protestantischen Kirchen in Frankreich an einer größeren ökumenischen Einheit interessiert sind. Leider deuten die wenigen Rezeptionsstudien97 zur Leuenberger Konkordie darauf hin, dass diese auf der Gemeindeebene ihrer Unterzeichnerkirchen nicht sehr bekannt ist. Die französischen Kirchen bilden dabei kaum eine Ausnahme.98 Ein großes Hindernis für die Rezeption der Konkordie an der Basis stellt zudem der Stil dieser Erklärung dar. Die kompakte Argumentation, die sich einer traditionellen theologischen Terminologie bedient, bietet nur wenig Anknüpfungspunkte für die Gemeindewirklichkeit. Im schlimmsten Fall führt dies zu Unverständnis und ablehnenden Reaktionen gegenüber dem ganzen ökumenischen Projekt, wie die Stellungnahme eines französischen Pfarrers zeigt: Texte wie die Leuenberger Konkordie regeln die Konflikte des 16. Jahrhunderts und erlauben einen neuen Blick auf die Sichtweisen von früher, auf die kulturellen Voraussetzungen und die begrifflichen Instrumente, über welche die Theologen jener Zeit verfügten. Aber die verwendete Methode schließt uns in die Debatten der Reformationszeit ein, selbst wenn sie uns dazu aufruft, die Widersprüche zu überwinden. Wie lässt sich in diesem oder im größeren ökumenischen Rahmen wirklich auf eine neue Weise denken, ohne dass man nur seine Zeit damit verbringt, die Konflikte von früher zu lösen?99

Auf der Ebene der Gemeindeglieder, d. h. dort, wo die ökumenische Annäherung sich tatsächlich vollzieht, scheint der Einfluss der Konkordie ganz gering zu sein. Wie unsere Darstellung der Vorgänge in den 1960er Jahren zeigte, ist das wiederum kein Hinderungsgrund für das Zustandekommen ökumenischer Anerkennung. Ob Menschen verschiedener Konfessionen aufeinander zugehen und sich um die Überwindung bestehender Konflikte und Verletzungen bemühen, ist auch in Frankreich nicht an das Vorhandensein offizieller Texte gebunden. Gleichwohl zeigt die jüngste Vergangenheit, dass die Leuenberger Konkordie auf der Ebene der Entscheidungsgremien der protestantischen Kirchen Frankreichs plötzlich wieder sehr relevant geworden ist. Bedeutung erlangte die 97 Zur ungenügenden Erforschung der Rezeption in: Hoburg, Frieden, 26; Birmel¦, Konkordie und Kirchengemeinschaft. Berichte zur Umsetzung der Leuenberger Konkordie in einzelnen Signatarkirchen bei Brandt, Lehren; Friedrich, 30 Jahre, 82; Parmentier, Erfahrungen; M‚rkus, Erfahrungen; Witvliet, Experiences. 98 Houtepen, Konkordie, 80. 99 Cardon-Bertalot, Les accords, 69.

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Konkordie im Zuge der Unionsprojekte, zu denen sich alle vier reformierten und lutherischen Kirchen in den letzten Jahren entschlossen haben. Fast 50 Jahre nach der Vollversammlung von Montb¦liard, etwa 40 Jahre nach den Thesen von Lyon, nahmen die evangelischen Kirchen in Frankreich erneut zwei Einheitsprojekte in Angriff, um der zwischen ihnen bestehenden Kirchengemeinschaft endlich auch strukturell Ausdruck zu verleihen. Im Jahr 2006 wurde die UEPAL gegründet, die Union des Êglises Protestantes d’Alsace et de Lorraine. Bei diesem Zusammenschluss der Lutheraner und der Reformierten in Alsace-Moselle handelt es sich eher um die Bildung eines Dachverbandes als um eine wirkliche institutionelle Kircheneinheit.100 Dass man strukturell nicht weiter ging, die existierenden Strukturen im wesentlichen beibehielt und nur um ein paar gemeinsame Organe ergänzte, liegt vor allem daran, dass man den bestehenden Staatskirchenvertrag, der den Kirchen erhebliche Vorteile bringt, unter keinen Umständen auflösen wollte. Beide Kirchen – ECAAL und ERAL (seit der Union umbenannt in EPCAAL und EPRAL) – behalten daher ihre jeweiligen Verwaltungsgremien, erhalten jedoch eine gemeinsame Vollversammlung sowie einen gemeinsamen Rat und legen außerdem die Verwaltung ihrer Pfarrstellen, ihre Öffentlichkeitsarbeit und die meisten kirchlichen Dienste zusammen. Gegenüber dem bisherigen Zustand stellt all das freilich keine allzu große Veränderung dar, weil man auch vorher schon durch den CPLR in vielen entscheidenden Bereichen zusammengearbeitet hatte und weil die verbliebenen theologischen Differenzen nicht zuletzt dank der Leuenberger Konkordie in der Praxis keine kirchentrennende Bedeutung mehr hatten. Auch ERF und EELF, die protestantischen Kirchen in Innerfrankreich, betrieben seit 2003 ein Unionsprojekt.101 Im Mai 2012 wurde die Kirchenunion offiziell beschlossen. Anders als in Alsace-Moselle strebte man hier eine höhere strukturelle Verbindlichkeit und mittelfristig auch ein gemeinsames Bekenntnis an. Die jahrzehntelangen Einheitsbemühungen der französischen Protestanten haben also doch noch zu sichtbaren Resultaten geführt. Der oben zitierten Polemik ungeachtet, hat die Leuenberger Konkordie dabei eine bedeutende Rolle gespielt. Als kirchenrechtlich und theologisch verbindliches Dokument hat sie eine Kircheneinheit bezeugt, die im Rahmen der laufenden Strukturreformen nicht mehr erarbeitet werden musste, sondern auf die man sich berufen konnte. Das hat den Prozess der Unionen sehr erleichtert. Gewiss wäre es übertrieben, die französischen Kirchenunionen als Akt der Rezeption der Konkordie anzusehen. Die Unionen stellen zwar durchaus ein Rezeptionsereignis dar, allerdings kann dieses nicht monokausal durch die Konkordie erklärt werden. Dazu waren die Umstände doch zu komplex und es bedurfte im Laufe des Unionsprozesses 100 Hauss, Formen. 101 Dautheville, L’avenir.

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erheblicher organisatorischer Feinjustierungen, welche von den Verfassern der Konkordie unmöglich voraussehbar waren. Aber gewiss gibt es eine starke hermeneutische Parallele zwischen der Konkordie und der Methodik dieser Kirchenunionen. Sie besteht in der Bejahung des gemeinsamen Identitätswandels, dem nun auch endlich strukturell Rechnung getragen wurde. In einem Interview zweier Theologen aus der Reformierten Kirche Frankreichs wird dieser Identitätswandel greifbar : Hubert Bost: Was mich überrascht […], ist, dass es gegenüber der Leuenberger Konkordie, die das Ursprungsmoment auf europäischer Ebene war, vierzig Jahre, d. h. zwei Generationen gedauert hat, bis die Zeit reif war und der Konsens in der Lehre in eine Kirchenunion übersetzt wurde. Laurent Schlumberger : Ja, es hat Zeit gebraucht. Trotzdem muss man sich fragen, warum es gerade jetzt beginnt. Tatsächlich ist die Leuenberger Konkordie, d. h. die europäische Ökumene, das entscheidende Moment gewesen. Sie ist aber auch begleitet, vereinfacht und ermöglicht worden durch die umfassendere ökumenische Arbeit. Nach und nach lernt man in den verschiedenen Kirchen zusammenzugehen und zusammenzuarbeiten. Das geschieht innerhalb eines größeren Protestantismus, der sich in diesem Geist weiterentwickelt. Ein drittes Element kommt hinzu. In der Êglise Reform¦e de France war man seit der Nachkriegszeit bis zu Beginn der 2000er Jahre ziemlich gespalten. Es gab Strömungen und Widerstände, man musste seine Position einnehmen und man war manchmal ein wenig intolerant. Jetzt entspannen sich die Dinge etwas. Strömungen und Meinungsverschiedenheiten gibt es nach wie vor, aber man bemüht sich jetzt mehr darum, das gemeinsam zu leben. Ich denke, dass es das ist, was die lutherisch-reformierte Union gerade in diesem Moment möglich macht. Wir haben uns aufgrund von all dem von einem Nebeneinander in der Kirche zu einer Haltung der Gastfreundschaft entwickelt. Wir wissen jetzt, dass wir den Anderen brauchen, da wo wir ihn empfangen und dass auch wir von ihm empfangen werden. Vielleicht ist die lutherische-reformierte Union eine Frucht dieses gemeinsamen Weges und dieser Anstrengungen.102

Wenn wir nun näher betrachten, in welchem Sinn die Konkordie in den Unionsbemühungen zitiert wird, so wird schnell klar, dass es ihr kirchenrechtlicher Status ist, auf den es bei ihrer Relektüre durch die Kirchen ankommt. Das was Ricœur als Inkognito der Versöhnung bezeichnete, nämlich die Fähigkeit offizieller Texte, die Versöhnung als status quo festzuschreiben und dadurch ehemals konflikthafte Beziehungen dauerhaft zu normalisieren, ist offenbar der wichtigste Gebrauch, der von der Konkordie gemacht wird. Wenn auf die Konkordie offiziell Bezug genommen wird, zitiert man nicht etwa die Darstellung des Versöhnungsprozesses in den Anfangsparagraphen, sondern stets die konkreten theologischen Aussagen und man beruft sich auf deren juristische bzw. dogmatische Autorität. Die wichtigste Funktion der Konkordie ist also ihre lehr102 o.A., Une discussion entre Laurent Schlumberger.

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amtliche. Man zitiert die Konkordie, wenn es darum geht, die theologischen Grundlagen der Kirchenunion plausibel zu machen. Bis in die Verfassung der neuen Unionskirche hinein lässt diese Funktion sich nachvollziehen. In ihrer Präambel wird dort, wo die neue Kirche ihr Selbst- und Kirchenverständnis ausdrückt, ausführlich aus der Leuenberger Konkordie zitiert: Mit den Kirchen, die durch die Leuenberger Konkordie vereint sind, erkennt die Unierte Protestantische Kirche Frankreichs an, dass die ausschließliche Heilsmittlerschaft Jesu Christi die Mitte der Schrift und die Rechtfertigungsbotschaft als die Botschaft von der freien Gnade Gottes Maßstab aller Verkündigung der Kirche ist.103 Indem sie bezeugt, dass nach reformatorischer Einsicht […] darum zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend ist, erkennt sie an, dass die Einheit, die in Jesus Christus geschenkt ist, Schritt für Schritt, aber so sichtbar wie möglich, aufgebaut und ausgedrückt werden muss im Sinne von Zeugnis und Dienst der Kirche in der Welt.104

Der Gebrauch der Konkordie zeigt, dass die lehramtliche Funktion ökumenischer Texte und das durch sie ausgedrückte Inkognito der Versöhnung, entscheidend dazu beiträgt, Annäherungsprozesse zwischen Kirchen voranzubringen. Im vorhergehenden Abschnitt versuchten wir, das Sinnangebot eines ökumenischen Identitätswandels in der Konkordie nachzuweisen. Obwohl es dafür Anhaltspunkte gibt und obgleich der Text der Konkordie narrative Elemente aufweist, die unter Umständen Anknüpfungspunkte für eine kollektive Identität bieten könnten, ist die Leuenberger Konkordie gewiss kein poetischer Text und sie besitzt auch nicht das Potenzial, allein durch ihren appellativen Charakter das ökumenische Engagement einer breiten Leserschaft zu wecken und diese zur Selbstreflexion anzuregen. Dazu ist der Text seiner Gestalt nach zu knapp gehalten und zu sehr auf seine theologische Aussage und seine praktischen Konsequenzen konzentriert. Gleichwohl stellt er das Memorandum einer bestimmten gemeinsamen Erfahrung dar und er besitzt überdies aufgrund der offiziellen Unterzeichnung vieler Kirchenleitungen ein erhebliches kirchenpolitisches Gewicht. Auf diese Weise markiert die Konkordie eine Schwelle der Anerkennung zwischen Lutheranern und Reformierten, die – einmal genommen – nicht wieder unterschritten werden kann. Wir zeigten, dass in Frankreich vor Abschluss der Konkordie und vor den Kirchenunionen an der Basis ökumenisch zusammengearbeitet wurde. Auf institutioneller Ebene hat man darauf jedoch lange Zeit nicht reagiert. Dass es 103 Vgl. Leuenberger Konkordie, § 12. Es folgen in der Präambel weitere Zitate aus der Leuenberger Konkordie. 104 Êglise Protestante Unie de France, Projet, 5.

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schließlich doch dazu kam, hatte ohne Zweifel etwas damit zu tun, dass man mit der Konkordie und der europäischen Kirchengemeinschaft über einen institutionellen Rahmen verfügte, der seit den 1970er Jahren einen ökumenischen Raum eröffnete und dem Anliegen, die Einheit der Kirchen sichtbarer als bisher zu leben, Nachdruck verschaffte. Ricœurs Anspruch an ökumenische Texte scheint die Konkordie nur teilweise einzulösen. Ihre kirchenrechtliche Bedeutung ist dominierend, während sich die Poetik des Textes in den vorliegenden Verwendungen nicht wiederfinden lässt. Auch die Sensibilisierung für die legitime Unterschiedlichkeit der Interpretationswege findet im Text der Konkordie nur eingeschränkt statt. Es werden gerade nicht die verschiedenen Interpretationswege benannt, sondern es wird der gemeinsame Konsens im Verständnis des Evangeliums und seiner Weitergabe herausgestellt. Die gegenseitige Anerkennung, von der in der Konkordie die Rede ist, ist also weniger die Anerkennung der legitimen Andersheit der anderskonfessionellen Interpretationen, sondern eher die Anerkennung des gemeinsamen Grundkonsenses, der erstere ein Stück weit überflüssig macht. So bietet sich uns am Ende dieses Kapitels zur Rezeption der Leuenberger Konkordie in Frankreich ein ambivalentes Bild. Ob dieser Prozess mit einer gegenseitigen Anerkennung der Alterität einhergeht, wie Ricœur sie sich vorstellte, ist nicht zweifelsfrei zu beurteilen. In den Äußerungen von ökumenischen Theologen, aber auch von Kirchenleitern – wie dem aktuellen Präsidenten der ERF Laurent Schlumberger – gibt es starke Hinweise auf ein solches Verständnis und die Absicht, es vor Ort sichtbar werden zu lassen.105 Besonders die Kirchenunion in Innerfrankreich scheint der Logik der Konkordie und auch der Haltung Ricœurs Recht zu geben, insofern darin sowohl der Wert der Gastfreundschaft als auch der innerreformatorische Mentalitätswandel hin zu einer Anerkennung des Anderen als gleichberechtigtem Ausdruck der einen Kirche Jesu Christi bejaht werden. Doch es gibt auch Momente der eigensinnigen Profilierung und Rekonfessionalisierung, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob nicht der Gedanke der Gastfreundschaft sich letztlich dem Wunsch nach Wiedererkennbarkeit auf nationaler Ebene beugen muss. Die Entwicklungen der GEKE auf internationaler und nationaler Ebene wird in den nächsten Jahren darüber Aufschluss geben, ob man mit der Einheit in versöhnter Verschiedenheit eine Legitimierung der Unterschiede verfolgt, die das Risiko der Selbstgenügsamkeit mit sich bringt oder ob man an einem anhaltenden Versöhnungsprozess interessiert ist, in dem man sich nicht scheut, vom Anderen hinterfragt und verändert zu werden.

105 Schlumberger, Message; ders., T¦moins, 340 f.

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Beispiele aus der Praxis der ökumenischen Rezeption

Die Groupe des Dombes

4.3.1 Vorstellung Weitere Hinweise auf die Relevanz von Ricœurs Ansatz für die Praxis ökumenischer Prozesse können wir aus der Arbeit der Groupe des Dombes gewinnen. Die Groupe des Dombes ist eine ökumenische Initiative, die seit 75 Jahren auf dem Gebiet des katholisch-evangelischen Dialogs tätig ist. Gegründet wurde sie im Jahr 1937 in Folge eines Treffens von katholischen Priestern aus Frankreich und reformierten Pfarrern aus der Deutschschweiz.106 Auf beiden Seiten hatte man sich unabhängig voneinander das Gebet für die Einheit der Kirche zur Aufgabe gemacht. Der Impuls, welcher schließlich zur Bildung der ökumenischen Gruppe führte, kam von dem in Lyon tätigen Abb¦ Paul Couturier. Kurz bevor er die Groupe des Dombes ins Leben rief, war Couturier bereits durch eine andere ökumenische Initiative hervorgetreten. In den 1930er Jahren hatte er darauf hingewirkt, dass die Gebetsoktav für die Einheit, d. h. das Gebet für die Rückkehr aller Glaubenden in den Schoß der römisch-katholischen Kirche, umgewandelt wurde in die »Gebetswoche für die Einheit der Christen«. Diese Gebetswoche sollten alle Kirchen gemeinsam feiern. Von Schuldzuweisungen für die Kirchentrennung wollte Couturier Abstand nehmen. Das Gebet sollte vielmehr dazu dienen, den schmerzlichen Verlust der sichtbaren Katholizität der Kirche bewusst zu machen und seine Heilung als spirituellen Prozess zu begreifen, der ein Schuldeingeständnis jeder einzelnen Kirche forderte. Tatsächlich wurde die Gebetswoche erstmals im Jahr 1936 von Couturier und seinen Mitstreitern begangen. Drei Jahrzehnte später, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, wurde sie zu einem festen Bestandteil des ökumenischen Engagements auf katholischer wie auf evangelischer Seite. Das Fundament, auf dem die Initiative der Gebetswoche beruhte, war auch für die Arbeit der Groupe des Dombes prägend – ein spiritueller Ökumenismus im Sinne Couturiers, der jeglichen Proselytismus unter den Glaubenden anderer Konfessionen ablehnte und stattdessen bei der Suche nach der Einheit der Kirchen auf die Kraft des gemeinsamen Gebets setzte. Mit der Gründung der Groupe des Dombes beabsichtigte Abb¦ Couturier, den spirituellen Ökumenismus durch interkonfessionelle Gespräche zu ergänzen, um auf diese Weise den intendierten ökumenischen Gesinnungswandel auch theologisch zu reflektieren. Die theologische Reflexion sollte der spirituellen Wechselseitigkeit aber nicht gegenübergestellt werden. Vielmehr sollte der 106 Die Entwicklung der Groupe des Dombes kann an dieser Stelle nur summarisch dargestellt werden. Eine ausführlichere Studie zur Konstituierung der Gruppe findet sich in: Clifford, Groupe des Dombes.

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theologische Diskurs aus der Gebetsgemeinschaft organisch hervorgehen. Die Groupe des Dombes war also von Anfang an mehr als nur eine theologische Dialoggruppe und sie hat diesen besonderen Charakter bis heute behalten. Ihre ökumenischen Beiträge sind zu gleichen Teilen das Resultat der intensiven theologischen Reflexion und der gemeinsamen spirituellen Praxis während der Zusammenkünfte.107 Es dauerte einige Jahre, bis die Gruppe zu einer festen Form fand. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs löste sich die ursprüngliche Gemeinschaft auf und kam 1946 in neuer Besetzung wieder zusammen. Alle Teilnehmer kamen von da an aus dem französischsprachigen Raum. Als Ort für die Treffen wählte man entweder protestantische Pfarrhäuser oder monastische Gemeinschaften, die eine Affinität zur ökumenischen Bewegung hatten und einen geeigneten Rahmen für die Gebetsgemeinschaft in der Gruppe bieten konnten. Bis Ende der 1960er Jahre wechselte man zwischen den Kommunitäten von Presinge, Grandchamps, Taiz¦ und der Zisterzienserabtei Abbaye des Dombes. Letztere blieb dann bis zum Ende der 1990er Jahre der feste Versammlungsort und gab der Gruppe ihren Namen. Seit 1997 finden die jährlichen Zusammenkünfte in der Abtei von Pradines statt. Fast zwei Jahrzehnte lang, bis Mitte der 1950er Jahre, blieben die Aktivitäten der Gruppe weitgehend unbemerkt. Man konzentrierte sich auf das Gespräch untereinander und hatte nicht die Absicht, mit den Ergebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen. Erst ab 1956 begann man damit, Thesenreihen zu verfassen, die jeweils den im theologischen Gespräch erreichten Konsens der Gruppe zu einem bestimmten Thema aussagten, allerdings noch nicht veröffentlicht wurden. Ab 1971 änderte sich die Strategie der Gruppe gegenüber der ökumenischen Öffentlichkeit grundsätzlich. Man fing an, Langtexte herauszugeben, die einen appellativen Charakter hatten und Vorschläge und Anregungen für alle Ebenen des ökumenischen Dialogs enthielten.108 In dieser Art sind seither elf Dokumente erschienen. Sie beschäftigen sich überwiegend mit klassischen kontroverstheologischen Themen, wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf dem Amtsund Kirchenverständnis liegt. Seit Anfang der 1990er Jahre werden zunehmend auch allgemeine Fragen der ökumenischen Hermeneutik explizit in den Texten verhandelt. Inzwischen besteht die Gruppe aus 40 Theologinnen und Theologen, die zu gleichen Teilen der römisch-katholischen und den evangelischen Kirchen angehören. Einmal pro Jahr trifft man sich für drei Tage. Obwohl viele der Teilnehmenden in ihren jeweiligen Kirchen wichtige ökumenische Funktionen be107 Hammann, Aspects, 40. 108 Sämtliche Thesenreihen sowie die Langtexte, die bis 1987 erarbeitet wurden, sind nachzulesen in: Groupe des Dombes, Pour la communion.

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gleiten, hat die Groupe des Dombes einen gänzlich privaten Status. Das bedeutet, dass man ohne ein offizielles Mandat der Kirchenleitungen arbeitet. Dennoch sind die publizierten Dokumente an die Adresse der Kirchen und Kirchenleitungen gerichtet, wo sie durchaus auch wahrgenommen und kommentiert werden. Die Dokumente der Groupe des Dombes entstehen aus der theologischen Diskussion während der Treffen. Die Gruppe folgt einem konsensuellen Ansatz, d. h. man diskutiert fast ausnahmslos im Plenum und unter Beteiligung aller. Die Arbeit an einem Thema nimmt mehrere Jahre in Anspruch, in denen ein gemeinsamer Text redigiert und schließlich unter dem Namen der Gruppe publiziert wird. Die Mitglieder werden durch Kooptation in die Gruppe gewählt und bleiben dort oft für einen langen Zeitraum. Dieser Umstand führt, ebenso wie die Gebets- und Abendmahlsgemeinschaft, zu einer starken Vertrauensbeziehung zwischen den Teilnehmenden, die in diesem Maße sicherlich nur selten in offiziellen ökumenischen Gruppen anzutreffen ist und die Entstehung mancher weitreichender ökumenischer Konsense nachvollziehbar macht. Auch von Seiten der Kirchen ist diese besondere Qualität der ökumenischen Arbeit inzwischen anerkannt worden. So hat beispielsweise die römisch-katholische Kirche der Groupe des Dombes ihre indirekte Zustimmung zur wechselseitigen Teilnahme am Abendmahl gegeben.109 Das gemeinsame Gebet und die engen persönlichen Beziehungen der Gruppenmitglieder unterstreichen, dass es sich beim ökumenischen Dialog um einen integralen Prozess der Reifung handelt, in dem die persönliche Öffnung gegenüber dem Zeugnis anderskonfessioneller Christen mit der wachsenden Bereitschaft zur Einheit der Kirchen Hand in Hand geht. Diese Einsicht hatte bereits der Gründer der Gruppe, Abb¦ Paul Couturier, geäußert. Obwohl er aus einem äußerst konservativen katholischen Milieu stammte, wurde er im Laufe seines Lebens zu einem Verfechter des ökumenischen Dialogs. Grund dafür waren einerseits Begegnungen mit orthodoxen Christen, die in den 1930er Jahren als Flüchtlinge nach Lyon kamen. Zum anderen prägten ihn auch seine Kontakte zu dem liberalen katholischen Bildungsbürgertum Lyons und zu lebensphilosophisch orientierten Kreisen. All das trug dazu bei, dass Couturier sich dafür einsetzte, die kirchliche Einheit auf dem Weg der Mitmenschlichkeit und des Gebets, keinesfalls aber unter der Prämisse der bloßen Observanz des Lehramts, zu erreichen. Diese Suche war für Couturier nicht zu trennen vom Gegenstand der Theologie schlechthin – der beständigen Aktualisierung der Wahrheit in Jesus Christus. Wenn der Auftrag aller Glaubenden darin besteht, die Wahrheit der Offenbarung in Jesus Christus authentisch wahrzunehmen und weiterzugeben, 109 Clifford, Groupe des Dombes, 114.

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so kann die Suche nach der ökumenischen Einheit sich nicht jenseits dieses Prozesses abspielen. Couturier betrachtete die Einheitssuche als Bestandteil eines Lebens auf Jesus Christus hin: Wie ereignet sich die Offenbarung? Gott spricht zu dem Menschen in seinem Inneren und verbindet sich mit seiner Mentalität. Er spricht zu einem bestimmten Menschen, einem bestimmten Volk, in einer bestimmten Zeit. Er bedient sich der Fortschritte und der Vereinigung der Mentalitäten, um seine Nachricht zu entwickeln und zu vertiefen. Es ist dem Menschen aufgegeben, die Nachricht dieser fortschreitenden Offenbarung erneut zu lesen [›relire‹], den Schleier zu heben über dem lebendigen, unerschöpflichen Wort. Nichts könnte schwieriger sein. Das große Problem bei der Relektüre der fortschreitenden Offenbarung besteht darin, den Inhalt herauszuschälen und ihn abzuheben von dem, was ihn beinhaltet und worin er sich eingegraben hat. Man muss den göttlichen Gedanken selbst unterscheiden von den Mentalitäten, die ihn bis hierher aufbewahrt haben.110

Für Couturier war klar, dass diese Aufgabe alle Kirchen betraf und keine sich rühmen könne, bereits im Besitz der ganzen Wahrheit zu sein. Der Tatsache, dass sich Jesus Christus immer wieder neu offenbart bzw. dass seine Offenbarung stets neu vermittelt werden und von den historischen Gestalten ihrer Übermittlung unterschieden werden muss, können die Kirchen nur durch die unumschränkte Bereitschaft zur Selbsttranszendenz entsprechen. Die Wahrheit Jesu Christi, so Couturier, kann demzufolge niemals authentisch ausgesagt werden, wenn die Kirchen sich nur auf die eigene Tradition berufen. Stattdessen müssen sie sich auf die ›Lektüre‹ der fortdauernden Offenbarung einlassen. Beeinflusst vom Denken des katholischen Philosophen Jacques Chevalier vertrat Couturier einen dynamischen Wahrheitsbegriff. Die Wahrheit als dynamisches Geschehen aufzufassen bedeutete unter anderem, sie als Erfahrung anzusehen und nicht als dogmatischen Besitz.111 Für das interkonfessionelle Gespräch entwickelte Couturier vor diesem Hintergrund die Vision einer christuszentrierten ökumenischen Spiritualität, die sich zwischen der Loyalität gegenüber der eigenen Tradition und der Dynamik der Selbsttranszendierung entfalten sollte. Indem er darauf hinwies, dass das Engagement für die Einheit keine Sache der institutionellen Konsolidierung, womöglich der eigensinnigen Bestätigung der eigenen Tradition sein könne, übte Couturier deutlich Kritik an der römisch-katholischen Kirche vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Zur sichtbaren Einheit der Kirchen zu finden war für ihn gleichbedeutend damit, authentischer als bisher im Sinne Jesu Christi zu leben. Im Dialog könne es deshalb nicht darum gehen, den Anderen zu bekehren, sondern gemeinsam mit ihm Gottes Offenbarung wahrzunehmen, sie reflexiv zu vertiefen und im Mit110 Ebd., 49 f. 111 Ebd., 52.

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einanderleben zu bestätigen. Couturier äußerte den Gedanken, dass das Gebet für die Einheit bedeuten müsse, sich gemeinsam zu Christus bekehren zu lassen und dadurch eine Konversion der exklusiven kirchlichen Gestalten dankbar in Kauf zu nehmen. Interessanterweise finden wir hier einen Gedanken wieder, den wir bereits aus den Überlegungen Paul Ricœurs herausgearbeitet hatten. Bei ihm wie auch bei Couturier deutet sich die Überlegung an, dass der ökumenische Dialog Teil des unausgesetzten Offenbarungsgeschehens bzw. seiner Deutung sein könnte. Wir wollen im Folgenden weiteren Hinweise darauf in der Arbeit der Groupe des Dombes nachgehen.

4.3.2 Rezeptionsverlauf Entspricht der Prozess der ökumenischen Rezeption, wie ihn die Groupe des Dombes sich vorstellt, dem Konzept von Paul Ricœur? Rekapitulieren wir. In Ricœurs Ansatz finden wir den Begriff der Rezeption als Synonym für den Begriff der Anerkennung gebraucht. Dieser Prozess der Anerkennung wiederum sollte sich zuerst unter den Glaubenden der beteiligten konfessionellen Gemeinschaften abspielen, bevor er auf institutioneller Ebene reflektiert und bestätigt wird. Die Anerkennung meint in Ricœurs Konzept nicht weniger als die Bereitschaft, zwischen der eigenen Position und der des Anderen zu übersetzen und dabei die Veränderung der eigenen Identität in Kauf zu nehmen. Das praktische Vorgehen der Groupe des Dombes bestätigt Ricœurs ökumenischen Ansatz gleich in mehrfacher Hinsicht. Die zwischenmenschlichen Erfahrungen in der Gruppe bilden den Ausgangspunkt für die später vorgelegten ökumenischen Instruktionen. Die Tatsache, dass die Gruppe ohne ein offizielles Mandat der Kirchenleitungen arbeitet, bestätigt zudem Ricœurs Überlegungen hinsichtlich der Bedeutung von nicht institutionalisierten ökumenischen Bewegungen. Natürlich muss man dabei in Rechnung stellen, dass die Mitglieder der Gruppe größtenteils exzellent ausgebildete Theologen und zum Teil auch Verantwortungsträger auf institutioneller Ebene sind. Aufgrund dieser doppelten Zugehörigkeit vieler Mitglieder zur kirchlichen Hierarchie einerseits und zur unabhängig arbeitenden Groupe des Dombes andererseits, stellt die Gruppe eigentlich einen ökumenischen Glücksfall dar. Die Rezeption von nicht wenigen ökumenischen Dialogen wird dadurch erschwert, dass sie aufgrund ihres theologischen Niveaus zu weit entfernt sind von der kirchlichen Realität bzw. dass es eben keine Verbindung zwischen den Dialoggruppen und den Kirchenleitungen gibt, welche die menschliche Erfahrung der gegenseitigen Anerkennung in den institutionell gesteuerten Rezeptionsprozess einbringen könnten. In der Groupe des Dombes ist das anders. In ihr verbinden sich in-

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stitutionelles Wissen und seelsorgerliche Anliegen mit der Erfahrung gelebter Geschwisterlichkeit, die – wie wir im letzten Kapitel zeigen konnten – für die gegenseitige Anerkennung der Kirchen über die offiziellen Verpflichtungen hinaus unerlässlich ist. Dies alles gibt den Dokumenten der Gruppe neben ihrer ökumenischen Tragweite auch eine gewisse Bodenhaftung und Anschlussfähigkeit an die institutionellen Realitäten. Die Vorgänge in der Gruppe, das wachsende Verständnis für die Position des konfessionell Anderen und davon ausgehend der Appell an alle Kirchen, sich in diese Bewegung hineinnehmen zu lassen sind ein Ausdruck dessen, was möglich ist, wenn man den Dialog112 miteinander tatsächlich führt. Dazu braucht es jedoch eine spezifische Bewegung aufeinander zu im Bewusstsein der geschenkten geistlichen Gemeinschaft untereinander. Diesen Vorgang bezeichnen die Mitglieder der Groupe des Dombes als »conversion« – d. h. als Umkehr. Diese Haltung den Kirchen anzuempfehlen ist seit Jahrzehnten das erklärte Ziel der Gruppe und die meisten ihrer Dokumente dienen dazu, auszubuchstabieren, was dieser Prozess für eine spezifische ekklesiologische Frage konkret bedeutet. Was mit ›Umkehr‹ an dieser Stelle genau gemeint ist, wird uns im nächsten Abschnitt zum Identitätsverständnis beschäftigen. Was auf jeden Fall nicht damit gemeint sein kann, zeigt das folgende Zitat von Bernard Sesboü¦, der ein langjähriges Mitglied der Gruppe ist. ›Konversion‹ bedeutet nicht, den Übertrittt zur Konfession des Anderen und auch nicht den Verzicht auf die Glaubenswahrheit zugunsten eines Kompromisses, der von allen geteilt werden kann. Im Gegenteil, sie ist ein Prozess, der einen Zuwachs an Wahrheit impliziert: Keiner kann behaupten, ganz in der Wahrheit zu sein, wenn nicht eine möglichst große Haltung der Barmherzigkeit ihn leitet. Im Irrtum steckt oft ein Teil der Sünde, der sich Egoismus nennt […]. Denn niemand kann zur Wahrheit gelangen, ohne eine radikale Bekehrung von sich selbst. Was daran auf jeden gläubigen Christen zutrifft, trifft auch auf die Konfessionen zu und auf die ganze Kirche. Wie auch immer die Beziehung sein mag, die ein jeder zur Wahrheit des Glaubens hat, jeder hat es nötig, sich zu Gott zu bekehren, zu Christus und zu den anderen Christen in einer immer größer werdenden Barmherzigkeit. Denn es werden alle gebraucht, um der ganzen Wahrheit zu begegnen, die durch den Herrn offenbart wurde. Die Erfahrung, welche die Mitglieder der Groupe des Dombes gemacht haben, zeigt es: Ein Dialog, der in einem Klima des Gebets und der brüderlichen Barmherzigkeit geführt wird, ermöglicht authentische Annäherungen auf dem Gebiet der Lehre und zwar nicht auf der Basis eines kleinsten gemeinsamen Nenners, sondern durch die möglichst vollständige Integration jener Aspekte, die noch von der einen Wahrheit getrennt sind. Mit der Gnade Gottes und um den Preis der Umkehr eines jeden und der wechselseitigen Umkehr der einen zu den anderen könnte 112 Das ist natürlich abhängig davon, was unter Dialog verstanden wird. Das Dialogkonzept der Groupe des Dombes wird dargelegt in: Girault, L’œcum¦nisme, 134 ff.

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die lehrmäßige Versöhnung sich eines Tages vollziehen und von ihr ausgehend die vollständige Gemeinschaft zwischen den Kirchen wiederherstellen.113

Diese Haltung, einander mit der Bereitschaft zur Umkehr zu begegnen, hatten die Mitglieder der Groupe des Dombes freilich nicht von Anfang an. Persönliche Äußerungen und Aufzeichnungen sowie der Argumentationsgang der veröffentlichten Dokumente lassen erkennen, dass die Gruppe ihre ökumenische Hermeneutik über Jahrzehnte hin entwickelt hat.114 In den dreißiger und vierziger Jahren folgte man einem komparativen Ansatz, d. h. man verglich die jeweiligen traditionellen Glaubensaussagen mit dem Ziel, die Legitimität der historischen Trennungen zu verifizieren. Dieser Ansatz mündete folgerichtig darin, nach einer Ebene der Gemeinsamkeit Ausschau zu halten. Analog zu der christologischen Konzentration, die in den sechziger Jahren die Arbeit des ÖRK bestimmte, stellte auch die Groupe des Dombes den gemeinsamen Auftrag zur authentischen Weitergabe des Evangeliums als entscheidenden Grund für die Einheit in den Mittelpunkt. Die gemeinsame Notwendigkeit, den christlichen Glauben zu empfangen und weiterzugeben, führte zu der Einsicht, dass sowohl die evangelischen Kirchen wie auch die katholische Kirche in ihrem Dienst am Evangelium Schwächen aufweisen, die ihrer Glaubwürdigkeit schaden. Man schlussfolgerte, dass nur die gemeinsame Umkehr zu Christus dem abhelfen könne. Die Umkehr zum geoffenbarten Evangelium bedeutet im Konzept der Dombisten zugleich eine Zuwendung zum Zeugnis des Anderen. Sogar im ökumenischen Dialog ist jeder mindestens versucht, seine eigene Identität eifersüchtig zu verteidigen und wenig offen zu sein für den Teil der Wahrheit, der sich bei seinem Partner findet. Mehr noch als die kirchliche Identität erscheint daher die konfessionelle Identität als etwas Zweischneidiges. Sie kann ihrer Wahrheit nur in dem Maße treu bleiben, wie sie sich beständig zum Evangelium bekehrt, besonders indem sie das empfängt, was die anderen Kirchen uns von diesem vergegenwärtigen.115

Das Auftreten der Groupe des Dombes selbst machte durch diese Einsicht eine Veränderung durch. Repräsentierte sie zu Beginn einen geschützten Raum, in dem konfessionelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede verglichen und abgewogen wurden, trat sie nun zunehmend als Zeugin gelebter Veränderungen auf, die mit ihrem Beispiel werben konnte und ihre Erfahrungen als Imperativ an Kirchen und Gemeinden herantrug. Obwohl sie kein offizielles Mandat besitzt, versteht sich die Groupe des Dombes als im Dienst der Kirchen tätig und arbeitet ausdrücklich auf die dortige Rezeption ihres Zeugnisses hin. Das Rezeptionsverständnis ist dabei allerdings 113 Clifford, Groupe des Dombes, XI f. 114 Ebd., 247. 115 Groupe des Dombes, Vous donc, 22.

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erkennbar kein legalistisches, das nur die Kirchenleitungen betreffen würde oder sich allein auf die Aneignung bestimmter Texte beziehen würde. Rezeption im Sinne der Groupe des Dombes meint stets die Aneignung der Wahrheit Jesu Christi und zielt auf die Aktivität aller Glaubenden sowie auf eine umfassende, spirituelle Veränderung ab. Dokumente und ihre offizielle Unterzeichnung sind in diesem Prozess nicht das entscheidende Moment: Es handelt sich [im Prozess der Rezeption] nicht einfach darum, ein schriftliches Dokument zu rezipieren. Der heilige Franziskus von Sales hob einst den Unterschied zwischen geschriebener und gesungener Musik hervor. Der rezipierte Text muß eine wahrhafte »Partitur« abgeben, die es erlaubt, das Büchlein zu singen oder das Stück auf jeder Ebene des kirchlichen Lebens zu spielen. Die offiziellen »kanonischen« Entscheidungen zur Rezeption können nur von den verantwortlichen Instanzen gefällt werden. Aber diese können nichts ausrichten, solange nicht eine tatsächliche Rezeption im gesamten Kirchenvolk stattgefunden hat. Der Prozeß der Rezeption ist in diesem Fall ein Prozeß von Umkehr.116

In ihren Dokumenten wendet sich die Groupe des Dombes in der Regel an die Kirchen als Gemeinschaften, d. h. dass vordergründig immer bei der Ebene der Institutionen und Kirchenleitungen angesetzt wird, um eine Veränderung in den Kirchen zu erreichen. Erst in den letzten Texten werden auch die Glaubenden mit in den Blick genommen. Weniger in den Dokumenten selbst als vielmehr in den andernorts gemachten Äußerungen ihrer Mitglieder stellt sich aber heraus, dass man auch in der Groupe des Dombes der Auffassung ist, dass die Institutionen nur von der Ebene der Glaubenden her zu verändern sind. Das entspricht ja nicht zuletzt der Arbeitsweise der Groupe des Dombes selbst, wo der persönliche Kontakt unter den Mitgliedern und eine monastisch anmutende Gebetsgemeinschaft wesentliche Elemente des Dialogs darstellen. Auf der Ebene der Dokumente wird zwar immer wieder betont, dass ökumenische Konflikte nicht individualistisch gelöst werden sollen, sondern dass die ganze Institution Kirche als glaubende und lehrende den Weg der Bekehrung nehmen muss. Dennoch zeigt sich dass dieser Prozess nur auf der Ebene des glaubenden Selbst eingeleitet wird. Die Rezeption im Sinne der Groupe des Dombes ist nur auf der Ebene der persönlichen Glaubenserfahrung und Umkehrbereitschaft zu ermöglichen. Sie erfordert eine Auseinandersetzung mit dem Anderen und die Bereitschaft dessen Position zu übersetzen, nachzuvollziehen und anzuerkennen: Diese kirchliche Bekehrung des Herzens könnte die Schwierigkeiten der erfolglosen institutionalisierten Dialoge überwinden, wenn sie nicht nur in der Sprache, sondern auch im praktischen Leben der Kirchen wirksam wird. Vor allem aber müsste diese metanoia von einer sehr persönlichen Haltung der Umkehr zum Evangelium bei jedem Christen in seiner Kirche ausgehen. Diese würde sich zeigen an einem »authentischen 116 Gruppe von Dombes, Umkehr, 76 f.

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Trieb hin zu dem, was der Andere Besseres hat und an einer Reinigung dessen, was jeder meint an Essentiellem bewahren zu müssen«.117

Die Mitglieder der Gruppe sind selbst um die Ermöglichung der Rezeption ihrer Ergebnisse in ihren jeweiligen Kirchen bemüht, z. B. in Form von Vorträgen und Konferenzen. Man unterhält Kontakte zu ökumenischen Multiplikatoren an der Basis, an welche die Ergebnisse der Gespräche direkt weitergegeben werden. Die Kommunikation zwischen der Gruppe und den Kirchenmitgliedern kann aber auch umgekehrt gelingen, in dem Sinne, dass Glaubende ihrerseits auf die Gruppe zugehen. Dies ist beispielsweise 1966 geschehen, als die Groupe des Dombes zu ihrem jährlichen Arbeitstreffen bei der Gemeinschaft von Taiz¦ zusammenkam. Es fand genau zu dieser Zeit eines der ersten Jugendtreffen in Taiz¦ statt. Die versammelten Jugendlichen hatten den Wunsch, miteinander das Abendmahl zu feiern, wurden aber von den geltenden kirchlichen Bestimmungen daran gehindert, an die sie sich gebunden fühlten. Mit diesem Problem traten sie an die Mitglieder der Gruppe heran. Nach einer eingehenden Beratung mit den Jugendlichen entschied die Groupe des Dombes sich, das Thema der eucharistischen Gastfreundschaft zum Gegenstand ihres folgenden Treffens zu machen. Tatsächlich inspirierte dieses ›Mandat‹ – das zwar keine offizielle, aber eine deswegen nicht weniger legitime Beauftragung darstellte – eine ganze Reihe von Lehrtexten. Zunächst wurden drei Thesenreihen publiziert, welche die Dringlichkeit der Frage betonten und ihren strittigsten Punkt – das unterschiedliche Amtsverständnis – offenlegten.118 In diesem Zusammenhang wurde auch zum ersten Mal explizit der Terminus »conversion eccl¦siale« (›kirchliche Umkehr‹) verwendet, um auszudrücken, dass zu ihrer Lösung mehr gebraucht wurde als eine lehramtliche Übereinstimmung.119 Schließlich entstand als Ergebnis dieses Diskussionsprozesses 1971 der erste Langtext der Groupe des Dombes Vers une mÞme fois eucharistique? Accord entre catholiques et protestants (Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Abendmahlsglauben? Übereinstimmung zwischen Katholiken und Protestanten). Darin wurde das gemeinsame Abendmahlsverständnis der Gruppe formuliert und die Praxis der gegenseitigen eucharistischen Gastbereitschaft für möglich erachtet.120 Auch die folgenden Texte, die sich intensiv mit der Versöhnung der Ämter als Voraus117 Wirz, Pour la conversion, 386. 118 »L’intercommunion« (1967), »La succession apostolique« (1968), »Êglise et Esprit Saint« (1969), »L’Êglise communion des saints« (1970) in: Groupe des Dombes, Pour la communion, 24 ff. 119 Ebd., S. 31, »Wir können nicht nur durch eine theologische Übereinstimmung zur Einheit gelangen. Es braucht dazu eine kirchliche Umkehr (metanoia), in der jede Kirche ihre Fehler erkennt. Der Weg zu dieser Umkehr führt über die Versöhnung der Ämter, zu der der Geist uns einlädt und zu der er allein uns fähig macht.« 120 Ebd., 37 ff.

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setzung für die Interkommunion beschäftigen, können noch als Konsequenzen desselben Impulses angesehen werden, den die Groupe des Dombes auf dem Jugendtreffen in Taiz¦ erhalten hatte. Obwohl die erreichten Konsense von den Kirchen nicht angeeignet, sondern bestenfalls begrüßt wurden, stellen sie einen erheblichen theologischen Fortschritt in der Frage des gemeinsamen Abendmahls dar. Zudem geben sie einen Eindruck von der Reichweite ökumenischer Basisbewegungen Es bleibt noch die Frage, ob die Groupe des Dombes einen Bruch mit der Tradition bzw. den Traditionen der beteiligten Kirchen sucht. Bekanntlich hielt Ricœur einen radikalen Bruch als Teil des Rezeptionsprozesses für möglich. Das ist insofern zu verneinen, als die Groupe des Dombes in ihren Äußerungen nicht von Bruch, sondern von Konversion spricht und diese Konversion ihrer Meinung nach ganz organisch aus dem spirituellen Zusammenleben hervorgehen sollte, wenn die beteiligten Partner bereit sind, die Einheitssuche auch mit persönlichem Engagement zu begleiten. Andererseits stellen manche lehrmäßigen Vorschläge, die die Gruppe in diesem Zusammenhang verlauten lässt einen ›Bruch‹ dar oder zumindest eine radikale Neubewertung dessen, was bis dato von den einzelnen Konfessionen als unaufgebbar angesehen wurde. Negativ könnte das als Bruch und Verrat an der eigenen Tradition aufgenommen werden, positiv gewendet handelt es sich um Pionierarbeit auf dem Gebiet der ökumenischen Theologie, welche die Versöhnung der Kirchen erst möglich machen könnte. So plädierte man beispielsweise in einem Dokument von 1976 für die stärkere Wahrnehmung respektive die Einsetzung des episkopalen Amts in den Kirchen reformatorischer Tradition, was zu jener Zeit besonders den reformierten Kirchen in Frankreich weithin inopportun erschien.121 Im Jahr 1998 veröffentlichte man ein Dokument zur ökumenischen Kontroverse um die Bedeutung der Marienverehrung. Als Lösung des Konflikts wurde dort vorgeschlagen, dass die römisch-katholische Kirche von den Protestanten nicht verlangt, die Mariendogmen anzuerkennen und diese außerdem auf ihre Kohärenz mit den Aussagen der Heiligen Schrift prüft. Außerdem wandte man sich in dem Dokument gegen den »Sprachmissbrauch« in der pastoralen Rede und die »Übertreibungen« in der Marienverehrung. Andererseits forderte man die Protestanten auf, von simpler Polemik abzulassen, eigene Defizite zu erkennen, die Rolle Marias im Heilsplan Gottes anzuerkennen und ihr die gebührende Verehrung in der Reihe der Heiligen und Zeugen des Glaubens zukommen zu lassen. Angesichts des unumwundenen Konsenses in der Gruppe über die ausschließliche Heilsmittlerschaft Jesu Christi sei es auch für die Protestanten möglich, die katholischen

121 Clifford, Groupe des Dombes, 170.

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Mariendogmen als Glaubensaussagen des ökumenischen Partners zu akzeptieren.122 In gewisser Hinsicht mögen solche Empfehlungen einen eindeutigen Bruch mit konfessionellen Gewohnheiten darstellen. Andererseits ist zu bedenken, dass es sich dabei um Vorschläge handelt, die sich als ökumenische Möglichkeiten aus dem Dialog untereinander ergeben und daher auch schon in der Praxis bewährt haben. Aus dem spirituellen Zusammenleben, der gemeinsamen Besinnung und dem gemeinsamen Hören auf das Evangelium erwächst der Antrieb, die eigene Lehre zu aktualisieren. Die Groupe des Dombes unterbreitet ihre Theologie als Vorschlag in der Annahme, dass Kirchen zu ähnlichen Ergebnissen gelangen könnten, wenn sie sich – auf institutioneller und existenzieller – Ebene auf einen Weg der Umkehr begeben würden. Obwohl die Groupe des Dombes theologische Argumente vorlegt, gewinnen diese ihre Überzeugungskraft wesentlich dadurch, dass man die Umkehr nicht nur den Kirchen vorschlägt, sondern sie auch selbst lebt. Ihre ökumenische Tätigkeit hat deshalb nicht nur den Charakter eines lehramtlichen Dialogs, sondern mehr noch die Qualität einer Geste, die – um es mit den Worten Ricœurs zu sagen – zu denken gibt. Es verwundert daher nicht, dass die Dombisten in ihrer letzten Veröffentlichung zum Vaterunser den Kirchen empfehlen, sofern sie um die Rezeption ökumenischer Resultate bemüht sind, es nicht an Gesten der Brüderlichkeit fehlen zu lassen: In den Dialogen wurden viele theologische Fragen untersucht. Aber woran es den Kirchen heute fehlt, sind neue offizielle Erklärungen, welche diese Ergebnisse zusammenfassen und für alle verbindlich machen sowie konkrete Handlungen, welche die gemeinschaftliche und institutionelle Rezeption ausdrücken. Es ist auch zu wünschen, dass sich unter unseren Kirchen Gesten entwickeln, die konkret eine wahre Brüderlichkeit ausdrücken. Durch solche Gesten würde die ganze Kirche trotz der verbleibenden Differenzen ab sofort ein Zeugnis der neuen Beziehungen geben, welche Christus von uns erwartet und welche uns das Recht geben, wirklich »Vater unser« zu sagen.123

4.3.3 Identitätsverständnis In der Sekundärliteratur wird für die Groupe des Dombes ab den 1980er Jahren ein hermeneutischer Wandel konstatiert, der sich insbesondere in deren Identitätskonzept bzw. der Art und Weise, wie dieses in die Erarbeitung ökumenischer Konsense einfließt, niedergeschlagen hat.124 122 Groupe des Dombes, Maria, 128 ff. 123 Ders., Vous donc, 149. 124 Hammann, Aspects, 52; Famer¦e, The contribution, 113; Clifford, Groupe des Dombes, 254.

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Im Grunde war das Thema der Identität bzw. der Konversion schon seit dem Beginn der ökumenischen Arbeit in der Gruppe präsent gewesen. Bereits Couturier hatte erkannt, dass die Kirchen neue spirituelle Impulse brauchten, wenn die sichtbare Einheit eine Perspektive bleiben sollte und dass es dazu einer Veränderung konfessioneller Gewohnheiten bedurfte. In den Dokumenten der Gruppe war dieser Gedanken der konfessionellen Umkehr, der ursprünglich nicht mehr als eine Intuition darstellte, immer deutlicher thematisiert worden. Zugleich warf dieses Konzept auch Fragen auf und bedurfte deshalb einer gründlicheren Bearbeitung. Die Gelegenheit dazu bot sich anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Gruppe, zu dem ein Treffen mit Vertretern verschiedener Kirchen stattgefunden hatte. In diesem Zusammenhang wurde die Gruppe mit Anfragen konfrontiert zum Verhältnis ihres Konzepts von Konversion zur Identität der Kirchen: Immerzu predigen Sie den konfessionellen Kirchen die Umkehr, sagte man uns. Fordern Sie sie dadurch nicht zugleich zum Verzicht auf legitime Werte auf und damit auf den Reichtum, den ihre Identitäten darstellen? Kurzum, verlangen Sie nicht auf subtile Weise die Uniformisierung im Namen der Einheit?125

Damit waren entscheidende Zweifel ausgesprochen. Einige Jahrzehnte nach den verheißungsvollen ökumenischen Aufbrüchen der 1960er Jahre hatte der Enthusiasmus für die ökumenische Bewegung spürbar nachgelassen. Zudem wuchsen konfessionalistische Tendenzen in den Kirchen. All dies verstärkte die Hinterfragung der Möglichkeit und der Notwendigkeit einer kirchlichen Umkehr. Lange Zeit hatte die Strategie der Groupe des Dombes darin bestanden, jenseits der interkonfessionellen Konflikte die prinzipielle Einheit der Kirchen zu betonen. Die methodische Konsequenz dieses Vorgehens war, dass man diese prinzipielle Einheit auf der Ebene der Glaubensaussagen und der Schrift zu belegen suchte. Die Relektüre der den Kirchen gemeinsamen Bekenntnisschriften sollte bewirken, dass die Kirchen die eigentliche Einheit erkennen und davon ausgehend Trennendes aufgeben.126 In dem Maße aber, wie man sich nun mit dem deutlichen Konfessionalismus auseinanderzusetzen hatte, wurde klar, dass es nicht genügte, die Einheit der Kirchen einfach nur als dogmatische Gegebenheit zu behaupten, um zum ökumenischen Dialog zu motivieren. Der beständige Verweis auf die gegebene Einheit stellte im Gegenteil eine bedenkliche Ignoranz der konkreten Wirklichkeit dar und ließ das ökumenische Gespräch weltfremd erscheinen. Wo der Gegensatz zwischen der verheißenen Einheit auf der einen und den tatsächlichen Spaltungen auf der anderen Seite 125 Sesboü¦, La patience, 158. 126 Hammann, Aspects, 53.

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sich auftat, war deshalb ein konkreteres Engagement gefordert. Die Verbindung zwischen diesen beiden Polen, so die Einsicht der Gruppe, konnte nur die gemeinsame Umkehr sein und auch die Bereitschaft, diese Umkehr durch einen selbstkritischen Umgang mit der eigenen konfessionellen Tradition zu unterstützen.127 The real contradiction is this: on the most central and vital affirmations of Christian faith the one church, as the body of Christ, is divided. Something must be wrong somewhere, for Christ is one and can be neighter divided nor divisive among his believers and confessors. Not that every point of faith of one church must be identical with the corresponding point of another church; but any one articulation of the faith should not, at least, contradict or exclude other articulations. How can we solve this apparent or real contradiction?128

Die schwindende Glaubwürdigkeit der Kirchen durch ihre offensichtliche Trennung, aber auch die Anfrage, ob Gleichschaltung das wahre Ziel der Einheitssuche sei, erforderte eine Klärung dessen, was Umkehr eigentliche meinte und in welchem Verhältnis sie zur Identität stehen sollte. Beantwortet wurden diese Fragen von der Groupe des Dombes in einem komplexen identitätstheoretischen Text mit dem Titel Pour la conversion des Êglises. Identit¦ et changement dans la dynamique de communion.129 Zum Zeitpunkt seines Erscheinens stellte er in der ökumenischen Welt eine Innovation dar130 und er ist bis heute das bekannteste Dokument der Gruppe geblieben, weil darin die Dialektik von Identität und Umkehr zutreffend auf den Punkt gebracht wird. Der Vorschlag der Groupe des Dombes besteht darin, die Umkehr nicht als Bedrohung der christlichen Identität anzusehen, sondern im Gegenteil, gerade im Prozess der Konversion Treue zum Evangelium zu beweisen: Weit davon entfernt sich auszuschließen, brauchen sich Identität und Umkehr vielmehr gegenseitig: Es gibt keine christliche Identität ohne Umkehr ; die Umkehr ist grundlegend für die Kirche; unsere Konfessionen verdienen den Namen christlich nur in dem Maße, wie sie sich der Forderung nach Umkehr öffnen.131

Im Einzelnen beruht der Ansatz der Dombisten auf einer nochmaligen Differenzierung des Identitätsbegriffs. Demzufolge umfasst die Identität der Kirchen drei Aspekte: die christliche Identität, die kirchliche Identität und die konfessionelle Identität. Das, was man als Prozess der ›Umkehr‹ bezeichnet, meint im 127 Ebd. Motiviert wurde dieses Vorgehen auch durch die Äußerungen von Papst Johannes Paul II. über die »Reinigung der Erinnerungen« in seiner Enzyklika »Ut unum sint« (1995). 128 Blancy, Can the Churches, 420. 129 Groupe des Dombes, Pour la conversion; in deutscher Übersetzung: Gruppe von Dombes, Umkehr. 130 Bernhardt, Konversive Identität. 131 Gruppe von Dombes, Umkehr, 25.

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Grunde eine Neubewertung dieser drei Aspekte der eigenen Identität und die sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen im Zusammenleben der Kirchen. Unter der christlichen Identität versteht der Text das existenzielle Bekenntnis eines jeden Glaubenden zum Gott Jesu Christi, von dessen Anrede er sich berufen fühlt. Aufgrund dieser externen Anrede, die ihr vorausgeht, hat die christliche Identität den Charakter einer Gabe. Ungeachtet des gestaltenden Anteils der Glaubenden, welche die Träger dieser Identität sind, besitzt die christliche Identität deshalb immer eine Dimension der Unverfügbarkeit. Die Gabe bzw. der Zuspruch der christlichen Identität bewirkt, dass die Glaubenden in die Nachfolge Jesu Christi berufen sind und die lebensverändernde Dynamik dieser Berufung in ihrem Leben erfahren: 19. Auf existentieller Ebene ist christliche Identität nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches. Sie ist Verschiebung des Zentrums, Exodus, Durchgang, Bewegung von Ostern her. Christliche Identität ist immer Christ-Werden. Sie ist Öffnung hin zu einem eschatologischen Jenseits, das sie unaufhörlich nach vorne zieht und sie hindert, sich in sich selbst zu verschließen. Infolgedessen ist sie eine radikale Öffnung zu dem anderen hin, über alle trennenden Mauern hinweg. Ihrem Wesen gemäß widerspricht sie also dem Bedürfnis nach einer abgesicherten Identität, die ohnehin starr und verhärtet wäre. Die Tatsache der lebendigen kirchlichen Tradition, schöpferisch im Sinne ihrer Treue, ist hierfür eine ständige Illustration quer durch die Jahrhunderte. 20. Christliche Identität meint nicht Verneinung der Unterschiede. Sie baut sich nicht gegen andere auf. Sie respektiert vielmehr die Identität der anderen und setzt ihren eigenen Unterschied in den Dienst einer universalen Gemeinschaft.132

Die Dynamik dieser Berufung, von der die Schrift selbst erzählt, ist also kein Besitz, sondern ein Zuspruch. Auch in den beiden anderen Aspekten der Identität findet der Verweis auf diese appellative Realität sich wieder. So repräsentiert die kirchliche Identität den sozialen und gemeinschaftlichen Aspekt des Christseins und damit eine ihr unverzichtbare Dimension. Gleichwohl begegnet die institutionalisierte Kirche stets in einem Zustand der Gebrochenheit, insofern sie die von Christus berufenen Glaubenden versammelt, in ihrer weltlichen Struktur aber nicht identisch ist mit dem Leib Christi, der zu sein sie berufen wurde. 23. Kirchliche Identität ist ebenfalls eine eschatologische Gabe. Auch wenn sie uns als Gabe vorangeht, so muß doch diese Gabe ständig erbeten werden. Kirchliche Identität begründet also notwendigerweise eine Spannung zwischen dem Jetzt, dem Heute und der Zukunft, dem Augenblick. Keine konfessionelle Kirche identifiziert sich ohne alle Umschweife mit der Kirche Christi. In dieser Hinsicht ist kirchliche Identität tatsächlich das Ziel der ökumenischen Bewegung: »Lasset die Kirche, Kirche sein!« […] 132 Gruppe von Dombes, Umkehr, 30.

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25. Überdies, wenn man sich des Wortes von der ecclesia semper reformanda (»die stets reformbedürftige Kirche«) entsinnt, so muß man anerkennen, daß die Kirche Ort einer Begegnung ist, wo die Treue Gottes und die Untreue des Menschen unmöglich zu trennen sind. Diese Situation schafft eine gewisse Distanz, sogar einen Konflikt, zwischen gelebter kirchlicher und verkündigter christlicher Identität. Auch ohne daß die Kirche jemals aus den Verheißungen des ewigen Lebens herausfiele, bleibt sie verwundbar für die Faktoren der Psycho-Soziologie: Sie kann Deformierungen und Auswüchse ihrer wahrhaftigen Identität erfahren (Parteilichkeit, Überlegenheitskomplex, Kollektivsünde u.s.w.); sie kann jederzeit – als Körperschaft und in jedem ihrer Mitglieder – blind werden, ja sogar in Widerspruch geraten zu der christlichen Botschaft, dessen Trägerin sie doch ist. Auch hier findet sich ein offener Raum zur Umkehr. Kirchliche Identität hat sich ständig in den Dienst christlicher Identität zu stellen.133

Der dritte Terminus der konfessionellen Identität schließlich verweist darauf, dass Christ zu sein bedeutet, seinen Glauben in einer bestimmten soziologischen Situation, unter bestimmten historischen Umständen zu bekennen. Er ist von der kirchlichen Identität nochmals unterschieden, insofern hier in die Identitätsbestimmung die Vielfalt der Arten, den Glauben institutionell zu gestalten, eingetragen ist. Mit anderen Worten: in der konfessionellen Identität einer Kirche trifft die Identität als Übereinstimmung mit der eigenen Tradition auf die Alterität in Form der Tradition anderer Glaubensgemeinschaften. Hier zeigt sich, dass eine Kirche ihre Identität auch durch Abgrenzung definiert und zwar sowohl gegenüber einer nichtchristlichen Umwelt, der gegenüber sie das Evangelium bezeugt als auch gegenüber anderen christlichen Gemeinschaften, von denen sie sich in Theologie und Tradition unterscheidet. So bedeutsam die Identifikation mit der konkreten Lehre und Tradition einer Gemeinschaft für die Gruppenstabilität einer kirchlichen Gemeinschaft auch sein mag, so birgt sie doch auch die Gefahr, dass Konfessionalität zu Konfessionalismus wird. Dies zeigt sich seit den frühen Kirchenspaltungen. Zweifellos war jede Seite darum bemüht, ihre Position zu rechtfertigen aus Gründen des Glaubens und der Treue zur ursprünglichen christlichen Botschaft. Daher bestand jede auf »positiven« Elementen. Aber die Entstehung dieser neuen Identitäten förderte auch gewisse Aspekte der Ablehnung und Aggressivität gegenüber der Art und Weise, wie andere Christen ihre christliche und kirchliche Identität leben. Abgrenzungen haben teilweise dazu beigetragen, diesen neuen Identitäten Gesicht zu geben und sie tauchen – in bestimmten polemischen Klimata – wieder auf, bis dahin, daß sie manchmal entscheidender zu sein scheinen als die eigentlich evangelischen Aspekte. Die Verteidigung konfessioneller Identitäten hat – wie auf einem Körper – Wunden verursacht, die nicht spezifisch sind für die Konfession selbst und noch weniger für das Christentum.134 133 Ebd., 31 f. 134 Ebd., 34.

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Jede der drei Dimensionen – christlich, kirchlich, konfessionell – hat unbestreitbar ihren Platz in der Identität einer kirchlichen Gemeinschaft. Gleichwohl legt das Konzept der Groupe des Dombes eine deutliche Hierarchisierung nahe, insofern »die Erste die Norm der Zweiten und die Zweite die Referenz der Dritten«135 darstellt. Die erste Dimension der christlichen Identität und damit die permanente Aufforderung zur existenziellen Nachfolge Christi ist also die Entscheidende. Problematisch ist freilich, dass in der Praxis die Zuordnung oft anders vorgenommen zu werden scheint. Wenn dann die kontextuell gebildete Gestalt einer Kirche wichtiger und unaufgebbarer erscheint als die ursprüngliche Dynamik der Umkehr, droht die Sakralisierung von Strukturen und es leidet die Glaubwürdigkeit der Kirchen als Trägerinnen des Evangeliums.136 Deshalb ruft die Groupe des Dombes die kirchlichen Gemeinschaften zur Umkehr auf, die alle drei Identitätsdimensionen durchziehen muss als christliche, kirchliche und konfessionelle Umkehr. Umkehr meint auch hier, sich dem ursprünglichen Zuspruch der Versöhnung anzuvertrauen und das Heil nicht in der institutionellen Profilierung zu suchen. Es ist jedoch nicht damit getan, die Versöhnung und damit die Einheit der Kirche Jesu Christi einfach zu behaupten. Vielmehr gilt es, diese als Gabe und Aufgabe anzusehen und im eigenen ökumenischen Engagement davon entschieden Zeugnis abzulegen. Weil man nie damit aufhört, Christ zu werden, beinhaltet die christliche Umkehr eine spirituelle Bewegung auf Jesus Christus hin, welche für die eigene Existenz prägend ist. Dies als Norm für die kirchliche Identität anzusehen, meint, auch auf der Ebene der Institution einen Prozess der Umkehr zu leben, der den Unterschied von Letztem und Vorletztem wohl beachtet und dennoch danach strebt, Botschaft und Struktur authentischer als bisher zu integrieren. Die konfessionelle Umkehr schließlich steht im Konzept der Groupe des Dombes für die ökumenischen Bestrebungen im engeren Sinn mit dem Ziel, die volle Kirchengemeinschaft herzustellen.137 Auch dabei handelt es sich letztlich um eine Bewegung der Bekehrung zum Evangelium. 48. Die konfessionelle Umkehr ist ebenfalls grundlegend für die wahre christliche Identität. Diese Anforderung der Umkehr lädt also unsere konfessionellen Identitäten ein, sich einander zu öffnen, sich von den Werten, deren Träger die anderen Konfessionen sind, durchdringen zu lassen. Es handelt sich für sie dabei nicht darum, die Originalität ihres eigenen Erbteils zu verlieren, sondern sich öffnen zu können für andere Erbschaften. Jede Konfession muss für sich selber fragen, ob ihr Urteil über die anderen in Wahrheit im Evangelium begründet ist.

135 Sesboü¦, La patience, 160. 136 Kritik am Konzept der Groupe des Dombes wird entfaltet in: Sattler, Umkehr. 137 Gruppe von Dombes, Umkehr, 38.

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49. Jede Konfession muß – das ist Voraussetzung – anerkennen, daß es bei ihr Anlaß zum Umdenken gibt, um eine tatsächliche Entwicklung zu fördern im Hinblick auf christliche und kirchliche Identität, etwa im Bereich der Sprache des Glaubens oder im Bereich der kirchlichen Struktur oder im persönlichen Ernstnehmen des Christentums. Diese Konversionen werden asymmetrisch sein, da es nicht dieselben Schwächen sind, die die verschiedenen Kirchen betreffen. […] 51. Konfessionelle Umkehr ist zuerst Umkehr zum Gott Jesu Christi und infolgedessen brüderliche Versöhnung zwischen den Kirchen, die volle Kirchengemeinschaft und volle gegenseitige Anerkennung anstreben. Dies geschieht nicht zum Nachteil der konfessionellen Identität, sondern zu einer evangelischen Reinigung und Vertiefung.138

Soweit wir den identitätstheoretischen Ansatz der Groupe des Dombes dargestellt haben, lassen sich nun einige deutliche Parallelen zu den Ideen von Paul Ricœur aufzeigen. Grundlegend für beide ist die Annahme, dass die Gemeinschaft ihre Identität aus einem äußeren Zuspruch ableitet und sich auf diese Weise als Zeugin eines Ereignisses artikuliert, das sie nicht selbst zu verantworten hat. Gleichwohl bleibt die Kirche handlungsfähig auch unter dem Eindruck dieser Bedingtheiten – vor allem hinsichtlich ihrer institutionellen Ausdrücke. Diese bilden sich dauernd weiter unter dem Einfluss kontextueller Faktoren, aber auch durch Offenbarungserfahrungen in Form anderer Theologien und Glaubenserzählungen. Bei Ricœur wie auch bei den Dombisten haben wir es also mit einem prozessualen, explorativen Identitätsverständnis zu tun, das die poetische Dimension der Überlieferung betont. Beide gehen zudem davon aus, dass die Aktualisierung der Tradition eine Aufgabe ist, der alle Ebenen der Kirche sich widmen müssen. Allerdings wendet sich die Groupe des Dombes anders als Ricœur in ihren Dokumenten hauptsächlich an die institutionalisierten Vertreter der Kirchen, denen eine Besinnung auf den ursprünglich dynamischen Charakter der christlichen Identität dringend nahe gelegt wird. Ricœur scheint diesen Appell eher an die Glaubenden zu richten. Sowohl Ricœur als auch die Groupe des Dombes stellen klar heraus, dass der Wunsch, die Kirchen mögen aufeinander zugehen, nichts mit dem Anspruch auf Uniformität zu tun hat. Ricœur spricht von einem »geregelten Pluralismus«, der deswegen nicht beliebig wird, weil die ganze Gemeinschaft der Kirchen vom selben Geist inspiriert ist, der auch der Geist der Übersetzung und der Vergebung ist. In einer ähnlichen Bewegung identifiziert die Groupe des Dombes die Wahrheit Jesus Christi mit der Fähigkeit zu Offenheit, Vergebungsbereitschaft und Selbsthingabe. Eine gemeinsame Konversion darauf hin ist unvereinbar mit dem Gedanken der gegenseitigen Exklusion. Sie umfasst die Bereitschaft, sich 138 Ebd., 39 f.

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den Zeugnissen vom Wirken Gottes in ihrer Vielfalt zuzuwenden und diese Vielfalt anzuerkennen. Die gegenseitige Anerkennung schließt jedoch die Möglichkeit zur Kritik nicht aus. Diese bezieht sich zuerst auf die geschichtliche Entwicklung, deren Resultat die gegenwärtigen konfessionellen Konflikte sind, mit dem Ziel, deren kirchentrennenden Charakter zu überwinden. Ricœur schlägt vor, durch den Nachvollzug historischer Entwicklungen Verständnis für die eigenen Selektionsprozesse und auf diese Weise auch für die historischen Entscheidungen des Anderen zu erlangen und den Wunsch nach ihrer Überwindung dem Geist der Vergebung anzuvertrauen. Die Groupe des Dombes verbindet das Nachdenken über die Geschichte der Konfessionen in stärkerer Weise als Ricœur mit dem Gedanken der »Reinigung« der Erinnerungen. Ein Ort, an dem das geschehen kann sind hier wie da die ökumenischen Dokumente.

4.3.4 Textgebrauch Im letzten Abschnitt skizzierten wir den hermeneutischen Wandel, den die Groupe des Dombes in den Jahrzehnten ihres Bestehens durchlaufen hat. Anstelle der Betonung der gegebenen Einheit der Kirchen auf doktrinaler Ebene widmete man sich seit dem Beginn der 1980er Jahre der Realität der konkreten Spaltungen und leitete davon die Notwendigkeit der individuellen wie auch der kollektiven Umkehr ab. Dieser Wandel hatte auch Konsequenzen für die Art der Texte, welche die Groupe des Dombes veröffentlichte. Wir wollen uns diesem Textgebrauch nun abschließend zuwenden. Indem man sich darüber klar wurde, dass die Einheit der Kirchen konkrete Schritte der Versöhnung brauchte, gelangte man auch zu der Überzeugung, dass neben den dogmatischen Kontroversen in stärkerem Maße die historische Entwicklung der Kirchen Gegenstand des Dialogs sein müsste. Denn die Geschichte – besonders in Form der Erinnerung an gegenseitige Verletzungen – prägt die Selbstwahrnehmung der Kirchen mehr als die verheißene Einheit und sie ist in der Lage, Widerstände gegen den Identitätswandel immer wieder zu befeuern. Seit Beginn der 1980er Jahre weisen die Texte der Groupe des Dombes daher eine spezifische Struktur auf, die den geschichtlichen Entwicklungen bzw. ihrer Klärung eine besondere Bedeutung einräumt.139 So wird das kontroverstheologische Thema eines Dokuments jeweils kurz eingeleitet, worauf dann eine ausführliche Darstellung der historischen Etappen seiner dogmatischen Interpretation folgt, welche die Herausbildung konfessioneller Unterschiede nachvollzieht. Erst im Anschluss daran wird der biblische Schriftbefund erhoben und 139 Hammann, Aspects, 55.

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exegetisch durchdacht. Beide Teile bilden dann die Grundlage für die ökumenischen Vorschläge der Gruppe. Bei näherer Untersuchung zeigt sich also, dass es zwei Elemente in den Dokumenten der Groupe des Dombes sind, die deren Besonderheit ausmachen und zugleich Parallelen zum Konzept von Paul Ricœur erkennen lassen. Zum einen zeichnen sich diese Texte durch die eben erwähnte ausführliche Darstellung der historischen Entwicklung von kirchentrennenden Differenzen aus. Diese Darstellung bildet jeweils den Ausgangspunkt der Untersuchung. Der Sinn eines solchen Vorgehens besteht darin, transparent zu machen, dass die dogmatischen Positionen der Gegenwart das Resultat von situativen historischen Entscheidungen sind. Dies dient durchaus nicht nur der Relativierung der Positionen. Es macht auch sichtbar, dass in allen Konfessionen stets aufs Neue um eine evangeliumsgemäße Auslegung gerungen wurde. Indem sie die doktrinalen Entscheidungsprozesse in den Dokumenten sorgfältig nachvollzieht, leistet die Groupe des Dombes letztlich eine Arbeit der Übersetzung, wie Ricœur sie gefordert hat. Denn in ihrem historischen Teil bieten die Dokumente in kompakter Form eine Fülle von Angaben, die ein Verständnis ermöglichen für die eigene Position bzw. die des Anderen wie auch für die aktuellen ökumenischen Konflikte. Aber nicht nur die Versöhnung mit der eigenen Geschichte bzw. mit den historischen Entscheidungen des Anderen ist das Ziel dieser Darstellungen. Es werden darin auch historische Momente und dogmatische Entscheidungen dokumentiert, in denen die Kirchen fehlgingen und konfessionalistische Positionen bezogen. In diesem Sinne bilden die historischen Darstellungen der Dombisten auch einen Ausgangspunkt für die Umkehr der Kirchen. Zum anderen ist der appellative Charakter in den Texten der Groupe des Dombes auffällig. Hier wird deutlich, dass die Verfasserin keine mandatierte Kommission ist, die einen Kompromissvorschlag unterbreitet und erst recht keine kirchliche Institution, die die Grenzen ihres politischen Profils absteckt. Die Gruppe spricht sich in ihren Schriften als lebendige ökumenische Gemeinschaft aus, die es sich erlaubt, die theologische Argumentation nicht zugunsten des Wunsches nach sichtbarer Einheit zu beschneiden und die dennoch keinen Zweifel lässt an der Vehemenz, mit der die geistlich erfahrene Brüderlichkeit auf Anerkennung dringt. So heißt es am Ende des Dokuments Pour la conversion des Êglises: 221. Viele Worte sind gesagt worden, viele Texte sind geschrieben worden: Aber die Taten lassen allzu oft auf sich warten, und diese Lage verschlimmert sich in dem Maße, wie die Jahre dahinstreichen. Könnten unsere Gemeinden und Gemeinschaften doch den Mut aufbringen, ihre jeweilige Praxis mit den Überzeugungen zu konfrontieren, die die ökumenische Bewegung bereits gutgeheißen hat! Könnten sie nur voranschreiten in dem Maße ihrer Konversionen und im gegebenen Moment die Versöh-

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nungsgesten gottesdienstlich feiern, die das Überschreiten der jeweiligen Schwellen symbolisieren. Die konfessionelle Umkehr wird so im Dienst der kirchlichen Umkehr stehen und es der Kirche erlauben, ein glaubwürdigeres Zeugnis ihrer Umkehr zu Christus zu geben.140

In unserem Kapitel über Paul Ricœur hatten wir vorgeschlagen, die poetische Funktion ökumenischer Texte stärker in Rechnung zu stellen. Was das bedeuten könnte, konkretisiert sich nun am Beispiel des Textgebrauchs in der Groupe des Dombes. Unter der poetischen Funktion eines Textes verstanden wir dessen Fähigkeit, die Vorstellungskraft seiner Leser so anzuregen, dass sich neue Erfahrungsräume eröffnen. Dafür braucht es, so sagten wir, Texte, die in der Lage sind, etwas von dem Erlebnis der zwischenmenschlichen ökumenischen Anerkennung auszudrücken und deshalb selbst wie Gesten zu wirken, die offen für Interpretationen sind. Solche Texte würden dazu führen, Visionen einer anderen Wirklichkeit durch ihre sprachliche Symbolik kraftvoll zu vergegenwärtigen. Oder mit anderen Worten: Diese Texte würden ökumenische Utopien entwerfen und dadurch die Hoffnung auf die Einheit der Kirchen wach halten. Wir führen an dieser Stelle unserer Untersuchung die Texte der Groupe des Dombes deshalb an, weil wir meinen, dass diese ein solches Potenzial besitzen. Diese Texte sind deshalb so wichtig für die ökumenische Bewegung, weil sie ihren Lesern, mit den Worten Ricœurs, Variationen des Daseins, d. h. neue Möglichkeiten, die ökumenische Wirklichkeit zu betrachten, zuspielen. Ganz konkret handelt es sich bei der Groupe des Dombes, deren Identitätskonzept wir zuvor darstellten, um die gemeinsame Bekehrung aller Kirchen zum Evangelium Jesu Christi, mit der Verheißung auf eine größere Einheit. Unverkennbar wird im zuletzt zitierten Text, die volle Kircheneinheit nicht als das Ergebnis eines theologischen Konsenses dargestellt, sondern als ein utopisches Narrativ (»die konfessionelle Umkehr wird […] es der Kirche erlauben, ein glaubwürdigeres Zeugnis ihrer Umkehr zu Christus zu geben.«). Damit werden die Leser unmittelbar auf ihre Erfahrungen und ihre Gestaltungsfähigkeit hin angesprochen. Spannend ist freilich, dass in den Texten der Groupe des Dombes diese narrative Theologie gleichberechtigt zu finden ist neben Passagen mit kontroverstheologischer Argumentation und sogar neben Elementen liturgischer Sprache. Wir wollen uns diesen Stil am Beispiel der letzten Veröffentlichung der Gruppe Vous donc, priez ainsi141 ansehen und damit unsere Bemerkungen über den Textgebrauch zusammenfassen. In diesem Text, der im Jahr 2011 publiziert wurde, beschäftigt sich die Groupe des Dombes mit dem Vaterunser. Die ökumenische Hermeneutik der Gruppe, mit ihrem Fokus auf die Umkehr der Kirchen hat sich in diesem Dokument 140 Gruppe von Dombes, Umkehr, 101. 141 Groupe des Dombes, Vous donc.

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gegenüber früheren Veröffentlichungen spürbar profiliert. Auffällig ist, dass man sich in besonderer Weise auf die Appellfunktion des Textes einlässt. Wie schon seine Vorgänger legt auch dieses Dokument Zeugnis ab von der theologischen Sorgfalt seiner Verfasser. Gleichwohl scheint der Einstieg in den Dialog diesmal anders gewählt zu sein. Denn mit dem Thema des Vaterunser macht man scheinbar nicht die Kontroverse, sondern den bestehenden Konsens unter den Kirchen zum Ausgangspunkt des Dialoges, denn ein Zerwürfnis über dessen Verständnis hat es dem üblichen Vernehmen nach nie gegeben. Das Vaterunser wird dem Duktus der vorherigen Veröffentlichungen folgend auf seine Relevanz für die Umkehr der Kirchen hin untersucht. Auf die Einleitung des Themas folgt ein längerer Abschnitt, in dem historische Etappen der katholischen und evangelischen Auslegung des Vaterunser dargestellt werden. Es folgen ein kompakter exegetischer Teil und schließlich die Resultate der Gruppe. Diese werden in drei Abschnitten präsentiert: einem theologisch argumentativen Teil, einer Meditation und schließlich einem Gebet. Der historische Befund zur Auslegung des Vaterunser zeigt keine gravierenden Widersprüche zwischen den Konfessionen, sondern eher eine Komplementarität innerhalb einer Fülle theologischer Ansätze. Signifikant ist die Übereinstimmung in der Auslegung der Anredesituation: »Vater unser!« Das Dokument der Dombisten zeigt auf, dass diese Anrede über Jahrhunderte hinweg als Hinweis auf die Einheit und die Brüderlichkeit begriffen wurde, zu der die Betenden sich berufen fühlen. Trotz dieser exegetischen Übereinstimmung hat es auch immer wieder konfessionalistische Tendenzen gegeben, welche die Brüderlichkeit der Gebetssituation in Frage stellten. Dazu: 110. Dennoch hat die Bewegung der Konfessionalisierung, die den modernen Protestantismus prägte bedauerliche Wirkungen auf das Gebet selbst gehabt, wenn es ausschließlich auf die Verteidigung der lutherischen oder reformierten Identität hin verstanden wurde. Das ging soweit, dass das Gebet im Rahmen der Religionskriege als ein Mittel im Kampf gegen die Katholiken benutzt wurde. Das gilt besonders für das Vaterunser : […] Auf diese Weise hat die Trennung der Kirchen dazu geführt, dass in den schlimmsten Zeiten aus dem Vaterunser selbst eine Waffe gegen die anderen Christen gemacht wurde, obwohl doch Calvin und andere die Tragweite des Ausdrucks »Vater unser« für die gegenseitige Gemeinschaft dargelegt hatten.142

Die historische Entwicklung zeigt aber, so die Verfasser, dass diese konfessionellen Profilierungen im Gebrauch des Vaterunser Randerscheinungen bleiben, welche sich abschwächen und sogar ganz verschwinden. Währenddessen wird im 20. Jahrhundert zunehmend die ökumenische Bedeutung des gemeinsamen Gebets erkannt. Diese verheißungsvolle Entwicklung hat ihren Höhepunkt in 142 Ebd., 93.

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den gemeinsamen Bibelübersetzungen und schlägt sich in den Aussagen der aktuellen Katechismen beider Konfessionen nieder : 122. Der [katholische] Katechismus unterstreicht die zwei Dimensionen des »unser« in dem Ausdruck »Vater unser«, die Teilhabe an der Erfahrung der Sohnschaft Jesu und die kirchliche Gemeinschaft der Menschen, die so eins mit dem Sohn sind (Nr. 2789 – 2790). Er leitet daraus eine explizite ökumenische Einladung ab: »Trotz der Spaltungen der Christen bleibt das Gebet zu »unserem« Vater ein gemeinsames Gut und eine dringende Berufung für alle Getauften. In der Gemeinschaft des Glaubens an Christus und durch die Taufe müssen sie in das Gebet Jesu für die Einheit seiner Jünger einstimmen.« […] Und der Katechismus fügt hinzu: »Damit das in Wahrheit gesagt werden kann, müssen unsere Spaltungen und Widersprüche überwunden werden« […]. So wird auf das Vaterunser die dringende Einladung angewendet, welche im Ökumenismusdekret des Zweiten Vatikanischen Konzils ausgesprochen wurde (Nr. 8): »Solche gemeinsamen Gebete sind ein höchst wirksames Mittel, um die Gnade der Einheit zu erflehen, und ein echter Ausdruck der Gemeinsamkeit, in der die Katholiken mit den getrennten Brüdern immer noch verbunden sind.«143

Im Dokument folgt ein kürzerer exegetischer Abschnitt, der sich auf die Klärung einzelner Begriffe des biblischen Textes konzentriert und gegenüber den bereits referierten Auslegungen die Dynamik von Gabe und Vergebung im Text des Vaterunser herausarbeitet. Was die Einheit wesentlich hervorbringt: Sie wird gelebt im Brot, das unter allen geteilt wird, in der Dynamik der Vergebung mit Gott und den Anderen wie auch im Widerstand gegen die Versuchung. Das ganze Vaterunser drückt aus, was Gott gleichzeitig gibt und zu suchen einlädt. So demonstriert er eine Gemeinschaft, die zugleich gegeben ist und noch ins Werk gesetzt werden muss. Er stößt einen Prozess der Umkehr an. Daher kommt der ökumenische Impuls dieses Textes, der neben dem Gebet Jesu in Joh 17 eine der wesentlichen Referenzen auf dem Weg zur Einheit der Christen darstellt.144

Die anschließende Argumentation der Gruppe widmet sich der Frage, was nach all diesen Ausführungen die Bedeutung des Vaterunser im Leben der Kirchen heute und besonders im Blick auf die ökumenische Bewegung ist. Interessanterweise wird an dieser Stelle der hermeneutische Wandel von der Dogmatik zur Geschichte, der, wie wir zeigten, die Herangehensweise der Groupe des Dombes an ihre kontroverstheologischen Themen in den letzten Jahrzehnten prägte, nochmals reflektiert und zwar diesmal im Blick auf den Umgang mit dem Vaterunser selbst. Das Fazit der Gruppe lautet: Der Unterschied zwischen der historischen, noch immer bestehenden Spaltung der Kir-

143 Ebd., 101. 144 Ebd., 125.

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chen einerseits und der biblischen Verheißung ihrer Einheit andererseits darf auch heute nicht verschwiegen werden. Wenige Seiten zuvor, in der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung hatte man einen »falschen« Umgang mit dem Vaterunser beklagt. Dieser war dann augenfällig geworden, wenn das Vaterunser in bestimmten Auslegungen als »Waffe« gegen die andere Konfession eingesetzt wurde. Scheinbar war diese Tendenz und damit die verfehlte Haltung gegenüber dem Gebet im 20. Jahrhundert verschwunden. Gerade die Möglichkeit der gemeinsamen liturgischen Feier von Katholiken und Protestanten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hatte diesen ökumenischen Fortschritt angezeigt. In ihrem neuesten Dokument macht die Groupe des Dombes ihre Leser aber darauf aufmerksam, dass es nach wie vor einen »falschen« Gebrauch des Vaterunser gibt. Dieser ist immer dann zu beklagen, wenn eine bedenkliche Diskrepanz sich auftut zwischen der ökumenischen Haltung, zu der die meisten Kirchen sich heute öffentlich bekennen und der Art und Weise, wie dieselben Kirchen ihre ökumenischen Beziehungen dann in der Realität gestalten. Obwohl viele Kirchen bereit sind, das Vaterunser mit allen Christen gemeinsam zu sprechen, um so ihre ökumenische Aufgeschlossenheit zu bekunden, verhindern sie in der Praxis eine größere institutionelle Einheit oftmals ganz absichtlich. Ein solcher Gebrauch des Vaterunser ist kritisch zu sehen, weil das Gebet dadurch droht, nur ein Lippenbekenntnis zu bleiben. Man versucht, den Anschein einer Versöhnung zu geben, um die von den Kirchen in Wahrheit nicht wirklich gerungen wird: 164. Das Vaterunser ist für die Christen zugleich ein Element ihrer Identität und ein Aufruf zur Umkehr. Die Erwähnung der Umkehr mag erstaunen, denn in der Ökumene ergeht der Ruf zur Umkehr dort, wo uns etwas trennt. Doch paradoxerweise muss die Umkehr hier an einem Ort geschehen, der die Christen vereint. Denn das Vaterunser, das unsere gemeinsame christliche Identität bezeugt, wird in getrennten Kirchen gesprochen. Es wird widerlegt durch die Situation der Kirchen, die nicht nur getrennt sind, sondern sich nicht einmal gegenseitig als Kirche Jesu Christi anerkennen. Mehr noch, das Vaterunser steht in der Gefahr durch die ökumenische Öffnung des 20. Jahrhunderts, die zum gemeinsamen Gebet aufruft, instrumentalisiert zu werden. Denn wenn das Vaterunser nur aus ökumenischer Gewohnheit zusammen gebetet wird und um sich ein gutes Gewissen zu machen, handelt es sich lediglich um eine vorgetäuschte Einheit. In Wahrheit verpflichtet das Vaterunser aber zur Einheit der Kirchen!

Im weiteren Text ist die Groupe des Dombes darum bemüht, möglichst genau auszubuchstabieren, wie der Prozess der Umkehr unter dem Aspekt des Vaterunser zu interpretieren ist und welche konkreten Formen er in der Realität annehmen könnte. Um einer missverständlichen Interpretation seines »verpflichtenden« Charakters vorzubeugen und gleichzeitig die Dringlichkeit der Umkehr nicht in Abrede zu stellen, wird immer wieder die Dialektik von göttlicher Verheißung und kirchlicher Antwort aufgezeigt. Mit anderen Worten:

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Die Groupe des Dombes

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Wiewohl es sich bei der Einheit der Kirche um eine spirituelle Gabe handelt, muss diese dennoch unter den Glaubenden rezipiert und gestaltet werden, um in der Welt sichtbar zu sein. Die Bitten des Vaterunser in einem konsequent ökumenischen Sinne auszulegen bedeutet für die Mitglieder der Groupe des Dombes, von der Konzentration auf das eigene konfessionelle Profil abzulassen und die Dezentrierung der eigenen Kirche in Kauf zu nehmen. Das bedeutet auch, sich unter der Verheißung der Einheit zugleich der Erfahrung der Alterität zu stellen und den »Wandel der eigenen Werte« durch das interkonfessionelle Gespräch nicht zu fürchten.145 Die Groupe des Dombes warnt ihre Leser vor der Versuchung, die ökumenischen Bemühungen aufzugeben und sich stattdessen einer Haltung der Resignation hinzugeben. Stattdessen ermutigt sie dazu, die Entwicklungen auf den konfliktreichen Gebieten von Amts- und Abendmahlsverständnis wahrzunehmen und Initiativen zu begrüßen, in denen sich die verheißene Versöhnung schon bezeugt. Dieser Aufruf der Groupe des Dombes wird eingebettet in theologische und liturgische Sprache. So schließt das Dokument mit zwei Texten, in denen der Wunsch nach der Einheit der Kirchen in die performative Realität von Gebet und Meditation hineingenommen wird: [Vater unser im Himmel] du prüfst uns nicht, um uns dem Bösen zu unterwerfen, sondern damit unser Glaube durch Prüfungen stärker wird. Dennoch kennen wir unsere Schwächen und bitten dich deshalb in Demut: Bewahre uns vor Prüfungen, damit wir uns nicht gegen dich wenden. Und wenn die Prüfung uns nicht erspart bleibt, so bitten wir dich, erlöse uns von dem Bösen! Das Gebet, das wir an dich richten, betrifft nicht nur die Prüfungen und Versuchungen, die jeden von uns treffen können, sondern die der Spaltung zwischen den Kirchen. Zu oft haben unsere Trennungen in der Geschichte einen Vorwand geliefert, für den Rückzug auf uns selbst und die Gewalt gegenüber dem Anderen. Auch können die Kirchen der Versuchung anheimfallen, dem Bösen gegenüber passiv zu werden und nicht mehr von der Hoffnung zu zeugen. Wir bitten dich darum, dass wir solchen Prüfungen nicht mehr unterworfen sind. Und dass wir da, wo wir uns unseren Konflikten bewusst sind, diese nicht als Alibi benutzen, um uns von dem Anderen zu entfernen, sondern als Gelegenheit, uns gemeinsam unseren Wunsch nach Gemeinschaft zuzusprechen. Unser Vater, erlöse uns von dem Übel der Trennung und gib, dass wir uns zur Einheit führen lassen, wir, die wir deine geliebten Kinder sind.146

In ihrem Zusammenspiel von theologisch-explikativer und liturgisch-performativer Sprache sind die Texte der Groupe des Dombes nicht repräsentativ für ökumenische Dokumente im Allgemeinen. Gleichwohl sind sie anspruchsvoll und erreichen ein breiteres ökumenisches Publikum. Gerade in Frankreich 145 Ebd., 135. 146 Ebd., 170.

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werden sie von den Kirchen intensiv wahrgenommen und kommentiert, sowohl auf der Leitungsebene als auch an der Basis. Unsere These besteht nun darin, zu sagen, dass die Zugänglichkeit dieser Texte mit Sprachphänomenen zu tun hat, die wir in unserem letzten Kapitel im Anschluss an die Theorie Ricœurs herausgestellt hatten. Dazu gehören zum einen die historische Situierung eines ökumenischen Konflikts und die Betrachtung seiner geschichtlichen Entfaltung. Dieser historische Nachvollzug ist in der Lage ein Verständnis für die Position des ökumenischen Partners zu erzeugen und verleiht der Argumentation außerdem eine gewisse Bodenhaftung. Zum anderen bemühen sich die hier beschriebenen Texte, eine performative Dimension in die theologischen Überlegungen zur Einheit der Kirchen einzutragen. Diese Dimension, die sich hier im kommunikativen Stil des ganzen Dokuments, besonders aber in der Integration eines Meditationsteils zeigt, ermöglicht es, dem geistlichen Geschehen der gegenseitigen Anerkennung in stärkerem Maße gerecht zu werden. Die Texte benennen ohne Umschweife das aktuelle ökumenische Defizit, das sich in ökumenischen Lippenbekenntnissen vor dem Hintergrund einer versteckten Rekonfessionalisierung zeigt. Sie unterschlagen aber dennoch nicht die Hoffnung auf einen Wandel der gegenwärtigen Situation. Dem Duktus der Dokumente folgend ist der ökumenische Wandel vor allem durch eine Offenlegung der Mitschuld aller Kirchen an der Situation der Trennung zu erzielen. In dem Maße, wie die Kirchen die Fähigkeit entwickeln, das eigene Unvermögen zur Einheit einzugestehen, kann das gemeinsame Gebet um Einheit wieder zu einer echten Option werden. Der Text der Dombisten tut nichts anderes, als einen solchen Weg der Selbsterkenntnis vorzuzeichnen und er mündet folgerichtig in die Bitte um Einheit und damit in eine Hoffnungsperspektive, die realistisch ist und ganz im Einklang mit der christlichen Identität selbst steht. Der Text disponiert seine Leser dazu, in die Bitte um Einheit einzustimmen und einen Vorgeschmack darauf im gemeinsamen Sprechen des Vaterunser zu empfangen. Im Text der Dombisten zeigt sich auf diese Weise, dass auch ökumenische Dokumente eine Facette aufweisen können, die wir mit Ricœur als die »Appellfunktion« von Texten bezeichnet hatten. Diese Funktion rekurriert auf das Vorstellungsvermögen ihrer Leser und ist in der Lage, neben dem Wunsch nach der Vergewisserung der eigenen konfessionellen Position auch der Offenheit und der Neugier gegenüber einem möglichen Wandel Raum zu geben. Da die Groupe des Dombes kein offizielles Mandat der Kirchen besitzt, fehlt es ihren Texten zwar an einer autoritativen Rezeptionsanweisung, die dafür sorgen würde, dass sie verbindlich gelesen und den Bekanntheitsgrad erhalten würden, der ihnen zusteht. Doch gerade die institutionelle Fragilität der Gruppe zeigt, was es bedeutet, die verheißene Einheit als Gabe an die Kirchen zu begreifen und im Sinne der Glaubwürdigkeit der Kirchen Brüderlichkeit zu leben.

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Texte zu schreiben und zu veröffentlichen ist nicht das wichtigste Anliegen der Groupe des Dombes. Die Texte sind nur das Resultat der erlebten gegenseitigen Anerkennung und entspringen der Dankbarkeit für die untereinander erfahrene Brüderlichkeit.

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4.4.1 Vorstellung Als drittes Beispiel dieses Kapitels soll uns die Communaut¦ de Taiz¦ beschäftigen. Die Communaut¦ de Taiz¦ ist eine ökumenische Bruderschaft, die ihr Zentrum in dem burgundischen Dorf Taiz¦ hat. Es gehören ihr ca. 100 Brüder an, von denen eine Hälfte evangelisch ist, während die anderen zu etwa gleichen Teilen aus der anglikanischen und der römisch-katholischen Kirche kommen.147 Gegründet im Jahr 1940, hat sie sich vor allem seit den späten 1960er Jahren zu einer ökumenischen Begegnungsstätte mit internationaler Ausstrahlung entwickelt. Verschiedene Merkmale haben zu dieser Unverwechselbarkeit der Gemeinschaft beigetragen. Bedeutsam ist zunächst die Figur ihres Gründers Roger Schutz, genannt FrÀre Roger, der ein Leben in materieller Einfachheit und spiritueller Hingabe führte und dafür über Generationen und Institutionen hinweg Gehör und Anerkennung fand. Seine vielfältigen Aktivitäten wie auch die der anderen Brüder von Taiz¦ werden verstehbar vor dem Hintergrund ihrer Bemühungen um die ökumenische Einheit. Der Begriff von Ökumene, der hier angelegt wird, ist allerdings ein extensiver, da sich ökumenisches Leben in Taiz¦ in vielfältiger Weise ereignet. Taiz¦ ist zum einen ein Versammlungsort für junge Menschen, welche die Gemeinschaft in jedem Jahr zu Tausenden besuchen und vor allem auf der Suche nach spiritueller Erneuerung sind. Zum anderen haben Brüder aus der Gemeinschaft auch innerhalb bedeutender ökumenischer Strukturen wie der FPF, dem ÖRK oder dem Einheitsrat der römisch-katholischen Kirche mitgearbeitet. Taiz¦ steht darüber hinaus auch für den Dialog zwischen Nord und Süd. Längst hat die Gemeinschaft Vertretungen im Ausland gegründet. Dabei handelt es sich zumeist um kleine Gruppen von Brüdern, die in Afrika, Asien und Südamerika mit den Ärmsten der Armen leben und bemüht sind, das Motto »Kampf und Kontemplation« zu verwirklichen.148 Das unkonventionelle ökumenische Vorgehen der Gemeinschaft hat aber auch immer wieder für Spannungen mit den großen Kirchen 147 Escaffit, Rasiwala, Geschichte, 198. 148 Müller, Reymond, Taiz¦, 1509.

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gesorgt. Besonders der Umstand, dass man sich nicht nur weigert, sich auf die Grenzen einer konfessionellen Tradition festzulegen, sondern darüber hinaus sogar eine ›multiple‹ konfessionelle Identität für möglich hält und diese vorlebt, ruft Kritiker auf den Plan, die an dieser ›Unklarheit‹ Anstoß nehmen. Im Rahmen unserer Untersuchung können wir auf eine ausführliche Vorstellung der Communaut¦ de Taiz¦ verzichten. Wir beschränken uns darauf, einige wichtige Etappen aus der Entwicklung von Taiz¦ in Erinnerung zu rufen, bevor wir uns ausführlicher mit dem ökumenischen Profil der Gemeinschaft auseinandersetzen. Die Bruderschaft ist 1940 gegründet worden von dem damals erst 25jährigen Theologiestudenten Roger Schutz, der aus der reformierten Kirche im Kanton Waadtland (Schweiz) kam. Schutz stammte aus einer Pfarrersfamilie und wuchs in einem kalvinistisch geprägten Umfeld auf. Das Thema der Ökumene war ihm in gewisser Weise schon in die Wiege gelegt worden.149 Sein Großvater mütterlicherseits war ursprünglich katholisch gewesen. Er hatte seine Karriere in der katholischen Kirche allerdings nach dem Ersten Vatikanischen Konzil aufgegeben und war stattdessen erst in der altkatholischen, später in der reformierten Kirche Pfarrer geworden. Auch Rogers Großmutter hatte ihm ökumenische Offenheit vorgelebt und ihn durch ihr Zeugnis beeindruckt. Sie hatte während des Ersten Weltkriegs Flüchtlinge in ihr Haus aufgenommen. Erschüttert von den Ereignissen besuchte sie nach Kriegsende, obwohl sie selbst evangelisch war, regelmäßig den katholischen Gottesdienst als ein Zeichen innerer Versöhnung.150 Schon sehr zeitig begann Roger Schutz sich für monastische Gemeinschaften zu begeistern. Sein frühestes Interesse galt der Geschichte des französischen Zisterzienserklosters Port-Royal, das im 17. Jahrhundert ein Zentrum des Jansenismus war, einer augustinisch inspirierten, papstkritischen Frömmigkeitsbewegung innerhalb des französischen Katholizismus. Er lernte dessen Schicksal in den Lektüren seiner Kindheit und Jugend kennen. Jedoch waren seine Sympathien für den Katholizismus nicht nur literarischer Natur. Als Gymnasiast wurde Roger etwa drei Jahre lang zu einer katholischen Familie in Pension gegeben. Mit seiner Zuneigung für diese Familie wuchs auch sein Unverständnis gegenüber der interkonfessionellen Situation, in der er sich befand. Dies führte zu einer längeren Glaubenskrise. Später erinnerte er sich:

149 Chiron, FrÀre Roger, 24. 150 Peng-Keller, FrÀre Roger, 66; Chiron, FrÀre Roger, 29. »Ihre beiden Gesten, die am meisten Leidgeprüften aufnehmen und zu einer Versöhnung im eignen Innern gelangen, haben mich später fürs ganze Leben geprägt. Die Intuition meiner Großmutter muss mir von Kindheit an eine katholische Seele gegeben haben.«

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Auf beiden Seiten gab es keinerlei Anzeichen für eine antikatholische oder antiprotestantische Einstellung. Trotzdem war ich über den beiderseitigen Mangel an Verständnis beunruhigt. Ständig dachte ich über diesen absurden Zustand beider Seiten nach, wie sie Gott und den Nächsten lieben konnten und dennoch getrennt blieben. Ich nahm mir vor, sollte ich eines Tages wieder glauben können, auf alles zu verzichten, was mich in dieser Weise am Leben der Christen abgestoßen hatte, um durch mein eigenes Leben die Berufung zur Einheit zu verwirklichen.151

Tatsächlich nahm Roger 1936 ein Theologiestudium in Lausanne auf. Als Student machte er Bekanntschaft mit der Praxis geistlicher Gemeinschaften in Valsainte und Grandchamps und wurde Vorsitzender der christlichen Studentenvereinigung in Lausanne. In dieser Funktion organisierte er Studienkreise und Einkehrtage, mehr und mehr mit dem Ziel, seinerseits eine spirituelle Gemeinschaft zu gründen. 1939 nahm er als studentischer Vertreter an der Weltjugendkonferenz in Amsterdam teil, was ihm einen nachhaltigen Eindruck der im Entstehen begriffenen ökumenischen Bewegung vermittelt haben dürfte. Seine Examensarbeit schrieb er schließlich zum Thema »Das Mönchsideal vor Benedikt und seine Übereinstimmung mit dem Evangelium«. Obwohl er darin die Auswüchse des mittelalterlichen Mönchtums kritisierte, empfahl der junge Roger in dieser Arbeit den reformatorischen Kirchen die Einrichtung sogenannter ›Gemeinschaftshäuser‹. Diese würden, so die Idee, eine feste Gemeinschaft von Brüdern beherbergen, welche durch ihr Zeugnis den anderen Glaubenden während deren Einkehrzeiten Kraft und Orientierung spenden sollten. Vieles, was diese Arbeit in nuce entfaltete, verwirklichte sich später im Leben der Communaut¦ de Taiz¦ tatsächlich. Deren Anfänge allerdings waren noch ganz bescheiden. Im Jahr 1940 fasste Roger Schutz den Entschluss, ein Anwesen in Frankreich zu erwerben, in dem die zukünftige Gemeinschaft sich niederlassen könnte. Dank günstiger Umstände konnte er ein leer stehendes Herrenhaus samt Grundstück in dem etwas abgelegenen Dorf Taiz¦ in der Gegend von Cluny unweit von Chalon-sur-Saúne erwerben. Er bewirtschaftete es zunächst allein und benutzte das Haus unter anderem, um jüdische Flüchtlinge zu verstecken. Als er daraufhin bei den deutschen Besatzern denunziert wurde, musste er für eine Weile bei seiner Familie in Genf Zuflucht nehmen. Nach 1944 kehrte er zurück und das gemeinschaftliche Leben in Taiz¦ kam auf die Beine. Die Zahl der Brüder wuchs schnell. Neben der liturgischen Ausrichtung ihrer Gemeinschaft mit mehreren Gebetszeiten am Tag lag den Brüdern von Anfang an die soziale Arbeit am Herzen. Man kümmerte sich um Kriegswaisen und Kriegsgefangene, gründete eine landwirtschaftliche Kooperative mit den Bauern der Umgebung und entsandte Brüder ins Arbeitermilieu der umliegenden Großstädte. Zu Os151 Peng-Keller, FrÀre Roger, 68.

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tern 1949 legten die ersten sieben Brüder ein lebenslanges Gelübde, das sogenannte »Lebensengagement« ab, welches Gütergemeinschaft und Zölibat vorsah. Bis zu Rogers tragischem Tod im Jahr 2005 sollten sich mehr als 100 Männer der Gemeinschaft anschließen. Taiz¦ entwickelte sich mehr und mehr zu einem Zentrum gelebter Ökumene. In den ersten Jahren war es noch als evangelische Gemeinschaft erkennbar. Dann, ab 1969 schlossen sich auch die ersten katholischen Brüder mit Zustimmung ihrer Kirche an. Zudem lebten für einige Zeit eine franziskanische und eine orthodoxe Gemeinschaft in Taiz¦. Auch mehrere katholische Frauenorden schickten Vertreterinnen, die bis heute in Taiz¦ mitarbeiten. Besonders prägen das Profil der Gemeinschaft aber die zahlreichen Jugendtreffen, die seit etwa 1970 jeden Sommer in Taiz¦ stattfinden. Aufgrund der regen Reisetätigkeit der Brüder und ihrer weltweiten Unterstützer konnten derartige Treffen bald auch in anderen Ländern organisiert werden. Die kritische Haltung gegenüber bestehenden Institutionen, seien es Kirchen, Staaten oder Konzerne, für die Taiz¦ stand und steht, erwies sich besonders in den 1960er und 70er Jahren als anschlussfähig. Dabei wurde der gleichzeitige Aufruf zur Gewaltlosigkeit und die Suche nach einem dritten Weg, der darin besteht, das gemeinsame Gebet zum Lebensmittelpunkt zu machen und »im Heute Gottes zu leben«,152 als originell begrüßt. Gerade in den osteuropäischen Ländern vor der politischen Wende wurde die Botschaft von Taiz¦ mit Begeisterung aufgenommen.153 Nicht zuletzt wurden auch die spirituellen Impulse aus Taiz¦ wertgeschätzt. In den Jahren ihres Bestehens entwickelte die Gemeinschaft eine eigene, unverkennbare Ästhetik in ihrer liturgischen Praxis, die weltweit von Kirchen und Basisgruppen aufgenommen wurde. Besonders die einfachen, einprägsamen Gesänge, die ursprünglich als Formen des gemeinsamen Gebets während der Jugendtreffen eingeführt worden waren, fanden eine weltweite Verbreitung.154 Wie aber gestalten sich die offiziellen ökumenischen Beziehungen der Communaut¦ de Taiz¦? Schon 1940, kurz nach seiner Ankunft, nahm Roger Schutz, der sich bald nur noch FrÀre Roger nannte, Kontakt zu ökumenisch gesinnten Personen in der römisch-katholischen Kirche auf. So lernte er Abb¦ Paul Couturier kennen, den Gründer der Groupe des Dombes. Er wurde für FrÀre Roger zu einer Schlüsselperson, die ihm viele Kontakte in der katholischen Kirche vermittelte und ihn unter anderem zur Teilnahme an der damals noch im Entstehen begriffenen Groupe des Dombes einlud. Nicht FrÀre Roger selbst, aber Max Thurian (FrÀre 152 Schutz, Heute. 153 FrÀre Roger, Ahnung, 93. 154 Chiron, FrÀre Roger, 234.

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Max) sein erster Mitstreiter und später einer der wichtigsten Theologen von Taiz¦, arbeitete über Jahre hinweg in der Groupe des Dombes mit, die ihre jährlichen Treffen bald auch in Taiz¦ abhielt. Tatsächlich gab es viele Übereinstimmungen in der ökumenischen Orientierung von FrÀre Roger und Abb¦ Couturier. Dazu gehörten die Ablehnung von jeder Art von Proselytismus sowie die Einsicht, dass der Gedanke der Konversion – verstanden als gemeinsame Umkehr aller Kirchen – die einzige Option für den ökumenischen Dialog darstellte.155 Den ökumenischen Vorstößen von Roger und seinen Mitstreitern wurde zu Beginn seitens der katholischen Autoritäten eher mit Misstrauen begegnet. Treffen zwischen den Brüdern von Taiz¦ und den Mitgliedern anderer katholischer Orden wurden kaum zugelassen.156 In anderer Hinsicht war man großzügiger. Unter der Bedingung, dort ein Simultaneum einzurichten, wurde den Brüdern erlaubt, für ihre Stundengebete die katholische Dorfkirche von Taiz¦ zu benutzen.157 Als schließlich Papst Pius XII. im Jahr 1947 einem Treffen zwischen den Brüdern und einer Gruppe katholischer Priester zustimmte, kamen Spekulationen auf, Rom unterstütze die ›evangelischen Mönche‹ nur deshalb, weil mit ihrer baldigen Konversion gerechnet würde. Zu solchen Vermutungen gab Taiz¦ aber keinen Anlass. Zwar war es auffällig, wie positiv FrÀre Roger auch geringste ökumenische Initiativen aus Rom stets begrüßte, wenngleich diese bei anderen protestantischen Kirchenvertretern höchstens ein Schulterzucken, wenn nicht sogar offenen Unmut auslösten. Doch er äußerte sich auch kritisch. FrÀre Roger und FrÀre Max nutzten ihren ersten Besuch bei Papst Pius XII. im Jahr 1950, um ihm ihre Bedenken über die Auswüchse der Marienfrömmigkeit in der katholischen Kirche kundzutun. Als bald darauf das Dogma von der Aufnahme Marias in den Himmel durch Pius XII. erlassen wurde, sparte auch Taiz¦ nicht mit öffentlicher Kritik an dem autoritären Stil, mit dem dieser Glaubensartikel durchgesetzt wurde.158 Dennoch war in den folgenden Jahrzenten das Verhältnis von Taiz¦ zur römisch-katholischen Kirche bestimmt durch die Freundschaften, die FrÀre Roger mit den Päpsten Johannes XXIII., Paul VI. und Johannes Paul II. unterhielt. Besonders herzlich war das Verhältnis zu Johannes XXIII., der die Brüder von 155 Ebd., 87. Der Autor berichtet von einem frühen Zeitschriftenartikel von FrÀre Roger und Max Thurian über den ökumenischen Dialog: »Alle christlichen Konfessionen müssten sich ›einer Umkehr, einer Läuterung, einer Neuausrichtung auf Jesus Christus‹ unterziehen und würden auf diese Weise eines Tages ›die wahre katholische (universelle und ökumenische) Kirche, die Kirche des Credos in ihrer ganzen ursprünglichen Wahrheit und Lauterkeit‹ wiederfinden.« 156 Ebd., 89. 157 Ebd., 97. 158 Ebd., 112.

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Taiz¦ gleich bei ihrer ersten Audienz ins Vertrauen zog und keinen Zweifel darüber ließ, dass er entschlossen war, den Weg der Ökumene einzuschlagen.159 Einen Höhepunkt in den Beziehungen zur römisch-katholischen Kirche stellte die Teilnahme von FrÀre Max und FrÀre Roger am Zweiten Vatikanischen Konzil dar, wo ihnen ein Beobachterstatus eingeräumt wurde. Die beiden nahmen so nicht nur an den meisten offiziellen Sitzungen teil. Sie verlegten in diesen Jahren auch ihren Lebensmittelpunkt nach Rom und luden am Rande des Konzils Kardinäle und Bischöfe zu Diskussionen in ihre Wohnung ein. Es gelang ihnen auf diese Weise, nicht nur maßgebliche Verbindungen zu knüpfen, z. B. nach Südamerika. Überhaupt gewann die Communaut¦ eine bisher ungeahnte öffentliche Präsenz.160 Die Reformwilligkeit des Konzils und die Gastfreundschaft, die sie genossen, flößten den beiden Brüdern einen großen Respekt vor der katholischen Kirche ein, der sich biographisch noch unterschiedlich äußern sollte. Auch die Beziehungen mit dem folgenden Papst Paul VI. gestalteten sich harmonisch. Mindestens einmal jährlich besuchte FrÀre Roger den Papst in Rom und begleitete ihn zudem auf seiner Südamerikareise im Jahr 1968. Die Verbindung wurde seitens des Papstes so wertgeschätzt, dass er ab 1971 einen ständigen Vertreter von Taiz¦ nach Rom bestellte.161 Dieses Amt, das eine besondere Nähe zwischen Taiz¦ und Rom signalisierte, wurde von FrÀre Max übernommen, der zur selben Zeit auch in der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des ÖRK mitarbeitete. FrÀre Roger setzte sich öffentlich wiederholt für die Bedeutung des Papstamtes ein. Oft betonte er, dass die Einheit der Kirchen eines strukturierten Amtes bedürfe und dass der Bischof von Rom als »universaler Hirte« im Sinne aller Kirchen wirken könne. Das Einvernehmen mit den Päpsten konnte freilich nicht über die verbliebenen Reibungspunkte mit der katholischen Kirche hinwegtäuschen, allen voran die Frage nach der Möglichkeit der Interkommunion. Seit sich Tausende von Jugendlichen aus allen großen Konfessionen in Taiz¦ versammelten, stand die Frage des gemeinsamen Abendmahls im Raum. Oft waren auch katholische Würdenträger bei diesen Treffen präsent. Die Hoffnung von FrÀre Roger und seinen Mitstreitern, dass die katholische Kirche in diesem Zusammenhang ihre Zustimmung zu einem gemeinsamen Abendmahl geben würde, hat sich aber bis jetzt nicht erfüllt.162 Die Konsequenz ist, dass die Interkommunion ohne die 159 Ebd., 127. »FrÀre Roger war über diese Zusammenkunft nicht nur hocherfreut, sondern, wie er Pater Congar mitteilte, auch überrascht: »Der Papst hatte ihm ziemlich erstaunliche Dinge gesagt, sogar, wie mir Schutz anvertraute, regelrecht Häretisches. Zum Beispiel: Die katholische Kirche habe nicht die ganze Wahrheit; es gelte gemeinsam zu suchen …«. 160 Ebd., 154. 161 Ebd., 149. 162 Ebd., 181.

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Zustimmung aber mit dem Wissen der katholischen Autoritäten praktiziert wurde und wird – eine Lösung, die für keine Seite wirklich zufriedenstellend ist. Interessanterweise besteht aber in anderer Hinsicht eine große Übereinstimmung zwischen den Brüdern von Taiz¦ und der katholischen Kirche – und zwar ebenfalls in der Frage des Abendmahls. FrÀre Roger selbst hat vermutlich ab 1972 kein evangelisches Abendmahl mehr gespendet. Er soll seitdem in Taiz¦ nur noch nach dem Ritus der römisch-katholischen Eucharistie kommuniziert haben. Soweit man weiß, sind die Gründe dafür vielfältig gewesen. Zum einen scheint FrÀre Roger ab einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens in der evangelischen (vielmehr der reformierten!) Abendmahlsauffassung nicht mehr gefunden zu haben, was er suchte, weil er sich längst ein realpräsentisches Verständnis zu Eigen gemacht hatte. Außerdem lebten seit Ende der 1960er Jahre auch katholische Brüder in Taiz¦. Mit diesen Brüdern keine Abendmahlsgemeinschaft zu haben, nur weil Rom es verbot, war undenkbar. Schließlich und dieser Umstand ist für unsere Untersuchung interessant, stand diese Entscheidung Rogers in engem Zusammenhang mit den ökumenischen Entwicklungen seiner Zeit.163 Quellen zufolge soll FrÀre Roger die Eucharistie zum ersten Mal am 8. September 1972 durch den Bischof von Autun empfangen haben. Einen Tag zuvor noch hatte sich die Groupe des Dombes zu ihrem jährlichen Treffen zusammengefunden. Dieses Treffen stand ganz unter dem Eindruck des in jenem Jahr herausgegebenen Dokuments Vers une mÞme fois eucharistique, in dem die Möglichkeit der Interkommunion theologisch begründet worden war. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch niemand eine offizielle Erlaubnis zur Interkommunion ausgesprochen hatte, luden die katholischen Theologen der Groupe des Dombes ihre evangelischen Kollegen am Abend des 7. September zur Eucharistie ein. Viele folgten dieser Einladung, unter ihnen war auch FrÀre Max. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Entscheidung von FrÀre Roger in einem engen Zusammenhang mit diesen Ereignissen steht. Die meisten seiner Mitbrüder in Taiz¦ folgten daraufhin seinem Beispiel und empfingen die katholische Eucharistie als Instrument und Ausdruck der Einheit.164 Die Verbindungen zu den Protestanten waren auf offizieller Ebene durch die Reserviertheit der evangelischen Kirchenleitungen gegenüber der Communaut¦ de Taiz¦ geprägt. Solange die Gemeinschaft klein war, begegnete man ihr noch mit Interesse, wenngleich das monastische Ideal, das in Taiz¦ hochgehalten wurde, von Beginn an für Verwirrung sorgte, umso mehr als die Gemeinschaft anfangs ihre geographische und spirituelle Nähe zu Cluny sehr betonte. Dass FrÀre Roger sich in der ERF engagierte und in der Umgebung von Taiz¦ evangelische Gottesdienste hielt und Gemeinden betreute, brachte ihm allerdings 163 Ebd., 220. 164 Ebd., 222.

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einige Sympathien ein, umso mehr als er, der ja in der Schweiz ordiniert worden war und niemals auf der offiziellen Pfarrerliste der ERF geführt wurde, all dies tat, ohne Zuwendungen dafür zu verlangen.165 Aber in dem Maße, wie die Bruderschaft wuchs und ihren Handlungspielraum erweiterte, wurde das Verhältnis komplizierter. Die Versuche, eine verbindliche Beziehung zwischen der Gemeinschaft von Taiz¦ und der reformierten Kirche Frankreichs bzw. dem protestantischen Dachverband FPF aufzubauen, scheiterten immer wieder daran, dass Taiz¦ an seinem Status als interkonfessionelle Gemeinschaft festhielt, die selbst keiner einzelnen Kirche angehören wollte. Erst nachdem geklärt worden war, dass die ordinierten Brüder aus Taiz¦, die in einer Gemeinde der ERF ihren Dienst versahen, auch deren Autorität letztgültig anerkannten, sprach die ERF ihrerseits eine begrenzte Anerkennung von Taiz¦ aus.166 Die FPF, deren langjähriger Präsident Marc Boegner die Communaut¦ in ihren Anfangsjahren noch häufig besuchte,167 tat sich später schwer damit, den Status von Taiz¦ als »international«, »ökumenisch« und »praktisch unabhängig«168 zu akzeptieren. Mitte der 1970er Jahre wurde die theologische Zusammenarbeit zwischen der FPF und Taiz¦ offiziell beendet.169 Es sollte fast zwanzig Jahre dauern, bis die Beziehungen sich wieder normalisierten.170 Eine gewisse Anerkennung durch die protestantischen Kirchen war für Taiz¦ aber von großer Bedeutung. Man brauchte sie, um in ökumenischen Gremien wie dem ÖRK ernst genommen zu werden und mitarbeiten zu können.171 Die ökumenischen Vorstöße der Gemeinschaft wurden von den evangelischen Kirchen in Frankreich häufig als riskanter Alleingang betrachtet. Die engen Verbindungen nach Rom riefen nicht Zustimmung, sondern Misstrauen hervor, weil nicht absehbar war, zu welchen Konsequenzen sie eventuell führen würden und wie diese auf die evangelischen Kirchen in Frankreich ausstrahlen könnten. Um diese Haltung gegenüber Taiz¦ zu verstehen, muss man die Minderheitssituation in Rechnung stellen, in der die protestantischen Kirchen in Frankreich sich seit jeher befanden.172 Angesichts der Hegemonie einer übermächtigen katholischen Mehrheitskirche war jahrhundertelang Abgrenzung 165 166 167 168 169 170

Ebd., 114. Ebd., 120; Stökl, Taiz¦, 169. Spink, Söller, FrÀre Roger, 115. Chiron, FrÀre Roger, 187. Escaffit, Rasiwala, Geschichte, 108. Ebd., 181. »In den Beziehungen zwischen Taiz¦ und dem französischen Protestantismus unterscheidet der Vorsitzende [der FPF, Jean-Arnold de Clermont im Jahr 2007] drei Perioden: »Von 1944 bis 1975 betrachteten wir Taiz¦ als evangelische Gemeinschaft ökumenischer Berufung. Von 1975 bis 1990 dauerte der Bruch. Seit 1990 haben sich die Beziehungen normalisiert.« 171 Chiron, FrÀre Roger, 125; Stökl, Taiz¦, 170. 172 Escaffit, Rasiwala, Geschichte, 104.

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nicht Dialog und schon gar nicht Umkehr das Gebot der Stunde gewesen. Zu schweren Verstimmungen kam es deshalb, als man 1960 in Taiz¦ damit begann, katholische Bischofe und evangelische Pfarrer zu ökumenischen Kolloquien zu versammeln. Die Medien zeigten sich äußerst interessiert an diesen Zusammenkünften und stellten Taiz¦ bald als Ort der Einheitsfindung und mithin als neue ökumenische Hoffnung dar. Daraufhin sah sich die FPF, die diesen Kolloquien nicht zugestimmt hatte und deren ökumenische Politik zu jener Zeit ganz anders aussah, zu einer Distanzierung genötigt. Wie noch häufiger in den folgenden Jahren betonte man, dass die Communaut¦ nur für sich selbst stehe und dass ihre ökumenischen Aktivitäten für die Gesamtheit der französischen Protestanten weder repräsentativ noch bindend seien.173 Die Ökumene der identitären Umkehr für die FrÀre Roger stand, fand unter Frankreichs Protestanten kaum Zustimmung. Sie erntete eher Polemik, die immer wieder darauf zielte, dem Konzept der Rückkehrökumene eine klare Absage zu erteilen und einen »Erdrutsch in den [protestantischen] Lehraussagen« als gänzlich absurde Option zu entlarven.174 Immer wieder gab es Zerwürfnisse über Positionen von Taiz¦, die schlicht als ›unevangelisch‹ empfunden wurden. Sei es die Sympathie für den Bischof von Rom, das Lebensengagement der Brüder, das mit einem Zölibatsversprechen einher ging oder einfach nur die für den reformierten Geschmack zu ausladende spirituelle Ästhetik – immer wieder warf die protestantische Presse die Frage auf, ob die Gemeinschaft nicht eigentlich katholisch sei oder zumindest auf dem besten Wege, sich vereinnahmen zu lassen. Als dann im Jahr 1988 bekannt wurde, dass FrÀre Max, der sich seit längerer Zeit hauptsächlich in Italien aufgehalten hatte, zum Katholizismus konvertiert war und zudem die Priesterweihe empfangen hatte, schienen sich die Befürchtungen vollauf zu bestätigen. Obwohl dieser Übertritt alles andere als beispielgebend für die Communaut¦ war und von allen Seiten ausdrücklich bedauert wurde, ließ er Zweifel am ökumenischen Modell von Taiz¦ aufkommen.175 Eines wurde dadurch gewiss deutlich: Die Zugehörigkeit zur Communaut¦ de Taiz¦ ging nicht spurlos an der konfessionellen Identität ihrer Mitglieder vorbei. FrÀre Roger, der sich zeitlebens zum ökumenischen Wandel bekannte, fand 173 Chiron, FrÀre Roger, 147. Der Autor zitiert aus einem Zeitungsartikel, der diese Haltung auf den Punkt bringt: »Die Communaut¦ de Taiz¦ steht nicht für den zeitgenössischen französischen Protestantismus; und trotz der unterschiedlichen Nationalität ihrer Mitglieder ebenso wenig für den europäischen oder weltweiten Protestantismus. Dies kann man Katholiken, die sich darüber Illusionen machen, nicht oft genug sagen. Die Communaut¦ de Taiz¦ ist rechtlich gesehen keiner kirchlichen Organisation angeschlossen, auch nicht dem Ökumenischen Rat. Sie ist in dieser Hinsicht vollkommen frei. Eine erfrischende Freiheit, wie ich meine, aber auch eine hochgefährliche.« 174 Ebd., 140. 175 Escaffit, Rasiwala, Geschichte, 175.

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im Lauf seines Lebens einen anderen Weg als die Konversion, um diesen Wandel mit seinen konfessionellen Wurzeln zu vereinbaren. Er bekannte sich zu einer »doppelten Zugehörigkeit«, die es ihm ermöglichte, Elemente anderskonfessioneller Glaubenspraxis anzunehmen, ohne mit seiner reformierten Tradition zu brechen.176 Neben aller Kritik gibt es unter den französischen Protestanten aber auch zahlreiche Sympathien für Taiz¦. In erster Linie sind sie bei den Jugendlichen zu finden, die jedes Jahr allein oder mit ihren Pfarrerinnen und Pfarrern die Gemeinschaft besuchen.177 Zudem hat Taiz¦ auch viele Intellektuelle angezogen.178 Einer von ihnen war auch Paul Ricœur. Ricœur verbrachte fast jährlich einige Tage in Taiz¦ und war einer der ersten, die sich schriftlich über die Gemeinschaft äußerten und sie so bekannt machten.179 Was bewegte ihn dazu, schon in den 1940er Jahren die Nähe der Gemeinschaft von Taiz¦ zu suchen? Vermutlich war es die feste Überzeugung, den ökumenischen Dialog nicht auf die Erörterung dogmatischer Fragen zu beschränken, sondern ihn als ein Lebensthema anzusehen. Zudem scheinen seine theologischen Anliegen denen von Taiz¦ in einem wichtigen Punkt ähnlich gewesen zu sein. Während seiner Zeit als Gymnasiallehrer in Chambon-sur-Lignon setzte Ricœur sich wie auch die Brüder von Taiz¦ für deutsche Kriegsgefangene ein. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern der reformierten Gemeinde bemühte er sich, deutsche Kriegsgefangene zu einem gemeinsamen Gottesdienst und einem Abendmahl nach Chambon einzuladen. Von vielen in seiner Umgebung wurde diese Haltung wenige Jahre nach Kriegsende und noch unter dem Eindruck der deutschen Besatzungszeit nicht verstanden und man unterband das Treffen in letzter Minute. Ricœur musste sich rechtfertigen. Seinen Kritikern gegenüber verwies er auf sein Gewissen als Christ. Er plädierte für einen brüderlichen Umgang miteinander, in den die deutschen Kriegsgefangenen einbezogen sein sollten. In dieser Weise ökumenisch zu handeln, so Ricœur, würde bedeuten, das Evangelium zu bewahren. In einem Beitrag über dieses Ereignis, den Ricœur mit dem Titel Ökumene und Nächstenliebe überschrieb, äußerte er sich dazu wie folgt: Die Kirche verkündet […] allen Menschen, dass sie Brüder sind, Brüder als Feinde oder als Freunde, Brüder in der Sünde und Brüder in der Gnade. Es ist schrecklich, wenn man sich seine Brüder nicht aussuchen kann. Für viele ist es schrecklich, dass die 176 Ebd., 179. 177 In letzter Zeit hat der amtierende Präsident der ERF, Laurent Schlumberger, die Gemeinschaft von Taiz¦ besucht und auch anderweitig ihre Ausstrahlung als Zeugen des christlichen Glaubens positiv hervorgehoben. Dies ist ein weiteres Zeichen dafür, dass sich die Kontakte der Communaut¦ zu Frankreichs Protestanten allmählich entspannen. Vgl. Schlumberger, T¦moins, 337. 178 Escaffit, Rasiwala, Geschichte, 202 ff. 179 Chiron, FrÀre Roger, 95.

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Deutschen ihre Nächsten sind. Aber des Evangeliums entledigt man sich nicht einfach so. Das Evangelium zwingt mich zu sagen, dass es dieselbe Kirche ist, die sich versammelt, einmal in Chambon in der Freiheit und einmal [im Kriegsgefangenenlager] Versilhac hinter Stacheldraht. Es ist dieselbe Kirche, dieselbe eine, universale Kirche und dasselbe Mahl des Herrn, das hier wie dort gegeben wird. Ein guter Freund sagte neulich zu mir : »Sie sollen ihr Abendmahl ruhig dort feiern, aber nicht am selben Ort wie ich.« Glauben wir vielleicht, wir könnten der Einheit des Abendmahls entgehen, bloß weil wir sie räumlich trennen? Wenn wir nicht wollen, dass sich seine Einheit faktisch realisiert, so deshalb, weil wir nicht glauben, dass seine Einheit Wirklichkeit ist.180

Wir werden im Folgenden jene Aspekte der ökumenischen Orientierung von Taiz¦ genauer betrachten, die im Rahmen unserer Untersuchung von Interesse sind. Dabei soll auch die mögliche Übereinstimmung mit dem Ansatz von Ricœur näher beleuchtet werden.

4.4.2 Rezeptionsverlauf Wenn wir danach fragen, wie man sich den Rezeptionsverlauf, d. h. den Prozess der gegenseitigen Anerkennung zwischen Glaubenden verschiedener Konfessionen in Taiz¦ vorstellt, so stoßen wir auf den zentralen Punkt, an dem die gesamte ökumenische Hermeneutik der Communaut¦ sich ausrichtet. Die ökumenische Vision, für die Taiz¦ steht, ist nicht zu trennen von der Verfasstheit der Gemeinschaft selbst. Wenn FrÀre Roger in seinen zahlreichen Schriften ökumenische Überlegungen anstellt, so sind diese meistens inspiriert vom monastischen Leben. Das ganze ökumenische Statement von Taiz¦ drückt sich in dem versöhnlichen Umgang von Brüdern unterschiedlicher Konfessionen aus, die an diesem Ort im gemeinsamen Gebet und im Hören auf das Evangelium zusammenleben. So wie man als Gemeinschaft zusammenlebt, stellt man sich auch ein mögliches Zusammenleben aller Menschen im Sinne des Evangeliums vor. Die kirchlichen Institutionen und ihre offiziellen ökumenischen Beziehungen dürfen nach Ansicht der Gemeinschaft ebenfalls nicht getrennt von dieser Dynamik des brüderlichen Miteinanders gestaltet werden. Über die Rolle der Gemeinschaft von Taiz¦ im ökumenischen Prozess schreibt FrÀre Roger : Ein Leben in Gemeinschaft verwirklicht einen Mikrokosmos der Kirche. In verkleinertem Maßstab bildet es die gesamte Wirklichkeit des Volkes Gottes ab. Darum kann das bescheidene Zeichen einer Gemeinschaft weit über die Grenzen der Menschen, aus denen sie sich zusammensetzt, hinauswirken. […] Nur insofern, als wir in unserem gemeinsamen Leben Gemeinschaft verwirklichen, stehen wir glaubhaft hinter unserer 180 Ricœur, Œcum¦nisme.

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ökumenischen Berufung. Daß einzelne von uns verschiedenen reformatorischen Kirchen oder der anglikanischen Glaubensgemeinschaft angehören, daß wir auch katholische Brüder unter uns haben, hat in keiner Hinsicht zu Spaltungen unter uns geführt. Die Glaubensgemeinschaft findet beim gottesdienstlichen Gebet langsam zu ihrer Gestalt.181 Wer bist du, kleine, auf verschiedene Orte der Welt verteilte Communaut¦? Ein Gleichnis der Gemeinschaft, ein einfacher Widerschein jener einzigartigen Gemeinschaft, die der Leib Christi, seine Kirche, ist, und dadurch auch ein Ferment in der Menschheitsfamilie. In unserem gemeinsamen Leben können wir nur vorankommen, wenn wir stets neu das Wunder der Liebe entdecken, im täglichen Verzeihen, im Vertrauen des Herzens, im Blick voll Frieden, den wir auf jene richten, die uns anvertraut sind …182

Diesen Zusammenhang zwischen dem monastischen Leben am Ort und der ökumenischen Vision, die auf eine neue Weltwirklichkeit abzielt, muss man kennen, um die Aktivitäten der Communaut¦ einordnen zu können.183 Die Gemeinschaft bezeichnet sich als »ökumenisch«, weil ihre Mitglieder faktisch gemeinsam ein kontemplatives Leben führen, ohne die konfessionellen Spannungen auszublenden, sondern in Auseinandersetzung damit. Die Kontemplation, das gemeinsame Hören auf Gottes Wort im Gebet, ist der Ausgangspunkt für das Verhältnis der Gemeinschaft zur Welt. In der Theologie von Taiz¦ macht sich ein starker christologischer Bezug bemerkbar. Diese Konzentration der Gemeinschaft auf die Christusbeziehung führt aber nicht zu einem weltabgewandten kontemplativen Leben. Im Gegenteil. Sie führt zu einer Hinwendung zur Welt, weil die Welt nicht nur als der Ort der vergangenen Inkarnation Christi betrachtet wird, sondern vielmehr als der Ort, an dem die Christusbegegnung sich weiterhin in der Begegnung mit Menschen vollzieht. Mit Gott teilen, mit dem Menschen teilen: in diesem Wechselspiel haben wir das ganze Evangelium. Alles Teilen mit Gott, alles kontemplative Leben ist durch unsere Relation zum Menschen bedingt. Wer nicht auf den Menschen zu hören weiß, der weiß auch nicht auf Gott zu hören. Wer einem Menschen gegenüber blockiert ist, der unterliegt in einer Schicht seines Selbst einer gleichen Blockierung Gott gegenüber. Da dringt kein Leben mehr durch. […] Mit Gott teilen: der Einzug des Friedens vollzieht sich als Gabe im Laufe eines ganzen Lebens in der Kontemplation, jenen Zeiten der Stille und der Verinnerlichung. Was ist unter Kontemplation zu verstehen? Nichts anderes als jene Verfassung, in der das ganze Sein von der Wirklichkeit der Liebe Gottes ergriffen ist. Wenn wir mit dem Verstand eine Wahrheit der natürlichen Ordnung erfassen, kommt es manchmal zu einer Ergriffenheit in uns, die jedoch nur partieller Art ist. Im Gegensatz dazu können wir ganz und gar, bis in unsere Empfindungen von der überna181 FrÀre Roger, Dynamik, 79 f. 182 Ders., Vertrauen, 58 f. 183 Peng-Keller, FrÀre Roger, 79.

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türlichen Wahrheit, der Liebe Christi, ergriffen sein. Diese Liebe macht uns brennen. Sie ist der Prüfstein: in einer tiefinneren Beziehung zur Christusliebe führt uns die Kontemplation zur Nächstenliebe. Johannes, der kontemplative Apostel, warnt sich selbst vor der Heuchelei, die darin liegt, daß einer mit dem Mund die Liebe Gottes bekennt, zugleich aber seinen Bruder haßt. Die Kontemplation, jene liebevolle Hinwendung des ganzen Wesens zu Christus, findet auch ihren äußeren Ausdruck durch ein Teilen mit dem Menschen. Die Liebe, die wir dem anderen entgegenbringen, bleibt ein Zeichen für die Wahrhaftigkeit der Kontemplation.184

In diesem theologischen Entwurf, der die Verbindung von gegenseitiger Anteilnahme und Christusbegegnung betont, wird die Auseinandersetzung mit dem Zeugnis des Anderen zu einer spirituellen Ressource: Hinhören auf das, was dem anderen bei sich selber weh tut. Zu verstehen versuchen, was er auf dem Herzen hat – und allmählich lässt sich selbst in einer leidvoll aufgewühlten Erde die Hoffnung auf Gott ausmachen oder wenigstens Hoffnung auf Menschlichkeit. Wer einen anderen begleitet und ihm zuhört, wird bisweilen, von seinem Gegenüber unbemerkt, selbst zum Wesentlichen geführt.185

Das Postulat, in der Solidarität mit dem Mitmenschen Gott selbst zu begegnen, ist der entscheidende Punkt, der das ökumenische Engagement Taiz¦s im interkonfessionellen Dialog, aber auch in der sozialen Arbeit verstehbar macht: Allzu lange ist Gott in unerreichbare Höhen versetzt worden. Doch wohnt er auch in den unerforschlichen Tiefen unserer menschlichen Person. Dort ist er ; er ist im tiefsten Grunde des Menschen; er ist sein innerster Kern.186

In seinen theologischen Traktaten und Tagebuchaufzeichnungen dokumentierte FrÀre Roger eine Fülle solcher Gespräche und Begegnungen, die den Charakter von spirituellen »Eingebungen«187 haben. Sie sind für seinen ökumenischen Ansatz formal und inhaltlich unverzichtbar. Neben Begegnungen mit anderen Brüdern, Jugendlichen oder Menschen aus der dritten Welt beschreibt Roger auch Treffen, bei denen der interkonfessionelle Gegensatz im Vordergrund steht. Auch diese Begegnungen, etwa mit den befreundeten Päpsten oder dem orthodoxen Patriarchen Athenagoras, schildert Roger als Glaubenserfahrungen, weil sie durch andersartige Zeugnisse dennoch das Vertrauen in die Botschaft Jesu Christi vertiefen. Ein Beispiel: Mehr denn je stellt sich die Frage: Können die Christen in der Westkirche und in der Ostkirche zu einem tiefen gegenseitigen Vertrauen finden? Viele Christen im Westen 184 185 186 187

Schutz, Einmütig, 85 ff. FrÀre Roger, Gott, 33. Schutz, Gewalt, 83. FrÀre Roger, Gott, 42. »Es wird mir schwer fallen, meine Brüder zu verlassen, die vielen Jugendlichen oder weniger junge Menschen zurückzulassen, deren Eingebungen Lichter in meinem Leben waren.

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schätzen ihre Brüder und Schwestern im Osten, weil sie durch große Bedrängnis gegangen sind und in ihnen klare Gaben der Gemeinschaft liegen. […] Heute bemühen wir uns in besonderer Weise um die Jugendlichen aus Russland, Weißrussland, der Ukraine, Serbien, Bulgarien, die seit einigen Jahren zahlreich nach Taiz¦ kommen. Wie viele Orthodoxe brachten in der Bedrängnis Liebe und Verzeihen auf! Die Güte des Herzens ist für viele von ihnen Inbegriff des Lebens. Sie sind lebendige Zeugen des Vertrauens auf den Heiligen Geist. Für sie steht die Auferstehung im Mittelpunkt; dadurch stärken sie uns im Wesentlichen des Glaubens.188

Obwohl die Schriften von FrÀre Roger kaum einen systematischen Charakter aufweisen, lässt sich das Modell eines dreistufigen ökumenischen Rezeptionsverlaufs daraus rekonstruieren. Die gegenseitige Rezeption kann dabei nicht verstanden werden als Verschmelzung mit dem Anderen, sondern sie findet statt in dem Spannungsfeld von Identität und Alterität, das auch Ricœur beschrieb. Eine erste, elementare Stufe der Anerkennung stellt die Einsicht in die vorauslaufende Gabe der Einheit dar : Wenn die Gemeinschaft eine Gabe Gottes ist, kann die Ökumene nicht zuallererst menschliches Bemühen um Harmonisierung verschiedener Traditionen sein. Sie muss uns in die Wahrheit der Erlösung Christi stellen, der gebetet hat: »Ich will, dass sie dort bei mir sind, wo ich bin.«189

Das Grundvertrauen in die gegebene Einheit beruht wie alle Glaubensvorgänge auf konkreten intersubjektiven Erfahrungen bzw. konkreten Zeugnissen überlieferter Erfahrung. Dieses Vertrauen muss geweckt werden und es bedarf der Erneuerung. In ihrer langen Geschichte haben zahllose Christen eines Tages gemerkt, dass sie getrennt sind, manchmal ohne zu wissen, warum. Heute kommt es darauf an, alles zu tun, damit möglichst viele Christen – die häufig keine Schuld an der Trennung haben – feststellen können, dass sie schon in Gemeinschaft sind. Könnte die Kirche Zeichen einer breiten Öffnung setzen, so weit, dass man feststellen kann: Die in der Vergangenheit Getrennten sind nicht mehr zerspalten, sie leben schon in Gemeinschaft?190

Die zweite Etappe der Rezeption stellt daher ein Moment der konkret erlebten interkonfessionellen Gastfreundschaft dar, in welcher der Andere als Zeuge der selben Offenbarung, als Anhänger des selben Evangeliums anerkannt wird und seinerseits den Anderen anerkennt, ohne dass die Andersartigkeit deswegen aufgehoben würde. Derartige Momente werden in Taiz¦ vielfach erlebt, unter den Brüdern, aber auch unter den Jugendlichen, die Taiz¦ besuchen. Sie realisieren sich nachvollziehbar in der lingustischen und spirituellen Mehrspra188 Ebd., 80 f. 189 FrÀre Alois, Leidenschaft, 127. 190 FrÀre Roger, Ahnung, 80 f.

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chigkeit während der Jugendtreffen,191 aber auch in der Präsenz katholischer und orthodoxer Gemeinschaften, die in Taiz¦ waren oder noch sind und zum Leben der Gemeinschaft beitragen. Ein drittes, ungleich heikleres Moment der gegenseitigen Anerkennung ereignet sich, wenn die Fremdheit des anderen Zeugnisses als solches erkannt wird und wenn dieses dennoch angeeignet werden kann, im Vertrauen auf die geschenkte Einheit und weil es dem eigenen Glauben etwas Unverzichtbares hinzufügt. Dies erfordert zunächst die Zuwendung zu den anderen Gemeinschaften und die Wahrnehmung dessen, was deren Zeugnis besonders und schätzenswert macht. Die dankbare Annahme des Anderen und seines Zeugnisses und das Ausbuchstabieren der auf diese Weise neu gewonnenen Fülle des Glaubens stellen die Erfüllung der Rezeption im Sinne Taiz¦s dar. Diese Art der Anerkennung taucht bei FrÀre Roger und auch bei seinem Nachfolger FrÀre Alois als Ökumene im Sinne eines »Austauschs von Gaben« auf.192 Damit ist mehr gemeint als die reine Wertschätzung des anderskonfessionellen Profils. Tatsächlich meint diese Art der ökumenischen Rezeption die Integration eines Alteritätsmoments als Konsequenz der untereinander entdeckten Einheit. Die Christen der Ostkirche haben den Schwerpunkt auf die Auferstehung Christi gelegt, die die Welt bereits verklärt. […] Könnten sich die Christen der Westkirche diesen Schätzen noch weiter öffnen? Die Christen der Reformation haben bestimmte Wirklichkeiten des Evangeliums unterstrichen: […] Sind diese Werte, an denen die Christen der Reformation hängen nicht für alle wesentlich? Die katholische Kirche hat durch die Geschichte hindurch die Universalität der Gemeinschaft in Christus sichtbar bewahrt. […] Könnten nicht alle Getauften ein wachsendes Verständnis für dieses Dienstamt aufbringen?193

Welche Rolle spielen bei der Rezeption die Texte? Keine große, glaubt man den Ausführungen FrÀre Rogers. Tatsächlich hat die Gemeinschaft in den Jahrzehnten ihres Bestehens eine Vielzahl von Texten hervorgebracht, doch keiner davon ähnelt seinem Stil nach den herkömmlichen ökumenischen Dokumenten. Taiz¦ setzt nicht auf die normative Funktion von offiziellen Dokumenten. In dem Rezeptionsgeschehen, welches die Gemeinschaft anstrebt, spielen sie eine 191 Hervieu-L¦ger, Pilger, 72. Die Autorin zitiert aus einem Programm der Communaut¦ für die Jugendtreffen: »Es ist wichtig […], dass jeder etwas in seiner Sprache vernehmen kann, auch wenn es nur ein Vers aus einem Psalm ist. Das Evangelium in einem Dutzend Sprachen zu lesen, macht uns aufmerksam auf die Unterschiede und das tiefreichende Einssein im Namen Christi; man wird sich der Universalität der Kirche bewußt.« 192 FrÀre Alois, Leidenschaft, 128. 193 Ebd., 128 f.

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nachgeordnete Rolle. Taiz¦ steht nicht für eine kirchenpolitische Ökumene der geregelten Beziehungen, sondern setzt stattdessen auf die Überzeugungskraft der konkreten Erfahrung, die den einzelnen Glaubenden verändert und deshalb langfristig von innen heraus zu einer Veränderung der Institutionen führen könnte.194 Weil davon ausgegangen wird, dass die ökumenische Veränderung bei einer Veränderung des Einzelnen beginnt, ist es notwendig, Erfahrungsräume zu öffnen, in denen die Gastfreundschaft und die bedingungslosen Zuneigung des Anderen erfahren werden können. Die Brüder von Taiz¦ praktizieren dies während der Jugendtreffen und im Zuge ihrer sozialen Einsätze. Sie setzen dabei nicht auf theologische Argumente, sondern auf die Überzeugungskraft authentischer Erfahrungen der Einheit. Ein neuer Schritt wird getan, und man kommt dem entscheidenden Augenblick näher in dem Maße, in dem man feststellt, daß die Einheit bereits in vielen kirchlichen Zellen, mögen sie auch nur provisorisch sein, überall in der Welt verwirklicht ist. Da wir in den beiden parallellaufenden Strömen unserer Geschichte heimisch sind, geben wir uns keiner Illusion hin, als könne die Einheit als Ergebnis von Verhandlungen oder rechtlichen Übereinkünften geschaffen werden. Man wird vielmehr die Einheit feststellen. Nachträglich werden dann die Kirchen, die den Mut und die Hochherzigkeit dazu haben, Texte und Strukturen abwandeln, die nicht mehr der Wirklichkeit entsprechen. Doch ist ein unendlicher Mut und Realismus notwendig, um die Einheit festzustellen und danach zu handeln. Die Texte kommen nachher.195

Im Verlauf des Rezeptionsgeschehens lässt sich hier also in Bezug auf die Rolle der Texte eine Übereinstimmung mit Ricœurs Position konstatieren. Die Frage, die sich uns nun im Rahmen dieser Untersuchung stellt, ist, ob von den Brüdern von Taiz¦ auch ein Bruch mit den bestehenden Institutionen vollzogen und zur Nachahmung empfohlen wird. Eine solche Position würde mit der des frühen Ricœur gleichziehen und wäre insofern denkbar, als beide sich ausdrücklich für das ökumenische Engagement der Basis einsetzen. Tatsächlich wird man nirgendwo in der Theologie von Taiz¦ einen Aufruf zum Bruch mit den kirchlichen Institutionen finden. Wofür man sich jedoch einsetzt, ist ein Wandel der Traditionen, die – zumindest auf lange Sicht – auch die Aufgabe und mithin den Bruch mit konfessionellen Gewohnheiten bedeuten. In diesem Sinne kann man beobachten, dass die Gemeinschaft von Taiz¦ den Dingen ihren Lauf lässt, so dass, wo immer möglich, ökumenische Annäherung in der Weise vollzogen wird, dass man Erfahrungen der Gastfreundschaft macht (siehe Stufe 2 unseres Rezeptionsmodells). Gleichzeitig zeigt die Gemeinschaft selbst in ihrem Zusammenleben, bis zu welchem Punkt es möglich ist, anders194 FrÀre Roger, Dynamik, 41. 195 Schutz, Gewalt, 73.

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konfessionelle Elemente in eine neue, gemeinsame Spiritualität zu integrieren und bringt damit implizit ein Statement für eine konsequente ökumenische Anerkennung zu Gehör. Das deutlichste Beispiel dieser Art zeigt sich in der Weise, wie in Taiz¦ das Abendmahl bzw. die Eucharistie gefeiert wird. Im Lauf der Jahrzehnte hat die Gemeinschaft zu einer Praxis gefunden, in der den Brüdern und Besuchern von Taiz¦ das Abendmahl parallel in verschiedenen Formen angeboten wird. Das gemeinsame Abendmahl wird in Taiz¦ als zentral angesehen und als Ausdruck und Mittel der Einheit praktiziert. Allerdings handelt es sich auch in der Theologie von Taiz¦ nicht in erster Linie um eine Demonstration der Einheit, sondern es steht tatsächlich die Christusbegegnung im Vordergrund, die ihrerseits die Brüderlichkeit unter den Empfangenden stiftet. Gerade in der Frage des Abendmahls zeigt sich die Communaut¦ de Taiz¦ als zutiefst spirituelle Gemeinschaft. Überraschend ist dabei, dass ihre traditionelle christologische und realpräsentische Auffassung des Abendmahls flankiert wird von der postkonfessionell anmutenden Akzeptanz einer Vielfalt von Abendmahlsgestalten, die in Taiz¦ nebeneinander bestehen können. Um dem zu begegnen, welcher der Mensch schlechthin ist, in jedem Gegenüber Christus, den Menschgewordenen entdecken. Jeder Mensch ruft Christus in uns wach, auch der, der nicht ausdrücklich einen Glauben bekennt. Doch hat der Bund zwischen dem Menschen und Christus eine Qualität, für die es keinen Ersatz gibt: wie soll Christus der Auferstandene gelebt werden ohne die Eucharistie, das Sakrament und die Dynamik der Einheit? Es gibt keine Hoffnung auf Einmütigkeit unter Getauften, ohne jene gemeinsame Begegnung mit dem Auferstandenen in der Eucharistie. Es schadet nichts, wenn sich eine solche Begegnung in einem Pluralismus gottesdienstlicher Formen vollzieht. Worauf es ankommt, ist die fundamentale Gewißheit der wirklichen Gegenwart Christi.196

Wer heute nach Taiz¦ kommt, ob evangelisch, katholisch oder orthodox, kann zu den verschiedenen Gebets- und Gottesdienstzeiten an einer Abendmahlsfeier nach dem Ritus seiner eigenen Konfession teilnehmen.197 Auch dies ist eine Art, Gastfreundschaft zu signalisieren und zu zeigen, dass der Rahmen von Taiz¦ es zulässt, die Legitimität der einzelnen Traditionen neidlos anzuerkennen. Doch

196 Ders., Einmütig, 85; ders., Gewalt, 122. »Besteht nicht die erste Forderung für die Christen unserer Zeit darin, die Bruderschaft zu leben? Sie war bereits das Auffallende an der Urkirche: Sie verharrten, sie nahmen einander auf, sie nahmen gemeinsam die Mahlzeiten ein, und der Geist der Festesfreude schäumte unwiderstehlich über. In Arbeit und Mühen hatten sie alles gemeinsam. Niemand zwang einen anderen in eine und dieselbe Form; ihre Einmütigkeit zeigte sich in einem Pluralismus. Sie waren nicht irgendeine Gemeinschaft, sondern eine Begegnung von Menschen, bei der Er, der Auferstandene, gegenwärtig war.« 197 Zeitplan und Einzelheiten in: Chiron, FrÀre Roger, 278.

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wie sieht es mit dem ökumenisch weitaus spannenderen Thema der Interkommunion aus? Für Taiz¦ schien der Weg zur Interkommunion im Jahr 1972 endlich frei zu sein. Auf den Jugendtreffen der 1960er Jahre war die offizielle Möglichkeit der Interkommunion noch herbeigesehnt worden. Nachdem im Jahr 1972 der Text der Groupe des Dombes erschienen war und außerdem das Sekretariat für die Einheit der Christen in Rom eine neue Instruktion verlautbart hatte, welche die Zulassung nichtkatholischer Christen zur katholischen Eucharistie unter den Umständen einer »schweren geistlichen Notlage« für möglich hielt, legte die Communaut¦ de Taiz¦ dies als Erlaubnis zur Interkommunion aus. Unterstützung erhielt sie dabei von dem liberal eingestellten Armand Le Bourgeois, dem damaligen Bischof der Diözese von Autun, in der Taiz¦ liegt. Er war es der FrÀre Roger und später auch den anderen Brüdern die katholische Eucharistie reichte.198 Auch die Interkommunion mit den Gästen von Taiz¦, die de facto schon stattfand, schien nun endlich offiziell geduldet zu sein. Dies war umso erfreulicher, als die gemeinsame Teilnahme am Abendmahl eine der dringlichsten ökumenischen Forderungen Rogers darstellte: Nur die Eucharistie, die zugleich Quelle und Vollendung der Einheit ist, vermag uns die Kraft und das Mittel zu geben, um auf Erden eine Gemeinschaft unter Christen herzustellen. Es handelt sich hier um eine existentielle Wahrheit. Das Sakrament der Kommunion ist uns gegeben, damit sich skeptische Tendenzen in uns und um uns verflüchtigen. In der Eucharistie werden jene aufs neue miteinander verbunden, die einander aus Unwissenheit verachtet haben. Wenn nicht bald der Tag anbricht, an dem sich alle, die an die Realpräsenz Christi in der Eucharistie glauben, auch wenn sie konfessionell noch getrennt sind, um denselben Tisch versammeln, wird die Woge des Ökumenismus wieder in sich zusammenfallen.199

Nach dem Verständnis Roms aber handelte es sich bei der massenhaften Interkommunion auf den nun folgenden Jugendtreffen eindeutig um eine missbräuchliche Auslegung der erteilten Instruktion. Vor allem aus Sorge um die katholischen Jugendlichen, die in Taiz¦ möglicherweise von ihrem Glauben abgebracht würden, wollte man diese Möglichkeit rasch wieder unterbinden.200 Gemeinsam mit Bischof Le Bourgois wurde daher FrÀre Roger nach Rom zitiert, wo er sich rechtfertigen musste.201 Bischof Le Bourgeois wurde aufgefordert, seine Einladung gegenüber den evangelischen Brüdern zu widerrufen. Doch er weigerte sich. Schließlich hatte er seine Entscheidung nicht willkürlich getroffen, sondern erst nachdem er im Gespräch mit FrÀre Roger eine weitreichende 198 199 200 201

Ebd., 222. FrÀre Roger, Dynamik, 73 f. Escaffit, Rasiwala, Geschichte, 114. Chiron, FrÀre Roger, 226.

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Übereinstimmung über das Abendmahlsverständnis festgestellt hatte.202 Interessanterweise wagte Rom daraufhin nicht, ein offizielles Verbot auszusprechen. Man einigte sich lediglich dahingehend, dass die Praxis der Interkommunion unter den Gästen Taiz¦s nicht weiter vorangetrieben werden sollte. Es wurden daraufhin entsprechende Hinweisschilder angebracht, in denen man den Gästen nahelegte, die Ordnungen ihrer Kirchen hinsichtlich des Abendmahls zu respektieren. In der Praxis wird dies freilich nicht sehr viel bewirkt haben. Rom war vor vollendete Tatsachen gestellt worden und selbst der Bischof von Autun hielt nicht hinter dem Berg mit seiner Freude über diesen Umstand: Ich bemerke in Taiz¦, dass die Jugendlichen unterschiedslos am Abendmahlsgottesdienst wie an der Eucharistiefeier teilnehmen und auch die Kommunion empfangen. Ich wage zu behaupten, dass ihr gutgläubiges Verhalten womöglich der Sache der Einheit dient! Im Gegensatz zu dem, was verbreitet wurde, werden sie auf den Charakter des jeweiligen Gottesdienstes hingewiesen, der im Allgemeinen katholisch und bisweilen evangelisch ist. Man ruft ihnen die Auffassung der Kirchen in Erinnerung und bittet sie, sich nach ihrem Gewissen zu verhalten. Die von Hintergedanken freie Teilnahme Jugendlicher am Gottesdienst einer jeweils anderen Kirche kann ein Zeichen dafür sein, dass sich der Heilige Geist einmischt, um die Dinge voranzubringen. Ich sage dies ganz bescheiden, weil ich befürchte missverstanden zu werden, und ganz demütig, weil wir hier vor einem Geheimnis stehen.203

Die Interkommunion ereignet sich seitdem in Taiz¦ stillschweigend. Das Geschehen ist durch seine Praxis legalisiert worden, wenngleich ihm die offizielle Anerkennung versagt bleibt. Zweifellos handelt es sich dabei um eine Übertretung, sogar um einen Bruch mit der konfessionellen Gewohnheit. Allerdings hat die Communaut¦ davon abgesehen, diesen Umstand öffentlich anzusprechen. Die offizielle Version lautet, dass bis heute keine Interkommunion stattfindet und dass die Befindlichkeiten der Kirchen respektiert werden.204 Die Haltung der Verschwiegenheit entspricht der tiefen Überzeugung der Gemeinschaft, der zufolge die ökumenische Einheit nicht durch offene Konfrontation zu gewinnen ist, sondern nur auf dem Weg der inneren Überzeugungsarbeit. Auch mit den Maßregelungen durch die katholischen Autoritäten ist man nie an die Öffentlichkeit gegangen.205 Was zählt ist, dass die Communaut¦ mit den parallel 202 203 204 205

Ebd., 221. Ebd., 227. Spink, Söller, FrÀre Roger, 126. Escaffit, Rasiwala, Geschichte, 114 f. »Es wäre so bequem, sich der Presse gegenüber zu den Schwierigkeiten zu äußern, denen wir bei manchen leitenden Persönlichkeiten in den kirchlichen Institutionen begegnen. Das würde uns sofort Sympathien einbringen, aber wir würden es uns damit zu leicht machen. Es würde bedeutet, der Gemeinschaft im Leib Christi entgegenzuarbeiten. In solchen Zeiten zu schweigen ist eine Form der Askese. Man muss versuchen, den Gegenspieler zu verstehen, dann wird sich vielleicht eines Tages wider alle Erwartung ein Dialog von Mensch zu Mensch entspinnen und alles wird sich klären.«

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angebotenen Kommunionsfeiern einen enormen ökumenischen Erfahrungsraum eröffnet hat, der im Sinne der Gastfreundschaft und der wachsenden Anerkennung genutzt werden kann. Obgleich man in Taiz¦ eine Basisökumene praktiziert und sich um den individuellen Empfang aller Glaubenden bemüht, werden die institutionellen Strukturen auf dem Weg der gegenseitigen Anerkennung dennoch nicht vollkommen ausgeschlossen. FrÀre Roger hat im Gegenteil in seinen Schriften immer wieder darauf hingewiesen, dass die Einheit ein strukturiertes Amt benötigt und er hat keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass es sich dabei um das Amt des Bischofs von Rom handelt. Wir [Protestanten] warten darauf, daß unsere Mutter-Kirche, die katholische Kirche aus der Zeit vor der Reformation, sich mit unserer Vater-Kirche aussöhnt: der Kirche, die uns über unsere Väter von der Reformation her den Glauben weitergereicht hat. In dieser Situation – das wissen viele mehr oder minder klar – gibt es vielleicht einen einzigen, der über das Mittel verfügt, uns aus der Ausweglosigkeit einen Ausweg zu schaffen. Ein Papst hat im 16. Jahrhundert verurteilt. Der Papst kann heute jede Exkommunikation aufheben, ohne dafür von den Protestanten eine Abschwörung ihrer Gemeinschaft zu verlangen. In seinem Amt der Einheit würde er genügend Hochherzigkeit und geistigen Edelmut entdecken, um niemanden dazu zu veranlassen, seine Väter zu verleugnen, die ihm in aller Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit den Glauben mitgeteilt haben. Es wäre schmerzlich, wenn eine Kirche, deren Berufung darin besteht, universal und katholisch zu sein, Schranken des Ausschlusses errichten würde.206

Der Papst als Garant der Einheit! – gerade für protestantische Ohren muss diese Überlegung FrÀre Rogers zunächst ausgesprochen widersinnig klingen. Nimmt man doch das Papstamt von protestantischer Seite in der Regel nicht als ein Instrument der Einheit wahr, sondern im Gegenteil aufgrund der damit einhergehenden Hierarchisierung der Ämter als eines der größten Hindernisse für die Einheit der Kirchen. Die Anerkennung der protestantischen Kirchen durch den Papst mag zwar kirchenhistorisch, d. h. als Revision der Exkommunikationen des 16. Jahrhunderts berechtigt sein, um sich jedoch der Legitimität des eigenen kirchlichen Status zu versichern, benötigt man sie in den evangelischen Kirchen gewiss nicht mehr. Wieso also hält FrÀre Roger in fast allen seinen Schriften, die er nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil verfasst hat, an seiner Wertschätzung des Papstamtes fest? Tut sich hier nicht ein Widerspruch zu der ansonsten in Taiz¦ vertretenen Basisökumene auf ? Tatsächlich wird die Position von FrÀre Roger nur verstehbar, wenn man in Erinnerung ruft, dass es enge persönliche Beziehungen zwischen Taiz¦ und drei Päpsten gegeben hat. Diese zeigten sich der Gemeinschaft gegenüber größtenteils äußert großzügig und unterstützen deren ökumenische Vorstöße – oftmals 206 Schutz, Gewalt, 74.

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mehr als die Kirchen der Reformation dies taten. Besonders eindrücklich waren die Begegnungen mit Johannes XXIII., der die Gemeinschaft vorbehaltlos anerkannte. Er empfing uns gleich nach seiner Amtseinführung, am ersten Vormittag mit Privataudienzen. Seine Begrüßung war schlicht und unverstellt. Der Papst klatschte in die Hände und sagte: »Bravo, Bravo!«, als wir ihm gegenüber auf die Versöhnung zu sprechen kamen. Er bat uns zu weiteren Gesprächen wiederzukommen. Jener Tag war für unsere Communaut¦ wie ein Beginn. Johannes XXIII. vermittelte uns unerwarteten Schwung und prägte uns ein unersetzliches Siegel auf. Durch sein Leben hat uns der geliebte Papst die Augen für das Dienstamt an der universellen Kirche geöffnet, das im Herzen der einzigartigen Gemeinschaft der Kirche wesentlich ist.207

Stellt man diese Erfahrungen in Rechnung, so wird klar, dass Rogers Plädoyer für die Bedeutung des Papstamts kein Zeichen für die »Rückkehrökumene« ist. Es geht dabei nicht darum, die Einheit durch eine formale Struktur zu erreichen, sondern – ganz im Sinne einer Ökumene der persönlichen Beziehungen – das Amt der Einheit durch einen geistlich und menschlich verantwortungsvoll agierenden Papst auszufüllen. Auf diese Weise hatten FrÀre Roger und die Brüder die Päpste offenbar erlebt: als Amtsträger, die – wie insbesondere Johannes XXIII. – gelegentlich an der Verbohrtheit ihrer eigenen Institution litten und die dennoch einen Reformwillen aufbrachten und es riskierten, sich damit gegen ihre eigene Kurie zu stellen. Vom letzten Treffen mit dem Papst wird berichtet: Die Kirche bestehe aus immer größeren konzentrischen Kreisen, sagte Johannes XXIII. Er hat nicht näher erklärt, in welchem Kreis er uns sah. Doch wir verstanden, dass es in der Lage, in der wir uns befanden, nicht nötig war, sich Sorgen zu machen. Wir gehörten zur Kirche dazu. Der Papst hatte verstanden, »dass es für Taiz¦ nicht in Frage kam überzutreten«, sondern ökumenisch tätig zu sein, also eine Annäherung mit dem Ziel einer Übereinkunft zu suchen. Im Laufe des Gesprächs ging er streng mit Mitarbeitern des Heiligen Offiziums ins Gericht, und […] »bei dieser letzten Begegnung erlebten wir, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, weil, wie er uns sagte, einige seiner Anliegen unlängst missdeutet worden waren.« […] »Ich wurde für den Rest meiner Tage durch diesen Mann geprägt und vielleicht vor allem durch das letzte Gespräch, das ich mit ihm führte. Seit dem Tod Johannes XXIII. bin ich der Überzeugung, dass sein prophetischer Dienst an der Einheit abgelehnt wurde und damit eine Stunde der Ökumene ungenutzt verstrich.«208

Rogers Wille, die Anerkennung von einem solchen Papst zugesprochen zu bekommen hat erkennbar nichts von einem demütigenden Ritual. Als solches könnte es seitens der Protestanten empfunden werden, solange die Rückkehr nach Rom aus Sicht der katholischen Kirche das Gebot der Stunde ist. Rogers 207 FrÀre Roger, Ahnung, 84. 208 Chiron, FrÀre Roger, 158.

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Vision, den Papst anzuerkennen und anerkannt zu werden, ist demgegenüber anders zu deuten. Sie verweist darauf, dass auf der Grundlage authentischer, persönlicher Wertschätzung eine Geste der Anerkennung aus Rom mit Dankbarkeit empfangen werden könnte, ohne dass daraus die Pflicht der Konversion erwächst. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, die von Reisen und dem Mitleben in Gemeinschaften auf der ganzen Welt bestimmt waren, hat FrÀre Roger selbst einen Eindruck davon gegeben, wie sich das Amt der Einheit ohne den Druck einer vorab postulierten Unfehlbarkeit und den Ballast einer unbeweglichen Institution gestalten ließe, um tatsächlich einen Dienst an der Einheit zu leisten.209 Alles in allem zeigt sich daher, dass die Position Taiz¦s trotz der positiven Äußerungen über die einzelnen Päpste der institutionellen Struktur des Papstamtes gegenüber nicht eindeutig befürwortend ist. Bejaht wird gerade nicht die Machtkonzentration des Petrusamtes, dessen Inhaber in der Lage ist, Glaubensfragen kraft des Unfehlbarkeitsdogmas von oben zu entscheiden bzw. die Reformkräfte in der Kirche zu unterdrücken. Das Amt wird im Gegenteil nur insofern bejaht, als es von einer Persönlichkeit ausgefüllt wird, die bereit ist, diese Machtfülle zu subvertieren und im Sinne einer partizipativen Entscheidungsstruktur zu verändern. Johannes XXIII., der einen Reformwillen an den Tag legte und bereit war, Privilegien aufzugeben und Schuldzuweisungen fallenzulassen entsprach dieser Erwartung Rogers und konnte deshalb auch seine lebenslange Unterstützung gewinnen.210 Taiz¦ unterstützt das Papstamt also nur insofern, als es nicht durch eine Amtsmentalität, sondern durch die Menschlichkeit seines Inhabers geprägt ist, der »lieber die Sprache der Gemeinschaft als die des Gerichtssaals zu führen«211 versteht. Die Befürwortung des Papstamtes in diesem Sinne beinhaltet im Grunde keine Loyalität gegenüber dem Amt, sondern eher die Zuneigung zu der Person seines Inhabers. Dass dies dem tatsächlichen römisch-katholischen Verständnis des Papstes entspricht, muss wohl bezweifelt werden. Zwar schien auch FrÀre Roger nicht vollkommen zwischen Amt und Person zu trennen. Es scheint aber so zu sein, dass er nur einen Teil des Papstamtes wirklich aner209 Paupert, Kirche, 242. »Ich kann mir den Gedanken nicht versagen, nachdem Taiz¦ durch seine Gemeinschaft die Kirche besser entdeckt hat, werde es uns durch seine lebendige Erfahrung des Amtes des Priors auch helfen, den Sinn der Aufgabe des Papstes für die allgemeine Kirche zu enthüllen und mit uns in einer höheren Einheit des Glaubens die Wahrheit des Dieners der Diener zu entdecken.« 210 FrÀre Roger, Gott, 72 f. Äußerungen von Johannes XXIII. vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil: »Wir werden keinen historischen Prozess aufrollen, wir werden nicht untersuchen, wer Unrecht hatte und wer im Recht war. Die Verantwortung ist geteilt. Wir werden einfach sagen: Versöhnen wir uns! […] Heutzutage zieht es die Kirche vor, eher das Heilmittel der Barmherzigkeit anzuwenden, als zur Waffe der Strenge zu greifen.« 211 Ders., Ahnung, 80.

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kannte und zwar seine moderierende, vermittelnde Funktion, welche die Kirche davor bewahrt, aufgrund ihrer Konflikte auseinanderzubrechen. Wenn die Kirche an die Spitze jeder Gemeinschaft einen Menschen stellt, der die Einhelligkeit weckt, der neu gruppiert, was stets auseinanderstrebt, muß sie da nicht auch einen Hirten der Hirten und Gemeinschaften annehmen, um sie unermüdlich zu sammeln?212

Unsere Sichtung des Rezeptionsverlaufs wirft nun die Frage auf, ob die gegenseitige Anerkennung denn ausschließlich an persönliche Beziehungen gebunden ist und nicht auch an Konsense, die in kontroverstheologischen Fragen erzielt werden. Wie die Wertschätzung des Textes der Groupe des Dombes zur Abendmahlsfrage zeigt, spielen theologische Konsense für Taiz¦ durchaus eine Rolle, sofern sie der praktischen Versöhnung der Konfessionen dienlich sind. Das Ziel des Rezeptionsprozesses ist aber eindeutig nicht, die unterschiedlichen theologischen Profile anzuerkennen. Das wäre erst der zweite Schritt, bei dem man in Taiz¦ nicht stehen bleiben möchte. Das Ziel des Rezeptionsprozesses ist erreicht, wenn es gelingt, sich in Absehung von den hartnäckig verfochtenen Profilen zu einer grundlegenden gemeinsamen Identität zu bekehren.

4.4.3 Identitätsverständnis Nachvollziehbar wird das Identitätsverständnis der Communaut¦ de Taiz¦, wenn wir uns ein Merkmal der Gemeinschaft bewusst machen, welches seit den frühen Jahren ihres Bestehens für Konflikte mit den Kirchen sorgte. Man wollte sich in Taiz¦ nicht festlegen lassen auf eine bestimmte Konfession – auch nicht auf die evangelische, obwohl bis 1969 alle Brüder evangelisch waren. Stattdessen hielt man daran fest »überkonfessionell« und »ökumenisch« zu sein. Es ist wichtig, zu verstehen, dass dies nicht aus Profilierungssucht geschah, sondern, im Gegenteil, um nicht von einer profilierten kirchlichen Institution aufgesogen zu werden. Den Grund für diese Entscheidung hat FrÀre Roger in seinen Schriften immer wieder benannt. Er liegt in einem Misstrauen gegenüber der Logik kirchlicher Institutionen, die »aufgrund eines verfassten soziologischen Gesetzes ständig in der Versuchung stehen, zunächst das Anliegen einer lokalen Situation zu berücksichtigen und die Dynamik der Katholizität zu hemmen.«213 Sich einer einzigen Kirche anzuschließen, hätte in der Ansicht Rogers bedeutet, einer Neigung zur Selbstrechtfertigung nachzugeben, die bei den meisten konfessionellen Gemeinschaften anzutreffen ist und dort die Um212 Paupert, Kirche, 241. 213 Schutz, Gewalt, 72.

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kehr zur Einheit verhindert. Einer Institution anzugehören hätte dazu führen können, die Grenzen dieser Institution wichtiger zu nehmen als die entgrenzende Liebe Jesu Christi. Jede Kirche, so die Meinung Rogers, hat einen Hang zur Selbstgenügsamkeit, zur Abschottung und mithin zur Spaltung. Der Weg der Communaut¦ sollte anders aussehen. Wir wollen nicht mehr Gefangene unseres Partikularismus sein und dadurch immer wieder auf uns selbst und unsere Lokalgeschichte verwiesen werden. Wir wollen Christus leben für die Menschen und auf dem Weg über eine in ihrer Einheit erneuerte Kirche eine Freundschaft unter den Menschen wecken. Wir können nicht mehr die konfessionelle Trennung ertragen, die ebenso heuchlerisch ist wie die rassische. Wenn uns die ökumenische Berufung nicht aus unseren separatistischen Neigungen herausreißt, wenn sie nicht unsere Herzen aus Stein, diese in sich selbst verschlossenen Herzen, in Herzen aus Fleisch verwandelt – wozu ist diese Berufung dann überhaupt gut? Wir wissen um den unseren christlichen Gemeinschaften eingeimpften Virus. Er heißt seit vier Jahrhunderten: Selbstverteidigung, Selbstrechtfertigung, Kontroverse. Immer neu setzt er einen Prozeß des Rückzuges auf die eigenen Stellungen in Gang, der aus der ökumenischen Bewegung eine Institution mehr machen kann, die von der Vielzahl der Kirchen in ihre Bahnen gelenkt wird und ihrerseits den Rückzug auf sich selbst nur weiter begünstigt. Dieser Virus neutralisiert, verbraucht sogar jeden Schwung der Bewegung zu den Menschen und zur Katholizität. Wir wollen den Ökumenismus nicht zu einer neuen Ideologie unter vielen, zu einem schönen Thema für Tagungen und Diskussionen machen, bei denen jeder jahrhundertelang seine eigenen Standpunkte rechtfertigt. Wir leugnen nicht die Notwendigkeit von Institutionen, in deren Rahmen auch die Absichtslosigkeit eines Opfers ihren Platz hat. Doch für uns ist der Ökumenismus weder eine Idee noch ein Begriff, er ist eine Antwort des Glaubens auf ein Ereignis Gottes in unserer Geschichte.214

Das Selbstverständnis von Taiz¦ ist also eher das einer ökumenischen Bewegung mit offenen Grenzen, deren Ausgangspunkt die Einsicht in die von Christus geschenkte Einheit ist. Diese Offenheit droht untergraben zu werden, wenn man sich in einer Verteidigungshaltung an eine einzige Tradition binden würde. Obgleich die Brüder ihren Herkunftskirchen verbunden bleiben, musste Taiz¦ selbst deshalb von Anfang an institutionell ungebunden bleiben. Nur so konnte glaubhaft gemacht werden, was es bedeutet, den Zustand der Trennung hinter sich zu lassen und in einem Wandel ohne Bruch zu einer neuen Form der Gemeinschaft zu finden. FrÀre Roger selbst lebte vor, wie diese neue Identität gestaltet werden könnte. Etwa zu der Zeit, in der er das erste Mal die Eucharistie nach katholischem Ritus empfing, entwickelte er den Gedanken der »doppelten Zugehörigkeit«, d. h. einer Verbundenheit, die sowohl der evangelischen als auch der katholi-

214 Ebd., 65.

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schen Konfession gilt. Er bekannte sich bis zu seinem Lebensende zu diesem »dritten Weg« zwischen den Konfessionen.215 Dieser Identitätswandel Rogers war keine Kurzschlussentscheidung, sondern das Ergebnis eines »allmählichen Sich-Einlassen[s] in eine volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche«.216 Es hatten neben ermutigenden persönlichen Begegnungen217 auch kirchenpolitische und dogmatische Entwicklungen dazu beigetragen. Roger war der Meinung, dass »die katholische Kirche seit Johannes XXIII. und dem Zweiten Vatikanischen Konzil, den wesentlichen Forderungen der Reformation stattgegeben hatte.«218 Auch in den Fragen des Papstamtes und der Eucharistie hatte FrÀre Roger zu einer Haltung gefunden, die es ihm erlaubte »den Glauben meiner Ursprünge mit dem Geheimnis des katholischen Glaubens zu versöhnen, ohne mit irgendjemandem zu brechen.«219 Dieser Wandel blieb lange Zeit unsichtbar. Erst als FrÀre Roger bei der Beerdigung von Papst Johannes Paul II. von dem damaligen Präfekten der Glaubenskongregation Josef Kardinal Ratzinger die Kommunion erhielt und die Medien dies weltweit bekannt machten, wurden Fragen und Kritik laut. War FrÀre Roger katholisch geworden? Rogers Nachfolger FrÀre Alois dementierte dies.220 Die Tatsache, dass FrÀre Roger offensichtlich nicht heimlich zum Katholizismus übertrat wie etwa Max Thurian, sondern dass es sich in seinem Fall um einen Prozess der Annäherung handelte, der die übliche konfessionelle Identitätslogik sprengt, wird von manchen Kritikern nicht als prophetisch, sondern im Gegenteil als mindestens genauso ärgerlich wie eine Konversion betrachtet. Tatsächlich ist die identitäre Logik von Taiz¦ nicht leicht nachvollziehbar. Besonders dann nicht, wenn man daran interessiert ist, möglichst konkrete konfessionelle Zuordnungen zu treffen. Man muss sich auf die Vorstellung einlassen, dass diese Zuordnungen überschritten werden können, um dem Gedanken der »doppelten Zugehörigkeit« etwas abgewinnen zu können. Da diese Möglichkeit aber bei Weitem nicht von allen bejaht wird, hat sich Taiz¦ durch die offen215 Chiron, FrÀre Roger, 222. 216 FrÀre Alois, Leidenschaft, 130. 217 Zimmerling, Communaut¦, 201. Der Autor erinnert an die Aussage des Papstes über die »konzentrischen Kreise«, in denen die katholische Kirche sich entfaltet: »FrÀre Roger entnahm daraus, dass der Papst ihn in der Gemeinschaft mit der katholischen Kirche sah, ohne dass er deswegen konvertieren musste.« 218 FrÀre Alois, Leidenschaft, 131. »Vorrang der Gnade Gottes, Gewissensfreiheit, ein auf Christus zentrierter Glaube und der Stellenwert der Bibel. Und er hätte es noch gerne miterlebt, als die Bischofssynode in Rom, die sich mit dem Wort Gottes befasste, daran erinnerte, dass zwei Wirklichkeiten bereits alle Christen einen: die Taufe und das Wort Gottes.« 219 FrÀre Roger, Gott, 72. 220 FrÀre Alois, Leidenschaft, 129.

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sichtliche Interkommunion Rogers und die vielen Kommentare dazu angreifbar gemacht. Wohlwollende Kritiker bezeichnen das Modell der »doppelten Zugehörigkeit« als einen »Schwebezustand«, der »für institutionelles Denken nur schwer nachvollziehbar« ist.221 Schärfer im Ton ist die Kritik von protestantischer Seite, die beklagt, Taiz¦ sei »katholisch geworden« und seine ökumenischen Aktivitäten wären »undurchsichtig«.222 Besondere Polemik zieht die Äußerung auf sich, man habe sich in Taiz¦ um der Versöhnung willen dazu durchgerungen, der römisch-katholischen Kirche nicht mehr »unbegrenzt Bedingungen zu stellen, sondern ihr von innen her zu helfen, sich weiterzuentwickeln.«223 »Aber wer kann von innen her helfen?«, so fragt ein Kritiker und beantwortet sich die Frage selbst: »Jemand der innen ist, also Teil der römisch-katholischen Kirche geworden ist.«224 An dieser Stelle besteht ein enormes Unverständnis gegenüber der ökumenischen Hermeneutik von Taiz¦,225 die annimmt, dass es sehr wohl möglich ist, sich ganz ohne Angst vor Identitätsverlust auf ein interkonfessionelles Gespräch einzulassen und dabei die »Innenperspektive« des Anderen einzunehmen. In ähnlicher Weise wird man wohl auf die Kritik derjenigen antworten müssen, die einwenden, dass der Verzicht auf eine institutionelle Zugehörigkeit, sei es zur katholischen oder zu einer reformatorischen Kirche, den die Gemeinschaft seit ihrer Gründungszeit übt, letztlich ein vollständiger Rückzug von der konkreten Ökumene sei, die eben doch nie anders als von innen, d. h. durch die Veränderung konkreter Institutionen zu vollziehen ist. Taiz¦ aber – so der Vorwurf – gehöre nirgendwo dazu und bleibe deshalb in seiner ökumenischen Richtung unbestimmt. Die Gemeinschaft würde diesem Einwand wohl mit dem Argument begegnen, dass es ihr sehr wohl darum geht, eine Innenperspektive einzunehmen, die verändernd wirkt und zwar auf die Weltsicht beider Dialogpartner. Für die Gemeinschaft scheint es aber der Dialog der Glaubenden zu sein, der Priorität hat. In diesem Dialog begegnet man einander jenseits von institutionellen Kategorien und kann gerade deshalb Erfahrungen von Gemeinschaft machen, welche die konfessionellen Logiken übersteigen. Um sich durch Begegnung verändern zu lassen, bedarf es für Taiz¦ keiner institutionellen Zugehörigkeit, sondern der Fähigkeit zur gegenseitigen Übersetzung: Statt lange Monologe zu halten, in denen man nur sich selber zuhört, hinhören lernen, damit man das Denken und den Standort des Gesprächspartners von innen her ver221 222 223 224 225

Zimmerling, Communaut¦, 200. Modehn, Taiz¦ – katholisch? FrÀre Alois, Leidenschaft, 131. Modehn, Taiz¦. Stökl, Taiz¦, 155 ff.

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stehen lernt. Ein Gespräch führen, das heißt, nicht mehr im Rahmen des Schemas, das uns eigen ist, nicht mehr in den Kategorien, an die wir gewöhnt sind, den eigenen Gedanken nachgehen, sondern dem andern in seinem System folgen lernen und ihn damit offen machen. Wer ein Gespräch führen will, muss auf jede polemische Argumentation verzichten, muß sich entschließen, den andern so zu sehen, wie dieser andere selbst gesehen sein will, und nicht das Bild in ihn hineinzusehen, das Jahrhunderte fruchtloser Gegensätze uns überliefert haben. Es geht darum, einander zu »begegnen«, sich gegenseitig zu »durchdringen«, sich mit einer Theologie, einer Philosophie, einer Geistigkeit, ja manchmal einer Stufenleiter moralischer Werte vertraut zu machen, die gegenüber den eigenen so verschieden sind, daß zwischen beiden keinerlei Beziehung zu bestehen scheint. Und das ganz einfach, weil wir uns in der Wahrheit lieben müssen. Das setzt aber auch voraus, daß man sich Zeit nimmt, um den richtigen Ton zu finden, um sich vom Mißtrauen frei zu machen, um sich zu zeigen, wie man ist. Gespräch ist das Gegenteil von Polemik.226

Im schlimmsten Fall wird der Communaut¦ vorgeworfen, dass ihre Ökumene schlicht »falsch« sei und dass sie dem religiösen Synkretismus Vorschub leiste, weil sich ihr ökumenisches Verständnis nicht nur auf die Christenheit, sondern prinzipiell auf die ganze Menschheit erstreckt.227 Tatsächlich gibt es nur ganz wenige Stellen, die darauf hindeuten, dass man sich in Taiz¦ mit der interreligiösen Thematik stärker befasst hätte.228 Es stimmt aber, dass die Ausrichtung des Ansatzes von Taiz¦ prinzipiell alle Menschen als ökumenische Gesprächspartner ansieht und dabei folgerichtig sowohl die Vertreter anderer Religionen als auch Konfessionslose einschließt.229 Alle werden auf diese Weise in einen Dialog integriert, der das Prinzip der Katholizität auf eine neue Art verstehbar machen will.230 Dass darin auch gerade die Stärke dieser ökumenischen Theologie liegen könnte, wird von ihren Kritikern allzu leicht übersehen. An der Offenheit der Communaut¦ de Taiz¦ und an ihrer Bereitschaft, sich verändern zu lassen, wird nachvollziehbar, wie eine Identität sich gestalten 226 Schutz, Heute, 75 f. 227 Dannlowski, Taiz¦. 228 Spink, Söller, FrÀre Roger, 196. »Unwillkürlich kommt mir eine Geschichte in den Sinn, die er [FrÀre Roger] einmal erzählt hat. Es war am Ende eines Aufenthalts bei den Brüdern in Bangladesch. Am letzten Abend tauchte bei Einbruch der Nacht für einige Augenblicke ein Sufi auf, den er kennengelernt hatte. Er kam, um ihm vor der Abreise noch ein letztes Wort zu sagen: ›Alle Menschen haben denselben Meister. Es ist noch ein Geheimnis. Aber einmal wird es offenbar werden.‹ Und er verschwand in der Nacht.« 229 FrÀre Alois, Leidenschaft, 132. 230 FrÀre Roger, Dynamik, 46. »Es gibt viele die behaupten, daß sie Christus lieben, ohne ihn zu kennen. Und wiederum gibt es viele, die Christus lieben, obwohl sie behaupten, ihn nicht zu kennen. Viele sind Kinder des Lichtes, ohne es zu wissen. Übrigens kann man sie leicht erkennen: Sie nehmen Rücksicht auf den Nächsten, sie fliehen die Werke der Finsternis, alles, was trüb ist und undurchsichtig. Im Gespräch mit Menschen, die nicht glauben, können wir manchmal entdecken, was sie selber nicht von sich wissen: das Geheimnis einer verborgenen Gegenwart.«

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könnte, wenn man in die Tat umsetzt, was die Groupe des Dombes in ihrem Text Pour la conversion des Êglises anmahnte: Die konfessionelle Identität zu bewahren, die sich in bestimmten Institutionen äußert, zu denen nicht nur ein äußerer Habitus, sondern auch bestimmte dogmatische Aussagen gehören, ist erklärtermaßen nicht das höchste Ziel. Worum es eigentlich geht, ist, durch die verschiedenen konfessionellen Gestalten der einen Kirche hindurch die christliche Identität zum Ausdruck zu bringen. Was würde es dann bedeuten, anzunehmen, dass diese christliche Identität eine Haltung der Nächstenliebe und der Hingabe einschließt? Für die Communaut¦ de Taiz¦ meint es das sichtbare Loslassen konfessioneller Eigenheiten, welche die Trennung manifestieren und das Einüben von flexibleren Formen, die der christlichen Identität viel mehr entsprechen, weil sie der Einheit dienen. Sieht man nicht in der Geschichte der Christenheit viele Institutionen, die den provisorischen Charakter ihrer Anfänge verloren haben, weil sie die Zeiten überdauern wollten? Der Horizont der Christen, die ihnen angehören, ist verengt. Sie können nur zurückgezogen hinter Schutzwällen überleben. Es gibt keine Versöhnung ohne Verzicht auf beiden Seiten. An dem Tag, an dem es zu einer sichtbaren Gemeinschaft unter den Christen kommt, wird man sich selber sterben müssen und manchmal auch dem, was die Familie, in der man für eine Zeit und an einem Ort gelebt hat, am stärksten geprägt hat.231

Aber birgt der Weg der Hingabe nicht die Gefahr der Vereinnahmung, die langfristig doch zur Konversion führt? Steht Taiz¦ nicht doch für eine Rückkehr in die katholische Kirche und sei es aus den besten Absichten? Die Communaut¦ sieht das anders. Was den Kritikern heute im Auftreten der Gemeinschaft als ›Katholisierung‹ vorkommt, beschreibt FrÀre Alois, der aktuelle Prior und Nachfolger FrÀre Rogers, als Zustand der Vorläufigkeit auf dem Weg zu der gänzlich vollzogenen Einheit. Man lebt in dem Bewusstsein, auf dem Weg zu sein. Die eigene Identität wird in die Zukunft projiziert. Sie ist im Moment nur als Provisorium greifbar und dabei, sich erst noch zu erschließen. Wir erheben nicht den Anspruch, die Lösung gefunden zu haben. Unsere Vorgehensweisen sind unvollkommen. Wir wissen, dass unsere Lage vorläufig ist, in Erwartung der vollen, ganz vollzogenen Einheit. Die Sichtbarkeit der Einheit, die wir zu leben suchen, löst nicht alle Fragen. Aber wir versuchen, in eine Dynamik der Versöhnung einzutreten. Wir möchten, dass sie die getrennten Christen bewegt, es zu lernen, einander anzugehören, ihre verschiedenen Traditionen zu läutern, einen Unterschied zwischen der Tradition und den Traditionen zu machen, die nur Gewohnheiten sind, auf eine Ökumene zuzugehen, die sich nicht damit begnügt, die Christen auf parallelen Schienen zu belassen.232 231 Ebd. 232 FrÀre Alois, Leidenschaft, 132.

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Wenn wirklich die Konversion das Ziel gewesen wäre, so hätte man diese längst realisieren können. Schließlich hatte man sich deutlich von den verfassten protestantischen Kirchen abgegrenzt und mit der Eucharistie scheinbar auch die letzte Schwelle zum Katholizismus übersprungen. Die Identitätsoption von FrÀre Roger und der Communaut¦ bleibt dennoch anspruchsvoller als das. Man strebt eine Identität an, die geprägt ist von Gesten der Hingabe an den Anderen und der dankbaren Integration dessen, was man an ihm schätzen gelernt hat, ohne dass man einfach konvertiert und der eigenen Tradition entsagt. Die deutliche Annäherung an die römisch-katholische Kirche muss in diesem Sinne als Aufnahme von Elementen verstanden werden, die ekklesiologisch überzeugend sind und jetzt als Signal der Gastfreundschaft in Taiz¦ gepflegt werden. Zu diesen ›katholisierenden‹ Elementen gehören die besondere Wertschätzung der Gemeinschaft233 und der Gebetssolidarität,234 aber auch ein gewisser Reformwillen gegenüber der eigenen Kirche, der ein Erbe der Konzilszeit der 1960er Jahre darstellt. Die ökumenische Identität der Gemeinschaft zeigt sich aber nicht nur daran, dass wiedererkennbare Elemente verschiedener Konfessionen in Taiz¦ begegnen, sondern mehr noch an einem Lebensstil, der diese verknüpft. Die Gemeinschaft bemüht sich vorzuleben, was es bedeutet, einander in Offenheit zu begegnen und in der Bereitschaft, sich mit anderskonfessionellen Theologien auseinanderzusetzen. Der Fokus liegt auf der Vorausnahme der Einheit und dem Anspruch, »schon als Versöhnte zu leben«: FrÀre Rogers Weg ist heikel, anspruchsvoll, und wir haben ihn noch nicht vollkommen ausgelotet: In seiner Folge wollen wir die Versöhnung durch unser Leben vorwegnehmen, schon als Versöhnte leben, eine Erfahrung, die – wie wir hoffen – einen theologischen Vorstoß vorbereitet. Ist in der Kirchengeschichte nicht stets der gelebte Glaube theologischen Ausformulierungen vorausgegangen?235

4.4.4 Textgebrauch Wir sagten bereits, dass offizielle Konsensdokumente für das ökumenische Rezeptionsverständnis der Communaut¦ de Taiz¦ keine große Rolle spielen. Dieser Trend scheint sich auch bei anderen Textsorten fortzusetzen. Schon in einer älteren Studie wird Taiz¦ eine »sonderbare Dokumentationsaskese«236

233 234 235 236

Paupert, Kirche, 236. Peng-Keller, FrÀre Roger, 86. Ebd., 131. Stökl, Taiz¦, 11. Dieser Umstand wird damit erklärt, dass die Brüder die Absicht hätten, das »Heute Gottes« zu leben und keine falsche Nostalgie in Bezug auf ihre Vergangenheit an den

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bescheinigt, womit das Fehlen eines Archivs gemeint ist, in dem die Brüder die Geschichte ihrer Gemeinschaft niederlegen würden. Dieser erste Eindruck könnte den Schluss nahe legen, dass die Untersuchung des Textgebrauchs der Communaut¦ nicht sehr ergiebig ausfallen wird. Wie sich aber gleich zeigt, ist dieser Eindruck falsch. Zunächst lohnt es sich, die Gründe zu erfahren, weshalb die Communaut¦ so sparsam mit offiziellen Verlautbarungen ist. Anschließend werden wir darstellen, wieso eine Untersuchung von Taiz¦ unter poetologischen Gesichtspunkten dennoch lohnenswert sein kann. In einer Tagebuchaufzeichnung von FrÀre Roger finden wir folgende Notiz über den Umgang mit offiziellen Dokumenten: Ich weiß, dass es Manifeste gibt, die bisweilen eine Schockwirkung besitzen und diejenigen zum Engagement gebracht haben, die bis dahin Kompromisse schlossen. Doch das mindeste, was man sagen kann, ist, daß sie gegenwärtig im Überfluß angeboten werden. So viele Menschen werden gedrängt, Texte zu unterschreiben, für oder wider Partei zu ergreifen. Ist es nicht viel konstruktiver, wenn man ein Mensch ist, der zuhört? Diese Haltung hat uns niemals daran gehindert, am Leben der Menschen tätigen Anteil zu nehmen. Für die von meinen Brüdern, die das Arbeiterleben teilen, für die, welche unter die Allerärmsten gegangen sind, bedeutet ihre Präsenz eine Stellungnahme. Sie brauchen keine Manifeste. Diese verpflichten bisweilen nicht im geringsten, sie beschwichtigen das Gewissen, sonst nichts. Die Erarbeitung schöner Resolutionen zum Abschluß einer Begegnung kann zur Heuchelei führen. Man bestätigt schwarz auf weiß, man verurteilt, man fordert auf und mahnt, und das alles ändert nichts an unserem Leben. Dieses Verfahren wird geradezu eine Krankheit unseres Jahrhunderts. Ich habe die Verantwortlichen einer großen christlichen Friedensbewegung gefragt, was sie von uns erwarten. Die einzige Antwort lautete: Briefe und Eingaben unterschreiben.237

Die Gemeinschaft zieht es vor, sich durch ihre Aktivitäten an die Öffentlichkeit zu wenden und nicht durch schriftliche Stellungnahmen. Auch hier schwingt der Vorwurf mit, dass politische Erklärungen zu oft bloße Lippenbekenntnisse bleiben und ihre Unterzeichner nicht wirklich verpflichten. Aber trotz dieser offensichtlichen Reserviertheit gegenüber offiziellen Dokumenten, sind von den Brüdern von Taiz¦ zahlreiche Texte veröffentlicht worden. Es sind so viele, dass klar wird, dass auch sie eine Rolle innerhalb der »schöpferischen Gewaltsamkeit« spielen, für die die Gemeinschaft stehen möchte.238 Neben theologischen Abhandlungen, z. B. von FrÀre Max oder FrÀre Emmanuel, sind es vor allem die Tag legen möchten. Kritiker nehmen diesen Umstand allerdings als Beweis für die Beliebigkeit und die mangelnde Transparenz der Gemeinschaft. Vgl. Dannlowski, Taiz¦, 7. 237 Schutz, Gewalt, 106 f. 238 Ebd., 109. »Man täusche sich nicht! Es kann sich nicht um irgendeine Gewaltsamkeit schlechthin handeln. Die Gewalttat, die das Reich Gottes gewinnt, ist schöpferischer Art. Sie ist nicht beherrscht vom Streben nach Macht.«

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Meditationen und Tagebuchaufzeichnungen von FrÀre Roger sowie der jährlich erscheinende »Brief aus Taiz¦«, die eine breite Leserschaft finden. Werfen wir einen kurzen Blick auf jene Texte, die FrÀre Roger unter seinem Namen publiziert hat. Im Stil subjektiver Berichte und dadurch mit stetem Rekurs auf die spirituelle Autorität des Autors, wenden sich diese kleinen Bücher direkt an ihre Leser, denen vorgeschlagen wird, sich auf die Botschaft der Gemeinschaft einzulassen. Erstaunlicherweise wirken die Texte dabei nicht platt oder plakativ, wie es Evangelisierungsschriften leider nur zu häufig tun. Trotz ihrer eindeutigen theologischen Orientierung sind sie einer Rhetorik der Selbstzurücknahme verpflichtet, die mit einem Vertrauensvorschuss an den Leser einhergeht. Es wird dem Leser zugetraut, aus den erzählten Fakten und Ereignissen die richtigen Schlüsse zu ziehen und sich auf einen wirklichkeitsverändernden Weg des Glaubens zu begeben. Die relative Nüchternheit, mit der Erlebnisse geschildert werden, macht es möglich, dass wir im Rahmen dieser Untersuchung häufig aus diesen Schriften zitiert haben. Sie enthalten Erlebnisberichte, theologischen Reflexionen und sozialkritischen Betrachtungen wie diese: Der Konfessionalismus stößt bei der Jugend auf eine Abwehrhaltung. Sie lehnt jeden Bezug auf eine Geschichte ab, die der Gegenwart nichts mehr zu sagen hat, und neigt deshalb immer stärker dazu, sich in eigenständigen Gesellschaften zu konstituieren. Im Gegensatz zu den Älteren will die junge Generation von konfessionellen Selbstrechtfertigungen nichts mehr wissen.239

Daneben finden sich aber auch immer wieder Einschübe in poetischer Sprache wie dieser : Nehmen wir, wenn die Schritte einmal schwer und schleppend werden, noch die Wüstenblume war? Sie geht in der Frühe auf, in den Stunden steten Neubeginns, wenn ein Hauch des Vertrauens uns auf dem Weg unangefochtener Güte weit hinausträgt. Solches Vertrauen kann es uns ermöglichen, das Leben auf der Erde zu lieben und zugleich ein Jenseits zu erwarten, ein Leben, das nie zu Ende geht.240

Diese Schriften sind jedoch noch nicht die einflussreichsten Texte, die Taiz¦ hervorgebracht hat. Ungleich bekannter sind jene Texte, die in Taiz¦ liturgisch begegnen, d. h. Lieder und Gebete. Die Besonderheit liegt darin, dass das ökumenische Anliegen der Communaut¦ unmittelbar mit der poetischen Sprache der Lieder und Gebete verknüpft wird und sich durch den gemeinschaftlichen Gebrauch noch verstärkt. Im gemeinsamen Rezitieren und noch mehr im Gesang gewinnt die ökumenische Botschaft an Authentizität. Gerade die liturgischen Gesänge der Gemeinschaft entfalten eine Poetizität, die unter den Gästen 239 FrÀre Roger, Dynamik, 28. 240 Ders., Gott, 44.

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und in Gebetsgruppen auf der ganzen Welt über Sprach- und Konfessionsgrenzen hinweg ein Gefühl von Einheit und Versöhnung stiftet. Die französische Philosophin Marguerite L¦na beschreibt das Gefühl, das die Liturgie während der Jugendtreffen erzeugt: Drei Gebetszeiten bestimmen den Rhythmus eines jeden Tages. Viel ist geschrieben worden über die Liturgie von Taiz¦, der es gelungen ist, einen Stil zu erschaffen, der den durchreisenden Agnostiker ebenso anspricht wie diejenigen, denen das Gebet vertraut ist. Dabei handelt es sich nicht um ein Gebet der Jugendlichen: Es ist das Gebet der Gemeinschaft, leicht vereinfacht durch den täglichen Kontakt mit ihren Gästen und universalisiert durch deren Diversität wie auch durch die eigene. Es liegt eine wirkliche Schönheit in der Nüchternheit dieser Worte und Gesten aus den Traditionen östlicher und westlicher Kirchen, die zur Liturgie der Völker werden im Spiel der Sprachen, welche einander abwechseln oder überlagern. Auf seine Weise bringt dieses Spiel die Einmütigkeit zurück, welche früher durch das Latein hergestellt wurde – das im Übrigen Teil der aufeinanderfolgenden Sprachen ist! Ebenso geben die Refrains und die wie die Stimmen gregorianischer Sätze unermüdlich wiederholten Gebetsrufe Zeit, um den Sinn der Gebetsworte »innerlich zu fühlen und zu schmecken«, in sie einzudringen wie in ein Haus, wo das Herz sich öffnen und zugleich Ruhe finden kann. Die Jugendlichen empfinden die Anziehungskraft dieses inneren Hauses wie auch das Erschrecken davor. In der riesigen Kirche der Versöhnung wagen sie es gemeinsam, seine Schwelle zu überschreiten. Einige von ihnen mögen sicherlich auf der Schwelle stehen bleiben und sich einfach nur von der Schönheit und der Güte um sie herum tragen lassen. Andere gehen vielleicht weiter, auf eine persönliche Begegnung mit dem Auferstandenen zu. Alle üben sich in einer Art Umkehr hinsichtlich ihrer gewöhnlichen Beziehung zu Zeit und Wort. Es geht hier eher um Präsenz als um Effizienz, eher darum zu sein als zu tun.241

Die Wirkung der Poetizität von Texten, von der Paul Ricœur überzeugt ist, wird in dieser Äußerung greifbar. Weiter oben in unserer Untersuchung hatten wir vorgeschlagen, dass diese poetische Wirksamkeit sich mit dem Anliegen ökumenischer Texte verbinden könnte. Neben der Groupe des Dombes, deren engagierte Dokumente bereits etwas von dieser möglichen ökumenischen Poetizität spürbar machten, können wir nun die Gebete bzw. die Gebetspraxis von Taiz¦ als ein weiteres Beispiel anführen. Die liturgischen Texte aus Taiz¦ wirken unmittelbar und nehmen ihre Leser bzw. Interpreten in eine Bewegung der Umkehr hinein. Sie wirken wirklichkeitsverändernd, indem sie eine andere Wirklichkeit vergegenwärtigen. Diese Texte entfalten eine Utopie der Brüderlichkeit, die kein subjektives Konstrukt bleibt, weil ihre Faktizität unmittelbar erfahrbar ist in der interkonfessionellen Gebetsgemeinschaft, die sich in Taiz¦ spontan zusammengefunden hat. Bei näherem Hinsehen bestätigt sich der Eindruck, dass hier eine Ähnlichkeit 241 L¦na, Taiz¦, 113 f.

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zur Texthermeneutik von Ricœur vorliegt. Äußerungen von FrÀre Roger deuten zudem darauf hin, dass Ricœur nicht nur ein häufiger Besucher der Gemeinschaft war, sondern auch ein wichtiger Gesprächspartner und sogar ein Ideengeber.242 Dabei lassen einige Äußerungen Ricœurs darauf schließen, dass dieser Austausch nicht einseitig verlief, sondern dass zwischen ihm und der Gemeinschaft ein gegenseitiges Inspirationsverhältnis bestanden hat. Auf jeden Fall scheint es eine gute Idee zu sein, sich mit der Praxis der Communaut¦ de Taiz¦ zu befassen, um über den Hintergrund von Ricœurs ökumenischer Hermeneutik etwas zu erfahren und seine Orientierung in ökumenischen Kontroversen zu verstehen. Schon für eine der ersten großen Abhandlungen, die in Frankreich über die Communaut¦ de Taiz¦ erschien und bald darauf auch ins Deutsche übersetzt wurden, schrieb Paul Ricœur das Nachwort.243 Interessanterweise sah er sich darin in der Rolle des kritisch denkenden Philosophen, der seine Begeisterung für die monastische Gemeinschaft und ihre Liturgie einer größeren Leserschaft gegenüber rechtfertigen zu müssen glaubte. Er tat dies indem er die »zeichenhafte« Existenz der Gemeinschaft hervorhob und die enge Beziehung zwischen Glaube und Weltpolitik herausstellte. Die Gemeinschaft sei nicht weltabgewandt, sondern sie strahle im Gegenteil auf die Welt aus.244 Der Konnex zwischen der Botschaft der Communaut¦ und dem modernen Menschen bilde vor allem die Liturgie, genauer gesagt deren poetische Funktion: Die Liturgie steht hier auf der gleichen Seite wie die Poesie. Sie muss vorerst auf fremdes Gebiet führen, um die Tiefe des Seins zu erreichen. Dieser Bruch, der eine andere Dimension des Sagens eröffnet, ist die Bedingung für ihre Bewegung zur Mitte hin.245

Was Ricœur an der Liturgie Taiz¦s besonders schätzte, war ihre »Beweglichkeit«, d. h. die Fähigkeit, von einer Ritualisierung abzulassen und immer neue liturgische Formen aufzunehmen, auszuwechseln und sich so, ausgerichtet an der Aussage der Predigt, situativ neu zu erschaffen.246 Allerdings setzt all das, so 242 FrÀre Roger, Gedanken. »In den letzten fünfzig Jahren ist Paul Ricœur oftmals nach Taiz¦ gekommen. Wir haben seine umfassende Bildung, seine Fähigkeit, die Werte des Evangeliums für die Welt von heute in Worte zu fassen, hoch geschätzt. Er hat uns oft angestiftet, tiefer nachzudenken. Mehr als einmal sah ich mich veranlasst, in den Briefen an die Jugendlichen Äußerungen zu zitieren, die er über für uns wesentliche Themen gemacht hatte, unter anderem über den Sinn und den Ursprung des Bösen.« 243 Paupert, Taiz¦. 244 Ricœur, Nachwort, 271. »Ich sehe in der Gemeinschaft von Taiz¦ ein Vorpostenzeichen der ›großen Kirche‹, die sich durch die Kirchen sucht, einen Vorposten des Kultes der ›großen Kirche‹ und der Beziehung, die zwischen ihrem Kult und einer vollen Zugehörigkeit zur Politik dieser Welt besteht.« 245 Ebd., 273. 246 Ebd., 275. »Es ist zutreffend, dass die Verkündigung den Sinn sagt; die Liturgie aber lebt ihn schon in den Bildern. Predigt und Liturgie zusammen zeichnen das vollständige Wort.«

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musste auch Ricœur einsehen, voraus, dass die Gäste Taiz¦s, d. h. Menschen, die dem technischen Paradigma anhaften, sich auf die mystische Interpretation einlassen und sich durch die Ausstrahlung der Liturgie in ein Narrativ, d. h. in die Geschichte Gottes mit den Menschen, versetzen lassen: Ich bin der Liturgie dafür dankbar, daß sie mich meiner Subjektivität entreißt und mir nicht meine Worte und Gesten bietet, sondern die der Gemeinschaft. Ich bin glücklich über diese Objektivierung meiner Gefühle. Wenn ich in den Kultausdruck eintrete, bin ich von Gefühlsergüssen befreit; ich trete in die Form ein, die mich formt; wenn ich den liturgischen Text für mich übernehme, werde ich selber in Gebet und Gesang dieser Text. Durch die Liturgie werde ich zutiefst von der Beschäftigung mit mir selbst frei.247

Doch über die Poetizität von Taiz¦, lässt sich noch mehr sagen. Nach dem Willen der Brüder, entfaltet sie sich nicht nur in Liedern und Erbauungsschriften. Bemerkenswert ist vielmehr die Tatsache, dass man in Taiz¦ das Wirkungsprinzip poetischer Texte auf die Wirksamkeit der Gemeinschaft in der ökumenischen Welt überträgt. Es ist der Gemeinschaft ein Anliegen gegenüber ihrer Umwelt, die sich in der Situation der konfessionellen Trennung befindet, zeichenhaft zu wirken und ihr durch ihre Existenz, die eine Überwindung dieser Trennungen vorlebt, zu denken zu geben. Man macht damit einen Schritt vom Text zur Handlung, um den berühmten Aufsatzband von Paul Ricœur zu zitieren, dem dieses Vorgehen ganz unübersehbar verwandt ist.248 In den Schriften von FrÀre Roger wird nicht nur gefordert, einander Gesten der Versöhnung zu geben. Die ganze Gemeinschaft versteht sich im Grunde selbst als Geste bzw. als ein »Gleichnis der Gemeinschaft«, das durch ihr Handeln erkennbar und in den Augen ihrer Betrachter wirklichkeitsverändernd ist. Als wir in Taiz¦ das gemeinsame Leben begannen, hatten wir nichts anderes im Sinn, als Menschen zusammenzuführen, die sich auf die Nachfolge Christi einlassen, um ein existenzielles Zeichen für die Gemeinschaft des Volkes Gottes zu setzen. […] Was die Welt heute braucht, ist mehr das Bild als die Idee. Die Glaubwürdigkeit einer Idee hängt davon ab, ob hinter ihr eine sichtbare Wirklichkeit steht, sonst bleibt sie nichts weiter als Ideologie. Mag das Zeichen noch so schwach sein, sobald es sich um eine lebendige Wirklichkeit handelt, hat es Wert.249

Diese Idee findet in der Philosophie Ricœurs ihren Widerhall. Ricœur war ebenfalls der Meinung, dass ein soziales Ereignis letztlich auf denselben semantischen Prinzipien beruht wie ein Text und deshalb auch wie ein Text, d. h. sogar im Sinne eines »offenen Kunstwerks« interpretiert werden könne.250 247 248 249 250

Ebd., 274. Ders., Du texte — l’action. FrÀre Roger, Dynamik, 79. Ricœur, Modell, 115. »In derselben Weise wie Sprachspiele Formen des Lebens sind – nach dem berühmten Aphorismus von Wittgenstein – sind soziale Strukturen ebenfalls Versu-

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Was aber ist es dann, was sich aus der Existenz der Communaut¦ interpretativ erschließen lässt? Ricœur selbst hat einen solchen Interpretationsversuch gewagt und beschrieben, wie das Zeugnis, das die Communaut¦ gegenüber der modernen Gesellschaft und der ökumenischen Welt ablegt, auf ihn wirkt und was es möglicherweise verheißt. Wir können darin eine nähere Charakterisierung dessen erkennen, was Ricœur in seinem Trienter Vortrag mit »Brüderlichkeit« meinte: Was mich hier in Taiz¦ beeindruckt, bei allen kleinen täglichen Diensten, in der Liturgie, bei den Begegnungen aller Art den Mahlzeiten, den Gesprächen, ist die vollkommene Abwesenheit von Beziehungen, in denen einer über den anderen herrscht. Ich habe manchmal den Eindruck, dass in der – wenn man so will – geduldigen und stillen Zuverlässigkeit sämtlicher Handlungen der Mitglieder der Communaut¦ alle gehorchen, ohne dass jemand befiehlt. Daraus ergibt sich der Eindruck freudigen Dienens, sozusagen liebenden Gehorsams, der das vollkommene Gegenteil von Ziellosigkeit ist. […] Das kommt uns, den Teilnehmern, zugute (nicht den Zuschauern, sondern denen, die sich beteiligen), und ich glaube, ich war und bin einer davon. Uns kommt der liebende Gehorsam zugute, den wir eben dem vorgelebten Beispiel entgegenbringen. Die Communaut¦ de Taiz¦ wartet nicht mit einer Art von einschüchterndem Vorbild auf, sondern mit einer Art freundschaftlicher Ermunterung. Ich mag das Wort Ermunterung, weil wir uns da nicht im Bereich des Befehlens befinden und noch weniger in dem des Zwangs […]. Diese miteinander geteilte Gelassenheit ist es, die für mich das Glück eines Lebens im Umfeld der Communaut¦ de Taiz¦ ausmacht.251

Taiz¦ ist für Ricœur nicht einfach nur ein Gleichnis der Gemeinschaft, d. h. die Aussage der Gemeinschaft erschöpft sich nicht in dem Umstand, dass man einander begegnen kann und dass Vertreter verschiedener Konfessionen am selben Ort versammelt sind. Der Gedanke der Versammlung wird bei Ricœur ergänzt durch das Erzielen einer echten Wechselseitigkeit untereinander, d. h. einer Praxis des Anteilgebens und Anteilnehmens im tiefsten Sinn. Indem das geschieht vollzieht sich Versöhnung. Dadurch schließlich ist Taiz¦ auch ein Ausdruck von »Güte« und ein Zeichen dafür, dass die ökumenische Bewegung unter den Glaubenden sich in gegenseitiger Gastfreundschaft fortsetzt: Wir sind aus einer Kultur hervorgegangen, die Gott tatsächlich getötet hat, das heißt, das Absurde und den Unsinn über den Sinn gestellt hat. Und dies reizt zu einem tiefgreifenden Einspruch. Ich verwende dieses Wort, das in seiner Bedeutung dem Wort che, mit den existenziellen Ängsten, Schwierigkeiten und tiefverwurzelten Konflikten fertig zu werden. In diesem Sinne haben diese Strukturen ebenfalls eine Verweisungsfunktion. Sie verweisen auf die Aporien der sozialen Existenz, auf die gleichen Aporien, um die das mythische Denken kreist. Und diese analoge Funktion der Verweisung hat die gleichen Züge, die wir dem nicht-ostentativen Bezug eines Textes zugeschrieben haben, d. h. die Entfaltung einer Welt, die nicht mehr nur Umwelt ist, der Entwurf einer Welt, die mehr ist, als eine bloße Situation.« 251 Ders., Taiz¦, 51.

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Zeugnis nahe kommt. Ich denke, dass das Zeugnis aus dem Einspruch dagegen hervorgeht, dass das Nichts, das Absurde, der Tod das letzte Wort haben soll. Dies hat etwas mit meiner Frage nach der Güte zu tun, weil die Güte nicht nur die Antwort auf das Böse, sondern auch die Antwort auf den Unsinn ist. Im Begriff Einspruch (frz. protestation) liegt das Wort Zeuge (t¦moin, lat. testis): Man macht einen Einspruch, bevor man etwas bezeugen (attester) kann. In Taiz¦ geht man diesen Weg vom Einspruch zum Zeugnis. Und dieser Weg führt über das Gesetz des Betens, das Gesetz des Glaubens. Der Einspruch liegt noch im Verneinen, er ist ein Nein zum Nein. Doch hier ist ein Ja zum Ja gefordert. Es gibt also einen Vorgang, bei dem Einspruch in Zeugnis umschlägt. Ich denke, das geschieht im Gebet. Heute Morgen gingen mir die Gesänge nahe, die Gebetsanrufungen in der Form »Oh Christus!« Sie bedeuten, dass wir uns weder im Beschreibenden noch Vorschreibenden, sondern im Zuschreibenden und Ausrufenden befinden. Ich denke, die Güte auszurufen ist der ursprüngliche Lobgesang.252

4.5

Zusammenfassung

In diesem Kapitel haben wir versucht, anhand von drei ökumenischen Beispielen aus Frankreich die Tragweite der Theorie von Paul Ricœur darzustellen. Rein formal betrachtet erwiesen sich die Vorgänge als sehr unterschiedlich. Am Beispiel der Entwicklung und Rezeption der Leuenberger Konkordie konnten wir einen ökumenischen Prozess auf institutioneller Ebene verfolgen. In diesem ging es wesentlich darum, kirchenpolitische und theologische Positionen zu vermitteln und einer existierenden ökumenischen Praxis eine angemessene institutionelle Struktur zuzuerkennen. Mit den Aktivitäten der Groupe des Dombes wandten wir uns einer Dialogsituation zu, in der sich ökumenische Theologie auf wissenschaftlichem Niveau mit tiefer geistlicher Gemeinschaft verbindet. Dieser Dialog mündet in einen Appell an Kirchenleitungen und Glaubende, die Einheit untereinander zu vertiefen. Mit der Communaut¦ de Taiz¦ schließlich untersuchten wir einen ökumenischen Prozess, der sich vor allem durch seine Praxis auszeichnet und bei dem das Leben einer Gemeinschaft das eigentliche ökumenische Statement darstellt. Auf institutionelle Veränderungen wird zwar auch dort hingewirkt, allerdings indem man praktisch vor Augen führt, welche Art der Gemeinschaft möglich wäre, wenn man auf kirchenleitender Ebene längst fällige Reformen vornehmen würde. Trotz der erheblichen Unterschiede zwischen diesen Dialogsituationen lassen sich darin jeweils Elemente von Ricœurs Hermeneutik wiederfinden. Wir werden diese nun abschließend zusammenfassen und dabei zeigen, wie sich die drei Situationen in den Punkten von Rezeptionsverlauf, Identitätsverständnis und 252 Ebd., 48.

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Textgebrauch gestalten, die wir vorab als Untersuchungskriterien benannt hatten. Dabei spielt zum einen die Frage eine Rolle, welche Dialogsituation dem Ansatz von Ricœur am nächsten kommt, zum anderen auch, in welcher Weise Argumente begegnen, die bei Ricœur unberücksichtigt geblieben sind.

4.5.1 Rezeptionsverlauf Die Ereignisse, die wir unter dem Stichwort Rezeption der Leuenberger Konkordie in Frankreich untersuchten, beinhalten nicht nur die Wirkung, welche das Dokument nach 1973 in den französischen Kirchen hatte. Sie umfassen auch den nationalen innerprotestantischen Dialog, der seit den 1950er Jahren in Frankreich geführt wurde und in dem man eine beträchtliche Vorarbeit für die Entstehung der Konkordie leistete. Die Ereignisse, die wir rekonstruierten, spielen sich auf der institutionellen Ebene ab, wo man darum bemüht ist, die vor Ort praktizierte Kirchengemeinschaft in einen verbindlichen Rahmen zu übersetzen. Dieses Geschehen lässt sich in der Theorie Ricœurs als ein Inkognito der Versöhnung ausdeuten. Dieses Inkognito drückt sich in den theologischen Thesenreihen von Lyon aus wie auch im Text der Konkordie selbst, die den Charakter von kirchenpolitischen Übereinkünften haben. Das Ziel dieser Texte ist es, ein Geschehen der gegenseitigen Anerkennung unter den Glaubenden als Norm zu fixieren. Dabei ist zu beachten, dass der Weg, der zu dieser Anerkennung führte, eigentlich einer anderen Logik folgend zustande gekommen ist. Denn am Anfang stand die zwischenmenschliche wechselseitige Anerkennung der Glaubenden ohne juristischen Rahmen bzw. sogar im Widerspruch zu den geltenden Verurteilungen der Reformationszeit. Es bestätigt sich an dieser Stelle also Ricœurs Aussage, dass juristische Texte dem zwischenmenschlichen Geschehen nachgeordnet sind. Aber unsere Untersuchung zeigt noch mehr. Der lutherisch-reformierte Dialog veranschaulicht die Aporie bei dem Versuch, die zwischenmenschliche Ebene mit der institutionellen in Eins zu setzen. Nur sehr annähernd kann im Text der Konkordie der Wandel der Mentalitäten verdeutlicht werden, der an der Basis zur Überwindung theologischer Differenzen führte, die man anderswo in denselben Kirchen noch als trennend empfand. Was die Thesen von Lyon und mehr noch die Leuenberger Konkordie schließlich festzustellen vermögen, sind der Grundkonsens im Verständnis des Evangeliums, die Nichtwidersprüchlichkeit der gegenwärtigen Lehraussagen und deshalb die Ungültigkeit zurückliegender Verurteilungen. Das ist institutionell befriedigend, weil es die Dauerhaftigkeit der erreichten Beziehungen sichert und ein kirchenpolitisches Instrument schafft, welches nicht mehr zurückgenommen werden kann. Es musste allerdings viel ›ökumenisches Lehrgeld‹ bezahlt werden, um diesen Konsens zu ermöglichen. Die Bewegung von der gelebten

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Kirchengemeinschaft hin zu ihrer offiziellen Erklärung war für die Verfasser der Thesen von Lyon bei Weitem nicht so selbstverständlich, wie sie es für uns nach der ausführlichen Beschäftigung mit Ricœur ist. Einige Äußerungen aus dem lutherisch-reformierten Dialog in Frankreich zeigen, dass man sich den Rezeptionsweg bis dato anders vorgestellt hatte. Man tat sich deshalb sehr schwer damit, die gelingende Gemeinschaft vor Ort als theologisches Argument gelten zu lassen. Manche Lutheraner konnten die nachträgliche kirchenrechtliche Rechtfertigung der seit Langem praktizierten Interkommunion nicht als notwendige Weiterentwicklung begrüßen, sondern sahen die zeitweise Übertretung geltender Bestimmungen und die Zulassung einer kirchenrechtlichen Grauzone in Bezug auf die Abendmahlsgemeinschaft als schweres Versäumnis an. Hier stand also die der Theorie Ricœurs entgegengesetzte Vorstellung im Hintergrund, welche vorsieht, dass das Kirchenrecht die Praxis der Glaubenden regelt und nicht umgekehrt. Unsere Untersuchung zeigt auch die Schwierigkeiten, die mit der gegenseitigen institutionellen Anerkennung einhergehen, bei der viel mehr als nur theologische Argumente eine Rolle spielen. Das Beispiel der französischen Kirchen zeigt, dass diese Umstände die Institutionalisierung der Kirchengemeinschaft über Jahrzehnte verzögern können. Sie zeigt aber auch das Potential eines institutionalisierten ökumenischen Prozesses. Nicht nur die gelebte Übereinstimmung vor Ort konnte sich im nationalen ökumenischen Gespräch niederschlagen und nicht nur diese Gespräche wurden schließlich in einem internationalen Rahmen rezipiert. Die Kontinuität des Konsenses in der GEKE wirkte umgekehrt auch auf die nationalen Kirchen zurück, wie das Beispiel der jüngsten französischen Kirchenunionen zeigt. Am Ende unserer Untersuchung bleibt dennoch eine deutliche Spannung zwischen Ricœurs Konzept der Rezeption und dem Prozess der Leuenberger Konkordie bestehen. Diese Spannung lässt sich an dem Einheitsmodell der Einheit in versöhnter Verschiedenheit festmachen, welches der Konkordie zugrunde liegt. Wir zeigten in Kapitel 3, dass sich in Ricœurs Ansatz Versöhnung nicht auf dem Weg der Gesetzgebung festlegen lässt. Sie wird gelebt in einer Logik, welche die Gesetzlichkeit unter Umständen subvertiert und sie lässt sich auch nicht einfach für abgeschlossen erklären. An dieser Stelle zeigt sich, dass der Prozess der Leuenberger Konkordie nur sehr bedingt mit Ricœurs Vorstellung übereinstimmt, wenngleich das vertretene Einheitsmodell möglicherweise auch prozessual, d. h. im Sinne einer fortgesetzten Versöhnung interpretiert werden könnte. Das müsste sich jedoch in einzelnen Gesten der Annäherung, des Schuldeingeständnisses, der Vergebung und dem Memorieren des ursprünglichen Konflikts zeigen, die in der Arbeit der GEKE zumindest auf institutioneller Ebene so kaum anzutreffen sind. Für die Groupe des Dombes kann die Frage des Rezeptionsverlaufs nur im Zusammenhang mit ihrem grundlegenden ökumenischen Profil beantwortet

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werden. Im Sinne ihres Gründers Abb¦ Paul Couturier besteht das theologische Anliegen der Gruppe in der Umkehr der Kirchen zu einem Zustand, in dem sie die Wahrheit Jesu Christi authentischer und existenzieller zur Sprache bringen. Dieser Zustand impliziert auch die Versöhnung der bisher getrennten kirchlichen Gemeinschaften. Bestandteil des Ansatzes der Dombisten ist ein differenzierter Rezeptionsbegriff, der sich auf drei Ebenen entfaltet. Zum einen kann als Rezeption der Empfang des Evangeliums durch die Gemeinschaft der Glaubenden bezeichnet werden. Zum anderen umfasst die Rezeption auch die Anerkennung anderskonfessioneller Glaubender und Gemeinschaften, was mit dem ersten Vorgang in einem engen Zusammenhang steht. Schließlich meint Rezeption die institutionelle Anerkennung von Dialogergebnissen, welche sich möglichst sichtbar – vornehmlich in Gesten der Anerkennung – äußern sollte. Der Rezeptionsbegriff, auf den Ricœur im Wesentlichen abhebt – die Anerkennung des Anderen im zwischenmenschlichen Kontakt – ist bei der Groupe des Dombes also ein wichtiges Moment innerhalb eines größeren Prozesses der Umkehr. Sein Gelingen setzt die Einsicht in die Logik der Selbstbehauptung einer jeden Konfession voraus. Deren größte Schwäche besteht in der Neigung, in einer Geste der Bemächtigung die eigene Position zu verabsolutieren und sich selbst im Besitz der ganzen Wahrheit des Evangeliums zu sehen. In der Perspektive der Groupe des Dombes setzt dies der Gemeinschaft der Kirchen die Sünde der Trennung entgegen. Weil aber jede Konfession das Evangelium nur bruchstückhaft und unter dem selektiven Eindruck ihrer eigenen Entstehungsgeschichte zum Ausdruck bringt, macht es Sinn, Verständnis für die Position des Anderen aufzubringen und diese nachzuvollziehen, um die Elemente aufzuspüren, die der eigenen Tradition abgehen. In der Gemeinschaft miteinander kann man herausfinden, welche konfessionellen Elemente der anderen Konfession die Wahrheit Jesu Christi authentischer ausdrücken, als die eigene es zu tun versteht. In ihren Schriften realisiert die Groupe des Dombes beispielhaft eine solche Auseinandersetzung mit den konfessionellen Positionen, die es schließlich ermöglicht, das bleibend Wichtige zu unterscheiden von dem, was um der Einheit willen aufgegeben werden kann. Was an der Position des Anderen annehmenswert ist, wird erkennbar und darf in eine neue gemeinsame Identität integriert werden. Obwohl die Groupe des Dombes sich in ihren Dokumenten stets an die verfassten Kirchen richtet und ihre Dokumente auf institutioneller Ebene zur Rezeption anbietet, wird von ihren Mitgliedern ausgesprochen und auch vorgelebt, dass der Prozess der Umkehr bei den einzelnen Glaubenden und in ihrem geschwisterlichen Zusammenleben beginnt. Damit erweist sich der Moment der zwischenmenschlichen Anerkennung, in der der andere als Träger desselben Evangeliums wertgeschätzt wird, in Übereinstimmung mit dem Ansatz Ricœurs als das wichtigste Moment des Umkehrprozesses. Auch die Groupe des Dombes bestätigt also Ricœurs Überlegungen hin-

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sichtlich des Rezeptionsverlaufs und weist zudem Parallelen zu Ricœurs partizipativem Offenbarungsverständnis auf. Das Rezeptionsverständnis der Communaut¦ de Taiz¦ ist ähnlich wie das der Groupe des Dombes, insofern auch hier der zwischenmenschliche Dialog als essentiell angesehen wird. Noch klarer als bei den Dombisten wird dabei, dass die Auseinandersetzung mit dem Anderen nicht in erster Linie dem Vergleich der theologischen Lehre dient, sondern dass es darum geht, Jesus Christus im Anderen zu entdecken, wenn man sich diesem in Liebe zuwendet. Die Art der Rezeption bzw. der Anerkennung, die Taiz¦ praktiziert, besteht deshalb darin, dass man miteinander lebt, betet und einander alltäglich unterstützt. In unserer Untersuchung von Taiz¦ haben wir drei Etappen der Rezeption herausgearbeitet. Die erste besteht darin, anzuerkennen, dass die Einheit aller Glaubenden in Christus bereits gegeben ist. Diese passive Erfahrung in einen aktiven Schritt münden zu lassen, bedeutet, sich in einem Prozess der Selbstbesinnung die Zeichen dieser Gabe im eigenen Leben bewusst zu machen. Im Vertrauen darauf wird es möglich, anderen Menschen, auch anderskonfessionellen Glaubenden, in einer Haltung der ökumenischen Gastfreundschaft zu begegnen, d. h. die Universalität Jesu Christi im Zeugnis des Anderen aufzuspüren und wertzuschätzen und ihn als Anhänger derselben Offenbarung anzuerkennen, wenngleich die Gestaltung des Glaubens verschieden bleibt und auch die institutionellen Unterschiede einer vollständigen Einheit noch entgegenstehen. Die dritte Etappe ist die des »ökumenischen Gabentauschs«, in deren Verlauf anerkannt wird, was der Andere – sei es im Bereich der Lehre oder der Spiritualität – zu geben hat.253 Dies wird versucht in eine gemeinsame Glaubenspraxis zu integrieren. Diese letzte und anspruchsvollste Etappe des ökumenischen Dialogs ist zwar auch in den Überlegungen der Groupe des Dombes präsent. Sie wird aber in Taiz¦ am deutlichsten als Ziel benannt und vorgelebt. Anders als in der Groupe des Dombes wird der Zustand der Trennung nicht im selben Ausmaß als Sünde verurteilt. Nicht das Schuldbekenntnis ist der Ausgangspunkt der Ein253 Risto Saarinen hat gezeigt, dass der Begriff des »ökumenischen Gabentauschs« in sich differenziert werden muss. Wir schließen uns seiner Position an und betrachten den Gabentausch hier im Sinne einer gemeinsamen Teilhabe. Vgl. Saarinen, God, 145. »If we understand the poietic love, agape, to mean that we give others what they need and lack, we have to see that our gifts to them are not chosen in order to propagate our own favorite goods. Instead, they should be unselfish and free gifts in the sense that they are given because others need them. At the same time, we are ourselves in need of some gifts and are served by others who observe and satisfy our needs without imposing obligations on us. This circulation is more a sharing than an exchange. It does not follow a logic of exchange in which products are distributed against payments, depts and counter-gifts. Sharing remains free and uninterested. It does not aim at a capitalist accumulation of gifts in which everyone will get everything in the long run. It is rather a service in which our daily bread is given to us today.«

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heitssuche, sondern die Überzeugung, dass man miteinander an vielen Stellen bereits in Übereinstimmung lebt. Der Weg der gegenseitigen Anerkennung, wie ihn Taiz¦ sich vorstellt, scheint also auf positiven Erfahrungen der ökumenischen Einheit zu beruhen, die man auf andere Situationen überträgt. Der Verlauf der Rezeption beruht in diesem Sinne auf einem Lernprozess, für den die Biographie von Roger Schutz beispielhaft ist. Das frühe Kennenlernen und Mitleben mit katholischen Christen hat dazu geführt, dass er nach immer mehr Gemeinschaft suchte, deren Intensität sich schließlich in dem ausdrücken sollte, was Roger als das Wesentlichste empfand – im gemeinsamen Abendmahl. Nicht Imperative, sondern Hinhören, Geduld und Nachsicht mit dem ökumenischen Partner sowie der Versuch, durch Selbsthingabe zu überzeugen, haben den Weg der Anerkennung geprägt, den FrÀre Roger gegenüber der römisch-katholischen Kirche beschritten hat. Auch für ihn war der Gedanke wesentlich, dass offizielle Texte diesen Prozess nicht initiieren, sondern nur reflektieren können. Institutionen sind insofern bedeutsam, als sie bei der wechselseitigen Annäherung vermitteln und begleiten. Bezeichnenderweise dachte Roger dabei allerdings an keinen Text, sondern an einen Menschen, den Bischof von Rom, der dieses Amt der Vermittlung zwischen den Kirchen übernehmen sollte. Als Fazit können wir festhalten, dass die Vorstellungen der Groupe des Dombes und der Communaut¦ de Taiz¦ über den Rezeptionsverlauf denen von Ricœur in vollem Umfang entsprechen, wobei jeweils auch eigene Akzente gesetzt werden. Die wesentliche Übereinstimmung besteht in der Auffassung, dass die gegenseitige Anerkennung der Kirchen von den Glaubenden ausgehen und vom Glaubensleben getragen werden soll. Einen Bruch mit den gegebenen institutionellen Strukturen empfehlen beide aber nicht, stattdessen will man überzeugen bzw. die gegebenen Grenzen durch innovative Neuinterpretationen langsam verschieben. Der Prozess um die Leuenberger Konkordie bildet das institutionelle Geschehen ab und wird deshalb eher von der Kritik getroffen, die Ricœur in seinem Trienter Vortrag an der Logik konsensueller Übereinkünfte äußerte. Wichtig für unsere Untersuchung ist dieser Prozess dennoch, weil er die Eigenheiten und Schwierigkeiten der institutionellen Anerkennung zeigt und einen dennoch nicht ohne Hoffnung auf weitere mögliche Einigungen auf dieser Ebene lässt.

4.5.2 Identitätsverständnis Bei der Behandlung von Ricœurs Identitätsbegriff hatten wir auf die ökumenischen Möglichkeiten, aber auch auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die mit dem Konzept der narrativen Identität verbunden sind. Bei der Untersuchung des Identitätsverständnisses der Kirchen im Zusammenhang mit der Leuenberger

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Konkordie und ihrer Rezeption in Frankreich begegnen uns diese Schwierigkeiten zum Teil wieder in der Praxis. Der Text der Konkordie selbst scheint sich an vielen Stellen noch recht eindeutig für einen Identitätswandel auszusprechen. Der Wandel wird konstatiert, allerdings werden institutionelle Konsequenzen nicht zur Bedingung der Rezeption gemacht, sondern im Gegenteil, ausdrücklich abgewiesen, um keine Minderheitenrechte zu verletzen. Die Konkordie enthält sogar einen expliziten Minderheitsparagraphen, welcher festlegt, dass das Existenzrecht der kleinsten Gemeinschaften nicht der Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst zum Opfer fallen darf, selbst wenn ein struktureller Zusammenschluss sich anbieten würde (§ 45). Obwohl es dafür gute Gründe gibt, drückt sich an dieser Stelle eine Ambivalenz aus, die sich bis in die aktuelle Arbeit der GEKE hinein wiederfinden lässt. Im schlimmsten Fall nämlich kann der Anspruch Minderheitsgemeinschaften zu schützen als Vorwand missbraucht werden, um einen Identitätswandel aus Gründen des versteckten Konfessionalismus zu unterbinden. Wir haben diese These ausführlich dargelegt, indem wir den französischen Kontext darstellten, in dem die protestantischen Kirchen als Minderheitsgemeinschaften leben. Wir zeigten auch, dass es gute Gründe dafür zu geben scheint, dass viele Vertreter dieser Kirchen dem ökumenischen Wandel gegenüber skeptisch eingestellt sind. Die Angst vor einem Identitätsverlust durch die Vereinnahmung in einer größeren, möglicherweise totalitär und nur aus Selbsterhaltungstrieb agierenden Gemeinschaft spielte dabei eine wichtige Rolle. An dieser Stelle zeigte sich aber auch, dass es für die ökumenische Bewegung ein Problem sein kann, wenn eine Gemeinschaft, deren Identität narrativ konstruiert wird, sich selbst auf ihre Verfolgungsgeschichte festlegt und ihren Status als Minderheit als Attraktivitätsbonus auf dem Markt der Religionen versteht. Die Rede vom Identitätswandel als sinnvolle ökumenische Option ist dann nicht mehr überzeugend. Andererseits zeigten wir, dass es in diesen Kirchen auch andere Stimmen gibt, die einer Veränderung der eigenen Identität durch den Kontakt mit der ökumenischen Gemeinschaft positiv gegenüber stehen. Was bei diesen Vertretern den Identitätsdiskurs anregt, scheint weniger die Idee der Narration zu sein als vielmehr die Vorstellung einer explorativen Identität, die zu sich selbst durch einen äußeren Einspruch findet – sei es durch das Evangelium oder durch den zwischenmenschlichen bzw. zwischenkirchlichen Kontakt. Auch dazu finden wir grundlegende Überlegungen bei Ricœur.254 Wie wir in unserer Relektüre des Trienter Vortrags nachwiesen, fügen diese alteritätstheoretischen Überlegungen seinem ökumenischen Ansatz eine entscheidende Dimension hinzu, welche die Vorstellung der narrativen Identitätsbildung an entscheidender Stelle ergänzen. Aber nicht nur in konkreten Minderheitssituationen wird die Idee des Identitätswandels kritisch be254 Bühler, Das aufgerufene Selbst.

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Zusammenfassung

trachtet. Unsere Untersuchung der Beiträge der GEKE-Vollversammlungen zeigt, dass die Leuenberger Kirchengemeinschaft dabei ist, sich auf eine Profilökumene festzulegen und dadurch zunehmend eine Logik der konfessionellen Abgrenzung zu verfolgen. Man ist sehr darum bemüht, die eigene konfessionelle Position zu festigen und ihr gegenüber Respekt einzufordern, sowohl von der Politik als auch von der römisch-katholischen Kirche. Damit setzt sich die Tendenz fort, die ökumenische Einigung in Analogie zur politischen Integration zu betrachten, die wir bereits bei unserer Bewertung der Vorstellung des Rezeptionsverlaufs erkennen konnten. Fraglich scheint im Moment noch, ob dieser Profilierungswille, der sich vor allem im Zusammenhang mit den für evangelische Ohren provozierenden Äußerungen der römischen Kurie zum Kirchenstatus der Protestanten bemerkbar macht, auf Dauer vereinbar sein wird mit der Bewegung auf den Anderen zu, die eine elementare Orientierung der ökumenischen Bewegung darstellt. Die Überlegungen der Groupe des Dombes zur dreifachen ökumenischen Identität sind ihr bis heute bekanntester Beitrag. Sie sind hervorgegangen aus der Anfrage, ob die Idee der Umkehr mit dem Gedanken der Identität überhaupt vereinbar ist bzw. ob der ökumenische Dialog nicht letztlich die Uniformisierung aller Kirchen im Sinn habe und deshalb stets den daran beteiligten Kirchen ein Identitätsverlust droht. Die Groupe des Dombes verneint das und behauptet stattdessen, dass vielmehr der Ruf zur Umkehr, mit dem das Evangelium den Einzelnen konfrontiert, das Rückgrat der christlichen Identität ist. Mit anderen Worten, der Kern der christlichen Identität besteht nach Meinung der Dombisten in der Preisgabe der eigenen Identität zugunsten einer Umkehr in die Nachfolge Jesu Christi. Damit verbunden ist die Hingabe an den Mitmenschen. Auch die Identität der Kirchen, so die Idee der Groupe des Dombes, muss sich an diesem äußeren Appell zur Umkehr orientieren. Aus diesen Voraussetzungen, die ein deutliches Plädoyer für den Identitätswandel darstellen, hat die Groupe des Dombes ein Modell abgeleitet, in das die verschiedenen Aspekte einfließen, welche die Identität der Kirchen prägen. Die so benannten drei Aspekte der christlichen, kirchlichen und konfessionellen Identität werden nach ihrer Wichtigkeit nochmals unterschieden. Einen ökumenischen Idealismus vermeidend werden also alle, auch die sogenannten nicht-theologischen Aspekte, als Elemente der Identität einer kirchlichen Gemeinschaft anerkannt. Doch sie werden zugleich einer Hierarchisierung unterzogen, die besagt, dass die christliche Identität die Entscheidende und letztlich orientierend und korrigierend für die beiden anderen ist. Trotz dieser eindeutigen Zentrierung auf den identitätsbildenden Ruf des Evangeliums soll von diesem ökumenischen Modell kein Zwang zur Uniformisierung ausgehen. Der Grund dafür ist, dass eine Existenz, die sich immer mehr an Christus ausrichtet, auch eine ist, die mehr und mehr an seinem Geist Anteil nimmt. Dieser ist ein Geist der Öffnung und der Hingabe und nicht ein Geist, der

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den Nächsten ausschließt. Die Groupe des Dombes versucht die Regulierung von Einheit und Verschiedenheit also dadurch zu bewirken, dass in ihrem hierarchischen Modell der Identitätskonstituenten der zentrale Platz nicht von dem Prinzip der Uniformität, sondern von dem der Interrelationalität dialogisierender, einander ergänzender Identitäten besetzt wird. Der Beitrag der Communaut¦ de Taiz¦ zum Identitätsverständnis besteht darin, den Gedanken der »doppelten Zugehörigkeit« nicht nur formuliert, sondern auch sichtbar gemacht zu haben. Besonders in Gestalt ihres Gründers FrÀre Roger wird sichtbar, dass es sich dabei weniger um ein Konzept handelt als vielmehr um eine Praxis der Wechselseitigkeit, welche die Versöhnung der verschiedenen Konfessionen, insbesondere der evangelischen und der katholischen, auf persönlicher Ebene als Resultat eines lebenslangen Prozesses realisiert. In diesem Prozess kommt es vor allem auf persönliche Beziehungen an, in denen das gegenseitige Vertrauen sich entwickeln kann. Aber auch dogmatische Positionen, in denen sich die Revidierbarkeit früherer Verurteilungen zeigt, spielen eine Rolle. Ähnlich wie die Groupe des Dombes, auf deren Identitätskonzept man sich in Taiz¦ ausdrücklich beruft,255 bindet man den Identitätsdiskurs an die unmittelbare Ebene der Betroffenheit durch das Evangelium und damit an die Frage der Christusbegegnung im Anderen. Der Gedanke der Hingabe an den Anderen, egal welcher Konfession (oder Religion) dieser ist, ist stärker als der Impuls, eine konfessionelle Institution zu repräsentieren oder zu verteidigen. Im Erscheinungsbild der Gemeinschaft zeigt dieses Identitätsverständnis sich darin, dass man in einer überkonfessionellen Gemeinschaft lebt, die Elemente verschiedener Konfessionen aufnimmt und deren Nebeneinander neu ausdeutet. Die Vorstellung des Wandels wird so ernst genommen, dass man die aktuelle Form der eigenen Gemeinschaft nur als Provisorium versteht, in dem die größere Einheit, die man anstrebt, sich als Vorläufiges verwirklicht. Man will in eine Dynamik der Versöhnung eintreten, wobei man sich vollkommen bewusst ist, dass diese einen Verzicht auf Bekanntes und eine Auseinandersetzung mit dem Neuen erfordert. Nicht die Angst vor dem Identitätsverlust, sondern die Freude am Identitätsgewinn, der darin besteht, als versöhnte Gemeinschaft zu leben, wird in Taiz¦ hochgehalten. Als Fazit dieses Abschnitts können wir festhalten, dass die vorgestellten Positionen Ricœurs Vorstellung der Identitätsbildung mehr oder weniger entsprechen. Wo diese Übereinstimmung fehlt, gerät jedoch auch die ökumenische Praxis deutlich ins Stocken. Dies zeigt sich am Beispiel des lutherisch-reformierten Dialoges in Frankreich. Die Logik der konfessionellen Selbstbehauptung auf institutioneller Ebene führte dazu, dass dieser Dialog sich über Jahrzehnte hinzog. Auch die politische Logik des Einigungsprozesses innerhalb der 255 FrÀre Alois, Leidenschaft, 127.

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Zusammenfassung

GEKE entspricht nicht Ricœurs Ansatz. Der Einspruch des Anderen, den Ricœur für essentiell erachtet und in dessen Wahrnehmung und Durcharbeitung das Selbst zu seiner Identität findet, hat es im Augenblick schwer, in der GEKE Gehör zu finden, zumindest sobald dieser Einspruch über die lutherischen und reformierten Kirchen ausgedehnt wird, die in der GEKE bereits organisiert sind. Das Konzept der Groupe des Dombes weißt hingegen deutliche Übereinstimmungen mit Ricœur auf. Neben dem Bezug auf die Identitätskonstitution durch den Appell des Anderen gibt es in den Texten der Dombisten auch ein starkes Bewusstsein für den narrativen Charakter von Identitätskonstruktionen. Die Methode der Groupe des Dombes setzt seit Langem in die Tat um, was Ricœur in seinem Trienter Vortrag vorgeschlagen hat. Die Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Auslegungstradition und der der anderen Gemeinschaft lässt zum einen eine Relativierung von Absolutheitsansprüchen bestimmter Auslegungen zu und zum anderen das Verständnis wachsen für die Entscheidungen des konfessionell Anderen. Auch die Communaut¦ de Taiz¦ dokumentiert auf ihre Weise die Konsequenzen, die eine solche analogisierende Übertragung der eigenen Position als Glaubender der Kirche Jesu Christi auf den Anderen haben könnte. Eine solche Haltung führt dazu, dass man der Gemeinschaft anders, d. h. in der Haltung der Gastfreundschaft begegnet, die auch von Ricœur beschrieben wurde. Kritiker empfinden diese starke Annäherung an den Anderen bereits als Verrat an der eigenen Konfession. Tatsächlich beruht die Haltung der Communaut¦ auf einer konsequenten Hermeneutik des Vertrauens, die dem anderen bereits im Heute und auch ohne das Vorhandensein einer institutionalisierten Lehrgrundlage zubilligt, im selben Geist zu agieren. Die Communaut¦ de Taiz¦ steht beispielhaft für die gemeinsame Bemühung verschiedener Konfessionen, ihre Tradition dadurch lebendig fortzuschreiben, dass man sie einer Revision unterzieht und Impulsen von außen öffnet. Der Schritt zur vollen gegenseitigen Gemeinschaft, z. B. in der Interkommunion, ist in der Logik dieser Gemeinschaft eine nachvollziehbare Konsequenz und stellt ebenfalls einen Aspekt ihrer Identitätsbekundung dar.

4.5.3 Textgebrauch Unsere Frage war, welche Rolle offiziellen Dokumenten im Rezeptionsprozess zukommt. Lassen sie etwas erahnen von dem poetischen Charakter, an dem Ricœurs Texthermeneutik ansetzt oder begegnen sie uns nur in ihrer Funktion als Inkognito der Versöhnung auf dem Niveau des Kirchenrechts? Unsere Untersuchung der Leuenberger Konkordie zeigt, dass diese Frage falsch gestellt ist, wenn sie suggerieren sollte, dass ökumenische Texte als kirchenrechtliche Dokumente

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wirkungslos wären, bzw. dass die Funktion des Inkognitos vollkommen verzichtbar wäre. Denn genau auf dieser Ebene der verbindlichen Regelung ökumenischer Beziehungen ist die Konkordie einflussreich und entscheidend für ökumenische Prozesse gewesen. Zuerst war dies auf europäischer Ebene der Fall, wo die Konkordie eine theologische Begründung für die Überwindung des Konflikts zwischen Lutheranern und Reformierten geliefert hat und so ein Konsensmodell schuf und einen Kirchenverbund ermöglichte, dem die einzelnen Landeskirchen sich anschließen konnten. Später hat das auch auf nationale Dialoge zurückgewirkt. Wir haben diese Wirkung am Beispiel der jüngsten Kirchenunionen in Frankreich nachgewiesen, wo die Konkordie die theologische Grundlage für die institutionelle Einheit bereit stellte und deshalb sogar in Ausschnitten in die konstituierenden Dokumente der neuen Kirche hineingenommen wurde. Die Tatsache, in der GEKE engagiert zu sein, hatte für die französischen Unterzeichnerkirchen Konsequenzen in ihrem nationalen Kontext. Denn als man endlich soweit war, einen strukturellen Zusammenschluss in Angriff zu nehmen, war der theologische Lehrkonsens bereits hergestellt und verbindlich – verbindlicher als die Thesen von Lyon es auf nationaler Ebene je waren. Man konnte sich also dank der Leuenberger Konkordie in Frankreich den praktischen Fragen der Struktureinheit zuwenden, ohne nochmals in eine langwierige theologische Grundlagendiskussion verstrickt zu werden, wie es in den 1960er Jahren der Fall gewesen war. Dieser Vorgang zeigt, in welchem Maße echte Konsensdokumente, die von allen Seiten anerkannt werden, den ökumenischen Dialog anregen können, indem sie dauerhaft Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Die Tragik eines solchen Textes wie der Leuenberger Konkordie besteht andererseits darin, dass er kaum die Chance hat, einem breiten Publikum bekannt zu werden, selbst wenn man sich darum bemüht und ihn, wie bei der Konkordie geschehen, im evangelischen Gesangbuch abdruckt. Es ist ein Fachwissen erforderlich, um sein theologisches Anliegen zu verstehen. Der Text entbehrt jeder Poetik, die den Leser verlocken würde, sich auf die Spur der anderen Konfession zu begeben. Zudem präsentiert der Text den ökumenischen Dialog zu weiten Teilen als ein Vorgehen, dass die Prüfung von Glaubensaussagen in eine kirchenrechtliche Logik integriert. Das ist eine Haltung, die nicht den Nerv der ökumenischen Basisarbeit trifft, wo man eher auf der Suche nach Grenzüberschreitungen und einer Ermutigung ist, die helfen, den Dialog voranzutreiben. Der Vorstellung, die Ricœur vom ökumenischen Dialog entwickelt, korrespondiert die Konkordie also nur in der Weise, dass sie als notwendiger Lehrkonsens bereit steht, den der Dialog der Glaubenden dann erst wieder mit Leben füllen muss. Der wahrscheinlichste Gebrauch, der von einem solchen Text gemacht wird, ist, dass man ihn als Ausdruck geltenden Rechts konsultiert. Die Arbeit an ökumenischen Visionen aber, bzw. die praktische Vermittlung zwischen Glaubenden verschiedener Konfessionen, wird an anderer Stelle geschehen müssen.

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Zusammenfassung

Das Anliegen der Groupe des Dombes besteht darin, den Kirchen Denkanstöße zu geben, die aus der Perspektive einer nichtmandatierten Gruppe kommen und gleichzeitig innovativ, wissenschaftlich begründet und in der Praxis handhabbar sein sollen. Zu diesem Zweck schöpft die Gruppe in ihren Dokumenten die sprachlichen Möglichkeiten ökumenischer Dokumente in vollem Umfang aus, wodurch viele ihrer Texte eine besondere Vehemenz und Eingängigkeit besitzen. Am Beispiel des letzten Dokuments Vous donc, priez ainsi haben wir dieses Vorgehen dargestellt. Der Blick auf die verwendeten Textsorten ergab, dass wissenschaftlich-theologische und poetische Rede nebeneinander verwendet werden. Dies unterstreicht das Profil der Gruppe und den Eindruck, dass der ökumenische Dialog von ihnen nicht auf der kirchenrechtlichen oder der wissenschaftlichen Ebene belassen wird, sondern dass man ihn als ein Lebensthema begreift. Mit der Integration von Gebetstexten partizipiert man an der Fähigkeit poetischer Rede, die ökumenischen Anliegen als existenzielle Themen erfahrbar zu machen, die vor allem eine spirituelle Dimension besitzen und mit einer sozialen Hoffnungsperspektive verknüpft sind. Dieser Textgebrauch veranschaulicht nicht nur Ricœurs poetische Texthermeneutik, er nimmt auch noch ein weiteres Anliegen auf, das in Ricœurs ökumenischem Ansatz zentral war. Denn die Texte der Groupe des Dombes werden auch benutzt, um die eigene konfessionelle Tradition und die des Anderen nachzuerzählen und dadurch verständlich zu machen. Dies korrespondiert durchaus auch dem mehrstufigen Identitätsmodell der Dombisten. Die Darstellung der eigenen geschichtlichen Entwicklung stellt nämlich auch eine Illustration der verschiedenen Anteile in der Identität einer Glaubensgemeinschaft dar und macht den begonnenen Weg der Umkehr hin zu einer wachsenden christlichen Identität sichtbar. Argumentative Anteile wiederum geben Distanz zu dieser Erzählung und appellieren an den Gestaltungswillen der Leser. Zu Beginn unserer Betrachtung über die Communaut¦ de Taiz¦ zeigten wir, dass diese ein unverhohlenes Misstrauen gegenüber offiziellen ökumenischen Dokumenten hegt. Man vertritt die Ansicht, dass diese zu oft reine Absichtserklärungen ohne Folgen bleiben. Bei der Frage, ob die Communaut¦ dann ihrerseits vollkommen darauf verzichtet, eine Außenwirkung durch Texte zu erzielen, konnten wir zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Vielmehr begegnet einem im Umfeld der Communaut¦ eine Vielzahl von Texten, die durch ihren poetischen Charakter die Botschaft der Gemeinschaft verbreiten helfen. Die wichtigsten Texte sind in diesem Zusammenhang Gebete und Lieder, welche auf andere Art als offizielle Konsensdokumente Erfahrungsräume öffnen und die verheißene ökumenische Wirklichkeit vergegenwärtigen. Noch bemerkenswerter aber ist der Überschritt von der Texthermeneutik zur Handlungshermeneutik im Selbstverständnis der Gemeinschaft. Dabei ist eine große Nähe zu Ricœurs Denken auffällig. Im Sinne dieser Verlagerung sind es nicht nur die

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Beispiele aus der Praxis der ökumenischen Rezeption

Texte, die eine Poetizität entfalten, sondern die Gemeinschaft selbst, deren friedliches Zusammenleben zeigt, wie ein Umgang der Konfessionen untereinander aussehen könnte. Durch ihr Zusammenleben entfaltet die Gemeinschaft eine Utopie der Brüderlichkeit, die nicht als Text, sondern als Geste gegenüber der Welt wirkt. Einer gewagten Interpretation folgend, die wir auf Ricœur selbst zurückführten, kann man der Existenz der Gemeinschaft einen Werkcharakter zuschreiben, insofern sie sich Außenstehenden als Erfahrungsraum anbietet, ohne eine abgeschlossene Interpretation ihrer eigenen Existenz zu liefern. Sie fordert im Gegenteil ihre Besucher dazu auf, aus dem Erlebten und Vernommenen selbst Schlüsse zu ziehen. Die Art, wie die Mitglieder aller großen Konfessionen in der Communaut¦ zusammenleben, unterscheidet sich deutlich von der gewohnten Praxis der institutionalisierten Kirchen. Obwohl sie selbst es als das Zeichen einer kommenden »großen Kirche« versteht, bleibt diese Art der Gemeinschaft aber für weitere Deutungen offen. Als Fazit können wir feststellen, dass im ökumenischen Diskurs etliche Textsorten verwandt werden, deren Funktionalität kontextuell bedingt ist. Eine gewisse Korrektur am Modell Ricœurs wird hier durch den Prozess der Leuenberger Konkordie geleistet. Dieser macht die Wirksamkeit institutionalisierter Konsensdokumente deutlich, die Ricœur zwar nicht bestritten hat, die in seinem Trienter Vortrag aber hinter dem Gespräch der Glaubenden deutlich zurückstand. Unsere Untersuchung der französischen Kirchenunionen zeigte die Bedeutung eines offiziellen Textes für die Eröffnung ökumenischer Räume, die dann durch Initiativen in der Praxis besetzt werden können. Auch die in Innerfrankreich neu gegründete Êglise Unie wird noch eine Zeit des Zusammenwachsens benötigen. Die Konkordie hat aber schon vor geraumer Zeit die theologische Grundlage geschaffen, die diesen Prozess trägt. Eine andere Entwicklung können wir in der Praxis der Interkommunion entdecken, die in Taiz¦ lange Zeit sehr gewünscht wurde. Die Groupe des Dombes (und außer ihr viele andere Theologen beider Konfessionen) haben die theologischen Argumente dafür geliefert, dass diese Praxis heute aus guten Gründen möglich ist. Doch ist allen diesen Texten eine offizielle Anerkennung versagt geblieben, so dass das gemeinsame Abendmahl bis heute konfliktbehaftet ist und nur in einer Weise praktizierbar ist, die dem Charakter dieses Sakraments Abbruch tut. Es ist unschwer auszumalen, welchen Enthusiasmus eine offizielle Anerkennung in Form eines institutionalisierten Textes auslösen wurde, der bislang noch verweigert wird. Die poetische Kraft von visionären Texten, Gebeten und Gesten, für die wir im Textgebrauch der Groupe des Dombes und der Communaut¦ de Taiz¦ viele Beispiele fanden, steht hier den offiziellen Kirchenvertretern, die ihre Anerkennung verweigern, zwar nicht hilflos, aber dennoch in einer bedauerlichen Diskursisolierung gegenüber.

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Zusammenfassung und Ausblick

Am Ende unsere Untersuchung über den Beitrag von Paul Ricœur zum ökumenischen Dialog im Spannungsfeld von Rezeption und Anerkennung wollen wir nun unsere wichtigsten Thesen zusammenfassen und davon ausgehend einige Impulse und Fragestellungen formulieren. In Kapitel 2 legten wir dar, dass die ökumenische Forschung einen differenzierten Begriff von ökumenischer Rezeption entwickelt hat. Ökumenische Rezeption ist demnach ein Vorgang auf kirchenrechtlicher und existenzieller Ebene. Da ökumenische Rezeption sich zwischen bekenntnisverschiedenen Kirchen vollzieht, liegt ihre Spezifik in der Anerkennung von Alterität. Allerdings hat sich dieser differenzierte Zugang zum Rezeptionsphänomen in unserer anschließenden Sichtung vorliegender Rezeptionsforschungen nicht bestätigt: Bei der Deutung und Beurteilung konkreter Rezeptionsvorgänge dominiert stattdessen nach wie vor das kirchenrechtliche Verständnis, welches die Ratifikation eines Dokuments auf Leitungsebene und nicht etwa die Aushandlung von Alterität zum Maßstab für Gelingen oder Scheitern von ökumenischer Rezeption macht. Wir zeigten, inwiefern sich diese Sicht für den Umgang mit realen ökumenischen Prozessen als unzureichend erweist und stellten fest, dass es offenbar an einem Modell fehlt, das den Zusammenhang von Textrezeption, interpersoneller Anerkennung und Identitätswandel sichtbar macht. Ohne ein solches vertieftes Verständnis wird die Erforschung der ökumenischen Rezeption zwischen Glaubensgemeinschaften im Spannungsfeld von Identität und Alterität sowie von formellen und informellen Prozessen nur unzureichend in Angriff genommen. Kapitel 3 diente deshalb der Rekonstruktion eines komplexeren hermeneutischen Modells aus dem Werk von Paul Ricœur. In Kapitel 4 verfolgten wir dann eine doppelte Absicht im Duktus unserer Untersuchung: Zum einen ging es darum, Ricœurs Hermeneutik ökumenischer Vorgänge zu überprüfen und festzustellen, ob es für seine Vision Anhaltspunkte in der Praxis gibt. Zum anderen haben wir vorgeführt, dass es sich bei Ricœurs hermeneutischem Modell tatsächlich um ein sinnvolles methodisches Werkzeug für die Erfor-

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schung konkreter ökumenischer Prozesse handelt. Es bringt neben einer klassischen kirchenrechtlichen Perspektive auf den Rezeptionsverlauf auch Aspekte der informellen ökumenischen Aushandlung zum Vorschein und gibt so der Weiterentwicklung konfessioneller Identitäten ein Gesicht. Damit haben wir gezeigt, dass auch auf der Ebene der Rezeptionsforschung die Möglichkeit besteht, dem Umstand der Alterität Rechnung zu tragen. Ricœur zufolge geschieht das für die ökumenische Rezeption Entscheidende im zwischenmenschlichen Kontakt der Glaubenden. Hier kann »interkonfessionelle Gastfreundschaft« in Form von gegenseitiger Übersetzung und Vergebung gelebt werden. Ricœurs Hermeneutik intersubjektiver Prozesse zeigt, dass sich das gegenseitige Verstehen immer unter den Bedingungen der unhintergehbaren Alterität der Dialogpartner vollzieht. Eine vollständige Rezeption der Position des Anderen ist in diesem Szenario unmöglich. Demzufolge ist die gegenseitige Anerkennung durch keine Rezeption überbietbar. Für die ökumenische Theologie liefert diese These Ricœurs einen Anlass zur Reflexion über ihren Rezeptionsbegriff. In welche Richtung diese Reflexion zu treiben wäre, haben wir gezeigt, indem wird darlegten, dass der Begriff der Anerkennung bei Ricœur den Begriff der ökumenischen Rezeption ersetzt, sofern die Ebene der Glaubenden als die entscheidende angenommen wird. Doch selbst wenn man diesen Schritt nicht mit vollziehen möchte und weiterhin am Rezeptionsbegriff festhält, um das Geschehen auf der Ebene von mandatierten Dialogkommissionen bzw. Kirchenleitungen im Umgang mit Dokumenten zu beschreiben, zeigt unsere Untersuchung, dass es nicht angebracht ist, den Begriff einseitig zu verwenden. Gemäß der noch immer für gültig erachteten Definition von Yves Congar beschreibt der Begriff Rezeption einen »Prozess, worin eine kirchliche Körperschaft sich eine Bestimmung, die sie sich nicht selbst gegeben hat, zu eigen macht, indem sie in der promulgierten Maßnahme eine Regel anerkennt, die ihrem Leben entspricht.«1 Diese Aussage benennt die Kirche als Rezipientin, nicht nur eine Kirchenleitung wohlgemerkt. Selbstverständlich kann damit gerade aus evangelischer Sicht die Kirche nur als die Summe der Interpretationsleistungen aller ihrer Mitglieder angesichts des empfangenen Evangeliums gemeint sein, was der Einschränkung des Rezeptionsbegriffs auf ein kirchenleitendes Geschehen widerspricht. Gilt dieses Verständnis dann aber nur für den innerevangelischen Gebrauch und nicht auch für die ökumenische Situation? Bleibt die ganze Rede von der wechselseitigen Anerkennung müßig, solange sie inkompatibel ist mit dem Einheitsmodell der römisch-katholischen Kirche. Diese räumt der kirchlichen Hierarchie bekanntlich eine Entscheidungshoheit ein und geht in ihrem ökumenischen Einheitsmodell zudem davon aus, dass die Kirche Jesu Christi in 1 Congar, Rezeption, 501.

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ihrer ganzen Fülle nur in der römisch-katholischen Kirche besteht, während alle übrigen Gemeinschaften ihr gegenüber ein geistliches Defizit aufweisen. Wie kann dann die Rede von der Anerkennung des Anderen als legitimem Ausdruck derselben Offenbarung in diesem Zusammenhang Bestand haben? Ist das hier im Anschluss an Ricœur vertretene Modell mit seiner Betonung der informellen Ebene und der notwendigen Aktivität aller Glaubenden dann nicht vollkommen aussichtslos? Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass man sich an dieser Stelle vor Pauschalisierungen hüten sollte. Denn tatsächlich gibt es innerhalb der römischkatholischen Kirche – genau wie anderswo – eine Vielzahl theologischer Strömungen, von denen manche die mit mehr oder weniger Zustimmung ihrer Kirchenleitungen vollzogenen ökumenischen Basisbewegungen und theologischen Fortschritte sehr genau reflektieren. Wir nennen nur zwei Beispiele aus den letzten Jahren: die Ökumene des Lebens und das Projekt des Receptive Ecumenism. Beide zeigen, dass es falsch wäre, die prinzipielle Unvereinbarkeit der katholischen Haltung und der Position Ricœurs zu behaupten. Der Gedanke der Ökumene des Lebens wird seit etwa zehn Jahren von Walter Kardinal Kasper, dem ehemaligen Präsidenten des Einheitsrates vertreten.2 Bei dem Modell soll es sich um eine ökumenische Strategie für die »Zwischenzeit« handeln, d. h. für die aktuelle Periode, in der trotz zahlreicher theologischer Übereinstimmungen zwischen den Kirchen noch keine umfassende Einheit in Amt und Sakramenten hergestellt wurde.3 Anders als andere will Kasper aber nicht durch die Intensivierung der Rezeption offizieller Dialogergebnisse Fortschritte erzielen. Seiner Meinung nach soll die Zeit vielmehr genutzt werden, um unter den Glaubenden der verschiedenen Kirchen informelle Kontakte, Freundschaften, Gemeindepartnerschaften und gemeinsame Projekte in den Bereichen von Zeugnis, Liturgie und Diakonie zu realisieren. Die Ökumene des Lebens meint in diesem Zusammenhang das neue Leben all derjenigen, die auf den Namen Jesu Christi getauft sind. Wir haben es also nach Kaspers Verständnis mit einer Ökumene aller Getauften zu tun, deren Fähigkeit und Initiative in ökumenischen Prozessen anerkannt und begrüßt werden. Kaspers Modell beruht auf der Überzeugung, dass die eine »Wahrheit des Evangeliums in verschiedenen Kirchen unterschiedlich stark ausgeprägt [ist] und so ein wechselseitiger Lern- und Bereicherungsprozess möglich«4 und unverzichtbar ist, damit die Einheit der Kirchen langfristig realisiert wird. Obwohl die Zuordnung von Wahrheit und Einheit an dieser Stelle gewiss noch diskutierbar ist, stellt

2 Kasper, Ökumene. 3 Kästle, Ökumene. 4 Ebd., 321.

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andererseits die Betonung informeller ökumenischer Kontakte eine Nähe zu dem von uns vorgeschlagenen Modell her. Von dem Ansatz, dass die Wahrheit des Evangeliums in den Kirchen komplementär verstanden wird und sich deshalb ein Dialog zur gegenseitigen Bereicherung nahe legt, geht auch das Konzept des Receptive Ecumenism aus.5 Während der Ansatz der Ökumene des Lebens vor allem im deutschsprachigen Raum wahrgenommen wurde und damit vor dem Hintergrund der Beziehungen zwischen der römisch-katholischen und den evangelischen Kirchen, wurde das Konzept des Receptive Ecumenism in Großbritannien entwickelt und nimmt eher die Beziehungen der römisch-katholischen zur anglikanischen Kirche in den Blick. Unter der Federführung der katholischen Fakultät von Durham beschäftigt man sich in verschiedenen Einzelprojekten mit der Frage, welche geistlichen Qualitäten der anderen Gemeinschaften es im Einzelnen wert sind, entdeckt und angeeignet zu werden.6 Der Fokus liegt bei diesem Vorgehen also weniger auf dem bilateralen Dialog als vielmehr auf der Selbstreflexion und der kritischen Überprüfung der eigenen Position – sogar bzw. gerade auf ihre Defizite hin. Übertragen auf das Verhältnis der Kirchen ist die Frage nicht, wie der Andere mir ähnlicher gemacht werden kann, sondern wie ich dem konfessionell Anderen, ohne mir deshalb untreu zu werden, ähnlicher werden und so etwas für die Versöhnung tun könnte.7 Den Anderen anerkennen und schätzenswerte Elemente seiner Theologie in der eigenen Tradition willkommen zu heißen, ist es, was in diesem Konzept als »rezeptiv« bezeichnet wird. Zu diesem Zweck werden neben hermeneutisch-theologischen auch psychologische Aspekte untersucht, die die Anerkennung des Anderen unterlaufen.8 Den eigenen Identitätsdiskurs in dieser Weise unter psychosozialen Aspekten anzufragen und so die eigene Position in Frage stellen zu lassen, deutet darauf hin, dass durchaus auch auf katholischer Seite die Bereitschaft zur Selbstreflexion und zum Identitätswandel bis in den theologischen und den kirchenleitenden Diskurs hinein wächst. Die Tatsache, dass sowohl die Vertreter der Ökumene des Lebens als auch des Receptive Ecumenism ihre theologischen Überlegungen an praktische Erfahrungen rückbinden und die jeweiligen Lernkonzepte als ergebnisoffen betrachten, zeigt, dass die zwischenmenschliche Anerkennung unter den Glaubenden ernst genommen wird. Es werden deutliche Parallelen zum Modell von Paul Ricœur sichtbar. Einschränkend muss sicherlich gesagt werden, dass im Einzelfall genau zu prüfen ist, wie auf die zwei genannten Modelle Bezug genommen wird. Gerade 5 6 7 8

Haar, Receptive Ecumenism. Murray, Badini Confalonieri, Call. Murray, Receptive Ecumenism, 32. Smyth, Jerusalem.

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das Modell der Ökumene des Lebens hat mittlerweile eine Bekanntheit erreicht, in der sich sowohl progressive als auch konservativere Stimmen darauf berufen. In den Diskursen der Letzteren scheint das Modell dann eher als eine Art Feigenblatt aufzutauchen, wobei man die Notwendigkeit der informellen Ökumene zwar behauptet, aber nicht bereit ist, an der hierarchischen Entscheidungsstruktur kirchlicher Institutionen zu rütteln. Um einen solchen Umgang zu vermeiden, der das herausfordernde Potenzial der ursprünglichen Idee domestizieren möchte, muss Klarheit darüber gegeben werden, auf welchem Wege die Ergebnisse der Ökumene des Lebens gegenüber der institutionalisierten Ökumene vermittelt werden können. Römisch-katholische Theologen haben in der Vergangenheit versucht, mit dem Konzept der kommunikativen Theologie einen entsprechenden Ansatz vorzuschlagen.9 Die Alterität ist bei Ricœur nicht nur die Bedingung der ökumenischen Rezeption, sondern auch ihr Gegenstand. Aber nicht Pflicht, sondern Dankbarkeit ist das Motiv der Anerkennung des Anderen. Der Andere wird als Zeuge desselben Glaubensgrundes anerkannt, der auch den eigenen Glaubenszirkel gestiftet hat. Sein Zeugnis bringt Facetten dieses Glaubensgrundes zum Vorschein, die in der eigenen Tradition unterbelichtet sind. Wenn diese Aspekte dankbar angenommen werden, lässt sich die eigene Identität unter dem Eindruck des anderen Zeugnisses fortschreiben. Weil das Fundamentale des Glaubens von keinem ökumenischen Partner erschöpfend besessen wird, sondern im Dialog zwischen den Partnern zirkuliert, kann der Andere, unter dessen Eindruck das eigene Zeugnis aufs Neue formuliert wird, zu einer Quelle der Offenbarung werden. Ricœurs Betonung des intensiven Austauschs über konfessionelle »Sinnkonstellationen«, der aus seiner Sicht zum versöhnenden Gespräch wird, in dem der fundamentale Grund des Glaubens im Zeugnis des Anderen aufs Neue entdeckt werden kann, zeigt, dass sein Begriff der Anerkennung dem der Freundschaft sehr nahe ist. Denn nicht die erfahrene »politische Würdigung« eines jeden – so hilfreich diese in einem institutionellen Rahmen auch sein mag –, sondern die Dankbarkeit für die fremde Perspektive des anderen Partners, die im Dialog vertraut wurde und in der eigenen Weltsicht keine Bedrohung mehr darstellt, ist das Motiv des Dialoges. Es ist freilich möglich, den Begriff der Anerkennung in der komplexen Vielfalt seiner Bedeutungen zu untersuchen und dessen Aspekte anders zu ordnen, als Ricœur es tat. Im Rahmen der Forschungen zum Begriff der Anerkennung legt Ricœur ein Modell vor, das in der interpersonalen Perspektive verwurzelt ist und

9 Hilberath, Nitsche, Communio.

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nur durch diese hindurch die Anerkennung auf der Ebene des Politischen denkbar macht.10 Ricœurs Position läuft damit sichtbar auf ein Konzept von Freundschaft hinaus, wie er es auf den letzten Seiten seines Buches Wege der Anerkennung dargelegt hat. In den Termini von konfessioneller Gastfreundschaft und Brüderlichkeit findet dieses Anerkennungsthema dann auch in Ricœurs ökumenischer Theorie seinen Niederschlag. In unserer Arbeit untersuchten wir, ob die ökumenischen Beispiele aus Frankreich solche Beziehungsformen der (Gast-)Freundschaft aufweisen und wie diese theologisch reflektiert werden. Die Groupe des Dombes erwies sich als sprechendes Beispiel. Hier zeigte sich, dass das katholisch-protestantische Gespräch dieser Gruppe, deren Veröffentlichungen sich vorrangig an die institutionalisierte Kirche richten, getragen wird von den brüderlichen Beziehungen ihrer Mitglieder. Zudem wurde anhand der Communaut¦ de Taiz¦ deutlich, dass das Programm einer postkonfessionellen Ökumene stellenweise ganz in dieser Idee der Brüderlichkeit aufgeht. Wie wir feststellten, werden in diesen Dialogsituationen konfessionelle Unterschiede dennoch nicht ignoriert, sondern in einem anspruchsvollen Dialog- und Versöhnungsmodell verhandelt. So bestätigt die Praxis, was wir als Ricœurs Modell der Gastfreundschaft rekonstruiert hatten. Obwohl die theologische Bedeutung von Freundschaften von der ökumenischen Theologie selten im Einzelnen behandelt wird, lassen sich gewiss noch viele weitere Beispiele finden. Zeugnisse wie das folgende der katholischen Ökumenikerin Margaret O’Gara lassen ahnen, dass es für die ökumenische Hermeneutik ein wichtiger Aspekt sein könnte, das Thema der Freundschaft systematisch, d. h. über ein bloß biographisches Interesse hinaus zu untersuchen: Ecumenical friendships provide a particulary intense experience of both the desire for unity and the foretaste of unity achieved. Perhaps this is the reason they are so effective in nurturing ecumenical perseverance. Like the disciples on the road to Emmaus, ecumenical friends walk along the road together with Christ as he opens the meaning of the Scriptures to them. Together they are amazed at what he is saying; but they do not recognise him yet for who he is. Sometimes, though, at the breaking of the bread in the 10 Laitinen, Bedeutungsspektrum. Laitinen regt an, im Fall der Anerkennung zwischen der »adäquaten Würdigung« und der »Gegenseitigkeit« zu unterscheiden. Während »adäquate Würdigung« auf die Praxis verweist, Menschen oder Dinge aufgrund von normativen Eigenschaften in einem bestimmten Setting als legitim anzusehen, bringt der zweite Begriff zum Ausdruck, dass der Prozess der Anerkennung die Selbst- und Fremdbeziehung von Partnern meint, die darin existenziell betroffen werden und sowohl als Gebende, als auch als Nehmende auftauchen. Letzterer wäre Ricœurs Sicht zuzuordnen. Vgl. Saarinen, Anerkennungstheorien.

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other’s home even when they cannot yet partake, their eyes are opened and they recognise again: we indeed have a common Lord, ecumenical friends at such moments also recognise each other as his disciples and are again sustained for the long journey ahead.11

Die Erfahrung der Freundschaft, die hier mit der Erfahrung der ökumenischen Einheit, d. h. mit der gemeinsamen Erfahrung von Jesus Christus, der diese Einheit stiftet, zusammenfällt, ergibt sich aus dem gemeinsamen Hören und Antworten und stellt eine Erfahrungsebene dar, die jenseits der Kategorisierung liegt. Hier macht sich ein Verständnis von Beziehung bemerkbar, das offensichtlich nicht an die Anerkennung von normativen Kriterien gebunden ist. Dies stellt eine interessante Parallele zur philosophischen Rede von der Freundschaft dar, die stellenweise zu ähnlichen Ergebnissen kommt und mit der die ökumenische Hermeneutik in dieser Frage möglicherweise einen Dialog antreten könnte.12 In jedem Fall zeigt sich auch an diesem Beispiel, dass es mit Ricœurs ökumenischer Hermeneutik möglich wird, bestimmte geistliche Rezeptionsphänomene als solche zu erkennen, die in früheren Forschungen schwer klassifizierbar blieben oder höchstens als »nicht-theologische Faktoren« in Erscheinung treten konnten. Ricœurs Modell lässt sich anhand der untersuchten ökumenischen Prozesse aus Frankreich im Wesentlichen plausibilisieren. Der angestrebte Weg der Rezeption verläuft darin von prophetischen Gesten bzw. der informellen Anerkennung unter den Glaubenden hin zur Institutionalisierung auf kirchenleitender Ebene. Die Möglichkeit eines Identitätswandels infolge ökumenischer Begegnungen wird von den ökumenischen Akteuren in den untersuchten Prozessen weitgehend bejaht. Allerdings kann diese Haltung unter bestimmten Umständen auch in eine Angst vor dem konfessionellen Identitätsverlust umschlagen. Anfragen ergeben sich zudem an den Gebrauch ökumenischer Dokumente. Ricœur hält Gesten und Erfahrungen für performativ wirksamer als Texte. Taiz¦ bestätigt dies. Erfolgreiche Texte wie die Leuenberger Konkordie zeigen jedoch den großen Nutzen offizieller Vereinbarungen und ihre mögliche Rückwirkung auf konkrete ökumenische Prozesse. Obwohl mit Ricœurs Hermeneutik ein ökumenisches Modell vorliegt, bei dem der Rezeptionsweg als horizontales Geschehen der Anerkennung auf der Ebene der Glaubenden beginnt und sich von da aus in vertikaler Richtung bis zur kirchlichen Leitungsebene fortsetzt, ist dieser Weg dennoch nicht als vollkom11 O’Gara, The theological significance, 131. 12 Agamben, L’amiti¦, 22 f. »Denn was ist die Freundschaft, wenn nicht eine solche Nähe, dass man sich davon weder eine Vorstellung noch ein Konzept machen kann? Jemanden als Freund anerkennen bedeutet nicht, ihn als ›etwas‹ anzuerkennen. Man kann nicht ›Freund‹ sagen, wie man sagt ›weiß‹, ›Italiener‹, ›warm‹ – die Freundschaft ist nicht der Besitz oder die Eigenschaft eines Subjekts.«

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men organisch vorstellbar. Im Trienter Vortrag und an anderer Stelle deutet sich vielmehr eine Dialektik von Ebenenunterscheidung und Ebenenüberschreitung an. Auf der einen Seite stehen dabei die Glaubenden, deren Form des ökumenischen Dialoges die zwischenmenschliche Übersetzung von Sinnkonstellationen annimmt. Auf der anderen Seite stehen repräsentative Vertreter kirchlicher Institutionen sowie mandatierte Theologen, die dogmatisch verbindliche Aussagen und Konsenstexte hervorbringen. Eine Überschreitung dieser beiden Ebenen wird möglich, wenn der informell vollzogenen Anerkennung auf der Ebene der Glaubenden die institutionelle Anerkennung als kirchenrechtlich notwendiger Schritt folgt, welcher die Kontinuität der ersten sichert. Das institutionelle Geschehen beschreibt Ricœur als Inkognito der Versöhnung, weil es die Logik und Dynamik der ersten Ebene nicht oder nur mit großer Mühe auszudrücken versteht. Die institutionelle Ebene kann der ihr übertragenen Stellvertreterfunktion, durch die sie ihre Legitimität bezieht, nicht umfassend gerecht werden. Die Dialektik von horizontalen und vertikalen Autoritätsbeziehungen in Institutionen ist typisch für Ricœurs Werk, in dem dieses Problem als eine Facette des »politischen Paradoxons« auftaucht. Zweifellos unterhält die normierende dogmatische Funktion einer offiziellen ökumenischen Anerkennung auf Leitungsebene – ebenso wie auch ihr Ausbleiben! – eine Beziehung autoritativen Typs zu den informellen Aktionen der Kirchenmitglieder. Auch an dieser Stelle scheint für Ricœur zu gelten, was er an anderer Stelle betonte, nämlich: dass in der Beziehung des Befehlens oder des Regierens etwas nicht Reduzierbares vorhanden ist;[…] die Schwierigkeit, eine asymmetrische Beziehung mit einer Beziehung der Gegenseitigkeit zu verbinden. Wenn man aus Pflicht oder aufgrund eines Mandats die Machtposition in einer vertikalen Beziehung einnimmt, sucht man ohne Unterlass nach einer Legitimität, die von der horizontalen Beziehung herrührt; diese Legitimität ist erst zu einem Zeitpunkt authentisch, wenn sie es ermöglicht, die Asymmetrie vollständig verschwinden zu lassen, die mit der vertikalen, institutionellen Beziehung verknüpft ist; diese vertikale Beziehung kann nun aber nicht völlig verschwinden, da sie irreduzibel ist: Die Entscheidungsinstanz kann niemals vollkommen der idealen Repräsentation einer direkten Demokratie entsprechen, in der alle und jeder Einzelne tatsächlich an jeder Entscheidungsfindung teilnehmen würde.13

Der Trienter Vortrag signalisiert ebenfalls die Begrenztheit der offiziellen ökumenischen Aussagen und würdigt ihnen gegenüber eingehend die Möglichkeiten der horizontalen, d. h. der zwischenmenschlichen Ebene. Für das oben geschilderte Problem aber kann Ricœur auch hier keine prinzipielle, sondern nur eine situative, pragmatische Lösung anbieten. Sie deutet sich am Ende des Trienter Vortrags an, wo er beiden Ebenen empfiehlt, ihre jeweiligen Aufgaben 13 Ricœur, Azouvi, Ehni, Kritik, 61 f.

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verantwortlich wahrzunehmen. Es zeigt sich dadurch einmal mehr Ricœurs Zutrauen in das Funktionieren dieser innerinstitutionellen Dialektik. Die repräsentativen Kirchenvertreter, so Ricœur, mögen damit fortfahren, nach dem theologischen Konsens zu suchen und diesen zu erweitern. Demgegenüber mögen die Glaubenden den Dialog untereinander suchen und intensivieren. Der einen Seite scheint dabei das Bewusstsein für die Paradigmen von Übersetzung und Vergebung, der anderen das für die Notwendigkeit brüderlicher Gesten besonders ans Herz gelegt zu werden. Ricœurs Texttheorie führt vor, wie sehr Texte in der Lage sind, Sinnangebote zu unterbreiten, die infolge imaginativen Ausprobierens die Weltsicht ihrer Leser strukturieren oder verändern können. In unserer Untersuchung stellten wir die Frage, ob dies nicht auch für ökumenische Dokumente gelten sollte. Gewiss ist der Stil der meisten Konsensdokumente wenig poetisch, wie auch Ricœur bemängelte. Doch es gibt andere Texte (wie etwa die jüngste Veröffentlichung der Groupe des Dombes), denen es gelingt, ihre Leser durch den Einsatz verschiedener sprachlicher Formen nicht nur auf rationaler, sondern auch auf existenzieller Ebene anzusprechen. Dieses Vorgehen bietet sich zur Fortsetzung an. Texte, welche die Positionalität ihrer Verfasser offen legen, Unterschiede klar benennen und dennoch die Sehnsucht nach Überwindung bestehender Kirchentrennungen zum Ausdruck bringen, könnten leichter rezipierbar, glaubwürdiger und möglicherweise in der Lage sein, einen größeren Rezipientenkreis zu erreichen. Mit dieser These im Anschluss an Ricoeurs Texttheorie haben wir einen Vorschlag formuliert, um das Verhältnis von offiziellen Dialogen und basisökumenischen Initiativen im Sinne einer »guten Gegenseitigkeit« durchlässiger zu gestalten. Auf die performative Erfahrbarkeit der Einheitssuche durch den Einsatz anderer Textsorten würde eine solche Neugestaltung hinauslaufen. Gewiss sollte es nicht so sein, dass die Formulierungen theologischer Konsense, die nach Klarheit in der Sprache verlangen, auf diese Weise verwässert werden. Aber unsere Analyse von Texten der Groupe des Dombes hat gezeigt, dass es möglich ist, ökumenische Texte, die eben niemals nur eine kirchenrechtliche oder dogmatische Funktion haben, sondern auch Instrumente der Vermittlung des ökumenischen Gedankens sind, so zu gestalten, dass neben der Stringenz der theologischen Argumentation in dogmatischen Fragen auch der Gedanke der Einheit als Verheißung für die Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht wird. Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass die Rezeption im engeren Sinn, d. h. die Annahme und Ratifikation ökumenischer Konsense oft nur unter großen Schwierigkeiten vollzogen wird. Daneben zeigen ökumenische Vorgänge wie etwa das ungebrochene Interesse vieler Jugendlicher an der Communaut¦ de Taiz¦, dass es eher die Bezeugung der Erfahrung mit dem Wort Gottes und seiner verwandelnden Kraft in Gemeinschaften ist, die von ökumenisch Interessierten

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als Fortschritte wahrgenommen werden.14 Es wäre daher wichtig, dass ökumenische Konsense in Form von Dialogergebnissen nicht als etwas erscheinen, das außerhalb einer solchen gemeinschaftlichen Glaubensexistenz entsteht und dann in diese hinein erst wieder übersetzt werden muss. Um glaubwürdig zu sein und verstanden zu werden, scheint es eine gute Idee zu sein, wenn ökumenische Dokumente eine stärkere Positionalität in Bezug auf ihre Entstehungssituation an den Tag legen und diese in einer Vielfalt sprachlicher Formen ausdrücken. Das würde sie als Zeugnisse eines andauernden Wortgeschehens erkennbar machen und den möglichen Lesern, auch wenn es sich nicht um theologische Experten handelt, ein breiteres Spektrum an existenziellen Zugängen erlauben. Eventuell sind auch nicht nur geschriebene Texte in der Lage, dem ökumenischen Zeugnisgeben zu dienen. Die sich verschiedener Medien bedienende Kampagne rund um den Unionsprozess, der in der Gründung der Êglise Protestante Unie de France mündete, welche in Frankreich das sichtbare Resultat vieler formaler und informeller Anerkennungsprozesse ist, kann hier als Beispiel dienen. Ricœurs ökumenische Hermeneutik stellt auch einen wichtigen Beitrag zum protestantischen Einheitsmodell der »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« dar. Im Einklang damit betont Ricœur die Unterschiedlichkeit von Glaubenszeugnissen, die sich in ebenso verschiedenen Bekenntnissen und kirchlichen Gestalten niederschlagen. Aus seiner Theorie ergibt sich aber nicht die Konsequenz, dass diese Unterschiede profiliert werden müssten. Für ihn ist nicht die Festschreibung der konfessionellen Verschiedenheit das endgültige Ziel der ökumenischen Bewegung. Stattdessen hebt er auf die gegenseitige Anerkennung aller Glaubenden als Interpretationssubjekte ab, die sich in einer »geregelten Pluralität« gegenüber ihrem gemeinsamen Offenbarungsgrund befinden. Die »Einheit in Verschiedenheit« zu behaupten und unter den Vorzeichen der Profilökumene festzuschreiben, stellt eine ideologische Setzung dar, die droht, in eine Einheitsdoktrin oder in eine Rekonfessionalisierung zu verfallen. Ricœurs Hermeneutik macht deutlich, dass der Fokus demgegenüber auf der fortgesetzten Versöhnung liegen muss sowie auf der Erkundung von Möglichkeiten, wie diese Gestalt annehmen könnte. Es hat sich freilich auch gezeigt, dass mit Ricœurs Modell die Einheitsvorstellung einer institutionellen oder ideologischen Fusion der konfessionellen Profile unmöglich zu vereinbaren ist. Der Idee der Einheit, gerade wenn sie im kirchlichen Kontext geäußert wird, steht Ricoeur prinzipiell äußerst kritisch 14 Diese Beobachtung trifft sich mit Überlegungen der Praktischen Theologie, die bestätigen, dass es weniger theologische Erklärungen, als vielmehr Zeugnisse der Erfahrung mit Gott sind, die im Vorgang der Evangelisierung und der christlichen Verkündigung als überzeugend und heilsam empfunden werden. Vgl. Parmentier, Theologie, 316 ff.

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gegenüber. Das zeigt sich sowohl an seiner Kritik an der Festlegung allgemeingültiger »geoffenbarter Wahrheiten«15 durch das kirchliche Lehramt als auch schon in früheren Äußerungen zum Thema »Wahrheit und Lüge«.16 Andererseits plädiert er aber auch nicht dafür, bei der – nicht zu bestreitenden – Feststellung der Verschiedenheit und der konfessionellen Identitätsunterschiede stehen zu bleiben. Sein Anliegen besteht darin, die Unterschiede in die ökumenische Einheit zu integrieren. Er plädiert für die wechselseitige Gastfreundschaft, d. h. für ein Verhältnis, in dem die Asymmetrie der Dialogpartner gewahrt wird, in der aber danach gesucht wird, Situationen der Symmetrie herzustellen und zwar durch gegenseitiges Verstehen im Zuge von Übersetzungsprozessen bzw. durch Gesten der Brüderlichkeit, die an eine andere, die Unterschiede überschreitende Logik appellieren. Die »geregelte Pluralität« der dogmatischen Aussagen zu akzeptieren bedeutet, darauf zu verzichten, im ökumenischen Dialog danach zu suchen, diese Vielfalt durch eine weitere, umfassendere Aussage unter Kontrolle bringen zu wollen, die der adäquate Ausdruck aller vorhergehenden wäre. Vielmehr empfiehlt Ricœur, Vertrauen und gegenseitigen Respekt dadurch zu erlangen, dass versucht wird, die eigenen wie auch die »Sinnkonstellationen« der ökumenischen Partner zu übersetzen, zu verstehen und wertschätzen zu lernen – eventuell sogar als Quelle der Offenbarung. Auf der im Dialog gegenseitig gewährten »interkonfessionellen Gastfreundschaft« beruhen schließlich die Dankbarkeit für die wechselseitig erfahrene Anerkennung und die Befriedung der interkonfessionellen Situation. Was ist es schließlich, dass die heutige Ökumenekultur Inspirierendes aus Ricœurs Beitrag zum ökumenischen Dialog entnehmen kann? Aus unserer Sicht stehen zwei Einsichten im Vordergrund, die beide die Deutung von jenen ökumenischen Vorgängen betreffen, die wir im Lauf unserer Untersuchung als »informell«, »basisökumenisch«, »zwischenmenschlich« oder »horizontal« bezeichnet haben. Eine erste Einsicht betrifft deren Deutung aus der Sicht von Theologen und Kirchenleitungen: Entgegen dem häufig zu hörenden Lamento, die ökumenische Bewegung befände sich in einer Eiszeit und reiche nicht mehr an den Enthusiasmus der 1960er und 70er Jahre heran, lässt sich auch in der Gegenwart eine große Zahl ökumenischer Initiativen beobachten. Neben nicht zu leugnenden Fortschritten 15 Siehe Kap. 3.4.6. 16 Ricœur, Wahrheit, 182. »Der Geist der Lüge vergiftet die Suche nach der Wahrheit mit dem Gefühl, d. h. mit seinem Verlangen nach Einheit; er ist der Sündenfall im Übergang vom Totalen zum Totalitären. Dieser Übergang vollzieht sich geschichtlich immer dann, wenn eine soziologische Macht dazu neigt, alle Wahrheitskreise mehr oder weniger vollständig zusammenfassen und die Menschen der Gewalt der Einheit gefügig zu machen – und wenn sie dabei Erfolg hat. Diese soziologische Macht hat zwei typische Erscheinungsformen: die klerikale Macht und die politische Macht.«

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auf institutioneller Ebene wie etwa der GE von 1999 sind es auch wissenschaftlich-theologische Diskurse und Basisbewegungen, die sich nach wie vor für eine Überwindung von konfessionellen Grenzen einsetzen. Letztere zögern nicht, der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass die Einheit der Kirchen sich möglichst bald auch sichtbarer, z. B. in Form des gemeinsamen Abendmahls von katholischen und evangelischen Christen, ausdrücken möge. Vielerorts, z. B. in den neuen postkonfessionellen Bewegungen, wird diese Einheit freilich einfach schon als Tatsache gelebt. Dem steht auf institutioneller Seite eine relative Reserviertheit gegenüber. Gerade in der Frage des gemeinsamen Abendmahls, die in dem eingangs geschilderten Ereignis von 1968 auch der Ausgangspunkt unserer Untersuchung war, scheint ein Einlenken der römisch-katholischen Kirche so bald noch immer nicht absehbar zu sein. Dieser Umstand ist trotz der zahlreichen basisökumenischen Initiativen nicht bedeutungslos. In unserer Untersuchung zeigten wir an mehreren Stellen, etwa anhand der Frage des Abendmahls in Taiz¦ aber auch hinsichtlich der Bedeutung der Leuenberger Konkordie für die französischen Kirchenunionen, dass die institutionelle Ebene für die Ökumene nicht verzichtbar und auch offizielle Erklärungen nicht unwichtig sind. Die offizielle Anerkennung und Erklärung ökumenischer Veränderungen ist in der Lage, neue ökumenische Erfahrungsräume zu öffnen und zu schützen. Das geistliche Geschehen unter den Glaubenden, in dessen Folge interkonfessionelle Grenzen überwunden werden, hat also eine institutionelle Anerkennung nötig. Aber genau an dieser Stelle werden Defizite spürbar. Es gibt dabei ein Argument, welches häufig seitens der Kirchenleitungen vorgebracht wird, um zu begründen, weshalb man dem Drängen der Basis nach einer offiziellen Anerkennung nicht nachgeben kann. Es besagt sinngemäß, dass einer größeren institutionellen Einheit eine theologische Beschäftigung vorausgehen müsse. Das Geschehen an der Basis, so meint man, habe demgegenüber nur politische oder kontextuelle Ursachen. Man wolle dort aufgrund freundschaftlicher Verbindungen oder geteilter Erlebnisse ›bloß‹ Gemeinschaft leben, doch das sei als Begründung der theologischen Einheit zu wenig. So wird implizit der Vorwurf geäußert, dass das, was sich zwischen den Glaubenden abspielt, nicht theologisch relevant sei.17 Die ökumenische Hermeneutik von Paul Ricœur könnte sich an dieser Stelle 17 Zollitsch, Erklärung. »Eine Überwindung der Kirchenspaltung ist gleichwohl nicht ohne eine solide theologische Verständigung möglich. Es waren ja nicht primär politische Faktoren, die die Reformatoren zu ihren Neuerungen führten und deren Fortfall die Kirchenspaltung obsolet machen würde. Es waren vor allem theologische Gründe – und erst nachrangig politische Ursachen –, die schlussendlich zur Kirchenspaltung geführt haben. Wenn die Einigung nicht auf Sand gebaut sein soll, muss das praktische Bemühen im Konkreten einhergehen mit der theologischen Vergewisserung im Grundsätzlichen.«

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als hilfreich erweisen. Denn sie gibt einerseits den ökumenisch Engagierten Ratschläge für den Dialog an die Hand, indem sie Übersetzung und Vergebung gegenüber dem konfessionell Anderen zu Kriterien der ökumenischen Begegnung macht. Andererseits könnte sie auch Kirchenleitungen helfen, aus einem Dilemma herauszufinden, welches darin besteht, nicht zu wissen, wie sich die notwendige Bewahrung der kirchlichen Tradition und die sich wandelnde ökumenische Praxis miteinander vereinbaren lassen. Ricœurs Beitrag besteht in einer Präzisierung der Perspektive auf das ökumenische Geschehen unter den Glaubenden. Seine Überlegungen zur Dialektik von Institution und Prophetie in der Kirche, aber auch sein Beitrag zur Identität von Glaubensgemeinschaften zeigen mit Bestimmtheit, dass es sich bei der situativen Neuinterpretation konfessioneller Grenzen durch die Glaubenden sehr wohl um ein theologisch relevantes Geschehen handelt. Das Handeln der Glaubenden untereinander und die Begegnung mit dem Mitmenschen, egal welcher Konfession, sind ein geistliches und ekklesiologisch unverzichtbares Geschehen, welches dem Aufbau der einen Kirche Jesu Christi dient. Mehr noch, es gibt überhaupt keine kirchliche Gemeinschaft außerhalb dieses Wortgeschehens unter den Glaubenden, welche die Wahrheit des Evangeliums in situativen Sinnkonstellationen auslegen und übermitteln. Wie also könnte ihr Handeln dann nicht theologisch relevant sein? Ricœur macht klar, dass das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Dogmatik und Glaubensleben sich umgekehrt verhält, als es diejenigen sehen möchten, die letzterem seine theologische Relevanz absprechen. Er zeigt, dass das Handeln der Glaubenden grundsätzlich notwendig ist, um das dogmatische System einer Kirche am Leben zu halten. Dazu gehört auch, es zu aktualisieren und möglicherweise zu reformieren. Erst durch ihre fortgesetzte Aneignung und durch die transformierende Vermittlung bekommt die Kirche etwas, das manche vorschnell mit der institutionellen Gestalt identifizieren – eine Tradition. Eine Tradition entsteht, wenn dogmatische Aussagen in einem bestimmten Zeitgeist gelebt und gegenüber anderen Gemeinschaften vertreten, in deren Folge aber aktualisierend ausgelegt und dadurch gegebenenfalls auch verändert werden. Mit Ricœur können wir in diesem Vorgang nicht eine Verwischung des Evangeliums, sondern eine fortgesetzte Sinnstiftung innerhalb einer inspirierten Gemeinschaft entdecken, denn die andauernde Bezeugung des Glaubens trägt zur Verifikation und zum tieferen Verstehen der eigenen Bekenntnisaussagen bei. Jeder Glaubende bezeugt auf seine Weise Christus, ohne dass ein einziges Zeugnis – auch keine kirchliche Dogmatik – beanspruchen könnte, sein Sinnpotenzial komplett auszuschöpfen. In Ricœurs Hermeneutik wird der ökumenische Wandel daher als ein Kontinuum betrachtet, das seine prophetischen und seine institutionellen Momente besitzt, die beide der Fortentwicklung und Traditionsbildung einer Kirche dienen. Eine zweite wichtige Einsicht betrifft die Deutung dieser »horizontalen«

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Ebene durch die Akteure selbst, die den ökumenischen Dialog betreiben und mit Leben füllen. Eine Ökumenekultur im Sinne der hier dargelegten Hermeneutik würde sich wie oben erwähnt auch in freundschaftlichen Beziehungen zwischen Glaubenden verschiedener Konfessionen äußern, die sich der theologischen Relevanz ihres Handels bewusst sein dürfen und es nicht als außerhalb der ›eigentlichen‹ Ökumene stehend ansehen müssen, welche sich vermeintlich nur zwischen Kirchenleitern und in Kommissionen abspielt. Zugleich kann auf Seiten der ökumenisch Engagierten ein Verständnis, wie es aus Ricœurs Hermeneutik folgt, auch dabei helfen, eine Gelassenheit zu entwickeln gegenüber der administrativen Logik ökumenischer Ratifikationsprozesse. Geraten diese ins Stocken, ist man bekanntlich schnell dabei, einen neuen ökumenischen Winter auszurufen und es macht sich Frustration breit, wenn den ökumenisch Engagierten die offizielle Anerkennung auf institutioneller Ebene versagt bleibt. Ricœurs Position wie auch das Beispiel der Communaut¦ de Taiz¦ zeigen, dass es in solch einem Fall kein Schaden ist, Vertrauen zu fassen und den Widerständen zum Trotz das Wagnis einzugehen, untereinander schon heute als Versöhnte zu leben, in der Hoffnung, dass die eigene Geste gesehen wird. Übereinstimmung zwischen Menschen entsteht nicht durch juristische Abkommen. Wenn man sich auf diese versteift, läuft man Gefahr, nur einen institutionellen Ehrgeiz zu befriedigen. Ricœur zeigt, dass Anerkennung nicht durch die institutionelle Logik, sondern durch die Freude aneinander, die Übersetzung und die Wertschätzung von Unterschieden zustande kommt. Dies ist ein starkes Plädoyer gegen eine ökumenische Verbissenheit und behält dennoch ein Verständnis zurück für das, was an der sichtbaren Trennung als schmerzlich empfunden wird. Aber nicht nur für die unmittelbaren Akteure, auch für die wissenschaftlichtheologische Reflexion ökumenischer Prozesse, könnte Ricœurs Ansatz neue Orientierung geben. Vieles spricht dafür, dass der Platz der Ökumene im Kanon der theologischen Fächer nicht nur in der Ekklesiologie oder der Dogmengeschichte zu suchen ist. Wenn man die ökumenische Begegnung tatsächlich als Offenbarungsereignis ernst nimmt und sich auf Ricœurs Position einlässt, die wir im Laufe dieser Untersuchung entwickelt und an Beispielen demonstriert haben, so müsste man diesem Geschehen zukünftig mehr Interesse seitens der Fundamentaltheologie entgegenbringen. Die Frage, was Dialog ist und was es bedeutet, in fundamentaltheologischer Hinsicht dialogisch zu denken, lässt sich noch vertiefen, wobei in unserer Zeit nicht nur interkonfessionelle, sondern auch interreligiöse und interkulturelle Dimensionen des Dialogs in Betracht zu ziehen sind. Auf jeden Fall dürfte es eine anspruchsvolle hermeneutische Aufgabe sein, herauszufinden, was es konkret bedeutet, das Glaubenszeugnis eines Anderen zu empfangen, darin etwas wieder zu entdecken und über das schon Bekannte hinaus anerkannt und inspiriert zu werden.

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Der ökumenische Dialog. Übersetzung und Vergebung1 [= Vom Trienter Konzil zum Kolloquium von Trient] von Paul Ricœur Auf dem Konzil von Trient im 16. Jahrhundert verwarf das Konzil der römischkatholischen Kirche – die damals die christliche Kirche des Abendlandes war – gewisse Aussagen Luthers über die »Rechtfertigung aus Glauben«. Nun findet in Trient zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufs Neue ein Kolloquium statt, in dessen Zentrum ebenfalls Luther steht, doch diesmal nicht, um ihn zu verdammen, sondern, um ihn zu verstehen. Ab dem 16. Jahrhundert bahnte sich die Wahrheit einen schmerzhaften Weg mittels gegenseitiger Verbannungen. Zu Beginn unseres Jahrhunderts sucht sie sich ihren Weg, wobei konsensuelle Übereinkünfte und fruchtbare Unstimmigkeiten einander abwechseln. Ich möchte zu dieser neuen Situation gern einige Bemerkungen machen, für die mir niemand ein Mandat erteilt hat. Ich gehe von einer jener Übereinstimmungen aus, in denen sich ein Konsens ausdrückt, den repräsentative Vertreter im Namen ihrer jeweiligen Kirchen erreicht haben. Es handelt sich um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die am 31. Oktober 1999 in Augsburg (einem äußerst bezeichnenden Ort!) im Namen der römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes unterzeichnet wurde. Der Konsens wird folgendermaßen ausgedrückt: »Gemeinsam bekennen wir : Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen 1 Das unveröffentlichte französische Manuskript dieses Textes, auf dem unsere Übersetzung beruht, trägt den Titel »Du Concil de Trente au Colloque de Trente« und befindet sich im Fonds Ricœur in Paris. Der Text wird an dieser Stelle in deutscher Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Fonds Ricœur publiziert. Sämtliche Rechte der weiteren Veröffentlichung und Verarbeitung liegen beim Fonds Ricœur und müssen dort ausdrücklich eingeholt werden.

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und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken.« (Nr. 15) Aus dieser Übereinstimmung folgt dann: »Die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der lutherischen Kirchen wird nicht von den Verurteilungen des Trienter Konzils getroffen. Die Verwerfungen der lutherischen Bekenntnisschriften treffen nicht die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der römisch-katholischen Kirche.« (Nr. 41) Die Formulierung ist bedeutsam: Sie hebt die Verurteilung auf und zeigt ohne Umschweife die Denkarbeit, die in jeder der Traditionen (die ich lieber als Lektüre- und Interpretationsgemeinschaften der biblischen Schriften bezeichnen würde) geleistet wurde, ebenso wie die bleibenden Spannungen am Ende dieser jahrhundertelangen Überlegungen. Wozu diese Konzentration auf die Lehre von der Rechtfertigung ? Aus einem einzigen Grund : diese Lehre war zentral für die Reformatoren. Sie wurde betrachtet als »erster Artikel und Hauptartikel« und zugleich »Richtschnur und Richterin für alle anderen Bereiche der christlichen Lehre«. Nachdrücklich verteidigt wurde – und zwar in einer Weise, die für die katholische Kirche zu einseitig war –, dass der Mensch gerettet sei (»gerecht gesprochen«, »gerechtfertigt«) von der Gnade allein durch den Glauben an Christus. Das Anliegen war ein Doppeltes : Einerseits ging es um die Bedeutung, die der Lehre des Paulus beigelegt werden sollte – vor allem über die Rechtfertigung im Römerbrief. Auf der anderen Seite brachten die Kriterien der Übersetzung und der Interpretation der Gründungstexte die Tradition und die Autorit ät der Kirche ins Spiel. Anhand eines Textes, der für zentral gehalten wurde – so sehr, dass er zum Evangelium im Evangelium, zum Kanon im Kanon wurde, brachte man das gesamte Gebäude der über den Originaltext gelegten Interpretationsschichten (die es zweifellos auch in der Tiefe des Textes schon gab) ins Wanken : Die Lutheraner (und noch mehr die Calvinisten) plädierten für einen möglichst direkten und ungehinderten Zugang zu den Gründungstexten und die Katholiken für eine Dialektik von Evangelium und Tradition. So hat die Geschichte eines großen Streits der aktuellen ökumenischen Bewegung ihre Thematik aufgezwungen. Weil die Spaltung sich in diesem Punkt vollzogen hatte, war ein gemeinsames Verständnis der Rechtfertigung grundlegend und unverzichtbar, um die Kirchentrennung zu überwinden. Aber auch eine andere Geschichte hat es ermöglicht diesen Konsens zu erarbeiten, der kein Kompromiss ist. Das Dokument sagt dazu Folgendes: »In Aufnahme von bibelwissenschaftlichen, theologie- und dogmengeschichtlichen Erkenntnissen hat sich im ökumenischen Dialog seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine deutliche Annäherung hinsichtlich der Rechtfertigungslehre herausgebildet, so dass in dieser gemeinsamen Erklärung ein Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre formuliert werden kann, in dessen Licht

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die entsprechenden Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts heute den Partner nicht treffen.« (Nr. 13) Diesen historischen Durchbruch möchte ich als Ausgangspunkt für meine Überlegungen nehmen. Ich möchte zunächst Folgendes dazu sagen: So zentral die Rechtfertigungslehre für die Theologen und sogar für die Glaubenden, die das Verständnis des Glaubens pflegen und biblisch denken möchten, auch sein mag, so ist diese Lehre doch nicht die ganze biblische Botschaft, sondern bestenfalls ihr harter Kern, das Herz ihrer Lehre und zugleich ihre deklarative (d. h. kerygmatische) und ermahnende Spitze. Nun müsste man sich in einer Reflexion zweiten Grades fragen, wie sich dieser harte Kern in einen Sinngehalt verwandelt, der fähig ist, den ganzen Raum des biblischen Glaubens zu beleben. Trifft er nicht auf andere Gravitationszentren und auf andere Pole der Bedeutung, wie man sie in den nach den paulinischen Briefen geschriebenen Evangelien aufspürt, z. B. in der Bergpredigt oder in den Seligpreisungen und in den wunderbaren Schätzen der Gleichnisse mit ihren Paradoxen und ihren Hyperbeln, aber auch so, wie man es bei Johannes lesen kann, der den Orthodoxen so sehr am Herzen liegt? Und setzt sich diese Arbeit des Sinnes nicht auch auf anderen Ebenen fort als auf jener der Lehre? Auf der des Handelns und des Fühlens wie auch in einer Vielfalt von Bereichen: persönlich, gemeinschaftlich, sozial, politisch, international? Der gesuchte Konsens in diesen vielfältigen Dimensionen des Sinns scheint nicht reduzierbar zu sein auf eine Übereinstimmung über Aussagen, deren Begrifflichkeiten sorgfältig abgewogen wurden, wo jedes Komma wohl kalkuliert ist und in denen die Argumente einer unflexiblen Logik der Nicht-Widersprüchlichkeit unterworfen wurden, die wenig sensibel ist für die Paradoxa und die Arbeit an Symbolen. Aber ich möchte meine Überlegungen etwas weiter treiben als das, was Gefahr läuft, wie ein Katalog von Problemen und Schwierigkeiten zu erscheinen. Die globale Struktur des Verständnisses des Glaubens scheint mir die eigentliche Frage zu sein. Der Akt des Glaubens richtet sich nicht auf isolierte Aussagen und auch nicht auf einen Lehrkorpus, der aus einer Aneinanderreihung von Aussagen besteht, so wie jene, über welche sich die Unterzeichner der Gemeinsamen Erklärung von Augsburg geeinigt haben. Stattdessen richtet er sich auf das, was ich »Sinnkonstellationen« [paquets de sens] nennen möchte. Wenn beispielsweise Paul Claudel an einem Weihnachtsabend zum Katholizismus konvertiert, gelehnt an eine Säule der Kathedrale Notre-Dame in Paris, so bekennt er sich nicht auf eine quasi enumerative Weise zu einer Sammlung von Glaubensartikeln, Satz für Satz, sondern zu einem organischen Ganzen, dessen spirituelle Kohärenz er erahnt. Er wendet sich sozusagen dem Katholizismus seiner Zeit insgesamt zu, in einer gewagten Geste des Glaubens, des Vertrauens gegenüber einer Tradition,

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die durch einen Eigennamen identifiziert wird, einen Titel, eine Autorität, eine Ausstrahlung, einen Einfluss, der für wohltuend erachtet wird. Genau das bezeichne ich mit dem vorläufigen Terminus der »Sinnkonstellation«: so wie sich die mehr oder weniger gelehrten Formulierungen der großen christlichen Konfessionen dem Denken und dem Herzen zur Einstimmung anbieten. Sie bieten ihre Formulierungen an wie Früchte, die unter der Sonne der Geschichte der Lehre, der Praxis und des religiösen Gefühls gereift sind. Von dem Schatz des Sinnes, der im Lauf einer jahrhundertelangen Geschichte entstanden ist, ist die Rechtfertigungslehre nur eine Komponente, gewiss die am meisten erarbeitete und strukturierte auf der Ebene der Lehre. Doch es ist die Gesamtheit, in die sie sich einfügt, welche ihr die geistliche Wirksamkeit zuspricht, deren sich die verschiedenen Konfessionen rühmen können. Und hier ist es auch, wo die Kontroverse auftaucht und mit dieser die schmerzhaften Brüche, die in den Religionskriegen ihren Höhepunkt finden. Kontroversen und Brüche unterstreichen nur die Grenzen eines abgeschlossenen Verstehens, selbst auf der Ebene eines großen Glaubensbekenntnisses: Wenn der Schwerpunkt auf eine Formulierung gelegt wird, wird er einer anderen verweigert, die dann ohne Zögern verworfen und eventuell unterdrückt wird mittels der gefährlichen Allianz von kirchlicher Autorität und politischer Autorität. Aus dieser Situation folgt eine doppelte hermeneutische Aufgabe. Zuerst geht es darum, die Denkoperationen zu ermessen, die zu dieser versteinerten Konfliktsituation geführt haben und den Weg zurückzugehen, hin zu den Glaubensbekenntnissen mit ihren zugleich bezeugenden und polemischen Formulierungen, bis zu dem, was ich »Sinnkonstellationen« genannt habe, gemeint als die Dynamik ihrer Ausgestaltung. Auf diesem Weg habe ich meine eigenen Überzeugungen definiert, die das sind, was sie sind, wie eine Folge von Zufällen, die sich in ein Schicksal verwandelt haben dank einer kontinuierlichen Auswahl. Die großen Konfessionen – und ebenso die kleinen – haben sich selbst so konstituiert, bis sie die Trägerinnen der verschiedenen Lektüre- und Interpretationstraditionen der Gründungstexte wurden. Die zweite hermeneutische Aufgabe besteht darin, ein Verfahren zu entwickeln, um den Kontroverspunkten zu begegnen: Es genügt nicht zu verstehen, wie man so weit gekommen ist, jetzt muss man versuchen, darüber hinauszugehen. Aber wie? Mit Hilfe zweier komplementärer Paradigmen: dem Paradigma der Übersetzung und dem Paradigma der Vergebung. Paradigma der Übersetzung: Ließen sich nicht auf diese »Sinnkonstellationen«, welche die Glaubensbekenntnisse darstellen, jene Regeln anwenden, welche die Übertragung des Sinnes von einer sprachlichen Ganzheit in eine andere bestimmen? Sind die Glaubensbekenntnisse nicht eine Art von sprachlichen Ganzheiten, von Idiomen mit ihren internen Interpretationsregeln und

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werden sie den Außenstehenden nicht wie »Fremdsprachen« angeboten? Sinnkonstellationen, Konstellationen, die zu übersetzen sind… Ich bin eingeladen, in der Sprache meiner Konfession das auszusagen, was ich in der Sprache einer anderen Konfession bereits gesagt finde. Hier fangen die Schwierigkeiten an. Tatsächlich bietet die Übersetzungswissenschaft nicht nur eine Technik, sondern einen Geist der Übersetzung. Die Technik kreist um eine grundlegende Schwierigkeit: Zwischen den zwei Texten gibt es keinen dritten, der in der Lage wäre, den selben Sinn auszusagen, den identischen Sinn zwischen dem Ausgangstext und dem Übersetzungstext. Zwischen den beiden Texten, die von »derselben Sache« sprechen (z. B. der Rechtfertigung), gibt es bestenfalls eine Äquivalenz, aber keine logisch verifizierbare Identität. Außerdem ist der Sinn eines Textes nicht auf seinen ausdrücklichen Inhalt begrenzt: Der Kontext hat Anteil daran mit all seinen Anspielungen, seinen »Konnotationen« und auch seinem »Ungesagten«. Im Gegensatz zu einer umfassenden Übersetzung wie in den wissenschaftlichen und technischen Texten gibt es hier »Unübersetzbarkeiten« wie in den poetischen Texten. Unsere Glaubensbekenntnisse teilen sich in Diskursweisen mit, die zwischen dem technisch-wissenschaftlichen Niveau und dem poetischen Niveau schwanken und dabei den Paradoxa, Symbolen und anderen Metaphern und Hyperbeln Rechnung tragen, welche diese Glaubensbekenntnisse mit großer Mühe artikulieren. Aber jenseits dieser technischen Schwierigkeiten, welche die Interpreten sich zu lösen bemühen, die mehr oder weniger geübt in Fragen der Übersetzung sind, gibt es das, was ich eben als den Geist der Übersetzung bezeichnet habe: Er besteht im Austausch zwischen zwei Absichten: die Absicht, sich in die Sinnsphäre der Fremdsprache zu begeben und die Absicht, welche die Rede des Anderen in der Sinnsphäre der Empfangssprache willkommen heißen möchte. Diese doppelte Aufgabe kann sich nicht der Gefahr eines doppelten Verrats entziehen. Damit verhält es sich so: Dies ist der Preis, der für die Abwesenheit eines identischen kanonischen Textes zu bezahlen ist, der in der Lage wäre, den »fremden« Text und seine Übersetzung in »unsere« Sprache in Einklang zu bringen. Neben einer unaufhörlichen Arbeit der Rückübersetzung, in der sich der wahre Geist der Übersetzung ausdrückt, erfordern diese Übungen der gegenseitigen Übersetzung darum eine große Geduld, wobei sich das ausdrückt, was ich als linguistische Gastfreundschaft bezeichne. Wenn die Glaubensbekenntnisse der Kirche sich gegenseitig wie fremde Sprachen geworden sind, so obliegt es der linguistischen Gastfreundschaft, anzuleiten zu geduldigen Übungen der Übersetzung von der einen in die andere, die im Stande sind, den Weg für neue Konsense zu öffnen, aber vor allem im Stande, im Geist des gegenseitigen Wohlwollens die verbliebenen Dissense auszuhalten. Denn letzten Endes geht es um Folgendes: Wie lässt sich eine Übereinstimmung finden über die Uneinigkeiten, welche die Frage über das endgültige Verständnis des kulturellen und geistigen Erbes aufwerfen? An dieser

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Stelle könnte das Paradigma der Vergebung auf das Paradigma der Übersetzung folgen. Ich werde von dem Geist der Vergebung in dem Sinne sprechen, in dem ich vom Geist der Übersetzung gesprochen habe. Er besteht in etwas viel Größerem und viel Tieferem als nur der Vergebung von Verletzungen, die sich auf eine ziemlich juristische Weise in der Form des Freispruchs am Ende eines Prozesses zeigt oder im Vollzug der Verjährung, die in der Einstellung der Strafverfolgung besteht oder noch stärker in der Amnestie, die von einer politischen Autorität ausgesprochen wird angesichts schwerwiegender ziviler Wirren und im Blick auf den öffentlichen Frieden. Die Aufhebung der in der Vergangenheit durch die Kirchen ausgesprochenen Verdammungen beteiligt sich noch an dieser begrenzten Interpretation der Vergebung: Die christlichen Konfessionen haben sich in der Vergangenheit gegenseitig beleidigt und heben ihre Anathemata nun im Namen des erklärten Konsenses auf. Aber was ist mit den bleibenden Dissensen? An dieser Stelle ist es notwendig, das Thema der Vergebung über die schlichte Vergebung der Beleidigungen hinaus zu erweitern, um es auf der Höhe des Geistes der Übersetzung zu behandeln. Hier muss von der schwierigen Vergebung gesprochen werden, in dem Sinne wie Domenico Jervolino2 von der schwierigen Liebe spricht. Der Weg der schwierigen Vergebung wird eingeleitet auf dem Niveau der Institutionen und vollzieht sich in der Tiefe der Herzen. Auf dem institutionellen Niveau drückt sich die Vergebung in dem aus, was Kodalle3 – Philosoph aus Jena – das Inkognito der Vergebung nennt. Das ist die Gesamtheit jener Gesten, in denen sich die einfache »Wertschätzung« ausdrückt, die dem Anderen und seiner Würde geschuldet wird. Zwischen Völkern, die bis vor kurzer Zeit noch Feinde waren, besteht diese Wertschätzung in der Einführung von »normalen« Beziehungen: Das ist das Mindeste zwischen den großen kirchlichen Einrichtungen. Der Geist der Vergebung setzt seinen Lauf fort und leitet an zur Erinnerungsarbeit und zum Kampf gegen die Amnesie, gegen das Vergessen aus Flucht oder Bequemlichkeit. Ich spreche eher von der Arbeit der Erinnerung als von der Pflicht der Erinnerung und zwar um den Kampf gegen die Widerstände aus dem tiefen Unterbewusstsein zu unterstreichen und weil diese in den Tricks der Entlastung und Entschuldigung einen Vorwand finden, um der Erinnerungsarbeit zu entkommen. Aber die Arbeit der Erinnerung kommt nicht ohne eine Trauerarbeit aus, die sich auf alle verlorenen Objekte der Liebe (oder des Hasses) bezieht: sich mit dem Verlust zu versöhnen ist das Werk dieser Trauer. In der religiösen Sphäre hat diese Trauerarbeit ihren Platz in Bezug auf den Verlust der Brüderlichkeit der urchristlichen Kirche, auf dem Niveau ihrer tatsächlichen Erfahrungen betrachtet, aber auch auf dem ihrer 2 Jervolino, Ricœur. 3 Kodalle, Verzeihung.

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unerfüllten Träume oder dem ihres offensichtlichen Scheiterns. An dieser Stelle nimmt sich der Geist der Vergebung des Dissenses an. Der Geist der Vergebung bekennt, dass etwas für immer verloren ist, etwas, das man im Übrigen niemals besessen hat. Das Verlorene nimmt verschiedene Formen an: die Form des Unentwirrbaren (es werden sich niemals alle Intrigen aufklären, die zu der aktuellen Komplexität der Situation geführt haben), die Form des Unversöhnlichen (es wird immer widerstreitende Positionen geben, für die es an einem höheren Richter mangelt), die Form des nicht wieder gut zu machenden (wo sich die Frage der Ungerechtigkeiten wiederfindet, für die es aber wie für die Verletzungen keine endgültige und vollständige Heilung gibt, weil die Opfer nicht mehr da sind, um zu verzeihen). Der Geist der Vergebung vervollständigt seinen Weg im Herzen von jedem und von allen in unseren lebendigen Gemeinschaften in der Form einer erklärten Gewissheit und zwar in dem Sinne, dass die Zugehörigkeit eines jeden zu seinen eigenen Überzeugungen unausgeschöpfte Sinnressourcen enthält. Die Vergebung spricht zu dem Schuldigen: Du bist mehr wert als deine Taten! Dasselbe Wort der Ermutigung ist den Lektüre- und Interpretationsgemeinschaften gesagt. Es sagt: Es gibt mehr Sinn als das, was du glaubst, in dem, was du bekennst; und das Mehr an Sinn [surplus de sens] ist anderswo gesagt als bei dir, von Anderen als dir. Aus dieser Versicherung geht eine befriedete Erinnerung hervor. Mögen die autorisierten Sprecher der christlichen Konfessionen damit fortfahren, den Kreis des Lehrkonsenses auszuweiten – darin besteht ihre Aufgabe. Aber es ist an allen Gläubigen im Zentrum und an den Rändern und an allen, die sich aus der Nähe oder der Ferne als Hörer und Interpreten der Gründungstexte verantwortlich fühlen, diese doktrinale Arbeit in ein viel größeres und stets unvollendetes Unternehmen der »Reform« einzuschreiben, welches sich mit diesen »Sinnkonstellationen« befasst, die die Glaubensbekenntnisse der christlichen Gemeinschaft darstellen. Diese Arbeit am Sinn wird nicht umsonst sein, wenn sie sich weiterhin der Obhut des Geistes der Übersetzung und des Geistes der Vergebung anvertraut.

Übersetzung: Beate Bengard

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Die in den Fußnoten verwendeten Kurztitel wurden im Literaturverzeichnis jeweils kursiv gesetzt.

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