Revolution und Weltbürgerkrieg: Studien zur Ouverture nach 1789 [1 ed.] 9783428453139, 9783428053131


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German Pages 147 Year 1983

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Revolution und Weltbürgerkrieg: Studien zur Ouverture nach 1789 [1 ed.]
 9783428453139, 9783428053131

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ROMAN

SCHNUR

Revolution und Weltbürgerkrieg

Schriften zur

Verfassungegeschichte Band 35

Revolution und Weltbürgerkrieg S t u d i e n z u r O u v e r t u r e n a c h 1789

Von

Roman Schnur

DUNCKER

&

HÜMBLOT

/

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schnur, Roman: Revolution u n d Weltbürgerkrieg: Studien zur Ouverture nach 1789 / v o n Roman Schnur. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1983. (Schriften zur Verfassungsgeschichte; Bd. 35) I S B N 3-428-05313-3 NE: GT

Alle Reell te vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05313 3

Friedrich Jonas (1926-1968) zum Gedächtnis

Vorwort Reformation und europäischer Bürgerkrieg — das ist ein bekanntes, leidvolles Thema, bekannt freilich noch mehr i m Hinblick auf den Dreißigjährigen Krieg als hinsichtlich der internationalen Auswirkungen der französischen Religionskämpfe. Das sich nach diesen Kämpfen herausbildende Völkerrecht des ius publicum europaeum wurde zum ersten Mal während der Französischen Revolution i n Frage gestellt. Über die geschichtlichen Abläufe dieses Vorganges liegen zahlreiche treffliche Darstellungen und Untersuchungen von Historikern vor. Spärlicher hingegen sind die Beiträge, die von Juristen zur Erhellung dieser epochalen Ereignisse geliefert wurden. So mag es gerechtfertigt erscheinen, diese Sammlung von Aufsätzen zu veröffentlichen. Sie können eine umfassende Darstellung der Entwicklung der Völkerrechtsideen und des Völkerrechts i n der Zeit zwischen 1789 und 1815 nicht ersetzen. Doch sollen sie als Vorarbeiten, vielleicht als Durchbrüche, für eine solche Darstellung verstanden sein, für die ein jüngerer Jurist Interesse, Kraft und Zeit aufzubringen vermögen sollte, falls die Politik der Wissenschaft dazu noch genügend Möglichkeit beläßt. Wenn umfassende Darstellungen so wichtiger Epochen durch Juristen selten sind oder gar noch ausstehen, so liegt das nicht nur an schwachem Interesse der Juristen. Vielmehr w i r d daran besonders deutlich, daß Historiker und Juristen i n der Regel auf unterschiedliche Weise sich solchen Themen nähern. Der Jurist ist stärker als der Historiker am jeweils „Normativen" und an dem daraus resultierenden „Problem" orientiert. Das legt dem mehr oder weniger „beschreibenden" Vorgehen Hemmungen auf. Den Juristen interessieren die „problemlosen" A b läufe weniger. Schon deshalb ist es müßig zu fragen, ob der Historiker oder der Jurist eher berufen ist, die Geschichte des Rechts bzw. der Ideen von Recht zu beschreiben. Es kann nur u m gegenseitige Ergänzung gehen, und selbst dann, wenn sie gelingt, ist man meistens noch weit von der „geschichtlichen Wahrheit" entfernt. Immerhin darf der Jurist eben wegen des i h m gemäßen Ansatzes sagen, daß er näher an „Problematisches" heran gehen muß, u m das „Erfreulichere", das „Unproblematische" Anderen zu überlassen. Ein Vergnügen ist das i n keinem Falle. I n dieser Sicht ist es vielleicht doch kein Zufall, daß der Verfasser nach Studien über die konfessionellen Auseinandersetzungen i m Frank-

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Vorwort

reich des 16./17. Jahrhunderts seine Aufmerksamkeit der Französischen Revolution zuwandte. Er fühlt sich i n dieser Überzeugung durch das jüngste Buch eines hervorragenden amerikanischen Historikers bestätigt, nämlich: Donald R. Kelley, The Beginning of Ideology. Consciousness and Society i n the French Reformation, Cambridge 1981. I n diesem vorzüglichen Werk w i r d die These untermauert, daß der französische konfessionelle Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts i n engem Zusammenhang m i t der seit 1789 besonders stark durchbrechenden „Ideologie" steht. Und kein Europäer vermag sich dieser seiner Bindung an Frankreichs Geschichte zu entziehen. — Die Widmung dieser Sammlung zum Gedächtnis an Friedrich Jonas mag so erläutert werden: Anfang der 60er Jahre kam als Assistent zu Arnold Gehlen an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer der in der Praxis erfahrene Dipl.-Volkswirt Dr. Friedrich Jonas. Für mich, wie wohl auch für den ebenfalls aus der Verwaltungspraxis gekommenen Juristen Niklas Luhmann, wurde Jonas bald ein überaus wertvoller Gesprächspartner. Er machte es sich noch weniger leicht als seinen Kollegen. Die Wissenschaft hat Helmut Schelsky, dem Schüler Gehlens, dafür zu danken, daß er den Einzelgänger Jonas gefördert hat. Jonas seinerseits hat sich durch die Veröffentlichung wichtiger Arbeiten dafür bedankt. — Auch wenn diese Sammlung von Aufsätzen dem Gedächtnis an Friedrich Jonas gewidmet ist, so sollen die Widmungen einzelner Studien Bestand haben. Der Beitrag zur Festschrift für Arnold Gehlen bedarf insoweit keines Kommentars. Zu den Widmungen für Georges Langrod und für Julien Freund sei bemerkt: Langrod überlebte i n einem Gefangenenlager für polnische Offiziere, wohingegen Freund, Verfolgter sowohl des Vichy-Regimes als auch der deutschen Besatzungsmacht i m unbesetzten, später gleichwohl besetzten Frankreich überlebte, u m nach 1945 i n Frankreich nachhaltig auf die europäische Bedeutung Max Webers und Carl Schmitts hinzuweisen. Tübingen, i m Dezember 1982 Roman Schnur

Inhalt Weltfriedensidee u n d Weltbürgerkrieg 1791/92

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Land u n d Meer — Napoleon gegen England. E i n Kapitel der Geschichte internationaler P o l i t i k

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T r a d i t i o n u n d Fortschritt i m Rechtsdenken Christoph M a r t i n Wielands . .

59

„ L a Revolution est finie". Z u einem Dilemma des positiven Rechts am Beispiel des bürgerlichen Rechtspositivismus

79

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant und die Emigranten (1825). Aus Anlaß des 150. Todestages v o n B e n j a m i n Constant am 8. Dezember 1980

99

Zwischenbilanz: Z u r Theorie des Bürgerkrieges. Bemerkungen über einen vernachlässigten Gegenstand 120 Orte des ersten Druckes dieser Studien

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Weltfriedensidee und Weltbürgerkrieg 1791/92* 1. I n einem maßgeblichen völkerrechtsgeschichtlichen Werk, in Carl Schmitts „Der Nomos der Erde i m Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum" 1 , ist nachdrücklich auf die sich u m 1900 anbahnende Auflösung des Jus Publicum Europaeum durch ein raumloses Denken hingewiesen worden, die auch zum Sinnwandel des Krieges führte 2 . Dieser Sinnwandel, nämlich vom Begriff des gehegten Krieges zum diskriminierenden Kriegsbegriff, hatte einen Vorläufer, der von Schmitt nur kurz erwähnt 3 und auch sonst wenig beachtet wird: Der beginnende Krieg der französischen Revolution. Er wurde 1792 von den Revolutionären als Weltbürgerkrieg begonnen, wie immer er auch später motiviert werden mochte 4 . Daß ein Gelehrter wie Schmitt die Bedeutung der Lehre Kants vom ungerechten Feind ausführlich, die des Revolutionskrieges hingegen wenig gewürdigt hat, fällt u m so mehr auf, als die völkerrechtlichen Ideen der Revolution etwa seit 1914 von verschiedenen Autoren als ein Fortschritt der Menschheit auf dem Weg zum Ewigen Frieden begrüßt wurden 5 , ohne daß man dazu i n wissenschaftlicher Weise Stellung genommen hatte 8 . Zu jenen Lobpreisern der Revolution, die ihre völker* Unentbehrliche Ergänzung zu diesem Aufsatz ist die Studie von Wolf gang Martens, Völkerrechtsvorstellungen der Französischen Revolution i n den Jahren 1789 bis 1793, Der Staat 3 (1964), S. 294 - 314. 1 K ö l n 1950 (jetzt Verlag Duncker & Humblot, Berlin). 2 Ebd., S. 232 ff. 3 Ebd., S. 123 f. 4 Ob als K r i e g m i t der traditionellen Motivierung der natürlichen Grenzen oder schließlich als K r i e g zwischen Land u n d Meer (vgl. Schnur, Land u n d Meer — Napoleon gegen England, unten S. 33 ff.). 5 Schon früher w a r Ernest Nys die Bedeutung der französischen Revolut i o n für das Völkerrecht nicht entgangen, vgl. Etudes de Droit International et de Droit Politique, Bd. 1, Brüssel 1896, S. 318 ff.; s. auch F. Laurent, Histoire du D r o i t des Gens et des Relations Internationales, Bd. X V , Paris 1869, S. 5 ff. ® Die Schrift eines Gegners der revolutionären Ideen, des Abbé Defourny: 89 et le D r o i t des Gens, Paris 1888, k a n n schwerlich als wissenschaftlich zureichend bezeichnet werden, zumal der Verfasser die Eigenart des Jus Publicum Eurapaeum nicht erfaßt hat. Ansätze zu einer kritischen Betrachtung bei L. Rougier, La France à la Recherche d'une Constitution, Paris 1952, S. 136 ff.; R. Vierhaus, Über Staat u n d Stäatenbund; W i r k l i c h k e i t u n d Ideen internationaler Ordnung i m Zeitalter der Französischen Revolution u n d Napoleons, Arch. f. Kulturgesch., 43, 1961, S. 329; R. Nürnberger, Propyläen-Weltgeschichte, Bd. 8, B e r l i n 1960, S. 66 ff., vor allem bei H. Barth,

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rechtlichen Ideen vorbehaltlos akzeptieren, gehören französische Autoren, denen daran lag, i m I. Weltkrieg die Parallele zu den Jahren 1789 ff. zu ziehen, u m auf diese Weise das Recht der Geschichte für ihr Land zu reklamieren. So hat Alphonse Aulard diese Parallele gezogen, indem er den Sieg an der Marne als direkte Folge des Sieges von Valmy bezeichnete 7 und dann den Völkerbund i n Verbindung mit dem Völkerrecht der Revolution brachte 8 . — Erstaunlicher ist es, daß gleichzeitig ein damals deutscher Rechtslehrer, nämlich Robert Redslob i n Straßburg, die völkerrechtlichen Ideen der Revolution vorbehaltlos bejahte 9 . Für ihn ist das Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum moralisch unterwertig, weil es keinen Kampf der Ideen, sondern nur den Machtkampf kennt; deshalb stehen für ihn die „politischen Begebenheiten dieser Jahre . . . auf einer tieferen moralischen Linie als der Dreißigjährige Krieg": Erst die Philosophie der Aufklärung bringe wieder höheren Geist i n die Geschichte 10 . Schließlich äußert Redslob die Hoffnung, daß der Weltkrieg, wiewohl ein Rückfall auf einen minderen Grad der Zivilisation, für die Welt das vollbringen werde, was der Bürgerkrieg der französischen Revolution für den Staat erbracht habe 11 . — Nach dem II. Weltkrieg sah Mirkine-Guetzévitch, ein Schüler Aulards, i n der Lehre vom diskriminierenden Kriegsbegriff, wie sie die Revolution auch i n ihren Verfassungen fixiert hatte, einen Beitrag Frankreichs zur politischen Philosophie der Demokratie, der, über die Verfassung von 184812 und bis zu der von 1946 laufend, die Permanenz der französischen politischen Zivilisation bestätigte 13 . Die Religion des Totalitarismus, i m Sammelband: Die freie Welt i m K a l t e n Krieg, Zürich 1955, S. 55 ff., bes. S. 75 ff. Insofern enttäuschend: J. F. C. Fuller, The Conduct of War, a Study of the impact of the French, I n d u strial, and Russian Revolutions on W a r and its Conduct, London 1961, u n d S. S. Biro, The German Policy of Revolutionary France, 2 vol., Cambridge Mass., 1957. 7 La Paix future d'après la Révolution Française et K a n t , Paris 1915, S. 3. Uber Aulard s. etwa G. Beyerhaus, Die konservative Staatsidee i n Frankreich u n d i h r Einfluß auf die Geschichtswissenschaft, H Z , 156, 1937, S. 1 ff. 8 La Société des Nations et la Révolution Française, i n : Aulard, Etudes et Leçons sur la Révolution Française, Bd. 8, Paris 1921, S. 135 ff. 9 Völkerrechtliche Ideen der französischen Revolution, Festgabe für Otto Mayer, Tübingen 1916, S. 273 ff., auch separat. Vgl. auch Redslob, Das Prob l e m des Völkerrechts, Leipzig 1917, S. 216 ff. Hingegen hat K . Wolzendorff, Deutsches Völkerrechtsdenken, München 1919, unter Hinweis auf Redslobs Studie zur E n t w i c k l u n g der Revolutionsideen kritisch Stellung genommen. 10 Ebd., S. 274 f. 11 Ebd., S. 301. 12 s. P. Bastid, L a Révolution de 1848 et le D r o i t International, Ree. d. Cours, 72, 1948, S. 167 ff. 18 La „Guerre Juste" dans le D r o i t Constitutionnel Français (1790 - 1946), RGDIP, 1950, S. 225 ff., auch separat.

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Diese Autoren verzichten auf den Versuch, die völkerrechtlichen Ideen der Revolution kritisch zu betrachten. Sie lassen sich also auch nicht auf die Frage ein, ob der Preis, den die Verwirklichung dieser Ideen gefordert hat, nicht doch zu hoch gewesen sei, und die Frage, warum die Lehren vom totalen Weltfrieden sich i m totalen Weltbürgerkrieg verwirklichten, muß für sie ein Rätsel bleiben. Andere Autoren, keineswegs „konterrevolutionäre" Historiker, haben immerhin die Revolutionäre für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gemacht 14 , aber dieses Problem isoliert betrachtet, so daß der Ausbruch des Revolutionskrieges als Betriebsunfall der Geschichtsphilosophie der Revolutionäre erscheint, der sich bei größerer Sorgfalt hätte vermeiden lassen 15 . Zu einer Würdigung der völkerrechtlichen Ideen der Revolution dürfte erst dann freier Raum sein, wenn man die ihr zugrunde liegende Geschichtsphilosophie i n ihrer wahren Bedeutung auch i m Verhältnis zum Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum erkennt. Erst dann w i r d das Verhältnis von Weltstaatsidee und Auflösung des Staates, von radikalem Pazifismus und radikaler Gewaltanwendung richtig erkennbar. Zu solchem Verständnis der Revolution haben letzthin von deutscher Seite vor allem Reinhart Koselleck 16 und Hanno Kesting 17 beigetragen. Damit dürfte der Weg für eine neue Würdigung der völkerrechtlichen Ideen der Revolution frei sein, ein Weg, der auch zum Verständnis der Einzelheiten dieser Ideen und ihrer Verwirklichung f ü h r t 1 8 und es erlaubt, Vergleiche m i t dem Sinnwandel des Krieges nach 1914 anzustellen. I m folgenden sollen vor allem die Ideen von Cloots und Brissot erörtert werden, die für die hier interessierende Denkweise als repräsentativ angesehen werden dürfen 1 9 . 14 Z u m Stand der Diskussion s. L. Villat, La Révolution et l'Empire, Bd. 1, Paris 1947, S. 155. Ausdrücklich soll erwähnt werden: C. Brinton, Europa i m Zeitalter der französischen Revolution, 2. Aufl., Wien 1948, m i t einer Einleitung v o n P. R. Rohden: Die französische Revolution i m Spiegel der europäischen Geschichtsschreibung. 15 s. etwa G. Michon, Robespierre et la Guerre révolutionnaire 1791 - 1792, Paris 1937, sowie Nys, a.a.O., u n d Laurant, a.a.O. 18 K r i t i k u n d Krise. Z u r Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959. 17 Geschichtsphilosophie u n d Weltbürgerkrieg, Heidelberg 1959. 18 Das noch immer unersetzliche Buch v o n J. Basdevant, L a Révolution Française et le Droit de la Guerre continentale, Thèse D r o i t Paris 1901, leidet etwas unter der positivistischen Einstellung des Verfassers, ist aber keine bloße Apologie. 19 Der Verfasser folgt einer v o r allem i n England u n d i n den USA v e r breiteten Ansicht, wonach es neben der „jakobinischen" noch eine andere A r t v o n Demokratie gibt, nämlich die nicht-utopische, die es auch erlaubt, die völkerrechtlichen Ideen der Revolution einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Statt vieler: F. A . Hayek , The Constitution of Liberty, Chicago 1960; J. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, K ö l n

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2. Anarcharsis Cloots (1755 - 1794) war ein preußischer Adliger niederländischer Herkunft 2 0 , der schon vor der Revolution Paris zum M i t telpunkt seines Lebens gemacht hatte 2 1 . Sein Vater, der preußische Geheimrat Freiherr Thomas Franziskus Cloots, entstammte einem vermögenden holländischen Geschlecht. Über seine Mutter Adelaida de Pauw war er mit dem Geistlichen Cornelius de Pauw verwandt, der sowohl am Hofe Friedrich d. Gr. wie i m literarischen Leben von Paris bedeutenden geistigen Einfluß ausübte. Cloots wurde von den Jesuiten erzogen und besuchte die Militärakademie i n Berlin, aus der er später flüchtete, u m sich als reicher junger Mann i n den Pariser Salons zu betätigen 22 . Er hielt sich auch i n England und Holland auf. Niemand bezweifelt, daß Cloots ein besonders eifriger Verfechter der neuen Philosophie gewesen ist, aber selbst diejenigen, die seine guten Absichten loben, neigen dazu, seine Bedeutung für die Politik herabzumindern. Er erscheint dann als leicht Verrückter, als halber, wenn nicht doch als heiliger Narr, auf den man „die Revolution" nicht festlegen könne — man w i l l sich von i h m absetzen, nicht mit i h m die letzten Konsequenzen der neuen Philosophie ziehen. So verständlich das ist, so wenig entspricht es den Tatsachen; Cloots war mehr als ein schreibender Sonderling: Er besaß bereits bei Ausbruch der Revolution einflußreiche Verbindungen, zumal er über viel Geld verfügte. Er veröffentlichte seine A r t i k e l i n maßgeblichen Zeitungen. A m 19. Juni 1790 stellte er der Constituante i n einem berühmt gewordenen Aufzug die Deputation der ausländischen (freilich meist i n Paris lebenden) Abgeordneten des genre humain vor, die die Zustimmung der Menschheit 1961; M. Oakeshott, Rationalism i n Politics and other essays, London 1962; Β . Crick, I n Defence of Politics, London 1962, u n d J. Freund, Die Demokratie u n d das Politische, Der Staat, 1, 1962, S. 261 ff. 20 Über Cloots: S. Stern, Anarcharsis Cloots, der Redner des Menschengeschlechts, B e r l i n 1914 (mit Hinweisen auf die ältere Literatur); A . Mathiez, Anarcharsis Cloots „L'universel", i n : La Révolution et les Etrangers, Paris 1918, S. 48 ff.; J. ter Meulen, Der Gedanke der internationalen Organisation i n seiner Entwicklung, Bd. 2, Den Haag, 1929, S. 21 ff.; P. Klassen, Nationalbewußtsein u n d Weltfriedensidee i n der französischen Revolution, W e l t als Geschichte, 2, 1936, S. 33 ff. (vor allem S. 44 ff.), sowie Vierhaus, a.a.O., S. 338 f. Vgl. auch H.-A. Goetz-Bernstein, L a Politique extérieure de Brissot et des Girondins, Paris 1912, S. 42 ff. I m Jahre 1980 ist v o n Kraus Reprint i n München eine dreibändige Sammlung v o n Schriften des Cloots aufgrund der Originalausgaben (in der Pariser Bibliothèque Nationale) veranstaltet worden. Bd. I I I enthält die hier einschlägigen Schriften, darunter fast alle der hier zitierten (nach den Originalen i n der Bibl. Nat.). 21 Vgl. etwa Mathiez, a.a.O., sowie Lange, Histoire de la Doctrine i n t e r nationale et de son influence sur le développement du D r o i t International, Ree. d. Cours, 13, S. 171. 22 Er w a r übrigens nicht, w i e m a n öfters liest, als Verfolgter des Absolutismus nach Paris geflüchtet. Genaueres über seinen Lebenslauf bei Stern, a.a.O.

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zur Revolution erklärten 2 3 . Er gehörte zu jenen Propagandisten des „Kreuzzuges gegen die Tyrannen", die von den Girondisten subventioniert wurden, und stellte später die Germanische Legion auf 2 4 . I h m wurde zugleich mit Paine, Bentham, Schiller, Klopstock usw. das französische Bürgerrecht verliehen 2 5 . Schließlich wurde er von zwei Départements i n den Konvent gewählt, wo er dem außenpolitischen Ausschuß angehörte, bis er unter dem Terror Robespierres der Guillotine zum Opfer fiel 2 6 . Jacques-Pierre Brissot (1754 - 1793)27, Sohn kleiner Leute, hatte 1789 ebenfalls eine sehr abwechslungsreiche Laufbahn hinter sich. Er hatte die Rechte studiert, doch wechselte er ständig den Beruf. Er war viel gereist, i n die Schweiz, nach London und nach den USA. I n London hatte er eine Zeitung gegründet und geleitet, die jedoch bald einging. Dort war er auch wegen Schulden eingesperrt worden. Man sagte i h m nach, er habe bis 1789 aus Geldmangel für die Polizei Spitzeldienste geleistet. 1788 hatte er i n Paris die „Société des Amis des Noirs" gegründet, die i n der Revolution eine beachtliche Rolle spielen sollte. Anfang 1789 reiste er nach den USA, um dort sowohl Erfahrungen für die Revolution i n Frankreich zu sammeln, als auch für sich und vermögende Freunde i n Bodenwerten zu spekulieren und über die Ablösung einer den USA von Frankreich gewährten Staatsanleihe zu verhandeln 2 8 . Er war noch i n den USA, als i n Paris die Revolution ausbrach. Brissot gründete die Zeitung „Le Patriote Français", die zum Sprachrohr der Girondisten wurde. Er wurde Mitglied der Gesetzgebenden Versammlung. Dort stieg er zu einem der Führer der Gironde auf und wurde Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses29. I m Jakobinerklub war er der Anführer der Gruppe, die zum Kriege riet und sich Robespierre zum Feinde machte, der sich dann später rächte. Auch i m Konvent hatte er zunächst entscheidenden Einfluß auf die Außenpolitik. A m 1.11.1793 wurde er hingerichtet. 3. Untersucht man die völkerrechtlichen Ideen der Revolution, so hat man die verschiedenen Phasen der Revolution zu berücksichtigen. Das 23

Darüber Stern, a.a.O., S. 94 ff. Mathiez, La Propagande — Les Légions Etrangères, in: La Révolution et les Etrangers, S. 58 ff. 25 Vgl. Mathiez, L ' A d o p t i o n des Penseurs Etrangers, ebd., S. 70 ff. 26 Uber Cloots' Ende Stem, a.a.O., S. 225 ff. 27 Uber Brissot: J. François-Brimo, L a Jeunesse de J.-P. Brissot, Paris 1932; L. M . Gidney, L'influence des Etats-Unis d'Amérique sur Brissot, Condorcet et Mme Roland, Paris 1930; vgl. auch Β . Fay, L'Esprit révolutionnaire en France et aux Etats-Unis à la f i n du X V I I I e Siècle, Paris 1925, S. 156 ff. Wichtig auch Brissots Memoiren, 2 vol., Paris 1912. Das Buch v o n E. Ellery, Brissot de Warville, Boston 1915, w a r m i r leider nicht zugänglich. 28 s. Brimo, a.a.O., S. 224 ff., u n d Gidney, a.a.O., S. 23 ff. 29 Darüber vor allem Goetz-Bernstein, a.a.O., passim. 24

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bedeutet für uns, daß der Fragenkomplex, der i n der zu Beginn der Revolution angelaufenen Diskussion über das Verbot des Angriffskrieges seinen Grund hat, ausgeklammert wird, weil er zu einer anderen Situation und Denkweise paßt. Das Verbot des Angriffskrieges benötigt nämlich keineswegs eine bestimmte Idee als Grundlage, es kann die Sicherung des bloßen Status quo bezwecken. Das kann die Absicht einschließen, nicht expansiv zu werden, selbst wenn die neue Idee, die den Status quo genießen soll, i m Innern revolutionär war: Nach außen w i l l sie es nicht sein. Deshalb kann man diese Diskussion beiseitelassen, auch wenn dort teilweise die Absicht bestanden haben sollte, die Status quo-Theorie nur als M i t t e l der vorläufigen Sicherung zu propagieren, die unter günstigeren Umständen zugunsten expansiver Ideen aufgegeben werden soll. Für die geschichtliche Würdigung bleibt das ohne Belang, weil das Verbot des Angriffskrieges auch von Männern gebilligt wurde, die auf die weitere Entwicklung der völkerrechtlichen Ideen der Revolution ohne Einfluß waren. Hingegen wurden für die weiteren Ereignisse, insbesondere für den Kriegsausbruch, die Ideen von Cloots, Brissot und ihren Gesinnungsfreunden belangvoll, weil diese Männer Einfluß ausübten, schließlich sogar die politischen Geschicke maßgeblich bestimmten. U m sie verstehen zu können, muß man ihre Gesamtkonzeption klarstellen, i n deren Rahmen dann auch das Problem von Krieg und Frieden steht 3 0 : Ausgangspunkt ist die Idee einer allumfassenden Einheit. Damit t r i t t dieses Denken i n fundamentalen Gegensatz zum bisherigen Völkerrechtsdenken, das darauf aus war, Regeln für das Zusammenleben von verschiedenen Staaten aufzustellen: War bisher die Welt die Einheit der geschichtlichen Vielheit, so fordert Cloots die einheitliche Einheit. Es müssen alle Unterschiede beseitigt werden, weil man sonst nicht zur wahren Einheit kommt. Das bedeutet aber auch, daß alle bestehenden Institutionen beseitigt werden, der Mensch soll unvermittelt sich selbst und der Natur gegenüberstehen. Es gibt daher nur den einzelnen und die Einheit der sich gleichen einzelnen. „L'unité! L'unité! La nature entière nous prêche l'unité 3 1 !" Es kann also keine andere natürliche und damit vernünftige Schranke geben als diejenige zwischen der Erde und dem Firmament 3 2 , und anzustreben ist daher das 30 Vgl. auch A . Sorel, L'Europe et la Révolution Française, Bd. 2, 17. Aufl., Paris 1922, S. 109 ff. Z u r Geschichte der Idee des Ewigen Friedens, s. K . υ. Raumer, Ewiger Friede, Freiburg 1953; H.-J. Schlochauer, Die Idee des Ewigen Friedens, B o n n 1953, sowie W. Bahner, Der Friedensgedanke i n der L i t e r a t u r der französischen Aufklärung, i n : Grundpositionen der französischen Aufklärung, Berlin(-Ost) 1955, S. 139 ff. 31 Cloots, La République universelle ou Adresse aux tyrannicides, Paris, L'an quatre de la Rédemption, S. 20. Z u solchen Einheitsvorstellungen aus soziologischer Sicht vgl. E. W. Mühlmann, Chiliasmus u n d Nativismus, Berl i n 1961, S. 281 ff.

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„nivellement final" 3 3 . Damit w i r d außenpolitisch gefordert, was innenpolitisch längst Postulat dieses Denkens war: Das geschichtlich Gewordene, die Pluralität der Staaten hat als naturwidrig der Einheit zu weichen. „An sich ist sie (d.h. die absolute Freiheit) eben dies abstrakte Selbstbewußtsein, welches allen Unterschied und alles Bestehen des Unterschiedes i n sich vertilgt 3 4 ." Cloots sah nun, daß i n der Geschichte ein Versuch gemacht wurde, eine globale Einheit herzustellen: die katholische Kirche. Aber für i h n ist das eine unwirkliche Einheit, die der globalen Republik des Menschen, der wahren Einheit zu weichen habe. „La république universelle remplacera l'église catholique, et l'assemblée nationale fera oublier les conciles écoumeniques; l'unité de l'état vaudra mieux que l'unité de l'église." Die Präsenz der Repräsentanten des Volkes ist für Cloots kein Glaubensartikel wie die Gemeinschaft der Heiligen, das Symbol der „conventionnels" ist klarer zu beweisen als das Symbol der Apostel. Habe die theologische Einheit alle Übel hervorgebracht, so werde die politische Einheit alle Wohltaten erzeugen 35 . Entthrone man die sozialen Fraktionen, dann werde das Ganze, der Despot par excellence, werde das universelle Gesetz die Fabeln vom Goldenen Zeitalter v e r w i r k lichen 3 6 : Das ist die Herrschaft des genre humain. Die Beseitigung des naturwidrigen geschichtlichen Zustandes zugunsten der einzigen Einheit w i r d nach Cloots die Herrschaft einer neuen Welt herbeiführen: Ist die Einheit einmal hergestellt, so erscheint das Problem der Politik gelöst, indem die Politik abgeschafft wird. Sie hat nach Ansicht der Utopiker ihren Grund darin, daß der Mensch von der Natur abgefallen ist, moralisch schlecht und damit ein jeder eines jeden Feind wurde. I n der Welt der einen Einheit w i r d daher die Politik obsolet, weil ihr Grund abgeschafft ist. Es w i r d deshalb der Ewige Friede herrschen, der totale Weltfriede. Betrachtet man das B i l d vom Ewigen Frieden näher, so läßt sich feststellen, daß es nach dem Modell der Sociétés de Pensée entworfen ist 3 7 . Dementsprechend erscheint der Schriftsteller, der Mann der Literatur, als die wahre Stütze der Verfassung 38 — wer sollte denn auch 32 Cloots, Bases constitutionnelles de la République du Genre humain, Paris 1793, S. 21. 33 Ebd., S. 189. 34 Hegel, Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 419. 36 Cloots , Bases constitutionnelles, S. 8. 36 Ebd., S. 20. 37 s. A . Cochin , L a Révolution et la Libre Pensée, Paris 1955. Vorher schon: G. Sorel , Les Illusions du Progrès, Ausgabe Paris 1947, S. 53 ff. 38 Cloots , L'Orateur du genre humain, ou Dépêche du Prussien Cloots au Prussien Hertzberg, L ' a n I I de la rédemption, S. 83. Vgl. Brissot i m

2 Schnur

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Weltfriedensidee und Weltbürgerkrieg 1791/92

als Stütze der Verfassung übrig bleiben, wenn die Politiker verschwinden, weil die Politik aufhört? Cloots sagt auch, warum jetzt der Schriftsteller i n einen so ausgezeichneten Rang kommt: Nach der Einführung des Ewigen Friedens werde sich die Wahrheit über die Welt ergießen, und zwar nicht die des Christentums, sondern die auf enzyklopädischer Information beruhende. Die Zeitungen werden die Aufmerksamkeit nicht mehr mit kriegerischen Nachrichten beanspruchen, sondern dem Studium der schönen Literatur Platz machen 39 . Dann werde, so meint Cloots, die Regierung der Brüderlichkeit beginnen, die i n einem einzigen großen Korrespondenzbüro bestehe, u m die Kosmopoliten amtlich über alle Ereignisse von Wichtigkeit ins B i l d zu setzen. Die Welt soll also eine einzige Société de Pensée sein, die von Intellektuellen gelenkt wird. Freilich ist dies für das utopische Denken keine Herrschaft, denn Literaten üben keine Macht aus, sie verbreiten lediglich die Wahrheit. Die Wahrheit aber herrscht nicht, und deshalb ist es auch keine Herrschaft, sondern Dienst an der Wahrheit, wenn nach Cloots' Vorstellung das Auge des „Großen Bruders" über die endgültig befriedete Welt wacht: Kein Ehrgeiziger werde es wagen, vor dem wachsamen Argus, dem zentralen Korrespondenzbüro, das Haupt zu erheben: Je größer die Nation, desto kleiner die Individuen 4 0 . I n diesem paradiesischen Frieden gibt es keine Probleme mehr, weder politische noch ökonomische noch allgemein menschliche: So werde die Herrschaft der Wahrheit den natürlichen Haß zwischen den Nachbarn i n die natürliche Liebe zum gemeinsamen Gesetz verwandeln. Alles werde nivelliert sein, alles vereinfacht, und alle Schranken werden fallen: Wie i m Paradies 41 . So werde auch, meint Cloots, die materielle Not aufhören: Man werde die Millionen, die man jetzt noch für die Bewaffnung ausgebe, zur Förderung der nützlichen und angenehmen Künste verwenden 4 2 . Dann erst werde man richtig leben und nicht bloß vegetieren 43 . Kein Teil der Weltrepublik werde unter der Unbill der Jahreszeiten leiden, denn die Gemeinschaft komme für die Versorgung auf. Zwar würden alle Bürger bewaffnet, aber die militärischen Übungen der Bürger ländliche Feste sein 44 .

Second Discours (im Jakobinerklub), v o m 30.12.1791; dort sagt er auf S. 17, die Tyrannei sei unmöglich, w o es patriotische Klubs u n d Druckerpressen gebe. 39 Cloots, Bases constitutionnelles, S. 34. 40 Cloots, La République universelle, S. 58. 41 Cloots, Bases constitutionnelles, S. 14 f. 42 Cloots, La République universelle, S. 112. 43 Ebd., S. 30. 44 Ebd., S. 58.

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Es versteht sich für die Utopie von selbst, daß die alte Religion, die den überholten Zustand maßgeblich herbeigeführt hat, i n der einen Welt nicht mehr regiert. I n die Stelle des allmächtigen Gottes rücke, so sagt Cloots, das allmächtige Volk ein, dem genre humain stünden die Attribute der bisherigen Gottheit zu 4 5 . Deshalb steige die Wahrheit nicht mehr vom Himmel herab, sondern von der Höhe der Tribünen des Parlaments 46 . Für den neuen Menschen trete an die Stelle Gottes das Gesetz des wahren Souveräns, des genre humain: „La Loi bienfaisante remplacera u n DIEU insignificant 4 7 ." Damit begab sich die Utopie i n ein erstes Dilemma: Es soll also doch ein Gesetz regieren, das von Menschen gemacht wird. Jetzt muß gefragt werden, ob dies wirklich das Ende von Herrschaft bedeutet. Auf diese Frage w i r d eine A n t w o r t gegeben, welche die Verlegenheit des utopischen Denkens offenkundig macht: Der „souveraineté une et indivisible" des absoluten Monarchen w i r d die „souveraineté une et indivisible" des genre humain entgegengesetzt 48 . Souveränität aber heißt (auch) Herrschaft, bedeutet (auch) Dezision durch Menschen, und somit t r i t t doch zutage, daß auch die Herrschaft der Wahrheit Herrschaft über Menschen ist — hier w i r d zum ersten Male ein Moment der W i r k lichkeit i n die Utopie eingeführt: Die Forderung nach der Herrschaft der Wahrheit impliziert nämlich, daß auch i m neuen Zustand der Mensch i n die Versuchung geraten kann, der Wahrheit nicht zu folgen, daß also nicht alle Menschen m i t einem Schlage die Wahrheit i m Kopfe haben. Damit aber die Wahrheit verwirklicht werde, muß sie herrschen, also die von ihr Abweichenden bekehren oder unterdrücken. Demnach ist für die Utopie nicht die Souveränität schlechthin, sondern die Souveränität des monarchischen Herrschers der Feind. Es kommt deshalb nicht auf den Schutz des einzelnen vor der Souveränität oder der Macht überhaupt an, sondern darauf, daß ein anderer absolut herrscht: die Wahrheit und mit ihr der genre humain. Aber dieser Souverän ist noch absoluter, wenn man so sagen darf, als der absolute Souverän der Vergangenheit, weil er sich selbst Grenze ist, während jener noch eine Verantwortung vor Gott kannte. Der neue Souverän kennt als Maßstäbe nur die i n der absoluten Freiheit des Ichs gesetzten. Daher richtet nur der Mensch, aber er richtet deshalb, weil er der Herr über alles sein w i l l , auch über alles, und er muß daher auch die totale Verantwortung übernehmen. Der neue Souverän kennt also keinerlei Schranken, die Herrschaft der Wahrheit und der Moral 45 46 47 48

2*

Cloots , Bases constitutionnelles, S. 4. Ebd., Avant-Propos, S. I V . Cloots, L a République universelle, S. 7. Cloots, Bases constitutionnelles, S. 40.

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ist i m wahren Sinne grenzenlos; für sie gibt es keine moralfreien oder doch moralindifferenten Räume, für andere Ansichten ist hier kein Platz. Die Herrschaft des Gewissens, dem der absolute Staat nach den konfessionellen Bürgerkriegen seinen eigenen Bereich gewährt hatte 4 9 und das nun als die Aufklärung auftrat, kann keine Freiheit des Gewissens anerkennen, denn wenn das Gewissen herrscht, das immer richtige Gewissen, kann das andere Denken nur ein gewissenloses sein, das kein Recht besitzt. Deshalb erscheint diesem Denken auch kein Asyl vonnöten, kein Raum für die Emigration, denn vor der Herrschaft der universellen Wahrheit kann nur ihr Feind flüchten wollen, und dieser ist rechtlos, weil morallos 5 0 . Auch kann es i n diesem System keine Geheimdiplomatie geben, weil die Wahrheit sich überall und immer sehen lassen kann. So führt die Beseitigung der politischen Souveränität zur Installierung der Souveränität der Moral, für die es keine Parallele gibt. Hatte sich der einzelne gegen den politischen Souverän zumindest einen Bereich des Andersseins gesichert, nämlich den Bereich des Gewissens 51 , so gibt es für die Utopie, die das Monopol auf die Wahrheit hat, kein Recht auf das Anderssein: Der Mensch soll immer nur sich selbst begegnen. 4. Das utopische Denken konnte nicht von selbst zur Herrschaft i n der Welt gelangen. Hiermit trat das für jede Utopie entstehende Problem auf, wie sie aus der widernatürlichen Wirklichkeit i n den natürlichen Zustand gelangen kann: Wie w i r d die Wirklichkeit überwunden? Da die Menschen nicht von selbst auf das neue Denken kommen, müssen sie darauf gestoßen werden, oder: Der Widerstand der Falschdenkenden muß überwunden werden. Damit verortet sich die Utopie i m geschichtlichen Raum. Die Verwirklichung der einzigen Republik des 49 s. v o r allem Koselleck, a.a.O., S. 18 ff.; vgl. ferner R. Schnur, Die französischen Juristen i m konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, B e r l i n 1962; ders., Individualismus und Absolutismus, B e r l i n 1963. 50 A s y l konnte es f ü r die Anhänger des utopischen Denkens n u r i m überholten politischen Zustand geben. Deshalb bereiteten sie für den F a l l eines Fehlschlags der Revolution ihre Flucht nach den USA vor, vgl. Gidney, a.a.O., S. 24. Brissot erklärte später, es gebe zwei Asyle für diejenigen, die keinen Erfolg haben, nämlich Frankreich u n d die USA, vgl. den Discours (im Jakobinerklub) v o m 30.12.1791, Separatdruck, S. 14. A u f die i m m e r schärfer werdende Revolutionsgesetzgebung betr. die E m i gration k a n n hier nicht eingegangen werden, s. vor allem M. Garaud, La Révolution et l'Egalité civile, Paris 1953, S. 204 ff. Dieses Thema verdient eine neue monographische Behandlung, wobei auch die Idee der „Mauer" untersucht werden müßte. Siehe aber J. Hoock, Emigration u n d Revolution. Z u r Emigrationsgesetzgebung der Französischen Revolution 1789 - 1793, Der Staat 5 (1966), S. 189 ff., u n d unten S. 99 ff. Eingehend nunmehr P. Higonnet, Class, Ideology, and the Rights of the Nobles during the French Revolution, Oxford 1981. (Higonnet ist der Aufsatz von Hoock nicht bekannt.) 51 D a r i n sieht z.B. Crick , a.a.O., S. 35, den Unterschied zwischen autokratischem u n d totalitärem Regime.

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Menschengeschlechts beginnt mit der Errichtung der französischen Republik. Sie ist der archimedische Punkt, von dem aus die Gegenständlichkeit der Welt aufgehoben werden soll 5 2 . Da ihre Verfassungsprinzipien dem wahren, einheitlichen Denken entspringen, sind sie, wie Cloots meint, universell anwendbar, „aux deux tropiques comme dans les deux zones glaciales" 53 . Doch ist die französische Republik nur ein Souverän par interim, der den Sturz der Tyrannen abwartet, u m sich dann dem obersten Willen des wahren Souveräns, dem genre humain, zu unterwerfen, so wie alle provisorischen Souveräne vor diesem Souverän verschwinden 54 . Aber mit der Errichtung der französischen Republik als dem Souverän par interim ist ein folgenreicher Schritt getan: Die Utopie t r i t t i n die Wirklichkeit ein, der gedachte, als solcher private Anspruch der Utopie w i r d in Frankreich öffentlich, und wenn auch der Souverän nur ad interim herrscht, so kann er doch gegenüber anderen Nationen i m Namen des wahren Souveräns, des genre humain, auftreten — als Hüter der Verfassung des Menschengeschlechts. Indem solche Ideen sich i n der Politik Frankreichs durchsetzen, w u r den sie für die außenpolitische Wirklichkeit Europas zum Politikum und wurde damit eine der denkbar schwierigsten und gefährlichsten politischen Lagen geschaffen, deren Kontrolle höchste politische Kunst erfordert. Nun mußte offenkundig werden, daß eine der Grundlagen des Jus Publicum Europaeum nicht nur i n der Studierstube des Philosophen oder i m Salon des Literaten i n Frage gestellt wurde, nämlich der Verfassungsstandard der Monarchie 55 , und zwar derjenigen Monarchie, die aus der Zeit der konfessionellen Bürgerkriege heraus war und den Religionskrieg zwischen den Trägern des Jus Publicum Europaeum durch Neutralisierung der religiösen Gegensätze überwunden hatte 5 6 . Damit war die französische Revolution ins Grundsätzliche geraten.

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Brissot, Discours (über die Kriegsfrage, i m Jakobinerklub) v o m 30.12. 1791, S. 14: „Descartes disoit: donnez-moi u n point d'appui, et j e soulève le monde. Cette idée est encore plus vraie en politique qu'en morale. Ayez u n point d'appui pour soulever l'univers contre les tyrans, et l'univers est libre; or ce point est trouvé. Que dis-je? i l en existe u n dans chaque hémisphère; les Etats-Unis dans l'un, la France dans l'autre . . . " . s. dazu auch F. Jonas, Sozialphilosophie der industriellen Arbeitswelt, Stuttgart 1960, S. 24. 53 Cloots, Basis constitutionnelles, S. 1. 54 Cloots, Etrennes de l'Orateur d u genre h u m a i n aux Cosmopolites. Le premier Nouvel —An de la République, Au Chef —Lieu du globe 1793, S. 37. 55 Uber die Bedeutung des Verfassungsstandards Schmitt, a.a.O., S. 167 ff., sowie R. Aron, L a Guerre et la Paix entre les nations, Paris 1962, S. 108 ff. 56 Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 112 ff.

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Aber schon zeichneten sich, auch außerhalb Englands, Entwicklungen der Monarchie h i n zum liberalen Konstitutionalismus ab 5 7 , war die Gemeinschaft der Staaten Europas bereits i m Wandel begriffen. Insofern hätte eine Veränderung der Verfassungszustände Frankreichs zu einem liberalen Konstitutionalismus kein Infragestellen des gemeinsamen europäischen Verfassungsstandards bedeutet. Es mochte Mächte geben, die sich von selbst diesem Wandel widersetzen wollten, doch gilt das für die Mehrzahl von ihnen nicht, wie ihr Verhalten zu Beginn der Revolution, als sich i n ihr zunächst die konstitutionelle Monarchie abzeichnete, zeigt. I n ihren Augen wäre die Entwicklung Frankreichs zum Konstitutionalismus eine allgemein akzeptierte, wenn auch vielleicht voreilende Modifikation, aber nicht eine Revolutionierung der gemeinsamen Verfassungsprinzipien und damit auch des Völkerrechts des Jus Publicum Europaeum selbst gewesen. I n dem Augenblick aber, wo sich i n Frankreich andere Tendenzen, nämlich die hier utopisch genannten, Bahn brachen, mußte dies sich als Angriff auf den gemeinsamen Verfassungsstandard darstellen, man muß sogar hinzufügen: als Angriff der Philosophie auf die Politik überhaupt. Damit trat die Unverträglichkeit des Alten und des Neuen offen zutage und wurden dementsprechende politische Entscheidungen unumgänglich. Sie konnten, grob gesehen, folgende Richtungen haben: 1. Selbstaufgabe des Alten zugunsten allmählich völliger Herrschaft des Neuen; 2. Beharren beider Seiten auf dem ursprünglichen, prinzipiellen Standpunkt; 3. Verzicht des Neuen auf prinzipielle Veränderungen der Grundlagen des Jus Publicum Europaeum und Anerkennung des sich so beschränkenden Neuen durch das Alte. Vom Fall zu 1. abgesehen, der nicht weiter aktuell wurde, mußte jede Stellungnahme der „alten" Mächte zu diesem Konflikt die Grundlagen betreffen. Das heißt zugleich, daß es dabei nicht mehr u m eine Auseinandersetzung innerhalb des Rahmens des bisherigen Völkerrechts ging, sondern u m einen Kampf u m die Grundlagen dieses Rahmens, für den das Jus Publicum Europaeum keine Regeln bereit stellen konnte, oder genauer: Für den die „normalen" Regeln für den Krieg nicht zutreffen konnten 5 8 . Damit wurde es schwierig, i m Falle eines Kampfes auszumachen, wer ihn begonnen habe, denn gerade darauf trafen die Regeln des geltenden Kriegsrechts nicht zu. Nunmehr war eine Bürgerkriegssituation innerhalb des europäischen Konzerts gegeben, und deshalb war es höchst ungewiß, ob dieser Konflikt unter der Kontrolle von Rechtsregeln überhaupt gehalten werden konnte. Darauf 57 Uber die neueren Forschungen betr. den späten Absolutismus vgl. die bei Schnur, Individualismus und Absolutismus, S. 13 Anm. 1, angegebene Literatur. Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 1*2 ff,

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beruhen i m wesentlichen auch die Schwierigkeiten der Geschichtsschreibung festzustellen, wer 1792 den Krieg begonnen hat 5 9 . Der K o n f l i k t mußte i n dem Moment unausweichlich werden, wo sich das Neue und das A l t e ohne Verzicht auf irgendeinen der je eigenen Grundsätze gegenüberstanden 60 . Dann ging es für die Beteiligten i m wahren Sinne des Wortes ums Ganze. Hätte die Einführung der konstitutionellen Monarchie i n Frankreich, auf die Dauer gesehen, noch akzeptiert werden können, so konnten die „alten" Mächte den vollen Anspruch der Utopie, wollten sie sich nicht selbst aufgeben, nicht anerkennen. Ihnen angesichts dieser Lage die „Schuld" am Kriegsausbruch 1792 zuzuschreiben, heißt dann nichts anderes, als von ihnen die Selbstpreisgabe zu verlangen. Der K o n f l i k t war nur so zu vermeiden, daß die Utopie auf die Revolution des Verfassungsstandards des Völkerrechts des Jus Publicum Europaeum verzichtete. Dann wäre für die „alten" Mächte die Frage gestellt worden, ob sie bereit seien, eine Demokratie anzuerkennen, die nicht darauf angelegt war, eine wesentliche Grundlage der bisherigen europäischen Völkerrechtsgemeinschaft aufzuheben 61 . Das hätte zunächst bedeutet, daß man i n diese anders strukturierte Gemeinschaft gewissermaßen einen Fremdkörper eingebaut hätte. Damit wäre der Konflikt zwar vermieden worden, doch hätte der als solcher empfundene Fremdkörper wohl immer noch gewisse Schwierigkeiten gebracht. Doch gab es darüber hinaus eine weitere Lösung: Das Neue u n d das A l t e suchen einen Teil der fundamentalen, die bisherige Gemeinschaft bedrohenden Gegensätze obsolet zu machen, u m dadurch auf anderen Bereichen die unabdingbare Homogenität der Verfassungsprinzipien zu gewinnen, einen Boden also, auf dem Verständigung möglich ist. Konkret hieß das: Die Frage nach der Staatsform, nämlich Monarchie oder Demokratie, w i r d außer Streit gestellt, u m sich dann gemeinsam zu den übrigen Verfassungsstandards (bestimmtes Verhältnis von öffentlichem und privatem Recht, von Staat und staatsfreier Gesellschaft 62 ) zu bekennen. Man hätte dann das Gemeinsame i m Konstitutionellen schlechthin — konstitutionelle Monarchie und konstitutionelle Demokratie — gefunden. Darauf haben bestimmte Beteiligte, wie etwa England, gehofft, doch vergebens. 59

s. Villat, a.a.O., S. 155. A u f einen oft übersehenen Aufsatz v o n F. Brunetière, Les Guerres de la Révolution, d'après M . A l b e r t Sorel, Revue Bleue, 22, 1885, S. 737-746, sei nachdrücklich hingewiesen. 61 Eine ähnliche G r u n d - K o n f l i k t s i t u a t i o n gab es ζ. B. i n den europäischen Religionskriegen. Vgl. meine beiden oben S. 20 A n m . 49 zitierten Studien. 62 s. dazu Schmitt, a.a.O., S. 167 ff. 60

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Zu einer solchen Auflösung des Konflikts innerhalb der europäischen Völkerrechtsgemeinschaft ist es nicht gekommen. Die „alten" Mächte wurden von der Utopie nicht vor die Frage gestellt, ob sie bereit seien, die eben erwähnten Lösungen durch teilweise Preisgabe von Grundsätzen zu akzeptieren. Dadurch, daß die Utopie das radikal und unbedingt Neue bleiben wollte und somit nicht bereit war, auf dem Boden der Politik die Wirklichkeit zu berücksichtigen, zwang sie das Alte nicht zu der eminent politischen Entscheidung, seinerseits auf die Wirklichkeit, zu der ja Neues überhaupt gehört, Bedacht zu nehmen, vielmehr verschaffte sie dem A l t e n das gute Gewissen bei dem Bemühen, überhaupt nichts ändern zu wollen. Damit wurde nicht nur der Krieg unausweichlich, sondern mußte die Utopie auch gegen sich gelten lassen, daß sie eine Lösung des Konflikts überhaupt nicht anstrebte: Das utopische Denken drängt zum Krieg. So viele Anlässe die Gegner der Republik auch boten, daß diese sich bedroht fühlen mochte 63 , der Ausbruch des Krieges war nicht auf Kriegshandlungen der Monarchie zurückzuführen, er war vielmehr die Entladung der Utopie. Von daher rühren auch die Widersprüche ihrer Argumentationen, die schon Robespierre und seine Freunde i m Jakobinerklub schonungslos aufgedeckt hatten 6 4 , so daß es überflüssig ist, sie nochmals zu erörtern. Nichts dürfte für die Denkweise der Girondisten bezeichnender sein, als daß sie alle derzeit gegebenen Möglichkeiten erörtern, aber dennoch darauf verzichten festzustellen, wie die Lage wirklich ist, vor allem, ob die Monarchien w i r k l i c h angreifen wollen — auf den klaren Nachweis von Handlungen kommt es eben dem utopischen Denken nicht an 6 5 . Daher steht hinter den einzelnen Monarchien, von denen es sich zunächst bedroht glaubt, als wahrer Feind das monarchische Prinzip und hinter i h m letztlich die Wirklichkeit 6 6 . Die Utopie ist, wie Brissot richtig sieht, überhaupt nicht darin frei, den Krieg zu wollen oder nicht: Selbst wenn der Gegner nicht angreife, verursache seine bloße Existenz die Gefahr des Krieges 67 . Deshalb betrachtet Brissot den Krieg gegen die 63

Statt vieler Goetz-Bernstein, a.a.O., S. 65 ff. Besonders i n den drei großen Reden über die Frage, ob man zum K r i e g schreiten solle, v o m 2., 11. u n d 26. Januar, die v o m Jakobinerklub gedruckt wurden; s. v o r allem neben Goetz-B ernstein, a.a.O., S. 42 ff.; G. Michon, a.a.O., passim. 65 Ä h n l i c h Goetz-B ernstein, a.a.O., S. 74 ff., u n d Nürnberger, a.a.O., S. 90 f. 66 Darauf beruht auch der I r r t u m hinsichtlich des Verhaltens Englands, auf das m a n zunächst gesetzt hatte, vgl. etwa G. M . Trevelyan, Der A u f stieg des britischen Weltreichs i m X I X . u n d X X . Jahrhundert, B r ü n n 1938, S. 106 ff.; hinsichtlich der U S A : Ch. D. Hazen, Contemporary American Opinion of the French Revolution, Baltimore 1897, S. 188 ff.; F. A . Schmincke, Genêt: The origins of his mission to America, Thèse Lettres Toulouse 1939; E. E. Brown , The French Revolution and the American M a n of Letters, Çglumbia 1951, S. 63 ff., u n d Fay, a,a.O., S. 203 ff. 64

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Monarchien i n jedem Fall als eine Notwendigkeit, die sich durch menschliches Handeln nicht beeinflussen lasse 68 . Daher lasse sich der Krieg von niemandem aufhalten: „Non, i l n'est pas au pouvoir d'aucun homme d'arrêter cette révolution. Elle est l'effet de la raison, et la raison parle à chaque homme, elle parle toutes les langues 69 ." Und wenn Roederer sagt: „Nous sommes point en p a i x " 7 0 , so steht dahinter die Meinung, daß die Existenz des Andersdenkenden, der Monarchen, bereits die Feindseligkeit bedeute. Deshalb werden bereits die Umstände als feindselig, offensiv empfunden 71 , und daher besteht schon jetzt ein Kriegszustand, gibt es den Kalten Krieg, oder wie Roederer ihn nennt: „guerre sourde" 72 . So w i r d die Wirklichkeit schlechthin zum Feind. Deshalb hat die Utopie, wenn sie i m Rahmen der Lehre vom Verbot des Angriffskriegs, wie ihn die französische Verfassung gab, argumentierte, die Definition des Angreifers rasch bei der Hand: Der Andere ist als Anderer der Aggressor, weiterer Beweise für den A n griff bedarf es nicht, denn nicht auf die Handlungen, sondern auf die Existenz des Anderen kommt es an — w i l l man vom Völkerstrafrecht sprechen, so richtet sich dieses neue völkerrechtliche Denken nicht nach der Tat, sondern nach dem Tätertyp. Für ein solches Denken kann es m i t h i n immer nur Verteidigung geben, und eine Erörterung darüber, ob eine eigene Handlung einen verbotenen Angriff darstellt, ist vom Prinzip her unmöglich 7 3 . Diese Eigenart des utopischen Denkens zeigt: Was i m außenpolitischen System der Monarchien oft noch berechenbar war, nämlich das K a l k ü l etatistischer oder monarchischer Interessen, kommt jetzt nicht mehr i n Frage. Das wäre „prinzipienfremder Pragmatismus" und deshalb der Ideen unwürdig, von denen bei Redslob die Rede war 7 4 , selbst wenn er i m Grunde auf Evolution gerichtet wäre. Ein solches Verhältnis zur Politik vermag allerdings zu nichts anderem zu führen, als von einer prinzipiellen Krise zur anderen zu taumeln, die sich angeblich nur durch den endgültigen, totalen Sieg des Prinzips beseitigen lasse 75 . Der 67 Brissot, Discours (im Jakobinerklub über die Kriegsfrage) v o m 20.1. 1792, Sonderdruck, S. 5. 68 Ebd., S. 10: „Donc, dans tous les cas, la guerre est nécessaire." 69 Brissot , Discours v o m 30.12.1791, S. 27. 70 Roederer , Discours v o m 18.12.1791, Sonderdruck, S. 1. 71 Brissot , Discours v o m 20.1.1792, S. 2/3: „ . . . nous sommes dans des circonstances hostiles, offensives." 72 Roederer , Discours v o m 18.12.1791, S. 1 u n d 2. 73 Deshalb meint Louvet, Second Discours (im Jakobinerklub), v o m 18.1. 1792, Sonderdruck S. 15, m i t dem Ausdruck „la guerre offensive!" nicht den verbotenen A n g r i f f , sondern die Verteidigung, die i n einem (militärisch zu verstehenden) A n g r i f f liegt. 74 s. oben S. 12.

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Utopie kann es nicht darauf ankommen, mit kleinen Maßnahmen den Weg zu ihrer Verwirklichung zu gehen: „Citoyens, mes collègues, point de petites mesures" 76 — ihr ist kein Weg zum irdischen Paradies zu kurz. Hier kann es keine Regelung des Handelns, also kein Verfahren geben, hier gibt es nur das B i l d vom handlungslosen Zustand der Idylle, und wenn dieser Zustand nicht von selbst eintritt, ist das einzige Verfahren das Schein-Verfahren, i n dem der rechtlose Feind zum Tode gebracht werden soll. W i l l man angesichts solchen Denkens die politische Lage überblicken, so kommt es darauf an, den Punkt anzuvisieren, an dem sich die Utopie an der Wirklichkeit so erhitzt, daß die Explosion droht. Dabei ist zu beachten, daß die Gefahr der Explosion u m so größer wird, je mehr die Utopie sehen muß, daß das Ideal des Ewigen Friedens auf die Widerständigkeit des Daseins prallt. Es zeigt sich auch, daß der Zusammenstoß der Utopie mit der Wirklichkeit die Utopie m i t der Unübersichtlichkeit dieser Wirklichkeit konfrontiert. Doch gerade dies ist der Utopie, deren Lebensziel die einzige Einheit ist, zutiefst zuwider. Das Ausbleiben definitiver Klärungen, die endlich die politischen Probleme beseitigen und so den Zustand der Problemlosigkeit herbeiführen, treibt das utopische Denken zur Verzweiflung, aus der es den Ausweg nur durch den Krieg gibt: „Vivre dans l'incertitude c'est vivre indigne d'être libres. Cet état doit avoir un terme; des inquiétudes perpétuelles sont plus affreuses que la mort. I l faut que nos destins se fixent . . ." 7 7 . Damit gibt man zu, daß sich das politische Geschick doch nach anderen Maximen als denen des bloßen Denkens richtet. Das ist die Panik der Utopiker angesichts ihrer Verbannung aus der Geschichte, die Flucht der „hors-le-temps", wie sie Cioran nennt, nach vorne 7 8 . Jetzt sieht man nur noch zwei Lösungen: Entweder gibt es endlich die Gewißheit, daß die Freiheit siege oder daß Frankreich untergehe. Zwischen dem Tod 75 Vgl. auch Oakeshott, a.a.O., S. 5, über das permanente Krisenbewußtsein des „rationalistischen" Denkens. 78 Cloots, Discours prononcé dans les comités réunis de la guerre, des finances et diplomatique, en présence du conseil exécutif provisoire, et d'une députation d'insurgens Bataves, v o m 18.12.1792, in: Etrennes, a.a.O., S. 49 ff., hier: S. 54. 77 Lasource, Discours (im Jakobinerklub), v o m 27.12.1791, Sonderdruck, S. 15. Ähnliche Äußerungen bei Michon, a.a.O., S. 80. — Das sich hier anbietende Material ist v o n F. Neumann, Angst u n d Politik, Tübingen 1954, leider nicht ausgewertet worden, s. jedoch Ε. M . Ciorans Einleitung zu seiner de Maistre-Auswahl: Joseph de Maistre, Textes choisis, MonacoVille, 1957. 78 E. M. Cioran, Histoire et Utopie, Paris 1960, S. 176, w o m a n ausgezeichnete Betrachtungen über die Utopie findet; s. auch die klare Formulierung bei Oakeshott, a.a.O., S. 3: " . . . we may perhaps see i n the temperament, i f not i n the character, of the Rationalist, a deep distrust of time, an impatient hunger for eternity and an irritable nervousness i n the face of everything topical and transitory."

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und der endgültigen Gewißheit gibt es nichts mehr 7 9 . So bleibt dem utopischen Denken, das auf Radikalität aus ist, angesichts der Tatsache, daß die Wirklichkeit nicht vor dem bloßen Gedanken verschwindet, nur die radikale Lösung m i t Hilfe des Krieges: Er löst die Dunkelheit auf wie ein Blitz die Wolken 8 0 . Es zeigt sich aber auch, daß der Krieg die Dunkelheit i m eigenen Lande aufhellt, dort endlich die erwünschte Klarheit bringt, und so erscheint der Krieg den Girondisten auch als Mittel der inneren Politik. Hier beseitigt er die innere Krise, die dadurch entstand, daß sich der utopische Gedanke nicht von selbst und m i t einem Schlag verwirklichte. Der Krieg hingegen werde die Seelen reinigen: „C'est au milieu des terreurs de la guerre libre que l'égoisme disparoit, que le péril commun réunit toutes les ames . . ." 8 1 . Es soll nach Brissot der Krieg vollbringen, was Lehre und Propaganda der Klubs und Journale nicht erreicht haben: „ . . . elle mettra en pratique l'égalité des hommes; car la guerre seule peut, en confondant les hommes et les rangs, en élévant le plébéien, en abaissant le fier patricien, la guerre seule peut égaliser les têtes et régénérer les ames". „ A u sortir des combats, c'est une nation régénérée, neuve, morale . . ," 8 2 . Und Roederer meint, der Krieg werde jeden zwingen, Farbe zu bekennen, so daß man auch i m Inneren des Staates endlich klar sehe 83 . Die Nation wünscht glühend den Krieg, alle Geister sind auf diese glückliche Krise gerichtet 84 . So bewahrt der Krieg die Utopie vor der Verzweiflung angesichts des Friedens: Das ist der wahre Grund seines Ausbruchs. Aber dieser Krieg ist dem utopischen Denken kein Krieg i m herkömmlichen Sinne. Gerade seine Vorstellung vom Kriege zeigt, welche Basis das neue Völkerrecht besitzen soll, hier liegt die wirkliche Neuheit dieses Denkens: Dieser Krieg ist ein Kreuzzug, und er w i r d deshalb so geführt, wie bislang die Kreuzzüge geführt wurden. Doch hat er ein 70 Lasource, a.a.O., S. 15. Ä h n l i c h Billaud-Varenne, Discours (d.h. i m Jakobinerklub) sur les Emigrations, v o m 16.10.1791, Sonderdruck, S. 18. 80 Lasource, a.a.O., S. 16: „Qu'elle (d.h. der Blitz) éclate; l'atmosphère politique reprend sa salubrité; les vagues d'une rage impuissante viennent se briser sans succès contre le rocher inébranlable où sont assis les François . . 81 Brissot, Discours v o m 16.12.1791, S. 15, siehe auch S. 3. 82 Ebd. Es ist n u r folgerichtig, w e n n Brissot nach dem Ausbruch des Krieges meinte, m a n könne n u r dann beruhigt sein, w e n n ganz Europa i n Flammen stehe, vgl. Michon, a.a.O., S. 129, u n d Goetz-B ernstein, a.a.O., S. 328. 83 Roederer, Discours, v o m 18.12.1791, S. 4: „L'attaque faite, i l faut que chacun se déclare, s'arme, se mette en rangs et se serre; ceux qui se présentent froids et inquiets dans la cause commune sont nos ennemis; alors ceux qui restent à l'écart sont nos ennemis; ceux qui hésitent sont nos ennemis." 84 Nachweis bei Michon, a.a.O., S. 79.

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edleres und heiligeres Objekt als die Kreuzzüge des Mittelalters, er ist nämlich der Kreuzzug des bereits befreiten Volkes gegen die Tyrannen, u m auch die anderen Völker zu befreien: „C'est une croisade de la liberté universelle", sagt Brissot 85 , und für Cloots ist der Krieg der Revolution die globale Mission, aber nicht wie die Mission der Jesuiten, die für ein Phantom auszogen, vielmehr es ist die Mission der Freiheit 8 6 . Damit ist das bekannte Stichwort gegeben, unter dem hauptsächlich der Krieg der Revolution geführt wurde: Krieg den Königen, Frieden den Bürgern — es ist der Weltbürgerkrieg. Dieser kennt nicht den Kampf von Staaten gegen Staaten, sondern von globalen Parteien untereinander, nämlich der Freiheitsliebenden gegen die Unterdrücker, ja sogar der öffentlichen Moral gegen alle Laster 8 7 , kurz, des Guten gegen das Schlechte. Da hier die Idee kämpft, treten nicht nur die Waffen auf den Plan, sondern auch die Propaganda, und sind die Maßnahmen i n diesem Kriege nicht die zwischen verschiedenen Staaten, sondern die des Bürgerkrieges 88 . Die formelle Trennung zwischen Freund und Feind w i r d aufgehoben und damit die Grundlage des Kriegsrechts des Völkerrechts des Jus Publicum Europaeum 89 . Das muß für die weiteren Entwicklungen umstürzende Folgen haben: Jetzt sind Annektionen eben keine Annektionen eines Staates i m Verhältnis zu einem anderen Staate, vielmehr handelt es sich u m spontane Anschlüsse der befreiten Bevölkerung an den bisher einzigen Repräsentanten des genre humain, an die französische Nation 9 0 . So sind für Cloots die Erfolge der Mission für den Ewigen Frieden keine Eroberungen alten Stils, sondern die tägliche Anwendung der Erklärungen der Menschen85

Brissot, Discours v o m 30. 12. 1791, S. 27. Anarcharsis Cloots aux habitans des Bouches-du-Rhin, i n : Etrennes, a.a.O., S. 61; s. auch Roederer , a.a.O., S. 2: „C'est une guerre d'homme à homme, de Français à Français, de frère à frère, combinée avec la guerre de prince à nation: c'est la guerre civile religieuse combinée avec la guerre étrangère." 87 Roederer , a.a.O., S. 2; s. auch H. Barth, a.a.O., S. 77 f. 88 Kurios ist die Stelle i n Cloots, La République universelle, S. 186, note 1, wo i n den „tribus judaïques" sowohl Frankreichs als auch Deutschlands mächtige Verbündete gesehen werden, die angeblich Frankreich als „une seconde Palestine" betrachten u n d auf die i n Deutschland die Kriegsführung angewiesen sei. — Das sind die v o n der Utopie gestarteten V o r läufer der „Weisen v o n Zion", die dann auch anders als gedacht i n die W i r k l i c h k e i t gelangten, nämlich als V o r w a n d zur Ausrottung. 89 So Brissot, Arch. Pari., Bd. 36, S. 602: „ L a Révolution française a bouleversé toute la diplomatie." Vgl. statt vieler C. Schmitt , a.a.O., S. 112 ff., und H. Wehberg, K r i e g u n d Eroberung i m Wandel des Völkerrechts, F r a n k furt 1953, S. 21 ff. 90 Über diese „ A n n e x i o n s p o l i t i k " etwa: Basdevant, a.a.O., S. 187 ff.; Zeissberg, Zwei Jahre belgischer Geschichte, 2 vol., W i e n 1891; Cruylants, La Belgique sous la domination française, 2 vol., Paris 1912; Verhaegen , La Belgique sous la domination française, Bd. 1, Brüssel 1922. 86

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rechte, Eroberungen also, bei denen es als Besiegte nur die Tyrannen und als Sieger nur die Wahrheit gibt, die keiner moralischen oder rechtlichen Bewertung unterliegt, weil sie selbst die Moral und das Recht ist 9 1 . Gewiß entgeht der Utopie nicht, daß diese Mission, wenn schon kein Krieg i m herkömmlichen Sinne, so doch noch Anwendung von Gewalt ist. Aber auch dafür gibt es eine Rechtfertigung: „L'âge d'or est au bout de nos bayonnettes; le sort de l'Univers va dépendre de la célérité et de la grandeur de nos mesures 92 ." Man w i l l also den Krieg nicht, u m Eroberungen zu machen oder u m verletzte Rechte einzutreiben, man w i l l den Krieg, weil man den (ewigen) Frieden w i l l 9 3 . Dieser Krieg soll für immer die Rechte der Menschheit besiegeln. Er ist der letzte aller Kriege und das letzte mörderische Opfer, das die Menschheit zu bringen hat, weil es dargebracht wird, u m die Rückkehr der Wertschätzung des Menschen auf die Erde zu sichern 94 . Gegen diese Rechtfertigung der Gewaltanwendung aber gibt es kein Argument mehr, denn es würde den Ewigen Frieden als einzigen Wert verneinen. Damit ist offenkundig, daß der Begriff des Krieges i m Sinne des Völkerrechts des Jus Publicum Europaeum aufgehoben werden soll 9 5 . Er hat i m neuen Denken, das nur dem Frieden ein Recht gibt, keinen Platz mehr. Die Anerkennung des Krieges als eines Rechtszustandes kann nicht stattfinden, weil der Krieg i m üblichen Sinne ein Instrument der Machtpolitik der Tyrannen, d.h. der Monarchen war, die niemals Recht sein kann. Das und nichts anderes erscheint dem utopischen Denken als der Sinn der Hegungen des Krieges 96 , daß sie es den Monarchen erlaubten, immer wieder Kriege zu führen, weil sie die Vernichtung des Gegners verhindern wollten 9 7 . Diese Politik hat also 91

Cloots, L a République universelle, S. 42. Cloots, Bases constitutionnelles, S. 3 sowie S. 40. 93 Cloots, Discours (im Jakobinerklub) v o m 1.1.1792, S. 1; Lasource, Discours v o m 27.12.1791, S. 16; Roederer, Discours v o m 18.12.1791, S. 3. Die gleiche Formulierung taucht dann nach 1914 wieder auf, wofür Aulard, La Paix future etc., S. 25, ein Beispiel gibt: „C'est à la guerre que nous faisons la guerre . . 94 Billaud-Varenne, Rapport fait à la Convention Nationale au n o m du Comité du Salut Public, 1 floréal, l'an 2, Separatdruck, S. 18. 95 Vgl. auch die Äußerung v o n Camille Desmoulins : „ I I faut faire d u droit public de l'Europe comme L u t h e r f i t du droit canon, en jeter tous les livres au feu" (zit. n. Sorel, a.a.O., S. 11). 96 s. v o r allem C. Schmitt, a.a.O., S. 112 ff. Vgl. auch R. Caillois, La guerre courteoise, Rev. I n t . Hist. Pol. et Const., Ν . S. 3, 1953, S. 345. 97 C. Barbault-Royer, De la Guerre contre l'Espagne, Paris s. d. (1792 oder 1793), S. 14: „Chacun de ces tyrans v i v o i t dans la plus grande sécurité vis-à-vis l ' u n et l'autre; ils ne pouvoient être opprimés, puisque tous se surveilloient et s'entre-aidoient mutuellement. D'ailleurs moyennant quelques légères compensations, les guerres et les disputes se terminoient où l'on 92

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jetzt ein Ende gefunden, sie macht dem wahren Recht der Menschheit Platz: I m Kreuzzug für den Ewigen Frieden verlieren die Hegungen des Krieges ihren Sinn, weil dort der Gegner des genre humain, der Wahrheit und der Moral, vernichtet werden soll, oder noch genauer: Die Hegungen des Krieges galten dem Menschen, der Kreuzzug der Revolution gilt dem Prinzip, das keine Schranken kennt, und wenn dabei Menschen getötet werden, so geschieht das nur, u m das falsche Prinzip, den überholten Zustand zu beseitigen, die Menschen werden also nur als Ideenträger vernichtet 9 8 . Ein solcher Krieg ist somit der einzige Krieg, der tötet, u m zu töten 9 9 . Daher gibt es jetzt keinen justus hostis mehr und keine aequalitas der Feindqualität. Der Unterschied zwischen Feind und Verbrecher w i r d aufgehoben, die Revolution kämpft allenfalls gegen Briganten. Aber man geht noch weiter: Der Feind verdient nicht, als Mensch behandelt zu werden, und deshalb verlangt Cloots, man müsse die Aristokraten (von denen er selbst abstammte) auslöschen. Nur i m Auslöschen dieses Feindes des Menschengeschlechts erweise sich der Friedenskämpfer als Philanthrop, als w i r k licher Förderer der Menschheit 100 — nur i n der totalen Beseitigung des Nicht-Gleichen w i r d die totale Gleichheit hergestellt, kann das absolute Selbstbewußtsein seine Freiheit und seinen Ewigen Frieden finden. Das eben ist der totale Krieg: Einen Friedensschluß, der ja zwei Feinde voraussetzt, kennt dieses Völkerrechtsdenken nicht, denn es w i l l zu seinem Frieden durch die Vernichtung oder totale Unterwerfung des Anderen kommen 1 0 1 . Und wenn Recht die Ordnung von Verschiedenem ist, so erkennt man jetzt: Der Jurist, der i m konfessionellen Bürgerkrieg den (fanatischen) Theologen überwunden hatte, soll durch dessen säkularisierten Nachfolger, den (fanatischen) Philosophen ersetzt werden 1 0 2 . vouloit; ce n'étoit que des querelles convertées qui autorisoient les impôts dont on grévoit le peuple, et le peuple payoit gaiement les impôts pourvu que la Guerre fut terminée; mais le temps et les circonstances ont changé. La raison des combats et l'usage de ses javelots sont devenus autrement sérieux; la Liberté a jetté l a réforme dans tous ces systèmes . . . " 98 s. auch Jonas, a.a.O., S. 22. 99 A . Cochin , Les Sociétés de Pensée et la Démocratie moderne, Paris 1955, S. 294. 100 Cloots , A m o n tour la parole; Réponse d'A. C. aux diatribes RolandoBrissotines, Paris s. d. (1792), S. 6. I m Jakobinerklub rief Isnard: „ . . . tous les ennemis de la liberté seront effacés de la liste des hommes!" (zit. n. Sorel, a.a.O., S. 318). 101 A u f dieser L i n i e lag es, w e n n später (1794) der Konvent entschied, daß man englische, hannoversche u n d spanische Soldaten nicht zu Gefangenen machen werde. Bar ère, der Berichterstatter war, rief aus: „ L ' h u manité consiste à exterminer ses ennemis . . . " . Dazu Einzelheiten u n d völkerrechtliche Würdigung bei Basdevant, a.a.O., S. 88 ff. Vgl. auch die Mitteilungen bei Cochin , Les Sociétés de Pensée usw., a.a.O., S. 292.

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5. Es hieße das Wesen des utopischen Denkens verkennen, wollte man dieses Ergebnis, den totalen Krieg, als planmäßig verfolgt betrachten und darin die Aufgabe der ursprünglich so rühmenswerten Idee des totalen Weltfriedens sehen, und es wäre ebenfalls falsch, i m Aufgeben dieser Idee den moralischen Verfall der Girondisten erkennen zu wollen, die den Versuchungen der Macht erlegen seien. Unsere Ausführungen sollten vielmehr klarmachen, daß die Idee des totalen Weltfriedens den totalen Weltbürgerkrieg notwendig zur Folge hatte. Freilich entspricht es diesem Denken, daß es eine Folgen nicht übersieht, denn zwischen seinem Ausgangspunkt und seinem Endpunkt steht die Wirklichkeit, für die dieses Denken blind ist. Es ist diese Wirklichkeit, welche die Idee des Weltfriedens zum Weltbürgerkrieg treibt: Die Utopie kann sich die Verwirklichung ihres Ideals nicht anders vorstellen denn als allgemeine spontane Aufnahme des Ideals durch die Menschen. Damit scheinen die Probleme der Umsetzung der Idee i n die Wirklichkeit gelöst. U m so größer w i r d ihr Schrecken, wenn sie auf Probleme des Handelns stößt 1 0 3 . Da sie nicht darauf aus ist, sich über die bestehenden Hemmnisse Klarheit zu verschaffen, und nicht danach fragt, ob man das Ziel auf dem Wege der Evolution erreichen könne 1 0 4 , w i l l sie den gordischen Knoten der Wirklichkeit durchhauen. Das muß dazu führen, alles das, was nicht reiner Gedanke ist, auszulöschen. Dazu gehörte i m konkreten Falle auch, daß das Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum beseitigt werden sollte. Aber es wurde nicht gefragt, ob dieses Recht der monarchisch regierten Staaten demjenigen, der nicht an der Macht teilhatte, nämlich dem Privaten, Schutz gewährte. Das Abwägen von Vor- und Nachteilen ist nicht Sache der Utopie, die ja alle Nachteile abschaffen w i l l . Darin liegt das Gefährliche dieses Denkens: Aus Verzweiflung darüber, das Wesen der Macht nicht erkennen zu können, nimmt es Zuflucht zur schieren Gewalt 1 0 5 . Das Problem des gehegten Krieges soll gelöst werden, indem der totale Krieg begonnen wird. Das Problem des Freund-Feind-Verhältnisses w i r d durch die reine Freund-Theorie gelöst, die sich verwirklicht, indem man den Feind abschafft. Damit kommt man zum letzten Grund dieses Denkens: Das abstrakte Selbstbewußtsein ist unfähig, m i t dem je Anderen fertig zu werden. Es kennt nur das Glück für sich und das Unglück für den Anderen, wie 102 A u f die Parallele v o n französischer Revolution u n d Reformation hat bekanntlich schon Burke i n seinen "Thoughts on French A f f a i r s " hingewiesen. 103 s. schon G. Sorel, Réflexions sur la Violence, Ausgabe Paris 1950, S. 15 ff. 104 Vgl. auch Oakeshott, a.a.O., S. 4: "There is, of course, no question either of retaining or i m p r o v i n g such a tradition, for both these involve an attitude of submission. I t must be destroyed." 105 Vgl. Koselleck, a.a.O., S. 156.

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Cloots sagte: „Je porte malheur à mes ennemis; ils finissent tous par l'émigration, ou par la déportation, ou par le fer de la Guillotine 1 0 6 ." Da das abstrakte Selbstbewußtsein keinen Anderen kennt, sondern allenfalls den Feind als bloßes Faktum, als Zustand, den es zu beseitigen gilt, kann es letztlich auch keinen Freund haben. Aber hier w i r d ein seltsamer Zusammenhang zwischen der Verachtung des Anderen und dem Selbstvernichtungstrieb deutlich: „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen innern Umfang und Erfüllung hat, denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbsts; er ist also der kälteste platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers 107 ."

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Cloots, A m o n tour la parole, S. 7. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 418 f.; s. dazu J. Ritter, Hegel u n d die französische Revolution, K ö l n 1957, S. 16 f. ( = Ritter, Metaphysik u n d Politik. Studien zu Aristoteles u n d Hegel, F r a n k f u r t 1969, S. 194 f.). 107

Land und Meer — Napoleon gegen England Ein Kapitel der Geschichte internationaler Politik

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1. Unsere Ausführungen wollen, freilich i n engem thematisch-zeitlichen Rahmen, die Bemühungen aufgreifen und fortführen, die seit einiger Zeit darauf abzielen, die Bedeutung des Gegensatzes zwischen Land und Meer klarer als bisher herauszustellen. A m Anfang dieser Bemühungen steht das bahnbrechende Werk des Amerikaners Mahan 1. Es stellt den Ausgangspunkt für die weiteren Forschungen dar. I n der Folgezeit setzte sich zum Beispiel i n der deutschen Geschichtswissenschaft die Methode, den Kampf zwischen Napoleon und England global zu betrachten, immer mehr durch 2 , wobei die politische Konstellation des Ersten Weltkrieges gewiß beträchtlichen Einfluß ausübte 3 . I m Jahre 1919 wurde für den englischen Geographen Mackinder der Gegensatz zwischen Land und Meer zum Gegensatz zwischen Barbarei und Z i v i l i sation 4 . Später begannen dann vor allem die Bemühungen Carl Schmitts. Ein Ergebnis der politischen Konstellation des Zweiten Weltkrieges war Wolgasts Schrift über Seemacht und Seegeltung 5 . Wolgast machte insofern auf eine Schwäche i n Mahans Werk aufmerksam, als dieser die Entscheidung des Seekrieges i n der alles entscheidenden See1 A . T. Mahan, The influence of Seapower upon History, 1660 - 1783; L o n don 1889; ders. f The influence of sea power upon the French Revolution and Empire, 1793 - 1812, London 1893; deutsch: Der Einfluß der Seemacht auf die Geschichte, B e r l i n 1896 - 1899. 2 M . Lenz, Die Bedeutung der Seebeherrschung für die P o l i t i k Napoleons (1906), i n : Kleine historische Schriften, 2. Aufl., Bd. 1, München 1913, S. 304 ff.; H. Roloff, Die W e l t - u n d M a r i n e p o l i t i k Napoleons I., Das Größere Deutschland, 1, 1914, S. 102 ff. Lenz knüpfte an eine Bemerkung des späten Ranke an. 3 Siehe etwa O. Brandt, England u n d die napoleonische W e l t p o l i t i k , 1800 bis 1803, Heidelberg 1916. Vorher bereits M . Lenz, Napoleons K a m p f gegen England i m Lichte der Gegenwart, Velhagen u n d Klasings Monatshefte, 29, 1914, S. 528 ff. 4 H.-J. Mackinder, Democratic Ideals and Reality, London 1919 u n d New Y o r k 1942 (Nachdruck Ν . Y . 1962). 5 E. Wolgast, Seemacht u n d Seegeltung, entwickelt an A t h e n u n d England, B e r l i n 1944. Unter dem Einfluß des Krieges stehen w o h l auch C. Oman, B r i t a i n against Napoleon, London 1942, sowie B. de Jouvenel, Napoléon et l'Economie dirigée — Le Blocus Continental, Paris 1942.

3 Schnur

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schlacht gesehen habe, während i n Wirklichkeit der Handelskrieg die Entscheidung bringe 6 . Einen Höhepunkt der Forschung brachten die Arbeiten von Carl Schmitt. Nach einigen kleineren Studien 7 veröffentlichte er i m Jahre 1950 sein großes Werk 8 , i n dem er die Bedeutung des Gegensatzes zwischen Land und Meer für das Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum umfassend darstellt. Einen weiteren Fortschritt brachte Schmitts Beitrag zur Festschrift für Ernst Jünger 9 . Dort wurde auf den Zusammenhang zwischen der Natur der Seemacht England und den Grundlagen der Industrialisierung nachdrücklich hingewiesen 10 . Als wichtiger Zeuge w i r d Hegel genannt 11 . 2. A n diese Forschungsergebnisse knüpfen die folgenden Darlegungen an. Unsere Absicht geht dahin, eine Ergänzung vor allem zum Werk Carl Schmitts zu geben, i n welchem dem Zeitalter der Kriege von 1792 - 1815 verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit gewidmet ist. Unsere Ausführungen werden allerdings an der Sicht der Grundfragen des Völkerrechts des Jus Publicum Europaeum nichts ändern. Sie sollen an Hand verschiedener Beispiele zeigen, daß man sich seinerzeit i n Frankreich der Bedeutung des Gegensatzes zwischen Land und Meer, so wie er sich uns i m Licht der Forschung zeigt, bewußt war und i n diesem Bewußtsein den Krieg gegen England führte. Indem der Gegensatz zwischen Land und Meer i n das Bewußtsein der Franzosen rückte, verließ Frankreich die i m vorhergehenden A u f satz dargelegten Völkerrechtsideen der Jahre unmittelbar nach 1789 und kehrte es zur Tradition 1 2 und i n die Wirklichkeit der großen 6

Ebd., S. 2. V o r allem: L a n d u n d Meer — eine weltgeschichtliche Betrachtung, Leipzig 1942, 2. durchgesehene Auflage 1954, neue Ausgabe: K ö l n 1981. 8 Der Nomos der Erde i m Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, K ö l n 1950. Siehe dazu v o r allem H. Wehberg, V o m Jus Publicum Europaeum, Die Friedenswarte, 50, 1951, S. 305 ff. Nunmehr eingehend P. P. Portinaro, La crisi dello jus publicum europaeum. Saggio su Carl Schmitt, Mailand 1982, S. 161 ff. 9 Die geschichtliche S t r u k t u r des heutigen Weltgegensatzes v o n Ost u n d West, Festschrift f ü r Ernst Jünger, F r a n k f u r t 1955, S. 135 ff. Schmitts H i n weis auf Hegel ist aufgenommen worden v o n J. Ritter, Hegel u n d die französische Revolution, K ö l n 1957, S. 38 u n d S. 64 ( = Ritter, Metaphysik u n d Politik. Studien zu Aristoteles u n d Hegel, F r a n k f u r t 1969, S. 222 f.). 10 Ebd., S. 155 ff. 11 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 247: „Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester G r u n d u n d Boden Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende natürliche Element das Meer." 12 Daß die Kriege der Revolution u n d des Empire sich als Fortsetzung des alten Kampfes u m die Freiheit der Meere darstellten, sagte auch E. Cauchy i n seinem W e r k Le D r o i t M a r i t i m e international considéré dans ses origines 7

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A u ß e n p o l i t i k z u r ü c k 1 3 . Dieser Gegensatz h o b z w a r n i c h t a l l e a n d e r e n bestehenden a u ß e n p o l i t i s c h e n Gegensätze auf, doch e r w i e s er sich l e t z t e n Endes als ausschlaggebend 1 4 . I n j ü n g s t e r Z e i t k o n n t e d a h e r e i n französischer G e l e h r t e r ganz d e u t l i c h aussprechen, daß N a p o l e o n v o m M e e r besiegt w o r d e n s e i 1 5 . D i e s e n S a c h v e r h a l t m a c h t d i e G e o p o l i t i k besonders k l a r 1 6 . D i e h i e r b e n ü t z t e n Q u e l l e n s t e l l e n keineswegs das gesamte g e d r u c k t e M a t e r i a l d a r , das z u m Z w e c k e d e r A u s w e r t u n g i n B e t r a c h t k o m m t . Sie d ü r f e n aber als r e p r ä s e n t a t i v angesehen w e r d e n , u n d z w a r w o h l h i n sichtlich ihres I n h a l t s 1 7 als auch i m H i n b l i c k a u f das, w a s m a n d i e Ö f f e n t l i c h e M e i n u n g n e n n t . D i e A u f g a b e w i r d i n s o f e r n e r l e i c h t e r t , als m a n w e i ß , daß i n k r i e g e r i s c h e n Z e i t e n die M e i n u n g e n i n n e r h a l b eines Staates i m G r u n d s ä t z l i c h e n z i e m l i c h g l e i c h sind. Daß P a m p h l e t e u n d ähnliche Propagandamittel verwendet werden, dürfte k a u m Einwände h e r v o r r u f e n . I h r e V e r w e n d u n g ist sogar n ö t i g , u m d i e ö f f e n t l i c h e M e i n u n g d e r Z e i t ausmachen z u k ö n n e n 1 8 . Napoleons Ä u ß e r u n g e n b l e i b e n a u ß e r h a l b u n s e r e r B e t r a c h t u n g 1 9 , w e i l es h i e r d a r a u f a n k o m m t z u zeigen, daß sie keineswegs v e r e i n z e l t w a r e n . et dans ses rapports avec les progrès de la civilisation, Bd. 2, Paris 1862, S. 296 ff. Englische Historiker sahen das vielleicht noch deutlicher, vor allem Seeley u n d Rose; vgl. W. Mailahn, Napoleon i n der englischen Geschichtsschreibung, B e r l i n 1937, S. 78 ff. Uber ältere französische K r i t i k e n an England vgl. P. Klassen, Die englisch-französische Rivalität u n d die Wandlungen der europäischen Friedensidee i m 18. Jahrhundert, Die W e l t als Geschichte, 3, 1937, S. 163 ff. 13 Insoweit w o l l e n unsere Ausführungen auch eine Ergänzung zu H. Kesting, Geschichtsphilosophie u n d Weltbürgerkrieg, Heidelberg 1959, bringen. 14 Vgl. Brandt, a.a.O., S. 10. 15 Granger, Napoléon et la Mer, Revue de l ' I n s t i t u t Napoléon, 1954, No 53, S. 114 ff. 1β Vgl. Α . Grabowsky, Raum, Staat u n d Geschichte. Grundlegung der Geop o l i t i k , K ö l n 1960, S. 195 f., siehe auch S. 24 f. m i t dem Hinweis auf Ratzel. Einen vorzüglichen Überblick gibt jetzt P. P. Portinaro, Nel tramonto dell'Occidente: La Geopolitica, Comunità, η . 184, 1982, S. 1 ff. 17 M a n könnte fast ausschließlich m i t dem dreibändigen W e r k v o n Bertrand Bar ère, La Liberté des Mers, ou le Gouvernement anglais dévoilé, Paris A n VI-1798, auskommen. Dieses Werk ist meines Erachtens das großartigste Pamphlet, das j e gegen die insulare Seemacht geschrieben wurde. Die 1942 (sie) i n Paris v o n Marchand eingeleitete u n d kommentierte A u s w a h l aus dem W e r k Bareres (La Liberté des Mers, 199 S.) scheint wenig A u f merksamkeit gefunden zu haben. Marchand weist auf den Einfluß v o n M. Hübners De la saisie des bâtiments neutres, Den Haag 1759, hin. Uber Barere auch J. L. Holst, Versuch einer kritischen Ubersicht der Völker-Seerechte, Hamburg 1802, S. 156 ff. Eine umfassende Biographie Barères: L . Gershoy, Bertrand Barère. A Reluctant Terrorist, Princeton 1962. I m m e r noch lesensw e r t ist Th. B. Macaulay, P o l i t i k u n d M o r a l (Friedrich d. Gr., Bertrand Barère, M a c h i a v e l l i ) , U l m 1947, S. 133 ff. 18 Neuere zusammenfassende Darstellung der napoleonischen Propaganda bei R. B. Holtman, Napoleonic Propaganda, Baton Rouge 1950. Wichtig auch W. Stroh, Das Verhältnis zwischen Frankreich u n d England i n den Jahren 1801 bis 1803 i m U r t e i l der politischen L i t e r a t u r Deutschlands, B e r l i n 1914. 3·

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1. Der Ausgangspunkt der französischen Ideen über die Bedeutung des Kampfes gegen England läßt sich nach den hier benutzten Quellen wie folgt kennzeichnen: M i t der Entdeckung der beiden Indien beginnt ein neuer Abschnitt der Geschichte. Für Europa hat sich das Universum u m eine neue Hemisphäre vergrößert. Nunmehr beginnt der wirkliche Welthandel. Die Marine gewinnt deshalb für Europa große, ja entscheidende Bedeutung. Seit dem Frieden von Rijswijk (1697) teilt das Meer die Macht mit dem festen Land. Dadurch hat es i n gewisser Weise die politische Situation aller Staaten verändert 2 0 . Heute sind die Staaten nur groß, wenn ihre Industrie Fortschritte macht und wenn ihr Handel groß und ihre Seemacht stark ist 2 1 . M i t der Vorherrschaft des Handelsund Kolonialsystems über das rein kontinentale und militärische System haben sich die Interessen der Staaten erheblich gewandelt. Die Prinzipien ihrer Politik mußten sich dieser bedeutsamen Revolution der Politik anpassen, die zwischen ihnen neue Verhältnisse geschaffen hat 2 2 . I m Kampf u m die Herrschaft des Welthandels mußte schließlich diejenige Macht siegreich bleiben, die ihre Existenz ganz auf das den Handel tragende Element, nämlich auf das Meer, gestellt hatte. Das England Elisabeths erkannte das und zog daraus die Folgerungen 23 . Der Begründer des maritimen Systems Englands wurde Cromwell als Urheber der Navigationsakte von 1651. Nunmehr beruhen Englands Beziehungen allein auf den Schiffen. England hatte erkannt, daß die stärkste Seemacht auch die stärkste Handelsmacht werde. Seine große Chance i n diesem Kampf war seine Lage als Insel i m Ozean. Indem England zur insularischen Seemacht wurde, verschmolz es mit dem Element, das den Handel trägt: mit dem Meer 2 4 . Das Meer ist also gewissermaßen die Wohnung Englands geworden 25 . Aus dem Meer hat 19 Darüber vor allem E. Chevalley, Essai sur le D r o i t des Gens Napoléonien, d'après la correspondance (1800 bis 1807), Paris ο. J. 20 M. Montgaillard, De la France et de l'Europe sous le gouvernement de Bonaparte, Paris Germinal an XII-1804, S. 36; ders., Situation de l'Angleterre en 1811, Paris 1811, S. 145. 21 Monbrion, De la prépondérance m a r i t i m e et commerciale de la GrandeBretagne, ou intérêts des nations relativement à l'Angleterre et à la France, Paris an XIV-1805, S. 21. 22 Ebd., S. 207. 23 Ebd., S. 27 ff., P. F. Barbault-Royer, Résumé sur l'Angleterre, Paris s. d., S. 10; Barère, a.a.O., Bd. 1, S. 75. 24 Barère, a.a.O., Bd. 1, S. 64. Barère kennt mehrere Formen der Seemacht. Er entwickelt ausführliche Gedanken über die puissance m a r i t i m e insulaire. Darauf k a n n hier nicht näher eingegangen werden. 25 Barbault-Royer, a.a.O., S. 9 f.; ders., Essai politique sur les puissance navales dans la guerre de la République, Rochefort-Paris an I I , S. 9.

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es sein Territorium gemacht 26 . England hat damit zur insularen Existenz gefunden. Gerade diese A r t der Existenz ist eine große Gefahr für die anderen Nationen, denn wer die See beherrscht, regiert die Welt 2 7 . Jetzt wendet England seine politischen Interessen und seine Macht ganz nach außen. Früher war es, i m Prinzip, die Insellage, die seine Schwäche und Abhängigkeit verursacht hatte. Heute, nach seiner unerwarteten Emanzipation, ist es gerade diese Insellage, die Englands Herrschaft begründet 28 . Zwar wollen auch die anderen Staaten der neuen Politik folgen, aber es ist die englische Regierung, die am besten den Einfluß des Meeres auf das Land berechnet und befestigt hat 2 9 . Aus der insularen Lage ergibt sich die Notwendigkeit der Navigation. Die Navigation ihrerseits bringt den Geist der Piraterie hervor 3 0 . Das Beispiel Englands beweist jedoch, daß die Navigation die größte Geißel i n der Welt darstellt: Keine Erfindung hat die Unterdrückung so sehr erleichtert. Während die Natur alles getan hat, damit der Mensch frei sei, hat die Navigation alles getan, damit er zum Sklaven werde. Der Erbauer der ersten Schiffe war deshalb kein Wohltäter der Menschheit 31 . Die Marine w i r d dadurch zum furchtbaren Instrument der Macht der modernen Staaten. Sie ist jene schöne Maschine, die sich aus den Tributen aller Künste und Wissenschaften und aus den größten Theorien, die auf die kühnsten Konstruktionen angewendet werden, zusammensetzt 32 . Die Marine als Ergebnis aller Industrien und als Summa aller Künste ist das Gegenteil von Weichlichkeit und Luxus: Sie bringt Kühnheit und Mut hervor, wie denn überhaupt der großartigste Teil der Geschichte den seefahrenden Völkern gehört 3 3 . Wer aber die stärkste Marine besitzt, beherrscht den Handel 3 4 . Die Insel England strebt die Beherrschung des gesamten Welthandels an, weil ihre gesamte Existenz auf dem Handel beruht. So ist die maritime Existenz das eigentliche Prinzip der englischen Politik, das von 26

Barère, a.a.O., Bd. 2, S. 91. Ebd. Siehe auch Le Comte, L'Esprit du Gouvernement anglais ou son Système Politique et celui des Puissances de l'Europe, pendant deux siècles, Paris s. d. (1806), S. 183, sowie Monbrion , a.a.O., S. 254. 28 Barère , a.a.O., Bd. 1, S. 86. 29 Ebd., Bd. 3, S. 276. 30 Ebd., Bd. 1, S. 120. 81 Ebd., Bd. 2, S. 204 f. 32 Miles, Reconnaissez l'Anglais, et surveillez sa politique, L'Historien, No 258, 18. Th. l'an I V , S. 530. 83 (C. A . B. Pinière), Lettres d'un observateur sur la marine etc., Paris 1802, S. 5. 27

34

Barbault-Royer,

Résumé sur l'Angleterre, S, 12.

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dem Wechsel der Dynastien nicht berührt w i r d 8 5 . Die Marine ist es also, welche die Einheit der Nation herstellt. Sie durchdringt alle Ideen und ist die Staatsräson Englands 36 . Sie stellt die eigentliche Verfassung des Staates dar. 2. Diese Erkenntnis der Bedeutung der Schiffahrt w i r d nunmehr i m Hinblick auf die Entstehung der Industrie fruchtbar gemacht: Der Handel begründet den Reichtum der Nationen, doch gibt es ohne die Marine keinen Handel 3 7 . Gehören Handel und Schiffahrt zusammen, so fördern sie gemeinsam wiederum die Industrie: England importiert, verarbeitet und exportiert 3 8 . England besitzt heute eine perfekte Industrie: Handelsgesellschaften, Fabriken, Banken, Kapitalien: A l l dies ist i n England die unmittelbare Folge der Entwicklung des Navigationssystems 39 . Heute w i r d der Reichtum einer Nation i n erster Linie am Fortschritt der Industrie und weniger an der Fruchtbarkeit seines Bodens gemessen40. Die Industrie w i r d künftig das Schicksal der Völker bestimmen. Die Industrialisierung w i r d dazu führen, daß von England eine Revolution ausgehen wird, die mindestens so beachtlich sein w i r d wie die Französische Revolution: die Industrielle Revolution 4 1 . Die Industrie ist i n England zur Notwendigkeit geworden, weil es dort an Menschen fehlt. Die Mechanik der Fabriken soll die Handarbeit vereinfachen. Die klare Einsicht i n die Notwendigkeit war die Mutter jener wunderbaren Erfindungen, denn i n einem wenig bevölkerten Lande, i n dem ein großer Teil der Bevölkerung auf dem Meer und i n den Kolonien lebt, muß auf das Gleichgewicht der Menschenzahl zwischen diesem Land und den anderen großen Staaten geachtet werden. Plötzlich leisten i n England 10 Menschen das, was anderswo 1000 Men85

(Lesur?), Mémoire sur la conduite de la France et de L'Angleterre à l'égard des neutres, Paris 1810, S. 31 (Hinweis auf deutsche Teilübersetzung bei Ompteda-Kamptz, Neue L i t e r a t u r des Völkerrechts seit dem Jahre 1784, B e r l i n 1817, S. 301/302). 86 Monbrion, a.a.O., S. 265 u n d S. 278; Barbault-Royer, Résumé etc., S. 12. Siehe auch Eschassériaux ainé, Tableau politique de l'Europe au commencement du X I X e siècle, et moyens d'assurer la durée de la paix générale, Paris an X , S. 61. 87 Miles, a.a.O., S. 531. 88 J. A . Morgue, De la France, relativement à l'Angleterre et à la maison d'Autriche, Paris an V I , 1797, S. 19. 89 (d'Hauterive), De l'Etat de la France, à la f i n de l'an V I I I , 2e éd., Paris 1800, S. 158 f. Siehe auch M.T.D.d.P., De la guerre perpétuelle, et de ses résultats probables pour l'Angleterre, Paris s.d., S. 5. Über d'Hauterives Schrift eingehend Th. Ebbinghaus, Napoleon, England u n d die Presse (1800 bis 1803). München 1914, S. 126 ff. Biographie d'Hauterives: Artaud de Montor, Histoire de la vie d'Hauterive, Paris 1839. 40 J. Colleville, La guerre pendant l a p a i x , ou précis de l a puissance q u exercent les Anglais sur tous les peuples du globe, Paris 1803, S. 13. 41 Morgue, a.a.O., S. 11: „ . . . cette révolution industrielle "

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sehen kaum erreichen. Wenn das den vielen Historikern der letzten Jahre entgangen ist, so hat das, wie unser Betrachter meint, einen tiefen Grund: Die Historiker haben das neue Zeitalter nicht verstanden. Jede Leistung der französischen sogenannten Moralisten und brillanten Literaten ist nicht so viel wert wie die Leistung eines Firmenchefs. Der methodisch denkende Kopf eines Kaufmanns bringt Ideen von einer Klarheit und einer Größe hervor, die jeder anderen Persönlichkeit den Titel eines ausgezeichneten Gelehrten einbringen würden. England selbst stellt einen solchen Kaufmann dar 4 2 . Obwohl i h m nur drei M i l lionen Menschen für die Exportindustrie zur Verfügung stehen, so stellen diese doch so viele Waren für alle Märkte her wie die gesamte ungeheuer große Bevölkerung Europas. Diese große Entwicklung der Industrie verdankt England allein der Benutzung mechanischer Maschinen i n allen Arten von Fabriken 4 3 . Den französischen Beobachtern der Seemacht England und ihrer Politik entgeht nicht, was die Handels- und Industriemacht England zum Leben benötigt: nämlich Verbraucher. Von ihnen ist England abhängig 4 4 . Englands soziale Ordnung kann nur dann gewahrt werden, wenn zwischen der Zahl der Arbeiter und der Zahl der Verbraucher ein Gleichgewicht besteht. Da England infolge des industriellen Systems immer i n der Gefahr schweben wird, zu viele Arbeiter zu haben, muß es ständig seinen Export erweitern. Anderenfalls w i r d es i n England ein allgemeines Elend und eine rasche Entvölkerung geben. Es darf daher i m Austausch nur Rohprodukte hereinnehmen. Deshalb ist England stärkstens daran interessiert, die Barbarei dort beizubehalten, wo es sie findet, und sie dort zu schützen, wo man sie angreift, u m sie abzuschaffen 45 . So wie Alexander der Große den mit dem Schwert besiegten Völkern Tribute auferlegte, so zwingt England den m i t seiner Marine besiegten Völkern seine Waren auf. Dringt England i n ein fremdes Land ein, so bemächtigt es sich zuerst eines Forts, dann eines Handelsmagazins: Zuerst eine Eroberung, dann eine Kolonie. Diejenigen, die es zunächst als Feinde behandelt, verwandelt es i n Verbraucher 46 . Besitzen die eroberten Länder bereits Industrie und Handel, so werden die Fabrikanlagen zerstört, damit nur noch die Erzeugnisse englischer Fabriken 42 J. Colleville, L'Europe conquise avec une plume et du coton, ou court exposé de la puissance du commerce anglais, Paris an I X , S. 6. 43 Morgue , a.a.O., S. 16. 44 Barère, a.a.O., Bd. 1, S. 105 f.: vgl. auch M.T.D.d.P., a.a.O., S. 40* w o ausgeführt w i r d , daß sich England i n wirtschaftlicher Abhängigkeit v o n A m e r i k a u n d den barbarischen Staaten befinde. 45 Lesur, progrès etc., S. 464 f. 46 Barère, a.a.O., Bd. 3, S. 251; siehe a u d i a.a.O., Bd. 2, S. 157 f.

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gekauft werden. Aber die Industrie macht England zugleich verwundbar. Trifft nämlich ein Feind Englands Handel, so w i r d i h m seine Industrie zu einer Last werden, und seine Bevölkerung w i r d zwischen Elend und Verzweiflung dahin vegetieren 47 .

m. 1. Eine solche Nation drängt notwendigerweise zur Weltherrschaft, denn ihr Handel und ihre Industrie müssen die Welt für sich haben 4 8 . Sie benötigt Reichtümer, u m Krieg führen zu können, und sie führt Krieg, u m an eben diese Reichtümer heranzukommen, so daß ihre A m bitionen erst dann befriedigt sind, wenn es auf dem Erdball nichts mehr zu gewinnen gibt 4 9 . Ihre Herrschaft ist daher eine ausschließliche. Die „puissance maritime exclusive", wie sie Barère nennt, macht deshalb aus dem Meer eine absolute Monarchie, eine organisierte Tyrannei, einen gegen alle Ordnung revoltierenden Despotismus: Alle Völker sind nichts, ein Volk ist alles 50 . Jeder Kanonenschuß eines englischen Schiffes gegen eine europäische Macht, so heißt es weiter, hallt bald i n Asien, i n Afrika und i n Amerika wider. Für England gibt es nämlich kein isoliertes politisches Problem, seit alle Politik vom Handel bestimmt wird, und weil der Handel das Leben des ganzen Volkes bestimmt, ist dort alles Politik. Wegen einiger Ballen Handelsware w i r d die ganze Welt i n Brand gesetzt 51 . Seit der Entdeckung der beiden Indien gibt es unaufhörlich blutige Kriege nur wegen des Handels. Schwert und Feuer haben seitdem die Welt verwüstet: Nur des Pfeffers, des Indigos, des Zuckers und des Kaffees wegen 52 . Das liegt daran, daß England überall Unruhe stiftet, um seinen Geschäften u m so besser nachgehen zu können. England befindet sich deshalb geradezu i m natürlichen Kriegszustand. Es hält die Welt i n ständiger Bewegung 53 . Der Unterschied zwischen Krieg und Frieden 47

Ebd., Bd. 1, S. 103. Barère nennt i n der W i d m u n g seines Werkes (Bd. 1, S. I X ) die englische Regierung „le monopoleur avide de toutes les industries". Vgl. Morgue, a.a.O., S. 9. 49 A . Gary, Considérations politiques sur la guerre actuelle de la France avec l'Angleterre etc., Paris A n X I I , S. 33. 50 Barère, a.a.O., Band 1, S. 35 ff. 51 Ebd., S. 35. 52 J. Chas, Réflexions sur l'Angleterre, Paris an X I I , S. 18. 58 De Bonald, D u Traité de Westphalie, et de celui de Campo-Formio, Paris an I X , S. 47. — Die Stelle lautet wörtlich: „L'Angleterre est u n système habituel, j e dirois presque naturel de guerre, ou du moins d'opposition, avec tous les peuples du monde, et le repos ne peut être pour elle qu'un état forcé et accidentel. Cet état d'opposition est totalement indépendant des dispositions personnelles et du caractère particulier de ceux, qui l a gouvernent, i l 48

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besteht für dieses Land nicht. Natürlich möchten alle modernen Seemächte eigene Kolonien besitzen. England aber w i l l mehr. Es hat den Plan gefaßt, das Universum zu kolonisieren 54 . Dennoch herrscht dieses Land friedlicher und mit weniger Aufsehen als eine Militärmacht, die mit offener Gewalt und mit offenen Herrschaftsverhältnissen hervortritt. Die Mittel der englischen Politik, nämlich Industrie und Handel, verschaffen England den Vorteil, alles zu besitzen, ohne als Eindringling zu erscheinen 55 . Deshalb findet es bei Völkern, die an kriegerische Eroberungen gewöhnt sind, weniger Widerstand. Aber das beruht nur auf einer Täuschung: Als wenn die Herrschaft des Handels weniger kraftvoll oder von geringerer Bedeutung wäre als die der Waffen! Als wenn Neptuns Herrschaft weniger zu fürchten wäre als die Bellonas! 56 . Die Völker ertragen geduldig Englands Joch, bis eine üble Erfahrung sie endlich über die schlimmen Folgen dieser A r t von Herrschaft aufklärt 5 7 . 2. Angesichts einer derartigen Erkenntnis der Lage darf es nicht Wunder nehmen, daß man i n Frankreich auch den Unterschied i n der Konzeption des Völkerrechts zwischen dem festen Lande und dem Meer deutlich hervorhob. Bei der Diskussion über diesen Unterschied bleibt man aber nicht bei der bloßen Feststellung stehen, denn diese drängt sich jedem aufmerksamen Beobachter der politischen Praxis auf. Vielmehr werden auch die Ursachen dieser Unterschiede erörtert 5 8 . Es ist wiederum Barère, der den Chor der K r i t i k e r Englands anführt. Für ihn ist England eine Macht, die überhaupt kein Völkerrecht kennt. England bricht also nicht bewußt das Völkerrecht, es erkennt nämlich das Völkerrecht und die i h m zugrundeliegende Moral nicht an. Für England sind andere Staaten und Menschen bloße Objekte 5 9 . Deshalb glaubt es, ohne Rechtsregeln i m Völkerrecht auskommen zu können. So kennt es weder Kriegserklärung noch Vertragstreue. Auch ist i h m das Recht der Kriegsgefangenen nicht bekannt 8 0 . England meint, für tient à sa position insulaire, à sa constitution populaire, à l'esprit inquiét et aggresseur de ses habitans q u i la placent constamment dans le système d'accroissement, et jamais dans celui de repos et de stabilité; en sorte que comme elle est continuellement agitée au-dedans, on peut dire qu'elle entretient au-dehors et dans le monde politique le mouvement perpétuel." 54 Barère, a.a.O., Bd. 1, S. 42. 55 Monbriou, a.a.O., S. 44 f. 5β Colleville, a.a.O., S. 21 f. 57 Monbriou, a.a.O., S. 44 ff. 58 Starke Unterstützung erhielten die französischen A u t o r e n v o r allem durch den italienischen Völkerrechtsgelehrten Azuni, siehe die französische Ubersetzung seines Hauptwerkes: Droit maritime de l'Europe, Bd. 1, Paris 1805, S. 171 ff. Dazu Holst, a.a.O., S. 79 ff. Vgl. auch J. G. Büsch, Völkerrecht, Hamburg 1801, S. 28 ff. 69 Barère , a.a.O., Bd. 2, S. 22 ff.

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sich ein besonderes Recht beanspruchen zu können, weil es sich für eine Macht besonderer A r t betrachtet 61 . Es hält sich deshalb außerhalb der Gemeinschaft der übrigen Völker. Naturgemäß mußte sich dieser Unterschied vor allem i m Seekriegsrecht zeigen. Von Frankreich aus erschien das von England beanspruchte Seekriegsrecht als flagrante Verletzung des Völkerrechts. Man leugnete i n Frankreich die Unterscheidung von Landkrieg und Seekrieg und damit auch die Eigenständigkeit der diesen beiden Kriegsarten zugeordneten Begriffe 6 2 . Von den Regeln des Landkriegsrechts her gesehen war das Seekriegsrecht überhaupt kein Recht. Während sich auf dem Lande feste Regeln für den Krieg durchsetzen konnten, blieb der Ozean der W i l l k ü r der Nationen ausgeliefert: Dort entscheidet die bloße Gewalt 6 3 . A m Meer aber kann niemand Eigent u m beanspruchen. Auch ist dort keine Teilung möglich wie auf dem festen Land. Die Natur der Sache verlangte die allmähliche Aufteilung des Landes. Sie gebietet aber auch, daß das Meer res Communis bleibt 6 4 . Das Wasser des Meeres läßt sich nicht mit dem Lande, sondern nur mit der Luft vergleichen. Aber kann der Luftschiffer Eigentum an dem von i h m überflogenen Gebiet erwerben? 65 . Das Meer als Feld des Friedens stellt eine A r t große Straße dar, u m die Verbindungen zwischen den Völkern zu erleichtern. So wie die Straßen auf dem festen Lande allen Einwohnern gewidmet sind, ist das Meer allen Menschen gemeinsam. Wer an i h m Besitz ergreifen w i l l , macht sich daher der Usurpation schuldig 66 . Die von England praktizierte Politik der Beute läßt sich mit der Entwicklung des modernen Rechts nicht vereinbaren. Barère vergleicht den von England auf dem Meer aufrechterhaltenen Zustand mit der Zeit, als auf dem Lande noch Rechtlosigkeit herrschte. Während sich das Land, so meint er, i m 18. Jahrhundert befindet, steht das Meer geschichtlich erst i m 6. Jahrhundert, i n jener Zeit also, i n welcher i n Europa die Barbaren ein feudalistisches Regime entfalteten. Dieser 60

Ebd., S. 87 ff. Lesur, Mémoire sur la conduite etc., S. 197, heißt es wörtlich: „ . . . elle s'est considérée elle-même comme une puissance à part. Elle a complètement justifié la vérité morale de cette expression poétique de Virgile: Et toto divisos orbe Britannas." 62 Später hielt auch L.-B. Hautefeuille an der These v o n zwei Völkerrechten fest, siehe Histoire des origines, des progrès et des variations du Droit maritime international, 2. Aufl., Paris 1869, S. 281. 83 G. de Rayneval, De la Liberté des Mers, Paris 1811, Avant-Propos, S. V I I . 84 Ebd., S. 19. 85 Ebd., S. 39. 88 P.-Β. Boucher , I n s t i t u t i o n au droit maritime, Paris an X I I (1803), S. 458. Vgl. C. Schmitt , Der Nomos der Erde etc., S. 148. 81

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Feudalismus w i r d von England heute noch auf dem Meer praktiziert 6 7 . Es erhebt von den anderen Völkern eine A r t Zehnten und hat auf dem Meer ein Recht der allgemeinen und willkürlichen Konfiskation errichtet. Dieser Zustand ist für die anderen Nationen unerträglich, denn das Meer ist, wie Barère sagt, „le théâtre de la démocratie commerciale", auf dem alle Völker ihre Flotten reisen lassen dürfen 6 8 . I m Kampf gegen England geht es deshalb u m die Freiheit der Meere, und die einzige A r t des Ruhms, die für Napoleon noch zu gewinnen ist, besteht darin, Urheber eines Code Maritime zu werden, i n dem die Freiheit der Meere garantiert w i r d 6 9 . Die Eigenart des von England i n Anspruch genommenen Seekriegsrechts zeigt sich besonders deutlich i m Hinblick auf die Neutralität. Während das Völkerrecht die Respektierung der Neutralität fordert, erkennt England diese Regel auf dem Meere nicht an. Es führt nämlich keinen regelrechten Krieg, sondern w i l l nur Handelskrieg führen, i n dem es jeglichen anderen Handel vernichtet, u m seinen eigenen Handel noch besser verdienen zu lassen. England weiß, wie reich die Neutralen i n einem Krieg werden können. England kennt daher nur Freund und Feind. Deshalb kennt es keine Schonung des neutralen Handels. Damit verstößt es gegen die alte völkerrechtliche Regel, daß die Flagge nicht nur das Schiff, sondern auch das Gut schützt 70 . Dieser Satz ist Gemeingut aller Staaten außer England 7 1 , und deshalb ist es zu begrüßen, daß die Liga der Neutralen durch ihre Politik der Stärke zur V e r w i r k lichung des Völkerrechts beigetragen hat 7 2 . Jedoch w i r d dieser Satz niemals von der zur See stärksten Macht anerkannt werden, während der Schwache i h n ohne Unterlaß zitieren w i r d 7 3 . Andererseits braucht England infolge der Größe seiner Schiffahrt die Neutralen nicht, so daß 67 Barère , a.a.O., Bd. 1, S. 138 ff. Barère sagt aber auch, daß das Meer ein H o r t der Freiheit sein könne: Wenn nämlich auf dem Land der Despotismus herrsche, könne er v o n dem, der das Meer beherrsche, wieder gestürzt werden, vgl. a.a.O., Bd. 3, S. 228 ff., wo weiter ausgeführt ist, daß Landmächte dem Despotismus weniger widerstehen können als Seemächte. Barères Wendung v o n „la mer féodale" k a n n als Ergänzung der Geschichte des Begriffs „Feudalismus" betrachtet werden, vgl. O. Brunner, „Feudalismus, A k . d. Wiss. u. L i t . (Mainz), A b h . d. geistes- u. sozialwiss. Kl., Jg. 1958, Nr. 10. 68 Barère, a.a.O., Bd. 1, S. 35. 69 Z u r Geschichte der Neutralität i m Seekriegsrecht bis 1780 siehe vor allem Kulsrud, M a r i t i m e Neutrality to 1780, Boston 1938; vgl. ferner R. Pares, Colonial Blocade and Neutral Rights 1739- 1763, London 1938. 70 de Rayneval, a.a.O., S. 104. Vgl. auch d'Hauterive, a.a.O., S. 178 ff. u n d Boucher, a.a.O., S. 479 ff., sowie Pinière, Principes organiques etc., S. 65 ff., und Lesur, Des Progrès, S. 349 f. 71 Bei A . W. Schlegel (s. u. A n m . 145) erscheint dieser Satz als eine A r t trojanisches Pferd (S. 68). 72 A . Longneux, Considération sur l a neutralité maritime, armée ou non armée, Paris an 9 (1801), S. 91 f. 78 Pinière, a.a.O., S. 65/66.

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es diese ohne eigenen Schaden i n Feinde verwandeln kann 7 4 . Englands Kriegsrecht kennt keine Schranken gegenüber den Neutralen, weil es deren Handel zerstören muß: Was dem Feinde nützen kann, muß vernichtet werden 7 5 . Für Englands Politik ist diese Devise eine Notwendigkeit. Denn wenn der Handel für dieses Land das eigentliche Element der Politik und damit auch des Krieges darstellt, so muß es jegliche Förderung des feindlichen Handels unterbinden. Die Neutralität zur See ist nämlich das Pivot, auf dem der Außenhandel der Gegner Englands rollt. Nur dessen Vernichtung kann England den Sieg bringen 7 6 . I n diesem Zusammenhang der Mißachtung des Völkerrechts gehört auch das, was England von dem Recht der Blockade hält. Englands Auffassung vom viel umstrittenen Recht der Blockade läßt sogar erst richtig erkennen, warum es den neutralen Handel nicht respektiert. Die Antwort Frankreichs auf diese Praxis zeigt ebenso deutlich, worauf sich die Unterschiede i n der Konzeption des Völkerrechts gründen. Eine Blockade, so heißt es bei den französischen Autoren, ist nur statthaft, wenn sie auch tatsächlich durchgeführt wird: Das Völkerrecht gestattet keine fiktive Blockade. Damit ist zugleich gesagt, daß die Blockade einer ganzen Küste i n der Regel unmöglich ist 7 7 . Ein Autor sieht jedoch klar, daß es England auf eine so, nämlich vom Landkriegsrecht her verstandene Blockade überhaupt nicht ankommen kann. England w i l l , wie die Navigationsakte von 1651 erkennen läßt, ein ganzes Land und nicht nur eine Küste blockieren 78 , und weil die anderen Arten von Blockaden für England uninteressant sind, ist es auch nicht an den für diese Arten aufgestellten Regeln des Völkerrechts interessiert 79 . 74 Über die Neutralitätsligen v o n 1780 u n d 1800 siehe etwa K. Bergbohm, Die bewaffnete Neutralität 1780 - 1783, Diss. j u r . Dorpat 1883; P. Fauchille, La Diplomatie française et la Ligue des Neutres de 1780, Paris 1893; Scott, A r m e d Neutralities of 1780 and 1800, New Y o r k 1908; Albrecht, Die Stellung der Vereinigten Staaten v o n A m e r i k a zur bewaffneten Neutralität v o n 1780, Z. f. VR, 6, 1913, S. 436 ff.; Piggott-Omond, Documentary History of the A r m e d Neutralities of 1780 and 1800, London 1919; Sailer, Die bewaffnete Neutralität v o n 1780 - 1800 usw., Diss. j u r . Würzburg 1934. 75 Longneux, a.a.O., S. 82. 76 Ebd., S. 3. England erwiderte bekanntlich die literarischen Attacken Frankreichs m i t scharfem Geschütz. Die schärfste Polemik enthält das 1806 u n d 1917 erschienene Buch v o n Stephen, W a r i n Disguise, or The Frauds of Neutral Flags. Vgl. J. H. Rose, Napoleonic Studies, London 1904, S. 166 ff. 77 de Rayneval, a.a.O., S. 212 ff. Lesur, Mémoire sur la conduite etc., S. 153 ff. 78 (Maree), Sur le blocus des îles britanniques et l'Acte de Navigation de l'Angleterre, Paris 1806, S. 15. Vgl. auch J. Ν. Tetens, Considérations sur les droits réciproques des puissances belligérantes et des puissances neutres sur mer, Kopenhagen 1805, S. 123 ff. 79 Über die Völkerrechtslehren betreffend die Blockade siehe neben den allgemeinen Darstellungen v o r allem P. Fauchille, Etude sur le blocus m a r i time, Paris 1882.

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Die Beispiele für Frankreichs Auffassung vom Seekriegsrecht ließen sich wohl beliebig vermehren. Die erwähnten Äußerungen lassen aber schon zur Genüge erkennen, daß Frankreich nicht bereit war, den Unterschied zwischen Landkriegsrecht und Seekriegsrecht zu akzeptieren. Für Frankreich gab es nur ein Völkerrecht, nämlich das vom Lande her gedachte: „Elle aurait voulu . . . assujettir la guerre de Mer aux règles adoptées dans la guerre de terre . . ." 8 0 . Das war innerhalb des Weltbildes einer Landmacht folgerichtig. 3. Der kulturelle Unterschied zwischen Land und Meer zeigt sich nicht bloß i n der jeweiligen A r t und Weise der politischen und sozialen Existenz. Er w i r d auch i n der Moral deutlich, besser gesagt: i n den idées directrices, u m die sich die politischen und sozialen Einrichtungen gruppieren. Von Frankreich aus gesehen, erscheint das feste Land dem Meer i n moralischer Hinsicht als klar überlegen. Diese Feststellung stellt nicht etwa eine propagandistische Übertreibung dar. Sie t r i f f t mehr: Die französischen Argumentationen machen i n einem vielleicht überraschenden Maße offenkundig, wie sehr die Moral des festen Landes die Moral einer Agrargesellschaft war. Das Weltbild der Agrargesellschaft aber ist ein ausschließliches. Der Unterschied zur Seemacht ist deshalb so groß, daß dort nicht eine andere Moral, sondern nur eine Unmoral erkannt werden kann. Selbst wenn das Leben zur See, so w i r d zunächst eingeräumt, einige Tugenden wie Härte und Mut fördert, so sind diese Tugenden i n der Lebensform der insularen Seemacht England pervertiert, weil sie dort zu einer unabhängigen, vom landhaften Leben völlig verschiedenen, daher von ihr nicht beurteilbaren Lebensweise geworden sind. Während der Handel die Sitten verdirbt, fördert der Ackerbau die Tugenden. Gewiß vermehrt der Handel den Reichtum eines Staates, aber er vermag nichts Dauerndes zu begründen, denn diese A r t des Reichtums ist nicht stabil. Er führt zu nützlichen Ergebnissen, aber sein Geist ist schädlich. Er neigt nämlich dazu, die liberalen Ideen auszulöschen und setzt das Interesse an die Stelle der Ehre. Das Interesse w i r d dort zum leitenden Prinzip. M i t einem Wort: Der wirkliche Reichtum einer Nation ist auf dem Acker und nicht i n der Fabrik 8 1 . Dauer, Ruhm und Wohlfahrt der Nationen liegen i m Ackerbau begründet. Jede Macht, die nicht auf dem Lande beruht, ist daher künstlich und anfällig, sei es i m Physischen, sei es i n der Moral. Ohne die K u l t u r des festen Landes ist jeder Handel fragwürdig, weil ihm die Grundlage, nämlich die Erzeugnisse der Natur fehlen. Die Karre des Landmannes ist das Szepter der Welt 8 2 . Während der Acker80

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Lesur, Mémoire sur la conduite etc., S. 201.

Montgaillard,

De la France etc., S. 41.

Chas, a.a.O., S. 16 f. Ä h n l i c h Eschassériaux,

Tableau politique etc., S. 29.

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bau die Tugenden und den Frieden fördert, beruht Englands Stärke auf Industrie und Handel. Diese aber bringen nur Betrug und Unmoral hervor 8 3 . Die Welt des Meeres hält für den Menschen nur eine künstliche Existenz bereit. A u f dem Meer w i r d der Mensch seiner Bestimmung entfremdet: Er ist nicht für das Meer geboren. Wenn er dieses Element gezähmt hat, so geschah dies nur, u m die Leistungsfähigkeit seines Stolzes zu beweisen. Der Seemann aber gewöhnt sich an Bord daran, hochmütig zu befehlen, und er bringt diesen Ton i n die menschliche Gesellschaft. A n die Gefahr gewöhnt, verliert er das Gefühl des M i t leids. Daraus folgt, daß ein republikanischer Staat, der Frieden und Moral i m Innern bewahren w i l l , die Marine nicht zu langen Seefahrten i n ferne Länder ermutigen darf 8 4 . Der Handel birgt aber noch eine große Gefahr i n sich: Er löst die menschlichen Vereinigungen auf. Er bevölkert zwar die Städte, doch bringt er die Menschen zueinander, ohne sie zu vereinigen. Der Ackerbau hingegen isoliert sie auf dem Lande, aber vereinigt sie, ohne sie einander näherzubringen 85 . Während die Seemacht von Natur aus kriegerisch ist, liebt die Landmacht den Frieden. Diese ist großzügig i n ihren Entschließungen und hält ihre Verträge 8 6 . Zwischen ihrem politischen System und dem System der Seemacht besteht deshalb ein fundamentaler Unterschied. Zwar gibt es auch auf dem festen Lande heftige Kriege, aber sie finden immer ein Ende i m Frieden. Oft t r i f f t der Krieg auf dem Lande nur zwei Völker. Aber diese Völker auf dem Lande kämpfen für das Glück und für die Menschlichkeit. Solche Kriege waren von kurzer Dauer: Anders die Kriege, welche die Seemacht England führt 8 7 . Der Bewohner des festen Landes, vor allem der Franzose, nimmt alle Gefahren des Krieges i m Namen der Freiheit und der Gleichheit auf sich. Der Engländer aber setzt sich allen Gefahren des Meeres wegen des Goldes und des Silbers aus 88 . Es kann i n französischer Sicht kein Zweifel daran bestehen, daß die K u l t u r Europas durch den Handel erniedrigt wird. Doch w i r d den Europäern diese Erniedrigung nicht durch einen mutigen Sieger zuteil. Die Europäer werden nicht einmal die Ehre haben, durch Schneid und Tapferkeit besiegt zu werden. Sie werden nicht die geachteten Opfer 83

Colleville, L a guerre etc., S. 21. Barbault-Royer, Essai politique etc., S. 4 f. 85 De Bonald, a.a.O., S. 49. Vgl. R. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration, Studien über L. G. A . de Bonald, München 1959, S. 170 f. 88 Montgaillard, Situation de l'Angleterre etc., S. 18. 87 Barère , a.a.O., Bd. 2, S. 72. 88 Ebd., Bd. 1, S. 222. 84

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eines jener großen Raubzüge kriegerischer Völker sein, die mitunter ganze Völker unterwerfen: Eine Handvoll Inselbewohner, i n Kontoren verschanzt, werden die Europäer besiegen — kein neuer Tschingiskan, der ihnen, mit dem Schwerte i n der Hand, das Gesetz diktiert: Es sind die Fabrikanten aus Nottingham und Glasgow mit ihren Leinenballen, die Europa besiegen werden 8 9 . Soll wirklich das Interesse einiger Händler über das Schicksal der Völker entscheiden 90 ? 4. A u f diese Frage antwortet Frankreich mit einem klaren Nein. U m die K u l t u r Europas vor einem solchen Gegner zu retten, w i r d es den Kampf mit der Seemacht England aufnehmen. Dieser Kampf w i r d i n den Augen der Franzosen aber zugleich der Kampf für die Freiheit aller Völker sein. I n diesem Kampf muß Frankreich seine Methoden der Natur des Gegners anpassen. Niemand hat deutlicher gesehen, was diese Forderung bedeutet, als Barère: Die Inselexistenz Englands muß aufgehoben werden. Die Inseln sind, so sagt er, Kinder der Erde und dürfen nicht deren Beherrscher sein. Die Inseln, die durch große Naturkatastrophen vom festen Land getrennt wurden, müssen deshalb durch die großen Prinzipien der Politik wieder zum festen Land zurückgeführt werden. Man darf nicht zulassen, daß die Inseln starke Seestreitkräfte besitzen und sich eine unabhängige Sicherheit schaffen 91 . Der nun anhebende Kampf ist ein Kampf zweier ganz verschiedener Gegner. Es ist der Kampf des Landes m i t dem Meer, des Löwen mit dem Walfisch 92 . Von diesem Kampf w i r d das Schicksal aller Nationen abhängen 93 . Er muß ausgetragen werden, weil es zwischen Frankreich als dem Beschützer des festen Landes und der Seemacht England keine Koexistenz geben kann 9 4 . Zwei so sehr verschiedene Regierungen können nämlich i n Europa nicht koexistieren 95 . I n diesem Kampf Europas gegen England handelt 89

Colleville, La guerre etc., S. 56 f. P. Gallet, Examen analytique et critique de la Déclaration du r o i d A n g l e t e r r e avec les divers relatifs à la justification de la France, Paris an XI-1803, S. 12. 91 Barère, a.a.O., Bd. 1, S. 194 ff. 92 Der i n der deutschen L i t e r a t u r häufig vorkommende Vergleich dieses Kampfes m i t dem zwischen Rom u n d Karthago beweist, wie selten das Verhältnis zwischen England u n d Frankreich richtig gesehen wurde, denn dieser Vergleich beruht auf typisch thalassischen Anschauungen, vgl. Stroh, a.a.O., S. 66. 93 Montgaillard, Situation de l'Angleterre etc., S. 42. 94 Barère, a.a.O., Bd. 3, S. 109 f. 95 Ebd., S. 164. Diese Äußerungen Barères dürften zu den frühesten klaren Äußerungen über das politische Problem der Koexistenz gehören. Daß sie nicht n u r die Regierungsform als solche, sondern die h i n t e r dieser stehenden 90

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es sich weder für die Nationen noch für die Individuen darum, die Vergangenheit zu bedauern; es geht u m die Bewahrung der Gegenwart und u m die Bewältigung der Zukunft. Die alten Besitzrechte und Titel zählen nur für die Geschichte, für die Gegenwart sind sie uninteressant 96 . Das Hauptziel dieses Kampfes muß darin bestehen, der Seemacht England ihre insulare Existenz zu nehmen und sie zu einer dem allgemeinen Recht unterworfenen Seemacht zu machen, die am freien Seeverkehr teilnimmt. Es geht also nicht u m das Gleichgewicht zwischen den Elementen Meer und Land, zwischen England und dem Kontinent: Da gibt es kein Gleichgewicht, weil das Meer stets überlegen sein wird. Vielmehr kommt es, wie Barère sagt, darauf an, das Land wieder über das Meer herrschen zu lassen. Es gibt auf dem Meer allenfalls das gleiche politische Gleichgewicht wie auf dem festen Lande 9 7 . Für den Ausgang des Kampfes w i r d entscheidend sein, ob i n Frankreich diejenigen Kampfmittel geschaffen werden können, die auf die Eigenart dieses Gegners zugeschnitten sind. Dabei w i r d man die Frage nicht umgehen können, m i t wessen Waffen der Kampf geführt werden soll: mit denen des Landes oder mit denen des Meeres? Zunächst propagiert man i n Frankreich ein Mittel, das ganz vom festen Lande her konzipiert war: Die Landung i n England 9 8 . Sie w i r d ausdrücklich damit begründet, daß es nicht möglich sei, England auf dem Meer zu schlagen; nicht i n Amerika oder i m Mittelmeer, nicht i n Indien und nicht auf dem Ozean kann der Frieden gefunden werden: Er ist nur i n London selbst zu finden und muß deshalb dort erobert werden. Was Caesar und was Wilhelm dem Eroberer gelungen ist, w i r d auch Frankreich erreichen. Bei diesem Vorhaben werden Englands stolze Flotten ohne Nutzen sein. Sie werden den Engländern nur noch zur Flucht dienen können 9 9 . Daß aber die Landung i n England nicht unmöglich ist, w i r d von der Geschichte der Landungen bestätigt. Ist einmal die Landung gelungen, grundsätzlichen Unterschiede i n der politischen Existenzweise, nämlich hier die Unterschiede zwischen L a n d u n d Meer, betreffen, läßt sie als besonders wichtig erscheinen. 96 Montgaillard, De l a France etc., S. 56 f. 97 Monbrion, a.a.O., S. 37. A u f S. 266 sagt Monbrion, daß das politische Gleichgewicht zugleich das Gleichgewicht des Handels sein müsse. Es w i r d hier deutlich, daß Frankreichs Gegner n u r v o m europäischen Gleichgewicht redeten, während Frankreich das universale Gleichgewicht meinte: Z w e i ganz verschiedene Vorstellungen v o n Gleichgewicht. Vgl. auch H. de SaintSimon, De la réorganisation de la société européenne (1814), éd. Péreire, Paris 1925, S. 9. 98 Frühe A n d r o h u n g i n der Assemblée am 15.5.1790, vgl. Arch. Pari., I r e Série, X V , 1883, S. 518: „ . . . nous irons attaquer l'Angleterre en Angleterre même (Les Applaudissements redoublent)." 99 Gary, a.a.O., S. 20. Siehe auch die anonyme Schrift: Aurons-nous la paix? ne l'aurons nous pas? E s t - i l possible de l a faire avec l'Angleterre?, Paris an V I I I , S. 24 ff.

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dann werden die Engländer leicht zu schlagen sein, denn außerhalb des Meeres sind sie schwach 100 . Es sollte sich aber bald zeigen, daß das Kampfmittel der Landung auf der britischen Insel nicht bloß terraner Natur war. Es setzt nämlich die Seeherrschaft i m Kanal voraus. Hier aber war einstweilen an einen französischen Erfolg nicht zu denken 1 0 1 . Wenn man bei diesem Kampfmittel bleiben wollte, mußte die französische Flotte kampfbereit gemacht werden 1 0 2 . Deshalb richteten sich die Forderungen i n Frankreich immer stärker auf den Ausbau der französischen Marine 1 0 3 . Der Kampf zur See, so sah man immer deutlicher, muß also doch aufgenommen werden. Nur die Niederlage Englands zur See vermag den Frieden zu sichern 104 . Diese Erkenntnis zwingt jedoch Frankreich dazu, eine echte Seemacht zu werden. Nur als Seemacht kann es den Handel Englands und damit die Insel selbst tödlich treffen. Dazu bedarf es gewaltiger Anstrengungen, denn die bisherige Politik Frankreichs hatte der Seepolitik nur eine zweite Rolle zugewiesen. Die bisherige Politik Frankreichs muß deshalb scharfer K r i t i k unterzogen werden. Ein schwerer Fehler, so lautete diese K r i t i k , lag bereits darin, daß Frankreich i m 17. Jahrhundert die Bedeutung der Seegeltung nicht richtig erkannt hat. Dadurch gewann England bei dem Rennen u m die Herrschaft der Meere einen enormen Vorsprung 1 0 5 . Richelieu sah nicht, daß sein landhaftes System gerade diejenige Macht hemmte, die er emporführen wollte 1 0 6 . Die Macht auf dem festen Lande garantierte lediglich einen Teil des Vorhabens, Frankreich i n die Stellung einer Großmacht zu erheben. Auch Ludwig XIV. sah nur das Land und dachte 100

Barère , a.a.O., Bd. 3, S. 307 ff. U n d zwar unabhängig davon, ob die „Deckungsseite" (Grabowsky) gesichert w a r oder nicht. Vgl. auch F. Buchholz, Rom u n d London, Tübingen 1807, S. 363. 102 Eine zeitgenössische Stellungnahme aus England: Bonapartes Großer Plan zur Eroberung v o n Großbritannien u n d Irland, London 1804; deutsche Äußerungen bei Stroh, a.a.O., S. 66 ff. Z u r Geschichte der Landungsprojekte siehe v o r allem E. Desbrière, Pro jets et tentatives de débarquement aux Iles britanniques, Bd. 1, Paris 1900. Ferner: M . Duncker, Die Landung i n England, Preuß. Jb., 47, 1881, S. 215 ff., sowie Roloff, Napoleons Pläne einer Landung i n England 1803 - 1805, ebd., 93, 1898, S. 257 ff. Weiteres Schrifttum bei M. Dunau, Napoléon et ΓAllemagne — Le Système Continental et les débuts du royaume de Bavière 1806 - 1810, Paris 1942, S. 676 f. 103 Neuere Darstellung über das Verhältnis Napoleons zur Marine bei Thomazi, Napoléon et ses Marins, Paris 1950. 104 G. J. Lange, Quelques idées sur la nécessité et les moyens de relever et d'entretenir la Marine, Paris an 9, S. 19. 105 Dufau, Cause de l a prépondérance m a r i t i m e de l'Angleterre, s. 1. 1809, S. 17 ff. 106 Z w a r hat H. Hauser, L a pensée et l'action économiques d u Cardinal Richelieu, Paris 1944, gewisse K o r r e k t u r e n an dieser Sicht v o n Richelieus P o l i t i k angebracht, doch betreffen sie k a u m die Hauptsache. 101

4 Schnur

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nicht an die Marine 1 0 7 . Damit war Frankreichs Politik für lange Zeit auf den falschen Kurs gelegt worden. Die Aufklärung wiederum besaß zu wenig Gespür für die politische Wirklichkeit, u m die Bedeutung der Seefahrt für die Politik ermessen zu können. Man erging sich i n philosophischen Spekulationen und redete an der Wirklichkeit vorbei 1 0 8 . Die Revolution von 1789 als Frucht der Aufklärung konnte an diesem Zustand nichts ändern. Sie begnügte sich ebenfalls m i t hochtrabenden Reden und verfehlte die wahre Ordnung der Dinge. Der echte oder der falsche Enthusiasmus der Neuerer, der Fanatismus ihrer Schüler und schließlich die Leichtgläubigkeit der Öffentlichkeit sorgten für die Beibehaltung dieser politischen Unordnung 1 0 9 . Daher mußte die politische Unfähigkeit der Revolutionäre Frankreichs weltpolitischer Stellung und Bedeutung schwere Verluste bringen. So brachte die angebliche Philanthropie des Corps législatif Frankreich u m seinen Afrikahandel und erschwerte sie die Politik i n den Kolonien 1 1 0 . Jetzt muß aber Frankreich, so heißt es weiter, die Marine als Voraussetzung seiner Seegeltung aufbauen. Die Marine ist für Frankreich einfach Notwendigkeit 1 1 1 . Zum Aufbau der Marine ist es erforderlich, daß die französischen Seeleute endlich die wahre Natur des Seekrieges verstehen lernen. Die Mittel des Seekrieges sind nämlich von denen des Landkrieges völlig verschieden. A u f den Landkrieg waren die Franzosen bisher ausschließlich eingestellt. Haben sie bislang den leeren Ruhm der Schlacht gesucht, so müssen sie sich nunmehr m i t dem Gedanken vertraut machen, daß mehr Größe und mehr Ruhm dazu gehört, das erstrebte Ziel durch jene Mittel zu erreichen, welche Kombinationsgabe, Klugheit und Erfahrung fordern, als durch diejenigen, die auf das Glück des Zufalls bauen 1 1 2 . Wenn Frankreich Seemacht werden soll, dann bedeutet das aber auch, Paris zur Seestadt zu machen — zwar nicht so wie London oder Amsterdam, die direkt am Meer liegen, aber doch so wie einstmals Antwerpen. Gelingt dieses Vorhaben, dann 107

Dufau, a.a.O., S. 19. Montgaillard, Situation de l'Angleterre etc., S. 16. W ö r t l i c h dort: „ V o l taire a parlé du commerce en poète; Fénélon, Jean Jacques Rousseau, Raynal, en ont parlé en sophistes et en rhétors. Ces écrivains ont fait de l'esprit, et qui pis est, de l'esprit philosophique, sur le commerce et sur les institutions politiques, c'est-à-dire sur les matières qui exigent une sagesse, une i m partialité et u n bon sens profonde." Vgl. ebd., S. 73. 109 C. A . B. Pinière, Principes organiques de la marine militaire, Paris 1802, S. V I I ; ders., Des Classes d'Hommes de la Mer, Paris 1802, S. 35 ff. 110 Pinière, Principes organiques etc., S. 116 f. 111 Aurons-nous la Paix? etc., S. 47. Vgl. auch das V o r w o r t des Übersetzers zu Lampredi, D u commerce des neutres en temps de guerre, trad, par Jacques Peuchet, Paris, an X (1802), S. 1 ff. Hinweis auf die deutsche Übersetzung des 1. Teils bei Ompteda-Kamptz, a.a.O., S. 292. Vgl. auch Holst, a.a.O., S. 64 ff. 112 Morgue , a.a.O., D. 19 u n d S. 28. 108

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bleibt Spanien die einzige Macht m i t Anspruch auf Seegeltung, deren Hauptstadt eine Binnenstadt, eine Stadt auf dem Lande ohne Verbindung zur See ist 1 1 3 . Aber auch das Ziel, England m i t Hilfe der Marine auf dem Meer zu schlagen, wurde nicht erreicht. Es gelang Frankreich nicht, den Schritt zu einer Form der maritimen Existenz zu machen, die der englischen ebenbürtig gewesen wäre. Aber das Genie Napoleons erfand eine neue Waffe gegen die Seemacht. Doch auch hier blieb die Frage, ob sie der Eigenart des Gegners angepaßt war. 5. Die Kontinentalsperre 114 war das letzte Mittel, m i t dem Napoleon England bezwingen konnte. Er wollte mit den Dekreten von Berlin und Mailand die Waffe Englands gegen dieses Land selbst richten. Allgemein wurde die Kontinentalsperre als Repressalie aufgefaßt, die auf Englands Verhalten gegenüber den Neutralen antworten sollte 1 1 5 . I n Frankreich sah man deutlich, daß damit das Schwergewicht auf den Handelskrieg gelegt war und daß man dessen Kampfmethoden übernehmen mußte. Dieser A r t der Kriegsführung mußten, wenn die Kräfte nicht zersplitttert werden sollten, alle anderen Kampfmethoden untergeordnet werden. Man glaubte, damit zum erstenmal die direkteste Kampfmaßnahme gegen England gefunden zu haben 1 1 6 . Die Insel sollte isoliert werden, indem jede Verbindung zum festen Lande Europa, von dem England, wie man meinte, lebte, unterbrochen werden 1 1 7 . Als erwünschter Nebenerfolg war der i n Europa jetzt notwendig gewordene Aufbau der französischen Industrie beabsichtigt 118 . — Aber 113 A mould (Chef d u Bureau d u commerce), Système m a r i t i m e et politique des Européens, Paris an V , S. 228. Vgl. damit Spaemann, a.a.O., S. 570 f. H i n weis auf die deutsche Übersetzung v o n Arnoulds Buch bei Ompteda-Kamptz, a.a.O., S. 164. Vgl. auch Holst, a.a.O., S. 148 ff. 114 Neuere Darstellungen: Dunan, a.a.O.; de Jouvenel, a.a.O.; A . Fugier, La Révolution Française et l'Empire Napoléonien (S. 215 ff.), Paris 1954. I m m e r noch wichtig: W. Kiesselbach, Die Continentalsperre i n ihrer ökonomisch-politischen Bedeutung, Stuttgart 1850. Völkerrechtliche Monographie: F. Bertin, Le Blocus Continental, Thèse Droit Paris 1901, vgl. auch Chevalley, a.a.O., S. 166 ff. Reichhaltige Literaturhinweise bei Dunan, a.a.O., S. 674 ff. 115 Maree, a.a.O., S. 1; Lesur, Mémoire sur la conduite etc., S. 138; Montgaillard, Situation de l'Angleterre etc., S. 244. Bertin, a.a.O., S. 104 ff., erw ä h n t Montgaïllards Einfluß auf die Entschließungen Napoleons. Siehe auch Dunan, a.a.O., S. 276 ff. 116 Maree, a.a.O., S. 1. — Dabei darf jedoch nicht der Vorläufer der K o n tinentalsperre, nämlich die Maßnahmen des Konvents gegen den englischen Handel (1793), übersehen werden. Dazu de Jouvenel, a.a.O., S. 55 ff. Auch J. Basdevant sieht darin den Ursprung der Kontinentalsperre, siehe L a Révolution Française et le droit de la guerre continentale, Thèse D r o i t Paris 1901, S. 120. Propaganda für die P o l i t i k des Konvents bei A . G. J. Ducher, Acte de Navigation etc., Paris 1793, als halbe Maßnahme abgelehnt v o n Morgue, a.a.O., S. 39. Barère befürwortete die Kontinentalsperre, vgl. a.a.O., Bd. 1, S. 105 f. 117 Maree, a.a.O., S. 5.

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die Blockade der Insel erwies sich als eine Blockade besonderer A r t . Es war nicht die von der Seemacht unternommene Blockade, weil hier nicht die Zufahrts- sondern die Abfahrtswege von Handel und Industrie blockiert werden sollten. Es wurde nicht zur See, sondern zu Lande blockiert — eine Aushungerung durch die Sperre des Absatzes? Aber bereits diese Wortwendung beweist, wie wenig die Kontinentalsperre mit der Blockade des festen Landes gemein hatte. Eine totale Blockade wäre die Kontinentalsperre nur dann gewesen, wenn sämtlicher Absatz englischer Waren auf dem Festland hätte verhindert werden können. Erwies sich also schon hier eine Schwäche dieser Blockade, die die beabsichtigten Erfolge i n Frage stellte, so zeigte sich bald, daß diese A r t der Blockade der Insel zugleich eine Sperre des gesamten Festlandes sein mußte. Die Küste mußte sowohl zur See als auch vom Lande her abgesperrt werden. Damit aber kam die Frage nach der Seeherrschaft und damit das maritime Element i n jeder Blockade der Insel doch wieder ins Spiel. U m ihr einigermaßen ausweichen zu können, blieb nur die Möglichkeit, die Küste vom Lande her abzuschließen. Hier aber wurde klar, daß das Meer dem Lande als Grundlage sowohl des Handels als auch seines Gegners überlegen war, denn es erlaubte ein schnelleres Vorgehen. Andererseits erschien für die anderen Staaten des Kontinents die Kontinentalsperre als eigene Blockade, solange ihr wirtschaftlicher Bedarf nicht gedeckt werden konnte. Somit war die Kontinentalfront Frankreichs stets unsicher 119 . Um die Kontinentalsperre i m Rahmen des grundsätzlich Möglichen wirksam zu machen, gab es nur die Möglichkeit, die englische Ausfuhr auch nach Rußland zu verhindern. Der englische Handel mußte daher auch i n Rußland angegriffen werden 1 2 0 . Daher kann das See- und Handelssystem nur am Bug und am Dnjepr, an der Düna und an der Newa begründet werden 1 2 1 . Der ganze Raum des festen Landes i n Europa mußte beherrscht werden. Der Raum des festen Landes stellt jedoch dem Blockierenden andere Hindernisse i n den Weg als der Raum des Meeres. U m i h n zu beherrschen, bedarf es mehr als der Technik, nämlich der Menschen. Der bereits zitierte Satz „Elle (d. h. la France) aurait voulu . . . assujettir la guerre de Mer aux règles adoptées dans la guerre de terre . . . " 1 2 2 klingt deshalb wie eine hilflose Entschuldigung angesichts eines vom Lande her unbesiegbaren Gegners. 118 Darüber vor allem de Jouvenel, a.a.O., passim. Siehe auch S. Millenet, Le Système Continental et les Anglais, Paris 1837, sowie E. Beau de Loménie, Les responsabilités des dynasties bourgeoises, Bd. 1, Paris 1943, S. 53 ff. 119 Vgl. Grabowsky , a.a.O., S. 195 f. 120 Montgaillard, Seconde Guerre en Pologne etc., S. 137. 121 Montgaillard, ebd., S. 141. 122 Siehe oben S. 45 A n m . 80. Vgl. auch Chevalley, a.a.O., S. 172.

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IV. 1. Die Kontinentalsperre führte bekanntlich zum Bruch mit den europäischen Mächten. Ihre Durchführung hatte so große Unannehmlichkeiten mit sich gebracht, daß die anderen Mächte den Kampf gegen den angeblichen Befreier vom Joch der englischen Seeherrschaft der Freiheit der Meere vorzogen. Damit veränderten sich für Frankreich die Fronten i n entscheidendem Maße. Neben die Seemacht England trat die Landmacht Rußland als Hauptfeind Frankreichs. Aber Rußland ist keine gewöhnliche Landmacht, deren Hinzutreten den Dualismus Land-Meer seiner Spannung und damit auch seines letzten Sinnes beraubt hätte. Es steht jetzt nämlich nicht ein Land gegen das Meer und ein anderes Land. Der neue Gegner Rußland ist eine Landmacht, i n welcher die Tugenden des festen Landes, nämlich die Zivilisation schlechthin, nicht zu finden sind. Deshalb geht es nunmehr nicht mehr allein u m den Kampf des Landes gegen das Meer, sondern u m den Kampf des zivilisierten Landes gegen das Meer und das nicht zivilisierte Land. Die Fronten sind jetzt endgültig geklärt. Der letzte denkbare Dualismus ist erreicht. Jetzt w i r d der alte Feind, das Meer, i n noch deutlicherem Lichte gesehen 123 . Seine Verderbtheit und Gefährlichkeit ist noch größer geworden, weil er sich m i t dem wilden Land gegen das zivilisierte Land verbündet hat. Dieses wilde Land Rußland ist die Verkörperung der Barbarei auf dem festen Lande. Dieser Staat unterdrückt, überfällt, beraubt, teilt auf, verschlingt ohne Achtung des Völkerrechts und der Rechte der Menschheit. Er perpetuiert die Unwissenheit, die Knechtschaft und die Barbarei: Er bietet die Ketten und die Barbarei zum Austausch gegen die Künste und das Licht Europas an 1 2 4 . Es liegt i n der Natur dieses Staates, die Zivilisation des Landes, d. h. des M i d i zu überfallen, u m dort Beute zu machen. Viel zu leichtfertig, so w i r d i m Tone der Verbitterung ausgeführt, duldeten verblendete Regierungen das Vorrücken dieses Kolosses 123 I m folgenden werden auch solche Äußerungen über Rußland verwertet, die aus der Zeit v o r dem Ausbruch der Feindseligkeiten i m Jahre 1812 stammen. Dadurch treten die Vorstellungen über Rüßland noch plastischer hervor. Gegen dieses Verfahren dürften schwerlich methodologische Bedenken bestehen, w e i l man annehmen darf, daß die nach 1812 über Rußland gemachten Äußerungen gegenüber den früheren nichts Gegenteiliges bringen wollten. 124 Montgaillard, Seconde Guerre en Pologne, ou considérations sur la paix publique du continent, et sur l'indépendance m a r i t i m e de l'Europe, Paris 1812, S. 16. — A n dieser Stelle darf auf die Quellensammlung v o n Tschizewskij u n d Groh, Europa u n d Rußland, Darmstadt 1959, sowie auf das Buch v o n D. Groh, Rußland u n d das Selbstverständnis Europas, Neuwied 1961, hingewiesen werden. Vgl. ferner D, Gerhard, E n g l a n d u n d çler Aufstieg Bußlands, München 1933.

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(„colosse hyperboréen"). Es gehörte schon die Schwäche der Minister Ludwigs X V . dazu, u m dem russischen Reich zu gestatten, seine Vormachtstellung zu gewinnen und auszubauen 125 . Das Vorrücken der russischen Macht i m 18. Jahrhundert stellte eine jener politischen Revolutionen dar, welche alle alten Kombinationen durcheinanderwerfen 126 . Andererseits förderte England nach Kräften das Wachstum dieser barbarischen Macht. Englands Bestreben bei der Teilung Polens ging nämlich offensichtlich dahin, das Vorrücken Rußlands i n Europa zu fördern. Aber sah England, der Hüter des europäischen Gleichgewichts, denn nicht, daß die Zerstörung Polens die Türkei, Preußen, Österreich und Frankreich eines Pufferstaates, einer politischen Barriere beraubte 1 2 7 ? M i t dem Fall dieser alten Barriere war das Gebäude der europäischen Politik bis i n die Grundlagen hinein erschüttert worden. Dieser Vorgang w i r d einmal, so lautet die düstere Drohung, sehr bedauert werden 1 2 8 . Jetzt steht Rußland bereit, das zivilisierte, das freie Europa zu überfallen. Rußland ist eine antieuropäische Macht, welche die Freiheiten Europas direkt bedroht. Diese Macht muß deshalb als natürlicher Feind Europas angesehen werden 1 2 9 . Wenn auch Rußlands Finanzen, seine Bevölkerung, sein Ackerbau und seine Industrie i m Vergleich m i t den großen Mächten Europas i m Augenblick noch zweiten Ranges sind, so w i r d man eines Tages doch sehen, daß die Ambitionen dieser Macht ersten Ranges sind und sich mit den Ambitionen einer anderen Macht nicht vergleichen lassen 130 . Das Gefährliche dieser Macht liegt nämlich darin, daß sie sich alle Vorteile der Barbarei und alle Wohltaten der Zivilisation zu eigen macht 1 3 1 . Wenn diese Macht für Europa gefährlich ist, so liegt das weniger an der ungeheuren Ausdehnung ihres Territoriums und an dem wahr125

Montgaillard, a.a.O., S. 33. Dufau, a.a.O., S. 11. 127 Barère, a.a.O., Bd. 3, S. 144 f. 128 Lesur, Des Progrès etc., S. 309. Wörtlich „L'histoire offre bien des i n vasions exécutées par des barbares, ou des conquêtes entreprises par des peuples policés, après des déclarations de guerre injustes ou légitimes: mais jamais on n'avait v u d'usurpation conduite avec tant d'astuce et d'hypocrisie; jamais Gouvernment régulier n'avait donné l'exemple de cette immoralité politique. Après cela, que p o u v a i t - i l avoir désormais de sûr et de respectable dans les relations des cabinets et dans l'emploi de leur force! La Russie a brisé les liens sacrés q u i faisaient leur sécurité commune, elle a déclaré que la bonne foi, les promesses, les traités, n'engageaint que la faiblesse". Lesur beruft sich auf zwei englische Zeugen, nämlich Burke u n d einen anderen A u t o r , siehe Note 1 auf S. 309. 129 Montgaillard, a.a.O., S. 15. 130 Ebd., S. 1 0 4 1 * 3 1 Ebd., S. 43, 126

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scheinlichen Anwachsen ihrer Bevölkerung als vielmehr an der einzigartigen Vermengung der europäischen Form ihrer Regierung m i t der halsstarrigen Barbarei ihrer Völker 1 3 2 . Diese Macht hat alle Hilfsmittel der Zivilisation i n ihrer Regierung und alle Kräfte der Barbarei i m Volke 1 3 3 . Die Natur hält für Rußland, so heißt es weiter, die Gelegenheit bereit, eines Tages einen großen Einfluß auf den Erdball auszuüben, wenn sich nicht die Ereignisse, die diese Zeit i n sich birgt, diesem unaufhaltsamen Marsch entgegensetzen 134 . Wenn das zivilisierte Europa („le Midi") sich nicht zusammenschließt, dann w i r d es angegriffen, unteworfen und vandalisiert. Schließt es sich nicht zusammen, u m die Rechte A l l e r zu verteidigen, vom Marmarameer bis zur Ostsee, dann w i r d der Frieden Europas ein Hirngespinst sein. Die Sicherheit der kleinen Staaten w i r d verschwinden und die Freiheit Europas („le centre") verloren sein 1 3 5 . Frankreich kommt deshalb die ruhmreiche Mission zu, die Verblendung und die Unglücksfälle eines Jahrhunderts europäischer Politik zu reparieren und für die Errichtung eines besseren politischen Systems i m vereinten Europa zu kämpfen 1 3 6 . M i t dieser barbarischen Macht des Landes hat sich die barbarische Macht des Meeres verbündet. Die erste bedroht die Unabhängigkeit der Nationen auf dem festen Lande, die zweite greift die Freiheiten Europas und des Ozeans zur See an 1 3 7 . Rußland hat ohne Unterlaß i n Europa und i n Asien die Errichtung jenes antiföderativen Systems betrieben, das England auf dem Ozean vervollständigt h a t 1 3 8 . Der Norden liefert 188

Lesur, a.a.O., S. 458. (d'Artelles?), De la politique et du progrès de la puissance russe, Paris 1807, S. 113. 184 EschassériaiLx, Tableau politique de l'Europe etc., S. 16 f., S. 78 heißt es: „Le temps fera peut-être entendre u n j o u r aux gouvernemente, à des Républiques encore m a l affermies, des vérités qu'un grand homme ne cessoit de redire devant des monarchies corrumpues devant des peuples amollis par leurs institutions. — Le N o r d subjugera le reste de l'Europe, disoit Rousseau dont le génie éclairoit déjà l'avenir, et dont la pensée lisoit dans l a faible politique d'alors, les événémens qui se sont déroulés devant nous Sans doute cette pensée etoit exagérée, sans doute cette révolution contre la civilisation n'arrivera pas; les institutions modernes rendent impossibles ces irruptions qui portèrent leurs ravages jusqu'aux mers du M i d i : mais les desseins de l a dernière coalition, les conquêtes d'une grande puissance; mais sa dernière campagne en Italie, ses aggrandissements successifs vers le Levant et le M i d i , doivent avertir la politique des autres Puissances. Les fertiles et riches contrées de cette dernière partie du monde ont toujours été une proie attirante pour les peuples septendriennaux, et trois siècles de dévastation menaceraient peut-être l'Europe imprévoyante." 185 Barère , a.a.O., Bd. 1, S. 281. 188 d'Artelles, a.a.O., S. 114 f. 187 Montgaillard, a.a.O., S. 34. 188 Lesur, Der Progrès etc., S. 467. 188

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die Menschen, der Westen bringt die Schiffe ein. Rußland stellt Armee, Wälder und Eisen, England Matrosen, Waren und Gold 1 3 9 . M i t der Formierung dieser politischen Fronten ist der absolute politische Gegensatz auf dem Erdball erreicht. Es gibt jetzt nur noch zwei große Parteien: „Les Monopolistes ou Océanocrates et les défenseurs de la liberté de l'industrie et des mers". Die Positionen jeder Partei stehen i n einem so scharfen und klaren Gegensatz, daß jede Annäherung und Vermittlung unmöglich erscheint und man mit derjenigen Partei, für die man sich entschieden hat, leben oder sterben muß. Das ist keine Hypothese mehr, das ist eine echte Tatsache, die durch wiederholte Erklärungen der englischen Regierung bestätigt worden ist 1 4 0 . Deshalb ist der zweite Krieg i n Polen der Kampf der Barbarei gegen die Zivilisation. Der Kaiser der Franzosen repräsentiert i n den Ebenen Polens alle zivilisierten Nationen und alle Seemächte gegen England und Rußland. Unter diesen spezifisch europäischen Aspekten darf der gegenwärtige Krieg als eine der größten und glücklichsten Epochen der Weltgeschichte angesehen werden: A u f der einen Seite die Zivilisation und die Wissenschaften, der Friede des festen Landes und die Unabhängigkeit der Meere; auf der anderen Seite die Barbarei, eine lange Kette von Feindseligkeiten und Verwüstungen, ein Despotismus des Handels und eine Tyrannei des Meeres, die ohne Grenzen und ohne Ende sind 1 4 1 . Die Stunde des Endkampfes ist gekommen. 2. W i r schließen unsere Darlegungen mit zwei Stimmen aus der Zeit dieses Endkampfes. Die eine Stimme ist die eines Franzosen, die andere Stimme ist die eines Deutschen, der sich für England, für das Meer, gegen Frankreich, gegen das Land, entschieden hatte. Der Franzose, ein Fachmann der Wirtschaft, appelliert i n letzter Minute an die europäischen Völker, sich mit Frankreich zusammenzuschließen, u m Englands Seeherrschaft und damit seine Wirtschaftsvorherrschaft zu brechen 142 . Das französische Kontinentalsystem, so meint er, war kein Angriff auf die Freiheit der Völker, sondern der notwendige Widerstand gegen das maritime System Englands, das seit langer Zeit die freien Völker bedroht. England muß erobern, weil seine Industrie zur Eroberung treibt. Die Industrie Englands, die auf der Kraft der Maschinen beruht, hat keine anderen Grenzen als die Erzeugnisse 139

Barère, a.a.O., Bd. 1, S. 282. Widemann (de Vienne en Autriche), Les Océanocrates et leurs Partisans ou la guerre avec la Russie en 1812, Paris 1812, S. 77 f. 141 Montgaillard, a.a.O., S. 6. 142 (G. . . . , membre d u conseil des fabriques et manufactures près le ministère de l'intérieur), De l'influence du système m a r i t i m e de l'Angleterre sur le repos dç l'Europe, son commerce et son industrie, Paris 14 A v r i l 1815. 140

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seiner Arbeit, die sie ins Unendliche vermehrt 1 4 3 . Englands Politik der Herrschaft über die Märkte ist antisozial. Es kann nicht bezweifelt werden: Wenn Europa plötzlich die ungeheure Arbeit verliert, der es die leichte Existenz seiner Bevölkerung verdankt, so w i r d sich dort bald der Keim einer Revolution entwickeln. Das Elend erzeugt die Unruhen; es w i r d bald ein solches Übermaß von Menschen geben, daß sie gezwungen sein werden, auf entferntem Boden die Wohlhabenheit und das Glück zu suchen. Sind aber die reichen Gefilde Europas einmal zur Sterilität reduziert, so w i r d der alte Kontinent, der sich durch die Tatkraft seiner Bewohner, durch die Fortschritte der Wissenschaften und der Künste würdig erwiesen hat, den Rest der Welt zu zivilisieren, wie das heutige Indien nur noch Fürsten haben, die fremden Vorschlägen gehorchen. Ihre Uneinigkeit werden England endlich die Weltherrschaft und die üppigen Früchte eines unerhörten Handels sichern 144 . Der Deutsche ist August Wilhelm Schlegel 145. Er sieht i m Kampf Frankreichs gegen England eine für Europa höchst gefährliche Alternative: Die Erfahrung etlicher Jahre scheint nämlich bewiesen zu haben, daß England auf Europa verzichten kann, wenngleich nicht ohne Zwang und Entbehrungen 1 4 6 . Die drei anderen Teile der Welt sind seinen kaufmännischen Spekulationen mehr denn je offen. Die europäischen Verbindungen sind für England zwar keineswegs unwichtig, aber sie sind das nur so lange, als Europa das bleibt, was es bislang gewesen ist: der bewunderungswürdige Vereinigungspunkt der Aufklärung und der geistigen Vervollkommnungsfähigkeit, der auf einem vergleichsweise kleinen und von der Natur wenig begünstigten Räume die zahlreichste Bevölkerung, die aktivste und mächtigste Kraft des Aufstiegs des Geistes konzentriert hat. Aber wenn durch die furchtbare Nivellierung, die alle Staaten bedroht, der Elan der Nationalcharaktere sich 148

Ebd., S. 13. a.a.O., S. 18. Siehe auch note 20 auf S. 44: „Quelques auteurs ont prétendu qu'il y avait des pays essentiellement manufacturiers, d'autres essentiellement agricoles ou pasteurs. Cette doctrine plus que singulière, est t o u t à-fait à la convenance du pouvoir anglais. Ne cultivons que nos terres: empressons-nous de ne l u i offrir que des produits que son commerce emploiera, ou que son commerce portera à toutes les contrées de l a terre, et j e réponds qu'il renoncera à troubler à jamais la paix d'aucun peuple. Mais ces principes, q u i déclarent u n pays essentiellement pasteur, le condamnent incontestablement à la dépopulation. Les pays essentiellement agriculteurs seront également condamnés a ne présenter qu'une petite population des paysans et de fermiers. Les pays essentiellement manufacturiers et n a v i gateurs seront essentiellement les maîtres, les propriétaires, et les seigneurs de tous les peuples, qui ne se l i v r e r o n t qu'à la culture des terre, et à l'éducation des troupeaux." 145 Uber das Continentalsystem, Leipzig 1813. 146 a.a.O., S. 75. 144

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i n einer maschinenartigen Einförmigkeit auflöst; wenn der unerträglichste und gemeinste Despotismus Europa i n das Unglück und i n die Barbarei stürzt, dann w i r d Europa nur noch ein elender Winkel unseres Erdballs sein, m i t dem zu beschäftigen es sich nicht lohnt: und England, das sich obenhält wie die Arche inmitten der Sintflut, w i r d große Entschädigungen finden, indem es seine Anstrengungen auf die großen und herrlichen Länder Asiens richtet, wo die Zivilisation wegen ihres Alters statisch geworden ist — auf andere jungfräuliche Gebiete, i n Afrika, i n Amerika und i m Stillen Ozean, wo die verschwenderische Natur nur auf die ordnende Hand des Menschen wartet. Vergessen w i r nicht, so fährt Schlegel fort, daß bereits jenseits des Ozeans ein Europa besteht. Unsere Sprachen, unsere Sitten und unsere Aufklärung sind dorthin gebracht worden. Dieses amerikanische Europa steht erst i m Anfang, weil es vernachlässigt oder schlecht verwaltet ist. Der unabhängige Teil hat sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit entwickelt. Wenn es keine glückliche Rückkehr für uns andere Europäer gibt, w i r d die kraftvolle Jugend des neuen Europa die Abgelebtheit des Mutterlandes beschämen 147 .

147

Schlegel, a.a.O., S. 76 f.

Tradition und Fortschritt im Rechtedenken Christoph Martin Wielands „ . . . m a n muß v i e l wissen, selbst Intellektueller sein, u m Wieland genießen zu können." Arno Schmidt, Dya Na Sore. Gespräche i n einer Bibliothek, Karlsruhe 1958, S. 264

I. Die Mehrdeutigkeit des Wortes „Intellektueller" i n diesem Satz eines unserer interessanten Schriftsteller erlaubt es auch einem Juristen, sich mit Wieland zu befassen und sich über sein Rechtsdenken zu äußern. Aber es ist nicht nur der äußere Anlaß, nämlich das Jubiläum unserer Universität, der es rechtfertigen könnte, auf die politisch-rechtlichen Ideen eines berühmten Tübinger Jurastudenten einzugehen (allerdings hatte er auf die Beendigung dieses Studiums verzichtet). Vielleicht ist es auch sonst nützlich, den Versuch zu wagen, einmal nicht das Rechtsdenken berühmter deutscher Dichter wie Goethe und Schiller zu betrachten, sondern das politische Denken eines Mannes, mit dessen Würdigung sich — wenn der Außenstehende das richtig sieht — die deutsche Germanistik früher sehr schwer tat und auch heute noch tut, trotz einiger wichtiger Arbeiten von namhaften Germanisten, i n denen die Umrisse des politischen Denkers Wieland deutlicher hervorgetreten sind 1 . Freilich tat sich nicht nur die Germanistik schwer, die politischen Ideen Wielands überzeugend zu würdigen. Soweit nämlich Juristen sich m i t dem Rechtsdenken großer Dichter befaßten, schienen auch sie wenig Interesse an Wieland zu haben, der i n der damals führenden Literaturzeitschrift (Der Neue Teutsche Merkur, von i h m selbst redigiert) die französische Revolution auf immerhin 1000 Druckseiten kom1 Siehe v o r allem: Friedrich Sengle, Wieland, Stuttgart 1949; F. Martini, Nachwort zu: Christoph Martin Wieland, Werke, hrsg. v. F. M a r t i n i u n d H. W. Seiffert, Bd. I I I , München 1976, S. 943 ff.; F. Martini, Wieland, Napoleon u n d die Illuminaten. Z u einem bisher unbekannten Briefe, i n : U n Dialogue des Nations. A l b e r t Fuchs zum 70. Geburtstag, München / Paris 1967, S. 65 ff. (viel umfassender, als der T i t e l vermuten läßt). A l s „Einstieg": Cornelius Sommer t Christoph M a r t i n Wieland, Stuttgart 1971 (Realienbücher für Germanisten).

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mentierte. Die Schwierigkeiten sowohl der Germanistik als auch der Jurisprudenz mit Wieland scheinen eine gemeinsame Ursache zu haben: Hier geht es u m einen eminent politischen Schriftsteller, der bald nach seinem Tode (1813) i n Vergessenheit geraten ist. Das dürfte allerdings nicht nur an einem Wandel der poetischen Anschauungen gelegen haben. Viel eher dürfte der Satz von Fritz Martini aufschlußreich sein: „Wäre der Publizist Wieland nicht schon i m 19. Jahrhundert ein verschollener Autor gewesen, der politische Liberalismus, bis h i n zur Frankfurter Paulskirche, hätte i h n als einen Helfer i m Kampf u m Verfassung und konstitutionelle Monarchie zitieren können 2 ." Da drängt sich die Vermutung auf, als sei hier ein erster bedeutsamer Vertreter des Liberalismus i n Deutschland i m Keller des Gebäudes der Restauration verschollen und als hätten Germanistik und Jurisprudenz (jedenfalls i n ihrer „herrschenden Meinung") auf dem Boden der damaligen und der darauf aufbauenden späteren Tatsachen auf einen dermaßen politischen Dichter gar nicht Bedacht nehmen können. Überdies vermochte die bald einsetzende Deutschtümelei mit einem sehr europäischen Kopf nicht viel anzufangen, wohingegen die Germanistik i n anderen europäischen Ländern insoweit früher zu der Linie fand, auf welche die heutige deutsche Germanistik teilweise einzuschwenken beginnt. Solche historische Verspätung bei der Bewußtmachung des Politischen i m Denken Wielands als eines frühen Liberalen (wenn nicht des ersten großen i n Deutschland überhaupt) kann den Nachteil haben, daß dadurch ein großer Stau entsteht (wie w i r sehen werden: ein wichtiges Thema Wielands selbst) und daß der dadurch möglich gewordene Dammbruch Wieland i n die reaktionäre Ecke schwemmt. Nämlich daß, wie es i m Buch eines jungen Germanisten heißt, „aufklärerische Intention ohne entschiedene Parteinahme für die Interessen des vierten Standes objektiv zum Instrument der Restauration und selbst der Reaktion werden kann" 3 . Zwar macht eine Schwalbe gewiß noch keinen heißen Sommer, aber diese hier scheint doch andere Beobachtungen der deutschen politischen Wetterlage (jedenfalls der germanistischen) zu bestätigen. Also Wieland nun ein „Reaktionär" oder doch ein früher Schreibtischtäter der Reaktion? Das scheint aber weniger Ergebnis neuer wissenschaftlicher Erkenntnis als vielmehr typisch deutsch zu sein: Fast 150 Jahre lang erschien 2 Martini, Nachwort, a.a.O., S. 1007. Siehe auch noch die Bemerkung des Innsbrucker Germanisten Eugen Thurnher, wonach Wieland als der einzige unserer Klassiker einen ursprünglichen u n d persönlichen Zugang zur P o l i t i k besitze (Thurnher, Raimund u n d Wieland, i n : Sprachkunst u n d Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler, Salzburg 1966, S. 317). 3 Bernd Weyergraf, Der skeptische Bürger. Wielands Schriften zur französischen Revolution, Stuttgart 1973, S. 84/85.

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dieser eminent politische Kopf den unpolitischen Deutschen als weithin fremd, arbeiteten sie seine Ideen nicht auf; dann merken ihre besten Köpfe endlich etwas, doch bevor sie diese wichtigen Einsichten wirksam verbreiten können, w i r d i m Zuge totaler Überpolitisierung Wieland als „skeptischer Bürger" wieder für abgestanden erklärt. Das ist ein Vorgang, der — wie vorhin bereits angedeutet — etwas für Wielands Intellekt wäre, und man darf vermuten, daß Wieland i n diesen scheinbaren Extremen nichts anderes als die vielfältige Begabung der Deutschen zum Unpolitischen sähe. So erscheint es angebracht, daß sich auch ein Öffentlichrechtler mit dem Rechtsdenken eines Dichters, eben dieses Dichters, befaßt 4 . Allerdings geschieht das nicht, u m sich i n die philologische Diskussion einzumischen, sondern u m zu sehen, was ein Öffentlichrechtler zum Rechtsdenken Wielands sagen könnte, das zu würdigen einem Vertreter des ius publicum wohlanstehen dürfte. Damit ist zugleich gesagt, daß hier wie bei dem erwähnten jungen Germanisten der Begriff der unparteiischen Haltung Wielands „problematisiert" werden soll 5 , ja: hier gar nicht erst akzeptiert wird, denn Wieland hatte Partei ergriffen, als es unausweichlich wurde, nämlich für das Bürgertum. Hier soll nicht der Anspruch erhoben werden, etwas Neues zu sagen. Doch könnte es sein, daß die folgenden Bemerkungen manchen germanistischen Interpreten der politischen Ideen Wielands, der seinen hohen politischen Verstand gebraucht hat, i n seinen Auffassungen bestärken. Es sei allerdings, bevor w i r nun endlich zur Sache Wielands kommen, auch noch bemerkt, daß der Verfasser seit über 20 Jahren i m Besitz der Göschen-Ausgabe von Wielands Werken (1853 ff.) ist und die einschlägigen Texte nicht erst ad occasionem studiert hat 6 .

4 Wenn die Beobachtung nicht trügt, befassen sich Zivilrechtler u n d Strafrechtler mehr m i t dem Rechtsdenken v o n Dichtern als die Öffentlichrechtler. Allerdings gibt es bemerkenswerte Äußerungen v o n Carl Schmitt über Kleist, den großen Napoleonhasser (s. E x Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, K ö l n 1950, S. 35 ff.). Bekanntlich stand v o n den großen Dichtern der Zeit Wieland Kleist am nächsten. (Es sei verwiesen auf: Heinrich v o n Kleists Lebensspuren. Dokumente u n d Berichte der Zeitgenossen, hrsg. v. H. Sembdner, Bremen 1957.) 5 Vgl. Weyergraf, a.a.O., S. X I I I . 6 Nach dieser Ausgabe w i r d hier zitiert. Sofern auch dort abgedruckt, w i r d zusätzlich hingewiesen auf die Werk-Ausgabe v o n F. Martini u n d H. W. Seiffert, a.a.O., Bd. I I I . Hier sei auch erwähnt, daß Texte Wielands aufgenommen w u r d e n i n : Deutsches Staatsdenken i m 18. Jahrhundert, herausgegeben u n d eingeleitet v o n G. Lenz, Neuwied 1965.

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1. W i l l man Wielands politisches Denken würdigen, so kann man dies nicht nur auf die Weise tun, daß man nur seine Einstellung zu bestimmten politischen Vorgängen, seine Optionen i n konkreten politischen Lagen, zugrunde legt. Ganz abgesehen von der Frage, ob solche Optionen nicht auch i n einem größeren Denkzusammenhang stehen, hat Wieland sich bereits vor 1789 oftmals über Politisches geäußert. Das bedarf keiner weiteren Darlegung. Hier geht es also nicht primär u m Wielands Einstellung zur französischen Revolution, worüber bereits etliche ältere Arbeiten vorliegen 7 . Vielmehr soll versucht werden, Wielands Gedanken über Tradition und Fortschritt i m Recht darzustellen. Es versteht sich von selbst, daß Wielands Äußerungen über die französische Revolution auch viele Bemerkungen allgemeiner, „systematischer A r t " enthalten. Sie sind sehr wichtig, aber nicht allein maßgeblich. Ferner: Wenn man heute zu Recht verlangt, einen Autor auch i m „historischen Kontext" zu würdigen, so hat man sich zu vergegenwärtigen, i n welchem geschichtlichen Kontext Wieland über wichtige politische Fragen dachte und publizierte, nämlich i n der Zeit des aufgeklärten Absolutismus. Man muß also wissen, was das heißt, und zwar auch i m Hinblick auf Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Das bedeutete für Wieland nicht: sich auf den (inzwischen windig gewordenen) Gefilden einer sehr permissiven Republik kritisch zu äußern, und so muß der Öffentlichrechtler jenen, die Wieland so rasch aburteilen möchten, doch mitteilen, daß der Satz vom n u l l u m crimen (und nulla poena sine lege) eine der frühesten Errungenschaften des Rechtsstaates ist. Diese Tatsache ist es auch, die dazu zwingt, die vorgegebene Reihenfolge der Begriffe „Tradition und Fortschritt" i m Falle Wielands umzukehren. Es kann nämlich kein Zweifel daran aufkommen, daß Wieland damals weithin als „Fortschrittler" empfunden wurde. Die „Tradition" brachte er als vorwaltendes Element erst ins Spiel, als er glaubte, daß die französische Revolution jedes Augenmaß verloren habe. Es sei bereits jetzt gesagt, daß Wieland vor der Unumgänglichkeit von Revolutionen i n bestimmten Lagen nicht die Augen verschloß und deshalb meinte, man müsse dafür sorgen, daß es dazu nicht komme — was man doch wohl als ein Befürworten von Reformen ansehen darf. Darüber ist hernach mehr zu sagen. 7

E r w ä h n t seien n u r : Alfred Stern, Wieland u n d die französische Revolution, in: Stern, Reden, Vorträge u n d Abhandlungen, Stuttgart 1914, S. 134 ff.; ders., Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, Stuttgart 1928, S. 108 ff.; Maurice Boucher , L a Révolution de 1789 vue par les Ecrivains Allemands ses Contemporains, Paris 1954, S. 51 ff .

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2. Die Tatsache, daß Wieland grundsätzlich auf Seiten der Aufklärung stand, ist schlechterdings nicht zu bestreiten. Sie bedarf also nicht der ausführlichen Wiederholung. Für die Würdigung seiner politischen Ideen (im engeren Sinne) ist hier die Abhandlung „Uber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller" aus dem Jalre 1785 von besonderem Interesse8, befaßt sie sich doch m i t einem für die damalige Verfassungslage überaus bedeutsamen Thema. Wieland sagt sogleich: „Freiheit der Presse ist Angelegenheit und I n teresse des ganzen Menschengeschlechts. I h r haben w i r hauptsächlich die gegenwärtige Stufe von Cultur und Erleuchtung, worauf der größere Theil der europäischen Völker steht, zu verdanken. Man raube uns diese Freiheit, so w i r d das Licht, dessen w i r uns gegenwärtig erfreuen, bald wieder verschwinden . . ." ö . Und: „So ist . . . Freimüthigkeit ein Recht, das keinem Schriftsteller . . . streitig gemacht werden kann. Er muß die Wahrheit sagen wollen und dürfen 1 0 ." Zwar gibt Wieland hier noch nicht i n einem juristisch präzisen Sinne an, wo die Grenzen dieser Freiheit liegen sollen; aber er macht klar, daß übertriebene Geheimnistuerei nicht geschützt ist und auch nicht die Empfindlichkeit der Regierenden. Deutlicher hat sich Wieland über die Vereinigungsfreiheit geäußert, und zwar i n der Abhandlung „Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens" (1788)11. Dies war eine grundsätzliche Stellungnahme zu den geheimen Gesellschaften und Orden 1 2 . Hier grenzt Wieland den „Kosmopoliten", d . h . den aufgeklärten Bürger von den geheimen Gesellschaften und Orden ab. Er t r i t t für die Vereinigungsfreiheit ein, insofern der Bürger „nur i n den Grenzen bleibt, die i h m die Verfassung und die öffentliche Ordnung und Ruhe vorschreiben" 18 . Aber er hält es nicht nur für ein Recht, sondern auch für eine Pflicht der „Kosmopoliten", sich gegen unerträgliche Mißstände zur Wehr zu setzen. „ I n solchen Fällen ist Widerstand sogar eine ihrer Ordenspflichten", sagt Wieland, u m dann die Grenzen anzugeben: „nur sind ihnen keine anderen Waffen als die der Vernunft erlaubt" 1 4 . „Aber, sobald sie sehen, daß die brennenden Köpfe, die sich etwa an die Spitze der Bessergesinnten und der Unterdrückten stellen, solche Wege einschlagen, die durch ihre natürlichen Folgen den Staat gewaltsam erschüttern müssen, . . . ziehen sich zurück, arbeiten nun vielmehr, das i m 8

Werke, Bd. 30, S. 379 ff. ( = S. 482 ff.). • Ebd., S. 381/82. 10 Ebd., S. 386. 11 Ebd., S. 395 ff. ( = S. 550 ff.). 12 Dazu v o r allem Martini, Wieland, Napoleon u n d die Illuminaten, a.a.O. 13 Wieland, a.a.O., S. 404. 14 Ebd., S. 415.

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Staat angezündete Feuer zu löschen, als die Flamme noch mehr anzublasen und zu unterhalten; und wenn die Stimme der Vernunft, die i n allen Dingen Mäßigung bietet, nicht mehr gehört wird, stehen sie lieber von allem Wirken ab, ehe sie Gefahr laufen wollten, wider ihre Absicht Schaden zu thun, und werden nicht eher wieder thätig, bis die Zeit gekommen ist, nach einem bessern Plane wieder aufzubauen, was unter den wilden Bewegungen des fanatischen Parteigeistes und des wütenden Kampfes der willkürlichen Macht, sie sich zu erhalten, mit der beleidigten Menschheit, die sich frei zu machen und zu rächen sucht, zu Trümmern gehen mußte 1 5 ." W i r haben diesen Text so ausführlich zitiert, weil er einerseits die Grenzen der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit zeigt, andererseits auf Wielands Stellungnahme zur Revolution hinweist, die uns später eingehender beschäftigen soll. Doch läßt sich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß die Äußerungen von 1788 Wielands Stellungnahme zur französischen Revolution vorwegnahmen und daß sich niemand über Wielands spätere Äußerungen hätte wundern dürfen. Aber Wieland w i r d noch deutlicher. Er nimmt an, daß gewöhnlich die gute Sache zwischen den Parteien liegt. Die scheinbare Neutralität der „Kosmopoliten" ist also nichts weniger als Gleichgültigkeit, denn nur so finden sie „tausend Gelegenheiten und Mittel, viel Böses zu verhindern und viel Gutes zu t h u n " 1 6 . I n zwei Fällen jedoch kennt Wieland die Parteinahme, nämlich 1. wenn es moralisch gewiß ist, daß dies der guten Sache wirklich den Ausschlag gibt, 2. wenn eine offenbar Unrecht erleidende Partei i n Gefahr wäre, ohne den Beistand der „Kosmopoliten" gänzlich unterdrückt zu werden, oder wenn eine Partei die andere mit einer die Menschlichkeit empörenden Grausamkeit behandelt 1 7 . I n der konkreten Situation konnte dies nur so verstanden werden, daß Wieland für die Bekämpfung des Absolutismus eintrat 1 8 . Und dann kommt die unmißverständliche Ankündigung seiner späteren Einstellung zu Frankreichs Lage: „So würde (als ein Beispiel des ersten Falles), wenn die künftigen Repräsentanten der französischen Nation (d. h. die Stände, R. S.) auf den guten Gedanken kämen, der willkürlichen Gewalt des Königs und seiner Minister zweckmäßige und der Natur ihres Staates angemessene Schranken zu setzen, kein Kosmopolit einen Augenblick anstehen können, diese Partei, solange sie i n den oben be15

Ebd., S. 415/16. Ebd., S. 418. 17 Ebd., S. 418. 18 Noch schärfer äußerte sich Wieland i n den Briefen an seinen Schwiegersohn, den Philosophen Reinhold. Siehe: Wieland u n d Reinhold. Originalmittheilungen als Beiträge zur Geschichte des deutschen Geisteslebens, hrsg. v. R. Keil, Leipzig 1885. M a n vergleiche n u r den Brief v o m 22. J u l i 1792 (Nr. 66, S. 150 ff.). 16

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zeichneten Grenzen bliebe, aus allen seinen Kräften zu unterstützen." Hier ist die Stellungnahme also wieder: Für die Einführung der „Verfassung", gegen die „Revolution" 1 9 . Und was Wieland i n der „Verfassung" geschützt sehen möchte, sagt er ebenfalls: „Noch sind i n einigen unserer mächtigsten Reiche die Rechte des Throns nicht auseinander gesetzt, nicht gegen einander abgewogen und dem ersten Grundgesetz aller bürgerlichen Gesellschaft bestimmt . . . Noch w i r d das, was man Justizpflege nennt, i n den meisten Ländern durch barbarische oder schlecht zusammen hängende und auf Zeit und Umstände übel passende Gesetze geschändet. Noch ist i n vielen Staaten nichts ungewisser, als die Sicherheit des Eigenthums, der Ehre, der Freiheit und des Lebens der Bürger 2 0 ." Zwar spricht Wieland i n diesem Zusammenhang von einer „wohlthätigen Revolution". Doch meint er i n der Sache eine Verfassungsgebung, denn er lehnt „wilde Empörungen und Bürgerkriege" ab 2 1 . Wie Wieland die Grenze der Pressefreiheit gezogen wissen wollte, w i r d hier nun auch juristisch deutlich genug gesagt: Es sind nur diejenigen Grenzen, die durch das „gemeine bürgerliche und peinliche Recht" gesetzt sind 2 2 . Aber Wieland baut hier eine Sicherung ein, die bekanntlich auch die heutige Staatsrechtswissenschaft beschäftigt (Begriff der allgemeinen Gesetze i n A r t . 5 Abs. 2 GG). Er verlangt nämlich, daß diese Angriffe direkt sein müssen, u m als verboten zu gelten: „Aber das Wörtchen direct oder geradezu ist hier nichts weniger als müßig; es ist so wesentlich, daß die ganze Strafwürdigkeit einer angeklagten Schrift gänzlich auf i h m beruhet 2 3 ." Und wo man, „ u m ein A m t mehr zu haben", den Bücherzensor hat, kann dieser nur solche Bücher verbieten, deren Verfasser dadurch ein Verbrechen begangen haben, über das dem ordentlichen Richter die Entscheidung zusteht, d. h. der Rechtsweg muß offenstehen 24 . 3. Auch wenn Wieland bald nach dem Mai 1789 Bedenken gegen eine zu rasche Entwicklung i n der Nationalversammlung hatte und diese Bedenken öfters scharf formulierte 2 5 , so hielt er einen i n seinem Sinne 19

Ebd., S. 418/19. Ebd., S. 421/22. 21 Ebd., S. 422. 22 Ebd., S. 427. Also: Beleidigung, Aufhetzung zum A u f r u h r , A u f r u f zum Umsturz aller Religion, Sittlichkeit u n d bürgerlichen Ordnung usw. 23 Ebd., S. 427. 24 Ebd., S. 428. 25 V o r allem in: Kosmopolitische Adresse an die Französische Nationalversammlung, v o n Eleutherius Philoceltes (Oktober 1789), Werke, Bd. 31, S. 31 ff. 20

5 Schnur

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guten Ausgang für möglich. Es braucht i n diesem Zusammenhang nicht weiter zu interessieren, wie sich Wieland die für Frankreich angebrachte Verfassung i m einzelnen vorstellte. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß er auch jetzt für die konstitutionelle Monarchie eintrat, für Freiheitsgrundrechte, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Unabhängigkeit der Rechtspflege. Wieland spricht i m Mai 1790 von „angefangenem Werk als dem größten, woran Menschen jemals gearbeitet haben" 2 6 , und er spricht auch von den maßvollen Männern, die für die Befreiung ihres Vaterlandes alles taten und wagten: „Was man von ihnen forderte und erwartete, konnte, ihrer Überzeugung nach, nur durch eine gänzliche Umschaffung der Staatsverfassung und unmöglich anders erhalten werden, als wenn der ungleich kleinere Theil der Nation dem Wohl, oder vielmehr der bloßen Erhaltung des ungleich größeren Theils, Rechte, die diesen Namen nie verdienten, nie für Rechte hätten gelten sollen, und Vortheile, die mit dem Interesse des Ganzen nicht bestehen können, entweder großmüthig dem Vaterlande zum Opfer darbrächte, oder nothgedrungen fahren lassen müßte 2 7 ." Wieland nimmt auch jetzt noch, des Zieles wegen, geschehene Mißbräuche i n Kauf und nennt die Revolution ein notwendiges und heilsames Werk, sogar das einzige Mittel, die Nation zu retten, wiederherzustellen und aller Wahrscheinlichkeit nach glücklicher zu machen, „als es noch keine andere jemals gewesen ist" 2 8 , und er weiß auch, daß diese Stellungnahme i m Heiligen Römischen Reich nicht überall Beifall finden w i r d 2 9 . Aber dann werden die Grenzen sichtbar, die Wieland gewahrt wissen wollte: Er war für die Beseitigung der Privilegien, u m für eine Position des Adels wie i n England einzutreten. Doch die Abschaffung des Erbadels war ein erster großer Fehler der Revolution 3 0 . 28 Unparteiische Betrachtungen über die Staatsrevolution i n Frankreich, Werke, Bd. 31, S. 69 ff. 27 Ebd., S. 84. 28 Ebd., S. 95. Ä h n l i c h i m Brief an Gleim v o m 12. A p r i l 1793 (Ausgewählte Briefe, Bd. 4, Zürich 1816, S. 27 ff.). 29 Ebd., S. 95. Er spricht davon, „demnächst etwa durch die M a j o r i t ä t u n serer orthodoxen Rechtsgelehrten zur Strafe i n Oel gesotten, oder w i e St. Lorenz auf einem Rost gebraten zu werden . . . " . 30 Zufällige Gedanken über die Abschaffung des Erbadels i n Frankreich (Juli 1790), Werke, Bd. 31, S. 102 ff. I n den „Göttergesprächen ( = S. 656 ff.) läßt er Heinrich I V . die sehr interessante Bemerkung machen: „ M a n hat die Klerisei aus ihren Gütern herausgeworfen u n d auf sehr mäßige Besoldungen gesetzt; m a n hat den Adelsstand nicht n u r zu großen Aufopferungen genöthigt, sondern sogar m i t dem Blute seiner Vorfahren erkauften Vorzüge beraubt; — u n d die Capitalisten (Hervorhebung v o n mir), die i n den letzten fünfzig Jahren unermeßliche Reichtümer auf Unkosten der N a t i o n zusammen speculiert haben, sollten allein ruhige Zuschauer der N o t h des Vaterlandes abgeben dürfen, u n d für seine Rettung nichts aufopfern müssen? Dann wäre das, was m a n dem A d e l u n d der Priesterschaft genommen hat, nicht Opfer, sondern Raub! Einer so groben Versündigung gegen die festgestellte Gleich-

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Selbst i n dem „Sendschreiben an Herrn Professor Eggers i n Kiel" vom Januar 179281, i n welchem Wieland seine K r i t i k an dem Fortgang der Revolution verschärft, sagt er, daß die Revolutionen natürliche Ursachen haben und i n den meisten Fällen nach einem so notwendigen Naturgesetz erfolgen, daß ein Kenner und scharfer Beobachter der menschlichen Dinge beinahe mit Gewißheit vorhersagen könne, wo und wann dergleichen sich ereignen müßte 3 2 . Und er meint, daß Frankreich für eine Revolution reif war; aber er sagt auch, daß für ihn, der keine gewaltsame Revolution wollte, die Tatsache dieser Revolution hinzunehmen sei 33 . 4. Die K r i t i k Wielands am Fortgang der französischen Revolution hatte auf seine grundsätzlichen Stellungnahmen keine Wirkungen. Gerade deshalb sah er sich veranlaßt, bereits i m Januar 1793 „Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes" anzustellen 34 . Er gab ihnen das Motto: Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat. Das war deutlich genug, auch für die heutige Würdigung. Wieland verwahrt sich ausdrücklich dagegen, den Fortschritten des menschlichen Geistes unter dem Vorwand des Mißbrauchs, der von der Freiheit der Vernunft gemacht werde, Einhalt zu gebieten. „Das Reich der Täuschungen ist zu Ende, und die Vernunft allein kann nunmehr die Uebel heilen, die der Mißbrauch der Vernunft verursachen kann 3 5 ." Er behauptet zwar, daß i m Reich die Lage unvergleichbar besser sei, als sie 1789 i n Frankreich gewesen war; doch sei der Wunsch, den status quo beibehalten zu können, eine Illusion. Aber Wieland hält es für möglich, die Verfassungszustände i m Reich fortzuentwickeln. Um eben dies zu fördern, drängt er i m Mai 1793, indem er an den deutschen Patriotismus appelliert, der sich nur dadurch bewähren könne, daß er die nötigen (Reform-)Schritte unternimmt 3 6 , und er spricht offen von beträchtlichen Opfern 3 7 . A n der Notwendigkeit von Veränderungen hat Wieland unbeirrt festgehalten. Er hat sogar seine Warnungen zunehmend verschärft, als heit der Rechte u n d Pflichten können sich die Gesetzgeber nicht schuldig machen . . . Laßt die reichen Gläubiger des Staats — nach Abzug dessen, was sie m i t ihren auf das bloße Unentbehrliche eingeschränkten M i t b ü r g e r n auf gleichen Fuß setzt — n u r die Hälfte ihrer Forderung nachlassen; so ist Frankreich g e r e t t e t . . ( W e r k e , Bd. 31, S. 470/71). 31 Werke, Bd. 31, S. 134 ff. 32 Ebd., S. 137/138. 33 Ebd., S. 137. 34 Werke, Bd. 31, S. 208 ff. ( = S. 695 ff.). 35 Ebd., S. 214. 38 Uber Deutschen Patriotismus. Betrachtungen, Fragen, Zweifel, Werke, Bd. 31, S. 245 ff. ( = S. 744 ff.). 37 Ebd., S. 252. 5*

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er die Unfähigkeit des Reiches (und i m Reiche) zur Reform feststellen mußte. I n den „Gesprächen unter vier Augen" von 1798 weist er auf die Folgen des Feshaltens u m jeden Preis h i n 3 8 . Alle Manöver zur Vertagung des Unaufschiebbaren hält er für zwecklos: „Auch mit dem mäßigsten Antheil an Klugheit w i r d kein Regent sich mehr auf solche Maximen verlassen . . . Wer diese Überzeugung nicht als den einzigen reinen Gewinn aus den Ereignissen der letzten zehn Jahre gezogen hat, der mag auf seine Gefahr den Versuch noch einmal machen, und sehen, wie weit er kommt und wie lang' es geht 3 9 !" Erst recht i n dem Gespräch „Blicke i n die Zukunft" (1798) beschwört Wieland geradezu die deutschen Herrscher, unverzüglich die Reformen zu beginnen. „Bei Gott sind alle Dinge möglich. Ist es sein Wille, das herannahende neunzehnte Jahrhundert mit zwei oder drei Monarchen zu beschenken, die . . . das zermalmende Schwungrad der Zeit, statt es i n seinem Lauf aufhalten zu wollen, zum Betrieb edler und großer Zwecke zu benutzen wissen . . ." 4 0 .

m. 1. Es versteht sich von selbst, daß ein Autor, der i m Jahre 1790 für die konstitutionelle Monarchie eintritt, aber eben deshalb weitereilende Entwicklungen der französischen Revolution ablehnt, i n einem sehr konkreten Sinne etwas bewahren w i l l . Insoweit ist kein Einspruch zu erheben, wenn man Wieland einen „Traditionalisten" nennen w i l l , falls man solche Kennzeichnungen für wissenschaftlich unvermeidbar hält. Aber für die grundsätzliche politische Denkweise Wielands w i l l das nichts besagen; denn wer wäre insoweit nicht „Bewahrer" des von ihm Bevorzugten? Das kann man nur dann von sich behaupten, wenn man für die permanente, also haltlose, Bewegung eintritt. Doch abgesehen von den Fällen, i n denen dann die Psychiatrie zuständig wird, läßt sich unter politikwissenschaftlichen Aspekten dazu nur bemerken, daß derjenige, der für die „permanente Revolution" ist, letztlich einen haltlosen Opportunismus postuliert. Entweder nämlich macht man selbst eine erfolgreiche Revolution — dann w i l l man sie an einem bestimmten Punkt stabilisieren 41 , oder man muß immer zuschauen, und dann gleicht 88 Gespräch Nr. I X : Über die öffentliche Meinung, Werke, Bd. 32, S. 191 ff. I n einem Brief an Reinhold k ü n d i g t er die „Gespräche unter vier Augen" an u n d meint: „Ich habe lange geschwiegen; aber länger k a n n ichs nicht. Es w i r d zwar nichts helfen, denn gerade die, für die ich eigentlich schreibe, lesen nichts, oder verstehen nicht was sie lesen, oder haben ihre Partey ein für allemahl gegen den allgemeinen Menschenverstand genommen u n d wollen das Nöthigste nicht eher bis sie müssen." (Briefe, a.a.O., S. 247). 39 Ebd., S. 217. 40 Gespräche unter vier Augen, Nr. X I , Werke, Bd. 32, S. 263. I m Gespräch Nr. X (Träume m i t offnen Augen), ebd., S. 234 ff., entwickelt Wieland recht detaillierte Vorstellungen v o n einer Verfassungsreform i m Reich.

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der Anhänger der „permanenten Revolution" dem Fettauge, das auf der Brühe schwimmt 4 2 . Also bedarf es i n diesem Zusammenhang keiner weiteren Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, das persönliche Eintreten Wielands für die konstitutionelle Monarchie und für das Ausschließen anderer Verfassungsformen mache ihn zum quietistischen Anhänger eines jedweden politischen Status quo. Und was die konstitutionelle Monarchie, die Wieland vor allem an Montesquieu orientiert und am englischen Beispiel (wenn auch nicht ohne „fortschrittliche" Vorbehalte), i m einzelnen bedeutet, bedarf hier keiner weiteren Erklärungen. Auch benötigt man i m Kreise von Verfassungsrechtlern keinen Sozialkundeunterricht, u m den Unterschied von Wielands bevorzugter Verfassung zu der uns (alle) bindenden erkennen zu können. 2. Jedenfalls ist unbestreitbar, daß Wieland hinter die Aufklärung nicht zurück w i l l , wenn er die weitere Entwicklung der französischen Revolution kritisiert. Er w i l l diese Errungenschaft der Revolution stabilisieren, sie sichern für die weitere Entwicklung. I n diesem Zusammenhang nun gibt Wieland Erklärungen, die über den konkreten Anlaß weit hinausgehen. Sie betreffen vor allem die Frage, wie sich Veränderungen vollziehen sollen. Wieland bemerkt zu wiederholten Malen, daß die Unmöglichkeit, Verfassungszustände auf gewaltlosem Wege zu verbessern, äußerst selten ist. Bereits i m Jahre 1778 lehnt er, mit wohl mehr als mit bloßen Ahnungen, gewaltsame, zu rasche Veränderungen ab: „Alle plötzlichen Störungen des Gleichgewichts der Kräfte, alle gewaltsamen Mittel, u m in kürzerer Zeit durch Sprünge zu bewirken, was nach dem ordentlichen Gange der Natur nur i n viel längerer Zeit erwachsen konnte, alle Wirkungen, die so heftig sind, daß man das Maß der Kraft, die zur Hervorbringung der Sache nöthig und hinlänglich ist nicht dabei berechnen kann, sondern immer Gefahr läuft, weit mehr, als nöthig ist, zu 41

Es darf auf eine eigene Studie hingewiesen werden: „ L a Révolution est finie." Z u einem Dilemma des positiven Rechts am Beispiel des bürgerlichen Rechtspositivismus, u n t e n S. 79 ff. 42 Z u diesem Fragenkreis vortrefflich das K a p i t e l " A n t h o n y Ascham and the L o w Opinion of Wounds" i n Irene Coltmans Buch: Private Men and Public Causes. Philosophy and Politics i n the English C i v i l War, London 1962, S. 195 ff. Auch hatte Wieland i n einer A n m e r k u n g zu seinen „Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes" (Werke, Bd. 31, S. 544) geschrieben: „Es ist übrigens bemerkenswürdig, daß die eifrigsten Verfechter des A r i s t o kratismus i n Deutschland Roturiers, u n d die hitzigsten Demokraten Edelleute sind, w i e v o h l i n dubio präsumiert w i r d , daß jeder die Classe begünstigt, i n welcher er geboren ist." Auch w e n n m a n diesen Satz nicht überinterpretiert, ist er für die E r k l ä r u n g heutiger deutscher Phänomene nicht ohne Interesse.

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thun" — alles das richtet so große Übel an, „daß nur ein Gott fähig ist zu entscheiden, ob das Gute oder Böse, das auf diese A r t bewirkt wird, das Übergewicht habe" 4 3 . I h m ist der Preis für sehr rasche Veränderungen zu hoch. Und so hält er ein Volk für nicht reif, für nicht genügend aufgeklärt, das zur Gewalt greift, das sein wahres Interesse nicht richtig beurteilen kann, u m „sich selbst gründlich helfen zu können" 4 4 . Wieland meint, es helfe wenig, bloß Dezisionen i n Gestalt neuen Rechts zu setzen, wenn — wie man heute sagen würde — die „politische K u l t u r " des Volkes dem nicht entspricht: „ . . . und daß es also ein großer I r r t h u m ist, sich einzubilden^ man hätte Alles oder auch nur das Wichtigste gethan, wenn man einem Volke, das sich bei seiner dermaligen Staatsverfassung übel befindet, eine andere, bessere, oder vielmehr besser scheinende, geben könnte" 4 5 . „Die Menschen machen die Republik, nicht die Constitution 4 6 ." Es muß u m einen kontrollierten, friedlichen Wandel gehen, u m Weiterentwicklung, die das bestehen läßt, was bewahrt werden kann. So sagt Wieland i m Zusammenhang mit der Aufhebung der Klöster i n Frankreich: „Aber Reformiren ist nicht Aufheben 47 ." Wenn also die bestehenden Institutionen nicht verändert, sondern aufgehoben werden, so werden dabei die politischen Instinkte der Menschen losgelassen — geradezu ein Leitthema Wielands i n seiner K r i t i k an der Entwicklung der französischen Revolution. Deshalb verneint er nicht die Demokratie, er läßt sie als Verfassungsform neben der Monarchie gelten 4 8 . Was Wieland ablehnt, ist die Höhe des Preises, den die Menschen zu entrichten haben, wenn sie die Demokratie gewaltsam einführen wollen 4 9 . Er hält die bestehenden Gesetze für einen unentbehrlichen Faktor der Stabilisierung. „Ich würde mich wenigstens hüten", so heißt es i n 48

Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens, a.a.O., S. 417. Über die Robespierre'sche Constitution von 1793 u n d über Constitutionen überhaupt — Fragmente auf Briefen, Werke, Bd. 31, S. 316. Z u m Problem der Reformen i m Reich sagt Wieland u. a.: „ W a r u m sollten w i r so theuer u n d m i t einem so ungeheuern Risico erkaufen wollen, was w i r wahrscheinlich ohne Empörung, ohne Desorganisation, ohne Verbrechen, ohne Aufopferung der gegenwärtigen Generation, v o n dem bloßen Fortschritt der A u f k l ä r u n g u n d Moralität unter uns w e i t sicherer hoffen dürfen? Wenigstens ist gewiß, daß w i r , ehe man uns rathen kann, gerade zum desperatesten M i t t e l zu greifen, vorher alle anderen vergeblich versucht haben müßten; welches, meines Wissens, noch bei w e i t e m nicht unser F a l l ist." (1793, Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes, Werke, Bd. 31, S. 238). 45 Ebd., S. 311. 46 Gespräche unter vier Augen, Nr. V I I : W ü r d i g u n g der Neufränkischen Republik aus zweierlei Gesichtspunkten, a.a.O., S. 162. 47 Gespräche über einige neueste Weltbegebenheiten (Januar 1792), Werke, Bd. 31, S. 344. 48 Über die Robespierre'sche Constitution, a.a.O., S. 312. 49 So schon 1788 i n : Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens, a.a.O., plsç vor (Jejn Ausbruçh der Revolution, 44

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den „Göttergesprächen", „kein eingeführtes Gesetz eher abzuschaffen, bis ich gewiß wäre, daß ich es auch nicht einen einzigen Tag länger nöthig haben könnte". Deshalb auch soll man bei der Aufopferung bestehender Positionen Entschädigung anbieten, u m Erbitterung zu vermeiden 50 . Wer als Befürworter der Veränderung anders denkt, hat nicht den wirklichen Menschen i m Blick. Für Wieland liegt der entscheidende Fehler der „republicanischen Dogmatiker" darin, daß sie das Volk nicht so denken, wie es wirklich ist, sondern wie es sein müßte, wenn es sich der Rechte, die sie i h m einräumen, „weislich sollte bedienen können" 5 1 . Dann erzwingt mit unentrinnbarer Dialektik die aufkommende Anarchie der Instinkte des entfesselten Volkes die Diktatur der Volkstribunen — wohl niemand war von dem Ende Robespierres weniger überrascht als Wieland. Eben u m diese Folgen der Utopie zu vermeiden, t r i t t Wieland für konkretes, realistisches Denken ein, nämlich zunächst die „Kapazität für Reform" zu prüfen und erst dann ans Werk zu gehen. Das Zuträglichste für jedes Volk ist i h m („wie ich schon mehrmals mit dem weisen Solon behauptet habe") nicht das Ideal der vollkommensten Gesetzgebung, sondern diejenige zu haben oder zu bekommen, die es „dermalen am besten ertragen kann" 5 2 . Später, i n den „Gesprächen unter vier Augen" des Jahres 1798, faßt er diese Einsichten zusammen: Nichts sei leichter, als lauter unfehlbare Orakel der Vernunft von sich geben, solange es nur darum geht, ihre allgemeinsten Gesetze auf bloß idealische Wesen unter beliebigen Umständen anzuwenden 53 . Aber wenn es u m wirkliche Reformen geht, beginnen die Schwierigkeiten, „wovon ein ehrlicher Utopienmacher, dem seine Arbeit so hurtig und gemächlich von der Hand geht, sich wenig träumen läßt". Hier w i r d nicht am weichen Gedankenstoff, sondern an der härtesten aller Ma50 Göttergespräche, Werke, Bd. 31, S. 468. Ferner dort: „Ich würde nicht alles auf einmal t h u n wollen, sondern eine Verbesserung nach u n d nach die andere herbeiführen lassen; und, während ich mich bloß m i t dem unaufschieblichsten beschäftige, zufrieden sein, zu den anderen, die ioti der Zeit u n d der künftigen Erfahrung überließe, den G r u n d gelegt, oder den Weg gebahnt zu h a b e n / U n d hauptsächlich würde ich m i r selbst zum unverbürglichen Gesetze machen, keine Gesetze — i n der Trunkenheit zu geben." Das also zum Thema der Durchsetzbarkeit innerer Reformen. 51 Gespräche unter vier Augen, a.a.O., S. 66, u n d schon früher öfters, z. B. Sendschreiben an H e r r n Professor Eggers i n Kiel, a.a.O., S. 160. 52 Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes, Werke, Bd. 31, S. 237. 53 I n den „Gesprächen unter vier Augen" (Nr. V : Entscheidung des Rechtshandels zwischen Demokratie u n d Monarchie), Werke, Bd. 32, S. 115, formuliert Wieland einen E i n w a n d gegen seine kulturbewahrenden Thesen so: „Nach I h r e r Theorie müßten w i r unsern wesentlichsten Menschenrechten entsagen, u m der zweideutigen Vortheile der Cultur habhaft zu werden. Wahrlich, eines solchen Opfers sind diese nicht w e r t h I Lieber m i t Hans Jakob Rousseau auf allen Vieren i n die Wälder zurück!"

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terien, der Politik, gearbeitet: „Was m i t unsäglicher M ü h e u n d Gefahr e n f ü r das gemeine Beste e r r u n g e n w e r d e n k a n n , besteht i m m e r n u r i n e i n z e l n e n Siegen, n a c h b l u t i g e n u n d b e i j e d e m S c h r i t t e r n e u e r t e n K ä m p f e n 5 4 . " B e i diesem r i s k a n t e n W e r k d e r R e f o r m k a n n d e r k l e i n s t e M i ß g r i f f , e i n n i c h t t i e f g e n u g geschöpfter B e g r i f f der Sache, e i n zu e i n seitiges U r t e i l die s c h l i m m s t e n F o l g e n h a b e n , u n d selbst der redlichste M a n n k a n n n i c h t sicher sein, daß er, entgegen seiner A b s i c h t , doch U n h e i l a n r i c h t e t 5 5 . H i e r d r ä n g t sich die P a r a l l e l e z u m D e n k e n eines a n d e r e n großen Einzelgängers, n ä m l i c h v o n Jean Bodin, ü b e r sozialen W a n d e l geradezu a u f 5 6 . 3. D i e b e r ü h m t e V o r h e r s a g e d e r D i k t a t u r Napoleons aus d e m J a h r e 1798, a u f die noch e i n z u g e h e n ist, w a r f ü r W i e l a n d k e i n m i r a k u l ö s e r „ F a l l N a p o l e o n " . Sie w a r die Folge seiner p o l i t i s c h e n A n a l y s e der E n t w i c k l u n g d e r R e v o l u t i o n 5 7 . F ü r W i e l a n d w a r n ä m l i c h die z u n e h m e n d e A n a r c h i e , die v o n d e n J a k o b i n e r n t r o t z v e r s c h ä r f t e n T e r r o r s n i c h t gesteuert w e r d e n k o n n t e , n u r d u r c h eine D i k t a t u r z u beenden, w e i l die 54 Gespräche unter vier Augen, Nr. X : Träume m i t offnen Augen, Werke, Bd. 32, S. 229. 55 Ebd., S. 230. 5β Siehe Bodins „Six livres de la République" (1576), Kap. I V , 3 (Que les changements des Republiques et des l o i x ne se doyvent faire tout à coup). Dazu etwa die Diskussion in: Jean Bodin (Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung i n München), hrsg. v. H. Denzer, München 1973, S. 447 ff., sowie R. Schnur, Neue Forschungen über Jean Bodin, Der Staat 13 (1974), S. 116 f., m i t weiteren Hinweisen. I m übrigen ist das Thema „ B o d i n u n d Montesquieu" altbekannt, vgl. n u r Personenregister u n d Bibliographie i m Bodin-Tagungsband, a.a.O. 57 Es k a n n hier n u r i n F o r m eines sehr kurzen Exkurses erwähnt werden, wie realistisch Wieland das Problem des Zentralismus i n Frankreich betrachtet. Die einschlägigen Äußerungen finden sich i n dem Text „Die Französische Republik" (September 1792), Werke, Bd. 31, S. 184 ff. (hier S. 193 ff.). Dort sagt Wieland, daß es nach der Revolution nicht beim Département- System m i t der überragenden Rolle v o n Paris bleiben könne. M a n sei draußen i n der Provinz weit davon entfernt, Paris für das Haupt oder Herz v o n F r a n k reich zu erkennen, vielmehr sehr geneigt, „es für ein großes krebsartiges Geschwür i n demselben anzusehen" (S. 194); „ w e n n Paris k ü n f t i g die Stelle des Königs ausfüllen w i l l , was hätte das übrige Frankreich durch die neue Ordnung der Dinge gewonnen?" (S. 195). Wieland widerlegt das A r g u ment des Zentralismus v o n der république une et indivisible m i t dem H i n weis auf die Funktionsfähigkeit v o n Bundesstaaten. Er glaubt deshalb, daß man i n Frankreich den Zentralismus beseitigen müsse, w e n n die Franzosen „nicht Gefahr laufen wollen, unter unaufhörlichen innerlichen Erschütterungen aus einer Revolution i n die andere zu fallen, u n d am Ende doch n u r das Opfer herrschsüchtiger Demagogen, w i l d e r Brauseköpfe u n d — i h r e r eigenen Thorheit zu werden". (S. 199). So „daß auf jeden Fall, welche F o r m m a n auch dem Ganzen geben w i l l , eine neue Eintheilung i n größere Stücke, unter welchem Namen m a n sie zulassen w i l l , ganz unvermeidlich ist". (S. 198). Also „Regionalisierung" meinte Wieland i n der Sache u n d d a m i t ein Thema, dessen A k t u a l i t ä t auch heute offenkundig ist. — Freilich waren das keine Themen für Goethe u n d für Schiller, der v o n Wielands „Kannegießereien" sprach,

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Jakobiner Opfer ihrer eigenen Dialektik werden mußten. Bereits i m August 1792 hat Wieland das vorausgesehen, und deshalb soll diese wichtige Vorhersage ganz zitiert werden: „Was m i r indessen sehr wahrscheinlich vorkommt, ist: daß, wofern sich i n irgend einem unbekannten Winkel Frankreichs irgend ein verborgener Dschengis befände, der i n aller Stille einen jungen Tifan aufzöge und bildete, dieser neue Tifan, wenn er endlich zur rechten Zeit hervorträte, alle Herzen (so viele die Revolution noch übrig gelassen hätte) erobern, über Jakobinismus und Sansculotterie triumphiren, und der Stifter einer neuen, bessern und wieder einige Zeit dauernden Ordnung der Dinge i n Frankreich (vielleicht, durch sein Beispiel, i n ganz Europa) werden würde 5 8 ." Und i n den „Gesprächen unter vier Augen" von 1798 heißt es (im Gespräch Nr. V: Entscheidung des Rechtshandels zwischen Demokratie und Monarchie), es sei nun einmal Natur der Sache, daß dieses Unternehmen über lang oder kurz entweder i n einer ungeheuren A n archie oder i n einer „militärischen Diktatur hinter einer republikanischen Maske" enden müsse 59 . Diese realistische Einstellung und eben nicht eine dunkle Sehergabe war es, was Wieland i n dem berühmt gewordenen Gespräch Nr. I I (Uber den Neufränkischen Staatseid: „Haß dem Königthum!") befähigte, i n Bonaparte den kommenden Diktator zu sehen 60 . Aber da seine Zeitgenossen von solchen politischen Einsichten weit entfernt waren, verstand man Wieland nicht, und selbst Goethe und Schiller standen solch kühler Prognose verständnislos gegenüber 61 . Diese Vorhersage brachte Wieland i m Januar 1800 eine massive Verdächtigung in einer großen englischen Zeitung ein, wo man i h n der Verschwörung mit den Illuminaten bezichtigte. Dies löste auch i n Deutschland eine Lawine von Verdächtigungen aus, i n denen sich der angestaute Unmut über Wielands politische Anschauungen übel Luft verschaffte. W i r verweisen hier vor allem auf Martinis vorzügliche Studie 6 2 . Den späteren Napo58

Uber die Robespierre'sche Constitution von 1793, a.a.O., S. 308/09. Bd. 32, S. 113/14. 60 Ebd., S. 52 ff. 61 Vgl. Martini, Wieland, Napoleon u n d die Illuminaten, a.a.O., S. 76. 62 Ebd. Inzwischen w a r Bonaparte als Konsul praktisch Alleinherrscher geworden u n d bereitete die Landung i n England vor. I m Zusatz v o m Februar 1797 zu seiner Abhandlung „Die Aëronauten (1784) fragt Wieland, ob F r a n k reich nach dem mißlungenen Versuch der Flotte v o m Jahre 1796 es n u n m i t einer „Luftflotte" versuchen werde, u m dann zu antworten: „Gewiß ist, daß der ausschließliche Besitz einer solchen Luftmarine die Französische Republik dem ganzen Erdboden so gefährlich machen würde, daß dieser einzige G r u n d die sämtlichen übrigen Mächte i n die unumgängliche Notwendigkeit setzen müßte, alle ihre Kräfte zu gänzlicher Zerstörung derselben zu vereinigen." (Werke, Bd. 33, S. 195). I n vielen zeitgenössischen Darstellungen findet m a n Abbildungen einer kombinierten See- u n d Luftoperation. Z u m Thema: R. Schnur, Land u n d Meer — Napoleon gegen England, oben S. 48 ff. 59

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leon-Kult allerdings überließ Wieland anderen Dichtern 6 3 , doch hatte er gewiß nichts dagegen, daß Napoleon ihn 1808 i n Weimar als den bedeutendsten deutschen Schriftsteller sprechen wollte 6 4 . IV. 1. Diesen Analysen innenpolitischer Phänomene entspricht der Realitätssinn, mit dem Wieland die Revolutionskriege betrachtet. Er hatte sogleich erkannt, daß hierin die Gefahr eines Weltbürgerkrieges lag, der alle hegenden Formen des überlieferten Völkerrechts, des ius publicum europaeum, zu sprengen drohte 6 5 . Er geht davon aus, daß die Befreiung aller Völker der Erde, die Ausrottung der Tyrannen und womöglich die Organisierung der Menschheit zu einer einzigen verbrüderten Demokratie der eigentliche Zweck der Revolutionäre sei 66 . Damit drohe ein neuer Religionskrieg; denn wer ihren Begriff von Freiheit und Gleichheit nicht für den einzig wahren anerkenne, gelte ihnen als Feind des menschlichen Geschlechts67. Sie kennen keine Souveränität der anderen, sondern wiegeln die Völker gegen ihre Herrscher auf. Wieland meint, daß die Republikaner diesen Krieg unternehmen müßten, weil er gewissermaßen das einzige Mittel sei, u m ihre Republik i m Innern retten zu können 6 8 . Eben deshalb fürchtet er eine Ausweitung des Krieges von Österreich und Preußen auf einen reichsständischen Krieg, und deshalb sagt er, daß der Reichstag zu Regensburg höchstwahrscheinlich der Republik einen ihrer angelegensten Wünsche erfülle, indem auch er der französischen Republik den Krieg, damit sozusagen von der anderen Seite her den Weltbürgerkrieg erkläre 6 9 . 63 1803 hatte Wieland gegen England optiert. Er schreibt an Johann v o n M ü l l e r : „Friede auf dem festen Lande, u n d Demiithigung der stolzen übermüthigen Insulaner, die uns i h r Rule, Britannia, rule the waves, so trotzig i n die Ohren schallen lassen, u n d durch ihre angemaßte Ober- u n d A l l e i n herrschaft über den Ocean, eine unendlich drückendere u n d verderblichere Universal-Monarchie, als die, so w i r v o n N* zu befürchten haben, nicht bloß androhen, sondern w i r k l i c h schon ausüben, — ist meiner innigsten Überzeugung nach, das Angelegenste u n d Dringendste, wofür sich alle Wünsche, u n d wozu sich alle Kräfte vereinigen sollten." (Ausgewählte Briefe, a.a.O., Bd. 4, Brief v o m 29. Dezember 1803, S. 272 ff.). 64 Dabei ging es auch u m die Möglichkeit v o n Voraussagen u n d Prophezeiungen; vgl. Martini, Wieland, Napoleon u n d die Illuminaten, a.a.O., S. 75 A n m . 22. 65 Dazu R. Schnur, Weltfriedensidee u n d Weltbürgerkrieg 1791/92, oben S. 11 ff., u n d Wolf gang Martens, Völkerrechtsvorstellungen der französischen Revolution i n den Jahren 1789 bis 1793, Der Staat 3 (1964), S. 295 ff. 68 Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes (1793), a.a.O., S. 231. 87 Ebd., S. 233. 88 Zeitgenössische französische Äußerungen oben S. 26 ff. 69 Ebd., S. 241. Z u m Ganzen auch Martini, Nachwort, a.a.O., S. 1014/15.

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Deshalb hält Wieland es geradezu für Wahnsinn, diese Politik auf seiten der Monarchien fortzusetzen: Niemand w i r d sich der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation unterwerfen 7 0 . Die französische Republik habe nunmehr die große Mehrheit des Volkes hinter sich, und diese werde notfalls bis zum Untergang A l l e r kämpfen. Hier vermag nur die gegenseitige Anerkennung zu helfen, jedenfalls müssen die anderen Mächte den Versuch dazu machen, und Wieland sieht eine gute Chance, daß die Republik darauf eingeht, denn nun (im Jahre 1794) seien die Urheber des Krieges entweder guillotiniert oder verbannt 7 1 . Allerdings hält Wieland es für vertretbar, von der Republik die Abtretung von Elsaß, Lothringen und den drei Bistümern (Metz, Toul, Verdun) zu verlangen, falls es den verbündeten Mächten gelingen sollte, diese vor dem Beginn von Friedensverhandlungen zu erobern 72 . Später (1798) sagt er, daß sich für beide Seiten ein Vernichtungskrieg nicht lohne. Weder die Vorzüge noch die Nachteile der beiden Verfassungsformen vermochten die Kosten eines solchen Feldzuges auch nur zum zehnten Teil einbringen. Deshalb müsse man die unter allen vernünftigen und rechtschaffenen Menschen als eine ewig feststehende Maxime anerkennen, „daß jede Regierung schuldig sey, die hergebrachte und bestehende Verfassung aller anderen Völker zu respect i r e n . . ." 7 3 . Wieland sieht also deutlich, daß die Gegner Frankreichs ihrerseits den Krieg „entideologisieren", zum „klassischen" Krieg machen müssen, u m den Weltbürgerkrieg eindämmen und beendigen zu können. Er verwendet hier das B i l d vom Nachbarn, dem man es überlassen müsse, sein eigenes Haus einzureißen, u m ein besseres oder schlechteres auf den Trümmern auszubauen; dem man es aber verwehren müsse, „unsere Häuser ebenfalls niederzureißen und uns (zu) nöthigen, neue nach dem Modell des seinigen zu bauen . . ." 7 4 . Diesem Vorhaben könne man aber nur dann wirksam entgegentreten, wenn man diesem Nachbarn gegenüber nicht die gleiche Attitüde einnehme, und deshalb wendet sich Wieland scharf gegen Emigranten wie Mallet du Pan 75. 70 Über K r i e g u n d Frieden (1794), a.a.O., S. 261/62. Dazu auch Sengle, a.a.O., S. 447 f. 71 Ebd., S. 267. 72 Ebd., S. 273/74. 73 Gespräche unter vier Augen, Nr. V : Entscheidung des Rechtshandels zwischen Demokratie u n d Monarchie, Werke, Bd. 32, S. 128 (ähnlich i n Nr. V I I : Würdigung der Neufränkischen Republik aus zweierlei Gesichtspunkten, ebd., S. 170 ff.). 74 Ebd., S. 128/29. 75 Uber K r i e g u n d Frieden, a.a.O., S. 267. Über Jacques Màlïet du Pan vgl. etwa Jacques Godechot, L a Contre-Révolution. Doctrine et A c t i o n 1789 - 1804, Paris 1961, vor allem S. 75 ff.

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T r a d i t i o n u n d Fortschritt i m Rechtsdenken C. M . Wielands

2. Wieland hat aber auch sehr genau beobachtet, wie sich der ideologische Weltbürgerkrieg der französischen Revolution allmählich i n einen nationalen Krieg verwandelt. Dabei w i r d das weltbürgerliche Vokabular weiterhin verwendet, um den Imperialismus dieser Nation zu verdecken. Er sieht auch, daß die Koalition der Monarchien diesem Vorhaben nur wenig gewachsen ist, denn ihr Bündnis ist zu schwach. „ W i r rechnen darauf", so läßt Wieland „Frankgall" sagen, „daß das eigene Interesse jeder einzelnen Macht einer solchen Vereinigung Schwierigkeiten entgegensetzt, welche, wenn sie auch endlich auf die Seite geschafft würden, immer als verborgene Gewichte und Hemmketten, die volle Wirkung derselben zurückhalten würden" 7 6 . Unter dem Vorwand der Befreiung baut, so meint Wieland, die Republik ein neues Imperium auf. Die „Befreiten" werden nämlich von diesem Imperium abhängig sein; er läßt „Frankgall" sagen, „daß w i r mit unseren Freunden und Alliierten auf keinem anderen Fuß zu leben gedenken, als die alten Römer mit den ihrigen". Die Natur dieser Revolution und die Stellung der Republik gegenüber der übrigen Welt erfordere es, daß diese Republik eine militärische sei. Da die Republik ihre Freunde sich entwickeln läßt, sagt „Frankgall", ist es nicht mehr als billig, daß diese die Armeen der Republik unterhalten „und so oft w i r Geld brauchen, unsre Schatzmeister sind" 7 7 . U m die volle Herrschaft zu erringen, bedürfe es für die Republik nur noch der Demütigung oder gänzlichen „Vertilgung" ihrer Nebenbuhlerin, nämlich Großbritanniens. I n Wielands scharfer K r i t i k am französischen Vorgehen gegenüber den schweizerischen Kantonen fällt das ironische, aber treffsichere Wort: „Was für eine Sprache auch die allgemeine demokratische Mutterkirche mit ihren Töchtern führen mag, so darf man ihr doch . . . ohne sich an ihrem guten Herzen zu versündigen, bei den großmüthigsten Mittheilungen ihrer zuvorkommenden Gnade immer etwas mehr Rücksicht auf sich selbst zutrauen, als sie, aus Schonung gegen die Schwachen, zu nehmen das Ansehen haben w i l l . . ." 7 8 . Dem Einwand, von einer Republik, die auf die Rechte der Menschheit gegründet sein wolle und mit den großen Zauberworten „Freiheit und Gleichheit, Vernunft, Philosophie und Philanthropie, so viel Geräusch und Geklingel" mache, dürfe man mit gutem Fuge ein besseres Beispiel erwarten, hält Wieland die Wirklichkeit der Machtpolitik entgegen: Wo die Partner nicht gleichstark sind, „da gebühret es sich, daß der Stärkere befehle und der Schwächere gehorche; denn dabei finden beide ihren Vortheil" 7 9 . 76

Gespräche unter v i e r Augen, Nr. V I : Die Universal-Demokratie, a.a.O., S. 139. 77 Ebd., S. 142/43. 78 Gespräche unter v i e r Augen, Nr. V I I I : Was w i r d endlich aus dem allem werden?, a.a.O., S. 183/84.

T r a d i t i o n u n d Fortschritt i m Rechtsdenken C. M. Wielands

V. 1. Wieland, der das Denken und Handeln i n Extremen für eminent unpolitisch hielt, weil dadurch Zerstörungen von Bewahrenswertem eintreten müssen, läßt sich nicht als Denker eines statischen Gleichgewichts einordnen. Er glaubte also auch nicht an die Utopie des Bewahrens 80 . Doch weil er von der Idee der ständigen Entwicklung ausging, sah er i m System von checks and balances die einzige Möglichkeit, humane Politik zu gewährleisten. Immer wieder t r i t t er für die Schaffung von Gegengewichten ein, u m dadurch einigermaßen ein Gleichgewicht erreichen zu können 8 1 . Deshalb war es für Wieland nicht entscheidend, welche Staatsform zugrunde gelegt wurde, wenn sie nur genügend Elemente enthielt, welche die Exzesse der „reinen" Staatsform aufhalten konnten 8 2 . Jedem Leser seiner politischen Schriften fällt sogleich auf, daß Montesquieu zu den von Wieland besonders geschätzten Autoren gehörte 83 . Unter Berufung auf i h n trat er für die „gemischte" Verfassung ein, was bekanntlich nicht unbedingt die konstitutionelle Monarchie bedeuten muß, sondern gleichermaßen für die anderen Staatsformen gelten kann, auch wenn Wielands Vorzug — wohl auch bestimmt durch die konkrete geschichtliche Lage — der konstitutionellen Monarchie galt. 2. Der Vertreter solcher Anschauungen konnte mit zunehmender Verschärfung der politischen Lage, erst recht i n bürgerkriegsähnlichen Spannungen, dem Vorwurf nicht entgehen, sich der Parteinahme entziehen zu wollen. Er mußte damit rechnen, daß man i h m dies als unpolitisches Bestreben, „über den Parteien" stehen zu wollen, vorwerfen werde. Wieland selbst sah das schon sehr früh. So schrieb er i m Jahre 1793: „Wehe indessen den Moderirten, die sich zwischen beiden gleich unparteiisch i n der Mitte halten wollten, keinem Theil mehr Recht oder Unrecht als er wirklich hatte oder i h n zu haben schien, gaben, und behaupteten, daß man weder Aristokrat noch Demokrat, sondern ein 79

Ebd., S. 185/86. „Alles, i n jedem einzelnen Menschen, i n jeder Classe, i n jedem p o l i tischen Körper, w i e i n der ganzen Natur, ist i n einer immerwährenden v o r wärtsstrebenden Bewegung, welche nicht Statt haben kann, ohne unverm e r k t die Formen der Dinge zu verändern." (Gespräche unter vier Augen, Nr. X I : Blicke i n die Z u k u n f t , a.a.O., S. 256). 81 So sehr deutlich in: Die Französische Republik (1792), Werke, Bd. 31, S. 191 ff.; für die repräsentative Demokratie ausdrücklich i n : Gespräche unter vier Augen, Nr. V : Entscheidung des Rechtshandels zwischen Demokratie u n d Monarchie, a.a.O., S. 111/12. 82 Ebd., S. 131 ( „ . . . w e n n die Gewalthaber sich nicht selbst die Hände bänden . . . " ) . 83 Besonders deutlich i n : Sendschreiben an H e r r n Professor Eggers i n Kiel, a.a.O., S. 150 ff. 80

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Tradition u n d Fortschritt i m Rechtsdenken C. M. Wielands

Freund seines Vaterlandes und der,'Menschheit und immer bereit seyn müsse, i n jedem Collisionsfall sein Privatinteresse dem allgemeinen Besten aufzuopfern 84 !" Dieser Lage hat er sich gestellt und die Vorwürfe ausgehalten 86 . I n solcher Situation für eine „konkrete Mitte" eintreten zu wollen, ist — wie alle Bürgerkriege zeigen — alles andere als unpolitisch, und es gehört zu den klassischen Denunziationen i n Bürgerkriegssituationen, diesen Dritten als „Unpolitischen" abzuschieben, weil er versucht, den Kampf bis zum äußersten aufzuhalten. Wenn Wieland hätte „unpolitisch" sein wollen, so hätte er sich nicht zu den politisch „Moderierten" gestellt, sondern wäre als unpolitischer Dichter an den Rand des Geschehens getreten, u m dort abzuwarten und vom Sieger als Unpolitischer verschont zu werden. Wieland wußte, daß es i n solchen Lagen großer politischer Klugheit bedarf, und er wußte, daß man nicht verpflichtet ist, ohne Not „aus bloßer (selten reiner) Schwärmerei" für die angeblich gute Sache sich böse Händel zuzuziehen. „Unverständige Märtyrer haben einer jeden Sache zu allen Zeiten mehr geschadet als genützt . . ." 8 β . Aber das war kein Beiseitetreten aus dem Politischen, hieß für i h n nicht, der Politik den Rücken zuzukehren und klassisch zu werden. Alle Vorwürfe werden nicht reichen, aus Wieland einen unpolitischen Harmonieträumer zu machen, so wenig es der unpolitischen Betrachtung gelungen war, den so sehr skeptischen Mann i n dieser Weise zu idealisieren. Ein deutscher Autor, der auch für das Gleichgewicht von Rechten und Pflichten eintrat und der geschrieben hatte: „Wer kein tiefes Gefühl von seinen Pflichten hat, kann keinen richtigen Begriff von seinen Rechten haben" 8 7 , ein solcher Autor kann i n einem Volk, von dem ein zeitgenössischer Philosoph meint: „Die Radikalismen und Unstabilitäten weisen doch wohl auf einen zeitüberlegenen Wesenszug h i n " 8 8 , wohl nicht populär werden. Aber man sollte i h n nicht vergessen, wenn bei erhöhter Spannung zwischen Tradition und Fortschritt wieder das große „dynamische Schwanken" (Arnold Gehlen) beginnt, denn guter Rat sollte uns teuer sein. Er kann Halt geben.

84 Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes, Werke, Bd. 31, S. 216/17. 85 Vgl. auch Martini, Nachwort, a.a.O., S. 1011. 86 Uber die Robespierre'sche Constitution v o n 1793, ebd., S. 294. Dort auch der Satz: „Es k o m m t sehr v i e l darauf an, wo, w a n n u n d v o n w e m etwas gesagt w i r d . " 87 Ebd., S. 317. 88 Arnold Gehlen, Was ist deutsch?, in: A . Gehlen, Einblicke, F r a n k f u r t 1975, S. 102.

La Révolution est finie" Zu einem Dilemma des positiven Rechts am Beispiel des bürgerlichen Rechtspositivismus I. Immer wieder findet man ein Erstaunen darüber, daß sich ein „Rechtspositivismus" entfaltet, der bestimmte Fragestellungen abschneidet. Man weist darauf hin, daß eben dieselben politischen Kräfte, die ehedem dem geltenden Recht ein „Naturrecht" entgegengestellt hatten, dessen Existenz mehr oder weniger offen leugnen, wenn sie ihrerseits die „Gesetzgebungsmaschine" i n der Hand haben. Dann, so heißt es weiter, würden ganz bestimmte Auslegungsregeln aufgestellt, die jedwedes „Hinterfragen" des geltenden Rechts unmöglich machen sollen, und auch der Rechtsunterricht verenge sich auf die bloße Einübung i n das positive Recht, indem das „Hinterfragen" dieses positiven Rechts als „unjuristisch" oder als „unwissenschaftlich" denunziert werde. I n Wirklichkeit aber sei auch dieser Rechtspositivismus i n hohem Maße „politisch", weil er die Funktion habe, den politischen status quo affirmativ zu interpretieren. Diese K r i t i k kann ihrerseits „wissenschaftlich" gemeint sein, indem sie keine direkten politischen Ziele i m Verhältnis zum jeweiligen status quo verfolgt. Daß sie gleichwohl irgendeine politische Relevanz für diesen besitzt, läßt sich nicht bestreiten, weil potentiell alle öffentlichen Stellungnahmen dieser A r t politisch sind. Es hängt vom jeweils bestehenden politischen System ab, inwieweit es solche Stellungnahmen toleriert. Solche K r i t i k kann sich aber auch entschieden politisch verstehen, indem sie die Positivität des geltenden Rechts bestreitet, u m ein anderes Recht an seine Stelle zu setzen. Sie „hinterfragt" das geltende Recht i n der Absicht, es als mit „höheren" Zielen unvereinbar zu zeigen, also seine „Legitimität" zu bestreiten. Dann kann solche „Rechtstheorie" versuchen, sich entweder i m offenen Kampf gegen das positive Recht durchzusetzen oder aber innerhalb des Rechtsapparats die entscheidenden Stellen zu besetzen (Gesetzgebung, Rechtsprechung, Rechtsliteratur, Rechtslehre), u m von dort dem Begriff des geltenden Rechts einen entgegengesetzten Sinn zu geben. Richtet sich solche K r i t i k nur gegen

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das Recht i n Form des Gesetzes, so muß sie interpretatorisch das i n die Verfassung legen, was zwingendes Gebot für die Gesetzgebung sein soll, damit der Spielraum des Gesetzgebers auf diese eine Richtung eingeengt wird. Wendet sich solche K r i t i k gegen die Grundlagen der Verfassung, so bedeutet das i m Sinne des positiven Rechts „Revolution". Falls die offene Revolution — aus welchen Gründen auch immer — inopportun erscheint, so bleibt nur die Möglichkeit, die Revolution verdeckt herbeizuführen, indem auf die eben geschilderte Weise der Rechtsapparat appropriiert wird. Dies fällt dann leichter, wenn er sich tragender Begriffe bedient, deren Inhalte sehr weit sind und die daher nur schwierig i m Hinblick auf ihre „Umfunktionierung" kontrolliert werden können. Überdies kann dieses Vorhaben erleichtert werden, wenn innerhalb des positiven Rechts eine hohe Rate an Änderung besteht und wenn vor allem deshalb das Selbstverständnis des geltenden Rechts, d. h. seiner Setzer und Anwender, weniger strenge Interpretationsregeln zuläßt und wenn überdies neben diesem Selbstverständnis des positiven Rechts die „Rechtstheorie" von der Relativität des Rechts schlechthin und von dem Bedürfnis nach ständiger Fortbildung des Rechts überzeugt ist. Dennoch ist damit nicht die Frage beantwortet, ob ein neues positives Recht ein derartiges „Hinterfragen" gestattet, mit dessen Hilfe es seinerseits das alte Recht abgelöst hat. Das ist primär eine politische Frage. Ihre Beantwortung hängt nicht zuletzt davon ab, welche inhaltliche Stringenz sich das neue positive Recht selbst beimißt. Je radikaler i m Ansatz und je fundamentaler i n der Stoßrichtung i m Hinblick auf das bestehende Recht die nunmehr siegreiche „Rechtsidee" war, desto eher ist zu vermuten, daß sich diese Radikalität vom Negativen ins Positive wendet, d. h. zumindest ebenso stark „positivistisch" w i r d wie das überwundene System. Offensichtlich handelt es sich hier u m ein allgemeineres Problem, dessen Erörterung nicht nur unter den Aspekten des jeweils geltenden Rechts belangvoll ist, sondern das auch die Wissenschaft vom Recht interessiert. Es ist dies also wohl nichts anderes als die Frage, ob die Positivierung von Recht bestimmte strukturelle Eigenheiten aufweist, die mit denjenigen der ihm zugrundeliegenden Idee, als sie noch darum kämpfte, positives Recht zu werden, nicht identisch sind. Dieser Frage soll i m folgenden am Beispiel des „bürgerlichen Naturrechts" und des positiven „bürgerlichen" Rechts nachgegangen werden, und zwar, dem geschichtlichen Ablauf entsprechend, zunächst vor allem der französischen Entwicklung folgend.

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Π. 1. Es ist für die Rechtswissenschaft inzwischen eine Binsenwahrheit, daß ein System des Naturrechts, das dem positiven Recht entgegengestellt wird, weithin ein konkretes System darstellt. Daß es möglicherweise einige ganz wenige inhaltliche Sätze gibt, die „für alle Zeiten" binden sollen oder doch über große Zeiträume hinweg, w i l l hier nichts besagen, weil sich geschichtlich nachweisen läßt, daß es konkreten Naturrechtssystemen darauf allein nicht ankam. Sie enthalten zum weitaus größeren Teil Forderungen an das jeweils geltende Recht, die weit über das „Ewige" des Naturrechts hinausgehen. Dies gilt auch für jene „lois naturelles", die von einem guten Teil der französischen Aufklärung dem positiven Recht der damaligen Monarchie entgegengehalten wurden. Diese K r i t i k des bestehenden Rechts war insofern besonders radikal, als sie i h m die „Natur" entgegenhielt, die vom emanzipierten Menschen zu erkennen war 1 . M i t der Wirklichkeit, auf die sie stieß, mußte eine solche Vorstellung von Natur besonders hart kollidieren. Gemäß dieser „Natur" und eben nicht gemäß der „ W i l l k ü r " der (bestehenden) Zivilisation soll der Mensch leben. Hier w i r d gegen die Geschichtlichkeit des positiven Rechts die unveränderliche Natur gesetzt2. Dazu gehören u. a. Ordnung, Glück, Vollendung, Freiheit und Eigentum. Wollen m i t h i n die Menschen gemäß der Natur leben, so müssen ihre positiven Gesetze i m Einklang m i t den natürlichen Gesetzen stehen. Positive Gesetze aber sind nötig, u m die Unwissenden, die das natürliche Gesetz noch nicht erkannt haben, dazu zu zwingen, sich diesem zu unterwerfen 3 . Das Problem der Entscheidung, das i m Bestehen auf der Notwendigkeit der positiven Gesetze enthalten ist, w i r d umgangen, indem den positiven Gesetzen nur deklaratorische Bedeutung beigelegt w i r d 4 . Damit ist zugleich gesagt, daß nicht Menschen, sondern nur Gesetze herrschen sollen. Die Menschen, die Gesetze erlassen, entscheiden nicht, sie stellen nur durch Deklaration das natürliche Gesetz fest. Der Gesetz1 Z u m Folgenden v o r allem M . Leroy , L a L o i — Essai sur la théorie de l'autorité dans la démocratie, Paris 1908, u n d G. Burdeau, Essai sur l'évol u t i o n de la notion de l o i en droit français, Archives de Philosophie d u Droit et de Sociologie juridique, 9, 1939, S. 7 ff. 2 Vgl. etwa F. Jonas, Geschichte der Soziologie, Bd. 1, Reinbek 1968, S.42 ff., u n d B. Groethuysen, Philosophie der Französischen Revolution, Neuwied 1971, S. 118 ff. 8 Dazu v o r allem L. Cheinisse, Les idées politiques des Physiocrates, Thèse Droit Paris 1914, S. 73 f. 4 Quesnay, Le droit naturel, in: Physiocrates, hrsg. v. Daire, Bd. 1. Paris 1846, S. 54; Mercier de la Rivière, L'ordre naturel des sociétés politiques, ebd., Bd. 1, S. 441.

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geber ist eben nicht „légisfacteur", sondern „législateur", der das natürliche Gesetz unter die Menschen trägt 5 . Diese Ubereinstimmung des positiven Gesetzes mit dem natürlichen Gesetz, das von der unveränderlichen Natur des Menschen ausgeht, macht eine Änderung des Rechts unmöglich. Morelly verlangt deshalb sogar, die Abänderung der einmal „richtig" erlassenen positiven Gesetze unter harte Strafe zu stellen 6 : Die Befürworter des „endgültigen Zustandes" erweisen sich demnach als besonders rigorose „Positivisten", anders gesagt: Solche „Futurologen" schlagen die Tür zur Zukunft zu. 2. Diese Konstruktion blieb so lange eine rein theoretische, als die Frage nach ihrer Umsetzung i n die Wirklichkeit noch nicht zur Diskussion stand. Sie mußte jedoch beantwortet werden, als es zur Revolution kam. Gemäß dieser Konzeption mußte dann das Gesetz eine entscheidende Rolle spielen; denn das Gesetz sollte i m Gegensatz zum Machtspruch des Monarchen oder dem abgelegten Gewohnheitsrecht der Gerichte der neuen Rechtsidee zur Verbindlichkeit verhelfen. Das Gesetz w i r d zu einem Symbol der gesamten Revolution 7 . So erklärt Saint-Just , der Mensch höre auf, unglücklich und verdorben zu sein, wenn man i h m Gesetze gemäß der Natur und gemäß seinem Herzen gebe 8 . Und man glaubte, es sei leichter, gute Gesetze zu machen, wenn man die Natur statt der Jurisprudenz der Vergangenheit befrage 9 . Doch mit dem tatsächlichen Vorgang der Revolution stößt das Gesetz auf die konkrete Geschichte. Diese ist eben noch nicht ein Zustand, i n dem das natürliche Gesetz kraft Deklaration durch das positive Gesetz regiert. Hier können nicht Gesetze gegeben werden, die sich an natürliche Gleiche richten und eine dauernde Zukunft i m Auge haben. Hier muß zuerst ein konkreter Zustand beseitigt werden, damit es überhaupt zur Herrschaft des natürlichen Gesetzes kommen kann. Müssen zu diesem Zweck Gesetze erlassen werden, so können sie i n der Sache auch nicht gleich, allgemein oder abstrakt sein. Das ist erst möglich, wenn sämtliche Privilegien abgeschafft sind und somit der „natürliche" Zustand des Menschseins hergestellt ist. Bis dahin kann es keine „ewigen" Gesetze geben 10 . 5

Mably, De la législation en principes des lois, Collection complète des œuvres, Bd. 9, Paris 1794/95, S. 30; ders., Entretiens de Phocion etc., ebd., Bd. 10, S. 46. ® Morelly , Code de la nature, Ausgabe Paris 1953, S. 144. 7 J. Ray , La Révolution française et la pensée juridique: l'idée du règne de la loi, Rev. Phil., 128, 1939, S. 364 ff. 8 Saint-Just , Rede über die künftige Verfassung Frankreichs (24.4.1793) i n dem Auswahlband: Le Gouvernement révolutionnaire jusqu'à la Paix, Paris 1946, S. 92. 9 J. van Kan, Les Efforts de la Codification en France, Paris 1929, S. 367.

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Um die „neue" A r t von „Gesetzen" der Revolution zu erfassen, verwendet Condorcet 1793 den Ausdruck „loi révolutionnaire", also Revolutionsgesetz 11 . Daneben stellt er die „mesure révolutionnaire", die Revolutionsmaßnahme. Während das Revolutionsgesetz zum Ziele hat, die Revolution einzuleiten, sie zu beschleunigen oder ihren Weg zu regeln, sichert die Revolutionsmaßnahme den Erfolg der Revolution. Als Merkmal der Abgrenzung des Revolutionsgesetzes vom normalen Gesetz (loi ordinaire) gilt für Condorcet, daß die Revolutionsgesetze einen vorübergehenden Zweck verfolgen und daß sie deshalb m i t der Erreichung dieses Zwecks ihre Geltung verlieren. Er verlangt aber ausdrücklich die Festlegung der Geltungsdauer dieser Gesetze; doch kann sie durch einen neuen Beschluß verlängert werden — je nach der Sachlage. Die Uneinigkeit der Revolutionäre darüber, welche Maßnahmen gemäß der Natur seien, führte bekanntlich zu einer weiteren Radikalisierung der Revolution. I h r fiel auch der Marquis de Condorcet, der noch gewisse rechtsstaatliche Bedenken hatte, zum Opfer. Einen Halt gab es i n diesem Taumel nicht, weil man glaubte, die Tradition durch die Natürlichkeit des Menschen vollends ersetzen zu können. Erst Napoleon stabilisierte die Lage, und zwar weithin auf der Grundlage des durch die Revolution Erreichten. Nunmehr konnte es zur sicheren Positivierung großer Teile des bisherigen „Naturrechts" kommen.

m. 1. „La Constitution est fondée . . . sur les droits sacrés de la propriété, de l'égalité, de la liberté . . . Citoyens, la Révolution est fixée aux principes qui l'ont commencée. Elle est finie 1 2 ." Dieser Ausspruch Napoleons zeigt, i n welcher Lage das Gebäude der fünf großen Codes errichtet wurde. Die bürgerliche Eroberung, von der Portalis spricht 1 3 , ist abgeschlossen. Nach der bürgerlichen Nähme w i r d geteilt, damit das Weiden beginnen kann 1 4 . Allerdings fand auch noch insoweit eine Teilung statt, als Napoleon sich die öffentliche Macht nahm, u m dem Bürgertum das Privatrecht zu überlassen 15 . A u f die Staatsform kommt es hier also 10 Darüber, wie das i n einem wichtigen F a l l aussah: J. Hoock, Emigration u n d Revolution — Z u r Emigrationsgesetzgebung der Französischen Revol u t i o n 1789 - 1793, Der Staat 5 (1966), S. 189 ff. 11 Condorcet , Sur le sens du mot révolutionnaire, Oeuvres complètes, Braunschweig 1801, Bd. X V I I I , S. 3 ff. 12 Ausspruch Napoleons v o m 15.12.1799, zit. v. A . Sorel, i n : Le Code C i v i l (1804 - 1904), L i v r e d u Centenaire, Bd. 1, Paris 1904, S. X X I V . 13 I m Discours préliminaire zum Code C i v i l : „Toute Révolution est une conquête", abgedruckt bei Locré, L a Législation civile, commerciale et criminelle de la France etc., Bd. 1, Paris 1827, S. 252. 14 Siehe C. Schmitt, Nehmen/Teilen/Weiden, in: Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954, B e r l i n 1958, S. 489 ff.

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nicht entscheidend an 1 6 . Die Erörterungen über den Begriff des Gesetzes machten sich an den großen Codes, also am „Justizrecht" fest. Für diese neue Positivierung von Recht ist es bezeichnend, daß gesagt wird, nunmehr habe der „esprit juridique" den „esprit philosophique" überwunden: Das Naturrecht ist i n das positive Gesetz abgewandert, und dieses Gesetz wird, trotz der Notwendigkeit, es zu verbessern, von Dauer sein. So sagt der große Jurist Cambacérès, die Gesetze seien ein „dépôt sacré" 17 , und später äußerte er, die Gesetze seien die Anker, an denen man das Staatsschiff festmache 18 . Allerdings hat diese Bemühung, tatsächlich weithin i m Gesetz und nicht i n der Verfassung den Ort zu sehen, wo Recht und „Gesetz" zusammenfallen, die Tendenz, dem Gesetz i n seiner Gesamtheit die Würde der Verfassung zu verleihen. Dann läßt sich zwischen allgemeineren und daher wandlungsfähigeren Grundsätzen einerseits und den Einzelheiten andererseits kaum noch unterscheiden. Dies muß zu einer besonders starken Festigung der jeweils i m Gesetz dominierenden Interessen führen, die sich deshalb zur Abwehr von Änderungen auch recht mühelos der Austauschbarkeit von Grundsatz und Einzelheiten bedienen können. Dieser funktionalen Umwandlung des Gesetzes i n die Verfassung entspricht es, wie hernach (IV 2.) an einem gegenwärtigen Argumentationsbeispiel gezeigt werden kann, daß bei dem Vorhandensein eines Verfassungsgesetzes, das auch inhaltlich den Gesetzgeber bindet, die Verfassung argumentativ i n die Funktion des Gesetzes geschoben werden soll. Nach der damals vorherrschenden Meinung also war ein großer Bereich dessen, was man bis dahin als Naturrecht betrachtet hatte, i m positiven Recht, i n den fünf großen Codes niedergelegt worden 1 9 . Das mit der Revolution bekämpfte und überwundene Recht gewann wieder den Charakter von „Recht". Recht und Gesetz fallen zusammen 20 . Damit durfte das positive Recht jene Würde beanspruchen, die bisher nur dem Naturrecht zukam. Höhere Prinzipien als diejenigen, die nun posi15 Hierzu schon L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 1, Ausgabe München 1921. 16 I n einem Brief v o m 18.11.1798 schrieb Portalis: „ I I ne s'agit point i c i de République ou de Monarchie; i l s'agit de l'ordre social . . . " ; siehe L. Schimsévitsch, Portalis et son temps, Thèse D r o i t Paris 1936, S. 171. 17 Vgl. Leroy , a.a.O., S. 36; Burdeau, Essai sur l'évolution de la notion de loi, a.a.O., S. 15 f.; Ph. Sagnac, La Législation civile de la Révolution française (1789 - 1804), Paris 1898, S. 50 ff. 18 Leroy , La Loi, a.a.O., S. 36, m i t weiteren Hinweisen. 19 Vgl. H. Thieme, Das Naturrecht u n d die europäische Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl., Basel 1954, S. 38. 20 Burdeau, a.a.O., S. 28; H. Capitani, Les Transformations d u droit c i v i l français depuis cinquante ans (1869 - 1919), i n : L i v r e du Cinquentenaire de la Société de Législation comparée, Bd. 1, Paris 1922, S. 33.

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tives Recht i n Gestalt der Gesetze geworden sind, vermochte das Bürgertum nicht mehr zu sehen und damit anzuerkennen. Es konnte keine K l u f t zwischen positivem Recht und Naturrecht anerkennen, weil diese K l u f t durch die Gesetze geschlossen worden war. Das war für dieses Rechtsdenken keine Leugnung von Naturrecht als von Prinzipien, die dem neuen positiven Recht gegenübergestellt werden könnten; denn positives Recht und Naturrecht sind nunmehr identisch. Wenn nur noch das Gesetz als positives Recht anerkannt wird, so stellt das keinen „nihilistischen" Rechtspositivismus dar, sondern den Höhepunkt der gesamten Rechtsentwicklung, wenn nicht gar ihre Vollendung: Recht und Gesetz fallen zusammen. Die Wissenschaft vom positiven Recht schneidet hier nicht unangenehme Fragen ab oder verbietet nicht das „Hinterfragen" ihrer selbst, weil es jetzt nichts mehr zu hinterfragen gibt. Einen Bezugspunkt außerhalb des positiven Rechts in der Form des Gesetzes kann es jetzt nicht mehr geben. Nun kann von der Sache her Recht nicht mehr von außen ausgelegt werden. Es bedarf keiner „überpositiven" oder „außerpositiven" Bezugnahmen. Da hier das positive Recht auch der Wirklichkeit gänzlich entspricht, kann es aus sich selbst heraus ausgelegt werden. Alle zu berücksichtigenden sozialen Interessen, nämlich die der etablierten bürgerlichen Gesellschaft, sind i n das positive Recht eingegangen, so daß es genügt, dessen „Begriffe" zu kennen und auf den konkreten Fall anzuwenden, u m das richtige Recht finden zu können: I n diese Begriffe sind das Naturrecht ebenso wie die norm-relevante Wirklichkeit eingegangen — die Jurisprudenz kann also das Recht aus sich selbst heraus auslegen, und dabei gelingen ihr, rein fach-spezifisch gesehen, großartige Leistungen. Für die Rechtswissenschaft bedeutete dies, wie man inzwischen hinlänglich erkannt hat 2 1 , weithin einen Verlust ihrer bislang verhältnismäßig autonomen Rolle. Das t r i f f t vor allem für die französische Rechtswissenschaft zu 2 2 . „Die Rechtsentwicklung Frankreichs, mit ihrer positivistischen Verwandlung des Rechts i n gesetzesstaatliche Legalität, stand für die damals herrschende Meinung an der Spitze des Fortschritts der Zivilisation und der Menschheit 23 ." Sie kehrt nun den Begriff der „Wissenschaftlichkeit" sogar gegen sich selbst, indem sie nur noch dem, was „positiv" gewußt wird, d. h. dem positiven Recht zu ent21 Statt vieler C. Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, Tübingen 1950 ( = Verfassungsrechtliche Aufsätze, a.a.O., S. 386 ff.). 22 Eine der berühmten Ausnahmen w a r M . Hauriou. Darüber etwa: L a Pensée du Doyen Maurice Hauriou et son Influence, Paris 1969, insbesondere der Beitrag v o n G. Vedel, Le Doyen Maurice Hauriou et la Science politique, S. 91 ff. 23 Schmitt, a.a.O., S t 31 ( = S. 424).

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nehmen ist, die Würde der „Wissenschaftlichkeit" zugesteht 24 . Für eine Disziplin wie die Verwaltungslehre hieß dies, daß sie sowohl aus der Forschung als auch aus der Lehre verdrängt wurde, u m dem sich kraftvoll entfaltenden Verwaltungsrecht das Monopol auf das Wissen von der öffentlichen Verwaltung zu überlassen 25 . 2. Es gab jedoch wichtige Gründe für die „Abdankung der Rechtswissenschaft" gegenüber dem Gesetzgeber des bürgerlichen Rechtsstaates, wie dieser Vorgang von seinen K r i t i k e r n genannt worden ist. Wenn Carl Schmitt i n diesem Zusammenhang sagt: „Freilich ist nach dem enthüllenden Stoß von 1848 sofort eine positivistische Reaktion und Resignation eingetreten, und die Entwicklung des späten 19. Jahrhunderts glitt noch weiter auf der Bahn dieser A r t von Fortschritt bis zur jeweiligen Legalität des jeweiligen status quo der jeweiligen Maßnahmen" 2 6 , so ist das gewiß eine treffende Beschreibung; doch bedarf es noch einer Erklärung dafür, weshalb es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Hier w i r d man zu beachten haben, daß es i n erster Linie „bürgerliches" Naturrecht war, das nun i n die Form des positiven Rechts, also des Gesetzes, eingegangen war. Es handelte sich, jedenfalls zunächst, u m einen ganz bestimmten, eben den „bürgerlichen" Legalismus. Und eben dies besagt, daß für die Rechtswissenschaft, die als soziale Schicht überwiegend zum Bürgertum gehörte, nunmehr eine enge Verflechtung ihrer sozialen Situation und somit auch ihrer sozialen Interessen mit dem status quo stattfinden mußte, während bis dahin ihre sozialen Interessen mit denen der Inhaber der politischen Macht (einschließlich derjenigen der Kirche) nicht identisch waren, ja sogar oft damit kollidierten. Jetzt bedurfte es außerordentlicher geistiger Selbständigkeit, u m die Unabhängigkeit von Rechtswissenschaft i m herkömmlichen 24 L. v. Stein hat das 1876 so gekennzeichnet: „Aber über seine K o d i f i k a t i o n ist es nicht hinausgelangt; es w a r stark genug, die Gesellschaft zu zerbrechen, aber nicht so stark, u m sie zu verstehen. Daher ist i h m der Gesamtwille nicht bloß Recht, sondern auch das Verständnis des Rechts; die juristische A r b e i t sinkt i h m auf die Interpretation seiner Rechtsgesetze zurück, u n d der spezifische Mangel der Rechtsbildung i n Frankreich ist gerade die durch die K o d i f i k a t i o n begründete Entfremdung des Verständnisses der rechtsbildenden Kräfte v o n dem Verständnis des Rechts." (Gegenw a r t u n d Z u k u n f t der Rechts- u n d Staatswissenschaft Deutschlands, jetzt i n : L. v. Stein, Gesellschaft-Staat-Recht, hg. v. E. Forsthoff, B e r l i n 1972, S. 476). 25 Z u r Entwicklung i n Frankreich siehe etwa P. Legendre i m Sammelband: Traité de Science Administrative, Paris 1966, S. 47 ff.; sowie O. Pirotte, A . - F . - A . V i v i e n de Goubert (1799 - 1854), Paris 1972, S. 450 ff. 26 Schmitt, a.a.O., S. 31 ( = S. 425). Noch stärker führte Konstantin Frantz i n seiner Schrift „Louis Napoleon" (1852, zit. nach der Ausgabe Darmstadt 1960) die E n t w i c k l u n g i n Frankreich auf die radikale Verneinung jeder T r a d i t i o n i n der Französischen Revolution zurück. Diese Schrift erschien übrigens 1933 m i t einem mutigen V o r w o r t i n Potsdam, Sie ist noch i m m e r y ç n unverminderter A k t u a l i t ä t ,

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Sinne nicht den spezifischen Interessen des Bürgertums zum Opfer fallen zu lassen. Aber diese Erklärung allein reicht nicht aus, u m die Vorherrschaft des Rechtspositivismus i m 19. Jahrhundert vollends einsichtig zu machen. Vielmehr hat die alsbald nach 1815, dann 1830 aufkommende „soziale" Frage dem positiven Recht und damit seiner „bürgerlichen" naturrechtlichen Grundlage eine konkrete Gefahr signalisiert. Hier zeichnete sich immer deutlicher ab, daß das positive Recht von einer neuen Seite her i n seiner Legitimität bestritten wurde. Wollte man die dem positiven Recht zugrundeliegenden Ideen bewahren, so mußte man seine Grundlagen außer Diskussion stellen. Die Zeit eines politisch mehr oder weniger unbestrittenen (allenfalls von der auslaufenden Restauration bestrittenen) und damit auch politisch ahnungslosen Positivismus war vorüber. Hier hätte die Verengung des Rechtspositivismus nur vermieden werden können, hätte sich die Rechtswissenschaft jenen Problemen überhaupt geöffnet, deren rapides Aufkommen bereits zur Geltendmachung neuer Legitimitäten gegenüber dem status quo geführt hatte. Das hätte also nichts anderes bedeutet, als daß sich die Rechtswissenschaft zur Forbildung des geltenden Rechts durch „Reform" hätte entschließen oder sich ihr zumindest öffnen müssen. Das hat sie bekanntlich i n ihrem weitaus größeren Teil nicht getan, weder i n Frankreich noch i n Deutschland. Mohl und erst recht Stein mußten resignieren. Sie blieben Einzelgänger, deren wissenschaftliche Leistungen bereits i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestritten oder doch freundlichherablassend gewürdigt wurden. Es ist m i t h i n alles andere als ein Zufall, daß Gelehrte wie Mohl und Stein sich auch mit „Grundlagenfächern" befaßten und ihre Werke einen stark empirischen Zug aufwiesen. Sie glaubten eben nicht i n positivistischer Weise an die völlige Deckung von Recht und Gesetz und von Norm und Wirklichkeit. Die vorherrschenden Ansichten schlossen derartige Reformen aus und deshalb die Türen der Rechtswissenschaft zu den nunmehr als „andersartig" empfundenen Disziplinen zu. A m besonders lehrreichen Fall der Ausbildung der höheren Verwaltungsbeamten läßt sich das deutlich ablesen 27 . Dabei ist allerdings die Frage schwer zu beantworten, ob man die Notwendigkeit von Reformen nicht sah, ob man glaubte, auch ohne sie auszukommen, oder ob man meinte, sie nicht i n Gang bringen zu dürfen, weil dann die Kontrolle über die weitere Entwicklung verloren gehen könnte. 27 Vgl. W. Bleek, V o n der Kameralausbildung zum Juristenprivileg — Studium, Prüfung u n d Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes i n Deutschland i m 18. u n d 19. Jahrhundert, B e r l i n 1972.

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Für die Rechtswissenschaft, die sich dermaßen „positivierte", mußte dies ferner bedeuten: Was vor dem positiven Recht (fixiert insbesondere i m Gesetz) liegt, also die Gesetzgebungspolitik und m i t h i n die sich mit dem „Sozialen" befassenden Disziplinen, befindet sich jenseits des Fragenhorizonts. Sofern das geltende Recht den Ausdruck solcher A n sichten i m Bereich der Wissenschaft als Ganzem zuließ, muß ten „reformerische" Ansätze sich ihr Feld außerhalb der Jurisprudenz suchen. Und was ζ. B. die Ausbildung für die Verwaltung betraf, für die das Rechtsstudium wenig hergab, so behalf man sich i n Preußen mit einer Einweisung i n die Praxis, die ihrerseits von dem jeweiligen System fest kontrolliert wurde 2 8 . Die wissenschaftliche Durchdringung eben dieser Praxis wurde m i t dem Hinweis abgelehnt, dergleichen lasse sich nicht theoretisch erfassen, also auch nicht innerhalb des Bereichs der Wissenschaft erlernen. Hier kam es also darauf an, inwieweit sich andere Wissenschaftsdisziplinen, die sich weniger „positivieren" ließen, zu etablieren vermochten. Dies geschah teils i n der Nationalökonomie („Kathedersozialisten"), teils i n der sich allmählich herausbildenden Soziologie. Der Preis, den das System für die starke Positivierung der Rechtswissenschaft zahlte, bestand darin, daß andere „Sozialwissenschaften" zum guten Teil außerhalb solcher „Systemkontrolle" blieben. Da sich somit nur dort „Reformideen" zu entwickeln vermochten, konnte es nicht ausbleiben, daß es schwer fiel, zwischen „Reformideen" und „Revolutionsideen" zu unterscheiden. Allerdings zeichneten sich vornehmlich nach 1900 sowohl in Deutschland als auch i n Frankreich Tendenzen ab, i n der Rechtswissenschaft die strenge Vorherrschaft des Rechtspositivismus zu lockern, bezeichnenderweise aber, wie die „Freirechtsschule", großenteils außerhalb der Universitätswissenschaft 29 . Man nahm auf die vom Recht zu lösenden Interessenkonflikte immer mehr Rücksicht, indem sie bei der Anwendung des Gesetzes veranschlagt wurden. Auch wurde die Rolle des Rechtsanwenders bei der Handhabung der Gesetze differenzierter beschrieben und wurden Ansätze zur Lehre von der Rechtsfortbildung entwickelt, zumal gerade das sich herausbildende Arbeitsrecht dafür konkreten Anlaß bot, wie sich denn immer deutlicher wichtige Rechtsgebiete außerhalb oder neben dem gesetzlich normierten Recht entfalteten. 3. Bekanntlich wurde der Rechtspositivismus i n der Weimarer Republik aus verschiedenen Gründen stark i n Frage gestellt: Teils, u m sich 28

Vgl. ebd., S. 164 ff. Dies gilt auch für Frankreich, ζ. B. für Maxime Leroy , u n d zwar neben dem oben zitierten Buch vor allem: Le Code c i v i l et le D r o i t nouveau, Paris 1904, u n d Les Transformations de la Puissance publique, Paris 1907. 29

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gegen den demokratischen Gesetzgeber offen oder versteckt aufzulehnen; teils, weil dieser Gesetzgeber zunehmend dem Verordnungsgeber Platz machte; teils, weil sich bereits innerhalb der Rechtswissenschaft (oder genauer: der Rechtsliteratur) Kräfte entfalten konnten, die das geltende Recht grundsätzlich i n Frage stellten 3 0 . Diese Aufweichung des Rechtspositivismus wurde noch dadurch unterstützt, daß die herrschende Meinung i n der Staatsrechtslehre eine nahezu grenzenlose Befugnis zur Verfassungsänderung anerkannte. Die Tendenzen zur Selbstauflösung des Systems waren unverkennbar, und sie setzten sich dann auch politisch durch. Das nationalsozialistische Regime hat nach einer verhältnismäßig kurzen Übergangszeit für sich die Lehren aus dem Vorangegangenen gezogen. Einerseits wurde der Spielraum für die Auslegung des nunmehr geltenden Rechts bald erheblich eingeengt, und zwar von der EinPartei aus, wobei der innerparteiliche Konflikt zwischen Rechtslehre der NSDAP und derjenigen der SS allmählich zugunsten der letzteren entschieden wurde. Andererseits wurde die Rechtswissenschaft insofern „entpositiviert", als nun vom Juristen verlangt wurde, auch die Grundlagen des neuen Rechts zu kennen. Doch bedeutete dies keine Zulassung von Grundlagenfragen mit weitem Fragenhorizont; denn damit hätte man die Bindung an das neue positive Recht wieder gelockert. Was Grundlage war, ergab sich aus der „völkischen Lehre", deren Inhalt letztlich verbindlich festzulegen Sache der einen Partei war. Für die Rechtslehrer wurden Habilitation und Lehrbefugnis getrennt, was i n der Sache noch eine Rücksichtnahme auf das tradierte Selbstverständnis der Universitätswissenschaft bedeutete. Den künftigen Dozenten wurde ein Schnellkurs in den Grundlagen der neuen Rechtsordnung angesonnen 31 . 4. Die zweite deutsche Republik, genauer: die Bundesrepublik Deutschland, baute auf dem Stand vom Ende der ersten Republik auf. Sie baute allerdings i n A r t . 79 Abs. 3 des Grundgesetzes eine Sperre für die verfassungsändernde Gewalt auf und i n A r t . 5 Abs. 3 GG den Satz ein: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung." Damit bleibt für diejenigen, welche glauben, die Sperre der Verfassung gegen die Aufhebung ihrer Grundlagen nicht mit Gewalt beseitigen zu können (oder glauben, dies nicht ohne geistige Vorbereitung t u n zu können), nur der Weg, sich zur herrschenden Meinung bei 30 Zum. Ganzen siehe F. Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes i m Recht der bürgerlichen Gesellschaft, Zeitschrift für Sozialforschung 6 (1937), S. 542 ff. ( = Demokratischer u n d autoritärer Staat, F r a n k f u r t 1967, S. 31 ff.). 31 Einige Versuche, die Verwaltungslehre zu fördern, w u r d e n alsbald ebenfalls von SS-Juristen unter K o n t r o l l e genommen (Reinhard Höhn). Die Geschichte der Verwaltungslehre i m D r i t t e n Reich ist noch zu schreiben.

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der Interpretation der Grundlagen und Grundbegriffe der Verfassung zu machen, indem diese, bei gleichbleibendem Wortlaut, mit einem Sinn ausgestattet werden, der gemäß aller herkömmlichen Interpretationsregeln der Verfassung nicht beigelegt werden kann. Zur herrschenden Meinung kann man jedoch nur werden, indem dafür die tatsächlichen Voraussetzungen geschaffen werden, als da sind: I n erster Linie Personalpolitik hinsichtlich der Schaltstellen i m „Rechtsapparat", aber auch hinsichtlich der Juristenausbildung, ferner entsprechende Einflußnahme auf die literarische Produktion von juristischen Meinungen. Insbesondere was die Juristenausbildung angeht, so bietet der Rechtspositivismus, wie er sich bald nach 1945 wieder mehr oder weniger i n der traditionellen Form einbürgerte (die Naturrechtsdiskussion erwies sich weithin als nachgeholter Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime), gewisse Blößen, die von den Gegnern des bestehenden politischen Systems bei genügender Geschicklichkeit ausgenützt werden können. Die „Entpolitisierung" der Rechtswissenschaft und demgemäß auch des Rechtsstudiums schon i n den frühen fünfziger Jahren 3 2 mußte problematisch werden, als sich nach dem Abschluß des „Wiederaufbaus" neue große politische Probleme zeigten. Eine darauf durchweg nicht vorbereitete Rechtswissenschaft nebst ihren Adepten konnte auf einen solchen „Schock" entweder nur durch hilflose Nachgiebigkeit reagieren, indem sie anderen Disziplinen das Wort überließ, oder sie verschloß sich nun erst recht und nunmehr ganz bewußt, u m die Interpretation des geltenden Rechts, vor allem der Verfassung, abzuriegeln. Damit mußten alle Versuche zur „Repolitisierung" der Rechtswissenschaft und damit auch des Abtastens des Geländes für „Reformen" i n eine prekäre Lage geraten. Ein auf den jeweiligen status quo bis i n die Einzelheiten hinein festgelegter Rechtspositivismus ist nicht mehr i n der Lage, Freund und Feind der Grundlagen eben dieses Systems richtig zu unterscheiden. Werden ζ. B. der Rechtswissenschaft doch Reformen des Rechtsunterrichts aufgezwungen, so läuft sie Gefahr, ihren Einfluß entweder bereits durch den Zwang zur Reform zu verlieren oder aber die Chance des Einflusses preiszugeben, weil sie nicht imstande ist, ihrerseits die neuen Möglichkeiten, ζ. B. personell, zu nutzen. Sie muß sich dann entweder gegen diese Reformen stemmen, womit sie sich gegenüber den Gegnern des Systems eine neue Blöße gibt und auch den politisch insoweit Ahnungslosen gegen sich einnimmt sowie „systemgetreue" Reformer verprellt, oder aber sie muß den Einbruch der Systemgegner hinnehmen. I n jedem Falle aber handelt es sich u m 32 Dazu gehört auch das Abschieben der neugeschaffenen Lehrstühle f ü r Politische Wissenschaft i n andere Fakultäten — u n d die lebhafte Klage über das, was sich dann dort tat.

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eine Machtprobe. Solange aber Rechtswissenschaft i n ihrer positivistischen Denkweise verharrt, w i r d sie solche Machtproben als Schock erleben und allenfalls blindwütig auf sie reagieren. Sie vermag diese Situation nur zu überwinden, indem sie i n der bisher überwiegend abgelehnten Weise auf ihre eigenen Grundlagen reflektiert. Freilich gehört dazu nicht nur die Erkenntnis ihrer politischen „Umwelt", sondern auch die Tatsache, daß Wissenschaft i m Sinne des occidentalen Rationalismus bestimmte politische Systeme, also bestimmte Arten von „Naturrecht" ausschließt. IV. Versucht man, aus der geschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses von „bürgerlichem" Naturrecht und „bürgerlichem" positiven Recht einige allgemeine Einsichten abzuheben, so könnten es vielleicht folgende sein: 1. Je radikaler ein „Naturrecht" das bestehende positive Recht (d.h. sein Grundsystem) negiert, desto mehr muß es nach dem Erfolg seiner Attacke „positivieren". Es w i r d deshalb zugleich i m Ganzen unbeweglicher und damit theoretisch leichter kritisierbar. Indem es sich infolge seines radikalen Ansatzes aus den bestehenden Verhältnissen löst, muß es hernach mehr Wirklichkeit abarbeiten, d.h. sein Grunddogma i m Einklang mit der Wirklichkeit halten — oder umgekehrt. Aus eben diesem Grunde neigt es dazu, den Fragenhorizont möglichst eng zu halten, und dies bedeutet: einem strengen Rechtspositivismus zu huldigen und diese Absicht mit entsprechenden organisatorischen M i t teln abzusichern. U m jedoch der Gefahr eines jeden Rechtspositivismus zu entgehen, nämlich die eigenen Grundlagen aus dem Blick zu verlieren, w i r d dem Juristen zunächst das entsprechende Grundlagenwissen vermittelt. Das geschieht allerdings weniger i m Sinne der Zulassung möglichst vieler Fragen als vielmehr durch die Einübung i n das Grunddogma der positiven Rechtsordnung. Dieses „Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium" darf nicht mit einem prinzipiell unbegrenzt fragenden „Grundlagenstudium" i n Systemen mit offenerem Grunddogma verwechselt werden. Organisatorisch und personell w i r d der Prozeß der Rechtsgestaltung möglichst scharf von den eigentlich politischen Instanzen des Systems überwacht. Das gilt sowohl für die „Unabhängigkeit" der Richter als auch für die „Autonomie" der Universitätswissenschaft. Wo diese Autonomie, aus welchen Gründen auch immer, nicht völlig beseitigt wird, bauen die politischen Instanzen außerhalb der Universität neue „Forschurigseinrichtungen" auf, die vom Staat stärker beeinflußt werden

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können und auch eher zur Beratung herangezogen werden („Akademien", auch für Rechtswissenschaft 33 ). Nur solche „Naturrechts"-Systeme, die von der Beseitigung von Herrschaft überhaupt ausgehen und das politische Element glauben auch tatsächlich beseitigen zu können, verkennen die Bedeutung der politischen Funktion des Rechtspositivismus. Sie müssen i n Kauf nehmen, daß bei der positivistischen Einübung i n das geltende Recht dessen Grundlagen i n Vergessenheit geraten, streng genommen: die beliebige Austauschbarkeit dieser Grundlagen zulassen. Dies ist nur möglich, wenn, wie gesagt, ein solches System von der Eliminierung des Politischen ausgeht, während sich ein „politischer" Positivismus dieses Elements bewußt bleibt, auch wenn er glauben machen w i l l , es gehöre zu seinem Ziel, das politische Element, also auch Herrschaft von Menschen über Menschen, abzuschaffen. I n diese Situation ist der bürgerliche Rechtspositivismus geraten, wobei er Gefahr lief, seine politischen Grundlagen zu vergessen, d. h. Freund und Feind nicht mehr unterscheiden zu können 3 4 . Auch insoweit also hat Marx die Philosophie vom Kopf auf die Füße gestellt. 2. Jedes Rechtssystem hat also einen Kern von unantastbaren Grundsätzen. Auch entwickelt es Lehren, wie das Recht ausgelegt werden soll: Solche Lehren haben also ebenfalls politische Relevanz. Hält das Rechtssystem eine Lockerung des Rechts durch weitergreifende Interpretationsregeln und durch „Rechtsfortbildung" außerhalb der primären Rechtssetzungsorgane für angebracht, so macht es jedoch immer noch einen Unterschied, ob sich diese Lockerung gleichermaßen auf die Grundsätze (Verfassung) beziehen soll. W i r d diese Frage bejaht, so w i r d allmählich der Unterschied zwischen Gesetz und Verfassung aufgehoben. Es kann zur faktischen Bejahung dieser Frage kommen, weil man ihre Bedeutung verkennt, oder weil Gegner des Systems (genauer: seiner Grundsätze) für derartige Ansichten i n bestimmter Absicht eintreten. Überdies neigen angesichts der Machtverhältnisse i m gesetzgebenden Organ ungeduldige „Reformer" (von Gesetzesrecht) dazu, die Unterscheidung von Beweglichkeit der Grundsätze und jener der Gesetze zu verwischen, indem eine mehrdeutige oder „plurale" Grundsatznorm „eindeutig" ausgelegt wird, u m auf diese Weise den Gesetzgeber i n einer ganz bestimmten Richtung zwingend festzulegen 35 . Diese „Re33 Wohingegen z. B. heute noch i n der Bundesrepublik die Rechtsdogmatik nicht als „akademiefähig" gilt. 34 Daß sich i n Deutschland der „bürgerliche" Rechtspositivismus besonders stark entwickelt hat u n d lange halten konnte, hängt vermutlich m i t der langen Dauer der konstitutionellen Monarchie zusammen. 35 Vgl. den Diskussionsbeitrag v o n M . Kriele i n : Veröffentlichung der V e r einigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 30, 1972, S. 160 ff.

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former" haben allerdings kein sachliches Argument zur Hand, wenn i n diese Bresche („das nicht erfüllte Grundgesetz") auch ausgemachte Systemgegner eindringen möchten, weil sie sich selbst jedweden Halts beraubt haben 36 , und ob sie nun kämpfen wollen, ist eine offene Frage. 3. Jedes Rechtssystem ist gezwungen, sich i n den Einzelheiten fortzuentwickeln. Diese Fortentwicklung kann auch nötig sein, u m die Legitimität der Grundlagen des Systems unbestritten zu lassen. Die Fixierung des Denkens nur auf das geltende Recht kann nämlich dazu führen, daß die Veränderungen i n der Umwelt des Systems ganz oder doch sehr spät erkannt werden, ganz davon abgesehen, daß zunächst festgestellt werden muß, ob das System überhaupt zu Beginn paßt. Schon dies ist Anlaß, dem „rechtspolitischen" Denken Spielraum zu lassen, wobei es an dieser Stelle noch gleichgültig ist, ob und inwieweit i h m Grenzen gesetzt werden. Die Entwicklung der Wissenschaftsdisziplinen kann es darüber hinaus erschweren, rechtsdogmatische Arbeit und „rechtspolitische" Arbeit i n einer Hand bzw. i n einer Disziplin zu behalten. Um die nötigen Voraussetzungen für „Rechtspolitik" zu gewinnen, kann sich das System vor die Notwendigkeit gestellt sehen, auf die Hilfe anderer Wissenschaftsdisziplinen zurückzugreifen. Das gilt vor allem dann, wenn es die Rechtswissenschaft „positivistisch" aufgebaut oder sie sich dorthin entwickelt hat. Der Hinweis, man müsse grundsätzlich zwischen solchen Systemen unterscheiden, die „freie Wissenschaft" zulassen, und solchen, die nur „dogmatische Wissenschaft" anerkennen, vermag nicht zu überzeugen. Dieser Hinweis liegt nämlich „schief", insofern er zwei Probleme verwechselt, d.h. die Problemlage vereinfacht. Der gemeinte Unterschied ist vielmehr ein gradueller, der freilich von der Quantität der Grade i n die Qualität umschlagen kann. Ein Unterschied liegt vielmehr darin, daß eine bestimmte A r t von System Wissenschaft grundsätzlich freiläßt. Die Fragestellungen als solche sind grundsätzlich unbegrenzt. Sie nehmen die dabei möglichen (indirekten) politischen Gefahren i n Kauf, weil sie dieser Freiheit den Vorrang geben. Das gilt nicht für jene Systeme, die a limine auch der Wissenschaft (d. h. der Sozialwissenschaft) Grenzen setzen, weil sie nur eine einzige Vorstellung von Sozialwissenschaft anerkennen.

38 Dazu eindringlich auch P. Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, Festschrift Th. Maunz, München 1971, S. 285 ff. Doch sind die obigen Ausführungen noch weniger harmlos gemeint als diejenigen v o n Lerche.

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Aber auch die Systeme mit grundsätzlich freier Forschung setzen Schranken dort, wo es u m die „Lehre" geht. Damit ist gemeint, daß Erkenntnisse, die als solche das bestehende System i n Frage stellen könnten (und es theoretisch tun), nicht i n „agitatorischer Weise" gegen das System ins Feld geführt werden dürfen. Das System muß also eine ungefähre Vorstellung davon haben, wann der Schritt i n die Agitation gemacht wird. Es kann mit Eingriffen zurückhaltend sein, wenn das autonome „Subsystem" Wissenschaft diese seine Schranke kennt und achtet. Diese Erkenntnis kann verloren gehen, sei es, daß Wissenschaft i n diesem Sinne vergißt, i n welchen Systemen sie ihre Existenzbedingungen nicht hat, sei es, daß i n ihr sich Systemgegner einnisten konnten — auf welche Weise auch immer. Die Bestimmtheit i m Wissen dieser Voraussetzung der Tolerierung von grundsätzlich freier Wissenschaft bedingt allerdings auch die Bereitschaft, sich i n diesem Wissen nicht verunsichern zu lassen, sei es von außen, sei es innerhalb ihrer selbst. Interveniert hingegen das politische System zu früh, so haben Feinde des Systems und damit auch der politischen Bedingungen solcher Wissenschaft es leicht, systemgetreue Wissenschaftler auf ihre Seite zu ziehen, also diese i n ihrem Verständnis von Wissenschaft zu verunsichern, anders gesagt: daß sie die Wölfe i m Schafsfell nicht mehr erkennen, indem sie sich als Schafe i m Wolfspelz verhalten, während nun die Systemgegner für die Wiederherstellung des angeblich überall sonstwo völlig „herrschaftsfreien Diskurses" plädieren. I n dem Sinne also, daß kein politisches System der Wissenschaft (d. h. hier der Sozialwissenschaft) totale Freiheit der Lehre überlassen kann, w i l l es sich nicht von dorther selbst zerstören, lassen sich die politischen Systeme nicht i n solche einteilen, die „freie" Wissenschaft zulassen, und i n solche, die „unfreie" Wissenschaft einrichten. Wohl aber liegt ein Unterschied darin, wie frei Wissenschaft i m Ansatz sein darf und wo die Grenzen der Lehre gezogen werden. Wer diesen Unterschied verkennt, dem entgehen auch die sonstigen Unterschiede zwischen verschiedenen politischen Systemen. Dieser Unterschied geht mit Sicherheit einer Rechtswissenschaft verloren, die von der Zulässigkeit eines grenzenlosen Wandels sogar der Systemgrundlagen ausgeht und diese Meinung i n der „Lehre" vertritt, und zwar i m Hinblick auf das geltende Recht 37 . Die Ursachen solcher Ansichten können i n totaler politischer Ahnungslosigkeit liegen (also i n einer A r t von perversem Rechtspositivismus) oder i n der Kapitulation vor dem Angreifer — oder gar i n dem Aufkommen politischer Voyeur-Gelüste. 37 H i e r m i t ist nicht die rechtstheoretische Ansicht der Vergänglichkeit allen Rechts gemeint, insoweit sie nicht „agitatorisch" gegen das bestehende Recht gerichtet w i r d .

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4. Systeme hingegen, die sich streng positivistisch gebärden, werden also so oder so die Lehre und die Einübung ins geltende Recht zum ausschließlichen Gegenstand von Forschung machen wollen. Gelingt ihnen das, so laufen sie Gefahr, Veränderungen zu spät zu bemerken, d. h. die tatsächlichen Grundlagen des Normensystems aus dem Blick zu verlieren. Sie werden i m Bereich der Sozialwissenschaft versucht sein, der Rechtsdogmatik ein Monopol einzuräumen oder doch, wo das aus Gründen wissenschaftlicher Arbeitsteilung nicht möglich ist, überall dem „normativen" Denken den Vorrang zu geben. Erweist sich dieses Ausblenden von Problemlagen als nachteilig, so muß die Leine für „Rechtspolitik" und damit auch für „empirische" Forschung länger gelassen werden. Das kann auf zweierlei Weise geschehen: Entweder n i m m t man diese neuen Aufgaben i n die Rechtswissenschaft hinein, oder man läßt die Etablierung neuer, eben diesbezüglich spezialisierter Fächer zu. I m ersten Falle kann man versuchen, den Begriff von Rechtsdogmatik auszudehnen, d. h. ihn, streng genommen, zu überladen, u m das Entstehen neuer, also weniger „normativer Methoden" genau kontrollieren zu können. Man kann aber auch, falls das eben erwähnte Vorgehen als inopportun erscheint, die Rechtsdogmatik wenigstens relativ von den „Grundlagenfächern" (in dem eben erwähnten Sinne) unterscheiden, sie aber gleichwohl unter dem gemeinsamen organisatorischen Dach halten, was zugleich heißt, den personellen Zugang der „Neuen" zu kontrollieren. Bezieht man das Wissen von den „Grundlagenfächern" aus anderen Fakultäten, so w i r d die Frage bedeutsam, welchen Einfluß die Juristenfakultät darauf nehmen kann. Das w i r d maßgeblich davon abhängen, welche Einstellung zum System dort vorherrscht. Besonders lehrreich ist i n dieser Hinsicht die Entwicklung der Verwaltungslehre i n kommunistischen Staaten 38 . Wurde deren Notwendigkeit anfangs streng geleugnet 39 , so ist man hier und dort (am wenigsten i n der Sowjetunion und i n der DDR) dafür eingetreten, sie u m der Vorteile für das bestehende System selbst w i l l e n zuzulassen. Freilich w i r d zur Bedingung gemacht, daß sie nur systemkonforme Reformen anstreben dürfe. Als Sicherung dieses Ziels w i r d durchweg vorgeschlagen, die Verwaltungslehre organisatorisch nahe an der Rechtsdogmatik zu verankern, d.h. i n den „Juristenfakultäten" 4 0 . Hingegen hat es die 38 Dazu die überaus i n s t r u k t i v e Schrift v o n I. Szentpéteri, Approaches to the organization by the science of general and ramified administrations, Acta Univ. Szegediensis, Acta Jur. et Pol., T. X V I I I , Fase. 6, Szeged 1971. 30 Die Ubergangszeit i n manchen Staaten bis zum totalen Sieg der k o m m u nistischen Partei zählt h i e r nicht.

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Szentpéteri , a.a.O., S. 23 ff.

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Soziologie als eigenständige Disziplin schwerer, sich i n diesen Systemen zu etablieren, weil sie vom Anspruch her, den sie i n den „kapitalistischen" Systemen durchweg erhob, nämlich alles zu „erforschen", als zu labil gilt — offenbar glaubt man, aus der Erfahrung mit der Soziologie i n jenen anderen Systemen bestimmte Folgerungen ziehen zu müssen. Wo man sie gleichwohl zuließ, war ihr Risiko hoch: So durfte der Warschauer Soziologe Baumann nach Israel auswandern, während der Ungar Hegedüs aus der Partei wegen Verlassens der marxistisch-leninistischen Grundlage aller wahrer Wissenschaft ausgeschlossen wurde (nebst zwei Kollegen). Allerdings scheint die Verwaltungslehre i n kommunistischen Staaten überwiegend i n realistischer Erkenntnis ihrer Bedingungen willens zu sein, den Bereich der obersten politischen Organe aus ihrem Forschungsbereich auszuschließen: Die Organisationsprobleme der oberen „nicht-administrativen" Organe werden innerhalb der Wissenschaft des Marxismus-Leninismus vom historischen Materialismus bzw. vom wissenschaftlichen Sozialismus untersucht 41 . Aber selbst wenn sich eine allgemeinere Organisationswissenschaft auch auf diese Organe erstrecken würde, so wären i h r sehr wahrscheinlich „normative" Grenzen gesetzt 42 . Diese lassen sich ζ. B. durch die Anwendung kybernetischer Lehren bzw. systemtheoretischer Ansätze gut verdecken, weil diese Ansätze eine starke Tendenz zum Konservativismus haben oder doch ohne große Mühe i n seinen Dienst gestellt werden können — wie übrigens alle nur formal-funktionalen Konzeptionen 43 . Dieses Verdecken von festen, ja engen Grenzen „neuer" Wissenschaft wäre übrigens eine besonders geschickte A r t , „neue" Erkenntnisse i n den Dienst des Systems zu stellen und es dadurch noch mehr zu stabilisieren 44 . Anders beschaffene Systeme m i t ebenfalls strengem Rechtspositivismus sehen sich hinsichtlich der Verwaltungslehre vor teils ähnliche, teils andere Probleme gestellt. Auch i n ihnen scheint man immer mehr der Meinung zu sein, man müsse diese Wissenschaftsdisziplin entwikkeln und sie sogar i n den Rechtsunterricht (wenigstens wahlweise) einbeziehen. Allerdings besteht ein Unterschied zu Systemen mit grundsätzlich anderer Auffassung von Wissenschaft darin, daß hier Systemgegner freieren Lauf haben als dort. Jedenfalls meldeten i n der Bundesrepublik andere wissenschaftliche Disziplinen ihr Interesse an Verwaltungslehre an, bevor man sich ent41

Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. 43 Das ist z.B. Ν. Luhmann entgegengehalten worden — er w i r d es akzeptieren. 44 Vgl. W. Steinmüller, Leitungswissenschaft — Eine sozialistische V e r w a l tungswissenschaft? Die Verwaltung, 6,1973, S. 45 ff. 42

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schließen konnte, diese (als Teil einer sog. Wahlfachgruppe) i m Rechtsunterricht zu institutionalisieren. Das beruhte nicht zuletzt darauf, daß hierzulande die politischen Instanzen viel geringeren Druck auf die Universitäten auszuüben pflegen als i n kommunistischen Staaten, selbst wenn dieser Druck i m Falle des Rechtsunterrichts völlig legal ist. Die weithin ablehnende Haltung der Rechtsfakultäten mußte, wie es i n dergleichen Reformsituation oftmals geschieht, dazu führen, daß sie nach der Einführung dieser Reform vor allem personell unvorbereitet waren, während nicht nur Systemgetreue, sondern auch Systemgegner i n anderen Wissenschaftsdisziplinen personell besser auf die Förderung der Verwaltungslehre vorbereitet waren, und sei es nur, daß sie die bei diesem Stand der Dinge notwendigerweise noch unsicheren Vorstellungen über die wissenschaftliche Qualifikation auf diesem Gebiet bedenkenloser überwanden als die Rechtsfakultäten. Wo sich die Förderung der Verwaltungslehre außerhalb der Universitäten vollzieht, ζ. B. i n fachlich und politisch weniger versierten Stiftungen und dergleichen 45 , sehen sich die Juriste» sogar i n die Minderheit gedrängt, mit der wenig erbaulichen Aussicht, dort eventuell sogar Systemgegner i n der Mehrheit zu sehen. I n einem politisch aufgeklärteren, d. h. weniger rechtspositivistisch abgeblendeten System wäre ein solcher Gang der Entwicklung unmöglich; sie werden dort, wie vorhin beschrieben, vom System besser unter Kontrolle gehalten. Ähnliches ließe sich übrigens von der Entwicklung der Rechtssoziologie i n ihrem Verhältnis zum geltenden Recht, genauer: zu seinen unantastbaren Grundlagen, sagen. Auch hier wurde die Rechtswissenschaft i n politischen Systemen mit überaus geringer „Kontrolldichte" oftmals von der Entwicklung überrascht. Sie konnte sich durchweg nicht einmal m i t dem Hinweis helfen, Rechtssoziologie beziehe sich innerhalb des bestehenden Systems nur auf das Privatrecht, weil die anderen Rechtsgebiete bereits ihnen zugeordnete Grundlagenfächer haben (Staatslehre, Verwaltungslehre, Kriminologie). Allerdings besteht zu den Gegnern des „bürgerlichen" Rechtspositivismus i m vergangenen Jahrhundert ein Unterschied insofern, als diese vor noch weitab liegenden, aber wahrscheinlichen Gefahren warnten, während sich die heutigen systemtreuen Gegner des Rechtspositivismus dem Eintritt der Gefahr gegenübersehen. Für sie hat die Frage reale Bedeutung erlangt, wie man sich i n einer sich immer schärfer polarisierenden Lage zu verhalten habe. Aber nicht einmal darauf vermag die positivistische Rechtswissenschaft eine, wenn auch noch so bescheidene 45 Das w i r d hier deshalb so gesagt, w e i l ein prominentes M i t g l i e d des Kuratoriums einer solchen Stiftung behauptete, dort werde keine Macht ausgeübt, sondern nach rein objektiven K r i t e r i e n entschieden: Spätbürgerlicher Positivismus i m Jahre 1972.

7 Schnur

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A n t w o r t anzubieten, weil sie auf die Geschichte (als der Verfassungsgeschichte) fast gänzlich verzichtet hat, als ihr das „positive" System aus „positivistischen" Gründen diese Preisgabe abverlangte: Unter dem Beifall der Systemgegner, deren Zukunft aussichtsreicher wird, wenn sogar die Juristen das historische Bewußtsein verlieren, denn das bedeutet zugleich mit der Veralltäglichung ihre Isolierung. Hält dieser Prozeß der Freisetzung des Juristen an, so kann eine Epoche eines positiven Rechts zu Ende gehen: „La Révolution peut commencer" — und sei es i n der Form des stillen Verfassungswandels. Doch dann würde es eines Tages wieder, wenn auch wohl nicht i n französischer Sprache, heißen: „La Révolution est finie." Und es würde wieder Juristen geben, die sich der Dialektik von „Naturrecht" und „positivem Recht" bewußt sind.

Wiedergutmachung : Benjamin Constant und die Emigranten (1825) Aus Anlaß des 150. Todestages von Benjamin Constant am 8. Dezember 1980* „Drei Schweizer sind es, welche u m die Wende des 18. Jahrhunderts die Begehren ihrer Zeit zur politischen Lehre ausgeformt haben, und deren Werke gleichsam zu Programmbüchern der großen Bewegungen geworden sind. Jean-Jacques Rousseaus »Contrat social· hat der Französischen Revolution den Begriff der uneingeschränkten Volkssouveränität gegeben, von K a r l Ludwig von Hallers »Restauration der Staatswissenschaften 4 stammen der Name des folgenden Zeitabschnitts und die Idee des von oben nach unten gebauten Staates, und Benjamin Constants ,Cours de politique constitutionnelle 4 . . . hat für den Liberalismus die Forderung nach persönlicher Freiheit erhoben 1 ." Weder ein so deutlicher Hinweis noch spätere Forschungen 2 und Editionen 3 haben etwas daran ändern können, daß sich das deutsche Publikum für Benjamin Constant kaum interessiert. Daß Carl Schmitt i h n 1950 den Protagonisten der Doktrin des liberalen Konstitutionalismus nannte und i n i h m den Autor des ersten psychologischen Romans sah, hat den Waadtländer hierzulande wohl eher verdächtig werden lassen 4 . W i r wollen jedoch nicht der Frage nachgehen, weshalb sich die Deutschen m i t Benjamin Constant seit eh und je so schwer t u n — diese Frage hätte man bei Gedenkfeiern „30 Jahre Grundgesetz" erörtern können —, vielmehr soll aus Anlaß seines 150. Todestages daran erinnert werden, daß Constant auch i n einen langen Bürgerkrieg verwickelt war. A n keinem anderen Thema läßt sich das besser aufzeigen als an dem Thema der Wiedergutmachung. * H e r r n Prof. Dr. Georges Langrod zum 20. September gewidmet, verehrungsvoll u n d m i t Dank für lange Freundschaft. Er kennt das Thema auch aus eigener Erfahrung, denn er emigrierte 1948 aus Polen nach Frankreich. 1 W. Lüthi i m V o r w o r t zu der v o n i h m veranstalteten Auswahl: Benjamin Constant , Über die Freiheit, Basel 1946, S. 5. 2 V o r allem L. Gall , B e n j a m i n Constant. Seine politische Ideenwelt u n d der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963. 3 Benjamin Constant , Werke i n v i e r Bänden hrsg. v. A . Blaeschke u n d L. Gall, B e r l i n 1972. 4 C. Schmitt, E x Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, K ö l n 1950, S. 76. 7·

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Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825) I.

Die sachliche Problematik ließe sich leichter erörtern, könnte man auf eine allgemeine Theorie des Bürgerkrieges zurückgreifen. Bekanntermaßen und gleichwohl erstaunlicherweise liegen nicht einmal Ansätze zu einer allgemeinen Theorie des Bürgerkrieges vor, und es gehört zur Eigenart bürgerkriegsschwangerer Zeiten, daß die unbefangene Erörterung von Problemen, die ein Bürgerkrieg mit sich zu bringen pflegt, bereits als Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung angesehen und demgemäß (sonder-)behandelt wird. Während sich die Zahl der großen Entwürfe, wie ein Staat (oder „Gemeinwesen") „normalerweise" beschaffen sein soll, sehen lassen kann, müssen sowohl der Wissenschaftler als auch der Bürger, der vorher wissen möchte, wie er sich i m Bürgerkrieg verhalten soll, eine Anti-Staatslehre bzw. eine Theorie des Bürgerkrieges entbehren 5 . Trotz dieses „Theorie-Defizits" soll hier versucht werden, vorab die Problematik zu skizzieren, mit welcher sich Benjamin Constant i m Jahre 1825 auseinandersetzte, als es i n den beiden Kammern zu Paris u m den Entwurf des Gesetzes über die Wiedergutmachung ging 6 . Dafür sei i n Erinnerung gerufen: Während der Revolution waren große Vermögensmassen „verstaatlicht" worden, wobei es hier nur u m „weltliche" Vermögen gehen soll. Während ein Teil dieser Vermögen nach dem ersten Sturz Napoleons i m Jahre 1814 noch staatliches Eigentum waren (biens nationaux), war der weitaus größere Teil bereits von pri5 Allerdings ist zu bemerken, daß berühmte Autoren w i e Hobhes untersucht haben, w i e es zu Bürgerkriegen kommen kann. A b e r es gibt meines Wissens keine systematischen Untersuchungen dahingehend, wie sich der Bürger verhalten soll, w e n n ein Bürgerkrieg ausbricht. Der Bürger erfährt das i m Nachhinein; dann freilich soll das rechtsstaatliche n u l l u m crimen sine lege nicht gelten. Das wäre i n rechtlicher Hinsicht noch verständlich, w e i l erst nach dem Sieg der guten Sache definiert werden kann, was vorher ein crimen war. Aber i n moralischem Aspekt ist die Leugnung einer so k a p i talen rechtsstaatlichen M a x i m e aufschlußreich, nämlich die Heuchelei gänzlich auf schließ end. A u f diese desparate Situation k a n n m a n eine nihilistische A n t w o r t geben, also eine A n t w o r t , die zumindest den Schein der Aufrichtigkeit an sich hat. Dann muß m a n wie Anthony Ascham (1649) ein Buch schreiben m i t dem Titel: " O f the Confusions and Revolutions of Governments wherein is examined h o w farre a m a n may l a w f u l l y conforme to the Powers and Commands of those who w i t h various successes hold Kingdoms divided b y C i v i l i or Forraigne Warrs." (Dazu I . Coltman, Private M e n and Public Causes. Philosophy and Politics i n the English C i v i l War, London 1962, S. 197 ff.) E i n Theorie-Versuch n u n unten S. 120 ff. ® Allgemein aus juristischer Sicht: M . Ragon, L a Législation sur les Emigrés 1789 - 1825, Thèse Droit, Paris 1904 (mit dem Abdruck der einschlägigen Rechtsvorschriften); M. Garaud, La Révolution et l'Egalité Civile, Paris 1953. Grundlegend aus historischer Sicht ist das umfangreiche, überaus sorgfältige Werk von A . Gain, La Restauration et les Biens des Emigrés. La législation concernant les Biens nationaux de seconde origine et son application dans l'Est de la France (1814 - 1832), 2 Bde., Nancy 1928.

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vaten Käufern erworben worden. Diese Unterscheidung hatte auch sachliche Folgen: Wollte man „Wiedergutmachung" vornehmen, so warf das i m Hinblick auf die „biens nationaux" viel weniger Probleme auf als hinsichtlich der privaten Käufer. Dies mußte u m so mehr gelten, als sich die „neue" Rechtsordnung der Unantastbarkeit des privaten Eigentums verschrieben hatte. Die allgemeine Problematik der Restitution w i r d so noch deutlicher: Stets t r i t t nach Bürgerkriegen die Frage auf, was es mit dem Rechtserwerb auf sich habe, der i m Bereich des endgültigen Verlierers stattgefunden hat oder der sich auf das Verhältnis von „vorläufigem Verlierer" und „späterem Sieger" bezieht. Somit kommt alles auf die Frage an, wie die für „normale" Zeiten entwickelte j u ristische Regelung des „gutgläubigen" Erwerbs i n Bürgerkriegssituationen angewendet werden kann. Während es für normale Zeiten nicht schwierig ist, überzeugend darzutun, wann beim Erwerb kein „guter" Glaube vorliege 7 , läßt sich das für Zeiten des Bürgerkrieges schwerlich sagen. Bedauerlicherweise ist nur so viel sicher: Wenn die Revolution gelingt bzw. sich zu stabilisieren vermag, kommt es überhaupt nicht zur Erörterung unseres Problems; denn es gehört zur Legitimität der erfolgreichen Revolution, daß der Erwerb konfiszierter Güter als rechtmäßig gilt. I n allen anderen Konstellationen, wie sie sich nach Bürgerkriegen ergeben können, stellt sich die Frage nach der „Gutgläubigkeit" des Erwerbs konfiszierter Güter i n aller Schärfe. I n einer sogar systemgefährdenden Schärfe, so muß man hinzufügen, stellt sie sich stets dann, wenn es nach dem Bürgerkrieg nicht nur rechthabende Sieger und rechtlose Verlierer geben soll. Wenn es nämlich zwischen den Siegern und den Verlierern noch eine Schicht geben soll (der „Nicht-Belasteten" oder auch noch der harmlosen „Mit-Läufer"), wenn es also nicht nur eine Konfiskation bei den „Verlierern" gibt 8 , damit diese das als Revolutions-Gewinn Erworbene wieder zurückgeben — dann stellt sich die Frage, was es mit dem „guten" Glauben beim Erwerb des Konfiszierten auf sich hat. Also lautet die allgemeine Frage (sehr summarisch): Wann liegt i n solchen nicht-normalen Zeiten beim Erwerb „guter" Glaube vor? Objektiv gesehen kann dies wohl nur bedeuten: Nur dann, wenn der Er7

„Guter" u n d „schlechter" Glauben beziehen sich i n Normallagen w o h l nur auf „Unpolitisches". Das „Politische" ist außer Betracht gestellt, seine „Normalität" ist Voraussetzung der „unpolitischen" „juristischen" Betrachtung. 8 I n diesem Zusammenhang sei auf einen Aufsatz verwiesen, der gründliche Auseinandersetzung verdient: H. Schneider, Die juristische Bewältigung der Vergangenheit. Betrachtungen über die Behandlung Unrechter HerrschaftsAkte, in: I m Dienst an Recht u n d Staat. Festschrift für Werner Weber z u m 70. Geburtstag, B e r l i n 1974, S. 15 ff,

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werber annehmen durfte, die Sache der Revolution, genauer: der Konfiskation, sei eine „gute" gewesen. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, die Sache sei objektiv gut gewesen. Vielmehr soll gesagt werden: Der Erwerber durfte gemäß den Umständen annehmen, es handele sich u m eine „gute" Sache. Damit w i r d die Problematik i n das Subjektive verlegt: Wann darf man annehmen, daß der Erwerb einer konfiszierten (oder: unter Druck veräußerten) Sache rechtens ist? Allerdings kann diese Ein- und Wertschätzung des Subjektiven durch Überlegungen von nachträglich objektiver A r t beeinflußt werden, etwa von dem Preis her, der nunmehr für die Gut-Schrift subjektiver Perspektiven durch Verzicht auf Rückübertragung zu entrichten wäre. Das Objektive kann sich also vom Ergebnis her wieder einschleichen. Doch würde das nichts an der Tatsache ändern, daß die Nach-Sicht des „guten" Glaubens die eigene Position des Siegers beeinträchtigen kann. Denn ein theoretisch denkbarer Ausweg, nämlich: den I r r t u m für Trottelhaftigkeit auszugeben, dürfte praktisch versperrt sein. So bleibt nur die Gefährdung der eigenen („objektiv" guten) Sache durch Rücksichtnahme auf das Subjektive i m Verhalten desjenigen, der sich fehlsam verhalten hat. Dieser Gefahr kann man nur entrinnen, wenn man die vermittlungslose Konfrontation des objektiv Richtigen mit dem subjektiv guten Glauben vermeidet. Die i n dieser Hinsicht perfekte Lösung wäre die der Amnestie, und zwar i n jeder Hinsicht. Damit wäre den früher Enteigneten, die nunmehr (sozusagen naturgemäß) auf der Seite des obsiegenden Systems stehen, jedoch nicht geholfen. Hier ist eine Vermittlung nur denkbar, indem das obsiegende System sich als Staat „aller" Bürger betrachtet, also nach Lösungen der Restitutionsproblematik trachtet, die den einen nicht total recht gibt und die anderen nicht total ins Unrecht setzt 9 . Die Frage nach der Legitimation des jeweiligen Standpunktes darf dabei m i t h i n nicht gestellt werden. Π.

Wenn man sich wie Benjamin Constant mit dieser gewiß vertrackten Problematik befaßt, w i r d die Antwort darauf i n erheblichem Maße da9 Für einen anderen berühmten geschichtlichen Vorgang, die Restoration nach 1660 i n England, statt vieler: M . McKeon, Politics and Poetry i n Restoration England: The Case of Dryden's Annus Mirabilis, Cambridge, Mass. 1975. Der Rückgriff auf die englische Geschichte w a r während der Restauration häufig (vgl. E. Harpaz, in: B. Constant , Recueil d'articles 1795 - 1817. I n t r o duction, notes et commentaires par E. Harpaz, Genf 1978, S. 143 A n m . 1). Constant hat sich mehrmals m i t diesem Thema befaßt, neben dem T e x t bei ed. Harpaz auch in: B. Constant , Mélanges de Littérature et de Politique, i n Bd. 1 u n d Bd. 2, L o u v a i n 1830. Gleiches g i l t für Chateaubriand (Les Quatre Stuarts, in: ders., Mélanges Politiques et Littéraires, Paris 1854, S. 1 ff.).

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von abhängen, inwieweit der Argumentierende persönlich i n den Bürgerkrieg verwickelt war. Wenn es irgendwo nicht heuchlerisch klingt, vom Argumentierenden die „Bloßlegung der eigenen Prämissen" zu verlangen, dann ist das viel weniger i m Hinblick auf „ökonomische" Interessen als bezüglich der Bürgerkriegspositionen angebracht. Sich nämlich i n diesen Situationen von den eigenen Interessen zu lösen, u m nur zur Sache zu argumentieren, dürfte zu den größten humanen A n strengungen gehören, und dies auch deshalb, weil es i n keiner wie auch immer beschaffenen „normalen" Lage für dieses Sich-Los-Lösen von der eigenen Begierde so wenig Anerkennung bzw. so viel Anfeindung gibt: Wenn es u m die letzte, u m die totale Rechthaberei gegenüber anderen Menschen geht, ist es belanglos, auf welchen Lebenssachverhalt sich diese Rechthaberei bezieht, ob auf Ökonomisches, auf Pläsierliches, auf Geistiges oder auf Geistliches usw. 1 0 . Benjamin Constant war von 1789 bis 1815 mehrmals direkt i n das hektische Geschehen verwickelt: Dem 22jährigen Kammerherrn am Braunschweiger Hof war die Revolution i n Frankreich zunächst nicht radikal genug. Nach der Übernahme der Macht durch die Jakobiner jedoch stemmte er sich gegen die zunehmende Radikalisierung 1 1 . Als er i m Mai 1795 mit Mme de Staël nach Paris kam, versuchte er als Schriftsteller (mit politischen Ambitionen), sich zwischen der auslaufenden Herrschaft der Convention und dem Directoire zu etablieren, indem er schon damals für ein juste milieu optierte 1 2 . Mitte des Jahres 1795 erwarb Constant i n beachtlichem Umfange biens nationaux; i m Herbst des gleichen Jahres steigerte er noch den Erwerb, zu welchem Zweck er Grundeigentum i n Lausanne versilberte. Bastid schreibt: „ . . . de toute manière i l en résulte pour l u i un enrichissement notable" 1 8 . U m stärker i n die Politik eingreifen zu können, bemühte sich Constant u m die französische Staatsbürgerschaft. Dabei berief er sich als Abkömmling emigrierter Hugenotten auf das Gesetz vom 15.12.1790. Allerdings ergaben sich Komplikationen, die lange Zeit ungelöst blieben und erst unter Napoleons Machtspruch verschwanden 14 . Angesichts der sich verschärfenden innenpolitischen Lage veröffentlichte Constant zwei sogleich berühmt gewordene Broschüren, i n denen er sich gegen die Ex10 „Klassisch" zu diesem Thema: C. Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen u n d Entpolitisierungen (1929), in: ders., Der Begriff des Politischen, Ausgabe B e r l i n 1963, S. 79 ff. 11 Siehe etwa Gall , S. 5 ff. 12 Zur allgemeinen Lage übersichtlich: M . J. Sydenham , The First French Republic, 1792 - 1804, London 1974. 13 P. Bastid, B e n j a m i n Constant et sa doctrine, Paris 1966, Bd. 1, S. 111. 14 I m einzelnen siehe Bastid, Bd. 1, S. 120 ff., sowie H. Guillemin, Benjamin Constant Muscadin, 1795 - 1799, Paris 1958. A l l g e m e i n zur Lage der emigrierten Hugenotten: Garaud, S. 156 ff.

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825) t r e m e v o n l i n k s u n d v o n rechts w a n d t e 1 5 . Z u r U n t e r s t ü t z u n g des D i r e c toire w u r d e ein politischer Club gegründet, der „Cercle constitutionn e l " , dessen H a u p t er w u r d e 1 6 . N a c h d e m 18. B r u m a i r e Napoleons k a m er (Ende 1799) i n das T r i b u n a t . Doch v e r l o r er dieses A m t 1802, w e i l er sich z u scharf gegen N a p o l e o n geäußert h a t t e 1 7 . D a n a c h h i e l t er sich o f t i n M m e de Staëls Schloß Coppet a m G e n f e r See a u f 1 8 . 1811 g i n g C o n s t a n t m i t seiner n u n m e h r i g e n E h e f r a u Charlotte v. Hardenberg n a c h G ö t t i n g e n . A n f a n g 1814 v e r ö f f e n t l i c h t e er i n H a n n o v e r d e n b e r ü h m t g e w o r d e n e n T e x t „ D e l ' e s p r i t de conquête et de l ' u s u r p a t i o n " 1 9 , u m d a n n m i t Bernadotte gen F r a n k r e i c h z u ziehen, w o er i m M a i die „ R é f l e x i o n s sur les c o n s t i t u t i o n s etc." h e r a u s b r i n g t , eines d e r b e d e u t s a m s t e n D o k u m e n t e d e r k o n s t i t u t i o n e l l e n M o n a r c h i e 2 0 . 1815 n i m m t Constant zunächst gegen d e n z u r ü c k g e k e h r t e n N a p o l e o n S t e l l u n g , w i l l a l s b a l d i n die U S A f l i e h e n , doch w a r Nantes bereits i n d e n H ä n d e n n a p o l e o n t r e u e r T r u p p e n . D a n n f o l g t er e i n e r E i n l a d u n g N a p o leons z u m Gespräch i n d e n T u i l e r i e n . E r w i r d b e a u f t r a g t , d e n A c t e a d d i t i o n n e l a u x C o n s t i t u t i o n s de l ' E m p i r e ( v o m 22. 4.1815) zu e n t w e r f e n 2 1 , u n d w i r d z u m M i t g l i e d des Conseil d ' E t a t e r n a n n t 2 2 . N a c h d e r 15 Des réactions politiques, sowie: Des effets de la terreur. Beide Texte i n : Benjamin Constant, Ecrits et discours politiques. Présentation, notes et commentaires par O. Pozzo d i Borgo, Paris 1964, Bd. 1, S. 21 ff. (übersetzt i n : Werke, Bd. 3, S. 119 ff.). I m Jahre 1798 veröffentlichte M m e de Staël die Schrift „Des circonstances actuelles q u i peuvent terminer la révolution et des principes qui doivent fonder la république en France". (Edition critique p. Lucia Omacini, Genf 1979.) 16 Bastid, Bd. 1, S. 128. Vorzüglich als „Hintergrunderhellung" W. Giesselmann, Die brumairianische Elite. K o n t i n u i t ä t u n d Wandel der französischen Führungsschicht zwischen Ancien Régime u n d Julimonarchie, Stuttgart 1977. 17 Bastid, Bd. 1, S. 152 ff. Über die Verfassung des Jahres V I I I (13.12.99) ausführlich J. Bourdon, La Constitution de l'an V I I I , Rodez 1941. 18 Einer seiner dortigen „Hausgenossen" w a r 1807 der preuß. Offizier v. Clausewitz, A d j u t a n t des Prinzen August von Preußen. Dazu W. v. Schramm, Clausewitz — Leben u n d Werk, Eßlingen 1976, S. 185 ff. Clausewitz lernte auf Coppet auch A . W. Schlegel kennen. Der preuß. Offizier schrieb am 5.10.1807 an Marie v. Brühl: „ F r a u v. Staël nennt uns par excellence les deux Allemands, worauf w i r beide sehr stolz sind . . . " . ( K a r l u. Marie v. Clausewitz. E i n Lebensbild i n Briefen u n d Tagebuchblättern, hrsg. u. eingel. v. K . Linnebach, B e r l i n 1917, S. 147.) 19 Nicht bei Pozzo d i Borgo (dt. Ausgabe: Bd. 3, S. 231 ff.). 20 Nicht bei Pozzo d i Borgo u n d auch nicht i n der deutschen Ausgabe. Ich benütze die erste Auflage: Réflexions sur les constitutions, la distribution des pouvoirs, et les garanties, dans une monarchie constitutionnelle, Paris 1814. Z u m Ganzen wichtig auch D. Bagge, Les idées politiques en France sous la Restauration, Paris 1952; J.-J. Oechslin, Le mouvement ultra-royaliste sous la Restauration. Son Idéologie et son A c t i o n Politique (1814 - 1830), Paris 1960, sowie L. Diez del Corral , Doktrinärer Liberalismus: Guizot u n d sein Kreis, Neuwied 1964»

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endgültigen Niederlage Napoleons erhält Constant die Ausweisung. Doch macht der König diese auf Constants Bitte h i n rückgängig. Constant zieht sich zunächst aus dem aktiven politischen Betrieb zurück. I m Dezember 1816 bringt er eine Schrift heraus, mit welcher er zur Befriedung des Landes beitragen w i l l : „De la doctrine politique qui peut réunir les partis en France 23 ." 1819 w i r d er i n die Abgeordnetenkammer gewählt, jedoch 1822 nicht wiedergewählt. 1820 veröffentlicht Constant die „Mémoires sur les Cent-Jours", eine der bedeutsamsten Rechtfertigungen für „Kollaboration" 2 4 . I m Jahre 1824 gelingt ihm erneut die Wahl zur Kammer, 1827 w i r d er in den Wahlkreisen Seine und Bas-Rhin wiedergewählt, er entscheidet sich für Straßburg 25 . Nach dem Umbruch 1830 w i r d er „président de section" i m Conseil d'Etat. Als Constant Ende des Jahres stirbt, erhält er (am 12. Dezember) ein Staatsbegräbnis. ΠΙ.

Wenn man die Entwicklung der damaligen Problematik der Wiedergutmachung darstellen w i l l , dann empfiehlt es sich, diese Entwicklung zeitlich zu teilen, also i n den Abschnitt seit Beginn der Revolution bis zur Ersten Restauration i m Jahre 1814 einerseits, sowie i n die Erörterung der Wiedergutmachungsthematik nach dem Beginn der Restauration 2 6 . 21 Der Acte additionnel w a r eine verbesserte Fassung der Charte constitutionnelle v o m 4. 6.1814. Text bei M . Duverger, Constitutions et Documents politiques, 6. Aufl., Paris 1971, S. 126 ff. Dazu grundlegend noch i m m e r J. Barthélémy , L ' I n t r o d u c t i o n du régime parlementaire en France sous Louis X V I I I et Charles X , Paris 1904, u n d P. Bastid, Les institutions politiques de la monarchie parlementaire française (1814 - 1848), Paris 1954. 22 Dazu s. Le Conseil d'Etat, son histoire à travers les documents d'époque 1799 - 1974, Paris 1974, S. 228 ff. 23 Ausgabe Pozzo d i Borgo, Bd. 2 S. 32 ff. (dt. Ausgabe; Bd. 4, S. 327 ff.). 24 Weder i n der Ausgabe Pozzo d i Borgo noch i n der deutschen Ausgabe. Dafür aber: Mémoires sur les Cent-Jours. Préface, notes et commentaires de Ο. Pozzo d i Borgo, Paris 1961. Uber die Cent-Jours umfassend E. Le Gallo , Les Cent-Jours. Essai sur l'histoire intérieure de la France depuis le retour de l ' I l e d'Elba jusqu'à la nouvelle de Waterloo, Paris 1923, sowie über das berühmte Plebiszit: F. Β luche, Le Plébiscite des Cent Jours ( A v r i l - M a i 1815), Genf 1974. 25 vgi p Leuillot, B e n j a m i n Constant en Alsace — Politique et Finances, Revue d'Alsace, 1950, S. 111 ff., auch F. Ponteil, U n type de grand bourgeois sous la Monarchie parlementaire: Georges Humann, 1780 - 1842, Straßburg 1977, S. 69 f. (Humann w a r Constants Gegner i m Wahlkreis.) 2β Gesamtüberblick bis 1814 neben Ghislain de Diesbach, Histoire de l ' E m i gration 1789 - 1814, Paris 1975, jetzt Duc de Castries, Les Hommes de l ' E m i gration 1789-1814, Paris 1979. Grundlegend noch immer: J. Vidalenc, Les Emigrés Français 1789 - 1825, Caen 1963.

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1. Die biens nationaux werden üblicherweise in zwei Kategorien eingeteilt, nämlich 1. i n das frühere Kirchengut und 2. i n das Vermögen der Emigranten. Nachdem die Assemblée Constituante bereits i m Mai 1790 beschlossen hatte, das gesamte Krongut zu veräußern, entschied sie i m Juli 1790, auch das gesamte Kirchengut zum Kauf anzubieten 27 . Allerdings sollte dies i m Wege der öffentlichen Versteigerung geschehen, also nicht durch entsprechenden Verkauf oder durch Verteilung an die sozial schwächeren Schichten. Jedoch interessiert dieser Teil der biens nationaux in unserem Zusammenhang nicht, weil er bei der Restitution nach 1814 keine entscheidende Rolle spielte. Hingegen hat uns die Entwicklung des Vermögens der Emigranten länger zu beschäftigen. Die Behandlung der Emigranten während der Französischen Revolution stellt eines der großen Kapitel politischer Verfolgung i n der Neuzeit dar, wobei w i r hier den Ausdruck „Verfolgung" zunächst „wertfrei" verstehen, als politisches Phänomen 28 . Freilich war die Emigration bzw. deren Folge nicht die einzige Form der „Verfolgung". Daneben gab es andere „Verdächtige", nämlich „les Suspects" 29 . Die Maßnahmen gegen die Emigranten begannen, als die Emigration größeren Umfang angenommen hatte 3 0 . So legte das Dekret v o m 21.6.1791 fest, daß niemand das Königreich v e r lassen u n d Wertgegenstände usw. mitnehmen dürfe. A m 9. 7. schon wurde beschlossen, diejenigen Personen, die nicht alsbald zurückkehrten, m i t einer dreifachen Abgabe zu belegen. Bereits am 1.8. wurde diese Maßnahme v e r schärft. Die weitere E n t w i c k l u n g verlief geradezu zwangsläufig: Das Dekret v o m 9.11. erklärte die Versammlung v o n Franzosen jenseits der Grenzen als des Hochverrats verdächtig; n u n wurde die Vermögenseinziehung zur Nebenstrafe. A l l e Einkünfte v o n französischen Fürsten, die sich außerhalb des L a n des aufhalten, werden beschlagnahmt. Das Dekret v o m 9. - 12.2.1792 w i r d noch schärfer: Die Vermögen der Emigranten werden beschlagnahmt. Da die 27 Siehe neben Garaud, S. 51 ff., z . B . J. Ellul, Histoire des Institutions, t . 5 , 6. Aufl., Paris 1969, S. 44 ff., u n d G. Lepointe, Histoire des Institutions et des Faits sociaux (987 - 1875), Paris 1956, S. 714 ff. 2 « Vorzüglich: J. Hoock, Emigration u n d Revolution. Z u r Emigrationsgesetzgebung der Französischen Revolution 1789 - 1793, Der Staat 5 (1966), S. 189 ff. Es k a n n nicht überraschen, daß m a n i n „relevanten" wissenschaftlichen K r e i sen diese Studie k a u m zur Kenntnis genommen hat — die „Aufgeklärten" stehen verlegen u m das Malheur herum. Z u m Thema n u n das oben S. 20, A n m . 50, zitierte Buch v o n Higonnet. 29 Neben Garaud, S. 224 ff., v o r allem L. Jacob, Les Suspects pendant la Révolution 1789 - 1794, Paris 1952. Z u m Ganzen übersichtlich J. Godechot, Les Institutions de la France sous la Révolution et l'Empire, 2. A u f l . Paris 1968, S. 375 ff. 30 Z u m Weiteren v o r allem Garaud, S. 204 ff., u n d Ragon, w o ab S. 195 ff. ein guter Teil der einschlägigen Rechtsvorschriften abgedruckt ist, sowie M . Marion, La Vente des Biens nationaux pendant la Révolution, Paris 1908, Nachdruck Genf 1974, S. I l l ff.

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825) Emigranten Schäden verursachen, w i r d i h r Vermögen zur Deckung dieser Schäden herangezogen, so das Dekret v o m 30. 3. - 8.4.1792 (wobei man den zurückgebliebenen Angehörigen doch noch etwas beließ). M i t dem Dekret v o m 15. 8. beginnt das, was später die Deutschen unter Übernahme solcher Bräuche „Sippenhaft" nannten. Schon am 30.8. ging es weiter: „ . . . tout fonctionnaire public qui a son fils ou son père émigré sera destitué. Tout pensionnaire qui a son père ou son fils émigré perdra sa pension." Der Verkauf der Emigrantenvermögen w i r d erstmals m i t dem Dekret v o m 2. - 6.9. 1792 geregelt. Wenig später w i r d beschlossen, daß die E l t e r n für j e ein emigriertes K i n d zwei Soldaten auszustatten u n d zu unterhalten haben. Da man auf diese Weise etliches einnahm, konnte m a n i m Februar 1793 Kopfgeld für Emigranten u n d für zu deportierende Priester ausloben. Nach dieser hektischen Maßnahme-Rechtsetzung b r i n g t das Dekret v o m 28.3. - 5.4.1793 eine gründliche Systematisierung solcher Rechtsmaterie 31 . Es w i r d klargestellt: „Les émigrés sont bannis à perpétuité du territoire français; ils sont morts civilement; leurs biens sont acquis à la République." Auch hier w i r d definiert, wer Emigrant ist: Es geht schlechthin u m Republikflucht 3 2 , doch zu den Ausnahmen gehören auch kleine K i n d e r v o n Emigranten. A l l e unentgeltlichen Vermögensdispositionen seit dem 1. J u l i 1789 werden grundsätzlich für u n g ü l t i g erklärt. Endlich w i r d durch Dekret v o m 13.9.1793 für Minderbemittelte der Erwerb v o n Emigrantenvermögen erleichtert. Damit dieses Eigentum noch breiter gestreut werden konnte, w u r d e n i m Dezember 1793 die Vermögen der E l t e r n v o n minderjährigen Emigranten beschlagnahmt. Durch Dekret v o m 15.11.1794 wurde die gesamte Materie erneut k o d i f i ziert. Die Rechtserzeugungsmaschine läuft n u n schon fast v o n alleine, man hätte Loseblatt-Ordner brauchen können 3 3 . A m 21.12. 94 aber w i r d der V e r kauf des Vermögens v o n Emigranteneltern ausgesetzt, der Sturz Robespierres macht sich auch hier bemerkbar. Ferner w u r d e n weitere Maßnahmen beschlossen, u m die Gesetzgebung betreffend der Emigranten zu entschärfen 3 4 . Die „Sippenhaft" wurde unter dem Directoire i n mehreren Stufen gemildert, w e i l m a n zur Normalisierung kommen w o l l t e 3 5 . I m m e r h i n schien es zu rasch zu gehen; man mußte bei der Streichung v o n der Emigrantenliste den Polizeiminister (Fouché) einschalten, u n d am 19.2.1797 wurde beschlossen, die Listen für Anträge auf Streichung zu schließen 36 . M i t den weiteren m i l i t ä r i 31 Über einen interessanten Sonderfall v o n Emigranten i m besetzten bzw. annektierten Gebiet: K. de Faria e Castro, Die Nationalgüter i m Arrondissement Koblenz u n d ihre Veräußerung i n den Jahren 1803 bis 1813, Bonn 1973, S. 76 ff. 32 Die Versuche, zwischen „absents" u n d „émigrés" einen rechtlich bedeutsamen Unterschied sehen zu wollen, w i r d m a n m i t Garaud, S. 206 A n m . 2, als nicht überzeugend ansehen müssen. Gleichwohl: Es gab Gemeinden, die solche Grundbesitzer auf die Beschlagnahmeliste setzten, welche nicht i n der betreffenden Gemeinde wohnten, ohne daß man nach i h r e m Verbleib geforscht hätte. 33 Nach Garaud, S. 209 A n m . 7, gab es bereits i m A p r i l 1793 etwa 50 einschlägige Vorschriften. Vielleicht entdeckt die Rechtssoziologie doch noch das Phänomen der Lose-Blatt-Sammlungen. Der französische Terminus „feuilles mobiles" w i r f t noch mehr „Erkenntniswert" ab. 34 Einzelheiten bei Garaud, S. 222 ff. Einschlägige Texte bei Ragon, S. 274 ff. Vgl. auch Vidalenc, S. 50 ff. 35 Die Verfassung v o m 2.8.1795 w a r zwar sehr gesprächig (377 A r t i k e l ) , vergaß jedoch nicht, i n A r t . 373 u . a . zu sagen: „Les biens des émigrés sont irrévocablement aquis au profit de la République." (Duverger , S. 110).

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825) sehen Erfolgen der Republik dürfte das Interesse an der Streichung v o n der Emigrantenliste gestiegen sein, m i t Arrêté v o m 20.10.1800 mußte man diesen Problemkreis erneut eingehend regeln. Dabei wurde auch klargestellt, w e r auf der Liste der Emigranten zu bleiben habe. W o r u m es auch ging, zeigte die Bestimmung, daß die Aufhebung der Beschlagnahme v o n Emigrantengut zulässig sei, jedoch n u r dann, w e n n der Präfekt das Versprechen der Verfassungstreue (fidélité à Constitution) bescheinige: Radikalenerlaß.

Den Abschluß der Bemühungen, das Problem der Emigration zugunsten der Einheit der Franzosen zu lösen, bildet der Sénatus-Consulte vom 26. A p r i l 180237. Napoleon erstreckte damit seine Entscheidung „La Révolution est finie" auch auf dieses heikle Problemfeld 38 . Er hatte erkannt, daß nur eine weitreichende Amnestie den Bürgerkrieg zu beenden vermochte; denn einerseits reichten die Streichungen von der Emigrantenliste mengenmäßig für eine Befriedigung nicht aus, andererseits häuften sich die Unzulänglichkeiten i n der Handhabung dieser Einzelmaßnahmen. Die Befriedung setzte voraus, daß der Rechtsbestand der Erwerber von biens nationaux wie bisher garantiert wurde, zumal diese Garantie i n der Verfassung enthalten war. A n diesem Punkt erschien ein Entgegenkommen zugunsten der Emigranten unmöglich. Ein solches fand jedoch dort statt, wo eingezogenes Eigentum von Emigranten noch nicht i n den Händen privater Erwerber war. „Ceux de leurs biens qui sont encore dans les mains de la nation . . . leur seront rendus sans restitution de fruits . . . " (Art. 17): Also auch hier die Begrenzung der Rückgabe hinsichtlich der abgelaufenen Zeit. Man w i r d darin das Bemühen erkennen dürfen, die Wiedergutmachung von der Amnestie abzugrenzen. Allerdings wurden bei der Rückgabe aus der Hand des Staates Ausnahmen gemacht, so etwa bezüglich der Grundstücke, die einem „service public" gewidmet worden waren. Diese Amnestie brachte zwar noch rechtliche Zweifelsfragen i m einzel38 Die Verfassung v o n 1799 gab grundsätzlich nicht nach: I n A r t . 93 heißt es: „ L a Nation française déclare qu'un aucun cas elle ne souffrira le retour des Français qui, ayant abandonné leur patrie depuis le 14 j u i l l e t 1789, ne sont compris dans les exceptions portées aux lois rendues contre les émigrés; elle interdit toute exception nouvelle sur ce point. — Les biens des émigrés sont irrévocablement acquis au profit de la République. A r t . 94: La Nation française déclare qu'après une vente légalement consommée de biens nationaux, qu'elle qu'en soit l'origine, l'acquéreur légitime ne peut en être dépossédé, sauf aux tiers réclamants à être, s'il y a lieu, indemnisés par le trésor public." (Text bei Duverger , S. 119). Die Verwendung der Ausdrücke „légalement" u n d „légitime" ist besonders aufschlußreich. 37 Text bei Ragon, S. 93 ff.; kennzeichnend etwa: „ . . . aujourd'hui la p a i x étant faite aussi dehors, i l importe de la cimenter dans l'intérieur par tout ce qui peut rallier les Français, transquilliser les familles et faire oublier les maux inséparables d'une longue révolution . . . cette mesure n'a p u être qu'une amnistie . . . " . Dazu Gain, Bd. 1, S. 39 ff. 38 Dazu etwa Ellul, Bd. 5, S. 130 ff.; G. Sautel , Histoire des Institutions publiques depuis la Révolution française (Administration — Justice), 2. Aufl., Paris 1970, S. 192 ff.; R. Schnur, „ L a Révolution est finie", oben S. 79 ff.

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825)

nen, doch konnte dies an ihrem politischen Erfolg nichts ändern: Sie vermochte den größten Teil der Royalisten zu überzeugen. 2. Napoleons Verbannung auf die Insel Elba und die Rückkehr der Bourbonen waren der Anlaß für die Emigranten, nach Frankreich zurückzukommen. Es handelte sich u m jenen Personenkreis, der von der Amnestie des Jahres 1802 ausgeschlossen worden war, insgesamt waren es (nur noch) mehrere tausend Personen 39 . Bereits i n der Charte constitutionnelle vom 4. Juni 1814 fiel eine wichtige Vorentscheidung 40 . I n A r t . 9 heißt es: „Toutes les propriétés sont inviolables, sans aucune exception de celles qu'on appelle nationales, la loi ne mettant aucune différence entre elles." Wollte man die Verfassung beachten, so konnte das für eine Gesetzgebung, die sich mit der Emigrantenfrage befaßte, wohl nichts anderes bedeuten als den Verzicht auf direkte Rückübertragung an die Enteigneten. Allerdings bestimmte die Charte i n A r t . 10 auch, daß eine Enteignung zum Wohl der Allgemeinheit mit einer Entschädigung verbunden sein müsse — w i r werden hernach sehen, wie diese Vorschrift später aktualisiert wurde 4 1 . Mit Ordonnance vom 21.-24.8.1814 bestimmte der König, daß mit der Veröffentlichung der Charte constitutionnelle alle noch bestehenden Eintragungen i n der Liste der Emigranten als gelöscht zu gelten hätten 4 2 . Diese Maßnahme war die notwendige rechtliche Voraussetzung für die weitere Gesetzgebung betreffend die Emigranten. Die Monarchie sah sich vor das Dilemma gestellt: Entweder totale Wiedergutmachung für die Emigration und entsprechende Spaltung der Nation oder Versuch eines Kompromisses, der Gefahr lief, von keiner der beiden Seiten akzeptiert zu werden. Angesichts der Bedeutung dieser Frage kam es bereits 1814 zu einer intensiven öffentlichen Diskussion. Es wurden Unmengen von Broschüren, Aufsätzen und A r t i k e l n veröffentlicht 4 3 . Hier ist das klassische 39

Vgl. Ragon, S. 141 ff. T e x t bei Duverger, Constitutions, S. 121 ff. Dazu v o r allem Gain, Bd. 1, S. 91 ff., sowie Marion, S. 366 ff. 41 Schon die Constitution sénatoriale v o m 4. A p r i l 1814, m i t der die A n hänger Napoleons sich glaubten halten zu können, hatte i n A r t . 24 bestimmt: „Les ventes des biens nationaux sont irrévocablement maintenus." Diese V e r fassung w a r gewissermaßen ein Vorläufer des Acte additionnel v o m 22.4. 1815, w e i l sie eher v o m Vertragsprinzip als v o n der Souveränität des Monarchen ausging wie die Charte. Z u m Ganzen J. de Soto, La Constitution sénatoriale du 6 a v r i l 1814, Rev. Int. Hist. Pol. et Const. 3 (1953), S. 286 ff. 42 T e x t bei Ragon, S. 209 f. 43 Ich benütze u. a. H. Dard, De la Restitution des Biens des Emigrés etc., 2e éd. Paris 1814; ders., D u Rétablissement des Rentes Foncières, mélangées de Féodalité etc., Paris 1814; S. L. Johannet, Dissertation sur la Féodalité et les Rentes foncières, Paris 1814, zusammengebunden i n einem Exemplar (Halbleder), das zur Bibliothek B e n j a m i n Constants gehörte. 40

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825)

Repertoire an Argumenten für und wider vorgebracht worden 4 4 . Dann erging das Gesetz vom 5. - 6.12.1814, betreffend das noch nicht veräußerte Vermögen der Emigranten, m i t h i n der entsprechenden biens nationaux 4 5 . Damit war ein erster Schritt zur Wiedergutmachung getan. Aber der weitere, von den Emigranten geforderte Schritt blieb aus. Der König erklärte, daß er einen A k t der Gerechtigkeit habe i n Einklang bringen müssen mit den wohlerworbenen Rechten Dritter, i m Hinblick auf die bestehenden Gesetze (d. h. vor allem Code Civil). Das war i m Grundsatz das Bemühen, die K l u f t zwischen den beiden Teilen des Volkes zu verringern: Es w i r d die Berechtigung der Wiedergutmachung anerkannt; aber da der Erwerb der biens nationaux ebenfalls geschützt werden soll, muß auf die vollständige Wiedergutmachung verzichtet werden. Wägt man die i m Streit befindlichen Interessen ab, so läßt sich nicht leugnen, daß hier die Emigranten weniger Schutz erhalten haben als die Erwerber ihres früheren Vermögens. Überdies bezog sich die Rückgabe der noch i m Staatsbesitz befindlichen Emigrantenvermögen nicht auf den Nießbrauch seit der Beschlagnahme bzw. der Enteignung (Art. 3). Ferner sollten „biens affectés à u n service public pendant le temps qu'il sera jugé nécessaire de leur laisser cette destination . . . " von der Rückgabe ausgeschlossen bleiben, freilich mit Entschädigung für den Nießbrauch i n den Budgets für das Jahr 1816 (Art. 7). Und auch die wohltätigen Zwecken gewidmeten biens nationaux sollten von der Rückgewähr ausgenommen bleiben (Art. 8). Die „100 Tage" Napoleons hatten auch hier Folgen: M i t Dekret vom 13.-21.3.1815 (aus Lyon) wurden alle Emigranten i n dem vorhin erwähnten Sinne, die seit dem 1.1.1812 zurückgekehrt waren, sofort ausgewiesen 46 . Ihr bewegliches und unbewegliches Vermögen wurde beschlagnahmt. Aber wieder wurde der Erwerber geschützt; denn das seit dem 1.4.1814 zurückgegebene und vor dem 13.3.1815 rechtmäßig erworbene Emigrantenvermögen wurde von der Beschlagnahme ausgenommen, wogegen die Veräußerungen ab dem 13. 3.1815 für nichtig erklärt wurden 4 7 . Nach dem zweiten Sturz Napoleons war es rechtlich nicht sonderlich kompliziert, diese Maßnahmen wieder rückgängig zu machen. Dabei sollte es einstweilen bleiben. 44

Vgl. vor allem Gain, Bd. 1, S. 104 ff. T e x t bei Ragon, S. 301 ff. Z u diesem Problem neben Gain, Bd. 1, S. 137 ff., k l a r u n d abgewogen: M . Deslandres, Histoire constitutionnelle de la France de 1789 à 1870, Bd. 1, Paris 1933, S. 722 ff. Dort w i r d auch berichtet, daß Autoren v o n Schriften zugunsten der Restitution wegen der dadurch entstandenen Unruhe zunächst verhaftet, auf Verlangen v o n „monarchistes purs" jedoch freigelassen wurden. 46 Text bei Ragon, S. 304 f. 47 Z u diesen Vorgängen Ragon, S. 161 ff., u n d Gain, Bd. 1, S. 201 ff. 45

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825) 3. Es d a u e r t e fast 10 J a h r e , bis es e r n e u t z u E n t s c h e i d u n g e n ü b e r d i e W i e d e r g u t m a c h u n g k a m 4 8 . W a r die F i n a n z l a g e F r a n k r e i c h s nach 1815 e i n e r d e r G r ü n d e , w e s w e g e n es k e i n e E n t s c h ä d i g u n g f ü r d i e E m i g r a n t e n gab, so m u ß t e d e r H i n w e i s später a n K r a f t d e r Ü b e r z e u g u n g e i n b ü ß e n 4 9 . U m 1824, n a c h d e m spanischen K r i e g , k a m es demgemäß z u v o r s i c h t i g f o r m u l i e r t e n W ü n s c h e n u n d A n t r ä g e n 5 0 . A l s d e r neue K ö n i g Karl X. z u r E r ö f f n u n g d e r Parlamentssession 1824 a u s f ü h r t e , er h a b e die A b s i c h t , d i e l e t z t e n P l a g e n d e r R e v o l u t i o n z u beseitigen, b e g a n n e r n e u t die E r ö r t e r u n g jenes T h e m a s , das u n t e r s c h w e l l i g w e i t e r g e l e b t h a t t e . D a b e i w u r d e n verschiedene L ö s u n g e n angeboten. Sie s o l l e n h i e r wenigstens k u r z e r w ä h n t werden: a) E i n m a l eine Entschädigung i n Höhe v o n 10 °/o des gegenwärtigen Preises, zahlbar v o n den neuen Eigentümern. Das sollte etwa 500 bis 600 M i l l i o n e n Francs bringen, die für die Entschädigung der Emigranten ausreichen würde. Dies w a r der Versuch, den Kompromiß m i t dem Hinweis zu erreichen, daß die neuen Eigentümer v o n den erheblichen Wertsteigerungen ohne Mühe 10 % abgeben könnten 5 1 . b) Oder: Der Staat gibt den Enteigneten Grundrenten, die er selbst aufkaufen ließ. Niemand Geringerer als Chateaubriand machte diesen Vorschlag. Dabei verwies er auf die Entschädigungsklausel i n A r t . 10 der Charte 5 2 . Ä h n l i c h ein weiterer Vorschlag, dem Staat die Wertpapiere zu belassen, aber die Zinsen an die Emigranten zu überweisen 5 3 . Weniger realistisch waren Vorschläge w i e diejenigen, A r t . 9 der Charte zu ändern, also die Unverletzlichkeit des Eigentums insoweit abzuschaffen u n d damit dem Gesetzgeber freiere H a n d zu geben 5 4 . Z u d e n e r n s t h a f t e n K r i t i k e n a n solchem V o r b r i n g e n g e h ö r t e der H i n weis, es h a n d e l e sich h i e r u m d i e E n t s c h ä d i g u n g v o n Menschen, d i e schon d a m a l s die reichsten des L a n d e s gewesen w a r e n . Es gehe h i e r d a r u m , daß sich d i e Sieger i m P a r l a m e n t das P r i v i l e g verschafften, als einzige v o m a l l g e m e i n e n U n g l ü c k verschont z u w e r d e n 5 5 . Dieser H i n 48 A l s allgemeiner Überblick sehr nützlich: G. de Bertier de Sauvigny, L a Restauration, 3. A u f l . Paris 1974, S. 371 ff. Z u r Wiedergutmachungsfrage: Gain, Bd. 1, S. 221 ff. 49 Dazu Ragon, S. 162 ff. A l l g e m e i n zur Finanzwirtschaft: F. Ponteil, Les Institutions de la France de 1814 à 1870, Paris 1966, S. 48 ff. 50 Dazu Ragon, S. 162 ff. Z u r vorhergehenden Zeit Gain, Bd. 1, S. 311 ff. 51 Ragon, S. 164, m i t weit. Hinweisen. 52 Lettre à u n pair de France, Paris 1824, zit. n. Ragon, S. 164 ff. Vgl. Gain, Bd. 2, S. 20 ff. 53 Ragon, S. 165. 54 Ebd., S. 165. 55 V o r allem der Abbé Dufour de Pradt, selbst früher Emigrant u n d dann Beichtvater Napoleons, Erzbischof v o n Mecheln i n Belgien, i n der Schrift: La France, l'émigration et les colonies, Paris 1824. De Pradt w a r einer der ersten Autoren, die auf die kommende Bedeutung Rußlands u n d der USA hinwiesen (vgl. D. Groh, Rußland u n d das Selbstverständnis Europas. E i n Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte, Neuwied 1961, S. 128 ff. u. ö.).

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant und die Emigranten (1825)

weis wurde noch verdeutlicht: Man denke jetzt nur an die enteigneten Emigranten, nicht aber an die zahlreichen anderen Opfer der Revolutionsgesetzgebung, zu schweigen von den Zeichnern der Anleihen aus der Zeit vor 178956. Es läßt sich fragen, ob Ludwig XVIII. diese Entwicklung hätte unter Kontrolle halten können. Der Bruder, sein Nachfolger, der scharfmacherische Graf von Artois und seine Anhänger (also überwiegend die Emigration) ließen den Gesetzentwurf, den die Regierung eingebracht hatte, nicht als A k t der Versöhnung erscheinen, sondern als Wiedergutmachung eines Raubes, den damals der Staat und die neuen Eigentümer begangen hätten 5 7 . Nunmehr war die Gefahr akut, daß die alte Bürgerkriegssituation, zehn Jahre nach Napoleons Verbannung, erneut das Land bedrohte. Die Situation der geplanten Gesetzgebung betreffend die Emigranten wurde verschärft durch einen Gesetzentwurf, der die Zinsen der Staatsanleihen von 5 °/o auf 3 % reduzieren sollte 58 . Die Regierung verfolgte damit die Absicht, die für die Entschädigung der Emigranten nötigen Mittel aufzubringen. Das rief insofern schon einen Sturm der Entrüstung hervor, als man darin die Bevorzugung des unbeweglichen vor dem beweglichen Vermögen sehen konnte. Es kam hinzu, daß die Regierung beabsichtigte, nicht nur die Emigranten für die Enteignung von Grundbesitz zu entschädigen, sondern auch die Deportierten (Verbannten) sowie die durch die Revolutionsgerichte Verurteilten. Der erste Entwurf (noch unter Ludwig X V I I I . ) scheiterte. IV. 1. Der Gesetzentwurf betreffend die Wiedergutmachung brachte keine Rückgabe, sondern eine Entschädigung aus allgemeinen Mitteln. Sie sollte gewährt werden i n Form von 3 °/o Staatsanleihen auf ein Vielleicht w a r er deswegen gegen die vergangenen Folgen der Revolution v o n 1789 u n d für die Befassung m i t ihren k ü n f t i g e n Auswirkungen. Habent l i b e l l i sua fata: I n seinem kürzlich erschienenen Text über „L'abbé de Pradt et l'Europe constitutionnelle", Commentaire, 2, 1979, S. 417 ff., bedankt sich Β . de Jouvenel bei den Pariser Buchhändlern Magis u n d Clavreuil („J'ai plaisir à citer ces sources de savoir."). Diese heutzutage ungewöhnliche Höflichkeit veranlaßt den A u t o r dieses Textes, sich bei Bertrand de Jouvenel zu bedanken, für seinen Hinweis auf diese beiden so kenntnisreichen Buchhändler. Dadurch konnte er i m Jahre 1955 i n den Besitz des oben (FN 43) genannten Buches aus der Bibliothek Constants gelangen. δβ Vgl. Ragon f S. 166 f. 57 Ebd., S. 168. 58 Dazu vor allem H. Besson, L a Conversion de Rentes de 1825, Thèse Droit, Paris 1908, sowie etwa G. Surleau, Les Réformes financières de M. de Villèle, Thèse Droit, Paris 1901; Ragon, S. 168 ff.; Ponteïl, S. 52 ff.

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825)

Kapital von 1 Milliarde Francs, auf welche Höhe vorsorglich die gesamte Entschädigung der Emigranten und der anderen Berechtigten geschätzt wurde 5 9 . Die Regierung ließ den Entwurf durch de Martignac vertreten, einen gemäßigten und geschickten Mann. Er bemühte sich, die K l u f t zwischen den beiden Lagern nicht noch zu vergrößern, indem er die Emigration als eine der beiden Möglichkeiten, ehrenwert als Franzose zu leben, ausgab. Die Emigration war aber auch keine Flucht. Nun sei es an der Zeit, Entschädigung zu gewähren 60 . Wenn man nicht allen während der Revolution (irgendwie) Geschädigten den Ersatz des Schadens anbiete, so beruhe das auf dem Umstand, daß die Emigranten alles verloren hätten. Die Entschädigungsregelung sei auch nützlich, u m endlich Sicherheit für die Erwerber der biens nationaux zu schaffen. Zwar garantiere das geltende Recht ihre Rechte, doch zeige der Verkauf dieser Güter und ihr niedriger Preis, wie es u m diese Rechtssicherheit derzeit bestellt sei. Trotz dieser Argumentation zugunsten der Entschädigung stieß die Regierung teilweise auf starken Widerstand bei der äußersten Rechten 61 . Sie sah i n der Entschädigungsregelung eine Absegnung der revolutionären Maßnahmen. Folgerichtig erblickte sie i n der Verfassungsgarantie des Erwerbs der biens nationaux lediglich einen Verzicht auf gerichtliche Verfolgung der Erwerber. Dieser Teil der Kammer bestand demgemäß auf Rückgabe des Erworbenen, m i t entsprechender Entschädigung für die damaligen Käufer. Die „Linke" i n der Kammer wehrte sich gegen jedwede Entschädigung. Man habe der Emigration seit 1815 wieder ein Monopol auf alle öffentlichen Ämter gegeben, und ein anderer Redner meinte, während i n der Kammer zwei Emigranten auf einen Nicht-Emigranten kämen, sei es i n der Nation ein Emigrant auf tausend Bürger 6 2 . Diese These wurde, überraschenderweise, durch das Abstimmungsergebnis bestätigt: Fand die Regierung bis dahin bei Abstimmungen i n der Kammer eine Opposition von allenfalls 40 Stimmen, so stimmten nunmehr i n der Schlußabstimmung (am 23.4.1825) 130 von 351 Abstimmenden gegen den Gesetzentwurf 63 . Das Gesetz über die Senkung der Staatsanleihen von 5 °/o auf 3 % wurde am 28.4. von der Pairskammer verabschiedet. 2. Man w i r d sagen dürfen, daß Benjamin Constants Rede i n der die Generaldebatte abschließenden Sitzung der Kammer vom 23. Februar 59

60 61

Uber die Endrechnung, die sich auf 866 M i l l i o n e n belief, Ragon, S. 187 f.

Vgl. Gain, Bd. 1, S. 560 ff., und Ragon, S. 169 ff. Vgl. Ragon, S. 174.

®2 Siehe ebd., S. 175. Z u m Ganzen eingehend Gain, Bd. 1, S. 579 ff. Die Ausführung des Gesetzes gehört nicht mehr zu unserem Thema. Es darf auf die gründlichen Ausführungen Gains, Bd. 2, S. 49 ff. (fast der ganze 2. Band), verwiesen werden. 63

8 Schnur

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825)

1825 die inhaltlich wohl bedeutsamste der zahlreichen Reden war 6 4 . Sie rollte eine Fülle von wichtigen Fragen auf, die sich aus der Emigration ergaben. W i r werden jedoch sehen, daß Constant, Gegner des Gesetzentwurfs, weit davon entfernt war, einen unparteiischen Standpunkt einzunehmen 65 . Constant w i l l das zur Diskussion gestellte Problem grundsätzlich angehen. U m feststellen zu können, ob der Entwurf des Gesetzes gerecht sei, müsse man das hauptsächliche, eigentlich: das einzige Argument prüfen, das zur Rechtfertigung der Emigration vorgebracht werde. Vorher aber, eingangs seiner Rede, hatte Constant bereits die Flagge derjenigen Partei gezeigt, die er ergreifen wollte: Wenn man davon rede, den Emigranten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so müsse er, erst recht nach der vorausgegangenen Debatte, sagen, daß man mit dem Gesetz nicht nur die Eigentümer von biens nationaux treffe, sondern alle diejenigen „qui sont restés sur le sol de la France, et qui l'ont glorieusement défendue" 66 . Damit hat Constant einen Standpunkt angedeutet, der mit demjenigen der Emigranten unvereinbar sein mußte: Wer nicht emigrierte, hat Frankreich gegen seine Feinde (wohl genauer: gegen deren Angriff) ruhmreich verteidigt 6 7 . Sodann versucht Constant, dem Begriff der „confiscation" (die gegenüber den Emigranten stattgefunden habe) den Boden zu entziehen: Die Konfiskation sei i n der alten Monarchie übliche Praxis gewesen, vor allem unter Ludwig XIV., als er die Hugenotten vertrieb. Nun dürfe man zwar Unrecht nicht durch Unrecht aufwiegen, aber es sei doch seltsam, daß diejenigen, die jetzt von Konfiskation reden, just diejenigen seien, deren Vorfahren die frühere Konfiskation zugutegekommen sei 68 . Als weiteres Präludium vor dem angekündigten Argument gegen die Rechtfertigung der Emigration bringt Constant den altbekannten Hinweis, daß die Opfer von Konfiskationen beweglicher Vermögen leer ausgehen müßten. 64

Ecrits et discours politique, ed. Pozzo d i Borgo, Bd. 2, S. 97 ff. Gain, Bd. 1, S. 582, spricht v o n Constants „intervention tendencieuse". 66 Ebd., S. 98. 67 Die Frage nach den Ursachen für den Ausbruch der Revolutionskriege ist zumindest umstritten, also nicht so eindeutig beantwortet, w i e Constant meinte. Vgl. etwa R. Schnur, Weltfriedensidee u n d Weltbürgerkrieg 1791/92, oben S. 11 ff., u n d W. Martens, Völkerrechtsvorstellungen der französischen Revolution i n den Jahren 1789 bis 1793, Der Staat 3 (1964), S. 295 ff. 68 I n rhetorischer Hinsicht w i r d m a n bemerken dürfen, daß es sich hier u m einen fehlgegangenen Tiefschlag handelt; u n d zwar schon deshalb, w e i l k e i neswegs alle Emigranten n u r Gut verloren, das früher Hugenotten gehört hatte oder sonstwie „konfisziert" worden war. Hier ist Constant zu sehr i m Zorn des Hugenottenabkömmlings geblieben. Z u diesem Thema vgl. E. Jahan, La Confiscation des Biens des Religionnaires fugitifs de la Révocation de l'Edit de Nantes à la Révolution, Paris 1959. 05

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825)

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Dann w i l l Constant zur Hauptsache kommen. Aber er läßt sich dabei nicht auf die objektive Problematik ein bzw. auf das, was die Regierung mit dem Entwurf des Entschädigungsgesetzes wollte. Vielmehr wendet er eine beliebte rhetorische Formel an, indem er sich an exzessive Äußerungen der „Gegenseite" hält, an „les inculpations portées contre la France par quelques-uns des défenseurs de rémigration" 6 9 . Constant w i r f t seinen Gegnern vor, die fundamentale Einigung des Landes nach 1814 gebrochen zu haben, „l'union et l'oubli étaient notre devise" 70 . Aber man müsse den König aus dieser Sache heraushalten; denn er herrsche über die Emigranten „comme i l règne sur les Français". Das war ein rhetorischer Mißgriff; nun nämlich treibt Constant seinerseits einen K e i l zwischen die Franzosen, indem er von Emigranten und von Franzosen (also nicht: von den anderen Franzosen) spricht. Erst jetzt kommt er zur Hauptsache, der Rechtfertigung der Emigration. Constant behauptet, daß damals die Emigration rechtswidrig gewesen sei, weil Ludwig XVI. den Emigranten befohlen habe, zurückzukehren. Dann aber habe sich die Emigration, indem sie nicht gehorchte, das Recht zum Widerstand angemaßt 71 . Zu dem Einwand, die späteren Ereignisse hätten die Berechtigung der Emigration erwiesen, bringt Constant vor, man verwechsle hier die einzelnen Phasen des historischen Ablaufs: Die Emigration habe bereits 1789 begonnen, und die Emigration von 1789 habe dann diejenige der Jahre 1790 und 1791 ausgelöst. Zwar habe es 1789 teilweise Unordnung gegeben, aber diese könnte die Erklärung nicht rechtfertigen, der König sei i n seinen Entschließungen nicht mehr frei gewesen. Und dann kommt eine Stelle, die wegen ihrer Bedeutung für Constants Gesamtargumentation wörtlich gebracht werden soll: „Messieurs, si, au lieu de solliciter, aux bords du Rhin, d'inefficaces et perfides secours (der deutschen Fürsten, R. S.), l'émigration était restée en France, alle aurait grossi cette armée fidèle, elle aurait sauvé le roi! 7 2 ." Abgesehen davon, meint Constant weiter, daß sich die ganz überwiegende Mehrheit der Franzosen i n der Beurteilung der Frage, ob der König noch Handlungs69

Ecrits et discours politiques, Bd. 2, S. 100. Ebd., S. 101 ff. 71 Ebd., S. 102. Pozzo di Borgo weist zu Recht darauf h i n (a.a.O., S. 219), daß der K ö n i g die Emigration nicht so deutlich verurteilt habe, w i e Constant dies behaupte. A l s die Assemblée législative durch Dekret v o m 9.9.1791 die Emigranten zu des Hochverrats Verdächtigen erklärt habe u n d daß sie, falls sie nicht bis zum 1.1.1792 zurückkehrten, i h r Vermögen verlören, legte der K ö n i g sein Veto ein, bedauerte jedoch die Emigration u n d versuchte, die Emigranten zur Rückkehr zu bewegen. Hier wurde also Constants A r g u m e n tation ausgesprochen unsauber, w e i l er v i e l mehr aus dem Sachverhalt herausholen wollte, als dieser hergab. 72 Ebd., S. 103. 70

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Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825)

freiheit besitze, schwerlich geirrt haben könnte, berufe sich die Emigration zu Unrecht auf ein Recht zum Widerstand, welches sie gegen den Befehl des Königs zur Rückkehr geltend gemacht habe. Ein solches Recht zum Widerstand könne man jedoch nicht anerkennen 73 . Freilich sieht Constant, daß die Emigration, jedenfalls teilweise, sich nicht direkt auf ein Widerstandsrecht bezogen hat. Man habe es jedoch für wichtiger gehalten, das Königtum als den König zu retten 7 4 . Hier w i r d Constants Argumentation auffallend unsicher, weil er sich auf die sachliche Frage, ob der König damals noch frei gewesen ist, nicht einläßt. Wie erwähnt, wendet er ein, die große Masse der Franzosen, weil sie nicht emigriert sei, könne sich insoweit doch nicht geirrt haben. Aber hier gibt Constant dem Begriff „ I r r t u m " (des Volkes) einen changierenden Inhalt. Anstatt die Behauptung, der König sei damals i n seinen Entscheidungen frei gewesen, als solche stehen zu lassen, fügt Constant die Frage hinzu, man möge doch überlegen, was es für das Volk bedeutet habe, daß der König den (Verfassungs)Änderungen zugestimmt habe — an was solle das Volk sich halten, wenn nicht an die Reden und „actes authentiques" des Königs 7 5 . Damit aber geht Constant i n die Defensive über: Er verteidigt die Nicht-Emigrierten. A u f dieser Linie liegt es, wenn er sagt, plötzlich habe man erklärt, der König sei nicht frei, und „le dévouement devient un délit, l'obéissance u n crime!" 7 6 — was niemand i n der Debatte behauptet hatte, i n welcher es, rein sachlich gesehen (unabhängig von Ausfällen durch manche Emigranten), u m die Entschädigung der Emigranten ging, nicht jedoch u m Rückübereignung von biens nationaux. Constant schiebt, vermutlich i n der Erkenntnis, daß seine bisherigen Argumente auch einen fairen Zuhörer nur wenig zu überzeugen vermochten, einen weiteren Angriff nach: Immerhin seien die Emigranten ihrem Prinzip untreu geworden, man sei nämlich zum Gegner (ennemi) übergegangen, habe sich für ihn engagiert durch Eide, dafür dann A m nestien, Posten und Ehren eingehandelt. Damit w i l l Constant die oben erwähnte Amnestie für die Emigranten von 1802 so verstehen, daß sie eine Preisgabe des alten Prinzips der Emigranten und eine Anerkennung des Neuen gewesen sei 77 . Wolle man behaupten, man sei damals zurückgekehrt, u m dem König, der das erlaubt habe, auf diese Weise zu dienen, so müsse man dazu sagen: Man hat den Eid auf Bonaparte abgelegt, aber nicht mit dem 73

Ebd., S. 104 ff. Ebd., S. 104. 75 Ebd., S. 107. 7 « Ebd., S. 107. 77 Ebd., S. 108 f. 74

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825)

Vorsatz, ihn zu brechen; denn einen Meineid habe man doch gewiß nicht leisten wollen 7 8 . Wenn man also heute die Treue zum alten Prinzip entschädigen wolle (was amtlicherseits, u m es zu wiederholen, nicht beabsichtigt war), so sei die Treue derart schwach geworden, daß man keine Milliarde Francs für diese Entschädigung benötige 79 . Könne es demnach keine Rechtfertigung für die Entschädigung der Emigranten geben, so müsse das Gesetz den Graben zwischen den Franzosen wieder aufreißen 80 . Constant fügt also der bisherigen, die Sache anvisierenden Argumentation das weitere Argument hinzu, das auf die Folgen des Gesetzes abzielt: Nicht nur vereinige dieses Gesetz nicht, weil es allen Franzosen, die ebenfalls gelitten haben, eine enorme Last aufbürdet zugunsten einiger weniger Geschädigter, die ohnehin wie sonst niemand wiedergut gemacht wurden; vielmehr wecke es eine noch nie dagewesene Feindseligkeit zwischen den Erwerbern von biens nationaux und Emigranten. Also wiederum geht Constant nicht auf die regierungsamtlichen Absichten ein, hält sich stattdessen an rabiate Äußerungen aus Emigrantenkreisen, weil nur eine Rückübereignung als Wiedergutmachung zur direkten Konfrontation zwischen Erwerbern von biens nationaux und Emigranten geführt hätte. Um seine Position zu verbessern, führt Constant weitere Argumente dieser A r t ins Feld: M i t dieser Entschädigung breche man die Versöhnung wieder auf, die man 1814 versprochen und ins Werk gesetzt habe. Damit bemühe man sich hartnäckig, „une réconciliation presque opérée" zu zerstören 81 . Aber wieder bietet Constant — i m Sinne der réconciliation — eine rhetorische Blöße; denn er spricht davon, daß die Emigranten nach der Amnestie von 1802 von „la nation entière, touchée de leurs malheurs, et fatiguée de ses divisions" aufgenommen worden seien „comme des frères" 8 2 . Wieder also sind die Dagebliebenen „la nation entière" und die Emigranten etwas anderes. Constant verschärft dieses Argument noch: Die Emigranten seien Mitglied der großen Familie gewesen, nun aber „ils s'en isolent de nouveau pour former une classe à part sous le nom d'indemnisés". Die Emigranten haben sich also w i r k lich nach 1789 von der Nation getrennt . . . Das sei nicht klug, es bedeute, „en pleine paix une loi de guerre" zu machen 83 . 78 Ebd., S. 109. Pozzo di Borgo , S. 220, weist auf einen nicht harmlosen I r r t u m Constants h i n : Die Amnestie datierte v o m April 1802, wohingegen Bonaparte i m August 1802 Konsul auf Lebenszeit wurde. 79 Ebd., S. 109. 80 Ebd., S. 110. 81 Ebd., S. 111. Bezüglich der Amnestie als wichtiger Figur des Bürgerkrieges i m allgemeinen s. J. Freund, Amnestie — ein auferlegtes Vergessen, Der Staat 10 (1971), S. 173 ff. 82 Ebd., S. 111. 83 Ebd., S. 112t

Wiedergutmachung: Benjamin Constant u n d die Emigranten (1825)

Constant, der anscheinend meinte, noch weitere Argumente gegen den Gesetzentwurf vorbringen zu müssen, w i l l diese auf dem außenpolitischen Feld finden. Er knüpft an die i n der Debatte gefallene Bemerkung an, man müsse sich beeilen, den Entwurf durchzubringen, weil Umstände eintreten könnten, die das Gesetz unausführbar machen. Damit sei offenbar gemeint, daß man die Summe für die Entschädigung unter außenpolitischen Opfern aufbringen müßte (sozusagen: eine Abrüstung, obwohl man aufrüsten müsse), und Constant entwirft nun ein B i l d nationaler Demütigung. Das vom äußeren Gegner gedemütigte Frankreich werde sagen: „ . . . c'est pour vous que j ' a i été livrée, nue et désarmée, en holocauste aux ambitions hypocrites et sauvages qui m'observaient pour me dévorer" 8 4 . Allerdings wurde Constants Position doch noch stärker, als während der Beratungen des Entwurfs vier Zusatzanträge eingebracht wurden, welche vermuten lassen konnten, daß das Gesetz erst ein Anfang, nicht aber ein Ende darstellen sollte. Einem Redner der Mehrheit, de la Bourdonnaie, unterlief i n der Debatte (am 14. März 1825) ein faux-pas, als er davon sprach, daß das Gesetz mit den beantragten Änderungen bald bringen werde „la tranquillité assurée pour jamais . . . et toutes les classes se remettre dans le même état où elles étaient avant la révolution . . ," 8 5 . Der Versuch einer Klarstellung kam zu spät, das erste Wort blieb hängen. 3. Wenn man versucht, die Rede Constants auf ihren Kern zurückzuführen, so w i r d man sagen dürfen, daß Constant sich hier nicht als Vertreter der Versöhnung gezeigt hat. Als ein solcher hätte er Wertungsfragen bezüglich der Revolution offen lassen müssen, also weder zugunsten der Überlegenheit der Emigration noch zugunsten der „Dagebliebenen" plädieren dürfen. Gerade die Absicht der Regierung, Wiedergutmachung nicht durch Rückübereignung, sondern aus allgemeinen staatlichen Mitteln vorzunehmen, bot für einen „objektiven Betrachter" keinen Anlaß, den Gesetzentwurf sogleich grundsätzlich als Privilegierung der Emigranten anzugreifen. Ausfälle einzelner Emigranten i m Parlament, die ihrerseits den Gesetzentwurf der Regierung „umfunktionieren" wollten, d.h. zum A n fang einer viel weiterreichenden Entschädigung, konnten nur einen rhetorischen, nicht einen sachlich begründeten Anlaß für Constants Angriff bieten. Die Analyse seiner Position läßt den Schluß zu, daß Constant die erwähnten Ü b e r t r e t u n g e n dankbar begrüßte, weil er damit seinem Standpunkt den Schein der Berechtigung verleihen konnte. 84 85

Ebd., S. 113. Ebd., S. l l Ç f .

Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die Emigranten (1825)

Da der Gesetzentwurf der Regierung nicht auf Rückübereignung von Emigrantengut abzielte, sondern den vermittelnden Weg der Entschädigung aus den M i t t e l n der Allgemeinheit (d.h. hier des Staates) wählte, konnte sich Constants Ablehnung nicht als Wahrnehmung der gerechten Sache verstehen. Vielmehr schlägt Constants Bestreben, eine Legitimation der Erwerber von biens nationaux von der Sache her zu erreichen, immer wieder durch. Für ihn war die Emigration eben doch eine „schlechte" Sache, also eine Causa, die den Erwerb von eingezogenem Emigrantengut legitimierte. Aber eben auf die Legitimation in dem gesamten Vorgang (Verlust — Erwerb — Entschädigung) mußte verzichtet werden, sollte diese Angelegenheit endlich erledigt werden. Dazu jedoch, so w i r d man schließen dürfen, war Constant nicht bereit. I n diesem wichtigen Falle blieb er Partei. Hier also war er Parteimann — nicht Staatsmann. Aber an dieser Klippe waren schon viele ansonsten intelligente Politiker gescheitert.

Zwischenbilanz : Zur Theorie des Bürgerkrieges Bemerkungen über einen vernachlässigten Gegenstand* I did hope one day to make the best painting of the h u m a n cry Francis Bacon

I. Selbst i n unseren Tagen werden noch neue „Allgemeine Staatslehren" vorgelegt, die zweite Auflage des voluminösen Werkes von Georges Burdeau umfaßt nicht weniger als elf Bände 1 . Doch noch immer steht, jedenfalls i n den leicht zugänglichen Sprachen, ein wissenschaftliches Werk aus, das den Bürgerkrieg zum zentralen Thema hat. Zwar gibt es berühmte Werke von älteren Staatsdenkern, die sich auch mit wichtigen Aspekten des Bürgerkrieges befassen, wobei man nur an Hobbes "Behemoth" zu denken braucht 2 . Aber für die neuere Zeit fehlen solche Abhandlungen. Es besteht freilich kein Mangel an zeitgenössischen Schriften der Neuzeit, i n denen sich die Autoren mit dem Bürgerkrieg auseinandersetzen. Das geschieht allerdings i m Hinblick auf den jeweiligen konkreten Bürgerkrieg 3 . Solche Autoren sind häufig auch Partei i n diesem Streit, meistens deshalb, weil sie als „dritte Kraft" wirksam werden wollen, der es auf die Überwindung des Bürgerkrieges ankommt. I n allen diesen Büchern und Schriften ist viel wertvolles Material für die wissenschaftliche Betrachtung des Bürgerkrieges gesammelt, und es w i r d hernach noch die Frage zu erörtern sein, auf welcher empirischen Grundlage eine Theorie des Bürgerkrieges arbeiten müßte. Doch sind die erwähnten zeitgenössischen Be* Gewidmet zum 60. Geburtstag H e r r n Prof. Dr. Julien Freund (Straßburg), einem Opfer der M i l i z des Vichy-Regimes, m i t Dank für das, was er für die geistigen Beziehungen zwischen Frankreich u n d Deutschland getan hat. 1 Georges Burdeau, Traité de Science Politique, 2. Auflage, Paris 1966 - 77. 2 Z u r Hobbes-Forschung jetzt die vorzügliche Studie v o n Bernard Willms, Der Weg des Leviathan. Die Hobbes-Forschung v o n 1968 - 1978, Beiheft 3 dieser Zeitschrift, 1979. 3 Spätere A u t o r e n haben sich i n vergleichbaren Lagen m i t früheren B ü r gerkriegen auseinandergesetzt, ζ. B. Argumente v o n dort bezogen, Parallelen gezogen usw. E i n Beispiel dafür: J. H. M . Salmon, French Religious Wars i n English Political Thought, Oxford 1959,

Zwischenbilanz: Z u r Theorie des Bürgerkrieges

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obachtungen solche von primärer A r t . Sie sind durchweg auf einen konkreten politischen Zweck bezogen und stellen daher politische Schriften von direkt Beteiligten dar. Woran es jedoch i n auffälliger Weise mangelt, sind strukturierte Beschreibungen und Analysen von Bürgerkriegen, deren Verfeinerung i n Bezug auf ständige Bildung von Arbeitshypothesen wichtige Erkenntnisse verspricht. Schon ein vorläufiger Vergleich dieser A r t , der einige neuere Bürgerkriege zum Gegenstand hat, zwingt wichtige Fragen hinsichtlich der Regelmäßigkeit i m Ablauf der Bürgerkriege auf. Sie betreffen nicht nur die Entstehung von Bürgerkriegen. Vielmehr gelten sie auch für deren weiteren Ablauf. So, u m hier nur einige Fragen zu formulieren, für die verschiedenen Arten der Verfolgung des Feindes 4 , für die verschiedenen Arten der Beendigung des Bürgerkrieges, sei es durch den endgültigen Sieg der „neuen" Legitimation, sei es durch „Restauration", wobei auch Figuren wie „Wiedergutmachung" oder „Amnestie" i n den Blick geraten 5 ' 6 . Doch vermißt man nicht bloß eine wissenschaftlichen Ansprüchen standhaltende Phänomenologie des Bürgerkrieges, sondern auch das, was man eine sich an den Bürger wendende „Verhaltenslehre" für Zeiten des Bürgerkrieges nennen könnte. Trügt die Beobachtung nicht, so beziehen sich die Abhandlungen über „politische Tugend des Bürgers" i n erster Linie auf den politischen „Normalzustand". Allenfalls berühren sie das Thema des Bürgerkrieges beiläufig, nämlich wenn gesagt wird, diese oder jene politische Untugend könne oder müsse zum Bürgerkrieg führen. Die i n unserem Zusammenhang maßgebliche Frage, wie sich der Bürger im Bürgerkrieg „richtig" zu verhalten habe, w i r d nur höchst selten gestellt. Man kann jedoch leicht erkennen, daß es sich dabei nicht u m eine lediglich theoretische Frage handelt. Sie ist auch praktisch sehr bedeutsam, weil sie nach der Beendigung von Bürgerkriegen gestellt zu werden pflegt, mit entsprechenden Folgen für den Befragten. Eine solche „Verhaltenslehre" für den Bürger i m Hinblick auf den Bürgerkrieg ist auch für jene Lehre vom ^richtigen" Verhalten unentbehrlich, die man „Jurisprudenz" nennt. Auch das Recht i n der Zeit nach dem Bürgerkrieg kann die Stellungnahme zum Geschehen wäh4 Als Beispiele seien i n den folgenden Anmerkungen Aufsätze aus der Zeitschrift Der Staat erwähnt: Jochen Hoock, Emigration u n d Revolution. Zur Emigrationsgesetzgebung der Französischen Revolution, Der Staat 5 (1966), S 189 ff. 5 Roman Schnur, Wiedergutmachung: B e n j a m i n Constant u n d die E m i granten (1825), jetzt oben S. 99 ff. 8 Julien Freund, Amnestie — E i n auferlegtes Vergessen, Der Staat 10 (1971), S. 173 ff.

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Zwischenbilanz: Zur Theorie des Bürgerkrieges

rend des Zwistes nicht umgehen, ein non liquet ist hier nicht möglich. Das Recht mag sich nach der Beendigung des Bürgerkrieges noch so positivistisch geben, so enthält es doch eine (meistens implizite) Lehre vom richtigen Verhalten des Bürgers i m Bürgerkrieg. Ex nihilo entsteht hier nichts, allenfalls bezüglich der neuen Legitimität war das Frühere ein wertmäßiges nihil. Es ist zuzugeben, daß hier außerordentlich schwierige Aufgaben der Jurisprudenz harren. Hier geht es weder u m Paragraphen-Ikebana noch u m die Herstellung von praktischen Konkordanzen, auch nicht u m Vor-Urteile, die Nach-Urteile entscheiden. Die rechtliche Anerkennung oder Nichtanerkennung von A k t e n während des Bürgerkrieges ist unumgänglich, h i n bis zu vermeintlich so unpolitischen Vorgängen wie Eheschließungen. Niemand w i r d leugnen wollen, daß es heutzutage viele wissenschaftliche Abhandlungen gibt, die sich mit dem Phänomen der „Revolution" beschäftigen. Hier und da werden sogar Forderungen nach einem eigenständigen Wissenschaftszweig „Revolutionsforschung" laut, häufig i m Zusammenhang mit „Friedens-" bzw. „Konfliktforschung". Auch wenn man die direkten politischen Implikationen solcher Vorhaben beiseite läßt, w i r d man doch sagen dürfen, daß sich die Betrachtung von „Revolution" einerseits und „Bürgerkrieg" andererseits zwar i n wichtigen Aspekten überschneidet, aber keineswegs völlig deckt. So ist es denkbar, daß „Revolutionsforschung" Vorgänge untersucht, die zeitlich weit vor dem Zeitpunkt liegen, an dem die Theorie des Bürgerkrieges einsetzt, während andererseits diese über jene zeitlich weit hinausreicht. Das bedarf keiner weiteren Erklärungen. Wohl aber ist auf das Phänomen zurückzukommen, das i m derzeitigen Hervorquellen von „Revolutionstheorien" liegt, während nicht einmal Ansätze einer „Theorie des Bürgerkrieges" vorhanden sind: Möglicherweise soll hier ein Gegenstand tabuisiert werden. Π.

W i l l man dieses (vielleicht letzte) Tabu brechen, so könnte die Erörterung der Frage, weshalb es bis heute keine Theorie des Bürgerkrieges gibt, Antworten einbringen, die für den Aufbau einer solchen Theorie hilfreich zu sein vermögen. Würde nämlich dabei das ganz Andersartige des Bürgerkrieges hervortreten, so wären damit die Schwierigkeiten signalisiert, auf welche die Theorie des Bürgerkrieges stößt. Es wäre dann zu vermuten, daß man das für den „Normalfall" entwickelte Begriffsvokabular, also die Begriffe der herkömmlichen Allgemeinen Staatslehre, nur m i t äußerster Vorsicht bei. der Beschreibung und der Erklärung von Phänomenen des Bürgerkrieges handhaben darf.

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1. Eine überzeugende Erklärung für das Schweigen der politischen Theorie i m Falle des Bürgerkrieges könnte darin liegen, daß der Bürgerkrieg eben das fundamentale Gegenteil der Ordnung sei und daß i n i h m nicht die Ordnung, sondern das Chaos und damit die Gewalt herrsche. Deren Herrschaft aber entziehe sich jedweder Beschreibung. Eine derartige Erklärung kann man bei Hannah Arendt i n ihrem Buch über die Revolution finden 7 . Die A u t o r i n meint, daß dort, wo die Gewalt absolut regiere, jedes und jeder schweige. Entscheidend für ihre These ist der Satz: "The point here is that violence itself is incapable of speech, and not merely that speech is helpless when confronted w i t h violence 8 ." Die Autorin bezieht sich dabei auf Aristoteles. Sie w i l l die Hilflosigkeit der Sprache angesichts der Gewalt von der Sprachlosigkeit unterscheiden. Das gelingt jedoch nur m i t h i l f e des Rückgriffs auf eine bestimmte Funktion von Sprache, nämlich derjenigen, wonach Sprache nur sozial angelegt sei. Es ist leicht erkennbar, daß hier der „Normalzustand" menschlicher Existenz anvisiert ist. Dadurch w i r d das Gegenteil davon, nämlich der Bürgerkrieg, perhorresziert. Das ist eine plausible Absicht. Doch bringt sie nichts für die Beantwortung der Frage ein, wie die Lage adäquat beschrieben und erklärt werden kann, falls der „Normalzustand" nicht (mehr) besteht. Wie sehr man dieser Aufgabe dennoch gewachsen sein kann, zeigt das Buch einer anderen Dame, Irene Coltmans Werk 9 . Hier sind Einsichten formuliert worden, die weit über das hinausreichen, von dem Hannah Arendt annahm, daß man es nicht erörtern könnte. Gerade angesichts eines solchen Werkes w i l l ihre These nicht einleuchten, daß man die Erörterung über die Gewalt den "technicians" überlassen müsse. Auch vermag ihre weitere These nicht zu überzeugen, eine Theorie des Kriegs oder der Revolution könne sich nur mit der Rechtfertigung von Gewalt befassen, andernfalls komme eine Verherrlichung von Gewalt heraus 10 . Abgesehen davon, daß hier ein denunziatorischer Unterton stört, ist diese Aussage unhaltbar. Die Beschreibung und Erklärung von Phänomenen des Bürgerkrieges muß keineswegs eine Verherrlichung von Gewalt sein, wie man an Irene Coltmans Buch erkennen kann. Ist es also nicht die Sprachlosigkeit der Gewalt, die das Schweigen über den Bürgerkrieg verursacht, so w i l l es eher einleuchten, daß es die Hilflosigkeit der Sprache gegenüber vielen schrecklichen Phänomenen 7

Hannah Arendt, On Revolutions, London 1963. Ebd., S. 9, 9 Irene Coltman, Private Men and Public Causes. Philosophy and Politics i n the English C i v i l War, London 1962. 10 Arendt, S. 9/10. Bezeichnenderweise spricht die A u t o r i n v o n " w a r " u n d von "revolution", nicht jedoch v o n " c i v i l w a r " als einem f ü r die politische Theorie ebenfalls eigenständigen Phänomen. 8

Zwischenbilanz: Z u r Theorie des Bürgerkrieges

des Bürgerkrieges ist, die zur intensiven Befassung mit solchen Verhaltensweisen von Menschen nicht einladen. Diese Hilflosigkeit der Sprache t r i t t allerdings nur bei jenen Bürgern auf, für die nicht jedes Mittel vom Zweck geheiligt wird, von welchem Zweck auch immer. Bisher jedenfalls gehörte es zu den Merkmalen des occidentalen Rationalismus, daß die Wissenschaft sich bemüht, diesen Schrecken und die damit verbundene Hilflosigkeit der Sprache auszuhalten und zu überwinden. Hingegen ist die These, eine Theorie des Bürgerkrieges berge i n sich die Gefahr der Verherrlichung von Gewalt, das Gegenteil von dieser Wissenschaftskonzeption. Sie ist nämlich, bewußt oder unbewußt, ein Instrument, mit dem das „Hinterfragen" aller Bürgerkriege (und somit aller diesbezüglichen Legitimationen) unterbunden werden soll 1 1 . 2. Die Vernachlässigung der Theorie des Bürgerkrieges und die derzeit enorme Produktion von wissenschaftlichen „Revolutionstheorien" könnten i n einem inneren Zusammenhang stehen. a) Bezeichnenderweise bemüht sich Hannah Arendt darum, "the meaning of revolution" zu entdecken. Das ist ein legitimes Erkenntnisinteresse. Aber es ist mit der uns interessierenden Fragestellung nicht identisch. Betrachtet man nämlich den Problemkreis lediglich unter dem Aspekt der Revolution, so gerät man unversehens i n eine A r t „linearer" Betrachtung. Sie w i r d dann rasch „werthaltig", also wissenschaftlich „befangen", weil das eine Ziel dieser Linie als wertvoll oder nicht angesehen wird: Eine bestimmte Revolution t r i t t i n den Vordergrund. Von dort aus w i r d das weitere gemessen, ζ. B. als Fortschritt, von dem streitig wird, wo er aufhören soll. A u f diese Weise w i r d es der Wissenschaft kaum gelingen, aus dem Labyrinth konkreter politischer Rechtfertigungen herauszukommen. Es steht schließlich Gewalt gegen Gewalt, d.h. Rechtfertigung gegen Rechtfertigung, und jetzt h i l f t nur noch die Dezision. Wenn man aber zunehmend den Ausdruck „Bürgerkrieg" durch „Revolution" ersetzt, so w i r d derjenige, der auf dem Erkenntnisgegenstand „Bürgerkrieg" beharrt, i n eine bestimmte politische Situation gedrängt, eben i n diejenige, die sich aus dem Aspekt der nicht abstrakt, sondern konkret verstandenen „Revolution" ergeben muß. „Revolution" i n diesem konkreten geschichtlichen Sinne w i r d dann mehr oder weniger untrennbar mit „Fortschritt" verbunden, wie unterschiedlich dessen Defi11 Wenn H. Arendt, S. 9, meint: " I t is because of this silence that violence is a marginal phenomenon i n the political realm", so k a n n das für rechtliche und für moralische Wertungen nicht gelten. Die A n k n ü p f u n g an die Zeit der Gewalt ist unvermeidbar, u n d da eine Amnestie nicht alles Vergangene beseitigen kann, muß jedenfalls der Jurist reden, wo nach H. A r e n d t der politische Philosoph schweigen soll. (Es steht noch nicht fest, daß für die A b f u h r des historischen Mülls n u r die Juristen zuständig sein sollen.)

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nitionen auch ausfallen mögen („amerikanisch", „französisch", „bundesrepublikanisch", „sowjetrussisch" usw.). Hier kann das Beharren auf der Absicht, dem Phänomen des Bürgerkrieges theoretisch näher kommen zu wollen, zu nichts anderem als zu dem Vorwurf führen, man sei gegen den Fortschritt. Damit w i r d die Sache wissenschaftlich besonders interessant; denn wenn aus der Position des „Nicht-Für" ein „Gegen" gemacht wird, ist der Schritt vom wissenschaftlichen Diskurs i n die Agitation vollzogen — eine altbekannte rhetorische Figur von Bürgerkriegssituationen 12 . Andererseits dürfte es ebenso selbstverständlich sein, daß i n konkreten geschichtlichen Lagen, i n denen rivalisierende Vorstellungen von „Fortschritt" sich bis zur Weißglut erhitzen, eine Theorie des Bürgerkrieges von den Parteien kaum akzeptiert werden kann. Insofern gibt es zwischen den Rivalen vollen Konsens, und je mehr sich Wissenschaftler als solche i n den Dienst dieser Parteien stellen, desto weniger werden sie eine Theorie des Bürgerkrieges für notwendig halten wollen. Die exklusive Wahl der Perspektive „Revolution" verliert unvermeidlich viele jener Probleme aus dem Blick, die zum „Bürgerkrieg" gehören, und zwar, i n Umkehrung der eigenen Absicht, ausgerechnet Probleme moralischer Qualität. M i t dem Ausdruck „Revolution" ist die Vorstellung von Dynamik, also von Ablauf, nicht aber von einem Zustand verbunden. Seine Anwendung kann daher eine Verdinglichung („Technokratisierung") jener Probleme bedeuten, die primär menschlich-moralische sind. Bei solchem Vorgehen ist eine Entmenschlichung der Problematik des Bürgerkrieges kaum zu vermeiden, diesbezügliche Vorbehalte müssen rein rhetorisch wirken. „Revolution" ist hier i m Blick h i n aui ein Ziel der funktionierende (oder nicht funktionierende) Vorgang. Nun kommt die Sprache der Natur-Wissenschaft zum Zuge. Die Revolution w i r d zum Verfahren, die Kenntnis von ihr zur Verfahrenstechnik, und so kann es schließlich nur noch u m die Legitimation (der Vernichtung des Feindes) durch Verfahren (der Revolution) gehen. Jetzt w i l l es wohl einleuchten, daß bereits die Erwähnung des Ausdrucks „Bürgerkrieg" hochverdächtig wird: Hier gibt es bezüglich des Feindes weder „Bürger" noch einen „Krieg" zwischen solchen; so ein Wort ist „wertfrei", also „feindlich" — nun ist ein „Schädling" raschestens „auszumerzen", der „Störfaktor" des Grundwertes w i r d „wegrationalisiert". b) Es gibt jedoch auch „Revolutionsforschung", die der fatalen Sogwirkung des Engagements entgehen möchte. Sie entzieht ihrer Denk12 Wichtig i n diesem Zusammenhang Bernard Willms, Staatsräson u n d das Problem der Definition. Bemerkungen zum Nominalismus i n Hobbes' "Behemoth", in: R. Schnur (Hrsg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, 1975, S. 275 ff.

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weise das „Werthaltige" gewissermaßen als Gift für die Wissenschaft, indem sie das Phänomen des Bürgerkrieges „wertfrei" betrachtet. Doch w i l l auch dieser Ansatz nicht den Bürgerkrieg als solchen analysieren. Hierbei handelt es sich meistens u m Betrachtungsweisen, die sich direkt auf „Systemtheorien" beziehen oder doch dort größere Anleihen machen 13 . Aber wenn man der vorhin erwähnten „Revolutionstheorie" vorhalten muß, sie sei zu voll m i t Werten, u m wissenschaftlich weit kommen zu können, so w i r d man diesem neuen Ansatz entgegenhalten dürfen, nun werde das Phänomen der Revolution (und damit auch des Bürgerkrieges) unter eigenartigen cost-benefit-Aspekten analysiert. Da drängen sich Vorstellungen auf, als verstehe man unter „Kosten" die Kosten eines Bürgerkrieges als unvermeidbare, i n Kauf zu nehmende Nebenfolgen, die es durch entsprechenden Einsatz neuer Technologien zu minimisieren gelte, vor allem i m Hinblick auf die Dauer physischer Leiden. A u f diese Weise kann am Ende so etwas wie "(Polit-)Scientific Management of Revolution" herauskommen, m i t entsprechender Buchhaltung, wo die Verluste m i t roter Tinte notiert werden. Falls man diese beiden „Revolutionstheorie"-Aspekte auf unser Thema für wenig aussichtsreich hält, w i r d man nicht umhin können, das Thema direkt anzugehen. So betrachtet, mag eine Theorie des Bürgerkrieges als Neuheit gelten, als eine Novität auf dem internationalen M u l t i - M a r k t der Wissenschaften, als Aufklärung, beinahe als Fortschritt — wären diese Ausdrücke nicht bereits monopolisiert, und daher erinnert man sich des Wortes von Francis Bacon: "Perhaps I have nothing to do w i t h the avant garde 14 ." Freilich wäre das auch nicht eine tapfer kämpfende Nachhut von irgendetwas, eher wäre es ein Streifen durch das Schlacht-Feld von Bürgerkriegen 1 5 . (Wofür es keinen Z i v i l Dienst-Orden gibt.)

13 A l s Beispiel für viele A r b e i t e n dieses Genres: H. J. Johnson / J. J. Leach / R. G. Muehlmann (eds.), Revolutions, Systems and Theories. Essays i n Pol i t i c a l Philosophy, Dordrecht 1979. 14 Zit. nach David Sylvester, Interviews w i t h Francis Bacon, new and enl. ed. London 1980, S. 107. — Das eingangs zitierte W o r t v o n Bacon, ebd., S. 34. is w e r Bilder v o n Bacon w i e "Figure w i t h meat" (1954) für pure Phantasie hält (ein Papst sitzend, m i t Schrei, v o r zwei Fleischhälften), sei daran erinnert, daß m a n i m spanischen Bürgerkrieg bisweilen Hälften v o n menschlichen Körpern i n Läden v o n Metzgern aushängte. Vgl. zu diesem Thema Bacons Gilbert Lascaut, in: Francis Bacon, L ' A r c , no 73, 1978, S. 21 ff. Dort, S. 42/43, eine interessante Äußerung des tschechischen Emigranten Milan Kundera zu Bacons "Three studies of Henrietta Moraes", die sich auf eine Vernehmung i n Prag bezieht. — Auch sei hier auf ein anderes einschlägiges B i l d hingewiesen, nämlich auf Salvador Dalis „Construction molle avec haricots boullis, Prémonition de la guerre civile" (1936).

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m. 1. Wenn man die Hypothese, die Begrifflichkeit der „Staatslehre" sei am „Normalzustand" orientiert, akzeptiert, w i r d es für die Theorie des Bürgerkrieges wichtig, diesen Normalzustand i n seiner Eigenart zu verstehen. Nun sind sich die führenden Staatstheoretiker einig, daß sich „Staatslehre" nicht (auch nicht die „Allgemeine") m i t einer beliebigen oder — was auf dasselbe hinauskommt — ewigen politischen Form befassen soll, die man „Staat" benennt 1 6 . Was immer hier noch an Fragen offen sein mag, so darf doch gesagt werden, daß die negative Abgrenzung des „Staates" von anderen politischen Formen, die vor allem von deutschen Autoren vorgeschlagen wurde, unbestreitbare Vorteile bietet. Sie entlastet den Gegenstand der Betrachtung von zu viel Komplexität. „Staat" als ein Begriff, der an eine bestimmte geschichtliche Epoche gebunden sein soll — m i t welchen Trennlinien i m einzelnen auch immer —, w i r d deshalb auch hier als Gegenstand der „Staatslehre" angenommen 1 7 . Dann liegen die Folgen für die Theorie des Bürgerkrieges auf der Hand: Man w i r d auch dafür das empirische Material i n geschichtlicher Perspektive einschränken müssen, eben parallel zum modernen „Staat". Wenn es richtig ist, daß man „Staat" eingrenzt, muß das auch für die Negation desselben gelten. So unangenehm dies klingen mag: Wenn beispielsweise „Staat" ohne bestimmte Techniken der Sicherung von Macht schwerlich denkbar ist, so stehen solche Techniken auch i n einem bestimmten Zusammenhang m i t bestimmten Techniken der Verfolgung i m Bürgerkrieg: Die Gefahren, die sich i n der Negation erwiesen haben, bestimmten die Instrumente, m i t denen die Position gesichert werden soll. So stellt die nahezu perfektionierte Kunst der Subversion vor allem den Rechts-Staat vor überaus schwierige Probleme. Es soll hernach gezeigt werden, daß ein bestimmtes modernes Rechts-Denken sogar die Vorstellung von der „legalen Revolution" ermöglichte und damit für den ersten Blick das Phänomen des Bürgerkrieges i m NS-Regime zu verdecken vermochte. Akzeptiert man für die Theorie des Bürgerkrieges die geschichtlichkonkrete Perspektive, so läßt sich ungefähr der Zeitraum angeben, für den eine Theorie des Bürgerkrieges entworfen werden könnte: Den 16 Dazu vor allem Helmut Quaritsch, Staat u n d Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, 1970, sowie Christoph Link, Herrschaftsordnung u n d bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt i n der älteren deutschen Staatslehre, Wien 1979. 17 Ausgehend v o n Carl Schmitt, Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), in: ders., Verfassungsrechtliche A u f sätze aus den Jahren 1924 - 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 1958, S. 375 ff.

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Anfang hätte die „Entstehung des modernen Staates" zu bilden. Natürlich muß man dabei die Schwierigkeiten genauer Abgrenzung i n Kauf nehmen. Es soll jedoch an Carl Schmitts Bemerkung zum sog. Grenzenlosigkeitsschluß erinnert werden, wonach man aus der Schwierigkeit, eine Grenze zu ziehen, nicht den Schluß auf die Unmöglichkeit einer Grenzziehung folgern dürfe 1 8 . Uns genügt deshalb die Feststellung, daß es sich bei dem hier belangvollen Forschungsgegenstand u m jene Form politischer Organisation handelt, bei welcher die legitime Gewaltausübung beim „Staat" monopolisiert ist. Das bedeutet neben dieser Eingrenzung des Themas zugleich seine geographische Verortung, nämlich auf Europa und auf jene Gebilde, die sich mit entsprechenden Abwandlungen außerhalb Europas geformt haben. 2. Eine derartige Eingrenzung des Themas kann nicht heißen, alles das i n Europa als irrelevant beiseitezuschieben, was vor dieser Epoche liegt. Man w i r d sogar sagen müssen, daß ohne die Tradierung antiken Gutes der „moderne" Staat kaum zu begreifen wäre, und das gilt sogar für die politischen Formen des Mittelalters. Doch dürfte ebenso klar sein, daß diese traditio nur i n jener Form für den modernen Staat und für die i h m zugehörige Theorie des Bürgerkrieges relevant sein kann, die ihr i m Zuge der „Renaissance" zu Beginn der Neuzeit gegeben wurde. Für die Theorie des Bürgerkrieges werden damit auch antike Autoren wie Thukydides und Tacitus belangvoll, weil sie zu dieser „Renaissance" gehören 19 . Unter diesem Aspekt w i r d der Nutzen moderner „Revolutionstheorien" für die Erhellung des Bürgerkriegsphänomens noch zweifelhafter. Ein großer Teil der heutigen Theorien der Revolution befaßt sich nämlich auch mit Vorgängen i n der sog. Dritten Welt. Soll es bei den dortigen Revolutionen besonders rasch vonstatten gehen, so w i r d unvermittelt die Verbindung vom amerikanischen „System" zu den neuen „Systemen" gezogen. Hier könnte ein Vergleich der jeweiligen politischen Zustände viel einbringen, weil damit der Übergang der Dritten Welt, der Prozeß, eher zu verstehen wäre. Doch wenn „Revolution" so sehr die Betrachtung bestimmen soll, muß der „Vorgang", die „Funktion", das „Verfahren" überwiegen, und für die Erkenntnis des Bürgerkrieges i n diesem Prozeß fällt kaum etwas ab. Daß solche Betrachtung i n amerikanischer Forschung und den von ihr bestimmten Richtungen 18 Siehe Carl Schmitt, Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien (1931), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 147 f. 19 Dazu etwa Kenneth C. Schellhase, Tacitus i n Renaissance Political Thought, Chicago 1976, u n d Jean Jehasse, L a Renaissance de la Critique. L'essor de l'Humanisme érudit de 1560 à 1614, Saint-Etienne 1976, sowie neuerdings J. H. M . Salmon, Cicero and Tacitus i n Sixteenth-Century France, A m . Hist. Rev. 85 (1980), S. 307 ff.

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dominiert, kann nicht überraschen. Stellt man jedoch i n einschlägiger europäischer Forschung das häufige Auftreten außereuropäischen Vokabulars (ζ. B. vietnamesischen oder lateinamerikanischen Ursprungs) fest, so dürfte das weniger einen wissenschaftlichen Fortschritt signalisieren als vielmehr die Tatsache, wie heruntergekommen bzw. wie verschlissen heute Europa ist. U m bereits hier einem möglichen Einwand zu begegnen: Der Marxismus-Leninismus ist i n unserem Zusammenhang keine Theorie (oder Idee), die grundsätzlich auszuschließen wäre. Für die Phänomenologie der modernen Bürgerkriege kann er grundsätzlich so aufschlußreich sein wie jede andere Theorie, jedenfalls i m Hinblick auf die Ursachen von Bürgerkriegen (wiewohl „soziale" Ursachen auch schon früher bekannt waren). I m Hinblick auf die „Verhaltenslehre" für den Bürgerkrieg stellt sich der Marxismus-Leninismus als eine Lehre dar, die sich an einem bestimmten Zweck der Revolution orientiert und i h n somit „dogmatisiert". Insofern ist er als Anweisung für das Ergreifen der richtigen Partei seinerseits wieder Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung. Daß ein obsiegender Marxismus-Leninismus für eine Theorie des Bürgerkrieges möglicherweise keinen Spielraum läßt, ist wieder eine andere Frage. Sie ist hier nicht aktuell. IV. Der Versuch, das empirische Material der „Theorie des Bürgerkrieges" geschichtlich und damit zugleich geographisch einzugrenzen, erleichtert zwar die Beantwortung der Frage, wie das Phänomen des „Bürgerkrieges" zum „Staat" steht, indem sie die fundamentale Tatsache der Gegensätzlichkeit deutlich macht, eben daß die Position das Gegenteil der Negation ist. Aber dieser Versuch allein löst nicht unsere Aufgabe, wie die Begrifflichkeit der Negation beschaffen sein müßte. 1. Falls man auch hier mit einem „Idealtypus" arbeiten w i l l , liegt es nahe, i m Bürgerkrieg das radikale Gegenteil von jenem Zustand zu sehen, der i m „Staat" bestehen soll. Um Mißverständnissen vorzubeugen, soll sogleich bemerkt werden, daß innerer Frieden hier nicht „Grabesruhe" oder ähnliches bedeutet. (Das Hantieren m i t diesem Etikett signalisiert bereits bürgerkriegsschwangere Situationen.) Solche „Ruhe" kann vorkommen; doch ist sie nicht das maßgebliche Kennzeichen des inneren Friedens. Dieser beruht vornehmlich darauf, daß die inneren Spannungen ohne Gewaltanwendung ausgehalten werden und daß sich die Beteiligten dieser Prozedur unterwerfen, d.h. dem Staat das Monopol legitimer Gewaltausübung überlassen. 9 Schnur

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a) Niemand w i r d bestreiten wollen, daß der friedliche Zustand das Ziel aller Politik ist. A n diesem Ziel ist das gesamte politische Denken orientiert. Deshalb ist an i h m auch die Begrifflichkeit des „normalen" Staates ausgerichtet. Allenfalls gibt es „Übergänge", i n denen „ausnahmsweise" kein Frieden herrscht. Doch sind sie so rasch wie möglich zu beenden 20 . Das Denken von „permanenter Revolution" ist nach bisheriger Erfahrung von sehr ephemerer A r t . Es w i r d meistens am Rande des Geschehens produziert, von Gruppen, die an der Auflösung des inneren Friedens zwar mitwirkten, bei der Festigung des „neuen" Zustandes jedoch als „unproduktiv" o. ä. beiseitegeschoben werden. Nur bei anhaltender Dekadenz eines Systems vermögen sich derartige Selbstbeweger längere Zeit zu halten. Daß ein politisches Denken, welches sich gegen einen bestehenden inneren Frieden richtet, i n dieser Perspektive „revolutionär" ist, w i l l also keineswegs besagen, es werde nach dem Sieg der Revolution und nach der Beendigung des Bürgerkrieges seinerseits auf eine „positive Konstruktion" verzichten, denn nunmehr geht es u m den „Aufbau". W i r werden auf die fundamentale Bedeutung dieser Dialektik von Negation und Position zurückkommen. Hier genüge die Feststellung, daß die Konstruktion eines politischen Zustandes i m Gegensatz zur Destruktion,, mit dem das „Alte" weggeräumt worden war, mithilfe „positiver Elemente" arbeiten muß. Jedes politische System hat eine entsprechende Legitimationsgrundlage, auf der sich ein weitverzweigtes Gedanken- und Handlungssystem (Rechtssystem, Wirtschaftssystem, Bildungssystem usw.) entfaltet. Nach dem bisher Ausgeführten dürfte es verständlich sein, daß ein primär am Handeln orientiertes politisches Denken sich nur mit dieser positiven Seite des Politischen befaßt und daß der Bürgerkrieg allenfalls als („leider bisweilen unvermeidbare", d.h. vom Feind verursachte) Phase des Ubergangs Interesse findet. Dieses Interesse am Bürgerkrieg bedeutet zugleich, daß man ihn auch vergessen kann (will, muß). Das gilt erst recht, wenn ein solches revolutionäres Denken sich für endgültig hält, dieser Bürgerkrieg m i t h i n zum geschichtlich letzten A k t von Gewalt unter Menschen werden soll. Was das je positive Denken unter „Sicherheit und Ordnung" versteht, ergibt sich aus der jeweiligen Legitimation. Was jeweils als „Störung" behandelt werden soll, muß von dort aus definiert werden. I n jedem Fall bedeutet es nicht: Politisch relevante Bestreitung der gel20 Es darf für Näheres verwiesen werden auf des Verfassers: Individualismus u n d Absolutismus. Z u r politischen Theorie v o r Thomas Hobbes (1600 bis 1640), 1963, S. 43 ff. Z u diesem Themenkreis nunmehr eingehend E. Castrucci t Ordine convenzionale e pensiero decisionista, M a i l a n d 1981.

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tenden Legitimität. Diese muß so lange wie möglich außer Diskussion gestellt werden, u m die den Menschen wertvolle Normalität wahren zu können. Für die „systemkonforme" (genauer: die system-irrelevante) Störung ist die „Polizei" zuständig. Auch falls die Störungen ein größeres Ausmaß annehmen, so handelt es sich bei deren Beseitigung doch um eine „Polizeiaktion" 2 1 . I m Feld der Pönalisierungen bleibt dies alles i m Bereich der „normalen" Vergehen. („Terroristen" werden behandelt wie „normale" Straftäter, es gibt dafür kein „Sonderrecht" usw.). Abweichungen vom geltenden Recht auf der Grundlage der konkreten Legitimität sind „Rechtswidrigkeiten". Die Wahrung aller dieser Aufgaben des Staates dient nur der Wahrung des Rechts, m i t Politik hat das alles nichts zu tun. b) Kommt es gleichwohl zum Bürgerkrieg, so ist der nunmehr entstehende Zustand der prinzipiellen Friedlosigkeit von niemandem angestrebt. Das i n Frage gestellte System versucht so lange wie möglich, das als Polizeiaktion auszugeben, was i n der Tat bereits offener Bürgerkrieg ist. Die andere Partei hingegen w i l l so rasch wie möglich den Eintritt des „normalen" Zustandes erklären, sei es partiell (in den von ihr beherrschten Gebieten), sei es zur Gänze. Dieser Versuch, den Bürgerkrieg so rasch wie möglich zu verdecken, findet bisweilen Unterstützung durch das Völkerrecht und anderes Recht zwischen den Staaten, das vordringlich an „normalen" Zuständen (ζ. B. wegen „Arbeitsplatzsicherung" oder wegen „Kapitalverwertung") interessiert ist und demgemäß an rascher Anerkennung des politischen „Erfolges" 2 2 . Für die Theorie des Bürgerkrieges sieht das B i l d anders aus: Das angegriffene System muß jetzt Mittel einsetzen, die eben doch nicht mehr „normale" sind. Es kann sogar zu großen Feldschlachten kommen wie i m konfessionellen Bürgerkrieg Frankreichs, wie i m englischen Bürgerkrieg oder i m amerikanischen des 19. Jahrhunderts. E i n „neuer" Sieger aber kann nicht immer sofort zur Normalität übergehen, auch wenn er deren E i n t r i t t sogleich erklärt. Er hat nämlich aus dem früheren Regime bzw. aus dem Bürgerkrieg eine „Erbschaft", die für das neue System nicht normal sein kann. Demgemäß muß nun m i t „Übergangsvorschriften" gearbeitet werden, wie man derartige Ausnahme21

Regime, die sich u n d die W e l t für besonders harmlos halten, kennen nichts zwischen solchen „Störungen" u n d dem äußeren Krieg. Falls das M i l i tär für „Inneres" keinerlei Kompetenz hat, besteht hinsichtlich des Bürgerkrieges ein Vakuum: Entweder findet er gar nicht erst statt, siegt der A n greifer kampflos (keine Verluste, n u r Unterwerfung), oder er n i m m t die wildesten Formen an. Der Vogel Strauß sieht das i m Sand. 22 F ü r die völkerrechtliche Seite der Theorie des Bürgerkrieges liegt i n solchen Fragestellungen sehr ergiebiges Material. Für die neueste Zeit wäre zu vermuten, daß die D i a l e k t i k zwischen Weltwirtschaft u n d Weltbürgerkrieg dem noch nationalen Bürgerkrieg eine eigenartige Position zuweist. 9*

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regelungen i n neuerer Zeit zu nennen pflegt, als ob solche „Übergänge" keine Ausnahmen mehr wären, sondern die Regel. I n dürrer Sprache von Theorie läßt sich der Unterschied zwischen Normalzustand und Bürgerkrieg damit kennzeichnen, daß sich mit dem Übergang von dem einen Zustand i n den anderen die Relationen von Mittel und Zweck ruckartig verschieben. Da i m Normalzustand die Beziehungen zwischen den Menschen (als Bürgern) „domestiziert" sein sollen und da dies, jedenfalls i m „Rechtsstaat", auch für die staatliche Gewalt gelten soll, ist einerseits der Katalog der Ziele festgelegt und sind andererseits die Mittel begrenzt, m i t denen die zugelassenen Ziele verfolgt werden dürfen. I m Bürgerkrieg besteht just dieser Zustand nicht. Hier werden die Eingrenzungen und Beschränkungen der Ausübung von Macht aufgehoben; von der einen Seite, indem sie als nicht „legitim" negiert werden, von der anderen, indem gesagt wird, der Ausnahmezustand rechtfertige ungewöhnliche (nicht-normale) Mittel, weil ansonsten die normale Lage nicht wieder herzustellen sei. Diese dialektisch verknüpfte Verkürzung der Zweck-Mittel-Relation kann, wie viele Erfahrungen zeigen, zum gegenseitigen Umbringen kurzerhand (manu proprio) führen, nämlich wenn die Auseinandersetzung zur direkten Negation der Existenzberechtigung des je Anderen führt. 2. Man sollte ohne Vorbehalt anerkennen, daß diese sehr grobe „idealtypische" Skizzierung des fundamentalen Unterschiedes der beiden Zustände die häufig verschwimmenden Übergänge zwischen ihnen nicht ins B i l d bekommt. Fragen wie diejenigen: wann es noch keinen Bürgerkrieg gebe, oder: wann es i h n bereits gebe, lassen sich häufig nur sehr schwer, bisweilen wohl überhaupt nicht klar beantworten. Hier kann es „Schwebezustände" geben, i n denen verschiedene Entwicklungen tatsächlich noch möglich sind. Sowohl für die „Staatslehre" als auch für die „Theorie des Bürgerkrieges" gilt, daß gerade i m Hinblick auf solche Situationen das Ausfransen der maßgeblichen Begriffe i n Kauf genommen werden muß, nur sollte man sich dessen bewußt sein. Aber dies wäre eine sozusagen naturgegebene Schwierigkeit für die Theorie. Eine andere Schwierigkeit macht ihr noch erheblich mehr zu schaffen, nämlich jene, die sich daraus ergibt, daß auch der Kern der hier entscheidenden politischen Begriffe aufgeweicht werden kann. I n einem solchen Falle würde es schon von der Handhabung der Begriffe her schwer fallen, die beiden Zustände voneinander zu unterscheiden. Das geschieht vornehmlich dann, wenn zumindest eine der beiden Bürgerkriegsparteien die Verpönung der Gewaltanwendung zum Kernbestand ihres Dogmas rechnet. I n diesem Falle muß die Anwendung nicht „normaler" Gewalt in „normale" Prozeduren gefaßt werden.

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Das gilt weniger für „Ausnahmegerichte" des angegriffenen Systems als vielmehr für „Revolutionstribunale" der neuen Legitimität. Die Niederringung des „Anderen" vollzieht sich dann nicht mittels Anwendung offener Gewalt, sondern i m Wege justizförmiger Verfahren. Nun w i r d nicht mehr i m Namen (des einen) Gottes getötet, sondern i m A u f trag (inner-)weltlicher Gerechtigkeit. Dem Einwand, diese Form von Justiz erfülle nicht die Voraussetzungen normaler Justiz, w i r d m i t dem Hinweis darauf geantwortet, daß volle Gerechtigkeit erst nach der Sicherung des neuen Zustandes möglich sei und daß man deshalb bis dahin zwischen „Gesetz" und „Maßnahme" unterscheiden müsse 23 . Gleichwohl kann die Übernahme „normaler" politischer Mittel i n Bürgerkriegssituationen die Unterscheidung der beiden Ur-Zustände erschweren. Noch weniger w i r d man bestreiten können, daß die Verdeckung offener Gewalt durch die Anwendung eines justizförmigen Simulacrums vom schlechten Gewissen zu entlasten vermag, oder unhöflicher formuliert: daß sie auf diesem Wege ein gutes Gewissen erhält. Hier könnten weitere Forschungen wichtige Ergebnisse einbringen. 3. Der Unterschied zwischen Normalzustand und Bürgerkrieg kann vollends verschwinden, wenn es zur Herrschaft der puren Positivität der Legalität kommt, d. h. wenn die Kenntnis der eigenen Legitimität und somit der eigenen Identität verloren geht: Das Bestehende besteht nur, indem es besteht. Zu dieser Positivität der vermeintlichen Sekurität gesellt sich öfters grenzenlose Beliebigkeit i m Hinblick auf die für das System lebenswichtige Unterscheidung von Freund und Feind. Folgerichtig kann es jetzt nur die „Nur-Normalität" geben. Soll es keine konkrete Legitimität mehr geben, weil man diese nicht mehr abgrenzen möchte gegenüber dem „Anderen", so gilt nur die Legalität. I m Schwebezustand der Legitimität, i m Un-Entschlossenen, mag das noch angehen. Aber wenn der nicht „Ausgeschlossene" legal an die Macht kommt, zeigt sich erst richtig, was legal so alles möglich ist. Vor allem kann nun das Phänomen des Bürgerkrieges legal negiert werden, kann m i t h i n angeordnet werden, daß es nur noch „Maßnahmen zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung" geben darf. Zum „Wörterbuch des Unmenschen" gehört es, daß dort Gewalt nicht mehr Gewalt genannt werden darf. Aber man muß auch bemerken, daß Politik der Beliebigkeit dem Unmenschen für dieses sein Wörterbuch viele Worthülsen angedient hat, nämlich als man die Rhetoren hochkommen ließ 2 4 . 23 Dies ist besonders deutlich gesagt bei: M . J. A . N. C. Condor cet, Sur le sens du mot révolutionnaire (1793), Oeuvres complètes, Braunschweig 1801, t. 18, S. 3 ff. Siehe auch oben S. 83. 24 Hier sei auf die wichtige Studie des Münchener Germanisten Werner Betz, Verändert Sprache die Welt? Semantik, P o l i t i k u n d Manipulation, Zürich 1977, hingewiesen.

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Es ist leicht erkennbar, daß man damit den Bürgerkrieg begrifflich negieren kann, wie das i n Deutschland der Fall war. Eine solche Begrifflichkeit macht es so schwierig, überzeugend darzutun, daß i n Deutschland nach 1933 die seltsamste A r t von Bürgerkrieg stattgefunden hat, die Europa bis dahin erlebt hatte. Damit ist weniger die anfängliche „legale Ausschaltung" politischer „Feinde" gemeint als vielmehr die Ausrottung von Mitbürgern lediglich aufgrund ihres So-Seins, was ja noch weniger ist als der dünnste Verdacht. Denn dieses verfehlte So-Sein ist evident und läßt sich durch Paragraphen i n Gesetzen und Durchführungsverordnungen eindeutig definieren. Da es i m Sinne des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, wie es heute gilt, vor dem Erfolg des Nationalsozialismus i m Jahre 1933 keinen richtigen Verfassungsfeind gab, weil die Mehrheit der Politiker und der Staatsrechtslehrer damals keinen unabänderbaren Kern der Verfassung anerkennen wollte, mußten nach dem 30. Januar 1933 die legale Revolution und, gegebenenfalls, der legale Bürgerkrieg möglich sein 25 . Jetzt durfte eine veritable Perversion des bisherigen Verhältnisses von Normalzustand und Bürgerkrieg stattfinden: Eine bestimmte Gruppe kommt nach den Regeln des bisherigen Systems legal an die Macht und beginnt — stets i m Rahmen dieser A r t von Legalität — die Revolution. Nun mußte die Negation folgerichtig den Ausdruck des Positiven erhalten; allerdings auch i n dem Sinne, daß für viele Bürger die Fortsetzung bzw. die Verschärfung des Bürgerkrieges i m Gewand des Normalen auftrat. 4. Sollte mit diesen Bemerkungen gezeigt werden, mit welchen Schwierigkeiten eine „Phänomenologie" des Bürgerkrieges i m Hinblick auf die Begrifflichkeit zu rechnen hat und wie man Ansätze finden könnte, diese Schwierigkeiten zu überwinden, so sind jetzt einige Ausführungen bezüglich einer „Verhaltenslehre" für den Krieg der Bürger untereinander zu machen. Bereits vorhin wurde erwähnt, daß sich alle herkömmlichen Verhaltenslehren („Tugendlehren") für den Bürger am Normalzustand orientieren. A n i h m werden alle Tugenden und alle Untugenden des Bürgers geprägt. Geht es gut, so haben sich diese Lehren bewährt, d. h. es t r i t t kein Bürgerkrieg ein, was immer an Änderungen i m politischen System vor sich gegangen sein mag: es waren dies friedliche, d. h. konsentierte Veränderungen, bis h i n zu solchen des Systems selbst („Systemwan25

I m Hinblick auf die literarischen Gemälde v o m B e r l i n der Zwanziger Jahre sei hier eine Äußerung v o n Francis Bacon zitiert: " . . . I saw the B e r l i n of 1927 and 1928 (also lange v o r nennenswerten Erfolgen der Nazis, R. S.) where there was a wide open city, w h i c h was, i n a way, very, very violent." (Interviews, S. 81.)

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del"). Ein solches politisches Leben zu führen, ist gewiß ein Ideal, das allseits angestrebt w i r d oder doch angestrebt werden sollte, der große Pan würde dazu auf der Flöte spielen. Doch die Verhältnisse sind nicht so; jedenfalls sind sie i n Europa nicht immer so gewesen. Kommt es doch zum Bürgerkrieg, so ist den eben erwähnten Lehren von den Tugenden des Bürgers die Basis entzogen 26 . Wie noch zu zeigen sein wird, kann ein Festhalten an den „normalen" Tugendlehren die Situation i m Bürgerkrieg noch verschärfen, sie werden zu seinem Überbau. a) Wenn zwei sich ausschließende Legitimitätsvorstellungen i m offenen Streit stehen, so kann das Fortführen der bisherigen Tugendlehren ein Ende des Bürgerkrieges für lange Zeit hinausschieben: Für das angegriffene System ist der Angreifer ein „Störer", der m i t den angemessenen Mitteln bekämpft werden muß. Da sich die Störung mit „normalen" Mitteln nur selten beseitigen läßt, müssen die Mittel verschärft werden. I m gleichen Maße w i r d das bestehende System für den Angreifer sowie für die Un-Entschiedenen immer ungerechter, seine Legitimitätsbasis immer schwächer. I n einem solchen Falle besteht die klare und einfache Weisung an den Bürger darin, ihn zu verpflichten, sich an die „gerechte Sache" zu halten und sich dafür einzusetzen. Damit aber werden alle Bürger verpflichtet, i n diesem Bürgerkrieg Partei zu ergreifen. Jetzt findet, so zu sagen, die Mobilmachung aller Bürger statt. Dies ist ein Vorgang, an welchem innenpolitisch militant Veranlagte („Die Uniform i m Bürger") stets ihren Gefallen finden. Ein solches Partei-Ergreifen i m Bürgerkrieg bedeutet für den Bürger etwas ganz anderes, als friedfertig i m „normalen" System zu leben. U m als „normaler" Bürger i m politischen Normalzustand zu leben, bedarf es nicht einer ständigen Partei-Ergreifung für das System. Der Bürger ist i m System des occidentalen Rationalismus nicht gezwungen, i n ständiger verfassungspolitischer Ekstase zu leben. Solange er das bestehende System nicht feind-selig i n Frage stellt, so lange läßt es ihn i n Ruhe. Der Bürger kann also über das Ausmaß seiner politischen Aktivitäten selbst entscheiden. Etwas anderes gilt nur für die „Leiter" und für die „Monteure" des Systems. Von ihnen w i r d aktive Verfassungstreue verlangt (solange das System überleben will). Nur m i t Hilfe dieser „Arbeitsteilung" ist jene Entlastung von Politik möglich, die genügend Chancen 26 Die bedeutsamste Erörterung dieses Themas ist, w i e w o h l auf den englischen Bürgerkrieg des 17. Jhs. begrenzt, das oben zit. Buch v o n Irene Coltman. Es ist w o h l k e i n Zufall, daß dieses Buch trotz deutlicher Hinweise (z.B. i n Der Staat 4 ([1965], S. 222 ff., später v o n Arnold Gehlen) nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Jeder vernünftige deutsche Verlagslektor, der

I. Coltmans Bemerkungen über die " intellectual?" liest, muß zusammen-

zucken,

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für andere humane Hervorbringungen beläßt. Schließlich beruht es nicht auf Zufall, daß i n Bürgerkriegssituationen die Qualität kultureller Leistungen erheblich zu sinken pflegt und daß allenfalls Anti-BürgerkriegsKunst Bestand hat. Ist jedoch die Bürgerkriegssituation eingetreten (aus welchem Grunde auch immer), so führt der Ruf, der Bürger müsse sich nun offen und aktiv zur „gerechten Sache" bekennen, zu einer fundamentalen Spaltung zwischen den Bürgern. Das Fatale des Bürgerkrieges liegt ja gerade darin, daß die bisherige Legitimation des politischen Systems i n relevanter Weise bestritten wird. Eben dies ist geeignet, viele Bürger in ihrem Urteil, wo denn nun die gerechte Sache sei, zu verunsichern — die Rhetoren haben ihnen den Handlungshalt weggeredet. W i r erwähnen in diesem Zusammenhang nur ganz kurz, daß der Zerfall des Vertrauens oder des Glaubens i n die bisherige Legitimität zur Reifung von Bürgerkriegssituationen gehört und daß Angreifer diesen Reifungsprozeß fördern, u m die eigenen Chancen vergrößern zu können. Gibt es i m Ideellen keine Klarheit darüber, welche der i m Bürgerkrieg streitenden Parteien dem bisher politisch nicht aktiven Bürger als die einzig gerechte zu empfehlen sei, so liegt es nahe, vom „Ideellen", das nunmehr versagt hat, zum Argument des „Nützlichen" überzugehen; also dem Bürger jene Partei zu empfehlen, die vermutlich obsiegen und dann wieder eine eindeutige Legitimität anbieten wird. Doch sogar die „Nützlichkeit" ist hier ungewiß — es hat schon böse Rückschläge i n Bürgerkriegen gegeben, und sei es nur, weil fremde Mächte eingegriffen haben. (Was meistens noch schwerer richtig vorherzusehen ist.) Freilich kann man den peinlichen Weg zum „Nützlichen" vermeiden, indem man dem Bürger empfiehlt, er möge nach gehöriger Anstrengung seines staatsbürgerlichen Gewissens für sich selbst entscheiden, was die richtige Sache sei, und er möge, notfalls, bereit sein, m i t gutem Gewissen für die gute Sache unterzugehen, es bleibe i h m doch immer noch die persönliche Ehre. Abgesehen davon, daß der letzte Hinweis nichts einbringt, wenn niemand mehr derlei Haltung zu respektieren gewillt ist (das kann vom jeweiligen Ende des Bürgerkrieges bzw. der obsiegenden Partei abhängen), so ist es doch fraglich, ob man diese Empfehlung allen Bürgern zumuten kann — die professionellen Ratgeber dieser A r t waren für sich selbst nicht immer bereit, das Risiko solchen Rates einzugehen 27 . 27 V o n den wichtigen zeitgenössischen Autoren, die I. Coltman erwähnt, sind vier Werke neu aufgelegt worden: Advice to a Son. Precepts of L o r d Burghley, Sir Walter Raleigh, and Francis Osborne (dieser hier relevant), ed. by L. B. W r i g h t , Ithaca Ν . Y. 1962; Thomas White , The Grounds of Obedience and Government, Nachdruck der 2. Auflage, London 1655, London 1968; sowie Marçhamont Neçdham, The Case of the Commonwealth of England, Stated,

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Man sollte deshalb dem anderen Rat für schwierige Situationen i m Bürgerkrieg, dem Rat der Nützlichkeit, nicht so ohne weiteres platten Utilitarismus nachsagen oder gar frevelhaften Zynismus. Zunächst schon deshalb nicht, weil der Sieg der neuen politischen Idee, der neuen Legitimation, solchen Utilitarismus geistig zu überlagern vermag, falls der neue Grundwert nur schwer und hoch genug ist. Der Kampfruf, wonach stets die gute Sache siegen werde, nimmt diesem Utilitarismus zumindest das Platte. b) Die beiden eben skizzierten Linien möglicher „Tugendlehren für den Bürgerkrieg" stellen, genau besehen, eine Verlängerung der normalen Tugendlehren i n die Zeit des Bürgerkrieges dar. Da sie gemäß der Bürgerkriegssituation nur ein Entweder-Oder i n der Parteinahme ausrufen können, haben sie folgende Wirkung: Abgesehen von der relativ sicheren Option für den mutmaßlichen Sieger des Bürgerkrieges bedeuten die anderen Empfehlungen für die Tugend i m Bürgerkrieg ein hohes persönliches Risiko. Man sollte daher den Preis offenlegen: gegebenenfalls den Tod (sei es während, sei es nachher), jedenfalls schlimmste Verfolgungen und Nachteile. Wer diese Tugendlehren für den Bürgerkrieg empfiehlt, muß das deutlich sagen. Der Ratspender w i r k t u m so überzeugender, je vorbehaltsloser er erklärt, er für seine Person werde sich unter allen Umständen an diesen Rat halten. W i l l man diese Konsequenzen vermeiden, so bleibt wohl nur der Ratschlag, sich der Gewalt i m Bürgerkrieg ohne Selbstopferung zu beugen, also auch ohne moralische Selbstopferung, d.h. nur insoweit jeweils „mitzumachen", als es minimalster Anstand zwischen den Bürgern eines Staates noch duldet. Allerdings setzt dieser Rat voraus, daß nicht auch noch die Standards „minimalsten Anstandes" zwischen Bürgern i m Bürgerkrieg zersetzt worden sind 2 8 . Offensichtlich w i r d mit diesem elastischen Rat der Vorteil der vorhin erwähnten Geradlinigkeit „normaler" Tugendlehren preisgegeben. Die ed. b y Ph. A . Knachel, Charlottesville/Va., 1969. E i n Nachdruck v o n Anthony Aschams "Confusions and Revolutions of Governments", erstmals London 1649, ist 1975 i n New Y o r k veranstaltet worden. 28 Z u den großartigsten Partien v o n I. Coltmans zitiertem W e r k gehört die Auseinandersetzung m i t Anthony Ascham. Gleichwohl muß auch diese A u t o r i n Zweifel lassen. Wenn sie S. 24 schreibt: " T h e paradoxical corollary of Ascham's quietism was collaboration", so läßt sich dies nicht ganz i n E i n k l a n g m i t der folgenden Stelle bringen (S. 25): "There is a point w h i c h Ascham reached w h e n there is no longer victory or defeat b u t there is only a choice between pain and the absence of pain." M a n w i r d also deutlicher unterscheiden müssen zwischen der persönlichen „Kollaboration" Aschams, der als Gesandter des neuen Regimes nach M a d r i d gegangen w a r (und dort v o n royalistischen Emigranten umgebracht wurde), u n d der „Passivität". Der Ausdruck „Kollaboration" ist w o h l schon zu stark (bürgerkriegs-)politisch besetzt, als daß er wissenschaftlich noch genug trennscharf wäre. :

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unterschiedlichsten Situationen i m Chaos des Bürgerkrieges verlangen für ein Urteil darüber eine überaus subtile Kasuistik. Diese ihrerseits kann ihre Schranken, d.h. einigermaßen festen Boden für ein Urteil, allenfalls an der schlichten Glaubwürdigkeit finden. Überdies bleibt auch hier offen, ob der spätere Sieger sich auf eine derartige Kasuistik einlassen w i r d 2 9 . Das w i r d von seiner Rigorosität abhängen — das NichtAktiv-Mitmachen kann bereits als „konterrevolutionär" oder, falls die Konterrevolution letztlich siegt, als „revolutionär" betrachtet bzw. bestraft werden. Gleichwohl w i l l es scheinen, als sei eine Tugendlehre für den Bürger, die sich den Umständen des Bürgerkrieges anpaßt, der am wenigsten unfaire Ratschlag. Eine solche Tugendlehre würde es wohl auch erlauben, das Urteil den möglichen Entwicklungen von Bürgerkriegen, vor allem bezüglich der Radikalität, ihrzufolge also der Brutalität und der Inhumanität anzupassen. Hier würde sich die Bildung von „Fall-Gruppen" anbieten. Demgemäß wären die Maßstäbe für das Urteil über das Verhalten i m Bürgerkrieg zu verfeinern (etwa so: „bis dahin konnte man aktiv mitmachen, war man gutgläubig, bis dahin konnten neue Mittel eingesetzt werden, von da an aber wurde" . . . usw.). c) Andererseits würde eine solche bürgerkriegsspezifische Verhaltenslehre dem Bürger angeben können, was die spezifischen Untugenden i m Bürgerkrieg sind. Bei zunehmender Radikalisierung, also wenn allmählich jedes Mittel recht ist, w i r d der Engagierte „reiner", weil die „Untugenden" als solche verschwinden. Alles w i r d Tugend, wenn das Ziel nur radikal genug verfolgt wird. Hierbei ergeben sich Abstufungen, weil die Untugenden i n dem Maße schwinden, wie sich der Engagierte für das End-Ziel einsetzt: Der Bürgerkrieg als moralische Desinfizierungs-Station. Aber: Falls der kleine Aktivist sich am Gut des rechtlos gewordenen „Feindes" bereichert, w i r d er, möglicherweise, bestraft — Disziplin muß auch unter diesen Umständen sein. Weist hingegen die Führung den Führern solches Gut zu, so ist das Erhaltung des revolutionären bzw. konter-revolutionären Elans, ein Beitrag zum Endsieg (bzw. zum Ende des Sieges). Auch daran läßt sich erkennen, was die „normalen" Tugendlehren i m Bürgerkrieg zu bewerkstelligen vermögen.

29 Z w e i auch literarisch berühmt gewordene Rechtfertigungen aus früheren Bürgerkriegen lassen die Eigenarten solcher Kasuistik besonders deutlich hervortreten. Das eine ist Guilleaume du Vair, Traité de la Constance et Consolation ès Calamitez publiques, éd. p. Flach et Funck-Brentano, Paris 1915. Der andere berühmte Text: Benjamin Constant, Mémoires sur les Cent-Jours, préface, notes et commentaires par O. Pozzo d i Borgo, Paris 1961. Constant rechtfertigte sein Verhalten während der 100 Tage Napoleons.

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Eine spezifische Tugendlehre für den Bürgerkrieg hingegen vermag eher anzugeben, was spezifische Versuchungen i m Bürgerkrieg für die menschliche Tugend sind. Sie zielt weniger darauf ab, inwieweit man den Zwängen des Bürgerkrieges weichen dürfe, als vielmehr darauf, welche Gelegenheiten, wie sie sich eben nur i m Bürgerkrieg ergeben, nicht wahrgenommen werden sollen. Die Lehren für die Tugend wollen festlegen, welche Chancen der Mensch nicht wahrnehmen dürfe. (Daß er Chancen wahrnehmen w i l l bzw. muß, gehört zu seiner Natur, die Tugendlehre richtet sich gegen die „Auswüchse" der Natur.) U m die Sprache der Juristen anzuwenden: Ungerechtfertigte Bereicherung i n normalen Zeiten ist etwas anderes als ungerechtfertigte Bereicherung i m Bürgerkrieg; guter Glauben beim Erwerb von Eigentum ist ebenfalls anders beschaffen, von der Konkretisierung eines so elastischen juristischen Begriffs wie „sittenwidrig" ganz zu schweigen. Die Versuchung i m Bürgerkrieg liegt wohl hauptsächlich darin, daß hier die Zahl der Wehrlosen, der Verlierer, der Hilflosen sehr viel größer ist als i n normalen Zeiten, aber auch das Ausmaß der Wehrlosigkeit 3 0 . Wenn das Wort „Ausbeutung" einen moralischen Sinn haben soll, so muß man feststellen, daß ζ. B. die Ausbeutung des Arbeiters i m Frühkapitalismus bzw. i m Staatskapitalismus weniger schlimm ist als die Ausbeutung des Verfolgten, des Verlierers und des Wehrlosen i m Bürgerkrieg. Während die normale Tugendlehre diesen Sachverhalt sogar noch (ungewollt) rechtfertigt, vermag ihn die Tugendlehre für das Verhalten i m Bürgerkrieg erst richtig aufzudecken — man kann wirklich verstehen, weshalb i n bürgerkriegsschwangeren Zeiten die stramme Gesinnung noch gestrafft und weshalb die Theorie des Bürgerkrieges denunziert werden muß (und sei es nur aus Angst vor Kommendem). V. Bevor w i r uns i n weiteren Überlegungen dieser A r t mangels empirischer Absicherung verlieren, wollen w i r abbrechen und den letzten Teil unserer Überlegungen vorstellen. Es handelt sich u m Hinweise darauf, wie künftige Forschungen angesetzt werden können. Dabei gehen w i r von dem vorhin gemachten Vorschlag aus, den Zeitraum für das empirische Material auf die europäische Neuzeit zu begrenzen. Allerdings ist 30 Hier möge ein einziges Beispiel aus alten Zeiten genügen: Während des Aufstandes der Liga i n Paris (ab 1588) haben hohe Juristen wertvolle Handschriften u n d Bücher jener Kollegen v o n den Pariser Machthabern zu Schleuderpreisen gekauft, die Paris verlassen hatten, deshalb als „ligafeindlich" galten u n d deren Vermögen wegen Steuerrückständen konfisziert worden waren. (Vgl. R. Schnur, Die französischen Juristen i m konfessionellen B ü r gerkrieg des 16. Jahrhunderts. E i n Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, 1962, S. 48 f.)

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i m Hinblick auf zeitgenössische Befangenheit einerseits und mögliche Wandlungen großen Stils i n Europa andererseits gegenüber Vorgängen wie der Revolution i n Rußland 1917 und dem NS-Regime große Vorsicht bei Verallgemeinerungen geboten. 1. Legt man verschiedene einschlägige Vorgänge wie konfessioneller Bürgerkrieg i n Frankreich (16. Jh.), Bürgerkrieg i n England (17. Jh.), amerikanische Revolution und französische Revolution (18. Jh.) zugrunde, so w i r d man auch bei der Bildung von Fall-Gruppen und erst recht bei einer überwölbenden „Typologie" von Bürgerkriegen überaus behutsam vorzugehen haben. Diese Warnung gilt freilich nicht für das Herausdestillieren von Gemeinsamkeiten aus mehreren revolutionären Vorgängen; denn dies bedeutet noch nicht „Theoriebildung". Dieser Vorgang nämlich kann i m Rohzustand, d.h. ohne Reflexion ablaufen. Die Mahnung zur Vorsicht gilt vielmehr für die eigentliche TheorieBildung. Wenn schon die Staatslehre des „modernen Staates" nicht ohne ein beachtliches Maß an Abstraktion auszukommen vermag, so w i r d sich eine Theorie des modernen Bürgerkriegs noch weniger auf wirklich gemeinsame Phänomene abstützen können. Aus diesem Grunde ist sie noch mehr als die „Allgemeine Staatslehre" aufs „Spekulieren" angewiesen. Gleichwohl w i r d man mit sehr lose angesetzten Hypothesen beginnen dürfen, weil sonst der Theorie-Ansatz kaum von der Stelle zu bringen ist, d. h. er i m bloßen Postulieren hängenbleibt. Allerdings muß man gerade i m Hinblick auf die Lagen des Bürgerkrieges stets bereit sein, die Hypothesen, welche zunehmend verdichtet werden müssen, gegebenenfalls sofort abzuändern. Angesichts der Schwierigkeiten, die dieser Erkenntnisgegenstand bietet, ist es wichtiger, vorschnell Singularitäten anzuerkennen, als daß man voreilig zu Verallgemeinerungen übergeht. Was sich bei solcher Vorsicht an allgemeinen Einsichten i n die Eigenart des Bürgerkrieges dennoch gewinnen läßt, dürfte viel sein. 2. Sicher dürfte schon jetzt sein, daß den zu erforschenden Bürgerkriegen ein Aspekt gemeinsam ist: Es handelt sich dabei u m einen Ablauf, der als solcher irgendein Ende findet. I m Gegensatz aber zu den früher erwähnten (und abgelehnten) reinen Funktions-Analysen soll hier daran festgehalten werden, daß während dieses Ablaufs ein Zustand besteht, der sich grundsätzlich vom Normalzustand unterscheidet. Zieht man die Einsicht i n diese Andersartigkeit des Bürgerkrieges nach vorne, so kann man sich auf die Beobachtung und Analyse des Ablaufs (später: seiner Theoretisierung) konzentrieren. So entsteht zwar nicht die Vorstellung von einem stets einheitlichen Ablauf des Geschehens. Wohl aber könnte sich das ergeben, was Arnold Gehlen eine Wissenschaft vom Zugzwang nannte.

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a) Aus eben diesem Grunde interessiert hier i n erster Linie nicht die Erforschung der Ursachen von Bürgerkriegen. Diese Forschung, die übrigens doch schwieriger ist, als man gemeinhin vermutet, verfolgt auch einen pragmatischen Zweck: nämlich herauszufinden, was man t u n müßte (bzw. hätte t u n müssen), u m derlei Ereignisse zu vermeiden. Diesem (freilich wichtigen) Punkt allein gilt die Aufmerksamkeit der Theorie des Bürgerkrieges gerade nicht. Doch soll erneut betont werden, daß gründliche Analysen der Ursachen von Bürgerkriegen auch i n unserem Zusammenhang von erheblichem Wert sein können. Dadurch kann der Ablauf eines Bürgerkrieges besser erklärt und somit eher für die Theorie des Bürgerkrieges fruchtbar gemacht werden. b) Sodann interessiert die weitere Entwicklung der Auseinandersetzung i m Bürgerkrieg, und zwar auf den beiden Seiten. Hier w i r d das Studium der Mittel des Angreifens ebenso bedeutsam wie dasjenige der Mittel, mit denen sich die Verteidiger des Überkommenen zur Wehr setzen. Vor allem sollten hier die Methoden interessieren, mit denen der i n diesem Kampf jeweils Überlegene zu Werke geht, anders gesagt: mit denen „verfolgt" wird. Vermutlich w i r d man dabei ein Magazin an Methoden entdecken, dessen Inhalt und Ausmaß nur Schrecken hervorrufen können, und dies auch deshalb, weil allseits deutlich würde, daß weder die Sowjets noch die Nazis sämtliche Terrorinstrumente für den Bürgerkrieg erfunden haben 31 . Auch w i r d i n diesem Zusammenhang das Verhalten der jeweiligen „System-Umwelt" belangvoll, also die Außenpolitik, ζ. B. Sachverhalte wie Einmischung oder Nicht-Einmischung, Verfolgung, Asyl, Asyl-Verweigerung, Boykott der „Verfolger", Realisierung der „Rechte von Menschen" usw. c) Ferner wäre hier zu fragen, auf welche Weise sich, auf jeder Seite des Bürgerkrieges, die Entwicklung mit zunehmender Dynamik des Fortschreitens radikalisiert hat. Dazu würde das Schicksal der gegenüber solcher Radikalisierung Gemäßigten, also der Moderierten, gehören, denen es jetzt „zu weit geht". Weiterhin wäre zu untersuchen, inwieweit sich gegenüber dem schärfer werdenden Bürgerkrieg eine „dritte K r a f t " bildet, die angesichts der Schrecken des Bürgerkrieges für dessen rasches Ende eintritt, „Kompromisse" verlangt und einen entsprechenden Verzicht auf die totale Rechthaberei. Hier wäre auch die Frage bedeutsam, mit welcher Argumentation diese „Neutralen" (vae neutris) versuchten, den Boden für die Beendigung des Bürgerkrieges zu finden, etwa die Argumentation, mit der i n den französischen Konfessionskriegen die „Politiques" gearbeitet haben 32 . Vielleicht würde sich dann er31

Vertreibung m i t geringstem Gepäck, Sippenhaft älteren Datums. 32 Vgl. Schnur, Die französischen Juristen, S. 14 ff.

u. ä. sind

erheblich

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weisen, ob der 30jährige konfessionelle Bürgerkrieg i m Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation auch bezüglich der A r t und Weise seiner Beendigung — cuius regio, eius religio, itio in partes etc. — einen (wenngleich hochinteressanten) Sonderfall darstellt. d) I m Hinblick auf die Beendigung des Bürgerkrieges ergeben sich vermutlich zwei Hauptrichtungen für die Forschung: 1. Wie verhält sich der Sieger zu den bisherigen Ereignissen (sowohl zum Bisherigen vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges, sprich nun offiziell: vor der Revolution, als auch zum Bürgerkrieg selbst), und 2. wie verhält sich das eventuell obsiegende „alte" System, sei es, daß es ohne Umwege obsiegt, sei es über eine Zwischenstufe, wie ζ. B. Napoleons 100 Tage, welche die „Restauration" unterbrachen. I n vieler Hinsicht ist diese Unterscheidung von Formen der Beendigung des Bürgerkrieges wichtig; denn wahrscheinlich w i r d der „neue" Sieger auf das Geschehen anders reagieren als der „alte" (Remigration). Man kann diese Problemstellung auch i n dürrer juristischer Sprache zu beschreiben versuchen: Wie w i r d unter den nunmehr geltenden Grundsätzen die Vor-Vergangenheit und wie w i r d die Vergangenheit des Bürgerkrieges bewältigt? Wie steht es mit der „Reinigung" des öffentlichen Dienstes 33 ? Wie steht es mit der Wiedergutmachung 34 ? Hier kann auch die Erforschung des Phänomens der „Spätsieger" sicherlich viel Interessantes zutage fördern. Nun also, nach der Beendigung des Bürgerkrieges, w i r d vor allem das Problem der (politischen) Amnestie von erheblichem, sogar von entscheidendem Belang. Gerade an dieser Rechtsfigur zeigt sich die fundamentale Bedeutung der Unterscheidung zwischen normalem Zustand und Bürgerkrieg. Während dort die Amnestie i m Rahmen des normalen Strafrechts eher eine Angelegenheit für Jubiläen innerhalb des System-Verträglichen oder, wo das System enger ist: des System-Konformen ist, stellt sich die Amnestie nach Bürgerkriegen als ein folgenreiches politisches Grundphänomen dar, nämlich als Verzicht auf die letzte Rechthaberei 36 . Hier werden auch eventuelle Ausnahmen davon interessant. Auch w i r d i m Hinblick auf die außenpolitischen Auswir33 s. z.B. den Sammelband: Les Epurations administratives — X I X e et X X e siècles, Genf 1977, vor allem die Einleitung v o n Claude Goyard. 34 Dazu oben S. 99 ff. 35 V o n makabrer Delikatesse ist die Amnestie, die das NS-Regime nach dem Ausbruch der legalen Revolution erließ, wonach alte Kämpfer wegen ihrer Straftaten v o r dem 21.3.1933 i n den Genuß der Amnestie kommen, während zu gleicher Zeit für die „Feinde" das Verbot rückwirkender Strafgesetze aufgehoben w i r d . — Hier also hat, gemäß dem oben angedeuteten Charakter dieses Regimes, eine Amnestie den legalen Bürgerkrieg eröffnet — eine wahrlich gekonnte Perversion. — s. bereits die Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung v o n Straffreiheit, v o m 21.3.1933 (RGBl. I S. 134), später noch die Gesetze über die Gewährung v o n Straffreiheit, v o m 7.8.1934 (RGBl. I S. 769) u n d v o m 23.4.1936 (RGBl. I S. 378).

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kungen eines Bürgerkrieges die Frage belangvoll, wie sich die beteiligten ausländischen Mächte zum Ende des Bürgerkrieges stellen, ζ. B. bezüglich früher unterstützter Verlierer (etwa die Behandlung der amerikanischen Loyalists i n England 36 ). Unter diesem Aspekt ergeben sich auch für das Internationale Privatrecht sehr schwierige Fragen. e) Schließlich ist als letzter Fragenkomplex die Problematik zu erwähnen, die sich aus der Positivität des neuen normalen Zustandes ergibt. Es ist zu vermuten, daß die i n Betracht kommenden Bürgerkriege sämtlich an die Frage gerieten, wann dies alles ein Ende haben sollte, also wann die sich ständig selbst überholende Radikalität aufzuhalten sei. Das wohl treffendste Beispiel für diese Problematik bietet der Verlauf der französischen Revolution, dem schließlich Napoleon Einhalt gebot mit dem berühmten Wort: „La Révolution est finie." Es lassen sich gewiß noch weitere interessante Beispiele aufzeigen, und i n diesen Zusammenhang wohl gehört auch das einschlägige Geschehen i n Deutschland bald nach 1933, nämlich i m Hinblick auf die sog. RöhmRevolte und auf die baldige straffe Positivierung des neuen „völkischen" Rechts 37 . Auf die rasche Positivierung des „neuen" Rechts kann aus mehreren Gründen gedrängt werden. Nach einem Bürgerkrieg m i t „Patt-Situation", wo ein „Dritter" dem Treiben ein Ende setzte, kann das die bewußte Abkehr von den bisherigen Rechts-Werten sein, weil man i n deren Streit eine wesentliche Ursache des Bürgerkrieges sieht 3 8 . Wo eine der beiden Parteien eindeutig obsiegt, w i r d es das Bestreben des Siegers sein, die „Grundwerte-Diskussion" sogleich zu beenden, damit der Sieg nicht von dorther wieder i n Frage gestellt w i r d 3 9 . Was für die Negation der besiegten Legitimität ein nützliches Instrument war, soll gerade deshalb nun nicht mehr gefährlich werden können, jetzt geht es u m die Positivierung der Position. I n jedem Fall dürfte die Hypothese nützlich sein, wonach man das nach Bürgerkriegen „neue" Recht (bzw. das „neue" Rechtsdenken) auf seine Tendenz zum rigorosen Rechtspositivismus h i n untersuchen sollte. 3. Dies alles kann hier allenfalls angedeutet, geschweige denn für aussichtsreiche Forschungen genau genug präzisiert werden. U m etwas so Anspruchsvolles ging es hier auch nicht. Angesichts der Tatsache, 36

Dazu Esmond Wright (ed.), A T u g of Loyalties: A n g l o - A m e r i c a n Relations 1765 - 85, London 1975. 37 Es darf wegen der Einzelheiten verwiesen werden auf eine eigene Studie: „ L a Révolution est finie". Z u einem Dilemma des positiven Rechts am Beispiel des bürgerlichen Rechtspositivismus, oben S. 79 ff. 38 Dazu Schnur, Individualismus u n d Absolutismus, S. 37 ff. 39 Es sei hier n u r am Rande vermerkt, daß sich die geltende Rechtsordnung des Marxismus-Leninismus durch einen enorm hohen Grad an Positivität auszeichnet.

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daß schon früher und erst recht gegenwärtig die Problematik des Bürgerkrieges als eines politischen Phänomens weithin ausgeblendet wird, sollte und konnte es nur darum gehen, einige Akkorde anzuschlagen, Akkorde eines Themas, für welches das passende wissenschaftliche Instrument noch nicht geschaffen worden ist. VI. Man w i r d deshalb vermuten dürfen, daß es i m strengen Sinne keine vollständige „Theorie des Bürgerkrieges" geben w i r d — so wie es eine „Allgemeine Staatslehre" gibt —, selbst wenn man diese Theorie auf einen überschaubaren und somit wissenschaftlich gut nachprüfbaren Zeitraum beschränken wollte. Auch die Bildung von abgerundeten Theorien hat ihre politischen Voraussetzungen. Die Zeit des offenen Bürgerkrieges oder jene, die m i t einem solchen schwanger geht, bietet sie gewiß nicht. Man w i r d vorläufig über eine systematisierende Sammlung von Einsichten i n die Eigenart von Bürgerkriegen kaum hinauskommen. Schon dies wäre sehr viel. Die Sprache der Theorie („Staatslehre") verfügt eben nicht über das Vokabular, u m alles Wesentliche über den Bürgerkrieg ausdrücken zu können, geschweige denn, es zu erklären. Hier bleibt nicht nur ein Rest, sondern noch sehr viel zu sagen oder i n anderer humaner Weise zum Ausdruck zu bringen. Auch das sollte eine Theorie des Bürgerkrieges zu akzeptieren bereit sein. Sollte man allerdings m i t Nachdruck fragen, weshalb man i n Europa heute gerade dem Thema des Bürgerkrieges m i t letzter Energie aus dem Wege gehen w i l l , so dürfte die A n t w o r t lauten: Dieses Ausweichen könnte eine Folge des Fortschritts, genauer: des Fortschreitens des B ü r gerkrieges h i n zum WeZibürgerkrieg sein, wo es nicht einmal mehr Asyle, sondern allenfalls Fluchtpunkte gibt. W i r möchten hier A r n o l d Gehlen zitieren, der bei Juristen und bei Politologen keinen Rat fand: „Faulkner sagte i n seiner Nobelpreisrede: ,Unsere heutige Tragödie besteht i n einer allgemeinen und weltverbreiteten physischen Angst, einer so lange genährten, daß w i r sie gerade noch ertragen. There are no longer problems of spirit / Der große Maler dazu, so fährt Gehlen fort, ist Francis Bacon, und es ist nicht mehr Sache des Künstlers, zu der moralischen Entscheidung zu verhelfen, die Faulkner dann bezeichnete: daß das niedrigste aller Dinge die Furcht ist. There are no longer problems of spirit — was hatten w i r bisher eigentlich für wesentlich gehalten 40 ?" W i r halten die A n t w o r t auf Gehlens Frage: eben die Pro40 Arnold Gehlen, Der Maler Francis Bacon, M e r k u r , Nr. 176, 1962, S. 927 ff. (hier S. 933). Dort auf S. 932 auch der Satz: „ . . . die Erfindungskraft . . . kreist sehr direkt u m Schinderhütten u n d Schlachthäuser".

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duktion von bürgerkriegsreifen Situationen, für zu nahe liegend und wollen die Frage daher offen lassen. Doch möchten w i r darauf hinweisen, daß die äußerste Situation des Bürgerkrieges, also wenn es nicht mehr, wie bei Hannah Arendt, u m Kain und Abel geht, noch besser als durch den bildhaften Ausdruck der Angst durch das Wort geschildert werden kann. Francis Bacon, den der berühmte Schrei aus Sergej Eisensteins F i l m „Panzerkreuzer Potemkin" so tief und so folgenreich beeindruckt hatte (das Vor-Bild), sagte zwar, das vermutlich beste B i l d vom menschlichen Schrei habe (inmitten des 30jährigen Krieges) Poussin gemalt, i m „massacre des innocents". Wenn es jedoch i m Bürgerkrieg keine Unschuldigen geben sollte, so muß eine realistische Theorie des Bürgerkrieges vom B i l d zum Wort zurückkehren 4 1 . Bei dem Amerikaner Ambrose Bierce findet man folgende Aufzeichnung, die sich auf das Bürgerkriegs-Jahr 1861 bezieht 42 . „Haben Sie geschossen?" flüsterte der Sergeant. „Ja" „Worauf?" „Auf ein Pferd. Es stand auf dem Felsen dort drüben — schön weit draußen. Sie sehen, es ist nicht mehr da. Es stürzte über die Klippe ab." „Hören Sie zu, Druse, es hat keinen Zweck, aus der Sache ein Geheimnis zu machen. Ich befehle Ihnen, Meldung zu machen. Hat jemand auf dem Pferd gesessen?" „Ja" „Und wer?" „Mein Vater". Der Sergeant erhob sich und ging fort. Er sagte nur: „Großer Gott!" — Carter Druse rief nicht nach ihm, er schrie auch nicht.

41 Diese Wendung k a n n gestellt werden i n den Zusammenhang, den Klaus Hartmann behandelt: Denken, W o r t u n d Bild, i n : H e l m u t Brunner et al. (Hrsg.), W o r t u n d Bild, München 1979, S. 13 ff. Vielleicht ist es k e i n Zufall, daß dort der Dichter Ezra Pound erwähnt w i r d , den n u r die Irrenanstalt v o r dem Todesurteil bewahrte. 42 Zit. nach Ambrose Bierce, Die Spottdrossel, Zürich o. J., S. 79/80. Bierce, geb. 1842, verschwand nach 1912 spurlos i m mexikanischen Bürgerkrieg.

10 Schnur

Orte des ersten Druckes dieser Studien 1. Der Staat 2 (1963), S. 297 ff. 2. Zeitschrift für P o l i t i k N. F. 8 (1961), S. 11 ff. 3. T r a d i t i o n u n d Fortschritt i m Recht. Festschrift gewidmet der Tübinger Juristenfakultät zu i h r e m 500jährigen Bestehen 1977 v o n ihren gegenwärtigen Mitgliedern u n d i n deren A u f t r a g herausgegeben v o n Joachim Gernhuber, Tübingen 1977 (J. C. B. Mohr), S. 91 ff. 4. Standorte i m Zeitstrom. Festschrift für A r n o l d Gehlen zum 70. Geburtstag am 29. Januar 1974, hrsg. v. Ernst Forsthoff u n d Reinhard Hörstel, F r a n k f u r t 1974, S. 331 ff. 5. Der Staat 19 (1980), S. 161 ff. 6. Zwischenbilanz: Der Staat 19 (1980), S. 341 ff. Die Aufsätze sind geringfügig überarbeitet worden.