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German Pages 320 Year 2006
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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Christopher Balme, Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 50
Marion Linhardt
Residenzstadt und Metropole Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858-1918)
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-66050-2 ISBN-10: 3-484-66050-3
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag G m b H , München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Uwe Steffen, München Druck: Laupp & Göbel G m b H , Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren
Dank
Die vorliegende Arbeit entstand als Habilitationsschrift im Fach Theaterwissenschaft an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth. Den Gutachtern Christian Begemann (Bayreuth), Wolfgang Greisenegger (Wien) und Ruth-Ε. Mohrmann (Münster/Westf.) danke ich herzlich für ihre vielfältige Unterstützung während des Verfahrens. Gefördert wurde das Habilitationsprojekt durch Stipendien der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Hochschul- und Wissenschaftsprogramms der Bayerischen Staatsregierung, und in diesem Zusammenhang gilt mein Dank den Frauenbeauftragten der Universität Bayreuth, Uta Lindgren und Ulrike Bertram, für ihr Engagement. Auf sehr individuelle Weise haben Johann Hüttner (Wien), Manuela Jahrmärker (München) und Silvia Neumann-Schmid (Bayreuth) das Projekt begleitet. Ihnen danke ich ebenso wie Gunhild Oberzaucher-Schüller und Alfred Oberzaucher, die mir eine stete Brücke nach Wien waren und sind. Zahlreiche Personen und Institutionen haben die umfangreichen Recherchen erleichtert. Dazu gehören die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Wiener Bibliotheken und Sammlungen, vor allem Alfred Martinek (Österreichische Nationalbibliothek), Othmar Barnert, Haris Balic (Österreichisches Theatermuseum), Julia Danielczyk und Hermann Böhm (Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek), sowie das Personal der Universitätsbibliothek Bayreuth, insbesondere Otmar Fehn, Detlev Gassong, Heidrun Kurzaj und Jörg Schultheis. Unschätzbar war das Entgegenkommen von Thomas Schulz (Wien), der mir Materialien aus seiner Sammlung autographer Briefe zur Verfügung gestellt hat. Den Herausgebern von »Theatron« danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe, Uwe Steffen (München) nicht nur für seine Geduld und Genauigkeit, sondern auch für die vergnügliche Kooperation bei der Erstellung des Satzes. Der größte Dank geht an meine Familie und hier vor allem an meine Eltern, die mir die Publikation der Arbeit ermöglicht haben. Gewidmet ist das Buch Thomas, der es in jedem Augenblick befördert hat. Marion Linhardt, Frühjahr 2006
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Inhalt
Einleitung
Theater in den Wiener Bezirken. Zu einer theatralischen Topographie
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Wien 1914
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>Stadterweiterungstheater
Operetten< Inspirationen und Abgrenzungen I.Repertoire, Werkkonzepte und Ideologie Haupt- und Nebenschauplätze Exkurs: Repertoire und Topographie Inspirationen und Abgrenzungen II: Jacques Offenbach und Johann Strauß Die Operette der wirtschaftlichen Depression und des Antiliberalismus im >deutschen< Wien Prater-Theater und städtische Theater Theaterneugründungen: >Volkstheater< und >Operette< Flauten und Eroberungen Widerstreitende Motivationen Die Operette der modernen Millionenstadt Die Jahrhundertwende: Operette und Variete - Operette im Varieti
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Kunst und Kommerz, Serienaufführungen und Gastspiele Ein Dutzend Operettenbühnen Exkurs I: Eine zeitgenössische Betrachtung Wiener Nachtleben I: Das Kabarett Wiener Nachtleben IL Das Variete Exkurs II: Die >goldene< und die >silberne< Operette, oder: Die Modernisierung des Unterhaltungstheaters Wien 1914
Wien um 1900: Differenzierungen des Städtischen
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Die Operette und die >Wiener Moderne
Operette< präsentierte, ist ein kulturhistorisches Phänomen, von dessen Strukturen, Funktionsweisen und sozialer Bedeutung nur mehr vage Vorstellungen existieren. Diese Vorstellungen speisen sich aus der oberflächlichen Kenntnis einiger weniger Stücke, die sich - vielleicht tatsächlich aufgrund überdurchschnittlicher musikalischer oder dramatischer Qualitäten - über die Jahrzehnte hinwegretten konnten, die aber weder repräsentativ für das Gros der historischen Produktion sind noch den theatralischen und gesellschaftlichen Raum erfahrbar werden lassen, in den sie eingebettet waren. Die Fledermaus, Der Zigeunerbaron, Die lustige Witwe werden heute teils als Werke des Musiktheaters rezipiert, die im Theaterbetrieb den Sprung an die Seite der >seriösen< Oper geschafft haben, 2 teils mit einem milden Lächeln der >aufrührerischen< Kunst Offenbachs gegenübergestellt, dessen CEuvre schon von verschiedenen Zeitgenossen als Höhepunkt und einzig vertretbare Form der Operette gewertet wurde. Diese Sichtweisen deuten nur auf zwei von vielen Abgrenzungen und Vorurteilen hin, die häufig bereits mit den Werken entstanden sind und bis in die Gegenwart auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung bestimmen, dabei aber den Blick auf die historischen Gegebenheiten verstellen. Das spezifische Erscheinungsbild des Unterhaltungstheaters in Wien, das nicht zuletzt durch die Entwicklung der Stadt und ihre zentrale Stellung in der Monarchie geprägt wurde, erschließt sich nicht in den erwähnten Vergleichen mit Offenbach, dessen Theater ein Theater für Paris war und in den Wiener Adaptionen mit dem Umfeld auch 1
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1858 wird in der Regel als Datum der >Einführung< der Operette in Wien aufgefaßt, da in diesem Jahr hier mit Jacques Offenbachs Einakter Hochzeit bei Laternenschein eine erste Operette neuen Stils herauskam. 1858 war jedoch vor allem ein stadtgeschichtlich bedeutsames Datum: Der Abbruch der Basteien um die Innere Stadt begann. Die Frage, inwieweit es als sinnvoll gelten kann, zwei Stadt- bzw. politikgeschichtliche Zäsuren, nämlich 1858 und 1918, als Eckpunkte einer Untersuchung zum musikalischen Unterhaltungstheater zu wählen, berührt unmittelbar die zentralen Thesen der vorliegenden Analyse. Eine statistische Erfassung des Operettenrepertoires an sämtlichen deutschsprachigen Theatern der Jahre 1890-1918 hat ergeben, daß ebenjene Stücke, die in dieser Zeit von Hoftheatern in den Spielplan aufgenommen wurden, den eng umrissenen Kanon von Operetten bilden, die sich bis in die Gegenwart behaupten konnten. 1
seine Funktion veränderte, nicht in Gegenüberstellungen eines vermeintlich >ursprünglichen< Wiener Volkstheaters mit der frivoleren Operette, auch nicht in Qualitätsurteilen über Musik oder Textbücher oder einem Lamento über den Niedergang der Operette nach dem Tod von Johann Strauß und Franz von Suppe. Es gilt, solchen verkürzten Sichtweisen das gesamte historische Panorama von Werken, Institutionen und gesellschaftlichen Konstellationen entgegenzusetzen, das Aufschluß Uber das konkrete Funktionieren des Unterhaltungstheaters und seiner Rezeption gibt. Die Operette rückte in Wien in den 1860er Jahren verstärkt ins Zentrum des Interesses. Die Tatsache, daß die Bezeichnung >Operette< bereits im 18. Jahrhundert, etwa bei Wolfgang Amadeus Mozart, Anwendung gefunden hatte, verführte immer wieder dazu, eine Gattungsgeschichte der Operette als Begriffsgeschichte anzulegen, die die Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen den in wechselnden Epochen so bezeichneten Werken zu beschreiben versucht.3 Demgegenüber erblickte man im historischen Nebeneinander von Operette und Posse mit Gesang oder von Operette und komischer Oper die Notwendigkeit, eindeutige strukturelle Unterschiede zwischen den benachbartem Gattungen zu fixieren, um sie voneinander abgrenzen zu können. Beide Vorgehensweisen sind für die Beschreibung des Wiener Unterhaltungstheaters nicht von Nutzen; sie bergen vielmehr die Gefahr einer Modellbildung in sich, im Rahmen derer ein fiktiver Prototyp der >Operette< oder >Wiener Operette< herauspräpariert wird, dessen Merkmale sich kaum an einer Handvoll konkreter Werke auffinden lassen. Das musikalische Unterhaltungstheater in Wien erweist sich bei näherer Betrachtung als vielschichtiges Geflecht, dem ein an wenigen Werken entwickeltes, auf Qualitätsurteilen beruhendes oder aber aufgrund von Gattungsnormen gesetztes Raster nicht gerecht zu werden vermag. Eine Auseinandersetzung mit dem Repertoire in seiner ganzen Breite, wie es an mehr als einem Dutzend Theatern gepflegt und von unterschiedlichsten Publikumsschichten rezipiert wurde, läßt deutlich werden, daß es >die Wiener Operette< als Gattung weder im Gegenüber zur >Wiener Posse< noch zur >Operette< des 18. Jahrhunderts gegeben hat. Die Operette in Wien ist Teil einer weitgefächerten Musiktheaterkultur, deren quantitativ wichtigstes Element sie über Jahrzehnte gewesen sein mag, ohne dabei jedoch selbst eine genau umrissene 3
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Hinweise zur Struktur der >Operetten< in Wien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt Otto Brusatti, Vorläufer und Wurzeln für die Wiener Operette im 19. Jahrhundert, in: Jean-Marie Valentin (Hrsg.), Das österreichische Volkstheater im europäischen Zusammenhang 1830-1880, Bern 1988 (Contacts Theatrica 5), S. 155-170. Vgl. auch Dagmar Zumbusch-Beisteiner, Frühe Formen des Wiener musikalischen Unterhaltungstheaters, in: Austriaca 23 (1998), Nr. 46 (L'Operette viennoise), S . 9 - 2 3 . Die Geschichte der >Gattung< Operette wurde bereits von Zeitgenossen immer wieder thematisiert, nicht zuletzt, um das Ideal einer komischen Oper zu propagieren. Ein Neudruck entsprechender Texte liegt vor in »Warum es der Operette so schlecht geht«. Ideologische Debatten um das musikalische Unterhaltungstheater (1880-1916), Wien 2001 (= Maske und Kothurn 45 |2001J, Heft 1/2).
Identität zu besitzen. Ihr Erscheinungsbild und ihre Funktion definieren sich weniger über eine musik- oder theaterhistorische Entwicklungslinie, die die Operette als Folgeprodukt der Wiener Tanzmusik oder der vielbeschworenen Alt-Wiener Volkskomödie 4 erscheinen läßt, sondern über die institutions- und rezeptionsgeschichtlichen Rahmenbedingungen, die durch die besonderen politischen, wirtschaftlichen und bevölkerungsstrukturellen Gegebenheiten in der Millionenstadt Wien ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert wurden. Die Verstärkung der Industrieproduktion und die Explosion der Bevölkerung durch Zuwanderung aus allen Gebieten der Monarchie, die Veränderung des sozialen Status des Handwerks durch Industrialisierung und Zuwachs des Unternehmertums, die politischen und sozialen Auswirkungen der liberalen, später der konservativen Regierung und ihrer jeweiligen Auseinandersetzung mit den Interessen der Dynastie, die Eingemeindung der Vorstädte in Verbindung mit dem Bau der Ringstraße, die spätere Angliederung der teils noch stark ländlich, teils durch Fabriken und Mietkasernen geprägten Vororte schufen neue städtische Strukturen, von denen das komplexe Gebilde >Unterhaltungstheater< zutiefst geprägt war. Diese Verwurzelung geht weit Uber das hinaus, was in Thesen zum »sozialen Gehalt< der Operette häufig formuliert wurde: Eine Betrachtungsweise, die die soziale Relevanz und das ideologische Potential des Unterhaltungstheaters herausarbeiten will, kann sich nicht in Beobachtungen zu satirischen oder sentimentalen, provokativen oder reaktionären Tendenzen einiger vermeintlich repräsentativer Werke erschöpfen, 5 sondern muß die Details der betreffenden historischen Theaterlandschaft in ihrer Bedingtheit durch die Stadtlandschaft und die Bevölkerungslandschaft begreifen. 6 4
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Eine solche Genealogie versucht auch Hartwin Gromes in seiner noch immer vielzitierten Dissertation Vom. Alt-Wiener Volkstück zur Wiener Operette. Beiträge zur Wandlung einer bürgerlichen theatralischen Unterhaltungsform im 19. Jahrhundert (München 1967). Bereits der Titel deutet auf die Problematik der Arbeit hin: »Volksstück« und »Operette« lassen sich nicht als »eine bürgerliche theatralische Unterhaltungsform« fassen, die sich gewandelt hätte; einem Wandel unterlagen vielmehr die Bedürfnisstrukturen, die ganz unterschiedliche Ausprägungen von Unterhaltungstheater bedingt haben. Aus dieser Perspektive wäre das Verhältnis zwischen Volksstück und Operette als zweier Theaterformen neu zu bestimmen, die die erste bzw. die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierten. Dabei kann es allerdings nicht darum gehen, Unterschiede zwischen dem Volksstück und der Operette festzuschreiben. So bei Thorsten Stegemann, »Wenn man das Leben durchs Champagnerglas betrachtet...« Textbücher der Wiener Operette zwischen Provokation und Reaktion, Frankfurt a. M. 1995. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang auch das Vorgehen Robert Dresslers in seiner Arbeit Die Figuren der Wiener Operette als Spiegel ihrer Gesellschaft (Diss, masch., Wien 1986); Dresslers Versuch der Verallgemeinerung bzw. Typisierung führt so weit, daß die getroffenen Beobachtungen kaum mehr aussagekräftig sind. Thesenartig weist auch Johann Hüttner - allerdings mit anderem Erkenntnisinteresse - in einer Untersuchung zum Volkstheater auf die Bedeutung der »stadtgeographischen Lage« einzelner Theater hin; J. Hüttner, Volkstheater als Geschäft:
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Aufgrund der Verschränkung des Unterhaltungstheaters mit der städtischen Kultur Wiens scheint es sinnvoll, markante Stationen der Stadtentwicklung - die mit der Entwicklung der Gesamtmonarchie untrennbar verbunden war - als Eckpunkte einer Untersuchung zu wählen, also jenen Weg der traditionellen Operettengeschichtsschreibung zu verlassen, der eine Genealogie der >Wiener Operette< von ihren vermeintlichen Vorläufern innerhalb und außerhalb Wiens über die scheinbar idealtypische Ausprägung bei Johann Strauß bis zum >Niedergang< des Genres nach 1900 entwirft. Der Abbruch der Basteien, die bis 1858 die Wiener Vorstädte von der Inneren Stadt getrennt hatten, sowie die wirtschaftlichen und sozialen Ziele der liberalen Gemeindeverwaltung und Regierung veränderten zwischen 1860 und 1870 den Charakter Wiens erheblich; die Bedürfnisse des allmählich entstehenden neuen städtischen Publikums bildeten die Grundlage für die Entfaltung einer ganz eigenen Unterhaltungskultur, die weder mit der damaligen Situation im Paris Offenbachs zu vergleichen ist noch mit den Wiener Verhältnissen der Biedermeierjahre, in denen die Vorstadtbühnen ebenfalls eine zentrale Rolle im Theater- und Musikleben der Stadt gespielt hatten. Die Stadt Wien konstituierte sich als Menschenansammlung, als Gemeinwesen, als strukturierter Lebens-, Arbeits- und Vergnügungsraum um 1860 neu, und insofern Wien die Bedingungen und Bedürfnisse für eine Form des Unterhaltungstheaters schuf, die meist die Bezeichnung Operette trägt, kann diese Form zu Recht >Wiener Operette< heißen. Die in Wien entstehenden Operetten waren in solchem Maß von den Erfordernissen des dortigen Theaterbetriebs, ja den Erfordernissen der Stadt geprägt, daß sie auch bei Einstudierungen in der österreichischungarischen Provinz >Wiener< Operetten blieben; die zentrale Stellung, die Wien auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet zunächst in der Gesamtmonarchie und nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich im Jahr 1867 zumindest noch in Cisleithanien einnahm, besaß es auch und besonders im Hinblick auf die Operettenproduktion. Das Wiener Unterhaltungstheater und in seinem Rahmen die Operette war, wie etwa das Melodrame in Paris um und nach 1800, eine Massenkunst, eine Kunst, die in Massen für Massen produziert wurde.7 Aus dieser Tatsache leiTheaterbetrieb und Publikum im 19. Jahrhundert, in: J e a n - M a r i e Valentin (Hrsg.), Volk - Volksstück - Volkstheater im deutschen Sprachraum des 18.-20. Jahrhunderts, B e r n / F r a n k f u r t a. M . / N e w York 1986 (Jb. f ü r Internationale G e r m a n i s t i k , Reihe A 15), S. 127-149. Das Verständnis von M a s s e n k u n s t , wie es i m folgenden skizziert wird, entspricht nicht j e n e m , das W o l f g a n g M a d e r t h a n e r und Lutz M u s n e r in überzeugender Weise f ü r die »Kultur der Vorstadt« entwickelt haben: »die entstehende M a s s e n k u l t u r fist] als das organisierte Vergnügen der Entwurzelten u n d Mobilisierten zu verstehen, die in pauperisierten Urbanen Umwelten ihr L e b e n unter den Bedingungen von harter industriell-gewerblicher Erwerbsarbeit, tristen Wohnverhältnissen und schlechter E r n ä h r u n g neu z u s a m m e n s e t z e n mußten. Die f r ü h e M a s s e n k u l t u r - das w a r die Kultur jener, die über kein symbolisches Kapital im bürgerlichen Sinne verfügten u n d sich symbolische Praxis- u n d U m g a n g s f o r m e n mit ihrer Welt erst selbst schaf4
ten sich verschiedene charakteristische Eigenschaften der Operette ab. Massenkunst bedeutete auf der Seite der Produktion: Die Operetten wurden meist in kurzer Zeit verfaßt und konnten daher weit stärker als die Oper oder das avancierte Drama auf aktuelle Moden, auf politische, gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse reagieren;8 zugleich wurde die Kurzlebigkeit der Stücke als Selbstverständlichkeit hingenommen, denn das Verlangen nach Novitäten prägte jahrzehntelang das Rezeptions verhalten der Wiener, und gerade die Betonung aktueller Bezüge ließ die Stücke weitenteils rasch unmodern werden. Dem großen Bedarf an Novitäten entsprach eine Arbeitsteilung auf Seiten der Produzenten: Die Mehrzahl der Operetten entstand in Wien als Gemeinschaftswerk zweier Librettisten, von denen der eine für das Handlungsgerüst und die Anlage der Szenen, der andere für die Gesangstexte zuständig war, des Komponisten, der häufig lediglich das musikalische Grundmaterial lieferte, und gegebenenfalls eines weiteren, meist anonym bleibenden Mitarbeiters, der für die Orchestration sorgte. Eine zentrale Rolle hinsichtlich der Konturierung von Operetten nahm der Darsteller ein. Er verlieh durch seine Persönlichkeit, seine Begabungen wie seine Forderungen den entstehenden Stücken ein bestimmtes Gepräge und wurde so gewissermaßen zum Mitproduzenten auch des schriftlich fixierten >WerkesProletariat< zuordnen. So brach sich beispielsweise die Kriegsbegeisterung, die in Wien bereits vor dem Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau im Sommer 1914 auch in Künstlerkreisen geherrscht hatte, neben der unmittelbar und reichlich erscheinenden literarischen und graphischen Kriegspropaganda (vgl. Hans Weigel / Walter Lukan / Max D. Peyfuss, Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoss ein Franzos. Literarische und graphische Kriegspropaganda in Deutschland und Österreich 1914-1918, Wien 1983) vor allem in entsprechenden Werken des Unterhaltungstheaters Bahn: Das Apollo-Theater und das Raimundtheater brachten kurz nach Kriegsbeginn mit Der Kriegsberichterstatter und Komm deutscher Bruder zwei Zeitbilder mit Musik, das Theater an der Wien spielte nach der Wiedereröffnung der Wiener Bühnen Emmerich Kaimans Gold gab ich für Eisen, eine Kriegsoperette auf der Grundlage von Kaimans Der gute Kamerad (Bürgertheater 1911). Auch das Theater in der Josefstadt, das Carltheater, das Deutsche Volkstheater, die Neue Wiener Bühne, die Bunte Bühne Rideamus, das Budapester Orpheum und die Revuebühne »Femina« setzten vergleichbare Titel auf den Spielplan. Die prominentesten Beispiele f ü r dieses Phänomen waren in Wien bis zum ersten Weltkrieg Josefine Gallmeyer, Marie Geistinger, Alexander Girardi, Hansi Niese und Louis Treumann. 5
Auf der Seite der Rezeption bedeutete Massenkunst: Breiteste Publikumsschichten sollten erreicht werden, kommerzieller Erfolg stand im Vordergrund. Die privat geführten, nicht subventionierten Wiener Theater, also alle Operettentheater, waren darauf angewiesen, dem Geschmack des Publikums entgegenzukommen. Nicht nur auf der musikdramatischen und szenischen, sondern auch auf der politischen und ideologischen Ebene mußten sich die Zuschauer in ihren Bedürfnissen unmittelbar angesprochen fühlen; unbequeme Weitungen des Blickes in ästhetischer oder weltanschaulicher Hinsicht wurden von den Produzenten der Operette nicht angestrebt. Aufgrund ihrer Verbreitung und der engen Bindung an den Geschmack des Publikums gibt die Operette also Aufschluß über Wertvorstellungen und Anschauungen großer Bevölkerungsteile. Durch diese Verklammerung konnte sie jedoch faktisch auch eine im negativen Sinn meinungsbildende Funktion übernehmen: Wurden zum Beispiel latent in der Bevölkerung vorhandene reaktionäre Tendenzen wie Militarismus und Antisemitismus aufgegriffen und in prononcierter Weise, mit eingängiger Musik verbunden, auf der Operettenbühne wiedergegeben, so konnte dies zur endgültigen Etablierung entsprechender Sichtweisen beitragen.10 Die Massenkunst Operette war in Wien weder in ihren Erscheinungen noch in bezug auf ihr Publikum homogen, es läßt sich weder die Operette noch das Operettenpublikum eindeutig definieren; die komplizierte Operettenlandschaft erhielt ihr spezifisches Gepräge durch die städtebaulichen Gegebenheiten und die vorhandene Sozialstruktur. Interesse für Operetten gab es in unterschiedlichen Bevölkerungsschichten, die wiederum unterschiedliche Theater bevorzugten, für die entsprechend unterschiedliche Operetten geschrieben wurden. Die Bedeutung der Operette im Wien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erschließt sich daher nur, wenn sie als komplexes Rezeptionsphänomen aufgefaßt wird. Um das Stadtzentrum Wiens, die Innere Stadt, die bis in die 1850er Jahre von festen Bastionen und großräumigen Exerzierplätzen umgrenzt war, gruppierten sich die 34 Vorstädte, die im Zuge der Eingemeindung (1850) zu größeren vorstädtisehen Einheiten wie Leopoldstadt, Josefstadt, Landstraße, Neubau oder Mariahilf zusammengefaßt wurden. Als zweiter Ring schlossen sich außerhalb des sogenannten Linienwalls die Vororte wie Simmering, Ottakring, Hietzing, Währing oder Döbling an. Innerhalb dieser >Teilstädteenorme Breitenwirkung< zur Vermittlung bereits festgestellter Klischeestrukturen beitrug; in diesem Zusammenhang von einer Kunstgattung des >Gesamtstaatsdenkens< zu sprechen, erscheint nicht gerechtfertigt: waren doch die Darstellungsweisen der >nichtdeutschen< Völker nicht gerade dazu angetan, den Eindruck der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit L···! zu erwecken.« Ch. Glanz, Das Bild Südosteuropas in der Wiener Operette, Diss, masch., Graz 1988, S.55f.; vgl. auch Ch. Glanz, Popularmusik. Ein Brennspiegel für Identität und Gemeinschaft, in: Ö M Z 51 (1996), S. 718-727.
19. Jahrhunderts wie ein Netzwerk über die Stadt und erschien in neugegründeten billigeren Theatern im Prater und an den äußeren Rändern der erweiterten Stadt, in Singspielhallen und Varietes. Die unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen für die Operettenproduktion werden hier ebenso ersichtlich wie das Ausmaß der Operettenrezeption. Von diesen Fixpunkten ausgehend, wäre die Topographie als eine spezifische Perspektive zu entwickeln, die das Nebeneinander und Ineinander verschiedener Aspekte der Unterhaltungskunst wahrnehmbar macht und die Theater mit ihrer jeweiligen Klientel, die unterschiedlichen Ausprägungen von Theater mit Musik und die Funktion der Theaterkritik in ihrer gegenseitigen Bedingtheit aus dem Kontext des städtischen Lebens begreift. 19 Diese topographische Perspektive auf das Operettentheater beruht auf einer Vorstellung von Gleichzeitigkeit und überwindet damit historische und systematische Modellbildungen wie die Aufreihung historischer Entwicklungsschritte der Operette oder die eindeutige Abgrenzung von Gattungen. Die Gattungsdiskussion, die Beschränkung des Werkkanons aufgrund >qualitativem Kriterien und die Heranziehung der Operette zur Charakterisierung bestimmter Befindlichkeiten des Fin de siecle oder der Ringstraßenzeit, geläufige Betrachtungsweisen der Wiener Operette, erweisen sich als den historischen Sachverhalten wenig angemessen. Unter topographischem Blickwinkel erscheint die Operette in erster Linie als Element eines kulturellen Feldes, dessen Eckpunkte mit politischen und gesellschaftlichen Einschnitten und den hierdurch definierten Bedürfnissen zusammenfallen. Die bewußte Konstruktion einer Verbindung zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und Unterhaltungskunst im Sinne einer Widerspiegelung wird überflüssig, sobald die Stadt und ihre Bewohner als Figuranten dieses kulturellen Feldes begriffen werden. Wenn also davon ausgegangen werden kann, daß die Wiener Operette aufgrund der Breite ihrer Rezeption - die detailliert aufzuschlüsseln sein wird in den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg zu den bedeutenden Elementen eines kulturellen Feldes gehört hat, das die Stadt Wien und ihre Bevölkerung umfaßte, dann liegt in der Entfaltung einer theatralischen Topographie zunächst eine Möglichkeit, jenen vagen Thesen Uber die Operette ein Fundament zu verleihen, die vielen kulturhistorischen Untersuchungen als schmükkendes Beiwerk dienen: Die Operette wird immer wieder als beispielhafte Erscheinung für >die Kultur< der Wiener Jahrhundertwende angesprochen, wobei allzu schnell deutlich wird, daß die betreffenden Autoren die Operette, ebenso wie Freuds Psychoanalyse oder Klimts Malerei, lediglich unreflektiert als Etikett einer vermeintlich spezifischen psychosozialen Situation des Fin de siecle benutzen. Die Operette sei Ausdruck konkreter gesellschaftlicher Kräfte, ist zumal in älteren Arbeiten über Wien zu lesen - für eine stich19
Elmar Buck umreißt Ansätze zu einer Theatertopographie am Beispiel Kölns; E. Buck, Der Ort des Theaters, in: Renate Möhrmann (Hrsg.), Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Berlin 1990, S. 187-215. 11
haltige Begründung dieser Behauptung fehlen hingegen die entsprechenden Sachargumente. Edward R. Tannenbaum etwa nennt in seiner umfangreichen Studie 1900. Die Generation vor dem Großen Krieg Kaiser Franz Josephs Weigerung, die Einführung des Telephons zur Kenntnis zu nehmen, in einem Atemzug mit konservativen Kräften in der Operette und stellt die umfassende Behauptung auf: »Die exklusiven höheren Schulen Europas - im Verein mit etlichen Populärromanciers und Operettenlibrettisten - hielten sogenannte ritterliche Wertbegriffe wie Mut, Charme und gute Manieren, Verachtung schnöden Geldverdienens, die Betonung der ästhetischen Dimension des Lebens und ein patriarchalisches Verhalten gegenüber Untergebenen hoch.«20 Diese These wird, soweit sie die Operette betrifft, weder differenziert noch belegt. William M. Johnston widmet der Operette in seiner Untersuchung Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte innerhalb des Großkapitels »Ästhetizismus in Wien« (Unterkapitel »Musiker und Musikkritiker«) den Passus »Walzer und Operette: Frivolität als politische Waffe«, in dem mit wenigen Sätzen unter Berufung auf Strauß' Fledermaus und unter bloßer Aufzählung sechs weiterer Werktitel die zugleich satirische und lokalpatriotische Prägung der »Wiener Operette« konstatiert und auf die Gesellschaft des »Ringstraßen-Wien« bezogen wird, die »an eine Harmonie zwischen den Klassen glauben wollte«.21 Auch Johnston erschien die Erwähnung der Operette also obligat zur Charakterisierung eines kulturellen Klimas, und auch bei ihm bleibt der Hinweis bloßes Plakat.22 Offenbar eignen dem Phänomen >Operette< fixe Bedeutungen, die einerseits bestimmte Konnotationen hervorrufen sollen und der Operette andererseits einen gewissen Symbolcharakter im Hinblick auf das sie umgebende historisch-soziale Milieu verleihen. Tatsächlich jedoch belegt die Gegensätzlichkeit der Deutungen Tannenbaums und Johnstons, die der Operette affirmative bzw. kritisch-subversive Qualitäten zuschreiben, die Fragwürdigkeit der gewählten Ansätze: Entsprechend interpretiert, läßt sich >die Operette< zur Untermauerung vollkommen konträrer Thesen nutzen. Eine Untersuchung, die den behaupteten Zusammenhang von Operette und städtischer Struktur konkretisieren würde, könnte hingegen stichhaltige Belege dafür liefern, ob und inwiefern die Operette tatsächlich 20
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Edward R. Tannenbaum, 1900. Die Generation vor dem. Großen Krieg, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978, S. 53. William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien/Köln/Graz 1974, S. 141. Ähnliches gilt f ü r verschiedene literaturwissenschaftliche Darstellungen; vgl. etwa Karlheinz Rossbacher, Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien, Wien 1992 (Kapitel: »Literatur und Ringstraße«). Claudio Magris, der dem Mythos Habsburg auf der Spur ist, erliegt seinerseits dem Mythos Operette, wie er anhand weniger Werke und zentriert um die >große Persönlichkeit Johann Strauß im Laufe eines knappen Jahrhunderts geformt wurde; die Operette reduziert sich auch bei Magris letztlich auf Die Fledermaus. C. Magris, Der hahshurgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg 1966 (Kapitel V/1: »Finis Austriae. An der schönen blauen Donau«).
als Charakteristikum der Wiener Jahrhundertwende oder der Ringstraßenzeit aufgefaßt werden kann. 23 Die topographische Perspektive auf die Operette Wiens macht sodann sinnfällig, warum die singulare Auseinandersetzung mit >herausragenden< Werken oder >bedeutenden< Komponisten wenig zum Verständnis des Unterhaltungstheaters als komplexem kulturhistorischem Phänomen beiträgt. Aus dem Blickwinkel des ästhetisch und institutionell weitverzweigten Raumes des populären Theaters betrachtet, treten einzelne Operetten und Komponisten, die man dann und wann eines analytischen Blickes für würdig befunden haben mag, aus dem Vordergrund in die Reihe zurück. Die Fledermaus, Der Zigeunerbaron und Die lustige Witwe nebst einem Dutzend weiterer noch heute bekannter Werke gehen einerseits in den Strukturen der Massenproduktion und Massenrezeption unter und werden zu bloßen Elementen eines historischen Spielplans, verlieren also ihren Sonderstatus. Andererseits lassen sie sich unter diesem veränderten Blickwinkel als das beschreiben, was sie neben dem in Text und Musik fixierten und Uberlieferten >Werk< vor allem waren, nämlich kulturelle und städtische Ereignisse, die in Zusammenhang mit vorhandenen Bedürfnissen entstanden. Sie werden nun in ihrer Bedeutung für die Zeitgenossen erfahrbar: Die Fledermaus etwa erscheint dann als eine neue, begierig erwartete Operette von Johann Strauß,24 eine neue Operette des Thea23
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Auch in den wenigen wissenschaftlichen Arbeiten zur Operette bleibt die Frage nach der konkreten kulturhistorischen Funktion der Operette in Wien weitgehend unbeantwortet, während f ü r das Paris der Offenbach-Ära in Siegfried Kracauers Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (Amsterdam 1937; Neuauflage: Frankfurt a. M. 1994) eine Studie vorliegt, die unabhängig von der inzwischen erweiterten bzw. korrigierten Faktenbasis zu Offenbach in ihrer Strukturanalyse nicht überholt ist. Was Wien betrifft, mangelt es gerade jenen Ansätzen, die, meist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, den »sozialpsychologischen Gehalt« (Volker Klotz) der Operette aufsuchen wollen, häufig an entsprechenden theater- und institutionsgeschichtlichen Grundlagen. Einige interessante Aspekte zur identitätsstiftenden Funktion des Unterhaltungstheaters benennt Andräs Batta in seiner Arbeit Träume sind Schäume ... Die Operette in der Donaumonarchie (Budapest 1992), die jedoch nicht durchgehend den Charakter von Wissenschaftlichkeit beanspruchen kann. Dies gilt auch f ü r den Großteil der Beiträge in dem von Adam und Rainer herausgegebenen Kongreßbericht Das Land des Glücks. Die Studie von Camille Crittenden, Johann Strauss and Vienna. Operetta and the Politics of Popular Culture (Cambridge 2000 LCambridge Studies in OperaJ), bringt trotz des vielversprechenden Titels keine weiterführenden Aufschlüsse über die Beziehung der Operette zu Wien; in die sehr kursorische Darstellung bereits vielfältig abgehandelter Sachverhalte haben sich zudem zahlreiche Fehler eingeschlichen. Die »sozialpolitische Dimension« der Operette und ihre Verbindung zu herrschenden Ideologien skizziert Christian Glanz an einem eng umrissenen Materialkomplex in seinem Aufsatz Aspekte des Exotischen in der Wiener Operette am Beispiel der Darstellung Südeuropas (in: Musicologica Austriaca 9 L1989J, S. 75-89), der als Zusammenfassung seiner Dissertation Das Bild Südosteuropas in der Wiener Operette erschienen ist. Zu welch geringem Teil Strauß' Operetten, darunter Die Fledermaus, letztlich seine Werke waren und wie weit die Mitarbeit Richard Genees reichte, hat vor allem Norbert Linke betont, der damit dem Mythos Strauß einige seiner Grundlagen ent13
ters an der Wien als gesellschaftliches Ereignis, eine neue Operette mit Marie Geistinger oder eine Operette, deren Grundstimmung dem vom Börsenkrach 1873 erschütterten Wiener Unternehmer- und Spekulantentum entsprach, zugleich jedoch als Werk, das nur ein Bruchteil der Bevölkerung Wiens in der Uraufführungszeit auf der Bühne erleben konnte, nämlich das Publikum, das dem Theater an der Wien verbunden war und für das die Eintrittspreise dieses Hauses erschwinglich waren. Ein großes anderes Publikum lernte Melodien aus dieser Operette womöglich durch Werkelmänner, in Tanzsälen oder bei Freiluftkonzerten von Militärkapellen kennen; dieses Publikum interessierte sich nicht für die raffinierte französische Vorlage des Textbuchs, sondern für die schmissigen neuen Tänze, die der seit Jahrzehnten als Kapellmeister und Tanzmusikkomponist gefeierte Schani Strauß mit diesem Stück geliefert hatte. Die Fledermaus stellt sich im Rahmen der theatralischen Topographie nicht mehr in erster Linie als Werk dar, das Operndirigenten und operettenbegeisterte Literaturwissenschaftler, ja Sprachwissenschaftler und Mathematiker25 noch am Beginn des 21. Jahrhunderts zu Interpretationen reizt, sondern als Mosaikstein im Gesamtbild des historischen Unterhaltungstheaters; die Fragen, die an dieses Stück gestellt werden können, lassen sich in ähnlicher Weise auch an all jene Werke richten, die heute nicht einmal mehr dem Titel nach bekannt sind, wie zum Beispiel Edward Jakobowskys Brillantenkönigin mit Serpentinentänzen im Stil Lo'ie Fullers, deren spektakuläre Auftritte in den 1890er Jahren in aller Munde waren, oder Rudolf Raimanns Port Arthur, das 1904 Bilder vom ostasiatischen Kriegsschauplatz brachte. Ein völlig neues Licht wirft die topographische Perspektive schließlich auf die Diskussion der musiktheatralen Gattungen, die teils - wie bereits von den Zeitgenossen - als ideologische Diskussion geführt wurde, teils als wissenschaftliche Methode den Weg aus der verwirrenden Vielfalt des musikalischen Unterhaltungstheaters weisen soll. Die ideologisch begründete Debatte um das Operettenrepertoire, in deren Zentrum die Polarisierung von Wiener Volksstück und Operette mit Hilfe von Schlagworten wie »wienerisch versus französisch«, »Volkskunst versus Frivolität«, »Qualität/Seriosität versus Seichtigkeit/Amüsement« stand, setzte bereits mit der Etablierung der Operetten Offenbachs in Wien ein, also in jener Zeit, in der hier die baulichen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Herausbildung einer neuen großstädtischen Unterhaltungskunst geschaffen wurden, nämlich in den 1860er Jahren. Offenbachs erste Operetten waren auf den gleichen Wegen nach Wien gelangt wie viele andere erfolgreiche französische Bühnenstücke. Schon im frühen 19. Jahrhundert hatte man sich in Wien für die in Journalen ausführlich besprochenen Pariser Erfolgsstücke interessiert,
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zieht; vgl. N. Linke, Musik erobert die Welt oder Wie die Wiener Familie Strauß die »Unterhaltungsmusik« revolutionierte, Wien 1987, hier v. a. Kapitel 27. Oswald Panagl/Fritz Schweiger, Die Fledermaus. Die wahre Geschichte einer Operette, Wien/Köln/Weimar 1999.
hatten Pariser Truppen in Wien gastiert und ihr Repertoire vorgestellt, das dann zum Teil an Wiener Bühnen nachgespielt wurde, und ebenso hatten sich Wiener Theaterdirektoren und Agenten Anregungen direkt in Paris geholt;26 im Fall von Offenbachs Operetten waren es Karl Treumann und Johann Nepomuk Nestroy, die sich von einer Adaption für Wien erkleckliche Kassenerfolge versprachen. Bereits kurze Zeit nach der ersten Einstudierung einer Pariser Operette in Wien (Carltheater 1858: Hochzeit bei Laternenschein) räumte Treumann diesem Novum an seinem 1860 mit Unterstützung des Carltheater-Ensembles gegründeten Theater am Franz-Josefs-Kai ein Drittel des Spielplans ein. Damit rückte er von dem Konzept ab, das ihm zur Erlangung einer Theaterbewilligung nützlich erschienen war, nämlich der Pflege des Wiener Volksstücks als Schwerpunkt, und wandte sich einem Genre zu, das sich zwar in bezug auf seine musikdramatische Struktur nicht wesentlich von manchen Wiener Possen der Zeit unterschied, das jedoch aufgrund seiner Herkunft aus Paris und der, wenn auch nicht gänzlich unbekannten, so doch scheinbar neu definierten Bezeichnung >Operette< die Publikumswirksamkeit des Ungewohnten entfaltete. Durch eine Aufführungspraxis, die das erotische Potential ganzer Damenriegen in den Vordergrund stellte, machte die Bühne zusätzlich von sich reden. Als Treumanns Haus nach drei Jahren abbrannte, waren Offenbach und die Operette ein unverzichtbarer Bestandteil der Wiener Theaterszene geworden. Treumanns Spielplanpolitik rief jedoch sogleich Kritiker auf den Plan, die unter nationalistischen Vorzeichen die quasi »französisch infizierte< Operette und das >ursprüngliche< Wiener Volksstück gegeneinander ausspielten.27 Friedrich Kaiser bezeichnete das Theater am Franz-Josefs-Kai im Rückblick auf die wenigen Jahre seines Bestehens als »Grab der Volksmuse« und als »Leichenfackel über demselben«.28 Das Fremdenblatt schrieb am 15. Juli 1862 über Treumanns Repertoire: »Es war wie eine Demonstration für die heimische Kunst gegen die fremdländische, daß das Treumanntheater bei der vorgestrigen Wiedereröffnung der deutschen Vorstellungen nach den vierzig Vorstellungen der französischen Operette in allen Räumen überfüllt war.« Am 4. August jenen Jahres hieß es dann in der gleichen Zeitung: »Der Theaterzettel brachte uns in den letzten Tagen wieder26
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Vgl. hierzu Johann Hüttner, Johann Nestroy im Theaterbetrieb seiner Zeit, in: Maske und Kothurn 23 (1977), S. 233-243; William E. Yates, Theatre in Vienna. A Critical History (1776-1995), Cambridge 1996 (Cambridge Studies in German), S. 114ff.; verschiedene Beiträge in Valentin (Hrsg.), Das österreichische Volkstheater, hier besonders: Walter Obermaier, Der Einfluß des französischen Theaters auf den Spielplan der Wiener Vorstadtbühnen in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Offenbachrezeption Nestroys, S. 133-153. Ein späteres Beispiel für diese Form der Interpretation auch von wissenschaftlicher Seite ist der Beitrag »Die Privattheater« des jungen Franz Hadamowsky in Eduard Castles zweibändiger Geschichte der deutschen Literatur in Österreich-Ungarn im Zeitalter Franz Josephs /., die 1935/37 erschien. Friedrich Kaiser, Unter fünfzehn Theater-Direktoren. Bunte Bilder aus der Wiener Bühnenwelt, Wien 1870, S. 257. 15
holt eine eigenthümliche Ueberraschung. Eine dreiaktige Posse, die den ganzen Abend ausfüllt, ein einziges Gericht gesunder Hausmannskost statt eines Ragouts von drei, selbst vier fremdländischen Produkten an einem Abend das gehört doch gewiß an diesem Theater zu den seltenen Dingen. [...] Hoffentlich bleibt das Treumanntheater nicht bei diesen vereinzelten Versuchen im heißen Sommer stehen und fährt trotz des Geschmacks einer gewissen Sorte von Publikum fort, dem alten Repertoire der Volksposse wenigstens ein bescheidenes Plätzchen zu gönnen.« Dieselben Argumente, die in den 1860er Jahren gegen die Pariser Operette vorgebracht wurden, waren in den 1840er und 1850er Jahren gegen die Stückproduktion der Nestroy-Generation gerichtet worden, die nun, da Wien mit Offenbach konfrontiert war, zur vielgelobten »gesunden Hausmannskost« avancierte. Die Diskussion um die Operette war bald synonym mit einem Klagegesang über die Verdrängung des Volkstheaters. In Wirklichkeit hatte dieses scheinbar fest umrissene Volkstheater, das der Operette gegenübergestellt wurde, im Laufe des 19. Jahrhunderts bereits selbst erhebliche Wandlungen durchlaufen. Die Alt-Wiener Volkskomödie, wie Otto Rommel sie exemplarisch faßt, 29 hatte in den Jahrzehnten vor 1830 ihre typische Ausprägung erhalten; schon gegen Ende der 1830er Jahre war der »Niedergang des Volksstücks< konstatiert worden, hatte der Einfluß des französischen Vaudeville die Untergrabung der Wiener Kultur befürchten lassen. Als die Pariser Operette in Wien Mode wurde, hatte das ursprüngliche Volksstück längst an Bedeutung verloren und diente den Gegnern der Operette nur mehr als Argumentationsgrundlage einer rückwärtsgewandten Ideologie. Die Tatsache, daß das Wiener Volksstück bereits seit Jahrzehnten die Dramenproduktion der Pariser Boulevards in beachtlichem Umfang als Vorbild herangezogen hatte, ließen die entsprechenden Kritiker ohnehin gänzlich unberücksichtigt. 3 " Die schablonenartige Abgrenzung von Volksstück und Operette, die dieser ideologischen Debatte ebenso zugrunde liegt wie späteren wissenschaftlichen Erklärungsmodellen, erweist sich als problematisch. Aus theaterhistorischer und soziologischer Perspektive wurde die >Verdrängung< des Volkstheaters durch die Operette verschiedentlich thematisiert; als wichtigste Ursache für diese Entwicklung wird zumeist die erhebliche Veränderung der Wiener Sozialstruktur im Zuge der großen Zuwanderungsbewegungen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genannt, durch die für das Unterhaltungstheater ein neues Publikum entstand, das keine Bindungen mehr an 29
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Otto Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom barocken WeltTheater bis zum Tode Nestroys, Wien 1952. Detailliert nachvollzogen wird der internationale, insbesondere französische Einfluß auf die Produktion der Wiener Bühnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Susan Doering, Der wienerische Europäer. Johann Nestroy und die Vorlagen seiner Stücke, München 1992 (Literatur aus Bayern und Österreich. Literarhistorische Studien 5); vgl. v. a. den allgemein gehaltenen ersten Teil »Literarische Vorlagen auf den Wiener Theaterbühnen«.
das traditionelle Volksstück und seine Stoffe hatte und zudem aufgrund der Unkenntnis des Wiener Dialekts und seiner spezifischen Bedeutungsnuancen weit stärker von einem Theater angesprochen wurde, in dem Musik, Tanz und optische Sensationen im Vordergrund standen. Dem widerspricht die Tatsache, daß die Operette lange Zeit ein Genre für die wohlhabenden Schichten im Umfeld der Ringstraße blieb. Das Carltheater und das Theater an der Wien, aber auch das Theater am Franz-Josefs-Kai und das Strampfer-Theater betrieben eine Preispolitik, die der überwiegenden Mehrzahl der Zuwanderer einen Theaterbesuch praktisch unmöglich machte.31 Die >Verdrängungsrealistischen< Volksstücks, für das vor allem Ludwig Anzengruber stand.33 Zum Jahrhundertende hin rückte sodann ein wesentlicher Teil der Operettenproduktion wieder von der spielopernhaften Struktur ab,34 31
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Verschiedene Thesen zum Verhältnis von Volkstheater und Operette reißt Jürgen Hein in seinem großangelegten Forschungsbericht an: J. Hein, Das Wiener Volkstheater, Darmstadt 31997, S. 163-166; vgl. auch Silvia Ehalt, Wietier Theater um 1900, in: Hubert Christian Ehalt /Gernot Heiß/Hannes Stekl (Hrsg.), Glücklich ist, wer vergißt...? Das andere Wien um 1900, Wien/Köln/Graz 1986 (Kulturstudien 6), S. 325-342. Barbara Zeisl Schoenberg vertritt die überraschende These, die Funktion des Volkstheaters habe im frühen 20. Jahrhundert das (jüdische) Kabarett übernommen, das mit der Kürze und Knappheit seiner Formen dem Leben in der modernen Stadt besser entsprochen hätte; B. Zeisl Schoenberg, Cabaret: The Twentieth· Century Volkstheater, in: Modern Austrian Literature. Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association 26 (1993), Heft 3/4, S. 45-64. Für ausführliche Erläuterungen zum komplexen Wechselspiel der unterschiedlichen musikdramatischen Gattungen im Wiener Theater vgl. Mathias Spohr, Inwieweit haben Offenbachs Operetten die Wiener Operette aus der Taufe gehoben?, in: Rainer Franke (Hrsg.), Jacques Offenbach und die Schauplätze seines Musiktheaters, Laaber 1999 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater 17), S. 31-67. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die späten Volksstücke Friedrich Kaisers; vgl. hierzu: Jeanne Benay, Volksästhetischer Historismus in der Spätdramatik Friedrich Kaisers, in: Nestroyana 16 (1996), Heft 1/2, S. 52-65. In der Rückschau auf die Tendenz der Operette zur Oper schrieb das Fremdenblatt am 29. April 1888: »Die Wiener Operette war in den letzten Jahren ausnehmend >großartig< geworden, Librettisten und Komponisten wurden Himmelsstürmer; 17
stellte den Schlager in den Mittelpunkt und kehrte somit gewissermaßen zu einer Possendramaturgie zurück. Gleichzeitig ging das Bewußtsein von der Kontinuität zwischen Posse und früher Operette mehr und mehr verloren, so daß die Vielzahl von Theatern, die nach 1900 Operetten spielten beziehungsweise sogar als Operettentheater gegründet wurden, von einer >Identität< und >Tradition< der Operette ausgehen konnten, deren Anfangspunkt für Wien mit Suppe und Strauß gesetzt wurde. Diese Komponisten schienen die Operette in ihrer nunmehr existierenden Form >erfunden< zu haben. Der Prozeß, der in Wien dazu führte, daß gegen 1900 Werke, die man traditionell als Volksstücke angesprochen hatte, in vielen Theatern nahezu vollständig vom Spielplan verschwunden waren, muß als Paradigmenwechsel begriffen werden, der sich nicht durch die Abgrenzung vermeintlich fixierbarer Gattungen, sondern nur unter Berücksichtigung der vielfältigen Erscheinungen des musikalischen Unterhaltungstheaters und der gewandelten Bedürfnisstrukturen innerhalb der städtischen Gesellschaft nachvollziehen läßt. Systematisch ausgerichtete Unterscheidungsversuche etwa zwischen Operette und Posse, wie sie unter anderem Volker Klotz anstellt, konstatieren meist die integrale Funktion der Musik für die Operette und - demgegenüber den Einlagecharakter und damit letztlich die dramaturgische Verzichtbarkeit der Musik in der Posse.35 Beide Formen der Musikbehandlung, Integration und Einlage, waren bis ins 20. Jahrhundert im Unterhaltungstheater verbreitet; sie jedoch per definitionem mit einzelnen Gattungsbezeichnungen zu verknüpfen erscheint aus historischer Perspektive ebensowenig vertretbar wie die These von der grundsätzlich geringeren Funktionalisierung der Musik im Volksstück.36 Das Wiener Repertoire des späten 19. Jahrhunderts liefert
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während die Textdichter die geheimsten Kapitel der Weltgeschichte plünderten und die fernsten Schlupfwinkel der Literatur durchstöberten, rangen die Komponisten nach dem Lorbeer Meyerbeer's und Wagner's, schwelgten in gigantischen Ensembles und Finales und ruinirten mit Herzenslust die Kehlen der OperettenTenore und Operetten-Divas. Die Theater-Direktoren machten gute Miene zum bösen Spiel, mobilisirten ihre Heere bis zum letzten Landsturm-Aufgebot und erwarben sich Heldenruhm in der genialen Führung der Massen, welche die modernen Operettenschlachten schlugen.« Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette, München 1980, darin: »Operette. Musikalisches Lachtheater: Unterschied zur >Posse mit GesangPossen< bezeichnet wurden, obwohl sie sich strukturell von den >Operetten< an anderen Wiener Bühnen womöglich kaum unterschieden haben,38 so liegt dies in der spezifischen Rolle begründet, die diesem Haus im Rahmen der Theaterszene mit ihren Faktoren wie Standort, Publikum, Prestige und Konzession zukam. Am Fürst-Theater im Prater beruhten sowohl der bewußte Verzicht auf >Operet-
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Synergien im szenischen Spiel, Tübingen 2002 (Forum Modernes Theater 30), S. 241-251. Dieses und weitere Beispiele bei Georg Richard Kruse, Anzengruber und seine Komponisten, in: Theaterzeitung der staatlichen Bühnen Münchens 2 (1921), Nr. 88, S. 1-5, hier S. 3. So fällt auf, daß auch das Theater in der Josefstadt über die Jahre hin ein großes Ensemble von Tänzerinnen, Figurantinnen und Balletteleven unterhielt, wie es etwa für die aufwendigen Operetten der Zeit unabdingbar war. - Vgl. hierzu: Marion Linhardt, Tanz und Topographie. Das Verhältnis von >Volkstheater< und >Operette< in neuer Perspektive, in: Nestroyana 25 (2005), Heft 1/2, S. 42-54. 19
ten< in den 1870er Jahren als auch die Einführung von >Operetten< im folgenden Jahrzehnt auf werbestrategischen Erwägungen der jeweiligen Direktoren; Rückschlüsse auf die musikdramatische Struktur der aufgeführten Stücke lassen sich aus den gewählten Bezeichnungen nicht notwendigerweise ziehen. Die eigentliche Funktion von Gattungsbezeichnungen und die Position der Operette innerhalb des Wiener Unterhaltungstheaters ergeben sich also erst vor dem Hintergrund der theatralischen Topographie der Stadt.
III Das Konzept einer Theatertopographie geht nicht - wie es die geläufige Verwendung des Begriffs Topographie suggerieren könnte - von einem Prinzip der Statik, sondern von der Dynamik und Prozeßhaftigkeit des untersuchten Gegenstands aus und verfolgt dabei die Beschreibung von Funktionsmechanismen innerhalb eines mehrdimensionalen Raumes als Gegenentwurf zur Konstruktion von Linearitäten. Die Wiener Theater als konkrete Orte der Operettenszene erscheinen auf den ersten Blick als bloße Koordinaten eines Stadtplans, bei genauem Lesen in den Dingen hingegen eweisen sie sich als Brennpunkte einer Gesamtperspektive, die die künstlerischen, kommerziellen und ideologischen Aspekte der Operettenproduktion und -rezeption in ihrer bewegungsreichen und komplexen Beziehung zu den kulturellen, sozialen und politischen Erscheinungen der Zeit sichtbar werden lassen. In diesem Sinn ist das historische Wien als Horizont der Operette und des Unterhaltungstheaters neu zu entdecken. Die Institution Theater mit ihren Faktoren Publikum, Repertoire, Kritik, Kunst und Kommerz bildet das real existierende Scharnier, dessen Beschreibung die so oft konstatierten Abhängigkeiten zwischen der Operette und den gesellschaftlichen Befindlichkeiten der letzten Jahrzehnte der Donaumonarchie zu konkretisieren vermag. Der Standort fungiert als wichtiges Kriterium für die unternehmerisch-künstlerische Tendenz der einzelnen Theater, die sich wiederum in der Repertoiregestaltung niederschlug, macht daneben jedoch sichtbar, inwieweit sich das Operettenpublikum - vergleichbar der Gesamtbevölkerung der Stadt - zunehmend ausdiffe renzierte. Anders als traditionelle gattungs-, werk- oder sozialgeschichtliche Ansätze, die vom Standpunkt einer Außenperspektive ein bestimmtes eingeschränktes Erkenntnisinteresse verfolgen, versteht sich die vorliegende als eine Innenperspektive, die zunächst die Details eines kulturellen Feldes sichtbar machen und sodann die Verbindungen zwischen diesen Details beschreiben will. Dabei ist von den spezifischen Gegebenheiten der Massenproduktion und Massenrezeption auszugehen; eine Ausweitung des Blickes auf die Operette in Wien wird also gleichermaßen in bezug auf die Institutionen, das Repertoire und das Publikum notwendig. Die umfassendere Perspektive führt von den beiden in der älteren Literatur nahezu ausschließlich berücksichtigten 20
Institutionen, dem Theater an der Wien und dem Carltheater, zu einer großen Anzahl unterschiedlichster Bühnen, die im Laufe der Jahrzehnte und vor allem nach 1900 Operetten in ihren Spielplan aufnahmen. 39 Sie führt von der 39
So selbstverständlich die Operette und Wien miteinander identifiziert werden, so oberflächlich wurde bisher meist der Frage nachgegangen, was Operette an Wiener Theatern und damit Operette in Wien zu dieser oder jener Zeit tatsächlich bedeutet hat. In den verfügbaren Monographien zu einigen Operettentheatern wird neben einer Bau- meist nur eine Direktorengeschichte skizziert; Spielplanentwicklungen werden kaum beschrieben, Informationen zu spät entstandenen oder kleinen Bühnen sind rar, zumal, wenn es sich um Etablissements handelt, die ihrem Charakter nach zwischen Theater und Vergnügungsgastronomie angesiedelt sind. Zu nennen wären: Leopold Rosner, Fünfzig Jahre Carl-Theater (1847-1897). Ein Rückblick, Wien 1897; Egon Friedell, Kabarett Fledermaus, in: Die Schaubühne 3 (1907), 2. Bd., S.454f.; Otto Erich Deutsch, Anzengruber und das Wiener Harmonietheater. Neue Beiträge zur Lebensgeschichte des Dichters, in: Der Merker 3 (1912), S. 531-534, 583-586, 620ff.; Felix Trojan, Das Theater an der Wien. Schauspieler und Volksstücke in den Jahren 1850-1875, Wien/Leipzig 1923 (Theater und Kultur 8); Rudolf Holzer, Die Wiener Vorstadtbühnen. Alexander Girardi und das Theater an der Wien, Wien 1951; Anton Bauer, 150 Jahre Theater an der Wien, Zürich/Leipzig/Wien 1952; Otto Wladika, Von Johann Fürst zu Josef Jarno. Die Geschichte des Wiener Pratertheaters, Diss, masch., Wien 1960; Erika Gieler, Die Geschichte der Volksoper in Wien von Rainer Simons bis 1945, Diss, masch., Wien 1961; Franz Hadamowsky, Das Theater an der Wien, Wien 1962; ÖMZ-Sonderheft »Sternstunden im Theater an der Wien«, 17 (1962), Heft 6/7; Fritz Klingenbeck, In neuem Glanz das Theater an der Wien. Lebenslauf einer Bühne 1801 bis heute, Wien 1963 (Österreich-Reihe 210/211); Hans Pemmer, Das Strampfertheater unter den Tuchlauben und sein Repertoire, in: Wiener Geschichtsblätter 19 (1964), S. 353-366; Eugen Brixel, Die Ära Wilhelm Karezag im Theater an der Wien, Diss, masch., Wien 1966; Hans Pemmer, Das Harmonietheater, Katalog zur 14. Sonderausstellung des Heimatmuseums Aisergrund, Mai-Juni 1966, Wien 1966 (Beiträge zur Heimatkunde des IX. Bezirks 1); ders., Das Wiener Bürgertheater, in: Mitteilungen des Landstraßer Heimatmuseums 4 (1967) (Festwochensonderheft); Johann Hüttner, Baugeschichte und Spielplan des Theaters am Franz Josefs Kai, in: Jb. der Gesellschaft für Wiener Theaterforschung 17 (1970), S. 87-161; Hans Pemm e r / Nini Lackner, Der Prater. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, neu bearb. v. Günter Düriegl u. Ludwig Sackmauer, Wien/München 1974 (Kapitel: »Praterunternehmungen«); Elisabeth Breslmayer, Die Geschichte des Wiener Raimundtheaters von 1893-1973. 80 Jahre Wiener Raimundtheater, Diss, masch., Wien 1975; Attila E. Läng, Das Theater an der Wien. Vom Singspiel zum Musical, Wien/München 1977; Helga Ihlau, Das Ronacher als Varietetheater. Ein Kapitel Wiener Theatergeschichte, Diss, masch., Wien 1978; Hermann Kupfer, Franz Pokorny und das Theater an der Wien, Diss, masch., Wien 1980; Verena Keil-Budischowsky, Die Theater Wiens, Wien/Hamburg 1983; Maria Kinz, Raimund Theater, Wien/München 1985; Anton B a u e r / G u s t a v Kropatschek, 200 Jahre Theater in der Josefstadt 1788-1988, Wien/München 1988; 100 Jahre Volkstheater. Theater. Zeit. Geschichte, hrsg. im Auftrag des Volkstheaters v. Evelyn Schreiner, Wien/München 1989 (darin: Johann Hüttner, 1889-1918. Das Theater als Austragungsort kulturpolitischer Konflikte, S. 10-15, sowie: ders., Die Direktionen Emerich von Bukovics, Adolf Weisse, Karl Wallner. Zwischen Stadttheater und Volkstheater, S. 16-31); Gerhard Eberstaller, Ronacher. Ein Theater in seiner Zeit, Wien 1993; Norbert Rubey / Peter Schoenwald, Venedig in Wien. Theater- und Vergnügungs21
geringen Anzahl häufig untersuchter Operetten einiger weniger Komponisten zu einem umfangreichen Repertoire von mehreren hundert Stücken, das sowohl längst vergessene, gleichwohl seinerzeit äußerst produktive Komponisten neben die vieldiskutierten Namen Offenbach, Strauß, Lehär und Kaiman stellt als auch das Verhältnis zwischen der Operette und den sie umgebenden Formen des musikalischen Unterhaltungstheaters als ein fließendes erkennbar macht. Nicht nur die historische Verflechtung jener beiden Gattungen, die besonders von den Zeitgenossen programmatisch voneinander abgegrenzt wurden, nämlich zwischen Volksstück und Operette, sondern auch die Übergänge zwischen Operette, Variete und Revue lassen sich durch die Aufschlüsselung möglichst umfassender theatertopographischer Fakten nachzeichnen. Und schließlich führt der erweiterte Blick auf die Operette von der Annahme eines diffusen mittleren städtischen Publikums zunächst zu konkreteren Aussagen über die tatsächliche quantitative Dimension der Operettenrezeption und davon ausgehend zu einer Charakterisierung der betreffenden Zuschauerkreise. Die Zuordnung der zahlreichen Operettenbühnen zu städtischen Räumen mit je spezifischer Bevölkerungszusammensetzung und bestimmtem Prestige und die Positionierung der einzelnen Bühnen im Gesamtkontext der Theater- und damit Stadtgeschichte verleihen auch den Besuchern dieser Bühnen, der zunächst verschwommenen Masse >Zuschauerklassischen< abendfüllenden, aufwendig inszenierten Strauß- oder Lehär-Operette, die für die Zeitgenossen einen gänzlich anderen Stellenwert besaß, als es aufgrund des gegenwärtig präsenten Repertoires den Anschein hat. Zugleich konkretisiert sich die reale räumliche Verbreitung der Operette in Wien, die erst durch die Berücksichtigung all der in der Regel ausgesparten Bühnen faßbar wird, und ihre Anbindung an breiteste, stark differierende Bevölkerungsgruppen und damit an die Stadt selbst mit ihrer sozialen und politischen Geschichte. Neben das etablierte, glanzvolle und mit Stars aufwartende Theater in feinster Lage, auf das sich der erste Blick der Feuilletonredakteure richtete, tritt als Spielort der Operette das bescheidene Prater-Theater, dessen Darsteller von einer Karriere in der »Stadt« nicht einmal träumen konnten, oder das Tingel-Tangel von eher zweifelhaftem Ruf. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die großen Häuser ganz im Zeichen von Endlosserien der immer stärker mit >Bedeutung< und Erwartungen überfrachteten Operettenschlager standen, gab es in Varietes und Kabaretts monatlich wechselnde Programme, im Rahmen derer sich die Operettennovitäten in Konkurrenz zu anderen sensationellen Programmteilen - bald auch kinematographischen Produktionen - auf ihren momentanen Unterhaltungswert hin überprüfen lassen mußten. Einigen ausschließlich auf Kommerz ausgerichteten Häusern standen solche gegenüber, die zumindest ansatzweise ideelle Motive für sich in Anspruch nehmen konnten - welcher Couleur auch immer. Neben den wohlhabenden Bürger, der sich im Glanz der kaiserlichen Besucher in der Hofloge sonnte, tritt der Arbeiter, der sich an einem freien Tag eine Nachmittagsvorstellung leistete, bevor er in die paar Quadratmeter Wohnraum zurückkehrte, die er als Bettgeher mit einer sechsköpfigen Familie teilte, und den vielleicht mit manch feinem Herrn Träume von den Laszivitäten der Fiaker-Milli verbanden.4" Der zunehmenden Komplexität der städtischen Bevölkerung entsprach also eine vielgestaltige Theaterszene mit einem besonders ausgeprägten Geflecht populärer Genres. Die Physiognomie der Metropole, zu der sich Wien mit großer Verspätung gegenüber Paris und London erst im letzten Drittel des 40
Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die Theatererlebnisse der Figuren in Ivan Cankars zeitgenössischen literarischen Skizzen aus Wien, etwa in Mimi (1900), Vor dem Ziel (1901) oder Tinica (1903).
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19. Jahrhunderts entwickelte, bildete sich in den Erscheinungsformen der ihr ganz eigenen Unterhaltungskultur ab. Zugleich wurden - wie zu zeigen sein wird - in dieser Unterhaltungskultur Aspekte eines Stadtimages transportiert, die an die vormoderne Residenzstadt anknüpften.
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Theater in den Wiener Bezirken. Zu einer theatralischen Topographie
Wien 1914 Die Schüsse von Sarajewo, durch die am 28. Juni 1914 das österreichische Thronfolgerpaar starb, wurden zum Auslöser des ersten Weltkriegs und markierten den Beginn des endgültigen Zerfalls eines Riesenreichs, in dem bereits seit einem Vierteljahrhundert die zentrifugalen Kräfte kaum mehr zu neutralisieren gewesen waren. Die politische Situation Österreich-Ungarns in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Krieges läßt sich als Widerstreit zwischen verzweifelten Versuchen, den gefährdeten Status quo der Monarchie aufrechtzuerhalten, und den Bemühungen jener Kräfte beschreiben, die aus unterschiedlichsten Gründen an einem Fortbestand des Staatsgefüges in der existierenden Form nicht interessiert sein konnten. So dienten die innenpolitischen Initiativen von Regierung und Führungsschicht vor allem dazu, den Rang der bereits unter deutlichem Prestigeverlust leidenden Doppelmonarchie im europäischen Mächtegefüge nicht weiter zu schwächen und die Interessen der Dynastie wie der deutschösterreichischen Bevölkerungsschichten und Eliten Cisleithaniens zu wahren. Obzwar selbst Anlaß zu langwährenden politischen Kontroversen, wirkte die Armee des Habsburgerreichs, hauptsächlich als innerstaatliches Korrektiv und als Institution von ideeller Bedeutung, neben wenigen anderen Faktoren als einheit- und identitätstiftende Größe.1 Austragungsort der inneren Spannungen war nicht zuletzt die Reichshauptund Residenzstadt Wien, die mit tätlichen Auseinandersetzungen zwischen deutschösterreichischen und tschechischen Abgeordneten im Reichsrat und gleichzeitigen blutigen Zusammenstößen auf der Straße, Demonstrationen sich organisierender Arbeiter, heftigen Debatten um die Reform des Wahlrechts und den erschreckenden Auswirkungen eines zunehmenden Antisemitismus konfrontiert war.2 Zentrales Problem war der an mehreren Fronten schwelende und immer stärker aufflammende Nationalitätenstreit, dem schließlich auch 1
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Vgl. zum Themenkomplex des Militärs u. a. Istvän Deäk, Beyond Nationalism.. Α Social and Political History of the Habsburg Officer Corps 1848-1918, New York/Oxford 1990, und Ian Foster, The Image of the Habsburg Army in Austrian Prose Fiction 1888-1914, Bern 1991. Umfangreiches Quellenmaterial zu den politischen und ideologischen Auseinandersetzungen der Vorkriegszeit, insbesondere der Jahre 1907-1913, liefert Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München/Zürich 1996; vgl. auch Maderthaner/Musner, Anarchie. 25
die vereinzelten positiven Entwicklungen nach der 1906 erreichten Durchsetzung des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts zum Opfer fielen. Die seit den 1890er Jahren schnell wechselnden Regierungen konnten vielfach nur durch Anwendung des Notverordnungsparagraphen 14 kurzfristig zu einer Beruhigung der politischen und sozialen Querelen beitragen. Daneben wuchs das außenpolitische Konfliktpotential im Gegeneinander verschiedener europäischer Bündniskonstellationen ständig an. Die Annexion der schon 1878 besetzten Gebiete Bosniens und der Herzegowina im Jahr 1908 löste schließlich eine schwere Krise aus; zugleich erlebte Wien in diesem Jahr mit dem aufwendig inszenierten Festumzug zum 60jährigen Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Joseph I. eine der letzten großen Entfaltungen dynastischer Pracht des Hauses Habsburg. 3 Die Hauptstadt Wien lieferte bei Ausbruch des Weltkriegs jedoch nicht nur ein Bild jener inneren Spannungen, die die cisleithanische Reichshälfte nahezu unregierbar gemacht hatten; Wien war vor allem eine Stadt der Theaterbegeisterung. Während die beiden Hoftheater nach der Jahrhundertwende vor allem durch herausragende Aufführungen unter Mitwirkung großer Künstlerpersönlichkeiten wie Gustav Mahler, Alfred Roller, Hugo Thimig oder Josef Kainz, weniger jedoch durch innovative Impulse für die zeitgenössische Produktion wirkten, beherrschte das musikalische Unterhaltungstheater durch eine bislang unbekannte institutionelle und künstlerische Vielfalt die Szene. An mehr als 15 Bühnen in sieben Bezirken wurden Operetten gespielt, die Saison 1913/14 brachte mit Franz Lehärs Die ideale Gattin am Theater an der Wien und Oskar Nedbals Polenblut am Carltheater erneut glänzende Erfolge. Wien war in den politischen Krisenzeiten, die dem Jahr 1914 vorangingen, endgültig zur >Weltstadt< der Operette geworden,4 übertraf in bezug auf die Operette als Exportschlager Paris bei weitem und blieb führend vor Berlin. Innerhalb Wiens war die spezifische Position des Unterhaltungstheaters und der Operette nicht zuletzt durch die Schichtungen der theatralischen Topographie bestimmt, die sich, ausgehend von den Vorkriegsspielzeiten, in der Rückschau auf das 19. Jahrhundert freilegen lassen.5 3
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Einen faktenreichen Überblick über die Wiener Konflikte des Jahres 1908 gibt ironisch erzählend Herta Blaukopf, 1908: Fröhliche Apocalypse Now. Kunstschau, Kaiserjubiläum, Rekatholisierung, Kriegsgefahr, in: Austriaca 25 (2000), Nr. 50, S. 27-44. Die Reaktionen der Wiener Bevölkerung auf die politische Katastrophe des Sommers 1914 einerseits und auf die zeitgleichen Begebenheiten in der Operettenszene andererseits kontrastiert Karl Kraus bitterböse in seiner Tragödie Die letzten Tage der Menschheit, vgl. hier besonders die 1. Szene des Vorspiels sowie die 1. Szene des I.Aktes; K. Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Frankfurt a. M. 1986 (= Karl Kraus, Schriften, hrsg. v. Christian Wagenknecht, Bd. 10). Ziel des folgenden Überblicks ist nicht Vollständigkeit in bezug auf die Theaterinstitute Wiens oder eine detaillierte Darstellung der Entwicklung einzelner Häuser, sondern die Rekonstruktion der Verknüpfungen zwischen der Stadt- und der Theaterlandschaft. - Unter den allgemeinen Publikationen zur Wiener Theater-
Der Rückblick auf ein halbes Jahrhundert Theater in Wien aus der Perspektive des Jahres 1914 macht sichtbar, auf welchen Wegen sich die Operette zu einer Massenkunst entwickelt hat. Eingebunden ist diese Entwicklung in den größeren Rahmen der Theater- und Stadtgeschichte. Zunächst blieb die Operettenklientel durch die institutionellen Gegebenheiten relativ beschränkt, obwohl einzelne Theatermacher schon Ende der 1850er Jahre von der Zugkraft des Genres überzeugt waren; das Carltheater, das Theater am FranzJosefs-Kai und das Theater an der Wien wechselten sich einige Jahre lang gewissermaßen als Vertreter der Operette ab. Bereits wenige Jahrzehnte später hingegen fanden sich in Wien mehr als ein Dutzend Bühnen, die ausschließlich oder doch zu einem Uberwiegenden Teil Operetten spielten. Diese allmähliche Unterwanderung der Theaterszene durch die Operette läßt sich skizzenhaft in mehrere Etappen gliedern: Zunächst nahmen die renommierten Vorstadttheater, die noch aus dem 18. Jahrhundert stammten, Operetten in ihr Repertoire auf; als Gegenbewegung kam es zu mehreren Theaterneugründungen, die an das traditionelle Repertoire der Vorstadttheater, an das Volksstück, anknüpfen wollten. Wenig später erfolgten nahezu parallel die Hinwendung auch dieser neuen Theater zur Operette und die noch deutlichere Konzentration der älteren Theater auf das Operettenrepertoire. Nachdem sich die Operette auch im Bereich der Singspielhallen und der Vergnügungsgastronomie verbreitet hatte, erhielt sie schließlich, wie etwa im Fall des JohannStrauß-Theaters, sogar den einen oder anderen Raum, der ihr von vornherein allein gehörte.
>Stadterweiterungstheater< Die Koordinaten der Wiener Theaterlandschaft im frühen 20. Jahrhundert resultieren im wesentlichen aus einer Entwicklung, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang genommen hatte und auf jener Allerhöchsten Entscheidung vom Dezember 1857 beruhte, welche die Umgestaltung Wiens zur modernen Großstadt ermöglichte, nämlich auf dem Befehl des Kaisers zum Abbruch der Basteien, zur Vereinigung der Vorstädte mit der Inneren Stadt und zur Verbauung des Glacis, realisiert in der Anlage der Ringstraße. Die Neustrukturierung der inneren Gemeindebezirke und die Bebauung des geschichte aus jüngerer Zeit sind hier die Arbeiten von Franz Hadamowsky (Wien. Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des ersten Weltkriegs, Wien/ München 1988 [Geschichte der Stadt Wien 31) und William E. Yates (Theatre in Vienna) zu nennen. Hadamowsky liefert eine Fülle an Material und historischen Details, die jedoch kaum in strukturierender Weise verarbeitet werden; als problematisch erweist es sich daneben, daß er f ü r seine zahlreichen Zitate keine direkten Quellenangaben liefert, sondern lediglich in einem Anhang die unterschiedlichen Sammlungen in Wiener Bibliotheken und Archiven benennt, auf deren Bestände er sich stützt. Yates hingegen bietet eine prägnante Überblicksdarstellung mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat. 27
umfangreichen Areals der ehemaligen Befestigungen und Exerzierplätze setzte die früheren Vorstädte in sozialer, kultureller und infrastruktureller Hinsicht in eine veränderte Position zum Stadtkern. Bis dahin hatte sich Wien in drei konzentrisch angeordnete, durch die Basteien (zwischen Innerer Stadt und Vorstädten) und den Linienwall (zwischen Vorstädten und Vororten) klar voneinander geschiedene Räume gegliedert, denen noch in der Zeit des Vormärz drei differierende Theaterbereiche entsprachen: Die ummauerte Innere Stadt beherbergte die beiden Hoftheater, das K. k. Hoftheater nächst dem Kärntnerthore (Hofoper) und das K. k. Hofburgtheater am Michaelerplatz, die gewissermaßen einen Nebenspielort im Schönbrunner Schloßtheater (Vorort Hietzing) besaßen. Die um die Innere Stadt gelagerten Vorstädte von Thury (später Bezirk Aisergrund) bis Jägerzeil (später zu Leopoldstadt) besaßen drei angesehene Privattheater, das Theater an der Wien, das Theater in der Josefstadt und das Theater in der Leopoldstadt. Die noch weiter vom Stadtzentrum entfernt liegenden Vororte waren bis weit ins W.Jahrhundert hinein das Ziel wandernder Schauspiel- und Artistentruppen, besaßen vereinzelt Sommerarenen (Nationalarena in Hernais, Braunhirschener Arena, Variete-Theater in Hietzing), die unter anderem von den Vorstadttheatern bespielt wurden, sowie wenige Saaltheater wie das Theresienbadtheater in Meidling 6 oder das Theater »Beym Hirschen im Gasthause« in Döbling, das später in »Wendls Etablissement« untergebracht wurde.7 Ein großdimensioniertes, auf Dauer jedoch unrentables Unternehmen war das Thaliatheater in Neulerchenfeld, das Johann Hoffmann 1856 als Dependance des Theaters in der Josefstadt eröffnete; die teils aus Holz, teils aus Ziegeln bestehende, nicht beheizbare Anlage des Baumeisters Ferdinand Fellner sen. bot Raum für mehr als 4000 Zuschauer und wurde bis 1869 als Sommertheater betrieben. Auch das Colosseumtheater in Rudolfsheim, 1867 eröffnet, stand noch in der älteren Tradition der Vororttheater. Das Theater befand sich in den Sälen von »Schwenders Vergnügungsetablissement« im Bereich der vormaligen Braunhirschener Arena; es firmierte in der Spielzeit 1868/69 als »Variete-Theater in Rudolfsheim« und in den beiden folgenden Spielzeiten als »Volkstheater in Rudolfsheim«. In der Ausgabe 1872 des Deutschen Bühnen-Almanach wurde vermeldet: »Das Volkstheater in Rudolfsheim, in Mitte der Vororte Wiens, Rudolfsheim, Fünfhaus u. Sechshaus, welche zusammen nahezu 100000 Einwohner zählen, erfreut sich in den letzten Jahren einer stets steigenden Frequenz, so daß der Eigenthümer, Hr. Carl Schwender, sich veranlaßt sieht, schon im nächsten Sommer ein neues, allen Anforderungen der Jetztzeit entsprechendes Theater zu bauen.«8 Entgegen dieser Ankündigung verblieb das 6
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Vgl. hierzu August Angenetter, Erinnerungen an das Meidlinger Theater, in: Fremdenblatt (Wien), 3. März 1912, S. 7ff. Vgl. Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, Abschnitt 10.2, sowie Richard Groner, Wien wie es war, neu bearb. u. erweitert v. Felix Czeike, Wien/München 1966, S. 601. Deutscher Bühnen-Almanack, hrsg. v. Albert Entsch, Berlin 1872, S. 336.
Unternehmen für die Zeit seines Bestehens in den zunächst nur als Provisorium gedachten Räumen. Die Konzeption der Ringstraße, die dem Repräsentationsbedürfnis und Unternehmergeist wohlhabender Schichten der Gründerjahre einen architektonischen Rahmen gab,9 brach einen Teil der existierenden städtischen Strukturen auf: Die neu zu bebauende Fläche bildete ein etwa 500 Meter breites Band um den alten Stadtkern, das von der Ringstraße durchzogen wurde und auch für neue Theater Raum bot. Die vier Theaterbauten, die ab 1860 auf dem hinzugewonnenen Grund zwischen der Inneren Stadt und den Vorstädten entstanden - das Theater am Franz-Josefs-Kai (I.; 1860), das neue K. k. Hofoperntheater (I., Opernring; 1869), die Komische Oper (I., Schottenring; 1874) und das neue K. k. Hofburgtheater (I., Franzensring; 1888) - , sind in unterschiedlicher Weise Symbole für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation der Gründerzeit. Das von Karl Treumann initiierte Theater am Franz-JosefsKai, direkt am Ufer des Donaukanals gelegen, war als erstes Privattheater in der Inneren Stadt ein Unternehmen, das in der herrschenden Aufbruchstimmung eine gewinnträchtige Zukunft versprach. Es war als großangelegtes Theater auf einem von allen vier Seiten freien Bauplatz, als »monumentaler Prachtbau« geplant und sollte mit einem Gebäudekomplex verbunden werden, der »Boutiquen, Restaurationen, Cafes und Wohnungen« enthalten würde. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten ließ Treumann zunächst nur ein hölzernes Theaterprovisorium auf den Gründen der ehemaligen Gonzaga-Bastei errichten.10 Treumanns Interimstheater, das zu Beginn der 1860er Jahre als einzige Bühne Wiens die modischen Operetten Offenbachs spielte und damit beträchtliche finanzielle Erfolge verbuchen konnte, war das erste Theaterprojekt auf der Basis der Stadterweiterung. Zum Bau des geplanten stabilen Theaters nach Entwürfen von Fellner sen. kam es allerdings nicht mehr:" Als das Holzprovisorium 1863 abbrannte, ergab sich für Treumann die Gelegenheit, das Carltheater zu übernehmen, das von August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll an der Stelle des alten Leopoldstädter Theaters erbaut und 1847 eröffnet worden war.12 So wie das Theater am Franz-Josefs-Kai als Vorhaben begriffen werden kann, das auf die Veränderungen Wiens um 1860 reagierte, wirtschaftliche Chancen und neue Bedürfnisstrukturen wahrnahm und umsetzte, so gewin9
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Eine überzeugende Analyse der gesellschaftlichen Implikationen des Ringstraßenbaus liefert Carl E. Schorske in seinem Essay Die Ringstraße, ihre Kritiker und die Idee der modernen Stadt', in: ders., Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siecle, Frankfurt a. M. 1982, S. 23-109. Vgl. Hüttner, Baugeschichte. Für Entwürfe zum Grundriß und Aufriß vgl. Hans-Christoph Hoffmann, Die Theaterbauten von Fellner und Helmer, München 1966 (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts 2). Für einen Bericht über den Brand des Theaters am Franz-Josefs-Kai und die Übernahme des Carltheaters durch Treumann vgl. Deutscher Bühnen-Almanach, Berlin 1864, S. 307-310. 29
nen auch die drei direkt an der entstehenden Ringstraße gelegenen Theater ihr spezifisches Profil durch den gesellschafts- und kulturpolitischen Hintergrund, der ihren Standort, ihre Finanzierung, ihre Gestaltung und ihr Repertoire bedingte. Das neue Opernhaus, entworfen von Sicard von Sicardsburg und van der Null, und das neue Burgtheater, gestaltet von Gottfried Semper und Karl Hasenauer, repräsentierten die Verflechtung zwischen dem noch anhaltenden Glanz und Einfluß der Habsburgerdynastie und des Hochadels einerseits und der Finanzkraft und dem neuen Selbstverständnis bürgerlicher Aufsteiger andererseits. Die Komische Oper, ebenfalls ein charakteristisches Produkt der Gründerzeit und als solches bereits während der Bauphase (Architekt: Emil von Förster) von den Auswirkungen des Börsenkrachs im Mai 1873 betroffen, entstand als privates Konkurrenzunternehmen zur Hofoper. Als Aktientheater projektiert und gegenüber der Börse unmittelbar an der Ringstraße errichtet, sollte das Haus der »Pflege der heitern Musik« gewidmet sein. Daß das Theater an der Vorstadtseite der Ringstraße piaziert wurde, deren Areal im Bereich der Schottenbastei zur Hälfte in den IX. Bezirk hineinreicht, ordnet die Komische Oper auch städtebaulich in eine von den Hoftheatern geschiedene Sphäre ein. Wie das Theater am Franz-JosefsKai, im Gegensatz zu diesem jedoch mit Hunderten von Todesopfern, brannte die Komische Oper nach wenigen Jahren ab. Von den vier Ringstraßen-Theatern blieben also letztlich nur die beiden Hoftheater. Unternehmerisches Engagement sowie Gespür für das gestiegene, zunehmend großstädtisch geprägte Unterhaltungsbedürfnis und den Wunsch neuer bürgerlicher Schichten, als Träger von Kultur in Erscheinung zu treten, waren wichtige Beweggründe für die Eröffnung weiterer Bühnen in den Jahren des Ringstraßenbaus, 13 wobei ein zusätzlicher Impetus von den schon in den 1860er Jahren durch verschiedene Gruppierungen betriebenen Bemühungen um eine internationale Industrie- und Gewerbeausstellung in Wien ausging. Man wollte das >neue Wien< in Anlehnung an die Weltausstellungen von Paris (1855) und London (1861) einem internationalen Publikum präsentieren. Nach Überwindung unterschiedlicher Bedenken und dem sensationellen Erfolg der zweiten Pariser Weltausstellung (1867) fiel 1870 endgültig die Entscheidung, in Wien 1873 eine Weltausstellung abzuhalten, bei der nicht zuletzt die prächtigen Neubauten der Stadterweiterung als Ausstellungsobjekte dienen sollten. Die laufenden Bauaktivitäten wurden von der Ringstraße auf den Prater ausgedehnt, der als Ausstellungsgelände gewählt worden war. Es entstand nicht nur eine funktionell und künstlerisch aufwendig gestaltete Ausstellungsstadt entlang der Prater-Hauptallee, auch der Wurstelprater wurde reguliert
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Ein profitorientiertes Gründerzeit-Unternehmen, gewissermaßen ein zweiter Anlauf f ü r ein neues Privattheater nach dem Theater am Franz-Josefs-Kai, war auch das nur kurzlebige Harmonietheater (1866-68) in der Wasagasse im IX. Bezirk wenig außerhalb des Ringstraßenareals, das als Unterhaltungsetablissement in einem Terrain neugebauter Zinshäuser entstand (Architekt: Otto Wagner).
und erhielt nun den Namen »Volksprater«.14 Die Weltausstellung, zu der man Millionen von Besuchern erwartete, versprach neben positiven Impulsen für die Industrieproduktion und das Gewerbe sowie glänzenden Einnahmen für Beherbergungs- und Restaurationsbetriebe auch ein gesteigertes Interesse an dem, was Wien an Kunst und Unterhaltung zu bieten hatte. Im Prater hoffte man an Johann Fürsts Singspielhalle, die im Deutschen Bühnen-Almanack ab 1869 als »Fürsts Volkstheater im k. k. Prater« firmierte, im direkt neben dem Haupteingang zum Ausstellungsgelände gelegenen, für die Weltausstellung grundlegend renovierten und 5000 Personen fassenden Dritten Kaffeehaus 15 und in neu errichteten Etablissements, etwa dem »Neuen Wiener Orpheum« an der Ausstellungs-Straße, 16 von auswärtigen wie einheimischen Ausstellungsbesuchern zu profitieren. Ringstraßen- und Weltausstellungseuphorie trugen auch zwei Theaterprojekte im Stadtzentrum mit: das Vaudevilletheater (später Strampfer-Theater) wie das Stadttheater wandten sich vornehmlich an das gehobene Publikum der Inneren Stadt. Das Vaudevilletheater wurde im ehemaligen Musikvereinssaal in den Tuchlauben eingerichtet, nachdem der Musikverein 1869 in das neue Gebäude gegenüber der Karlskirche umgezogen war, und brachte Operetten, Possen und Vaudevilles. Doch selbst nach der von Friedrich Strampfer 1871 initiierten, durch die Lage des Gebäudes innerhalb einer geschlossenen Häuserzeile nur in äußerst bescheidenem Umfang realisierbaren Erweiterung herrschten Bühnenverhältnisse, die den seinerzeit beliebten Ausstattungsluxus fast unmöglich machten.17 Trotzdem zog es zunächst höchste Kreise in Strampfers Theater, das entsprechend mit stattlichen Eintrittspreisen aufwartete. Das unter der Bauleitung von Ferdinand Fellner jun. auf der Seilerstätte errichtete und 1872 eröffnete Stadttheater wollte als Sprechbühne mit dem Niveau des Burgtheaters gleichziehen und schien ein finanziell durchaus rentables Projekt zu werden, da das Burgtheater, das sich in den 1870er Jahren noch im alten Haus am Michaelerplatz befand, dem sich vergrößernden Interessentenkreis nicht genügend Raum bot. Waren dort nahezu alle Plätze seit langem im festen Besitz alteingesessener wohlhabender Familien, so bot das neue Theater durch den Verkauf erblicher Logen und Sperrsitze den Mitgliedern der neuerdings zu Reichtum gekommenen Schichten entsprechende Repräsentationsmöglichkeiten. 18 Das Stadttheater verkörperte zusammen 14
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Vgl. hierzu Jutta Pemsel, Die Wiener Weltausstellung von 1873. Das gründerzeitliche Wien am. Wendepunkt, Wien/Köln 1989. Ab 1879 Ronachers »Operettentheater im k. k. Prater«. Das »Neue Wiener Orpheum« wurde angekündigt als »Internationales Weltausstellungs-Cafe und Restauration Chantant«; vgl. Fremdenblatt (Wien), 27. September 1873, S. 8. Vgl. H.P., Wien und seine »Sechste«, in: Neues Wiener Tagblatt, 13. September 1871; für eine Sammlung von Besprechungen zum Umbau und zur Wiedereröffnung des Theaters auch Holzer, Die Wiener Vorstadtbühnen, S. 139f. Vgl. Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 683ff. - Geplant war weiterhin ein Theater im III. Bezirk (Landstraße) auf den Reisnerschen Gründen in der Reis31
mit der etwa zeitgleich errichteten Komischen Oper einen für Wien neuen Theatertyp, dem später auch das Deutsche Volkstheater, das Raimundtheater und das Kaiserjubiläums-Stadttheater folgten und der auf einem veränderten Selbstverständnis mittlerer städtischer Kreise gegründet war: Bei all diesen Bauten handelte es sich um privat finanzierte Projekte auf der Basis von Anteilscheinen, konzipiert meist unter der Ägide von eigens ins Leben gerufenen Theatervereinen, die dann als Eigentümer auftraten. Die an die Weltausstellung geknüpften finanziellen Hoffnungen erfüllten sich für Wien nicht, und der Höhenflug der Gründerjahre fand im Börsenkrach des Ausstellungsjahres ein schmerzhaftes Ende. Sowohl das Strampfer-Theater als auch das Stadttheater gerieten durch das nachfolgende wirtschaftliche Tief, das gerade ihre Publikumsschichten stark betroffen hatte, in eine anhaltende Krise; ersteres wurde schließlich 1881 aus feuerpolizeilichen Gründen geschlossen und abgerissen, letzteres brannte 1884 nieder. Die Ringstraßenund Stadterweiterungstheater waren also nahezu sämtlich wieder verschwunden. Doch wie der Ring Straßenbau die Physiognomie der Stadt bleibend veränderte, so waren auch die Verschiebungen innerhalb der Wiener Theaterlandschaft, die sich in der Aufbruchstimmung der 1860er Jahre ergeben hatten, von dauerhafter Wirkung.19
Vorstadttheater Das Theater an der Wien, das Carltheater und das Theater in der Josefstadt, also die älteren Privattheater, waren zu Beginn des ersten Weltkriegs die einzigen florierenden Wiener Bühnen, die noch aus der Vor-Ringstraßenzeit stammten. Mit diesen drei Häusern war ein Mythos des >Volkstheaters< verknüpft, dessen Ursprung in der theatralischen Topographie Wiens im 18. Jahrhundert zu finden ist. Nach dem Erlaß der Schauspielfreiheit durch Kaiser Joseph II. im Jahr 1776 ergab sich die Möglichkeit, neben den beiden innerhalb der Stadtmauern gelegenen >offiziellen< Bühnen, dem Nationaltheater nächst der k. k. Burg und dem K. k. Hoftheater nächst dem Kärntnerthore, private Theater in den Vorstädten zu errichten. 1781 wurde in der Leopoldstadtjenseits der Donau ein erstes feststehendes Theater eröffnet; 1787 folgte mit dem Theater im Starhembergischen Freihaus auf der Wieden ein zweites, 1788 mit dem Theater in der Josefstadt ein drittes privilegiertes Vorstadttheater.2" Da die Schau spielfreiheit für die Vorstädte bereits 1794 wieder endete
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nerstraße, das den Namen Odeontheater tragen sollte; vgl. Fremdenblatt (Wien), 12. Dezember 1872, S.6. Für eine Beschreibung von Theaterprojekten der Gründerzeit, die aufgrund des Börsenkrachs nicht realisiert werden konnten, vgl. Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 708-720 (Theaterprojekte). Drei weitere Bühnen, die nach 1776 in den Vorstädten eröffnet wurden, jedoch nur für kurze Zeit bestanden, waren das Theater »Zum Weißen Fasan« in Neu-
und nur die bis dahin verliehenen Privilegien bestehen blieben, traten zu diesen drei Privattheatern vorerst keine weiteren hinzu. Die Bühne im Komplex des Freihauses wurde zu Beginn des neuen Jahrhunderts vom großdimensionierten, vornehmen Theater an der Wien unter der Leitung Emanuel Schikaneders abgelöst; der erfolgreiche Theaterunternehmer Karl Carl konnte sich in den 1840er Jahren einen Neubau des Leopoldstädter Theaters leisten. Die Vorstadttheater dienten in der Zeit des Vormärz als Spielstätten für Oper, Ballett, Schauspiel und Sensationsstück 21 und waren stolz darauf, selbst Mitglieder des Kaiserhauses zu ihrem Publikum zu zählen. Die entscheidende Rolle spielten sie jedoch bei der Herausbildung einer umfangreichen und vielgestaltigen Volkstheatertradition, die sich seit dem 18. Jahrhundert aus dem institutionellen und ästhetischen Gegenüber der Vorstadttheater zu den Hoftheatern entwickelte und im Vormärz aufgrund der Gegebenheiten eines von Zensur und Bespitzelung geprägten politischen Systems ihre spezifische Gestalt und Funktion gewann. Diese Volkstheatertradition bildete einen wichtigen Bestandteil des kulturellen Bewußtseins der Wiener im 19. Jahrhundert. Aus ihrer immensen Bedeutung als identitätsstiftendes Phänomen resultierte die Notwendigkeit, sie gegen die immer wieder wellenförmig sich nahenden scheinbaren >Gefährdungen< durch Fremdes zu >verteidigenHeimstättenergabenVolk< und das >Volksstück< ihren angestammten Platz im Theater einzubüßen. 23 Das unterschwellig verbreitete Gefühl, Wien verliere mit dem Volkstheater einen Teil seiner Identität, verknüpften verschiedene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in den 1880er Jahren mit deutschnationalen, teils auch antisemitischen Argumenten zu einem Programm für die >Rettung< oder >Wiedererweckung< des Volksstücks und der deutschsprachigen Dramatik. Die drei Theaterbauten, die aus den Initiativen der entsprechenden Interessengemeinschaften hervorgingen, eroberten sich quasi den städtischen Raum jenseits der von der Operette beherrschten Sphäre und wurden in zunehmender Entfernung von der Ringstraße errichtet. Das Deutsche Volkstheater in der Neustiftgasse, erbaut von Fellner jun. und Hermann Helmer und eröffnet 1889, besetzte mit dem Bezirk Neubau (VII.) einen >operettenfreien< Stadtteil, befand sich allerdings in Konkurrenz zu dem nur wenige Gehminuten entfernten, vom Hof subventionierten neuen Burgtheater. Das Raimundtheater und das Kaiserjubiläums-Stadttheater gehören in ihrer Anlage in den Zusammenhang der zweiten Stadterweiterung nach 1890, im Rahmen derer der Linienwall abgetragen wurde und der Anschluß der Vororte an die Gemeinde Wien erfolgte. 24 Das Raimundtheater in der Wallgasse, 1893 nach Plänen von Franz Roth erbaut, lag am äußersten Ende von Mariahilf (VI.) an einem jener Verbindungswege, die nach der Errichtung des Linienwalls in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf der Vorstadtseite zwischen den Linientoren angelegt worden waren. Das Kaiserjubiläums-Stadttheater (Architekten: Alexander Graf, Franz von Krauß; Eröffnung: 1898) schließlich entstand im Bereich 22 23
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Kaiser, Fünfzehn Theater-Direktoren, S. 230. Johann Hüttner betont den Zwang zur Standardisierung und Rationalisierung, dem die großen Vorstadtbühnen mit zunehmender Industrialisierung und Internationalisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts unterlagen; ebenso wie die Theaterneubauten der 1860er Jahre hätten sie das »Volk« im Sinne von »sozial niederen Schichten« ignorieren müssen. J. Hüttner, Volk sucht sein Theater. Theater suchen ihr Publikum: Das Dilemma des Wiener Volkstheaters im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, in: Valentin (Hrsg.), Das österreichische Volkstheater, S. 33-53. Ein Volkstheater im Bereich der neuen Gürtelstraße, also an der Grenze zwischen Vorstädten und Vororten, plante auch Gilbert Anger mit dem »Margarethner Volkstheater«, das 1908 am Margaretner Gürtel im V.Bezirk eröffnet werden sollte. Im Fremdenblatt vom 2. Dezember 1907 ließ Anger vermelden, das Haus solle »durch niedrige Eintrittspreise auch den Minderbemittelten zugänglich gemacht werden«. Man wolle »das Volksstück aus dem Wiener und Bauernleben, die Wiener Posse, das Schauspiel, Lustspiel und Singspiel pflegen«. Hadamowsky hingegen nennt unter den »Theaterprojekten« der Jahre 1874-1918 ein Vorhaben Angers aus dem Jahr 1908, das ein entsprechendes Theater im XIII. Bezirk im Bereich Mariahilfer Straße/Linzer Straße/Winckelmannstraße vorsah; Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 800. Beide Pläne wurden nicht realisiert.
des ehemaligen Währinger Linienamts im Vorort Währing, dem XVIII. Gemeindebezirk; erst durch die Änderung der Bezirksgrenzen im Zuge des Gürtelstraßenbaus 1906 rückte die nunmehrige Volksoper in den IX. Bezirk Aisergrund. 25 In den Entwürfen und Konzessionsgesuchen aller drei Bühnen bildete die Entwicklung der Stadt Wien und ihrer Bevölkerungsstruktur eine entscheidende Argumentationsgrundlage: Das >Volkbilden< und zu >veredeln< und so dem verderblichen Einfluß des Tingeltangels zu entziehen, stammte aus den vom Zentrum entfernt liegenden Stadtteilen, deren Einwohnerzahl im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts besonders stark angewachsen war; die vornehmen älteren Vorstadttheater seien für die betreffenden Schichten schwer zu erreichen und bei weitem zu teuer. Alle drei Bühnen erhielten die Bau- und Spielbewilligung nicht zuletzt aufgrund ihrer Zielsetzung, die Eintrittspreise weit unter denjenigen der bestehenden Theater zu halten. Das von den glanzvollen innerstädtischen Bühnen stark unterschiedene Renommee der neuen, weit draußen liegenden Vorstadttheater steht in engem Zusammenhang mit der Bebauungssituation Wiens in den 1890er Jahren. Zeitgenössische Beschreibungen lassen erkennen, daß der Bereich der Linie, der späteren Gürtelstraße, noch in diesen Jahren als >Ende der Stadt< empfunden wurde; Raimundtheater und Kaiserjubiläums-Stadttheater waren also Stadtrandtheater, obwohl die sich anschließenden Vororte immer stärker durch Industrie oder aber exklusive Nobelsiedlungen und Cottages verbaut wurden. Die Währinger Linie, der Standort des Kaiserjubiläums-Stadttheaters, ist einer der Schauplätze von Arthur Schnitzlers Erzählung Die kleine Komödie, die Mitte der 1890er Jahre erstmals erschien; die beiden Protagonisten und verschiedene Gruppen von Ausflüglern gelangen von der »Linie« sogleich in die Felder und in den Wald, verlassen also städtischen Raum. 26 Auch Adam Müller-Guttenbrunn, der erste Direktor des Theaters, beschrieb in seinen Erinnerungen das Linienterrain als noch wenig erschlossen.27 Dem Publikum des Raimundtheaters schließlich wurde in der Presse noch nach 1900 ein ganz spezifischer Geschmack, der Geschmack der »entfernten westlichen Vorstadt«, nachgesagt, der dieser Bühne und ihrem Umfeld einen Rang jenseits der gesellschaftlichen Strukturen der »City« zuwies. Mit der Gründung des Deutschen Volkstheaters, des Raimundtheaters und des Kaiserjubiläums-Stadttheaters im Anschluß an die ältere Tradition der Vorstadttheater, wie sie im Theater an der Wien, im Carltheater und im Theater in der Josefstadt unter veränderten Vorzeichen weiterlebte, besaßen um die Jahrhundertwende beinahe alle vorstädtischen Gemeindebezirke eines 25 26
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Vgl. hierzu Petrovic, Der Wiener Gürtel, S. 49f. Arthur Schnitzler, Die kleine Komödie, in: ders., Komödiantinnen. Erzählungen 1893-1898, Frankfurt a. M. 1990, S. 9-44. Adam Müller-Guttenbrunn, Erinnerungen eines Theaterdirektors (Das Parteitheater, ein Wiener Kulturbild aus der Zeit der Jahrhundertwende), hrsg. v. Roderich Meinhardt, Leipzig 1924, S. lOf.
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oder mehrere feste Theater; Ausnahmen bildeten der III. (Landstraße), der IV. (Wieden) und der V. Bezirk (Margareten), also der Süden und Südosten der Stadt. Die beiden Bühnen, die diese Lücke in den folgenden Jahren schlossen und von vornherein als Operettentheater konzipiert beziehungsweise nach kurzer Zeit zu einem solchen umfunktioniert wurden, entstanden in prominenten Lagen der betreffenden Bezirke: Das Johann-Strauß-Theater wurde 1908 am stadtwärtigen Beginn der Favoritenstraße (IV.) in der Nähe des Theresianums, das Wiener Bürgertheater 1905 in der Vorderen Zollamtsstraße an der Grenze zwischen I. und III. Bezirk (Stadtpark) eröffnet. Gegen 1910 waren somit die inneren Gemeindebezirke von einem Netz privater Theater durchzogen, die unterschiedlichste Ansprüche und Interessen verfolgten.
Volkssänger - Singspielhallen - Varietes Zu den populärsten Wiener Bühnen der Vorkriegsjahre gehörten vier große Vergnügungsetablissements, sogenannte Rauchtheater: das Etablissement Ronacher (I., Seilerstätte/Himmelpfortgasse), das Apollo-Theater (VI., Gumpendorferstraße), das Colosseum (IX., Nußdorferstraße) und das Budapester Orpheum (II., wechselnde Spielstätten). Kennzeichnend für diese Häuser war die Kombination buntgemischter Unterhaltungsprogramme mit einem vielfältigen gastronomischen Angebot. Das Ronacher etwa bestand neben dem Theatersaal aus einem Wintergarten, Buffets, luxuriös ausgestattetem Kaffeehaus und Hotel mit Restaurant, das Apollo warb mit einem »feenhaften Wintergarten«, Restaurant, Cafe und »amerikanischem Biertunnel«; beide Etablissements lagen mit ihren Eintrittspreisen beinahe auf dem Niveau der teuren Vorstadtbühnen Theater an der Wien und Carltheater. Während das Budapester Orpheum im Stil von Kabarett und Kleinkunst mit prononciert jüdischer Komponente geführt wurde, 28 boten Ronacher, Apollo und Colosseum internationales Variete mit Artistik, Tanz, Komik, verschiedenartigen Gesangsproduktionen und Operetten. 29 28
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Vgl. Heinz Lunzer, Das Budapester Orpheum, in: ders./Victoria LunzerTalos/Marcus G. Patka (Hrsg.), »Was wir umbringen«. >Die Fackel· von Karl Kraus, Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Jüdischen Museums Wien, Wien 1999, S. 144f. - Die Geschichte des Budapester Orpheums erzählt ausführlich Georg Wacks, Die Budapester Orpheumgesellschaft. Ein Variete in Wien 1889-1919, Wien 2002. Ab Kriegsbeginn 1914 gab es (unter neuer Leitung) auch im Budapester Orpheum Operetten. - Bislang wurde kaum beachtet, welch wichtige Funktion diese Etablissements im Hinblick auf die Produktion und Rezeption von Operetten hatten. Keinesfalls ist Franz Hadamowsky und Heinz Otte zuzustimmen, die in ihrer Geschichte der Wiener Operette kursorisch und in sich widersprüchlich konstatieren: »Die großen Singspielhallenunternehmungen, Ronacher, Colosseum, Apollo, führten schließlich wie die großen Theater abendfüllende Singspiele und Operetten auf, aber da sie die Gattung nicht allein und nicht dauernd pflegten, erlangten
M i t den Varietes hatte sich in W i e n ein Unterhaltungsgenre etabliert, das auf einer wesentlich s p e k t a k u l ä r e r e n E b e n e ein P e n d a n t z u r Vergnügungsg a s t r o n o m i e des Biedermeier darstellte u n d zugleich m i t der a l l m ä h l i c h e n Ablösung des zunächst lokalen durch einen m o n d ä n e n R a h m e n die W a n d lungen des städtischen B e w u ß t s e i n s nachvollzog. E i n e n entsprechenden, nicht g a n z ernstgemeinten Vergleich stellte das Fremdenblatt anläßlich der E r ö f f nung des Apollo a m 1. September 1904 an: Wenn es wahr ist, daß das Wiener Variete in direkter Linie von Wünschhiittel und Konsorten herkommt, die draußen vor der Hundsthurmerlinie in geflickten Trikots beim Schein trüber Petroleumlampen ihre Künste zeigten, dann muß man zugeben, daß eben dieses Variete es einigermaßen vorwärtsgebracht hat. Es ist, wie die gestrige Premiere im Apollo-Theater gezeigt hat, gesellschaftsfähig geworden und seine unterschiedlichen Darbietungen begegnen schon der Aufnahme durch kunstkritische Augen und Ohren. Die Festvorstellung in dem prachtvollen, die Umgebung weithin beherrschenden Hause war ein Ereignis für ganz West-Wien, das teilnahmsvoll die Zufahrt und das Zuströmen des Publikums zu unserem neuesten Variete verfolgte. Der große Theatersaal, mit dem der begabte Wiener Architekt Eduard Prandl ein Bijou geschaffen hat, bot einen glänzenden Eindruck. Unter den Erschienenen sah man Statthalter Grafen Kielmansegg mit Gemahlin, Bürgermeister Dr. Lueger mit vielen Gemeinde- und Stadträten, die Bezirksvorstehung ... Ein hübscher Prolog, der die Gäste in dem von Wiener Bürgern für die Bürger Wiens geschaffenen Musentempel herzlich begrüßte, versetzte das Auditorium sofort in die wärmste Stimmung. Hierauf folgte was gut und teuer ist im internationalen Variete mit jener bunten Abwechslung, die nun einmal des Varietes Eigenart ist. Die Herausbildung großstädtischer Varietes in W i e n f ü h r t über unterschiedliche E r s c h e i n u n g s f o r m e n von Massenunterhaltung, die sich bis in die Jahre des V o r m ä r z z u r ü c k v e r f o l g e n lassen. Bis zur M i t t e des J a h r h u n d e r t s a m ü sierte m a n sich, soweit m a n nicht die Vorstadttheater oder die S o m m e r b ü h nen in den Vororten besuchte, vor allem bei g r o ß e n öffentlichen Tanz- und Ballveranstaltungen einerseits u n d bei P r o d u k t i o n e n verschiedener sogenannter H a r f e n i s t e n - oder Volkssängergesellschaften andererseits. 3 0 Beliebte Gasthäuser u n d Vergnügungssäle innerhalb und außerhalb des Linienwalls, wie » Z u m Sperl«, D o m m a y e r s Casino, »Beim g r ü n e n Thor«, C a s i n o Zögernitz, Zweites K a f f e e h a u s i m Prater, Sträußlsäle i m Theater in der Josefstadt, Uni-
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sie keine tiefere Bedeutung. Auch die kleineren Etablissements, wie Hölle, Rideamus, Femina, Gartenbau, Schumann-Variete, die in ihren Programmen immer wieder auch Operetteneinakter brachten, trugen zur Entwicklung nicht wesentlich bei, wenn auch bedeutende Operettenkomponisten es nicht verschmähten, kleinere Werke auf diesen Bühnen oder Bühnchen erscheinen zu lassen. Sie deklarierten die Operetten meist nicht als solche, sondern nannten sie bescheiden musikalische Schwanke, oder Singspiele, oder Lustspiel mit Musik, um nicht der Konkurrenz und der Behörde eine Handhabe zum Einschreiten zu bieten.« F. Hadamowsky / H. Otte, Die Wiener Operette. Ihre Theater- und Wirkungsgeschichte, Wien 1947, S. 314f. Zur Thematik der Volkssängertradition in Wien vgl. die ältere und deutlich zeitgebundene, dabei aber äußerst informative Arbeit von Josef Koller, Das Wiener Volkssängertum. in alter und neuer Zeit. Nacherzähltes und Selbsterlebtes, Wien 1931. 37
versum, Sofienbadsaal, Odeon, »Zur goldenen Birn«, Ungers Casino, »Zur Stadt Belgrad«, »Zur blauen Flasche« und »Zum großen Zeisig«, engagierten die gefeierten Tanzkapellen und -Orchester der Zeit, zunächst unter Johann Strauß Vater und Josef Lanner, später unter Johann Strauß Sohn und Philipp Fahrbach, Josef und Eduard Strauß.31 Über die Attraktionen des 1808 eröffneten Apollosaals (Schottenfeld, Zieglergasse) etwa schrieb Friedrich Anton von Schönholz: Man denke sich einen ungeheuren oblongen Raum - der Ausdruck >Saal< gibt einen zu kleinen Begriff von der Sache - als Zauberhain dekoriert mit lebendigem Gewächs und natürlichen Felsen. Dieses eigentümliche Mittelding von Park und Salon überschaute man beim Eintritt von einer 20 Stufen hohen [.. .1 Estrade. Von diesem f.. -1 Emporium stieg man in den Hauptsaal hinab, dessen Mittelraum parkettiert für drei große Tanzkreise Raum bot. An den Seiten liefen Alleen von lebendigen Zedern, welche aus dem Boden wuchsen, dazwischen Statuen auf Postamenten und Ruhebänke. Hier schritt man auf grünem Tuchrasen zu dem andern Ende des Saales, wo sich in ganzer Breite eine Felsengruppe erhob, auf deren bewaldetem Gipfel Apoll die Sonnenrosse lenkte, umgeben von Musen, umflossen von magischem Lichtglanz. Verborgen hinter den Felsen und Gebüschen wirkte das starkbesetzte Orchester, nur für das Ohr vorhanden. - Drei Eingänge führten in die halbdunklen Höhlen und Galerien der Grotte. L- · -1 Weiter gelangte man zu den teils im edlen, teils im phantastischen Stil geschmückten Speisesälen und Stübchen. Das Geringste war hier außergewöhnlich in Form und Zusammenstellung. 32
In seinen Erinnerungen an das »Neue Elysium« (Johannesgasse) zitiert Victor Stöger 1899 aus einem illustrierten Führer, den der Unternehmer Josef Daum anläßlich der Eröffnung des Etablissements im März 1840 herausgebracht hatte: Der Eintritt in diese Localitäten wird durch ein Portal im Geschmack der indischen Architektur bezeichnet, auf welchem zwei Sphinxe einen transparenten Erdglobus (die Weltkugel) halten. Ueber eine bequeme Treppe L- · -1 gelangt der Besucher zuerst nach Asien, und nachdem er schon auf der Stiege mit den fremden Formen der asiatischen Baukunst sich befreundet, gelangt er in die inneren Gemächer eines indischen Nabobs. Die Vorhalle wird hier von acht Elephanten getragen, welche in ihren aufwärts geschwungenen Rüsseln zugleich den Licht-Apparat halten, und hier im beschränkten Räume als Vorbild der indischen Riesenbauten dienen sol31
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Eine materialreiche Schilderung dieser Vergnügungsszene gibt Hans Pemmer in seinem unpublizierten Manuskript Alt-Wiener Gast- und Vergnügungsstätten L1969J, das in drei Bänden im Wiener Stadt- und Landesarchiv verwahrt wird. Vgl. auch: Ruth Aspöck, Beitrag zu einer Theorie der Unterhaltung, dargestellt an Wiener Vergnügungen im 19. Jahrhundert, Diss, masch., Wien 1972; Johann Strauß (Sohn), Leben und Werk in Briefen und Dokumenten, hrsg. v. Franz Mailer, Bd. 1 (1825-1863), Tutzing 1983; Linke, Musik erobert die Weif, Helmut Kretschmer, Strauß-Stätten, in: Johann Strauß. Unter Donner und Blitz, Begleitbuch und Katalog zur 251. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1999, S. 199-209; Frank Miller, Johann Strauss Vater. Der musikalische Magier des Wiener Biedermeier, Eisenburg 1999. Friedrich Anton von Schönholz, Traditionen zur Charakteristik Österreichs, seines Staats- und Volkslebens unter Franz. /., 2 Bde., München 1914, hier Bd. 1, S. 234f.
len. Ein daran stoßender Salon [...1 führt durch eine Abtheilung, in welcher die Credenz befindlich, und an welcher asiatisch gekleidete Mädchen serviren, zum eigentlichen Prunksaale, welcher in der hintersten Nische ein Orchester, dessen Musiker asiatisch costümirt sind, birgt. Die Motive aller hier vorkommenden Ornamente sind entlehnt aus jenen Bauwerken, die noch aus der ältesten Zeit am Ganges in Ostindien aus der Umgebung vorfindlich sind. |\ · -1 Die Beleuchtung ist hier absichtlich [.. .1 gedämpft, um die Apathie der Asiaten zu bezeichnen, und das folgende Europa desto glanzvoller erscheinen zu machen. [.. .1 Hier erblickt der Eintretende zuerst das Zeichen der Lust und Fröhlichkeit, einen Maibaum, sein Ohr berühren bekannte, zum Herzen dringende Lieder und Ländler, der Beschauer ist mit Wald von der einen Seite und der Fronte eines Tirolerhauses auf der anderen umgeben [...] Neben dieser Abtheilung (dem gemüthlichen Europa) führt eine breite Treppe in die dritte Abtheilung: einen im modernsten Geschmacke angelegten und verzierten Tanzsaal [.. .1 die flammende, zur Tageshelle gesteigerte Gasbeleuchtung, Strauß'sche und Lanner'sche Conversations-Musik werden wohl den Aufenthalt im (eleganten) Europa errathen lassen |\ · -1 in der daran anstoßenden vierten Abtheilung [Afrika .. .1 befindet [man] sich in dem Innern eines morgenländischen MilitärZeltes, welches in Egypten aufgeschlagen und daher am oberen Ende eine Aussicht auf den Tempel von Tenthyra, am unteren Ende die Einsicht in das Innere eines geheimnißvollen Tempels und in der Ferne durch diesen den Anblick der großen Pyramiden von Gizeh und der Sphinx gewährt. Der Raum dieses Tempels ist für die Productionen aus dem Gebiete der scheinbaren Zauberei bestimmt [.. .1 Aus diesem Zelte in der geraden Linie seiner Länge weiset ein mit Rohr bedeckter Gang, gleichsam das Innere einer Indianer-Wohnung, nach Amerika. 33
Unter den von Stöger angeführten Vergnügungen waren »Theatervorstellungen, lebende Bilder, Balletts, Pantomimen, Nebelbilder und allerlei optische Darstellungen [...] die Dirigenten der Tanzmusik waren nacheinander: Philipp Fahrbach, der beliebte Ballin, Morelly, dann Carl Drahanek, Leitermeier, Weinlich und zuletzt Koväcs.«34 Zum Teil in den gleichen Etablissements wie die Tanzkapellen, beim Sperl, im »Grünen Thor«, »Zur Stadt Belgrad«, im Universum und in der »Blauen Flasche«, aber auch in den Saallokalitäten »Zum rothen Hahn«, »Hotel schwarzer Bär«, Wedl und »Zur Bretze« traten Volkssänger mit Couplets, Parodien von Opernnummern, Soloszenen und Ensembles auf. Die Aufbruchstimmung der frühen Ringstraßenzeit eröffnete nun für die Volkssängergesellschaften neue Aussichten. Um 1860 erhielten einige Künstler zunächst ambulante Singspielhallenkonzessionen; die entsprechenden Gesellschaften zogen weiterhin von Lokal zu Lokal, konnten jedoch ihr Repertoire um größere dramatische Nummern erweitern. Wenig später wurden erste stabile Singspielhallen errichtet. Während die alteingesessenen Lokalitäten noch immer Tanzsoireen und Ballkränzchen abhielten und Volkssängerabende gaben, etablierten sich mit Fürsts Singspielhalle im k. k. Prater, der Singspielhalle im Etablissement Frey, Elterleins Casino sowie Drexlers Singspielhalle 33
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Victor Stöger, Das Elysium, in Wien. Ein Erinnerungsbild Zeit, in: Alt-Wien 8 (1899), S. 37-44, hier S. 41f. Ebd., S. 43.
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feste Häuser für ebenfalls vorwiegend lokal orientierte Programme. An diese lokale Tradition knüpfte auch Robert Löwe 1869 mit der Eröffnung seines »Orpheum« im Gebäude des Harmonietheaters (IX., Wasagasse) noch an; in kurzer Zeit entwickelten er und sein Nachfolger Eduard Danzer dieses Haus jedoch zu einer Spezialitätenbühne, die neben einigen Volkssängerproduktionen ein zugkräftiges internationales Programm von Tänzern, Musikclowns, Chansonetten, Gymnastikern, Tiernummern und vielerlei anderen Attraktionen und Kuriositäten zeigte. Der Erfolg des Orpheum veranlaßte Löwe zur Gründung des »Neuen Wiener Orpheum« 35 anläßlich der Weltausstellung im Prater 1873 und zur Übernahme des Strampfer-Theaters, das er ab 1875 für einige Zeit als »Wiener Stadt-Orpheum« führte. Eine Vielzahl vergleichbarer Etablissements folgte im Laufe der 1870er Jahre, wie Friedrich Schlögl kritisch-ironisch in seinen Kleinen Culturbildern aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau erzählt: Mit den >Cafes chantants< begann der Rummel und die >Orpheums< [Braunhirschengrundl, >Odeons< fSchottenbastei], >Elysiums< [Johannesgasse bzw. Maximilianstraßel, >01ympsWalhallas< [Währinger Straße], >Colosseums< [Mariahilfer Straßel, >Alhambras< [Taborstraßel, >Alcazars< [Ottakringer Straße, Hernals], >Herculanums< [Wienstraße], >Sans-Soucis< [Darwingasse] und unzählbare pur et simple >Tingel-Tangel< folgten in hastiger Eile. Ganz Wien war plötzlich überschwemmt von derlei Talmikunstinstituten und eine A r m e e von englischen, spanischen, französischen, amerikanischen und afrikanischen zigeunernden >Artisten< und marodirenden Athleten und ähnlichen Virtuosen, eine Legion von singenden, pirouettirenden, balancirenden, musicirenden, kugelwerfenden und schlittschuhlaufenden Künstlerinnen (sämmtlich laut Programm >Sterne erster GrößeKräfte< sämmtlicher Schaubuden des Erdballs sich ein Rendezvous gegeben zu haben schienen. Ein verwirrender Anblick, der aber doch der gaffenden Masse ein bewunderndes >Ah!< entlockte. Denn was gab's da so plötzlich Alles zu hören, zu sehen und zu bestaunen! 36
Während die Zahl der offiziellen Theater, die der mit großer Geschwindigkeit zunehmenden Bevölkerung Wiens Unterhaltungsmöglichkeiten geboten hätten, vorerst noch relativ begrenzt blieb, entfaltete sich also im Bereich derjenigen Lokalitäten, die auf der Grundlage von Singspielhallenkonzessionen arbeiteten und den theatralischen Produktionen einen gastronomischen Rahmen gaben, in kurzer Zeit ein reichhaltiges Angebot. Doch auch noch paral35
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Ein zeitgenössischer Führer nennt als Attraktionen des Neuen Wiener Orpheum unter anderem »Französische Chansonettensängerinnen, Ballettänzerinnen, Pantomime etc.«; Josef Wimmer, Der Prater. Führer für Fremde und Einheimische, Wien 1873. Friederich Schlögl, Der Tingel-Tangel-Narr, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2 (»Wiener Luft«), Wien/Pest/Leipzig o. J., S. 177-189, hier S. 185.
lel zu den Theaterneugründungen der 1890er Jahre setzte sich der Zuwachs in der Vergnügungsgastronomie fort. Im Anschluß an Danzers Orpheum entstanden nach und nach mit dem Ronacher (1888), dem Colosseum (1898) und dem Apollo (1904) weitere Bühnen, die Spitzenleistungen an Akrobatik, Gesangsnummern und Tanz boten; die internationale Konkurrenz führte in den verschiedenen Varietekünsten zur Entwicklung exquisiter Spezialitäten auf höchstem Niveau.37 Vorübergehend waren auch die traditionsreichen Wiener Tanzkapellen und die seit den 1870er Jahren immer beliebteren Militärkapellen noch für die gemischten Programme von Bedeutung. Der zunehmend internationale Anstrich der Varietebühnen traf in der Millionenstadt Wien den Nerv eines breiten Publikums, dessen Schau- und Sensationsbedürfnis durch die spektakulären Wildwest-Vorführungen von Buffalo Bill alias William Cody mit echten Indianern (1890)38 und durch beängstigendprickelnde Völkerausstellungen, wie die von Peter Altenberg literarisch verarbeitete Aschanti-Ausstellung (1896) im Tiergarten des Praters 39 oder die 37
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Das zitierte Urteil Schlögls über die Qualität der Varietevorführungen entspricht zumindest f ü r die großen Häuser nicht den Tatsachen. - Die wichtigsten vor dem zweiten Weltkrieg international gefragten Varietekünstler sind in den beiden Publikationen versammelt, die zum 40jährigen bzw. 50jährigen Bestehen des Berliner Wintergartens erschienen: Heinz Ludwigg (Hrsg.), 40 Jahre Wintergarten. Festschrift zur Wiedereröffnung nach erfolgtem Neubau August 1928, Berlin 1928; Festschrift 50 Jahre Wintergarten 1888-1938, Berlin 1938, Nachdruck: Hildesheim 1994. - Eine herausragende Rolle spielte im Rahmen des Varietes der Tanz, sowohl als Solotanz wie als Gruppentanz. Für Anschauungsmaterial zum Solotanz siehe Brygida Ochaim / Claudia Balk, Variete-Tänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne, Ausstellungskatalog des Deutschen Theatermuseums München, Frankfurt a. M./Basel 1998; eine tanzhistorische Analyse bietet Gunhild Oberzaucher-Schüller, Vorbilder und Wegbereiter. Uber den Einfluß der »prime movers« des amerikanischen Modern Dance auf das Werden des Freien Tanzes in Mitteleuropa, in: dies. (Hrsg.), Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven 1992, S. 347-366. Zur Bedeutung der »Gruppe« vgl. Reinhard K l o o s s / T h o m a s Reuter, Körperbilder. Mensche nornamente in Revuetheater und Revuefilm, Frankfurt a. M. 1980. Vgl. Peter Altenberg, Bei Buffalo Bill, in: ders., Wiener Nachtleben, hrsg. v. Burkhard Spinnen, Frankfurt a. M. 2001, S. 44. Für eine neuere Beschreibung von Altenbergs Aschanti-Erlebnis und seiner daraus entstandenen Miniaturensammlung Ashantee vgl. Andrew Barker, Telegrammstil der Seele. Peter Altenberg - Eine Biographie, Wien/Köln/Weimar 1998 (Literatur und Leben 53); dort auch weitere Literatur. In überzeugender Weise diskutieren Ian Foster und Alexander Honold Altenbergs Text vor dem breiteren Hintergrund der Exotismen des späten 19. Jahrhunderts: I. Foster, Altenberg's African Spectacle: Ashantee in Context, in: Ritchie Robertson / Edward Timms (Hrsg.), Theatre and Performance in Austria. From Mozart to Jelinek, Edinburgh 1993 (= Austrian Studies IV L1993J), S. 3 9 - 6 0 ; Α. Honold, Peter Altenbergs »Ashantee«. Eine impressionistische cross-over-Phantasie im Kontext der exotistischen Völkerschauen, in: Thomas Eicher (Hrsg.), Grenzüberschreitungen um 1900. Österreichische Literatur im Übergang, Oberhausen 2001 (Übergänge - Grenzfälle 3), S. 135-156. Als besondere Kuriosität war am 13. Oktober 1896 im Neuen Wiener Tagblatt zu lesen: »Von der Direction des Carl-Theaters wird uns mitgetheilt: Das große Inter41
Vorführung eines Somali-Dorfes in der Vergnügungsstadt »Venedig in Wien« (1910), besonders angesprochen wurde. Mit der Etablierung glamouröser Varietes folgte Wien einer in den internationalen Metropolen verbreiteten Mode.40 Eine weitere Spielart der Wiener Vergnügungsgastronomie auf der Grundlage einer Nummerndramaturgie bildeten - ebenfalls nach Vorbildern aus Paris, Berlin und München - ab 1900 die neu entstehenden Kabaretts mit ihren teils weitgespannten literarischen Ambitionen. Gleichzeitig ist zu beobachten, daß die Wiener Varietes allmählich Annäherungen an reguläre Theater versuchten: Entsprechende Konzessionserweiterungen sollten die Aufführung von Operetten und Revuen ermöglichen.
Topographie der Stadt und des Theaters: Berlin zum Vergleich Die beiden Hoftheater und die Praterbühnen, die im Zuge des Ringstraßenbaus und der Weltausstellung entstanden, die privaten Vorstadttheater älteren und neueren Datums und die unterschiedlichen Ausformungen der modernen Großstadtunterhaltung wie Variete und Kabarett repräsentieren die wichtigsten Schichten, die sich aus der Theaterlandschaft Wiens zu Beginn des ersten Weltkriegs herauspräparieren lassen. Die historische Verortung dieser Schichten macht die Verschränkung des Theaters/Unterhaltungstheaters mit den jeweiligen politischen und sozialen Rahmenbedingungen faßbar: Sowohl am Beispiel der Theaterordnung Josephs II. in der noch festungsartigen Stadt des späten 18. Jahrhunderts als auch an der Veränderung der Theatersituation nach dem Abbruch der Basteien um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird augenfällig, wie sich städtische Entscheidungen und Entwicklungen institutionell und zugleich ästhetisch niederschlugen: hier in der räumlichen und künstlerischen Ermöglichung eines Volkstheaters in Konkurrenz zum Hoftheater, dort in der hektischen Auffächerung der Theaterszene nicht zuletzt nach den gründerzeitlichen Prinzipien von Profit und Innovation. Während die aufgrund gesellschaftspolitischer Zielsetzungen projektierten Vorstadttheater
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esse, welches die neue Operette des Carl-Theaters >Der Zauberer vom Nil< hervorgerufen, ist bis in das Dorf der Aschanti-Neger gedrungen und 30 der schwarzen Gäste haben sich zum Besuche der heutigen Vorstellung bei der Direction angemeldet. Director Jauner hat den exotischen Gästen die erforderlichen Plätze bereitwilligst zur Verfügung gestellt.« - Arthur Schnitzler machte die Phantasien, die sich mit den »Negern im Tiergarten« verbanden, zum Thema seiner Erzählung Andreas Thameyers letzter Brief (1900). Die Entwicklung des Varietes aus den Formen vormärzlicher Unterhaltung hat f ü r den eingegrenzten Bereich Berlins Wolfgang Jansen nachgezeichnet; W.Jansen, Das Variete. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunst, Berlin 1990. Jansen versucht auch Bestimmungen der Begriffe »Tingel-Tangel«, »Cafe chantant«, Singspielhalle, Spezialitätenbühne und Variete.
des späten 19. Jahrhunderts, das Raimundtheater und das KaiserjubiläumsStadttheater, die gegenseitige Bedingtheit von künstlerischem Programm, ideologischer Ausrichtung und räumlich-sozialer Positionierung innerhalb der Stadt besonders klar veranschaulichen, überwog bei den nach 1900 eröffneten, bewußt den verbleibenden städtischen Raum füllenden Theatern erneut ein kommerzielles Interesse. Die Spezifika der Theatertopographie Wiens und die Verschränkung der hiesigen städtebaulichen und demographischen Gegebenheiten mit den Funktionsweisen des Unterhaltungstheaters werden besonders augenfällig bei einem Vergleich mit den entsprechenden Strukturen in der zweiten führenden Großstadt des deutschsprachigen Raumes, in Berlin. Welche Problematik sich hinter der tradierten Konstruktion einer Polarität »Wien versus Berlin« im Sinne zweier konkurrierender Moderne-Konzeptionen verbirgt, haben Peter Sprengel und Gregor Streim deutlich gemacht.41 Gleichwohl läßt sich behaupten, daß Wien jenen Status, den man als >kulturellen Impulsgeber< bezeichnen könnte, spätestens mit dem ersten Weltkrieg an Berlin abgegeben hat. Faktisch verlor Wien erst mit dem Zerfall der K.u.k.-Monarchie 1918 jenes riesige territoriale Reservoir, als dessen kultureller Mittel- und Zielpunkt sich die Reichshaupt- und Residenzstadt ursprünglich konstituiert hatte, und büßte somit im Gegenüber zu Berlin wichtige infrastrukturelle und politische Funktionen ein. Doch bereits zwei Jahrzehnte zuvor, noch im 19. Jahrhundert, äußerte sich das komplexe, häufig ideologisch gedeutete Konkurrenzverhältnis der beiden Städte in ganz spezifischer Weise.42 Untersucht man etwa das Mobilitätsverhalten von Künstlern und Intellektuellen zwischen österreichisch-ungarischer Provinz und Wien einerseits, zwischen Wien und Berlin andererseits, so wird ein Modell sichtbar, das sich vereinfachend auf die Formel bringen ließe: Wien war Ziel derjenigen, die avancieren wollten; Berlin entwickelte sich zum Ziel derjenigen, die bereits avanciert waren. In diesem Verhältnis bilden sich die differierenden stadtgeschichtlichen Entwicklungen in Wien und Berlin zwischen 1850 und 1930 ab. Wien war aufgrund seiner staatspolitischen Position innerhalb des Heiligen Römischen Reiches beziehungsweise der österreichisch-ungarischen Monarchie bereits ein wichtiges Zentrum gewesen, noch bevor ab der Mitte des 19. Jahrhunderts schubweise Zuwanderungsbewegungen allmählich eine Millionenstadt entstehen ließen, und bildete traditionell den Anlaufpunkt für Künstler aus allen Teilen der Monarchie. Im 41
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Peter Sprengel / Gregor Streim, Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik, Wien/Köln/Weimar 1998 (Literatur in der Geschichte - Geschichte in der Literatur 45). Für umfangreiches Material zum Wien-Berlin-Diskurs vgl. auch Gerhard Meißl, Hierarchische oder heterarchische Stadt? Metropolen-Diskurs und MetropolenProduktion im. Wien des Fin-de-siecle, in: Roman Horak / Wolfgang Maderthaner/ Siegfried Mattl / Gerhard Meißl/Lutz Musner/Alfred Pfoser (Hrsg.), Metropole Wien. Texturen der Moderne, 2 Bde., Wien 2000 (Wiener Vorlesungen. Konversatorien und Studien 9), Bd. 1, S. 284-375.
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Hinblick auf das Unterhaltungstheater bedeutete das bis ins späte 19. Jahrhundert, daß man sich als Theaterdirektor, (Militär-)Kapellmeister oder Darsteller aus entfernten Provinzen über verschiedene Städte Deutschösterreichs wie etwa Graz oder Salzburg schließlich Wien näherte, wo dann die Möglichkeit bestand, an einer der beliebten Bühnen zum Star aufzusteigen. Die Funktion Berlins war lange Zeit eine gänzlich andere, obwohl auch hier bereits in den frühen Gründerjahren eine Explosion der Bevölkerungszahlen zu verzeichnen war. Berlin gelangte erst nach der Reichsgründung 1871 zu überregionaler Bedeutung, war noch um die Mitte des Jahrhunderts eine Residenzstadt, die in bezug auf kulturelle und wirtschaftliche Belange hinter Städten wie Hamburg, Breslau, Leipzig oder Dresden womöglich sogar zurückblieb. Nach 1900 und vor allem in den 1920er Jahren wurde Berlin dann jedoch zum Sammelpunkt für erfolgreiche Vertreter der unterschiedlichsten Professionen, von dem die entscheidenden künstlerischen Signale ausgingen. In den 1870er Jahren hatten sich die Theaterverhältnisse in Wien und Berlin formal geähnelt - hier wie dort gab es eine große Zahl von Theaterneugründungen, standen sich Hoftheater und privat geführte Theater mit populär-lokaler Ausrichtung gegenüber; diese Verhältnisse hatten stadtgeschichtlich bedingt aber ganz unterschiedliche Voraussetzungen und mündeten in ebenso unterschiedliche Fortentwicklungen. In Wien blieb auch in Zeiten der verwaltungstechnischen und baulichen Integration von Innenstadt und Vorstädten die Zuordnung der immer zahlreicheren Bühnen zu bestimmten städtischen Räumen und Milieus das Hauptmerkmal der Theaterszene, verfolgten Initiatoren von Theaterneugründungen in der Regel den Gedanken einer Verteilung der Theater auf das Stadtgebiet und ein entsprechendes Konzept im Hinblick auf das zu erwartende Publikum. Die Gliederung der Stadt in mehrere Teilstädte, die bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts gemeindepolitische Realität gewesen war, behielt auch in den Strukturen der Metropole Wien von 1910 ihre Relevanz und wirkte, wenn auch weniger stark, weiterhin auf die Funktionsmechanismen des Theaters ein. Der Gliederung der Stadt entsprach die Auffächerung des um die Operette zentrierten Unterhaltungsrepertoires, dessen vielfältige Ausformungen unter finanziellen wie ästhetischen Gesichtspunkten auf je spezifische Zuschauerkreise zugeschnitten wurden. Die Etablierung der Operette als dominierende Form des unterhaltenden Musiktheaters erfolgte in Wien bereits zu einer Zeit, als die traditionelle Abgrenzung zwischen den sozialen Milieus innerhalb der Stadt noch eine immense Wirksamkeit besaß und zudem durch das Fehlen ausreichender öffentlicher Verkehrsmittel die Voraussetzung für weitgehende Mobilität nicht gegeben war. Die >OperettentopographieStadtteiltheater< fungierten, waren nordwestlich das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater in der Schumannstraße, südlich das Luisenstädtische Theater in der Dresdener Straße und das Belle-Alliance-Theater jenseits des Halleschen Tores, südöstlich das auf dem Grund eines älteren Sommertheaters errichtete WallnerTheater in der Wallnertheaterstraße und das Ostend-Theater in der Großen Frankfurter Straße. Bei all diesen Bühnen handelte es sich, vergleichbar der Situation in Wien, um lokal gebundene Häuser, sofern sie nicht den Charakter von Ausflugszielen hatten, wie dies etwa beim Prater-Theater im Tiergarten der Fall war. Die Zuordnung der Theater zu städtischen Räumen ließe sich als >Residenzstadtmodell< beschreiben. Spätestens ab 1890 wurde das Residenzstadtmodell mit seinen lokal gebundenen Theatern jedoch vom >Metropolenmodell< verdrängt, in dem die Theater völlig veränderten Ansprüchen folgen mußten - sie gewannen nicht nur eine neue Funktion innerhalb Berlins, sondern für den gesamten deutschsprachigen Raum. Und erst innerhalb 45
dieses Modells erfolgte nun die tatsächliche Etablierung der Operette in Berlin, die somit in einem völlig anderen topographischen Rahmen situiert war als die Operette in Wien. Geht man der Geschichte der Berliner Bühnen, ob Theater oder Unterhaltungsetablissements, zunächst bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nach - also parallel zur städtischen Veränderung und rasanten Bevölkerungsentwicklung - , so fallen die unzähligen Umbenennungen, Neueröffnungen, Pleiten und Spielplanwechsel auf: Die Bühnen waren gezwungen, sich angesichts der Neuordnung der Stadt, der veränderten Gewerbebedingungen und der Konkurrenz durch die zahlreichen Theater- und Varieteneugründungen vor allem in den 1880er Jahren ständig neu zu positionieren. Spätestens in den 1890er Jahren erlebte die überwiegende Mehrzahl der älteren Bühnen eine einschneidende >Neugründungalten< Theater im >neuen< Berlin führen zu dem Befund, daß diese Bühnen offenbar nur überleben konnten, wenn sie eine bewußte Umorientierung vollzogen. Rückblickend fällt auf, daß die genannten Theater und Vergnügungsetablissements ursprünglich nahezu durchwegs einen wie auch immer gearteten gemischten Spielplan verfolgt hatten, in dem musikalische Werke unterschiedlichster Valeur eine wichtige Rolle spielten. Die Umorientierung der älteren Häuser nach den Erfordernissen des Metropolenmodells brachte nun - und dies wird vor allem im Vergleich mit den Spielplänen der neu errichteten Theater deutlich - in den meisten Fällen eine klare Spezialisierung des Repertoires. Diese Spezialisierung ist ein Indiz dafür, daß die Mehrzahl der Bühnen in der inzwischen rund zwei Millionen Einwohner zählenden Stadt nicht mehr auf einen engen Kreis von Zuschauern etwa eines Stadtteils bezogen waren, sondern daß seitens der Betreiber von einer verstärkten Mobilität des Publikums ausgegangen werden konnte, für die nicht zuletzt der Ausbau der Stadtbahn entscheidend war. Unberücksichtigt bleiben hierbei die kleinen, häufig kurzlebigen Bühnen jener Bezirke, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vom eigentlichen Stadtgebiet Berlins abgekoppelt waren, wie etwa das Stadttheater in Alt-Moabit, das Volkstheater Weißensee, das Mozarttheater in Zehlendorf oder das Operettenhaus in Schöneberg; sie behielten den Lokalcharakter vorerst bei. Ein weiterer Sonderbereich ist der Kreis des jüdischen Unterhaltungstheaters im Umfeld des Scheunenviertels am Alexanderplatz. 43 Die theatertopographische Bedeutung von Spezialisierungstendenzen läßt sich beispielhaft an den Sprech- und den Varietebühnen Berlins nachvollziehen. Nicht zuletzt die klare Herausbildung dieser beiden theatralischen Formen, die sich etwa ab 1880 in der Neugründung zahlreicher entsprechender Bühnen manifestierte, verstärkte im Kontext einer Millionenstadt die Notwendigkeit zur Spezialisierung auch des musikalischen Theaters hin zu einem eindeutig definierten Angebot an den Zuschauer. Der Emanzipation des Schauspiels trugen in Berlin schon frühzeitig die Gründung 43
Vgl. hierzu Peter Sprengel, Scheunenviertel-Theater. Jüdische Schauspieltruppen und jiddische Dramatik in Berlin (1900-1918), Berlin 1995 (Berliner Texte. Neue Folge 12) (enthält Abdrucke mehrerer Zensurtexte, darunter zwei Operettenlibretti); ders., Populäres jüdisches Theater in Berlin von 1877 his 1933, Berlin 1997. Siehe auch Heidelore Riss, Ansätze zu einer Geschichte des jüdischen Theaters in Berlin 1889-1936, Diss., Frankfurt a. M. 2000. 47
des Deutschen Theaters und des Vereins Freie Bühne, der Bau des LessingTheaters sowie die zeitweise Umwandlung des Neuen Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters und des Wallner-Theaters in Schiller-Theater Nord und Schiller-Theater Ost Rechnung, noch bevor dann ab der Jahrhundertwende nach und nach zahlreiche weitere Sprechbühnen mit anspruchsvollem literarischem Programm entstanden. Aus dem Bereich der Spezialitätentheater, die vor allem um 1890 einen Boom erlebten, seien nur erwähnt: der Wintergarten, Kaufmann's Variete in den Königskolonaden und das Etablissement Flora als Vorläufer des Apollo-Theaters, daneben die literarischen Varianten wie Ernst von Wolzogens »Ueberbrettl« und dessen diverse Nachfolgeprojekte ab 1901. Auf beiden Gebieten, dem Sprechtheater und dem Variete, erwarb sich Berlin eine führende Position, wurde einerseits zum Brennpunkt, in dem sich die avanciertesten Künstler trafen, und strahlte andererseits in die Regionen aus. Die Berliner Varietes führten die exquisitesten Tanz-, Akrobatik- und Schaunummern vor, Theatermacher wie Otto Brahm und Max Reinhardt setzten Standards in der Präsentation klassischer und moderner Dramatik. Die Bevölkerungsentwicklung im Inneren und die Expansion des Stadtgebiets nach außen führten in Wien und Berlin zu unterschiedlichen Stadtkörpern, deren Charakteristika spätestens ab der Jahrhundertwende auch in ihrer Relevanz für die Theaterszene und das potentielle Publikum deutlich sichtbar wurden: Während in Wien eine konzentrische Grundstruktur mit relativ selbständigen, aber auf das Zentrum bezogenen Segmenten erhalten blieb, lösten sich in Berlin zwei Zentren voneinander ab: Berlin Mitte und der Alte Westen hier, der Neue Westen dort. Im Alten Westen bildete sich entlang der Linie Schiffbauerdamm-Friedrichstraße-Unter den Linden eine Art Theater- und Vergnügungsmeile; der Neue Westen zwischen Charlottenburg und Wilmersdorf erschloß die Theaterstandorte Kurfürstendamm, Bahnhof Zoologischer Garten und Bismarckstraße. Die Emanzipation des Neuen Westens hatte sich bereits vor der Jahrhundertwende abgezeichnet, als Bernhard Sehring 1896 zwischen Bahnhof Zoologischer Garten, Savignyplatz und Kaiser-WilhelmGedächtniskirche das Theater des Westens erbaute. In den folgenden Jahrzehnten etablierte sich die zunächst noch selbständige Gemeinde Charlottenburg als zweites kulturelles, geschäftliches und gesellschaftliches Zentrum, das im Bereich des Theaters bald sämtliche Sparten aufzuweisen hatte: Oper, später ausschließlich Operette im Theater des Westens, Schauspiel, dann Operette im Theater am Nollendorfplatz (1906), Oper, dann Operette an der Kurfürsten Oper (1911), die später als Deutsches Künstlertheater zunächst Schauspiel und dann in den 1920er Jahren wieder Musiktheater, vor allem Operette, spielte, Oper am Deutschen Opernhaus in der Bismarckstraße (1912), Operette und Kabarettrevue im Nelson-Theater am Kurfürstendamm, Operette im Neuen Theater am Zoo (1921), ein gemischtes Programm im 3000 Zuschauer fassenden Plaza-Theater (1928) sowie Schauspiel und Kabarett in allen Varianten an diversen Bühnen rund um den Kurfürstendamm. 48
Die Konzentration zahlreicher Bühnen zu einem Vergnügungsviertel verweist nicht zuletzt auf ein gegenüber der Residenzstadt des 19. Jahrhunderts verändertes Besucherverhalten: Die zwischen Friedrichstadt und Friedrich-Wilhelmstadt angesiedelten Theater - direkt an der Friedrichstraße beziehungsweise in der wenige Schritte entfernten Behrenstraße lagen die Vergnügungspaläste Großes Schauspielhaus, Wintergarten, Admiralspalast, Komische Oper und Metropoltheater mit insgesamt weit über 10 000 Plätzen, in unmittelbarer Nähe befanden sich nördlich der Spree unter anderem Max Reinhardts Deutsches Theater mit den Kammerspielen, das Lessing-Theater, das Operettentheater am Schiffbauerdamm sowie das Neue Operettentheater bzw. Komödienhaus - konnten von zunehmender innerstädtischer Mobilität und einem Zuwachs des nationalen und internationalen Tourismus ausgehen. Dieser Tourismus war es unter anderem, der es möglich machte, in den 1920er Jahren am Großen Schauspielhaus, an der Komischen Oper und am Admiralspalast vergleichbar strukturierte Operetten- und Revueproduktionen auf engstem städtischen Raum en suite zu spielen. Wurde also in Berlin sowohl hinsichtlich der Theatertopographie als auch hinsichtlich der prinzipiellen städtischen Strukturen das Metropolenmodell spätestens um 1900 zum gültigen Grundmuster, blieb die Theatertopographie Wiens an die Residenzstadtstrukturen der Vorgründerzeit gebunden. Eine mit den Berliner Verhältnissen vergleichbare Umstrukturierung der Theaterszene hat sich in Wien nicht vollzogen, und ein Phänomen wie die Konzentration zahlreicher Bühnen zu einem Theater- oder Vergnügungsviertel hat es hier nie gegeben. Die Operette als dominierendes Unterhaltungsgenre und ihre Topographie verwiesen in Wien weiterhin auf den Stadtkörper des 19. Jahrhunderts.
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Operette an Wiener Theatern
Die Freilegung der theatertopographischen Schichten hat die Verschränkung zwischen den Stadt- und den Theaterstrukturen Wiens auf mehreren Ebenen sichtbar werden lassen: So erschienen die Theater in ihrer ganz handgreiflichen Gestalt und in ihrer Einbindung in grundlegende städtebauliche Prozesse als Zeichen gesellschaftlicher Veränderungen. Als öffentliche Institutionen, Versammlungsorte für je spezifische, auch in sich heterogene Bevölkerungsausschnitte waren sie Bestandteile einer kulturellen Infrastruktur, deren Anforderungen und Funktionsweisen sich im Zuge demographischer Verschiebungen immer wieder neu konstituierten. Als Einrichtungen, in denen Geschichten verkauft werden sollten, waren die Theater von herrschenden wirtschaftlichen Konstellationen ebensowenig zu trennen wie von den sich wandelnden Moden. Die Bedeutung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und städtebaulichen Entwicklung Wiens als Voraussetzung für den Theaterbau und damit für das theatertopographische Antlitz der Stadt wurde bereits um 1900 von Adam Müller-Guttenbrunn in einer Analyse einiger wichtiger Theaterneugründungen des 19. lahrhunderts klar herausgearbeitet, wobei der Autor jene allzu drastischen Bewertungen vermied, die sich in vielen seiner Bestandsaufnahmen zur Wiener Theaterszene finden: Wie sind all diese Bühnen entstanden? Von wem und mit welchen Mitteln wurden sie errichtet? L-..J ich habe mich davon überzeugt, daß die ausführliche Beantwortung dieser materiellen Fragen ein Stück Wiener Kulturgeschichte gäbe, das nicht minder interessant wäre, als die ästhetische Geschichte des Wiener Bühnenwesens. L-..J Überaus interessant ist es, zu verfolgen, wie einer jeden dieser privaten Theatergründungen Lnach 1872J der Charakter der Epoche ihrer Entstehung bis ins kleinste anhaftet, wie geistige oder soziale Strömungen der Zeit solch einem Theaterbau ihr Bild aufprägen. Nach dem Falle der Wiener Basteien und Festungswälle, in dem durch die Bürgerkraft verjüngten Wien, konnte ein neues Schauspielhaus nur Wiener S T A D T T H E A T E R heißen. Ein Anteilschein konnte in jener Zeit des >volkswirtschaftlichen Aufschwunges< nur auf die Summe von Tausenden (2500 Gulden) lauten, denn mit Hunderten rechnete man gar nicht. Das bürgerliche Mäcenatentum dieser Epoche trat ein bißchen protzig auf den Plan. Die nächste Wiener Theatergründung, die in der Blütezeit des Ministeriums Taaffe und des Kampfes zwischen Deutschtum und Tschechentum zustande kam, konnte natürlich nur >DEUTSCHES< Volkstheater heißen. Die tiefere Absicht, dieses Theater deutsch zu führen, war bei niemandem vorhanden, aber der äußerliche Umstand, daß damals im zehnten Wiener Bezirk eine tschechische Schule errichtet wurde, genügte der oppositionellen Inneren Stadt, das Selbstverständliche, daß Wien ein neues deutsches und kein anderssprachiges Theater erhalten sollte, ganz besonders zu betonen. Die 51
geänderten finanziellen Verhältnisse der nachkrachlichen Zeit prägten sich darin aus, daß die Anteilscheine des Deutschen Volkstheaters bloß 500 Gulden kosteten f.. -1 In der Zeit, da aus Neu-Wien >Groß-Wien< geworden war, wurde das vorortliche Bezirkstheater ohne Logen, das Volkstheater kath'exochen erfunden, die Gründerscheine [des Raimundtheaters] wurden auf 400 Gulden und sogar auf halbe Anteile zu 200 Gulden herabgesetzt, und es beteiligten sich mehr als 600 Familien an der Zeichnung eines Kapitals von 700000 Gulden. Und das KaiserjubiläumsStadttheater, das gleichzeitig mit dem allgemeinen Wahlrecht und der Volksherrschaft im Rathause auf der Tagesordnung erschien, es ist bereits dabei angelangt, überhaupt nur Anteilscheine zu 100 Gulden auszugeben, es erhebt sich auf der breitesten volkstümlichen Grundlage, die bisher für ein der Kunst gewidmetes Unternehmen geschaffen werden konnte.1
Während Müller-Guttenbrunn in dieser Beschreibung größere gesellschaftliche Gruppen zum Theater in Beziehung setzt, erweist ein vergleichender Blick auf die Eintrittspreise der wichtigsten Bühnen im letzten Vorkriegsjahr, in welchem Maß die wirtschaftliche Situation des einzelnen, die sich meist auch in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Wohngegend niederschlug, seine Position innerhalb der theatralischen Topographie Wiens mit ihrem Zusammenhang von Institution und Repertoire definierte. 2 So lagen das Burgtheater und das Deutsche Volkstheater, um 1910 die beiden wichtigsten Sprechbühnen Wiens, in ihren Preisen um mehr als 100 Prozent auseinander; ein Parkettsitz kostete 13 Kronen im Burgtheater gegenüber 5,60 Kronen im Volkstheater, der billigste Platz 1 Krone gegenüber 70 Heller. Hingegen kostete der billigste Platz im Burgtheater weniger als der billigste Platz im Colosseum, im Josefstädter Theater, im Apollo-Theater, im JohannStrauß-Theater, im Prater-Sommertheater »Venedig in Wien«, im Intimen Theater, in der »Hölle«, der Volksbühne, dem Lustspieltheater im k. k. Prater (ursprünglich Fürsts Singspielhalle), dem Carltheater und dem Etablissement Ronacher. Sehr unterschiedlich war die Preisgestaltung der drei großen Varietetheater: Ein Orchestertischsitz kostete im Ronacher 6,20 Kronen, im Apollo-Theater 8,20 Kronen und im Colosseum 3,10 Kronen. Unter den Privattheatern war das Johann-Strauß-Theater das teuerste: Während der billigste Platz bei einer Abendvorstellung hier 1,80 Kronen kostete, konnte man das (subventionierte) Hofoperntheater bereits für 1,20 Kronen besuchen. Auch die beiden Prater-Bühnen differierten stark im Hinblick auf ihre Eintrittspreise: Ein Orchestersitz kostete in »Venedig in Wien« mehr als doppelt soviel wie im Lustspieltheater, nämlich 10,10 Kronen gegenüber 5 Kronen; die billigsten Karten der beiden Theater hingegen lagen auf einem vergleichbaren Preisniveau. Die Preise des Theaters in der Josefstadt, das seinerzeit in weiten Teilen ein Parallelrepertoire mit dem Lustspieltheater brachte, lagen 1
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Adam Müller-Guttenbrunn, Wiener Theater-Gründungen, in: ders., Zwischen zwei Theaterfeldzügen. Neue dramaturgische Gänge, Linz/Wien/Leipzig [19021, S. 27-38, hier S. 27f. u. 37f. Die folgenden Preise nach Wiener Cicerone. Illustrierter Fremden-Führer durch Wien und Umgebung, 22. Jg., bearb. v. Franz Höllrigl, Wien 1913, S. 49-87.
zwischen 10 und 15 Prozent über den Preisen dieses im Prater gelegenen Theaters. Der Preis einer guten Karte im Theater an der Wien lag um 25 Prozent über demjenigen im Raimundtheater, das im Rahmen der Austauschprogramme der beiden ab 1908 miteinander verbundenen Bühnen zeitversetzt einen beachtlichen Teil des Repertoires des Theaters an der Wien nachspielte. Die zentrumsnahen Vorstadt-Operettenbühnen Bürgertheater, Carltheater und Theater an der Wien lagen in ihren durchschnittlichen Preisen etwa gleichauf, jedoch kosteten die billigsten Karten im Carltheater mehr als doppelt soviel wie im Bürgertheater (1,30 Kronen gegenüber 60 Heller). Die insgesamt preisgünstigen Häuser Theater in der Josefstadt, Lustspieltheater und Neue Wiener Bühne (vormals Danzers Orpheum) erhöhten ihre Preise an Sonn- und Feiertagen, an denen ein Theaterbesuch auch Fabriksarbeitern möglich gewesen wäre, um 7 bis 25 Prozent, während die glamourösen Varietes und einige Kabaretts häufig verbilligte Nachmittagsvorstellungen gaben. Die relativ günstigen Stehplätze in den Hoftheatern kamen für weite Teile der erwerbstätigen Bevölkerung nicht in Betracht, da für die entsprechenden Karten stundenlanges Anstehen notwendig war.3 Vor dem Hintergrund der in diesen Zahlen und Fakten sichtbar werdenden Verflechtung von soziotopographischen und theatertopographischen Gegebenheiten vollzog sich in Wien von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg eine Repertoireentwicklung, die die Operette zu einem zentralen Faktor der gesamtstädtischen Kultur werden ließ. Um 1910 überstieg die Platzzahl, die an Wiener Theatern für ein ausschließliches oder weitgehendes Operettenrepertoire zur Verfügung stand, die Platzzahl des Sprechtheaters etwa um das Vierfache. Die Wege der Operette durch die verschiedenen theatertopographischen Schichten hin zu einem derart breiten Publikum mit stark differierender ökonomischer Basis hatten sich seit der Gründerzeit mit folgenreichen administrativen Entscheidungen, mit dem Widerstreit von Traditionsgebundenheit und Aufbruch im städtischen Leben, mit wirtschaftlichen Veränderungen, mit lokalen wie internationalen künstlerischen Tendenzen getroffen. Die Operette war dabei von einem modischen Importartikel aus Paris zu einem entscheidenden Element des Fremd- und Selbstbildes der Stadt Wien, zu einem Teil der Wiener Identität geworden.
Zum Vergleich: Um 1910 betrug das Jahreseinkommen der untersten Klasse von Staatsbeamten 1600 bis 2200 Kronen, das Jahreseinkommen eines Handwerksgesellen um 1000 Kronen, der Taglohn eines Straßenarbeiters um 2,50 Kronen. Hierzu Hamann, Hitlers Wien, S. 198f. u. 230.
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Die Operette der Stadterweiterung und des Liberalismus Die Wiener Gründerzeit, die in den 1850er Jahren begann und ihr wirtschaftsund finanzpolitisches Ende mit dem Börsenkrach von 1873, ihr staatspolitisches und ideologisches Ende spätestens mit dem Amtsantritt Eduard von Taaffes als Ministerpräsident 1879 fand, war geprägt von Untiefen und Paradoxien, die nicht zuletzt in der nachfolgenden Reaktion des Antiliberalismus sichtbar wurden. Daß die Finanzpraxis zwischenzeitlich jeglichen Realitätsbezug eingebüßt hatte, zeigte die Schwere des Börsenzusammenbruchs; daß der Glaube an eine Liberalisierung der Ständegesellschaft eine Täuschung gewesen war, zeigten die zunehmende Verelendung breiter Bevölkerungskreise, die ethnische und parteipolitische Radikalisierung und die Unüberwindbarkeit des dynastischen Denkens des Kaisers; und daß die Schleifung der Basteien und die Neuordnung der Stadt Bilder eines bloß kurzlebigen Aufbruchs waren, bewies die Tatsache, daß nicht nur alte soziale, kulturelle und wirtschaftliche Hierarchien gültig blieben, sondern neue Hierarchien entstanden. Die städtische Struktur Wiens am Ende des 19. Jahrhunderts wäre als Überlagerung zweier Folien zu begreifen, die massenwirksame Fortschrittsperspektiven zumindest für die Dauer der Monarchie kaum erwarten lassen konnte: Trotz der baulichen Veränderungen behielt Wien den Charakter einer ständisch geprägten Residenzstadt, wozu die Dominanz des Kaiserhauses, der kirchlichen, militärischen und Finanzeliten erheblich beitrug; Wien vollzog also hinsichtlich des Stadtkörpers und hinsichtlich der stark hierarchisierten sozialen Ordnung keinen eindeutigen Wandel hin zu einer >modernen< Stadt. Andererseits ballten sich in Wien sämtliche Probleme einer derartigen modernen Millionenstadt: Als Ziel immer neuer Zuwanderungswellen wurde Wien Schauplatz von Massenarmut, katastrophalen Wohnverhältnissen, sozialen Ängsten, Ghettoisierungstendenzen unterschiedlicher ethnischer Gruppen, Vereinzelung, steigender Kriminalität, Ausbeutung. Für den Umgang mit dieser Entwicklung bot die Residenzstadt kein Instrumentarium, während die Probleme der Metropole ihrerseits die ehemals gültigen Funktionsweisen der Residenzstadt untergruben. Gleichwohl war es eine idealisierte Vorstellung ebendieser Residenzstadt, die nach dem Verblassen der gründerzeitlichen Euphorie das Wunschbild der Wiener von ihrer Stadt formte. Die hauptsächliche Schwäche des Wiener Liberalismus, nämlich seine Fundierung in einem Elitenkonzept, das die Interessen der Gesamtbevölkerung außer acht ließ und somit die Voraussetzung für die Wirksamkeit der neuen Massenparteien ab den 1880er Jahren bildete, stellte sich für die Trägerschichten der liberalen Ideologie naturgemäß nicht als problematisch dar. Insofern herrschte in den Jahren des Stadtumbaus, des wirtschaftlichen Aufschwungs, der technischen Innovation tatsächlich ein positives Bild von Modernisierung vor. Alte Strukturen schienen nicht mehr gültig zu sein: Die Stadt verlor ihre steinernen Klammern und gab ihr geschlossenes barockes Antlitz zugunsten 54
eines moderneren Gesichts auf, wie es etwa Paris mit seinen Boulevards zeigte;4 unternehmerische Leistungen oder zumindest Geschick in Spekulationsangelegenheiten eröffneten neuen Schichten einen gesellschaftlichen Status, wie er bisher dem Adel vorbehalten gewesen war. Diese städtebaulichen und sozialen Wandlungen führten zur Entstehung neuer gesellschaftlich-kultureller Handlungsformen. Eine der wichtigsten war eine veränderte Theaterszene, zu deren zentralem dramatischen Genre die Operette avancierte. Neu- und Umbauten von Theatern und die Spielplanpolitik der einzelnen Häuser zeigen den Geltungsbereich des gründerzeitlichen Modernisierungsprozesses, aber auch seine Grenzen: Daß das traditionsreichste Vorstadttheater, das Theater in der Leopoldstadt, durch einen luxuriösen Neubau, das Carltheater, ersetzt wurde, dem mit dem Theater am Franz-Josefs-Kai bald ein völlig neues Institut auf den Stadterweiterungsgründen folgte, daß das glanzvolle Theater an der Wien erst dann dem Geschmack der >modernen Zeit< zu entsprechen schien, als es Operetten von Offenbach herausbrachte, daß es aber zugleich mit dem Theater in der Josefstadt eine Bühne gab, die in unspektakulärer Weise weiterhin als Vorstadttheater Possen, Volks- und Lokalstücke spielte, und daß in den 1860er und 1870er Jahren zahlreiche innerstädtische Theaterunternehmen aus dem Boden schössen, die sich nicht längerfristig etablieren konnten, sondern gewissermaßen wirtschaftliche Spekulationsobjekte neben anderen waren - diese Erscheinungen machen die Verschränkung der Funktionsweisen von Stadtlandschaft und Theaterlandschaft deutlich. Die Popularität der modernen Gattung Operette gerade in den neuen wohlhabenden Kreisen, die Präsentation der entsprechenden Werke als gesellschaftliche Ereignisse binden dieses Genre in seiner frühen Ausprägung einerseits eng an die Umbruch- und Aufbruchstimmung der Gründerzeit. Andererseits ist das Fortbestehen von städtischen Räumen und Publikumsschichten, die von der Operette zunächst gänzlich >unberührt< blieben, über den Theaterbereich hinaus ein Beleg für das durchgehende Nebeneinander von älteren städtischen Traditionen und den beschriebenen Modernisierungstendenzen. Die Theaterentwicklung der Nachgründerzeit und des Konservativismus versuchte dann, an jene Traditionen anzuknüpfen. Auf Dauer allerdings war der Impuls, der von der Operette als Form musikalischer Unterhaltung ausging, so stark, daß sich ihm kaum eines der privaten und damit gewinnorientierten Theater entziehen konnte. 4
Mit der Bewertung verschiedener Phasen von Modernisierung seit dem 18. Jahrhundert im Rahmen der Wiener Publizistik hat sich Kai K a u f f m a n n in mehreren Arbeiten auseinandergesetzt. Vgl. v. a. K. Kauffmann, »Es ist nur ein Wien!« Stadtbeschreibungen von Wien 1700 bis 1873. Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik, Wien/Köln/Weimar 1994 (Literatur in der Geschichte Geschichte in der Literatur 29), sowie ders., Niederreißen und Wiedererinnern. Die Haltung der Lokalpublizistik zur Stadterneuerung von Wien im 18. und 19. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23 (1998), Heft 2, S. 47-69. 55
Die Vorgeschichte: Erfolge und Krisen in der Vorstadt Die Mitte des 19. Jahrhunderts, die Zeit, in der die ersten modernen Operetten in Wien zu sehen waren, stellte für die drei bestehenden Wiener Privattheater, damals aufgrund der Ummauerung des Stadtkerns noch im wörtlichen Sinn >Vorstadttheatererstes HausHetzKasperltheatersBasteien< der Gesellschaft, die Klassen des >hohen AdelsVolksauslassen< - hauptsächlich: die haute creme der müßiggängerischen Pflastertreterschaft, den feinsten Duft des Camelien-Waldes, das hellste Geklingel und Geräusche der wandelnden Valuten und Werthpapiere, die alleredelsten Sommitäten der Treibjagden und Pferderennen, die fine fleur des allerpersönlichsten Mäcenatenthums, kurz alle jene Elemente hatten sich, wie recht und billig, eingefunden, welche in den verflossenen sechs Jahren die Stützen des Carltheaters gewesen.7
Während also das Carltheater unter Carl selbst wie auch unter der Direktion Nestroys ein rentables Unternehmen blieb, waren in den 1840er und 1850er Jahren sowohl am Theater an der Wien nach der Übernahme durch Franz Pokorny (1845-50) und später durch dessen Sohn Alois (1850-62) als auch am Theater in der Josefstadt wirtschaftliche Schwierigkeiten an der Tagesordnung. An beiden Theatern erhoffte man sich Abhilfe durch die Errichtung von Sommerarenen in den Vororten, die man in den warmen Monaten als alternative Attraktion für das Publikum bespielen konnte. Das Ensemble des Josefstädter Theaters trat ab 1848 während des Sommers in der Arena in Hernais auf, das Wiedner Ensemble ab 1849 in der Braunhirschener Arena, einem Sommertheater in Fünfhaus. Franz Pokorny richtete in den 6 7
Holzer, Die Wiener Vorstadtbühnen, S. 458f. Recensionen und Mittheilungen über Theater und Musik 6 (I860), Nr. 45 (7. November), S. 705. 57
1840er Jahren am Theater in der Josefstadt und am Theater an der Wien seinen Spielplan zunächst daraufhin aus, sich damit als zukünftiger Pächter der Hofoper zu empfehlen. Diese Hoffnung zerschlug sich jedoch, und als Pokorny 1850 starb, hinterließ er seinem wenig theatererfahrenen Sohn zwei recht herabgewirtschaftete Häuser, die mehrere Jahre hindurch nicht mehr zu einem klaren künstlerischen Profil und zu kommerziellem Erfolg fanden. Erste Pariser und erste Wiener >Operetteneinhei31
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Vgl. zu diesem Komplex: Hüttner, Literarische Parodie, sowie Jürgen Hein (Hrsg.), Parodien des Wiener Volkstheaters, Stuttgart 1986 (darin: Neudruck von acht Parodien, Bibliographie, ausführliches Nachwort).
mischen< und >fremdländischen< Operetten aufzubauen. Besonders polemisch argumentierte das Wochenblatt Hans Jörgel, das so unterschiedliche Offenbach-Novitäten wie Blaubart (1866) und Perichole (1869) gleichermaßen verriß, hingegen »Operetten von hiesigen Kompositeuren« wie Hopp oder Zaytz mit deutlichem Wohlwollen bedachte. 32 Sodann hatte sich, ausgehend von der regelmäßigen Übernahme Offenbachscher Mehrakter ins Wiener Repertoire, an den großen Vorstadttheatern eine Aufführungssituation ergeben, die der noch immer anwachsenden Zahl Neureicher und Aufsteiger am Theater an der Wien und am Carltheater beinahe den Glanz eines Abends in der Hofoper bot: Nicht mehr ein buntes Programm von Altem und Neuem wechselnder Qualität, sondern ein mit höchstem Ausstattungsluxus bedachtes abendfüllendes Werk lockte nun die Ringstraßenkreise an. Und schließlich bedeutete das Auftreten von Johann Strauß als Operettenkomponist in mehrfacher Hinsicht einen Impuls für die Entwicklung der Produktion und des Operettengeschmacks. Strauß, der in der Regel zusammen mit Suppe und Millöcker als Hauptvertreter der >goldenen Ära der Wiener Operette< genannt wird, wandte sich aus einer künstlerischen Situation heraus der Operette zu, die ihn und seine Kompositionen grundlegend von Suppe und Millöcker und den übrigen Wiener Operettenproduzenten jener Jahre unterschied: Strauß war kein Theaterkapellmeister, also niemals dienstverpflichtet gewesen, für dieses oder jenes Bühnenwerk Begleitmusik zu verfassen.33 Strauß war der erste aus Wien stammende Operetten-Komponist. Seine bisherige Laufbahn als weltweit gefeierter Tanzmusikkomponist und als Wiener Hofballmusikdirektor und sein Status als Wiener Liebling beeinflußten seine Funktion für die Wiener Operette in zweierlei Hinsicht: Einmal eignete er sich wie kein anderer als populäre Galionsfigur im Rahmen ideologischer Argumentationen für eine einheimische Operette gegen die Konkurrenz der französischen Produktion; zum anderen brachte er als musikalisches Grundmaterial in erster Linie den Tanz, und hier vor allem den Walzer, in seine Auseinandersetzung mit der Operette ein, ein Faktum, das für die Ästhetik und die Rezeption von Operettenmusik bis ins 20. Jahrhundert stetig an Bedeutung gewann. 32
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Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die verantwortlichen Redakteure des Hans Jörgel in den 1860er Jahren Anton Langer und Carl Costa waren, die sowohl als Volksstückautoren wie als Librettisten von >Wiener Operetten< arbeiteten; vgl. hierzu und zur Position Giovanni von Zaytz' im Rahmen der frühen Wiener Operettenproduktion: Rudolf Flotzinger, Ivan Zajc und das musikalische Wien um 1870, in: Zbornik (Sonderheft zum 150. Geburtstag von I. Z.), Zagreb 1982, S. 2-27. Zum Wandel in der Wiener Offenbach-Rezeption vgl. Marion Linhardt, Offenbach und die französische Operette im Spiegel der zeitgenössischen Wiener Presse, in: Franke (Hrsg.), Offenbach, S. 6 9 - 8 4 . Mit dem Egyptischen Marsch wurde 1869 zum erstenmal eine Straußsche Komposition f ü r eine Bühnenaufführung verwendet; vgl. Mathias Spohr, Das »letzte« Volksstück im Theater an der Wien: »Nach Egypten« von Anton Bittner und Adolf Müller (1869), in: Nestroyana 14 (1994), Heft 3/4, S. 81-90. 73
Strauß' erste Operette Indigo und die vierzig Räuber von 1871 führt in ihrer musikalisch-dramaturgischen Struktur die Komplexität der Wiener Auseinandersetzung mit der französischen Operette und den eigenen Traditionen beispielhaft vor Augen. Hinter dem nahezu einstimmigen Urteil der Uraufführungsrezensenten, die das Libretto verrissen, Strauß' Tanzweisen priesen und Hymnen auf die splendide Ausstattung anstimmten, verbirgt sich einerseits das Debakel, in dem sich Maximilian Steiner, Jetty Strauß, Richard Genee und Marie Geistinger als Strauß' Promotoren befanden, letztlich jedoch die gesamte Problematik der Wiener Operettenproduktion um 1870. Indigo scheiterte an den vielfältigen Ansprüchen, die man damit hatte umsetzen wollen, und an den Voraussetzungen, die durch seine Produzenten und das theatralische Umfeld gegeben waren. Neben den vordergründigen kommerziellen Erwägungen, die sowohl Steiner als auch Jetty Strauß bewogen hatten, Strauß als Operettenkomponisten zu lancieren, bildete die mittlerweile fest etablierte Opposition zwischen der Offenbachschen und der >Wiener< Operette den Hintergrund für die Konstruktion von Indigo und für die Bewertung dieses Stükkes durch Publikum und Kritik. Von vornherein kam es darauf an, einen Wiener Komponisten als ernstzunehmende Konkurrenz zu Offenbach aufzubauen; Strauß bot sich durch seine enorme persönliche Popularität und sein allseits geschätztes kompositorisches Vermögen hierfür an. Doch bereits dem Textbuch, das man unter Mitarbeit mehrerer ungenannter Persönlichkeiten und unter der Ägide Steiners für Strauß zimmerte, ist deutlich anzusehen, daß man nicht den Mut gefunden hatte, konsequent eine wie auch immer geartete eigenständige Wiener Linie in Stoffauswahl und -behandlung einzuschlagen, sondern auf dramaturgische Muster setzte, die mit Offenbach vorgegeben waren: Sowohl die karikierende Darstellung Indigos und seines Hofstaats als auch der exzessive Einsatz kaum verhüllter weiblicher Reize beruhten auf Modellen, die sich nun seit einigen Jahren in Offenbachs Werken bewährt hatten. Die phantastisch-exotische Insel Makassar mit ihren korrupt-grotesken politischen Zuständen ist eine unübersehbare Nachzeichnung Offenbachscher Staatsgebilde von Gerolstein bis Georgien. Anklänge an Figuren aus Blaubart oder Die schöne Helena sowie an Sequenzen aus Die Banditen und Die schönen Weiber von Georgien sind auffallend, die Gegenüberstellung dominierender Frauen und lächerlicher Männer, typisch für die Struktur der Operetten Offenbachs in diesen Jahren, ist auch in Indigo ein zentrales Motiv. Demgegenüber beinhaltet das Libretto selbstverständlich Elemente, die die Wiener Tradition ins Spiel bringen: Fantasca, Janio und Romadur sind Wiener Typen in der Fremde - in ihrem Terzett fehlt auch ein Jodler nicht - , wobei die hier vorgeführte Kontrastierung von Wienerischem und ExotischOrientalischem aus dem populären Wiener Theater durchaus vertraut war.34 34
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Vgl. hierzu Spohr, Das »letzte« Volksstück, sowie Wolfgang Häusler, »Die herrliche Gegend, zwischen Simmering und Schwechat« - oder: Was hat Nestroy mit Schwechat zu tun?, in: Nestroyana 13 (1993), Heft 1/2, S. 29-61.
Ohne nachvollziehbaren Grund spricht neben den drei tatsächlichen Wienern auch der Herrscher Indigo einen wienerischen Dialekt. Die prägnanteste Walzernummer aus dem I. Akt, die im Finale des letzten Aktes wiederaufgenommen wird, liefert gängige Stereotypen von Donaustrand und süßen heimatlichen Klängen, vom wonnigen Wiegen, Biegen und Schmiegen im Dreivierteltakt. Insgesamt bleibt die Zusammenstellung von Motiven aus Tausendundeiner Nacht, Wiener Vorstadtfeschheit und königlichen Unfehlbarkeitsallüren mit Anspielungen auf Papst Pius IX. allzu unentschlossen, als daß sich damit eine tatsächliche Gegenposition zu Offenbach hätte beschreiben lassen. Neben diese Heterogenität in bezug auf Handlung und Text trat eine musikalische Konzeption, die ebenfalls von widerstreitenden Ansprüchen ausging: Einerseits blieb Strauß auch in seinem ersten Bühnenwerk Tanzmusiker, sei es aufgrund eines fehlenden dramatischen Interesses, sei es aus Billigkeitsgründen, da man Indigo möglichst schnell und ohne allzu großen Aufwand für den Konzert- und den Tanzsaal ausschlachten wollte;35 jedenfalls dominierten Tanzrhythmen die von Genee entscheidend mitgeprägte Partitur. Andererseits weist die Musik zahlreiche opernhafte Züge auf. Ob hierin bereits Strauß' spätere konkrete Opernambitionen anklingen, kann offenbleiben, doch die schon in einigen frühen Operetten Suppes spürbare Tendenz zur komischen Oper wird auch in Indigo deutlich. Große musikalische Komplexe mit Ballett und Ensembles, opernhafte Finali, komponierte Rezitative, längere vertonte Handlungspassagen, die Anlage der FantascaPartie als Koloratursopran, die Verwendung von Formelementen wie Ballade oder Bacchanale machen Indigo zu einem Werk, das nicht, wie die Operetten Offenbachs, neben der Oper existierte, sondern innerhalb der spezifischen Produktionssituation des deutschsprachigen Raumes quasi selbst >Oper< war. Es ist nicht zu übersehen, daß die geschilderte Entwicklung keineswegs ein bloß theaterimmanentes Phänomen war, sondern aus der politischsozialen Befindlichkeit des Staates und der Stadt hervorging. Die künstlerisch und im Rahmen des Feuilletons auch ideologisch geführte Auseinandersetzung mit der französischen Operette hat zu tun mit dem Selbstverständnis der österreichisch-ungarischen Monarchie im bilateralen Verhältnis zu Frankreich und der Position Österreichs im europäischen Mächtegefüge nach der französischen Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg und der Gründung des Deutschen Reiches. Die Diskussion um eine deutsche komische Oper wiederum hat vergleichbare ideologische Hintergründe wie die Klage um den Niedergang des Volksstücks. Ein wachsender Anteil der Bevölkerung empfand es ab den späten 1870er Jahren als notwendig, die >deutsche< Kompo35
Vgl. zu Strauß' Etablierung als Operettenkomponist und zur Praxis der >Herstellung< von Operettenmusik: Robert Didion, »Schau Dich um ein gutes Textbuch um und dann >Gliick auf< zu deinem nächsten Werke!« Johann Strauss' Operette »Indigo« in ihren Versionen, in: Spohr (Hrsg.), Geschichte und Medien, S. 89-102. 75
nente der in Österreich entstehenden Kunst zu betonen.36 Auf dem Höhepunkt der Bestrebungen, die Wiener Operette immer weiter der deutschen komischen Oper oder der >Volksoper< anzunähern, sammelten sich auch die Kräfte für die Errichtung mehrerer >Volkstheater< in Wien. Explizit wird die Verschränkung der Diskussion theatralischer Gattungen mit dem Selbstbewußtsein der Stadt Wien und nationalen Erwägungen in einer Besprechung von Eduard Kremsers Operette Der Botschafter, die im Februar 1886 im Theater an der Wien uraufgeführt wurde. Das Stück spielt zur Zeit Richelieus und behandelt die bezaubernde Wirkung der Wienerinnen auf den französischen Botschafter in Wien. Talent und Willen - er LKremserJ hat es an beiden nicht fehlen lassen: Zeuge dessen seine Komposition, die nicht nur f ü r ihn, sondern auch f ü r die Entwicklung der Wiener Operette eine Z u k u n f t in Aussicht stellt. In der Wiener Operette nämlich lebt offenbar ein starker Trieb, sich zur komischen Oper aufzuschwingen; man konnte das bisher merken, an ihrem Streben nach edlerer musikalischer Form und leider auch an ihren aus Mißverständnis ihrer Aufgabe hervorgegangenen Uebergriffen in das Gebiet der großen Oper. Kremser steht in seiner Musik der komischen Oper näher. Schon seine feinere Technik, sein Behagen an der Form hebt ihn um eine Stufe höher. Es scheint nur an ihm zu liegen, das Feld der Oper, an dessen Grenze er steht, vollends zu beschreiten. [...] Wenn wir hier von der komischen Oper reden, so meinen wir die Wiener komische Oper, eine komische Oper, die im Boden unserer Stadt wurzelt. Sie darf sich nicht von einer falschen Vornehmheit verleiten lassen, dem Stefansthurme den Rücken zu kehren; nein, hier ist Wien, hier tanze! Die Wiener komische Oper muß eifersüchtig festhalten am Wiener Walzer und am Wiener Volksgesang, denn das sind die ergiebigen Verjüngungsquellen f ü r
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Ein plakatives Beispiel f ü r chauvinistisches deutschnationales Denken in Österreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts liefert A d a m Müller-Guttenbrunn in seiner Schrift Das Wiener Theaterleberr. »In Ofen, Agram, Temesvar und Hermannstadt L- --J, in Wiener-Neustadt und Baden bei Wien, in Neumarkt, Preßburg, Innsbruck, Brünn, Lemberg und zahlreichen anderen Provinzstädten ist die deutsche Bühne am Ausgang des vorigen L18.J Jahrhunderts zur Herrschaft gelangt, und überall hat sie der Erhaltung und Ausbreitung deutscher Gesittung die kräftigsten Dienste geleistet. Die Verluste, die wir in den letzten zwanzig Jahren an diesem überkommenen Besitzstand auf dem Gebiete des Theaters erlitten, und die uns noch bedrohen, sind unabsehbar. Wir haben Agram an die Kroaten, Ofen, Kaschau, Raab und Arad ganz, Temesvar und Preßburg zur Hälfte an die Magyaren verloren, Lemberg entrissen die Polen uns, Pilsen bedrohen die Tschechen, Laibach die Slowenen. In Neusatz und Semlin haben uns die Serben fast ganz verdrängt und in Ödenburg und Essegg führen magyarische Minderheiten einen erbitterten Kampf gegen die deutschen Theater. Nur wandernde kleine Gesellschaften fristen ihr kümmerliches Dasein im Banat noch in Lugos, Orawitza und Lippa, ebenso in Semlin und Vukovar, und die einzige deutsche Bühne, die wir in den letzten Jahrzehnten zu gründen die Kraft hatten, ist das kleine Garnisonstheater in Sarajevo - in Neuösterreich. Nirgends ist ein deutsches Theater in Österreich gewaltsam entstanden oder auf Kosten andrer Nationen errichtet worden, überall trieb es die Notwendigkeit aus dem frischgepflügten Kulturboden hervor; doch nirgends ist ein deutsches Theater ohne Gewaltthätigkeit beseitigt oder in ein anderssprachiges umgewandelt worden.« A. Müller-Guttenbrunn, Das Wiener Theaterleben, Leipzig/Wien 3 1890, S. 8f.
die welkgewordene komische Oper. Der Wiener Stoff ist dieser Oper, wenn auch willkommen, doch nicht unumgänglich nothwendig; wenn nur die Wiener Seele in ihr lebt! ,..37 Die Besinnung auf die »Wiener Seele« und die »Wiener komische Oper«, die hier eingefordert wird, ist i m Kontext der erwähnten Abgrenzungen und Inspirationen zu sehen, die die Wiener Operette des 19. Jahrhunderts bestimmten und zu einem äußerst vielgestaltigen P h ä n o m e n werden ließen. Kremsers Botschafter entstand zu einer Zeit, in der sich das Pendel des Geschmacks in Fragen des Unterhaltungstheaters in der extremen Gegenposition zu j e n e m P u n k t befand, den die f r ü h e n 1860er Jahre mit ihrer Offenbach- und FrankreichBegeisterung markiert hatten. Das quantitative Verhältnis zwischen französischen und inländischen Werken im R a h m e n des Wiener Operettenrepertoires hatte sich innerhalb von zwei Jahrzehnten quasi umgekehrt.
Die Operette der wirtschaftlichen Depression und des Antiliberalismus im >deutschen< Wien Die Unmittelbarkeit, mit der sich die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen der späten 1870er Jahre in der Wiener Theaterlandschaft abbildeten, deutet darauf hin, daß hier Erscheinungen zutage traten, die bereits in der liberalen Ä r a unterschwellig vorhanden gewesen waren. Neben der tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise, die auf den finanziellen B o o m der f r ü hen Ringstraßenzeit gefolgt war, und dem politischen Einschnitt, den der Wechsel von der liberalen zur konservativen Regierung und das Bündnis mit d e m Deutschen Reich 1879 bedeuteten, waren d i f f u s e r e Erscheinungen zu beobachten, gesellschaftliche Stimmungen, die teils gezielt geschürt wurden und sich in Schlagworte wie >antifranzösischantijüdischdeutschnational< oder auch >antielitär< fassen lassen. Die frappierende zeitliche Korrespondenz zwischen der stärkeren Orientierung des österreichischen Staates am selbstbewußten Deutschen Reich und der Begründung mehrerer Initiativen und Vereine zur Pflege eines >deutschen Volkstheaters< in W i e n ist Ausdruck einer generellen Tendenz, das >deutsche< Element innerhalb der Monarchie gegenüber den östlichen und südöstlichen Nationalitäten, aber auch gegenüber d e m jüdischen Bevölkerungsanteil verstärkt herauszustreichen. Die sozialen Ängste breiter Massen wurden instrumentalisiert, u m die machtpolitischen Interessen einzelner Gruppen zu fundieren, wobei der Angst mit der Behauptung einer Überlegenheit alles >Deutschen< begegnet wurde.
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Fremdenblatt (Wien), 26. Februar 1886, S.5ff., hier S.6. - Interessant in Zusammenhang mit dieser Beschreibung der Kremserschen Komposition ist, daß Kremser sich intensiv der Erforschung, Sammlung und Edition von Volksliedern, vor allem von Wiener Liedern und Tänzen widmete. 77
Eine Analyse der Wiener Theaterlandschaft der 1880er Jahre läßt diesen gesellschaftlichen Entwicklungen entsprechend eine Größe neu ins Auge fallen, die in den Jahren des Liberalismus weit weniger im Vordergrund gestanden hatte, nämlich >das VolkVolk< spielte für die Theatertopographie nun auf mehreren Ebenen eine bedeutende Rolle: Vergnügungsetablissements im Prater, die sich gerade auch an untere soziale Schichten wandten, erwarben einen klareren Theaterstatus, so daß sich hier im Gegenüber zu den Gesellschaftstheatern der Stadt eine Art Theaterszene des Kleinbürgertums festigte. Die ideologisch motivierten Theaterneugründungen der Zeit zielten in zweierlei Hinsicht auf das >VolkVolk< zumindest in den Themen vieler ihrer Premieren nach, in denen Deutschnationalismus und Volkstümlichkeit vorzuherrschen begannen. Die verbreitete Repertoirediskussion, die das Volksstück besonders herausstellen wollte, und die Bemühungen um das >Volk< als Theaterpublikum wiesen zurück in die Zeit des Vormärz, also in die Epoche der scheinbar reibungslos funktionierenden Residenzstadt. 38 Die Mechanismen der Metropolisierung waren mit diesem rückwärtsgewandten Modell jedoch längerfristig nicht zu umgehen: weder im gesellschaftlichen Bereich mit seinen gravierenden sozialen Problemen noch im Bereich des Theaters, in dem die Kommerzialisierungstendenzen immer weiter fortschritten. Die theaterpolitischen Initiativen der 1880er und 1890er Jahre, die Erfolge konservativ-nationalistischer, ja völkischer Parteien und Gruppierungen, die Verbreitung des Antisemitismus innerhalb der Studentenschaft: all dies vermittelt den Eindruck einer beklemmenden Homogenität der Ideen in der Zeit der großen wirtschaftlichen Krise in Österreich. Ebenso wie in den Jahren des Liberalismus befand sich jedoch auch in der Folgezeit unterhalb der dünnen ideologischen Schicht ein kompliziertes Geflecht von gesellschaftlichkulturellen Realitäten; zahlreiche staatspolitische, soziale und wirtschaftliche Konflikte, die erst Jahre später für das Zusammenleben der Wiener wirksam wurden, waren hier bereits angelegt. So begann sich ja schon jetzt das >Volk< im Sinn von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Mittelschichten nicht 38
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I m Kontext einer wissenschaftsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der Großstadt als Forschungsgegenstand der Volkskunde faßt Thomas Scholze die unterschiedlichen Konnotationen des »Volks«- und »Volkstums«-Begriffs am Beginn und im Verlauf des 19. Jahrhunderts zusammen. In der Wiener Diskussion um >Volk< und >Volkskunst< im späten 19. Jahrhundert mit ihrem Rückgriff auf das idealisierte städtische Sozialgefuge der Kongreß- und Biedermeierzeit überlagerten sich in diesem Sinn gänzlich inkompatible Ideologien. Th. Scholze, Im Lichte der Großstadt. Volkskundliche Erforschung metropolitaner Lebensformen, Wien/St. Johann 1990 (Neue Aspekte in Kultur- und Kommunikationswissenschaft 2).
nur in Opposition zur Decadence des (>jüdischennatürlichen< Gegenwelt des vornehmen Ringstraßenambientes, nämlich im Prater, dessen Bühnen in gleicher Weise wie die städtischen Institutionen auf behördlich gesetzte Einschränkungen und die Vorlieben angestammter Besucher Rücksicht zu nehmen hatten. Eine wichtige Initiative im Hinblick auf das immer populärer werdende Genre bildete Anton Ronachers Operettentheater im k. k. Prater (II., Prater-Hauptallee).39 Ronacher hatte 1879 für das berühmte Dritte Kaffeehaus, das dem Brauhausbesitzer Anton Dreher gehörte, zunächst eine Singspielhallenkonzession, später eine erweiterte Singspielhallenkonzession für theatralische Vorstellungen und schließlich eine Konzession für Operetten und Theaterstücke erhalten.40 Der Prater war sowohl für die Wiener Unterschichten wie für mittlere und gehobene Bevölkerungskreise aus Bürgertum, Militär und Adel ein beliebtes Ausflugsziel und das Dritte Kaffeehaus mit seinen gemischten Unterhaltungsprogrammen bereits vor Ronachers Erscheinen weithin bekannt. Schon in der ersten Saison erwarb sich Ronachers Bühne einen guten Ruf, wie der werbewirksame Bericht zur Spielzeiteröffnung des folgenden Jahres verrät: Ronacher's Operetten-Theater eröffnete gestern seine Saison unter den günstigsten Auspizien. Man kennt den prächtigen Saal des dritten Kaffeehauses im Prater, in welchem diese Bühne etablirt ist und zollte auch diesmal von vorneherein seinen Beifall den glänzenden Räumlichkeiten, welche, obschon in denselben getafelt 39
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1879 als »Ronacher's Grand Etablissement 3. Kaffeehaus im k. k. Prater«, 1880 als »Ronacher's Operettentheater im k. k. Prater«, 1883 als »Etablissement Ronacher im k. k. Prater«, ab 1884 als »Etablissement Ronacher«. Vgl. Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 666. 79
wird, durchaus nicht den Eindruck eines Rauchtheaters in dem landläufig abfälligen Sinne des Wortes gewähren. Diese Sommerbühne verdient vielmehr durch eine Reihe der trefflichsten künstlerischen Kräfte ernste und wohlwollende Beachtung, die ihr denn auch gestern in der That von Seiten eines ungemein zahlreich erschienenen, höchst distinguirten Publikums zu Theil wurde.41
Zwischen 1879 und 188542 spielte man hier unter wechselnden artistischen Leitern während der warmen Monate, in denen die großen Operettentheater in der Stadt ihrerseits unter Publikumsmangel litten beziehungsweise aufgrund behördlicher Vorgaben schließen mußten, in erster Linie Einakter. Neben Offenbach, dessen Jahre zuvor an den teuren städtischen Bühnen aufgeführte Werke wie Hochzeit bei Laternenschein, Der Ehemann vor der Türe, Salon Pitzelberger, Die Damen vom Stand oder Monsieur und Madame Denis nun im Prater für breitere Kreise erschwinglich wurden, waren vor allem einaktige Operetten bekannter einheimischer Volksstück-Komponisten und Kapellmeister im Programm vertreten.43 Im Hinblick auf die von Ronacher gegebenen Wiener Stücke erweist sich die Gattungsbezeichnung >Operette< allerdings als wenig aussagekräftig: Obwohl gegen Ende der 1870er Jahre der Begriff >Operette< in Wien bereits fest etabliert war, wäre zu fragen, ob er im Falle dieses Prater-Theaters nicht in erster Linie aus Werbeinteressen verwendet wurde, um so den Erzeugnissen der seit langem bekannten Kapellmeister einen modischen Anstrich zu verleihen.44 Im Jahr 1886 ging das Prater-Theater in das Eigentum von Carl Wenzel Pertl über, der seit 1882 Danzers Orpheum, das vormalige Harmonietheater, als Varietebühne führte und das Dritte Kaffeehaus nun als Sommerspielstätte für seine gemischten Programme nutzte.45 Pertl starb 1894 und hinterließ das Etablissement seiner Frau, die 1896 ein Einakterprogramm mit beachtlichem Operettenanteil spielte;46 in den fol41 42 43
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Neues Wiener Tagblatt, 2. Mai 1880. In den Jahren 1881 und 1882 gab es keine Bühnenaufführungen. Unter anderem: Low (Der Debardeur, Leichte Infanterie), Franz Roth (Die Jokkeys), Louis Roth (Lodoiska), Gothov-Grünecke (Ein weiblicher Grobian), von Zaytz (Mannschaft an Bord, Fitzliputzli oder die Teufelchen der Ehe), Max von Weinzierl (Unruhige Nachbarn, Die Theaterprinzessin, Moclemos, Die weiblichen Jäger), Alfred Zamara (Die Königin von Arragon), Friedrich von Thul (Der von Humpenburg) und Karl Stix (O diese Götter!). Mehraktige Werke lieferte Josef Hellmesberger jun. mit Kapitän Ahlström und Der Graf von Gleichen und seine beiden Frauen. Im Programm des 1888 von Ronacher auf den Ruinen des Wiener Stadttheaters eröffneten neuen »Etablissement Ronacher« spielte die Operette zunächst keine Rolle mehr; erst nach der Übernahme des Hauses durch Gabor Steiner im Jahr 1909 trat dieses Genre wieder verstärkt in den Blick. In den Programmen des Dritten Kaffeehauses schienen weiterhin auch einaktige >Singspiele< auf. Für die Sommerspielzeit 1896 ist die vormalige Ronacher-Bühne im Neuen Theater-Almanach als »Grand-Etablissement (3. Cafehaus)« verzeichnet; der Theatersaal zählte 700 Plätze und das Orchester 18 Mitglieder (vgl. Neuer Theater-Almanach für das Jahr 1897, hrsg. v. der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger,
genden beiden Sommern beherbergte »Peril's Etablissement« dann das von Gothov-Grünecke geleitete Tourneeunternehmen »Soubretten-Ensemble (Bühne ohne Männer)«, das während des Winters jeweils internationale Gastspielreisen durchführte und ebenfalls vornehmlich Operetten zeigte.47 Neben dem Dritten Kaffeehaus hatte sich mit dem Fürst-Theater (II., Ausstellungsstraße) schon früh eine weitere Prater-Bühne auf dem Gebiet der Operette versucht: In den von Offenbach begeisterten 1860er Jahren brachte man hier unter anderem Stücke von Julius Hopp und Karl Kleiber, auf die man hin und wieder mit der zugkräftigen Bezeichnung >Operette< aufmerksam machte. Allerdings dominierte bei Fürst das Possen- und Volksstückrepertoire auch noch in den 1880er Jahren weiterhin mit Hunderten von Aufführungen. Das zunächst als Sommertheater geführte Institut war 1862 von dem Volkssänger Johann Fürst als Singspielhalle eröffnet worden. Fürst kämpfte jahrelang um eine offizielle Theaterkonzession und durfte schließlich mit »Fürsts Volkstheater im k. k. Prater« firmieren.48 Otto Wladika stellt in seiner faktenreichen Dissertation heraus, daß Fürsts Possenrepertoire mit dem traditionellen Wiener Volksstück nichts mehr gemein hatte, auch wenn Wiener Typen und Ereignisse das wichtigste Themenreservoir bildeten. Fürst sei vielmehr klar gewesen, daß er mit einem >OperettenOperette< dürfte hier, wie schon bei Ronacher, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Wladika resümiert für die Jahre der Direktion Bayer: »Unter den Einaktern nimmt die Bezeichnung
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Berlin 1897, S. 544). Das Operettenrepertoire umfaßte Suppes Zehn Mädchen und. kein Mann, Flotte Bursche, Die schöne Galathee und Leichte Cavallerie, Offenbachs Salon Pitzelberger und Zaytz' Mannschaft an Bord. Das Soubretten-Ensemble unterhielt f ü r die Sommermonate in Wien ein eigenes Orchester und besaß zudem eine Ballettgruppe. Im Oktober 1899 waren GothovGrüneckes »12 Wiener Soubretten« als eine Nummer unter anderen in Danzers Orpheum zu finden. Seit 1871 diente das Theater in der Josefstadt Fürst als Winterhaus f ü r sein äußerst erfolgreiches Prater-Sommertheater. Bereits zuvor hatte Fürst sich um Winterspielstätten f ü r sein Ensemble bemüht. 1867 berichtete der Deutsche Bühnen-Almanach: »Für die Winter-Saison ließ Hr. Dir. Fürst den Diana-Saal in ein reizendes Theater umwandeln, welches Hr. J. Hassa auf das Geschmackvollste dekorirte. Die Vorstellungen im Diana-Saal finden vom 1. November bis 6. Januar u. vom Aschermittwoch bis Palmsonntag statt.« Deutscher Bühnen-Almanach, hrsg. v. Albert Entsch, Berlin 1867, S. 325. Es wurden Offenbach-Einakter wie Hochzeit hei Laternenschein, Die Kinderwärterin, Dorothea, Die Kunstreiterin oder ein weihlicher Haupttreffer und Die Hanni weint, der Hansi lacht aufgeführt; von Wiener Komponisten stammten Fräulein Müllerin (Georg Schiemer), Moro der Einsiedler (Franz Roth), In der Kadettenschule (Hans Krenn) und Im Korb (Low). 81
>Operette< zu, wenn auch zum Teil nur, um sich wenigstens auf dem Theaterzettel den anderen Vorstadttheatern anzugleichen.«5" Ab 1886 stand das FürstTheater unter der Leitung des Kapellmeisters Paul Mestrozi, der mit den Operetten Husar und Grenadier, Der Mikado von Neu-Titipu und Der Liebesbrunnen auch eigene Beiträge zum Repertoire lieferte und sein Theater bald vollständig dem Ausstattungsstück verschrieb. Eine Gegenüberstellung des Operettenrepertoires am Theater an der Wien bzw. am Carltheater einerseits und an Ronachers Operettentheater bzw. am Fürst-Theater andererseits zeigt auch noch für die frühen 1880er Jahre, daß es sich hier um sehr differente Theaterbezirke gehandelt hat. Die Prater-Bühnen blieben der Singspielhallentradition verpflichtet, gaben sich kleiner dimensioniert im Repertoire und in der Struktur des Publikums. »Das Publikum des Fürsttheaters setzte sich zum Großteil aus den untersten sozialen Schichten dieser Zeit, aus dem Kleinbürgertum und den Lohnarbeitern, zusammen, unterschied sich also nicht von dem Publikum der Volkssänger-Gesellschaften. [...] Das >elegante Publikums das Fürst so sehr ersehnte, kam dann, wenn ein Stück wie etwa Flamms >Französin und Preussin< die Zensur und damit die Zeitungen und die Öffentlichkeit beschäftigte, oder wenn Stücke wie Josephine Gallmeier< die Gesprächsthemen, die auch in den Salons vorwiegend um Schauspielerinnen und Schauspieler kreisten, neu zu beleben versprachen.«51 Gegenüber diesen strukturbedingten Nachteilen konnten Ronacher und Fürst allerdings mit den Standortvorteilen des beliebten Ausflugsziels Prater kalkulieren. Das Theater an der Wien und das Carltheater, als Gesellschaftstheater in bürgerlichen Gemeindebezirken mit unmittelbarer Nähe zur Inneren Stadt gelegen, hatten indessen längst den Charakter des >Volkstheaters< abgelegt und waren im Prestige gestiegen,52 dem sie mit aufwendigen Inszenierungen und 50 51
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Wladika, Pratertheater, S. 91. Ebd., S. 85f. - Einen Hinweis auf den unterschiedlichen Rang der Wiener Bühnen geben die Briefe Theodor Herzls aus Berlin, in denen er aus der Perspektive eines Autors, der nach passenden Aufführungsmöglichkeiten f ü r seine Stücke Ausschau hält, Vergleiche zwischen Berliner und Wiener Theatern zog. Am 3. Dezember 1885 etwa stellte er fest: »Wallnertheater ist etwa so wie Carltheater«, am 21. Oktober 1890 dann: »Gestern war ich im Thomastheater. Sehr hübsches Haus, elegant aussehend, aber Publicum und Darstellung wie bei uns im Fürsttheater. Das Thomastheater hat in der öffentlichen Meinung den Rang unseres Josefstädters.« In: Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. 1: Briefe und autobiographische Notizen 1866-1895, hrsg. v. Alex Bein u. a., Berlin/Frankfurt a. M./Wien 1983. Aufgrund der Auswertung statistischen Materials zu den jüdischen Wohnbezirken in Wien liefert Marsha L. Rozenblit eine Analyse der allgemeinen Wohn- und Bevölkerungsstrukturen, die in der Veränderung der Theaterlandschaft ihre Entsprechung finden: »Die Modernisierung der alten Wiener Vorstädte verdrängte viele Wiener des unteren Mittelstandes und zwang sie zur Übersiedlung in Arbeiterbezirke. Bezirke wie die Leopoldstadt (II.), Landstraße (III.), Mariahilf (VI.), Neubau (VII.), Josefstadt (VIII.) und Aisergrund wurden Wohnraum der angesehenen Mittelklasse.« M. L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Iden-
umjubelten Stars Rechnung trugen. Am Carltheater gewann seit der Direktion Jauners (1872-78) der Modus der Serienaufführungen erfolgreicher Stücke an Bedeutung; zu diesen gehörten Suppes Fatinitza, Boccaccio und Die Reise um, die Erde in 80 Tagen (nach Jules Verne) sowie Lecocqs Angot, die Tochter der Halle und Girofle-Giroflä. Eine besondere Attraktion stellte 1886 ein englisches Gastspiel der Company von Richard D'Oyly Carte dar, das die ersten Aufführungen von Operetten Arthur Sullivans und William Schwenck Gilberts in Wien brachte, darunter The Mikado or The Town of Titipu, Patience und Trial by Jury. Am Theater an der Wien waren vor allem die regelmäßigen Uraufführungen von Strauß-Operetten Zugpferd und gesellschaftliches Ereignis, doch auch Millöcker war nun mit abendfüllenden Operetten erfolgreich. Um die Mitte der 1880er Jahre nahm die Operette hier bereits drei Viertel des Spielplans ein, französische und ungarische Gastspiele mit Schwerpunkt Operette ergänzten das eigene Programm. Gegen Ende der 1880er Jahre zeichnete sich dann eine Flaute der Operette ab, die sich vor allem am Carltheater auswirkte; die Bühne litt unter häufigen Direktionswechseln und wandte sich für einige Zeit sogar ganz dem Sprechstück zu. Im Operettenrepertoire und auf der Darstellerebene ergaben sich Umorientierungen und Unsicherheiten: Offenbach und die weitenteils mit ihm identifizierte übrige französische Operette waren in Wien außer Mode geraten, die jahrelang führenden Divas der Vorstadtbühnen waren abgetreten und hatten noch keine adäquaten Nachfolgerinnen gefunden, und die musikdramatische Struktur der neu entstehenden Wiener Operetten war geprägt von seriösen, an der Historie orientierten, häufig altdeutschen Stoffen, die einige Zeit beliebt waren, aber auf Dauer keinen entscheidenden Impuls für das Genre geben konnten. Entsprechend charakterisierte der aufstrebende Bühnenautor Theodor Herzl die Wiener Operettensituation Anfang 1890 in einem Brief an einen ungarischen Freund, der ihm die Zusammenarbeit an einem Operettenlibretto vorgeschlagen hatte: Aber schon bei den ersten Schritten in der mir ziemlich unbekannt gewesenen Operetten-Geschäftswelt musste ich einige überraschende Wahrnehmungen machen. Dieser Industriezweig scheint gegenwärtig arg daniederzuliegen, gleich der Perlmutterdrechslerei und unseren articles de Vienne. Ueberproduktion, fehlender Markt, Schwindelconcurrenz u. a. sind die Gründe. Die grösseren Componisten wenden sich einem seriöseren Genre zu: komischen Spielen, wenn nicht gar grossen Opern. Der Mittelschlag der Musiker weist verschiedene Ausschliessungsgründe auf. Mit dem Einen kann man nichts machen, weil er soeben einen schweren Durchfall erlitten hat, der ihn f ü r ein paar Jahre ausser Cours setzt. Der Zweite ist mit der Direction des Theaters an der Wien, des jetzt allein dastehenden Operettentheaters verfeindet. Ihm ein Libretto geben, hiesse sich auf die Bühnen im Reich, die in der Operette gar keine Initiative haben, verlassen - das wäre eine Arbeit pour le roi de Prusse. Der Dritte, Vierte bis Elfte
tität, Wien/Köln/Graz 1989 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 11), S. 81.
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will von einem parodistisehen Buche absolut nichts wissen. Dieses genre soll sich gänzlich überholt haben. Wenigstens ist es momentan ganz ausser Mode.53
Auch das »jetzt allein dastehende« Theater an der Wien hatte in dieser Zeit finanzielle und künstlerische Krisen durchzustehen. Repertoirestützen waren unter den Neuproduktionen neben Strauß' Zigeunerbaron die romantischkomische Operette Der Hofnarr von Adolf Müller jun., die Ausstattungsposse Die Wienerstadt in Wort und Bild (Müller, Julius Stern u. a.), die Volksoper Die sieben Schwaben (Millöcker), die deutschsprachige Adaption von Sullivans Mikado sowie das Sensationsdrama Der Fall Clemenceau von Alexandre Dumas und Armand dArtois. Theaterneugründungen: >Volkstheater< und >Operette< Als es in den 1890er Jahren zu einer Anzahl von Theaterneugründungen kam, waren das Theater an der Wien und das Carltheater trotz der genannten strukturellen Probleme als die führenden Operettentheater etabliert. Die spezifische Rolle der Operette vor der Jahrhundertwende kristallisierte sich nicht zuletzt in der verbreiteten Diskussion über das Volkstheater heraus. Als Ausgangsbeobachtung ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das Repertoire der Wiener Hofoper von Interesse. Angesichts der Tatsache, daß einerseits eine ganze Reihe von Operettenkomponisten immer wieder nach der seriöserem Opernkunst schielten, andererseits bei der Bewertung von Operettensujets häufig der Ruf nach Volkstümlichkeit laut wurde, erweist sich die Auswahl jener Werke aus dem Bereich des unterhaltenden Musiktheaters als aussagekräftig, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert den Weg an die Hofoper fanden. Es waren dies: Suppes komische Operetten 25 Mädchen und kein Mann54 und Das Pensionat, sein Original-Singspiel Franz Schubert, Louis Schneiders Genrebild Kurmärker und Picarde mit Musik von Suppe,55 Johann Brandls Singspiel Des Löwen Erwachen, Strauß' Fledermaus (1894, anläßlich von Strauß' 50jährigem Künstlerjubiläum) und Zigeunerbaron (1910),56 Franz Dopplers Aus der Heimat,51 Thomas Koschats Am Wörthersee5% sowie Johann
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Brief vom 11. Februar 1890, in: Herzl, Briefe und Tagebücher. Es handelte sich hierbei um eine spektakulärere Fassung von Zehn Mädchen und kein Mann. Das Stück Schneiders war 1842 mit Musik von Hermann Schmidt in Berlin uraufgeführt und bereits 1845 in einer Wiener Bearbeitung von Friedrich Kaiser unter dem Titel Der preußische Landwehrmann und die französische Bäuerin mit Musik von Suppe am Kärntnertortheater gegeben worden. 1861 gab man es am Theater am Franz-Josefs-Kai, 1862 am Carltheater und 1865 am Thaliatheater. Beide Strauß-Operetten wurden häufig als komische Opern angekündigt. Im Untertitel »Bilder aus dem Volksleben der österreichisch-ungarischen Monarchie mit Gesang und Tanz mit Benützung von Nationalmelodien«. »Kärntnerisches Liederspiel«.
Nepomuk Fuchs' Im Feldlager,59 Angesichts der Vielzahl in Wien aufgeführter Operetten und des hohen Prozentsatzes, den hierbei das französische Repertoire jahrelang einnahm, fällt die national-konservative Ausrichtung dieser Spielplansektion besonders ins Auge. Mit Suppe und Brandl wurden Lokalgrößen gewählt, die vor allem durch zahlreiche Volksstück-Musiken bekannt geworden waren, und Strauß galt ohnehin als Inbegriff des Wienertums; die Schubert-Thematik in Suppes Singspiel kam patriotischen wie sentimentalen Regungen entgegen. Die Werke der gefeierten französischen Komponisten Offenbach, Lecocq und Herve blieben völlig unberücksichtigt, obwohl zumal unter der Hofopern-Direktion Wilhelm Jahns in den 1880er Jahren die ältere französische >Spieloper< einen wichtigen Teil des Repertoires bildete. Statt dessen fanden sich das lokal gefärbte Liederspiel Koschats, das beachtliche Aufführungszahlen und wenige Jahre nach der Erstaufführung sogar eine Neuinszenierung erlebte, das Militärstück Fuchs', das bei seiner Erstaufführung 1888 auf einer Linie mit patriotisch-kampfbegeisterten Tendenzen in der zeitgleichen Operettenproduktion lag, und Dopplers »nationale Bilder«, die es von 1879 bis Anfang 1888 auf stattliche 51 Aufführungen brachten. Die Hofoper setzte also mit ihrer Spielplanpolitik im Bereich des populären Genres ein Signal zugunsten des Nationalen - eine Tendenz, die auch im Ballettrepertoire jener Jahre spürbar wird.6" Die Operette hatte in den 1880er Jahren ihre bislang größte Annäherung an die deutsche >komische Oper< vollzogen, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Conradin Kreutzer, Albert Lortzing, Otto Nicolai und Friedrich von Flotow vertreten worden war. Sowohl die Stoffwahl als auch die musikdramatische Anlage von Werken wie Der Feldprediger (Millöcker), Don Cesar (Rudolf Dellinger), Der Doppelgänger (Alfred Zamara), Die sieben Schwaben (Millöcker), Simplicius (Strauß), Der Schelm von Bergen (Alfred Oelschlegel) oder Ein Deutschmeister (Ziehrer) waren Ausdruck des Wunsches, sich von der Satire und Groteske abzugrenzen, die im Gefolge Offenbachs noch in den 1870er Jahren große Teile auch der Wiener Operettenproduktion geprägt hatte, und unter nationalen Vorzeichen einen neuen künstlerischen Weg einzuschlagen. Nicht überraschen kann es, daß die Uraufführung der Sieben Schwaben als »Ouvertüre« zur Gründung eines neuen Volkstheaters in Wien gefeiert wurde.61 Daneben unternahm man jedoch in Wien noch grundsätzlichere Anstrengungen, angesichts des immer weiter um sich greifenden Operetten- und Vaudeville-Repertoires sowie der Popularität opulenter Varieteprogramme, wie sie etwa das neue Etablissement Ronacher bot, das in bestimmten Kreisen verbreitete ideologieträchtige Engagement 59 60
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»Militärische Szenen mit Volks- und Kriegsliedern«. Vgl. etwa Louis Frapparts Wiener Walzer (1885) und Josef Haßreiters Rund um Wien (1894). Rezension von Oskar Teuber in: Fremdenhlatt (Wien), 30. Oktober 1887, S. 4; vgl. zu dieser Diskussion zahlreiche Quellentexte in »Warum es der Operette so sehlecht geht«. 85
für ein >volkstümliches< Theater verstärkt zu institutionalisieren. 62 Von weitreichender Bedeutung war in diesem Zusammenhang Adam Müller-Guttenbrunns nationalistisch gefärbte Polemik Wien war eine Theaterstadt, die 1885 erstmals erschien.63 Müller-Guttenbrunn tat sich als Initiator verschiedener auf die Pflege der >Volkskunst< ausgerichteter Bewegungen und als zeitweiliger Theaterdirektor hervor. Sein Credo faßte er kurz nach der Jahrhundertwende in einer Denkschrift an Karl Lueger, den konservativ-antisemitischen Wiener Bürgermeister, in drastischen Worten zusammen: Durch die Gründung dieses Schauspielhauses [des Kaiserjubiläums-StadttheatersJ sollte der Beweis erbracht werden, daß die deutsche Literatur reich genug ist, das deutsche Theater zu versorgen und daß wir der internationalen Mode-Literatur und der zumeist durch jüdische Übersetzer eingeschleppten französischen Unsitten-Stücke, die das gesunde Gefühl unseres Volkes verpesten, entraten können; durch dieses Theater sollte die vom jüdischen Journalismus vollständig überwucherte und entmutigte heimische Produktion, die seit drei Jahrzehnten fast versiegt schien, wieder geweckt werden; auf dieser Bühne sollte den a r i s c h e n T a l e n t e n auf dem Gebiete der Literatur und der Schauspielkunst der Weg geebnet, durch den Bestand dieses Theaters sollte Bresche gelegt werden in den Ring, der das gesamte deutsche Künstlerleben unterjocht und dasselbe zu seiner geschäftlichen Domäne gemacht hat. 64
1889 war das Deutsche Volkstheater (VII., Neustiftgasse) eröffnet worden, 1890 beschloß ein eigens ins Leben gerufener Wiener Volkstheater-Verein die Gründung eines Raimundtheaters (VI., Wallgasse; Eröffnung: 1893), und ebenfalls auf einer Vereinsinitiative beruhte die Errichtung des Kaiserjubiläums-Stadttheaters, der späteren Volksoper (Währingerstraße, zunächst XVIII., ab 1906 IX.; Eröffnung: 1898). Doch gerade die beiden letztgenannten Theaterinitiativen mit ihrer bewußten Ausrichtung auf das Volksstück unterstrichen schließlich die Tatsache, daß das, was als ein im politischen und ideologischen Sinn instrumentalisiertes »deutsches Volkstheater< festgeschrieben werden sollte, längst zuviel an echter Volkstümlichkeit verloren hatte, als daß es sich gegen die Publikumswirksamkeit der Operette auf Dauer hätte durchsetzen können. 62
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I m Bewilligungsschreiben Kaiser Franz Josephs zur Errichtung des Deutschen Volkstheaters scheinen zwei Paragraphen auf, die hier von Interesse sind. So heißt es zum Repertoire: »daß in dem Theater [...1 nur das Trauerspiel, das Schauspiel und das Volksstück, dann das Lustspiel, der Schwank und die Posse gepflegt werden, von demselben daher die Operetten, sowie Schaustellungen und Produktionen anderer Art ausgeschlossen bleiben«; zum Publikum: »daß der Fassungsraum des Theaters, um dasselbe einem möglichst weiten Kreise zugänglich zu machen, dem Projekte gemäß auch wirklich f ü r 2 0 0 0 Personen eingerichtet werde, die Eintrittspreise überdies tunlichst billig gestellt werden«; zit. n. Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte·, S. 724f. A d a m Müller-Guttenbrunn, Wien war eine Theaterstadt, Wien 1885 (= Gegen den Strom.. Flugschriften einer literarisch-künstlerischen Gesellschaft, Bd. 1, Heft 2). Abdruck der Denkschrift in: Die Fackel 5 (1903), Nr. 146, S. 12-21, hier S. 18; auch in: Müller-Guttenbrunn, Erinnerungen, S. 207-217.
Sowohl Raimundtheater als auch Kaiserjubiläums-Stadttheater wurden in den ersten Jahren ihres Bestehens von der national ausgerichteten Direktion Müller-Guttenbrunns geprägt, doch an beiden Theatern machte das programmatisch verordnete Volksstück bald der Operette beziehungsweise dem Musiktheater Platz. Bereits im Mai 1894 war in der Tagespresse zu lesen: Direktor Müller-Guttenbrunn hat gestern den ersten Versuch mit einem Singspiele gemacht, wie es im Programme des Raimund-Theaters auch vorgesehen wurde. Um nicht gleich mit der Operetten-Thüre ins Haus zu fallen - denn man mag die Sache drehen und wenden, wie man will, immer bleibt es dabei: Singspiel nennt man's und Operette ist es - galt der Anfang nur einer einaktigen Piece. L- · -J Das neue Singspiel betitelt sich >Endlich allein< L...J und ist von Alfred Strasser. 65
Deutlichere Umorientierungen ergaben sich am Raimundtheater nach 1896 unter der Direktion Ernst Gettkes. Gettke ergänzte den Spielplan, der bis dahin weitgehend dem Volksstück und der deutschen Dramatik gewidmet war, allmählich um erfolgreiche Operetten und Singspiele. Im Rahmen eines Austauschgastspiels mit dem Carltheater gab es 1900 Wiener Blut von Adolf Müller jun. nach Strauß und Die Geisha von Sidney Jones. Am 22. Dezember 1901 konnte das Fremdenblatt dann vermelden: Diese Bühne hat gestern einen neuen Weg betreten: Unter der weißen Flagge >Singspiel< hat die Wiener Operette ihren Einzug in die Raimund-Bühne gehalten. Das ist kein Unglück, und Direktor Gettke braucht deshalb nicht angeklagt zu werden. Wer einen Alexander Girardi als >Star< besitzt und auf die Operette verzichtet, der hat kein Theaterblut, wenn er der Versuchung nicht erliegt.
Den Beginn dieses »neuen Weges« markierte die Uraufführung von Carl Zellers Kellermeister in der musikalischen Einrichtung von Johann Brandl. Als Carltheater-Gastspiel gab es am Raimundtheater in der folgenden Zeit Offenbachs Schöne Helena, Millöckers Bettelstudent, Ziehrers Die drei Wünsche und Richard Heubergers Opernball, im Jahr 1906 schließlich als Gastspiel des Theaters an der Wien Franz Lehärs Lustige Witwe sowie als Eigenproduktion Fritz Sommers Das Schwalberl aus dem Wienerwald nach Josef Strauß. Die entscheidende Wende brachte die Übernahme des Raimundtheaters durch das am Theater an der Wien erfolgreiche Direktorenteam Wilhelm Karezag / Karl Wallner, zu der es 1908 kam. Unter ihnen entwickelte sich das Haus bald zu einer der führenden Wiener Operettenbühnen neben dem Theater an der Wien, dem Carltheater und dem neugegründeten Johann-Strauß-Theater; den Spielplan bestimmten nun Operetten-en-suite-Aufführungen und Austauschgastspiele mit dem Theater an der Wien. Das Kaiserjubiläums-Stadttheater hatte während der Direktion Müller-Guttenbrunns, der ein »arisches, christliches Theater frei von jüdischem
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lfudwigl Ilfeld], Raimund-Theater,
in: Neues Wiener Tagblatt, 20. Mai 1894, S. 7.
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Einfluß« propagierte, 66 einen schweren Stand. In seinen Erinnerungen legte Müller-Guttenbrunn die anhaltenden finanziellen Schwierigkeiten, mit denen er als haftender Direktor des Kaiserjubiläums-Stadttheaters zu kämpfen hatte und an denen er schließlich scheiterte, ausführlich dar. Sein Vorhaben eines auf der Seite der Produktion »judenfreien« Theaters mit niedrigen Eintrittspreisen zog zwar ein wenig bemitteltes Publikum aus den umliegenden Vororten an, das jedoch fast ausschließlich Galerieplätze besetzte. Das Parkett, dessen Belegung im Rahmen von Abonnements einen finanziellen Aufschwung des Theaters ermöglicht hätte, sei zu weiten Teilen leergeblieben. Im Rückblick mußte der Direktor resümieren: »Auch jüdisches Publikum kam. Aber es waren kleine Leute. Nicht ein Mensch aus der >Gesellschaftjüdische Verschwörung< zurück, aufgrund derer er sein Theater auch in der einfiußreichen jüdischen Tagespresse nicht entsprechend gewürdigt sah. Ab der Spielzeit 1903/04 verfolgte das Haus unter der neuen Leitung Rainer Simons' dann ein verändertes künstlerisches und wirtschaftliches Konzept: Die nunmehrige Volksoper wandte sich dem Musiktheater zu. Operetten gab es zunächst meist während der Sommermonate als Gastspiele des Theaters an der Wien und des Carltheaters, bald darauf auch in eigenen Produktionen. 68 Von den drei Bühnen, die f ü r ein >Volkstheater< und gegen die Operette gegründet worden waren, konnte sich also lediglich das Deutsche Volkstheater längerfristig ohne das musikalische Unterhaltungstheater behaupten. Es etablierte sich allmählich als zweite wichtige Sprechbühne neben dem Burgtheater und war nicht zuletzt mit den Dramen Arthur Schnitzlers erfolgreich. Plakative Thesen von der Verdrängung des Volksstücks durch die Operette, 66
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Eine SpezialStudie zu dieser Problematik liefert Richard S. Geehr, Adam Miiller-Guttenbrunn and the Aryan Theater of Vienna (1898-1903). The Approach of Cultural Fascism, Göppingen 1973 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 114). Die Autoren des Jubiläumsbands Die Volksoper. Das Wiener Musiktheater (1998) setzen sich weitgehend über die Drastik von Müller-Guttenbrunns eigenen nationalistischen und antisemitischen Überzeugungen hinweg und lasten die diesbezügliche Ausrichtung des Kaiserjubiläums-Stadttheaters in erster Linie dem Vorstand des Kaiserjubiläums-Stadttheatervereins an; Bachler u. a., Die Volksoper, S. 10. Müller-Guttenbrunn, Erinnerungen, S. 109. Simons begann mit Gastspielaufführungen von Die Fledermaus, Der Zigeunerbaron, Wiener Blut, Das Spitzentuch der Königin, Prinz, Methusalem, Die Geisha und Der Vogelhändler (Mai 1905), bevor mit Die Fledermaus (Januar 1907), 1001 Nacht (Ernst Reiterer nach Johann Strauß' Indigo und die 40 Räuber, Oktober 1907), Die Glocken von Corneville (Januar 1908) und Der Opernball (Februar 1908) erste Operetten in das hauseigene Repertoire aufgenommen wurden.
die auf einer Abgrenzung zwischen beiden Gattungen beruhen und authentische Volkskunst und >frivoles Amüsement< einander gegenüberstellen, erweisen sich gleichwohl auch im Fall des beschriebenen Spielplanwandels am Raimundtheater und am Kaiserjubiläums-Stadttheater als fragwürdig; sie hatten schon im 19. Jahrhundert mythisierende Funktion. Johann HUttner wertet derartige Argumentationen unter dem Blickwinkel kulturpolitischer Konflikte: »Haß gegen Fremdes, vor allem wenn es aus Frankreich kam, und insbesondere das Feindbild Operette, deren Einfluß auf den Untergang des Volksstücks aus heutiger Sicht überschätzt, wenn nicht sogar falsch gezeichnet wurde, aber ein gutes propagandistisches Werkzeug darstellte, das zum Teil bis heute wirkt, Ausstattungsluxus und Starwesen (vor allem der weibliche Star), das finanzkräftige Publikum, teilweise schon mit antisemitischen Untertönen, welches das Volk aus den Theatern gedrängt hatte - diese Reizstellen spielten in der damaligen Debatte um ein Volkstheater in Wien eine gewichtige Rolle.«69 Volkskunst-Pläne wie diejenigen Müller-Guttenbrunns entfalteten zunächst also keine Massenwirkung, obwohl die Ideologie, auf der seine ästhetischen Vorstellungen fußten, zum ersten Weltkrieg hin und darüber hinaus immer deutlicher an Boden gewann. Um die Jahrhundertwende verband sich die weitere Entwicklung im Bereich des Wiener Unterhaltungstheaters vielmehr mit Namen wie Gabor Steiner, Ignaz Wild, Josef Jarno und schließlich nach 1900 mit Ben Tieber und vor allem Wilhelm Karezag, gewinnorientierten Unternehmern und Theaterdirektoren, die mit ihren Programmen dem Geschmack einer immer schnellebigeren, internationalisierten Großstadt Rechnung trugen. Flauten und Eroberungen Die beiden großen Operettenbuhnen, das Carltheater und das Theater an der Wien, hatten seit den späten 1880er Jahren neben Hochs auch Tiefs erlebt, die mit der wirtschaftlichen Situation in Wien - erst nach 1896 setzte eine Erholung ein - sowie mit einer >Krise< der Operette zusammenhingen, die nun immer wieder beschworen wurde. Man befürchtete, mit dem allmählichen Zurücktreten Strauß', Suppes und Millöckers von den Bühnen wäre ein Qualitätsverlust der Operettenproduktion unausweichlich. Am Carltheater gab es unter den Direktionen Karl Blasels (1889-95) 70 und Franz Jauners
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Hüttner, in: 100 Jahre Volkstheater; S. l l f . Blasel begann seine Direktion am Carltheater in der Absicht, im Gegensatz zu seinem Vorgänger zunächst nur Volksstücke und Possen zu spielen, wie er das zuvor als Direktor des Theaters in der Josefstadt getan hatte. Doch bereits ab den frühen 1890er Jahren nahm die Operette wieder einen wichtigen Teil des Spielplans ein. Zur Problematik des Operetten- und Volksstückrepertoires und der Situation des Carltheaters in den 1880er Jahren vgl. Ein Direktionswechsel im Carl-Theater, in: Fremdenblatt (Wien), 10. Februar 1889, S. 5. 89
(1895-1900)71 einen gemischten Spielplan mit Operetten, Lustspielen, neuerer Dramatik und einer Vielzahl von Gastspielen; Attraktionspunkte waren die Auftritte Eleonora Duses und Sarah Bernhardts in den frühen 1890er Jahren, Operettengastspiele aus Paris (1893)72 und Mailand (1894) und Gastengagements der Operettensängerinnen Julie Kopacsi-Karczag (1894/95) und Mary Haiton (I898-1900). 73 Das Theater an der Wien, seit 1884 im Besitz der Schauspielerin Alexandrine von Schönerer, hatte wie das Carltheater mit den Auswirkungen der problematischen Wirtschaftslage zu kämpfen. Während sich Franz Jauner im Februar 1900 »wegen des unvermeidlichen finanziellen Zusammenbruchs« in seinem Büro im Carltheater erschoß, sah sich Alexandrine von Schönerer im gleichen Jahr zum Verkauf ihres Hauses gezwungen: Die ungünstigen Zeit- und insbesondere Theaterverhältnisse der letzten Jahre haben es mit sich gebracht, daß ich nur mit den größten pekuniären Opfern das mir eigentümliche und von mir geführte Theater an der Wien und zwar, wie ich wohl sagen darf, auf der der Tradition des Theaters entsprechenden künstlerischen Höhe fortzuführen in der Lage war. Da eine Besserung auch im heurigen Jahre nicht eintrat, entschloß ich mich, dieses Geschäft aufzugeben und habe ich in voriger Woche ein Kaufoffert rechtsverbindlich akzeptiert. 74
Ungeachtet der hier beschriebenen wirtschaftlichen Krisensituation hatte das Theater an der Wien zumal am Anfang der 1890er Jahre durchaus Erfolge mit
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Jauner ließ das Carltheater gänzlich umbauen, wodurch sich die Platzzahl von etwa 2 3 0 0 auf 1 400 reduzierte, also ein Schritt hin zu weiterer Exklusivität unternommen wurde. Der Neue Theater-Almanach notierte: »Das k. k. priv. Carl-Th. wurde nach den Plänen von van der Nüll und Siccardsburg im Jahre 1847 am 10. Dezember eröffnet. Vom Direktor Franz Ritter von Jauner vollständig umgestaltet und erneuert am 4. Oktober 1895, mit der Operette >Das Modell< von Franz von Suppe eröffnet. Den Umbau leitete Herr Architekt Victor von Weymann. Sämmtliche Renovirungs- und Dekorations-Arbeiten wurden von Herrn Sandor Jaray, k. k. Hoflieferant, ausgeführt. Die vierte Galerie wurde kassirt, so daß das Haus nun nur drei Galerieen besitzt. Die Sitzplätze wurden vermehrt. Das ganze Haus ist auf das Eleganteste eingerichtet.« Neuer Theater-Almanack für das Jahr 1896, hrsg. v. der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger, Berlin 1896, S. 536. Mit den Erfolgsstücken Le Petit Due, La Fille de Madame Angot, La Mascotte, Orphee aux enfers, La Belle Helene und Miss Helyett. Julie Kopacsi-Karczag konnte in Suppes Das Modell, Edward Jakobowskys Brillantenkönigin, Alexander Neumanns Königin von Gamara, Adolf Müllers Lady Charlatan (1894), Raoul Maders Cceur d'ange und Louis Varneys Olympia, die Muskelvenus (1895) vor allem ihre körperlichen Vorzüge zur Geltung bringen. Ein herausragender Erfolg wurde die Wiener Erstaufführung von Sidney Jones' Die Geisha oder Die Geschichte eines japanischen Teehauses, daneben erreichten Eugen von Taunds Die Lachtaube und Charles Weinbergers Adam und Eva oder Die Seelenwanderung sowie die große Ausstattungsposse mit Gesang und Tanz Eine tolle Nacht mit Musik von Julius Einödshofer und Leo Held größere A u f f ü h rungszahlen. Zit. n. Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 620.
einigen neuen Operetten zu verzeichnen,75 die die Position dieses Hauses als erste Operettenbühne festigten und die Grundlage für die Entwicklung nach 1900 bildeten. Die Stars des Theaters an der Wien waren in diesen Jahren Ilka Palmay und - seit mittlerweile zwei Jahrzehnten - Alexander Girardi, später dann Julie Kopacsi-Karczag. Am Theater in der Josefstadt kam es mit der Direktionsübernahme durch Ignaz Wild 1894 zu einem entscheidenden Wandel. In den 1870er und 1880er Jahren waren in der Josefstadt, einem bürgerlichen Bezirk in unmittelbarer Nähe von Rathaus und Parlament, unter der Direktion Johann Fürsts und seiner Nachfolger nahezu ausschließlich Volksstück und Posse gespielt worden. Wild und sein Dramaturg Victor Leon hingegen versprachen sich größere Einnahmen von einem Spielplan, der sich aus französischen Sitten- und Konversationsstücken und einer Vielzahl sogenannter Vaudevilles zusammensetzte. Mit dem Vaudeville öffnete Wild das Josefstädter Theater für die neueste Pariser Operette (die Stücke waren dort nahezu ausnahmslos als >Operette< herausgekommen), zugleich ergab sich durch die Popularität des Vaudeville allmählich eine ästhetische Umorientierung auch der Wiener Operette, die sich um und nach der Jahrhundertwende häufig als Vaudeville-Operette präsentierte. Daß in Wien französische >Operettes< als >Vaudevilles< herauskamen, ist in zweierlei Hinsicht von Interesse: Einerseits verband sich für die Wiener mit der Bezeichnung Vaudeville die Aussicht auf besondere Pikanterien - der Begriff hatte inzwischen Bedeutungen angenommen, die sich ursprünglich nicht mit ihm verbanden - , andererseits verweist diese Gattungsbezeichnung auf eine strukturelle Veränderung der Operette, die von der spielopernhaften hin zur possen- oder revueartigen Operette führte. Zu den Erfolgskomponisten der Direktion Wild gehörten Antoine Banes, dessen Vaudeville Tata-Toto als erstes Stück der neuen Leitung sogleich einen Serienerfolg einbrachte, Louis Varney, Edmond Audran und Victor Roger als Vertreter einer neuen Generation französischer Operettenkomponisten nach Offenbach, Herve und Lecocq 76 sowie verschiedene Wiener Kapellmeister, die sich ebenfalls mit dem Vaudeville versuchten, darunter Hellmesberger, Karl Kapeller und Thul.77 Auch am Fürst-Theater im Prater, das 1892 von dem Königsberger Theaterdirektor Heinrich Jantsch erworben wurde und nach verschiedenen Umbenennungen schließlich ab 1896 als Jantsch-Theater spielte, setzte sich gegen 75
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Längere En-suite-Serien gab es nach den Uraufführungen von Millöckers Der arme Jonathan (1890) und Das Sonntagskind (1892), Müllers Des Teufels Weib (1890), Zellers Der Vogelhändler (1891) und Der Obersteiger (1894), Strauß' Fürstin Ninetta (1893) und Waldmeister (1895), Weinbergers Die Karlsschülerin (1895), Heubergers Der Opernball (1898) sowie für die Possen mit Gesang Heißes Blut von Hugo Schenk und Ein armes Mädel von Leopold Kuhn. Varney: Die eiserne Jungfrau, Die kleinen Schäfchen, Lolas Cousin; Audran: Toledad; Roger: Japhet und seine zwölf Frauen, Wie man Männer fesselt. Hellmesberger: Die Doppelhochzeit', Kapeller: Im Pavillon, Das rote Parapluie; Thul: Der Sergeant. 91
Ende des Jahrhunderts die Operette immer mehr durch. Der neue Eigentümer versuchte sich 1893 zunächst mit Suppes Ausstattungsoperette Die Reise um die Erde in 80 Tagen, die ihm einen ganzen Sommer lang ein volles Haus brachte. Bis Mitte der 1890er Jahre baute Jantsch ein großes Tanzensemble von bis zu 50 (weiblichen) Mitgliedern auf.78 1898 wurde das Sommertheater in ein Vollhaus umgebaut, so daß die Bühne auch in den kalten Monaten bespielt werden konnte. Jantsch selbst starb kurz nach der Wiedereröffnung, unter den kommenden Direktoren und Pächtern gewann die Operette jedoch zunehmend an Bedeutung. Vor allem das abendfüllende französische Repertoire wurde in Neuinszenierungen vorgestellt.79 Doch auch außerhalb des Operettenrepertoires hatte es am Jantsch-Theater längst eine Abkehr von lokalen Sujets und eine Hinwendung zum Ausstattungstheater gegeben, die sich sowohl in neuen Werken als auch in Rückgriffen auf älteres Repertoire niederschlug. Schon Mestrozi hatte ja mit Wandeldioramen, einem »patentierten Sensations-Wasser-Drama« und einem »fliegenden Ballett« geworben. Unter Jantsch kamen nun, von ihm selbst bearbeitet, drei große Spektakelfeerien nach französischen Stoffen heraus, die in den 1860er Jahren mit Musik von Adolf Müller sen. am Theater an der Wien bereits lange Aufführungsserien erlebt hatten: Für Die Eselshaut (1894) und Schafhaxl (1895) schrieb Karl Rella eine neue Musik, Prinzessin Hirschkuh (1896) wurde von Fritz Lehner komponiert. 80 Bezeichnenderweise griff Jantsch auch auf jenes Stück zurück, das 1842 dem Theater in der Josefstadt einen Serienerfolg von bis dahin ungekannten Ausmaßen gebracht hatte: Franz Xaver Tolds Der Zauberschleier, oder: Maler, Fee und Wirtin (Musik: Anton Emil Titl) mit seiner sensationellen Wandeldekoration von Theodor Jachimovicz.81 Auf verschwenderische Optik setzten auch die Ausstattungsstücke Zwanzigtausend Meilen unterm Meere von Hellmesberger, Die Pariser Weltausstellung 1900 von Josef Bayer (1900) und Die Entdeckung Amerikas von Emil Korolanyi (1904).
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Im Sommer 1896 beschäftigte Jantsch neben einem Chor von beachtlicher Größe zwei Solotänzerinnen, 16 Ballettdamen, 20 Figurantinnen und acht Ballettelevinnen; 1897 waren es neben der Ballettmeisterin eine Primaballerina, eine Solotänzerin, zwölf Ballettdamen, 20 Figurantinnen und acht Elevinnen. So kamen 1898 Pariser Leben und Orpheus in der Unterwelt, 1899 dann Die Prinzessin von Trapezunt, Die schöne Helena, Blaubart und Die Großherzogin von Gerolstein, Lecocqs Der kleine Herzog sowie als Wiener Erstaufführungen Victor Rogers Die weiße Henne und Herves Cabinet Piperlin heraus. Prinzessin Hirschkuh und Die Eselshaut waren 1869 bzw. 1876 in Bearbeitungen von Julius Megerle, Die Eselshaut weiterhin 1889 in einer Bearbeitung von Julius Feld mit Musik von Low auch am Theater in der Josefstadt herausgekommen. Tolds Singspiel basierte auf Antonio Guerras »phantastischem Ballett« Der FeenSee, das 1840 in London uraufgeführt wurde und 1842 an der Wiener Hofoper herausgekommen war. - Vgl. dazu: Günther Hansen, Der Rhein und die Wandeldekoration des 19. Jahrhunderts, in: Maske und Kothurn 11 (1965), S. 134—150.
Widerstreitende Motivationen Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts stellte eine Zeit des Übergangs dar, in der die wirtschaftliche Krise auch für die Theaterszene zu Krisensituationen führte, während zugleich die Bevölkerungsentwicklung hin zur Millionenstadt Veränderungen auf dem Unterhaltungssektor erzwang, der sich in quantitativer und ästhetischer Hinsicht den neuen demographischen und infrastrukturellen Gegebenheiten anpaßte. Innerhalb des Spannungsfelds von Ideologie, wirtschaftlicher Krise und kommerziellen Bestrebungen modifizierten sich allmählich auch das musikdramatische Erscheinungsbild der Operette, ihre Position innerhalb des Wiener Repertoires und ihre Rezeption. Vergleicht man die Spielplanstrukturen der traditionellen Wiener Vorstadttheater, der Prater-Bühnen und der in den 1880er und 1890er Jahren neugegründeten Bühnen, so ist nicht zu übersehen, daß sich vor der Jahrhundertwende zwei theatrale Phänomene gegenüberstanden, die auf fundamental verschiedenen Motivationen beruhten. Die Theaterinitiativen, die zur Errichtung des Deutschen Volkstheaters, des Raimundtheaters und des Kaiserjubiläums-Stadttheaters führten, waren in allererster Linie ideologisch motiviert und stellten keine konstruktive Auseinandersetzung mit der seit den Revolutions- und den frühen Gründerjahren gravierend veränderten Sozial- und damit Publikumsstruktur Wiens dar; sie waren kurz- und mittelfristig nicht massenwirksam. Dieser Sozialstruktur hingegen trug der stärker kommerziell orientierte Sektor der Wiener Theaterszene Rechnung: Neue, großdimensionierte Unterhaltungsetablissements entstanden, und ältere Bühnen paßten ihren Spielplan dem Geschmack breiter Massen an, der zu einem Großstadtgeschmack geworden war und seine lokale Prägung nach und nach einbüßte.
Die Operette der modernen Millionenstadt Die Einwohnerzahl der Gemeinde Wien überschritt die Millionengrenze erstmals durch die zweite Stadterweiterung - die Eingemeindung der Vororte - in den Jahren 1890/92. Von den nunmehr rund 1,34 Millionen Wienern lebten 39 Prozent, also etwa 520000, in den Vororten, knapp 820000 in den inneren Bezirken I bis IX.82 Der Anteil der Vorortbewohner stieg bis 1910 auf über 43 Prozent, doch nahm die Bevölkerungszahl insgesamt so weit zu, daß sie zu diesem Zeitpunkt auch im alten Stadtgebiet bei etwa 1,15 Millionen lag. Die Wohndichte stieg hier auf dem gleichbleibenden, da nicht erweiterungsfähigen Raum von rund 55 Quadratkilometern zwischen 1890 und 1910 auf das Eineinhalbfache, von etwa 14 700 auf etwa 21000 Einwohner pro Quadratkilometer, und somit seit der frühen Ringstraßenzeit auf das Zweieinhalbfache. Die Vergrößerung Wiens und der damit verbundene Wandel der städtischen 82
Vgl. die Angaben bei Altfahrt/Mayer, Vororte. 93
Strukturen und Lebensbedingungen erfolgten also nur zum Teil durch Expansion ins Umland; für die noch immer an der Gliederung der ehemaligen Residenzstadt orientierten Gemeindebezirke I bis IX bedeutete die Vergrößerung eine erhebliche Verdichtung der Wohn-, Verkehrs- und Arbeitssituation. 83 Hinsichtlich der Wiener Theaterlandschaft bedeuteten die Eingemeindung der Vororte und deren Wachstum keine prinzipielle Veränderung. Auch die neuen Theater wurden nach dem bestehenden Modell bestimmten städtischen Räumen - weiterhin nahezu ausschließlich im alten Stadtgebiet - zugeordnet, wobei Überlegungen zum Publikumsverhalten und somit zur Bevölkerungsstruktur eine wichtige Rolle spielten. Gleichwohl schlugen sich die Bedürfnisse und Mechanismen der modernen Großstadt in der Theaterszene nieder: in der Erweiterung der institutionellen Vielfalt, in den spezifischen Spielplanangeboten der Theater und Unterhaltungsetablissements und im Umfang und der Zusammensetzung ihrer Klientel. Die neuen Dimensionen von Stadtgröße und Bevölkerungsdichte machten neue Dimensionen von Bühnengrößen und Theaterdichte gleichermaßen notwendig wie rentabel. Die Veränderungen, die sich diesbezüglich in Wien vollzogen, entsprachen teils einem internationalen Metropolenstandard, fanden sich also in ähnlicher Weise in Berlin, London, Paris und Budapest, waren teils aber auch wienspezifisch. Metropolenuntypisch ist die bereits angesprochene Tatsache, daß Wien niemals ein Theaterviertel entwickelte, wie es etwa in Paris mit dem Boulevard du Temple seit dem späten 18. Jahrhundert, in London mit dem West End ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in Berlin mit dem Viertel Friedrichstraße/Schiffbauerdamm dann ab dem frühen 20. Jahrhundert existierte. Für die Wiener Theaterlandschaft blieb die patchworkartige Zusammensetzung des städtischen Raumes aus Innerer Stadt und den einstmals klar abgegrenzten Vorstädten und Vororten prägend. In den um 1900 populär werdenden neuartigen Unterhaltungseinrichtungen hingegen vollzog auch Wien die Moden der internationalen Metropolen nach: Während riesenhaft dimensionierte Freilichtbühnen wie »Venedig in Wien« und große Rauchtheater die neuen Massen anzogen, spielten exquisite Schmuckkästchen wie das Künstlerkabarett »Fledermaus« für die neuen Eliten. Dem Aufeinandertreffen von Residenzstadt und moderner Millionenstadt, das die sozialen Formationen Wiens nun bestimmte, entsprach der Mechanismus der Theatertopographie. Vereinfachend läßt sich konstatieren, daß die gesellschaftlichen und künstlerisch-intellektuellen Eliten und das Proletariat in den - positiv wie negativ wirkenden - Metropolenstrukturen verankert waren, die (heterogene) Mittelschicht hingegen in den Residenzstadtstrukturen. Für die Eliten bedeutete der Prozeß der Metropolisierung, die Vorteile 83
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Die erschreckenden Facetten des Massenwohnens in den Arbeiterbezirken hat unter anderem Rolf Schwendter beschrieben; R. Schwendter, Armut und Kultur der Wiener Jahrhundertwende, in: Jürgen Nautz / Richard Vahrenkamp (Hrsg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse - Umwelt - Wirkungen, Wien/Köln/Weimar 1993, 2 1996 (Studien zu Politik und Verwaltung 46), S. 677-693.
von Internationalisierung und Technisierung nutzen zu können, für das Proletariat bedeutete er Verelendung und Anonymisierung. Die diesen Schichten entsprechenden Unterhaltungsformen waren mondäne Gesellschaftstheater einerseits, Wirtshäuser und Kinos andererseits. 84 Für die breiten mittleren Bevölkerungsschichten hingegen dürften die Handlungsformen der fast vergangenen Residenzstadt ein bleibendes Ideal gewesen sein, starke lokale Bindungen gewährleisteten auch in der Millionenstadt ein gewisses Maß an Überschaubarkeit. Es standen sich also um 1900 Residenzstadtideal und Metropolennotwendigkeiten gegenüber. Die Alltagsrealität wurde zunehmend von den Mechanismen der Moderne reglementiert, während die Mechanismen der alten Kaiserstadt auf einer ideellen Ebene weitertransportiert wurden. Drei beispielhafte Äußerungsformen dieses Traditionsbezugs waren die Politik der christlich-sozialen Partei, jener Teil der Operettenproduktion, der sich der Stadt Wien als Sujet zuwandte, und eine Tendenz der avancierten Literatur und Dramatik, die, inspiriert von Josef Nadler, in Hugo von Hofmannsthals Ideal eines »süddeutschen Barock« kulminierte. 85 Die Jahrhundertwende: Operette und Variete - Operette im Variete Um die Jahrhundertwende wechselte die Operette in Wien gewissermaßen ihren ästhetischen Bezugsrahmen. Diesen hatte bis dahin das Volkstheater im Sinn eines lokal orientierten Theaters gebildet: Die ersten Pariser Operetten waren in Wien an >Volkstheatern< herausgekommen und hatten das Volkstheaterpublikum angesprochen; bis in die 1890er Jahre hatte sich das Repertoire vieler Bühnen aus Volksstücken und Operetten zusammengesetzt, das heißt die Operetten waren in räumlicher und ästhetischer Hinsicht mit dem Volksstück konfrontiert gewesen, wobei die Lokal- und Operettensoubrette ein zentrales Rollenfach gebildet hatte. Daß beide Theaterformen zu ideologischen Zwecken immer wieder gegeneinander ausgespielt worden sind, wurde bereits mehrfach erwähnt. Am Ende des Jahrhunderts fand sich die Operette plötzlich in der Welt des Varietes, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen blieb der Erfolg des seit 1888 spielenden, international-glamourösen Etablissement Ronacher (I., Seilerstätte) nicht ohne Wirkung auf die Struktur neu entstehender Operetten, die sich mit dieser Konkurrenz im Bereich der Unterhaltung auseinandersetzen mußten, zum anderen fanden sich Operetten - neue Werke ebenso wie ältere 84
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Die Unterhaltungsformen der Unterschichten haben Maderthaner/Musner, Anarchie, eingehend untersucht. Eine aufschlußreiche Analyse von Hofmannsthals >Selbst-Fehldeutungen< im Hinblick auf seine Beziehung zum Wiener >Volkstheater< liefert William E. Yates, Hofmannsthal and Austrian Comic Tradition, in: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 15 (1982), S. 73-83. 95
E i n a k t e r - plötzlich verstärkt innerhalb der P r o g r a m m e von Varietetheatern, also in direkter N a c h b a r s c h a f t zu Tanztruppen, A k r o b a t e n und Chansonetten. E n t s p r e c h e n d e V e r ä n d e r u n g e n in der m u s i k d r a m a t i s c h e n Gestaltung der O p e retten w a r e n bereits in den 1890er J a h r e n festzustellen gewesen, als die spielopernartige W i e n e r O p e r e t t e der vorangegangenen Jahre teilweise d u r c h eine N u m m e r n ä s t h e t i k abgelöst w u r d e , welche die O p e r e t t e strukturell wieder in größere N ä h e z u r Posse m i t G e s a n g beziehungsweise z u m m u s i k a l i s c h e n Lustspiel rückte. G e f ö r d e r t w u r d e diese E n t w i c k l u n g durch den großen W i e ner E r f o l g einiger englischer Operetten, die an der Music Hall orientiert und mit vielen Tanzelementen versetzt waren. B e i s p i e l h a f t h i e r f ü r steht Sidney Jones' O p e r e t t e Die Geisha·, zur W i e n e r E r s t a u f f ü h r u n g i m O k t o b e r 1897 schrieb das Fremdenblatt: Daß die Sensationen der Spezialitätenbühne mit ihren Tanzsängerinnen und Musikclowns auf das fin de siecle-Publikum große Anziehungskraft äußern, ist eine Thatsache, mit welcher die englischen Autoren Owen Hall und Sidney Jones zu rechnen verstanden haben. [...1 Nichts in dieser japanischen Theehausgeschichte< - wie sich das Opus nennt - ist an sich neu; weder die Mikadostaffage, noch die Musik mit ihrem Gemenge von Wiener Tanzrhythmen, japanischen Originalweisen und deutsch-sentimentalen Schmachtlappen, noch auch die >ExcelsiorGeisha< hat der unstete Lebemensch seine liebsten Sinnesergötzungen noch nirgends gefunden. Gleichzeitig eine amüsante Operette prickelnden Musikstils, ein Ausstattungsballet und ein Stück Ronacher genießen können - was kann der anspruchsvollste Theatergänger mehr verlangen?86 Die englische und a m e r i k a n i s c h e Operette w u r d e u m 1900 z u m S y n o n y m f ü r opulente Ausstattung und Tanzattraktionen, was i m Fall der a m e r i k a n i s c h e n Stücke i m spezifischen institutionellen R a h m e n der Minstreis u n d Vaudeville Shows b e g ü n d e t lag. N e b e n Jones, der i m Januar 1900 gleichzeitig an den 86
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Fremdenblatt (Wien), 17. Oktober 1897, S. 6f. Bereits wesentlich kritischer im Hinblick auf die Annäherung von Operette und Variete vermerkte dasselbe Blatt am 23. Dezember 1904 anläßlich der Uraufführung von Franz Lehärs Die Juxheirat: »Ein zündender Premierenerfolg - und einer, dessen sich der Wiener Geschmack nicht zu schämen braucht. Man weiß ja, wie in den letzten Jahren Librettisten und Komponisten der Operette mit dem Variete Bruderschaftsorgien gefeiert haben. Wolzogen hat den Versuch unternommen, das Variete literarisch zu machen. Er mißglückte und erreichte das Gegenteil: Das Variete wurde noch üppiger und drohte uns mit seinen drastischen Effekten unsere elegante Wiener Operette zu erschlagen. Von Amerika kam die Gefahr. Für diese ästhetische Mordtat gab es nur einen Milderungsgrund: Amerika hatte es besser, respektive schlechter - es hat keine Ahnen wie Strauß, Millöcker und Suppe.«
beiden großen Wiener Operettenhäusern, dem Carltheater und dem Theater an der Wien, den Spielplan beherrschte (Die Geisha bzw. Der griechische Sklave), gab man Gustave Kerker, Ivan Caryll, Lionel Monckton, Paul A. Rubens, Osmond Carr, Victor Herbert, Howard Talbot, Edward Jakobowsky und Ludwig Englander, deren Werke eine entsprechende Ästhetik verfolgten. Von weitreichender institutioneller und künstlerischer Bedeutung für die neuen Tendenzen des Operettentheaters waren die Initiativen des Theaterunternehmers Gabor Steiner. Steiner eröffnete 1895 im Prater die Vergnügungsstadt »Venedig in Wien«, die 1898 ein eigenes Sommertheater erhielt, und übernahm zu Beginn der Spielzeit 1900/01 zusätzlich Danzers Orpheum, das drei Jahrzehnte lang als bekannte Spezialitätenbühne geführt worden war und nun dem Sommertheater »Venedig in Wien« als Winterbühne dienen sollte. Mit der Adaptierung durch Steiner gewann das zuvor eher volkstümliche Etablissement einen nobleren Charakter. In dem sonst so liebenswürdigen Wien taucht immer, wenn ein Unterhaltungsetablissement eröffnet wird, die unliebenswürdige Frage auf: W e m wird es schaden? Gerechter wäre es, zu fragen: Wem wird es nützen? Dem Wiener Frohsinn zunächst, muß die Antwort lauten, wenn man an das gestern unter Gabor Steiner's Direktion eröffnete Orpheum denkt. Dann Hunderten von Angestellten und Lieferanten, dem Konsum und der ganzen Umgebung. Steiner hat nobel begonnen, wie dies so seine Art ist, in dem vom Grunde aus umgebauten, in ein wahres Schatzkästlein hellsten Rokokos und farbigster Sezession verwandelten Hause. Sämmtliche baulichen Veränderungen, Adaptierungen und Dekorationsarbeiten wurden von dem k. und k. Hof- und Kammerlieferanten Sandor Jaray in der fabelhaft kurzen Zeit von zehn Wochen ausgeführt. Für das elegante Haus hat die Direktion ein eigenartiges Programm zusammengestellt. Etwas Variete und viel Ausstattung, Artistik und Kunst. Der Varietesachen sind nicht verwirrend viele, aber d a f ü r lauter Spezialitäten L-..J Die zweite Abtheilung leitet die musikalische Revue V e n e dig in Wien< Karl Kapeller's, der den Taktstock im Orpheum führt, ein. L-..J Dann kommt die Hauptsache. Die aus dem Berlinerischen nach Wien glücklich versetzte Offenbachiade >Venus auf Erden< L.. .J Das Haus war selbstverständlich ausverkauft. Ein distinguirtes Publikum, in dem auch der Adel stark vertreten war, füllte Logen und Parket. 87
Da für Danzers Orpheum bis zu diesem Zeitpunkt lediglich eine Singspielhallenkonzession bestand, hatte Steiner sich um weitere Berechtigungen bemühen müssen, um an seinem neuen Haus auch Theaterstücke und Operetten spielen zu dürfen. »Am 13. Juli 1900 wurde ihm die Führung eines Varietes zugestanden, am 17. September 1900 erhielt er die Erlaubnis zur Benützung eines Schnürbodens, ab 4. Oktober 1901 durfte er probeweise auch einaktige dramatische Bühnenwerke aufführen und ab 19. September 1903 87
Fremdenblatt (Wien), 31. Oktober 1900, S. 6. I m Neuen Theater-Almanach des Jahres 1901 wurde Danzers Orpheum tatsächlich als »Operettentheater« geführt, zur Neuadaption durch Sandor Jaray bemerkte man: »Dasselbe ist in seiner glänzenden Ausstattung und bizarren Einrichtung das schönste Operetten-Theater der Kaiserstadt.« Neuer Theater-Almanach 1901, hrsg. v. der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger, Berlin 1901, S.552.
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auch Stücke ohne Gesang mit mehrmaligem Szenenwechsel und mehrere Einakter an einem Abend.«88 Für das Sommertheater in »Venedig in Wien« existierte zwar nur eine erweiterte Singspielhallenkonzession, die Umbauten mit Unterbühne und Schnürboden untersagte; trotzdem gelang es Steiner auch hier, alle Arten von Operetten, Revuen und musikalischen Lustspielen derart aufwendig zu präsentieren, daß deutliche Mißstimmungen bei den Betreibern regulärer Theater entstanden, denen Steiner durch die Kombination von Theater und Variete in erheblichem Maß Konkurrenz machte. Als Regisseur und Ausstatter sorgte Steiner für bislang ungeahnte Sensationen und »Märchenpomp von erlesener Schönheit«, eine Kunst, die er Jahre später im Etablissement Ronacher fortsetzte. 89 Beide Bühnen, »Venedig in Wien« und Danzers Orpheum, spielten ein gemischtes Programm, das sich aus Operettenaufführungen und Singspielhallen- bzw. Variete-Attraktionen zusammensetzte. Die Nähe zum Variete machte sich in den Operetten nicht zuletzt in spektakulären Einlagen wie militärischen Evolutionen und großen selbständigen Ballettnummern bemerkbar. Neue Werke wurden häufig von vornherein als Revue-Operetten konzipiert und Stoffe danach ausgewählt, ob sie sich als lose Abfolge aufwendig gestalteter Bilder vorführen ließen. Wichtigster Mitarbeiter Steiners in »Venedig in Wien« und Danzers Orpheum war der Tänzer und Ballettmeister Louis Gundlach, der mehr als zwei Dutzend große Ballettdivertissements, Apotheosen und Evolutionen für Steiners Operetteninszenierungen schuf und sich damit in Wien ebenfalls einen sagenhaften Ruf erwarb.9" Gundlach hatte seit den 1880er Jahren für mehrere Bühnen der österreichisch-ungarischen Provinz Choreographien zu Sullivans Mikado geschaffen und dann in Osmond Carrs Der Herr Gouverneur (Carltheater 1895) und Ivan Carylls Die Ladenmamsell (Theater in der Josefstadt 1897) erneut die Möglichkeiten aufgegriffen, die die englische Operette (»Musical Comedy«) für den Tanz bot. Zu seinen aufsehenerregenden Arbeiten für Steiner gehörten die Tanz-Evolutionen »Chinesisches Neujahrs-Fest in New-York« und »Großes Casino-Fest« in der sensationellen 88
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Rubey/Schoenwald, Venedig, S. 28; vgl. ausführlicher auch bei Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 667f. Über die Kostümgestaltung in der Eisjungfrau von Gustave Kerker und Josef Hellmesberger etwa phantasierte das Fremdenblatt (Wien) am 4. Juni 1904: »Die Pracht und originelle Zusammenstellung der Kostüme regt unausgesetzt zur Betrachtung, aber auch zu Betrachtungen an; in einem Buch über Trachtenkunde wird das Kapitel >Phantasiekostüme< den Namen Gabor Steiner mehrfach enthalten müssen.« Gundlach gehörte in den Spielzeiten 1896/97 und 1897/98 als Ballettmeister offiziell zum Ensemble des Carltheaters, ab 1898 dann zu Steiners Ensemble im Prater. Einige Jahre später choreographierte er am Theater an der Wien die großen Operettenpremieren Die Dollarprinzessin, Der Graf von Luxemburg und Zigeunerliebe. In der Saison 1911/12 war Gundlach nochmals f ü r Steiner tätig, der zu dieser Zeit Direktor des Ronacher war. Gundlach schuf hier die Choreographie zu Hans Mays Der Teufelswalzer.
amerikanischen Operette Die Schöne von New York (Musik: Gustave Kerker),91 »Das Fest der Unabhängigkeit in Cuba« in Die Reise nach Cuba (Ivan Caryll), das Tanzbild »Im Reich der Harmonie« in der Ausstattungsposse Eine feine Nummer, der »Regenbogen-Tanz« in 1001 Nacht, das »Holländische Fest« in Miss Hook von Holland (Paul A. Rubens), die »Rosenhochzeit« in Frühlingsluft und das »Puppenballett« in der Ausstattungs-Burleske Der Schlager der Saison. Über Gundlachs »Grosse militärische Evolution« von zehn Nationen mit 200 Mitwirkenden in Ziehrers Die Landstreicher war im luli 1899 in der Tagespresse zu lesen: »Ein Schaustück von ganz besonderem Glänze und ganz seltener Farbenpracht ist aber die große militärische Evolution, welche im Rahmen eines Künstlerfestes den zweiten Akt ausfüllt. Was Balletmeister Gundlach und der Kostümier hier leisten, das übersteigt wohl so ziemlich alles in Wien auf diesem Gebiete Gesehene.«92 Neben der Operettenbühne eröffnete Steiner 1903 im Prater als weitere Attraktion das riesige Freilufttheater »Olympia-Arena«, das mit seiner weiträumigen Bühne besonders für jene Stücke geeignet war, deren Revue- und Ausstattungselemente noch spektakulärer angelegt werden sollten. Als erste Premiere gab es hier die »historischen Zeitbilder« Die Türken vor Wien (1683) (Musik: Ernst Reiterer) mit lebenden Elefanten und Kamelen und einem Beiramfest in der 2. Abteilung, im lahr darauf das Ausstattungsstück Port Arthur (Rudolf Raimann), das Szenen vom ostasiatischen Kriegsschauplatz präsentierte, 1905 dann eine Neueinstudierung von Suppes großer Ausstattungsoperette Die Reise um die Erde in 80 Tagen mit dem Ballett »Grosses Ordens-Defilee« von Karl Godlewski mit 300 Mitwirkenden und 1906 Unterm Stefansturm (Philipp Silber?) mit einem Monstre-Ausstattungsballett und »militärischen Exercitien aus dem russischen Lagerleben«. Zum Sommertheater und zur Olympia-Arena, auf deren Areal 1909 eine »Scenic Railway« eingerichtet wurde, traten in den lahren nach 1900 weitere Etablissements hinzu, unter denen vor allem das »Parisiana« erfolgreich spielte.93 91
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Eine bizarre, gleichwohl aufschlußreiche Schilderung dieses Theaterereignisses gibt Ivan Cankar in seiner Skizze Wien im Sommer von 1901: »Im >Venedig< gibt man >Die Schöne aus New YorkSchönheit< sah ich keine. Ich sah allein ein riesenhaftes Tier, das stöhnte und zitterte und vor Begierde schrie. Dieses Tier hatte 400 A r m e und 400 Beine, und alle A r m e und Beine waren halbnackt, duftig und jung. Im Takt spannten und wiegten sich die heißen, vollen Glieder, und in die ältlichen Gesichter dort im Parterre trat der letzte Tropfen des vergifteten Blutes. All diese Leute hinter der Bühne, auf der Bühne und vor der Bühne verband irgendein geheimes Band; sie verstanden einander sehr gut. Es ist schön und rührend, wenn man sehen kann, wie die Menschen einander verstehen und lieben ...« I.Cankar, Wien im Sommer, in: ders., Vor dem Ziel. Literarische Skizzen aus Wien, aus dem Slowenischen v. Erwin Köstler, Klagenfurt 1994, S. 50-57, hier S. 51f. Fremdenblatt (Wien), 30. Juli 1899, S. 5. Sammlung von Tageszetteln der diversen Lokalitäten in »Venedig in Wien« (später: Kaisergarten) im Österreichischen Theatermuseum Wien. 99
Durch die Doppeldirektion Steiners in »Venedig in Wien« als Sommertheater und in Danzers Orpheum als Winterhaus bot sich die Übernahme besonders erfolgreicher Stücke, die teilweise lange En-suite-Serien erlebten, von der einen an die andere Bühne an. Während etwa Louis Roths Ballettoperette Frau Reclame, Ziehrers Die Landstreicher und Die feschen Geister, Ernst Reiterers Frühlingsluft (nach Josef Strauß) und Jung-Heidelberg (nach Millöcker) sowie Kerkers Die Schöne von New York von »Venedig in Wien« an Danzers Orpheum wanderten, gingen An der schönen blauen Donau, Die Ringstraßen-Prinzessin, Venus auf Erden, Was ein Frauenherz begehrt, Die verkehrte Welt, Wien bei Nacht, Das Frauenherz und Der Triumph des Weibes den umgekehrten Weg.94 Im Frühjahr 1902, während des ersten Direktionsjahres von Wilhelm Karezag am Theater an der Wien, gab Steiners Ensemble auch dort ein längeres Gastspiel.95 Gabor Steiner leitete seine Variete-Operetten-Bühnen bis zum Ende der Saison 1908. Danzers Orpheum wurde danach als »Neue Wiener Bühne« geführt und spielte literarische Unterhaltungsstücke,96 das Prater-Etablissement erhielt den neuen/alten Namen »Kaisergarten« und neue Direktoren, die Steiners kombiniertes Programm fortsetzten. Steiner selbst übernahm 1909 das Ronacher, an dem er prachtvoll ausgestattete Operetten und Revuen einführte. 97 Neben der erfolgreichen Spezialitätenbühne Ronacher und dem Doppel-Institut »Venedig in Wien« / Danzers Orpheum bildete ab 1898 das neu eröffnete Wiener Colosseum (IX., Nußdorferstraße) eine weitere Attraktion im Wiener Unterhaltungsleben. Das Colosseum spielte erst ab 1908 verstärkt Operetten, zog jedoch schon zuvor mit farbigen Varieteprogrammen ein breites Publikum an und stand in einem spannungsreichen Konkurrenzverhältnis zum benachbarten Kaiserjubiläums-Stadttheater, dessen Ziel >Volksbildung< mit eindeutiger (partei-)politischer Ausrichtung war.98 Die traditionsreichen Operettenhäuser Theater an der Wien und Carltheater waren also um die Jahrhundertwende von zwei kontrastierenden Konzepten umgeben: von Versuchen, ein >authentisches< Volkstheater am Leben zu halten, mit dem letztlich ideologische Meinungsbildung betrieben werden sollte, und von einer steigenden Anzahl von Unterhaltungsunternehmungen, die großstädtisches Vergnü94
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Erfolgreich waren an Danzers Orpheum in diesen Jahren auch Edmund Eyslers Operetteneinakter Das Gastmahl des Lucullus, die englischen Operettenburlesken Das Circusmädel und Der Laufbursche von Ivan Caryll und Lionel Monckton, Ferdinand Pagins Vaudeville-Operette Clo-Clo, Victor Holländers burleske Revue Auf in's Orpheum! und Paul Linckes Ausstattungsoperetten Frau Luna, Im Reiche des Indra und Lysistrata (die letzteren 1903 als Gastspiel des Apollo-Theaters Berlin). Mit Die Schöne von New York, Die Landstreicher, Die verkehrte Welt, Das Circusmädel, Venus auf Erden und Eine feine Nummer. Zur Eröffnung der »Neuen Wiener Bühne« vgl. Fremdenblatt (Wien), 1. November 1908, S. 15f. Im Sommer 1912 kehrte Steiner noch einmal für kurze Zeit in den Prater zurück; seine Direktion endete jedoch in einem finanziellen Fiasko. Vgl. Müller-Guttenbrunn, Denkschrift, S. 19.
gen bieten wollten. Hierher gehörten auch das 1904 von Ben Tieber eröffnete Apollo-Theater (VI., Gumpendorferstraße), ein Varietetheater mit Hotel, das als zweites großdimensioniertes Variete neben dem Ronacher geplant war und ab 1907 eine bedeutende Anzahl Operetten herausbrachte, sowie die nun entstehende Form des Kabaretts (»Hölle«, »Fledermaus«, »Rideamus«), wo man Operetten, freche Couplets und Conferencen zu Kleinkunstabenden verband. Variete und Kabarett waren geschmacksbildend für die Ästhetik der neuen abendfüllenden Operetten und schufen zugleich einen Bedarf nach Operetteneinaktern, die jahrzehntelang innerhalb der Wiener Operettenproduktion die Ausnahme gebildet hatten. Kunst und Kommerz Theaterformen mit unterschiedlichstem Anspruch standen sich um die Jahrhundertwende nicht nur in der Polarisierung Volkstheater-Variete gegenüber; auch innerhalb verschiedener Häuser kam es zu einer Spaltung des Spielplans, dessen konträre Teile sich jedoch gegenseitig bedingten. Beispielhaft hierfür ist das künstlerische Programm Josef Jarnos, der 1899 das Theater in der Josefstadt und 1905 zusätzlich das Jantsch-Theater im Prater übernahm. Jarnos Josefstädter Repertoire zerfiel in einen kommerziell orientierten Bereich mit Operetten und französischen Sittenstücken, wie Ignaz Wild sie eingeführt hatte, und in einen avancierten Bereich, im Rahmen dessen Jarno das zeitgenössische literarische Sprechstück in Wien etablieren half. Die äußerst populären Pikanterien mit oder ohne Musik sowie die auf Jarnos Ehefrau Hansi Niese und auf Alexander Girardi abgestimmten Wiener Stücke brachten Jarno En-suite-Erfolge, die die finanzielle Voraussetzung für eine Pflege des internationalen Dramas schufen. Jarno stellte Ibsen und Strindberg ebenso zur Diskussion wie Maeterlinck, Schnitzler, Tschechow, Shaw, Gogol, Wilde, Hauptmann und Hofmannsthal und sorgte für die notwendigen Einnahmen mit Feydeau, Roger und Raimann. 99 Mit der Übernahme des Jantsch-Theaters durch Jarno, der die Bühne in »Lustspieltheater« umbenannte, kam es zu einer Koppelung zweier Häuser (1905-15), wie sie schon zu Zeiten Johann Fürsts zwischen dem Theater in der Josefstadt und dem Fürst-Theater und seit 1900 unter Steiner zwischen »Venedig in Wien« und Danzers Orpheum bestand. Am Jantsch-Theater hatte 99
Zu den erfolgreichsten Musiktheaterwerken, die Jarnos anspruchsvolles P r o g r a m m mittrugen, gehörten in den ersten beiden Spielzeiten der französische Schwank Wie man Männer fesselt mit Musik von Victor Roger, der 1898 herausgekommen war und allein 150mal en suite gegeben werden konnte, der Schwank Ich bin so frei! nach einem französischen Vaudeville von Georges Feydeau, die Vaudevilles Frau Lieutnant (Musik: Victor Roger und Gaston Serpette), Der schönste Zeitvertreib (Rudolf Raimann) und Auch so eine! (Charles Weinberger), der Operetteneinakter Madame Ledig (Eduard Kremser), der Schwank mit Gesang Unsere Gusti (Raimann), das Volksstück mit Gesang Die Herren Söhne (Raimann) und die Posse mit Gesang Er und seine Schwester (Raimann). 101
nach einigen Aufführungen klassischer Dramen gegen Ende des Jahrhunderts die Operette einen immer größeren Raum gewonnen. Bereits 1898/99 waren abendfüllende Operetten Offenbachs einstudiert worden, und auch nach 1900 brachte das Jantsch-Theater weitere Operettenklassiker der großen Vorstadttheater in den Prater.100 Ab 1905 führte Jarno dann am nunmehrigen Lustspieltheater einen vergleichbar geteilten Spielplan ein wie am Theater in der Josefstadt und gab neben moderner Dramatik Operetten und Vaudevilles. Wie Steiner arbeitete Jarno mit einem Austauschprogramm und verband so das Publikum der Josefstadt mit den Besuchern des Praters. Jeweils kurz nach den Premieren in der Josefstadt gab es auch im Prater jene Operetten, die Jarno den notwendigen kommerziellen Erfolg sicherten."" Serienaufführungen und Gastspiele Während zu Beginn der 1890er Jahre lediglich das Theater an der Wien und das Carltheater regelmäßig Operetten gespielt hatten, waren es um 1905 also schon sechs Bühnen, an denen dieses Genre einen mehr oder weniger großen Anteil des Repertoires einnahm: Neben die beiden genannten Theater traten jetzt die Doppelinstitute »Venedig in Wien« / Danzers Orpheum und Theater in der Josefstadt / Lustspieltheater. Die Jahrhundertwende, häufig als ein Vakuum zwischen dem >goldenen< und dem >silbernen< Zeitalter der Operette gedeutet,102 das mit dem Erscheinen Franz Lehärs als großer neuer Komponistenpersönlichkeit überwunden worden sei, stellte für die Wiener Operettenproduktion in quantitativer Hinsicht keineswegs einen Leerraum dar: Die Bewohner mehrerer unterschiedlich strukturierter Bezirke konnten in ihren angestammten Theatern Operettenaufführungen besuchen, und der sprich100
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So waren bald Julius Hopps berühmte Parodie Margarethl und Fäustling, Lecocqs Hundert Jungfrauen und die Wiener Erstaufführung von Offenbachs Die schöne Lurette (1900) zu sehen, es folgten Waldmeister, Gasparone, Girofle-Giroflä und Die Glocken von Corneville (1901), Thuls Ninettens Hochzeit, Rudolf Dellingers Don Cesar, Millöckers Das verwunschene Schloß und Der Bettelstudent, Leo Heids Studentenoperette Gaudeamus sowie Neuinszenierungen von Die schöne Helena und Blaubart (1902/03). Kassenschlager waren 1905 Raimanns Das Wäschermädel, 1907 Georg Jarnos Försterchristi, 1909 die Vaudevilles Lili von Herve (dieses Stück war als »Komödie mit Gesang« bereits 1882 am Theater an der Wien gespielt worden) und Die Unschuld vom Lande von Mestrozi, 1910 Das Musikantenmädel und 1912 Die Marine-Gustl, beide von Georg Jarno. Daneben brachte das Lustspieltheater Offenbach mit Salon Pitzelherger, Hochzeit hei Laternenschein, Dorothea, Die Zauhergeige, Orpheus in der Unterwelt und Schönröschen sowie verschiedene Wiener Operetten und Vaudevilles von Rudolf Raimann, Josef Bayer, Fritz Lehner und anderen. Zur Problematik dieser Abgrenzung und der verbreiteten Begriffsverwendung vgl. Marion Linhardt, Ausgangspunkt Wien. Operette als Gegenstand theaterwissenschaftlicher Auseinandersetzung, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.), Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft, Tübingen 1999 (Theatron 29), S. 167-176.
wörtliche Prunk von Gabor Steiners Inszenierungen im Prater stieß auf das Interesse weitester Kreise. Das Carltheater erholte sich unter dem neuen Pächter und Direktor Andreas Aman von der Flaute, die Franz Jauner in den Selbstmord getrieben hatte. Mit Interesse verfolgte das Publikum die Entwicklung des Hauses, das am 29. September 1900 mit der Wiener Erstaufführung der Ausstattungsoperette Der Großmogul von Edmond Audran wiedereröffnet wurde: Unter günstigen Anzeichen hat die schicksalsreiche Leopoldstädter Bühne neuerdings ihre Hallen dem Publikum geöffnet. Das wesentlich verschönerte Haus war in allen Räumen von einem erwartungsvollen Publikum gefüllt. Man brachte der neuen Direktion Vertrauen entgegen und diese zeigte sich beflissen, das Vertrauen 7,u rechtfertigen. Bei der Auswahl des Eröffnungsstückes hatte nicht marktschreierischer Geschäftsgeist, sondern distinguirter Geschmack obgewaltet. Die Leitung des Theaters gab da gewissermaßen ihre Visitkarte beim Publikum ab und hat sich gentlemanlike eingeführt. Nicht im Zeichen des Tingltanglthums, sondern lediglich durch eine reizende Musik und ihre feinsinnige Ausführung wurde gestern ein bedeutender Erfolg errungen. 103
Zu herausragenden Aufführungen trug am Carltheater in den kommenden Spielzeiten die Tätigkeit Alexander von Zemlinskys als Kapellmeister bei, die teils sensationellen Publikumserfolge beruhten nicht zuletzt auf der Mitwirkung des neuen Wiener Komiker- und Tanzstars Louis Treumann.1114 Gastspiele des Theaters »Schall und Rauch« unter der Ägide Max Reinhardts und des Berliner »Ueberbrettl« unter Ernst von Wolzogen stellten Formen des Kabaretts vor, die neben dem berühmten Pariser Cabaret artistique »Chat noir« und den lokalen Volkstheater- und Volkssängertraditionen zur Herausbildung eines Wiener Kabaretts beitrugen.1"5 Das Theater an der Wien, 1900/01 unter der Direktion Karl Langkammers, 1901/02 unter Wilhelm Karezag und Georg Lang, bemühte sich zunächst mit mäßigem Erfolg um ein neues, eindeutiges Profil. In der ersten Spielzeit nach dem Weggang Alexandrine von Schönerers bildete nur ein Gastspiel des Carltheaters einen Lichtblick, im lahr darauf spielte man noch immer ohne eigenes Ensemble, bot jedoch mit Gastspielen des japanischen Hoftheaters (Februar 1902, mit Sadda Yacco und Kawakami) und des Ensembles von Gabor Steiner (März/April 1902) Publikumsattraktionen, die den finanziellen und institutio103
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Fremdenblatt (Wien), 30. September 1900, S. 11; es handelte sich hier um Audrans ersten großen Publikumserfolg, der bereits 1877 in Marseille uraufgeführt und 1884 in Paris als opulentes Ausstattungsstück mit Ballett neu herausgebracht worden war. Man erzielte mit Heinrich Reinhardts Das süße Mädel (1901), Lehärs Der Rastelbinder (1902) und Edmund Eyslers Die Schützenliesel (1905) überragende, mit Sidney Jones' San Toy, oder: Des Kaisers Garde (1900), Ziehrers Die drei Wünsche (1901), Charles Weinbergers Das gewisse Etwas (1902), August Stolls Das Marktkind (1903), Hellmesbergers Das Veilchenmädel (1904) und Georg Veras Der Schnurrbart (1905) immerhin beachtliche Kassenerfolge. Vgl. Veigl, Lachen im Keller. 103
nellen Rahmen für einen vielversprechenden Neubeginn des Theaterbetriebs lieferten. Operettenaufführungen, wie die Eröffnungs- und Jubiläumsvorstellung Die Fledermaus am 26. September 1901 und eine erfolgreiche Neueinstudierung von Jones' Die Geisha, wurden von einem Wiener Ensemble rund um den Star Betty Stojan präsentiert, das als »Operettengesellschaft der internationalen Theater zu St. Petersburg und Moskau« in Rußland gefeiert worden war. Ab der Spielzeit 1902/03 leitete Karezag das Theater an der Wien zusammen mit Karl Wallner und konnte das Haus bald erneut als erste Wiener Operettenbühne in den Mittelpunkt des Interesses rücken.106 Man bildete ein eigenes glänzendes Operettenensemble und erzielte bereits in der ersten Saison Serienerfolge mit Ziehrers Der Fremdenführer, Lehärs Wiener Frauen und Eyslers Bruder Straubinger·, entscheidenden Anteil an diesen Erfolgen hatte die Mitwirkung Alexander Girardis. Zu einem vielbeachteten gesellschaftlichen Ereignis wurde die Premiere von Der Lebemann, der ersten Operette des gefeierten Pianisten Alfred Grünfeld, im Januar 1903: Die dichte Wagenkolonne, welche sich gestern zur Theaterzeit in der Magdalenenstraße staute, der Anblick des Theatersaales mit seinem stimmungserfüllten, sensationslüsternen Publikum, das sich aus den besten Kreisen der Gesellschaft zusammengestellt hatte, all dies deutete auf ein Ereigniß, welches ungewöhnlicher war, als eine Operettenpremiere an sich. Γ···1 Es bedurfte gestern nicht erst des Antriebes eines liebenswürdigen und benevolenten Gemüthes, um aus Leibeskräften und mit Berserkerwuth Beifall zu klatschen. Fast jede Nummer der Operette Grünfeld's wirkte aufreizend und versetzte die Klatschhände der blasirtesten Premierengänger in ungestüme Vibration.107
Der Spielplan des Theaters an der Wien konzentrierte sich in den folgenden Jahren unter der Direktion Karczag/Wallner zunehmend: die Anzahl der Premieren verringerte sich stetig, die Zahl der sich anschließenden Reprisen nahm rapide zu. Dem Operettenrepertoire, das vom hauseigenen Personal während der Hauptsaison von September bis in den April hinein präsentiert wurde, standen Opern- und Schauspielaufführungen gegenüber, die in den Sommermonaten in Form von Gastspielen geboten wurden,108 während derer das Wiedner Operettenensemble seinerseits an der Volksoper oder im Raimundtheater gastierte. In den Spielzeiten 1903/04 und 1904/05 gab es jeweils noch etwa ein halbes Dutzend Operettenpremieren, unter denen mit Reinhardts Der Generalkonsul, Raoul Maders Das Garnisonsmädel, Eyslers 106
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In einem bissigen Artikel über Die Wiener Operette vermeldete Albert Kauders 1904: »Wien hat wieder zwei Bühnen, welche ausschließlich dem Kulte der leichtgeschürzten Muse geweiht sind und angeblich dabei auf ihre Rechnung kommen, während vor kurzem noch die Unergiebigkeit desselben Genres einen Franz Jauner in den Tod getrieben und die theaterfreudige Alexandrine ν. Schönerer zur Bühnenflucht gedrängt hat.« In: Bühne und Welt 6 (1904), S. 965-974, hier S. 972f. Fremdenblatt (Wien), 17. Januar 1903, S. 11. Zu den renommierten Gästen gehörten unter anderem die Ensembles von Max Reinhardt und Otto Brahm.
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Pufferl und Leo Aschers Vergeltsgott bereits einige Titel aufscheinen, deren Aufführungszahlen auf die gigantischen Serienproduktionen der kommenden Lehär-, Fall- und Kälmän-Operetten hindeuten;1"9 mit der bescheideneren Ensuite-Praxis, wie sie etwa 30 Jahre zuvor an den beiden großen Vorstadttheatern eingeführt worden war, war die Ziffer der nun erreichten Wiederholungen nicht zu vergleichen. Ab Jahresende 1905, nach der Uraufführung von Lehärs Die lustige Witwe, reduzierte sich die Anzahl der Premieren noch einmal drastisch, da in den kommenden Jahren häufig eine einzige neue Operette über die Herbst- und Wintermonate einer Spielzeit auf dem Programm gehalten werden konnte.11" Am Carltheater gab es unter den Direktoren Andreas Aman, Leopold Müller, Siegmund Eibenschütz, Heinrich Kadelburg und Karl Jakob Wallner eine vergleichbare Entwicklung. Spätestens seit dem Sensationserfolg von Oscar Straus' Ein Walzertraum 1907 (bis Mai 1909: 500 Aufführungen) beherrschten einige wenige Werke den Spielplan.111 Ebenso wie das Theater an der Wien gastierte das Carltheater in den Sommermonaten verschiedentlich an der Volksoper. Bei den großen Serienerfolgen am Carltheater und am Theater an der Wien (damit verbunden ab 1908 auch am Raimundtheater) mit einigen hundert Aufführungen handelte es sich keineswegs nur um ein kommerzielles, sondern auch um ein ästhetisches und theatersoziologisches Phänomen; die Koordinaten der Wiener Theaterlandschaft verschoben sich im Vergleich zu den 1880er Jahren deutlich, die Mechanismen der Millionenstadt traten immer stärker in den Vordergrund. Neben Aufführungsserien einiger überdurchschnittlich erfolgreicher Stücke hatte in Wien stets der Repertoirebetrieb vorgeherrscht, der mit häufig wechselndem Programm und einer Vielzahl von Novitäten112 den Bedürfnissen eines abwechslungshungrigen Publikums entsprach, das >seinem< Theater weitgehend treu blieb und kaum andere Bühnen besuchte. Nach der Jahrhundertwende regelte sich der Theaterbesuch nach zwei unterschiedlichen Prinzipien neu, wobei lokale Zugehörigkeiten 109
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Ansehnliche Erfolge waren auch Ivan Carylls und Lionel Moncktons Der Toreador, Bela von Ujjs Der Herr Professor, Heinrich Bertes Die Millionenbraut und Lehärs Die Juxheirat. Die Aufführungsserie der Lustigen Witwe reichte mit Zwischenstationen an der Volksoper und am Raimundtheater zunächst bis in den Sommer 1907; es folgten nacheinander monatelange Serien von Leo Falls Die Dollarprinzessin (1907), Lehärs Der Mann mit den drei Frauen, Falls Der fidele Bauer (1908), Emmerich Kälmäns Ein Herbstmanöver, Lehärs Der Graf von Luxemburg (1909), Falls Die schöne Risette (1910), Lehärs Eva (1911), Kälmäns Der kleine König (1912), Reinhardts Prinzeß Gretl sowie Lehärs Die ideale Gattin (1913) und Endlich allein (1914). Es waren dies Falls Die geschiedene Frau (1908), Lehärs Zigeunerliebe, Falls Das Puppenmädel (1910), Emil Sterns Alt- Wien nach Josef Lanner (1911), Alador Renyis Susi (1912) und Oskar Nedbals Polenblut (1913). Einen eindrucksvollen Beleg hierfür bieten die Listen von Novitäten und Neueinstudierungen, die jährlich in Albert Entschs Deutschem Bühnen-Almanach veröffentlicht wurden. 105
nicht mehr in gleichem Maß ausschlaggebend waren wie im 19. Jahrhundert: Einerseits gab es ein Publikumspotential, das weiterhin lokal orientiert blieb und dem ein noch immer nach dem Repertoireprinzip gestalteter Spielplan an den kleineren beziehungsweise weiter vom Stadtzentrum entfernten Bühnen gerecht wurde. Daß das Theater an der Wien und das Carltheater auch noch in der Zeit der großen Serienerfolge mit ebendiesen hundertfach gespielten Stücken an anderen Wiener Bühnen gastierten, daß Gabor Steiner Die Landstreicher nach 55 (Sommer 1899) oder Frühlingsluft nach 129 Vorstellungen (Sommer 1903) in »Venedig in Wien« in der jeweils folgenden Winterspielzeit noch 70 bzw. 36mal in Danzers Orpheum zeigen konnte, daß das Kabarett »Hölle« im November 1910 unter größtem Zulauf in den Sofiensälen (III., Marxergasse) spielte, belegt die geringe Mobilität eines Teils der Theaterbesucher auch noch im frühen 20. Jahrhundert." 3 Andererseits erschien nun als ebenso wichtiges Motiv für die Theaterwahl das soziale Prestige einzelner Häuser, deren Besuch verstärkt Ausdruck gesellschaftlicher Zugehörigkeiten wurde. Otto Wladika vollzieht diese Situation für die beiden Bühnen Josef Jarnos nach und arbeitet heraus, daß gewisse Besuchergruppen, die Jarnos Produktionen bequem im Prater hätten erleben können, längere Wege ins Josefstädter Theater auf sich nahmen, dessen Rang und Umfeld ihren gesellschaftlichen Ambitionen eher entsprach." 4 In Zusammenhang damit dürfte die Entwicklung am Theater an der Wien und am Carltheater zu sehen sein, in der sich gewissermaßen eine Tendenz zur Fokussierung innerhalb Wiens bemerkbar machte. Bereits im 19. Jahrhundert hatten beide Bühnen begonnen, sich als Gesellschaftstheater zu profilieren, hatten mit hohen Eintrittspreisen neben dem Adel, dem Militär und der alteingesessenen >guten Gesellschaft besonders die in den Gründerjahren zu Geld gekommenen Schichten angesprochen. Diese Tendenz zum Mondänen setzte sich im 20. Jahrhundert fort; mit dem sozialen Prestige des Hauses, den neuen glamourösen Stars und den schlagerträchtigen modernen Werken ließen sich die Theater an unzähligen Abenden füllen, wobei nicht zuletzt der zunehmende Tourismus eine wichtige 113
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Entsprechende Überlegungen formulierte ein Artikel des Neuen Wiener Tagblatts im Januar 1900. Unter der Überschrift »Zwischen Carl-Theater und Raimund-Theater. (Ein interessantes Experiment)« war zu lesen: »Zwischen den Directoren des Carl-Theaters und des Raimund-Theaters ist eine Abmachung zustande gekommen, wonach die beiden Bühnen gegenseitige Gastspiele veranstalten: das heißt, das Ensemble des Carl-Theaters wird im Raimund-Theater und jenes des RaimundTheaters im Carl-Theater spielen. L-..J Die Idee ist, wenn man speciell die beiden genannten Wiener Bühnen, die räumlich fast am weitesten auseinander liegen, ins Auge faßt, als eine vielversprechende zu bezeichnen, umsomehr, als ja das Genre einer jeden dieser beiden Bühnen ein grundverschiedenes ist. Das Publicum des Raimund-Theaters insbesondere hat bisher noch nie eine Operette zu hören bekommen, und umgekehrt dürfte dem Publicum der Leopoldstädter Bühne eine Darstellung des Ensembles des Raimund-Theaters, das daselbst zwei seiner Zugstücke geben wird, nicht geringes Interesse bieten.« Neues Wiener Tagblatt, 8. Januar 1900, S.6. Vgl. Wladika, Pratertheater.
Rolle spielte. Nicht unerwähnt darf allerdings bleiben, daß bereits von den Zeitgenossen Vermutungen darüber angestellt wurden, inwieweit die hohen Aufführungszahlen einzelner Operetten teilweise das Ergebnis von Manipulationen seitens der Theaterdirektoren wären. So rätselte Richard Batka 1908 im Kunstwart: »Vergebens forschte man nach dem Grund des ungeheuren Erfolges [der Lustigen Witwe] in der Breite. Denn daß die Theaterauguren an der Wien das Stück trotz seines anfänglich matten Eindrucks so lange forciertem, bis das Publikum dem Eindruck der Aufführungsziffer erlag, erklärt noch nicht alles.«" 5 Zumal der Direktion des Theaters an der Wien wurde geschicktes Taktieren an verschiedenen Fronten vorgeworfen, da sich Wilhelm Karezag nicht nur als Theaterdirektor, sondern auch äußerst erfolgreich als Musikverleger betätigte; neben den Spielplananzeigen konnten er und Karl Wallner bald großformatige Werbungen für Notenmaterial zu herausragenden Operettenerfolgen in verschiedenen Tageszeitungen veröffentlichen.116 Trotz dieser Mutmaßungen bleibt jedoch die Tatsache bestehen, daß sich Wien letztlich erst mit den großen Erfolgen der Karczag-Ära zu der Operettenmetropole entwickelte, von der die wichtigsten internationalen Impulse ausgingen. Offenbachs Paris, Gilberts und Sullivans London waren im 19. Jahrhundert Operettenzentren mit jeweils eigener Tradition gewesen, und die überregionale Beachtung des Wieners Johann Strauß als Operettenkomponist beruhte letztlich auf seinem die gesamte westliche Welt umspannenden Ruf als Tanzmusiker. Nach 1900 hingegen wurde Wien zum Mittelpunkt des weltweiten Operetteninteresses," 7 die Wiener Werke wurden zu »Exportoperetten«" 8 . Dies hing nicht zuletzt mit dem internationalen Anstrich einer Vielzahl der neu entstehenden Werke zusammen." 9 Ein Dutzend Operettenbühnen Keine neue Operette mehr, die nicht mindestens ein- oder zweihundertmal ohne Unterbrechung aufgeführt wird, und wo immer sie sich niederläßt, ist es dem gesprochenen Schauspiel schier unmöglich, gegen ihre Anziehungskraft aufzukommen. Noch vor sechs Jahren hat es in Wien, dem Eldorado der leichtgeschürzten 115 116
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Richard Batka, Operettenkoller, in: Kunstwart 21 (1908), S. 257-260, hier S. 257. Auch andere Operettentheater standen in vertraglichen Verbindungen mit bestimmten Musikverlagen, jedoch ohne Personalunion wie im Fall Karczags. Vgl. zu diesem Phänomen: Alfred Holzbock, Aus dem Reich der modernen Operette, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 29. September 1912, 2. Beiblatt. Diese Position behielt Wien unangefochten bis in die Zeit des ersten Weltkriegs; spätestens ab den 1920er Jahren wurde dann Berlin zur >OperettenhauptstadtDer Liebeswalzer< von Robert Bodanzky und Fritz Grünbaum, Musik von C . M . Ziehrer, gestern im Raimund-Theater zum ersten Male in Szene gegangen, unter einem Beifallsgetöse, das dem armen Raimund draußen in der Loggia wohl bald das Trommelfell gesprengt hätte. Er war's ja bei >seinen Sachem nicht gewöhnt. Man jubelte förmlich, verlangte unermüdlich da capo, und rief in den Zwischenakten Ziehrer, als begänne f ü r ihn eine neue Aera. Und doch war er der gute alte geblieben. Ο dieses schlaue Direktorenpaar Karezag und Wallner! Die Herren haben die Premiere des >Liebeswalzer< aus der eigentlichen Operettenzentrale nach dem Westen hinausgeschoben bis hart an die Gumpendorfer Linie: das war klug! Denn manche populären Eigentümlichkeiten des Sujets und der Musik weisen diese Operette nach dem Westen Wiens, der seit jeher jubelte, wenn ein Fiaker auf die Bühne kam und vom goldenen Weanaherzen und vom einzigen Steffel, von der Ueberflüssigkeit der Taxe und von der Einzigkeit des Wiener Fiakers sang. Wie dies gestern 122
Daneben standen in den Vorkriegsjahren weitere populäre Komponisten unter Vertrag. Man spielte u. a. Granichstaedten (Buh oder Mädel?), Heuberger (Der Fürst von Düsterstein), Vero (Der Sultan), Leo Fall (Die Sirene, Der Nachtschnellzug), Weinberger (Die romantische Frau), Paul Ottenheimer (Heimliche Liehe, Der arme Millionär) und Ziehrer (Das dumme Herz). 109
Herr Glawatsch auf so famose Art in dem Fiakerduett traf [...!· Ein paar Tramway haltestellen zurück gegen die Stadt zu - wer weiß ob der Schlager so gezündet hätte! Denn >die Stadt< hört und singt diese Sachen doch am liebsten erst nach 12 Uhr nachts beim Glase Wein. Oder gar die eigentliche reißerische Weise [.. .1 >Wann ma Geld hat< [...]. Diesen paar Takten muß man die denkbar größte Nußdorferkarriere voraussagen. Also - es ist nicht wahr: Wien ist noch immer Wien und die >symphonische< Operette ist trotz >Lustiger Witwe< noch immer nicht die Siegerin. Wenigstens ein paar Haltestellen weiter draußen.123
Karczags Erfolg mit wechselnden Serienaufführungen einzelner Stücke an zwei Theatern, 124 die innerhalb des gleichen Bezirks nur etwa drei Kilometer voneinander entfernt lagen, belegt einmal mehr, daß von einer verbreiteten Mobilität zwischen unterschiedlichen Bühnen auch für jene Zeit noch nicht ausgegangen werden kann, in der die betreffenden Distanzen problemlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden konnten. Die Preisgestaltung an beiden Häusern mag hierbei in Zusammenhang mit dem Standort eine Rolle gespielt haben - das Raimundtheater am äußeren Ende von Mariahilf war um etwa ein Viertel billiger als das Theater an der Wien am Rand der Innenstadt. Vor allem aber dürfte sich mit dem Standort und dem Renommee der beiden Bühnen ein bestimmtes Sozialprestige verbunden haben, das den Theaterbesuch kanalisierte.125 Das Kaiserjubiläums-Stadttheater, nunmehr Volksoper, bot einen völlig anderen institutionellen Rahmen für die Operette als das En-suite-System der genannten Häuser. Die Operette war hier Teil eines Repertoirebetriebs, der ab der Spielzeit 1907/08 eine tatsächliche Konkurrenz zur Hofoper darstellte, und schien in zwei Bereichen des Spielplans auf: Zum einen gab es während der Hauptspielzeit eigene Operetteneinstudierungen in Nachbarschaft zum Opernrepertoire, zum anderen gastierten in den Sommermonaten häufig die renommierten Wiener Operettentheater - das Theater an der Wien, das Carltheater, später auch das Johann-Strauß-Theater - mit einer Auswahl von Stücken, die auf diese Weise zu vergleichbar günstigen Preisen einem Publikum zugänglich gemacht wurden, das die zentrumsnahen Häuser in der Regel nicht besuchte. Während die Eigenproduktionen meist auf >Klassiker< der Operette zurückgriffen, die sich im Hinblick auf ihre musikdramatische Struktur vollkommen in den Opernspielplan ein123 124
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Fremdenblatt (Wien), 25. Oktober 1908, S. 14. In den Jahren bis zum Ausbruch des Weltkriegs gab es am Raimundtheater neben den Gastspielen des Theaters an der Wien unter anderem Serienaufführungen von Stolz' Das Glücksmädel und Die eiserne Jungfrau, Reinhardts Die Sprudelfee, Nedbals Die keusche Barbara, Aschers Die arme Lori und Granichstaedtens Casimirs Himmelfahrt·, das Ensemble des Raimundtheaters gastierte seinerseits mit Der Liebeswalzer (Ziehrer), Mein junger Herr (Straus), Das Zirkuskind (Eysler) und Hoheit tanzt Walzer (Ascher) am Theater an der Wien. Interessanterweise spekulierte Robert Herzl, der langjährige szenische Leiter der Volksoper, noch 1998 angesichts der Frage, ob ein Umzug der Volksoper ins Theater an der Wien sinnvoll sei, daß das Publikum bei einem solchen Umzug womöglich nicht nachfolgen könnte; vgl. Simek (Hrsg.), Volksoper, S. 147.
fügten, häufig als komische Opern angekündigt und in Abständen immer wieder gegeben wurden, brachten die Gastspiele die jeweils aktuellen Werke.126 Zwei Spielzeiten nach der Eröffnung des Johann-Strauß-Theaters entdeckte die Leitung des im angrenzenden III. Bezirk gelegenen Wiener Bürgertheaters (Vordere Zollamtsstraße) die Zugkraft der Operette. Das Haus war auf Initiative des Schauspielers und Schriftstellers Oskar Fronz errichtet und am 7. Dezember 1905 eröffnet worden. Neben Volksstücken und einigen französischen Komödien gab man zunächst mit wechselndem Erfolg Possen und Schwänke. Beachtung fanden verschiedene internationale Gastspiele, die avanciertes Schauspiel brachten: im Frühjahr 1906 das Moskauer Künstlertheater unter Wladimir Iwanowitsch Nemirowitsch-Dantschenko, im Januar 1907 Suzanne Despres unter anderem mit Ibsen und Zola, im März des gleichen Jahres das Ensemble Lydia Jaworskaja mit Strindberg, Björnson und Dumas, wenig später das »Kleine Theater zu Berlin«, Anfang Mai 1910 das Lemberger National-Theater. Gegenüber den Operettentheatern konnte sich das Bürgertheater in diesen ersten Jahren wirtschaftlich und in der Publikumsgunst nicht wirklich behaupten. Am 15. Oktober 1910 kam unter dem Mantel eines »Altwiener Stückes« mit Edmund Eyslers Der unsterbliche Lump eine erste Operette heraus, deren Erfolg - 150 Aufführungen in fünf Monaten - Fronz eine Erweiterung seiner Konzession von »Wiener Volksstücken, Schau-, Trauer- und Lustspielen« auf »musikalische Darbietungen, wie Gesangspossen, Vaudevilles, Volksstücke mit Gesang, Singspiele, Operetten und Spielopern« eintrug.127 Bis zum Ausbruch des Weltkriegs brachten es dann einige weitere Operetten Eyslers noch innerhalb einer oder zweier Spielzeiten auf jeweils über 200 Reprisen am Bürgertheater: 1911 Der Frauenfresser, 1913 Der lachende Ehemann und Ein Tag im Paradies sowie 1914 Frühling am Rhein,128 126
So hatte die Volksoper in der Spielzeit 1908/09 Der Opernball, Boccaccio, Die Puppe (Audran), Die schöne Galathee, Das Baby (Heuberger) und Der Bettelstudent im hauseigenen Programm, als Sommergastspiel präsentierte das Carltheater die Novitäten Der Rastelbinder, Die geschiedene Frau, Die Schützenliesel und Ein Walzertraum. 1909/10 inszenierte man während der Wintersaison Baron Trenck (Albini), Der Mikado, Das Tal der Liebe (Straus), Der Zigeunerbaron und Rip-Rip, im Mai spielte das Theater an der Wien in der Volksoper als neueste Schlager Die Dollarprinzessin, Der fidele Bauer, Der Graf von Luxemburg und Ein Herbstmanöver, im Juni schließlich gastierte Alexander Girardi unter anderem mit Bruder Straubinger, Künstlerblut (Eysler) und Reiche Mädchen (nach Strauß). Bis zum Ausbruch des Krieges wurde das eigene Operettenrepertoire weiterhin um bewährte Werke wie Die schöne Helena, Die Geisha und Orpheus in der Unterwelt ergänzt. 127 Niederösterreichische Statthalterei, zit. n. Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 769. 128 Weitere Titel im Operettenrepertoire des Bürgertheaters waren bis 1914 Richard Fronz' Das neue Mädchen, Kaimans Der gute Kamerad, Weinbergers Der Frechling und Franz Werthers Drei Musterweibchen. 111
Neben dem Theater an der Wien, dem Carltheater, dem Raimundtheater und dem Johann-Strauß-Theater gab es nun also mit dem Bürgertheater ein fünftes reguläres Theater, das nahezu ausschließlich Operetten spielte, während das Theater in der Josefstadt, das Lustspieltheater und die Volksoper immerhin einen Teilbereich ihres Repertoires mit Operetten bestritten und nach dem Vorbild von »Venedig in Wien« und Danzers Orpheum eine ständig wachsende Zahl von Vergnügungsetablissements Operetten in den Spielplan einbauten. Diese Streuung der Operettenproduktion über den gesamten städtischen Raum mit seinen komplexen demographischen Strukturen führte gegenüber den vorangegangenen Jahrzehnten zu einer extremen Ausweitung und Differenzierung des Operettenpublikums. Auf die »neuere [heterogene] städtische Mittelschicht«, die Moritz Csäky in Abgrenzung zu den »etablierte[n] Bürgerliche!η| der liberalen Ära« als charakteristisches Operettenpublikum nach 1900 ausmacht und für die er aufgrund ihrer Herkunft (Stadterweiterung, Zuwanderung) eine »schwächere ökonomische Basis und [einen] geringere[n] Bildungshorizont«129 annimmt, wirft die topographische Perspektive, die das Gesamt der Wiener Operettentheater umfaßt, ein neues Licht: Die Publikumsschichten des Johann-Strauß-Theaters und der Volksoper, des Orpheums und des Raimundtheaters unterschieden sich deutlich voneinander und sind keinesfalls als ein Operettenpublikum aufzufassen. Aufgrund der stark differierenden Preisgestaltung der Häuser sowie ihrer spezifischen Lage erreichte ihr jeweiliges Repertoire verschiedenste soziale Gruppierungen, zu denen die »etablierten Bürgerlichen« noch immer ebenso gehörten wie Adlige oder Lohnarbeiter. Die Totenstatistik der Ringtheaterbrands von 1881 hingegen zeigt, daß die Klientel der Privattheater auch schon im 19. Jahrhundert sehr heterogen war und eine weite Spanne städtischer Schichten einschloß.130 Es läßt sich also schwerlich ein >charakteristisches< Operettenpublikum für die Zeit vor und nach 1900 definieren. Exkurs I: Eine zeitgenössische Betrachtung Wiener Nachtleben. Es gab eine Zeit, da man in Wien mit drei Gulden in der Tasche den Kavalier spielen konnte. Und das ist noch gar nicht so lange her. Vor zwanzig Jahren noch blühte das Volkssängertum. Dreißig Kreuzer Entree, ein paar Glas Bier und ein Schnitzel, Summa 1 fl. 20 kr. betrugen gewöhnlich die Auslagen eines solchen Abends. Wenn man sich hoch verstieg, ging man in Danzers Orpheum. Auch dort war's billig. Und auch dort begegnete man den Volkssängernummern wieder, in die kleine Varietescherze eingestreut waren. Eine halbe Stunde vor Mitternacht schon wurde Schluß 129 130
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Vgl. Csäky, Ideologie der Operette, S. 64f. Für Hinweise auf die entsprechenden behördlichen Erhebungen vgl. die unpublizierte Habilitationsschrift von Johann Hüttner, Theater als Geschäft. Vorarbeiten zu einer Sozialgeschichte des kommerziellen Theaters im 19. Jahrhundert aus theaterwissenschaftlicher Sicht. Mit Betonung Wiens und Berücksichtigung Londons und der USA,'2 Bde., Univ. Wien 1982.
gemacht. Nachtschwärmer fanden wohl noch ein paar Kaffeehäuser offen, aber ein Lokal, in das man seine Frau führen konnte, gab es nach Mitternacht in Wien nicht. In den Wintermonaten blühte die Heurigenstimmung bei den Volkssängern wieder auf. Das Um und Auf des naiv anspruchslosen Publikums war eigentlich nicht mehr als ein Glas guten Weines und ein paar Lieder, die in der Heimatserde wurzelten. So war's. Nicht annodazumal, sondern vor fünfzehn, zwanzig Jahren noch. Und doch klingt's fast wie eine Sage aus versunkenen Tagen, wenn man den Wienern von heute davon erzählt. Ein paar Volkssängernamen erinnern noch an jene primitiven Freuden. Seidel, die Mirzl, die Montag, Wiesberg, Guschlbauer usw. waren das Vergnügungsprogramm des Wiens der achtziger Jahre. Einige Quartette mit weinfröhlichen Natursängern vervollständigten es. Das bescheidene Programm der damaligen >Drahrer< war so geartet, daß sie um 5 fl. mehr genossen, als jetzt jemand um 50 Kronen. Was sich jetzt als Wiener Nachtleben gibt, ist jüngsten Datums. Brady hatte die geschäftskluge und erfolgreiche Idee, die Heurigenstimmung aus den Vororten in die Innere Stadt zu verpflanzen. Er schuf den Wintergarten mit Musik und Gesang und lehrte die reichen Leute das >Gemütlichseinfesch< findet. Melodien, die den Volkston nicht treffen, banale Texte, die in der Gemütspointe daneben hauen, Zweivierteltakt->ReißerNachtlichtDrahrerinnenEUtypischen< Themen der Moderne auseinandersetzten, erklärt das Verhältnis zwischen den beiden Sphären nicht hinreichend. Zu fragen wäre vielmehr, was die Besonderheiten einer städtischen Formation waren, die die Voraussetzung für so unterschiedliche künstlerische Äußerungen bildete, also aus welcher gemeinsamen Substanz diese gespeist wurden. Wie läßt sich ein System sozialer, architektonischer und künstlerischer Koordinaten beschreiben, in dem - will man der geläufigen Anschauung folgen - die Psychoanalyse eines Freud, die Dramatik eines Schnitzler, die Musik eines Schönberg, die politisch-religiösen Konzepte eines Herzl ursächlich begründet lagen, in dem Karl Luegers nationalistisch-antisemitisches Credo politisch massenwirksam wurde, in dem die Ideologie traditioneller Feudalstrukturen neben dem Neofeudalismus von Großindustriellen weiterwirkte und in dem eine moderne, auf internationalen Absatz ausgerichtete Operette und eine gemütvoll-lokalpatriotische Operette je spezifische Publikumsströme anzogen? Oder anders formuliert: Wie sah die städtische Realität aus, in der die Sklaven der Ziegelhütten, der vielbemühte Literatenkreis des Cafe Griensteidl und die Legion der Operettenlibrettisten gleichermaßen verankert waren, wie war also der Raum zwischen diesen gesellschaftlichen und kulturellen Phänomenen beschaffen, die in der Regel separat betrachtet werden? Rekapituliert man den Prozeß, in dem die Operette ab 1860 in Beziehung zu den städtischen Strukturen Wiens getreten ist, so fällt neben der vordergründigen räumlichen Anbindung eine zunehmende Verschränkung mit psychosozialen Mechanismen auf. Die Operette entwickelte sich in Wien zu einer kulturellen Erscheinung, die die Differenzierungsvorgänge der Millionenstadt mit allen ihren Verzweigungen in sich trug, weil sie Teil dieser Diffe10
Diese Problematik wird von Fritz Hackert zumindest benannt: »Was die akademische Perspektive später wertend als Beiträge zur Poesie und als triviale Amüsierkunst unterschied, bildete historisch ein Geflecht wechselseitiger Einflüsse.« Hackert gibt in seinem Beitrag zur Wiener Kultur um 1900 einen Abriß zur Kabarettgeschichte, der allerdings weitgehend die einschlägige Publikation von Hans Veigl (Lachen im Keller) paraphrasiert; F. Hackert, Kaffeehaus, Feuilleton und Kabarett in Wien um 1900, in: Fausto Cercignani (Hrsg.), Studio austriaca IV, Mailand 1996, S. 91-120, hier S. 112. - Grundsätzliche Thesen zur Aufhebung der Trennung zwischen Hoch- und Populärkultur im Rahmen der Kulturwissenschaft faßt Richard Reichensperger zusammen; R. Reichensperger, Das Zusammenwirken von Hoch- und Populärkultur: Das karikatureske Verfahren als Ursprung der Moderne bei Charles Baudelaire und Johann Nestroy, in: Johannes Feichting e r / P e t e r Stachel (Hrsg.), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck 2001, S. 47-68. 135
renzierung war." Jenseits ästhetischer Vorgaben von außen, wie sie etwa in der Offenbach-Ära gegeben waren, und ideologischer Vorgaben von innen, wie sie die Vertreter der Volkstheater-Bewegung ab den 1880er Jahren durchzusetzen suchten, hatte sich die Operette um die Jahrhundertwende als eine Form der Unterhaltung verselbständigt, die, so wäre als These festzuhalten, den soziotopographischen Gegebenheiten der Stadt Wien in besonderer Weise angemessen war, wobei dieser Begriff nicht normativ-wertend, sondern deskriptiv zu verstehen ist.12 Im Wechselspiel von kommerziellen Interessen (Theaterbetreiber, Komponisten, Librettisten, Verlage) und spezifischen Bedürfnisstrukturen (Wien als unverwechselbare städtische Ordnung und gesellschaftlicher Raum) entfaltete sich ein komplexes und dabei einzigartiges, weil auf eine konkrete historische Konstellation bezogenes Musiktheaterpanorama, in dessen Zentrum die Operette stand. Die Bedingungen, unter denen sich diese Position der Operette in Wien herausbildete, geben zugleich Aufschluß über das Verhältnis von Operette und Moderne und über die Besonderheiten jener städtischen Formation, für die beide Erscheinungen als konstitutiv gelten können. Ein Vergleich der Wiener Theaterszene um 1850 mit der Theaterszene um 1910, bezogen auf die jeweiligen städtischen Rahmenbedingungen, auf Bevölkerungszahl und -Zusammensetzung, macht signifikante Veränderungen sichtbar. Zunächst standen in Wien fünf reguläre Theater einer Reihe von Vergnügungslokalen einfachen oder vornehmen Stils gegenüber, die jedoch keine Bühnenwerke im eigentlichen Sinn aufführten. Von den fünf Thea11
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Ein wichtiger Aspekt dieser gesellschaftlichen Differenzierung ist - nicht zuletzt bezogen auf die Produktion und Rezeption der Operette - ohne Zweifel die ethnische Pluralität, das wesentliche Argument in den Publikationen Moritz Csäkys zur Wiener Jahrhundertwende. Vgl. hierzu jüngst: M.Csäky, Pluralistische Gemeinschaften: Ihre Spannungen und Qualitäten am Beispiel Zentraleuropas, in: Eve B l a u / M o n i k a Platzer (Hrsg.), Mythos Großstadt. Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890-1937., München/London/New York 1999, S. 4 4 - 5 6 ; ders., Ambivalenz des kulturellen Erbes: Zentraleuropa, in: ders. / Klaus Zeyringer (Hrsg.), Ambivalenz des kulturellen Erbes. Vielfachcodierungen des historischen Gedächtnisses. Paradigma: Österreich, Innsbruck/Wien/München 2000 (Paradigma: Zentraleuropa 1), S. 27-49; ders., Kunst und Kultur in Wien um 1900. Kriterien von Kultur und Moderne, in: Ö M Z 57 (2002), Heft 2, S . 7 - 2 2 ; ders., »Was man Nation und Rasse heißt, sind Ergebnisse und keine Ursachen«. Zur Konstruktion kollektiver Identitäten in Zentraleuropa, in: Wolfgang Müller-Funk/Peter Plen e r / Clemens Ruthner (Hrsg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen/Basel 2002 (Kultur - Herrschaft - Differenz 1), S. 33-49. Gerade jene Faktoren, die sich als Zeichen solcher Angemessenheit beschreiben lassen, wie etwa die Auffächerung des Genres Operette nach den Interessen unterschiedlicher Publikumsschichten und die Einbeziehung von Strukturelementen angrenzender Bühnenformen wie Variete oder Kabarett, bald der Bezug zum neuen Medium Film, wurden von konservativen Zeitgenossen als >Niedergang< der Operette gedeutet, deren Ideal man in einzelnen Werken Offenbachs, Suppes, Strauß' oder Millöckers repräsentiert sah.
tern waren die beiden Hofbühnen mit ihrem elitären Charakter für das Gros der Bevölkerung lange Zeit nicht zuletzt aus finanziellen Gründen unerreichbar; der Hauptanteil der um 1850 rund 430000 Bewohner der Inneren Stadt und der Vorstädte frequentierte also gegebenenfalls die drei Vorstadttheater mit ihrem gemischten Spielplan, in dem das musikalische Theater dominierte. 13 In den folgenden Jahrzehnten wandelte sich das Verhältnis zwischen städtischen Gruppen und den ihnen zugeordneten Institutionen, auch wenn sich, wie Josef Ehmer gezeigt hat, im Zuge des Bevölkerungszuwachses die Gewichtungen zwischen >ElitenMittelschicht< und >UnterschichtUnterhaltungstheater< und »ästhetisch avanciertem Theater< folgen, so läßt sich jedenfalls für Wien feststellen, daß die entsprechende Publikumsgrenze spätestens seit den großen Erfolgen der Werke Offenbachs und Strauß', also seit den 1860er Jahren, nicht
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Als musikalisches Theater ist auch das Theater etwa eines Nestroy oder Raimund aufzufassen, ein Sachverhalt, dem, wie bereits erwähnt, aufgrund der >Zuständigkeiten< der Fachdisziplinen Theaterwissenschaft/Germanistik/Musikwissenschaft nur in geringem Maß Rechnung getragen wird. Zur Problematisierung dieser Begriffe siehe ebenfalls Ehmer, Soziale Schichtung.
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mehr an die Grenze zwischen gesellschaftlichen Schichten gebunden war.15 Zudem waren, wie am deutlichsten die Ästhetik und Programmatik des Wiener Kabaretts zeigt, Operette /musikalisches Unterhaltungstheater und avancierte Produktion aufs engste miteinander verwoben,16 mögen auch Kritiker wie etwa Karl Kraus hier eine Angriffsfläche für heftige Polemik gefunden haben. Die Entwicklung der Operette zu einem quasi gesamtgesellschaftlichen Phänomen steht also in direktem Zusammenhang mit der erfolgten Differenzierung der Wiener Bevölkerung, die durch die neuartige Kombination beziehungsweise Überlagerung von Faktoren wie Einkommen, Position innerhalb der sozialen Hierarchie, Beruf, Bildung und Herkunft sowie aufgrund der besonderen ethnischen Vielfalt zu einem äußerst komplexen Gefüge wurde, in dem die einstmals klaren Schichtungen zugunsten einer ausgeprägten Heterogenität abhanden gekommen waren. Nun ist diese Differenzierung ein Vorgang, der nicht wien-spezifisch, sondern epochenspezifisch ist und zu den typischen Strukturmerkmalen moderner Großstädte gehört. Wien-spezifisch hingegen ist es, daß unterhalb dieses Differenzierungsprozesses die Mechanismen der Residenzstadt als eigenständiges, anderen Gesetzmäßigkeiten folgendes Muster städtischer Ordnung erhalten blieben, und dies gleichermaßen in mentaler wie in topographisch-architektonischer Hinsicht.
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Interessant sind in diesem Zusammenhang die Beobachtungen, die Nathan Birnbaum zum Publikum einer in Wien gastierenden ostjüdischen Schauspieler- und Volkssängertruppe gemacht und 1902 unter dem Pseudonym Mathias Acher veröffentlicht hat: »So ist schon die Betrachtung des Stammpublikums des >Volksorpheums< - wie sich die Truppe geschmacklos genug nennt - recht lehrreich. Proletarier sind fast gar nicht zu sehen, weder solche, die aus dem Osten stammen, noch im Westen heimische. Die ersteren würden wahrscheinlich gerne kommen, aber sie gehören zu den allerärmsten Leuten, f ü r die auch das kleinbürgerlich bemessene Eintrittsgeld des >zweiten Platzes< unerschwinglich ist. Die anderen wiederum sind vielleicht zum Teile ein bißchen besser gestellt, aber gewöhnlich schon ohne alle Beziehungen zum jüdischen Leben. Eine kleine Besucherschicht bilden die Intellektuellen - Schriftsteller und Künstler, die in irgend einem festeren oder loseren Verhältnis zu den verschiedenen jüdischen Renaissance-Bestrebungen der Gegenwart stehen oder sich auch nur f ü r dieselben interessieren. Der weit überwiegenden Mehrheit nach gehört das Publikum dem Mittelstande, einschließlich der Berufsintelligenz, an.« M. Acher, Eine ostjüdische Bühne in Wien, in: Ost und West 2 (1902), S. 235-240, Nachdruck in: Ost und West. Jüdische Publizistik 1901-1928, hrsg. v. Andreas Herzog, Leipzig 1996, S. 187-193, hier S. 188. An dieser Stelle sei nochmals auf die Bedeutung von Varietetänzerinnen f ü r die Herausbildung des modernen Kunsttanzes hingewiesen. Für die Wiener Karriere Gertrude Barrisons hat dies Gunhild Oberzaucher-Schüller detailliert nachgewiesen; G. Oberzaucher-Schüller, Das bislang verschattete Leben der Miss Gertrude. Das »seriöse« Wirken einer »unseriösen« Barrison-Schwester, in: tanzdrama Nr. 50 (2000), S. 6-11.
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Residenzstadt und Metropole Die Überlagerung von Residenzstadt und Metropole, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert den Wiener Stadtkörper ebenso kennzeichnete wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen seiner Bewohner und das entstehende Image der Stadt, also den Vorstellungskomplex Wien, unterschied die Reichshaupt- und Residenzstadt deutlich von den anderen westlichen Millionenstädten London, Paris, New York und Berlin. Die Herausbildung dieser Eigenart hat ihre Ursache nicht zuletzt in der Position, die Wien über Jahrhunderte innerhalb des Heiligen Römischen Reiches beziehungsweise des Deutschen Bundes, dann innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie einnahm, und in der Veränderung dieser Position im 19. Jahrhundert. Das Gesicht Wiens war noch um 1800 geprägt vom Wunsch nach Entfaltung kaiserlicher Pracht und von der Ausrichtung städtischer Funktionen an den Maßgaben der Hofhaltung; zugleich blieben das äußere Erscheinungsbild der Stadt und ihre demographischen Gegebenheiten zunächst dadurch in quasi vorindustriellen Strukturen fixiert, daß Wien im Rahmen des Gesamtstaats eine im Vergleich zu Paris oder London eher geringe volkswirtschaftliche Bedeutung zukam, da die Produktivkraft des riesigen Reiches bis weit ins 19. Jahrhundert vornehmlich auf der Agrarwirtschaft basierte und der Prozeß der Industrialisierung nur zögernd einsetzte. Die Mitte des 19. Jahrhunderts brachte dann in der kaiserlichen Verfügung zum Stadtumbau und in der beginnenden Massenzuwanderung, der Landflucht hin zum nun sich etablierenden Industriestandort Wien, zwei radikale Einschnitte für das Gemeinwesen, das bis dahin nach den Mechanismen der klar gegliederten Residenzstadt funktioniert hatte. Etwa zeitgleich mit diesen städtischen Veränderungen fielen wichtige außen- und innenpolitische Entscheidungen, die den Rang Österreichs im europäischen Staatengefüge neu definierten: Sowohl die territorialen Verluste in Italien und die Durchsetzung eines weitgehend autonomen Ungarn als auch die Gründung des Deutschen Reiches mit Preußen als Führungsmacht bedeuteten eine tatsächliche und ideelle Schwächung Österreichs und längerfristig eine Gefährdung des komplexen Vielvölkerstaats. Die >MetropolisierungGefährdung< von tradierten Ordnungen herein, die im Gegenzug innerhalb kürzester Zeit idealisiert wurden. In ein Stadtgebilde, dessen genau umrissene Einteilung in soziale Milieus, dessen barocke Pracht und kleinbürgerliche Idyllen sich in Generationen gefestigt hatten und dem in Gestalt des Kaisers ein tragendes Moment des Verhaftetseins, ja der Erstarrung innewohnte, ergoß sich ein kontinuierlicher Strom von Fremden - von >Fremdheit< - aus nahen und fernen Regionen der Monarchie. Die bestehende Ordnung, der zuletzt der Metternichsche Überwachungsstaat seinen Stempel aufgedrückt hatte, wurde in 139
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Phänomen der Masse, mit >Unordnung< konfrontiert. Die Massengesellschaft mit ihren in Wien bislang unbekannten Begleiterscheinungen und den neuen Ständen - das Proletariat der entstehenden Fabriken oder die kaum mehr integrierbaren Tschechen und galizischen Juden - legte sich als neues, anderen Gesetzmäßigkeiten folgendes Raster über die ständisch ausgerichtete Residenzstadtgesellschaft. Sowohl im Stadtkörper als auch in den sozialen Konstellationen ist die Problematik dieses Verhältnisses über die Kaiserzeit und die Jahre des Anschlusses an das Dritte Reich hinweg bis in die Zweite Republik greifbar geblieben - eines Verhältnisses, das sich weder als Nebeneinander zweier disparater städtischer Muster noch als Auflösung dieser Muster in einem einheitlichen Dritten adäquat beschreiben läßt. Die Komplexität der Verknüpfung von Residenzstadt und Metropole liegt nicht zuletzt darin, daß die Wirkungsbereiche beider Modelle sich auf sehr unterschiedliche Ebenen erstreckten. Einerseits strukturierten die Praxisformen der modernen Massengesellschaft bald schon den Alltag breitester Bevölkerungsschichten, andererseits bildeten die immer neuen Hindernisse auf dem Weg zu einem allgemeinen Wahlrecht, die tradierten Sonderrollen von Militär und Adel, das verbreitete Elitendenken, aber auch die bewußte Bezugnahme der christlich-sozialen Politik auf die >gute alte Zeit< eine Art Kontinuum, das die Residenzstadt auf einer ideellen Ebene weitertrug.17 Entscheidende Faktoren der Kontinuität waren ohne Zweifel das äußere Erscheinungsbild der Stadt und ihre nahezu gleichbleibend strenge innere Gliederung. War hinsichtlich sozialer und ökonomischer Zugehörigkeiten und hinsichtlich vertretener Mentalitäten die ehemalige Geschlossenheit der Vorstädte, wie sie in der Residenzstadt des Vormärz zu beobachten war, weiterhin prägend, so wurde die architektonische Hülle der Stadt zusätzlich von der ideologisch fundierten Ästhetik der Ringstraßenzeit normiert, die die negativen Auswirkungen der Metropolisierung erfolgreich kaschierte.18 17
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In diesem Sinn interpretiert Rainer Hank, ausgehend von einer Parallelsetzung von Stadtlandschaft und Seelenlandschaft, die Kritik Camillo Sittes an der Architektur der Ringstraße und Sittes alternative Vorschläge zur Stadtgestaltung als »rückwärtsgewandte Utopie« mit dem Ziel einer »Restitution vormoderner Identität«. R. Hank, Topik und Topographie. Seelenlandschaft und Stadtlandschaft im Wien der Jahrhundertwende, in: M a n f r e d Smuda (Hrsg.), Die Großstadt als »Text«, München 1992 (Bild und Text), S. 217-238, hier S. 229. Maderthaner und Musner deuten die architektonischen Gegebenheiten entsprechend: »Das soziale Elend war und ist in dieser Stadt hinter einer Fassade von beeindruckender Schönheit verborgen, die ganz offensichtlich einen an der klassizistischen Ringstraßenarchitektur orientierten, homogenen Stadtkörper suggerieren soll. Die Zinskasernen der Ottakringer-, Thalia-, Kopp- und Herbststraße sowie von deren unzähligen Seitengassen sind, von ihrer äußeren Gestaltung her L...J wahre Prachtbauten, die den berühmten Ringstraßenpalais in vielen Fällen nur um weniges nachstehen. Sie bilden in ihrer äußeren Gestalt weniger einen Kontrast zum Zentrum als vielmehr seine symbolische Perpetuierung und verdecken so die f ü r Wien charakteristische, doppelte sozialräumliche Faltung der Stadt. Denn Wien
Bringt man diese Analyse der Formation Wien in Verbindung mit den Ergebnissen von Sprengel und Streim, die das Image Wiens nicht zuletzt in Gegenüberstellung mit Berlin als konkurrierender Metropole entfalten, so wird zweierlei deutlich: Zum einen trägt das Wien der Jahrhundertwende in der Fremdwahrnehmung nahezu ausschließlich Züge, die der Residenzstadtschicht entstammen, wie Weichheit, Gemütlichkeit und Langsamkeit, während die Metropolenschicht weitgehend ausgeblendet bleibt - Berlin als Inbegriff von Fortschritt, Tempo und angespannter Kraft gilt hingegen als die Metropole schlechthin. Zum zweiten ist aber auch die ganz überwiegende Mehrzahl der künstlerischen Hervorbringungen der literarischen Wiener Moderne der Residenzstadtschicht zugeordnet, haben etwa Hugo von Hofmannsthal, 19 Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Richard Beer-Hofmann oder Leopold von Andrian sowohl der Herkunft wie den vertretenen Ideen nach ihre Wurzeln in den Strukturen der Residenzstadt und dringen kaum jemals in die Realitäten der Metropole Wien vor.2" (Die Selbstwahrnehmung dieser Literaten als >modernmodernen Nervenkunst< bleiben von dieser Interpretation unberührt.) Beispielhaft für die Verankerung zahlreicher Protagonisten der Wiener Moderne in einem recht begrenzten Ausschnitt der Formation Wien sind die vielzitierten Schilderungen Stefan Zweigs in seiner Autobiographie Die Welt von Gestern: Hier wird sichtbar, daß Zweig selbst ebenso wie die ihn umgebende Elite der Residenzstadt angehörten, deren Schönheit Zweig eindrucksvoll beschreibt, und daß Äußerungsformen der modernen Massengesellschaft, wie politische Demonstrationen oder Begeisterung für Sportveranstaltungen, für Zweig Merkwürdigkeiten darstellten, die in seinen Erinnerungen zwar kurz aufscheinen, denen er dort aber keinen Realitätsgehalt für die eigene Existenz beimißt. Als finanziell und gesellschaftlich unabhängiger Intellektueller konnte Zweig, wie er selbst einräumt, gänzlich der Kunst leben, ohne sich mit den Konflik-
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folgt in seiner Topographie einem konzentrischen Muster, in welchem sich innere und äußere Vorstädte, sozial abfallend, um das Zentrum gruppieren.« Anarchie, S. 10. Das Aufeinandertreffen von »Österreichischem« und Moderne und die »Mythisierung von Traditionen« diskutiert Wolfram Mauser in Zusammenhang mit Hofmannsthals Lustspiel Der Schwierige', W. Mauser, Österreich und das Österreichische in Hofmannsthals »Der Schwierige«, in: Recherches germaniques 12 (1982), S. 109-130. Die Diskrepanz zwischen der Wiener Realität der Jahrhundertwende und dem gängigen Wien-Klischee sowie die Kluft zwischen der Elitenkultur und dem a n d e ren Wien< thematisiert auch Ralf Thies im Rahmen seiner Analyse der nach 1900 erschienenen Publikationsreihe Wiener Großstadt-Dokumente', R. Thies, Wiener Großstadt-Dokumente. Erkundungen in der Metropole derk.u.k. Monarchie, LBerlinj 2001 (Schriftenreihe der Forschungsgruppe »Metropolenforschung« des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. FS II 01-503). 141
ten seiner Gegenwart auseinandersetzen zu müssen.21 Vergleichbare Beobachtungen lassen sich für die literarische Produktion Arthur Schnitzlers treffen: Obwohl sich seine Werke wie eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit seiner Wiener Gegenwart lesen, ist es doch nicht die Gesellschaft der unUberschaubaren Millionenstadt, die Schnitzler beschreibt. Die sozialen Hierarchien seiner Geschichten sind festgefügt, die Stände, denen die handelnden Personen entstammen, eng begrenzt, die Räume den bürgerlichen Bezirken zugeordnet, die Konflikte einer bürgerlich dominierten, nicht einer Massengesellschaft entnommen. 22 Die seelischen Verwerfungen, die Schnitzler schildert und deren Analysen ihn in die Nähe Sigmund Freuds rücken, beruhen auf den Konventionen und Zwängen der Residenzstadtgesellschaft, nicht auf den Problemen und dem Elend der Metropole. Die Gegenüberstellung von Residenzstadt- und Metropolen-Zugehörigkeit beinhaltet dabei keine ästhetische Wertung im Sinn von >konventionell< versus >progressivgute alte Wienwohlmeinenden< >rassischen< Argumentation zur Erläuterung dieses Jüdischen bleiben die Hinweise auf die lange Zeit beschränkten Berufsmöglichkeiten für Juden und auf das Bestreben gehobener jüdischer Familien, ihrer anhaltend problematischen gesellschaftlichen Sonderrolle dadurch abzuhelfen, daß sie ihren Kindern besonders gute Ausbildungschancen eröffneten.24 Steven Beller leitet die Rolle der Juden für die Wiener Moderne aus den Stufen jüdischer Emanzipation seit dem 18. Jahrhundert her, wobei der Akzent auf philosophischen und ethischen Aspekten liegt.25 In mehreren Publikationen - so auch in der zweifellos ambitioniertesten Studie aus den letzten Jahren, Robert S. Wistrichs Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs - wird von der je spezifischen Situation einzelner jüdischer Persönlichkeiten ausgegangen und einerseits deren Beitrag zur Wiener Kultur, andererseits ihre besondere Auseinandersetzung mit dem Judentum thematisiert.26 So differenziert diese Porträts aber auch angelegt sein mögen: selbst eine Zusammenstellung Dutzender solcher Biographien wird die Frage nach dem jüdischen Anteil an der Wiener Moderne letztlich nur quantifizieren,
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Für Daten hierzu vgl. Steven Beller, Soziale Schicht, Kultur und die Wiener Juden um. die Jahrhundertwende, in: Gerhard B o t z / I v a r Oxaal / Michael Pollak (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus im Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990, S. 61-82. Steven Beller, Die Position der jüdischen Intelligenz in der Wiener Moderne, in: Nautz/Vahrenkamp, Jahrhundertwende, S. 710-719. Bellers Ausführungen bleiben wie zahlreiche andere Arbeiten zu diesem Thema die Antwort auf eine zentrale Frage schuldig: Wie ist, betont man die Rolle jüdischer Traditionen f ü r die Physiognomie der Moderne, die äußerst uneinheitliche Beziehung der betreffenden Personen zu ihrer Religion/Herkunft zu bewerten? - Die Behauptung eines »Judentums« problematisiert auch Peter Pulzer: »Es gab Juden in der Wiener Kultur, man muß sogar sagen, ohne Juden wäre die Wiener Kultur um und nach 1900 nicht denkbar, aber ein >Judentum< in dieser Kultur, das etwa Arthur Schnitzler und Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Otto Weininger, Heinrich Friedjung und Victor Adler, Moritz Szeps und Theodor Herzl umfaßt, gab es nicht.« P. Pulzer, Liberalismus, Antisemitismus und Juden im Wien der Jahrhundertwende, in: Peter B e r n e r / E m i l Brix / W o l f g a n g Mantl (Hrsg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, München 1986, S. 32-38, hier S. 35. Bei Wistrich sind dies Karl Kraus und Otto Weininger, Sigmund Freud, Arthur Schnitzler und - kursorischer - Stefan Zweig, Hermann Broch, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Martin Buber und Joseph Roth; Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Wien/Köln/Weimar 1999 (Anton-Gindely-Reihe 4). 143
ohne >das Jüdische< zu qualifizieren. 27 Bleibt also, wie Beller problematisiert, als Ergebnis entsprechender Überlegungen nur die Feststellung, daß >die jüdische Frage< gar keine gewesen sei? Demgegenüber ließe sich, ausgehend von der Beschreibung Wiens als einzigartiger Verknüpfung residenzstädtischer mit Metropolenstrukturen, der Standort der Wiener jüdischen Intelligenz am Fin de siecle in der konkreten historischen Konstellation aufsuchen. Ein bedeutender Teil der Vertreter der Wiener Moderne stammte aus jenem jüdischen Großbürgertum, das sich in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts eine herausragende Stellung innerhalb der Residenzstadt Wien erworben hatte, ohne daß sich damit der >Makel< der jüdischen Herkunft jemals gänzlich hätte auslöschen lassen. Vermögende Juden hatten bereits lange Zeit als Kunstmäzene gewirkt, ab den Jahren der Revolution von 1848 traten politische und journalistische Aktivitäten hinzu, und in der Gründerzeit wurden Wiener Juden zu wichtigen politischen und wirtschaftlichen Trägern des Liberalismus. Obwohl von einer tatsächlich gelungenen Emanzipation der Juden in gesellschaftlicher Hinsicht dennoch nicht gesprochen werden kann und sich antisemitische Tendenzen auf verschiedensten Gebieten über die Jahrzehnte immer wieder geltend machten, wuchs ein beachtlicher Teil der späteren Protagonisten der Wiener Moderne in dem Bewußtsein auf, zur intellektuellen und/oder wirtschaftlichen Elite Wiens zu gehören. Dieses Bewußtsein und der Prozeß der weitgehenden Assimilation vieler Wiener Juden wurde ab den 1880er Jahren mit zwei Erscheinungen konfrontiert, die in Verbindung mit der Metropolisierung Wiens standen und im Selbstverständnis der jüdischen Elite längerfristig eine deutliche Irritation auslösten: Einerseits entwickelte sich, lanciert durch diverse Interessengruppen, ein Massenantisemitismus, für den nicht zuletzt jene Schichten anfällig waren, die sich als >Opfer< der städtischen Wandlungen - der Modernisierung - fühlen mußten. Andererseits nahm die Anzahl der Wiener Juden seit dieser Zeit deutlich zu, da sich ganze Ströme von Zuwanderern aus dem Osten, teils auf der Flucht vor Pogromen, in Wien eine neue Existenz erhofften. Innerhalb dieser Zuwanderungswellen dominierten zwei Gruppierungen, die sich in extremer Gegenposition zu den etablierten, wohlhabenden, assimilierten Wiener Juden befanden, nämlich die gänzlich mittellosen und die streng orthodoxen Juden. Die in Wien zum Teil noch weiter fortschreitende Verelendung der neu zugewanderten Juden hat ihre Ursache nicht zuletzt in den Strukturproblemen der Millionenstadt, während die jeglicher Modernisierung äußerst kritisch gegenüberstehende ultrakonservative Orthodoxie wie auch der Chassidismus quasi als vor-städtische Phänomene gedeutet werden könnten. Zunehmend militanter Antisemitismus
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Dies trifft etwa auch auf die Vorgehensweise Leon Botsteins zu; vgl. L. Botstein, Musikkultur und die Juden: Wien als Beispiel, in: ders., Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848-1938, Wien/Köln 1991, S. 126-148.
hier und jüdisches Leben jenseits der eigenen Residenzstadt-Etabliertheit dort waren also die Bedingungen für die politische, religiöse und kulturelle Identität auch der wohlsituierten jüdischen Intelligenz der lahrhundertwende. Ein breites Spektrum jüdischer Reaktionen auf die Gegebenheiten der Zeit entfaltet Schnitzler in seinem Roman Der Weg ins Freie (1908), der die religiöspolitische Bewegung des Zionismus ebenso thematisiert wie den verbreiteten jüdischen Antisemitismus. 28 Das oben skizzierte Stadtmodell, also die Auffassung Wiens als eine in einzigartiger Weise differenzierte räumlich-gesellschaftliche Konstellation, könnte einen alternativen Blick auf die >jüdische Moderne< eröffnen, ohne >rassisch< zu argumentieren, ohne exemplarische Biographien zu versammeln und ohne die >jüdische Frage< vollkommen zu negieren: Das Kollektiv der Wiener Intellektuellen und Künstler jüdischer Abstammung - und dies gilt gleichermaßen für die als Kinder oder Jugendliche nach Wien übersiedelten Persönlichkeiten wie Gustav Mahler oder Sigmund Freud - wäre zu begreifen als heterogene Gruppe >poli-tischerpo//-tischen< Komponente jüdischer Existenz, mit der Möglichkeit des Judeseins in einer katholisch geprägten Gesellschaft, des Judeseins in einem von chauvinistischem Nationalstaatsdenken geprägten Mitteleuropa, des Judeseins in einer Stadt, die zu >ihren< Juden am Ende des 19. Jahrhunderts in deutlichere Distanz trat - bedeuteten Kreativität im Bewußtsein gesellschaftlicher Krisen, die nicht nur die eigene jüdische Herkunft zum Problem werden ließen.29
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Vgl. v. a. die programmatischen Diskussionen in Kapitel 3 dieses Romans. Die komplexen Reaktionen des assimilierten jüdischen Bürgertums und des nichtjüdischen Bürgertums auf die Fremdheiten des sich verändernden Wien reflektiert Hildegard Kernmayer am Beispiel des jüdischen Journalisten Daniel Spitzer; H. Kernmayer, Juden in der Metropole als Thema der Feuilletons Daniel Spitzers, in: Arno Dusini / Karl Wagner (Hrsg.), Metropole und Provinz in der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Wien 1994 (Zirkular. Sondernummer 41), S. 29-45. 145
Städtische Formation und Image Wien als spezifische soziale, architektonische und kulturelle Formation war also in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg nicht nur durch auffallende ethnische Pluralität, begründet in den Gegebenheiten des Vielvölkerstaats, und durch die typischen gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse der Moderne gekennzeichnet, sondern auch durch die spannungsvolle Verbindung zweier eigentlich entgegengesetzter Konzepte des Urbanen, der Residenzstadt und der Metropole, die zu widerstreitenden Deutungen des jeweiligen Heute führten. Gesellschaftlich und kulturell wirksam wurde daneben ein bestimmtes Image von Wien, das sich in jenen Jahrzehnten festigte und nicht nur die Wahrnehmung Wiens von einer Außenposition, sondern auch den Blick vieler Wiener auf sich selbst steuerte. Das Image >Wien< vollzog die skizzierten komplexen städtischen Mechanismen nicht nach, sondern verschmolz eine Auswahl von Einzelaspekten zu einer harmonischen Ganzheit, deren Blickrichtung rückwärtsgewandt und deren Struktur von Unschärfe und Weichheit geprägt war.3" Musik und Theater waren unverzichtbare Elemente dieser Vorstellungswelt, das musikalische Unterhaltungstheater eines ihrer wichtigsten Darstellungs- und Reproduktionsmedien. 31 Das Image der Millionenstadt Wien birgt eine Paradoxie: Es basierte nämlich auf der Vorstellung des Rückzugs aus einer solchen schnellebigen, angstmachenden Großstadt hin zu einer Idylle, einem Locus amoenus, verweigerte also quasi die Metropolen-, ja letztlich die Stadtrealität Uberhaupt. Die Merkmale, die Wien vor allem im Gegenüber zu Berlin zugeschrieben wurden, leiten sich her aus einer grundsätzlichen Polarität zwischen Urbanität und Ländlichkeit: Berlin wurde identifiziert mit der modernen, »amerikanischen* Großstadt, als typisch für Wien hingegen galten vornehmlich >unstädtische< Merkmale. Die Vermittlungsfunktion innerhalb dieser Paradoxie nahm ein für Wien zentraler städtischer Topos ein, nämlich der Topos
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Zur Funktion von Stadtimages formuliert Gerhard Brunn entsprechend: »Die Wahrnehmung einer Stadt, ihr >ImageImages< von Städten L...J reduzieren die verwirrende Vielfalt der Realität auf eine überschaubare, begreifbare Größe, ermöglichen schnelle und einfache Orientierung. Sie können, positiv oder negativ ausgerichtet, sich zu Symbolen - z.B. f ü r die Nation - verdichten, Identität stiften und Verhalten steuern, integrierend oder segregierend wirken.« G. Brunn, Metropolis Berlin. Europäische Hauptstädte im Vergleich, in: ders. / Jürgen Reulecke (Hrsg.), Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte 1871-1939, Bonn/Berlin 1992, S. 1-38, hier S. 4f. u. 25. Für ausführliche Analysen zur Bedeutung von Musik und Theater f ü r das Selbstbild Wiens, wie sie später im Wien-Film reflektiert wurde, vgl. Marion Linhardt, Phantasie und Rekonstruktion. Die Filme über Wien, in: Armin Loacker (Hrsg.), Willi Forst. Ein Filmstil aus Wien, Wien 2003, S. 258-289.
>VorstadtVorstadt< verbanden sich in der Rückschau auf das Biedermeier Ideen eines normfreien, paradiesischen Raumes, und die Bindung jeden Wieners an die Vorstadt, aus der er stammte (seinen >Grundvor-städtischenWienerische< an der Operette des 19. Jahrhunderts ist ein Konstrukt nationalkonservativer Kritiker der auf internationale Vermarktung ausgerichteten späteren Operette, das >Wienerische< des Volksstücks der Gründer- und Nachgründerzeit hingegen ein Konstrukt von Kritikern der frühen Operette, die jahrelang mit Offenbach und Frankreich, mit >Pariser Frivolität gleichgesetzt wurde. Die dezidierte Auseinandersetzung mit Wien als charakteristischem Stadt- und Gesellschaftsraum war in der Posse bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts zurückgegangen, während die Operette sie - trotz der zentralen Rolle wienerischer Tanzmusik - zunächst gar nicht entwickelte. Die Operette des 19. Jahrhunderts orientierte sich in ihrer Themenwahl nicht an Wien, war vielmehr ein von wechselnden Moden geprägtes Genre, in dem historische/historisierende und exotische beziehungsweise märchenhafte Sujets vorherrschten. Den Verfechtern des Volkstheaters hingegen schwebte das lokal gebundene Theater des frühen 19. Jahrhunderts als Ideal vor, wie es von Ferdinand Raimund künstlerisch überformt worden war, während sich in und nach den Gründerjahren die Lebensrealität der Wiener Bevölkerungsmehrheit (des >VolkesVolkstheaterVolkstheater< nicht mehr hatte einlösen können. Die moderne Gesellschaftsoperette und die Operette des Kleinbürgers, angesiedelt in je spezifischen Segmenten der Wiener Theatertopographie - thesenartig zu kontrastieren wären hier Theater an der Wien und Bürgertheater, großbürgerliches (>jüdischeschristlich-sozialestanzende Jude< Louis Treumann und der >Volksschauspieler< Alexander Girardi.
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Alexander Girardi als Schweinezüchter Zsupcm in Der Zigeunerbaron von Johann Strauß (Uraufführung: Theater an der Wien 1885)
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Alexander Girardi als Schuster Weigel in Mein Leopold von Adolf LArronge (Rollenübernahme durch Alexander Girardi: Theater an der Wien 1886)
Alexander Girarcli als Willibald Brandl und Ensemble in Wiener Frauen von Franz Leliär (Uraufführung: Theater an der Wien 1902)
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Louis Treumann als Wolf Bär Pfefferkorn und Mizzi Günther als Suza in Der Rastelbinder von Franz Lehär (Uraufführung: Carltheater 1902)
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Louis Treumann als Danilo und Mizzi Günther als Hanna in Die lustige Witwe von Franz Lehär (Uraufführung: Theater an der Wien 1905) - rechts: Louis Treumann als Octave, Mizzi Günther als Eva und Ensemble in Eva von Franz Lehär (Uraufführung: Theater an der Wien 1911): Louis Treumann als Radjami, Christi Mardayn als Odette und Ensemble in Die Bajadere von Emmerich Kaiman (Uraufführung: Carltheater 1921)
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Alexander Girardi als Pali Räcz in Der Zigeunerprimas von Emmerich Kaiman (Uraufführung: Johann-StraußTheater 1912)
Rollenfächer, Rollen-Images und die Wahrnehmung der Stadt
Die Wiener Moderne und das moderne Wien. Karl Kraus' Auseinandersetzung mit Alexander Girardi, Louis Treumann und Felix Saiten Karl Kraus, einer der prominentesten Publizisten der Jahrhundertwende und scharfzüngiger Gegner vieler seiner >modernen< Altersgenossen, 1 mit diesen jedoch aus späterer Perspektive vereinigt zur Gruppe der hauptsächlichen Repräsentanten der sogenannten Wiener Moderne, hat sich im Zuge seiner Kulturkritik auch mit den beiden herausragenden Operettendarstellern der Zeit, mit Alexander Girardi und Louis Treumann, auseinandergesetzt. Konkrete Stationen in den Karrieren dieser Künstler waren für Kraus Anlaß, sich ihnen in längeren Artikeln in der Fackel zu widmen, in Artikeln, die Girardi und Treumann als Exponenten grundlegender kultureller Entwicklungen erscheinen lassen, die den Umgang des Wiener Publikums mit diesen Darstellern als Gradmesser für dessen Bewußtseinszustand begreifen und die in ihren Urteilen Kraus' Verhältnis zu den Realitäten des modernen Wien erhellen. Ihrer Subjektivität entkleidet, eröffnen Kraus' Kommentare einen Blick auf die historische Bedeutung Girardis und Treumanns als Antipoden, die im Wien der späten Kaiserzeit für das Gegeneinander und Miteinander von Residenzstadt und Metropole standen.2 Den Beitrag Girardi, erschienen in der Fackel-Ausgabe vom 12. März 1908, verfaßte Kraus anläßlich des bis dahin wohl für undenkbar gehaltenen Weggangs dieser Zentralfigur wienerischen Theaters nach Berlin, wo Girardi mit dem Thaliatheater einen längerfristigen Gastspielvertrag abschloß. Girardi, seit den 1870er Jahren beliebter Komiker der Vorstadtbühnen, seit den 1880er Jahren launisches Zentrum der Operettenproduktion, in den 1890er Jahren in 1
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Zu Kraus' Auseinandersetzung mit den >Modernen< im Umfeld seiner Satire Die demolirte Literatur vgl. u. a. Gilbert fJ-1 Carr, Zwischen Kaffeehaus, Gerichtssaal und Presse: Zur Entstehung und Rezeption von Karl Kraus' Die demolirte Literatur, in: Christian Glanz (Hrsg.), Wien 1897. Kulturgeschichtliches Profil eines Epochenjahres, Frankfurt a. M. 1999 (Musikleben. Studien zur Musikgeschichte Österreichs 8), S. 155-172. Im folgenden werden Zitate oder Paraphrasen aus den beiden betreffenden Artikeln jeweils mit Kürzel und Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen: Kraus, Girardi, in: Die Fackel 9 (1907/08), Nr. 246/247, S. 38-44 (als »Gir«); Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, in: Die Fackel 10 (1908/09), Nr. 271, S. 1-18 (als »KuB«), 159
schweren privaten, künstlerischen und physischen Krisen, 3 an die sich etwa ab 1902 wieder glänzende Operettenerfolge anschlossen, hatte sich nach eigenem Bekunden in der Zeit vor dem Wechsel nach Berlin in Wien nicht mehr ausreichend gewürdigt gefühlt. Von Berlin aus ließ er verlauten: »Ja, wer mir das vor zwei Jahren gesagt hätte, dem hätte ich ins Gesicht gelacht - am Ende, wenn man 36 Jahre, wie ich, in einer Stadt gelebt und gewirkt hat! Sie haben mich ja herausgeekelt aus Wien! Diese schauderhaften Theaterverhältnisse, diese schrecklichen Direktoren, der Umananda-Tratsch! Na, ich danke für das Vergnügen! Und auf einmal waren wir dort, daß ich kein mir zusagendes Engagement gefunden habe.«4 Zu Beginn der Spielzeit 1909/10 kehrte Girardi dann ebenso unvorhergesehen zu exorbitanten Bedingungen nach Wien (Raimundtheater unter der Direktion Karczag/Wallner) zurück. Anlaß für Kraus' Essay Grimassen über Kultur und Bühne in der Fakkel vom 19. Januar 1909 waren ein kritischer Artikel Uber Girardi und den »Wiener Komödiantenkultus« in einer Münchner Zeitung sowie eine die Wiener Theaterszene, ja die gesamte Wiener Gesellschaft erschütternde Affäre um den Operettenstar Louis Treumann, der aufgrund eines Kontraktbruchs verhaftet worden war; zugleich nutzte Kraus hier die Gelegenheit zu einer Abrechnung mit dem >Modernen< Felix Saiten, der 1906 in der Zeit (Wien) eine wahre Hymne auf Treumann angestimmt hatte.5 Treumann, eine Generation jünger als Girardi, hatte ab 1899 an den großen Wiener Vorstadtbuhnen einen nahezu kometenhaften Aufstieg erlebt und war zum Träger von Sensationserfolgen wie Franz Lehärs Der Rastelbinder und Die lustige Witwe, Leo Falls Die Dollarprinzessin und Derfidele Bauer geworden, bevor es 1908 zu Auseinandersetzungen mit dem BUhnenverlag Felix Bloch kam, der Treumann ein bereits abgeschlossenes Engagement mit dem neuen Johann-StraußTheater nicht zugestand und zu drastischen Rechtsmitteln griff. Die Reaktionen des Wiener Theaterpublikums und der Presse auf Girardis Wechsel nach Berlin und auf Treumanns Inhaftierung beschreibt Kraus in wirkungssicherer Zuspitzung als schweigende Teilnahmslosigkeit und lärmende Hysterie. Die Wiener Zeitungen hätten von der Girardi-Angelegenheit kaum Notiz genommen, die Wiener Öffentlichkeit sich geschmeichelt gefühlt, wie beliebt Wiener Spezialitäten - ob Kipfel oder Girardi (Gir, 40f.) - jetzt in Berlin seien, und aus der Perspektive des besagten Münchner Theaterkorrespondenten sei es gar ein Segen, daß Wien offenbar auch ohne Girardi auskäme (KuB, 17f.). Im Fall Treumanns hingegen wären »Bulletins über den Gesundheitszustand, über Lektüre, Wäschebeschaffung, Aufregungszustände 3
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Diese Krise wird dokumentiert durch eine umfangreiche Sammlung von Zeitungsartikeln in: Strauß (Sohn), Leben und Werk, Bd. 8 (1895-1897), Tutzing 2000, S. 461-493. Zit. n. Holzer, Die Wiener Vorstadtbühnen, S. 577. Felix Saiten, Die neue Operette, in: Die Zeit (Wien), 8. Dezember 1906, S. Iff.; Zitate oder Paraphrasen aus diesem Text werden im folgenden mit Kürzel (als »Sal«) und Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen.
des Häftlings« an der Tagesordnung gewesen, hätten sich Damen der Gesellschaft in Weinkrämpfen zwischen ihn und die »Schergen des Exekutionsgerichts« geworfen, wäre Protest von revolutionärem Ausmaß und Pathos laut geworden (KuB, 16f.). Welchen Rang nehmen in Kraus' Perspektive die beiden Operettendarsteller ein, deren so unterschiedliche Wahrnehmung in der Öffentlichkeit für ihn ein »Maß für den kulturellen Tiefstand der Gesellschaft« (KuB, 1) abgibt? Girardi, der Komiker, ist für ihn einer »der begabtesten Menschendarsteller, die je auf einer Wiener Bühne gestanden sind«, ein »Vollmensch« (im Gegenüber etwa zum »Siebenmonatsschauspieler Kainz«), »eine der liebenswertesten und seltensten Persönlichkeiten, die je die dramatische Gelegenheit zu schöpferischer Darstellung benützt haben« (Gir, 41f.). Mit seinem Verlust werde »der Wiener Kultur das Herz herausgeschnitten« (Gir, 39). Kraus identifiziert Girardi in solchem Maß mit (dem wehmütig als Ideal evozierten) Wien, daß er den Abgang Girardis weit über eine bloße »Theatersache« stellt: Dieser Abgang »bedeutet, daß Wien selbst nach Berlin gegangen ist« (Gir, 43). Treumann, gewesener Komiker und inzwischen I. Liebhaber mit enormer sinnlicher Ausstrahlung, erscheint bei Kraus als »tanzender Prokurist« (KuB, 4), »rasender Balladenschwengel« mit Psychologie (KuB, 6), »singender Kommis im Smoking« (KuB, 12) und »Bankbeamter, der tanzen kann« (KuB, 15). Kraus scheut nicht vor zahlreichen antisemitischen Invektiven zurück, um die »Katastrophen der Kultur« (KuB, 17) anzuprangern, als die er die ungeheure Popularität Treumanns wertet. Das Attribut »Menschendarsteller«, das er in bezug auf Girardi selbst benutzt, um die Wahrhaftigkeit von Girardis Kunst herauszustreichen, zerfetzt Kraus, wo es auf Treumann angewendet wird; so überschüttet er Felix Saiten, ohne dessen Namen zu nennen, mit Spott, indem er entsprechende Passagen aus dem Zei'r-Artikel verballhornt und Treumann höhnisch als »eigenwilligen Modernen« (KuB, 6) apostrophiert. Die Zustandsschilderung der »Wiener Kultur« setzt sich fort auf der Ebene der Repertoires, mit denen Girardi und Treumann in Kraus' Artikeln identifiziert werden. Im Fall von Treumann ist diese Identifikation eine eindeutige und vollkommene - auch hinsichtlich des damit verbundenen Urteils: Treumann steht in Kraus' Perspektive für die Salonoperette mit ihrer »modernen Librettoschmierage«, die sich durch »Impotenz« und »Kommishumor« auszeichne (Gir, 42f.), »auf der Höhe ihrer Verknödelung sich selbst des Operngestus bedient und einen Fünfkreuzertanz mit einem Posaunenfest der Instrumentation beschließt« (KuB, 13). Zielscheibe von Kraus' Kritik sind dabei vor allem die Librettisten Victor Leon und Julius Bauer sowie der Komponist Franz Lehär. Die Darstellung von »Menschenschicksalen« auf der Operettenbühne entspricht für Kraus »der Lebensauffassung einer Gesellschaft, die auf ihre alten Tage Vernunft bekommen hat und dadurch ihren Schwachsinn erst bloßstellte« (KuB, llf.). Auf der Seite Girardis ist die Zuordnung zu einem Stücktyp oder einem bestimmten Ausschnitt des Repertoires weit weniger klar; um so auffallender wird hier Kraus' Wertegefüge. Vier Gruppen von Bühnen161
werken lassen sich faktisch in Girardis Karriere abgrenzen: das Repertoire von Volksstücken des 19. Jahrhunderts (Raimund, Nestroy, Anzengruber), in denen Girardi über die Jahrzehnte hinweg immer wieder brillierte; die sogenannte klassische Wiener Operette des 19. Jahrhunderts (Strauß, Millöcker, Zeller), die Girardi auf den Höhepunkt seiner Popularität führte; die aktuelle Operette seit der Jahrhundertwende (Eysler, Lehär), in der er erneut vielbeachtete Charakterstudien lieferte; und die anspruchslose Posse für den Tagesbedarf, in der Girardi dann auch in Berlin zu sehen war. Kraus' Beurteilung dieser vier Bereiche folgt drei unterschiedlichen Mustern: Das Repertoire des 19. Jahrhunderts, das sich als >vormodern< deuten ließe, findet sowohl in der Interpretation durch Girardi als auch unabhängig von ihm Zustimmung und wird mit seiner »Fülle von Wohlklang, Grazie und Humor« (KuB, 7) in die Nähe des von Kraus über alles geschätzten Offenbach gerückt. Die schnell gezimmerte, anspruchslose Posse hingegen kann aus Kraus' Sicht die Kunst Girardis nicht beeinträchtigen: »Er läßt sich von einem beliebigen Sudler ein notdürftiges Szenarium liefern und in dieses legt er eine Geniefülle, deren Offenbarung erhebender ist als die Bühnenwirkung eines literarischen Kunstwerks« (Gir, 41). Die Tatsache aber, daß Girardi auch nach 1900, ebenso wie Treumann, äußerst erfolgreich in Operetten auftrat und mit dem Musikkorporal Ratz in Der Fremdenführer; den Titelpartien in Bruder Straubinger und Pufferl sowie dem Torelli in Künstlerblut einige seiner wichtigsten Partien kreierte, erwähnt Kraus bezeichnenderweise mit keinem Wort; damit trennt er Girardi und die geschmähte aktuelle Operette voneinander ab. (Nach dem Erscheinen von Kraus' Artikeln folgten ab 1909 weitere große Operettenrollen Girardis.) Kraus' Beschreibung von Girardis und Treumanns Repertoire liefert also ein verzerrtes Bild von deren Position im Wiener Unterhaltungstheater nach 1900. Unbestreitbar allerdings repräsentierten die beiden, der eine noch eher >Liebling< in der Diktion des mittleren 19. Jahrhunderts, der andere der moderneren Kategorie des >Stars< angehörend, kontrastierende Sphären der zeitgenössischen Operettenproduktion, in der volkstümliche Sentimentalität und mondäne Raffinesse unterschiedliche Publikumskreise ansprechen wollten. Verfolgt man Kraus' Argumentation - Treumann als Typus des »Vertreters« und »Verkäufers«, der nichts zu erzeugen vermag (KuB, 2f.), Girardi hingegen als »Echtheit« - weiter in Richtung seiner umfassenderen Perspektive, so wird, entsprechend den unter Kraus' Zeitgenossen verbreiteten Stereotypen, eine wertende Gegenüberstellung Berlins mit (einem vergangenen) Wien sichtbar, die Kraus jedoch zugleich zur Kritik an der eigenen Wiener Gegenwart nutzt. Berlin verkörpert für ihn eine parvenuhafte Weltanschauung der Markt- und Maschinengläubigkeit, über die er mit denselben Begriffen urteilt wie Uber Treumann - das Symbol für diese Stadt ohne Vergangenheit, die keine eigene Kultur entwickelt hat, sondern sich »Kultur« kaufen kann und muß, ist für Kraus folgerichtig das Warenhaus (nicht zufällig in jüdischem Besitz und mit einem Basar gleichgesetzt; Gir, 39). Aber auch 162
Wien zeigt sich dem Kritiker keineswegs länger als positiver Kontrast: Zwar waren hier einst Kultur und Traditionen zu finden, Echtheiten anstelle eines Surrogats (Gir, 40), doch Wien hat diese Werte (darunter Girardi) preisgegeben und verkauft, ohne zu ahnen, daß es sich dabei selbst verliert. Kraus' Urteil über diese Veränderung Wiens in Richtung des >BerlinerischenModerne< steht, fällt vernichtender aus als der Spott Uber Berlin selbst. Die Konfrontation Girardi/Treumann entspricht also nur oberflächlich betrachtet der Konfrontation Wien/Berlin; tatsächlich spielt Kraus hier ein imaginäres altes Wien gegen das neue, gegenwärtige, >moderne< Wien aus, das sich an Berlin, die Metropole schlechthin, angeglichen hat und in einem modernen Unterhaltungskünstler wie Treumann ein Ideal erblickt, während es den Verlust Girardis nicht als solchen zu empfinden vermag. Eines der eindringlichsten Bilder, die Kraus in seiner Klage über den von ihm beobachteten »Fäulnisprozeß« (Gir, 40) im Wiener Leben findet, ist die Gegenüberstellung des »lieben Menschen« (Alexander Girardi) mit dem »Grammophon«, das eine Stimme bloß reproduziert (Gir, 44), also letztlich von Natur und Technik. Die hierin implizierte Verweigerung der Realitäten der Gegenwart zugunsten der Mythisierung einer Vergangenheit, die weniger konkret vorzustellen ist denn als Stimmungsraum, führt Kraus von der Ebene des Individuums durch die der Kultur bis hin zu abstrakten Begriffen: Girardi ist für ihn ein »Götterliebling«, er ist verwurzelt im »Wiener Volkstum« und steht für das »Sein« - Treumann ist ein »Ghettoliebling«, verkörpert die »herrschende Engros-Kultur« und steht für »Repräsentation«, also für bloße Fassade, hinter der sich nichts verbirgt (KuB, 3). Girardi ist Teil einer Kultur, die in Kraus' Augen ihre Wirksamkeit vollständig verloren hat und in einem verschwommenen 19. Jahrhundert angesiedelt ist; es ist die Kultur der Residenzstadt, der zumal der Kreis derjenigen angehört, in deren unmittelbare Nachfolge Kraus Girardi stellt, nämlich Ferdinand Raimund und Johann Nestroy. Jene »Kultur« wurde durch die »Industrie« der Moderne abgelöst, exemplarisch verkörpert in Louis Treumann. Kraus' kategorischem Urteil - »Für Wien ist kein Platz mehr in Wien« (Gir, 43) - wäre jedoch entgegenzuhalten: Auf der Ebene der Mentalitäten existierte die Residenzstadt Wien auch um und nach 1900 sehr wohl weiter, und hier traf sich das Kulturideal einer Elite mit jener Sentimentalität des Wiener Kleinbürgers, die seit den 1890er Jahren von der Ideologie der christlich-sozialen Partei befördert und in volkstümlichen Operetten zu klingenden Bildern verdichtet wurde. 6 6
An dieser Stelle sei angemerkt, daß der Begriff des Bürgertums bzw. Kleinbürgertums und die mit ihm in Verbindung gebrachte Ideologie hier und im folgenden nicht im Sinn klar abgrenzbarer gesellschaftlicher Schichten aufgefaßt, sondern auf ein System von Werten bezogen werden, das seit dem 18. Jahrhundert als »bürgerliche« Lebensweise galt. Vgl. zusammenfassend zur Problematik der Terminologie Ruth-Ε. Mohrmann, Bürgertum und bürgerliche Kultur - Tendenzen und Phasen der Anpassung, in: Ton Dekker/Peter Höher/Paul Post/Hinrich Siuts (Hrsg.), 163
Kraus' Polemik changiert vielfach zwischen genereller Kritik an Erscheinungen der Industriegesellschaft - so entwirft er das Szenario des kleinen Schusters, der einst »ein persönliches Verhältnis zu seinen Stiefeln« hatte, während man inzwischen über »billigste Kunstbutter« verhandle, die »wahrscheinlich gar nicht erzeugt, sondern nur verkauft« würde (KuB, 2f.) - und expliziten Angriffen auf jenes veränderte Wien, das sich in seinen Augen vollständig dem System des »Weltwarenhauses« (KuB, 2) verschrieben hat. Versucht man von all diesen konkreten Vorwürfen zu abstrahieren und sich dem Kern von Kraus' Argumentation zu nähern, so erweist es sich, daß seine Hauptkritik dem Prozeß der Internationalisierung im Sinn eines Verlustes von lokal geprägter Echtheit und Erkennbarkeit gilt. Wenn er etwa gegen das moderne Nachtleben der Großstadt Wien zu Felde zieht, als dessen äußeres Kennzeichen man den Smoking beziehungsweise den Frack anführen könnte, wie sie gleichermaßen in Berlin, Paris oder London (und als Rollenkostüm Treumanns auf der Operettenbühne! 7 ) anzutreffen sind, so zielt Kraus damit auf eine Welt des Uncharakteristischen, der Austauschbarkeit, des Aufputzes, die keine »Ursprünglichkeit« (Gir, 43) mehr kennt. Die Verankerung dieser Position in Kategorien der Residenzstadtgesellschaft wird besonders augenfällig beim Vergleich mit der Analyse, die Saiten in der Zeit liefert. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß Saltens umfangreiches Feuilleton in zweierlei Hinsicht von einer anderen Perspektive ausgeht als Kraus' Polemiken: Franz Lehärs Lustige Witwe als Prototyp der »neuen Operette« und Treumann als deren Exponent sind für Saiten tatsächlich zentrales Thema und nicht in erster Linie Kristallisationspunkte für allgemeine Kommentare zur Kultur der Gegenwart; und seine Position ist dabei die des Beobachters, nicht die des Kritikers, sein Text beschränkt sich auf die Beschreibung von Sachverhalten und verzichtet weitestgehend auf Urteile oder gar Verurteilungen. Obwohl also gänzlich differierende Schreibabsichten zu beobachten sind, kann von Saltens und Kraus' Texten auf paradigmatische Einstellungen zum Wien der Moderne und damit zugleich auf die Struktur dieser komplexen kulturellen Formation geschlossen werden.
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Ausbreitung bürgerlicher Kultur in den Niederlanden und Nordwestdeutschland, Münster 1991 (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 74), S. 1-9. Ein Kuriosum ist in diesem Zusammenhang ein eigens den »Toiletten« gewidmeter Artikel anläßlich der Wiener Erstaufführung von Robert Stolz' Mädi im Oktober 1923; hier heißt es abschließend: »Als Arbiter elegantiarum fungierte aber an diesem Abend Herr Treumann (Graf Anatol), der von der Firma Eduard Kral u. Söhne (7. Bezirk, Breitegasse) geradezu mustergültig bekleidet war und nicht am wenigsten dadurch so zwingend auf >Mädi< und das Publikum >wirkteklassischen< Repertoires, vertreten hier durch Girardis Paraderolle, den Schweinezüchter Zsupän aus Johann Strauß' Zigeunerbaron. Das Vermögen zur Komik, wie es in Girardi noch lebt, deutet Kraus als entscheidendes Merkmal der Wiener Tradition, und ein vermeintlich absolutes Defizit solch komischen Potentials ist der Ansatzpunkt für Kraus' scharfe Kritik an Treumann und der modernen Operette. Kraus' zentraler Kategorie des Humors entspricht bei Saiten in gewisser Weise die Kategorie der »Empfindungen« beziehungsweise »Nerven«. In seiner Charakterisierung der modernen Operette und des »Künstlers von einer 165
neuen Art« Louis Treumann löst Saiten sich bewußt vom Konzept einer Traditionsbildung: Der Zeitton nur macht nach seiner Auffassung eine Kunst - auch die Unterhaltungskunst - gültig, und demzufolge kann Unterhaltungskunst ihre Gültigkeit und Bedeutung verlieren (Saiten spielt hier indirekt auf Offenbach an; Sal, 2). Saltens Begrifflichkeit entstammt den in den 1890er Jahren von Wiener Literaten formulierten Programmen zur Moderne, 8 die inzwischen längst zum modischen Gesellschaftsthema geworden war, und damit jener Sphäre, die Victor Leon im Libretto zur Lustigen Witwe evoziert: Der Ästhetizismus (unser Parfüm, Stilisierung, Grazie), das Interesse an der Psychoanalyse (das Psychologische, Suggestion), die Thematisierung von Sexualität (Ekstase, Begierde, Triebhaftigkeit, geschlechtliche Wollust), die neue Kunst (Variete, moderne Verse) sind, so weiß Saiten, die »modernen Strömungen [...] Aktualitäten [...] neuen Schlagworte« (Sal, 2), aus denen der herausragende Erfolg der Lustigen Witwe und die »Erneuerung des Genres« - also die Neuadaptierung der Operette für die Metropole Wien im frühen 20. Jahrhundert - erwachsen sind. Die Zugehörigkeit der Argumente Kraus' und Saltens zum Ideal der Residenzstadt einerseits und zu den Realitäten der modernen Metropole andererseits spricht sich zumal in der Verwendung des Begriffs »Echtheit« aus, der sowohl in Saltens Feuilleton als auch in Kraus' Artikel über Girardi eine prominente Rolle einnimmt. Bei Kraus ist »Echtheit« eine lokal gebundene Kategorie und meint »Wahrheit« im Sinn einer Verwurzelung in der noch ungebrochenen und ungekünstelten Wiener Tradition, meint »Ureigenstes« und »Ursprünglichkeit« als spezifische Qualität eines kulturellen Raumes. Bei Saiten ist »Echtheit« eine temporal gebundene Kategorie, meint das »Eigene« als »wirklichen Ausdruck einer wirklichen Lebendigkeit« des Heute, das sehr wohl in kurzer Zeit »spurlos wieder verschäumen« mag (Sal, 2). Saiten bescheinigt der Operette Lehärs und dem Darstellungsstil Treumanns ausdrücklich »Echtheit«, die Kraus ihnen abspricht - doch nicht die Echtheit des Raumes (Wien), sondern die Echtheit der Epoche. Lehärs Musik und Treumanns Sinnlichkeit sind gleichermaßen »mehr allgemein modern als wienerisch [...] mehr durch die Zeit als durch einen Ort zu bestimmen« (Sal, 2). Saiten legt seinen Beschreibungen also den Parameter >Zeit< (die >ModerneRaum< (die >Tradition WiensMikado< im Carl-Theater, in: Neue Freie Presse LWienJ, 3. September 1886) Da suchen sie sich erst irgendwo eine alte Geschichte heraus, in die sie die Günther und den Treumann hineinbringen können. (Die Wiener Operette. Ein abfälliges Urteil, in: Neues Wiener Journal, 3. Februar 1911)
Sowenig man sich Kraus' Urteile über die Wiener Unterhaltungskultur des frühen 20. Jahrhunderts auch zu eigen machen mag, so unbestreitbar sind die Sachverhalte, von denen seine Interpretationen ausgehen: Alexander Girardi war ein Künstler mit ausgeprägtem Lokalbezug, der in der Tradition der großen Wiener Komiker stand, Louis Treumann hingegen verkörperte den Prozeß der Internationalisierung im Unterhaltungstheater und führte neue, >moderne< Themen und einen bislang unbekannten Darstellungsstil in die Operette ein. Verbunden mit diesem Gegenüber von Lokalkomik und Modernisierung ist ein grundsätzlicher Wandel innerhalb der dramaturgischen Mechanismen des Wiener Unterhaltungstheaters und deren zentraler Kategorie, dem Rollenfach. Das Rollenfach als Strukturelement, das die Theaterpraxis über Jahrhunderte hinweg in entscheidender Weise geprägt hat, ist, zumindest was das europäische Theater betrifft, in jüngerer Zeit kein Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung gewesen.9 Dies mag nicht zuletzt darin begründet liegen, daß es für die Dramenproduktion - anders verhält es sich mit dem Bühnenvertragsrecht - seit nunmehr beinahe 150 Jahren kontinuierlich an Bedeutung verloren hat.10 Entsprechend befassen sich die beiden einschlä9
Als Sachverhalt benannt ist das theatralische Rollenfach in der chronologisch berichtenden, weitgehend auf eine Zitatcollage beschränkten Arbeit von Gerhard Ebert, Der Schauspieler. Geschichte eines Berufes. Ein Ahriß, Berlin 1991 (v. a. Kapitel 16). - Vielfältige Reflexionen zum Rollenfach aus filmwissenschaftlicher Perspektive bieten die Beiträge in dem von Thomas Koebner herausgegebenen Kongreßbericht Idole des deutschen Films. Eine Galerie von Schlüsselfiguren, München 1997. - Terminologisch abzugrenzen wäre das Rollenfach vom stärker in der wissenschaftlichen Diskussion verankerten Stimmfach der Oper, obwohl es im historischen Repertoire und im Bühnenalltag zahlreiche Überschneidungen der bezeichneten Sachverhalte gegeben hat und gibt; der häufig anzutreffende synonyme Gebrauch der Begriffe reflektiert in der Regel nicht auf die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit solcher Vermengung.
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Kritisch setzt sich der Artikel »Fach« in Blums, Herloßsohns und Marggraffs einschlägigem Theaterlexikon mit den durch die Rollenfachfixierung einzelner Darsteller entstehenden Problemen des Theateralltags im 19. Jahrhundert auseinander; L.S., Artikel »Fach«, in: Robert B l u m / K a r l Herloßsohn / Hermann Marggraff
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gigen Publikationen zu diesem Thema, erschienen in den Jahren 1913 und 1926 und bis heute in ihrer Materialanalyse nicht überholt, mit dem Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. bzw. des 19. Jahrhunderts: Bernhard Diebolds Berner Dissertation" vollzieht die Etablierung eines Rollenfachsystems innerhalb der noch weitgehend von Wandertruppen bestimmten Theaterszene des 18. Jahrhunderts nach und bildet die Grundlage für die Ausführungen Hans Doerrys, der in seiner Erlanger Dissertation 12 die Überwindung des Rollenfachs im Sinne einer künstlerischen Kategorie nicht zuletzt durch die Hinwendung zu Fragen der Regie im Laufe des 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten sucht. Diebold und Doerry legen für unterschiedliche historische Konstellationen die Wirkung des Rollenfachs und des Rollenfachsystems im Spannungsfeld von dramatischer Produktion, Spielplangestaltung und Besetzungspraxis dar. Die Anforderungsprofile einzelner Rollenfächer änderten sich mit den gewandelten Stoffgebieten der Stücke, die ihrerseits die Verankerung von Bühnenautoren im konkreten Theaterbetrieb war die Regel - über Jahrzehnte hin häufig als bloße szenische Umkleidungen der durch das Rollenfachsystem präsenten Figurenkonstellationen sich darstellten.13 Unter Heranziehung umfänglicher Quellen zeigen Diebold und Doerry auf, aus wie vielen und welchen Fächern sich das Ensemble im Schauspiel des 18. und 19. Jahrhunderts konstituierte. Doerry exemplifiziert schließlich die Modifikationen in der Gültigkeit des sogenannten »Normalpersonals« seit 1850 - Helden, I. jugendliche Helden und Liebhaber, Liebhaber, Liebhaber und Bonvivants, Charakterdarsteller, Charakterkomiker, jugendliche Komiker/schüchterne Liebhaber und Naturburschen, Heldenväter, bürgerliche Väter, männliche Chargen (und kleine Rollen), I. Heldinnen, sentimentale Liebhaberinnen, muntere Liebhaberinnen, Liebhaberinnen und Salondamen, komische Alte, naive Liebhaberinnen, Heldenmütter, bürgerliche Mütter, weibliche Chargen - anhand der Ensemblestrukturen in Königsberg 1850, in Leipzig 1864, in Augsburg 1876, in Danzig 1889, in Essen 1906 und in Kiel 1925.14
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(Hrsg.), Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde. Neue Ausgabe, Bd. 3, Altenburg/Leipzig 1846, S. 221-225. Bernhard Diebold, Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieh des 18. Jahrhunderts, Leipzig/Hamburg 1913 (Theatergeschichtliche Forschungen 25); Nachdruck: Nendeln 1978. Hans Doerry, Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts, Berlin 1926 (Schriften der Gesellschaft f ü r Theatergeschichte 35). Ausgehend von der Arbeit Diebolds skizziert Edward P. Harris das Verhältnis von Bühnenpraxis und literarischer Praxis am Beispiel von Gotthold Ephraim Lessings Umgang mit dem Rollenfachsystem: E.P.Harris, Lessing und das Rollenfachsystem. Überlegungen zur praktischen Charakterologie im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang F. Bender (Hrsg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen. Praxis. Autoren, Stuttgart 1992, S. 221-235. Vgl. die Graphik bei Doerry, Rollenfach, eingeheftet nach S. 120.
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Während die Argumente Diebolds und Doerrys für die von ihnen beschriebene Sparte, also das Schauspiel, kaum einer Relativierung bedürfen, wäre die Funktion des Rollenfachs für den weiten Bereich des musikalischen Unterhaltungstheaters, zu dem die vielgestaltigen populären Genres der Wiener, Pariser und Londoner Bühnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das Ballett zumal der romantischen und der folgenden klassischen Ära und die Operette gleichermaßen zu zählen sind, eigens zu definieren. Und auch die Entwicklungen, die nach Doerry das Zurücktreten der Rollenfachfixierung im späteren 19. Jahrhundert verursachten, nämlich die Etablierung der Regie und die Herausbildung eines Realismus in Stoff und Darstellungsstil des Schauspiels, wurden für das musikalische Unterhaltungstheater nicht relevant.15 Ist für ein Schauspielpersonal des 19. Jahrhunderts und damit für die dramaturgische Konzeption entsprechender neuer Werke von einem relativ komplizierten Zusammenspiel innerhalb einer Figurenkonstellation auszugehen, die sich aus dem beschriebenen Fächerkanon rekrutierte, so muß für das musikalische Unterhaltungstheater ein differierender Mechanismus der Produktion, Präsentation und Rezeption angenommen werden: Die spezifische Bedeutung des Rollenfachs als Kombination von Merkmalen, die innerhalb eines Bühnenwerks einer Figur eine eng umrissene Position zuweisen und zugleich auf Seiten des Akteurs bestimmte körperliche, vokale und darstellerische Fähigkeiten voraussetzen, ergibt sich hier aus der Zugehörigkeit zu einer von zwei oder mehreren stofflichen oder theatralen Sphären, deren Kontrastierung die Dramaturgien der genannten Genres ausmacht; diese kontrastierenden Sphären sind in Ballett, Posse mit Gesang oder Operette ihrerseits untrennbar an das Körpermaterial und die darstellerischen Mittel der jeweiligen Fächer und Fachinhaber gebunden. So konstituierte sich die Dramaturgie des romantischen oder klassischen Handlungsballetts in erster Linie aus der Konfrontation etwa der Sphäre des Irdischen mit dem Überirdischen, des Bäuerlichen mit dem Höfischen, des Exotischen mit dem Bürgerlichen, des Guten mit dem Bösen, des Märchenhaften mit dem Diesseitigen oder des Lyrisch-Zarten mit dem Derb-Komischen, wobei sich die verschiedenen Rollenfächer bzw. -fachgruppen, ausgehend von ihrem Bewegungsvokabular des Noblen, Demi-caractere oder Caractere, diesen Sphären klar zuordnen lassen. Das Wiener Volkstheater hingegen war seit dem 18. Jahrhundert gekennzeichnet durch die Zentral Stellung der Lustigen Person und wies dementsprechend häufig eine Aufspaltung der Bühnenaktion in eine Ebene der Handlung und eine von komischem Virtuosentum getragene Ebene der unmittelbaren Publikumsansprache auf. Die Wiener Tradition des Rollenfachs der Lustigen Person erweist sich dabei als Kette herausragender Dar15
Entsprechend kann Thomas Klein bei seinen Analysen des Darstellungsstils von Liesl Karlstadt und Adele Sandrock in Bühnensketchen und Unterhaltungsfilmen des frühen 20. Jahrhunderts weiterhin mit der Kategorie »Rollenfach« argumentieren; Th. Klein, Komödiantinnen im frühen 20. Jahrhundert: Liesl Karlstadt und Adele Sandrock, Alfeld 1999 (Aufsätze zu Film und Fernsehen 66). 169
steller, die bis ins 19. Jahrhundert hinein für eng umgrenzte Figurentypen standen und diese in der Regel von ihnen kreierten Typen in zahllosen Bühnenstücken verkörperten: Am Kärntnertortheater gaben vor dem HanswurstStreit und vor dem Erlaß der Schauspielfreiheit durch Joseph II. Joseph Anton Stranitzky und, im Anschluß an ihn, Gottfried Prehauser die stehende Figur des »Hanswurst«, Joseph Felix von Kurz den »Bernardon«, Friedrich Wilhelm Weiskern den »Odoardo« und Johann Christoph Gottlieb den »Jakerl« (später von Philipp Burghuber am Theater in der Leopoldstadt übernommen); am Theater in der Leopoldstadt etablierte Johann Joseph Laroche ab 1781 den »Kasperl«, in den 1790er Jahren dann Anton Hasenhut den »Thaddädl« (später von Anton Schmidt übernommen), während Emanuel Schikaneder im Freihaus auf der Wieden als »Anton« auftrat. Die populärste komische Figur des frühen 19. Jahrhunderts war der »Staberl«, zunächst repräsentiert durch Ignaz Schuster, darauf, in stark modifizierter Form, durch Karl Carl; Ferdinand Raimund war mehrfach als »Herr Adam Kratzerl, Hausinhaber« zu sehen.16 In den Jahren des Vormärz wurden die bedeutendsten Komiker nicht mehr mit immer wieder reproduzierten Typen verbunden, sondern mit spezifischen Einzelleistungen, die gleichwohl ebenfalls wenig individualisiert waren und sich zu einem eigenen, durch die Persönlichkeit des jeweiligen Darstellers bestimmten komischen Fach fügten: So prägte sich aufgrund der Charakteristik Wenzel Scholz' der Begriff der »Scholz-Rollen« aus,17 und Therese Krones wie Ferdinand Raimund schufen mit der szenischen Realisierung der ganz auf sie zugeschnittenen Partien der Jugend und des Fortunatus Wurzel in Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär, der Mariandl in Der Diamant des Geisterkönigs, des Rappelkopf in Der Alpenkönig und der Menschenfeind oder des Valentin in Der Verschwender Urbilder gebrochen-komischer wienerischer Charaktere, ja Wiener Allegorien (etwa Wurzel als »Aschenmann«).18 16
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Hinweise auf eine Fülle von Dokumenten und Quellen zu den Wiener Komikern des 18. und 19. Jahrhunderts enthält der Katalog zur Internationalen Ausstellung f ü r Musik- und Theaterwesen, die 1892 im Wiener Prater abgehalten wurde; Theatergeschichtliche Ausstellung der Stadt Wien. Ahtheilung für Drama und Theater, [WienJ 1892. Zu Raimund als Darsteller siehe auch Es ist ewig schad' um mich. Ferdinand Raimund und Wien, Katalog zur 208. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, LWien 1996J. Übersichten über die aktuelle Forschungsliteratur zu Raimund als Dramatiker und als Schauspieler bei: Jürgen Hein, Gefesselte Komik und entfesselte Lachlust. Ferdinand Raimund und Johann Nestroy, in: Ilija Dürh a m m e r / P i a Janke (Hrsg.), Raimund - Nestroy - Grillparzer. Witz und Lehensangst, Wien 2001, S. 31-48 (hier: Anm.4), sowie bei Günter Holtz, Ferdinand Raimund - der geliebte Hypochonder. Sein Lehen. Sein Werk, Frankfurt a. M. 2002. Vgl. Ludwig Eisenberg, Großes Biographisches Lexikon der Deutschen Bühne im XIX. Jahrhundert, Leipzig 1903, S. 911ff. Ausgehend von einer Reihe konkreter Bühnenwerke skizziert Alfred Ziltener Erscheinungsformen der Lustigen Person im Wiener Theater bis zur Generation Raimunds; A. Ziltener, Hanswursts lachende Erben. Zum Weiterleben der Lustigen Person im Wiener Vorstadt-Theater von La Roche bis Raimund, Bern 1989.
Die herausgehobene Stellung der Lustigen Person innerhalb der Dramaturgie des Unterhaltungstheaters blieb in Wien auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts bestehen, wobei sich das komische Fach nun - nicht zuletzt als Reaktion auf die gewandelte Stadt als gesellschaftlichem Bezugsrahmen - zunehmend ausdifferenzierte und sich zugleich durch die je spezifischen Gestaltungsmittel (Stimme, körperliche Konstitution, Bewegung) prominenter Darstellerpersönlichkeiten in relativ klar umrissene Subfächer aufspaltete. Die Partien, die bis in die 1860er Jahre von Johann Nestroy, Karl Treumann und Josefine Gallmeyer kreiert wurden, fügten sich zwar nicht mehr zu einem Typenfach wie dem »Kasperl« Laroches oder dem »Staberl« Schusters, sehr wohl aber zu einem Repertoire unverwechselbarer Gestalten, die sich als Personifikationen der besonderen Begabungen dieser Akteure im Sinn eines Image auffassen lassen. Im Fall der Gallmeyer etwa waren es drei hauptsächliche Mittel, die die Basis für Bühnenauftritte bildeten und denen die entsprechenden Autoren und Theaterdirektoren den wirkungsvollsten Rahmen zu bieten hatten: die Fähigkeit zu trefflicher Parodie in Stimme, Gestik, Körperbewegung und Kostümierung; der frech-frivole Coupletvortrag, der die Gallmeyer neben die berüchtigten Wiener Lokalsängerinnen wie Antonie Mansfeld oder Anna Ulke stellte; und die aufpeitschende Darbietung des Cancan, mit dem die Gallmeyer immer wieder Furore machte.19 Für Nestroy,2" Karl Treumann 21 und die Gallmeyer gilt gleichermaßen, daß sie ihr im Kontext des Volksstücks und der Posse ausgebildetes und auf Wien fokussiertes Rollen-Image ab den späten 1850er Jahren auch in die aus Paris importierten Operetten Offenbachs übertrugen. 22 Die Wiener Operettenproduktion der Folgezeit war insofern nach ähnlichen dramaturgischen Prinzipien wie das Volkstheater der ersten Jahrhundert19
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Für eine ausführliche Beschreibung der Rollengestaltung Josefine Gallmeyers vgl. Marion Linhardt, Inszenierung der Frau - Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900, Tutzing 1997 (Publikationen des Instituts f ü r österreichische Musikdokumentation 19), S. 67-107. Vgl. hierzu u. a. Nestroy. Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab, Katalog zur Ausstellung des Österreichischen Theatermuseums, Wien 2000. Zu Treumanns Darstellerkarriere vor seiner Hinwendung zur Operette vgl. Sigmfund] Schlesinger, Karl Treumann, in: Neues Wiener Tagblatt, 19. April 1877, S. lf. Als herausragende Partien seien hier nur genannt: Jupiter in Orpheus in der Unterwelt, Titelrolle in Tschin-Tschin, Pan in Daphnis und Chloe, Titelrolle in Häuptling Abendwind, oder: Das gräuliche Festmahl, Jungfer Barbara Kletzenstingl, Golatschenhändlerin, in Die Damen vom Stand (Nestroy); Pluto in Orpheus in der Unterwelt, Titelrolle in Meister Fortunio und sein Liebeslied, Anastasius Bummerl, Mehlspeismacher und Regimentstambour, in Die Damen vom Stand, Beaujolais in Tromb-Alcazar, oder Die dramatischen Verbrecher, Kümmelberger in Zwei arme Blinde (Treumann); Prinzessin Hollerblüh in Ritter Eisenfraß, der letzte der Paladine, Titelrolle in Die Kunstreiterin oder Ein weiblicher Haupttreffer, Handschuhmacherin Gabriele in Pariser Leben, Catharine in Toto, Seiltänzerin Regine in Die Prinzessin von Trapezunt (Gallmeyer). 171
hälfte geordnet, als einerseits das Image der führenden Akteure weiterhin den neu entstehenden, ja selbst den neu einstudierten Werken das entscheidende Gepräge gab und andererseits eine spezifische Schicht virtuoser, solistischer Selbstdarstellung von der Ebene der eigentlichen Handlung abgelöst war; auch die Operette war somit gewissermaßen ein Genre des DarstellerischSpielerischen, weniger des Textes.23 Die spezifische Struktur des Rollenfachsystems der Operette stand in Wien seit den 1870er Jahren in unmittelbarem Zusammenhang mit der Darstellerpersönlichkeit Alexander Girardis, ab 1900 dann mit derjenigen Louis Treumanns. »Girardi« und »Treumann« wurden zu eigenständigen Fächern, in die sich zahlreiche Kopisten innerhalb und außerhalb Wiens zu finden versuchten. Analysiert man die Mittel, aus denen Girardi das Rollenfach »Girardi« und Treumann das Rollenfach »Treumann« kreierte, so erweist sich, daß Girardi aus der Perspektive seiner Zeitgenossen an die das umgebende Ensemble beherrschenden Wiener Vorstadtkomiker seit dem späten 18. Jahrhundert anknüpfte und sich damit in die Fachgruppe der Lustigen Personen einreihte, 24 während Treumann, ebenfalls von komischen Partien ausgehend, mit dem Körpervokabular und der Empfindungskunst der modernen Großstadt ein neues Fach formulierte. Girardis Gestaltungsmittel war zunächst vor allem der Scherz im weitesten Sinn - in Coupletvortrag, Parodie, Kostümierung und Maske sowie Sprachbehandlung - , Treumanns Medium hingegen war der Tanz. Beide Formen leben vom Extempore und der Improvisation, erlauben also die Verselbständigung darstellerischer Glanzleistungen außerhalb von Handlungszusammenhängen. Im Hinblick auf Girardi stellt sich nun die Frage, auf welchem Weg dieser 1850 in Graz geborene Komiker, der in erster Linie das Genre Operette repräsentierte, in der Sicht des frühen 20. Jahrhunderts zum Volksschauspieler par excellence, zum einzig würdigen Nachfolger Ferdinand Raimunds 25 23 24
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Vgl. Hein, Wiener Volkstheater, Einleitung. Das Verständnis des 19. Jahrhunderts vom Rollenfach im Unterhaltungstheater verdeutlicht am Beispiel der weiblichen Lustigen Person, der Soubrette, Adolph Kohut in seiner teils anekdotischen, teils aber auch differenziert beschreibenden Sammlung Die größten und berühmtesten deutschen Soubretten des neunzehnten Jahrhunderts, Düsseldorf [1890J. Diese Deutung setzte bereits um 1900 ein und n a h m um so spekulativere Formen an, j e weiter die betreffenden Interpreten von Girardis erfolgreichsten Bühnenjahren entfernt waren. Herbert Ihering gelingt es in seinem Girardi-Porträt aus der Zeit des Dritten Reiches, den Operettendarsteller Girardi vollständig zu negieren und Girardi zu einer Art Reinkarnation Raimunds und zum Sinnbild des >alten Österreich< zu stilisieren. Ihering schließt seine Betrachtungen, die da, wo sie ansatzweise auf die tatsächliche darstellerische Technik Girardis eingehen, in eklatantem Widerspruch zu den Beschreibungen von Girardis Zeitgenossen stehen, mit dem apotheotischen Urteil: »Am Ü b e r m a ß der Illusion und am Übermaß der Ironie ging das alte Österreich zugrunde. In Girardi lebte noch der alte Glaube. In ihm sammelte sich die bejahende Kraft, die der Zersetzung ebenso in Gefühlsseligkeit wie in nihilistischer Witzelei sich entgegenstellte. In ihm lebte die Phantasie, die pappene Wolken zum seligen Paradiese und gemalte Putten zu schwebenden Genien
und zum herausragenden Symbol jenes >Wienerischen< werden konnte,26 das man in den letzten Jahrzehnten der Monarchie wehmütig als längst verloren ansah. Überblickt man den Verlauf von Girardis Karriere zunächst bis in die 1890er Jahre vor dem Hintergrund der strukturellen Veränderungen in Repertoire und Präsentation des musikalischen Unterhaltungstheaters, so zeigt sich, daß seine Etablierung als »enfant cheri von ganz Wien«27 mit dem Zurücktreten der französischen Produktion auf den Wiener Operettenbühnen und einer deutlichen Zunahme von Premieren österreichischer Operetten zusammenfiel. Stark vereinfacht läßt sich für diese (äußerst heterogene) österreichische Produktion im Gegenüber zur Pariser Operette Offenbachscher Prägung konstatieren, daß sie in ihrer musikdramatischen Anlage dem Mittel der Karikatur wesentlich geringeren Raum gab und von der Fokussierung auf stimmtechnisch anspruchsvolle, in der Darstellung auf körperliche Reize zielende Frauenpartien weitgehend abrückte. Statt dessen wurde die seit dem 18. Jahrhundert im Wiener Unterhaltungstheater greifbare Sonderstellung der Lustigen Person neuerlich wirksam, jener Gestalt, die ihrer dramaturgischen Funktion nach das Scharnier zwischen Bühnengeschehen und Publikum, zwischen märchenhafter beziehungsweise historisierender Handlung und wienerischer Gegenwart bildete. Zum Inbegriff dieser Lustigen Person wurde nun Girardi. Seine komische Begabung prägte während seiner ersten, mehr als 20 Jahre andauernden Zugehörigkeit zum Theater an der Wien (1874-96) die gesamte Produktion, wie die Entstehung der Operetten Strauß' beispielhaft belegt.28 Als Wende von den französischen oder französisch inspirierten Operetten >ä la grande dame< hin zu den Wiener >Komiker-Operetten< läßt sich die Premiere von Strauß' musikalisch wie szenisch das Wiener Kolorit betonendem Cagliostro in Wien im Februar 1875 deuten. Marie Geistinger, die das Theater an der Wien zehn Jahre lang als Darstellerin und sechs Jahre lang auch als Direktrice beherrscht hatte und die Trägerin der dominierenden Frauenpartien beziehungsweise Hosenrollen in Die schöne Helena, Coscoletto, Die Schäfer, Blaubart, Die Großherzogin
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machte. Vom Himmel der Soffitten kamen die guten Geister Wiens hernieder und gössen ihr Füllhorn über ihn aus. Aus den Kulissengassen schritten Rappelkopf und Wurzel und Valentin auf ihn zu und wurden eins mit ihm.« H. Ihering, Alexander Girardi, in: ders., Von Josef Kainz bis Paula Wessely. Schauspieler von gestern und heute, Heidelberg/Berlin/Leipzig 1942, S. 51-56, hier S.56. - Ausführlich zu diesem Themenkomplex: Marion Linhardt, Ein >neuer< Raimund?! Alexander Girardis Rolle für die Alt-Wien-Rezeption um 1900, erscheint in: Nestroyana 26 (2006), Heft 3/4. Einen Höhepunkt der Mythisierung Girardis im Hinblick auf die Wiener >Volkskultur< stellt das Kapitel »Girardi als Erscheinung« bei Holzer (Die Wiener Vorstadtbühnen) dar. Illustrirtes Wiener Extrablatt, 22. September 1878, anläßlich von Girardis erstem Auftreten als Frosch in Strauß' Fledermaus. Zahlreiche Dokumente hierzu finden sich in der von Franz Mailer besorgten JohannStrauß-Briefausgabe. 173
von Gerolstein, Genoveva von Brabant, Perichole, Die Banditen, Indigo und die vierzig Räuber, Fantasie, Die Theaterprinzessin, Karneval in Rom, Die Fledermaus und Madame Herzog gewesen war, hatte in der Lorenza Feliciani, der Geliebten des Titelhelden, eine von der Kritik übereinstimmend als undankbar charakterisierte Rolle, während Girardi, erst seit einem Jahr als »I. jugendlicher und Gesangskomiker« engagiert, mit der Charge des schlauen Dieners Blasoni Aufsehen erregte (vor allem im Walzerduett Nr. 13 mit der Witwe Frau von Adami), obwohl er hier noch ohne Solonummer blieb. Marie Geistinger zog sich bald darauf von der Direktion und aus dem festen Operettenengagement zurück, Girardi hingegen erarbeitete, zunächst neben und in Konkurrenz zum Charakterkomiker Felix Schweighofer, in einer breiten Palette von Verwandlungen der traditionellen Wiener Lustigen Person eine zeitgemäße, auf die Erfordernisse des Genres Operette abgestimmte Ausprägung.29 Die Partien Girardis zwischen 1875 und 1885 entstammen überwiegend drei Kategorien, nämlich dem Dienerfach, dem Naturburschenfach und dem Fach des komischen Höflings; sie verschmolzen in der spezifischen Interpretation Girardis allmählich zu einem eigenen Typus »Girardi«, der gewissermaßen als strukturelles Pendant zu den Hanswurst- und Kasperl-Figuren des 18. Jahrhunderts aufzufassen ist. Lauteten die Theaterankündigungen seinerzeit »Hans-Wurst, der muntere Gärtner«, »Hans-Wurst, der reiche Bauer«, »Kasperl, der lustige Hausknecht«, »Kasperl als reisender Schuster und erzwungener Räuber«, »Kasperl der alte Lehrbub« oder »Kasperl der Fagottist«3", so zeigte die Operette nun »Girardi als Zeremonienmeister« (Richard Genee, Der Seekadet, 1876), »Girardi als dalkater Bua« (Carl Millöcker, Das verwunschene Schloß, 1878), »Girardi als Gefängnisdiener« (Johann Strauß, Die Fledermaus, Reprise 1878), »Girardi als Marchese« (Strauß, Der lustige Krieg, 1881), »Girardi als herzoglicher Leibbarbier« (Strauß, Eine Nacht in Venedig, 1883), »Girardi als Schmugglerwirt« (Millöcker, Gasparone, 1884) oder »Girardi als Gemeindediener« (Millöcker, Der Feldprediger, 1884). Doch erst um die Mitte der 1880er Jahre zeichnete sich die Etablierung jenes aus Darstellerpersönlichkeit und Rollenprofilen amalgamierten Images ab, das Girardi zu einem unverzichtbaren Element des >guten alten Wien< machte, ihn nach 1900 - als Antipode des >Modernen< Louis Treumann - zum Sinn29
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Die vier Beiträge, die sich im Salzburger Kongreßbericht Die lustige Person auf der Bühne mit der Operette beschäftigen, liefern keine grundlegenden Informationen zum Thema. So beschränkt sich etwa Christian Glanz in seinem Aufsatz, anders als dessen allgemein formulierter Titel vermuten läßt, auf die sehr schmale Fragestellung, inwieweit der »lustige Balkanese« in der Operette tatsächlich als »lustig« aufzufassen sei, und schließt damit vor allem an die Thesen seiner Dissertation an; Ch. Glanz, Zur Typologie der komischen Figur in der Wiener Operette, in: Peter Csobädi/Gernot Gruber/Jürgen Kühnel/Ulrich Müller/Oswald Panagl/Franz Viktor Spechtler (Hrsg.), Die lustige Person auf der Bühne. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions 1993, Amt/Salzburg 1994, Bd. 2, S. 787-796. Vgl. hierzu Theatergeschichtliche Ausstellung der Stadt Wien.
bild der vergangenen Residenzstadt werden ließ und das später, unter gewandelten Vorzeichen, seine Fortführung in den Filmgrößen Hans Moser, Paul Hörbiger31 und Willi Forst fand. Dreierlei dürfte für Girardis Stilisierung zur Ikone der Wiener Lokalkunst ausschlaggebend gewesen sein: Zum einen erarbeitete er sich nun neben der Operette nach und nach jene Rollen, die Ferdinand Raimund sich selbst in seine Stücke hineingeschrieben hatte - er begann also, zum Repräsentanten jenes alten Repertoires zu werden, dessen >Verdrängung< durch die Operette man allenthalben beklagte. 32 Zum zweiten führte Girardi - wie 50 Jahre zuvor Raimund, nun aber bezogen auf die Operetten zumal Strauß', Millöckers und Zellers, auf die er entscheidenden Einfluß nahm - die Lustige Person aus der Position der Charge heraus und gewann ihr größere Bedeutung für die Gesamtdramaturgie sowie auffallende Komplexität in der Charakte31
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Hörbiger verkörperte in Willi Forsts Film Operette (1940) dann tatsächlich Girardi. Als herausragendes Datum f ü r die Wiener Raimund-Rezeption und f ü r das Image Girardis muß dessen erstes Auftreten als Valentin in Der Verschwender gelten, das, organisiert vom Wiener Journalisten- und Schriftsteller-Verein »Concordia« zum 50jährigen Jubiläum der Versc/roenifer-Uraufführung, am 30. April 1884 im Theater an der Wien stattfand. Zu dieser Vorstellung schrieb das Fremdenblatt: »Ein Hauptinteresse der ganzen Vorstellung galt selbstverständlich dem Debut des Herrn Girardi als Valentin, dessen Erfolg die besten Erwartungen noch übertraf; hatte der Künstler in den beiden ersten Akten mit seinem Humor, seiner natürlichen Laune leicht gewonnenes Spiel, so wuchs im dritten Akte seine Darstellung zu bedeutender Kraft empor. Girardi bewährte sich als echter und rechter Volksschauspieler, der auch dem Ernst zu seinem vollen Recht verhelfen kann, und gestern f ü r den treuen Diener Valentin Töne fand, welche das Gemüth bewegen mußten und wahrhaft ergreifend wirkten.« (Fremdenblatt LWienJ, l . M a i 1884, S.5f., hier S. 6) Sigmund Schlesinger lobte im Neuen Wiener Tagblatt: »Mit glänzenden Bekannten zog über die Vorstellung ein neuer Glanz durch eine neue Talent-Offenbarung a u f Girardi spielte zum ersten Male den Valentin, und was sein Rip-Rip schon hatte ahnen lassen, das trat nun als erfreulichste Thatsache hervor, ein echtester Darsteller des Volksgemüthes ist da erstanden. Ich nehme keinen Anstand, es geradehin zu sagen, daß, was Herzenseinfachheit und Herzensinnigkeit betrifft, Girardi den berühmten Valentin Karl Rott's übertrifft. Die Wirkung in der Erkennungsszene des dritten Aktes war denn auch eine tiefergreifende und sich stürmisch äußernde, und sie blieb, so wie die Leistung selbst, auf gleicher Höhe bis zum Schlüsse. Das Hobellied besonders wurde ganz mit der rührenden Schlichtkeit des Charakters und mit allem Reiz dieser >Tischler-Philosophie< vorgetragen; eine angefügte Huldigungsstrophe f ü r Raimund erregte natürlich Enthusiasmus. Es war der stolzeste Erfolg, den Girardi in Wien bis jetzt erreicht hat.« (S. S., Die Verschwender-Vorstellung im Theater an der Wien, in: Neues Wiener Tagblatt, 1. Mai 1884) - In den Kontext der Volkstheater-Rezeption gehören neben den Raimund-Partien auch Girardis Auftritte als Adam Muff in Franz Xaver Tolds romantisch-komischem Zauberspiel Der Zauberschleier von 1842 (1876), als Zwirn in Johann Nestroys Zauberposse Der böse Geist Lumpazivagabundus oder Das liederliche Kleeblatt von 1833 (1876), als Christopherl in Nestroys Posse Einen Jux will er sich machen von 1842 (1879) und als Willibald in Nestroys Einakter Die schlimmen Buben in der Schule von 1847 (1883). 175
risierung; mit der immer häufiger auf Girardi angewandten Bezeichnung des »Charakterspielers« wurde nicht mehr auf das im Normalpersonal verankerte entsprechende Rollenfach, sondern auf das Verlassen des Rollenfachsystems hingewiesen. Und schließlich eroberte Girardi sich ein äußerst populäres Terrain, in dessen Nähe ihn bereits sein Couplet- und Liedvortrag in der Operette geführt hatte: Mit der Präsentation des von Gustav Pick komponierten Fiakerlieds im Rahmen von Feierlichkeiten für die Wiener Rettungsgesellschaft am 24. Mai 1885 in der Rotunde im Prater Schloß Girardi an die große Tradition der Wiener Volkssänger an und setzte zugleich dem Alt-Wiener Stand der Fiaker ein bleibendes Denkmal, dessen ideelle Bedeutung zunahm, je mehr die Pferdekutscher gegen Ende des Jahrhunderts von modernen, technisierten Transportmitteln in ihrer Existenz bedroht wurden. Der Vorbericht des Neuen Wiener Tagblatts über die mit enormem Aufwand arrangierte Wohltätigkeitsveranstaltung widmete die ersten Sätze nicht der im Zentrum des zweitägigen Festes stehenden Hilfsorganisation, sondern Girardi: Girardi als höchster Fiaker, das ist das Ereignis des Tages, des heutigen. Er singt zum Besten der >Rettungsgesellschaft< und ganz Wien wird ihn hören wollen. Der Fiaker ist eine populäre Figur Wiens, und wenn ihm auch neuestens Gegner erstehen, wo man sie am wenigsten vermuthete, hat er doch noch der Freunde genug, die er sich durch Gemüthlichkeit und Witz wohl zu erhalten weiß. Und nun Girardi als Darsteller eines typischen Fiakers! Es war eine glänzende Idee der Arrangeure des Rotundenpfingstfestes, Girardi zu gewinnen, der j a bekanntlich überall dabei ist, wo es heißt, ein gutes Herz zu erweisen. 33
Auch das Fremdenblatt rückte in seinem ausführlichen Protokoll der Festlichkeiten den Auftritt Girardis in den Mittelpunkt: Die great attraction des ersten Tages bildete, wie nicht anders zu erwarten stand, die >Girardi-VorstellungFiakerlied< vorzutragen. Die bloße Ankündigung hatte einen förmlichen Sturm um die Spezialbillets zu dieser Vorstellung hervorgerufen, und f ü r schweres Geld war am Sonntag selbst kein solches Billet mehr zu haben. Wenn es möglich gewesen wäre, daß Girardi sich inmitten der Rotunde produzirt hätte, würden sicherlich Tausende gerne d a f ü r das separate Entree bezahlt haben. Bei dem beschränkten Fassungsraume des Transeptes aber, in welchem Girardi sang, mußten Hunderte und aber Hunderte unverrichteter Dinge abziehen. Um 1/2 3 Uhr Nachmittags begann die >Girardi-VorstellungVolksschauspielerVolksschauspielersbetroffen< gemacht und erfährt Befreiung in der neuen Konstellation komischer und ernster Elemente.«44 Ausgehend von der Wiener Tradition der Lustigen Person, kreierte Girardi ein zwischen Lachen und Weinen, Komik und Ernst changierendes Fach für die Wiener Operette des frühen 20. Jahrhunderts, dessen Identifikationspotential im Element der Rührung lag. In den Jahren, in denen Alexander Girardi außerhalb der Wiener Operettentheaterszene stand, etablierte sich hier ein neuer Komiker: Louis Treumann, der 1872 als Alois Pollitzer 45 in Wien geboren wurde und die typische Provinzlaufbahn absolvierte,46 bevor ihn Franz Jauner für die Spielzeit 1899/1900 ans Carltheater verpflichtete. Über seinem späteren und dominierenden Image des Liebhabers und verführerischen Charmeurs ist weitgehend in Vergessenheit geraten, daß Treumann am Anfang seiner Karriere wie Girardi der Fachgruppe der Lustigen Personen angehörte.47 Versucht man, die Stufen jener Veränderung zu umreißen, die Treumann schließlich als Gegenbild Girardis erscheinen ließ, so stößt man zunächst auf eine Neuformulierung des komischen Faches: Durch seinen spezifischen Darstellungsstil kreierte Treumann einen Rollentyp, der als »grotesker Gesangskomiker mit Schwerpunkt Tanz« zu klassifizieren wäre. Ein zweiter Schritt führte Treumann dann aus dem komischen Fach heraus: In dem für die Wiener Operette neuen Fach des sinn44 45
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Hein, Gefesselte Komik, S. 35. Was die Lebensdaten und den Geburtsnamen Treumanns betrifft, finden sich in der Literatur unterschiedlichste Angaben; die von mir angeführten Daten stammen aus den offiziellen, quasi standesamtlichen Unterlagen, die im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinschaft in Wien aufbewahrt werden. Treumann wurde am 3. März 1872 geboren und heiratete am 24. Februar 1901 die Tänzerin Stephanie Fanta (geb. am 1. November 1881); am 24. März 1902 wurde die gemeinsame Tochter Lola geboren. Am 29. Februar 1936 trat Treumann aus der jüdischen Gemeinde aus. Am 28. Juli 1942 wurden Treumann und seine Frau nach Theresienstadt deportiert; Stephanie Treumann starb am 18. September 1942, Louis Treumann am 5. März 1943. Vom Interimstheater Laibach (Spielzeit 1889/90) gelangte er über das CarlSchultze-Theater Hamburg (1890/91), das Tivoli-Theater Bernburg (Sommer 1891), das Stadttheater Freiberg in Sachsen (1891-93; I. jugendlicher Komiker und Tenorbuffo), das Aktientheater Heilbronn (1893-95; Tenorbuffo, jugendliche komische Rollen), das Deutsche Theater Pilsen (1895/96; I.jugendlicher Gesangskomiker) und das Stadttheater Salzburg (1896/97; jugendlicher Gesangskomiker) schließlich an die Vereinigten Städtischen Theater Graz (1897-99). Bereits zu Beginn seines Wiener Engagements, aber auch noch in späteren Jahren übernahm Treumann mehrfach Rollen, die Girardi entweder vor i h m verkörpert hatte oder die ursprünglich f ü r Girardi vorgesehen waren. Genannt seien hier nur: Menelaus in Die schöne Helena 1899 und 1911 (Girardi: ab 1875), Theaterfriseur Peregrin Schmalzl in Heißes Blut 1900 (Girardi: 1892), Damenschneider Agathon in Der Damenschneider 1901 (in der Erstfassung des Stückes als Nordlicht 1896 f ü r Girardi vorgesehen), Jonathan Tripp in Der arme Jonathan 1909 (Girardi: 1890-95), Celestin in Mam'zelle Nitouche 1913/14 (Girardi: 1890-1910), Carillon in Der Hofnarr 1920 (Girardi: 1886). 183
liehen Liebhabers fand Treumann zu seinem bleibenden Image. Die Verschiebungen, die sich in Treumanns darstellerischem Profil beobachten lassen, sind untrennbar verbunden mit grundlegenden Verschiebungen in den dramaturgischen Modellen der Wiener Operette hin zur internationalisierten Gesellschaftsoperette des 20. Jahrhunderts. Durch Treumann fand, so wäre als These zu formulieren, die Moderne Eingang in die Operettendramaturgie, während die lokal geprägte Tradition des Kasperl oder Wurstel an Bedeutung verlor.48 Treumanns Aufstieg am Carltheater vollzog sich rasend schnell. Beginnend mit komischen Chargen - Kammerdiener Josef in Wiener Blut, Izzet Pascha in Fatinitza, Teehausbesitzer Wun-Hi in Die Geisha, später auch Oberkellner Philipp in Der Opernball und Graf von Geiersburg in Das verwunschene Schloß - , spielte Teumann sich durch seine ins Akrobatische reichende Tanzkunst und sein Gespür für groteske Wirkungen in kürzester Zeit in die erste Reihe des Ensembles. Er entwickelte unterschiedlichste komi48
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Vergegenwärtigt man sich, in welchem Ausmaß Treumann über Jahre hinweg die Wiener und damit zugleich die internationale Operettenszene beherrschte, welche Dimensionen einerseits der Kult um seine Person, andererseits die von ihm ausgelösten Kontroversen erreichten, und berücksichtigt man weiterhin, daß zahlreiche von ihm mitkreierte Werke auch längerfristig das Operettenrepertoire anführten, so erstaunt das äußerst geringe Interesse, das diesem Darsteller in den einschlägigen Publikationen zur Operettengeschichte entgegengebracht wurde. Anders als Marie Geistinger, Josefine Gallmeyer oder Alexander Girardi fand Treumann bislang keinen Biographen, lediglich wenige Lexikonartikel liefern spärliche und häufig fehlerhafte Daten zu seiner Karriere. Opfer der nationalsozialistischen Auslöschungspolitik, blieb der im KZ Theresienstadt umgekommene Treumann quasi auf Dauer verschwunden, während der Wiener Operette und ihren hauptsächlichen Protagonisten gerade im Dritten Reich und in den darauffolgenden Jahren publizistische Denkmäler gesetzt wurden: Es erschienen die Monographien von Anna Charlotte Wutzky über Girardi (Girardi, Wien 1943), von Emil Pirchan über die Geistinger (Marie Geistinger. Die Königin der Operette, Wien 1947), von Blanka Glossy und Gisela Berger über die Gallmeyer {Josefine Gallmeyer. Wiens größte Volksschauspielerin, Wien o. J.) und von Erich Schenk über Johann Strauß (Johann Strauß, Potsdam 1940) sowie die Wiener Operettengeschichte von Franz Hadamowsky und Heinz Otte (Wien 1947); als Dissertationen entstanden an der Universität Wien weiterhin die Arbeiten von Erika Döbler über die Gallmeyer (Josefine Gallmeyer. Der Ausklang des Wiener Volksstücks, 1935), von Hella Klang über Girardi (Alexander Girardis Leben und Bühnentätigkeit, 1937) und von Julius Kromer über Franz von Suppe (Franz von Suppe, 1941). Die Operette wurde hier zum Emblem deutscher beziehungsweise österreichischer volkstümlicher Kultur. - Beiläufige Erwähnung findet Treumann in einigen Publikationen aus den letzten Jahren, die sich in sehr populärem Stil mit der Vertreibung und Ermordung jüdischer Vertreter der Operettenszene während des Dritten Reiches befassen; zu nennen sind hier vor allem: Robert Dachs, Sag beim Abschied ..., Wien 1994, und Günther Schwarberg, Dein ist mein ganzes Herz. Die Geschichte von Fritz Löhner-Beda, der die schönsten Lieder der Welt schrieb, und warum Hitler ihn ermorden ließ, Göttingen 2000. Problematisch erweist es sich bei diesen Publikationen, daß die betreffenden jüdischen Komponisten, Librettisten und Darsteller retrospektiv nur als Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns, kaum aber in ihrer ursprünglichen künstlerischen Individualität gezeigt werden.
sehe Partien zu Aneinanderreihungen aufsehenerregender Tanzeinlagen im Stil von Varietenummern und erschloß der Operette damit gewissermaßen das zeitgenössische Variete- und Kabarettvokabular. Insofern Treumann über seinen tanzenden Körper die Ästhetik des Varietes in die Operette hineintrug, prägte er ihr ein Stück Moderne auf, war doch das Variete in den Augen der Zeitgenossen zum Inbegriff der Moderne und als Schaukunst und Kunst der Fragmentierung zum Abbild der Metropolisierung mit ihren veränderten Wahrnehmungsmodellen geworden.49 An den Wiener Varietes - in den 1890er Jahren nahm das Ronacher hier zweifellos die führende Position ein - wurde vor der Jahrhundertwende die Tendenz zur Internationalisierung immer programmwirksamer, wobei man, ebenso wie in den Pariser, Londoner und New Yorker Music Halls, dem Tanz ein besonderes Interesse entgegenbrachte. In dieser Zeit wuchs den Varietes der mitteleuropäischen Großstädte, die verschiedenartigste, auf den ersten Blick sogar kontrastierende Formen der Körperinszenierung vorstellten, die entscheidende Scharnierfunktion zwischen dem kodifizierten und in den Opernhäusern verankerten Ballett des 19. Jahrhunderts und dem Freien bzw. Ausdruckstanz des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts zu.50 Hier waren 49
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Einschlägig sind die Kommentare Peter Altenbergs und Otto Julius Bierbaums zum Variete. Bierbaum schrieb 1900 (»im Saharetmonat: September«) als Einleitung zu den Deutschen Chansons: »Man kann Einrichtungen, die, wie das Varietetheater, offenbaren Bedürfnissen des modernen Menschen gerecht werden, nicht ohne weiteres wegdecretieren. Sie sind die Erzeugnisse unserer allgemeinen Zustände, Aeußerungen unserer Kultur, wie etwa unsere elektrischen Straßenbahnen; es würde uns jetzt etwas fehlen, wenn wir sie auf einmal nicht mehr hätten. Der heutige Stadtmensch hat, wenn Sie Gütige mir das gewagte Wort erlauben, Varietenerven; er hat nur noch selten die Fähigkeit, großen dramatischen Zusammenhängen zu folgen, sein Empfindungsleben f ü r drei Theaterstunden auf einen Ton zu stimmen; er will Abwechslung, - Variete.« O. J. Bierbaum, Ein Brief an eine Dame anstatt einer Vorrede, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Chansons (Brettl-Lieder), Berlin/Leipzig 1901, S. V-XVI, hier S. XIf. Altenbergs wichtigste Texte zum Thema sind versammelt in: Altenberg, Wiener Nachtlehen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Besprechung im Neuen Wiener Tagblatt anläßlich der Neueinstudierung der Strauß-Operette Das Spitzentuch der Königin im Dezember 1901 im Theater an der Wien. Julie Kopacsi-Karczag gab die Partie des Königs, und eingelegt in das nunmehr als »große Ausstattungsoperette« angekündigte Stück war ein Auftritt der Varietetänzerin Saharet, der Hermann Bahr in seiner Besprechung zentrale Kriterien des Ausdruckstanzes zuordnet. »Es gibt Leute, die vor der Saharet fast erschauern. Die Leidenschaft, ja Wuth ihrer frenetischen Tänze ist ihnen so fremd, daß sie sie sich gar nicht erklären können. Dies sei nicht mehr Kunst, behaupten sie, es sei barbarisch, beinahe thierisch. Die Künstler aber, Maler oder Dichter, finden, daß sie heute die Einzige ist, die wirklich tanzt, während Einem die Anderen eigentlich nur etwas vorturnen. Als Otto Julius Bierbaum sein berühmtes Manifest über die >deutschen Chansons< erließ, mit dem die hoch gepriesene, viel gescholtene Ueberbrettelei begann, datirte er es: >München im Saharetmonatdas Schrille 185
die in der Tradition der Tableaux vivants stehenden Poses plastiques von Rita Sacchetto und die Nacktplastiken von Olga Desmond neben der vor allem von John Tiller in England perfektionierten Form des Precision Dancing mit den militärisch gedrillten Girlreihen zu sehen,51 trafen die teils durch Weltausstellungen und Völkerschauen inspirierten Ethnotänze Ruth St. Denis' oder Sent M'Ahesas auf die Hypnosetänze der Traumtänzerin Madeleine G. und die Tanzdichtungen Grete Wiesenthals, fand sich die aus der klassischen Sankt Petersburger Schule stammende Tamara Karsawina, Ballerina bei Sergei Diaghilews Ballets Russes, neben der innovativen Technik der Amerikanerin Loi'e Fuller, deren Stoff-, Licht- und Farbkompositionen ihren Ursprung in den von John D'Auban beförderten, über Jahrzehnte äußerst populären Skirt Dances hatten. Im Hinblick auf die Dramaturgie neuer Operetten wurde vor allem der >eccentric dance< beziehungsweise die >danse excentrique< zum wichtigen Impulsgeber. Die Praxis des Exzentriktanzes, regional aus ganz unterschiedlichen Quellen gespeist, hatte sich zumal in Paris und in den USA um die Jahrhundertwende auch als eigenständiges Bühnengenre etabliert. In Paris gewann der schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in breitesten Bevölkerungsschichten praktizierte Cancan (Chahut), der nicht zuletzt mit der damaligen europaweiten Popularität von Affenstücken wie Jocko ou Le Singe de Bresil (Theatre de la Porte-St-Martin 1825; als Affe Jocko: der Charakter-
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neben dem Zarten, das Ausgelassene neben dem Ernsten, heißes G e f ü h l neben Tändelei, Sentimentalität und Ironie nebeneinander stehengöttliches Rasen< ist, in welchem sich die Seele von aller dumpfen Befangenheit befreit, >außer sich geräth< (Ekstasis nannten es die Griechen) und sich nun mit dem Unendlichen vereint. Die thrakischen Weiber tanzten in den Wäldern zu den tief tönenden Flöten, um enthusiastisch, des Gottes voll, zu werden (man lese darüber die schöne Schilderung bei Rohde in der Psyche mit den Citaten aus Sophokles und Plato nach) - das ist der Ursprung und der ewige Sinn der rhythmischen Kunst. Und daß die Saharet bisweilen Momente hat, in welchen man sich daran endlich wieder erinnert, das ist es wohl, was ihr eine so seltsame Macht über künstlerisch geneigte Menschen gibt.« HLermannJ B|ahrJ in: Neues Wiener Tagblatt, 17. Dezember 1901, S. 7. - Wie durchlässig in den Metropolen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Grenzen zwischen >avancierter< und >Unterhaltungskunst< waren, zeigen eindrücklich die Tanzkritiken Arthur Symons' seit 1892, die Jane Pritchard neu zusammengestellt hat: »More Natural than Nature, More Artificial than Art«: The Dance Criticism of Arthur Symons, in: Dance Research 21 (2003), Heft 2, S. 36-89. Einen Überblick über die Entwicklung des Girltanzes im Kontext des deutlich von Europa geprägten amerikanischen Unterhaltungstheaters vor dem ersten Weltkrieg gibt Camille Hardy, Ballet-Girls and Broilers: The Development of the American Chorus Girl 1895-1910, in: Ballet Review 8 (1980), S. 96-127.
tänzer Charles Mazurier) in Verbindung zu bringen ist, in den 1880er Jahren neuerlich an Bedeutung. Gefeierte und zugleich skandalumwitterte Tänzerinnen und Tänzer wie La Goulue und Valentin le Desosse präsentierten ihn in akrobatischer Form als >quadrille realiste< in den Cabarets und Music Halls des Montmartre und verbanden ihn mit der aus der Pariser Unter- und Halbwelt stammenden >danse apache< und später mit der >valse chaloupee< zu einer Form der >danse excentriqueeccentric dance< in seinen Ausprägungen als Transformation dancelegmaniaclog dancebuck-and-wingsnake hips< oder >shuffle and sway< aus der Schwarzenkultur der Plantagen und den Minstreis. Als besonders bühnenwirksam erwies sich dabei der groteske Cakewalk, der, zunächst in Form von Wettbewerben auf Plantagen vorgeführt, bald zum Bestandteil von Minstrel Shows wurde und schließlich als sensationelle Nummer auch an >weißen< Theatern in New York, Chicago und Boston, in Vaudeville Shows und Musical Theaters Aufsehen erregte. Seine frühesten Interpreten mit internationaler Ausstrahlung, die zugleich Pionierfunktion für die Integration afroamerikanischer Darsteller an regulären Theatern hatten, waren das Tanzpaar Dora Dean und Charles Johnson mit ihren Auftritten in der zwischen 1890 und 1897 präsentierten Creole Burlesque Show und das Exzentrikduo George Walker und Bert Williams (»The Two Real Coons«), die ab den späten 1890er Jahren, häufig in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Will Marion Cook, eigene Musicals herausbrachten. Nach der Jahrhundertwende wurden Walker & Williams, Dean & Johnson und andere afroamerikanische Ensembles wie »The 7 Florida Creole Girls« mit dem Cakewalk auch in Europa zu begehrten Varieteattraktionen. 52 Eine konsequente Integration tänzerischer Elemente mit Music-Hall- bzw. Varietecharakter in ein der Operette vergleichbares Genre hatte es seit den späten 1880er Jahren in London gegeben: Auf der Grundlage der traditionsreichen Pantomimes und Burlesques hatte sich hier mit der Musical Comedy eine Form entwickelt, für die der exzessive Einsatz von Girls, Groteskund Exzentriktänzern (Kate Vaughan, Dan Leno) und Pantomimen (John DAuban) konstitutiv war. Die entsprechenden Stücke von Sidney Jones, Ivan Caryll und anderen wurden um die Jahrhundertwende, als in Wien auch das internationale Variete mit immer neuen Höhepunkten aufwartete, am Theater in der Josefstadt, am Carltheater, am Theater an der Wien, in »Venedig in 52
Materialien zur Cakewalk-Rezeption in Wien bei: Ingeborg Harer, »Lustige Neger«. Verbreitung und Nachahmung der Musik der Afro-Amerikaner in Österreich um 1900, in: Jazzforschung 30 (1998), S. 181-196; dies., »Dieses böse Etwas, der Jazz«· Varianten der Jazz-Rezeption in Osterreich von der Jahrhundertwende bis zu den 1920er Jahren, in: Rudolf Flotzinger (Hrsg.), Fremdheit in der Moderne, Wien 1999 (Studien zur Moderne 3), S. 139-171; James Deaville, Cakewalk in Waltz Time? African-American Music in Jahrhundertwende Vienna, in: Susan Ingram/ Markus Reisenleitner/Cornelia Szabö-Knotik (Hrsg.), Reverberations. Representations of Modernity, Tradition and Culture Value in-between Central Europe and North America, Frankfurt a. M. 2002, S. 17-39. 187
W i e n « u n d an D a n z e r s O r p h e u m inszeniert. 5 3 A n l ä ß l i c h der W i e n e r Erstauff ü h r u n g von Ivan Carylls und Lionel M o n c k t o n s Der Toreador - a n g e k ü n d i g t als »große englische A u s s t a t t u n g s - O p e r e t t e « ( U r a u f f ü h r u n g L o n d o n 1901) k o m m e n t i e r t e das Fremdenblatt 1903: Kein Refrain, der blos gesungen wirkt; er muß gehopst, gesprungen, auf den Händen, zum Mindesten aber mit den Füßen getanzt werden. So ist die englisch-amerikanische Operettenbühne nach und nach zu einer Artistenarena geworden. Der erste Operettenkomiker wurde so ungefähr, wer am famosesten auf dem Kopf stehen und etwa noch dazu pfeifen kann, damit doch auch etwas von Musik dabei ist. >Der Toreador< ist solch eine Arena für englische Operetten-Jongleure. 54 L o u i s T r e u m a n n trat bereits i m ersten Jahr seines W i e n e r E n g a g e m e n t s in zwei Stücken von Sidney Jones auf; die Partien des W u n - H i in Die Geisha (ein »Japanese musical play«) und des Li in San Toy (eine » C h i n e s e musical comedy«) w a r e n in L o n d o n von d e m K o m i k e r und Groteskstar Huntley W r i g h t kreiert worden. A l s T r e u m a n n seine k o m i s c h e n C h a r g e n zu exzentrischen Tanzrollen auszubauen b e g a n n , vollzog er also f ü r die W i e n e r B ü h n e n nach, w a s das englische Unterhaltungstheater bereits seit einiger Zeit geprägt hatte. T r e u m a n n s spätere E r i n n e r u n g e n an den B e g i n n seiner Operettenk a r r i e r e n e h m e n d e n n auch insbesondere auf das Mittel der E x z e n t r i k Bezug: Ich hatte auf der Bühne unter anderem das gebracht, was man bis dahin in der Operette nicht so kannte, den exzentrischen Tanz, der ja heute allein die Operette beherrscht. Somit kann ich bescheidentlich sagen, daß ich der Grundsteinleger der exzentrischen Tänze auf der Bühne bin. Es kam sogar soweit, daß ich in einer Operette von dem weltbekannten Sidney Jones [.. .1 den San-Toi zusammen mit Mary Haiton in Wien kreirte und weil, was Groteske anbelangt, ich mich soweit verstieg, auf der Bühne nach dem Couplet (Chinesischer Soldat) im Nachtanz einen >Salto mortadella< hinaus machte. Dies löste beim Publikum (die Kollegen sollen es mir heute nachmachen) einen derart frenetischen Beifall aus, sodaß ich oftmals wiederholen mußte. Viele kamen oft schon deshalb ins Theater, um mitzusehen, ob mir doch nichts unangenehmes passieren würde. Die Sucht nach Er- und Anregung. In meinem kleinen Gehirne ging aber etwas vor. Ich dachte mir: >wenn du schon beim Salto mortale angekommen bist, wo wirst du dir noch Steigerungen hervorsuchen?Wolter Schrei< aus, von dem ich mir allerdings komische Wirkungen erhoffte, der aber derart dramatisch mit dem nachfolgenden Gesangsteil wirkte, daß nach dem gleich darauf fallenden Vorhang ein tosender Beifall beim Premierenpublikum ausbrach. 55
Der exzentrische Tanzstil, den Treumann in seinen ersten Wiener Jahren als wichtigstes Mittel der Rollengestaltung einsetzte, machte ihn zum Träger jener Entwicklung, innerhalb derer sich in Auseinandersetzung mit der englischen und amerikanischen Operette und dem internationalen Variete eine eigenständige Form der Wiener Tanzoperette herauszubilden begann. 56 Die Funktion der komischen Figur - also die Funktion Treumanns - war im Rahmen dieser Tanzdramaturgien eine gänzlich andere als in der Wiener Unterhaltungstradition, in die Girardi sich im späten 19. Jahrhundert eingereiht hatte und für die er auch im 20. Jahrhundert noch stand: Die Möglichkeit zur Identifikation des Publikums mit der Lustigen Person, die in Wien seit dem 18. Jahrhundert vorherrschend gewesen war, verlor ihre Relevanz angesichts der bizarren Auftritte des grotesken Gesangskomikers, dessen Verrenkungen den distanziert-amüsierten Blick des Varietebesuchers ansprachen und nicht mehr auf die augenzwinkernde Verbundenheit des Wiener Theatergängers mit einem vertrauten Lokalkomiker zielten. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist Treumanns Partie des Eskamoteurs Stiebel in Josef Hellmesbergers Operette Das Veilchenmädel (1904) mit der Parodie auf die international umworbene Varietetänzerin La Tortajada (Lied Nr. 12: »Ich sehne mich nach Bühnenluft«): Den Gipfelpunkt der lustigen schauspielerisch-musikalischen Wirkung erreichte die Operette im zweiten Akt mit dem Auftreten Treumanns als Excentriquetänze55
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Louis Treumann, Die Wiener Operette und Ich, in: Wiener Theater- und MusikMagazin. Monatsschrift für Theater, Konzert, Musik und Musikliteratur 1 (1928), Heft 5, S. lf. Aufschlußreich hierfür sind die Rezensionen des Fremdenblatts zu den beiden in Treumanns Erinnerungen erwähnten Werken. Zu Jones' San Toy (Wiener Premiere am 9. November 1900; Uraufführung London 1899) bemerkte das Blatt: »Der Schlager ist fast immer in den Refrain verlegt, der natürlich getanzt wird. Fährt die englische Operette auf diesem Wege fort, so werden ihre Interpreten mit der Zeit größere Tanz- als Sangeskünstler sein müssen, denn der Rhythmus liegt in den Füßen.« (Fremdenblatt LWienJ, 10. November 1900) Zu Alfred Müller-Nordens Tanzoperette Die Primadonna (Uraufführung am 31. Januar 1901) hieß es dann entsprechend: »Den Beinen seiner Künstler scheint Herr Müller-Norden überhaupt weit mehr Vortragskunst und Ueberzeugungskraft zuzutrauen, als ihren Kehlen. Er behielt mit diesem Prinzip insofern Recht, als ein Tanzduett, das die quecksilberne Biedermann und der ergötzliche Treumann über Tische und Stühle hinweg spielen ließen, am kräftigsten einschlug und zweimal zur Wiederholung begehrt wurde. Sie erließen sich schließlich ganz den Gesang und beschränkten sich auf Gestikulationen: nun wirkten sie erst recht. Deutlicher ist nie bewiesen worden, daß Springen mehr gilt als Singen.« (Fremdenblatt LWienJ, 1. Februar 1901) 189
rin, als Tortajada-Parodistin. Diese Nummer wird sich wohl ganz Wien ansehen wollen. Der Künstler, der gestern schon mit seiner Maske das Haus in herzlichste Heiterkeit versetzte, sang als >Dame mit dem Bariton< sein Liedchen mit solchem Humor und tanzte mit so graziöser Komik, daß die Zuschauer zwei Wiederholungen verlangten, und noch eine dritte gerne ertragen hätten. 57
Hatte Treumann also mit der Modernisierung und Internationalisierung der Lustigen Person über den Einsatz der Exzentrik das Operettenpublikum in einen Zustand der distanzierten Faszination versetzt, so machte er mit seinem zweiten Schritt der Modernisierung ein alternatives Angebot zur Identifikation: Nach der Neuformulierung der darstellerischen Mittel durch den Tanz brachte er die >Psychologie< in die Operette ein, verließ damit das komische Fach und avancierte mit dem Image des eigenwilligen Lebemanns zum Wunschtraum der Frauen und zur Herausforderung für Männer. In bis dahin unbekannter Weise wurden Sinnlichkeit und Erotik nun zu zentralen dramaturgischen Kategorien der Operette. Das musikalische Unterhaltungstheater entdeckte wichtige Aspekte der zeitgenössischen Debatte für sich: Die >sexuelle FrageFrauenfrageVerweiblichung< jüdischer Männer, 59 und die Formulierung »der junge Mann UP ΤΟ DAY« nimmt die Rede vom >american way of life< auf, der insbesondere bei Frauen und Juden zu krankhafter Nervenerregung führe. 6 " Wenn Saiten Treumann im weiteren bescheinigt: in »diesem schlanken, schwächlichen jungen Mann tobt eine Leidenschaft, [...] die sofort zur Ekstase emporschießt, die diesen dünnen Körper wie im Streckkrampf spannt«; »sein Körper [...] scheint sich selbst zu genießen, scheint nur aus Lust an der eigenen Geschmeidigkeit, nur aus Freude an sich selbst, scheint nur für sich allein zu tanzen«; 59
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Eine extreme Herausforderung f ü r seine Zeitgenossen stellte in dieser Hinsicht der jüdische homosexuelle Tänzer Alexander Sacharoff mit seiner bewußt zur Schau getragenen Androgynität dar. Z u m Z u s a m m e n h a n g von Geschlechterkonstruktionen, Tanzmoderne und Spiritualität/Religiosität vgl. Patrizia Veroli, Der Spiegel und die Hieroglyphe. Alexander Sacharoff und die Moderne im Tanz, in: FrankManuel P e t e r / R a i n e r S t a m m (Hrsg.), Die Sacharoffs. Zwei Tänzer aus dem Umkreis des Blauen Reiters, Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Paula Modersohn-Becker M u s e u m s Bremen, des Deutschen Tanzarchivs Köln u n d des M u s e u m s Villa Stuck München, Köln 2002, S. 169-216. In teils enger A n l e h n u n g an die einschlägigen Arbeiten von Sander L. G i l m a n stellt Klaus Hödl entsprechendes medizinhistorisches Quellenmaterial zum jüdischen Körper vor; K . H ö d l , Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siecle, Wien 1997, insbesondere Kapitel VIII: »Die >Verweiblichung< der Juden«, S. 164-232. 191
»dieser bewegliche, fieberhafte, vor Temperament in den Flanken bebende Mensch bohrt sich einem unvergeßlich ins Gedächtnis und in die Nerven, mit der durchdringenden Beredsamkeit seines Wesens, mit dem Tonfall seiner Stimme«, dieser »dünnen, spitzen, zierlichen Stimme«61 - so zeichnet er, ohne Treumanns jüdische Herkunft explizit zu erwähnen, ein Bild jener jüdischem Sinnlichkeit und Lasterhaftigkeit, die nach 1933 als wesentlich für die >jüdische Operette< aufgefaßt und von den deutschen Bühnen verbannt wurde.62 Im Juden Treumann verschmolz die neue Operette mit der Moderne und einem ihrer wichtigsten Merkzeichen, der Erotik. Treumann stand damit für jene Ausprägung der Operette, die aus nationalkonservativer Perspektive den Niedergang des Genres bedeutete.63 Darüber hinaus wurden aber in den Diskussionen über ihn grundsätzliche ästhetische und ideologische Positionen der Zeit berührt. Exemplarisch läßt sich dies an einem Roman verdeutlichen,
61 62
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192
Saiten, Die neue Operette, S. 3. Die Rede von einer >ungesunden, typisch-jüdischen Erotik< in der Operette zog sich durch die gesamte nationalsozialistische Publizistik zum Thema. Friedrich Billerbeck-Gentz diente eine entsprechende Argumentation zur Herausarbeitung der »Eigenheit des deutschen Wesens«, das von dem, »was AFRIKANISCH ist«, zu trennen sei: »Diese Eigenart des Deutschen ist ein von flachen Sentimentalitäten freies Gefühlsleben, dessen Ausdruck das in allen Sprachen der Erde unübersetzbare Wort: >GEMÜT< bildet. Der Jude hat an seine Stelle triefende Sentimentalitäten gesetzt. Ausdruck innigster und innerster Lebensfreude ist f ü r UNS im leichten beschwingten Tanz zu finden, der bei der JÜDISCHEN Operette zum schwülen >Kampf der Geschlechten ausartete. Unser deutscher Humor war stets ein nur mit dem Gefühlsleben zu erfassendes Moment, ein heiteres Kind des Augenblicks, bestimmt, aus dem Alltagsleben zu lösen und einen sonnigen Optimismus zu verkörpern. An seine Stelle gelang es den jüdischen Librettisten, die ekelhafte Zote und die Verhöhnung menschlicher Gebrechen und menschlicher Schwächen zu setzen. An diesen Grundpfeilern unseres künstlerischen Innenlebens war seit Jahrzehnten solange gerüttelt worden, bis sie zerbrochen und an ihre Stelle die jüdische Schaffensbasis gesetzt werden konnte.« F. Billerbeck-Gentz, Operettenkunst im Kampf, in: Deutsche BUhnenkorrespondenz. Nachrichtenblatt der Abteilung Theater im Kampfbund für Deutsche Kultur und des Reichsverbands »Deutsche Bühne« 3 (1934), Folge 5, 17. Januar, S. 1 f., hier S. 1. Als These ließe sich formulieren, daß Treumanns späteres Verschwinden aus der Operettengeschichte, wie sie in den erwähnten Publikationen der 1930er und 1940er Jahre niedergelegt wurde, somit bereits in seinen erfolgreichsten Jahren vorbereitet war. - Auch die jüdische Operettendiva Fritzi Massary, die in den 1910er und 1920er Jahren mit subtiler Erotik renommierte Literaten und Kritiker, darunter Oscar Bie und Alfred Polgar, wie das breite Publikum zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte, geriet zwischenzeitlich aus dem Blick. Erst 1970 machte Otto Schneidereit den Versuch eines Porträts, bevor 1998 Carola Sterns große Biographie erschien (Die Sache, die man Liebe nennt. Das Leben der Fritzi Massary, Berlin 1998). Eine erste Rollenfachanalyse unternahm Elisabeth Eleonore Bauer in ihrem Aufsatz Fritzi Massary - Eine Frau, die weiß, was sie will, in: Sigrun Anselm / Barbara Beck (Hrsg.), Triumph und Scheitern in der Metropole. Zur Rolle der Weiblichkeit in der Geschichte Berlins, Berlin 1987, S. 228-252.
der 1911 unter dem Titel Operettenkönige herauskam. 64 Es handelt sich dabei um eine recht genaue, allerdings äußerst polemische Beschreibung der zeitgenössischen Situation an den Wiener Operettentheatern, wobei sämtliche real existierenden Personen mit leicht zu entschlüsselnden fiktiven Namen eingeführt werden. Eine der Hauptfiguren des Romans ist Louis Treumann, der hier - womöglich in Anspielung auf seinen akrobatischen Tanzstil - Arno Springer heißt und mit Zügen seines Nachfolgers als führender Tanzbuffo, Hubert Marischka, verschmolzen ist. Die Auseinandersetzung des Romans mit Treumanns Popularität, mit der gesellschaftlichen Position der Operettenproduzenten, die nahezu ausschließlich Juden waren, und mit der angeblich mangelhaften Moral des weiblichen Operettenpersonals liest sich wie eine Umsetzung jener verbreiteten antisemitischen und misogynen Standpunkte, die ihre prägnanteste und einfiußreichste Ausformung in Otto Weiningers Studie Geschlecht und Charakter von 1903 (1912 bereits in der 13. Auflage) gefunden haben. Treumanns Rollen-Images des Grotesktänzers und des sinnlichen Lebemanns machten ihn in Verbindung mit seiner jüdischen Herkunft zum Vertreter einer ganz bestimmten Ausprägung modernen städtischen Bewußtseins, die der >Volkskomik< Alexander Girardis diametral entgegengesetzt war. Innerhalb von Treumanns Karriere, quasi durch seine spezifischen Modelle der Körperpräsentation und Rollengestaltung hindurch, verlief die Festschreibung einer Dramaturgie der internationalisierten Wiener Tanzoperette, 65 die letztlich für die gesamte deutschsprachige Operettenproduktion bis 1933 gültig blieb.66 Die Profilierung Treumanns als Tanzkomiker zwischen 1900 und 64
65
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Der Autor des Romans nennt sich Franz von Hohenegg, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Pseudonym, unter dem ein in der Wiener Operettenszene gescheiterter Neuling Rache an den »Operettenkönigen« Franz Lehär (hier: Hans Neddar) und Victor Leon (hier: Alfons Bonne) nehmen wollte. Victor Leon hat in einem undatierten Brief an Treumann eine kleine Ansprache über den Tanz niedergeschrieben, die dieser wahrscheinlich bei einer Hochzeit zum besten geben wollte; sie ist quasi ein Programm der Tanzoperette: »Der Tanz! Das Symbol der Vereinigung - zu einer Frau, zu mehreren Frauen, oft kein Symbol mehr sondern überhaupt die Vereinigung zu einem Bündnis für's Leben mit lustigen Witwen, auch lustigen Mädchen! Man reicht sich die Hände, Eins schmiegt sich an's Andere, in gleichem Takt und Rhythmus schwebt man dahin! Ein Bild der Ehe pardon, der Ehe, wie sie sein soll! Ja, die Ehe soll ein Tanz sein, aber natürlich keiner, den die Frau dem Mann macht oder umgekehrt! Nein, ο nein! Ein harmonischer Tanz, ein Tanzduett! (Nun Tanz oder Gesang mit Tanz!)« Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Nachlaß Louis Treumann (ZPH 958/1); Unterstreichungen von Leon. Volker Klotz' Ausführungen zur Tanzoperette bieten entgegen der Ankündigung im Titel keine Aufschlüsse über die »Dramaturgie der Tanzoperette« und bleiben jegliche theaterhistorische Kontextualisierung schuldig; statt dessen vollzieht Klotz in sehr subjektiver Weise die Bedeutung der Tanzrhythmen und des Tanzens f ü r die handelnden Figuren nach und beschränkt sich dabei bis auf wenige Nebenbemerkungen auf Franz Lehärs Die lustige Witwe und Emmerich Kaimans Die Bajadere. V. Klotz, Wann reden - wann singen - wann tanzen sie? Zur Dramaturgie 193
1905 und sein Rollenfachwechsel hin zum sinnlichen Lebemann, der mit dem Engagement ans Theater an der Wien zu Spielzeitbeginn 1905/06 zusammenfiel, wurde von drei Personen entscheidend mitbestimmt: von der Soubrette Mizzi Günther, dem Librettisten und Regisseur Victor Leon und - indirekt von Treumanns Konkurrenten Alexander Girardi. Mizzi Günther bildete mit Treumann etwa 15 Jahre lang ein >Traumpaarmachte< Stars unter Komponisten und Sängern; Leon stellte durch seine Libretti und durch private Einflußnahme auf Treumann die entscheidenden Weichen für dessen darstellerische Entwicklung. Girardi schließlich, obwohl einer anderen Generation und einem anderen Segment der Operettenproduktion angehörend, blieb für Treumann weiterhin eine stete Herausforderung: Die Verträge, die beide mit wechselnden Theatern in Wien eingingen, bedingten sich mehrmals gegenseitig, und trotz seiner enormen Popularität gelang es Treumann über die Jahre nicht, den alternden Girardi in seiner Zugkraft auf Theaterdirektoren, Publikum und Kritik völlig zu verdrängen. Die darstellerische Auseinandersetzung, die Treumann bis in die Zeit des ersten Weltkriegs mit Girardi führte und die zugleich eine Auseinandersetzung der großstädtischen Moderne mit der lokalen Tradition war, hing wiederum von seiner Bindung an Mizzi Günther und Victor Leon ab: Erstere definierte ihn als Mann in Beziehung zu einer Frau, also als >sexuelles< Wesen, ein Aspekt, der nie Teil von Girardis Image geworden war; letzterer war bemüht, seinen Star Treumann jenseits von Girardis Terrain im Operettengeschehen zu positionieren. Vollzieht man die Laufbahn Louis Treumanns und Mizzi Günthers als Tanzpaar nach, die mit der von Zeitgenossen immer wieder vehement kritisierten Standardisierung des Operettenpersonals mit I.Paar, Buffopaar und einer drastischen Komikerrolle zusammenfiel, so werden die allmählichen Verschiebungen im Image Treumanns sichtbar. Es bestimmte sich danach, welches der weiblichen Fächer (Dame im I. Paar oder Dame im Buffopaar) Mizzi Günther und welches der männlichen Fächer (Herr im I. Paar oder Herr im Buffopaar oder Komiker) Treumann jeweils besetzte (vgl. tabellarische Übersicht). Die Entwicklung der darstellerischen Mittel Treumanns, seine Fachzugehörigkeit und die Dramaturgie der Wiener Tanzoperette lassen sich - stark schematisiert - in ihrer Verschränkung wie folgt skizzieren: Treumann integrierte den Tanz zunächst in das Fach der komischen Charge der Tanzoperette bei Lehär, Kälmän, Künneke und anderen, in: Hans Dietrich Irmscher/Werner Keller (Hrsg.), Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck, Göttingen 1983, S. 105-120. 194
beziehungsweise in die zentrale Komikerrolle. Obwohl dem Komiker in der Regel keine Frau als direkte Partnerin zugeordnet wird, trat Treumann über den grotesken oder exzentrischen Tanz in Verbindung mit Mizzi Günther (die schon am Beginn ihres Engagements am Carltheater meist I. Dame war). Bald wandte Treumann sich vom ausschließlich komischen Fach dem Buffofach zu und gewann damit eine feste Partnerin, ohne die Betonung des tänzerischen Elements zurückzunehmen. Die Bindung an Mizzi Günther bestand weiterhin jenseits der Grenzen der Paare: Auch als Herr im Buffopaar tanzte Treumann mit Mizzi Günther als Dame im I.Paar (daneben war die Soubrette Therese Biedermann als Treumanns Buffodame immer wieder seine Tanzpartnerin); in wenigen Fällen bildeten Treumann und Günther das Buffopaar. Mit dem Wechsel an das Theater an der Wien und Treumanns neuem Image des sinnlichen Lebemanns rückten Treumann und Günther in die Position des I.Paares auf; das Buffopaar war inzwischen als dramaturgisches Element fest etabliert und stand nun, wenn auch ohne Treumanns Exzentriktricks, über Jahrzehnte für die heitere, weitgehend unproblematische Liebe und den jeweils aktuellen Modetanz beziehungsweise das lokale Kolorit (Ungarn, USA, Asien ...). Treumann und Günther hingegen nahmen den Tanz als wichtiges darstellerisches Mittel in das I. Fach mit, wo er seine exzentrische Seite ablegte. Von besonderer Relevanz für die Schärfung der tänzerischen Dramaturgie war es, daß Treumann bereits frühzeitig auch für die Mise-en-scene von Operetten verantwortlich zeichnete und somit - wie etwa in Heinrich Reinhardts »Tanzoperette« Das süße Mädel (1901) - die gesamte Tanz- und Bewegungsregie für die Uraufführungsproduktionen der entsprechenden Stücke entwarf, die dann, festgehalten in Regiebüchern, von den Verlagen als Teil des Aufführungsmaterials an andere Bühnen weitergegeben wurde. Für das Komikerfach, das Buffofach und das moderne Liebhaberfach gilt also gleichermaßen, daß Treumann ihnen eine dezidiert tänzerische Ausrichtung verliehen hat, die erst längerfristig etwas in den Hintergrund trat. Im Komikerfach und beim Buffo schliff sich die Tendenz zur Akrobatik ab,67 beim I. Paar wurde in den 1920er/l 930er Jahren in wenigen Fällen auf eigenständige Tanznummern verzichtet. Grundsätzlich jedoch blieb der Tanz als Medium der Kommunikation und der sinnlichen Annäherung über Jahrzehnte 67
Der »Tanzbuffo«, der etwa ab 1905 zu einem weitgehend obligatorischen Operettenfach wurde, kann insofern als weniger spektakuläre Variante von Treumanns »groteskem Gesangskomiker mit Schwerpunkt Tanz« gelten. Die bleibende Bedeutung dieses Rollenfachs sei nur an einigen herausragenden Partien dokumentiert: Hans von Schlick in Leo Falls Die Dollarprinzessin (1907); Fridolin Müller in Falls Die Rose von Stambul (1916); Richard in Leon Jessels Schwarzwaldmädel (1917); Baron Ippolith in Oscar Straus' Der letzte Walzer (1920); Koloman Zsupän in Emmerich Kaimans Gräfin Mariza (1924); Marchese Pimpinelli in Franz Lehärs Paganini (1925); Iwan in Lehärs Der Zarewitsch (1927); Graf Ferry in Paul Abrahams Viktoria und ihr Husar (1930); Lelio Down in Nico Dostals Clivia (1933). 195
das zentrale Element der Operettendramaturgie; 68 Maßstäbe setzten dabei bis in die Zeit des ersten Weltkriegs Oscar Straus' Ein Walzertraum (1907), Leo Falls Die geschiedene Frau (1908), Franz Lehärs Der Graf von Luxemburg (1909) und Emmerich Kaimans Die Csardäsfürstin (1915). Operetten mit Louis Treumann und Mizzi Günther und deren jeweilige Rollenfächer Werk
Mizzi Günther
Louis Treumann
Die drei Wünsche (März 1901)
Lotti, Dame im I. Paar (Partner: Willy Bauer)
Theaterdirektor Hummel, Komikerrolle (mit Günther: exzentrisches Tanzquodlibet)
Circus Malicorne 1901)
Suzanne, Dame im I.Paar (Partner: Willy Bauer)
Clown Paillasse, Komikerrolle
Das süße Mädel (Oktober 1901)
Lola Winter, Dame im I.Paar (Partner: Willy Bauer)
Maler Florian Lieblich, Herr im Buffopaar (Partnerin: Mizzi Zwerenz bzw. Therese Biedermann)
Der Rastelbinder (Dezember 1902)«
Suza, Dame in Paar 1 (Partner: Karl Streitmann)
Zwiebelhändler Wolf Bär Pfefferkorn, Komikerrolle (mit Günther: Quadrille)
Der Glücklichste 1903)
Fatime, Dame im I. Paar (Partner: Karl Streitmann)
Negersklave Tupp, groteske Charge
(April
(April
Natalitza, Dame im Fürst Alamir Prutschesko, Apajune, der Wassermann (Neueinstudierung, Buffopaar (Partner: Karl Komikerrolle (Tanznummer Streitmann) mit Günther) September 1903) Der Göttergatte 1904)
68
69
(Januar
Alkmene/Juno, Dame in zwei I.Paaren (Partner als Amphitryon bzw. Jupiter: Karl Streitmann und Willy Bauer)
Kammerdiener Sosias, Herr im Buffopaar (Partnerin: Therese Biedermann; groteskes Tanzterzett mit Günther und Biedermann)
Inwieweit die mit Treumann und seinem Rollenfach verbundene Ausrichtung der modernen Operette nach Kriterien des Tänzerischen die Dramaturgie des deutschsprachigen Musikfilms bestimmte, hat Gunhild Oberzaucher-Schüller exemplarisch für die Filme Willi Forsts nachgewiesen; G. Oberzaucher-Schüller, Bewegungswelten. Filmregie, aus dem Rollenfach gespeist, in: Armin Loacker (Hrsg.), Willi Forst. Ein Filmstil aus Wien, Wien 2003, S. 229-257. In Franz Lehärs Der Rastelhinder und Leo Aschers Vergeltsgott lassen sich die Paare nicht in eine Hierarchie bringen; die je zwei Paare in den beiden Stücken sind etwa gleichberechtigt, was ihre Ranghöhe betrifft.
196
Das Veilchenmädel (Februar 1904)
Flora, Dame im Buffopaar
Stiebel, Herr im Buffopaar
's Zuckergoscherl ber 1904)
Mary, Dame im Buffopaar
Amadeus Herzig, Herr im Buffopaar
Der Schätzmeister (Dezember 1904)
Mary Elliot, Dame im I. Paar (Partner: Karl Streitmann)
John Butterbroad, Herr im Buffopaar (Partnerin: Therese Biedermann)
Der Schnurrhart (Januar 1905)
Komtesse Molly, Dame im I. Paar (Partner: Willy Bauer)
Graf Otto Blechnitz, Herr im Buffopaar (Partnerin: Therese Biedermann)
Kaisermanöver 1905)
Jolan, Dame im I. Paar (Partner: Sigmund Kunstadt)
Offiziersbursche Pista, Herr im Buffopaar (Partnerin: Therese Biedermann)
Vergeltsgott (Oktober 1905)
Jessie, Dame in Paar 2 (Partner: Karl Streitmann)
Graf Karinsky, Herr in Paar 1 (Partnerin: Phila Wolff; mit Günther: Marschduett)
Die lustige Witwe (Dezember 1905)
Hanna, Dame im I. Paar
Danilo, Herr im I. Paar
Die Dollarprinzessin (November 1907)
Alice, Dame im I. Paar
Fredy, Herr im I. Paar
Der schöne Gardist (April 1908)
Fürstin Dorothea, Dame Gemüsehändler Peter, Herr im im I. Paar (Partner: Buffopaar (Partnerin: Louise Willy Bauer) Kartousch)
Das Fürstenkind. (Oktober 1909)
Mary-Ann, Dame im I. Paar
(Okto-
(März
Apajune, der WasserNatalitza, Dame im mann (Neueinstudierung, Buffopaar (Partner: April 1910) Carlo Böhm)
Hatschi Stavros, Herr im I. Paar Fürst Alamir Prutschesko, Komikerrolle
Das erste Weih (Oktober 1910)
Melitta, Dame im I. Paar Graf Dyllenau, unabhängiger Lebemann (vorübergehend (Partner: Fred Carlo) »Alternativpartner« für Günther)
Die Sirene (Januar 1911)
Lolotte, Dame im I. Paar Marquis Ravaillac, Herr im I. Paar
Eine romantische (März 1911)
Ella von Schmettnitz, Dame im I. Paar (Partner: Fred Carlo)
Frau
Fürst Egon, unabhängiger Lebemann (vorübergehend »Alternativpartner« für Günther)
Der Graf von Luxemburg Angele, Dame im I. Paar Rene, Herr im I. Paar (September 1911, als Neubesetzung)
197
Die schöne Helena (Neu- Helena einstudierung, Oktober 1911)™
Menelaus, komische Charge
Pariser Leben (Neueinstudierung, Oktober 1911)
Gabriele, Handschuhmacherin
Jean Frick, Schuster
Eva (November 1911)
Eva, Dame im I. Paar
Octave Flaubert, Herr im I. Paar
Der blaue Held (Oktober 1912)
Prinzessin Helene, Dame im I. Paar
Prinz Balthasar, Herr im I. Paar
Der kleine König (November 1912)
Anita Montarini, Dame im I. Paar
König, Herr im I. Paar
Rosannah, Dame im I. Paar
Tangua, Herr im I. Paar
Der Millionendieb tember 1918)
(Sep-
Die Entwicklung von Treumanns Rollenfach, wie sie sich im Durchgang durch seine maßgeblichen Partien bis in die frühen 1910er Jahre nachzeichnen läßt, wurde nicht nur durch seine außergewöhnliche Körperbeherrschung und erotische Ausstrahlung bestimmt; fast wie ein Puppenspieler agierte im Hintergrund Victor Leon, der in klugem Taktieren Treumann an den erfolgversprechendsten Positionen des Operettenmarktes piazierte und damit der Operettendramaturgie entscheidende Wendungen gab. Bereits während Treumanns Engagement am Carltheater hatte Leon im Rahmen seiner Bemühungen, Franz Lehär als neuen Starkomponisten zu lancieren, auch auf Treumanns Rollen Einfluß genommen. Die komische Partie des jüdischen Zwiebelhändlers Wolf Bär Pfefferkorn in Der Rastelbinder, die sich in ihrer schmuddeligen Gemütlichkeit von Treumanns exzentrischen Gecken- und Dandyrollen deutlich unterschied, hatte dieser trotz zahlreicher Warnungen aus seiner Umgebung übernommen, die ihm einen vernichtenden Mißerfolg prognostizierten. Leon behielt mit seinem Gespür für Publikumswirksamkeit recht: Der Jude Treumann gewann im Juden Pfefferkorn eine Paraderolle, Lehär errang einen ersten Sensationserfolg und das Carltheater einen Kassenschlager, der beinahe 20 Jahre lang anhielt (Ende März 1905 die 225. Aufführung, im April 1918 die 400. Aufführung erneut mit Treumann, der die Rolle auch bei Neueinstudierungen am Theater an der Wien 1912 und 1923 spielte).71 70
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Die Operette des 19. Jahrhunderts hat nur in Ausnahmefällen ein I. und ein Buffopaar deutlich ausgebildet; so sind für die entsprechenden Werke, die mit Treumann und Günther im 20. Jahrhundert neu inszeniert wurden, diesbezügliche Angaben nicht sinnvoll. Dies betrifft vor allem Offenbachs Die schöne Helena und Pariser Leben. Vgl. hierzu ausführlicher: Marion Linhardt, »Wer kommt heut' in jedem Theaterstück vor? Ä Jud!« - Bilder des >Jüdischen< in der Wiener Operette des frühen
Geschickt mit Treumanns darstellerischem Potential, den Erwartungen des Wiener Publikums und dem Faktor Alexander Girardi kalkulierend, präsentierte Leon seinen Star im Herbst 1905 in einem neuen Fach: Als sinnlicher Lebemann wurde Treumann endgültig zum Träger der modernen Gesellschaftsoperette ohne dezidierten Lokalbezug. Girardi, seit 1902 am Theater an der Wien engagiert, wie auch Treumann schieden 1905 im Zorn von ihren jeweiligen Direktoren; Andreas Aman empfing den im März aus dem Verband des Theaters an der Wien ausgetretenen Girardi mit offenen Armen im Carltheater, Treumann und Mizzi Günther wechselten zu Wilhelm Karezag und Karl Wallner ans Theater an der Wien. Während die Presse Girardis erstes Auftreten am Carltheater - als bayerischer Reservist Blasius Nestel in Edmund Eyslers volkstümlicher Schützenliesel - zum Anlaß nahm, Girardis Position als unantastbares Ideal wienerischer Komik, als »Herrscher im Reiche des Humors« ausführlich zu diskutieren, der nunmehr »in die Stammburg Wiener Komikerdynastien« einkehre,72 bemühte sich Leon, Treumann ein Image zu verleihen, das direkte Vergleiche mit Girardi unmöglich machte. In Vorbereitung auf Treumanns Debüt am Theater an der Wien mit der Partie des Grafen Karinsky in Leo Aschers New-York-Operette Vergeltsgott schrieb Leon am 20. September 1905 aus Unterach am Attersee: Lieber Louis, Zuerst was Deine Depesche betrifft: erkläre der Direction, daß Du noch keinen Dunst von Rolle und Partie hast. Überhastung wäre Dir nicht von Nutzen. \.. .1 Ascher kommt zu Dir. Von ihm wirst Du die beiden Duette hören und zur Einsicht gelangen, daß Du Dich in Deinem Briefe ganz grundlos alterirt hast. Du hast jetzt fast sämtliche Nummern, sieben Nummern unberufen und ein colossales Spiel- und Tanzfinale!! Das >SensationsMit dem Hute< [Nr. 91 hast Du mit der Günther, der nichtmehrtanzenden. Das ist immerhin etwas Nobles, Einfacheres, läßt für Dich Spiel und Tanz resp. Evolutionen zu und ist der musikalische Schlager. Außerdem hat mich aber noch ein anderer Grund geleitet, Dir diese Nummer statt des aus dem Rahmen fallenden Spielduetts zu geben, nämlich: Du darfst beim Debüt im Wiedener Theater nicht solche Numern mit der Günther haben, wie Du sie fast in jeder Operette im Carltheater mit ihr hattest. Du mußt als ein ganz Anderer erscheinen, ein neuer, ein unerwarteter Treumann. Nicht wahr? Und obwohl dieses Marschduett fast mit Bestimtheit schlagerartig wirken wird, hast Du ja eigentlich Deine Haupt- und Spielnummer im Nachspiel mit dem Kind [Duettino Nr. 141. Das ist die Nummer und die Scene, von der man sprechen muß und hoffentlich auch sprechen wird, trotzdem sie die letzte im Nachspiel ist; es ist die Scene und Nummer, auf die man warten wird. Wartet man nicht - na, dann ist Alles umsonst! Und bevor Du nun an die Arbeit gehst, möchte ich mich mit Dir noch über Einiges verständigt haben. Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen, wenn ich Dir nun sage, wie ich mir die Figur denke. Also: vornehm, ruhig, überlegen, leicht im Ton, aber nie coquett ä la >BongvivangDie geschiedene Frau< unter hoher Pönale mit der ausdrücklichen Verpflichtung erworben, daß Sie die Hauptrolle am Carltheater creiren. Leo Fall, der in Marienbad war, erklärte mir, daß er von dieser Bedingung nicht abgehen werde.« Brief Adolf Sliwinskis (Marienbad) an Louis Treumann vom 20. Juli 1908, Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Nach 1 aß Louis Treumann (ZPH 958/1). In bezug auf Endlich allein schrieb Franz Lehär an Treumann: »Du weißt es ganz gut, daß ich beim Schaffen eines neuen Werkes direkt einzig und allein nur an Dich 201
tischen Ausnahmesituationen leben. So verbringt etwa Frank, verkleidet als Bergführer, mit der nach Abenteuern sich verzehrenden Amerikanerin Dolly Doverland einen Tag und eine Nacht in einer einsamen Bergwildnis (II. Akt), wo sie seinem Charme schließlich erliegt. Die männlichen Hauptpartien in diesen Werken entsprechen jenem sinnlichen Rollenfach, das erst Treumann in der Operette etabliert hatte. Herausragende Beispiele hierfür waren nach dem ersten Weltkrieg Treumanns Partien des Oberst Paltitsch in Jean Gilberts Die Frau im Hermelin (1919)™ und des Prinzen Radjami von Lahore in Emmerich Kaimans Die Bajadere (1921).79
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gedacht habe. Schließlich mußt Du das aus jeder Note die Du von mir gesungen hast, herausgehört haben. Daß Du dann eine nicht mehr gut zu machende Affaire mit Karezag gehabt hast, ist nicht meine Schuld. Ich rechnete bestimmt darauf, daß Du in Endlich Allein in Wien auftreten wirst.« Brief Franz Lehärs (Wien) an Louis Treumann vom 28. Mai 1913, Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Sign.: H.I.N. 233971. Über Paltitsch heißt es im Regiebuch: »Jung, impulsiv, eine Kraftnatur voll innerer Spannung, erinnert er an ein schönes Raubtier.« Die Frau im Hermelin, Operette in drei Akten von Rudolph Schanzer und Ernst Welisch, Musik von Jean Gilbert, ms. Regiebuch, o. O. o.J., S. 19. Radjami wird bei seinem ersten Auftritt folgendermaßen charakterisiert: »Er ist mit tadelloser Eleganz gekleidet: Frackmantel, Frack, weisse Weste, Handschuhe mit Raupen, Monokel, Stock mit Elfenbeingriff - kurz, ganz europäisch, bis auf die weiss-seidene indische Kopfbedeckung - eine kleidsame Seidentoque mit prächtiger Brillantenagraffe, in der ein Reiher steckt. Seine Gesichtsfarbe ist eine Nuance dunkler als beim Europäer - er trägt kleinen, blauschwarzen, englisch gestutzten Schnurrbart. Absoluter Weltmann von sicherem Auftreten. In der Konversation den Europäern, deren Schwächen er scharf beobachtet, unbedingt überlegen; manchmal von leiser Ironie. Im ganzen macht er den Eindruck eines gesunden, temperamentvollen Menschen mit ungebrochenen Instinkten, der aber gelernt hat, seine Leidenschaften kultiviert zu beherrschen.« Die Bajadere, Operette in drei Akten von Julius Brammer und Alfred Grünwald, Musik von Emmerich Kaiman, ms. Regieund Soufflierbuch, Berlin 1921, S.8.
Lebewelt und Idylle: Operettendramaturgien als Deutungen der städtischen Formation
Dramaturgie des Körpers, Dramaturgie der Moral Früher war ein Walzer zum Tanzen da, jetzt dient er zur Spannung und Entspannung psychologischer Wirren. ([Rezension zu Leo Falls Die Sirene], in: Fremdenblatt rWienl, 6. Januar 1911) Ein Libretto aus Wehmut, Empfindsamkeit, Vaterliebe so gemischt, daß man am Schluß des zweiten Aktes - ein alter, jetzt rangierter Komödiant sieht nach Jahren sein Kind wieder - beinahe gerührt wird. (LRezension zu Edmund Eyslers Das Zirkuskind], in: Fremdenblatt [WienJ, 19. Februar 1911)
Im Jahr 1907 - man befand sich noch immer im Bann der Lustigen Witwe, deren Aufführungsserie am Theater an der Wien anhielt,1 und ihrer Protagonisten Louis Treumann und Mizzi Günther - kulminierten hinter den Kulissen der Wiener Operettenszene Spannungen und personelle Querelen, in denen zugleich zwei Dramaturgien des Unterhaltungstheaters aufeinandertrafen. Diese Konfrontation, die Girardi schließlich zu seinem vorübergehenden Wechsel nach Berlin bewog, läßt den Zusammenhang zwischen den in Girardis und Treumanns Rollenfächern gebündelten Tendenzen der aktuellen Operettenproduktion und den Schichtungen der städtischen Kultur sichtbar werden. Hatten sich Treumann und Girardi einige Jahre lang mit vergleichbarem Erfolg innerhalb unterschiedlicher musikdramatischer Terrains bewegt, so schien die Wiener Tradition und mit ihr der >Volksschauspieler< Girardi nun der neuen Internationalität des Unterhaltungstheaters und seinem Repräsentanten, dem >Modernen< Treumann, zu unterliegen. Treumann und Girardi hatten von Ende 1901, als Girardi - noch am Raimundtheater - erstmals wieder in einer Operettenpremiere auftrat, bis 1905 innerhalb des gleichen Faches, nämlich als Komiker, gegensätzliche Richtungen verfolgt: Volkstümlich-gemütlich präsentierte sich Girardi in der Titelpartie von Carl Zellers Der Kellermeister (1901), als Wiener Musikkorporal Ratz 1
Im März 1907 brachte Danzers Orpheum Der lustige Witwer, im Oktober 1907 das Budapester Orpheum Die lästige Witwe als Reaktion auf den Dauererfolg heraus. Lehärs eigene Auseinandersetzung mit der Popularität vor allem Treumanns als Danilo zeitigte den in der »Hölle« uraufgeführten Einakter Mytislaw der Moderne (Januar 1907).
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in Carl Michael Ziehrers Der Fremdenführer (1902), als Wiener Klavierlehrer Willibald Brandl in Franz Lehärs Wiener Frauen (1902), als lustiger Wanderbursche und 114jähriger Greis in Edmund Eyslers Bruder Straubinger (1903), als Wiener Diener Peter in Heinrich Reinhardts Der Generalkonsul (1904) und als Wiener-Kongreß-Friseur in Eyslers Pufferl (1905), während Treumann seine Auftritte als »sezessionistischer Maler« Florian Lieblich in Reinhardts Das süße Mädel (1901), als Pariser Lebemann Aristide in Charles Weinbergers Das gewisse Etwas (1902), als Negersklave Tupp in Hans Ceseks Der Glücklichste (1903), als Pariser Lebemann Anatole in Hugo Felix' Madame Sherry (1903) und als Eskamoteur in Josef Hellmesbergers Das Veilchenmädel (1904) im Stil moderner Tanzgroteske gestaltete. Nach dem Engagementswechsel Girardis und Treumanns profilierten beide sich in den Spielzeiten 1905/06 und 1906/07 in kontrastierenden Fächern: Girardi baute sein RollenImage des lokal orientierten Operettenkomikers und Volksschauspielers aus, Treumann eignete sich das Image des verführerischen Charmeurs an. Während Treumanns modernes Image durch die Zusammenarbeit mit Victor Leon und Mizzi Günther das entscheidende Gepräge erhielt, waren es im Fall Girardis in jenen Jahren die Volksschauspielerin und Soubrette Hansi Niese und der Komponist Edmund Eysler, die Girardis Bild in der öffentlichen Wahrnehmung mitbestimmten. Eysler gelang es in seinen ersten beiden abendfüllenden Operetten Bruder Straubinger und Pufferl auf Anhieb, für Girardi eingängige Lieder beziehungsweise Couplets jenes sentimental-komischen oder bittermelancholischen Typs zu komponieren, 2 mit denen dieser seit einigen Jahren die Sehnsüchte kleinbürgerlicher Publikumsschichten nach der guten alten Zeit bediente. Als sich 1905 der Weggang Girardis vom Theater an der Wien abzeichnete, erklärte Eysler sich bereit, mit Girardi das Theater zu wechseln, und tatsächlich konnten beide am Carltheater mit der bodenständigen Schützenliesel (1905) und dem tragisch anmutenden Künstlerblut (1906) unmittelbar an ihre gemeinsamen Erfolge anknüpfen. Hansi Niese, die seit den 1890er Jahren mit großem Erfolg beim Publikum und unter weitgehender Ablehnung durch die Kritik versuchte, sich als Nachfolgerin der ehemals gefeierten Lokalsängerin Josefine Gallmeyer zu etablieren, war Girardis Partnerin in mehreren teils komischen, teils auf Rührung setzenden Volksstücken, in denen dieser auch noch nach seiner Rückkehr in die Operettenszene auftrat, verkörperte also quasi Girardis Bindung an das >VolkstheaterDer Vertrag ist jedoch aufgehoben, im Falle Louis Treumann nicht mehr am Th. a./d. W. sein sollte; ihm ist die männliche Hauptrolle (Hadschi-Stavros) zugesicherte - Dieser Vertrag ist noch in Schwebe! 7
8
Die Schönen von Fogaras, komische Oper in drei Akten von Victor Leon nach Kaiman Mikszäth, Musik von Alfred Grünfeld, Uraufführung: Dresden, Königliches Opernhaus, 7. September 1907. Brief Victor Leons (Lugano) an Louis Treumann vom 5. September 1907, Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Nachlaß Louis Treumann (ZPH 958/1); Unterstreichungen von Leon. Die Abkürzung »G.« bezieht sich auf Girardi. 207
Also, Geliebter, mir mach' keine Vorwürfe! Ich bin immer der Gleiche gegen Menschen, bei denen ich fühle, daß ich wenigstens nicht ganz düpiert werde. Küß' Steffi und Lola und Dich selbst von Deinem Victor.9
Die Entwicklungen in der Wiener Operettenszene des Jahres 1907 schienen also darauf hinzudeuten, daß Louis Treumann als Vertreter eines modernen, internationalisierten Operettentyps den mit dem >alten Wienup to date< war.
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Brief Victor Leons (Venedig) an Louis Treumann vom 15. September 1907, Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Sign.: H.I.N. 233973; Unterstreichungen von Leon.
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Die Operette der Metropole Die moderne Gesellschaftsoperette, wie sie von Louis Treumann maßgeblich geprägt wurde, weist - jenseits individueller kompositorischer Verfahren in den Einzelwerken - einen durchgehenden Fluchtpunkt auf, der sich als »Dramaturgie des Körpers« bezeichnen ließe. Voraussetzungen für die Herausbildung dieser Dramaturgie des Körpers waren: die Hinwendung der Operette zu Gegenwartssujets, die Neuformulierung der Funktion des Tanzes innerhalb der musikalischen und dramaturgischen Anlage und die >Entdeckung< der >Seele< der Protagonisten im Sinne einer Psychologisierung. Das auf den ersten Blick auffälligste Kennzeichen der Gesellschaftsoperette im frühen 20. Jahrhundert, nämlich die Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Aspekten der >sexuellen Frageklassischen< Wiener Operette bilden: Cagliostro in Wien (Johann Strauß), 1875; Fatinitza (Franz von Suppe), 1876; Boccaccio (Suppe), 1879; Gräfin Dubarry (Carl Millöcker), 1879; Donna Juanita (Suppe), 1880; Apajune der Wassermann (Millöcker), 1880; Der lustige Krieg (Strauß), 1881; Der Bettelstudent (Millöcker), 1882; Eine Nacht in Venedig (Strauß), 1883; Gasparone (Millöcker), 1884; Der Vizeadmiral (Millöcker), 1886; Der Millionen-Onkel (Adolf Müller jun.), 1892.
Hofmannsthal, Schnitzler und Max Meli zu ihrer Neubestimmung des Genres Pantomime führten. In welchem Maß die Operette ihr Augenmerk auf den Gefühlsausdruck richtete und wie sie innere Handlung und Musik miteinander verknüpfte, zeigt beispielhaft die Schlußszene aus Lehärs Operette Eva von 1911; diese Szene gibt zudem Einblick in die Möglichkeiten der elektrischen Bühnenbeleuchtung, die erst ganz allmählich von einer technischen Neuerung zu einem ästhetischen Mittel der Inszenierung wurde und Lichteffekte zur Evozierung von Stimmungen erlaubte.21
dann EVA. (Octave tritt von rechts durch den Garten. Von jetzt ab langsam z,unehmende Dunkelheit. Octave ist im Frack und weißer Krawatte, Zylinder; schwarzem Radmantel mit Atlasrevers. Eine Kamelie im Knopfloch. Ihm folgt ein zum Hause gehöriger livrierter Boy. Octave übergibt ihm eine Visitenkarte.) BOY: Wollen der Herr hier Platz nehmen oder vielleicht im Salon? OCTAVE: Schon gut - ich warte hier. BOY (verbeugt sich und eilt durch den Salon nach links ab). OCTAVE: (setzt sich nachlässig in den Schaukelstuhl, für sich, blasiert.) Immer diese neuen Bekanntschaften - wahrscheinlich wieder so ein Theaterkatzerl, das sich der Herzog beigebogen hat - Ich kenn' das schon, wenn man einer Dame zu Ehren ein Souper gibt. Na! EVA (erscheint im Salon von links; sie ist in blendender Balltoilette, stark dekolletiert, hat über ihre Schultern ein schleierartiges Gewebe geworfen). OCTAVE (hat sich erhoben, macht einige Schritte gegen den Salon; Eva ist knapp vor den Stufen, die zum Garten führen, stehen geblieben und wartet mit mühsamer Fassung die Begrüßung Octaves ab; Octave hat sie jetzt erst erkannt und starrt sie wie ein Phantom an). OCTAVE: (hervorgestoßen) Sie? ... Eva ... ist's möglich? ... Sie ... sind ...? EVA: (mit eisiger Ruhe) Das Erstaunen war ganz meinerseits, als sich dieser etwas unerwartete Besuch melden ließ. OCTAVE: (sich gewaltsam meisternd) Ich hatte ja keine Ahnung, daß - (stockt) SieEVA: (rasch fortsetzend) Daß ich die Dame bin, der zu Ehren der Herzog von Morny das Souper gibt. OCTAVE (will etwas erwidern). EVA: Oh, ich weiß, Ihr Besuch ist ein Akt der Höflichkeit gegen die Freundin des Herzogs, der Sie, Herr Flaubert, zum Souper geladen hat. OCTAVE, DIENER,
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Eva, Klavierauszug; Soufflier- und Regiebuch, W i e n / L e i p z i g / B e r l i n 1911. Linke Spalte des folgenden Beispiels: Soufflier- und Regiebuch, S. 132-140; rechte Spalte: Beschreibung des musikalischen Verlaufs. 217
OCTAVE: (tonlos) Jetzt weiß ich also auch, wer diese Freundin ist. EVA: (eisig lächelnd) Wir sehen uns also beim Herzog. Ihre Anstandsvisite bei mir nehme ich zur Kenntnis. (Sarkastisch) Unter so guten Bekannten war das eigentlich überflüssig. Au revoir! (Nickt ein wenig mit dem Kopf und wendet sich zum Gehen und sagt dann in scheinbar harmlosem Tone) Ich muß mich nämlich noch ein bißchen schön machen - Verzeihung! (Will ab.) OCTAVE: (stürzt die Stufen zum Salon hinauf, an Eva vorbei und vertritt ihr den Weg, bebend) Bleiben Sie! Ich muß mit Ihnen reden! EVA: (scharf betonend) Ich wüßte nicht ... was wir beide uns noch zu sagen hätten ... OCTAVE: (hervorbrechend) Was wollen Sie bei dem Herzog? (Er hat sie beim Handgelenk erfaßt.) EVA: (sich losreißend) Wer hat ein Recht, zu fragen, wohin mein Weg geht...? Sie? Sie ... am allerwenigsten! ...
EVA: (mit höhnischer Geschmeidigkeit, etwas leiser gesprochen) Oder nein! Wie undankbar ich doch gegen Sie bin, Herr Flaubert - Sie haben es ja so gut mit mir gemeint ... »Ein Mädel wie Sie, so nett und so fein, Das soll weiter nichts wie Fabriksmädel sein? Das wär' zu alltäglich, Das wär' doch nicht möglich, Danach seh'n Sie wirklich nicht aus! Ich kann's gar nicht fassen, Dazu muß man passen Aus so was, da muß man heraus!« OCTAVE (schweigt betroffen). EVA: Nun, Herr Octave, war es nicht so? Das sind Ihre eigenen Worte. (Drängender) »Die kleinen, zarten, rosigen Händchen, Die sollen für schwere Arbeit sein? Ins Haar gehören Seidenbändchen Und um den schlanken Hals ein Perlenkollier ...« Nun, Herr Octave, war es nicht so? Das sind Ihre eigenen Worte. OCTAVE: (tonlos) Das sagte ich damals. EVA: (steigernd, blickt, ganz im Banne der Erinnerung, starr vor sich hin) ... Dann sollt' ich zurück ins Kleine, ins Enge, Zurück in die dumpfe, alltägliche Not Da riß ich mich los - hinaus ins Gedränge, Hinaus in die Welt, was immer auch droht! 218
Musikeinsatz: Nr. 18 (Finale III)
Eva zitiert hier Octaves Schmeicheleien aus dem Finale I, die schon bei ihrer ersten Wiederholung im Finale II einen negativen Beigeschmack erhalten haben, weil Octave Eva kurz zuvor eröffnet hat, seine Behauptung, er wolle sie heiraten, sei nur eine »kleine Notlüge« gegenüber ihrem aufgebrachten Pflegevater gewesen.
Es schlummerte in mir das Blut meiner Mutter! (Mit großer Geste gegen Octave) Sie haben es aufgepeitscht in mir, Sie waren es, der diesen Weg mir zeigte Sie finden auf diesem Weg mich hier! ... Ein Abenteuer war's für Sie ... Was es für mich war, Herr Flaubert, Das können Sie nicht ermessen! (In größter innerer Bewegung) Für mich war's das Ende der ganzen Welt, Ein tödliches Dunkel, durch nichts erhellt, Der Abschied vom Frühling, Der Abschied vom Glück, Und nimmer kehrt diese Stunde zurück! (Sie bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen.) EVA (läßt die Arme langsam sinken, dann blickt sie Octave an; sie reicht ihm mit Entschluß die Hand). O C T A V E (faßt ihre Hand und will sie an sich ziehen; Eva entzieht ihm die Hand). EVA: (halblaut) Octave - vergessen Sie mich - (stockt) wie - ich Sie - vergessen habe! (Will ab.) O C T A V E : (ihr nachstürzend) Und heute abend? EVA: (richtet sich auf, triumphierend) Heute abend bin ich beim Herzog! (Ab über die Stufen durch den Salon nach links.) O C T A V E : (blickt Eva fassungslos nach; dann geht er langsam die Stufen herab in den Garten, er läßt sich wie betäubt in einen Sessel fallen; für sich) ... Ich war's, der diesen Weg ihr zeigte ... Vorbei! ... (Er starrt vor sich hin. Mondlicht fällt auf ihn.) (Eine Zofe erscheint im Salon und dreht das elektrische Licht ab, so daß nur rechts und links eine Kerzenflamme brennen bleibt. Dann zieht die Zofe den Seidenvorhang, der z.um Boudoir führt, beiseite, so daß jetzt der dünne Spitzenvorhang sichtbar wird; das Boudoir ist mit einer rosa Ampel zart beleuchtet. Zofe ab in das Boudoir, hantiert dort unaufdringlich am Toilettentisch. Vom Garten rechts erscheint der Chauffeur Octaves, er geht auf Octave zu, bleibt in einiger Entfernung stehen, lüftet die Kappe.)
Das Orchester setzt ein mit Motiven aus Evas Lied Nr. 2, in dem sie sich Kindheitserinnerungen an ihre verführerisch schöne Mutter hingab, deren Sehnsucht nach einem Leben in Luxus und Leidenschaft Eva geerbt hat.
Beginn Melodram: Im Orchester setzt hier das »Liebesthema« ein, das erstmals in Nr. 10 (Melodram und Duett) als musikalische Begleitung eines langen Dialogs des Begehrens erklungen war und wenig später mit folgendem Text verknüpft wurde: »Schwül aus tiefen Kehlen lockt dich ein Duft, Und eine leise Stimme dich ruft, So wundersüß wie Nachtigallenschlag, Und leicht mit gold'nen Schwingen naht dir ein Glück! Es weicht der trübe Alltag zurück, Mit tausend Sonnen strahlt ein neuer schön'rer Tag! Ein Wahn, ein Trugbild ist das alles vielleicht, ...«
Herr Flaubert, die anderen Herrschaften fahren voraus; soll ich auch ankurbeln?
CHAUFFEUR:
219
(wie abwesend) J a . . . ich... komme... gleich ... (Rasch) Wir fahren nach Hause.
OCTAVE:
CHAUFFEUR OCTAVE
(ab).
(stützt den Kopf in eine Hand).
(Im Boudoir ist Eva erschienen, sie steht vor dem großen Spiegel. Die Zofe befestigt in ihrem Haar eine Brillantagraffe und ordnet noch einiges an Evas Toilette. Dann gibt sie ihr einen reichen, duftigen Abendmantel um die Schultern. Eva betrachtet sich, noch einen Handspiegel zu Hilfe nehmend, im großen Spiegel.) (erblickt Eva, hingerissen, leise vorsieh hin) Mädel, mein süßes Aschenbrödel du, Das Bäumchen, es warf dir diese Perlen zu ... Und glaubst du an dieses holde Märchen (sich selbst ironisierend mit Bitterkeit) Es schenkt den Königssohn Dir zum Lohn C H O R : (hinter der Szene) Und wie sie ausseh'n, diese zarten Dinger, So schlank gewachsen wie ein kleiner Finger, Und wie sie duften, Violette de Parme, Ach, diese Grazie und dieser Charme! (Gesang verhallt.)
Fortsetzung Melodram: Im Orchester erklingt das Thema von Octaves Verführungsgesang aus Nr. 13 (Melodram und Duett). Ende des Melodrams.
OCTAVE:
(Die Zofe schlägt den Spitzenvorhang zurück, Eva tritt in den Salon, der Salon ist jetzt vom Mondschein beleuchtet, während der Garten und Octave jetzt mehr im Dunkel liegen; die Zofe ist ins Boudoir zurückgetreten und verschwindet.) EVA: (im Salon, sich unbeobachtet glaubend, während Octave ungesehen, kein Auge von ihr wendet; leise vor sich hin) So war meine Mutter So möchte ich sein Umstrahlt von des Märchens lockendem Schein! So war meine Mutter Wie ich sie seh' So fühl' ich der Mutter seltsame Näh'! ... O C T A V E : (hingerissen, stürzt ihr zu Füßen und umfaßt ihre Knie) Eva! ... EVA: (erschauernd) Octave! - Sie - noch - hier - ? 220
Octave zitiert seinen schmeichelnden Walzer aus Nr. 13.
Reminiszenz: Marsch Nr. 8 über den Charme und die Verführungskunst der Pariser Mädchen, die f ü r Octaves Vergangenheit als Lebemann stehen. Stummes Spiel, dann Gesang: Zur Musik aus Evas Lied Nr. 2 wird Evas Vision über ihre Mutter als Tableau inszeniert; Eva selbst befindet sich jetzt an der Stelle ihrer Mutter.
Beginn Melodram: Dem hier einsetzenden musikalischen
(ganz leise una innig) Eva - hast du mich wirklich nicht mehr lieb? Hast du mich vergessen ...? EVA: (ihn z.u sich emporziehend, sich hingebend - wie gehaucht) Vergessen... an alles vergessen! (Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter, Octave schließt sie in seine Arme.) OCTAVE: Und der Herzog? EVA: (in seinem Arm, schelmisch zu Octave aufblikkend) Der existiert nicht mehr! O C T A V E (küßt sie). B E I D E : Sag' ich zum Glück: Komm', komm'! OCTAVE:
Thema aus dem Walzerteil von Evas Lied Nr. 2 entspricht der Text: »Wär' es auch nichts als ein Augenblick, Wär' es auch nichts als ein Traum vom Glück L-. .J War's nur ein Trugbild, ein Wahn, ein Phantom, Sag' ich zum Glück ...« Das Melodram geht in die Schlußzeile von Evas Lied über, das Octave und Eva in Nr. 13 bereits gemeinsam gesungen hatten.
Eva, die Geschichte eines in sinnliche Traumwelten eingesponnenen Fabriksmädchens und eines leichtsinnigen Pariser Lebemanns, stellt wie die übrigen modernen Gesellschaftsoperetten des frühen 20. Jahrhunderts jenes Thema in den Mittelpunkt, das auch in der städtischen Gesellschaft ein zentraler Gegenstand des Interesses war: das erotische Begehren. Die Operette reagierte damit gleichermaßen auf die exzessiv geführten wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Debatten rund um das Thema Sexualität, in denen der Sexualität der Frau und vermeintlichen sexuellen >Abnormitäten< besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wie auf entsprechende Tendenzen der zeitgenössischen Literatur und bildenden Kunst, die sich nicht zuletzt mit der Sexualmoral der bürgerlichen Gesellschaft und den ihr inhärenten Ängsten und Verdrängungsstrategien produktiv auseinandersetzten. 22 Was den Effekt dieser modernen Operetten auf das Publikum betrifft, gilt es zunächst zu berücksichtigen, wie ungewohnt, ja sensationell die Fokussierung auf Fragen der Erotik und eine entsprechende musikdramatische Ausarbeitung vor dem Hintergrund der nur kurz zurückliegenden Operettenproduktion etwa Strauß', Millöckers oder Zellers wirkten. Die entscheidende Folie für diese Wirkung aber war die Alltagsrealität des Publikums, die - jenseits der Dramatik eines Frank Wedekind oder der Großstadtliteratur eines Peter Altenberg - unverändert von einer patriarchalischen Familienideologie geprägt und trotz aller Debatten sowohl von Ansätzen zu einer sexuellen Befreiung als auch von den zeitgenössischen Bestrebungen um eine Emanzipation der Frau noch kaum berührt war. Eine aufschlußreiche Analyse dieser Realität, der ihr zugrunde22
Als grundlegende Darstellung dieses Themenkomplexes kann nach wie vor die Dissertation von Nike Wagner gelten: N. Wagner, Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt a. M. 1982. 221
liegenden Doppelmoral und der entsprechenden sozialen und medizinischen Konsequenzen hat Sigmund Freud in seinem Aufsatz Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität aus dem Jahr 1908 geliefert.23 Überblickt man den Umgang der modernen Operette mit der Thematik des Begehrens im Kontext der geltenden bürgerlichen Ideologie, so wird deutlich, daß es nicht die bloße Pikanterie, ein Stück unverhüllte Haut, eine laszive Pose oder verbale Zweideutigkeiten waren, die den aufwühlenden Reiz jener Bühnenwerke ausmachten. Dieser lag vielmehr darin begründet, daß in den Begegnungen des I. Paares Vorstellungen von Erotik und Sinnlichkeit evoziert wurden, die gewissermaßen a-sozial waren, insofern die Zweisamkeit der Liebenden und sich Begehrenden nicht auf das Konzept >Familie< zielte. Es wird zu zeigen sein, daß sich die Operette der Metropole damit grundlegend von der nicht zuletzt mit dem Namen Alexander Girardi verbundenen Operette der Residenzstadt und deren musikalischer Dramaturgie unterschied. Die Operette der Metropole besaß in ihren Protagonisten keine Wertorientiertheit im Sinne der bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaft, das Begehren der Hauptfiguren richtete sich ausschließlich auf die/den jeweils andere(n) als Frau oder Mann, und in diesem Begehren stand das Paar außerhalb sozialer Realitäten. (Dem widerspricht nicht, daß dieses Begehren in der Regel zu einer Ehe führte.) Die besondere Position des I. Paares wird durch die beiden anderen Formen von Liebe und Sexualität unterstrichen, die sich in den betreffenden Werken finden, nämlich die Liebesauffassung der Halbwelt oder Boheme und jene Liebesauffassung, die am Buffopaar exemplifiziert wird. In der Liebesauffassung der Boheme erweist sich das quasi antibürgerliche Begehren des I. Paares ins Extrem der Promiskuität gesteigert: Danilos Beziehung zu den Grisetten des Maxim (Die lustige Witwe), das pikante Verhältnis zwischen Fredy Wehrburg, Hans von Schlick und der Löwenbändigerin und Chansonette Olga Labinska (Die Dollarprinzessin), das lockere Leben Renes (Der Graf von Luxemburg), die von Octave beschworenen »Geister vom Montmartre« (Eva) stehen für Vergnügen ohne Verpflichtung und gewähren Einblicke in die gerüchteumwitterte Welt zumal des Theaters und Varietes. Eine gegensätzliche Liebesauffassung repräsentiert das II. oder Buffopaar: Zwar entstammt nicht selten einer der beiden Partner der Sphäre der Boheme, doch stets entwickelt sich die - ohnehin ungefährdete - Beziehung zwischen Buffo und Soubrette zügig auf Heirat und Kinder zu und bildet insofern das gültige bürgerliche Paar- bzw. Familienmodell ab.24 Während Liebe und Sexualität also am Beispiel des Buffopaars und an den Nebenfiguren in oberflächlich23
24
222
Sigmund Freud, Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 7: Werke aus den Jahren 1906-1909, London 1941, S. 141-167. Beispielhaft hierfür können gelten: Daisy/Hans in Die Dollarprinzessin, Juliette/ Armand in Der Graf von Luxemburg, Jolan/Kajetan in Zigeunerliebe, Pipsi/Dagobert in Eva, Carmen/Don Gil in Die ideale Gattin und Tilly/Willy in Endlich allein.
unterhaltsamer oder gar komischer Weise abgehandelt werden, sind sie im Fall des I. Paares mit der neuen Innerlichkeit, der psychologischen Perspektive verknüpft. Erst in dieser Verknüpfung mit dem Seelenleben der Protagonisten und den zu seiner Darstellung entwickelten neuartigen musikdramatischen Mitteln entfaltete sich das Thema Sexualität zu jenem Panorama des Begehrens, das die moderne Gesellschaftsoperette in besonderer Weise auszeichnete. Von den zahlreichen Einzelaspekten der >sexuellen FrageKampf der Geschlechten zu einem der beliebtesten und variantenreichsten Motive. Selbstredend wurde dabei die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau nicht ernsthaft auf den Prüfstand gestellt; unter dem Stichwort >Kampf der Geschlechten ließen sich vielmehr unterschiedlichste Konstellationen des Begehrens entfalten, denen als zusätzliches Spannungsmoment eine Spur vermeintlicher Perversität anhaftete. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Leo Falls, Alfred Maria Willners und Fritz Grünbaums Die Dollarprinzessin von 1907. Bereits das Personenverzeichnis spielt auf aktuelle Themen an, wenn etwa in bezug auf Alice und Fredy gleichermaßen der »energische Charakter« betont oder Olga Labinska - Wedekinds Lulu-Prolog ist nicht weit - als »Chansonette im Löwenkäfig. Sehr pikante, schöne Brünette, beaute du diable, Überweib, immer die Hetzpeitsche in der Hand«25 eingeführt wird. Das Motiv des Überweibs, das im Fall von Olga in seiner Zuspitzung ironisierend erscheint, wird im Fall Alices und Fredys zum durchaus ernstgemeinten Ausgangspunkt des erotischen Konflikts. Alice, die Tochter des New Yorker Milliardärs John Couder, sieht sich selbst, wie sie in ihrem Auftrittslied verkündet, als »echtes Selfmademädel / Von echter Yankeeraß« (Nr. 1: Introduktion - Lied der Alice und Chor) und in einem Ehemann »ein dekoratives Möbelstück, am Ende überflüssig - aber es >repräsentiert< sozusagen!« Auf die Frage ihres Vaters, ob sie plane zu heiraten, antwortet sie pragmatisch-emanzipiert: »Warum nicht? Wenn mir's g'rad' einmal Spaß macht, dann kauf' ich mir so einen Hampelmann. Wenn ich dann abends müde nach Hause komme, wär' es ganz nett, mit einem Mann ein paar Stunden zu plaudern - etwa so, wie man mit einem Schoßhündchen spielt.«26 Der Blick auf Männer, den Alice hier äußert, kehrt in gewisser Hinsicht die zeitgenössische Realität wohlsituierter Kreise um, in denen der attraktiven Hausfrau die Rolle des dekorativen Repräsentierens zufiel. Unvereinbar sind Alices >moderne< und >unweibliche< Vorstellungen mit denjenigen Fredys, der sich vorgenommen hat, Alices Willen zu brechen, und dabei - ebenfalls bereits in seinem Auftrittslied - eine äußerst ambivalente Sichtweise auf die Beziehung Mann-Frau entwickelt: Er sucht die erotische Herausforderung durch eine starke Gegnerin, die er in Wahrung der männlichen Dominanz bezwingen 25 26
Die Dollarprinzessin, Ebd., S.9.
vollständiges Regiebuch, Wien/Berlin/New York 1907, S. 2.
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muß, um sich ihr dann allerdings willig zu beugen. Diesem Plan entsprechend durchläuft das Strophenlied Fredys (Nr. 4) drei Stufen der musikalischen Gestaltung und geht von einem stark punktierten, tändelnden, musikalisch wie textlich bildhaften ersten Strophenteil zu einem im Tempo bereits reduzierten, chromatisch gefärbten zweiten Strophenteil und schließlich zu einem »zart schwärmerischen« und zugleich höchst sinnlichen langsamen Walzerrefrain über; die Komposition vollzieht damit die zunehmende Hinwendung an die Gefühlsebene nach, wie der Text sie vorgibt.27 I.
II.
Ein Röslein auf der Heide war Ja nie recht mein Geschmack, Blondzöpfchen, blaues Augenpaar, Das find' ich alle Tag: Ein Rößlein auf der Weide ja, Ein Füllen zügellos, Dem keiner j e sich wagte nah, So was, das ist famos!
Nach Vaters Wunsch da sollt' ich nur Ein heimisch Mädchen frei'n, Ich fühlt' von Liebe keine Spur, Und sagte einfach: Nein. Ganz anderes liegt mir im Sinn Als Mädchen meiner Wahl: Nur die Amerikanerin, Sie ist mein Ideal!
Ich schmachte nicht wie Tasso, Schwing' lieber meinen Lasso Und mach' mir ein Plaisirchen, Zu hetzen scharf das Tierchen. Schwupps sitzt am Hals die Schlinge, Mit der ich es bezwinge Ein Ruck - nun ist's gescheh'n um dich: Ich biege dich! Und hat sich dann das Schätzchen Ergeben ins Geschick, Sich abgewöhnt die Mätzchen, Beugt folgsam das Genick Ja dann - ja dann - j a dann -
Ein Überweib, exzentrisch, Voll Launen, wetterwendisch, So eine möchte' ich zügeln Und kunstgerecht mir striegeln! Die Widerspenst'ge zähmen, Das Wilde ihr benehmen, Ihr zeigen, was ein Mann imstand' Mit starker Hand! Kann wickeln um den Finger Ich sie dann wie ich will, Pariert sie dem Bezwinger In unbedingtem Drill Ja dann - j a dann - j a dann -
Will sie dann lieben treu und heiß Wie nur mein Herz zu lieben weiß, Will auf den Händen sie tragen, Und nie nach einer andern jemals fragen! Will ihr dann sagen: Süßer Schatz, Zu deinen Füßen ist mein Platz, In deinen Augen, himmlisch hold, Fand ich, was ich gewollt.
Will sie dann lieben treu und heiß Wie nur mein Herz zu lieben weiß, Will auf den Händen sie tragen, Und nie nach einer andern jemals fragen! Will ihr dann sagen: Süßer Schatz, Zu deinen Füßen ist mein Platz, In deinen Augen, himmlisch hold, Fand ich, was ich gewollt. 28
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Auch in Fredys Lied werden Bilder aus Wedekinds Lulu-Prolog aufgenommen. Frank Wedekind, Lulu. Erdgeist. Die Büchse der Pandora, hrsg. v. Erhard Weidl, Stuttgart 1989, S. 7-10. Die Dollarprinzessin, Regiebuch, S. 25ff.; Klavierauszug, S. 24ff.
Den Gesetzmäßigkeiten der musikalischen Massenunterhaltung folgend, sind es natürlich Fredys und nicht Alices Vorstellungen vom Verhältnis der Geschlechter, die sich letztlich durchsetzen. Wie im Lied angekündigt, gelingt es Fredy, Alice nach wiederholten sinnlichen Gefechten zu zähmen. Der erotische Konflikt kulminiert im Schlußduett Nr. 15, das mit seiner Reminiszenztechnik mehrere vorangegangene Nummern aufgreift und in eine Wiederholung von Fredys Lied mündet. Die Entwicklung der Beziehung zwischen Alice und Fredy kommentieren die Szenenanweisungen im Regiebuch, die den Liedtext quasi bebildern: (hingerissen). Ο nimm mich hin, geliebter Mann! (Fliegt ihm an den Hals). F R E D Y (drückt sie an sich und legt ihr Köpfchen an seine Brust). Und hat sich dann das Schätzchen Ergeben ins Geschick, Sich abgewöhnt die Mätzchen, Beugt folgsam das Genick Ja dann - ja dann - ja dann Will dich nun lieben treu und heiß, (Kniet vor ihr.) Wie nur mein Herz zu lieben weiß, Will auf den Händen sie tragen, Und nie nach einer andern jemals fragen! B E I D E . Will dir dann sagen: »Süßer Schatz, Zu deinen Füßen ist mein Platz. (Erhebt sich.) In deinen Augen, himmlisch hold Fand ich, [: was ich gewollt.«:] (Während des Nachspieles will Alice niederknieen, Fredy verhindert es und dreht sie in seinen Arm und küßt sie.) ALICE
V O R H A N G FÄLLT LANGSAM. 2 9
Die breite publizistische und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Sexualität, wie sie um die Jahrhundertwende geführt wurde, rückte auch Details des Ehelebens in den Blick, die bislang in der Öffentlichkeit unaussprechbar gewesen waren. Ein Forum für vorgeblich problembezogene, tatsächlich aber in erster Linie von Sensationsgier getragene Diskussionen zu diesem Gegenstand waren der Gerichtssaal und die entsprechenden Zeitungsrubriken. Karl Kraus' bitterböse Kommentare zur gängigen Praxis der Gerichte und Zeitungen, mit Fragen der Sexualität zu verfahren, und seine Angriffe auf die Doppelmoral der betreffenden Urteile und Verurteilungen sind einschlägig. Der I. Akt von Leo Falls und Victor Leons Operette Die geschiedene Frau (1908), die Verhandlung im Scheidungsprozeß Lysse29
Die Dollarprinzessin,
Regiebuch, S. 134; Klavierauszug, S. 177ff. 225
weghe, greift zahlreiche Aspekte dieser Praxis auf: die voyeuristische Lust an der Enthüllung ehelicher Intimitäten, das Skandalon öffentlich propagierter »freier Liebe«, die Reaktionen des Publikums, das nach pikanten Details giert, und der Beisitzer, die ihre Erregtheit nur mit Mühen hinter einer moralischen Attitüde verbergen können, schließlich die Heranziehung sogenannter »Sachverständiger«, die aus der Perspektive der modernen Psychologie (ein junger Gelehrter) beziehungsweise eines vermeintlichen Erfahrungswissens (ein alter Gelehrter)3" den Streitfall beurteilen sollen. Dieser besteht darin, daß der glücklich verheiratete Karel van Lysseweghe mit der attraktiven Gonda van der Loo eine Nacht - wie er versichert unfreiwillig - in einem Schlafcoupe zugebracht hat, für Kareis Ehefrau Jana ein eindeutiger Scheidungsgrund, zumal es sich bei Gonda um eine Verfechterin der »freien Liebe« und die Redaktrice der gleichnamigen Zeitschrift handelt. Die Dramaturgie setzt auf der musikalischen und der Handlungsebene durchgehend zwei Formen der Sinnlichkeit gegeneinander: das Begehren des (Nicht-mehr-)Ehepaars und das erotische Credo der Vertreterin der freien Liebe. Den beiden Sphären entsprechen musikalische Themen, die im Laufe des Stückes vielfältig kombiniert und kontrastiert werden: Gonda und ihrem Programm der freien Liebe sind das zentrale Walzerthema aus dem »Lied vom Schlafcoupe« (Nr. 4) und das Marschthema aus dem Finale I (»Jede Ehe ist ein Zwang, Liebe, sie ist frei!«) zugeordnet, die Sinnlichkeit des Ehelebens markieren der Walzerrefrain aus dem Duett »Kind, du kannst tanzen wie meine Frau« (Nr. 8) und einige Motive aus dem »Zärtlichkeitsterzett« (Nr. 9). Als Inbegriff der modernen Gesellschaftsoperette und ihrer dramaturgischen Strategien stellt sich Franz Lehärs Kassenschlager aus dem November 1909 Der Graf von Luxemburg dar. Obzwar ohne Louis Treumann uraufgeführt - dieser spielte seit Oktober 1909 am Johann-Strauß-Theater in Fürstenkind und übernahm die Titelpartie des Grafen von Luxemburg erst 1911 - , entspricht das Stück gänzlich dem Modell der Treumann-Operette und die Titelrolle jenem modernen sinnlichen Fach, das seit der Lustigen Witwe fest mit 30
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»PRÄSIDENT. Herr Professor Tjonger! [.. .1 Sagen Sie uns als Psychologe, halten Sie es für möglich, daß ein Mann mit dieser ungewöhnlich reizvollen Dame eine ganze Nacht zusammen sein kann, ohne daß es - Sie verstehen? L.. .J TJONGER (sehr trokken, aber klar zergliedernd). Nicht nur nach allen physiologischen Erfahrungen, daß das Männchen seiner Natur nach zum Weibchen hingezogen wird, nicht nur, wenn der Mann KEINE Gelegenheit dazu hat, umsomehr aber, WENN er Gelegenheit dazu hat, besonders aber aus dem rein psychologischen Grunde, daß ein Mann im Falle der günstigen Gelegenheit IMMER auf seinen erotischen Vorteil bedacht ist, halte ich die angebliche Tatsache, daß nichts vorgefallen sei, für total unmöglich und für absolut ausgeschlossen! [...] PRÄSIDENT. Herr Professor Wiesum, ich bitte um IHRE Meinung! W I E S U M (alter Herr, der während der Rede Tjongers schon Zeichen der Nervosität und Ungeduld, äußerte, tritt vor.) Hoher Gerichtshof! Die Erfahrung lehrt, daß Mann und Frau JAHRELANG beieinander sein können, ohne daß das GERINGSTE vorfallen muß.« - Die geschiedene Frau, vollständiges Soufflierbuch mit sämtlichen Regiebemerkungen, Leipzig/Wien 1908, S. 38f.
d e m N a m e n T r e u m a n n verbunden war. Auf der Basis der mit T r e u m a n n u n d M i z z i Günther etablierten Figurenkonstellation I. P a a r - B u f f o p a a r - K o m i kerrolle u n d unter Einbeziehung der neu entwickelten m u s i k d r a m a t i s c h e n V e r f a h r e n wie M e l o d r a m - und M o t i v t e c h n i k entfalten Lehär, die Librettisten A l f r e d M a r i a W i l l n e r und Robert B o d a n z k y , der C h r o r e o g r a p h L o u i s G u n d lach u n d der Regisseur Karl Wallner eine D r a m a t u r g i e der Sinnlichkeit, die das Terrain der lokal g e b u n d e n e n Unterhaltung vollständig verläßt. I m Z e n t r u m der Operette stehen die Körperlichkeit u n d die Emotionalität m o d e r n e r G r o ß s t a d t m e n s c h e n , die den e b e n s o m o d e r n e n Zuschauer b e r ü h r e n sollen, nicht m e h r j e n e s mit der W i e n e r Vorstadttradition v e r b u n d e n e K o n z e p t des Theatralischen, innerhalb dessen Kasperl und Wurstel, Nestroy und Girardi in j e d e m M o m e n t als Spielende w a h r g e n o m m e n werden wollten. 3 1 In Paris, lanuar und April 1906. I.Akt, im Atelier des Malers Armand Brissard, 18.Januar. Während ausgelassene Maskenzüge durch die Straßen von Paris tanzen, treffen sich in Armands Atelier erfolglose Künstler und notorische Habenichtse: Armand hat sich bislang vergeblich bemüht, seine Freundin Juliette als Modell für einen karrierefördernden Akt (»ein Venusbild, wie es noch keiner in sich getragen hat«) zu gewinnen, kann seinen Malerkollegen heute aber immerhin riesige Platten mit Eßbarem servieren, die der benachbarte Delikatessenhändler als Modell für ein Stilleben zur Verfügung gestellt hat.32 Armands Freund Rene Graf von Luxemburg ist als Künstler wie als Erbe und Großgrundbesitzer gescheitert - das Geld seines Vaters hat er durchgebracht, die russischen Güter sind konfisziert - , gleichwohl wird er, der Frauenheld, heute als strahlender König des Karnevals, als »Märchenprinz aus Karnevals Reich« gefeiert. Wie das »Vehmgericht« wirken in dem bunten Treiben drei schwarze Dominos, die Rene gefolgt sind. Es sind Beauftragte des ältlichen Fürsten Basil Basilowitsch, die diesem bei einem eigenartigen Vorhaben assistieren sollen: Basil will die junge Operndiva Angele Didier zu seiner Frau machen; da aber der 31
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Bezeichnenderweise trifft sich Karl Kraus' Kritik an der »modernen Salonoperette« und ihrer Psychologie, der er die »phantasiebelebende Unvernunft« etwa Offenbachs gegenüberstellt, in der Argumentation mit Wsewolod E. Meyerholds Kritik am psychologischen Realismus, wie er seit 1898 als ästhetisches Programm am Moskauer Künstlertheater umgesetzt wurde. Beide, Kraus und Meyerhold, plädieren für eine Hinwendung zu den antinaturalistischen Bühnenmitteln, die für zahlreiche Formen des Volkstheaters charakteristisch sind. Vgl. Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne-, W.E.Meyerhold, Balagan, in: ders., Schriften, Bd. 1 (1891-1917), Berlin 1979, S. 196-220. Die »Gelageszene« mit den Malern Saville (»ein dicker Kerl, Typus eines verbummelten Künstlers, jovial, immer lachend«), Boulanger (»mager, Spitzbart, nervös«), Lavigne und Marchand und ihren Modellen greift die entsprechenden Szenen aus Giacomo Puccinis Oper La Boheme auf, die 1897 - ebenfalls am Theater an der Wien - unter größtem Publikumserfolg ihre Wiener Erstaufführung erlebt hatte. (Die Budapester Orpheumgesellschaft reagierte auf den Erfolg von Die Boheme mit dem Stück Der Beheme. Seit 1903 befand sich La Boheme im Repertoire der Hofoper.) Der Graf von Luxemburg, Operette in drei Akten von Alfred Maria Willner und Robert Bodanzky, Musik von Franz Lehär, vollständiges Regiebuch, Wien/Leipzig/New York 1909, I.Akt, 2.Szene. - Die im Text folgenden Seitenangaben nach dieser Ausgabe. 227
Einspruch des Zaren gegen die Heirat mit einer Bürgerlichen zu befürchten ist, soll Angele eine zeitlich befristete Scheinehe mit einem ihr unbekannten Adligen eingehen, um so zu einer passenden Partie f ü r den Fürsten zu avancieren. Die Trauung soll sofort an Ort und Stelle vonstatten gehen und die Ehe nach drei Monaten wieder geschieden werden. Die Braut Angele, so wird bald deutlich, betrachtet Basils Arrangement nüchtern: Basil hat sie ausbilden lassen, und aus Dankbarkeit hat sie i h m ein Eheversprechen gegeben. Sie ist jedoch in keinem Augenblick bereit, Liebe zu heucheln. Rene, von Basil als »Heiratsgraf« vorgesehen, enthält sich angesichts eines Schecks über 5 0 0 0 0 0 Franc jeglicher Einwände und Nachfragen und komplimentiert die Faschingsgesellschaft hinaus. Er wird Angele heiraten, ohne sie zu Gesicht zu bekommen, und dann f ü r drei Monate Paris verlassen. Mit seinem Ehrenwort verpflichtet er sich zur Einhaltung aller Abmachungen und zu absoluter Verschwiegenheit. Nachdem eine großformatige alte Kohleskizze Renes, den Altar von Notre-Dame darstellend, als Trennwand in Position gebracht wurde, beginnt die Zeremonie. Während Basil und seine Helfer um schnelle Abwicklung der Formalitäten bemüht sind und allzu große Annäherungen zwischen Rene und Angele zu verhindern suchen, entsteht zwischen diesen beiden, die sich nicht kennen und nicht sehen, ein geheimnisvolles Band: Beim Ja-Wort, beim Ringwechsel und bei der Unterzeichnung des Ehevertrags nehmen sie die Stimme, die Hand und die Schrift des jeweils anderen wahr, und diese von der Ganzheit der Person losgelösten körperlichen Details verknüpfen sich f ü r beide mit langgehegten Träumen zu einer Vision des Liebesglücks. Aus diesem Augenblick der Verzauberung f ü h r t Basil Angele mit sich fort, Rene verliert sich in Phantasien über Angeles Hand. Erst die zurückkehrende Karnevalsgesellschaft weckt ihn aus seiner Verzückung. Er wird samt der 500 000 Franc und begleitet von Armand Paris verlassen. II. Akt, Wintergarten im Palais der Opernsängerin Angele Didier, 17. April, elf Uhr nachts. Angele wird nach ihrer Abschiedsvorstellung von zahlreichen Bewunderern aus der feinsten Pariser Gesellschaft erwartet. Die Scheidung von dem unbekannten Ehemann steht unmittelbar bevor, ebenso die Verheiratung mit Basil. Gerade in dieser Situation hat eine Begegnung in der Oper Angele an ihrem vorgezeichneten Weg irre werden lassen: Ein Fremder in der Loge hat sie mit seinem Blick gebannt, ungekannte Sehnsüchte verdecken plötzlich ihr Pflichtgefühl gegenüber Basil. Der Fremde, der sich nun bei ihr unter dem Namen Baron von Reval melden läßt, ist niemand anderer als Rene, der tags zuvor mit Armand nach Paris zurückgekehrt ist und nicht ahnt, daß jenes »Weib, so schön und herrlich«, durch ein »Fatum« ihm bestimmt, seine Ehefrau ist. Juliette, die - von Armand vor drei Monaten kommentarlos zurückgelassen - inzwischen Angeles Gesellschafterin geworden ist, erklärt Rene, daß Angele kurz vor der Eheschließung mit einer »hochgestellten Persönlichkeit« stehe. Während Juliette und A r m a n d sich rasch darauf einigen können, daß Armand sein Venusbild malen darf, sobald er mit Juliette das Standesamt aufgesucht hat, scheint Renes Sehnen aussichtslos: Angele erinnert ihn nicht nur an ihr Eheversprechen gegenüber jener »hochgestellten Persönlichkeit«, sondern muß ihm darüber hinaus eingestehen, daß sie bereits verheiratet ist. Ihre Vernunftgründe und Ermahnungen, »nicht nach den Sternen« zu greifen, gehen jedoch letztlich unter in Renes leidenschaftlichem Werben. Entsprechend nervös und unwillig reagiert Angele auf die peinlichen Liebesbezeigungen Basils, der unerwartet aus Petersburg eingetroffen ist, um Angeles Scheidung abzuwikkeln und die gemeinsame Hochzeitsreise zu planen. Rene seinerseits ist überrascht, auf Angeles Ball jenen Herrn wiederzutreffen, der ihn als Heiratsgraf engagiert hat. Er ahnt weder, in welcher Beziehung Basil zu Angele steht, noch daß er selbst Angele schon einmal begegnet und mit ihr verheiratet ist. Basil müht sich, diese Tatsache auch weiterhin vor Rene zu verbergen. Er erinnert Rene an sein Ehrenwort und fordert ihn auf, sein Inkognito eines Baron von Reval vorerst zu wahren und 228
den Ball unter einem Vorwand sofort zu verlassen. Rene ist bereit, sich dem Appell an sein Ehrenwort zu fügen. Doch da evoziert ein Handschuh Angeles eine sinnliche Vision, in der sich erotische Wunschträume, Renes Erinnerung an die unbekannte, nur als kleine Hand, als Duft und als Stimme wahrgenommene Braut und die rasch entflammte Leidenschaft für jene Angele mischen, die er erst heute kennengelernt zu haben glaubt. Rene ist entschlossen, um Angele zu kämpfen. Basil bemerkt eine Veränderung an Angele und sucht sich durch Flucht nach vorne zu retten: Er gibt vor Angeles Gästen seine Verlobung mit ihr bekannt. Auch die drei Monate zurückliegende Scheinheirat kommt ans Licht, und ahnungslos verhöhnt Angele jenen »Heiratsgrafen«, der sich von Basil für eine Zeremonie kaufen ließ. Zu ihrem Entsetzen konfrontiert Rene sie mit der Tatsache, daß er jener Heiratsgraf gewesen sei. Er kann auf Angeles Hohn kontern: Sie sei bereit, sich für einen Fürstentitel zu verkaufen, und habe dafür seinen Grafentitel gebraucht. Doch nur kurz hält der gegenseitige Vorwurf an, eine Ehe um des Geldes willen eingegangen zu sein. Angele und Rene tauchen erneut in jene geheimnisvolle Sphäre ein, die sie - als einander unbekannte Personen - während der Trauung umfangen hatte und den jeweils anderen für einen Augenblick als Erfüllung aller Sehnsüchte erscheinen ließ. Basil unterbricht das Liebesgeständnis: Rene ist ihm durch sein Ehrenwort verpflichtet, die Scheidung muß vollzogen werden. Rene versichert, in Angele Basils Braut zu respektieren, und verläßt mit ihr den Ball. III. Akt, im Foyer des Grand Hotel, 18. April, 4.45 Uhr früh. Im Grand Hotel, in dem auch Rene und Armand logieren, hat sich eine vornehme russische Dame einquartiert. Es ist die verwitwete Gräfin Stasa Kokozow, die unter allerhöchster Billigung durch den Zaren seit drei Jahren mit Basil verlobt ist und ihn nun endgültig mit einer Heirat beglücken möchte. Obwohl ihre telephonische Nachricht Basil in seinem Palais nicht erreicht hat, trifft dieser im Hotel ein: Er sucht nach Rene und Angele, um zu verhindern, daß Angele ihn, ihren Bräutigam, mit Rene, ihrem Mann, betrügt. Und tatsächlich fällt es Rene immer schwerer, sich an sein Ehrenwort zu halten: Die Wirkung des Cremant-Rose, Angeles Duft des »Trefle incarnat« und ihr Wunsch nach einem Brüderschaftskuß unter Eheleuten versetzen Rene in Ekstase und Verzweiflung zugleich. Beide vergessen in einem Traum von Liebe die Welt um sich. Sie werden von der Gräfin Kokozow aufgeschreckt, die ihnen voller Sympathie von ihrem eigenen bevorstehenden Eheglück berichtet und auch den Namen des Bräutigams verrät: Basil Basilowitsch. Außer sich vor Erleichterung inszeniert Rene die Wiederbegegnung der Gräfin mit Basil. Das Eheversprechen, das Basil ihr gegeben hat, entbindet Rene von seinem Ehrenwort, und ein Telegramm, das die Konfiszierung seiner russischen Güter für aufgehoben erklärt, versetzt Rene in die Lage, Basil die 500000 Franc zurückerstatten zu können. In Renes und Angeles seliges Einverständnis platzen Armand und Juliette: Sie kommen vom Standesamt. Die m u s i k a l i s c h e D r a m a t u r g i e des Grafen von Luxemburg ist i m wesentlichen d a d u r c h gekennzeichnet, d a ß die in der m o d e r n e n G e s e l l s c h a f t s o p e rette übliche Sonderstellung des I. Paares deutlich verstärkt wird. Auf den beiden Protagonisten ruht nicht nur das hauptsächliche Interesse, i h n e n ist auch eine g a n z eigene Sphäre zugeordnet, die mit der sie u m g e b e n d e n lärm e n d e n Realität der Pariser Gesellschaft, der k o m i s c h e n Figur des Basil und seiner E n t o u r a g e und des B u f f o p a a r s J u l i e t t e / A r m a n d kontrastiert. Die R e n e und A n g e l e z u g e o r d n e t e n Szenen f ü h r e n aus j e n e r Realität in Traumwelten, in denen Intimstes enthüllt wird, setzen also der ä u ß e r e n H a n d l u n g die E b e n e des inneren Erlebens entgegen. Dieser Kontrastierung von H a n d l u n g s e b e n e n 229
korrespondiert die kompositorische Anlage: Die Sphäre der Intimität, in die Rene und Angele immer wieder eintauchen, ist konsequent und ausschließlich durch eine Valse moderato gekennzeichnet, 33 während das Treiben der Stadt und ihrer Vertreter Armand, Juliette und Basil sich abwechselnd im Tempo di marcia, im süßlichen Walzer, in gemäßigter Mazurka, als Polka moderato und als Quadrille äußert. Durch ein Geflecht von musikalischen Themen und sinnlichen Bezügen gelingt es Lehär, Willner und Bodanzky, die Innenwelt Renes und Angeles quasi zum Hauptschauplatz der Operette zu machen, der für die Buffoduette, die komischen Auftritte Basils und die Gesellschaftsszenen jeweils nur kurz verlassen wird.34 Auf einer ersten Ebene von Bezügen werden Renes und Angeles seit langem gehegte Sehnsüchte mit ihren Phantasien über den unsichtbar bleibenden Ehepartner überblendet, bevor beide Vorstellungswelten sich mit der rauschartigen Leidenschaft für den »Fremden« beziehungsweise das »herrliche Weib« vermischen. Verknüpft mit diesem Hin und Her von Identitäten und »Idolen« (so Angele im Finale I) ist ein System von erotischen Zeichen, die das innere Erleben Renes und Angeles und damit den Verlauf des Stückes strukturieren. Für Rene sind dies zunächst Angeles Stimme und Tonfall, ihre Hand und ihr Duft, für Angele Renes bartloses Gesicht und seine Art, ihr durch die Trennwand die Hand zu küssen, seine Stimme und seine Schrift. Aus der Faszination, die vom körperlichen Detail ausgeht, wird im Fall Renes die Andeutung eines Fetischismus, da bald ein lebloses Objekt an die Stelle des körperlichen Details tritt: Der Duft und die Hand der unbekannten Braut mußten Rene die Person in ihrer Ganzheit ersetzen, und der Handschuh Angeles, den Rene auf dem Ball an sich nimmt und der wie sie nach Trefle incarnat duftet, wird seinerseits zum Ersatz für die erregende Kleinheit der Hand und damit wiederum für die ganze Person. Die wichtigste musikalische Klammer zwischen der Sehnsucht und den Schritten zu ihrer Erfüllung bildet der Walzer »Bist du's, lachendes Glück«, den das Finale I nach der Trauung von Rene und Angele exponiert; er wird 33
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»Sie geht links, er geht rechts« (Finale I); »Bist du's, lachendes Glück« (Finale I); »Sah nur die kleine Hand, die sich zu meiner fand« (Finale I; zentrales Liebesmotiv ohne feste Textbindung); »Soll ich? Soll ich nicht?« (Nr. 9); »Lieber Freund, man greift nicht nach den Sternen« (Nr. 10); »Es duftet nach Trefle incarnat« (Nr. 12). - Die Nummernzählung bezieht sich hier und im folgenden auf das bezeichnete Regiebuch bzw. den Klavierauszug (Karezag & Wallner, Wien/Leipzig 1909); im zeitgleich erschienenen Textbuch der Gesänge (Wien/New York 1909) und dem Choreographiemanuskript (Wien/Leipzig/New York 1909) findet sich eine abweichende Zählung. An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die vorliegenden Ausführungen zum Grafen von Luxemburg auf der Erstfassung des Stückes und den entsprechenden Noten- und Textmaterialien basieren, die nur mehr schwer zugänglich sind. Im Dritten Reich erstellte Lehär in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Wolf Völker eine Neufassung der Operette (Erstaufführung im März 1937 am Theater des Volkes, Berlin), die den gegenwärtig vertriebenen Materialien zugrunde liegt und auch die Aufführungspraxis seither bestimmt. Vgl. hierzu auch das Schaubild S. 231.
230
hier von beiden unisono gesungen und ist ausdrücklich als eine aus der Wirklichkeit gelöste »Illusion« bezeichnet. RENE
und
ANGELE
(nachdenklich
jedes für
sich):
Bist du's, lachendes Glück, Das jetzt vorüberzieht? Ist das der süße, goldige Traum, Den man nur einmal lebt? Sagt nicht alles in mir Sei gescheit, Heute winkt dir das Glück, Versäum' - verträum' nicht die Zeit, Sehnst umsonst dann zurück Die Lieb' in Lust und Leid. (S. 54) Im folgenden Karnevalstrubel gibt Rene sich - »ins Leere starrend [...] verträumt« - mit dem textlich leicht modifizierten Walzer noch einmal Erinnerungen an die unbekannte Ehefrau hin, von der ihm nur der Eindruck ihrer kleinen Hand geblieben ist. Die Textmotive des Traumes und des Glückes, dem man nachsinnt, werden dann in Angeles »Vision« zu Beginn des II. Aktes aufgegriffen: Der Fremde, den ich heute sah, die Loge rechts der Bühne nah, er sah mich an, ich sah ihn an, als hielte mich ein Zauberbann! Versuchung lockt mit holder Macht wie Nachtigallensang, gleich duft'gem Hauch in schwüler Sommernacht, so süß, so bang! Ein Traum aus Rosenkelchen steigt, dem gern dein Herz sich neigt, ein Traum von Mondenschein umsäumt, den du noch nie geträumt! Ins Herz schlich sich die Liebe ein, die Pflicht sagt mir, es darf nicht sein. Soll ich? Soll ich nicht? Nein, nein, nein, nein, mein Gott, ich darf ja nicht, und doch, der Teufel spricht: Schau, kurz ist der schöne Mai, und dann ist's vorbei, vorbei! Sag' ich, sag' ich ja, ist mir das höchste Glück so nah, laßt mich sinnen ein Weilchen noch, ich möcht', ach ja!35 35
Der Graf von Luxemburg, Klavierauszug, S. 74ff. 231
Nach Renes leidenschaftlichem Liebesgeständnis während des Balls, das Angele mit einem Hinweis auf ihre Verlobung als »Phantasie« und »holde Träumerei« zurückgewiesen hat (konterkariert auf der musikalischen Ebene, die in einer achttaktigen Cellopassage Angeles mahnendes »Wenn man könnt', so wie man immer wollte, wenn man wollt', was man doch nimmer sollte« mit dem Hauptmotiv aus ihrem sehnsüchtigen »Soll ich? Soll ich nicht?« unterlegt36), stellt Rene erstmals eine Verbindung zwischen der Frau, die sichtbar und spürbar »in sinnlicher Erregung« neben ihm sitzt, und jener Illusion her, die ihn und seine unsichtbare Ehefrau nach der Trauung umstrickt hat: Er antwortet auf Angeles halbherzige Zurückweisung mit dem Sehnsuchtsthema »Bist du's, lachendes Glück«. Dieses bildet auch die orchestrale Grundlage des anschließenden Tanzmelodrams, bei dem Rene und Angele sich gegenseitig entdecken, daß sie verheiratet, gleichwohl in Scheidung begriffen seien. Während die Liebenden nicht ahnen, daß sie miteinander verheiratet sind, stellt das Orchester unmißverständlich den Bezug zur Trauung im I. Akt her. In Renes monologartiger großer Soloszene im II. Akt mit dem »Trefle incarnat«-Walzerlied wird die Überblendung von Phantasie und gegenwärtigem Begehren konkret, werden der reale Handschuh und die imaginierte Hand, der reale und der erinnerte Duft, die Fee der Träume, die Ehefrau Angele und die Operndiva Angele, Einst und Jetzt auf der textlichen und der musikalischen Ebene aufeinander bezogen. Während Rene am Ende des I. Aktes noch seinen Phantasien über die Hand seiner Braut nachhing, hatte das Orchester das zentrale Liebesthema exponiert, ein für Lehär typisches Walzerthema von zweimal acht Takten, dessen harmonischer Kontrastreichtum in ein vollkommen gleichmäßiges rhythmisches Muster eingepaßt ist.37 Im »Trefle incarnat« führt Lehär nun dieses Liebesthema und das Sehnsuchtsthema als doppelten Orchesterkommentar zu Renes Verzückung über den Handschuh und den Duft Angeles zusammen.
(Er will in Gedanken das Taschentuch aus dem Gilet nehmen und findet den Handschuh Angeles.) Ah ihr Handschuh! (Er hält den Handschuh mit zwei Fingern hoch.) Entzückend! Entzückend! - Nummer? RENE
36 37
232
Ebd., S. 79. »RENE [...1 (Nachdenklich.) Sah nur die kleine Hand, / Die sich zu meiner fand, / Wundersam - / Wie das kam - / Ist das der Liebe Macht, / Die nur ein Gott erdacht, / Ist das die Liebe, / Die nun im Herzen mir erwacht? (Er starrt vor sich hin.)« (S. 54) - Es ist bezeichnend f ü r das in der modernen Gesellschaftsoperette neu formulierte Verhältnis von Text, Musik und Szene/Körper, daß das zentrale Liebesthema im Grafen von Luxemburg nicht mit einem bestimmten Text verbunden wird, sondern mit wechselnden Texten bzw. ganz ohne Text erscheint. »Handlung«, die sich hier als »innere Handlung«, als emotionales Erleben darstellt, findet in erster Linie in der Musik, nicht mehr im Text statt.
(Er schaut die Innenseite an.) Natürlich - fünfdreiviertel. N R . 12 TREFLE
INCARNAT-WALZERLIED.
Introduktion R E N E (betrachtet den Handschuh Angeles): Fünfdreiviertel! Das spricht Bände, Donnerwetter, ist das klein! Das sind wahre Feenhände, Jeder Finger schlank und fein. Selbst in meiner Phantasie, Sah ich solch' ein Pfötchen nie! (Sich besinnend.) Niemals! Niemals? ... Damals! Damals? ... Unsinn ist's ... Vielleicht auch nicht... Eines nur, das weiß ich sicher: (Zeigt den Handschuh.) Dieser Handschuh - ein Gedicht! (Nachdenklich.) Es duftet nach Trefle incarnat, Wie damals, wie damals! ... Es scheint ja so fern und doch so nah, Wie damals, wie damals! ... Es lockt so betäubend und süß Wie jene kleine Hand, Die ich nur einmal sah, Die [:wie ein Traum entschwand.:] Fünfdreiviertel! Laß dich küssen! Der hat's gut, der Handschuh da! Während andre schmachten müssen, Schmiegt er sich an sie so nah. (Sich besinnend.) Hieß denn nicht Angele auch sie? Ist das Zufalls Ironie ... Unmöglich ist's, das kann nicht sein, Was fällt mir ein? Ein Trugbild mich bestrickt Bei Gott, Das macht mich ganz verrückt! (Nachdenklich.)
Musikeinsatz
Das Orchester intoniert das zentrale Liebesthema aus dem Finale I (»Sah nur die kleine Hand ...«), dessen 16 Takte Renes knappe, teils gesprochene Ausrufe grundieren.
Exponierung des »Trefle incarnat«-Themas, das dann im Liebesduett des III. Aktes erneut aufgegriffen wird.
Liebesthema (Takte 9-16, leicht modifiziert) als Abschluß des ersten Liedteils.
Auf die 2. Silbe von »verrückt« setzen fortissimo die Takte 2 5 - 3 8 des 40taktigen Themas
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»Bist du's ...« (Trauung) ein (Gesangspause), dann Rückkehr zum »Trefle incarnat«-Thema
Es duftet nach Trefle incarnat, Wie damals, wie damals! ... Es scheint ja so fern und doch so nah, Wie damals, wie damals! ... Es duftet nach Trefle incarnat, Wie jene kleine Hand, Die ich nur einmal sah, Die wie ein Traum entschwand, Wie ein Traum entschwand! (Geht sinnend (S. 9Iff.)
ab
über
die
Treppe
Liebesthema (Takte 9-16, leicht modifiziert) als Abschluß des zweiten Liedteils.
links.)
Kurzes Nachspiel.
Als Hinleitung zur endgültigen Verschmelzung der Wunschbilder Renes und Angeles mit der Wirklichkeit und Leibhaftigkeit des jeweils anderen dient das Sehnsuchtsthema im Finale II. Während Rene nach dem Ausbruch des Konflikts Angele mit Worten auffordert, ihn zu vergessen, erklingt im Orchester der Walzer »Bist du's, lachendes Glück«, der in diesem Kontext einen resignativen Charakter anzunehmen scheint. Unmittelbar anschließend entwikkelt das Orchester das Sehnsuchtsthema jedoch zum Liebesthema, das wie ein magisches Zeichen alle Verwirrungen des Gefühls überdauert hat und nun die Gewißheit der Liebe mit der Gewißheit über die Identität der Liebenden verbindet: Damals, als wir getraut, Ward mir's im Herzen laut, ALLE: [: Das ist der Liebe Macht, Die nur ein Gott erdacht.] BEIDE: Nun find' ich wieder dich, Das eine Wort nur sprich: RENE: Bist du die meine? ANGELE: Bin ich die deine? BEIDE: Liebst du mich? (S. 108f.) ANGELE:
Die Fokussierung der musikalischen Dramaturgie auf die Emotionen des I.Paares und die Evozierung einer Atmosphäre der Sinnlichkeit, wie sie für die moderne Gesellschaftsoperette charakteristisch sind, prägen dann auch den letzten Akt des Grafen von Luxemburg in auffallender Weise. Der Abschluß der Buffohandlung mit der Heirat Armands und Juliettes sowie die Lösung der Basil-Handlung durch das Erscheinen der Gräfin Kokozow als Dea ex machina geben lediglich den äußeren Rahmen für eine breit ange234
legte Liebes- und Leidenschaftsszene Renes und Angeles vor, in der sowohl musikalisch als auch szenisch-textlich sämtliche zuvor exponierten Motive und Themen nochmals aufgegriffen werden.38 Das Liebes- und das Sehnsuchtsthema werden mit dem »Trefle incarnat«-Thema verknüpft, das Motiv des Duftes 39 spannt den Bogen zu den erotischen Phantasien des I. und II. Aktes und weist dem Begehren seinen Platz in der Realität zu.
und A N G E L E (treten auf. Rene in der Kleidung des 2. Aktes, Überzieher; Hut, Spazierstock, Angele ebenfalls in der Toilette des 2. Aktes mit Mantel, Pelzwerk, Schaltuch um den Kopf. Beide treten erregt auf).
RENE
[.·•]
(wirft sich in einen Fauteuil, nach einer kurzen Pause sieht sie Rene fragend, nervös an): Was nun? Sie haben mich eine halbe Stunde lang im offenen Wagen durchs Bois geführt - Sie haben nichts gesprochen, ich habe nichts gesprochen - die kühle Nachtluft hat weder Sie, noch mich abgekühlt. (Kokett.) Nicht wahr? R E N E (abgewandt)·. Ich weiß nur, daß ich Sie wahnsinnig liebe, Angele, daß Sie meine Frau sind und nicht meine Frau sind, daß Sie mir alles sind, und ich Ihnen nichts sein darf! A N G E L E (mit leisem Anflug von Spott)·. Sehr korrekt, Herr Graf! R E N E : Ich habe mein Ehrenwort verpfändet und muß in meiner Frau die Braut eines andern respektieren! A N G E L E (etwas gereizt): Aber ja - ja - respektieren Sie, es scheint Ihnen gar nicht so schwer zu fallen! (Legt Boa und Muff ab, will nun den Mantel ablegen.) So helfen Sie mir doch - oder verbietet Ihr Ehrenwort auch das? ANGELE
38
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In der von Lehär und Wolf Völker 1937 erarbeiteten Neufassung des Stückes stellt sich die Dramaturgie des III. Aktes völlig anders und weit plakativer dar: Die Gräfin ist hier zu einer lächerlichen Figur umgestaltet und erweitert (das Textbuch der 1.Fassung vermerkte noch ausdrücklich: »Die Gräfin [. ..J muß den Eindruck einer vornehmen Dame machen und darf keineswegs karikiert werden.« S. 112), der nach einer umfangreichen Ballettintroduktion (Hotelpersonal) ein mehrstrophiges Couplet zugeordnet ist (in der 1. Fassung ist die Gräfin eine Sprechrolle). Der Dialog Rene/Angele ist verkürzt, das intime Liebesduett (in der 1. Fassung: Nr. 16; in der 2. Fassung: Nr. 21) erhält einen musikalischen und szenischen Kontrapunkt durch die Schlußnummer, in der die gesamte Ball- und Bohemegesellschaft auf die Bühne stürmt und eine elaborierte Chor- und Ballettvariante des Bohemeduetts aus dem I. Akt (Juliette/Armand: »Wir bummeln durchs Leben«) vorträgt (Schlußnummer der 1. Fassung: kleine Reminiszenz des Duetts »Mädel klein, Mädel fein« aus dem II. Akt). Mit »Trefle incarnat« entschieden sich die Autoren des Grafen von Luxemburg f ü r ein seinerzeit weltberühmtes Parfüm, das 1898 von Georges Darzens f ü r die traditionsreiche Pariser Firma Lucien-Toussaint Piver als erstes Duftwasser auf der Basis synthetischer Stoffe kreiert worden war. Zu den prominentesten Piver-Kundinnen gehörten Sarah Bernhardt und Mata Hari.
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(knöpfelt ihr umständlich die Pelzjacke auf und legt erst jetzt seinen Frackraglan und Zylinder ab.) ANGELE: Sie scheinen Übung zu haben! (Dann, nachdem die Pelzjacke abgelegt ist, setzt sie sich in den Fauteuil.) R E N E (nimmt ihr das Tuch ab, schließt die Augen, sich an dem Duft ihrer Haare berauschend)·. Hm! Wie das duftet! ANGELE (mit schelmisch kokettem Blick): Trefle incarnat. R E N E : Das sind Tantalusqualen! (Legt das Tuch weg.) ANGELE (sich umsehend): Also, in diesem Hotel wohnen Sie? — Und wo werde ich mein müdes Haupt zur Ruhe hinlegen können? (lachend) Es wird am besten sein, wir verbringen die Nacht hier im Vestibule. Und morgen ... R E N E (mit Betonung): Morgen ... (Mit plötzlichem Entschluß.) Angele, Sie werden begreifen, wenn ich Sie unter solchen Umständen bitte, meine Appartements zu benützen, natürlich allein! Ich selbst werde anderweitig Logis suchen. ANGELE (etwas spottend): Wieder sehr korrekt gedacht - (Kleine Pause, wobei Rene auf und ab geht und Angele ihn betrachtet, sie spielt mit dem Lorgnon.) Ich habe einen furchtbaren Durst, Rene! So ein Glas gut frappierter Cremant-Rose wäre nicht ohne ... R E N E : Cremant-Rose - eine charmante Idee! (Er klingelt.) ANGELE: Das regt an! R E N E (seufzend, halb für sich): Und auf! KELLNER (tritt auf, rechts). R E N E : Eine Flasche Cremant-Rose, gut frappiert! ANGELE: Sehr gut frappiert! (Kellner ab.) (Geht zu Rene.) Finden Sie das nicht höchst apart, Rene - so eine Art Hochzeitssouper - so ein ganz kleiner Schwips und dann ... R E N E : Und dann? ANGELE (zuckt kokett die Achseln): Nichts! KELLNER (bringt frappierten Champagner und serviert. Dann ab. Rene setzt sich links, sie rechts am Tischchen [...]). R E N E (schenkt beide Gläser voll.) ANGELE (erhebt ihr Glas): Prost! (Sie trinkt.) R E N E (für sich): Je mehr sie sich stärkt, um so schwächer werde ich! ANGELE (lustig): Richtig! Nein, so was! Jetzt sind wir schon die längste Zeit Mann und Frau - (Ironisch.) aneinandergekettet fürs Leben - und sind noch immer nicht auf Du und Du! (Schlägt leicht auf den Tisch.) Das muß nachgeholt werden! R E N E (resigniert): Also, holen wir's nach! (Sie schenkt ihm ein.) ANGELE (stoßt an): Ex! (Beide trinken auf einen Zug ihr Glas aus.) ANGELE (wischt sich, sichtlich in Erwartung des Bruderkusses mit ihrem Spitzentaschentuch den Mund ab, sieht ihn dann eine Weile erwartungsvoll an und sagt dann naiv erstaunt): Nun? ... RENE
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(rasch, energisch): Nein - nein! Machen Sie mich nicht rasend! Sie fürchten sich also vor mir? R E N E : Vor Ihnen - nein! Vor mir. (Angele sieht ihm tief und innig in die Augen). R E N E (ekstatisch)·. Du süßes, einziges Glück stehst vor mir und ich kann dich nicht fassen, ich darf dich nicht halten fürs Leben - für die Ewigkeit! RENE
ANGELE:
(hingerissen): Du! - Du! - Du! (seiner nicht mehr mächtig, zieht sie an sich, faßt Angeles Köpfchen mit beiden Händen und kiißt ihre Stirne. Leidenschaftlich).
Musikeinsatz, stummes Spiel.
N R . 1 6 DUETT.
Reminiszenz Nr. 12 (»Trefle incarnat«-Walzerlied).
ANGELE RENE
duftet nach Trefle incarnat, Wie damals, wie damals, Was einst mir so fern, nun ist es nah', Wie damals, wie damals, Es duftet nach Trefle incarnat Wie diese kleine Hand,
RENE: E S
Längere Gesangspause; im Orchester erklingen vier Takte des Liebesmotivs piano, dann Übergang zum variierten Sehnsuchtsmotiv (»Bist du's ...«) fortissimo/maestoso.
Was ich im Traume nur ersah, Ein Bild so engelschön, Es war so fern und doch so nah', Ein Licht aus Himmelshöh'n. ANGELE: Lass' nicht den Traum, der dich beglückt So schnell vorüberzieh'n, O, lass' nicht den Zauber flieh'n!
Reminiszenz des Walzerthemas aus einem im Klavierauszug fehlenden Terzett im II. Akt (enthalten im Textbuch und im Choreographiemanuskript sowie im Klavierauszug zur 2. Fassung).
(Orchester allein. Angele legt ihren Kopf auf seine Schulter, beide schließen im Übermaß der Seligkeit die Augen. Dann wieder Gesang.) BEIDE
(wie im Traume verhauchend): Und bin ich bei dir, Du bei mir Das ist Glück allein! (Küssen sich lang und innig.)
Ende der Reminiszenz. Nachspiel aus Nr. 12.
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Atmosphäre / Gesellschaft / (städtische) Öffentlichkeit: I. Akt: Sphäre der Pariser Boheme / Karneval II. Akt: feine Pariser Gesellschaft: Opernpublikum / Ballfest III. Akt: Gäste des Grand Hotel / Ballfest Handlung 1: die auf Angele bezogene Heiratsintrige Basils, die scheitert und zur Einlösung der Verlobung mit der Gräfin Kokozow führt / der in Geldnot sich befindende »Heiratsgraf« als Mittel zum Zweck Handlung 2: Juliettes und Armands von vielerlei Zänkereien begleiteter Weg zum Standesamt die Gefühlswelt Renes und Angeles als zunächst voneinander unabhängiger Personen: beide haben noch nie wirklich geliebt und geben sich Traumvorstellungen von Liebe und Glück hin Rene und Angele als »geheimnisvoll verbundenes« Paar, das die Identität des jeweils anderen nicht kennt, jedoch gewisse körperliche Merkmale des anderen mit den eigenen Traumvorstellungen verknüpft; auf der musikalischen Ebene werden jene Bezüge hergestellt und beglaubigt, die auf der Ebene der Handlung lange verborgen bleiben das zentrale Liebesthema ohne eigentliche Textfixierung, das f ü r höchste Emotionalität und sinnliches Begehren steht (exponiert im Schlußteil von Nr. 8 |Finale IJ, A u f n a h m e in Nr. 12 [»Trefle incarnat«J, in Nr. 14 [Finale IIJ und im Duett Nr. 17) Nr. 9, Lied der Angele: »Der Fremde, den ich heute sah« - Nr. 12, Lied des Rene: »Trefle incarnat« Nr. 7, Entree der Angele: »Unbekannt« - Walzer aus Nr. 8 (Finale I): »Bist du's, lachendes Glück« - Nr. 10, Duett Angele/Rene: »Lieber Freund, man greift nicht nach den Sternen« Nr. 5, Lied des Basil: »Ich bin verliebt« - Nr. 6, Quintett Nr. 2, Duett Juliette/Armand - Nr. 11, Duett Juliette/Armand Nr. 15 und Nr. 18: Reminiszenzen von Nr. 11 Nr. 1, Introduktion: »Karneval« - Nr. 3, Dessertchanson der Juliette - Nr. 9, Chor der Gäste und Verehrer Angeles - Nr. 14b, Ballmusik hinter der Szene
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Auch wenn Renes und Angeles Leidenschaft durch das Scheitern von Basils Heiratsplänen ihren gesellschaftlich sanktionierten Raum - die Ehe - behält oder vielmehr erst gewinnt, ist der Bezugspunkt der beiden doch nach wie vor nicht die Gesellschaft; sie begegnen sich noch immer in einer Sphäre, in der es nur die/den jeweils andere(n) gibt*
Die Operette der Residenzstadt Während die Operette der Metropole in ihren Themen und Stoffen, ihren dramaturgischen Strategien, der Figurenzeichnung und den musikalischen Mitteln aktuellste Tendenzen aufgriff, die sie mit einer international gefärbten und damit international vermarktbaren Atmosphäre des Glamours verknüpfte, gewann ihr Komplement, die Operette der Residenzstadt, ein spezifisches Profil aus der starken lokalen Bindung, aus der Bezugnahme auf tradierte gesellschaftliche Muster und aus der ästhetischen Fundierung in einem weit in die Vergangenheit reichenden Feld theatralischer Erscheinungen. Den Rahmen bildeten hier die seit dem 18. Jahrhundert etablierte (klein-)bürgerliche Familienideologie, das auf dieser Ideologie und ihren Werten basierende Verständnis des sozialen Miteinanders im Kontext Wiens als überschaubar gedachtem städtischem Raum sowie die entsprechenden Theaterformen, nämlich das bürgerliche Drama beziehungsweise das Rührstück einerseits und das Wiener Volksstück andererseits, die seit dem 18. Jahrhundert entscheidend zur Festschreibung des betreffenden Familien- und Gesellschaftsbilds beigetragen hatten. War es der Wiener Posse des späten 19. Jahrhunderts kaum mehr gelungen, sich als lokal gebundenes und dabei erfolgreiches Gegenmodell zu der an Frankreich orientierten oder gar aus Frankreich und England importierten Operette zu erhalten, so etablierte sich im frühen 20. Jahrhundert gerade innerhalb des in konservativen Kreisen vielgescholtenen Genres Operette eine lokale Ausprägung, die ihre Programmatik nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaftsoperette entwickelte. Wo diese in mondäne Kreise und auf internationales Parkett führte, zeigte die Residenzstadt-Operette das biedere Stübchen in der Wiener Vorstadt oder den bescheidenen bürgerlichen Salon. Sorgten dort die Laszivitäten der Halbweltdamen für prickelnde Erregung, fürchtete man hier mit dem Vater für den leichtsinnigen Sohn oder das Eheglück der Tochter. Motive des Volksstücks und des bürgerlichen Rührstücks wurden damit gewissermaßen in das Medium Operette * Die nebenstehende Graphik will die unterschiedlichen Ebenen der Handlung veranschaulichen, die von der Schilderung des gesellschaftlichen Ambientes bis zur Entfaltung intimster Regungen der Protagonisten reichen. Ihre Entsprechung finden diese Handlungsebenen in kompositorischen Schichten, die für das äußere Geschehen einfach gebaute Gesellschafts- und Tanzmusik, für das innere Geschehen komplizierte thematische Verknüpfungen vorsehen. 239
übertragen. Von entscheidender Bedeutung für diese Übertragung waren Alexander Girardis Position als Wiens führender Komiker der 1880er/1890er Jahre und die Modifikation, die das von ihm vertretene Rollenfach um 1900 durchlief. Die Volksstücke und Possen, in denen Girardi seit 1897 spielte, wandten sich in ihrer Tendenz an Publikumsschichten, die der Modernisierung des städtischen Lebens weit weniger offen gegenüberstanden als etwa das noble Operettenpublikum des Theaters an der Wien und des Carltheaters; und sie präsentierten Girardi, bislang Lustige Person, immer häufiger als Träger einer Moral, die gegen die >Gefahren< der Modernisierung zu wappnen versprach. Was die Herausbildung einer Operette der Residenzstadt betrifft, gilt es zwei Etappen nachzuvollziehen: zunächst, welche dramaturgischen Konsequenzen sich aus der Neuformulierung von Girardis Fach und aus dem moralischen Anliegen der betreffenden Stücke ergaben; sodann, wie die Dramaturgie der rührenden Volksstücke in die Sprache der Operette übersetzt wurde. Eine Scharnierfunktion im Hinblick auf das sich wandelnde Fach Girardis und die Konstitution einer »Dramaturgie der Moral« im musikalischen Unterhaltungstheater kommt jenem Stück zu, mit dem Girardi sein Engagement am Raimundtheater antrat: der Posse Der Herr Pomeisl von Leopold Krenn und Carl Lindau mit Musik vom I. Kapellmeister des Raimundtheaters Max von Weinzierl.40 Der Herr Pomeisl ist ein typisches Girardi-Stück, das ihm, wie zahlreiche Operetten der vorangegangenen Jahre, Gelegenheit zu vielfältigen Verwandlungen bot, in denen er die unterschiedlichen Facetten seiner Darstellungskunst ausspielen konnte. Darüber hinaus ist es jedoch ein theatralisches Dokument des >ZeitgeistesBotschaft< bestehen bleibt. Der Moderne, die in den sinnlichen Treumann-Operetten des neuen Jahrhunderts ernstgenommen werden würde, konnte sich die Posse am Raimundtheater 1897 also noch verweigern. Der Herr Pomeisl griff Themen der Metropole auf und konfrontierte sie mit dem sozialen und emotionalen Ideal der Residenzstadt; hier waren bereits die Grundzüge der späteren zum Kleinbürgertum hingeneigten Girardi-Operette und damit der Operette der Residenzstadt vorgezeichnet. 40
Der Herr Pomeisl, Posse in fünf Bildern von Leopold Krenn und Carl Lindau, Musik von Max von Weinzierl, Textbuch, Wien 1897. - Die im Text folgenden Seitenangaben nach dieser Ausgabe.
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1. Bild, »Der große Preis«. Ganz Wien trifft sich beim Rennen um den »Großen Preis«, f ü r das der Rennbahn-Verein internationale Radchampions angekündigt hat. Unter den fashionablen Besuchern ist auch die Familie des Β au Spekulanten Mathias Anninger, dessen Sohn Willy selbst am Rennen teilnehmen wird, während die Tochter Mitzi durch ihren »emancipirten« Aufzug - sie trägt Hosen - f ü r Aufsehen bei den anwesenden Herren sorgt. Mathias Anninger enthüllt seinem Bruder Franz sein jüngstes Vorhaben: Um die steigenden Ansprüche seiner Frau Bella und der erwachsenen Kinder befriedigen zu können, die unter dem Einfluß der extravaganten Lebedame Frau von Zanetti einen äußerst kostspieligen Lebenswandel pflegen, will Mathias zu günstigen Konditionen umfangreiche »Gründ'« in der »Haydeckergasse« kaufen, wohin, wie er zufällig erfahren hat, die Stadtbahntrasse verlegt werden soll. Beim späteren Wiederverkauf der Grundes könnte er einen riesigen Gewinn erzielen. Um das nötige Kapital f ü r diese Spekulation aufzubringen, muß Mathias allerdings seine sämtlichen Immobilien verkaufen und zusätzlich ein Darlehen aufnehmen. Während Franz Anninger kopfschüttelnd beobachtet, wie sich Mathias von Frau und Kindern schikanieren läßt, stehen die Herren Löffler und Lapp vom Rennbahn-Verein vor einem unerwarteten Problem: Aus unterschiedlichen Gründen können der englische, der französische und der italienische Champion nicht an den Start gehen, einen Champion aber müsse man dem Publikum doch wenigstens bieten - was ist also zu tun? Da der italienische Fahrer in Wien noch nie in der Öffentlichkeit zu sehen war, geben Löffler und Lapp kurzerhand den Aushilfsmusikanten Theobald Pomeisl als Champion aus. Pomeisl verdient sein Geld unter anderem als Klavierspieler in der Ballettschule des Monsieur Boulanger, die auch Mitzi besucht, und als Klarinettist in der Radfahrer-Capelle, seit er einen guten Büroposten im Exportgeschäft des Friedrich Hagen aufgegeben hat und die angestrebte Theaterkarriere gescheitert ist. Beim »Großen Preis« haben Hagen und Pomeisl sich wiedergetroffen, und hier lernt Hagen auch Mitzi kennen, die sofort sein Interesse erweckt. Pomeisl wird nun als »italienischer Champion« an den Start gezerrt. Unterdessen kommen sich Hagen und Mitzi näher, stellen jedoch trotz gegenseitiger Sympathie bald die Unvereinbarkeit ihrer Lebensentwürfe fest: Hagen zeichnet das Ideal einer Hausfrau, die »anspruchslos und bescheiden« »am häuslichen Herd« wirkt, Mitzi erwartet von einem Mann »moderne Ansichten«, will als Frau Sport treiben, in der Gesellschaft Aufsehen erregen und eine »moderne Ehe« führen. Da beginnt das Rennen, dem sich nun alle gespannt zuwenden. Zahlreiche Fahrer stürzen, darunter auch Willy. Sieger wird der »italienische Champion« Pomeisl. 2. Bild, »Heute noch auf stolzen Rossen«. Im Hause Anninger bereitet man einige Tage später ein rauschendes Fest vor, in dessen Mittelpunkt die A u f f ü h rung eines Balletts mit Gesang, einer »Zukunfts-Comödie«, aus der Feder Frau von Zanettis stehen wird. Thema sind die Frau und der Mann der Zukunft. Tanzmeister Boulanger probt unter Geigenbegleitung in Gestalt Theobald Pomeisls soeben eine Mazurka mit seinen Schülerinnen. Pomeisl soll entgegen der ursprünglichen Planung auch in der A u f f ü h r u n g eine tragende Rolle übernehmen, nämlich die f ü r Herrn von Zanetti entworfene Solopartie eines »Mannes der Zukunft«, und wird zudem von Frau Anninger damit beauftragt, die Lieferanten und das Personal zu beaufsichtigen. Darunter ist das Dienstmädchen Therese, die in Pomeisl verliebt ist und f ü r ihn dadurch einen gewissen Reiz gewinnt, daß sie i h m von einer alten Tante erzählt, deren Gut sie einst erben werde. Inzwischen treffen verfrüht erste Festgäste ein: Frau von Zanetti, der dümmliche Geck Alfons Hecht und Friedrich Hagen, dem Mitzi nicht aus dem Kopf geht. Unter Anleitung Boulangers wird die gesamte Zukunfts-Comödie mit Mitzi und Pomeisl in den Hauptrollen ein letztes Mal geprobt. Mathias Anninger plagen angesichts der luxuriösen Veranstaltung schlimme Sorgen; die Gründ', mit deren Kauf und Verkauf er eine halbe Million hatte verdienen wollen, wurden i h m von einem anderen Interessenten vor der Nase 241
weggeschnappt, und nun fürchtet er den Augenblick, in dem er dies seiner Frau gestehen muß. Noch bevor es dazu kommt, bringt sein Bruder eine - aus Bellas Perspektive - entsetzliche Nachricht: Die Stadtbahntrasse wird an einer anderen Stelle gebaut, die Haydeckerschen Gründ' sind also wertlos, Mathias Anninger hat (scheinbar) sein ganzes Vermögen verloren. Pomeisl überbringt die Schreckensmeldung Mathias und wundert sich, daß dieser nicht vor Verzweiflung, sondern vor Freude außer sich gerät. Als Mathias seinem Bruder den wahren Sachverhalt erklärt hat - er hat ja das Geld noch, das er anlegen wollte - , macht dieser einen überraschenden Vorschlag: Mathias solle Frau und Kindern gegenüber dabei bleiben, daß man alles verloren habe, um sie durch eine Probelektion in Armut von ihrer Gier nach Luxus, Sensationen und Extravaganzen zu kurieren. 3. Bild, »Von Federn auf Stroh«. Mathias Anninger und seine Familie sind in eine bescheidene Wohnung umgezogen und noch mit der Einrichtung beschäftigt. Mathias freut sich gleichermaßen an dem einfachen Leben, nach dem er sich seit langem zurückgesehnt hat, und an dem geheimen Wissen, daß sein Geld gar nicht verloren ist. Er trägt es in einem großen versiegelten Umschlag bei sich und will es baldmöglichst zur Bank bringen. Vorerst versteckt er den Umschlag in einem Ofen im Hinterzimmer, der wegen der sommerlichen Temperaturen gegenwärtig nicht geheizt wird. Willy hat inzwischen eine Stellung in der Firma seines Onkels Franz angenommen, Bella und Mitzi finden sich noch nicht recht in das Leben als Hausfrauen ohne Dienstboten. Zur Freude aller taucht unerwartet Therese in Begleitung Pomeisls auf. Therese will, selbst ohne Lohn, aus Anhänglichkeit bei den Anningers bleiben und macht sich umgehend an die Zubereitung eines Gulaschs mit Knödeln. Pomeisl, der in diesen Tagen f ü r einen einmonatigen Reservedienst beim Heer einrücken muß, hat eine gewisse Neigung f ü r Therese entwickelt, die sich bis zum verblümten Heiratsantrag steigert, als sich herausstellt, daß Thereses Tante verstorben ist und sie tatsächlich als Erbin eingesetzt hat. Um Pomeisl ihrer Gefühle zu versichern, beginnt Therese damit, Briefe eines früheren Bekannten im Ofen zu verbrennen. Pomeisl >rettet< einen dicken Umschlag; er will insgeheim doch noch Thereses Verhältnis zu jenem Korporal unter die Lupe nehmen. - So erfreulich das Wiedersehen der Anningers mit Therese und Pomeisl verlaufen ist, so unangenehm endet ein Besuch Frau von Zanettis, die die Familie mit geheucheltem Mitleid in ihrer neuen Armut besichtigt. Ihren Vorschlag, Mitzi solle, um dem einfachen Leben zu entkommen, einen reichen alten Mann heiraten und sich dann wieder scheiden lassen, weist diese empört als schlimmere Form der Prostitution zurück. Pomeisl hingegen hat eine glänzende Idee, wie man sich durchbringen könne, wenn das Geld ganz ausgehen sollte: Die Familie solle gemeinsam mit ihm, Therese und Alfons Hecht eine »Specialitäten-Gesellschaft« gründen und im Variete mit einer Folge von N u m m e r n auftreten. Er hat auch schon ein Konzept, das umgehend probehalber durchgespielt wird. Nach einem »Entree-Chor«, bei dem alle mitwirken, erscheinen zunächst Therese und Pomeisl als berühmtes »Sänger- und Tänzerpaar Safaladi«, dann Pomeisl, Hecht und Mathias als Minstrel-Trio mit einem grotesken Liedsolo Hechts (das »Ständchen« von Franz Abt), anschließend Bella, Mitzi und Therese als Kleinbesetzung der »Original englischen Eckzähnt« »Sixdas Wasgehtunsdasan«. Für die Schlußnummer - der unerreichbare Zacherloni in einer »modernen Verzweiflungsszene« - soll Mathias sich im Hinterzimmer vorbereiten. Die Verzweiflung, mit der er wieder erscheint, ist allerdings nicht gespielt: Er hat den brennenden Ofen und damit den tatsächlichen Verlust seines Geldes entdeckt, der bisher nur vorgetäuscht war. Seine »Mitspieler« sind begeistert von der »Darstellungskunst« Anningers. 4. Bild, »Ehrlich währt am längsten«. Frau Wohunka, Pomeisls Quartierfrau, erwartet in dem von Pomeisl bewohnten Dachstübchen dessen Rückkehr von der Waffenübung. Überraschend erscheint der Schneidercommis Plötz. Er hat von Pomeisls Braut Therese den Auftrag bekommen, Pomeisl einen neuen Anzug zu fertigen, und 242
will an Pomeisl Maß nehmen, indem er vorgibt, sein Nachmieter zu sein und das Zimmer ausmessen zu wollen. Das Vorhaben gelingt, und Plötz eilt von dannen. Wenig später macht auch Therese Pomeisl einen kurzen Besuch. Sie erzählt von den Veränderungen im Haus Anninger: Mitzi geht inzwischen völlig in ihren Aufgaben als Hausfrau auf, und Willy heiratet just heute seine Cousine Anna, die Tochter von Onkel Franz. Therese und Pomeisl sind zu der Feier eingeladen, und so kommt der neue Anzug, den Plötz bringt, gerade recht. Bei der Suche nach seinen Handschuhen fällt Pomeisl der dicke Umschlag mit den Briefen des Korporals in die Hände, den er bislang nicht geöffnet hat. Zu seinem großen Erstaunen enthält der Umschlag gar keine Briefe, sondern eine riesige Summe Geldes. Pomeisl gehen die Zusammenhänge rasch auf: Ihm wird klar, daß Anningers Behauptung, das Geld bei der Spekulation verloren zu haben, eine Komödie war, Anningers Verzweiflung in der »modernen Verzweiflungsszene« hingegen echt, weil er sein Geld verbrannt glaubte. Pomeisl zögert kurz: Soll er das Geld behalten? Aus dem Hof klingt der Gesang eines Terzetts von Hofmusikanten herauf; es ist das Lied »D' Muattaliab'«. Für Pomeisl ist das ein Zeichen: Seine Mutter hat ihn immer zur Ehrlichkeit und Bravheit angehalten, und so eilt er strahlend davon, Anninger sein Geld zurückzugeben. 5. Bild, »Glückliche Leute«. Im Gasthaus zum »Auerhahn« wird die Hochzeit von Anna und Willy gefeiert. Insbesondere Onkel Franz ist überzeugt, daß alles Glück nur aus dem Verlust des Vermögens erwachsen ist. Bella trauert dem Geld noch immer leise nach, ist aber vor allem beunruhigt über den Geisteszustand ihres Mannes, der seit einigen Wochen durch befremdliches Verhalten auffallt, während er den Verlust des Geldes zu Beginn ganz gelassen ertragen hatte. Franz unternimmt es nun, seine Schwägerin über den tatsächlichen Hergang aufzuklären - daß das Geld nämlich anfangs gar nicht wirklich verloren war, sondern erst später im Ofen verbrannt ist. Kurz nachdem Pomeisl aufgeregt hereingestürmt ist, um Mathias Anninger die sensationelle Nachricht vom Fund des Geldes zu überbringen, erscheint dieser selbst in Begleitung Friedrich Hagens, dessen Eingreifen es allein zu verdanken ist, daß Mathias nicht wegen merkwürdigen Benehmens in der Tramway arretiert wurde. Als Hagen die völlig veränderte, zum Ideal der Hausfrau geläuterte Mitzi wiedersieht, werden beide sich schnell einig. Mathias hingegen kann es kaum fassen, sein Geld wieder in Händen zu halten. Pomeisl weist seinen Dank zurück, denn: »Die Tugend belohnt sich selbst.« So kompliziert u n d detailreich die H a n d l u n g des Herrn Pomeisl auch ist: sie m a c h t doch nur einen Bruchteil dessen aus, was d e m P u b l i k u m des R a i m u n d theaters mit diesem Stück tatsächlich v o r g e f ü h r t wurde. N e b e n der E b e n e der H a n d l u n g findet sich eine zweite entscheidende E b e n e von B ü h n e n a k t i o nen, die sich m i t B e g r i f f e n wie Divertissement oder - etwas anachronistisch Show-Stopper charakterisieren ließe. A u f g r u n d der spezifischen V e r k n ü p f u n g beider E b e n e n k a n n Der Herr Pomeisl als typisches Beispiel f ü r d a s großstädtische m u s i k a l i s c h e Unterhaltungstheater z u m a l des späten 19. Jahrhunderts gelten. D a b e i fällt z u n ä c h s t auf, d a ß es keineswegs die etwa ein D u t z e n d M u s i k n u m m e r n sind, die die E b e n e der h a n d l u n g s u n a b h ä n g i g e n Einlagen bilden. V i e l m e h r gehört das B e m ü h e n u m d r a m a t i s c h e F u n k t i o n a l i s i e r u n g der M u s i k u n d u m u n m i t t e l b a r e Herleitung der entsprechenden N u m m e r n aus d e m H a n d l u n g s z u s a m m e n h a n g zu den Spezifika des Stückes, w ä h r e n d sich andererseits »szenische Nummern< (ohne Musik) abgrenzen lassen, die f ü r den F o r t g a n g der H a n d l u n g bedeutungslos sind u n d als k o m i s c h e Einlagen im Sinn von Show-Stoppers f u n g i e r e n . D r a m a t i s c h f u n k t i o n a l i s i e r t e und in den H a n d 243
lungsablauf integrierte musikalische Nummern sind: die Schlußmusik des 1. Bildes, bei der die Kapelle nach dem Sieg Pomeisls den Radetzky-Marsch intoniert; die Mazurka-Introduktion zum 2. Bild, die die Mädchen bei der Ballettprobe zeigt; die gesamte »Zukunfts-Comödie«, die mit ihren drei großen Teilen (Ensemble mit Solo Mitzis, Duett Mitzi/Pomeisl, Lied Pomeisl) im Zentrum des 2. Bildes steht; die Introduktion zum 3. Bild, die den beim Streichen des Zimmers fröhlich singenden Mathias vorführt; das gesamte »Tingl-TanglQuodlibet« (Duett Therese/Pomeisl, Terzett Pomeisl/Hecht/Mathias mit Solo Hechts, Terzett Bella/Mitzi/Therese) als Probe der neu gegründeten »Specialitäten-Gesellschaft« im 3. Bild; die Introduktion zum 4. Bild mit dem Terzett der Hofmusikanten hinter der Szene, das während Pomeisls Monolog noch einmal erklingt; und die Introduktion zum 5. Bild mit dem Cotillon der Hochzeitsgäste. Weitgehend unabhängig vom Handlungsablauf sind demgegenüber das Auftrittsterzett Mitzi/Willy/Bella (»Denn ang'staunt muß man werd'n«) und das Entreelied Pomeisls (»Ich bin als echter Musikant / Mit jedem Instrument bekannt«) im 1. Bild, die wie das Lied Thereses im 2. Bild (»In dem wunderschönen Agram / Hab' ich's Licht der Welt erblickt«) dem Typus des Standeslieds entsprechen. Der szenischen Couleur dient der Introduktionschor des 1. Bildes mit den Soli des Würstelmanns, des Kellners, des Programmverkäufers und der Conditoreimamsell und dem Ensemble der modischen Radfahrerinnen. Eine tatsächliche Einlage ist das fakultative Couplet Pomeisls am Ende des 2. Bildes, das im Rahmen von sechs Strophen mit Refrain aktuelle Themen des städtischen Lebens behandelt: die Situation der Theater, die Gemeindepolitik, die Bausituation in der Phase der Demolierungen, die allgemeine Begeisterung für Exotika, die Dominanz der Böhmen im Wiener Geschäftsleben und die Vorliebe der Wiener für Denkmäler großer Männer. Handlung und Musiknummern sind also in Der Herr Pomeisl derart konzipiert, daß letztere mehr oder weniger zwingend aus dem dramatischen Verlauf hervorgehen;41 weder ist die Handlungsebene eindeutig dem gesprochenen Dialog noch die Ebene der Show-Stoppers eindeutig den musikalischen Nummern zugeordnet. Die dramaturgische Struktur ist von einem relativ komplizierten Geflecht aus Dialog und Gesang beziehungsweise Tanz, aus Handlung und komischen Einlagen geprägt, das zusätzlich von der Dichotomie zweier ideeller Räume - der >Moderne< und der (klein-)bürgerlichen Familienidylle - durchkreuzt wird. Die komischen Einlagen entsprechen dabei überwiegend drei Modellen: Es sind dies der Auftritt einer komischen Episodenfigur, die Slapstick-Szene und der mit einer bestimmten Figur verbundene Running Gag. In allen diesen Fällen ist es die spezifische Körperlichkeit der zentralen Lustigen Person (Pomeisl) beziehungsweise der komischen Chargen (Hecht, Boulanger, Plötz, Adolf etc.),42 aus der die betreffenden Szenen ihre Wirkung beziehen. 41 42
Vgl. hierzu die Ausführungen in der Einleitung, Abschnitt II. Als Hecht bzw. Boulanger traten die seinerzeit gefeierten Komiker Oscar Wallner und Rudolf Schildkraut auf.
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Komische Episodenrollen: »Wiener Typen« 1. Bild
2. Bild
3. Bild
die Wiener Gigerln Wattira und Sprinz
der aus fürstlichem zwei unfähige und Dienst stammende, geldgierige Möbelpacker; der unleid»als Repräsentations-Nummer aller- liche Hausmeister ersten Ranges« Waschek engagierte Aushilfsdiener Adolf
4. Bild die böhmische Zimmerwirtin Frau Wohunka; der geschäftige Schneidercommis Plötz
Slapstick-Sequenzen 1. Bild
2. Bild
die stürPomeis 1 beim Verzenden such, einen gebraRadfahrer tenen Gansflügel zu verbergen
3. Bild
4. Bild
Pomeisl im Kampf mit Knödeln, bei deren Herstellung er Therese behilflich sein will; Alfons Hecht, verunstaltet durch eine Frauenschürze und ein Sacktuch auf dem Kopf, beim Versuch, sich zu verstecken und dabei auf einer Leiter das Gleichgewicht zu halten
Plötz beim Versuch, nicht das Zimmer, sondern den ahnungslosen Pomeisl zu vermessen; Pomeisl in Unterwäsche im Kampf mit einem Paravent, hinter den er sich beim Besuch Thereses zurückgezogen hat
>Running Gagsc der affektierte Elegant Alfons Hecht, der alles »schewe« findet, und der Tanzmeister Boulanger, der stets über seine Schützlinge zu klagen h a t 1. Bild
2. Bild
3. Bild
Hecht (»übertrieben elegant gekleidet«) versucht sein Glück bei der Buffetdame Anna; Hecht im Gespräch mit Willy
Boulanger beschimpft in gebrochenem Deutsch die Balletteusen; Hecht (»in hypermoderner Balltoilette, abnorm hohe schwarze Cravatte«) biedert sich bei Anningers an und findet zumal Mitzi »Famos! Ungeheuer schewe!«; Boulanger führt energisch die Abschlußprobe der »Zukunfts-Comödie« an
Hecht (»hyperelegant, Cylinder, Spazierstock«) wird von Pomeisl zum Möbelschleppen angehalten und seiner eleganten Garderobe beraubt; Slapstick-Sequenz mit der Leiter; großer Auftritt Hechts als Dümmling im Minstrel-Trio
[4. Bild]
5. Bild Boulanger ist entsetzt über den schlecht ausgeführten Cotillon; Hecht versucht sein Glück bei Mitzi und scheitert auch hier 245
Reduziert man die Handlung des Herrn Pomeisl auf jene Ebene, die sich als seine >Botschaft< bezeichnen ließe und die insbesondere in der Figurenkonstellation und in der Art des Umgangs mit aktuellen Themen sichtbar wird, und bringt man diese >Botschaft< mit der Abfolge der Musik- und Tanznummern als herausgehobenen Momenten des Stückes in Verbindung, so wird sichtbar, in welcher Weise Der Herr Pomeisl als Publikumserfolg des Raimundtheaters und als Glanzstück Alexander Girardis zur Kultur Wiens um 1900 Stellung bezieht. Der Herr Pomeisl konfrontiert zwei Lebensentwürfe miteinander, die in zwei unterschiedlichen Familien- bzw. Ehemodellen konkretisiert werden und deren Grundlage entgegengesetzte Frauenbilder sind. Im Zentrum dieser Lebensentwürfe stehen häusliche Zufriedenheit beziehungsweise öffentlich zur Schau getragener Luxus. Die idealtypischen Vertreter dieser Positionen sind zwei Figuren, die von den vorgeführten Ereignissen selbst kaum berührt werden, aber um so beharrlicher Einfluß auf die Hauptpersonen und deren Handeln zu nehmen suchen: Onkel Franz, der vernünftige und solide Bruder von Mathias Anninger, und Frau von Zanetti, die zwar verheiratete, aber stets ohne ihren Ehemann auftretende kinderlose Lebedame. Das gesamte Geschehen des Stückes erweist sich als Verschiebung im Wirkungsbereich dieser beiden. Zu Beginn sieht man die Familie Anninger gänzlich unter dem (bereits hier als fragwürdig geschilderten) Einfluß Frau von Zanettis, am Ende hat sich Onkel Franz mit seiner Philosophie durchgesetzt, die dadurch über das Stück hinaus beglaubigt wird, daß sämtliche Hauptfiguren schließlich ihr Glück (wieder-)gefunden haben: Willy und Anna sind ein glückliches Brautpaar, Willy selbst hat in seiner Tätigkeit in Onkel Franz' Firma und in seiner Stellung als Familienvater in spe sein neues, endgültiges Ideal entdeckt, Mitzi hat sich derart entwickelt, daß sie für eine glückliche Ehe mit Friedrich Hagen geeignet erscheint, Mathias und Bella Anninger haben das Glück des Lebens ohne Vermögen wiedergefunden, und Pomeisl hat nicht nur eine zufriedene Zukunft mit Therese vor sich, sondern kann auch den Lohn der Tugend für sich beanspruchen. Zwischen den Idealtypen Onkel Franz und Frau von Zanetti sind die übrigen Hauptfiguren in Abstufungen aufgereiht. Da gibt es in Friedrich Hagen eine Person, die bereits zu Beginn auf der >richtigen< Seite steht, in Bella jemand, der aus der Beschränktheit des Emporkömmlings heraus verderblichen Einflüsterungen zugänglich ist, in Mathias jemand, der zu schwach ist, sich ohne deutlichen positiven Impuls von außen mit dem durchzusetzen, was er eigentlich als richtig erkannt hat, und schließlich in Mitzi die junge Frau, die von einer völlig falschen Haltung zur richtigen bekehrt werden kann. Eine deutliche Tendenz erhält Der Herr Pomeisl dadurch, daß die >falsche< Haltung, die im Kontext des Stückes als unheilvoll, aber überwindbar geschildert wird, unmißverständlich mit der >Moderne< verknüpft ist. Äußere Merkzeichen der Moderne, die in weiten Partien des 1. und des 3. Bildes ausgespielt
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werden, sind der Radfahrsport 43 und das Variete mit seinen Excentrics und Minstrel-Nummern. Ein viel weitreichenderes Thema aber, das im Wien der Jahrhundertwende an die Grundfesten der zumal im Bürger- und Kleinbürgertum nach wie vor gültigen überkommenen patriarchalischen Muster rührte, ist die Emanzipation der Frau, im 2. Bild des Herrn Pomeisl drastisch illustriert in der Vertauschung des Weiblichen und des Männlichen (Ankündigung und Probe der »Zukunfts-Comödie« in den Szenen 8-12). Die emanzipierte Frau bleibt nicht Frau, sondern wird zum »Mannweib«, das sein Pendant zwangsläufig in einem lächerlichen, »weibischen« Mann in Spitzenhöschen findet. Wie ich höre, wird auch Theater gespielt? Natürlich - ein großes Stück - mit Ballet und Gesang wird aufgeführt, wo die Damen als Herren und die Herren als Damen erscheinen. H A G E N . Oh, eine Zukunfts-Comödie! H E C H T . Wird sehr schewe werden. B E L L A . Jawohl! Die Costüme sind originell, unsere Mitzi sieht reizend aus. [...] HAGEN. BELLA.
MITZI HAGEN MITZI
(in fantastischer Zukunftstoilette, als Mannweib). (verbeugt sich). Mein Fräulein (reicht ihm die Hand). Mein Costüm in unserem heutigen Stück.
[...] So sieht also das Weib der Zukunft aus? Ein Fantasiestück meiner Freundin, Frau von Zanetti, einer außerordentlich geistreichen Frau, die Sie heute noch kennen lernen werden. H E C H T . Riesig schewe! H A G E N . Und der Mann der Zukunft? M I T Z I . Verliert alle seine sogenannten Rechte. Wenn er brav ist und fleißig, sich um Kochen, Waschen und Strümpfe ausbessern besonders auszeichnet, kurz alle Tugenden besitzt, die die Männer heute von uns verlangen, heiraten wir ihn, wenn nicht, bleibt er sitzen. [...] HAGEN. MITZI.
ENSEMBLE.
(Aufmarsch der Frauen der Zukunft.) (12 Mädchen in origineller Tracht marschiren nach vorne.) C H O R . Das Weib war durch Jahrtausende Vom Manne unterdrückt, Doch nun ist das Befreiungswerk Nach hartem Kampf geglückt. In Amt und Würden sitzen wir Und dienen auch im Heer. 43
Ein Dokument für die Faszination, die das Radfahren gerade in jenen Jahren auf die Wiener feine Gesellschaft ausübte, sind die Tagebuchaufzeichnungen Alma Schindlers, der späteren Frau Gustav Mahlers. Alma Mahler-Werfel, Tagebuch-Suiten 1898-1902, hrsg. v. Antony Beaumont u. Susanne Rode-Breymann, Frankfurt a.M. 1997. 247
Jetzt haben wir die Hosen an Sammt allem Zugehör! M I T Z I . Die Macht der frühern Herrn der Welt, sie ist verweht, verrauscht, Wir haben mit dem Männervolk die Rollen ganz vertauscht! Der Mann muß warten jahrelang - wenn er nicht früher stirbt, Bis sich ein Weib erbarmungsvoll um seine Hand bewirbt. (Alle repetiren.) M I T Z I . Spitzen, Bänder, Federhüte A L L E . Schmücken heut' den Mann! M I T Z I . Cul, Parfüm und Puderquaste A L L E . Braucht heut' nur der Mann! M I T Z I . Wäscherin und Gouvernante, A L L E . Ist heut' nur der Mann! M I T Z I . Ja sogar die Madame Meyer A L L E . Ist heute nur der Mann! Das alles ist der Mann - der einstige Tyrann! M I T Z I . Die Macht der frühern Herrn der Welt, sie ist verweht, verrauscht, Wir haben mit dem Männervolk die Rollen ganz vertauscht! Der Mann muß warten jahrelang - wenn er nicht früher stirbt, Bis sich ein Weib erbarmungsvoll um seine Hand bewirbt. (Alle repetiren.) (Die Frauen der Zukunft marschiren nach hinten.) POMEISL (tritt auf. Er hat Spitzen an den Höschen und an einem blusenartigen Kleidungsstücke, trägt einen Hut mit Federn, lange Haare, einen färbigen Sonnenschirm; sein Benehmen ist weibisch). M I T Z I (hat sich eine Zigarette angezündet, tritt ihm entgegen). DUETT.
Mein schöner Herr, darf ich um Feuer bitten? P O M E I S L (mit bedauerndem Achselzucken). Ich rauche nicht, Mama hat's nie gelitten! Sie sagt, es schickt sich nicht für einen Mann! M I T Z I (freudig, bei Seite). Man merkt ihm noch die liebe Unschuld an! (Laut). Sie schönstes aller schnurbärtigen Wesen Das Feuer ist ein Vor wand nur gewesen! Gestatten Sie, daß ich es Ihnen sage, Daß ich Ihr Bild schon lang im Herzen trage! P O M E I S L (schüchtern). Wie soll, wie darf ich das versteh'n? Bin weder liebenswerth, noch schön! M I T Z I . Ich weiß nicht, was mich reizt an Dir, (umfaßt ihn feurig) Doch lieb' ich Dich - das glaube mir! P O M E I S L (sie abwehrend). MITZI.
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Ach, mich erschreckt der wilde Drang Mir ist um meine Tugend bang'! Mein guter Ruf steht auf dem Spiel. Verführung ist der Weiber Ziel! MITZI.
Nein, nei - nei — nein, nein ! Meine Absichten sind ehrbar, ernst und rein! POMEISL.
Wenn das der Fall - dann sag' ich freudig - ja! Doch sprechen Sie vorher noch mit Mama! MITZI.
Auf Windesflügeln eil' ich fort von hier, Und halte um Dein Händchen an bei ihr! BEIDE.
Ach! Ach! (umarmen sich.) Wenn zwei Herzen sich verbinden, Wo sich jedes glücklich preist! Begeht die schwerste aller Sünden Wer sie von einander reißt! P O M E I S L (geht zur Thüre links und führt die aufmarschirenden Zukunft an, welche ebenso gekleidet sind wie Pomeisl).
Männer der
POMEISL.
1. Wann uns die Frau'n verdrängen - soll's ihnen auch gefall'n Für uns sich anzustrengen - und Steuern hübsch zu zahl'n! Auch soll'n die Frauenzimmer - als Feldherr commandir'n Verstanden hab'n sie's immer - uns Männer anzuführ'n! Die Frau'n soll'n uns ernähr'n - und zahlen manch' Souper, Ein' schönen Schmuck uns auch verehr'n und Putz aus Tüll anglais! Gerechtigkeit - so sag'n die Frau'n - die muß auf Erden sein! Aber auch in Zukunft wird sich's zeig'n - daß wir die G'scheidter'n sein! (Alle repetiren die letzten Zeilen.) 2.
Sie dürfen auch nicht klagen, gehen sie zu ein'm Ballet, Eine Glatzen müssen's tragen - wann's sitzen im Parquet! Sie dürfen mit dem Tänzer dann ganz offen coquettir'n, Doch wann der Mann ein' Freundin hat - das darf sie nicht geniren. Sie dürfen auch nicht knicken, müssen schaffen 's Geld herbei, Wann's gilt auf's Land zu schicken auch den Mann im Monat Mai. Gerechtigkeit - so sag'n die Frau'n - die muß auf Erden sein! Aber auch in Zukunft wird sich's zeig'n - daß wir die G'scheidter'n sein! (Repetition.) (Marsch und Evolution der Männer und Frauen.) (S. 38-42)
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Der »emanzipierten Frau«, als welche sich Mitzi zu Beginn präsentiert, bevor sie das Ideal von Küche und Kindern für sich entdeckt, sind neben der Zukunfts-Comödie zahlreiche weitere szenische, musikalische und dramaturgische Details gewidmet, die das Phänomen der Emanzipation zwischen Lächerlichkeit und sozialer Verwerflichkeit ansiedeln. Insofern die Emanzipation der Frau als Phänomen der vorgeblich feinen Gesellschaft der Moderne präsentiert wird, wirkt die vielfältige Kritik an dieser Gesellschaft zugleich als Kritik an der Emanzipation. So erscheint Alfons Hecht, die Verkörperung des würdelosen Geckentums schlechthin, durch seine äußere Aufmachung als männliche Entsprechung der führenden Emanzipierten Frau von Zanetti, während Mitzi, Willy und Bella in ihrem Auftrittsterzett (1. Bild) die Oberflächlichkeit und Sensationsgier der »Fin-de-siecle«-Gesellschaft in verschiedensten Facetten vorführen. ALLE DREI.
Auftreten, Haltung, so auch das Gewand Immer höchst schneidig und extravagant; Aufseh'nerregend mit neuestem Trie Fin de Siecle, non plus ultra von Chic! MITZI.
Wo's einen Rummel gibt, wo etwas los, Wo die Leut' hinrennen, klein und groß, Wo man redt davon und macht a G'schrei Sind wir auf jeden Fall dabei. ALLE.
Sind wir dabei, sind wir dabei Sind wir auf jeden Fall dabei! MITZI.
Preisringkampf-Productionen Und Mascagni-Ovationen. WILLY.
Frühjahrs- oder Herbstparaden Ankunft fremder Potentaten. BELLA.
Raubmord - Kriminalprozesse Haben für uns viel Interesse. MITZI.
Auch Theaterpremieren Thu'n wir ausnahmslos beehren. WILLY.
Und bei allen Jubiläen Kann man gratuliren uns sehen. BELLA.
Gibt zu ehren es Verdienste 250
Oder sind es Feuerbrünste. ALLE DREI.
Einerlei Was es sei, Stets dabei Sind wir Drei. MITZI.
Denn ang'staunt muß man werd'n, D' ganze Welt muß von Ei'm hör'n Und Ei'm immerwährend seh'n, In der Zeitung muß man steh'n Alle Tag ein paar mal In ein' jeden Journal. Rumwidibum, rataplan, Occassion, Sensation! Das ist unser Ideal. (S. 9f.) Nahezu programmatische Verlautbarungen zum Thema »moderne Frau« sind zwei Dialoge Mitzis mit Friedrich Hagen, in denen sich Ironie und Ernst mischen. Im I. Bild werden beide durch einen bezeichnenden Vorfall aufeinander aufmerksam. Mitzi, selbstbewußt in Hosen auftretend, wird von zwei Gigerln in eindeutiger Absicht angesprochen, da ihr Äußeres den Männern die Gewähr zu bieten scheint, daß sie einem schnellen Abenteuer nicht abgeneigt sei (Sprinz: »Nach dem Aussehen glaubte ich es mit einer Dame zu thun zu haben, die meinen Antrag nicht übel nehmen wird.« S. 18). Mitzi reagiert auf die Avancen der Männer alles andere als selbstbewußt: Sie bekommt einen (>modernen